Uber Sinn Und Bedeutung Bei Kant Und Levinas (Alber Thesen Philosophie) (German Edition) 3495488235, 9783495488232

Was ist die Zeit? Diese Frage erlebt nach Kant eine Blutephase in der Phanomenologie. Eine Verbindung, die hier lange ub

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German Pages 192 [186] Year 2019

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Inhalt
Zitierweise und Verzeichnis der verwendeten Siglen
Siglen zu Immanuel Kants Schriften
Siglen zu Emmanuel Levinas’ Schriften
Weitere verwendete Siglen
Vorwort
1. Einleitung zum Zeitbegriff bei Kant und Levinas
1.1. Die Frage der Zeit im Lichte von Kants kopernikanischer Revolution
1.2. Zum Verhältnis von Metaphysik, Zeit und Moralität bei Kant und Levinas
1.3. Von Kants Metaphysikkritik zu Levinas’ Metaphysik als Ethik
2. Die Zeit als eine Grenze des Verstandes bei Kant
2.1. Das Nacheinander der Zeiten und die reinen Verstandeskategorien
2.2. Die Illusionen des reinen Denkens im Blick auf die Zeit
2.3. Die Zeit als eine Grenze des Verstandes
3. Der Urteils- und der Zeitdiskurs bei Kant und Levinas
4. Spuren von Kant in der späten Zeitkonzeption von Levinas
4.1. Levinas’ Annäherung an Kant: das Ich, die Freiheit und die Zeit
4.2. Die Bedeutung des Phänomens Zeit bei Levinas und das Erbe Kants
5. Das Jenseits des Seins und die Zeit bei Levinas
5.1. Die Bedeutung der Verantwortung für die Zeit: die Vergangenheit
5.2. Die Bedeutung der Geduld für die Zeit: die Gegenwart
5.3. Die Bedeutung des Wartens für die Zeit: die Zukunft
6. Der Humanismus und die Zeit bei Kant und Levinas
7. Verwendete Forschungsliteratur
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Uber Sinn Und Bedeutung Bei Kant Und Levinas (Alber Thesen Philosophie) (German Edition)
 3495488235, 9783495488232

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Max Brinnich

Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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ALBER THESEN

https://doi.org/10.5771/9783495820711

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Max Brinnich Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

ALBER THESEN

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https://doi.org/10.5771/9783495820711 .

https://doi.org/10.5771/9783495820711 .

Max Brinnich

Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820711 .

Max Brinnich On Sense and Meaning in Kant and Levinas What is time? After Kant this question was what primarily drove the project of phenomenology. An important connection, which for the most part has been ignored so far in this regard, is Levinas’ profound interest in and critique of Kant’s moral philosophy. Levinas takes lead for his interest in Kant from his treatment of time and the question whether time is in the Kantian sense a form of intuition, in which every duty appears to us and which gives meaning to our existence. For Levinas time is not so much the form of such a cognition rather than the rift that separates us from the meaning of our responsibility. Tracing Levinas’ fractious relationship with Kant is the aim of the book.

The Author: Max Brinnich, 2012 MA in philosophy, 2016 PhD in philosophy, completed teacher training in 2017 (German/ Philosophy and Psychology). From 2009 to 2012 fellow at the Institute of Philosophy at the University of Vienna, research fellow from 2012 to 2016. Currently lecturing at the University of Vienna and teacher at a High School in Vienna since 2016.

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Max Brinnich Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas Was ist die Zeit? Diese Frage erlebt nach Kant eine Blütephase in der Phänomenologie. Eine Verbindung, die hier lange übersehen wurde, betrifft Levinas’ Interesse und Kritik an Kants Moralphilosophie. Der Stein des Anstoßes ist die Zeit und ob sie im Sinne Kants eine Anschauungsform ist, in der uns jene Pflicht erscheint, die dem Dasein einen Sinn verleiht. Für Levinas ist die Zeit weniger die Form einer solchen Erkenntnis als die Kluft, die uns von der Bedeutung unserer Verantwortung trennt. Levinas’ gespaltenes Verhältnis zu Kant in diesem Punkt nachzuzeichnen, ist Ziel dieses Buches.

Der Autor: Max Brinnich, 2012 Abschluss des Diplomstudiums, 2016 des Doktorats in Philosophie und 2017 des Lehramtsstudiums (Deutsch/Philosophie und Psychologie). 2009–2012 Studienassistent am Institut für Philosophie in Wien, 2012–2016 Universitätsassistent, derzeit Lektor ebendort. Seit 2016 Lehrer an einem Gymnasium in Wien.

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Alber-Reihe Thesen Band 73

®

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48823-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82071-1

https://doi.org/10.5771/9783495820711 .

Inhalt

Zitierweise und Verzeichnis der verwendeten Siglen . . . .

9

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

1. Einleitung zum Zeitbegriff bei Kant und Levinas . . . 1.1. Die Frage der Zeit im Lichte von Kants kopernikanischer Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Zum Verhältnis von Metaphysik, Zeit und Moralität bei Kant und Levinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Von Kants Metaphysikkritik zu Levinas’ Metaphysik als Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Zeit als eine Grenze des Verstandes bei Kant . . .

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2.1. Das Nacheinander der Zeiten und die reinen Verstandeskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die Illusionen des reinen Denkens im Blick auf die Zeit . 2.3. Die Zeit als eine Grenze des Verstandes . . . . . . . . .

42 51 58

3.

Der Urteils- und der Zeitdiskurs bei Kant und Levinas .

70

4.

Spuren von Kant in der späten Zeitkonzeption von Levinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

2.

4.1. Levinas’ Annäherung an Kant: das Ich, die Freiheit und die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Die Bedeutung des Phänomens »Zeit« bei Levinas und das Erbe Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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Inhalt

5.

Das Jenseits des Seins und die Zeit bei Levinas . . . 5.1. Die Bedeutung der Verantwortung für die Zeit: die Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Die Bedeutung der Geduld für die Zeit: die Gegenwart 5.3. Die Bedeutung des Wartens für die Zeit: die Zukunft

8

. .

116

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117 139 153

6.

Der Humanismus und die Zeit bei Kant und Levinas . . 168

7.

Verwendete Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . 181

ALBER THESEN

Max Brinnich https://doi.org/10.5771/9783495820711 .

Zitierweise und Verzeichnis der verwendeten Siglen

Sämtliche Autoren werden nach Möglichkeit nach standardisierten AkademieAusgaben oder den jeweils gängigsten Ausgaben zitiert. Die Quellennachweise setzen sich in diesen Fällen aus dem Nachnamen, dem Titel oder der Sigle der zitierten Schrift, dem Kurznachweis für die verwendete Ausgabe und der Seitenangabe, jeweils in arabischen Ziffern, zusammen. Bei der Verwendung von Übersetzungen wird, durch Schrägstrich getrennt, gegebenenfalls noch die Paginierung des zugrundeliegenden Originaltextes angeführt. Zitiert wird unter Verwendung des beiliegenden Siglen-Verzeichnisses und grundsätzlich in folgender Form: Nachname des Autors, Sigle oder Titel [der Schrift], Sigle [der Ausgabe] Bd.-Nr.: Seite[n]. Beispiele: Kant, Anth, AA 08: 182. Levinas, Humanismus und An-archie, HAM: 82/HAH: 82. Alle Hervorhebungen im Original werden kursiv wiedergegeben. Anmerkungen zum Original werden in eckige Klammern und gefolgt von den Initialen des Verfassers gesetzt.

Siglen zu Immanuel Kants Schriften AA:

Anth: GMS: MS: KpV:

Gesammelte Schriften, Bde. 1–22 hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 hg. v. der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin 1900 ff. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hg. v. Reinhard Brandt. Hamburg 2000, zitiert nach der Paginierung von AA 07. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, zitiert nach Textbestand und Paginierung von AA 04. Die Metaphysik der Sitten, zitiert nach Textbestand und Paginierung von AA 06. Kritik der praktischen Vernunft, mit einer Einleitung, Sachanmerkung und einer Bibliographie von Heiner F. Klemme hg. v. Horst D. Brandt und Heiner F. Klemme. Hamburg 2003, zitiert nach der Paginierung von AA 05.

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Zitierweise und Verzeichnis der verwendeten Siglen KrV:

Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten OriginalAusgabe hg. v. Raymund Schmidt, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme. Hamburg 1993, zitiert nach der Paginierung der ersten Auflage von 1781 (A) und der zweiten Auflage von 1787 (B). KU: Kritik der Urteilskraft, mit einer Einleitung und Bibliographie hg. v. Heiner Klemme, mit Sachanmerkungen von Piero Giordanetti. Hamburg 2006, zitiert nach der Paginierung von AA 05. OP: Opus Postumum, zitiert nach Textbestand und Paginierung von AA 21 und 22. Prol: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, zitiert nach Textbestand und Paginierung von AA 04. Refl: Reflexion, zitiert nach Textbestand und Paginierung von AA 14– 19. RGV: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, zitiert nach Textbestand und Paginierung von AA 06. VAMS: Vorarbeit zur Metaphysik der Sitten, zitiert nach Textbestand und Paginierung von AA 23. V-Met/Schön:Metaphysik von Schön, Ontologie, zitiert nach Textbestand und Paginierung von AA 28.

Siglen zu Emmanuel Levinas’ Schriften AQ: EE: GZ: DEHH: HAH: HAM:

JS:

SpA:

TA: TI: TU:

10

Autrement qu’être on au-delà de l’essence. La Haye 1974. De l’existence à l’existant. Paris 31981. Gott, der Tod und die Zeit, aus dem Französischen von Astrid Nettling und Ulrike Wasel, hg. v. Peter Engelmann. Wien 1996. En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger. Paris 41982. Humanisme de l’autre homme. Montpellier 1972. Humanismus des anderen Menschen, übers. und mit einer Einleitung versehen von Ludwig Wenzler, mit einem Gespräch zwischen Emmanuel Levinas und Christoph von Wolzogen als Anhang »Intention, Ereignis und der Andere«. Hamburg 2005 (= dt. Übersetzung von HAH). Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, aus dem Französischen übers. v. Thomas Wiemer. Freiburg im Breisgau/München 42011 (= dt. Übersetzung von AQ). Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übers., hg. und eingel. v. Wolfgang Krewani. Freiburg im Breisgau/München 31983 (= dt. Übersetzung von DEHH). Le Temps et l’Autre. Montpellier 1979. Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité. La Haye 41980. Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, aus dem Französischen übers. v. Thomas Wiemer. Freiburg im Breisgau/München 42008 (= dt. Übersetzung von TI).

ALBER THESEN

Max Brinnich https://doi.org/10.5771/9783495820711 .

Zitierweise und Verzeichnis der verwendeten Siglen VS:

ZA:

ZU:

Vom Sein zum Seienden, aus dem Französischen übersetzt von Anna Krewani und Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg im Breisgau/München 2008 (= dt. Übersetzung von EE). Die Zeit und der Andere, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Ludwig Wenzler. Hamburg 2003 (= dt. Übersetzung von TA). Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, aus dem Französischen von Frank Miething. München 1995.

Weitere verwendete Siglen AT: EHU:

Hua: HWPh:

KGA:

GA: TWA:

René Descartes, Œuvres de Descartes, hg. v. Charles Adam und Paul Tannery. Paris 1897–1913. David Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding, hg. v. Tom L. Beauchamp. Oxford 2006, zitiert nach der Paginierung der Ausgabe von Selby-Bigge und Nidditch (Oxford 1975). Edmund Husserl, Husserliana. Edmund Husserl: Gesammelte Werke, hg. v. Ullrich Melle. Den Haag 1955 ff. Historisches Wörterbuch der Philosophie, unter Mitwirkung von mehr als 1500 Fachgelehrten, 12 Bde., hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Bd. 13 (Register) hg. v. Margarita Kranz. Basel 1971–2004, 2007. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Hans Joachim Birkner und Gerhard Ebeling, Hermann Fischer, Heinz Kimmerle, Kurt-Victor Selge. Berlin/New York 1980 ff. Martin Heidegger, Gesamtausgabe. Frankfurt am Main 1975 ff. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Theorie-Werkausgabe, auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, hg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 1986.

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Vorwort

Diese Arbeit ist im Rahmen einer Anstellung am Institut für Philosophie der Universität Wien im damaligen Forschungsbereich »Europäische Philosophie und Continental Philosophy« entstanden und wurde von Prof. Dr. Violetta L. Waibel betreut, die mich seit meiner Studienzeit gefördert und die vorliegende Arbeit mit viel Vertrauen, Sorgfalt, Geduld und mit einem kritischen Augenmerk begleitet hat. An erster Stelle möchte ich meiner Doktormutter Prof. Dr. Violetta L. Waibel danken. Ich danke auch Philipp Schaller, Johannes Epple, Gerald Schönauer, Karin Kuchler, Martin Moser, Peter Gaitsch und Arno Böhler für die wertvollen Gespräche. Ein besonderer Dank gilt auch Eva Zuccato, an die ich oft zurückdenke, Gertrud Wachter und Elisabeth Fally, die mich am Institut für Philosophie in Wien unterstützt haben. Meinen Eltern und meinem Bruder danke ich für die Wertschätzung, die sie meiner Arbeit entgegengebrachten, meiner Frau und meinen Kindern für das Glück, das sie mir bedeuten, und die Liebe, die sie mir schenken, ohne die ich diese Arbeit nie geschrieben hätte.

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1. Einleitung zum Zeitbegriff bei Kant und Levinas

Wollte man der Zeit selbst eine Folge nacheinander beilegen, so müßte man noch eine andere Zeit denken, in welcher diese Folge möglich wäre. Kant, KrV: A183/B226

1.1. Die Frage der Zeit im Lichte von Kants kopernikanischer Revolution Was ist Zeit? Diese Frage erlebt in der Folge Kants eine Blütephase: im sogenannten Spinoza-Streit, den Jacobi als selbsterklärter Kantianer gegen Hegel und Schelling austrägt, 1 aber auch im Ausgang von Kant bei Husserl und Heidegger sowie in der Phänomenologie französischer Provenienz. Kants Ausführungen zur Zeitthematik nehmen weitaus kleineren Raum ein, als ihr Stellenwert in diesen nachkantischen Zentren der Philosophiegeschichte vermuten ließe. Ferner überrascht, dass Kant diese Frage so, wie sie dort gestellt wird, eigentlich gar nicht stellt. Denn in der nachkantischen Tradition wird der Begriff der Zeit meist durch Folgeverhältnisse bestimmt, oft etwa in Termen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 2 Kant spricht Für eine sehr gelungene Darstellung dieses Streits vgl. Birgit Sandkaulen, System und Zeitlichkeit. Jacobi im Streit mit Hegel und Schelling, in: Systeme in Bewegung, hg. v. Christian Danz, Violetta Waibel. Hamburg: Meiner (im Erscheinen). 2 Zwar sind die nachkantischen Ansätze in Fragen der Zeitthematik durchaus divers: so spricht etwa Hegel in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse von 1830 von der Zeit als einem reinen Nacheinander des begrifflichen Werdens, Husserl von Protentionen und Retentionen und Heidegger von den drei Ekstasen der Zeit (vgl. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), TWA 09: 41–55; zum Retentions- und Protentionsbegriff Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, Hua 10: 27–53; zur Kritik Heideggers an Kants Zeitbegriff vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: 427, zu den Ekstasen GA 2: § 65). Wie in diesen Beispielen wird in den nachkantischen Zen1

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Einleitung zum Zeitbegriff bei Kant und Levinas

davon nicht. Er hat es nicht verabsäumt oder keinen geeigneten Ort gefunden, darüber zu sprechen, er sieht ganz einfach keinen Grund dafür, mehr dazu zu sagen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Dauer, Augenblicke, Ereignisse – all dies und alles andere, was nur in einer Folge nacheinander zu denken ist, betrifft nach seiner Ansicht nur die Dinge in der Zeit und nicht die Zeit selbst. 3 Über die Zeit selbst schreibt Kant nicht viel, sie habe »nur Eine Dimension: verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nacheinander«. 4 Dieser Grundsatz hat jedoch weitereichende Konsequenzen, bedenkt man, dass die Zeit für Kant jene Form der Anschauung ist, in der ein Vorstellungsbewusstsein überhaupt erst möglich ist, folgt daraus, dass die Präsenz verschiedener Zeiten im Bewusstsein ausgeschlossen ist, ja, dass, in dem Moment, in dem ich mir einer Vorstellung reflexiv bewusst werde, jene Zeit, in der sie ursprünglich erschienen ist, schon vergangen ist, sodass schließlich auch die Möglichkeit, einen objektiven Begriff der Zeit an sich zu bilden, ausgeschlossen ist. Somit nimmt Kant zwar an, dass unsere ganze Erfahrung zeitlich verläuft, dass wir dabei aber niemals einen objektiven Begriff der Zeit bilden können. Das wirft viele Fragen auf. Wenn wir die Zeit an sich nicht kennen – wie können wir dann wissen, dass, was jetzt vergangen ist, der Zukunft gleicht? Wie kann sich etwa, um ein Beispiel Kants zu bemühen, ein Steuermann auf hoher See orientieren, wenn er hierauf nicht vertrauen kann? 5 Wie ohne diese Gewissheit ein Leben führen tren der Philosophiegeschichte aber meist über die eine Zeit und ihre innere Abfolge gesprochen. 3 Vgl. hierzu Kant, KrV: »Metaphysische Erörterung des Begriffs der Zeit«; zu Kants Ablehnung, der Zeit selbst eine Folge beizulegen, KrV: A183/B226. Über die drei Zeitdimensionen spricht Kant kaum, kurze Anmerkungen finden sich in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht und in den Vorlesungen über Metaphysik. An beiden Orten betont Kant, dass die Zeitdimensionen und ebenso die Dauer, der Augenblick, der Anfang und das Ende nur Bestimmungen der Dinge in der Zeit, nicht aber der Zeit selbst seien (vgl. Kant, V-Met/Schön, AA 28: 521 f. u. Kant, Anth, § 34, AA 08: 182). 4 Kant, KrV: A31/B47. 5 Den Anspruch, eine solche Orientierung im Leben zu geben, hat Kant stets vor Augen gehabt. Im Unterschied zu Hume, der »sein Schiff, um es in Sicherheit zu bringen, auf den Strand (den Skeptizismus) setzte, da es dann liegen und verfaulen mag«, kommt es Kant darauf an, »ihm einen Piloten zu geben, der nach sicheren Prinzipien der Steuermannkunst, die aus der Kenntnis des Globus gezogen sind, mit einer vollständigen Seekarte und einem Kompaß versehen, das Schiff sicher führen könne, wohin es ihm gut dünkt« (Kant, Prol, AA 04: 262). Den gleichen Eindruck

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Die Frage der Zeit im Lichte von Kants kopernikanischer Revolution

und wie überhaupt von einem Leben sprechen? Wenn Kant Recht hat, ist das eigene Leben ein nie endendes Arrangement mit den Anforderungen einer Zeit, deren Wesen uns verborgen bleibt. 6 Diese Ansicht hat Kant viel Kritik und Missverständnis eingebracht. Bekannt ist Lamberts Einwand, die Zeit sei so wirklich, wie die Veränderungen in ihr, der nach Kants Einschätzung darauf abzielt, die Zeit zu einem Objekt des Verstandes zu erheben, 7 was Kant jedoch rigoros ausvermittelt auch Kants besonders scharfe Reaktion auf die sogenannte Göttinger Rezension seiner Kritik der reinen Vernunft. Diese Rezension attestierte der kantischen Philosophie, dem Idealismus zu verfallen, dem Skeptizismus Tür und Tor zu öffnen und somit keine klare Orientierung zu geben (vgl. zu dieser Thematik: Konstantin Pollok, Einleitung, in: Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Hamburg: Meiner 2001, IX– LXII). 6 Norbert Fischer weist darauf hin, dass das vernünftige Subjekt bei Kant den Bedingungen der Zeit unterworfen ist, ohne doch das Wesen der Zeit selbst zu kennen und wie sein eigener Charakter damit vereinbar ist. Das führe dazu, dass das Subjekt bei Kant nur als Inhaber, nicht als Urheber seines Charakters gedacht werden könne (vgl. Norbert Fischer, Die Zeit als Thema der ›Kritik der reinen Vernunft‹ und der kritischen Metaphysik. Ihre Bedeutung als Anschauungsform des inneren Sinnes und als metaphysisches Problem, in: Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Einführung in die »Kritik der reinen Vernunft«, hg. v. Norbert Fischer. Hamburg: Meiner 2010, 80–100, 94 f.; Norbert Fischer stützt seine These auf Kant, KrV: A553 f./B581 f.; vgl. hierzu bes. Kant, KpV, »Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft«). Entsprechend bezieht sich Kants Begriff der Freiheit nur auf die Selbstgesetzgebung und nicht auf den freien Gesetzesentwurf. Da sein Zeitbegriff die Freiheit des Menschen somit nur als Autonomie denkbar macht, nimmt Kant mit seiner Erörterung der Zeit vorweg, dass das Subjekt seiner Ansicht zufolge je schon ethisch konnotiert ist. Denn dass es nur zur Selbstgesetzgebung fähig und insofern je schon auf ein Gesetz angewiesen ist, das es sich geben kann, bedeutet, dass es immer schon zur allgemeinen Gesetzgebung fähig und verpflichtet ist (vgl. hierzu Ingo Marthalers Rede vom kategorischen Imperativ als Aufklärung der Struktur der transzendentalen Freiheit in: Ingo Marthaler, Bewusstes Leben. Moral und Glück bei Immanuel Kant. Berlin/Boston, Mass.: de Gruyter 2014 [= Kantstudien-Ergänzungshefte, Bd. 176), bes. 13 u. 16]. 7 In der Forschung wird Kants Zeitbegriff oft überformt: Düsing macht Kants Zeitbegriff aus der Unterscheidung von subjektiver und objektiver Zeit verständlich (vgl. Klaus Düsing, Objektive und subjektive Zeit, in: Kant-Studien (1980) 71/2, 1–34, 19 f. u. 22). Für die subjektive Zeit wird dabei ein anderes Folgeverhältnis veranschlagt als für die objektive, wobei beides natürlich konzeptionell, also begrifflich und mit dem Anspruch auf Objektivität geschieht. Nach Kant darf der Zeit an sich jedoch überhaupt keine Folge beigelegt werden (vgl. Kant, A183/B226), und es ist unmöglich, einen objektiven Zeitbegriff zu bilden. Friedmann macht die Vorstellung der Zeit aus der erkenntnisnotwendigen Vorstellung von Reihenfolgen verständlich (vgl. Michael Friedman, Kant and the Exact Sciences 1992, bes. 121). Doch auch die Vorstellung von Reihenfolgen trägt nach Kant nichts zum genuinen Verständnis der Zeit bei (vgl. Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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Einleitung zum Zeitbegriff bei Kant und Levinas

schließt. 8 Kant hält Lamberts Argument der Sache nach zwar für richtig, widerspricht aber dem, was Lambert daraus folgert: So hält Kant fest, dass die Zeit in Ansehung der empirischen Veränderungen zwar wirklich ist, dass sie dabei jedoch nur »subjektive Realität in Ansehung der inneren Erfahrung« für sich beanspruchen könne. 9 Demnach ist die Zeit zwar die Form, in der empirische Veränderungen gegeben sind, allerdings ist sie aus exakt demselben Grund nur eine Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung und nicht selbst ein Objekt derselben. Kurz: für einen diskursiven Verstand, der nach Kant auf Erfahrungen angewiesen ist, ist die Zeit kein mögliches Objekt der Erkenntnis. 10 Ein solcher Verstand kann ein Phänomen der

Kant, KrV: A33/B50). Andere Beispiele sind: Peter Frederick Strawson, Sensibility, Understanding, and the Doctrine of Synthesis: Comments on Henrich and Guyer, in: Kant’s Transcendental Deductions. The Three ›Critiques‹ and the ›Opus Postumum‹, hg. v. Eckart Förster. Stanford, California: Stanford University Press 1989, 69–77, 75 und Karin Michel, Untersuchungen zur Zeitkonzeption in Kants Kritik der reinen Vernunft. Wuppertal: de Gruyter 2003 (= Kantstudien. Ergänzungshefte, Bd. 145), 62; Thorsten Streubel, Das Wesen der Zeit. Zeit und Bewusstsein bei Augustinus, Kant und Husserl. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, 104 f.; Lawrence Friedman, Kant’s Theory of Time, in: The Review of Metaphysics 7/3 (1954), 379–388, 385. 8 Kant betont, die Zeit sei weder etwas, »was für sich selbst bestünde«, noch etwas, das »den Dingen als objektive Bestimmung anhinge« (Kant, KrV: A33/B49). Sie ist demnach weder unabhängig von der Anschauung eines Objekts noch ist sie eine Eigenschaft desselben und daher weder direkt noch indirekt ein Objekt des Verstandes. Fischer folgert daraus, dass die Zeit bei Kant eine Form der Anschauung ist, zweierlei: dass sie keine absolute Realität habe und, dass sie nicht auf eine intellektuelle Anschauung zurückgeht, in der das Subjekt die Zeit am Objekt seiner Anschauung hervorbringt (vgl. Fischer, Die Zeit als Thema der ›Kritik der reinen Vernunft‹ und der kritischen Metaphysik, 88; vgl. Kant, KrV: A37/B54 u. B72). 9 Auf Lamberts Einwand antwortet Kant in Kant, KrV: A36–41/B53–59. Er sieht sich durch diesen Einwand dazu veranlasst, darauf hinzuweisen, dass die Zeit kein möglicher Gegenstand des Verstandes ist. Zur Korrespondenz zwischen Kant und Lambert vgl. Violetta Waibel, Transzendental ideal, empirisch real. Kant über Raum und Zeit, in: Kant zwischen Ost und West. Zum Gedenken an Kants 200. Todestag und 280. Geburtstag, Bd. 2, hg. v. Wladimir Bryuschinkin. Kalingrad: Verlag der KantUniversität zu Kalingrad 2005, 210–219, bes. 213 f. 10 In Kants Worten beinhaltet die Erkenntnis zwar die Vorstellung eines zeitlich Mannigfaltigen, jedoch nicht wie dieses an sich ist, sondern nur, wie es sich zu einem Objekt verbinden lässt, das heißt schematisch (auf transzendentaler Ebene): »Da aber Erfahrung ein Erkenntnis der Objekte durch Wahrnehmungen ist, folglich das Verhältnis im Dasein des Mannigfaltigen nicht wie es in der Zeit zusammengestellt wird, sondern wie es objektiv in der Zeit ist, in ihr vorgestellt werden soll, die Zeit selbst aber nicht wahrgenommen werden kann, so kann die Bestimmung der Existenz der

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Die Frage der Zeit im Lichte von Kants kopernikanischer Revolution

Erfahrung erst erkennen, wenn es ihm in der Wahrnehmung gegeben ist, 11 vergegenwärtigt dann aber etwas, das bereits vergangen ist. 12 Entsprechend lässt sich die Zeit objektiv nicht erkennen, da die Erkenntnis hierfür zu spät kommt. Um dennoch Orientierung geben zu können, muss der Verstand in seinem Urteil deshalb zumindest von der Maxime ausgehen, die Natur und mit ihr die Zeit verführen gesetzmäßig und, was er sich zu einem Zeitpunkt vergegenwärtigt, sei zu einem späteren noch gültig. 13 Er muss annehmen, die Zeit verlaufe nach einem objektiven Gesetz, dabei aber im Blick haben, dass er dieses Gesetz niemals erkennen können wird, und die Zeit als Grenze seiner Erkenntnis betrachten. 14 Kant beschreibt die Zeit vor diesem Hintergrund ausschließlich nach erfahrungsimmanenten Grundsätzen, 15 ohne Anspruch auf eine umfassende und vollständige Letztbegründung, da eine objektive ErObjekte in der Zeit nur durch ihre Verbindung in der Zeit überhaupt, mithin nur durch a priori verknüpfende Begriffe geschehen.« (Kant, KrV: B219) 11 Nach Kant geht in diesem Sinne »[d]er Zeit nach […] keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alles an« (Kant, KrV: B1). 12 Norbert Fischer weist in diesem Kontext darauf hin, dass nach Kant alle »Vergegenwärtigung des Zeitlichen« eine »Entzeitlichung des Gegebenen« ist (Norbert Fischer, Die Zeit als Problem in der Metaphysik Kants, in: Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, hg. v. Norbert Fischer. Hamburg: Felix Meiner 2004, 409–431, 417; vgl. hierzu Kant, KrV: B417). 13 Vgl. hierzu bes. Kant, KU, »V. das Prinzip der formalen Zweckmäßigkeit der Natur ist ein transzendentales Prinzip der Urteilskraft«. 14 Vgl. hierzu Kants Ausführungen zur Zeitthematik in Kant, KrV: »Metaphysische Erörterung des Begriffs der Zeit« u. »Erster Widerstreit der transzendentalen Ideen«. 15 Vgl. hierzu Graham Bird, The Revolutionary Kant 2006, 88 f. Anders als in der Forschung vielerorts üblich, präsentiert Bird den kantischen Ansatz ohne Anspruch auf theoretische Letztbegründung. In der Forschung wird oft die Ansicht vertreten, Kant habe nur den Grundstein zur Transzendentalphilosophie gelegt, nicht aber deren theoretisches, auf Letztbegründung zielendes System geliefert. Eine ähnliche Vermutung hat bereits Fichte geäußert. Kant hat sich davon distanziert (vgl. Kant, Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre, vom 7. August 1799, AA 12: 370 f.). Ähnlich wie Fichte spricht Dieter Henrich in diesem Kontext von einem System der Philosophie, von dem Kant zwar nie gesprochen habe und das auch im Widerspruch zu dem stünde, was er gesagt habe, das er aber dennoch insgeheim angestrebt habe (vgl. Dieter Henrich, Systemform und Abschlussgedanke. Methode und Metaphysik als Problem in Kants Denken, in: Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, hg. v. Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann und Ralph Schumacher, et al. Berlin: de Gruyter 2001, 94–115, 110). Ähnlich wie Bird erkennt auch Forschner in Kants Metaphysik eine immanente Beschreibung der Erfahrungserkenntnis, die gerade nicht auf theoretische Letztbegründung abzielt (vgl. Maximilian Forschner, Zu Kants ›Einleitung‹ in die ›Kritik der reinen Vernunft‹, in: Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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kenntnis der Zeit unmöglich ist. Das Resultat der theoretischen Philosophie Kants ist aus praktischer Perspektive deshalb auch nicht wirklich zufriedenstellend. Es hinterlässt den Eindruck, es sei unmöglich, sich im Hinblick auf die Zeit an Gesetzmäßigkeiten orientieren zu können. Kants viel zitierte Rede vom Primat der praktischen Vernunft lenkt die Aufmerksamkeit jedoch von der theoretischen auf dessen praktische Philosophie und lässt dort Antworten auf Fragen der Orientierung im Leben erwarten. Es ist möglich, dass anstatt der theoretischen und ontologischen Frage »Was ist die Zeit?«, auf die bei Kant keine Antwort zu finden ist, mit Kant vielmehr zu fragen ist, »Wie ist ein Leben in der Zeit praktisch möglich?«. Und hier liegt eine wichtige Verbindung zu Levinas, der diese Option bis ins hohe Alter bedacht hat. Ähnlich wie Kant schließt er zunächst die objektive Erkenntnis der Zeit aus. Auch für Levinas ist die objektive Erkenntnis in Beziehung auf das zeitlich gegebene Phänomen nachträglich und historisch, eine Vergegenwärtigung, Entzeitlichung und ein Verkennen der Zeit. 16 In seinem frühen Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit (Totalité et Infini) hält er fest: Das ›Was ist das‹ spricht das ›dieses‹ als ›jenes‹ an. Denn objektiv erkennen heißt, das Historische kennen, das Faktum, das schon Geschehene, das schon Überholte. […] Das Historische ist auf immer von seiner eigentlichen Gegenwart abwesend. Wir wollen damit sagen, daß es hinter seinen Erscheinungen verschwindet – seine Erscheinung ist immer oberflächlich und zweideutig, sein Ursprung, sein Prinzip, sind immer woanders. Es ist Phänomen – Realität ohne Realität. Das Verfließen der Zeit, in dem sich nach dem kantischen Schema die Welt konstituiert, ist ohne Ursprung. Da diese Welt ihr Prinzip verloren hat, an-archisch ist, phänomenale Welt, gibt sie keine Antwort auf die Frage nach dem Wahren; sie genügt dem Genuß, der Genuß ist das Genügen selbst. 17

Ich möchte von dieser durchaus dichten Textpassage vorerst nur Folgendes festhalten: Levinas kommt mit Kant in der Ansicht überein, Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Einführung in die »Kritik der reinen Vernunft«, hg. v. Norbert Fischer. Hamburg: Meiner 2010, 33–48, 48). 16 Vgl. Levinas, Ist die Ontologie fundamental, ZU: 23 sowie ders., Humanismus und An-archie, HAM: 82/HAH: 82; analog in: ders., GZ: 67–77, 196; JS: 287/AQ: 166. 17 Levinas, TU: 86/TI: 36; im Gegensatz hierzu entgegnete Levinas Kant in den 1950ern noch, die Zeit sei ein durch »die mannhafte Macht des Subjekts« gesetztes Schema (vgl. ders., TA: 34/ZA: 28 f.) und damit etwas, was der Spontaneität des Denkens prinzipiell zugänglich ist. Ähnlich vertrat Kant in seiner Inauguraldissertation noch die Ansicht, die Zeit sei ein intellektuelles Schema (vgl. Kant, MSI, §§ 9 u. 13).

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dass objektive Erkenntnis nur historisch möglich ist, das heißt, dass sich die dadurch erkannte Welt der Zeit noch vor und unabhängig von ihrem Verstehen sinnlich und als Erscheinung konstituieren muss. Dort, wo die objektive Erkenntnis möglich ist, ist eine Erkenntnis der Zeit nach Levinas daher ebenso ausgeschlossen wie die Möglichkeit, entsprechende Gewissheit im Hinblick auf Fragen nach letzten Wahrheiten zu erlangen, da die objektive Erkenntnis jederzeit zu spät kommt, um die Erfahrungswelt von ihren Ursprüngen her zu verstehen, und zugleich zu früh, um ihre Totalität zu überschauen. Dieser Umstand ist für Levinas nun allem voran in ethischer Rücksicht von Bedeutung: In nuce erkennt er darin das Bild einer Subjektivität, deren Ursprung und letzter Zweck ein absolutes Rätsel sind. Für Levinas liegt die Bedeutung dieser Subjektivität daher jenseits dessen, was wir in theoretischer Rücksicht verstehen können, und diese Bedeutung sucht er in der Ethik. Dabei fühlt er sich Kants praktischer Philosophie nahe, ohne deren Architektonik zu schätzen. 18 Hierzu eine Anmerkung: Levinas hat sich Kant keineswegs immer so nahe gefühlt. In seinen Frühschriften ist ein auffallend distanziertes Verhältnis zu Kant zu beobachten. 19 Das ändert sich erst dann, als er 1950 mit dem Aufsatz L’ontologie est-elle fondamentale? der philosophischen Ontologie »mit sämtlichen Kant’schen Echos« den Rücken kehrt. 20 In weiterer Folge gewinnt Kant für ihn stark an Bedeutung. Zwischen 1950 und 1961 wendet sich Levinas von Heideggers Fundamentalontologie ab und seinem Projekt der Ethik als Erster Philosophie zu. 21 In dieser Wende erkennt er Kants kopernikanische Vgl. Anm. 28. Vgl. in Rücksicht auf die Zeitthematik bes. Levinas, VS: 121 ff./EE: 87 ff. sowie ders., ZA: 28/TA: 33 f. 20 Vgl. Levinas, »Ist die Ontologie fundamental?«, ZU: 19. Trotz dieses eindeutigen Bekenntnisses zu Kant wird mit Levinas’ Abkehr von der Ontologie gelegentlich eine Abkehr von Kant verbunden – so etwa in: Werner Stegmaier, Emmanuel Levinas zur Einführung. Hamburg: Junius 2009, 55, 68 u. ö. Vgl. für Levinas’ Bekenntnis zu Kant auch die nachfolgende Anm. 21. 21 Norbert Fischer spricht hier von einer »zustimmende[n] Rückkehr zu Motiven Kants« aber auch von einer »kritisch-ergänzende[n], ›phänomenologische[n]‹ Fundierung und Erweiterung des von Kant vorgetragenen Ansatzes« (Norbert Fischer, Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden? Der Zugang zur Gottesfrage bei Levinas durch kritische Anknüpfung an Heidegger und Kant, in: Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas, hg. v. Norbert Fischer. Hamburg: Meiner 2013, 49–85, 51). – Die Phase bis zu Levinas’ kritischer Distanzierung von Heideggers Ontologie erstreckt sich nach Einschätzung von Adriaan Theodoor Peperzak von 1927 bis 1950, die Ausbildung einer unabhängigen metaphysischen Lehre ist seiner An18 19

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Revolution der Philosophie wieder, 22 was sich – ein kurzer Exkurs – in nuce wie folgt erklärt: nach Kant finden Erfahrungen zu verschiedenen Zeiten statt, der Inbegriff der Erfahrung ist darum kein möglicher Gegenstand der Erfahrung. 23 Diese Szenerie nötigt die erfahrende Subjektivität, sich unaufhörlich an allgemeinen Anforderungen der jeweiligen Zeit, in der sie erfährt, zu orientieren. Um jene transzendentale Identität zu haben, die sie braucht, um die jeweils erfahrene Welt zu erkennen, und das heißt, sie in ihrer allgemeinen, weil gesetzmäßigen Bedeutung zu verstehen, darf sie deshalb nicht aufhören, sich auch eine diesen Anforderungen entsprechend allgemeine Bedeutung zu geben. 24 Das ist der Grundgedanke von Kants kopernikanischer Revolution der Philosophie, dass sich die Welt, die wir erkennen, auch nach der Art unseres Verstehens richtet – ähnlich wie wir die Umlaufbewegungen der Sterne in Kopernikus’ Augen nur erkennen können, wenn wir die Gesetzmäßigkeiten berücksichtigen, die unsere Beobachterperspektive auf einer sich drehenden Erde mit sich bringt. Was Levinas an dieser Überlegung offenbar gefällt, ist weniger der erkenntnistheoretische Horizont, den sie eröffnet, als die damit verbundene Idee, die Welt, die wir ja alle erkennen, müsse uns auch je schon in einer Bedeutung erscheinen, die sich aus unserem gemeinsamen Standpunkt erklärt und sei daher von jeher ethisch konnotiert. Dies ist der Grundstein für Levinas’ Projekt einer Ethik als Metaphysik. 25 Die Bedeutung der kopernikanischen Revolution sicht nach mit dem Erscheinen des ersten Hauptwerks im Jahr 1961 anzusetzen (vgl. Adriaan Theodoor Peperzak, Beyond 1997, 38–39). 22 S. hierzu Anm. 28 u. 270. 23 Gleichwohl ist der Inbegriff der Erfahrung bei Kant ein subjektives Prinzip der Urteilskraft. Ein Urteil, in dem verschiedene Erfahrungen nach einem Begriff als ein Objekt vorgestellt werden, fordert vom Subjekt, zumindest von der subjektiven Maxime auszugehen, es verfüge über einen Inbegriff der Erfahrung (vgl. hierzu Kant, KU, »Einleitung«). 24 Die Autonomie des Subjekts ist hierbei nicht mit dem freien Entwurf der eigenen Freiheit gleichzusetzen, sondern die Übernahme eines gegebenen Gesetzes. Vgl. hierzu Ingo Marthaler: »Der Wille als Autonomie ist als solcher weder frei noch unfrei, sondern schlicht notwendig.« (Marthaler, Bewusstes Leben, 68). 25 Norbert Fischer schreibt in diesem Kontext treffend: »Der Anfang mit der metaphysischen Ethik als der neuen ›Ersten Philosophie‹ läßt sich auch als korrigierende und verstärkende Bezugnahme auf Kants zweiten Anfang [der nach Norbert Fischer mit Kants Kritik der praktischen Vernunft einsetzt, die der Autonomie der praktischen Vernunft unter der Schirmherrschaft der Moralität den Vorrang vor dem Theoretischen zugesteht] lesen, sofern Kant den neuen Anfang unversehens nicht als ›Entwurf‹ denkt. Denn das Bewußtsein des moralischen Gesetzes benennt er, nachdem er

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der Philosophie bei Kant liegt nach Levinas’ Einschätzung also darin, dass sich, im kantischen Bilde gesprochen, die Welt, die ihr Zuschauer versteht, auch nach Gesetzen seiner Subjektivität dreht, die er jedoch an sich nicht versteht, sodass die Bedeutung seiner Subjektivität den eigenen Horizont übersteigt. 26 Die Bedeutung der Subjektivität übersteigt deren theoretischen Horizont, jedoch ohne deshalb aufzuhören, für die Freiheit derselben verbindlich und insofern gerade aus einer praktisch-moralischen Perspektive bedeutsam zu sein. Eben hierin liegt für Levinas die Bedeutung von Kants kopernikanischer Revolution: es ist das Primat der praktischen Absicht der Vernunft vor ihrer theoretischen und damit verbunden die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes, die Levinas im Sinne seiner Ethik als Metaphysik interessieren und ihn zu Kant zurückführen. 27 Indessen radikalisiert er Kants Ansatz an vielen Punkten und begründet es gefunden hat, als das ›einzige Factum der reinen Vernunft‹. Kants Neigung zur theoretischen Absicherung dieses Prinzips, führt nicht nur den Vorzug bei sich, daß es nicht als unvernünftig abgetan werden kann, sondern auch die Gefahr, dass das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft – analog dem Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch – als ›Produkt‹ der autarken Vernunft gepriesen oder denunziert werden kann. Denn an der Stelle der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, an der Kant zum ›Grund‹ des moralischen Prinzips spricht, wird noch nicht zureichend klar, daß es ›als gegeben anzusehen‹ ist, was Levinas mit seiner Einführung verdeutlicht, die auf seine ›Transzendenz‹ hinweist.« (Fischer, Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden?, 66) 26 Für Kants Veranschaulichung der kopernikanischen Wende vgl. Kant, KrV: BXVI u. BXXII Anm. Der kantische Gedanke einer kopernikanischen Revolution der Denkungsart, wonach sich die Welt, die ihr Zuschauer versteht, nach dessen je eigenen Gesetzen dreht, impliziert also die Vorstellung einer Subjektivität, deren Bedeutung jenseits des Verstehens liegt. Diese Bedeutung muss aber zumindest praktisch umsetzbar sein, um überhaupt ins Bewusstsein zu rücken. Herrmann schreibt zu Recht, dass Kants Beschränkung der theoretischen Vernunft auf den Bereich der Erfahrung mit der Erweiterung der Aufgaben der praktischen Vernunft auf ein Jenseits der Erfahrung einhergeht (vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Kants Vorreden zur ›Kritik der reinen Vernunft‹ als Wegweisung zu einer neuen Wesensbestimmung der Metaphysik, in: Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Einführung in die »Kritik der reinen Vernunft«, hg. v. Norbert Fischer. Hamburg: Meiner 2010, 23–32, 24 f.). 27 Vgl. etwa Emmanuel Levinas, Le primat de la raison pure pratique/Das Primat der reinen praktischen Vernunft, in: Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, hg. v. Norbert Fischer. Hamburg: Felix Meiner 2004, 179–205, oder ders., JS: 138/AQ: 74. Fischer schreibt: »Obgleich Kant sich in der Frage des Primats von theoretischer und praktischer Vernunft vorsichtig tastend bewegt, ist Levinas mit gutem Grund überzeugt, das Gesamtgebäude der Philosophie Kants mit seiner weitergehenden Interpretation des Primats sachgemäß ausgelegt zu haben.« (Fischer, Womit muß der Anfang Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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seine ganze Philosophie auf den Pfeilern der Ethik, woran die vorliegende Arbeit, die sich dem Zeitbegriff bei Kant und Levinas widmet, besonders interessiert ist: Was bedeutet es, die Zeit nicht wie Kant im Ausgang von der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, sondern im Rekurs auf ethische und somit zwischenmenschliche Beziehungen zu denken? Levinas spricht hier von Verantwortung, von Geduld und vom Warten. Ist dies ein Anschluss an Kant? Viele Untersuchungen sehen Kants Zeitbegriff bei Husserl, Heidegger oder im Deutschen Idealismus fortgeführt, wiederum andere verorten Levinas’ Zeitbegriff ausschließlich in der phänomenologischen Tradition – all dies trotz Levinas’ offener Bewunderung der kantischen Philosophie 28 und obwohl er nach eigenen Angaben bis ins hohe Alter an der Entformalisierung des kantischen Zeitbegriffs arbeitete. 29 Vielleicht wurde hier etwas übersehen, 30 vielleicht stehen Levinas’ Überlegungen zur Zeitthematik in einer Linie mit Kant.

im Denken gemacht werden?, 57, für die kopernikanische Revolution als Wende zur Ethik als Metaphysik vgl. ebd., 65 f.). 28 Levinas schreibt etwa: »Wenn man das Recht hätte, von einem philosophischen System einen bestimmten Zug zurückzubehalten, indem man das Detail seiner Architektur vernachlässigt […], würden wir hier den Kantianismus anrufen: einen Sinn für das Menschliche zu finden, ohne es durch die Ontologie zu messen […] – vielleicht ist dies die kopernikanische Revolution.« (Levinas, Humanismus und An-archie, HAM: 82/HAH: 82; analog in: ders., GZ: 67–77, 196; JS: 287/AQ: 166) 29 Vgl. Levinas, Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit, ZU:, 277; vgl. hierzu ders., Diachronie und Repräsentation, »Entformalisierung der Zeit«, ZU: 215–217. 30 Levinas’ Zeitbegriff wird oft bruchlos von seinen Frühschriften und in phänomenologischer Tradition gelesen. Bei Ludwig Wenzler bleibt der Name Kant eine Marginalie zu den großen Namen der Phänomenologie (vgl. Ludwig Wenzler, Das Antlitz, die Spur, die Zeit. Zeitlichkeit als Struktur und als Denkform des religiösen Verhältnisses nach Emmanuel Levinas. Freiburg 1987 [Habilitationsschrift], bes. 12–30). In diese Richtung gehen auch: Wolfgang Krewani, Zum Zeitbegriff in der Philosophie des Emmanuel Levinas, in: Studien zum Zeitproblem in der Philosophie des 20. Jahrhunderts 1982, 107–127; Johanna Hodge, Lévinas between Kant and Husserl, in: Diacritics (2002) 32/88, 107–134; Otto Pöggeler, Anderheit, Unendlichkeit, Zeit. Die Wahrheitsfrage bei Lévinas, in: Facetten der Wahrheit. Festschrift für Meinolf Wewel, hg. v. Ernesto Garzón Valdés, Ruth Zimmerling. Freiburg: Karl Alber 1995, 151– 176; Andreas Gelhard, Levinas. Leipzig: Reclam 2005, etwa 1–36.

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Zum Verhältnis von Metaphysik, Zeit und Moralität bei Kant und Levinas

1.2. Zum Verhältnis von Metaphysik, Zeit und Moralität bei Kant und Levinas Doch von vorne: Der Zeitdiskurs erlebt eine Hochkonjunktur im Deutschen Idealismus und der Phänomenologie. Ausschlaggebend dafür war Kants Versuch, zu zeigen, dass die Zeit lediglich die Art ist, in der Phänomene unserer sinnlichen Wahrnehmung erscheinen und daher keine Eigenschaft der Dinge an sich. Indem er die Vorstellung der Zeit von der Welt der Dinge an sich ablöste, hat er bereits im 18ten Jahrhundert den Grundstein gelegt für einen ebenso vielseitigen wie neuen Zugang zur Zeitthematik in der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts: Wo der Zeitbegriff bei Kant noch auf die sinnliche Wahrnehmung bezogen ist, bezieht er sich bei Hegel auf die Historizität der Subjektivität, bei Husserl auf das Bewusstsein, bei Heidegger auf den Tod und bei Levinas auf die Trennung von Diesseits und Jenseits. Levinas steht in gewisser Weise also in einer Traditionslinie mit Kant. 31 Doch prima vista ist der wahrscheinlich größte Überschneidungspunkt zwischen Kant und Levinas nicht deren Zeitbegriff, sondern der humanistische Standpunkt, den beide vertreten: In den Augen beider ist die Moralität mehr als alles andere entscheidend für die Bedeutung, die wir unserem Leben beimessen können. Es stellt sich deshalb die Frage, ob es eine Verbindung gibt zwischen dem gemeinsamen humanistischen Standpunkt und der Art und Weise, in der Kant und Levinas sich jeweils der Frage nach der Bedeutung des Zeitbegriffs zuwenden. In diesem Kontext ist zunächst auffallend, dass die Frage nach der Moralität bei beiden Autoren in einem starken Naheverhältnis zu einem Gottesbegriff steht, der auch eine bestimmte Perspektive auf die Zeit eröffnet. Levinas spricht von einer Verantwortung, die auf Gott zurückgeht, und Kant von einer universalen Pflicht, die uns dazu nötigt, Gott zu postulieren. In beiden Fällen ist in diesem Zusammenhang von einem Imperativ die Rede: bei Levinas im Sinne eines göttlichen Gebots, das eine moralische Bedeutung hat, und bei Kant im Sinne eines moralischen Gebots, das die Idee Gottes enthält. Hier wie dort setzt die Moralität dann auch auf einer Höhe an, die den Horizont des endlichen Menschen und den Bereich desjenigen, worüber er frei entscheiden kann, unendlich übersteigt, und genau in diesem Punkt fühlt sich Levinas Vgl. hierzu vor allem das Kapitel »Spuren von Kant in der späten Zeitkonzeption von Levinas«.

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der kantischen Philosophie schließlich auch besonders nahe. 32 Entsprechend ist das Subjekt bei Kant im Bereich seiner Freiheit dem moralischen Imperativ kategorisch unterworfen, bei Levinas aber ist das Subjekt die »Geisel« des Anderen, für den es immer schon eine Verantwortung trägt. Levinas verweist in diesem Kontext nicht selten auf die lateinische Bedeutung des Wortes Subjekt: das UnterworfenSein. 33 Bei beiden Autoren ist die Frage nach der Bedeutung der menschlichen Subjektivität demnach eine Frage des Unterworfenseins unter das moralisch Gute. Dass wir der Moralität aber je schon »unterworfen« sind, heißt auch, dass die Zeit, in der wir leben, je schon in einem moralischen Bedeutungshorizont steht – denn nur zeitlich kann die moralische Konnotation des Lebens wirklich werden. Der kategorische Imperativ bei Kant und die unendliche Verantwortung bei Levinas enthalten in dem Sinne auch eine Wahrheit der Zeit. Die folgenden Ausführungen wollen in diesem Kontext sogar nahelegen, dass die starke Emphase der Moralität bei Kant und Levinas in einer unzertrennlichen Verbindung zu deren jeweiligem Zeitbegriff steht, dessen je spezifische Ausprägungsform hier untersucht werden soll. Den Hintergrund bildet bei beiden Autoren ein Projekt, das sich als Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik präsentiert. Anders als Levinas, dessen Fokus auf der ethischen Beziehung liegt, setzt Kant aber die Frage »Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?« an den Anfang seiner Untersuchungen. 34

Vgl. Levinas, Ist die Ontologie fundamental?, ZU: 22 f.: »Was wir uns diesbezüglich vorstellen, scheint uns von Kants praktischer Philosophie angedeutet, der wir uns besonders nahe fühlen.« Jene Paul Sorber betont zu Recht, dass Levinas in diesem Punkt Kant weit näher ist als etwa Descartes oder Husserl: »Of course, Levinas does want to privilege ›the ethical‹ over the ›theoretical‹ in a much stronger sense than is generally in evidence in Kant, but here can be little doubt that, on this score, Levinas is decidedly closer to Kant than to Descartes or Husserl, both of whom he mentions far more frequently.« (Jere Paul Surber, Kant, Levinas, and the Thought of the »Other«, in: Emmanuel Levinas. Critical Assessments of Leading Philosophers II: Levinas and the History of Philosophy, hg. v. Claire Elise Katz, Lara Trout. London/New York: Routledge 2005, 296–324, 305) 33 Vgl. hierzu etwa Levinas, JS: 256/AQ: 147: »Das Sich ist Sub-jectum: es findet sich unter der Last des Universums – für alles verantwortlich.« 34 Kant, KrV: B22. 32

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Von Kants Metaphysikkritik zu Levinas’ Metaphysik als Ethik

1.3. Von Kants Metaphysikkritik zu Levinas’ Metaphysik als Ethik Kant verfolgt ein philosophisches Projekt, das mit der Frage anhebt, »Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?«. Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Metaphysik ist bei Kant im weiteren Sinne eine Frage der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Denn, so hebt Kant hervor, der Zweck der Wissenschaft ist es, die Erkenntnis zu erweitern. 35 Erkenntnis aber setzt nach seiner Ansicht einerseits eine sinnliche Wahrnehmung voraus, die in einer Weise entstanden ist, die im Blick auf die sinnliche Welt der Erfahrung allgemein verbindlich ist und insofern rein rezeptiv vermittelt wurde. 36 Andererseits muss es möglich sein, das wahrgenommene Sinnenmaterial nach Begriffen a priori zu beurteilen, die in einer notwendigen Verbindung zu den Formen der sinnlichen Wahrnehmung stehen, um eine Erkenntnis zu gewinnen, die innerhalb der Welt der sinnlichen Wahrnehmung, streng allgemein und notwendig gültig ist. Um in den Rang einer Wissenschaft zu treten, muss vor diesem Hintergrund auch die Metaphysik ihre Erkenntnisse innerhalb der Grenzen der sinnlichen Wahrnehmung suchen oder sie zumindest in diesem Bereich verorten können, um nicht mit inhaltsleeren Begriffen zu hantieren. 37 Gleichwohl positioniert sich die metaphysische Erkenntnis bei Kant in scharfem Kontrast zur zeitlichen Ordnung, in der ein sinnliches Phänomen zunächst erscheint, bevor es begrifflich erkannt wird: Die Erkenntnis ist bei Kant immer erst nach den sinnlichen Phänomenen möglich, auf die sie bezogen ist. Sie setzt sich der zeitVgl. Kant, KrV: B23 f. Aus diesem Grund sind nach Kant auch im Bereich sinnlicher Wahrnehmung transzendentale Grundsätze zu finden. Jener Grundsatz, der die Zeit betrifft, besagt etwa, dass verschiedene Zeiten nicht zugleich, sondern nacheinander sind (vgl. Kant KrV A30 ff./B46 ff.; zu den oben implizit angesprochenen Kriterien der Notwendigkeit und strengen Allgemeinheit der Erkenntnis bei Kant vgl. bes. Kant, KrV: B4). 37 Vgl. hierzu: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen).« (Kant, KrV: A51/B75); zum sicheren »Boden« der sinnlichen Wahrnehmung, auf dem die Erkenntnis nach Kant errichtet ist, vgl. bes. Kant, KU, AA 05: 174–176; zur Kritik der reinen Vernunft, die die Reichweite der Vernunft auf den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung begrenzt, vgl. Kant, KrV: A841/B869. 35 36

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lichen Verlaufsform unserer Vorstellungen im inneren Sinn somit als Vergegenwärtigung eines historischen Faktums entgegen. Die Ordnungsformen der Zeit und der Erkenntnis bilden bei Kant gewissermaßen einen ordo inverso. Aus diesem Grund ruhen bei Kant nun auch bereits jene Begriffe, die eine einfache, empirische Erkenntnis möglich machen, auf einem »System der Epigenesis der reinen Vernunft«. Damit ist eine Art nachträgliche, aber generisch präformierte Entstehung gemeint: Die besagten Begriffe entstehen zeitlich gesehen nämlich nach den Formen der sinnlichen Wahrnehmung, stehen damit jedoch in einem notwendigen Zusammenhang und sind in diesem ontologischen Sinn generisch präformiert. 38 In Kants Augen besteht eine ontologisch notwendige Verbindung zwischen den reinen Formen der Wahrnehmung und den reinen Erkenntnisbegriffen. Diese Verbindung zwischen den Formen der Wahrnehmung und den für die Erkenntnis konstitutiven Verstandesbegriffen ermöglicht, ein Phänomen der Wahrnehmung, das bereits gegeben ist – trotz des zeitlichen Abstands zwischen seiner Erscheinung im inneren Sinn und seiner Erkenntnis durch den Verstand – in einer transzendentallogisch notwendig gültigen Weise zu beurteilen, die vonseiten der sinnlichen Wahrnehmungsmechanismen auch nicht determiniert ist. 39 Vgl. dazu Kant, KrV: B165–168; zum »System der Epigenesis« als einer Präformationslehre vgl. Kant, KU, AA 05: 423. Eine epigenetische oder generische Präformationslehre ist auch der Kern von Kants Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace von 1785 (Kant, AA 08: 91–106), die keinesfalls ein Relikt seines vorkritischen Schaffens ist (vgl. Jennifer Mensch, Kant’s organicism. Epigenesis and the development of critical philosophy. Chicago: Chicago University Press 2013). Vgl. zum »System der Epigenisis der reinen Vernunft« auch Fischer, Die Zeit als Problem in der Metaphysik Kants, 417; dazu Kant, KrV: B417; vgl. zur Bedeutung des Begriffs der Epigenesis bei Kant und im Deutschen Idealismus Günter Zöller, »Ein ewiges Werden.«. Die Selbstdarstellung des Absoluten als Wissen beim mittleren Fichte, in: Systeme in Bewegung, hg. v. Christian Danz, Violetta Waibel. Hamburg: Meiner voraussichtlich 2019. Zöller macht auf den Unterschied zwischen der individuellen Präformation qua »System der Zeugungen als bloßer Edukte« und dem System »der Zeugungen als Produkte« aufmerksam, welches Kant ein »System der Epigenesis« oder der »generischen Präformation« nennt (Kant, KU, AA 05: 423). Anders als seinerzeit üblich, zählt Kant die Epigenesis als »generische[] Präformation« demnach grundsätzlich zu den Präformationstheorien. 39 Zufolge von Kants epigenetischer Betrachtungsweise der Erkenntnisvermögen ist das Verhältnis von je schon zeitlich bedingter Existenzweise und autonomer Urteilsbildung demnach durch ein strenges Nacheinander geprägt. Wenngleich der Mensch hiernach zur Autonomie fähig ist, steht seine Autonomie dennoch nicht am Ursprung 38

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Von Kants Metaphysikkritik zu Levinas’ Metaphysik als Ethik

Ähnlich nun, wie die reinen Begriffe der empirischen Erkenntnis in einer notwendigen Verbindung zu den Formen unserer Wahrnehmung stehen, stehen in Kants Augen auch die Ideen der Metaphysik in einer notwendigen Verbindung zur Mannigfaltigkeit der empirischen Erkenntnis, deren Totalität sie zu erkennen versuchen. 40 Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass der Gegenstand der empirischen Erkenntnis in der Wahrnehmung gegeben ist, während der Gegenstand der Metaphysik zu keiner Zeit gegeben ist: Die Metaphysik kommt stets zu früh und zu spät, um ihren Gegenstand zu erkennen. Denn einerseits ist sie immer erst im Ausgang von der empirischen Erkenntnis möglich, deren Totalität sie zu erkennen versucht, und setzt daher notorisch zu spät an, um deren ursprüngliches Prinzip zu erkennen. Andererseits ist der Prozess der empirischen Erkenntnis zu keiner Zeit abgeschlossen, sodass die Metaphysik stets zu früh kommt, um deren Totalität insgesamt zu überblicken. Die Zeit ist hier der wesentliche Faktor, der die theoretische Metaphysik bei Kant an ihre inneren Grenzen bringt. Nun kann man sich fragen, inwiefern dies alles im Kontext der hier gestellten Frage nach dem Verhältnis von Moralität und Zeit überhaupt eine Rolle spielt. Die Antwort ist jedoch sehr schnell gefunden: Es spielt eine Rolle, weil, wo eine Grenze ist, auch ein freier Wille ist. Es ist unmöglich, theoretische Grenzen der Vernunft zu ziehen, ohne dabei die praktische Autonomie der Vernunft einzuräumen. Während die Vernunft bei Kant also in theoretischer Absicht an ihren eigenen, zu hoch gesetzten Maßstäben scheitert, beweist ihr Scheitern zugleich ihre praktische Autonomie. Dass die Vernunft nicht fähig ist, den integrativen Sinn der Gesamtheit unseres empirisch bestimmten Lebens zu erkennen, heißt auch, dass sie im Blick seiner Existenz, weshalb letztere folglich auf eine Schöpfung zurückgeht, die seiner Autonomie vorausgeht. Vgl. Müller-Sievers: »im epigenetischen Denken [bei Kant, MB] ist ein autonomer Ursprung der empirischen menschlichen Existenz entworfen, durch den dennoch nicht die Kontinuität der Schöpfung in Frage gestellt ist« (Helmut Müller-Sievers, Epigenesis. Naturphilosophie im Sprachdenken Wilhelm von Humboldts. Paderborn: Schöningh 1993, 55). Entsprechend gelingt es Kant über die Idee der Epigenesis das naturwissenschaftliche und das religiöse Weltbild in Beziehung zueinander zu setzen (vgl. hierzu: Mark Fisher, Metaphysics and Physiology in Kant’s Attitude towards Theories of Preformation, in: Kant’s Theory of Biology, hg. v. Ina Goy, Eric Watkins. Berlin, Boston: de Gruyter 2014, 26). 40 In theoretischer Rücksicht besteht die Aufgabe der Metaphysik in Kants Augen darin, die Totalität der empirischen Erkenntnis prosyllogistisch zu erschließen (vgl. hierzu bes., Kant, KrV: A323/B379). Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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auf diese letzte Fragen nach dem Sinn unseres Lebens frei ist, die Verantwortung für das eigene Handeln, die mit dieser Frage verbunden ist, in praktischer Rücksicht selbst in die Hand zu nehmen. 41 Die Autonomie der praktischen Vernunft ist für Kant gewissermaßen die letzte Bastion metaphysischer Gewissheit, sofern nämlich das Scheitern der theoretischen Vernunft an den Fragen der Metaphysik unmittelbar beweist, dass wir die Verantwortung für unser Leben in metaphysischer Rücksicht selbst in die Hand nehmen müssen, was nicht weniger eine Gewissheit von metaphysischer Dignität bildet. Da jedoch auch der praktischen Vernunft zunächst ein Gegenstand zu ihrer Ausübung gegeben sein muss und da dieser Gegenstand ihr in Kants Augen nur in der sinnlichen Wahrnehmung gegeben sein kann, gilt für die praktische Vernunft das gleiche wie schon für die theoretische Vernunft, nämlich dass sie sich der zeitlichen Ordnung der sinnlichen Phänomene entgegensetzt, indem sie sich etwas vergegenwärtigt, das bereits vergangen ist. Der Unterschied liegt darin, dass die praktische Vernunft, sofern sie sich vermittelst ihrer Autonomie auf den zeitlich strukturierten Bereich der Wahrnehmung richtet, denselben zugleich kultiviert und implizit den Anspruch erhebt, ein Rechtsverhältnis herzustellen, in dem die Gesetze der reinen Vernunft unabhängig von den Bedingungen der Zeit und von den Affektionen der Sinnlichkeit gelten. 42 Dem Zustand der Souveränität, in dem sie den sinnlichen Phänomenen die Gesetze vorgibt, kann die praktische Vernunft sich jedoch nur annähern, zumal sich Dazu, dass das Scheitern der Vernunft an den Maßstäben einer theoretischen Metaphysik bei Kant nur die Kehrseite ihrer Freiheit ist und damit zugleich die Hoffnung auf eine rein intelligible Welt in sich trägt vgl. Norbert Fischer, Kants Metaphysik der reinen praktischen Vernunft, in: Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, hg. v. Norbert Fischer. Hamburg: Felix Meiner 2004, 111–130, 130; vgl. hierzu allgemein auch Norbert Fischer, Zum Problem der Geschichtlichkeit in der Philosophie Kants. Eine Auslegung zum Bild der »konzentrischen Kreise« in Kants »Religionsschrift«, in: Kant und die biblische Offenbarungsreligion. Kant a biblické zjevené náboženství, hg. v. Norbert Fischer, Jakub Sirovátka und David Voprada, et al. Prag: Karolinum 2013, 45–57, bes. 47. 42 Das angedeutete Rechtsverhältnis impliziert die Nachreihung sinnlich bedingter Zwecke gegenüber den Zwecken der reinen Vernunft; vgl. die Ausführungen von Forschner, der im Kontext der Frage nach dem Verhältnis von Glück und Moralität bei Kant schreibt: »Andererseits kann der Mensch als endliches strebendes Wesen gar nicht umhin, auf Glückseligkeit aus zu sein. Dieser Wunsch läßt sich nicht vernichten, aber er läßt sich sehr wohl nachordnen« (Maximilian Forschner, Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993, 119). 41

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ihr Vollzug je schon auf sinnliche Phänomene richtet, die immer schon gegeben sein müssen, bevor sie zur Ausübung gerät, und die sie daher zwar kultivieren, aber niemals frei gestalten kann. Was bleibt, ist die Hoffnung, sich unendlich an eine rein vernünftige Daseinsform anzunähern. In den Augen Kants ist dies die einzige Hoffnung, die metaphysisch gerechtfertigt ist, indem sie auf der Gewissheit der praktischen Autonomie des Denkens aufbaut, die nach dem Scheitern der theoretischen Metaphysik noch Halt bietet. Nach Autonomie zu streben ist bei Kant sogar moralisch geboten: aufgrund ihres notwendigen Bezugs auf die sinnliche Erfahrungswelt, trägt die praktische Vernunft bei Kant zugleich eine Verbindlichkeit in sich, die sich auf all jene vernünftigen Wesen erstreckt, die derselben sinnlichen Welt angehören. 43 Das vernünftige Streben nach Autonomie ist bei Kant insofern ein Unterfangen, das alle Menschen gleichermaßen betrifft und das auch alle Menschen miteinander verbindet. Es ist dem Menschen zudem moralisch geboten, nach Autonomie zu streben, da dies seine einzige metaphysisch gerechtfertigte Hoffnung auf ein erfülltes Leben in der Zeit ist, da er in dieser metaphysischen Rücksicht den Sinn seines Lebens selbst verantwortet. Die Gewissheit, dass es eine moralische Pflicht zum Selbstdenken und zum autonomen Handeln gibt, macht Kant zum Gegner des Dogmatismus, Verfechter der Moralität, Fürstreiter des Geschmacks, Advokaten des Rechts sowie zum Vorreiter der Vernunftreligion und ist das Agens einer Philosophie, deren Programm mit der Aufklärung zusammenfällt und die einen Menschen vor Augen hat, der nicht länger unmündig, sondern kritisch, moralisch gerecht, ästhetisch geschult und auf vernünftige Weise religiös ist. 44 Norbert Fischer schreibt im Blick auf Kant: »Für den Willen eines vernünftigen Subjekts, das unabhängig von seiner Beziehung zu anderen vernünftigen Subjekten gedacht würde, gäbe es keinen unbedingt verpflichtenden Imperativ.« (Fischer, Kants Metaphysik der reinen praktischen Vernunft, 122) Hier ist nach meiner Ansicht zu ergänzen: aus diesem Grund muss die Verbindlichkeit dieses Imperativs sich je schon auch auf eine gemeinsame sinnliche Welt erstrecken, da zwischenmenschliche Beziehungen jederzeit auf der sinnlichen Erfahrungswelt aufbauen. 44 Dass das Scheitern der Vernunft an den Maßstäben einer theoretischen Metaphysik bei Kant nur die Kehrseite ihrer Freiheit ist und damit zugleich die Hoffnung auf eine rein intelligible Welt in sich trägt, hält auch Norbert Fischer fest, wenn er schreibt: »Gerade weil dem menschlichen Geist jede Stützung durch eine dogmatische Metaphysik, durch eine Ontologie des Übersinnlichen fehlt, sind Menschen aufgefordert, dem moralischen Gesetz als Glieder ›einer intelligiblen Welt (dem Reich Gottes)‹ aus Freiheit zu entsprechen (KpV A246).« (Fischer, Kants Metaphysik der reinen 43

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Es kann somit festgehalten werden, dass die theoretische Vernunft in den Augen Kants daran scheitert, auf die Frage nach der metaphysischen Bedeutung des Lebens eine Antwort zu geben, dass dieses Scheitern für die praktische Vernunft jedoch zugleich bedeutet, dem Leben in dieser Rücksicht allererst eine Bedeutung geben zu müssen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Dabei ist es, wie hier gezeigt werden konnte, gerade die Zeit, die die theoretische Vernunft an ihre Grenzen bringt, durch deren Scheitern es der praktischen Vernunft überlassen ist, dem Leben erst eine Bedeutung zu verleihen. Dass jeder Mensch die Frage stellen kann »Was ist der wahre Sinn des Lebens?«, ohne darauf jemals eine letzte Antwort zu wissen, beweist in Kants Augen, dass der Mensch auf einer metaphysischen Ebene frei ist, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, und dass dieselbe zu übernehmen seine moralische Pflicht ist. Und genau hier zeigen sich nun erstaunliche Parallelen zu Levinas. Denn wie Kant stellt auch Levinas zunächst die Frage, wie Metaphysik möglich ist. Anders als Kant kommt es ihm dabei jedoch nicht darauf an, die Metaphysik als Wissenschaft zu etablieren, sondern das metaphysische Begehren eines absolut Anderen in seinem Kern als ein Begehren nach dem ›wahren Leben‹ zu beschreiben. Levinas geht vom Faktum der Metaphysik als einem Begehren des ›wahren Lebens‹ aus und erhebt dann die Frage nach seiner Bedeutung. Anders als Kant geht es ihm nicht darum, der Metaphysik eine wissenschaftliche Form zu geben. Dies wird besonders in den Anfangspassagen von Totalität und Unendlichkeit aus dem Jahr 1961 deutlich, an denen sich die folgenden Ausführungen abarbeiten werden. In seinem frühen Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit versucht Levinas nämlich zu zeigen, inwiefern das Metaphysische absolut jenseits der phänomenalen, diesseitigen Welt liegt, und inwiefern doch darüber gesprochen werden kann. Er verlässt damit sowohl den eng gesetzten Rahmen von Kants Transzendentalphilosophie als auch den methodischen Spielraum der Phänomenologie, die beide in einer notwendigen Beziehung zur phänomenalen Welt stehen. 45 Das Metaphysische praktischen Vernunft, 130; vgl. dazu allgemein auch Fischer, Zum Problem der Geschichtlichkeit in der Philosophie Kants. Eine Auslegung zum Bild der »konzentrischen Kreise« in Kants »Religionsschrift«, bes. 47) 45 Für den eng gesetzten Rahmen der kantischen Transzendentalphilosophie vgl. die Ausführungen oben; für den Spielraum der Phänomenologie vgl. Stephan Strasser, Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in Emmanuel Levinas’ Philosophie. Den Haag: Martinus Nijhoff 1978, 60.

