TZI in den Lebenswelten junger Erwachsener [1 ed.] 9783666453373, 9783525453377


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TZI in den Lebenswelten junger Erwachsener [1 ed.]
 9783666453373, 9783525453377

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Herausgegeben von der Stiftung Ruth Cohn zur Förderung junger Erwachsener

TZI in den Lebenswelten junger Erwachsener

Herausgegeben von der Stiftung Ruth Cohn zur Förderung junger Erwachsener

TZI in den Lebenswelten junger Erwachsener Mit 17 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Jemastock/Adobe Stock Porträt J. Hochholzer: © Julian Geuder Porträt T. E. Spinrath: © Tjorven Rohweder Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-45337-3

Inhalt

Über dieses Buch: TZI in den Lebenswelten junger Erwachsener 7 CHRISTOPH HUBER / BERNHARD LEMAIRE  TZI – Basis für erfolgreiche Arbeit mit Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 CAROLIN BÜCKING  Themen finden, formulieren, einführen – welche Auswirkungen der TZI erkenne ich im Unterrichts­ geschehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 MIRIAM CHEEMA  Über das Projekt: »Weit vom Auge – weit vom Herz« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 ESTHER FREITAG  Wendepunkt – Entscheidungen, die Leben verändern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 MANUEL HALSEBAND  »Man muss auch zwischen den Zeilen lesen.« Gestaltung des Kontraktes mit Modellen der TZI . . . . . 61 JAN-HENDRIK HERBST  Lebendiges Lernen ist Biografie­förderung. Die politische Dimension der TZI entfaltet an ­immanenter Kritik des Bildungsverständnisses vom ­Cusanuswerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 JOHANNES HOCHHOLZER  Rolle und Persönlichkeit: Ich handle und reflektiere bewusst als partizipierende Leitung 95 ANNA ROTH  Die Bedeutung des Chairperson-Postulats für ­Paarbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Inhalt

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EMILIA RUDOLF  Gruppendynamische Prozesse mithilfe der TZI besser verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 THOMAS E. SPINRATH  Demokratielernen durch die Stärkung der Chairperson. Das Leiten von Seminaren für Schüler*in­ nenvertretungen mithilfe der TZI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 GEORG STUCKE  Mein Weg zur cooltour – Die TZI als Türöffnerin für musikalische Persönlichkeitsentwicklung . . . 149 JONATHAN TERFURTH Die TZI-Axiome als Kompass für einen verantwortungsvollen Umgang mit Robotik . . . . . . . . . . 167 JUDITH WÜLLHORST  Das Störungspostulat als pädagogischer und politischer Wegweiser. Workshop zum Umgang mit ­Diskriminierung und Rassismus im Alltag in Anlehnung an die Methode und Haltung der TZI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Die Autor*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Über die Stiftung Ruth Cohn zur Förderung junger Erwachsener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

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Inhalt

Über dieses Buch: TZI in den Lebenswelten junger Erwachsener

Vor nunmehr drei Jahren entstand die Idee, anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Stiftung Ruth Cohn zur Förderung junger Erwachsener, über unterschiedliche Aktivitäten auf die Arbeit der Stiftung hinzuweisen, bisherigen Förder*innen zu danken und neue hinzuzugewinnen. Da die Stiftung von Anfang an unter anderem Grundausbildungen für junge Erwachsene unterstützt, sollte eine dieser Aktivitäten die Publikation eines Buches sein, das auf Grundlage von innerhalb der Grundausbildung erstellten Abschlussarbeiten einen Einblick in die Anwendung der TZI gibt. Als daraufhin die ersten Zertifikatsarbeiten von Kolleg*innen empfohlen wurden, zeichnete sich schnell die Vielfältigkeit der Anwendungen ab. In der Pluralität der Lebenswelten nutzten die jungen Erwachsenen die Themenzentrierte Interaktion, um ihnen bedeutsam erscheinenden Fragen nachzugehen, Impulse für Entscheidungen zu finden oder sich im Erproben TZI-orientierten Arbeitens beruflich weiterzuentwickeln. Aus den vorgeschlagenen Arbeiten haben wir zwölf ausgewählt, die das Spektrum der Anwendung der TZI in den unterschiedlichen Lebenswelten aufzeigen. Dadurch spannt sich der Bogen der Themenfelder von bedeutsamen Lebenslagen über die Auseinandersetzung mit politischen Herausforderungen bis hin zur konkreten Nutzung des methodisch-didaktischen Modells der TZI. Die zwölf Arbeiten sind zwischen 2009 und 2020 entstanden. Mittlerweile konnten mehr als vierzig Grundausbildungen für junge Erwachsene angeboten und durchgeführt werden. In einer für viele der Teilnehmenden sehr bedeutsamen Zeit wurde die kontinuierliche Arbeit in einer festen Gruppe von Menschen, die sich mit ähnlichen grundÜber dieses Buch

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legenden Herausforderungen beschäftigen, zu einem Stück Lebensbegleitung. Darüber hinaus wird die TZI durch die Absolvent*innen als potentes professionelles Handlungskonzept in unterschiedliche Berufszweige transferiert. Wir danken den Autor*innen für die Einblicke, die sie uns durch ihre Artikel in ihre mannigfaltigen Lebenswelten ermöglicht haben. Gleichfalls möchten wir uns bei den Lektor*innen – Sandra Bischoff, Karin Fritzsche, Bernhard Lemaire, Birgit Menzel und Dietmar Wenzelburger – bedanken, die durch ihre Hinweise und ihre Unterstützung aus den ursprünglichen Zertifikatsarbeiten Artikel für diesen Sammelband werden ließen. Schließlich möchten wir uns bei den TZI-Kolleg*innen bedanken, die durch ihr Engagement die Grundausbildung junger Erwachsener ermöglicht haben und auch weiterhin ermöglichen. Abschließend gilt unser Dank dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, der uns über eine lange Zeit hin geduldig unterstützt und immer wieder auch ermutigt hat, dieses Buchprojekt durchzuführen. Im Namen des Stiftungsrats der Stiftung Ruth Cohn zur Förderung junger Erwachsener Christoph Huber und Kai Hölcke

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Über dieses Buch

CHRISTOPH HUBER / BERNHARD LEMAIRE TZI – Basis für erfolgreiche Arbeit mit Menschen

Die Leitung einer Gruppe, das Führen eines Teams oder auch ein Beratungsgespräch sind komplexe Vorgänge. Als System beziehungsweise Konzept, das von Ruth C. Cohn entwickelt wurde und auf unterschiedlichen Ebenen Aussagen trifft, kann die Anwendung ihrer Methodik und Haltung helfen, Sicherheit in der Arbeit mit Gruppen und Teams zu gewinnen, Prozesse zu verstehen sowie diese wirksam zu steuern und weiterzuentwickeln. Das grundlegende Fundament für die Haltung der TZI sind die drei Axiome. Sie thematisieren im 1. Axiom das Bewusstsein um die Spannung von Autonomie (Eigenständigkeit) und Interdependenz (Allverbundenheit). Im 2. Axiom wird die Ehrfurcht vor dem Lebendigen und seinem Wachstum und das Eintreten dafür thematisiert. Das 3. Axiom befasst sich mit der Freiheit, sich innerhalb von Grenzen frei entscheiden zu können, und der Möglichkeit, diese Grenzen zu Gunsten großer Handlungsspielräume zu erweitern. Die Axiome stellen also ein philosophisch-ethisches Konzept dar, das Aussagen über die persönliche Haltung einer Person trifft und die Grundlage für den Umgang und die Arbeit mit Menschen schafft. Die Postulate der TZI sind auf einer zweiten Ebene angesiedelt und Forderungen an die Menschen, die handeln und in Kommunikation mit anderen stehen. Dazu zählen das Chairperson-Postulat und das (in vielen Kontexten oft falsch oder missverständlich zitierte) Störungspostulat: ▶ Die Aufforderung »Sei deine eigene Chairperson!« bedeutet, dass ich die Dinge selbst in die Hand nehme und für mich verantwortlich bin – unter Berücksichtigung meiner unterschiedlichen Perspektiven sowie der äußeren Gegebenheiten. Und es beinhaltet gleichfalls die Aussage, dass ich nicht allmächtig, aber auch nicht ohnmächtig, sondern – wie Ruth Cohn es beschreibt – partiell mächtig bin. ▶ Das Störungspostulat besagt, dass Störungen, innere und äußere Hindernisse, die nicht beachtet werden – also Dinge, die ablenken oder blockieren –, sich ihren Raum nehmen, oft an ganz ungewohnten und unerwarteten Stellen. Und deshalb ist es besser, diesen Störungen Beachtung zu schenken, anstatt sie zu ignorieren.

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Christoph Huber / Bernhard Lemaire

Zusätzlich zu den Axiomen und Postulaten ist das Vier-FaktorenModell ein wichtiges methodisches Instrument der TZI. Es nutzt die Erkenntnis, dass es vier Komponenten gibt, denen Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte, da ihr Zusammenwirken das Gelingen von Kommunikation, von Gruppenarbeit bzw. Teamarbeit sichert: dem ICH, also jeder einzelnen Person, dem WIR, also den Menschen, die sich zusammengefunden haben, der Aufgabe, dem ES, die es zu bearbeiten oder zu bewältigen gilt, und dem Rahmen, dem Kontext, hier GLOBE genannt. Diese vier Faktoren sollten in einer dynamischen Balance gehalten werden, um ertragreich zu arbeiten. ES:  Im Zentrum der Aktivität einer Gruppe/eines Teams stehen die jeweiligen Aufgaben und Sachthemen, die im gemeinsamen Austausch aller Beteiligten (Interaktion) ergebnisorientiert bearbeitet werden. ICH:  Die Methodik der TZI beachtet die Bedürfnisse und Erfahrungen jedes einzelnen Gruppenmitglieds sowie der Leitung und nutzt ihre Kompetenz. Jedes ICH wirkt auf den Prozess der Gruppe oder des Teams ein. Die Autonomie und Handlungsfähigkeit jeder einzelnen Person werden gestärkt, indem Interessen und Anliegen wahrgenommen, Begabungen und Fähigkeiten genutzt sowie Störungen und Irritationen ernst genommen werden. WIR: Der Prozess der Gruppe wird berücksichtigt und reflektiert. Das bringt die Kooperation und die Zusammenarbeit voran. Dabei gilt es, den Umgang mit Konkurrenz und Konflikten kon­ struktiv zu bearbeiten und zu gestalten, Vertrauen zu schaffen und die Ressourcen des Teams optimal zu fördern. GLOBE:  Die Gruppe wird niemals als losgelöste Einheit betrachtet, sondern innerhalb ihrer Rahmenbedingungen und Kontexte wahrgenommen. Umfeld, Werte und Normen werden beachtet, Gestaltungsmöglichkeiten gesucht und genutzt. Die Wahrung der Balance zwischen diesen vier Faktoren – der Aufgabe, den Einzelpersonen, der Dynamik der Gruppe und den Rahmenbedingungen – ermöglicht eine effektive Arbeit und ein lebendiges Lernen. Die Idee dahinter ist, dass die vier Faktoren in einer dynamischen Balance zueinander stehen: Nicht zu jedem Zeitpunkt kann jedem Faktor das gleiche Gewicht und die gleiche Präsenz zuTZI – Basis für erfolgreiche Arbeit mit Menschen

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kommen. Dennoch sollten alle vier Faktoren beachtet werden und einen angemessenen Platz erhalten. Die Förderung dieser Balance ist ein wichtiger Impuls für (Leitungs-)Interventionen. Gruppen oder Teams mithilfe von TZI zu leiten, bedeutet also, mit der Haltung, die in den drei Axiomen skizziert ist, mit dem Selbstkonzept, das in den beiden Postulaten formuliert ist, und dem methodischen Zugang, der in dem Vierfaktoren-Modell beschrieben ist, zu arbeiten. Die daraus resultierenden Interaktionen sind zentriert und auf ein Thema fokussiert, indem sie die Aufgabenstellung, den ICH-, den WIR-, den ES- und den GLOBE-Faktor bündeln. Eine nach der Methode der TZI agierende Gruppe ist daher in besonderer Weise geeignet, Teamarbeit und Vernetzung zu verwirklichen, Kompetenzen zu bündeln und Kooperationen zu ermöglichen. Zur Begründerin der Themenzentrierten Interaktion

Ruth C. Cohn, geb. 1912, emigrierte als aufgeklärte Jüdin aus Furcht vor dem nationalsozialistischen Regime in Deutschland über die Schweiz in die USA – wie auch viele ihrer Kolleg*innen aus der humanistischen Psychologie. Dort arbeitete sie als Psychoanalyti­ kerin und später als Gruppentherapeutin. Die Themenzentrierte Interaktion konzipierte und entwickelte sie in den 1960er und 1970er Jahren mit ihren Weggefährt*innen in den USA nicht zuletzt als Reaktion auf ihre Erfahrungen aus dem dritten Reich und der Beobachtung, dass sich viele Menschen dem autoritären Regime unterworfen haben. Sie gründete 1966 das Werkstatt Institut für Lebendiges Lernen (WILL) in New York und 1972 in der Schweiz dann WILL Europa, das 2002 in Ruth Cohn Institute for TCI – international umbenannt wurde. 1974 kehrte Ruth Cohn ganz nach Europa zurück und lebte erst in der Schweiz auf dem Hasliberg und später, bis zu ihrem Tod 2010, in Düsseldorf.

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Christoph Huber / Bernhard Lemaire

CAROLIN BÜCKING  Themen finden, formulieren, einführen – welche Auswirkungen der TZI erkenne ich im Unterrichtsgeschehen?

In diesem Beitrag möchte ich eine Unterrichtseinheit zum Thema Fremdwörter vorstellen, die ich im Fach Deutsch in einer 7. Klasse am Gymnasium durchgeführt habe. Mein Anliegen bestand darin, den Aspekt des Themas im Sinne der TZI in meine Planung und Durchführung miteinzubeziehen. Ich wollte herausfinden, wie sich die Themenformulierung im Schulkontext umsetzen lässt und ob die TZI mir dabei helfen kann, ein vorgegebenes Thema zufriedenstellend zu gestalten. Für die Planung meines Vorhabens hat sich das von Rubner entwickelte Modell »3 Schritte zum Thema« als hilfreich erwiesen (Rubner, 2009, S. 80–89).

