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German Pages 352 [379] Year 2021
Michael Lewin
Das System der Ideen Zur perspektivistischmetaphilosophischen Begründung der Vernunft im Anschluss an Kant und Fichte
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ALBER THESEN
https://doi.org/10.5771/9783495825242
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Michael Lewin Zur perspektivistisch-metaphilosophischen Begründung der Vernunft im Anschluss an Kant und Fichte
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Michael Lewin
Das System der Ideen. Zur perspektivistisch-metaphilosophischen Begründung der Vernunft im Anschluss an Kant und Fichte
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495825242 .
Michael Lewin The System of Ideas. On the Perspectivistic-Metaphilosophical Grounding of Reason Following Kant and Fichte Michael Lewin’s book is not only concerned with philosophical-historical perspectives of research on Kant and Fichte, but also with the matter itself: the concept of reason in the narrower sense as a potentially well-grounded research program that can be continued in contemporary contexts. In this, various theoretical structures related to the manifold types and functions of ideas are analyzed, by means of which reason controls the understanding and will, and becomes selfreflexive. After the examination of seven types of ideas in Kant and their systematization in Fichte’s work based on the fact-act (the selfpositing of pure reason), the question is discussed as to whether, how and under what conditions such a project can prove itself as a cooperative and competitive enterprise in the midst of alternative concepts of reason, fundamental and radical objections and post-idealistic criticism of reason. To this end, the author develops the program of a perspectivistic metaphilosophy under the heading of »reflected perspectivism«, which traces the background parameters behind the philosophical positionings – research-programmatic determinations (following Imre Lakatos), demands and (knowledge) goals – and thereby reveals the possibilities and limits of the various projects.
The author: Michael Lewin studied philosophy and public law in Rostock, Jena and Bochum and received his doctorate in September 2019 in Wuppertal, where he was a doctoral fellow. He is currently a senior researcher at the international research institute Academia Kantiana of the Baltic Federal Immanuel Kant University in Kaliningrad and a lecturer at the Bergische Universität Wuppertal and the University of Koblenz-Landau.
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Michael Lewin Das System der Ideen Zur perspektivistisch-metaphilosophischen Begründung der Vernunft im Anschluss an Kant und Fichte Michael Lewin geht es in seinem Buch nicht nur um philosophiehistorische Perspektiven der Kant- und Fichte-Forschung, sondern ebenso sehr um die Sache selbst: das Konzept der Vernunft im engeren Sinne als ein potenziell wohlbegründetes und in zeitgenössischen Kontexten fortführbares Forschungsprogramm. Dabei sind verschiedene, in einer Reihe der Reflexion stehende Theoriegefüge bewusst zu machen, die sich aus den vielfältigen Arten und Funktionen der Ideen ergeben, mit deren Hilfe die Vernunft das Verstehen und Wollen steuert und selbstreflexiv wird. Nach der Untersuchung von sieben Ideenarten bei Kant und ihrer von der Tathandlung (der Selbstsetzung der reinen Vernunft) ausgehenden Systematisierung bei Fichte wird die Frage erörtert, ob, wie und unter welchen Bedingungen sich ein solches Projekt inmitten alternativer Vernunftkonzepte, basaler und radikaler Einwände sowie postidealistischer Vernunftkritik als ein kooperations- und konkurrenzfähiges Unternehmen bewähren kann. Dazu entwickelt der Autor unter dem Stichpunkt »reflektierter Perspektivismus« das Programm einer perspektivistischen Metaphilosophie, die den Hintergrundparametern hinter den philosophischen Positionierungen – forschungsprogrammatische Festlegungen (in Anlehnung an Imre Lakatos), Ansprüche und (Wissens-)Ziele – nachspürt und dadurch die Möglichkeiten und Grenzen der verschiedenen Projekte offenlegt.
Der Autor: Michael Lewin studierte Philosophie und Öffentliches Recht in Rostock, Jena und Bochum und wurde im September 2019 in Wuppertal, wo er Promotionsabschlussstipendiat war, promoviert. Zurzeit ist er Senior Researcher am internationalen Forschungsinstitut Academia Kantiana der Baltischen Föderalen Immanuel-Kant-Universität Kaliningrad sowie Lehrbeauftragter an der Bergischen Universität Wuppertal und an der Universität Koblenz-Landau.
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Alber-Reihe Thesen Band 80
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-40015-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82524-2
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Inhalt
Analytisches Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorbemerkung
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erster Teil: Die Vernunft »im engeren Sinne«: Voraussetzungen und Funktionen 2
Kants Darstellung der Vernunft als der höchsten Steuerungsinstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Der Ausgang von Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der besondere Vorstellungsstatus der Ideen . . . . . . . 2.3 Die Arten der Ideen bei Kant und ihr Voraussetzungsstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Inwiefern sind die Ideen als Voraussetzungen zu begreifen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Was ist die Voraussetzung der Voraussetzungen? . 2.3.3 Epistemischer / ontologischer Status der Ideen . . 2.4 Abschließende Übersicht: Kants System der Ideen . . . . 2.4.1 System der Voraussetzungsfunktionen . . . . . . 2.4.2 Exkurs: Ordnung und kategoriale Bestimmtheit der transzendentalen Ideen . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Rückblick auf Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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Fichtes Systematisierung der Vernunftfunktionen . . 3.1 Den Anfang macht die Vernunft: Zwei Modelle . . . . 3.1.1 Modell 1 (bis 1800): Fürsichsein der Vernunft . . 3.1.2 Modell 2 (ab 1800): Rückbesinnung auf das Fürsichsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der innere Zusammenhang der Vernunftfunktionen . . 3.2.1 Die eine und die vielen Ideen: Teleologie der Ideenarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die fünf systematisch verknüpften Gestalten der einen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Rückblick auf Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zweiter Teil: Begründung der Vernunft: Strategien und Einwände 4
Ergo: Was ist die Vernunft »im engeren Sinne«? . . . . 188
4.1 Kein Synonym für »Rationalität« . . . . . . . . . . . . 4.2 Mehr als ein Kulturbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Nicht dasselbe wie »Vernünftigkeit« . . . . . . . . . . .
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Die Vernunft im engeren Sinne als ein konkretes Forschungsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
5.1 Forschungsprogrammatische Bestimmung der Vernunft im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Progression und Degeneration des Forschungsprogramms
6 Begründungsmöglichkeiten und kritische Einwände . . 6.1 Divergierende Vernunftkonzepte und adäquate Begründungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Begründungsmöglichkeiten der Vernunft im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Formen kritischer Einwände . . . . . . . . . . . . . . . 7
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Das Problem der unterschiedlichen Ansprüche . . . . 284
7.1 Die alltägliche Dimension des Problems
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7.2 Die forschungsprogrammatische Dimension . . . . . . . 7.3 Der Umgang mit unterschiedlichen Ansprüchen: vier Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anspruchslogische Antwort auf das AgrippaPentalemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
8.1 Gewissheit der Vernunfthandlungen und Bewusstsein der Produkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Exkurs: »Vermögen« – also Psychologismus? . . . . . . . 8.3 Einbettung der Vernunftfunktionen in ein System . . . . 8.4 Relativismus, Dissens und die Verflochtenheit der Weltansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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301 307 317 319
Anspruchslogische Bemerkungen zu den Topoi der Vernunftkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
10 Fazit
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Literaturliste und Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . 346 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
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Analytisches Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung 1
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nach Abschnitten gegliederte Übersicht über zentrale Argumente und Thesen – Zur Methode – Gewinn für die Leserinnen und Leser
Erster Teil: Die Vernunft »im engeren Sinne«: Voraussetzungen und Funktionen 2
Kants Darstellung der Vernunft als der höchsten Steuerungsinstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Der Ausgang von Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Ideen als Voraussetzungen im Gespräch – (2) Die Voraussetzung der Voraussetzungen – (3) Epistemischer / ontologischer Status der Ideen – (4) Mystisch-metaphysische versus logische Interpretation 2.2 Der besondere Vorstellungsstatus der Ideen . . . . . . . Gegen die sorglose Verwendung des Ideenbegriffs – Ideen in der Stufenleiter der Vorstellungen 2.3 Die Arten der Ideen bei Kant und ihr Voraussetzungsstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Inwiefern sind die Ideen als Voraussetzungen zu begreifen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Postulate, einfache praktische, / politische, / religiöse und ästhetische Ideen – (2) Transzendentale und einfache theoretische Ideen – (3) Transzendenter Ideengebrauch – (4) Methodologische (architekto-
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nische) Ideen – Tabellarische Übersicht über die ersten sechs Ideenarten mit erkenntnisimmanenten Voraussetzungsfunktionen 2.3.2 Was ist die Voraussetzung der Voraussetzungen? . Veranschaulichung der Ergebnisse – (1) Idee des reinen Willens – Praktische Autonomie, der Zirkelverdacht und seine Auflösung – (2) Idee des reinen Denkens – Autonomie und reine Spontaneität in geistigen Akten der reinen Vernunft – (3) Einheit und praktische Realität der Vernunft – Abgrenzung zu abweichenden Auffassungen 2.3.3 Epistemischer / ontologischer Status der Ideen . . Ideen als diskursiv gedachte, nicht intuitiv oder intellektuell angeschaute Vorstellungen – Ideen als notwendige Vernunftbegriffe, nicht willkürlich »gedichtet« oder eingebildet – Die Tafel des Nichts: Ideen als entia rationis – Unterschiedliche Ideenarten und angemessene Überzeugungsarten (»propositionale Einstellungen«) 2.4 Abschließende Übersicht: Kants System der Ideen . . . . 2.4.1 System der Voraussetzungsfunktionen . . . . . . Abschließende tabellarische Übersicht über alle sieben Ideenarten mit Beispielen, Funktionen, primären Voraussetzungen und Überzeugungsarten 2.4.2 Exkurs: Ordnung und kategoriale Bestimmtheit der transzendentalen Ideen . . . . . . . . . . . . . . . Zur Hierarchie unter den transzendentalen Ideen – Zur analytischen Zuordnung der 12 Kategorien zu den transzendentalen Vernunftbegriffen 2.5 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Fichtes Systematisierung der Vernunftfunktionen . . . Die fünf Wirkungssphären der Vernunft 3.1 Den Anfang macht die Vernunft: Zwei Modelle . . . . . Zwei grundlegende Systematisierungsmöglichkeiten der Bewusstseinshandlungen 3.1.1 Modell 1 (bis 1800): Fürsichsein der Vernunft . . . Das Modell der Ideenbildung der Vernunft von der Vernunft – (1) Explikation dieses Modells: 1. Das 12
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Wesen der Vernunft; 2. Der Handlungsaspekt der Selbstsetzung der Vernunft (der Tathandlung); 3. Das unmittelbare Bewusstsein der Handlung (intellektuelle Anschauung); 4. Das Produkt der Handlung (der Begriff der Vernunft); 5. Das Vermögen der Vernunft; 6. Fazit – (2) Abgrenzung zu abweichenden Interpretationen: I. Absolutes Ich als abstraktes Selbstbewusstsein; II. Absolutes Ich als (nur) reine praktische Vernunft 3.1.2 Modell 2 (ab 1800): Rückbesinnung auf das Fürsichsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das abweichende Modell der Ideenbildung der Vernunft von der Vernunft: der Umweg über die Ideenbildung vom Absoluten – Analogisches Denken und didaktischer Kunstgriff: die Vernunft des Urwesens und menschliche reine Vernunft – (1) Nachweise dieses Modells in den Wissenschaftslehren 1801/02, 1804/II und 1812 – (2) Abgrenzung zu abweichenden Interpretationen: I. Das Grundprinzip der späteren Wissenschaftslehren als Theorie der Entstehung des Selbstbewusstseins aus Gott; II. Die späteren Wissenschaftslehren als Ich- und Welterklärung mit neoplatonischen Zügen 3.2 Der innere Zusammenhang der Vernunftfunktionen . . . Zwischenergebnis – Zwei Modelle genetischer Systematisierung der Vernunftideen 3.2.1 Die eine und die vielen Ideen: Teleologie der Ideenarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bildungsideal und die eine Idee (der Vervollkommnung) – Fünf Stufen und Sphären der Verwirklichung des Ideals durch Bildung und Anwendung von Vernunftideen – Fichtes Übernahme der Grundbestimmungen des Kantischen Ideenbegriffs 3.2.2 Die fünf systematisch verknüpften Gestalten der einen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellarische Übersicht über Fichtes genetische Systematisierung der Arten der Ideen nach fünf Wirkungssphären der Vernunft, entsprechenden transzendentalen Symbolen und Wissenschaften –
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Analyse dieser Tabelle: V: Kritische Metaphysik: architektonische Ideen und Vernunftbegriffe von der Vernunft – IV: Religion: Postulate und religiöse Ideen – III: Kunst / Moral: einfache praktische und ästhetische Ideen – II: Moral / Recht / Politik: Freiheit, einfache praktische und rechtliche Ideen – I: Naturerkenntnis und -bearbeitung: Idee des Guten und kosmologische Ideen 3.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zweiter Teil: Begründung der Vernunft: Strategien und Einwände Ergebnisse des ersten Teils: die Theorienreihe zur Vernunft im engeren Sinne – Der Plan des zweiten Teils
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Ergo: Was ist die Vernunft »im engeren Sinne«? . . . . 188
4.1 Kein Synonym für »Rationalität« . . . . . . . . . . . . Rationalitätsphilosophie: terminologische, paradigmatische und anspruchslogische Verschiebung im Vernunftdenken – Kritik am bewusstseinsphilosophischen Denken 4.2 Mehr als ein Kulturbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte des Vernunftbegriffs aus Schnädelbachs rationalitätsphilosophischer Perspektive: Paradigmenwechsel und Überwindung der Bewusstseinsphilosophie – (a) kulturologischer Reduktionismus – (b) Vernunft und Vernünftigkeit – (c) unterschiedliche Ansprüche 4.3 Nicht dasselbe wie »Vernünftigkeit« . . . . . . . . . . . Hegels starker Vernunftbegriff und seine Verabschiedung – das Projekt einer »Dezentrierung der Vernunft«: Probleme des »Bündnisses« der Rationalitätsphilosophie mit Hegel – (1) Vernunftvermögen versus Vernünftigkeit – (2) Vernünftigkeit und vernünftiges Denken – (3) unterschiedliche Ansprüche
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Die Vernunft im engeren Sinne als ein konkretes Forschungsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
Die Logik der philosophischen Forschung: warum die rationalitätsphilosophische Verwendung des Paradigmenbegriffs Kuhns problematisch ist – Darstellung der Forschungsprogrammatik von Lakatos, ihrer Vorteile gegenüber dem Paradigmenmodell, Merkmale und Bestandteile – Philosophie als Pluralität miteinander kooperierender und konkurrierender Forschungsprogramme – Forschungsprogrammatische Struktur der Philosophie 5.1 Forschungsprogrammatische Bestimmung der Vernunft im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das übergeordnete Forschungsprogramm: transzendentale Bewusstseinsphilosophie oder kritische Metaphysik (des Mentalen): A. Harter Kern; B. Positive Heuristik; C. Negative Heuristik und »Anomalien« (A. Interne Kritik; B. Exerne Kritik) – Das Forschungsprogramm »Vernunft (im engeren Sinne)« innerhalb des transzendentalbewusstseinsphilosophischen Forschungsprogramms: A. Harter Kern; B. Positive Heuristik; C. Negative Heuristik 5.2 Progression und Degeneration des Forschungsprogramms Das Bestehen eines mehr oder weniger verdeckten und fairen Konkurrenzkampfes der Forschungsprogramme – (a) Progressive Problemverschiebungen innerhalb des Forschungsprogramms »Vernunft im engeren Sinne« – (b) Das Schlummern des Projektes »Vernunft im engeren Sinne« und sein Degenerationsprozess – (c) Strategien zur Wiederaufnahme und Weiterverarbeitung dieses Forschungsprogramms – Beispiele für Vernunftideen in zeitgenössischen Kontexten
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Begründungsmöglichkeiten und kritische Einwände . . Die Begründung im forschungsprogrammatischen Argumentationsrahmen 6.1 Divergierende Vernunftkonzepte und adäquate Begründungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typologie der Begründungsstrategien im Hinblick auf: A: Rationalität und kommunikative Rationalität (Popper Das System der Ideen
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und Rescher, Schnädelbach, Habermas und Apel); B: Die Vernünftigkeit (Topoi der Vernunftkritik und Tropen des Agrippa versus Hegels Forschungsprogramm); C: Vernunft als Vermögen der Ideen – Die Konkurrenz zwischen diesen Vernunftkonzepten und Begründungsansprüchen (Ansprüche auf Fundierung, Überlegenheit, Ursprünglichkeit) – Tabellarische Übersicht – Warum sich die Strategien zu A und B gar nicht oder kaum zur Begründung von C eignen 6.2 Begründungsmöglichkeiten der Vernunft im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Seins- und Erkenntnisgründe – (1.1) Transzendentalphilosophische Perspektive – (1.1.1) Gewissheit der Vernunfthandlungen und Bewusstsein der Produkte – (1.1.2) Einbettung der Vernunftfunktionen in ein System – (1.2) Anthropologische Perspektive – (1.3) Naturwissenschaftliche Perspektive – (2) Annahmegründe – (2.1) Das naturalistische Sein-Sollen-Argument und seine Schwächen – (2.2) Weltansichtsgründe 6.3 Formen kritischer Einwände . . . . . . . . . . . . . . . Das natürliche komplementäre Verhältnis von Antworten (Begründungsstrategien) und Fragen (Einwänden) – Kritikformen – Vorstellung von basalen und negativ-radikalen Formen von Einwänden: (1) Fünf Tropen des Agrippa – (1.1) Infiniter Regress – (1.2) Voraussetzung – (1.3) Zirkularität – (1.4) Dissens – (1.5) Relativität – (2) Topoi der Vernunftkritik – (2.1) Unattraktivität – (2.2) Machtmissbrauch – (2.3) Das Andere der Vernunft – (2.4) Intersubjektivität (die Anderen der Vernunft)
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Das Problem der unterschiedlichen Ansprüche . . . . Rechtfertigung der Notwendigkeit der Einführung des zusätzlichen metaphilosophischen Analysetools / des Interpretationsansatzes »das Problem der unterschiedlichen Ansprüche« – (1) Erster Grund: strategisches Aufgreifen und bewusstes Verstärken der Dissens- und Relativismuseinwände, die sich zu den Topoi der radikalen Vernunftkritik erweitern lassen – (2) Zweiter Grund: Anspruchslogische Zurückweisung der Vernunftkritik durch konsequente Reflexion auf Multiperspektivität im Sinne
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eines reflektierten Perspektivismus – Folgerungenspositionen aus dem Umstand, dass es Relativität und Dissens gibt: fünf Arten des Perspektivismus – das Verhältnis des reflektierten Perspektivismus zu diesen fünf Arten – (3) Dritter Grund: Einholung der mit den forschungsprogrammatischen Festlegungen, Interessen und Wissenszielen zusammenhängenden Dimension der Anspruchssetzungen 7.1 Die alltägliche Dimension des Problems . . . . . . . . . Ansprüche ((An-)Forderungen) versus Werte – Das Auftreten des Problems bei intra- und interpersonellen Konflikten – Hohe und / oder andere Ansprüche: die Dynamik von Gefühlen des Zwangs bzw. Wertverlusts: zwei Beispiele aus den Lebenssphären Sport und Musik 7.2 Die forschungsprogrammatische Dimension . . . . . . . Das Problem der unterschiedlichen Ansprüche im Hinblick auf: (I) Wissenschaft; (II) Philosophie; (III) Richtungen innerhalb der Philosophie; (IV) Theorienreihen innerhalb der Richtungen 7.3 Der Umgang mit unterschiedlichen Ansprüchen: vier Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurze formale Rekapitulation des Standpunkts des reflektierten Perspektivismus – Vier Regeln zum rational gerechten Umgang mit abweichenden Positionen und Ansprüchen
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Anspruchslogische Antwort auf das AgrippaPentalemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
Hegels und Apels Strategie der Ersetzung der forschungsprogrammatischen Festlegungen und Ansprüche hinter den Tropen durch ihre eigene – Der reflektierte Perspektivismus als konsequente Reflexion auf (a) forschungsprogrammatische Festlegungen, (b) Ansprüche und (c) Wissensziele 8.1 Gewissheit der Vernunfthandlungen und Bewusstsein der Produkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seins- und Erkenntnisgründe: Begründungsstrategie (1.1.1): Das nachvollziehbare Auftreten geistiger Leistungen – Die Bedingungen des Begründungserfolgs und der Zurückweisung der ersten drei Tropen (insbesondere der Zirkularität): Ansprüche an das Denken – Mögliche Ver-
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drehungen von Ansprüchen und forschungsprogrammatischen Festlegungen 8.2 Exkurs: »Vermögen« – also Psychologismus? . . . . . . . Lenks Kritik am unreflektiert gebrauchten aktionistischen Vokabular bei Kant und Kant-Forschern: der Psychologismusverdacht – Analyse und Zurückweisung der Argumente – (C) Merkmale von Hegels begründeter Erscheinungslogik der Kräfte und Vermögen – (B) Fichtes begründete Erscheinungslogik – (A) Kants begründete Erscheinungslogik 8.3 Einbettung der Vernunftfunktionen in ein System . . . . Seins- und Erkenntnisgründe:Begründungsstrategie (1.1.2): Einbettung der Vernunft im engeren Sinne in ein System: (1) Bewusstseinskohärentismus, (2) argumentativer Kohärentismus und Anforderungen zum Gelingen dieser Strategie (gegen den Tropus der dogmatischen Voraussetzung) 8.4 Relativismus, Dissens und die Verflochtenheit der Weltansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annahmegründe: Begründungsstrategie (2.2): Die Verwirklichung des Welt- und Freiheitsgenusses – Die »Fünfundzwanzigheit« der weltansichtlichen Standpunkte: I: der Genuss und die fünffache Perspektive der Sinnlichkeit – II: der Legalität und Moralität – III: der Moralität und Kunst – IV: der Religiösität – V: der Vernunft – Skeptizismus und »Nullität« – Welche Anforderungen gestellt werden müssen, um behaupten zu können, dass die Vernunft im engeren Sinne praktisch begründet ist (versus Relativismus und Dissens)
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Anspruchslogische Bemerkungen zu den Topoi der Vernunftkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Das Grundproblem des postmodernen Vernunftkritikers: die Vielheit der Konzepte und der Bedeutungen des Begriffs »Vernunft« – Anspruchslogische Analyse problematischer Argumentationsfiguren (rhetorischer Kunstgriffe und »Fehlschlüsse«) im Hinblick auf die Vernunft im engeren Sinne: (2.1) Unattraktivität der Vernunft – Der progressbezogene Wir-heute-Schluss – Der paradigmatische Wirheute-Schluss – (2.2) Vernunft und Macht – Machtentzugsbzw. Denkprozessverselbständigungs-Argument – Ver-
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nunftinstrumentalismus-Argument – (2.3) Das Andere der Vernunft – (2.4) Die Anderen der Vernunft – Das Fehlen der Anderen auf methodologischer Ebene
10 Fazit
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der reflektierte Perspektivismus: das Programm einer metaphilosophisch informierten Philosophie – (I) Das Kantische Programm der Selbsterkenntnis der Vernunft und der Ideenfunktionen – (II) Das Fichtesche Programm der teleologischen und genetischen Systematisierung der Arten der Ideen – (III) »Vernunft im engeren Sinne« als ein in zeitgenössischen Kontexten konkurrenz- und kooperationsfähiges Forschungsprogramm – (IV) »Vernunft im engeren Sinne« als ein unter bestimmten angebbaren und vertretbaren Bedingungen wohlbegründetes Forschungsprogramm
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Literaturliste und Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . 346 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
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Vorbemerkung
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation »Die Begründung der Vernunft und das Problem der unterschiedlichen Ansprüche«, die im Sommersemester 2019 vom Philosophischen Seminar der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal angenommen wurde. Für die professionelle und freundliche Betreuung möchte ich Prof. Dr. Alexander Schnell danken, der mich bei allen meinen Fragen und Anliegen mit wertvollen Tipps, Hinweisen und Gedanken zuvorkommend unterstützte, sowie Prof. Dr. Andreas Schmidt, mit dem ich schon seit Beginn meines Masterstudiums in Jena lange und aufschlussreiche Gespräche zum beinahe kompletten Themenspektrum der vorliegenden Arbeit führen konnte. Prof. Dr. Gerald Hartung und Prof. Dr. Marco Ivaldo danke ich für die zusätzliche Begutachtung meiner Arbeit. Ein großer Gewinn waren für mich in vielen Hinsichten die jährlich im Barockschloss Rammenau stattfindenden Tagungen der Internationalen Johann Gottlieb Fichte-Gesellschaft. Ein besonderer Dank gilt ihrem ehemaligen Präsidenten Prof. Dr. Jacinto Rivera de Rosales Chacón, mit dem ich ein tiefes Interesse an Fichtes Theorie der Weltansichten teile und den ich im Sommer 2018 in Madrid besuchen durfte, um gemeinsam den Anfang der Wissenschaftslehre nova methodo zu lesen und zu besprechen. Für Anregungen und fruchtbaren Austausch möchte ich ferner Prof. Dr. Jürgen Stolzenberg, Prof. Dr. Klaus Vieweg, Prof. Dr. Manfred Baum, Prof. Dr. Rainer Adolphi, Dr. Michael Gerten, Dr. Martin Bunte, Dr. Anton Ivanenko, Dr. Max Rohstock und allen denjenigen danken, die die Fichte-Lektüretage in Jena, Wuppertal und Heidelberg mitgestalteten, darunter M.A. Jannik Weltner, M.A. Gabriel Jäger, M. A. Simon Schüz und meinem alten Freund M.A. Jochen Heinz. Prof. Dr. Helmut Girndt möchte ich für sein Interesse an meiner Das System der Ideen
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Vorbemerkung
Arbeit danken. Für sprachliche Korrekturen und Verbesserungsvorschläge danke ich meiner ehemaligen Kommilitonin Frau Dr. Suzanne Dürr. Mein weiterer Dank gilt der Bergischen Universität Wuppertal für die finanzielle Förderung meines Vorhabens in Form eines Abschlussstipendiums.
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1 Einleitung
Nimmt man sich heute ein Buch in die Hand, bei dem es um die Vernunft oder um ihre Begründung gehen soll, dann werden sich darin mit höchster Wahrscheinlichkeit Betrachtungen über das finden, was synonymisch genauso gut als Rationalität, rationale Haltung, Verstand oder Vermögen zu denken und sprechen, zu urteilen, zu entscheiden, zu planen, zu kalkulieren, Übergänge zwischen unterschiedlichen Rationalitätstypen zu schaffen etc. bezeichnet werden könnte. Liest man hingegen vernunftkritische Texte – etwa von Stirner, Nietzsche, Horkheimer, Adorno, Foucault und Feyerabend – dann lernt man sie in unterschiedlichsten abschreckenden Gewändern kennen. Mal ist sie eine überfordernde und das endliche Subjekt überstrapazierende Vorstellung der absoluten Vernünftigkeit, mal ein Götze der Philosophen, der sie gegenüber den lebensweltlichen, sprachlichen, leiblichen und psychologischen Zusammenhängen blind mache, mal ist sie eine unreflektierte rationale Haltung, die sich ungestört in der Erkenntnistheorie und der Gesellschaft ausbreite und alles um sich herum bloß nach dem Nützlichkeitskriterium mechanisiere und instrumentalisiere. Bei Weitem nicht alles, was mit den eigentlich positiv konnotierten Begriffen Vernunft oder vernünftig bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit für uns attraktiv – das ist die grundlegende Einsicht, die uns die Kritiker seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermitteln wollen. Wenn Herbert Schnädelbachs Diagnose stimmt, dann sind jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die Zeiten der radikalen Vernunftkritik und der »Mode, die Vernunft für alles Schlimme in der Welt verantwortlich zu machen und zur Korrektur an das ›Andere der Vernunft‹ zu erinnern« 1, vorüber. Wenn das der Fall ist, dann wollen wir nicht länger warten, um zurückzuschauen und zu prüfen, ob Schnädelbach 2007: 7. »Unser Zeitgeist ist der Vernunft nicht wohlgesonnen. […] Allenfalls von Rationalität, keinesfalls von Vernunft soll noch die Rede sein dürfen.
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Einleitung
nicht im postmodernen Diskurs ein bedeutendes Vernunftkonzept und mit ihm ein für uns auch aktuell (immer noch) sehr relevantes Wissen komplett untergegangen ist. Weder die Kritiker noch die Rationalitätsphilosophen (wie Schnädelbach, Habermas, Apel, Welsch u. a.) gingen und gehen nämlich wirklich auf das ein, was uns im Folgenden beschäftigen wird – das Forschungsprogramm Vernunft im engeren Sinne. Mit dieser ist weder »Vernünftigkeit« in der alltäglichen oder Hegel’schen Bedeutung noch ein »Götze« als ein Set von überkommenen festen Vorschriften noch ein Rationalitätstypus oder ein Kulturprodukt gemeint, sondern eine Fähigkeit, konkrete Vorstellungen zum Steuern unseres Denkens und Wollens zu erzeugen und in Anwendung zu bringen. »Kritik der instrumentellen Vernunft«, »kommunikative Rationalität«, »ideale Kommunikationsgemeinschaft«, »rationale Gerechtigkeit« sind, wenn man diesem Forschungsprogramm folgt, Beispiele für solche anspruchsvollen Vorstellungen und Aufgaben, die entweder zum praktischen Handeln oder zum Verfassen eines philosophischen Werks dienen können und die wir später den Arten einfache praktische bzw. methodologische (architektonische) Begriffe zuordnen werden. Das Ziel dieser Untersuchung besteht darin, auf das Konzept der Vernunft im engeren Sinne, das durch die Rationalitätsphilosophie nicht völlig ersetzt werden kann, sowohl in philosophiegeschichtlicher als auch systematischer Hinsicht aufmerksam zu machen. Diesem ist der erste Teil der Arbeit gewidmet. Das Anliegen ist ferner, im zweiten Teil, dasselbe durch progressive und metaphilosophische 2 ›Farewell to Reason‹ ist ein Motto der Zeit« schreibt noch Wolfgang Welsch 1996b: 139. 2 Unter »metaphilosophisch« ist hier wie im Folgenden »die Logik der philosophischen Forschung betreffend« zu verstehen. Es wird dabei der richtungsweisenden Gegenstandsbereich-Definition von Geldsetzer (1989) gefolgt: So wie die Natur, Moral, Religion etc. Gegenstände der Philosophie sind, kann die Philosophie selbst zum Gegenstand des Philosophierens werden. Dabei muss man nicht unbedingt einem höherstufigen Reflexionsmodell (einer scheinbar paradoxen Situation einer Philosophie jenseits der Philosophie) anhängen – darauf weisen etwa Richard Raatzsch (2014) und Brendan Theunissen (2014) hin (vgl. auch die Rezension Lewin (2020d), bei der das Problem der philosophischen Vorbelastetheit metaphilosophischer Theorien angesprochen wird). Die Metaphilosophie ist ein junges, in der Philosophiegeschichte aber schon mehrfach vorweggenommenes Forschungsgebiet, das die Philosophie als solche, ihre Ziele, Bereiche, Aufgaben, Methoden etc. in ihrer ganzen aktuellen und historischen Vielfalt (sowie insbesondere die sich aus dieser Vielfalt ergebenden Probleme, Lösungen und Orientierungsmöglichkeiten) explizit zum Gegenstand macht. Sie zielt u. a. auf besseres Verständnis der Philosophie und Steigerung der Qualität
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Einleitung
Überlegungen wieder konkurrenz- und kooperationsfähig zu machen: Es soll gezeigt werden, dass die Annahme, jeder von uns verfüge über die Vernunft im engeren Sinne und sie solle benutzt werden, begründet ist, wenn der (Mit-)Prüfende auf konkrete forschungsprogrammatische Festlegungen und Ansprüche achtet. Die Begründung scheitert dagegen, wenn diese Forderung nicht erfüllt wird. Die dahinterstehende metaphilosophische Position soll als reflektierter (auch: taktischer / raffinierter) Perspektivismus bezeichnet werden. Folgende Gedanken, Intuitionen und Thesen liegen den einzelnen Abschnitten zugrunde: (2) Wenn Kant in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft schreibt, dass der allgemeine Begriff der Vernunft »das Vermögen der Prinzipien« (KrV A299/B356) ist, das mit der höchsten uns möglichen (von der Erfahrung unabhängigsten) Vorstellungsart operiert, die man Vernunftbegriff oder Idee nennen kann, dann soll das energisch als eine basale Bestimmung aufgefasst werden. Nicht ohne Grund findet man auch in seinen weiteren Schriften den Ausdruck »Idee« – man lernt dieses eine Vermögen, das nicht nur auf dem Feld der systematischen Naturerkenntnis, sondern auch in praktischer (moralischer, rechtlicher, religiöser), ästhetischer und architektonischer Hinsicht sinnvoll (nicht-transzendent) gebraucht werden kann, von verschiedenen Seiten kennen. 3 Dieser der philosophischen Forschung durch bewusste Entwicklung, Offenlegung und Hinterfragung metaphilosophischer Hintergrundannahmen und Modelle ab. Uns wird es im zweiten Teil um die perspektivistische forschungsprogrammatische und anspruchslogische Beleuchtung des philosophischen Forschens gehen, und zwar zum übergeordneten Zweck der Prüfung, inwieweit die Vernunft im engeren Sinne begründbar und begründet ist. Es wird sich in diesem Rahmen eine bestimmte Position abzeichnen, die man als systematisch-metaphilosophisch bezeichnen könnte und die in dieser Untersuchung nur so weit wie nötig entwickelt wird. Zur Einführung in den allgemeinen aktuellen metaphilosophischen Diskurs vgl. Theunissen (2014) und Lewin (2020d), Rescher (2014) und (2006), Plant (2017) und (2012) und Overgaard/ Gilbert/Burwood (2013). 3 Im Hinblick auf die transzendentale Dialektik sind für uns u. a. die (aktuelleren) Arbeiten von Bunte (2016), Pissis (2012) und Klimmek (2005) relevant. Auf den erst vor Kurzem erschienenen Forschungsbeitrag zum Anhang zur transzendentalen Dialektik von Rudolf Meer (2019) sowie auf Marcus Willascheks (2018) rationalitätstheoretische Rekonstruktion der transzendentalen Dialektik konnte leider nicht im Detail eingegangen werden – vgl. aber die Rezensionen zu den beiden Büchern in Lewin (2020a) und (2020b). Auf die unterschiedlichen Arten der Ideen bei Kant machen Karásek, Timmermann und Fricke im Rahmen ihrer Beiträge für das von Willaschek, Stolzenberg u. a. herausgegebene dreibändige Kant-Lexikon (2015) aufmerksam. Eine der ersten Unterscheidungen findet sich im Wörterbuch zum leichtern Das System der Ideen
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Einleitung
Überlegung folgend werden im ersten Abschnitt des ersten Teils der Arbeit mehrere Arten der Vernunftbegriffe in der Kantischen Philosophie unterschieden, ihre jeweiligen Funktionen für unsere Erkenntnis und unser Handeln, ihren epistemischen und ontologischen Status sowie ihnen gemäße propositionale Einstellungen untersucht, was in einer klaren und nachvollziehbaren tabellarischen Übersicht kulminieren soll. Damit soll das geleistet werden, was in der KantForschung bisher vernachlässigt wurde. 4 Von zentraler Bedeutung ist dabei die These, dass die Einsicht in die Einheit der Vernunft (im konkreten Sinne: als des Vermögens der Ideen) trotz unterschiedlicher Anwendungsfelder, in denen sie tätig ist, prinzipiell möglich ist. Denn schließlich tritt sie bei Kant stets im Medium ein und derselben Vorstellungsart auf, auch wenn unter den Vernunftbegriffen unterschiedliche Reinheitsgrade bestehen (was selbst bei den transzendentalen Ideen der Fall ist). (3) Im zweiten Abschnitt des ersten Teils wird der Intuition gefolgt, dass es kein Zufall ist, dass sowohl der frühe als auch der späte Fichte sein Grundprinzip gelegentlich als »Vernunft« bezeichnet und von Ideen in Abgrenzung zu den Erfahrungsbegriffen des Verstandes spricht (vgl. z. B. GdgZ GA I/8 246). Es soll – teilweise im Anschluss an die bedeutenden Überlegungen von Andreas Schmidt (2004) und Gebrauch der Kantischen Schriften von C. C. E. Schmid 1798: 322 ff. Anregend sind für uns ferner die Überlegungen von Peter König (1994) zum allgemeinen Begriff der Idee in Kants Schriften und zum Prozess der Erzeugung der Idee vom reinen Willen. Jürgen Habermas interessiert sich für die Möglichkeit einer »detranszendentalisierten« Verwendung der Kantischen Ideen (im Rahmen des kommunikativen Handelns), bezieht sich allerdings nur auf die kosmologischen Ideen und das Postulat der Freiheit – vgl. 2001: 13 f. 4 Susan Neiman schreibt dazu: »Most readers of the Critique of Pure Reason have focused on its first two hundred pages, dismissing the ›Dialektik,‹ whose subject is reason, as an elaboration of the positive doctrines of the ›Analytic,‹ which is of little concern to any but those with an interest in the details of the destruction of scholastic metaphysics. Readers of Kant’s works as a whole have tended to treat his ethics separately from his metaphysics, with little systematic probing of their mutual dependence« (Neiman 1994: 3). Die transzendentale Dialektik und die allgemeine Kantische Ideenlehre gerieten zwar in den letzten Jahrzehnten u. a. dank der in der obigen Fußnote genannten Arbeiten zunehmend ins Visier der Forschung, die ganze breite Konzeption und Funktionalität der Ideen, mit denen die Vernunft im engeren Sinne operiert und die nicht nur der Gegenstand der Kritik der reinen Vernunft ist, war noch kein Gegenstand einer systematischen Untersuchung (vgl. auch die Fußnote 68). Das wirkt sich entsprechend auf die Literatur zum Problem der Einheit der Vernunft bei Kant aus – vgl. die kritischen Bemerkungen dazu in den Fußnoten unter Punkt 2.3.2 – und hat Nachwirkungen auf die Fichte- und Hegel-Forschung.
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Einleitung
Jürgen Stolzenberg (2018) und (2010) – dafür argumentiert werden, dass dieselbe Vernunft im engeren Sinne, »über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird« (KrV A298/B355), für dasjenige verantwortlich ist, was Fichte »die höchste Handlung des menschlichen Geistes« (BWL GA I/2 141) nennt. Die Tathandlung, von der aus in der Wissenschaftslehre die übrigen für unsere objektive Erkenntnis wesentlichen Handlungen und Funktionen des Bewusstseins – von oben nach unten – abgeleitet werden, lässt sich grundlegend als ein Prozess der Bildung der Idee der reinen Vernunft von sich selbst begreifen. Wir werden anhand der Wissenschaftslehre nova methodo im Detail sehen, dass dieser Prozess vier grundlegende Momente involviert: (α) Akt (Handlung), (β) unmittelbares Bewusstsein (intellektuelle Anschauung), (γ) Produkt (Begriff, i. e. Idee) und (δ) Vermögen (i. e. der reinen Vernunft). Im Gegensatz zu Kant führt Fichte das Vernunftvermögen in seinen Werken nicht faktisch ein, sondern fordert den Leser dazu auf, sich performativ durch die Tathandlung und im begrifflichen Nachvollzug der Momente (α)–(δ) der eigenen reinen Vernunft zu vergewissern: nicht der reinen praktischen und auch nicht der reinen theoretischen, sondern der einen, für sich, vor ihrer Äußerung in unterschiedlichen Anwendungsfeldern. Während Kant diese gelegentlich und abweichend als »vernünftiges Subjekt« (vgl. Prol AA IV 345), »Ich« und »eigentliches Selbst« (vgl. GMS AA IV 451, 457 f.), »reine Selbsttätigkeit« oder »reine Tätigkeit« (vgl. GMS AA IV 451 f., KrV A541/569) etc. bezeichnet, zieht Fichte oft umgekehrt die Ausdrücke wie »absolutes Ich«, »Ich«, »Intelligenz«, »reine Selbsttätigkeit« etc. vor. Dieses führt in der Forschung neben dem Fehlen der Einsicht in die Multifunktionalität des einen Vermögens der Ideen bei Kant zu mehreren Nachteilen für das Verständnis der Wissenschaftslehre: entweder zu Missverständnissen (wie etwa, dass Fichte einen Paralogismus begehe, wenn er vom Ich spreche) 5 oder zu Unter- und Überbestimmungen seines Grundprinzips vor und nach 1800, auf die wir eingehen werden. Sehr deutlich wird es beispielsweise bei der Auffassung, der spätere Fichte greife, indem er eine Ideenlehre entwickle, auf Platon oder den Neuplatonismus zurück. 6 Stattdessen stellt die Theorie der fünf so genannten Wirkungssphären der Vernunft einen in der Philosophiegeschichte Vgl. Moskopp 2009: 16 und 81 f. Vgl. etwa Asmuth (2003) und (2006) sowie Rampazzo Bazzan (2009) und die Aufsätze in Mojsisch/Summerell (2003).
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Einleitung
bis dato letzten Versuch dar, alle Arten der Ideen, die bei Kant vorkommen (den Ausdruck Idee übernimmt Kant von Platon als Bezeichnung für eine konkrete Vorstellungsart), systematisch und hierarchisch nach Bereichen zu ordnen, in denen sie konkrete Funktionen – die sich auch auf bestimmte Wissenschaften erstrecken – erfüllen. Diesen werden wir uns abschließend ansehen. (4)–(6) Die ersten drei Abschnitte des zweiten Teils dienen dazu, das am Leitfaden der Vorstellungsart Idee aus Kants und Fichtes Schriften gewonnene Vernunftkonzept einerseits von der Rationalitätsphilosophie und andererseits von der Hegel’schen absoluten Idee, von der er schreibt, dies sei die »eigentliche philosophische Bedeutung für Vernunft« (Enz I W 8 370), abzugrenzen. Dabei stellen wir die starke (u. a. von Habermas, Schnädelbach und Apel vertretene) rationalitätsphilosophische These infrage, nach welcher die Philosophiegeschichte als eine Abfolge von einander ablösenden Paradigmen zu begreifen wäre, die zu solchen Ansichten führt, wie: – –
die moderne Philosophie der Vernunft wird »nur als umfassende Theorie der Rationalität auftreten können« 7; das »Paradigma der Erkenntnis von Gegenständen [soll, Zusatz von M. L.] durch das Paradigma der Verständigung zwischen sprach- und handlungsfähigen Subjekten« 8 ersetzt werden.
Demgegenüber soll geltend gemacht werden, dass die Übernahme und Verwendung des Kuhn’schen Begriffs Paradigma in Bezug auf philosophische Konzeptionen keineswegs unproblematisch ist und im Lichte der weiteren Entwicklungen in der Wissenschaftstheorie kritisch hinterfragt werden muss – insbesondere vor dem Hintergrund der einleuchtenden Einwände von Imre Lakatos und Kuhns eigenen späteren Korrekturen an seiner Theorie. 9 Es wird die These Schnädelbach 2007: 138. Habermas 1988: 345. 9 Man kann den Begriff Paradigma auch für unsere Zwecke, eine Möglichkeit für die Orientierung und für einen gerechten Umgang mit der Vielfalt der Perspektiven in der Philosophie zu finden, benutzen. Wolfgang Welschs Vorschlag, darunter eher die »disziplinäre Matrix« im Sinne des späteren Kuhns, und nicht eine bedeutende beispielgebende Leistung eines Wissenschaftlers (oder einer Gruppe von Forschern) zu verstehen, die zur Bildung einer vorherrschenden Richtung (mit konkreten Ansichten, Methoden und Regeln) in der Wissenschaft führt, ist eine mögliche Alternative für unsere Auffassung. Unter einem Paradigma versteht Welsch (vgl. 1996a: 543 ff.), diesen Begriff explizit modifizierend, die rationale Struktur einer Konzeption. Die 7 8
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vertreten, dass es angesichts der tatsächlichen Situation in der philosophischen Forschungslandschaft (der Pluralität der Denkrichtungen, -gegenstände, Schwerpunkte, Forschungsprojekte, stattfindenden Kongresse und Konferenzen etc.) angemessener und gerechter ist, nicht von aufeinanderfolgenden Paradigmen zu sprechen, über die stets ein weitestgehender Konsens bestünde, sondern – im Anschluss an Lakatos – von einer Vielzahl miteinander konkurrierender und kooperierender Forschungsprogramme (Schulen, Richtungen, Theorienreihen). 10 So wie sich hinter den Begriffen Rationalität, kommunikative Vernunft und absolute Idee konkrete Forschungsprogramme verbergen, die sich aus festen Grundannahmen (harter Kern), mit ihnen zusammenhängenden und modifizierbaren Thesen und Bedingungen (Schutzgürtel), Regeln zum Schutz (negative Heuristik) und zur Weiterentwicklung (positive Heuristik) zusammensetzen, ist auch die Vernunft im engeren Sinne ein Projekt unter anderen, das in einen bestimmten forschungsprogrammatischen Kontext eingebettet ist. 11 Nach der von Lakatos freigelegten und vorgeschlagenen Logik der Forschung entscheidet nun weder allein ein Faktum noch ein schlagendes Argument noch eine Gruppe von Forschern, was zu gelten hat, sondern ein freier Wettbewerb – die Vertreter einer Richtung oder Interessierte an einem Forschungsgegenstand dürfen jederzeit selbst ein komplett stillstehendes und vergessenes Programm durch progressive theoretische Problemverschiebungen, Entdeckungen und Impulse wieder konkurrenz- und kooperationsfähig machen: »The direction of science is determined
Paradigmen treten nicht nur nacheinander (diachron), sondern auch nebeneinander (synchron) auf, und zwar nicht nur in einer vorparadigmatischen Phase wie bei Kuhn in der Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962, vgl. unten 3.2). Wir werden sehen, dass der von Imre Lakatos (vgl. (1968) und (1978)) in den wissenschaftstheoretischen Diskurs eingeführte Begriff Forschungsprogramm uns im Vorhinein erlaubt, die Pluralität, Simultaneität und konkrete interne rationale Strukturen der Forschungsrichtungen zu denken. 10 Von Lakatos’ Theorie konnten bisher Religions- (vgl. z. B. Nancey Murphy (1999) – vgl. dazu die Stellungnahmen von Reeves (2011) und Russel (2017)), Literatur- (vgl. z. B. Suzanne Black (2003)) und Wirtschaftswissenschaftler (vgl. z. B. Roger E. Backhouse (1998)) profitieren. 11 Wir werden sehen, dass die Vernunft im engeren Sinne ein partielles Forschungsprogramm ist, das bei Kant und Fichte innerhalb der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie bzw. der kritischen Metaphysik (des Mentalen) behandelt wird. Das System der Ideen
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Einleitung
primarily by human creative imagination and not by the universe of facts which surrounds us.« 12 Unsere systematische Darstellung der Vernunftfunktionen bei Kant und Fichte ist angesichts der radikalen Vernunftkritik in der Postmoderne, der Ansprüche hinter den rationalitäts-, sprach- und kommunikationsphilosophischen Überlegungen sowie des fehlenden allgemeinen Diskurses über unser Vermögen, reine Vorstellungen zum Steuern des Erkennens und Wollens zu erzeugen und in Anwendung zu bringen, ein Versuch, ein degenerierendes Forschungsprogramm – und damit ein Wissen, das droht verlorenzugehen, – zu retten. Dieser ist durch zahlreiche kreative Strategien ergänzbar, z. B. durch –
–
– –
die Auffassung, dass es um das Wissen selbst geht, das im Rahmen eines Forschungsprogramms erweiterbar ist, und nicht um historische Positionen; den Nachweis, dass selbst diejenigen, die gegen das »alte bewusstseinsphilosophische Paradigma« argumentieren, selbst etwa auf architektonische Ideen angewiesen sind, von denen stillschweigend Gebrauch gemacht wird; die Erweiterung der Liste der Beispiele für unterschiedliche Ideenarten; die Begründung der Annahme, dass die Vernunft im engeren Sinne ist und sein soll.
Zu zeigen, dass die Vernunft, so wie im ersten Teil dargestellt, ist und sein soll, bedeutet also einen Impuls zur progressiven Weiterentwicklung der Theorienreihe zum Vermögen der Ideen zu geben. Unter Begründung soll im Rahmen konkreter metaphilosophischer Überlegungen das Vorgehen verstanden werden, auf mögliche Kritik ex ante und ex post zu antworten. So wie ein naturwissenschaftliches Forschungsprogramm in einem »Ozean von Anomalien« 13 (von Fakten, Gegenbeispielen, konkurrierenden Auffassungen und Erklärungen) aufwächst, muss sich ein Autor oder Vertreter einer philosophi-
Lakatos 1978: 99. Vgl. ebd. 6 und 48 ff. »When Newton published his Principia, it was common knowledge that it could not properly explain even the motion of the moon; in fact, lunar motion refuted Newton. Kaufmann, a distinguished physicist, refuted Einstein’s relativity theory in the very year it was published« (ebd. 5).
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schen Position permanent mit einer Vielzahl von »Anomalien« konfrontiert sehen, die sich in der Philosophie eher in Form von Kritik (Hinweise auf logische Inkonsistenzen, Gegenpositionen etc.) bemerkbar machen. Diese kann zwar (ex ante) bis zu einem bestimmten Grad vorhergesehen werden, aber nicht immer. Es wird im Zusammenhang damit die These vertreten werden, dass Begründung und Kritik komplementäre Begriffe sind – und zwar so, dass einem jeden Vernunftkonzept (wie rationale Haltung, kommunikative Vernunft, Vernünftigkeit, Vernunft im engeren Sinne) konkrete Kritik wie ein Schatten dem Gegenstande und seiner Gestalt folgt. 14 Die Interessierten an dem Projekt »Vernunft im engeren Sinne« müssen mit folgenden Grundannahmen arbeiten und rechnen: Vernunft im engeren Sinne (A)
(B)
(1) ist
(1) ist nicht
(2) soll sein
(2) soll nicht sein
Die Position (B) erscheint in der Philosophiegeschichte oft in Form der Behauptung, (1) die Fähigkeit, Ideen zu erzeugen und anzuwenden, sei eine bloße Einbildung (entweder eine leere Fiktion oder lediglich ein Interpretationskonstrukt), die zudem (2) unattraktiv sei, weil sie mehrere negative Folgen – etwa einen ungesunden Herrschaftswillen, die Vernachlässigung der Sinnenwelt, der Rolle der Sprache, des Mitmenschen etc. – mit sich bringe. 15 Von Kant und Fichte (A) lernen wir hingegen u. a. (1), dass sie (a) eine Kraft ist, dank derer wir uns als der Freiheit fähige Wesen begreifen können und die tatsächlich beispielsweise im kategorischen Imperativ oder in der BilWir werden an entsprechender Stelle mehrere Formen der Kritik unterscheiden. Uns wird insbesondere die radikale interessieren. 15 Dass die reine Vernunft eingebildet sei, hat schon Garve in seiner Rezension zur Kritik der reinen Vernunft behauptet (vgl. Garve 1782: 189), die er zu diesem Zeitpunkt, wie er später gegenüber Kant offen zugeben wird, nicht wirklich genau gelesen hat. Fichtes Zeitgenossen sollen geglaubt haben, die Vernunft und die Ideen seien eine pure Erfindung der Philosophen (vgl. GdgZ GA I/8 216 f.). Für Hans Lenk, auf dessen Position wir genauer eingehen werden, ist sie ein bloßes Interpretationskonstrukt (vgl. Lenk 1986b: 266 f.) und nach Hans Albert als reine Vernunft schlechthin nichtexistent (vgl. Albert 1968: 109). 14
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dung der regulativen Idee der Unendlichkeit der Welt und der Maxime, immer bessere Teleskope und Raumsonden zur kontinuierlichen Erforschung des Weltalls zu bauen oder in der Tathandlung erscheint. Ferner, dass sie (b) kein von der Gesamtheit der Bedingungen, unter denen sie sich äußert (Gesetzmäßigkeiten, übrige Vermögen, Sprache, Logik, sinnliche Erscheinungen, Leib (bei Fichte) etc.), komplett losgelöstes Etwas ist, sondern in dieselbe systematisch-kohärent eingebettet ist. (2) Auch lernen wir dank der Fichte’schen Theorie der Weltansichten, dass die lebens- und alltagsweltliche starke Zuneigung etwa zu sinnlichen Genussformen einschließlich des vielfältigen Interesses an Mitmenschen (das angeblich ausgestoßene Andere) geradezu die Voraussetzung dafür ist, dass das Sein-Sollen der Vernunft (und der Ideen) erkannt wird. Das geschieht nämlich nur in solchen Fällen der emotionalen Bindung oder der Integriertheit in das Leben (die sich auch im starken Interesse am Rechtlichen und Politischen, Moralischen, an der Kunst, Religion oder an Wissenschaften zeigen kann) – fehlt diese, dann werden nicht genug geistige Kräfte mobilisiert, um einzusehen, was die Vernunft im engeren Sinne immer schon leistet und weiterhin leisten soll. 16 (7)–(9) In den letzten drei Abschnitten des zweiten Teils soll im Rückgriff auf diese drei gewählten Möglichkeiten, für die Annahmen auf der (A)-Seite zu argumentieren, auf teilweise kluge und ernstzunehmende radikal-kritische Strategien der Befürworter der Gegenposition (B) geantwortet werden. Diese können sich nämlich einerseits auf die fünf Tropen (Argumente / Denkmuster) des Agrippa und andererseits auf die Topoi (Gesichtspunkte) der Vernunftkritik stützen, die sich insbesondere seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet haben. 17 Die Tropen wurden u. a. im Diskurs um den kritischen Rationalismus von Hans Albert dazu benutzt, jegliche Ansprüche auf sicheres infallibles Wissen zurückzuweisen. 18 Jede Fichtes Theorie der Weltansichten wurde in der Forschung in den letzten Jahrzehnten zwar neuentdeckt (vgl. beispielsweise den Kommentar von Seyler (2014) sowie Adolphi (2003) und Traub (1995)), ihr volles Potential, insbesondere die Fünfundzwanzigkeit der Perspektiven, die wir uns ansehen werden und auf der eine praktische Begründungsstrategie der Vernunft basieren kann, wurde noch nicht ausgeschöpft. 17 Die Topoi der radikalen Vernunftkritik haben u. a. Jürgen Habermas (1988), Wolfgang Welsch (1996a) und Karen Gloy (2001) kritisch aufgearbeitet. Die anspruchslogische Perspektive wird die Problematik dahinter jedoch im neuen Licht erscheinen lassen. 18 Vgl. Albert 1968: 13 ff. 16
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starke Annahme (x1), insbesondere wenn sie vom Erkenntniskontext losgelöst und als absolut wahr postuliert wird, ist entweder eine dogmatische Voraussetzung oder sie wird durch eine weitere Annahme (x2) begründet, die wiederum durch (x1) (Zirkel) oder durch (x3), welche wiederum durch (x4) etc. (infiniter Regress) erklärt wird. Diese als Münchhausen-Trilemma bekannte Denkfigur stellt allerdings eine Reduktion des Agrippa-Pentalemmas dar, welches auch die kraftvollen Relativismus- und Dissenseinwände enthält. Selbst wenn jemand behauptet, sich aus dem Begründungstrilemma gerettet zu haben, kann seine Position immer noch destruiert werden, indem gezeigt wird, dass sie relativ in Bezug auf seine Person, sein Interesse, seinen Wissenshorizont etc. ist und dass kein Konsens in Betreff eines Gegenstandes besteht. Gerade die letztgenannten Tropen sollten aber – so die Position, die vor diesem Hintergrund entwickelt werden wird – der zentrale Ausgangspunkt der Überlegungen zur philosophischen Begründung und Kritik sein. 19 Und zwar so, dass das Denken der Relativität und des Dissenses nicht an einem bestimmten Punkt abgebrochen, sondern auf seinen Höhepunkt getrieben wird. Abgebrochen wird es, wenn beispielsweise behauptet wird: – – – –
es ist kein absolut sicheres Wissen möglich (da alles relativ ist); Wahrheit ist subjektiv und relativ; Letztbegründung ist möglich; Konsens ist möglich.
Alle diese und ähnliche Aussagen sind endgültige philosophische Reaktionen auf den Umstand, dass es Multiperspektivität gibt. Wir wollen uns hingegen auf einen metaphilosophischen Standpunkt stellen, von dem aus selbst diese Positionen als relativ erscheinen, und zwar auf (a) forschungsprogrammatische Festlegungen, (b) Ansprüche und (c) Wissensziele der Forschenden. Auf diese Elemente sind soSie liegen selbst den Topoi der radikalen Vernunftkritik zugrunde, bei denen stets auf das der Vernunft Entgegengesetzte, scheinbar Attraktivere oder Ausgestoßene verwiesen wird. Der Relativismuseinwand verhielt sich zu den früheren 10 Tropen der antiken Skeptiker (das Agrippa-Pentalemma kam später als eine zusätzliche Möglichkeit der Kritik dazu, ohne sie zu ersetzen) wie die Gattung zu Unterarten (die 10 Tropen resultierten aus der Beachtung der Unterschiede zwischen den Lebewesen, Menschen, Sinnesorganen, Stellungen, Lebensweisen, Sitten etc.) – vgl. Sextus Empiricus: Grundriss 102 ff.
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Einleitung
wohl die unterschiedlichen Vernunftkonzepte als auch die Positionen der Vernunftkritiker zurückzuführen. 20 Mit der Einnahme dieses Standpunktes (des reflektierten Perspektivismus) wird es möglich sein, sich von der Ansicht zu distanzieren, die Begründung von etwas könne allein durch ein schlagendes Argument, einen logischen Schluss, eine tiefe Einsicht etc. bewerkstelligt werden, ohne die Bedingungen zu untersuchen, unter denen sie gelingen kann. Das Problem der Begründung der Vernunft im engeren Sinne im Ausgang von Kant und Fichte muss angesichts der Pluralität der Denkrichtungen und Standpunkte in der Philosophie die Frage nach den näheren Bedingungen ihrer Möglichkeit einschließen. Diese liegt nämlich nur dann vor, wenn der Prüfende zumindest ähnliche (a) forschungsprogrammatische Festlegungen, (b) Ansprüche und (c) Wissensziele vertritt. Eine selbst noch so perfekte Begründungsstrategie scheitert hingegen, wenn sie bei ihm anders sind, wenn er sie missversteht oder bewusst bzw. fahrlässig verdreht oder durch eigene ersetzt. 21 Das Problem der unterschiedlichen Ansprüche (Anforderungen) an uns selbst, an andere, an die Gesellschaft, an den Staat, an die Wissenschaft, an ein Forschungsprogramm, an eine Theorie etc. begegnet uns überall. Sichtbar wird es besonders beim Auftreten von intraund interpersonellen Konflikten, z. B. wenn konkrete Ansprüche zu hoch angesetzt sind und als Zwang bzw. zu niedrig und als Wertverlust empfunden werden. Ein Theaterstück, das auf einem klassischen Werk basiert, aber zahlreiche triviale und popkulturelle Elemente enthält, können die einen als gelungen, die anderen als anspruchslos und als ihren Zielen und Interessen unangemessen bewerten. Das Der hiermit vertretene metaphilosophische und rein methodologische Relativismus ist nicht mit einer Folgerungsposition aus dem Relativismus zu verwechseln. Es wird nicht behauptet, dass A der Fall oder nicht der Fall ist, allein weil es von bestimmten Faktoren oder Hintergrundbedingungen abhängig ist, sondern: »A ist genau dann der Fall, wenn (a), (b) und (c). Gelten (a), (b) und (c), dann gilt auch A.« Mehr dazu unter (7). 21 Sowohl das Bewusstsein, die Denkfunktionen und -gesetze als auch die Sprache und die (ideal-reale) Kommunikationsgemeinschaft (ferner: der Leib, die Gefühle, die Logik, die Natur etc.) sind genauso Bedingungen einer Begründung überhaupt. Die näheren aber sind die Beachtung und die Akzeptanz der konkreten (a) forschungsprogrammatischen Festlegungen, (b) Ansprüche und (c) Wissensziele. Weder ein Vernunftvermögen (rein formal gesehen) noch eine Gemeinschaft von Sprechern garantieren allein den Erfolg einer Begründungsstrategie von Normen und Regeln oder von einer Theorie. 20
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Einleitung
Problem der unterschiedlichen Ansprüche ist in der Philosophie etwas Bekanntes. So schreibt Kant in der Vorrede zu den Prolegomena, dass zwar nicht jedermann Metaphysik studieren müsse, dass aber »derjenige, der Metaphysik zu beurteilen, ja selbst eine abzufassen unternimmt, den Forderungen, die […] gemacht werden, durchaus ein Genüge tun müsse [hervorgehoben von M. L.]« (Prol AA IV 263 f.). So spricht Fichte von »sehr gegründeten Anforderungen der Skeptiker« und »streitenden Ansprüchen« (BWL GA I/2 109) in der Philosophie, die prinzipiell miteinander vermittelbar sind, am Anfang seiner programmatischen Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre. Habermas erkennt, dass die Dekonstruktivisten der Strategie folgen, philosophische Texte als literarische zu behandeln und somit die logischen Konsistenzforderungen ihrer Autoren »anderen Forderungen, z. B. solchen ästhetischer Art« 22 nachzuordnen und dadurch einen Weg finden, Kritik an ihnen zu üben. Albert will die »Ansprüche der Transzendentalpragmatik« 23 zurückweisen, die er aufgrund seiner forschungsprogrammatischen Festlegungen, durch die die Möglichkeit einer Letztbegründung prinzipiell infrage gestellt wird, nicht teilen kann. Die Unterschiede in (a) forschungsprogrammatischen Festlegungen und (b) Ansprüchen sind etwas Bekanntes, Gewöhnliches – sie gehören zur philosophischen Praxis dazu, über sie wird jedoch nicht explizit nachgedacht (das Bekannte ist eben darum, wie Hegel treffend sagt, weil es bekannt ist, nicht erkannt (vgl. PhG W 3 28)). Von dem metaphilosophischen Standpunkt des reflektierten Perspektivismus aus werden wir grundlegende Probleme bemerken, die sonst nicht sichtbar geworden wären. 24 Dazu gehören v. a. die Tendenzen, Habermas 1988: 222. Albert 1982: 58. 24 Nach den Überlegungen von Friedrich Kaulbach sei dasjenige Denken und diejenige Philosophie als »perspektivistisch« zu bezeichnen, zu deren zentralem Vokabular die Begriffe wie Haltung, Stellung, Standpunkt, Perspektive, Übergang von einer Perspektive zu einer höheren etc. gehören (vgl. Kaulbach 1990: 2). In seinem ersten Teil der Philosophie des Perspektivismus ging er den Elementen des perspektivistischen Denkens bei Kant, Hegel und Nietzsche nach. Den zweiten Teil, in dem es um eine systematisch aufgebaute Theorie des Perspektivismus gehen sollte, konnte er nicht mehr fertigstellen. Unsere metaphilosophische Position des reflektierten Perspektivismus kann man als einen Beitrag zu dieser bedeutenden Denkrichtung verstehen, zu der bis dato ein Forschungsinteresse in- und außerhalb der Philosophie besteht. Im aktuell erschienenen Sammelband von Hartmut von Sass (2019) findet man Beiträge von unterschiedlichen Autoren zum epistemischen, hermeneutischen 22 23
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Einleitung
(a) und (b) unzulässigerweise über ihre Grenzen hinaus zu verabsolutieren. Dies ist insofern problematisch, als mit ihnen stets konkrete (c) Wissensziele anvisiert sind, die sehr unterschiedlich sein können. Nicht ein jedes Set von Anforderungen und Festlegungen führt zum Wissen von der Vernunft im engeren Sinne – und nicht jedes muss es. Es sollte daher Regeln für einen rational gerechten Umgang mit abweichenden Ansprüchen in Konkurrenz- und Kooperationsverhältnissen zwischen unterschiedlichen Forschungsprogrammen bzw. einzelnen philosophischen Positionierungen geben. 25 Aus dieser Sicht werden sowohl die (8) Begründungsstrategien und Tropen als auch die (9) Topoi der radikalen Vernunftkritik beleuchtet. Im Ergebnis soll festgestellt werden, dass es sich beim Vermögen der Ideen um ein Wissensziel handelt, das forschungsprogrammatisch und anspruchslogisch zutiefst fundiert ist – es muss also aus guten Gründen als konkurrenz- und kooperationsfähig anerkannt werden. Die beiden genannten Ziele der Untersuchung, die Multifunktionalität und die Einheit der Vernunft im engeren Sinne zu begreifen (erster Teil) und sie als ein wohlbegründetes Forschungsprogramm auszuweisen (zweiter Teil), sind nur unter der Befolgung einer ihnen angemessenen Methode erreichbar. Sie besteht in der systematischen problemorientierten (Re-)Konstruktion und Beurteilung der Theorien und Argumente. Bei einer rein philologischen Exegese, wie etwa bei Kommentaren zu philosophischen Werken, werden schwerpunktmäßig Probleme im Zusammenhang mit der Entstehung, dem Verständnis und den Lesarten der Texte gelöst. Bei einer systematischen problemorientierten (Re-)Konstruktion der Theorien und Argumente spielen sie eine wichtige, aber hintergründige Rolle. Die tiefe textanalytische Arbeit wird als zum größten Teil geleistet vorausgesetzt und philologische Fragestellungen tauchen eher am Rande auf. Vor den Augen der Leserinnen und Leser werden die Form und der Gehalt der Theorien und Argumente aufgearbeitet, insofern sie zur Lösung eines philosophischen Problems im eigentlichen Sinne beitragen. Bei und ethischen Perspektivismus – vgl. die Rezension Lewin (2021). In der vorliegenden Studie wird es sich um den metaphilosophischen Perspektivismus handeln. 25 Wolfgang Welsch erkennt zu Recht, dass wir angesichts der Pluralität der philosophischen Standpunkte einer »Idee der rationalen Gerechtigkeit« (Welsch 1996b: 154, vgl. 1996a: 698 ff.) bedürfen. Wir schließen uns ihm an, und zwar aus der Perspektive des Forschungsprogramms Vernunft (im engeren Sinne), dass es eben eine »Idee« (einfache praktische / architektonische), ein Vernunftbegriff ist, den wir bilden und anderen mitteilen wollen.
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Einleitung
dem ersten Teil der Arbeit besteht es darin, die Multifunktionalität und die Einheit eines Vermögens, das mit Ideen operiert, sowohl für sich als auch gleichzeitig zu denken – in der systematischen (Re-) Konstruktion des Konzeptes Vernunft im engeren Sinne. Bei Kant und Fichte findet man verschiedene Arten von Ideen, die unter eine Gattung fallen und die von einer Vernunft zur Leitung des Willens und des Verstandes verwendet werden. Die Ideenlehre ist, wie übrigens auch bei Platon, nicht in einem einzigen Text enthalten, den man nur (mit Berücksichtigung anderer Werke) kommentieren müsste, sondern über das Gesamtwerk von Kant bzw. Fichte verstreut. Man ist somit auf eine systematische und einheitliche Rekonstruktion der Theorien und Argumente in Bezug auf die Vernunft im engeren Sinne sowie auf die entsprechende Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur – die in dieser Arbeit immer in den Fußnoten stattfindet – angewiesen, in der sie ähnlich oder anders ausfällt. Es ist selbstverständlich, dass ein solches Wissensziel, die ganze Breite der Theorienreihe zur Vernunft im engeren Sinne zu erkennen und sie trotz dieser Breite und Ausdifferenzierung als ein einheitliches Forschungsprogramm zu begreifen, nur unter der Bedingung der Konzentration auf das, was der Autor als das Wesentliche bestimmt, erreichbar ist. Bei dem zweiten Teil besteht das Problem darin, dass es einerseits unterschiedliche Vernunftkonzepte und andererseits radikale Vernunftkritik gibt – die Frage ist also, wie sich die Vernunft im engeren Sinne als ein Forschungsprogramm inmitten der basalen und radikalen Kritik in zeitgenössischen Kontexten bewährt. Das fällt als ein philosophisches Problem erst dann auf, wenn man, wie man sagt, »über den eigenen Tellerrand hinausschaut«. Hier hilft eine rein philologische Exegese auch nicht weiter, sondern eine Orientierung in der Vielzahl philosophischer Positionierungen, der Begründungs- und Kritikmöglichkeiten im Hinblick auf die Vernunft tim engeren Sinne und der Bedingungen, unter denen sie gelten, durch systematische metaphilosophische (Re-)Konstruktion und Beurteilung der Argumente und Gegenargumente. Die Leserinnen und Leser der vorliegenden Untersuchung haben einen doppelten Vorteil. Einerseits werden sie über Vernunft als den Schlüsselbegriff der klassischen deutschen Philosophie umfassend informiert, zu dessen Erklärung zahlreiche Schriften und mehrere zentrale Theorien von Kant und Fichte (sowie Hegel) angesprochen werden. Andererseits, und am Beispiel der Vernunft im engeren Sinne, lernen sie eine Möglichkeit kennen, wie man ein wertvolles philosoDas System der Ideen
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Einleitung
phisches Forschungsprogramm in Schutz nehmen und systematisch weiterentwickeln kann. Das schließt die Beantwortung der Frage in sich ein, wie ein rational gerechter Umgang mit der Vielfalt der Perspektiven und Positionierungen in- und außerhalb der Philosophie möglich ist.
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Erster Teil: Die Vernunft »im engeren Sinne«: Voraussetzungen und Funktionen
Vor dem Stellen der Begründungsfrage und der Analyse der forschungsprogrammatischen Festlegungen und Ansprüche soll zunächst erkannt werden, was die Vernunft im engeren Sinne, also das zu Begründende, eigentlich ausmacht. Der Darstellung der Überlegungen von Kant (2) wird die Untersuchung folgen, wie Fichte sie thematisch weiterführt (3).
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2 Kants Darstellung der Vernunft als der höchsten Steuerungsinstanz
Kant unterscheidet in der Kritik der reinen Vernunft grundsätzlich drei reine Vernunftwissenschaften: reine Mathematik, reine Transzendentalphilosophie und reine Moralphilosophie (vgl. KrV A480/ B508). Entsprechend gibt es mindestens drei Arten des Gebrauchs ein und derselben reinen Vernunft: den mathematischen, theoretischen und praktischen. 26 Der mathematische Gebrauch ist intuitiv (vgl. Prol AA IV 281) und betrifft diejenigen kognitiven Handlungen, bei denen die Begriffe mithilfe der reinen Anschauung konstruiert werden. Eine Konstruktion findet statt, wenn eine dem Begriff korrespondierende Anschauung (z. B. des Dreiecks oder einer Zahl) a priori (in der Einbildung oder auf dem Papier) dargestellt wird, woraus etwas synthetisch gefolgert wird (vgl. KrV A713/B741). 27 Der philosophische reine Gebrauch, um den es uns gehen wird, ist dagegen diskursiv. Die Vernunft ist auf Arbeit mit bloßen Begriffen angewiesen, denen keine Anschauung adäquat korrespondieren kann. Im Folgenden sollen die Funktionen dieser Begriffe bestimmt werden, um ein möglichst klares Bild von dem ganzen diskursiven und reinen Vernunftvermögen zu bekommen. Dazu wird (2.1) kurz auf Platon eingegangen, auf dessen Ideenlehre Kant sich explizit bezieht, um dann seine Restriktionen hinsichtlich (2.2) des Vorstellungsstatus und (2.3) des Voraussetzungsstatus umso deutlicher zu sehen. Im Anschluss an die (2.3.1) Betrachtung der einzelnen Ideenarten und ihrer Funktionen bei Kant werden wir (2.3.2) auf die Vernunft selbst sowie (2.3.3) grundlegend auf den epistemischen und ontologischen Status aller Ideen reflektieren. Zuletzt (2.4) sollen sie unter drei verschiedenen Aspekten systematisiert werden, womit eine Basis für die Erläuterung der Vernunft bei Fichte geschaffen wird. Es werden noch der ästhetische und architektonische hinzuzuzählen sein, wie wir sehen werden. 27 Für etwas mehr dazu vgl. den Punkt epistemischer / ontologischer Status der Ideen. 26
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Kants Darstellung der Vernunft als der höchsten Steuerungsinstanz
2.1 Der Ausgang von Platon Die reine Vernunft definiert sich hauptsächlich über ihre Produkte, die Ideen. Sie machen ihre Natur aus wie die Kategorien diejenige des Verstandes (vgl. Prol AA IV 328). Eine solche Vernunft zu haben, bedeutet mehr als bloß über die Fähigkeit zur Sprache und zur Argumentation zu verfügen. Der Umfang ihrer Funktion erschließt sich aber erst über die Untersuchung ihrer Produkte. 28 Da Kant unter den Ideen (Vernunftbegriffen / -vorstellungen) weniger als Platon und mehr als wir im alltäglichen Gebrauch dieses Wortes versteht, wird es sich lohnen, zunächst zur Vorbereitung die allgemeine, von Platon geprägte Bedeutung des Ideenbegriffs anzusehen, bevor auf die Kantischen Restriktionen eingegangen wird. Bei Platon konnte dasjenige, was mit dem Ausdruck ἰδέα bezeichnet wurde, auch mit anderen Begriffen ausgedrückt werden. 29 So stehen kontextabhängig μορφή (Form), εἶδος (Gestalt), οὐσία (Sein, Wesen), φύσις (Natur, Wesensbeschafenheit), γένος (Art, Gattungsbestimmung) und παράδειγμα (Vorbild, Muster) für das innere Anschaubare, aber auch solche Formulierungen wie αὐτὸ τὸ καλόν (das Schöne selbst) und καθ᾽ αὑτὸ (für sich selbst). 30 Paul Natorp schlägt vor, sich der Bedeutung der Platonischen Idee über Sokrates zu nähern, der in seinen Gesprächen allgemeine BegriffsbestimmunDieser Leitfaden der Untersuchung der Vernunft durch die Untersuchung der Ideen deckt sich übrigens mit Kants eigenem Leitfaden in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft – vgl. z. B. A319/B376. 29 Das Wort ἰδέα ist ein Verbalabstraktum von εἶδον, dem Aorist von ὁράω, ich sehe, und übersetzt sich als das Gesehene, das Aussehen, die Gestalt, die Beschaffenheit, die Meinung, die Vorstellung oder das Urbild. Das Resultativ desselben Verbes »sehen« ist auch das präsentische Perfekt οἶδα, welches so viel wie »ich weiß« bedeutet (eigentlich: »ich habe gesehen«). Man nimmt an, dass das altgriechische Alphabet früher den Buchstaben Ϝ, das sogenannte Digamma, enthielt, welches aus dem Urindogermanischen übernommen wurde und den Lautwert [w] hatte. Sowohl der Aorist εἶδον als auch das präsentische Perfekt οἶδα hatten die gemeinsame Wurzel Ϝειδ(ε)-/ Ϝοιδ-/ Ϝιδ-: Die frühere Form von εἶδον war demgemäß bis zum Ausfall des Ϝ aus dem griechischen Alphabet ἐ-Ϝιδ-ον. Im Lateinischen taucht dieser Stamm in videre auf, im Englischen in witness, im Deutschen in wissen. Sowohl das Wort Idee als auch Wissen haben ihren gemeinsamen Ursprung also im Verb sehen. 30 Vgl. Schäfer 2013: 157–165. Da es uns in diesem Abschnitt lediglich um die Exposition eines prinzipiellen Problems zur Einführung in das Denken der Ideen geht, werden wir nicht auf zahlreiche erwähnenswerte Forschungsbeiträge zu Platon im Detail eingehen. Zu ihnen gehören u. a. diejenigen von Halfwassen (2006), Kutschera (2002), Cürsgen (2002), Reale (2000), Allen (1997) und Szlezák (1993). 28
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gen des Guten, des Tapferen, der Tugend etc. gesucht hat. 31 Diese kann man als gedankliche Einheiten verstehen, die mehreren Subjekten gleichzeitig prädiziert werden können. So kann von mehreren verschiedenen Personen ausgesagt werden, dass sie auf unterschiedliche Weise stark, von mehreren Gegenständen, dass sie rot sind etc. Dabei wird es in einer Gesprächssituation für alle Beteiligten bedeutend, eine allgemeingültige logische Definition zu finden, mit der jeder einverstanden wäre. Die Fragen werden also in solcher Form gestellt: Was macht die Stärke eigentlich aus? Was ist das Rote? Diese allgemeinen Begriffe werden bei Platon u. a. als Ideen bezeichnet, mit denen folgende wesentliche Bestimmungen verbunden sind: (1) Sie sind einerseits Voraussetzungen in einem Gespräch, die in einem notwendigen Zusammenhang miteinander stehen. So ist die Idee der Unsterblichkeit der Seele eine Voraussetzung, ohne welche die Lehre von der Wiedererinnerung, der ἀνάμνησις, nicht möglich wäre, weil es kein sich erinnerndes Subjekt gäbe (vgl. Phaidon 72e– 73a). Die Voraussetzung aber, dass wir uns an etwas, z. B. die Idee der Gleichheit, wiedererinnern, verweist wiederum darauf, dass wir sie im früheren Leben bereits gelernt haben müssten (vgl. ebd. 74a–75c). Nun wäre aber beides nicht plausibel, wenn es nicht die Idee gäbe, dass es Ideen gibt (vgl. ebd. 76d–77a). (2) Diese ist die Voraussetzung aller Voraussetzungen, ohne welche Platons Philosophie keinen Halt hätte. Die Annahme, dass es Ideen gibt sowie ihre geistige Erfassung ist die Bedingung der Vernünftigkeit der Seele: Ὅταν δέ γε αὐτὴ καθ’ αὑτὴν σκοπῇ, ἐκεῖσε οἴχεται εἰς τὸ καθαρόν τε καὶ ἀεὶ ὂν καὶ ἀθάνατον καὶ ὡσαύτως ἔχον, καὶ ὡς συγγενὴς οὖσα αὐτοῦ ἀεὶ μετ’ ἐκείνου τε γίγνεται, ὅτανπερ αὐτὴκαθ’ αὑτὴν γένηται καὶ ἐξῇ αὐτῇ, καὶ πέπαυταί τε τοῦ πλάνου καὶ περὶ ἐκεῖνα ἀεὶ κατὰ ταὐτὰ ὡσαύτως ἔχει, ἅτε τοιούτων ἐφαπτομένη· καὶ τοῦτο αὐτῆς τὸ πάθημα φρόνησις κέκληται; [Wenn sie aber durch sich selbst betrachtet, dann geht sie zu dem reinen, immer seienden Unsterblichen und sich stets Gleichen, und als diesem verwandt hält sie sich stets zu ihm, wenn sie für sich selbst ist und es ihr vergönnt wird, und dann hat sie Ruhe von ihrem Irren und ist auch in Beziehung auf jenes immer sich selbst gleich, weil sie ebensolches
Vgl. Natorp (1903): 1 ff. Natorp sieht im Sokratischen Problem der Lehrbarkeit von Tugend, welche für ihn erkennbar und lehrbar sein soll, einen wesentlichen Schritt für die Entwicklung der Ideenlehre Platons (vgl. ebd. 10 ff.).
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berührt, und diesen ihren Zustand nennt man eben die Vernünftigkeit (übers. v. Schleiermacher).] (ebd. 79d, vgl. auch 69a–69c).
Wer die Ideen des Guten, der Besonnenheit, Gerechtigkeit u. Ä. einzusehen und nach ihnen zu handeln vermag, hat Werkzeuge zur Kontrolle über den Leib und sinnliche Antriebe. Klar äußert Platon in der methodologischen Reflexion über das Sokratische Verfahren, dass in der Argumentation stets von den Ideen auszugehen ist (vgl. ebd. 100b–100d). Nur diejenige Person, die im Gespräch die Voraussetzung annimmt, dass es allgemeine Wesenheiten oder Begriffe wie das Schöne, die Größe, das Leben etc. gibt, die nicht a posteriori den einzelnen Sinnesobjekten entnommen werden, kann solchen Beweisen wie dem der Unsterblichkeit der Seele folgen. Wenn der Gesprächspartner z. B. akzeptiert, dass die Größe als solche darum erkannt wird, weil es die Idee von ihr an sich gibt, die nicht etwa von einem Vergleich eines Berges mit einem Baum abhängt, sondern a priori jedem Vergleich vorhergeht, so kann man durch weitere Argumentation – z. B., dass die Seele den Ideen, dem Unsichtbaren und Unwandelbaren ähnlicher ist, welches nicht dem Werden und Vergehen unterliegt (vgl. ebd. 78c–79e) – die Idee ihrer Unsterblichkeit plausibel machen. Wer also die Voraussetzung der Existenz der Ideen nicht teilt, hat Probleme mit den sich daraus ergebenden Erklärungen. (3) Doch inwieweit kann man von einer Existenz der Ideen reden bzw. was ist damit genau gemeint? Entweder sind sie auch unabhängig von einem vorstellenden Subjekt existierende Wesenheiten, metaphysische Entitäten oder Dinge, die kausal im Hinblick auf die Sinnenwelt sind. Oder sie sind nichts mehr als Bewusstseinseinheiten und logische Begriffsbestimmungen, die zum Verständnis von konkretem Erfahrungsmaterial dienen. Die erste, rein metaphysische Interpretation, hat Aristoteles mit seiner Kritik an Platon geprägt: Die Voraussetzung der Existenz der Ideen sei unnötig und sie trage, als eine bloße Verdoppelung des Seins, zu den Wissenschaften nichts bei. Die Ideen seien im Prinzip dieselben existierenden Dinge, τὰ ὄντα (Metaphysik 987b), denen bloß das Prädikat der Unvergänglichkeit durch den Zusatz »an sich« beigelegt werde: »αὐτὸ γὰρ ἄνθρωπόν φασιν εἶναι καὶ ἵππον καὶ ὑγίειαν« [sie [die Anhänger der Ideenlehre] sagen nämlich, dass sowohl der Mensch als auch das Pferd und die Gesundheit selbst / an sich seien (übers. v. M. L.)] (ebd. 997b). Die Platonische Ideenlehre führe, so verstanden, wie auch die Ansichten anderer Philosophen über die Prinzipien und Ursachen, zu zahlrei44
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chen Widersprüchen und Aporien, die Aristoteles u. a. im dritten Buch der Metaphysik beschreibt und die die Notwendigkeit einer aufklärenden Ersten Philosophie deutlich machen. Gegen diese Auffassung wandte sich Paul Natorp, einer der Vertreter der Marburger Schule des Neukantianismus, und beanspruchte damit Platons wertvolle Errungenschaften mit seiner kritisch-metaphysischen (logischen) Interpretation in Schutz zu nehmen. 32 Die Annahme der Voraussetzung, dass es Ideen gibt, ist zugleich die Annahme der apriorischen Gesetze, auf die die Wirklichkeit bezogen wird. Sie sind also keinesfalls als Dinge aufzufassen, sondern als Grundsetzungen, Hypothesen bzw. Voraussetzungen des Denkens »zum Zwecke der Erkenntnisbewältigung des Sinnlichen.« 33 Einer der bedeutendsten Dialoge für diese Auffassung ist Parmenides, in dem der junge und unerfahrene Sokrates durch wohlgesinnte skeptische Anstöße von Parmenides auf die Gefahren und Verbesserungsmöglichkeiten seiner Ideenlehre aufmerksam gemacht wird. Sokrates gibt seinem Gesprächspartner weitestgehend zu, dass es problematisch sei, die Ideen als von der Sinnenwelt komplett isoliert zu betrachten und sie ins Jenseits zu verlegen. Sie wären dann (1) eigentlich gar nicht erkennbar (vgl. Parmenides 133a–b und 135a–b) und (2) man wüsste auch nicht, wie die Teilhabe (μέθεξις) von real existierenden Dingen an den Ideen aussehen könnte (vgl. ebd. 130a– 135b). Parmenides hält also Sokrates an, ihren epistemischen und ontologischen Status genau zu bestimmen, und gibt ihm dabei eine Richtung vor, die in folgenden Punkten zusammengefasst werden Vgl. Natorp (1903). Görland 1906: 241. Görland gibt eine gute Übersicht über das Buch von Natorp (vgl. ebd. 240–247), indem er die wichtigsten Stufen auswählt und zusammenfasst (es ist dabei nicht klar, ob die dargestellte gedankliche Entwicklung zugleich eine chronologische Anordnung von Platons Werken suggeriert, die an sich in der Forschung umstritten ist): (1) Im Menon sehe Natorp den eigentlichen Beginn der Ideenlehre und die Entdeckung des Apriori; (2) im Theaitetos die grundlegende Kritik der Sinnlichkeit als eines bloßen Veranlassers; (3) im Phaidon die Entdeckung des unwandelbaren Seins der Ideen gegenüber der Sinnlichkeit; (4) im Parmenides die Kritik am dinglichen Verständnis von Ideen und der Rede von der Teilhabe; (5) im Philebos die Ansicht, dass die Einheit der Idee als Bestimmtheit gegenüber der bestimmbaren Unbestimmtheit des Sinnlichen auftrete. (6) Gegen das Ende des Buches kommt die Kritik am Dogmatismus von Aristoteles, der allgemeine Denkbestimmungen nicht als Grundformen des Denkens, wie Platon, sondern als Grundformen der Daseinsweisen der Gegenstände begreife. Im Ergebnis könne man seiner Ansicht nach eine gerade Linie des Kritizismus von Platon zu Kant ziehen, die bisher von der Aristotelischen Autorität verdunkelt gewesen sei.
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kann: (1) Eigentlich gewinnst du die Ideen dadurch, dass du einen Überblick über das betrachtete Viele hast und in ihm eine bestehende Eigenschaft findest, wie z. B. das Schöne, welches nicht nur einer einzigen Sache zukommt, welchem Sokrates zustimmt (vgl. ebd. 132a). (2) Diese ist dann nicht eine Idee von einem Nichts, sondern von einem Etwas, was Sokrates wiederum plausibel findet (vgl. ebd. 132b–133a). (3) Mithin ist sie selbst nicht ein Nichts, sondern vielmehr ein Etwas, welches aber nur dann Sinn ergibt, wenn es auf die Sinnlichkeit Bezug hat. Ohne diesen gehörte sie dem Bereich des unerkennbaren und unerklärbaren Jenseits und Nichts an, sie wäre »leer«. Die Wirklichkeit einer gedanklichen Bestimmung, der Idee, bestätigt sich also allererst in einer möglichen Erfahrung. Daher kann sie, wenn man Parmenides folgt, kein Ding und etwas an sich, unabhängig von der Sinnenwelt, sein, sondern muss nichts mehr als eine Gedankeneinheit bedeuten. Im Schwanken zwischen einer quasi-gegenständlichen und einer gegenständlichen Bedeutung der Idee in verschiedenen Dialogen Platons sieht Gottfried Martin eine natürliche Folge der Tendenz des griechischen Denkens zu Hypostasierungen und Personifizierungen. 34 Demnach sollte man sich weder auf die Seite von Aristoteles noch auf die von Natorp stellen, sondern gerade dieses Schweben zwischen zwei Bedeutungen als das Eigentümliche der Ideenlehre ansehen. Folgt man der Position von Martin, dann muss zugestanden werden, dass man zu keiner Eindeutigkeit kommen kann. Dies ist u. a. dem Umstand geschuldet, dass die Gesamtbetrachtung der Ideenlehre immer nur eine künstliche Zusammensetzung von einzelnen Stellen aus verschiedenen Dialogen und Betrachtungen sein kann, weil Platon sie nirgendwo komplett ausführt, sowie dem, dass die Werke nur Zeugnisse ihrer allmählichen Entwicklung sind, deren Chronologie nur annähernd bestimmt werden kann. (4) Die Frage nach dem epistemischen Status der Ideen ist eine der Hauptfragen, von der das Verständnis weiterer Teile der Theorie abhängt. Die folgende Tabelle soll verdeutlichen, worauf die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten von fünf exemplarisch gewählten Begriffen der Platonischen Philosophie hinauslaufen können:
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Vgl. insbesondere Martin 1973: 96–110.
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Metaphysisch-mystische Logische Interpretation Interpretation Ideen
Metaphysische Entitäten, die erkenntnisunabhängig existieren, haben einen Dingcharakter
Allgemeine Begriffe der Seele, Vorstellungen, keine Dinge
Urbild-Abbild- Idee des Schönen manifesVerhältnis tiert sich zu einem gegebenen Schönen (Ursachen der Einzeldinge Phd 100c–d)
Idee des Schönen ist ein Begriff, der durch Urteile mehreren Subjekten beigelegt wird, die ihr entsprechen
Teilhabe
Gegenstand geht in die Idee über, Idee in den Gegenstand (dagegen Parmenides 497)
Eine Idee wird an einen Einzelfall angewendet: Dieser Vogel ist schön, also nimmt er teil, d. h. seine Merkmale werden unter die Idee des Schönen subsumiert
Einheit
Metaphysische Einheit
Einheit des Gedankens / Bewusstseins
Wiedererinnerung
Die Seele im ursprünglichen Leben, Wiederverkörperung
Wiedererinnerung an bereits gemachte Begriffe
2.2 Der besondere Vorstellungsstatus der Ideen Im Abschnitt zur transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft sucht Kant nach einer Bezeichnung für diejenige Art von Vorstellungen, die unsere Erfahrung übersteigen und denen nichts in der Sinnenwelt kongruiert. Der insbesondere von Platon geprägte Begriff »Idee« scheint ihm dafür prinzipiell am besten geeignet zu sein. Mit seiner Übernahme sind aber mindestens zwei Probleme verbunden: Erstens ist er in der frühen Neuzeit zu einer gemeinsamen Bezeichnung für alle Arten von Vorstellungen (von allen möglichen Dingen, Farben, Menschen, Kräften genauso wie von Tugend, Gott etc.) geworden und zweitens ist er bei Platon zu unscharf bestimmt, um ohne Weiteres übernommen zu werden. Was das Erste betrifft, so war es Kants Aufgabe, den besonderen Vorstellungsstatus der Ideen zu bestimmen, was das Zweite anbelangt, ihren VoraussetzungsstaDas System der Ideen
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tus. Die oben genannten Bestimmungen des Platonischen Ideenbegriffs sollten im Hinblick auf das kritische Projekt neu hinterfragt werden. Das werden wir im Anschluss anhand der folgenden drei Fragen nachvollziehen: (1) Inwiefern sind die Ideen als Voraussetzungen zu begreifen? (2) Was ist die Voraussetzung der Voraussetzungen? (3) Wie ist der epistemische und ontologische Status der Ideen zu bestimmen? Kant bittet ausdrücklich alle diejenigen, denen Philosophie am Herzen liegt, den Ausdruck Idee seiner ursprünglichen Bedeutung nach in Schutz zu nehmen, damit er nicht fernerhin unter die übrigen Ausdrücke, womit gewöhnlich allerlei Vorstellungsarten in sorgloser Unordnung bezeichnet werden, gerate, und die Wissenschaft dabei einbüße (KrV A319/B376).
Sowohl im frühneuzeitlichen Rationalismus als auch im Empirismus sind die Ideen bestimmte Wahrnehmungen (Perzeptionen), mit deren Hilfe der Verstand sowohl sinnliche als auch übersinnliche Dinge erfasst. 35 Das geht beispielsweise aus folgenden Stellen aus Descartes’ Meditationen (1641, dritte Meditation) und Lockes Essay (1690, zweites Buch) deutlich hervor: Ex his autem meis ideis, praeter illam quae me ipsum mihi exhibet, de quâ hîc nulla difficultas esse potest, alia est quae Deum, aliae quae res corporeas & inanimes, aliae quae Angelos, aliae quae animalia, ac denique aliae quae alios homines meî similes repraesentant. [Unter diesen meinen Ideen – außer jener, die mir mich selbst darbietet, bei der es hier keine Schwierigkeit geben kann – gibt es eine andere, die Gott repräsentiert, andere, die körperliche und unbelebte Dinge, andere, die Engel, wieder andere, die Tiere, und schließlich solche, die andere und mir ähnliche Menschen repräsentieren (übers. v. Andreas Schmidt).] 36 First, Our Senses, conversant about particular sensible Objects, do convey into the Mind, several distinct Perceptions of things, according to those various ways wherein those Objects do affect them: And thus we come by those Ideas, we have of Yellow, White, Heat, Cold, Soft, Hard, Bitter, Sweet, and all those which we call sensible qualities […] 37
Zur repräsentationalistischen Verwendung des Begriffes »Idee« in der frühen Neuzeit vgl. insbesondere Perler/Haag (2010). 36 Descartes 1641: 120/121. 37 Locke 1690: 61. 35
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Der Grund für Kants Unbehagen an einem solchen Gebrauch des Ideenbegriffs liegt in seiner Ansicht, dass der Platonischen Philosophie bedeutende Verdienste zuerkannt werden müssen, die mit der Ideenlehre verknüpft sind. 38 Erstens habe Platon einer rein physischen oder materialistischen Weltauffassung ein nach Ideen oder Zwecken geordnetes Weltbild gegenübergestellt. Zweitens habe er gezeigt, dass im Bereich der Sittlichkeit das Gute auf der Ebene der Ideen zu suchen sei und nicht in der Wirklichkeitszufälligkeit (vgl. KrV A318/ B375). Mit dem Begriff »Idee« sind also wichtige geistige Einsichten und Werte verbunden, die man im Rahmen der kritischen Philosophie wiederaufgreifen und untersuchen kann. Da wir auf den Spuren eines anspruchsvollen Ideen- und Vernunftbegriffs sind, ist an dieser Stelle zu bemerken, dass bereits diese von Kant vorgenommene Reservierung des Ideenbegriffs für eine bestimmte Art von Vorstellungen vor dem Hintergrund des Problems der unterschiedlichen Ansprüche zu sehen ist. Die Unterschiede zwischen den Vorstellungsarten lassen es nicht zu, dass etwas, das eine der höchstmöglichen und die Grenzen der Erfahrung überfliegenden Einheiten des Denkens ausdrückt, wie z. B. die Gottesidee, mit demselben Begriff wie eine konkret wahrnehmbare sinnliche Empfindung der roten Farbe bezeichnet wird: Das führt zum Gefühl des Wertverlusts der anspruchsvolleren geistigen Produkte. Die beiden haben zwar etwas Gemeinsames, dass sie nämlich Vorstellungen sind, die im Bewusstsein etwas repräsentieren, liegen aber ihrem Anspruch an das Vorstellungsvermögen nach weit auseinander. Kant verdeutlicht dies mit der Stufenleiter der Vorstellungen (vgl. KrV A320/ B376 f.):
Es ist an dieser Stelle und für das Folgende wichtig anzumerken, dass Kant selbst, anders als der Neukantianer Natorp, der metaphysisch-mystischen, von Aristoteles motivierten Platon-Interpretation folgt (vgl. z. B. KpV AA V 141). Daher hält er wesentliche Restriktionen für nötig.
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Kants Darstellung der Vernunft als der höchsten Steuerungsinstanz Vorstellung überhaupt (representatio) Empfindung (sensatio)
mit Bewusstsein (perceptio) Anschauung (intuitus)
Erkenntnis (cognitio) Begriff (conceptus) empirischer
reiner Notio Idee
Diese Übersicht über alle Arten von Vorstellungen veranschaulicht die Distanz zwischen einer Empfindung und einer Idee, die sich in der Reinheit bzw. der Abstraktion von dem sinnlichen Material messen lässt. Die Ideen sind die letzten höchsten Vorstellungen, die wir, was den Bereich der theoretischen Philosophie angeht, ausgehend von den Notionen, den unschematisierten reinen Begriffen, bilden können – sie übersteigen entsprechend ihren Abstraktheitsgrad. 39 Als solche sind sie Verweisungsbegriffe, d. h. sie verweisen erstens über die Sinnlichkeit hinaus, indem sie von dem sinnlichen Material »gesäubert« werden. Zweitens verweisen sie auf übersinnliche »Gegenstände«, die irgendeine Vollkommenheit und Unbedingtheit ausdrücken, die in der Sinnenwelt nicht angetroffen werden kann. So sagt Kant explizit: »Eine Idee ist nichts anderes, als der Begriff von einer Vollkommenheit, die sich in der Erfahrung noch nicht vorfindet« (Päd AA IX 444). 40 Die Ideen haben also, insofern sie solche Verweisungsbegriffe sind, einen besonderen Vorstellungsstatus, der klar und deutlich identifiziert werden kann und durch den sie sich von den übrigen Vorstellungen im Bewusstsein unterscheiden. Damit ist schon die erste wichtige Restriktion des ursprünglichen Ideenbegriffs umrissen: ihr Anwendungsbereich. Bei weitem nicht alles, was Platon oder die Eine Notio ist für Kant ein reiner, nicht-schematisierter Verstandesbegriff bzw. ein Noumenon, reines, durch logische Funktionen vorgestelltes Verstandesding: Z. B. Ursache, die nicht in der Zeit wirkt, Substanz, die ohne Beharrlichkeit in der Zeit gedacht wird (vgl. Prol AA IV 332). 40 Ausgehend von dieser und ähnlichen Stellen bildet Peter König die These, die allgemeine Bedeutung des Ideenbegriffs laute: Sie ist ein Begriff von einem Gegenstand, der der vollkommenste seiner Art ist – vgl. König 1994: 14–19. 39
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frühneuzeitlichen Denker wie Descartes, Spinoza, Locke und Hume Idee nennen würden, ist ein Vernunftbegriff im Kantischen Sinne.
2.3 Die Arten der Ideen bei Kant und ihr Voraussetzungsstatus Mit der Prüfung des Voraussetzungsstatus der Ideen steigen wir weiter in die Tiefe der anspruchsvollen Ideen- und Vernunftkonzeption Kants hinab. Damit wird auch der besondere Vorstellungsstatus weiter und näher betrachtet. Als Leitfaden werden die oben formulierten Fragen genutzt, die auch implizit zur Bestimmung einiger Grundmomente der Platonischen Ideenlehre gedient haben. Die erste Frage war:
2.3.1 Inwiefern sind die Ideen als Voraussetzungen zu begreifen? Wenn die Vernunft in der allgemeinsten Bedeutung das Vermögen der Prinzipien sein soll (vgl. KrV A299/B356 und KU AA V 401), dann muss es eine geistige Handlung geben, die aktiv bestimmte Ziele zum Steuern des Subjekts setzt. Durch diese soll es möglich sein, die Verstandeshandlungen und Willensakte ihren Zwecken zu subordinieren und ihnen Richtungen zu geben, die sie von selbst nicht einnehmen könnten. Diese Handlung des »Prinzipiierens« kann man – Kant folgend – als Voraussetzung (eine Setzung, die einer Zweckverwirklichung zugrunde und voraus liegt) bezeichnen. Darunter ist die Bildung einer Vorstellung (einer Idee) a priori zu verstehen, die in irgendeinem (noch zu klärenden) Sinn theoretisch oder praktisch umgesetzt werden soll. Sie dient als Grundlage (als ein »Urbild« vgl. Log AA IX 92) zur Ausführung von Vernunftabsichten wie z. B. die Ordnung des Wissens, autonome Selbstbestimmung, moralischer Glaube etc. Die Vernunftvoraussetzungen können entweder transzendent oder immanent sein. Im ersten Fall sind sie nach genauer Prüfung für die Lenkung des Verstandes und des Willens unbrauchbar und störend, im zweiten, der uns hauptsächlich interessiert, nützlich und sogar mehr: unentbehrlich. Im Folgenden wollen wir zunächst mehrere bei Kant vorkommende Voraussetzungsarten unterscheiden und ihre Funktionen bestimmen, um ein möglichst breites Bild von den Aufgaben und Steuerungsmöglichkeiten der Vernunft zu bekommen. Man kann sie Das System der Ideen
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grundlegend in (1) praktische und ästhetische, (2) theoretische, (3) transzendente und (4) architektonische einteilen. (1) Praktische und ästhetische Voraussetzungen. Im Hinblick auf die praktischen Ideen der Freiheit, Unsterblichkeit der Seele und Gott, d. h. die Postulate, spricht Kant explizit von »Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht« (KpV AA V 132). Diese sind weder theoretische Dogmata (vgl. ebd.) noch bloß erlaubte Hypothesen (vgl. ebd. 143), sondern Bedingungen, die die Vernunft im Zusammenhang mit der Anwendung des Sittengesetzes fordert. Als solche sind sie keine Voraussetzungen im direkten, sondern im indirekten, abgeleiteten Sinne. Wären sie als primäre Annahmen zu verstehen, dann verliefe die Argumentation beispielsweise so: Gibt es einen Gott (primäre Voraussetzung), dann gibt es bestimmte sittliche Gesetze (abgeleitete Setzung), die aus seinem Dasein folgen. 41 Kant geht aber genau umgekehrt vor: Ist das Sittengesetz für jedes vernünftige Wesen gültig (primäre Voraussetzung), dann haben wir ein praktisches Interesse an der Freiheit, an der Unsterblichkeit der Seele und am Dasein Gottes (sekundäre, abgeleitete, geforderte Voraussetzungen). 42 Die Ableitung der drei moralischen Postulate kann man wie folgt kurz skizzieren: Denken wir uns bestimmte für jedes vernünftige Wesen gültige Imperative, die Handlungen rein aus Pflicht, ohne irgendein konkretes sinnlich bedingtes Interesse beim Wollen bestimmen und damit kategorisch sind, dann benötigen wir einen Rahmen, in dem sie sich als möglich und sinnvoll erweisen. Ein moralisches Gebot wie »du sollst nicht lügen« setzt voraus, dass man sich als ein freies vernünftiges Wesen verstehen und sich Gesetze geben kann. 43 Wenn nun zur Befolgung dieses Imperativs von allen subjektiven Motiven abgeEine solche Ordnung der Voraussetzungen liefe auf eine theologische Moral hinaus, Kant bezweckt aber gerade das Umgekehrte: Eine Moraltheologie – eine prägnante Fußnote dazu findet man in der KrV A632/B660. Auch sollte beachtet werden, dass Gott und Unsterblichkeit der Seele von Kant gar nicht als Bedingungen des Sittengesetzes gelten gelassen werden, sondern als diejenigen der Verwirklichung des höchsten moralischen Guts (vgl. KpV AA V 4). 42 Der tiefer liegende Bedeutungsumfang der Freiheitsidee wird erst im Punkt Voraussetzung der Voraussetzungen entfaltet. 43 Die Idee der Freiheit ist die »einzige Voraussetzung« (vgl. GMS AA IV 461) der Möglichkeit des kategorischen Imperativs, sie ist seine ratio essendi. Gleichwohl ist das Sittengesetz die ratio cognoscendi der Freiheit, ohne welche wir nie auf die Idee der praktischen Freiheit kämen – vgl. KpV AA V 4. Mehr zu diesem scheinbar zirku41
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sehen wird, die sich einmischen könnten, wie z. B. bestimmte Vorteile, wenn man gerade in dieser Situation nicht lügt, dann bleibt nichts anderes als ein Interesse an der Verwirklichung der Sittlichkeit und der dieser angemessenen Glückseligkeit übrig. Der gute Wille richtet sich also als ein freier, gesetzgebender Wille notwendigerweise auf dieses Gut – ohne dieses Objekt der praktischen Vernunft liefen die kategorischen moralischen Gebote auf eine leere Zwecklosigkeit hinaus. 44 Da wohl kein Wesen in der Sinnenwelt einer absoluten Verwirklichung der Sittlichkeit und der darauffolgenden Glückseligkeit fähig ist, nimmt man höchstens »Stufen der moralischen Vollkommenheit« (ebd. 123) an, einen Progress der moralischen Gesinnung ins Unendliche. In diesem Zusammenhang entsteht die Idee der Unsterblichkeit der Seele, die als eine Bedingung dem Progress und der möglichen Realisierung des moralischen Guts untergelegt wird, ohne dass dabei theoretische Aussagen über die tatsächliche Beschaffenheit der Dinge getroffen werden. Als letzte und höchste Voraussetzung dient das Dasein Gottes, welches in diesem Zusammenhang ein rein moralischer Begriff sein soll (vgl. ebd. 138 f.). Setze ich mich nämlich als frei voraus, um dem Sittengesetz folgen zu können, meine Seele als unsterblich, um die aus den kategorischen Imperativen folgende Aufgabe der Verwirklichung der Sittlichkeit und Glückseligkeit im lären Verhältnis vgl. weiter unten (Was ist die Voraussetzung der Voraussetzungen? (1) Idee des reinen Willens). 44 Man muss die Einführung der praktischen Idee vom höchsten moralischen Gut, welches die Verbindung von Sittlichkeit mit Glückseligkeit ist, als eine notwendige Zweck- bzw. Wertsetzung verstehen. Notwendig ist sie aber nur unter der Bedingung, dass es als möglich angenommen wird, im Prozess der autonomen Gesetzgebung von den subjektiven Motiven abzusehen. Ist es als möglich angenommen, dann richtet sich die Ausübung dieses Prozesses auf seine permanente Verwirklichung in der Welt, mithin auf die Verwirklichung der Sittlichkeit an sich und nicht von bedingten Interessen, von denen ja abstrahiert wurde. Die Bildung von kategorischen Imperativen ist also nicht zwecklos, obwohl Kant gerade die Zwecklosigkeit als das zentrale Merkmal im zweiten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten angibt, durch den sie sich von den hypothetischen unterscheiden sollen (vgl. GMS AA V 413–421 und 431 ff.). Spätestens im dritten Abschnitt und in der Kritik der praktischen Vernunft wird es klar, dass hier ein Selbstzweck vorliegt, welcher, anders als die Zwecke der hypothetischen Imperative, nicht auf der Heteronomie des Willens, den Gefühlen von Lust oder Unlust, basiert. Das Interesse, welches die Vernunft am Sittengesetz hat, entspringt seiner Geltung für jedes vernünftige Wesen, kurz: »es interessiert, weil es für uns als Menschen gilt, da es aus unserem Willen als Intelligenz, mithin aus unserem eigentlichen Selbst, entsprungen ist« (ebd. 461). Das System der Ideen
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unendlichen Progress zu erfüllen, dann bedarf ich auch einer Bedingung, die die Möglichkeit dieser Verwirklichung garantiert. 45 Die Postulate qua praktische Voraussetzungen sind also als geforderte Hintergrundbedingungen der Anwendung des kategorischen Imperativs und der damit verbundenen Zwecksetzung der Vernunft zu verstehen, das höchste moralische Gut zu realisieren. Insofern das Sittengesetz als für jedes vernünftige Wesen gültig angenommen wird, darf es von einem Rechtschaffenen nicht bloß hypothetisch angenommen, sondern auch gewollt werden, dass es Gott, Freiheit und Unsterblichkeit gibt (vgl. ebd. 143). Von diesen Postulaten kann man einfache praktische Ideen unterscheiden. Entweder stehen sie im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Sittengesetz und dienen als Hilfsbegriffe: z. B. die Idee vom höchsten moralischen (abgeleiteten) Gut, 46 die Idee der Pflicht, der Persönlichkeit etc. Oder sie erfüllen die Funktion, Bedingungen zu Regeln für konkrete (heteronom, d. h. nicht allein aus Vernunftgründen bestimmte) Handlungen zu sein. Wenn man praktische Gebote aufstellt, die nicht allein auf sittlicher Selbstbestimmung beruhen, dann tut man es zu irgendeiner Absicht oder aus irgendeinem Interesse. In anderen Worten: Man bezweckt damit die Realisierung von bestimmten Wertsetzungen. Zu solchen materialen Voraussetzungen bzw. Bedingungen zur Bildung von praktischen Regeln können z. B. die Tugend und die Weisheit gehören. 47 Hat man ein Interesse an der Weisheit, dann muss man den Weg der Wissenschaft nehmen, um Gott und die Unsterblichkeit werden nicht als Bedingungen des Sittengesetzes eingeführt (da die Freiheit sein einziges Postulat ist), sondern ausschließlich des höchsten moralischen Guts – vgl. KpV AA V 4 – also desjenigen, worauf sich der Wille richtet, wenn er nach den Vorstellungen von praktischen Gesetzen handelt. Vgl. zu den Postulaten allgemein u. a. Gardner (2011) und Ricken (2009). 46 Um einer möglichen Verwirrung vorzubeugen: Das höchste ursprüngliche bzw. selbständige Gut ist Gott selbst (als Voraussetzung und Garantie des höchsten abgeleiteten Guts). Das höchste abgeleitete (moralische) Gut dagegen Sittlichkeit und Glückseligkeit bzw. die beste Welt als ein (Ziel-)Objekt der reinen praktischen Vernunft – vgl. KpV AA V 125, 132 und KrV A810 f./B838 f. Die Sittlichkeit gilt in der Verbindung mit der Glückseligkeit, die als zweites Glied hinzukommt, als das oberste Gut – vgl. KpV AA V 119. Glückseligkeit, an sich betrachtet, ist keine notwendige Vernunftidee, da ihr die Form der Allgemeinheit fehlt (was den Einen glückselig macht, kann dem anderen schaden) – laut der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ist sie sogar ein Ideal der Einbildungskraft (und nicht der Vernunft), welches auf empirischen Gründen beruht – vgl. GMS AA IV 417 ff. Zur Funktion und der Bedeutung des höchsten Guts vgl. u. a. Friedmann (1984) und Reath (1988). 47 Kant bezeichnet solche Ideen auch oft als »Ideale«, und zwar aus dem Grund, dass 45
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sicher zu ihr zu gelangen. 48 Ist die Tugend ausschlaggebend, dann muss man entsprechend handeln. Diese Ideen und auf ihnen basierende Regeln gehören dem Bereich der hypothetischen Imperative an, die sich eben dadurch definieren, dass sie bedingterweise, d. h. im Hinblick auf die konkret gesetzten Zwecke, gelten. 49 Insofern sind sie »nicht gänzlich reine Vernunftbegriffe, weil ihnen etwas Empirisches (Lust oder Unlust) zum Grunde liegt« (KrV A569/B597). 50 Es besteht also ein gradueller Unterschied zwischen der Forderung an sich selbst, etwa dass man am heutigen Tag tugendreich sein will, und der Forderung, es soll Gott als eine Urbedingung zur Verwirklichung der Sittlichkeit geben. Im ersten Fall versucht man bei sich eine konkrete Einstellung zu erzwingen, im zweiten Fall fragt man sich nicht, ob man Lust oder Unlust an der Voraussetzung des höchsten Wesens als Bedingung der Sittlichkeit hat, sondern erzeugt sie aus einem objektiven Interesse an der Sittlichkeit. 51 Die einfachen praktischen Ideen erfüllen nicht nur die Funktion, Voraussetzungen zum Bilden von Regeln und damit unentbehrliche Bedingungen »jedes praktischen Gebrauchs der Vernunft« (KrV A328/B385) zu sein. Sie dienen auch als Allgemeinbegriffe zur Besie leicht verobjektiviert werden können. Z. B. die Weisheit – der Weise, als ein Vorbild, wie man zu sein hat, bzw. als ein Urbild, dem man sich zu nähern versucht. 48 Diesen Imperativ bildet Kant übrigens auch selbst in der Kritik der praktischen Vernunft – vgl. KpV AA V 143. 49 Vgl. GMS AA V 413–421 und 431 ff. 50 Gleichwohl sind sie aber auch keine reinen Erfahrungsbegriffe. Man wird vergeblich versuchen, etwas z. B. der Idee der Weisheit Korrespondierendes in der Erfahrung zu finden. Sie können nach Kant als Beispiele für reine Vernunftbegriffe dienen, wenn man nur auf ihre Form achtet: Man erkennt ihren Ursprung aus der Vernunft daran, dass sie die Form der Allgemeinheit und des Sollens haben. 51 Zum Bereich der einfachen praktischen Ideen können auch rechtliche oder »politische Ideen« – vgl. RGV AA VI 123 – gezählt werden. Das sind solche Begriffe wie der Staat, der ursprüngliche Vertrag, das Völkerrecht und das Weltbürgerrecht – vgl. Timmermann 2015: 1122. Auf ihrer Grundlage können, wie es auch bei den übrigen einfachen praktischen Ideen der Fall ist, Imperative gebildet werden, wie z. B.: Gebe als Gesetzgeber nur solche Gesetze, die dem vereinten Willen der Bürger entspringen könnten (als ob sie einem ursprünglichen Vertrag zugestimmt hätten) – vgl. TP AA VIII 297. D. h., solche Ideen haben durch ihr Gelten in uns und durch den Prozess ihrer Verwirklichung auch eine »(praktische) Realität« (ebd.). Des Weiteren können dem Bereich »einfache praktische Ideen« auch religiöse zugeordnet werden, die als Vorstellungen auftreten, an deren Umsetzung man sich prinzipiell beteiligen kann. Z. B. die »Idee von einer Kirche (nämlich einer unsichtbaren)« (RGV AA VI 152) im Sinne der »objektiven Einheit der Vernunftreligion durch das moralische Interesse« (ebd. 123 Anmerkung) und die Idee des Reichs Gottes (vgl. ebd. 152). Das System der Ideen
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urteilung einzelner Handlungen und Gegenstände, ihres moralischen oder ästhetischen Werts. Dass man eine Idee von Tugend hat, ist eine Voraussetzung dafür, dass ein Urteil über die Tugendlosigkeit eines bestimmten Menschen gefällt werden kann (vgl. KrV A315/B371 f.). Dass wir eine Idee vom Mathematisch-Erhabenen bilden können, ist Voraussetzung dafür, dass etwas, was die Einbildungskraft überfordert, z. B. der Sternenhimmel, als erhaben beurteilt wird (vgl. KU AA V 256 f.). 52 (2) Theoretische Voraussetzungen. Die Postulate sind also als geforderte Bedingungen des Sittengesetzes zu verstehen, einfache praktische Ideen hängen entweder mit der moralischen Gesetzgebung zusammen oder sind Bestimmungsgründe der hypothetischen Imperative und können wie die ästhetischen zu wertenden Urteilen dienen. Da die Postulate letztendlich nichts weiter als praktisch erweiterte transzendentale Vernunftbegriffe sind (vgl. KpV AA V 132 f.) und da sie im Bereich des sittlichen Handelns eine Voraussetzungsfunktion erfüllen, liegt die Vermutung nahe, dass den theoretischen Ideen, d. h.: dem absoluten Ich, den Weltbegriffen und dem Ideal des höchsten Wesens eine entsprechende Aufgabe im Bereich der Erkenntnis zukommt. Dies ist allerdings richtig. Kant behauptet sogar, dass sie qua Voraussetzungen 53 von einem unentbehrlich notwendigen GeDas Besondere an ästhetischen Ideen bei Kant ist, dass sie zwei Quellen haben: (1) die produktive Einbildungskraft, die Vorstellungen schafft, denen kein adäquater Begriff im Verstand korrespondiert (vgl. KU AA V 313 ff.) und (2) die Vernunft, die versucht, die Einbildungskraft und den Verstand in Übereinstimmung zu bringen (vgl. ebd. 342 ff.). Sie haben also, wie auch andere Vorstellungen, die als Ideen bezeichnet werden, die Vernunft zum Prinzip. Wie die einfachen praktischen Ideen können sie partiell dargestellt werden (die Tugend in Handlungen, das Schöne in der Kunst). Die ästhetischen Ideen haben für das Weitere nur wenig Bedeutung, daher werden wir uns in die Funktion der Vernunft im ästhetischen Bereich (Koordinierung der Erkenntniskräfte) nicht weiter vertiefen (für einen Überblick und für Literaturhinweise vgl. Fricke 2015: 1117 f.). 53 Auch theoretische Ideen bezeichnet Kant expressis verbis als Voraussetzungen, aber nur in einer bestimmten Hinsicht, wie es im Folgenden klar wird, nämlich zum Regulieren der Verstandeserkenntnisse (als relative Suppositionen): »Die Idee enthält das Urbild des Gebrauchs des Verstandes« (Log AA IX 92). Sie dürfen dabei aber absolut in keinem Sinne als konstitutive Voraussetzungen verstanden oder interpretiert werden – sie sind für den Verstand, anders als die Kategorien, »völlig entbehrlich« (Prol AA IV 331). Den Interpretationsversuch, sie als konstitutive Prinzipien aufzufassen, macht z. B. Claudia Bickmann – vgl. Bickmann 2002: 54, Fußnote 18. In dieser Arbeit werden sie hingegen niemals und in keinem Punkt anders als regulativ 52
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brauch seien (vgl. z. B. KrV A644 f./B672 f., Prol AA IV 331, KU AA V 167 f.) – aber im welchen Sinne? Die transzendentalen Vernunftbegriffe werden wie die Postulate nicht als Voraussetzungen primärer, sondern sekundärer, abgeleiteter Art, eingeführt. Bei der praktischen Erkenntnis nahm Kant den Ausgang von dem, was notwendigerweise da sein soll, nämlich von moralischen Gesetzen, und schloss auf die Bedingungen, die entsprechend als notwendig und konstitutiv zum Erreichen des höchsten praktischen Guts postuliert wurden. Bei der theoretischen Erkenntnis wird hingegen eine Wirklichkeitszufälligkeit von Gegenständen möglicher Erfahrung vorausgesetzt, die da ist: Eine Mannigfaltigkeit von Phänomenen, die von der Sinnlichkeit und dem Verstand bearbeitet und geordnet wird. Dass diese Bearbeitung des Erfahrungsmaterials letztlich auf die drei Vernunftideen hinausläuft: Ich, Weltbegriff (der in Form von Antinomien auftritt) und Ideal, wird entsprechend als zufällig vorgestellt (vgl. KrV A633 f./B661 f.). Weil unser Verstand so funktioniert, dass er nur drei bestimmte Arten von Verhältnissen der Phänomene zueinander kennt, und weil die Erfahrung glücklicherweise den passenden Stoff zu dieser Verbindung und Ordnung liefert (allerdings nicht zur abschließenden Verbindung zu einem wirklichen, der Idee korrespondierenden Gegenstand), kommen wir zu den folgenden drei Vernunfthypothesen: Die erste der Reihen von Erscheinungen endet bei der absoluten Einheit des Subjekts (Inhärenz und Subsistenz), die zweite bei der absoluten Einheit der Bedingungen der Erscheinung in der Welt (Kausalität und Wirkung), verstanden oder interpretiert. Wenn Kant also von den theoretischen Ideen als von Voraussetzungen spricht, dann meint er immer nur die zur üblichen, ihrer nicht bedürftigen Tätigkeit des Verstandes hinzukommenden Annahmen zum Zweck der Systematisierung der Naturbetrachtung. Sie werden nicht jederzeit von allen, sondern nur von einigen an systematischer Naturauffassung Interessierten angenommen und doktrinal (programmatisch) geglaubt (vgl. den Punkt zum epistemischen Status der Ideen weiter unten). Diese Anmerkung, die schon einige Ergebnisse im Voraus enthüllen muss, ist nötig, damit unser Anliegen, immanente Vernunftfunktionen aufzudecken, nicht voreilig missverstanden wird. Kant spricht im Hinblick auf die theoretischen Ideen buchstäblich von Voraussetzungen (im regulativen Sinne, der uns hier nur interessiert) beispielsweise an folgenden Stellen: KrV A826/B854, A697 f./B725 f., A693/B721, A687/B715, A676 ff./B704 ff., A670 f./B698 f., A619/ B647, A583/B611, vgl. auch A508/B536-A517/B545; Prol AA IV 348; KpV AA V 126, 142. Man findet deutlich mehr Nachweise, wenn man auch nach den Begriffen »regulatives Prinzip«, »Annahme«, »Supposition« u. Ä. sucht, z. B. auch in der KU AA V 167 und 401 ff. Das System der Ideen
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die dritte wiederum nimmt 1 und 2 in sich auf und endet bei der absoluten Einheit der Bedingung aller denkbaren Gegenstände überhaupt, dem Ideal (Gemeinschaft) (vgl. KrV A334/B391). Diese subjektiv-natürliche metaphysische Ideendeduktion, die hinsichtlich der Relationskategorien den logischen und hinsichtlich des Bestandes der Phänomene bzw. der Vorstellungsverhältnisse (zu einem Subjekt, zur Welt und zum Ideal) den realen Aspekt des Vernunftgebrauchs deutlich macht, gibt keinen Anlass dazu, den Ideen als hypothetischen Suppositionen irgendeine Geltung im Bereich der Erkenntnis einzuräumen. 54 Dieselbe Verbindlichkeit, die aus der primären Voraussetzung (das Sittengesetz und das höchste Gut) im praktischen Bereich folgte, fehlt, wenn die Erfahrungsmannigfaltigkeit bloß zufällig gedacht wird: Ist das Bedingte rein zufällig, dann hat es keine notwendigen Bedingungen. An dieser Stelle sind wir berechtigt, Kant die folgende Frage zu stellen: Warum gehen wir in der praktischen Deduktion der Notwendigkeit der Postulate gleich von dem Sittengesetz und nicht von der Ebene darunter, z. B. von den hypothetischen Imperativen oder willkürlichen Handlungen aus? Können wir auch im Bereich der theoretischen Erkenntnis irgendeine anspruchsvollere primäre Voraussetzung finden, aus der sich eine erkenntnistheoretische Verbindlichkeit der transzendentalen Ideen ableiten ließe? Einen unentbehrlich notwendigen Gebrauch können die Vernunftideen nämlich nur dann haben, wenn sie als Bedingungen eines mehr oder weniger notwendigen Bedingten angesehen werden. Einen geeigneten Kandidaten dazu findet man im Anhang zur transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft: Die methodologische Idee eines unbestimmten systematischen Ganzen der empirischen Erkenntnis. Wie die Postulate nicht zu aller möglichen praktischen Erkenntnis ohne Unterschied, sondern zum Zweck des Sittengesetzes vorausgesetzt werden, dienen die transzendentalen Ideen nicht jeder beliebigen zufälligen Erfahrung, sondern der zusammenhängenden systematischen Naturerkenntnis. Soll die Letztere sein, müssen das Ich, der Weltbegriff Die metaphysische Deduktion, die Lehre von Vernunftschlüssen und das Problem des transzendentalen Scheins werden hier nicht weiter thematisiert, da sie für die Frage nach dem besonderen Voraussetzungsstatus wenig Ertrag bringen. Vgl. dazu die neueren Arbeiten von Klimmek (2005), Pissis (2012) sowie Bunte (2016). Vgl. auch den vierbändigen Kommentar zur transzendentalen Dialektik von Heinz Heimsoeth (1966 ff.). Ein Beispiel für einen logischen Vernunftschluss findet sich weiter unten unter dem Punkt »Idee des reinen Denkens«.