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ist nach Levinas unsichtbar in der phänomenalen Welt, obzwar von einer derart hohen Bedeutung, dass Levinas darin etwas erkennt, das er zuweilen auch Gott nennt. Vor diesem Hintergrund fragt sein frühes Hauptwerk einleitend nach der Bedeutung des Metaphysischen und hält dabei fest: ›Das wahre Leben ist abwesend.‹ Aber wir sind auf der Welt. In diesem Alibi erhebt und hält sich die Metaphysik. […] Das Andere des metaphysischen Begehrens ist nicht ›anders‹ wie das Brot, das ich esse, das Land, das ich bewohne, die Landschaft, die ich betrachte; es ist nicht anders, wie ich mir selbst manchmal anders bin, das ›ich‹, dieser ›Andere‹. […] Das metaphysische Begehren strebt nach ganz Anderem, nach dem absolut Anderen. 46

Levinas geht wie gesagt vom Faktum einer metaphysischen Wahrheitssuche aus und zeigt, wie dieselbe auf etwas gerichtet ist, das die innere Logik des Lebens in toto übersteigt, und zwar »[d]ergestalt, daß der Metaphysiker und das Andere kein Ganzes bilden. Der Metaphysiker ist absolut getrennt«. 47 Das evoziert in weiterer Folge die Frage, wie der Metaphysiker das Metaphysische trotz dieser absoluten Trennung überhaupt begehren kann, was ja zumindest voraussetzt, dass er damit auf irgendeine Art in einer Beziehung steht oder zumindest stand. Nach Levinas ist eine solche Beziehung zwischen dem Metaphysiker und dem absolut Anderen, die auf absoluter Trennung beruht, nur möglich, wenn sich das absolut Andere mit zunehmender Begierde vonseiten des Metaphysikers auch immer weiter von ihm entfernt. 48 Die Beziehung zur metaphysischen Wahrheit, auf die sich das Begehren richtet, beruht demnach darauf, dass die Trennung davon bewusst aufrechterhalten wird. Gerade dadurch, dass der Metaphysiker sich bewusst macht, nicht finden zu können, was er sucht, tritt er in eine Beziehung zum Objekt seiner Begierde und wird sich zugleich bewusst, dass diese Begierde, für deren Erfüllung er nicht sorgen kann, ihren Ursprung in jenem absolut Anderen haben muss, das er begehrt. Hier jedoch stellt sich die Frage, ob der Metaphysiker nicht einer Illusion anheimgefallen ist und ob es ein solches absolut Anderes überhaupt gibt? Levinas begegnet dieser Frage mit einer Reflexion auf das Ich (ēgoité). Dabei schließt er mit seinem Begriff vom Ich zunächst durchaus an die neuzeitliche Tradition an, indem er das »Ich« 46 47 48

Levinas, TU: 35/TI: 3. Levinas, TU: 39/TI: 5. Vgl. Levinas, TU: 37/TI: 4.

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als ein »Ich denke«, das heißt als eine »Identität par excellence« betrachtet, die als »Leistung der Identifikation« bis in seine Veränderungen hinein mit sich identisch ist. 49 Als Identifikationsleistung konstituiert sich das Ich nach Levinas schließlich stets aufs Neue, sodass ihm ein gewisses Maß an Autonomie zukommt. 50 Gleichzeitig setzt die Identifikation aber auch eine Bedeutung voraus, die absolut anders ist, als das Selbst, das sich mit ihr identifiziert. Denn in letzter Instanz wäre die Identifikation mit sich ein sinnloses Unterfangen, wenn sie sich nicht auf etwas richten würde, das im Inneren des sich mit sich selbst identifizierenden Subjekts nicht enthalten ist und das demgegenüber ein absolutes Außen bedeutet. Vor diesem Hintergrund nimmt Levinas an, dass das Ich stets aufs Neue eine Bedeutung verinnerlicht, die dadurch aber niemals an Exteriotität verliert. Zufolge dieser Überlegung steht das Ich also in Beziehung zu etwas absolut Anderem, das es fortlaufend zu verinnerlichen begehrt, ohne es jemals als die radikale Exteriotität, die es ist, verinnerlichen zu können. Jeder erneute Versuch des »Ich denke« rückt das absolut Andere noch weiter in die Ferne. Stephan Strasser beschreibt diese Beziehung zum absolut Anderen bei Levinas daher wie folgt: Es gibt demnach nicht erst eine transzendente Beziehung, die dann von meinem Bewußtsein erfaßt wird. Die Transzendenz entsteht vielmehr erst Levinas, TU: 40/TI: 6. Vgl. zu Levinas’ Autonomiebegriff in Totalität und Unendlichkeit Levinas, TU: 78–84 f./TI: 32–35. Levinas’ Autonomiebegriff ruht nicht wie derjenige Kants auf einer universal verbindlichen Gesetzgebung auf, sondern geht im Gegenteil auf die Heteronomie des Selbst und des Anderen zurück, aus der er sich stets aufs Neue erhebt. Auf diesen Unterschied macht auch Jakub Sirovátka aufmerksam. Sirovátka merkt jedoch auch an, es handle sich »bei Kant [im Gegensatz zu Levinas, MB] nicht um die beliebige Selbstbestimmung von Individuen, sondern darum, daß die Vernunft ein Gesetz vorschreibt, unter das jeder vernünftige Will sich gestellt hat« (vgl. Jakub Sirovátka, Einleitung in »Das Primat der reinen Praktischen Vernunft« von Emmanuel Levinas, in: Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, hg. v. Norbert Fischer. Hamburg: Felix Meiner 2004, 179–190, bes. 187). Nach meiner Ansicht wird das Levinas nicht ganz gerecht, da Levinas die Konstitution des Selbst nicht als eine »beliebige Selbstbestimmung von Individuen« betrachtet, sondern auf einen absoluten Wert, auf Gott zurückführt, der sich in der Epiphanie des Antlitzes zeigt (vgl. Humanismus und An-archie, HAM: 78–83/HAH: 78–82). Neal Deroo schreibt: »[H]is [Levinas’, MB] understanding of the ethical relation [is not] concerned with an experienced relationship between two people […], but rather primarily with the condition or structure of subjectivity itself.« (Neal Deroo, Re-Constituting Phenomenology: Continuity in Levinas’s Account of Time and Ethics, in: Dialogue 49/02 (2010), 223–243, 232) 49 50

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durch das ›Denken‹, das eine Kluft in dem geschlossenen System der Seienden hervorruft. Die transzendiere Bewegung des Geistes ist nur in dem Maße erkennbar, als Ich sie hervorrufe; sie ist daher nur von Mir aus erkennbar. 51

Mit seiner Reflexion auf den Begriff des Ich versucht Levinas zu Beginn von Totalität und Unendlichkeit zu zeigen, dass jeder Mensch immer schon eine metaphysische Beziehung zum absolut Anderen unterhält. Das Ich beruht in seinen Augen auf einer Identifikationsleistung mit und damit zugleich auf einer Trennung von einer absoluten Exteriorität. Die Art und Weise, ein Ich zu sein, qualifiziert sich damit als eine metaphysische Seinsweise, und zwar, indem sie das absolut Andere begehrt: Ein Ich zu sein, bedeutet bei Levinas, ein Metaphysiker zu sein. Ähnlich wie Kant unterscheidet Levinas in diesem Kontext nun streng zwischen der zeitlichen und der logischen Ordnung: zunächst setzt das Ich den absolut Anderen voraus, mit dem es sich identifiziert, und dieses Voraussetzungsverhältnis hat Ereignischarakter und ist insofern von zeitlicher Natur. 52 Die Identifikationsleistung ist demgegenüber ein Modus der Vergegenwärtigung und Entzeitlichung des absolut Anderen. Sie stellt sich der zeitlichen somit als eine autonome logische Ordnung entgegen. 53 Wie schon bei Kant avanciert die Zeit damit auch bei Levinas zu einem wesentlichen Faktor der Metaphysik: Die Metaphysik bewegt sich bei Levinas im Geflecht von zeitlicher Trennung vom absolut Anderen und stets unzureichender Identifikation mit demselben, die im Modus der Vergegenwärtigung geschieht. Und auch bei Levinas führt dies zu einer starken Emphase der Moralität, was der kurze Blick auf Levinas’ Beschreibung der alltäglichen Erfahrung einer moralischen Asymmetrie verdeutlicht: Was ich von mir selbst fordern darf, kann mit dem, was ich vom Anderen zu fordern das Rechte habe, nicht verglichen werden. Diese moralische, so banale Erfahrung bezeugt eine metaphysische Asymmetrie: die radikale Unmöglichkeit, sich von Außen zu sehen und von sich und den Anderen in

Strasser, Jenseits von Sein und Zeit, 24. »Ereignis« ist die Übersetzung für das französische »production«; vgl. zu dieser Übersetzung sowie zum Produktionscharakter des Verhältnisses zwischen dem Selbst und dem Anderen Anm. 468. 53 Vgl. zur Differenzierung von chronologischer und logischer Ordnung bei Levinas bes. TU: 68/TI: 25. 51 52

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derselben Weise zu reden; infolgedessen auch die Unmöglichkeit der Totalisierung. 54

Die moralische Erfahrung, dass, was ich von mir selbst fordern darf, mit dem, was ich vom Andern zu fordern das Recht habe, nicht vergleichbar ist, beinhaltet nach Levinas die Erfahrung einer metaphysischen Asymmetrie beziehungsweise einer radikalen Exteriotität. Dass die ethische Bedeutung des anderen Menschen sich absolut nicht in den eigenen Horizont integrieren lässt, ist für Levinas eine Erfahrung metaphysischer Art, indem sie ein Bewusstsein dafür schafft, dass wir den Bereich dessen, dem wir in unserem alltäglichen Leben eine Bedeutung beimessen, niemals umfassend verstehen können, und dass manches in Beziehung auf uns selbst und unser Vermögen, Phänomene der Wahrnehmung in unseren Horizont zu intergieren, absolut anders bleibt. 55 Aber sind diese Erfahrung und dieses Bewusstsein denn auch stark genug, um eine metaphysische Wahrheit zu begründen und den Blick auf ein »wahre[s] Leben« zu eröffnen? Levinas macht in dem Kontext darauf aufmerksam, 56 dass Wahrheit zunächst einfach dasjenige ist, was vom Standpunkt desjenigen, der sie sucht, absolut unabhängig ist, und ihm dennoch etwas bedeutet. Wahrheit ist in diesem Sinne als Ausdruck eines absolut Anderen zu verstehen, der zu einem spricht und die eigene Auffassung infrage stellt. Derart verstanden ist die Wahrheit nun nicht in der objektiven Erkenntnis zu finden, da dieselbe sich stets erst in Beziehung auf etwas bereits Gegebenes, in Beziehung auf ein totes Faktum konstituiert. 57 Die Bedeutung der Wahrheit liegt nach Levinas vielmehr im lebendigen Ausdruck und kommt daher von der Exteriotität eines Gesprächspartners. Denn »[d]ie Sprache«, so hält Levinas fest, »setzt Gesprächspartner voraus, eine Pluralität«. 58 Die Gesprächssituation, die in Levinas’ Augen ein konstitutives Moment der Wahrheit ist, beruht demnach auf der Pluralität der Gesprächspartner und unterscheidet Levinas, TU: 67/TI: 24. Vgl. hierzu Johannes Brachtendorf: »Auf dem Weg über das moralische Bewußtsein wird das Andere zum metaphysischen Prinzip« (Johannes Brachtendorf, Das Andere als metaphysisches Prinzip in Levinas’ ›Totalität und Unendlichkeit‹, in: Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas, hg. v. Norbert Fischer. Hamburg: Meiner 2013, 133–157, 150). 56 Vgl. hierzu etwa Levinas, TU: 79 f./TI: 32. 57 Vgl. zur Historizität der objektiven Erkenntnis bei Levinas bes. TU: 86/TI: 36. 58 Levinas, TU: 99/TI: 45. 54 55

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sich von der kritischen Befragung der eigenen Faktizität, auf der unsere objektive Erkenntnis gründet und die sich als diskursiv geführtes Selbstgespräch ereignet. 59 Die Sprache schließt nach Levinas ein Bewusstsein für die Bedeutung des absolut Anderen ein, das im Blick auf jene im Begriff der Wahrheit enthaltene Möglichkeit der absoluten Infragestellung der eigenen Auffassung konstitutiv ist. Ohne das Bewusstsein einer Pluralität, in der die eigene Auffassung infrage gestellt wird, wären nach Levinas jene Gemeinplätze letztlich undenkbar, die dem wissenschaftlichen Diskurs und der Rede von einer objektiv erkennbaren Welt einen Sinn verleihen. 60 Es kann somit festgehalten werden, dass die moralische Erfahrung als eine sprachgebundene Situation bei Levinas zugleich fähig ist, dem Bereich der objektiven Welt Bedeutung zu verleihen sowie die Erfahrung einer metaphysischen Asymmetrie zu begründen, die dem Levinas’schen Verständnis von Wahrheit zugrunde liegt. Die moralische Erfahrung beziehungsweise die Ethik verleiht dem metaphysischen Begehren nach dem »wahren Leben« und nach dem absolut Anderen, den Levinas zuweilen auch Gott nennt, demnach eine Bedeutung. Levinas hält fest: Die Metaphysik spielt sich in den ethischen Beziehungen ab. Ohne die Bedeutung, die ihnen von der Ethik her zukommt, bleiben die theologischen Begriffe leere und formale Raster. Die Rolle, die Kant der sinnlichen Erfahrung in bezug [sic!] auf das Gebiet des Verstandes zuschrieb, kommt auf dem Gebiet der Metaphysik den zwischenmenschlichen Beziehungen zu.

Levinas macht in diesem Kontext deutlich, dass in der Philosophie von der Universalität des Denkens auszugehen bedeute, »den Denker zu einem Moment des Gedankens« zu machen, und zwar deswegen, so möchte ich ergänzen, weil dadurch, zumindest in Levinas’ Augen, dem Umstand nicht Rechnung getragen wird, dass ich als denkendes Subjekt eine Bedeutung in mir trage, die mich von den Anderen absolut unterscheidet und die eine Pluralität begründet, die nicht auf einen universalen Begriff gebracht werden kann. In diesem Sinne heißt, die Sprache als Medium eines universalen Denkens zu begreifen, für Levinas auch, die Sprache zum Medium der Unterdrückung des Anderen zu machen, während die Sprache nach seiner Ansicht »den Anderen, an den sie sich wendet«, eigentlich unterstützt (Levinas, TU: 98 f./ TI: 45). 60 Vgl. Levinas, TU: 104/TI: 48 f. Im Anschluss daran hält Levinas schließlich fest: »Wir meinen, daß nicht die Existenz für sich, sondern die Infragestellung der Sinn des Wissens ist. Nicht die Existenz für sich, sondern die Infragestellung des Selbst, die Rückkehr zu dem, was dem Selbst vorangeht, die Rückkehr zur Gegenwart des Anderen, ist nach unserer Auffassung der letzte Sinn des Wissens.« (Levinas, TU: 122/ TI: 60; vgl. hierzu auch die implizite Kant-Kritik in ders., TU: 117/TI: 57) 59

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La métaphysique se joue dans les rapports éthiques. Sans leur signification tirée de l’éthique, les concepts théologiques demeurent des cadres vides et formels. C’est aux relations interhumaines que revient, en métaphysique, le rôle que Kant attribuait à l’expérience sensible dans le domaine de l’entendement. 61

Hieraus wird nun verständlich, welche Bedeutung Levinas der Moralität im Blick auf die eigene Lebensgestaltung beimisst und inwiefern er dabei einen zutiefst humanistischen Standpunkt vertritt: 62 erst die moralische Erfahrung schafft ein Bewusstsein für jene metaphysische Asymmetrie, welche grundlegend ist für die Art, in der Menschen ein Ich ausbilden, was in Levinas’ Augen, wie hier gezeigt werden konnte, durch eine stets unzureichende Identifikation mit dem absolut Anderen geschieht. Mit dem Selbstbewusstsein ist für Levinas insofern auch eine Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Pluralität verbunden, die in besonderer Rücksicht in moralischen Situationen zum Tragen kommt. Der Mensch trägt nach Levinas eine Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen in sich, der er nicht ausweichen kann und die sein ganzes Leben bestimmt, indem sie allererst ein Bewusstsein für jene Beziehung mit dem absolut Anderen schafft, auf der sein Selbstbewusstsein und die Art, wie er ein Ich ausbildet, je schon aufruht. Wie schon bei Kant ist die Frage der Bedeutung des Lebens in der Zeit bei Levinas also mit einer starken Emphase der Moralität verbunden: dieses Leben droht seinen Sinn zu verlieren, wo es seiner Verantwortung gegenüber der Menschheit nicht gerecht wird. 63 Dass der einzelne Mensch diese Verantwortung überhaupt übernehmen und ein sinnvolles Leben führen kann, macht bei Levinas allererst die Zeit möglich, die das Ereignis der Trennung der menschlichen Kreatur von Gott beziehungsweise vom absolut Anderen prägt und dadurch eine autonome Selbstkonstitution und Sinndimension aufLevinas, TU: 109/TI: 51 f. Im Folgenden wird »Bedeutung« für das französische »signification« und »Sinn« für das französische »sens« verwendet. Die Übersetzung von »signification« mit »Bezeichnung«, die naheliegend erscheint, würde das Voraussetzungsverhältnis, das Levinas mit dem Begriffspaar »signification« und »sens« im Blick hat, weniger gut abbilden, zumal das Wort »Bezeichnung« im Deutschen im Gegensatz zu »Bedeutung« nicht zwangsläufig als Voraussetzung dessen gedacht wird, was unter »Sinn« verstanden wird. Ein solches Voraussetzungsverhältnis hat Levinas allerdings vor Augen. 62 Vgl. hierzu bes. auch Levinas’ Aufsatz Humanismus und An-archie. 63 Vgl. zum drohenden Sinnverlust bei Levinas bes. GZ: 30. 61

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seiten des Menschen allererst ermöglicht. 64 Hier zeigen sich sodann die ersten Differenzen zu Kant: anders als bei Kant ist die Zeit bei Levinas kein Moment, das auf dem Weg zum besseren Menschen in unendlicher Annäherung an eine rein vernünftige und von den Bedingungen der Zeit unabhängige Daseinsform aufzuheben wäre, sondern vielmehr dasjenige, wodurch das menschlichen Leben eine durch Autonomie bestimmte Sinndimension erlangen kann. 65 Levinas vollzieht hier eine »Umkehr der Kritik«: 66 während bei Kant die Grenze der Vernunft nur die Kehrseite ihrer Autonomie ist und mit dem zugleich aufklärerischen und praktischen Appell, selbst zu denken, 67 einhergeht, verweist die Autonomie bei Levinas auf die unendliche Transzendenz des Anderen, dem es sich im Blick auf eine sinnvolle Lebensgestaltung geduldig zu unterwerfen gilt. 68 Für Levinas geht Kant vom Selbst aus, während er selbst vom Anderen ausgeht. Das erklärt auch, warum Levinas dem Sittengesetz, das bei Kant auf der Autonomie der Vernunft begründet ist, die moralische Erfahrung als Bewusstsein des eigenen »Imperialismus« 69 und als Spur eines göttlichen Imperativs entgegenstellt, der den Bereich der eigenen Autonomie unendlich transzendiert und infrage stellt. Dieser Unterschied soll hier in dieser vorläufigen Form zunächst einmal nur festgehalten werden. Die folgenden Kapitel werden noch verdeutlichen, was damit im Genaueren gemeint ist. Feststeht, dass sowohl bei Kant als auch bei Levinas eine enge Verbindung zwischen der jeweiligen metaphyVgl. hierzu Levinas’ teils polemische Anmerkung: »Der Aufschub des Todes in einem sterblichen Willen – die Zeit – ist die Existenzweise und die Realität eines getrennten Seienden, das mit dem Anderen in Beziehung getreten ist. Man muß ihn als Ausgangspunkt nehmen – diesen Zeitraum. In ihm spielt sich ein sinnvolles Leben ab; man darf dieses Leben nicht am Ideal der Ewigkeit messen, indem man seine Dauer und seine Interessen für absurd oder illusorisch erklärt.« (Levinas, TU: 339/TI: 208) 65 Vgl. hierzu Levinas’ Kritik, wonach die Hoffnung auf eine rein vernünftige Daseinsform bei Kant keine Erfüllung in der Zeit hat, in: GZ: 77; vgl. auch Kants Rede davon, dass die Hoffnung der praktischen Vernunft »niemals hier, oder in irgend einem absehlichen künftigen Zeitpunkte seines Daseins« eine Erfüllung hat (Kant, KpV, AA 05: 123 f.). 66 Vgl. zu diesem Terminus bei Levinas TU: 120/TI: 59. 67 In der Tat ist nach Kant das »Selbstdenken« die erste Maxime des gemeinen Menschenverstandes (Kant, KU, AA 05: 294; vgl. hierzu auch Kant, Anth, AA 07: 200); vgl. zum Verhältnis der metaphysischen Grenzen der Vernunft und ihrer moralischen Absicht bes. Kant, Prol, AA 04: 362 f. 68 Vgl. dazu Levinas, Vom Einen zum Anderen. Transzendenz und Zeit, ZU: 191 sowie ders., GZ: 126, 30, 39. 69 Vgl. zu diesem Terminus Levinas, TU: 120/TI: 59. 64

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sischen Konzeption und der überaus hohen Bedeutung besteht, die sie der Moralität im Blick auf ein gelingendes und sinnvolles Leben in der Zeit beimessen. Die strukturellen Ähnlichkeiten lassen sogar vermuten, dass Levinas sich hier in hohem Grad an Kant orientiert hat. Einen ersten Einblick in diese Thematik soll im Folgenden das Kapitel »Die Grenzen des Verstandes und die Zeit bei Kant« geben, welches die Rolle untersucht, die die Zeit bei Kant in Beziehung auf dessen Verstandeskonzeption einnimmt, wobei die Fragen nach dem Sinn und der Bedeutung des Lebens in der Zeit im Vordergrund stehen werden. Das Kapitel »Der Urteils- und der Zeitdiskurs bei Kant und Levinas« geht dann auf grundlegende Differenzen zwischen den beiden Autoren im Kontext ihres jeweiligen Urteils- und Zeitbegriffs ein. Im Anschluss daran soll Levinas’ Verhältnis zu Kant unter rezeptionsgeschichtlichen Gesichtspunkten untersucht werden. Das Kapitel »Das Jenseits des Seins und die Zeit bei Levinas« wird sich im permanenten Rekurs auf Kant mit Levinas’ Antwort auf die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung unseres Lebens in der Zeit beschäftigen. Das Kapitel »Der Humanismus und die Zeit bei Kant und Levinas« problematisiert schließlich die intrinsische Verflechtung des Zeitund Moralitätsdiskurses, die für die philosophischen Gesamtentwürfe der beiden Autoren von entscheidender Bedeutung ist.

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2. Die Zeit als eine Grenze des Verstandes bei Kant

Das folgende Kapitel verfolgt im Wesentlichen den Zweck, das Verhältnis zwischen dem Zeit- und dem Verstandesbegriff bei Kant näher zu bestimmen, was auf dreifacher Ebene geschehen soll: (1) in einem ersten Schritt soll untersucht werden, wie sich die zeitliche Ordnung, in der dem Menschen Phänomene der sinnlichen Wahrnehmung gegeben werden, zu jener logischen Ordnung des Denkens verhält, durch die sie gedacht werden. Dabei wird sich zeigen, dass zwischen der zeitlichen Form der sinnlichen Wahrnehmung und den Kategorien des reinen Denkens in Kants Augen eine notwendige Verbindung besteht, die dessen Wahrheitsbegriff zugrunde liegt. (2) Anschließend wird der Frage nachgegangen, inwiefern vom kantischen Standpunkt aus gesehen überhaupt auf einer philosophischen Ebene über die Zeit gesprochen werden kann und welche Grenzen und Illusionen damit verbunden sind. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der zuvor erörterten notwendigen Beziehung unserer Art zu denken auf die Formen der sinnlichen Wahrnehmung zuteil. (3) In einem letzten Abschnitt wird schließlich dargestellt, inwiefern unser Vermögen zu denken nach Kant in letzter Instanz jederzeit diskursiv auf Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung, die zu verschiedenen Zeiten nacheinander gegeben werden, bezogen ist und inwiefern die Zeit als jene Form, in der diese Phänomene der inneren Wahrnehmung zunächst erscheinen, eine Grenze ist, die der Verstand in Kants Augen absolut nicht überschreiten kann. Das gesamte Kapitel soll entsprechend verdeutlichen, dass die Zeit bei Kant aus der Perspektive des diskursiven erkennenden Verstandes gedacht wird. Diese Differenz zu Levinas wird in späteren Kapiteln eine große Rolle spielen.

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2.1. Das Nacheinander der Zeiten und die reinen Verstandeskategorien Kant beansprucht, Verstandeskategorien entdeckt zu haben, die zur Beurteilung der Phänomene unserer Wahrnehmung zwar notwendig sind, jedoch von der Art abstrahieren, in der uns diese Phänomene ursprünglich erscheinen. Diese Kategorien sollen mit der Abstraktion von unseren Wahrnehmungsmechanismen auch ein Handeln nach Zwecken möglich machen, die unsere sinnliche Natur überschreiten. Doch woher nimmt Kant die Gewissheit, dass diese Kategorien uns nicht in die Irre leiten und dass sie in Beziehung auf die sinnliche Welt der Erfahrung die Wahrheit verheißen? Um dieser Frage nachzugehen, wird im Folgenden zunächst auf das Verhältnis von zeitlicher Ordnung der Wahrnehmung und logischer Ordnung des Verstandes bei Kant eingegangen und darauf, inwiefern dies ein Verhältnis der Wahrheit ist. Dies soll dann zeigen, dass das menschliche Denken in Kants Augen über Kategorien verfügt, die im Blick auf die Phänomene des alltäglichen Lebens eine an sich zeitlose Orientierung bieten. Ersichtlich wird dies am besten im Ausgang von Kants sogenannter kopernikanischen Revolution der Denkart: Wie sich die Welt um ihre eigene Achse und um die Sonne dreht, so verhält es sich zufolge von Kants Kritik der reinen Vernunft letztlich auch mit dem Subjekt und der Welt, die es erkennt. 70 Erst in Beziehung auf die sinnliche Wahrnehmung seiner selbst, die zunächst gegeben sein muss, erkennt es die Gesetzmäßigkeit der Welt, obzwar nicht wie diese an sich selbst ist, sondern nur so, wie sie ihm in der Wahrnehmung gegeben ist. Erst dadurch, dass es sich selbst erkennt, quasi durch eine Rotationsbewegung um seine eigene Achse, versteht es sich als Teil eines größeren Zusammenhangs, in dem es um ein Zentrum kreist, das jenseits seines Erkenntnishorizontes liegt, dessen Grenze die sinnliche Wahrnehmung seines Zustands in der Welt ist. Kant nimmt an, dass dem Subjekt nur sinnliche Wahrnehmungen zu seiner Beurteilung gegeben sind, dass diese jedoch die Gesetzmäßigkeit eines Zusammenhangs erkennen lassen, der den Bereich seiner individuellen Wahrnehmung bei weitem übersteigt. Er unterscheidet in diesem Kontext zwischen der Art, in der ein Phänomen der sinnlichen Wahrnehmung erscheint, und der Art, in 70

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Vgl. hierzu etwa Kant, KrV: BXVI u. BXXII Anm.

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der es erkannt wird: Bevor der erkennende Verstand zur Ausübung gelangt, muss zunächst eine sinnliche Wahrnehmung gegeben sein, deren Bedeutung er beurteilen kann. 71 In dem Moment ihrer Beurteilung ist die sinnliche Wahrnehmung also bereits vergangen und sie wird durch das Urteil zwar vergegenwärtigt, diese Vergegenwärtigung ist jedoch grundsätzlich von anderer Art als die ursprüngliche Erscheinungsweise der davon betroffenen Wahrnehmung. Doch obwohl das Urteil das Wahrnehmungsphänomen nicht in derjenigen Form vergegenwärtigt, in der es ursprünglich erscheint, bringt es dennoch alle Voraussetzungen mit, um eine Erkenntnis bilden zu können, die streng allgemein und notwendig gültig ist. 72 Denn da es sich auf eine Wahrnehmung bezieht, die rein sinnlicher Natur ist und von der Spontaneität unseres Denkens unbeeinflusst entstanden ist, hat es im Blick auf die sinnliche Welt der Erfahrung auch allgemein verbindlichen Charakter; 73 und da es ferner ein und dasselbe Subjekt ist, welches zunächst etwas wahrnimmt und es dann beurteilt, besteht zwischen der früheren Wahrnehmung und dem späteren Urteil auch eine notwendige Verbindung. 74 Im streng begrenzten Bereich der sinnlichen Wahrnehmung ist das Urteil des Verstandes daher streng allgemein und notwendig gültig. Diese Überlegung ist bei Kant dann der Grundstein für seinen diskursiv bestimmten Begriff des menschlichen Denkens: 75 da die objektive Realität unseres Denkens allein Vgl. zu Kants Begriff des menschlichen, diskursiv bestimmten Denkens, das erst, indem es über einen sinnlich gegebenen Gegenstand urteilt, zur Ausübung gelangt, bes. Kant, KrV: B1–B3 u. B300. 72 Zu den Kriterien der Notwendigkeit und strengen Allgemeinheit, die nach Kant die Erkenntnis auszeichnen vgl. Kant, KrV: B4; zur Vergegenwärtigung der Wahrnehmungsphänomene vgl. den Schematismus des reinen Verstandes in: ebd., A137/ B176–A147/B187; vgl. zum Zusammenhang von Vergegenwärtigung und Entzeitlichung bei Kant Fischer, Die Zeit als Problem in der Metaphysik Kants, 429. 73 Indem Kant davon ausgeht, dass wir bereits im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung allgemein verbindliche Gesetzmäßigkeiten entdecken können, nimmt er zugleich an, dass die Formen der sinnlichen Wahrnehmung isoliert von den Kategorien des reinen Denkens untersucht werden können und von sich aus bereits transzendentale Grundsätze enthalten (vgl. hierzu bes. Kant, KrV: A19/B33–A22/B36). 74 Zur Verbindung zwischen allen Vorstellungen, die wir im inneren Sinn wahrnehmen, und dem späteren Urteil durch die Kategorien unseres reinen Denkens, welche Verbindung in Kants Augen auf der numerischen Identität des Subjekts gründet, vgl. Kant, KrV: B129–169, bes. B131 f. und Anm. 75 Zum diskursiv bestimmten Begriff des menschlichen Denkens bei Kant vgl. auch Anm. 86; zu Kants Bestimmung des menschlichen als diskursivem Verstandesvermögen vgl. Kant, KrV: A67 f./B92 f. 71

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durch die Erkenntnis einer zunächst nur sinnlich gegebenen Wahrnehmung gesichert ist, ist nach seiner Ansicht auch anzunehmen, dass der Fortschritt unseres Denkens an den Verlauf der Wahrnehmungen gebunden ist und mit der empirischen Erkenntnis anhebt. 76 In Kants Worten heißt das, dass »[d]er Zeit nach […] keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher[geht], und mit dieser […] alles an [fängt]«. 77 Hierauf gründet nun Kants berühmte Formel, dass »die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt […] zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung« sind. 78 Denn diese Formel besagt, dass ein Gegenstand der Erfahrung nur sein kann, was allen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und damit auch dem zeitlichen Verlauf unserer Wahrnehmung genügt, in dem uns zuerst Phänomene zur Beurteilung durch den Verstand gegeben werden. Ein Gegenstand der Erfahrung ist nur, was einerseits auf einer sinnlichen Wahrnehmung aufbaut, die der Zeit nach zuerst gegeben sein muss, und andererseits einer objektiven Erkenntnis durch den Verstand zugänglich ist: weder ist jede Wahrnehmung gegenständlich, noch ist jeder Gedanke objektiv gültig. 79 Ein Beispiel: 80 Im Alltag gehen wir in einem Nu von der Wahrnehmung der Röte oder des Dufts einer Rose zur Vorstellung der Rose über. Vgl. dazu, dass unser Denkvermögen erst mit der Gegebenheit eines sinnlichen Phänomens anhebt, Kant, KrV: B1 u. A19/B33; dazu dass der Fortschritt des Denkens an den Verlauf der Wahrnehmungen gebunden ist, ebd., A491 ff./B520 ff.; zur objektiven Realität unserer Gedanken vgl. ebd., B148. 77 Kant, KrV: B1. 78 Kant, KrV: A158/B197. 79 Nach Grundmann geht Kant »von den Bedingungen der Erfahrung der Gegenstände zu den Bedingungen der erfahrenen Gegenstände« über (vgl. Thomas Grundmann, Was ist eigentlich ein transzendentales Argument?, in: Warum Kant heute? Systematische Bedeutung und Rezeption seiner Philosophie in der Gegenwart, hg. v. Dietmar Hermann Heidemann, Kristina Engelhard. Berlin: de Gruyter 2004, 44–75, 56). Nach meiner Ansicht geht Kant streng genommen nicht von den »von den Bedingungen der Erfahrung der Gegenstände«, sondern von den »Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt« (vgl. Kant, KrV: A A158/B197) aus, die nicht zwangsläufig auf die Erfahrung eines Gegenstandes hinauslaufen, sondern auch den Bereich der oben geschilderten nicht-gegenständlichen Wahrnehmung abdecken. 80 Vgl. zu diesem Beispiel Kants Ausführungen zur reinen Subjektivität von Farbund Geschmackswahrnehmungen in Kant, KrV: A28 f. Anm. u. B44 f. sowie allgemein Kants Erläuterungen der für die gegenständliche Erfahrung konstitutiven synthetischen Urteile a priori in der Einleitung zur B-Auflage der Kritik der reinen Vernunft. 76

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Zunächst handelt es sich bei diesen Wahrnehmungen jedoch um rein subjektive Zustandsbestimmungen, die auf einer Gefühls- und Empfindungsebene etwa als Lust oder Unlust, Genuss oder Abscheu wahrgenommen werden. Diese elementaren Formen der Wahrnehmung sind an sich noch nicht mit der Vorstellung eines Gegenstandes verbunden – erst, wenn wir den Duft und die Röte der Rose, die beide auf sehr mannigfaltige Weise wahrgenommen werden und mit verschiedensten Eindrücken verbunden sein können, reflexiv zur Einheit eines Gegenstandes verbinden, gehen wir zu einer objektiven Vorstellung über. Dass wir die besagten Farb- und Geschmackswahrnehmungen zur Vorstellung der Rose verbinden, ist das Resultat einer Synthesis durch das Vermögen der reflexiven Urteilskraft. Diese reflexiv gewonnene Wahrnehmung eines einheitlich bestimmten Gegenstandes, in der mannigfaltige Eindrücke vermittelst der Urteilskraft zur Einheit eines Gegenstandes verbunden wurden, ist als reflexives Bewusstsein von der an sich gegenstandslosen Wahrnehmung dieser Eindrücke, die sich auf einer reinen Gefühls- und Empfindungsebene ereignet, folglich zu unterscheiden. Mit anderen Worten bringt die Urteilskraft an der prä-reflexiven Wahrnehmung etwas hervor, was darin noch nicht enthalten ist. Es ist also nicht jede Wahrnehmung mit der Vorstellung eines Gegenstandes verbunden, und zwar genauso wenig, wie jeder Gedanke objektiv gültig ist. Denn da der Verstand in Kants Augen, wie hier weiter oben gezeigt werden konnte, immer schon darauf angewiesen ist, dass ihm ein Gegenstand in der sinnlichen Wahrnehmung gegeben wird, sind aus Kants Perspektive auch nur solche Gedanken objektiv gültig, die sich auf den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung beziehen. Das heißt, dass es uns nach Kant nicht möglich ist, allein dadurch, dass wir über die Kategorien unseres reinen Denkens reflektieren, zu einer objektiv gültigen Vorstellung zu gelangen, sondern dass es dazu auch immer des Bezugs auf den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung bedarf. Vor diesem Hintergrund unterscheidet Kant die Weise, in der sinnliche Wahrnehmungen erscheinen, von der Art, in der wir darüber nachdenken. Dieser Unterscheidung wird im Folgenden Rechnung getragen, indem zwischen dem Sinn, den ein Gegenstand als sinnliche Erscheinung hat (dem Phänomen), und der objektiven Bedeutung, die wir diesem Phänomen im Verstand beimessen (dem Noumen), unterschieden wird. 81 81

Vgl. zu dieser Unterscheidung den Abschnitt »Von dem Grunde der Unterschei-

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Der Sinn, in dem Phänomene der sinnlichen Wahrnehmung zunächst erscheinen, und die Bedeutung, in der sie gedacht werden, sind bei Kant also streng zu unterscheiden. 82 Kant bestreitet die seiner Ansicht in diesem Punkt zuwiderlaufenden Positionen sogar als einen problematischen Idealismus, der nicht zulässt, »ein Dasein außer dem unsrigen durch unmittelbare Erfahrung zu beweisen«, 83 und zwar, so wäre zu ergänzen, weil er die Grenze zwischen dem verwischt, was wir vermittelst der Spontaneität unseres Denkens erkennen, und der sinnlichen Erscheinung, auf die wir uns dabei beziehen. Bei Kant ist die Bedeutung, in der dem Verstand das Phänomen der Erfahrung gegeben ist, anders als der Sinn, in dem es zunächst erscheint, demnach ein reines Produkt des Verstandes, obzwar die Materie dazu sinnlich gegeben wird. Das heißt, der Verstand muss nach Kant an der ihm zunächst nur sinnlich gegebenen Wahrnehmung erst hervorbringen, was er dann als Objekt dieser Wahrnehmung beurteilt. 84 In Kants Augen bezieht sich jedoch jeder Gedanke in letzter Instanz auf einen sinnlich gegebenen Gegenstand. 85 Daher bestimmt die Synthesis, die der objektiven Einheit des Gegenstands der Wahrnehmung bei Kant zugrunde liegt, das Denken schlechthin: 86 zu denken heißt für Kant in einer sinnlich wahrnehmbaren Welt zu stehen und zumindest zu versuchen, sich ein objektives Urteil zu bilden. 87 Zu dung aller Gegenstände in Phaenomena und Noumena« in Kant, KrV: A235/B295– A260/B315, bes. A238 f./B297 f., B305 ff. 82 Zur Strenge dieser Trennung bei Kant vgl. bes. Kant, Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre, vom 7. August 1799, AA 12: 370 f. 83 Vgl. Kant, KrV: »Widerlegung des Idealismus«, hier: B275. 84 Vgl. Kant, KrV: B130–133. 85 Vgl. zu dieser Thematik bes. Kant, KrV: A19/B33 u. B94. 86 Allison weist in dem Kontext darauf hin, dass die Verstandesaktivitäten bei Kant insofern auf der numerischen Identität des Subjekts beruhen: »It is because such thinking consists in bringing a manifold of intuition under a concept that it cannot be conceived of apart from a numerically identical subject. Conversely, since the subject is being considered merely as the subject of discursive thought, its identity is inseparable from the synthetic unity of thought.« (Henry E. Allison, Kant’s transcendental idealism. New Haven: Yale Univ. Press 2004, 166) 87 Anmerkung: Kants Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen in den Prolegomena zeigt zwar, dass wir a posteriori Gedanken ausbilden können, die keinen Objektbezug aufweisen. Doch diese Gedanken lassen sich in Kants Augen grundsätzlich objektivieren, sind also in einem transzendentalen und erfahrungsunabhängigen Sinn bereits objektiv und gründen insofern auf einer objektivierenden Verstandesaktivität a priori. Für den Hinweis auf die Wahrnehmungsurteile danke ich Violetta L. Waibel.

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denken bedeutet für Kant schlechthin über sinnliche Phänomene zu urteilen. 88 Kant hält es zwar für möglich, dass etwas, »was in der bloßen Beurteilung […] gefällt«, den Verstand in Bewegung versetzt, ohne dass dieser daran ein Interesse hätte, jedoch nicht ohne, dass ein sinnliches Phänomen den Ausschlag gibt, dessen frühere Erscheinung von der späteren Beurteilung zu unterscheiden ist. 89 Doch sind deshalb alle Verstandestätigkeiten bei Kant abhängig von der sinnlichen Wahrnehmung? Bisher wurde nur von Kants Verdikt ausgegangen, dass »[d]er Zeit nach […] keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher[geht]«, 90 um darauf aufbauend darzulegen, inwiefern das Denken bei Kant auf den Bereich der sinnlichen Wahrnehmungen bezogen ist. Bekanntermaßen ergänzt Kant jedoch noch: »[w]enn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung«. 91 Kant wird schließlich darlegen, dass unser Denken zwar jederzeit auf den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung bezogen ist, auf dem auch die Erfahrung gründet, dabei jedoch eine eigene Gesetzmäßigkeit verfolgt, welche die Mannigfaltigkeit unserer sinnlichen Wahrnehmungen erst zur objektiven Einheit der Erfahrung verbindet und die ihrerseits erfahrungsunabhängig ist. Einen ersten Hinweis auf diese eigene Gesetzmäßigkeit des Verstandes gab hier bereits der Umstand, dass der Verstand bei Kant streng vom Bereich der sinnlichen Wahrnehmung getrennt und seinerseits frei ist, über Phänomene der sinnlichen Wahrnehmung zu urteilen. Obgleich der Verstand bei Kant mit der sinnlichen Wahrnehmung anhebt, ist er dadurch keineswegs determiniert und verfolgt eine unabhängige Zweckmäßigkeit. Dabei ist es ein und dasselbe Subjekt, das zunächst etwas wahrnimmt und das sich dann durch Abstraktion von der Unmittelbarkeit seiner Wahrnehmung trennt, um völlig frei darüber zu urteilen. Es wäre nach Kant deshalb auch widersinnig, wenn das Subjekt nicht alle Vorstellungen, die es wahrnimmt, als die seinigen erkennen könnte, zumal dies hieße, es hätte zwar etwas wahrgenommen, könne aber nun nicht darüber nachdenken, welche Bedeutung es dem Wahrgenommen beimisst. Eine Vorstellung aber, die in Beziehung auf mich, der diese Vorstellung hat, 88 89 90 91

Vgl. zu dieser Thematik Kant, KrV: A19/B33 u. B94. Vgl. Kant, KU AA 05: 231 u. 266 f. Kant, KrV: B1. Kant, KrV: B1.

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keine Bedeutung haben kann, ist für Kant ein Widerspruch. Die Möglichkeit, von der Wahrnehmung einer Vorstellung zu abstrahieren, um über ihre Bedeutung zu urteilen, ist in den Augen Kants daher bei all unseren Vorstellungen gegeben. 92 Es ist natürlich möglich, sich des Urteils zu enthalten, das unterstreicht jedoch nur, dass es jederzeit möglich ist, von den Mechanismen seiner Wahrnehmung zu abstrahieren. Ferner setzt, dass alles, was wir wahrnehmen, später gedacht werden kann, voraus, dass die verschiedenen Zeiten, die den Wahrnehmungszusammenhang prägen, einen durchgängigen Zusammenhang bilden. Deshalb kann das Subjekt auch auf einen großen Erfahrungsschatz zurückgreifen, wenn es sich sein Urteil bildet, was einer indirekten Beförderung seiner Autonomie gegenüber dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung gleichkommt. Zusammengefasst baut das Denken bei Kant auf zeitlich vorausliegenden Wahrnehmungen auf, die es sich zwar nur vergegenwärtigen, die es aber dennoch erkennen kann, da zwischen seiner früheren Wahrnehmung und seiner späteren Erkenntnis insofern eine notwendige Verbindung besteht, als es grundsätzlich dasselbe Subjekt ist, das sich die Vorstellung, die es zunächst wahrgenommen hat, anschließend durch sein Urteil vergegenwärtigt. 93 Indem unser Denken »Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was garnicht [sic!] gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt als: die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.« (Kant, KrV: B131 f.) Allison behauptet in diesem Kontext: »Kant’s claim is not that the I think must be able to accompany all my representations tout court; it is rather that it must be able to do so, if they are to function cognitively for me as representations.« (Allison, Kant’s transcendental idealism, 163) Allison scheint zu übersehen, dass es Kant im Kontext der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, aus dem die fragliche Textpassage stammt, nicht darum geht, zu zeigen, dass es bestimmte Vorstellungen gibt, die ich im Sinne einer Erkenntnis als die meinigen erkennen können muss, sondern darum, dass zwischen unserer Vorstellungsart und unserer Art zu denken ein schlechthin notwendiger Zusammenhang bestehen muss, das heißt, dass sich die Kategorien unseres reinen Denken »tout court« auf unseren Vorstellungszusammenhang beziehen müssen, wenn es in diesem Bereich überhaupt so etwas wie eine Gültigkeit schlechthin geben soll, die sich als Erkenntnis qualifiziert. 93 Die Erkenntnis entsteht bei Kant also durch die Vergegenwärtigung der inneren Wahrnehmung. Das ist auch der Grund dafür, dass wir uns selbst und auch alles andere nach Kant nur als Phänomen der sinnlichen Wahrnehmung und nicht als Ding an sich erkennen können (vgl. KrV: B158 f.). Fischer fasst dieses Moment der kantischen Philosophie wie folgt zusammen: »Erkennen ist verknüpfende Vergegenwärtigung zeitlich gegebener Vorstellungen, die durch Anschauung noch nicht objektiv bestimmt sind. Das denkende Ich ist als Selbstbewußtsein zugleich Selbstgegenwart, die sich aber nicht begleiten kann, sondern auch im Blick auf sich selbst der sinnlichen 92

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auf der Grundlage der sinnlichen Wahrnehmung voranschreitet, ist es in Kants Augen schließlich auch der Zeitbedingung unterworfen, 94 zwar vieles auf einmal vorstellen, jedoch verschiedene Vorstellungen nicht zugleich, sondern nur nacheinander wahrnehmen zu können. 95 Das menschliche Denken ist für Kant aus diesem Grund diskursiv bestimmt und in seiner Reichweite auf den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung begrenzt. Es ist den sinnlichen Wahrnehmungsmechanismen jedoch nicht deterministisch ausgeliefert, sondern verfolgt eine davon unabhängige Zweckmäßigkeit, die es ihm ermöglicht, seine Verbindung zu den Wahrnehmungsmechanismen dafür zu nutzen, diesen Bereich nach und nach zu kultivieren. Bleibt die Frage offen, welche Kategorien zur Anwendung kommen, wenn das Subjekt von einer Wahrnehmung abstrahiert, um über deren Bedeutung zu urteilen. Um sich das Nacheinander verschiedener Zeiten, das den Wahrnehmungszusammenhang prägt, durch Abstraktion zu vergegenwärtigen, so lautet Kants Antwort in nuce, ist es notwendig, sich der Quantität der Wahrnehmungen, ihrer unterscheidungsrelevanten Qualität sowie ihrer Relationen zueinander und der Modalität bewusst zu werden, die diese Vergegenwärtigung hat – ob, was dadurch gedacht wird, aus der Perspektive des denkenden Subjekts möglich, wirklich oder gar notwendig ist. Die Kategorien des reinen Denkens, durch die das vernünftige Subjekt von der Wahrnehmung abstrahiert, um sich deren Bedeutung zu vergegenwärtigen, lauten bei Kant dementsprechend: Quantität, Qualität, Relation und Modalität. 96 An diesem Punkt wird in der Forschung oft kritisiert, dass Kants Kategorien sich zu stark an den seinerzeit gängigen Kompendien orientieren würden und dass sie aus aus diesem Grund überholt seien. Doch bereits der Aufbau seiner ersten beiden Kritiken lässt erkennen,

Vergegenwärtigung bedarf.« (Fischer, Die Zeit als Problem in der Metaphysik Kants, 414) 94 Weil die Zeit bei Kant die Form des inneren Sinns ist, in der unsere sinnlich Wahrnehmungen erscheinen und durch die wir folglich eine Verbindung zu Außenwelt unterhalten, hält Heidegger in diesem Kontext fest, dass Kant die Zeit zum »Fußpunkt« und zum »Boden« erhebt, auf dem unser Denken aufbaut, um sich auf die Außenwelt zu erstrecken (vgl. bes. Martin Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: 204 f.) 95 Vgl. hierzu etwa Kant, KrV: B158 f. 96 Kant hält vor diesem Hintergrund fest, dass wir nur »durch sie allein [die Kategorien des reinen Denkens, MB] etwas bei dem Mannigfaltigen der Anschauung verstehen, d. i. ein Objekt derselben denken« können (Kant, KrV: B106). Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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dass Kants Kategorienlehre nur im Verein mit seiner Theorie der zeitlich strukturierten Wahrnehmung zu sehen ist und auch nur in diesem Verband kritisiert werden sollte: im direkten Anschluss an die Vorstellung und die Rechtfertigung der jeweiligen Kategorien ist Kant in seinen ersten beiden Kritiken sehr darum bemüht, zu zeigen, wie sich dieselben jeweils mit der zeitlichen Struktur der sinnlichen Wahrnehmung in Einklang bringen lassen, und dies aus gutem Grund: denn die Verbindung zwischen den Formen der sinnlichen Wahrnehmung und den Kategorien des reinen Denkens ist für Kant ein wahrheitskonstitutives Verhältnis. Wenn nämlich, wovon Kant wie gesagt ja ausgeht, alle Bedeutung, die wir einer Sache beimessen, das Produkt eines reinen Verstandes ist, der mannigfaltige Sinnenwahrnehmungen zur objektiven Einheit der Erkenntnis verbindet, dann ist die Wahrheit nichts anderes als die Übereinstimmung jener Kategorien, die dabei zur Anwendung gelangen, mit ihrem Gegenstand. Vor diesem Hintergrund hält Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft schließlich auch fest: Der Teil der transzendentalen Logik also, der die Elemente der reinen Verstandeserkenntnis vorträgt, und die Prinzipien, ohne welche überall kein Gegenstand gedacht werden kann, ist die transzendentale Analytik und zugleich eine Logik der Wahrheit. Denn ihr kann keine Erkenntnis widersprechen, ohne daß sie zugleich allen Inhalt verlöre, d. i. alle Beziehung auf irgendein Objekt, mithin alle Wahrheit. 97

Die Wahrheit liegt für Kant in der Übereinstimmung der sinnlichen Wahrnehmung eines Gegenstandes mit den Kategorien des reinen Denkens, durch die er gedacht wird. Selbst in einer nicht theoretischen, praktischen Rücksicht kommt es in den Augen Kants darauf an, sich dem Ideal eines »wahren« Lebens anzunähern, das die Kategorien unseres Denkens mit den Mechanismen der Wahrnehmung in Einklang bringt. 98 Die Anwendung der Kategorien ist bei Kant mit Kant, KrV: A62 f./B87. Vgl. hierzu Kants Lehre von den Postulaten der praktischen Vernunft, bes. Kant, KpV: AA 05: 124–134. Vgl. auch Zimmermann: »Praktische Urteile […] beruhen auf der Ausübung derselben logischen Funktionen wie theoretische Urteile; und sie müssen folgerichtig dieselben logischen Formen aufweisen wie diese. Mit einem Wort, die so genannte Urteilstafel in der Kritik der reinen Vernunft bildet den Konvergenzpunkt einer Theorie theoretischer Urteile, in welchen sich die Erfahrung eines Objekts vollzieht, und einer Theorie praktischer Urteile, welche das Wollen eines Objekts enthalten.« [Stephan Zimmermann, Kants »Kategorien der Freiheit«: de Gruyter 2011 (= Kantstudien. Ergänzungshefte), 88.]

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der Autonomie verbunden, die Wahrheit nach den universalen Gesetzmäßigkeiten seines eigenen Denkens zu erkennen und dies zugleich zum Prinzip seines Handelns zu machen. Die Wahrheit ist bei Kant in der Beziehung des universalen Denkens auf den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung gerechtfertigt. Kant vertritt demnach die feste Überzeugung, dass gewisse Bereiche unseres Denkens a priori gültig sind und dass es der Philosophie daher möglich ist, ein reines Verstandesgebäude zu errichten, wozu seine Kritik der reinen Vernunft bekanntermaßen den Bauplan an die Hand gibt. Dieses »architektonische Detail« stellt die ethische Erfahrung des Anderen, die eine Infragestellung der eigenen Vermögen ist, bei Levinas in Frage. 99 Doch dies ist ein Thema, das im Verlauf dieser Arbeit erst sehr viel später besprochen wird.

2.2. Die Illusionen des reinen Denkens im Blick auf die Zeit Die Zeitthematik spielt eine zentrale Rolle bei Kant und markiert das Agens seiner Abstoßbewegung vom Empirismus und Rationalismus. Kant betont mehrfach, dass die Zeit nur die Art ist, in der uns Erscheinungen im inneren Sinn gegeben sind, und keine objektive Bestimmung der Dinge an sich. Der Empirismus und der Rationalismus sind nach seiner Ansicht der Illusion unterlegen, die Zeit unabhängig von den Formen unserer Anschauung bestimmen zu können. Dieser Sachverhalt soll im Folgenden näher erörtert werden. Das soll vor allem Aufschluss über die Differenzen der kantischen zur seinerzeit zeitgenössischen Philosophie, aber auch zu nachkantischen Traditionen wie dem Deutschen Idealismus oder der Phänomenologie geben. Um diese Differenzen schließlich zu bergen, wird zunächst auf Kants Darstellung jener philosophischen Positionen eingegangen, von denen er sich bewusst distanziert. In weiterer Folge wird dann gezeigt, inwiefern Kant deren kosmologische Perspektive auf die Zeit auf eine Zu Levinas’ Kant-Kritik vgl. Levinas, Humanismus und An-archie, HAM: 82/ HAH: 82; GZ: 67–77, 196; JS: 287/AQ: 166. – Für Levinas’ Ansatz ist es demzufolge wesentlich, dass der Andere fähig ist, das transzendentale Subjekt radikal infrage zu stellen. Seine Philosophie ist daher gerade keine Transzendentalphilosophie (vgl. hierzu auch Reinhold Esterbauer, Transzendenz-»Relation«. Zum Transzendenzbezug in der Philosophie Emmanuel Levinas. Wien: Passagen-Verlag 1992, 219; eine andere Ansicht vertritt etwa Brachtendorf, Das Andere als metaphysisches Prinzip in Levinas’ ›Totalität und Unendlichkeit‹, 155 Anm. 2).