Mein Weg zum Thema Ausgehend von der Idee, eine Unterrichtseinheit mit TZI zu planen, durchzuführen und zu reflektieren, wollte ich mich auf den Aspekt der Themenfindung und Themenformulierung konzentrieren, da ich mich schon oft damit beschäftigt habe, wie weniger interessante Themen im Unterricht so behandelt werden könnten, dass die Schüler*innen – und auch ich selbst – Spaß an der Sache finden und gewinnbringendes Arbeiten möglich wird. Bei der Unterrichtsvorbereitung erlebe ich immer wieder, dass ich mit den vorgegebenen Inhalten hadere und sie selbst nicht interessant finde. Dabei kommt bei mir die Frage auf, wie ich Interesse bei den Schüler*innen wecken soll, wenn ich selbst kein Interesse habe. Es kann auch vorkommen, dass ich von der Bedeutung oder Wichtigkeit bestimmter Inhalte nicht überzeugt bin. Meine bisherige Strategie im Umgang mit diesen Problemen war es meist, die Einheit eher kurz zu halten, um interessante Inhalte ausführlicher behandeln zu können. Eine zweite Herangehensweise bestand darin, einen »trockenen« Unterrichtsstoff mit motivierenden Methoden schmackhaft zu machen. Ich denke, dass eine gute Themenformulierung diese Handlungs­ weisen nicht ersetzen, sondern eher unterstützen kann. Zudem fokussiert der Aspekt Thema bei der TZI nicht darauf, etwas Uninteressantes interessant zu machen. Trotzdem wollte ich für die Umsetzung im Unterricht einen eher uninteressanten Lernstoff auswählen, da mir gerade dort die Themenformulierung besonders wichtig erscheint und mir diese Aspekte bei meiner täglichen Arbeit 18

Carolin Bücking 

am meisten Kopfzerbrechen bereiten. Auch ein Gedanke von Farau und Cohn geht in diese Richtung: »Wenn aus äußeren Gründen ein Thema vorgegeben ist, das nicht dem Anliegen der Gruppenteilnehmenden, sondern einem Lehrplan, einem hierarchiegebundenen Betriebsanliegen oder unreflektierter Tradition entstammt, kann eine gute Themenformulierung das Gruppeninteresse wachrufen.« (Farau u. Cohn, 1984, S. 365) Einen wichtigen Schritt in diese Richtung stellt es dabei für mich dar, die Inhalte des Lehrplans auf die Lebenswelt der Schüler*innen zu beziehen. Eine Themenformulierung geleitet von der TZI soll mich also bei einem schwierigen Aspekt meines Berufslebens unterstützen und meine Zufriedenheit beim Unterrichten erhöhen. Ein hohes Ziel! Mir war klar, dass ich dieses nicht nach einmaligem Ausprobieren erreichen würde. Zunächst einmal war ich schlichtweg neugierig, wie sich die Themenformulierung, die ich bei den TZISeminaren so schätze, auf die Schule übertragen lässt und wie meine Schüler*innen darauf reagieren werden. Und auch, wie und ob sich die Themenformulierung mit der Art der Aufgabenstellung vereinbaren lässt, die in der Schule vorherrscht: Gerade im Referendariat wurden wir angehalten, die Aufgaben mit präzisen Operatoren zu formulieren und somit enge, zielgerichtete Aufträge zu stellen. Aufforderungen wie »benenne«, »beschreibe« und »erläutere« kamen in keiner der TZI-Themen vor, die mir bisher begegnet waren. Innerhalb dieses Beitrags möchte ich zunächst kurz den theoretischen Hintergrund meiner Arbeit darstellen, als nächstes meine Schritte zum Thema und die konkrete Unterrichtsplanung aufzeigen, über die Durchführung der Unterrichtsstunden berichten und diese im Anschluss reflektieren. Abschließend folgt ein kurzer Ausblick.

Annäherung an das Thema über die Fachliteratur Wie bereits aus dem Begriff »Themenzentrierte Interaktion« hervorgeht, ist das Thema bei der Arbeit mit TZI von zentraler Bedeutung. Das Thema lässt sich als »formuliertes Anliegen« (Schneider-Landolf, Themen finden, formulieren, einführen

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2009, S. 157) verstehen und unterscheidet sich vom ES, das wiederum die Sache, die Aufgabe, den Inhalt und den Lernstoff bezeichnet (vgl. Schneider-Landolf, 2009, S. 161). Das Thema kann einen Sachinhalt, das ES, ansprechen, aber auch die beiden anderen Eckpunkte des Dreiecks (ICH, WIR). Nach Barbara Langmaack hat das Thema den Schwerpunkt an einem der Dreieckspunkte, bezieht aber auch die anderen beiden Punkte mit ein (vgl. Langmaack, 2001, S. 106). Wenn ich mich als Leiterin mit der Themenfindung und -formulierung beschäftige, kann es also hilfreich sein, das Thema in ein TZIDreieck einzuzeichnen. Das kann mir sowohl am Anfang des Prozesses helfen, Schwerpunkte zu setzen, oder auch als Überprüfung dienen, ob das fertig formulierte Thema wirklich meinen Zielen entspricht. So könnte es passieren, dass ich ein eher unattraktives Sachthema zunächst in die Nähe des ES platziere, dann aber merke, dass es für die Balance wichtig ist, auch das ICH und das WIR, also das persönliche Erleben und das Beziehungsgeschehen, in den Blick zu nehmen. Das könnte für mich ein Appell an meine Kreativität sein, das Thema zu öffnen und auch bei unattraktiven Inhalten lebendiges Lernen zu ermöglichen. Hinzufügen möchte ich, dass ich unter Balance nicht verstehe, dass das Thema genau in der Mitte der Dreieckspunkte verortet sein muss. Das Ziel ist die optimale Bearbeitung von Inhalten und dazu ist es nötig, die jeweilige Gruppe und deren Individuen sowie den momentanen Prozess der Gruppe genau im Blick zu haben. Auch auf die Rolle des GLOBEs beim Entwickeln eines Themas wird bei Langmaack an einer Stelle verwiesen. Bei den Schritten auf dem Weg zum fertigen Thema nennt sie als letzten Schritt die »Übereinstimmung mit dem Globe« (Langmaack, 2001, S. 119). An dieser Stelle zeigt sie auf, dass die Gruppe die Realität nicht aus den Augen verlieren darf, wenn sie engagiert arbeitet. Schritte zum Thema Bei der Vorbereitung der Unterrichtseinheit habe ich mich an einem Artikel von Eike Rubner mit dem Titel »Themen formulieren und einführen« orientiert (2009, S. 80–89). Eine weitere Hilfestellung bot mir Barbara Langmaack (2001, S. 106–124). Ihre Schritte und Anmerkungen waren für die Reflexion meiner Themenstellung 20

Carolin Bücking 

geeignet. Teilweise überschneiden sich die Hinweise aus den beiden Darstellungen. Immer wieder wird betont, welch hohe Kunst die Themenformulierung darstellt und wie viel Übung sie erfordert. Ich habe versucht, mich durch die detaillierten Anleitungen nicht abschrecken zu lassen. Bei der Themenfindung für meine Unterrichtseinheit habe ich also zunächst Vorüberlegungen angestellt, anschließend bin ich die »Drei Schritte zum Thema« gegangen (das Entwickeln eines einfachen Themensatzes, Assoziationen zum Themensatz, Aufbereitung zu einem anregenden Thema (Rubner, 2009, S. 82 ff.). Im Hinterkopf hatte ich dabei Ruth Cohns 12 Kriterien für ein adäquat formuliertes Thema (vgl. Rubner, 2009).

Planung der Unterrichtseinheit Als kurze Unterrichtseinheit habe ich den Lernstoff »Fremdwörter« im Rahmen der größeren Unterrichtseinheit »Rechtschreibung« in meiner 7. Klasse gewählt. Zunächst ging es mir darum, ein Thema für diese Unterrichtseinheit zu finden. Vorüberlegungen Bei den Vorüberlegungen habe ich versucht, mir meinen persönlichen Bezug zum Thema klarzumachen. In meiner Schulzeit habe ich mich geärgert, wenn Mitschüler*innen bemüht waren, viele Fremdwörter zu verwenden, um intellektuell zu wirken. Meine Abneigung gegen Fremdwörter, die nicht allgemein geläufig sind, hat sich im Studium noch verstärkt. Meine Auffassung von Sprache ist, dass sie dazu dienen sollte, Klarheit zu schaffen und Kommunikation zu ermöglichen. Die wissenschaftliche Fachsprache ist davon oft weit entfernt. Als Vorbild diente mir ein Germanist, dessen Hauptanliegen im Verfassen gut verständlicher Texte bestand. Bei einigen Schüler*innen meiner 7. Klasse konnte ich feststellen, dass sie in ihrem sprachlichen Ausdrucksvermögen schon sehr weit sind. Ich habe bemerkt, wie viel Spaß es ihnen macht, mit Sprache zu experimentieren, und dazu gehört auch, sich in einer Sprachform zu erproben, die für sie die Sprache der Erwachsenen darstellt. Somit konnte ich für Teile der Klasse ein Interesse an Fremdwörtern Themen finden, formulieren, einführen

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voraussetzen. Die Rechtschreibung bereitet diesen Schüler*innen meist keine Schwierigkeiten. Anderen, darunter auch Schüler*innen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, fällt die Rechtschreibung schwerer. Fremdwörter bedeuten für sie eine größere Herausforderung, da es keine einheitlichen Regeln für deren Schreibung gibt. Das Ziel meiner Unterrichtseinheit sollte darin bestehen, die Rechtschreibung von Fremdwörtern zu üben – unterstützt durch eine Zuordnung zur Herkunft der entsprechenden Wörter, was manchmal hilfreich bei der Schreibung sein kann. Das zweite Ziel sollte sein, das Arbeiten in der Kleingruppe zu fördern. Die Schüler*innen dieser Klasse arbeiten gern in Gruppen zusammen und wünschen sich diese Sozialform immer wieder. Bisher waren die Ergebnisse einer solchen Gruppenarbeitsphase aber nicht zufriedenstellend, da die Schüler*innen sich eher vom Arbeiten abgehalten haben, als effektiv zusammenzuarbeiten. »Drei Schritte zum Thema« Erster Schritt

Nach Rubner stellt sich zuerst die Frage nach dem Sachverhalt, nach dem Objekt. In meinem Fall ist es das Objekt Fremdwörter. Was soll nun mit diesem Objekt geschehen? Das ist die Frage nach der Handlung, hier lautet sie richtig schreiben. Welches Subjekt soll dies ausführen? Ich habe als Subjekt das Pronomen wir gewählt, wobei auch ich möglich gewesen wäre – also der*die einzelne Schüler*in. Wir erschien mir passender, da die Aufgabe die ganze Gruppe betrifft und nicht jede*r die Aufgabe für sich allein löst. Als nächster Schritt wird aus diesen Bestandteilen ein Themensatz gebildet, dieser lautete in meinem Fall: Wir schreiben Fremdwörter richtig. Zweiter Schritt

Der zweite Schritt besteht in einer Assoziationssammlung zu diesem Themensatz. Diese Sammlung war bei mir ziemlich ergiebig. Als erstes kam mir die Frage in den Sinn, warum Fremdwörter wohl 22

Carolin Bücking 

Fremdwörter heißen. Warum sind sie fremd? Fremd bedeutet in diesem Fall, dass die Worte aus anderen Sprachen übernommen wurden. Warum übernimmt man Wörter aus anderen Sprachen? Ein Grund dafür könnte sein, dass es bis dato kein passendes Wort im Deutschen für den entsprechenden Sachverhalt, das entsprechende Objekt o. ä. gab und das Fremdwort somit eine Lücke füllt – bspw. bei neuen Erfindungen. Oder könnte auch Bequemlichkeit ein Grund hierfür sein? Eine geeignete Übersetzung zu finden ist mühsam. Dazu ist mir ein weiterer Grund eingefallen: Vielleicht möchte man einen bestimmten Eindruck erwecken, indem man Fremdwörter benutzt. Die Verwendung von lateinischen oder griechischen Fremdwörtern wirkt gebildet, der Gebrauch von englischen Begriffen cool. Die Beliebtheit von englischen Wörtern in der Jugendsprache zeigt, wie viel Einfluss der amerikanische Lebensstil auf Jugendliche ausübt. Viele technische Neuerungen gehen mit ihren englischen Bezeichnungen in unseren Alltag über und zeigen so die Innovationsleistung dieser Gesellschaft. Interessant ist es auch, welche deutschen Wörter in andere Sprachen übernommen wurden, z. B. Kindergarten oder Weltschmerz im Englischen. Diese Wörter können etwas über unsere eigene Kultur aussagen. Mir fällt dazu ein Beispiel aus einem Buch zum Thema »Wort des Jahres« ein. Eine der Zusendungen kam von einem Engländer, der das Wort »Fernweh« vorgeschlagen hatte. Er schrieb über seine Freude, endlich ein passendes Wort für ein gut bekanntes Gefühl gelernt zu haben, das er bisher nie benennen konnte. Im Englischen gibt es wohl keinen Ausdruck dafür. Es kann auch spannend sein, mehr über die Geschichte und Bedeutung eines Wortes herauszufinden, den Wörtern praktisch »auf die Spur zu kommen«. Zurück zum Ausgangspunkt: Der Wortbestandteil fremd lädt dazu ein, sich diesem Fremden zu nähern, es sich vertraut zu machen und die Distanz abzubauen. Durch eine umfassendere Beschäftigung mit diesen fremden Worten könnten sie uns vertrauter werden, wir werden sicherer im Umgang mit ihnen und ganz nebenbei auch mit ihrer Schreibung. Die Ideen für meinen veränderten Themensatz waren die folgenden: Themen finden, formulieren, einführen

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1. 2. 3. 4.

Fremdwörter – ein Versuch der Annäherung Fremdwörter – vom Fremden zum Vertrauten Fremdwörter – wir lernen sie kennen Fremdwörter – eine Annäherung in mehreren Schritten

Außerdem kam mir die Idee, den Begriff Fremdwörter in fremde Wörter zu zerlegen. Dritter Schritt

Zu diesem Zeitpunkt fand ich noch keine meiner Ideen wirklich ansprechend. Der Ausgangssatz war zu langweilig, genauso Vorschlag drei, Vorschlag vier klang mir zu technisch und die letzte Idee wirkte eher verfremdend als hilfreich. Am besten gefiel mir noch Vorschlag zwei, mit diesem wollte ich also weiterarbeiten und einen Ergebnis-Themensatz formulieren. Herausgekommen ist dabei: Fremdwörter – wir machen sie uns vertraut! Diese Formulierung entsprach meinen Ideen in der Assoziationsphase am ehesten und beinhaltete eine aktive Komponente sowie das Subjekt des Handelns. Dieser Themensatz sollte also als Thema der Unterrichtseinheit fungieren. Normalerweise hätte ich wohl einfach als Überschrift Fremdwörter an die Tafel geschrieben. Struktur und Sozialformen Ausgehend von meinem Themensatz kam mir die Idee, die Schüler*innen in mehreren Schritten mit den Fremdworten vertraut zu machen. Ich wollte der gesamten Klasse zunächst mehrere Fremdwörter vorstellen, danach den Schüler*innen die Möglichkeit geben, sich mit einem speziellen Fremdwort näher zu beschäftigen, und anschließend in Kleingruppen einen Text verfassen lassen, in dem die bereits vertrauten Fremdwörter vorkommen. Dem übergeordneten Themensatz sollten also weitere Themensätze für die jeweiligen Phasen folgen. Ich wählte folgende Formulierungen: 1. Wir lernen weitere Fremdwörter kennen – ein Merkspiel 2. Meinem Fremdwort auf der Spur – ich finde mehr heraus 3. Mein Fremdwort trifft andere – wir schreiben gemeinsam ein Diktat 24

Carolin Bücking 

Die Abfolge von gemeinsamem Einstieg, eigener Recherche und Austausch passt meiner Einschätzung nach gut zum Prozess des Kennenlernens. Die letzte Phase wird meinem Anliegen gerecht, die Gruppenarbeit in der Klasse zu fördern. Das Thema ist motivierend und jede*r aus der Gruppe kann sich einbringen. Da eine gemeinsame Geschichte entstehen soll, ist eine gute Zusammenarbeit in der Gruppe gefragt. Als Probe, ob dieses Vorhaben auch den Schüler*innen gerecht wird, habe ich den geplanten Ablauf gedanklich anhand von drei Schüler*innen aus der Klasse durchgespielt. Ich habe mir dazu Lukas, einen überdurchschnittlich guten Schüler, Amelie, deren Leistungen sich im Mittelfeld bewegen, und Daniel, einen eher schwachen Schüler, ausgesucht. In meinen Vorstellungen konnte auch Lukas etwas Interessantes für sich finden, auch wenn er schon viele Fremdwörter kennen sollte. Ihn könnte das Merkspiel herausfordern und er könnte Interesse daran haben, die Suche nach der Herkunft und Bedeutung seines Fremdwortes intensiver zu betreiben. Da er gern Geschichten schreibt und zu Hause schon seit einem Jahr eine längere Geschichte verfasst, könnte ihm das letzte Thema gefallen. Amelie hätte wahrscheinlich Spaß an der spielerischen Annäherung an das Thema. Sie arbeitet gern in Gruppen und schafft es gut, andere in der Gruppe zur Mitarbeit anzuregen. Die gemeinsame Geschichte wäre daher für sie geeignet. Daniel gelingt es oft nicht, konzen­triert an einem Thema zu arbeiten. Für ihn sind eigentlich klar umgrenzte Aufgaben, die in kurzer Zeit erledigt werden können, das Richtige. Ihm würde es wahrscheinlich helfen, eine genauere Arbeitsanweisung zu erhalten, also beispielsweise bei der Recherchearbeit Tipps zu bekommen, über welche Bereiche er sich informieren könnte. Da ich den Themensatz aber nicht verlängern wollte, bestand die Lösung aus meiner Sicht darin, der Klasse im Anschluss an die Einführung des Themas mündlich Anregungen zu geben. Bei der Gruppenarbeit war ich mir nicht sicher, ob Daniel sich wieder viel ablenken lassen würde oder ob es ihn reizen könnte, sein Fremdwort in ein gemeinsames Werk einzubringen. Ich habe also beschlossen, Zufallsgruppen zu bilden, um zu vermeiden, dass er die Arbeitsphase mit seinen besten Freunden dafür nutzt, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Außerdem wollte ich ausprobieren, welThemen finden, formulieren, einführen

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chen Effekt diese Art der Gruppenbildung auf das Arbeitsverhalten ausübt. Zuvor konnten die Schüler*innen ihre Gruppen in meinem Unterricht immer frei wählen.