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und das Ideal als regulative Vernunftprinzipien den Verstand auf die größtmögliche Ausbreitung seiner Erkenntnisse führen. Von den Kategorien konnte Kant zeigen, dass sie eine objektive Gültigkeit haben: Dass sie keine leeren Titel sind, sondern sich tatsächlich auf Objekte möglicher Erfahrung beziehen. Dieselbe transzendentale (objektive) Deduktion hält er jedoch hinsichtlich der Ideen für unmöglich, weil sie die Erfahrungsgrenzen überfliegende Gedankengebilde sind, denen kein wirkliches Objekt korrespondiert (vgl. KrV A336/B393, A663 f./B691 f.). 55 Dennoch unternimmt er eine analogische, quasi-transzendentale Deduktion der Ideen, »die Vollendung des kritischen Geschäftes der reinen Vernunft« (KrV A670/ B698), die den Vernunftbegriffen allerdings nur einige (KrV A664/ B695) unbestimmte objektive Gültigkeit und damit Verbindlichkeit in Erkenntnisvorgängen sichern kann. Zur Erläuterung des Voraussetzungsstatus der theoretischen Ideen soll sie im Folgenden kurz skizziert werden. Die zentrale Annahme, von der wir ausgehen müssen, ist das Interesse der Vernunft in ihrem empirischen, nicht-spekulativen Gebrauch, an der systematischen Naturerkenntnis. 56 Ein solches liegt dann vor, wenn wir versuchen, eine Vielzahl von Phänomenen untereinander zu ordnen und gegeneinander zu bestimmen. Den Kontakt zum Mannigfaltigen der Erscheinungen hat unser Verstand durch den Bezug auf die Sinnlichkeit. Nun bedarf er einer gezielten Lenkung durch die Vernunft hinsichtlich (a) der Bedingungen, unter denen, und (b) des Grades, wie weit er seine Begriffe verbinden soll (vgl. KrV A664 f./B692 f.). Zu (a): Zu den Bedingungen zählen die Vernunftregeln der Homogenität (Gleichartigkeit), der Spezifikation (Varietät) und der Kontinuität (Affinität) der Verbindungen (vgl. KrV A657 f./B685 f.). Alle Erscheinungen sollen demnach in der begrifflichen Bestimmung möglichst eine Einheit in der Gattung ausmachen, dabei aber möglichst genau als Unterarten voneinander unterschieden werden, wobei weder in Richtung der Allgemeinheit noch in die der Besonderheit Zur Parallelisierung der metaphysischen und transzendentalen Deduktion der Kategorien mit der subjektiven und objektiven Deduktion der Ideen, der durchaus gefolgt werden kann, vgl. Moledo (2015), vgl. auch Karásek (2010). 56 Ein empirischer Vernunftgebrauch findet statt, wenn die Vernunftregeln mittels des Verstandes auf die Gegenstände möglicher Erfahrung bezogen werden. Ein spekulativer, wenn die Gegenstände der Vernunft in keiner Erfahrung geben sind (vgl. KrV A634 f./B663 f.). 55
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Sprünge oder Lücken erlaubt sind. Eine solche nach den drei logischen Prinzipien vorgestellte Vernunfteinheit der empirischen Erkenntnis ist zunächst abstrakt und unbestimmt (ein principium vagum). Sie ist bloß eine methodologische heuristische Idee, ein regulatives Prinzip: anzeigend, wie wir die Gegenstände der Erfahrung miteinander in Begriffen verknüpfen sollen, aber noch nicht, zu welchen Gegenständen oder Synthesen. Kant bestimmt sie als einen (Einheits-)Punkt, in dem die Richtungslinien der Verstandesregeln (Homogenität, Spezifikation und Kontinuität) zusammenlaufen, einen focus imaginarius zur Erklärung der Einheit aller Verstandeshandlungen (vgl. KrV A644/B672), eine Idee »von der Form eines Ganzen der Erkenntnis, welches vor der bestimmten Erkenntnis der Teile vorhergeht und die Bedingungen enthält, jedem Teile seine Stelle und Verhältnis zu den übrigen a priori zu bestimmen« (KrV A645/ B673). Diese logische Vernunfteinheit ist bloß eine Hypothese, eine »projektierte Einheit, die man an sich nicht als gegeben, sondern nur als Problem ansehen muss« (KrV A647/B675). 57 Zu (b): Sie wird nur dann zu einer bestimmten und konkreten Rudolf Zocher folgend (vgl. Zocher (1958)) vertritt Martin Bondeli die These von einem »Bruch« im Anhang zur transzendentalen Dialektik hinsichtlich der (quasi-) objektiven Deduktion der Ideen – vgl. Bondeli 1996: 179 Fn. 21. Kant fange mit der Deduktion der drei Vernunftideen (Ich, Welt und Gott) an und ende bei der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität. Man umgeht jedoch eine solche Interpretation, wenn möglichst klar wird, dass die systematisch-logische Vernunfteinheit (1) eine primäre Voraussetzung zur Ableitung der Ideen ist und (2) eine Einheit der Naturerkenntnis ausdrückt. Wenn Bondeli von ihr etwas unkonkret als der »höchsten Vernunftidee« spricht – vgl. ebd. 170, 176 und 178 – dann ist das insofern problematisch, als lediglich das Ideal für die letzte und höchste Synthesis stehen kann. Die systematische Einheit der Naturerkenntnis ist mit ihm aber nicht zu verwechseln – sie ist ein principium vagum, welches sowohl für das Ideal (das höchste Substratum der systematischen Einheit) als auch für die Welt und das Ich stehen kann. Homogenität, Spezifikation und Kontinuität sind nun die Regeln zur Verbindung der Verstandeserkenntnisse, die auf die Natur bezogen sind und auf irgendeine unbestimmte Einheit hinauslaufen. Erst dadurch, dass die Vernunft drei konkrete Ideen bildet, wird sie bestimmt. Es geht hier somit um nichts anderes als eine durchgängige Bestimmung einer unbestimmten Einheit der Naturerkenntnis mit Hilfe der drei Grundsätze (die das Mannigfaltige der Verstandeserkenntnisse ordnen) und drei Ideen (auf die die Ordnung hinauslaufen soll, in der Reihenfolge Ich – Welt – Gott) der Vernunft. Einen Bruch, den man im Nachhinein »glätten« muss, gibt es also nicht. Bondelis Auffassung geht aber scheinbar auch selbst in diese Richtung, zumindest deutet es sich so an, weil er das Kriterium des (unmittelbaren) Zusammenhanges der empirischen Einheiten mit der systematischen Einheit als das Wichtigste ansieht, um den Ideen Unentbehrlichkeit und einige objektive Gültigkeit zusprechen zu können – vgl. ebd. 178 ff.
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Einheit, wenn gezeigt wird, welche Gestaltungen bzw. welche Gesichter sie annehmen kann – anders gewendet: welche Grade die Synthesis haben kann. Auf dem Gebiet der Vernunft, auf dem es um das Maximum der Abteilung und der Vereinigung der Verstandeserkenntnis geht, drücken die Gestaltungen der logischen Vernunfteinheit nicht sinnliche Objekte aus (bei denen kein Maximum angetroffen werden kann), sondern die drei Totalitäten, in der laut der metaphysischen Ideendeduktion drei Reihen von Phänomenen und Bedingungen zusammenlaufen: das Ich, die Welt und das Ideal. Die erste konkretisierte kollektive Vernunfteinheit bildet die Idee vom absoluten Ich. Die Mannigfaltigkeit der Bewusstseinsmomente, die spezifiziert und in verschiedene Kräfte eingeteilt werden kann, z. B. Empfindung, Einbildungskraft, Erinnerungsvermögen etc., kann auch kontinuierlich bestimmt werden. Es gibt Ähnlichkeiten und fließende Übergänge zwischen den einzelnen Vermögen, mithin kann es nur nutzen, dahinter eine Einheit anzunehmen und die Bewusstseinsmomente so zu betrachten, als ob sie alle zu einer einfachen selbständigen Intelligenz gehörten (vgl. KrV A672/B700 und A682 ff./B710 ff.). Man gibt der Erkenntnis damit eine Richtung auf die Idee eines substantiell, unwandelbar und persönlich identisch bleibenden Ichs und umgekehrt relativiert man diese Voraussetzung in Bezug auf die innere Erfahrung der einzelnen Vermögen (qua suppositio relativa). Ähnlich verhält es sich mit der zweiten, dem Grad nach umfangreicheren Vernunfteinheit, dem Weltbegriff als einer absoluten Totalität der Reihe der Bedingungen der Erscheinungen. 58 Es lohnt sich, sie nach den drei logischen Grundsätzen der systematischen regulativen Einheit der Naturerkenntnis so zu ordnen, als ob die Welt kein erstes Glied hätte und in indefinitum unendlich wäre (vgl. KrV A672/ B700 und A684 f./B712 f.). Entsprechend soll der Verstand bei der Ordnung der Erkenntnisse aller möglichen Gegenstände des Denkens so weit gehen, sie auf die Idee einer zweckmäßigen Kausalität einer höchsten Ursache zu beziehen. D. h., das Ich soll so betrachtet werden, als ob es ein Abbild einer selbständigen, ursprünglichen und
Auch Mario Caimi, der die Wichtigkeit einer solchen transzendentalen Annahme hervorhebt, stellt keinen Bruch fest – vgl. Caimi (1995). 58 Das Ich wird sozusagen von der Weltidee »verschlungen« (das Ich ist ein Teil der Welt) und gemäß der dritten Antinomie entweder als eine Erscheinung unter den Erscheinungen (causa phaenomenon) oder als ein intelligibler Grund angesehen. Das System der Ideen
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schöpferischen Vernunft wäre, die Welt, als ob sie überall Absichten eines weisen Urhebers enthielte (vgl. KrV A672 f./B700 f. und A685 ff./B713 ff.). Die transzendentalen Vernunftbegriffe qua theoretische Voraussetzungen sind also insofern unentbehrlich notwendig, als sie der unbestimmten logischen Einheit der systematischen Naturerkenntnis drei (lediglich geistig artikulierte) Objekte geben. Diese zeigen drei mögliche Totalitäten an, in denen die Reihen der Erscheinungen, die der Verstand bearbeitet, zusammenlaufen können – als Aufgaben, die das Forschen begünstigen sollen. 59 Das erste Objekt bildet den Bezugspunkt für das Ordnen von Bewusstseinsvermögen, das zweite gibt die Regeln an die Hand, z. B. im empirischen Regress hinsichtlich der Reihe der Gründe immer höhere Glieder zu suchen und nicht bei einem angeblichen ersten Anfang der Zeit oder der äußersten Grenze des Raumes stehen zu bleiben (vgl. auch KrV A517/B545 – A523/ B551). Das letzte Objekt als dem Grad nach umfangreichste und die anderen in sich einschließende Synthesis eröffnet den Weg, die Natur nach teleologischen Gesetzen zu betrachten. Ihr Nutzen liegt in der Befragung der Erscheinungen nach einem zweckmäßigen Zusammenhang (nexus finalis), auf dessen Suche eine Bereicherung im Hinblick auf die physikalischen Erkenntnisse erwartet werden kann. 60 Versteht man dagegen unter dem Ich, den reinen Weltbegriffen und dem Ideal konstitutive Vernunftprinzipien zur Erklärung der Weltphänomene, dann erklärt man so gut wie gar nichts. Entweder ist die Vernunft dann faul (ignava ratio) und behauptet z. B.: Es hat so sein müssen, weil Gott es so gewollt hat. Oder dieselbe ist verkehrt (perversa ratio) und man begeht argumentative Zirkel: Gott ist der Grund der Zweckmäßigkeit der Natur, die Natur ist aber zweckmäßig, also gibt es Gott. Der konstitutive Gebrauch der Prinzipien der Vernunft führt also nur zum Verwirren der Naturforschung (vgl. KrV A689/B717 – A694/B722). 60 Es soll kurz angemerkt werden, dass die Struktur der regulativen Funktionen, die mit den einzelnen Ideen verbunden ist, wesentlich komplexer ist. Das hängt damit zusammen, dass jede der Ideen jeweils durch vier Kategorien bestimmt ist, was die Regeln der Verknüpfung spezifiziert (vgl. zu der Zuordnung der Kategorien zu den Ideen die Übersicht unter dem Punkt Kants System der Ideen). Kant selbst führt diese kategoriale Bestimmung der Regeln im Anhang zur transzendentalen Dialektik nicht komplett durch, so dass die genaue und vollständige Rekonstruktion, die nicht in seinem Fokus lag, dem Leser überlassen wird. Es lohnt sich dann z. B. im Kapitel zu den Antinomien nach allen vier Auflösungen zu schauen (mithin auch nach der Regel bezüglich der Dekomposition (kategorial der Negation zugeordnet), die im Anhang gar nicht erwähnt wird). Um den besonderen Voraussetzungsstatus und den Nutzen der Vernunftbegriffe zu erörtern, reichen uns an dieser Stelle nur beispielhaft gewählte Regeln. 59
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Auf der Seite der praktischen Vernunft gibt es laut der obigen Erörterung neben den Postulaten einfache Ideen wie von Pflicht oder Persönlichkeit als Hilfsbegriffe der Sittlichkeit bzw. wie von Tugend oder Gerechtigkeit als Zwecksetzungen für hypothetische Imperative. Im Abschnitt zur transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft gibt es nur eine Stelle, an der Kant von einfachen theoretischen Ideen spricht: Man gesteht: dass sich schwerlich reine Erde, reines Wasser, reine Luft etc. finde. Gleichwohl hat man die Begriffe davon doch nötig (die also, was die völlige Reinigkeit betrifft, nur in der Vernunft ihren Ursprung haben) (KrV A646/B674).
Es ist offensichtlich, dass solche Vernunftbegriffe nicht auf derselben Ebene mit den transzendentalen Ideen gesehen werden können, die ein Absolutes am Ende einer Reihe von Erscheinungen oder Bedingungen ausdrücken. Es handelt sich vielmehr um Vorstellungen, denen zwar nichts Tatsächliches in der Sinnenwelt korrespondiert, die aber allem Anschein nach ausgehend von einem konkret gegebenen Gegenstand durch Abstraktion leicht gebildet werden können. 61 Es fehlt an dieser Stelle eine wichtige einschränkende Erklärung, die bezüglich der einfachen praktischen Ideen gegeben wurde – dass diese nämlich »nicht gänzlich reine Vernunftbegriffe« (KrV A569/597) sein können, weil ihnen etwas Empirisches zugrunde liegt. Dieses Empirische ist auf der theoretischen Seite ein konkret und sinnlich gegebener Gegenstand. Lediglich die Art und Weise, wie der Begriff gebildet wird, nämlich abstrahierend von der Mannigfaltigkeit in Richtung Reinheit, lässt auf eine Vernunfttätigkeit dahinter schließen. Nichtsdestoweniger teilen die einfachen theoretischen Ideen mit den transzendentalen Vernunftbegriffen dieselbe heuristische Funktion – man befragt mit ihrer Hilfe die Natur und sucht nach möglichen Erklärungen, auch wenn sie den Ideen widersprechen sollten. 62 Wenn eine Idee nicht aus einer Notio (einem reinen Verstandesbegriff) gebildet wird, also wenn es sich nicht um einen logisch geschlossenen transzendentalen Vernunftbegriff (im Praktischen: Postulat) handelt, dann scheint vor allem das Abstraktionsverfahren für die Bildung von Ideen ausschlaggebend zu sein. Vor »Wasser« oder vor »Wille« wird das Adjektiv »rein« gestellt. Im Hinblick auf die transzendentalen Vernunftbegriffe (das Ich, die Weltbegriffe und das Ideal) ist das Abstraktionsverfahren gerade nicht entscheidend, sondern das logische Schließen – vgl. Kant an Reinhold, 19. 05. 1789, AA XI 40. 62 Die einfachen theoretischen Ideen sind keinesfalls als veraltete Aufgabensetzungen, sondern als jederzeit aktuelle und das Interesse an der Naturerkenntnis weckende 61
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(3) Transzendente Voraussetzungen. Die transzendentalen Vernunftbegriffe werden nicht als Begriffe eingeführt, von denen das Erkennen ausgeht, sondern als solche, bei denen es endet. Gerade dadurch, dass sie am Ende stehen, sind sie Voraussetzungen – angenommene voraussichtliche Resultate, auf die der Verstand bei der systematischen Naturerkenntnis auf eine natürliche Weise von der Vernunft hingelenkt werden soll. Genauso sind die Postulate als Folgerungen zu verstehen, bei denen die praktische Erkenntnis ausgehend von den kategorischen Imperativen endet. Wird jedoch irgendeine transzendentale Idee oder irgendein Postulat als eine primäre Voraussetzung (suppositio absoluta, d. h. nicht relativ auf die systematische Naturerkenntnis oder auf das Sittengesetz) gebraucht, dann wird sie transzendent. 63 Man kann mithilfe der folgenden drei Kriterien prüfen, ob es sich bei einer Annahme um eine transzendente, die Erfahrungsgrenzen überfliegende Idee handelt. Sie liegt in folgenden Fällen vor: 1. Es handelt sich um eine synthetische Ist-Aussage a priori, bei der das Sein als ein reales Prädikat gebraucht wird. 64 Dem Gegenzu verstehen. Ein Kind fragt sich, ob die Luft, die es umgibt und die von ihm eingeatmet wird, ein reines Element sei. Es lernt, dass sie aus verschiedenen Gasen: Stickstoff, Sauerstoff, Argon, Kohlendioxid etc. besteht. Nun kann man diese Zusammensetzung der Luft weder mit den Augen sehen noch mit der Nase spüren. Auch wenn man die Bestandteile und Verhältnisse auswendig lernt, so verschwindet die Illusion, von reiner Luft umgeben zu sein, kaum. Vielmehr ist diese Idee ein »Auslöser«: Wird man auf diesen Sachverhalt nicht aufmerksam, d. h., stellt die Vernunft diese Aufgabe / dieses Problem nicht, dann wird man gar nicht über die Zusammensetzung und die physikalischen Erklärungen nachdenken. 63 Die transzendenten Voraussetzungen sind also keine neue Art von Ideen, sondern dieselben, aber überbeanspruchten Vorstellungen. Diese Leistung, die Vernunftideen transzendent zu gebrauchen, ist ein Resultat des Mangels der Urteilskraft und ist in keinem Fall der Vernunft zuzuschreiben (vgl. zu dieser Anmerkung z. B. KrV A642 f./ B670 f.). Nach Kant gibt es auch praktisch-transzendente Vernunftbegriffe, die im religiösen Kontext auftreten, wie z. B. Gnadenwirkungen oder Wunder – vgl. RGV AA VI 52 f. Sie geben, anders als die übrigen einfachen praktischen Ideen, keine Regeln an die Hand, wie etwas zu tun sei, sondern Erwartungen, dass etwas Unbegreifbares geschehen werde – die Vernunft kann mit ihrer Hilfe keine Maximen bilden, sondern bleibt passiv. 64 Jedes synthetische Urteil beruht nicht auf einem bloß logischen Unterschied zwischen mehreren Begriffen, sondern auf einem realen zwischen der Vorstellung eines als möglich angenommenen Gegenstandes und einem wirklichen Gegenstand irgendeiner Anschauung, die die Kenntnis von dem bloß gedachten Ding erweitern soll. Ist er a posteriori, dann bezieht sich der Begriff auf eine empirische Anschauung. Ist er a priori, dann muss zum Begriff eine reine Anschauung hinzukommen, was aber (außer
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stand des reinen Denkens wird eine Existenz zugesprochen, die gar nicht sinnlich erkannt werden kann. Man geht aus dem Begriff eines Dinges hinaus und setzt zu ihm die reale Existenz eines Dinges hinzu. 2. Eine Idee wird bis ins Detail näher bestimmt oder sogar empfunden, als ob sie ein wirklicher und der Erfahrung zugänglicher Gegenstand wäre. Eine Supposition wird dabei nicht relativ, sondern an sich betrachtet. Zwar können die Ideen logisch (kategorial) bestimmt werden: z. B. wird die Vorstellung vom absoluten Ich der Quantität nach mit der Einheitskategorie gedacht. Wird das aber als eine reale Bestimmung des Gegenstandes an sich betrachtet, dann befindet man sich im Raum der Transzendenz. 65 Das Ich kann so (auf transzendente Weise) als eine Seele von geistiger Natur vorgestellt werden, bestehend aus dem Äther, unzerstörbar etc. 3. Aus einer Idee an sich, der nichts in der Erfahrung korrespondiert, versucht man unterschiedliche Erklärungen und Theorien abzuleiten. Bleiben wir bei dem Beispiel der transzendenten IchVoraussetzung, dann können ausgehend von der bereits die Erfahrung übersteigenden Näherbestimmung der Ideen Theorien von der Erzeugung und der Wiedergeburt der Seelen gebildet werden, von ihrer Verunreinigung durch unmoralische Taten, die sich auf das Lebensschicksal auswirken etc. Die transzendenten Ideen sind das Resultat einer getäuschten Vernunft, die sich nicht über die Erkenntnisvorgänge im Klaren ist. Es in der Mathematik) unmöglich ist – vgl. Kant an Reinhold, 12. 05. 1789, AA XI 36 ff. Jede Existenzaussage, die die Wirklichkeit eines Dinges behaupten will, ist deswegen synthetisch – vgl. KrV A598/B626, weil sie einen realen Unterschied zwischen einem möglichen gedachten Ding (welches mit allen seinen Prädikaten einschließlich des Daseins gesetzt wird) und einem wirklichen Gegenstand in der Anschauung (welcher den Begriff eines möglichen Dinges und seiner Prädikate bestätigen soll) voraussetzt. Nach Kant gibt es also nur zwei Klassen gültiger synthetischer Urteile: (1) Erfahrungsurteile und (2) mathematische Urteile. Kein einziger synthetischer metaphysischer Satz a priori konnte hingegen bisher bewiesen werden, daher habe laut Kants provokativem Beschluss die »Metaphysik als Wissenschaft bisher noch gar nicht existiert« (Prol AA IV 369). Zur Vorgeschichte des Metaphysikbegriffs von Kant vgl. Baum 2015: 1530 ff. 65 Kant nutzt für die Bezeichnung des Jenseits des immanenten Vernunftgebrauchs oft die Metapher vom leeren Raum der transzendenten Begriffe, in dem die Vernunft kraftlos ihre Flügel (weil sie die Grenzen ja »überfliegt«) schwingt, ohne von der Stelle zu kommen und sich unter Hirngespinsten verliert – vgl. z. B. KrV A702/B730, Prol AA IV 360 und GMS AA V 762. Das System der Ideen
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fehlt die Reflexion darüber, dass eine Idee, die kein reales Objekt hat, nichts über die erfahrbare Wirklichkeit aussagen kann. An den folgenden drei Regeln kann man sich orientieren, um innerhalb des transzendentalphilosophischen Rahmens zu bleiben: 1. Synthetische Ist-Aussagen im Hinblick auf die Ideen vermeiden. Eine Frage wie: »Existiert die Seele tatsächlich?« ist unbeantwortbar. 2. Aussagen über die vermeintlichen Gegenstände der Ideen vermeiden. »Besteht die Seele aus dünner Materie?« ist unbeantwortbar. 3. Keine Erklärungsgründe aus dem Bereich des Transzendenten schöpfen. Z. B. bestimmte Merkmale als Resultate von früheren Leben der Seele ableiten. (4) Methodologische (architektonische) Ideen (der wissenschaftlichen Untersuchungen). 66 Neben den praktischen, ästhetischen und theoretischen Ideen, insofern sie nicht transzendent gebraucht werden, gibt es noch eine weitere Art von nützlichen Vernunftvoraussetzungen, die ihre Anwendung im Umgang mit den Wissenschaften finden. Sie betreffen die Form, wie eine Wissenschaft anzusehen ist oder behandelt werden soll. Die Vernunft bzw. jeder, der sich bilden will oder eine mehr oder weniger systematische Untersuchung verfasst, hat eine projektierte Idee vom geordneten Ganzen des Wissens hinsichtlich der Natur, des Rechts, der Moral, der Religion, der Transzendentalphilosophie etc. nötig. Das Ganze einer Wissenschaft ist eine Aufgabe, eine anspruchsvolle und problematische Vorstellung, die einen Forscher, einen Lehrenden und einen Lernenden bei der Vermittlung bzw. Aneignung des Wissens begleitet: In allen Wissenschaften, vornehmlich denen der Vernunft, ist die Idee der Wissenschaft der allgemeine Abriss oder Umriss derselben, also der Umfang aller Kenntnisse, die zu ihr gehören. Eine solche Idee des Ganzen – das Erste, worauf man bei einer Wissenschaft zu sehen und was man zu suchen hat, ist architektonisch, wie z. B. die Idee der Rechtswissenschaft (Log AA IX 93).
Die Idee der systematischen Einheit einer Wissenschaft bleibt ein principium vagum, wenn nicht ein Leitfaden oder ein Kern gefunden
Für mehr zu diesem Punkt und zu Kants systematischer Ordnung der Wissenschaft nach architektonischen Ideen auf vier Ebenen vgl. Lewin (2020c).
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wird, der dem Umfang des bestimmten Wissens eine Richtung und geordnete Struktur verleiht. 67 »Niemand versucht es«, so Kant, »eine Wissenschaft zu Stande zu bringen, ohne dass ihm eine Idee zum Grunde liege« (KrV A834/B862). Diese ist in der Vernunft eines Forschers wie ein Keim, »in welchem alle Teile noch eingewickelt und kaum der mikroskopischen Beobachtung kennbar, verborgen liegen« (ebd.). So spricht Kant in der Einleitung zur transzendentalen Logik der Kritik der reinen Vernunft selbst von einer »Idee von einer Wissenschaft des reinen Verstandes- und Vernunfterkenntnisses« (KrV A57/ B81). Diese vorgestellte Einheit des Wissens über das obere Erkenntnisvermögen wird durch die heuristische Annahme konkretisiert, dass es reines Denken gebe, wodurch es möglich sei, Gegenstände völlig a priori vorzustellen (vgl. ebd.). 68 Das praktische Pendant dazu sind die Ideen der Kritik der praktischen Vernunft und der Metaphysik der Sitten (vgl. MS AA VI 214 ff.), die von der Voraussetzung ausgehen, es gebe ein Vermögen der Vernunft, ohne den Einfluss der Sinnlichkeit a priori gesetzgebend zu sein, d. h. ein reines Wollen. Das reine Denken und Wollen sind also als Beispiele für heuristische Ideen zu verstehen, nach denen sich die systematische Einheit der entsprechenden Wissenschaften richten soll. 69 Die Darstellung des Wissens soll um sie kreisen: So sollen z. B. die Formen des empirischen Denkens nicht allein für sich, sondern zum hintergründigen Zweck der Unverkennbar ist die Analogie zu der oben erläuterten regulativen Idee des Ganzen der Naturerkenntnis. Es ist ein unbestimmter Entwurf der Vernunft (als logisches ZuEnde-Führen der Verstandesregeln der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität auf eine Einheit), der erst durch das Hinzukommen der drei Einheiten / Objekte (Ich, Welt und Ideal) konkretisiert wird. Das Ganze einer Wissenschaft ist entsprechend dann näher bestimmt, wenn es nach einer Kernthese oder einem Leitfaden als einem Objekt der Untersuchung geordnet wird. Beide Prinzipien sind methodologischer Art (vgl. auch KrV A648/B676), mit dem Unterschied, dass das erste auf den Ablauf der konkreten Forschung bezogen wird, das zweite aber auf die Reflexion auf die Wissenschaft, im Rahmen derer die Forschung betrieben wird. Im ersten Fall geht es z. B. um die systematische Einheit der Naturerkenntnis, im zweiten um diejenige der Naturwissenschaft, die auf vernünftige Weise dargestellt und vermittelt werden soll. 68 Oder die Idee eines Maßstabes, mit dessen Hilfe man Wissen vom Scheinwissen unterscheiden könnte, i. e. die Idee der Kritik der reinen Vernunft (vgl. Prol AA IV 383, 378 und 256). 69 Ein weiteres Beispiel, welches sich bei Kant findet, ist die Idee einer wissenschaftlichen Untersuchung zur Weltgeschichte, die sich an der Anlage des Menschen zur Vernunft richten soll. Mithin soll sie so dargestellt werden, als ob die Vernunft der Endzweck der Geschichte wäre – vgl. IaG AA VIII 30. 67
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Bestimmung der Grenzen und der Möglichkeiten des reinen Denkens behandelt werden. Auch werden die Formen der hypothetischen Imperative zur Darstellung gebracht, um desto klarer – in Abgrenzung zu ihnen – die Idee vom reinen Willen zu verstehen. Nicht zuletzt ist zu erwähnen, dass die Philosophie selbst laut Kant eine »bloße Idee von einer möglichen Wissenschaft, die nirgend in concreto gegeben ist« (KrV A838/B866), darstellt: ein Urbild, dem wir uns nähern können. Sieht man also von dem transzendenten Gebrauch der Vernunftideen ab (der sicherlich auch seinen relativen Nutzen hat – vielleicht z. B. in der Kunst), so finden sich laut der ganzen obigen Untersuchung bei Kant zunächst folgende Arten von nützlichen Voraussetzungen (die laut dem Obigen einen besonderen Vorstellungsstatus haben) mit unterschiedlichen Funktionen: 70 Ein Ansatz zur Unterscheidung von verschiedenen Ideenarten bei Kant (mit fehlender Herausarbeitung und Zuordnung von konkreten Voraussetzungsfunktionen) findet sich im Wörterbuch zum leichteren Gebrauch der Kantischen Schriften von C. C. E. Schmid – vgl. Schmid 1798: 322 ff. Er differenziert zwischen (1) ursprünglichen, reinen, transzendentalen Begriffen, die in ihrer Anwendung a) psychologisch, b) kosmologisch und c) theologisch sind und (2) abgeleiteten, angewandten Ideen, zu denen a) spekulative (z. B. Idee der Philosophie), b) praktische (Weisheit, Tugend, vollkommene Staatsverfassung etc.) und c) gemischte, aber zum praktischen Gebrauch bestimmte (z. B. die moralische Welt) gehören. Daneben führt er noch ästhetische (im Sinne der KU) und moralisch-transzendente Ideen (wie die Gnadenwirkung – vgl. RGV AA VI 52 f.) auf. An Schmids Darstellung kann man Folgendes bemängeln: (α) Die übergeordnete Unterscheidung zwischen den ursprünglichen und den abgeleiteten Ideen kann man nicht nachvollziehen, da die »abgeleiteten« Begriffe ihren Ursprung genauso in der Vernunft haben. Soll »abgeleitet« aber nur so viel wie »angewandt« heißen, dann ist der Unterscheidungsgrund hinfällig, da die transzendentalen Vernunftbegriffe in der regulativen Bedeutung ebenso Anwendung finden; (β) Die Bezeichnung »spekulative Ideen« ((2) a)) ist unpassend, weil sie bei Kant für die transzendentalen Vernunftbegriffe reserviert ist (korrekte Bezeichnung ist »architektonische Ideen«); (γ) Es ist unnötig eigens von »gemischten Ideen« zu sprechen, da sie ex definitione nur praktische Anwendung haben sollen; (δ) Es fehlen die Postulate, die einfachen theoretischen Ideen sowie die Hinweise auf solche Begriffe, mit denen Kant die Vorstellung der Vernunft von sich selbst artikuliert (wie z. B. reiner Wille). Vgl. die um solche Begriffe (die einerseits methodologisch und andererseits selbstreflexiv sind) und Vernunftüberzeugungsarten ergänzte Tabelle im Punkt »Kants System der Ideen«. Im Jahr 2015 erschienenen Kant-Lexikon unterscheiden die Autoren »grundsätzlich drei Arten von Ideen« (Karásek 2015: 1115) – transzendentale, praktische und ästhetische. Hinzu kommen die von Jens Timmermann eigens hervorgehobenen politischen Ideen (vgl. Timmermann 2015: 1122), die aber tendenziell zu den praktischen gezählt werden können (vgl. die Bemerkung oben zu den einfachen praktischen Ideen). Es gibt zwar, anders als bei Schmid, Verweise auf die Vernunft-
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Art der Ideen
Primäre Ideen Voraussetzung
Voraussetzungsfunktion
Postulate
das Sittengesetz
Bedingung des Sittengesetzes
Freiheit
Unsterblichkeit Bedingungen der VerwirkGott lichung des höchsten Guts (Sittlichkeit und Glückseligkeit) Pflicht Persönlichkeit etc.
notwendige Hilfsbegriffe zur sittlichen Selbstbestimmung
Tugend Weisheit etc.
Zwecke für hypothetische Imperative und für Bewertungen
/ politische Ideen
Völkerrecht Gesellschaftsvertrag etc.
Begriffe für rechtliche und politische Ansichten und Entscheidungen
/ religiöse Ideen
Vernunftreligion Reich Gottes etc.
praktische Aufgaben zur Realisierung des Glaubens
das Schöne das Erhabene etc.
Bedingungen für ästhetische Urteile und für künstlerisches Schaffen
einfache praktische Ideen
ästhetische Ideen
–
–
transzendentale systematische Ich VernunftEinheit der Weltbegriffe begriffe Naturerkenntnis das Ideal einfache theoretische Ideen
–
reine Luft reine Erde etc.
heuristische Annahmen zum Ordnen der Verstandeserkenntnisse heuristische Annahmen für einzelne naturwissenschaftliche Nachforschungen
begriffe von der Vernunft, sie werden aber nicht extra aufgearbeitet und einfach den praktischen zugeordnet (vgl. ebd. 1123). Es fehlen die architektonischen und die einfachen theoretischen Ideen. Timmermann unterscheidet die Postulate zwar zu Recht von den praktischen Ideen – insofern mit den Letztgenannten wie bei uns nur die einfachen praktischen Ideen (wie Tugend etc.) gemeint sind – die Ansicht aber, dass sie an sich »keine praktischen Ideen« seien, sondern bloß »spekulative Ideen, deren Realität die Vernunft in praktischer Absicht beweist« (ebd.), ist offensichtlich eine Unterbestimmung ihrer praktischen Funktionen. Das System der Ideen
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Art der Ideen
Primäre Ideen Voraussetzung
Voraussetzungsfunktion
architektonische Ideen
systematische Einheit einer Wissenschaft / Untersuchung
heuristische Annahmen zur Forschung, Aneignung und Darstellung des Wissens
reines Denken reines Wollen Rechtswissenschaft Philosophie etc.
2.3.2 Was ist die Voraussetzung der Voraussetzungen? Wenn Kant also auf Platons Ideenlehre rekurriert, dann entwickelt er sie insofern weiter, als er unterschiedliche Arten von Ideen mit konkreten Voraussetzungsfunktionen in Verbindung bringt. Die Prinzipien werden damit insofern gesichert, als jedes von ihnen eine bestimmte Stelle und einen eindeutig erkennbaren Nutzen in den Bereichen des menschlichen Denkens, Wollens und Urteilens erhält. Die Bedingung dafür ist ein reflektierter, sorgfältiger und nichttranszendenter Umgang mit ihnen. Konsequenterweise muss eine Instanz angenommen werden, die dieses möglich macht. Kant setzt voraus, dass das menschliche, reine Vernunftvermögen die Bildung, Ordnung und den Einsatz von Ideen hinsichtlich ihrer respektiven funktionalen Bedeutungen ermöglicht. 71 Die Vernunft im engeren Sinne lässt sich damit im Allgemeinen als die Voraussetzung der Voraussetzungen definieren, die mithilfe ihrer Werkzeuge, der Ideen und der mit ihnen verbundenen Voraussetzungsfunktionen über den Verstand und den Willen disponiert. Was an sich abstrakt klingt, kann leicht konkret verdeutlicht werden, indem man eine jede beliebige Idee aus der obigen Tabelle nimmt und auf die zu ihr gehörige Aufgabe oder Konsequenz achtet: Bilde ich einen kategorischen Imperativ, dann versetze ich mich in den (vorgestellten) Standpunkt der Freiheit. Ich bedarf der Idee der Pflicht, um von allen empirischen Im praktischen Bereich habe es sogar die Kausalität, die Ideen in wirkliche Handlungen umzusetzen. Die Vernunft hat dort nämlich »Kausalität, das wirklich hervorzubringen, was ihr Begriff enthält« – KrV A328/B385. So kann Weisheit (zumindest partiell) wirklich werden, wenn sie zum Zweck der Einstellungen und Handlungen gemacht wird. Freiheit kann durch autonome Gesetzgebung in die Tat umgesetzt werden.
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Vorteilen abzusehen, einer Idee der Glückseligkeit, um zu bestimmen, was ich heute oder im nächsten Monat machen will, um sie zu erreichen. Meine Eltern bringen mir bei, dass ich tugendhaft sein soll, um bei einer Sache Erfolg zu haben und ich bestimme mich nach der Idee der Tugend. Stehe ich vor einem großen Wasserfall und sehe riesige Wassermengen sich bewegen, dann bewerte ich ihn nach der Idee des Dynamisch-Erhabenen. Frage ich mich, ob es reine Farben gibt, dann beschäftige ich mich mit den physikalischen Gesetzen der Lichtbrechung. Frage ich mich nach der Größe der möglicherweise unendlichen Welt, dann baue ich immer größere und bessere Teleskope. Ich lege der Gesamtheit aller Phänomene ein transzendentales Substrat, ein Ideal, zugrunde, weil ich den Versuch wagen will, alles Vorstellbare und Denkbare im Groben zu überblicken: Auch wenn es mir nicht ganz gelingen wird, so habe ich dadurch vielleicht neue Einsichten, Wege und Orientierungsmöglichkeiten entdeckt. Will ich psychologische Verhaltensweisen systematisch untersuchen, dann bilde ich eine Idee vom Normaltypus – auch wenn ich keine einzige Person finde, die ihm entspricht, hilft sie mir bei der Forschung und der Darstellung der Ergebnisse. Die Annahme einer Vernunftinstanz als einem Etwas in mir, welches mithilfe von unterschiedlichen Voraussetzungsfunktionen und Regeln auf eine natürliche und scheinbar autonome Weise »regiert«, zeigt sich in Kants Schriften vor allem in der Gestalt der methodologisch-heuristischen Ideen vom reinen Denken und Wollen. Diese sind als zwei operative Funktionen ein und derselben Vernunft zu verstehen, die nicht ohne Weiteres an sich erkannt werden können. Lediglich in Bezug auf erfolgreich durchgeführte praktische oder theoretische Handlungen, gebildete Vorstellungen und sichtbar werdende Gesetze darf man auf diese Vermögen schließen wie etwa von einem laut gesprochenen Satz auf ein Vermögen zu sprechen. 72 Im Folgenden soll kurz beleuchtet werden, wie Kant zu diesen Ideen kommt und wie sie eine Einheit ausmachen können. (1) Idee des reinen Willens. Die praktische Erkenntnis hat es bloß mit »Bestimmungsgründen des Willens« (KpV AA V 20) zu tun. Diese können entweder empirisch oder rein sein. Ist das Motiv zu einer Handlung das Gefühl der Lust oder Unlust, die Gewohnheit, die Vorstellung vom Angenehmen oder Unangenehmen etc., dann handelt es 72
Vgl. mehr dazu im Exkurs »Vermögen« – also Psychologismus? weiter unten.
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sich um einen sinnlich (heteronom) bestimmten Willen. Liegt dagegen der Grund lediglich in der Vorstellung eines rein gedachten Gesetzes, welches sich die Vernunft gibt, dann scheint der Wille rein (autonom) zu sein. 73 Habe ich morgens gleich nach dem Aufwachen um 6 Uhr das Verlangen, laut Musik zu hören, dann ist mein Wille sinnlich bestimmt. Achte ich hingegen auf die Uhrzeit und handle aus Rücksicht auf meine Nachbarn nach der Maxime, nie so früh laut Musik anzumachen, weil es, auch wenn es keine Hausordnung gäbe, ein gutes allgemeines Gesetz werden könnte, dann ist es meine freie Willensbestimmung. Diese Fähigkeit, dem niederen Begehrungsvermögen nicht zu folgen und nach intellektuell bestimmten Zielen zu handeln, kann man auf zwei Weisen verstehen. Entweder (a) verfüge ich über einen reinen Willen (primäre Voraussetzung), der seine Gesetze und Handlungen ohne Weiteres durchsetzen kann, oder (b) ich nehme einen Zwang zufolge einer Selbstbestimmung wahr (primäre Voraussetzung), eine Notwendigkeit, etwas zu tun oder zu lassen, und schlussfolgere auf eine natürliche Weise, dass sie eine Ursache (abgeleitete Voraussetzung) habe. Der Punkt (a) = der reine Wille als ratio essendi der praktischen Gesetze kann niemals mit Gewissheit an sich behauptet werden, wenn ihm nicht der Punkt (b) = das Sittengesetz (ein Sollen) als ratio cognoscendi vorhergeht. Umgekehrt muss man aber auch Rücksicht darauf nehmen, dass ich nichts erkennen könnte, wenn es nicht eine Ursache dessen gäbe, was ich erkenne. D. h., es gibt zwar ein Primat des Epistemischen, wenn die praktische Freiheit gewiss sein soll, doch stößt man auf das Problem, dass sie selbst eine notwendige Bedingung des Erkenntnisgrundes (des Sittengesetzes) zu sein scheint. Laut Kant sieht dieser Umstand zwar nach einem Zirkel (petitio principii) aus, bildet aber keinen. 74 Die Freiheit wird nicht bloß zugrunde gelegt, um das Sittengesetz zu erklären und umgekehrt ist das Sittengesetz nicht bloß dazu da, um Freiheit erkennen zu lassen. Befreit man sich von der Abstraktheit und Enge eines einfachen RückschlusDie Autonomie meint eine selbstbestimmende Kausalität und drückt damit die positive Seite des praktischen Freiheitsbegriffs aus. In negativer Bedeutung ist unter praktischer Freiheit die Unabhängigkeit von sinnlichen Beweggründen zu verstehen – vgl. KpV AA V 33. 74 Kant bezeichnet den Zirkel, auf den der Verdacht besteht, als »Erbittung eines Prinzips« (nämlich der Freiheit zum Sittengesetz) – vgl. GMS AA IV 453, welchen Gutgesinnte gelten lassen würden, der aber keinen Skeptiker zufriedenstellen könnte. 73
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ses, dann verschwindet der Zirkelverdacht. Es ist also eine weiterreichende Erklärung nötig, um das Wechselverhältnis von Freiheit und Sittlichkeit nicht als einen circulus vitiosus zu begreifen. Wir wollen sie in zwei Schritten präsentieren: 75 Erster Schritt. Die Freiheit darf nicht als ein externes und unterbestimmtes Kriterium angesehen werden, welches zur Selbstbestimmung nach kategorischen Gesetzen als Bedingung bloß äußerlich hinzukommt. So kann man den transzendentalen Freiheitsbegriff der dritten Antinomie der reinen Vernunft nicht ohne Weiteres zur Erklärung der Möglichkeit des Sittengesetzes heranziehen. 76 Dort wird die Freiheit als »absolute Spontaneität der Ursachen« bestimmt, »eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen verläuft, von selbst anzufangen« (KrV A447/B475). Sie wird (im transzendenten Denken) entweder zur Erklärung der Entstehung der Welt genutzt: Die sukzessive Reihe von einander bedingenden Erscheinungen wurde von einem unbewegten Beweger durch absolute Spontaneität in Gang gesetzt. Oder es wird allen möglichen einzelnen Gliedern dieser Reihe – nur äußerlich – ein Vermögen beigelegt, verschiedene eigene Reihen von selbst anzufangen (vgl. KrV A448 ff./B476 ff.). Ein solcher Freiheitsbegriff führt jedoch notwendigerweise zu einem Widerstreit mit den Naturgesetzen, die einen lückenlosen durchgängigen Zusammenhang verlangen – jede Ursache einer Wirkung soll selbst durch eine Ursache determiniert sein. Die Idee der Freiheit kann nur dann gerettet werden, wenn sie außerhalb der Reihe der empirisch bedingten Erscheinungen gesetzt wird: In das Subjekt, welches das Selbstverständnis entwickelt, autonom denken und handeln zu können, d. h. in das Ich eines vernünftigen Wesens. 77 Unsere Darstellung geht in die Richtung von Schönecker (vgl. 1999). Anders als Heiko Puls (vgl. 2011) argumentiert er (sowie zahlreiche andere Autoren, auf deren Beiträge wir hier nicht im Einzelnen eingehen wollen) dafür, dass Kant dem Zirkelverdacht u. a. durch den Rekurs auf ein breiteres Verständnis der Freiheit und des Vernunftvermögens ausweicht. 76 Gleichwohl gründet sich die praktische Idee auf der transzendentalen, die das grundlegende Verständnis der Freiheit als Spontaneität (ein Vermögen, von selbst, Latein: sponte, anzufangen – vgl. Prol AA IV 344), die keine vorhergehende Ursache hat, mit sich bringt – vgl. KrV A533 f./B561 f. 77 Bei der Auflösung des Widerstreites zwischen der durchgängigen empirischen Kausalität und Freiheit wie auch desjenigen zwischen der Notwendigkeit und Zufälligkeit (vierte Antinomie) kann es sich laut Kant nur um eine Synthesis des Ungleichartigen handeln – vgl. KrV A530 f./B558 f. und KpV AA V 103 ff. Die Vernunft hat ein praktisch motiviertes Interesse daran, dass es neben einer Reihe der Erscheinungen 75
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Zweiter Schritt. Wird die Freiheit in das Subjekt, als ihm innewohnendes Vermögen des reinen Denkens und Wollens (d. h. der theoretischen und praktischen Vernunft) verlegt, dann bedarf es der transzendentalen Annahme, dass eine intelligible Ursache Wirkungen in der Reihe der empirischen Bedingungen entfalten kann. Kant gibt einen »philosophischen Erklärungsgrund« 78 dafür an, dass diese Annahme gültig ist, und zwar mit der Erscheinungstheorie oder Zwei-Standpunkte-Lehre des Subjekts bzw. der Vernunft als Noumenon (Ding an sich) und Phaenomenon (Erscheinung). 79 Die Tatsache, dass der Mensch sich durch Apperzeption (vgl. KrV A546 f./B574 f.) in seinen Denkakten, Handlungen und inneren Bestimmungen wiedererkennt, ist der Grund dafür, dass er sich teils als intelligibler Gegenstand und teils als zur Sinnenwelt gehörig verstehen kann. 80 Eine Bedingungen gibt, die selbst nicht Teile dieser Reihe, mithin ungleichartig (d. h. übersinnlich) sind. 78 Der weder transzendent, weil man nur eine Idee von der intelligiblen Sphäre (als einem Etwas) bilden kann, sie aber nicht wie einen Sinnesgegenstand erkennen (vgl. GMS AA IV 461 f.), noch physiologisch ist, weil sonst nur Wirkungen untersucht werden, die alle zur Sinnenwelt gehören (vgl. KrV A549 f./B578 f.). Kant interessiert an diesen Stellen die Leib-Seele-Problematik wenig, ihm geht es vielmehr darum, zwei grundlegende Ansichten herauszuarbeiten, unter denen der Mensch betrachtet werden kann. 79 Die Idee vom Ding an sich – eine Vorstellung, der nichts in der Erfahrung korrespondiert – kann nach der obigen Einteilung der Arten zu den architektonischen gezählt werden. Wenn das Ding an sich als Idee ein Unbedingtes hinter den Erscheinungen ausdrückt, dann meint diese (1) Dinge an sich hinter den Phänomenen, die zur Welt gehören – was eine rohe Unterscheidung zwischen einer Sinnen- und Verstandeswelt ergibt (vgl. GMS AA IV 450 f.); (2) ein Ding an sich hinter dem erscheinenden Subjekt (vgl. exemplarisch KrV A538 f./B566 f., Prol AA IV 354, GMS AA IV 459 und KpV AA V 95) – was die Kausalität der Vernunftwesen als zu der intelligiblen Welt gehörig vorstellt; (3) ein Ding an sich hinter allen denkbaren Gegenständen überhaupt – ein durchgängig bestimmter Begriff des Dinges an sich qua Ideal (transzendentales Substrat, das All der Realität) (vgl. KrV A576/B604). Der Begriff des Dinges an sich zieht sich methodologisch – wie man anhand genannter Stellennachweise sieht – durch die gesamte Ideenkonzeption hindurch. 80 Es gibt einen Unterschied zwischen einem Sich-Wiedererkennen in Verstandesund Vernunfthandlungen als den meinigen und einem Sich-Erkennen, wie ich an sich bin. Bei der oben genannten Stelle geht es lediglich um die Zuschreibung von Wirkungen zu einem Subjekt. Bernd Ludwig interpretiert sie im Rahmen der A-Paralogismen und zwar so, als sei hier von einem rudimentären, hinter Kants kritischer Wende zurückgebliebenen unerwünschten Dingbewusstsein die Rede, dem Substanz, Einheit etc. beigelegt werde und das scheinbar an sich erkannt werde. Aus Ludwigs Sicht hätte Kant lieber solche Stellen überarbeiten und streichen sollen – vgl. z. B. Ludwig 2012: 168 f. Diese Interpretation geht allerdings zu weit und verdunkelt eine
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autonome Kausalität kann er sich aufgrund »gewisser Vermögen« zuschreiben, nämlich Verstand und insbesondere Vernunft, »da sie ihre Gegenstände bloß nach Ideen erwägt und den Verstand darnach bestimmt, der denn von seinen (zwar auch reinen) Begriffen einen empirischen Gebrauch macht« (KrV A547/B575, vgl. auch GMS AA IV 452). Das Subjekt wird so vorgestellt, als ob es unabhängig von zeitlichen empirischen Bedingungen mit Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen (und ihren Voraussetzungsfunktionen) schaffen könnte, ohne dabei an die der Dinge gebunden zu sein. 81 Es ist also v. a. der Gebrauch der Ideen, der den Weg eröffnet, die Vernunft (die Intelligenz bzw. das Subjekt hinsichtlich seines intelligiblen Charakters) u. a. wie folgt in Erwägung zu ziehen: (a) Sie ist als Kausalität eine beharrliche Bedingung aller Wirkungen, unter denen der Mensch erscheint (vgl. KrV A553/B581); (b) unwandelbar, mit sich identisch, gehört nicht in die Reihe der sinnlichen Bedingungen, in allen Zeitumständen gegenwärtig und fällt selbst nicht in die Zeit (entsteht nicht) (vgl. KrV A555 f./B583 f.); (c) »transzendentales Subjekt« (KrV A545/B573), »vernünftiges Subjekt« (vgl. Prol AA IV 345), »Ich« und »eigentliches Selbst« (vgl. GMS AA IV 451, 457 f.), »reine Selbsttätigkeit« oder »reine Tätigkeit« (vgl. GMS AA IV 451 f., KrV A541/569).
gute Textstelle, die auch durch die folgende Aussage sowohl aus dem Paralogismuskapitel der A- als auch der B-Ausgabe gestützt werden kann: »Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur [hervorgehoben von M. L.] durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können« (KrV A346/B404). Die Gedanken, Verstandes- und Vernunfthandlungen können also mit Hilfe der Apperzeption als Wirkungen auf ein X bezogen werden, welches denkt. Es geht um einen »beständigen Zirkel« (ebd.), lediglich um einen Verweis auf ein Etwas, nicht um die Erkenntnis eines Ichs, wie es an sich ist. Zur Kritik an Ludwigs Bewertung des Objektstatus der Ideen (ebd. 171 Fußnote) vgl. die Fußnote weiter unten zum epistemischen Status der Ideen / zur Tafel des Etwas und Nichts. 81 Dies ist nicht nur auf die praktische Dimension zu beziehen, wie Puls es, die Vernunft »halbierend«, tut (vgl. 2011). Auch die theoretische Vernunft ist im Stande, die Natur »anders« zu betrachten, als sie faktisch da ist: nämlich die Phänomene heuristisch nach den transzendentalen Ideen ordnend. Die Vernunft zeigt (sei es theoretisch, praktisch oder ästhetisch) »unter dem Namen der Ideen eine so reine Spontaneität« (GMS AA IV 452), dass sie auf die Unterscheidung der Sinnen- von der Verstandeswelt führt – vgl. die Ausführungen unten zum reinen Denken. Das System der Ideen
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Auf der anderen Seite gehört dasselbe Vernunftwesen in die Reihe der empirischen Erscheinungen: »Der Mensch ist selbst Erscheinung« (KrV A552/B580). Während die Vernunft qua reine Tätigkeit »unmittelbar zum Bewusstsein gelangt« (GMS AA IV 451), erkennt sich der Mensch mittelbar durch Wahrnehmungen und Empfindungen (also durch Wirkungen in der Sinnenwelt) als ein empirisches Subjekt von zusammengesetzter Beschaffenheit. In der sukzessiven Reihe der Phänomene erscheint jede seiner Handlungen als »vorher bestimmt, ehe noch als sie geschieht« (KrV A553/B581). Das empirische Selbst kann man durch die Umkehrung der zum intelligiblen Ich gehörigen Bestimmungen wie folgt verstehen: (a) Es ist das Bedingte (das »sinnliche Schema« (ebd.)) einerseits der Vernunftkausalität und andererseits der Kette von Erscheinungen nach allgemeinen Naturgesetzen; (b) wandelbar, in der Zeit entstanden und unter Zeitbedingungen stehend; (c) uneigentliches, zusammengesetztes Selbst und heteronom bestimmte Tätigkeit. Die beiden Erklärungsschritte, nämlich die Verlagerung der Freiheit in das Subjekt als Kausalität des Willens und vor allem die ZweiStandpunkte-Lehre, erlauben Einsichten, die von einer eng-zirkulären Interpretation des Verhältnisses des Sittengesetzes zur Freiheit befreien. Die Freiheit wurde nicht nur um des Sittengesetzes willen eingeführt – sie bedeutet, basierend auf dem transzendentalen Freiheitsbegriff, Spontaneität der Vernunft, die sich auch in Verstandeshandlungen und insbesondere im Umgang mit Ideen jeder Art zeigt. Den kategorischen Imperativ muss man also im größeren Zusammenhang sehen und als eine von mehreren möglichen Äußerungen der Vernunft begreifen, zu denen auch Begriffe, Ideen, hypothetische Imperative und im weiteren Sinne empirisch verwirklichte Handlungen zählen. 82 Gleichwohl sieht man im Fall des praktischen Gesetzes und des mit ihm verbundenen Bewusstseins des Sollens mit besonderer Reinheit, dass die Idee des reinen Willens bzw. der praktischen Vernunft (vgl. GMS AA IV 412, 448 und KpV AA V 55) kein Hirn»Die praktische Freiheit [anders als die theoretische, d. h. transzendentale, Zusatz von M. L.] kann durch Erfahrung bewiesen werden.«; »Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung […]« (KrV A802 f./B830 f.). In der Kritik der Urteilskraft heißt es, dass die praktische Idee der Freiheit (der eigentlich qua Idee nichts in der Erfahrung entspricht) sich »in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung dartun lässt« (KU AA V 468).
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gespinst ist, sondern (praktische) Wirklichkeit hat, wie eine jede »Idee der praktischen Vernunft jederzeit wirklich« (KrV A328/B385) ist. 83 Ferner sind die Freiheit des Willens und das Sittengesetz eigentlich keine Begriffe, die einander, sondern einen einzigen Sachverhalt erklären: die Autonomie des Subjekts. Kant will, dass wir sie als »Wechselbegriffe« (vgl. GMS AA IV 450) verstehen. Die Idee einer Vernunft, eines reinen Willens bzw. eines Subjekts, welches frei ist, gehört zu der Betrachtung des Subjekts vom intelligiblen Standpunkt aus (Ansicht 1). Dasselbe gehört aber auch zur Sinnenwelt – als ein Teil der lückenlosen sukzessiven Reihe der Erscheinungen und ihrer Gründe – und bildet keine Ausnahme von der Art und Weise, wie die Erscheinungen durchgängig bestimmt sind (Ansicht 2). Das moralische Gesetz, welches sich die Vernunft gibt, gehört als Vermittler in die Mitte zwischen den beiden Ansichten: Es nimmt einerseits seinen Ursprung in der reinen Form der Vernunft (ohne materielle Beimischung der Sinnlichkeit) und ist andererseits bei seiner Ausführung auf die Gesetzmäßigkeit der Natur angewiesen. Das Sittengesetz leistet damit – als ein Sollen zwischen dem Ursprung und der Ausführung – eine notwendige Synthesis und führt auf den Standpunkt, von dem aus dasselbe Subjekt als sowohl zur Verstandes- als auch zur Sinnenwelt gehörig angesehen wird (Ansicht 3). 84 Der kategorische Imperativ bzw. das Sollen (Ansicht 3: das verpflichtete Subjekt) ist folglich eigentlich ein reines Wollen (Ansicht 1: das Subjekt als reine praktische Vernunft / reine Selbsttätigkeit), sofern es sich
Die bloße Idee der Kausalität des Subjekts nach Freiheit ist theoretisch gar nicht erkennbar. Die reine praktische Vernunft abstrahiert dagegen von der theoretischen Bedeutung der Kausalität: Sie fragt sich nicht (und gesteht es nicht verstehen zu können), »wie das logische Verhältnis des Grundes und der Folge bei einer anderen Art von Anschauung, als die sinnliche ist, synthetisch gebraucht werden könne, d. i. wie causa noumenon möglich sei« (KpV AA V 49). Sie erkennt nur rein praktisch, dass eine Willensbestimmung stattfinden kann (»dass«, aber nicht »wie«), oder, anders ausgedrückt, dass die Idee der Kausalität des Willens tatsächlich Kausalität haben kann (vgl. ebd. 50). Nach Bernd Ludwigs durchaus plausibler Ansicht bedeutet diese praktische Wirklichkeit der Freiheit gerade nichts anderes (und nicht mehr) als reale Möglichkeit (ihre »Voraussetzbarkeit« im Selbstverständnis des Handelnden), die schon in der KrV (Auflösung der dritten Antinomie) aufgezeigt wurde – vgl. Ludwig (2015). 84 Kant selbst macht nur zwei Standpunkte kenntlich (Ansichten 1 und 2). Das Sittengesetz kann jedoch nur durch die Verbindung beider adäquat verstanden werden. Die Verschmelzung von Ansichten 1 und 2 eröffnet die Möglichkeit einer dritten Perspektive auf das Subjekt. 83
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ein Gesetz zur Handlung in der Sinnenwelt gibt (Ansicht 2: das Subjekt unter Naturgesetzen). 85 Die Idee der reinen praktischen Vernunft bzw. des reinen Wollens ist also eine von den drei Möglichkeiten, uns selbst aufzufassen. Das Sittengesetz als primäre Voraussetzung erlaubt uns (1) einen Rückschluss auf die Idee des reinen Willens als intelligibler Kausalität und (2) verbürgt als ein Faktum der Vernunft (neben anderen Ideen, Imperativen und verwirklichten Handlungen), dass unsere Selbstauffassung als Glieder einer Verstandeswelt (was eine einfache praktische Idee ist) kein Irrweg, sondern eine berechtigte und sich bestätigende Annahme ist. (2) Idee des reinen Denkens. Dass das Praktische für den Rückschluss auf eine selbsttätige autonome Vernunft das Primat hat, kann man ohne große Bedenken zugeben: Dass diese Vernunft nun Kausalität habe, wenigstens wir uns eine an ihr vorstellen, ist aus den Imperativen klar, welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben. Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt. Der Verstand kann von dieser nur erkennen, was da ist, oder gewesen ist, oder sein wird. Es ist unmöglich, dass etwas darin anders sein soll, als es in allen diesen Zeitverhältnissen in der Tat ist, ja das Sollen, wenn man bloß den Lauf der Natur vor Augen hat, hat ganz und gar keine Bedeutung. Wir können gar nicht fragen: was in der Natur geschehen soll; aber eben so wenig, als: was für Eigenschaften ein Zirkel haben soll, sondern, was darin geschieht, oder welche Eigenschaften der letztere hat (KrV A547/B575).
Ist das Bewusstsein des Sollens aber die einzige ratio cognoscendi unserer Freiheit, d. h. unseres Vernunftvermögens, welches kausal tätig sein kann? Haben wir die Idee der Autonomie der Vernunft auf Gefahr eines Zirkelverdachts »nur um des sittlichen Gesetzes willen zum Grunde« (GMS AA IV 453) gelegt? Gibt es auch auf der theoretischen Seite irgendeine Spur von Freiheit – können wir aus bestimmten Produkten des Denkens auf eine zugrundeliegende Selbst-
»Das moralische Sollen ist also eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligiblen Welt und wird nur sofern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet« (GMS AA IV 455).
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tätigkeit schließen, wie wir das Sittengesetz als ein Resultat eines freien Akts der Gesetzgebung der autonomen Vernunft ansehen? In der Tat scheint es möglich zu sein, wenn wir nur auf eine Verschiedenheit zwischen den Vorstellungen [achten], die uns anders woher gegeben werden, und dabei wir leidend sind, von denen, die wir lediglich aus uns selbst hervorbringen, und dabei wir unsere Tätigkeit beweisen (GMS AA IV 451).
Zu den Vorstellungen, die »anders woher gegeben werden«, gehören einerseits Empfindungen, die konkrete Modifikationen des Zustandes des Subjekts hervorrufen. Andererseits die sinnlichen Anschauungen, die auf der Fähigkeit der Rezeptivität der Eindrücke und auf Affektionen beruhen. Wenn wir einen Gegenstand dagegen begrifflich-diskursiv, d. h. mit Hilfe des Verstandes erfassen wollen, müssen wir das Mannigfaltige dessen, was uns die Anschauung liefert, selbständig zu einer Einheit, einem Begriff oder einem Urteil verbinden. Der empirische Begriff eines Nadelbaumes ist das Resultat unserer Tätigkeit, einer Synthesisleistung des Verstandes, der mittels eines Merkmals, z. B. der Nadelblätter, verschiedene Vorstellungen von Nadelbäumen zu einem Allgemeinbegriff verknüpft. Das Ordnen von Vorstellungen (seien es Anschauungen oder Begriffe) zu einer Einheitsvorstellung verdanken wir der Selbsttätigkeit des Verstandes – der Spontaneität (vgl. KrV A68/B93). Da diese jedoch stets an konkrete Anschauungen gebunden ist, die einen unmittelbaren Bezug zu den Gegenständen der Erkenntnis aufweisen, laufen die Erkenntnisse bloß auf Gegenstände möglicher Erfahrung hinaus (die da sind, waren oder sein werden). Die empirischen Begriffe bilden also keine notwendige Voraussetzung für einen Rückschluss auf die Autonomie der Vernunft in ihren Denkakten, ähnlich wie die hypothetischen Imperative im praktischen Bereich nicht per se zu einer ratio cognoscendi der Idee des reinen Willens ausreichen. Wie verhält es sich aber mit den transzendentalen Vernunftbegriffen als der reinsten Vorstellungsart (vgl. KrV A320/B376 f.)? Zunächst muss klargestellt werden, dass nur der Verstand es sei, aus welchem reine und transzendentale Begriffe entspringen können, dass die Vernunft eigentlich gar keinen Begriff erzeuge, sondern allenfalls nur den Verstandesbegriff, von den unvermeidlichen Einschränkungen einer möglichen Erfahrung, frei mache, und ihn also
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über die Grenzen des Empirischen, doch aber in Verknüpfung mit demselben zu erweitern suche (KrV A408 f./B435 f.). 86
Die Selbsttätigkeit der theoretischen Vernunft muss also in der Befreiung der Verstandesbegriffe von den Grenzen möglicher Erfahrung, d. h. im Verfahren des logischen Schließens, liegen. Bemerkbar macht sie sich durch einen Sprung über die Kluft zwischen einer Verstandesleistung und einer Vernunfteinheit, wie im folgenden Beispiel (im Bedeutungsrahmen der dritten Antinomie): (1) Wenn etwas geschieht, dann zufolge einer Ursache (Regel des Verstandes). (2) Eine jede beliebige Wirkung x hat eine bestimmte Ursache (Urteil). (3) Also herrscht überall totale Gesetzmäßigkeit und es ist keine Freiheit möglich (Konklusion der Vernunft). Die Verstandesregel (Kausalitätsgesetz) führt uns zur Annahme einer Ursache hinter einer jeden Wirkung oder einer jeden Tatsache. Die Erfahrung wird somit auf eine Verstandeseinheit gebracht. Auch wenn wir so viele Fälle wie möglich auf ihre Ursachen zurückführen können, die wiederum eigene Ursachen haben usw., geht die Vorstellung eines absoluten Determinismus (Konklusion) zu weit und verlässt die Grenzen der möglichen Erfahrung. Dass diese oder jene Wirkung eine Ursache hat, können wir nachvollziehen, dass es einen absoluten Determinismus gibt, ist aber eine dialektische Idee der Vernunft (die letztlich auf eine Antinomie hinausläuft). Dieser Sprung von der Verstandesregel, die Einheit in der Erfahrung stiftet, zu einem Begriff, der alle Erkenntnisse des Verstandes auf eine absolute Einheit zurückzuführen versucht, lässt auf eine Tätigkeit der Vernunft schließen. Hier wird von einem Bekannten auf etwas Unbekanntes geschlossen, es wird rein, abstrahierend von sinnlichen Daten gedacht. Die Spontaneität der Vernunft äußert sich in solchen »Sprüngen«, im Bilden von synthetischen Einheiten a priori und entfaltet einen besonderen Grad der Reinheit, der dem Verstand nicht
Die Vernunft ist eben kein dritter Erkenntnisstamm neben der Sinnlichkeit und dem Verstand. Sie ist zwar die Quelle der Ideen, aber in dem Sinne, dass sie die Verstandesbegriffe zu einer maximalen Unabhängigkeit von der Sinnlichkeit reinigt. So führt sie die Notio (d. h. den reinen nicht-schematisierten Verstandesbegriff) »Substanz« durch einen kategorischen Vernunftschluss auf die Idee einer substantiellen Seele. Oder einen empirischen Verstandesbegriff wie »Wille« auf den Begriff »reiner Wille« – vgl. zu diesem Beispiel die ausführliche Untersuchung von König (1994).
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zukommt. 87 Unsere Selbstauffassung als freie Glieder einer Verstandeswelt bestätigt sich also (als Zusatz zum Primat des praktischen Rückschlusses) auch im theoretischen Bereich. Kant sagt dazu, was als Zusammenfassung der obigen Untersuchung dienen kann: Nun findet der Mensch in sich wirklich ein Vermögen, dadurch er sich von allen anderen Dingen, ja von sich selbst, sofern er durch Gegenstände affiziert wird, unterscheidet, und das ist die Vernunft. Diese, als reine Selbsttätigkeit, ist sogar darin noch über den Verstand erhoben: dass, obgleich dieser auch Selbsttätigkeit ist und nicht, wie der Sinn, bloß Vorstellungen enthält, die nur entspringen, wenn man von Dingen affiziert (mithin leidend) ist, er dennoch aus seiner Tätigkeit keine anderen Begriffe hervorbringen kann als die, so bloß dazu dienen, um die sinnlichen Vorstellungen unter Regeln zu bringen und sie dadurch in einem Bewusstsein zu vereinigen, ohne welchen Gebrauch der Sinnlichkeit er gar nichts denken würde, da hingegen die Vernunft unter dem Namen der Ideen eine so reine Spontaneität zeigt, dass er dadurch weit über alles, was ihm Sinnlichkeit nur liefern kann, hinausgeht und ihr vornehmstes Geschäft darin beweist, Sinnenwelt und Verstandeswelt voneinander zu unterscheiden, dadurch aber dem Verstande seine Schranken vorzuzeichnen (GMS AA IV 452).
Die Vernunft erweist sich im theoretischen Bereich nicht nur dadurch als autonom, dass sie reine Vorstellungen hervorbringen kann, sondern auch dadurch, dass sie die systematische Naturerkenntnis auf sie hinleiten kann. Wir können der Natur zwar nicht vorschreiben, welche Eigenschaften ein Zirkel haben soll oder was geschehen soll, aber unserem Verstand können wir sehr wohl (technisch-praktische) Aufgaben und Regeln auferlegen, und zwar in der Form von Maximen der spekulativen Vernunft (vgl. KrV A666 f./B694 f., A670 f./B698 f., Prol AA IV 349). Die transzendentalen Ideen im nicht-transzendenten Gebrauch fungieren nämlich, wie weiter oben bereits erläutert, gemäß ihrer quasi-transzendentalen Deduktion als regulative Prinzipien der systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Verstandeserkenntnis. Darin liegt ihre eigentümliche Voraussetzungsfunktion. Auf ihrer Grundlage können methodologisch-theoretische Maximen gebildet werden, die das Interesse der Vernunft ausdrücken, wie z. B.: Ordne deine Erkenntnisse bzw. betrachte die
Dass die Vernunft damit keine wirklichen Gegenstände erkennt, ist ganz klar (denn Erkenntnis findet statt, wenn die Kategorien nur auf Gegenstände möglicher Erfahrung bezogen und nicht, wenn sie zu den Ideen erweitert werden).
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Welt so, als ob sie an sich unendlich und ohne ein erstes Glied wäre. Durch die Als-Ob-Maximen ist die Vernunft in der Lage, dem Verstand Richtungen vorzugeben. Dadurch gibt es auch eine Übereinstimmung zwischen den beiden: Die spekulative Vernunft bezweckt die größte Vollkommenheit der Verstandeserkenntnisse (vgl. Prol AA IV 331). Die Vernunft hat also auch im theoretischen Bereich Kausalität, wie es anhand ihrer Produkte, insbesondere der Ideen und Erkenntnismaximen, deutlich gemacht werden kann. Zu behaupten, dass unsere Selbstauffassung als autonome Wesen bzw. als intelligible Gründe ausschließlich den moralischen Maximen zu verdanken sei, führt nicht nur zur Gefahr des oben behandelten Zirkelverdachts, sondern auch zur Entwertung der theoretischen Leistungsfähigkeit unserer Vernunft: Ich kann meinen Verstand durch theoretische Maximen leiten, die auf Vernunftbegriffen (heuristischen Voraussetzungen in regulativer Hinsicht) beruhen, wie ich meinen Willen durch praktische Maximen bestimmen kann, die auf Ideen (Voraussetzungen in praktischer Hinsicht) gegründet sind. In beiden Fällen zeigt sich ein Grundvermögen – die Spontaneität bzw. Selbsttätigkeit der Vernunft, die mithilfe von Prinzipien auf den Verstand oder auf den Willen angewandt wird. Anders ausgedrückt: Im Erkennen und Handeln wird den Vernunftvorstellungen Folge geleistet. (3) Einheit und praktische Realität der Vernunft. Die Vernunftvorstellungen – Ideen und ihre konkreten Voraussetzungsfunktionen – sind also als Mittel zu verstehen, mit deren Hilfe die Vernunft ihre Interessen gegenüber den sonst an die Sinnenwelt gebundenen Verstand und Willen durchsetzt. Mithin gibt es nicht zwei, sozusagen, »Vernünfte«, sondern zwei Anwendungsfelder ein und desselben Vermögens der Prinzipien (vgl. KrV A327 ff./B384 ff., Prol AA IV 363 f., GMS AA IV 391 und KpV AA V 89, 91 und 121). Jede Idee muss zunächst gebildet werden – sei es die Freiheitsidee, Seele, Gott, Pflicht, Tugend etc., um dann zu einer mehr oder weniger verbindlichen Voraussetzung für das Erkennen (des Verstandes) oder Wollens zu werden. Besonders klar sieht man diese Funktionalität der Vernunft anhand der transzendentalen Vernunftbegriffe, von denen Kant in der Kritik der reinen Vernunft erwartet, dass sie vielleicht von den Naturbegriffen zu den praktischen einen Übergang möglich machen, und den moralischen Ideen selbst auf solche Art
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Haltung und Zusammenhang mit den spekulativen Erkenntnissen der Vernunft verschaffen können (KrV A329/B386). 88
Ich bilde eine Gottesidee und reguliere mit ihrer Hilfe meine Verstandeserkenntnisse, indem ich eine theoretische Maxime aufstelle: Betrachte die Welt so, als ob sie lauter Anordnungen einer höchsten Vernunft enthielte. So wird eine bloße Idee zum Bestimmungsgrund der systematischen Naturbetrachtung. Dieselbe Idee kann ich auch auf meinen Willen anwenden: Ich will, dass Gott als Voraussetzung der besten Welt (als höchstes Gut), die ich verwirklicht sehen will, existiert. Das höchste Wesen wird damit zum Objekt meines Vernunftglaubens. 89 Ich bilde eine kosmologische Freiheitsidee als Spontaneität, eine Reihe von Bedingungen von selbst anfangen zu lassen und untersuche die Natur so, als ob sie möglich wäre, ohne den Zusammenhang der physikalischen Erklärungen zu brechen. Dieselbe Freiheitsidee, als autonome Kausalität des transzendentalen Subjekts bzw. als Vernunft verstanden, kann wiederum ein Bestimmungsgrund meines Willens werden, denn auf ihrer Basis wird der kategorische Imperativ (das Gesetz der Kausalität nach Freiheit) gebildet: »[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde« (GMS AA IV 421). 90 Diese Beispiele verdeutlichen: Die Bildung der Ideen und der auf ihnen beruhenden Sätze, also eine konkrete Vernunftleistung, geht der Anwendung auf den Verstand (theoretische Dimension) und auf den Willen (praktischer Gebrauch) vorher. 91 Das Grundverständnis Zur Zuordnung der transzendentalen Vernunftbegriffe zu den Postulaten vgl. KpV AA V 133. 89 Es ist zwar moralisch notwendig, Gott als Bedingung des höchsten praktischen Guts vorauszusetzen, aber keine Pflicht. Es handelt sich um kein objektives, sondern um ein subjektives Bedürfnis – vgl. KpV AA V 125. Der Rechtschaffene darf aufgrund der Verbindlichkeit des Sittengesetzes für jedermann wollen, dass es Gott gibt – vgl. ebd. 143. 90 D. h.: In diesem synthetisch-praktischen Satz verbinde ich a priori (1) eine Tat mit (2) der »Idee einer Vernunft, die über alle subjektiven Bewegursachen völlige Gewalt hätte [d. h. mit der Idee des reinen Willens / der Freiheit, Zusatz von M. L.]« (GMS AA IV 421, Fußnote). 91 Auch hinsichtlich der einfachen praktischen Willensbestimmung ist es so, dass eine Vorstellung erst gebildet werden muss, um irgendetwas zu bewirken. Ein vernünftiges Wesen wirke nicht nur nach Gesetzen der Natur, sondern sei auch fähig, so Kant, »nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien, zu handeln« (GMS AA IV 412, vgl. auch ebd. 401 f., Prol AA IV 345 und KpV AA V 118, 151). Um eine auf Selbstgesetzgebung beruhende Handlung zu veranlassen, müssen zunächst die Vor88
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der Vernunft als eines einheitlichen Vermögens kann man wie folgt festhalten: • Ich habe nur ein einziges Vermögen der Prinzipienbildung: die reine Vernunft – ganz unabhängig davon, ob ihre Erzeugnisse (die aufgrund gewisser Merkmale zu der einzigen Vorstellungsart gehören, nämlich der reinsten, der Ideen) in theoretischer, praktischer, ästhetischer oder architektonischer Hinsicht verwendet werden. Diese kann näher als reine Selbsttätigkeit beschrieben werden, d. h. als reines, der bestimmten sinnlichen Erfahrung vorhergehendes Denken sowohl hinsichtlich der Bildung der Vernunftbegriffe als auch im Hinblick auf ihre Anwendung (etwa in Form von praktischen und theoretischen Maximen). • Habe ich die Vernunft so klar aufgefasst und leuchtet es mir ein, dann kann ich weiter überlegen: • Versuche ich mit den Vernunftvorstellungen die Verstandeserkenntnis zu regulieren, dann benutze ich sie im Rahmen der theoretischen Philosophie. Die Vernunft heißt hier »reines Denken« im eigentlichen Sinne, weil sowohl die Bildung der Ideen als auch ihre Anwendung das Theoretische betrifft. Mit dem Gebrauch derselben verwirkliche ich den »höchsten Zweck des spekulativen Gebrauchs der Vernunft« (Prol AA IV 350), i. e. das systematische Ganze der Erkenntnisse. 92 stellungen von Ideen und auf ihnen beruhenden Gesetzen entstehen. Um z. B. nach der Tugendidee zu handeln, muss im Bewusstsein des Handelnden die Vorstellung von der Tugend (die ihren Ursprung in der Vernunft hat – vgl. KrV A569/B597), als einem Grund zur Maximenbildung und zum Handeln, gegenwärtig sein. 92 Das Interesse der Vernunft besteht nicht nur in der Verwirklichung von praktischen Zielen, obwohl diese das Primat führen. Auch die spekulative Vernunft hat ein eigenständiges Interesse am Ganzen der Erkenntnis – vgl. ebd. und 380 f. Dies wird z. B. nicht in einer eigens dem Thema »Interesse der Vernunft« bei Kant gewidmeten Arbeit von Hutter (2014) thematisiert. Nach Hutter habe die theoretische Vernunft keine Selbständigkeit, sondern stehe als Werkzeug zu Diensten des Verstandes und seiner Interessen und werde erst im Praktischen autonom – vgl. Hutter 2014: 154– 159. Das ist insofern problematisch, als es sich bei Kant gerade umgekehrt verhält, wie in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft und in den Prolegomena (dritter Abschnitt) sowie oben nachgelesen werden kann: Die reine theoretische Vernunft setzt dem erkennenden Verstand (es ist klar, dass sie von ihm in gewisser Weise abhängt, wie auch er von den Sinnen) eigene Ziele, indem sie regulative Prinzipien und auf ihnen beruhende Als-Ob-Maximen bildet. Es findet also keine stillschweigende Übernahme der Interessen des Verstandes statt, vielmehr begrenzt die Vernunft den Verstand, indem sie ihm verbietet, (a) überfliegend zu werden, aber
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Andererseits kann ich auch die von der Vernunft gebildeten Ideen für praktische Erkenntnisse benutzen. Eine praktische Erkenntnis findet statt, wenn »a priori erkannt wird«, »was dasein soll« oder »was geschehen solle« (KrV A633/B661). Zwar handelt es sich dabei um dasselbe reine Denken, da die Vernunft hier aber mit der Steuerung des Willens beschäftigt ist, wird sie als »reiner Wille« bezeichnet. Entweder soll eine Idee sein oder sie ist ein Grund für eine Handlung, die geschehen soll. »Der einige, unbedingte und letzte Zweck (Endzweck), worauf aller praktische Gebrauch unsers Erkenntnisses zuletzt sich beziehen muss, ist die Sittlichkeit, die wir um deswillen das schlechthin oder absolut Praktische nennen« (Log AA IX 87). Die Differenzierung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft ist also das Resultat der Beziehung ein und desselben Vermögens des reinen Denkens entweder auf den Verstand oder auf den Willen:
Außer dem Verhältnisse aber, darin der Verstand zu Gegenständen (im theoretischen Erkenntnisse) steht, hat er auch eines zum Begehrungsvermögen, das darum der Wille heißt, und der reine Wille, so fern der reine Verstand (der in solchem Falle Vernunft heißt) durch die bloße Vorstellung eines Gesetzes praktisch ist (KpV AA V 55). 93
Die Vernunft bildet also anspruchsvolle Vorstellungen qua Voraussetzungen mit konkreten Funktionen (siehe die Übersicht der Voraussetzungsfunktionen oben) sowohl für die theoretische Verstandeserkenntnis als auch für die praktische Soll-Erkenntnis. 94 Diesen auch nicht erlaubt (b) sich lediglich auf die Sinnenwelt zu beschränken (Prol AA IV 360 ff.). Eine allgemeine Aussage der Art, die transzendentalen Ideen seien »radikal nutzlos und zwecklos« (Hutter 2015: 2502), ist aufgrund der regulativen Funktion der Vernunftbegriffe, die Kant auch Jahre nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft und den Prolegomena für unentbehrlich hält (vgl. KU AA V 167 und 401 ff.), absolut unzulässig. 93 Man achte auf den Sprung in diesem Zitat von der Rede vom empirischen Verstand (der, wenn er auf das Begehrungsvermögen angewandt wird, (empirischer) Wille oder pathologisch bedingte praktische (bloß Interessen der Neigungen verwaltende – vgl. KpV AA V 120) Vernunft heißt) zum reinen Verstand (Vernunft/reines Denken, welches durch bloße Vorstellungen Kausalität im praktischen Bereich hat und somit mit dem Begriff »reiner Wille« bezeichnet wird). Reines Denken und reiner Wille sind somit nur zwei Bezeichnungen des einen Vermögens der Prinzipien, die relativ auf den jeweiligen Bereich, in dem die Vernunft Wirkungen zeigt, verwendet werden. 94 Susan Neiman vertritt in ihrer Arbeit über die Einheit der Vernunft bei Kant (als eine der wenigen Autorinnen und Autoren, die grundlegend über das gesamte VerDas System der Ideen
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Zusammenhang sieht man besonders anhand derjenigen transzendentalen Vernunftbegriffe (Ich, Freiheit und Ideal), auf deren Basis Postulate (Unsterblichkeit der Seele, Freiheit und Dasein Gottes) entstehen, weil offenbar ein und dieselben Vorstellungen bloß unterschiedliche Bedeutung in unterschiedlichen Anwendungsfeldern erhalten. Wenn die Einheit der Vernunft (als des Vermögens der Prinzipien) für Kant ein Problem gewesen sein soll, dann handelt es sich bei der gezeigten Auffassung um eine ganz konkrete Lösung, die anhand der oben herausgearbeiteten Tabelle der Voraussetzungsfunktionen sogar punktuell und mit zahlreichen Beispielen nachvollziehbar gemacht werden kann: Es gibt nur ein Vermögen, ein und dasselbe zu bildende und anzuwendende Medium (die reinste Vorstellungsart: Ideen), aber unterschiedliche Anwendungsfelder und ihnen gemäße Funktionen. Dank des Verstehens der Differenz im Gebrauch der Vernunftprinzipien weiß man erst, dass der Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Vernunft lediglich auf der Seite der Anwendung ihrer Produkte liegt. Folgende Anmerkungen und relevante
nunftvermögen bei Kant reflektieren) eine Auffassung, die zumindest zum Teil in diese Richtung geht: »Readers of the first Critique will not be surprised to find practical reason’s most general goal described as similar to that of theoretical reason: both freely produce ideas that are used to judge and order experience […]« (Neiman 1994: 116). Neimans Untersuchung orientiert sich aber leider nicht am zentralen Begriff »Idee« als derjenigen Vorstellungsart, mit deren Hilfe die Vernunft in unterschiedlichen Bereichen konkrete Funktionen erfüllt. Auch Klaus Konhardts Arbeit, der die Einheit der Vernunft darin sieht, dass sie als »Vermögen der Zwecksetzung überhaupt« (Konhardt 1978: 11) in allen drei Kritiken fungiere, geht nur teilweise in unsere Richtung. Pauline Kleingeld (1998) begreift Kants Rede von der Einheit der Vernunft als eine regulative Idee, weil sie in ihrem Aufsatz (1) nicht zwischen der Vernunft im weiteren und engeren Sinne sowie (2) zwischen der Einheit der Vernunft als eines Vermögens und der Einheit des Systems oder einzelner Bausteine aus Vernunft unterscheidet. Auch und entsprechend zieht sie (3) nicht in Erwägung, dass es neben den transzendentalen Vernunftbegriffen und Postulaten auch andere Arten der Ideen gibt, mit denen es qua Vermögen operiert. Die Einheit der Vernunft kann zwar als eine regulative Idee begriffen werden, aber nur wenn sie in methodologischer Hinsicht (der Art »architektonische Ideen« zugehörig) betrachtet wird. Diese Unterscheidung der Rücksichten darf nicht vernachlässigt werden, wenn man konkrete Antworten auf die Einheitsfrage(n) finden und unterschiedliche Forschungsbeiträge sortieren will – vgl. auch unten (a)–(f). Lewis White Beck verweist darauf, dass die Vernunft eine ist, insofern sie als Vermögen der Prinzipien fungiere, das in allen Teilen der Philosophie mit dem Unbedingten operiere, führt das aber leider nicht im Detail aus – vgl. Beck 1960: 47 ff.
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Fußnoten sind von Nutzen, um die dargestellte Position besser zu konturieren: (a) Der Titel eines Abschnittes aus der Dialektik der reinen praktischen Vernunft, nämlich: »Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen« – betrifft nicht, wie es scheinen mag, eine Verbindung von zwei unterschiedlichen Vernunftvermögen, sondern die Frage, wie ihre Produkte, spekulative Ideen und Postulate (bei denen dieselbe reine Vorstellung nun kein leeres Konstrukt mehr ist, sondern praktische objektive Realität erhält) widerspruchsfrei zusammen bestehen können. Weil alle reinen Vorstellungen zunächst dem reinen Denken (welches hinter dem reinen Wollen bzw. der praktischen Vernunft steht) entspringen, kann die praktische Vernunft zur Willensbestimmung keine anderen Vorstellungen verwenden – aus dieser Perspektive liegt das Primat auf der Seite der theoretischen Vernunft. 95 Da die praktische Vernunft sie jedoch ihrer Absicht folgend zu praktischen Erkenntnissen erweitert (wirklich macht), muss ihr in diesem Sinne das Primat zustehen (sonst erlaubte die spekulative Vernunft keine Erweiterung und es entstünde ein Widerstreit) (vgl. ebd. 121). (b) Die Einheit des Vernunftvermögens wird von uns nicht unmittelbar erkannt, sondern es wird nur vermittelst der Aufmerksamkeit auf ihre Produkte, die die gemeinsame Bezeichnung »Ideen« tragen und bloß unterschiedlich gebraucht werden, auf dieselbe geschlossen. Wie die Vernunft an sich beschaffen und überhaupt wie sie an sich möglich ist, können wir gar nicht wissen (und nach Kant auch gar nicht intellektuell anschauen) – »alle menschliche Einsicht [ist] zu Ende, sobald wir zu Grundkräften oder Grundvermögen gelanget sind« (KpV AA V 46 f.). Wenden wir auf sie im theoretischen Rahmen die Kategorie der Einheit an und wagen den Versuch einer unmittelbaren Erkenntnis, so begehen wir den Paralogismus der Simplizität: Zu Unrecht von der Einfachheit der Vorstellung von der Vernunft auf ihre angeblich wirkliche Einfachheit schließend. Ebenso wenig können wir das Dasein der Vernunft, ihre Realität oder Substantialität theoretisch erkennen. Auch wenn wir sie in der Vorstellung als ein einheitliches Etwas mit dem Bewusstsein festhalten, kein So lautet eine der wichtigsten Stellen zum wenig beachteten Primat der theoretischen Vernunft bei Kant: »Wenn praktische Vernunft nichts weiter annehmen und als gegeben denken darf, als was spekulative Vernunft für sich, ihr aus ihrer Einsicht darreichen konnte, so führt diese das Primat« (vgl. KpV AA V 120).
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wirkliches Etwas zu erkennen (d. h. die Kategorien der Substantialität und Einheit nur rein logisch anwenden), führt uns diese Auffassung hinsichtlich der Frage nach der objektiven Beschaffenheit der Vernunft keinen Schritt weiter. (c) Man kann das einheitliche Vermögen der Vernunft als Spontaneität bzw. als reine Selbsttätigkeit (des reinen Verstandes/reinen Denkens/der Vernunft) bezeichnen. Dabei sollte aber beachtet werden, dass es (1) einen Unterschied zwischen der Spontaneität des Verstandes bei der Hervorbringung der empirischen Begriffe und zwischen ihrer reineren Form hinsichtlich der Ideenbildung (worin sich die eigentümliche Vernunftleistung zeigt) gibt. Die beiden Formen sollten nicht durcheinandergebracht werden. 96 (2) Mit der Rede von der Spontaneität wird die Kategorie der Kausalität (aus Freiheit) auf die Idee der Vernunft (genetivus objectivus) angewandt. Das transDie Unterscheidung der Vernunftbegriffe von den Verstandesbegriffen ist ein wichtiger Bestandteil der Kantischen Philosophie. Heiner F. Klemmes Position bezüglich der Einheit der Vernunft trifft sich zwar darin mit unserer, dass er bei Kant nur eine Grundform der Spontaneität (des Subjekts) sieht, die sich entweder theoretisch oder praktisch äußert. Zusätzlich nimmt er aber an, dass der Schlüssel zu einer solchen Deutung in der Einsicht in die Übereinstimmung der Kategorien der Natur und Freiheit liege, die auf denselben logischen Urteilsfunktionen beruhen. Kategorien der Natur stiften durch Spontaneität (d. h. durch Begriffe des Verstandes) Einheit in der Mannigfaltigkeit der sinnlichen Anschauung, Kategorien der Natur (durch Maximen) Einheit im »Mannigfaltigen der Begehrungen« (KpV AA V 65) – vgl. Klemme 2012: 212 ff. Leider zeigt Klemme nicht, wie der Zusammenhang konkret aussieht – auch Kant fügt der Tafel der Kategorien der Freiheit, die, wie die der Natur nach Quantität, Qualität, Relation und Modalität gegliedert sind, keine weitere Erläuterung hinzu und hält sie für verständlich genug (KpV AA V 67). Die Einheit der Vernunft zeigt sich vielmehr, wenn man auf eine reinere Form der Spontaneität (vgl. GMS AA IV 452) achtet, nämlich die der Vernunft im engeren Sinne auf der Ebene der Prinzipien (die regulativ im Theoretischen und konstitutiv im Praktischen sind). Die Übereinstimmung der Kategorien der Natur und der Freiheit ist zwar – wenn sie konkret demonstriert werden kann – ein gutes Argument für die Harmonie zwischen den theoretischen und praktischen Teilen des Systems aus reiner Vernunft. Hält man sie aber für den Nachweis der Einheit des Vernunftvermögens selbst, dann besteht die Gefahr, dass die Vernunft auf die Funktionen des Verstandes reduziert wird. Für Klemmes Auffassung ist es zumindest nötig, auf die theoretische Vernunft im weiteren Sinne zu rekurrieren respektive auf die »praktische Vernunft überhaupt« (KpV AA V 66), die Kant bei den Kategorien der Freiheit in Anschlag bringt. D. h. es ist dort nicht entscheidend, ob die Handlungsmotive sinnlich-bedingt sind oder ob sie auf reinen Vorstellungen beruhen. Ähnlich bewegen sich die Auffassungen der Spontaneität der Vernunft und Lösungen des Einheitsproblems eher auf der Ebene des Verstandes (bzw. der pathologisch-bedingten, bloß verwaltenden Vernunft) bei Krijnen 2016: 324 und Prauss 1981: 295 ff.
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zendentale Subjekt des Paralogismuskapitels, in dem es eher (zum Zweck der Kritik an der dogmatischen Metaphysik) substantiell bestimmt (in den Prolegomena heißt es sogar »das Substantiale« als pars pro toto vgl. Prol AA IV 333) und anschließend in der Kritik der praktischen Vernunft als unsterbliche Seele postuliert wird, taucht im Kapitel zu den Antinomien erneut auf, und zwar als kausales Selbst. 97 Wir können diese Kausalität (also die Freiheit des Subjekts) aber nicht direkt erkennen, sondern nur von bestimmten Äußerungen auf dieselbe schließen. Besonders – aber, wie oben gezeigt, nicht nur – das Sittengesetz macht deutlich, dass die Idee der kausalen Vernunft selbst Kausalität hat, also scheinbar Wirkungen entfaltet. Aber auch damit erkennen wir keine theoretische Realität der Vernunft, sondern halten an ihr aus praktischen Gründen fest. 98 (d) Wenn die Vernunft als Spontaneität bzw. als reine Selbsttätigkeit bezeichnet wird, die für die Bildung und die Anwendung der Ideen sorgt, so wäre es die einfachste Lösung zu behaupten, die Verbinde ich das Ich der transzendentalen Apperzeption mit der Kategorie der Substanz, dann knüpfe ich es von allen seinen Prädikaten (auch vom Denken, von der Vernunft) los und komme zur dialektischen Idee einer Seele, die in der kritischen Philosophie nur als ein Postulat zum Zweck des Erreichens des höchsten praktischen Guts Platz findet. Wende ich aber auf dasselbe transzendentale Subjekt die Kategorie der Kausalität an, dann erreiche ich die Vorstellung der Vernunft als einer causa noumenon. Das Ich »oder Er, oder Es (das Ding), welches denket« (KrV A346/B404) ist »das Vehikel aller Begriffe überhaupt, mithin auch der transzendentalen« (KrV A341/B399) und nach der Auflösung der dritten Antinomie der Sitz der Kausalität aus Freiheit (qua »transzendentales Subjekt« (vgl. KrV A545/B573)). Folglich artikulieren wir die Vernunft, ohne sie unmittelbar zu erkennen, in Gedanken als ein Ich, als eine Intelligenz, als ein »Subjekt der Gedanken, oder auch als Grund des Denkens« (KrV B429), jederzeit aber als ein Noumenon, dessen Existenz problematisch ist. Kant bringt diese Ich-Vorstellung in der überarbeiteten Version des Paralogismuskapitels auch in Verbindung mit der Vernunft qua reines Wollen (vgl. KrV B430 f.). 98 Die Vernunft oder das Ich, als Grund meiner Gedanken und Handlungen nach reinen Prinzipien, ist entweder eine »gänzlich leere Vorstellung« (KrV A345/f./B404). Oder der »nachdenkende Mensch« »verdirbt« diese Idee von seinem eigentlichen Ich, indem er »dieses Unsichtbare sich bald wiederum versinnlicht« (GMS AA IV 452). Der innere und äußere Sinn kennt nur die Erscheinungen dieses Ichs, die Vernunft aber nur eine bloße leere Vorstellung von demselben. Das Sittengesetz als ein reines Sollen stellt jedoch die Kausalität des Ichs in concreto dar und verleiht ihm dadurch eine praktische Realität. Dadurch eröffnet sie zugleich den Weg, auch die übrigen Kategorien, die mit dem Ich (vgl. Punkt (a)) oder dem Ideal in Verbindung stehen, gelten zu lassen, insofern sie einen Bezug zum Sittengesetz aufweisen (vgl. KpV AA V 5 f. und 55 ff.). Die Anwendung der Kategorien auf die Ideen ergibt aber nach wie vor keine theoretische Erkenntnis. 97
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Einheit der Vernunft bestehe in ihrem Praxis- oder Handlungs-Charakter. 99 Dass die Bildung der Ideen und ihre Anwendung auf den Verstand oder den Willen auf Vernunfthandlungen (vgl. z. B. Prol AA IV 330) beruht, was vielleicht schon einen technisch-praktischen Willensakt mit einschließt, ist aber eine triviale Einsicht und man lernt nichts Neues hinzu. Schon am Anfang der transzendentalen Logik der Kritik der reinen Vernunft ist es klar, dass alle Begriffe auf Funktionen (lat. functio = Verrichtung / Ausführung) beruhen und Funktion »die Einheit einer Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen« (KrV A68/B93) bedeutet. Das Interessante ist jedoch gerade zu fragen, was uns dazu bewegt, verschiedene Vernunfthandlungen einem einzigen scheinbar kausalen Vermögen zuzurechnen. Und das ist die Einsicht, dass alle Vernunftbegriffe einer einzigen Vorstellungsart (Idee) angehören, entsprungen aus ein und derselben Quelle, und dass sie die theoretische oder praktische Bedeutung durch ihre Anwendung auf entsprechende Bereiche bekommen. (e) Unter »Einheit der Vernunft« kann man, wenn man mit »Vernunft« eben wirklich »Vernunft« meint, nichts anderes als eine Einheit des einen kausalen Vermögens der Prinzipien trotz unterschiedlicher Anwendungsbereiche verstehen. Sie ist nicht fälschlicherweise mit der Frage nach der Einheit des Systems aus reiner Vernunft zu verwechseln. In der Forschung wird oft von der »Einheit der Vernunft bei Kant« gesprochen, dabei aber zumeist nicht das Vernunftvermögen im engeren Sinne, sondern eine äußerliche Einheit seiner Produkte (oder gar derer des Verstandes bzw. der Vernunft im weiteren Sinne) gemeint. 100 Auf die (in solchen Beiträgen eigentlich So vermischt Gerold Prauss etwas ungünstig den Begriff des Praktischen, unter dem Kant zumeist das Moralisch-Praktische versteht, also die praktische Erkenntnis in der Form von Gründen für die Imperative (Ideen oder Postulate) oder von Imperativen selbst (vgl. Log AA IX 86), mit einem allgemeinen Praxis-Begriff. Nach ihm bestehe das Problem der Einheit der Kantischen Vernunft lediglich in der Spannung zwischen Theorie und Praxis – vgl. Prauss 1981: 292. Hätte Kant die reine praktische Vernunft losgelöst von dem Sittengesetz als radikale Freiheit (qua Praxis) für sich selbst (vgl. ebd. 290) verstanden, dann hätte er das Einheitsproblem gelöst – denn das theoretische Erkennen des Verstandes sei auch eine Form von Praxis. Vgl. auch die Position von Krijnen (2016), dessen Lösung in diese Richtung geht, obwohl er sich nicht auf Prauss bezieht. 100 Selbst unter dem Punkt »Vernunft, Einheit der« findet man im Jahr 2015 erschienenen Kant-Lexikon nur Ausführungen zur Einheit des Ganzen des Vernunftsystems und fragt sich unwillkürlich, ob hier nicht etwas verwechselt worden ist – vgl. Hutter 99
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gemeinte) Einheit des Systems aus Vernunft können (1) die Verbindungen von transzendentalen Ideen mit den Postulaten, 101 (2) die formelle Übereinstimmung der Kategorien der Natur mit den Kategorien der Freiheit, 102 (3) die Harmonie zwischen theoretischen und praktischen Zwecken 103, (4) das höchste abgeleitete Gut 104 und (5) die Ideal-Idee 105 verweisen. Es geht bei diesen Vorschlägen (nur oder in erster Linie) um eine nachträgliche bzw. konstruierte Vereinigung oder Zusammenstimmung von unterschiedlichen Elementen auf systematischer Ebene. (f) Die architektonischen Ideen vom reinen Denken und Wollen, also die der philosophischen Untersuchung zugrunde gelegte Idee der reinen Vernunft, gewinnt beim Lesen der Kantischen Kritiken an Klarheit. Sie endet aber nicht in einer verschwommenen Vorstellung
2015: 2490 f. Eine der wenigen Untersuchungen, die sich tatsächlich auf die Frage nach der Einheit der Vernunft selbst trotz ihrer unterschiedlichen Funktionen fokussieren, ist »The Unity of Reason. Rereading Kant« von Susan Neiman (1994). 101 Vgl. Punkt (a). 102 Vgl. vor allem die zwei neueren Monografien von Zimmermann (2011) und Puls (2013) sowie den mit einschlägigen Aufsätzen herausgegebenen Sammelband von Zimmermann (2016). Zum Versuch, auf der Basis der Kategorien der Freiheit das Problem der »Einheit der Vernunft« anzugehen vgl. die obige Fußnote im Punkt (b) zum Aufsatz von Klemme (2012) sowie die Zusammenfassung der Position von Zimmermann und die dazugehörigen treffenden Bemerkungen von Krijnen 2016: 311– 315. 103 Vgl. dazu z. B. Horkheimer (1925). 104 Reinhard Hiltscher stellt die Frage nach der Einheit der endlichen Vernunft, meint aber erstens die Vernunft im weiteren Sinne und sieht ihre Einheit zweitens in ihrem Bezug auf das höchste (abgeleitete) Gut. In dieser Bezüglichkeit werde der Verstandeszweck (Glück) und der praktische Vernunftzweck (Sittlichkeit) zugleich realisiert (die reine praktische Vernunft beziehe sich dabei notwendigerweise auf den Verstand, was ihre Endlichkeit begründet), wobei sich die Vernunft durch die Reflexion auf die Bedingungen und die Realisierbarkeit dieses Endzwecks der vernünftigen Wesen, den Kant in der dritten Kritik lediglich präziser fasse, ihres einheitlichen Fürsichseins bewusst werde – vgl. Hiltscher (1987). 105 Nach Claudia Bickmann habe Kant eigentlich das wirkliche, von epistemischen Akten unabhängige Dasein Gottes interessiert und nicht bloß eine Idee von ihm – vgl. Bickmann 2002: 48, 50. Im Ideal als dem »höchsten Seinsgedanken« habe Kant das verbindende Prinzip zwischen dem moralischen und theoretischen Ich gefunden – vgl. ebd. 59. Eine Interpretation, die nicht auf eine solche »Inversion der Seins- und Erkenntnisordnung« hinausgeht, findet sich z. B. bei Freudiger (1996). Vgl. auch die Position von Georg Picht, der Heidegger folgend die Aussage »Gott ist« ins Zentrum des Kantischen Systems stellen will, nach dessen Einheit er in Kants Religionsphilosophie sucht – Picht (1985). Das System der Ideen
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ihrer Einheit – eine konkrete Lösung der Frage ist, wie oben gezeigt, möglich. 106
2.3.3 Epistemischer / ontologischer Status der Ideen Mit der obigen Untersuchung haben wir ein grundlegendes Verständnis der Vernunft als des einen Vermögens der Prinzipien und ihrer Anwendung in unterschiedlichen Bereichen gewonnen. Im Folgenden soll abschließend darüber reflektiert werden, wie der epistemische und ontologische Status der behandelten Ideen, inklusive der Vorstellung der Vernunft von sich selbst, im Ganzen zu begreifen ist. Alle oben vorgestellten Arten der Vernunftbegriffe sind als Möglichkeiten zu verstehen, den Verstand und den Willen zu steuern. Die Selbsterkenntnis des Vernunftvermögens führt dazu, dass ich weiß, wie weit meine autonome Selbstbestimmung hinsichtlich des Erkennens, Urteilens und Wollens reichen kann. Diese Position bewegt sich im Rahmen des formalen bzw. transzendentalen oder kritischen Idealismus (vgl. Prol AA IV 375). Die Ideen sind (α) als meine Vorstellungen zu verstehen; (β) als Voraussetzungen zu Maximen für mein (sowohl geistiges als auch körperliches) Handeln; (γ) als Vorstellungen, die nicht intellektuell anschaubar sind oder eine von mir unabhängige Welt der Ideen ausmachen und (δ) als allgemeine und notwendige Vernunftbegriffe, keineswegs aber als willkürlich gedichtete Produkte oder zufällige Fiktionen der Einbildungskraft. Da die Punkte (α) und (β) bereits hinreichend erläutert worden sind, gehen wir nun kurz auf die beiden letztgenannten ein. Zu (γ): Alle Arten von Ideen sind ihrem epistemischen Status nach reine Vorstellungen (vgl. die Leiter der Vorstellungsarten oben). Diese (z. B. Gott, Tugend, das Schöne, Vernunft etc.) werden weder 106 So vertritt Werner Moskopp in seiner Arbeit über die Struktur und Dynamik in Kants Kritiken die Ansicht, dass die Einheit der Vernunft nicht auf der Seite der Kantischen Schriften zu suchen sei (insbesondere nicht in der Kritik der Urteilskraft), sondern in der Vernunft des mitdenkenden Lesers, in der sie sich allmählich im Vollzug auf irgendeine Weise manifestiere – vgl. Moskopp 2009: 366, 371 und 376. Eine unbestimmte methodologische Auffassung der Einheit in der Leser-Vernunft steht im nicht geringen Kontrast zu der oben gezeigten konkret nachvollziehbaren Lösung, die sich eigentlich auch in Kants Schriften findet (und die er scheinbar für selbstverständlich hält – vgl. KrV A327 ff./B384 ff., GMS AA IV 391 sowie KpV AA V 89 und 121), kurz: Eine Vernunft, ein Medium (Prinzipien), spekulative, praktische sowie ästhetische und methodologische Anwendungsmöglichkeiten.
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rein (intuitiv) noch intellektuell angeschaut, sondern sowohl hinsichtlich ihrer Bildung und Bestimmung als auch ihrer Anwendung rein (diskursiv) gedacht. Die Vorstellungsart »Anschauung« setzt im Kantischen Verständnis die Gegenwart eines konkreten Gegenstandes voraus, auf den sie sich passiv bezieht (vgl. Prol AA IV 281 f.). Sie gehört also nicht zur Spontaneität des Verstandes, sondern zur Rezeptivität der Sinne. Eine reine, vom sinnlichen Gegenstand unabhängige Anschauung ist nach Kant nur in der reinen Mathematik möglich und zulässig. Dort wird z. B. der Begriff des Dreiecks intuitiv durch die bloße Einbildung oder auf dem Papier anschaulich gemacht bzw. konstruiert. Einen Begriff zu konstruieren heißt: »die ihm korrespondierende Anschauung a priori darstellen« (KrV A713/B741). Die mathematischen Erkenntnisse, die sich der reinen Anschauung bedienen, sind darum objektiv gültig, weil sie auf dieselben reinen Anschauungsformen (Raum – Geometrie, Zeit – Arithmetik/reine Mechanik) angewiesen sind, wie unsere Erfahrung wirklicher Gegenstände. D. h. das, was durch die formale Konstruktion des Dreiecks synthetisch erkannt wird, gilt auch von den entsprechenden Gegenständen in der Sinnenwelt, deren Erkenntnis von derselben reinen Anschauungsform abhängt (vgl. Prol AA IV 283 f.). 107 Im Gegensatz zu den geometrischen Figuren oder Zahlen sind Begriffe wie Vernunft, das Weltganze, Seele, das Erhabene etc. nicht in der reinen Anschauung darstellbar. Um sie zu bilden, in der Vorstellung zu artikulieren und für sie eine Anwendung zu finden bedarf es einer diskursiven Arbeit mit Begriffen. Die Idee der Unendlichkeit des Universums z. B. bilde ich im reinen Denken dadurch, dass ich die Kategorie der Vielheit sowohl auf alle Dinge, Planeten und Sterne anwende, die ich kenne oder sehe, als auch auf alle weiteren denkbaren und undenkbaren, die mir nicht bekannt sind. Die Unendlich107 Das Erkennen in der Geometrie ist nach Kant zutiefst mit der Handlung des Konstruierens verbunden. Ein Philosoph wird den Begriff »Dreieck« definieren und analytisch zergliedern. Er wird in ihm nichts weiter finden, als was er schon mit ihm denkt und über ihn nur erläuternde Urteile fällen. Ein Mathematiker wird dagegen sofort mit der räumlichen Konstruktion des Dreiecks (im Kopf oder auf dem Papier) beginnen, Neues ausprobieren und geleitet von der Anschauung eine Kette von Schlüssen zur Lösung einer mathematischen Aufgabe bilden (vgl. KrV A716/B744). Weil die reine Raumanschauung sowohl die Bedingung der Konstruktion als auch der empirischen Erkenntnis realer Gegenstände qua Erscheinungen ist, sind die Sätze der Geometrie »nicht etwa Bestimmungen eines bloßen Geschöpfs unserer dichtenden Phantasie«, sondern sie gelten »notwendigerweise vom Raume und darum auch von allem, was im Raume angetroffen werden mag« (Prol AA IV 287).
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keit der Welt ist also weder ein rein angeschautes Produkt der Einbildungskraft noch lässt sie sich auf ein Stück Papier zeichnen, sondern sie ist das Resultat eines Schlusses vom Bekannten auf etwas Unbekanntes. Weiteres Beispiel: Eine einfache praktische Idee der intelligiblen Verstandeswelt kann die Vernunft zwar bilden, wenn sie autonome Personen etc. denkt, aber sich nicht in sie »hineinschauen« (vgl. GMS AA IV 458). Entweder müsste sie diese Idee zu einem Ding machen – was ein »träumender Idealismus« (vgl. Prol AA IV 293) wäre – oder sie müsste eine von ihr unabhängige immer schon an sich seiende unsichtbare und wahre Welt annehmen, von der sie auf irgendeine nicht-empirische Weise Eindrücke empfangen würde – ein »schwärmender Idealismus« (vgl. ebd.). Kant sieht u. a. in Platon (im Rahmen seiner metaphysisch-mystischen Platon-Interpretation) und seiner Schau der Ideen (intellektuelle Anschauung) einen Vertreter eines solchen Idealismus (vgl. ebd. 375). Oder sie müsste die intelligible Welt in ihrer Einbildung erschaffen, ohne eine mühselige begriffliche Vorarbeit zu den Verstandeskategorien, zur Freiheit, zur Gemeinschaft der Personen und ihrer Zwecke etc. zu leisten. Zu (δ): Im transzendentalen Idealismus sind die Ideen also keine rein angeschauten Vorstellungen, sondern solche, die rein gedacht werden. Diese Auffassung kommt ihnen aber zugute. Es wird einerseits ein materialer bzw. schwärmender Idealismus (Dogmatismus) vermieden, andererseits aber auch ein Skeptizismus, der den Ideen keinen weiteren Status als den der bloßen Fantasiebilder einräumt. 108 Es gehört zur richtigen erkenntnistheoretischen Artikulation der Ideen, dass sie von bloßen Produkten der Einbildungskraft unterschieden werden. Solche Begriffe wie »geflügeltes Pferd« oder »Mottenmann« sind a posteriori willkürlich gedichtete Begriffe, die aus zwei empirischen Vorstellungen – Pferd bzw. Mensch einerseits und Flügel andererseits – zusammengesetzt werden. Bei den Ideen handelt es sich hingegen um natürlich a priori geschlossene Begriffe. 109 108 Kant kennzeichnet seine Position als den Mittelweg zwischen dem Dogmatismus (als der Ursache des Skeptizismus – vgl. Prol AA IV 271) und dem Skeptizismus, der den Dogmatismus bekämpfen will – vgl. ebd. 360. 109 Diese hilfreiche begriffliche Unterscheidung arbeitet Nikolai F. Klimmek im Hinblick auf die transzendentalen Vernunftbegriffe heraus – vgl. Klimmek 2005: 7–13. Die Einbildung will bei den Ideen aber immer wieder mitspielen, da die Vernunft einen natürlichen Hang dazu hat, transzendent zu werden. Sie haben selbst im immanenten regulativen Gebrauch einen »eingebildeten Gegenstand« (vgl. KrV A670/ B698). In diesem Sinne ist es vielleicht nicht möglich, die Ideen von bloßen Einbil-
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Eine oder mehrere empirische Vorstellungen, die im Verhältnis stehen, werden der Vernunftform angepasst. Anders ausgedrückt: Die Vernunft macht von ihrem Grundsatz (von ihrer logischen Maxime hinsichtlich der Bildung der Ideen) Gebrauch, »zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird« (KrV A307/B364). 110 So wird die empirische, dem äußeren (als Leib) und inneren Sinn (im Wahrnehmen der Gegenstände bzw. im Denken von empirischen Begriffen oder Ideen) gegenwärtige Ich-Vorstellung durch die Vernunft auf die Idee des reinen Ichs geführt, das unabhängig von wechselnden Zuständen vorgestellt wird. So wird der empirische Begriff der Luft unabhängig von ihrer Zusammensetzung und Dichte zur Idee der reinen, vollkommenen Luft erweitert. Der Begriff des Begehrungsvermögens wird möglichst rein, allgemein und notwendig gedacht, als ob mein eigenes reines Denken es bestimmen könnte und als reiner Wille vorgestellt etc. Die Ideen unterscheiden sich so zwar von den bloßen Einbildungen (1) aufgrund ihres Entstehungsverfahrens und (2) aufgrund ihrer Form (als reine, allgemeine und notwendige), dennoch sind sie aber (3) Begriffe von nichtseienden Gegenständen und werden (4) nur aus bestimmten Vernunftüberzeugungen aufrechterhalten. Mit den letzten beiden Punkten soll die grundlegende Reflexion über den epistemischen und ontologischen Status der Ideen abgeschlossen werden. Zu (3): Nach Kant könne die Ontologie nach einer radikalen Prüfung der Vernunft nur noch in einer »bloßen Analytik des reinen Verstandes« (KrV A247/B303) bestehen. Sie ist demnach ein System von Begriffen und Grundsätzen des Verstandes und der Vernunft, »die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen, ohne Objekte anzunehmen, die gegeben wären« (KrV A845/B873, vgl. A846/B874). 111 Die dungen absolut zu unterscheiden und zu trennen. Dennoch gibt es sichere Kriterien (wie Reinheit, Allgemeinheit, Notwendigkeit und das Entstehungsverfahren), die eine mehr oder weniger verlässliche qualitative Differenzierung zwischen Vernunftbegriffen und bloßen Einbildungen erlauben. Selbst die ästhetischen Ideen als Produkte der produktiven Einbildungskraft sind dank der Reinheit und der Vernunftaktivität beim Koordinieren von Erkenntniskräften mehr als bloße Einbildungen – vgl. KU AA V 313 ff. und 342 ff. 110 Die Geltung dieses Grundsatzes betrifft alle Ideen und nicht nur das Verfahren der logischen Vernunftschlüsse hinsichtlich der transzendentalen Vernunftbegriffe. Die Verstandeshandlungen laufen auf Einheiten der Begriffe unter Allgemeinbegriffen hinaus, deren maximal vollendete Formen (maximale Einheiten) die Ideen darstellen. 111 Laut Hans Friedrich Fulda gehöre »die Kantische Lehre von den transzendentalen Das System der Ideen
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Bestimmung des problematisch verstandenen Begriffes »Gegenstand überhaupt«, d. h. die Frage, ob und welche Formen er von Etwas oder von Nichts annahmen kann, ist der grundlegende Baustein für die transzendentalphilosophische Ontologie. Beziehen sich die apriorischen Anschauungsformen von Raum und Zeit sowie die Kategorien und Grundsätze des Verstandes auf sinnliche Anschauungen, dann konstituieren sie den Bereich der möglichen Erfahrung, welches abstrakt-(onto-)logisch als ein »Etwas« bezeichnet werden kann. Werden sie hingegen rein, d. h. ohne Bezug auf die Sinnenwelt gedacht, dann müssen sie logisch auf ein »Nichts« hinauslaufen. Ist z. B. die Kategorie der Substanz (die allen Begriffen von wirklichen Dingen zugrunde liegt) auf den Tisch vor mir bezogen, der in der Zeit beharrlich ist, dann kann ich sinnvollerweise sagen, dass sie ein Begriff von etwas Seiendem ist. Stelle ich mir dagegen eine zeitlose Substanz vor, dann habe ich einen leeren Begriff (ein Noumenon) gebildet, dem nichts in der Erfahrung korrespondiert. Es gibt gute Gründe dafür anzunehmen, dass Kant diese abstrakte ontologische Unterscheidung (vgl. Prol AA IV 325) in der Kritik der reinen Vernunft nicht zufälligerweise der Behandlung der Vernunftbegriffe vorangestellt hat (vgl. KrV A290 ff./B346 ff.). Sie gibt dem Leser zu verstehen, dass alle drei Erkenntnisquellen a priori (reine Anschauung, reiner Verstand und reine Vernunft – vgl. KrV A702/B730) auf ein logisches Nichts hinauslaufen, wenn sie nicht auf Erfahrung bezogen sind. Kant unterscheidet zwischen vier Bedeutungen des Begriffs von einem Nichts, geordnet nach Kategorien, von denen uns insbesondere die im Folgenden beiden letztgenannten interessieren: (1) Nihil negativum (Modalität: Möglichkeit/Unmöglichkeit). Widerspricht sich eine Vorstellung selbst, wie z. B. vom runden Viereck, dann spricht sogar schon die logische Unmöglichkeit dafür, dass es solche Dinge nicht geben kann. Also handelt es sich dabei um einen leeren Gegenstand, von dem man keinen eindeutigen Begriff erzeugen kann. (2) Nihil privativum (Qualität: Realität/Negation). Der Mangel einer wesentlichen Qualität kann logisch als ein leerer Gegenstand verstanden werden, von dem man einen Begriff hat. Ideen als Vernunftbegriffen nicht mehr zur Ontologie, ohne darum schon nur zur ›eigentlichen‹, auf die Transzendentalphilosophie folgenden Metaphysik zu gehören« – Fulda 1988: 53. Zu verschiedenen Phasen der Entwicklung des Begriffs »Ontologie« bei Kant vgl. Rivero (2014).
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(3) Ens imaginarium (Relation: Kohärenz und Subsistenz). Raum und Zeit sind keine Substanzen, sondern reine Anschauungsformen. An sich, ohne konkrete sinnliche Anschauungen, sind sie nichts, d. h. leer und ohne Gegenstand. 112 (4) Ens rationis (Quantität: Einheit, Vielheit, Allheit). Unter entia rationis fallen schließlich Begriffe, denen keine empirische Anschauung korrespondiert (weder Eines noch Vieles oder Alles). Dazu gehören reine Verstandeswesen/Gedankendinge/Notionen wie die von zeitlichen Bedingungen unabhängige Substanz oder Ursache, die »für sich allein keinen bestimmten Begriff von irgendeinem Dinge geben können« (Prol AA IV 332). Da solchen Vorstellungen keine sinnlichen Anschauungen korrespondieren, sind sie, ontologisch gesehen, leer. Die reinen Vernunftbegriffe, die ex definitione solche Begriffe sind, denen kein Gegenstand in den Sinnen kongruiert, sind also zu entia rationis hinzuzuzählen. 113 112 Peter König vertritt die These, dass die Ideen ihrem ontologischen Status nach dieser Art von Nichts zuzuordnen seien und als »entia imaginaria« bezeichnet werden können – vgl. König (2001). Dies ist insofern unglücklich, als die Ideen (wie oben gezeigt) ausdrücklich nicht Anschauungen oder reine Anschauungsformen, sondern begrifflich artikulierte Vorstellungen sind. Das Argument, dass Kant etwas zögert, sie zu bloßen entia rationis (leeren Begriffen) hinzuzuzählen, weil sie doch einige objektive (regulative) Gültigkeit haben und daher die entia imaginaria eine bessere Alternative wäre, überzeugt nicht – vgl. ebd. 780 – denn sie wären dann als leere Anschauungen zu verstehen, was noch ungünstiger wäre. Dass die Vernunftbegriffe aber als entia rationis leer sind, ist in der Tat aber gar kein Problem. Es bedeutet gar nicht, dass sie nutzlos sind – das ist eine andere Frage, die wir im nächsten Punkt zu den Vernnnftüberzeugungsarten behandeln. 113 Zu diesem Ergebnis kommt auch Rebecca Paimann – vgl. Paimann 792 f. Obwohl die Ideen ontologisch leere entia rationis sind, spricht Kant von Objekten (vgl. z. B. Prol AA IV 332), die in der Vorstellung artikuliert werden, transzendentalen Gegenständen (vgl. KrV A670 f./B698 f., Prol AA IV 334), Dingen (vgl. KrV A568/B596) oder von Etwas (vgl. KrV A478/B506, A674/B702 und A697/B725) im Hinblick auf die transzendentalen Vernunftbegriffe. Man kann diese Redeweise von Ideen als »rätselhaft« und »widersinnig« betrachten, als einen zu eliminierenden Restbestand schulphilosophischer Metaphysik, wie es Bernd Ludwig tut – vgl. Ludwig 2012: 167– 173, sollte aber vielleicht lieber nicht. Wenn man von dem Minotaurus liest oder hört, stellt man sich ein Nichts oder ein Etwas vor? Meine Vorstellung von ihm ist konkret und eindeutig, was ihn zu irgendeinem bestimmten Etwas in meinen Gedanken macht. Es gibt ihn aber nicht, also habe ich eigentlich eine Vorstellung von Nichts (d. h. einem Etwas, als problematisch-möglich angenommen, entspricht nichts Wirkliches in der Anschauung). Es sind wie in diesem einfachen Beispiel auch hinsichtlich der Vernunftbegriffe zwei Ebenen zu unterscheiden. Die Rede von übersinnlichen Objekten und von Etwas bezieht sich bei Kant nicht auf den ontologischen Status
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Für diese Auffassung der reinen Vernunftvorstellungen als ontologisch leerer Begriffe sprechen auch folgende Anhaltspunkte: (a). Ideen (transzendentale) sind nichts weiter als erweiterte Kategorien. Kategorien sind aber ohne Anschauungen leer: Wenn ihnen unabhängig vom Erfahrungsmaterial Objekte gegeben werden, dann bilden sie reine Verstandeswesen (hyperbolische Objekte), aus denen die transzendentalen Vernunftbegriffe bestehen. (b). Es gibt genügend Belege für die Verwendung des Begriffs entia rationis im Hinblick auf die Ideen bei Kant (vgl. KrV A337/B394, A669/B697, insbesondere A681/B709, auch KU AA V 468). Die Frage, ob sie lediglich vernünftelnde oder ob sie vernünftige Begriffe sind (conceptus ratiocinantes oder conceptus ratiocinati – vgl. KrV A311/B368), betrifft nicht ihren ontologischen Status, sondern ihre Gültigkeit. (c). Transzendentale Ideen qua entia rationis sind also leere Begriffe. Dies gilt genauso für einfache theoretische Ideen wie für die Postulate, wenn sie an sich und rein theoretisch betrachtet werden (vgl. z. B. KpV AA V 55 f.). Auch die einfachen praktischen Ideen wie Pflicht oder Tugend, an sich betrachtet, sind ontologisch leer. Da es bei ihnen aber vor allem um die Anwendung im praktischen Bereich geht, oder anders ausgedrückt, da es einen Handelnden nicht interessiert, ob diesen Begriffen ein Sein zukommt, sondern lediglich, ob sie im Bewusstsein vorgestellt werden, ob und wie sie umsetzbar sind, zögert Kant, sie einfach nur als leer zu betrachten (vgl. z. B. GMS IV 421). Sie sind im Praktischen »jederzeit wirklich« (KrV A328/B385) und durch der Ideen (denn sie wären in diesem Fall als Nichts zu bezeichnen – aber Vorsicht – nicht als Nichtseiend behauptet werden, was eine transzendente Annahme wäre), sondern auf den spezifischen logischen Gehalt der Vorstellung. Die Unendlichkeit der Welt ist ein Objekt meiner Vorstellung, welches ich dank der Kategorie der Vielheit konkret denken und logisch bestimmen kann. Lasse ich die Kategorie weg, dann kann ich diesen Begriff nicht einmal verstehen, also habe ich dann nicht einmal ein gedankliches Etwas. Mithin sind die Ausdrücke »Gegenstand überhaupt«, »Objekt«, »Etwas« aus dem theoretischen Denken nicht zu eliminierende Begriffe (der menschliche Verstand kann auch bezüglich der Ideen nicht anders funktionieren, als etwas als problematisch-möglich anzunehmen und dazu etwas Wirkliches zu suchen, was auf das regulative Prinzip der reinen Vernunft hinausläuft, weil sie bezüglich der angenommenen Gegenstände nicht findig wird – vgl. KU AA V 401 ff.) und v. a. nicht darum, weil einige Leser (auch »scharfsinnige« – vgl. Ludwig 2012: 156) sich angeblich sofort dazu verleitet fühlen, einen gedachten Gegenstand mit einem wirklichen zu verwechseln. Traut man den (Kant-)Lesern nicht, die logische Dimension von der ontologischen unterscheiden zu können, dann kann man (in der Sekundärliteratur) z. B. die alarmierende Bezeichnung »Quasi-Gegenstand« von Rudolf Zocher – vgl. Zocher (1958) – verwenden.