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Täuschung der reinen Vernunft zurückführt sowie wo die Differenzen zur nachkantischen Philosophie liegen und was in der Forschungsliteratur in diesem Kontext zu berücksichtigen wäre. Zunächst also zu den philosophischen Positionen, von denen Kant sich distanziert. Speerspitze und Kern der philosophischen Schulpositionen seiner Zeit ist nach Kant die spekulative Metaphysik – »eine[] ganz isolierte[] spekulative[] Vernunfterkenntnis, die sich gänzlich über Erfahrungsbelehrung erhebt« und der »das Schicksal bisher noch so günstig nicht gewesen [ist], daß sie den sicheren Gang einer Wissenschaft einzuschlagen vermocht hätte«. 100 Kant kritisiert an der seinerzeit zeitgenössischen akademischen Philosophie, dass sie sich nicht durch die Erfahrung belehren lässt. Wie umfassend diese Kritik ist und welche Protagonisten der Ideengeschichte Kant dabei vor Augen hat, davon zeichnet die Methodenlehre seiner Kritik der reinen Vernunft ein deutliches Bild, in welcher Kant seine Gründe zu dieser Einschätzung offenlegt. Kant schreibt dort, dass die spekulative Metaphysik »alle reinen Vernunftprinzipien aus bloßen Begriffen […] von dem theoretischen Erkenntnisse aller Dinge« 101 enthalte und aus drei Hauptteilen besteht: (1) aus einem ontologischen System, das von der Gegebenheit der Objekte absieht, ferner aus einer Lehre vom physiologischen Inbegriff des Gegebenen, der alle Erfahrung übersteigt und die Totalität der Erfahrung entweder (2) als rationale Kosmologie oder (3) als rationale Theologie zu begründen sucht. 102 Kant unterscheidet schließlich noch zwischen der dogmatischen und der empiristischen Herangehensweise der rationalen Kosmologie. Im Blick auf diese unterschiedlichen Herangehensweisen hat er zuvor im Antinomien-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft erörtert, inwiefern die erste, zu deren Vertretern Kant Leibniz zählt, die Welt von einem ersten Anfang in der Zeit her denkt, die zweite aber, darunter Locke, hinsichtlich der empirischen Sukzession der Veränderungen in der Welt annimmt, dieselbe habe eine unendliche Vergangenheit. 103 Nach Kant verfährt Leibniz dogmatisch, da er die zeitliche Zusammensetzung der erfahrenen Welt als uranfänglich beschlossen ansieht und von einem intellektuellen Anfang her denkt, Locke aber empiristisch, da er die erfahrene Zeitlichkeit zum kosmo100 101 102 103

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Kant, KrV: BXIV. Kant, KrV: A841/B869. Vgl. Kant, KrV: A845 f./B873 f. Vgl. Kant, KrV: A426/B454–A433/B461, ferner: A854/B882

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logisches Prinzip erhebt. 104 Beide überschreiten den Bereich der möglichen Erfahrung, auf den die Erkenntnis des menschlichen Verstandes in Kants Augen jedoch zu begrenzen wäre. 105 Kants Argument hinter seinem Befund, dass Locke und Leibniz mit dem Bereich der möglichen Erfahrung auch den Bereich der möglichen Erkenntnis verlassen, beruht auf einer Unterscheidung zwischen dem empirischen und dem transzendentalen Objekt, die in der Forschung besonders Graham Bird ins Zentrum gerückt hat und die im Kern Folgendes besagt: 106 empirisch ist ein Verhältnis einer Sache an sich zu ihrer Erscheinung erkennbar, beispielsweise das Verhältnis des Regens zur Erscheinung des Regenbogens. 107 In transzendentaler Rücksicht aber ist dieses Verhältnis unbekannt und es ist unmöglich die »Dinge überhaupt und an sich selbst« im Verhältnis zu unserer Erkenntnis zu denken. 108 Der Begriff eines »Dinge[s] überhaupt und an sich selbst« macht im Verhältnis auf unser Erkenntnisvermögen keinen Sinn und ist frei erdichtet, so Kant, weil unser Verstand je schon darauf angewiesen ist, dass ihm ein Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung zu seiner Beurteilung gegeben wird. 109 Da die Erkenntnis auf den empirischen Bereich der sinnlichen Wahrnehmung begrenzt ist, ist es schließlich auch unmöglich, einen kosmologischen Begriff der Zeit zu bilden, der die Erfahrung übersteigt. 110 Doch Kant belässt es nicht bei dieser Grenzbestimmung unserer Erkenntnis und spricht in diesem Kontext in weiterer Folge von natürlichen Täuschungen der Vernunft. Um zu verstehen, wie diese Täuschungen entstehen, ist nun Folgendes zu bedenken: jeder Gedanke bezieht sich nach Kants Einschätzung auf ein Objekt. Ein Objekt aber kann der Verstand wie bereits gesagt erst erkennen, wenn er einen sinnlich gegebenen Gegenstand beurteilt. Aus diesem Grund ist das Denken nach Kant schlechthin erst aus Anlass eines sinnlich Vgl. hierzu Kant, KrV: A465 f./B493 f. Vgl. zu Kants Begriff der Erfahrung als »Inbegriff[] aller Erkenntnis, darin uns Objekte gegeben werden mögen«, etwa Kant, KrV: A236 f./B295 f. u. ö. 106 Vgl. Graham Bird, The revolutionary Kant. A commentary on the Critique of pure reason. Chicago: Open Court 2006, 183–188; Graham Bird, Kant’s Analytical Apparatus, in: Contemporary Kantian metaphysics. New essays on time and space, hg. v. Roxana Baiasu, Graham Bird. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2011, 125–139. 107 Vgl. bes. Kant, KrV: A45 f./B63 f. 108 Vgl. Kant, KrV: A238 f./B297 f. 109 Vgl. Kant, KrV: A238 f./B297 f. u. im Zusammenhang damit bes. auch Kant, KpV, AA 05: 46 f. 110 Vgl. Kant, KrV: »Schlußanmerkung zur ganzen Antinomie der reinen Vernunft«. 104 105

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gegebenen Gegenstandes möglich. Das heißt, dass zu denken für ihn bedeutet, über einen noch unbestimmten, sinnlich jedoch bereits gegebenen Gegenstand zu urteilen. 111 Das menschliche Denken steht insofern in einer gleichermaßen ursprünglichen wie notwendigen Beziehung zum sinnlichen Wahrnehmungszusammenhang und ist daher diskursiv bestimmt. Von jeher den Bedingungen der zeitlichen Wahrnehmungsabfolge unterworfen, ist es auch seinerseits ein Gegenstand der Wahrnehmung, was dazu führt, dass es mittelbar über seine eigenen Urteilshandlungen urteilen kann. 112 Bei einem solchen mittelbaren Urteil, bei dem es nur auf seine eigenen Verstandeshandlung sieht, ohne zugleich dessen Rolle im zeitlich bestimmten Zusammenhang der Wahrnehmung zu berücksichtigen, kann der Verstand sich nun darüber täuschen, er könne »de[n] Verstandesgebrauch im Ganzen der gesamten Erfahrung nach Prinzipien bestimmen«. 113 Ja, streng genommen muss er sich hierüber sogar täuschen, weil in seiner notwendigen Beziehung auf das zeitlich bedingte Wahrnehmungsmannigfaltige stets um eine objektive Erkenntnis bemüht ist, was in diesem Fall nichts anderes bedeutet, als dass er versucht die Urteilshandlung schlechtin und unabhängig von ihrer Rolle im Ganzen der Erfahrung objektiv zu bestimmen. Das Urteil, das dies alles ermöglichen soll, bezieht sich seinerseits jedoch nur auf eine Urteilshandlung im zeitlich bestimmten Zusammenhang der sinnlichen Erfahrung und kann deshalb auch nicht zu einer Erkenntnis der Rolle des Urteils im Erfahrungsgeschehen überhaupt führen. Das entgeht dem urteilenden Subjekt jedoch, da die Urteilshandlung, über die es urteilt, wie jede andere mit einer Abstraktionsleistung verbunden ist, wodurch es in der anschließenden Reflexion so scheint, als sei diese Urteilshandlung je schon isoliert von den empirischen Bedingungen des Daseins möglich und als

111 »Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, so daß der Verstand überhaupt als ein Vermögen zu urteilen vorgestellt werden kann. Denn er ist nach dem obigen ein Vermögen zu denken. Denken ist das Erkenntnis durch Begriffe. Begriffe aber beziehen sich als Prädikate möglicher Urteile auf irgendeine Vorstellung von einem noch unbestimmten Gegenstande.« (Kant, KrV: B94) Vgl. hierzu auch das Kapitel »Der Urteils- und der Zeitdiskurs bei Kant und Levinas« weiter unten. 112 Vor diesem Hintergrund nennt Kant den Verstand Vernunft, wo er sich ausschließlich auf sich selbst bezieht, um mittelbar zu urteilen oder zu schließen (vgl. Kant, KrV: A330/B386 u. A306 f./B363). 113 Kant, KrV: A321/B378.

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sei es insofern auch möglich, 114 zu eruieren, wie sich der Urteilsbegriff zum Inbegriff der Erfahrung verhält. Die Täuschung ist in Kants Augen perfekt: Es liegt in der Natur der Vernunft, den empirischen Verstandesgebrauch so zu betrachten, als ob er »im Ganzen der gesamten Erfahrung nach Prinzipien« bestimmt werden könnte. 115 Worin sich die Täuschung sonst noch äußert, das macht er im Kontext seiner Distanzierung von der rationalistischen und empiristischen Betrachtungsweise der Zeit deutlich. Nach Kant unterliegen diese beiden Betrachtungsweisen der Täuschung, das zeitlich Bedingte, wozu auch die Erfahrung zählt, ließe sich in einer »hypothetischen Synthesis der Glieder einer Reihe« zu einem Ganzen verbinden. 116 Kant kritisiert, dass der menschliche, diskursiv bestimmte Verstand jedoch selbst in der Zeit steht 117 und das zeitlich Bedingte zunächst einmal wahrnehmen müsse, um überhaupt darüber urteilen zu können, sodass, wenn er darüber urteilt, sein Urteil ebenfalls zeitlich bedingt ist und die ganzheitliche Bestimmung des zeitlich Bedingten daher niemals erreicht. Die vermeintliche kosmologische Erkenntnis, die aus einer »hypothetischen Synthesis der Glieder einer Reihe« resultiert und auf eine ganzheitliche Einsicht in das Zeitgeschehen abzielt, entpuppt sich als Täuschung, der das Vernunftinteresse zugrunde liegt, einen objektiven Begriff der zeitlich strukturierten Totalität der Erfahrung zu bilden – ein Vorhaben, dessen Realisierung für Kant aus den genannten Gründen ausgeschlossen ist und dem die Täuschung zugrunde liegt, es wäre möglich, einen Inbegriff der Erfahrung auf Grundlage einer Analyse des »Verstandesgebrauchs im Ganzen der gesamten Erfahrung« zu bilden. Die bereits angesprochenen kosmologischen Täuschungen weisen darüber hinaus noch die Besonderheit auf, die Allheit der Erfahrung nach der reinen Verstandeskategorie der Kausalität erkennen zu wollen. Die nach dem Kausalitätsprinzip vorgestellte Totalität der Erfahrung beruht in Kants Augen auf einer »hypothetischen Syn-

Vgl. hierzu Kant, KrV: B426 f. sowie B411. Zu den reinen Ideen der Vernunft, der damit verbundenen natürlichen Illusion und zur subjektiv regulativen Funktion dieser Ideen vgl. die kurzen Textpassagen in Kant, KrV: »Vom transzendentalen Schein« u. »Vom regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft«, bes. A644 f./B672 f. 116 Kant, KrV: A323/B379. 117 Vgl. hierzu die Ausführungen weiter oben. 114 115

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thesis der Glieder einer Reihe« und begründet Illusionen in der Form des hypothetischen Vernunftschlusses, die eine antinomische Form haben: In ihnen scheint die Totalität der Erfahrung alternativ uranfänglich beschlossen oder unendlich bedingt. Beides ist jedoch eine Täuschung, die wie gesagt auf das Interesse der Vernunft, »de[n] Verstandesgebrauch im Ganzen der gesamten Erfahrung nach Prinzipien [zu] bestimmen«, zurückzuführen ist, sodass die Vernunft über diese Alternativen in einen Widerstreit mit sich selbst gerät, ohne dass sich hier je eine Entscheidung zugunsten einer der beiden Alternativen abzeichnen könnte, da die dazu notwendige Erkenntnis nicht zu erlangen ist. 118 Die Empiristen und Rationalisten seiner Zeit verfechten nach Kant nun je eine dieser zwei Positionen, deren Irrwege er aufdecken möchte. 119 Nach seiner Ansicht ist der Versuch, die Totalität des Zeitlichen zu denken, von vorherein zum Scheitern verurteilt und führt bestenfalls zu einer Selbstaufklärung der Vernunft. Mit dieser These grenzt Kant sich von jenen zeitgenössischen Positionen ab, die er durch Leibniz und Locke vertreten sieht. Er lässt damit aber auch Differenzen zum Deutschen Idealismus erkennen, etwa zu Hegel, der die Zeitlichkeit auf den Begriff, oder zu Fichte, der sie in eine enge Verbindung mit der Einbildungskraft bringt, und begibt sich damit zugleich auf Distanz zur phänomenologischen Tradition: die Retentionen und Protentionen bei Husserl, die Ekstasen der Zeitlichkeit bei Heidegger oder die ethische Spur der Zeit bei Levinas – solche gesamtheitlichen Betrachtungen der Zeitlichkeit liegen für Kant fernab des Möglichen. Kants Zeitstudien beschränken sich nicht zuletzt aus diesem Grund auf erkenntnisrelevante Überlegungen, welchen Aspekt auch die Forschung besonders in den Blick nimmt. Während Kant ausführlich darüber spricht, wie wir die Dinge in der Zeit erkennen können, verliert er auffallend wenige Worte über die Zeit selbst und auch dies nur in einem genauestens abgesteckten Rahmen. Nach seiner Ansicht sind die Grenzen der Erkenntnis in dieser Rücksicht eng gesetzt: Der menschliche, diskursiv bestimmte Verstand muss zunächst in der sinnlichen Wahrnehmung nach einem Gegenstand suchen, bevor er zur objektiven Erkenntnis fortschreitet, sodass er

118 Vgl. generell Kant, KrV, »Erster Widerstreit der transzendentalen Ideen«, A426/ B454–A433/B461. 119 Vgl. bes. Kant, KrV: A841–851/B869–880.

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die Zeit, die diese Wahrnehmung an sich einnimmt und die im Moment seiner Erkenntnis immer schon vergangen ist, niemals erkennen kann. 120 Kant verliert bewusst kein Wort über den Ursprung der Zeit oder dergleichen, da unser Erkenntnisvermögen dieser Aufgabe aus seiner Perspektive nicht gewachsen ist. Die Engführung seiner Ausführungen zur Zeitthematik hat vielerorts den Eindruck erweckt, es handle sich dabei bloß um eine thematisch bedingte Begrenzung, die jederzeit erweitert und ergänzt werden könnte. Verschiedene Zeitkonstitutionstheorien wurden entworfen, um dem vermeintlichen Mangel bei Kant Abhilfe zu schaffen und seiner Zeittheorie zu mehr Verständlichkeit zu verhelfen. 121 Der geringe Umfang, den Kant für die Erörterung des Zeitbegriffs vorgesehen hat, ist aber keinesfalls das Produkt einer bloß thematisch beschränkten und beliebig erweiterbaren Auseinandersetzung mit diesem Begriff. Dass Kant die Möglichkeiten, den Zeitbegriff überhaupt zu thematisieren, für sehr begrenzt hielt, zeigt bereits seine vergleichsweise umfangreiche Auseinandersetzung mit den kosmologischen Irrwegen des Empirismus und des Rationalismus. Ferner übt die Zeit bei Kant im Blick auf den menschlichen Verstand eben eine im Folgenden noch näher zu bestimmende Grenzfunktion aus, die es ihm unmöglich macht, den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung zu verlassen, um einen objektiven Begriff davon zu gewinnen, was die Zeit unabhängig von den Formen der sinnlichen Anschauung ist.

120 Das wird besonders dort deutlich, wo Kant zu verstehen gibt, dass Begriffe wie Dauer, Augenblick, Anfang und Ende nur Bestimmungen der Dinge in der Zeit, jedoch keinen objektiven Begriff der Zeit selbst bilden (vgl. Kant, V-Met/Schön, »Von der Zeit«, AA 28: 521 f. u. Kant, Anth, § 34, AA 08: 182). 121 In dem Kontext ist etwa Michel, Untersuchungen zur Zeitkonzeption in Kants Kritik der reinen Vernunft zu nennen. Michel behauptet, Dinge könnten nach Kant nicht anders als zeitlich erscheinen (vgl. bes. 65 f.), welches ein ontologisches Urteil über die Bedingungen der Zeitkonstitution ist, das für Kant aus den oben genannten Gründen ein Ding der Unmöglichkeit ist.

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2.3. Die Zeit als eine Grenze des Verstandes [V]on diesen [Raum und Zeit, MB], mithin überhaupt von allen Erscheinungen habe ich nur gezeigt: daß sie nicht Sachen (sondern bloße Vorstellungsarten), auch nicht den Sachen an sich selbst angehörige Bestimmungen sind. Kant, Prol, AA 04: 293.

Für Kant ist die Zeit bekanntermaßen die Form des inneren Sinns, welches Vermögen uns nach seiner Ansicht befähigt, Vorstellungen als Zustandsveränderungen des Gemüts wahrzunehmen und dadurch ein Bewusstsein für deren Realität zu entwickeln. Den inneren Sinn nennt Kant vor diesem Hintergrund auch den »Inbegriff aller Vorstellungen« und macht zugleich deutlich, inwiefern dessen zeitliche Struktur unsere Erkenntnisvermögen dahingehend begrenzt, Vorstellungen nur aus ihrem zeitlichen Zusammenhang heraus erkennen zu können. Dieser Grenzbestimmung soll im Folgenden nachgegangen werden, um das Verhältnis von Kants Zeitbegriff zu seinem Begriff vom diskursiv bestimmten Denken des Menschen zu erörtern und anschließend zu problematisieren. Zu diesem Zweck wird hier zunächst ein Blick auf die Forschung von Graham Bird und Roxana Baiasu geworfen, die versuchen, die Grenzfunktion des Raumes aus Kants Grundsatz, nicht »von dem Entstehen der Erfahrung […], sondern von dem, was in ihr liegt«, zu sprechen, verständlich zu machen. Ähnliche Überlegungen zum Zeitbegriff sollen dann zeigen, inwiefern Kant die Zeit als eine immanente Grenze des Verstandes konzeptioniert, bevor die Ergebnisse im Kontext der Forschung diskutiert werden. Mit seiner Monografie The Revolutionary Kant hat Graham Bird hier eine neue Leseart von Kants Schriften gefordert. Nach seiner Ansicht hat Kant die Philosophie auf die Darstellung erfahrungsimmanenter Grundsätze beschränkt und sich dabei an dem Leitsatz orientiert, dass unabhängig von unserer Erfahrung kein Ding an sich existiert. 122 In der Tat ist es uns in Kants Augen unmöglich, zu erken122 Vgl. Bird, The revolutionary Kant, 88 f. Bird betont die Notwendigkeit des differenzierten Gebrauchs des Begriffspaars Erscheinung/Ding an sich (vgl. ebd., 183). Die empirische Wirklichkeit, die uns vermittelt über Phänomene der sinnlichen Wahrnehmung gegeben ist, ist nach Kant die einzige, die wir erkennen können, in einer von der Erfahrung unabhängigen Rücksicht macht es nach Kants Ansicht keinen Sinn, von der Existenz eines Dinges an sich zu sprechen (vgl. Kant KrV: A45 f./B63).

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nen, wie sich die Dinge unabhängig von unserer Erfahrung verhalten oder ob sie existieren. Denn nach Kant ist unsere Erkenntnis immer schon auf den Bereich der Erfahrung bezogen, sodass es uns nicht möglich ist, zu erkennen, wie sich die Erfahrung ursprünglich konstituiert, wohl aber, welche Grundsätze ihr immanent sind. 123 Es ist Kants Anliegen, nicht »von dem Entstehen der Erfahrung […], sondern von dem, was in ihr liegt«, zu sprechen. 124 Kant hat versucht, die Erkenntnis auf die Immanenz des Erfahrungszusammenhangs zu begrenzen, für welche Immanenz Fragen der Zeitlichkeit und der Räumlichkeit eine überaus große Rolle spielen. Roxana Baiasu bemüht sich in diesem Kontext, jene Grenzen der menschlichen Erkenntnisvermögen auszuloten, die sich aus der räumlichen Struktur des Erfahrungszusammenhangs ergeben, auf den der erkennende Verstand jederzeit bezogen ist. Nach Baiasus Ansicht beruht bereits die Möglichkeit einer objektiven Vorstellung bei Kant auf dem Phänomen der Äußerlichkeit, 125 was sich wie folgt erklären lässt: Eine objektive Vorstellung betrifft nach Kant nicht ein »Ding überhaupt und an sich selbst«. Der Sinn einer solchen Vorstellung liegt in seinen Augen nicht darin, etwas als das, was es an sich ist, vorzustellen, sondern darüber zu urteilen, wie es in der Erfahrung gegeben ist. 126 Soll dies aber möglich sein, muss das Gegebene als etwas erscheinen, das vom Bewusstsein der eigenen Apperzeption begleitet werden kann – es muss folglich als etwas Äußerliches erscheinen. Erschiene mir etwa der Mond nicht als etwas Äußerliches, wäre es mir auch unmöglich, ihn mit dem Bewusstsein der eigenen Apperzeption zu begleiten und als ein gegebenes Objekt zu erkennen. Der phänomenale Raum ist hier im doppelten Sinne eine Grenze unseres objektiven Verstandesvermögens: Vor diesem Hintergrund hält Kant in seinen Prolegomena fest: »Der Grundsatz, der meinen Idealismus durchgängig regiert und bestimmt, ist dagegen: ›Alle Erkenntnis von Dingen aus bloßem Verstande oder reiner Vernunft ist nichts als lauter Schein, und nur in der Erfahrung ist Wahrheit.‹« (Kant, Prol, AA 04: 374.) 123 Aus der Perspektive von Graham Bird steht dies im Gegensatz zu dem in der KantForschung weitverbreiteten Fokus auf Fragen der normativen Rechtfertigung der Erfahrung (vgl. Bird, The revolutionary Kant, 177). 124 Kant, Prol, AA 04: 304. 125 Vgl. Roxana Baiasu, Space and the Limits of Objectivity: Could There Be a Disembodied Thinking of Reality, in: Contemporary Kantian metaphysics. New essays on time and space, hg. v. Roxana Baiasu, Graham Bird. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2011, 207–229, 222 ff. 126 Vgl. bes. Kant, KrV, §§ 16 u. 17, B131–B139. Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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Einerseits erscheint der Gegenstand, den wir als gegebenes Objekt erkennen können, notwendig im Raum, andererseits erscheint auch der Verstand im Raum, und zwar zumindest insofern, als er diesen Gegenstand als etwas Äußerliches wahrnimmt und sich dadurch zugleich selbst räumlich positioniert. Der objektive Gebrauch des Verstandes findet bei Kant also in einer räumlich begrenzten phänomenalen Welt statt. In den Worten Roxana Baiasus: The location at which objective, possibly absolute thinking occurs is irrelevant for the operations of this thinking, its variability does not affect them. However, since in each case it has a location, this thinking is part of the spatial world; it is not nowhere. 127

Baiasu zeichnet ein sehr deutliches Bild davon, inwiefern der objektive Verstandesgebrauch bei Kant jederzeit nur innerhalb der Grenzen der räumlich bestimmten sinnlichen Anschauung eines Gegenstandes möglich ist. Eine ähnliche Rolle, wie jene, welche dem Raum im Verhältnis auf unseren objektiven Verstandesgebrauch bei Kant zukommt, kommt nun auch Kants Konzeption der Zeit zu, die im Folgenden im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Anders als der Raum begrenzt die Zeit die Verstandestätigkeiten bei Kant nach meiner Ansicht allerdings nicht nur dahingehend, sich in ein räumliches Verhältnis zu seinen Objekten setzen zu müssen, sondern schlechthin darauf, nur in der Form eines diskursiven Urteils möglich zu sein. Denn die Zeit ist nach Kant »die Form des inneren Sinnes«. 128 »Sinn« bedeutet für ihn dabei »das Vermögen der Anschauung in der Gegenwart des Gegenstandes«. 129 »Innere« wiederum bezieht sich nicht auf einen Ort im Subjekt oder darauf, wie ein Gegenstand zufolge eines inneren, von der restlichen Welt aber isolierten, Auffassungsvermögens zu sein scheint, sondern darauf, wie ein empirischer Gegenstand im phänomenalen Zusammenhang der Welt rezeptiv wahrgenommen wird: auf die, seiner Erscheinung immanente Gesetzmäßigkeit der phänomenalen Welt, in die das vorstellende Subjekt ja je schon eingebunden ist. Der innere Sinn ist also der Inbegriff dessen, wovon wir uns eine Vorstellung machen können, beziehungs-

127 Vgl. Baiasu, Space and the Limits of Objectivity: Could There Be a Disembodied Thinking of Reality, 224. In dem Kontext ist besonders auf Kants Erklärung zu den Grenzen des Verstandesgebrauchs in Kant, KrV, § 24 hinzuweisen. 128 Kant, KrV: A33/B49. 129 Kant, Anth, AA 07: 153.

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weise dessen, welche Rezeptionsmechanismen dem Phänomen der Vorstellung zugrunde liegen. Kant nennt den inneren Sinn auch den »Inbegriff aller Vorstellungen«, 130 wobei er Vorstellungen eben als Phänomene der inneren Wahrnehmung eines an sich größeren phänomenalen Zusammenhangs der Welt begreift. Die Zeit ist nach seiner Ansicht die Form des inneren Sinns, und zwar, weil Phänomene im inneren Sinn als Zustandsveränderung der phänomenalen Welt erscheinen und somit als »Verbindung kontradiktorisch entgegengesetzter Prädikate […] in ein und demselben Objekte«. Da eine solche Verbindung aber nur im Nacheinander verschiedener Zeiten möglich ist, ist die Zeit nach Kant die Form des inneren Sinns. 131 Wenn nun aber sämtliche Vorstellungen Zustandsveränderungen sind, die im inneren Sinn wahrgenommen werden, wie Kant es offensichtlich behauptet, dann ist einerseits die objektive Realität eines Gedankens nur in Beziehung auf den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung verbürgt, der dann mit dem Bereich dessen, was wir bewusst vorstellen und von dessen Realität wir uns einen objektiven Begriff bilden können, zusammenfällt. Andererseits folgt hieraus, dass der Vorstellungszusammenhang generell durch ein strenges zeitliches Nacheinander geprägt ist. Denn es ist zwar denkbar, dass in Rücksicht auf unseren Zustand mannigfaltige Modifikationen zugleich stattfinden, jedoch kann zu einer bestimmten Zeit immer nur ein Zustand wahrgenommen werden kann, sodass, wenn es wahr ist, dass Vorstellungen nichts als innere Wahrnehmung von Zustandsveränderungen sind, zugleich anzunehmen ist, dass der Vorstellungszusammenhang zeitlich gesehen durch ein strenges Nacheinander geprägt ist. Kants Perspektive auf den Verlauf des Vorstellungszusammenhangs hat vor diesem Hintergrund nicht zuletzt einen erheblichen Einfluss auf seine Bestimmung des Begriffs der menschlichen Art zu denken. Denn, da Kant annimmt, dass unserem Verstand als dem Vermögen zu denken schlechthin zunächst ein Gegenstand gegeben werden muss, bevor er zur Ausübung gelangt, 132 zugleich aber, wie soeben nachgewiesen werden konnte, die Überzeugung vertritt, dass dieser Gegenstand nur vermittelst der sinnlichen Wahrnehmung vor130 Vgl. für den inneren Sinn als »Inbegriff aller Vorstellungen« und die Zeit als dessen Form Kant, KrV: A177/B220 u. A155/B194. 131 Vgl. hierzu Kant, KrV: B48 ff. 132 Vgl. hierzu die Abschnitte weiter oben sowie Kant, KrV: B1 ff. u. A19/B33.

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gestellt werden kann, ist unser Denken in seinen Augen zuletzt jederzeit auf den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung bezogen. 133 Da ferner sämtliche Vorstellungen, die Gedanken eingeschlossen, in Kants Augen aus den besagten Gründen nur nacheinander möglich sind, muss ein Gegenstand zunächst sinnlich wahrgenommen und kann erst anschließend gedacht werden, was einer Vergegenwärtigung und damit einer Entzeitlichung dieses Gegenstandes gleichkommt. 134 Diese Entzeilichung legt nun den Grundstein für Kants berühmte Trennung der Sinnlichkeit, als einem Vermögen der Wahrnehmung, und des Verstandes, als reflexivem Urteilsvermögen. Entsprechend ist ein Denken in Kants Augen in letzter Instanz überhaupt nur diskursiv fortschreitend und als Urteil über eine vorausliegende sinnliche Wahrnehmung möglich. 135 Unser Denken ist nach Kant somit in letzter Instanz stets diskursiv auf Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung bezogen, die zuerst gegeben sein müssen, bevor es sie als Gegenstände der Erfahrung erkennt. Kant führt die Verstandestätigkeiten damit auf die objektive Apperzeption einer sinnlichen Wahrnehmung in einem Urteil beziehungsweise auf die prädikative Bestimmung eines Phänomens zurück, das zunächst auf einer rein sinnlichen Ebene empfunden wird. 136 Diese Apperzeption einer sinnlichen Wahrnehmung nennt Kant schließlich Erfahrung, weshalb er bereits in der Einleitung seiner Kritik der reinen Vernunft festhält: Daß all unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt? Der Zeit

Vgl. hierzu: Kant, KrV: A19/B33; vgl. hierzu bes. auch ebd., B136. Vgl. hierzu bes. Anm. 12 sowie Anm. 72 weiter oben und die Ausführungen im Kapitel »Der Urteils- und der Zeitdiskurs bei Kant und Levinas«. 135 Vgl. hierzu bes. Kant, KrV: B94 u. A19/B33 sowie die Ausführungen weiter unten und das Kapitel »Der Urteils- und der Zeitdiskurs bei Kant und Levinas«. 136 Die transzendentale oder ursprüngliche Einheit der Apperzeption, die bei Kant den objektivierenden Verstandestätigkeiten zugrunde liegt, ist für denselben deshalb auch dasjenige, was wir meinen, wenn wir »Ich denke« sagen (vgl. hierzu bes. Kant, KrV, § 16). Überdies ist Kant der Überzeugung, »daß ein Urteil nichts anderes sei, als die Art, gegebene Erkenntnisse zur Einheit der Apperzeption zu bringen« (Kant, KrV: B141). 133 134

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nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alles an. 137

Ohne eine Beziehung auf einen Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung ist ein Denken bei Kant aus den genannten Gründen also ausgeschlossen. Zwar scheint die urteilsimmanente Abstraktion von den Mechanismen der sinnlichen Wahrnehmung, so ergänzt Kant mitunter, mittelbar eine isolierte Existenz des Verstandes zu erkennen zu geben, diese Illusion ist nach Kant aber bodenlos. 138 Unser Vermögen zu denken, das ist der Verstand, ist nach Kant schlechthin nur zu Urteilen über einen zunächst noch unbestimmten Gegenstand der Erfahrung fähig, 139 den wir auf einer sinnlichen Ebene bereits wahrgenommen beziehungsweise empfunden haben müssen. Daraus wird nun verständlich, warum die Grenze, die die Zeit bei Kant im Verhältnis zum Verstand festlegt, von wesentlich umfassenderer Art als jene ist, für welche sich der Raum in diesem Zusammenhang verantwortlich zeigt. 140 Die Reflexion auf die Immanenz des Erfahrungs-

137 Kant, KrV: B1. Gegenstände werden dem Verstand bei Kant also zuerst phänomenal gegeben und sind in dieser Rücksicht zunächst durch die Zeit bestimmt, können in ihrem zeitlichen Erfahrungszusammenhang dann jedoch auch prädikativ beziehungsweise durch ein synthetisches Urteil des Verstandes bestimmt werden: »Sonst werden Erscheinungen durch die Zeit determinirt, in der synthesis aber die Zeit durch eine Erscheinung, z. E. [zur Einsichtnahme, MB] dessen, was existirt oder geschieht oder zusammen ist.« (Kant, Refl, AA 17: 671) Für den Hinweis auf diese Stelle danke ich Cornelius Zehetner. 138 Vgl. hierzu vor allem folgende Anmerkung Kants: »Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft teilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde. Ebenso verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstande so enge Schranken setzt, und wagte sich jenseits derselben auf den Flügeln der Ideen in den leeren Raum des reinen Verstandes.« (Kant, KrV: B8 f.; vgl. zum »Inbegriff der Gegenstände aller möglichen Erfahrung« als Boden der Philosophie und des reinen Verstandes ferner Kant, KU, AA 05: 175). 139 »Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, so daß der Verstand überhaupt als ein Vermögen zu urteilen vorgestellt werden kann. Denn er ist nach dem obigen ein Vermögen zu denken. Denken ist das Erkenntnis durch Begriffe. Begriffe aber beziehen sich als Prädikate möglicher Urteile auf irgendeine Vorstellung von einem noch unbestimmten Gegenstande.« (Kant, KrV: B94) 140 Das entspricht schließlich auch Kants Position, wonach die Zeit gegenüber dem Raum den Vorrang hat, da sie die »formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt« ist, dahingegen der Raum nur »die reine Form aller äußeren Anschauung« ist, was die Zeit nach Kant zu einer mittelbaren Bedingung der äußeren Erscheinungen im Raum macht (Kant, KrV: A34/B50).

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zusammenhangs zeigt bei Kant, dass die Zeit die Verstandestätigkeiten dahingehend begrenzt, in letzter Instanz nur in der Form von nachträglichen Urteilen über vorausgegangene sinnliche Phänomene der Wahrnehmung möglich zu sein. Dies ist schließlich auch der Grund, warum der Verstand bei Kant kein einziges »Ding überhaupt und an sich selbst« erkennen kann, da seine Erkenntnis jederzeit auf den zeitlich strukturierten sinnlichen Wahrnehmungszusammenhang begrenzt ist und davon ausgehend nur diskursiv fortschreiten kann. In Rücksicht auf die Zeitthematik lässt sich somit festhalten, dass der Verstand bei Kant in letzter Instanz auf die prädikative Bestimmung eines Phänomens begrenzt ist, das zuerst im inneren Sinn und in dessen Form, der Zeit, erschien. Damit setzt sich der Verstand dem zeitlichen Nacheinander der Phänomene als autonomes Vermögen zu urteilen entgegen und verfolgt insofern auch gänzlich andere Bestimmungsgründe als das ihm jeweils vorausgehende Phänomen. Aus diesem Grund ist es ihm auch nicht möglich, die Phänomene auf die er sich bezieht, als das, was sie an sich sind, zu begreifen, und er kann sie nur in einer nachträglichen Abstraktion und unter Zuhilfenahme bestimmter Schemata erkennen oder vermittelst der Typik seiner bisherigen Erfahrung willentlich kultivieren respektive beeinflussen. 141 Die Phänomenalität und die Noumenalität eines Gegenstandes sind bei Kant demnach streng getrennt, und diese Trennung ist ein Ereignis, das sich in verschiedenen Zeiten nacheinander vollzieht. In der Forschung wird Kants Zeitkonzeption in den Augen Graham Birds nun entgegen dieser strengen Trennung des Bereichs der zeitlich strukturierten sinnlichen Wahrnehmung vom Gebiet des reinen Verstandes oft idealisierend ausgedeutet. 142 Das zeigt sich etwa an der Verbreitung modaler und relationaler Zeitbegriffe in der Kant141 Im Blick auf die Ordnung der Zeit, in der das Phänomen sich ursprünglich zeigt, bedeutet dies, »[d]aß die Zeitverhältnisse durch keine Verstandesbegriffe vorgestellt werden können also blos subjective Formen der Anschauung sind und nichts Allgemeines sondern ein Manigfaltiges im Einzelnen« (Kant, VAMS, AA 23: 245). Zum Schematismus des erkennenden Verstandes im Blick auf die Phänomene der sinnlichen Wahrnehmung vgl. Kant, KrV: A137/B176–A147/B187; zur Typik der praktischen Vernunft vgl. Kant, KpV, AA 05: 67–71. 142 Vgl. Bird, The revolutionary Kant, 174–188; vgl. zum systematischen Hintergrund der starken Präsenz dieses Deutungsansatzes in der Kant-Forschung Sorin Baiasu, Space, Time and Mind-Dependence, in: Kantian Review 16/02 (2011), 175– 190, 176.

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Forschung, 143 deren Gebrauch Kant eigentlich auf den Bereich der empirischen Erkenntnis der Dinge in der Zeit beschränkt und in Absicht auf eine Erörterung der Zeit selbst, die eine Bedingung der Möglichkeit der letzteren ist, ausschließt. 144 Diese Interpretation setzt Kants Zeitkonzeption in ein Verhältnis zu Begriffen, vermittelst derer der Verstand empirische Gegenstände beurteilt. Von dieser Art sind etwa Relationsbegriffe wie das Nacheinander und Modalitätsbegriffe wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Für Kant ist wie gesagt entscheidend, dass diese Begriffe auf den Bereich der empirischen Erkenntnis der Dinge in der Zeit begrenzt sind und zwar aus folgendem Grund: Unser Erkenntnisvermögen ist aus seiner Perspektive auf die Gegebenheit eines Gegenstandes in der sinnlichen Wahrnehmung angewiesen. Die Zeit, in der dieser Gegenstand allererst gegeben wird, ist zum Zeitpunkt unserer Erkenntnis, der ja bereits ein Gegenstand gegeben ist, folglich immer schon vergangen. Vom Standpunkt eines Erkenntnisvermögens ausgehend, das darauf angewiesen ist, sich einen Gegenstand, dessen ursprüngliche Erscheinung bereits vergangen ist, zu vergegenwärtigen ist, lassen sich jedoch keine Rückschlüsse auf das ursprüngliche Ereignis der Zeitigung ziehen, außer dem einen, dass bereits eine Zeit vergangen sein muss, in welcher der nun gegebene Gegenstand zuerst erschien, und dass die Zeit daher in verschiedenen Zeiten nacheinander verlaufen muss. Dies ist nach Kant auch in der Tat der einzige Grundsatz der Zeit, den wir von 143 Baumanns unterscheidet die relationale Vorstellungsweise der Zeit, die durch ein Nacheinander, und die modale, die durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geprägt ist, und behauptet, erstere würde bei Kant durch das Subjekt in Raum-ZeitKonstellationen generiert (vgl. Peter Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehender Kommentar zu den Hauptkapiteln der ›Kritik der reinen Vernunft‹. Würzburg: Königshausen & Neumann 1997, 142–147). Kants Zeitbegriff ist aber durch ein Nacheinander von verschiedenen Zeiten geprägt, die das vorstellende Subjekt selbst, nicht nur dessen Vorstellungen, bestimmen und die kein Produkt des vorstellenden Subjekts sind (s. o.). – Düsing unterscheidet die objektive von der subjektiven Zeit (Klaus Düsing, Objektive und subjektive Zeit. Untersuchungen zu Kants Zeittheorie und zu ihrer modernen kritischen Rezeption, in: Kant-Studien 71/2 (1980), 1–34, 5). Diese Unterscheidung ist nach Kant nicht zulässig, da eine begriffliche Differenzierung der Zeitstrukturen, in die wir als vorstellende Subjekte je schon eingebunden sind, unmöglich ist. In eine ähnliche Richtung gehen: Strawson, Sensibility, Understanding, and the Doctrine of Synthesis: Comments on Henrich and Guyer, 75; Michel, Untersuchungen zur Zeitkonzeption in Kants Kritik der reinen Vernunft, 62; Streubel, Das Wesen der Zeit, 104 f. 144 Vgl. bes. Kant, KrV: A183/B226; Kant, V-Met/Schön, »Von der Zeit«, AA 28: 521 f. u. Kant, Anth, § 34, AA 08: 182.

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einem transzendentalphilosophischen Standpunkt ausgehend aufstellen können. 145 Zwar können wir auch Grundsätze dessen finden, wie wir die Dinge in der Zeit erkennen, etwa als kausal verbunden, 146 doch sind dies dann Grundsätze, die unsere Erkenntnis der Dinge in der Zeit betreffen und unser Wissen um die Zeit an sich nicht erweitern. Es ist uns in Kants Augen noch nicht einmal möglich zu sagen, die Zeit sei durch ein Nacheinander geprägt, sondern nur, dass es verschiedene Zeiten gibt, die nacheinander verlaufen. Denn dass bereits eine Zeit vergangen ist, in der uns ein Gegenstand gegeben wurde, auf den sich unsere Erkenntnis nun richtet, ermöglicht erst, die Vorstellung eines Nacheinander zu bilden. In Kants Worten: »Wollte man der Zeit selbst eine Folge nacheinander beilegen, so müßte man noch eine andere Zeit denken, in welcher diese Folge möglich wäre.« 147 Die oben angesprochenen Interpretationsansätze, die versuchen den kantischen Zeitbegriff durch Relations- und Modalitätsbegriffe wie das Nacheinander oder Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erklären, scheitern aus meiner Perspektive daran, dass diese Begriffe einer empirischen Erkenntnis der Dinge in der Zeit entstammen, die aus den genannten Gründen keine Rückschlüsse über die ursprüngliche Zeitigung zulassen. Zudem beansprucht die Behauptung, die Zeit selbst und nicht nur unsere Erkenntnis der Dinge in der Zeit sei durch Begriffe wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geprägt, eine Erkenntnis dessen für sich, wie etwas, das an sich kein Gegenstand der Erfahrung ist – ein Ding an sich – zu einem Gegenstand der Erfahrung wird. Diese ontologische Komponente steht einerseits in starkem Kontrast zu Kants Philosophem, dass wir zu einem Wissen um die Dinge an sich nicht vordringen können, und unterläuft andererseits seine strenge Trennung zwischen der zeitlichen Struktur der inneren Wahrnehmung und den Kategorien unseres reinen Denkens, welche letztere uns allererst ermöglichen, das sinnlich gegebene Datenmaterial zu einem Objekt unserer Erkenntnis zu verbinden und auf diese Weise zu einem Begriff eines realen Gegenstandes vorzudringen. Zur Verteidigung der soeben kritisch diskutierten Interpretationsansätze ließe sich jedoch noch anführen, dass man kaum umhinVgl. hierzu Kant, KrV: A31 f./B47 f. Vgl. zu dieser Thematik bes. den Abschnitt »Analogien der Erfahrung« in Kants Kritik der reinen Vernunft. 147 Kant, KrV: A183/B226. 145 146

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kommt einzuräumen, dass Kants Trennung zwischen der zeitlichen Struktur der inneren Wahrnehmung und den Kategorien unseres reinen Denkens ohnehin nicht so scharf verläuft, wie Kant mancherorts vorgibt, sie gezogen zu haben. Hier ist vor allem an Kants Annahme zu denken, wonach »verschiedene Zeiten […] nicht zugleich, sondern nacheinander« sind, 148 und aus der folgt, dass die Zeit alle Eigenschaften einer Linie aufweist »außer de[r] einigen, daß die Teile der ersteren zugleich, die der letzteren aber jederzeit nacheinander sind«. 149 In Kombination mit Kants These, dass prinzipiell jede Vorstellung von einem »Ich denke« begleitet werden kann, 150 rechtfertigt diese Überlegung nämlich Kants linearen Begriff der Zeit: Eine Vorstellung ist hiernach erst nachdem sie im inneren Sinn wahrgenommen wurde, dann aber mit Sicherheit als solche zu erkennen – ihr Sinn als Phänomen und ihre mögliche Bedeutung für den erkennenden Verstand bilden ein streng linear und durchgängig bestimmtes Nacheinander, ebenso die verschiedenen Zeiten, in denen beides nacheinander erscheint. Der Vorstellungszusammenhang ist bei Kant demnach durch ein durchgängig bestimmtes Nacheinander geprägt, in dem jede Vorstellung in direkter Linie zu einer anderen steht, deren phänomenaler Sinn sie ist und die umgekehrt ihre mögliche Bedeutung enthält. 151 Das zeitliche Verhältnis der Vorstellungen ist somit zugleich die Bedingung der Möglichkeit unserer Art, Vorstellungen zu erkennen, wie die Weise, in der sie uns ursprünglich erscheinen, und ist in Kants Worten daher zugleich von transzendental idealer und empirisch realer Dignität. 152 Nun ist diese synthetische Kant, KrV: A31/B47. Kant, KrV: A33/B50. 150 Vgl. Kants entsprechende Ausführungen in Kant, KrV: B131 f. 151 Vgl. die Ausführungen zur »ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption« in Kant, KrV: B131–B136, wo Kant die Gründe dafür darlegt, warum der Vorstellungszusammenhang nach seiner Ansicht durchgängig bestimmt sein muss und inwiefern dies die Voraussetzung dafür ist, dass alle Vorstellungen, die wir wahrnehmen, auch gedacht werden können; vgl. auch seine Rede von der empirischen Realität und der transzendentalen Idealität der Zeit, die besagt, dass die Zeit neben der empirischen Realität des Vorstellungszusammenhangs auch die transzendentalen Logik unserer Erkenntnis bedingt, das heißt, dass sie gemeinsam mit dem phänomenalen Sinn, in dem Vorstellungen ursprünglich erscheinen, auch die Art festlegt, in der diese Vorstellungen für einander eine Bedeutung haben können, nämlich als Phänomene der sinnlichen Wahrnehmung und nicht als Dinge an sich (vgl. Kant, KrV: A35 f./B52 f.). 152 Vgl. zur Thematik der transzendentalen Idealität und empirischen Realität der Zeit bei Kant allgemein Kant, KrV, § 8. 148 149

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Einheit des Sinns, in dem ein Phänomen erscheint, mit seiner Bedeutung für den erkennenden Verstand, jedoch nichts anderes als die ursprünglich synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption des reinen Verstandes, die Kant in der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe innerhalb seiner Kritik der reinen Vernunft erörtert. Dass die Verlaufsform der Zeit bei Kant an diese Einheit gebunden ist, könnte man daher zynisch auch so formulieren, dass die Zeit bei Kant nur der Vorhof des Verstandes ist beziehungsweise der »Anlass«, der ihn zur Ausübung bewegt. 153 Das ist noch keine Kritik, zeigt jedoch, wo eine Kritik ansetzen könnte: an Kants vorgeblich rigoroser Grenzziehung zwischen dem Sinn, in dem ein Phänomen zunächst erscheint, und seiner Bedeutung für den erkennenden Verstand, die bei näherer Betrachtung doch sehr zugunsten des Verstandes verläuft und die Zeit zur bloßen Form einer durchgängig bestimmten phänomenalen Wirklichkeit macht, deren Bedeutung dem urteilenden Verstand niemals absolut verborgen bleibt. Eine Kritik an Kant könnte etwa mit folgenden Fragen anheben: Wie kann der Sinn, in dem ein Phänomen ursprünglich erscheint, jemals eine Bedeutung für den erkennenden Verstand haben, wenn dasselbe sich zunächst nur in der reinen Form der sinnlichen Anschauung zeigt? Muss das Phänomen nicht bereits eine solche Bedeutung in sich tragen, um überhaupt zum Gegenstand des Verstandes zu werden? Und trägt dieses Phänomen dann nicht eine Bedeutung in sich, welche die Formen unseres Denkens grundsätzlich in Frage stellen kann? Und was ist mit der Zeit, in der dieses Phänomen zunächst erscheint, muss sie dann nicht wesentlich sein, für die Art, in der wir dieses Phänomen erkennen? Diese und ähnliche Fragen hat sich insbesondere die Phänomenologie gestellt. Kant ist bekanntermaßen angetreten, um uns einen Kompass und eine Landkarte an die Hand zu geben, die uns sicher durchs Leben leiten. In der Phänomenologie wurde immer wieder die berechtigte Frage erhoben, ob es überhaupt möglich ist, in puncto Zeit Orientierungshilfen bereitzustellen, die a priori gewiss sind, und ob die Weise, wie wir uns im Leben orientieren – die Kategorien unseres Denkens eingeschlossen –, nicht selbst ein Phänomen der Zeit ist. Die Zeit als eine immanente Grenze des Verstandes zu verstehen, anzunehmen, sie bilde 153 Kant, KrV: B1; vgl. bes. das dortige Verhältnis von Zeit und Verstand, in dem zuerst etwas in der Zeit geschieht, wodurch das Verstandesvermögen in Bewegung versetzt wird.

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einen durchgängig bestimmten Zusammenhang, sie auf eine Form der Anschauung sinnlicher Phänomene zu beschränken und ihr die Kategorien des reinen Verstandes gegenüberzustellen – das sind jedenfalls Punkte, die sowohl in der Forschung als auch in der nachkantischen Ideengeschichte umstritten sind.

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3. Der Urteils- und der Zeitdiskurs bei Kant und Levinas

Ich kann zwar sagen: meine Vorstellungen folgen einander; aber das heißt nur, wir sind uns ihrer als in einer Zeitfolge, d. i. nach der Form des inneren Sinns, bewußt. Die Zeit ist darum nicht etwas an sich selbst, auch keine den Dingen objektiv anhängende Bestimmung. Kant, KrV: A37 Anm./B54 Anm.

In der Forschung zum systematischen Verhältnis von Kant und Levinas wird jüngst von einer starken Nähe ausgegangen. Der Schwerpunkt liegt auf Levinas’ Ethik als Erster Philosophie. 154 Oft wird nicht berücksichtigt, dass in Kants Augen in letzter Instanz unser gesamtes Vermögen zu denken auf den ästhetischen Bereich der sinnlichen Wahrnehmung bezogen ist. Inwiefern damit eine entscheidende Differenz zu Levinas verbunden ist, nach dessen Ansicht die Ethik dieser Grundstein ist, soll im Folgenden erörtert werden, wobei der Schwerpunkt auf das Verhältnis von Urteils- und Zeitbegriff gelegt wird. Diese Schwerpunktsetzung offenbart dieselbe grundliegende Differenz: So ist die Zeit bei Kant primär die Form, in der Phänomene der sinnlichen Wahrnehmung erscheinen, und die Grundlage, auf der wir ein Urteil fällen, das zur Erkenntnis führt. Dahingegen weist die Zeit bei Levinas eine ethische Dimension auf, die unsere Erkenntnisvermögen radikal infrage stellt. Dies soll im Folgenden näher erläutert werden. Zu diesem Zweck werden zunächst die Grundzüge des kantischen Urteils- und Zeitdiskurses dargestellt, dann eine Skizze von Levinas’ diesbezüglicher Kant-Rezeption gegeben, um abschließend zu zeigen, inwiefern sich Levinas in diesem Zusammenhang explizit von Kant distanziert. 154 Diesen berechtigten und die Nähe zwischen Kant und Levinas offenbarenden Schwerpunkt legen etwa die sehr aufschlussreichen Untersuchungen von Norbert Fischer, Jakub Sirovátka und Christian Rößner.

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Für Kant gehört die Zeit dem Bereich der Sinnlichkeit an. Nach seiner Ansicht nehmen wir, was wir bewusst vorstellen, als Erscheinung im inneren Sinn wahr. 155 Dabei spielt die Zeit eine zentrale Rolle: der Erscheinungszusammenhang ist durch ein strenges Nacheinander geprägt, 156 die entsprechende Form der Anschauung nennt Kant die Zeit. Innerhalb dieses strengen Nacheinanders können sich dann jeweils nachfolgend erscheinende Vorstellungen auf die empirische Gegebenheit der jeweils bereits gegebenen sinnlichen Phänomene beziehen und ein transzendentales Bewusstsein für deren objektive Realität entwickeln. In den Augen Kants wird die Materie unserer objektiven Erkenntnis also zunächst in den Sinnen gegeben, bevor wir das auf diese Weise gegebene Erkenntnismaterial vermittelst des Verstandes zu einer objektiven Erkenntnis verbinden können. Erst im Anschluss an die zeitlich frühere sinnliche Wahrnehmung eines Gegenstandes ist es dem Menschen möglich, eine gegenständliche Erkenntnis auszubilden. Mit anderen Worten setzt das Bewusstsein für die objektive Realität einer empirisch gegebenen Vorstellung bei Kant die sinnliche Wahrnehmung ebendieser Vorstellung voraus. Dieses Theorem, wonach sich jede objektive Vorstellung auf die sinnliche Gegebenheit einer anderen Vorstellung bezieht, die ihr der Zeit nach vorausgeht, spielt schließlich eine zentrale Rolle im Blick darauf, wie Kant die menschliche Art zu denken bestimmt. Denn zunächst bedeutet zu denken für Kant, über einen Gegenstand zu urteilen. 157 Die objektive Realität unseres Denkens ist aber wie bereits gesagt nur im Bereich der sinnlichen Wahrnehmungen und auch dort nur in der Form einer diskursiven Erkenntnis und nicht etwa durch intuitive Erkenntnisformen wie die intellektuelle Anschauung gesichert. Der menschliche Verstand ist für Kant daher ein diskursiver Verstand, der von einer sinnlichen Anschauung zur nächsten fortschreitet. Ein solcher Verstand kann in Kants Worten »nur denken und muß in den Sinnen die Anschauung suchen«, um, so möchte ich Vgl. Kant, KrV: A34/B50. Vgl. bes. Kant, KrV: A37 Anm./B54 Anm. Anmerkung: Dieses Nacheinander zählt nicht zu den objektiven Zeitverhältnissen, dadurch wir Vorstellungen begreifen, zu denen Kant auch Gleichzeitigkeit und Beharrlichkeit zählt, sondern richtet sich auf die Zeitfolge dieser Vorstellungen selbst, die dem Grundsatz folgt, dass die Zeit, als jene Form, in der Vorstellungen im inneren Sinn erscheinen, nur »Eine Dimension« hat und »verschiedene Zeiten […] nicht zugleich, sondern nacheinander« sind (Kant, KrV: B47). 157 Vgl. hierzu Anm. 167 weiter unten. 155 156

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ergänzen, ein Objekt zu finden, auf das er sich beziehen kann. 158 Bevor wir die objektive Realität einer empirisch gegeben Vorstellung also erkennen können, muss sie nach Kant zuerst sinnlich wahrgenommen werden, 159 und ohne dass wir die objektive Realität einer empirischen Vorstellung erkennen würden, würde der Verstand, den Kant als unser Vermögen zu denken schlechthin bezeichnet, niemals zur Ausübung gelangen. 160 Der Fortschritt unseres Denkens ist demnach an den Verlauf verschiedener Zeiten im inneren Sinn gebunden, die den Zusammenhang unserer sinnlichen Wahrnehmung mit jenen Gedanken strukturieren, die sich später auf deren empirische Gegebenheit beziehen. 161 Doch Kants Überlegung geht an diesem Punkt noch viel weiter: Denn nach seiner Ansicht muss man alle Vorstellungen, die man hat, auch als die seinigen erkennen können. 162 Soll dies aber möglich sein, muss zwischen den Vorstellungen eine Verbindung bestehen, die sicherstellt, dass Vorstellungen, die einmal wahrgenommen wurden, anschließend auch als die eigenen erkannt werden können. Der Zusammenhang der Vorstellungen muss also durchgängig bestimmbar sein, und auf jede Vorstellung, die wahrgenommen wird, muss eine andere folgen können, die in einer notwendigen Verbindung zu der ihr jeweils vorausgehenden Vorstellung steht und die dadurch ermöglicht, diese vorausgehende Vorstellung als die eigene Vorstellung zu erkennen. Demnach müssen alle Vorstellungen, über die ein Subjekt verfügt, zu verschiedenen Zeiten nacheinander erscheinen, wobei die jeweils nachfolgenden potentiell den Erkenntnisgrund der jeweils vorausgehenden, diese aber den Realgrund der ersteren enthalten. In Kants Augen bilden aus ebendiesem Grund alle Vorstellungen einen durchgängig bestimmbaren Zusammenhang im inneren Sinn und werden zu verschiedenen Zeiten nacheinander wahrgenommen.

Kant, KrV: B135; vgl. ebd., B68. Vgl. Kant, KrV: B1. 160 Vgl. zur Ausübung der Verstandes bei Kant, die durch die empirische Erkenntnis eines Gegenstands der sinnlichen Wahrnehmung allererst veranlasst wird, bes. Anm. 71 weiter unten. 161 Vgl. hierzu den dritten Punkt von Kants »Metaphysischer Erörterung des Begriffs der Zeit« in Kant, KrV: A31/47, den Kant in Kant KrV: B48 f. die eigentliche transzendentale Erörterung ihres Begriffs nennt und der den transzendentalen Grundsatz enthält, dass die Zeit, die den Vorstellungszusammenhang strukturiert, nur eine Dimension hat und in verschiedenen Zeiten verläuft, die jeweils nacheinander folgen. 162 Vgl. zu dieser Thematik bes. Kant, KrV: B131 f. 158 159

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Jenen Sinn, welcher der Wahrnehmung dieser Vorstellungen zugrunde liegt, nennt Kant nun wie gesagt den inneren Sinn und – dem soeben dargelegten Gedanken folgend – zugleich den »Inbegriff aller Vorstellungen«, die Form dieses Sinns ist die Zeit. 163 Die Zeit avanciert damit im doppelten Sinne zu einer Grenze des Verstandes: Denn Gedanken werden nach Kant wie gesagt wie alle anderen Vorstellungen auch einzig und allein als Modifikationen im inneren Sinn wahrgenommen. 164 Genauso wie die Vorstellungen, die von ihnen gedacht werden, können also auch die Gedanken selbst nur im zeitlichen Nacheinander der Vorstellungen erscheinen, 165 sodass die Zeit sowohl den Bereich desjenigen beschränkt, was wir denken können, als auch die Art, in der wir es denken können. Hier zeigt sich sodann die intrinsische Verflechtung des Urteils- und des Zeitdiskurses bei Kant. Denn die Zeit begrenzt den Verstand hier dahingehend, dass ein Denken – Denken bedeutet für Kant »Erkenntnis durch Begriffe« – nur aus Anlass und nur in Beziehung auf eine bereits gegebene sinnliche Wahrnehmung möglich ist. 166 Die Tätigkeit des Verstandes besteht dann darin, die Wahrnehmung prädikativ zu bestimmen und zu einem Objekt des Denkens zu erheben. Die Verstandestätigkeit schlechthin ist für Kant deshalb das Urteil, 167 gedacht als prädikative Kant, KrV: A177/B220. Vgl.: »Es ist nur ein Inbegriff, darin alle unsre Vorstellungen enthalten sind, nämlich der innere Sinn und die Form desselben a priori, die Zeit.« (Kant, KrV: A155/ B194) 165 Für diese doppelte Grenzbestimmung des Verstandes im Blick auf den Begriff der Zeit vgl. die Ausführungen im Abschnitt »Die Zeit als eine Grenze des Verstandes«; vgl. zu Kants entsprechender Grenzbestimmung im Blick auf den Begriff des Raumes: Baiasu, Space and the Limits of Objectivity: Could There Be a Disembodied Thinking of Reality. 166 Kant, KrV: B94. Kant schreibt ferner: »Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt? Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alles an.« (Kant, KrV: B1) 167 Vgl. hierzu folgende Textpassage aus Kant, KrV: »Von dem logischen Verstandesgebrauche überhaupt«: »Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, so daß der Verstand überhaupt als ein Vermögen zu urteilen vorgestellt werden kann. Denn er ist nach dem obigen ein Vermögen zu denken. Denken ist das Erkenntnis durch Begriffe. Begriffe aber beziehen sich als Prädikate möglicher Urteile 163 164

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Bestimmung einer noch unbestimmten, aber bereits sinnlich gegebenen Vorstellung. 168 Innerhalb der zeitlichen Ordnung des Vorstellungszusammenhangs ist ein Denken in den Augen Kants folglich nur in diskursiven Urteilen möglich. Kants Erörterungen zur Zeitthematik stehen damit in engstem Zusammenhang zu seinem Versuch, »alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurück[zu]führen« 169 und die Kritik der Urteilskraft, die nach eigener Auskunft, eine kritische Erörterung des Urteils enthält, hat in diesem Kontext eine Schlüsselstellung. Von Kants Kritik der Urteilskraft ist nach all dem, was bisher über den Verstand als einem Vermögen zu urteilen bei Kant gesagt wurde, nämlich zu erwarten, dass sie den Verstand in seiner genuinen Tätigkeit des diskursiven Urteilens schlechthin auf den Bereich der sinnlichen Wahrnehmungen begrenzt, auf dem sich diese Urteilsform ereignet. 170 Um zu erörtern, was dies bedeutet, ist ein Blick auf das ästhetische Urteil bei Kant zu werfen. Kants Kritik der Urteilskraft beschäftigt sich bekanntlich mit ästhetischen und teleologischen Urteilen und ist entsprechend in zwei Teile geteilt. Im Folgenden werden vor allem die ästhetischen Urteile von Interesse sein. Hierbei handelt es sich auf den ersten Blick bloß um eine dritte Form von Urteilen, denen Kant neben den bereits in seinen beiden vorausgegangenen Kritiken behandelten theoretischen und praktischen Urteilen besondere Aufmerksamkeit zukommen lässt. Das ästhetische Urteil richtet nach Kant darüber, ob etwas schön ist, wobei Kant im Wesentlichen betont, dass dieses Urteil nicht durch ein Gefühl der Lust oder Unlust hervorgebracht wird, sondern umgekehrt dem Gefühl der Lust und Unlust die Regel vorgibt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, zumindest nach meiner Einschätzung, dass Kant mit der Frage nach der Möglichkeit solcher Urteile, die dem Gefühl der Lust und Unlust die Regel vorgeben, keinesfalls nur darauf abzielt, eine dritte Urteilsform neben den theoretischen und praktischen Urteilen zu etablieren. Es geht dabei im Kern vielmehr um die auf irgendeine Vorstellung von einem noch unbestimmten Gegenstande.« (Kant, KrV: B94) 168 »Alles Denken aber muß sich, es sei geradezu (direkte), oder im Umschweife (indirekte), vermittelst gewisser Merkmale, zuletzt auf Anschauungen, mithin, bei uns, auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann.« (Kant, KrV: A19/B33; vgl. hierzu bes. auch ebd., B136) 169 Kant, KrV: B94. 170 Vgl. hierzu Kant, KU, AA 05: 174–179.

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Frage, ob wir unabhängig davon, wie wir in praktischer oder theoretischer Rücksicht über den Bereich unserer sinnlichen Wahrnehmungen urteilen, überhaupt imstande sind, unser Gefühls- und Empfindungsleben zu kultivieren. Ohne diese Möglichkeit würde ein Fortschritt in puncto Moralität und Erkenntnis in letzter Instanz nämlich daran scheitern, dass wir aus unseren Fehlern nicht lernen könnten, wodurch all unser Urteilen im Praktischen wie im Theoretischen zu einer Farce verkäme. Doch nun zurück zum Ausgangspunkt: bisher konnte gezeigt werden, dass sowohl der Gedanke als auch die Vorstellung, auf deren objektive Realität sich dieser Gedanke bezieht, nach Kant zeitliche Phänomene sind, die im inneren Sinn nacheinander wahrgenommen werden. Es ist dieser Hintergrund, vor dem Kant in seiner Kritik der Urteilskraft zu zeigen versucht, inwiefern sich der Verstand in sinnlicher Erscheinungsform auf sinnliche Erscheinungen beziehen kann. Es geht dabei um die Frage, ob die Urteilskraft dem Gefühl der Lust und Unlust, als sinnlichem Konnex zwischen Vorstellungen, a priori die Regel geben und auf diese Weise auf einer sinnlichen Ebene eine Verbindung herstellen kann, zwischen einer bereits gegebenen Erscheinung und einer anderen, die sich als Urteil auf die bereits gegebene Vorstellung bezieht. Sollte die Urteilskraft eine solche Verbindung herstellen können, wäre sie nicht nur imstande, ein gegebenes Sinnenmaterial zur objektiven Einheit der Erkenntnis zu verbinden und auf diesem Weg zu einem objektiven Begriff der Natur vorzudringen, der für die Praxis unseres freien Handelns essentiell ist. Sie wäre darüber hinaus auch fähig, den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung, von dem sie ihren Ausgang nimmt, zu kultivieren. Die Urteilskraft würde zwischen dem Erkenntnis- und dem Begehrungsvermögen vermitteln, indem sie dem Gefühl der Lust und Unlust die Regel gibt. Vor diesem Hintergrund hält Kant in der Kritik der Urteilskraft fest: Ob nun die Urteilskraft […] dem Gefühle der Lust und Unlust, als dem Mittelgliede zwischen dem Erkenntnisvermögen und Begehrungsvermögen […] a priori die Regel gebe: das ist es, womit sich gegenwärtige Kritik der Urteilskraft beschäftigt. 171

Im Zentrum der Kritik der Urteilskraft steht also die Frage, ob die Urteilskraft dem Gefühl der Lust und Unlust a priori die Regel geben 171

Kant, KU, AA 05: 168.