Durchführung Die erste Unterrichtsstunde der Einheit fing an, wie sie wohl auch ohne eingehende Planung mit TZI angefangen hätte. Ich habe mehrere Fremdwörter an die Tafel geschrieben und die Schüler*innen haben schnell erkannt, worin die Gemeinsamkeit dieser Wörter liegt. Mit ihren Sitznachbar*innen sollten sie anschließend nach einer Übersetzung für die jeweiligen Fremdwörter suchen, wobei es bei Wörtern wie Ravioli oder T-Shirt viele lustige, umständlich formulierte Vorschläge gab. Dies bot die Gelegenheit, zu überlegen, warum diese Wörter als Fremdwörter in unserer Sprache auftauchen und nicht übersetzt werden. Diese Art der Reflexion hätte ich ohne meine vorherigen Überlegungen wohl an dieser Stelle nicht bewusst angeregt. So konnte ich allerdings flüssig zur Einführung des Themensatzes überleiten, der dann die Überschrift an der Tafel darstellte: Fremdwörter – wir machen sie uns vertraut! Einige Schüler reagierten auf diese lange Überschrift erwartungsgemäß etwas irritiert (»Müssen wir das alles abschreiben?«). Es ging weiter mit einem Spiel (Thema: Wir lernen weitere Fremdwörter kennen – ein Merkspiel). Dazu hatte ich Kärtchen mit Fremdwörtern angefertigt (29 Stück, für jede*n Schüler*in eine), die ich nacheinander präsentierte. Das erste Drittel der Kärtchen habe ich vorgelesen und gezeigt, das zweite Drittel nur hochgehalten und die letzten habe ich nur vorgelesen. Danach sollten die Schüler*innen alle Wörter aufschreiben, an die sie sich noch erinnern konnten. Es ging mir zum einen darum, die Schüler*innen auf das Pro­ blem, dass viele Fremdwörter anders geschrieben als ausgesprochen werden, aufmerksam zu machen, zum anderen wollte ich in diesem Zusammenhang kurz auf die verschiedenen Lernkanäle hinweisen. Die Schüler*innen wollten auch tatsächlich möglichst viele Wörter in ihrem Heft stehen haben und haben bei den nur gehörten Wörtern nach der richtigen Schreibung gefragt. Bei unbekannteren Wörtern kam direkt die Frage nach deren Bedeutung auf, womit 26

Carolin Bücking 

ich zum nächsten Thema überleiten konnte: Meinem Fremdwort auf der Spur – ich finde mehr heraus. Dazu habe ich die Kärtchen im Zimmer ausgelegt und jede*r Schüler*in konnte sich eins davon aussuchen. Anhand von Fremdwörterbüchern haben sich die Schüler*innen erste Informationen verschafft und diese auf der Karte ergänzt. Damit war die erste Doppelstunde beendet. Die Hausaufgabe bestand darin, die Spur weiter zu verfolgen, da die Recherchemöglichkeiten im Unterricht begrenzt waren. Das Thema der darauffolgenden Doppelstunde lautete: Mein Fremdwort trifft andere – wir schreiben gemeinsam ein Diktat. Die Schüler sollten sich dazu nach den Farben ihrer Fremdwortkärtchen zusammenfinden, den anderen Gruppenmitgliedern vorstellen, was sie über ihr Fremdwort herausgefunden hatten, und aus den Fremdwörtern gemeinsam eine Geschichte schreiben. In einer zweiten Arbeitsphase sollten sich neue Gruppen zusammenfinden, um sich die Geschichten gegenseitig zu diktieren. Die Arbeit in den Gruppen hat erstaunlich gut funktioniert. Nachdem sich die Schüler*innen versichert hatten, dass die Geschichte nicht sinnvoll sein musste, hatten sie großen Spaß, lustige Geschichten zu schreiben und noch mehr Fremdwörter zu verwenden, als vorgegeben waren. Einige Gruppen waren schneller fertig als andere, deshalb bekamen sie die Zusatzaufgabe, ihre Geschichten mit dem Wörterbuch auf die Rechtschreibung hin zu überprüfen. Auch die zweite Phase verlief gut. Das sonst ungeliebte Diktat wurde durch die Gruppenarbeit und die Möglichkeit, eine eigene Geschichte zu diktieren, merklich aufgewertet. Zwischenzeitlich hatte ich zwar Bedenken, dass die zweite Arbeitsphase zu lang dauern könnte, da pro Gruppe alle vier Mitglieder den anderen diktieren und anschließend deren Texte kon­ trollieren sollten. Wenn ich den Schüler*innen so viel Text diktiert hätte, hätten sich bestimmt einige beklagt. Ihren Mitschüler*innen gegenüber kamen aber keine Beschwerden auf. Das hat mir deutlich gezeigt, wie viel Einfluss die Wahl der Arbeitsform auf die Motivation der Schüler*innen hat. Wahrscheinlich hat die Gruppenarbeit auch deshalb besser funktioniert als sonst, da die Schüler*innen eine gemeinsame Aufgabe hatten, bei der sich jede*r als Expert*in für sein*ihr Fremdwort einbringen konnte. Die bisherigen Themen für eine Gruppenarbeit waThemen finden, formulieren, einführen

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ren nicht darauf ausgelegt, dass die Gruppe gut zusammenarbeiten musste, um die Aufgabe zu lösen. Es handelte sich um Aufgabenstellungen, die genauso gut als Einzelarbeit hätten bearbeitet werden können. Die Bearbeitung in der Gruppe sollte also eine Abwechslung bieten, die Sozialform war nicht vom Inhalt her angedacht. Das war dieses Mal anders. Ich denke, dass die Zufallsgruppen die Zusammenarbeit noch unterstützt haben. Als Abschluss haben wir über die Wirkung der Fremdwörter in den Geschichten gesprochen und sind darüber hinaus auf Personen zu sprechen gekommen, die gehäuft Fremdwörter verwenden, um einen bestimmten Eindruck zu erwecken.

Reflexion Insgesamt war ich mit der Planung und Durchführung der beiden Doppelstunden sehr zufrieden. Für die genauere Reflexion möchte ich auf die einzelnen Bereiche gesondert eingehen. 1. Themenfindung: Da das Thema Fremdwörter vom Lehrplan vorgegeben war, konnte ich nur bedingt auf die Anliegen der Gruppenteilnehmer*innen eingehen. Die Interessen der Schüler*innen hatte ich im Blick, als es darum ging, eine Struktur für die jeweiligen Unterthemen zu finden. Für mich selbst war vor allem die Phase der Assoziationssammlung wichtig. Dadurch wurde mir selbst klar, was für mich das eigentlich Interessante an dem Thema darstellt. Außerdem kamen mir viele Ideen, wie ich über die Rechtschreibung der Fremdwörter hinaus den Unterricht anreichern könnte, indem ich auch ein Nachdenken über Fremdwörter anrege. Meine Hoffnung war, dadurch ein größeres Interesse zu wecken und den Schüler*innen den Sinn unserer Beschäftigung mit diesem Thema näherzubringen. Auch für mich wurde das Thema dadurch viel interessanter, weil mir bewusst wurde, welche Einstellung ich selbst zu diesem Thema habe. Meinen Unterricht hat die Assoziation auf jeden Fall bereichert. Außerdem ging es auch darum, auch über das übergeordnete Thema hinaus weitere Themen für die einzelnen Schritte zu finden. Dafür waren die Assoziationen als Ideenfundus gut geeignet. 28

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Insgesamt habe ich durch diese erste Phase das ICH stärker in den Blick genommen und somit auch das WIR. Erst durch den persönlichen Bezug wurde das Thema interessant. Dieser Aspekt wäre mir wahrscheinlich auch aufgefallen, wenn ich das Thema in das Dreieck eingezeichnet hätte, allerdings hatte ich diese Idee erst im Nachhinein. 2. Themenformulierung: Diese Phase hat bei der Planung am längsten gedauert. Ich hätte mich innerhalb des Prozesses gern mit anderen ausgetauscht, da mir für die konkrete Themenformulierung keine richtig guten Ideen kamen. Mit dem Themensatz war ich am Ende noch nicht ganz zufrieden. Ihm fehlt das gewisse Etwas, eine eindrückliche Formulierung, die sofort anregend wirkt. Aber auch im Nachhinein ist mir keine neue Idee gekommen. Da die Durchführung ganz zufriedenstellend war, sollte ich wohl nicht zu kritisch mit meinem Themensatz sein. Die Unterthemen für die jeweiligen Unterrichtsschritte gefallen mir von der Formulierung her gut, auch in der Gesamtschau, weil die Abfolge damit klar strukturiert wurde: erst eine Übersicht über eine Vielzahl Fremdwörter, dann ein einzelnes ganz genau betrachtet und zum Schluss, darauf aufbauend, eine weitere Beschäftigung mit den Fremdwörtern der anderen. Beim letzten Themensatz hätte ich aber im Nachhinein die Formulierung Mein Fremdwort trifft andere – wir schreiben gemeinsam eine Geschichte gewählt. Diktat klingt aus meiner Sicht doch eher nach einer Klassenarbeit. 3. Themeneinführung: Die Einführung des Themas hat sich aus dem Unterrichtszusammenhang ergeben. Genauso wie ich das Thema Fremdwörter als Überschrift an die Tafel geschrieben hätte, war es in diesem Fall der Themensatz. Ungewohnt für die Schüler*innen, die kurze Überschriften kennen, war es, die längeren Themensätze abzuschreiben. Dafür fiel die Aufgabenstellung weg, da der Themensatz diese praktisch schon beinhaltete. Allerdings ist sie hier offener formuliert. Der Themensatz Mein Fremdwort trifft andere – wir schreiben gemeinsam eine Geschichte sagt z. B. nichts darüber aus, wie lang die Geschichte sein sollte, ob sie jede*r aus der Gruppe ins Heft schreiben sollte usw. Deshalb kamen Themen finden, formulieren, einführen

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nach der Einführung auch oft Nachfragen zur genauen Art der Bearbeitung. Manchmal habe ich gleich nach Nennung des Themas weitere mündliche Erläuterungen gegeben. Gedanken habe ich mir im Nachhinein zum Verhältnis von Thema und einzelnen Schritten der Bearbeitung (für die ich bisher den Begriff Unterthemen gewählt habe) gemacht. Ist es überhaupt sinnvoll, für jeden Bearbeitungsschritt wieder einen Themensatz zu formulieren? Oft gebe ich einfach mündlich eine kurze Arbeitsanweisung. Ich hatte das Gefühl, dass die Schüler*innen dieses Mal irritiert waren, bei jedem Schritt wieder etwas aufzuschreiben. Das Aufschreiben des Themensatzes ist auch nicht immer notwendig, es reicht vielleicht schon, wenn die Schüler*innen die Formulierung an der Tafel oder auf einer Folie sehen. Dieses Mal war mir aber wichtig, dass sie die Formulierung bewusst wahrnehmen und in ihren Arbeitsphasen direkt vor Augen haben. Beim nächsten Mal würde ich nur noch das Überthema als Überschrift für alle an die Tafel schreiben. Die einzelnen Arbeitsschritte würde ich für alle sichtbar notieren, ohne die Schüler*innen aufzufordern, sie ins Heft zu übernehmen. Die Arbeitsschritte als Unterthemen zu formulieren, hat allerdings sicher dazu beigetragen, die Einheit gut zu strukturieren und eine persönliche Auseinandersetzung der Schüler*innen mit dem Thema anzuregen. Bei der Reflexion der Stunden sind mir zwei weitere Punkte bewusst geworden: In meinen Vorüberlegungen hatte ich Bedenken, dass die Schüler*innen, die Deutsch nicht als Muttersprache haben, Probleme bei der Schreibung der Fremdwörter haben könnten, da ihnen die Rechtschreibung häufig generell schon schwerer fällt. Wie gut hätte ich Fremdwörter aus deren Muttersprache thematisieren und sie damit stärker in das Thema einbinden können! Gerade türkische Wörter wie Döner Kebab oder Moschee sind uns allen geläufig. Diese Wörter wären eine gute Alternative zu meinen Einstiegswörtern gewesen. Die zweite Änderung würde ich bei der Behandlung des Lehrplanthemas Rechtschreibung vornehmen, zu dem die Fremdwörterstunden gehört haben. Ich würde zu Beginn der Einheit versuchen, einen stärkeren Bezug zu den Schüler*innen herzustellen und auch 30

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für mehr Transparenz zu sorgen. Im Nachhinein hatte ich die Idee, den Schüler*innen zu Beginn einen Bewerbungsbrief mit Rechtschreibfehlern vorzulegen, den sie am Computer mit einem Rechtschreibprogramm überprüfen können. Die Fehler, die dann noch nicht verbessert sind, können anschließend thematisiert werden. So wird den Schüler*innen klarer, warum das unliebsame Thema Rechtschreibung trotz Rechtschreibhilfen wichtig ist. In den Vorüberlegungen habe ich bereits die Operatoren erwähnt: Ich war gespannt, ob und wie sich Operatoren und Themenformulierung vereinbaren lassen. Ich denke, dass es sich hierbei um zwei verschiedene Herangehensweisen handelt. Die Operatoren setze ich ein, wenn ich erreichen möchte, dass die Schüler*innen einen Arbeitsauftrag genauso bearbeiten, wie es die Aufgabenstellung erfordert. Diese Methode eignet sich für Klassenarbeiten gut. Die Operatoren helfen den Schüler*innen, herauszufinden, was genau gefragt ist und wofür sie Punkte bekommen können. Es ist deshalb sinnvoll, die Arbeit mit Operatoren im Unterricht zu üben. Das TZI-Thema unterscheidet sich von diesen enger gerichteten Arbeitsaufträgen. Es hat zwar auch das Ziel, eine optimale Bearbeitung von Inhalten zu ermöglichen, ist aber viel offener gefasst, orientiert sich mehr an den Anliegen der Einzelnen und der Gruppe und hat einen »gefühlsmäßigen Aufforderungscharakter« (Rubner, 2009, S. 82), um nur einige Unterschiede zu nennen. Für mich ist der letzte Punkt besonders wichtig. Im Unterricht ist es entscheidend, Interesse zu wecken und zu motivieren. Eine noch so exakte Formulierung mittels Operatoren bringt nichts, wenn durch solch eine technische Anweisung jegliches Interesse schwindet.