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Handlungen zumindest graduell in concreto darstellbar (vgl. KU AA V 343). Ähnlich verhält es sich mit den ästhetischen und architektonischen Ideen. Zu (4): Wäre der ontologische Status das Hauptkriterium für die Brauchbarkeit der Ideen, dann ergäbe es keinen Sinn, sich weiter mit der Vernunft zu beschäftigen. Dann wären ihre Produkte und sie selbst ein Nichts. Nach Kant soll hingegen ein anderes Kriterium entscheidend sein, nämlich die Interessen von forschenden und handelnden Personen am vernunftgeleiteten Denken und Wollen. Das reine Denken führt auf die Bildung und Anwendung von reinen Vorstellungen zur Steuerung des Verstandes und des Begehrungsvermögens. Das dieser Steuerung zugrundeliegende Interesse ist entweder theoretisch (die größte systematische Einheit der Naturerkenntnis) oder praktisch (die Verwirklichung des höchsten moralischen Guts, welche letztlich auch dem theoretischen die Richtung vorgibt). Um mithilfe von reinen Vernunftvorstellungen etwas bewirken zu können, muss der Denkende und Handelnde ihnen gegenüber eine bestimmte affirmative Haltung einnehmen. In anderen Worten: Ohne eine gewisse positive und der Art der Ideen angemessene »propositionale Einstellung« werden theoretische und praktische Maximen, die auf Vernunftbegriffen beruhen, keine verbindende Kraft entfalten. Beispiele für solche Haltungen sind wissen, meinen, glauben, fühlen etc. Es sind nun nicht alle Einstellungen im Hinblick auf die Ideen sinnvoll. Im Folgenden soll bestimmt werden, welche Art von Überzeugung zu welcher Art von Ideen gehören muss. Die theoretischen Ideen sind nach Kant einerseits bloß vernünftelnde dialektische Begriffe (conceptus ratiocinantes) und leere Gedankendinge. Dennoch haben sie andererseits eine immanente regulative Funktion, nämlich das Ordnen von Verstandeserkenntnissen zu größtmöglichen systematischen Einheiten. Wer ein Interesse an systematischer Naturbetrachtung hat, bildet theoretische Vernunftmaximen wie z. B. »betrachte die Welt so, als ob hinter den kleinsten Teilchen, die du findest, noch kleinere zu entdecken wären«. Die Grundlage für diese Maxime ist ein auf der Kategorie der Negation basierender antinomischer Weltbegriff, bei dem es nicht ausgemacht ist, ob es ein letztes unteilbares Einfaches gibt oder nicht. Nun ist ein solcher problematischer Vernunftbegriff zwar eine gedankliche Voraussetzung für eine systematische Naturbetrachtung (ist also mit einer Aufgabe verbunden), eine heuristische Supposition, aber keine Das System der Ideen
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transzendentale Hypothese im eigentlichen Sinne, d. h. keine hyperphysische Annahme zur Erklärung der Natur (vgl. KrV A771 ff./ B799 ff. und KU AA V 466). 114 Mit einer Hypothese verpflichtet man sich am Ende etwas zu wissen (ob etwas der Fall oder doch nicht der Fall ist), was aber im theoretischen Feld des Übersinnlichen ausgeschlossen ist. Mit der regulativen Funktion der Ideen ist dagegen eine bescheidene subjektive Überzeugung verbunden, die Kant als den theoretischen, mit der regulativen Funktion der Vernunft unmittelbar verbundenen doktrinalen Glauben bezeichnet (vgl. KrV A825 ff./B853 ff. und A516/B544): Man glaubt mehr oder weniger stark (im Rahmen einer programmatischen Festlegung), dass die Leitung, die mir ein Vernunftbegriff gibt, für systematische Naturforschung nützlich ist. 115 Für punktuelle Nachforschungen können auch 114 Der hypothetische Gebrauch der Vernunft (vgl. KrV A646 f./B674 f.) ist bei Kant in zwei Fällen erlaubt: (1) um auf einer Annahme ein regulatives Prinzip zur Leitung des Verstandes aufzubauen, oder, (2) im polemischen, kurzzeitigen und gezielten Gebrauch, um eine transzendente Annahme eines Gegners (der starrsinnig behauptet, vom Übersinnlichen zu wissen, dass es nicht sei) anzufechten und so auf die natürliche Dialektik hinsichtlich des Übersinnlichen hinzuweisen, bis der Gegner von seiner dogmatischen Position ablässt (vgl. KrV A776 ff./B804 ff.). Wenn Kant also einerseits behauptet, die transzendentalen Ideen seien keine Hypothesen, dann meint er, dass sie nicht im Sinne einer suppositio absoluta zur Erklärung der Naturerscheinungen gebraucht werden können (sonst wäre die Vernunft faul – ignava ratio, wie weiter oben erörtert). Wenn man aber einige Stellen findet, wo er doch von Hypothesen oder Meinungen im Hinblick auf die Ideen spricht (vgl. z. B. KpV AA V 142 und 126, Prol AA IV 348 und KU AA V 470), dann ist dies kein Widerspruch und kein Schwanken, wie es auf den ersten Blick vorkommen kann, sondern man muss an den erlaubten hypothetischen Gebrauch (1) und (2) denken. Kant sollte aber lieber an solchen Stellen von doktrinal geglaubten Begriffen sprechen. 115 Jochen Briesen versucht die Überzeugung, die Kant im Hinblick auf die regulativen Ideen vertritt, mit Crispin Wrights Begriff des »epistemic entitlement« zu erklären. Der epistemische Status der Ideen hänge letztlich davon ab, »that they are presuppositions for cognitive projects of a certain kind« (Briesen 2013: 2). Die Systematisierung der Verstandeserkenntnisse kann als ein kognitives Projekt angesehen werden und wir sind zu diesem Zweck berechtigt, Ideen gelten zu lassen. Dies klingt in der Tat richtig, aber es besteht die Gefahr, dass man die berechtigte Voraussetzung als eine Hypothese oder als eine Meinung versteht und damit den spezifischen Sinn, den Kant mit regulativen Ideen verbindet, verfehlt. Man kommt ohne eine Analyse des Abschnitts »Vom Meinen, Wissen und Glauben«, die bei Briesen fehlt (ebd. 30 f.), nicht aus. Unternimmt man sie aber, dann braucht man den Begriff »epistemic entitlement« nicht mehr, weil man dann den spezielleren Begriff doktrinaler (programmatischer, auf das Projekt der Systematisierung bezogener) Glaube (bescheidene subjektive theoretische Annahme, die keine Hypothese und Meinung sowie kein pragmatischer oder moralischer Glaube ist) hat.
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einfache theoretische Ideen (wie die von reiner Luft) dienen, mit denen man entsprechend nicht mehr als eine subjektive theoretische Überzeugung verbinden kann. Von diesem doktrinalen Vernunftglauben als einer Einstellung, die leicht ins Wanken geraten kann, wenn die Fakten ihr widersprechen, ist der reine praktische (sittliche) Glaube unterschieden. Er betrifft lediglich drei Glaubenssachen (res fidei), die aus der moralischen Gesinnung in Verbindung mit der Anwendung des Sittengesetzes resultieren, nämlich das höchste (abgeleitete) moralische Gut (eine einfache praktische Idee, die eng mit dem kategorischen Imperativ verbunden ist) sowie die Postulate der Unsterblichkeit der Seele und des Daseins Gottes (vgl. KU AA V 469). Der sittliche Vernunftglaube betrifft also nur die moralische, keine logische (mit Wissensakten verbundene) Überzeugung und Gewissheit der genannten praktischen Ideen (vgl. KrV A829/B857). Eine Sonderstellung nimmt das Postulat der Freiheit (der Vernunft als reiner Wille) ein. Da sie theoretisch unbeweisbar ist, stellt sie Kant in der Kritik der praktischen Vernunft in eine Reihe mit den übrigen zwei Postulaten. Ein Rechtschaffener, der davon ausgeht, dass das Sittengesetz für jedermann gilt, darf wollen und glauben, dass es praktische Freiheit gibt (vgl. KpV AA V 142 ff.). Andererseits finden sich auch solche Stellen, wie: »Freiheit ist aber auch die einzige unter allen Ideen der spekulativen Vernunft, wovon wir die Möglichkeit a priori wissen, ohne sie doch einzusehen, weil sie die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen« (ebd. 4, hervorgehoben von M. L.). Dies ist ein möglicher Grund dafür, dass Kant sie in der Kritik der Urteilskraft nicht zu den res fidei, sondern vielmehr zu den Tatsachen (scibilia) hinzuzählt. Zwar ist sie theoretisch nicht zu beweisen, dennoch lasse sich ihre Realität »durch praktische Gesetze der reinen Vernunft und diesen gemäß in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung dartun« (KU AA V 468). 116 Die Tatsachen sind nun nicht dazu da, zu meinen oder zu glauben, dass etwas so oder anders ist, sondern dazu, zu wissen, was der Fall ist. Zu diesem Bereich des Wissbaren müssen auch architektonische Ideen hinzugezählt werden. Wenn man z. B. eine Idee des Ganzen der Rechtswissenschaft hat, dann ist man als Lernender oder Lehrender nicht nur subjektiv von ihr überzeugt, sondern weiß, dass sie objek116 In der Jäsche-Logik heißt es, die Freiheit ist (praktisch) beweisbar, weil die Realität des moralischen Gesetzes ein Axiom sei – vgl. Log AA IX 93.
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tiv mitteilbar und durch Wissensaneignung und -ordnung im eigenen Bewusstsein realisierbar ist. Auch die architektonische Idee von der Vernunft als reines Denken und Wollen ist kein Gegenstand des Glaubens, sondern des Wissens. 117 Ich weiß, dass ich eine Vernunft habe, weil ich reine Vorstellungen zur Leitung des Verstandes und Willens bilden und zur Anwendung bringen kann, was insbesondere im praktischen Bereich durch kategorische Imperative offenbar ist. Dank der Erscheinungen der Vernunft weiß ich letztlich etwas von ihr. Auch im Hinblick auf die einfachen praktischen und ästhetischen Ideen ist die propositionale Einstellung »wissen« passend. Man kann zwar meinen oder vermuten, dass jemand aus Tugend gehandelt hat, aber man meint, fühlt oder glaubt nicht, sondern behauptet zu wissen, dass es Tugend gibt (was nicht mehr bedeutet, als dass sie praktische Realität hat, d. h., zumindest partiell tatsächlich demonstriert werden kann – vgl. KU AA V 343) – nämlich als einen objektiven Grund für eine entsprechende Gesinnung und für ein entsprechendes Handeln.
2.4 Abschließende Übersicht: Kants System der Ideen Es gibt also keine »eingebildete reine Vernunft«, wie Garve in seiner Rezension zur Kritik der reinen Vernunft behauptet, ohne sie überhaupt sorgfältig gelesen zu haben, wie er Kant später offen gesteht. 118 Die Wissenschaft der »Selbsterkenntnis der Vernunft« (vgl. Prol AA IV 317, 328 und KrV AXI) kritisiert zwar einerseits den transzendenten Gebrauch der Vernunftbegriffe, deckt aber andererseits immanente Vernunftfunktionen auf. Im Bereich der reinen Ideen (die die Natur der Vernunft ausmachen, wie die Kategorien die Natur des Verstandes – vgl. Prol AA IV 328) ist man letztlich befugt nur das anzunehmen, »was zur Leitung des Verstandes und Willens im Leben möglich und sogar unentbehrlich ist« (ebd. 278). Zur Wissenschaft von der Vernunft gehört die Kritik und die systematische Kenntnis
117 Wird sie aber als ein unkörperliches Wesen vorgestellt, eine denkende Seele, dann ist wiederum höchstens der doktrinale Glaube im Hinblick auf die systematische Naturerkenntnis möglich. 118 Garve 1782: 189. Zu den Hintergründen vgl. Pollok 2001: XVI–XXXIX.
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der Bildung und Anwendung der reinen Vorstellungen, mit ihnen verbundener Funktionen und Überzeugungsarten. 119 Man versteht dann am besten, was die Vernunft eigentlich ist, wenn man ihre Produkte und die mit ihnen verbundenen Funktionen übersieht und auf einmal vor seinem geistigen Auge hat. Im Folgenden sollen sie unter drei unterschiedlichen Aspekten systematisiert werden: (1) Zunächst soll die Übersicht über alle Voraussetzungsfunktionen bei Kant anhand der letzten Ergebnisse vervollständigt werden. Im Anschluss soll – im Exkurs – auf die (2) Ordnung der transzendentalen Ideen nach Reinheitsgraden und auf ihre (3) kategoriale Bestimmtheit eingegangen werden.
2.4.1 System der Voraussetzungsfunktionen Die Vernunft ist das Vermögen der Prinzipien zur Steuerung des Subjekts in unterschiedlichen Bereichen. Die weiter oben bereits entwickelte Tabelle der Voraussetzungsfunktionen kann nun entsprechend der letzten Untersuchungsergebnisse (1) um die Vernunftbegriffe von der Vernunft und (2) um die Vernunftüberzeugungsarten ergänzt und vervollständigt werden. Zu (1): Wie oben erläutert: (a) Von der Vernunft können zunächst methodologische Begriffe gebildet werden, wie das reine Denken und das reine Wollen. Sie dienen dazu, ein vorläufiges Bild von ihr als dem Untersuchungsgegenstand zu geben. (b) Im Verlauf der Analyse ihrer Funktionen konkretisiert sich dieses Bild. Es zeigt sich, dass die methodologische These vom reinen Wollen sich insbesondere in kategorischen Imperativen sowie die Annahme des reinen Denkens sich in Ergebnissen konkreter geistiger Handlungen bestätigt. Es handelt sich um ein und dieselbe Vernunft, weil es nur ein Vermögen zum Erzeugen von reinen Vorstellungen gibt. Die Anwendung der Ideen auf den Verstand oder den Willen (ihre Steuerung) entscheidet allererst voll und ganz, ob wir uns im theoretischen oder praktischen Bereich befinden. Mithin kann man die Vernunft je nach bestimmter Ansicht von ihr unterschiedlich bezeichnen: Idee der Vernunft, der reinen Selbsttätigkeit, des reinen (kausalen) Ichs, des reinen Denkens, 119 Die Klärung der Frage, warum wir eine Naturanlage zur Vernunft haben, gehört nach Kant in die Anthropologie und ist bloß ein Scholion zur transzendentalphilosophischen systematischen Untersuchung der Vernunft – vgl. Prol AA IV 362 ff.
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des reinen Wollens, der autonomen Kausalität etc. Diese Begriffe können prinzipiell als eine eigenständige Art von Ideen angesehen werden, weil ihre besondere und selbständige Funktion darin liegt, auf die Vernunft selbst, als Voraussetzung der Voraussetzungen zu reflektieren und ein bestimmtes Bild von ihr zu geben. Die primäre Voraussetzung für die Vernunftbegriffe von der Vernunft ist die klare Kenntnis ihrer Produkte und Funktionen, ohne die wir überhaupt nicht auf den Gedanken kämen, über ein solches Vermögen zu verfügen. Da wir nun wissen, welche Voraussetzungen sie bilden kann und wie die Steuerung funktioniert (durch verbindliche auf Ideen gegründete Maximen) sowie dass sie tatsächlich stattfindet (insbesondere am Fall der kategorischen Imperative erkennbar), ist die Vernunftüberzeugung von ihr selbst ein Wissen, kein Meinen oder Glauben. Zu (2): Die verschiedenen zu den Annahmen der Ideen passenden propositionalen Einstellungen wurden oben erläutert. In der Tabelle wird zu jeder Art von Ideen die maximal erreichbare Überzeugungsart genannt. Wenn es Fälle gibt, bei denen man sowohl meinen als auch wissen könnte, interessiert uns nur das Wissen. Die Bezeichnungen propositionaler Einstellungen werden wie folgt abgekürzt: W = wissen, SG = sittlicher Glaube, DG = doktrinaler Glaube. Art der Ideen
Primäre Ideen Voraussetzung
Voraussetzungsfunktion Prop. Einst.
Postulate
das Sittengesetz
Freiheit
Bedingung des Sittengesetzes
Unsterblichkeit Gott
Bedingungen der Verwirk- SG lichung des höchsten Guts (Sittlichkeit und Glückseligkeit)
Pflicht Persönlichkeit etc.
notwendige Hilfsbegriffe W zur sittlichen Selbstbestimmung
Tugend Weisheit etc.
Zwecke für hypothetische Imperative und für Bewertungen
einfache praktische Ideen
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W (SG)
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Art der Ideen
Primäre Ideen Voraussetzung
Voraussetzungsfunktion Prop. Einst.
/ politische Ideen
Völkerrecht Begriffe für rechtliche und Gesellschafts- politische Ansichten und vertrag Entscheidungen etc.
W
/ religiöse Ideen
Vernunftreligion Reich Gottes etc.
W
ästhetische Ideen
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praktische Aufgaben zur Realisierung des Glaubens
das Schöne Bedingungen für ästhetiW das Erhabene sche Urteile und für künstetc. lerisches Schaffen
transzenden- systematische Ich tale Vernunft- Einheit der Weltbegriffe begriffe Naturerkenntnis das Ideal
heuristische Annahmen zum Ordnen der Verstandeserkenntnisse
DG
einfache theoretische Ideen
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reine Luft reine Erde etc.
heuristische Annahmen für DG einzelne naturwissenschaftliche Nachforschungen
architektonische Ideen
systematische Einheit einer Wissenschaft / Untersuchung
reines heuristische Annahmen zur W Denken Forschung, Aneignung und reines Wollen Darstellung des Wissens Rechtswissenschaft Philosophie etc.
Vernunftbegriffe von der Vernunft
alle obigen Ideen reine Selbstund Funktionen tätigkeit reines Denken reines Wollen Freiheit, (eigenstes) Ich etc.
begriffliche Artikulation der Vorstellung der Vernunft von sich selbst als Bedingung der Ideen
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2.4.2 Exkurs: Ordnung und kategoriale Bestimmtheit der transzendentalen Ideen Es ist interessant und für unsere weitere Untersuchung teilweise von Relevanz, kurz anzumerken, dass Kant in der transzendentalen Dialektik im Abschnitt mit dem Titel »System der transzendentalen Ideen« explizit eine konkrete Ordnung in der Darstellung der Vernunftbegriffe für richtig hält. Wo die Vernunft im theoretischen Bereich zu dem gegebenen Bedingten ein Unbedingtes suchen muss, findet sie nicht mehr als drei Arten von Vorstellungsverhältnissen (KrV A333 f./B390 f.): 120 (1) Entweder beziehen sich alle Vorstellungen (aller Art, seien es die des äußeren oder inneren Sinnes, Emotionen, Empfindungen, Anschauungen, sinnliche oder übersinnliche Begriffe) auf ein Subjekt (Ich) als ihren absoluten Grund, oder (2) auf ein Objekt (Welt), in dem sie sukzessive Reihen von Erscheinungen bilden, deren jede auf irgendetwas Unbedingtes hinausläuft, oder (3) auf ein Substrat (Ideal), welches der Möglichkeit aller Vorstellungen überhaupt (in (1) und (2)) zugrunde liegt. Die Ansichten (1) und (2) sind zueinander konträr und bilden in (3) eine absolute Synthesis. Man merkt also, »dass unter den transzendentalen Ideen selbst ein gewisser Zusammenhang und Einheit hervorleuchte, und dass die reine Vernunft vermittelst ihrer, alle ihre Erkenntnisse in ein System bringe« (KrV A337/B394). Dieser Zusammenhang zeigt sich darin, dass man analytisch (1) von der Selbsterkenntnis, (2) zur Welterkenntnis und (3) schließlich zum Urwesen auf eine natürliche Weise wie in einem logischen Schluss fortschreitet. »Analytisch« heißt hier nichts mehr als der Aus- und Fortgang von etwas als gegeben Angenommenem, nämlich »von demjenigen, 120 Der Verstand kennt entsprechend der Klasse der Relationskategorien nicht mehr als diese drei Arten des Verhältnisses, (a) der kategorischen Synthesis (Inhärenz und Subsistenz), (b) der hypothetischen Synthesis von Gliedern einer Reihe (Kausalität und Dependenz) und (c) der disjunktiven Synthesis der Teile einer Reihe in einem System (Gemeinschaft) – vgl. KrV A323/B379. Die Lehre von Vernunftschlüssen wird hier wie auch schon oben mit dem Hinweis auf die Arbeiten von Klimmek (2005), Pissis (2012) und Bunte (2016) übersprungen, da ihre Darstellung ein zu weiter Exkurs wäre. Mithin wird auch die Frage ausgeblendet, ob die Rede von Vorstellungsverhältnissen einen zweiten, separaten Anlauf bei der metaphysischen Deduktion der Ideen darstellt, oder ob und wie sie die Deduktion aus Vernunftschlüssen ergänzt.
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was uns Erfahrung unmittelbar an die Hand gibt« (KrV A337/ B395), 121 i. e. (1), über etwas, was darüber hinaus liegt, nämlich (2), und von dort aus zu der gegenüber der objektiven Realität entferntesten Vorstellung (vgl. KrV A568/B596), i. e. (3). 122 Dieses Argument, die transzendentalen Ideen mithilfe des Kriteriums der Entfernung von der empirisch zugänglichen Wirklichkeit ordnen zu können, kann um ein weiteres ergänzt werden, das aus der Struktur der Kategorien resultiert: Kant erklärt in den Prolegomena, dass er in der Kritik der reinen Vernunft stets darauf abzielte, die Erkenntnisarten und die dazugehörigen Begriffe »aus ihrem gemeinschaftlichen Quell« abzuleiten und schließlich »die Vollständigkeit in der Aufzählung, Klassifizierung und Spezifizierung der Begriffe a priori, mithin nach Prinzipien zu erkennen« (Prol AA IV 329). Sind die 12 Urteilsfunktionen und Kategorien vollständig, dann sind es auch die Tafeln der Grundsätze des Verstandes sowie der Begriffe von Etwas und Nichts und selbst die transzendentalen Ideen (vgl. ebd. 325). Für die Vollständigkeit der Letzteren spricht einerseits die Ausschöpfung der Vorstellungsverhältnisse, von denen es gemäß den Relationskategorien nur drei Arten geben kann (vgl. KrV A338/B396 und Prol AA IV 330). Dies ist aber nicht der einzige Nutzen der Kategorien im Hinblick auf die Vollständigkeit der Vernunftbegriffe. Jede der drei transzendentalen Ideen begreift in sich jeweils vier unterschiedliche Notionen (aus denen die Kategorien laut der Vorstellungsleiter bestehen), durch die sie logisch bestimmt ist. 123 Der Begriff »Seele« wäre komplett leer und 121 Damit ist in dieser Anmerkung von Kant entweder die Selbsterkenntnis im allgemeinen, noch zu destruierenden Sinne der rationalen Psychologie gemeint, oder wirklich erfahrbare Vorstellungen, wie das Ich des inneren Sinnes. Die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Erfahrung der Seele an sich ist in der kritischen Philosophie ausgeschlossen. 122 Die Rede von der analytischen Darstellungsmethode hat nichts mit dem Unterschied zwischen den analytischen und synthetischen Sätzen zu tun. Sie bedeutet nur, allgemein verstanden, dass man sich auf einen Ausgangspunkt stützt, der gegenüber anderen Theorieteilen mehr oder weniger zuverlässig bekannt ist. Es ist deswegen plausibel, bei der Behandlung der Ideen von dialektischen Ich-Vorstellungen auszugehen, weil das Urwesen oder Begriffe wie die Unendlichkeit der Welt noch ferner von der Erfahrung zu liegen scheinen. Diesen hier gemeinten Sinn von »analytisch« kann man sich analog aus Prol AA IV 263 sowie insbesondere 274 und 276 erschließen. 123 Eine rein analytische Bestimmung eines übersinnlichen Begriffs ist in der Metaphysik per se eine wertvolle definitorische Leistung, gegen die Kant nichts einzuwenden hat (vgl. Prol AA IV 273 f.). Die Probleme ergeben sich nur, wenn die logische
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unbestimmt, wenn man sie sich nicht als ein einfaches, reales, substantielles und seiendes Etwas vorgestellt hätte. Die Kritik zeigt zwar, dass diese logischen Attribute jenseits der Erfahrung zu keiner theoretischen Erkenntnis führen, sie sind aber eine unentbehrliche Bedingung dafür, dass man sich einen Gegenstand, unabhängig davon, ob er sinnlich oder übersinnlich ist, überhaupt bestimmt denkt (vgl. z. B. KpV AA V 136 f., 141 und FM AA XX 280). Um nachzuweisen, dass die dogmatische Metaphysik irrt, wenn sie glaubt, etwas über die Schranken der Erfahrung Hinausliegendes erkennen zu können, muss gezeigt werden, welche konkreten reinen Verstandesbegriffe zum Denken der Seele, der Welt und von Gott gebraucht werden (und welchen bestimmten Schein sie produzieren, wenn sie dabei nicht rein analytisch, sondern synthetisch verwendet werden). Diese sind, wenn man den Abschnitt zur transzendentalen Dialektik möglichst genau liest, die Folgenden: 124 (1) Ich / Seele kategorisch auf das Subjekt
(2) Weltbegriffe (3) das Ideal hypothetisch Disjunktiv auf das Objekt auf das Substratum
Quantität
Einheit (2. Paral.)
Vielheit (1. Antin.)
Allheit
Qualität
Realität (3. Paral.)
Negation (2. Antin.)
Limitation
Relation
Substanz (1. Paral.)
Kausalität (3. Antin.)
Gemeinschaft
Modalität
Dasein (4. Paral.)
Notwendigkeit (4. Antin.)
Möglichkeit
Vorstellungsverhältnisse
Denke ich mich als das Subjekt aller meiner Urteile, dann bin ich eine denkbare, aber keine wirkliche Substanz (vgl. KrV B407, A348 und Prol AA IV 333 ff.). Ich gehe davon aus, dass ich nur ein einziges Ich habe, darf aber von der vorgestellten logischen Einheit nicht auf seine reale Einheit schließen (vgl. KrV B407 f. und A351 f.). Auch wenn Bestimmung für eine synthetische Erkenntnis dessen genommen wird, was eine bloße Vorstellung ist. 124 Diese Struktur ist eine relativ junge Entdeckung in der Kant-Forschung, auf die insbesondere Klimmek 2005: 69 und Bunte 2016: 154 ff. aufmerksam machen. Unsere Übersicht deckt sich mit denen der beiden Autoren und weicht nur hinsichtlich der Zuordnung der Modalkategorien zu den transzendentalen Vernunftbegriffen ab. Der Grund dafür im Folgenden (vgl. die Fußnote unten).
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sich alles zu verändern scheint, kann ich behaupten, dass mein eigenstes Ich stets mit sich selbst identisch bleibt: etwas Reales, nicht durch äußere Zustände Veränderbares ist – was ich zwar denken, aber nicht erkennen kann (vgl. KrV B408 f., 419 und A361 ff., 404). Dass ich mich, als ein existierendes Wesen, von Dingen außer mir unterscheide, ist »ein analytischer Satz; denn andere Dinge sind solche, die ich als von mir unterschieden denke« (KrV B409). Ob ich aber auch unabhängig von den Vorstellungen der äußeren Dinge und an sich existiere, kann ich nicht wissen (vgl. KrV B409 ff., A366 ff. und Prol AA IV 336 ff.). 125 Entsprechend versucht Kant im Hinblick auf die antinomischen Weltbegriffe »nach der Tafel der Kategorien die Tafel der Ideen einzurichten« (KrV A411/B438). Die Erweiterung der Kategorie der Vielheit führt zur Annahme der Unendlichkeit der Welt und zur entsprechenden Antithese. Die Negation auf die unendliche Teilbarkeit vs. ein letztes Unteilbares, die Kausalität auf die Idee der Freiheit vs. den Determinismus, die Notwendigkeit auf den Widerstreit hinsichtlich der Frage, ob es ein »schlechthin notwendiges Wesen« (KrV A452/B480, vgl. A559 ff./B587 ff. und Prol AA IV 339) gebe, oder ob alles kontingent sei. Das transzendentale Substrat wird von Kant als der Inbegriff aller Möglichkeit eingeführt (vgl. KrV A571 ff./B599 ff.), welches also alle Prädikate zu allen möglichen Dingen enthält. Zur bloßen Denkbarkeit des Ideals der reinen Vernunft gehört entsprechend die Annahme der Allheit des Stoffs zu allen denkbaren Dingen überhaupt. Wenn einzelne Dinge innerhalb des Ideals bestimmt werden sollen, dann sind sie Einschränkungen (Limitationen) des einen Unbeschränkten (vgl. A575 f./B603 f.). Sie sind es aber nur insofern, als ihnen einige Prädikate beigelegt werden und andere von ihnen ausgeschlossen, wobei ihr Ausschluss mit zu der durchgängigen Bestimmung der einzelnen Gegenstände im Ganzen des Ideals gehört (Gemeinschaft) (vgl. KrV A576 ff./B604 ff. und B111 ff.). Dass die transzendentalen Ideen in der analytischen Ordnung der Vorstellungsverhältnisse auf das Subjekt, das Objekt und auf das 125 Im Rahmen des letzten Paralogismus greift Kant insbesondere den materialen Idealismus von Descartes und Berkeley an. Es geht darum, zu zeigen, dass das Bewusstsein meines eigenen Daseins (im inneren Sinn) nur vermittelst der äußeren Erfahrung von Dingen möglich, die mich affizieren – vgl. auch KrV B274–279. Das heißt wiederum, dass die Behauptung meiner von Dingen abgetrennten Existenz ein ungültiges synthetisches Urteil darstellt.
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Substrat behandelt werden, hängt mit ihrer konkreten Zusammensetzung aus den oben genannten Notionen zusammen. Über die Tafel derselben lassen sich nämlich, wie Kant schreibt, »artige Betrachtungen anstellen, die vielleicht erhebliche Folgen in Ansehung der wissenschaftlichen Form aller Vernunfterkenntnisse haben könnten« (KrV B109, vgl. ebd. 109–113 und Prol AA IV 325 f.). So kann man z. B. (a) feststellen, dass die Quantitätskategorien einen Fortschritt von der Einheit über die Vielheit zur Allheit darstellen – entsprechend gehen wir von der Ich-Vorstellung aus und über die Welt zum Ideal. Auch gibt es (b) in jeder Klasse nur drei Kategorien, wie auch nur drei transzendentale Ideen. Ferner (c) merkt man, dass die jeweils dritte Kategorie jeder Klasse aus den ersten beiden synthetisiert ist – auch könnte man von Kant unabhängig eine Betrachtung (d) anstellen, dass die jeweils zweite Kategorie eine Art von Entgegensetzung zur jeweils ersten ausmacht. Entsprechend enthält die Vorstellung des Ideals die Synthesis aller Vorstellungen, die entweder zum Ich oder zur Welt gehören. Die Ausnahme von dieser Struktur ist die Reihenfolge der Modalkategorien in der obigen Tabelle. 126 Es gibt also gute Gründe dafür, mithilfe der Kategorientafel für die von Kant gewählte analytische Ordnung der transzendentalen Ideen zu argumentieren sowie für die konkrete Zuordnung von Kategorien zu diesen. Allerdings darf man daraus kein absolutes Kriterium dafür hernehmen, dass sie ausschließlich mithilfe dieser und keiner anderen Notionen logisch bestimmt werden können. Kant lässt offensichtlich einen Freiraum offen, indem er erstens von der Ordnung der Modalkategorien abweicht und zweitens an mehreren Stellen auch andere Vorschläge zum bestimmten Denken (rein analytischem, um das es uns hier nur geht) der übersinnlichen Gegenstände vorschlägt. So heißt es z. B.:
126 Die Darstellungen der Notionenstruktur der transzendentalen Ideen von Klimmek und Bunte (vgl. die obige Fußnote) sind hinsichtlich der Modalkategorien nicht korrekt, weil sie sich offensichtlich ohne Weiteres auf die Betrachtung (c) verlassen haben. Bei Klimmek fehlt die genaue Textanalyse hinsichtlich der Modalkategorien und für Buntes bestimmungslogischen Beweis der Vollständigkeit der Kategorien ist jegliche Veränderung der Reihenfolge ungünstig. Bei Kant findet jedoch eine Abweichung statt, die leicht festgestellt werden kann, wenn man die oben genannten Stellen nachschlägt. Dies sollte gerade positiv bewertet werden, weil es neben mehreren anderen abweichenden Stellen zeigt, dass Kant auch anders begriffene Ideen zulässt, für die die Kritik aber genauso gilt.
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Weil man auch nicht sagen kann, dass ein Urwesen aus viel abgeleiteten Wesen bestehe, indem ein jedes derselben jenes voraussetzt, mithin es nicht ausmachen kann, so wird das Ideal des Urwesens auch als einfach gedacht werden müssen (KrV A579/B607, hervorgehoben von M. L.).
Die Kategorie der Einheit wäre damit doppelt gebraucht, einmal zum Denken des Ichs und einmal zur Vorstellung des höchsten Wesens. In einer analytischen Hinsicht (als Substrat) kann es als das All der Realität angesehen werden, in anderer aber (bezüglich seiner Beschaffenheit) als einfach. Nichts hindert einen dogmatischen Metaphysiker oder auch jemanden, der einfach nur rein logisch mit Begriffen spielen will, das Ideal ebenso mithilfe der Existenzkategorie, der Notwendigkeit, der Substanz und Realität zu denken (vgl. z. B. KrV A696/ B724). In allen Fällen denkt er es zwar dank der Kategorien bestimmt, erkennt dadurch aber nichts: Es reicht auch nur am Beispiel der IchVorstellung zu zeigen, dass z. B. die Kategorie der Substanz keine synthetische Erkenntnis a priori liefern kann und das gilt für die Anwendung dieser auf jeden anderen übersinnlichen Gegenstand. Die Ordnung der Kategorien hilft zwar Kant zur Strukturierung der transzendentalen Dialektik, er vertritt aber kein starres System der absoluten Zuordnung der Kategorien zu den einzelnen Ideen. Das wäre u. a. im Hinblick auf die Kategorie der Kausalität und der mit ihr verbundenen Freiheitsidee fatal. Sie wird auch zur Bestimmung des Subjekts qua autonomer Vernunft gebraucht (und erhält dadurch praktische Realität), mithin nicht ausschließlich auf die sukzessive Reihe der Weltbegebenheiten angewandt (wäre das so, dann würde sie nie über den Status eines problematischen Begriffs hinauskommen).
2.5 Rückblick auf Ergebnisse Bevor wir weitergehen und prüfen, wie und inwieweit Fichte das Kantische Forschungsprogramm der Vernunft im engeren Sinne weiterführt, wollen wir einen Rückblick auf die wesentlichen Ergebnisse des ersten Abschnitts des ersten Teils (2) werfen. (2.1) Da Kant sich bei dem Entwurf des Konzeptes »Vernunft im engeren Sinne« explizit auf Platons Ideenlehre bezieht, wurden zur Einführung einige Grundbestimmungen und -probleme untersucht, die Kant mit seiner transzendentalphilosophischen Version der Ideenlehre in einem neuDas System der Ideen
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en Licht erscheinen lässt und umgehen will. (2.2) Eine der grundlegenden Änderungen besteht darin, dass die Ideen als Vorstellungen (mentale Produkte, und zwar die reinsten und höchsten) aufgefasst werden, die Kant mit der Kritik am frühneuzeitlichen Rationalismus und Empirismus sorgfältig von allen anderen Vorstellungsarten unterscheidet, die Vernunft, als ein geistiges Vermögen, als ihre genuine Quelle begreifend. (2.3) So wie bei Platon die Ideen bestimmte Voraussetzungsfunktionen erfüllen, unterscheidet Kant mehrere Arten der reinsten Vorstellungen, die von der Vernunft gebildet, in unterschiedlichen Feldern angewandt und mit unterschiedlichen Funktionen verbunden werden. (2.3.1) Es wurden zunächst 6 Ideenarten und ihre immanenten Voraussetzungsfunktionen untersucht: (1) Postulate, (2) einfache praktische Ideen (inklusive politischer und religiöser), (3) ästhetische Ideen, (4) transzendentale Vernunftbegriffe, (5) einfache theoretische Ideen und (6) methodologische (architektonische) Ideen. Sie wurden im Anschluss zu Übersichtszwecken tabellarisch dargestellt. (2.3.2) Die Bedingung für diese Ideen und Funktionen – die Voraussetzung der Voraussetzungen – ist nun die Vernunft im engeren Sinne, die laut Kant doch immer nur eine ist. Gegenstand der Analyse wurde daher die Einheit der Vernunft trotz unterschiedlicher Anwendungsfelder der Ideen. Die siebte Ideenart muss diejenige sein, die die Vernunft selbst, als das Vermögen der Ideen, repräsentiert. Solche Begriffe wie »reine Vernunft«, »reiner Wille«, »reines Denken«, »eigentliches Ich«, »reine (Selbst-)Tätigkeit« etc. sind bei Kant Möglichkeiten, die Vorstellung von der einen Vernunft im engeren Sinne zu artikulieren. (2.3.3) Da die Ideen nichts anderes als geistige Erzeugnisse bzw. Vorstellungen, sind, ist ihr epistemischer und ontologischer Status genau bestimmbar. Für Kant sind die Ideen ontologisch gesehen leere Begriffe, entia rationis. Dennoch sind mit ihnen konkrete geistige Operationen möglich: sie haben laut Vorherigem sinnvolle immanente Funktionen. Mit dem Vorstellen der Ideen müssen daher bestimmte Überzeugungsarten, propositionale Einstellungen, verbunden werden, die je nach der Art der Ideen unterschiedlich sind. (2.4) Abschließend wurde die endgültige tabellarische Übersicht über alle bei Kant vorhandenen Ideenarten (insgesamt 7) vorgestellt. (2.4.1) Es wurde jeweils (a) die Ideenart genannt, (b) ihre Gültigkeit ermöglichende Bedingung (falls zutreffend), (c) die Ideen, die zu dieser Ideenart gehören bzw. Beispiele für sie, (d) ihre konkrete immanente Funktion und (e) die ihr angemessene Überzeugungsart (propositionale Einstellung). (2.4.2) Zu112
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rückkehrend zur Ideenart »transzendentale Vernunftbegriffe« wurde die in der Forschung aktuelle Problematik der Ordnung und der kategorialen Bestimmtheit der transzendentalen Ideen aufgegriffen. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass Kant mit Vorstellungsverhältnissen (auf Subjekt, Objekt oder beides (das Substrat)) gearbeitet und Reinheitsgrade unter den Ideen unterschieden hat (das wurde schon im Punkt (2.3.1) beim jeweils angesprochenen Verhältnis von Postulaten zu einfachen praktischen Ideen und von transzendentalen Ideen zu einfachen theoretischen Ideen angemerkt). Das sind Ansätze zum Ordnen von Ideen und Ideenarten, welche von Fichte im Ausgang von der Selbstsetzung der Vernunft viel radikaler und systematischer vollzogen werden.
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3 Fichtes Systematisierung der Vernunftfunktionen
Am 01. Januar 1798 schreibt Fichte an Kant, dass er, der »verehrungswürdige Greis«, »die völlige Ausbildung seines Geistes, die vollkommene Übereinstimmung mit sich selbst« (Fichte an Kant 01. Januar 1798 AA XII 230) erreicht hat. 127 Die obige Übersicht über die Funktionen der Vernunft ist zwar nur ein Teil von dem, was man über sich wissen kann, aber gerade derjenige, mit dem Fichte das für jeden Menschen erstrebenswerte Ideal eines Gelehrten verbindet. Im Umgang mit Ideen zeigt sich die reine Aktivität und Freiheit des menschlichen Geistes, ein Vermögen, in verschiedenen Bereichen des Lebens und Wissens selbsttätig Prinzipien zu bilden und umzusetzen. Der Gebrauch der Vernunft läuft nicht etwa auf die Schwächung der Sinnlichkeit, sondern auf ihre Aufarbeitung und Kultivierung hinaus (vgl. BdG GA I/3 31, 67, BdM GA I/6 301 f. und AzsL GA I/9 134 f.), und zwar grundsätzlich in fünf »Wirkungssphären«, als Gestalten, in denen sich das Vernunftvermögen darstellt: (1) Naturherrschaft und -kenntnis (2) Moral/Recht/Politik (3) Kunst/Moral (4) Religion (5) Wissenschaftslehre. 128 127 Unter der Übereinstimmung eines vernünftigen Wesens mit sich selbst versteht Fichte einerseits die Kenntnis der Kräfte des Geistes und andererseits einen auf sittlichen Motiven beruhenden Umgang mit Dingen außer uns, der uns der Glückseligkeit würdig macht. 128 Diese »Fünffachheit«, die beim frühen Fichte die Wissenschaftslehre und ihre Zweige (vgl. WLnm-K GA IV/3 520–523) und beim späten Fichte aus der Reflexionsstruktur der Vernunft gewonnene »Wirkungssphären« (vgl. WdG GA I/8 79) bzw. »Weltansichten« (vgl. AzsL GA I/9 103–115) darstellt, bietet für die ganze vorliegende Arbeit eine hervorragende Orientierungshilfe an. Die Vernunft ist hauptsächlich in diesen Sphären tätig, die Fichte »im reifern Mannesalter, [als Resultat der, Zusatz von M. L.] unablässig fortgesetzten Selbstbildung« überblickt, und einer Lehre, »die mir
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In diesem Abschnitt wird die Begründungsfrage noch ausgeblendet. Es soll zunächst nur gezeigt werden, dass Kant und Fichte im Grunde denselben Begriff von der Vernunft im engeren Sinne teilen und somit – trotz punktueller Abweichungen – Mitstreiter für ein klares und wirksames Wissen von ein und demselben Vermögen sind. 129 Das ist nämlich nicht auf den ersten Blick einleuchtend, wofür es mehrere Gründe gibt. Diese liegen zum einen auf der Seite der Kant-Forschung: 130 Es wird nicht auf die Vernunftfunktionen im Ganzen reflektiert, wofür die prinzipielle Einsicht nötig ist, dass die eine Vernunft bei Kant im Medium der Vorstellungsart »Idee« in unterschiedlichen Bereichen sinnvoll agiert. Zum anderen liegen die Gründe hierfür einerseits in der Weise, wie Fichte die Wissenschaftslehre darstellt, sich vom »Buchstaben« und der Darstellungsmethode Kants loslösend, und andererseits in einigen Tendenzen in der FichteForschung. Wir wollen zunächst (3.1) auf die letztgenannten kritisch eingehen. Es werden zwei bei Fichte vorkommende Modelle des Einstiegs in die Wissenschaftslehre vorgestellt und von jeweils zwei unbefriedigenden Interpretationen abgegrenzt. Damit soll der bestmögliche Standpunkt, von dem aus Fichtes Denken der Vernunft beleuchtet werden kann, gefunden werden. Anschließend (3.2) werden die in seiner Philosophie vorkommenden Arten von Vernunftbegriffen erörtert und mit den oben ausgearbeiteten von Kant identifiziert, indem von der Stufe der Wissenschaftslehre zur Sphäre der Naturherrschaft und -kenntnis hinabgestiegen wird. Dabei werden jedem Standpunkt konkrete Ideen zugeordnet.
schon vor dreizehn Jahren zuteil wurde; und welche, obwohl sie, wie ich hoffe, manches an mir geändert haben dürfte, dennoch sich selbst seit dieser Zeit in keinem Stücke geändert hat.« (ebd. 47). Wir werden uns diese Theorie der Weltansichten im Zusammenhang mit der dritten Begründungsstrategie ausführlich anschauen. 129 Das verrät allein schon ein flüchtiger Vergleich von den fünf Sphären der Ideen mit der obigen Tabelle der Voraussetzungsfunktionen. 130 Vgl. in dieser Arbeit die Fußnoten 3, 4, 68 und sowie unsere Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur zur Einheit der Vernunft im Abschnitt »Einheit und praktische Realität der Vernunft« unter 2.3.2. Das System der Ideen
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3.1 Den Anfang macht die Vernunft: Zwei Modelle Die Frage nach der Begründung der Vernunft, die später zentral wird, stellt sich im Rahmen der transzendentalphilosophischen Untersuchung: »Was weiß ich von meiner Vernunft?« Sie ist laut dem Obigen ein Vermögen der Prinzipien und wir wissen etwas von ihr dank des Faktes, dass wir tatsächlich Ideen bilden und mit ihnen Unterschiedliches bewirken können. Sie ist ferner selbstreflexiv, d. h. man kann mit ihrer Hilfe nicht bloß unterschiedliche Voraussetzungen mit entsprechenden Funktionen zum Steuern des Verstandes und des Willens entwickeln, sondern auch im Rückschluss eine Idee von ihr selbst hervorbringen. Diese bezeichnet Kant je nach Kontext als Vernunft, reines Denken, reiner Wille, reine Spontaneität, reine Tätigkeit, eigenstes Ich, Intelligenz, Freiheit, autonome Kausalität etc. 131 Welche Relevanz hat das für Fichte? Wenn Fichte alle wesentlichen Arten von (Ich-)Handlungen, die in unserem Bewusstsein vorkommen und sich nach bestimmten Gesetzen richten – das ist nämlich der Gegenstand der Wissenschaftslehre (vgl. BWL GA I/2 141) –, 132 untersuchen will, dann hat er zwei Möglichkeiten, sie zu systematisieren. Erstens kann er davon ausgehen, dass es unterscheidbare Bewusstseinszustände bzw. Gemütsbestimmungen gibt, also faktisch auffindbare und aufzählbare Tatsachen des Bewusstseins, Resultate von bestimmten Handlungen, denen entsprechende Vermögen und Gesetze zugeordnet werden. In diesem Fall kann er z. B. von Empfindungen und sinnlichen Anschauungen ausgehen, von sinnlich bestimmten Gefühlen und Trieben etc. (das Vermögen der Sinnlichkeit) und dann nach mehreren Zwischenschritten auch zu übersinnlichen Vorstellungen und Willensbestim131 Alle entsprechenden Belegstellen finden sich oben im Abschnitt zur Prinzipienlehre Kants. 132 Damit sind alle wesentlichen geistigen Vorgänge mit Bewusstsein gemeint, die in die Form der Vorstellung aufgenommen werden können, »Erkenntniß, u. Begehrung, Anschauung, Begriff, Idee« (EM GA II/3 21, vgl. ebd. 22 f.) – also »Denken, Wollen, Lust oder Unlustempfinden«, die bei Kant bloß koordiniert seien (WLnm-K GA IV/3 325). Der Allgemeinbegriff »Handlungen des Bewusstseins« oder »gesammte[s] Handeln des menschlichen Geistes« (ebd.) schließt einerseits die Vorstellungsarten und andererseits die praktischen Äußerungen des Gemüts wie Gefühle und Triebe in sich ein. Fichte benutzt für sie auch den Ausdruck »Grundbestimmungen des Bewußstseyns« (SB GA I/7 211), die der Transzendentalphilosoph ableitet. Die Theorie des Bewusstseins (der Grundbestimmungen) verhält sich zum wirklichen Bewusstsein wie die Demonstration einer Uhr zu einer wirklichen Uhr (vgl. ebd. 212).
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mungen gelangen (das Vermögen der Vernunft im engeren Sinne). Ein solches oder ähnlich vorgehendes introspektives Auffinden und systematisches Ordnen des dem inneren Sinn Gegebenen kann nach Fichte nichts mehr als eine äußerst wichtige Propädeutik zur Wissenschaftslehre sein. Diese haben v. a. Kant und K. L. Reinhold geleistet (vgl. TdB-1813-Lisco GA IV/6 158, BWL GA I/2 110 und 149, GWL GA I/2 262 f.). 133 Die zweite Möglichkeit ist ein Vorschlag im Projekt der Wissenschaftslehre selbst, nämlich die höchste und klarste aller Handlungen des Bewusstseins aufzusuchen und die übrigen zu ihr ins Verhältnis zu setzen. Der Vorteil dieser Variante liegt darin, dass die geistigen Aktivitäten dann mit besonderer Aufmerksamkeit auf kontrollierte Weise Schritt für Schritt von diesem festen Anfangspunkt aus beleuchtet werden können. 134 Welche Bewusstseinshandlung kann aber als die höchste (reinste, anspruchsvollste) gelten und ein geeigneter Kandidat dazu sein? Dank der Kantischen Philosophie wissen wir Folgendes: Unsere theoretische Ist-Erkenntnis endet mit problematischen Begriffen vom Ich, von der Welt (wie z. B. der Teilbarkeit ins Unendliche) und vom Urwesen, das hinter allen Erscheinungen steht. Sie sind unauflösbare Aufgaben, die als regulative Prinzipien der empirischen Naturforschung – je nach konzipiertem Forschungsprogramm – dienen können. Die Erkenntnis dessen, was sein soll (die praktische Erkenntnis), kulminiert ihrerseits in solchen Willensbestimmungen, bei denen die Vernunft scheinbar ganz von sinnlichen Trieben befreit sich selbst Gesetze gibt und praktische Ideen verwirklicht oder postuliert. Be133 Fichte selbst hielt in Berlin zwischen den Jahren 1810 und 1813 vier Mal Vorlesungen zu den Tatsachen des Bewusstseins, die ausdrücklich eine Einleitungsfunktion hatten. Sie dienten dem Überblick über die geistigen Handlungen, die dann in der Wissenschaftslehre systematisch aus einem Prinzip abgeleitet wurden. Auch die Logik-Vorlesung von 1796/97 (vgl. Logik-Esch GA IV/3 77–137) und die populäre Schrift Die Bestimmung des Menschen (vgl. BdM GA I/6 183–309) von 1800 sind so aufgebaut, dass Fichte den Leser allmählich, von dem Vermögen der Sinnlichkeit ausgehend, zur Beschreibung der Vernunft führt. 134 Der von Fichte ferner präsumierter Vorteil, dass nur ein solches Verfahren auf Vollständigkeit im Überblick über die Handlungen führt, ist keine dogmatische, sondern eine hypothetische methodologische Annahme, die noch durch die wirklich vollendete Ausführung seines Vorhabens zu überprüfen ist. Dabei macht Fichte nie einen Anspruch auf komplette Infallibilität in der Darstellung des Bewusstseins (vgl. BWL GA I/2 145 f.) – das ist zwar ein erstrebenswertes Ziel, aber es besteht immer die Gefahr, dass man sich in Folgerungen und Ableitungen verirrt.
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wegt man sich im Rahmen dieses Denkhorizonts, dann ist die höchste Handlung des Bewusstseins auf der Ebene der Vernunft zu suchen, die sich mit der Bildung und der Umsetzung der Ideen beschäftigt. Man kann es kaum bestreiten, dass zwischen den Vorstellungs- bzw. Handlungsarten »Empfindung« und »Vernunftbegriff« ein großer Unterschied hinsichtlich der Leistung besteht, die vom Subjekt verlangt wird. Gerade die letztgenannte Art der Tätigkeit, die reinste Spontaneität des Denkens, verleitet uns laut Kant dazu, uns als Intelligenz oder reines Ich aufzufassen (vgl. KrV A547/B575 und GMS AA IV 452). 135 Die höchste und die erste Handlung der Wissenschaftslehre liegt also auf der Ebene der Vernunft. Wie ist sie zu bestimmen? Man kann bei Fichte zwei grundlegende Modelle unterscheiden, die Darstellung der Wissenschaftslehre mit der Vernunft anzufangen.
3.1.1 Modell 1 (bis 1800): Fürsichsein der Vernunft Man kann erstens von derjenigen Vernunfthandlung ausgehen, durch die die Vernunft sich ihrer selbst bewusst wird. Sie wäre im folgenden Sinne die höchste: Die Ideen und ihre Anwendung sind zwar die primäre Voraussetzung dafür, dass wir ein Wissen von unserer Vernunft haben, dann ist aber (a) die Vernunftidee von sich selbst (durch Rückschluss von den Produkten zum Vermögen) das letzte Resultat der Selbsterkenntnis überhaupt und (b) umgekehrt, ist sie die erste Bedingung ihrer Vorstellungen zur Steuerung des Verstandes und des Willens. Diesen faktischen Zirkel »verengt« Fichte. Seine Lösung ist: Zum Einstieg in die Wissenschaftslehre, damit die Vernunft von sich selbst ein prinzipielles Bild machen und sich ihrer selbst vergewissern kann, muss sie nicht unbedingt die Vorstellungen wie »Tugend«, »Unendlichkeit der Welt«, »Gott« etc. erzeugen. Sie sollen zwar gebildet werden, damit man ein breites Wissen von diesem Vermögen hat – es ist sogar notwendig, dass eine Person im Laufe ihrer Selbstentwicklung zunächst erfährt, dass sie solche genannten Begriffe hervorbringen kann, denn zum Begreifen der Wissenschaftslehre gehört ein bestimmter Grad der Reife, den man über die vier ersten der fünf oben genannten Wirkungssphären der Ver135 Vgl. den Punkt zur Voraussetzung der Voraussetzungen oben, insbesondere zum reinen Willen.
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nunft erhält. 136 Für die Wissenschaftslehre als eine »künstliche Reflexion« über dasjenige, was im Bewusstsein auf eine natürliche Weise abläuft (vgl. BWL GA I/2 129 ff. und GWL GA I/2 363), reicht es jedoch, auch nur eine einzige Idee zu bilden, um die Vernunft zur Gewissheit von sich selbst zu bringen, nämlich die der (genitivus subjectivus und objectivus) Vernunft. Das von Fichte modifizierte bzw. verengte Verhältnis kann zu Übersichtszwecken (vereinfacht und explanativ, d. h. nicht bloß nacherzählend, sondern einen Lektüreschlüssel anbietend) wie folgt formuliert werden: (a) Die Idee meiner (genitivus objectivus) Vernunft (meines reinen, eigensten Ichs) ist ein (γ) Produkt (reiner, nicht-empirischer Begriff) und ich werde mir des (α) Aktes seiner Hervorbringung (reine Spontaneität) (β) unmittelbar bewusst (intellektuelle Anschauung); (b) Diese Handlung des Selbstsetzens (Tathandlung) kann ich wirklich vollziehen – und nur weil ich es kann (ursprüngliche Bestimmung), schreibe ich mir auch ein (δ) Vermögen zu (abgeleitete Bestimmung), das zu tun, bzw. ich bin eigentlich dieses Vermögen in actu. (c) Also kann ich mich meiner Vernunft vergewissern, sobald ich dazu (von mir selbst oder von Anderen) aufgefordert werde. 137 Beim ersten Modell ist also die Selbstsetzung der Vernunft (wie sie von sich selbst und durch sich selbst eine Idee (d. h. eine Vorstellung, 136 Die Wissenschaftslehre können am besten »schon gemachte« und zur Philosophie erzogene Persönlichkeiten – vgl. ErE GA I/4 195, AzsL GA I/9 105 f., 145 ff., 159 f. – begreifen. Die Vernunft macht den Anfang bei Fichte auch in dem Sinne, dass ohne gewisse persönliche Selbstentwicklung der Einstieg in die Wissenschaftslehre sehr schwer oder gar nicht gelingen wird. Das ist aber eine selbstverständliche Bedingung selbst für diejenigen, die sich intensiv mit Rechts-, Kunst- und Religionswissenschaften beschäftigen wollen. Die sich daraus entwickelnde praktische Begründungsstrategie der Vernunft werden wir uns weiter unten genauer ansehen. 137 Diese Reflexionsstruktur des Bewusstseins der Vernunft von sich selbst ist zwar ein Vorschlag von Fichte, ist aber dem oben behandelten »vermeintlichen« Zirkel der (praktischen) Vernunft und des Sittengesetzes bei Kant ähnlich. Der Unterschied besteht jedoch unverkennbar darin, dass Fichte nicht von kategorischen Imperativen (als Sätzen wie: »du sollst nicht lügen mit der Absicht, jemandem bloß aus eigenem Vergnügen zu schaden«) ausgeht, von denen aus die Vernunft sich als notwendige Bedingung dieser Form von Sätzen zeigt, sondern vom Sich-Machen der Vorstellung der Vernunft von sich selbst – sie wird hier rein für sich, vor der Konkretisierung in praktische und theoretische Funktionen betrachtet.
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vgl. WLnm-K GA IV/3 334 f.) bildet sowie sich dieses Vorgangs unmittelbar bewusst wird) »die höchste Handlung des menschlichen Geistes« (BWL GA I/2 141), von der aus das übrige Bewusstsein erklärt werden kann. 138 Im Folgenden wird (1) diese obige explanative Reflexionsstruktur anhand der ersten Paragraphen der Wissenschaftslehre nova methodo veranschaulicht und es wird (2) auf zwei abweichende Auslegungsmöglichkeiten kritisch geantwortet. 139
(1) Wer die Tathandlung immer schon vollzieht (real und präreflexiv – denn die Wissenschaftslehre beansprucht ein wirklich funktionierendes Bewusstsein nachzubilden) und sie sogar auf Aufforderung vollziehen kann, ist ein autonomes Vernunftwesen. Wer ein solches Vernunftwesen ist und sich so verhalten kann, muss im Grunde und potentiell gesehen auch nicht weniger dazu fähig sein können, kategorische Imperative und Als-Ob-Imperative zur systematischen Naturbetrachtung zu bilden sowie alle anderen, mehr oder weniger reinen Bewusstseinshandlungen (d. h. auch empirische Vorstellungen, Gefühle, Willensakte) vorzunehmen. Man ist also dazu prinzipiell befähigt, weil man ein Ich ist und sich eine Urheberschaft über seine Handlungen zuschreibt. Wir haben vier Momente unterschieden, die zur philosophischen Reflexion über die Selbstsetzung der Vernunft gehören – diese Reflexion vollzieht ein Philosoph, der der Fichte’schen Aufforderung folgt, die Tathandlung vorzunehmen und darauf zu achten, was dabei passiert: (α) Akt (Handlung), (β) unmittelbares Bewusstsein (intellektuelle Anschauung), (γ) Produkt (Begriff) und (δ) Vermögen. Es soll die These vertreten werden, dass die genannten Aspekte in ihrer Einheit die minimalsten Denkbestimmungen sind, die zu einem
138 Alle Vermögen des Bewusstseins sollen auf das Grundvermögen der Vernunft bezogen werden, sich selbst zu setzen – vgl. Logik-Esch GA IV/3 85 ff. 139 Wir beziehen uns auf die Krause-Nachschrift der Vorlesungen Fichtes in Jena von 1798/99. Zur Wissenschaftslehre nova methodo allgemein vgl. insbesondere Dürr (2018), Schwabe (2007) und Klotz (2002).
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konkreten Begriff vom ersten Prinzip Fichtes führen. Wenn man jedes Moment isoliert betrachtet, dann ergibt es für sich allein wenig Sinn und wenn man etwas auslässt, dann wird der Ausgangspunkt der Wissenschaftslehre unterbestimmt. Die vier Denkbestimmungen sind miteinander verwoben und machen eine Struktur aus, die folgende Merkmale aufweist: Erstens bilden sie eine geordnete und notwendige Reihe. D. h. es steht uns nicht frei, z. B. mit (δ) anzufangen, sondern wir müssen mit (α) beginnen und über (β) und (γ) zu (δ) gelangen. Zweitens können wir diese vier Momente in zwei Blöcke einteilen. (α) und (β) gehören insofern zusammen zu einem Block, als sie die Seite des Subjekts, der Aktivität, des Bildens, betonen – (γ) und (δ) hingegen die Seite des Objektes, des Stehens, des Resultat-Seins bzw. des Noch-Nicht-Aktiv-Seins. Beide Seiten zusammen ergeben die Formel: Das Ich bzw. die Vernunft ist ein Subjekt-Objekt. Drittens hat ein jedes Moment eines Blockes ein ihm entgegengesetztes Moment im anderen Block, aus dem heraus es verständlich wird – (α) ist eine gegensätzliche Bestimmung zu (δ) und (β) zu (γ). Diese drei Punkte können wir zu Übersichtszwecken tabellarisch darstellen: Subjekt Vernunft – Objekt Bestimmendes, Aktivität Selbstsetzung Bestimmbarkeit, Ruhe (α) Akt (Handlung, -(δ))
(γ) Produkt (Begriff, -(β))
(β) unmittelbares Bewusstsein (intellektuelle Anschauung, -(γ))
(δ) Vermögen (-(α))
Die letzten zwei Merkmale verweisen darauf, dass die Tathandlung eine synthetische Einheit des Entgegengesetzten 140 ist – d. h. wir vollziehen keine Analyse eines Gegebenen (sonst wäre die Wissenschaftslehre, wie Fichte seine Ansprüche ausdrückt, eine »leere Philosophie« (WLnm-K GA IV/3 344)), sondern eine fortschreitende Entwicklung, eine Deduktion. Da wir ausschließlich auf unser nichtempirisches Denken angewiesen sind, haben wir keine andere Möglichkeit, als die einzelnen Momente durch sich selbst und durch einander zu erklären. Diese geistige Operation wird Fichte später ein Durch nennen, und die Einheit des Durch wäre ein fünftes Moment 140 Für Hegel wird dieses Bewusstwerden der Einheit entgegengesetzter Bestimmungen (vgl. Hegel W 8 100 und 128) der wesentliche Charakterzug des vernünftigen Denkens sein, welches die Gegenstände konkret begreift und nicht bloß eine oder einen Teil der Bestimmungen verabsolutiert und für ein pars pro totum ausgibt – vgl. Punkt 4.3.
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(d. h. in unserem Fall: die Vernunft, die sich selbst setzt). 141 Diese begriffliche Fünffachheit des Modells 1, die zu einem Fürsichsein der Vernunft, oder anders ausgedrückt: zum Wissen der Vernunft von sich bzw. zur erfolgreichen Ideenbildung der Vernunft von sich selbst führt, wird im Folgenden schrittweise in der Wissenschaftslehre nova methodo 1798/99 nachgewiesen. Sie ist auch in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 enthalten, allerdings auf eine weniger offensichtliche Weise und breiter über den Text verstreut (auf die entsprechenden Stellen wird gelegentlich verwiesen werden). 1
Das Wesen der Vernunft: Fichtes Vorbemerkungen in den beiden Einleitungen Die vier Momente, die Fichte in den §§ 1–3 der Wissenschaftslehre nova methodo in Verbindung bringen will, gehören zur philosophischen Reflexion über das Fürsichsein der Vernunft. Deswegen muss er seinen Zuhörern einen Vorbegriff der Vernunft als Ausgangspunkt seiner Philosophie geben. Das tut er in der ersten Einleitung in die Wissenschaftlehre nova methodo, indem er sagt, »das Wesen der Vernunft besteht darin, daß ich mich selbst setze« (WLnm-K GA IV/3 328, vgl. 341). In der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre heißt es entsprechend: »Dasjenige dessen Seyn (Wesen) blos darin besteht, daß es sich selbst als seyend, sezt, ist das Ich, als absolutes Subjekt« (GWL GA I/2 259). 142 Diese Wesensaussage kann als die Definition des ersten Prinzips der Wissenschaftslehre angesehen werden. Man sollte sich dabei nicht von der Gleichsetzung von »Ich« und »Vernunft« irritieren lassen, die sowohl der frühe als auch, wie wir weiter unten sehen werden, der späte Fichte macht – denn man soll sich unter diesen Ausdrücken zunächst nichts weiter vorstellen als diese Wesensaussage. 143 Dafür finden sich zahlreiche Belege: 141 Zur formalen Struktur der Fünffachheit, auf die wir hier nicht weiter eingehen werden, vgl. insbesondere Meckenstock (1974) und Janke 1993: 240. 142 Daher können wir solchen Interpretationen nicht folgen, in denen behauptet wird, die Wissenschaftslehre nova methodo unterscheide sich wesentlich von der ersten Wissenschaftslehre, weil nicht vom absoluten Ich ausgegangen werde – vgl. z. B. Hanewald 2012: 215–258. Die Absolutheit des Ichs bzw. der Vernunft besteht aber genau darin, dass sie für sich ist, d. h., sich selbst setzt und alles Weitere vorläufig ausblendet. 143 Dennoch, wie gesagt, ist es kein reiner Zufall, dass Fichte ausgerechnet den Begriff »Vernunft« benutzt, um sein Grundprinzip zu bezeichnen, und nicht etwa »Verstand«
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»Der Saz der Ichheit ist der Saz des Sichselbst-Sezens, ist Vernunft« (LogikEsch GA IV/3 87), »Der Idealismus geht aus. von dem S[ich].setzen des Ich, oder von der endlichen Vernunft überhaupt« (WLnm-K GA IV/3 341); »Dieser Idealismus geht aus, von einem einzigen GrundGesetze der Vernunft, welches er im Bewußtsein unmittelbar nachweist« (ErE GA I/4 204); »durch Beobachtung des ursprünglichen Verfahrens der Vernunft, als gültig für die Vernunft, müsste er zeigen, zuförderst: wie das Ich für sich sey und werde« (ZwE GA I/4 213); »welches ist denn der Inhalt der Wissenschaftslehre in zwei Worten? Dieser: die Vernunft ist absolut selbständig; sie ist nur für sich; aber für sie ist auch nur sie« (ebd. 227); Einen solchen Punct stellt nun unser System auf, und geht von demselben aus. Die Ichheit, die Intelligenz, die Vernunft, – oder wie man es nennen wolle, ist dieser Punkt (SL GA I/5 21).
Zu dem Vorbegriff der Vernunft gehört ferner die Einsicht, dass dasjenige, was sich selbst setzt, sich nur unter bestimmten Bedingungen setzen kann (vgl. WLnm-K GA IV/3 32 f.). D. h. das Wesen der Vernunft ist nur unter bestimmten conditiones sine quae non realisierbar. Zu diesen gehört die Welt, in der die Vernunft tätig ist und die sie von sich unterscheidet (sich von ihr abstrahiert) und sich zum Gegenstand macht. Dazu gehört z. B. auch das Vermögen, dessen sie sich bedient, um ihr Wesen zu realisieren und welches sie von anderen abgrenzt. Das Ich setzt sich also, um die Bedingungen seines Fürsichseins, seiner Selbständigkeit und Freiheit einzuholen, eine Reihe von (nur vorläufig ausgeblendeten) notwendigen Elementen. Diese notwendigen Setzungen bzw. Bewusstseinshandlungen sind der Gegenstand der Wissenschaftslehre, die schrittweise von einem Anfangspunkt aus deduziert werden. Die vier Momente, die wir untersuchen wollen, sind selbst nähere notwendige Bedingungen, die mit der Selbstsetzung der Vernunft zusammenhängen und die in der philosophischen Reflexion über diesen Akt unterschieden werden. 2 Der Handlungsaspekt der Selbstsetzung der Vernunft (α) Das Wesen der Vernunft, sich selbst zu setzen, muss in einem wirklich funktionierenden Bewusstsein als immer schon realisiert angenommen werden. Genauso das Gegensetzen (zweiter Grundsatz der Wissenschaftslehre) und das Teilen (dritten Grundsatz). In einem Brief an Reinhold (2. Juli 1795 GA III/2 344 f.) erklärt Fichte, dass
oder »Person« – vgl. auch Fichtes direkte Anknüpfung an den Kantischen Vernunftbegriff gleich schon in der Einleitung (WLnm-K GA IV/3 355). Das System der Ideen
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diese Handlungen auf der ursprünglichen Ebene des Bewusstseins keine Namen haben und einfach nur die Gesamtheit der Tätigkeit des menschlichen Geistes bedeuten. Es handelt sich bei dem ursprünglichen, immer schon stattfindenden Selbstsetzen also weder um Denken noch Anschauen noch Empfinden, Begehren oder Fühlen. Anders sieht es aber aus, wenn ein transzendentaler Bewusstseinsphilosoph sich den Selbstsetzungsakt (die Tathandlung) absichtlich vergegenwärtigt. Sobald er dies tut, kann er sukzessiv mehrere Momente unterscheiden, die als Bedingungen dafür gelten, dass dieser Akt erfolgreich und mit einem gewinnbringenden Ergebnis verläuft. Denn der Wissenschaftler will am Ende wissen, wie der menschliche Geist funktioniert – er will eine »Theorie des Bewustseins« (WLnm-K GA IV/3 349) aufstellen. Sobald Fichte den Zuhörer (§ 1) dazu auffordert, Ich zu sagen (vgl. ebd. 327) bzw., was dasselbe ist, den Begriff Ich zu denken (vgl. ebd. 345) oder zu entwerfen (vgl. ebd. 349), vollzieht sich eine Reihe von geistigen Operationen, die ursprünglich immer schon verlaufen, nun aber bewusst – aus der Innenperspektive – unterschieden werden können. Das erste, was dem Philosophen performativ unmittelbar klar wird, sobald er die Tathandlung vollzieht, ist ein Handeln. Das Denken des Ichs ist ein Vorgang im Bewusstsein, ein Prozess, eine Tätigkeit, eine Bewegung: »Handeln ist gleichsam AGILITAET, Uibergehen im geistigen Sinne« (ebd. 348). D. h. sobald wir einen Begriff vom Ich bzw. von der Vernunft bilden, müssen wir notwendigerweise das geistige Handeln, die Spontaneität, bemerken, und sie als eine conditio sine qua non (ohne die kein Begriff möglich wäre) setzen. Man sollte sich dabei von einer solchen Auslegung Fichtes befreien, bei der (A) die aufgeforderte Tathandlung von (B) der aufgeforderten Reflexion darüber so unterschieden wird, dass (A) als ein einmalig stattgefundenes Ereignis in der Vergangenheit angesehen wird, an das wir uns in (B) nur nachträglich erinnern. Das wäre ein äußerliches Verhältnis, eine Analyse post factum. Vielmehr kann die Tathandlung zum Zweck der philosophischen Untersuchung unzählige Male vorgenommen werden und nach einzelnen Momenten (α), (β), (γ) und (δ) hin von innen befragt werden: Wir haben die Freiheit dazu, weil wir ein Ich sind. Unser Gegenstand ist unser Bewusstsein, d. h., wir haben es weder mit einem äußeren Objekt (wie der Wand oder dem Ofen) noch mit einem unbewussten oder außer unserer Kontrolle stehenden oder vergangenen Bewusstseinsinhalt zu tun. Der philosophischen reflexi124
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ven Thematisierung muss also tatsächlich etwas entsprechen, was sich jeder durch freies wiederholtes Sagen »Ich« gewiss machen kann – ein in sich lebendiges Bewusstsein. 144 3 Das unmittelbare Bewusstsein der Handlung (β) Zum Selbstsetzen bzw. zur Tathandlung gehört aber nicht nur der geistige innere Vollzug, sondern auch das Bewusstsein darüber, dass gehandelt wird – ohne ein solches Bewusstsein könnten wir auch nicht über die Handlung sprechen. D. h., wir haben nun zwei Momente zu unterscheiden, die Handlung und die Beobachtung der Handlung, denn »man soll innerlich handeln, und diesem Handeln zusehen« (ebd. 344). Der Aufgeforderte muss dazu nichts weiter tun, als aufmerksam auf die Begriffsbildung »Ich« zu achten – denn wer eine prozesshafte Veränderung im Bewusstsein feststellt, hat ein Bewusstsein von ihr. Die Antwort auf die Frage, wie wir uns des Handelns bewusst werden konnten, ist also, wie Fichte das ziemlich simpel ausdrückt: »wir beobachteten uns, und wurden uns deßen im Handeln bewust. Ich der ich handelte, wurde mir bewusst meines Handelns« (ebd. 346). Dieses unmittelbare Bewusstsein belegt Fichte auch mit dem Terminus intellektuelle Anschauung, der in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, deren Anfang Fichte an Kant nach Königsberg geschickt hat, noch gar nicht vorkommt. 145 Der Grund dafür liegt darin, dass Fichte diesen Begriff anders als Kant verwendet, was zu Missverständnissen geführt haben könnte und auch aufgrund anderer Veröffentlichungen schließlich tatsächlich geführt hat. In der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre erklärt Fichte, wie es dazu kam (vgl. ZwE GA I/4 224 f.). Während Kant unter der intellektuellen Anschauung ein Erschaffen des Seins oder der Dinge an sich aus dem Nichts, wie bei einem vorstellbaren intellectus archetypus, versteht, meint Fichte darunter ein Bewusstsein des eigenen geistigen Handelns. Das Konzept der intellektuellen Anschauung 144 An dem unflexiblen (A)-(B)-Modell scheint sich beispielsweise Ulrich Schwabe zu orientieren, der infolgedessen dem (A) das Anschauungsmoment überhaupt zuordnet, das bei ihm für so etwas wie ein ursprüngliches Sich-Denken als Ganzes steht, welches erst nachträglich in (B) als solches begriffen und eingeholt wird – vgl. Schwabe 2007: 397 ff. Wir wollen dagegen dafür argumentieren, dass bereits in (A) die Momente (α), (β), (γ) und (δ) zu finden sind, was gewiss ist, wenn man die Tathandlung immer wieder vollzieht und nach ihnen befragt. 145 Für das Anschauungsmoment steht aber die Aussage »Ich bin« im § 1 – vgl. auch RezAe GA I/2 57.
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in der ersten Bedeutung ist für ihn »die völligste Verdrehung der Vernunft, […] ein rein unvernünftiger Begriff« (ebd. 225, vgl. WLnm-K GA IV/3 347 f.). Dieser Verwirrung kann man vorbeugen, wenn man die intellektuelle Anschauung nicht ohne Weiteres als den absolut ersten Grund des philosophischen Systems der Wissenschaftslehre proklamiert. 146 Diese Behauptung würde mindestens aus zwei Gründen nicht stimmen: Erstens findet eine Handlung der Begriffsbildung »Ich« statt, und auf diese bezieht sich das unmittelbare Bewusstsein. Die intellektuelle Anschauung erschafft sich nicht ein Ich ex nihilo, sondern begleitet die Handlung der Bildung des Begriffes »Ich« – diese reale Handlung (α) ist ihr Objekt. 147 Man kann also höchstens sagen, die intellektuelle Anschauung erschafft sich das Bewusstsein der realen Handlung. Das unmittelbare Bewusstsein von (α) ist zwar auch eine innere Tätigkeit, ein Vorgang im Bewusstsein, aber ein idealer (aufmerkender). »Die ideale Thätigkeit hätte nichts ohne die reale, und sie wäre nichts, wenn ihr nicht durch REALE etwas hingestellt würde« (ebd. 361). Die intellektuelle Anschauung ist also keineswegs der Anfang der Wissenschaftslehre, sondern es ist der Vollzug im Denken des Ichs, ein wirkliches innerliches Handeln, mit dem sie aber zugleich stattfindet. Fichte gibt uns eindeutige Definitionen der intellektuellen Anschauung, die solche Fehldeutungen von den Momenten (α) und (β) nicht erlauben – wie z. B.: »Dieses dem Philosophen angemuthete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Acts, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellectuelle Anschauung« (ZwE GA I/4 216). Die ideale Tätigkeit des unmittelbaren Bewusstseins ist als ein Nachbilden (vgl. WLnm-K GA IV/3 361) eine weitere Bedingung, unter der das Wesen des Ichs realisiert wird. Denn zur Selbstsetzung gehört nicht nur ein Akt, sondern auch ein Bewusstsein davon. 148 146 Man soll aus der herausragenden Bedeutung, die sie hat und die Fichte unterstreicht, nicht sofort folgern, dass sie der ganze Anfangspunkt der Wissenschaftslehre sei. Sie ist lediglich ein ideales Moment (β), das ein reales (α) begleitet und mit ihm zugleich ist. Sie ist unhintergehbar, sollte aber nicht als ein pars pro toto der geistigen Handlungen angesehen werden. 147 Von dieser Handlung (α) ließe sich sagen, sie sei »ein erschaffen aus nichts, ein Machen deßen[,] was nicht war, ein absolutes anfangen« (WLnm-K GA IV/3 360), nicht aber von der intellektuellen Anschauung, was nach Fichte ja eine Verdrehung der Vernunft wäre. 148 Für die ideale Tätigkeit der intellektuellen Anschauung, die mit der realen Handlung des Selbstsetzens einhergeht, gibt Fichte auch die Formel »man setze sich als sich
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Zweitens würde diese im negativen Sinne abstrakte Aussage deswegen nicht stimmen, weil (β) nur eines der vier Momente ist, die wir zwar subtil und sukzessiv unterscheiden, die aber notwendig zusammengehören. Ein weiteres Moment ist der Begriff, das Produkt der Begriffsbildung »Ich«. 4 Das Produkt der Handlung: Begriff der Vernunft (γ) Dass Begriffe ohne Anschauungen leer wären und Anschauungen ohne Begriffe blind (vgl. KrV A48/B75), trifft auch auf die intellektuelle Anschauung zu (vgl. WLnm-K GA IV/3 349). Die Selbstsetzung gilt solange als unvollendet, bis ein Resultat fixiert wird. Wir gingen aus von dem (α) realen Handlungsaspekt der Begriffsbildung, auf die sich die (β) ideale Tätigkeit der intellektuellen Anschauung bezog. Nun gehen wir zum (γ) Produkt, das ohne (α) und (β) leer und unbestimmt wäre. Der gemeinsame Charakter der Momente (α) und (β) war die Tätigkeit. Sowohl der reale Vollzug der Begriffsbildung als auch das ideale unmittelbare Bewusstsein davon waren Vorgänge im Bewusstsein. Mit dem Moment (γ), dem Begriff »Ich«, will Fichte hingegen das Merkmal der Ruhe bzw. des Zur-Ruhe-Kommens der Tätigkeit verbinden – ein Begriff entsteht (Prozess) und steht (Ergebnis). Diese Ruhe war eigentlich die Hintergrundbedingung dafür, dass wir über die ersten beiden Momente reflektieren konnten – wir haben bloß von ihr abstrahiert, d. h., wir haben noch nicht, da wir schrittweise vorgehen, unsere Aufmerksamkeit auf sie gelenkt. In der Tat fand aber immer schon Folgendes statt: Um mich selbst als mich selbst setzend wahrnehmen zu können, müßte ich mich schon als gesetzt voraussetzen; zu der Thätigkeit[,] mit der ich mich setze, gieng ich über von einer Ruhe, Unthätigkeit, die ich der Thätigkeit entgegensetze. Anders konnte man die Vorstellung der Thätigkeit nicht bemerken, sie ist ein Loßreißen von einer Ruhe, von welcher zur Thätigkeit übergegangen wird. Also nur durch Gegensatz war ich vermögend, mir meiner Thätigkeit klar bewust zu werden, und eine Anschauung derselben zu bekommen (ebd. 348).
setzend« (ebd. 349). Nach Alexander Schnell (2018), der für diese die prägnante Bezeichnung »kategorische Hypothetizität« einführt, finde sie sich schon in den Ausführungen zum ersten Grundsatz der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (wie übrigens auch schon in der Begriffsschrift und im Prinzip in allen Werken Fichtes). Das System der Ideen
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Ich muss also, wenn ich (α) und (β) erkläre, einen vorhergehenden Zustand der Ruhe annehmen, nämlich einen schon gegebenen Begriff vom Ich als Ausgangspunkt, von dem ich mich losreiße zur Tätigkeit. Aber ich muss mir auch einen nachfolgenden Zustand der Ruhe denken, d. h. einen gebildeten Begriff als ihren Endpunkt: Ich richte meine Aufmerksamkeit auf den Zustand der Ruhe, in dieser Ruhe wird das[,] was eigentlich ein Thätiges ist, ein Gesetztes, es bleibt keine Thätigkeit mehr, es wird ein Product, aber nicht etwa ein anderes Product als die Thätigkeit selbst, kein Stoff, kein Ding[,] welches vor der Vorstellung des Ich vorherging; sondern bloß, ein Handeln wird dadurch daß es angeschaut wird, fixirt; so etwas heißt ein Begriff, im Gegensatz der Anschauung[,] welche auf die Thätigkeit, als solche, geht (ebd.).
Nun könnte die Frage entstehen: Was war denn zuerst, ein Begriff oder eine Tätigkeit, die zu ihm geführt hat? Laut Fichte: Weder das eine noch das andere, sondern beide sind gleichzeitig (vgl. ebd. 349). D. h., sobald Fichte aufforderte, das Ich zu denken, musste der Zuhörer schon beim und zum Verstehen dieser Worte (α) eine innere Handlung vornehmen, (β) sich ihrer bewusst sein und (γ) diese Tätigkeit mit dem Ausdruck »Ich« bzw. »Vernunft« fixieren bzw. repräsentieren – mit der Handlung ist also sofort die Tat verbunden. 149 Dass der Begriff oder die Tätigkeit zuerst sein müsste – das scheint uns nur so, weil wir die zum Selbstsetzen notwendigerweise zusammengehörenden Momente in der philosophischen Nachkonstruktion sukzessiv aufeinander beziehen. Welchen Status hat ein solcher Begriff, der nicht in Verbindung mit der sinnlichen, sondern mit der reinen, intellektuellen Anschauung, entsteht? Darüber äußert sich Fichte leider nur wenig. Offenbar ist er, wie es im § 2 auch bezüglich des Konzeptes des Nicht-Ich gesagt werden wird, kein Erfahrungsbegriff (vgl. WLnm-K GA IV/3 352) und ist laut der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre den Begriffen wie transzendentale Apperzeption, Sittengesetz, Recht und Tugend am nächsten (ZwE GA I/4 220 und 225). 150 In der Aenesidemus-Rezension findet man die folgende Stelle: In so fern das Gemüth der letzte Grund gewisser Denkformen überhaupt ist, ist es Noumenon; in so fern diese als unbedingt nothwendige Gesetze 149 Die Tathandlung ist nämlich eine reine Tätigkeit, »die kein Object voraussetzt, sondern es selbst hervorbringt, und wo sonach das Handeln unmittelbar zur That wird« (ZwE GA I/2 221). 150 Zumindest die Letztgenannten zählt Kant zu den Ideen (praktischer Art).
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betrachtet werden, ist es eine transscendentale Idee; die aber von allen andern dadurch sich unterscheidet, daß wir sie durch intellectuelle Anschauung, durch das Ich bin, und zwar: ich bin schlechthin weil ich bin, realisiren. Alle Ansprüche Aenesidems gegen dieses Verfahren gründen sich bloß darauf, daß er die absolute Existenz, und Autonomie des Ich – wir wissen nicht wie, und für wen – an sich gültig machen will; da sie doch nur für das Ich selbst gelten soll. Das Ich ist, was es ist, und weil es ist, für das Ich. Ueber diesen Satz hinaus kann unsre Erkenntniß nicht gehen (RezAe GA I/2 57).
Folgen wir diesen Aussagen, dann muss es sich bei der Ruhe, d. h. dem Begriff vom Ich, der hier für das Gemüt steht, 151 um einen Vernunftbegriff bzw. um eine transzendentale Idee handeln. Wie wir wissen, ist bei Kant die Freiheitsidee der einzige der transzendentalen Vernunftbegriffe, der im Fall des Sittengesetzes erfahrbar gemacht werden kann (vgl. KpV AA V 4 und KU AA V 468). Die Idee der Freiheit ist nichts anderes als die Idee der Vernunft, die wir aufgrund der Spontaneität bei der Hervorbringung von reinen Vorstellungen (Ideen) als unser eigenstes Ich ansehen können (vgl. KrV A547/B575 und GMS AA IV 452) – die wir uns aber erst in der praktischen Philosophie, als »Idee einer Vernunft, die über alle subjektiven Bewegursachen völlige Gewalt hätte« (GMS AA IV 421 Anmerkung), dank des Sittengesetzes veranschaulichen. Fichte hätte dies, dass es sich bei dem Begriff »Ich« um einen Vernunftbegriff, also gemäß der Kantischen Stufenleiter der Vorstellungsarten um eine Idee handelt, in der Wissenschaftslehre nova methodo bei der Einführung des dritten Moments der Selbstsetzung der Vernunft sagen oder zumindest anmerken sollen. In der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre erfahren wir erst im § 5 von dem eigentlichen »Sinn des Satzes: das Ich sezt sich selbst schlechthin […]. Es ist in demselben gar nicht die Rede von dem im wirklichen Bewußtseyn gegebnen Ich […]; sondern von einer Idee des Ich« (GWL GA I/2 409), – die wir in der philosophischen Reflexion mithilfe der Begriffsbildung und der mit ihr verbundenen Momente (α) der Handlung, (β) der intellektuellen Anschauung und (γ) der Fixierung erfassen können. Wenn wir mit Fichte mitdenken, dann benötigen wir zu Beginn der Wissenschaftslehre offensichtlich den Re-
151 In der Wissenschaftslehre nova methodo wird z. B. auch vom Gemüt direkt im Hinblick auf die Erörterung des Selbstsetzungsakts gesprochen (vgl. WLnm-K GA IV/3 354). Das Ich kann als ein pars pro toto des Gemüts angesehen werden, da wir von Ich-Handlungen sprechen, die im Bewusstsein vollzogen werden.
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kurs auf das Sittengesetz nicht – die Vernunft kann sich ihrer selbst allein schon dadurch vergewissern, dass sie von sich selbst eine Idee bildet und sich dieses Prozesses unmittelbar bewusst wird. Diese ursprüngliche Autonomie ist dadurch natürlich noch nicht in der Welt verwirklicht – sondern in der Sphäre des Fürsichseins eingeschlossen – sie ist beim ersten Grundsatz nur für das Ich da. Zu ihrer Entfaltung müssen weitere Momente deduziert werden. 152 5 Das (Grund-)Vermögen der Vernunft (δ) Wie wir gesehen haben, wurde am Anfang der Wissenschaftslehre nova methodo im § 1 auf das »Zustandebringen des Begriffs vom Ich achtgegeben und auf nichts anderes« (WLnm-K GA IV/3 350 f.). Diese Tätigkeit der Begriffsbildung, die absolute Setzung, war nur deswegen möglich, da von allen anderen Gegenständen und Handlungen abstrahiert wurde. Die Zuhörer mussten ihre Aufmerksamkeit komplett auf einen einzigen Punkt lenken und sich von sinnlichen Anschauungen, Empfindungen, Gefühlen, bestimmten Gedanken, ihrer aktuellen Lebenssituation etc. befreien. Diejenigen Bewusstseinshandlungen, die somit ausgeblendet wurden, um eine einzige Tätigkeit, nämlich diejenige des Selbstsetzens, zu untersuchen, müssen demnach der Sphäre des Nicht-Ichs angehören. Das Nicht-Ich als die Gesamtheit aller anderen möglichen Bewusstseinshandlungen, die zurückgestellt, ruhend gelassen wurde, war also eine bisher versteckte conditio sine qua non, um das Wesen der Vernunft, das einzig und allein darin besteht, dass das Ich sich selbst setzt, zu realisieren. 153 152 Es ist klar, dass die Idee des Ichs etwa im praktischen Teil der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre eine praktische Bedeutung erhält. Der Prozess der Ideenbildung, das Selbstsetzen / die Tathandlung an sich betrachtet, stellt aber die erste und basale Realisierung der Freiheit im philosophischen System dar. Praktische Aufgaben und Forderungen – wie die Vervollkommnung ins Unendliche – können nur auf Grundlage der erfolgreichen Bildung des Vernunftbegriffs »Ich« (des reinen Urbildes der Vollkommenheit) gestellt werden und wären ohne sie nicht möglich. Deswegen rekurriert Fichte im angeführten Zitat auf den § 1 und den eigentlichen »Sinn des Satzes: das Ich sezt sich selbst schlechthin« (GWL GA I/2 409) – der »Begriff«, so wird klargestellt, welcher dort gebildet wird, gehört der Vorstellungsart »Idee« an. Mit Hilfe der Ideen gibt die Vernunft dem Verstand und dem Willen bestimmte Richtungen vor, mithin auch die Aufgabe, das Wesen des Ichs in der Welt zu verwirklichen. 153 An dieser Stelle ist der Begriff des Nicht-Ichs, für den der Buchstabe D im Text gewählt wird, unterbestimmt. Wichtig ist, dass es für Fichte nichts anderes ist, als eine andere Ansicht des Ichs, also nichts, was ihm fremd wäre (vgl. ebd. 356).
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In Anknüpfung an diese Überlegungen und zurückkehrend zu der Kette (α)–(β)–(γ) führt Fichte das vierte wesentliche Moment der Selbstsetzung ein, (δ) das Vermögen. Der Tätigkeit der Begriffsbildung des Ichs, insbesondere dem Anschauungsmoment, wurde bisher die Ruhe, im Sinne eines Produkts, des Begriffs, entgegengesetzt. Fichte setzt nun der gesamten Tätigkeit überhaupt sowie dem Begriff die Ruhe im Sinne des Nicht-Stattfindens der Begriffsbildung entgegen – denn bevor wir zum Bewusstsein gekommen sind, dass sie, als eine bestimmte erfolgreich vorgenommene Handlung, stattfand, mussten wir sie als ruhend, bloß bestimmbar, noch nicht konkret realisiert, denken: Man könnte diese Ruhe oder diese Bestimmbarkeit Vermögen nennen[.] Vermögen ist nicht selbst das[,] was Vermögen hat, die Substanz; ich sage [:] die Substanz hat Vermögen; es ist ACCIDENS, auch Thätigkeit ists nicht, Vermögen ist nicht Handlung sondern das wodurch Handlung erst möglich wird (ebd. 353).
Das Vermögen der Bildung des Begriffs bzw. der Idee »Ich«, aber auch des Denkens des Nicht-Ichs als eines nicht-empirischen Begriffs, ist also eine Umsetzung der »Möglichkeit zur Würklichkeit, ein Vermögen [wird, Zusatz von M. L.] zur Thät[igkeit.]« (ebd. 360). Mit dieser Bestimmung schuldet uns Fichte Antworten auf eine Reihe von Fragen. Die erste ist, ob das Vermögen nun doch nicht der eigentliche Grund der Wissenschaftslehre wäre – denn wenn wir nicht fähig wären, den Begriff vom Ich zu entwerfen, könnten wir kein Anfangsprinzip bilden. Die Antwort auf diese Frage ist ähnlich der obigen zum Begriff – es scheint nur so, als gingen wir vom Begriff aus zur Handlung und Anschauung – und so scheint es uns nun, als gingen wir vom Vermögen aus zur ganzen Begriffsbildung, in der Tat sind das aber notwendig zusammenhängende Momente, die wir nur künstlich sukzessiv unterscheiden. Sobald Fichte den Zuhörer auffordert, die Tathandlung vorzunehmen, wird das Vermögen, also die »Möglichkeit zur Thät[igkeit]« (ebd.), sofort mit anderen Momenten verwirklicht. In der Wissenschaftslehre wird dem Handlungsmoment Priorität gegeben, weil sie von dem Ich ausgehen will, dessen Wesen in der Selbstsetzung besteht, und nicht von dem Vermögen, das als Ruhe, als etwas Gegebenes, der Seite des Nicht-Ichs (eigentlich immer noch des Ichs, bloß anders, in Ruhe aufgefasst) angehört. Die unmittelbare Performativität gibt uns zu erkennen, dass wir auch ein Vermögen zum Begriffsbildungshandeln setzen müssen, als eine conDas System der Ideen
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ditio sine qua non. Das Vermögen ist also etwas Mittelbares, Abgeleitetes, obwohl es die Bestimmung erhält, eine Bedingung dafür zu sein, dass die Möglichkeit der Tathandlung zur Wirklichkeit wird. Eine weitere Frage wäre, ob man nicht ein dogmatischer Metaphysiker ist, und kein Transzendentalphilosoph, der man vorgibt zu sein, wenn man vom Vermögen spricht. Einen solchen Einwand, den man selbst von einigen Fichte-Forschern hören kann, sobald man anfängt, vom Vermögen zur Begriffsbildung »Ich« bei Fichte zu sprechen, hat Aenesidemus-Schulze gegen Kant und Reinhold vorgebracht. Sein Argument (gegen Reinhold) lautet in etwa wie folgt: (a) Es gibt unterschiedliche Vorstellungsarten; (b) Wie jede Wirkung von ihren Ursachen verschieden ist, so ist das Vorstellungsvermögen von den Vorstellungen als seinen Produkten, von denen auf es geschlossen wird, verschieden; (c) Also müsste das Vorstellungsvermögen als Grund der Wirklichkeit aller Vorstellungen von ihnen unabhängig auf irgendeine Art und Weise objektiv existieren, was eine überschwängliche Erkenntnis wäre (vgl. RezAe GA I/2 49 f.). Fichte entgegnet, dass man eine solche Stelle, die über ein absolutes Vorhandensein eines Vermögens Auskunft gibt, bei Reinhold gar nicht findet und kontert mit der folgenden Aussage: wer etwa sehr zur Verwunderung geneigt wäre, würde sich nicht weniger über den Skeptiker verwundern, dem noch vor kurzem nichts ausgemacht war, als daß es verschiedne Vorstellungen in uns gebe, und der jetzt, so wie das Wort Vorstellungsvermögen, sein Ohr trift, sich dabey nichts anderes denken kann, als irgend ein (rundes oder vierektes?) Ding, das unabhängig von seinem Vorstellen als Ding an sich, und zwar als vorstellendes Ding existiert (ebd. 50).
Der Begriff »Vermögen« ist also ein fester Bestandteil der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie und man findet keine einzige Stelle bei Fichte, bei der er das Gegenteil behaupten würde. Wer mit dem Wort »Vermögen« wie Aenesidemus ein Problem hat, ist laut Fichte selbst daran schuld, denn er versteht darunter mehr als es transzendental-bewusstseinsphilosophisch verlangt ist. Selbst bei einer einfachen auf sinnlicher Erfahrung basierenden Aussage wie: »Der Mensch ist ein Lebewesen, das ein Vermögen der Sprache hat«, ist man nicht sofort genötigt, an die Stimmlippen, Muskeln, Gehirnfunktionen etc. (Substanz) zu denken – sondern an die Wirkungen, die sprachlichen Ausdrücke, die darauf hinweisen, dass es ein Vermögen gibt (Akzidens). Der Wissenschaftslehrer verlangt nicht mehr, 132
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als von der Tathandlung ausgehend (die aufgrund des unmittelbaren Bewusstseins von ihr eine exploratorische Priorität hat) auf die Notwendigkeit der Annahme eines realen Vermögens dazu zu schließen. Und das ist weder mit der Behauptung der realen Existenz eines Seelendings noch mit der Lokalisierung dieses Vermögens in einem Gehirnteil gleichzusetzen. 154 Die letzte Frage, die wir uns in diesem Kontext stellen können, ist, was wir unter dem Vermögen verstehen sollen, wenn seine Funktion genau darin liegt, die Selbstsetzung zu ermöglichen. Wir haben gesehen, dass Fichte, ohne es zu Beginn der Wissenschaftslehre nova methodo deutlich genug gesagt zu haben, das Produkt der Begriffsbildung »Ich« der Vorstellungsart nach nicht zu den empirischen, sondern zu den reinen Vernunftbegriffen wie das Sittengesetz, Recht und Tugend zählt. An einer Stelle bezeichnet er es als eine transzendentale Idee, die sich dadurch auszeichnet, dass wir ein unmittelbares Bewusstsein von ihr haben können, und das muss die Idee der Freiheit sein, welche als Spontaneität des Vernunftvermögens aufgefasst wird, Vernunftbegriffe zu bilden und umzusetzen. 155 Und so ist es nicht überraschend, dass Fichte die Tätigkeit, über die wir bisher gesprochen haben, im § 3 der Wissenschaftslehre nova methodo als einen »Akt der Freiheit« bezeichnet und ihm ein entsprechendes Vermögen (der Freiheit) zuordnet, denn: 154 So hat z. B. Hans Lenk wie Aenesidemus ein Problem mit dem »quasi-psychologistische[n] und aktionistische[n] Vokabular, mit dem Kant und die Kant-Interpreten die Synthesis-Handlungen des transzendentalen Subjekts beschreiben« – Lenk 1986b: 266 f. Da die Gefahr bestünde, dieses dadurch als eine Handlungsinstanz oder gar Substanz (vgl. ebd. 267 f.) anzusehen, will er unter der reinen Vernunft bei Kant nichts mehr als eine Idee (Metaidee) verstehen, ein bloß erkenntnistheoretisches Konstrukt »zum Verständnis der Einheitstendenzen in der Erkenntnis« (ebd. 272). Fichte würde aber darauf ganz klar antworten, dass, sobald Hans Lenk oder eine andere Person den Begriff »reine Vernunft« konkret denkt, er notwendigerweise handelt, sich dessen bewusst ist, auf die Idee (Metaidee) der reinen Vernunft kommt und ein Vermögen (der Vernunft) annimmt, welches zur Idee »reine Vernunft« führt, um die Tätigkeit zu erklären. Ohne das vierte Moment ist die Denkreihe unvollständig – wenn man erfolgreich innerlich gehandelt hat und sich dessen bewusst war, wäre die Behauptung, dass man es nicht vermochte, dass man die Fähigkeit dazu nicht habe, widersprüchlich. Mehr als diese Einsicht in die Notwendigkeit, das vierte Moment zu denken, verlangt Fichte – Kant, Reinhold und sich selbst gegen Aenesidemus verteidigend – auch nicht. 155 Und nicht etwa eine kosmologische Freiheit im Sinne der plötzlichen Neuanfänge in der Reihe oder in den Reihen von Erscheinungen, die nicht den Naturgesetzen gemäß verliefe.
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jeder besondre Act wird nur angeschaut[,] indem er durch ein Vermögen erklärt wird, so ists auch beim Act der absoluten Freiheit. Ein Vermögen ist nicht ohne Thätigkeit und eine Thätigkeit nicht ohne Vermögen: Beide sind eins[,] sie werden nur aufgefaßt von verschiedenen Seiten (WLnm-K 47 GA IV/3 360 f.).
Soweit wir also sagen, dass das Ich bzw. die Vernunft sich selbst setzt, und uns dabei eine Tätigkeit denken, müssen wir notwendigerweise ein Vermögen der Freiheit bzw. das Vernunftvermögen hinzudenken, welches sich in diesem Setzungsakt äußert. Es ist etwas, das die Möglichkeit der Tätigkeit zur Wirklichkeit macht – es ist »der höchste Grund, und die erste BEDINGUNG alles Seins und alles Bewustseins« (ebd. 363) und »das erste und unmittelbare Object des Bewustseins« (ebd. 362). Und so wird es im § 3 klar: Das eigentlich REALITER erste ist die Freiheit, aber im Denken kann es nicht zuerst aufgestellt werden, daher mußten [wir] erst die Untersuchungen aufstellen, wodurch wir drauf kommen (ebd. 363).
Das bedeutet, wir mussten in den §§ 1 und 2 zunächst die Momente (α), (β) und (γ) untersuchen, um auf ihren Grund (δ) zu schließen, welcher (und das sind Fichtes Worte) das eigentlich reale Erste ist – ohne ihn wären sie abstrakte Bestimmungen – und für eine Theorie des Bewusstseins unzureichend. Zur Definition der Vernunft, dass ihr Wesen darin besteht, dass sie sich selbst setzt, gehört notwendigerweise die Bestimmung, dass sie ein Vermögen ist, welches sich realisiert. In der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre wird auch nicht sofort von dem Vermögen gesprochen. Wir erfahren erst am Ende des theoretischen und praktischen Teils, dort wo die Wissenschaftslehre ihre Deduktionszirkel vollendet und wieder an den Anfang, zu dem ersten Prinzip zurückkehrt, dass die Tathandlung ihren Grund im Vernunftvermögen hat. Dort heißt es, die Vernunft ist, theoretisch gesehen, ein schlechthin setzendes und fixierendes Vermögen (vgl. GWL GA I/2 373 f. und 360 f.) (und die Tathandlung ist eine schlechthinnige absolute Setzung, die zu einem fixierten Begriff des Ichs führt) und ein Abstraktionsvermögen (vgl. ebd. 382) (und wir haben beim ersten Prinzip der Wissenschaftslehre von allen übrigen möglichen Bewusstseinshandlungen und von dem Nicht-Ich überhaupt abstrahiert). 156 Ferner und praktisch gesehen, ist sie ein 156
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In einer späteren Ausgabe der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre ist der
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Vermögen, sich selbst ein Gesetz zu geben, sich zu bestimmen – denn, wie Fichte in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre sagt, »durch absolute Freiheit erheben wir uns zur Vernunft, nicht durch Uebergang, sondern durch einen Sprung« (ebd. 427). Jeder Zuhörer, der Fichtes Aufforderung folgt, den Sprung zu machen, das Ich zu setzen und sich dabei zu beobachten, müsste festgestellt haben, dass er ein Vermögen des reinen Willens hat – du sollst schlechthin die Vernunft setzen, dich von sinnlichen Trieben losreißend (vgl. ebd. 450) – und es wird (α) getan, (β) intellektuell angeschaut und (γ) begriffen. Diese theoretischen und praktischen Vernunftfunktionen gehören bei der Operation der Selbstsetzung zusammen. Die reine Vernunft, die von sich selbst eine Idee, ein Bild macht, ist die Wurzel aller weiteren Vernunfthandlungen, der theoretischen, praktischen und ästhetischen (z. B. der Bildung der Idee Gottes oder des Schönen, von kategorischen Imperativen, Postulaten etc.). Mit aller Klarheit und Eindeutigkeit sagt Fichte daher Folgendes: Ich muß mich denken als die höchste Einheit, als Ein Vermögen, und muß diese verschiedenen Äußerungen der Vermögen der Vernunft [die drei koordinierten Vermögen nach den drei Kantischen Kritiken, Zusatz von M. L.] auf dieses einzige Vermögen beziehen oder reduciren [der einen ungeteilten Vernunft subordinieren, Zusatz von M. L.], auf das Vermögen der Ichheit, auf das Vermögen des Ich sich selbst zu sezen (Logik-Esch GA IV/3 86 f., vgl. 85).
6 Fazit Die vier behandelten Momente sind also derartig notwendig miteinander verkettet, dass das Fehlen auch nur eines von ihnen entweder zur Unterbestimmung des Grundprinzips oder im schlimmsten Fall sogar zur Auflösung des Projektes der Wissenschaftslehre führen würde. So darf z. B. nicht behauptet werden, das Ich sei kein Vermögen. Dann ist man entweder ein Aenesidemus-Skeptiker, der sich, sobald er das Wort »Vermögen« hört, sofort irgendein an sich bestehendes Ding vorstellt, über den sich Fichte nur wundern kann. Oder man denkt die Tätigkeit der Selbstsetzung ohne ein Vermögen der Freiheit – was nach Fichte unmöglich ist, da man nichts bestimmt letztgenannten Stelle zum Abstraktionsvermögen Folgendes hinzugesetzt: »Die reine Vernunft […]; in theoretischer Bedeutung; diejenige, welche Kant in der Kritik der reinen Vernunft zu seinem Objekte machte« (ebd. Anmerkung Y). Das System der Ideen
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denken kann, ohne das Gegenteil mitzudenken – nämlich eine Fähigkeit, sich von der Ruhe loszureißen und das Ich zu setzen. Die Behauptung, das Ich sei kein Vermögen, wird noch absurder, wenn man, wie Fichte, Ich und Vernunft synonymisch verwendet: Die Aussage »Vernunft ist kein Vermögen« erscheint im Projekt der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie als sinnlos. Zur philosophischen Bestimmung der Definition der Vernunft, dass ihr Wesen im Selbstsetzen bestehe, gehören also mindestens vier Momente (die Welt, der Leib, die Gefühle etc., die abgeleitet werden, sind entferntere conditiones sine quae non), die wir unterschieden haben, und zwar notwendigerweise und in der angegebenen Reihenfolge. Wir wollen im Folgenden zwei Auslegungsmöglichkeiten des ersten Prinzips der Wissenschaftslehre untersuchen, die dieser Verkettung nicht gerecht werden.
(2) Abweichende Auslegungsmöglichkeit I: Eine sich von unserer unterscheidende und in der Forschung geläufige Variante, den Grundsatz Fichtes zu verstehen, ist seine bewusste oder unbewusste Unterbestimmung. Nach ihr bestehe der Ausgangspunkt der frühen Wissenschaftslehren in einem abstrakten Selbstbewusstseinsmodell eines absoluten Ichs von sich selbst. Die Überlegungen können dabei (musterhaft) wie folgt verlaufen: (a) Die Tathandlung oder Selbstsetzung sei eine Selbstreflexion eines Ichs. (b) Das Ich müsste aber schon gegeben sein, bevor es ins Bewusstsein tritt. (c) Um dem Ich das Prädikat »absolut« zu geben, sollte es lieber so aufgefasst werden, dass es sich schlechthin als Subjekt durch die Tathandlung zum Objekt macht und indem es dasselbe Ich ist, ist es ein absolutes Subjekt-Objekt. 157 157 So findet man in Henrichs Untersuchungen der zirkulären Reflexionsstruktur des Selbstbewusstseins bei Fichte kaum das Wort »Vernunft« oder »Vernunftvermögen«. Man gewinnt eine eher symbolhafte Vorstellung eines abstrakten Modells, bei dem es um Verhältnisse des »Ich-Subjekts« zu dem »Ich-Objekt« geht – vgl. Henrich (1966), (1970), (1982) und (1989). Es könnte sein, dass die ganzen Probleme, die er in Fichtes Darstellungen zu finden glaubt, eigentlich darin liegen, dass Henrich eine grundlegende zur Tathandlung gehörende Bestimmung – nämlich (δ) das Vermögen – nicht durchdenkt. Vgl. eine neue Zusammenfassung der Position Henrichs und einleuchtende Kritik an zahlreichen Punkten von Suzanne Dürr 2018: 13 f., Anmerkung, und
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Hält die Sekundärliteratur das erste Prinzip der Wissenschaftslehre auf einer derartig symbolisch-abstrakten Ebene, dann steht das zwar nicht im Widerspruch zu dem Text, aber es wird damit viel weniger erklärt als bei Fichte selbst. Es handelt sich bei ihm nämlich um etwas mehr als um ein bloßes Reflexionsmodell des Selbstbewusstseins – um eine Selbstmanifestierung der Vernunft, durch eine reale Handlung, die angeschaut, begriffen wird, und zu der man sich als vermögend setzt. Die Rede von dem Bewusstsein seiner selbst betont so sehr das Moment der idealen Tätigkeit, dass andere, reale Denkbestimmungen unterbeleuchtet werden, wenn sie nicht sogar verschwinden. Die intellektuelle Anschauung ist zwar laut der Theorie Fichtes so wichtig, dass wir weder unsere Hand noch unseren Fuß bewegen können, ohne ein Selbstbewusstsein von uns selbst zu haben (vgl. ZwE GA I/4 217), aber sie bezieht sich auf eine reale Ich-Handlung der Selbstsetzung, zu der auch ein Vermögen der Freiheit vorausgesetzt werden muss. Die Vorstellung eines bloßen Subjekt-Objekt-Verhältnisses ist zu abstrakt und symbolisch, um das Wesen der Vernunft zu begreifen. Den Begriff »Selbstbewusstsein« könnte man aber vielleicht in etwas konkreterem Sinne als denjenigen der Vernunft von sich selbst fruchtbar machen. Jürgen Stolzenberg macht darauf aufmerksam, dass man bei Kant im Hinblick auf das Verhältnis »reiner Wille – Sittengesetz« (ratio essendi – ratio cognoscendi) von einem »sittlichen Selbstbewusstsein« (vgl. KpV AA V 29) der reinen praktischen Vernunft sprechen könne, die sich in ihrer Äußerung, dem kategorischen Imperativ, wiedererkennt. 158 Fichte habe sein Grundprinzip nach dem Vorbild dieses Modells erstellt. Man sollte jedoch auf die nicht zu verkennenden Unterschiede achten. Erstens geht Fichte nicht von kategorischen Imperativen aus, sondern von dem Sich-Machen der Vorstellung der Vernunft von sich selbst, wobei man sich dieses Vorgangs unmittelbar bewusst sein kann, in dessen Produkt sie sich wiedererkennt. Zweitens geht damit keine eigentümliche Erfahrung der Sittlichkeit, sondern des prinzipiellen Vermögens der Freiheit (der 275–295, die in ihrer Arbeit auch die Bedeutung des Vermögensbegriffs bei Fichte nicht unterschätzt. Eine weitere Möglichkeit der Unterbestimmung des Grundprinzips ist apropos die Destruktion des an sich schon unterbestimmten Selbstbewusstseinsmodells von Henrich und seine Ersetzung durch eine absichtlich verschwommen vorgestellte absolute Spontaneität, die sich nie ihrer selbst bewusstwerden könne – vgl. Vrabec 2015: 100. 158 Vgl. Stolzenberg (2010) und (2018). Das System der Ideen
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einen Vernunft vor der Spaltung in theoretische und praktische) einher, welches von sich ein Bild entwirft. Es gibt daher lediglich eine strukturlogische Ähnlichkeit. Ferner sollte man beachten, dass das Sittengesetz auch nicht der einzige Anknüpfungspunkt an Kant hinsichtlich der Theorie der Äußerung des Vernunftvermögens ist, denn es zeigt sich in jeder gebildeten Idee und in der Umsetzung ihr entsprechender (praktischer, theoretischer, ästhetischer oder architektonischer) Funktion. Die Ausschließlichkeitsthese, das Sittengesetz sei der einzige Grund, warum wir uns als freie vernunftbegabte Wesen begreifen, hat Kant im dritten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten – wie wir es oben unter dem Punkt Voraussetzung der Voraussetzungen festgestellt haben – zu Recht zurückgewiesen. Abweichende Auslegungsmöglichkeit II: Eine weitere Variante, den Grundsatz Fichtes zu verstehen, geht insofern weiter, als unter dem Ich die Vernunft verstanden wird, also mehr als eine bloße abstrakte Subjekt-Objekt-Relation, allerdings im Sinne eines moralischen Legitimationsaktes der reinen praktischen Vernunft. Die Argumentation verläuft auf diese Weise: (a) Der Selbstsetzungsakt impliziere einen Abstraktionsakt von allem, was nicht zum reinen Ich gehört. (b) Dann wäre das Ich aber bloß eine leere Vorstellung und Resultat einer willkürlichen Handlung. (c) Daher müsse ein Legitimationsakt hinzukommen, der sowohl die Abstraktion als auch den Wert der Ich-Vorstellung autorisieren soll – ein, könnte man sagen, grundlegender kategorischer Imperativ der reinen praktischen Vernunft, sich selbst als reines Ich in der Welt zu verwirklichen. Dieser sei das eigentliche Fundament der Wissenschaftslehre bzw. die Tathandlung sei nichts anderes als dieser Legitimationsakt. 159 159 Man findet diese Auslegungsmöglichkeit bei Andreas Schmidt – vgl. Schmidt 2004: 7–62. Aus seiner Sicht stelle Fichte in jeder Phase seines Schaffens die Selbstgesetzgebung der reinen praktischen Vernunft an die Spitze der Wissenschaftslehre (9). Schmidt ist damit der Erste, der unterschiedliche Fassungen der Wissenschaftslehre systematisch und explizit von der Vernunftebene ausgehend interpretiert. Die Aufwertung der praktischen Vernunft führt in seiner Darstellung allerdings dazu, dass die Rolle der theoretischen Vernunft weitestgehend unterbeleuchtet bleibt. Es wird zwar an einigen Stellen von einem Schluss auf das Ich und dem dazu gehörigen Abstraktionsverfahren gesprochen (14 f. und 54 f.), dessen Resultat eine »dunkle Vorstellung« (55) sei, allerdings muss man sich als Leser selbst überlegen, ob hier nicht vielleicht die Kantische reine Vernunft gemeint sein könnte. Obwohl Fichte sogar expressis verbis von der reinen Vernunft in theoretischer Bedeutung (vgl. GWL GA I/2 382, laut der zweiten verbesserten Ausgabe von 1802 mit dem Zusatz »in theoretischer Bedeutung; diejenige, welche Kant in der Kritik der reinen Vernunft zu
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Das Problem dieser Auffassung ist eine ungünstige Vermischung der Dartstellungs- und der Begründungsebene des Grundprinzips der Wissenschaftslehre. Fichtes System beginnt keineswegs mit einer moralisch-praktischen Entscheidung, das reine Ich aus sittlichen Gründen gelten zu lassen, sondern mit einem im ganz allgemeinen Sinne »praktischen« Akt. Man wird vom Autor der Wissenschaftslehre dazu aufgefordert, die Tathandlung (die Erzeugung der reinen Ich-Vorstellung und die Anschauung dieses Aktes) durch die Betätigung des Vernunftvermögens aufmerksam zu vollziehen. 160 Die Freiheit, die damit in Anschlag gebracht wird (vgl. BWL GA I/2 119 und 141 f.), hat zunächst keinen sittlichen Sinn, sondern den der reinen Spontaneität (der Intelligenz oder der reinen Vernunft, die von sich selbst einen Begriff erzeugt). In der Wissenschaftslehre nova methodo heißt es sogar: »[M]it derselben Freiheit mit der ich die Wand denke, denke ich auch das Ich« (WLnm-K GA IV/3 345). Die seinem Objekte machte« (ebd. Fußnote)) spricht, wird sie bei Schmidt in der ganzen Arbeit systematisch ausgeblendet. So sei aus seiner Sicht unter der Tathandlung keine theoretische bzw. technisch-praktische Vorstellungsbildung (der Vernunft von sich selbst), sondern lediglich eine sittlich-praktische Wertsetzung (die Vernunft soll verwirklicht werden) zu verstehen (18 ff.). Es wird auf die Rolle des Kantischen Sittengesetzes verwiesen (19 Fußnote, 21 f., 56), aber nicht auf die theoretische Vernunftfunktionen der Kritik der reinen Vernunft oder der Logik (der Bildung der reinsten Vorstellungen, der Ideen). Diese systematische Ausblendung der Reflexion auf das Ich als nicht nur praktische, sondern auch als theoretische, d. h. auf die ganze Vernunft, die von sich selbst ursprünglich eine Idee bildet, wird von Schmidt in seiner Arbeit nicht explizit gerechtfertigt. Schmidt sucht offensichtlich nach einem Sinn der Selbstsetzung, der von dem Vorstellungsvermögen »befreit« ist – vgl. auch Schmidt (2016) – was nach Fichte aber ausdrücklich unmöglich ist – vgl. WLnm-K GA IV/3 334 f.: Die intellektuelle Anschauung findet nie unabhängig vom konkreten Vollzug der Vorstellungsbildung des Ichs von sich selbst statt. Wir unterscheiden bei der Tathandlung der Vernunft zwar (δ) ein Vermögen, (γ) ein Produkt der Selbstsetzung (Begriff), (α) einen zum Begriff führenden Begriffsbildungsakt und (β) ein ihn begleitendes unmittelbares Bewusstsein (reine Anschauung), aber diese Unterscheidung ist eine künstliche Reflexion – man darf v. a. nicht behaupten, das eigentliche Grundprinzip der Wissenschaftslehre bestehe in (δ), weil es (α)–(γ) voraussetzt. Aber auch nicht etwa in (β), weil es (α), (γ) und (δ) voraussetzt. Zur Selbstsetzung der Vernunft (der Bildung der Idee von sich selbst) gehören laut unserem obigen Modell alle Momente. 160 Dass damit auch eine normative Dimension verbunden ist, wird erst in der nachträglichen Reflexion klar – sie spielt eine Rolle, sobald das empirische Ich deduziert ist. Sie gehört also nicht zu dem engeren Kreis der Grundmomente der Selbstsetzung (α)– (δ), sondern zu den weiteren Bedingungen der Möglichkeit der Verwirklichung bzw. Äußerung der Vernunft wie Sinnenwelt, Leib, Gefühle, Mitmenschen, rechtliche, ästhetische, moralische und religiöse Zusammenhänge. Das System der Ideen
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reine praktische Vernunft wird von Fichte offenbar allgemein vom engeren Zusammenhang mit dem Sittengesetz entkoppelt: 161 Das reine Wollen ist der Kategorische Imperativ; es wird aber hier nicht so gebraucht, sondern nur zur Erklärung des Bewusstseins überhaupt. Kant braucht den kategorischen Imperativ nur zur Erklärung des Bewusstseins der Pflicht. […] Alles Denken, alles Vorstellen liegt zwischen dem ursprünglichen Wollen und der Beschränktheit durch das Gefühl in der Mitte. […] Es ist hier nicht darum zu thun, eine Moral aufzustellen, sondern das Bewusstsein überhaupt soll erklärt werden; und dieß ist nur möglich unter Voraussetzung des oben geschilderten reinen Willens (WLnm-K GA IV/3 440, vgl. GWL GA I/2 399 und GNR GA I/3 332).
Das reine Wollen ist beim Modell I im Unterscheidungsmoment (δ), Vermögen, enthalten – es ist eine notwendige Hypothese, eine Voraussetzung, dass mit dem reinen Denken des Ichs (mit der Ideenbildung der Vernunft von sich selbst) unzertrennlich ein Willensakt verbunden ist (die Unterscheidung des reinen Denkens vom reinen Wollen ist rein künstlich). Das bedeutet aber keinesfalls, was bei der Auslegungsmöglichkeit II suggeriert wird – das Grundprinzip wird nicht ursprünglich genug gedeutet, sondern im Lichte der Moralpraxis. Dass das reine Ich als ein Orientierungsmaßstab für sittliche Handlungen gelten soll, dazu bedarf es der Ableitung des empirischen, durch sinnliche Triebe bedingten Ichs. Die sittlich-normative Dimension des Grundprinzips der Wissenschaftslehre ist das Resultat einer nachträglichen Reflexion. Gleichwohl ist schon mit der Tathandlung eine ursprüngliche Normativität der Freiheit verbunden – der Ideenbildungsakt verweist auf unser Vermögen, frei zu sein, stellt eine Grunderfahrung dar. Ein grundlegender kategorischer Imperativ, sich in der Welt zu verwirklichen, leuchtet dem Leser der Wissenschaftslehre, der zunächst der Aufforderung zur Selbstsetzung folgt, aber gar nicht sofort ein: Dagegen jedoch die Gewissheit, über ein Vernunftvermögen zu verfügen, welches sich frei äußernd ein Bild von sich macht. Die »Idee des Ich« liegt nach Fichte ausdrücklich »seiner praktischen unendlichen Forderung notwendig zu Grunde [her-
161 Krijnen spricht daher in gewisser Weise treffend vom »unkantischen« Primat der praktischen Vernunft bei Fichte (vgl. Krijnen 2016: 310). Vgl. zur Problematisierung der ungünstigen engen Verklammerung der reinen praktischen Vernunft mit dem kategorischen Imperativ, die Kant zu spät gesehen habe, Prauss (1981). Auf die Unzulänglichkeit der rein sittlich-praktischen Fichte-Deutung und auf die »Fragwürdigkeit« des Primats der praktischen Vernunft weist Daniel Breazeale (1997) hin.
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vorgehoben von M. L.]« (GWL GA I/2 409) – »[w]ie hätte er [Kant, Zusatz von M. L.] jemals auf einen kategorischen Imperativ, als absolutes Postulat der Uebereinstimmung mit dem reinen Ich kommen können, ohne aus der Voraussetzung [hervorgehoben von M. L.] eines absoluten Seyns des Ich« (ebd. 396 Anmerkung). 162 Bei der Auslegungsmöglichkeit II wird dieses Verhältnis umgedreht und der kategorische Imperativ, ein Abgeleitetes, als absolute Voraussetzung des Ichs an die Spitze der Wissenschaftslehre gestellt. Es findet damit eine Unterbestimmung des Grundprinzips statt, weil die ganze Vernunft auf einen sittlich-praktischen Legitimationsakt reduziert und damit auf ursprünglicher Ebene, bei der es doch um das Fürsichsein allein gehen soll, von etwas Abgeleitetem abhängig gemacht wird. 163 Die Auslegungsmöglichkeit II weicht damit deutlich von dem vorgestellten Modell ab.164
3.1.2 Modell 2 (ab 1800): Rückbesinnung auf das Fürsichsein Gegen das Modell 1 kann der folgende Einwand vorgebracht werden: Die Bildung der Idee der Vernunft von sich selbst sei gar nicht der Höhepunkt aller im Bewusstsein vorkommenden Handlungen. Die maximale Leistung des Vernunftvermögens bestehe vielmehr im Hervorbringen der reinsten, von der objektiven Realität entferntesten Vorstellung (der letzten im System der transzendentalen Ideen) von der Urbedingung der Möglichkeit aller denkbaren Gegenstände überhaupt, d. h. von Gott. Diese Handlung des Bewusstseins könnte aus diesem Grund in der Hierarchie der geistigen Tätigkeiten (hin-
162 Mit dem absoluten, an sich nicht unmittelbar erkennbaren Ich (das Vernunftvermögen an sich, vor seiner Äußerung) meint Fichte unser (δ), welches »wohl aber mittelbar in der philosophischen Reflexion« (ebd. 409), d. h. in unserem (α)–(γ) vorkommt. 163 Von einer anderen Seite betrachtet kann man hier auch von einer Überbestimmung sprechen, denn in die Vernunft wird etwas hineinprojiziert, was für ihr Fürsichsein qua Selbstsetzung allein noch keine Rolle spielt. Eine Unterbestimmung liegt hier aber insofern vor, als dasjenige, was ursprünglich ein Einheitsprinzip aller Teile der Philosophie sein soll, zugunsten des praktischen vereinseitigt wird. 164 Auf eine weitere mögliche Auslegungsmöglichkeit, eine offensichtlich konfuse (oder absichtliche polemische) Verwechselung des absoluten Ichs mit der Gottesvorstellung, gehen wir nicht ein – vgl. zu den Auslegungsmöglichkeiten des ersten Grundsatzes der Wissenschaftslehre Gloy (1984).
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sichtlich der Reinheit und der aufzuwendenden Kraft) an der Spitze stehen. 165 Diesen Einwand nutzt Fichte ab etwa 1800 in seinen Vorträgen strategisch aus. Das Motiv dazu findet sich u. a. in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Begriffsschrift (1798): (a) Der transzendentale Standpunkt, der oft gar nicht oder missverstanden wird, kann im lebendigen Dialog fruchtbarer vermittelt werden. (b) Die Zeitgenossen sollen daher aktiv am Projekt der Wissenschaftslehre beteiligt werden, so dass sie »lebendig im Geiste und der Denkart des Zeitalters« (BWL GA I/2 162) hinterlassen wird. (c) Es wird also keine systematische Vollendung versprochen, sondern der Plan ist nun, das bis jetzt Erarbeitete vielseitiger darzustellen. Fichtes geänderte Strategie liegt darin, sich bis zu einem gewissen Grad auf ein unbefangenes zeitgenössisches Denken (Einiger) einzulassen, um dieses vor dem geistigen Auge des Publikums in das transzendentale Danken (der Wissenschaftslehre) zu überführen. Der Einwand gegen das Modell 1 ist sicherlich berechtigt und man kann mit guten Gründen für die Vorstellung des Urwesens als der höchsten geistigen Handlung argumentieren, aber nur vom Standpunkt des natürlichen Bewusstseins aus (oder auch der vierten Wirkungssphäre der Vernunft: religiöse Weltansicht). Der Transzendentalphilosoph weiß dagegen, dass es sich hierbei um einen Fall von Ideenbildung handelt, dessen Bedingung (von der der natürliche Standpunkt abstrahiert) das Vernunftvermögen ist – ihm ist daher die Reflexion auf die Vernunft die höchste Handlung und der Aus165 So bringt Friedrich Karl Forberg in seinen Briefen über die Philosophie von 1797 sein Unbehagen zum Ausdruck, dass Fichte das Unendliche oder das Absolute, welches auch er zumal in »schönen Augenblicken« sich vorstellt, auf ein Ich-Prinzip reduziert – »da verkleinert es sich unter meinen Händen« (Forberg 1797: 61). Forberg weist Fichte (1) indirekt darauf hin, dass dem natürlichen Bewusstsein noch eine höhere Einheit fehlt (die nicht unbedingt zu einer bloßen theoretischen Annahme funktionalisiert werden soll). Des Weiteren (2) macht er ihn darauf aufmerksam, dass die Ideen »Gott« und »absolutes Ich« von denjenigen, die Schwierigkeiten haben, die Wissenschaftslehre zu verstehen, analogisiert werden. So sind sie für Forberg beide Vernunftbegriffe, die das Vorstellungsvermögen überfordern – sie sind Gedanken vom Unbegreiflichen, die in dem Moment, in dem man sie zu fassen versucht, zugleich zerfließen (vgl. ebd. 71, 53 und 61). Im analogischen Denken solcher Art wird Fichte, wie wir sehen werden, ein vermittlungstechnisches und philosophisches Potential sehen und es ab ca. 1800 in seine Darstellungen der Wissenschaftslehre integrieren, ohne damit den festen Boden der Transzendentalphilosophie und der frühen Wissenschaftslehren zu verlassen.