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kann. Und dies ist, wie hier gezeigt werden konnte, im kantischen Gedankenhorizont entscheidend dafür, ob wir imstande sind, dasjenige, was wir im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung erkennen, mit demjenigen zu verbinden, was wir begehren, um auf diese Weise unser Gefühls- und Empfindungsleben zu kultivieren. Da Kant den Verstand als Vermögen bestimmt, sich in Beziehung auf ein sinnliches Phänomen ein Urteil zu bilden, muss er eben auch zeigen, inwiefern der Verstand eine zweckmäßige Verbindung mit seinem sinnlichen Gegenstand eingehen kann, ohne die ein solches Urteil keinerlei Einfluss auf denjenigen Bereich ausüben könnte, über den es urteilt, und damit zu einer Farce verkäme. In Kants Augen muss die Urteilskraft dem Gefühl der Lust und Unlust die Regel vorgeben, soll ein Urteil möglich sein, das in einer zweckmäßigen Verbindung zum Bereich der sinnlichen Wahrnehmung steht, über den es urteilt, und dennoch eine autonome Gesetzgebung verfolgt. In nuce ist das Hauptanliegen von Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft also der Nachweis dessen, inwiefern das Urteil, indem es dem Gefühl der Lust und Lust die Regel gibt, die Maxime verfolgt, eine formal zweckmäßige Verbindung zur Natur einzugehen. 172 Da die Natur als gesetzmäßiger Zusammenhang der Sinnenwelt bei Kant jedoch letztlich nichts anderes ist als das Resultat einer erkenntniskonstitutiven Synthesis der sinnlichen Wahrnehmung eines Subjekts, kommt deren zweckmäßige Gestaltung schließlich einer Kultivierung unseres Gefühls- und Empfindungslebens gleich. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich Kant in der Kritik der Urteilskraft schließlich mit der Frage, welche Maxime die Urteilskraft konkret verfolgt, wenn sie versucht, eine solche zweckmäßige Verbindung zum Bereich der sinnlichen Wahrnehmung sowie der Natur, die wir daran erkennen, herzustellen. Hier lautet Kants Antwort: Soll zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und der Beurteilung eines Gegenstandes überhaupt irgendeine zweckmäßige Verbindung hergestellt werden können, müssen wir zumindest im Blick auf unser eigenes Urteilen davon ausgehen, dass die sinnlichen Erscheinungen zu der Zeit, als wir sie beurteilen, noch dieselbe Bedeutung haben, wie zu der Zeit, als sie ursprünglich erschienen sind. Mit anderen Worten: Wir müssen urteilsimmanent von der Maxime ausgehen, die Natur,

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Vgl. hierzu: Kant, KU, AA 05: 193.

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die wir im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung erkennen, verfahre jederzeit gesetzmäßig. 173 Diese Maxime gibt unserem Urteil allererst die Kraft, in eine zweckmäßige Verbindung zur Natur einzutreten. Zu bedenken bleibt allerdings, dass hier eine zweckmäßige Verbindung zu einem Gegenstand eigegangen wird, der bereits gegeben ist und der durch unser Urteil bestenfalls erkannt und kultiviert, jedoch nicht ursprünglich hervorgebracht werden kann wie etwa in einer intellektuellen Anschauung. Der Verstand, dessen Handlungen Kant insgesamt auf Urteile zurückführt, ist demnach fähig, das ihm gegebene Sinnenmaterial durch eine theoretische Erkenntnis zum objektiven Begriff einer Natur zu verbinden, um diese Natur schließlich vermittelst der Freiheit seines Urteils in einer praktischen Rücksicht zu kultivieren. Wie der menschliche Verstand, so ist nach Kant schließlich auch die Philosophie in »zwei Gebiete, das der Naturbegriffe und das des Freiheitsbegriffs«, unterteilt, deren Grundlage »nichts mehr als bloße Erscheinungen« sind, das heißt eben der ästhetische Bereich unserer sinnlichen Wahrnehmung. Die Philosophie teilt sich nun auch diesem gemäß in die theoretische und die praktische. Aber der Boden, auf welchem ihr Gebiet errichtet und ihre Gesetzgebung ausgeübt wird, ist immer doch nur der Inbegriff der Gegenstände aller möglichen Erfahrung, sofern sie für nichts mehr als bloße Erscheinungen genommen werden; denn ohne das würde keine Gesetzgebung des Verstandes in Ansehung derselben gedacht werden können. 174

Es kann nun festgehalten werden, dass der Fokus der kantischen Philosophie auf dem Urteil über sinnliche Wahrnehmungen liegt, in deren zeitlichem Erscheinungszusammenhang Kant eine subjektive Kraft entdeckt, ein autonomes Urteil zu fällen, um die phänomenale Welt theoretisch zu erkennen und praktisch zu kultivieren, welche Kraft die Urteilskraft ist. Kants Philosophie gründet damit auf der Ästhetik, gedacht als Theorie der sinnlichen Wahrnehmung, und sie zeigt, dass die sinnliche Wahrnehmung in einer Art beschaffen ist, die es dem Verstand ermöglicht, kraft seines Urteils vom sinnlichen Erscheinungszusammenhang der Wahrnehmung zu abstrahieren, um 173 Vgl. Kant, KU, AA 05: »V. das Prinzip der formalen Zweckmäßigkeit der Natur ist ein transzendentales Prinzip der Urteilskraft«, bes. 183 f. Kant spricht dort von einer Maxime der Urteilskraft, die Natur »nach einem Prinzip der Zweckmäßigkeit für unser Erkenntnisvermögen [zu] denken« (ebd., 184). 174 Kant, KU, AA 05: 174.

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ihn in theoretischer oder praktischer Absicht zu bestimmen. Das Verhältnis des Verstandes zum Bereich der sinnlichen Wahrnehmung erinnert als zentrales Agens der kantischen Philosophie an das Verhältnis eines Souveräns zu seinem rechtmäßigen Hoheitsgebiet. 175 Levinas betrachtet dieses Moment der kantischen Philosophie, wonach unserem Denken im Blick auf den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung eine souveräne Rolle beizumessen ist und das nicht zuletzt von philosophiearchitektonischer Bedeutung ist, nun durchaus kritisch. 176 Auffällig ist jedoch, dass er dabei kein Wort über Kants Kritik der Urteilskraft und die darin enthaltenen philosophischen Grundüberzeugungen verliert, 177 denen in dieser Rücksicht eine tragende Rolle eingeräumt werden müsste. Warum Levinas Kants dritte Kritik nicht ausreichend würdigt und inwiefern das mit den Grundmomenten seiner Kant-Rezeption zusammenhängt, soll nun im Folgenden untersucht werden. Das folgende Zitat gibt darauf einen kleinen Vorgeschmack: Die Interessen, die Kant an der theoretischen Vernunft selbst aufgedeckt hat, hatten diese der praktischen untergeordnet, die dann Vernunft schlechthin geworden ist. 178

Diese Anmerkung ist auf den ersten Blick eine schlichte Reminiszenz an Kants Rede von einem Primat der praktischen Vernunft: Nach Kant ist die Vernunft an Annahmen interessiert, die sie theoretisch nicht beweisen kann und daher praktisch postulieren muss. Kant versteht das sich daraus ergebende Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen als »Vorzug des Interesses de[r] einen, so fern ihm […] das Interesse der andern untergeordnet ist«, welche Interessen den Horizont der Vernunft »erweitern«. 179 Die Interessen der Vernunft erweitern nach Kant also ihren Horizont, wobei dem praktischen das Primat zukommt. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass dies, anders als Levinas es interpretiert, keinerlei Auskunft darüber

175 Hier ist an Kants Begriff einer Grenze des Verstandes zu erinnern, die in seinen Augen den Weg zu einer souveränen Bewältigung der Kernfragen des Lebens weist (vgl. Kant, KrV: A761/B789). 176 Vgl. Levinas, Humanismus und An-archie, HAM: 82/HAH: 82; analog in: ders., GZ: 67–77, 196; JS: 287/AQ: 166. 177 Diese These stützt sich auf Eigenrecherchen und auf folgendes Konkordanz-Werk: Cristian Ciocan, Georges Hansel, Levinas Concordance. Dordrecht: Springer 2005. 178 Levinas, JS: 138/AQ: 74. 179 Kant, KpV, AA 05: 119 f.

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gibt, welche Bedeutung der Vernunft »schlechthin« zukommt. Denn für Kant bedeutet zu denken, über den Bereich der sinnlichen Wahrnehmungen zu urteilen. 180 Die Bedeutung der Vernunft »schlechthin« zu erkennen oder auch nur zu denken, bleibt uns nach Kant daher versagt, weil unser Denken im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung derart fest verankert ist, dass ihm ein Urteil über die eigene davon unabhängige Natur gar nicht möglich ist. 181 Levinas aber stellt es so dar, als hätte Kant die Bedeutung der Vernunft schlechthin in ihrem höchsten praktischen Interesse gesucht, welches nach Kant das moralische ist, was also nur zum Teil richtig ist: zwar ist es korrekt, dass Kant dem praktisch-moralischen Interesse das Primat vor dem theoretischen Erkenntnisinteresse einräumt. Jedoch bleibt dem Menschen der Zugang zur Bedeutung der Vernunft schlechthin in seinen Augen versperrt. 182 Levinas zeigt mit seiner Interpretation einen Kant, dem er sich nahe fühlt, der wie er die Bedeutung der Vernunft schlechthin im Ethischen sucht. 183 Das lässt Kant insofern in falschem Licht erscheinen, als für denselben »alle menschliche Einsicht zu Ende [ist], so bald wir zu Grundkräften oder Grundvermögen gelangt sind«, deren Möglichkeit nach seiner Ansicht »durch nichts begriffen« werden, »aber auch eben so wenig beliebig erdichtet und angenommen werden« kann. 184 In der Forschung zu Kant und Levinas wäre zu berücksichtigen, dass Levinas sich trotz seiner Nähe zu Kant in diesem Punkt weit von dessen architektonischer Vorstellung der Philosophie entfernt. 185 Levinas’ Distanzierung von Kant schlägt 180 S. hierzu vor allem auch den Abschnitt »Die Zeit als eine Grenze des Verstandes« weiter oben. 181 Vgl. Kant, KrV: B29 f. u. Kant, KU, AA 05: 174 f. 182 Levinas macht auf diese Differenz zu Kant auch aufmerksam, etwa, wenn er betont, im Unterschied zu Kant an der Möglichkeit eines Bewusstseins der unendlichen Bedeutung unseres endlichen Denkens festzuhalten (vgl. Levinas, TU: 281/TI: 170). Im Rekurs auf die dritte cartesianische Meditation hält er vor diesem Hintergrund »einen Standpunkt außerhalb seiner selbst« für möglich, »von dem aus es [das Denken, MB] sich erfassen kann« (ders., TU: 304–306/TI: 186 f.; vgl. Descartes, Meditationes de Prima Philosophia, AT 07: 45 u. 52). Vgl. hierzu auch die Anm. 322 im Kontext der Ausführungen weiter unten. 183 Vgl. Levinas, Ist die Ontologie fundamental?, ZU: 22 f. 184 Kant, KpV, AA 05: 46 f. 185 Christian Rößner rekonstruiert Kants praktische Metaphysik im Ausgang von Levinas und führt Kants Autonomiebegriff auf Levinas’ Begriff einer ethischen Heteronomie zurück (vgl. Christian Rößner, Das Datum der Vernunft. Zur Rekonstruktion der Grundlegung von Kants praktischer Metaphysik im Ausgang von Emmanuel Levinas, in: Subjektivität und Intersubjektivität in der Phänomenologie, hg. v. Inga

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sich nun überaus deutlich in seinem Umgang mit der Urteils- und Zeitthematik nieder. Im diesem Kontext fällt zunächst auf, wie Levinas die Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand, auf der dieser Diskurs bei Kant schließlich aufbaut, völlig neu adaptiert: 186 Anders als bei Kant erscheint ein sinnliches Phänomen nach Levinas nämlich nicht zuerst, um dann in seiner Bedeutung bestimmt und durch diese Modifikation verstanden zu werden, sondern muss bereits eine Bedeutung in sich tragen, unabhängig davon, in welchem Sinn es später gegeben sein wird. Ohne dass es diese Bedeutung je schon in sich trüge, wäre es in Levinas’ Augen unmöglich, jemals zu einem Verständnis dieses Phänomens vorzudringen. In diesem Sinne hält Levinas fest: Die reine Rezeptivität, als rein Sinnliches ohne Bedeutung, ist nur ein Mythos oder eine Abstraktion […]. Keine Gegebenheit ist von vornherein mit Identität versehen und keine Gegebenheit kann in das Denken eintreten durch die Wirkung eines einfachen Stoßes gegen die Wand einer Rezeptivität. Dem Bewußtsein gegeben sein, für es leuchten, dies verlangt, daß das Gegebene von vornherein in einem erleuchteten Horizont seinen Ort einnimmt; ähnlich dem Wort, das die Eigenschaft, verstanden zu werden, von einem Kontext her erhält, auf den es sich bezieht. 187

Die Bedeutung, die einem Phänomen der Wahrnehmung im Bewusstsein beigemessen wird, ist bei Levinas anders als bei Kant also kein Produkt des Verstandes. In seinen Augen enthalten solche Phänomene von vornherein eine Bedeutung, dadurch sie dem Bewusstsein verständlich werden. Insofern bedeuten auch die Elemente der Erfahrung nach Levinas je schon »von der ›Welt‹ her und von der Position des Betrachtenden aus«: 188 ein Phänomen wird nicht zur ErRömer. Würzburg: Ergon 2011, 187–199, 194 f.). Die sehr genaue Rekonstruktion würdigt aus meiner Perspektive aber die Differenzen zwischen den Autoren nicht ausreichend, auf die Levinas selbst hinweist (vgl. hierzu etwa: Levinas, Humanismus und An-archie, HAM: 82/HAH: 82; ders., GZ: 67–77, 196; JS: 287/AQ: 166). 186 Zu Levinas’ Rezeption dieses Kernstücks der kantischen Philosophie vgl. etwa TU: 192/TI: 109 u. ö. 187 Levinas, Sinn und Bedeutung, HAM: 12/HAH: 21. 188 Vgl. Levinas, Sinn und Bedeutung, HAM: 22 f./HAH: 13 f. Im Folgenden wird deutlich werden, inwiefern, dass die Elemente der Erfahrung je schon eine Bedeutung für uns haben, nach Levinas in einer sprachlichen Situation begründet ist, in der alles, was dem Bewusstsein gegeben sein kann, uns je schon anspricht. Vor diesem Hintergrund hält Levinas an anderer Stelle fest, dass wir uns im »Schon-Gesagten« (ders., JS: 94/AQ: 48) aufhalten und dass unsere Sensibilität »je schon zur Sprache gekommen« ist. Er stellt dem die Vorstellung einer »stummen Welt« gegenüber, in der wir

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fahrung, weil es dem Bewusstsein gegeben ist, sondern muss bereits Erfahrung bedeuten, um dem Bewusstsein überhaupt gegeben sein zu können. Um zu verstehen, inwieweit sich Levinas von Kant distanziert, ist also die Frage zu stellen: Was bedeutet Erfahrung für Levinas? Nach seiner Ansicht schließt die Erfahrung jedenfalls die Bedeutung des absolut Anderen mit ein: Erfahren, das heißt, ein Bewusstsein für eine exteriore Wahrheit entwickeln. 189 In der Erfahrung steht das Subjekt in einer Beziehung zu etwas, das von seinem Standpunkt aus gesehen ein absolutes Außen ist und das eine Bedeutung hat, die vom Subjekt zwar verstanden werden kann, die seinen Horizont jedoch auch infrage stellen kann. Erfahren heißt angesprochen werden. 190 Die Bedeutung der Exteriotität, die das Phänomen der Erfahrung auszeichnet, 191 charakterisiert nun ferner jede Form der phänomenalen Gegebenheit für ein Bewusstsein und zeigt sich damit zugleich als jene Bedeutung, die das diskursive Denken, das sich daran abarbeitet, immer schon voraussetzt. Das menschliche, diskursiv bestimmte Denken steht in der Spur dieser Bedeutung. Ohne eine solche Bedeutung, die ihn auch infrage stellen kann, wäre dieser innere Diskurs für Levinas schließlich auch nicht mehr als ein Selbstgespräch, 192 ein Gedankenspiel, durch das letztlich nichts den Dingen erst einen Namen geben und sie vergleichen müssen, um ihre Bedeutung zu verstehen (ders., JS: 88/AQ: 44). Bedenkt man, dass die Bedeutung, welche die Elemente der Erfahrung nach Levinas immer schon haben, eine spezifisch menschliche ist und dass der Mensch für diese Bedeutung, die ihn in seiner Individualität übersteigt, folglich eine Verantwortung in sich trägt, so erklärt sich daraus auch, warum Levinas die Sensibilität des Menschen als Verwundbarkeit beschreibt, die den Menschen in seinem Innersten betrifft. Zum Zusammenhang von Verwundbarkeit und Sinnlichkeit bei Levinas vgl. auch Esterbauer, Transzendenz-»Relation«, bes. 69. 189 Wie sich noch zeigen wird, ist es ein wesentliches Merkmal der diskursiven Identität des Subjekts bei Levinas, ein solches Bewusstsein zu entwickeln. Die Wahrheit ist für Levinas kein Erkenntnisproblem oder etwas, das erst gefunden werden müsste, sondern eine wesentliche Bestimmung der Seinsweise des Subjekts, die eben darin besteht, sich infrage zu stellen und sich dadurch selbst, so wie man ist, zum Thema zu werden, was ein Verhältnis der Wahrheit begründet. In Levinas’ Worten: »Die Wahrheit kann nur in der Darstellung des Seins für es selbst bestehen, im Selbstbewußtsein« (Levinas, JS: 75/AQ: 35). 190 Vgl. dazu etwa Levinas’ Begriff einer »Erfahrung schlechthin« in: Levinas, TU: 281/TI: 170 sowie seine Ausführungen zum Thema der Objektivität in: ders., TU: 302–307/TI: 184–187. 191 Vgl. bes. Levinas, Sinn und Bedeutung, »Rezeptivität«, bes. HAM: 13/HAH: 22, sowie ders., TU: 26, 280 f./TI: XIII, 170 u. ö. 192 Vgl. das Verhältnis von Denken und Gespräch bei Levinas in: Levinas, TU: 98 f./ TI: 45. Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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Sinnvolles gedacht würde. Jene Bedeutung aber, die den inneren Diskurs infrage stellen und ihn mit Sinn erfüllen kann, ist nach Levinas nun auf etwas oder vielmehr auf jemanden zurückzuführen, der in Worten spricht, die wir verstehen. In Levinas’ Worten: »Se donner à la conscience […] demanderait que la donnée […] se place à un horizon éclaire; semblablement au mot qui reçoit le don d’être entendu à partir d’un contexte auquel il se réfère.« 193 Dieser Andere ist also eine andere Intelligenz, auf die der innere Diskurs antwortet und für die er je schon die Verantwortung übernommen hat. 194 Und dabei spielt nun die Zeit eine zentrale Rolle: Das Subjekt trägt hier eine Verantwortung in sich, deren Ursprünge älter sind als der innere Diskurs, den es führt, und die denselben im Horizont einer Begierde nach dem absolut Anderen und als Warten auf eine Gemeinschaft erscheinen lassen, die die Auffassung übersteigen. 195 In diesem Licht gesehen ist die Zeit bei Levinas anders als bei Kant nicht die Form eines immanenten Geschehens, sondern die Transzendenz, die ein diskursiv begründetes Selbst von seiner Bedeutung trennt. In seinen eigenen Worten hat Levinas versucht, Kants Zeitbegriff zu »entformalisieren«, 196 das heißt ihn nicht als der Anschauung immanente Erscheinungsweise der sinnlichen Wahrnehmung zu betrachten. In seinen Augen liegt die Bedeutung der Zeit in der Transzendenz: »Die Transzendenz ist Zeit und geht zum Anderen.« 197 Für Levinas ist die Zeit nicht die Abfolge der Vorstellungen in der sinnlichen Anschauung, sondern die für das vorstellende Subjekt notwendige Beziehung zu einem transzendenten Anderen, dem es seine Bedeutung verdankt. Das erklärt auch, warum das Urteil über das, was in der Zeit geschieht, bei Levinas nicht wie bei Kant ein reines Produkt der eigenen Erkenntnisvermögen ist, sondern je schon auf einer heteronomen Beziehung der Gerechtigkeit aufbaut. 198 Es Levinas, La signification et le sens, HAM: 12/HAH: 21. Levinas hält in diesem Sinne fest: »Die Bedeutung – das ist das Unendliche, d. h. der Andere. Das Intelligible ist nicht ein Begriff, sondern eine Intelligenz.« (Levinas, TU: 299/TI: 182) 195 Vgl. zu dieser Thematik bes. Levinas, Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit, ZU: 276–278. 196 Levinas, Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit, ZU: 277; vgl. hierzu ders., Diachronie und Repräsentation, »Entformalisierung der Zeit«, ZU: 215–217. 197 Levinas, TU: 394 f./TI: 247; vgl. hierzu bes. Levinas, TU: 325 ff./TI: 199 ff. sowie ders., Diachronie und Repräsentation, ZU: 200. 198 Vgl. bes. Levinas, JS: 350 f./AQ: 205 (vgl. hierzu auch JS: 120 Anm./AQ: 63 Anm.). 193 194

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steht in der Spur einer Beziehung zum absoluten Anderen und nicht im Horizont eines inneren Wahrnehmungszusammenhangs, den es wie bei Kant theoretisch erkennen und praktisch kultivieren könnte. Während die Zeit das Denken bei Kant, wie hier gezeigt werden konnte, auf das Gebiet der sinnlichen Wahrnehmungen begrenzt, in dem Kant die Urteilskraft genannte Kraft entdeckt, ein autonomes Urteil zu fällen, verweist die Zeit das Subjekt bei Levinas auf eine Transzendenz, welche seine Erkenntnisvermögen radikal infrage stellt. Das Urteil ist bei Kant demnach fest im zeitlichen Zusammenhang der sinnlichen Wahrnehmungen verankert, während es bei Levinas in der Spur einer Bedeutung steht, die den Horizont des vernünftigen Subjekts unendlich überschreitet, welche Einsicht in den Augen Kants die Grenzen des Verstandes übersteigt. Levinas räumt demnach die Möglichkeit ein, dass sich das Subjekt einer Bedeutung bewusst werden kann, die den Horizont dessen, was es versteht und erkennen kann, unendlich übersteigt. Er spricht in diesem Zusammenhang gelegentlich von einem Trauma, das die Identität des Selbstbewusstseins und des Denkens durchbricht. 199 Das sind Gedanken, mit denen Levinas die kantische Philosophie herausfordert und in systematisch spannender Hinsicht in Frage stellt.

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Vgl. in diesem Zusammenhang etwa Levinas, GZ: 230.

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4. Spuren von Kant in der späten Zeitkonzeption von Levinas

Levinas’ Verhältnis zu Kant wird in der Forschung immer häufiger zum Thema. Das Hauptaugenmerk liegt auf Levinas’ Rezeption von Kants praktischer Philosophie. Das vorliegende Kapitel soll eine neue Perspektive eröffnen, und zwar, indem es der Frage nachgeht, inwiefern Levinas Anfang der 1960er Jahre eine Neubestimmung seines Zeitbegriffs vornimmt, die in starkem Zusammenhang mit einem zunehmend erstarkenden Interesse an der kantischen Philosophie steht, das sich nicht allein auf Kants Ausführungen zur theoretischen, sondern auch auf seine Darstellungen zur praktischen Philosophie richtet. Um dies zu zeigen, wird im Folgenden in zwei Schritten vorgegangen: (1) Zunächst wird ein Überblick über Levinas’ frühe Zeitkonzeption gegeben, mit der er sich noch entschieden gegen Kant positioniert. In diesem Kontext wird dann der Frage nachgegangen, ob sich Levinas’ Verhältnis zu Kant in seinem Spätwerk ändert und in welchem Verhältnis dies zu seinem Zeitbegriff steht. (2) In einem zweiten Schritt wird schließlich verstärkt darauf eingegangen, inwiefern der späte Levinas sich für Kants theoretische Philosophie interessiert und wie sich dies auf seine Zeitkonzeption auswirkt. Dabei steht Kants Transzendentale Dialektik, seine Trennung von Sinnlichkeit und Verstand und seine kopernikanische Revolution der Philosophie im Zentrum. Diese rezeptions- und werkgeschichtliche Beschäftigung mit Kant und Levinas dient insgesamt als Vorbereitung für die spätere Darstellung der systematischen Differenzen zwischen den Zeitkonzeptionen der beiden Autoren.

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Levinas’ Annäherung an Kant: das Ich, die Freiheit und die Zeit

4.1. Levinas’ Annäherung an Kant: das Ich, die Freiheit und die Zeit Die Fragen danach, wer ich bin, welche Freiheiten und welche Gestaltungsmöglichkeiten ich im Lauf der Zeit habe, stehen im Zentrum einer jeden Philosophie, die antritt, um eine Orientierung in elementaren Lebensfragen zu geben. Auch Levinas hat von Anfang an versucht, auf diese Fragen eine Antwort zu geben. Sein Verständnis des Verhältnisses der Begriffe »Ich« und »Zeit« untersteht jedoch einem starken Wandel und ist durch zwei Demarkationspunkte bestimmt. In seiner Vorlesungsreihe zu Die Zeit und der Andere (Le Temps et l’Autre) von 1946/47 bestimmt er die Zeit noch ausgehend vom Begriff des Ich. Seit dem Erscheinen von Ist die Ontologie fundamental (L’ontologie est-elle fondamentale) 1951, spätestens aber mit Totalität und Unendlichkeit von 1961 bestimmt er dieses Verhältnis radikal neu und führt den Begriff des »Ich« in weiterer Folge auf den Begriff der »Zeit« zurück. Die Kehrtwende ist, wie ich meine, mit einer gewissen Annäherung an Kant verbunden. Das blieb in der Forschung weitgehend unbemerkt und ist doch elementar für das Verständnis von Levinas’ Zeitkonzeption einerseits und seines Verhältnisses zu Kant andererseits. 200 Um das zu zeigen, wird im Folgenden zunächst das Verhältnis der Begriffe »Ich« und »Zeit« in Levinas’ Frühwerk erörtert. Anschließend wird Levinas’ Frühwerk von einem kantischen Standpunkt aus problematisiert, wobei eine Kritik zu tragen kommt, die in ähnlicher Weise auch im Spätwerk von Levinas auftritt und eine kantisch motivierte Wende in dessen Denken vermuten lässt. Nähe und Distanz der beiden Autoren, die sich darin abzeichnen, werden zuletzt im Hinblick auf den in Levinas’ Spätwerken verstärkt auftretenden Bezug auf Kants kopernikanische Revolution verdeutlicht, wobei zugleich erläutert wird, an welchen Punkten Levinas auf den kantischen Gedankenhorizont zurückgegriffen hat. 200 Zu dem Befund, dass Levinas’ früher und später Zeitbegriff bezeichnenderweise nur selten unterschieden werden, kommt auch Andreas Gelhard, Arrêt. Levinas’ frühe Philosophie der Zeit, in: Stillstellen. Medien, Aufzeichnung, Zeit, hg. v. Andreas Gelhard, Ulf Schmidt und Tanja Schultz, et al. Schliengen: Edition Argus 2004, 250– 260, 250 f. Eine Ausnahme bildet hier etwa Eli Schonfeld, der zwischen Levinas’ frühem Zeitbegriff und jenem ab den 1960ern deutlich differenziert (vgl. Eli Schonfeld, Philosophical Present and Responsible Present. Comments on Emmanuel Lévinas’s Philosophy of Time, in: Naharaim – Zeitschrift für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte 2/2 (2008), 188–209, 190 f.).

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In Die Zeit und der Andere von 1946/47 führt Levinas die Bedeutung der Zeit auf den Horizont einer Setzung des Ich aus Freiheit, die er Hypostase nennt, zurück. Dieser Begriff war ursprünglich besonders im theologischen Kontext sowie in der Philosophie der Spätantike gebräuchlich. Er stammt von dem griechischen »ὑπόστασις« ab, welches Verbal-Substantiv im Deutschen mit »dem, was darunter steht« übersetzt werden und im Sinne von Stütze, aber auch im Sinne der Grundlage für einen rechtmäßigen Besitz, das heißt im Sinne eines Vertrages verwendet werden kann. 201 In den philosophischen und theologischen Diskursen der Spätantike wurde damit die Idee der Manifestation und der Konkretion verbunden, die, wie sich noch zeigen wird, bis zum gewissen Grad auch maßgebend für Levinas’ Verwendung dieses Begriffs ist. Der Begriff der Hypostase spielt vor allem in Levinas’ Frühschriften eine große Rolle, gerät in seinen Spätschriften aber zunehmend in den Hintergrund. In Totalität und Unendlichkeit verzichtet Levinas gänzlich darauf, diesen Begriff zu verwenden, in Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (Autrement qu’être on au-delà de l’essence) von 1974 versteht Levinas darunter eine vorfreiheitliche Voraussetzung des Ich und nicht, wie noch zuvor, die Setzung des Ich aus Freiheit. 202 In den 1940ern sieht Levinas im Ich jedenfalls noch eine an sich voraussetzungslose Funktion am Werk, die er mit dem Wort »Hypostase« bezeichnet. Bemerkenswert daran ist die Rolle, die er der Zeit in diesem Kontext einräumt. In Levinas’ Frühwerk Die Zeit und der Andere spielt die Zeit nämlich eine vergleichsweise untergeordnete Rolle: das Seiende und das Sein unterstehen dort der Funktion des Ich, die sich als Identifikationsleistung des Seienden mit dem Sein nach dem ontologischen Schema der Zeit ereignet und die Levinas Hypostase nennt. 203 201 Vgl. dazu den entsprechenden Eintrag »Hypostase« von Basil Studer im Historischen Wörterbuch der Philosophie von Ritter, HWPh 3: 1255–1259. 202 In Jenseits des Seins hält Levinas in diesem Sinne fest: »Die Hypostase setzt sich nach Art eines Akkusativs, als Sich, aus, bevor sie im Gesagten des Wissens, als Träger eines Namens erscheint.« (Levinas, JS: 235/AQ: 134; vgl. bes. auch ders., JS: 233 f./ AQ: 133 f.) Anders als in seinem Frühwerk versteht er die Hypostase hier als eine vorfreiheitliche Voraussetzung der Identifikation mit sich selbst und nicht als Leistung des Subjekts. Diese Bedeutungsverschiebung übersieht z. B. Ludwig Wenzler. Er behauptet, die Hypostase würde in Totalität und Unendlichkeit als Genuss beschrieben und bliebe dort nur deshalb ungenannt (Wenzler, Das Antlitz, die Spur, die Zeit, 78 f.). Dem Genuss mangelt es aber an jener für die Hypostase charakteristischen »mannhafte[n] Macht des Subjekts über seine Existenz« (Levinas, TA: 34/ZA: 29). 203 Wang Heng hält bzgl. Levinas’ Frühwerk fest: »Hence, according to Lévinas, the

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Man erkennt deutlich die Nähe zum etymologischen Sinn des Wortes Hypostase: das Seiende hat mit dem Sein gewissermaßen einen Vertrag geschlossen. Dabei ist die Zeit im Gefüge dieser Hypostase befangen, sie bildet das »ontologische[] Schema« dieses Ereignisses, als welches sie an den Ursprung des Ich bis zur »Freiheit des Anfangs« zurückreicht. 204 Gegenüber ihrer Funktion als »ontologisches Schema« wertet Levinas die tatsächliche Erfahrung der Zeit – hier hat er offenbar Kants Zeitbegriff vor Augen – dann entscheidend ab, wenn er schreibt: [M]an kann von dieser hypostasierten Zeit eine kantische […] Erfahrung haben. Aber das ist dann die Erfahrung einer hypostasierten Zeit, einer Zeit, die ist. Das ist nicht mehr die Zeit in ihrer schematischen Funktion zwischen dem Sein und dem Seienden, die Zeit als Ereignis der Hypostase. 205

Es kann somit festgehalten werden, dass Levinas in Die Zeit und der Andere von 1946/47 noch von dem Begriff eines Ich ausgeht, das seine zeitliche Existenz über die Funktion der Hypostase selbst verantwortet und in weiterer Folge gegen Widerfahrnisse allerlei Art bewahrt. 206 Der Zeit kommt dabei die Rolle eines ontologischen Schemas der In-differenz von Seiendem und Sein im Ich zu, durch welches Schema ein Seiendes sich mit dem Sein identifiziert und somit die »mannhafte Macht des Subjekts über seine Existenz« ausübt. 207 Die Zeit wird hier aus einer ontologischen Konzeption des Ich action of the existent itself happens prior to the action of being-in-the-world.« (Wang Heng, Lévinas’s phenomenology of sensibility and time in his early period, in: Journal of Chinese Philosophy 35/1, 105–121, 109) 204 Levinas, ZA: 26–29/TA: 31–34. 205 Levinas, ZA: 28/TA: 33 f. 206 Vgl. Levinas, ZA: 28 f., 50/TA: 33 f., 66 f. 207 Levinas, ZA: 29/TA: 34. Diego Fonti attestiert für Levinas’ Zeitbegriff vor 1961 ein Szenario, in dem sich ein Subjekt »zuerst […] gegen die anonyme Anarchie des il y a und mit einer von sich her stammenden ›Zeitlichkeit‹« ereignet (Diego Fonti, Levinas und Rosenzweig. Das Denken, der Andere und die Zeit. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, 274). Er zeigt im Anschluss daran auch deutlich, inwiefern Levinas’ Zeitbegriff dann nach 1961 auf einer »Beziehung zum Anderen« beruht, die nicht mehr im »Rahmen des Könnens des Subjekts« liegt (ebd., 282 ff.); ähnlich deutlich wird in diesem Punkt Wolfgang Krewani, Zum Zeitbegriff in der Philosophie des Emmanuel Levinas, in: Studien zum Zeitproblem in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, hg. v. Ernst Wolfgang Orth. Freiburg/München: Alber 1982, 107–127, 107, 120. – Dementsprechend hält auch Ludwig Wenzler im Blick auf Levinas’ Zeitbegriff treffend fest: »Indem das Seiende sich zu seinem Sein verhält und dieses Sein übernimmt, Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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heraus erklärt und Kants Rekurs auf die Erfahrung zur philosophischen Bestimmung der Zeit strikt abgelehnt und im Grunde als Banalität bezeichnet. »Ontologisch« hat in diesem Zusammenhang zwar, wie Levinas ergänzt, einen anderen Sinn als denjenigen, »den die Realisten der Ontologie beilegen, indem sie schlicht und einfach das gegebene Sein beschreiben«. Denn ontologisch bedeutet hier ausgehend von »der allgemeinen Ökonomie des Seins«, 208 und ist vielmehr mit einem je schon immanenten Verständnis der eigenen Seinsweise gleichzusetzen. Doch trotz dieser Einschränkung stehen die ontologischen Konzeptionen von »Ich« und »Zeit« aus Die Zeit und der Andere, wie sich zeigen wird, in starker Diskrepanz zu ihrem ethischen Verständnis in Levinas’ Spätwerk, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil damit Fragen verbunden sind, die in Levinas’ Frühwerk ungeklärt geblieben sind und auf die – wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird – Kants Philosophie eine Antwort gibt. Denn obwohl er eine andere Argumentationslinie verfolgt als Levinas, finden sich auch bei Kant Überlegungen zur Genesis des Ich, die denjenigen in Levinas’ Frühwerk allerdings stark widersprechen. 209 Im Paralogismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft geht Kant der Frage nach, welchen Stellenwert das Ich im Blick auf die eigene Existenz einnimmt und kommt zu dem Schluss: Erschiene ich mir nicht zuerst in der Zeit, könnte ich mir meiner erst gar nicht bewusst werden. Selbstbewusstsein setzt demnach die sinnliche Wahrnehmung seiner selbst voraus, deren Sein das Ich zwar erkennen, aber nicht begründen kann. 210 Zur Erinnerung: in Die Zeit und der Andere nimmt Levinas an, dass die Identität von Sein und Seiendem je schon im Ich begründet ist. Dies ist eine Annahme, die in Kants Augen inist es auf der einen Seite vom Sein unterschieden, doch auf der anderen Seite identifiziert es sich in der Übernahme des Seins mit diesem Sein. Genau dieses Zugleich von Identität und Differenz macht die Struktur von Zeitlichkeit aus.« (Wenzler, Das Antlitz, die Spur, die Zeit, 81). Wenzler unterscheidet dann jedoch nicht zwischen dem Früh- und dem Spätwerk von Levinas (vgl. ebd., 25 f., 31) und nimmt an, dass die Zeit im Gesamtwerk von Levinas das Verhältnis eines Bewusstseins, »das von sich selbst ausgeht«, zum Horizont der Geschichte bedeute (vgl. ebd., 15 u. 218 f.). Im Blick auf Levinas’ Frühwerk richtig (vgl. Levinas ZA: 61/TA: 83 f.), ist diese Einschätzung im Blick auf dessen Spätwerk zumindest fraglich (vgl. ders., TU: 394/TI: 274). 208 Levinas, ZA: 17/TA: 17. 209 Vgl. zur Bedeutung genetischer Überlegungen für die kantische Philosophie vor allem Anm. 38. 210 Vgl. zu diesem Gedankengang Kant, KrV: B406 f.

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sofern unbegründet ist, als das Selbstbewusstsein nach seiner Ansicht immer schon auf einem in der sinnlichen Wahrnehmung gegebenem Selbst aufbaut. Von einem solchen Selbstbewusstsein ausgehend, das durch sein Sein je schon bedingt ist, ist es nach Kant unmöglich, darauf zu schließen, ob und vor allem inwiefern, was wir meinen, wenn wir von unserem Selbstbewusstsein sprechen und »Ich« sagen, mit unserem empirischen Dasein ursprünglich verbunden ist. Kant räumt in diesem Punkt, der die Frage nach dem Ursprung und der Dignität unseres Selbstbewusstseins betrifft, jedoch auch die Möglichkeit einer Illusion ein. 211 Sobald sich nämlich aufbauend auf der sinnlichen Wahrnehmung seiner selbst ein Selbstbewusstsein in der Form eines »Ich denke« ausgebildet hat, das von seiner empirischen Existenz abstrahiert, scheint dasselbe Selbstbewusstsein dem gleichen Denken, jedoch in einer anschließenden Reflexion, von seiner empirischen Existenz isoliert zu sein. 212 Diese Illusion hält Kant für einen unvermeidlichen Trugschluss: Das »Ich denke« erkennt ein Objekt der Anschauung, indem es von den empirischen Bedingungen seiner Existenz abstrahiert, und schließt aus dem Umstand, dass es zu dieser Abstraktion fähig ist, dass es auch isoliert von den empirischen Bedingungen seiner Existenz bestehen könne. In Kants Worten: Folglich verwechsele ich die mögliche Abstraktion von meiner empirisch bestimmten Existenz mit dem vermeinten Bewußtsein einer abgesondert möglichen Existenz meines denkenden Selbst[.] 213

Der Trugschluss, von dem Kant hier spricht, ist unvermeidlich, wo wir versuchen, die Grundsätze unseres subjektiven Denkens isoliert von unserem empirischen Dasein zu erschließen, und er besteht darin, dass sich das denkende Selbst als eine »abgesonderte« Existenz begreift und annimt, es stünde selbst am Ursprung der vergleichsweise unbeständigen empirischen Bedingungen seiner eigenen Existenz. 214 Die mit Kants Beschreibung dieses idealistischen Trugschluss verbundene philosophische Kritik ließe sich nun sehr genau auf Levinas’ Darstellung in dessen Frühwerk Die Zeit und der Andere überVgl. hierzu Kant, KrV: A341/B399 u. B418. Kant nennt dieses mittelbare Urteil einen Prosyllogismus (vgl. Kant, KrV: A323/ B379) und das Vermögen, mittelbar zu urteilen, die Vernunft (vgl. Kant, KrV: A330/ B386 u. A306 f./B363), weshalb die damit im Zusammenhang stehende Täuschung aus seiner Perspektive eine Illusion der reinen Vernunft ist. 213 Kant, KrV: B426 f.; vgl. ebd., B411. 214 Vgl. hierzu näherhin Kant, KrV: B414–419. 211 212

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Spuren von Kant in der späten Zeitkonzeption von Levinas

tragen, das, wie hier gezeigt werden konnte, nämlich die Funktion des Ich an den Anfang der eigenen Existenz rückt. Mit anderen Worten: Vom kantischen Standpunkt aus betrachtet baut Levinas’ Frühwerk also auf einer idealistischen Täuschung auf. Interessant ist nun, dass sich in Levinas’ Spätwerk Überlegungen finden, die dieser Kritik an seinem Frühwerk, die sich ausgehend von der kantischen Philosophie formulieren ließe, erstaunlich ähnlich sind und die deshalb einerseits einen Perspektivenwechsel im Verhältnis auf Kant und andererseits einen Bruch mit dem eigenen Frühwerk vermuten lassen. Knapp 15 Jahre nach Die Zeit und der Andere schreibt Levinas nämlich: Daß die Vorstellung durch das Leben bedingt ist, daß aber diese Bedingtheit nachträglich umschlagen kann – daß der Idealismus eine immerwährende Versuchung darstellt –, liegt selbst am Geschehen der Trennung, die man keinen Augenblick als abstrakten Schnitt im Raum deuten darf. Die Trennung ist nachträglich früher; aber sie ist nicht in dieser Weise ›erkannt‹, sondern ereignet sich in dieser Weise. 215

Die Art und Weise, in der Levinas hier von einem Idealismus spricht, ist derjenigen Kants in einem Punkt auffallend ähnlich. In beiden Fällen besteht der Idealismus nämlich darin, dass eine Vorstellung ihr Verhältnis zu ihren existentiellen Voraussetzungen nachträglich invertiert und sich selbst zum Zentrum der subjektiven Existenz erhebt, durch die sie bei genauerer Betrachtung je schon konstituiert worden ist. Anders jedoch als Kant führt Levinas diesen Idealismus nicht auf ein Problem der Erkenntnis zurück, sondern erkennt darin ein grundsätzliches Moment der Vorstellung. Was das bedeutet und welche Konsequenzen dies mit sich bringt, wird im Folgenden noch näher zu untersuchen sein. Dabei wird sich zeigen, dass Nähe und Distanz der beiden Autoren in diesem Punkt nicht zufällig, sondern aus Levinas’ Kant-Rezeption heraus zu verstehen sind, in deren Zentrum Kants Begriff einer kopernikanischen Revolution steht. Um die feinen Differenzen zwischen den zwei Ansätzen herauszuarbeiten, ist jedoch zunächst zu untersuchen, inwieweit sich Levinas in seinem Spätwerk überhaupt an Kant anlehnt. Werkgeschichtlich gesehen gewinnt Kant in Levinas’ späten Schriften jedenfalls stark an Bedeutung, vor allem im Kontext der Subjektivitäts- und Zeitthematik. Das gilt für Jenseits des Seins, aber auch für Totalität und Unendlichkeit, die Vorlesungsreihe zu Gott, 215

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der Tod und die Zeit (Dieu, la Mort et le Temps) und für viele andere Schriften aus dieser Epoche. 216 Eine auffallend zentrale Rolle kommt dabei Kants Begriff einer kopernikanischen Wende in der Philosophie zu, 217 mit dem auch eine bestimmte Wende in der Denkgeschichte von Levinas verbunden ist, die er bereits sehr früh in Ist die Ontologie fundamental von 1951 als eine Abkehr von Heideggers Fundamentalontologie und Hinwendung zu seinem eigenen Projekt einer Ethik als Erster Philosophie stilisiert und in deren Kontext er schließlich reklamiert, sich »Kants praktischer Philosophie […] nahe [zu] fühlen«. 218 Mit dieser Wende ist schließlich auch das Aufkommen einer Konzeption des Ich bei Levinas verbunden, die nicht nur eine deutliche Affinität zu kantischem Gedankengut aufzeigt, sondern die auch in starkem Zusammenhang zu Levinas’ Interpretation und Rezeption von Kants Begriff des »Ich denke« steht. In einer Fußnote notiert Levinas: ›… daß wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben‹ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 130). Der Verweis auf die Spontaneität erfolgt durch den eigentlichen Sinn von Objektivität – der Synthese oder die der Beziehung die hier nicht der Inhalt des Objektes ist, sondern seine Objektivität. Infolgedessen ist der Verweis auf das Subjekt […] gerade ein transzendentaler: ein Phänomen wie ›objektive Verbindung‹ hat keinen Sinn ohne transzendentale Spontaneität, ohne ein eben als Spontaneität strukturiertes Subjekt[.] 219

Nun, was meint Levinas hier, wenn er schreibt, Kant erkenne in der Subjektivität den Sinn der Objektivität? Im Horizont dessen, was bisher zu Kant gesagt wurde, lässt sich das wie folgt erklären: Da das »Ich denke« bei Kant vom Objekt der Anschauung abstrahiert, muss es dasselbe nach eigenen Begriffen verbinden, um es zu verstehen. Nun ist ein Denken nach Kant nur in Beziehung auf ein Objekt möglich, infolgedessen ist es schlechthin als diese Synthesis eines in der 216 Vgl. für Jenseits des Seins etwa Levinas, JS: 37, 48 Anm. 10, 54/AQ: 10 f., 17 Anm. 10, 21; für Totalität und Unendlichkeit und Gott, der Tod und die Zeit vgl. ders., TU: 86, 109, 192, 269 f./TI: 36, 51 f., 109, 162 f. u. GZ: 67–76, 196. Vgl. auch ders., Humanismus und An-archie, HAM: 82/HAH: 82; ders., GZ: 67–77, 196; JS: 287/ AQ: 166 sowie ders., Le primat de la raison pure pratique/Das Primat der reinen praktischen Vernunft. 217 S. bspw. Levinas, GZ: 67–77, 196; ders., Humanismus und An-archie, HAM: 82/ HAH: 82 sowie ders., JS: 287/AQ: 166; TU: 86, 270/TI: 36, 163. 218 Vgl. Levinas, Ist die Ontologie fundamental, ZU: 23. 219 Levinas, JS: 90 Anm. 20/AQ: 45 Anm. 20.

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Anschauung gegebenen Mannigfaltigen zu bestimmen, das heißt, als der Sinn der Objektivität, der kein Inhalt des Objekts ist, sondern, die »durchgängige Identität der Apperzeption eines in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen« im Subjekt, wie Kant im berühmten Paragraph 16 der Kritik der reinen Vernunft festhält. 220 Dieses »Ich denke« ist bei Kant nun ferner der Kern des Selbstbewusstseins beziehungsweise das wesentliche Moment der Identität des Ich. Levinas’ Rezeption von Kants Begriff der Einheit der transzendentalen Apperzeption ist deshalb auch im Blick auf jene Frage überaus aufschlussreich, ob Levinas’ Neubestimmung seiner Konzeption des Ich in seinem Spätwerk mit seiner Kant-Rezeption in Verbindung steht. Es ist jedenfalls festzustellen, das Levinas in seinen beiden Hauptwerken Totalität und Unendlichkeit und Jenseits des Seins das Ich in einer Weise als ein »Ich denke« bestimmt, die auffallend ähnlich wie bei Kant durch die Einheit der transzendentalen Apperzeption geprägt ist. Er hat dabei jedoch einen entscheidenden Vorbehalt gegen die kantische Konzeption, der sein Verhältnis zu Kant insgesamt recht gut zum Ausdruck bringt. 221 So sucht Kant die Identität des Subjekts in der Objektivität und hat dabei ein Urteil vor Augen, das ein empirisch gegebenes Mannigfaltiges zur objektiven Einheit verbindet. Diese Synthesis ist in seinen Augen ein Bewusstsein der empirisch bedingten Existenz: ein Selbstbewusstsein, gedacht als ein »Ich denke«, das auf einer sinnlichen Wahrnehmung aufbaut, die ein autonomes Urteil veranlasst. Dabei ist das menschliche Denken jederzeit auf den Bereich der sinnlichen Phänomenalität bezogen, innerhalb dessen ihm zunächst ein Gegenstand gegeben werden muss, bevor es zur Ausübung gelangt. 222 Die Bedeutung der Intelligenz liegt für Kant deshalb schlechthin in der Beziehung auf eine sinnliche Anschauung, die zugleich ein Bewusstsein der eigenen empirisch bedingten Existenz ist. 223 Anders verhält es sich bei Levinas. Zwar ver220 Kant, KrV: B133. Dass Levinas’ Interpretation den Kern der Sache trifft, zeigt sich im direkten Anschluss an die von ihm zitierte Passage, die aus dem § 15 von Kants Kritik der reinen Vernunft stammt, in § 16. 221 Vgl. Levinas, TU: 40, 176 f./TI: 6, 98 f.; JS: 48 Anm. 10, 135, 308–312/AQ: 17 Anm. 10, 72, 179–181. Besonders bezeichnend ist in diesem Zusammenhang Levinas’ Rede vom »Ich denke« als einer »Identität par excellence«, die sich als »Leistung der Identifikation« in allen Begegnissen wiederfindet und insofern bis in seine Veränderungen hinein mit sich identisch ist (ders., TU: 40/TI: 6). 222 Vgl. Kant, KU, AA 05: 174–179. 223 Vgl. Kant, KrV, § 25, bes. B157 f. Anm.: »Das, Ich denke, drückt den Aktus aus, mein Dasein zu bestimmen. Das Dasein ist dadurch also schon gegeben, aber die Art,

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steht auch Levinas das »Ich denke« als Einheit der transzendentalen Apperzeption, jedoch sucht er deren Bedeutung ganz woanders. Nach Levinas’ Einschätzung ist ein sinnliches Phänomen, das wie bei Kant allein durch die Modifikation eines denkenden Subjekts verstanden wird und nicht immer schon eine Bedeutung in sich trägt, ein »Mythos«. 224 Das Phänomen, so sein Argument, muss bereits in der Bedeutung der Intelligenz erscheinen, um von derselben überhaupt verstanden werden zu können. Hiermit ist nun ein ganz anderes Verständnis der Intelligenz verbunden, als es bei Kant zu finden ist. Zwar ist, wie bereits gesagt, das »Ich denke« auch bei Levinas als Einheit der transzendentalen Apperzeption bestimmt und setzt daher genau wie bei Kant eine sinnliche Erscheinung voraus, auf die es sich bezieht. Jedoch gewinnt diese Erscheinung ihre Bedeutung anders als bei Kant nicht aus einer Abstraktionsleistung des reinen Verstandes, die das Wesen des »Ich denke« ausmacht, sondern trägt je schon eine Bedeutung in sich, die für die Einheit der transzendentalen Apperzeption sowie das Selbstbewusstsein, das darauf aufbaut, maßgebend ist. Während die Bedeutung der Intelligenz bei Kant also ein Produkt des reinen Denkens ist, fällt sie bei Levinas in einen Bereich, der sie transzendiert und ihr absolut vorausgeht. Demnach zeichnet Kant das Bild einer Intelligenz, die sich auf der Grundlage der sinnlichen Phänomene ihre eigene Bedeutung verschafft, wo Levinas die Bedeutung der Intelligenz jenseits ihres Selbst sucht und bekanntermaßen in der anderen Intelligenz beziehungsweise in der ethischen Spur des Anderen findet. Es finden sich hier jedoch auch Gemeinsamkeiten bei Kant und Levinas, besonders im Blick auf die Rolle, die sie der kopernikanischen Revolution einerseits und der Zeitthematik andererseits beimessen. Im Gegensatz zu Kant kommt die Bedeutung des Subjekts bei Levinas zwar von außerhalb seiner als Einheit der transzendentalen Apperzeption bestimmten Identität und präsentiert sich damit als wie ich es bestimmen, d. i. das Mannigfaltige, zu demselben gehörige, in mir setzen solle, ist dadurch noch nicht gegeben. Dazu gehört Selbstanschauung, die eine a priori gegebene Form, d. i. die Zeit, zum Grunde liegen hat, welche sinnlich und zur Rezeptivität des Bestimmbaren gehörig ist. Habe ich nun nicht noch eine andere Selbstanschauung, die das Bestimmende in mir, dessen Spontaneität ich mir nur bewußt bin, ebenso vor dem Aktus des Bestimmens gibt, wie die Zeit das Bestimmbare, so kann ich mein Dasein als eines selbsttätigen Wesens nicht bestimmen; sondern ich stelle mir nur die Spontaneität meines Denkens, d. i. des Bestimmens, vor, und mein Dasein bleibt immer nur sinnlich, d. i. als das Dasein einer Erscheinung, bestimmbar. Doch macht diese Spontaneität, daß ich mich Intelligenz nenne.« 224 Vgl. Levinas, Sinn und Bedeutung, HAM: 12/HAH: 21. Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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eine absolute Infragestellung und eine Niederlegung der Einheit der transzendentalen Apperzeption, das heißt, als eine, wie er sagt, Bedeutung meiner Verantwortung für das, was sich meiner Freiheit entzieht, die Niederlage oder die Niederlegung der Einheit der transzendentalen Apperzeption[.] 225

Doch genau, wie bei Kant das »Ich denke« nicht isoliert existiert, sondern auf einer je schon empirisch bedingten Existenzweise aufbaut, meint auch dieses »Subjekt der Verantwortung« bei Levinas eine Form der Rekurrenz, obzwar nicht wie bei Kant einer sinnlichen Wahrnehmung seines Selbst, sondern der ethischen Bedeutung desselben, »aber – genau wie die Einheit des Kant’schen ›ich denke‹ – undeklinierbar in dieser Passivität ohne Spiel«. 226 Hier wie dort baut die Intelligenz auf einem Selbst auf, das ihr der Zeit nach vorausgeht. Das erklärt nicht zuletzt, warum Levinas in diesem Kontext ähnlich wie Kant von einem sich aufdrängenden Idealismus spricht, damit dann jedoch ein Moment der Vorstellung und nicht wie Kant ein Problem der Erkenntnis verbindet. So verfolgen beide Autoren grundsätzlich das Sinnbild einer kopernikanischen Revolution der Philosophie: ein Subjekt, das je schon im phänomenalen Gefüge jener Welt erscheint, die es erkennt. 227 Anders als Kant sucht Levinas die Bedeu225 Levinas, JS: 309/AQ: 179. Anmerkung: Die Verantwortung für den Anderen ist für Levinas der Punkt, an dem die Souveränität des Selbst endet: »Die Fülle des Vermögens, worin sich die Souveränität des Ichs aufrechterhält, dehnt sich nicht auf den Anderen aus, um ihn zu erobern, sondern um ihn zu stützen. Aber zugleich bedeutet das Tragen der Last des Anderen, daß ich ihn in seiner Substantialität bestätige und sie über mich setze.« (Ders., Existenz und Ethik, in: Schweizer Monatshefte 43 (1963), 170–177, 176) 226 Levinas, TU: 135/TI: 72; vgl. ders., TU: 135/TI: 72 f.: »Das Subjekt der Verantwortung, genau wie die Einheit der transzendentalen Apperzeption, meint nicht die Einmaligkeit eines einzigen Exemplars, wie es sich im Gesagten, in der Erzählung darstellt: ›es war einmal …‹. Einzigkeit bedeutet hier Unmöglichkeit, sich zu entziehen und sich ersetzen zu lassen, Unmöglichkeit, in der gerade die Rekurrenz des ich sich ausbildet.« 227 Nach Johanna Hodge legt Kants kopernikanische Revolution den Fokus auf das konstitutive Subjekt (vgl. Johanna Hodge, Lévinas between Kant and Husserl, in: Diacritics 32/3 (2002), 107–134, 120). Hodge übersieht ein zentrales Moment: indem Kant den »Zuschauer sich drehen« lässt (Kant, KrV: BXVI f.), zeigt er ein Ich, das auf einem empirischen Selbst aufbaut, das es nicht konstituiert hat. Das ist die Schnittstelle zu Kants praktischer Philosophie, wo das Subjekt dem Faktum des moralischen Gesetzes kategorisch unterworfen ist, und es ist überdies der Grund, warum Levinas sich in der von Hodge in diesem Kontext zitierten Textpassage auf Kant beruft, wenn er von einem Sinn des Menschen spricht, den der Mensch als das, was er an sich ist,

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tung des phänomenalen Selbst jedoch nicht in den Modifikationen eines Gemüts, die durch die Spontaneität eines reinen Denkens bestimmt sind. Er vertritt dahingegen die Ansicht, dass jede Vorstellung bereits eine absolute Trennung von ihrer Bedeutung, deren Vergegenwärtigung sie ist, einschließt und dass das Vorstellungsleben insofern je schon von seiner Bedeutung getrennt zu sein scheint. Daß die Vorstellung durch das Leben bedingt ist, daß aber diese Bedingtheit nachträglich umschlagen kann – daß der Idealismus eine immerwährende Versuchung darstellt –, liegt selbst am Geschehen der Trennung, die man keinen Augenblick als abstrakten Schnitt im Raum deuten darf. Die Trennung ist nachträglich früher; aber sie ist nicht in dieser Weise ›erkannt‹, sondern ereignet sich in dieser Weise. 228

In dem Sinne, in dem sich das Subjekt hier im Levinas’schen Spätwerkt ähnlich wie bei Kant je schon im phänomenalen Gefüge jener Welt erscheint, die es sich vorstellt, verbindet Levinas mit dem Namen Kant in seinem Spätwerk die kopernikanische Revolution der Philosophie und die damit verbundene Abkehr von einer Konzeption des Ich, das die »Freiheit des Anfangs« hat, die Abkehr von einer Konzeption des Ich, wie er sie noch in seinem Frühwerk verfolgte. Der Begriff einer kopernikanischen Revolution der Philosophie ist insofern gleichermaßen bezeichnend für den Wendepunkt in der Werkegeschichte bei Kant wie für denjenigen bei Levinas. Doch diese Gemeinsamkeit ist zugleich der Punkt, an dem die beiden Autoren am weitesten auseinandergehen: Bei Kant spielt sich diese Revolution im Subjekt ab, und zwar im Bereich seiner sinnlichen Wahrnehmungen und seines reinen Denkens, während Levinas in diesem Kontext von einem ethischen Jenseits spricht, von einem absolut Anderen, der das Selbst infrage stellt. 229 Gemeinsam ist den Konzeptionen auch ein nicht erkennt (vgl. ders., Humanismus und An-archie, HAM: 82/HAH: 82; ders., GZ: 67–77, 196; JS: 287/AQ). 228 Levinas, TU: 244 f./TI: 144. 229 Vgl. Levinas’ Annäherung an Kant in: Levinas, Ist die Ontologie fundamental, ZU: 23; für Levinas’ Interpretation und Rezeption von Kants kopernikanischen Revolution ders., GZ: 67–77, 196; Humanismus und An-archie, HAM: 82/HAH: 82; JS: 287/AQ: 166; TU: 86, 270/TI: 36, 163; für Kants Verortung derselben im Inneren des Subjekts Kant, KrV: BXVI u. BXXII Anm.; für die anschließende Begrenzung der Philosophie auf den sicheren Boden sinnlicher Erscheinungen Kant, KU, AA 05: 174– 179. – Wie Dieter Hattrup bemerkt, stellt Levinas »in Abrede […], daß das Wissen und die zugehörigen Techniken der Wissenschaft zum letztgültigen Sinn des Seins und des Lebens vorstoßen können. Folglich stellt es in Abrede, daß das transzendenÜber Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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Zeitbegriff, der sich am Sinnbild der kopernikanischen Revolution abarbeitet und in dem die Zeit die Beziehung auf etwas bedeutet, das dem Ich als Zentrum, um das dieses sich dreht, zeitlich vorausgeht. Doch Kant hat hier die Beziehung auf ein in der sinnlichen Wahrnehmung anschaulich gegebenes Selbst vor Augen. Für ihn ist die Zeit deshalb die Form der inneren Anschauung. Bei Levinas hingegen steht das Selbst je schon in der Spur der Bedeutung des Anderen, die ihm vorausgeht, welche Transzendenz die Zeit ist. 230 Entsprechend resultiert die Identität des Selbstbewusstseins bei Kant aus der Beziehung des »Ich denke« auf eine bereits gegebene sinnliche Wahrnehmung seiner selbst, und der Bereich der sinnlichen Wahrnehmung ist hierbei eine Grenze, die wir nicht überschreiten können, zumindest nicht aus einer selbstbewussten und an die Konzeption eines Ich gebundenen Entscheidung heraus. Das Ich enthält bei Kant nichts, das über den Horizont seiner empirischen Existenz hinausginge, aber auch nichts, das es absolut infrage stellen könnte. Für Levinas ist jene Bedeutung, auf die sich das »Ich denke« als Identifikationsleistung bezieht, dahingegen eine ethische Spur des absolut Anderen. Das Ich erscheint ihm als eine Antwort auf den Anderen, für den es je schon eine Verantwortung übernommen hat, der es absolut infrage stellen und dem es nicht zuschauen kann, ohne selbst auf dem Spiel zu stehen: [D]ie Verantwortung, die nichts meiner Freiheit verdankt, ist meine Verantwortung für die Freiheit der anderen. Da, wo ich hätte Zuschauer bleiben können, bin ich verantwortlich, man kann auch sagen, sprechend. Nichts mehr ist Theater, das Drama ist kein Spiel mehr. Alles ist ernst. 231

Im Ausgang von seinen frühen Überlegungen zum Verhältnis der Begriffe »Ich« und »Zeit« unterläuft Levinas also einen radikalen Perspektivenwechsel, der an den Grundlinien von Kants kopernikatale Ich das wahre Ich ist« (Norbert Fischer, Dieter Hattrup, Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas. Paderborn: Schöningh 1999, 30 f.). Levinas ist dabei jedoch anders, als Hattrup es darstellt (vgl. ebd., 30–32), stark am Sinnbild der kopernikanischen Revolution der Philosophie orientiert. 230 In Totalität und Unendlichkeit hält Levinas in diesem Sinne fest: »Die Transzendenz ist Zeit und geht zum Anderen.« (Levinas, TU: 394 f./TI: 247). An anderer Stelle schreibt er: »Von mir zu diesem zu mir Sprechenden: Eine ganz andere Zeitlichkeit als jene, die sich in der Präsenz des Gesagten und des Geschriebenen zusammenfassen läßt, konkrete Zeitlichkeit in diesem ›von mir zum Anderen‹« (ders., Diachronie und Repräsentation, ZU: 200). 231 Levinas, Humanismus und An-archie, HAM: 78/HAH: 79