Weitere Beispiele und Ausblick Im Anschluss an den Unterricht in der 7. Klasse, den ich ganz bewusst mit TZI vorbereitet habe, habe ich einige Elemente davon bei anderen Klassen angewandt. Einmal war es eine Assoziationssammlung zum Thema Evolution. Ein anderes Mal wählte ich als Überschrift zum Thema Zellteilung/Mitose folgende Formulierung: Aus eins mach zwei – und zwar haargenau gleich. Dabei habe ich gemerkt, Themen finden, formulieren, einführen

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dass schon eine treffende Formulierung, die den entscheidenden Aspekt einer Thematik in den Fokus rückt, enorm hilfreich ist. So wird den Schüler*innen auf einen Blick klar, worauf es bei diesem Prozess ankommt. In der Klassenarbeit konnte ich die Formulierung wieder lesen, sie war also einprägsam. Da ich das Thema nur wiederholen und nicht erarbeiten wollte, konnte das Ergebnis schon gleich zu Beginn sichtbar sein. Als Variante für eine Erarbeitung würde sich anbieten, zunächst den ersten Teilsatz als Aufforderung vorzugeben (Aus eins mach zwei) und den Nachsatz später zu ergänzen. Jede einzelne Unterrichtsstunde mit der von mir angewandten Methode zu planen, ist für mich zu aufwändig. Aber bereits die erste Umsetzung im Unterricht hat mir gezeigt, wie sinnvoll die Themenfindung und -formulierung im Sinne der TZI in der Schule ist. Ich denke, dass ich in Zukunft versuchen werde, die Themen für größere Einheiten als Themensätze zu formulieren. Bereits in den Unterrichtsstunden nach der Fremdwörter-Einheit habe ich bemerkt, dass ich automatisch mehr über die Themenformulierung nachdenke. Auch wenn ich während der Planung nicht darauf geachtet hatte, kam mir manchmal spontan im Unterricht eine Idee. Ich denke, dass mir die Themenformulierung eine große Hilfe sein kann, wenn Themen anstehen, für die ich selbst erst Interesse entwickeln muss.

Literatur Farau, A., Cohn, R. C. (1984). Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Zwei Perspektiven. Stuttgart. Langmaack, B. (2001). Einführung in die Themenzentrierte Interaktion TZI. Weinheim/Basel. Rubner, E. (2009). Themen formulieren und einführen. Themenzentrierte Interaktion, 2/2009, 80–89. Schneider-Landolf, M. (2009). Thema. In M. Schneider-Landolf, J. Spielmann, W. Zitterbarth, Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI) (S. 157–163). Göttingen.

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MIRIAM CHEEMA  Über das Projekt: »Weit vom Auge – weit vom Herz«

»Weit vom Auge – weit vom Herz« sind Zeilen des selbstgeschriebenen Gedichtes einer Muslima, die sich durch den Schreibprozess mit ihrer Vergangenheit, ihrer Identität und ihren eigenen Werten auseinandersetzte. Diese Zeilen wurde zum Titel eines ganzen Projektes, genauer gesagt eines Integration-Tanz-Projektes im Jahr 2013, bei dem Immigrant*innen muslimischen Glaubens selbstverfasste Gedichte über ihre Heimat, ihre persönlichen Schicksale und ihren großen Spagat zwischen den traditionellen Werten des Elternhauses und der Realität in Deutschland schrieben. Zum größten Teil waren es junge Frauen mit muslimischem Hintergrund, die bei diesem Projekt mitmachten. Die Gedichte handeln von traumatischen Kriegseindrücken, Verlusten, der Bedeutung von Familienehre, der Machtstellung des Vaters und dem Hidschab als Glaubenssymbol in Deutschland. Die Projektidee bestand darin, diese Gedichte zusammen mit der Hip-Hop Company »Juvenile Maze«, bei der ich selbst jahrelang Mitglied war, auf die Bühne zu bringen. Gemeinsam sollten die selbstverfassten Texte vertanzt werden, um diese letztendlich als Bühnenstück im Freiburger Stadttheater aufzuführen. Die Gruppenkonstellation war eine kunterbunte Mischung aus 29 Jugendlichen aus dem Libanon, der Türkei, Serbien, dem Kosovo, Bosnien, Deutschland, den Philippinen, Vietnam, Pakistan, Iran, Rumänien und Russland. Diese Arbeit wird verschiedene Phasen der Gruppenentwicklung und den Verlauf des vergangenen Integration-Tanz-Projektes mithilfe der TZI-Brille beleuchten. Das Vier-Faktoren-Modell der TZI dient hierbei als Hilfsmittel zur Analyse und Reflexion der Gruppendynamik. Ich persönlich habe dieses Projekt als eine sehr bereichernde Lebenserfahrung empfunden, deshalb wollte ich diese Arbeit als Anlass nutzen, um mich retrospektiv noch einmal genauer damit auseinanderzusetzen. Es ist wichtig, zu erwähnen, dass diese Analyse komplett auf meiner subjektiven Wahrnehmung als Teilnehmerin bzw. Tänzerin basiert. Meine Intention ist es, essenzielle Erkenntnisse für die Neuauflage des Projektes, die zu diesem Zeitpunkt in Planung ist, zu gewinnen. Außerdem soll diese Selbstreflexion zusätzlich meiner persönlichen Bereicherung und Weiterentwicklung dienen, auch 36

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im Hinblick auf meinen eigenen multikulturellen Hintergrund. Der erste Teil der Arbeit befasst sich mit der Anfangsphase des Projektes, der genauen Gruppenkonstellation und den verschiedenen Erwartungen an das Stück. Danach folgt eine Analyse der Gruppenentwicklung und des Projektverlaufs, bei dem verschiedene Herausforderungen des Trainingsalltags und eine konkrete Gruppensitzung genauer beleuchtet und hinterfragt werden. Der nächste Teil der Arbeit handelt von meiner persönlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Migration und meinen eigenen inneren Prozessen, die durch dieses Projekt in Bewegung kamen. Die Zertifikatsarbeit endet mit der Reflexion über die Auftrittsphase und einem Ausblick, der meine neugewonnen Erkenntnisse für die Neuauflage bündelt.

Anfangsphase Als die Hip-Hop Company »Juvenile Maze« zum ersten Mal von meinem Projekt erfuhr, reagierten sie begeistert und die Entscheidung zur Realisierung des Projekts wurde sehr schnell und vielleicht auch etwas unbedacht getroffen. Die Tänzer*innen waren sehr motiviert und wollten sofort mit der Umsetzung der Projektidee beginnen. Ich persönlich war sogar etwas überrascht, da ich die Tanzgruppe bisher eher aus dem Leistungs- bzw. Wettkampfkontext kannte, und fand es daher spannend zu sehen, wie spontan und unvoreingenommen sich alle auf diese soziale Herausforderung einließen. Hier würden zwei verschiedene »Welten« aufeinandertreffen. Zum einen Immigrant*innen muslimischen Hintergrunds, die größtenteils aus dem Hauptschulkontext kamen, geringe finanzielle Mittel besaßen und es aus verschiedensten Gründen nicht leicht hatten, in der deutschen Gesellschaft anzukommen. Und zum anderen die Tanzgruppe, die sich durch eine sehr internationale Gruppenkonstellation auszeichnete und aufgrund der Wettkampforientierung viel Ehrgeiz und Disziplin besaß. Das erste Kennenlernen dieser unterschiedlichen »Welten« hätte sich nicht spannender gestalten können. Was waren die Erwartungen an das Projekt? Im Folgenden Abschnitt möchte ich die Erwartungen und Ziele des Projektes anhand des Vier-Faktoren-Modells der TZI analysieren. Über das Projekt: »Weit vom Auge – weit vom Herz«

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»Die verschiedenen Einflussgrößen, die die Prozesse und Interaktionen in sozialen Situationen bestimmen und lebendiges Lernen ermöglichen, lassen sich in vier Faktoren zusammenfassen: das → »Ich«, jede einzelne Person, jedes Individuum, das → »Wir«, die Interaktion der Beteiligten untereinander, das → »Es«, das Anliegen, der Inhalt, die Aufgabe, das Ziel, dessentwegen sich die Individuen zusammenfinden, und den → »Globe«, die Gegebenheiten und Rahmenbedingungen, in denen gearbeitet wird.« (Schneider-Landolf et al., 2013, S. 16) ES:  Das Projekt verfolgte ein Doppelziel. Zum einen gab es das offensichtliche Ziel der großen Tanzaufführung im Freiburger Stadttheater, zum anderen existierte jedoch ein übergeordnetes Ziel, das immer mitschwang und die Grundvoraussetzung für das Erreichen des offensichtlichen Ziels war: Diese zwei Gruppen, die nicht unterschiedlicher sein konnten, sollten mittels Toleranz, Offenheit und Miteinander einen gemeinsamen Beitrag zur Integration leisten. GLOBE:  Die von außen gesetzten Rahmenbedingungen waren sehr genau vorgeschrieben. Ein- bis zweimal die Woche fand das Training in der Tanzschule unter einer tänzerischen und pädagogischen Leitung bis zum Tag der Premiere statt. Die Erwartungen der Trainerin, der betreuenden Sozialpädagogin und des Stadttheaters waren groß, da das Stück bis zum Premierentag bühnenreif sein musste. Ich denke, wesentlich wichtiger als das regelmäßige Training war der individuelle und kulturelle Kontext, in dem jede*r Einzelne eingebunden war, und so kam jede*r mit einem komplett anderen »Rucksack« auf dem Rücken ins Training. Die starke Heterogenität der beiden Gruppen, bedingt durch die verschiedenen GLOBEs in die jede*r Einzelne situiert war, war enorm – angefangen bei Sprachbarrieren über die Vermittlung der Tanzschritte bis hin zu den verschiedenen kulturellen Ansichten, Werten und Moralvorstellungen. WIR: Das WIR war zu Beginn des Projekts ein geteiltes WIR bestehend aus zwei Gruppen, die nicht unterschiedlicher hätten sein können. Aus persönlicher Erfahrung als Tänzerin kann ich 38

Miriam Cheema 

sagen, dass das WIR der Tanzgruppe ein eingeschweißtes und erfahrenes WIR mit stetigem Blick auf die tänzerische Weiterentwicklung darstellt. Dieses Projekt war für die Hip-Hop Company die erste Erfahrung mit Fokus auf soziales Engagement und der Möglichkeit zum kulturellen Austausch, was meiner Meinung nach sicherlich durch eine neugierige und offene Erwartungshaltung angetrieben wurde. Ich denke jedoch, dass es auch weitere Erwartungen gab, die durch den gewohnten Ehrgeiz der wettkampforientierten Tanzcompany angespornt wurden. Für alle Beteiligten war es eine sehr schöne Vorstellung, als Freiburger Tanzgruppe die Ehre zu haben, sich auf der großen Bühne im Freiburger Stadttheater präsentieren zu dürfen. ICH:  Meine persönlichen Erwartungen an das Projekt waren mir sehr klar. Zum einen habe ich es als eine andere Art der tänzerischen Herausforderung gesehen, den Leistungsgedanken beiseitezulassen und die Aufgabe anzunehmen, etwas »Überkulturelles« gemeinsam auf die Beine zu stellen. Und zum anderen wollte ich schon immer das soziale Potenzial von Tanz entdecken, weil ich mir später als zukünftige Lehrerin auch gut vorstellen kann, in diesem Gebiet zu arbeiten. Eine weitere intrinsisch motivierte Neugier galt für mich dem Thema Migration bzw. Migrationshintergrund, da sich diese Thematiken mit meinem eigenen Hintergrund überschneiden und bei mir ein seltsames Interesse und mulmiges Gefühl zugleich auslösten. Mir ist die muslimische Kultur durch meinen pakistanischen Vater bekannt, jedoch im selben Moment auch fremd, da ich mit meiner deutschen Mutter aufgewachsen bin. Mir wurde immer mehr bewusst, wie ich durch dieses Projekt mit meinen eigenen ausländischen Wurzeln konfrontiert wurde und ich dadurch die Möglichkeit hatte, mich damit auseinanderzusetzen.

Die Entwicklung und der weitere Verlauf des Projektes Im Laufe der Zusammenarbeit kristallisierte sich heraus, dass die Erwartungen an das Projekt schwierig zu realisieren waren und die Realität etwas anders aussah als gedacht. Ich glaube, alle Parteien hatten sich das Ganze einfacher vorgestellt, und ich hatte das Über das Projekt: »Weit vom Auge – weit vom Herz«

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Gefühl, dass das Projekt immer mehr auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wurde. Die anfängliche Euphorie prallte auf eine relativ ernüchternde Realität mit verschiedenen Hindernissen, da sich der Trainingsalltag ganz anders als erwartet und gewohnt entwickelte. Ein Problem war beispielsweise die Regelmäßigkeit im Training, die für die Tanzgruppe gar nicht zur Debatte stand. Für die Migrant*innen jedoch waren Verpflichtungen, wie zum Beispiel das Samstagabend-Training, etwas Neues und so stand die sporadische Anwesenheit der einen Gruppe der gewohnten Disziplin der anderen Gruppe gegenüber. Neben der Frage der Motivation und dem Durchhaltevermögen wurde mir persönlich das Axiom über Autonomie und Interdependenz stark vor Augen geführt. Im Handbuch der TZI von Schneider-Landolf et al. werden Farau und Cohn zitiert, die dieses Axiom wie folgt beschreiben. 1. Axiom (existenziell-anthropologisch)

»Der Mensch ist eine psycho-biologische Einheit und ein Teil des Universums. Er ist darum gleichermaßen autonom und interdependent. Die Autonomie des Einzelnen ist umso größer, je mehr er sich seiner Interdependenz mit allen und allem bewusst wird.« (Farau u. Cohn zit. n. Schneider-Landolf et al., 2013, S. 80) Die kulturellen Unterschiede wurden sichtbar, auch mitunter die starke Kontrolle und Sorge der Eltern auf Seiten der Migrant*innen. Manche Eltern durften nicht wissen, dass ihre muslimische Tochter an einem Tanzprojekt teilnahm, andere Eltern wollten die Mädchen früh zu Hause haben, sodass sich die Trainingszeiten oft erheblich verkürzten. Manche Erziehungsmaßnahmen beinhalteten sogar ein Trainingsverbot. All diese Aspekte hemmten letztlich die Projektentwicklung. Mir wurde immer mehr bewusst, wie selbstständig und unabhängig ich war und dass dies nicht selbstverständlich ist. Ich würde fast sagen, dass sich das Spannungsfeld der Selbstständigkeit und Interdependenz durch die zwei unterschiedlichen Gruppen im wahrsten Sinne des Wortes von der einen Seite bis hin zum Extrem der anderen Seite erstreckte. 40

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Im weiteren Verlauf dieser Arbeit möchte ich nun die komplexe Entwicklung des Projektes und den Trainingsalltag mithilfe des VierFaktoren-Modells der TZI genauer beleuchten und reflektieren. Oft kann man bei Gruppenprozessen von der natürlichen Entwicklung einer sogenannten Konfliktphase sprechen, wo es zu verschiedenen Spannungen zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern kommt. ES:  Das anfängliche, offensichtliche Ziel der Aufführung im Stadttheater musste meiner Ansicht nach kurzzeitig auf Eis gelegt werden. Es ging um die viel grundlegendere Frage, ob das ES überhaupt realisierbar war, denn so wie sich die Situation gestaltete, konnte es nicht weitergehen. Das übergeordnete Ziel, das die Notwendigkeit von Toleranz und Zusammenhalt verlangte, geriet mehr und mehr in den Fokus. Man kann sagen, dass es zu einer Verschiebung zum WIR kam. GLOBE:  Der Globe spielte während des ganzen Projektes eine enorme Rolle. Der Premierentag näherte sich, der Zeitdruck wurde langsam spürbar und es wurde immer unruhiger im Training. Besonders der individuelle GLOBE, in dem jede*r Einzelne situiert war, verursachte viele Störungen. Die kulturellen Unterschiede erschwerten es, eine motivierende und gemeinsame Trainingsatmosphäre zu schaffen. Von Elterninterventionen der muslimischen Mädchen bis hin zur Fastenzeit, in der nicht getanzt werden durfte, gab es verschiedenste Faktoren, die den Gruppenprozess erschwerten. Ein paar Migrant*innen stiegen sogar aus. All dies verdeutlichte, wie viel Raum der GLOBE und die Störungen einnahmen. Ich glaube, den meisten Beteiligten war dies zu Beginn nicht bewusst, doch der GLOBE zeigte seine Macht und nahm sich einfach den Raum. WIR:  Bei all den Schwierigkeiten und Hindernissen, die das Training erschwerten, kann ich nachträglich festhalten, dass es keine guten Voraussetzungen gab, um ein gemeinsames WIR aufzubauen – es lässt sich eher von zwei »WIRs« sprechen, denen es an gegenseitigem Verständnis mangelte. Als Mitglied der Tanzcompany konnte ich spüren, dass die Stimmung in der Tanzgruppe nicht besonders gut war, die Motivation sank und die Frustration war groß. Den Tänzer*innen fehlten die Disziplin bei den »anderen« genauso wie hartes Arbeiten und regelmäßiges Training. Über das Projekt: »Weit vom Auge – weit vom Herz«