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gangspunkt aller Überlegungen. Das Modell 2 ist also ein u. a. aus Vermittlungsgründen erweitertes Modell 1. 166 Den Anfang macht nach wie vor die Vernunft, nur dass sie nicht sofort eine Idee von sich selbst, sondern zuerst von dem Urwesen bildet (weil sie dem natürlichen Bewusstsein als die höchste Idee gilt), um im Nachhinein auf sich selbst als die unentbehrliche Voraussetzung der Ideenbildung zu rekurrieren. Der verengte Zirkel des Modells 1 wird also zu methodologischen Zwecken um eine Komponente bzw. um einen Umweg erweitert: (a) Die Idee des Urwesens (des Absoluten, des absoluten Seins von, durch und aus sich etc.) wird von Vielen als ein fester und doch lebendiger Einheitspunkt aufgefasst; (b) Daraus sollte man auf die Vernunft als die Bedingung dieser Vorstellung schließen – denn wir können nur ein reines Bild (eine Vernunftidee) des Absoluten geistig artikulieren, nicht es selbst (an sich und ohne Bild ist es schlechthin unbegreifbar); (c) Das Vernunftvermögen ist nun interessanterweise selbst ein solcher lebendiger Einheitspunkt, der nur aufgrund seiner Tätigkeit der Ideenbildung (von Gott und von sich selbst), also in seiner Erscheinung erfasst werden kann (an sich und ohne Bild ist es schlechthin unbegreifbar); (d) Die Vernunft ist also zugleich die ratio cognoscendi (als Tätigkeit der Ideenbildung) als auch essendi (als Vermögen dieser Tätigkeit) der Idee des Urwesens sowie der Idee von sich selbst. 167 166 Die Darstellung des in der Forschungsliteratur schon weitestgehend aufgearbeiteten philosophiegeschichtlichen Kontextes (der Atheismusstreit, die Auseinandersetzungen mit Jacobi, Schelling etc.) würde an dieser Stelle zu weit führen. Ob Fichte sein System ab 1800 ändert oder ob es im Grunde dasselbe bleibt, ist in der FichteForschung umstritten. Wir folgen denjenigen Autoren, die, wie Schmidt (2004), bei Fichte eher eine Kontinuität sehen, können uns aber keiner der bisher vertretenen Positionen komplett anschließen. Der Grund dafür ist derselbe wie bei der obigen Erörterung des Ausgangsprinzips des frühen Fichte: Es wurde bisher nie die Frage in den Vordergrund gestellt, was bei Fichte aus dem Kantischen Projekt der Vernunft im engeren Sinne wird, so wie es im ersten Teil der vorliegenden Arbeit dargestellt wurde, die mit unterschiedlichen Arten von Ideen operiert – deren Gegenstand also das Absolute (vgl. Fußnote 169 zur Erinnerung) ist. Auf einzelne Positionen gehen wir weiter unten bei der Auseinandersetzung mit abweichenden Auslegungsmöglichkeiten I und II ein. 167 Den Begriff des Vermögens haben wir beim Modell 1 erklärt – hier wird er in derselben Bedeutung verwendet, nämlich des vierten abgeleiteten Moments, was
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Es handelt sich somit um dasselbe Punctum saliens wie im Modell 1, welches der Transzendentalphilosoph zur Kritik am unreflektierten philosophischen und natürlichen Denken gebraucht – die Reflexion der Vernunft auf sich selbst: Das Wesen der ehemals dargelegten Wissenschaftslehre bestand in der Behauptung, daß die Ichform oder die absolute Reflexionsform der Grund und die Wurzel allen Wissens sei, und daß lediglich aus ihr heraus Alles, was jemals im Wissen vorkommen könne, so wie es in demselben vorkomme, erfolge; und in der analytisch=synthetischen Erschöpfung dieser Form aus dem Mittelpunkte einer Wechselwirkung der absoluten Substantialität [das Ich ist was es ist], mit der absoluten Causalität [und weil es ist, beides für das Ich. Anders ausgedrückt: Das Wesen der Vernunft besteht darin, dass sie sich selbst setzt, Zusätze von M. L.]; und diesen Charakter wird der Leser in allen unsern jetzigen und künftigen Erklärungen über Wissenschaftslehre unverändert wiederfinden (BWL-1806 GA II/10 29).
Einerseits ist der Transzendentalphilosoph nicht notwendigerweise auf den Ausgangspunkt (a) angewiesen, denn die Vorstellung der Vernunft von sich selbst reicht aus, um den Anfang des Systems zu machen, wie der frühe Fichte zeigt. Aber sein Zeitgenosse, dem die Hand gereicht werden soll, der eine moralische und religiöse Vorbildung hat (also schon mehr oder weniger mit der geistigen Operation der Ideenbildung vertraut ist) und auf dem Weg zur Aneignung des transzendentalen Wissens ist, benötigt ihn zur Einführung. Andererseits übt der Punkt (a) aber auch einen großen Einfluss auf den Aufbau und die Argumentationsgänge der Wissenschaftslehre, führt zu neuen Einsichten und bewirkt damit die von Fichte gewünschte Vielfalt in der Darstellung des Systems. In diesem Sinne findet ab 1800 auch eine gewisse, auf dem Modell 1 aufbauende Weiterentwicklung statt. Wie nutzt Fichte nun das Modell 2 vermittlungstechnisch und transzendentalphilosophisch aus? Man bemerkt oben eine Analogie zwischen (a) und (c), auf deren möglichen und zu bestimmten Zwecken fruchtbaren Gebrauch (z. B. religiöse Praxis und regulativer Gebrauch des Ideals der reinen Vernunft) bereits Kant, insbesondere in den Prolegomena und in der Kritik der Urteilskraft hingewiesen hat. 168 Meine Vorstellung von mir zwar nicht der Denkreihe nach Erstes ist, was aber notwendigerweise vorausgesetzt werden muss, damit sie Sinn ergibt. 168 So schreibt er, »die Kausalität der obersten Ursache ist dasjenige in Ansehung der Welt, was menschliche Vernunft in Ansehung ihrer Kunstwerke ist. Dabei bleibt mir
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selbst als eines selbsttätigen Vernunftwesens lässt sich auf die Idee des Urwesens projektieren und genauso umgekehrt: Das Denken der höchsten urbildlichen Vernunft sowie der Welt, als ob sie von ihr zweckmäßig geschaffen wäre, lässt sich auf die Ansicht übertragen, die endliche Vernunft, die in »ihrer Welt« – in ihren Wirkungssphären – die ihr gemäßen Funktionen erfüllt, sei ihr schwächeres Nachbild. 169 Fichtes didaktischer Kunstgriff besteht in der Inanspruchnahme dieser Analogie (und nicht etwa eines transzendenten Kausalitätsverhältnisses zwischen Gott und Ich): So wie du dir das Absolute (worunter sich Fichtes Zeitgenossen im Vorlesungssaal im besten Falle nicht die Dinge, sondern Gott und seine Vernunft vorstellen) denkst, musst du dir das Grundprinzip der Wissenschaftslehre, die menschliche reine Vernunft, vergegenwärtigen. 170 Im Folgenden wird (1) diese Analogie anhand von drei Wissenschaftslehren
die Natur der obersten Ursache selbst unbekannt; ich vergleiche nur ihre mir bekannte Wirkung (die Weltordnung) und deren Vernunftmäßigkeit mit den mir bekannten Wirkungen menschlicher Vernunft und nenne daher jene eine Vernunft, ohne darum ebendasselbe, was ich am Menschen unter diesem Ausdruck verstehe, oder sonst etwas mir Bekanntes ihr als ihre Eigenschaft beizulegen« (Prol AA IV 360, vgl. KU AA V 456, 460 etc. sowie KrV A672 f./B700 f., A678/B706). Dieses analogische Denken (der symbolische Anthropomorphismus) ist transzendentalphilosophisch unbedenklich, soweit es sich in bestimmten Grenzen hält. Dies ist der Fall, wenn (a) nur das Verhältnis eines als möglich angenommenen Urwesens zur Sinnenwelt als vernünftig bestimmt wird – d. h. wenn man nicht zu erkennen glaubt, Gott habe ein Vernunftvermögen, was ein Anthropomorphismus wäre (vgl. Prol AA IV 359) – und wenn (b) hyperphysische Erklärungen der Natur vermieden werden. 169 Diese Analogie kann auch eine rein praktische Bedeutung haben – vgl. die Auslegungsmöglichkeit II. 170 Eine Analogie ist keine Gleichsetzung. In der Tat wäre es ein sehr trivialer und auf Missdeutung basierender Einwand, die Wissenschaftslehre mache das Ich zum Gott (wie Schiller an Goethe am 28. Oktober 1794 schreibt, der diese Analogie bereits beim frühen Fichte findet) – »dies ist, welchen Sinn man ihm auch zu geben suche, sinnlos« (WL-1804-II GA II/8 115). Schon der frühe Fichte hat diese Analogie bloß zu Vermittlungszwecken gebildet, stets auf den Unterschied achtend – vgl. GWL GA I/2 390 ff. In der Wissenschaftslehre nova methodo heißt es: »Dogmatiker[,] die doch moralische und religiöse Gesinnung haben[,] sind genöthigt zu sagen: Gott habe die Welt erschaffen. Gott ist bei ihnen reine Intelligenz. Deßen Bestimmungen können doch nur in Begriffen bestehen. So verhält sichs hier mit dem Ich, es ist Intelligenz, und seine Bestimmungen sind bloße reine Begriffe, fürs ich ist auch eine materielle Welt da[;] es müßten sonach diese reine Begriffe sich verwandeln in eine materielle Welt; aber nur in eine materielle Welt nur für sie, bei Gott aber auch für eine andere, in eine selbständige materielle Welt. Ersteres muß der Transzendentale Idealist erklären« (WLnm-K GA IV/3 496). Das System der Ideen
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kurz veranschaulicht. Es soll ferner (2) auf zwei abweichende Auslegungsmöglichkeiten kritisch geantwortet werden.
(1) Die Zuhörer von Fichtes Vorlesung im Jahr 1801/02 wurden dazu aufgefordert, ein Dreieck a priori, entweder in der reinen Anschauung (in der Einbildung) oder in der empirischen Anschauung (auf dem Papier) durch Schließung eines offenen Winkels zu konstruieren, d. h. von ihrem intuitiven Vernunftvermögen (der Konstruktion der Begriffe) Gebrauch zu machen (vgl. WL-1801/02 GA II/6 135 ff.). Auf diesem Weg sollten sie sich vergewissern, dass sie über reine Vernunft verfügen (die in diesem Handeln – dem mathematischen Vernunftgebrauch – erscheint), welche genau wie das Vermögen, rein zu denken bzw. rein oder absolut zu wissen, diskursive Funktionen hat. »Wissen des Wissens«, »absolutes Wissen«, »reines Wissen« oder in Anlehnung an Kant: »reines Denken (des Denkens)«, sind für Fichte von nun an alternative Bezeichnungen des Ichs / der Vernunft (vgl. ebd. 147, 212 und 323). 171 Man könnte bei diesen Termini jedoch leicht auf den Gedanken kommen, das Wort »absolut« verweise darauf, dass wir etwas vom Absoluten an sich wissen. Dies wäre allerdings eine trügerische Ansicht. Denn »absolut« bezieht sich nur auf die Form (vgl. ebd. 143 f.), wie das Wissen oder das Ich, sofern man sich auf der Ebene der Gegenstände bewegt, mit denen das reine Vernunftvermögen zu tun hat, aufzufassen ist. 172 In anderen Worten: 171 Sie sind Bezeichnungen für die reine Vernunfttätigkeit, Ideen (reines Wissen) vom Absoluten und von der reinen Vernunft (vom absoluten Ich) selbst (wie ferner vom Guten, Schönen, Sittlichen etc.) zu erzeugen – wobei sowohl das Absolute als auch das Ich im Bild (im Begriff, als Produkte der reinen Vernunfttätigkeit) erscheinen. Die Wörter Idee und Wissen resultieren, wie bereits oben in einer der ersten Fußnoten im Abschnitt zu Platon erwähnt, aus ein und demselben Verb sehen – εἶδον bzw. früher: ἐ-Ϝιδ-ον (daher videre, witness, wissen). 172 »Absolut« bedeutet so viel wie unbedingt und »das Unbedingte« ist laut Kant der »gemeinschaftliche[] Titel aller Vernunftbegriffe« (KrV A324/B380) – die Gegenstände der Vernunft werden in der Form der Unbedingtheit artikuliert. Dass sie auf diese Weise aufgefasst werden, gehört zum transzendentalen Wissen über das Vernunftvermögen und bedeutet nicht sofort, dass man aufgrund des Mangels der Urteilskraft den Fehler der Subreption begeht und das Unbedingte an sich zu erkennen glaubt. Kant selbst hat sich eher an den Begriff »unbedingt« gehalten, weil »absolut« eine Zweideutigkeit enthalte (vgl. KrV A324 ff./BB380 ff.): (a) als etwas, was von einer
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Wir sollen uns die Vernunft so denken, als wäre sie eine auf sich selbst beruhende und autonom tätige Instanz, die z. B. fähig ist, ein Dreieck in der reinen Anschauung eigenständig a priori zu konstruieren oder eine Idee von sich selbst zu bilden – also reines, von der Empirie unabhängiges Wissen zu generieren, sich dessen bewusst zu werden und dieses Wissen selbst zu repräsentieren. Um diesen Charakter des reinen Wissens vermittlungstechnisch deutlich zu machen, bedient sich Fichte folgender Hinleitung. Denke sich der Leser zuvörderst das Absolute, schlechthin als solches […]. Er wird finden, behaupten wir, dass er es nur unter folgenden zwei Merkmalen denken könne, theils, dass es sey schlechthin, was es sey, auf und in sich selbst ruhe durchaus ohne Wandel und Wanken, fest, vollendet und in sich geschlossen, theils, dass es sey, was es sey, schlechthin weil es sey, von sich selbst, und durch sich selbst […] (ebd. 147).
Einerseits ist es klar, dass wir, die Leser, diejenigen sind, die das Absolute entweder real, als ein Objekt bzw. als ein unwandelbares Sein mit der Kategorie der Substanz (was), oder ideal, als ein Subjekt bzw. als Freiheit mit der Kategorie der Kausalität (weil) denken. Andererseits haben wir diesen Versuch nur darum gemacht, um zu begreifen, wie wir das Ich oder das Wissen mit dem Prädikat »absolutes« vor unserem geistigen Auge analog artikulieren können: »Nun soll das Wissen absolut seyn« (ebd.). Unsere Vernunft / unser absolutes Ich / unser reines Wissen können wir nicht anders als ein Subjekt-Objekt, als ein Sich-Durchdringen oder Sich-Verschmelzen der idealen und realen Ansicht auffassen. Das sind die Denkmöglichkeiten, derer wir uns beim Versuch bewusst werden, das Absolute rein vorzustellen. Was wir dabei feststellen (dass das Absolute so und nicht anders gedacht werden kann), ist, dass »dasselbe [analog, Zusatz von M. L.] vom Wissen, eben als Wissen, gelten« (ebd. 153) muss. Und das gilt auch in der Tat schon beim frühen Fichte vom Ich / vom Wissen / von der Vernunft: »wenn das Ich in der intellectuellen Anschauung ist, weil es ist, und ist, was es ist; so ist es insofern sich selbst setzend, schlechthin selbständig, und unabhängig« (RezAe GA I/2 65). 173 Sache innerlich und komparativ gilt (z. B. etwas ist absolut möglich) und (b) als etwas, was in aller Beziehung, ohne Restriktionen, gültig ist. Die Variante (b) ist diejenige, die Kant im Hinblick auf die Vernunftbegriffe verwendet. 173 Anton A. Ivanenko, einer der Vertreter der These von der unveränderten Lehre Fichtes im russischsprachigen Raum (in dem eher die gegenteilige Ansicht dominiere Das System der Ideen
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Die Teilnehmer der zweiten Reihe der Vorträge der Wissenschaftslehre im Jahr 1804 mussten sich nach den Prolegomena während mehrerer Vorlesungen mit der Vorstellung des Absoluten beschäftigen. Diese in der Wissenschaftslehre 1801/02 benutzte Hinleitung zur Beschreibung der Vernunft auf dem Umweg der Vorstellung des Absoluten wurde viel ausführlicher gestaltet. Im Versuch, dasselbe aufzufassen, wurden bloß reale und ideale Ansichten desselben produziert – lediglich ein radikaler Abstraktionsakt führte zum angeblich reinen Sein durch, von und in sich selbst (also zum (a) unwandelbaren (b) lebendig-kausalen Absoluten). Im 15. Vortrag, zugleich dem ersten Teil der Wissenschaftslehre, der »Vernunft- und Wahrheitslehre« (vgl. WL-1804-II GA II/8 228 f. und 400 f.), wird schließlich die reine Vernunft / das Ich diesem nach aller Abstraktion übrigbleibenden Absoluten analog gesetzt (vgl. ebd. 230 ff.). Die nächsten 13 Vorträge gelten der internen Äußerung des lebendigen, d. h. tätigen Vernunftvermögens: Es äußert sich als Grund seines eigenen Daseins (ratio essendi), indem es von sich selbst ein Bild macht (ratio cognoscendi). Dass ich und du – dass wir uns als reines Ich begreifen können, ist das »Resultat des sich Machens der Vernunft« (ebd. 414) – »denn die Vernunft ist schlechthin Ich, und kann […] nichts Anderes sein, denn Ich; also: wir erscheinen oder die Vernunft erscheint, ist ganz gleich« (ebd. 400). Diesen ursprünglichen Selbstsetzungsakt sowie die vier davor und schon in der Hinleitung entwickelten realen und idealen Varianten der Auffassung des absoluten Ichs (in Analogie mit den realen und idealen Ansichten des Absoluten) bringt Fichte im 28. Vortrag mit den fünf oben genannten Wirkungssphären der Vernunft in Verbindung (vgl. ebd. 410 ff.). 174 – vgl. Ivanenko 2012: 142 ff.), stellt in seiner Arbeit ebenso fest, dass das reine bzw. absolute Wissen von 1801/02 alle Merkmale des absoluten Ichs aufweise und ihm weitestgehend entspreche – vgl. Ivanenko 2012: 169 ff. Vgl. auch Stolzenberg (1997). 174 Schmidt (vgl. 2004: 63–112), Stolzenberg (vgl. 2006: 1–8) und Asmuth (vgl. 2007: 48 und 50) tendieren dazu, das Absolute mit dem Ich zu identifizieren, und zwar in dem Sinne einer Bedeutungserklärung: Der Begriff »das Absolute« bedeute eigentlich Ich. Folgt man dieser Auslegung, dann hat man Schwierigkeiten mit denjenigen Textstellen, an denen Fichte auf die Differenz zwischen beiden Begriffen hinweist (SeinIch/Wir-Disjunktion) oder das Absolute mit Gott in Verbindung bringt. Um sie zu verteidigen, müsste man einerseits solche Stellen retuschieren oder Fichte dafür auf irgendeine Weise entschuldigen und andererseits eine Diskontinuität zwischen den Wissenschaftslehren 1801/02 und 1804/II in einem entscheidenden Punkt annehmen, denn in der Erstgenannten geht es ganz klar um eine Analogie und keine Gleichsetzung. Unsere Position ist also keineswegs die, dass Fichte seine Zuhörer 14 Vorlesun-
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Im Jahr 1812 musste der bei der Vorlesung u. a. anwesende junge Schopenhauer bei einer weiteren Variante der Hinleitung zum wahren Standpunkt der Wissenschaftslehre mitdenken. Fichte grenzt sie nun explizit als »Einleitung« von den drei darauffolgenden Kapiteln ab: Es handelt sich um ein »Hilfsmittel«, ein »Hin[ein]führen in die W.L. aus dem gewöhnl. Wissen zu der Abstraktion« (WL-1812 GA II/ 13 51). Der Standpunkt des natürlichen Bewusstseins ist derjenige der fehlenden Reflexion auf die transzendentalen Bedingungen des Denkens und ein philosophisches System, welches diese konsequent ausblendet, finde man bei Spinoza. Dieselbe Kritik von 1794/95 (vgl. GWL GA I/2 280 f.), dass Spinoza die kritische Grenze überspringe, indem er das Absolute – ein nicht angängiges Sein (vgl. Logik-Höijer GA IV/3 228) – als den Grund des Ichs annehme und nicht umgekehrt, die Vorstellung Gottes auf die Funktion der Vernunft beziehe,
gen lang blind lassend mit dem absoluten Ich beschäftigt, ohne sie sofort darüber aufzuklären. Vielmehr sollen sie lernen, konzentriert und propädeutisch mit der Vorstellung »Absolutes« zu arbeiten (sie können sich darunter auch Gott vorstellen, wenn das ihnen das Denken erleichtert), um die entwickelten idealen und realen Denkfiguren analog auf das Ich, absolutes Wissen, anzuwenden. Die von einigen Fichte-Forschern angenommene vermeintliche Identifizierung in der Vorlesung 15 ist daher genauer betrachtet der Anfang einer Analogisierung. Die Differenz zwischen den Bedeutungen der Ausdrücke »Absolutes« auf der einen, und »absolutes Wissen« auf der anderen Seite, darf nie komplett eingeebnet werden. Schlösser weist darauf hin, dass es sich beim absoluten Sein um eine entzogene Voraussetzung handele, die Fichte »nicht nur thematisiert, sondern auch in eine Darstellungsstrategie der Wissenschaftslehre übersetzt« (Schlösser 2003: 146) und sie von der ursprünglichen Erfahrung der Gewissheit des Ichs abhängig mache, die in der 23. Vorlesung beleuchtet wird – vgl. (2001) und (2003). Schlösser behält dadurch die Differenz zwischen dem Absoluten (methodologisch als eine transzendente Annahme X verstanden) und dem Ich im Blick. Allerdings geht mit dem Hervorheben des Aspektes der transzendentalen Kritik die positive Rolle der vermittlungstechnischen Analogie unter – also des Durchdenkens der Auffassungsmöglichkeiten des Absoluten in den Vorlesungen 1–14, die für die interne Selbstreflexion des Ichs genutzt werden können. Loock – vgl. (2000) – scheint zunächst, wie Schmidt, Stolzenberg und Asmuth, das Absolute eher mit dem Ich identifizieren zu wollen (84), argumentiert aber im Laufe seines Aufsatzes auch mit einer analogischen Auffassung. So parallelisiert er das Verhältnis vom absoluten Sein und seinem Bild mit dem Sein der Vernunft, die sich selbst setzt (97 ff.) und die Vorstellung Gottes als relationsloser Einheit mit derjenigen des absoluten Ichs (101 f.). Bei Loock ist ein leichtes Schwanken feststellbar: Es fehlt eine explizite Reflexion darauf, dass Fichte mit Analogien bewusst und aus vermittlungstechnischen Gründen operiert. Dasselbe trifft auch auf Traubs Kritik an der These der veränderten Lehre zu – vgl. (1999). Das System der Ideen
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Ideen zu bilden, findet man ausführlicher im Einleitungsteil der Wissenschaftslehre von 1812 wieder. Eine hyperphysische Erklärung der Welt und des Ichs – »[w]ir endlichen vernünftigen Wesen sind Gedanken der Gottheit« (Logik-Esch GA IV/3 131) – aus einer entzogenen Voraussetzung Gottes ist aus transzendentalphilosophischer Perspektive schlechthin unhaltbar. In der Wissenschaftslehre gibt es zwar strukturelle Analogien zum System von Spinoza (aus diesem Grund wird es auch zur Hinleitung herangezogen), aber keine Entsprechungen in der Lehre. Während Spinoza das absolute Sein (Gott) denkt, »hfindeni wir es nicht als das Seyn selbst, sondern als einen Gedanken« (WL-1812 GA II/13 52). Während es für ihn neben bzw. im Gott, dem Einen, noch Mannigfaltiges (Welt und Ich) gibt, gibt es in der Wissenschaftslehre einen Begriff von Gott, in anderen Worten: Gott wird nie anders als im Medium der Vorstellung / des Begriffs / des Bildes / der Vernunftidee gefasst (vgl. ebd. 52 f.). 175 Dass dafür unser Ich / unser Vernunftvermögen zuständig ist, wird im zweiten Kapitel weiter expliziert (vgl. ebd. 71 ff.). Man kann sich berechtigterweise fragen, warum Fichte die Hinleitung zum Prinzip der Wissenschaftslehre so aufwendig gestaltet, wenn sie nicht eine Theorie des Absoluten, sondern des Wissens sein soll (vgl. ebd. 43 f.). Die Antwort ist, wie schon oben angegeben: Das Gedankenexperiment des Auffassens des Absoluten macht dieselben Reflexionsgesetze offenbar, mit denen das Denken des Ichs / des Wissens mit dem Prädikat »absolut« vollzogen wird. Diese bloß als Einleitung gebrauchte vermittlungstechnische Analogie zwischen dem vorgestellten Absoluten und der Vernunft, die von sich selbst ein Bild macht, ist aber keineswegs (I) als eine Theorie der Entstehung des Selbstbewusstseins aus Gott oder (II) als Ich- und Welterklärung mit neoplatonischen Zügen zu verstehen. Wir wollen, wie beim Modell 1, auf diese beiden mystifizierenden Interpretationsmöglichkeiten des Modells des späten Fichte kritisch eingehen und damit zugleich noch einige erwähnungswerte Punkte beleuchten.
175 Zum Verhältnis Fichte und Spinoza vgl. die einschlägigen Aufsätze von Brachtendorf (2006) und Sandkaulen (2006b).
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(2) Abweichende Auslegungsmöglichkeit I: Man könnte annehmen, dass sich in Fichtes Texten ab 1800 ein unerklärbares transzendentes Ursache-Wirkung-Verhältnis zwischen Gott und einem unterbestimmten, abstrakt vorgestellten Selbstbewusstsein finde und wie folgt argumentieren: (1) Der frühe Fichte versuche eine ursprüngliche Einheit des Selbstbewusstseins zu denken. (2) Dieses schaffe er nicht, weil er nur eine sich äußernde, faktische Einheit durch nachträgliche Vereinigung der Tätigkeit des Selbstsetzens (Akt) mit dem Begriff (Produkt) herstelle. (3) Daher nehme Fichte notgedrungen ein unbegreifbares Absolutes (Gott) an, welcher als die wahre ursprüngliche Einheit des Selbstbewusstseins und sein unbewusster Urgrund fungiere. 176 Das Grundproblem dieser Auffassung ist, neben der fehlenden Reflexion auf den Vorläufigkeitscharakter der Annahme des Absoluten (als Hinleitung) sowie auf Fichtes Spinoza-Kritik, eine als Lösung vorgeschlagene Überbestimmung eines zuvor vom Interpreten selbst unterbestimmten Selbstbewusstseinsmodells. Zunächst wird in die Vorstellung des Grundprinzips der frühen Wissenschaftslehren nicht mehr hineingelegt, als dass es irgendein abstraktes Selbstbewusstsein sei – hauptsächlich durch Tätigkeit bzw. intellektuelle Anschauung und Begriff bestimmt. 177 Anschließend wird an einer solchen Vorstellung des Selbstbewusstseins Kritik geübt – es handele sich um eine postfaktische Einheit, was Fichte eingesehen haben soll. Daraufhin wird als Lösung ein ursprünglicher jenseitiger Grund als Bedingung des Selbstbewusstseins vorgeschlagen – also ein immer noch unterbestimmt bleibendes Selbstbewusstsein wird überbestimmt, indem es als eine Äußerung der Kausalität Gottes angesehen wird. Diese unbefriedigende Argumentationslinie bricht zusammen, wenn man unter dem Grundprinzip der Wissenschaftslehre Vernunft versteht, wie in unseren beiden explanativen Modellen: Zwar ein Selbstbewusstsein, aber in dem konkreten und greifbaren Sinne, dass das Vernunftvermögen (das Vermögen der Freiheit, das eigenste Ich) 176 Diese Lesart findet man z. B. bei Karen Gloy – vgl. Gloy 1998: 226–237 – und offensichtlich in Anknüpfung an Henrich 1982: 75–82. 177 Die Abstraktheit ist, an sich, wie schon oben gesagt, kein Problem, wenn man darüber aufklärt, was sich hinter den einzelnen Denkmomenten verbirgt. Das geschieht zwar in den Wissenschaftslehren, nicht aber in zahlreichen Untersuchungen zu Fichte.
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von sich selbst ein Bild macht. Der transzendenten Auslegungsmöglichkeit I entgeht der Gedanke, dass wir bereits beim Modell 1 einen uns »verborgenen« oder »unbewussten« Grund voraussetzen müssen, den Seinsgrund der Vernunft von sich selbst (ratio essendi). Wir erkennen ihn nie direkt und an sich, sondern nur in seiner Äußerung, in seinem künstlich hergestellten Abbild – in der Selbstsetzung (Vernunft bildet von sich einen Begriff – Akt), im unmittelbaren Bewusstsein (intellektuelle Anschauung – Begleitung des Aktes) und Begriff (Idee der Vernunft von sich selbst – Produkt). Von der erfolgreichen Umsetzung dieser geistigen Handlung (ratio cognoscendi) schließen wir darauf, dass wir ein Vernunftvermögen (ratio essendi) haben, welches aber immer noch nicht direkt an sich vor seiner Äußerung erkannt wird. Dieselbe Situation liegt beim Modell 2 vor. Die Bildung der Vernunftidee von einem Urwesen ist auch eine ratio cognoscendi des Vernunftvermögens, welches sich als imstande seiend zeigt, die von der empirischen Realität entfernteste und im System der transzendentalen Ideen letzte Vorstellung zu bilden. Da sowohl dem Begriff »Gott« als auch dem der »Vernunft« (absolutes Ich) nichts Empirisches kongruiert, liegt es nahe, sie als Produkte eines einzigen Vermögens der Ideen anzusehen. Diejenigen Gesetzmäßigkeiten, die wir bei (a) der Bildung der Idee des Absoluten aufmerksam feststellen, müssen entsprechend auch bei (b) der Bildung der Idee der Vernunft von sich selbst vorhanden sein. Daher eignet sich (a) zur Hinleitung zum Grundprinzip der Wissenschaftslehre, i. e. (b) – in beiden Fällen ist die Vernunft die ratio essendi, die wir aber nur durch ihre Äußerung annehmen und welche ohne dieselbe »verborgen« bleibt. Folgende Analogie bietet sich an: So wie ein natürliches Bewusstsein sich Gott nicht vorstellen kann, ohne ihn zu verobjektivieren, so kann ein Philosoph nichts von seiner Vernunft wissen, wenn sie sich nicht durch geistige Handlungen (der Ideenbildung mit konkreten Funktionen) äußert. Abweichende Auslegungsmöglichkeit II: Ferner könnte man glauben, dass bei Fichte ab 1800 eine »Re-Platonisierung« oder »Neuplatonisierung« stattfinde: (1) Der späte Fichte benutzt Ausdrücke wie Licht etc. und spricht von Ideen. (2) Mit diesen sind bestimmte (neu-) platonische Argumentationsmuster oder Konnotationen verbunden. (3) Also rezipiere er Platon oder den Neuplatonismus und verbinde ihn mit der Wissenschaftslehre. 178 178
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Vgl. z. B. die Aufsätze im Sammelband von Mojsisch und Summerell, Platonismus
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Man kann fruchtbare Parallelen zwischen Fichte und Platon oder Plotin aufstellen. Allerdings besteht dabei die Gefahr einer Verwischung der transzendentalphilosophischen Grenze. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn bei den Vergleichen die transzendente Vorstellung des Absoluten für den Grundsatz der Wissenschaftslehre angesehen wird, anstelle, wie oben erklärt, auf ihre Hinleitungsfunktion zu achten. Diese kann allerdings sinnvoll erweitert werden, ohne dass der transzendentale Rahmen verlassen werden muss: Wie bei Kant so bei Fichte kann zwar der theoretisch »leeren« Vorstellung Gottes Realität verliehen werden, allerdings ausschließlich im praktischen postulatorischen Sinne. 179 Vom Standpunkt der religiösen oder auch moralischen Weltansicht / Wirkungssphäre der Vernunft aus kann Fichte auch eine praktische, die theoretische ergänzende Analogie aufbauen: (1) Der Religiöse stellt sich Gott als die Quelle des Lebens, der Liebe und der Sittlichkeit vor. (2) Indem er Gott liebt (der sonst ein »leere[r] Begriff[] eines reinen Seyns« (AzsL GA I/9 167, vgl. ebd. 110) bliebe) verleiht er ihm Realität – »die Liebe, ist die Quelle aller Gewißheit, und aller Wahrheit, und aller Realität« und Idealismus (2003). Asmuth betont zwar, dass Fichte kein intensiver Platon-Leser war, dennoch habe er indirekt Platon rezipiert und sogar seine Ideenlehre verbessert – vgl. Asmuth 2003: 60 und 2006: 43 ff. Das Problem dieser Aufwertung der impliziten Rolle Platons für Fichtes Spätphilosophie ist die gleichzeitige Ausblendung der Bedeutung der Kantischen Vernunft- und Ideenwissenschaft. Dass man sich erstaunlicherweise um entfernte Vergleiche bemüht, obwohl es klar ist, dass Fichte sich auf Kant bezieht, der seinerseits Platon direkt rezipiert, kann daran liegen, dass der ganze Umfang der Kantischen Vernunftfunktionen, den wir oben beleuchtet haben, kaum durchdacht wird. Rampazzo Bazzan (vgl. 2009: 27 f.) geht sogar so weit zu sagen, dass der späte Fichte lediglich in populären Schriften mit Ideen arbeite, die nun platonisch verstanden werden – die Ideenlehre »wird in der Berliner Zeit nicht zu einem Bestandteil der wissenschaftlichen Philosophie« (ebd.). Folgt man dieser Auffassung, dann wird der Begriff »Vernunft«, als Vermögen und Ursprung der Ideen (wie das Absolute, Ich, reiner Wille etc.), (und mit ihm Kant) komplett aus der Wissenschaftslehre gestrichen. Die Wissenschaftslehre enthielte dann keine Wissenschaft von der (einen, sich äußernden) Vernunft mehr. 179 »Kant sagt in seinem Aufsatze über den vornehmen Ton pp[,], daß man Gott sich mache, allerdings, aber man macht sich auch die Welt[;] beide sind abhängig von der Vernunft. Nur für die Vernunft giebts eine Welt, und einen Gott […]« (WLnm-K GA IV/3 408 f.). Da man aber den Begriff »Gott« v. a. durch »moralische Bildung« (ebd.) erhält und mit ihm ein Gefühl des Strebens wie mit der Welt ein Gefühl der Beschränktheit verbunden ist, hat er aus Fichtes Sicht allerdings auch eine gewisse (praktische) Realität (ebd.). Fichte löst sich vom »Buchstaben Kants«, indem er ihm objektive Gültigkeit zuspricht, stimmt aber wiederum mit »Kants Buchstaben überein«, dass diese nicht theoretisch verstanden werden kann (ebd.). Das System der Ideen
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(ebd. 167) – und indem er sittlich handelt und ein seliges Leben führt, ist er ein Bild des vorgestellten Willens Gottes. Da die Wissenschaftslehre sich mit Vernunftfunktionen beschäftigt und für klares Durchdenken der Bewusstseinshandlungen sorgt, darf sie sich gewissermaßen auch als ein Teil des seligen Lebens ansehen und mehr als eine Theorie um der Theorie willen. Damit kann Fichte seine Zeitgenossen und auch jeden religiös und sittlich vorgebildeten Menschen von ihrem Wert überzeugen. Diese Realität Gottes als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft und die darauf aufbauende Analogie dürfen aber nicht theoretisch verstanden werden – weder das Ich noch die Welt sind bei Fichte Resultate der Emanation, sondern Produkte der Vernunft, die in der künstlichen Reflexion das dem natürlichen Bewusstsein schon Gegebene, d. h. sich selbst und Anderes setzt. 180 Beim späten Fichte handelt es sich mitnichten um einen Sprung in die vorkritische Metaphysik oder um die Einarbeitung neuplatonischer Sichtweisen, sondern um vertiefte Reflexionen über das Wesen der Kantischen Vernunft, das »Vermögen der Prinzipien« (KrV 180 So spricht z. B. Jacinto Rivera de Rosales von »Gott« oder »absolutem Sein« bei Fichte als einer »reale[n] Bedingung oder ratio essendi« – Rivera de Rosales 2016: 101 – des Wissens. Der Ausdruck »Realität« wird von Rivera de Rosales nicht in den engeren Sinnzusammenhang mit der reinen praktischen Vernunft gestellt und auf die theoretische, aber »verborgene« kausale Dimension erweitert. Fichte will den bei seinen Vorlesungen anwesenden Zeitgenossen allerdings nur sagen: Wenn wir eine gewisse Einstellung haben und die Wissenschaftslehre durchdenken, sind wir (gemäß der praktisch verstandenen Analogie) »Licht der Welt«, so wie wir uns Gott als »ursprüngliches Licht« (als weisen Garant der Sittlichkeit und Glückseligkeit) vorstellen, wenn wir uns auf den religiösen Standpunt stellen. Es ist aber nicht erlaubt zu sagen, es gebe eine ursprüngliche Realität (theoretisch verstanden), die als Ich und Welt im Medium des Wissens erscheine, aus der etwas auf irgendeine Weise werde: »[W]eg mit jenem Phantasma, eines Werdens aus Gott, […] einer Emanation« (AzsL GA I/9 119, vgl. WL-1812-H GA IV/4 269). Selbst Christoph Asmuth, der die Realität Gottes beim späten Fichte scheinbar praktisch deutet, als etwas, was sich »wesentlich in der sittlichen Durchdringung und Durchdrungenheit der Wissenschaftslehre ausfaltet und Niederschlag findet im gelebten und lebendigen Leben« (Asmuth 2007: 49), verwendet einige Seiten später verwirrend einen theoretisch klingenden Realitätsbegriff Gottes, als einer »Möglichkeitsbedingung des Wissens« (ebd. 56). Diese und ähnliche Konfusionen resultieren bei ihm daraus, dass er die transzendentalphilosophische Analogie des Modells 2 zwischen den Vorstellungen »Gott« und »Ich« nicht denkt. Stattdessen versucht er die Begriffe »das Absolute« und »das Ich« oder »Wir« gleichzusetzen (ebd. 48 und 50) – ähnlich wie auch Schmidt 2004: 63 ff. Solchen die Analogie verkennenden und die Differenz überspringenden oder einebnenden Interpretationen können wir ebenso wenig folgen.
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A299/B356). Die Vernunftvorstellungen bzw. die Ideen sind Prinzipien, mit deren Hilfe der Verstand und der Wille in verschiedenen Bereichen gesteuert werden. Weil Kant Platon direkt rezipiert (vgl. weiter oben) und weil Fichte die Resultate der Kantischen Philosophie begründen will, 181 so kann es – da er sich bei seinen »Meditationen« über das Vernunftvermögen von den transzendentalphilosophischen Termini loslöst – so scheinen, als ob er sich auf Platon oder Plotin beziehe. In der Tat besteht Fichtes Ziel jedoch darin, die absolute Einheit der (menschlichen) Vernunft zu denken, die er bei Kant vermisst. 182 Bevor die Vernunft in ihrer Aufspaltung, theoretische, praktische (moralische, rechtliche), ästhetische und religiöse Prinzipien der Wirkungssphären oder der Wissenschaften bildend, angesehen wird, muss sie sich selbst setzen. Sie muss von sich selbst als dem absoluten Grund eine Idee bilden, sich ihrer selbst vergewissern – (1) wie der Dogmatiker (z. B. Spinoza) sich das Absolute denkt und die Welt als seine Äußerung, so muss der Transzendentalphilosoph sich das absolute Wissen (die Vernunft oder das absolute Ich) vorstellen, aus dem sich alle Bewusstseinshandlungen (inklusive der Weltsetzung) ableiten; (2) wie der Religiöse sich in bestimmten Einstellungen und sittlichen Handlungen in Einheit mit der praktisch postulierten Realität Gottes, als sein Bild, vorstellt, darf er die von der Wissenschaftslehre erhoffte Aufklärung über die Funktionen seines Bewusstseins, der Vernunft und ihrer Wirkungssphären, als eine 181 »[D]er Verfasser der WissenschaftsLehre [ist] mit der Vorerinnerung aufgetreten, daß dieselbe mit der Kantischen Lehre vollkommen übereinstimme, und keine andere sey, als die wohlverstandene Kantische. In dieser Meinung ist er durch die fortgesetzte Bearbeitung seines Systems, und durch die Vielseitigkeit, die er seinen Sätzen zu geben veranlasst worden ist, immer mehr bestärkt worden« (ZwE GA I/4 221); »Also die Resultate der WißenschaftsLehre sind mit denen der Kantischen Philosophie dieselben, nur die Art sie zu begründen ist in jener eine ganz andere« (WLnm-K GA IV/3 326). Wenn Kant sagt, dass die Wissenschaftslehre etwas anderes als seine Philosophie sei, so behauptet Fichte in der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre, dann könnte er sie (aufgrund seines hohen Alters) nur nicht wirklich gelesen und verstanden haben (ZwE GA I/4 222 Fußnote) – »[v]erhalte es sich hiermit wie es wolle; ich habe wenigstens von keinem andern gelernt, was ich vortrage; in keinem Buche es gefunden, ehe ich es vortrug, und wenigstens der Form nach ist es durchaus mein Eigenthum (SB GA I/7 193 f.). 182 »[D]ie Ausführung [von Kant, Zusatz von M. L.] blieb jedoch hinter dem Vorsatze zurück, indem die Vernunft oder das Wissen nicht in seiner absoluten Einheit, sondern schon selbst in verschiedene Zweige gespalten, als theoretische, als praktische, als urtheilende Vernunft, der Untersuchung unterworfen [wurde, Zusatz von M. L.] (BWL-1806 GA II/10 21 f., vgl. WLnm-K GA IV/3 325).
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Hilfestellung zur Verwirklichung seiner Weltansicht ansehen. 183 Im Folgenden soll untersucht werden, wie Fichte die Vernunftfunktionen genetisch ableitet. Dies kann als eine weitergehende kritische Antwort auf alle nicht zufrieden stellenden Auslegungsmöglichkeiten verstanden werden.
3.2 Der innere Zusammenhang der Vernunftfunktionen Die Unzulänglichkeiten der von den zwei oben vorgestellten Modellen abgegrenzten Auslegungsmöglichkeiten liegen darin, dass sie Fichtes Denken der Vernunft entweder unterbestimmen, indem sie den Anfangspunkt (1) als bloßes abstraktes Selbstbewusstsein oder (2) als (ausschließlich) reine (sittlich-)praktische Vernunft deuten oder überbestimmen, indem sie (3) den Grund des zuvor unterbestimmten Selbstbewusstseins im Absoluten suchen oder (4) das Ich und die Welt als »Ausflüsse« der göttlichen Realität verstehen wollen. Sie resultieren aus den fehlenden Reflexionen darauf, dass (a) Fichte Kants Projekt der »Selbsterkenntnis der Vernunft« 184 (Prol 183 Der späte Fichte benutzt im Dialog mit seinen bei den Vorlesungen anwesenden Zeitgenossen, u. a. Studenten. Ärzten, Staatsbeamten, fließende Übergänge zwischen dem religiösen (vierten) und wissenschaftlichen (fünften, höchsten) Standpunkt. Damit ist offensichtlich der Nachteil der Vermischung beider Weltansichten verbunden, die ein Interpret im 21. Jahrhundert durchschauen muss, denn »eine höhere Weltansicht duldet nicht etwa neben sich auch die niedere, sondern jede höhere vernichtet ihre niedere […] und ordnet dieselbe sich unter« (AzsL GA I/9 109). Bei einigen Vorlesungen dominiert bei Fichte der religiöse Standpunkt, wie in den Anweisungen zum seligen Leben und in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters, was er offen zugibt (vgl. z. B. GdgZ GA I/8 386). Interpretiert man die Wissenschaftslehre vom Gesichtspunkt dieser Schriften aus, dann besteht die Gefahr der Vermengung der Standpunkte, die einander ergänzen können, aber nicht zu verwechseln sind, was infolge eine transzendente oder mystische Auslegung Fichtes begünstigen kann. Z. B. kann die Rede vom »Versinken« in Gott (vgl. AzsL GA I/9 149) vom praktisch-religiösen Kontext losgekoppelt und fälschlicherweise zur Auslegung der Wissenschaftslehre gebraucht werden, annehmend, Gott sei der theoretisch-reale Grund des Selbstbewusstseins, der Menschen und der Welt. Marco Ivaldo weist zu Recht darauf hin, dass selbst die Anweisung zum seligen Leben – auch wenn sie eine populäre und religionsphilosophische Schrift darstellt – nicht als eine »objektivistische Metaphysik« oder eine »Onto-Theo-Logik« auszulegen sei (vgl. Ivaldo 2016: 182 f.). 184 Nach Manfred Baum könnte das eine alternative Bezeichnung der Kritik der reinen Vernunft sein – vgl. Baum 2010: 250. In diesem Fall spräche aber nichts dagegen sie auch für alle drei Kritiken zu verwenden, denn das Programm der Selbsterhellung der Vernunft wird in der Kritik der praktischen Vernunft und in der Kritik der Urteils-
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AA IV 317) im Sinne eines Grundvermögens fortführen und der Form nach überbieten will, welches zum Zweck einer systematischen Ableitung aller Bewusstseinshandlungen von sich selbst ein Bild machen kann, bevor es sich in theoretischen, praktischen oder ästhetischen Funktionen konkretisiert und dass (b) sich zwischen der Vernunftidee des Absoluten und der Vernunftidee von der Vernunft eine vermittlungstechnisch brauchbare Analogie anbietet, die sich zum Einstieg eignet. Der Zuhörer lernt beim Versuch des Auffassens des Absoluten einerseits, wie das Ich analog mit dem Prädikat »absolut« begrifflich artikuliert werden kann und andererseits, wie er sein geistiges Leben im Rahmen des Durchdenkens seiner selbst und seiner Bestimmung sowie im sittlichen Handeln als ein schwaches Nachbild der praktisch postulierten göttlichen Vernunft deuten darf, ohne sich anzumaßen, die Letztere theoretisch zu erkennen. 185 Mit der vorgeschlagenen Deutung der beiden Modelle begeben wir uns in den »heiteren Mittag« der Fichte-Auslegung als einer transzendentalen Bewusstseinsphilosophie, die alle geistigen Handlungen von dem einen ungeteilten Vernunftvermögen aus beleuchtet, dessen Wesen im Selbstsetzen besteht, einem Bild-Von-Sich-Machen, mit dem die reflexive Erschließung des Tatbestandes »Bewusstsein« anfängt. Die Zahl der immanenten Funktionen der Vernunft im engeren Sinne ist, wie wir im Abschnitt zu Kant gesehen haben, ziemlich überschaubar. Wir finden sie, wie wir gleich sehen werden, alle bei Fichte wieder, so dass es keine Erweiterung hinsichtlich der Bereiche kraft fortgeführt. »Selbsterkenntnis der Vernunft« bedeutet nicht die Erkenntnis des Subjekts, wie es an sich ist, sondern der Vernunft dem Vermögen nach (wie es sich äußert). Auch beim wohl verstandenen Fichte sieht es nicht anders aus. Die Ansicht, Fichte begehe einen Paralogismus – vgl. Moskopp 2009: 16 und 81 f. – kann nur auf unterbestimmenden Auslegungen beruhen, bei denen die Einsicht fehlt, dass das erste Prinzip der Wissenschaftslehre das Vernunftvermögen ist, von dem wir nur dank seiner Äußerung(-en) wissen, und nicht ein übersinnliches an sich zu erkennendes Subjekt oder ein abstraktes Selbstbewusstsein. 185 Wie die ästhetischen Ideen dazu dienen können, »das Gemüth zu beleben« (KU AA V 315), oder sich auf den transzendentalen Standpunkt zu stellen (vgl. WLnm-K GA IV/3 522 f.), so können, wie Fichte ab 1800 demonstriert, auch religiöse Ideen Kräfte mobilisieren, die zum Begreifen der Wissenschaftslehre förderlich sind. Der Zuhörer zieht sich durch den »höchsten Aufschwung des Denkens« (vgl. AzsL GA I/9 62), der Vorstellung des einen, unwandelbaren Absoluten aus der Zerstreutheit des Bewusstseins im Mannigfaltigen zurück und macht die Erfahrung des Vernunftvermögens (vgl. ebd. 64 und 85 ff.), das geübt werden muss, um dem Vortrag der Wissenschaftslehre folgen zu können. Das System der Ideen
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gibt, in denen das »höchste« Vermögen tätig ist. Was neu ist, ist die Darstellungs- und Erklärungsweise, wie Fichte von der Ideenbildung der Vernunft von sich selbst ausgehend alle übrigen Ideen ableitet und miteinander verkoppelt, fließende Grenzübergänge zwischen theoretischen und praktischen Feldern schaffend. Während Kant in verschiedenen Texten unterschiedliche Vernunftvorstellungen behandelt und eher nachträgliche Zusammenhänge schafft, so dass man sich zum Überblick über den Umfang der Vernunftfunktionen eine Tabelle erstellen muss, wie wir es oben getan haben, versucht Fichte sie entweder in einer einzigen Übersicht oder in einer Argumentationsfolge zu systematisieren. Das macht die Beschäftigung mit den drei Kritiken keineswegs entbehrlich, sondern dient vielmehr der Vertiefung der Kenntnis über die Leistungsfähigkeit der Vernunft. 186 Diese fließende Darstellungs- und Erklärungsweise nennt Fichte »genetisch«. Das heißt, dass unter der Führung des Autors der Wissenschaftslehre oder des selbständigen Lesers, der sich vom Modell 1 oder 2 leiten lässt, die Bewusstseinshandlungen (wir interessieren uns an dieser Stelle nur für diejenigen auf der Ebene der Vernunft) schrittweise, zusammenhängend und in einer Innenperspektive (alle Differenzen als interne, als Binnendifferenzierungen ansehend) abgebildet werden: »Jede gute Beschreibung aber soll genetisch seyn, und sie muß das zu beschreibende allmählich vor den Augen des Zuschauers entstehen lassen« (AzsL GA I/9 141). 187 Ihr Vorteil kann einerseits im dynamischeren Umgang mit den Vernunftfunktionen liegen – andererseits führt ein solches Durchdenken schon den praktischen Effekt einer Lehre herbei, die den Menschen ändert (vgl. z. B. WL-1804-II GA II/8, 18 ff.), weil sie ihm ein brauchbares und aktivierbares Wissen einverleibt: Das Publikum soll sich in dieses als in ein eigenes Wissen hineinleben. Man kann bei Fichte zwei Modelle unterscheiden, die Vernunftbegriffe genetisch zu ordnen. Das eine (1) ordnet die Ideen hierarchisch mithilfe der Bereiche, in denen unser Vernunftvermögen eingesetzt werden kann, das andere (2) zieht eine Argumentationslinie 186 So schließt Fichte seine erste Reihe der Vorlesungen im Jahr 1804 mit der Versicherung, dass der Zuhörer nichts mehr als die gemachten Notizen und die drei Kantischen Kritiken braucht, um den Inhalt der Wissenschaftslehre nachzuvollziehen – vgl. WL-1804-I GA II/7 234. 187 Nach Rivera de Rosales bringt gerade diese Weise, die Einsicht zu generieren, Fichte in die Nähe von Schelling und Hegel – vgl. zu den Grundzügen der genetischsynthetischen Deduktionsmethode Rivera de Rosales 2014: 219 ff.
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über die gesamte Wissenschaftslehre hindurch. Im Folgenden soll das erste betrachtet werden, um die Vernunftfunktionen kennenzulernen und die Parallelen zu Kant aufzuzeigen. 188 Dabei werden sowohl frühere als auch spätere Texte von Fichte herangezogen, denn wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die Wissenschaftslehre sich ihrem Kern nach nicht ändert: Es wird stets von der Vernunft als dem wahren Zentrum ausgegangen.
3.2.1 Die eine und die vielen Ideen: Teleologie der Ideenarten Fichtes Ideenlehre ist unzertrennlich mit einem hohen Bildungsideal des Gelehrten als dem »sittlich beste[n] Mensch[en] seines Zeitalters« (BdG GA I/3 58) verbunden. 189 Dieses besteht weder in irgendeinem passiv-kontemplativen »Schau der Ideen« 190 noch in einem andauernden Genusserlebnis der »höheren Werte«, sondern im aktiven und systematischen Durchdenken der »Welten« oder »Sphären«, in denen sich unsere Vernunft bewegen kann. 191 Diese sind prinzipielle Tätigkeitsfelder, in denen wir etwas tun, ändern oder bewegen können. Keine Verklärung und Passivität, sondern erstens Klarheit und zweitens ihr entspringende Freiheit (Selbsttätigkeit, die nie ohne Klarheit (begriffliche Arbeit) da sei) sind diejenigen Merkmale, die das Wirken des Gelehrten begleiten (vgl. WdG GA I/8 83). Der Überblick über die Vernunftfunktionen und ihr aktiver Gebrauch ist ein erstrebenswertes Ziel, dessen Verwirklichung eine besondere Lebenseinstellung voraussetzt – eine Vorentscheidung für bestimmte »edle« Überzeugungen, Werte und Ansprüche, die Fichte im Jahr 1806 zusammenfassend mit dem Begriff »die Idee« – in einem emphatischen Singular – bezeichnet. 192 Dabei handelt es sich nicht, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte, um ein abstraktes und kaum greifbares Konzept, 188 Das zweite Modell wurde bereits (im Hinblick auf den Grundriss der Wissenschaftslehre von 1810) in Form eines Aufsatzes behandelt und veröffentlicht – vgl. Lewin (2018). 189 Wir folgen im Weiteren der Ansicht von Peter L. Oesterreich und Hartmut Traub, dass Fichtes populäre Werke eng mit den Wissenschaftslehren verbunden sind und grundsätzlich zusammen behandelt werden müssen – vgl. Oesterreich/Traub (2006). 190 Was Schopenhauer Fichte neben anderen Nachkantianern vorwirft – vgl. zur Kritik Schopenhauers an dem Gebrauch des Ideenbegriffs insbesondere 1813/47: 39 f. und 110–129 sowie 1819: 41–46 und 491–633. 191 »Handeln! Handeln! das ist es, wozu wir da sind« (BdG GA I/3 67). 192 Edel ist u. a. dasjenige, (a) was den Sinn für die Ideen steigert und die Fantasie
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sondern um ein notwendiges Objekt der reinen praktischen Vernunft im Zusammenhang mit der sittlichen Selbstbestimmung: Der Ausdruck »die Idee« bedeutet, übersetzt in die Kantische Terminologie, »die Idee des höchsten Guts«, die Fichte als die »vollkommene Uebereinstimmung des Menschen mit sich selbst« definiert (vgl. BdG GA I/3 31). Es ist ein teleologischer Entwurf einer Vervollkommnung ins Unendliche: 193 Alles vernunftlose sich zu unterwerfen, frei und nach seinem eignen Gesetze es zu beherrschen, ist letzter Endzweck des Menschen; welcher letzte Endzweck völlig unerreichbar ist und ewig unerreichbar bleiben muß, wenn der Mensch nicht aufhören soll, Mensch zu seyn, und wenn er nicht Gott werden soll (ebd. 32).
Das Leben in und für die Idee (die sich in mehrere Ideen ausdifferenziert), d. h. das Streben nach der Verbesserung von sich und von Mitmenschen, nach der Kenntnis der Vernunftfunktionen und -zwecke und ihrer Verwirklichung, macht das idealtypische Wesen des Gelehrten aus: »Das Einige, woran mir gelegen seyn kann, ist der Fortgang der Vernunft und Sittlichkeit im Reiche der vernünftigen Wesen; und zwar lediglich um sein selbst, um des Fortgangs willen« (BdM GA I/6 303). Man muss mindestens zwei Punkte klarstellen, um zu verstehen, was Fichte damit meint: Erstens fügt er der einen Idee im Jahr 1806 das Prädikat »göttlich« hinzu (in seinen populär gehaltenen Vorlesungen v. a. vom Standpunkt des religiösen Bewusstseins aus argumentierend). Dies ist keineswegs verwunderlich, wenn man sich an die Funktion der Idee des höchsten Guts bei Kant erinnert, auf die wir weiter oben eingegangen sind. Es ist ein mit der Anwendung des Sittengesetzes verbundenes (vorgestelltes) Objekt des Strebens, das zum Postulat der praktischen Realität Gottes führt, als eines Wesens, welches seine
weiterbildet, (b) was die Kraft des Geistes erhöht und (c) was die Achtung für sich selbst, den Glauben an sich und an seine Vermögen kräftigt – vgl. WdG GA I/8 99 ff. 193 Dies ist das Hauptinteresse der Vernunft, welches hinter allen Vernunftfunktionen und -aufgaben steht. »Kant spricht von einem Intereße der Speculativen und von einem Intereße der praktischen Vernunft, und sezt beide entgegen; dieß ist nun auf seinem Gesichtspunkte richtig, nicht aber an sich, denn die Vernunft ist immer nur eine und hat nur ein Intereße. Ihr Intereße ist der Glaube an Sebständigkeit und Freiheit, aus diesem folgt das Intereße für Einheit und Zusammenhang, dieß könnte man das Interesse der speculativen Vernunft nennen, weil das Ganze auf einen Grund gebaut [sein] und damit zusammenhängen soll« (WLnm-K GA IV/3 335).
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Möglichkeit garantieren soll. Die Bezeichnung »höchstes Gut« ist bei Kant doppelt belegt. Einerseits und mit dem Zusatz »ursprüngliches« ist das Postulat des Daseins Gottes gemeint, andererseits, als »abgeleitetes«, die in der Welt zu verwirklichende Sittlichkeit und die mit ihr zusammenhängende Glückseligkeit (vgl. KpV AA V 125, 132 und KrV A810 f./B838 f.). Ein Gelehrter, der sich an der Beförderung des höchsten (abgeleiteten) Guts beteiligt, darf sich in diesem Zusammenhang und vom Standpunkt der religiösen Weltansicht aus als ein »Stellvertreter Gottes« ansehen. Er arbeitet an der Umsetzung der einen Idee der unendlichen Veredelung des Menschen und seiner Welt. Wie der Begriff »höchstes Gut« bei Kant, so enthält also auch der von Fichte gewählte Ausdruck »die Idee« eine potentiell fruchtbare Ambivalenz. Zum einen ist damit das Streben des Menschen gemeint, alle seine Verhältnisse nach der Vernunft einzurichten (vgl. GdgZ GA I/8 198), stimmungsvoll ausgedrückt: Die Vorstellung des Gottwerdens des Menschen (mit der Betonung auf das unabschließbare Werden – vgl. PrPh GA II/3 238). 194 Zum anderen ist mit der Idee schon das Ideal mitgedacht, als vollendete Unendlichkeit der Vernunft, nämlich Gott als der Archetypus der Vollkommenheit, an den der Religiöse glaubt. 195 Zweitens spricht Fichte von einer »Teilung« dieser einen Idee in fünf Hauptarten ihrer Äußerung (vgl. WdG GA I/8 77 ff.). Kant hat darauf hingewiesen, dass ein Sinnenwesen das höchste Gut niemals realisieren, sondern sich lediglich als auf ins Unendliche gehenden »Stufen der moralischen Vollkommenheit« (KpV AA V 123) denken kann, woraus das Postulat der Unsterblichkeit der Seele resultiert. Fichte versucht diese von Kant »anonym« gehaltenen Etappen, diesen »Fortgang« (vgl. BdM GA I/6 303), zu kennzeichnen und nach dem aus der Wissenschaftslehre gewonnenen Prinzip der Selbstreflexion der Vernunft zu ordnen. Die Menschheit (bzw. der Einzelne) werde vollkommener, wenn die Vernunft (Freiheit / Selbsttätigkeit) dazu gebraucht werde, (1) die Natur zu begreifen und zu beherrschen, (2) das Zusammenleben zu verstehen und zu regeln, (3) Kunstwerke
194 Die »göttliche Idee« drückt Fichte etwas nüchterner wie folgt aus: Es ist der »Gedanke von dem Menschen, als einem Gelehrten« (WdG GA I/8 97), der sein Vernunftvermögen maximal ausbildet. 195 »Dort wird er Endzwek unseres Strebens: Hier heißt es: Glaube an Gott: dort heißt es: werde Gott« (ebd.), wie Fichte schon in seinen frühen Überlegungen zur praktischen Philosophie schreibt.
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zu produzieren und Fertigkeiten zu verbessern, (4) den religiösen Geist kennenzulernen und (5) eine Wissenschaft zu betreiben, die diese Felder im Zusammenhang überblickt und durchdenkt. 196 Die eine Idee des höchsten Guts (der sittlichen Vervollkommnung, die nur in der Vorstellung des höchsten Wesens als erreicht angesehen wird) spaltet sich, wenn man eine räumliche vermittlungstechnische Metapher verwenden will, wie ein Lichtstrahl durch ein Prisma in fünf mögliche Standpunkte, die sie auf eine ihnen je eigentümliche Weise wiedergeben. Die fünfte Weltansicht ist insofern die höchste, als sie diejenige Instanz darstellt (die selbstreflexive Vernunft), die im Besitz des nötigen Überblicks und des Planes ist (der Bestimmung des Menschen, sein Vernunftvermögen auszubilden – also der einen Idee), um alle Vernunftfunktionen zu steuern und zu befördern. Dass sich Fichte des Ausdrucks »Idee« bzw. »mehrere Ideen« (WdG GA I/8 77) bedient und von »Hauptarten« (ebd. 79) ihrer Äußerung spricht, ist das Resultat der Kantischen Wiederaufnahme dieses Begriffes in der älteren, aber zu revidierenden Platonischen Bedeutung in den philosophischen Diskurs. Die »Ideen« stellen die höchste Vorstellungsart dar, mit welcher die Vernunft im engeren Sinne operiert. Sie sind bestimmte (Voraus-)Setzungen, Forderungen, die an den Verstand und den Willen gestellt werden können. Als solche sind sie Ausdrücke der Freiheit (in anderen Worten: Äußerungen der Vernunft), des Vermögens, etwas selbsttätig in der Welt zu bewirken und der natürlichen Ansicht der Dinge eine progressive gegenüberzustellen. Fichte folgt: (1) dem von Kant hervorgehobenen besonderen Vorstellungsstatus der Ideen, indem er sich gegen die »Sprachverwirrung« wendet, »nach welcher jedweder Gedanke zur beliebigen Abwechselung auch Idee genannt werden kann, und gegen die Idee etwa eines Stuhles oder einer Bank sich nichts einwenden läßt« (GdgZ GA I/8 245). Diese Stelle lässt sich als ein direkter Beitrag zur Kantischen Aufforderung in der transzendentalen Dialektik lesen, »den Ausdruck Idee seiner ursprünglichen Bedeutung nach in Schutz zu nehmen, damit er nicht fernerhin unter die übrigen Ausdrücke, womit gewöhnlich allerlei Vorstellungsarten in 196 Dies sind die gleich zu Beginn des Abschnittes zu Fichte genannten fünf Standpunkte, auf die wir, wie versprochen, immer wieder zurückkommen (und sie dadurch auch immer weiter kennenlernen).
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sorgloser Unordnung bezeichnet werden, gerate« (KrV A319/ B376). Die Ideen sind nicht mit den Erfahrungsbegriffen des Verstandes zu verwechseln (vgl. GdgZ GA I/8 246). (2) dem Voraussetzungsstatus der Vernunftbegriffe bei Kant, wie wir diesen oben herausgearbeitet haben. Die Vernunft ist ein »schlechthin setzende[s] Vermögen« (GWL GA I/2 373 f.). Sie erzeugt problematische Begriffe als Voraussetzungen, zu denen sie entweder etwas Entsprechendes in der Sinnenwelt sucht oder die sie umsetzt oder die sie in bestimmten Zusammenhängen als Postulate gelten lässt. »Ideen sind Aufgaben eines Denkens« (SL GA I/5 75) und als solche sind sie ein Ausdruck des Tätigkeitscharakters der Vernunft, die sowohl Aufgaben stellt als auch konkrete Funktionen erfüllt, die mit ihrer Lösung verbunden sind. Fichte definiert sie als (a) selbständige, (b) in sich lebendige und (c) die Materie belebende Gedanken (vgl. GdgZ GA I/8 235 f.), und zwar in dem Sinne, dass sie: (a) dem objektiven, reinen Denken (der Vernunft) angehören, welches nicht von der Zufälligkeit der Persönlichkeit abhängt. Die Frage z. B., was das Schöne ist, ist eine Aufgabe für die Vernunft, die nicht mit der Aufstellung der sinnlichen Schönheitsideale gelöst ist. Diese ändern sich von Zeit zu Zeit, von Person zu Person etc. – das Bleibende ist dagegen die Idee des Schönen, die verschiedenartig dargestellt (in Idealen oder Kunstwerken) und unterschiedlich entdeckt (in der Natur) werden kann; (b) mit den Handlungen der autonomen Begriffsbildung, Aufgabenbestimmung und Funktionenumsetzung verbunden sind; (c) einerseits universale Aufgabenstellungen und Funktionen sind, die sich in jedem einzelnen Individuum äußern, andererseits aber stets mit gewissen Bewusstseinsgraden verbunden sind. Jedes Vernunftwesen »belebt die Materie« mit den Ideen in dem Sinne, dass es die Welt bearbeitet und idealisiert und somit bewusst oder unbewusst an dem einen Zweck (die Idee / das höchste Gut) mitarbeitet, dass »das Menschengeschlecht alle seine Verhältnisse nach der Vernunft einrichte« (ebd. 219). Der ideale Gelehrte ist dafür zuständig, sich die Idee und einzelne Voraussetzungsfunktionen klar ins Bewusstsein zu bringen, zu analysieren, zu
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systematisieren und das gesammelte Wissen zu vermitteln. 197
3.2.2 Die fünf systematisch verknüpften Gestalten der einen Vernunft Im Folgenden wollen wir die bei Fichte (und bei Kant) vorkommenden Arten der Ideen (a) nach Fichtes Einteilung der Tätigkeitsfelder der Vernunft (aus der Sicht des Gelehrten auch verschiedene »Zweige der Gelehrsamkeit« (WdG GA I/8 79) genannt), ordnen sowie kurz erläutern und (b) einen Bezug zum genetischen Prinzip ihrer Selbstreflexion herstellen. Wir verfahren dabei nicht wie Fichte, sondern wie ein Zuhörer bzw. Leser, wie er ihn sich gewünscht hat. Dieser soll (1) kein »gedankenlose[r] Nachsprecher« (BWL GA I/2 162) sein, sondern jemand, der (2) die »eigene freie Reproduktion des Vortrages der W.-L.« (WL-1804-II GA II/8 22) anstrebt und (3) »sich allenfals ohne alle fremde Beihülfe, gewiß aber durch die Lektüre der Kantischen Kritiken, u. meiner W.L.N.S. [Nachschrift der Wissenschaftslehre, Zusatz von M. L.] durchhelfen, und über all sich zu Rechte finden wird« (WL-1804-I GA II/7 234). Wir stellen das Ergebnis in tabellarischer Form an den Anfang der Untersuchung und erläutern schrittweise jede Zeile: 198
197 Zu den idealen Gelehrten muss Fichte natürlich neben Kant auch sich selbst zählen. Rivera de Rosales (2017) macht am Ende seines Beitrages einen interessanten Versuch, die Fünffachheit der Standpunkte auf Fichtes eigenen geistigen Weg anzuwenden. 198 Ob man diese Stufen (a) von unten nach oben, wie Fichte das in der Anweisung zum seligen Leben tut, oder (b) von oben nach unten darstellt, wie wir es tun wollen, spielt keine Rolle. Was aber von Bedeutung ist, sind erstens ihre unveränderbare Abfolge und zweitens die ihnen zugeordneten Reflexionsmomente der Vernunft und die Grade der Selbsttätigkeit. Bei der Darstellungsvariante (a) argumentiert man mit einem Trieb bzw. »Stachel der Selbsttätigkeit« (vgl. AzsL GA I/9 146). Bei (b) muss man mit der These von der Abnahme des Freiheitsgrades arbeiten. Es soll zusätzlich mit der internen Reflexionsstruktur des Ichs (der Vernunft) argumentiert werden, die Fichte am Ende der ersten und zweiten Vorlesungsreihe im Jahr 1804 entwickelt und mit den Weltansichten – die wir in ihrem ganzen Umfang (der Fünfundzwanzigheit) und in ihren »vor-theoretischen« Funktionen hier noch nicht behandeln werden – verknüpft. Sie ist ein nützliches Hilfsmittel zur Verinnerlichung des in der Tabelle bereits bekannt gegebenen Ergebnisses.
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Wirkungssphären der Vernunft
entsprechende Wissenschaften
entsprechen- entsprechende de Ideenarten symbolische Darstellung
V
Kritische Metaphysik
Wissenschafts- architektoniSubjekt-Objekt lehre sche Ideen; Vernunftbegriffe von der Vernunft
IV
Religion
Religionswissenschaft
Postulate; einfache praktische Ideen / religiöse
III
Kunst/Moral
Ästhetik, Praktische Philosophie
ästhetische Bilden des Ideen; einfache Subjekts praktische Ideen
II
Moral/Recht/ Politik
Rechtswissenschaft, Praktische Philosophie
Postulat der Stehendes Freiheit; Subjekt einfache praktische Ideen und / politische
I
Naturherrschaft und -kenntnis
Naturwissenschaften, theoretische Philosophie
transzendentale Stehendes Ideen; Objekt einfache theoretische Ideen
Bilden des Objekts
V: Kritische Metaphysik (a) Architektonische Ideen. Kants Kritik der Vernunft dient laut den Prolegomena dazu, den Plan und die Mittel zur Metaphysik als gründlicher Wissenschaft aufzustellen. Dazu soll sie Folgendes vollständig und systematisch darstellen: (1) den ganzen Vorrat der Begriffe a priori, (2) ihre Einteilung nach den Quellen (Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft), (3) eine vollständige Tafel derselben, (4) die Zergliederung aller Begriffe und desjenigen, was aus ihnen folgen kann, (5) die Möglichkeit der synthetischen Erkenntnis a priori, (6) die Grundsätze des Gebrauchs der Begriffe a priori und (7) die Grenzen desselben (vgl. Prol AA IV 365). Was Kant damit vorschwebt, ist eine architektonische »Idee der möglichen Wissenschaft Das System der Ideen
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und ihres Territoriums« (ebd. 265, vgl. 270 f.). Die Metaphysik als Wissenschaft soll auf ein »bestimmtes und geschlossenes Wissen« (ebd. 366) hinauslaufen, denn die Vernunft hat ihren Gegenstand – die Quellen der Erkenntnis – in sich selbst. Für Fichte ist es ganz klar: »Eine reine Kritik – die Kantische z. B. die sich als Kritik ankündigte, ist nichts weniger als rein, sondern großentheils selbst Metaphysik; sie kritisirt bald das philosophische, bald das natürliche Denken« (BWL GA I/2 159). 199 Eine reine (radikale) Kritik enthält keine Metaphysik, eine reine (dogmatische) Metaphysik keine Kritik. 200 Die »künftige« Wissenschaft ist aus dieser Perspektive bereits im Grunde in den drei Kantischen Kritiken selbst enthalten – denn sie ist nun und kann nichts mehr anderes sein als die Analyse unseres auf theoretische oder praktische Erkenntnis ausgerichteten Denkens. 201 Eine materiale metaphysische Lehre aufzustellen lohnt sich nicht mehr, denn kein einziger metaphysischer synthetischer Satz a priori kann und konnte bisher als gültig bewiesen werden (vgl. Prol AA IV 368 f.). Das alte Forschungsprogramm der Metaphysik soll daher zugunsten eines neuen (mit einem strengeren wissenschaftlichen Anspruch) aufgegeben werden – unsere Grundvermögen der theoretischen und praktischen Erkenntnis so 199 Jede Position, die das natürliche Denken kritisiert, ist metaphysisch. D. h., sobald man nicht bloß erkennt, sondern sich fragt, wie das Erkennen funktioniert und sobald man nicht bloß handelt, sondern verstehen will, welche Motive und Selbstbestimmungsmöglichkeiten es gibt, ist man ein Metaphysiker – nach Kant: ein jeder nachdenkende Mensch (vgl. Prol AA IV 367). 200 Die Kritik kann bei Kant ebenso als Meta-Metaphysik zur Metaphysik gezählt werden – vgl. Baum 2015: 1534 f. – denn sie ist »sowohl die Untersuchung alles dessen, was jemals a priori erkannt werden kann, als auch die Darstellung desjenigen, was ein System reiner philosophischen Erkenntnisse […] ausmacht« (KrV A841/B869). 201 So zitiert Fichte und erläutert eine Stelle von Kant: »›In einem System der reinen Vernunft würde man sie (diese Definition) mit Recht von mir fodern können; aber hier würde sie nur einen Hauptpunkt aus den Augen bringen.‹ An dieser Stelle ist ja das System der reinen Vernunft, und das hier (die Kritik der reinen Vernunft) entgegengesetzt, und die letztere wird nicht für das erstere ausgegeben. Es lässt sich nicht wohl einsehen, wie seit der Zeit, nachdem besonders Reinhold die Frage nach dem Fundamente und der Vollständigkeit der Kantischen Untersuchung in Anregung gebracht, und von Kant kein System der reinen Vernunft erschienen, durch ihr bloßes Alter die Kritik sich in ein System verwandelt haben solle, und warum die nach dieser Stelle allerdings erlaubten weiteren Fragen, nachdem sie wirklich geschehen, ein wenig unsanft abgewiesen worden. – Nach mir fehlt es nun der Krit. d. r. V. keineswegs am Fundamente; es liegt dies sehr deutlich da[:] nur ist auf dasselbe nicht aufgebaut, und die BauMaterialien – obgleich schon sauber zubereitet, – liegen nach einer sehr willkürlichen Ordnung neben und über einander« (ZwE GA I/4 230 f. Anmerkung).
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gut wie möglich systematisch kennenzulernen. Die sieben oben genannten Anforderungen an die Kritik gelten also eigentlich auch für die Metaphysik selbst – zumindest nach dem Stand von 1783, vor den zwei darauffolgenden Kritiken. Danach müsste Kant im Prinzip neue Prolegomena schreiben, die alle Resultate einbeziehen, also die Liste der Anforderungen überarbeiten und auf weitere Bereiche ausdehnen, was er aber nicht mehr tut. Fichtes Begriffsschrift von 1794 kann als ein Versuch gelesen werden, die von Kant bereits gedachte architektonische »Idee einer Wissenschaft […], welche doch auch Wissenschaft seyn oder werden will,« (BWL GA I/2 117, vgl. ZwE GA I/4 225, 229 und 230) im Ausgang von allen drei Kritiken zu aktualisieren. Dies besagt auch schon der Titel des Werkes: »Über den Begriff [den Vernunftbegriff bzw. die architektonische Idee] der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie [der Metaphysik, Zusätze von M. L.]«. 202 Wenn die Metaphysik den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben soll, dann soll sie sich komplett durchsichtig werden – sie soll etwas sein, »das erst durch die Freiheit unsers nach einer bestimmten Richtung hin wirkenden Geistes« (BWL GA I/2 119) hervorzubringen ist. Die Vernunft soll sich dessen bewusst werden, was sie eigentlich tut, wenn sie gebraucht wird, und sie muss sich im Voraus eine architektonische Idee des Ganzen des Systems bilden, einen zu verwirklichenden Plan. Fichte stellt an die Wissenschaftslehre mindestens folgende Anforderungen: (1) Sie muss den ganzen Vorrat der Bewusstseinshandlungen (sowohl der theoretischen als auch praktischen) – das Objekt der Untersuchung der Wissenschaftslehre – darstellen (vgl. ebd. 140 ff.), und zwar (2) vollständig und systematisch (vgl. ebd. 129 ff.), indem sie (3) einen für sich geltenden Grundsatz aufstellt, (4) aus ihm ein System voneinander abhängender Sätze ableitet, die wiederum (5) Grundsätze einzelner anderer Wissenschaften sein können (vgl. ebd. 119 ff. und 133 ff.). Die Ideenart »architektonische Ideen« und die mit ihr verbundene Vernunftfunktion der heuristischen, dem entworfenen Bild angemessenen Entwicklung und Bewältigung von Wissen gehört also dem Standpunkt der kritischen Metaphysik, als ihr Eigentümliches, an. Von ihm aus sollen gemäß der Anforderung (5) auch grundlegende Vorstellungen weiterer Wissenschaften entwickelt werden. Dies Wissenschaftslehre ist nichts anderes als eine von Fichte provisorisch gewählte deutsche Bezeichnung für τὰ μετὰ τὰ φυσικά – vgl. BWL GA I/2 159 und 118 zweite Anmerkung zur zweiten Auflage.
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ist nicht so zu verstehen, dass die Wissenschaftslehre architektonische Ideen von dem Ganzen einer jeden einzelnen denkbaren Wissenschaft aufstellen soll – sie erhebt vielmehr den Anspruch darauf, die wesentlichen Bereiche des Wissens abzudecken, die sich aber immer weiter ausdifferenzieren können. Es geht also z. B. nicht unbedingt darum, Ideen von der Physik, Chemie, Biologie, Astrologie, Geologie, Ökologie usw. zu entwerfen, sondern vielmehr von der Naturwissenschaft an sich, zu der alle diese einzelnen Zweige gehören. Wir werden auf diese architektonischen Ideen der besonderen Wissenschaften in den Punkten IV-I zu sprechen kommen. (b) Vernunftbegriffe von der Vernunft. Zur Idee der Wissenschaftslehre gehört des Weiteren gemäß der Anforderung (3) ein Grundprinzip. Dieses ist, wie wir schon in Bezug auf die beiden oben behandelten Modelle festgestellt haben, die eine, ungeteilte, sich selbst ursprünglich machende (eine Idee von sich bildende) Vernunft, die Fichte an die Spitze des Systems stellen will, bevor sie sich in den einzelnen Bereichen IV-I äußert (was er eben bei Kant deutlich vermisst): »Man muß die Vernunft als ein Ganzes auffaßen, dann findet kein Widerstreit statt« (WLnm-K GA IV/3 519) – weder zwischen der Natur und der Freiheit noch zwischen den einzelnen Standpunkten überhaupt. Fichte bezeichnet das Grundprinzip als Vernunft und als Ich, »denn die Vernunft ist schlechthin Ich, und kann […] nichts Anderes sein, denn Ich« (WL-1804-II GA II/8 400). Im Kontext der theoretischen Vernunftfunktionen, wie der Konstruktion aus Begriffen am Anfang der Wissenschaftslehre von 1801/02, stößt man eher auf den Ausdruck »reines Wissen« oder »absolutes Wissen«, im Kontext der Funktionen der praktischen Vernunft auf »reiner Wille« – »selbstthätige Vernunft ist Wille« (BdM GA I/6 291, vgl. ebd. 292 ff.). Man findet also die Bezeichnungen, die Kant für die Vernunft gebraucht, entsprechend oder in leicht veränderter Form alle bei Fichte wieder. Die Ideenart »Vernunftbegriffe von der Vernunft« und die mit ihr verbundene Funktion der begrifflichen Artikulation des einen Vernunftvermögens hinsichtlich der unterschiedlichen Aufgaben, die es erfüllt, gehört somit zur Wirkungssphäre »Wissenschaftslehre« im engeren Sinne. (c) Transzendentales Symbol: Subjekt-Objekt. Schon der frühe, insbesondere aber der mittlere Fichte entwirft eine transzendentale Symbolik, um grundlegende Vorstellungsverhältnisse und mit ihnen 168
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verbundene Reflexionsstufen der Vernunft zu kennzeichnen. 203 Das Grundprinzip der von Fichte entworfenen kritischen Metaphysik (1) und im Allgemeinen auch sie selbst (2) kann symbolisch bzw. abstrakt-reflexionslogisch als ein Subjekt-Objekt (vgl. GWL GA I/2 261 Anmerkung, WLnm-K GA IV/3 327) zum Ausdruck gebracht werden. Fichte kennzeichnet damit die Ebene des Fürsichseins der Vernunft, was die Aufforderung in sich einschließt, von allen übrigen Vermögen und Objekten abzusehen und konzentriert einen einzigen Punkt aufzufassen, nämlich wie die Vernunft, als Subjekt und Objekt, eine Idee von sich bildet – also zu demjenigen, was wir bei den Modellen 1 und 2 auch selbst gemacht haben. 204 Man kann sie in der Satzform auf unterschiedliche Weisen (formelhaft) ausdrücken, wie z. B.: »Ich bin schlechthin, d. i. ich bin schlechthin, weil ich bin; und bin schlechthin, was ich bin; beides für das Ich« (GWL GA I/2 260); »Das Ich sezt ursprünglich schlechthin sein eignes Seyn« (ebd. 261); »welches ist denn der Inhalt der Wissenschaftslehre in zwei Worten? Dieser: die Vernunft ist absolut selbständig; sie ist nur für sich; aber für sie ist auch nur sie« (ZwE GA I/4 227); »die Vernunft ist schlechthin Grund ihres eigenen Daseyns, und eigenen Objektivität, für sich selber; und darin eben besteht ihr ursprüngliches Leben« (WL-1804-II GA II/8 411). 205 203 Sie erinnert vielleicht etwas an Kants Systematisierung der transzendentalen Ideen. Alle Vorstellungen beziehen sich entweder auf das Subjekt – woraus sich letztendlich Paralogismen entwickeln, oder auf das Mannigfaltige des Objekts – woraus die kosmologischen Ideen entstehen, oder aber auf das beiden zugrundeliegende Substrat (vgl. KrV A333 ff./B390 ff. sowie oben den Punkt zur kategorialen Bestimmtheit der transzendentalen Vernunftbegriffe). Fichte wird jedoch die Verhältnisse im Ausgang der bei Kant so nicht vorkommenden Selbstreflexion der Vernunft, dem Subjekt-Objekt, wie wir sehen werden, anders bestimmen und mit ihnen auch andere (sowohl theoretische als auch praktische) Ideen verbinden. Eine Ausnahme stellen die Weltbegriffe dar – die er, wie auch Kant, der Objekt-Seite zuordnen wird. 204 Das absolute Ich kann außer der Verbindung mit dem Anderen gedacht werden, »es ist dann eine nothwendige Idee. Aber das NichtIch kann nicht gedacht werden, auser in der Vernunft. Das Ich ist das erste, das NichtIch das zweite, drum kann man das Ich abgesondert denken[,] aber nicht das NichtIch.« (WLnm-K GA IV/3 373, vgl. GWL GA I/2 409). 205 Man kann diese Formeln entweder faktisch auffassen, oder genetisch. Faktisch ist die Auffassung dann, wenn wir die Vernunft in einer Satzform verobjektivieren, ohne uns darüber Rechenschafft zu geben, dass wir bzw. unsere eigene Vernunft sich hinter dieser Operation befindet. Die Beschreibung der Vernunft bleibt eine bloße Feststellung. Genetisch ist sie dagegen in dem Fall, wenn uns diese Einsicht in das eigene Tun nicht fehlt – d. h. wenn jeder den Satz in die Tat umsetzt und sich bestenfalls eigenständig seiner Geltung versichert.
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Die »Vernunft für die Vernunft« steht einerseits und ursprünglich für das Grundprinzip, welches die Vernunftbegriffe von der Vernunft bezeichnen und für die architektonische Idee der Wissenschaftslehre im engeren Sinne, andererseits aber auch für alle fünf Wirkungssphären. Denn aus der »Perspektive V« handelt es sich bei diesen um nichts anderes als um ein durchgängiges Selbstverhältnis der Vernunft auf unterschiedlichen Feldern. Um es anschaulich an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wer eine ausreichende Vorstellung von der Tugend hat (und sich damit, wie wir sehen werden, nach Fichte auf der ästhetisch-moralischen Ebene befindet), um sich die Aufgabe geben zu können, tugendreich zu sein, soll dank der kritischen Metaphysik wissen, dass es ein Produkt seines Vermögens der Freiheit ist. 206 Von diesem kann er wiederum ein prinzipielles Bild machen (nach dem obigen Modell 1 oder 2), welches zwar die künstlich in der philosophischen Reflexion zu unterscheidende Momente ((α) bis (δ)) einschließt, aber vereinfacht und symbolisch als ein Subjekt-ObjektSelbstverhältnis (eine Idee der – genetivus subjectivus und objectivus – Vernunft) ausdrückbar ist. Seine einzelnen Funktionen kann er z. B. im Rahmen der Kantischen und der Fichte’schen Philosophie kennenlernen. Hat er dieses Wissen von seiner Vernunft nicht, dann ist er, metaphorisch gesprochen, ein Auge, das sich selbst nicht sieht – er bildet die Tugendidee und setzt sie vielleicht auch fast täglich um, ohne sich des zugrundeliegenden Vermögens und seiner Möglichkeiten bewusst zu werden. Hat er es dagegen, dann ist es ihm klar, dass sowohl die Entwicklung als auch die Umsetzung dieser Idee einen besonderen Fall des Selbstverhältnisses darstellt – die Vernunft ist zwar nicht im ursprünglichen Sinne (des Modells 1 oder 2) für sich selbst, erkennt aber auf der höchsten Stufe der Selbstreflexion das Andere als das Produkt ihres eigenen Wirkens. Diese durchgängige Aufmerksamkeit auf die Bezogenheit unterschiedlicher Produkte (Arten von Ideen) und der Funktionen auf ihre Quelle (Vernunft) macht es möglich, die Wirkungssphären IV-I systematisch auf das ursprünglich vorgestellte Fürsichsein der Vernunft (V) zu beziehen. 206 Tugend in ihrer höchsten Form besitzt nach Fichte ein Gelehrter, der sich in unterschiedliche Wirkungssphären einarbeitet (vgl. BdM GA I/6 301 f.) und sich die Aufgabe stellt: »Ich soll in mir die Menschheit in ihrer ganzen Fülle darstellen, so weit, als ich es vermag, […] um […] in der Menschheit die Tugend, welche allein Werth an sich hat, in ihrer höchsten Vollkommenheit darzustellen« (ebd.). Die Tugend ist, wie nach Kant, so nach Fichte, eine in der Sinnenwelt umsetzbare, d. h. darstellbare einfache praktische Idee.
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IV: Religion (a) Transzendentales Symbol: Bilden des Objekts. Da man aber von seiner Vernunft Gebrauch machen kann, ohne sich im Vorfeld über ihre Funktionen im Ganzen zu informieren, muss der Wissenschaftslehrer zwei grundlegende Perspektiven unterscheiden. Die erste (A) ist die des »für uns« bzw. »für die Wissenschaftslehre« – die durchgängige Ansicht der Wirkungssphäre V, in der auch wir uns (gemäß dem Gegenstand unserer Untersuchung) befinden. Die zweite (B) betrifft jedes Bewusstsein, welches sich seiner selbst nicht komplett bemächtigt, sondern auf einem der Standpunkte IV-I lebt und denkt. So ist aus der Perspektive (A) das freie, selbsttätig veranlasste Sich-Verlieren im Anderen, ein Stehen im Bilden des Objekts, eine der notwendigen Vernunftfunktionen. Der mittlere und späte Fichte wechselt u. a. aus didaktischen Gründen und sobald es nötig ist bewusst in die Sphäre IV über, wie wir oben gesehen haben. Der Perspektive (B) kann ein solches Verständnis jedoch durchaus fehlen und die religiöse Weltansicht stellt sich einfach als ein natürlicher Modus dar, über den nicht weiter reflektiert wird. Die Sphäre IV, in der die Vernunft im Zusammenhang mit der Religionspraxis wirkt, beschreibt Fichte abstrakt-symbolisch als ein »Stehen im absoluten Bilden und Leben des absoluten Objektes« (WL-1804-II GA II/8 416). Die Vernunft ist auf und ab diesem Standpunkt nicht mehr für sich selbst (insofern sind wir im Hinblick auf das philosophische System nicht mehr beim absolut ersten Prinzip), sondern für ein Objekt, welcher als lebendiger Geist (als Gott) vorgestellt wird: Sie ist in diesem ihrem Anderen »versunken«. 207 Das religiöse Ich ist nicht mehr die Vernunft an und für sich, sondern die Vernunft für das religiöse Objekt. Die Wissenschaft, die sich mit dieser Gestalt des geistigen Lebens und diesem objektiven Modus beschäftigt, ist die Religionswissenschaft. (b) Postulate der Vernunft und religiöse Ideen. Die Vernunft operiert auf dem Standpunkt IV zum einen grundsätzlich mit Postulaten und religiösen Begriffen. Zum anderen können auch weitere Ideenarten, z. B. der III. Weltansicht – einfache praktische und ästhe207 Die Vernunft, das »höhere Denken«, erschafft sich »ohne alle Beihülfe des äußern Sinnes, und ohne alle Beziehung auf diesen Sinn, sein – rein geistiges Objekt, schlechthin aus sich selber« (AzsL GA I/9 84).
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tische Ideen wie die des Guten oder des Schönen – einbezogen werden, wobei sie notwendigerweise den religiösen Zwecken untergeordnet werden (vgl. AzsL GA I/9 110). Die Postulate der Unsterblichkeit der Seele und des Daseins Gottes erklärt Fichte (hiermit folgen wir der Perspektive (A)) gemäß dem praktischen Bereich seiner Philosophie aus dem Streben des Ichs, das Nicht-Ich zu bestimmen. Die Vernunft will das höchste Gut – die Idee (der sittlichen Vollkommenheit) – in der Welt realisieren und kommt, wenn sie die maximale Abhängigkeit des Nicht-Ichs vom Ich denkt, auf die Vorstellungen des idealen Wesens und der Annäherung an dasselbe: Jene Vereinigung: Ein Ich, das durch seine Selbstbestimmung zugleich alles Nicht-Ich bestimme (die Idee der Gottheit), ist das letzte Ziel dieses Strebens; ein solches Streben, wenn durch das intelligente Ich das Ziel desselben außer ihm vorgestellt wird, ist ein Glaube (Glauben an Gott). Dies Streben kann nicht aufhören, als nach Erreichung des Ziels, d. h. die Intelligenz kann keinen Moment ihres Daseyns, in welchem dieses Ziel noch nicht erreicht ist, als den letzten annehmen. (Glauben an ewige Fortdauer.) An diese Ideen ist aber auch nichts anders, als ein Glaube möglich, d. h. die Intelligenz hat zum Objekt ihrer Vorstellung keine empirische Empfindung, sondern nur das nothwendige Streben des Ich (RezAe GA I/2 65, vgl. WLnm-K GA IV/3 408 f., SL GA I/5 305). 208
Mit der Vorstellung der Existenz Gottes artikulieren wir geistig einen ontologisch »leeren, über Gottes inneres Wesen schlechthin keinen Aufschluß gebenden, Begriff« (AzsL GA I/9 110). Uns bleibt nur die propositionale Einstellung des Glaubens übrig, dass es ein absolutes Sein gibt, welches im sittlichen Handeln der Menschen erscheint (sichtbar wird) und eine der Sittlichkeit proportionierte Glückseligkeit garantiert. 209 »[D]as Categorische, schlechthin unbedingte und 208 Yves Radrizzani zeigt, wie Fichte 1800 die beiden Postulate aus demjenigen der Freiheit ableitet, was ein Argument dafür sein kann, dass die Bestimmung des Menschen noch keine Wende in seinem Denken darstellt – vgl. Radrizzani 2000: 36 ff. Sie findet jedoch – zumindest hinsichtlich der Erklärung der Postulate aus dem sittlichen Streben (dem Soll) –, wie oben deutlich wurde, weder in den Vorlesungen Über das Wesen des Gelehrten von 1806 noch später statt. 209 Das Verstehen dieses Zusammenhangs des Strebens der Vernunft mit den Postulaten (Perspektive (A)) ist es, was Fichte meint, wenn er schreibt: »Die Religion, ohne Wissenschaft, ist irgendwo ein bloßer, demohngeachtet jedoch, unerschütterlicher, Glaube: die Wissenschaft hebt allen Glauben auf und verwandelt ihn in Schauen« (ebd. 112). Das Durchschauen eines jeden aus der Perspektive (B) »nicht eingesehene [n] Vernunft-Effekt[s]« (WL-1804-II GA II/8 418) macht das Wesen der Wissenschaftslehre aus.
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unbedingbare des [sittlichen, Zusatz von M. L.] Gesetzes«, wie Fichte seit 1793 wiederholt, »deutet auf unsern höhern Ursprung, und auf unsre geistige Abkunft – ist ein göttlicher Funke in uns, und ein Unterpfand, daß Wir Seines Geschlechts sind« (VCO GA I/1 145). Die Selbstgesetzgebung der Vernunft kann uns zum Postulat des Daseins Gottes und zu der Ansicht verleiten, dass wir sein schwächeres Nachbild sind. Folgen wir dagegen der Perspektive (B), bei der es nicht um die Erklärung der Entstehung des Postulats des Daseins Gottes und seiner Verwurzelung im Streben des Ichs geht, sondern um die religiöse Praxis, dann ist das Verhältnis genau umgekehrt. Das Objekt (das geistige Nicht-Ich, Gott) bestimmt das Ich – der Mensch lebt im Glauben an ein höchstes Wesen, das die Welt regiert. Die religiöse Vernunft soll, zumindest beim späten Fichte, nicht bloß von der Sittlichkeit abhängig gemacht werden, sondern als ein eigenständiger, souveräner Standpunkt zu Tage treten. Er ist und bleibt aber nicht der höchste, denn die Aufklärung ist die Angelegenheit der Wissenschaftslehre. Dass das Objekt (Gott) scheinbar das Subjekt (Ich) bestimmt, ist das Resultat eines Sich-Hingebens der Vernunft – das Ich setzt sich als bestimmt durch ein geistiges Objekt: das ist der Zusatz der Weltansicht V, die sich um völlige Transparenz bemüht. Die »Vernunftidee der Seeligkeit« (ebd. 153) ist ein Beispiel für eine zentrale einfache praktische / religiöse Idee bei Fichte. Die Seligkeit ist ein Ziel, dem sich ein sittlich Handelnder annähern kann, indem er sich entschließt, seine »Liebe aus dem Mannigfaltigen auf das Eine« (AzsL GA I/9 64) zurückzuziehen. Das selige Leben ist ein Leben für die Idee (des höchsten Guts) bzw. ausdifferenziert – für die Ideen (aller fünf Weltansichten), die auf dem religiösen Standpunkt so gesehen werden, als ob sie das innere Wesen Gottes ausdrückten (vgl. ebd. 156 f.). 210
»Die Kirche od. das Reich Gottes ist auch eine hieher gehörige Idee« (PrPh GA II/3 238) – die als ein weiteres Beispiel zu den einfachen praktischen / religiösen Ideen bei Fichte gezählt werden kann, die er offensichtlich von Kant übernommen hat (unter der im Originaltext gesperrt gedruckten Kirche ist die unsichtbare Kirche der Vernunftreligion gemeint) – vgl. SL GA I/5 303 f. und bei Kant: RGV AA VI 152 und 52 Anmerkung.
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III: Kunst/Moral (a) Transzendentales Symbol: Bilden des Subjekts. Während der Religiöse ein Vernunftleben für die Idee führen will und dazu sein persönliches Dasein »aufgibt« (vgl. GdgZ GA I/8 230 f.), sich in der Vorstellung des lebendigen absoluten Objekts (Gottes) verlierend, verlangt der Standpunkt der Kunst und der höheren Moralität, dass der Mensch bei sich bleibt, sich neu erfindet und realisiert. Die Vernunft ist nicht nur imstande, (V) für sich selbst zu sein und (IV) sich dem lebendig vorgestellten geistigen Anderen hinzugeben, sondern auch, (III) sich kreativ-tätig zu sich und zu Anderem zu verhalten, ein künstlerisch-moralisches Ich zu sein. Abstrakt-symbolisch ausgedrückt: Sie steht »im absoluten realen Bilden des Subjekts« (WL1804-II GA II/8 417). Die Wissenschaften, die sich mit dieser Wirkungssphäre beschäftigen, sind die Ästhetik und die praktische Philosophie (Ethik). 211 (b) Einfache praktische und ästhetische Ideen. Die Vernunft erfüllt auch im Bereich der Kunst und der höheren Moralität die Funktion der Aufgabenstellung, Lebensplanung und -gestaltung, indem sie mit Ideen operiert. Bei dieser Wirkungssphäre geht es nicht darum, etwas Gegebenes zu verwalten, sondern um die absichtliche und planmäßige Erschaffung von etwas Neuem. 212 Die Vernunft gebraucht dazu solche Ideen (als Grundlage für ihre Pläne) wie »das Heilige, Gute, Schöne« (AzsL GA I/9 109). Während der Mensch auf dem Standpunkt IV davon ausgeht, dass diese Begriffe ihren Sinn aus den religiösen Vorstellungen schöpfen, sieht der höhere Moralist oder der Künstler sich selbst als ihre Quelle an (vgl. ebd. 110 und 156). Beide wollen die Ideen in bestimmter Weise in der Welt verwirklichen – z. B. in der Form eines schönen Kunstwerks oder eines vollkommenen Staats, der Weisheit oder der Wissenschaftlichkeit. 213 Man könnte heute z. B. auch die Kunst- und Medienwissenschaften dazuzählen. In diesem Sinne sei die Moralität eine »höhere« – es geht nicht um ein rein gesetzmäßiges, das Zusammenleben von Individuen regelndes Handeln (das Interesse, das laut Fichte sowohl Kants praktischer Philosophie zumindest bis einschließlich der Kritik der praktischen Vernunft als auch seiner eigenen Sittenlehre von 1798 zugrunde liege – vgl. ebd. 108), sondern um ein unmittelbares Leben für die von der Vernunft gesetzten Zwecke, wie z. B. die Idee des Guten. 213 Fichte betont, dass, geschichtlich gesehen, durch diese Wirkungssphäre der Vernunft »alles Gute und Achtungswürdige«, die Religion, Weisheit, Wissenschaft, Ge211 212
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Fichte definiert den Begriff »Idee« in seinen vor dem breiteren Publikum gehaltenen Vorträgen als einen (a) selbständigen, (b) in sich lebendigen und (c) die Materie belebenden Gedanken – wie oben kurz erläutert wurde. Man sieht vielleicht gerade auf dem Standpunkt der Kunst und der höheren Moralität am deutlichsten, was damit gemeint ist. Die Ideen sind bestimmte Motive, die Kräfte geben, etwas umzusetzen. Wer nach dem Guten strebt, kann im Genuss der Umsetzung dieses Vernunftbegriffs vergessen, dass er sich selbst diese Aufgabe gegeben hat. Die Idee verselbständigt sich, ist lebendig und bewegt auf eine scheinbar zwangsfreie Weise, als ob sie ein reiner Ausdruck des Willens wäre. An das Denken der Vernunft ist die Anforderung gestellt, solche Zusammenhänge wie das Sich-Verlieren im geistigen Objekt (sein im Bilden des Objekts) und das Sich-Verselbständigen der Ideen (sein im Bilden des Subjekts) zu durchschauen.
II: Moral / Recht / Politik (a) Transzendentales Symbol: Stehendes Subjekt. Eine weitere Funktion der Vernunft besteht darin, sich selbst als ein Faktum im Sinne des »Glaube[ns] an unsre, wenigstens formale, Selbstständigkeit« (AzsL GA I/9 149) aufzufassen. Wir können unsere sinnlichen Neigungen und persönliche Interessen zugunsten der Befolgung eines sittlichen oder rechtlichen Gesetzes zurückstellen. Abstraktsymbolisch ausgedrückt: Wir befinden uns im Modus des stehenden Subjekts (vgl. WL-1804-II GA II/8 416). In der Terminologie der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre könnten wir sagen: »[D]as Ich sezt sich als bestimmend das Nicht-Ich« (GWL GA I/2 385, vgl. ebd. 285 f.), jedoch nun nicht in der Weise, dass es sich und die Welt unmittelbar nach den Vorstellungen etwa des Schönen und Guten umbildet, wie auf dem Standpunkt III, sondern das Gegebene ordnet und regelt. 214 Da es der Vernunft damit vielmehr um die Versetzgebung, Kultur usw. in die Welt gekommen sei (vgl. ebd. 110). Ein Vertreter der dritten Reflexionsebene der Vernunft sei z. B. Platon (vgl. ebd.), was ein weiteres Argument gegen die von einigen Fichte-Forschern vertretene Ansicht ist, beim späten Fichte finde eine Re-Platonisierung statt: Platons Standpunkt befindet sich zwei Stufen unter der Wissenschaftslehre. 214 Die Reflexionsstruktur der Vernunft, die wir bei der Untersuchung der fünf Wirkungssphären zum Gegenstand haben, findet sich nicht vollständig in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre – es sind allem Anschein nach nur drei Ebenen Das System der Ideen
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waltung von eigenen Einstellungen, von Regeln des Zusammenlebens usw. als um den Trieb geht, etwas Neues aus eigener Kraft zu erschaffen, nennt Fichte diese Gestalt der Vernunft auch Legalität, oder niedere Moralität (vgl. WL-1804-II GA II/8 416 und AzsL GA I/9 108). Das rechtlich-moralische Ich betätigt sich in dieser Sphäre. Sie ist der Untersuchungsgegenstand der praktischen Philosophie und der Rechts- und Politikwissenschaften. (b) Freiheit, einfache praktische Ideen und / rechtliche Ideen. Die Vernunft ist nicht nur ein rein privates Vermögen jedes Einzelnen – ihr Gebrauch hat stets eine soziale Dimension. Fichtes zentraler Gedanke ist der, dass jedes verantwortungsvolle Individuum bewusst oder unbewusst eine der fünf Wirkungssphären schwerpunktmäßig vertritt und somit für das Wohl des gesamten Menschengeschlechts tätig ist. 215 Die Ideen sind Aufgaben und Zwecke, zu deren Bearbeitung die Menschen sich zusammenschließen – es bilden sich auf jeder der fünf Ebenen unterschiedliche Diskurse, die ineinander übergreigedeckt. Die Sätze der ersten veröffentlichten Wissenschaftslehre sind: (1) das Ich setzt sich (das entspricht dem Standpunkt V, dem Subjekt-Objekt, dem Fürsichsein der Vernunft); (2) das Ich setzt sich das Nicht-Ich entgegen; (3) das Ich und das NichtIch bestimmen sich gegenseitig – daraus folgt: (4) das Ich setzt sich bestimmend das Nicht-Ich (was den Standpunkt II, dem stehenden Subjekt, entspricht); (5) das Ich setzt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich (was dem Standpunkt I, dem stehenden Objekt, entsprechen wird). Die Weltansicht III – einfache praktische und ästhetische Ideen sowie ihre Umsetzung – findet man nicht in der Grundlagenschrift. Fichte betont auch, dass seine frühere praktische Philosophie sich auf dem Standpunkt II befand (vgl. AzsL GA I/9 108). Grundsätzlich ist es aber möglich, die Kunst und die höhere Moralität dem Satz (4) zuzuordnen, da die Vernunft hier sogar verstärkt bestimmend ist. Die Wirkungssphäre IV, die Religion, findet sich ebenso wenig in der Wissenschaftslehre von 1794/95. Man könnte sie dem Satz (5) zurechnen, wobei er dann aber die Bedeutung haben sollte: Das Ich setzt sich als bestimmt durch das (absolut-lebendig vorgestellte, geistige) Nicht-Ich. 215 In seiner »lebendig im Geiste und der Denkart des Zeitalters« (BWL GA I/2 162) gebrauchten Terminologie, formuliert Fichte das so, dass das eine Leben der Vernunft (im Sinne eines objektiven, bei jedem Individuum sich äußernden Vermögens, welches schon bestehende gesellschaftliche Strukturen als Manifestationen des Vernunftlebens impliziert, in die der Mensch eingegliedert wird) sich »zerspaltet«, und zwar »zu verschiedenen individuellen Personen« (GdgZ GA I/8 211, vgl. AzsL GA I/9 102, SL GA I/5 229 f.). Da die Menschheit immer schon dabei war, die Idee des höchsten Guts (der Einrichtung aller Verhältnisse nach der Vernunft) zu verwirklichen, bevor ich ein Teil von ihr wurde, spricht Fichte von der Vernunft überhaupt (derjenigen der Menschengattung, als ein Reich der vernünftigen Wesen vorgestellt – vgl. WLnm-K GA IV/3 445), als einem Abstraktum.
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fen können. Am deutlichsten wird das vielleicht auf dem Standpunkt II. »Der Begriff des Rechts soll ein ursprünglicher Begriff der reinen Vernunft seyn« (GNR GA I/3 319) – Recht und Tugend sind Beispiele für die Ideenart einfache praktische Ideen (rechtliche und moralische) bei Fichte (vgl. z. B. auch ZwE GA I/4 220 f.). Nun kann man sich diesen Begriff nicht denken ohne die Voraussetzung der Freiheit und der interpersonalen Verhältnisse: Ich setze mich als vernünftig, d. h. als frei. Es ist in mir bei diesem Geschäfte die Vorstellung der Freiheit. Ich setze in der gleichen ungetheilten Handlung zugleich andere freie Wesen. Ich beschreibe sonach durch meine Einbildungskraft [d. h. ich veranschauliche mir den Vernunftbegriff des Rechts und stelle mir vor, Zusatz von M. L.] eine Sphäre für die Freiheit, in welche mehrere Wesen sich theilen. Ich schreibe mir selbst nicht alle Freiheit zu, die ich gesezt habe, weil ich noch andere freie Wesen setzen, und denselben einen Theil derselben zuschreiben muß. Ich beschränke mich selbst in meiner Zueignung der Freiheit dadurch, daß ich auch für andere, Freiheit übrig lasse. Der Begriff des Rechts ist sonach der Begriff von dem nothwenigen Verhältnisse freier Wesen zu einander (GNR GA I/3 319).
Derselbe Zusammenhang ist auch bei dem Begriff des Sittengesetzes notwendig, der »rein aus dem Wesen der Vernunft« (vgl. SL GA I/5 74) hervorgeht. Eine jede einzelne Idee bringt also eine Menge von zusammenhängenden Sachverhalten und Kontexten zum Aufleuchten, in die sie eingebettet ist. Die Freiheitsidee tut das auf eine besondere Weise – sie verwirklicht sich nämlich in jeder Sphäre – wir haben sie bisher als die eine Vernunft kennengelernt, die sich selbst setzt (V) und die sich in der Religion (IV) und Kunst (III) betätigt. Die praktische Vernunft, die nach dem Kantischen Vorbild in der Sphäre II als eine ratio essendi des Sittengesetzes fungiert, ist, wie Fichte erinnert, »gar nicht das so wunderbare, und unbegreifliche Ding […], für welches sie zuweilen angesehen wird, gar nicht etwa eine zweite Vernunft […], sondern dieselbe, die wir als theoretische Vernunft alle wohl anerkennen« (ebd. 67) – »Vernunft ist nicht ein Ding, das da sey und bestehe, sondern sie ist Thun, lauteres, reines Thun« (ebd. 68). Wir haben es also auf der Ebene II mit demselben ersten Prinzip zu tun, das sich nun auf eine andere Weise zu erkennen gibt – vermittelst solcher Ideen (rationes cognoscendi) wie Recht, Tugend und Sittengesetz. Auch das Postulat des Daseins Gottes kann in der Sphäre II eine Rolle spielen. Allerdings anders als auf der Stufe IV. Dort ist Gott Das System der Ideen
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nämlich eine Idee, auf die sich das religiöse Leben und Tun gründet. Hier ist diese Idee dagegen, so wie in Kants Kritik der praktischen Vernunft, vollkommen von dem Sittengesetz abhängig. Wer also schwerpunktmäßig den Standpunkt der niederen Moralität vertritt, von denen sagt Fichte: »und hätten sie kein Sittengesetz, so bedurften sie auch keines Gottes« (WL-1804-II GA II/8 418).
I: Naturkenntnis und -bearbeitung (a) Transzendentales Symbol: Stehendes Objekt. Die letzte Sphäre der Vernunfttätigkeit kann man sich symbolisch als die des stehenden Objekts (vgl. WL-1804-II GA II/8 416) vergegenwärtigen. Es handelt sich nicht mehr um ein Sich-Vergessen in einem geistigen Objekt, wie auf der Stufe der Religion, sondern in einem sinnlichen. Eine Veranschaulichung dieses Modus findet man in der Wissenschaftslehre nova methodo. Dort heißt es: Man denke sich irgend ein Object, z B die Wand den Ofen. Das denkende ist das Vernunftwesen, dieses frei denkende vergißt sich aber dabei, es bemerkt seine freie Thätigkeit nicht; dieß muß aber geschehen, wenn man sich auf den Gesichtspunct der Philosophie erheben will: Im Denken des Objects verschwindet man in demselben, man denkt das Object, aber nicht daß man selbst das denkende sei (WLnm-K GA IV/3 345).
Die Wissenschaftslehre (Sphäre V) klärt über diesen Vorgang ausführlich auf. Diejenigen, die sich schwerpunktmäßig auf dem Standpunkt I befinden, sind aber hauptsächlich in diesem Modus bzw. haben es nötig, in ihm zu sein. Das ist zunächst eine wertneutrale Feststellung. Jede einzelne Sphäre kann je nach der eingenommenen Perspektive sowohl positiv als auch negativ bewertet werden, je nachdem, wie weit ihre Tendenz zur Selbstverabsolutierung geht. So kann man an den einzelnen Standpunkten Folgendes bemängeln: Die Wissenschaftslehre an sich ist zu abstrakt, wenn es nicht das besondere Wissen gibt. 216 Die Religion führt zum Sich-Vergessen im geistigen 216 Dies ist kein wirklicher Einwand gegen die Wissenschaftslehre, insofern sie das selbst weiß – transzendentales Wissen und besonderes Wissen / besondere Wissenschaften gehören zusammen. Jeder Leser soll sich die Inhalte der Wissenschaftslehre eigenständig in der Erfahrung vergegenwärtigen. Aber ein »Anfänger« in der Philosophie, wie Fichte schreibt, kann zunächst Probleme bekommen, Spekulation und Erfahrung, die idealistische und die reale Perspektive zusammenzubringen: »Die Spe-
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Objekt und es fehlt das Reflexionsmoment darüber. Die Ideen der höheren Moralität reißen so sehr mit, dass sie über alles andere gestellt werden können. Die Sphäre II scheint das Gesetz über alles andere zu stellen. Der Standpunkt I kann durch ein Sich-Vergessen im sinnlichen Objekt zum Egoismus, übermäßigen Genuss, letztlich Umweltverschmutzung etc. führen. 217 Das Positive der einzelnen Standpunkte sind jedoch die Vernunftfunktionen an sich: Dank der Wissenschaftslehre haben wir eine Transparenz hinsichtlich aller möglichen Ich-Handlungen und können somit auch über die Schwächen der einzelnen Sphären Kenntnis erlangen. Die Vernunftfunktion des Sich-Hingebens an ein geistiges Objekt erlaubt die Religionsausübung, die des Bildens des Subjekts die Selbstverwirklichung in Kunst und Moral. Das Zusammenleben wird mithilfe der praktischen Ideen in den Bereichen Recht, Politik und Moral geregelt. Auf der Stufe der Sinnlichkeit ist die Vernunft mit ihren Ideen (a) in der Naturerkenntnis sowie (b) in der Naturbeherrschung und -bearbeitung wirksam (vgl. insbesondere WdG GA I/8 78 f., GgZA GA I/8 323 ff. und BdM GA I/6 265–270). 218 (b) Idee des Guten, kosmologische Ideen. Dem Standpunkt I können bestimmte Vernunftbegriffe zugeordnet werden, mit denen die Vernunft im engeren Sinne operiert. So verwirklicht die Menschculation kann nur den stören, der erst angefangen hat zu speculieren, aber noch nicht im reinen ist« (WLnm-K GA IV/3 342). 217 Diese negative Seite der Sinnlichkeit hat Fichte in der eher im religiösen Geist verfassten Schrift Anweisung zum seligen Leben (1806) betont. Aber auch dort wird sie nicht komplett abgewertet – sinnlicher Genuss ist eine Art und Weise, von der Freiheit Gebrauch zu machen, die letztlich der Weiterentwicklung förderlich sein kann (vgl. AzsL GA I/9 159 und 146). Er sei immer noch besser als der so genannte Standpunkt der Nullität, der kompletten Zerstreuung, der Unseligkeit, auf dem nicht einmal ein kräftiger sinnlicher Genuss stattfindet (vgl. ebd. 130 ff.). Fichte nimmt ihn aber an, um die fünf Weisen des Genusses der Freiheit besser zu bestimmen (nach der Formel: kein Setzen ohne ein Entgegensetzen), d. h., es ist nicht ganz klar, ob es aus Fichtes Sicht wirklich Vertreter dieser Weltansicht gibt. 218 Diese positive Seite der Sinnlichkeit betont Fichte v. a. in den Vorlesungen über das Wesen des Gelehrten (1806) und im zweiten Abschnitt des dritten Buches über die Bestimmung des Menschen (1800). Der Unterschied zwischen der negativen und positiven Bewertung liegt vielleicht darin, dass Fichte in der Anweisung zum seligen Leben eher die ansichhafte Affekt-Seite aller Weltansichten beschreibt (und religiös argumentiert), auf die wir noch später in der Arbeit genauer eingehen, in diesen genannten Schriften aber insbesondere die Wirkungssphären der Vernunft vor Augen hat. Das System der Ideen
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heit das Gute durch Fleiß und Arbeit – es soll Nahrung beschafft werden, Land bebaut werden, gegen Krankheiten gekämpft werden, die zerstörerischen Kräfte der rohen Naturgewalt sollen so gut wie möglich gemäßigt werden, es soll »allmählich keines größern Aufwandes an mechanischer Arbeit bedürfen, als ihrer der menschliche Körper bedarf zu seiner Entwicklung, Ausbildung und Gesundheit, und diese Arbeit soll aufhören Last zu seyn« (BdM GA I/6 269), es soll Frieden herrschen, denn die Kriege zerstören das, wofür der Mensch fleißig arbeitet, es soll Naturkenntnis gesammelt, aufbewahrt und weitergegeben werden etc. Zu dem Letztgenannten müssen auch solche Maximen hinzugezählt werden, die auf regulativen kosmologischen Ideen basieren, wie z. B. das Universum so anzusehen, als ob es unendlich wäre – es sollen immer bessere Teleskope gebaut werden. Oder es sollen Apparate erstellt werden, um zu prüfen, wie weit die Teilbarkeit der Elemente reicht. Zumindest der frühe Fichte macht einen Versuch, die kosmologischen Ideen zu denken und die auftretenden Antinomien aus einer Wechselwirkung des Ich mit dem Nicht-Ich zu erklären (vgl. GWL GA I/2 384). So wäre die Idee der Unendlichkeit des Universums daraus abzuleiten, dass das Nicht-Ich als unendlich gesetzt wird und im Gegenzug das Ich als endlich und begrenzt. Diese Gedanken baut er jedoch leider nicht weiter aus.
3.3 Rückblick auf Ergebnisse Im zweiten Abschnitt des ersten Teils der Arbeit (3) wurde dafür argumentiert, dass Fichtes Grundprinzip, das absolute Ich, nichts anderes als die Vorstellungsbildung der Vernunft im engeren Sinne von sich selbst darstellt. (3.1) Die siebte Art der Vernunftideen nach Kant macht hier den Ausgangspunkt eines Projektes aus, die übrigen Vernunftfunktionen und geistigen Handlungen systematisch und genetisch abzuleiten. Da Fichte zwei Möglichkeiten entwickelte, in das Forschungsprogramm der Wissenschaftslehre einzusteigen, wurden sie einzeln vorgestellt. (3.2) Daraufhin wurde seine Konzeption der Vernunftideen und ihrer Ableitung dargestellt – wobei sowohl der frühe als auch der späte Fichte behandelt wurden, denn im Laufe der Analyse der beiden Modelle wurde die Forschungsthese von der im Grunde (den harten Kern betreffend) unveränderten Lehre bestätigt. Auf relevante Abweichungen wurde aber, wo es nötig war, hingewie180
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sen. (3.1.1) Das Selbstsetzen des Ichs, die Tathandlung, wurde als ein Zusammenspiel von vier Momenten gedacht, die sich laut Fichte in der philosophischen Reflexion unterscheiden lassen: Ein (α) Akt (geistiger Denkakt, der vollzogen wird), die (β) intellektuelle Anschauung (das unmittelbare Bewusstsein des Denkaktes), der (γ) Begriff (als Produkt des Denkens, d. h. die Idee des Ichs / der Vernunft) und das (δ) Vermögen (als hinzugedachte Bedingung des Denkaktes, d. h. entsprechend der Vorstellungsart: das Vernunftvermögen). Diese Auffassung wurde von zwei Interpretationsversuchen abgegrenzt, nach denen Fichtes Ich lediglich ein abstraktes Selbstbewusstsein oder nur die praktische (halbe) Vernunft zum Ausdruck bringe. (3.1.2) Aufgrund von Atheismusvorwürfen und religionsphilosophischen Einsichten (die Herausarbeitung des Eigentümlichen des religiösen Standpunktes – vgl. auch (3.2.2), IV), sah sich Fichte genötigt, eine neue Hinleitung zum transzendentalen Standpunkt zu finden, die über den Begriff Gottes gemacht werden musste. Diese setzt beim Vernunfthandeln an, das nun nicht zuerst eine Vorstellung von sich selbst, sondern von Gott erzeugt, um dann auf sich selbst als ihre transzendentale Bedingung zurückzukommen. Diese Auffassung wurde von zwei Interpretationen abgegrenzt, die bei Fichte entweder eine transzendente Selbstbewusstseinsanalyse oder einen neuplatonischen Neuansatz sehen. (3.2.1) Fichte führt das Kantische Projekt des Denkens der Vernunft und der Vernunftideen weiter, indem er an zentralen Grundbestimmungen festhält, z. B. an der sorgfältigen Unterscheidung der Ideen von den übrigen Vorstellungsarten (wie Verstandesbegriffe, Empfindungen etc.). Er erweitert Kants Programm hierbei in zwei wesentlichen Punkten. Zum einen verbindet er mit der transzendentalphilosophischen Ideenlehre das Konzept der Vervollkommnung (des Menschen, des Gelehrten) ins Unendliche. (3.2.2) Zum anderen erweitert er es um die Dimension der systematisch-genetischen Ableitung der Ideen. Die Selbstsetzung der Vernunft, die den Ausgangspunkt ausmachen muss, ergibt eine SubjektObjekt-Einheit sowie eine Subjekt-Objekt-Binnendifferenzierung, woraus sich fünf Arten von Verhältnissen und fünf hierarchisch gegliederte Sphären des Vernunftgebrauchs ergeben. Jeder dieser sogenannten »Wirkungssphären der Vernunft« ordnet Fichte unterschiedliche Vernunftideen zu und systematisiert damit alle sieben von Kant unterschiedenen Ideenarten.