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nischer Revolution orientiert ist. Nähe und Distanz zur kantischen Position zeigen sich dann an der Konzeption eines denkenden Subjekts, dem entweder, wie bei Kant, je schon eine sinnliche Wahrnehmung seiner selbst oder, wie bei Levinas, je schon die eigene Bedeutung vorausgeht, sodass es in beiden Fällen jederzeit unmöglich ist, die Frage nach der Subjektivität ontologisch zu beantworten. Entweder ist deren Existenz nämlich wie bei Kant dem Bereich desjenigen, was wir verstehen, je schon vorausgesetzt, oder aber es ist umgekehrt die Bedeutung der Subjektivität unserer Seinsweise vorausgesetzt. Entsprechend konstituiert sich das »Ich denke« bei Kant als ein Selbstbewusstsein, das auf dem Urteil über eine gegebene sinnlichen Selbstanschauung aufbaut und das insofern nicht über die sinnliche Erfahrungswelt hinausreicht, bei Levinas dahingegen in der Spur einer Bedeutung, die auf einen absolut Anderen verweist, der es von Grund auf infrage stellen kann und es in die heikle Lage versetzt (»d’être en porte à faux«), niemals auch nur die geringste absolute Gewissheit zu haben oder haben zu können. Die mit dem kantischen Gedanken der kopernikanischen Revolution der Philosophie verbundene Abkehr von der ontologischen Bestimmung der Subjektivität ist demnach derjenige Punkt, der zugleich eine Wende in der kantischen wie auch in der Levinas’schen Philosophie markiert und der darüber hinaus einen zentralen Hinweis auf den Stellenwert liefert, den Levinas Kant für sein eigenes Spätwerk einräumt. Vor diesem Hintergrund hält Levinas schließlich fest: Wenn man das Recht hätte, von einem philosophischen System einen bestimmten Zug zurückzubehalten, indem man das Detail seiner Architektur vernachlässigt – obwohl es nach Valéry in der Architektur keine Details gibt und obwohl es in der Philosophie das Detail ist, das das Ganze daran hindert, auf einer unsicheren Grundlage zu beruhen –, würden wir hier den Kantianismus anrufen: einen Sinn für das Menschliche zu finden, ohne es durch die Ontologie zu messen, ohne zu wissen und ohne sich zu fragen ›was ist es damit?‹ …, außerhalb von Sterblichkeit und Unsterblichkeit – vielleicht ist dies die kopernikanische Revolution. 232

232 Levinas, Humanismus und An-archie, HAM: 82/HAH: 82; vgl. ders., GZ: 67–77, 196; JS: 287/AQ: 166.

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4.2. Die Bedeutung des Phänomens Zeit bei Levinas und das Erbe Kants Levinas’ Zeitbegriff wird meist von der phänomenologischen Tradition her, besonders ausgehend von Husserl und Heidegger gelesen. 233 Neuere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass sich Levinas Anfang der 1960er Jahre im »Kant’schen Echo«, wie er sagt, von dieser Tradition zum Teil auch distanziert. 234 Die Forschung zu Levinas’ Zeitbegriff hat dies noch nicht aufgearbeitet, und es fragt sich, ob sich in Levinas’ späteren Schriften, neben den bereits vielfach nachgewiesenen Einflüssen der praktischen Philosophie Kants, auch Spuren von

Das ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass Levinas’ Zeitbegriff in der Regel bruchlos von seinen Frühschriften her verstanden wird, die der phänomenologischen Tradition noch stark verpflichtet sind. Kant hat in diesen frühen Schriften bei Levinas noch einen sehr geringen Stellenwert. Das könnte erklären, warum der Name Kant in diesem Kontext bei Ludwig Wenzler in der bislang umfassendsten deutschsprachigen Untersuchung zu Levinas’ Zeitbegriff keine Erwähnung findet (vgl. Wenzler, Das Antlitz, die Spur, die Zeit, bes. 12–30). Ähnlich auch in: Krewani, Zum Zeitbegriff in der Philosophie des Emmanuel Levinas; Hodge, Lévinas between Kant and Husserl; Otto Pöggeler, Anderheit, Unendlichkeit, Zeit; Reinhold Esterbauer, Die Zeit und ihr Ende. Zum Zeitverständnis bei Levinas und Boudrillard, in: Emmanuel Levinas – Fragen an die Moderne, hg. v. Thomas Freyer, Richard Schenk. Wien: Passagen-Verlag 1996, 73–94. 9; Gelhard, Levinas, etwa 1–36). Johannes Brachtendorf vertritt sogar die Ansicht, »Levinas [habe] sich nie eingehend mit Kant auseinandergesetzt« (Brachtendorf, Das Andere als metaphysisches Prinzip in Levinas’ ›Totalität und Unendlichkeit‹, 135). 234 Levinas’ kritische Distanzierung von der Phänomenologie ist vor allem eine Distanzierung von der Ontologie Heideggers und erstreckt sich nach Einschätzung von Adriaan Theodoor Peperzak von 1927 bis 1950, die Ausbildung einer unabhängigen metaphysischen Lehre ist mit dem Hauptwerk 1961 anzusetzen (vgl. Adriaan Theodoor Peperzak, Beyond. The philosophy of Emmanuel Levinas. Evanston, Ill: Northwestern University Press 1997, 38–39). 1951 erschien dann Levinas’ Aufsatz L’Ontologie est-elle fondamentale?, der in der Levinas-Forschung weithin als Beginn der Abkehr von der ontologischen Methode einerseits und von Heidegger andererseits verstanden wird (vgl. ebd., 49 f.). Diese Abkehr geschieht nach Levinas’ eigenen Angaben im »Kant’schen Echo« (vgl. Levinas, Ist die Ontologie fundamental?, ZU: 19). Allgemein gewinnt der Name Kant in Levinas’ späteren Schriften stark an Bedeutung (vgl. zu dieser Thematik: Fischer, Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden?, 49). Auch Wang Heng verortet eine Wende bei Levinas Anfang der 1960er Jahre. Anders als es hier geschehen wird, führt Heng diese Wende jedoch auf eine späte Rückkehr zu Husserl zurück (vgl. Heng, Lévinas’s phenomenology of sensibility and time in his early period, 106 f.). Im Folgenden soll gezeigt werden, dass diese Wende im Wesentlichen eine Annäherung an Kant ist. 233

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dessen theoretischem Zeitbegriff finden. In Verbindung damit stellt sich auch die werkgeschichtlich relevante Frage, inwiefern sich Levinas in diesem Themenbereich an den Grundlinien von Heideggers Sein und Zeit bewegt, dem er bekanntermaßen viel verdankt. Zudem fragt sich, ob, wann und inwiefern Levinas sich im Zuge seines Projekts einer Ethik als Erster Philosophie von Heideggers rein ontologischer Bestimmung des zeitlich Seienden in Sein und Zeit distanziert sowie ob Kant dabei eine Rolle spielt, die für Levinas’ Perspektive auf das Phänomen Zeit und dessen Bedeutung für die Philosophie ausschlaggebend ist. Um diesen Fragen nachzugehen, wird hier in drei Schritten vorgegangen. Zunächst werden mögliche Überschneidungspunkte zwischen den Ansichten präsentiert, die Kant und Levinas zum Phänomen der Zeit und zu seiner Bedeutung vertreten. Danach wird untersucht, inwiefern sich Levinas’ Perspektive auf diesen Themenbereich zwischen 1940 und 1960 verändert und inwiefern dieser Wandel mit einer Distanzierung von Heideggers rein ontologischer Bestimmung des Seienden in Sein und Zeit einerseits und mit einer Annäherung an Kant andererseits verbunden ist. In einem letzten Schritt wird dann der Frage nachgegangen, inwieweit Levinas in seinem Spätwerk im Blick auf die dortige Bestimmung des zeitlich Seienden an Kant anknüpft und inwieweit er über Kant hinausgeht. Im Zentrum der kantischen Überlegungen zur Zeitthematik steht das Theorem, dass die Zeit die Form des inneren Sinns ist. Damit verbunden ist Kants strikte Trennung von Sinnlichkeit und Verstand, die überhaupt ein Dreh- und Angelpunkt der kantischen Philosophie ist und eine rein verstandesmäßige Bestimmung der Zeit bei Kant unmöglich macht. Bei Levinas finden sich Anzeichen für eine Auseinandersetzung mit diesem kantischen Gedankengut. In seinem Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit zeichnet er in diesem Kontext das Bild einer zeitlichen Phänomenalität, deren Wahrheit vom Verstand unmöglich zu erkennen ist: Das ›Was ist das‹ spricht das ›dieses‹ als ›jenes‹ an. Denn objektiv erkennen heißt, das Historische kennen, das Faktum, das schon Geschehene, das schon Überholte. […] Das Historische ist auf immer von seiner eigentlichen Gegenwart abwesend. Wir wollen damit sagen, daß es hinter seinen Erscheinungen verschwindet – seine Erscheinung ist immer oberflächlich und zweideutig, sein Ursprung, sein Prinzip, sind immer woanders. Es ist Phänomen – Realität ohne Realität. Das Verfließen der Zeit, in dem sich nach dem kantischen Schema die Welt konstituiert, ist ohne Ursprung. Da diese Welt ihr Prinzip verloren hat, an-archisch ist, phänomenale Welt, gibt Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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sie keine Antwort auf die Frage nach dem Wahren; sie genügt dem Genuß, der Genuß ist das Genügen selbst. 235

Levinas sieht sich hier mit Kant darin einig, dass die objektive Erkenntnis ein Phänomen ist, dessen Gegenstand vor seiner Zeit erschienen ist, was die objektive Erkenntnis der Zeit an sich unmöglich macht. 236 Er scheint damit zumindest Momente von Kants strikter Trennung von Sinnlichkeit und Verstand aufzunehmen, in deren Kontext Kant die objektive Erkenntnis der Zeit an sich ebenso ausschließt wie das Auffinden einer letzten Wahrheit als Bewusstsein eines Dinges an sich. Tatsächlich findet bei Levinas auch eine deutliche Rezeption von Kants strikter Trennung von Sinnlichkeit und Verstand statt. 237 Darüber hinaus vertritt Levinas in der eben zitierten Textpassage ja auch die stark an Kant erinnerende Annahme, dass ein Wissen nicht als Präsenz einer ursprünglichen Wahrheit, sondern nur als Zurückwendung auf ein Faktum möglich ist, das sich in einer bereits verflossenen Zeit phänomenal konstituiert hat. 238 Damit ist 235 Levinas, TU: 86/TI: 36, vgl. hierzu ders., TU: 192/TI: 109 sowie JS: 86 f./AQ: 43 f.; im Gegensatz hierzu entgegnet Levinas Kant in seiner Frühschrift Die Zeit und der Andere noch, Zeit sei ein durch »die mannhafte Macht des Subjekts« gesetztes Schema (vgl. ders., TA: 34/ZA: 28 f.). Die These der Mannhaftigkeit des Subjekts steht bei Levinas später vielerorts in der Kritik, besonders zentral etwa in seiner Schrift Humanismus und An-archie. Ein interessantes Detail ist, dass sich hier eine gewisse Parallele zu Kant zeigt, der in seiner Inauguraldissertation nämlich noch die Ansicht vertritt, die Zeit sei ein intellektuelles Schema des Verstandes (vgl. Kant, MSI, §§ 9 u. 13). 236 Vgl. für Levinas Anm. 235. In der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant entsprechend, die Zeit sei als eine Form der Anschauung weder etwas, »was für sich selbst bestünde«, noch etwas, was »den Dingen als objektive Bestimmung anhinge« (Kant, KrV: A33/B49; vgl. hierzu bes. Anm. 8 und Anm. 12). 237 Vgl. hierzu etwa: »Die Kraft der kantischen Philosophie des Sinnlichen besteht, wie wir gesagt haben, darin, den irrationalen Charakter der Empfindung zu behaupten; die Empfindung ist auf immer Idee ohne Klarheit und Deutlichkeit, sie gehört dem Bereich des Nützlichen und nicht des Wahren an. Die Kraft auch der kantischen Philosophie des Sinnlichen besteht darin, Sinnlichkeit und Verstand zu trennen, die Unabhängigkeit der ›Materie‹ der Erkenntnis im Verhältnis zum synthetischen Vermögen der Vorstellung festzuhalten.« (Levinas, TU: 192/TI: 109) 238 In Reaktion auf Garves Rezension seiner Kritik der reinen Vernunft artikuliert Kant in den Prolegomena sein entsprechendes Anliegen, nicht »von dem Entstehen der Erfahrung […], sondern von dem, was in ihr liegt« zu sprechen (Kant, Prol, AA 04: 304). Diesen Gedanken formuliert er schließlich als Grundsatz, wonach Erfahrung nur immanent beurteilt werden kann (Kant, Prol, AA 04: 328). Damit verdeutlich Kant die Natur unseres diskursiven Verstandes: wir müssen die Welt allererst sinnlich wahrnehmen, um sie zu beurteilen (vgl. bes. Kant, KrV, »Von dem logischen

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zugleich die Annahme der Diskursivität des erkennenden Verstandes verbunden, der zeitlich erst nach einem von seiner Gegenwart auf immer abwesenden Phänomen, das seinem Urteil gegeben ist, möglich ist und dessen Erkenntnishorizont sich auch nur über die Gegebenheit eines solchen Phänomens erweitern kann. Ferner schließt dies die Bestimmung der Erkenntnis als kritisches Bewusstsein der eigenen Faktizität ein – auch in diesem Punkt fühlt man sich an Kant erinnert, im Blick auf ein Wissen, das hinter seinen Ursprung zurückfragt und das insofern zwar an faktische Voraussetzungen gebunden ist, jedoch zugleich frei ist, sie zu hinterfragen: Die Theorie, in der die Wahrheit entspringt, ist die Haltung eines Seienden, das sich selbst mißtraut. Das Wissen wird erst zum Wissen einer Tatsache, wenn es gleichzeitig Kritik ist, wenn es sich selbst in Frage stellt, wenn es hinter seinen Ursprung zurückgeht (darin Bewegung gegen die Natur, sie besteht darin, hinter den eigenen Ursprung zurückzufragen und bezeugt oder beschreibt eine geschaffene Freiheit). 239

Die in dieser Textpassage enthaltene Bestimmung des Begriffs der Kritik bei Levinas lässt sich am besten aus dessen Diktum erklären, »[d]as Phänomen selbst ist Phänomenologie«, 240 welches im Kern besagt, dass das Phänomen in der Weise existiert, verstanden und hinterfragt zu werden respektive, sodass es »auto-implikativ« ist, wie Reinhold Esterbauer schreibt. 241 Das heißt, dass das Phänomen so existiert, dass es selbst den Sinn konstituiert, in dem es thematisch und hinterfragt wird, was auch die kritische Trennung von seiner eigenen Bedeutung miteinschließt. Diese Trennung von Sinn und Bedeutung des Phänomens ist der wohl wichtigste systematische Schnittpunkt von Levinas’ Ansätzen mit denjenigen Kants. Beginnend mit dem Jahr 1951 bestreitet Levi-

Verstandesgebrauche überhaupt«). Demnach ist der Verstand ein Epiphänomen der sinnlichen Wahrnehmung, die er nur immanent beurteilen kann. Inwiefern dem Verstand dennoch ein großes Maß an Autonomie beikommt wurde weiter oben im Abschnitt »Die Zeit als eine Grenze des Verstandes« bereits sehr ausführlich besprochen. 239 Levinas, TU: 113/TI: 54; vgl. hierzu auch ders., TU: 122/TI: 60: »Wir meinen, daß nicht die Existenz für sich, sondern die Infragestellung der Sinn des Wissens ist. Nicht die Existenz für sich, sondern die Infragestellung des Selbst, die Rückkehr zu dem, was dem Selbst vorangeht, die Rückkehr zur Gegenwart des Anderen, ist nach unserer Auffassung der letzte Sinn des Wissens.« 240 Levinas, JS: 94/AQ: 48. 241 Esterbauer, Transzendenz-»Relation«, 74. Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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nas im Horizont dieser Trennung und »im Kant’schen Echo« 242 nämlich zunehmend die Möglichkeit einer fundamentalontologischen Bestimmung des Seienden. Das erklärt sich daraus, dass es zufolge dieser Trennung schlicht unmöglich ist, das Seiende, das verstanden wird – das Phänomen –, rein ontologisch zu verstehen, da es seinem Sein nach von seiner Bedeutung je schon getrennt ist. In dieser kritischen Perspektive auf die Ontologie vermutet Levinas nun nicht zu Unrecht den Kern von Kants kopernikanischer Revolution der Philosophie. Das Stichwort »Revolution« meint dabei nicht nur eine radikale Veränderung, sondern ist auch im astronomischen Sinn als Umlaufbewegung der Planeten um die Sonne zu verstehen: Nach Kopernikus rotiert die Erde um sich selbst, während ihr Selbst um die Sonne revoltiert. Kants kopernikanische Revolution der Philosophie orientiert sich an diesem Sinnbild und besagt bildlich gesprochen, dass der Mensch seinem Sein, um das er sich dreht, eine Bedeutung beimisst, die von dem Sinn, in dem dieses ursprünglich erscheint, streng zu unterscheiden ist. Kants Einschätzung bringt eine radikale Neubestimmung der Philosophie mit sich. Denn zufolge dieser Einschätzung kann die metaphysischen Suche nach der Bedeutung des Seienden nicht mit der ontologischen Bestimmung desselben beginnen, wie es in er Tradition vor Kant noch üblich war, die in der Ontologie den Grundstein für ein metaphysisches Lehrgebäude erblickte. Dieses revolutionäre Verständnis von Philosophie, das beim späten Levinas als Zustimmung zum kantisch-kopernikanischen Grundgedanken ausführlich dokumentiert ist, 243 ist in Levinas Frühschriften jedoch noch nicht zu finden. Dort begegnet Levinas Kant eher reserviert. 244 Mit zunehmender Distanzierung von Heideggers ontologischem Verständnis des Daseins gewinnt Kant in den Jahren zwischen 1951 und 1961 für Levinas schließlich an Bedeutung. Vor dem Jahr 1951, in dem Levinas’ kurze Abhandlung mit dem Titel Ist die Ontologie fundamental? erscheint, sind seine Ausführungen jedoch noch weitgehend an Heideggers ontologischem Verständnis des Daseins orientiert. So bewegt sich Levinas in Vom Sein zum Seienden Levinas, Ist die Ontologie fundamental?, ZU: 19. S. bspw. Levinas, GZ: 67–77, 196; Humanismus und An-archie, HAM: 82/ HAH: 82; JS: 287/AQ: 166; TU: 86, 270/TI: 36, 163; zu Kants Begriff einer kopernikanischen Revolution der Denkart in der Philosophie vgl. Kant, KrV: BXVI u. BXXII Anm. 244 Vgl. etwa Levinas, VS: 41, 64, 98, 121 ff./EE: 52, 86, 87 ff., 136 u. ders., ZA: 28/ TA: 33 f. 242 243

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von 1947 und Die Zeit und der Andere aus den Jahren 1946/47 noch sehr nah an den Grundlinien von Heideggers Sein und Zeit. Den Grundgedanken dieser beiden Arbeiten artikuliert er in unverkennbarer Replik an Heideggers Verständnis des Seienden aus Sein und Zeit, wonach dieses dadurch bestimmt ist, »[d]aß es ist und zu sein hat«. 245 In Vom Sein zum Seienden hält Levinas fest: Das ›Seiende‹ hat schon einen Vertrag geschlossen mit dem Sein. Man kann es nicht isolieren. Es ist. Es übt schon über das Sein eben die Herrschaft aus, die das Subjekt über sein Attribut ausübt. 246

Ähnlich wie das Dasein bei Heidegger ist das Seiende in dieser Szenerie gezwungen, das Sein als Subjekt zu übernehmen – es ist unentrinnbar jemand. 247 Das Ich steht hier am Ursprung all dessen, was ist, umfasst das Verb sein in allen Filiationen. In den Worten Wang Hengs: »[i]t has no competence to escape from itself and has to return to itself forever – existence turns into a kind of burden that cannot be evaded«. 248 Alles geschieht so, dass »[d]as Individuum […] voll und ganz Ich« bleibt. 249 Gegenüber diesem Ich hat die Zeit die untergeordnete Bedeutung, das ontologische Schema seines genuinen Ereignisses zu sein. Die Zeit, die sich dann ereignet, die Zeit, die schließlich ist, und von der in Levinas’ Worten eine »kantische Erfahrung« möglich ist, ist dagegen nur ein psychologisches Datum. 250 In diesem Kontext kommt Levinas dann auch auf die traditionellen Gegenständen der Metaphysik zu sprechen: Seele, Welt und Gott. Er führt aus, das Seiende empfange, um ein Ich zu werden und sich nicht in der Anonymität des Seins zu verlieren, die Differenz eines Innen zu einem Außen als Differenz zwischen Seele und Welt. 251 Ferner müsse es seiHeidegger, Sein und Zeit, GA 2: 134. Levinas, VS: 17/EE: 16; vgl. ders., TA: 34/ZA: 29. Bezeichnend ist in diesem Kontext auch Levinas’ Verwendung des Begriffs Hypostase, der auf das Griechische »ὑπόστασις« zurückgeht und unter anderem die Grundlage für einen rechtmäßigen Besitz – den Vertrag – bedeutet (vgl. Anm. 201). 247 Vgl. Levinas, VS: 39/EE: 49; vgl. hierzu Gelhard, Arrêt. Levinas’ frühe Philosophie der Zeit, bes. 250 f.; zu Levinas frühem dialektisch-ontologischem Zugang vgl. Levinas, ZA: 18/TA: 18. 248 Heng, Lévinas’s phenomenology of sensibility and time in his early period, 110 f. 249 Levinas, VS: 48/EE: 62; vgl. ders., VS: 104/EE: 144 u. ZA: 28 f./TA: 33 f. 250 Vgl. Levinas, VS: 41, 64, 98, 121 ff./EE: 52, 86, 87 ff., 136 u. ders., ZA: 28/TA: 33 f. 251 »Im ganzen abendländischen Idealismus bezieht sich Sein auf diese intentionale Bewegung eines Innen hin zu einem Außen. Das Sein ist das, was gedacht, gesehen, gehandelt, gewollt, gefühlt wird, das Objekt. So hat das Sein in der Welt immer eine 245 246

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ne Setzung als Anstrengung beziehungsweise als kreatürlichen Akt begreifen, seine »Unfähigkeit, sich im Sein zu bewahren«, aber als »Notwendigkeit, in jedem Augenblick auf die göttliche Wirkungskraft zurückzugreifen«. 252 Seele, Welt und Gott werden hier zwar nicht aus einem ontologischen Lehrgebäude deduziert, sind aber sehr wohl Teil der Seinsweise des Ich. 253 Levinas’ nähert sich damit der idealistischen These an, wonach diese drei Momente der menschlichen Seinsweise auf unsere Vorstellungswelt zurückzuführen sind. Aus dieser Annäherung macht Levinas auch kein Geheimnis. Er ergänzt nur, dass die »idealistische Deutung der Identität des ›Ich‹ […] die logische Idee der Identität losgelöst vom ontologischen Ereignis der Identifikation eines Seienden« benutze. 254 Wie Levinas an dieser Stelle verdeutlicht, ist das Grundproblem des Idealismus nach seiner Ansicht, nicht zu erkennen, dass die Identität des Ich – seine Vorstellungswelt, sein Bewusstsein, die Kategorien seines Denkens, der Name, den es trägt, etc. – nicht essentiell für dessen Seinsweise ist, die sich vielmehr durch die »Setzung eines Seienden inmitten des anonymen und einnehmenden Seins« auszeichnet. 255 Mit anderen Worten sind es nicht die Dinge, die wir gemeinsam haben und die uns vergleichbar machen, es ist nicht eine bestimmte Form der Identität, die wir teilen, sondern die Anstrengung, uns dieser Sphäre des anonymen Seins zu bemächtigen, die den Begriff des Ich auszeichnet. Die Unterscheidung zwischen logischer Idee der Identität und ontologischem Ereignis der Identifikation, auf die Levinas hier rekurriert, ist dabei aber unzureichend, um sich in dem von Levinas erhofften Maße von jener Form des Idealismus zu distanzieren, die er kritisiert. Denn das Ereignis der Identifikation des Seienden mit sich, so ein möglicher Einwand, setzt die ontologische Trennung desselben von sich voraus. Die Identifikation mit sich müsste demnach im Verhältnis auf die dafür konstitutive ontologische Trennung von sich als ein rein logisches Ereignis ohne ontologische Dignität angesehen werden. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist die Identifikation des Seienden mit sich und mit ihr schließlich auch die Konstitution des Mitte; es ist niemals anonym. Der Begriff der Seele, eines verhüllten Inneren ist konstitutiv für die Welt. […] Die Welt ist das, was uns gegeben ist. […] Gewiß, das Gegebene kommt nicht von uns, aber wir empfangen es.« (Levinas, VS: 45 f./EE: 58) 252 Levinas, VS: 92/EE: 129, vgl. zum Gottesbegriff ders., VS: 35, 73 f./EE: 43, 99. 253 Vgl. Levinas, VS: 17/EE: 15 f. 254 Levinas, VS: 107/EE: 149. 255 Levinas, VS: 107/EE: 149.

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Ich ein historisches und rein logisches Phänomen: Beides wäre nach der Trennung des Seienden von sich anzusetzen und könnte sich auch nur in ihrem Rahmen bewegen, ohne ihren ontologischen Status zu verändern. Die Identifikation des Seienden wäre entsprechend kein ontologisches Ereignis, wie Levinas gegen den von ihm kritisierten Idealismus stark macht, sondern nur eine logische Idee, was gerade derjenige Punkt ist, den er bestreitet. Im Ich, das sich immer schon in den Grenzen dieser Identifikation bewegt, müsste es dennoch so scheinen, als drehe sich alles nur um diese Identifikation mit sich selbst. Dieser Illusion könnte Levinas’ frühe Konzeption des Ich aus den Jahren zwischen 1946 und 1947 anheimgefallen sein. Und tatsächlich kommt er einige Jahre später scheinbar selbst zu diesem Schluss, wenn er in diesem Punkt plötzlich eine zu seinem Frühwerk völlig konträre Ansicht vertritt. So findet sich in Totalität und Unendlichkeit bereits ein ausgeprägtes Problembewusstsein für die eben dargestellten idealistischen Irrwege der Frühschriften Vom Sein zum Seienden und Die Zeit und der Andere aus den Jahren 1946/47: Daß die Vorstellung durch das Leben bedingt ist, daß aber diese Bedingtheit nachträglich umschlagen kann – daß der Idealismus eine immerwährende Versuchung darstellt –, liegt selbst am Geschehen der Trennung, die man keinen Augenblick als abstrakten Schnitt im Raum deuten darf. Gewiß zeigt die Tatsache der Nachträglichkeit, daß die Möglichkeit der konstituierenden Vorstellung nicht der abstrakten Ewigkeit oder dem Augenblick das Privileg zurückgewinnt, für jedes Ding das Maß zu sein; sie zeigt im Gegenteil, daß das Ereignis der Trennung an die Zeit gebunden ist, und sie zeigt sogar, daß sich daher die Artikulation der Trennung in der Zeit an sich selbst ereignet und nicht nur in zweiter Linie für uns. 256

Levinas beschreibt den Idealismus hier als »immerwährende Versuchung«, das Verhältnis von Leben und Vorstellung unrechtmäßig und zugunsten der Vorstellung zu invertieren. Indem die Vorstellung nach Levinas durch das Leben bedingt ist, ruht sie auf »einem fertig konstituierten Realen«, 257 dem sie sich gegenüberstellt und auf dessen Grundlage sie sich konstituiert. Weil sie sich dabei von dem eigenen Leben, auf dem sie beruht, als nachträgliche Vergegenwärtigung trennt und sich ihm gleichermaßen gegenüberstellt, konstituiert sie 256 Levinas, TU: 245/TI: 144. Vgl. für eine genauere Analyse dieser Textpassage sowie für den Begriff der Trennung bei Levinas das nachfolgende Kapitel »Das Jenseits des Seins und die Zeit«. 257 Levinas, TU: 245/TI: 144.

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sich zugleich als ein Ich, das sich seiner Natur entgegensetzt. 258 Für dieses Ich stellt der Idealismus eine »immerwährende Versuchung« dar, weil es sich seinem Leben vermittelst der Vorstellung zwar nachträglich, jedoch als ein konstitutives Moment gegenüberstellt und sich damit zumindest immanent als das je schon früher Seiende begreift. Im Blick auf das zeitliche Verhältnis des Lebens zu der ihm nachträglichen und für das Ich konstitutiven Vorstellung hat die Zeit in Levinas’ Totalität und Unendlichkeit demnach eine für das Ich grundlegende Rolle. Die Zeit ist konstitutiv für das Ich – ereignet sich, wie Levinas sagt, in erster Linie für das Ich, das heißt, um es möglich zu machen, und nicht in zweiter Linie für dasselbe, etwa so, dass sich ein Ich, das der Sache nach schon da wäre, in der Zeit selbst konstituiert. Das hat Levinas in den späten 1940er Jahren, wie hier gezeigt werden konnte, noch ganz anders gesehen. Zwischen 1940 und 1961 kommt es bei Levinas in diesem Punkt demnach zu einem radikalen Perspektivenwechsel, der Levinas dem Denken Kants sehr viel näher bringt als in der Forschung üblicherweise angenommen wird. So erinnert bereits Levinas’ hier soeben dargestellte Rede von einer sich aufdrängenden idealistischen Versuchung, die seine Schriften mit Beginn der 1950er Jahre vielerorts prägt, sehr an Kant: es scheint so, als ob sich das eigene Sein nach Bestimmungen der Vorstellungswelt richte, während und gerade weil dieselbe eigentlich zeitlich bedingt ist. 259 Eine ähnliche Überlegung stellt Kant bekanntermaßen in den Abschnitten über die Transzendentale Dialektik innerhalb seiner ersten Kritik an, worin Kant die Möglichkeit einer rein ontologischen Bestimmung des Seienden als eine vernunftimmanente Täuschung betrachtet, deren philosophische Darstellung mehr dazu dient, »Irrtümer abzuhalten, als Erkenntnis zu erweitern«. 260 Es ist daher nicht ganz unwahrscheinlich, dass die oben aus Levinas’ Spätwerk zitierte Textpassage, die thematisch um den Begriff einer immerwährenden idealistischen Versuchung kreist, ähn»Die Möglichkeit einer Vorstellung, die konstitutiv ist, aber schon auf dem Genuß eines fertig konstituierten Realen beruht, bezeichnet den radikalen Charakter der Entwurzelung dessen, der sich im Haus versammelt hat; im Haus stellt sich das Ich einer Natur gegenüber, obwohl es gleichzeitig in den Elementen badet.« (Levinas, TU: 245/TI: 144) 259 Vgl. zu dieser Thematik bei Kant vor allem Kant, KrV: »Widerlegung des Mendelssohnschen Beweises der Beharrlichkeit der Seele«. 260 Kant, KrV: A851/B879. 258

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lich weitreichende systematische Konsequenzen für Levinas’ Verständnis von Metaphysik einerseits und von Zeit andererseits birgt, wie sie dies dereinst bei Kant tat. Das liegt nicht zuletzt an dem darin enthaltenen Philosophem einer zeitlichen Trennung des Seienden von sich, der gegenüber die Identifikation des Seienden mit sich nachträglich und rein logischer Natur ist. Denn dieses Philosophem impliziert einen Begriff vom Denken qua Erinnerung oder nachträglicher Identifikation mit etwas, von dem es bereits absolut getrennt ist. 261 Es ist dies ein Denken, das immer später als seine Ursache ist, dem es aber, da es sich nachträglich als das eigentlich konstitutive Moment setzt, so scheint, als ob es seiner Ursache vorhergehe, welches Selbstverständnis aber das Verhältnis der chronologischen zur logischen Ordnung invertiert. Levinas hält hierzu fest: Daß es eine chronologische Ordnung im Unterschied zur ›logischen‹ Ordnung zu geben vermag, daß es in dem Vorgehen mehrere Momente geben kann, daß es ein Vorgehen gibt – eben das ist die Trennung. Dank der Zeit nämlich ist das Seiende noch nicht […]. Selbst seine Ursache, die älter ist als das Seiende, ist noch zu-künftig. Die Ursache des Seienden wird durch ihre Wirkung gedacht oder erkannt, als ob sie später wäre als ihre Wirkung. Man spricht leichthin von der Möglichkeit dieses ›Als-ob‹, als bezeichne sie nur eine Illusion. Indessen ist die Illusion nicht zufällig, sondern stellt ein positives Ereignis dar. Die Nachträglichkeit des Vorhergehenden – eine Umkehrung, die logisch absurd ist – ereignet sich nur, so könnte man sagen, kraft der Erinnerung oder kraft des Denkens. 262

Im Denken ist das Seiende bei Levinas demnach von dem, was ist, kraft der damit verbundenen Erinnerung getrennt. Es ist also von seinem Sein getrennt, wobei »sein« (essence) im Unterschied zu Sein (être) die Seinsweise des Seienden meint und nicht die Art, wie es sich dieselbe in der Erinnerung vergegenwärtigt. 263 In diesem Zusammenhang spricht Levinas auch von einer »ontologische[n] Trennung des Metaphysikers und des Metaphysischen«, 264 um darauf aufmerksam 261 Levinas schreibt in diesem Zusammenhang auch: »Das Ich ist […] die ursprüngliche Leistung der Identifikation« und »[d]as universale Denken ist ein ›Ich denke‹« (Levinas, TU: 40/TI: 6) – auch das erinnert sehr stark an Kant, bei dem die Vorstellung ›Ich denke‹ die reine Apperzeption ist (vgl. zu dieser Thematik Kant, KrV: »§ 16. Von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption«). 262 Levinas, TU: 68 f./TI: 25. 263 Vgl. zu dieser Unterscheidung die konzise Anmerkung des Übersetzers in Levinas, JS 17. 264 Levinas, TU: 69/TI: 25.

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zu machen, dass es einer solchen Trennung vom eigenen Sein bedarf, soll es möglich sein, über dessen Bedeutung zu sprechen und in diesem Sinne Metaphysik zu betreiben. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, kann vor diesem Hintergrund festgehalten werden, dass die Ontologie in Form der ontologischen Trennung in Levinas’ Spätwerk anders als in seinem Frühwerk eine uneinholbare Voraussetzung der Identifikation des Seienden mit sich selbst ist, die ihrerseits eine Leistung des Denkens ist. Im Zusammenhang der damit verbundenen »idealistischen Versuchung« zeigen sich schließlich erstaunliche Parallelen zum kantischen Gedankenhorizont: Dem »Ich denke« scheint es bei Levinas so, als ob es für seine Seinsweise konstitutiv wäre, denn im Verhältnis zu der ihm eigenen Seinsweise tritt es zwar erst nachträglich in Erscheinung, setzt sich jedoch als ein schlechthin konstitutives Moment, indem es sich mit derselben identifiziert. Ähnlich kann das Ich, sofern es denkt, bei Kant der Illusion anheimfallen, es sei nicht an die empirischen Bedingungen seiner Existenz gebunden, auf denen es bei genauerer Betrachtung jedoch immer schon aufbaut. 265 Zu beachten ist allerdings, dass der Idealismus bei Levinas anders als bei Kant nicht als eine »Illusion« auftritt, die gemeinsam mit den Formen unseres Denkens in Erscheinung treten kann, aber nicht muss, sondern als ein je schon konstitutives Moment des subjektiven Gedankenhorizonts. Kant präsentiert jene Form von Idealismus, die er im sogenannten Paralogismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft kritisiert, als einen natürlichen Fehlschluss des rein spekulativen Denkens, das versucht seine eigene Existenzweise zu bestimmen. Er sieht darin eine Illusion, die das Denken nur unter der Bedingung befällt, dass es sich in rein spekulative Gefilde begibt, um mittelbar über seine eigene Existenzweise zu urteilen. 266 Doch trotz dieser Differenzen treten die beiden Autoren der Möglichkeit einer rein ontologischen Bestimmung des Seienden gleichermaßen auf der Grundlage einer Idealismus-Kritik entgegnen, was die Vermutung naheliegt, dass Levinas sich in diesem Punkt, der einen entscheidenden Bruch mit seinem Frühwerk bedeutet, an Kant orientiert hat. 267 Ob diese Vermutung werkgeschichtlich gerechtferVgl. Kant, KrV, »Von den Paralogismen der reinen Vernunft«. Vgl. zu dieser Thematik auch die Ausführungen im vorausgehenden Kapitel. 267 Werkgeschichtlich gesehen gewinnt Kant und besonders die Transzendentale Dialektik seiner Kritik der reinen Vernunft in Levinas’ späten Schriften stark an Bedeutung (diese Ansicht teilt auch Fischer, Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden?, 49). In seiner Spätschrift Jenseits des Seins hebt Levinas besonders die Be265 266

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tigt ist, ist nur im Kontext der Kant-Rezeption in Levinas’ Spätwerk zu entscheiden, für die Kants Begriff einer kopernikanischer Revolution in der Philosophie zentral ist, an deren Grundzüge hier deshalb kurz erinnert werden soll. Bei Kopernikus dreht sich die Erde um sich und um die Sonne. Bildlich gesprochen dreht sich das Erkenntnissubjekt bei Kant um sein empirisches Dasein, das ihm in der sinnlichen Wahrnehmung gegeben ist und das seinerseits um ein Zentrum kreist, das dem Subjekt, dessen Anschauung nur die eigene, empirische Existenzweise in der Welt umfasst, so, wie es an sich selbst ist, unbekannt ist. Es erkennt die Welt vermittelst der sinnlichen Wahrnehmung seines empirischen Daseins in der Welt. Es kann aber weder seine eigene Seinsweise noch die Dinge außer ihm so erkennen, wie sie an sich und unabhängig von seiner sinnlichen Anschauung sind. Das, zumindest aus der Perspektive von Levinas, entscheidende Moment an Kants kopernikanischer Revolution der Philosophie ist nun, dass das Subjekt in der soeben dargelegten Szenerie die Welt, in die es ja immer schon eingebunden ist, nur dadurch erkennen kann, dass es in praktischer Hinsicht auch je schon nach ihren Regeln spielt. 268 Dass es die Gesetzmäßigkeiten der Welt theoretisch nur darum erkennen kann, weil es in praktischer Rücksicht bereits nach ihren Regeln spielt, 269

deutung von Kants Transzendentaler Dialektik hervor und kommt auf Kant auch im Kontext der Begriffe von Subjekt und Zeit zu sprechen (Levinas, JS: 37, 48 Anm. 10, 54/AQ: 10 f., 17 Anm. 10, 21). Sein Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit und seine Vorlesungsreihe zu Gott, der Tod und die Zeit orientieren sich dahingegen stark an Kants Trennung von phänomenalen und noumenalen Begriffen, die auch Kants Transzendentaler Dialektik zugrunde liegt (vgl. ders., TU: 86, 109, 192, 269 f./TI: 36, 51 f., 109, 162 f. u. GZ: 67–76, 196). Darüber hinaus betont Levinas mehrfach die enorme Bedeutung von Kants kopernikanischer Wende in der Philosophie (s. bspw. ders., GZ: 67–77, 196; Humanismus und An-archie, HAM: 82/HAH: 82; JS: 287/ AQ: 166; TU: 86, 270/TI: 36, 163). 268 Für Kants Veranschaulichung vgl. Kant, KrV: BXVI u. BXXII Anm.; vgl. hierzu auch die Anm. 26. 269 Dies zeichnet das Bild eines Subjekts, dessen Freiheit in der Übernahme eines Gesetzes besteht, dem es praktisch je schon unterworfen ist und das insofern eine moralische Dignität aufweist. An diesem Punkt zeigt sich eine gewisse Nähe von Kant und Levinas (vgl. hierzu Fischer, Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden?, 66). Vgl. dazu, dass das Subjekt je schon nach den Regeln dieser Welt spielt, auch Levinas: »Es muß also, damit die Wahrheit entsteht, die Aus-nahme der Innerlichkeit auf die ein oder andere Weise wiedereingeholt werden – es muß die Aus-nahme zur Regel zurückkehren – es muß im dargestellten Sein das Subjekt des Wissens sich wiederfinden und es müssen der Pulsschlag und das Atmen der ›Seele‹ zum Ganzen des Seins gehören oder zurückkehren.« (Levinas, JS: 74 f./AQ: 35). Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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bedeutet für Kant nämlich, dass sich die praktische Vernunft aufbauend auf der Gesetzmäßigkeit der phänomenalen Welt ihre eigene Bedeutung verschafft. Levinas zeigt sich an diesem kantischen Gedankengut in seinem Spätwerk überaus stark interessiert, folgert daraus etwas ganz anderes. Für ihn beinhaltet die Vorstellung eines vernünftigen Subjekts, das je schon nach den Regeln dieser Welt spielt, die Vorstellung, sich mit einer Bedeutung identifiziert zu haben, die einen selbst unendlich überschreitet und die gerade kein Produkt des eigenen Denkens, sondern die ethische Spur eines absolut Anderen ist. Kants kopernikanische Revolution führt bei Levinas auf diesem Weg zu einer primär ethischen Bestimmung der Bedeutung des vernünftigen Subjekts. Dies ist der Weg, den Levinas im Ausgang von Kants kopernikanischer Revolution der Philosophie beschreitet, 270 deren Kern nach seiner Ansicht das Primat der praktischen Vernunft ist. 271 Es ist ein Weg, auf dem er sich ausgehend von Kant von Heideggers rein ontologischer Bestimmung des Seienden distanziert und sich einem ethischen Projekt zuwendet. 272 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass beide, Kant und Levinas, ihre Zweifel an einem theoretischen Fundament der Philosophie und ihre Annahme eines Primats der praktischen Absicht der Vernunft vor ihrer theoretischen dadurch untermauern, dass es jederzeit möglich ist, die Grundmomente des eigenen Denkens skeptisch zu hinterfragen. 273 Diese Skepsis, die methodisch sein kann und 270 Vgl. zum Zusammenhang der kopernikanischen Revolution in der Philosophie und der Ethik als Erster Philosophie Levinas, Humanismus und An-archie, HAM: 82/HAH: 82; analog in: ders., GZ: 67–77, 196; JS: 287/AQ: 166 sowie Fischer, Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden?, 65 f. 271 Vgl. etwa Levinas, Le primat de la raison pure pratique/Das Primat der reinen praktischen Vernunft oder ders., JS: 138/AQ: 74. Fischer schreibt diesen Punkt betreffend: »Obgleich Kant sich in der Frage des Primats von theoretischer und praktischer Vernunft vorsichtig tastend bewegt, ist Levinas mit gutem Grund überzeugt, das Gesamtgebäude der Philosophie Kants mit seiner weitergehenden Interpretation des Primats sachgemäß ausgelegt zu haben.« (Fischer, Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden?, 57). 272 Vgl. hierzu Levinas’ Vorlesung »Die radikale Frage: Kant contra Heidegger« in: Levinas, GZ: 67–71. 273 Für Levinas vgl. JS: 34, bes. 192 Anm. 18, 358 ff./AQ: 9, bes. 108 Anm. 18, 210 ff., aber auch TU: 98, 244 f./TI: 44, 144; für Kant vgl. etwa Kant, KrV: A423 f./B451. Streng genommen ist bei Levinas nicht von einem Primat der praktischen vor der theoretischen Vernunft, sondern von einem Primat der Sprache vor der Vernunft zu sprechen. Dies wird im Kapitel »Das Jenseits des Seins und die Zeit« erörtert.

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grundsätzlich immer möglich ist, ist ihnen ein Beweis dafür, dass die Vernunft in der Praxis zwar als Faktum gegeben, doch theoretisch unbegründet ist. 274 Kant und Levinas eint in diesem Punkt also ein nach ihrer Ansicht berechtigter Zweifel an dem traditionell spekulativen Fundament der Metaphysik. Und doch sind die Wege, die sie im Ausgang davon beschreiten, verschieden. In seiner Kritik der Urteilskraft beschränkt Kant sowohl das Gebiet der theoretischen Philosophie als auch das der praktischen auf den Bereich der Faktizität der sinnlichen Wahrnehmung, den die Philosophie nach seiner Ansicht nach nicht verlassen darf und der ihr ein fester Boden ist, auf dem sie ein rein rationales Gebäude errichten kann. 275 Levinas aber sucht die Bedeutung des Faktums der Vernunft jenseits ihrer Konkretion im Subjekt, nämlich im absolut Anderen, er zeichnet das Bild einer Philosophie, die sich in einer unsicheren Lage befindet und gegen die Infragestellung durch den Anderen nicht gefeit ist. 276 Mehrfach weist er auf diese Differenz zu Kant hin und betont, dass sie nicht vernachlässigt werden dürfe und in der Philosophie den Unterscheid zwischen einem festen Boden und einer heiklen Lage mache. 277 Levinas geht über Kant hinaus, wo er die Bedeutung des Intelligiblen jenseits des Horizonts des vernünftigen Subjekts im absolut 274 Kants Rede davon, dass die praktische Vernunft jener Freiheit, die im theoretischen Bereich nur problematisch, das heißt vorausgesetzt ist, über das moralische Gesetz, das sie verwirklicht, allererst Realität verschafft, verdeutlicht diesen Gedanken (vgl. hierzu Kant, KpV, AA 05: 6). Denn die Vernunft ist demnach nur durch das Faktum der praktischen Vernunft begründet, theoretisch aber notwendig unbegründet, sodass »alle menschliche Einsicht zu Ende [ist], so bald wir zu Grundkräften oder Grundvermögen gelangt sind; denn deren Möglichkeit kann durch nichts begriffen, darf aber auch eben so wenig beliebig erdichtet und angenommen werden. Daher kann im theoretischen Gebrauch der Vernunft nur Erfahrung dazu berechtigen, sie anzunehmen.« (Kant, KpV, AA 05: 46 f.) 275 Vgl. hierzu auch das Kapitel »Der Urteils- und der Zeitdiskurs bei Kant und Levinas«. 276 Genauer dazu Norbert Fischer, Überlegungen zum systematischen Gang der Untersuchung in ›Totalité et Infini‹, in: Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas, hg. v. Norbert Fischer. Hamburg: Meiner 2013, 115–131. Fischer schreibt, Kant habe das moralische Gesetz zwar als Faktum der Vernunft angesehen, doch habe er nicht versucht zu rechtfertigen, warum dieses Faktum nicht nur denkbar, sondern darüber hinaus auch als wirklich anzunehmen ist. Ebendiesem Versuch einer Rechtfertigung sei Levinas im dritten Kapitel von Totalité et Inifini nachgegangen (vgl. ebd., 123 f. und Fischer, Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden?, 62). 277 Vgl. Levinas, Humanismus und An-archie, HAM: 82/HAH: 82; analog in: ders., GZ: 67–77, 196; JS: 287/AQ: 166.

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Anderen sucht, das er als eine andere Intelligenz versteht. 278 Er beschreitet einen Weg, der sich, wie oben gezeigt werden konnte, zwar mit Kants kopernikanischer Revolution vereinbaren lässt, den Kant aber nicht gewählt hat. Kant zieht aus seiner kopernikanischen Revolution der Philosophie wie gesagt die Konsequenz, dass das vernünftige Subjekt zwar an die Mechanismen der Wahrnehmung gebunden ist, in praktischer Rücksicht jedoch frei ist, sich eine davon unabhängige Bedeutung zu geben. 279 Levinas interpretiert diese Revolution so, dass die Bedeutung des vernünftigen Subjekts dessen eigenen Vorstellungshorizont übersteigt, was Kant deshalb bestreiten würde, weil die Reichweite dessen, worüber wir Gewissheit erlangen können, nach seiner Ansicht wie gesagt auf den Bereich der sinnlichen Wahrnehmungen und des darüber Gedachten begrenzt ist. Nur auf dem Gebiet der Faktizität der sinnlichen Wahrnehmung können wir nach Kant mithilfe des autonomen Denkvermögens Wahrheit finden, um uns zu kultivieren und eine moralischere Welt zu errichten. Nach Levinas ist es die Sprache, die die Möglichkeit bereithält, über den eigenen Vorstellungshorizont hinauszugehen und der ethischen Bedeutung der Intelligenz gerecht zu werden. 280 Die Metaphysik, indem sie danach trachtet, das Seiende in seiner Bedeutung zu verstehen, ist nach Levinas’ Einschätzung entsprechend im Gespräch zu suchen. Ähnlich wie Kant und anders als Heidegger in Sein und Zeit, an dessen Grundlinien sich Levinas’ Frühschriften noch bewegen, gibt Levinas der Philosophie damit eine Aufgabe, die der ontologischen Bestimmung des Seienden fern liegt. Levinas wendet sich in diesem Punkt mit Kant gegen Heidegger, von dem er sich distanziert, »ganz gleich wie groß auch immer die Schuld sein mag, in der 278 Zum Anderen als dem schlechthin Intelligiblen vgl. Levinas, TU: 39 f., 68 f., 149, bes. 299 ff./TI: 5 f., 24 f., 78, bes. 182 ff. 279 Somit werden die oben angesprochen Zweifel, die Kant an einem theoretischen Fundament der Philosophie hegt, dadurch aufgefangen, dass es der Vernunft zwar nicht möglich ist, die Welt in theoretischer, wohl aber in praktischer Absicht zu begründen und eine reine Verstandeswelt auf dem Boden der Sinnenwelt zu errichten. Fischer hält fest, dass Kant versucht, »das Versagen der theoretischen Vernunft im Blick auf die Gegenstände der Metaphysik mit einer praktisch fundierten Ontologie des Übersinnlichen wettzumachen« (Fischer, Kants Metaphysik der reinen praktischen Vernunft, 128). 280 In diesem Sinne hält Levinas fest: »Wenn das Von-Angesicht-zu-Angesicht die Sprache begründet, wenn das Antlitz die erste Bedeutung im Sein stiftet – dann dient die Sprache nicht nur der Vernunft, sondern ist die Vernunft.« (Levinas, TU: 300 f./ TI: 182)

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jeder zeitgenössische Denker Heidegger gegenüber steht – oft sehr ungern«. 281 Doch ähnlich wie Heidegger, der die Frage nach dem Dasein an den Anfang stellt, und anders als Kant, der mit einer erkenntnistheoretischen Frage ansetzt, sucht Levinas, indem er die Philosophie mit der Ethik beginnen lässt, nicht danach, was, sondern wer das Seiende ist. 282 Die Metaphysik ist nach Levinas in der Ethik zu suchen und verrät, wer das Seiende ist. 283 Hattrup bringt die Konsequenz auf den Punkt: »Wer keine Metaphysik betreiben will, betreibt die beliebigste!« 284 Von der hier besprochenen Nähe und Distanz zwischen Kant und Levinas ist jedenfalls das Folgende festzuhalten: Levinas vollzieht in seinen Spätschriften eine Wende, die sich an den Grundlinien von Kants kopernikanischer Revolution der Philosophie abarbeitet, deren Skepsis in Beziehung auf ein rein spekulatives Fundament der Philosophie teilt und in dieser Rücksicht auch eine ähnlich gelagerte Kritik am philosophischen Idealismus erhebt. Doch während Kant daraus die Konsequenz zieht, dass es die Aufgabe der praktischen Vernunft ist, sich in Anbetracht der in theoretischer Rücksicht in letzter Instanz bedeutungslosen Faktizität allererst eine Bedeutung zu verschaffen und sich somit dem Ideal eines rein vernünftig bestimmten Lebens anzunähern, interpretiert Levinas in seinen späten Schriften die kopernikanische Revolution der Philosophie dahingehend, dass die Bedeutung der vernünftigen Subjektivität jenseits ihres eigenen Vorstellungshorizontes im absolut Anderen begründet ist und insofern Levinas, GZ: 18. Vgl. zu dieser Fragestellung bei Heidegger bes. Der Begriff der Zeit (Vortrag 1924), GA 64: 125; vgl. zu Levinas’ Anlehnung an diese Fragestellung Levinas, GZ: 37. 283 Otto Pöggeler scheint deshalb zu weit zu gehen, wenn er Levinas so interpretiert, dass sich nach dessen Ansicht »[d]ie Gipfel der Metaphysik […] der Überwindung der Metaphysik [entziehen], die keine ist, da sie zu eng ansetzt, nämlich Sein und Identität über die Verschiedenheit stellt« (Pöggeler, Anderheit, Unendlichkeit, Zeit, 166). Denn Levinas wird sehr konkret, was die ethische Meisterschaft (vgl. etwa Levinas, TU: 394 f./TI: 247) und damit die Gipfel der Metaphysik angeht (vgl. etwa Levinas, TU: 109/TI: 51). 284 Fischer, Hattrup, Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen, 243. Hinzuweisen wäre in diesem Kontext noch auf eine gewisse Nähe zu Kant. Nach Kant ist der Mensch je schon dazu verpflichtet, sich moralische Gesetze zu geben und trägt in diesem Sinne immer schon eine Metaphysik der Sitten in sich, obgleich nur in der Form eines Imperativs (vgl. Kant, MS, AA 06: 216). 281 282

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eine ethische Dimension aufweist. An diesem Punkt zeigt sich nun, inwiefern Levinas’ Zeitkonzeption mit seiner Rezeption der kantischkopernikanischen Revolution der Philosophie in Verbindung steht. Wie hier gezeigt werden konnte, hat Levinas zunächst einen ontologisch bestimmten Begriff der Zeit im Blick. Spätestens seit seinem Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit von 1961 geht er jedoch davon aus, dass es unmöglich ist, einen ontologischen Begriff der Zeit zu bilden, und zwar, weil die logische Identifikation, die unsere Fähigkeit zu denken auszeichnet, auf dem zeitlichen Ereignis einer ontologischen Trennung von jener Bedeutung aufbaut, auf die sie als Fähigkeit zur Identifikation gerichtet ist. Gegenüber der Zeitigung der Zeit konstituiert sich unser Denken daher nicht nur nachträglich, sondern, indem es sich zugleich mit seiner vor-ursprünglichen Bedeutung identifiziert, als das scheinbar konstitutive Moment, sodass es die für seine Seinsweise ursprünglich konstitutive Ordnung der Zeit invertiert und damit zugleich verkennt. Mit anderen Worten ereignet sich die Zeit in Levinas’ Augen als ontologische Trennung des Seienden von seiner Bedeutung und ist insofern ethisch konnotiert, als sie auf einen absolut Anderen verweist, auf den diese Bedeutung zurückgeht. Mit dieser seinem Frühwerk entgegenstehenden Konzeption der Zeit entfernt sich Levinas nun nicht nur von Heideggers fundamentalontologischen Betrachtungsweise, sondern orientiert sich zugleich an Kant. 285 Denn Kant hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Bedeutung unserer zeitlich bedingten Seinsweise das eigene Denkvermögen in theoretischer Rücksicht in letzter Instanz absolut übersteigt, und daraus gefolgert, dass die praktische Vernunft gleichsam dazu verpflichtet ist, dem eigenen Sein allererst eine Bedeutung zu verschaffen. Bedenkt man nun, dass es sich hierbei in Kants Augen um eine rein moralische Bedeutung handelt, so wird daraus zugleich verständlich, inwiefern Levinas sich in seinem Bemühen, einen primär ethisch und gerade nicht ontologisch konnotierten Begriff der Zeit zu bilden, an Kant orientiert hat. 286 Doch für Kant muss sich das vernünftige Subjekt diese Bedeutung erst geben, die seine zeitlich be285 Vgl. zu Levinas’ Distanzierung von Heideggers fundamentalontologischen Projekt und zeitgleicher Orientierung an Kant den Abschnitt »Die Bedeutung der Verantwortung für die Zeit: die Vergangenheit« weiter unten. 286 Vgl. hierzu vor allem Levinas’ im Deutschen unter dem Titel Gott, der Tod und die Zeit erschienene Vorlesungsreihe, in der sich Levinas mit der Frage auseinandersetzt, wie ein primär ethischer Begriff der Zeit möglich ist und dabei »Kant contra Heideg-

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dingte Faktizität noch nicht enthält. Für Levinas bestimmt ein absolut Anderer die Bedeutung der menschlichen Seinsweise beziehungsweise der Menschlichkeit je schon von einem absoluten Außen her beziehungsweise aus dem Jenseits. 287 Anders als bei Kant ist das Zeitliche bei Levinas deshalb auch kein ästhetisches Phänomen der sinnlichen Wahrnehmung, sondern das Ereignis der Trennung der menschlichen Seinsweise von jenem absolut Anderen, der ihr immer schon eine Bedeutung verliehen hat. Was damit näherhin gemeint ist und wie Levinas’ Zeitkonzeption im Unterschied zu der kantischen zu verstehen ist, wird im folgenden Kapitel näher untersucht. Trotz der eben dargelegten Differenz zwischen Kant und Levinas ist die eingangs gestellte Frage, ob sich in Levinas’ späteren Schriften neben den bereits vielfach nachgewiesenen Einflüssen der praktischen Philosophie Kants auch Spuren von dessen theoretischer Philosophie finden, jedenfalls eindeutig zu bejahen. In diesem Kontext sind neben Kants kopernikanische Revolution in der Philosophie, auch sein Zweifel an einem spekulativen Fundament der Philosophie sowie seine Idealismuskritik zu nennen. Levinas Zeitbegriff wird ideengeschichtlich zumeist aus der Perspektive der phänomenologischen Tradition gesehen. Das geschieht mit Sicherheit, wie im Blick auf Heidegger auch angedeutet wurde, nicht zu Unrecht, lässt aber doch die Anleihen, die Levinas vor allem in seinen Spätschriften bei Kant nimmt, außen vor. Mit den vorliegenden Ausführungen sollte nachgewiesen werden, dass sich Levinas’ Kant-Rezeption in den Jahren zwischen 1946 und 1961 entscheidend verändert hat und dass dies mit dem Aufkommen eines ethischen Zeitbegriffs verbunden ist, der die Bedeutung des Menschen ins Zentrum stellt.

ger« liest, in: Levinas, GZ: 67–71 sowie das Kapitel »Das Jenseits des Seins und die Zeit«. 287 Vgl. hierzu: »Es [das Anders als sein, MB] heißt, die Möglichkeit einer – schmerzlichen – Trennung vom sein denken. […] Es wird daher zu zeigen sein, daß die Ausnahme des ›Anderen gegenüber dem Sein‹, jenseits des Nichtseins, die Subjektivität oder die Menschlichkeit bedeutet, das Sich, das die Vereinnahmung durch das sein ausschlägt.« (Levinas, JS: 35/AQ: 9; vgl. auch Levinas, TU: 167/TI: 92) Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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5. Das Jenseits des Seins und die Zeit bei Levinas

Levinas’ Zeitkonzeption ist Teil seines gesamtphilosophischen Projekts, die Ethik und die Verantwortung zum primären Agens unserer Erfahrungswelt zu erheben. Das vorliegende Kapitel soll in diesem Kontext der Frage nachgehen, wie sich Levinas mit seiner ethischen Zeitkonzeption zu Kant, aber auch zu Heidegger positioniert und welche Argumente er vorbringt, um deren Positionen von sich zu weisen. Der immanenten Logik von Levinas’ Zeitbegriff folgend wird dabei in drei Schritten vorgegangen: (1) zunächst wird auf Levinas’ Rede von einer »ethischen Vorzeitigkeit der Vergangenheit« 288 eingegangen und verdeutlicht, inwiefern die menschliche Art zu denken in Levinas’ Augen je schon mit einer Verantwortung verbunden ist, »die älter ist als der conatus der Substanz«. 289 Der entsprechende Abschnitt, der sich diesem Thema widmet, soll zudem darlegen, inwieweit Levinas, indem er die Zeitdimension der Vergangenheit schlechthin in Termen der Verantwortung beschreibt, mit Kant über Heidegger hinausgeht. (2) Darauf aufbauend wird schließlich untersucht, in welchem Maß die Selbstgegenwart aus Levinas’ Perspektive durch eine Bedeutung bestimmt ist, der sich der Mensch je schon beugen muss, und welche Rolle hierbei der Begriff der Geduld sowie (3) der Begriff des Wartens spielen, welcher letzterer eine ganz andere Zukunftsperspektive eröffnet als etwa der Begriff der Hoffnung bei Kant. Die Gesamtintention dieses Kapitels ist demnach, auf die wichtigsten Differenzen zwischen Kant und Levinas’ Zeitkonzeption aufmerksam zu machen, und dadurch eine kritische Revision von deren jeweiligen philosophischen Entwürfen vorzubereiten.

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Levinas, Diachronie und Repräsentation, ZU: 208 f. Levinas, Ohne Identität, HAM: 101/HAH: 99.

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Die Bedeutung der Verantwortung für die Zeit: die Vergangenheit

5.1. Die Bedeutung der Verantwortung für die Zeit: die Vergangenheit Die Frage nach einer adäquaten Beschreibung des Phänomens Zeit erlebt eine Blütephase in der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts. Nachdem Kant erwiesen hatte, dass die Zeit die Art ist, in der sich Bewusstseinsphänomene zeigen, und keine Eigenschaft irgendwelcher Dinge an sich, hörte die Zeit auf, als archimedischer Punkt zu gelten, auf dem die Welt an sich gegründet ist, wie dies etwa bei Newton noch der Fall war. Diese ideengeschichtliche Revolution und der Bedarf an neuen Orientierungsformen, den sie verursachte, könnten der Grund dafür gewesen sein, warum die Zeit in der an Kant anschließenden Tradition der Phänomenologie auf so vielfache Weise beschrieben wurde und ästhetische, ontologische, bewusstseinstheoretische, ethische und religiöse Dimensionen entfaltete. Kants Ansatz, der dies veranlasst hat, ist vergleichsweise reduktionistisch. Denn bei Kant ist der zeitliche Sinn, in dem ein Phänomen zunächst erscheint, von seiner Bedeutung getrennt, die ein Produkt des urteilenden Verstandes ist und keinen Zeitbedingungen untersteht. Auch die Bedeutung des Phänomens Mensch ist bei Kant auf diese Weise von den Zeitbedingungen getrennt. 290 Heidegger hält deshalb fest, dass »bei Kant die Zeit zwar ›subjektiv‹ ist, aber unverbunden ›neben‹ dem ›ich denke‹ steht«. 291 Levinas steht in der Tradition dieser Kritik Heideggers an Kant. Ähnlich wie Heidegger sucht Levinas die Bedeutung des Phänomens Zeit nämlich nicht in seiner Bedeutung für den erkennenden Verstand, sondern zeigt, inwiefern die Bedeutung des »Ich denke« selbst ein Phänomen der Zeit ist. Levinas orientiert sich jedoch auch an Kant, »um einen Sinn für das Menschliche zu finden, ohne es durch die Ontologie zu messen« (»trouver un sens à l’humain sans le mesurer par l’ontologie«), wie er sagt. 292 Dies markiert jenen Punkt, an dem er mit Kant über Heidegger hinausgeht, indem er die Bedeutung des Phänomens Mensch von seinem Dasein trennt. Diese ideengeschichtliche Konstellation ist schließlich der Hintergrund, vor dem Levinas die Zeit als ein Phänomen der Verantwortung beschreibt. Nach Levinas bedeuten Phänomene je schon »von der ›Welt‹ her und von der Position des Betrachtenden aus« (»[i]ls signifient à 290 291 292

Vgl. etwa Kant, KrV: A539/B567. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: 427. Levinas, Humanismus und An-archie, HAM: 82/HAH: 82.