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Die Prioritäten der beiden Gruppen waren unterschiedlich gesetzt und so entstand eine laute und unkonzentrierte Trainingsatmosphäre. Ein weiterer Faktor, der die Gruppendynamik beeinflusste, war meiner Meinung nach die Anpassung der Choreografien an das tänzerische Niveau der Migrant*innen, was selbstverständlich notwendig war, um überhaupt ein gemeinsames Tanzstück zu gestalten. Ich denke jedoch, dass dies vielen Tänzer*innen nicht bewusst war und an vielen Gewohnheiten festgehalten wurde. Die Hip-Hop Company »Juvenile Maze« ist sehr leistungs- und wettkampforientiert, ehrgeizig und diszipliniert, es wird stets die tänzerische Herausforderung gesucht und man stellt hohe Ansprüche an jede*n Einzelnen aus der Gruppe. Doch bei diesem Projekt ging es nicht primär um große tänzerische Leistungen, sondern um eine zwischenmenschliche, kulturelle und soziale Herausforderung. Ich denke, die Frustration wäre wesentlich geringer gewesen, wenn alle Beteiligten den Fokus von Anfang an auf die soziale Komponente des Projektes gelegt hätten. ICH:  Ich persönlich fand es sehr spannend, das Tanzen von einer anderen Seite kennenzulernen und das soziale Potenzial des Mediums Tanz zu erfahren. Die Grundidee des Projektes war letztendlich mittels Text, Bewegung und Musik eine Verbindung miteinander herzustellen und gemeinsam etwas zu kreieren. Manchmal fühlte ich mich zwischen beiden Gruppen hin- und hergerissen, denn ich konnte mich selbstverständlich gut in die Tanzgruppe einfühlen, doch ich verstand auch die Schwierigkeiten und Nöte der Muslim*innen auf eine fremde und doch vertraute Art und Weise. Der große Einfluss, den die verschiedenen GLOBEs hatten, und die unterschiedlichen Erwartungen von jede*m Einzelnen an das Projekt trugen nicht gerade zu einem guten Trainingsklima bei. Auch die Leistungsorientierung der Tanzgruppe und die Macht der Gewohnheiten erschwerten die Situation. Ich bin mir nicht sicher, ob wirklich jede*m zu diesem Zeitpunkt bewusst war, was es bedeutet, ein soziales Integrationsprojekt durchzuführen.

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Besprechung vier Wochen vor der Premiere Es war Zeit für eine Aussprache und die pädagogische und tänzerische Leitung suchte den offenen Dialog, um die verschiedenen Spannungen zu thematisieren. Das ES des Projekts wurde erst einmal hintangestellt und das WIR rückte in den Mittelpunkt. Während der Besprechung war ich konzentriert und klar zugleich. Ich kam gerade von einem TZI-Seminar und war für die Verwendung der TZI- Hilfsregeln sensibilisiert, die mir dabei halfen, mein Verhalten und meine Kommunikation im Gruppenkontext zu lenken. Dafür bin ich sehr dankbar, denn so konnte ich mich bei dieser Krisensitzung differenzierter ausdrücken, zuhören und verstehen. Es war ein tolles Gefühl, etwas neu Erlerntes konkret anzuwenden und in die Tat umzusetzen. Letztendlich wurde mir bewusst, dass das Konfliktpotenzial bei so vielen unterschiedlichen Kulturen, Einstellungen und Werten sehr hoch ist und Konfliktphasen vorprogrammiert sind. Die Leitung wirkte auf mich während der ganzen Sitzung dominant und ich hatte das Gefühl, dass kein offener Dialog zustande kam. Ich persönlich empfand auch mich selbst als nachdenklich, verunsichert und zurückhaltend, was sicherlich zu dieser Stimmung beitrug. Ich denke, es ist zum einen die Aufgabe der Leitung, eine offene und einladende Atmosphäre zu schaffen, jedoch zum anderen auch Aufgabe von jede*m Einzelnen, seine*ihre Störungen und Wahrnehmungen zu äußern, um aktiv an der Gruppenentwicklung mitzuwirken. Das Chairperson-Postulat war mir in diesem Moment wohl nicht sehr präsent, denn sonst hätte ich mich vermutlich selbstbewusster bzw. selbstbestimmter verhalten und dadurch eventuell andere zu einer offenen Kommunikation angeregt. Im Handbuch der TZI von Schneider-Landolf et al. wird dieses Postulat laut Cohn folgendermaßen definiert: »Sei dein eigener Chairman, der Chairman deiner selbst. Das bedeutet: a) Sei dir deiner inneren Gegebenheiten und deiner Umwelt bewusst. b) Nimm jede Situation als Angebot für deine Entscheidungen. Nimm und gib, wie du es verantwortlich für dich selbst und andere willst.« (Schneider-Landolf et al., 2013, S. 95) Über das Projekt: »Weit vom Auge – weit vom Herz«

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Alles in allem empfand ich die Gruppendynamik als meilenweit von der dynamischen Balance entfernt, der Fokus lag zu stark auf dem ES, also der Aufführung, und zu wenig auf dem WIR und den unterschiedlichen ICHs mit ihren persönlichen GLOBEs. Durch dieses Ungleichgewicht konnte kein richtiges WIR zustande kommen. Es waren nach wie vor zwei Gruppen, die mit all ihren widersprüchlichen Themen versuchten, ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Die Besprechung endete mit der eindringlichen Aufforderung, alle Kräfte und Konzentration auf die Premiere zu fokussieren und den gemeinsamen Endspurt entschlossen hinzulegen. Ich hatte trotz allem das Gefühl, dass das Beisammensitzen und die Aussprache allen einen Motivationsschub gab und der gemeinsame Entschluss eine vereinende Wirkung hatte.

Meine eigene Auseinandersetzung mit dem Thema Migration Mein Projekt arbeitete nicht nur mit Gedichten, Musik und Tanz, sondern ebenfalls mit kleinen Filmen. Ein paar der muslimischen Mädchen mussten anonymisiert teilnehmen, da ihre Eltern und die Verwandtschaft die Teilnahme an einem solchen Projekt nicht zugelassen hätten. Ich denke, dass dieser Faktor selbstverständlich auch Auswirkungen auf das Miteinander und auf die Tatsache, wie stark die Migrant*innen sich auf das Projekt einließen, hatte. Die Gedichte der Mädchen waren sehr persönlich. Sie handelten beispielsweise von ihrer Vergangenheit, ihrem Verhältnis zu Deutschland oder zum eigenen Vater. Die Geschichte eines dieser Mädchen sollte anonymisiert verfilmt werden. Sie tanzte nicht mit und kam auch nur einmal ins Training. Da ich Ähnlichkeiten mit ihr hatte, fragte sie mich, ob ich ihre Rolle bei der Verfilmung ihrer Geschichte übernehmen würde. Ich ließ mich auf das Experiment ein. Mein Filmdreh als Muslima Der Film handelt von einem türkischen Mädchen, ihrem Lebensweg und ihrem Alltag in Deutschland. Ihr Vater ist sehr streng und dominant und legt großen Wert auf Ehre, Tradition und Stolz. Sie 44

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beginnt eine Ausbildung in Deutschland und der Film zeigt ihren Spagat zwischen der muslimischen und deutschen Kultur. Sie muss beispielsweise auf väterliche Anordnung ein Kopftuch tragen, doch auf dem Weg zu ihrer Ausbildungsstelle zieht sie es sofort aus. Dieses Leben in zwei Welten gehört zu ihrem Alltag. Während des Filmdrehs bemerkte ich einen großen innerlichen Widerstand beim Spielen der Hauptrolle. Da ich ihn sehr deutlich empfand, machte ich mir das Störungs-Postulat »Störungen haben Vorrang« nochmals bewusst. Aber es war für mich keine Störung, die ich hätte äußern müssen. Ich hatte eher das Gefühl, dass es darum ging, nachzuspüren, warum dieses Thema Widerstände und Aversionen in mir auslöste. Einerseits hatte ich das Gefühl, eine Rolle zu spielen, und fühlte mich mit dem Kopftuch verkleidet. Andererseits war ich bei einer Szene in der Moschee überrascht, wie gut ich die Rolle eines muslimischen Mädchens zu verkörpern wusste. Bestimmte Gesten, Blicke und Körperhaltungen erinnerten mich an meine pakistanischen Cousinen und meinen eigenen familiären und multikulturellen Hintergrund. Ich bin zwar bei meiner deutschen Mutter aufgewachsen, doch ich fühle ganz deutlich, dass ich diese zweite Hälfte in mir trage, auch wenn ich mich meistens davon distanziere. Deshalb empfand ich es auch so, als würde ich eine Rolle spielen, doch manchmal kam es mir auch so vor, als würde ich auch in meine eigene Nebenrolle schlüpfen. Eine Rolle, die ich ansonsten meist vermeide oder gern umgehe. Während dieser ganzen Zeit sagte ich mir immer wieder: »Sei deine eigene Chairperson, leite dich selbst und schaue, wie weit du gehen möchtest.« Das Chairperson-Postulat hat mich stets begleitet und mir ein sicheres Gefühl gegeben. Ich wusste, dass ich die Notbremse ziehen kann, wenn ich es brauche. Herausfordernd waren auch die Szenen mit dem Vater der Protagonistin. Da stand ein Mann vor mir, der mich von oben bis unten musterte und mich mit seinem starren Kontrollblick unangenehm fixierte. Da mein Vater ganz anders ist, war es ein höchst unangenehmes Gefühl, eine solche Vaterfigur vor mir stehen zu haben. Letztendlich hat der Filmdreh mich dazu animiert, intensiv über Vater-Tochter-Verhältnisse nachzudenken, meine eigenen Widerstände wahrzunehmen und zu hinterfragen und mich mit meinen Über das Projekt: »Weit vom Auge – weit vom Herz«

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pakistanischen Wurzeln auseinanderzusetzen. Bei der Premiere fiel es mir jedoch trotzdem nicht leicht, den Film mit all meinen Freund*innen anzuschauen – einen Film, in dem ich die Rolle eines muslimischen Mädchens darstellte.

Auftrittsphase Am Tag der Aufführung fiel die ganze Anstrengung von mir ab. Das Stadttheater war ausverkauft und der Auftritt ein voller Erfolg. Dies zeigte, dass sich all die Arbeit und Mühe gelohnt hatten. Die Resonanz war sehr berührend und ich hatte das Gefühl, mit diesem Projekt wirklich etwas bewegt zu haben. Die Eltern, die das Training teilweise so erschwert hatten, und ihre Familien waren unglaublich stolz auf ihre Kinder. Die Gedichte und Texte der Muslim*innen brachten viele Besucher*innen zum Weinen und die betroffenen Familien wurden an ihre Schicksale erinnert. Selbst der Verlobte eines Mädchens, der nie begeistert war, dass sie mittanzte, war auf einmal der stolzeste und glücklichste Ehemann in spe. Ich bin froh, dass diese kunterbunte Gruppe das Projekt gemeinsam abgeschlossen hat, und bin auch stolz darauf, dass es trotz aller Diskrepanzen zu einer gelungenen »Performingphase« kam. Ich fand es beeindruckend, zu erfahren, wie ein solch einschneidendes Erlebnis eine Gruppe zusammenwachsen lässt, denn nach der Aufführung und der gemeinsamen Freude kam ein geballtes WIR zustande. Das war für mich der schönste Moment des Abends und des Gruppenprozesses im Ganzen. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an den Begriff »Das geschenkte Wir« von Scharer und Hilberath: Es gibt etwas im Gruppenprozess, das wir weder voraussehen noch planen noch herstellen können. »Dass sich die andere[n] mir öffne[n], dass wir uns wechselseitig öffnen können, dass wir miteinander leiden und uns freuen, uns einander bereichern, das erleben wir in der Gruppenarbeit immer wieder als Geschenk.« (Scharer u. Hilberath, 2010, S. 87)

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Ausblick und Erkenntnisse Nach diesem wunderschönen Erlebnis soll nun eine Neuauflage des Projektes in komplett anderer Gruppenkonstellation mit dem Namen »Weit vom Auge – Weit vom Herz reloaded« durchgeführt werden. In diesem Fall werden die Jugendlichen vorwiegend männliche Flüchtlinge aus Kriegsgebieten sein und andere Faktoren wie Sprachbarrieren und Traumata werden den Gruppenprozess herausfordern. Für die Neuauflage habe ich folgende Erkenntnisse durch die Reflexion dieser Arbeit gewonnen: ▶ Ich möchte darauf achten, keinen so starken Fokus auf das ES (die Aufführung) zu legen, sondern die dynamische Balance im Blick zu haben. Die TZI hat mir gezeigt, dass hierfür das VierFaktoren-Modell und kurze Blitzlicht- und Reflexionsrunden am Ende von jedem Training sehr hilfreich sein können. ▶ Dem GLOBE und den verschiedenen ICHs möchte ich als Teilnehmerin viel Raum geben, denn sonst nehmen sie sich den Vorrang ohnehin. Es ist wichtig, das Störungs-Postulat zu thematisieren und Raum für einen offenen Dialog zu schaffen. ▶ Ich möchte erreichen, dass ein gemeinsames WIR zu einem früheren Zeitpunkt entsteht, damit jede*r Einzelne sich schneller öffnen kann und die Teilnehmenden sich gegenseitig bereichern. Ich denke, dies ist mitunter auch Aufgabe der Leitung. Die Gruppenmitglieder sollten sensibilisiert und auf das Integrationsprojekt vorbereitet werden. Zu Beginn sollte über Erwartungen, Ängste und Wünsche gesprochen und sich die Zeit genommen werden, immer wieder gruppenfördernde Aufgaben durchzuführen. So kann ein gegenseitiges Verständnis entstehen und die Basis für ein gemeinsames Miteinander. ▶ Ich möchte mir meiner Autonomie und Freiheit bewusst sein und diese wertschätzen. Ich möchte mir das Chairperson-Postulat öfter vor Augen führen und weiterhin daran arbeiten. Ich werde darauf achten, leistungsorientierte Erwartungen hintanzu­stellen und den Fokus auf die soziale Komponente von Tanz zu legen. In meinen TZI-Seminaren habe ich gelernt, dass ich solche Leitsätze mithilfe von einem persönlichen Reflexionstagebuch besser verinnerlichen und stets neu hinterfragen kann. Über das Projekt: »Weit vom Auge – weit vom Herz«

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▶ Bei einer Gruppenkonstellation, in der unterschiedliche Kulturen, Einstellungen und Werte aufeinanderprallen, entsteht im Gruppenprozess automatisch Konfliktpotenzial. Darin liegt wiederum ein enormes Lern- und Erkenntnispotenzial, das ich in all seiner Fülle erfahren möchte. ▶ Das strukturierte und disziplinierte Training kann den Flüchtlingen als Vorbild in der Bewältigung des Alltags dienen und eventuell ein leichteres Verständnis und eine schnellere Integration in die deutsche Gesellschaft ermöglichen. Ich will mir dieser Verantwortung bewusst sein und die Möglichkeit nutzen, meinen Beitrag zu diesem Thema zu leisten. ▶ Die Auseinandersetzung mit meinen eigenen ausländischen Wurzeln hat gerade erst begonnen. Dieses Projekt ist eine weitere Möglichkeit, daran zu arbeiten und mich noch besser kennenzulernen. Dank der Reflexion dieser Arbeit, die ich mir mithilfe der TZI-Brille und dem Vier-Faktoren-Modell erarbeiten konnte, nehme ich nun diese kostbaren Erkenntnisse in die Neuauflage mit. Es fasziniert mich, meine Tanzleidenschaft mit diesem sozialen Thema zu verbinden. Für mich hat Tanz eine enorme Aussagekraft, die mir mit Worten oftmals nur begrenzt möglich ist. Zugleich bin ich mir sicher, dass die Neuauflage auch eine große Herausforderung darstellen wird, die ich jedoch mit meinem TZI-Wissen liebend gern annehme.