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Zweiter Teil: Begründung der Vernunft: Strategien und Einwände
Es hat sich im Verlauf der Untersuchung gezeigt, dass es sich bei der Vernunft im engeren Sinne vielmehr um eine Theorienreihe als um eine »Theorie« handelt, d. h. um eine Menge miteinander verketteter theoretischer Bausteine, die infolge einer problemorientierten Rekonstruktion der Texte von Kant und Fichte einheitliche Strukturen aufzuweisen scheinen. (A) Das erhellt zunächst daraus, dass in der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft erst der Grundstein zum Verständnis eines Vermögens gelegt wird, das dem Grundsatz folgt, zu dem Bedingten des Verstandes ein Unbedingtes zu finden. Dieses Unbedingte wird im Medium einer mentalen Repräsentation, der Idee, festgehalten, der nichts Empirisches korrespondiert und die nach einer eingehenden Erkenntniskritik letztlich nur regulativ gebraucht werden kann. Schon in der Kritik der reinen Vernunft finden sich aber auch andere Ideenarten als transzendentale Vernunftbegriffe – und wie dort, wird auch im Verlauf der nachkommenden Werke das Wissen über die Vernunft im engeren Sinne weiter ausgebildet, wobei folgende Bestimmungen erhalten bleiben: (1) Es handelt sich um eine transzendental-bewusstseinsphilosophische Analyse der Funktionen und Gesetze eines Vermögens unter anderen Vermögen des Gemüts; (2) Ideen, als Begriffe »von einer Vollkommenheit, die sich in der Erfahrung noch nicht vorfindet« (Päd AA IX 444), sind das zentrale Werkzeug, mit dem dieses Vermögen operiert; Das System der Ideen
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(3) Sie sind konkrete Setzungen, die der Leitung des Verstandes und des Willens voraus und zugrunde liegen, und haben unterschiedliche nützliche Funktionen in allen Bereichen des Vernunfthandelns. Das Ergebnis der Kantischen Theorienreihe und ihrer Rekonstruktion ist ein einheitliches Bild von einem Vermögen, das mit Vorstellungen operiert, die gemeinsame Merkmale (wie Reinheit, Vollkommenheit, Maximum, erkenntnistheoretischer und ontologischer Status) aufweisen und die je nach ihren Funktionen und Anwendungsbereichen unterschiedlichen Arten (und ihnen gemäßen Überzeugungsarten) zugeordnet werden. Wir haben sieben solcher Ideenarten ausgemacht und bestimmt: (1) Postulate, (2) einfache praktische Ideen (inklusive politischer und religiöser Ideen), (3) ästhetische Ideen, (4) transzendentale Vernunftbegriffe, (5) einfache theoretische Ideen, (6) architektonische Ideen und (7) Vernunftbegriffe von der Vernunft. Hat man einmal diese breite Funktionalität der jederzeit nur einen Vernunft im engeren Sinne begriffen, über die, wie Kant sagt, nichts Höheres in uns angetroffen wird, dann erscheinen einige zentrale Elemente der Wissenschaftslehre Fichtes in einem viel helleren Licht. Zum einen wird es klar, (1) warum die Tathandlung die höchste Handlung des menschlichen Geistes ist; (2) warum bei ihr ein Fall von reiner Selbsttätigkeit vorliegt; (3) warum das Grundprinzip auch als Vernunft bezeichnet wird (auf deren Vermögen, sich selbst zu setzen, alle übrigen Vermögen des Bewusstseins bezogen werden sollen); (4) warum das Grundprinzip die Bezeichnung »Ich« trägt, da Kant im Hinblick auf die Vernunftkausalität des Subjekts auch vom »Ich« oder von »eigenstem Ich« spricht; (5) warum das Vernunftvermögen als ein absolut setzendes, abstrahierendes und gesetzgebendes Vermögen begriffen wird; (6) warum der Begriff »absolutes Ich« (oder Vernunft) als Idee bezeichnet wird; (7) warum Fichte mit dem Begriff »absolut« operiert, da nach Kant ja nur ein Vermögen für den Umgang mit dem Absoluten verantwortlich ist: die reine Vernunft; etc. Zum anderen wird deutlich, warum es insbesondere beim späteren Fichte um die Ableitung von fünf »Wirkungssphären der Vernunft« geht und er in diesem Zusammenhang von Ideen spricht. Es handelt sich dabei nicht etwa um einen Rückschritt zu Platon oder Neuplatonismus. (B) Bei Fichte ist also eine Weiterentwicklung der Theorienreihe zur Vernunft im engeren Sinne erkennbar. Die Kantischen Grundbestimmungen, also der »harte Kern«, werden zwar beibehalten, al184
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lerdings finden neben einigen Änderungen auch zwei Problemverschiebungen statt. Erstens wird der Ausgangspunkt des Projekts der Selbsterkenntnis der Vernunft und der allgemeinen Theorie der Erkenntnis und des Bewusstseins in die Tathandlung, d. h. die Ideenbildung der Vernunft von sich selbst, verlegt. Fichte operiert dabei mit zwei Modellen, zum einen der unmittelbaren Selbstsetzung des Ichs, zu der die Momente (α) Handlung, (β) intellektuelle Anschauung, (γ) Begriff und (δ) Vermögen gehören, und zum anderen der mittelbaren Reflexion auf die Vernunft, die sich am Denken des Absoluten erprobt, um ihren eigenen Status als absolute sowie um die Reflexionsgesetze ihrer Binnendifferenzierung kennenzulernen. Zweitens findet eine logisch-einheitliche Strukturierung der Handlungsbereiche der Vernunft mithilfe dieser Binnendifferenzierung statt. Fichte bringt dabei zum einen einen sich aus der Tathandlung ergebenden transzendentalen Subjekt-Objekt-Symbolismus ins Spiel und ordnet mit seiner Hilfe (mit Hilfe der Subjekt-Objekt-Verhältnisse) die Wissensbereiche mit entsprechenden dazugehörigen Vernunftideen und -wissenschaften. Zum anderen entwickelt er eine Art praktische Teleologie. Denn die Wissensbereiche sind Zweige der Gelehrsamkeit und dienen dazu, die Idee der Vervollkommnung ins Unendliche schrittweise zu realisieren. Bei Fichte findet man damit einen bis dato letzten Versuch, das ganze Kantische System der Ideen und ihrer Funktionen (nach dem Prinzip des Selbstsetzens der Vernunft) zu ordnen. Der Terminus Theorienreihe ist also, wie es aus dem Obigen hervorgeht, gegenüber dem Begriff Theorie zu bevorzugen. Eine Reihe von eng zusammengehörigen Theorien, die sich um zentrale Bestimmungen drehen, bezeichnet man auch als ein Forschungsprogramm, das wächst, zerfällt und wiederaufgenommen werden kann, wenn man an seine Stärken glaubt. Wenn wir uns nun im Folgenden fragen werden, wie sich die Vernunft im engeren Sinne als ein bedeutendes und begründetes, d. h. als ein sich aus guten Gründen als konkurrenzund kooperationsfähig erweisendes und fortführbares Projekt inmitten zeitgenössischer alternativer Vernunftkonzepte und radikaler Vernunftkritik bewährt, müssen wir auf sie als auf ein Forschungsprogramm rekurrieren. Wir werden sehen, dass ein jedes philosophisches Forschungsprogramm oder Unternehmen ein konkretes Set von (a) zentralen Festlegungen, (b) Ansprüchen und (c) (Wissens-) Zielen enthält, das sein Verhältnis (sein Kooperations-, Konkurrenzoder Konfliktpotential) zu alternativen Projekten bestimmt. Zu fraDas System der Ideen
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gen, inwieweit die Vernunft im engeren Sinne begründbar ist, bedeutet also zu fragen, inwieweit ihr konkretes forschungsprogrammatisches Set mit guten Argumenten gegenüber den Ansprüchen anderer Projekte mit abweichenden Sets verteidigt werden kann. Die Begründung impliziert somit die Reflexion auf die Möglichkeit und die Bedingungen der Begründung und damit eine metaphilosophische Forschungsprogrammatik, die Analyse der Logik der philosophischen Forschung. Eine solche Strategie, die wir verfolgen werden (die entsprechende Position werden wir als reflektierter Perspektivismus bezeichnen), zielt nicht auf die Verdrängung von konkurrierenden Vernunftkonzepten und philosophischen Positionen zugunsten der Vernunft im engeren Sinne oder vice versa. Vielmehr wird die Verabsolutierung der forschungsprogrammatischen Sets auf einen Mangel an metaphilosophischen Einsichten zurückgeführt. Jedem Forschungsprogramm wird sein Platz in der philosophischen Forschungslandschaft zuerkannt – aber damit geht die Forderung einher, dass jedes seinen Platz auch kennen muss: Kein einziges philosophisches Forschungsprogramm kann alle Wissensbereiche abdecken, jedes fokussiert sich auf etwas Bestimmtes, blendet Anderes aus und repräsentiert konkrete Ansprüche. Der transzendentalphilosophische Standpunkt und das Forschungsprogramm »Vernunft im engeren Sinne« müssen sich wie alle anderen in aktuellen Zusammenhängen und im freien Konkurrenzverhältnis bewähren, und dazu müssen sie nicht ihre (a) forschungsprogrammatischen Festlegungen, (b) Ansprüche und (c) Wissensziele aufgeben oder »transformieren«. Vielmehr muss gezeigt werden, dass ein bestimmter Wissensbereich und mit ihm verbundene relevante Einsichten nicht anders als durch sein konkretes und mit guten Gründen vertretbares Set erreicht und abgedeckt werden kann, und dass andere Forschungsprogramme oder philosophische Positionierungen uns nicht weiterhelfen können und gewisse Ansprüche nicht befriedigen. Es wird im Folgenden somit metaphilosophisch und taktisch argumentiert: Die Wahrheit kommt auf Taubenfüßen. Im zweiten Teil gehen wir wie folgt vor: Zunächst soll überlegt werden, wie sich das Vermögen der Ideen von anderen Vernunftkonzepten unterscheidet (4), welche forschungsprogrammatischen Festlegungen dahinterstehen (5) und welche Begründungsstrategien im Zusammenhang mit ihm möglich sind (6). Im Anschluss wird im Hinblick auf das Problem der unterschiedlichen Festlegungen, Ansprüche und (Wissens-)Ziele die metaphilosophische Position des re186
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flektierten Perspektivismus entwickelt (7), um von ihr aus und im Rückgriff auf die Begründungsstrategien auf die Tropen (8) und die Topoi der Vernunftkritik (9) zu antworten.
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4 Ergo: Was ist die Vernunft »im engeren Sinne«?
Die Vernunft im engeren Sinne und im Ausgang von Kant und Fichte ist (a) weder auf den Rationalitätsbegriff reduzierbar, (b) noch ein bloßer Kulturbegriff, (c) noch eine vom Subjekt unabhängige objektive Vernünftigkeit des Ganzen, sondern: (d) eine subjektive Fähigkeit, welche mit der Vorstellungsart »Idee« operiert und in der gegenwärtigen Arbeit im Rahmen des transzendental-bewusstseinsphilosophischen (erkenntnistheoretischen) Forschungsprogramms Gegenstand der Untersuchung ist.
4.1 Kein Synonym für »Rationalität« »Dann sagt man lieber gleich ›Rationalität‹ [und nicht Vernunft, Zusatz von M. L.], denn das klingt wissenschaftlich und modern« 219, schreibt Herbert Schnädelbach in Anlehnung an die Rationalitätsdebatte, die im verstärkten Maße im Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert in Deutschland stattfand. 220 Der Terminus »Rationalität« (lat. ratio: Berechnung, Rechenschaft) ersetzt aus der Perspektive des rationalitätsphilosophischen Paradigmas entweder den altherkömmlichen, metaphysisch belasteten Vernunftbegriff, von dem sich keine Pluralform bilden lässt, oder letzterer wird an ersteren vollstänSchnädelbach 2007: 7. An ihr waren neben Schnädelbach solche Autoren wie Jürgen Habermas, KarlOtto Apel, Nicholas Rescher, Karen Gloy und Wolfgang Welsch beteiligt. Dieses Thema war auch und ist noch im angloamerikanischen Raum präsent. 219 220
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dig assimiliert. So ist z. B. die kommunikative Vernunft (Habermas’) eine der möglichen Rationalitäten oder Rationalitätstypen neben der instrumentellen Vernunft (an der Horkheimer Kritik übt). 221 Zweckrationalität, Wertrationalität etc. sind bestimmte Möglichkeiten, sich situativ in der Welt bzw. in den unterschiedlichen Sphären des menschlichen Handelns zu verhalten. Sie können nach der Art der zu Hilfe genommenen Gründe bzw. Motive bestimmt und unterschieden werden. 222 Bestelle ich z. B. eine Hochzeitstorte aus der Überlegung, dass es üblich ist, dann mache ich von der traditionellen Vernunft oder Rationalität Gebrauch. Ich berate mich oder lasse mich diesbezüglich beraten und bringe damit die Rationalität der Verständigung ins Spiel, dabei achte ich auf die Anzahl der Gäste (Planungsrationalität). Da ich mich rechtzeitig entscheiden muss, gebrauche ich meine Entscheidungskompetenz und muss eventuell auch affektiv handeln. 223 Man kann im Prinzip also so viele Typen der Vernunft bzw. der Rationalität auffinden, wie es Arten von Handlungsgründen gibt. Diese können entweder frei in einer Mind-Map zusammengestellt, 224 oder unter einer dominierenden Rationalität (wie z. B. die kommunikative Vernunft) hierarchisiert, 225 oder in einem Konzept der transversalen Vernunft untergebracht werden, die zwischen unterschiedlichen Rationalitätstypen hin und her wechselt. 226 Das rationalitätsphilosophische Paradigma befindet sich auf einer anderen Ebene mit unserer obigen Untersuchung. Mit ihm sind folgende drei Merkmale verbunden: (1) Terminologische Verschiebung. Es findet Ähnliches statt, was Kant im Hinblick auf den Ideenbegriff rügte. Wie der Terminus »Idee« in der rationalistischen und empiristischen Philosophie der Neuzeit dafür verwendet wird, alle möglichen Vorstellungsarten zu Vgl. z. B. Habermas (1988) und Horkheimer (1947). Darauf macht Schnädelbach 1999: 491 aufmerksam. 223 Solche Ausdifferenzierungen der Rationalitätstypen finden laut Reiner Adolphi bei Max Weber (dem Klassiker der Rationalitätstheorie) noch rein auf der Beschreibungsebene statt. D. h., sie sind Theorie-Vereinfachungen, Idealtypen, die in der Praxis vielmehr miteinander verkoppelt sind, so dass es nicht ganz sicher bestimmt werden kann, ob jemand gerade nach dieser oder jener Rationalität gehandelt hat. Vgl. dazu und zu einem Überblick über die Pluralität der Rationalitätstheorien, die sich von diesem Weberschen Theorierahmen gelöst haben, Adolphi (1996). 224 So stellt Hans Lenk eine Liste aus 21 unterscheidbaren Rationalitätstypen zusammen, die sich noch fortführen lasse – vgl. Lenk (1986): 20–23. 225 Vgl. z. B. Habermas (1988). 226 Vgl. Welsch (1996a) und (1996b). 221 222
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bezeichnen (Empfindung, sinnliche Vorstellung, Kategorie etc.), so steht nun die Vernunft für eine große Menge von rationalen Einstellungen / Haltungen, die schwierig zu übersehen ist. (2) Paradigmatische Verschiebung. Dabei wird das bewusstseinsphilosophische Forschungsprogramm weitgehend verabschiedet. D. h., es wird nicht mehr in erster Linie Wert darauf gelegt, zu untersuchen, wie das Bewusstsein eines Subjektes funktioniert, sondern welche Handlungsgründe es gibt, die v. a. in wirtschaftlichen und sozialen Feldern entscheidend sind. Daher spielt auch die analytische Ausdifferenzierung der Vorstellungsarten und mit ihnen verbundener Vermögen keine eigenständige Rolle. (3) Andere Ansprüche. Das rationalitätsphilosophische Paradigma beansprucht nicht, zu erklären, wie eine Vorstellung entsteht und von welcher Art sie ist, sondern wie sie als ein Handlungsgrund in einem ihr entsprechenden Rationalitätsfeld fungiert. Ob die Motive und Überlegungen auf einer Idee, einem empirischen Begriff, einer Emotion etc. basieren, ist weniger relevant als ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Rationalitätstypus. Dabei werden solche »starken« Konzepte wie das Interesse der Vernunft, Vernunftideen etc. weitestgehend zugunsten des Alltäglichen und allgemein des Anderen der starken Vernunft vermieden. 227 Der rationalitätsphilosophische Forschungsansatz kann, an sich betrachtet, sehr wohl mit der Untersuchung der Funktionen der Vernunft bei Kant und Fichte kombiniert werden. Jede einzelne Art der Ideen und die ihr zugehörigen Sphären können rationalitätstypisch beschrieben werden. Der Umgang mit den theoretischen Vernunftbegriffen wie »Unendlichkeit der Welt« kann z. B. als eine spekulative Rationalität, mit den Ideen wie »Rechtswissenschaft« oder »Metaphysik der Sitten« als eine reine methodologische Rationalität, mit reinen praktischen Vorstellungen wie »reiner Wille« und »Person« als kategorisch-moralische etc. bezeichnet werden. Mit Hilfe der Vorstellungsleiter von Kant oder der Deduktion der Bewusstseinsfunktionen von Fichte können weitere Rationalitätsarten systematisiert und um mögliche wenig beleuchtete Dimensionen (wie Alltagsrationalität, die aber dieselbe Breite der Vorstellungsarten des Bewusstseins zur Verfügung hat) ergänzt werden.
227 Für einen konzisen Überblick über die Bereiche des »Anderen der Postmoderne« vgl. Gloy 1996: 552–562.
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Diesen Weg des Austauschs zwischen unterschiedlichen Forschungsprogrammen gehen jedoch diejenigen Rationalitätstheoretiker nicht, welche unbedingt den Standpunkt (a) der radikalen Vernunftkritik oder (b) der »schwachen« Vernunft (Rationalität) gegen den (c) der »starken« (subjektiven oder objektiven Vernunft) ausspielen wollen. So denunzieren beispielsweise Horkheimer und Adorno die Kantische Vernunft als ein bloßes »Organ der Kalkulation« 228, das als utopisch und unterjochend in Konflikt mit der Praxis gerate. 229 Die formalistische instrumentelle Rationalitätsform steht also für sie als ein pars pro toto, wobei die beiden Autoren offensichtlich das oben vorgestellte Konzept der Vernunft im engeren Sinne mit den zahlreichen an den Ideenbegriff geknüpften Funktionen nicht kennen, sondern hauptsächlich den Verstand vor Augen haben. 230 Damit wird im Vorhinein der Weg zu einer Kooperation zwischen den rationalitätsund bewusstseinsphilosophischen Forschungsansätzen versperrt. Zu demselben Ergebnis führt auch Habermas’ Forderung eines radikalen Paradigmenwechsels, durch den das angebliche »Erschöpfungssymptom« der Bewusstseinsphilosophie, »das hektische Hin und Her zwischen transzendentaler und empirischer Betrachtungsweise, zwischen radikaler Selbstreflexion und einem Unvordenklichen, das sich reflexiv nicht einholen lässt« 231 etc. beseitigt werde. Der Rationalitätstypus »kommunikative Vernunft« soll nun der überlegenere Stamm sein, alle anderen Rationalitätsformen und Forschungsansätze die Äste. Versteht man das stark, dann heißt das, dass ein Forscher keinen direkten Zugang zu seinem Interessengebiet mehr haben darf, sondern einen Umweg über die Analyse der Lebenswelt und der sozialen Interaktionen gehen muss, die das paradigmatische Zentrum der Theorie des kommunikativen Handelns ausmachen. Dies ist augenfällig eine anspruchsvolle Forderung, die nicht darauf hinausläuft, dass die Pluralität sich ergänzender Forschungsansätze und ein freier interdisziplinärer Austausch zwischen unterschiedlichen Forschergruppen genutzt wird, sondern eine Uniformierung zugunsten eines Horkheimer/Adorno 1947: 97. Ebd. 89 ff. 230 So bauen sie eine fragwürdige Analogie zwischen Hollywood bzw. der Kulturindustrie und dem Kantischen Schematismus, um den zu kritisierenden Rationalitätstypus instrumentelle Vernunft deutlich zu machen – vgl. ebd. 91 und 132 f. Beide, sowohl der Verstand als auch die Kulturindustrie, zensieren die Bilder / die Wahrnehmungen vor ihrer Aufnahme. 231 Habermas 1988: 346, vgl. 361. 228 229
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einzigen (soziologisch geprägten) Rationalitätstypus erzwungen wird. Damit wird die prinzipielle Ethik der unterschiedlichen Ansprüche in der freien Wissenschaftspraxis verletzt (vgl. weiter unten). Versteht man das hingegen schwach, dann bedeutet das, dass jeder Forscher grundlegend begreifen muss, dass es eine Kommunikationsgemeinschaft gibt, im Rahmen derer er handelt. Dann wird es aber schwierig sein, vorurteilsfrei nachzuweisen, dass diese Erkenntnis irgendeinem Philosophen fehle (was ausbleiben kann, ist jedoch ihre explizite Thematisierung, was davon abhängt, ob sie im Rahmen eines Forschungsprogramms zur Lösung eines konkreten Problems vorgesehen wurde oder nicht, wie wir weiter unten sehen werden). 232 Die Vernunft im engeren Sinne ist also an sich rationalitätsphilosophisch beschreibbar, aber nur von einem unvoreingenommenen Standpunkt aus, dem es um die Vollständigkeit des Wissens über die Rationalität geht, und nicht um die radikale Kritik oder die einseitigsubjektive Geltendmachung der Überlegenheit des einen Typus über den anderen. Das Vernunftkonzept verliert aber an Tiefe, wenn die bewusstseinsphilosophische Bestimmung ausbleibt, die mit solchen Begriffen wie Vermögen, Funktion, Vorstellungsart, Tathandlung etc. operiert. Daher geht es nicht in der bloßen Beschreibung der Rationalitätsformen vollständig auf und ist nicht auf sie zu reduzieren.
4.2 Mehr als ein Kulturbegriff Die Vernunft, wie wir sie oben im Ausgang von Kant und Fichte bestimmt haben, ist ebenso wenig ein bloßer Kulturbegriff unter anderen. Wenn Schnädelbach dagegen die kulturelle Prägung als die Grundbestimmung eines jeden in der Philosophiegeschichte aufgetretenen Vernunftkonzeptes bestimmt, 233 dann tut er das von dem 232 Die Forderung eines allgemeinen Paradigmenwechsels ohne Rücksicht auf die Pluralität der (c) Wissensziele und dessen, was wir weiter unten als (a) forschungsprogrammatische Festlegungen und (b) Ansprüche behandeln werden, muss also – darauf zielen diese Überlegungen ab – als überaus bedenklich beurteilt werden. 233 Herbert Schnädelbach nimmt bei seiner Erörterung des Vernunftbegriffs anhand der Geschichte der Philosophie sofort eine kulturrelativistische Position ein – vgl. Schnädelbach 2007: 9 f. Der Nachteil dieser Perspektive liegt darin, dass grundlegende Fähigkeiten des Bewusstseins sofort eine starke Kontextgebundenheit erhalten, ohne an sich in ihrem Wesen (bewusstseinsphilosophisch) erklärt zu werden. Die Idee des Schönen konnte wohl im alten Ägypten wie im alten Griechenland gebildet werden – die Kunstwerke, ihre Rolle, ihre Bedeutungen etc. unterscheiden sich zwar – aber die
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Blickwinkel des rationalitätsphilosophischen Paradigmas aus. Mit dem Kulturbegriff »Vernunft« kann dann so viel gemeint sein wie: Ein Rationalitätstypus dominiert in einer bestimmten Kultur zu einer bestimmten Zeit. Um im vollen Maße zu begreifen, wie sich diese Auffassung von derjenigen eines bewusstseinsphilosophischen Forschungsprogramms unterscheidet, wollen wir uns seine philosophiegeschichtliche Untersuchung als ein Beispiel und zugleich als eine knappe Übersicht zur Orientierung ansehen. Schnädelbach unterscheidet grundsätzlich folgende allgemeine Rationalitätsformen, die sich infolge der fortschreitenden immanenten Kritik (der Aufdeckung von internen Schwierigkeiten und Aporien der einzelnen Vernunftkonzeptionen) entwickelt haben: 234 A. Spekulative Vernunft. Die spekulative, auf geistiges Erkennen ohne Beimischung der Sinnlichkeit setzende Vernunft durchbreche im alten Griechenland die Grenzen der Alltagsvernunft (vgl. 15 ff.). Das Hauptinteresse gelte dabei der Erfassung des Wesens der an sich schon als objektiv vernünftig strukturiert angenommenen Welt (also vom Standpunkt der objektiven Vernunft aus – vgl. Punkt (c) unten). Die Ansicht hingegen, unser Subjekt schreibe der Natur die Gesetze vor, »ist der gesamten Antike fremd und kommt erst in der Neuzeit auf« (26). Den hohen theoretischen Ansprüchen der spekulativen Rationalität, die in der Ideenlehre Platons kulminiere, werde jedoch im Verlauf der Philosophiegeschichte nicht ohne Weiteres gefolgt: Der spekulativen Idee des Guten an und für sich werde eine moderatere Einstellung der strategischen Rationalität vorgezogen, die sich in praktischen Handlungen am relativen und situativen Bedingt-Guten orientiert (vgl. 45–53). Den theoretischen Spekulationen werde ein instrumentelles, die Welt bearbeitendes Handeln (vgl. 53–60), der spekulativ-religiösen Vernunft, die sich für den Glauben an sich als irrelevant erwies, eine profane Rationalität (vgl. 60–70), den spekulativen Anmaßungen der objektiven Vernunft ein endliches, subjektives Denken gegenübergestellt (vgl. 70–77 und 96). B. Kritische Vernunft. Mit der »kritischen Vernunft« als einer seit Descartes etablierten Rationalitätsform beginne die Rehabilitie-
Fähigkeit an sich, diese Vorstellung zu erzeugen, als ein Kulturprodukt anzusehen, geht zu weit. Es müssen subtile Unterscheidungen vorgenommen werden, wie wir es gleich tun werden. 234 Vgl. ebd. Die Seitenangaben folgen im Haupttext in Klammern. Das System der Ideen
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rung und Neubegründung der spekulativen Rationalität, die die bisherigen kritischen Erfahrungen einbeziehe. Es entstehe die »Bewusstseinsphilosophie«, ein »mentalistisches Paradigma«, welches »mindestens bis zu Edmund Husserls Programm der Phänomenologie fraglos in Kraft blieb« (80). Die kritische Vernunft, ein Rationalitätstypus, der v. a. in Kants Philosophie seinen Höhepunkt fand, solle nun durch die Untersuchung der subjektiven Vorstellungen sich selbst die Grenzen setzen, innerhalb derer sie sinnvoll operieren kann. Dabei werde das Konzept der objektiven Vernunft zurückgedrängt (vgl. 77–95). C. Funktionale Vernunft. Mit Hegels Versuch einer Wiederherstellung der Idee der vom Subjekt unabhängigen, an sich schon gegebenen Vernünftigkeit der Welt, und Schopenhauers gegenteiliger Ansicht, das Innere der Welt sei ein vernunftloser Wille, finde eine Dezentrierung der subjektiven Vernunft im Rahmen der »Vernunftkritik der Vernunftkritik« (108) statt. Es werde ein radikaler, von dem bloß subjektiven Blickwinkel befreiender Perspektivenwechsel gesucht. Die Überbietung der kritischen Vernunft durch die Kritik an ihr selbst führe letztendlich zum Konzept der funktionalen Vernunft – »ihm zufolge ist die Vernunft eine Funktion von etwas, was nicht selbst schon Vernunft, aber das wahre Zentrum ist« (116) – also das Leben, der Leib, die Ernährung und Fortpflanzung. Dieses »monotone Grundmotiv« beherrsche die Vernunftkritik im 19. und 20. Jahrhundert zusammen mit der Meinung, die Philosophen seien »geborene Rationalisten« und man müsse sie immer wieder mit der Neuigkeit überraschen, dass die Vernünftigkeit nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme sei (vgl. ebd.). D. Plurale Vernunft. Die zuletzt aufgetretene Rationalitätsform sei die plurale Vernunft. Sie sei im Grunde dieselbe funktionale Vernunft, die aber im Rahmen der Progression der Kritik (1) einen »Terminologiewechsel« vollziehe, und den Begriff »Rationalität« ins Zentrum ihrer Untersuchungen stelle (vgl. 137) sowie (2) nun eine Fülle von Möglichkeiten der Kontextualisierungen, wie Gesellschaft, Sprache und Geschichte kenne (vgl. 121 ff.). Das sich somit herausgebildete Rationalitätsverständnis orientiere sich an konkreten Handlungssituationen, so dass sich im Prinzip so viele Rationalitätstypen unterscheiden ließen, wie es konkrete Handlungssituationen gibt (vgl. 138). Trotz dieser Pluralität werde jedoch die Untersuchung derjenigen Rationalität weitestgehend vermieden, die mit »obersten Wert- und Zweckorientierungen« wie Pflicht, Würde, Schönheit etc. 194
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arbeiten, und somit als eine »bloß subjektive Angelegenheit einer letztlich privaten Entscheidung« (132), also als irrational gelten. Im Ergebnis stellt Schnädelbach fest, dass »die moderne Philosophie der Vernunft, die nur als umfassende Theorie der Rationalität wird auftreten können« (138), auf der Rationalität der (sprachlichen und symbolischen intersubjektiven) Verständlichkeit fußen müsse, die die Grundbedingung aller anderen Formen darstelle. Man solle ferner die Frage nach der Einheit der Vernunft nicht aus den Augen verlieren, das »Paradigma der reinen Bewusstseinsphilosophie« (140) sei aber bereits zugunsten desjenigen des kommunikativen Handelns überwunden, das nun der zu wählende Blickwinkel sein sollte. Dem Leser der Untersuchung von Schnädelbach, der letztlich wie Habermas das Primat in der kommunikativen Rationalität sieht, könnte folgendes aufgefallen sein: (1) Reduktion auf bloßen Kulturbegriff. Schnädelbach bindet im Vorhinein (es ist eine unhinterfragte Voraussetzung, von der ausgegangen wird) den Vernunftbegriff so stark an geschichtlich-kulturelle Kontexte, dass kein Raum für die Frage bleibt (die in der Untersuchung auch nicht auftaucht), ob es einen irreduziblen Rest geben könnte, der suprakulturell gültig ist. Dass »Vernunft« ein Kulturbegriff sei, weil »die Menschen aus ihren natürlichen Fähigkeiten kulturell sehr Verschiedenes gemacht haben« (9), ist eine Aussage im Rahmen des Paradigmas des Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, das die Bewusstseinsphilosophie polemisch ablösen will, anstelle mit ihr zu kooperieren. Es geht restlos darum, was die kommunikativ Handelnden in ihren historisch bedingten lebensweltlichen Zusammenhängen aus ihren »natürlichen Fähigkeiten« machen, nicht darum, wie sie an sich beschaffen sind und funktionieren. 235 Das Letztere liegt aber im Interesse einer aufgeklärten Bewusstseinsphilosophie, die analytisch mindestens (a) die Fähigkeiten an sich von (b) den theoretischen Varietäten ihrer wissenschaftlichen Beschreibung und Systematisierung sowie (c) ihrer praktischen Verwendung unterscheiden muss, wobei sowohl (b) als auch (c) unter Beachtung
235 Schnädelbach gibt zwar zu, dass die moderne Philosophie der Vernunft »nicht ohne die Rückbindung an eine Anthropologie des animal rationale möglich sein wird« (138), die hauptsächlich über die genuin menschliche sprachliche Mitteilungsfähigkeit aufklären soll. Diese geht aber nicht so weit wie eine komplexe Bewusstseinsphilosophie.
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der kulturellen und historischen Bedingtheit. So ist, wenn wir von Kant ausgehen, z. B. (a) die untersuchbare Fähigkeit, die Idee des Schönen zu erzeugen und mit ihr umzugehen, nicht dasselbe wie (b) die Versuche, sie epistemologisch und ontologisch zu bestimmen (denn diese unterscheiden sich in der Philosophiegeschichte) und (c) der konkrete Umgang mit ihr (ihre Bedeutung in kulturellen Zusammenhängen, die Abstraktheitsgrade und Konnotationen des Begriffs »schön« in verschiedenen Kulturen, die Bewertungen, was schön und was nicht schön ist etc.). Ein solcher kulturologischer Reduktionismus (denn man kann auch kulturphilosophisch und nicht-reduktionistisch denken) unterlässt es, diese subtile Unterscheidung vorzunehmen und verabsolutiert die Punkte (b) und (c) zu einem pars pro toto des Vernunftbegriffs. Unter kulturgeschichtlichen, rationalitätsphilophischen und kommunikationstheoretischen Prämissen findet eine Zäsur statt, die durch ein Denken wieder rückgängig gemacht werden kann, welches die Relevanz unterschiedlicher Herangehensweisen und Ansprüche begreift und sie nicht zerstörerisch gegeneinander ausspielen will. (2) Vernunft und Vernünftigkeit. Aus dem Versuch, den bewusstseinsphilosophischen Gesichtspunkt zu verdrängen, folgt eine weitere nicht ausreichend gewürdigte Unterscheidung. Schnädelbachs nicht hinreichend thematisierte These ist, dass die »natürlichen Fähigkeiten« des menschlichen Bewusstseins in Bezug auf das »gemacht« werden, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Kultur als vernünftig gilt. Die Vernünftigkeit im materialen Sinne (als dasjenige, was für richtig, angemessen und rechtfertigungswürdig erachtet wird oder sich so darbietet) ist ein weiteres pars pro toto der Rationalitätsphilosophie. Wird die Befreiung vom Alltag zugunsten der Annahme von unwandelbaren Wahrheiten als vernünftig angesehen, dann »erschafft« man sich ein Vermögen der spekulativen Vernunft (A); die Besinnung auf das Subjekt – eine Fähigkeit der Kritik der Vernunft (B); die Beachtung des Anderen – eine zu seinen Diensten stehende funktionale Vernunft (C); die atomistische Kontextualisierung der lebensweltlichen (alltäglich und sozial bestimmten) Prozesse – die plurale Rationalität (D). Diese Perspektive lässt das Bewusstsein als eine frei formbare Masse oder als einen Apparat erscheinen, welchen man sich aus beliebigen Teilen und Funktionen zusammenstellen kann, je nachdem, was man auf seinem aktuellen geschichtlichen und kulturellen Standpunkt für vernünftig hält. 196
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Eine andere Sichtweise bestünde dagegen darin, die (a) Vernunftfähigkeit an sich von demjenigen strikt zu unterscheiden, was zurzeit hinsichtlich der (b) theoretischen Beschreibung und (c) praktischen Anwendung als vernünftig gilt. Dass ich z. B., wenn wir bei Kant bleiben, (a) auf eine Idee von Gott als dem Inbegriff aller Möglichkeiten unter Verwendung der Kategorie der Möglichkeit schließen kann (die Fähigkeit dazu habe, es zu tun), hängt nicht davon ab, ob ich religiös geprägt oder nicht geprägt bin, ob ich es für berechtigt halte, allein aus Klarheit und Deutlichkeit meiner Vorstellung von Gott auf sein Dasein zu schließen oder nicht, ob ich Gott so oder anders bestimmen will, ob ich die Pluralität der Standpunkte gegenüber einem monistischen System bevorzuge oder nicht etc. Ich kann es tun, weil mein Bewusstsein diese Operation zulässt, die ich neben anderen ähnlichen geistigen Handlungsmöglichkeiten einem einzigen Vermögen in Abgrenzung zu anderen zuschreibe und theoretisch thematisiere. Das, was vernünftig ist, entscheidet sich erst in weiteren Schritten. Nämlich in (b) der Bewertung der Urteilskraft, die sich irren und die Ideen hypostasieren kann (denn die Vernunft im engeren Sinne irrt sich nicht, wie Kant betont – vgl. KrV A642 f./B670 f.). Und in (c) der Berichtigung wiederum der Urteilskraft, die z. B. glauben kann, weil man in der Lage ist, kategorische Imperative zu bilden, solle man seine Lebenspraxis ausschließlich auf dieselben gründen (vgl. TP AA VIII 275 ff. und 278 ff.). Die Vernunft (a) ist von dem vernünftigen Umgang mit ihren Leistungen und Produkten (wobei es sich erst in Diskussionen und in der Auswertung von (b) und (c) entscheidet, ob dieser vernünftig ist oder nicht) zu unterscheiden. Schnädelbach übersieht diese wichtige Differenz, weil er den bewusstseinsphilosophischen Gesichtspunkt ausblendet. Infolge dessen erscheinen alle von ihm unterschiedenen in der Geschichte auftretenden Vernunftarten als nichts mehr als bloße Instrumente zur Verwirklichung einer jeweils vorherrschenden Ansicht hinsichtlich dessen, was vernünftig ist. Der Vernunftbegriff löst sich letztlich im Begriff »Vernünftigkeit« auf: Was heute als vernünftig gilt – z. B. die Pluralität der Rationalitätsformen auf Basis des kommunikativen Handelns – ist (plurale) Vernunft; was Kant für vernünftig hielt – die Grenzbestimmung der Vernunft – ist (kritische) Vernunft. Dies wird offensichtlich der bewusstseinsphilosophischen Dimension (a) nicht gerecht, die stillschweigend ausgeblendet wird. (3) Unterschiedliche Ansprüche. Nun gibt es aber Forscher und Gruppen von Forschern, deren Interessen das bloß kulturologische Das System der Ideen
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Denken übersteigen und die sich aus transzendentaler, erkenntnistheoretischer, analytischer, phänomenologischer, kybernetischer etc. Perspektive mit dem Bewusstsein an sich auseinandersetzen. Es lassen sich sehr wohl Argumente dafür finden, dass »Vernunft« kein bloßer Kulturbegriff ist. Man kann sich vorstellen, wie viel Wissen verloren geht, wenn ein einziger Forscher oder eine einzige Forschergruppe nicht nur für sich den Gegenstand der Untersuchung bestimmt, sondern damit zugleich beansprucht, für alle verbindlich festgelegt zu haben, was ausgeklammert werden soll. Dass die Philosophie der Vernunft lediglich als eine dezentrierte Rationalitätstypologie »wird auftreten können« (138), ist eine Aussage, die darauf beruht, dass auf die unterschiedlichen Ansprüche in der Forschung nicht achtgegeben wird.
4.3 Nicht dasselbe wie »Vernünftigkeit« Die Vernunft im engeren Sinne ist also weder auf Rationalität noch auf einen bloßen Kulturbegriff reduzierbar. Sie sollte aber auch deutlich von dem Konzept der objektiven oder absoluten Vernunft unterschieden werden. Dafür, dass sich etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eine gegen die herrschende Philosophie gerichtete Bewegung entwickelte, die entweder auf eine radikale Vernunftkritik oder auf eine bescheidene Auffassung der Vernunft (im Sinne von Rationalität) abzielte, ist, wie sich Schnädelbach und Habermas (sowie Karen Gloy) 236 einig sind, nicht so sehr Kant und Fichte, als vielmehr Hegel und Schelling geschuldet. Das Selbstverständnis der (post-)modernen Rationalitätsphilosophie verdankt sich offensichtlich einerseits der Abgrenzung vom Hegel’schen Vernunftkonzept. So seien wir laut Habermas immer noch »Zeitgenossen der Junghegelianer geblieben« 237, denn diese haben zunächst entschieden den alternativen Weg beschritten, indem sie uns »von der Last des Hegelschen Vernunftbegriffes« 238, vom »Diktat der besserwisserischen Vernunft« 239 befreiten. Die Auseinandersetzung mit der Frage, welches Prinzip die Philosophie der Moder236 237 238 239
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Vgl. Gloy 1996: 527 ff. Habermas 1988: 67. Ebd. Ebd. 69.
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ne zu leiten hat, wurde fortan v. a. auf der Seite der Hegel-Kritiker fortgeführt. Diesem »Klimaumschwung in der Philosophie um 1850« 240 spielte laut Schnädelbach die Berufung Schellings auf den Lehrstuhl von Hegel in die Hände. Sören Kierkegaard, Friedrich Engels, Michail A. Bakunin und andere in Berlin anwesende Zeitgenossen haben mit einem Hegel-Antipoden der »positiven Philosophie«, die dem bloßen Denken eine von ihm unabhängige Erfahrungswirklichkeit entgegensetzen würde, gerechnet – stattdessen stellte Schelling seine Thesen zur Mythologie und Offenbarung vor. Dieses Ereignis habe damals »ein Übriges zur anwachsenden Geringschätzung der Philosophie« 241 sowie zum Bewusstsein des Unterschiedes des institutionell verankerten von dem freien Denken in privaten Kreisen beigetragen. 242 Andererseits schließt die Rationalitätsphilosophie mit Hegel eine Art von Bündnis zum Zweck der Dezentrierung der Vernunft, allerdings nur in einem entfernten (und eigentlich für sie selbst gefährlichen) Sinne. Schon Schelling hat in der Zeit seiner Identitätsphilosophie (ab 1801) den Terminus Vernunft nicht mehr zur Bezeichnung des subjektiven Vermögens gebraucht – damit wurde entweder das (a) System selbst, oder die (b) unvordenkliche, der Natur und dem Geist zugrundeliegende Einheit, der Indifferenzpunkt, also vielmehr das »Andere der Vernunft« bezeichnet, wie Karen Gloy pointiert. 243 Das hiermit ansetzende Projekt der Dezentrierung der Vernunft, an dem der im Jahr 1814 verstorbene Fichte noch Kritik üben konnte, 244 hat auch Hegel fortgeführt. Aus ihm resultiert schließlich im Verlauf der weiteren Philosophiegeschichte in Europa, Schnädelbach 2007: 115. Ebd. 67. 242 Vgl. Schnädelbachs Untersuchung zur Philosophie in Deutschland 1831–1933 – Schnädelbach (1983). Dieser Klimaumschwung wird in der Forschungsliteratur auch als »Krise der Vernunft« bezeichnet – vgl. Burrow (2003). 243 Vgl. dazu Gloy 1996: 542 ff. 244 »Sie [gingen] an das Absolute unmittelbar mit Ihrem Denken […], ohne sich auf Ihr Denken, und daß es wohl nur dieses seyn möchte, was durch seine eignen immanenten Gesetze Ihnen unter der Hand formirte, zu erinnern« – Brief vom Oktober 1801 (ohne Angabe des Tages) GA III/5 91. Indem Schelling versucht, in das an sich unzugängliche Absolute, von dem aus das Ich gedacht wird, Denkbestimmungen (wie »quantitative Differenz«) hineinzutragen, die nur im Bereich der Erscheinung gelten können, begehe er denselben Fehler wie »Spinoza, und überhaupt aller Dogmatismus« – ebd. Vgl. die Spinoza-Kritik des frühen und späten Fichte, auf die wir oben kurz eingegangen sind. 240 241
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wenn man der obigen kulturphilosophischen Darstellung von Schnädelbach folgt, ein funktionales und plurales Rationalitätsdenken. Folgende Merkmale des Hegel’schen Vernunftdenkens und der mit ihnen verbundenen Ansprüche können angerissen werden, um anzudeuten, wie sehr jede Kritik irrt, die sich gegen einen scheinbar allgemeinen abstrakt verstandenen Vernunftbegriff wendet, ohne die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Denkfiguren zu durchdenken. Auch soll kurz darauf hingewiesen werden, was das Zerbrechliche und Gefährliche des »Bündnisses« für dasjenige rationalitätsphilosophische Denken ist, welches die Bewusstseinsphilosophie verdrängen will. (1) Vernunftvermögen vs. Vernünftigkeit. Die Dezentrierung der Vernunft (als eines subjektiven Vermögens des Menschen) findet bei Hegel insofern statt, als der Vernunft eine höhere Einheit, die eigentliche Vernunft (die gedanklich als absolute Idee, Subjekt-Objekt, Einheit von Denken und Sein etc. artikuliert werden kann), vor- und übergeordnet wird. Es wird der bereits im alten Griechenland vertretenen metaphysischen Prämisse gefolgt, dass die Welt an sich, also auch unabhängig von den Denkleistungen des Subjekts vernünftig strukturiert sei. Die Vernunft des Philosophen trägt nichts Eigenes in sie hinein. Sie ist selbst eine Äußerung der allgemeinen Vernünftigkeit, die imstande ist, die rationalen Strukturen der Wirklichkeit »zu lesen«, insofern sie sich der richtigen, ihrem Gegenstand angemessenen Methode bedient. Es gibt somit keine Dinge an sich, die sich der Erkenntnis verschließen würden. Vielmehr liegen den Gegenständen konkrete (Denk-)Bestimmungen zugrunde, die ihr Wesen ausmachen und die unser Geist begreifen kann. Das rationalitätsphilosophische Denken, wie dasjenige von Habermas, teilt mit Hegel die Absicht, die subjektzentrierte Vernunft zu entmachten und sie von etwas abhängig zu machen, das sie selbst nicht ist. Dies geschieht, ohne dass (a) gerade dieses »Andere« 245, die Idee einer allgemeinen Vernünftigkeit der Welt (entsprechend dem christlichen Bild: Die Welt, erschaffen und regiert von Gott) und (b) gerade diese erkenntnistheoretische Position des (objektiven) ab-
245 Die Vernunft als ein subjektives Vermögen ist aus Hegels Perspektive selbst ein Teil der Vernünftigkeit der Welt. Insofern ist »das Andere« nur relativ zu verstehen, als »nicht dasselbe wie«. Die radikalen Vernunftkritiker verwenden diesen Ausdruck dagegen oft, um auf etwas hinzuweisen, was komplett vergessen und nun durch ihr Denken wieder zu seinem Recht gekommen worden wäre.
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soluten Idealismus übernommen wird. Die Intuition, dass das letzte Wort nicht vom Subjekt kommen kann, sondern von einem Prinzip, welches das eigentliche Absolute sein soll, wird beibehalten. Dieses jenseits der Schranken des Subjektzentrismus liegende Apriori wird aber nicht mehr als objektive, sondern als kommunikative Vernunft bestimmt (wenn wir weiterhin bei Habermas als einem Beispiel bleiben), die von der Unhintergehbarkeit der Kommunikationsgemeinschaft ausgeht – von den Akten der Verständigung einzelner, in der Sorge um ihre Lebenswelt lebender Individuen. Dieses Grundprinzip würde Hegel jedoch dem bloß verständigen Denken zuschreiben, einem unvollendeten Skeptizismus, mit dem er kein »Bündnis« zu schließen braucht, wie wir gleich sehen werden. (2) Vernünftigkeit und vernünftiges Denken. »Die Vernunft ist, was eine Kultur oder ein Denker aus der Vernunft macht« – ist ein rationalitätsphilosophischer Gedanke, bei dem, wie wir es oben bei Schnädelbach festgestellt haben, unter Vernunft nichts mehr als eine vorherrschende Ansicht dessen verstanden wird, was zurzeit als vernünftig gilt (z. B. die kommunikative Vernunft). Wer dagegen die bewusstseinsphilosophische Dimension nicht ausschließt, kann einwenden, dass sowohl Platon als auch Kant und mein im 21. Jahrhundert lebender Nachbar (a) die Fähigkeit haben, z. B. eine Tugendidee zu bilden und nach ihr zu handeln. Diese ist gemäß den oben genannten drei Stufen des Vernunftdenkens von (b) der theoretischen Beschreibung, wie sie zustande kommt, was sie leistet etc. sowie (c) dem praktischen Umgang mit ihr zu unterscheiden. Was als gut/schlecht, vernünftig/unvernünftig, kultur- und zeitbedingt gilt, kann über die Punkte (b) und (c) ausgesagt werden. Über den Punkt (a) kann dagegen nur entweder die Aussage getroffen werden, dass es diese Fähigkeit gibt oder nicht gibt, oder dass es sie geben sollte oder nicht geben sollte (Misologie), was entsprechende begründungstheoretische Konsequenzen hat, worauf wir später zurückkommen. Diese Verschiebung von dem Denken der Vernunft im bloß formalen Sinne zum Denken der Vernünftigkeit findet auf eine prominente Weise bei Hegel statt. Er meint zwar, dass Kant den Begriff »Idee« wieder zur Ehren gebracht hat, daß er dieselbe im Unterschied von abstrakten Verstandesbestimmungen oder gar bloß sinnlichen Vorstellungen (dergleichen man im gemeinen Leben auch schon Idee zu nennen pflegt) der Vernunft vindiziert hat (Enz I W 8 122),
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hält sich aber trotz dieser Hervorhebung unverständlicherweise, wie auch die Forscher der letzten Jahrhunderte, bei seiner Kant-Rezeption nicht an diese Vorstellungsart, um unterschiedliche Vernunftfunktionen zu durchdenken. Das breitere Konzept der Vernunft, die sowohl im theoretischen, als auch praktischen (moralischen, religiösen, politischen, rechtlichen), ästhetischen, architektonischen und selbstreflexiven Bereich mit Ideen operiert, findet bei Hegel keinen Eingang – weder bei seiner Auseinandersetzung mit der Kantischen Philosophie noch in der Darstellung des subjektiven Vernunftvermögens in dem phänomenologischen Teil der Enzyklopädie. 246 Diese konkurrenzfähige Theorie, an der Fichte weiter arbeitet, schaltet Hegel – ohne sie in ihrer ganzen Breite zu überblicken – zugunsten eines starken Vernünftigkeitsbegriffs aus. Das subjektive Vermögen steht komplett in seinem Schatten – und es ist gerade dieser Begriff, gegen den sich die weitere Philosophiegeschichte polemisch wendet. Die Vernünftigkeit ist einerseits (a) das Objekt der Philosophie schlechthin, das sich als Logik, Natur und Geist zeigt, und andererseits (b) besteht sie in der adäquaten Methode, dieses Objekt richtig zu erfassen, mithin im vernünftigen Denken. Wenn (a) und (b) verbunden werden, entsteht ein vernünftiges System der philosophischen Wissenschaften. Zu (a): Dass die Gedankenbestimmung »reines Sein« so viel aussagt wie »reines Nichts«, dass die Planeten im Sonnensystem auf eine bestimmte Weise geordnet sind und dass die klimatischen Bedingungen Auswirkungen auf die Menschen haben, sind einige Momente eines vernünftig strukturierten Ganzen der Wirklichkeit. Sie bestehen auch unabhängig davon, ob der subjektive Geist (z. B. eines Philosophen), welcher selbst nur ein Teil von ihr ist, sich gerade mit ihnen beschäftigt oder nicht. Diese eine absolute Idee – »dies ist die eigentliche philosophische Bedeutung für Vernunft« (Enz I W 8 370), also die allgemeine (wirkliche, vorhandene, nicht bloß in Gedanken artikulierte) Vernünftigkeit des Ganzen, präsentiert sich dem Nachdenkenden in zahlreichen unterschiedlichen Gestalten, logischer, naturphilosophischer und geistiger Art.
246 Angelica Nuzzo macht in ihrem die wesentlichen Punkte der Problemlage, die sich aus Hegels Auffassung des Vernunftbegriffs ergibt, behandelnden Aufsatz einleuchtend darauf aufmerksam, dass Hegel die Kantischen Unterscheidungen (a) der Vernunft von den Ideen und (b) der Vernunft von ihrem Gebrauch weitestgehend verwirft – vgl. Nuzzo 1995: 102 ff. Zu Hegels Kritik an Kants Vernunftbegriff vgl. auch Lewin (2019).
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Hinter dem enzyklopädischen System der Philosophie von Hegel, welches unterschiedliche Formen des Vernünftigen einbeziehen will, steht nicht der Anspruch, auch Unvernünftiges, Besonderes und Zufälliges zu behandeln. Es muss eine Vorentscheidung und -sortierung vorgenommen werden. Aus der Systematisierung der Gestalten des Vernünftigen scheiden (a) positive Wissenschaften aus, deren rationaler Kern schwierig auszumachen ist – beispielsweise die Philologie, die aus Hegels Sicht eine Ansammlung von Wissen ist. Ebenso wird (b) der besondere »positive Gehalt« derjenigen Wissenschaften nicht aufgenommen, die an sich vernünftig aufgebaut sind, z. B. bestimmte historische Ereignisse, die die Geschichtswissenschaft behandelt, bestimmte Krankheitserscheinungen in den Medizinwissenschaften. Ferner finden (c) diejenigen Objekte (Produkte, Geschehnisse, Prozesse etc.) keinen Platz in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, die es nicht verdienen, in der tiefsten, praktisch konnotierten Bedeutung des Wortes, wirklich genannt zu werden – die also kein vernünftiges Sein haben, sondern als zufällig, irrational, unwahr, moralisch falsch etc. erscheinen. Zu ihnen können beispielsweise schlechte Kunstwerke (Enz I W 8 86), Verbrechen etc. gehören, die zwar thematisiert werden, aber als etwas Nachrangiges. Zu (b): Wie einmal die pyrrhonischen Tropen im alten Griechenland dafür gebraucht wurden, die Ansprüche der Dogmatiker zurückzuweisen, so hat Hegel ein effektives Verfahren entwickelt, einseitige Behauptungen zu destruieren. Wie im Alltag so auch in den Wissenschaften wird nicht selten (im negativen Sinne) abstrakt gedacht. Abstrakt denkt derjenige, der eine einzige Bestimmung des Objektes seiner Aufmerksamkeit für das Ganze hält – wer also das oben mehrmals erwähnte »pars pro toto« nicht als ein rhetorisches Mittel, sondern unbewusst als eine Denkfigur gebraucht, um seine Position zur Geltung zu bringen. Wer z. B. in einem Verbrecher nichts weiter als einen Verbrecher sieht, denkt abstrakt (vgl. Wer denkt abstrakt? W 2 577 f.): Er reduziert die ganze seiende Wirklichkeit eines Denkobjektes auf eine einzige Eigenschaft (tut ihr sozusagen eine »rationale Gewalt«, ein Unrecht an), denn er ist auch ein Mensch, eine Rechtsperson, ein Familienmitglied etc. In diesem letzten Satz sind im Grunde alle drei Funktionen des vernünftigen Denkens enthalten, welches dank der folgenden drei Momente mit (a), den vernünftigen Weltstrukturen, harmoniert (vgl. Enz I W 8 168–179):
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(α) die fixierende Operation des Verstandes, welcher eine einzige Eigenschaft hervorhebt und gelten lässt – er ist ein Verbrecher; (β) die dialektische, negativ-vernünftige Geisteshandlung, welche auf das Gelten einer weiteren Bestimmung hinweist – aber er ist doch auch eine Rechtsperson; (γ) die spekulative, positiv-vernünftige Gedankenoperation, durch welche erkannt wird, dass unterschiedliche Bestimmungen ein ungeteiltes Objekt ausmachen – er ist sowohl ein Verbrecher, als auch ein Mensch, eine Rechtsperson, hat einen Leib, eine psychische Geschichte, gehört einer Volksgruppe an etc. Wer also den Aussagen, wie – ein Verbrecher ist mehr als nur ein Verbrecher; nicht nur das Bewusstsein bestimmt das Sein, sondern auch das Sein das Bewusstsein; ein Präsident kann nicht für alles verantwortlich gemacht werden, was in einem Land geschieht, er ist ein Glied der gesellschaftlichen Struktur mit bestimmten Funktionen – zustimmt, nimmt die Trias (α) – (γ) in Anspruch. Wir haben oben selbst, zum Denken der Vernunft die folgenden Operationen vorgenommen: (a) Reduktion auf Rationalität
(b) Reduktion auf einen Kulturbegriff
(α) Vernunft sei gleich Rationalität (α) Vernunft sei ein Kulturbegriff (β) Vernunft wurde und wird aber (β) Sie ist aber auch auf eine sinnvolle Weise als ein Vermögen auch von einigen Forschergrupthematisierbar, welches als irrepen bewusstseins-philosophisch duzibler Kern gelten kann begriffen (γ) Vernunft ist sowohl rationali- (γ) Sie ist sowohl kulturologisch (hinsichtlich der (b) theoretitäts- (hinsichtlich der Verhalschen Beschreibung und tens- und Handlungsweisen) als (c) praktischer Anwendung) als auch bewusstseins-philosoauch bewusstseinsphilosophisch phisch (hinsichtlich ihrer Funk(hinsichtlich des (a) Vertionen als Vermögen) sinnvoll mögens) untersuchbar thematisierbar
Die Verbindung der rationalitätsphilosophisch orientierten Denker mit Hegel zum Zweck der Dezentrierung der Vernunft erweist sich also aus doppelter Perspektive als problematisch und brüchig. Erstens (zu (a)) stellt Hegel derart starke Ansprüche an den Vernünftigkeitsbegriff, dass die junghegelianisch ausgerichteten Denker ihm, u. a. aufgrund des ausgeschiedenen »Anderen«, des nicht wahrhaft Wirk-
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lichen, nicht absolut folgen können. 247 Zweitens (zu (b)) werden ihre eigenen Ansichten den Ansprüchen an das vernünftige Denken nicht gerecht. Aussagen wie – das Paradigma der subjektzentrierten Bewusstseinsphilosophie soll endlich durch das Paradigma der kommunikativen Vernunft ersetzt werden; eine moderne Philosophie der Vernunft wird nur als eine Philosophie der Rationalitätstypen auftreten können; die Ethik ist aufgrund der Unhintergehbarkeit der Kommunikationsgemeinschaft letztbegründet – müssen im Prinzip aus der Sicht von Hegel eine Verletzung der Regeln des vernünftigen Denkens darstellen. So gesehen wären sie als abstrakte Fixierungen einzustufen, die der Härte des Verstandes zuzuschreiben wären – »als ob die Welt auf ihn [auf den Verstand, Zusatz von M. L.] gewartet hätte, um zu erfahren, wie sie sein solle, aber nicht sei; wäre sie, wie sie sein soll, wo bliebe die Altklugheit seines Sollens?« (Enz I W 8 48). Die »Altklugheit« muss also aus Hegels Perspektive auf der Seite der bereits in der Welt seienden Vernunft gesucht werden – die Entweder-Oder-Logik (entweder kommunikative Vernunft oder Bewusstseinsphilosophie, entweder Rationalitätstypologie oder keine Vernunftphilosophie, entweder ist die Ethik durch das Prinzip A oder Prinzip B letztbegründet) wird der Wirklichkeit und ihren vernünftigen Strukturen nicht gerecht. Diese Fixierungen machen also ironischerweise gerade die Subjektivität des Denkens aus, gegen die eine Art von »Bündnis« mit Hegel geschlossen werden soll, dem er nicht zustimmen kann. Die Trias des vernünftigen Denkens, das von Habermas so bezeichnete »Diktat der besserwisserischen Vernunft« 248, wird sie sofort in objektive Gedanken überführen, wie z. B. in solchen Fällen, wie: Paradigma des kommunikativen Handelns
Begründung der Ethik: Kommunikationsgemeinschaft 249
(α) Kommunikatives Handeln soll das Paradigma der subjektzentrierten Bewusstseinsphilosophie ersetzen
(α) Die Kommunikationsgemeinschaft inklusive der sprachlichen und argumentativen Regeln ist unhintergehbar, also ist die Ethik begründet
Wie Habermas 1988: 67 ff. das deutlich sagt. Ebd. 69. 249 Auf diesen Punkt werden wir weiter unten noch gelegentlich zu sprechen kommen. 247 248
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(β) Nein, sie ist dann begründet, (β) Nein, die naturphilosophische Denkfigur soll beide ersetzen; nein, wenn es ein praktisches Vermögen der Vernunft gibt; nein, sie ist bedas sprachphilosophische Denkmuster soll beide ersetzen; nein, das gründet, wenn es ein entwickeltes Gehirn gibt etc. bewusstseins-philosophische Denken muss alle ersetzen etc. (γ) Keine einzige Perspektive wird (γ) Physische Existenz, Organe, allein der Wirklichkeit gerecht, das geistige Fähigkeiten (inklusive ihrer Denken bedient sich aller ihm mög- Ausbildung beim Einzelnen), soziale lichen Gesichtspunkte Dimension etc. sind die Grundlage, ohne die es keine Ethik geben könnte
Die spekulative Philosophie ist, wie Hegel es hervorragend polemisch pointiert, eine Art Mystik (vgl. Enz I W 8 178 f.), denn die Erfahrung des positiv-vernünftigen (spekulativen) Denkens in (γ) ähnelt einer mystischen Erfahrung (die sich aber dem konkreten Nachdenken nicht entzieht) – sie transzendiert die Einseitigkeiten der (eigenen) subjektiven Positionierungen (α) und das Hin und Her der dialektischen Bewegung (β). Nur das an (α) und (β) gebundene (γ) – was dem Verstand als etwas Geheimnisvolles und seine subjektive Absicht (seine Positionierung) Verletzendes (Schmerzvolles) erscheint – wird den hohen Ansprüchen an die wissenschaftliche Objektivität und Qualität gerecht, wenn diese erfüllt werden sollen. (3) Unterschiedliche Ansprüche. Das Hegel’sche Konzept »Vernunft« geht eine unaufhebbare Verbindung mit dem Begriff »Vernünftigkeit« ein – die Vernunft ist wesentlich Vernünftigkeit, und zwar als (a) seiende (vernünftige) Wirklichkeit und (b) in ihr enthaltene (vernünftige) gedankliche Tätigkeit, die sie adäquat erfasst. Die bewusstseinsphilosophische Unterscheidung zwischen einem Vermögen und seinem Gebrauch ist bei diesem Modell, bei welchem die Kantische Bestimmung der Vernunft im engeren Sinne als eines Vermögens der Prinzipien aus dem Blick gerät, hinfällig. Wenn die Vernünftigkeit der Hauptgegenstand der Philosophie sein soll, dann muss man an dem konkreten Gebrauch des Denkens selbst zeigen, wie sie sich entfaltet – man soll sofort ins Wasser gehen, um schwimmen zu lernen und nicht erst die Bewusstseinsfunktionen an sich untersuchen, um im Nachhinein zu zeigen, wie sie vernünftig zu gebrauchen sind (vgl. zu dieser gegen Kant gerichteten Metapher Enz I W 8 114). 206
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Weder Kant noch Fichte wollten eine derartige Theorie der allgemeinen Vernünftigkeit der Welt und des Denkens aufstellen. Die Rationalitätsphilosophen wollen sich hingegen von einer solchen überwältigenden Konzeption befreien und von situativ bedingten Formen der Vernünftigkeit, als Rationalität oder Vernunft bezeichnet, ausgehen. Ihr Vorgehen zielt weniger auf systematische Grundlagenarbeit als auf reaktive Theorienbildung (die Hegels System, oftmals als zu starr angesehen, scheinbar verhindert), um Antworten auf dringende aktuelle Fragen zu finden. So machen die zunehmende Internationalisierung (Entwicklung in der Politik, im Völker- und Europarecht, im Bereich »Reisen« etc.) sowie die Fortschritte in der Technik und in unterschiedlichen Kommunikationswegen (Radio, Fernsehen, Internet, Smartphones, schnellere Postwege etc.), womit neue Arbeitsmöglichkeiten entstehen, auf das Phänomen Sprache und Verständigungsprozesse auf eine besondere Weise aufmerksam. 250 Es erscheint beinahe als selbstverständlich, dass das Konzept der kommunikativen Vernunft stark gemacht wird – denn das re-
250 Damit ist die rationalitätsphilosophische These vom »Komplexitätszuwachs«, von dem »heute«, d. h. von den »stark veränderten Bedingungen von Vernunft und Rationalität« – Welsch 1996a: 30 – angesprochen, welcher den Paradigmenwechsel notwendig mache – vgl. Schnädelbach 2007: 137. Doch aus der Komplexität der Lebenswelt folgt nicht analytisch, dass die Forschung sich für ein einziges Paradigma, dasjenige der Verständigung, entschließen soll (nicht nur die Verständigung, auch die Logik, das Bewusstsein, die Stimmlippen, die Augen, das Gehirn, die Welt etc. sind und waren die Bedingungen des Wissens). Ein alternativer Weg ist die Akzeptanz der Vielzahl nebeneinanderstehender Forschungsprogramme (darunter z. B. die Philosophie des Bewusstseins, für die das Phänomen des Sozialen nicht unbedingt erstrangig sein muss; die Hirnforschung, die die Funktionen einzelner Gehirnteile untersucht etc.), die einander ergänzen, kritisieren oder unterstützen. Also eine freie und offene Wissenschaftspraxis mit unterschiedlichen Ansprüchen, die gerade dadurch der wachsenden Komplexität vielleicht doch besser gerecht werden kann. Diese Vielfalt der Perspektiven kann auch von denjenigen, die eine anspruchsvolle Grundarbeit leisten wollen, in ein enzyklopädisches System nach der Art von Hegel gebracht werden – denn es ist nur ein Denken (der unterschiedlichen Wissenschaftler), welches unterschiedliche Gesichtspunkte einnimmt und verschiedene Objekte betrachtet, die sich systematisieren lassen. Einem solchen Projekt darf sich eine einzige Gruppe von Forschern, die nicht dieselben Ansprüche vertreten und sich lieber mit der näheren Lebenswelt und prozesshafter situativer Rationalität beschäftigen will, nicht in den Weg stellen. Wir werden weiter unten sehen, dass es möglich und sinnvoll ist, für eine solche moralische Position zu argumentieren, die den unterschiedlichen Setzungen der Ansprüche verstehend, akzeptierend und sogar dankend gegenübertritt.
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aktive und kulturdeterminierte moderate Rationalitätsdenken steht im Vordergrund, das nicht mit dem Anspruch auftritt, im Hegel’schen Sinne »vernünftig« zu sein.
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Die negative Bestimmung der transzendental-bewusstseinsphilosophisch verstandenen Vernunft im engeren Sinne durch den Ausschluss dessen, was sonst oft mit dem Vernunftbegriff verbunden wird, hat Folgendes ergeben: Sie ist weder (a) auf den Begriff »Rationalität« zu reduzieren – sie kann zwar rationalitätsphilosophisch weiterbestimmt werden, aber nicht in ihrem grundlegenden Tatbestand, bei dem man ohne Termini wie »Vermögen«, »Vorstellung«, »Funktion«, »Tathandlung« etc. nicht auskommen kann; (b) noch auf einen Kulturbegriff reduzierbar – es muss neben ihrer (b) theoretischen Beschreibung und (c) praktischen Anwendung in einer Kultur zu einer gewissen Zeit ein suprakultureller »Rest« annehmbar sein – (a) das Vermögen an sich; (c) und noch mit dem Begriff »Vernünftigkeit« im Sinne Hegels zu vermengen, der die breite Konzeption der Vernunft von Kant und Fichte, die im Medium der Vorstellungsart »Idee« in mehreren Bereichen operiert, nicht aufarbeitet und unter der Vernunft die Vernünftigkeit der Wirklichkeit und die ihr angemessene vernünftige Denkweise versteht. Ausgehend davon haben wir zum Zweck der positiven kontextuellen Bestimmung der Vernunft auf folgende zwei Fragen zu antworten: – »Wir befinden uns im Forschungsprogramm der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie« – was beinhaltet diese Aussage? – Was bedeutet »Vernunft« (im engeren Sinne) im Rahmen des allgemeinen transzendental-bewusstseinsphilosophischen Forschungsprogramms? Oben wurden die Begriffe »Paradigma« und »Forschungsprogramm« vorläufig in unbestimmter Weise (im Sinne: Denkhorizont) verwendet, um zunächst nur auf die Relativität unterschiedlicher Denkrichtungen hinzuweisen, im Rahmen derer geforscht wird. Den Ausdruck Das System der Ideen
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»Paradigma« benutzt sowohl Habermas in seinen oben zitierten Vorlesungen Der philosophische Diskurs der Moderne als auch Schnädelbach in seiner kulturphilosophischen Untersuchung über den Vernunftbegriff, ohne diesen konkret zu bestimmen oder kritisch zu hinterfragen, um einen Wandel von der subjektzentrierten zur kommunikativen Denkweise zu kennzeichnen. Dahinter kann eine implizite Vorentscheidung für ein bestimmtes wissenschaftstheoretisches Modell vermutet werden. Den Ausdruck »Paradigma« hat nämlich Thomas Samuel Kuhn mit seinem Essay The Structure of Scientific Revolutions (1962) geprägt. 251 Darunter versteht er eine wissenschaftliche Leistung (achievement), die (1) neuartig und (2) offen (ungelöste Problemstellungen aufwerfend) genug ist, um einzelne Forscher an sich zu binden, in einem gemeinsamen theoretischen, methodischen, wertrationalen etc. Rahmen zu arbeiten. 252 Beispiele für solche Leistungen sind die Untersuchungen von Kopernikus, die das geozentrische Weltbild ablösen und die Relativitätstheorie von Einstein, die den Blickwinkel auf die physikalischen Phänomene verändert, die bis dahin mit Newtonscher Physik erklärt wurden. Man kann vereinfacht und zusammenfassend folgende drei Momente unterscheiden, die zu einem Paradigmenwechsel im Sinne von Kuhn führen: (1) Zunächst muss ein Paradigma gebildet und etabliert werden. D. h., es muss hinreichend bestimmt werden, welche theoretischen Leistungen, Musterbeispiele, Regeln, Methoden, Elemente und Phänomene zu einer Wissenschaft bzw. zur wissenschaftlichen Praxis einer Forschungsgemeinschaft gehören. Sobald dies geschieht, entsteht eine gesellschaftlich wirksame »Normalwissenschaft«, die dominierenden Ansichten finden sich in den Lehrbüchern wieder. (2) Je erfolgreicher ein Paradigma ist, desto mehr sichert sich die Wissenschaft ab und schließt das Andere aus. Gerade dadurch steigert sich aber das Bewusstsein über die Bedeutung dessen, was der herrschenden Meinung als irrelevant gilt. Die auftretenden Probleme und Anomalien werden entweder ignoriert, ausgegrenzt, für spätere Untersuchungen zur Seite gelegt oder
251 Kuhn habe sich dabei u. a. von dem Begriff »Denkstil« von Ludwik Fleck inspirieren lassen – vgl. Kuhn 1962: vi-vii. 252 Vgl. ebd. 10.
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durch Ad-hoc-Hypothesen erklärt, wodurch die Einheitlichkeit eines Paradigmas zerbricht und sie in eine Krise gerät. 253 (3) Dieser Umstand spielt den neuen Forschergenerationen und »Außenstehenden« in die Hände. Sie können zwar ein »veraltendes« Paradigma nicht wirklich widerlegen, aber eine radikal neue Sichtweise einführen, die verspricht, die ungelösten Probleme besser zu behandeln. Dieses wissenschaftstheoretische Modell liegt in etwa offensichtlich beispielsweise Habermas’ Position zugrunde, der von einem »Übergang zum Paradigma der Verständigung« 254 spricht. Da selbst die radikalste Subjektkritik im Denken von Nietzsche, Heidegger, Bataille und Foucault (Moment (2): Krise (des Subjekt-Denkens)) letztendlich auf unterschiedliche Weisen der subjektphilosophischen Ausgangslage verhaftet bleibe, wie Habermas in Der philosophische Diskurs der Moderne zu zeigen versucht, bleibe nichts anderes übrig, als das »Paradigma der Erkenntnis von Gegenständen durch das Paradigma der Verständigung zwischen sprach- und handlungsfähigen Subjekten« 255 abzulösen (Moment (3): Wechsel zu einem anderen Paradigma), ein radikaler Blickwechsel, um der wachsenden Komplexität in der Gesellschaftsentwicklung gerecht zu werden. Dies ist aber keine alternativlose Auffassung. 253 Die Forscher folgen im Rahmen eines Paradigmas zunächst einer »vorsichtigen Forschungsstrategie«, d. h., sie versuchen in erster Linie, die auftretenden Probleme durch geringfügige theoretische Modifikationen zu lösen (vgl. Andersson 1988: 40 ff.). 254 Habermas 1988: 346. Zumindest kennt Habermas die Position von Kuhn, die im Zusammenhang mit dem Begriff »Paradigma« in Erkenntnis und Interesse erwähnt wird – vgl. Habermas 1973: 165 Fußnote. Schnädelbach verwendet diesen Begriff explizit im Rückgriff auf Kuhn – vgl. Schnädelbach 1994: 39 –, um die Philosophiegeschichte in drei Paradigmen einzuteilen, das (a) ontologische, (b) mentalistische und (c) linguistische – vgl. ebd. 46–76. Der genuine Bereich von (a) sei das Sein, von (b) das Bewusstsein und von (c) die Sprache. Der Gegenstand von (a) sei das Seiende, von (b) die Vorstellungen und von (c) die Sätze/Äußerungen – vgl. die Übersicht ebd. 69. Vgl. auch Apels paradigmatische Rekonstruktion der Philosophiegeschichte (2011) und 2017: 7 ff., die in der Transzendentalpragmatik kulminiere. Auf eine modifizierte Weise (eher im Sinne von »disziplinäre Matrix« des späteren Kuhns und unter Betonung der Möglichkeit des Nebeneinanderbestehens von unterschiedlichen (rational strukturierten) Paradigmen zur selben Zeit (Simultaneität)) verwendet auch Welsch 1996a: 543 ff. den Paradigmenbegriff. Diese Verwendungsweise geht z. T. in Richtung unseres Vorschlages, das Konzept »Forschungsprogramm« von Lakatos für metaphilosophische Untersuchungen fruchtbar zu machen. 255 Habermas 1988: 345.
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Mit Kuhns Theorie sind mehrere Nachteile verbunden, von denen zu unseren Zwecken zwei erwähnenswert sind: Erstens verbindet er mit dem Paradigma-Begriff einen derartigen idealtypischen Allgemeinheitsanspruch, dass die Frage kaum Beachtung findet, ob und inwieweit ein friedliches Nebeneinander von konkurrierenden Paradigmen möglich ist. 256 Zweitens scheint der Paradigmenwechsel eher ein soziokultureller Überzeugungswandel zu sein als ein rationaler Vorgang des konkreten und in die Tiefe gehenden Prüfens des scheinbar veraltenden Paradigmas. Zum zweiten Punkt schreibt Imre Lakatos in The Methodology of the Scientific Research Programmes (1978) 257 etwas überspitzt: For Popper scientific change is rational or at least rationally reconstructible and falls in the realm of the logic of discovery. For Kuhn scientific change – from one ›paradigm‹ to another – is a mystical conversion which is not and cannot be governed by rules of reason and which falls totally within the realm of (social) psychology of discovery. Scientific change is a kind of religious change. The clash between Popper and Kuhn is not about a mere technical point in epistemology. It concerns our central intellectual values, and has implications not only for theoretical physics but also for the underdeveloped social sciences and even for moral and political philosophy. If even in science there is no other way of judging a theory but by assessing the number, faith and vocal energy of its supporters, then this must be even more so in the social sciences: truth lies in power. 258
Es mag also sein, dass einige »Revolutionen« in den Wissenschaften sozialpsychologisch bedingt sind und dass einige »sociologists of knowledge« den wissenschaftlichen Wandel als »truth by [changing]
256 Kuhn unterscheidet zwischen vor- und post-paradigmatischen Phasen. Es bestehen zwar zunächst unterschiedliche Schulen und Denkrichtungen, aber sobald sich eine ausgezeichnete Leistung zeigt, bildet sich eine Normalwissenschaft. Ein Nebeneinanderbestehen von zwei oder mehr Paradigmen lässt sich mit Kuhn eher nur als ein Ausnahmefall denken – vgl. Kuhn 1962: ix. 257 Es handelt sich hierbei um eine posthum von John Worrall und Gregory Currie veröffentlichte Sammlung von einschlägigen Aufsätzen. Der zentrale Abschnitt Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes wurde im Jahr 1970 publiziert. Ihm geht eine kürzere Version Criticism and the Methodology of Scientific Research Programmes (1968, sechs Jahre nach der Arbeit von Kuhn und fünf vor der Erwähnung Kuhns in Habermas’ Erkenntnis und Interesse) voran, die von den Herausgebern nicht in das Band aufgenommen wurde. 258 Lakatos 1978: 9 f.
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consensus« 259 verstehen. Die theoretische und moralische Frage aber, die wir uns in Anlehnung an Lakatos’ Überlegungen stellen können, ist, (1) ob das tatsächlich dem ganzen komplexen Bild der wissenschaftlichen Praxis entspricht und (2) ob das Normalfälle sein sollen. Wie der Paradigmenbegriff von Habermas, Apel und Schnädelbach für die Untersuchung unterschiedlicher philosophischer Standpunkte fruchtbar gemacht wurde, so kann im Gegenzug vorgeschlagen werden, an das konkurrenzfähige Konzept »Forschungsprogramm« (scientific research programme) zu denken. Mit seiner systematischen Einführung hat Lakatos nicht nur der Wissenschaftstheorie nach Popper und Kuhn eine neue Richtung gegeben, die bis in die aktuellen Debatten hinein, etwa um John Worrall, Larry Laudan und Philip Kitcher, fortwirkt. Seine Methodologie wurde auch bereits in Religions-, Literatur- und Wirtschaftswissenschaften genutzt, um die Pluralität der Forschungsansätze und die Logik der Forschung im je eigenen Fachbereich und darüber hinaus präzisier zu fassen. 260 Auch in der Philosophie kann sie dazu verwendet werden. So wie beispielsweise die Erkenntnistheorie oder die Sprachanalyse mit dem Anspruch auftreten, zu einer verbesserten philosophischen Praxis zu führen, kann auch seitens der Metaphilosophie, insbesondere des wissenschaftstheoretisch informierten Diskurses um die Logik der philosophischen Forschung, ein bedeutender Beitrag dazu geleistet werden. Den Anstoß zu einem solchen Diskurs haben Habermas, Apel, Schnädelbach und Welsch gegeben. Der Paradigmenbegriff (mit dem sich eher ein Nach- als Nebeneinander der philosophischen Projekte denken lässt) führte aber in den philosophiegeschichtlichen ReEbd. 8. In erster Linie ist damit Kuhn gemeint. Lakatos’ Theorie haben sich bisher Religions- (vgl. z. B. Nancey Murphy (1999) – vgl. dazu die Stellungnahmen von Reeves (2011) und Russel (2017)), Literatur- (vgl. z. B. Suzanne Black (2003)) und Wirtschaftswissenschaftler (vgl. z. B. Roger E. Backhouse (1998)) für ihre Forschung zu Nutze zu machen versucht. Auf die Kritik (einschließlich der Prüfung ihrer Berechtigung und Plausibilität) an der Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme, etwa von Joseph Agassi (1986) und Gunnar Andersson (1986), man habe, wenn man sich der Wissenschaftstheorie Lakatos’ anschließen will, unbedingt zwischen dem vor-Popperschen Induktivismus auf der einen und dem erkenntnistheoretischen Anarchismus Feyerabends auf der anderen Seite (beides unattraktiv) zu wählen, wollen wir nicht eingehen (vgl. auch Feigl (1971) und Musgrave (1976) sowie Aufsätze der »LSE Position« in Radnitzky/Andersson (1978)). Uns geht es hier darum, Lakatos’ zentrale Gedanken für unsere metaphilosophischen Überlegungen fruchtbar zu machen, die weiter unten durch die Logik der unterschiedlichen Ansprüche ergänzt werden. 259 260
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konstruktionen der ersten drei genannten Autoren zu einer Art Meistererzählung aus der Sicht der kommunikativen Rationalität. Mit dem von Lakatos freigelegten Bild der Logik der Forschung lassen sich hingegen einige einseitige Fixierungen überwinden, die einerseits die Freiheit und andererseits die Komplexität, Pluralität und Diversität in der Philosophie gefährden können. Im Folgenden werden zunächst die Merkmale der Methodologie von Lakatos erörtert. Im Anschluss (5.1 und 5.2) wird mit ihrer Hilfe das von Kant und Fichte initiierte Projekt »Vernunft im engeren Sinne« forschungsprogrammatisch bestimmt. Wir werden sehen, dass die Philosophie aus einer Vielzahl nebeneinander bestehender konkurrierender, kooperierender und sich im Progress oder Zerfall befindender Forschungsprogramme besteht, zu denen das Vermögen der Ideen nicht weniger als die (kommunikative) Rationalität oder die absolute Vernünftigkeit gehört. Im darauffolgenden Punkt (6) wird es dadurch besonders deutlich, dass das Konkurrenzverhältnis zwischen diesen Vernunftkonzepten auf Differenzen in basalen forschungsprogrammatischen Festlegungen beruht, die jeweils nach unterschiedlichen Begründungsstrategien verlangen. Aus denselben und mit ihnen verbundenen Diskrepanzen in Ansprüchen und (Wissens-)Zielen sind auch generell alle Formen der vorgebrachten und möglichen Einwände gegen die Vernunft im engeren Sinne erklärbar. Die forschungsprogrammatische Bestimmung der Vernunft im engeren Sinne bildet somit die Basis für die weitere, metaphilosophisch fundierte Beantwortung der Frage, mit welchen Strategien und inwieweit sie begründet und gegen grundlegende und radikale Kritik geschützt werden kann (6–9). Kommen wir zunächst zu den Merkmalen und den Stärken, die Lakatos’ Forschungsprogrammatik bietet. Sie ist für uns insofern interessant, als sie: (1) auf alle möglichen Wissenschaftsbereiche punktuell bezogen werden kann. Es gibt (explizit nach Lakatos) physische und mathematische, metaphysische, 261 marxistische und psychoanalytische, 262 ethische und ästhetische, 263 wissenschaftstheoretische und -geschichtliche 264 etc. Forschungsprogramme. 265 261 262 263 264
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Vgl. ebd. 47 f., 41 f. und Lakatos 1968: 177–181. Vgl. Lakatos 1978: 8 f. Vgl. ebd. 133 Anmerkung 4. Vgl. ebd. 131 ff., 151 ff. So kann Kuhns Paradigmentheorie als ein eigenständiges
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(2) auf die komplex verschachtelte Makro- und Mikro-Struktur der Wissenschaft aufmerksam macht. Auf einer bestehenden oder zumindest rational einholbaren sowie prinzipiell strittigen forschungsprogrammatischen Festlegung basieren sowohl (I) die Wissenschaft an sich, 266 als auch (II) eine jede Einzelwissenschaft (Physik, Mathematik, Philosophie, Psychologie etc.), als auch (III) bestimmte Forschungsrichtungen innerhalb dieser (z. B. Tiefenpsychologie, kognitive Psychologie, Neuropsychologie etc.), als auch (IV) partikuläre divergierende Reihen von Theorien innerhalb dieser Richtungen selbst. 267 Es ist also ein großer Unterschied, ob man von einem Paradigma (einer bestimmten Leistung, die sich schließlich zu einer »Normalwissenschaft« fortbilden werde) spricht, und wie Schnädelbach nur drei einander ersetzende Paradigmen in der Philosophiegeschichte unterscheidet, 268 oder ob man das organische Ganze der Wissenschaft mithilfe der Methodologie der koexistierenden und konkurriewissenschaftstheoretisches Forschungsprogramm neben dem konkurrierenden Falsifikationismus-Konzept Poppers und dem erkenntnistheoretischen Anarchismus Feyerabends angesehen werden. 265 Dase Offenheit und Breite hat etwas damit zu tun, dass Lakatos das so genannte »Abgrenzungskriterium« (demarcation criterion) des »naiven« Falsifikationismus ablehnt, nach welchem eine Theorie allein und sofort deswegen für falsch erklärt wird, weil es entweder keine oder ihr widersprechende empirische Daten gibt. Die Empirie allein könne jedoch niemals ein ganz verlässliches Abgrenzungskriterium sein und entscheiden, ob etwas als wissenschaftlich oder pseudowissenschaftlich zu gelten habe – es kann alles für eine Theorie sprechen, die von der Mehrheit als wahr angesehen wird und dennoch kann sie falsch sein sowie umgekehrt: niemand kann an eine Theorie glauben, alle Fakten können ihr widersprechen und dennoch ist es möglich, dass sie sich mit der Zeit als richtig erweist. So kann die Ansicht, dass die Sonne sich um die Erde dreht, mit der Erfahrung (z. B. Sonnenaufgänge und -untergänge) übereinstimmen und dennoch nicht der Wahrheit entsprechen. Die Hexerei kann einem Hausphilosophen der frühen Royal Society (Joseph Glanvill) empirisch und sogar experimentell beweisbar zu sein scheinen (vgl. ebd. 2) etc. Lakatos führt daher einen »raffinierten« Falsifikationismus ein, nach dem vielmehr die Qualität der Forschungsprogramme – ihre theoretische und empirische Progression gegenüber ihren Vorgängern und Konkurrenten – für den Fortschritt in den Wissenschaften entscheidend ist – vgl. Merkmal (4). 266 Vgl. ebd. 47. 267 Lakatos selbst macht nur auf die Stufen (I), (III) und (IV) aufmerksam, wobei es ihm in seiner Untersuchung hauptsächlich um die Letztgenannte geht (vgl. ebd.) – es besteht also für uns die Möglichkeit, weiterzudenken und die von ihm offen gelassenen Lücken in der Zukunft zu füllen. 268 Vgl. Schnädelbach 1994: 46–76. Das System der Ideen
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renden Forschungsprogramme auf den Makro- und Mikroebenen rekonstruiert. Der Vorteil des letztgenannten Verfahrens liegt darin, dass man nicht zu Pauschalisierungen gezwungen ist, sondern die bestehende Forschungslandschaft so detailliert hinnimmt, wie sie sich in ihrer ganzen Breite tatsächlich darstellt. (3) mit einer internen Ausdifferenzierung der konstitutiven Bestandteile einer forschungsprogrammatischen Festlegung verbunden ist. Lakatos lädt uns dazu ein, zu überlegen, dass Theorien nicht als Einzelsätze, sondern stets reihenhaft auftreten. 269 Diese drehen sich um einen sogenannten (a) »harten Kern« (hard core), der im Rahmen einer methodologischen Entscheidung festgelegt wird und einen oder mehrere basale Sätze enthält, die vor Widerlegung geschützt werden sollen. Die drei Gesetze der Bewegung bei Newton und das Gravitationsgesetz sind ein Beispiel für ein physisches, die Ansicht Descartes’, die Welt sei ein großes Uhrwerk, für ein metaphysisches Fundament eines Forschungsprogramms. Um diesen harten Kern herum werden zahlreiche Hilfshypothesen gebildet und Ausgangsbedingungen festgelegt. Sie machen einen jederzeit modifizierbaren (b) Schutzgürtel (protective belt) aus. Dieser schützt den Kern des Forschungsprogramms vor seiner Widerlegung, da die Hauptlast der Tests und Gegenbeweise auf ihn übertragen wird. Im Rahmen der (c) negativen Heuristik (negative heuristic) wird nun seine Änderung und Weiterentwicklung hauptsächlich durch auftretende Anomalien bestimmt. Der Forscher sieht sich durch diese gezwungen, andere und bessere Hilfshypothesen einzuführen, um den Hauptpunkt seiner Theorie dennoch als richtig zu erweisen. Lakatos veranschaulicht diesen Prozess an einem ausgedachten Beispiel, das wir uns ansehen wollen, um ein klares Verständnis von der negativen Heuristik zu bekommen: 270 Ein Physiker, der im Rahmen des Newton’schen Forschungsprogramms das Planetensystem Die Bewertungskriterien »Wissenschaftlichkeit«, »Empirizität« und »logische Konsistenz« sind folglich, wenn man kein naiver Falsifikationist sein und keinen Grundfehler begehen will, auf die zusammenhängenden Reihen von Theorien, nicht auf einzelne Theorien selbst anzuwenden – ein Forschungsprogramm kann erfolgreich weiterbestehen, auch wenn einige Teile von ihm (den Kernpunkt ausgenommen) widerlegt werden. Diese können dann durch neuere und bessere ersetzt werden. 270 Vgl. Lakatos 1968: 169 f. und 1978 (ursprünglich 1970): 16 f. Wir orientieren uns an der Version aus dem Jahr 1968, die etwas detaillierter ist. 269
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untersuchen will, wird nicht die drei Bewegungsgesetze und das Gravitationsgesetz (harter Kern = HK) allein deswegen aufgeben, weil einige Beobachtungen ihnen widersprechen. Er geht vielmehr zunächst von einem Schutzgürtel (S1) aus, der aus einer Reihe von aufgestellten Ausgangsbedingungen und Beobachtungstheorien besteht. Nun kann es sein, dass es sich mit einem der Planeten (P1) etwas anders verhält, als eine Theorie, die aus (HK) und (S1) abgeleitet wurde, vorhersagt. Der Physiker wird aus diesem Grund wohl kaum (HK) verwerfen, sondern Hilfshypothesen einführen, um Abweichungen zu erklären – beispielsweise die Existenz eines weiteren Planeten (P2), dessen Masse, Umlaufbahn etc. sich auf (P1) auswirkt. Er wird also den Schutzgürtel von (S1) auf (S2) ändern und von modifizierten Ausgangsbedingungen und Beobachtungstheorien ausgehen, größere und andersartige Teleskope bauen, um die Existenz von (P2) zu beweisen. Wenn (P2) gefunden wird (was auch erst nach sehr vielen Jahren der Fall sein kann), bedeutet das einen Sieg des Forschungsprogramms. Wenn nicht, dann kann ein Physiker oder sein Nachfolger den Schutzgürtel (S2) verwerfen und einen neuen einführen (S3), annehmend, dass eine kosmische Staubwolke (P2) verdecken müsse etc. Man sieht also, dass eine Menge von Theorien, die um (HK) herum gebildet wird, einerseits dazu dient, diesen beim Auftreten von Anomalien durch kreative Änderungen vor seiner Widerlegung zu schützen. Man kann folglich die negative Heuristik als eine methodisch-interne Anweisung zur Suche nach bestmöglichen Erklärungen und Erkenntnissen definieren, um auftretende Probleme zu lösen, ohne basale forschungsprogrammatische Festlegungen aufzugeben. Die (d) positive Heuristik (positive heuristic) versteht Lakatos als den dialektischen Gegenpart zur negativen Heuristik eines Forschungsprogramms. 271 Ein Forscher beschäftigt sich nicht nur damit, den harten Kern zu spezifizieren und auf auftretende Anomalien zu antworten. Er entwickelt auch Strategien und In271 John Worrall erinnert sich, wie er im Kreis mit Imre Lakatos und Elie Zahar sehr lange und ausgiebig über die Methodologie der Forschungsprogramme gesprochen hat. Er war daher sehr überrascht zu sehen, wie wenig Lakatos zu den zentralen Theoriestücken in seinen Publikationen geschrieben hat – so gibt es leider sehr wenige Passagen, auf die wir zurückgreifen können, die die positive Heuristik erläutern und sie haben eher einen Entwurfscharakter – vgl. Worrall 2002: 88.
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struktionen zur Weiterbearbeitung der Hilfshypothesen um den harten Kern – also des Schutzgürtels, des widerlegbaren Teils eines Forschungsprogramms –, die von den auftretenden Gegenbeispielen und Fakten relativ unabhängig sind. 272 Die Anomalien werden entweder (vorläufig) ignoriert oder sie werden im »Office des Theoretikers« antizipiert, wobei eine Ordnung festgelegt wird, wann welches Problem behandelt und erklärt wird. Die positive Heuristik deutet damit auf eine relative Autonomie der theoretischen Wissenschaft hin. 273 Ein Forscher sorgt sich nicht nur (reaktiv) um Anomalien (im Rahmen der negativen Heuristik), die durch Änderungen im Schutzgürtel abgewehrt werden sollen. Er entwickelt auch rein logisch (proaktiv) kraftvolle theoretische Modelle, um so viele Fakten wie möglich zu antizipieren und zu erklären. Lakatos veranschaulicht das an dem Vorgehen Newtons: 274 Newton hat zunächst zur Erklärung des Planetensystems ausgehend von seinem harten Kern (HK), den Bewegungsgesetzen und dem Gravitationsgesetz, mit einem einfachen Modell (M1) gearbeitet – eine fixierte Sonne und ein einziger, punktmäßig vorgestellter Planet, der sich um sie dreht. Dieses war dafür nützlich, das quadratische Abstandsgesetz der Gravitation abzuleiten (ist ein Planet z. B. zwei Mal weiter von der Sonne entfernt, dann sinkt die Anziehungskraft um ein Viertel), widersprach aber dem dritten Bewegungsgesetz (Kraft gleich Gegenkraft). Newton musste (M1) daher durch ein weiteres Modell (M2) ableiten, bei dem sich die Sonne und der Planet um ein gemeinsames Gravitationszentrum drehten. Dann hat er (M2) um weitere Planeten ergänzt (M3), um weitere Gesetze abzuleiten, ferner ist er anstelle von punktmäßiger Vorstellung der astronomischen Objekte von massiven Kugeln ausgegangen (M4) etc. Alle diese Änderungen waren – anders als es bei der negativen Heuristik der Fall ist – nicht durch Fakten und Anomalien, sondern durch Progression in unterschiedlichen Modellkonzepten bestimmt. Man kann folglich die positive 272 Bei seiner Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsgeschichte bestimmt Lakatos das Verhältnis von negativer und positiver Heuristik so, dass die Forscher zunächst mit der Letztgenannten arbeiten – so gut und so lange sie können: »Only when the driving force of the positive heuristic weakens, may more attention be given to anomalies« (Lakatos 1978: 111). 273 Vgl. ebd. 52. 274 Vgl. ebd. 50 ff.
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Heuristik als eine methodisch-interne Anweisung zur fortscheitenden Entwicklung von komplexen theoretischen Modellen definieren, um proaktiv logische Probleme zu lösen und Anomalien vorherzusehen, und zwar ausgehend von den zentralen Festlegungen im harten Kern. (4) Kriterien für Progression und Konkurrenz, Degeneration und Wiederaufnahme der Forschungsprogramme aufstellt. Der wissenschaftliche Erfolg und Fortschritt eines Projektes hängt zum einen (a) von der theoretischen Leistung der Wissenschaftler ab. 275 Werden Reihen von Theorien nur dazu entwickelt, um bereits bekannte Tatsachen in sie aufzunehmen, oder werden bestehende Thesen lediglich linguistisch reinterpretiert, dann degeneriert ein Forschungsprogramm. Denn man kann laut Lakatos von einer theoretisch-progressiven Problemverschiebung nur dann sprechen, wenn die Forscher bedeutende und unerwartete Fakten vorhersehen, an die bisher gar nicht gedacht wurde oder die bisher von vorherigen oder konkurrierenden Forschungsprogrammen ausgeschlossen waren. Daran schließt sich zum anderen (b) die Möglichkeit der empirischen Progressivität an. Eine gelungene theoretische Entwicklung eines wissenschaftlichen Forschungsprojektes produziert einen Überschuss an Vorhersagen, die tatsächlich eintreffen müssen. Die Inhalte einer Theorienreihe müssen auch in Wirklichkeit bestätigt werden, wenn wir von einer empirisch-progressiven Problemverschiebung sprechen wollen. Ein Forschungsprogramm kann folglich als wissenschaftlich und progressiv angesehen werden, wenn es sich zumindest auf der theoretischen Seite im Wachstum befindet; 276 als degenerierend – wenn es keine neuen Vorhersagen produziert, oder solche, die irrtümlich sind und niemals eintreten. Es gibt also kein einfaches Verhältnis zwischen einer Theorienreihe und der empirischen Basis. Vielmehr konkurrieren unterschiedliche Forschungsprogramme langwierig und mit einfallsreichen Strategien um bestmögliche wissenschaftliche Erklärungen und Vorhersagen. Das macht die genaue Einschätzung schwierig, ob eine Theorienreihe sich positiv oder negativ entwickelt – es gibt keine »instant rationality«, und auch kein »quick kill«, keine Meinung einer Gruppe von Forschern 275 276
Vgl. zum Folgenden ebd. 33 ff. Vgl. ebd. 34.
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und kein einzelnes Experiment, welches ein Forschungsprogramm mit einem Schlag für richtig oder nichtig erklären könnte. 277 Die Wissenschaftler tendieren zwar einerseits dazu, sich den scheinbar progressiven Projekten anzuschließen, und Lakatos hält das für intellektuell aufrichtig, insofern degenerierende Theorienreihen kein neues Wissen produzieren und der »raffinierte Falsifikationismus« verlangt, dass sie durch bessere ersetzt werden sollen. 278 Andererseits ist es aber auch genauso erlaubt und gut für die Wissenschaft, den scheinbar verfallenden Forschungsprogrammen anzuhängen und zu versuchen, sie im Rahmen der positiven oder negativen Heuristik wieder in progressive umzuwandeln. Man sollte dabei (a) interne und (b) externe Aspekte beachten, die mit Lakatos’ Unterscheidung der internen und externen Geschichte der Wissenschaft zusammenhängen, auf die wir an dieser Stelle nicht tiefer eingehen wollen: 279 Zu (a): Für eine Wiederaufnahme oder Weitererhaltung eines sich in Degeneration befindenden Forschungsprogramms reichen nach Lakatos allein schon philosophische, oder sogar ästhetische und persönliche Gründe hin. Entscheidend sind v. a. das Talent und die kreative Einbildungskraft der Forscher, die für progressive Problemverschiebungen sorgen sollen, um ihr Projekt wieder konkurrenzfähig zu machen: »The direction of science is determined primarily by human creative imagination 277 Vgl. ebd. 149 f. und 5 f. Die Forschungsprogramme wachsen schon im Vorhinein in einem »Ozean von Anomalien« auf. Einsteins Relativitätstheorie wurde von Walter Kaufmann in demselben Jahr widerlegt, in dem es publiziert wurde, dennoch gilt sie als ein bedeutendes physikalisches Forschungsprogramm. 278 Zur Bezeichnung »raffinierter Falsifikationismus« vgl. die Fußnote zum Punkt (1) oben. In der Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme verschmelzen sich laut Lakatos somit drei Traditionen – vgl. ebd. 38: (1) die empiristische, die darauf aufmerksam macht, dass unsere Erkenntnis von der Erfahrung abhängt; (2) diejenige der Kantianer, von denen der proaktive Zugang zu der Theorie des Wissens und (3) diejenige des Konventionalismus, von dem die Bedeutung der methodologischen Vorentscheidungen zu lernen ist. 279 Unter der internen Wissenschaftsgeschichte versteht Lakatos eine rationale Rekonstruktion des Wachstums des objektiven Wissens, das aus den Perspektiven (1) des Induktivismus, (2) des Konvenionalismus, (3) des methodologischen Falsifikationalismus und (4) der Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme jeweils unterschiedlich erklärt wird. Bei der externen Geschichte handelt es sich dagegen um einen notwendigen Einbezug von äußeren empirischen, zweckrationalen oder auch irrationalen, psychologischen und psychosozialen Elementen, die die wissenschaftliche Entwicklung mitbestimmt haben – vgl. ebd. 102 ff.
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and not by the universe of facts which surrounds us.« 280 Zu (b): Als ein Anhänger eines degenerierenden Forschungsprogramms hat man aber das Problem – auch wenn Vieles dafür zu sprechen scheinen mag, dass es den konkurrierenden Projekten überlegener ist –, dass man weniger Publikum hat, dass man weniger Publikationsgelegenheiten und Unterstützung von Forschungsgemeinschaften erhält. 281 Diese Merkmale, die mit dem Konzept »Forschungsprogramm« verbunden sind, können für eine Art Wissenschaftstheorie der Philosophie 282 (metaphilosophische Forschungsprogrammatik) fruchtbar gemacht und weitergedacht werden, und zwar so, dass wir auf allen Makro- und Mikroebenen (Merkmal (2)) konkrete, hochkomplex zusammengesetzte und strittige programmatische Festlegungen unterscheiden. Dem Konzept der Vernunft im engeren Sinne muss bei einer forschungsprogrammatischen rationalen Rekonstruktion der Philosophie ein fester und eindeutiger Platz zugewiesen werden. 283 Vergegenwärtigen wir uns zunächst erneut unsere aktuelle Hauptfrage: Wir haben im ersten Teil der Arbeit den Begriff der Vernunft als Lakatos 1978: 99. Vgl. ebd. 116 f. Der Schluss – also habe es Lakatos nicht vermocht, den wissenschaftlichen Wandel als rational darzustellen (er sei vielmehr irrational), weil schwächere Programme aus Profitgründen, psychosozialen Gründen etc. gefördert werden können –, den Feyerabend 1975: 259 ff. gezogen hat, und überhaupt ein Pessimismus im Hinblick auf die Wissenschaftsentwicklung wären aber zu voreilig. Die interne Geschichte zeigt vielmehr, dass die Wissenschaft auf lange Sicht von der Konkurrenz der Forschungsprogramme profitiert und dass es möglich sein muss, dass Projekte entweder aufgrund der eintretenden Ereignisse oder neuen Fakten oder aufgrund der Bemühungen der Forscher wiederaufleben (und schließlich für die Öffentlichkeit wieder interessant werden) können. 282 Wie im Merkmal (1) der Forschungsprogrammatik von Lakatos und den dazugehörigen Fußnoten bereits angesprochen, hängt die Bestimmung dessen, auf welche Gebiete sich die Wissenschaftstheorie erstreckt, von dem Abgrenzungskriterium des Wissenschaftstheoretikers ab. Wenn jemand dem Bild anhängt, dass die Wissenschaftstheorie sich allein mit Naturwissenschaften auseinandersetzt, dann geht er oder sie von einem sehr engen (etwa rein auf empirischer Überprüfbarkeit basierenden (d. h. positivistischen, nach Lakatos: naiv-falsifikationistischen)) Wissenschaftsbegriff aus, nach dem, genau genommen, weder etwa »social sciences« noch Geisteswissenschaften allgemein zu den Wissenschaften zu zählen wären. Diesen Begriff teilen jedoch weder Kant (vgl. Sturm 2009: 128–182), Fichte und Hegel noch Lakatos und weitere Wissenschaftstheoretiker, z. B. der Geisteswissenschaften im deutschsprachigen Raum (vgl. z. B. Seiffert (2006)). 283 Das wird im Folgenden nur einen auf unsere Ziele zugeschnittenen Entwurfscharakter haben können. 280 281
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eines Vermögens der Ideen, so wie er von Kant und Fichte entwickelt wurde, herausgearbeitet. Nun gibt es das Problem, dass in der Philosophie und auch im allgemeinen Sprachgebrauch Vieles und Unterschiedliches unter der Vernunft verstanden wird – so haben wir oben das Projekt, mit dem wir uns befassen, beispielsweise von der Rationalitätsphilosophie, kulturrelativistischen Vernunftbegriffen und objektiver Vernünftigkeit abgegrenzt. Jetzt geht es darum, dasselbe als ein strategisch untermauertes Forschungsprogramm zu begreifen, d. h. weder als eine bloß einzelne Theorie noch als ein Paradigma, welches eine Zeit lang die Forschung bestimmte und nun erschöpft und überwunden ist. Sowohl die Begründungsfrage als auch kritische Einwände müssen auf dieses konkrete Forschungsprogramm bezogen werden – erst dann wird es möglich sein, sie auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen. Dank dem Merkmal (2) der wissenschaftlichen Methodologie Lakatos’ können wir folgende Stufen der Forschungsprogramme im Hinblick auf die Philosophie mit strittigen und konkurrierenden Festlegungen unterscheiden, die wir hier nur als eine Orientierungshilfe und als vorläufige Überlegungen zu einer metaphilosophischen Forschungsprogrammatik entwickeln: (I) Die Wissenschaft an sich. Die Wissenschaft im Ganzen kann, wie schon Lakatos überlegte, als ein großes Forschungsprogramm angesehen werden. Seinen Kern könnte z. B. die heuristische Regel von Popper ausmachen – bilde Vermutungen, die mehr empirischen Gehalt haben als ihre Vorgänger. 284 Eine alternative forschungsprogrammatische Festlegung, die hilft, zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu unterscheiden, kann bei Lakatos gefunden werden – bilde solche Theorien(-reihen), die (zumindest in theoretischer, im besten Fall früher oder später auch in empirischer Hinsicht) auf progressive Problemverschiebungen hinauslaufen. (II) Philosophie. Sie soll entweder eine systematische Wissenschaft sein, die sich mit dem »Ergründen des Vernünftigen« (RPh W 7 24) beschäftigt (Hegel), oder eine systematische Lehre, die die Prinzipien des Wissens und der Einzelwissenschaften aus einem festen Punkt ableitet (Fichte), oder sie ist eine (architektonische) »bloße Idee von einer möglichen Wissenschaft, die nirgend in concreto gegeben ist« (KrV A838/B866), so dass man zunächst 284
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Vgl. Lakatos 1978: 47.
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nur bescheiden von philosophischen Denkversuchen sprechen kann (Kant), 285 oder sie soll eine Art unsystematische (sowie nicht positivistische) Psychologie der Lebenseinstellungen sein, die den grundlegenden Motiven und Arten des Willens zur Macht hinter den Phänomenen nachspürt (Nietzsche) etc. (III) Richtungen und Schulen innerhalb der Philosophie. Diese können einerseits durch die forschungsprogrammatischen Festlegungen auf der Ebene (II) bedingt sein. So ist z. B. die philosophische Anthropologie, bei der es u. a. um den Leib und psychologische Determinationen geht, für Hegel ein Teil der gesamten Exposition der vernünftigen Strukturen des Ganzen. Andererseits können die Festlegungen auf der Ebene (II) selbst als bestimmten Richtungen zugehörig angesehen werden (sie sind eben nicht »neutral«) – z. B. der absoluten / objektiven Metaphysik oder der kritischen Metaphysik im transzendentalen Rahmen, der Transzendentalphilosophie, der Lebensphilosophie etc. 286 Andererseits können die einzelnen Richtungen oder Schulen auf Festlegungen im Hinblick auf (II) verzichten – und sich nur mit ihrem eigenen Gegenstand beschäftigen – oder diese strategisch und nicht offenkundig genug einführen. So können beispielsweise die soziologisch orientierten Philosophen dafür plädieren, dass das Paradigma der subjektiven Erkenntnis endlich durch dasjenige der vorrangigen Intersubjektivität ersetzt werden soll – ein Anspruch, den sie wohl nicht nur an sich selbst (auf der Ebene (III)) stellen. Eine jede Richtung oder Schule muss zumindest retrospektiv forschungsprogrammatisch rekonstruierbar sein. Wer selbst eine Richtung oder Schule begründet, macht sich im Normalfall schon im Vorhinein darüber Gedanken. Ein gutes Beispiel dafür ist die methodologische Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre von Fichte. Wir finden dort – wie im ersten Teil bereits erörtert, ohne von der Terminologie von Lakatos Gebrauch zu machen – sowohl die Überlegungen zum harten Kern (im menschlichen Geist ist ein geordnetes System, das sich von
285 Hegel schreibt dazu: »Kant wird mit Bewunderung angeführt, dass er Philosophieren, nicht Philosophie lehre; als ob jemand das Tischlern lehrte, aber nicht, einen Tisch, Stuhl, Tür, Schrank usf. zu machen« (Aphorismen W 2 559). 286 Dass solche »Etikettierungen« nicht immer unproblematisch sind, setzen wir hier natürlich voraus.
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einem Grundsatz ableiten lasse), als auch zur positiven Heuristik (Übertragung der Gewissheit des Grundsatzes auf andere Sätze, Umgang mit logischen Inkonsequenzen etc.). Die Anhänger einer philosophischen Richtung müssen sich ihrerseits zumindest über die zentralen forschungsprogrammatischen Festlegungen im Klaren sein, die im harten Kern betont und angelegt sind. Ein überzeugter Sprachanalytiker muss bei seiner Forschung davon ausgehen und den Punkt stark machen, dass die Reflexion über die Sprache für unsere Erkenntnis unabdingbar sei, ein Transzendentalpragmatiker, dass die Philosophie und Ethik aufgrund der Unhintergehbarkeit der Regeln der vernünftigen Argumentation letztbegründet sei. Ein wissenschaftstheoretischer Rationalist (in Anknüpfung an Popper und Lakatos) muss seine Thesen ausgehend davon aufstellen, dass die Forschung rational rekonstruierbar sei, ein Anarchist (in Anknüpfung an Feyerabend), dass sie hauptsächlich durch irrationale Vorgänge bestimmt sei etc. 287 Die einzelnen Richtungen und Schulen oder ihre Elemente können auch kombiniert und verschmolzen werden (zur sprachanalytischen Hegel-Auslegung, transzendentalen Phänomenologie, phänomenologischen Metaphysik etc.). (IV) Einzelne Theorienreihen. Wie die Ebenen (II) und (III), so sind (III) und (IV) besonders eng miteinander verschachtelt. Eine Theorienreihe gibt entweder (a) allererst die Richtung vor, in die geforscht werden soll, oder (b) sie entsteht im Rahmen eines bestehenden Programms mit einem bereits festgelegten harten Kern. Sie kann auch manchmal (c) in verwandten oder sogar ganz verschiedenen Richtungen auftauchen, so dass es möglich ist, sie als ein richtungsübergreifendes (oder sogar allgemein interdisziplinäres) Forschungsprogramm mit einer zentralen unaufhebbaren Festlegung anzusehen. Veranschaulichen wir uns das am besten an der Theorie der Vernunft (im engeren Sinne) selbst: Dass es Ideen gibt und dass der Mensch sie auffassen kann, ist, wie wir am Anfang des ersten Teils der Arbeit festgestellt haben, die Bedingung der Vernünftigkeit der Seele und die Vorausset287 Es ist also normal, dass jedes Forschungsprogramm einen Schwerpunkt setzt, bestimmte Ansprüche vertritt und mit anderen um die Erklärung bestimmter Phänomene konkurriert. Problematisch wird es aber, wenn fremde Ansprüche nicht klar begriffen und dabei eigene Festlegungen verabsolutiert werden, wie wir sehen werden.
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zung aller Voraussetzungen in der Philosophie Platons – wer sie radikal ablehnt, wird auch der Argumentation von Sokrates nicht folgen können. Man kann diese minimal gehaltene Bestimmung (es gibt Ideen, wie z. B. das Gute, die aufgefasst werden können) als den harten Kern der Theorie der Ideen überhaupt ansehen (ungeachtet dessen, was mit »Sein« und »Auffassen« genau gemeint ist). Nun unterscheidet sich das Platonische Forschungsprogramm von dem Kantischen. Kant muss die Ideenlehre, auf die er direkt zurückgreift, so uminterpretieren, dass sie mit der grundlegenden Festlegung übereinstimmt, dass wir nur Erscheinungen und keine Dinge an sich erkennen können. Das tut er, indem er empirische und apriorische Elemente des Bewusstseins (des Gemüts) hinsichtlich ihrer konkreten Funktionen untersucht. Die Vernunft (im engeren Sinne) ist als ein Vermögen für die Ideen zuständig, die ausgehend von der Kantischen Erkenntnistheorie in unterschiedlichen Bereichen nur immanent gebraucht werden können (andernfalls irrt sich die Urteilskraft). Die Theorienreihe zur reinen Vernunft in den Kantischen Schriften bildet somit eigentlich nicht den harten Kern, sondern entsteht im Rahmen des grundlegenden kritischen Vorhabens, in dem unterschiedliche Vermögen und Bedingungen der Erkenntnis der Reihe nach untersucht werden. 288 Etwas anders sieht es bei Fichte aus. Wir haben oben festgestellt, dass Fichte das Grundprinzip der Wissenschaftslehre als reine Vernunft (absolutes Ich, Freiheit) bestimmt, die ursprünglich, vor ihrem Gebrauch in unterschiedlichen Bereichen für sich selbst und von sich selbst ein Bild entwirft. Dies ist die höchste geistige Handlung, von der alle anderen Bewusstseinshandlungen abgeleitet werden sollen. In dieser übergreifenden Theorienreihe sind alle drei genannten Merkmale versammelt. Sie ist (c) richtungsübergreifend – es fanden, von Platon ausgehend, mit Kant und Fichte zwei grundlegende Problemverschiebungen statt, wobei die minimalste Grundannahme aufrecht erhalten wurde: Die erste (Kant) im Verlauf der Entwicklung eines Forschungsprogramms mit einem bereits festgelegten harten Kern (b), die zweite (Fichte) führte
288 Gleichwohl ist das Interesse an den Funktionen der reinen Vernunft das Hauptmotiv hinter Kants Schriften.
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allererst zum Grundstein eines anders gestalteten Projektes (a), das sich aber dennoch an zentralen Festlegungen von (b) orientiert.
5.1 Forschungsprogrammatische Bestimmung der Vernunft im engeren Sinne Wenn wir uns also als Anhänger oder Interessierte der von Kant und Fichte modifizierten Theorienreihe der Ideen einem konkreten forschungsprogrammatischen Platz zuordnen wollen, müssen wir Folgendes sagen: (I) Es handelt sich um eine wissenschaftliche Untersuchung, insofern bei Kant und Fichte progressive Problemverschiebungen stattfinden (mehr dazu unter 5.2). (II) Und zwar im Rahmen einer Philosophie, die als eine systematische Wissenschaft verstanden wird. (III) Das gemeinsame Forschungsprogramm von Kant und Fichte lässt sich trotz punktueller und z. T. gravierender Abweichungen als dasjenige der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie oder der kritischen Metaphysik (des Mentalen) 289 bezeichnen. (IV) Die Theorienreihe zur Vernunft im engeren Sinne lässt sich als ein Forschungsprogramm innerhalb der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie begreifen. Schauen wir uns zunächst die forschungsprogrammatischen Festlegungen auf der Stufe (III) an, in derem Rahmen die Vernunft im engeren Sinne behandelt wird. Wir wollen sie auf eine freie Weise (also bewusst lediglich plakativ) als die minimalsten Anforderungen, auf die man sich trotz unterschiedlicher Systemansätze von Kant, Fichte und z. B. auch Reinhold einigen kann, rekonstruieren, und den von Lakatos (Merkmal (3)) unterschiedenen Momenten zuordnen. Sie können tiefer und detaillierter ausdifferenziert werden, es können ferner mehrere alternative Formulierungsvorschläge ausdiskutiert werden, was wir an dieser Stelle aber nicht machen wollen, da es uns lediglich um eine grundlegende forschungsprogrammatische
289 Der Zusatz »des Mentalen« ist ein sinnvoller Vorschlag von Stefan HeßbrüggenWalter (2004). Man kann auch die Bezeichnung formaler oder kritischer (vgl. Prol AA IV 375) oder transzendentaler Idealismus wählen (vgl. ZwE GA I/4 227) – uns geht es aber vielmehr um die allgemeinste programmatische Form, wie diese Position dargestellt wird, und die gewählten Bezeichnungen sind im Hinblick auf unsere Ziele passender.
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Einordnung unseres Themas zum Zweck der metaphilosophischen Reflexionen geht. 290 Name des Forschungsprogramms: Transzendentale Bewusstseinsphilosophie, alternative Bezeichnungen: kritische Metaphysik (des Mentalen). A. Harter Kern: Menschen verfügen über ein Bewusstsein, welches mehrere unterscheidbare Funktionen erfüllt, die an verschiedene Vorgänge gekoppelt sind, die thematisiert und insofern zum einer wissenschaftlichen Untersuchung gemacht werden können. Wir müssen uns die Gesamtheit der notwendigen Bedingungen unseres Wissens genau ansehen, um die Möglichkeiten und die Grenzen unserer theoretischen, praktischen und ästhetischen Erkenntnis zu begreifen. Wir entdecken sie nicht in der gegebenen Wirklichkeit, sondern in uns – unser Bewusstsein funktioniert systematisch nach bestimmten Gesetzen. Seine (konstitutiven und regulativen) Leistungen sind maßgeblich dafür, dass wir überhaupt von einer gegebenen Wirklichkeit (ferner: vom moralisch Guten, vom Schönen etc.) sprechen können. B. Positive Heuristik: Wir haben unterschiedliche Möglichkeiten, die Funktionen und Gesetze unseres Bewusstseins transzendentalphilosophisch zu explizieren: Entweder können wir deduktiv vorgehen und bei der höchsten Bewusstseinsleistung ansetzen (Fichte folgend) oder einen Grundsatz des Bewusstseins analysieren (Reinhold folgend) oder wir können sie explorativ nach Bereichen ordnen und schrittweise behandeln (Kant folgend). Je nach der gewählten Methode werden unterschiedliche Probleme vorhergesehen, theoretische Modelle und Lösungsansätze entwickelt. Für Kant stellt sich z. B. im Laufe der Entwicklung der
290 Selbst Lakatos behandelt unterschiedliche Beispiele für Forschungsprogramme eher plakativ als detailliert. Was den harten Kern der Metaphysik Descartes’ ausmacht, beschreibt er beispielsweise mit nur einem Satz – vgl. Lakatos 1978: 41. Dennoch ist die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme, auch allein schon in ihren Grundzügen, eine gute Orientierungshilfe, wenn wir die wissenschaftliche Rationalität punktuell und systematisch bestimmen wollen.
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Kritiken automatisch die Frage, wie die Vermögen koordiniert sind und Fichte muss zeigen, wann die Deduktion vollständig und maximal schlüssig ist, wann alle Fragen zufriedenstellend beantwortet sind, und entwickelt mehrere Darstellungen der Wissenschaftslehre. In der positiven Heuristik wird die Ordnung festgelegt, wann welche Themen abgehandelt werden. Wenn ein Forscher sich das Ziel gegeben hat, die Funktionen und Gesetze des Bewusstseins zu untersuchen, dann wäre es eine selbstzerstörerische Inkonsequenz, sich auf einmal mit der Anthropologie oder mit Alltagsweisheiten, mit der Erfahrung des Mitmenschen durch Spiele, mit Regeln des Verhaltens in der Öffentlichkeit, mit politischen Umständen, mit der Sprache und Argumentationsstrategien etc. zu beschäftigen. Die Festlegungen im harten Kern sind also dafür maßgeblich, wie der Forschungsplan eines zielstrebigen Wissenschaftlers aussehen wird. Wenn beispielsweise die Thematisierung der Bewusstseinsleistungen, die dafür notwendig sind, dass wir praktische Regeln und Gesetze bilden können, planmäßig an der Reihe ist, dann werden in der Kritik der praktischen Vernunft explizit diese zum Gegenstand gemacht. Es wird nicht von dem Forschungsprogramm abgewichen und es werden nicht auf einmal »Alltagsweisheiten« entwickelt, wie etwa, dass man allein nach dem kategorischen Imperativ leben soll – das ist gar nicht das Thema und Kant würde so etwas auch gar nicht behaupten (vgl. TP AA VIII 275 ff. und 278 ff.). Auch werden nicht auf einmal soziale Strukturen, Diskursregeln etc. analysiert. Das ist im Plan entweder nicht vorgesehen (weil die Aufmerksamkeit hauptsächlich den Bewusstseinsleistungen gilt) oder es geschieht in Form von Anmerkungen und Exkursen, die als solche erkennbar sein müssen. So handelt es sich z. B. bei den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters von Fichte um eine Schrift, in der sich zwar die Erkenntnisse aus der Wissenschaftslehre wiederspiegeln, in der aber die Geschichte und die aktuellen Zustände seiner Zeit thematisiert werden. Und Kant hält entsprechend exkursiv Vorlesungen über die Pädagogik und Anthropologie. Damit am Ende konkretes Wissen zu einem Gegenstandsbereich entsteht, muss sich ein Forscher also persistent an den harten Kern und an die festgelegte positive Heuristik halten. C. Negative Heuristik: Bei den metaphysischen Forschungsprogrammen sind laut Lakatos hauptsächlich die (logischen) Widersprüche (»Anomalien«) das Mo228
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vens der Entwicklung. 291 Diese sind in der positiven Heuristik weitestgehend vorhergesehen oder werden im Bearbeitungsverlauf (im Rahmen eines Werkes oder nach seiner Fertigstellung) eigenständig entdeckt und gelöst. 292 Für den Erfolg des Forschungsprogramms der transzendentalen Philosophie sind daher solche Kriterien wie Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit besonders maßgeblich, wobei eine grundlegende Möglichkeit, sich in der Darstellung zu irren (Fallibilität), eingeräumt wird. 293 Wie sieht es aber mit den »Anomalien« aus, die unverhofft auftauchen? Offensichtlich wird in der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie so etwas wie ein zukünftig auftretendes bestätigendes oder widerlegendes Ereignis (wie die berechnete tatsächliche Rückkehr des Halleyschen Kometen für die Newton’sche Gravitationstheorie ein Erfolg war) kaum erwartet. 294 Es ist vielmehr die Kritik, die zur Entdeckung von möglichen Widersprüchen oder Schwächen und zur Entwicklung von Lösungsansätzen im Rahmen der negativen Heuristik führen könnte. Man kann folgende Arten von Kritik unterscheiden: A. Interne Kritik von Anhängern eines Forschungsprogramms auf der Ebene (III), in unserem Fall der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie. Beispiel: Fichtes Kritik an Reinholds Vorstellungsvermögensphilosophie. 295 Fichtes System entwickelte sich nicht nur im Laufe seiner intensiven Beschäftigung mit Kant, sondern auch Vgl. Lakatos 1968: 180 und ders. 1978: 42. Bei Fichte sind sie z. B. sogar teilweise (als vorgesehene) methodologisch in das System selbst eingebaut – was man insbesondere an der Idealismus-Realismus-Dialektik im theoretischen Teil der ersten Wissenschaftslehre und am Anfang derjenigen von 1804/II sehen kann. Vgl. zum Idealismus-Realismus-Verhältnis in der klassischen deutschen Philosophie Pluder (2013). 293 So schreibt z. B. Fichte – »nie darf man auf Infallibilität Anspruch machen« (BWL GA I/2 146). 294 Es sei denn die Naturwissenschaften (die Hirnforschung und die Entwicklung der künstlichen Intelligenz) werden irgendwann neue Problemverschiebungen möglich machen – vgl. den Punkt zur naturwissenschaftlichen Perspektive auf die Begründungsfrage unten. 295 Alternative Bezeichnungen, die man bei Reinhold im Prozess der Entwicklung seiner Gedanken zwischen etwa 1789 und 1794 findet, auf den wir nicht detailliert eingehen werden, sind: Elementarphilosophie, Philosophie der Philosophie, Philosophie ohne Beinamen und Fundamentallehre. Dass Fichte in seinen Vorüberlegungen zur Wissenschaftslehre von »meiner ElementarPhilosophie« (EM GA II/3 24) spricht und regelmäßig auf Reinhold eingeht, zeigt, wie sehr er von ihm beeinflusst war. Zu 291 292
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mit Reinhold und dem Fundament seiner Philosophie, dem so genannten Satz des Bewusstseins, von dem aus alle grundlegenden Funktionen des Bewusstseins, die man bei Kant findet, abgeleitet werden sollten: »Im Bewusstsein wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beide bezogen.« 296 Einer der zentralen Kritikpunkte von Fichte bestand darin, dass Reinhold sein Grundprinzip direkt nach der Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft entwickelt hat und es demnach nur eine partielle Gültigkeit beanspruchen könne, nämlich im Hinblick auf die theoretische Philosophie, für die der Vorstellungsbegriff sehr wichtig ist (sonst spricht man eben, wie Fichte, von Bewusstseinshandlungen, deren höchste die Tathandlung ist und unter die neben den Vorstellungen auch z. B. die Willensakte und die Gefühle fallen). So schreibt er an Reinhold: »Vor Kant, und Ihnen war keine W.L. möglich; aber ich bin von Ihnen fest überzeugt, daß, wenn Sie Ihr System erst nach Erscheinung der drei Kritiken gebildet hätten, wie ich – Sie die Wissenschaftslehre gefunden hätten« (2. Juli 1795 GA III/2 346). Das Fehlen der hinreichenden Fundierung der praktischen und ästhetischen Seite ist eine der »Anomalien« im Reinhold’schen System, die spätestens durch die Kritik und die Entwicklung eines alternativen Forschungsprogramms (auf der Ebene IV – der Wissenschaftslehre Fichtes) im vollen Umfang ihrer Bedeutung sichtbar wurde. Sie war offensichtlich so gewichtig, dass Reinhold (im Rahmen der negativen Heuristik) keine ausreichend plausiblen Hilfstheorien entwickeln konnte, um sie in Einklang mit seinen Grundthesen zu bringen. 297 Er gab sein Forschungsprogramm auf und schloss
Reinholds Philosophie vgl. insbesondere Bondeli (1995), aber auch Jaeschke/Arndt (2012), Breazeale (2008), Franks (2008) und Henrich (1989). 296 Reinhold 1790: 113. Für Reinhold stellt dieser Satz ein Faktum dar, das jedermann introspektiv feststellen kann, der auf sein Bewusstsein grundlegend reflektiert. 297 Silvan Imhof macht darauf aufmerksam, dass Reinhold schon am Anfang seines Projektes die Begriffe des Begehrens und des Begehrungsvermögens bloß ad hoc an seine Theorie des Vorstellungsvermögens angeknüpft habe. Sie stellen »nicht nur eine äußerliche Anomalie dar, sondern es wird auch gar kein zwingender, systematischer Zusammenhang zwischen den Theorien des Erkenntnis- bzw. Vorstellungsvermögens und der Theorie des Begehrungsvermögens hergestellt« – Imhof 2012: 229. Reinhold habe bis ins Jahr 1794 an der Lösung des Problems gearbeitet, leider mit einem nur geringen Erfolg – vgl. ebd. 245 ff.
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sich laut seinem Bekenntnisbrief an Fichte vom 14. Februar 1797 dem Projekt der Wissenschaftslehre an. Externe Kritik von mehr oder weniger »Außenstehenden« oder von den Urhebern oder Anhängern anderer Forschungsprogramme. Diese ist entweder (a) wohlwollend bis neutral, teilweise oder kaum an dem Erfolg des kritisierten Forschungsprogramms interessiert, oder (b) sie beruht auf der Ablehnung von zentralen Festlegungen der Konkurrenten. Die Ablehnung ist entweder (b1) moderat bis basal oder (b2) negativ-radikal. Beispiel für (a): Kritik an Fichtes unzureichender Aufmerksamkeit auf das religiöse Bewusstsein. Der Übergang vom Modell 1 zum Modell 2 erfolgte, wie wir es oben kurz angesprochen haben, u. a. aufgrund der Kritik seiner Zeitgenossen (z. B. von Forberg – er hat seine Kritik wohlwollend formuliert), dass das absolute Ich das Sehnen nach der Absolutheit letztendlich nicht befriedige. 298 Das hat nun keineswegs dazu geführt, dass Fichte den harten Kern des Forschungsprogramms seiner Variante der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie aufgegeben hat. Vielmehr hat er strategisch im Rahmen der negativen Heuristik zum Schutz des Grundprinzips die Ausgangsbedingungen zum Einstieg in sein System geändert: Am Anfang steht nach wie vor die Vernunft – der Wissenschaftslehrer fordert aber zuerst dazu auf, einen Umweg über die reinste Vernunftidee (das Absolute, reines Sein, Gott) zu machen und konsequent bis zur Sichselbstsetzung der Vernunft weiterzudenken. Ein positiver Effekt dieser vermittlungstechnischen Einführung war die Einsicht in die relative Autonomie des religiösen Standpunktes. Ein unmittelbares Sich-Wenden zur Vorstellung Gottes, ein Sich-Aufheben im geistigen Objekt, welches zwar (theoretisch) ein bloßer Vernunftbegriff bleibt, dem aber (praktisch) durch Liebe und aufrichtige Lebensführung Realität verliehen wird, steht über der Ansicht, das Dasein Gottes sei in Hinsicht auf das Sittengesetz zu postulieren. Diese Einsicht führte nicht zur Widerlegung des harten Kerns der Wissenschaftslehre, sondern zum Elaborieren von neuen Hypothesen im Rahmen der negativen Heuristik, die noch mehr Licht auf die Funktionen der Vernunft und ihre systematischen Zusammenhänge warfen.