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partir du ›monde‹ et de la position de celui qui regarde«). 293 Der Mensch, der als Betrachter in der Welt steht, verinnerlicht Phänomene, die von seiner Position aus, das heißt ausgehend von seiner Menschlichkeit bedeuten. Er konstituiert sich als Betrachter einer Welt, die bereits menschlich ist, und antwortet gewissermaßen immer schon auf die Bedeutung dieser Menschlichkeit, die ihn unendlich übersteigt. Die Menschlichkeit, die er in sich trägt, ist folglich nicht das Werk seiner selbst, sondern eines absolut Anderen, das er gleichwohl zum Zentrum seiner Seinsweise erhebt und damit auch eine Ver-antwortung übernimmt, zu der er sich nie entschieden hat, und die sich auf die Menschlichkeit in jedem Menschen richtet. 294 In diesem Sinne bestimmt Levinas den Menschen »i[n] Bezug auf eine Vergangenheit, die niemals Gegenwart war«, 295 und die als vorursprüngliche Dimension seiner Seinsweise im streng ontologischen Sinn nie gewesen ist. Dieses Philosophem, dessen Darstellung hier im Zentrum steht, markiert einen entscheidenden Unterschied zu den Konzeptionen von Kant und Heidegger und ist jener Punkt, der das Phänomen der Verantwortung bei Levinas zum Agens eines rein ethisch bestimmten Zeitbegriffs erhebt. In der Tat positioniert sich Levinas mit seinem Zeitbegriff explizit zwischen Kant und Heidegger. Im Folgenden soll deshalb auf Levinas’ starke Nähe zu Heidegger, die auch eine gewisse Nähe zu Husserl beinhaltet, und anschließend auf die Weise, in der Levinas »Kant 293 Levinas, Humanismus und An-archie, HAM: 13/HAH: 22. In diesem Sinne hält Levinas in Totalität und Unendlichkeit auch fest: »Die sinnliche Welt, die die Freiheit der Vorstellung überflutet, kündigt nicht das Scheitern der Freiheit an, sondern den Genuß einer Welt, die ›für mich‹ ist und mich schon befriedigt. Die Elemente empfangen den Menschen nicht wie ein Land des Exils, indem sie seine Freiheit demütigen und begrenzen. Das menschliche Seiende befindet sich nicht in einer absurden Welt, in die es geworfen wäre.« (Levinas, TU: 200/TI: 114) Anders als bei Kant hat die Sinnlichkeit bei Levinas keine Grenzfunktion – man denke etwa an die Achtung vor dem moralischen Gesetz, die den Menschen bei Kant auf einer sinnlichen Ebene demütigt, oder daran, dass die sinnliche Natur des Menschen bei Kant das Scheitern impliziert, vollkommen nach dem moralischen Vernunftgesetz handeln zu können –, und anders als bei Heidegger ist der Mensch bei Levinas auch nicht in die phänomenale Welt geworfen. Die Welt ist für ihn je schon von der Menschlichkeit durchdrungen. 294 Vgl. zu dieser Thematik bes. Levinas, Humanismus und An-archie, HAM: 76 ff./ HAH: 77 ff. 295 Levinas, Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit, ZU: 278. Levinas spricht in diesem Zusammenhang auch von einer »ethischen Vorzeitigkeit der Vergangenheit« und einer »unvordenklichen Vergangenheit« (ders., Diachronie und Repräsentation, ZU: 208 f.).

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contra Heidegger« liest, eingegangen werden. 296 Beides ist bei Levinas Teil einer intensiven Beschäftigung mit den philosophiegeschichtlichen Positionen zur Zeitthematik, mit denen er sich im letzten Jahr seiner regulären Vorlesungstätigkeit an der Sorbonne zwischen 1975 und 1976 auseinandersetzt. Die betreffenden Vorlesungen sind im Deutschen unter dem Titel Gott, der Tod und die Zeit erschienen. Auf ihnen soll ein Hauptaugenmerk liegen, da ihre ideengeschichtliche Ausrichtung ein selten klares Bild von Levinas’ Selbstverständnis, seine Position in der Philosophiegeschichte betreffend, vermittelt. Damit ist auch der werkgeschichtliche Rahmen, in dem Levinas’ Zeitkonzeption im Folgenden untersucht wird, annähernd klar umrissen: Die folgenden Erörterungen werden sich auf den späteren Zeitabschnitt in Levinas’ Leben konzentrieren, in welchem er mit Kant über Husserl und Heidegger hinausgeht, und fokussieren daher die Zeit nach dem Erscheinen von Levinas’ Schrift Ist die Ontologie fundamental von 1951, in der eine erste Annäherung an Kant zu einer Distanzierung von Heidegger führt. Thematisch setzen sie bei Heideggers Sein und Zeit an und führen über Kant zum Begriff der Verantwortung bei Levinas. Was also bedeutet Zeit in Heideggers Schrift Sein und Zeit, auf die sich Levinas besonders bezieht? Zunächst ist zu bemerken, dass Heidegger Zeit aus dem Vorlaufen des Daseins auf den Tod versteht, wobei er mit Dasein bekanntermaßen die Geworfenheit eines Seienden in seine Existenz meint, in der es je schon befangen ist, und insofern »[d]aß es ist und zu sein hat«. 297 Einem Seienden, das wie das Dasein zu sein hat, ist seine Existenz nach Heidegger überantwortet, und es sorgt sich darum. »Daß«, wie Heidegger festhält, »es ist und zu sein hat«, bedeutet folglich, dass das Dasein sich in einer Welt befindet, in der es seine Existenz qua Sorge als eine Möglichkeit übernimmt, die ihm überantwortet ist. Dies unterscheidet es auch von seiner eigenen Existenz: Qua Sorge legt es seine Existenz hermeneutisch als eine Möglichkeit aus, sich zu entwerfen. Dieser hermeneutische Auslegungscharakter zeigt das Dasein als ein Seinkönnen, das sein Sein versteht und im Entwurf ontologisch auslegt. Heidegger fasst dies in Sein und Zeit folgendermaßen zusammen:

296 Vgl. die Vorlesung, die Levinas am 6. Februar 1976 zu dieser Thematik gehalten hat, in Levinas, GZ: 67–71, »Die radikale Frage: Kant contra Heidegger«. 297 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: 134.

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Das Dasein bestimmt sich als Seiendes je aus einer Möglichkeit, die es ist und d. h. zugleich in seinem Sein irgendwie versteht. 298 Verstehen ist das Sein solchen Seinkönnens, das nie als Noch-nicht-vorhandenes aussteht, sondern als wesenhaft nie Vorhandenes mit dem Sein des Daseins im Sinne der Existenz ›ist‹. 299

An diesem Punkt, darauf soll hier bereits aufmerksam gemacht werden, ist die Kluft zwischen Heidegger und Kant besonders groß. Denn nach Kant sind Dasein und Denken bekanntermaßen streng zu trennen, da das eigene Dasein der Zeit nach zuerst empirisch gegeben sein muss, um vom Denken, das sich darauf in der Form des Urteils bezieht, überhaupt verstanden werden zu können. 300 Dies soll hier zunächst einmal nur festgehalten werden, um darauf zurückzukommen, wenn es an der Zeit ist zu zeigen, wie Levinas sich mit Kant gegen Heidegger wendet. Heidegger fasst das Dasein jedenfalls als Seinsverstehen, das sich hermeneutisch auslegt und insofern »in die Seinsart des Entwerfens geworfen« ist. 301 Das Dasein zeigt sich hier als ein Vorlaufen in die eigene Möglichkeit: es ist seine eigene Zukunft, indem es seine Existenz je schon im Entwurf übernimmt, wodurch es darüber hinaus auf seine Gegenwart und Vergangenheit zurückkommt. Das Vorlaufen, in dem das Dasein seine Existenz als eine Möglichkeit übernimmt, verleiht diesem Seienden somit erst einen zeitlichen Sinn, das heißt, so Heidegger, dieses »Zukünftigsein gibt Zeit«, und »[a]uf die Zeit gesehen besagt das: das Grundphänomen der Zeit ist die Zukunft«. 302 Die Zukunft, um die es Heidegger dabei geht, darauf ist hier ferner aufmerksam zu machen, endet natürlich nicht mit der je konkreten Möglichkeit, die zur Existenz gebracht wurde. Denn die fragliche Zukunft meint ja je das Überschreiten der Existenz, die das Dasein im Entwurf als eigene Möglichkeit übernimmt. Diese Art Zukunft endet nicht mit einer inneren Möglichkeit, die erreicht werden könnte, ihr Ende ist eine »äußerste Möglichkeit«. 303 Dem Dasein, dem es »in sei298 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: 43. In Bezug auf den Menschen: »Dasein als menschliches Leben ist primär Möglichsein, das Sein der Möglichkeit des gewissen und dabei unbestimmten Vorbei.« (Heidegger, Der Begriff der Zeit (Vortrag 1924), GA 64: 116) 299 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: 144. 300 Vgl. hierzu die einschlägigen Passagen in Kant, KrV: B1, B157 Anm. u. B410. 301 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: 145. 302 Heidegger, Der Begriff der Zeit (Vortrag 1924), GA 64: 118. 303 Heidegger, Der Begriff der Zeit (Vortrag 1924), GA 64: 116 u. ders., Sein und Zeit, GA 2: 254.

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nem Sein um dieses Sein selbst geht«, 304 steht als »äußerste Möglichkeit« nun das Ende seines Seins bevor, denn es übernimmt seine Existenz im Entwurf ja je zu einem Ende hin und ist damit zugleich in diese Seinsart zu einem Ende hin geworfen. Das Dasein ist bei Heidegger demnach als »Sein zum Ende« bestimmt. 305 Dieses Ende ist nach seiner Ansicht der Tod, der dem Dasein, das zu einem Ende hin existiert und diese Seinsart, in die es geworfen ist, im Entwurf übernimmt, je schon bevorsteht und der es als ein »Vorlaufen in den Tod« auszeichnet. Heidegger sieht im Tod jene Seinsmöglichkeit, die das Dasein als »Sein zum Ende« im Entwurf seiner eigenen Existenz übernimmt. Vor diesem Hintergrund hält er in Sein und Zeit dann fest: Der Tod ist die Seinsmöglichkeit, die je das Dasein selbst zu übernehmen hat. Mit dem Tod steht sich das Dasein selbst in seinem eigensten Seinkönnen bevor. […] Der Tod ist die Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit. So enthüllt sich der Tod als die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit. Als solche ist er ein ausgezeichneter Bevorstand. Dessen existenziale Möglichkeit gründet darin, daß das Dasein ihm selbst wesenhaft erschlossen ist und zwar in der Weise des Sich-vorweg. 306

Der Tod ist bei Heidegger zufolge dieser Textpassage demnach als äußerste Möglichkeit jene Zukunft, die dem Dasein je schon bevorsteht, das seine Existenz als »Sein zum Ende« übernimmt. Diese Zukunft aber war es, die, wie hier weiter gezeigt wurde, das Seiende bei Heidegger allererst zum Dasein macht und ihm den zeitlichen Sinn verleiht, seine eigene Zukunft zu sein. Somit können im Blick auf den Zeitbegriff bei Heidegger folgende Grundzüge festgehalten werden: Heidegger bestimmt das zeitlich Seiende als Dasein. Er stellt also nicht die übliche und gewöhnliche Frage, was Zeit ist, sondern »Wer ist die Zeit?«. 307 Die Antwort lautet bei Heidegger: das Dasein ist die Zeit. Die Seinsart dieses zeitlichen Seienden bestimmt Heidegger dann als ein »Vorlaufen in den Tod«. Heidegger denkt die Zeit demnach ausgehend vom Tod.

Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: 12. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: 145 u. 245. 306 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: 250 f. 307 Heidegger, Der Begriff der Zeit (Vortrag 1924), GA 64: 125; vgl. zur Frage nach dem »Wer« der Existenz bei Heidegger auch ders., Sein und Zeit, GA 2: 267; vgl. hierzu Levinas, GZ: 37. 304 305

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Was unterscheidet Heidegger nun in diesem Punkt von Kant? Hier ist zunächst auf Heideggers eigene Einschätzung hinzuweisen, die unabhängig von der Frage, welcher der beiden Autoren die besseren Argumente für seine Position ausweisen kann, ihre Gültigkeit hat und in Sein und Zeit mehrfach dokumentiert ist, nämlich dass »bei Kant die Zeit zwar ›subjektiv‹ ist, aber unverbunden ›neben‹ dem ›ich denke‹ steht«. 308 Näherhin kritisiert Heidegger an Kant, er habe die Zeit zu einem isolierten Phänomen reiner Innerlichkeit gemacht, das er zwar als »Fußpunkt« und »Boden«, jedoch nicht als ursprüngliches Phänomen unseres In-der-Welt-seins betrachte. 309 Mit dieser Einschätzung greift Heidegger nicht ganz daneben. So verfolgt Kant im Unterschied zu Heidegger einen transzendentalphilosophischen Ansatz zur Bestimmung des Zeitbegriffs. Dabei geht er von der Annahme aus, dass Erkenntnis nur unter der Bedingung möglich ist, dass ein Phänomen je zuerst als Anschauung erscheinen muss, bevor es begrifflich verstanden und als Erfahrung erkannt werden kann. 310 Dies ist nach Kant die einzige Art, in der dem Menschen eine Erkenntnis möglich ist: diskursiv fortschreitend von der Anschauung zum Begriff und nicht auf eine ursprüngliche Weise qua »intellektueller Anschauung«. 311 Kant geht aber noch weiter, denn er vertritt ferner die Ansicht, dass grundsätzlich alle Phänomene nacheinander erscheinen müssen und dass dabei jedes derselben gedacht werden können muss, soll Erkenntnis prinzipiell möglich sein. Dabei hat er offenbar die nach seiner Ansicht strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit der Erkenntnis vor Augen. So müssen die Phänomene, die der Verstand nacheinander erkennt, ihrerseits je nacheinander erscheinen, soll die diskursive Art, sie zu erkennen, in Beziehung auf ihren Gegenstand tatsächlich von streng allgemeiner und notwendiger Gültigkeit sein. Schließlich muss noch jedes dieser Phänomene vom »Ich denke« begleitet werden können, soll es möglich sein, ihren durchgängig bestimmten Zusammenhang auch zu erkennen. In diesem Kontext formuliert Kant im Blick auf die sinnlich phänomenale Welt den transzendentalen Grundsatz: »Sie [die Zeit, MB] hat nur Eine Martin Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: 427. Martin Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: 204 f. 310 Kant vertritt in der Kritik der reinen Vernunft entsprechend die Überzeugung, dass »der Zeit nach […] keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher[geht]«, wenngleich dies nicht ausschließt, dass es eine »von der Erfahrung und selbst von allen Eindrücken der Sinne unabhängiges Erkenntnis« gibt (Kant, KrV: B1). 311 Vgl. Kant, KrV: B72. 308 309

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Dimension: verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nacheinander«. 312 Im Bereich der transzendentalen Logik zeigt er dann, wie jedes der nacheinander erscheinenden Phänomene auch gedacht werden können muss, und bezieht sich auf die numerische Identität von vorstellendem und denkendem Subjekt: Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was garnicht [sic!] gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt als: die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein. 313

Kant unterscheidet bei alledem implizit streng zwischen dem zeitlichen Sinn, in dem eine Vorstellung erscheint, und ihrer Bedeutung im erkennenden Verstand: Der zeitliche Sinn, in dem sich eine Vorstellung als Phänomen zeigt, ist wie gesagt an ein strenges Nacheinander gebunden – die Art, in der ihre Bedeutung gedacht wird, nämlich sie begleitend, ist hingegen durch Gleichzeitigkeit bestimmt. Daraus ergibt sich eine inverse Ordnung des Sinns, in dem Phänomene zunächst im zeitlichen Nacheinander erscheinen, und ihrer Bedeutung, die ihnen vom Denken im Modus der Gleichzeitigkeit beigemessen wird. Diese inverse Ordnung spiegelt sich bei Kant in dessen strenger Trennung zwischen den reinen Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes sowie in der Frage nach deren Vermittlung wider. Es ist im Blick auf diese Vermittlung, dass Kant alle »Handlungen des Verstandes auf Urteile zurück[führt]«, 314 die als Vorstellungen zwar in denselben Erscheinungszusammenhang eingebunden sind wie die sinnlichen Phänomene, 315 auf die sie sich beziehen, deren Lauf jedoch prädikativ bestimmen können. Die Verstandeshandlungen sind bei Kant daher zwar in die zeitliche Ordnung der Phänomene eingebunden, können diese Ordnung jedoch vermittelst des Urteils theoretisch oder praktisch bestimmen, um sie zu kultivieren oder, was auf das gleiche hinauskommt, um ihnen eine Richtung zu geben. 316 312 Kant, KrV: A31/B47; Kant macht erst in der B-Auflage der Kritik der reinen Vernunft darauf aufmerksam, dass es sich dabei um einen transzendentalen Grundsatz handelt vgl. Kant, KrV: B48 f. 313 Kant, KrV: B131 f. 314 Kant, KrV: B94. 315 Bei Kant ist die Zeit die Form des inneren Sinns, in dem alle Vorstellungen erscheinen und den Kant daher auch den Inbegriff aller Vorstellungen nennt (vgl. Kant, KrV: A177/B220 u. A155/B194). 316 Vgl. zu dieser Thematik bes. den Abschnitt »Der Urteils- und der Zeitdiskurs bei Kant und Levinas«.

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Im Blick auf Kants Bestimmung des Zeitbegriffs kann somit festgehalten werden, dass Kant streng zwischen dem zeitlichen Sinn, in dem Phänomene sich zeigen, und ihrer Bedeutung im erkennenden Verstand unterscheidet. Eine Folge daraus, die für Levinas von entscheidender Bedeutung ist, ist Kants entsprechend scharfe Trennung zwischen dem phänomenal zeitlichen Dasein und der noumenal zeitlosen Bedeutung des Menschen im reinen Verstand, die einer inversen Ordnung angehören. Heideggers Zeitbegriff ist als direkter Gegenentwurf zu verstehen. Denn, wie hier gezeigt werden konnte, ist das Phänomen des Daseins als ein Sein zu einem Ende hin bei Heidegger zwar ähnlich wie bei Kant zeitlich bestimmt, aber vollkommen anders als bei Kant ist es vom Verstehen, das seine eigene Existenz hermeneutisch auslegt, nicht zu trennen. In Heideggers Augen steht die Zeit bei Kant deshalb auch »›neben‹ dem ›ich denke‹«. 317 Levinas positioniert sich dazwischen: von Heidegger übernimmt er die zeitliche Dimensionierung des Verstehens, von Kant aber die Daseinsunabhängigkeit der Bedeutung des Menschen. Levinas sieht den Menschen in der ethisch-religiösen Spur einer Bedeutung, die seinem endlichen Dasein vorausgeht und es überdauert – eine Bedeutung, die im Blick auf die Seinsart des Menschen »eine Vergangenheit [ist], die niemals Gegenwart war«. 318 Was das bedeutet und inwiefern Levinas sich mit Kant gegen Heidegger wendet, ist nun noch genauer zu untersuchen. Inwiefern bestimmt Levinas den Zeitbegriff nun ethisch und inwiefern bezieht er sich dabei auf Heidegger und Kant? Um dieser Frage nachzugehen, wird im Folgenden wie bereits angekündigt vorwiegend auf Levinas’ Vorlesungen zum Thema Gott, der Tod und die Zeit, die im Deutschen unter dem gleichnamigen Titel erschienen sind, Bezug genommen. Diese Vorlesungen haben eine stark ideengeschichtliche Ausrichtung und zeichnen ein selten klares Bild von Levinas’ philosophiegeschichtlicher Positionierung. Levinas geht in diesen Vorlesungen seinem philosophischen Werdegang entsprechend von Heidegger aus, um mit Kant in Richtung auf eine Ethik als Erste Philosophie über Heidegger hinauszugehen. Levinas Haupt-

Martin Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: 427. Levinas, Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit, ZU: 278; vgl. Eni Schonfeld: »For Lévinas, the trace articulates transcendence as a past. The other appears as a trace of something that has always already past.« (Schonfeld, Philosophical Present and Responsible Present, 205)

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kritikpunkt an Heidegger betrifft dabei die Bedeutung, die dieser in Sein und Zeit dem Tod beimisst. Nach Heidegger ist der Tod, wie oben gezeigt werden konnte, die äußerste und eigenste Möglichkeit, die das Dasein, das seine Existenz als »Sein zum Ende« übernimmt, auszeichnet. Ferner ist der Tod in dieser Szenerie, in der das Dasein seine eigene Existenz im Entwurf je schon als ein »Sein zum Ende« übernimmt, das einzige, was restlos gewiss ist beziehungsweise die Gewissheit schlechthin. Levinas bestreitet nun, dass der Tod des Menschen die Bedeutung des Endes des je eigenen Daseins hat. 319 Anders als Heidegger vertritt er die Ansicht, dass unsere Beziehung zum Tod nicht durch die Angst vor dem je eigenen Tod, sondern wesentlich durch die Erfahrung des Todes des Anderen bestimmt ist. Der Tod des Anderen erschüttert unser Sein nach Levinas auf eine Art, die auf einen Bereich jenseits unserer eigenen Endlichkeit verweist. Er schreibt: Meine Beziehung zum Tod beschränkt sich nicht auf dieses Wissen aus zweiter Hand [die Erfahrung des Todes Anderer, MB]. Für Heidegger (vergleiche *Sein und Zeit) ist er die Gewissheit schlechthin. Es gibt ein a priori des Todes. Heidegger bezeichnet den Tod als so gewiß, daß er in dieser Gewißheit des Todes den Ursprung der Gewißheit selbst sieht, und er weigert sich diese Gewißheit aus der Erfahrung des Todes Anderer zu beziehen. Es ist jedoch nicht sicher, daß der Tod als Gewißheit bezeichnet werden kann, ebensowenig wie sicher ist, daß er die Bedeutung von Vernichtung hat. Meine Beziehung zum Tod ist ebenso aus dem emotionalen intellektuellen Widerhall entstanden, den das Wissen um den Tod Anderer auslöst. Diese Beziehung steht aber in einem Mißverhältnis zu jeglicher Erfahrung aus zweiter Hand. 320

Für Levinas ist eben nicht sicher, dass der Tod die Bedeutung der Vernichtung hat, und zwar gerade deshalb, weil nicht sicher ist, dass der Tod den je eigenen Tod meint und nicht etwa den des Anderen, der über die Grenzen der eigenen, endlichen Existenz hinausgeht. Der Punkt, an dem Levinas’ Kritik an Heidegger einsetzt, ist das Bild des

319 Levinas denkt den Tod vom Tod des Anderen her und sieht darin eine primordial ethische Bedeutung: »Der Sinn des Todes nimmt seinen Anfang zwischen den Menschen. Die Bedeutung des Todes liegt, primordial, in der Nähe des anderen Menschen, oder in der Gemeinschaft.« (Levinas, Vom Einen zum Anderen. Transzendenz und Zeit, ZU: 183) Vgl. für eine frühe Form der Kritik an Heideggers Todesbegriff auch ders., TU: 344/TI: 212. 320 Levinas, GZ: 19 f.

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endlichen Menschen, das Heidegger zeichnet. 321 Um das zu verstehen, ist nun ein Blick auf den größeren Zusammenhang von Levinas Heidegger-Kritik in Gott, der Tod und die Zeit notwendig. Argumentativ entgegnet Levinas Heidegger in dieser Schrift vor allem, dass ein Seiendes, das dadurch bestimmt ist, dass es ist und zu sein hat, allenfalls in zweiter Linie durch die Sorge um sich bestimmt ist, in der es seine Faktizität hermeneutisch auslegt, in erster Linie jedoch dadurch, dass es infrage steht. Denn, indem es seine Seinsweise hermeneutisch auslegt, führt es einen Dialog mit sich selbst. Ein Dialog aber wird nach Levinas nicht aus der Faktizität des Gesprochenen und aus dem Sinn seines Daseins, sondern nur aus einer Bedeutung, die infrage steht, verständlich. Mit anderen Worten: Einen Dialog zu führen macht nur dann einen Sinn, wenn noch nicht alles beschlossen ist und ein Fragen noch möglich ist. 322 Der Sinn des Dialogs liegt demnach jenseits des Gesprochenen, nämlich dort, worauf die Frage verweist, das ist, im absolut Anderen oder dem Gesprächspartner, der jederzeit in das Gespräch eingreifen kann, um das Gesagte infrage zu stellen. 323 Anders gesagt muss der Dialog, den das Seiende mit sich führt, nach Levinas von einem absolut Anderen her gedacht werden, der diese Seinsweise infrage stellt und ihr eine Bedeutung verleiht. 324 321 Dies ist der Kern seiner Kritik an der ganzen nachkantischen Philosophie: »Demnach bleibt von Anfang bis Ende die Ontologie, das Verständnis des Seins und des Nichts, die Quelle allen Sinns. Das Unendliche (dem sich das Denken möglicherweise in der Diachronie, der Geduld und der Ausdauer der Zeit nähert) wird durch diese Analyse niemals nahegelegt. Seit Kant ist die Philosophie Endlichkeit ohne Unendliches.« (Levinas, GZ: 46) 322 Levinas macht darauf aufmerksam, dass er im Unterschied zu Kant nach der transzendenten Bedeutung des diskursiven Denkens sucht (vgl. Levinas, TU: 281/TI: 170). Hierbei orientiert er sich an Descartes’ dritter Meditation und spricht von »eine[m] Standpunkt außerhalb seiner selbst«, »von dem aus es [das Denken, MB] sich erfassen kann« (ders., TU: 304–306/TI: 186 f.; vgl. Descartes, Meditationes de Prima Philosophia, AT 07: 45 u. 52). Vor diesem Hintergrund hält er schließlich fest: »Die ganze vorliegende Arbeit [Totalität und Unendlichkeit, MB] hat nur eine Bemühung, das Geistige gemäß dieser cartesischen Ordnung darzustellen; sie geht der sokratischen Ordnung [der Ordnung des inneren Diskurses, MB] voraus.« (Levinas, TU: 262/ TI: 155). 323 In diesem Sinne führt Levinas den inneren Diskurs und das damit verbundene Selbstbewusstsein, welche die menschliche Seinsweise bestimmen, in Jenseits des Seins auf ein Sagen vor dem Gesagten zurück und damit zugleich den Dialog, den der Mensch mit sich selbst führt und der sein Selbst auszeichnet, auf das der-Einefür-den-Anderen (vgl. hierzu vor allem den Abschnitt »Die Reduktion« in: Levinas, JS: 106–110/AQ: 56–58; vgl. hierzu auch Esterbauer, Transzendenz-»Relation«, 74). 324 Vgl. zu diesem Argument bes. Levinas, GZ: 52 f. u. 124 f. An anderer Stelle

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Dies ist der Kern von Levinas’ Kritik, Heidegger interessiere nicht die Bedeutung, sondern nur die Faktizität des Seienden. 325 Levinas macht gegen Heidegger die Differenz von faktischer Seinsweise und Bedeutung des Seienden respektive des Menschen stark. 326 Diese Unterscheidung, die ihn von Heidegger entfernt, ist zugleich derjenige Punkt, an dem Levinas’ Projekt einer Ethik als Erster Philosophie sich der kantischen Philosophie annähert. Denn, wie hier gezeigt werden konnte, unterscheidet Kant zwischen dem zeitlichen Sinn, in dem sich ein Phänomen zunächst zeigt, und seiner späteren Bedeutung im erkennenden Verstand. Damit legt er den Grundstein für eine kritische Revision der traditionellen Metaphysik. Denn zufolge dieser Unterscheidung ist eine rein ontologische Bestimmung des Seienden nicht möglich, weil das Seiende, das verstanden wird – das Phänomen –, an sich von seiner Bedeutung je schon getrennt ist. Die Ontologie, die in der traditionellen Metaphysik die Erste Philosophie qua metaphysica generalis bildete, wird bei Kant vor diesem Hintergrund von der Transzendentalphilosophie abgelöst. Was Levinas an Kants Ansatz nun besonders interessiert, ist, dass er damit den Blick für Ideen öffnet, die keinen Bezug auf das Sein haben. Indem sich der Verstand bei Kant nachträglich zu dem Phänomen, das er prädikativ bestimmt, konstituiert, setzt er sich demselben nämlich je schon in der Form eines Urteils entgegen, das von dessen zeitlicher Seinsweise abstrahiert und ihr eine logische Ordnung ent-

schreibt Levinas dementsprechend auch: »[d]er Sinn ist unmöglich, wenn ein Ich der Ausgangspunkt ist, das, wie Heidegger sagt, derart existiert, ›daß es ihm in seinem Sein um dieses Sein selbst geht‹«. (Levinas, Die Bedeutung und der Sinn, HAM: 32/ HAH: 40) 325 »Heidegger interessiert sich nicht für die Bedeutung menschlichen Existierens als solches [sic!]. Das Menschliche taucht in seinen Überlegungen nur auf, insofern das Sein im Epos des Seins in der Frage steht. Das *Sein steht beim Menschen in der Frage, und der Mensch ist notwendig, weil das Sein in der Frage steht. Der Mensch ist eine Modalität des Seins. Das *Dasein ist die Tatsache selbst, daß das Sein in der Frage steht.« (Levinas, GZ: 43) 326 Diese Bedeutung ist, wie sich noch herausstellen wird, ethischer Art, sodass Stephan Strasser in diesem Kontext zu Recht festhält: »Dies ist der eigentliche Grund, warum sich Levinas gegen Heidegger wendet. Fundamentalontologie – Verstehen und Erfassen von Sein – kann nicht erste Philosophie sein, und zwar nicht darum, weil jede Definition von Sein bereits Seinsverständnis voraussetzt, sondern darum, weil das Verstehen von Sein in seiner Allgemeinheit meine Beziehung zum Anderen nicht fundiert. Das Umgekehrte ist der Fall: diese liegt jener zugrunde.« (Strasser, Jenseits von Sein und Zeit, 29) Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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gegenstellt. 327 Für den Verstand, der in einem mittelbaren Urteil oder Schluss über sich selbst urteilt, muss das die Illusion erwecken, er sei seinem Dasein nach nicht auf die Zeitbedingungen eingeschränkt. 328 Im Rahmen dieser Illusion erheben sich bei Kant schließlich Fragen, auf die keine Antwort gefunden werden kann, darunter: Ob die Welt, die gedacht wird, der Zeit unterliegt oder wie das Unbedingte zu denken ist. Beides sind Fragen, die Kant in der Transzendentalen Dialektik seiner Kritik der reinen Vernunft verhandelt und die wir vermittelst des uns gegebenen Erkenntnisvermögens nach seiner Ansicht nicht beantworten können. Denn die Natur, der sich der Verstand bei Kant in Form eines Urteils entgegensetzt, ist zeitlich bedingt, mithin ist er selbst implizit je schon auf einen zeitlich bedingten Gegenstand bezogen und kann also weder etwas außerhalb der Bedingungen der Zeit noch etwas ganz und gar Unbedingtes denken. Deshalb leiten diese Fragen geradeswegs in rein spekulative Vernunftgebäude ohne jeden Grund und Boden, werden jedoch von einem Schein ummantelt, der »darin besteht, daß der subjektive Grund des Urteils für objektiv gehalten wird«, 329 das heißt, dass die Abstraktionsleistung des Verstandes in seinen Urteilen mittelbar als Beweis dafür angesehen wird, dass der Verstand den Bedingungen der Zeit nicht unterworfen sei. Gleichwohl, und das gilt es festzuhalten, öffnet Kant, indem er von Illusionen eines reinen Denkens spricht, die von unserer Seinsweise abstrahieren, den philosophischen Blick für Bedeutungen, die keinen Bezug auf das Sein haben. Dass es solche Bedeutungen gibt, ist derjenige Punkt, den Levinas mit Kant gegen Heidegger stark macht. Daß Bedeutung ohne Bezug auf das Sein bedeuten kann, ohne Rückgriff auf das Sein, Verständnis des gegebenen Seins, ist im übrigen der große Beitrag der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft. 330

327 Vgl. zur Unterscheidung von chronologischer und logischer Ordnung bei Kant bes. Kant, KrV: B1 f.; zur Bestimmung des Denkens als Urteilsvermögen, das zuletzt auf die phänomenale Wirklichkeit bezogen ist, ebd., B94 u. B136. 328 Vgl. hierzu Kant, KrV, »Von den Paralogismen der reinen Vernunft«, B399–432 sowie näherhin Kants Rede von einer Verwechslung der »mögliche[n] Abstraktion von meiner empirisch bestimmten Existenz mit dem vermeinten Bewußtsein einer abgesondert möglichen Existenz meines denkenden Selbst« in Kant, KrV: B427 und die auf diesem Paralogismus der Sache nach aufbauende Besprechung des »Ersten Widerstreits der transzendentalen Ideen« in ebd., A426/B454–A 433/B461. 329 Kant, Prol, AA 04: 328. 330 Levinas, GZ: 70.

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Anders als Heidegger geht Levinas, wie weiter oben dargelegt werden konnte, nun davon aus, Bedeutungen dieser Art, die das Sein übersteigen, seien konstitutiv für die Seinsweise des Menschen. Erneut nimmt er sich hier Kant zum Vorbild, sieht dabei jedoch vor allem auf die praktische Philosophie desselben – ein kurzer Blick darauf wird nun zeigen, warum. Kant vertritt in seiner Kritik der praktischen Vernunft die Ansicht, dass sich jeder Mensch in moralischen Situationen bewusst werden kann, anders sein zu sollen, als er unmittelbar ist. 331 Dieses Bewusstsein lässt den Menschen nach Kant die eigene Freiheit erkennen, als eine Freiheit von der eigenen, empirischen Seinsweise, aber auch als eine Freiheit zu einer anderen, nämlich moralischen Seinsweise. 332 Das macht den Menschen schließlich mit der moralischen Verbindlichkeit vertraut, sich von den Gesetzen seiner Natur zu lösen, um eine menschlichere Welt zu errichten. Er [der Mensch, MB] urteilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre. 333

In der praktischen Philosophie Kants spiegelt sich somit wider, was er in seiner theoretischen Philosophie bereits freigelegt hat. Die dortige Trennung zwischen dem Sein, das gedacht wird, und seiner reinen Bedeutung im urteilenden Verstand tritt hier als Differenz der sinn331 Dies ist ein wesentliches Moment von Kants Philosophie, dass sie das Bewusstsein für die moralische Verpflichtung nicht auf einer spekulativen Erkenntnis, sondern auf der Erfahrung moralisch relevanter Situationen gründet. Vgl. dazu Norbert Fischer, Zur Kritik der Vernunfterkenntnis bei Kant und Levinas. Die Idee des transzendentalen Ideals und das Problem der Totalität, in: Kant-Studien 90/2 (1999), 168–190, 186 f. 332 Entsprechend hält Kant in einer berühmten Passage seiner Kritik der praktischen Vernunft fest, »daß die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei. Denn, wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist (ob diese gleich sich nicht widerspricht), anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein.« (Kant, KpV, AA 05: 4 Anm.) – Kant nennt das moralische Gesetz vor diesem Hintergrund auch ein »Faktum der reinen Vernunft«, weil es zugleich mit der Vernunft gegeben ist (Kant, KpV, AA 05: 31). 333 Kant, KpV, AA 05: 30. In dem Sinne, in welchem dem Menschen die eigene Freiheit nach Kant nur durch das moralische Gesetz und damit in der Form der kategorischen Verpflichtung bewusst wird, stehen demselben nur Handlungen zur Beförderung der allgemeinen Freiheit, nicht aber die Freiheit selbst zur Verfügung (vgl. dazu Fischer, Zur Kritik der Vernunfterkenntnis bei Kant und Levinas, 184).

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lichen Bedürfnisse und der moralischen Pflicht auf, die teils aus der Natur, teils aus der Freiheit des Menschen entspringen. Und hier wie dort abstrahiert der Mensch im Urteil von seinem Sein und konstituiert dadurch einen Bereich des reinen Denkens – dort, um seine Seinsweise theoretisch zu verstehen, und hier, um sie praktisch nach seinen Zwecken zu gestalten. Die praktische Vernunft, die bei Kant jenes Gebiet bestreitet, in welchem das reine Denken nach eigenen, moralischen Zwecken agiert, ist auf natürliche Bedürfnisse bezogen, von denen sie abstrahiert, ohne sie dadurch zu negieren. 334 Sie zielt von vorherein darauf ab, die streng getrennten Bereiche der Moralität und der Glückseligkeit, welche letztere bei Kant der Befriedigung der sinnlichen Bedürfnisse entspringt, in Einklang zu bringen und nimmt je schon an, beides ließe sich in einem höchsten Gut vereinen. Ob und wie aber ein solches unbedingtes Gut möglich ist, kann der Mensch nach Kant theoretisch nicht begreifen, da ihm ein theoretischer Fortschritt zum Unbedingten wie gesagt nicht möglich ist. Die Annahme ist also rein praktischer Natur, mithin nur Postulat. Kant führt drei solcher Postulate an, die je ein Moment der Unbedingtheit in sich tragen, das alle Theorie übersteigt: Gott, der die bereits angesprochene Einheit von Moralität und Glückseligkeit garantiert, die Unsterblichkeit der Seele, die notwendig ist, um seine endliche Natur unendlich an die reine Moralität anzunähern, und die Freiheit, die allererst möglich macht, sein Handeln danach auszurichten. 335 Die drei Postulate sind der praktischen Vernunft immanent, und zwar, ohne dass, was dadurch geschieht, theoretisch jemals erkannt werden könnte. Sie leiten den Menschen also in Form einer reinen Hoffnung, das höchste Gut zu erreichen, weit über seine endliche Natur hinaus. 336 334 Bedürfnisse sind bei Kant sinnliche Phänomene und sinnliche Phänomene erscheinen nach seiner Ansicht insgesamt in der Form der Zeit. Indem die praktische Vernunft bei Kant zum Zweck der Moralität von der Gesamtheit dieser Phänomene abstrahiert, abstrahiert sie also von den Bedingungen der Zeit. Diese Abstraktion, die für die praktische Vernunft des Menschen bei Kant konstitutiv ist, beschränkt aber gleichwohl deren moralische Bestrebungen auf den Boden ebenjener Phänomene, von denen sie abstrahiert. Einen Willen, der anders als der menschliche nicht auf die Zeitbedingungen eingeschränkt ist, nennt Kant vor diesem Hintergrund einen heiligen Willen (vgl. Kant, KpV, AA 05: 122 f.). 335 Vgl. Kant, KpV, »Die Unsterblichkeit der Seele, als ein Postulat der praktischen Vernunft«, »Das Dasein Gottes, als ein Postulat der praktischen Vernunft« u. »Über die Postulate der reinen praktischen Vernunft überhaupt«, AA 05: 122–134. 336 Zum Begriff der Hoffnung im Kontext der Postulate vgl. Kant, KpV, AA 05: 123 Anm. u. 128–132.

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Jene Trennung zwischen der empirischen Seinsweise und der vernunftgewirkten Bedeutung, die Kant in seiner theoretischen Philosophie freilegt, mündet in seiner praktischen Philosophie demnach in eine vernunftgemäße Hoffnung, die die Endlichkeit des Menschen übersteigt. Levinas, der sich, wie hier gezeigt werden konnte, in der Frage, ob dieserart Bedeutungen möglich sind, die das Sein des Menschen übersteigen und zugleich dafür konstitutiv sind, mit Kant von Heidegger distanziert, hält fest: Die praktische Philosophie Kants zeigt, daß die Heideggersche Reduktion nicht zwingend ist. Daß es in der Philosophiegeschichte eine andere Bedeutung als die Endlichkeit geben kann. 337 Man bewahrt vom Kantischen Denken einen Sinn, der nicht von einer Beziehung zum Sein diktiert wird. Nicht zufällig kommt dieser Bezug aus einer Moral […] und nicht zufällig stellt diese Weise, einen Sinn jenseits des Seins zu denken, die Konsequenz einer Ethik dar. 338

Levinas sieht in Kant also jenen Protagonisten der Philosophiegeschichte, der zeigt, dass es möglich ist, sich von Heideggers Konzentration auf die Endlichkeit des Daseins zu lösen. Er steht jedoch weiterhin in Heideggers Schuld, wenngleich, wie er sagt, nur »sehr ungern«, 339 und es sind sogar die Spuren Heideggers, die ihn wieder ein stückweit von Kant entfernen. Denn ähnlich wie Heidegger, nach dessen Ansicht die Zeit bei Kant »›neben‹ dem ›ich denke‹ steht«, 340 moniert auch Levinas, dass das Denken bei Kant nicht zeitlich bestimmt ist. 341 Zur Erinnerung: Levinas argumentiert, dass der Mensch je schon einen Dialog mit sich selbst führe und dass er vor diesem Hintergrund nicht auf das Selbst, das er sei, reduziert werden dürfe, sondern von einem absolut Anderen her gedacht werden müsse, der ihn infrage stelle. 342 Der Andere ist bei Levinas jene Bedeutung beziehungsweise jener »sinngebende[] Gehalt«, 343 der für den Dialog des Seienden mit sich selbst konstitutiv ist. Er verleiht seiner SeinsLevinas, GZ: 76. Levinas, GZ: 71. 339 Levinas, GZ: 18. 340 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: 427. 341 Vgl. hierzu die Ausführungen weiter unten. 342 Vgl. hierzu die Ausführungen weiter oben und die Anm. 344 weiter unten. 343 Levinas spricht in einem ähnlichen Kontext auch von einem »sinngebenden Gehalt«, der der Form voraus ist (vgl. Levinas, Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit, ZU: 277) 337 338

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weise die Bedeutung eines unendlichen Rätsels und einer nie endenden Frage, zu der das Seiende, das einen Dialog mit sich selbst führt, stets aufs Neue erwacht. 344 Der Mensch steht bei Levinas demzufolge je schon in der Spur einer Bedeutung, die ihn absolut übersteigt. Diese Bedeutung ist jedoch kein Produkt seiner reinen Vernunft wie bei Kant. Im Gegenteil: während die Vernunft bei Kant dem endlichen Dasein eine unendliche Bedeutung entgegensetzt, trägt das endliche Dasein diese Bedeutung bei Levinas je schon in sich, »die älter ist als der conatus der Substanz«. 345 Das Denken ist bei Levinas also insofern zeitlich bestimmt, als es eine Vergangenheit hat, aus der seine Bedeutung kommt und die »eine Vergangenheit [ist], die niemals Gegenwart war«. 346 Dass Levinas das Denken zeitlich bestimmt, entfernt ihn von Kant und rückt ihn in die Nähe von Heidegger. Es zeigt aber auch, dass jene Bedeutung, die das Sein überschreitet und prägt, die er bei Kant im Begriff der Hoffnung findet und gegen Heidegger stark macht, sich nach seiner Ansicht in der Zeit erfüllt und nicht wie bei Kant durch ein Denken bestimmt ist, das von den Bedingungen der Zeit gerade abstrahiert. Auf diese Differenz zu Kant weist Levinas auch selbst ausdrücklich hin: Wenn sich die vernunftgemäße Hoffnung erfüllen müßte, würde das heißen, daß die Unsterblichkeit eine zeitliche Erfüllung hätte, erkannt im Modus des Phänomens – aber ein solcher Kontakt mit dem Absoluten wird durch die Kritik der reinen Vernunft ausgeschlossen. Die vernunftgemäße Hoffnung ist Hoffnung, die sich nicht mit der Hoffnung in der Zeit vergleichen lässt. 347

Kants Begriff einer Hoffnung, die von den Bedingungen der Zeit abstrahiert, stellt Levinas den Begriff des Wartens gegenüber. Der 344 Vgl. zur »Iteration des Erwachens« bei Levinas, GZ: 32, 39 u. 122 f., ferner auch ders., JS: 313/AQ: 182, dazu die »Rekurrenz des Sich« in ders., JS: 247/AQ: 142. Zum Dialog der Seele mit sich selbst, »der erst aufgrund der Frage nach dem Anderen möglich ist« vgl. ders., GZ: 52; zum Verhältnis zwischen »der Frage der Frage« und dem Dialog der Seele mit sich selbst beziehungsweise mit dem »Andere[m]-im-Selben« ders., JS: 67 ff./AQ: 31 f.; zur dialogischen Struktur der Egoität, die den absolut Anderen als Gesprächspartner voraussetzt, ders., JS: 263–268, 283 f. inkl. Anm./ AQ: 151–153, 163 f. inkl. Anm.; ders., TU: 144/TI: 74 f. sowie ders., Diachronie und Repräsentation, ZU: 199. 345 Levinas, Ohne Identität, HAM: 101/HAH: 99. 346 Levinas, Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit, ZU: 278. 347 Levinas, GZ: 77; Kant schreibt, dass sich die Hoffnung der praktischen Vernunft »niemals hier, oder in irgend einem absehlichen künftigen Zeitpunkte seines Daseins« erfülle (Kant, KpV, AA 05: 123 f.).

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Mensch hofft nach seiner Ansicht nicht wie bei Kant auf ein vernunftgemäßes höchstes Gut, das er in der Zeit doch niemals erreichen kann, sondern er wartet auf eine Bedeutung, die für seine zeitliche Seinsweise je schon konstitutiv ist. Mit dem Begriff des Wartens kennzeichnet Levinas den Bezug zum absolut Anderen, der, wie hier gezeigt werden konnte, den Dialog des Menschen mit sich selbst bestimmt, indem er seinem Sein die Bedeutung eines Rätsels beziehungsweise einer Frage verleiht, zu der der Mensch unaufhörlich erwacht und die ihm dadurch eine Vergangenheit und eine Dauer verleiht. Das Warten bedeutet bei Levinas, dass sich der Mensch in seiner Zeitlichkeit nicht wie bei Kant in Richtung auf ein höchstes Gut bewegt, das außer der Zeit steht, oder wie bei Heidegger auf einen Tod vorläuft, mit dem auch die Zeit endet. Das Warten richtet sich an den absolut Anderen, der das Sein des Menschen zu einer Frage erhebt, die zwar ein Rätsel bleibt, aber dem Menschen, dessen Seinsweise je schon darauf antwortet, eine Vergangenheit und eine Dauer verleiht, die über die Endlichkeit seines Seins hinausreichen. Das Warten ist bei Levinas deshalb der Bezug »zu dem, was nicht kommen kann, nicht weil das Erwarten vergeblich wäre, sondern weil das Erwartete zu groß für das Erwarten ist«. 348 Mit anderen Worten steht das zeitlich Seiende oder der Mensch bei Levinas also im Bezug zu einem Anderen, der für seine je endliche Seinsweise konstitutiv ist, selbst aber unendlich ist und gegenüber dem Diesseits der menschlichen Existenz ein unvorstellbares Jenseits bedeutet, das aus einer Vergangenheit kommt, »die niemals Gegenwart war«. 349 Die Art, in der der Mensch bei Levinas ob dieser vor-ursprünglichen Vergangenheit andauert, ergibt sich aus seinem Bezug zu Gott und ist als ein »[g]eduldiges Warten«, als »Geduld und Ertragen des Unmaßes, Zu-Gott, Zeit als Zu-Gott« 350 zu beschreiben. Die religiöse Dimension, die der Zeit bei Levinas dadurch zukommt, öffnet aber auch den Blick auf eine uneingeschränkte Verantwortung für die Menschlichkeit in sich und seinen Nächsten. Im Dialog mit sich selbst, der bei Levinas, wie hier gezeigt werden konnte, die endliche Seinsweise des Menschen prägt und sie gesamtgesehen zu einem Rätsel oder einer reinen Frage erhebt, trägt der einzelne Mensch nämlich eine Vergangenheit in sich, die konstitutiv ist für 348 349 350

Levinas, GZ: 78. Levinas, Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit, ZU: 278. Levinas, GZ: 126; vgl. zu dieser Thematik bes. auch Levinas, GZ: 28 f.

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sein Selbst. 351 Der einzelne Mensch präsentiert sich bei Levinas somit als ein Selbst, das sich einer höheren Bedeutung beugen muss, die zugleich der Kern seiner Menschlichkeit ist. Seine Menschlichkeit ist nicht sein eigenes Werk. Er hat sie je schon übernommen und damit eine Bedeutung verinnerlicht, die ihn absolut überschreitet, und in ihm die Spur einer Verantwortung für die Menschlichkeit schlechthin hinterlässt. 352 Jene Vergangenheit, »die niemals Gegenwart war« 353, ist folglich als Verantwortung zu beschreiben, die der Mensch gegenüber der Menschlichkeit hat – »Vergangenheit, die nicht auf die Gegenwart zurückzuführen ist, welches jenes ethische Zuvor der Verantwortung für den Anderen […] sagen will«. 354 Doch obgleich sie nicht gegenwärtig ist und das theoretische Denken ihr deshalb nicht Rechnung tragen kann, 355 lässt sie sich beschreiben, und zwar deshalb, weil ihre Bedeutung im Bereich des Zwischenmenschlichen und der Sprache liegt. 356 Hieran ist Levinas im Ausgang von Kant und Heidegger gelegen, wenn er versucht, die Zeit als Phänomen der Verantwortung deskriptiv zu fassen. Es kann festgehalten werden, dass die ethische Verantwortung, die den Menschen bei Levinas in eine Beziehung zu Gott bringt und seiner Bedeutung eine religiöse Spur verleiht, für die menschliche Seinsweise konstitutiv ist und ihr eine Dauer verleiht, die über ihre Endlichkeit hinausgeht. Um dieses Philosophem lebensweltlich zu untermauern, macht Levinas auf die Trauerarbeit und die Verantwortung der Überlebenden aufmerksam, die dem Tod eine Bedeutung 351 Vgl. hierzu den sehr lesenswerten Aufsatz von Christian Rößner, Philosophie als Passion. Das gebrochene Denken von Emmanuel Levinas, in: Rundbrief 30 (2007), 2– 5. 352 Vgl. bes. Levinas, GZ: 30 f. u. 126 f. Vgl. auch: »Vom Grund des selbstverständlichen Beharrens im Sein eines Seienden, das seines Rechts zu sein gewiß ist, aus dem Herzen der ursprünglichen Identität des Ich – und gegen dieses Beharren, gegen diese Identität – regt sich, erwacht angesehen des Antlitzes des Anderen, eine Verantwortung für den Anderen, der ich jedoch schon geweiht war vor jedem Gelübde, bevor ich mir selbst präsent war oder zu mir (zurück) kam« (ders., Vom Einen zum Anderen. Transzendenz und Zeit, ZU: 187). 353 Levinas, Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit, ZU: 278. 354 Levinas, Vom Einen zum Anderen. Transzendenz und Zeit, ZU: 188. 355 Levinas stellt die Frage: »ist der Dialog der Seele mit sich selbst nicht erst aufgrund der Frage nach dem Anderen möglich, auch wenn das theoretische Denken in seinem Ablauf dieser Dimension nicht Rechnung trägt?« (Levinas, GZ: 52) 356 Vgl. zu dieser methodischen Frage Levinas JS: 32 f., 258 Anm. 19, 266/AQ: 8, 149 Anm. 19, 153.

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verleihen, die über die endliche Existenz hinausdauert. 357 Hierauf soll nun noch eingegangen werden, um Levinas’ außergewöhnliche Perspektive auf die Zeitthematik zu verdeutlichen und auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, die sich daraus ergeben. Die Trauerarbeit und die Verantwortung der Überlebenden zeigen nach Levinas’ Ansicht, dass der Tod nicht das Ende bedeutet, sondern das Ende einen Tod, der im Bereich der Verantwortung der Überlebenden liegt. Anders als Heidegger präsentiert Levinas den Tod des Anderen als Zentrum des menschlichen Seins. Der Tod des Andern ist genau genommen jenes Moment, wofür der Mensch bei Levinas die Verantwortung übernimmt, indem er eine Verantwortung für die Menschlichkeit übernommen hat, die über das Ende der menschlichen Existenz hinausgeht 358 – jene Verantwortung also, die nach Levinas, wie weiter oben gezeigt werden konnte, das Selbst des Menschen bestimmt: Der Tod, den das Ende bedeutet, kann nur dann die ganze Tragweite des Todes ermessen, wenn er zur Verantwortung für den Anderen wird – durch die man in Wirklichkeit man selbst wird: In dieser unübertragbaren, nicht delegierbaren Verantwortung wird man man selbst. Ich bin für den Tod des Anderen in einem solchen Maße verantwortlich, daß ich mich in den Tod einbeziehe. Vielleicht wird das in einer akzeptableren Aussage deutlich: ›Ich bin für den Anderen verantwortlich, insofern er sterblich ist.‹ Der Tod des Anderen ist der erste Tod. 359

357 Vgl. hierzu vor allem Levinas’ Lektüre derjenigen Passagen von Hegels Phänomenologie des Geistes, die die Bedeutung des Todes thematisieren, in Levinas, GZ: 90– 98; vgl. dazu Hegel, Phänomenologie des Geistes, TWA 03: 228 ff. 358 »Das Ich als Geisel des anderen Menschen, aufgerufen eben zur Verantwortung gegenüber diesem Tod. Verantwortung für den Anderen im Ich, unabhängig von jeder von diesem Ich jemals eingegangenen Verpflichtung und von allem, was jemals in der Reichweite seiner Initiative und seiner Freiheit lag« (Levinas, Diachronie und Repräsentation, ZU: 204). 359 Levinas, GZ: 52 f. An anderer Stelle schreibt Levinas: »Das Ende ist lediglich ein Moment des Todes – ein Moment, dessen andere Seite nicht das Bewußtsein oder das Verstehen, sondern die Frage darstellt; Frage unterschieden von all jenen, die als Probleme vorgelegt werden.« (ebd., 24) Dies verdeutlicht nochmals, dass nach Levinas, »nicht sicher [ist], daß der Tod als Gewißheit bezeichnet werden kann, ebensowenig wie sicher ist, daß er die Bedeutung von Vernichtung hat« (ebd., 20), denn es zeigt, dass die Beziehung zum Tod nach Levinas durch das Rätsel, das ein endliches Daseins aufgibt, bestimmt ist. Ferner verdeutlicht es, dass der Kern der Menschlichkeit das Fassungsvermögen des menschlichen Selbst übersteigt, was zu einer Verantwortung für die Menschlichkeit führt, die nicht auf die Endlichkeit des je eigenen Daseins beschränkt ist. Dadurch gewinnt der Tod des Anderen immens an Bedeutung (vgl. hierzu ebd., GZ: 28 f. u. ders., Vom Einen zum Anderen. Transzendenz und Zeit,

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Die Verantwortung von der Levinas spricht und die aus einer Vergangenheit kommt, »die niemals Gegenwart war«, 360 ist also die Verantwortung beziehungsweise die »Schuld der Überlebenden« 361 im Blick auf die Menschlichkeit schlechthin und damit auch »Teilhabe an der Geschichte der Menschheit, an der Vergangenheit der Anderen«. 362 Diese Verantwortung gibt dem Menschen bei Levinas erst seine zeitliche Komponente, indem sie ihm eine Vergangenheit und Dauer verleiht, die über die Endlichkeit seiner Existenz hinausgehen. 363 Das wirft vor allem die Frage auf, ob es bei Levinas einen Ausweg aus der Verantwortung und der ethischen Dimension der Zeit gibt. Diese Frage ist entschieden zu verneinen, zeigt aber gleichwohl die Stoßrichtung an, in die eine kritische Lektüre von Levinas’ Ausführungen zum Zeitbegriff gehen kann. Ähnlich wie Heidegger möchte auch Levinas die Menschlichkeit als ein einheitliches Phänomen bestimmen, in dem die Bereiche des Denkens und der Zeit nicht getrennt sind. Zugleich insistiert er aber wie Kant auf einer Bedeutung dieser Menschlichkeit, die der Mensch unweigerlich in sich trägt, die jedoch nicht sein eigenes Werk ist und der er vollkommen passiv ausgeliefert ist. Diese Bedeutung beschreibt Levinas dann in Dimensionen der Verantwortung. Entsprechend seiner Orientierung an der einheitlichen Bestimmung des Menschen bei Heidegger und an dessen ethischer BedeuZU: 182 f.; vgl. auch ders., TU: 70–74/TI: 26–29, wo Levinas im Kontext des Todes bereits von einem »Geheimnis« spricht). 360 Levinas, Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit, ZU: 278; vgl. auch ders., Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe, ZU: 156 f. 361 Levinas, GZ: 22 – im Detail: »Mein Betroffensein durch den Tod des Anderen macht gerade meine Beziehung zu meinem Tod aus. In meiner Beziehung, meinem Mich-Beugen vor jemandem, der nicht mehr antwortet, ist diese Affektion bereits Schuld – Schuld der Überlebenden.« 362 Levinas, Vom Einen zum Anderen. Transzendenz und Zeit, ZU: 188. Diese Teilhabe an einer Vergangenheit, die niemals Gegenwart war, ist nicht durch den Akt einer Freiheit geleitet, sondern geht ihr voraus. Sie ist daher »nicht-intentionale Teilnahme an der Menschheitsgeschichte, an der Vergangenheit der Anderen, die mich ›angeht‹« (ders., Diachronie und Repräsentation, ZU: 209). 363 Vgl. Stephan Strasser, der zeigt, wie der endliche Wille bei Levinas trotz seiner Sterblichkeit von Dauer sein kann und einen Sinn erlangen kann: »Der Wille, dessen Schwerpunkt nicht mehr mit dem meines Ich zusammenfällt, nimmt dann die Züge eines metaphysischen Verlangens an. Denn der Wille, der einerseits seinem Ende entgegeneilt, andererseits das Ende immer wieder aufschiebt, hat Zeit, für den Anderen da zu sein. Er ist sinnvoll trotz seiner Sterblichkeit.« (Strasser, Jenseits von Sein und Zeit, 130)

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tung bei Kant hält Levinas fest: »Betont werden muß die Einheit der Ethik dieser Unterwerfung unter ein Gebot, das die Verantwortung für den anderen Menschen gebietet«. 364 Man kann sich aus meiner Perspektive fragen, ob dem nicht ein versteckter Anthropomorphismus zugrunde liegt. Denn warum sollte gerade jene Bedeutung, die nicht aus seiner Hand stammt und der er passiv ausgeliefert ist, dem Menschen ähnlich sein und ihr Urheber sich zum Menschen so verhalten wie der Handwerker zu seinem Werk, nur darum, weil sie ihn infrage stellt? Warum sollte die Vergangenheit, die die dialogische Struktur des Denkens bestimmt, je schon eine Frage gewesen sein, nur weil sie als solche erfahren wird, und warum die Erfahrung der Infragestellung auf eine metaphysische Vergangenheit verweisen, in der mit der eigenen, menschlichen Seinsweise eine Verantwortung für die Menschheit schlechthin übernommen wurde? 365 Ebenso könnte sich die Frage der Verantwortlichkeit erst auf Basis der jeweiligen Positionierung innerhalb eines Diskurses entscheiden, auf der Grundlage des Stellenwerts und der Rolle, die man in einem Diskurs bekleidet, und damit nicht im Blick auf eine Bedeutung, die auf eine vor-ursprüngliche Weise mit diesem Diskurs verbunden ist. Auch dieser Verantwortung wäre man immer schon ausgesetzt, obzwar aufgrund der eigenen Stellung innerhalb des Diskurses und der mit dieser Stellung verbundenen Macht, nicht etwa aufgrund einer demgegenüber transzendenten Bedeutung. In den Worten Donna Haraways ließe sich dieser Begriff der Verantwortlichkeit wie folgt auf den Punkt bringen: »Positionierung impliziert Verantwortlichkeit für die Praktiken, die uns Macht verleihen«. 366 Der Unterschied zu Levinas’ Begriff der Verantwortung bestünde hierbei darin, dass ein Individuum nicht die Verantwortung für die Menschheit schlechthin und somit auch nicht die Verantwortung für die Verantwortung seiner Nächsten in sich trüge, sondern dass es, wenn es seine Macht verLevinas, Vom Einen zum Anderen. Transzendenz und Zeit, ZU: 191. Der Schluss von der Erfahrung der Infragestellung der eigenen Seinsweise auf eine sinnstiftende Bedeutung, die diese Infragestellung initiiert, erscheint mir nicht zwingend und zeigt subjektiv idealistische Tendenzen, indem dadurch die eigene Erfahrung zum absoluten Maß erhoben und auf dieser Grundlage eine für die eigene Erfahrungswelt gleichermaßen sinngebende wie konstitutive Instanz hypostasiert wird. 366 Donna Haraway, Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive, übers. v. Helga Kelle, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a. M./New York 1995, 73– 97, hier: 87. 364 365

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liert und in seiner Machtausübung unterdrückt wird, auch von seinen ethischen Verbindlichkeiten entbunden wird – ein Zustand, der aus Levinas’ Perspektive ganz und gar undenkbar ist, für den, seiner Verantwortung für die Verantwortung seiner Nächsten nicht gerecht zu werden, unausweichlich darin mündet, seiner Bedeutung als Mensch nicht gerecht zu werden. Manche Menschen übernehmen ungefragt und unerwünscht Verantwortung, wieder andere können nicht einmal das und sehen sich mit psychischen oder sozialen Problemen konfrontiert, die es ihnen unmöglich machen, Verantwortung zu übernehmen. Mit anderen Worten: Verantwortung übernehmen zu können, könnte im Sinne Haraways auch als ein mit der eigenen Stellung innerhalb eines gesellschaftlichen Diskurses verbundenes Privileg verstanden und somit als etwas, das nicht in jeder erdenklichen Lebenssituation geboten und mit der menschlichen Seinsweise genuin verbunden ist. Mit Sicherheit lässt sich die Frage, ob die Kritik an Levinas’ Begriff der Verantwortung, die hier im Ausgang von Donna Haraway formuliert wurde, gerechtfertigt ist, an dieser Stelle nicht abschließend klären. Dennoch möchte ich diesen Abschnitt unmittelbar daran anschließend mit den folgenden kritischen Überlegungen zu Levinas’ Begriff der Verantwortung beschließen: Wenn man sich zu seiner Verantwortung nicht entschieden hat und ihr im Gegenteil immer schon unterworfen ist, wie es Levinas’ Überzeugung ist, so ist es die Verantwortung eines Anderen, die man nur in sich vorfindet und der man nur an dessen statt nachkommt. Es ist dann die Verantwortung demgegenüber, der das menschliche Dasein vor-ursprünglich mit dieser Verantwortung verbunden hat, also die Verantwortung Gottes für den Menschen, auf die der Mensch, dessen Dasein bereits damit verbunden ist, nur antwortet. Doch lässt sich diese Verantwortung, die nicht die eigene ist, überhaupt noch gut nennen? Ich möchte hier auch an den Einwand erinnern, den Pistorius seinerzeit gegen Kant erhoben hat, dass nichts Moralisches darin liegt, einem Gebot zu gehorchen, dessen Ursprünge und Reichweite unbekannt sind 367 und das mit anderen Worten außerhalb des Diskurses anzusetzen ist, in dessen Grenzen wir uns tagtäglich bewegen. Der Einwand wäre nach Vgl. Pistorius, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von Immanuel Kant, in: Kants vergessener Rezensent. Die Kritik der theoretischen und praktischen Philosophie Kants in fünf frühen Rezensionen von Hermann Andreas Pistorius, hg. v. Bernward Gesang. Hamburg: Meiner 2007, 26–38, 27.

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meiner Ansicht auch im Blick auf Levinas näher zu untersuchen, und hier könnte eine kritische Lektüre seiner Schriften ansetzen.