Literatur Scharer, M., Hilberath, B. J. (2010). Kommunikative Theologie: Zugänge – Auseinandersetzungen – Ausdifferenzierungen. Wien. Schneider-Landolf, M., Spielmann, J., Zitterbarth, W. (2013). Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI). Göttingen.

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Miriam Cheema 

ESTHER FREITAG  Wendepunkt – Entscheidungen, die Leben verändern

Einleitung Wichtige und einflussreiche Entscheidungen, die das ganze folgende Leben verändern und somit eine Art Wendepunkt im Lebenslauf darstellen, wollen gut überlegt sein. Jeder Mensch gerät das ein oder andere Mal im Laufe seines Lebensweges an solch einen Wendepunkt. Das kann beispielsweise die Entscheidung für eine Ausbildung oder ein Studium sein, die Entscheidung auszuwandern, für oder gegen eine Operation oder dafür, ein Stellenangebot anzunehmen. Doch was bedeutet »gut überlegt«? Reicht es, sich möglichst viel Zeit für die Entscheidungsfindung zu lassen, mit möglichst vielen Menschen darüber zu sprechen oder sogar das Thema betreffende Bücher zu lesen? Wie kann ich eine Entscheidung vermeiden, die sich für mich im Nachhinein als falsch herausstellen könnte? Eine Entscheidung, ganz gleich in welche Richtung sie ausfällt, hat Konsequenzen. Außerdem ist sie, wenn einmal gefallen, meist nicht mehr rückgängig zu machen. In dieser Arbeit analysiere ich anhand des Vier-Faktoren-Modells der Themenzentrierten Interaktion nach Ruth Cohn meine Entscheidungsfindung an einem wichtigen Wendepunkt meines Lebens. Auf den folgenden Seiten betrachte ich rückblickend den Prozess der Entscheidungsfindung in der Frage meines ungeborenen Kindes: Entscheide ich mich für eine nahe Zukunft mit dem Kind oder für eine Abtreibung? Ich entschied mich im Mai/Juni 2008 zunächst für die Abtreibung, dies änderte sich dann aber im Laufe einer Woche in den Entschluss, Mutter zu werden.

Das Vier-Faktoren-Modell Aus Sicht der TZI werden Situationen und Prozesse stets durch vier Wirkfaktoren beeinflusst: dem ICH (das Individuum), dem WIR (weitere Personen, die involviert sind), dem ES (das, worum es inhaltlich geht/die Sache/die Aufgabe) und dem GLOBE (die gegebenen Rahmenbedingungen). Entscheidungen spielen sich stets innerhalb dieser Faktoren ab. Das ES in dieser Frage ist die vorliegende, ungeplante Schwangerschaft. Der Fötus war bereits acht Wochen alt und entsprechend weit 52

Esther Freitag 

entwickelt. Das Herz schlug schon, Kopf und Gliedmaßen waren angelegt. Da Gehirn und Nervenstränge noch nicht vorhanden sind und der Fötus demnach keine Schmerzen spüren kann, ist eine Abtreibung gesetzlich bis zur zwölften Schwangerschaftswoche erlaubt und möglich. Meine Aufgabe war es also, eine Entscheidung für oder gegen das Kind zu treffen. Diese Fragestellung habe ich nicht selbst ausgewählt, sondern sie wurde mir von außen vorgegeben. »Das Thema benennt und formuliert die gemeinsame Sache, um derentwillen eine Gruppe von Menschen zusammenkommt« (Schneider-Landolf, 2009, S. 157). Hier brachte das Thema meinen Partner und mich zusammen. Obwohl es in erster Linie eine Entscheidung war, die ich allein treffen musste, war mein Freund doch ebenfalls wesentlich betroffen. Wir wurden plötzlich und ohne Vorwarnung an einen Wendepunkt unserer Leben gestellt und mussten uns für einen gemeinsamen Weg entscheiden. Unser Anliegen war es, eine Entscheidung zu treffen, mit der wir in Zukunft zufrieden leben könnten. Ausformuliert könnte das Thema lauten: »Du und Ich« oder »Wir drei«? – Segen und Fluch der Familie(nplanung) Jede*r von uns begibt sich auf seine eigene Weise in diese Fragestellung hinein. Der GLOBE bzw. die Rahmenbedingungen spielten in diesem Fall eine nicht unerhebliche Rolle. Da die Schwangerschaft erst in der achten Woche festgestellt wurde, blieb nicht viel Zeit für eine mögliche Abtreibung und somit für eine Entscheidungsfindung. So musste ich eine in jeder Hinsicht folgenschwere und wichtige Entscheidung unter Zeitdruck treffen. Da ich mich zunächst für eine Abtreibung entschieden hatte, jedoch eine Woche bis zum Eingriff vergehen sollte, blieben acht Tage mit der Möglichkeit der Entscheidungsänderung. Es waren vor allem Elemente des GLOBE, die mich zur vorläufigen Entscheidung für den Eingriff brachten. Eine wichtige Rolle spielte meine finanzielle Situation, die mir die Versorgung eines Kindes nicht ermöglichte. Ich wäre in dieser Hinsicht ganz auf meine Eltern angewiesen gewesen. Ein weiteres Argument war mein StuWendepunkt – Entscheidungen, die Leben verändern

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dium, das ich aussetzen, somit verlängern und unter erschwerten Bedingungen (weniger Lernzeit, wenig Flexibilität, dadurch erhöhter Stress) zu Ende hätte führen müssen. Außerdem wären mein Freund und ich in der Versorgung und Betreuung des Kindes durch unseren Studien- und Wohnort auf uns allein gestellt gewesen und hätten durch die Entfernung nicht mit körperlicher Unterstützung unserer Eltern rechnen können. Ein letztes Argument für den Eingriff war auch ein nötiger Umzug in eine gemeinsame Wohnung (wir lebten zu der Zeit noch nicht zusammen) und die damit verbundene Wohnungssuche, die bevorgestanden hätte. All diese Argumente betrafen meine Umwelt, stellten Rahmenbedingungen dar und waren teilweise kaum beeinflussbar, wie z. B. der Wohnort. Sie alle sprachen gegen die stressfreie und gute Entwicklung eines Kleinkindes. In diesem ersten Entscheidungsprozess bestand keine ausgewogene Balance zwischen den vier Faktoren der TZI. Nachdem anfänglich der GLOBE im Mittelpunkt stand, nahm in meinen weiteren Überlegungen das ICH den größten Raum ein. Die Entscheidung würde, egal wie sie ausfällt, ganz essenziell mein ICH betreffen und verändern. Im Falle der Abtreibung müsste ich den Rest meines Lebens mit einem schlechten Gewissen und eventuell sogar Schuldvorwürfen mir selbst gegenüber zurechtkommen. Außerdem birgt der Eingriff auch körperliche Risiken. Es besteht die, wenn auch geringe, Gefahr einer Komplikation mit der Folge einer Unfruchtbarkeit (im schlimmsten Fall). Aber auch wenn ich mich für das Kind entscheiden würde, würde sich mein Leben verändern. Die Rolle als Mutter birgt neben der Freude über das Kind und den schönen Momenten auch negative Aspekte. Unternehmungen mit Freund*innen finden seltener statt, das Studieren wird schwieriger und ist mit mehr Aufwand und Organisation verbunden. Flexibilität ist quasi nicht mehr vorhanden. Insgesamt würde sich auch die Verantwortung und mein Selbstbild verändern: Ich könnte nicht mehr nur mit Blick auf mich selbst leben, sondern müsste immer auch das Kind als eigene Persönlichkeit mitbedenken – in all meinem Handeln und meinen Entscheidungen. Auf den ersten Blick schloss das für mich das Leben meiner eigenen 54

Esther Freitag 

Chairperson aus, weil eine weitere Person ganz von mir abhängig wäre. Nach der Formulierung Ruth Cohns ist dies jedoch nicht der Fall: »Sei dein eigener Chairman, der Chairman deiner selbst. […] Das bedeutet: a) Sei dir deiner inneren Gegebenheiten und deiner Umwelt bewusst. b) Nimm jede Situation als Angebot für deine Entscheidungen. Nimm und gib, wie du es verantwortlich für dich selbst und andere willst.« (Cohn, 1997, S. 120 f.) Durch die Einbeziehung der Umwelt und anderer Personen kann ich auch als Mutter meine Chairperson leben, das Kind mit in meiner Verantwortung. Der Kreis würde sich also nur erweitern, meine Grenzen und meine Freiheit nicht verschwinden. So standen sich meine beiden Entscheidungsmöglichkeiten mit ihren jeweiligen Argumenten, Zweifeln und Ängsten gegenüber. Ich bin zwar frei in meinen Entscheidungen, aber ich trage Verantwortung. Beides hängt miteinander zusammen, Entscheidung und Verantwortung sind »zentrale Momente der Freiheit. […] Erst unsere bedingte und begrenzte Freiheit stellt uns in die Verantwortlichkeit für unser Tun und Lassen« (Lotz, 2009, S. 118). So habe ich einerseits die Freiheit, mich gegen das Kind zu entscheiden. Andererseits trage ich die Verantwortung für die eingetretene Schwangerschaft und für das Leben eines Menschen, das ganz von mir abhängt. »Verantwortung« geht auf den Begriff »antworten« zurück – ich antworte auf mein eigenes Tun. Ich trage die Verantwortung für das entstandene Leben und antworte darauf mit weiterer Verantwortung und der Pflege dieses Lebens. Neben der Verantwortung spielt auch die Ethik eine wichtige Rolle. Ruth Cohn sagte: »Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen und seinem Wachstum. Respekt vor dem Wachstum bedingt bewertende Entscheidung. Das Humane ist wertvoll; Inhumanes ist wertbedrohend« (Cohn, 1997, S. 120). Dieses zweite Axiom der TZI bestärkte mich in der Entscheidung für das Kind und erinnerte mich an meine Verantwortung. Die Entscheidung für eine Abtreibung beschreibt das zweite Axiom der TZI als inhuman und wertbedrohend. Durch diesen ethischen Aspekt Wendepunkt – Entscheidungen, die Leben verändern

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entsteht auch das oben genannte »schlechte Gewissen«, über ein Leben entschieden und es dem Kind verwehrt zu haben. Ich wäre in Zukunft bei jedem Anblick eines Kindes oder einer schwangeren Frau daran erinnert worden, wie es gewesen wäre, wenn ich mich anders entschieden hätte. Würde ich später dann ein Kind austragen, würde ich eventuell ständig daran denken, was für eine Persönlichkeit das Erste gewesen wäre. Wie ich mich auch entscheiden würde, es würde den Rest meines Lebens beeinflussen und nicht reversibel sein. Neben dem ICH spielt in dieser Frage auch das WIR eine große Rolle. Eine Familie bildet sich. Durch ein Kind ist man immer miteinander verbunden, auch wenn man irgendwann kein Paar mehr sein sollte. Ich treffe Entscheidungen in Zukunft nicht mehr nur für mich selbst, sondern immer auch im Hinblick auf das Kind und dessen Wohlergehen. Wo vorher nur ein WIR der Beziehung zwischen meinem Partner und mir bestand, werden viele neue unbekannte und unauflösbare WIR-Verbände entstehen: zwischen dem Kind und mir, zwischen dem Partner und mir, zwischen uns dreien, zwischen dem Vater und dem Kind. Jeder Verbund mit eigenen Qualitäten, Aufgaben und Themen. Die Balance zwischen den vier Faktoren müsste immer wieder neu hergestellt werden, das Dreieck wird in jedem Verbund anders gefüllt, da sich die Themen, Wünsche und Anforderungen jeweils ändern. Natürlich ist dies auch in anderen WIR-Verbänden im Freundeskreis oder dem Beruf der Fall, aber es gibt wesentliche Unterschiede zu der eigenen kleinen Familie. Hier spielt unsere oben genannte Verantwortung eine größere Rolle mit mehr Tragweite, da wir immer das Wohlergehen und die Entwicklung des Kindes in unseren Entscheidungen berücksichtigen wollen und müssen. Im Falle einer Abtreibung würde die Entscheidung in jedem Fall unsere Beziehung als Paar verändern. Es wäre möglich gewesen, dass wir beide so sehr mit unserem ICH beschäftigt gewesen wären, dass das WIR unwichtig oder sogar unmöglich erschienen wäre und die Entscheidung unsere Paarbeziehung zerstört hätte. Es hätte aber auch passieren können, dass unsere Beziehung eine essenzielle Ressource in der Verarbeitung der Abtreibung dargestellt und uns sogar enger zusammengebracht hätte. Beides wäre möglich gewesen. Die Vor56

Esther Freitag 

stellung, dass nach einer Abtreibung wieder alles so sein würde wie vorher, ist jedoch falsch. Es wäre auch in diesem Fall eine (gedankliche) Beziehung zwischen mir als Mutter und dem ungeborenen Kind entstanden, die mein zukünftiges Verhalten und die Beziehung zu meinem Partner mehr oder weniger beeinflusst hätte. Ob wir Eltern geworden oder uns für eine Abtreibung entschieden hätten – in beiden Fällen träte neben dem ICH auch eine Veränderung im WIR ein: wir als Paar, wir als Familie. Egal wie die Entscheidung ausfiele, kämen neue, unbekannte Erfahrungen und ein verändertes Leben auf uns zu. Neben der eigenen Verantwortung besteht auch eine Verantwortung im WIR, die es zu übernehmen gilt. Auch die Schwangerschaft resultierte aus unserem Handeln und Tun, nicht nur dem zweier Einzelpersonen. Sie kräftigt in jeder Hinsicht den WIR-Verbund. Auch im Falle einer Abtreibung verbände uns immer das ungeborene Kind. Ob das als positiv oder negativ zu bewerten ist, bleibt dahingestellt.

Warum habe ich mich so entschieden? Vom Tag der Entscheidung für die Abtreibung bis zum Tag vor dem Eingriff, als die Entscheidung dagegen ausfiel, bewegte sich das Pendel jeden Tag weiter in die Richtung einer Entscheidung für das Kind. Es war ein langer Weg von einem Pol zum anderen, viele Schritte waren nötig. Die Gründe für die Entscheidung für die Abtreibung waren hauptsächlich sachlicher Natur gewesen: die fehlenden Finanzierungsmöglichkeiten, die räumliche Entfernung zu unseren eigenen Eltern und die Verzögerung des Studiums. Hier lag das Gewicht auf dem GLOBE, die wichtigsten Argumente kamen aus diesem Bereich. Erst als ich mich selbst beobachtete und die Konsequenzen für mich abwog, traute ich mich, auch auf meine innere Stimme zu hören. Die Gewichtung verschob sich in Richtung ICH und WIR. Die Frage, wie es mir und uns mit dieser Entscheidung gehen würde, rückte in den Mittelpunkt. Nach und nach haben wir jeden der vier Faktoren betrachtet und gewürdigt. So suchten wir beispielsweise für die Argumente und Probleme, die den GLOBE betrafen, mögliche Lösungsstrategien. Erst dann konnten wir eine zufriedenstellende Wendepunkt – Entscheidungen, die Leben verändern

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Entscheidung treffen. In dem Moment, in dem sie fiel, stellte sich bei mir sofort ein Gefühl ein, das sagte: »Das ist die richtige Entscheidung.«

Wie handle ich in Entscheidungsfragen und wie hilft mir TZI dabei? Ich selbst tendiere dazu, den Fokus in Entscheidungsfragen auf nur einen der vier Faktoren zu legen. Je nach Situation stehen in der Entscheidungsfindung ganz meine Bedürfnisse, die meiner Gruppe oder gar keine Bedürfnisse, sondern nur Fakten und Sachverhalte im Mittelpunkt. Dies ist von Nachteil, weil ich nicht alles im Blickfeld habe und sich die Entscheidung im Nachhinein als nicht richtig oder nicht zufriedenstellend herausstellen kann. Sicherlich passiert das nicht immer, aber die Gefahr besteht. TZI kann mir helfen, mich in einer Entscheidungsfindung daran zu erinnern, alle vier Faktoren zu betrachten. Auch wenn es nicht immer möglich ist, eine ausgewogene Balance zu halten, und eventuell trotzdem ein Faktor im Mittelpunkt steht, ist es doch wichtig, die anderen anzusehen und mit zu bedenken.