Vgl. Forberg (1797).
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Beispiele für (b): Hegels Kritik an Kant und Fichte war nicht negativ-radikal, sondern basal (b1). D. h., die Ergebnisse ihrer Philosophie wurden als grundlegend bedeutend eingestuft, obwohl beide nicht von der objektiven Vernünftigkeit ausgingen – um das zu tun, müssten sie ihre Projekte grundlegend verändern. Auch die Kritik derjenigen Rationalitätsphilosophen, die sich um eine soziologisch und sprachphilosophisch orientierte Transformation der Transzendentalphilosophie bemühen, ist nicht negativ-radikal, insofern eine Problemverschiebung hinsichtlich der Grundthesen vorgeschlagen wird. Diejenige Kritik aber, die sich grundlegend und keine äquivalenten Alternativen akzeptierend oder vorschlagend gegen die systematische Philosophie, die Vernunft oder Vernünftigkeit richtet, ist (b2) zuzuordnen. Die Anhänger oder Interessierten müssen im Umgang mit (b) bestimmte Strategien entwickeln, um das transzendental-bewusstseinsphilosophische Forschungsprogramm im Rahmen der negativen Heuristik zu verteidigen. Als die minimalsten und elementarsten Voraussetzungen, die zum Forschungsprogramm »Vernunft im engeren Sinne« (Ebene IV) im Rahmen der transzendentalphilosophischen Bewusstseinsphilosophie (Ebene III) gehören, können die Folgenden angesehen werden – wobei auch hier, wie auf der Ebene III, andere Formulierungen möglich sind, die wir nicht in Erwägung ziehen wollen (bewusst plakativ bleibend – denn es geht uns hauptsächlich darum, zu lernen, wie die Logik der Forschungsprogramme in der Philosophie funktioniert): Name des Forschungsprogramms: Vernunft (im engeren Sinne). A. Harter Kern: Es gibt Ideen und sie können aufgefasst werden. Es ist möglich, unterschiedliche Vorstellungsarten ihrem Reinheitsgrad nach zu unterscheiden. Da es offensichtlich eine tatsächlich ausübbare Fähigkeit gibt, die reinsten Formen der Vorstellungen zu erzeugen und zu verwenden, kann man sie Vernunft (im engeren Sinne) nennen und zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung machen.
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B. Positive Heuristik: Die Ideen kann man je nach dem Gebiet, für das sie gelten, und den Funktionen, die sie erfüllen, in Arten einteilen. Dies kann entweder koordinativ geschehen, so wie bei Kant, der im Zusammenhang der unterschiedlichen Schriften immer wieder die Aufgaben der Vernunft im engeren Sinne unter entsprechenden Gesichtspunkten thematisierte. Oder man kann deduktiv vorgehen und mit der Ideenbildung der Vernunft von sich selbst beginnen, deren Wesen darin bestehen soll, dass sie sich selbst setzt, so wie Fichte. Das letztgenannte Verfahren hat schließlich dazu geführt, dass die Vernunftbegriffe mit Hilfe des Modells der fünf Sphären des Vernunftgebrauchs hierarchisch geordnet werden konnten. Dabei sollte man das (a) Vermögen der Ideen von seiner (b) theoretischen Beschreibung und (c) praktischen Anwendung unterscheiden. Kant darf (hinsichtlich (b)) Platons Auffassung der Ideen und den unordentlichen Gebrauch dieses Begriffs zur Bezeichnung aller Vorstellungsarten überhaupt im Rationalismus und Empirismus kritisieren; Fichte darf sagen, dass Kant nicht systematisch genug verfährt und dass er von der Selbstsetzung der Vernunft ausgehen soll. Ferner: Kant darf (hinsichtlich (c)) behaupten, dass sich die Urteilskraft derer irrt, die die Ideen hypostasieren oder glauben, man soll nach den kategorischen Imperativen allein leben; Fichte darf Gesellschaftskritik äußern und meinen, seine Zeitgenossen interessieren sich kaum für die Ideen (wenden sie kaum an). Dass es (a) ein Vermögen der Vernunftbegriffe schlechthin gibt, ist aber im Forschungsprogramm Vernunft (im engeren Sinne) im Rahmen der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie eine basale unbestreitbare Annahme, die geschützt wird, und relativ unabhängig von dem ist, was in der positiven Heuristik betreffend (b) und (c) entwickelt oder geändert wird. So war und ist beispielsweise die Gerechtigkeit eine (einfache praktische) Idee der Vernunft, auch wenn man mit ihrer jederzeit kritisierbaren Beschreibung oder Anwendung nicht einverstanden sein kann. C. Negative Heuristik: Mögliche »Anomalien« im Hinblick auf das Forschungsprogramm Vernunft (im engeren Sinne) treten in Form von Kritik auf und for-
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dern Strategien zum Schutz seines harten Kerns. Solche Einwände, Interpretationen oder sogar Missverständnisse wie: – Vernunft sei nie ohne Sprache möglich, worauf Johann Georg Hamann in der Metakritik über den Purismus der reinen Vernunft aufmerksam machen will, 299 oder die Existenz der Sprache, der Kommunikationsgemeinschaft und der Außenwelt sei so grundlegend, dass das Fürsichsein des Ichs sich als eine bloße Illusion entpuppe, wie Karl-Otto Apel u. a. im Hinblick auf Fichte schreibt; 300 – reine Vernunft sei eingebildet, was Garve in seiner Kant-Rezension behauptet hat, oder sie sei eine pure Erfindung der Philosophen, was Fichtes Zeitgenossen geglaubt haben sollen (vgl. GdgZ GA I/8 216 f.), oder eine bloße heuristische Fiktion (ein Interpretationskonstrukt), was Hans Lenk annimmt, oder, nach Hans Alberts Diagnose, schlechthin (als reine) nicht-existent; 301 – Vernunftgebrauch ziehe letztlich irgendeine Form des Machtmissbrauchs nach sich, Vernachlässigung von sich selbst, von den Mitmenschen, von bestimmten Themen etc. worauf z. B. Max Stirner, Nietzsche und andere hinweisen wollen, führen nicht etwa zur Widerlegung des Vernunftvermögens (a), sondern treffen (b) seine Beschreibung oder (c) seine konkrete Anwendung. Sie »erschüttern« also – wenn sie stark oder provokativ genug sind – vielmehr den »Schutzgürtel« um den harten Kern herum, machen aufmerksam auf Probleme, Defizite oder Unklarheiten, auf die im Rahmen der negativen Heuristik eingegangen werden kann, wenn sie nicht bereits in der positiven Heuristik behandelt wurden. Zu ihrer Bearbeitung war bzw. ist die Kreativität, »creative imagination« 302, von den Urhebern des Forschungsprogramms oder von den Anhängern oder Interessierten gefragt. Fichte stellt z. B. in seiner Schrift über die Sprachfähigkeit und den Ursprung der Sprache (1795) die These auf, dass zur Vernunft die »Idee der Sprache« (Sprache GA I/3 103) gehört, die sich mit dem Mitteilungsbedürfnis und dem Wachsen des Abstraktionsgrades der Zeichen (dem Übergang von einer bildhaften Ursprache zur Gehörsprache) entwickelte – bis schließlich in unterschiedlichen Sprachen auch die Ausdrücke wie 299 300 301 302
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Vgl. dazu insbesondere Oswald Bayer (2002). Vgl. Apel 1988: 445 ff. Fußnote 90 und 448. Vgl. Garve 1782: 189, Lenk 1986b: 266 f. und Albert 1968: 109. Lakatos 1978: 99.
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(reines) Sein (der Vernunft), das Ich, die Welt, Gott etc. entstanden (vgl. ebd. 111 ff.). 303 Ludwig Noiré schreibt das Werk Die Lehre Kants und der Ursprung der Vernunft, in dem er versucht, die Kantische Philosophie durch eine z. T. empirisch orientierte Studie zur Entstehung der Vernunft und der Sprache zu bestätigen. 304 Im Hinblick auf den Einwand von Apel könnte man sagen, dass das reine Fürsichsein der Vernunft bei Fichte tatsächlich (so wie es sich in der nachträglichen Reflexion auf die Tathandlung erschließen muss) an die Sprache (sogar an die Sprachgeschichte als Kommunikationsgeschichte aufgrund des Bedürfnisses, etwas den anderen mitzuteilen und passende Bezeichnungen zu finden (vgl. Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache)), die Kommunikationsgemeinschaft und die Außenwelt rückgekoppelt ist, aber auch an die Logik, den Leib, die Gefühle, an das gesamte System der Handlungen des menschlichen Geistes überhaupt – das sind conditiones sine quae non, von denen nur vorläufig abstrahiert wird, um sie deduktiv einzuholen. Dass von ihnen nicht ausgegangen wird, heißt nicht, dass ihnen keine absolut unhintergehbare Notwendigkeit und kein bedeutender Wert eingeräumt werden. Das wäre ein Fehlschluss (mit der Prämisse: Wenn X nicht sofort ausgesagt wird oder im Text fett markiert wird, habe es kaum oder gar keine Bedeutung). Was wichtig ist oder nicht, erschließt sich aus der Methode und dem Gesamtwerk eines Autors. Die Kritik von Apel deckt somit nicht wirklich eine versteckte »Anomalie« im Fichte’schen System auf. Sie dient vielmehr dazu, strategisch die Überzeugung mitzuteilen, dass die zentralen forschungsprogrammatischen Festlegungen der Transzendentalpragmatik überlegener seien als diejenigen eines konkurrierenden Forschungsprogramms. 305 Dennoch kann diese Kritik die Anhänger 303 Fichte hebt zwar die Bedeutung der geschichtlichen Entwicklung der Sprache für die Philosophie hervor, beansprucht zugleich aber nicht zu beweisen, dass man ohne sprachliche Ausdrücke (Wörter) keine komplexen Denkoperationen vollziehen könnte. Er hält es für möglich, dass bestimmte Bilder (Zeichen im allgemeinsten Sinne) von der Einbildungskraft entworfen und ersatzweise zum Denken benutzt werden können – vgl. ebd. 103 Anmerkung. Diese müssten, wenn man Fichtes allgemeinem Gedankengang in der Abhandlung folgt, (etwa durch Zeichnungen) mitteilbar und in einer Kommunikationsgemeinschaft verständlich sein können. 304 Vgl. Noiré (1882). 305 Der harte Kern des von Apel entwickelten Forschungsprogramms kann z. T. aus dem Kompositum Transzendentalpragmatik erschlossen werden (vgl. Apel 2017: 8 ff.). Unter »transzendental« sind dabei nicht die subjektiven (bewusstseinstheoretischen), sondern die intersubjektiven (die Regeln und Voraussetzungen der Argumen-
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eines angegriffenen Projektes dazu motivieren, Aufklärungsarbeit zu leisten und im Rahmen der negativen Heuristik die Rolle der angeblich ausgestoßenen oder zu wenig Bedeutung habenden Momente noch deutlicher hervorzuheben, ohne den harten Kern transformieren zu müssen. Ähnlich verhält es sich mit den übrigen Beispielen für Einwände, auf die wir unten genauer eingehen werden.
5.2 Progression und Degeneration des Forschungsprogramms Wir haben gesehen, dass die Anwendung der Merkmale (2) und (3) der Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme Lakatos’ zu einer rationalen wissenschaftstheoretischen Rekonstruktion der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie und der Untersuchung zur Vernunft im engeren Sinne geführt hat. Wir haben somit unsere bisherigen Einsichten im ersten Teil der Arbeit auf einen neuen Boden gestellt und eine grundlegende Reflexion geleistet, um das Projekt Vernunft (im engeren Sinne) noch besser zu verstehen. Auch sollte es uns jetzt klar geworden sein, dass alternative Ansichten der Vernunft (Rationalität, Kulturbegriff, absolute Vernunft) und
tation betreffenden) Bedingungen objektiv gültiger Erkenntnis zu verstehen, die sich in der philosophischen Reflexion als schlechthin evident und für jeden Diskursteilnehmer als unhintergehbar darstellen. Die Notwendigkeit, den Anderen (die Andere/ die Anderen) in den Erkenntnisvollzug einzubeziehen, ergibt sich u. a. aus der Einsicht, die sich schon im semiotischen Pragmatismus von Charles S. Pierce findet. Die Interpretation von (kommunikationsbezogenen) Zeichen lasse sich als eine dreistellige Relation zwischen (1) den innersprachlichen (syntaktischen), (2) den realitätsbezogenen (referenz-semantischen) Zeichenfunktionen und (3) einer Interpretations-Gemeinschaft begreifen (vgl. Apel 1976: 60). Wenn man nicht einen abstraktiven Fehlschluss (vgl. ebd. 62) begehen möchte (unberechtigte und/oder fahrlässige Ausblendung der Kommunikationszusammenhänge), muss man die intersubjektive pragmatische Dimension der Verständigung und der Verständigungsbedingungen (die Interpretationsgemeinschaft, die Sprache, die Regeln der Argumentation etc.) bei jedem Erkenntnisvollzug mehr oder weniger im Blick behalten – selbst bei defizienten Modi eines öffentlichen Gesprächs (vgl. ebd. 74) wie bei abstrakt-logischen Denkvorgängen und bei methodisch-solipsistischen Reflexionen (wie über das cogito, ergo sum). Die theoretische Erkenntnis und die Ethik lasse sich nach diesem Programm (in der positiven und negativen Heuristik) unter dem Rekurs auf diese als unhintergehbar und letztbegründet herauszustellende Basis entwickeln und berichtigen. Für einen Überblick über die zentralen Thesen und Begriffe der Transzendentalpragmatik – auf einen Teil derer wir noch zu sprechen kommen – vgl. Rapic (2017).
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ein Teil aller möglichen Kritikpunkte den konkurrierenden Forschungsprogrammen angehören. Solche Aussagen, wie: – – – – –
bei der Bewusstseinsphilosophie handelt es sich um ein erschöpftes Paradigma die Sprache kann auch beim Fürsichsein der Vernunft nicht ausgeblendet werden man sollte sich von der Denkgewohnheit befreien, vom Subjekt auszugehen die Philosophie der Vernunft wird nur als eine Rationalitätsphilosophie auftreten können die Vernunft wurde missverstanden, indem sie als ein Vermögen aufgefasst wurde
können nicht mehr als einfache einzelne Argumente oder Positionierungen wahrgenommen werden. Man sollte kritischer und tiefer denken: Es verbergen sich hinter ihnen konkrete forschungsprogrammatische Festlegungen (und Ansprüche, wie wir unten sehen werden), die so gut wie möglich durchsichtig werden sollten. Selbst die scheinbar unschuldige Wahl der Begriffe und Konstruktionen, wie »Paradigma« oder »wir heute« oder »Kant/Fichte/… hat noch«, kann eine Strategie sein, um konkurrenzfähige Forschungsprogramme auszuschalten, sie erst gar nicht richtig zu Wort kommen zu lassen. In der Philosophie herrscht somit ein mehr oder weniger verdeckter und mehr oder weniger fairer Konkurrenzkampf der Forschungsprogramme. Dies ist die grundlegende Situation, in der sich alle Projekte befinden. Die basale wissenschaftstheoretische Reflexion auf die forschungsprogrammatischen Festlegungen im Hinblick auf die Vernunft im engeren Sinne wollen wir durch die Anwendung des letzten Merkmals (4) von Lakatos’ Methodologie zu Ende führen. Das wollen wir unter drei Gesichtspunkten tun: (a) Entwicklung des Forschungsprogramms Vernunft (im engeren Sinne) durch progressive Problemverschiebungen; (b) Degeneration des Forschungsprogramms; (c) Wiederaufnahme des degenerierenden Forschungsprogramms, Probleme und Weiterentwicklungsmöglichkeiten des Projektes. Zu (a): »The actual hard core of a programme does not actually emerge fully armed like Athene from the head of Zeus. It develops slowly,
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by a long, preliminary process of trial and error« 306 – obwohl Lakatos diesen Punkt (die allmähliche Entwicklung der Basissätze der Forschungsprogramme) in seiner Arbeit nicht intensiv aufarbeitet, gibt er ein anschauliches Beispiel dafür an, wie ein bereits bestehender programmatischer harter Kern übernommen und erneuert wird. So habe Kopernikus eigentlich kein neues Forschungsprogramm eingeführt, sondern die Platonische Theorie der Sterne, die als perfekte, göttliche und ewige Körper optimal gleichmäßig um ihre eigenen Achsen rotieren, wiederaufgenommen und weiterbearbeitet. Was sich so ideal bewegt, scheint fixiert zu sein, daher muss die Bewegung auf die Planeten übertragen werden, die weniger perfekt sind. 307 Interessanterweise passt dieses Beispiel ganz gut zu dem, was wir im Hinblick auf die Ideen festgestellt haben. Es fanden, wie bereits angesprochen, zwei grundlegende progressive Problemverschiebungen statt. Die Ideen wurden als reine Produkte des Vernunftvermögens aufgefasst, die unter die Gattung »Vorstellung überhaupt (representatio)« fallen. Sie wurden von den Leistungen eines erkennenden Subjekts abhängig gemacht, als aktiv gebildete Voraussetzungen, die auf bestimmte, den jeweiligen Arten der Ideen angemessene Weisen in unterschiedlichen Bereichen genutzt werden. Kant hat damit das Projekt der Ideen, welches im neuzeitlichen Rationalismus und Empirismus zu degenerieren drohte, wiederaufgenommen und neubegründet, also wieder »zu Ehren gebracht« (Enz I W 8 122), um mit Hegel zu sprechen. Diese Problemverschiebung führte zu neuen Einsichten, zum Wissen, das über Platons Ideenlehre hinausführte. Sie war also zumindest theoretisch-progressiv, im Fall der Vernunftidee von sich selbst, besonders hinsichtlich des Sittengesetzes, in einem bestimmten Sinne auch empirisch-progressiv. Der Grund der Bildung und Umsetzung von reinen Vorstellungen und auf ihnen basierenden Imperativen wurde nämlich (zumindest im Praktischen) zum erfahrbaren Faktum. Wir wissen seit Kant, dass die reine Vernunft keine bloße Einbildung ist, dass die Ideen tatsächlich als unsere Erzeugnisse gebildet, aufgefasst und angebracht verwendet werden können.
Lakatos 1978: 48 Anmerkung 4. Vgl. ebd. 182 ff. Hegel erklärt, übrigens, diese Ansicht wie folgt: »Man pflegt die Sonne für das Vortrefflichste zu nehmen, insofern der Verstand das Abstrakte dem Konkreten vorzieht, wie sogar die Fixsterne höher geachtet werden als die Körper des Sonnensystems« (Enz II W 9 86). 306 307
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Daran knüpfte sich die nächste Problemverschiebung an. Für die Gewissheit der Vernunft von sich selbst sollte nach Fichte zunächst die Tathandlung allein ausreichen. Von ihr ausgehend konnten die Ideen (neben anderen möglichen Bewusstseinshandlungen) erklärt und geordnet werden. Diese Änderung war zumindest aus dem Grund produktiv, dass sie zu einer ganzheitlichen zusammenhängenden Systematisierung der Vernunftfunktionen führte. Zu (b): Man muss allerdings – an den Punkt von Lakatos anknüpfend, dass es gar nicht so leicht sei, festzustellen, wann ein Forschungsprogramm wirklich wächst bzw. degeneriert – einige Schwierigkeiten bemerken, die zumindest die zweite Problemverschiebung betreffen. Fichtes Neuansatz war vielleicht, wenn man auf die Philosophiegeschichte in den letzten Jahrhunderten zurückschaut, der letzte progressive Impuls im Rahmen der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie, der zum tiefgreifenden Durchdenken der Vernunft im engeren Sinne führte. Man sieht, dass Fichte alle Arten der Ideen, die man bei Kant findet und zu derem ganzen systematischen Umfang es bis dato kaum Sekundärliteratur gibt, 308 in die Wissenschaftslehre einarbeitet sowie grundlegend nach fünf Sphären ihres Gebrauchs ordnet. Damit sind jedoch einige Nachteile verbunden. Erstens verwendet Fichte keine einheitliche Terminologie – sie wird weder von Kant ganz übernommen noch wird die eigene Begrifflichkeit konsequent verwendet (was sogar bewusst beabsichtigt ist). 309 Für die Erforschung der Vernunft ist es insofern ungünstig, als wir eines gewissen Grades terminologischer Festigkeit bedürfen, um ein 308 Vgl. in dieser Arbeit die Fußnoten 3, 4, 68 und sowie unsere Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur zur Einheit der Vernunft im Abschnitt »Einheit und praktische Realität der Vernunft« unter 2.3.2. 309 Die Unterscheidung des Kantischen Geistes von seinem Buchstaben (a) und das Fehlen von Prämissen und Fundamenten zu den Resultaten in seiner Philosophie (b) sind laut Ralf-Peter Horstmann überhaupt zwei zentrale Momente, die für die KantRezeption von Fichte, Schelling und Hegel charakteristisch sind – vgl. Horstmann 2004: 47. Man kann hinzusetzen: Fichte ist von den drei Genannten insofern im Hinblick auf (a) am radikalsten, als er die Loslösung des Geistes von dem Buchstaben (von dem konkreten fixierten Buchstaben, nicht von der Sprache an sich, was ein grobes fahrlässiges Missverständnis wäre) auch im Hinblick auf die Wissenschaftslehre fordert – der Kantische Buchstabe wird damit doppelt verabschiedet – und das mit voller Absicht: »Also weg mit Zeichen und Wort! Es bleibt nichts übrig, als unser lebendiges Denken und Einsehen selber, das sich nicht an die Tafel zeichnen, noch auf irgend eine Art stellvertreten läßt, sondern das eben in natura geliefert werden muß« – WL1804-II GA II/8 94.
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Forschungsprogramm zu begreifen, zu begründen und anderen mitteilen zu können. Ist er nicht erreicht und ist der einen bedeutenden Beitrag Leistende nicht mehr am Leben, dann folgen mit großer Wahrscheinlichkeit Missverständnisse oder Unterbestimmungen, was letztlich zur Degeneration führen kann. Zweitens nehmen bei Fichte der Umfang und die Intensivität bei der Erklärung der Bildung der Ideen ab. Was beispielsweise die Unendlichkeit der Welt betrifft, so lernen wir zwar von Fichte, wie das Verhältnis dieser Idee zum Ich aussieht, was aber im Vergleich zur Kantischen Ideendeduktion in der transzendentalen Dialektik ziemlich wenig ist. Man muss also mit der Feststellung der Progression bzw. Degeneration etwas vorsichtig sein. Was das Forschungsprogramm Vernunft (im engeren Sinne) im Allgemeinen betrifft, so ist eine eindeutige Diagnose noch schwieriger und bedarf einer sehr umfassenden Analyse, also einer zusätzlichen umfangreichen Untersuchung. Wir können aber zumindest aus folgenden guten Gründen behaupten, dass seit der letzten bedeutenden Problemverschiebung durch Fichte (ungeachtet einiger Nachteile) die Tendenz dazu besteht, dass es degeneriert: (1) Die Vielfalt der Ideenarten und ihrer Funktionen unter einem Vermögen wird nicht untersucht. Vielmehr gibt es einzelne Arbeiten zu einzelnen Werken (und Aufgaben der Vernunft) von Kant und das Problem der Einheit der Vernunft wird hauptsächlich als ein Problem der Einheit der unterschiedlichen Teile eines Systems aus reiner Vernunft behandelt. 310 Das Grundprinzip der Fichte’schen Philosophie wird, wie wir gesehen haben, entweder unter- oder überbestimmt. Es wird nur von einigen wenigen Autoren darüber reflektiert, dass sich dahinter die Vernunft im Kantischen Sinne verbirgt – obwohl dabei oft nur an das Sittengesetz und den reinen Willen gedacht wird und nicht an die Vernunft überhaupt, als reines Fürsichsein aufgefasst, noch vor ihrer Verwendung in unterschiedlichen Bereichen. Fichtes Ideenlehre wird ferner oft als ein direkter Rückgang zu Platon verstanden, womit die transzendentalphilosophische Problemverschiebung hinsichtlich dieser reinen Vorstellungen übersehen wird, die von ihm weiterbearbeitet wird. Die Sekundärliteratur lässt also vermuten, dass es in letzter Zeit keine Impulse zum umfassenden ganzheitlichen Denken der Vernunft im engeren Sinne als 310 Vgl. in dieser Arbeit die Fußnoten 3, 4, 68 und sowie unsere Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur zur Einheit der Vernunft im Abschnitt »Einheit und praktische Realität der Vernunft« unter 2.3.2.
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einem Erfassen aller ihrer Funktionen in einem Blick gegeben hat. (2) Diesen Eindruck bestätigt auch die Vielzahl der alternativen Vernunftkonzepte nach Kant und Fichte, von denen wir uns Einige am Anfang des zweiten Teils dieser Arbeit angesehen haben. Es handelt sich dabei nicht um progressive Problemverschiebungen im Rahmen ein und desselben Forschungsprogramms, sondern um konkurrierende Projekte, die aber nicht mehr das erklären, was Kant und Fichte zu erklären beabsichtigt haben, so dass unser Wissen hinsichtlich der Vorstellungsart »Idee« letztlich nicht wirklich systematisch gewachsen ist. (3) Des Weiteren spricht auch die radikale Vernunftkritik, die wir uns unten z. T. ansehen werden, dafür, dass das Projekt der Vernunft im engeren Sinne unter dem Schleier von Missverständnissen und unterschiedlich gesetzten Ansprüchen schlummert und sich nicht weiterentwickelt. Zu (c): Ein sich in der Degeneration befindendes Forschungsprogramm kann durch eine Vielzahl von kreativen Strategien, von Problementdeckungen (im Rahmen der internen und externen Kritik) und Lösungsvorschlägen wieder progressiv werden. Diese können in unserem Fall die Folgenden sein: a. An der Sache selbst (an dem Forschungsprogramm) interessiert sein und dadurch an dem Denken von Kant, Fichte etc. Die Einsicht vermitteln, dass es nicht bloß um die Philosophie von einzelnen historischen Personen gehen muss, sondern vielmehr um bestimmte Forschungsprogramme, denen man sich frei anschließen kann (auch als Administrator oder Weiterentwickler), wenn man dafür Gründe hat. Was trägt ein Denker 1, Denker 2, Denker 3 etc. zum Wissen von der Vernunft im engeren Sinne bei? b. Untersuchen, inwieweit die Vernunft begründet werden kann, auf die Vernunftkritik antworten und auf die unterschiedlichen forschungsprogrammatischen Festlegungen und Ansprüche aufmerksam werden. c. Noch mehr Beispiele für Vernunftbegriffe und ihre Verwendung nennen, als Kant und Fichte es tun. Sie in die aktuellen Kontexte stellen und somit zeigen, was es bedeutet, an dem Projekt Vernunft im engeren Sinne im Rahmen des transzendental-bewusstseinsphilosophischen Forschungsprogramm weiterzuarbeiten. Als solche können z. B. dienen: (1) Ein Kind weint, weil es ungerecht findet, dass es in vielen Ländern der Welt Tiere gibt, wie z. B. Hunde, die kein Zuhause haben und auf den Straßen überleben müssen. Es macht GeDas System der Ideen
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brauch von der Vernunft, von der einfachen praktischen Idee der Gerechtigkeit. Eine Lehrerin fragt die Kinder in der Grundschule im Fach »Philosophieren mit Kindern«, was eine wahre Freundschaft ausmache. Es muss also zunächst bestimmt werden, was unter diesen Begriff zu fallen hat, damit die Erfahrung nach ihm befragt werden kann und er eventuell zum Grund des Handelns werden kann. Ein Jugendlicher protestiert gegen »die Vernunft«, hat aber derzeit ein starkes Interesse an der unbedingten Akzeptanz der anderen in ihrer Andersheit (betreffend das Aussehen, die Herkunft, die sexuelle Orientierung etc.), also an einer Vernunftidee. Ein Ehepaar hört einen Pfarrer das von Jesus ausgesprochene höchste und das zweithöchste Gebot (Markus 12, 28–31) zitieren: I. Liebe Gott mit deiner ganzen Kraft und II. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Die Weisheit, die Talente, das Schicksal, das Geld etc. sind also weniger zu lieben, wie nach dieser einfachen praktischen / religiösen Idee (der Primat des Gebots der Liebe zu Gott) geurteilt werden kann, um die Rangordnung der Werte und die Lebensführung neu zu bestimmen. Eine Nichtregierungsorganisation setzt sich für die Transparenz in der Verwaltung und die Bekämpfung der Korruption ein. Sie benutzt eine einfache praktische / politische Idee als ein Leitprinzip für ihr zielgerichtetes Handeln. WissenschaftlerInnen folgen der Bewegung »Fridays for Future« und setzen sich mit »Scientists for Future« für den Klimaschutz ein. Ihr Handeln beruht auf dieser einfachen praktischen / politischen Vernunftidee. Auf einem Wahlplakat von Bündnis 90/Die Grünen (2019) ist zu lesen: »Europa ist die beste Idee, die Europa je hatte«. Europa ist in diesem Sinne in der Tat mehr als ein bloßer »Einfall«, sondern ein Begriff, das zur Vorstellungsart Idee gehört, und zwar von der Art einfache praktische / politische Idee. Ein Schüler fragt sich, ob die Teilbarkeit der Dinge ins Unendliche geht und interessiert sich für die Arbeit der Europäischen Organisation für Kernforschung. Wolfgang Welsch spricht von einer »Idee der rationalen Gerechtigkeit« 311, die als das zentrale Leitprinzip zur Entwicklung des Konzepts der transversalen Vernunft fungiert. Das Vermögen
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der transversalen Vernunft bestehe darin, dass sie zwischen den unterschiedlichen Gedanken, Gesichtspunkten, Rationalitätsformen, Paradigmen, Phasen der Reflexion etc. Übergänge schaffe und damit ihre Pluralität vollkommen anerkenne. Sie sei demnach, anders »als die Rationalitäts-Reduktionisten meinen« 312, überrational und doch nicht mit der Vernunft im angeblich nicht mehr zeitgemäßen Kantischen oder Hegel’schen Sinne gleichzusetzen. Gleichwohl bildet und benutzt Welsch eine einfache praktische (in der unmittelbaren Anwendung) und architektonische Idee (zum Verfassen seiner Arbeit) der rationalen Gerechtigkeit. Mithin macht er Gebrauch von der Vernunft im engeren Sinne, ohne den das Konzept der Vernunft in seinem Sinne nicht entwickelt werden könnte. 313 Welchen Stellenwert hat also das Vermögen der Ideen? (10) Das »Verfahren der Konsensbildung über Normen« 314 sei laut Karl-Otto Apel eine »Metanorm«, die dazu anhalte, vor der Begründung einzelner ethischer Normen zunächst die gemeinsamen Interessen aller betroffenen Diskursteilnehmer zu ermitteln und zu vermitteln. Bei der Frage z. B., wie das Privateigentum gerechtfertigt ist und wie es begrenzt werden kann, reiche das Sittengesetz allein nicht aus, sondern es müsse ein realer Konsensbildungsprozess unter der Mustervorstellung einer ideal funktionierenden Kommunikationsgemeinschaft stattfinden. 315 Die Betroffenen müssen sich also prinzipiell vernünftig Welsch 1996b: 154. Vgl. 1996a: 698 ff. Ebd. 164. 313 Vgl. auch die kritische Bemerkung von Wilhelm G. Jacobs, dass bei Welsch ein »Super-Verstand« – Jacobs 1994: 228 – an die Stelle der Vernunft zu geraten sein scheine, der immer noch auf das Vermögen der Ideen angewiesen bleiben müsse. Der Reflexion über die unterschiedlichen Rationalitäten, Positionen, Gedanken etc. und den Übergängen zwischen ihnen müsse immer noch eine Idee der Einheit vorausliegen, die nicht von der Urteilskraft, sondern von der Vernunft im engeren Sinne generiert werde. Man braucht also – aus unserer Sicht –zumindest so etwas wie einen Vernunftbegriff der rationalen Gerechtigkeit, auf den die Akzeptanz der Pluralität und die Übergänge bezogen werden müssen. Sucht man nach einem über der transversalen Vernunft liegenden Vermögen, das diese Vorstellung generiert und aktiviert, dann findet man das, was schon bei Kant und Fichte mit der Vernunft (im engeren Sinne) gemeint ist. 314 Apel 1988: 99. 315 Die unbegrenzte ideale Kommunikationsgemeinschaft ist eine Voraussetzung, die jeder Denkender und Argumentierender »kontrafaktisch antizipieren« muss, d. h. sie ist eine nicht vollkommen in der Erfahrung verwirklichte Vorstellung. Man muss, 311 312
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verständigen, ihre gemeinsamen Interessen abklären und schließlich zu einer intersubjektiv gültigen Lösung kommen können. Diese Metanorm habe »den Charakter einer ›regulativen Idee‹, der – nach Kant – ›nichts Empirisches völlig korrespondieren kann‹«. 316 Interessanterweise macht Apel damit darauf aufmerksam, dass grundlegende Prinzipien seiner Philosophie sich den Leistungen des Vernunftvermögens im engeren Sinne verdanken – nur dass seine Produkte für wesentlicher gehalten werden als es selbst als ihre Quelle (sie seien das eigentliche Apriori, nicht die Vernunft als ein subjektives Vermögen). Warum? Weil für Apel die Ideen des Verfahrens der Konsensbildung über Normen und der idealen Kommunikationsgemeinschaft immer schon gewissermaßen verwirklicht sind (es gibt immer schon ein Verfahren der Konsensbildung und eine reale Kommunikationsgemeinschaft, an der jeder im Vorhinein teilhat und in der die ideale Kommunikationsgemeinschaft immer schon (aber nur z. T., nicht vollkommen entfaltet) gegeben ist). Damit verspricht er sich eine Grundlage für die Vermittlung zwischen dem »abstrakten Sollen« Kants und der Versöhnung der Idee mit der Wirklichkeit bei Hegel geschaffen zu haben. Wir haben jedoch im ersten Teil unserer Arbeit von der »älteren Transzendentalphilosophie des Bewußstseins« 317 gelernt, dass es mehrere Arten von Ideen mit unterschiedlichen Funktionen gibt. Die von Apel in Anspruch genommenen Vernunftbegriffe sind der Art einfache praktische Ideen (in der Anwendung) bzw. den architektonischen Ideen (zur Entwicklung der Diskursethik) zuzuordnen. Sie fallen keinesfalls ohne Weiteres unter die von ihm frei zitierte Definition der Ideen – sie sind, im Gegensatz zu den transzendentalen Vernunftbegriffen wie die Teilbarkeit ins Unendliche oder Gott etc. (die eigentlich von Kant als »regulativ« bezeichneten Ideen), »jederzeit wirklich« (KrV A328/B385) und zumindest partiell in der Erfahrung darstellbar (vgl. KU AA unabhängig davon, ob man allein nachdenkt oder jemandem ein Argument mitteilt, im Denkvollzug sofort schon (1) verantwortungsbewusste und gleichberechtigte sowie (2) konsensfähige potentielle (lebende oder zukünftig lebende) Diskurspartner annehmen, die sich im Medium der Sprache verständigen. Sie dient der Überprüfung unserer Wahrheitsansprüche, d. h. der intersubjektiven Gültigkeit von Argumenten – vgl. ebd. 201 ff. 316 Ebd. 101. 317 Ebd. 112.
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V 343). Wie ein Tugendhafter die Vorstellung der Tugend zu einem gewissen Grade in der Wirklichkeit repräsentiert, so ist die ideale Kommunikationsgemeinschaft als ein Ziel, auf das man als ein vernünftiger Diskursteilnehmer permanent hinarbeiten muss, in der realen Kommunikationsgemeinschaft teilweise schon gegeben. 318 Bleibt man dem Forschungsprogramm Vernunft im engeren Sinne treu, so können die Vernunftbegriffe von Apel, die zumindest noch nicht mit derselben Intensität von Kant und Fichte formuliert und profiliert wurden, im Rahmen einer umfassenden Theorienreihe transzendental-bewusstseinsphilosophisch hinsichtlich ihrer Bildung und ihrer Funktionen
318 Einen guten Beleg dafür, dass Apel unter den »regulativen Ideen« solche Funktionen der praktischen Vernunft versteht, findet man in seiner Antwort auf den Einwand, es handele sich bei der Voraussetzung einer idealen Kommunikationsgemeinschaft möglicherweise um eine utopische Vorstellung (vgl. ebd. 203 f.). Sie sind aber keineswegs Beispiele für ein »abstraktes Sollen«, als ob die Welt auf Kant, Fichte oder Apel gewartet habe, um zu erfahren, wie sie sein soll (vgl. Enz I W 8 48), sondern eben für diejenige Art von Ideen, die wir als einfache praktische (und architektonische) untersucht haben. Die (architektonische) Idee der Philosophie ist beispielsweise schon verwirklicht, noch bevor Kant und ich diese Vorstellung eines Ganzen einer Wissenschaft gebildet haben, aber ich muss sie in meiner Vernunft generieren, wenn ich in den entsprechenden Diskurs eintreten will. Nach den (einfachen praktischen / politischen) Ideen wie Toleranz oder wie Grundrechte haben andere Vernunftwesen gehandelt und ich sehe sie in der Erfahrung teilweise verwirklicht, ich muss sie aber selbst konkret erzeugen, um ein Mitstreiter für sie zu sein. Menschen haben sich immer schon verständigt und etwas zusammen beschlossen, ich sehe in die Vergangenheit und freue mich, dass es Beispiele dafür gibt, dass von der Idee der idealen Kommunikationsgemeinschaft Gebrauch gemacht worden ist (Menschen haben einander a priori als sprachfähige Personen anerkannt, vertraut und zugetraut, vernünftig argumentieren und Verantwortung für künftige Generationen übernehmen zu können), dank Apel und Habermas kann ich sie nun noch besser begreifen und sie konkret bilden, um nach ihr zu handeln. Das ist eben überhaupt die Aufgabe der Ideen, die sich auf solche Weisen im »Leben der Gattung« manifestieren, dass, wie Fichte schreibt, »das Menschengeschlecht alle seine Verhältnisse nach der Vernunft einrichte« (GdgZ GA I/8 219). Ob Apel also, wenn man die Funktionen des Vermögens der Ideen bei Kant und Fichte durchdenkt, einen Rekurs auf Hegels System so notwendig braucht, wie er es beispielsweise in seinem oben zitierten Aufsatz (Kant, Hegel und das aktuelle Problem der normativen Grundlagen von Moral und Recht) zu präsentieren scheint, ist fragwürdig. Ob Hegels Kritik am Kantischen Vernunftbegriff überhaupt berechtigt ist, muss im Hinblick auf den Umstand hinterfragt werden, dass er, wie es aus den Stellen hervorgeht, an denen er Kant direkt rezipiert, die unterschiedlichen Ideenarten und mit ihnen verknüpften Funktionen sowie viele Texte, die wir insbesondere dank der Akademieausgabe (Kant) und der Gesamtausgabe (Fichte) oben auswerten konnten, nicht vor Augen hat.
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d.
e.
erklärt werden. In diesem Fall wäre der harte Kern ernst zu nehmen, dass alle Produkte und Funktionen der Vernunft auf sie selbst zurückzuführen und so gut wie möglich ihrem Wesen nach kennenzulernen sind. 319 Nach Strategien suchen, diese Vielfalt der Ideen und Ideenarten systematisch zu ordnen und zu vermitteln. Klären, inwieweit Reinheitsgrade unter allen Vernunftbegriffen bestehen (sie sind, wie wir oben im Exkurs gesehen haben, selbst unter den transzendentalen Ideen unterscheidbar). Auf das Verhältnis von (a) dem Vermögen der Ideen zu (b) seiner theoretischen Thematisierung und (c) seiner praktischen Anwendung aufmerksam machen. Die Urteilskraft kann kulturabhängig sein und hinsichtlich (b) auch fallibel 320 sowie hinsichtlich (c) auf unterschiedliche Weisen irreführend, wie bereits mehrfach angesprochen (wenn Aussagen über die Beschaffenheit eines Seelendings gefällt werden oder man sich zu der Annahme verleiten lässt, man allein soll nach dem kategorischen Imperativ leben).
Etc.
319 Die Ansicht, die einfachen praktischen / moralischen Ideen seien so bedeutend (sie reißen den Gelehrten mit, leisten Vielversprechendes, reformieren das Denken), dass ihre Quelle im Hintergrund angenommen, aber nicht eigens ausführlich thematisiert zu werden brauche, wäre nach der transzendentalphilosophischen Standpunktlehre Fichtes der (höheren) Moralität zuzuordnen. Der kritische Metaphysiker bzw. der Wissenschaftslehrer bemüht sich, von seiner Weltansicht ausgehend, um die Erklärung dieses Standpunktes als eines Vernunft-Effekts unter anderen, zu welchem Zweck er den Begriff Idee benutzt. 320 Das sagt Fichte z. B. auch im Hinblick auf die systematische Darstellung aller Bewusstseinshandlungen in der Wissenschaftslehre (also inklusive der theoretischen Thematisierung der Vernunftfunktionen).
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Nach dieser metaphilosophischen (forschungsprogrammatischen) Reflexion über den ersten Teil der Arbeit und den beispielhaft genannten Vorschlägen, wie die Weiterbearbeitung des Projektes Vernunft im engeren Sinne verlaufen kann, wollen wir uns direkt einem von ihnen zuwenden, dem Punkt b., der Begründungsfrage. Kann das Vermögen der Ideen, wie es im Rahmen des transzendental-bewusstseinsphilosophischen Forschungsprogramms untersucht wird, hinreichend begründet werden, indem gezeigt wird, dass es ist und gebraucht werden soll, dann kann sich daraus ein progressiver Impuls zu seiner weiteren Untersuchung entwickeln. Zur Begründung (im weitesten Sinne) gehört zwar schon alles, was bisher behandelt wurde, insofern wir ein mehr oder weniger klares und festes Wissen über das zu Begründende und seinen konkreten forschungsprogrammatischen Ort in der Wissenschaft brauchen, auf das wir uns stützen müssen. Hätten wir nur eine bloße Sammlung von unterschiedlichen und z. T. einander widerstreitenden Sätzen, dann könnten wir kaum etwas begründen. Im engeren Sinne sollen darunter aber konkrete Strategien verstanden werden, um – mit guten Gründen – glaubhaft zu machen, dass unsere Annahmen richtig, notwendig und fortschrittlich sind. Im Kontext der methodologischen Überlegungen zu den philosophischen Forschungsprogrammen im Ausgang von Lakatos kann gesagt werden: Zu begründen heißt, A. B. A.
die Kritik ex ante vorherzusehen (im Rahmen der positiven Heuristik) und ein Programm gegen die Kritik ex post zu verteidigen (im Rahmen der negativen Heuristik). bedeutet, auf die Fragen zu antworten, warum das zu Begründende so ist und so zu sein hat, noch bevor ein Kritiker auf sie von selbst kommt,
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B.
dagegen, auf die kommenden Einwände zu reagieren. 321
Wir begründen also weder eine einzelne Theorie oder Aussage noch eine Sammlung von einzelnen Sätzen, sondern eine Theorienreihe mit einem harten Kern und aus ihm resultierenden Thesen und Strategien. Insofern muss Klarheit darüber bestehen, dass: (a) unterschiedliche Forschungsprogramme und Vernunftkonzepte auf abweichende Strategien der Begründenden angewiesen sind, die diesen adäquat sein müssen; (b) es eine Vielzahl an Begründungsmöglichkeiten gibt und wir nicht (allein) mit schlagenden Einzelargumenten auskommen; (c) es eine ebenso nicht geringe Anzahl an Strategien gibt, Einwände zu äußern – sie können adäquat sein, wenn sie sich auf das richtige Vernunftkonzept beziehen oder sie können ihren Gegenstand verfehlen; (d) sich die Ansprüche der Anhänger eines Forschungsprogramms und der Kritiker oft voneinander unterscheiden, so dass es Orientierungsregeln für einen gerechten Umgang mit unterschiedlichen Ansprüchen geben sollte. Wir wollen uns im Folgenden diesen Punkten zuwenden, bevor wir uns exemplarisch drei konkrete Begründungsstrategien aus der gesamten Vielfalt der Begründungsmöglichkeiten herausnehmen und ansehen.
6.1 Divergierende Vernunftkonzepte und adäquate Begründungsstrategien Warum sollten wir unterschiedliche Vernunftkonzepte innerhalb abweichender Forschungsprogramme auseinanderhalten? U. a. auch deswegen, weil die Begründungsstrategien nicht dieselben sind. Mit dem Konzept (A) der Rationalität überhaupt oder einer rationalitätsphilosophischen Entscheidung für einen bestimmten Grundtypus, 321 Wir setzen also grundlegend, um wieder auf Apel zurückzugreifen, eine ideale Kommunikationsgemeinschaft (von aufmerksamen Kritikern, die vernünftig argumentieren und diskutieren können) voraus – eine Annahme, ohne die in der Tat keine Begründung möglich ist. Sie ist aber – wenn wir beim Forschungsprogramm Vernunft im engeren Sinne bleiben – eine (einfache praktische) Idee, die auf das Vernunftvermögen verweist, das jeder Diskursteilnehmer dem anderen zuerkennen muss – dieses muss es (1) geben und von diesem muss (2) Gebrauch gemacht werden.
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der in der Wissenschaftspraxis dominieren soll, ist ein anderer Begründungsaufwand verbunden, als mit (B) der Vernünftigkeit an und für sich und als mit (C) der Vernunft im engeren Sinne. A: Rationalitätsphilosophie. Beispiel (a): Dass die Vernunft »eine Art ›Vermögen‹ ist, das die Menschen in sehr ungleichem Ausmaß besitzen und entwickeln« 322, sei nach Karl Popper eine populäre Ansicht. Er schlägt vor, darunter vielmehr eine Haltung zu verstehen, rational zu sein. Was ist also der Gegensatz von Vernunft? Das ist die Irrationalität. Die Vernunft zu begründen, bedeutet demnach zu zeigen, warum wir rational sein sollen. Laut Popper lassen sich nun für die (moralische) Entscheidung für die Rationalität eigentlich keine Argumente anführen – es sei ein irrationaler Glaube, dem wir folgen sollten (dieses Zugeständnis macht die Bescheidenheit des kritischen Rationalismus aus). Dennoch gibt es Strategien, um diese Wahl plausibel zu machen – z. B. zu verdeutlichen, welche (negativen) Folgen aus alternativen Entscheidungen (etwa irrational zu sein) resultieren. 323 Beispiel (b): »Warum sollte man rational sein? In gewisser Hinsicht ist es eine dumme Frage« 324 schreibt Nicholas Rescher (Rationalität: Eine philosophische Untersuchung über das Wesen und die Rechtfertigung der Vernunft). Rescher setzt der Rationalität, anders als Popper, nicht so sehr die Irrationalität als vielmehr schlechte Gründe oder Lösungen entgegen. Rational zu sein bedeutet demnach wesentlich, die besten Gründe oder Lösungen zu finden, um seine Ziele zu erreichen oder Probleme zu bewältigen. Die Begründungsstrategien sind entsprechend dieser Ansicht angepasst. 325 Sie bestehen u. a. darin, auf die Kritik (ex ante und ex post) zu antworten, dass (1) die Begründung der Vernunft vitiös-zirkulär sei und dass (2) wir uns nie sicher sein können, nach den besten Gründen gehandelt oder die optimalsten Lösungen gefunden zu haben. Zu (1): Die Aussage »rationale Einstellung zu haben ist rational« bedeutet so viel wie »nach den besten Gründen zu handeln ist der beste Grund«. Sie gebe Popper 1945: 265. Vgl. ebd. 272 ff. Nach dem Forschungsprogramm Vernunft (im engeren Sinne) müssen wir unter der Rationalität eine (einfache praktische) Idee begreifen, die zur Bildung eines solchen Imperativs dienen kann, wie: Entscheide dich bewusst, rational zu sein. Auch die offene Gesellschaft, die Popper in der zitierten Schrift verteidigen will, ist ein Vernunftbegriff (einfache praktische / politische Idee). 324 Rescher 1993: 38. 325 Vgl. zu dem Folgenden ebd. 50 ff. 322 323
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laut Rescher lediglich den Anschein, ein vitiöser Zirkel zu sein, in der Tat werde damit die unvermeidliche Selbstbezüglichkeit und Autonomie der Vernunft (in der Terminologie von Rescher) ausgesprochen. Wenn auf die Frage nämlich, »Warum rational sein?«, überhaupt eine Antwort möglich ist, dann muss sie rational sein, das ist schlechthin so. Zu (2): Ein Rationaler gehe anders als ein Skeptiker aufrichtig das Risiko ein, bei der Wahl seiner Gründe Fehler zu begehen und unangemessen zu handeln. Wir handeln also nach denjenigen Gründen, die die besten zu sein scheinen und wissen, dass wir uns irren können. Die Position des Skeptikers lasse sich hingegen als eine grundlegende Aversion gegen das Risiko überhaupt kennzeichnen, wodurch seine Ablehnung der Rationalität verständlich werde. Beispiel (c): Habermas, Schnädelbach und Apel entwickeln Denkwege, um zu begründen, warum der Rationalitätstypus der intersubjektiven Verständigung (der kommunikativen Vernunft) allen anderen philosophischen Haltungen und Ausgangspunkten überlegener sei. Es ist eine strategisch kluge Vorentscheidung, von Paradigmen (und nicht etwa von Forschungsprogrammen) in der Philosophiegeschichte zu sprechen, was alle drei Autoren tun. Laut Kuhn können ja, wie wir es oben erwähnt haben, zwei oder mehr in der vorparadigmatischen Phase konkurrierende Richtungen oder Schulen, von denen jede »is guided by something much like a paradigm« 326, in der post-paradigmatischen Phase (nach dem Auftreten einer sehr bedeutenden wissenschaftlichen Leistung) nur selten (unter zwei oder mehr unterschiedlichen Paradigmen) koexistieren. Insofern erzwingt dieses wissenschaftstheoretische Modell, wenn seine Geltung nicht allein im Hinblick auf die Naturwissenschaften, sondern auch auf die Geisteswissenschaften beansprucht wird, die Annahme, es gäbe zurzeit eine einzige dominierende und beste Denkrichtung. Aus dieser Perspektive deutet Habermas das Denken von Kant, Fichte, Hegel, den Rechts- und Linkshegelianern, Nietzsche, Horkheimer und Adorno, Heidegger etc. als gewissermaßen rückständig, insofern es entweder subjektzentrisch oder eine Art »umgekehrter Subjektzentrismus« ist, der nicht radikal genug mit dem veralteten solipsistischen Paradigma bricht. 327 Und so rekonstruiert auch Schnädelbach die Geschichte des Vernunftbegriffs, unter der zusätz-
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Kuhn 1962: ix. Vgl. Habermas (1988).
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lichen Prämisse, dass jede Kultur eine eigene Vernunft entwickele, als eine Erfolgsgeschichte des Rationalitätstypus der intersubjektiven Verständigung. 328 Insofern ist es nicht ganz überraschend, dass in diesem Kontext in der deutschen Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Terminus »Letztbegründung« auftaucht, dem die »heute außerordentlich unpopulär[e]« 329 (Vernunft-)Idee zugrunde liegt, dass es unumstößliche Annahmen gibt. Die Möglichkeit der Letztbegründung der Philosophie überhaupt, und in ihrem Rahmen auch der Ethik, ergibt sich […] aus der Einsicht in die Nichthintergehbarkeit des argumentativen Diskurses, und damit auch seiner normativ-ethischen Bedingungen der Möglichkeit, für das Denken qua Argumentieren. 330
Es sind also nicht die »letztbegründeten Sätze« bzw. »paradigmatischen Evidenzen« wie »Ich existiere«, »Ich denke«, »Es gibt Wahrheit« etc., von denen, nach Apel, die Letztbegründung der Philosophie und der Ethik auszugehen habe. 331 Es ist die Rationalität der vernünftigen Verständigung mit anderen, die als ihre sicherste Basis fungieren solle. Warum hat sie gegenüber allen anderen Prinzipien Priorität? Apel nutzt zur Antwort auf diese Frage die Strategie des argumentativen Nachweises, dass die Annahme der vernünftigen Kommunikationsgemeinschaft »methodisch früher« 332 sei – d. h. sie werde bei allen anderen Grundprinzipien (paradigmatischen Evidenzen) schon vorausgesetzt, bevor auf sie bewusst reflektiert wird. Die eigentliche Letztbegründung der Philosophie und der Ethik sei also erst jetzt dank dem Begreifen der Rolle der Intersubjektivität, der Sprache und der Argumentation – also einem paradigmatischen Fortschritt in der Philosophie – möglich.
Vgl. Schnädelbach 2007. So die Diagnose in einer aktuelleren Arbeit zur Letztbegründung von Miriam Ossa 2007: 12. 330 Apel 1988: 110, vgl. ebd. 97. 331 Vgl. dazu Ossa 2007: 10 und 98 ff. und insbesondere Apel (1976). Keines dieser Sätze kann ohne einen performativen Selbstwiderspruch behauptet werden. Wenn ich behaupte, dass ich nicht existiere, dann widerspreche ich mir selbst, weil ich ja diesen Satz gerade denke oder ausspreche. Dabei scheint Apel einen epistemologischen Evidentalismus zu vertreten, nach dem die Wahrheit eines Satzes nicht unbedingt aus anderen Sätzen deduziert zu werden brauche, sondern von sich aus (im Rahmen eines reflexiven Sprachspiels) schon einleuchten könne. 332 Apel 1988: 97, vgl. ebd. 447 ff. 328 329
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B: Die Vernünftigkeit des Ganzen. Die Strategien der Begründung der Rationalität bzw. einer konkreten rationalen Haltung, die ursprünglicher als die anderen sei, wären für Hegel dem verstandesmäßigen (abstrakten) Denken zuzuordnen. Es fehlt die spekulative Einsicht, dass sie nur Teile der vernünftig strukturierten Wirklichkeit darstellen. Um das zu begreifen, sollte ein Philosoph den Standpunkt der absoluten Vernunft einnehmen, von dem aus er wie ein Schiedsrichter, ein Unbeteiligter und somit nicht von einer beschränkten Perspektive Abhängiger über diese Strategien und konkurrierenden Standpunkte urteilen kann. So wie beispielsweise Kant den Leser der Kritik der reinen Vernunft dazu eingeladen hat, der Dialektik der kosmologischen Ideen und den sich darin offenbarenden Schwächen der apodiktisch vertretenen Positionen zuzusehen, sollte man ein »Zeuge« der Entfaltung der Momente der Vernünftigkeit überhaupt sein. 333 Rationalität, Intersubjektivität und Kommunikation, Ethik und Philosophie lassen sich nur aus einem grundlegenden Zusammenhang des Ganzen begründen und sie sind darin schon begründet, noch bevor ein einzelner Denker oder eine Gruppe von Forschern für sich beansprucht, diese Aufgabe lösen zu können. Die Rationalität an sich oder die Kommunikationsgemeinschaft von rational argumentierenden Diskursteilnehmern sind beispielsweise als Äußerungen der Vernünftigkeit zu begreifen, die sich solchen entfernteren oder näheren Bedingungen, also dem vernünftigen Ganzen, verdanken, wie: 334 – der geregelten Umlaufbahn der Planeten um die Sonne (vgl. Enz II W 9 82 ff. und 130 ff.) – denn rational Agierende oder eine Kommunikationsgemeinschaft brauchen und haben einen Planeten; – der Organe zum Leben, zur Kommunikation, zum Fühlen und Denken (Muskeln, Gehirn, Zunge – vgl. ebd. 436 ff.) – denn ohne sie wäre keine Mitteilung möglich; – dem Fortbestehen der Gattung trotz der Krankheiten und des Todes der Individuen (vgl. ebd. 498 ff.) – was es u. a. möglich 333 »Als unparteiische Kampfrichter müssen wir es ganz bei Seite setzen, ob es die gute oder die schlimme Sache sei, um welche die Streitende fechten, und sie ihre Sache erst unter sich ausmachen lassen. Vielleicht dass, nachdem sie einander mehr ermüdet als geschadet haben, sie die Nichtigkeit ihres Streithandelns von selbst einsehen und als gute Freunde auseinander gehen« (KrV A423/B451). 334 Die logischen Bestimmungen, die genauso dazu gehören, werden ausgeblendet, um die Darstellung nicht zu sehr zu verkomplizieren.
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macht, wichtige und moralische Entscheidungen auch für künftige Generationen treffen zu können; den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Individuen hinsichtlich der Völker, der geografischen Lagen, des Klimas, der Temperamente, der Lebensalter (vgl. Enz III W 10 52 ff.) – denn diese Gesichtspunkte müssen, sobald sie relevant werden, in einem vernünftigen Diskurs einbezogen werden; der Intersubjektivität unter verschiedenen Aspekten. Sie findet als Gattungsleben statt; ferner im Mutterleib (als leibliche und psychische Verbindung der Mutter zum Kind – vgl. ebd. 125 f.); als Gefühlsleben und als die Gesamtheit der Grundinteressen in der Interaktion mit (und der gesunden oder ungesunden Abhängigkeit von) anderen (vgl. ebd. 132 ff.); als Möglichkeiten, die mit den Interessen und Gewohnheiten des Leibes einerseits und seiner Pflege und Bildung andererseits zusammenhängen (wie (gemeinsames) Musizieren, Sport etc. – vgl. ebd. 186 ff.); als unterschiedliche Kommunikationsvorgänge, die über den Leib als die Ausdruckssphäre der inneren Welt vermittelt sind (vgl. 111 ff. und 192 ff.), wie: Zeichen geben, Lachen, Weinen, Mimik und Gestik, Kopfnicken, sprachliche Verständigung (die Sprache ist »das würdigste und geeignetste Mittel, sich auszudrücken« – ebd. 195); als eine »Phänomenologie« (vgl. 199 ff.) des unmittelbar sinnlich gewissen »Diesen«, der auch wahrgenommen wird, Kräfte hat, bestimmten sinnlichen und rechtlichen Gesetzen gehorcht oder nicht gehorcht und darum bestraft wird, der lernt, mich als selbstbewusstes Vernunftwesen anzuerkennen, wie ich es auch in Bezug auf ihn tue; als gemeinsames Leben mit bestimmten Rechten und unter konkreten Pflichten (vgl. 303 ff.), im Hinblick auf die Familie, die bürgerliche Gesellschaft, die staatlichen Institutionen, Kunst, die religiösen Gemeinden und die Philosophie – »[u]nser Beruf und Geschäft ist die Pflegung der philosophischen Entwicklung« (ebd. 401). 335 den geistigen Vermögen (vgl. ebd. 229 ff.). Ohne Gedächtnis wäre die Rationalität oder die (sowohl reale als auch ideale)
335 Die Rolle des Mitmenschen ist also keineswegs auf das Kapitel zur Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes bzw. der Enzyklopädie III und auf die Rechtsphilosophie von Hegel zu reduzieren – sie wird unter verschiedenen Aspekten auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Phänomenologie des Geistes (Jenaer Zeit) bzw. der absoluten Idee (Berliner Zeit) betrachtet.
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Kommunikationsgemeinschaft ebenso wenig möglich, wie ohne ein Vermögen, sich sprachlich verständigen zu können (wozu Töne, Bewegungen und Stellungen der Zähne, der Zunge etc., Namen, Zeichen, Symbole, Wortschatz, Grammatik etc. gehören – vgl. ebd. 270 ff.), ohne die Fähigkeit, den Willen zu bestimmen, ohne die Vernunft etc. Die Begründung der Rationalität, der Kommunikationsgemeinschaft von vernünftig Argumentierenden, der Ethik und der Philosophie (der sich wissenden Vernünftigkeit) sind für Hegel also keine Angelegenheit von einzelnen reflexiven Argumenten. An ihre Stelle tritt die Exposition der vernünftigen Strukturen der Wirklichkeit im Denken. Nicht einzelne Sätze oder Rationalitäten sind unhintergehbar, sondern die Gesamtheit der unzertrennbar verflochtenen Bedingungen: Die gewöhnliche Vorstellung des Verstandes ist, daß die Begründung u. dgl. vorangehen müsse und außer und nach diesem Grunde die Wissenschaft selbst kommen müsse. Die Philosophie ist aber wie das Universum rund in sich, es ist kein Erstes und kein Letztes, sondern alles ist getragen und gehalten, – gegenseitig und in Einem. – Die Absicht […] ist, Ihnen ein vernünftiges Bild des Universums [zu geben] (Antrittsrede W 10 405).
Zur Begründung gehört, wie es oben bestimmt wurde, (1) im Rahmen der positiven Heuristik auf mögliche Kritik ex ante und (2) im Rahmen der negativen Heuristik auf mögliche Kritik ex post zu antworten. Zu (2): Die Anhänger des Hegel’schen Forschungsprogramms (oder an ihm wirklich Interessierte) haben aufgrund der hohen Ansprüche an das Denken gute Chancen, die Kritik derjenigen abzuwehren, die nicht dieselben Ansprüche vertreten. Wir können uns beispielsweise folgende Möglichkeiten der Einwände (E1–5) und Antworten (A1–5) vorstellen, die wir zu Veranschaulichungszwecken in Form eines freien Polylogs darstellen wollen (dabei orientieren wir uns an der Enzyklopädie). Wir tun das, um vorläufig auf das Problem der unterschiedlichen Ansprüche aufmerksam zu machen und zu sehen, wie mögliche Interessierte an dem oder Vertreter des Hegel’schen Forschungsprogramm(s) mit der Kritik im Rahmen der negativen Heuristik umgehen würden – denn diesen und ähnlichen (mehr oder weniger adäquaten) Einwänden werden wir auch im Hinblick auf die Vernunft im engeren Sinne begegnen. (E1) Sie sollten doch, anstelle immer von dem Vernünftigen oder dem Geist zu reden, auch einmal über unsere Sinne nachdenken. 254
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»Diese Nase zum Beispiel, von der noch kein Philosoph mit Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht« 336. (A1) Wir stimmen Ihnen zu, die Sinne sind wichtige Werkzeuge für das Erkennen, und darüber finden Sie in den Abschnitten zur Natur- und Geistphilosophie nicht wenig (vgl. z. B. Enz II 464 ff. und Enz III 251). Sie sollten aber doch auch die Muskeln und den ganzen Organismus überhaupt in ihre Reflexionen einbeziehen. Selbst Ernährungs- und Verdauungsprozesse spiegeln sich in körperlichen Reaktionen (wie Wohlbefinden oder Gereiztheit) wieder (vgl. Enz II 483 ff.), was auch zahlreiche aktuelle Studien belegen, und somit Einfluss auf einen Forscher haben können. Beachten Sie, dass wir davon ausgehen, dass all dies zur vernünftigen Struktur des Ganzen gehört, die wir philosophisch nur nacheinander erfassen. Wenn wir im Rahmen der Erörterung des subjektiven Geistes das Gedächtnisvermögen thematisieren, dann wissen wir schon, dass jemand, der sich gerade an eine physikalische Formel erinnert, auch ein Organismus ist. Folgen Sie doch unseren Ansprüchen und denken Sie ein bisschen weiter mit. (E2) Gut, aber es fehlt bei Ihnen doch ein wirklich tiefes Verständnis des Ich-Du-Verhältnisses, der Rolle des Mitmenschen, wie er mir nicht als Ich, Geist, Person etc., sondern eben als Mitmensch auf der Straße begegnet. Wir erkennen einander auch oft durch einfache gemeinsame Beschäftigungen, wie z. B. im Spielen. 337 336 Nietzsche 1889: 75 (Die »Vernunft« in der Philosophie 3) hat zwar diese Kritik an der fehlenden Reflexion über die Sinne nicht direkt gegen Hegel geäußert, aber doch pauschal gegen die Philosophen und Vertreter der »Noch-Nicht-Wissenschaften« wie Metaphysik, Theologie, Erkenntnistheorie und der »formalen Wissenschaften« wie die Logik oder Mathematik (vgl. ebd. 75 f.). Vgl. zu Nietzsches allgemeiner Kritik am Idealismus und an der klassischen deutschen Philosophie Lewin (2017). 337 Vgl. Löwith (1928). Karl Löwith knüpft an Ludwig Feuerbachs Überlegungen an, dass man in der Philosophie davon ausgehen solle, was Hegel zu einer bloßen Anmerkung degradiert habe, der Nichtphilosophie (vgl. ebd. 20). Der Grundmangel des Idealismus, insbesondere des Hegelschen, bestehe nach Feuerbach (1) im Ausgang vom rein theoretischen Standpunkt und (2) im Übersehen des »anderen Menschen als das wesentlichste Objekt« (ebd. 23). Löwith stimmt Feuerbachs Thesen in Bezug auf die Analyse des Etwas (Wissenschaft der Logik) und der Selbständigkeit (Herr-KnechtDialektik der Phänomenologie des Geistes) zu, ohne beispielsweise einen Blick in die Anthropologie der Enzyklopädie zu werfen (vgl. ebd. 79 ff.). Er fragt sich auch nicht, ob es unterschiedliche Wissensziele, Ansprüche und forschungsprogrammatische Festlegungen gibt, die anderes Vorgehen als die Analyse des Miteinanderseins notwendig machen. Metaphilosophische Überlegungen fehlen bei ihm ganz.
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(A2) Wenn Sie Interesse daran haben, die Intersubjektivität grundlegend zu begreifen, dann müssen Sie alle Bedingungen überhaupt durchdenken (vgl. oben). Sie werden sehen, dass die Thematisierung der intersubjektiven Verhältnisse, inklusive des MutterKind-Verhältnisses und der auf einfachen Lebensinteressen beruhenden Interaktionen (Anthropologie), sehr wichtig und vielschichtig ist. Sie sind in ein zusammenhängendes vernünftiges Ganzes eingebettet. Beachten Sie auch, bevor Sie solche Einwände äußern, welche Ansprüche wir haben und werden Sie sich darüber klar, ob Sie ihnen folgen oder nicht. Wir wollen die Grundmomente des Vernünftigen darstellen, d. h., es geht uns nicht um jedes einzelne Detail der besonderen Wissenschaften. Bei Hegels Enzyklopädie handelt es sich um einen Grundriss. Jeden einzelnen Abschnitt kann man weiter ausdifferenzieren, so wie Hegel es mit der Rechtsphilosophie getan hat (vgl. den Hinweis Enz III W 10 306). Sagen Sie es uns also bitte, ob Sie, wenn Sie sich explizit auf Hegel beziehen und sagen, bei ihm fehlen Überlegungen zu den Rollen des biografischen Lebens oder der Spiele, das im Rahmen unseres Forschungsprogramms tun und sie als Momente des vernünftigen Ganzen (der Anthropologie angehörig) betrachten, oder ob Sie diesen Anspruch nicht teilen. Fordern Sie, dass der harte Kern aufgegeben werden muss, oder wollen sie einen zusätzlichen Beitrag leisten? (E3) Sie sollten dann doch, wenn Sie schon die Rolle der Intersubjektivität in ihr Denken einbeziehen und am bloßen Subjektzentrismus Kritik üben, lieber konsequenterweise den Weg der kommunikativen als der absoluten Vernunft beschreiten und von einer unter Kooperationszwängen stehenden Kommunikationsgemeinschaft ausgehen, die sich über lebensweltliche, alltägliche, aber auch ethische, rechtliche, politische, religiöse etc. Angelegenheiten verständigt. 338 (A3) Die Gemeinschaft von Menschen, die auf kommunikative Vorgänge zur Bewältigung von Problemen angewiesen ist, ist ein Teil der vernünftigen Wirklichkeit. Wir thematisieren die Intersubjektivität unter sehr verschiedenen (biologischen, anthropologischen, phänomenologischen, ethischen, rechtlichen etc.) Aspekten. Zur sei-
338 Habermas (vgl. 1988: 42 und 345) stellt fest, dass Hegel den Weg der kommunikativen Vernunft nicht beschritten habe, obwohl er zumindest in der Jenaer Zeit über die Rolle der intersubjektiven Verständigung nachgedacht habe.
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enden Vernunft gehören aber auch die logischen Denkbestimmungen, die Gravitationskraft, der tierische Organismus (inklusive der Organe zur Kommunikation), die Sprache, die Vermögen etc. Wir können es uns einfach nicht erlauben, wenn wir den Anspruch haben, die Philosophie als Wissenschaft des vernünftigen Ganzen zu durchdenken, sie auf einzelne Teilaspekte der Geistphilosophie zu reduzieren. (E4) Müssen wir heute wirklich so weit wie Hegel gehen und nach einer Struktur der Vernünftigkeit, nach den ganzen Hintergrundbedingungen fragen? Es reicht doch, wenn man z. B. Interesse an Hegels Rechtsphilosophie hat, sich nur mit diesem Text zu beschäftigen. (A4) Aber wer darf wirklich bestimmen, wer und was zu dem »wir heute« gehört und bestimmte Forschungsprogramme und Gruppen von Forschern aus ihm ausschließen? 339 Ferner: Solche Argumente wie das Fehlen der Reflexionen über die Nase, über die Grundstrukturen der Intersubjektivität, über die Sprache etc. tauchen auf, weil man nicht auf das Ganze achtet, in welches der objektive Geist eingebettet ist. Wenn der Staat auch den Armen hilft, Bildung zu genießen (vgl. RPh W 7 387 f.), weil sie der Schlüssel dafür ist, dass man von dem Recht weiß (vgl. ebd. 360 f.), und dass man an dem »Mitwissen, Mitberaten und Mitbeschließen über die allgemeinen Angelegenheit in Rücksicht der an der Regierung nicht teilhabenden Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft« (ebd. 482) teilhaben kann – wenn man also als ein Diskursteilnehmer auch die Interessen der Unbeteiligten einbezieht und für sie Verantwortung übernimmt, dann ist man im Prozess der Konsensbildung ein Teil der menschlichen Gattung, ein Körper mit Organen zum Sprechen und mit allen Funktionen, die die verbale und nonverbale Kommunikation betreffen, etc. Das ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang der Vernünftigkeit. 340 (E5) Sehen Sie, wie sie antworten? Solche Strategien verschaffen »Hegels System den Namen des objektivsten, als feierten darin Gedanke und Ding ihre Vereinigung. Aber es [ist] dies eben nur die
339 Eine ähnlich formulierte Gegenfrage stellt Klaus Vieweg als Antwort auf ein solches Wir-Heute-Argument – vgl. Vieweg 2016: 157 f. 340 Zu den Missverständnissen im Hinblick auf die Hegel’sche Rechtsphilosophie sowie für ihre Bedeutung an sich und für die aktuellen Debatten vgl. Vieweg (2012).
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äußerste Gewaltsamkeit des Denkens, die höchste Despotie und Alleinherrschaft derselben, der Triumph des Geistes, und mit ihm der Triumph der Philosophie. Höheres kann die Philosophie nicht mehr leisten, denn ihr Höchstes ist die Allgewalt des Geistes, die Allmacht des Geistes.« 341 (A5) Wie schon Kant schrieb, man »mag bedenken, dass es eben nicht nötig sei, dass jedermann Metaphysik studiere, dass es manches Talent gebe, welches in gründlichen und selbst tiefen Wissenschaften, die sich mehr der Anschauung nähern, ganz wohl fortkommt, dem es aber mit Nachforschungen durch lauter abgezogene Begriffe nicht gelingen will, und dass man seine Geistesgaben im solchen Fall auf einen anderen Gegenstand verwenden müsse; dass aber derjenige, der Metaphysik zu beurteilen, ja selbst eine abzufassen unternimmt, den Forderungen, die […] gemacht werden, durchaus ein Genüge tun müsse [hervorgehoben von M. L.]« (Prol AA IV 263 f.). Zu (1): Die Interessierten an dem oder die Vertreter des Hegel’schen Forschungsprogramm(s) finden leicht, wenn sie nur suchen, Antworten auf solche oder ähnliche Einwände (Versuche, »Anomalien« aufzuzeigen), weil sie bis zu einem gewissen Grad im Rahmen der positiven Heuristik von Hegel selbst schon antizipiert wurden. Auch die radikalere Kritik an der Möglichkeit und Gültigkeit des Wissens überhaupt hat Hegel in seine Überlegungen einbezogen. Die sogenannten Tropen des Agrippa, auf die wir unten ausführlicher zu sprechen kommen, mit deren Hilfe die antiken Skeptiker gegen die »Dogmatiker« und ihre Wahrheiten (gegen Platon, Aristoteles, Epikur, Stoiker u. a.) gekämpft haben, müssen von der spekulativen Philosophie selbst als dogmatisch aufgezeigt werden. 342 Sie sind nämlich dem verstandesmäßigen Denken zuzuordnen – als beschränkte, unzureichend durchdachte (nicht in den übergeordneten Zusammenhang der Vernünftigkeit eingebettete – in Wahrheit aber bereits darin als Momente enthaltene) Festsetzungen. Die Kritik des Jenaer Hegels an den fünf Tropen des Agrippa im Skeptizismusaufsatz (1802) hat denselben Charakter wie etwa die allgemeinen einleitenden Gedanken in der Enzyklopädie: einen vorläufigen. Nur das vollständige System der Philosophie ist im vollen Umfang in der Lage, solche Ein-
Stirner 1844: 80. Die Dogmatiker sind nach Sextus Empiricus (Grundriss der pyrrhonischen Skepsis) diejenigen, die das Wahre gefunden zu haben glauben – vgl. Sextus: Grundriss 93.
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wände als der Wirklichkeit unangemessenes Verstandesdenken bloßzustellen. Wir wollen uns dennoch die Hegel’sche Lösung (in Jena) kurz anschauen, um zu sehen, wie er mit ihnen strategisch umgeht, weil auch das Forschungsprogramm Vernunft im engeren Sinne ihnen konfrontiert wird (zu den Tropen selbst vgl. unten 6.3). Das Vernünftige (vgl. Skept W 2 246 f.) (1) ist stets sich selbst gleich (gegen den Tropus I – Widerstreit): Das Verschiedene (Unterschiede zwischen den Dingen und Meinungen), das die Skeptiker geltend machen können, um zu zeigen, dass es keinen Konsens im Leben und in der Philosophie gäbe, wird von der Vernunft in einen notwendigen unaufhebbaren Zusammenhang gesetzt; (2) enthält keine Forderung zur Unendlichkeit (gegen den Tropus II – infiniter Regress): Dass eine Annahme A einer Bestätigung durch eine Annahme B bedürfe, die wiederum auf C etc. angewiesen ist – ist eine Forderung, die »auf dem Boden der Entgegensetzungen« (zwischen den Folgen und den Gründen) gemacht wurde. Weder »jene Forderung noch diese Unendlichkeit geht die Vernunft etwas an«, »da es für die Vernunft kein Anderes gegen ein Anderes gibt«; (3) ist nichts als das Verhältnis (gegen den Tropus III – Relativität): Da es kein Ausgeschlossenes gibt (laut (1)), stehen alle Momente des Vernünftigen in einer Beziehung zueinander – »das Vernünftige [ist, Zusatz von M. L.] die Beziehung selbst«; (4) hat kein Gegenteil (gegen den Tropus IV – Voraussetzung): »Das Vernünftige« ist keine Voraussetzung (eine noch zu bestätigende Annahme), der eine andere gegenübergestellt werden könnte, denn »es schließt die Endlichen, deren eines das Gegenteil vom anderen ist, beide in sich«; (5) ist ein begründungsloses Verhältnis (gegen den Tropus V – Zirkel): Da das Vernünftige laut (3) alle seine Momente in einem Verhältnis zueinander erhält und in demselben besteht, so »ist nichts [etwa noch nachträglich, als ob etwas zunächst ganz isoliert vom Ganzen wäre, Zusatz von M. L.] durch einander zu begründen«. C: Begründung der Vernunft als des Vermögens der Ideen im Rahmen der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie. Obwohl dieselbe oder ähnliche Kritik (Tropen des Agrippa, Fehlen der Rolle der Sinne, des Mitmenschen, zu starke Ansprüche etc.) nicht nur gegen Hegel, sondern auch gegen die Vernunft im engeren Sinne vorgebracht werDas System der Ideen
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den kann, müssen in diesem Forschungsprogramm adäquate Antworten gegeben werden, d. h. solche, die mit dem harten Kern zusammenhängen, dass die Vernunft ein (Prinzipienbildungs-)Handeln ist, das dadurch als ein Vermögen begriffen wird. Das bedeutet: wir können gar nicht oder nur im hohen Maße eingeschränkt die unter den Punkten A und B behandelten Strategien für die Begründung der Vernunft im engeren Sinne fruchtbar machen. Der Grund dafür liegt einerseits darin, dass die Rationalitätsphilosophen darauf Verzicht geleistet haben, die Vernunft als ein Vermögen zu begreifen. Hegel hingegen weist der vermögenstheoretischen Behandlung der Vernunft (im subjektiven Geist) nur eine begrenzte Rolle für den Gesamtzusammenhang der Vernünftigkeit zu, wobei er die ganze Breite und Bedeutung der Ideenfunktionen bei Kant und Fichte nicht überblickt. Andererseits aber auch darin, dass jeder der oben behandelten Positionen theoretische Grundentscheidungen zugrunde liegen (der harte Kern), die um jeden Preis und mit passenden Methoden verteidigt werden. Es sieht so aus, dass jedes Forschungsprogramm für sich beansprucht, ursprünglicher oder überlegener als jedes andere zu sein – macht man von einer fremden Begründungsstrategie Gebrauch, so kann das zum Preisgeben des eigenen harten Kerns führen (etwa die Darstellung der Entfaltung der absoluten Idee zur Begründung der Vernunft im engeren Sinne). Der Konkurrenzkampf der Forschungsprogramme hält zur Vorsicht bei der Wahl von adäquaten Begründungsmethoden an. Er kann (in vereinfachter Form) wie folgt veranschaulicht werden: 343 A: (1) Der irrationale Glaube an die Vernunft (Rationalität) ist eine Haltung, die bescheidener und darum besser ist, als (zu B) etwa die Vernünftigkeit des absoluten Idealismus, die letztlich zu totalitären politischen Systemen führen kann. 344 Die Vernunft ist überhaupt kein Vermögen (gegen C). (2) Weder eine rationale Haltung (gegen A (1)) noch die absolute Vernünftigkeit (gegen B) oder ein Ich (gegen C) kann sich aus der realen und darin kontrafaktisch antizipierten Kommunikationsgemeinschaft, der Sprache und der Argumentation irgendwie »herausreflektieren« 345. Wenn man also nach 343 Das schließt die Möglichkeit von Kooperationen und »Symbiosen« prinzipiell nicht aus, die aber aufgrund von den Differenzen in den Kernannahmen sehr schwierig sind. Wir reflektieren an dieser Stelle nur auf die Ausgangssituation. 344 Vgl. zur Kritik an dieser Auffassung von Popper (und Hubert Kiesewetter) Ina Schildbach 2018: 34 ff. 345 Man müsse sich nach Apel darauf besinnen, dass »die – von Descartes bis Husserl
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der bestmöglichen Haltung oder dem sichersten Fundament der Philosophie und der Ethik sucht, muss man sich an der kommunikativen Vernunft orientieren. B: Man kann sich aber nicht aus dem vernünftigen Ganzen zu einer kommunikativen Vernunft (gegen A (2)) oder zu einer grundlegenden rationalen Haltung (gegen A (1)) »herausreflektieren«, sondern muss sie, ebenso wie das Vermögen (gegen C) als Entfaltungsmomente der absoluten Idee betrachten. C: Wie kann man sich aus dem Umstand »herausreflektieren«, dass jemand, der beansprucht, von der bestmöglichen Haltung (gegen A (1)) oder einem Fundament der Philosophie oder der Ethik, sei es die Idee einer Diskursethik oder einer ideal-realen Kommunikationsgemeinschaft (gegen A (2)), oder einer Sich-Entfaltung des vernünftigen Ganzen (gegen B) zu sprechen, ein Urheber einer Vorstellung (Bewusstseinshandlung) ist? Wer sie nicht erzeugt, kann auch keine Position entwickeln und vermitteln (architektonische Funktion der Ideen) oder auf ihrer Basis Imperative (praktische Funktion) bilden. Es wurden bei A und B Prinzipien aufgestellt, die dazu führten, dass der bloß empirischen oder faktischen Betrachtung der (natürlichen) Einstellungen, sozialen Zusammenhänge oder philosophischen Positionen ein »idealer Zusatz« entgegen- und zugesetzt wurde. Die Vernunft ist das Vermögen solcher »Zusätze«, die der Verstandesaktivität und dem Willen Aufgaben ausgehend von mehr oder weniger reinen Vorstellungen gibt, die entweder nicht in der Erfahrung oder nur teilweise verwirklicht sind und sein können. Man kann diesen Konkurrenzkampf der Forschungsprogramme und die jeweils entsprechenden adäquaten Begründungsstrategien wie folgt zu Übersichtszwecken tabellarisch darstellen (ohne alle Nuancen, die bisher angesprochen wurden, kenntlich machen zu wollen):
unterstellte – Form des sich Herausreflektierens aus dem öffentlich-sprachlichen Diskurszusammenhang (die Unterstellung, man könne die Existenz der Sprache und der Kommunikation mit anderen, zusammen mit der Außenwelt, einklammern und sich danach immer noch als denkendes Ich verstehen) auf einer Illusion beruht« (Apel 1988: 448). Das System der Ideen
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Vernunft als:
fundiere / sei ursprünglicher / überlegener als:
Zielkontexte:
Strategien:
A. (1) Rationalität
B. und C.
zu (1): Begründung einer Haltung, die sich am besten bewährt zu (2): (Neu- / Letzt-)Begründung der Philosophie und der Ethik, Paradigmenwechsel
zu (1): irrationaler Glaube oder punktuelle reflexive Argumente zu (2): Paradigmenlehre, letztbegründete Sätze, Nachweise der Priorität
B. absolute Idee (Vernünftigkeit)
A. und C.
Begründung der Erfassung der ganzen Philosophie als einer Sich-Entfaltung der vernünftigen Wissenschaft absoluten Idee im von dem Vernünftigen philosophischen System
C. Vernunft im engeren Sinne
A. und B.
Grundlegende Reflexion über die Bildung und Anwendung der Vernunftprinzipien (Kant) bzw. Begründung der Philosophie aus einem Prinzip (der Prinzipien) (Fichte)
(2) Kommunikative Rationalität
*
* Wir können somit – bevor wir uns (positiv bestimmend) mit den Begründungsmöglichkeiten der Vernunft im engeren Sinne befassen – zunächst (negativ, abgrenzend) feststellen, dass folgende Strategien zu diesem Forschungsprogramm nicht oder nur teilweise passen: A (1): irrationaler Glaube oder punktuelle reflexive Argumente. Im ersten Teil der Arbeit im Hinblick auf Kants Ideenlehre wurde bestimmt, dass zu jeder Art der Vernunftbegriffe passende propositionale Einstellungen ermittelt werden können – mithin auch zu der Vernunftidee von der Vernunft. So etwas wie ein »irrationaler Glaube« an die Vernunft im engeren Sinne wäre viel zu wenig, weil sie keine Haltung ist, sondern ein durch Handlungen und Produkte erschlossenes Vermögen. Ich kann ohne Gründe glauben und überzeugt sein, dass es gut ist, rational zu sein, aber ich weiß (und das ist die angemessene propositionale Einstellung), dass ich die Möglichkeit habe, mir ein Sittengesetz zu geben und die Ideen des Schönen, der 262
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Rechtswissenschaft, der Teilbarkeit ins Unendliche etc. zu bilden, die jederzeit Wirklichkeit (durch den tatsächlichen Vollzug) werden kann. Von Fichte lernen wir zudem dazu, dass man zu diesem Wissen in reinster Form zunächst durch den Selbstsetzungsakt der Vernunft kommen kann. Was die punktuellen reflexiven Argumente betrifft, so sind sie zwar möglich (z. B. was wäre, wenn wir das Vernunftvermögen nicht hätten; ein Skeptiker ist jemand, der das Risiko nicht eingehen will, solche Vorstellungen wie die Unendlichkeit der Welt zu bilden, die nur doktrinal geglaubt und nie bestätigt werden können, und will daher gar nichts von den Ideen wissen), aber sie können nur (populärwissenschaftlich orientierte bzw. mit anderen Ansprüchen zusammenhängende) Zusätze zu dem schlechthin Unersetzbaren sein, was Kant und Fichte tiefgründig und systematisch leisten. A (2): Paradigmenlehre, letztbegründete Sätze und Nachweise der Priorität. Die Interessierten an dem Projekt der Untersuchung der Vernunft im engeren Sinne im Rahmen der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie können kaum in Versuchung geraten, dasselbe als das neueste und bedeutendste Paradigma in einer stabilen wissenschaftlichen Phase aufzufassen, bei der es keine Konkurrenz mehr zwischen unterschiedlichen Schulen, Richtungen und Paradigmen gibt. Allein schon die plurale Forschungslandschaft verbietet diesen Weg (ferner die Reflexion auf die unterschiedlichen Ansprüche, wie wir sehen werden), aber auch die relevante Kritik von Lakatos an Kuhn und sein Verdacht, dass seiner wissenschaftstheoretischen Position eine im Hinblick auf die freie Forschung unhaltbare »truth lies in power«-Prämisse zugrunde liege. Auch lässt sich die Vernunft im engeren Sinne nicht durch einen Satz (letzt-)begründen, der nicht ohne einen performativen Selbstwiderspruch behauptet werden kann. Diese Strategie kann bei solchen Sätzen, wie: »ich existiere nicht« (wer äußert diese Aussage dann gerade?), »ich habe keinen Körper« (wer hört sich dann gerade sprechen?) für bestimmte Zwecke funktionieren, nicht aber ohne Weiteres bei so einem komplexen Begriff wie dem Vermögen der Ideen. 346 Wenn man in einem Gespräch einen skeptisch Eingestellten dadurch überzeugen will, dass man ihn bittet, solche Aussagen wie »ich bin nicht ich« oder »ich habe keine Vernunft« zu treffen, dann wird unter der Erstgenannten vielleicht so etwas wie »ich bin nicht diese Person hier / dieser Körper« verstan346 Die Frage, inwieweit überhaupt ein solcher Begriff wie »Letztbegründung« nötig und vertretbar ist, wollen wir an dieser Stelle nicht berühren.
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den, unter der Zweitgenannten »ich bin unvernünftig / ein schlechter Mensch / irrational«. Anders ausgedrückt: Zum Verständnis eines schwierigen philosophischen Konzeptes muss viel begriffliche Arbeit geleistet werden – durch einzelne alltäglich formulierte reflexive Aussagesätze ist sie schlechthin nicht begründbar (oder sogar letztbegründbar). 347 Die Nachweise, dass die Vernunft im engeren Sinne hinter bestimmten Vorstellungen steht, noch bevor auf sie als ihre Quelle reflektiert wird, und dass sie daher mit guten Gründen angenommen und auf bewusste Weise gebraucht werden soll, können dafür nützlich sein, einen Diskussionsteilnehmer auf ihre Bedeutung aufmerksam zu machen. Kant würde dabei aber nicht behaupten, dass das »Apriori« seines Systems die Vernunft im engeren Sinne sei – gegen welches sich Andere profilieren können, dasselbe dem »Apriori« der Kultur, der Sprache, der Kommunikationsgemeinschaft oder des Leibes gegenüberstellend. Sie ist ein Vermögen unter anderen Vermögen, deren Bedeutung für die Erkenntnis – bei strikter Unterscheidung zwischen den Dingen an sich und den Erscheinungen für uns – untersucht wird, und in theoretischer Anwendung (in der Bildung der transzendentalen Ideen für die Als-Ob-Imperative) nicht einmal konstitutiv. Für Fichte ist die Auffassung, dass für die Vernunft im engeren Sinne, die vor ihrem theoretischen / praktischen / ästhetischen und religiösen Gebrauch eine Idee von sich bilden muss, eine gewisse Ursprünglichkeit beansprucht werden muss, nicht irrelevant. Wer eine praktische Idee bildet, wie die »rationale Gerechtigkeit« oder die »ideale Kommunikationsgemeinschaft« und sie für grund347 15 Vorlesungen waren aus Fichtes Sicht nötig, um unvorbereitete Zuhörer (wie Ärzte oder Beamte neben seinen Studenten) in Berlin 1804 (vgl. WL-1804-II GA II/8) in das notwendige Grundverständnis der Vernunft (in ihrem Fürsichsein in der philosophischen Nachkonstruktion) einzuführen. Es ist ein ganz anderer Anspruch an sich und an andere, der damit gestellt wurde. Selbst solche Aussagen, wie »ich kann die Idee der Unendlichkeit der Welt nicht bilden, von der du gerade sprichst« können nicht so einfach zu einem solchen schlagenden Argument führen, wie: »du hast doch gerade von ihr gesprochen, also musstest du sie gebildet haben und hast also ein Vermögen der Ideen«. Man denke nur an die Kritik von Max Horkheimer, dass die Ideen oft einfach nur als formalisierte, leere und gar nicht verstandene Begriffe benutzt werden (vgl. Horkheimer (1947)). Man kann es auch so ausdrücken: Wer die transzendentale Dialektik der Kritik der reinen Vernunft gelesen hat, und weiß, dass die Kategorie der Vielheit zur Vorstellung der Unendlichkeit der Welt erweitert werden kann – oder wer diese Idee zumindest etwas länger geistig artikuliert hat – wird eher zugeben, dass es die Vernunft im engeren Sinne gibt, als jemand, von dem plötzlich eine solche hohe intellektuelle Leistung (der Ideenbildung) verlangt wird.
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legender hält, als die Reflexion auf ihre Quelle, befindet sich in einer von fünf Wirkungssphären der Vernunft (der höheren Moralität), die von dem Standpunkt der Wissenschaftslehre aus durchdacht werden. Es ist möglich, auf Basis solcher Überlegungen von Fichte eine praktische Begründungsstrategie zu entwickeln, wie wir weiter unten sehen werden. B: Sich-Entfaltung des vernünftigen Ganzen. Dass es nicht möglich ist, von dieser Strategie Gebrauch zu machen, ohne den harten Kern der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie und des Forschungsprogramms »Vernunft im engeren Sinne« aufzugeben, müsste schon aus unserer bisherigen Untersuchung deutlich geworden sein.
6.2 Begründungsmöglichkeiten der Vernunft im engeren Sinne Nach der Reflexion über die unterschiedlichen Vernunftkonzepte und Forschungsprogramme sowie über die angemessenen Begründungsstrategien, wobei bestimmt wurde, welche Wege nicht oder nur teilweise gegangen werden können, können wir uns nun konkret mit den Möglichkeiten der Begründung der Vernunft im engeren Sinne befassen. Im Rahmen der positiven und der negativen Heuristik des Forschungsprogramms »Vernunft im engeren Sinne« können Gründe dafür genannt werden, dass die Vernunft (die Freiheit, die reinste Spontaneität, das eigenste Ich) als das Vermögen (die Möglichkeit zur Wirklichkeit) der Ideen (derjenigen von sich selbst und der anderen) ist und auch sein soll. Wir können also zwischen den (1) Seinsund Erkenntnisgründen auf der einen und den (2) Annahmegründen auf der anderen Seite unterscheiden und interessieren uns somit für die theoretische und praktische Erkenntnis und Begründung der (genetivus objectivus) Vernunft. Was dabei unter dem »Sein« oder dem »Sein-Sollen« zu verstehen ist, erschließt sich in mehreren Perspektiven, die jeweils unterschiedliches Licht auf die Bedeutung dieser Begriffe werfen. (1) Seins- und Erkenntnisgründe. Da nach unserer Definition die philosophische Begründung darin besteht, gute Antworten auf antizipierte (positive Heuristik) bzw. geäußerte Kritik (negative Heuristik) zu geben, müssen wir nach passenden Einwänden oder Missverständnissen Ausschau halten, bei denen das Sein der Vernunft prinzipiell infrage gestellt wird. In der Tat findet man in der philosoDas System der Ideen
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phischen Literatur genügend Beispiele und Belege für die Meinung, dass die Vernunft (im engeren Sinne) eine bloße Einbildung sei. So schreibt schon Garve in seiner Rezension der Kritik der reinen Vernunft unbeholfen von »eingebildete[r] reine[r] Vernunft« 348, die Kant restlos kritisiere. Fichte sieht den Grundzug seines Zeitalters in der Ansicht, »daß die Vernunft und mit ihr alles über das bloße sinnliche Daseyn der Person hinausliegende, lediglich eine Erfindung sey gewisser müssiger Menschen, die man Philosophen nennt« (GgZA GA I/8 216). Für Hans Albert ist die reine Vernunft schlechthin nichtexistent, für Hans Lenk eine bloße heuristische Fiktion. 349 Demgegenüber stehen die Ansichten von Kant und Fichte, nach denen die Vernunft eben keine bloße Einbildung oder Fiktion ist, sondern ein Vermögen, das ausgeübt werden kann. Aber auch das stößt auf Widerstand. Wie wir gesehen haben, wundert sich Fichte über das Problem, welches Aenesidemus-Schulze mit dem Vermögensbegriff hat, dem es nichts ausmacht, dass es unterschiedliche Vorstellungen in uns gibt, aber, sobald das Wort »Vermögen« sein Ohr trifft, er sich sofort irgendein unerkennbares rundes oder viereckiges Ding vorstellen will. Während Hegel den Vermögensbegriff an sich akzeptiert, ihm eine bedeutende Rolle im Gesamtsystem des Vernünftigen einräumend (z. B. in der Psychologie des subjektiven Geistes), versuchen die Rationalitätsphilosophen ihn komplett zu vermeiden, weil er angeblich einem veralteten (bewusstseinsphilosophischen) Paradigma angehöre (während man heute von Rationalitätstypen oder Haltungen sprechen müsse). Laut Apel entspreche die Rede von Vermögen einfach nicht mehr der »modernen ›Logic of Science‹«: Vergleicht man Kants Kritik der reinen Vernunft als Wissenschaftstheorie mit der Wissenschaftslogik unserer Tage, so dürfte sich als tiefster Differenzpunkt der methodologische Unterschied von Bewusstseinsanalyse und Sprachanalyse feststellen lassen: Kant geht es darum, die objektive Geltung der Wissenschaft für jedes Bewusstsein überhaupt verständlich zu machen; zu diesem Zweck ersetzt er zwar die empiristische Erkenntnis-Psychologie der (sic!) Locke und Hume durch eine »transzendentale« Erkenntnis-Logik, [gleichwohl, Zusatz von M. L.] […] sind die, eine objektive Einheit stiftenden, Regeln a priori, die Kant an die Stelle der psychologischen Assoziationsgesetze Humes setzt,
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Garve 1782: 189. Vgl. Albert 1968: 109 und Lenk 1986b: 266 f.
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Regeln psychischer Vermögen, wie »Anschauung«, »Einbildungskraft«, »Verstand«, »Vernunft«. Ganz anders die moderne »Logic of Science«: Hier fehlt nicht nur die Rede von psychischen Vermögen; auch das Problem des Bewusstseins als des Subjekts (im Gegensatz zu den Objekten) der wissenschaftlichen Erkenntnis ist so gut wie beseitigt. 350
Die Ansicht, »es gibt keine Vernunft im engeren Sinne, sie ist eine bloße Einbildung«, hängt also eng mit der Meinung zusammen, »die Rede von Vermögen ist problematisch und veraltet«. Wir wollen uns nun nicht mit der Frage beschäftigen, inwieweit die Rede von Vermögen – die spätestens seit Platon und Aristoteles in der Philosophie eine Rolle spielen und zu denen unter dem Oberbegriff Disposition (»disposition« oder »dispositional property«) im 20. und 21. Jahrhundert weiterhin ein Diskurs besteht – wirklich nicht mehr der »Logic of Science« entspricht. 351 Auch haben wir in wissenschaftstheoretischer Hinsicht ausreichend dazu Stellung genommen, dass es gerechter und der ausdifferenzierten Forschungslandschaft (zu der auch Minderheiten gehören) angemessener ist, von »Logiken« der Wissenschaft im Sinne von Forschungsprogrammen zu sprechen. Stattdessen wollen wir uns daran halten, dass der Begriff »Vermögen«, als Möglichkeit zur Wirklichkeit (im Allgemeinen und insbesondere im Hinblick auf die Vernunft), für das transzendental-bewusstseinsphilosophische Forschungsprogramm absolut unentbehrlich ist. Die umfassende Textanalyse zum Vernunftbegriff von Kant und Fichte im ersten Teil der Arbeit hat gezeigt, dass es nicht den geringsten Zweifel dafür gibt. 352 350 Apel 1973: 157. Es gebe ausgehend von dieser Situation keinen Weg zurück, sondern nur noch nach vorne – in eine transformierte Transzendentalphilosophie. In ihr solle es nicht um die objektive Einheit des Bewusstseins unter transzendentalen Gesetzen gehen, sondern darum, durch konsistente Zeicheninterpretation die »Einheit der Verständigung in einem unbegrenzten untersubjektiven Konsens« (ebd. 164) zu erreichen. 351 Allein schon die alltägliche Ebene beweist, dass der Vermögensbegriff oder seine Synonyme nicht ohne Weiteres eliminiert werden können – man hört, wie die Mitmenschen vom Vermögen zu Sprechen reden, von den geistigen Fähigkeiten, die von einem Arbeitgeber getestet werden, von Grundeigenschaften einer pflanzlichen Zelle im Biologieunterricht etc. Auf die Bedeutung und die Unentbehrlichkeit der Dispositionen (auch in Bezug auf den entsprechenden Diskurs in den letzten Jahrzehnten) machen zurzeit beispielsweise Rani Lill Anjum und Stephen Mumford mit zahlreichen anderen Autoren (2018, vgl. auch Mumford (1998)) aufmerksam. 352 Vgl. auch die systematische und z. T. philosophiegeschichtlich orientierte (die Ver-
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In Erwiderung auf die Einwände, die Vernunft gebe es gar nicht, sie sei eine bloße Einbildung, müssen (zunächst im theoretischen Begründungsrahmen) Gründe für die Annahme eines Seins der Vernunft (als eines Vermögens) gefunden werden. Dazu gibt es mehrere Strategien und Möglichkeiten, die unterschiedlichen Hinsichten angehören, die wir ansprechen wollen (diese Liste lässt sich erweitern, d. h. es wird keine Vollständigkeit beansprucht und der Kreativität wird keine Grenze gesetzt): (1.1) Transzendentalphilosophische Perspektive. Die transzendentalphilosophische geisteswissenschaftliche Argumentation im Ausgang von Kant und Fichte ist der Horizont, in dem wir uns bewegt haben und uns bewegen werden. Wir werden in dieser Hinsicht kein materielles, sinnlich wahrnehmbares Sein eines geistigen Vermögens feststellen können. Unser Werkzeug ist das Denken – wir entwerfen zur Erklärung des Bewusstseins theoretische Modelle, bei denen ein jedes Glied und eine jede Bestimmung ihre notwendige Funktion in Bezug auf andere hat. D. h., wir können nur zu einer Einsicht gelangen, dass das Vernunftvermögen ist bzw. notwendigerweise als seiend postuliert werden soll, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt werden können oder erfüllt sind. Wenn im Rahmen der Entwicklung einer Theorie des Bewusstseins gesagt wird, »die Vernunft ist« bzw. »das Ich ist«, oder »die Vernunft bildet eine Idee« bzw. »das Ich setzt sich selbst«, bedeutet das nicht, dass der Sprecher die Intention hat, Aussagen über ein wirkliches Ding zu treffen. Der Gebrauch der Kategorien wie Dasein und Kausalität ist hier nur problematisch. Sie werden nicht schematisiert (unter sie wird kein sinnlicher Stoff subsumiert), sondern rein zur logischen Bestimmung einer theoretischen Annahme herangezogen, da wir nichts ohne die Kategorien denken können. Diese Denkfunktionen im Hinblick auf reine Vorstellungen, die wir nicht oder nur teilweise in der Erfahrung nachweisen können, haben wir im ersten Teil der Arbeit (vgl. den Exkurs zur kategorialen Bestimmtheit der transzendentalen Ideen) erörtert. Mindestens folgende zwei Begründungsstrategien in transzendentalphilosophischer Hinsicht können unterschieden werden, die wir uns weiter unten (exemplarisch) etwas ausführlicher unter dem anspruchslogischen Aspekt anschauen werden (Punkt 7):
mögenspsychologie im 18. Jahrhundert – von Wolff und Crusius – beachtende) Analyse des Kantischen Vermögensbegriffs von Stefan Heßbrüggen-Walter (2004).
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(1.1.1) Gewissheit der Vernunfthandlungen und Bewusstsein der Produkte. Dass das Vermögen der Vernunft im engeren Sinne kein bloßes Hirngespinst, keine bloße (kulturbedingte) Erfindung der müßigen Menschen, die man Philosophen nennt, oder ein der »heutigen Logic of Science« widersprechendes Konstrukt ist, erkennt man an konkret vollzogenen Handlungen, die zu erfolgreichen Ergebnissen führen. Man entwickelt konkrete Thesen dazu, wie etwas unter welchen Bedingungen geistig geleistet werden kann und testet dies. Nimmt man an, unser Bewusstsein vermag die Gedanken anderer zu lesen, so wird diese Theorie nur durch konkrete Versuche widerlegt. Vertritt man die Ansicht, es gibt ein Vermögen der Ideen, dann kann sie entsprechend nur im Vollzug bestätigt werden. Man stellt etwa fest, die Idee der Pflicht erzeuge ich tatsächlich und helfe meinem Nachbarn aus Pflicht, also bin ich dazu fähig, eine Vorstellung zu bilden und sie bewusst zu einem Handlungsgrund zu machen. Diese Annahme kann im Prinzip auch falsifiziert werden. Ich kann mich so oft und so viel wie ich will anstrengen, habe ich die Möglichkeit nicht, eine Reihe von sinnlichen Phänomenen in einer nicht mehr verifizierbaren Vorstellung der Unendlichkeit der Welt zu vollenden und das Universum so zu betrachten, als ob es möglicherweise neben den sichtbaren Sternen noch andere gibt, deren Licht bei uns nicht ankommt, dann werde ich es nicht tun können. Kann ich es aber, dann muss ich das, wenn ich nicht lügen will, zugeben. Da die Bestätigung der bewusstseinstheoretischen These, dass es ein Vernunftvermögen gibt, somit von dem Zeugnis der sich Prüfenden abhängt, ist es möglich, dass eine zur Wirklichkeit gewordene Möglichkeit absichtlich oder unwissentlich geleugnet wird. Wer dies tut, muss behaupten, er könne keine einzige von all den Ideen, die wir im Laufe dieser Arbeit genannt haben, bilden und mit ihrer Hilfe sein Denken und Handeln bestimmen. Die Begründung der Vernunft erfolgt nach dieser Strategie also mittelbar, und zwar dadurch, dass auf konkrete Handlungen verwiesen wird, die erfolgreich – so wie in der Theorie der Vernunft und der Ideen vorhergesagt – zu Produkten und Ergebnissen führen. Sowohl Kant als auch Fichte, der, wie wir oben gesehen haben, das Vermögen als das vierte, erschlossene Moment einer Denkreihe begreift, bedienen sich dieser Denkfigur (Punkt 8.1). (1.1.2) Einbettung der Vernunftfunktionen in ein System. Nun ist die Vernunft aber kein einziges und isoliertes Vermögen. Sowohl ihre Betätigung als auch die Umsetzung ihrer Funktionen hängt von Das System der Ideen
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dem organischen Ganzen des Bewusstseins ab. Es gäbe keine Vernunft ohne einen Verstand und ohne einen Willen, aber ebenso wenig ohne die Gesamtheit der Bedingungen überhaupt (conditiones sine quae non), in die sie eingebettet ist. Zu begründen, dass es die Vernunft gibt, bedeutet also im Anschluss an (1.1.1) zu zeigen, dass sie in ein System von Aussagen über die Gesetze und Funktionen unseres Bewusstseins gehört, das ohne sie inkohärent und unvollständig wäre. Darauf gehen wir im Punkt 8.2 ein. (1.2) Anthropologische Perspektive. Die transzendentalphilosophische Argumentation kann durch anthropologische Überlegungen (Scholien, wie Kant im § 60 der Prolegomena schreibt – vgl. Prol AA IV 362 ff.), die nicht mehr rein zur kritischen Metaphysik gehören, ergänzt werden. Sie können solche Fragen betreffen, wie: Haben wir eine Naturanlage dazu, uns von den Grenzen der Erfahrung zu befreien? Woher kommt sie eigentlich und welchen Nutzen hat sie? Hat sie sich mit der Zeit entwickelt oder war sie immer schon da? Welche Spuren hat sie in der Menschheits- und Weltgeschichte hinterlassen? Wir haben bereits beispielsweise die Überlegungen von Fichte (vgl. Sprache GA I/3) und eine empirisch motivierte Studie von Noiré über die Gleichursprünglichkeit der Entwicklung der Sprache und der Vernunft erwähnt. (1.3) Naturwissenschaftliche Perspektive. Wenn einige an dem Kantischen oder Fichte’schen Forschungsprogramm Interessierte keine andere Perspektiven dulden wollen, als (1.1.1), dann können sie nicht wirklich als »konservativ« bezeichnet werden. Das wäre ihre eigene Position, nicht diejenige von Kant, der sowohl den anthropologischen Überlegungen als Scholien einen Raum gelassen hat als auch prinzipiell an der Anthropologie und an Naturwissenschaften Interesse hatte und entsprechende Vorlesungen hielt. Wenn man apodiktisch gegen die Hirnforschung argumentiert, dann ist man auch kein Fichteaner, denn der Wissenschaftslehre liegt nicht bloß ein Wahrheitssinn, sondern eine Wahrheitsliebe zugrunde. Ausgehend von der Idee der Wahrheit (als einer Vorstellung (einem Begriff / einer Aufgabe / einem Grund) der Vernunft) müsse der Erforscher des menschlichen Geistes […] zu seiner höchsten Maxime erheben, daß er nur Wahrheit suche, wie sie auch ausfalle und daß selbst die Wahrheit, daß es überall keine Wahrheit gebe, ihm willkommen seyn würde, wenn sie nur Wahrheit wäre (BWL GA I/2 145 f. Anmerkung).
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Eine naturwissenschaftliche Hinsicht könnte aber nur dann fruchtbar zur Begründung der Vernunft herangezogen werden, wenn ernsthafte interdisziplinäre Kooperationen bestehen würden. Sollte sie tatsächlich komplett und restlos auf Gehirnfunktionen reduziert werden können, dann ist es so (wenn man dem Fichte’schen Wahrheitsrigorismus folgt, muss man das akzeptieren). Wenn nicht, dann wäre sie wie die anthropologische Perspektive ein Zusatz zu der transzendentalen, mit dessen Hilfe die Theorien der Gesetze und der Vermögen des Bewusstseins im Ausgang von Kant und Fichte anhand konkreter Gehirnaktivitäten oder einer funktionierenden Programmierung von künstlichen neuronalen Netzen empirisch überprüft werden könnten. Während die transzendentalphilosophischen Begründungsstrategien lediglich theoretisch-progressive Problemverschiebungen erlauben, könnten die anthropologischen und naturwissenschaftlichen Hinsichten zum Teil zu einer sinnlichen Progression des Forschungsprogramms führen. Das Sein des Vernunftvermögens wäre dann etwas mehr als eine bloß logische Bestimmung der Idee der Vernunft von sich selbst, die durch geistige Einsichten gestützt ist – es wäre sinnlich nachweisbar. Nun ist man aber noch weit davon entfernt, die Vernunft (im engeren Sinne) als empirisch seiend (die Modalkategorie des Seins auf eine konkrete Erscheinung anwendend, die ihr entsprechen soll) festzustellen. Erstens wurde sie als das Vermögen der Ideen noch unzureichend geisteswissenschaftlich untersucht und zweitens sind die Naturwissenschaften einfach noch nicht genügend weit dafür fortgeschritten. So weist zwar eine Gehirnverletzung im orbitofrontalen Cortex darauf hin, dass in diesem über der Augenhöhle (Orbita) liegenden Abschnitt des Stirnhirns die Vernunft lokalisiert werden müsste, weil Personen mit Schädigungen in diesem Bereich Probleme damit haben, nach Prinzipien handeln zu können. Das ist aber noch bei Weitem keine direkte Zuordnung der Vernunftfunktionen zu bestimmten Äußerungen im Gehirn, aus denen sie komplett erklärt werden könnten. 353 Auch die Möglichkeit eines Nachweises, dass die 353 Dass der Verstand eine »Funktion, nicht einzelner zarter Nervenenden, sondern des so künstlich und räthselhaft gebauten, drei, ausnahmsweise aber bis fünf Pfund wiegenden Gehirns« sei, hat schon Schopenhauer (1813/47: 52) gedacht. Gerhard Roth lokalisiert den Verstand als die »Fähigkeit zum Problemlösen mithilfe erfahrungsgeleiteten und logischen Denkens« (Roth 2003: 88) im dorsolateralen präfrontalen Cortex, während die Vernunft, als »Fähigkeit zu mittel- und langfristiger Handlungsplanung aufgrund übergeordneter zweckrationaler und ethischer Prinzipien«
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Theorie des Bewusstseins, wie sie z. B. von Kant oder Fichte entwickelt wurde, richtig ist, weil wir kein künstliches menschenähnliches Bewusstsein erfolgreich programmieren können, wenn wir auch nur auf ein einziges Moment (mithin auch auf die Vernunft) verzichten, klingt (noch) wie Science-Fiction. 354 Wir haben bisher höchstens die drei ersten phänomenologischen Stufen nachgebildet, die Hegel in der Phänomenologie des Geistes unterscheidet: Sinnliche Gewissheit, Wahrnehmung und Kraft/Verstand. 355 Die Entwicklung einer hintergründigen »Schicht« (eines künstlichen neuronalen Netzes oder eines Programms), die alle diese Berührungsmöglichkeiten mit der Außenwelt als durchgängig zu einem Bewusstsein gehörig transparent macht (das wäre ein möglicher Ansatz zu einer Lösung des Selbstbewusstsein-Problems), ist noch nicht Realität geworden –
(ebd. 88 f.) ihren Sitz im orbitofrontalen Cortex habe. Nun wäre es interessant direkt zu beobachten, wie diese »Prinzipien«, die u. a. auch als Ideen thematisiert werden können, also als konkrete Vorstellungen, denen in der Erfahrung nichts oder nur teilweise etwas entspricht und die zu Imperativen gebraucht werden können, erzeugt werden, was dazu führt und wie das genau zu erklären ist. In diesem Kontext kann beispielsweise auch auf die im Jahr 2006 gegründete Berlin School of Mind and Brain verwiesen werden, die sich interdisziplinär mit Bewusstseins- und Gehirnfunktionen beschäftigt (wobei sich erhoffen lässt, dass auch »höhere« Funktionen, wie die Vernunft – und der reine Wille (Freiheit) als konkret verstandene Fähigkeit, Vorstellungen zu erzeugen, auf deren Basis Imperative gebildet werden –, erforscht werden). Zu Problemen im Hinblick auf das Verhältnis von Ich und Gehirn vgl. auch Markus Gabriel (2015). 354 Vgl. die interessanten und bisher wenig beachteten Modellentwürfe von Marco C. Bettoni (die er zuletzt im Jahr 2012 am Institut für Philosophie der Baltischen Föderalen Immanuel-Kant-Universität in Kaliningrad vorgestellt hat), wie man das System des Bewusstseins ausgehend von Kant für die Entwicklung der künstlichen Intelligenz fruchtbar machen kann – z. B. Bettoni (1991). Vgl. auch das im Jahr 2005 gestartete Blue Brain Project (seit der Förderung durch die EU: Human Brain Project), das zum Ziel hat, das menschliche Gehirn elektronisch zu simulieren. 355 Man denke an solche Entwicklungen, die diese phänomenologischen Stufen (ohne eine hintergründige Selbstbewusstseinschicht, die sie vereinigen würde) simulieren, wie: (a) Ein Roboter in der Form einer Stabheuschrecke (Stichwort für die Recherche: Roboter-Stabheuschrecke), der bestimmte Hindernisse als einzelne »hier« feststellt und überwindet; an (b) »Fußballroboter«, die mehrere Farben (z. B. des Balls und der Teammitglieder) unterscheiden können (Stichwort: Roboterfußball) und an (c) lernfähige »logische Agenten«, die bestimmte Informationen in logische Sätze umwandeln und physisch repräsentieren oder implementieren (Stichwort: logische Agenten). Für das Begreifen dieser Vorgänge und Informationen braucht man aber weitere Stufen (das vorstellende Operieren des Verstandes wird erst beim Selbstbewusstsein zum Begriff – die Regeln und Gesetze werden zu meinen, zu einverleibten).
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noch weniger das Vermögen, sich Aufgaben in Form von Vernunftideen zu geben. 356 (2) Annahmegründe. Anders als bei den Versuchen, das Sein der Vernunft aus bestimmten Äußerungen geistig zu erschließen oder dasselbe in der Erfahrung nachzuweisen, müssen bei der praktischen Begründung Gründe angegeben werden, warum die Vernunft sein soll. Es handelt sich dabei um solche Gründe, aus denen man glaubt, die Vernunft unbedingt annehmen zu sollen, sie zu gebrauchen, zu beschreiben und allgemein zugängliches Wissen über sie aufzuarbeiten sowie sich und andere dazu zu ermuntern, dies zu tun. (2.1) Sein-Sollen-Argument. Man könnte versuchen, aus dem angenommenen und erschlossenen Sein der Vernunft auf ihr SeinSollen zu schließen – ist die Vernunft, dann soll sie sein. Diese Strategie hat jedoch, wenn, dann nur eine beschränkte Plausibilität. Wir wollen sie nicht im Detail darstellen, sondern in einer kurzen Monologform frei präsentieren, das dahinter liegende Argumentationsmuster herausarbeiten und auf die Probleme zu sprechen kommen, die zu einer vielversprechenden Lösung, nämlich zu der (2.2) Theorie der Weltansichten von Fichte führen. Diese werden wir uns weiter unten – Punkt 8.3 – als das dritte Beispiel für sinnvolle Begründungsstrategien im Hinblick auf die Vernunft im engeren Sinne ansehen. 357 356 Nach dem interessanten Kriterium von Thomas Metzinger, der ein künstliches Bewusstsein im Prinzip für möglich, aber moralisch für bedenklich hält (insofern als durch die Entwicklung der selbstbewussten künstlichen Intelligenz das Leiden im Universum vermehrt werde), sollten wir »ein System spätestens dann als bewusstes Objekt behandeln, wenn es uns gegenüber auf überzeugende Weise demonstriert, dass die philosophische Frage nach dem Bewusstsein für es selbst ein Problem geworden ist, zum Beispiel wenn es eine eigene Theorie des Bewusstseins vertritt« (Metzinger 2001: 87). Dass die künstliche Intelligenz eine architektonische Idee entwirft und sie zur Entwicklung einer eigenen Theorie des Bewusstseins gebraucht, ist in der Tat eine anspruchsvolle Forderung, von deren Umsetzung wir noch weit entfernt sind. 357 Auf die Frage, inwieweit und ob man etwa bei Kant tatsächlich einen Sein-Sollensbzw. einen naturalistischen Fehlschluss nachweisen kann oder ob es überhaupt sinnvoll ist, von einem solchen zu sprechen, wie etwa George Edward Moore (1903) und Karl-Heinz Ilting (1972) suggerieren, gehen wir nicht ein. Nach Otfried Höffe 2000: 206 f. seien solche Einwände kraftlos, er prüft aber nicht etwa den Aufsatz von Ilting im Detail. Uns interessiert an dieser Stelle jedenfalls nicht (im Speziellen) die Gültigkeit des Sittengesetzes nach Kant, sondern die Frage, ob es begründet werden kann, dass die Vernunft als das Vermögen der Ideen (aller Arten, die wir unterschieden haben) überhaupt sein soll. Eine Sein-Sollen-Strategie wird von uns in diesem Zusammenhang als wenig plausibel erkannt.
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Wie erkennt man, dass die Vernunft sein soll? Man könnte versichern einsehen zu können, ein Urwesen habe sie uns gegeben, damit wir es, wie auch das Gute, Schöne und Rechtmäßige, erfassen – doch das wäre eine überschwängliche Erkenntnis im leeren Raum transzendenter Begriffe, wo unsere Vernunft nur kraftlos ihre Flügel schwingt (vgl. GMS AA IV 462). Warum verpflichtet das Sittengesetz? Woher das praktische Interesse an der Selbsttätigkeit bzw. Freiheit? Warum will der reine Wille sich selbst verwirklichen? Warum bilden wir solche Ideen wie die Unendlichkeit der Welt, die Tugend, das Schöne, die Philosophie, die Rechtswissenschaft etc. und setzen sie in irgendeiner Form in unserem Leben ein? Diese Fragen können nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Wir können uns nur an das Faktum halten, dass wir das können – und wenn das zu unserem Wesen als Menschen gehört, dann sollen wir das auch tun. Genauso haben wir die Möglichkeit zu sprechen, zu lieben, zu rechnen etc. – deswegen tun wir es auch und sollen es. Offenbar funktioniert solche Argumentation wie folgt (A): (1) Wenn ich die Fähigkeit oder Eigenschaft X habe und sie als zu meinem Wesen gehörig erkenne, dann soll ich sie verwirklichen. (2) Nun sehe ich, dass ich X habe und erkenne es als zu meinem Wesen gehörig. (3) Also nehme ich es mir vor, X zu verwirklichen. Das Problem ist aber, dass ich mehrere solche Fähigkeiten und Eigenschaften X habe, die ich zu meinem Wesen zählen kann – auch z. B. zu lügen, zu hassen, irrational zu handeln etc. Ich kann meiner Vernunft auch andere und mit ihr wenig vereinbare Fähigkeiten oder Eigenschaften gegenüberstellen und weiß dann nicht, was ich eigentlich tun und wonach ich mich orientieren soll. Um dieser Schwierigkeit auszuweichen, könnte man die Argumentation wie folgt ändern (B): (1) Ich soll v. a. dasjenige X verwirklichen, das ich als mein eigenstes Wesen erkenne. (2) Nun erkenne ich die Fähigkeit oder Eigenschaft X als mein eigenstes Ich. (3) Also soll ich es mir bewusst zur Aufgabe machen, v. a. das erkannte X zu verwirklichen. Dabei handelt es sich nur um eine Problemverschiebung und noch keine Lösung. Man muss sich nun entscheiden – ist die reine Vernunft bzw. Freiheit »unser eigentliche[s] Selbst« (GMS IV 461), wie Kant schreibt, oder ist es unsere »unbezwingliche Ichheit«, unsere
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»eigene Natur«, unser »Egoismus«, wie Stirner behauptet? 358 Wie orientiere ich mich beim Setzen von Prioritäten? Man könnte nun folgende Überlegung als einen Lösungsversuch heranziehen: Wenn wir mit Fichte dem Tun der Vernunft bei der Ideenbildung von sich selbst zusehen, erfahren wir uns so, wie wir uns vielleicht bisher noch nicht kennen. Während unser Leib und unsere persönlichen Eigenschaften sich verändern können, scheint die Vernunft, deren Wesen in der Tathandlung besteht, ein unwandelbares in sich geschlossenes Fürsichsein zu sein. Und so könnte angenommen werden: Hat man einmal eine wirklich tiefe Grunderfahrung der Freiheit (als eingesehenes Selbstsetzen der Vernunft) machen können, wird man nie wieder behaupten können, dass unser eigenstes Ich etwas anderes sei. Man erkennt also dank einer erschütternden Erfahrung die reine Vernunft als das eigentliche Selbst (als das Wesen des Menschen) und ihre Verwirklichung als die Bestimmung des Menschen und soll dieselbe nach dem obigen modifizierten Syllogismus (B) in der Welt verwirklichen. Aber auch dieser Vorschlag kann durch Relativitäts- und Dissenseinwände destruiert werden. 359 Man scheint beim Zuhörer oder Leser durch die Aufforderung zur Tathandlung eine Wirkung erschleichen zu wollen, ihm stillschweigend einen Wert zu vermitteln. Nun kann es Autoren geben, die z. B. die Wichtigkeit und die Bedeutung des Leibes und der Natur im Allgemeinen oder der Kommunikation hervorheben und diesen Standpunkt so lebendig und tiefgründig wie möglich vermitteln wollen, und es gibt Leser, die schon im Vorhinein eine andere Einstellung haben und vielleicht gar nicht erst anfangen, über die Vernunft nachzudenken. Welchen Standpunkt und welche »Philosophie man wähle« – scheint daher davon abhängig zu sein – »was man für ein Mensch ist« (ErE GA I/4 195) sowie welches Interesse bei dem Phi358 »Von jeher waren die Bemühungen im Schwange, alle Menschen zu sittlichen, vernünftigen, frommen, menschlichen u. dgl. ›Wesen zu bilden‹, d. h. die Dressur. Sie scheitern an der unbezwinglichen Ichheit, an der eigenen Natur, am Egoismus« (Stirner 1844: 372 f.). 359 Man wird überdies leicht auf die Grenzen einer Lehre von »existentiellen Erfahrungen« aufmerksam, die angeblich keine Rückfälle oder Ansichtsänderungen mehr erlauben, wenn man an das Apostasie-Phänomen denkt. Auch im Hinblick auf die philosophischen Positionen gibt es Standpunktänderungen, die von einigen als Rückfälle, von anderen als Fortschritte gedeutet werden können. Lakatos hatte z. B. nach seiner Selbstauskunft fast 20 Jahre lang Interesse an der Hegel’schen Perspektive, bevor er mit Poppers Gedankenwelt in Kontakt getreten ist, die sein Leben immens verändert haben soll (vgl. Lakatos 1978: 139).
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losophierenden dominiert (an der Freiheit oder an der Notwendigkeit – vgl. WLnm-K GA IV/3 333 f.). Und da ein Konsens unerreichbar zu sein scheint, so könnte die Folgerung gezogen werden, dass es gar nicht notwendig sei, ein Sein-Sollen der Vernunft anzunehmen, Wissen über sie zu erwerben und zu vermitteln und ihre Ideen zu verwirklichen – der ganze Diskurs um die Vernunft fällt dann in die Beliebigkeit der Lebens- und Forschungsinteressen, bei der alle Themen gleichrangig relevant oder irrelevant sind. (2.2) Weltansichtsgründe. Das Problem der Diversität der Standpunkte und Ansichten, also die Vielheit der »Anomalien«, die aus Relativitäts- und Dissenseinwänden resultieren und das Projekt einer allgemeingültigen ersten Philosophie aus einem höchsten Prinzip gefährden könnten, hat Fichte schon sehr früh erkannt. Seine Lösung, die er erst »im reifen Mannesalter« (ca. zwischen 1804 und 1806) entwickelt hat, und die wir schon als die Fünffachheit der Weltansicht, aber noch nicht als eine zur Fünfundzwanzigheit erweiterbare Lehre der (vor-theoretischen) Affekte kennen, wollen wir uns unter dem Punkt 8.4 genauer ansehen. Warum die Vernunft (als zentraler Orientierungspunkt des Menschen) sein soll, erschließt sich in fünf Perspektiven.