5.2. Die Bedeutung der Geduld für die Zeit: die Gegenwart Die ethische Bedeutung der Zeit spielt in der kantischen und nachkantischen Philosophie zumeist eine Nebenrolle. Schon bei Kant gehört die Zeit dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung an, in dem an sich nichts Moralisches liegt. Für Hegel liegt die Bedeutung der Zeit im Begriff, für Husserl im Bewusstsein und für Heidegger im Tod. In all diesen Fällen hat die Zeit nicht von vornherein eine ethische Bedeutung wie bei Levinas, in dessen Augen die Zeit dem Menschen je schon Geduld gegenüber dem absolut Anderen abverlangt. Diese Differenz soll im Folgenden unter Berücksichtigung der Zeitkonzeptionen von Kant und Levinas verdeutlicht werden. Die Darstellungen beginnen bei Levinas’ Rezeption der kantischen Zeitkonzeption und gehen dann auf die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Ansätzen der beiden Autoren ein. Der wohl wichtigste Punkt wird dabei sein, dass Kant davon ausgeht, dass es der menschlichen Art zu denken wesentlich ist, von den Bedingungen der Zeit zu abstrahieren und entsprechend autonom zu agieren, 368 während diese Art zu denken nach Levinas auf das zeitliche Ereignis der Infragestellung durch den absolut Anderen zurückgeht und damit in ihrem Kern heteronom bestimmt sowie dazu angehalten ist, sich dem Anderen geduldig auszusetzen. Levinas’ Bezugnahmen auf die kantische Philosophie sind sehr zahlreich, betreffen jedoch vor allem Kants praktische Philosophie. Kants Zeitbegriff, den dieser hauptsächlich unter theoretischen Gesichtspunkten untersucht, steht weniger stark im Fokus, was aber insofern nicht verwundert, als er bei Kant ohnehin eine unterbestimm-

Zur Trennung des reinen Denkens von den Zeitbedingungen bei Kant vgl. etwa Kants Begriff einer »intelligibele[n] Tat« in Kant, RGV, AA 06: 31; für Kant gehört es zur inneren Freiheit, »seiner selbst in einem gegeben Fall Meister (animus sui compos) und über sich selbst Herr zu sein (imperium in semetipsum), d. i. seine Affekte zu zähmen und seine Leidenschaften zu beherrschen« (Kant, MS, AA 06: 407; vgl. hierzu auch ebd., 380). Im Gegensatz dazu liegt die eigentliche Meisterschaft für Levinas gerade darin, sich dem Anderen geduldig auszusetzen (vgl. Levinas, TU: 350/ TI: 215 f.). 368

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te Rolle spielt. 369 Dennoch lässt Levinas keinen Zweifel daran, dass Kants Zeitkonzeption nach seiner Ansicht eine ethische Grundlegung fordert, die im Zentrum seiner Interessen steht. In einem Interview für die Zeitschrift Autrement aus dem Jahr 1988 fordert Levinas in diesem Zusammenhang die Entformalisierung des kantischen Zeitbegriffs. Noch im selben Atemzug bekräftigt er jedoch Kants Theorem, wonach »die Zeit Form jeder Erfahrung« ist und »[i]n der Tat […] jede menschliche Erfahrung zeitlich Gestalt an[nimmt]«, 370 und nimmt damit einen Standpunkt ein, aus dessen Perspektive die Zeit zwar an den Gegenständen der Erfahrung real ist, jedoch an sich nicht erfahren werden kann – da immer nur die zeitliche Gestalt, nicht aber die Zeit an sich zum Gegenstand der Erfahrung wird. Das heißt, kaum hat er die Entformalisierung der Zeit gefordert, scheint Levinas dieselbe auch gleich wieder ad absurdum zu führen, indem er einräumt, dass die Zeit unserem diskursiven Denken, das schließlich auf Erfahrung aufbaut, materialiter niemals gegeben ist. Die ethische Grundlegung des Zeitbegriffs, die Levinas im Blick hat und die in einer Entformalisierung des kantischen Zeitbegriffs besteht, so viel wird bereits aus Levinas’ kurzer Anmerkung deutlich, kann also nicht die Form einer diskursiven Rechtfertigung haben. Levinas öffnet eine Kluft zwischen der erfahrungsimmanenten und -transzendenten Bedeutung der Zeit, wenn er die ethische Grundlegung der Zeit außerhalb des diskursiv gegebenen Erfahrungshorizonts sucht. Es ist nun exakt dieser »Standpunkt außerhalb«, der Levinas überhaupt ermöglicht, im Blick auf die kantische Zeitkonzeption eine Entformalisierung zu fordern: Denn ausgehend von diesem Standpunkt stellt sich die erstaunlich simple Frage, mit welchem Recht Kant behauptet, dass alles, was in der Erfahrung gegeben sein kann, in der Form der Zeit gegeben ist, ohne die Zeit jemals aus einer Perspektive zu beschreiben, die der Erfahrung vorursprünglich vorausgeht und zu erklären, warum dieselbe schlechthin zeitlich Gestalt annimmt. Mit anderen Worten: um mit vollem Recht zu behaupten, die Zeit sei nichts als die Form der sinnlichen Erfahrung, genügt es nicht, die Zeit, wie Kant es tut, von den Leistungen des reinen Ver-

369 Eine Ausnahme bilden die zwei Vorlesungsreihen zum Thema Gott, der Tod und die Zeit, die Levinas im letzten Jahr seiner regulären Vorlesungstätigkeit an der Sorbonne zwischen 1975 und 1976 abhielt, und in denen er sich gerade im Blick auf die Bestimmung des Zeitbegriff intensiv mit Kant auseinandersetzt. 370 Levinas, Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit, ZU: 277.

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standes zu isolieren, um sie aus einer Perspektive zu betrachten, die nicht der Ordnung der Zeit unterliegt. Es muss dafür auch plausibel gemacht werden, inwiefern die Bedeutung der Zeit von vornherein und von sich aus auf das Phänomen der Erfahrung beschränkt ist. Indem Levinas’ Rede von einer Entformalisierung des kantischen Zeitbegriffs verspricht, die notwendige Außenperspektive einzunehmen, birgt sie Potential zur kritischen Überbietung oder sogar zur Negation des kantischen Zeitbegriffs. Um dieses Potential nun zu bergen, sollen zunächst kurz die Grundzüge von Kants Zeitbegriff in der Kritik der reinen Vernunft wiederholt werden. In den ersten zwei Absätzen der Einleitung zur letztgültigen Fassung seiner Kritik der reinen Vernunft hält Kant fest, im Blick auf die Erkenntnis sei die Erfahrung der Zeit nach das Erste, obgleich dies nicht bedeute, dass all unsere Erkenntnis der Erfahrung entspringe. 371 Mit dieser scheinbar kleinen Vorentscheidung setzt er sich in ein eindeutiges Verhältnis zu seinen ideengeschichtlichen Vorläufern: Der weitere Verlauf der Kritik der reinen Vernunft wird zeigen, dass er sowohl Lockes rein empiristische als auch Leibniz’ rein rationale Perspektive auf die philosophische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis ablehnt. 372 Worin also liegt das kritische Potential dieses Theorems? Es besagt, dass die menschliche Erkenntnis weder wie im Empirismus rein sinnlich noch wie im Rationalismus allein durch die Spontaneität unseres Denkens bestimmt ist. Denn soll die menschliche Art zu erkennen aus einer zeitlichen Perspektive erst mit der Erfahrung anheben, so muss angenommen werden, dass ihr Gegenstand zunächst sinnlich wahrgenommen wird, und soll dennoch eine Erkenntnis möglich sein, die nicht der Erfahrung entspringt, so muss die Art, in welcher der einmal gegebene Gegenstand erkannt wird, von den Formen seiner sinnlichen Wahrnehmung unabhängig sein. Dem menschlichen Verstand wird also zunächst ein Gegenstand in der sinnlichen Wahrnehmung gegeben, den er erst später durch erfahrungsunabhängige Kategorien seines reinen Denkens erkennt. Die Erkenntnis ist demnach an das Nacheinander verschiedener Zeiten gebunden, in denen die Erfahrung zuerst sinnlich vernommen und dann vermittelst des Verstandes erkannt wird. Das Nacheinander der verschiedenen Zeiten hat für Kant also die Dignität eines trans371 372

Vgl. Kant, KrV: B1 f. Vgl. hierzu das Kapitel zu Kant weiter oben.

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zendentalen Grundsatzes, welcher lautet: »Sie [die Zeit, MB] hat nur Eine Dimension: verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nacheinander«. 373 Kant unterscheidet streng zwischen der Art, in der ein Phänomen der sinnlichen Wahrnehmung ursprünglich erscheint, und der Gegebenheit dieses Phänomens für den erkennenden Verstand und vertritt die Ansicht, dass die Zeit, in der über ein bereits gegebenes Phänomen nachgedacht wird, nie zugleich diejenige ist, in der es erscheint. Daher kann der Verstand in Kants Augen auch weder erkennen, was das Phänomen, noch, was die Zeit an sich ist, da er jederzeit zu spät ansetzt, um deren Ursprung zu erleben, und zu früh, um ihre Totalität zu überblicken. Der besagte transzendentale Grundsatz der Zeit ist der Höhe- und Endpunkt von Kants transzendentalphilosophischer Zeitkonzeption. Denn dieser Grundsatz begrenzt die Reichweite des erkennenden Verstandes auf sinnliche Gegebenheiten. Innerhalb dieser Grenze ist es unmöglich, je mehr über die Zeit in Erfahrung zu bringen, als dass sie der Erkenntnis, die sich auf ein bereits gegebenes Phänomen bezieht, je schon vorausgeht und dazu in einem Nacheinander verschiedener Zeiten verlaufen muss. 374 Kants transzendentalphilosophischer Zeitbegriff gibt dabei zugleich die Grundzüge seines diskursiven Verstandesbegriffs zu erkennen: Der Verstand abstrahiert von der chronologischen Ordnung, in die er eingebunden ist, um über ein Phänomen, das bereits erschienen und dessen Zeit verlaufen ist, zu urteilen und, was er daran erkennt, erst zu einem Objekt der Erkenntnis zu verbinden. In einer berühmten Erklärung Kants heißt es, »daß wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben«. 375 Und da das menschliche, diskursive Denken nach Kant objektgebunden, die Erkenntnis eines Objekts aber nur auf die beschriebene Weise möglich ist, sind die Verstandestätigkeiten für Kant insgesamt auf Urteile zurückzuführen, die in letzter Instanz auf die prädikative Bestimmung eines zunächst unbestimmten sinnlich gegebenen Gegenstandes abzielen. 376 Die Zeit ist für Kant die Art, in der empirische Phänomene erscheinen, und relativ zu einem Subjekt, das Kant, KrV: A31/B47. Vgl. hierzu die ausführlichen Darstellungen im Kapitel »Die Zeit als eine Grenze des Verstandes bei Kant«. 375 Kant, KrV: B130. 376 »Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, so daß der Verstand überhaupt als ein Vermögen zu urteilen vorgestellt werden kann. Denn er ist nach dem obigen ein Vermögen zu denken. Denken ist das Erkenntnis 373 374

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in einem phänomenalen Kontext steht, und sich selbst als empirisches Phänomen erscheint. Sie ist die Form, in der dieses Subjekt eine innere Anschauung von sich gewinnt. Kant nennt die Zeit deshalb auch die Form der inneren Anschauung. Derart zeigt sich die Zeit als Grenze dessen, was ein Subjekt, das in einen zeitlich bestimmten phänomenalen Kontext eingebunden ist, erkennen kann. Entscheidend ist dabei die Trennung der Erscheinungsweise (Phänomenalität) von der nachträglichen begrifflichen Gegebenheit der Erfahrung in der Erkenntnis (Noumenalität), welche letztere eine Abstraktion von der ursprünglichen, zeitlichen Form der Erfahrung ermöglicht. Diese Unterscheidung ist für Levinas eine zentrale Errungenschaft der kantischen Philosophie. 377 Levinas hegt wie gesagt großes Interesse an Kants Unterscheidung zwischen der Phänomenalität und der Noumenalität der Erfahrung. Sein besonderes Interesse erweckt jedoch Kants damit in Zusammenhang stehender Begriff der Zeit als Form der Anschauung, den Levinas, wie er in dem besagten Interview für die Zeitschrift Autrement aus dem Jahr 1988 erklärt, entformalisieren möchte. Diese Entformalisierung sei, so führt er in dem nämlichen Interview weiter aus, jedoch keineswegs mit dem Versuch gleichzusetzen, zu Kants Form der inneren Anschauung einen Inhalt zu suchen und sie auf diese Weise zu materialisieren. In der eingangs zitierten Textpassage hält Levinas vor diesem Hintergrund schließlich Folgendes fest: Mein Hauptforschungsthema ist das der Entformalisierung des Zeitbegriffs. Kant nennt die Zeit Form jeder Erfahrung. In der Tat nimmt jede menschliche Erfahrung zeitlich Gestalt an. Die aus Kant hervorgegangene Transzendentalphilosophie füllte diese Form mit sinnlichem Inhalt aus oder führte sie, wie Hegel, dialektisch zu einem Inhalt. Diese Philosophen haben alle zur Konstituierung dieser Form der Zeitlichkeit keine Bedingung in Gestalt einer bestimmten Verbindung von »Materie« oder von Ereignissen, in Gestalt eines sinngebenden Gehalts aufgestellt, der gewissermaßen der Form voraus ist. 378

durch Begriffe. Begriffe aber beziehen sich als Prädikate möglicher Urteile auf irgendeine Vorstellung von einem noch unbestimmten Gegenstande.« (Kant, KrV: B94) 377 Vgl. hierzu bes. Levinas, TU: 192 u. 270/TI: 109 u. 163. 378 Levinas, Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit, ZU: 276 f.; vgl. die Kritik an der Reduktion der Sinnlichkeit auf einen Inhalt der Erfahrung im Kontext der Kant-Rezeption in: ders., TU: 269 f./TI: 162 f. Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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Die Philosophen, von denen Levinas sich hier distanziert, weil sie »alle zur Konstituierung dieser Form der Zeitlichkeit keine Bedingung in Gestalt […] eines sinngebenden Gehalts aufgestellt« haben, sind, wie Levinas’ weitere Ausführungen zeigen, besonders dem Deutschen Idealismus und der Phänomenologie zuzurechnen. Entscheidend ist, dass diese philosophischen Strömungen das Phänomen der Zeitlichkeit in den Augen Levinas’ losgelöst von der Bedeutung betrachten, in der es als »Form jeder Erfahrung« je schon konstituiert ist. Levinas’ unterscheidet demnach zwischen dem sinngebenden Gehalt, das heißt mit anderen der Worten der Bedeutung und dem Sinn des Phänomens von Zeitlichkeit, das unsere Erfahrung bestimmt. Der Hintergrund zu dieser Unterscheidung ist in Levinas’ Schrift Die Bedeutung und der Sinn bestens dokumentiert. Levinas spricht dort von einer Bedeutung der Intelligenz jenseits ihres Selbst: Das »Ich denke« setzt eine Bedeutung voraus, in der es ursprünglich in einem konkreten, nämlich mit Identität versehenen Sinn konstituiert wird. Ohne eine solche Bedeutung, wäre so etwas wie »Sinn« nach Levinas überhaupt nicht möglich, weil jedes Phänomen von Sinn eine einheitliche, das ist bedeutungsgeleitete Konstitution voraussetzt, um an sich selbst sinnvoll zu erscheinen. Nach Levinas setzt also jedes Phänomen, das in einem bestimmten Sinn erscheint, die Identität des »Ich denke« eingeschlossen, einen sinngebenden Gehalt voraus, der es absolut überschreitet, und »[d]er Sinn ist unmöglich, wenn ein Ich der Ausgangspunkt ist, das, wie Heidegger sagt, derart existiert, ›daß es ihm in seinem Sein um dieses Sein selbst geht‹«. 379 Das Phänomen der Intelligenz, dessen Sinn darin besteht, sich als ein »Ich denke« zu konstituieren, setzt nach Levinas nun einen sinngebenden Gehalt beziehungsweise eine Bedeutung voraus, die insofern als das schlechthin Intelligible bezeichnet werden kann, als diese Bedeutung es allererst möglich macht, zu einem Sinnverstehen vorzudringen. Diese Bedeutung ist konstitutiv für das Selbst der Intelligenz, und doch jenseits ihrer selbst zu suchen. Die Bedeutung einer Intelligenz jenseits des Selbst ist nach Levinas jedoch eine andere Intelligenz, weshalb Levinas schreibt:

379 Levinas, Die Bedeutung und der Sinn, HAM: 32/HAH: 40. Heidegger bestimmt das Dasein als ein Seiendes, dem es »in seinem Sein um dieses Sein selbst geht« (Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: 12). Dies ist auch der Hintergrund, vor dem Levinas im französischen Original davon spricht, dass die »signification« der »Sinngebung« (im Original deutsch) vorausgehe, was eine Kritik an Heidegger ist.

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Die Bedeutung – das ist das Unendliche, d. h. der Andere. Das Intelligible ist nicht ein Begriff, sondern eine Intelligenz. Die Bedeutung geht der Sinngebung voraus und bezeichnet die Grenze des Idealismus, statt ihn zu rechtfertigen. La signification c’est l’infini, c’est-à-dire Autrui. L’intelligible n’est pas un concept, mais une intelligence. La signification précède la Sinngebung et indique la limite de l’idéalisme au lieu de le justifier. 380

Eine Konsequenz aus dieser Bestimmung des schlechthin Intelligiblen bei Levinas ist, dass die Intelligenz in einer Beziehung mit dem Anderen steht, dessen Sinngebung sie absolut ausgeliefert ist. Es handelt sich gewissermaßen um eine sprachliche Situation: Der absolute Andere sagt etwas von Bedeutung, das den Sinn dessen bestimmt, was durch einen selbst gedacht wird. Gleichzeitig ist es eine Situation, die den Sinn des menschlichen Daseins schlechthin bestimmt und die Menschen voreinander gleich sowie füreinander verantwortlich macht – Levinas spricht von Brüderlichkeit. 381 Über den absolut Anderen steht der einzelne Mensch im Austausch mit der Menschheit schlechthin. 382 Seine Identität, die sich als ein »Ich denke« konstitu380 Levinas, TU: 299/TI: 182. Im französischen Original spricht Levinas hier von »l’infini« und lässt damit unbestimmt, ob er den oder das Unendliche meint. In der deutschen Übersetzung der Hauptwerke von Levinas – Totalität und Unendlichkeit und Jenseits des Seins – hat Thomas Wiemer den Weg gewählt, vom Unendlichen im Neutrum zu sprechen. Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass bei Levinas mit dem Unendlichen niemand anderes als Gott in all seiner Herrlichkeit im Raum steht, weshalb es nach meiner Ansicht besser wäre das französische »l’infini« mit »der Unendliche« zu übersetzen. 381 Vgl. Levinas, TU: 309 f., 406–409/TI: 189 f., 255–257. Levinas’ Rede von Brüderlichkeit (fraternité) verweist auf einen religiösen Hintergrund, nämlich die Abstammung vom selben Vater (Gott) und nicht so sehr, wie auch angenommen werden könnte, auf das französische Motto »Liberté, égalité, fraternité«, das auf die Französische Revolution zurückgeht. Levinas’ Rede von Brüderlichkeit ist in jedem Fall problematisch, zumal sie biologische Geschlechterdifferenzen auf eine metaphysische Ebene projiziert. 382 Mit »Sprache« meint Levinas ein Moment, das den zwischenmenschlichen Diskurs sowie denjenigen mit sich selbst allererst ermöglicht, indem darin eine Bedeutung gesagt wird, die dem diskursiven Verstehen von Sinn vorausgeht: die »eigentliche Bedeutsamkeit des Sagens« (Levinas, JS: 112/AQ: 59), die in der Bedeutung des Anderen für den Diskurs liegt, in der Verantwortung und in dem »der-Eine-für-denAnderen«. Der Diskurs ist nach Levinas immer schon sprachlich, und er verweist damit auf »[e]in Schon-Gesagtes vor aller Sprache«, das »den von den Völkern gesprochenen historischen Sprachen einen Ort [bietet]« (Levinas, JS: 91/AQ: 46). Reinhold Esterbauer hält treffend fest: »Sprache meint bei Levinas primär also keineswegs ein Kommunikationsmittel, dessen sich zwei autonome Subjekte bedienen, um Inhal-

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iert, ist in einer sprachlichen Situation begründet, die ihr eine bestimmte Bedeutung verleiht. 383 Levinas bemüht hier das Bild einer Intelligenz, die in der Spur des Anderen steht, der ihr eine Bedeutung verleiht, die ihr je schon vorausgegangen ist. Der Andere konstituiert somit ein zeitlich Seiendes, das immer schon eine Dauer hat und gegenüber seiner Bedeutung jederzeit nachträglich ist. Diese ontologische Trennung des Seienden von seiner Bedeutung nennt Levinas die Zeit. 384 Die Zeit ist die Transzendenz der Trennung des Seienden von seinem Schöpfer, des »Ich denke« von seiner Bedeutung, des Selbst vom absolut Anderen. Levinas hält fest: »Die Transzendenz ist Zeit und geht zum Anderen«. 385 Die Seinsweise des Menschen ist in Levinas’ Augen eine Schöpfung durch einen absolut Anderen, der ihr vor-ursprünglich eine bestimmte Bedeutung verleiht und von dem sie durch die Zeit unendlich getrennt ist, welche zeitliche Trennung von seinem Schöpte beziehungsweise sich selbst auszutauschen. Zunächst meint Sprache den Impetus, der das Ich vom ANDEREN her trifft, sich ihm und damit Gott in Verantwortung zuzuwenden« (Esterbauer, Transzendenz-»Relation«, 190). 383 Vgl. Levinas, TU: 301, 319 f./TI: 183 f., 195 f. Krewani schreibt: »Der Sprechende […] gibt sich selbst als anderer zu erkennen. Gerade darin liegt seine Andersheit: sich als autonome Sinnquelle zu erkennen zu geben.« (Krewani, Zum Zeitbegriff in der Philosophie des Emmanuel Levinas, 121) Mit dieser Deutung der sprachlichen Situation bei Levinas übersieht Krewani meines Erachtens, dass »Sinn« bei Levinas je schon heteronom bestimmt ist und so etwas wie eine »autonome Sinnquelle«, die sich dem Anderen zu erkennen gibt, aus seiner Perspektive undenkbar ist: Der sinngebende Gehalt und jenes Phänomen, dessen Sinn dadurch bestimmt ist, sind bei Levinas absolut voneinander getrennt und verweisen auf eine Gesprächssituation, in der ein absolut Anderer etwas von Bedeutung äußert, das den Sinn dessen bestimmt, was durch einen selbst gedacht wird – der Sinn wird hierbei zu jederzeit und von vornherein heteronom bestimmt und entspringt nicht der Autonomie eines Subjekts. In eine ähnliche Richtung wie Krewani geht auch Jere Paul Surber, wenn er annimmt, der Begriff der Heteronomie korreliere bei Levinas dem Begriff der Autonomie (vgl. Surber, Kant, Levinas, and the Thought of the »Other«, 308). Denn die Autonomie eines mit Identität versehenen Subjekts setzt bei Levinas die Heteronomie absolut voraus und korreliert ihr nicht (vgl. dazu die Ausführungen oben sowie bes. Schonfeld, Philosophical Present and Responsible Present, 203; Stuart Dalton, Subjectivity and orientation in Levinas and Kant, in: Continental Philosophy Review 32/4 (1999), 433–449, 436 ff.). 384 Zur ontologischen Trennung des Menschen von seiner Bedeutung vgl. auch Levinas, TU: 69/TI: 25. 385 Levinas, TU: 394 f./TI: 247; vgl. TU: 325 ff./TI: 199 ff.; vgl. im Kontext der Geduld ders., GZ: 153. Hierzu: »Time, language, and subjectivity delineate a pluralism and consequently, in the strongest sense of this term, an experience: one being’s reception of an absolutely other being.« (Levinas, Signature, 182).

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fer den Menschen jedoch frei macht, auf die Bedeutung, die mit seiner Seinsweise verbunden ist, individuell zu antworten, das heißt, Verantwortung zu übernehmen. 386 Die Trennung von Bedeutung und Seinsweise des Menschen macht es Levinas möglich, zugleich an der Freiheit des Menschen festzuhalten und an »eine[m] nicht durch das Sein infizierten Gott«, der ihm eine Verantwortung auferlegt, die seine endliche Existenz überschreitet. 387 Anders als bei Kant ist es dem Menschen bei Levinas nun nicht möglich, sich an klar definierten Grenzen zu orientieren und ein Leben zu führen, das von Gewissheit geleitet wird. Als zeitlich Seiender ist der Mensch bei Levinas absolut von seiner Bedeutung getrennt. Er zeigt sich als ein absolutes Rätsel oder eine reine Frage. Das Einzige, an dem er sich in Levinas’ Augen orientieren kann, ist die moralische Erfahrung, dass der andere Mensch ebenso ein Rätsel und dem absolut Anderen ausgeliefert ist, sowie an dem darauf aufbauenden Bewusstsein, die Antwort auf die Frage nach dem Sinn seines Daseins nur in der Verantwortung für eine Bedeutung der Menschheit zu finden, die ihn übersteigt und die Menschen zu Brüdern macht. 388 Um nicht zu riskieren, ein sinnloses Leben zu führen, muss der Einzelne also Verantwortung für seine Nächsten übernehmen, die ihm jedoch ebenso ein Rätsel sind, wie er sich selbst ein Rätsel ist, sodass ihm, um seiner Verantwortung gerecht zu werden und kein sinnloses Leben zu führen, nichts anderes übrig bleibt, als sich seinen Nächsten passiv auszusetzen. Der Mensch befindet sich bei Levinas je schon in einer »heiklen Lage« (»d’être en porte à faux«). 389 Der Sinn seines Daseins 386 Es ist das Geflecht von ethischer Bedeutung und ontologischer Seinsweise des Menschen, das ein Übernehmen der gottgegebenen Verantwortung durch das Subjekt bei Levinas erst möglich macht. In den Worten von Reinhold Esterbauer: »Da das ethische Subjekt zugleich das ontologische ist, kann es die unendliche Verantwortung in der Welt umsetzen.« (Esterbauer, Transzendenz-»Relation«, 71) 387 Levinas, JS: 19/AQ: 10. 388 Vgl. hierzu bes.: »Was ich von mir selbst fordern darf, kann mit dem, was ich vom Anderen zu fordern das Recht habe, nicht verglichen werden. Diese moralische, so banale Erfahrung bezeugt eine metaphysische Asymmetrie: die radikale Unmöglichkeit, sich von Außen zu sehen und von sich und den Anderen in derselben Weise zu reden […]. Und auf dieser Ebene der gesellschaftlichen Erfahrung bezeugt sie die Unmöglichkeit, die intersubjektive Erfahrung zu vergessen, die zur Gesellschaft hinführt und ihr in ähnlicher Weise einen Sinn verleiht, wie nach den Phänomenologen die Wahrnehmung unübergehbar ist und der wissenschaftlichen Erfahrung Sinn gibt.« (Levinas, TU: 67 f./TI: 24) 389 Levinas, Humanismus und An-archie, HAM: 82/HAH: 82; vgl. ders., GZ: 67–77, 196; JS: 287/AQ: 166.

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hängt auf metaphysischer Ebene davon ab, ob es ihm gelingt, einer Verantwortung für die Menschheit schlechthin gerecht zu werden, die ihn sogar für die Verantwortung der anderen Menschen verantwortlich macht, 390 sodass selbst deren Unverantwortlichkeit zu einem Sinnverlust seinerseits führen kann. Mit der Zeitthematik gerät bei Levinas eine ethische Verantwortung gegenüber der Menschheit in den Blick, »die älter ist als der conatus der Substanz« 391 und die aus einer Vergangenheit kommt, die vor dem »Ich denke« liegt, dessen Sinn sie bestimmt. Sofern die Gegenwart des einzelnen Menschen hier überhaupt einen Sinn hat, ist sie als Durchhalten dieser Verantwortung bestimmt, wozu sich der Mensch seinen Nächsten, wie hier bereits gezeigt werden konnte, 392 ohne Hoffnung auf Erfolg aussetzen muss, um seinem Leben durch ein geduldiges Warten einen Sinn zu verleihen, der von Dauer ist. 393 Das Ganze ließe sich auch anders sagen: Aufgrund der Trennung vom absolut Anderen, der ihr eine Bedeutung verleiht, die mit einer Verantwortung für die Menschheit schlechthin verbunden ist, ist die Intelligenz bei Levinas zwar nicht frei, sich ihren Sinn selbst zu geben, jedoch frei, ihren Sinn selbst zu verantworten, und läuft aus ebendiesem Grund zugleich Gefahr, ihren Sinn zu verlieren, wenn sie ihrer Verantwortung nicht gerecht wird. Und gerade hier spielt die Geduld eine entscheidende Rolle: Das »Ich denke« muss sich der Menschlichkeit beugen, soll seine Gegenwart nicht sinnlos enden. 394 Erst dieses Sich-Beugen vor der MenschVgl. zu dieser Thematik bes. Levinas, Humanismus und An-archie, HAM: 82 f./ HAH: 82. 391 Levinas, Ohne Identität, HAM: 101/HAH: 99. 392 Vgl. den vorausgehenden Abschnitt »Die Bedeutung der Verantwortung für die Zeit: die Vergangenheit«. 393 Vgl. zu dieser Thematik bes. Levinas, GZ: 30, 33 u. 39. In Jenseits des Seins spricht Levinas in diesem Zusammenhang treffend von einer passiven Synthesis der Zeitlichkeit: »Die eigene Passivität des Aushaltens, der Geduld – die passiver ist als alle zum Freiwilligen korrelative Passivität – bedeutet in der ›passiven‹ Synthesis ihrer Zeitlichkeit.« (ders., JS: 124/AQ: 66) Diese passive Synthesis qua Geduld nennt Levinas auch das Altern (vgl. ebd., JS: 124/AQ: 66). 394 Vgl. Levinas, GZ: 30 f.: »Wenn die Geduld einen Sinn als unausweichliche Verpflichtung hat, wird dieser Sinn zur Selbstgefälligkeit und Institution, sofern nicht ein tiefer liegender Verdacht von Nicht-Sinn besteht. Also muß in der Egoität des Ichs das Wagnis eines Nicht-Sinns, eines Wahnsinns stecken. Wäre dieses Wagnis nicht vorhanden, erlangte die Geduld einen Statut, sie verlöre ihre Passivität. Die Möglichkeit des Nicht-Sinn, fähig, jedes Geschäft zu verjagen, das in die Passivität der Geduld eindringen könnte, stellt jenes Sich-Beugen vor dem Tod dar, das keinen Sinn macht, nicht situierbar, nicht lokalisierbar, nicht objektivierbar ist – Aspekt einer undenk390

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lichkeit, diese Geduld verleiht seinem Dasein einen Sinn, der von Dauer ist. 395 Die Geduld, die bei Levinas ein Phänomen von unendlicher Verantwortung ist, ist insofern eine Meisterschaft im Blick auf eine Seinsweise, die stets mit dem »Wagnis eines Nicht-Sinns« verbunden ist. 396 Durch die Geduld bewahrt der Mensch einen »minimalen Abstand von der Gegenwart«. 397 Sie setzt ihn in Beziehung zu jener Bedeutung, die ihm einen Sinn verleiht, der dadurch bestimmt ist, Verantwortung für die anderen Menschen zu übernehmen und der die Grenzen seiner endlichen Existenz und Selbstgegenwart überschreitet. Stephan Strasser hält im Blick auf diese Grundsituation des Menschen bei Levinas fest: Die Situation, in der das Bewußtsein der unerträglichen Gegenwart gegenüber einen Mindestabstand wahrt, einen Abstand, in dem sich seine Passivität zu einem Akt der Hoffnung durchzuringen weiß, ist die der ›Ge-duld‹. […] Da aber der Tod noch nicht zugeschlagen hat, kann sich meine Passivität in eine neue Art von Meisterschaft verwandeln: Ich kann für einen Anderen leiden; infolge dieses Entschlusses werde ich zu einem Handelnden par excellence. Der natürliche Egoismus meines Wollens geht dann über die Grenzen meiner Existenz hinaus; er hört auf, Wille zur Selbstbehauptung und Selbstdurchsetzung zu sein. 398 baren, ungeahnten Dimension. Nicht-Wissen, Nicht-Sinn des Todes, Sich-Beugen vor dem Nicht-Sinn des Todes, genau das ist für die Einzigkeit selbst des Ichs, für die Intrige seiner Einzigkeit unentbehrlich.« 395 Dieses »Sich Beugen vor der Menschlichkeit« und der Duktus in dem Levinas von der Geduld als Passivität und zugleich als höchster Meisterschaft spricht, ist auch der Hintergrund, vor dem Levinas an anderer Stelle die Erzählung Abrahams gegen den Odysseus-Mythos stark macht. Odysseus bricht nach Levinas auf, um in die Heimat zurückzukehren – hierin sieht Levinas ein Sinnbild für die abendländische Philosophie, die nach seiner Ansicht vom aneignenden Zugriff des Verstehens ihren Ausgang nimmt, das zu sich selbst zurückkehrt. Demgegenüber bedeute »die bis ans Ende durchgehaltene Geduld […] für den Handelnden: darauf zu verzichten, die Ankunft am Ziel zu erleben, zu handeln, ohne das gelobte Land zu betreten [wie Abraham, MB]. / […] Wer darauf verzichtet, den Erfolg seines Werks zu erleben, hat diesen Sieg in einer Zeit ohne das Ich; er zielt ab auf diese Welt ohne Ich, er intendiert eine Zeit jenseits des Horizontes seiner Zeit. Eschatologie ohne Hoffnung für sich oder Befreiung von meiner Zeit.« (Levinas, SpA: 216 f./DEHH: 191 f.) Vgl. für die Odyssee des »Subjekt[s] der Rückbezüglichkeit« bei Levinas ferner: Esterbauer, Transzendenz»Relation«, 67; für Levinas’ Zeitbegriff im Kontext der hebräischen Tradition: Schonfeld, Philosophical Present and Responsible Present, 189. 396 Levinas, GZ: 30. 397 Levinas, TU: 350/TI: 215 f. 398 Strasser, Jenseits von Sein und Zeit, 132. Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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Das Jenseits des Seins und die Zeit bei Levinas

An diesem Punkt zeigt sich die Differenz zwischen Kants und Levinas’ Zeitkonzeption nun in voller Schärfe. Bei Kant ist die Zeit, wie weiter oben bereits erörtert wurde, die Form der Anschauung des empirischen Selbst und steht dem »Ich denke«, das davon abstrahiert, gegenüber. Bei Levinas hingegen ist die Zeit in einer Beziehung zum Anderen begründet, die dem »Ich denke« erst eine Dauer und einen Sinn verleiht. Daraus erklärt sich auch, warum das »Selbstdenken« bei Kant die erste Maxime des Menschenverstandes bildet, 399 während sich der Mensch in den Augen von Levinas der Bedeutung des Anderen zu beugen hat. Das wiederum gibt die Grundzüge dessen zu erkennen, was Levinas unter der Entformalisierung der Zeit versteht. Denn das zeitlich Seiende ist bei Levinas ontologisch getrennt vom Anderen, der seine Bedeutung ist, und konstituiert sich als freie Intelligenz, deren ganzer Sinn es ist, verantwortlich zu sein und sich dem Anderen auszusetzen. Die Zeit ist hier nicht die Form, in der dem Verstand ein Phänomen gegeben ist, sondern die Art, in der das Denken je schon konstituiert ist. 400 Die eigene, durch das Denken geprägte Seinsweise zu meistern und sie mit Sinn zu erfüllen, heißt für Levinas hier, sich dem Anderen geduldig auszusetzen und durch die äußerste Passivität einen Abstand zur Gegenwart zu bewahren, über deren Sinn allererst der Andere entscheidet: [d]iese Situation, in der das Bewußtsein, das jeder Bewegungsfreiheit beraubt ist, einen minimalen Abstand von der Gegenwart bewahrt; diese äußere Passivität, die sich indes verzweifelt in Handlung und Hoffnung verwandelt – ist die Geduld – die Passivität des Duldens und gleichwohl die eigentliche Meisterschaft. Kant, KU, AA 05: 294. In seinem Aufsatz Diachronie und Repräsentation hält Levinas unter der Überschrift »Entformalisierung der Zeit« entsprechend fest, dass die Verantwortung aus einer Vergangenheit kommt, »die nie meine Gegenwart war«, und dass die Diachronie dieser Verantwortung »nicht reinen Bruch, sondern eher Nicht-Gleichgültigkeit und Übereinstimmung [bedeutet], die nicht mehr auf die Einheit der transzendentalen Apperzeption gegründet sind, jene formalste aller Formen« (Levinas, Diachronie und Repräsentation, »Entformalisierung der Zeit«, ZU: 215–217, 215). Levinas spricht im Zusammenhang der Begriffe »Zeit« und »Geduld« auch von einer Passivität des »›es vollzieht sich‹« und von einer »Verantwortung für den anderen Menschen, die man vor der erinnerbaren Zeit ›sich zugezogen hat‹« (ders., JS: 129/AQ: 69). Er bringt damit zum Ausdruck, dass die Zeitigung der Zeit durch unser Denken und unser Bewusstsein nicht eingeholt werden kann und unsere Seinsweise in der Weise des Ausgeliefertseins bestimmt (vgl. zur passiven Zeitigung des Subjekts bei Levinas auch Esterbauer, Transzendenz-»Relation«, 72 f.). 399 400

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Die Bedeutung der Geduld für die Zeit: die Gegenwart

Cette situation où la conscience privée de toute liberté de mouvements, conserve une minimale distance à l’égard du présent; cette passivité ultime qui se mue cependant désespérément en acte et en espoir est la ›patience‹ la passivité du subir et, cependant, la maîtrise même. 401

Die Geduld ist bei Levinas als Phänomen der Verantwortung gegenüber dem Anderen also »die eigentliche Meisterschaft«, in der eine Intelligenz ihr Sein mit Sinn erfüllt. 402 Levinas versucht die zeitliche Gestalt der Erfahrung nicht in Bezug auf eine reine Form der Anschauung, sondern als Phänomen von Sinn qua einer Bedeutung zu beschreiben, die für den Menschen je schon konstitutiv ist und die jenseits seines Selbst im Anderen liegt. Dieser Ansatz beinhaltet eine gewisse Nähe zu Kant, auf die oft hingewiesen wird: Wo die strenge Trennung vom rein anschaulich gegebenen Selbst bei Kant ein ebenso reines wie kategorisch gebietendes Sittengesetz der Vernunft begründet, führt die Trennung vom Anderen bei Levinas zu einer analog starken ethischen Verantwortung. 403 Hier ist allerdings zu beachten, 401 Levinas, TU: 350/TI: 215 f. Das französische »maîtrise« ließe sich auch mit »Herrschaft« übersetzen, schließt jedoch ein Können ein, das im deutschen Wort »Meisterschaft« besser zum Ausdruck kommt. 402 Zum Begriff der Geduld in Verbindung mit dem Begriff des Sinns vgl. Levinas, Die Bedeutung und der Sinn, HAM: 34 f./HAH: 42; zur Geduld als Phänomen von Verantwortung vgl. ders., JS: 53, 124–130/AQ: 20, 66–69; zur Geduld als Rekurrenz einer Intelligenz jenseits des Selbst: ders., JS: 246, 278–281/AQ: 141 f., 161 f. Wenzler trifft den Begriff Geduld bei Levinas sehr gut, wenn er schreibt: »dies geschieht in der Haltung des Ge-duldens. Anstatt auf Gewalt mit der Gewalt der Selbstbehauptung zu antworten, kann ein Mensch sein Leben, das zugleich Sterbenmüssen ist, einsetzen für einen anderen.« (Wenzler, Das Antlitz, die Spur, die Zeit, 265). Reinhold Esterbauer schreibt, Geduld zeichne sich bei Levinas »durch Betroffenheit aus, die jenseits aller zeitlichen Terminisierung dem Anspruch standhält, der von einer uneinholbaren Zukunft an das Ich ergeht. […] Solche Zukunft ist personale Zeit, die sich als die Zeit eines ethischen Anspruches erweist, der vom Antlitz des anderen Menschen ausgeht und allen eigenen Totalisierungsversuchen entgegensteht.« (Reinhold Esterbauer, Zeit als ›geduldiges Warten auf Gott‹. Zur Konzeption von Transzendenz in ›Totalité et Infini‹, in: Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Einführung in die »Kritik der reinen Vernunft«, hg. v. Norbert Fischer. Hamburg: Meiner 2010, 159– 185, 180). 403 Adriaan Peperzak schreibt in diesem Kontext: »Both Kant and Levinas refuse to call the revelation of the other’s respectability an ›experience‹ (Erfahrung, expérience), because it cannot be understood as a perception ruled by the conditions of empirical schematism or of phenomenological fulfillment, but for both revelation is an exceptional sort of awareness, or ›cognition,‹ from which all philosophy should start, although all attempts at thematizing it necessarily betray it.« (Adriaan Peperzak, Some Remarks on Hegel, Kant and Levinas, in: Face to face with Lévinas, hg. v.

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dass Kant in moralischer Hinsicht zum »Selbstdenken« auffordert, während Levinas der Ansicht ist, man müsse sich dem Anderen aussetzen. 404 Auf ähnliche Weise ist die Zeit bei Kant in den Vorstellungshorizont des Subjekts eingebunden, während sie bei Levinas das Verhältnis zum absolut Anderen bestimmt. So werfen beide Zeitkonzeptionen schließlich auch ganz unterschiedliche Fragen auf. Heidegger sagt zu Recht, dass »bei Kant die Zeit zwar ›subjektiv‹ ist, aber unverbunden ›neben‹ dem ›ich denke‹ steht«. 405 Da der Verstand bei Kant im Urteil von der zeitlichen Phänomenalität des Phänomens abstrahiert, um dessen Bedeutung zu erkennen, bleibt dort offen, woher die Bedeutung kommt, in der das Phänomen als genuin zeitliches Phänomen erfahren und verstanden wird. Diese Frage beantwortet Levinas, der davon ausgeht, dass die Elemente der Erfahrung zugleich »von der ›Welt‹ her und von der Position des Betrachtenden her bedeuten« 406 und dass das Phänomen der Zeit also immer schon eine Bedeutung für den Menschen hat. Bei Levinas hingegen stellt sich die Frage, warum die Zeit überhaupt »von der Position des Betrachtenden her bedeuten« soll. Denn es ist eines, den Sinn, den ein Phänomen für mich hat, zu erkennen, und ein anderes, diesen Sinn auf eine Bedeutung zurückzuführen, die mit den zeitlichen Voraussetzungen dieses Phänomens in unzertrennlichem Zusammenhang steht und das spezifisch Menschliche im Subjekt zum Maßstab seiner zeitlichen Konstitutionsform erhebt. Dieser Übergang scheint vom menschlichen Standpunkt aus gesehen nicht

Richard A. Cohen. Albany, N.Y.: State University of New York Press 1986, 205–217, 211). – Es ist richtig, dass die Bedeutung des Anderen bei Levinas als ethisches Jenseits und das moralische Gesetz bei Kant, in seiner Trennung von alledem, was dem Verstand als Gegenstand gegeben sein kann, nicht erkannt werden können. Doch heißt das nicht, dass sie nicht in der Erfahrung bewusst werden. Levinas nennt das ethische Jenseits auch die »Erfahrung schlechthin« (Levinas, TU: 143/TI: 74). Kant betont, dass uns allererst die Erfahrung mit dem moralischen Gesetz vertraut macht (Kant, KpV, AA 05: 30). Vgl. hierzu Fischer, Hattrup, Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen, 22. 404 In diesem Kontext kann auf Dieter Hattrups Einschätzung hingewiesen werden, wonach die Heteronomie als Gegenwart des Anderen bei Levinas dem kantischen Begriff von Autonomie diametral entgegensteht (vgl. Fischer, Hattrup, Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen, 10). 405 Martin Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: 427. 406 Levinas, Die Bedeutung und der Sinn, HAM: 13/HAH: 22.

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gerechtfertigt. 407 Doch diese Fragen, die an Kant und Levinas gerichtet werden könnten, überschreiten den Rahmen dieser Arbeit, die sich darauf konzentriert, die Differenzen zwischen den Zeitkonzeptionen der beiden Autoren zu Tage zu fördern, wie es im Blick auf Levinas’ Begriff der Geduld geschehen ist.

5.3. Die Bedeutung des Wartens für die Zeit: die Zukunft Für Kant und Levinas bedeutet, ein Mensch zu sein, jeweils ein moralisches Gebot zu befolgen, das den Horizont dessen, wovon die letzten Gründe eingesehen werden können oder das aus eigener Kraft hervorgebracht werden kann, übersteigt. Kant spricht in diesem Kontext bezeichnenderweise von einer Hoffnung, sich dem, was einem moralisch geboten ist, unendlich anzunähern. Levinas beschreibt die Beziehung zum moralisch Gebotenen nicht weniger bezeichnend als Phänomen des Sich-Beugens vor und des geduldigen Wartens auf Gott. Anders als bei Kant, geht es Levinas aber nicht nur um die Annäherung an, sondern um die konkrete Erfüllung des Gebotenen: Das Warten mündet nicht in eine Hoffnung ohne Aussicht auf Erfolg, wie Levinas in Richtung Kant moniert. Was dies näherhin bedeutet und ob Levinas’ Kritik berechtigt ist, steht hier zur Debatte. So soll im Folgenden zuerst untersucht werden, inwiefern die Befolgung des moralischen Gebotenen bei Kant und Levinas mit Fragen der Menschlichkeit verbunden ist. Zu diesem Zweck wird nach einer Einleitung zunächst, im Rekurs auf seine kopernikanische Revolution, auf Kants Begriff der Hoffnung und dann auf den des geduldigen Wartens bei Levinas eingegangen. Zum Schluss wird die intrinsische Verflechtung von Moralitäts- und Zeitdiskurs, die in diesem Zusammenhang in den Werken der beiden Autoren zu beobachten ist, hinterfragt. Mit seiner Kritik der reinen Vernunft versucht Kant die Philosophie bekanntlich in den sicheren Gang einer Wissenschaft zu bringen. Dabei orientiert er sich einerseits an Lockes Leitspruch, dass nichts im Verstand ist, was nicht zuvor in den Sinnen war, und hält andererseits am rationalistischen Glauben an ein reines Denken fest, das aus dem

407 Vgl. für entsprechende Ansätze einer möglichen Kritik an der Levinas’schen Zeitkonzeption die Ausführungen gegen Ende des vorausgehenden Abschnitts.

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Sinnenmaterial allererst Erkenntnis formt. 408 Es ist ein schmaler Grat, der hier zur Erkenntnis führt, über die sinnlich gegebene Materie auf der einen und die reinen Formen des Denkens auf der anderen Seite. Diesen Weg hat Kant auch für die Philosophie vorgesehen, die er in den Stand einer Wissenschaft versetzen will: sie soll den Prinzipien der reinen Vernunft Folge leisten, ohne den festen Boden der sinnlichen Phänomene zu verlassen. Anders als bei Kant, so ließe sich vorwegnehmend sagen, ist die Bedeutung sinnlicher Phänomene in Levinas’ Augen kein Produkt einer späteren Erkenntnis, 409 sondern dieselben tragen umgekehrt je schon eine Bedeutung in sich, die für den Verstand konstitutiv ist. Levinas sucht eine Bedeutung, deren Ursprung nicht der Verstand ist und verlässt damit die Grenzen der kantischen Philosophie, der er aber auch sehr viel verdankt. In diesem Kontext ist der Begriff der Hoffnung für die kantische Philosophie nun insofern zentral, als dieselbe von einer strengen Trennung des sinnlich Wahrnehmbaren und des reinen Denkens ausgeht und damit die Möglichkeit von Ideen einräumt, die keinen Bezug auf den sinnlich bedingten Erfahrungshorizont haben und eine Hoffnung auf eine Welt eröffnen, die reinen Vernunftgesetzen gehorcht. In der Tat spricht Kant von einer vernunftgewirkten Hoffnung, deren Erfüllung sich der Mensch, dessen Dasein stets auch sinnlich bedingt ist, nur annähern kann. Mit dieser Hoffnung ist nun nichts verbunden, das aus der Perspektive des Menschen, dessen Verstand auf Erfahrung Das lässt die Einleitung in die B-Auflage von Kants Kritik der reinen Vernunft deutlich erkennen, wo Kant die Überzeugung vertritt, es gehe »[d]er Zeit nach keine […] Erkenntnis in uns der Erfahrung vorher«, wenngleich das nicht bedeute, dass es keine »von der Erfahrung und selbst von allen Eindrücken der Sinne unabhängige Erkenntnis gebe« (Kant, KrV: B1 f.). Hieraus folgt nämlich, dass es zur Erkenntnis in den Augen Kants einerseits der sinnlichen Rezeption und andererseits einer davon unabhängigen Apperzeptionsleistung des Verstandes bedarf. Entsprechend dieser Zwei-Stämme-Lehre der Erkenntnis distanziert sich Kant im Verlauf der Kritik der reinen Vernunft einerseits von dem rein empiristischen Standpunkt, den Locke vertritt, und andererseits von Leibniz’ rein rationalistischer Position. 409 Dass sinnliche Phänomene bei Kant erst in der späteren Erkenntnis durch den Verstand Bedeutung erlangen, erklärt sich daraus, dass nach seiner Ansicht zunächst ein sinnliches Phänomen gegeben sein muss, bevor der Verstand, indem er darüber urteilt, zur Ausübung gelangt (vgl. zu Kants Trennung von Sinnlichkeit und Verstand Anm. 408; zu seiner Rückführung sämtlicher Verstandeshandlungen auf das Urteil Kant, KrV: B94). Bedeutung können in diesem Kontext in Kants Augen überhaupt nur sinnlich gegebene Phänomene erlagen, die durch ein Urteil prädikativ bestimmt werden (vgl. ebd., B294–315). 408

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angewiesenen ist, einen konkreten Sinn ergeben oder das er sich veranschaulichen könnte. Levinas hebt an Kants Begriff der Hoffnung deshalb auch positiv hervor, dass er den Blick für eine Bedeutung eröffne, die jenseits aller Theorie liege, kritisiert jedoch, dass diese Bedeutung bei Kant ein Produkt des Denkens sei. Nach seiner Ansicht steht der Mensch in der Spur einer Bedeutung, die kein Produkt, sondern ein Konstitutionsmoment des Denkens ist. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Begriff des Wartens. Während die Hoffnung ein Moment des Wünschens sowie des Herbeisehnens in sich trägt und sich dadurch auf eine Zukunft richten kann, die nicht unbedingt eintreten können muss und deren Bedeutung sich uns mitunter entzieht – man denke hierbei etwa an das Hoffen auf die Unsterblichkeit der Seele –, richtet sich das Warten konkret auf etwas oder jemanden, dessen Bedeutung uns bewusst sein muss und das daher in jedem Fall eine zeitliche Erfüllung haben können muss. Die Bedeutung desjenigen, worauf man wartet, ist keine Unbekannte, und man muss daher bereits in der Vergangenheit mit ihr in Kontakt gekommen sein. So richtet sich auch das Warten bei Levinas auf eine Zukunft, die prinzipiell eintreten kann und Spuren einer vergangenen Begegnung in sich trägt. Denn das Denken ist bei Levinas je schon konstituiert durch eine Bedeutung, die ihm vorausgeht und in deren Spur es steht. Der Sinn des Denkens ist für Levinas in diesem Kontext daran gebunden, sich selbst in einem diskursiven Prozess zu hinterfragen und geduldig auf die Erneuerung jener Sinngebung zu warten, die dem Denken in der Vergangenheit eine Bedeutung verlieh, die dasselbe sich aber nie vergegenwärtigen kann, zumal sie aus seiner Perspektive immer schon vergangen ist. Ähnlich wie die Hoffnung für Kant markiert das Warten bei Levinas einen Bedeutungshorizont, der die Theorie übersteigt und für die menschliche Seinsweise dennoch konstitutiv ist. Das Warten ist allerdings kein Produkt, sondern die Bedeutung des Denkens, das schlechthin Intelligible, und es kommt aus einer Vergangenheit, »die niemals Gegenwart war«. 410 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Kant und Levinas an diesem Punkt, der die Begriffe der Hoffnung und des Wartens betrifft, viel gemeinsam haben und doch weit voneinander entfernt sind. Dabei ist auch ein Blick auf Levinas’ Rezeption von Kants Begriff der Hoffnung zu werfen, die sich an den Begriffen »Sinn« und »Bedeutung« abarbeitet. Zunächst soll nun auf Kants Begriff der Hoffnung eingegangen werden, 410

Levinas, Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit, ZU: 278.

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dann auf Levinas und schließlich auf etwaige Differenzen zwischen den beiden Autoren. Als Antwort auf Humes selbstgewählten Ausweg aus dessen skeptischer Infragestellung der Metaphysik lehnt Kant bekanntlich ab, die Verstandesgrundsätze wie Hume auf die »Weisheit der Natur« zurückzuführen, den Menschen mit Erfahrung und Gewohnheit zu bedenken. 411 In den Augen Kants verhält es sich genau andersherum: Nicht die Natur zeichnet für die Verstandesgrundsätze verantwortlich, sondern der Verstand gibt der Natur die Regeln vor, indem er jene objektive Einheit, die wir Natur nennen, an unseren sinnlichen Wahrnehmungen erst hervorbringt. 412 Dieser Gedanke findet schließlich Eingang in Kants Lehre von den zwei Stämmen der Erkenntnis, wonach zunächst eine sinnliche Wahrnehmung gegeben sein muss, bevor der Verstand zur Ausübung gerät und das in der Wahrnehmung gegebene Sinnenmaterial nachträglich zur objektiven Einheit der Erkenntnis verbindet. 413 Hiermit vollzieht Kant eine strenge Grenzziehung zwischen dem zeitlichen Sinn, in dem sich ein Phänomen in der Wahrnehmung zeigt, und seiner begrifflichen Bedeutung im erkennenden Verstand. 414 Kant zeichnet damit ein »janusköpfige[s] Gebilde« des Menschen, 415 der teils Anhänger einer 411 Vgl. zu Humes skeptischem Zweifel bes. Hume, »Of the Idea of Necessary Connexion«, EHU: 60–79; zu Humes Begriff der »Weisheit der Natur« vgl.: »It [the operation of the mind, by which we infer like effects from like causes, MB] is more conformable to the ordinary wisdom of nature to secure so necessary an act of the mind, by some instinct or mechanical tendency, which may be infallible in its operations, may discover itself at the first appearance of life and thought, and may be independent of all the labored deductions of the understanding.« (Hume, EHU: 55) Kants Diskussion von Humes skeptischem Zweifel ist besonders in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik dokumentiert. 412 Im Blick auf die objektive Gegebenheit der sinnlichen Wahrnehmung in der Erfahrung hält Kant in der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe der Kritik der reinen Vernunft fest, »daß wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben« (Kant, KrV: B130). 413 Vgl. zu dieser Thematik Anm. 408 sowie Anm. 409 oben und bes. auch Kant, KrV: B1 ff. 414 Vgl. hierzu das Kapitel »Die Zeit als eine Grenze des Verstandes bei Kant« sowie den Abschnitt »Die Bedeutung des Phänomens Zeit bei Levinas und das Erbe Kants«, bes. die dortigen Ausführungen zu Kants Begriff einer kopernikanischen Revolution in der Philosophie. 415 Violetta Waibel nennt Kants Bestimmung von Raum und Zeit qua transzendentaler Idealität und empirischer Realität ein »janusköpfige[s] Gebilde« (Waibel, Transzendental ideal, empirisch real, 210). Ich denke, dies lässt sich auch über Kants Zweiteilung der Erkenntnisvermögen in Sinnlichkeit und Verstand sagen: Zum einen gibt

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zeitlichen Ordnung ist, die seinen Wahrnehmungsverlauf strukturiert und wonach das Subjekt zwar vieles zugleich vorstellen kann, verschiedene Vorstellungen im inneren Sinn aber nur nacheinander wahrnehmen kann, 416 und teils Anhänger einer begriffslogischen Ordnung, die auf den Strukturen der sinnlichen Wahrnehmung aufbaut, 417 welche der Mensch sich begrifflich vergegenwärtigt und dadurch in einen Modus der Gleichzeitigkeit bringt, der der zeitlichen Ordnung diametral entgegensteht. Das Denken ist der Sinnlichkeit, obwohl es auf deren Mechanismen aufbaut, in Kants Augen dennoch alles andere als sklavisch ausgeliefert: Indem es mit eigenen Begriffe a priori über den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung urteilt, setzt es sich der Sinnlichkeit als Freiheit und mit einer eigenen Gesetzgebung entgegen. 418 Gleichwohl Kant der Erkenntnis damit zwei verschiedene Gesichter, nämlich das der sinnlich bedürftigen und das der vernünftig rationalen, die einander nie zu Gesicht bekommen und die Kant mit Strenge und Nachdruck unterscheidet. Auch Janus wird mit zwei Gesichtern dargestellt, die einander als Kehrseite des jeweils anderen nie zu Gesicht bekommen. Darüber hinaus ist Kant der Ansicht, dass der Verstand allererst durch die Sinnlichkeit zur Ausübung gerät und dass mit dieser alles anfängt (vgl. die Ausführungen oben und die Anm. 417), dass aber der Verstand letzten Endes über jene von der Sinnlichkeit unabhängigen Begriffe verfügt, die das Sinnenmaterial allererst zur Einheit der Erkenntnis bringt. Auch dies wird in der Rede von einem »janusköpfigen Gebilde« verdeutlicht, da Janus der Gott des Anfangs und des Endes ist. 416 Vorstellungen sind in Kants Augen nämlich Zustandsveränderungen des Subjekts, die im inneren Sinn wahrgenommen werden, eine Veränderung aber ist nach seiner Ansicht eine »Verbindung kontradiktorisch entgegengesetzter Prädikate […] in ein und demselben Objekte«, die in einem Ding »[n]ur in der Zeit […], nämlich nacheinander anzutreffen« ist (Kant, KrV: B48 f.; zum Zusammenhang von innerem Zustand und Vorstellungsvermögen des Subjekts vgl. ebd., A22 f./B37 f.). Weil Kant Vorstellungen als Wahrnehmungen der Zustandsveränderungen des Subjekts begreift, sind dieselben in seinen Augen nur nacheinander möglich. Weil unsere Erkenntnis nach seiner Ansicht zudem an den Verlauf der sinnlichen Wahrnehmungen gebunden ist, formuliert er hierauf aufbauend auch den transzendentalen Grundsatz, dass verschiedene Zeiten nur nacheinander möglich sind (vgl. ebd. A31/B47). 417 Wie Kant festhält geraten die Erkenntnisvermögen nach seiner Ansicht erst durch die Erfahrung zur Ausübung, wobei dem Verstand zunächst eine sinnliche Wahrnehmung gegeben sein muss, deren empirischen Gehalt er begrifflich bestimmen kann (vgl. Kant, KrV: B1 u. A19 f./B33 f.). 418 Kant bestimmt das Vermögen zu denken, das heißt den Verstand, als »Vermögen zu urteilen« (Kant, KrV: B94), das sich auf sinnlich gegebene Gegenstände bezieht (vgl. Kant, KrV: A19/B33 u. B136). Die einzige Freiheit des Denkens, die vor diesem theoretischen Hintergrund möglich ist, ist auf der Urteilskraft des Menschen errichtet und besteht darin, sich der Natur des sinnlich Gegebenen auf Grundlage des eigenen Urteils entgegenzusetzen (vgl. Kant, KU, AA 05: 195–198). Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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steht, was diese Freiheit hervorbringt, jederzeit im Kontext der Sinnlichkeit und ist als Urteil darauf bezogen, weshalb es uns im Rahmen dieser Freiheit in Kants Augen auch nicht möglich ist, allein nach den Gesetzen dieser Freiheit zu handeln, 419 da wir je schon in einem Geflecht von Sinnlichkeit und Verstand gefangen sind, in dem wir nur zum Teil frei sind und weder imstande sind, die ursprüngliche Wurzel dieses Geflechts zu erkennen, noch die Kluft, die dazwischen klafft, zu schließen. 420 Indem das Denken sich der Sinnlichkeit als Freiheit entgegensetzt, verfolgt es gleichwohl das Interesse, auf der Grundlage des Bereichs der sinnlichen Wahrnehmung eine »reine Verstandeswelt«, ein »Reich autonomer Zwecke« zu errichten und die Kluft zur Sinnlichkeit dadurch zu überwinden. 421 In praktischer Absicht ist die Vernunft bei Kant also von einem Interesse geleitet, dessen Folgen oder auch nur dessen bloße Möglichkeit ihren theoretischen Horizont übersteigt und, das zu verwirklichen, sie nur hoffen, jedoch zu keinem erdenklichen Zeitpunkt erwarten kann. Dies ist schließlich der Kontext, in dem Kants Begriff der Hoffnung in Erscheinung tritt, und zwar als eine der praktischen Vernunft entspringende Hoffnung ohne jede Aussicht auf Erfüllung in der Zeit und die noch nicht einmal zulässt, sich aus einer theoretischen Perspektive vorzustellen, wie eine Erfüllung, die sich ja zeitlich ereignen müsste, aussehen könnte, da sie sich als reines Vernunftprodukt aus den bereits genannten Gründen nicht in der Ordnung der Zeit abbilden lässt. Doch was verspricht diese Hoffnung überhaupt so Großes, 419 Vgl. Kants Bestimmung des Begriffs Heiligkeit als ein für den Menschen unerreichbares Ideal der »Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkt seines Daseins, fähig ist« und die eine »völlige Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetz« als Gesetz der Freiheit ist (Kant, KpV, AA 05: 122). 420 Nach Kant herrscht »eine unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen« (vgl. Kant, KU, AA 05: 175 f.), wenngleich beides »vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel« entspringt (Kant, KrV: B29). 421 Zum Interesse der Vernunft, eine reine Verstandeswelt, ein Reich autonomer Zwecke zu errichten, das den im Geflecht mit der Sinnlichkeit heteronom bestimmten Interessen der praktischen Vernunft entgegensteht, vgl. Kant, GMS, AA 04: 462 f. u. 433–440. Anmerkung: Levinas kritisiert, Kants Begriff eines Reichs der Zwecke sei eine »Gemeinschaft der Geister«, in der nur die »Hoffnung auf Glück« den Pluralismus aufrechterhalte (Levinas, TU: 314/TI: 192). Dies ist insofern richtig, als diese Hoffnung bei Kant zwar den moralischen Bestrebungen einer universalen Vernunft entspringt, jedoch auf ein Gut gerichtet ist, das auch das individuelle sinnliche Glück des Menschen beinhaltet.