Resümee Von Anfang an stand fest, dass die Entscheidung für oder gegen mein Kind, egal wie sie ausfiele, mein Leben verändern würde. Damit ist sie ein gutes Beispiel für einen Wendepunkt im Leben. In welche Richtung die Wende ausfallen würde, stand ganz unter meinem Einfluss. Erst als alle vier Faktoren Berücksichtigung gefunden hatten und ich mir meiner Freiheit, aber auch meiner Verantwortung im Tun und Handeln bewusst geworden war, konnte ich eine zufriedenstellende und »gut überdachte« Entscheidung treffen. Mit »gut überdacht« sind also Überlegungen gemeint, die alle vier Faktoren, das ICH, das WIR, das ES und den GLOBE, betrachten und berücksichtigen. Obwohl eine ausgewogene Balance nicht immer möglich ist, sollten doch alle Teile wahrgenommen und gewürdigt und erst danach eine Entscheidung gefällt werden. Wichtig ist außerdem, sich seiner Freiheit, aber auch der Verantwortung für das eigene Tun 58

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und Handeln bewusst zu sein. Als meine eigene Chairperson bin ich frei in meinen Entscheidungen, aber trage auch Verantwortung. Denn meine Entscheidungen beeinflussen und betreffen immer auch meine Umwelt und die Menschen in ihr. Wie es der Titel dieser Arbeit beschreibt, veränderte meine Entscheidung viele Leben, über eines entschied sie sogar. Ich weiß, dass ich eine »richtige« Entscheidung getroffen habe. Die ungünstigen Bedingungen im GLOBE konnten wir durch sehr gute Bedingungen und Ressourcen in den anderen Bereichen auffangen und ausgleichen. Die Straße nach dem Wendepunkt ist zwar eine ganz andere als die davor – sie ist jedoch sehr gut begehbar.

Literatur Cohn, R. C. (1997). Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion (13. erw. Aufl.). Stuttgart. Lotz, W. (2009). »Ich«. In M. Schneider-Landolf, J. Spielmann, W. Zitterbarth (Hrsg.), Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI) (S. 115–119). Göttingen. Schneider-Landolf, M. (2009). »Thema«. In M. Schneider-Landolf, J. Spielmann, W. Zitterbarth, Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI) (S. 157–163). Göttingen. Vogel, P. (2009). »2. Axiom: ethisches Axiom«. In M. Schneider-Landolf, J. Spielmann, W. Zitterbarth, Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI) (S. 86–89). Göttingen.

Wendepunkt – Entscheidungen, die Leben verändern

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MANUEL HALSEBAND  »Man muss auch zwischen den Zeilen lesen.« Gestaltung des Kontraktes mit Modellen der TZI

»Man muss auch zwischen den Zeilen lesen.«

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Übersicht Das Lesen zwischen den Zeilen ist eine zentrale Aufgabe bei der Gestaltung der Kontraktphase in Beratungsprozessen. In dieser Phase findet eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Anliegen der Kund*innen statt. Zudem werden Umgang und Auftrag der Beratung erarbeitet. Wird der Unterschied zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten von Berater*innen nicht schon frühzeitig berücksichtigt, wird sich dieser mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem späteren Zeitpunkt seinen Raum nehmen. In diesem Beitrag soll die Kontraktphase eines Beratungsprozesses erarbeitet und erläutert werden. Bei dem Beratungsauftrag handelt es sich um eine Teamentwicklung zur Strategiefindung in einer kleinen Werbeagentur. Als Grundlage dient das Modell der Themenzentrierten Teamentwicklung, das von Arnulf Greimel entwickelt wurde (Greimel, 2003). Es werden Fragen und Modelle zur Gestaltung von Erstkontakten und zur Kontraktgestaltung dargestellt sowie am vorliegenden Beispiel konkretisiert.

Themenzentrierte Teamentwicklung Im Modell der »Themenzentrierten Teamentwicklung« (TTE) wird das klassische TZI-Strukturmodell erweitert und weiter ausdifferenziert. Das WIR wird in strukturelle und kulturelle Komponenten aufgeteilt. Damit ist es möglich, organisationale Rahmenbedingungen und informelle Beziehungen getrennt voneinander zu betrachten. Im ursprünglichen Strukturmodell würden die strukturellen Rahmenbedingungen als GLOBE wirksam werden. Für die Betrachtung von Teams, die ja immer in strukturelle Rahmenbedingungen eingebunden sind, erscheint diese Differenzierung sinnvoll, da sie permanent wirksam sind (vgl. Greimel, 2003, S. 56). Greimel schlägt als weitere Ergänzung die Orientierung innerhalb der Zeit vor. Teams als Gruppen, die lange bestehen, blicken auf eine gemeinsame Vergangenheit sowie auf eine gemeinsam zu gestaltende Zukunft (s. Abb. 1). Teamarbeit wird im Rahmen der TTE als umfassender, nachhaltiger, werteorientierter, ganzheitlicher und interdependenter Prozess verstanden: 62

Manuel Halseband 

ES – die Aufgabe, die Themen und Ziele

die Zukunft, die Vision

GLOBE – das Umfeld

WIR –Struktur, ­Organi­sation, Abläufe, Arbeitsmittel … ICH – die Person

WIR – Kultur, Klima, Kooperation, Spiel­ regeln …

die Vergangenheit, die Geschichte

Abb. 1: Teampyramide nach Greimel, 2003, S. 57

»Als Entwicklung und Bearbeitung einer Aufgabe bzw. als aktive und engagierte Orientierung an einem oder mehreren Aufgaben (ES), zu der sich die Menschen zusammenfinden; gleichzeitig als Entwicklung und Gestaltung ihrer Beziehungen, ihrer Kontakte, Kommunikationsformen, ihrer Kultur genauso wie dem Formen und Verändern ihrer Strukturen, Abläufe und Werkzeuge (WIR); für jedes Mitglied ist das Team Motivation, Entwicklungsraum und Chance zu Selbstverwirklichung (ICH): Menschen entwickeln sich miteinander an Aufgaben; sie orientieren sich gemeinsam am organisationalen, ökonomischen und politisch-sozialen Umfeld des Teams, das dessen Handeln und das Handeln jedes einzelnen beeinflusst, und auf das vice versa das Team mit seiner Arbeit bewusst einwirken möchte und kann (GLOBE).« (Greimel, 2003, S. 57 f.) Das Modell der TTE beschreibt eine ganzheitliche Perspektive auf Teamarbeit, die versucht, vielen Aspekten gerecht zu werden. Im Rahmen einer Prozessreflexion wird es zum Reflexionsinstrument, mit dem sich Fragen zu den einzelnen Schwerpunkten stellen las»Man muss auch zwischen den Zeilen lesen.«

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sen. Greimel führt dabei unter anderem einige Leitfragen mit WlRES-Schwerpunkt aus: »Wo kommen wir her? Was hat uns geprägt und beeinflusst? Welche Erfahrungen haben wir gemacht? Welche Schwierigkeiten haben wir erkannt, welche überwunden? Welche Wirkungen erzielt?« (Greimel, 2003, S. 64)

Vorbereitung der Kontraktphase in der Teamentwicklung Meine Vorbereitungen auf das (erste) formale Erstgespräch bestanden darin, dass ich mir grundsätzliche Fragen zum typischem Klärungsbedarf in Teams notiert habe. Gellert und Nowak verstehen darunter: ▶ Rollenklärung, ▶ Zieldefinition, ▶ Feedbackprozesse, ▶ Fragen der Ablauforganisation, ▶ Entscheidungsabläufe, ▶ Schnittstellenabläufe, ▶ Schnittstellendefinition und ▶ den Umgang mit Hierarchien (vgl. Gellert u. Nowak, 2007, S. 146). Ein weiterer Baustein meiner Vorbereitung waren Kontraktfragen, die ich auf Grundlage von Gellert und Nowak (2007, S. 162 f.) erarbeitet hatte. Sie lauteten: ▶ Welche Problemdefinition gibt es? ▶ Wer definiert wann, wie und wem gegenüber welches Problem? ▶ Kennen die Teammitglieder die Meinung des Team-/Projektleiters dazu? ▶ Welche Versuche wurden bisher unternommen? (Evtl. Beratungen?) ▶ Wer muss über den Auftrag noch informiert werden (Einbindung des Teams)? ▶ Welche Rolle spielt das Team in der Gesamtorganisation? ▶ Was sind die relevanten Kontexte? 64

Manuel Halseband 

Darüber hinaus verschaffte ich mir Klarheit über mein Angebot, also darüber, was ich dem Team und dem Projektleiter bieten kann. Dazu gehören für mich: ▶ Prozessbeobachtung, ▶ Angehen von Konflikten, ▶ Feedback an das Team, ▶ Ziele finden und benennen, ▶ Erarbeiten der bestehenden Spielregeln und gemeinsamer Spielregeln, ▶ Methoden und Modelle zur Reflexion/Verbesserung der Zusam­ menarbeit, ▶ Verständnishilfe über Gruppenphänomene.

TZI im Prozess der Kontraktphase der Teamentwicklung Auf Basis des Strukturmodells lässt sich die Kontraktphase differenziert beschreiben. Nach Greimel stehen dabei folgende Fragen im Vordergrund (s. Abb. 2). Sache/Thema

Die Situation/das Anliegen Worum geht es dabei? Was hat zu dieser Situation geführt? Was wurde schon unternommen und mit welchem Erfolg?

Umfeld Welche wichti­ gen Einflüsse wirken – fördernd? – behindernd?

Wie hängt das zusammen?

Worum geht es im Kern? WIR

ICH Der*die Klient*in/Coacheé als Person: Wie erlebt er*sie die Situation? Welche Bedürfnisse, Motive, Wünsche und Befürchtungen verbindet er*sie mit dem Anliegen/der Situation?

Der soziale Kontext, Beziehungen/ Team: Was läuft zwischen den Beteiligten ab? Welche wichtigen Beziehungen sind im Spiel? Welche Konflikte sind erkennbar?

Abb. 2: TZI in der Erstgesprächsdiagnose nach Greimel, o. J. »Man muss auch zwischen den Zeilen lesen.«

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Erstkontakt Die im Folgenden dargestellten Informationen beziehen sich auf die (Vor-)Klärungen zu einem Beratungsauftrag zur Teamentwicklung in einer Werbeagentur. Der Erstkontakt zu diesem Auftrag kam informell zustande. Den zuständigen Projektleiter habe ich auf einer Einweihungsparty der neuen Büroräume einer anderen Werbeagentur kennengelernt. Als wir ins Gespräch kamen, fragte er mich, was ich beruflich tun würde. Nachdem ich ihm von meiner Arbeit als Trainer und Berater erzählt hatte, unterhielten wir uns über generelle Fragen der Führung und über Zusammenhänge von Teamentwicklung und Innovationsprozessen. Schließlich verabredeten wir, dass wir uns zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal treffen würden, um über eine mögliche Zusammenarbeit zu sprechen. Erstgespräch Das Erstgespräch mit dem Projektleiter, der auch den Auftrag erteilt hatte, fand ca. zwei Wochen nach dem informellen Erstkontakt statt. Aus diesem Gespräch stammten zwei zentrale Informationsgehalte: einerseits die beteiligten Personen und andererseits die Problem-/Situationsbeschreibung durch den Projektleiter und eine Mitarbeiterin (Mediendesignerin). Die Personen, die in dieser Agentur arbeiten:

▶ Geschäftsführer1: Der Geschäftsführer ist gleichzeitig der Ge­schäfts­ führer der lokalen Tageszeitung. Dieser sei mit dem Projektleiter über betriebswirtschaftliche Kennzahlen im Austausch. In die operativen Entscheidungen des Tagesgeschäfts ist er nicht eingebunden. ▶ Projektleiter: Der Projektleiter ist derjenige, der sich um das operative Geschäft der Agentur kümmert und in Absprache mit dem Geschäftsführer Entscheidungen trifft, die über das Tagesgeschäft hinausgehen (z. B. die hier beschriebene Teamentwicklung). Er berät Kund*innen und nimmt auch gestalterische Aufgaben wahr. 1 Im Zuge dieses Auftrages gab es keinen Kontakt zum Geschäftsführer. Die spätere Beauftragung sowie die Ausrichtung der Teamentwicklung wurden ausschließlich mit dem Projektleiter vereinbart.

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Manuel Halseband 

▶ Mediendesignerin: Die Mediendesignerin setzt gestalterische Aufträge um und berät Kund*innen in Marketingfragen. Sie hat eigene Kund*innen und wickelt selbstständig Projekte ab. ▶ Freie Grafikerin: Auch die freie Grafikerin bearbeitet eigene Kundenaufträge und kooperiert mit dem Projektleiter und der Mediendesignerin in Fragen der grafischen Gestaltung. ▶ Buchhalterin: Die Buchhalterin kümmert sich um die Buchhaltung und arbeitet in Teilzeit (50 %) in der Agentur. Situations- und Problembeschreibung sowie Zielsetzung des Auftraggebers:

Im Gespräch sind mehrere Themen immer wieder aufgetaucht. Dabei ging es dem Projektleiter einerseits darum, sich die Arbeitsabläufe und die damit verbundenen Prioritäten anzusehen. Andererseits waren Kund*innenstimmen und der Umgang mit Kund*innen ein Thema. Dabei wurde von Seiten des Projektleiters die Verbindlichkeit der Kund*innen im Umgang mit der Agentur moniert. So hielten sich diese häufig nicht an getroffene Absprachen, was die Arbeit erschwere. Die Aufträge hingegen sollten, so wirkten manche Kund*innen, »am besten schon vorgestern fertig sein«. Je nach Bedeutung des Kund*innen für die Agentur verschieben sich in solchen Fällen die Prioritäten. In diesem Zusammenhang äußerte der Projektleiter die Idee, sofern die Arbeitslast zu hoch sei, auch Aufträge zurückzugeben. Dies sollte allerdings nicht in zeitlicher Reihenfolge der Erteilung der Aufträge geschehen, sondern es sollte Klarheit darüber herrschen, welche Kund*innen als »Kernkund*innen« bezeichnet werden könnten und dadurch eine weitere Zusammenarbeit erstrebenswert machen würden. Ein weiteres wichtiges Thema im Team sei die hohe Arbeitsbelastung. Der Projektleiter beschrieb, dass es aus seiner Sicht schön wäre, wenn sie nicht immer nur reagieren, sondern sich auch als agierend wahrnehmen könnten. Als darüber hinaus wünschenswert erachtete der Projektleiter das Feiern von Erfolgen, um somit abgeschlossene Projekte und die eigene Arbeit intern zu würdigen. Als Zielsetzung für den Teamentwicklungsprozess erwarte er eine Bestandsaufnahme der internen Zuständigkeiten sowie die Klärung »Man muss auch zwischen den Zeilen lesen.«

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und Explizierung der Kriterien für die Priorisierung von Kund*innen. Nicht zuletzt sollten auch die geleistete Arbeit und die Erfolge gemeinsam gewürdigt werden. Der Geschäftsführer sollte über den gesamten Prozess informiert werden. Hypothesenbildung und Angebotserstellung