6.3 Formen kritischer Einwände Zu begründen heißt, wie es oben bestimmt wurde, im Rahmen eines Programms, das man entwickelt oder an dem man mitforschen will, auf die Kritik ex ante und ex post zu antworten. Der Sinn der Begründung erschließt sich erst aus der Einsicht, dass eine jede Beschreibung, auch wenn sie sehr gut und einleuchtend sein mag, prinzipiell jederzeit fragwürdig werden kann. Das bringt die Notwendigkeit mit sich, Gründe dafür anzugeben, dass sie zutreffend ist – sie also mit bestmöglichen Strategien zu verteidigen. Man befindet sich somit als Forschender in der Situation eines realen und/oder virtualen Gesprächs, in einer Kommunikationsgemeinschaft mit wirklichen und möglichen Kritikern – worauf Apel zu Recht mit Nachdruck aufmerksam macht. Die tatsächlichen und/oder eingebildeten Kritiker mit ihren (möglichen) konkreten Ansprüchen und Anforderungen bestimmen mit, wie weit die Begründung reichen soll, ob man gerade mit seinen Argumenten über- oder untertreibt, was besser und deutlicher formuliert werden sollte, weil es unklar ist oder sein könnte, wo 276
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mehr Akzente gesetzt werden sollen etc. Im Hinblick auf die Forschungsprogrammatik haben wir bisher folgende Arten von Kritik unterschieden, die oben anhand von Beispielen von Einwänden in Bezug auf die kritische Metaphysik und auf die Vernunft erörtert wurden und die zur Orientierung dafür dienen können, was man von tatsächlichen und eingebildeten Kritikern erwarten kann: A. Interne Kritik von Anhängern eines Forschungsprogramms (Berichtigungen, Vorschläge für Kursänderungen, progressive Problemverschiebungen etc.). B. Externe Kritik von mehr oder weniger »Außenstehenden« oder von den Urhebern oder Anhängern anderer Forschungsprogramme. Diese ist entweder (a) wohlwollend bis neutral, teilweise oder kaum an dem Erfolg des kritisierten Forschungsprogramms interessiert, oder (b) sie beruht auf der Ablehnung von zentralen Festlegungen der Konkurrenten. Die Ablehnung ist entweder (b1) moderat bis basal oder (b2) negativ-radikal. Unsere Auffassung war und ist nun – ausgehend von der Prämisse, dass Begründung stets vorhergesehene oder bestehende Kritik impliziert –, dass die Begründungsstrategien der Vernunft, die wir unterschieden haben, als Antworten auf konkret bestimmbare Einwände auszulegen sind. Es gibt also bei jeder Begründung ein komplementäres Verhältnis von Antworten (Begründungsstrategien) und zu ihnen passenden Einwänden (Fragen), auf die geantwortet wurde bzw. werden kann, die aufgesucht werden können – und das wollen wir nun tun. 360 Dabei konzentrieren wir uns v. a. auf diejenigen Kritikarten, die die Begründung der Vernunft als eines Vermögens der Ideen prinzipiell ablehnen oder für unmöglich halten, und zwar B. (b1) und (b2). Für die Behandlung folgender Begründungsstrategien haben wir uns entschieden: (1) Seins- und Erkenntnisgründe
(2) Annahmegründe
(1.1.1) Gewissheit der Vernunfthandlungen und Bewusstsein der Produkte (1.1.2) Einbettung der Vernunftfunktionen in ein System
(2.2) Weltansichtsgründe
360 Man kann sagen, die Kritik folgt der Begründung wie der Schatten den Gegenständen.
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Folgende (moderat bis negativ-radikal ablehnende) Einwände stehen ihnen entgegen, die in zwei Formen unterteilt werden können, und zwar in (1) fünf Tropen des Agrippa, nach denen über die Unmöglichkeit der Begründung der Vernunft eher nach formalen Kriterien (das Wie der Begründung betreffend) entschieden wird und in (2) Kritikpunkte, die sich nach mehreren Topoi gliedern lassen und die das Projekt des starken Vernunftdenkens eher aus materialen Gründen (das Was der Begründung betreffend) unterminieren: (1) Fünf Tropen des Agrippa. Die gegen die Seins- und Erkenntnisgründe und gegen die Annahmegründe gerichteten destruktiven Einwände, dass die Vernunft (im engeren Sinne) eine leere metaphysische Einbildung sei (sie ist nicht) und damit auch das Wissen über sie und ihr Gebrauch hinfällig oder nicht zwingendermaßen nötig seien (sie soll auch nicht sein), lässt sich vor dem Hintergrund der Tropen des Agrippa rekonstruieren. Das in der Literatur oft zitierte Münchhausen-Trilemma als ein Instrumentarium gegen alle Versuche, sichere und unanfechtbare »letzte« Voraussetzungen anzunehmen, stellt eine von Hans Albert vorgenommene und im Traktat über die kritische Vernunft nicht ausdrücklich gerechtfertigte Reduktion des Agrippa-Pentalemmas dar – die Streichung der kraftvollen Relativismus- und Dissenseinwände –, das im Grunde so alt ist wie philosophische Begründungsbemühungen (der zentralen Annahmen etwa von Platon und Aristoteles). 361 Wir wollen uns daher direkt auf Sextus Empiricus beziehen und überlegen, wie wir unter Zuhilfenahme der fünf Tropen das dargestellte Projekt der Vernunftbegründung im Anschluss an Kant und Fichte am besten zunichtemachen können – also den advocatus diaboli spielen. 362 Die fünf Tropen (Argumente 361 Vgl. Albert 1968: 13 ff. Mit der Dreiheit Voraussetzung – infiniter Regress – Zirkel hat sich beispielsweise Aristoteles in der Analytica posteriora (72bff.) auseinandergesetzt. Was den Tropus der Relativität angeht, so stelle er laut Sextus Empiricus die Gattung dar, zu der die (zehn) älteren skeptischen Denkfiguren (die aus der Beachtung der Unterschiede zwischen den Lebewesen, Menschen, Sinnesorganen, Stellungen, Lebensweisen, Sitten etc. resultieren) die Unterarten sind (vgl. Grundriss 102 ff.). Die fünf Tropen des Agrippa lösen diese nicht ab, sondern sind eine zusätzliche Möglichkeit der Kritik an den Dogmatikern. 362 Die fünf Tropen der Skeptiker um Agrippa sind uns von Diogenes Laertios (Leben und Meinungen berühmter Philosophen) und Sextus Empiricus (Grundriss der pyrrhonischen Skepsis) überliefert worden, und zwar in der Reihenfolge: (1) Widerstreit, (2) unendlicher Regress, (3) Relativität, (4) Voraussetzung und (5) Zirkel. Wir werden uns auf die Darstellung des Letztgenannten beziehen. Vgl. zu den beiden Autoren Janáček (2008).
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oder (Denk-)Figuren) der Zurückhaltung im Wissen können zu Ordnungszwecken in zwei Gruppen engeteilt werden, und zwar einerseits in das (Münchhausen-)Trilemma der Rettungsversuche einer schwierigen Theorie und andererseits in die Zerstörung der Hoffnung, selbst für quasi-gerettete Annahmen, allgemeingültige Wahrheiten darzustellen, durch Dissens- und Relativitätseinwände. Advocatus diaboli: Die Vernunft (im engeren Sinne) ist ein bloßes Hirngespinst und ihr Sein-Sollen lässt sich überhaupt nicht begründen, denn: (1.1) Infiniter Regress. 363 Für das Vermögen der Ideen, das reine Wollen und Denken, das als unser eigenstes Ich da sein soll, ja ein Sein selbst ist, das von dem Sein der Dinge verschieden sei und das ich gar nicht wahrnehmen kann, musst du mir Gründe nennen. Woher kommt das? Hat das die Natur erschaffen? Woher kommt dann die Natur? Gott? Woher kommt dann Gott? Also kannst du mir überhaupt keine sichere Wahrheit sagen. Eine Annahme X1 kannst du nur mit X2 begründen, das wiederum eines X3 bedarf etc. ins Unendliche. (1.2) Voraussetzung. 364 In Ordnung, du behauptest also man soll gar nicht so vorgehen, weil man dann unberechtigterweise mit der Kategorie der Kausalität in einem Raum leerer Begriffe operiert, zu denen uns sinnliche Anschauungen fehlen. Dann lassen wir das! Wir sagen nur noch »Vernunft ist« und fertig! Aber das wäre ein Dogma, mit dem du dich selbst und andere belasten willst, ohne sie in einen nachvollziehbaren Erkenntniskontext zu stellen. Vielleicht kannst du dann sagen, »die Vernunft ist, weil sie ist« oder »das leuchtet einfach unmittelbar ein« – warum darf ich dann nicht, um dein Argument ad absurdum zu führen, behaupten, »der Teufel ist, weil er ist« und »das ist mir unmittelbar gewiss«. Auch wenn dir etwas unmittelbar einleuchtet und du gern auf letzte Evidenzen rekurrierst, eine Voraussetzung bleibt eine Voraussetzung, wenn sie so einfach postuliert wird.
363 »Mit dem Tropus des unendlichen Regresses sagen wir, dass das zur Bestätigung eines fraglichen Gegenstandes Angeführte wieder einer anderen Bestätigung bedürfe und diese wiederum einer anderen so ins Unendliche« (Sextus: Grundriss 130). 364 »Um den Tropus aus der Voraussetzung handelt es sich, wenn die Dogmatiker, in den unendlichen Regress geraten, mit irgendetwas beginnen, das sie nicht begründen, sondern einfach und unbewiesen durch Zugeständnis anzunehmen fordern« (ebd. 130 f.).
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(1.3) Zirkularität. 365 Jetzt verstehe ich es endlich! Du sagst also die Vernunft sei ein Vermögen – und es sei nicht etwa das Vermögen selbst, das intellektuell angeschaut wird, sondern die Tätigkeit, durch die die Vernunft von sich selbst ein Bild macht. Nicht die Voraussetzung sei unmittelbar evident, sondern der Setzungsakt der Voraussetzung, zu dem ein entsprechendes Vermögen angenommen wird (Begründungsstrategie (1.1.1)). Da der Teufel keine geistige Disposition ist, dürfe man nicht sagen, weil ein Begriff von ihm entworfen werden kann, gäbe es ihn – von dem Entwerfen eines reinen Begriffes (Handlung, die unmittelbar gewiss und erfolgreich zu einem Produkt führt) könne man dagegen darauf schließen, dass wir dazu imstande seien und daher Vernunft hätten. Aber du behauptest es gebe ein X1 (Vermögen), von dem wir dank X2 (seiner Äußerung) wissen, das wiederum daher da sei, weil es X1 (Vermögen) gibt. Auch wenn du sagst, auch die Naturwissenschaften können Kräfte (wie etwa die Elektrizität) nicht anders erkennen und erklären, als durch ihre Äußerungen, zu denen wiederum Kräfte vorausgesetzt werden und auch wenn du behauptest, der menschliche Geist funktioniere so und es gebe ein ganzes System von einander voraussetzenden Elementen (Begründungsstrategie (1.1.2)), steht es mir immer noch frei, skeptisch zu bleiben. Es ist und bleibt ein Hin und Her von »X1 erklärt X2«, »X2 erklärt X1«, »X2 erklärt X3«, »X3 erklärt X2« etc. (1.4) Dissens. 366 Auch wenn du glauben solltest, dich mit Hilfe dieser Strategien aus meinem Trilemma gerettet zu haben, achte doch darauf, dass dir, wenn überhaupt, dann doch nur wenige zustimmen werden. Wenn die Texte von Kant und Fichte schon über 200 Jahre alt sind, warum gibt es denn bisher keine allgemein geltende Theorie der Vernunft im engeren Sinne? Du weißt ja selbst, was alles unter »Vernunft« verstanden werden kann. Also kann es kein sicheres Wissen über das theoretische Konstrukt geben, das dich interessiert.
»Der Tropus der Diallele schließlich entsteht, wenn dasjenige, das den fraglichen Gegenstand stützen soll, selbst der Bestätigung durch den fraglichen Gegenstand bedarf. Da wir hier keines zur Begründung des anderen verwenden können, halten wir uns über beide zurück« (ebd. 131). 366 »Der Tropus aus dem Widerstreit besagt, dass wir über den vorgelegten Gegenstand einen unentscheidbaren Zwiespalt sowohl im Leben als auch unter den Philosophen vorfinden, dessentwegen wir unfähig sind, etwas zu wählen oder abzulehnen, und daher in die Zurückhaltung münden« (ebd. 130). 365
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Auch wenn du sagst, die Vernunft (das Wissen über sie und ihr Gebrauch) soll sein, dann wird es nicht lange dauern, bis ich einen Menschen finde, der das Gegenteil behaupten wird. Erkläre mir doch einmal, warum sie sein soll? Du wirst meinem Trilemma nicht entgehen können und behaupten, sie soll sein, weil X1 ist, X1 soll wiederum sein, weil X2 ist etc. ad infinitum. Oder du behauptest nonchalant und dogmatisch, sie solle einfach sein. Oder sie solle sein, weil sie sei (was ich eben bezweifle), und sie sei, weil sie sein soll – und so würdest du durch eine zirkuläre Argumentation eine Fiktion aufrechterhalten. (1.5) Relativität. 367 In Ordnung, nehmen wir doch deinen Vorschlag an, unterschiedliche Vernunftbegriffe im Kontext voneinander abweichender Forschungsprogramme mit konkreten gesetzten Ansprüchen zu betrachten. Dann sammelt die Person 1 oder die Forschungsgruppe 1 Wissen über die Vernunft 1 (z. B. Rationalität) und leugnet einfach die Vernunft 2 (z. B. die absolute Idee) der Forschungsgruppe 2, oder die Vernunft 3 (z. B. als Vermögen der Ideen) etc. Also hängt das Wissen, dass du sammelst, davon ab, welcher Mensch du bist, was dich gerade interessiert, ob du schwerpunktmäßig sprach- oder bewusstseinsphilosophisch denkst etc. Auch wenn du einen reflektierten Perspektivismus vertreten willst, bei dem es darum gehen soll, unterschiedliche Forschungsprogramme und Ansprüche zu durchdenken und zu akzeptieren sowie zu prüfen, inwieweit sie einander ergänzen und welche Kooperationsmöglichkeiten bestehen, ist und bleibt das ein Relativismus. Forschungsprogrammatische Festlegungen und Ansprüche sind relativ in Bezug auf die jeweilige Forscherpersönlichkeit, die sie vertritt. Und so gibt es kein Wissen über die Vernunft, dem alle ohne Weiteres zustimmten. Was den Versuch betrifft (Begründungsmöglichkeit (2.2)), mindestens fünf Gründe für das Sein-Sollen der Vernunft aus unterschiedlichen Blickwinkeln aufzuzeigen, die im Leben und in Affekten fundiert sind, so ist er gerade dem Denken der Relativität zu verdanken und sprengt daher das Programm eines absoluten Orientierungspunktes (falls das beansprucht wurde).
367 »Beim Tropus aus der Relativität erscheint zwar der Gegenstand, wie oben schon gesagt [im Hinblick auf die zehn älteren Tropen (vgl. ebd. 102 ff.), Zusatz von M. L.], so oder so, bezogen auf die urteilende Instanz oder das Mitangeschaute, wie er aber seiner Natur nach beschaffen ist, darüber halten wir uns zurück« (ebd.).
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(2) Topoi der Vernunftkritik. Insbesondere die Dissens- und Relativitätseinwände der Tropen lassen sich zu weiteren (nun aber materialen, konkrete interne Eigenschaften der Theorie der Vernunft betreffenden) Einzelargumenten ausbilden. Sie beruhen auf der (grundlegenden und jahrtausendealten skeptischen) Einsicht, dass einer jeden Position eine einleuchtende Gegenposition gegenübergestellt werden kann, die erfolgreich ihre Mängel und Schwächen entlarven könnte. 368 Die Einzelargumente (der letzten Jahrhunderte) im Hinblick auf die Vernunftkritik lassen sich zu Topoi bündeln – sie kreisen um konkrete Themenkomplexe und betonen etwas Bestimmtes, den Tendenzen des Vernunftdenkens Entgegengesetztes. 369 Auf Beispiele und die dahinter liegenden Ansprüche werden wir später reflektieren. (2.1) Unattraktivität. Eine der Möglichkeiten, das gegnerische Forschungsprogramm auszuschalten, besteht darin, es als unattraktiv darzustellen. Es handelt sich dabei um Meinungen und Geschmacksäußerungen, die eine Wirkung beim Rezipienten erhoffen, die ihn dazu bewegen soll, in einer bestimmten Richtung nicht zu forschen (ad rem) und/oder sich nicht mit bestimmten Autoren (ad hominem) zu beschäftigen. Der Komplexität kann z. B. die Einfachheit gegenübergestellt werden, einem älteren Forschungsprogramm ein paradigmatischer und fortschrittlicher Konsens des »wir heute« etc. (2.2) Machtmissbrauch. Eine weitere Möglichkeit, das Forschungsprogramm Vernunft im engeren Sinne zu unterminieren, könnte darin bestehen, der Vernunft oder einer Forschergruppe vorzuwerfen, ungerecht, ungesund und zerstörerisch ihre Macht zu gebrauchen. (2.3) Das Andere der Vernunft. Unter diesem Topos können alle Bemühungen zusammengefast werden, angeblich ausgestoßene, geächtete und vergessene Oppositionen zur Vernunft aufzubauen und sie so stark wie möglich zur Geltung zu bringen – z. B. die Sprache, den Leib, die Gefühle, die Systemlosigkeit. Man setzt nach Sextus entweder »Erscheinungen Erscheinungen oder Gedanken Gedanken oder diese einander wechselweise entgegen« (ebd. 101). So kann man auch dem Gegenwärtigen Vergangenes oder Zukünftiges entgegensetzen. Das schließt auch z. B. den Fall ein, ein »wir heute« dem »sie damals« gegenüberzustellen. 369 Wir sprechen (im neutralen Sinne) von Topoi (Themen, (Vorstellungs-)Bildern) als von Gesichtspunkten, die rhetorischen Kunstgriffen, Argumenten und Denkfiguren zugrunde liegen und die oft (aber nicht unbedingt immer) dazu benutzt werden können, bestimmte Common-Sense-Überzeugungen in die Diskussion einzubringen. 368
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(2.4) Intersubjektivität (die Anderen der Vernunft). Einem angeblichen Solipsismus der Vernunft kann die Rolle des Mitmenschen (als das attraktivere Andere) gegenübergestellt werden, was als ein eigener Topos hervorgehoben werden kann.
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7 Das Problem der unterschiedlichen Ansprüche
An die wissenschaftstheoretische (forschungsprogrammatische) Reflexion über unterschiedliche Vernunftbegriffe, Theorienreihen, Richtungen und Schulen in der Philosophie lassen sich interessante anspruchslogische Überlegungen anknüpfen. Der Konkurrenzkampf zwischen diversen philosophischen Positionen (und mit ihm verbundene Kritikformen) enthält nämlich weitere Dimensionen, die allein von der Feststellung von forschungsprogrammatischen Festlegungen nicht abgedeckt werden. Bei dem Problem der unterschiedlichen Ansprüche, das wir im Folgenden zum Gegenstand der Untersuchung machen wollen, handelt es sich um einen Interpretationsansatz und ein Analysetool, das bereits von Anfang an, insbesondere im zweiten Teil der Arbeit, an einigen Stellen verwendet wurde, ohne dass wir auf dasselbe explizit eingingen. Das diente dem Zweck, Beispiele zu geben und vorbereitend die Vermutung zu erwecken, dass sich dahinter möglicherweise ein ganz grundlegendes Problem verbirgt, das bewusst durchdacht werden sollte. Aus folgenden drei Gründen wollen wir diesen Interpretationsansatz in unsere Untersuchung zur Vernunftbegründung im Ausgang von Kant und Fichte einbetten: (1) Strategisches Aufgreifen der Dissens- und Relativitätseinwände, die sich zu den oben genannten Topoi der Vernunftkritik erweitern lassen; (2) Anspruchslogische Zurückweisung der Vernunftkritik durch konsequente Reflexion auf die Multiperspektivität im Sinne eines reflektierten Perspektivismus; (3) Einholung der mit den forschungsprogrammatischen Festlegungen und Interessen zusammenhängenden Dimension der Anspruchssetzungen. Zu (1): Wir haben die Dissens- und Relativitätstropen als ein machtvolles skeptisches Instrument verstanden, das uns selbst bei einem versuchten und teilweise erfolgversprechenden Ausweg aus dem 284
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Münchhausen-Trilemma (die beiden ersten Begründungsstrategien) die letzte Hoffnung auf die Begründung des Seins und des Sein-Sollens der Vernunft nehmen kann. Die Topoi der Vernunftkritik, bei denen es darum geht, das Andere, Gegensätzliche der Vernunft zu betonen, scheinen auf ihnen zu basieren und sie zu anschaulichen konkreten Beispielen und Themenkomplexen zu erweitern. Wenn wir uns auf das radikale Denken des Dissenses und der Relativität einlassen, also voll zustimmend, dass es viele und sehr unterschiedliche Meinungen, Ansichten, Theorien etc. gibt, mit- und weiterdenken, so müssen wir nicht unbedingt zu denselben Folgerungen wie die Vernunftkritiker kommen. In der Tat: Ausgehend von der These, dass es faktisch eine irreduzible Multiperspektivität gibt, muss es konsequenterweise auch im Hinblick auf die Folgerungen, die aus den Tropen und den Topoi gezogen werden, sehr unterschiedliche Positionen geben. Die Strategie, die wir verfolgen, besteht also im Aufgreifen und Verstärken der Dissens- und Relativismuseinwände mit dem Ziel des Nachweises, dass, wenn man nur nachdrücklich genug mit ihnen arbeitet und unaufhörlich weiterdenkt, man zu viel besseren und interessanteren Ergebnissen als Rechtfertigungsskeptiker und Vernunftkritiker kommt. Wir führen diese Tropen also nicht ad absurdum, sondern nutzen sie als heuristische Motive zur weiteren Nachforschung. Auch führen wir keine Sprachspiele an, um performative Selbstwidersprüche aufzudecken (wie etwa: »Es gibt kein sicheres Wissen, weil alle Positionen bloß relativ sind«, also muss auch diese Position es sein), reflexiv ihre Evidenz aufzuzeigen und sie damit zu entkräften, weil es uns gerade um ihr Bekräftigen geht, um auf diesem Wege mehr begrifflich artikuliertes Wissen zu generieren. 370 Zu (2): Die Frage ist also: Welche Folgerungen und Reaktionen sind ausgehend von dem Umstand, dass es Dissense und Relativität – kurz: Andersheit – gibt, möglich? Mindestens folgende fünf (idealtypisch darstellbaren) Arten des Perspektivismus (der Kennzeichnung einer Position im Hinblick auf ihr Verhalten zur Pluralität der Ansichten und zu den Dissens- und Relativitätseinwänden) können
370 Die Nachweise von Selbstwidersprüchen sind den Skeptikern sogar, wenn man Sextus Empiricus folgt, willkommen – denn ihre Kunstgriffe richten sich darauf, alle starken und über bloße Erlebnisse (wie: »mir ist warm«, »das schmeckt mir« etc.) und einfache Lebenserfahrungen hinausgehenden Behauptungen auszuschalten, mithin auch die eigenen (vgl. Sextus: Grundriss 96 ff.).
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Das Problem der unterschiedlichen Ansprüche
unterschieden werden – denen ein Vorschlag zu der bestmöglichen metaphilosophischen Haltung gegenübergestellt werden kann: 371 (1) Rückläufiger Perspektivismus. Man kann erstens allein schon aus dem Grund, dass es mehrere einander widerstreitende Positionen gibt, die relativ in Bezug auf den Menschen, die Lebenssituationen, die Forschungs- und Lebensinteressen etc. sind, dafür plädieren, von allen Perspektiven (Theorien, Auffassungen, Forschungsprojekten) zurückzutreten und sich auf den Alltag (einfache Lebenserfahrungen und Erlebnisse) als den Orientierungspunkt zu konzentrieren. 372 Die Theorie der Vernunft im engeren Sinne wäre nach dieser Auffassung allein schon deswe-
371 Die Philosophie des Perspektivismus kann als ein eigenständiges Forschungsprogramm aufgefasst werden, bei dem es darum gehen soll, das Eigentümliche einer jeden Stellungnahme und Haltung, eines Standpunktes oder einer Weltansicht bzw. allgemein: jeder Sichtweise zu untersuchen. Obwohl Elemente der perspektivistischen Philosophie sich bei vielen Denkern, auch etwa bei Fichte (man denke an die Theorie der Weltansichten) und Hegel (Standpunkte in der Phänomenologie des Geistes) nachweisen lassen, war Friedrich Kaulbach vielleicht der erste, der sich nicht nur mit der Vielheit der Perspektiven und ihrem Verhältnis zueinander, sondern explizit mit der Methodologie des Umgangs mit denselben (und das heißt: mit metaphilosophischen Fragen) befasste. Sein Ziel, ein systematisch aufgebautes Forschungsprogramm zu entwickeln, das im Anschluss an seine historischen Untersuchungen zu Kant, Hegel und Nietzsche als Band II der Philosophie des Perspektivismus (vgl. Kaulbach 1990: X) erscheinen sollte, wurde leider aufgrund seines Todes nicht erreicht (zur Auseinandersetzung mit der Philosophie Kaulbachs und ihrer Würdigung vgl. insbesondere Gerhardt/Herold (1992)). Man kann die in vorliegender Untersuchung entwickelte Position als einen Beitrag zur perspektivistischen Philosophie verstehen. Der reflektierte (taktische / raffinierte) Perspektivismus kann als der beste (Meta-)Standpunkt angesehen und vorgeschlagen werden, von dem aus aufgrund der Aufmerksamkeit auf (a) forschungsprogrammatische Festlegungen und (b) unterschiedliche Ansprüche alle Positionierungen grundlegend in ihren ihnen eigentümlichen Qualitäten akzeptiert werden. Dies ist nämlich die Basis zu ihrem Verstehen, bei dem (stets) eigene (a) und (b) nicht zu Unrecht in sie hineinprojiziert werden oder bei dem sie nicht sofort zur unreflektierten Kritik führen. Diese Überlegungen haben zunächst einen Entwurfscharakter – der reflektierte Perspektivismus wird hier theoretisch nur so weit bestimmt, wie es zum Zweck unserer Untersuchung zur Vernunft im engeren Sinne und ihrer Begründung nötig ist. 372 Die antiken Skeptiker, die mit den fünf Tropen operierten, hatten tatsächlich nicht das Ziel, bessere Standpunkte zu finden, sondern jegliches »Theoretisieren« als solches zugunsten einer »Seelenruhe« zu unterminieren. Man könnte ihnen gegenüber einwenden, dass sie damit selbst doch eine starke Position vertreten und sich widersprechen – sie könnten erwidern, dass sie doch nur mit Tropen, keinen Theorien agieren und konsequenterweise keine festen theoretischen Perspektiven und Überzeugungen (also das »Unperspektivische«) anstreben (vgl. Sextus: Grundriss 96 ff.).
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gen unbegründet, weil Kants und Fichtes Denken in der Sekundärliteratur unterschiedlich interpretiert werden und weil Verschiedenes unter dem Begriff »Vernunft« verstanden wird. Apodiktischer Perspektivismus. Man kann ferner in der Pluralität (der Theorien, philosophischen Richtungen, Ansichten, Meinungen etc.) ein Problem sehen, und sich entweder dogmatisch (dies durchaus auch pejorativ konnotiert) oder rigoros (dies durchaus auch meliorativ konnotiert) für eine Position entscheiden. Nach dieser Art des Perspektivismus wäre das Forschungsprogramm Vernunft im engeren Sinne radikal abzulehnen, wenn es gegen eine ausgewählte und streng vertretene Perspektive (man denke z. B. an den königlichen Befehl an Kant nach dem Erscheinen der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, keine religionsphilosophischen Schriften mehr zu publizieren) verstößt. Subjektiver Perspektivismus. Bei dem subjektiven Perspektivismus geht es darum, alle möglichen Standpunkte auf subjektive Elemente wie aktuelle Lebensinteressen und Motive zurückzuführen. Diese Strategie richtet sich insbesondere gegen den apodiktischen Perspektivismus und gegen Versuche, Wahrheitserkenntnisse als infallibel und allgemeingültig hinzustellen. Die Theorie der Vernunft im engeren Sinne wäre insbesondere dann zu destruieren, wenn mit ihr Ansprüche solcher Art erhoben würden. Objektiver Perspektivismus. Man könnte aber versuchen, die Perspektiven in ihrer Vielfalt zu akzeptieren, miteinander zu vermitteln und als ein Netzwerk zu verstehen, das ein und dieselbe Wirklichkeit abbildet. Die Theorie der Vernunft im engeren Sinne wäre nach dieser Position insbesondere dann scharf zu kritisieren, wenn ihre Vertreter sich perennierend vor dem Blick auf das zusammenhängende Ganze verschließen würden. Konsenstheoretischer Perspektivismus. Nach dieser Position wird darauf bestanden, dass trotz der Pluralität und des Dissenses Einigung erreicht werden kann und soll, was für unterschiedliche Diskursformationen gilt. Das Forschungsprogramm Vernunft im engeren Sinne wäre dann aufzulösen oder radikal zu transformieren (seinen harten Kern aufgebend), wenn es und seine Inhalte (z. B. die Rede vom »Vermögen«) nicht der als aktuell angesehenen Logic of Science oder der paradigmatischen Situation entsprechen.
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Das Problem der unterschiedlichen Ansprüche
Diesen fünf Positionierungen kann die Vernunftidee eines reflektierten (raffinierten, taktischen) Perspektivismus gegenübergestellt werden. Ihm liegt einerseits die Forderung zugrunde, von allen Perspektiven (mithin auch von der eigenen) Abstand zu nehmen, um auf sie grundlegend im Rahmen einer Metaphilosophie zu reflektieren, bei der auf (a) forschungsprogrammatische und (b) anspruchslogische Differenzen geachtet wird. Andererseits heißt dies, einen hohen Grad der radikalen Akzeptanz der Unterschiede zu entwickeln, den die Vertreter aller sechs Arten des Perspektivismus ablehnen würden, eben weil sie sich nicht auf dieselbe Reflexionsebene stellen. Wie verhält sich diese Position zu ihnen? Als ein taktischer Perspektivist kann man den Standpunkt des (1) rückläufigen Perspektivismus akzeptieren, wenn hinreichend darauf reflektiert und ein Konsens erreicht wird, dass seine Vertreter keine hohen Ansprüche an sich selbst und an andere hinsichtlich der theoretischen Bemühungen stellen. Es ist in Ordnung, wenn man sich in den Alltag zurückziehen will, aber man muss dann zugeben, dass man keine großen Anforderungen (an sein Denken, an die Wissenschaft etc.) hat und seinen Mitmenschen, die sie haben, einen gewissen Freiraum lassen, sie auszuleben und nach bestmöglichen Theorien zu suchen. Was den (2) apodiktischen Perspektivismus betrifft, so kann es durchaus auch als positiv bewertet werden, dass jemand eine Position mit voller Entschlossenheit vertritt und z. B. Wissen sammelt, welches die weniger Entschlossenen nicht erworben hätten, oder aus einem moralischen Rigorismus Handlungen ausführt, die z. B. Leben retten. Aber man muss auch dem Umstand Rechnung tragen, dass es unterschiedliche Forschungsprogramme und andere (auch geringere) Ansprüche gibt, die zu akzeptieren sind. Will ein (3) subjektiver Perspektivist tradierte Normen, starre Vorstellungen, Religionen und systematisch angelegte philosophische Forschungsprogramme als Unternehmen, die relativ in Bezug auf lebensweltliche Interessen, Motive, Willen zur Macht etc. sind, kritisieren, dann kann er das gern tun, weil das seinen konkreten Ansprüchen gemäß ist, deren Qualität und Relativität festgestellt werden können. Auch können die Ergebnisse seines Denkens interessant und bedeutend sein. Als ein konsequenter Perspektivist muss man aber das Dissens- und Relativitätsdenken weiter anwenden und auf die metaphilosophische Ebene ausweiten. Man darf nicht seine Überlegungen an einem bestimmten Punkt abbrechen, sondern muss akzeptieren und die Möglichkeit offenlassen können, dass es auch andere forschungsprogrammatische Festlegungen und Ansprü288
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che gibt, die abweichende (und vielleicht sogar zutreffende) Deutungen derselben Sachverhalte erlauben und einem Nachforschenden mehr abverlangen können. So kann etwa ein (4) objektiver Perspektivist zahlreiche Untersuchungen, was die Logik, Physik, Biologie, Psychologie, Rechtswissenschaften etc. betrifft – also eine überwältigende Menge an Wissen vor seinem geistigen Auge artikulierend – detailliert kennen und zu einem philosophischen System verarbeiten, das ein treffendes Bild der Wirklichkeit sein soll. Dies ist eine Leistung, zu der nicht jeder fähig ist, und hängt mit Anforderungen an das Denken zusammen, die nicht jeder an sich stellt. Es muss daher auch für einen objektiven Perspektivisten gelten, andere Forschungsprogramme mit moderateren Ansprüchen akzeptieren zu können. Als solche kann beispielsweise die Position des (5) konsenstheoretischen Perspektivismus angesehen werden, welche wiederum im Hinblick auf das konsequente Durchdenken der Dissens- und Relativitätsprobleme defizitär werden kann, wenn sie von einem paradigmatischen Konsens ausgeht, welcher konkurrierende Forschungsprogramme gegenüber anderen zentralen Festlegungen benachteiligt und ausgrenzt. Alle fünf Arten der Stellungsnahmen zur Pluralität der Standpunkte sind also für einen taktischen Perspektivisten (nach der Idee eines reflektierten Perspektivismus) insofern akzeptabel, als sich hinter ihnen unterschiedliche und bis zu einem gewissen Grad tolerierbare (a) forschungsprogrammatische Festlegungen und (b) Ansprüche verbergen, die die Forschungslandschaft bzw. die Vielfalt der Positionen bereichern. Sie sind aber insofern zu kritisieren, als sie auf dieselben nicht reflektieren und dadurch dazu neigen, sich von Kooperationen und dem Verstehen der Mitmenschen und der Andersheit, was die Punkte (a) und (b) betrifft, auf unterschiedliche Weisen abzuschotten. Sie verletzen, wenn sie dieser Neigung nachgeben und sich nicht zu einem reflektierten Perspektivismus fortbilden, also der Einladung nicht folgen, die metaphilosophische Dimension der programmatischen Festlegungen und Ansprüche in ihre Überlegungen einzubeziehen, die Freiheit der anderen und elementare Regeln des Einander-Verstehens (vgl. 7.3). Wir werden sehen, dass das Urteil über die Möglichkeit der Begründung der Vernunft im engeren Sinne sich am besten und neutralsten von dem Standpunkt des reflektierten Perspektivismus aus fällen lässt. Sie soll also weder apodiktisch verteidigt, ohne dass dabei dem Dissens und der Relativität ausreichend Rechnung getragen wird Das System der Ideen
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((2)), noch bloß aufgrund von abweichenden forschungsprogrammatischen Festlegungen und Ansprüchen geleugnet werden ((1) und (3)–(5)). Sowohl die Begründungsstrategien, die wir im Ausgang von Kant und Fichte gefunden haben, als auch die Tropen und die Topoi der Vernunftkritik müssen einer grundlegenden anspruchslogischen Prüfung unterzogen werden, an derem Ende klar werden soll, welche Anforderungen (an sich, an andere, an die Philosophie, die Theorie etc.) gestellt werden müssen, um das Vernunftdenken als ein erforderliches und erfolgreiches Unternehmen anzuerkennen. Zu (3): Das Problem der unterschiedlichen Ansprüche ist ein Interpretationsansatz, den wir im Ausgang von der architektonischen Vernunftidee eines reflektierten Perspektivismus zur Orientierung in der Vielfalt der Positionierungen verwenden wollen. Zu ihm gehört erstens die Einladung dazu, auf das Phänomen der unterschiedlichen Ansprüche aufmerksam zu werden. Ansprüche sind konkrete Forderungen, die im Zusammenhang mit einer alltags-, forschungsoder weltansichtsbezogenen Positionierung gestellt und verbunden werden. So macht z. B. Kant deutlich, dass »derjenige, der Metaphysik zu beurteilen, ja selbst eine abzufassen unternimmt, den Forderungen, die […] gemacht werden, durchaus ein Genüge tun müsse [hervorgehoben von M. L.]« (Prol AA IV 264). Wer sich solcher Aufgaben annimmt, muss also konkrete angemessene Ansprüche an sich stellen (wozu eine genaue Lektüre von schwierigen Texten gehört). So schreibt beispielsweise auch Fichte in der ersten Vorrede seiner programmatischen Schrift (Begriffsschrift) von »sehr gegründeten Anforderungen der Skeptiker« und »streitenden Ansprüchen« (BWL GA I/2 109) unterschiedlicher philosophischer Denkrichtungen, die miteinander prinzipiell vermittelbar sind. So durchschaut auch Habermas die Strategie der Dekonstruktivisten, die logischen Konsistenzforderungen, die die Verfasser philosophischer Werke ursprünglich an ihre Texte gestellt haben, »anderen Forderungen, z. B. solchen ästhetischer Art« 373 nachzuordnen. Mit diesem Austausch der Priorität der Ansprüche eröffnet sich die Möglichkeit, philosophische Texte wie literarische zu behandeln und ausgehend davon Kritik an ihnen zu üben. Ein weiteres Beispiel ist der Versuch von Hans Albert, die »Ansprüche der Transzendentalpragmatik« 374 im Lichte seiner kon-
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Habermas 1988: 222. Albert 1982: 58. Dabei handelt es sich um Ansprüche, die sich insbesondere aus
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sequent fallibilistischen Version des Forschungsprogramms »kritischer Rationalismus« der Kritik zu unterziehen. Das Phänomen der unterschiedlichen Ansprüche ist also, wie diese Beispiele zeigen, eigentlich etwas Bekanntes. Das grundlegende Problem aber, das sich dahinter verbirgt sowie die Frage, wie man mit ihm umgehen soll, wurde noch nicht explizit thematisiert, wozu unser Interpretationsansatz im Rahmen des reflektierten Perspektivismus zweitens einlädt. Wir wollen das Problematische an den unterschiedlichen Ansprüchen anhand der alltäglichen Dimension aufzeigen, um ferner zu sehen, wie es sich auch auf der forschungsprogrammatischen Ebene erkennen lässt. Im Anschluss wollen wir vorschlagen, wie man damit am besten umgeht und unsere Position an den Forderungen hinter der Vernunftbegründung und -kritik erproben.
7.1 Die alltägliche Dimension des Problems Wir wollen also genau auf das Problem aufmerksam werden, welches für das Thema unserer Untersuchung relevante Konsequenzen mit sich bringt. Wir halten uns an die obige Definition, dass Ansprüche konkrete Forderungen sind, die im Zusammenhang mit einer alltags-, forschungs- oder weltansichtsbezogenen Positionierung gestellt und mit dieser verbunden werden. Sie unterscheiden sich insofern von Werten, als sie eher die aktive, sichtbare und mitteilbare Seite der Soll-Sein-Einstellungen (der Imperative) einer Person zum Ausdruck bringen. Entsprechend muss man zum Verstehen der Forderungen der anderen weniger Interpretationsarbeit leisten als etwa bei der Analyse von Werten oder psychologischen Vorprägungen. Wenn man eine Mutter sieht, die (in einer Normalsituation / wie es für sie üblich ist) in unmittelbarer Nähe des Kinderwagens raucht, dann bedeutet das nicht, dass ihr die Gesundheit ihres Kindes nichts wert ist. Fragt man sie direkt, dann kann sie antworten, dass es ihr wichtig sei, dass ihr Kind gesund aufwächst und dass sie regelmäßig Ärzte besuche und auf gesunde Ernährung achte. Man kann viel mutmaßen und nachforschen, welches Set von Werten, Erfahrungen, Kenntnissen, persönlichen Eigenschaften, psychologischen Bedingungen etc. forschungsprogrammatischen Festlegungen von Apel und Kuhlmann ergeben und die Albert als »transzendentale Träumereien« entlarven will. Das System der Ideen
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dennoch ein solches Verhalten von ihr auslöst. Was die Seite der Ansprüche angeht, so ist es doch unbezweifelbar und klar, dass sie von sich nicht fordert (sei es aus dem Wert der Gesundheit, der Pflichtidee oder einer religiösen Ansicht) beim Rauchen genügend Abstand von ihrem Kind zu nehmen. Folgende (alltags-)sprachliche Konstruktionen sind beispielsweise mit den Begriffen »Ansprüche« und »(An-)Forderungen« möglich – man kann: mich (meinen Körper, meine Persönlichkeit, mein Wissen, mein Verhalten, mein Philosophieren etc.)
zu hohe / hohe / höhere zu geringe / geringe / geringere angemessene / unangemessene / überfordernde
Ansprüche stellen an
Andere Gruppen
Anforderungen haben an
die Menschheit die Wissenschaft
konkrete andere
die Philosophie
ähnliche
die Kunst / Musik Theorien / Konzepte / Forschungsprogramme
Ferner kann man auch den eigenen / fremden Ansprüchen (nicht) gewachsen sein, sie verwirklichen und mit ihnen umgehen können etc. Das Problem der unterschiedlichen Ansprüche tritt auf und wird sichtbar, wenn ein mehr oder weniger verdeckter intra- oder interpersoneller Konflikt zwischen höheren und geringeren bzw. schlechthin anderen Anforderungen entsteht. Er äußert sich, wie wir anhand der Lebenssphären (1) Sport und (2) Musik zeigen wollen, insbesondere durch eine Dynamik von Gefühlen des Zwangs bzw. Wertverlusts. Zu (1): Nehmen wir zwei unterschiedliche Haltungen im Hinblick auf das Gewichtheben an. Der Sportler X ist ein Weltrekordhalter im Gewichtheben. Y trainiert dagegen hobbymäßig in einem Fitnessstudio und hebt maximal nur ein Viertel des Rekordgewichts. Würde X nun ausgehend von seinen persönlichen Zielsetzungen die mangelhafte Einstellung von Y kritisieren, ohne auf seine Ansprüche zu achten, fühlte es sich für Y wie ein unberechtigter Versuch an, ihm etwas aufzuzwingen, was er gar nicht will. Umgekehrt, würde Y Kri292
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tik an der Haltung von X üben, behauptend, dass es doch gar nicht nötig sei, sich so sehr einer Sache hinzugeben, die für das Alltagsleben kaum Bedeutung habe, die sogar mit einem hohen Verletzungsrisiko verbunden sei, fühlte es sich für X wie eine unzulässige Entwertung seiner Lebensaufgabe an. Ähnlich verhielte es sich bei ungefähr gleich hohen Ansprüchen an die eigene sportliche Leistung. Kritisierte X einen Weltrekordhalter im Schwimmen Z ohne Rücksicht auf seine Ziele und Werte – oder umgekehrt – wäre das ein unvernünftiges, u. a. von Gefühlen des Wertverlusts der eigenen existenziellen Aufgaben begleitetes Gespräch. Anders aber, wenn sie gegenseitig auf ihre unterschiedlichen Ansprüche achteten und kooperierten, also einander ausgehend von abweichenden Erfahrungen und Einsichten unterstützten, ihren Forderungen gemäße Ziele besser zu erreichen. Zu (2): Einojuhani Rautavaara veröffentlicht seine drei Klavierkonzerte (Piano Concerto No. 1–3) zwischen den Jahren 1969 und 1998. Sie enthalten anspruchsvolle und originelle Notenkombinationen und fantasievolle, von der romantischen Tradition beeinflusste Melodien. Ein viel bekannterer Künstler (Y) schreibt in einem Jahr 10 bis 20 kurze minimalistisch orientierte Klavierwerke mit einfachen Strukturen und unkomplizierten, eingängigen und stimmungsvollen Melodien. Nun kann ein fiktiver Komponist X mit ähnlichen Anforderungen wie Rautavaara Y dazu auffordern, doch endlich ausdifferenziertere und die Fantasie an ihre Grenzen treibende Stücke zu verfassen. Y fühlte sich in diesem Fall sicherlich in seinen Ansprüchen missverstanden und zwar so, dass ihm jemand etwas von außen aufzwingen wollte. Er könnte X in vernichtender Gegenkritik vorwerfen, etwas zu komponieren, das der modernen Logik der Musik und des Marktes überhaupt nicht mehr entspreche. Er könnte behaupten, dass wir heute keine komplexen überfordernden Klavierwerke, die nicht Entspannungszwecken oder anderen alltagsbezogenen Interessen dienen, benötigen. Solche Forderungen, wie »ein Pianist muss ein Virtuose wie Charles Valentin Alkan sein« oder »Musik muss Überwältigendes leisten« sind einfach zu stark und entsprechen auch häufig nicht den Erwartungen des Publikums. Solche Aussagen fühlen sich für einen Vertreter der Position X wie ein Wertezerfall an. Anders kann es aber aussehen, wenn sowohl X als auch Y oder Z, der auf dem gleichen Niveau wie X, aber in einem anderen Stil Musik schreibt, ihre Ansprüche und die Logik von Zwang und Wertverlust begreifen und akzeptieren. Das System der Ideen
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7.2 Die forschungsprogrammatische Dimension Auch im Hinblick auf die Philosophie und die Forschungsprogrammatik sieht die Situation nicht wesentlich anders aus. Das soll nun kurz unter Zuhilfenahme der verschachtelten Struktur der Forschungsprogramme durch IV Ebenen, die oben im Ausgang der Überlegungen von Lakatos entwickelt wurden, demonstriert werden. (I) Die Wissenschaft an sich. Hinter Positionierungen wie »das Abgrenzungskriterium der Wissenschaft von Pseudo-Wissenschaften soll allein die empirische Überprüfbarkeit von Theorien sein« (A), »was als wissenschaftlich zu gelten hat, muss sich im Konkurrenzkampf der Forschungsprogramme entscheiden« (B), »die Ergebnisse der Diskurse, was als Wissenschaft anzusehen ist, und was nicht, sind grundsätzlich von Machthabenden bestimmt, was zu durchschauen ist« (C), »Wissenschaft hat wenig mit Alltag und Praxis zu tun« (D) etc. stehen unterschiedliche Ansprüche. (D) wäre eine offensichtliche Entwertung einer weiteren möglichen Haltung (E), die fordern könnte, dass beispielsweise bei politischen Entscheidungen über die Beibehaltung eines Gesetzes rechtswissenschaftliche Evaluierungen herangezogen werden sollen. Das Forschungsprojekt C beruht auf der Forderung, stets kritisch zu bleiben und auf Machtverhältnisse aufmerksam zu sein, kann aber nicht ohne Weiteres etwa gegen B ausgespielt werden, das sich auf einer komplett anderen Ebene befindet. Bei B wird nämlich beansprucht, die Logik der Forschung so begreiflich zu machen, wie sie auch unabhängig von Institutionen und herrschenden Ansichten (auch im Kampf gegen sie) und auch selbst bei C funktioniert. Dieses Projekt kann wiederum als ein Fall von Ansprüchen an die Wissenschaftlichkeit aus der Perspektive von A bewertet werden, weil dann auch weniger empirisch überprüfbare Positionen in den wissenschaftlichen Diskurs eingehen dürfen. (II) Philosophie. Welche Anforderungen jemand an sich und andere stellt, wird auch in den Stellungen zur Philosophie deutlich – ob sie unter (I) gehöre, ob sie mit der Literatur gleichrangig sei, ob sie eine Privatsache sei und nur im Spaß an nachdenklichen Stimmungen bestehe, oder (zusätzlich) zur Produktion von Wissen und von Überblicken, zur Orientierung im Denken führen solle. Von jemandem, der mit ihr keine hohen Ansprüche verbindet (X), lassen sich qualitativ andere Untersuchungen und kritische Einwände erwarten, als von jemandem, der sie als eine Wissenschaft versteht, die zu wichtigen Ergebnissen führen soll (Y). Besonders problematisch kann es wer294
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den, wenn X rein ausgehend von seinen Anforderungen an die Philosophie Theorien von Y bewertet, an denen jahrelang intensiv gearbeitet wurde, oder umgekehrt, wenn Y sich radikal und verzweifelt mit der Position von X auseinandersetzt, ohne auf die Ansprüche zu achten, die mit ihr verbunden sind. (III) Richtungen innerhalb der Philosophie. Dass mit unterschiedlichen Richtungen und forschungsprogrammatischen Festlegungen abweichende Anforderungen verbunden sind, bemerkt man u. a. an dem Aufwand, den die Verfasser für ihre philosophischen Werke benötigen und der entsprechende Konsequenzen für den Leser hat (haben kann bzw. soll). Wenn Kant ca. 10 Jahre lang an der Kritik der reinen Vernunft arbeitet, dann kann eine Rezension (ein Text mit öffentlicher Wirkung) wie etwa von Garve, der das Buch nicht wirklich liest, bzw. nur wenige Abschnitte von ihm überfliegt, beim Autor oder bei Anhängern eines Forschungsprogramms Verwunderung oder Verzweiflung hervorrufen. So schreibt Kant: Beim Anblicke dieser Zeile [Kants Werk sei ein System des »transzendentellen« / höheren Idealismus, der uns und die Welt in Vorstellungen verwandele, Zusatz von M. L.] sah ich bald, was für eine Rezension da herauskommen würde, ungefähr so, als wenn jemand, der niemals von Geometrie etwas gehört oder gesehen hätte, einen Euklid fände und ersucht würde, sein Urteil zu fällen, nachdem er beim Durchblättern auf viel Figuren gestoßen, etwa sagte: »Das Buch ist eine systematische Anweisung zum Zeichnen […]« (Prol AA IV 374).
Kant macht damit auf das Problem aufmerksam, dass der Autor und der Rezensent andere Ansprüche an die Wissenschaft, Philosophie und sich selbst stellen. Wie bei diesem Beispiel, so muss man überhaupt – auch bei weniger auffallenden Differenzen in Ansprüchen – darauf achten, dass die Urteile (kritische / skeptische Einwände) der Vertreter anderer philosophischer Richtungen (oder an der Philosophie Interessierter) stets relativ zu ihren Anforderungen sind. Wenn jemand (X), der beispielsweise kurze lebensphilosophische Betrachtungen über den Alltag verfasst, Kritik an den zentralen Festlegungen der systematischen kritischen Metaphysik (Y) übt, dann legt er ihr andere (seine) Maßstäbe zugrunde. Wenn X lapidar behauptet, diese Art des Philosophierens sei unhaltbar, weil ihr Alpha und Omega das Theoretische, nicht das Leben sei, so muss man erstens prüfen, ob ein Vertreter des Forschungsprogramms Y – anders als offensichtlich X in seinem Urteil – überhaupt solche Allgemeingeltungsansprüche erDas System der Ideen
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hebt, dass er pauschal und unüberlegt jedermann vorschreibt, auf welche Art und Weise nachzudenken sei, welche Themen allein berührt und welche Schwerpunkte gesetzt werden dürfen. Zweitens, ob bei Y tatsächlich Reflexionen über das Leben komplett ausgeblendet oder gar unmöglich gemacht werden und drittens, ob man ausgehend von dem harten Kern von X in der Lage sein wird, zu demselben Wissensstand und zu derselben Übersicht über die Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis zu kommen. Es kann sein, dass X und Y überhaupt andere Gegenstände thematisieren, so dass sich zumindest keine direkte Konkurrenz um bessere Erklärungen ergibt. Die Kritik von X (in solcher Form) kann als eine unzulässige Entwertung der Ansprüche und Bemühungen von einem Vertreter von Y um konkretes Wissen in einem forschungsprogrammatisch festgelegten Bereich angesehen werden. (IV) Theorien innerhalb der Richtungen. Auch mit der Entwicklung und mit dem Verstehen der einzelnen Theorien(-reihen) hängen bestimmte Ansprüche zusammen. Wird man konkreten Forderungen nicht gerecht, die beispielsweise Fichte an den Mitdenkenden im Hinblick auf das Grundprinzip der Wissenschaftslehre stellt (sie teilweise und insbesondere in seinen Vorlesungen sehr deutlich artikulierend), dann wird es nicht richtig aufgefasst und begriffen. Diese Ansprüche muss man verwirklichen können und wollen – und so entsteht leicht das Problem, dass eine Theorie kritisiert wird, weil das nicht der Fall ist. Darum hat Fichte – dem Elfenbeinturmmentalität fremd war – auch versucht, mit dem Level der Anforderungen und den Einstiegsmöglichkeiten in sein System (etwa über die Religion) zu experimentieren und sein Wissen auch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
7.3 Der Umgang mit unterschiedlichen Ansprüchen: vier Regeln Die skeptischen Dissens- und Relativitätseinwände sind von uns als vernünftige und wertvolle heuristische Beurteilungsprinzipien anerkannt worden. Aus dem Umstand aber, dass es Dissense und Relativität gibt, folgt keineswegs eine einheitliche Position (z. B. die Annahme, dass es kein sicheres Wissen gebe). Wendet man diese beiden Tropen konsequent an, dann muss auch im Hinblick auf die Folgerungen zutiefst eingesehen werden, dass es diverse und einander wider296
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sprechende Positionen gibt. Rufen wir uns das obige Argument in Erinnerung, das wie folgt (etwas formaler) dargestellt werden kann: (1) Es bestehen Dissense und Relativität hinsichtlich aller möglichen Positionierungen (im Alltag, in der Wissenschaft, in der Philosophie etc.). (2) (A) folgert daraus, dass man sich aus allen Perspektiven in den Alltag zurückziehen müsse (rückläufiger Perspektivismus); (B), dass die Multiperspektivität ein Problem sei und nur ein einziger wahrer Standpunkt gewählt werden solle (apodiktischer Perspektivismus); (C), dass keine allgemeingültige Perspektive möglich sei (subjektiver Perspektivismus); (D), dass unterschiedliche Standpunkte zu einem objektiven Bild der Wirklichkeit vereint werden können (objektiver Perspektivismus); (E), dass Konsense erreicht werden können und sollen (konsenstheoretischer Perspektivismus). (3) Nach der Prämisse (1) muss man konsequenterweise zugeben, dass diese Aussage auch im Hinblick auf die Folgerungen, also (2), gilt. (4) Nun versuchen aber alle Folgerungspositionen (A)–(E) dem Umstand (1) zu entfliehen, indem sie endgültige Lösungen für dieses Problem anbieten – den Gedanken (1) also nur vorübergehend gebrauchen, um eine Konsequenz daraus zu ziehen. Sie brechen jeweils das skeptische Verfahren an einem bestimmten Punkt ab, ziehen sich in das Alltagsleben zurück oder nehmen einen festen Standpunkt ein (z. B., dass es keine allgemeingültigen Wahrheiten gebe). (5) Anders der reflektierte Perspektivismus. Das Dissens- und Relativitätsdenken wird nie abgebrochen, sondern zu einem permanenten kritischen Prozess der Beurteilung der (a) forschungsprogrammatischen Festlegungen und (b) Ansprüche hinter allen möglichen Positionierungen (inklusive der Reaktionen auf die Multiperspektivität (A)–(E)) und der Orientierung in denselben gebraucht. Der reflektierte Perspektivismus begrüßt also alle möglichen Festlegungen im Hinblick auf die Forschungstätigkeit sowie starke, schwache bzw. unterschiedliche Ansprüche, aber nur unter einer Bedingung: Die sich Positionierenden müssen sich über dieselben und ihr Verhältnis zu anderen im Klaren sein und sie insbesondere bei Versuchen, an abweichenden Projekten radikale Kritik zu üben, berücksichtigen. In anderen Worten: Es muss Regeln für einen gerechDas System der Ideen
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ten Umgang mit eigenen und fremden Festlegungen und Ansprüchen geben. 375 Werden sie verletzt – erklärt etwa ein Kritiker ein strenges philosophisches Forschungsprogramm schlechthin für unhaltbar und dem »wir heute« nicht gemäß, weil es seinen ästhetischen Anforderungen nicht entspricht – so muss ein taktischer Perspektivist oder jemand, dem seine Intentionen (Unterstützung einer transparenten, fairen und rücksichtsvollen Forschungs- und Kritikpraxis) nahe sind, das durchschauen und diesbezüglich Aufklärungsarbeit leisten. Folgende fünf Regeln für den Umgang mit unterschiedlichen Positionen und Ansprüchen sollten beachtet werden: (1) Kenntnis der Position und – wenn es um die Forschung geht – der programmatischen Festlegungen. Man muss sich für eine erfolgreiche Auseinandersetzung im ersten Schritt vergewissern, ob man den anderen ausreichend verstanden hat. Bei einer wissenschaftlichen Position (Ebenen (I)–(IV)) muss man wissen (oder versuchen zu rekonstruieren), wie ihr harter Kern aussieht und welche Heuristiken ausgehend von ihm entwickelt werden. (2) Reflexion auf die Ansprüche. Im zweiten Schritt muss man stets versuchen bestmöglich zu erkennen, was jemand mit seiner Position beansprucht. Es müssen solche wichtigen Fragen gestellt werden, wie beispielsweise: Will ein Forscher etwas Punktuelles, in seinem Programm Festgelegtes entwickeln, oder fordert er, dass alle in seinem Wissenschaftsbereich nur so denken sollen, wie er es tut und ausschließlich sein Thema behandeln? Stellt er den Anspruch X wirklich, oder unterstelle ich ihm etwas gerade? Welche (z. B. geistigen, körperlichen, lebensplanungsbezogenen etc.) Leistungen erwartet er von sich und von anderen, wie anspruchsvoll sind sie? (3) Reflexion auf das Verhältnis von fremden und eigenen Ansprüchen. Fühlen sich die Anforderungen im Zusammenhang mit 375 Wir schließen uns der sehr bedeutenden Leitidee Wolfgang Welschs an, dass aufgrund der Multiperspektivität, der Vielzahl von Rationalitätstypen, Paradigmen (nach uns vielmehr: Forschungsprogrammen, vgl. Welsch 1996a: 543 ff.) und Standpunkten »über die hohen Ansprüche interdiskursiver Gerechtigkeit« (Welsch 1996b: 156, vgl. 1996a: 698 ff.) Klarheit bestehen soll. Die Vernunftidee der rationalen Gerechtigkeit ist aus unserer Sicht (des reflektierten Perspektivismus) durch die Aufstellung und Beachtung von konsensfähigen Regeln für den Umgang mit eigenen und fremden forschungsprogrammatischen Festlegungen und Ansprüchen hinter den philosophischen Positionierungen (und darüber hinaus) umzusetzen. Diese Theorie kann weiter ausgebaut werden, uns geht es hier nur um ihre Grundzüge vorrangig zum Zweck des Schutzes des Forschungsprogramms Vernunft im engeren Sinne.
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einer Position X wie ein Zwang an, dann kann es sein, dass ich geringere Ansprüche habe. Entweder passe ich mich an und arbeite an mir, weil die Ziele, die im Forschungsprogramm festgelegt sind, sonst nicht erreicht werden können, oder ich lasse es. Ich denunziere ein Projekt allein aus meinem persönlichen Empfinden nicht. Das gilt auch für das Umgekehrte (Wertverlust) und ungefähr gleich starke, aber unterschiedliche Ansprüche. (4) Bewertung der Ansprüche. Ich kann für konkrete gesetzte Ansprüche argumentieren und sie mit besten Gründen verteidigen, ich sollte das aber auf eine faire Weise tun – ohne Unterstellungen, Stereotype, Verzerrungen und absichtlich schlechte Darstellungen von konkurrierenden Positionen. Eine gerechte Prüfung von abweichenden Perspektiven schließt die möglichst vorurteilsfreie Bearbeitung solcher Fragen ein, wie: Sind die gesetzten starken Ansprüche umsetzbar und inwieweit? Sind sie ethisch vertretbar? Welche Anforderungen sind wofür gut – wo liegt ihr jeweiliger Nutzen?
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8 Anspruchslogische Antwort auf das Agrippa-Pentalemma
Mit dem Interpretationsansatz »das Problem der unterschiedlichen Ansprüche« sind wir auf die Logik der Anforderungen hinter divergierenden Positionierungen aufmerksam geworden. Auf ihrer Basis ist es möglich, eine zufriedenstellende Lösung für das »Rätsel« hinter dem Agrippa-Pentalemma zu finden, in das scheinbar ein jeder Begründungsversuch einer anspruchsvollen Theorie, mithin auch der Vernunft im engeren Sinne, für den wir uns explizit interessieren, gerät. Sie besteht darin, auf konkrete (a) forschungsprogrammatische Festlegungen und (b) Ansprüche hinter dem (c) Wissensziel »Vernunft im engeren Sinne« im Unterschied zu denjenigen hinter den fünf Tropen zu achten. Die Vernunft im engeren Sinne ist genau dann begründet, wenn (a) und (b) beachtet und angenommen werden, und sie ist es genau dann nicht, wenn (a) und (b) missachtet und abgelehnt werden. In anderen Worten: Der Erfolg der Begründung hängt von der Aufmerksamkeit und der Bereitschaft des Prüfenden ab, aus guten Gründen vertretbare (a) und (b) gelten zu lassen. Im Grunde hat unsere Strategie Ähnlichkeit mit der Strategie Hegels und der Transzendentalpragmatiker. Die Hegel’sche Lösung, die wir uns oben angeschaut haben, besteht darin, die fünf Tropen, die von antiken Skeptikern gegen die Dogmatiker gebraucht wurden, in Bezug auf die spekulative Philosophie selbst als dogmatisch, als auf starren reflexionsphilosophischen Voraussetzungen beruhend, bloßzustellen. Apel macht seinerseits darauf aufmerksam, dass das Münchhausen-Trilemma nur dann erfolgreich sein kann, wenn jede mögliche Begründung als eine Abfolge von Sätzen, also rein deduktiv betrachtet wird. Legt man aber im harten Kern seines Forschungsprograms fest, dass es unmittelbare Evidenzen gibt, die niemand bezweifeln kann, ohne sich selbst zu widersprechen – begreift man also etwas mehr und anderes unter »Begründung« – dann kann man den Anspruch darauf erheben, das Trilemma vermeiden zu 300
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können. 376 Beide Autoren tun, rein formal-methodologisch gesehen, dasselbe – sie ersetzen die (a) (impliziten) forschungsprogrammatischen Festlegungen und (b) Ansprüche hinter den Tropen durch ihre eigenen. Dieser Ersatz garantiert erst den Erfolg der (Letzt-)Begründung. Unser Ansatz unterscheidet sich von diesen beiden jedoch darin, dass wir explizit metaphilosophisch vorgehen und auf abweichende (a) forschungsprogrammatische Festlegungen, (b) Ansprüche und (c) (Wissens-)Ziele grundlegend reflektieren. Ist dieses Verfahren, das Hegel und Apel benutzen, allgemein dafür verantwortlich, dass es Relativität und Dissens gibt, so muss daraus die Konsequenz des reflektierten Perspektivismus gezogen werden – jede Positionierung wird als konkurrenz- und kooperationsfähig anerkannt, die um (a), (b) und (c) weiß, sie mit guten Gründen verteidigen und mit Abweichungen von (a), (b) und (c) gerecht umgehen kann. Unser Ziel ist nun, nachdem wir alle nötigen Elemente und Einsichten gesammelt und geordnet haben, auf (a), (b) und (c) hinter den drei gewählten Begründungsstrategien der Vernunft im engeren Sinne zu reflektieren und auf mögliche Einwände eines mit dem Agrippa-Pentalemma Argumentierenden zu antworten. Verstandene und akzeptierte (a) forschungsprogrammatische Festlegungen und (b) Ansprüche sind die Garantie für eine gelungene Begründung.
8.1 Gewissheit der Vernunfthandlungen und Bewusstsein der Produkte Bei der Vernunft im engeren Sinne handelt es sich um ein Vermögen des Gemüts (Kant) bzw. des Bewusstseins/Geistes (Fichte), das mit einer konkreten Vorstellungsart, der Idee, operiert. Es wird also von einem Mitdenkenden gefordert, von solchen Begriffen wie »Rationalität«, »rationale Haltung in einer Kultur zu einer gewissen Zeit« und »Vernünftigkeit« Abstand zu nehmen, weil sie anderen Forschungsprogrammen angehören und andere Ansprüche mit sich bringen. Man soll sich auf das konzentrieren, was tatsächlich das Thema ist – die grundlegenden, Erkenntnis ermöglichenden oder regulierenden Funktionen und Gesetze unseres Bewusstseins. Sie werden anhand
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Vgl. Apel (1976).
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konkreter Leistungen, die tatsächlich erbracht werden, erkannt und erschlossen. Im Forschungsprogramm »transzendentale Bewusstseinsphilosophie« ist das Ziel festgelegt, Wissen über die geistigen Bedingungen unserer (objektiv gültigen) Erkenntnis zu erwerben, also nicht etwa über die physischen, anthropologischen, psychologischen, sozialen, sprachwissenschaftlichen etc. Stellt man andere (seine) Ansprüche an dieses Programm, dann wird es damit automatisch kritikanfällig. Die Frage, ob man das ohne Weiteres darf, haben wir oben mit nein beantwortet. Es ist rational ungerecht, von einem Weltrekordhalter im Schwergewichtheben lapidar zu verlangen, Ansprüche an sich zu stellen, die etwa ein professioneller Schwimmer an sich stellt. Und so kann es nicht erlaubt werden, von jemandem, der jahrzehntelang seine geistigen und vitalen Kräfte zum Erwerb von Wissen in einem bestimmten forschungsprogrammatisch festgelegten Bereich mobilisiert, zu fordern, seine Schwerpunkte zu ändern, weil man sich selbst für andere Probleme interessiert. Ein solches Vorgehen – wenn es nicht auf fruchtbare Kooperation unter der Bedingung der Akzeptanz und des gerechten Umgangs mit fremden Anforderungen und Kenntnissen abzielt – führt zum Wissensverlust: Ziele werden nicht erreicht, konkrete Ansprüche werden entwertet. In der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie gilt die Aufmerksamkeit also v. a. grundlegenden geistigen Leistungen, die phänomenal auftreten (im Vollzug sichtbar werden) und erklärt werden. Eine Aussage, wie: »der Stein wird warm, weil die Sonne auf ihn scheint« ist ein Beispiel für eine solche Leistung (ein synthetisches Urteil a posteriori). Die transzendentale Bedingung dafür, dass eine solche einleuchtende Verknüpfung zwischen der Wärme des Steines, die ich gerade empfinde, und der Sonne, die ich sehe, möglich ist, ist die Fähigkeit des Verstandes, diese sinnlichen Data unter den reinen Verstandesbegriff der Kausalität zu subsumieren. Man fängt also nicht auf einmal an, über die Rolle der Bezeichnungen und der Grammatik, über die Mechanismen, die für eine intersubjektive sprachliche Verständigung relevant sind, zu sprechen – man verlässt nicht den Rahmen seines Forschungsprogramms, weil sonst anderes Wissen auf Kosten des Verlusts der Übersicht über die geistigen Fähigkeiten, reinen Anschauungsformen (Sinnlichkeit), Kategorien (Verstand) und Ideen (Vernunft) gesammelt wird. Dies ist eigentlich eine simple metaphilosophische Einsicht, die man aber oft bei rücksichtsloser Kritik an anderen Forschungsprogrammen, die als rückschrittlich erklärt werden, vermisst. Sie ist simpel, aber man muss sie haben: und wenn 302
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man sie länger hat und systematisch entfaltet, dann wird sie anspruchsvoll und folgenreich. Entsprechend sind Aussagen, wie: »ich betrachte die Welt so, als ob sie räumlich unendlich wäre« oder »ich erkläre nicht ein Forschungsprogramm für unhaltbar, weil es meinen Wunschvorstellungen nicht entspricht und mein Interesse an bestimmtem Wissen nicht befriedigt, weil ich nicht wirklich wollen kann, dass solcher Umgang miteinander zur gängigen Wissenschaftspraxis wird« als Leistungen zu betrachten, denen konkrete Funktionen und Gesetze des Bewusstseins zugrunde liegen. Ihre Erklärungen treten (im Anschluss an Platon) als eine Theorienreihe in Kants Kritiken und Fichtes Wissenschaftslehre und populären Schriften auf. In ihrem harten Kern liegt die Einsicht, dass es offensichtlich eine Fähigkeit gibt, Ideen zu bilden und umzusetzen. Das Sein der Vernunft lässt sich also bewusstseinsphilosophisch nicht anders begründen als jedes andere Vermögen – durch die Gewissheit konkreter Vollzüge und das Bewusstsein der Resultate. Das allgemeine Schema dafür kann als ein Schluss aufgefasst werden: (1) Wenn ich etwas umsetzen kann, dann habe ich ein Vermögen dazu, also eine Möglichkeit, die Wirklichkeit werden kann und darum nicht bloß eine mögliche Möglichkeit, sondern eine Möglichkeit, die im Vollzug tatsächlich (da) ist; (2) Nun kann ich X umsetzen; (3) Also habe ich ein Vermögen dazu. Versucht man sich der Fähigkeit, Gedanken zu lesen, zu vergewissern und sich ihrer Produkte bewusst zu werden, dann wird man schnell enttäuscht. Anders aber, wenn man es (selbständig) in der Tat schafft, mindestens eine Vernunftvorstellung aus der Reihe aller Arten der Ideen zu bilden, z. B. diejenige der Pflicht, geistig zu artikulieren und umzusetzen. Dann hat man nämlich einen Grund, sich ein Vernunftvermögen zuzuschreiben. Das sind die Mindestanforderungen, die man an sich stellen muss, um zu begreifen, dass die Vernunft keine Einbildung, keine bloße heuristische Fiktion, kein Kulturprodukt und keine dogmatische Voraussetzung ist. Um ein bloßes Dogma zu sein, müsste die Vernunft nämlich von allem, insbesondere phänomenalem Erkenntniskontext losgelöst postuliert werden. Dies ist weder bei Kant noch bei Fichte der Fall. Auch wird die Theorie der Vernunft nicht in eine unendliche Reihe von Erklärungen verwickelt, die sich bis in die weite Ferne des leeren Raumes transzendenter Begriffe erstreckt. Der Erkenntniskontext ist im Das System der Ideen
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Forschungsprogramm der kritischen Metaphysik genau festgelegt und eingegrenzt und betrifft die Funktionen und Gesetze des menschlichen Bewusstseins im Hinblick auf seine Erkenntnisleistungsfähigkeit. Der einzige wirklich infrage kommende Einwand aus dem Umfang des Münchhausen-Trilemmas (bzw. der ersten drei Tropen nach unserer Darstellung) gegen die Vernunft im engeren Sinne ist derjenige ihrer zirkulären Erklärung. Sind wir in einem Gespräch mit einem Skeptiker, der eine Theorie allein schon aus dem Grund verwirft und sich in den Alltag zurückzieht, weil ihre Begründung etwas Zirkuläres enthält, ohne wissen zu wollen, welcher Art dieser Zirkel ist und ob er vitiös oder produktiv ist, dann haben wir immer schon verloren – es sei denn er akzeptiert unsere forschungsprogrammatischen Festlegungen und Ansprüche. Zwischen den Anforderungen, die mit den Tropen verbunden sind und der geistigen Leistung, die man erbringen muss, um die beiden Lösungsansätze (von Kant und Fichte, die wir oben behandelt haben und hier deswegen nicht auf sie erneut detailliert eingehen) des scheinbaren Zirkels bei der Erklärung der Vernunft zu verstehen, liegt eine große Kluft. Besonders Fichtes Vorschlag, das Sein der Vernunft nicht aus dem Faktum des Sittengesetzes oder einer beliebigen Idee zu erschließen, sondern in erster Linie aus dem unmittelbaren Prozess der Ideenbildung der Vernunft von sich selbst mit den Momenten (α)–(δ), verlangt viel von dem Mitdenkenden, wie etwa: – Vorbildung und Vertrautheit mit Ideen, um auf ihre Quelle besser reflektieren zu können; – Fähigkeit, sich bei dem persönlichen Vollzug der Selbstsetzung der Vernunft auf das Nötige zu konzentrieren – und nicht sofort schon am Anfang ungeduldig abzuschweifen und sich mit Sprache, Kommunikationsgemeinschaft, Logik, Leib, Gefühlen etc. zu beschäftigen, weil sonst Wissen verloren geht, das nur auf diesem Wege gesammelt werden kann; – Fähigkeit, die einzelnen Momente, wie etwa die obigen behandelten (α)–(δ) in der Wissenschaftslehre nova methodo, genau auseinanderzuhalten. Tut man das nicht, stellt man an sich also nicht den Anspruch, alle Details zur Kenntnis zu nehmen, dann wird man z. B. behaupten können, Fichte vertrete einen (dogmatischen) Evidentalismus des Ichs, ein direktes Schauen der Idee selbst. Was (β) unmittelbar gewiss ist, ist aber nicht das Sein der Vernunft an sich, sondern (α) die Handlung der Begriffsbildung, die erfolgreich zum (γ) Begriff »absolutes Ich« führt, was zur 304
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begründeten Annahme berechtigt, wir haben (δ) ein Vermögen dazu. Ohne (α)–(γ) wäre das Sein der Vernunft uns entzogen, verborgen – ohne ihre Äußerung / ohne ihr Bild gar nicht da – eine unbegründete Voraussetzung, heuristische Fiktion, Einbildung. Um die Vernunft im engeren Sinne als ein erfolgloses dogmatisches Projekt darzustellen und zu behaupten, sie sei nicht begründbar, muss man forschungsprogrammatische Festlegungen verdrehen und Ansprüche nicht erfüllen bzw. sowohl diese als auch jene durch eigene ersetzen. Entsprechend ist es möglich, die Theorie der Vernunft im engeren Sinne so zu präsentieren, dass ihre Annahme zu einem vitiösen Zirkel führen könnte, wie z. B. wie folgt: (1) Ich habe reine Vernunft, mit der ich erkennen kann, dass das ganze Universum in Grenzen eingeschlossen ist. (2) Nun sehe ich ein, dass es der Fall ist. (3) Also habe ich reine Vernunft. Hier wird behauptet, dass man transzendenter Erkenntnis fähig sei und ein entsprechendes Organ dafür habe (1), um zu versichern, dass man ihrer tatsächlich fähig sei (2) und ein Vermögen dazu habe (3). Eine andere Möglichkeit, forschungsprogrammatische Festlegungen und Ansprüche von Kant und Fichte zu verdrehen, wäre: (1) Ich habe eine reine Vernunft, mit der ich ohne Rekurs auf kulturelle Prägungen, Sprache, Kommunikationsgemeinschaft erkennen kann, was absolut wahr ist. (2) Ich erkenne direkt im Geist, dass meine Seele unsterblich ist. (3) Also habe ich reine Vernunft. Auch das hat kaum etwas mit der Theorie der Vernunft im engeren Sinne im Rahmen der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie zu tun. Man versichert, dass man etwas von einer konkreten Eigenschaft erkennen kann (1), was wiederum versichert wird (2), um ein Vermögen dazu zu postulieren (3). Vernunft wird dabei im Ausgang von einer Denkbestimmung »rein« definiert, die nicht dieselbe Bedeutung wie bei Kant und Fichte hat. »Rein« bedeutet nicht, dass man eine Erkenntnis nicht sprachlich und soziokulturell thematisieren kann, sondern dass einer Vorstellung der Vernunft nicht etwas in der Erfahrung komplett entsprechen kann. Der korrekte Schluss, von dem ein an dem Forschungsprogramm Vernunft im engeren Sinne Interessierter ausgehen muss, um sich den Positionen von Kant und Fichte anzunähern, die wir oben behandelt haben und darum an dieser Stelle nicht im Detail unterscheiden, ist: Das System der Ideen
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(1) Ich bin im Besitz einer reinen Vernunft, denn ich kann reine Vorstellungen, d. h. solche, denen nichts in der Welt kongruiert, bilden und umsetzen. (2) Ich kann eine reine Vorstellung der (genetivus subjectivus und objectivus) reinen Vernunft hervorbringen sowie solche Begriffe wie (insbesondere) Sittengesetz, (aber auch) Pflicht, Unendlichkeit des Universums, Unsterblichkeit der Seele, Schönheit, das Ganze der Rechtswissenschaft. Ich kann auf ihrer Basis unterschiedliche Imperative bilden und sie tatsächlich umsetzen. (3) Also habe ich reine Vernunft. Hier wird nicht versichert, dass man irgendeiner transzendenten Erkenntnis (mit der Eigenschaft »rein von sprachlichen und soziokulturellen Faktoren«) fähig sei, weil man es sei, sondern nur, dass Begriffe bestimmter Art gebildet und eingesetzt werden können, wenn man es versucht. Die Wahrheit dieses Schlusses hängt nicht davon ab, dass man einem Skeptiker etwa demonstriert, dass die Welt grenzenlos sei und man sich über das Vermögen, das zu erkennen, nicht getäuscht habe, sondern darin, dass wir es beide schaffen, ein unendliches Universum zu denken, welches wir gar nicht wahrnehmen können. Ob es sich um eine objektiv gültige Erkenntnis handelt, welche der Ideen auf welche Weise dennoch sinnvoll eingesetzt werden können etc. sind weitergehende Fragen, die an die philosophische Urteilskraft, nicht an die Vernunft im engeren Sinne gestellt werden. Der Erfolg der Zurückweisung der nach unserer Darstellung ersten drei Tropen (bzw. des Münchhausen-Trilemmas) hängt also nicht einfach davon ab, dass man eine einleuchtende Einsicht vermittelt, der jeder Prüfende bereitwillig zustimmt. Die Vernunft wird – trotz des Zirkelverdachts – nur dann als begründet angesehen werden können, wenn konkret darauf verwiesen wird, welche (a) Festlegungen und (b) Ansprüche akzeptiert sowie welche Missverständnisse aus dem Weg geräumt werden müssen, damit der Begründungsversuch gelingt. Jedem Kritiker steht es dann immer noch frei, (a) und (b) so zu ändern, dass eine Strategie dennoch als unplausibel erscheint. Aber dann muss er entweder zugeben, dass er geringere Ansprüche vertritt, oder dass er sich für andere Themen interessiert und keine direkte Konkurrenz beansprucht, oder er muss auf eine faire Weise (a) und (b) so transformieren, dass wir durch seine Arbeit noch bessere und tiefere Einsicht in die Begründung und die Funktionen der Vernunft im engeren Sinne ohne einen erheblichen Wissensverlust 306
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(hinsichtlich der Bildung, der Arten und der Einsatzmöglichkeiten der Ideen) erreichen.
8.2 Exkurs: »Vermögen« – also Psychologismus? Bei der Darstellung der Begründungsmöglichkeiten wurde angemerkt, dass die These, die Vernunft im engeren Sinne gebe es gar nicht, sie sei entweder eine bloße Einbildung, dogmatische Voraussetzung oder eine heuristische Fiktion, damit zusammenhängt, dass der Begriff »Vermögen« als problematisch und veraltet aufgefasst wird. Da wir nun an unsere forschungsprogrammatischen Überlegungen auch den Interpretationsansatz »das Problem der unterschiedlichen Ansprüche« angeschlossen haben, kann an dieser Stelle eine anspruchslogische Antwort auf den Einwand von Hans Lenk gegeben werden, um beispielhaft auf einen Typus solcher Kritik einzugehen: Welche metaphilosophischen Voraussetzungen verbergen sich hinter seiner Position? Lenk wirft sowohl Kant als auch »selbst besonders tiefgründige[n] Kantforscher[n] (wie z. B. Kaulbach)« 377 vor, handlungspsychologisches und aktionistisches Vokabular zu verwenden, das zu psychologistischen Fehldeutungen verleite: Die reine Vernunft sei ein Vermögen, eine Instanz, die handelt, verbindet, denkt, Einheit stiftet, als Selbsttätigkeit bezeichnet wird, Interessen hat etc. Dagegen ist Lenk der Meinung, dies sei rein metaphorisch zu verstehen, denn die Vernunft sei ein bloßes Interpretationskonstrukt, eine regulative Idee und handele nie faktisch – weder im theoretischen noch praktischen Bereich. 378 Nur »die Person oder der Mensch handelt, nicht die Vernunft an sich.« 379 Stattdessen müsse man von Verbundenheit unter einem ausschließlich metatheoretischen Gesichtspunkt sprechen – man benötige die Vorstellung der reinen Vernunft, um etwa »die Einheitsstruktur der Erfahrungs- und der reinen (etwa logisch-mathematischen) Erkenntnis zu verstehen« 380. Es gehe also lediglich darum, strukturelle Beziehungen von unterschiedlichen Konstrukten in der Kantischen Philosophie als Sinnzusammenhänge zu durchleuchten: 377 378 379 380
Lenk 1986c: 186. Vgl. Kaulbach (1978). Vgl. Lenk 1986b: 268 ff. und 1986c: 198 ff. Lenk 1986c: 200. Ebd.: 199.
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Wenn ein Subjekt sich selbst ein Sittengesetz gibt, dann bedeute es nicht, dass es real geschehe und die Vernunft faktisch handele, sondern nur, dass entweder der Leser der Kritik der praktischen Vernunft oder »der Handelnde selbst« (der Mensch) eine moralische Deutungsperspektive einzunehmen habe. 381 D. h., wenn wir die sehr knappen Ausführungen Lenks an dieser Stelle richtig verstehen, man entwerfe eine semantische Deutung, indem man eine Verbindung zwischen dem Interpretationskonstrukt »Vernunft« und einem Gesetz herstellt. Dadurch werde gewährleistet, dass es als ein moralisches interpretiert wird – und so diene die Vernunft (durch regelmäßigen interpretativen Bezug der Imperative auf sie) indirekt zur Ausrichtung (Orientierung) auf Moralität. Klaus Konhardt fragt sich in seiner Beurteilung der Position von Lenk zu Recht, »ob mit dem Terminus ›Verbundenheit‹ das transzendentale Programm nicht bereits verlassen ist« und welche Funktion die praktische Vernunft noch haben kann, nachdem sie von »aktionistischen Tendenzen sozusagen gesäubert wurde« 382. Lenk vertrete einen Pragmatismus, für den die (sittlichen) Ansprüche im Hinblick auf die Vernunft gar nicht richtig in den Blick geraten: »Einzig eine pragmatische Inanspruchnahme von Vernunft als ›Regulativ‹, Leitorientierung etc. bleibt nach Lenks Einschätzung uns Heutigen nach der endgültigen Verabschiedung der ›selbst-sicheren absoluten Vernunft‹ noch übrig.« 383 Im Zuge unserer metaphilosophischen Reflexion wollen wir zwei Aussagen von Lenk analysieren, die er zu Beginn eines seiner genannten Aufsätze (1986c) äußert und die seine forschungsprogrammatischen Festlegungen und Ansprüche offenbaren. Der Erfolg seiner Kritik an Kant und Kant-Interpreten, die vom Vermögen und von Vernunfthandlungen sprechen, hängt davon ab, ob man sie teilt. (1) »In der Tat scheint es schwierig für einen analytisch arbeitenden Philosophen, der kein spezialistischer Kant-Exeget ist, Kants Theorie des Handelns zu verstehen. Die These dieses Beitrags ist, dass es keineswegs zufällig ist, sondern mit Kants aktionistischer Terminologie zusammenhängt […]« 384; Vgl. ebd.: 199 ff. Konhardt 1986: 165. 383 Ebd.: 166. Die von Konhardt im Zitat angeführte Textstelle stammt aus Lenk (1975): Pragmatische Philosophie. Plädoyers und Beispiele für eine praxisnahe Philosophie und Wissenschaftstheorie, Hamburg: Hoffmann & Campe (Seite 55). 384 Lenk 1986c: 185 f. 381 382
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(2) »Ähnliche Argumente, wie sie gegen den Psychologismus allgemein erhoben werden/wurden (wie etwa von Husserl in bezug auf die Logik) könnten in bezug auf eine aktionistische Fehldeutung von Kants transzendentaler Erkenntnistheorie vorgebracht werden« 385. Beide Aussagen scheinen in die Richtung eines konsenstheoretischen Perspektivismus zu gehen, bei dem davon ausgegangen wird, dass im philosophischen Diskurs Einigkeit über forschungsprogrammatische Festlegungen bestehen müsse, die als sicheres Fundament für Kritik an möglichen Abweichungen genutzt werden kann. Es wird suggeriert, dass (1) die aktionistische Terminologie vermieden werden solle, weil analytisch ausgerichtete Philosophen sie problematisch finden und (2) dass jeder unter dem Begriff »Psychologismus« automatisch dasselbe verstehe und gestehe, vom Vernunftvermögen, von Vernunfthandlungen etc. nicht sprechen zu dürfen, weil sonst gegen die Kantische Theorie der Vernunft wie gegen einen Psychologismus argumentiert werden könne. Als taktischer Perspektivist muss man diese Ansichten wie folgt beurteilen: Zu (1): Erstens kann ein Analytiker, je nachdem, wie sein Forschungsprogramm aufgebaut ist, nicht nur das aktionistische, sondern überhaupt alles bewusstseinsphilosophische Vokabular vermeiden wollen. Er könnte der Auffassung sein, solche Begriffe wie Subjekt oder Vorstellung könnten zur (für ihn) nicht erwünschten Meinung verleiten, es gebe von der Sprache unabhängige Entitäten. Oder er könnte sie für die Lösung der in seinem Forschungsprogramm vorgesehenen Fragestellungen gar nicht benötigen. Es ist auch möglich, dass ein analytisch arbeitender Philosoph für den Begriff des Vermögens bzw. der Disposition argumentiert, denn »die sprachanalytische Philosophie ist keine Position, die man einnehmen könnte oder nicht; wer sie so sieht, sei daran erinnert, dass im linguistischen Paradigma alle klassischen Standpunkte […] wiederaufgetaucht und vertreten worden sind.« 386 Zweitens sind die Vertreter einer philosophischen Richtung oder an ihr Interessierte nicht verpflichtet, ihre zentralen Termini zu ändern, die nicht zu Grundannahmen und Problemstellungen anderer passen, weil das zu enormen Wissensverlusten führen könnte. Es ist dann die Frage, ob Alternativvorschläge wie die sehr skizzenhaft dargestellte Theorie »transzen385 386
Ebd.: 187. Schnädelbach 1994: 74.
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dentaler Verbundenheit« eine progressive Problemverschiebung im Kantischen Forschungsprogramm bewirken könnte, die zu neuem und besserem Wissen führte. Besonders ungerecht kann es werden, wenn man versucht, mit diesem Begriff auch die Fichte’sche Tathandlung zu erklären, auf deren Möglichkeit und realen Vollzug das ganze System der Wissenschaftslehre beruht. Drittens muss man ein anspruchsvolles systematisches Forschungsprogramm an sich nicht unbedingt aus dem Grund umändern, weil man einzelne Inhalte daraus – wie die Theorie des Handelns – jemandem, der »kein spezialistischer Kant-Exeget ist«, leicht verfügbar machen will, ihm sozusagen die Mühe ersparen, hohe Anforderungen an sich zu stellen und sich unter Berücksichtigung der nötigen forschungsprogrammatischen Festlegungen in das Gesamtsystem einzuarbeiten. Es handelt sich bei (1) also um keinen guten Einwand gegen den Gebrauch aktionistischer Sprache, zu dem offensichtlich die Ausblendung solcher metaphilosophischen Überlegungen geführt haben muss. Zu (2): Interessanter und ernsthafter scheinender ist das Argument der drohenden Gefahr der Psychologismus-Kritik. Lenk bringt damit das zugkräftige »Kampfwort ›Psychologismus‹« 387 ins Spiel. Wie Wilhelm Wundt – als einer der Hauptbeteiligten an dem »Psychologismusstreit« – schreibt, gehört dieser Begriff, wie auch sein Gegenpart »Logizismus«, zu »den ganz seltenen Bestandteilen der philosophischen Terminologie, bei denen eine wissenschaftliche Richtung nicht von ihren Anhängern, sondern von ihren Gegnern den Namen erhalten hat.« 388 Der Terminus »Psychologismus«, darüber scheint Einigkeit zu bestehen, kann auf eine so vielfältige Weise gedeutet und bestimmt werden, dass man selbst jemandem (so die Pointe von Willy Moog), der den Psychologismus mit allen Kräften bekämpfen will, einen Psychologismus nachweisen kann. 389 Lenk lässt nun diesen für seine Argumentation zentralen, zu einem konkreten historischen Kontext (der Scheidung der Psychologie von der Philosophie) gehörenden und aufgrund zahlreicher Positionen, Gegen- und Vermittlungspositionen im Diskurs vieldeutigen Begriff Kaiser-el-Safti 2011: 11. Wundt 1910: 511. 389 Aufgrund der »mannigfachen Bedeutungen des Wortes Psychologismus erscheint es erklärlich, dass man die verschiedensten, mitunter ganz entgegengesetzten Lehren mit diesem Namen belegt hat, ja dass man in Theorien, welche die psychologische Betrachtungsweise bekämpften, doch noch einen versteckten Psychologismus hat finden wollen« – Moog 1919: 4. Vgl. Kaiser-el-Safti 2011: 19 ff. 387 388
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komplett unbestimmt. Der Einwand wirkt daher wie ein rhetorischer Kunstgriff, der darauf abzielt, dass der Gesprächspartner (a) sich in die Psychologismusdebatte verwickelt, (b) sich selbst ein Bild eines Psychologismuskritikers entwirft und (c) je nachdem, wie gut er darin ist, forschungsprogrammatische Festlegungen und Ansprüche preisgibt, die für konkrete Wissenschaftsleistungen unentbehrlich sein können. Die Reduktion der Werkzeuge zur Thematisierung der Erkenntnisfunktionen des Bewusstseins auf eine bloße Sprache der logischen »Verbundenheit« würden hingegen Kant (A), Fichte (B) und Hegel (C) ablehnen, und zwar nicht, weil sie sich »noch nicht« von aktionistischen Rudimenten ihrer Zeit befreit hätten (als ob sie unaufmerksam wären und etwas nicht getan hätten, was sie hätten tun können), sondern weil sie mit wohlbegründeten forschungsprogrammatischen Festlegungen und Ansprüchen zusammenhängen. Alle drei Positionen haben ungeachtet der teilweise gravierenden systematischen, theoretischen und anspruchslogischen Unterschiede das gemeinsam, dass bei ihnen die Verwendung der aktionistischen Terminologie sowohl theoretisch als auch praktisch zutiefst fundiert ist – also keine Beliebigkeit und kein »Rudiment« darstellt, sondern etwas, das durch bloße Unterstellungen nicht widerlegt werden kann. Das soll im Folgenden kurz demonstriert werden – damit werden einerseits vorbeugend mögliche unzutreffende, auf einem ungerechten Umgang mit fremden Ansprüchen und auf Missverständnissen basierende Psychologismuseinwände aus dem Weg geräumt und andererseits wird damit Überblick gebend gezeigt, welche bedeutenden Festlegungen sich eigentlich hinter der Rede von Vermögen in der klassischen deutschen Philosophie (und über sie hinaus, also z. B. auch in unserer Untersuchung) verbergen. Das wurde bisher nicht ausdrücklich getan. Wir fangen mit (C) Hegel an, um fünf einleuchtende Bestimmungen des Kraft- bzw. Vermögensbegriffs zu finden und rekapitulieren kurz mit ihrer Hilfe die bereits ausführlicher dargestellten Positionen von (B) Fichte und (A) Kant. (C) Die Kraft ist für Hegel eine wesenslogische Denkbestimmung (Reflexionsform), die sowohl in den Natur- als auch Geisteswissenschaften (Vermögen oder Kräfte des subjektiven Geistes) verwendet wird (vgl. Enz III W 10 241 f. und Enz I W 8 267 ff.). 390 Es steht uns 390
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also, wenn man seinen Ansprüchen folgt, gar nicht frei, für oder gegen sie zu sein – es steht uns nur frei, die logische Funktion dieser Denkbestimmung begreifen oder nicht begreifen zu wollen. Die Disziplin, die sich mit Tätigkeitsweisen, Vermögen bzw. Kräften wie Einbildungskraft, Wille, Verstand und Vernunft beschäftigt, ist die Psychologie (vgl. Enz III W 10 229 ff.). Wie in den Naturwissenschaften, so geht es auch in der Vermögenspsychologie um konkrete Erscheinungen, die ins Verhältnis zu Kräften gesetzt werden, die durch Gesetze erklärt werden sollen. Die Begriffe Erscheinung und Kraft sind also komplementär. Folgende Logik steht hinter ihrem Verhältnis in den Naturwissenschaften (1)–(4) und in der (5) Psychologie der Vermögen, die zusätzlich um eine praktische Seite (die subjektive Freiheit) ergänzt wird: (1) Wie Hegel in der Jenaer Phänomenologie des Geistes gezeigt hat, ist die Einführung des Kraftbegriffs die Folge und konsequente Lösung der Widersprüche, in die sich das Bewusstsein auf der Stufe der Wahrnehmung verwickelt. Ein Beobachter auf diesem Standpunkt kommt lediglich zur Feststellung von unterschiedlichen Zuständen eines Etwas, wie z. B. des Wassers, welches fest, flüssig und gasförmig sein kann. Die Veränderungen werden rein durch die »Unterscheidung der Rücksichten, durch das Auch und Insofern« (PhG W 3 105), also durch reine Beobachtungssprache festgehalten, wie z. B.: »Der Schnee ist auch Wasser«; »Insofern ich von einer verschneiten Straße ins Haus eintrete, wird es flüssig«. Der Widerspruch zwischen zwei abweichenden Wahrnehmungen eines Gegenstandes, der doch nur einer ist, wird dadurch nicht gelöst, sondern nur beschrieben. Erst die Vermutung, dass etwas auf den Schnee einwirken könnte, dass es ein »übersinnliche[s] Jenseits« (ebd. 118, vgl. auch 127 ff.) der Erscheinung gibt, die Wärmekraft, macht möglich einzusehen, wie unterschiedliche Erscheinungen (die Aggregatzustände des Wassers) zusammengehören. Das bedeutet zu erfassen, dass es in Wahrheit keine Widersprüche, sondern ein Abhängigkeitsverhältnis eines Etwas von einer Kraft gibt, die es bedingt und unterschiedlich erscheinen lässt.
lungen, sondern benutzt diese Begriffe synonymisch. Für Hegel ist das Bewusstsein hingegen der Gegenstand der Phänomenologie des Geistes, bei dem es um grundlegende Verhältnisweisen zum anderen (das sinnlich gewiss ist, wahrgenommen, verstanden etc. wird) geht. Der subjektive Geist ist dagegen die artikulierte Gesamtheit der Vermögen.
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(2) Wenn ich nun sage: »Ich erkenne, dass der Schnee wegen der Wärme schmilzt«, dann ist es nach Hegel gleichbedeutend mit: »Ich erkenne die Wärmekraft« oder »ich erkenne, dass die Wärmekraft wirkt« (vgl. Enz I W 8 270 ff.). Das hängt damit zusammen, dass wir logisch unter der Kraft das verstehen, was erscheint – der Inhalt der Kraft ist nichts mehr und nichts weniger als ihre Äußerung selbst. Es ist zwar möglich, von der Kraft an sich vor ihrer Äußerung und umgekehrt, von der Äußerung ohne Kraft zu sprechen, aber das sind ungültige logische Abstraktionen. Man muss sich demnach möglichst klar vergegenwärtigen, dass das Verhältnis der Kraft und ihrer Äußerung wesentlich das vermittelte Verhältnis ist und dass es somit dem Begriff der Kraft widerspricht, wenn dieselbe als ursprünglich oder auf sich beruhend aufgefasst wird (ebd. 272).
Hat man diese Logik begriffen, dann erübrigen sich Aussagen solcher Art, wie: »Die Natur der Kraft ist mir unbekannt, denn ich kenne nur ihre Äußerung« oder »ich versichere, nichts über die Kraft auszusagen« – denn die Kraft bewährt sich erst dadurch, dass sie sich äußert und »in ihrer Äußerung zu sich selbst zurückkehrt, denn die Äußerung ist selbst wieder Kraft« (ebd. 271). (3) Das bedeutet wiederum, »die Erklärung einer Erscheinung aus einer Kraft ist […] eine leere Tautologie« (ebd. 270). Solche Sätze, wie: »Es ist warm, weil es die Wärmekraft gibt« oder »der Stein fällt, weil es die Schwerkraft gibt« erklären nichts, sondern tun das, wozu der Kraftbegriff da ist – sie zeigen ein erst zu erklärendes Verhältnis auf: Wenn X so oder anders erscheint, dann steht eine Kraft dahinter. Es handelt sich um Vermutungen und Entdeckungen eines »Übersinnlich-Sinnlichen«, das erst (experimentell und logisch) begründet, als ein Naturgesetz formuliert und auf den Begriff gebracht werden soll. Es muss also untersucht werden, wie der Wärmetransport im Detail funktioniert, welche Transportmedien es gibt, wie er berechnet werden kann, wie dieses Wissen praktisch einsetzbar ist etc. (4) Dabei sollte man, wenn man an sich hohe Anforderungen stellt und vernünftig verfahren will, auf das Verhältnis des Ganzen zu den Teilen aufmerksam sein – d. h. die besonderen Kräfte, die zusammengehören und ein physikalisches, biologisches oder psychologisches System ausmachen, nicht isolieren, bloß nacheinander aufzählen und beschreiben, wie es in empirischen Wissenschaften geschehen kann (vgl. ebd. 268 und 272).
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(5) Alle diese Punkte treffen auch auf die Psychologie zu: Auch hier geht es nicht um bloße Beobachtungsaussagen über Veränderungen im Geist (1) wie: »Jetzt bilde ich mir ein geflügeltes Pferd ein, gestern habe ich mir einen Minotaurus eingebildet«, sondern um die Entdeckung von Verhältnissen von Erscheinungen zu einem Vermögen wie der Einbildungskraft. Man darf nach (2) sagen, dass die Einbildungskraft durch solche Äußerungen erkannt wird, dass sie wirkt und Vorstellungen erzeugt, denn man meint damit nicht unberechtigterweise eine pure Kraft ohne ihre Äußerung. Solche Aussagen, wie: »Ich bilde mir einen idealen Staat ein, als ob ich eine Einbildungskraft hätte« oder »ich bilde ein Sittengesetz und helfe einem Kranken, als ob ich Vernunft hätte, denn sie ist an sich ein bloßes unerkennbares Interpretationskonstrukt« beruhen auf einer ungültigen Trennung eines notwendigen logischen Kraft-Äußerung-Verhältnisses. Man erklärt ferner (3) nicht eine Erscheinung durch eine Kraft, wie etwa: »Ich stelle mir einen Minotaurus vor, weil ich Einbildungskraft habe«, sondern stellt ein Verhältnis her – »wenn X der Fall ist, habe ich eine Kraft zu X« – das (etwa durch Assoziationsgesetze) detailliert und umfangreich erklärt werden soll. Man soll dabei (4) die einzelnen Kräfte des Geistes nicht als voneinander isolierte und miteinander unvermittelte Tatsachen behandeln, die als etwas Gegebenes empirisch-psychologisch aufzufassen wären. Die Tatsachen sind »als Taten des Geistes, als einen durch ihn gesetzten Inhalt, zu erweisen« (Enz III W 10 234) und systematisch-teleologisch abzuleiten. Hegels Darstellung der Vermögen ist aus dem Grund nicht empirisch-psychologisch, dass die Kräfte nicht bloß aufgezählt, erklärt und etwa hinsichtlich ihrer Nützlichkeit thematisiert werden, sondern als Stufen der Befreiung des Geistes (das ist der rote Faden) aufgefasst werden. Er geht von Vermögen aus, die nah an der Sinnlichkeit sind und zeigt, wie man zum Wissen von der subjektiven Freiheit, dem Vernunftvermögen, gelangt. (B) Als eine schlechte Philosophie der geistigen Vermögen, Funktionen und Gesetze, d. h. als eine schlechte Psychologie, wäre nach Hegel eine solche Position anzusehen, bei der ein Forscher den obigen Anforderungen nicht gerecht wird – wenn jemand also (1) ohne den Kraftbegriff und mit bloßer Beobachtungssprache auskommen zu können glaubt, (2) die Logik des Kraft-Äußerung-Verhältnisses nicht begreift, (3) bloß tautologische Erklärungen durch die Annahme von Vermögen liefert, (4) nicht teleologisch arbeitet und einzelne Ver314
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mögen als etwas Gegebenes bloß empirisch-psychologisch aufzählt und (5) nicht begreift, dass die Denkbestimmung »Kraft« in der Geistphilosophie mit subjektiver Freiheit zusammenhängt, die grundlegend für objektive Freiheit, also für Verhältnisse in der Familie, im Recht, Staat etc., ist. Was Fichtes Position betrifft, so haben wir gesehen (1), dass der Vermögensbegriff und das übrige »aktionistische Vokabular« wie die Tathandlung und die anderen Handlungen des Bewusstseins bzw. des menschlichen Geistes wie »Erkenntniß, u. Begehrung, Anschauung, Begriff, Idee« (EM GA II/3 21, vgl. ebd. 22 f.) notwendigerweise zum Programm der Wissenschaftslehre gehören. Ferner (2), dass Fichte weder das Vernunftvermögen unabhängig von seiner Erscheinung denkt noch (3) dieselbe allein durch seine Annahme erklärt. Das Vernunftvermögen ist, wie besonders klar in der Wissenschaftslehre nova methodo zu sehen ist, das vierte, abgeleitete Moment. Die Logik ist nicht: »Tathandlung ist möglich, weil ich ein Vermögen dazu habe«, sondern »ich handle, die Handlung wird mir unmittelbar gewiss und sie führt zum Begriff ›Ich‹ bzw. ›Vernunft‹, also habe ich ein Vernunftvermögen«. Dabei ist es schlechthin unmöglich, den Begriff »Tätigkeit« bestimmt zu denken, ohne ihr den Zustand der Ruhe entgegenzusetzen, als bloßer Möglichkeit zu konkreter Tätigkeit. Vermögen und Äußerung verweisen so bei Fichte notwendigerweise aufeinander und treten nicht unabhängig voneinander auf – daher wären auch solche Sätze wie »die Vernunft an sich, als pure Kraft, komplett ohne ihre Äußerung vorgestellt, ist, handelt, setzt etc.« nicht mit der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie vereinbar und sie gibt es dort auch gar nicht. Das Vernunftvermögen ist also (4) das Erklärungsbedürftige selbst, das nicht losgelöst behandelt, sondern in Zusammenhang mit der abzuleitenden Gesamtheit der Bewusstseinshandlungen, den Funktionen und Gesetzen gestellt wird, und zwar bei Fichte umgekehrt zu Hegel – als Abnahme der Freiheitsgrade ausgehend von dem Freiheitsakt der Selbstsetzung. Dieser ist die Grundlage für das Verständnis (5), dass der menschliche Geist kein bloßes Ding, sondern lebendig ist und sich selbst seine Vernunftkraft insbesondere dank der Tathandlung demonstrieren kann sowie auch im Gebrauch der Ideen in fünf Sphären des Miteinanderseins der Menschen. (A) Während Hegels Kritik an schlechter, rein empirisch vorgehender Psychologie (4) auch z. T. gegen Kant gerichtet ist (Fichtes Kritik an Kant und Reinhold (an bloßen »Tatsachen des Bewusstseins«) wiederDas System der Ideen
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aufnehmend – vgl. Enz III W 10 238 f.), behauptet Hegel keinesfalls, dass Kant (nach (3)) tautologische Erklärungen liefere und das logische Abhängigkeitsverhältnis von Kraft und ihrer Äußerung nicht begreife (nach (2)). Husserl äußert sich dagegen in den Logischen Untersuchungen sehr knapp und an einer einzigen Stelle, an der er explizit von »verwirrenden mythischen Begriffe[n]« in Bezug auf Kants Verstand und Vernunft spricht, dass die Rede von psychischen Vermögen zu nichts führe – würden wir auf sie rekurrieren, wären wir »nicht eben klüger, als wenn wir im analogen Falle die Tanzkunst durch das Tanzvermögen (sc. das Vermögen kunstvoll zu tanzen) […] erklären wollten.« 391 Das suggeriert, dass jemand, der wie Kant von Vermögen spricht, sie automatisch als psychologistische Erklärungsgründe verwenden will (3), doch das ist weder bei Hegel noch bei Fichte und auch nicht bei Kant der Fall. So ist (a) das Vermögen der Vernunft in der transzendentalen Dialektik nicht etwa die Erklärung dafür, dass es (b) kategorische, hypothetische und disjunktive Schlüsse gibt, die den Ideen zugrunde liegen, sondern (b) ist umgekehrt die Erklärung für die Funktionsweise von (a). Dass Kant von einem etwas leistenden Vermögen spricht, hängt nicht damit zusammen, dass er sich selbst widersprechend eine reine und von ihrer Erscheinung komplett unabhängig handelnde Kraft vorstelle, von der er an sich etwas wüsste, sondern (2) damit, dass im Begriff der Vernunft (oder der Sinnlichkeit, der Einbildungskraft etc.) nichts anderes liegt, als das, als was sie tatsächlich erscheint. 392 Man kann dafür argumentieren, dass Fichte und Hegel diese Logik etwas ausdrücklicher artikuliert haben – aber sie liegt Kants Reflexionen zugrunde. 393 Husserl 1900: 216 f. Das Vermögen, Gedanken zu lesen und mit ihm verbundene Gesetze erscheinen dagegen nicht. Auch erscheint nicht die Fähigkeit, die Welt als unendlich zu erkennen – jedoch aber die Möglichkeit der wirklichen Bildung und Einsetzung der Idee der Unendlichkeit der Welt. 393 Wie die Krafterscheinungslogik bei Kant im Detail umgesetzt wird und auf welche Elemente sie angewiesen ist, muss ausführlich und systematisch sowie mit Einbezug der Vermögenspsychologie im 17. und 18. Jahrhundert untersucht werden, wie das beispielsweise Stefan Heßbrüggen-Walter (2004) tut. Leider stellt Heßbrüggen-Walter eine – wenn man unseren obigen Gedanken folgt – wenig plausible Unterscheidung im Hinblick auf die Erkennbarkeit der Vermögen an den Anfang seiner Überlegungen (vgl. ebd. 16 ff.). Kant suggeriere an vielen Stellen, dass ich »keine Erkenntnis von mir wie ich bin, sondern bloß wie ich mir selbst erscheine« (KrV B158) habe. Diese Position (I) bezeichnet Heßbrüggen-Walter als Unerkennbarkeitsthese und stellt ihr eine (II) Selbsttransparenzthese entgegen, die bei Kant an solchen 391 392
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8.3 Einbettung der Vernunftfunktionen in ein System Die Vernunft im engeren Sinne ist nicht nur aufgrund des obigen produktiven Vergewisserungszirkels (des Erscheinung-VermögenVerhältnisses), sondern auch deshalb keine dogmatische Voraussetzung, weil sie in einen größeren Zusammenhang der Erkenntnisbedingungen und Bewusstseinsleistungen eingebettet ist. Dieser lässt sich auf eine doppelte Weise artikulieren: (1) als ein Bewusstseinskohärentismus, bei dem wir uns die gesamte Funktionalität der Erkenntnisvermögen des Geistes / Gemüts beispielsweise nach der Uhr-Metapher Fichtes (vgl. SB GA I/7 212, vgl. 206 ff.) als einen Mechanismus, bei dem ein jedes Detail seinen Ort und seine Aufgabe hat, vorstellen können, und (2) als ein argumentativer Kohärentismus, bei dem es darum geht, (1) treffend und logisch konsistent abzubilden. Bei (1) handelt es sich um eine heuristische (problematische architektonische) Idee, eine vermutete, aber noch zu bestätigende Voraussetzung, die der Untersuchung (2) zugrunde gelegt wird. Mit dieser sind mindestens folgende Ansprüche verbunden, die ein Kritiker erfüllen muss, wenn es nicht zu radikalen Einwänden gegen die Vernunft, die zum Wissensverlust führen, sondern zu konstruktiven Vorschlägen zur Wissenserweiterung kommen soll: – Anhaltende Aufmerksamkeit auf das thematisch eingegrenzte Gebiet, das systematisch untersucht wird. Allgemeine sprachStellen sichtbar werde, wie: »Allein der Mensch, der die Ganze Natur sonst lediglich durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich eines Teils Phänomen, anderen Teils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibeler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinne gezählt werden kann. Wir nennen diese Vermögen Verstand und Vernunft […]« (KrV A546 f./B574 f.). Einen Widerspruch zwischen den beiden Stellen (die Selbsterkenntnis ist einerseits unmöglich (I), andererseits aber doch (II)) kann man nur sehen, wenn man im Denken, wie es auch Hans Lenk (siehe oben) geschehen sein muss, Kraft und ihre Äußerung voneinander trennt, ohne einzusehen, dass sie gar nicht unabhängig voneinander auftreten können. Bei der ersten Stelle wird der Leser darauf aufmerksam gemacht, dass ich mich unabhängig von Erscheinungen X gar nicht erkennen könne, bei der zweiten, dass ich mich nur durch Handlungen und innere Bestimmungen des Gemüts (= X, denn mentale Handlungen sind Erscheinungen der Vermögen (vgl. z. B. KrV A552 ff./B580 ff.)) erkennen könne. Beiden Zitaten liegt die Prämisse zugrunde, dass man von einer Kraft an sich nichts wissen könne – was erkannt wird, ist also stets das Vermögen-Äußerung-Verhältnis. Folglich kann man behaupten, dass man ein Vermögen erkenne, denn in seinem Begriff liegt nur das, als was es sich äußert. Das System der Ideen
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und sozialwissenschaftliche oder etwa persönlichkeits- oder tiefenpsychologische Fragen etc. gehören einfach nicht zu den zentralen Problemen, deren Lösung im Rahmen der positiven Heuristik der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie vorgesehen wurde. Sie können zwar zum Zweck von zusätzlichen Untersuchungen (kooperativ) gestellt werden – ersetzen können sie aber das zu generierende Wissen nicht. – Systematisches Denken, um die logisch verknüpfte Kette der Gesetze und Funktionen im Hinblick auf die Erkenntnis durchgehend zu begreifen, bis sie in einem Überblick kulminiert. Ein Kritiker muss verstehen, dass ohne diese Anforderung weder das gestellte Wissensziel noch eine wirklich tiefe Einsicht in die Kontextabhängigkeit der Theorie der Vernunft erreicht wird. Die Argumentation gegen jegliches systematische Denken beruht auf Ansprüchen, die zur Preisgabe von zahlreichen Forschungsprogrammen führen, die auf dasselbe angewiesen sind. 394 – An das System der Erkenntnistheorie des Bewusstseins werden Konsistenz- und Vollständigkeitsforderungen gestellt. Wer sie beurteilen will, muss sie zumindest vorläufig auch stellen und entsprechende Leistungen von sich verlangen (nach der vierten Regel des Umgangs mit unterschiedlichen Ansprüchen). Es ist also eine Reihe von Anforderungen gegeben, die von einem Mitdenkenden erfüllt werden müssen, damit die Begründung der Vernunft mit Hilfe ihrer Einbettung in einen kohärenten Systemzusammenhang überhaupt gelingt. Sie müssen auch erfüllt werden, wenn ein Kritiker sich zur Entwicklung und Äußerung von sinnvollen Einwänden qualifizieren will. Will er das nicht (und ist er nicht 394 Birgit Sandkaulen weist darauf hin, dass jede Art von allgemeiner Systemkritik sich im Rahmen eines subtilen Selbstwiderspruchs bewege. Das Paradoxe des unreflektierten Unbehagens am System sei der Umstand, dass jeder von uns zumindest in lebenspraktischen Zusammenhängen und aus pragmatischen Gründen ein Interesse am Systematisieren und der Kohärenz des Weltbildes habe (vgl. Sandkaulen 2006a: 11 f.). Man kann aus anspruchslogischer Perspektive hinzufügen, dass das Unbehagen sich aus der Inkongruenz der unterschiedlichen Ansprüche erklären lässt – es ist ein »Abwehrmechanismus« gegen zu starke Forderungen, der zugleich die Forderungen des »sich Wehrenden« offenbart. Nun ist es erlaubt, keine hohen Ansprüche zu haben und vom systematischen Denken lediglich zum Zweck der Bewältigung des Alltags Gebrauch zu machen, aber es ist rational ungerecht und unangemessen, von jemandem, der bestimmte philosophische Probleme lösen will und das nur systematisch tun kann, zu fordern, davon abzulassen. Es muss also stets auf konkrete Ziele und Anforderungen Rücksicht genommen werden.
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hinreichend qualifiziert), so macht seine Kritik lediglich auf das Problem aufmerksam, dass seine Ansprüche anders sind – beispielsweise in folgenden zwei Fällen: Wenn ein Kritiker im System der Erkenntnisbedingungen ein zirkulär aussehendes Modell entdeckt und – ohne zu prüfen, was das genau bedeutet – es allein aus diesem Grund als nicht begründungsfähig zurückweist oder wenn er dies allein deswegen tut, weil es andere und anders aussehende Systeme gibt (Relativismus und Dissens). Um das Vorgehen im ersten Fall als unangemessen bloßzustellen, bedürfte es größerer Exkurse zum Aufbau der Systeme von Kant und Fichte, zum Vernunft-System-Verhältnis, zu Vorgehensweisen (z. B. Ableitungsfiguren bei Fichte) etc. – zu Fragen, auf die wir bisher nicht ausführlich eingegangen sind. Deswegen wollen wir uns auf den zweiten Fall konzentrieren. Die mit ihm zusammenhängende Pointe ist: Selbst ein kohärent scheinendes System (in das die Vernunft sinnvoll eingebettet ist) kann verworfen werden, wenn es sich als ein relatives und nicht konsensfähiges entpuppt. Kann man diesem Punkt etwas entgegenstellen?
8.4 Relativismus, Dissens und die Verflochtenheit der Weltansichten Wer beschäftigt sich mit der Vernunft im engeren Sinne und warum soll sie und ein ihr korrespondierendes philosophisches System sein, in dem sie Bedeutung und gewichtige Funktionen hat? Die Ansicht, sie soll einfach darum sein, weil sie ist (wenn das überhaupt zugegeben wird), ist aus den Gründen, die wir oben angegeben haben, wenig überzeugend und leicht angreifbar. Beim späteren Fichte findet sich jedoch eine praktische Begründungsstrategie, die sowohl begreiflich macht, warum es einerseits Vernunftdenker und andererseits unterschiedliche Denksysteme sowie Vernunftkritiker gibt, als auch deutlich macht, warum auf die Ideen kein Verzicht geleistet werden kann. Damit bietet sich die Möglichkeit, auch auf die (nach unserer Darstellung) letzten zwei Tropen zu antworten – wobei das Gelingen der Begründung auch hier nach wie vor davon abhängt, ob bestimmte Anforderungen erfüllt sind. Fichtes Position geht, wie wir sehen werden, in die Richtung des von uns präsentierten reflektierten oder taktischen Perspektivismus, der dem Relativismus und Dissens am besten Rechnung trägt. Sein mit der Lehre von fünf Weltansichten verbundenes Ziel besteht nämlich darin, die »streitenden Ansprüche« Das System der Ideen
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hinter unterschiedlichen Standpunkten zu durchschauen und sie eben dadurch miteinander zu versöhnen: Jeder soll wissen, was seinen Standpunkt an sich und im Verhältnis zu anderen ausmacht, seine Ansprüche kennen und einsehen, dass fünf konkrete grundlegende Perspektiven auf die Welt derartig verflochten sind, dass sie – zumindest um ihrer selbst willen – auf die Vernunft angewiesen sind. Diese Einsicht lässt sich wie folgt in einem Satz ausdrücken: Die Vernunft soll sein, wenn meine relative und nicht konsensfähige Ansicht der Welt voll verwirklicht werden soll. Umgekehrt muss es nach der Logik der Ansprüche heißen: Die Vernunft soll nicht sein (d. h., ist für mich wegen des Relativismus und Dissenses praktisch unbegründet), wenn ich an mich den entsprechenden Verwirklichungsanspruch nicht stelle (wenn ich von den Möglichkeiten, meinen Standpunkt zu festigen und auszuleben, nicht komplett Gebrauch machen will). Um das konkret zu begreifen, müssen wir die oben dargestellte Fünffachheit, mit deren Hilfe sich alle Ideenarten ordnen lassen, unter zwei weiteren Gesichtspunkten rekapitulieren. Ein aufmerksamer Leser findet einen Gegensatz zwischen der Fichte’schen Theorie der fünf Standpunkte in Das Wesen des Gelehrten (und den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters) einerseits und in der Anweisung zum seligen Leben andererseits, der sich insbesondere bei der Beurteilung und Auswertung der ersten Weltansicht, der Sinnlichkeit, bemerkbar macht. Während dort mit allen fünf Perspektiven ein sinnvoller Vernunftgebrauch verbunden wird, wird hier die Stufe der Sinnlichkeit oft als vernunftlos dargestellt (vgl. WdG GA I/8 78 f. und GgZA GA I/8 323 ff. vs. z. B. AzsL GA I/9 106 f.). Die Erklärung hierfür ergibt sich aus der Kenntnis von zwei bisher ausgeblendeten Aspekten: – Fichtes Lehre der Affekte und Genussweisen der Welt und der Freiheit und – das Verhältnis von einem jeden Standpunkt zu den übrigen vier, das insgesamt zu 25 Perspektiven führt. 395 Was bisher thematisiert wurde, war (schwerpunktmäßig) die Reihe der Perspektiven aus dem Blickwinkel der fünften Weltansicht, die beispielsweise in Das Wesen des Gelehrten vorherrscht. Das wird verständlich, wenn wir alle fünf Reihen rekonstruieren und einsehen, 395 Von dieser Fünfundzwanzigkeit ist der Vorschlag von Alexander Schnell, die Wissenschaftslehre 1804/II strukturell in 25 Argumentationsschritte einzuteilen – vgl. Schnell 2009: 31 ff. und die Übersicht 41 f. – zu unterscheiden. Vgl. auch Widman (1977) und (1969) sowie Guéroult (1930).
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wie sie miteinander verflochten sind. Dabei konzentrieren wir uns auf das Argument selbst (im Ausgang der letzten Vorlesung der Wissenschaftslehre 1804/II und der Anweisung 1806), das zur praktischen Begründung der Vernunft gebraucht werden kann. 396 Reihe I: Sinnlichkeit. Betrachtet man die Stufe der Sinnlichkeit an sich (I/(I)), ohne Bezug auf die Ideen wie Naturwissenschaft, das Gute etc. (anders ausgedrückt: ohne ihre Vergeistigung durch die Vernunft), so gehört zu ihrem Wesen eine entschiedene Liebe zu allem, was sinnlich ist. 397 Unterschiedliche Objekte, die gesehen, gefühlt etc. werden, sind die Hauptgenussquelle auf diesem Standpunkt – sie haben sowohl lebenspraktische als auch epistemische, d. h. absolute Priorität. Ein idealtypischer Vertreter der ersten Weltansicht vergisst sich in der Sinnlichkeit, sie ist ihm das allein Reale und Begehrenswerte – alles andere ist nebensächlich, entweder uninteressant oder ein bloßes Mittel zum Zweck. 398 Eine solche starke lebens-, schicksals- und erkenntnisprägende Zuneigung (ein Grundaffekt, eine leidenschaftliche Liebe, eine emotionale Bindung) zu einem konkreten Bereich aller denkbaren Objekte überhaupt macht stets eines der fünf möglichen Gravitationszentren aus, um das sich jeweils die übrigen vier Standpunkte drehen bzw. drehen können. Das Interessante für uns hierbei ist, dass Fichte damit offensichtlich ein denkstrategisches Fangnetz ausbreitet, in das die Vernunftkritiker notwendigerweise hineingeraten, wenn sie nur beispielsweise ehrlich zugeben, dass sie die Sinnlichkeit über alles lieben. Das Argument zur praktischen Begründung der Vernunft, das Fichte selbst leider nicht mit wünschens396 Wir befragen ausgewählte Texte nach dem Argument für die praktische Begründung der Vernunft – »wie in der Naturforschung die Natur den an sie gestellten Fragen des Experimentators zu unterwerfen ist, und zu nöthigen, daß sie nicht in den Tag hinein rede, sondern die vorgelegte Frage beantworte; eben so ist der Autor zu unterwerfen einem geschickten und wohlberechneten Experimente des Lesers« (GgZA GA I/8 264). Zur Anweisung zum seligen Leben allgemein vgl. den Kommentar von Seyler (2014). Vgl. zur Theorie der Weltansichten von Fichte u. a. Adolphi (2003) und Traub (1995). Zum Problem der Vollständigkeit der fünf Weltansichten vgl. Lewin (2020e). Vgl. auch den interessanten Versuch von Helmut Girndt (1990), Fichtes Sicht auf die Natur mithilfe der Theorie der Fünfundzwanzigkeit zu rekonstruieren. 397 Fichte thematisiert damit – noch vor etwa Wilhelm Diltheys Lehre der Weltanschauungen – die vor-theoretische Dimension der Gefühle, aus denen bestimmte Verhaltensweisen und philosophische Positionen erwachsen. 398 Diese Einsicht fasst Fichte in aller Kürze wie folgt zusammen: »Was du liebest, das lebest du.« (AzsL GA I/9 57).
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werter Deutlichkeit artikuliert, kann man (zunächst im Hinblick auf die erste Weltansicht) wie folgt rekonstruieren: (1) Liebst du die Sinnlichkeit und ist für dich das, was du sehen, fühlen etc. kannst, das Allerrealste I(I)? (2) Wenn das der Fall ist, dann brauchst du Mitmenschen, um deine Ziele zu erreichen. Ferner I/(II) Rechte und Moral, um das, was dir gehört, zu schützen und deine »Genüsse weislich zu vertheilen« (WL-1804-II GA II/8 418) sowie I/(III) Moralität/Kunst, um diese zu steigern und verschiedenartig zu transformieren. Du kannst dich I/(IV) an Gott wenden, ihm dafür dankend, dass er »uns Speise gebe zu unserer Zeit« (ebd.) und I/(V) naturwissenschaftlich forschen, um deine Lebensbedingungen zu verbessern und etwa auch mehr (beispielsweise vom Universum) mit deinen eigenen Augen zu sehen. (3) Die Bedingung dafür, dass du rechtliche (z. B. das Menschenrecht auf Eigentum), moralische (z. B. die Tugend), ästhetische (z. B. das Schöne), religiöse (z. B. das Dasein Gottes) und architektonische (z. B. das Ganze der Naturwissenschaft) sowie transzendentale (z. B. die Unendlichkeit der Welt) und einfache theoretische Ideen (z. B. die reine Luft) zu deiner Genusssteigerung und -erhaltung bilden und umsetzen kannst, ist das Vernunftvermögen. (4) Also erkennst du (praktisch), dass die Vernunft sein soll. Du willst, dass es sie gibt. Der gute Grund dafür ist dein Interesse an dem Sinnlichen, dein Wille, die Welt und dich selbst wirklich zu genießen, dein Begehrenswertes schlechthin. Sie soll sein, also ist sie praktisch begründet. Dieses Argument funktioniert nur unter zwei Bedingungen (neben dem Wissen von der Vernunft als dem Vermögen der Ideen bzw. der theoretischen Begründung und den damit verbundenen Anforderungen – denn man soll zumindest bis zu einem gewissen Grad wissen, was das ist, was sein soll), die zugleich auch die Anhaltspunkte für die Annahme sind, dass Fichte diese Strategie im Sinne gehabt haben muss. Erstens muss es eine trotz aller infrage kommenden Bedenken positiv zu bewertende Möglichkeit geben, sich an einen bestimmten Bereich aller denkbaren Objekte überhaupt emotional zu binden bzw. etwas genießen zu können und wollen, wenn es darauf ankommt (vgl. AzsL GA I/9 108 f.). Einem
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konsequenten Philosophen [ist, Zusatz von M. L.] derjenige, der auch nur mit ungetheiltem Sinne, und ganz, in einen sinnlichen Genuß sich zu werfen vermag, weit mehr werth […], als derjenige, der vor lauter Flachheit, Zerstreutheit und Ausgeflossenheit, nicht einmal recht hinzuschmecken vermag, oder hinzuriechen, wo es dem Schmecken oder dem Riechen allein gilt (ebd. 135).