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dass die Vernunft daran festhält, ohne sich im Mindesten eine Vorstellung davon machen zu können? Sie verspricht nicht nur, die Kluft zur Sinnlichkeit zu überwinden, sondern verheißt damit zugleich, die Brücke zur Empfindung der Annehmlichkeit zu schlagen, auf der nach Kant das Glück des Menschen gründet: 422 Sie verspricht eine Welt, in der die Prinzipien des Glücks den Gesetzen des reinen Verstandes entsprechen. Um dorthin zu gelangen, muss sich die Vernunft der Sinnlichkeit und ihren allgemein verbindlichen Wahrnehmungsformen wie gesagt zunächst in toto entgegensetzen, um darauf aufbauend eine reine Verstandeswelt zu errichten, weshalb sie ihren Zweck nur erfüllt, wenn sie auch selbst allgemein verbindlich handelt. Mit anderen Worten wird ihr Vorhaben von einem Imperativ zur allgemeinen Verbindlichkeit geleitet und das heißt nach Kant von einem Imperativ zur Moralität. Die praktische Vernunft handelt bei Kant dann nach einem moralischen Imperativ, wenn sie versucht, die Kluft, die sie von der Glückseligkeit trennt, zu überwinden und dabei nach einer Gesetzmäßigkeit handelt, die für die Freiheit eines jeden Menschen, der derselben sinnlich wahrnehmbaren Welt angehört, verbindlich ist. Die Hoffnung, die die praktische Vernunft dabei hegt, richtet sich daher auf eine der Moralität entsprechende Glückseligkeit, die Kant das höchste Gut nennt, 423 und die gleichwohl »niemals hier, oder in irgend einem absehlichen künftigen Zeitpunkte« erfüllt werden kann, 424 wie Kant festhält. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, kann im Blick auf den Begriff der Hoffnung bei Kant somit festgehalten werden: Die Hoffnung ist ein Produkt der praktischen Vernunft, das ihrem Bestreben nach einem höchsten Gut entspringt, dessen Sinn der theoretischen Vernunft ein absolutes Rätsel ist und das sie auch niemals erreichen kann, weil sie dazu aus jener innigen Verbindung mit der zeitlichen Ordnung der 422 Bei Kant gründet Glückseligkeit auf der Empfindung der Annehmlichkeit, die ihrerseits lustbestimmt ist (vgl. Kant, KpV, AA 05: 22). Dies entspricht Kants Trennung zwischen Sinnlichkeit und Verstand: Das Glück wird dezidiert auf der Seite des Gefühls verortet, das zu einer Handlung zwar motivieren, sie aber nicht hervorbringen kann, was letzteres die Aufgabe der praktischen Vernunft ist. Kants Engführung des Glücksbegriffs auf die Lust lässt meines Erachtens viele soziale Dimensionen dieses Begriffs in den Hintergrund geraten, wie sie etwa im Familien-, Kinder- oder Freundschaftsglück enthalten sind. 423 Zum Begriff des höchsten Guts bei Kant vgl. Kant, KpV, AA 05: 110–112; vgl. dazu den Begriff der Hoffnung in Kant, KpV, AA 05: 128 ff. 424 Kant, KpV, AA 05: 123 f.

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Sinnlichkeit heraustreten müsste, die dieses Vorhaben und ihre damit verbundene Hoffnung allererst notwendig machen. Als Produkt der reinen Vernunft trägt diese Hoffnung eine Bedeutung in sich, die ihren theoretischen Horizont übersteigt, jedoch im Bereich ihres praktischen Interesses liegt. Gleichwohl hilft diese Hoffnung dem Menschen, von seinen unmittelbaren sinnlichen Bedürfnissen zum Zweck eines höchsten Guts zu abstrahieren und damit die eigene Freiheit zu befördern, in dem Glauben zwar, dies würde zu einer der Moralität entsprechenden Glückseligkeit führen. Dass die strenge Trennung zwischen dem Bereich der Moralität und der Glückseligkeit bei Kant, die dort auf eine Trennung zwischen dem phänomenalen Sinn und der rein vernünftigen Bedeutung des menschlichen Lebens zurückgeht, in der Ideengeschichte vielfach kritisch aufgenommen wurde, hat nun zwar mehrere Gründe. Für die folgenden Ausführungen entscheidend ist allerdings, dass Kant damit das Bild eines Denkens zeichnet, das, wie Heidegger es sagt, neben der Zeit steht, die seine endliche Existenz prägt, und dabei hofft, etwas zu erreichen, das sich mit den zeitlichen Bedingungen seines Daseins nicht vereinbaren lässt. An diesem Punkt setzt Levinas’ Kritik an, Kant gehe von einer Hoffnung aus, die keine zeitliche Erfüllung habe. Das wird im Folgenden noch deutlicher werden, wenn Levinas’ Begriff des geduldigen Wartens erörtert wird. Kants rigorose Grenzziehung zwischen dem Bereich des reinen Denkens und der Sinnlichkeit wird in der Phänomenologie zuerst bei Husserl unter dem Stichwort der eidetischen Reduktion, dann bei Heidegger infrage gestellt, nach dessen Ansicht sich das menschliche Dasein immer schon in einem Seinsverständnis bewegt, das die sinnlichen Dimensionen seines eigenen Daseins miteinschließt. In dieser Traditionslinie steht auch Levinas, auf den sich die folgenden Ausführungen konzentrieren. Er spricht in diesem Kontext, wie hier bereits erörtert wurde, 425 von einem »Mythos der reinen Sinnlichkeit. Ganz anders als etwa Kant vertritt er nämlich die Ansicht, dass, was wir sinnlich wahrnehmen, nicht erst im erkennenden Verstand Bedeutung erlangt und sich daher auch nicht isoliert von den Bestimmungen des reinen Denkens betrachten lässt, 426 wie es bei Kant ja vorgebVgl. den Abschnitt »Der Urteils- und der Zeitdiskurs bei Kant und Levinas«. Eine solche Isolation der reinen Form der Sinnlichkeit von den Kategorien des reinen Denkens ist das Kernanliegen von Kants transzendentaler Ästhetik. Vgl. hierzu: »In der transzendentalen Ästhetik also werden wir zuerst die Sinnlichkeit isolie425 426

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lich geschieht. Nach seiner Ansicht bedeuten sinnliche Phänomene vielmehr je schon »von der ›Welt‹ her und von der Position des Betrachtenden aus«. 427 Levinas nimmt an, dass sinnliche Phänomene von vorherein eine Bedeutung in sich tragen, und dass diese Bedeutung, indem sie die Seinsweise des Seienden infrage stellt, ein Denken evoziert, das sein eigenes Sein reflektiert und Verantwortung übernimmt, worauf sich schließlich sein Selbstbewusstsein begründet. 428 Levinas’ zentrales Argument gegen Kant, im Übrigen auch gegen Heidegger, lautet nach meiner Einschätzung, dass der Mensch sich qua Denken in einem Dialog mit sich selbst befindet, indem er die eigene Seinsweise reflektiert und thematisiert, und dass dieser Dialog mit sich selbst nur unter der Bedingung möglich ist, dass sich im Sein des Menschen die Spur von etwas oder vielmehr von jemandem findet, der es infrage stellt. 429 Man muß sich daher fragen, ob selbst der Diskurs, der sich selbst innerer nennt […] auf einer vorherigen Gemeinschaft mit einem Anderen beruht, bei der die Gesprächspartner unterschieden sind. Man muß sich fragen, ob nicht, damit der innere Dialog noch Dialog genannt werden kann, diese effektive, vergessene Gemeinschaft dennoch durch den – und sei er auch vorläufig – Bruch zwischen sich und sich vorausgesetzt ist[.] 430

Levinas geht davon aus, dass der Mensch sich in einem Dialog befindet, der auf einer Gemeinschaft mit dem Anderen beruht. Denn nach seiner Ansicht, so lautet sein Argument, setzt alles Sinnvolle einen sinngebenden Gehalt voraus, der dem, das insgesamt sinnvoll erscheint, die dafür notwendige einheitliche Bedeutung verleiht. 431 ren, dadurch daß wir alles absondern, was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt, damit nichts als empirische Anschauung übrigbleibe.« (Kant, KrV: A22/B36) 427 Vgl. Levinas, Sinn und Bedeutung, HAM: 22 f./HAH: 13 f. 428 Vgl. zu dieser Thematik besonders Anm. 344 im ersten Abschnitt des vorliegenden Kapitels. 429 Diese Verbindung der dialogischen Struktur der Egoität mit der Frage bildet sich bei Levinas auch darin ab, dass der Skeptizismus, in dem das eigene Denken in seiner Egoität infrage gestellt wird, zu jeder Zeit möglich ist und selbst dort, wo er beigelegt wurde, jederzeit aufs Neue erwachen kann (vgl. Anm. 273). 430 Levinas, Diachronie und Repräsentation, ZU: 199; vgl. ders., GZ: 52. Ähnlich schreibt Levinas in Totalität und Unendlichkeit: »[D]ie ›unnatürliche‹ Haltung der Reflexion ist im Leben des Bewußtseins kein Zufall. Sie impliziert, daß das Selbst in Frage gestellt ist, sie impliziert eine kritische Einstellung, die sich ihrerseits im Angesicht des Anderen und unter Autorität ereignet.« (ders., TU: 112/TI: 53). 431 Dies ist der Grundgedanke von Levinas’ Heidegger-Kritik und zugleich das Fundament seines Gottesbegriffs: »Wir denken nicht, daß das Sinnhafte auf Gott verzichÜber Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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Nun ist Sinn ein wesentliches Merkmal des Dialogs. Befindet sich der Mensch also in einem Dialog mit sich, so setzt der Sinn dieses Dialogs einen sinngebenden Gehalt voraus, der jenseits dessen liegt, was darin zum Thema wird, und der dem Dialog vielmehr dadurch eine Bedeutung verleiht, dass er das Sein des Menschen infrage stellt und dessen inneren Diskurs allererst provoziert. Diese Bedeutung ist sodann sinngebend für die diskursive Identität des Denkens und das Selbstbewusstsein des Menschen, die den inneren Diskurs bereits voraussetzen. Die auf dem Selbstbewusstsein begründete Einzigkeit des Menschen ruht bei Levinas somit auf einer Bedeutung, die ihn infrage stellt, indem sie dessen inneren Diskurs provoziert, und damit auf einen Gesprächspartner verweist, der absolut anders ist. 432 Der absolut Andere lässt den Menschen als eine Frage erscheinen, die sich immerfort stellt, indem sie dessen inneren Diskurs stets aufs Neue zum Leben erweckt, ohne darin jemals selbst zum Thema zu werden. 433 Das heißt auch: Der absolut Andere ist nicht an die Endlichkeit dieses Diskurses gebunden, für den er unsichtbar ist und dem gegenüber er eine schöpferische Hoheit bedeutet. 434 Unsichtbarkeit, Unendlichkeit, Hoheit, Schöpfung – Levinas spricht hier von Gott, der das Seiende im Namen der Menschlichkeit infrage stellt, seine Antwort zur Verantwortung für die Menschlichkeit erhebt, 435 und ihm ten kann, und auch nicht, daß die Idee des Seins oder die Idee des Seins des Seienden an seine Stelle treten können, um die Bedeutungen zu jener Einheit des Sinnes zu führen, ohne die es keinen Sinn gibt. / […] Der Sinn ist unmöglich, wenn ein Ich der Ausgangspunkt ist, das, wie Heidegger sagt, derart existiert, ßB2ß›ßB2ßdaß es ihm in seinem Sein um dieses Sein selbst geht« (Levinas, Die Bedeutung und der Sinn, HAM: 32/HAH: 40). 432 Vgl. dazu Levinas TU: 142–144/TI: 73–75 sowie ders., Diachronie und Repräsentation, ZU: 199. 433 Vgl. zu dieser »Iteration des Erwachens« bei Levinas, GZ: 32, 39 u. 122 f., ferner auch ders., JS: 313/AQ: 182, dazu die »Rekurrenz des Sich« in ders., JS: 247/AQ: 142. 434 Vgl. zu Levinas’ Gottesbegriff im Kontext der Hoheit, der absoluten Andersheit und der Infragestellung bes. Levinas, Die Bedeutung und der Sinn, HAM: 42–59/ HAH: 49–63; im Kontext der Sprache, der Ethik und des Menschen ders., JS: 390– 395/AQ: 231–233; vgl. zu dieser Thematik auch ders., TU: 105–109/TI: 49–52. – Das französische »hauteur« wird im Deutschen oft mit Erhabenheit übersetzt, was besonders im ästhetischen Kontext gebräuchlich ist; die Übersetzung mit Hoheit, welcher Begriff im Deutschen für ethische Kontexte geläufiger ist, scheint mir daher die bessere Übersetzung. 435 Vgl. zur Verantwortung für die Verantwortung seiner Nächsten im Kontext von Levinas’ Begriffen von Menschlichkeit und Gott: Levinas, Humanismus und An-archie, HAM: 78–83/HAH: 78–82. Levinas nennt diese Verantwortung, auf die er die

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eine Dauer verleiht, die über die Endlichkeit seines Seins qua unendlicher Bedeutung der Menschlichkeit hinausgeht und aus einer Vergangenheit kommt, die niemals Teil seiner Gegenwart war. 436 Hört der einzelne Mensch jedoch auf, sich der Menschlichkeit zu beugen, wird sein Leben sinnlos. Dies ist eine Möglichkeit, die Levinas einräumt, da der innere Diskurs, den Gott nach seiner Ansicht evoziert, auch eine Trennung von dessen sinngebender Bedeutung einschließt, 437 welche Trennung der Freiheit gleichkommt, den Sinn seines Lebens selbst zu verantworten. Wer ein sinnvolles Leben führen will, das von Dauer ist, muss Verantwortung für die Menschlichkeit schlechthin übernehmen, mithin auch Verantwortung für die Verantwortung der anderen, endlichen Menschen, jedoch über deren Endlichkeit hinaus. Das heißt, wer ein sinnvolles Leben führen will, muss Verantwortung für die Endlichkeit des Menschen schlechthin übernehmen, was nur insofern gelingen kann, als die Verantwortung für den Tod des anderen Menschen übernommen wird. 438 Die Verantwortung eröffnet hier demnach eine Zukunftsdimension, die über den Tod hinaus andauert, 439 und zwar nicht nur über denjenigen der anderen Menschen, sondern auch über den eigenen, da auch die eigeMenschlichkeit zurückführt, auch eine Verantwortung, »die älter ist als der conatus der Substanz« (ders., Ohne Identität, HAM: 101/HAH: 99). 436 Im Kontext der Verantwortung spricht Levinas von einer Vergangenheit, »die niemals Gegenwart war« (Levinas, Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit, ZU: 278; vgl. auch ders., Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe, ZU: 156 f.) und auf die das »Immer der Zeit, die Dauer der Zeit« zurückgeht (vgl. bes. ders., GZ: 32 f. u. 39). Vgl. hierzu auch die Anm. 393. 437 Zu dieser Trennung, die auch eine Trennung von Gott ist, und zur damit verbundenen »Möglichkeit, eine Rechtfertigung für sich zu suchen« vgl. Levinas, TU: 123/ TI: 6; dazu: ders., TU: 105 f./TI: 49 f.; im Kontext der Ethik ders., TU: 106 f./TI: 50; zur Möglichkeit des Nicht-Sinns ders., GZ: 30. 438 Anders als bei Heidegger ist die ursprüngliche Bedeutung des Todes bei Levinas daher auch der Tod der Anderen (vgl. Levinas, TU: 348/TI: 214; vgl. dazu ders., TU: 303/TI: 184 f. sowie TU: 350/TI: 215 f.; vgl. dazu allgemein auch den ersten Abschnitt in diesem Kapitel, bes. Anm. 359). 439 Levinas schreibt: »Höhepunkt jener Nähe des Nächsten, wenn das Antlitz des anderen Menschen […] seine – imperativische Eigenart verteidigt, dem sterblichen Ich einen Sinn zu stiften, über jede eventuelle Erschöpfung der egologischen Sinngebung und den antizipierten Zusammenbruch jedes aus dieser Sinngebung hervorgegangenen Sinns hinaus. Hier also, im Anderen, ein Sinn und eine Verpflichtung, die mich über meinen Tod hinaus verpflichtet! Urbedeutung des Futurs! Futurisierung eines Futurs, das nicht zu mir kommt wie eine Zukunft, als Horizont meiner Antizipationen oder Protentionen. […] Futurisierung des Futurs nicht als Gottesbeweis, sondern als ›Fall Gottes in den Sinn.‹ Einzigartiger Zusammenhang der Zeitdauer – Über Sinn und Bedeutung bei Kant und Levinas

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ne Verantwortung im Bereich der Verantwortung der Anderen liegt, sodass, ob mein Handeln sinnvoll war, mit dem eigenen Tod noch keineswegs entschieden ist. In Levinas’ Worten: »[d]as Sinnhafte geht nach meinem Tod weiter«. 440 Die Zukunft richtet über den Sinn des eigenen Lebens, ohne jemals gegenwärtig zu sein, zumal der Sinn des eigenen Lebens hier an eine Verantwortung gebunden ist, deren Reichweite über die Grenzen des eigenen Daseins hinausgeht. Diese Zukunft ist aus der Perspektive des einzelnen Menschen folglich niemals Gegenwart und auf immer zu-künftig, was in Levinas’ Augen allerdings auch bedeutet, dass der einzelne Mensch stets noch die Zeit hat, sich qua Bewusstsein der hereinstehenden Gewalt des Seins, die droht, den eigenen Bemühungen um ein sinnvolles Leben ein jähes Ende zu setzen, entgegenzusetzen. In Totalität und Unendlichkeit aus dem Jahr 1961 hält er in diesem Zusammenhang Folgendes fest: Die menschliche Freiheit beruht auf der Zukunft ihrer Unfreiheit, die immer noch minimal Zukunft ist, sie beruht auf dem Bewußtsein – dem Vorhersehen der Gewalt, die in die Zeit, die noch bleibt, hineinsteht. Bewußtsein haben heißt Zeit haben. Bewußtsein haben heißt nicht, über die Gegenwart hinausgehen in der Antizipation und der Beschleunigung der Zukunft, sondern einen Abstand haben von der Gegenwart: sich auf das Sein beziehen wie auf das künftige Sein, einen Abstand vom Sein bewahren, während man schon seine Umklammerung erleidet. Frei sein heißt, die Zeit haben, um dem eigenen Verfall unter der Drohung der Gewalt zuvorzukommen. 441

über die Bedeutung der Zeit als Präsenz […] hinaus –: Zeit als das ›Hin-Zu-Gott‹ (A-Dieu) der Theologie.« (Levinas, Diachronie und Repräsentation, ZU: 211 f.) 440 Im Detail: »Im Sterben geht man doch nicht bis zum Äußersten des Denkens und des Sinnhaften! Das Sinnhafte geht nach meinem Tod weiter.« (Levinas, Diachronie und Repräsentation, ZU: 213) An derselben Stelle schreibt Levinas: »Bedeutung einer Autorität, die nach meinem Tod und trotz seiner Sinn stiftet: dem endlichen Ich, dem todgeweihten Ich einen sinnvollen Befehl gebend, der jenseits dieses Todes bedeutet. Gewiß kein Versprechen ewigen Lebens, sondern eine Verpflichtung, von der nicht einmal der Tod entbindet, und eine Zukunft, die sich von der synchronisierbaren Zeit der Repräsentation unterscheidet, von einer Zeit, die der Intentionalität geboten wird, wo das ›Ich denke‹ das letzte Wort spricht und einsetzt, was sich seinen Fähigkeiten der Angleichung aufdrängt. / Verantwortung für den Anderen bis zum Sterben für den Anderen!« (Ders., Diachronie und Repräsentation, ZU: 211) 441 Levinas, TU: 348/TI: 214; vgl. dazu TU: 303, 350/TI: 184 f., 215 f. Wie im Weiteren deutlich werden wird, ist es besonders wichtig, Levinas’ Zeitbegriff nicht auf den Begriff der Antizipation zurückzuführen, wie dies etwa bei Wang Heng geschieht (vgl. Heng, Lévinas’s phenomenology of sensibility and time in his early period, 114).

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Gegenüber dieser Zukunft der Unfreiheit nimmt der Begriff des Wartens bei Levinas nun eine entscheidende Rolle ein. Zur Erinnerung: diese Zukunft richtet über die Verantwortung, die der Mensch auf eine Infragestellung Gottes hin übernommen hat, und sie bleibt immer zu-künftig, wird niemals Gegenwart und hört nicht auf, diese Verantwortung zu fordern beziehungsweise zu gebieten, 442 was Levinas betont, wenn er folgende Zeilen schreibt: Ist es nicht die unvergleichliche Art, wie die Zukunft absolut unwiderruflich der Gegenwart gebietet, […] ohne daß die Zukunft, im Auf-uns-zuKommen oder Ergreifen einer Antizipation – oder einer Protention – dominiert würde, ohne daß die Repräsentation von Furcht und Hoffnung die Dia-Chronie der Zeit und das Übermaß und die Autorität des Imperativs beeinträchtigten? 443 Angeordnet wird die Verantwortung für den anderen Menschen, die Güte, die das Ich seinem unwiderstehlichen Zurück-zu-sich-selbst entreißt; befohlen wird, das Ich dem bedingungslosen Beharren des Seienden in seinem Sein zu entreißen. Betont werden muss die Einheit der Ethik dieser Unterwerfung unter ein Gebot, das die Verantwortung für den anderen Menschen gebietet[.] 444

Die Zukunft zeigt sich bei Levinas also unter dem Vorzeichen, ein Imperativ zu sein, der der Gegenwart gebietet, sich Gott zu beugen und für die Menschlichkeit Verantwortung zu übernehmen. Die Beziehung des Menschen zu dieser Zukunft beschreibt Levinas nun als ein geduldiges Warten. Er trifft damit den Kern der Sache: Das Phänomen des Wartens eröffnet eine Zukunftsdimension, die anders als das Phänomen der Hoffnung eine Vergangenheit voraussetzt, in der dem, worauf gewartet wird, bereits begegnet wurde und die daher wesentlich an die Möglichkeit einer Erfüllung in der Zeit gebunden ist. Auf diese Art ist auch die Beziehung eines Menschen zu seiner Zukunft bei Levinas bestimmt, nämlich als ein Warten auf Gott, der seiner Seinsweise erst den spezifisch menschlichen Sinn verliehen hat, und dem er sich nun beugen soll, der aber niemals Teil seiner Gegenwart gewesen ist und dies auch niemals sein kann. Wie Levinas in seiner Vorlesungsreihe zum Thema Gott, der Tod und die Zeit festhält, ist das Warten auf Gott vor diesem Hintergrund ein 442 443 444

Vgl. in aller Kürze: Levinas, Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe, ZU: 156 f. Levinas, Vom Einen zum Anderen. Transzendenz und Zeit, ZU: 190. Levinas, Vom Einen zum Anderen. Transzendenz und Zeit, ZU: 191.

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[g]eduldiges Warten. Geduld und Ertragen des Unmaßes, Zu-Gott, Zeit als Zu-Gott. Warten ohne Erwartetes, Warten auf das, was kein Ziel sein kann und das immer vom schlechthin Anderen auf den Anderen verweist. Das Immer der Dauer: Ausdauernde Länge der Zeit, die nicht die Länge eines Flusses ausmacht, der strömt. Zeit als Beziehung des Sich-Beugens vor dem, was nicht vergegenwärtigt werden kann 445.

Anders als alltägliche Phänomene des Wartens nimmt das Warten auf Gott nach Levinas keine Dauer in Anspruch, es ist das »Immer der Dauer«. Es bildet eine metaphysische Instanz, die die zeitliche Dauer und den Sinn des menschlichen Seins bestimmt, indem es dessen Beziehung zu Gott aufrechterhält, dem dieses sich beugen muss, um kein sinnloses Leben zu führen. Wie vor ihm bereits Heidegger in Sein und Zeit konterkariert Levinas damit nicht zuletzt Kants strenge Trennung zwischen dem zeitlich bestimmten Sinn und der reinen Bedeutung des Phänomens Mensch und zeigt eine Alternative auf, in der das Phänomen der Zeitlichkeit dem vollen Umfang des Menschen als einem phänomenalen Wesen gerecht wird. Levinas zeigt, wie der Sinn der menschlichen Existenz immer schon durch ein Warten auf Gott geprägt ist, der ihr erst die spezifisch menschliche Bedeutung verleiht. Das ist der wesentliche Unterschied zu Kant, nach dessen Ansicht diese Bedeutung, wie hier gezeigt werden konnte, eine Idee der Vernunft ist, die in der Hoffnung auf ein höchstes Gut mündet, die in der Zeit niemals erfüllt werden kann. Dies kritisiert Levinas auch an Kant, dass »[d]ie vernunftgemäße Hoffnung […] sich nicht mit der Hoffnung in der Zeit vergleichen lässt« und keine zeitliche Erfüllung hat. 446 Aus Levinas’ Perspektive projiziert Kant den Sinn menschlichen Lebens aus diesem Grund in das Nichts. 447 Darüber hinaus haben beide Ansätze je für sich bestimmte Stärken und Schwächen: So gelingt es Kant zwar, das oftmals zu beobachtende zeitliche Nacheinander der sinnlichen Wahrnehmung zu der Bedeutung, die wir ihr beimessen, zu beschreiben. Jedoch vertritt er zugleich die Ansicht, wir würden sinnliche Wahrnehmungen erst verstehen, wenn sie gegeben sind, nicht jedoch aus der Zeit heraus, in der sie ursprünglich erscheinen. Dies hinterlässt den befremdenden Eindruck, die zeitliche und logische Ordnung liefen auf unerklärliche Weise aneinander vorbei und man könne nur hoffen, sie jemals 445 446 447

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Levinas, GZ: 126; vgl. dazu auch ebd. 30 u. 39. Levinas, GZ: 77. Vgl. Levinas, GZ: 78.

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in Einklang zu bringen. Hier drängt sich der Einwand auf, dass sich diese Momente des menschlichen Lebens nicht isoliert voneinander betrachten lassen. Levinas dahingegen macht darauf aufmerksam, dass die Bedeutung und der zeitliche Sinn des menschlichen Lebens der isolierten Betrachtung nicht zugänglich sind. Er vertritt jedoch auch die Ansicht, der Mensch könne die Beziehung zu seiner Bedeutung verlieren, wenn er seiner Verantwortung für die Menschlichkeit nicht gerecht wird. Abgeschnitten von seiner gottgegebenen Bedeutung führt ein solcher Mensch ein sinnloses Leben, das in den Augen Gottes nicht von Dauer ist, da es nichts Menschliches hinterlässt. Die Radikalität dieser Überzeugung zeigt zumindest die Richtung an, in die eine kritische Lektüre der Levinas’schen Schriften gehen könnte. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass Kant und Levinas das menschliche Leben gleichermaßen aus einer humanistischen Perspektive betrachten. Kant spricht von einer berechtigten Hoffnung auf ein höchstes Gut, das Moralität und Glückseligkeit vereint, Levinas von einem Warten auf Gott, der einem befiehlt, Verantwortung zu übernehmen. Beide lassen kaum Raum für eine Bedeutung der zeitlich bestimmten menschlichen Existenz, die nicht im Schatten eines himmelhohen humanistischen Ideals stünde. Der Frage, ob diese Sichtweise gerechtfertigt ist und ob es nicht ein bis zum gewissen Grade auch elitäres Privileg ist, ein besonders moralisches Leben führen zu können, kann hier nicht mehr nachgegangen werden, eine ausführliche Diskussion dieser Frage wäre aus meiner Perspektive jedoch wünschenswert.

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6. Der Humanismus und die Zeit bei Kant und Levinas

Trotz tiefliegender Differenzen kommen Kant und Levinas darin überein, dass die Bedeutung des Lebens in der Zeit an die Moralität gebunden ist und dass, wer nicht moralisch handelt, droht, seine Menschlichkeit zu verlieren. Jedoch gründet diese Annahme bei Kant und Levinas auf unterschiedlichen Voraussetzungen: Kant stellt die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis und zielt damit auf apriorische Gewissheit. Levinas geht von der moralischen Erfahrung aus, dass der Andere den eigenen Horizont absolut infrage stellt. Die Philosophie befindet sich nach seiner Ansicht daher in einer »heiklen Lage« (»d’être en porte à faux«), 448 weil sie nicht auf erfahrungsunabhängigen Gewissheiten aufbauen kann. Im Folgenden sollen die Positionen umrissen und dann problematisiert werden. Dabei geraten nicht zuletzt gesellschaftliche Phänomene in den Blick, die die kategorisch moralische Pflicht des Menschen bei Kant und dessen unausweichliche Verantwortung bei Levinas sowie den Zusammenhang zwischen den Zeit- und Moralkonzeptionen der beiden Autoren grundsätzlich infrage stellen könnten. Die Frage wird sein, ob diese Phänomene den Menschen nicht zu einer Zeit fern von moralischer Verpflichtung oder ethischer Verantwortung zeigen und ob sie nicht dem humanistischen Ideal widersprechen, das Kant und Levinas an die Bedeutung des Lebens in der Zeit herantragen. Die Frage nach der Erkenntnis führt bei Kant zu einer strengen Trennung zwischen dem zeitlichen Sinn der Wahrnehmung und der logischen Bedeutung des Denkens. Soll Erkenntnis möglich sein, so Kants Überlegung in nuce, muss sie zunächst eine sinnliche Wahrnehmung enthalten, die von den Auffassungsleistungen des Subjekts unberührt und insofern in einer Weise entstanden ist, deren Verbindlichkeit über das individuelle Urteil eines Subjekts hinausreicht 448 Levinas, Humanismus und An-archie, HAM: 82/HAH: 82; vgl. ders., GZ: 67–77, 196; JS: 287/AQ: 166.

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und sich auf dessen gesamten sinnlich geprägten Erfahrungshorizont erstreckt. Auf dieser Voraussetzung aufbauend ist Erkenntnis nach Kant ferner nur über Begriffe a priori möglich, die in einem notwendigen Zusammenhang zu den Formen der sinnlichen Wahrnehmung stehen und die Gesetzmäßigkeit des sinnlich Wahrgenommen erkennen lassen. Dem zeitlichen Sinn, in dem ein Phänomen zunächst erscheint, stellt Kant damit dessen Bedeutung im erkennenden Verstand gegenüber, der es begrifflich vergegenwärtigt und damit zugleich entzeitlicht. 449 Ein Resultat seines transzendentalphilosophischen Ansatzes ist die strikte Trennung zwischen zeitlichem Sinn und der transzendentallogischen Bedeutung eines Phänomens, vor deren Hintergrund Kant schließlich auch im Blick auf das Phänomen Mensch sehr streng zwischen dessen zeitlichem Sinn und seiner Bedeutung, die ein Produkt des reinen Denkens ist, unterscheidet. Für Heidegger ist daher klar, dass »bei Kant die Zeit zwar ›subjektiv‹ ist, aber unverbunden ›neben‹ dem ›ich denke‹ steht«. 450 Die Bedeutung und der Sinn des Phänomens Mensch gehören bei Kant also zwei verschiedenen Ordnungssystemen an: der Zeit und dem reinen Denken. 451 Da das begrifflich vergegenwärtigende Denken das Sinnenmaterial jedoch allererst zur objektiven Einheit der Erkenntnis verbindet, ist es für Kant der eigentliche Ort der Gewissheit. Deshalb ist in seinen Augen die autonome Gesetzgebung des Denkens in lebensweltlichen Orientierungsfragen auch die entscheidende Instanz und beansprucht in diesem Kontext rechtmäßig Souveränität gegenüber der Ordnung der Zeit. Ihre Sonderstellung birgt den Konflikt, dass sich die Logik des Denkens der Ordnung der Zeit, auf der sie ja aufbaut, mit dem Anspruch auf alleinige Souveränität entgegensetzt und damit einen Kampf gegen die eigenen Voraussetzungen austrägt. Da sie diesen Kampf niemals gewinnen kann, bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich unendlich an eine absolut vernünftige und zeitunabhängige Daseinsform anzunähern, ohne jede Aussicht darauf, sie jemals zu erreichen. In den Augen Kants ist die Annäherung an ein 449 Diese Entzeitlichung ist zugleich eine Freisetzung des Denkens gegenüber der Ordnung der Zeit und schließt die Möglichkeit ein, sich autonom auf die drei Zeitdimensionen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auszustrecken. Den Zusammenhang zwischen Vergegenwärtigung und zeitlicher Erstreckung erörtert Fischer, Die Zeit als Problem in der Metaphysik Kants, 429. 450 Martin Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: 427. 451 Vgl. etwa Kant, KrV: A539/B567.

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vernünftiges Dasein gleichwohl unsere einzige gerechtfertigte, zumal auf Gewissheit aufbauende, Hoffnung auf ein rundum erfülltes Leben. Doch auch das urvernünftige Streben nach Autonomie und Gewissheit baut der Zeit nach je schon auf einem sinnlich-phänomenalen Erfahrungshorizont auf und ist insofern generisch präformiert. Diese Präformation führt dazu, dass dieses vernünftige Streben nach Autonomie und Gewissheit die hier bereits angesprochene allgemeine Verbindlichkeit der sinnlichen Wahrnehmungsformen übernimmt und insofern auch im Blick auf all jene vernünftigen Wesen verbindlich ist, die derselben sinnlichen Welt angehören. Das wiederum erklärt, warum dieses vernünftige Streben nach Autonomie und Gewissheit gleichermaßen ein moralisches und universales Unterfangen ist, 452 das, wie gezeigt werden konnte, in Kants Augen unsere einzige gerechtfertigte Hoffnung auf ein rundum erfülltes Leben ist. Ganz anders als Kant nimmt Levinas an, dass Phänomene nicht erst im erkennenden Verstand ihre Bedeutung entfalten, sondern je schon »von der ›Welt‹ her und von der Position des Betrachtenden aus« bedeuten (»[i]ls signifient à partir du ›monde‹ et de la position de celui qui regarde«). 453 Er geht davon aus, dass Phänomene bereits eine Bedeutung in sich tragen, und zwar noch vor ihrer diskursiven Aneignung durch das Denken. 454 Wie schon Kant setzt er der zeit452 Bernd Dörlflinger hält fest: »Ein sich um intersubjektiver Verbindlichkeit willen auf das Erzielen des Gegenstandes der Erfahrung verpflichtendes Subjekt ist in seinem theoretischen Fungieren selbst kein eingeschränktes bloß theoretisches, sondern als solches von moralpraktischer Qualität.« (Bernd Dörflinger, Die Dignität des Erfahrungsurteils, in: prima philosophia 8/1 (1995), 125–138, 137 f.) Ähnlich, wie auch hier angenommen wird, gehen Fragen der Gewissheit bei Kant in den Augen Dörflingers mit Fragen moralischer Verbindlichkeit einher. – Norbert Fischer schreibt im Blick auf Kant: »Für den Willen eines vernünftigen Subjekts, das unabhängig von seiner Beziehung zu anderen vernünftigen Subjekten gedacht würde, gäbe es keinen unbedingt verpflichtenden Imperativ.« (Fischer, Kants Metaphysik der reinen praktischen Vernunft, 122) Hier könnte man nach meiner Ansicht noch ergänzen: Aus diesem Grund muss die Verbindlichkeit dieses Imperativs auch auf die gemeinsame sinnliche Welt bezogen sein, da sonst unerklärlich bliebe, wie sinnliche Phänomene, die für die Gesamtheit der zwischenmenschliche Beziehungsformen konstitutiv sind, jemals moralisch relevante intersubjektive Situationen konstituieren könnten. 453 Levinas, La signification e le sens, HAH: 22. 454 In eindeutiger Spitze gegen Kant hält Levinas bereits in Totalität und Unendlichkeit fest: »Das Sinnhafte ist nicht später als das ›Gesehene‹, das ›Sinnliche‹, so als wären diese an sich ohne Bedeutung und als würde nur unser Denken sie sich auf bestimmte Weise nach apriorischen Kategorien zurechtmachen oder modifizieren.« (Levinas, TU: 132/TI: 67)

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lichen damit eine logische Ordnung entgegen, anders als bei Kant ist es bei Levinas aber gerade die zeitliche Ordnung, die die Bedeutung enthält. Levinas’ Überlegung lautet in nuce: Der innere Diskurs, der die menschliche Art zu denken bestimmt, setzt eine Initialbedeutung voraus, die ihn jeweils zum Leben erweckt, indem sie das Sein des betreffenden Menschen infrage stellt. Indem der Mensch diese Bedeutung verinnerlicht, raubt er ihr schließlich fortlaufend die absolute Andersheit, die sie gehabt haben muss, als sie das Sein dieses Menschen radikal infrage stellte, dessen diskursiv gewonnenes Selbstbewusstsein sie nun begründet. Die Bedeutung, die das Sein des Menschen infrage stellt, erweckt den inneren Diskurs des Menschen also stets aufs Neue zum Leben, derselbe aber verinnerlicht diese Bedeutung und raubt ihr dadurch stets aufs Neue den Charakter des absolut Anderen, der den Diskurs erst zum Leben erweckte. Kurz gesagt ist diese Bedeutung für Levinas daher im linguistischen Sinne ein Ausdruck, der sich an ein diskursiv bestimmtes Denken richtet, das dessen Sinn verinnerlicht, sich die damit ursprünglich verfolgte Intention jedoch niemals vergegenwärtigen kann. 455 Als sprachlicher Ausdruck verweist diese Bedeutung nun zugleich auf einen absolut Anderen, der spricht und dem eine gewisse Höhe zukommt, indem er dem Sein des Menschen zwar eine Bedeutung verleiht und seine Seinsweise begründet, jedoch ohne jemals ein auf Wechselseitigkeit beruhendes Verhältnis mit seiner Schöpfung einzugehen. 456 Levinas nennt diesen absolut Anderen auch Gott und 455 In Verbindung mit Levinas’ These, dass Phänomene nicht erst im erkennenden Verstand ihre Bedeutung entfalten, sondern je schon »von der ›Welt‹ her und von der Position des Betrachtenden aus« bedeuten (Levinas, La signification e le sens, HAH: 22), folgt hieraus, dass die phänomenale Welt nach seiner Ansicht ursprünglich im Modus des Ausdrucks beziehungsweise der Rede dargeboten wird. Hierzu Stephan Strasser: »Die Welt erscheint mir ursprünglich nicht als ein Schauspiel, sie wird mir in der Rede angeboten, Sätze bringen sie mir näher. Daß sich der Andere sprechend an mich wendet, darin besteht das ursprünglich sinnverleihende Ereignis.« (Strasser, Jenseits von Sein und Zeit, 60) 456 Vgl.: »[D]as, was man ›Bedeutung‹ nennt, taucht nur deshalb zugleich mit der Sprache im Sein auf, weil die Sprache von Anfang an Beziehung zu dem Anderen ist. Man beachte dieses ›von Anfang an‹. Levinas will damit zum Ausdruck bringen, daß das Gerichtet-sein auf den Anderen nicht zu einem inneren Monolog oder zu ›leiblichen Intentionen‹ in der Weise hinzugefügt wird, wie man die Adresse auf ein Postpaket schreibt. Vielmehr beherrscht das ethische Ereignis auch den inneren Diskurs. Was das Problem der Konstitution anlangt wäre das Folgende zu bemerken: Die Epiphanie des Antlitzes konstituiert sich nicht so, wie sich andere Seienden [sic!] für mich konstituieren: sie ›offenbart‹ das Unendliche. Darum ist für Levinas das erste

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das diskursive Selbst des Menschen dessen Schöpfung. In der moralischen Erfahrung, dass der andere Mensch den eigenen Anforderungen nicht genügt, erkennt Levinas dann ein Bewusstsein für die Asymmetrie dieser Beziehung zu Gott und in der Moralität den Weg, diese Beziehung, die dem eigenen Leben erst seinen Sinn verleiht, aufrecht zu erhalten. »Levinas meint es ganz wörtlich: der Blick des erniedrigten und beleidigten Anderen stellt eine konkrete Anklage dar. Durch ihn spricht Gott zu mir, durch ihn zieht er mich zur Verantwortung.« 457 Die Übernahme von Verantwortung ist für Levinas demnach der einzige Weg, die sinnstiftende Beziehung zu Gott aufrechtzuerhalten. Diese Verantwortung entstammt einer Zeit vor dem Entstehen des diskursiven Selbstbewusstseins, sie ist für die menschliche Identität somit schlechthin konstitutiv, und zwar nicht nur für diejenige des einzelnen Menschen, sondern für diejenige der Menschheit schlechthin. Um seiner eigenen Verantwortung gerecht zu werden, muss der Einzelne aus diesem Grund auch Verantwortung für die Verantwortung aller Anderen übernehmen. Diesem, von Gott auferlegten, Gebot, das ihm ein Maximum an Selbstentfremdung abverlangt – Reinhold Esterbauer spricht hier von »Entfremdung als Grundzug des Sub-jekt-Seins« –, 458 ist der Mensch ausgeliefert. Unabhängig davon, wie sich unsere Nächsten verhalten und wie wir darüber denken, sind wir für sie verantwortlich, was Levinas’ Ansicht erklärt, »[d]er Humanismus verdien[e] nur deshalb Kritik, weil er nicht human genug ist.« 459 Bei Levinas liegt die Bedeutung des Lebens also in der Verantwortung, die kein Produkt des reinen Denkens, sondern dessen vorursprünglich Bedeutung ist, die aus einer Vergangenheit kommt, die niemals Gegenwart war. Es handelt sich dabei vielmehr um eine Bedeutung, die auf Gott zurückgeht und »die älter ist als der conatus der Substanz«, 460 der sie verinnerlicht und auf die Identität des BewusstIntelligible nicht ein Begriff, sondern ein Verständnis: das Verständnis des Anderen als des transzendenten Anderen.« (Strasser, Jenseits von Sein und Zeit, 111) 457 Strasser, Jenseits von Sein und Zeit, 139; vgl. den Abschnitt »Die Wahrheit des Wollens«, auf den sich Strasser bezieht, in: Levinas, TU: 352–365/TI: 217–225. Vgl. zum »Ich-›Bezug‹ Gottes«, der bei Levinas nur über den anderen Menschen möglich ist, auch Esterbauer, Transzendenz-»Relation«, 194. 458 Esterbauer, Transzendenz-»Relation«, 82. 459 Levinas, JS: 284/AQ: 164. 460 Levinas, Ohne Identität, HAM: 101/HAH: 99.

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seins reduziert. Der Mensch steht bei Levinas in der Spur Gottes, die in ihm, wie hier gezeigt werden konnte, eine humanitäre Verantwortung erweckt, die weit über die Grenzen seiner individuellen Integrität hinausgeht. 461 Diese Verantwortung zu verletzen, bedeutet für Levinas, die Beziehung zu Gott zu unterbinden, die dem eigenen Leben allererst eine Bedeutung verleiht, und das ist mit einem metaphysischen Sinnverlust verbunden. Bei Kant und Levinas sind Sinn und Bedeutung des Lebens in der Zeit also gleichermaßen eine Frage der Humanität. Ein wesentlicher Unterschied liegt aber darin, dass Kant, indem er auf Gesetze des reinen Denkens Anspruch nimmt, die von jedermann einsehbar und insofern normativ gesetzgebend sind, präskriptiv verfährt. Dahingegen rekurriert Levinas auf eine vorursprüngliche Verantwortung, die »älter ist als der conatus der Substanz«. 462 Diese Verantwortung ist kein Produkt, sondern die vor-ursprüngliche Bedeutung des Denkens, die auf ein göttliches Gebot zurückgeht, dem das Denken unterworfen ist. Ein solches Gebot kann zwar sprachlich in Form von Verweisen beschrieben werden, jedoch können darauf keine allgemein verbindlichen Normen errichtet werden, wozu eine Einsicht in das vordenkliche Gebot gefordert wäre. 463 Doch lässt man diese Unterschiede beiseite, stößt man auf eine große Gemeinsamkeit: Bei beiden Autoren sind die Fragen nach dem Sinn und der Bedeutung des Lebens in der Zeit intrinsisch mit dem Begriff der Humanität verflochten. Dies ist jedoch keinesfalls so 461 Vgl. hierzu auch Levinas’ Rede von einem Urteil Gottes im Gegensatz zum Urteil der Geschichte in dem Abschnitt »Die Wahrheit des Wollens« in: Levinas, TU: 352– 365/TI: 217–225. Levinas macht an der besagten Stelle darauf aufmerksam, dass die Wahrheit des Seienden in einer gottgegebenen Verantwortung liegt, die weit über die Grenzen der individuellen Integrität des Menschen hinausreicht; vgl. Strasser: »Wie ist eine Situation denkbar, die man ›das göttliche Urteil‹ nennen könnte? […] / Hier tritt das eigentliche Anliegen von Levinas zutage. Es gibt eine Subjektivität, die älter und ursprünglicher ist als das Urteil der Geschichte.« (Strasser, Jenseits von Sein und Zeit, 138) 462 Levinas, Ohne Identität, HAM: 101/HAH: 99. 463 Vgl. hierzu auch Reinhold Esterbauer: »[D]iese Verantwortung, in der sich das Ich befindet, meint keine, die das Ich als ein Soll übernommen hätte, das seiner Freiheit aufgetragen worden wäre. Ein derartiges Soll wäre eines, das das Ich sich in der Erinnerung vergegenwärtigen könnte. Das aber setzte voraus, daß das Ich schon in Freiheit verantwortungslos bestanden hätte. Da dagegen aber die Freiheit eine schon in Verantwortlichkeit eingesetzte ist, bleibt diese diesseits beziehungsweise jenseits aller Erinnerung und bewußt versuchten Präsentsetzung.« (Esterbauer, Transzendenz»Relation«, 71)

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selbstverständlich, wie es prima vista scheint. Zunächst zu Kant: Kant orientiert sich stark an den naturwissenschaftlichen Paradigmen seiner Zeit. Nach seiner Ansicht stehen Sinnlichkeit und Verstand einander gegenüber wie die Sonne und die Erde bei Kopernikus: Beide haben ihre je eigene Gesetzmäßigkeit und stehen doch in einem notwendigen Zusammenhang zueinander, wobei die Sinnlichkeit den Gesetzen der Zeit gehorcht, während der Verstand den Gesetzen der Freiheit unterworfen ist. Wie hier gezeigt werden konnte, spielt diese Trennung der unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten von Sinnlichkeit und Verstand eine Schlüsselrolle in Kants Philosophie, die den Bedingungen der Möglichkeit einer streng allgemeinen und notwendigen, kurz einer metaphysischen Gewissheit nachspürt. Kant geht damit von einem zwar mitunter dynamischen, jedoch relativ geschlossenen System aus, in welchem er starre Gegensätze von jener Art verortet, wie sie das Verhältnis zwischen Erde und Sonne bei Kopernikus bestimmen, und beansprucht dafür metaphysische Gewissheit. Diese Betrachtungsweise ist im 20. Jahrhundert zunehmend in die Kritik geraten. So wurde schon im Deutschen Idealismus und dann in der Phänomenologie kritisiert, dass das Denken und die Zeit bei Kant zu einem derart strengen Gegensatz erstarren. 464 In der Tat kann man sich fragen, ob die Zeit wirklich nur der Ordnung der sinnlichen Wahrnehmung angehört und sich isoliert von der Logik des reinen Verstandes betrachten lässt, wie es bei Kant vorgeblich geschieht. Levinas etwa zeigt, dass die Zeit in der Trennung des Subjekts, von jener Welt, die es sich vergegenwärtigt, bereits vorausgesetzt ist und deshalb außerhalb des Horizonts der subjektiven Vorstellung liegt, 465 sodass sich die zeitlichen und logischen Komponenten der Vorstellungswelt nicht isoliert voneinander betrachten lassen. Mit der Annahme, es gäbe eine reine, von den zeitlichen Erscheinungen unabhängige Art zu denken, ist bei Kant jedoch auch die Gewissheit verbunden, es gäbe einen sicheren Weg zu einem erfüllten Leben, das moralischen Maßstäben genügt und zur Hoffnung berechtigt. Doch nicht nur auf argumentativer Ebene ist eine Kritik an Kants Position möglich. Aus lebensweltlicher Perspektive stellt sich

464 Vgl. hierzu etwa Levinas, GZ: 72–76; Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: 427 u. 204; Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), TWA 09: 41–55; Edmund Husserl, Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, passim. 465 Vgl. zu dieser Thematik bei Levinas bes. Levinas, TU: 68 f. u. 244 f./TI: 25. u. 143 f.

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etwa die Frage, ob Kant den Maßstab im Blick auf die gerechtfertigte Hoffnung auf ein erfülltes Leben nicht ohnehin zu hoch ansetzt: Für einen Menschen, der unter Schizophrenie leidet und aufgrund von Gedankeneingebung und Gedankenabbruch weit vom normativem Ideal der Autonomie des Denkens abweicht, 466 besteht bei Kant kaum Grund zur Hoffnung, jemals ein erfülltes Leben zu führen. Dabei mag dieser Mensch selbst hoffen, was er will, die Frage, ob diese Hoffnung gerechtfertigt ist, entscheidet sich bei Kant auf einer metaphysischen Ebene, und für Kant gibt es nur eine einzige Form der gerechtfertigten Hoffnung: die des autonomen Denkens. Kants Festhalten an metaphysischen Kategorien des menschlichen Lebens bietet zwar Orientierungshilfe, jedoch um den Preis, in Fragen der Beurteilung bestimmter Lebensformen, die mitunter sozial bedingt sein können, mit einem analog starken Anspruch auf Gewissheit aufzutreten, der nicht zuletzt zu einer Verurteilung und einer damit einhergehenden diskriminierenden Betrachtungsweise bestimmter Lebensweisen führen kann, nicht muss. Schleiermacher geht in diesem Punkt noch wesentlich weiter und vertritt die Ansicht, dass die kantische Philosophie nicht nur zu einer solchen Betrachtungsweise führen kann, sondern dass dieselbe sogar Teil der »Kantologie« ist, wovon neben Kants Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace von 1785 unter anderem auch die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Zeugnis gibt, die Schleiermacher dazu veranlasste, das Folgende zu schreiben: [D]ie Behandlung des weiblichen Geschlechts als eine Abart, und durchaus als Mittels, die Charakteristik der Völker, die sehr nach den Freuden der Tafel schmeckt, dies und mehreres sind Beiträge zu einer Kantologie, die man sowohl physiologisch als pragmatisch weiter ausführen könnte, ein Studium, welches wir den blinden Verehrern des großen Mannes bestens empfohlen haben wollen. 467

466 Vgl. World Health Organization, ICD-10: International Statistical Classification of Diseases and Health Related Problems. Version: 2015, »F20 Schizophrenia«. Dass Menschen, die unter Schizophrenie leiden, nur deshalb, weil sie vom normativen Ideal der Autonomie des Denkens abweichen, weniger zur Moralität fähig sind, widerspricht gerade dem Umstand, dass sie trotz starker Apathie zu engen zwischenmenschlichen Bindungen fähig sind (vgl. zu diesem scheinbar paradoxen Befund: J. H. Berg, The schizophrenic patient: anthropological considerations, in: Phenomenology and psychiatry, hg. v. André Koning, Frederick Alexander Jenner. London/Toronto/ Sydney: Academic Press 1982, 155–171, bes. 157). 467 Schleiermacher, Rezension von Immanuel Kant: Anthropologie, KGA I/2: 369

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Festzuhalten bleibt, dass solche Kategorisierungen bei Kant in der intrinsischen Verflechtung der Zeitthematik mit dem Begriff der Humanität zumindest angelegt sind, die sich als eine metaphysische Gewissheit präsentiert. Mit anderen Worten bedeutet die Undurchlässigkeit dieses Geflechts infrage zu stellen, auch Kants metaphysischen Begriff vom Menschen zu hinterfragen. Bei Levinas ist die Situation in manchen Punkten durchaus ähnlich. Zunächst steht die Zeit bei Levinas in einer direkten Beziehung zur Gottesthematik. Gott ist bei Levinas, wie hier gezeigt werden konnte, jener absolut Andere, der das Sein des Menschen radikal infrage stellt und den inneren Diskurs, der die menschliche Seinsweise auszeichnet, stets aufs Neue zum Leben erweckt. Der innere Diskurs aber verinnerlicht die gottgegebene Bedeutung und raubt ihr damit auch stets aufs Neue den Charakter des absolut Anderen und des Rätsels, das diesem Diskurs erst einen Sinn verleiht. Der einzelne Mensch setzt hier Gott zunächst voraus, der ihm eine Bedeutung verleiht, die er immer schon verinnerlicht hat. Die Beziehung zu Gott hat dabei Ereignischarakter und ist nach Levinas daher zeitlicher Art. 468 Mit anderen Worten ist die Zeit bei Levinas die Beziehung Gottes zu seiner Schöpfung. Die Verinnerlichung der gottgegebenen Bedeutung, durch die sich die menschliche Seinsweise konstituiert, geschieht demgegenüber als Vergegenwärtigung und Entzeitlichung des absolut Anderen, wodurch die Zeit als Beziehung zu Gott verlorengeht. Levinas spricht in dem Kontext von einem natürlichen Atheismus sowie von einer »ontologische[n] Trennung des Metaphysikers und des Metaphysischen«. 469 In dieser Konstellation der Trennung von und notwendigen Bezogenheit auf Gott, die sich als Zeit ereignet, führt Levinas nun den Begriff der Verantwortung ein: Verantwortung als vorursprüngliche Antwort auf die Infragestellung des menschlichen Seins durch Gott, das heißt Verantwortung als Über468 Vgl. zu dieser Thematik allgemein auch Levinas, GZ: 152–155 u. 210–213; zum Verhältnis des Anderen und des Selben als Zeit vgl. ders., TU: 394 f./TI: 247; zum Ereignis- oder Produktionscharakter des Verhältnisses zwischen dem Anderen und dem Selben vgl. etwa ders., TU: 27, 67, 145/TI: XIV, 24, 75. – »Ereignis« ist Krewanis Übersetzung für das französischen »production« (vgl. Levinas, TU: 27 Anm. c). Selbst wenn die Gründe, die Krewani am angegebenen Ort für diese Übersetzung anführt sehr einleuchtend erscheinen, so ist doch darauf aufmerksam zu machen, dass das französische »production« im Unterschied zum deutschen »Ereignis« den Schöpfungscharakter stärker zum Ausdruck bringt, der das Verhältnis zwischen dem Anderen und dem Selben bei Levinas prägt. 469 Levinas, TU: 69/TI: 25.

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nahme der menschlichen Seinsweise. Die menschliche Seinsweise wird bei Levinas von Gott in Form der Verantwortung übernommen. Entsprechend übersteigt diese Verantwortung die individuelle Integrität des Menschen und richtet sich nicht allein auf die Menschheit in seiner Person, sondern auf die Menschheit schlechthin. Es gibt bei Levinas also eine notwendige Beziehung zwischen der Zeitthematik und dem Begriff der Humanität: Die Zeit ist das ursprüngliche Ereignis der Beziehung zu Gott, die sich als Trennung der Kreatur von ihrem Schöpfer ereignet und im einzelnen Menschen eine Verantwortung hinterlässt. 470 Sie ist das ursprüngliche Ereignis einer gottgegebenen Verantwortung, die die Kreatur, aufgrund ihrer Trennung von Gott, auch verletzen kann, wodurch sie aber die Beziehung zu Gott unterbinden würde, die ihrem Leben in der Zeit allererst einen Sinn verleiht. Die Verantwortung für die Menschlichkeit geht mit einem drohenden metaphysischen Sinnverlust einher. 471 Um ein von Sinn erfülltes Leben zu führen, muss man nach Levinas im Diesseits bereit sein, seinen Platz an der Sonne im Sinne der Menschlichkeit dem Wohl seiner Nächsten zu opfern. 472 Anschauliche, eher positiv konnotierte Beispiele dessen, was er sich darunter vorstellt, liefert Levinas zur Genüge: sich für die Armen aufopfern, das Brot von den eigenen, hungrigen Lippen reißen oder den Mantel von den kalten Schultern, 473 sich für den Anderen verneinen, sich selbst fremd werden, 474 ihm stets auch die andere Wange hinhalten und für seine Nächsten die Verantwortung übernehmen, 475 auch und besonders im Falle ihres Todes, 476 für sie bluten und sie in das eigene 470 In diesem Kontext gibt es eine erstaunliche Parallele zu Descartes’ Begriff der creatio continua, wonach Gott fortfährt die Welt in derselben Weise zu erhalten, wie er sie geschaffen hat (vgl. zu dieser Thematik bes. Schonfeld, Philosophical Present and Responsible Present, 191). 471 Vgl. zum drohenden Sinnverlust bei Levinas etwa bes. Levinas, GZ 30. 472 Vgl. zur Infragestellung des eigenen Platzes an der Sonne bspw. Levinas,. TU 188. 473 Vgl. Levinas, JS 133 f./AQ 71 f. u. ö. 474 Vgl. hierzu bspw. Levinas, JS 207/AQ 117. 475 Vgl. Levinas, JS 246 f./AQ 141 f. u. ö. 476 Levinas verfolgt hier den Gedanken einer vor-ursprünglichen Verantwortung für die Alterität, welche die Menschen auszeichnet und die über die Endlichkeit der einzelnen menschlichen Existenz hinausgeht. Man kann vor diesem Hintergrund sagen, dass der Tod des Anderen, verstanden als dessen Endlichkeit, genau genommen jenes Moment ist, für das der Mensch bei Levinas eigentlich die Verantwortung übernimmt (vgl. hierzu Levinas, Diachronie und Repräsentation, ZU: 204; vgl. zur Pflicht gegenüber den Toten bei Levinas auch: ders., GZ 94).

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Haus aufnehmen, jederzeit gastfreundlich sein oder eben seinen Platz an der Sonne opfern. Daneben finden sich in Levinas’ Werk aber auch Beispiele, die heutzutage vielleicht weniger positiv konnotiert sind und mitunter befremden. Die Rede ist von seinen Ausführungen zur Sanktion der Ungerechtigkeit, dem Krieg gegen den Krieg, zu dem die mit der Verantwortung über die Verantwortung seiner Nächsten verbundene Pflicht, über seine Mitmenschen zu richten, 477 ja nicht minder auffordert. Levinas macht daraus kein Geheimnis: Gerechtigkeit und Strafe stehen für ihn auf derselben Ebene, in einem Atemzug, fragt er sich, wie es dazu kommt, dass man zur Strafe imstande ist, und präzisiert sogleich »Wie kommt es, daß es Gerechtigkeit gibt?«. 478 Zwar bräuchten wir, wie er an anderer Stelle betont, »eine Gerechtigkeit ohne Henker«, doch können wir an dieser Vorstellung nicht festhalten: Doch hier verschärft sich das Drama. Abscheu vor dem Blut, Gerechtigkeit des Friedens und der Sanftmut, diese notwendige und fortan einzig mögliche Gerechtigkeit – schützt sie den Menschen, den sie retten will? Denn es ist ein breiter Weg, der den Reichen offensteht! […] Für die Starken bleibt die Welt komfortabel. Vorausgesetzt, sie haben gute Nerven. Die Entwicklung der Gerechtigkeit kann nicht zu jener Ablehnung jedweder Gerechtigkeit führen, zu jener Verachtung des Menschen, dem sie Respekt verschaffen will. 479

Was hier zum Vorschein kommt, ist die Kehrseite jener Tugenden, die Levinas so ausdrücklich lobt: Der Schutz der Armen und die unbedingte Gastfreundlichkeit machen eine Sanktionsgewalt erforderlich, zumindest und besonders dann, wenn man nicht nur für sich selbst die Verantwortung trägt, sondern auch die Verantwortung für die Verantwortung der Anderen inne hat. Was das heißt, lässt sich mit 477 Vgl. zu dieser Pflicht die folgenden Ausführungen von Levinas: »Über die eigene Freiheit hinaus verantwortlich zu sein heißt gewiß nicht, ein bloßes Resultat der Welt zu bleiben. Das Universum tragen – erdrückender Auftrag, aber göttliche Mühsal.« (Levinas, JS 272/AQ 157) 478 Emmanuel Levinas, Antlitz. In: Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo. Aus d. Franz. von Dorothea Schmid, hg. v. Peter Engelmann. Graz 1986, S. 68. 479 Emmanuel Levinas, Das Gesetz der Wiedervergeltung (1963). In: Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische. Hg. v. Pascal Delhom und Alfred Hirsch. Zürich 2007, S. 173–176, hier: S. 175. Zum Zwiespalt zwischen der gerechten Gewalt und der ungerechten Gewaltlosigkeit vgl. Stephan Strasser, Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in Emmanuel Levinas’ Philosophie. Den Haag: Martinus Nijhoff 1978, S. 363.

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Blick auf das Buch Ezekiel sehr gut erahnen. Dort wird diese Gewalt nämlich gerade im Kontext jener von Levinas ins Zentrum gerückten Tugenden besprochen, sodass es kein Zufall zu sein scheint, wenn Levinas in seinem Spätwerk Jenseits des Seins einleitend aus diesem Buch die folgende Passage zitiert: Und der Ewige sagte zu ihm: »Geh mitten durch die Stadt, mitten durch Jerusalem und mache ein Zeichen auf die Stirn der Männer, die seufzen und klagen wegen all der Greueltaten, die in ihr begangen werden.« Und zu den anderen sagte er vor meinen Ohren: »Geht durch die Stadt hinter ihm her und schlagt zu. Bleibt hart und habt kein Mitleid. Greise, Jünglinge und Mädchen, Kinder und Frauen, tötet sie, macht sie nieder, die aber das Zeichen tragen, rührt nicht an, und beginnt mit meinem Heiligtum.« 480

Zwar ist es mir an dieser Stelle persönlich leider nicht möglich, diese Textpassage in religionswissenschaftlicher Hinsicht auch nur ansatzweise richtig einordnen zu können. Ich denke aber, dass dennoch schwer von der Hand zu weisen ist, dass der Gedanke eines gerechten Krieges zumindest in Levinas’ Spätwerk überaus präsent ist, ja, dass dieser Gedanke dieses Buch sogar wie ein roter Faden durchzieht. Jenseits des Seins endet in thematischer Hinsicht schließlich exakt dort, wo es beginnt: Für das bißchen Menschlichkeit, das die Erde ziert, braucht es eine Seinsschwäche zweiten Grades [= eine Seinsschwäche, die über die bloße Abscheu gegen die mit dem sein verbundene Gewalt hinausgeht, MB]: im gerechten Krieg, der gegen den Krieg geführt wird, unablässig zittern – ja schaudern gerade um dieser Gerechtigkeit willen. Es braucht diese Schwäche. Es brauchte dieses Schwachwerden des Mannhaften, das nicht Feigheit ist, für das bißchen Grausamkeit, das unsere Hände verweigert haben. 481

Dieser Aspekt in Levinas’ Philosophie – der gerechte Krieg – wird in der Forschung oft übersehen, was erstaunlich ist, weil er zeigt, dass Levinas’ Konzeption einer Ethik als Metaphysik, welche die meta480 EZ 9, 4–6, zitiert in: Levinas, JS 8/AQ 8. Vgl. hierzu die sehr treffende Analyse von John Llewelyn: »We must be watchful of the fact that Ezekiel is a watchman. This is what we are reminded of by the statement in the verse that Levinas adapts as his first epigraph: ›he shall die; because thou hast not given him warning‹. Not even the scales of justice can take from me the balance of responsibility that cannot be taken lightly, the weight (kabod) that is also glory and image. The computability of innocence and guilt with a view to judgement does not take the onus of final judgement from me.« (John Llewelyn, Emmanuel Levinas. The genealogy of ethics. London: Routledge 1995, 189) 481 Levinas, JS 294 f./AQ 232.

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physische Sinnerfüllung des einzelnen Menschen ins Zentrum rückt, einerseits sehr konkrete praktische Implikationen hat und andererseits verdeutlicht, dass Levinas bestimmten ethischen Vorstellungen – wie etwa dem gerechten Krieg, aber auch dem Talionsgesetz – mitunter weit weniger abgeneigt ist, 482 als man auf ersten Blick vermuten möchte. An diesem Punkt könnte eine kritische Lektüre von Levinas’ Schriften und seiner ethischen Positionen mitunter ansetzen. Die metaphysische Verflechtung des Zeit- und Moraldiskurses bei Kant und Levinas ist also nicht nur aus rein argumentativer Perspektive zu hinterfragen, sondern auch aus einer lebensweltlichen. Welche Konsequenzen dies hat und ob sich auf dieser Grundlage Argumente entwickeln lassen, die stark genug sind, um über die Ansätze der Autoren hinauszugehen, kann hier jedoch nicht geklärt werden und müsste gesondert untersucht werden.

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Vgl. zu dieser Thematik auch Llewelyn, Emmanuel Levinas, S. 188–191.

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