Jemand, der das Weltansichts- und Genussverwirklichungsargument zur praktischen Begründung der Vernunft hört, muss von sich fordern, sich an allem Sinnlichen zu erfreuen – er muss einen starken Willen zum Gefühl der »Erhöhung, und Belebung« (ebd. 134) durch Speisen, durch das Sehen, Riechen etc. haben. Nur dann kann er in das Fangnetz des Vernunftdenkers hineingeraten. Zweitens muss es möglich sein, alle Standpunkte überhaupt als »Stufen, und Entwicklungsgrade, des innern geistigen Lebens« (ebd. 105) und als »Stationen« (ebd. 141) mit einer inneren Logik anzusehen, nach der »der Mensch nur, nachdem er in einer niedrigen Weise, die Welt zu deuten, eine Zeitlang beruhet, zu einer höheren sich erhebt« (ebd. 105 f.). Um weiterzukommen, muss man nach der Regel einen Grundaffekt sowohl an sich als auch in der zu ihm gehörigen Reihe der Perspektiven (also beispielsweise sowohl I(I) als auch I(II)–I(V)) vollkommen ausleben, die Freiheit, etwas zu genießen, »verbrauchen« (vgl. dazu insbesondere die achte und neunte Vorlesung, ebd. 146 ff.). Dann erfährt man nämlich durch das Wechselspiel von Affekten und Schmerzen einerseits die Vorteile und andererseits die Grenzen aller fünf Standpunkte des Lebens – man erkennt, wie sie miteinander verflochten und aufeinander unzertrennlich angewiesen sind. 399 Reihe II: Legalität/Moralität. Das Weltansichts- und Genussverwirklichungsargument muss den weiteren Stufen entsprechend angepasst werden. Bei der Legalität/Moralität ist davon auszugehen, dass der reale oder ideale Gesprächspartner (bei Fichte: das Publikum in Berlin, z. T. aus Beamten bestehend) im Hinblick auf seine Liebe zum Rechtlich-Moralischen zutiefst in das Leben integriert ist. (1) Sind die Rechte, die Ordnung und die Moral für dich ein absoluter Wert II(II)? (2) Dann brauchst du II/(I) Menschen außer dir, zumindest »lediglich damit sie sittlich seyen, oder werden, und eine Sittenwelt, [zumindest, Zusatz von M. L.] lediglich als Sphäre des pflicht399 Ein Künstler erfährt z. B., dass ihm sein Versuch, das Schöne in seinem Werk darzustellen, misslingen kann – vgl. ebd. 156 ff.
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mäßigen Handelns« (WL-1804-II GA II/8 419) und der »bürgerlichen Industrie« (ebd.) 400 sowie II/(III) Moralität/Kunst, um das Rechtlich-Moralische schön und neuartig-attraktiv darzustellen und zu vermitteln. Auch II/(IV) Gott, zumindest im Sinnhorizont des Sittengesetzes und als »höhere Polizei« (vgl. ebd.) sowie II/(V) die Wissenschaft, um deine Ziele besser zu erreichen. (3) Die Bedingung dafür, dass du unterschiedliche Ideen und -arten bildest und gebrauchst (Rechtswissenschaft, Sittenlehre, Sittengesetz, Gott etc.), ist das Vernunftvermögen. (4) Also musst du zugeben, dass die Vernunft sein soll. Reihe III: Moralität/Kunst. Das Argument auf dieser Stufe kann wie folgt aussehen: (1) Liebst du das Schöne, Gute, Neue und Kreative und willst du es verwirklichen III(III)? (2) Dann brauchst du III/(I) eine Sinnenwelt als eine Sphäre, in der die Freiheit und Moralität deinem Standpunkt gemäß verwirklicht werden sollen, sowie die Menschheit, als bestimmt, das Schöne, Gute etc. in sich darzustellen. Auch bist du auf III/(II) das ordnende Gesetz angewiesen, zumindest als Mittel zu deinem Zweck, und auf III/(IV) die Religiosität, als eine mögliche Wirkungs- und Inspirationssphäre sowie auf III/(V) die Wissenschaft, um deine Ziele besser zu erreichen. 401
400 Im Unterschied zur Anweisung (1806) macht Fichte im Jahr 1804 einen Unterschied zwischen der Legalität (Rechtsgesetze) und der Moralität (Moralgesetze), die er später zu ein und derselben, nämlich II. Stufe (ordnendes Gesetz) zählt und zusammen beschreibt – vgl. ebd. 107 f. Die »höhere Moralität« und Kunst (Anweisung: Stufe III) kommen in der ganz kurz gehaltenen Thematisierung der fünf Vernunfteffekte und fünfundzwanzig Perspektiven in der 28. Vorlesung der Wissenschaftslehre 1804/II nicht wirklich vor. Wir orientieren uns, was die Unterscheidung der Ansichten II und III angeht, an der späteren (etwas reiferen und ausführlicheren) Darstellung der Struktur der Weltansichten. 401 Fichte selbst grenzt zwar den dritten – sehr kurz präsentierten – Standpunkt von dem vierten ab, jedoch nicht mit wünschenswerter Deutlichkeit. Er stellt ihn sofort in ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis zur Religiosität – vgl. AzsL GA I/9 109 f. und 156 f. –, was nach seinen eigenen Prämissen aber nicht sein darf (insofern eine Weltansicht nicht eine andere neben oder gar über sich duldet, d. h. die anderen vier ihrem Grundaffekt gemäß nachordnet). Der Grund dafür liegt, wie wir bereits mehrfach darauf aufmerksam gemacht haben, u. a. in der kontext-, werk- und publikumsrelativen Dominanz der religiösen Weltansicht in der Anweisung (wie etwa auch in den Grundzügen). Wir konzentrieren uns hingegen – unserem Forschungsziel gemäß – auf den fünften Standpunkt, der in unserer Darstellung vorherrscht.
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(3) Die Bedingung dafür, dass du unterschiedliche Ideen und -arten bildest und gebrauchst (das Schöne, Gute, Heilige etc.), ist das Vernunftvermögen. (4) Also musst du zugeben, dass die Vernunft sein soll. Reihe IV: Religiosität. (1) Liebst du Gott und glaubst du, dass alles Gute, Schöne etc. eigentlich ihre Quelle in dem Einen haben IV/(IV)? (2) Dann hast du Lust und Freude daran, dass es IV/(I) Menschen und eine Sinnenwelt gibt, als »Ausfluß des Einen göttlichen Lebens« (WL-1804-II GA II/8 418), dass IV(II) Legalität/Moralität möglich ist, »nur nicht wie bei dem, der sie zum Princip hat, als eignes Werk; sondern als göttliches Werk« (ebd. 419). Ferner, dass es IV/(III) Moralität/Kunst gibt, um das Heilige, Gute etc. schön und neuartig-attraktiv darzustellen und zu vermitteln sowie IV/(V) die Wissenschaft, um deine Ziele besser zu erreichen. (3) Die Bedingung dafür, dass du unterschiedliche Ideen und -arten bildest und gebrauchst (Gott, Unsterblichkeit der Seele, das Gute, das Ganze der Religionswissenschaft etc.), ist das Vernunftvermögen. (4) Also musst du zugeben, dass die Vernunft sein soll. Reihe V: Vernunft. Die Einsicht, dass »alle diese Standpunkte denn doch, nur in ihrem Princip nicht eingesehener Vernunft-Effekt sind, die Vernunft aber, wo sie nur ist, ganz ist« (ebd. 418), gehört der Weltansicht V an. Auch hier, wie auf jeder Stufe, herrscht ein Affekt vor, dem alle anderen nachrangig sind, nämlich: die Liebe zur Wissenschaft – nicht etwa zu Gott oder zur Moralität (vgl. ebd. 74 f.) – und das bedeutet im engeren Zusammenhang mit dem Untersuchungsgegenstand in Fichtes Werken: zur transzendentalen Philosophie bzw. zur kritischen Metaphysik (des Mentalen) bzw. im Endeffekt: zur Wissenschaftslehre. 402 So wie die Stufen I-IV (sowie entsprechend auch V) letztendlich zu ihrer Verwirklichung der Vernunft bedürfen, so bedarf sie im Gegenzug ihrer, als Wirkungssphären, in denen sie sich äußert und begreift (wie im ersten Teil der Arbeit dargestellt). 402 Der Affekt der höheren Moralität ist jedoch ein zusätzliches Movens zur Verwirklichung der Wissenschaftslehre (vgl. AzsL GA I/9 112). Nach unserer Argumentation müssen sogar alle vier unteren Affekte auf unterschiedliche Weisen zusätzliche Antriebskräfte dazu sein. Dieses müsste Fichte eigentlich – das leuchtet aus der gesamten Systematik der Fünfundzwanzigheit der Weltansichten ein – ausführlich thematisieren und analysieren, was er aber nicht tut. In der Anweisung spricht er von der fünften Weltansicht nämlich ganz kurz, lediglich »um der Vollständigkeit willen« (ebd.).
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Diese Gegenseitigkeit und Verflochtenheit aller Perspektiven trotz der Relativität und des Dissenses im Hinblick auf die Grundaffekte kann man wie folgt tabellarisch darstellen: der Sinnlichkeit Legalität/ Verwirklichung Moralität von: I II dienen:
Legalität/ Moralität
Moralität/ Religiosität Kunst III IV
V
Sinnlichkeit Sinnlichkeit Sinnlichkeit Sinnlichkeit
Moralität/ Kunst
Moralität/ Kunst
Religiosität
Religiosität Religiosität
Vernunft
Vernunft
Vernunft
Legalität/ Moralität
Vernunft
Legalität/ Moralität
Legalität/ Moralität
Moralität/ Kunst
Moralität/ Kunst
Vernunft
Religiosität
Die Vernunft ist nach dieser Strategie nur unter der Bedingung praktisch begründbar, dass ein Interessierter oder ein Kritiker an sich den Anspruch stellt, sich für etwas, was er wirklich liebt (I-V), einzusetzen und seinen Standpunkt vollkommen zu verwirklichen. Ihr SeinSollen ist entsprechend genau dann für jemanden nicht begründet, wenn dies nicht der Fall ist. Anders ausgedrückt: Wenn entweder die Affekte (a) zu schwach oder (b) nicht da sind, dann wird das SeinSollen der Vernunft schlechthin nicht gefordert. Fichte bezeichnet diese zur praktischen Begründung der Vernunft nicht hinreichenden, defizitären Positionierungen gelegentlich als (a) Skeptizismus und (b) »Nullität«. Es handelt sich bei ihnen nicht etwa um zwei weitere Weltansichten – unter (b) könnte man sogar, Fichte folgend, einen Zustand verstehen (vgl. AzsL GA I/9 141). Ein (a) Skeptiker ist jemand, der nach der Maxime vorgeht, »keine Partei nehmen zu wollen, und sich nicht zu entscheiden, für oder wider« (ebd. 176). Er liebt also weder beispielsweise die Sinnlichkeit noch die Moral, versagt sich somit sowohl einen richtigen Genuss einer Sphäre als auch die Möglichkeit ihrer vollkommenen Entfaltung bis hin zur Einsicht in das Sein-Sollen der Vernunft. 403 Seine Position kann zur (b) vollkom403 Das Gespräch mit einem Skeptiker wäre nach Fichte »am allerflachsten ausgefallen« – da die Theorie der Vernunft und ihrer Wirkungssphären zu nichts mehr als der »Vermehrung seines stehenden Vorrats von möglichen Meinungen« (ebd. 176) führte. Zu unterschiedlichen Bedeutungen des Skeptizismus und des Zweifels bei und für Fichte vgl. den Beitrag von Marco Ivaldo (2012). Die These von Ivaldo im Hinblick auf Fichtes Gedanken in der Bestimmung des Menschen, dass radikale unendliche Skepsis
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menen »Zerflossenheit des Geistes« (ebd. 177, vgl. 130 ff.) führen, einem prinzipiellen Nihilismus, bei dem der Mensch sich aufgrund des Fehlens der Liebe zu Objekten aller fünf Sphären weder richtig um sein Schicksal noch um Erkenntnis (gar der Vernunft als eines Vermögens der Ideen) kümmern kann. 404 Sind mit diesen Reflexionen die Tropen des Relativismus und des Dissenses entkräftet? Nur für diejenigen, die trotz aller Unterschiede etwas Gemeinsames haben – die ausgehend von der Liebe zu (I) allem Sinnlichen oder zu (II) Rechtmäßigem, zu (III) Höherem und Künstlerischem, zu (IV) Religiösem oder zur (V) Wissenschaft zur vollkommenen Entfaltung und Verwirklichung ihres Affekts etwas von sich und anderen fordern. Als taktischer Perspektivist muss man daher klarstellen und festhalten, wie es die Intuition und Intention von Fichte gewesen sein muss: Du darfst behaupten, dass ein Vermögen der Vorstellungen wie eigentliches Ich/Vernunft/Freiheit, das Schöne, das Gute, das Ganze der Rechtswissenschaft etc. und ihr Gebrauch / ihre Umsetzung gar nicht sein soll. Aber dann musst du zugeben, dass du nicht wirklich etwas liebst und geringe oder keine Anforderungen an dich und andere stellst, was du nicht verabsolutieren darfst (etwa vehement fordernd, dass jemand aufhören solle, Sinnliches, Moralisches etc. zu lieben). Dass etwas relativ und nicht konsensfähig zu sein scheint, entscheidet also gar nicht darüber, ob eine philosophische Theorie als (praktisch) begründet angesehen wird oder nicht – das Zusammenspiel von konkreten Argumenten und Ansprüchen hinter unterschiedlichen Positionierungen tut das.
letztlich gegen das Leben und das Interesse für die Realität verstoße und daher nicht ernsthaft gelebt werden könne (vgl. ebd. 35 f.), trifft sich mit unserer Auffassung im Rahmen der Anweisung zum seligen Leben, radikale Skepsis könne nur ein vorübergehender Zustand und kein wirklicher Standpunkt sein. 404 Er kann weder kräftig lieben noch hassen, weil dazu ein »energische[s] Sichzusammennehmen gehört« (ebd. 131). Das System der Ideen
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Metaphilosophische Überlegungen zu forschungsprogrammatischen Festlegungen und unterschiedlichen Ansprüchen geben uns Aufschluss darüber, unter welchen Bedingungen die Begründungsstrategien der Vernunft erfolgreich werden können. So kann die Zurückweisung des (1) Agrippa-Pentalemmas nur dann gelingen, wenn bestimmte (so wie die oben eruierte) begriffliche und weltansichtsbezogene Arbeit geleistet wird und damit konkrete Anforderungen erfüllt werden. Ungerechte Umgangsweisen mit abweichenden Positionierungen und Ansprüchen können auf das Fehlen solcher metaphilosophischen Überlegungen hinweisen. Entsprechendes gilt auch für (2) die Topoi der Vernunftkritik, die als erweiterte (aber nicht im vollen Umfang bis zum reflektierten Perspektivismus entfaltete) Relativismus- und Dissenseinwände begriffen werden können, nach denen die Vernunft dann als unbegründet und unwillkommen zu gelten habe, wenn sie (2.1) nicht attraktiv und/oder (2.2) mit Machtentzug oder -missbrauch verbunden sei sowie (2.3) das Andere bzw. (2.4) die Anderen in irgendeiner Form ausschließe. Zum Abschluss soll nun kurz (in Form von Bemerkungen, die aber natürlich noch weiter ausgeführt werden können) auf die Gefahren bestimmter stereotyper Denkmuster aufmerksam gemacht werden, sich als schwach bzw. sogar schlechthin als leer und rational ungerecht, d. h. die Regeln des Umgangs mit unterschiedlichen Ansprüchen verletzend, zu entpuppen. Dazu wollen wir eine Reihe von ausgewählten problematischen argumentativen Figuren hinter den Topoi betrachten, die vermieden werden können, wenn man nur an die Unterschiede in den forschungsprogrammatischen Festlegungen und Ansprüchen denkt. Das tiefste und grundlegendste Problem, vor dem ein Kritiker steht, wenn er die Vernunft oder eine bestimmte Form von Vernunft radikal kritisieren will, ist die Vielheit ihrer Konzepte und Bedeutun328
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gen. Dieses kann man durch die Strategie umgehen, den Vernunftbegriff so allgemein und unbestimmt wie möglich zu definieren. Sie hat folgende Vorteile: Erstens wird dadurch gewährleistet, dass möglichst viele Einwände ihn vernichtend treffen. Zweitens kann man mit ihm gerade diejenigen Merkmale verbinden und beliebig zusammensetzen, die man am meisten kritisieren will. Drittens kann man im Ausgang von seinem selbsterstellten Feindbild »Vernunft« auch Konzepte unterschiedlicher Autoren bzw. Menschen im Alltag angreifen, sobald sie irgendeine Ähnlichkeit mit ihm haben. Viertens muss man sich dabei für seine Kritik (für mögliche Fehler und Missverständnisse) nicht verantworten, denn die Einwände richten sich ja gegen bestimmte Tendenzen, die man bei einem Autor erkennt, wenn man seinen Vernunftbegriff mit seinem Feindbild vergleicht, nicht gegen die Theorie an sich in allen Details. Fünftens kann man ein umso breiteres Publikum von seinen Ansichten überzeugen, je schlechtere Eigenschaften man mit seiner Vernunft verbindet. Folgt man dieser kreativen Taktik, dann ist ein ungerechter Umgang mit zahlreichen Positionen unvermeidbar, v. a. aber mit dem Forschungsprogramm im Ausgang von Kant und Fichte, mit dem wir uns beschäftigt haben: das der Vernunft im engeren Sinne. Im Hinblick auf dasselbe soll nun auf mögliche Topoi (im Rahmen der negativen Heuristik (zum Schutz des harten Kerns)) reagiert werden, die so oder ähnlich bereits in der Philosophie der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte teils in Bezug auf Abschnitte aus den Theorien der Vernunft von Kant und Fichte benutzt wurden. Die konkreten Positionen sowie die philosophiegeschichtlichen Kontexte interessieren uns aber nur am Rande – es geht in erster Linie um problematische argumentative Figuren. Rechtfertigen lässt sich das dadurch, dass das ganze Forschungsprogramm – so wie von uns vorgestellt – besonders von Kritikern bisher gar nicht richtig erkannt wurde. (2.1) Unattraktivität der Vernunft. Im Hinblick auf die Ansicht, es sei unattraktiv von Vernunft zu sprechen, wollen wir auf zwei Probleme im Urteilen eingehen, die oben bereits nebenbei erwähnt wurden. Die erste argumentative Figur könnte man als einen progressbezogenen Wir-heute-Schluss bezeichnen, den entweder ein unaufmerksamer Fortschrittsbegeisterter oder ein rhetorisch Geschickter macht. Er könnte in seiner einfachsten Form wie folgt aussehen: (1) Da wir unter veränderten Bedingungen leben, sind Theorien aus vorhergehenden Jahrhunderten für uns heute nicht mehr zu gebrauchen. Das System der Ideen
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(2) Die Theorie X ist aus einer Zeit, in der es noch keine Kommunikationsmittel wie Internet etc. gab. (3) Also ist sie nicht aktuell und wir benötigen sie nicht. Für »X« ist zum Zweck unserer Besprechung »Vernunft im engeren Sinne« einzusetzen (wie prinzipiell jede mögliche, den gestellten einseitigen Ansprüchen nicht genügende Theorie). Diese (auch im Alltag oft vorkommende) Denkweise weist zwei Mängel auf: (A) Es ist gut, wenn man eine progressive Problemverschiebung fordert, die neue Fakten erklärt und vorhersagt. Die Frage ist aber, ob sie sich in demselben Gegenstands- und Wissensbereich bewegt, oder ob ausgehend von veränderten (Lebens-, Alltags- und Erkenntnis-)Bedingungen eine ganz neue Theorienreihe mit einem komplett anderen harten Kern entwickelt wird. Die Rationalitätstypologie, die das angeblich veraltete Vernunftdenken ablösen soll, 405 beschäftigt sich beispielsweise nicht mit den im Bewusstsein ablaufenden Mechanismen der Erzeugung und Anwendung der Ideen. Sie hilft mir schlechthin nicht, Antworten auf Fragen zu finden, die ich mir im Zusammenhang mit konkreten erlebbaren Phänomenen stellen kann. Ein älteres Forschungsprogramm, das dieses zu leisten verspricht, kann jedoch jederzeit durch einige Anstöße wiederbelebt und weitergebracht werden (das ist etwas, das wir versucht haben) – diesem Umstand wird im progressbezogenen Argument überhaupt nicht Rechnung getragen. (B) Sein zweiter Mangel besteht ferner darin, dass alle Wissensformen und -elemente ohne allen Unterschied sofort von externen wandelbaren Bedingungen und Konstellationen abhängig gemacht werden. Ob jedoch eine Feder von einem Schreibpult fällt oder ein Smartphone von einem Klapptisch im Flugzeug – beide Beobachter (aus dem 19. bzw. 21. Jahrhundert) wissen, dass die Gravitation dafür verantwortlich ist, obwohl sie physikalisch mit Newton oder Einstein erfasst werden kann. Ein entsprechendes Beispiel ist: Ein Schnellzug-Passagier, der über Kopfhörer Musik hört, die im 18. Jahrhundert unvorstellbar wäre, meldet einen Kommentar mit unangemessenem Inhalt den Administratoren eines sozialen Netzwerkes und erkennt, dass er das genauso hätte nicht machen können, jedoch nach der Pflichtidee gehandelt hat. Oder er schaut sich die ersten der Menschheit zugänglichen Fotos vom Himmelskörper Arrokoth (2019) an und das bewegt ihn dazu, den dialektischen Begriff »Unendlichkeit der Welt« zu bilden. Offensichtlich stellt er bei sich 405
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Vgl. Schnädelbach 2007: 138 f.
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(a) eine Fähigkeit fest, die auch Kant den Menschen zuschrieb, obwohl sie (b) theoretisch abweichend dargestellt und (c) im Hinblick auf einige Ideen auch anders angewandt werden kann – um auf eine Unterscheidung, die wir bereits zu Beginn des zweiten Teils der Arbeit gemacht haben, zurückzukommen. Das progressbezogene Wir-heute-Argument ist sehr problematisch, v. a. wenn es im wissenschaftlichen Rahmen geäußert wird und wenn man an die Wissenschaftlichkeit den Anspruch stellt, dass möglichst argumentativ sauber gedacht wird. Es stellt vielmehr ein rhetorisches Kampfmittel (das genauso gegen die Position des mit ihm Argumentierenden selbst benutzt werden kann) dar, das nach der Regel gebraucht wird: Bringe etwas unter eine dem Publikum (nach deiner Einschätzung) unattraktive oder »verhasste« Kategorie, wie: »Das ist doch purer Idealismus!«, »Das ist doch Psychologismus!«, »Das ist doch eine jahrhundertealte idealistische Theorie!« – dann entkräftest oder machst du eine Position zumindest verdächtig. 406 Eine weitere und ähnliche stereotype Denkfigur stellt der paradigmatische Wir-heute-Schluss dar: (1) Das Interesse und die Logik der Forschung bestehen heute in X. (2) Die Theorie A und ihre Beschreibung passen nicht zu X. (3) Also ist es unattraktiv, von ihr zu sprechen. Für »A« ist »das Vernunftvermögen im engeren Sinne« oder eine beliebige Theorie einzusetzen, die man angreifen will. Hier wird von einer versteckten unhinterfragten Prämisse Gebrauch gemacht, nämlich des Bestehens eines Konsenses im Hinblick auf das Interesse und die forschungsprogrammatischen Festlegungen in der Forschung. Angesichts der tatsächlichen Situation in der philosophischen Forschungslandschaft, der unterschiedlichen Diskursformationen, der Konferenzen, der Debatten um einzelne Thesen etc. kann es sich bei dem »Konsens« aber nur um eine Auswahl der bevorzugten Richtung(-en) des mit »wir heute« Argumentierenden handeln. Merkt man das nicht, dann kann man leicht mitgerissen und in eine Position hineingetäuscht werden. Wie gefährlich eine solche Denkweise war und sein kann, wird besonders deutlich, wenn für X die
406 Dieses Vorgehen entspricht im Grunde dem 32. Kunstgriff aus Schopenhauers Sammlung der Strategeme, in einer Debatte per fas et nefas Recht zu behalten (Eristische Dialektik, vgl. 1830: 691 f.), deren Gebrauch aus der »natürlichen Schlechtigkeit des menschlichen Geschlechts« (ebd. 668) resultiere (der Wille, seine Meinung durchzusetzen, überwiegt den Wert der Erkenntnis).
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Hexerei und magische Kräfte oder die Drehung der Sonne um die Erde eingesetzt und an die entsprechenden historischen Kontexte gedacht wird. Dagegen kann man mithilfe der Relativismus- und Dissenseinwände vorgehen, um als taktischer Perspektivist darauf aufmerksam zu machen, dass es unterschiedliche forschungsprogrammatische Festlegungen und Ansprüche geben kann, von denen einige es erlauben und erforderlich machen, etwa von »Ideen« und von »Vermögen« zu sprechen. (2.2) Vernunft und Macht. Die Macht ist ein weiterer Gesichtspunkt, unter dem man die Vernunft radikal kritisieren kann, und zwar wenn man mit ihr negative Eigenschaften verbindet. Entweder betont man, sie entziehe mir die Macht und sei aus diesem Grund in Wirklichkeit etwas Schädliches oder sie zeige sich nicht im besten Licht, wenn sie die Macht an sich reiße und ausübe. Machtentzugs- bzw. Denkprozessverselbständigungs-Argument. (1) Wenn über X nachgedacht wird, dann besteht die Gefahr, dass man über sich und sein Denken und Wollen die Kontrolle verliert. (2) Man will über sein Denken und Wollen komplett Macht haben. (3) Also soll man entweder über X nicht nachdenken oder mit einer besonderen Herangehensweise. Für »X« sind beliebige Vernunftbegriffe einzusetzen (im Prinzip kommen bei dieser Denkfigur aber auch sinnliche Begriffe wie von Objekten der Begierde infrage). Dieses Argument, bei dem es um die Psychologie der Erhaltung der Sphäre der persönlichen (egoistischen) Freiheit gegenüber der »Herrin Vernunft« und den Ideen (wie Gott, das Gute, das Wahre, das Schöne, die Sittlichkeit, die Vernunft, die Freiheit etc.) gehen kann, z. T. in Polemik gegen Hegel und Fichte, findet man bei Max Stirner in Der Einzige und sein Eigentum (1844). 407 Die Vernunft wird als »ein Buch voll Gesetze, die alle gegen den Egoismus gegeben sind« interpretiert, die jedoch eben an dieser »unbezwinglichen Ichheit, an der eigenen Natur, am Egoismus« 408 scheitern. Gegen alle möglichen 407 »Wenn Fichte sagt: ›Das Ich ist Alles‹, so scheint dies mit meinen Aufstellungen vollkommen zu harmonieren, Allein nicht das Ich ist Alles, sondern das Ich zerstört Alles, und nur das sich selbst auflösende Ich, das nie seiende Ich, das – endliche Ich ist wirklich Ich. Fichte spricht vom ›absoluten‹ Ich, Ich aber spreche von Mir, dem vergänglichen Ich« (Stirner 1844: 199). 408 Ebd. 372 und 373.
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geistigen Vorstellungen, die den Menschen angeblich regieren wollen, kann man sich einerseits dadurch retten, dass man gedankenlos wird. Man hört einfach auf zu denken bzw. es als seine Aufgabe oder seinen Beruf anzusehen – man ist gar nicht gezwungen, ein System von ineinander übergehenden Gedanken, etwa zur Beantwortung der Fragen, wie: »Was ist sittlich?« oder »Was ist rechtmäßig?« aufzustellen. 409 Andererseits kann man, da es dem Egoisten doch genauso frei zusteht, sich mit Vernunft und Ideen zu beschäftigen, wenn er nur will, sich bestimmte Strategien antrainieren, um der Macht des Geistes jederzeit Widerstand leisten zu können. 410 Man soll in der Lage sein, einen Gedankengang spontan abzubrechen, zugleich ein Schöpfer und Vernichter einer Idee zu sein. 411 Man soll nach der Maxime handeln: Ich demütige Mich vor keiner Macht mehr und erkenne, dass alle Mächte nur meine Macht sind, die Ich sogleich zu unterwerfen habe, wenn sie eine Macht gegen oder über Mich zu werden drohen; jede derselben darf nur eins meiner Mittel sein, Mich durchzusetzen, wie ein Jagdhund unsere Macht gegen das Wild ist, aber von Uns getötet wird, wenn er Uns selbst anfiele. Alle Mächte, die Mich beherrschen, setze Ich dann dazu herab, Mir zu dienen. 412
Was Stirner erstens überhaupt nicht einfällt, ist, dass sein Antagonismus zwischen der machtentziehenden Vernunft und dem (egoistischen) Ich (und damit sein Hauptproblem) unter veränderten forschungsprogrammatischen Festlegungen teilweise aufgelöst werden kann. Dieser macht nämlich nur dann Sinn, wenn man unter der Vernunft »Vernünftigkeit« und absolut selbstlose mit Ideen verbundene 409 Nicht die Kritik oder eine Orientierung im Denken, sondern »nur die Gedankenlosigkeit rettet Mich wirklich vor den Gedanken« (ebd. 164, vgl. 388 f. und 400 f.). Das alte pyrrhonische Prinzip der Seelenruhe findet sich so bei Stirner wieder: »Denn der Skeptiker begann zu philosophieren, um die Vorstellungen zu beurteilen und zu erkennen, welche wahr sind und welche falsch, damit er Ruhe finde. Dabei geriet er in den gleichwertigen Widerstreit, und weil er diesen nicht entscheiden konnte, hielt er inne. Als er aber innehielt, folgte ihm zufällig die Seelenruhe […]. Dem Skeptiker geschah dasselbe, was von dem Maler Apelles erzählt wird. Dieser wollte, so heißt es, beim Malen eines Pferdes dessen Schaum auf dem Gemälde nachahmen. Das sei ihm so misslungen, dass er aufgab und den Schwamm, in dem er die Farben vom Pinsel abzuwischen pflegte, gegen das Bild schleuderte. Als dieser auftraf, habe er eine Nachahmung des Pferdeschaumes hervorgebracht« (Sextus: Grundriss 100). 410 Vgl. Stirner 1844: 391 ff. 411 Vgl. ebd. 380. 412 Ebd. 357.
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Denkprozesse versteht – so, als wäre »Ich« dabei gar nicht vollkommen gegenwärtig, eine Zutat, ein passives bloß zusehendes Etwas, das durch geistige Mächte regiert werde. 413 Der transzendental-bewusstseinsphilosophische Gesichtspunkt fehlt in Stirners Untersuchungen ganz. Selbst wenn er von »Denken« und »Vorstellungen« spricht, meint Stirner offensichtlich (denn es wird nicht eigens erörtert) damit nicht meine Spontaneität, meine Vermögen und von mir erzeugte Produkte (etwa Ideen), sondern etwas, was von sich aus auf irgendeine Weise ablaufe – eine mir geschehende denkprozessuale »Vernünftigkeit«, die mir fremd ist, die ich nur durch ein bestimmtes Set von Einstellungen unter meine Kontrolle bringen, zu meinem Eigentum machen, mit dem ich umgehen kann, wie ich will, oder gar nicht erst stattfinden lassen kann. Wir lernen jedoch von Kant und Fichte, dass die Bildung und die Umsetzung der Ideen jederzeit von subjektiven, eigenen geistigen Leistungen abhängig ist – man hat im Vorhinein Macht über sie, ist sofort ihr Eigentümer (was nach Fichte nur auf niedrigen Standpunkten nicht immer eingesehen wird – wie etwa von einem Künstler, der von Ideen mitgerissen und »regiert« wird, ohne zu merken, dass es ein Effekt seiner Vernunft ist). Damit hat man auch zugleich die Möglichkeit, eine Leistung nicht zu erbringen – keine Vernunftbegriffe und auf ihnen basierende Maximen zu bilden. 414 Was Stirner zweitens nicht in Betracht zieht, sind die Multiperspektivität und die unterschiedlichen Ansprüche – ob ich eine oder alle Ideen für ein mir nichts bedeutendes Nichts erkläre, über sie lache und überhaupt nicht nachdenke oder ob ich apodiktisch nach moralischen Ideen handele und Leben rette, hängt davon ab, 413 Stirner polemisiert dabei in erster Linie gegen Hegels Konzept des vernünftigen Denkens: »Hegel verurteilt das Eigene, das Meinige, die – ›Meinung‹. Das ›absolute Denken‹ ist dasjenige Denken, welches vergisst, dass es mein Denken ist, dass Ich denke und dass es nur durch Mich ist. […] Wäre Ich nicht dieser, z. B. Hegel, so schaute Ich die Welt nicht so an, wie Ich sie anschaue, Ich fände aus ihr nicht dasjenige philosophische System heraus, welches gerade Ich als Hegel finde usw.« (ebd. 381 f.). 414 Dies kann auch leicht durch eine lebens- oder alltagsphilosophische Betrachtung ergänzt werden, dass man sich auch jederzeit davon befreien kann, ein Buch zu lesen oder über Ideen nachzudenken. Dies tut man auch in krankheitsfällen oder bei zu priorisierenden Plänen etc. Das sind aber Binsenwahrheiten, die gar nicht erwähnt zu werden brauchen (es sei denn eine bestimmte Person scheint einen Ratschlag zu benötigen, was aber auch oft nur ein Schein ist), wenn ein Forschungsprogramm nicht vorsieht, dass auf sie eingegangen wird. Umgekehrt muss ein Alltagsphilosoph nicht auf schwierige Konzepte eingehen, er darf aber nicht seine Ansprüche verabsolutieren.
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welche Forderungen ich an mich und andere stelle. »Ich hab’ Mein Sach’ auf Nichts gestellt« 415 (ich habe keinen festen Standpunkt, keine Affekte, die mich an eine Weltansicht binden) kann nur das Motto einer bestimmten, relativen und zum Dissens führenden Position sein, die Fichte als Skeptizismus beschreibt und auf den der Zustand der Gedankenlosigkeit (Stirners Mittel gegen die Ideen) folgen kann. Ebenso wenig wie ein Vertreter der Legalität, für den die Menschheit (im äußersten Fall der Selbst-Vergessenheit in einem Vernunft-Effekt) lediglich dafür da ist, den Gesetzen zu gehorchen, darf ein Skeptiker seine Forderungen verabsolutieren und den anderen aufdrängen, nie etwas wahrhaft zu lieben oder sich nie einer Sache komplett hinzugeben. Das Letzte steht aber jederzeit in unserer Macht, die uns Stirner mit seinem Ideal des Egoisten genauso entziehen will, wie eine jede der fünf Weltansichten nach Fichte wiederum den Egoisten machtlos zu machen droht. Stirner ist ein subjektiver Perspektivist, der das Relativitäts- und Dissensdenken nicht auf seine Position selbst bezieht und somit das skeptische Verfahren an einem bestimmten Punkt dogmatisch abbricht. 416 Vernunftinstrumentalismus-Argument. (1) X ist ein absolutes Werkzeug zur Unterwerfung von allem. (2) Nun hat aber dasjenige, was es restlos kontrollieren will, auch Recht darauf, von X unabhängig zu sein. (3) Also soll man darauf so gut wie möglich aufmerksam werden und sich so gegen die totalitären Ansprüche von X wehren. Unter »X« ist »Vernunft« zu denken (im Prinzip kann für »X« beispielsweise auch »Leib« eingesetzt werden – diese Denkfigur kann zu verschiedensten Zwecken gebraucht werden). Die Vernunft »ist das Organ der Kalkulation, des Plans, gegen Ziele ist sie neutral, ihr Element ist die Koordination« 417 – dies ist das unattraktive Bild von Horkheimer und Adorno, mit dem sie gegen eine rationale Haltung vorgehen wollen, die sowohl in der Wissenschaft als auch in der Gesellschaft alles blind verarbeiten, verwalten und beherrschen will. Beim Einzelnen zeigt sie sich in einer Art krankhafter Besessenheit, jederzeit ausschließlich plan- und zweckmäßig handeln Ebd. 3 und 412. Das ist der Satz, mit dem Stirner sein Werk beginnt und endet. Auf die machttheoretische Kritik von Nietzsche (die Vermutung, hinter der Vernunft der Philosophen verberge sich ein maskierter und ungesunder (lebensschädlicher) Wille zur Macht) gehen wir nicht ein. Vgl. dazu, allerdings noch ohne explizite forschungsprogrammatische und anspruchslogische Reflexionen: Lewin (2017). 417 Horkheimer/Adorno 1947: 95. 415 416
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zu müssen – ein »Fußmarsch, der einen Menschen aus der Stadt an die Ufer eines Flusses oder auf den Gipfel eines Berges führt, wäre, nach Nützlichkeitsmaßstäben beurteilt, widervernünftig und idiotisch« 418. Dieser rationalen Haltung wollen Horkheimer und Adorno auf die Spur kommen – sie sehen sie überall, so wie etwa ein Schöngeist überall das Schöne zu erkennen glaubt – in politischen Systemen, in Arbeitsverhältnissen, in der Produktion von Filmen, in den Wissenschaften, im Sport und in der Philosophie: z. B. im Kantischen Vernunftbegriff. Dies geschieht vollkommen ohne Rücksicht auf Unterschiede in den Ansprüchen. Ob der Sportler diese oder jene Forderungen gemäß seinen Lebenszielen an sich stellt, ist im Gegensatz dazu, dass man bei ihm eine Angespanntheit, Befolgung von Regeln und Integration in die Betriebsamkeit der Sportindustrie entdeckt, uninteressant. Wie dem Stirner’schen Egoisten die Vernunft und die Ideen von außen her in Denkakten »zustoßen«, gegen die er sich daher als ihm fremde Mächte wehren will, so »geschehe« etwa dem »durchschnittlichen Konzertbesucher« automatisch eine rationale Haltung, die es ihm nicht erlaube, einfach gedankenlos Musik zu genießen. 419 Es werden konkrete im Zusammenhang mit Interessen, Zielen, Werten etc. stehende Forderungen ausgeblendet – die bei einem im Publikum sitzenden Musiker anders sein können als bei jemandem, der aus reinen Erholungszwecken da ist –, man ist nur noch ein »Durchschnittsmensch«, ein »man«. 420 Die Einebnung aller Unterschiede in forschungsprogrammatischen Festlegungen und Ansprüchen zugunsten der Ausweisung einer ominösen und omnipräsenten Rationalitätsform findet sich auch dort wieder, wo Horkheimer und Adorno explizit auf Textstellen aus der Kritik der reinen Vernunft eingehen, z. B. überraschenderweise aus dem Anhang zur transzendentalen Dialektik. Es wird behauptet, die Vernunft wolle um jeden Preis die Natur beherrschen, indem sie sogar eine Idee der systematischen Einheit der Naturbetrachtung erzeuge, um mit allen Tatsachen schnell fertig zu werden, sie zu ordnen und zu verwalten. 421 Wir haben jedoch im ersten Teil der Arbeit Horkheimer 1947: 50. Vgl. ebd. 53 f. 420 Auch noch etwa in den aktuellsten Studien der empirischen Alltagspsychologie wird z. B. die Menge des Weins, die jemand zu sich nimmt, von der Größe und Form des Weinglases abhängig gemacht, wobei konkrete Forderungen von Personen, die sich aus Werten, Weltansichten, Zielen etc. ergeben, ausgeblendet werden. 421 Vgl. Horkheimer/Adorno 1947: 88 ff. 418 419
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gelernt, dass es sich dabei um ein principium vagum handelt, das sich entweder als Ich/Seele, kosmologische Ideen oder Ideal konkretisiert, wobei wir diese Einheitspunkte nur regulativ gebrauchen. Wir können z. B. die Welt so betrachten (die Verstandeserkenntnisse mithilfe einer Vernunftidee so ordnen), als ob in ihr eine höhere durchgängige Zweckmäßigkeit anzutreffen wäre, müssen das aber nicht. Warum soll die Vernunft zwingend alles »Sinnenmaterial zum Material der Unterjochung« 422 verarbeiten, wenn ich mich doch frei entscheiden kann, von einer Idee Gebrauch zu machen oder es zu lassen, je nachdem, ob ich von mir fordere, die Natur auf solche Weise systematisch zu betrachten, oder ob ich es für überflüssig halte oder ob ich mich nicht einmal für Wissenschaften interessiere? Solche Einsichten und anspruchslogische Reflexionen hätten an dieser Stelle – um nur auf ein Beispiel einzugehen – die Kritik entbehrlich gemacht. Anstelle der Bemängelung der fehlenden Ansprüche und der Urteilskraft bei Menschen, sich über einen Rationalitätstypus (und seine (mehr oder weniger verheerenden) Nachteile), der sich zu verabsolutieren und in der Gesellschaft ungehindert auszubreiten droht, im Klaren zu werden, wird jedoch das im Rahmen der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie behandelte Vernunftvermögen im engeren Sinne angegriffen, das dafür gar nicht verantwortlich ist. Dieses wäre vielmehr für die (architektonische) Idee der Kritik der instrumentellen Rationalitätsform verantwortlich zu machen. (2.3) Das Andere der Vernunft. (1) In der Philosophie oder im Werk X wird hauptsächlich Z behandelt. (2) Doch was ist mit A, B, C etc.? (3) Also werden diese Elemente aus X schlechthin ausgestoßen und geächtet. Für »Z« kann man sowohl »Vernunft« wie im Prinzip alles Denkbare einsetzen. Dieser rhetorische Kunstgriff der Unterstellung (absichtlich benutzt) bzw. diese mangelhafte Denkfigur (fahrlässig gebraucht) kann gegen jedes beliebige X und Z gerichtet werden. Sie basiert auf der unzulässigen Gleichsetzung von Fehlen und Ausstoßen. Nehmen wir an, ein Autor beschäftigt sich mit der Philosophie der sinnlichen Wahrnehmung, so kann man ihm vorwerfen, er gehe gar nicht auf Vernunftfunktionen ein, vernachlässige sie ganz, als wollte er nichts von ihnen 422
Ebd. 90.
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wissen oder verachte sie sogar, denn in seinem Buch ist nicht davon die Rede. Dabei erhebt er aber doch nicht den Anspruch auf eine vollständige Erkenntnistheorie – so etwas wie die Ordnung der Verstandeserkenntnisse nach Vernunftbegriffen wäre einfach zu weit von dem eigentlichen Thema entfernt und trüge nichts zur Lösung eines konkreten Problems bei, in die man mehrere Jahre, finanzielle Mittel und viel geistige Arbeit investiert hat. Nach demselben Prinzip kann auch die Vernunft kritisiert werden – es fehlen tiefenpsychologische, alltagsphilosophische, sprachwissenschaftliche, historische etc. Überlegungen. 423 Es wird in beiden Fällen nicht auf forschungsprogrammatische Festlegungen und Ansprüche eines Autors geachtet – vielmehr wird ihm etwas unterstellt und von ihm etwas gefordert, was man selbst nicht hätte leisten können oder wollen. Moralisch einwandfrei (die Regeln des Umgangs mit unterschiedlichen Anforderungen nicht verletzend) wären hingegen z. B. Ergänzungen und progressive Problemverschiebungen (innerhalb eines Forschungsprogramms) oder Kooperationen (zwischen befreundeten Forschungsprogrammen) oder Konkurrenzverhältnisse, die auf gegenseitiger Achtung – was die Aufmerksamkeit auf konkrete forschungsprogrammatische Festlegungen und Ansprüche einschließt – beruhen. (2.4) Die Anderen der Vernunft. Dass bei der Untersuchung der Vernunft die Anderen in den Qualitäten »Mitmensch im Alltag«, »Mitspieler«, »Fremder« etc. fehlen können und daher zu Unrecht ausgestoßen werden, gehört zur obigen Denkfigur. Wenn in der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie der Erkenntnis an einer bestimmten Stelle das Vernunftvermögen und seine Funktionen untersucht werden, dann bleibt konsequenterweise die Erörterung der sozialen Verhältnisse, wenn dabei insbesondere auf Erfahrungsbegriffe wie Mitmensch, Mitspieler etc. zugegriffen werden muss, aus. Sie haben weder etwas mit der Vorstellungsart Idee zu tun (im Gegensatz etwa zur Idee von einer Gemeinschaft der Vernunftwesen) noch wird in der positiven Heuristik des Forschungsprogramms mit bewusst gewählten Festlegungen, im Rahmen dessen die Vernunft behandelt wird, vorgesehen, dass auf sie einzugehen ist – was nicht heißt, dass man aus bestimmten Anlässen oder nach bestimmten Plänen Zuarbeit leisten kann.
423 Mit dem Thema, welches Andere der Vernunft entgegengesetzt werden kann, hat sich Karen Gloy ausführlich auseinandergesetzt – vgl. Gloy (2001 und 1996).
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Ähnlich sieht diese Denkfigur auf rein methodologischer Ebene aus: (1) Wenn man seine Position nicht ausgehend von X erörtert, ist sie fehlerhaft und unhaltbar. (2) Z wird ausgehend von anderen Überlegungen behandelt – X wird somit ausgestoßen. (3) Also ist es eine mangelhafte Theorie, die so schlechthin nicht zu vertreten ist. Für »X« kann die Intersubjektivität (Miteinandersein, Sprache, Alltag, Kommunikation) oder eine andere beliebige Ausgangsbasis stehen. Hier wird das Stellen von konkreten Ansprüchen (man soll unbedingt von X ausgehen) als ein Qualitätsmerkmal zur Beurteilung von Theorien aufgestellt, und zwar unabhängig davon, welche Wissensziele und Gegenstände sie betreffen sowie welche forschungsprogrammatischen Festlegungen ein Autor der Theorie Z getroffen hat. So kann man ihm etwa vorwerfen, er habe das kommunikativ bedingte Miteinandersein (X) zugunsten eines »methodischen Solipsismus« (des Ausgangs von einem einsamen, auf sich reflektierenden Subjekt) komplett außer Acht gelassen, der im Grunde unmöglich und eine Illusion sei. Man muss dabei allerdings zweierlei auseinanderhalten: Erstens, ob der Vertreter einer Position tatsächlich von der »Unterstellung [ausgeht, Zusatz von M. L.], man könne die Existenz der Sprache und der Kommunikation mit anderen, zusammen mit der Außenwelt, einklammern und sich danach immer noch als denkendes Ich verstehen« 424, oder ob er zweitens eine methodologische Entscheidung vorgenommen hat, die es ihm erlaubt, (vorläufig oder ganz) von der sprachlichen Verständigung von Personen, von der Welt, vom Alltag, von Gefühlen, vom Leib etc. zu abstrahieren, um Themen und Probleme auf die Art und in derjenigen Reihenfolge zu behandeln, wie er es sich aus guten Gründen und zu seinen Zwecken überlegt hat. Ist Erstes der Fall, dann spricht nichts dagegen, einem Autor ein abstraktes Denken (etwa im Sinne der Apel’schen oder Hegel’schen Kritik) vorzuwerfen. Im zweiten Fall – welcher hier vorliegt, wie wir anhand der Theorienreihe zur Vernunft im engeren
424 Apel 1988: 448. Apel richtet diese Kritik am getäuschten Denken sowohl gegen Descartes als auch gegen Kant, Fichte und Husserl (vgl. ebd. 445 ff.).
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Sinne gezeigt haben – muss diese Denkfigur allerdings selbst als fehlerhaft kritisiert werden, denn hier werden Ansprüche, die relativ auf ein Forschungsprogramm sind, verabsolutiert.
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Die Tendenzen zur Verabsolutierung der jeweils eigenen (a) forschungsprogrammatischen Festlegungen und (b) Ansprüche deuten auf das Fehlen von metaphilosophischen Reflexionen hin. Diese können weder durch eine Analyse der Sprache und des Miteinanderseins noch der Bewusstseinsvermögen, -funktionen und -gesetze ersetzt und geleistet werden. Wir bedürfen also (vielleicht nicht gerade einer »metaphilosophischen Wende«, aber) eines metaphilosophischen Forschungsprogramms, um den zahlreichen Schulen, Denkrichtungen, Projekten, Positionierungen und Ansprüchen als in Konkurrenzund Kooperationsverhältnissen Nebeneinanderbestehenden rational gerecht zu werden. Der reflektierte Perspektivismus ist ein solches vorgeschlagenes Forschungsprogramm. Mit ihm ist unzertrennlich ein Plädoyer für eine metaphilosophisch informierte Philosophie verbunden. Fassen wir einige der wichtigsten Ergebnisse zusammen:
(I) Wir haben am Leitfaden der Vorstellungsart, die Kant in Würdigung der Platonischen Philosophie als Idee bezeichnet, ein umfassendes Konzept der Vernunft im engeren Sinne erarbeitet. Diese operiert mit – je nach Zählung – mindestens sieben Arten der Vernunftbegriffe: (1) Postulaten, (2) einfachen praktischen Ideen (inklusive politischer und religiöser), (3) ästhetischen Ideen, (4) transzendentalen Vernunftbegriffen, (5) einfachen theoretischen Ideen, (6) architektonischen Ideen und (7) Vernunftbegriffen von der Vernunft. Mit allen diesen Arten sind konkrete erkenntnisimmanente Funktionen und angemessene propositionale Einstellungen verbunden, die analysiert und schließlich in einer tabellarischen Übersicht dargestellt wurden. Diese soll einerseits der Bestimmtheit im Wissen, also den Das System der Ideen
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wissenschaftlichen Zwecken (der Untersuchung unserer geistigen Fähigkeiten), dienen, andererseits kann sie für didaktische Zwecke (Vermittlung der Kantischen Philosophie) gebraucht werden. Mit beiden ist zugleich die Erfüllung der alten apollinischen Forderung γνῶθι σεαυτόν, »erkenne dich selbst«, verbunden, und zwar im ganz konkreten Sinne als Selbsterkenntnis der Vernunft (vgl. Prol AA IV 317, 328 und KrV AXI). Unter dem »Selbst« kann man nämlich auch das persönliche, biografische, physiologische, psychologische, sprachund gemeinschaftsbezogene etc. Erscheinungsbild des Menschen verstehen, dessen Untersuchung nicht unbedingt im direkten Konkurrenzverhältnis zum Forschungsprogramm Vernunft im engeren Sinne steht, insofern es um andere Gegenstände und andere (einander prinzipiell ergänzbare) Wissensinhalte geht.
(II) Für das Selbst qua Vernunft können – wenn man der Argumentationslinie von Kant und Fichte folgt – Zusätze »eigentlich« oder »absolut« infrage kommen und beansprucht werden. Denn wenn man sich überlegt und vergegenwärtigt, dass mit Hilfe aller sieben Arten der Ideen Perspektiven, Möglichkeiten und Aufgaben entworfen werden können, die nicht ohne Weiteres in der Erfahrung gegeben sind, wird man sich als autonome Kausalität, »als Freiheit«, ansehen können. Unser »eigentliches« Ich qua Vernunft oder Freiheit ist zwar eine Idee, insofern es mit den Prädikaten zu beschreiben ist, die allgemein zur Definition dieser Vorstellungsart gehören, wie »rein«, »absolut«, »Maximum«, »Vollkommenheit« etc., aber eine solche, die realisiert werden kann. Wir haben gezeigt, dass Fichte vorschlägt, das Projekt der Selbsterkenntnis der Vernunft sofort mit der Ideenbildung der Vernunft von sich selbst, der Tathandlung, als der primären Realisierung und Bewusstwerdung der Freiheit, beginnen zu lassen. Damit eröffnet sich für ihn eine über die Grenzen des Kantischen systematischen Rahmens hinausgehende Möglichkeit, alle Arten der Ideen nach fünf Wirkungssphären der Vernunft einzuteilen. Während sich die Tathandlung als ein ursprüngliches Fürsichsein des Ich, als ein Subjekt-Objekt, artikulieren lässt, zeigt sich dasselbe Ich (es handelt sich lediglich um eine andere Ansicht ein und desselben Ich) etwa auf dem niederen Standpunkt II als ein »stehendes Subjekt« – das Sittengesetz und die Vernunft sind hier rein faktisch auf342
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gefasst. 425 Bei der Untersuchung der fünf Wirkungssphären und der ihnen gemäßen Ideenarten bei Fichte gingen wir auf eine umgekehrte Weise als bei Kant vor – wir fingen mit einer tabellarischen Übersicht an und beleuchteten die einzelnen Momente und ihren Zusammenhang nacheinander. Damit haben wir teilweise der Fichte’schen Absicht Rechnung getragen, die Ergebnisse der Kantischen Philosophie in Form einer ganzheitlichen systematischen Lehre zugänglich machen zu wollen.
(III) Ausgehend von der Unterscheidung des Konzepts der Vernunft im engeren Sinne von Begriffen wie (kulturbedingte) »Rationalität« und »Vernünftigkeit« und im Rückgriff auf die wissenschaftstheoretischen Untersuchungen von Imre Lakatos wurden die forschungsprogrammatischen Festlegungen bestimmt, die zum Denken des Vermögens der Ideen gehören. Die Theorie der Vernunft im engeren Sinne gehört keineswegs zu dem, was Habermas, Apel und Schnädelbach als ein veraltetes Paradigma der Bewusstseinsphilosophie von Descartes bis Husserl ansehen. Nach einer anders ausgelegten Logik der Forschung handelt es sich vielmehr um ein Forschungsprogramm innerhalb des ihm übergeordneten Projekts der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie der Erkenntnis bzw. der kritischen Metaphysik (des Mentalen). Dieses kann sich – genau wie jedes andere neben ihm bestehende Programm – in Degeneration oder Progression befinden, je nachdem, wie gut die Forscher bestimmte und aktuelle Phänomene, deren wissenschaftliche Behandlung von ihnen bewusst beansprucht ist, in seinem Rahmen erklären und vorhersagen können. Die Darstellung der Funktionen der Vernunftideen im Überblick, die Offenlegung ihrer Bedeutung in zeitgenössischen Diskursen und die Behandlung der Begründungsfrage sind mögliche Impulse, um die wir uns bemüht haben, die das Forschungsprogramm »Vernunft im engeren Sinne« wieder attraktiv sowie konkurrenz- und kooperationsfähig machen können.
425 Darum darf Fichtes Grundprinzip unter keinen Umständen mit dem Verhältnis von ratio essendi zu der ratio cognoscendi in Kants praktischer Philosophie verwechselt oder gleichgesetzt werden.
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(IV) Wir haben uns bei der Beantwortung der Frage, ob die Vernunft im engeren Sinne ist und sein soll, also theoretisch und praktisch fundiert ist, von der Ansicht distanziert, man könne bei der Begründung mithilfe eines schlagkräftigen Arguments oder einer Strategie unabhängig von dem Denken der Pluralität der Forschungsprogramme und der Ansprüche der Forschenden Erfolg haben. Der philosophisch Argumentierende muss mitteilen können, welche (a) forschungsprogrammatischen Festlegungen und (b) Ansprüche benötigt sind, damit die Begründung gelingt. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn die »Bundesgenossen im Kampf gegen die ›Vernunft‹« 426 eigene (a) und (b) mitbringen, die nichts oder kaum etwas mit denjenigen von Kant, Fichte und der am Projekt »Vernunft im engeren Sinne« Interessierten zu tun haben. So haben wir gesehen, dass sich hinter den fünf Tropen des Agrippa und den vernunftkritischen Topoi ganz andere Ansprüche und Wissensziele verbergen (auch das Ziel, kein theoretisches und systematisches Wissen zu haben) als hinter den drei von uns behandelten Begründungsstrategien – was zu Problemen führt, wenn sie verabsolutiert werden. Aus der metaphilosophischen Sicht des reflektierten Perspektivismus ist es nun sehr wohl erlaubt, ein Projekt allein aus dem Umstand, dass eine Erklärung zirkulär aussieht oder dass es Relativismus und Dissens gibt, zu verwerfen – aber dann muss man auch unverhohlen zugeben, dass man keine hohen Anforderungen an sich und seine Mitmenschen hinsichtlich des wissenschaftlichen Forschens stellt. Es ist genauso erlaubt, mit stereotypen rhetorischen Denkfiguren zu operieren, man muss sich dann aber über die eigenen Ansprüche im Klaren sein und sich gewissenhaft fragen, ob man das wirklich will. Es kann nämlich erstens leicht passieren, dass man dabei in die Vernunft willkürlich etwas Eigenes hineininterpretiert und zweitens können diese Denkmodelle genauso gegen den mit ihnen Argumentierenden selbst verwendet werden. Die Vernunft im engeren Sinne ist hingegen theoretisch genau dann begründet (es wird erkannt, dass sie ist), wenn sie vor dem Hintergrund der forschungsprogrammatischen Festlegungen und Ansprüche der kritischen Metaphysik des Mentalen nicht etwa als ein bloßes Interpretationskonstrukt oder ein (totes) Ding, sondern als ein Vermögen der Freiheit (eine (lebendige) Kraft, eine Möglichkeit 426
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Feyerabend 1975: 264.
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zur Wirklichkeit, die reinste Form der Spontaneität) aufgefasst wird, das sich in der wirklichen Bildung und Umsetzung der Ideen bestätigt, v. a. im Fall des Sittengesetzes (Kant) und der Tathandlung (Fichte). 427 Die Logik des Denkens der Kräfte besteht dabei nicht darin, dass sie direkt an sich erkannt werden, sondern in ihren konkreten Äußerungen: So wie mit der elektromagnetischen Kraft nicht mehr verbunden wird als das, was sich in konkreten Phänomenen manifestiert, wird das Vermögen der Ideen lediglich als für eine begrenzte Zahl bestimmter einander ähnlicher Leistungen verantwortlich angesehen, die tatsächlich erbracht werden können und somit in Erscheinung treten. Ferner muss die Vernunft im engeren Sinne im Gesamtzusammenhang der Funktionen und Gesetze des Bewusstseins und der übrigen Bedingungen, unter denen sie sich äußert, betrachtet werden. Dass sie in der philosophischen Reflexion isoliert behandelt werden kann, bedeutet keineswegs, dass sie eine von allem Erkenntniskontext losgelöste dogmatische Voraussetzung ist – vielmehr handelt es sich hierbei um eine bewusste methodologische Festsetzung im Rahmen der positiven Heuristik eines Forschungsprogramms. Dafür, dass das Vermögen der Ideen sein soll (dass es praktisch begründet ist), kann man, wie wir gesehen haben, gut mit Fichtes Theorie der Weltansichten argumentieren. Die Bedingung dafür, dass es als sein sollend erkannt wird, besteht in der Liebe zu den Gegenständen mindestens einer der fünf Sphären, in denen Vernunftbegriffe eingesetzt werden können. Die Vernunft im engeren Sinne ist nur für diejenige Person praktisch begründbar, die an sich Ansprüche stellt, die mit der vollkommenen Entfaltung und Verwirklichung dieser Liebe zusammenhängen.
427 Es ist im Hinblick auf diese Bestimmung leicht zu erkennen, wie problematisch und inadäquat es ist, ohne Weiteres von einer »Dezentrierung der Vernunft« (vgl. z. B. Schnädelbach 2007: 111 ff.) oder von Versuchen einer »Überwindung der subjektzentrierten Vernunft« (vgl. z. B. Habermas 1988: 46) bei Hegel und in der Postmoderne zu sprechen. Man kann sich kaum gedankenexperimentell vorstellen, was passiert, wenn man etwa seine Fähigkeit zu atmen »dezentriert«. Hinter dieser Begrifflichkeit verbergen sich forschungsprogrammatische Festlegungen, bei denen das Denken der Vernünftigkeit oder der Rationalität im Zentrum steht. Oben wurde daher mehrmals darauf hingewiesen, dass (a) das Vermögen an sich von (b) seiner theoretischen Beschreibung und (c) seiner praktischen Anwendung in einem gesellschaftskulturellen Kontext zu einer gewissen Zeit zu unterscheiden ist.
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Literaturliste und Abkürzungsverzeichnis
Mit Abkürzungen genutzte Primärliteratur: Kant, Fichte und Hegel AA
Kant, Immanuel: Akademie-Ausgabe (Kants gesammelte Schriften), hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: 1902 ff.
KrV
(1781/87) Kritik der reinen Vernunft (wird nach Originalpaginierung A/B zitiert) (1783) Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (AA IV) (1784) Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (AA VIII) (1785) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA IV) (1788) Kritik der praktischen Vernunft (AA V) (1790) Kritik der Urteilskraft (AA V) (1793) Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA VI) (1793) Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (AA VIII) (1797) Metaphysik der Sitten (AA VI) (1800) Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen (AA IX) (1803) Immanuel Kant über Pädagogik (AA IX) (1804) Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht hat? (AA XX)
Prol
IaG GMS KpV KU RGV TP
MS Log Päd FM
GA
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Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Rainhard Lauth/ Hans Jacob u. a., Stuttgart/Bad Cannstatt: Friedrich Fromann Verlag 1962 ff.
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Literaturliste und Abkürzungsverzeichnis VCO EM PrPh RezAe BWL BdG GWL Sprache GNR Logik-Esch ErE ZwE Logik-Höijer SL WLnm-K BdM SB
WL-1801/02 WL-1804-I WL-1804-II GdgZ BWL-1806 WdG AzsL WL-1812 WL-1812-H
(1792) Versuch einer Critik aller Offenbarung (GA I/1) (1793) Eigne Meditationen über die ElementarPhilosophie (GA II/3) (1793) Practische Philosophie (GA II/3) (1794) Rezension Aenesidemus (GA I/2) (1794) Über den Begriff der Wissenschaftslehre (GA I/2) (1794) Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (GA I/3) (1794/95) Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (GA I/2) (1795) Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache (GA I/3) (1796) Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (GA I/3) (1796/97) Logik und Metaphysik: Nach Platners philosophischen Aphorismen. Nachschrift Eschen (GA IV/3) (1797) Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre (GA I/4) (1797) Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (GA I/4) (1798) Über Logik und Metaphysik. Nachschrift Höijer (GA IV/3) (1798) System der Sittenlehre (GA I/5) (1798/99) Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift Krause (GA IV/3) (1800) Die Bestimmung des Menschen (GA I/6) (1801) Sonnenklarer Bericht an das grössere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie. Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu zwingen (GA I/7) (1801/02) Die Wissenschaftslehre (GA II/6) (1804) Vorlesung der Wissenschaftslehre im Winter 1804 (GA II/7) (1804) Die Wissenschaftslehre. II. Vortrag im Jahre 1804 (GA II/8) (1804/05) Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (GA I/8) (1806) Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre und die bisherigen Schicksäle derselben (GA II/10) (1806) Über das Wesen des Gelehrten, und seine Erscheinungen auf dem Gebiete der Freiheit (GA I/8) (1806) Die Anweisung zum seligen Leben (GA I/9) (1812) Die Wissenschaftslehre (GA II/13) (1812) Die Wissenschaftslehre. Nachschrift Halle (GA IV/4)
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Literaturliste und Abkürzungsverzeichnis W
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke [in 20 Bänden], hg. v. Eva Moldenhauer/ Klaus Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986.
Skept
(1802) Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie. Darstellung seiner verschiedenen Modifikationen und Vergleichung des neuesten mit dem alten (W 2) Aphorismen (1803–06) Aphorismen aus Hegels Wastebook (W 2) Wer denkt abstrakt? (1807) Wer denkt abstrakt? (W 2) PhG (1807) Phänomenologie des Geistes (W 3) Antrittsrede (1818) Konzept der Rede beim Antritt des philosophischen Lehramtes an der Universität Berlin (Einleitung zur Enzyklopädie-Vorlesung) (W 10) RPh (1821) Grundlinien der Philosophie des Rechts (W 7) Enz I, II, III (1830) Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (W 8, 9 und 10)
Weitere Primär- und Sekundärliteratur Adolphi, Rainer (2003): Weltbild und Ich-Verständnis. Die Transformation des »Primats der praktischen Vernunft« beim späten Fichte, in: Fichte-Studien 23, 1–37. • ders. (1996): Drei Thesen zum Typus einer Rationalitätstheorie nach Weber: Begriffsdifferenzierung, Pluralität, Konflikte, in: Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten, hg. v. Karl-Otto Apel und Matthias Kettner, 2. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016, 139–165. Agassi, Joseph (1986): God Save Us from Our Friends, Enemies We Have No More (Radnitzky and Andersson, Progress and Rationality in Science), in: Philosophia 16, 209–238. Albert, Hans (1982): Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft, Tübingen: Mohr. • ders. (1968): Traktat über kritische Vernunft, 5. Auflage, Tübingen: Mohr 1991. Allen, Reginald E. (1997): Plato’s Parmenides, übers. und kommentiert v. R. E. Allen, überarbeitete Version, New Haven/London: Yale University Press. Andersson, Gunnar (1988): Kritik und Wissenschaftsgeschichte. Kuhns, Lakatos’ und Feyerabends Kritik des Kritischen Rationalismus, Tübingen: Mohr (Paul Siebeck). • ders. (1986): Lakatos and Progress and Rationality in Science: A Reply to Agassi, in: Philosophia 16 (2), 239–243. Apel, Karl-Otto (2017): Transzendentale Reflexion und Geschichte, hg. und mit einem Nachwort v. Smail Rapic, Berlin: Suhrkamp. • ders. (2011): Paradigmen der ersten Philosophie. Zur reflexiven – transzendentalpragmatischen – Rekonstruktion der Philosophiegeschichte, Berlin: Suhrkamp.
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Literaturliste und Abkürzungsverzeichnis Was kann der Mensch? Was können die Computer? Hg. v. Heinz Nixdorf MuseumsForum, Paderborn: Schöningh, 86–113. Mojsisch, Burkhard und Summerell, Orrin F. (Hg.) (2003): Platonismus im Idealismus. Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philosophie, München/Leipzig: K. G. Saur. Moledo, Fernando (2015): Über die Bedeutung der objektiven und der subjektiven Deduktion der Kategorien, in: Kant-Studien 106, 418–429. Moog, Willy (1919): Logik, Psychologie und Psychologismus. Wissenschaftssystematische Untersuchungen, Halle (Saale): Max Niemeyer. Moore, George Edward (1903): Principia Ethica, London/New York: Cambridge University Press 1968. Moskopp, Werner (2009): Struktur und Dynamik in Kants Kritiken. Vollzug ihrer transzendental-kritischen Einheit, Berlin: Walter de Gruyter. Mumford, Stephen (1998): Dispositions, Oxford: Oxford University Press. Murphy, Nancey (1999): Theology and Science within a Lakatosian Program, in: Zygon 34 (4), 629–642. Musgrave, Alan (1976): Method or Madness? In: Essays in Memory of lmre Lakatos, ed. v. Robert S. Cohen, Paul K. Feyerabend und Marx W. Wartofsky (Boston Studies in the Philosophy of Science, Bd. 39), Dordrecht: Reidel, 457– 492. Neiman, Susan (1994): The Unity of Reason. Rereading Kant, New York: Oxford University Press. Nietzsche, Friedrich Wilhelm (1889): Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt, in: Sämtliche Werke [kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA)], Bd. 6, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin/ München: dtv / de Gruyter 1988. Nuzzo, Angelica (1995): ›Idee‹ bei Kant und Hegel, in: Das Recht der Vernunft. Kant und Hegel über Denken, Erkennen und Handeln, hg. v. Christel Fricke, Peter König und Thomas Petersen, Stuttgart: Frommann-Holzboog, 81–120. Natorp, Paul (1903): Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus, Hamburg: Meiner 2004. Noiré, Ludwig (1882): Die Lehre Kants und der Ursprung der Vernunft, Mainz: J. Diemer. Oesterreich, Peter L./ Traub, Hartmut (2006): Der ganze Fichte. Die populäre, wissenschaftliche und metaphilosophische Erschließung der Welt, Stuttgart: Kohlhammer. Ossa, Miriam (2007): Voraussetzungen voraussetzungsloser Erkenntnis? Das Problem philosophischer Letztbegründung von Wahrheit, Paderborn: mentis. Overgaard, Sören/ Gilbert, Paul/ Burwood, Stephen (2013): An Introduction to Metaphilosophy (Cambridge Introductions to Philosophy), Cambridge University Press. Paimann, Rebecca (2001): Die Tafel des Nichts in ihrer Bedeutung für die Kritik der reinen Vernunft, in: Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, hg. v. Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann und Ralph Schumacher, New York: Walter de Gruyter, 791–800.
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Personenregister
Adolphi, Rainer 32, 189, 321 Adorno, Theodor W. 23, 191, 250, 335–336 Aenesidemus-Schulze –, Schulze, Gottlob Ernst 128, 132– 133, 135, 266 Agassi, Joseph 213 Agrippa 278 Albert, Hans 31–32, 35, 234, 266, 278, 290–291 Alkan, Charles Valentin 293 Allen, Reginald E. 42 Andersson, Gunnar 211, 213 Apel, Karl-Otto 24, 28, 188, 213, 234– 236, 243–245, 248, 250–251, 260– 261, 266–267, 276, 291, 300–301, 339, 343 Apelles 333 Aristoteles 44–46, 49, 258, 267, 278 Arndt, Andreas 230 Asmuth, Christoph 27, 148–149, 153– 154 Backhouse, Roger E. 29, 213 Bakunin, Michail A. 199 Bataille, Georges 211 Baum, Manfred 65, 156, 166 Bayer, Oswald 234 Beck, Lewis White 86 Bettoni, Marco C. 272 Bickmann, Claudia 56, 91 Black, Suzanne 29, 213 Bondeli, Martin 60, 230 Brachtendorf, Johannes 150 Breazeale, Daniel 140, 230 Briesen, Jochen 100
Bunte, Martin 25, 58, 106, 108, 110 Burrow, John Wyon 199 Burwood, Stephen 25 Caimi, Mario 61 Cürsgen, Dirk 42 Descartes, René 48, 51, 109, 193, 216, 227, 260, 339, 343 Dilthey, Wilhelm 321 Dürr, Suzanne 120, 136 Einstein, Albert 30, 210, 330 Engels, Friedrich 199 Feigl, Herbert 213 Feuerbach, Ludwig 255 Feyerabend, Paul K. 23, 221, 224, 344 Forberg, Friedrich Karl 142, 231 Foucault, Michel 23, 211 Franks, Paul 230 Freudiger, Jürg 91 Fricke, Christel 25, 56 Friedmann, R. Z. 54 Fulda, Hans Friedrich 95–96 Gabriel, Markus 272 Gardner, Sebastian 54 Garve, Christian 31, 102, 234, 266, 295 Geldsetzer, Lutz 24 Gerhardt, Volker 286 Gilbert, Paul 25 Girndt, Helmut 321
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Personenregister Gloy, Karen 32, 141, 151, 188, 190, 198–199, 338 Goethe, Johann Wolfgang 145 Görland, Albert 45 Guéroult, Martial 320 Haag, Johannes 48 Habermas, Jürgen 24, 26, 28, 32, 35, 188–189, 191, 195, 198, 200–201, 205, 210–213, 245, 250, 256, 290, 343, 345 Halfwassen, Jens 42 Hanewald, Christian 122 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 24, 28, 35, 37, 121, 158, 198–208, 222– 224, 238–239, 243–245, 250, 252– 260, 266, 272, 275, 286, 300–301, 311–316, 332, 334, 339, 345 Heidegger, Martin 91, 211, 250 Heimsoeth, Heinz 58 Henrich, Dieter 136–137, 151, 230 Herold, Norbert 286 Heßbrüggen-Walter, Stefan 226, 268, 316 Hiltscher, Reinhard 91 Höffe, Otfried 273 Horkheimer, Max 23, 91, 189, 191, 250, 264, 335–336 Horstmann, Rolf-Peter 239 Husserl, Edmund 260, 309, 316, 339, 343 Hutter, Axel 84–85, 90 Ilting, Karl-Heinz 273 Imhof, Silvan 230 Ivaldo, Marco 156, 326 Ivanenko, Anton A. 147–148 Jacobi, Friedrich Heinrich 143 Jacobs, Wilhelm G. 243 Jaeschke, Walter 230 Janáček, Karel 278 Janke, Wolfgang 122 Kaiser-el-Safti, Margret 310 Karásek, Jindřich 25, 59, 68 Kaulbach, Friedrich 35, 286, 307
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Kierkegaard, Sören 199 Kitcher, Philip 213 Kleingeld, Pauline 86 Klemme, Heiner F. 88, 91 Klimmek, Nikolai F. 25, 58, 94, 106, 108, 110 Klotz, Christian 120 Konhardt, Klaus 86, 308 König, Peter 26, 50, 80, 97 Kopernikus, Nikolaus 210, 238 Kuhn, Thomas Samuel 28–29, 210– 213, 250, 263 Kutschera, Franz von 42 Laertios, Diogenes 278 Lakatos, Imre 28–30, 211–224, 226– 229, 234, 236–239, 247, 263, 275, 294, 343 Laudan, Larry 213 Lenk, Hans 31, 133, 189, 234, 266, 307–308, 310, 317 Lill Anjum, Rani 267 Locke, John 48, 51, 266 Loock, Reinhard 149 Löwith, Karl 255 Ludwig, Bernd 74, 77, 97–98 Martin, Gottfried 46 Meckenstock, Günter 122 Meer, Rudolf 25 Metzinger, Thomas 273 Mojsisch, Burkhard 27, 152 Moledo, Fernando 59 Moog, Willy 310 Moore, George Edward 273 Moskopp, Werner 27, 92, 157 Mumford, Stephen 267 Murphy, Nancey 29, 213 Musgrave, Alan 213 Natorp, Paul 42–43, 45–46, 49 Neiman, Susan 26, 85–86, 91 Newton, Isaac 30, 216, 218, 229, 330 Nietzsche, Friedrich W. 23, 35, 211, 223, 234, 250, 255, 286, 335 Noiré, Ludwig 235, 270 Nuzzo, Angelica 202
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Personenregister Oesterreich, Peter L. 159 Ossa, Miriam 251 Overgaard, Sören 25 Paimann, Rebecca 97 Parmenides 45–47 Perler, Dominik 48 Picht, Georg 91 Pissis, Jannis 25, 58, 106 Plant, Bob 25 Platon 27–28, 41–47, 49–50, 94, 146, 152–153, 155, 175, 184, 201, 225, 240, 258, 267, 278, 303 Plotin 153, 155 Pluder, Valentin 229 Pollok, Konstantin 102 Popper, Karl R. 212–213, 222, 224, 249, 260 Prauss, Gerold 88, 90, 140 Puls, Heiko 73, 75, 91 Raatzsch, Richard 24 Radnitzky, Gerard 213 Radrizzani, Ives 172 Rampazzo Bazzan, Marco 27, 153 Rapic, Smail 236 Rautavaara, Einojuhani 293 Reale, Giovanni 42 Reath, Andrews 54 Reeves, Josh 29, 213 Reinhold, Karl Leonhard 63, 65, 117, 123, 132–133, 166, 226–227, 229– 230, 315 Rescher, Nicholas 25, 188, 249–250 Ricken, Friedo 54 Rivera de Rosales, Jacinto 154, 158, 164 Rivero, Gabriel 96 Roth, Gerhard 271 Russel, Robert J. 29, 213 Sandkaulen, Birgit 150, 318 Sass, Hartmut von 35 Schäfer, Christian 42 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 143, 158, 198–199, 239 Schildbach, Ina 260
Schiller, Johann Christoph Friedrich 145 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 44 Schlösser, Ulrich 149 Schmid, Carl Christian Erhard 26, 68 Schmidt, Andreas 26, 48, 138–139, 143, 148–149, 154 Schnädelbach, Herbert 23–24, 28, 188–189, 192–193, 195–201, 207, 210–211, 213, 215, 250–251, 309, 330, 343, 345 Schnell, Alexander 127, 320 Schönecker, Dieter 73 Schopenhauer, Arthur 149, 159, 271 Schwabe, Ulrich 120, 125 Seiffert, Helmut 221 Sextus Empiricus 33, 258, 278–279, 282, 285–286, 333 Seyler, Frédéric 32, 321 Spinoza, Baruch de 51, 149–151, 155, 199 Stirner, Max 23, 234, 258, 275, 332– 336 Stolzenberg, Jürgen 25, 27, 137, 148– 149 Sturm, Thomas 221 Summerell, Orrin F. 27, 152 Szlezák, Thomas A. 42 Theunissen, Brendan 24 Timmermann, Jens 25, 55, 68–69 Traub, Hartmut 32, 159, 321 Vieweg, Klaus 257 Vrabec, Martin 137 Welsch, Wolfgang 24, 28, 32, 36, 188– 189, 207, 211, 213, 242–243, 298 Widman, Joachim 320 Willaschek, Marcus 25 Worrall, John 212–213, 217 Wright, Crispin 100 Wundt, Wilhelm 310 Zimmermann, Stephan 91 Zocher, Rudolf 60, 98
Das System der Ideen
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https://doi.org/10.5771/9783495825242 .
Sachregister
Abgrenzungskriterium 215, 221, 294 Absolute, das 63, 142–143, 145–157, 199, 201, 231 Affekt 179, 276, 281, 320–321, 323– 326, 335 Agrippa-Pentalemma 33, 278, 300– 301, 328 Agrippa-Pentalemma, siehe Tropen des Agrippa 300 Akt 27, 120–121, 123–124, 126, 133, 139, 151–152 Alltag 196, 203, 286, 288, 293–295, 297, 304, 318, 329–330, 338–339 –, Alltagsphilosoph 334 –, Alltagspsychologie 336 –, Alltagsrationalität, siehe Rationalität 190 –, Alltagsweisheiten 228 Als-Ob 61–62, 82–84, 99, 120, 145, 180, 264, 303, 337 Analogie 67, 142, 144–145, 148–150, 152–154, 157, 191 analytisch 93, 106–111, 144, 190, 195, 207, 308–309 Anomalie 30–31, 210, 216–220, 228– 230, 233, 235, 258, 276 Anschauung 41, 64, 79, 88, 93, 96–98, 106, 116, 127, 130, 146, 267, 279 –, intellektuelle 27, 94, 119–121, 125– 129, 133, 137, 139, 151–152 –, reine 41, 64, 93, 96, 139, 146–147 Ansprüche 25, 30, 32–35, 39, 49, 117, 121, 129, 159, 166–168, 186, 190, 192, 196–198, 200, 203–204, 206– 208, 213, 223–224, 229, 237, 241, 244, 248, 254–257, 259, 263–264,
281–282, 284, 286–302, 304–308, 311, 317–320, 326, 331–332, 334– 335, 337–338, 340–341, 344–345 –, (An-)Forderungen 25, 34–36, 55, 130, 140, 162, 167–168, 175, 191– 192, 226, 258–259, 273, 276, 288– 296, 298–300, 302, 304, 314, 318– 319, 322, 327–328, 335–336, 338, 342, 344 –, andere 35, 290, 295, 301, 344 –, anspruchslogisch 25, 32, 36, 268, 284, 288, 290, 307, 311, 335, 337 –, geringe(re) 288, 292, 299, 306, 327 –, hohe 193, 204, 206, 254, 259, 264, 288, 292–294, 298, 310, 313, 318, 344 –, Problem 34–35, 49, 186, 192, 254, 276, 284, 290–292, 294–296, 300, 307, 319, 331, 344 –, unterschiedliche 34–35, 49, 198, 207, 213, 248, 254, 263, 284, 286, 290–294, 296–297, 299–300, 307, 318, 328, 334 Anthropologie 103, 195, 223, 228, 255–256, 270 Anthropomorphismus 145 Antinomie 57, 61–62, 73, 77, 80, 89, 99, 109, 180 Apperzeption 74–75, 89, 128, 317 Arrokoth 330 Aufklärung 155, 173, 236 Autonomie 72, 77–79, 129–130, 218, 231, 250 Bedingungen 29, 32, 34, 37, 52, 54–61, 63, 69, 74–75, 83, 91, 97, 104–105, 123–124, 139, 149, 202, 207, 225,
Das System der Ideen
A https://doi.org/10.5771/9783495825242 .
367
Sachregister 227, 236, 251–252, 254, 256, 268– 270, 291, 296, 302, 317, 319, 322, 328–330, 345 –, conditio sine qua non 124, 130, 132 –, conditiones sine quae non 123, 136, 235, 270 Begründung 23, 25, 30–31, 33–34, 116, 183, 205, 243, 247–249, 252, 254, 259–260, 262, 265, 269, 271, 273, 276–278, 280, 285–286, 289, 300–301, 304, 306, 318–319, 321– 323, 326, 344 –, Begründungsstrategie 32, 34, 36, 115, 119, 186–187, 214, 247–249, 260–262, 265, 268, 271, 273, 277, 280–281, 285, 290, 301, 307, 319, 328, 344 –, Letztbegründung 33, 35, 205, 224, 236, 251, 262–263 Beweis 44, 101, 110, 215–217, 235, 267 Bewusstsein 27, 34, 47, 49–50, 76, 78, 81, 84, 87, 98, 102, 109, 116–121, 123–127, 129, 131, 134, 136–137, 139–143, 149, 152, 154–155, 157, 160, 163, 171, 190, 192, 196–199, 204, 207, 210–211, 225, 227–228, 230–231, 266–273, 277, 301, 303– 304, 311–312, 315, 318, 330, 345 –, Bewusstseinshandlung 117, 120, 123, 130, 134, 154–155, 157–158, 167, 225, 230, 239, 246, 261, 315 –, natürliches 152 –, Selbstbewusstsein 136–137, 150– 151, 156–157, 272 Deduktion 58–61, 81, 106, 121, 134, 158, 190, 228, 240 –, Ableitung 52, 58, 60, 65–66, 107, 117, 140, 155, 157, 180, 218, 224, 314–315 –, metaphysische 58, 61 –, praktische 58 –, quasi-transzendentale 59–60, 81 Denken, reines 58, 65, 67–68, 70–71, 74–75, 78, 84–85, 87–88, 91, 93, 95, 99, 102–103, 105, 116, 121, 140, 146, 163
368
–, Denkhorizont 118, 209 –, empirisches 67, 95 –, ganzheitliches 240 –, lebendiges 239 –, natürliches 144, 166 –, perspektivistisches 35 –, rationalitätsphilosophisches 200, 208 –, subjektives 193, 205 –, systematisches 318 –, transzendentes 73 –, Vernunftdenken 200–201, 278, 282, 290, 300, 330 –, vernünftiges 121, 201–203, 205– 206, 334 –, verstandesmäßiges 201, 252, 258– 259, 339 Ding an sich 74, 125, 132, 200, 225 Diskurs 24–25, 29–30, 32, 162, 176, 210–211, 213, 245, 251, 253, 267, 276, 294, 309–310, 343 –, Diskursethik 244, 261 Disposition 267, 280, 309 Dissens, siehe Tropen des Agrippa 319 Dogmatismus 45, 94, 199 Einbildung 31, 41, 93–95, 146, 238, 266–268, 278, 303, 305, 307 Einbildungskraft 54, 56, 61, 92, 94–95, 177, 220, 235, 267, 312, 314, 316 Einheit, absolute 57–58, 80, 155 –, Einheit der Vernunft 26, 36, 85–86, 88, 90–92, 115, 195, 239–240 –, Einheit des Systems aus Vernunft 86, 90–91 –, systematische 60, 66–67, 69–70, 81, 99, 105, 336 –, Vernunfteinheit 60–61, 80 –, Verstandeseinheit 80 Empirismus 48, 233, 238 entia rationis 97–98 Erfahrung 25, 46–47, 49–50, 55, 57– 61, 65, 74, 76, 79–81, 84, 93, 96, 101, 107–109, 132, 137, 149, 157, 178, 206, 215, 220, 228, 242–245, 261, 268, 270, 272–273, 275, 305, 342
ALBER THESEN
Michael Lewin https://doi.org/10.5771/9783495825242 .
Sachregister Erkenntnis 26–28, 56–58, 60–61, 64, 71, 75, 79, 81, 84–85, 87, 89–90, 93, 107–108, 111, 117, 132–133, 157, 165–166, 192, 200, 211–212, 220, 223–225, 227, 230, 236, 264–267, 274, 296, 301–302, 305–307, 316, 318, 327, 330–331, 338, 343 –, Naturerkenntnis 25, 58–64, 67, 69, 81, 99, 102, 105, 179 –, Selbsterkenntnis 92, 102, 106–107, 118, 156–157, 317, 342 –, Vernunfterkenntnis 67, 110 –, Verstandeserkenntnis 56, 60–61, 69, 81–85, 99–100, 105, 337–338 Erkenntnistheorie 23, 58, 94, 133, 188, 198, 200, 213, 215, 225, 255, 309, 318, 338 Erscheinung 32, 57, 59, 61–63, 73–74, 76–77, 89, 93, 102, 106, 117, 133, 143, 199, 225, 230, 264, 271, 282, 312–317, 345 Ethik 174, 192, 205–206, 224, 236, 251–252, 254, 261–262 Europa 199, 242 Falsifikationismus 215, 220 Farbe 47, 49, 71, 272, 333 Festlegung, siehe Forschungsprogramm 224 Fiktion 31, 92, 234, 266, 281, 303, 305, 307 focus imaginarius 60 Forschungsprogramm 24, 29–30, 34, 36–38, 117, 166, 188, 190–193, 207, 209, 211, 213–222, 224–241, 245, 247–250, 254, 256–262, 265, 267, 270–271, 277, 281–282, 286–289, 291–292, 294–295, 298–299, 301– 305, 309–310, 318, 329–330, 334, 338, 340–345 –, Degeneration 30, 214, 219–221, 236–237, 239–241, 343 –, Forschungsprogrammatik 214, 221– 222, 277, 284, 294 –, forschungsprogrammatische Festlegungen 25, 33–36, 39, 100, 186, 192, 214–217, 219, 221–226, 228,
231, 235, 237, 241, 255, 277, 281, 284, 286, 288–291, 295, 297–298, 300–301, 304–306, 308–311, 328, 331–333, 336, 338–339, 341, 343– 345 –, Progression 24, 29–30, 214–215, 218–220, 222, 226, 236–241, 247, 271, 277, 310, 330, 338, 343 –, Wiederaufnahme 219–220, 237 Forschungsprogramm, siehe Theorienreihe und Philosophie, Richtungen und Schulen 24 Fortschritt 110, 207, 215, 219, 247, 251, 275, 282, 329 Freiheit 26, 31, 52, 54, 69–70, 72–74, 76–78, 80, 83, 86, 88–91, 94, 101, 104–105, 109, 114, 116, 123–124, 129–130, 133–135, 137, 139–140, 147, 151, 159–162, 165, 167–168, 170, 172, 176–177, 179, 214, 225, 265, 272, 274–276, 289, 312, 314– 315, 320, 323–324, 327, 332, 342, 344 Freundschaft 242 Fünffachheit 114, 122, 164, 276, 320 Fünfundzwanzigheit 164, 276, 320, 324, 326 Funktion 26–28, 39, 41–42, 50–51, 54–56, 62–63, 68–69, 71, 85–86, 88, 90–91, 99–100, 103–105, 114, 116, 119, 133, 138, 145–146, 149, 152, 155, 157, 160, 163–164, 168, 170– 171, 174–175, 184, 190–192, 194, 196, 203–204, 207, 209, 225, 227– 228, 230–231, 233, 240–241, 244– 246, 257, 261, 268–272, 301, 303– 304, 306, 308, 312, 314–315, 318– 319, 338, 341, 343, 345 Fürsichsein 91, 118, 122–123, 130, 141, 169–170, 176, 234–235, 237, 240, 264, 275, 342 Gattung 33, 37, 59, 238, 245, 252, 257, 278 Gefühle 34, 53, 116, 120, 130, 136, 139, 230, 235, 282, 292–293, 304, 321, 339 Gegenstand 47, 50, 57, 63–65, 74, 79,
Das System der Ideen
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Sachregister 93–94, 96–98, 108, 111, 123, 143, 166, 200, 281, 317 –, der Untersuchung 24, 26, 29, 33, 102–103, 116, 123–124, 171, 176, 188, 198, 211, 223, 227–228, 232, 258, 280, 284, 312, 325, 330 Gehirn 132–133, 206–207, 252, 271– 272 Gelehrter 114, 159–161, 163–164, 170, 172, 179, 246, 320 genetisch 156, 158, 164, 169 Genuss 32, 159, 175, 179, 322, 326 –, Genussverwirklichungsargument 323 Gerechtigkeit 24, 28–29, 36, 38, 44, 63, 136, 197, 205–207, 211, 233, 241– 243, 248, 264, 267, 282, 296, 298, 301–302, 310–311, 314, 318, 328– 329, 341 Geschichte 65, 67, 194, 197, 204, 218, 220–221, 228, 235, 250, 270 Gesetz 45, 52, 55, 71–72, 76–78, 83, 85, 101, 116–117, 128, 135, 160, 173, 175, 179, 193, 199, 216, 218, 227– 228, 270–272, 294, 301, 303–304, 308, 312, 314, 316, 318, 324, 332, 345 –, Naturgesetz 73, 76, 78, 133, 313 –, Sittengesetz 52–54, 56, 58, 64, 69, 72–73, 76–79, 83, 89–90, 101, 104, 119, 128–130, 133, 137–140, 160, 177–178, 231, 238, 240, 243, 262, 273–274, 304, 306, 308, 314, 324, 342, 345 Glaube 51, 69, 100–102, 104–105, 160–161, 172–173, 175, 193, 249, 260, 262 Gott 47–48, 52–55, 60, 62, 69, 82–83, 86, 91–92, 101, 104–105, 108, 118, 135, 141–143, 145, 148–156, 160– 161, 171–174, 177–178, 197, 200, 231, 235, 242, 244, 279, 322, 324– 325, 332 –, Urwesen 106–107, 111, 117, 142– 143, 145, 152, 274 Gravitation 216–218, 229, 257, 321, 330 Gründe 36, 54, 62, 77–78, 82, 89–90,
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96, 110, 115, 126, 139, 142, 149, 171, 189, 220–221, 240–241, 247, 249– 250, 259, 262, 264–265, 268, 273, 276, 278–279, 281, 284, 299, 301, 318–319, 339 –, Annahmegründe 265, 273, 277–278 –, gute 36, 142, 240, 247, 264, 301, 339 –, ratio cognoscendi 52, 72, 78–79, 137, 143, 148, 152, 343 –, ratio essendi 52, 72, 137, 143, 148, 152, 154, 177, 343 –, rationes cognoscendi 177 –, Seins- und Erkenntnisgründe 265, 277–278 –, Weltansichtsgründe 276–277 Grundsatz 95, 123, 127, 130, 136, 138, 141, 153, 167, 224, 227 Gültigkeit 59–60, 97–98, 153, 230, 244, 258, 273 –, allgemeingeltend 280, 295 –, allgemeingültig 43, 276, 279, 287, 297 –, Geltung 29, 34, 53, 55, 58, 95, 100, 117, 129, 139, 169, 192, 195, 203– 204, 215, 250, 266, 282, 294, 300 Gut, höchstes 54, 58, 69, 104, 160–163, 172–173, 176 harter Kern 29, 216–219, 223–225, 227–228, 231–232, 234–236, 238, 246, 248, 256, 260, 265, 287, 296, 298, 300, 303, 329–330 Heuristik, negative 29, 216–218, 220, 228, 230–232, 234, 236, 247, 254, 265, 329 –, heuristisch 60, 63, 67, 69–70, 75, 99, 105, 222, 234, 266, 285, 296, 303, 305, 307, 317 –, positive 29, 217–218, 220, 224, 228– 229, 233–234, 236, 247, 254, 258, 265, 318, 338, 345 Hinleitung 147–153 Homogenität 59–60, 67 Hypothese 45, 52, 57, 60, 100, 140, 211, 216–218, 231
ALBER THESEN
Michael Lewin https://doi.org/10.5771/9783495825242 .
Sachregister Ich, absolutes 27, 56, 61, 65, 122, 136, 141–142, 146–149, 152, 225, 304 –, eigenstes 109, 116, 129, 274–275, 279 –, eigentliches 27, 75, 89, 327, 342 –, Idee des 129–130, 140 –, Idee des, siehe Idee, Vernunftbegriffe von der Vernunft 130 –, reines 95, 118, 138, 148 Idealismus 92, 94, 109, 123, 201, 226, 229, 255, 260, 295, 331 –, absoluter 201, 260 –, materialer 109 –, purer 331 –, schwärmender 94 –, transzendentaler (kritischer) 92, 94, 226 –, träumender 94 Idee, absolute 29, 200, 202, 262, 281 –, ästhetische 52, 56, 66, 68–69, 84, 92, 95, 99, 102, 105, 135, 155, 157, 165, 172, 174, 176, 264, 322, 341 –, der rationalen Gerechtigkeit 36, 242, 298 –, des Guten 43–44, 49, 146, 172, 174– 175, 179–180, 193, 225, 227, 274, 321, 324–325, 327, 332 –, des Heiligen 174, 325 –, des reflektierten Perspektivismus 288–289 –, des Schönen 42, 44, 46–47, 56, 69, 92, 105, 135, 146, 163, 172, 174–175, 192, 196, 227, 262, 274, 322–325, 327, 332, 336 –, des Wahren 332 –, einfache praktische 24, 36, 54–56, 63–64, 68–69, 78, 83, 94, 98, 101– 102, 104, 165, 170–171, 173, 176– 177, 233, 242–246, 248–249, 341 –, einfache theoretische 63, 68–69, 98, 101, 105, 165, 322, 341 –, Etymologie, Sehen und Wissen 42, 146 –, göttliche 161 –, Ideal 54, 56–63, 67, 69, 71, 74, 86, 89, 91, 105–106, 108–111, 114, 144, 161, 335, 337
–, Ideenlehre 26–27, 37, 41, 43–46, 49, 51, 70, 153, 159, 193, 225, 238, 240, 262 –, methodologische (architektonische) 24, 30, 36, 52, 58, 60, 67–70, 74, 84, 86, 91–92, 99, 101–103, 105, 117, 165, 167–168, 170, 222, 243–245, 261, 273, 290, 317, 322, 337, 341 –, politische (rechtliche) 55, 68–69, 105, 155, 165, 176–177, 242, 249, 322, 341 –, Postulat 26, 52, 54, 56–58, 63–64, 68–69, 83, 86–87, 89–91, 98, 101, 104, 135, 141, 154, 160–161, 163, 165, 171–173, 177, 341 –, praktisch-transzendente 64, 68 –, praktische 54–56, 69, 73, 76, 78, 94, 101, 104, 117, 165, 170, 176–177, 244, 264 –, religiöse 55, 69, 105, 155, 157, 165, 171, 173, 242, 264, 322, 341 –, theoretische 56 –, transzendentale 26, 56–58, 62–64, 68–69, 75, 79, 81–83, 85–86, 91, 94– 98, 100, 103, 105–110, 129, 133, 141, 152, 165, 169, 244, 246, 264, 268, 322, 341 –, transzendente 52, 64–65, 68, 274, 303 –, Vernunftbegriffe von der Vernunft 69, 88–89, 103–105, 165, 168, 170, 180, 238, 341 Illusion 64, 234, 261, 339 Imperativ 31, 52–56, 58, 63–64, 68–70, 76–79, 83, 90, 101–104, 119–120, 135, 137–138, 140–141, 197, 228, 233, 238, 246, 249, 261, 264, 272, 291, 306, 308 –, hypothetischer 53, 55–56, 58, 63, 68–69, 76, 79, 104 –, kategorischer 31, 52–54, 64, 70, 73, 76–77, 80, 83, 101–104, 106, 119– 120, 135, 137–138, 140–141, 197, 228, 233, 246, 316 intellectus archetypus 125 Intelligenz 27, 53, 61, 75, 89, 116, 118, 123, 139, 145, 172, 229, 272–273
Das System der Ideen
A https://doi.org/10.5771/9783495825242 .
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Sachregister –, künstliche 229, 271–273 Interesse 32–34, 52–55, 59, 63, 73, 81– 82, 84–85, 99, 160, 174–175, 190, 195, 197, 211–212, 225, 242–244, 253, 256–257, 270, 274–276, 284, 288, 293, 303, 307, 318, 322, 327, 331, 336 Intersubjektivität 223, 251–253, 256– 257, 283, 339 Kategorie 42, 56, 59, 62, 81, 87–89, 91, 93, 96, 98–99, 102–103, 106–107, 109–111, 147, 190, 197, 264, 268, 279, 302, 331 Kausalität 57, 61, 70, 72–78, 82–83, 85, 88–90, 103–104, 106, 108–109, 111, 116, 144, 147–148, 151, 154, 268, 279, 302, 342 Klimaschutz 242 Kommunikation 252, 257, 261, 275, 339 –, Kommunikationsgemeinschaft 24, 34, 192, 195, 201, 205, 234–235, 243–245, 248, 251–252, 254, 256, 260–261, 264, 276, 304–305 –, kommunikative Vernunft (Rationalität) 24, 29, 31, 189, 191, 195, 201, 205, 207, 214, 250, 256, 261–262 –, kommunikatives Handeln 26, 191, 195, 197, 205 Konsens 29, 33, 243–244, 257, 259, 267, 276, 282, 288–289, 297, 331 konstitutiv 56–57, 62, 88, 216, 227, 264 Konstrukt 87, 133, 269, 280 Konstruktion 36–37, 41, 93, 146, 168, 237 Kontinuität 59–60, 67, 143 Körper 180, 238, 257, 263, 292 Kraft 31–32, 61, 99, 114, 142, 157, 160, 175–176, 180, 218, 242, 253, 272, 280, 302, 311–317, 332, 344–345 Kritik, basale 37, 231–232, 277 –, externe 229, 231, 241, 277 –, interne 241, 277 –, Kritikformen 31, 229, 277, 284 –, moderate 231, 277–278
372
–, negativ-radikale 231–232, 277–278 –, radikale 23, 30–33, 36–37, 166, 191– 192, 198, 200, 211, 214, 241, 258, 287, 297, 317, 326, 328, 332 –, Subjektkritik 211 –, Vernunftkritik, siehe Vernunft 241 Kultur 175, 193, 196, 201, 209, 251, 264, 301, 303 –, Kulturbegriff 188, 192–193, 195, 198, 204, 209, 236 –, Kulturindustrie 191 –, kulturologisch 196–197, 204 –, Kulturprodukt 24, 193 Kunst 32, 56, 68, 114, 119, 165, 174– 177, 179, 253, 292, 322, 324–326 Kunstgriff 145, 282, 285, 311, 331, 337 Legalität 176, 323–326, 335 Leib 32, 34, 44, 74, 95, 136, 139, 194, 204, 223, 235, 253, 264, 275, 282, 304, 335, 339 Leistung 28, 64, 82, 107, 118, 141, 158, 197, 210, 212, 215, 219, 227, 238, 244, 250, 264, 289, 293, 298, 302– 304, 318, 334, 345 Liebe 153, 173, 231, 242, 321, 323, 325, 327, 345 Logik 24, 29, 32, 34, 67, 90, 101, 117, 120, 123, 135, 139, 149–150, 156, 186, 202, 205, 207, 213–214, 232, 235, 255, 266, 289, 293–294, 300, 304, 309, 312–316, 320, 323, 331, 343, 345 –, der philosophischen Forschung 24– 25, 186, 213 –, Logic of Science 266–267, 269, 287 Macht 223, 234, 282, 288, 332–335 Mannigfaltigkeit 57, 61, 63, 88 Materie 66, 163, 175 Mathematik 41, 65, 93, 146, 214–215, 255, 307 Maxime 32, 64, 72, 81–84, 88, 92, 95, 99, 104, 180, 270, 326, 333–334 Maximum 61, 342 Mensch 33, 44, 47–48, 53, 56, 67, 74– 76, 81, 89, 94, 114, 117, 132, 145,
ALBER THESEN
Michael Lewin https://doi.org/10.5771/9783495825242 .
Sachregister 154, 156, 158–162, 166, 172–174, 176, 179–180, 195, 200, 202–204, 224, 227, 245, 249, 255–256, 264, 266, 269, 274–276, 278, 281, 286, 307–308, 315, 317, 323, 325–327, 329, 331, 333, 336–337, 342 –, Mitmensch 31–32, 139, 160, 228, 234, 253, 255, 259, 267, 283, 288– 289, 322, 338, 344 Metaphysik 29, 35, 44–45, 53–54, 65, 67, 89, 96–97, 107–108, 138, 154, 156, 165–167, 169–170, 190, 223– 224, 226–227, 255, 258, 270, 277, 290, 295, 304, 325, 343–344 –, des Mentalen 29, 226–227, 325, 343–344 –, dogmatische 108, 132, 166 –, kritische 45, 227, 246, 277 Methode 36, 200, 202, 210, 227, 235 Methodologie 213–215, 217, 220, 222, 227, 236–237, 286 Moral 52, 66, 114, 140, 165, 174–175, 179, 245, 322–323, 326 –, Moralität 174–176, 178–179, 246, 265, 308, 322–326 Münchhausen-Trilemma 33, 278–281, 285, 300, 304, 306 Natur 34, 42, 60, 62–63, 65–66, 75, 77– 78, 81, 83, 88, 91, 100, 102, 145, 161, 163, 165, 168, 193, 199, 202, 255, 275, 279, 281, 311, 313, 317, 321, 332, 336–337 –, Naturanlage 103, 270 Nichts 46, 75, 96–99, 107, 111, 125, 202, 334–335 Notio 50, 63, 80, 97, 107, 110 Noumenon 50, 74, 77, 89, 96, 128 Nullität 179, 326 Objekt 53–54, 59, 61–62, 66–67, 83, 95, 97–98, 106, 108–109, 121, 124, 126, 135–136, 139, 147, 160, 165, 167, 169, 171–173, 175–176, 178– 179, 202–204, 207, 218, 230–231, 255, 267, 273, 321–322, 327, 332 –, Objektivität 206
Ontologie 95–96 Orientierung 28, 37, 71, 114, 140, 193– 194, 222, 227, 242, 277, 290, 294, 297, 308, 333 Paradigma 28–30, 188–190, 193–195, 205, 207, 209–212, 215, 222–223, 237, 243, 250, 263, 266, 298, 309, 343 Paralogismus 27, 75, 87, 89, 109, 157 pars pro toto 89, 126, 129, 191, 196, 203 Perspektive 28, 32, 35–36, 38, 77, 87, 150, 166, 170–173, 178, 188, 192, 196, 198, 200, 204–207, 220, 229, 250, 252, 265, 268, 270–271, 275– 276, 286–288, 294, 297, 299, 318, 320, 323–324, 326, 342 –, Multiperspektivität 33, 284–285, 297–298, 334 Perspektivismus 25, 34–36, 187, 281, 284–291, 297–298, 301, 309, 319, 328, 341, 344 –, apodiktischer 287–288, 297 –, epistemischer 35 –, ethischer 36 –, hermeneutischer 35 –, konsenstheoretischer 287, 297, 309 –, metaphilosophischer 36 –, reflektierter 186 –, reflektierter (taktischer / raffinierter) 25, 34–35, 187, 281, 284, 286, 288–291, 297–298, 301, 319, 328, 341, 344 –, rückläufiger 286, 288, 297 –, subjektiver 287–288, 297, 335 Phaenomenon 61, 74 Philosophie 24, 26, 28, 31, 34–35, 37– 38, 43, 45–46, 48–50, 68, 70, 84, 86, 88–89, 105, 107, 115, 117, 119, 121– 122, 129, 141–142, 153, 155, 161, 165, 167, 170, 172, 174, 176, 178, 189, 192, 194–195, 198–199, 202– 203, 205–207, 213–215, 221–226, 229–230, 232, 235, 237, 239–241, 244–245, 251–255, 257–259, 261–
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Sachregister 262, 267, 272, 274–276, 284, 286, 290, 292, 294–295, 297, 300, 307– 311, 314, 325, 329, 336–337, 341– 343 –, Bewusstseinsphilosophie 29–30, 132, 136, 157, 183, 188, 190–197, 200–201, 204–206, 209, 226–227, 229, 231–233, 236–237, 239, 241, 245, 247, 259, 263, 265–267, 281, 302–303, 305, 309, 315, 318, 334, 337–338, 343 –, Metaphilosophie 24–25, 30, 33–37, 186, 211, 213–214, 221–222, 227, 247, 286, 288–289, 301–302, 307– 308, 310, 328, 341, 344 –, Philosophiegeschichte 24, 27–28, 31, 192–193, 196, 199, 202, 211, 215, 239, 250 –, Rationalitätsphilosophie 24, 28, 188–190, 192–193, 196, 198–200, 204, 207, 209, 222, 237, 248–249 –, Richtungen und Schulen 29, 51, 82, 212, 215, 223–224, 250, 263, 284, 287, 295–296, 341 –, Transzendentalphilosophie 41, 66, 96, 103, 116, 142, 144–145, 150, 153–155, 223, 227, 232, 240, 244, 246, 267–268, 270–271 –, Vorstellungsvermögensphilosophie 229 Planeten 93, 202, 217–218, 238, 252 Pluralität 29, 34, 36, 189, 191–192, 194, 197, 213–214, 243, 285, 287, 289, 344 –, Multiperspektivität, siehe Perspektiven 285 Positionierung 36–38, 206, 237, 286, 288, 290–291, 294, 297–298, 300– 301, 326–328, 341 principium vagum 60, 66, 337 Prinzip 56–57, 60, 91, 98, 100, 117, 121, 134, 137, 142, 150, 157, 161, 164, 171, 177, 198, 201, 205, 262, 276, 333, 338 –, Grundprinzip 26–27, 122, 135, 137, 139–141, 145, 151–152, 168–170, 201, 225, 230–231, 240, 296, 343
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Problemverschiebung 29, 219–220, 222, 225–226, 229, 232, 237–241, 271, 274, 277, 310, 330, 338 propositionale Einstellung 26, 99, 102, 172, 262, 341 Psychologie 107, 215, 223, 266, 289, 310, 312, 314–315, 332 Rationalismus 32, 48, 233, 238, 249, 291 –, kritischer 32, 249, 291 Rationalität 23, 28–29, 188–196, 198, 204, 207, 209, 214, 227, 236, 248– 254, 260, 262, 281, 301, 343, 345 –, Alltagsrationalität 190, 193 –, instrumentelle Vernunft (Rationalität) 24, 189, 191, 193, 337 –, kommunikative Vernunft (Rationalität), siehe Kommunikation 189 –, Rationalitätsphilosophie, siehe Philosophie 24 –, Rationalitätstypen 23–24, 189–194, 197, 205, 243, 250–251, 266, 298, 336–337 –, Rationalitätstypologie 198, 205, 330 Raum 62, 65, 93, 96–97, 274, 279, 303 Realismus 229 Reduktion 33, 195–196, 204, 243, 278, 311 Reflexion 44, 66–67, 91, 95, 119–120, 122–124, 129, 139–142, 144, 149, 151, 154, 170, 224, 235–237, 243, 247, 255, 262–263, 265, 284, 298, 308, 345 –, künstliche 119, 139, 154 –, Reflexionsgesetze 150 –, sich herausreflektieren 260–261 Regel 28–29, 34, 36, 54–55, 60, 62, 64, 66, 71, 78, 80–81, 176, 205, 210, 222, 224, 228, 235–236, 266–267, 272, 289, 296–298, 318, 323, 328, 331, 336, 338 regulativ 32, 56–57, 59, 61–62, 67–68, 81, 84–86, 88, 94, 97–100, 117, 180, 227, 244–245, 307, 337 Relativismus, methodologischer (metaphilosophischer) 34
ALBER THESEN
Michael Lewin https://doi.org/10.5771/9783495825242 .
Sachregister –, Relativität (Tropus), siehe Tropen des Agrippa 34 Religion 32, 66, 114, 153, 155, 161, 165, 171–174, 176–178, 193, 253, 256, 287–288, 296, 327 Revolution 212 Schluss 34, 106, 138, 221, 303, 305, 329, 331 –, Vernunftschluss 58, 80, 95, 106 –, Wir-heute-Schluss 329, 331 Scholion 103, 270 Schutzgürtel 29, 216–218, 234 Seele 43–44, 47, 52–53, 65–66, 74, 80, 82, 86, 89, 93, 101–102, 107–108, 161, 172, 224, 305–306, 325, 337 Sein 32, 42, 44–45, 64, 91, 98, 121, 125, 132, 134, 143, 147–150, 154, 172, 200, 202–204, 211, 225, 231, 235, 265, 268, 271, 273, 276–279, 281, 285–286, 291, 303–305, 319, 326, 330 –, absolutes 143, 149–150, 172 –, reines 202, 231 Selbständigkeit 84, 123, 255 Sinnlichkeit 45–46, 50, 57, 59, 67, 77, 80–81, 114, 116–117, 165, 179, 193, 302, 314, 316, 320–322, 326 Sittlichkeit 49, 53–55, 63, 69, 73, 85, 91, 104, 137, 153–154, 160–161, 172–173, 332 Skepsis 258, 278, 326–327 Skeptiker 33, 35, 72, 132, 135, 250, 258–259, 263, 278, 286, 290, 304, 306, 326, 333, 335 Skeptizismus 94, 201, 326, 335 Solipsismus 236, 283, 339 Sonne 215, 218, 238, 252, 302, 332 Spezifikation 59–60, 67 Spontaneität 73, 75–76, 79–83, 88–89, 93, 116, 118–119, 124, 129, 133, 137, 139, 265, 334, 345 Sprache 31–32, 34, 42, 132, 194, 207, 211, 224, 228, 234–237, 239, 244, 251, 253, 257, 260–261, 264, 266, 270, 282, 285, 292, 302, 304–306, 309–312, 314, 339, 341
Standpunkt 33–36, 70, 74, 76–77, 115, 142, 149, 153, 156–157, 160–162, 164, 167–168, 171, 173–179, 186, 191–193, 196–197, 213, 231, 246, 252, 255, 265, 275–276, 286–289, 297–298, 309, 312, 320–321, 323– 327, 334–335, 342 –, Zwei-Standpunkte-Lehre 74, 76 Standpunkt, siehe Weltansicht und Vernunft, Wirkungssphäre der 160 Strategie 30, 32, 35, 142, 183, 214, 217, 219, 232, 234, 237, 241, 246–249, 251–252, 257, 260, 262–263, 265, 268–269, 273, 276, 280, 285, 287, 290, 300, 306, 322, 326, 329, 333, 344 –, Begründungsstrategie, siehe Begründung 142 Streben 153, 160–161, 172–173 Struktur 28–29, 62, 67, 92, 107–108, 110, 121–122, 176, 200, 204–205, 215, 223, 228, 254–255, 257, 293– 294, 324 Stufenleiter der Vorstellungen 49, 129 Subjekt 23, 27, 43–44, 51, 57–58, 73– 79, 83, 88–89, 103, 106, 108–109, 111, 118, 121–122, 133, 136, 147, 157, 165, 169, 173–176, 179, 188, 193–194, 196, 200–201, 211, 230, 237–238, 267, 308–309, 339, 342 Subjekt-Objekt 121, 136–138, 147, 165, 168–170, 176, 200, 342 Subjektivität 205 Symbol, transzendentales 165, 168– 171, 174–175, 178, 281 synthetisch 41, 64–65, 77, 80, 83, 93, 107–108, 111, 121, 144, 158, 165 System 62, 68, 86, 88, 90–91, 95, 102– 103, 106, 111, 123, 126, 130, 139, 141, 143–144, 149–150, 152, 155, 166–168, 171, 197, 199, 202–203, 207, 223, 229–231, 235, 240, 245, 257–258, 262, 264, 269–270, 272– 273, 277, 280, 289, 295–296, 310, 313, 317–319, 333–334 Systematisierung 57, 100, 114, 169, 195, 203, 239
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Sachregister Tathandlung (Selbstsetzung) 27, 32, 119–121, 123–141, 151–152, 192, 209, 230, 233, 235, 239, 275, 304, 310, 315, 342, 345 Tätigkeit 27, 57, 75–76, 79–81, 116, 118, 124, 126–128, 130–131, 133– 135, 137, 143, 151, 206, 280, 315 –, reine (Selbst-)Tätigkeit 27, 75–76, 80–82, 84, 88–89, 103, 105, 116, 128, 159, 161, 164, 307 Tatsache 74, 80, 101, 116–117, 219, 314–315, 336 Teleologie 62, 159–160, 314 Theorienreihe 29–30, 183–185, 219– 220, 224–226, 245, 248, 284, 303, 330, 339 Theorienreihe, siehe Forschungsprogramm 30 Topoi der Vernunftkritik 32–33, 36, 187, 234, 278, 282, 284–285, 290, 328–329, 344 –, das Andere der Vernunft 23, 199, 255, 282, 337–338 –, die Anderen der Vernunft (Intersubjektivität) 234, 255–256, 283, 338 –, Machtmissbrauch 234, 258, 282, 332 –, Unattraktivität 31, 257, 282, 329, 331 Tropen des Agrippa 32–33, 36, 187, 203, 258–259, 278–282, 285–286, 290, 296, 300–301, 304, 306, 319, 327, 344 –, Dissens (Widerstreit) 33, 259, 275, 278–280, 282, 284–285, 287–289, 296–297, 301, 319–320, 326–328, 332, 335, 344 –, infiniter Regress 33, 62, 259, 278– 279 –, Relativität 33–34, 209, 259, 275– 276, 278–279, 281–282, 284–285, 288–289, 296–297, 301, 319–320, 326–328, 332, 335, 344 –, Voraussetzung (dogmatische) 33, 149, 259, 278–280, 303, 307, 317, 345 –, Zirkularität (Diallele) 33, 259, 278, 280–281, 304–306, 319, 344
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Unbedingtes 50, 74, 86, 95, 106, 146 Unendlichkeit 32, 54, 61, 71, 93–94, 98, 107, 109, 118, 161, 180, 190, 240, 259, 263–264, 269, 274, 306, 316, 322, 330 Urteil 47, 56, 64–65, 69–70, 79–80, 92–93, 105, 108–109, 289, 295, 302, 329 Urteilskraft 64, 146, 197, 225, 233, 243, 246, 306, 337 –, Mangel der 64, 146, 197 Vermögen 23, 25–27, 30, 32, 36–37, 51, 61, 67, 71, 73–75, 81–82, 84–86, 88, 90, 92, 103–104, 114–121, 123, 130–137, 139–140, 143, 146, 151– 154, 157–158, 160, 162–163, 169– 170, 176, 183, 186, 190, 192, 196– 197, 199–200, 202, 204, 206, 209, 214, 222, 225, 228, 233, 237, 240, 242–247, 249, 253–254, 257, 259– 269, 271, 273, 277, 279–281, 287, 301, 303, 305–309, 311–312, 314– 317, 322, 327, 332, 334, 343–345 –, Vernunftvermögen, siehe Vernunft 34 –, Vorstellungsvermögen 49, 132, 139, 142, 230 Vernunft, absolute 236 –, Dezentrierung der 26, 194, 199–200, 204, 345 –, Einheit der, siehe Einheit, Einheit der Vernunft 36 –, faule (ignava ratio) 62, 100 –, Gottesvernunft 125, 145 –, im engeren Sinne 24–27, 29–32, 34, 36–37, 39, 70, 88, 115, 117, 143, 157, 162, 179, 188, 191–192, 197–198, 206, 209, 214, 221, 224–226, 232– 233, 236–237, 239–241, 243, 245, 247–249, 254, 259–260, 262–267, 269, 271, 273, 278–280, 282, 286– 287, 289, 298, 300–301, 304–307, 317, 319, 329–330, 340–345 –, im weiteren Sinne 88, 90–91 –, instrumentelle, siehe Rationalität 189
ALBER THESEN
Michael Lewin https://doi.org/10.5771/9783495825242 .
Sachregister –, kommunikative, siehe Kommunikation 261 –, reine 31, 42, 70, 84, 96, 102, 106, 133, 135, 138, 145–146, 148, 225, 234, 238, 266, 274–275, 305–307 –, reine Vernunfttätigkeit 63, 146, 178 –, verkehrte (perversa ratio) 62 –, Vernunftbegriff, siehe Idee 129 –, Vernunftkritik 23, 30, 32–33, 36–37, 187, 191, 194, 198, 241, 282, 284– 285, 290, 328 –, Vernunftkritiker 34, 200, 285, 319, 321 –, Vernunftvermögen 27, 34, 41, 67, 73, 78, 86–88, 90, 92, 114, 117, 130, 133–136, 138–143, 145–146, 148, 150–152, 155, 157–158, 161–162, 168, 200, 202, 206, 233–234, 238, 244, 248, 263, 268–269, 271, 303, 309, 314–316, 322, 324–325, 331, 337–338 –, Wirkungssphäre der 27, 114, 118, 142, 145, 148, 153, 155, 165, 168, 170–171, 174–176, 179, 265, 325– 326, 342–343 Vernünftigkeit 23–24, 31, 43–44, 188, 194, 196–198, 200–202, 206–207, 209, 214, 222, 224, 232, 249, 252, 254, 257–258, 260, 262, 301, 333– 334, 343, 345 –, vernünftig 23, 145, 177, 193, 196– 197, 200–203, 206, 208, 243, 245, 248, 252, 254, 313 Verstand 23, 26, 37, 42, 48, 51, 56–57, 59, 61–62, 64, 67, 70, 74–75, 77–85, 88, 90–93, 95–96, 98–100, 102–103, 106–107, 116, 118, 122, 130, 155, 162–163, 165, 191, 204–206, 238, 243, 254, 267, 270–272, 302, 312, 316–317 –, Verstandesbegriff 50, 63, 79–80, 88, 108, 302 Vervollkommnung 130, 160, 162 Vollkommenheit 50, 53, 82, 130, 161, 170, 172, 342 Voraussetzung 32, 39, 43–45, 48, 51– 58, 60–62, 64–65, 67–70, 72, 78–79,
82–83, 85, 92, 99–100, 104–105, 116, 118, 138, 140–141, 143, 150, 163, 177, 195, 225, 232, 235, 238, 243, 245, 259, 279–280, 300, 305, 307, 317 –, dogmatische, siehe Tropen des Agrippa 303 –, primäre 52, 57–58, 60, 64, 72, 78, 104, 118 –, suppositio absoluta 64, 100 –, suppositio relativa 61 –, Voraussetzung der Voraussetzungen 48, 52–53, 70, 104, 118, 138 –, Voraussetzungsarten, siehe Idee 51 –, Voraussetzungsstatus 41, 48, 51, 58–59, 62, 163 Wahrheit 33, 153, 186, 196, 215, 244, 251, 258, 270–271, 279, 287, 297, 306, 312 Welt 23, 32, 53–54, 57–58, 60–62, 67– 68, 71, 73–74, 78, 82–83, 92, 94, 98– 99, 106–110, 117–118, 123, 130, 136, 138, 140, 144–145, 150, 153–156, 161–163, 172–175, 189–190, 193– 194, 200, 205, 207, 216, 235, 240– 241, 245, 253, 263–264, 269, 274– 275, 295, 303, 306, 316, 320, 322– 323, 330, 334, 337, 339 –, Lebenswelt 23, 191, 195–196, 201, 207, 256, 288 Weltanschauung 321 Weltansicht 32, 114–115, 142, 153, 156, 161–162, 164, 171, 173, 176, 179, 246, 273, 276, 286, 319–322, 324–326, 335–336, 345 Weltansicht, siehe Standpunkt und Vernunft, Wirkungssphäre der 153 Wertverlust 34, 49, 292–293, 299 Wesen 31, 42, 52–56, 73, 82–83, 91, 102, 109, 111, 114, 122–123, 126, 130–131, 134, 136–138, 144, 150, 154, 157, 160, 162, 172–173, 176– 177, 179, 192–193, 200, 233, 246, 249, 274–275, 320–321 Wille 37, 51, 53–54, 63, 71–72, 76–77, 80, 83, 85, 102, 116, 118, 120, 154–
Das System der Ideen
A https://doi.org/10.5771/9783495825242 .
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155, 168, 175, 194, 223, 230, 312, 322, 331, 335 –, reiner 26, 53, 68, 71–72, 76–80, 83, 85, 95, 101, 116, 118, 135, 137, 140, 153, 168, 190, 240, 272, 274 wir heute 237, 257, 282, 293, 298, 329, 331 –, Wir-heute-Schluss, siehe Schluss 329 Wissen 24, 30, 32–33, 36, 42, 51, 66– 67, 70, 100, 102, 104–105, 114–115, 118, 122, 144, 146–150, 154–155, 158, 164, 166–168, 170, 178, 186, 192, 198, 203, 207, 214, 220, 222, 227–228, 238, 241, 247, 258, 263, 273, 276, 278–281, 285, 288–289, 292, 294, 296, 302–304, 310, 313– 314, 318, 322, 341, 344 –, absolutes 146–150, 155, 157, 168 –, reines 146–147, 168 –, Wissen qua Sehen und Idee 42, 146 Wissenschaft 28, 32, 34, 44, 48, 54, 65– 68, 70, 102, 105, 153, 155, 162, 165– 168, 171–172, 174, 178, 202–203, 210, 212, 215, 218, 220–222, 226, 245, 247, 254–258, 262, 266–267, 288, 292, 294–295, 297, 313, 324– 325, 327, 335–337 –, Ästhetik 165, 174 –, Geisteswissenschaften 221, 250, 311 –, Naturwissenschaft 67, 168, 210, 215–217, 221, 229, 250, 270–271, 280, 289, 312, 321–322 –, Noch-Nicht-Wissenschaften 255 –, Rechtswissenschaft 66, 101, 190, 263, 274, 289, 306, 324, 327
–, Religionswissenschaft 119, 171, 255, 325 –, Wissenschaftslehre 27, 35, 114–123, 125–131, 133–142, 144–145, 148– 159, 161, 164, 167–173, 175–176, 178–179, 223, 225, 228–231, 239, 246, 265, 270, 296, 303–304, 310, 315, 320–321, 324–325 –, Wissenschaftstheorie 28–29, 210– 211, 213–215, 221, 236–237, 250, 263, 266, 284, 308, 343 –, Wissenschaftstheorie der Philosophie 221 Wissensziel 33–34, 36–37, 185–186, 192, 214, 228, 255, 299–302, 318, 324, 339, 344 Zeit 23–24, 31, 50, 62, 75–76, 93, 96– 97, 115, 142, 145, 153–154, 156, 163, 166, 193, 198–199, 209, 211, 215, 222, 228, 231, 233–234, 240, 253, 256, 270, 301, 311, 322, 330, 345 Zirkel 62, 72, 75, 78, 81, 118–119, 143, 250 –, Zirkelverdacht 73, 78, 82 Zwang 34, 292–293, 299 Zweck 45, 49, 51, 53–55, 57–58, 61– 63, 67, 69–70, 82, 84–86, 89, 91, 94, 104, 124, 143, 145, 157, 160, 163, 172, 174, 176, 194, 199, 204, 220, 246, 298, 318, 321, 324, 335, 337, 342 –, didaktischer (vermittlungstechnischer) 142–145, 149, 171, 231, 342 –, Endzweck 67, 85, 160
https://doi.org/10.5771/9783495825242 .