Als Ergebnis aus dem Erstgespräch entstand für mich der Eindruck, dass der Dreh- und Angelpunkt der genannten Themen in der hohen Auslastung des Personals verortet war. Diese Auslastung führte von Zeit zu Zeit zu Überlastungen. Geeignete Ansatzpunkte, um die bestehenden Überlastungen wieder in angemessene Auslastungen und zufriedenstellende Bearbeitungen der Aufträge zu überführen, stellten für mich die Arbeitsabläufe, die Prioritätensetzung und das »Nein«-Sagen dar. Ein weiterer Fokus zielte auf die sozialen Strukturen der Agentur ab. Dabei mussten die internen Beziehungen in den Blick genommen werden. Relevante Fragen für die mitarbeitenden Personen waren: Wie ist unser Betriebsklima? Wie feiern wir unsere Erfolge? Gibt es Rituale? Neben den direkt geäußerten Informationen aus dem Gespräch beeinflussten noch zwei weitere Eindrücke meine Hypothesen. Erstens erschien mir die Frage der Agenturleitung unklar zu sein. Der Projektleiter hat sich mit der Betonung auf die flachen Hierarchien in der Agentur nicht als Leiter oder Entscheider ansprechen lassen. Vielmehr schien er eine »Näheperson« (frei nach Riemann) zu sein. Mit Leitung und Hierarchie verband er keine Chance, für Klarheit und Orientierung zu sorgen, sondern er deutete sie eher als Distanzmedien. Gleichzeitig war diese Rollenunklarheit bereits in der Organisationsstruktur angelegt. Nach meinem damaligen Wissensstand kam ich zu der Einschätzung, dass unklar blieb, ob der Geschäftsführer oder der Projektleiter letztendlich die operativen und strategischen Entscheidungen trafen. Entschied der Geschäftsführer, weil es dem klassischen Aufgabenfeld dieser Rolle entspricht? Oder war der Projektleiter dafür verantwortlich, weil er die Branchenkenntnis hatte und das Alltagsgeschäft genauestens kannte? 68

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Und noch ein weiterer Umstand prägte meinen Eindruck. In meinem Bekanntenkreis gab es eine Person, die bereits als Kunde mit der Agentur zu tun hatte. Diese Person berichtete mir, dass sie einer Projektgruppe der Agentur einen Auftrag erteilte und diesen dann später wieder entzogen habe. Er äußerte die Kritik, dass der nach ca. zwei Wochen gelieferte Vorschlag auf ihn eher lustlos ausgearbeitet wirkte. Zudem hatte er erwartet, zwei bis drei Vorschläge zu erhalten. Schließlich wurde der Auftrag einer anderen Agentur erteilt. Dieser Bericht aus Kundenperspektive war sicherlich nicht zu generalisieren, dennoch fiel es leicht, diesen Mangel mit der hohen Arbeitslast zu begründen. Bezüglich eines verdeckten Auftrags2 sah ich die größte Gefahr darin, dass unklare Leitungsstrukturen bestehen bleiben würden und ich mich als Berater in diese Unklarheit einreihte. Für das formulierte Anliegen war nicht klar, ob die anwesenden Personen ohne den Geschäftsführer die Kriterien für die Priorisierung von Kund*innen explizieren oder beschreiben konnten. Somit war es wichtig, im Vorfeld die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zu klären. Auf diese Weise ließe es sich vermeiden – so meine Hoffnung –, dass ich als Berater die Lücke unklarer Leitungsstrukturen füllte. Als weiteren verdeckten und zudem nicht realistischen Auftrag nahm ich an, dass die Erwartung im Raum stand, dass sich durch die Teamentwicklung auch das Verhalten der Kund*innen der Agentur unmittelbar ändern würde. Je nach Deutung konnte man die Kund*innen als die Arbeit von außen beeinflussenden Faktor (GLOBE) oder als Teil des WIRs in einem anderen Projekt sehen. Für das gewählte Format einer Teamentwicklung waren sie jedoch nicht direkt adressierbar. Neben diesen nichterbringbaren Aufträgen hätten allerdings auch Kund*innenkommunikation, Auftragsgestaltung und dergleichen in dem Workshop bzw. an anderer Stelle thematisiert und bearbeitet werden können.

2 Ein verdeckter Auftrag wird hier als ein nicht explizit geäußerter Auftrag, der sich hinter dem formulierten Anliegen verbirgt, verstanden. »Man muss auch zwischen den Zeilen lesen.«

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Situationsbeschreibung und Zielsetzung im Modell der Themenzentrierten Teamentwicklung Betrachtung des bisherigen Informationsstandes und der Zielsetzung vor dem Hintergrund des Modells der Themenzentrierten Teamentwicklung

Was im Erstgespräch deutlich benannt wurde, war die Auseinandersetzung mit der Vision des Teams und mit den internen Prozessen, Strukturen und Abläufen. Ebenso waren Umfeldbedingungen, wie beispielsweise der Umgang mit und die Auswahl von Kund*innen, benannt. Das Thema bzw. die Aufgabe im Sinne der TZI, mit der sich das Team auseinandergesetzt hatte, war in der Vorbesprechung nicht explizit benannt worden, bedurfte allerdings im Rahmen der Strategieentwicklung besonderer Beachtung. Das Feiern von Erfolgen und der Umgang mit Kund*innen konnten als Teil der gelebten Kultur gesehen werden, die der Projektleiter gern anders gestaltet hätte. Ordnet man diese Informationen dem Modell der Themenzentrierten Teamentwicklung zu, werden die ­Situationsbeschreibung und die Leerstellen offensichtlich (s. Abb. 3).

ES – die Aufgabe, die Themen und Ziele Die Stimme der Kund*innen, die Wettbewerbs­ bedingungen

die Zukunft, die Vision

WIR –Struktur: ICH – die Person: Überlastung, mehr reagieren statt agieren die Vergangenheit, die Geschichte

Prioritätensetzung, Leitungsstrukturen WIR – Kultur: Erfolge (nicht) feiern, Umgang mit den Kund*innen

Abb. 3: Anwendung des TTE-Modells auf den Praxisfall der Agentur

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Was offen blieb, waren das Thema, die Zielsetzung und die Vision. Welchen Einfluss hatten die Leitungsstrukturen auf die Vision des Teams oder die Möglichkeit, überhaupt eine Vision zu formulieren? Welchen Einfluss hatte der Geschäftsführer in dieser Frage? Und wie wäre die Problembeschreibung aus Perspektive der Mitarbeiterinnen oder des Geschäftsführers ausgefallen? An diesen Punkten schien es (noch) kein gemeinsames Bild zu geben. Teil der Beratungsarbeit sollte es daher sein, diesen unklaren und nicht beschriebenen Faktoren und Wechselwirkungen im Sinne der dynamischen Balance Raum zu geben. Vorgehen – die nächsten Schritte Da der formelle Auftrag zur Durchführung einer Teamentwicklung mit gemeinsamer Strategieentwicklung erteilt wurde, bestanden die nächsten Schritte in der Konkretisierung der Inhalte, Schwerpunkte und Arbeitsweisen innerhalb des formalen Auftrags. Auf organisatorischer Ebene bedeute dies, dass konkrete Termine gefunden und die Räumlichkeiten, in denen der Prozess stattfinden sollte, organisiert werden mussten. Eine Frage, die sich inhaltlich wie organisatorisch stellte, war die Frage nach den Teilnehmenden – sprich dem strukturellen WIR. Wer sollte interviewt werden und wer am eintägigen Workshop teilnehmen? Zudem mussten die oben genannten Zuständigkeiten in der Dreiecksvertragssituation (Geschäftsführer, Projektleiter und Trainer) geklärt werden (WIR – Struktur, WIR – Kultur, Auftrags-ES). Der nächste Schritt bestand darin, die einzelnen Interviews zu führen. Dabei wurden die bereits genannten Themen wie Zuständigkeiten, Prioritäten und Zukunftsbilder berücksichtigt. Aber auch die bereits geäußerten Hypothesen sollten in diesem Rahmen einbezogen, belegt oder widerlegt werden. Auf Grundlage dieser lnterviewergebnisse wurde dann ein eintägiger Workshop entwickelt, dessen Ziel die Klarheit über ein gemeinsames Zukunftsbild und die Abläufe in der Agentur darstellten (Arbeits-ES innerhalb der Maßnahmen in Abgrenzung zum Auftrags-ES).

»Man muss auch zwischen den Zeilen lesen.«

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Fazit Die Modelle der Themenzentrierten Teamentwicklung und das Modell zu den Fragen im Erstkontakt nach Nowak und Gellert veranschaulichen, welche Anhaltspunkte in der Kontraktphase berücksichtigt werden müssen. So gesehen, stellen sie eine Hilfestellung dar, um das Lesen zwischen den Zeilen – sprich das Finden und Generieren von Themen im Gegensatz zum Setzen des ES – zu erleichtern. In der Selbstbeschreibung der Klient*innen werden meist nicht alle diese Aspekte angesprochen. Mit geeigneten Modellen im Hintergrund fällt es allerdings leichter, Leerstellen zu erfragen oder zu benennen. Auch kann so bereits im Rahmen der Kontraktphase eine Sensibilisierung für blinde Flecken und damit bereits lebendiges Lernen ermöglicht werden. Für die Angebotsentwicklung ergibt sich infolgedessen, dass Themen, die zwischen den Zeilen stehen, explizit erarbeitet und mit in das Angebot aufgenommen und bei einer Angebotserteilung ergänzend berücksichtigt werden sollten.

Literatur Gellert, M., Nowak, C. (2007). Teamarbeit – Teamentwicklung – Teamberatung. Ein Praxisbuch für die Arbeit in und mit Teams (3. Aufl.). Meeszen. Greimel, A. (2003). Themenzentrierte Teamentwicklung. Themenzentrierte Interaktion, 17 (2), 54–66. Greimel, A. (o. J.): Erstgespräch für Berater. Das TZI-Dreieck als Orientierung und Landkarte (unveröffentlicht).

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Manuel Halseband 

JAN-HENDRIK HERBST  Lebendiges Lernen ist Biografieförderung. Die politische Dimension der TZI entfaltet an immanenter Kritik des Bildungsverständnisses vom Cusanuswerk

Vorbemerkung »Der Mensch ist weder allmächtig noch ohnmächtig, er ist teil-mächtig.« (Cohn u. Farau, 2001, S. 379)

Macht fasziniert mich, das Thema Macht übt Macht auf mich aus. Damit meine ich die sachliche Analyse von Machtstrukturen in sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Und ich meine mein Verhältnis zur Macht, wer oder was auf mich Macht ausübt und auf wen oder was ich Macht ausübe. Ganz stark hat Macht bei mir auch mit der Frage nach möglicher Veränderung, nach Selbstwirksamkeit und meinem impact zu tun, also dem, was für mich in dem vorangestellten Zitat von Ruth Cohn zum Ausdruck kommt. TZI ist aus meiner Sicht stark mit einem humanistischen Impetus verbunden, der in einem anderen Zitat von Cohn (2009, S. 109) ausgedrückt wird: »Zu wissen, dass jeder Mensch zählt, ob schwarz, weiß, rot, gelb oder braun. Die Erde zählt. Das Universum zählt. Mein Leid zählt, Dein Leid zählt. Wenn du Dich nicht um mein Leid scherst und mir Dein Kummer gleichgültig ist, so werden wir beide von Hunger, Massenmord, Krankheit ausgelöscht werden.« Dieses Zitat ist für mich Ausdruck einer utopischen Hoffnung, die kontrafaktisch und idealistisch-realistisch ist. Diese Hoffnung spricht mich sehr an, in ihr wird die Vision einer Welt ausgedrückt, in der ich leben und für die ich kämpfen möchte. Doch wenn ich unsere reale Welt ansehe, dann ist sie nicht so. Wenn ich sehe, wie wir mit Geflüchteten umgehen, denke ich, dass diese Vision eine nicht zu realisierende Utopie ist. Und dennoch ist sie höchst realistisch, weil ich auch glaube, dass unsere Menschheit nicht überlebt, wenn wir uns vom Leiden der anderen nicht berühren lassen und bürgerliche Kälte als Haltung pflegen. Wenn ich mich frage, wie ich einen Beitrag dazu leisten kann, diese Vision zu verwirklichen, stoße ich oft an meine Grenzen: Manchmal glaube ich, dass ich nichts verändern kann, manchmal auch, dass ich sehr viel verändern kann. Meine Teilmächtigkeit zu leben und zu akzeptieren, fällt mir nicht leicht. Den76

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noch habe ich ein Feld gefunden, in das ich meine Zeit investiere und auf dem ich hoffe, einen Beitrag zu einer humaneren Gesellschaft leisten zu können: das Feld der Gestaltung von Bildungsprozessen, für das meine TZI-Grundausbildung sowie meine universitäre Ausbildung als Lehrer eine wichtige Rolle spielen. Die Frage, die sich mir dabei so eindrücklich stellt, dass sie mich bereits sehr lange begleitet, ist negativ formuliert: Wie kann Bildung so gestaltet werden, dass »Auschwitz nicht noch einmal sei« (Adorno, 1971, S. 92). Diese Frage war meiner Wahrnehmung nach auch für Ruth Cohn von zentraler Bedeutung, zumindest prägt das meine Lesart und mein Verständnis der TZI als ein höchst politisches und politisierendes Bildungskonzept. Dass Bildung die Welt verändern kann, zeigt mir gerade die TZI, die mich und meine Wahrnehmung von der Welt verändert hat. Paulo Freire bringt diese Hoffnung auf den Punkt: Bildung verändert nicht die Gesellschaft. Bildung verändert Menschen. Menschen verändern die Gesellschaft (vgl. z. B. Schreiner, Mette, Oesselmann u. Klinkbur, 2008). Diese doch sehr allgemeinen Gedanken bilden das Vorzeichen, unter dem ich im Folgenden das Projekt reflektieren möchte, das ich mit der Methodik der TZI geplant und durchgeführt habe.

Rahmen: Die Konkretisierung der Frage, wie ich soziale Strukturen mitgestalten kann, am Beispiel des Cusanuswerks »Niemand erzieht niemanden, niemand erzieht sich selbst, ­Menschen erziehen sich gemeinsam in der Veränderung der Welt.« (Freire, 2005, S. 69, eigene Übersetzung)1

Wie erläutert, beschäftigt mich die Frage, was ich dazu beitragen kann, der Vision einer humaneren Welt näher zu kommen und in diesem Sinne die sozialen Strukturen mitzugestalten. Dabei möchte ich diese Aspekte besonders an den Orten, an denen ich mich bereits befinde, beachten und meine Veränderungsimpulse 1 Im Original lautet der Satz: »Nadie educa a nadie – nadie se educa a sí mismo –, los hombres se educan entre sí con la mediación del mundo.« Lebendiges Lernen ist Biografieförderung

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dort einbringen. Einer dieser Orte ist das Cusanuswerk, das katholische Studienförderwerk, über das ich mir hauptsächlich mein Studium finanziert habe. Mein Verhältnis zum Cusanuswerk war von vornherein ambivalent, weil ich zum einen dem Konzept der Begabt*innenförderung skeptisch gegenüberstand und stehe und zum anderen dankbar für die finanzielle und ideelle Unterstützung war und bin. Die ideelle Unterstützung kann man als Bildungsauftrag des Cusanuswerks bezeichnen, deren Kernbestandteil neben einem weitreichenden geistlichen Programm sogenannte Ferienakademien sind, in denen zwei Wochen lang zu einem gesellschaftlich relevanten Thema wie Flucht und Migration gearbeitet wird. Diese sind, wie der Name bereits sagt, akademisch ausgerichtet und orientieren sich an einem Leitbegriff, den die ehemalige Generalsekretärin der Einrichtung, Anette Schavan, eingeführt hat: Biografieförderung. Dieser Begriff wird inflationär häufig im Cusanuswerk verwendet und gleichzeitig gilt, dass eigentlich niemand so genau weiß, was damit gemeint ist. Im Verlauf meiner Förderzeit ist mir bewusst geworden, dass Ferienakademien ein unglaubliches Potenzial bieten, das aber aufgrund eines eindimensionalen Bildungsverständnisses nicht genutzt wird: Die Themen werden nur auf kognitiver Ebene und mit einer starken ES-Fokussierung bearbeitet, so wie ich es auch aus vielen Universitätsseminaren gewohnt war. Gleichzeitig – und das war überhaupt die Voraussetzung dafür, dass dieses Thema für mich an Bedeutung gewann – habe ich in diversen anderen Kontexten wie der TZI-Grundausbildung oder ähnlichen Lernsituationen andere Erfahrungen gemacht, mit denen ich mein Erleben auf Ferienakademien kontrastieren konnte. Nach und nach und im Austausch mit einer Freundin aus dem Cusanuswerk kristallisierte sich für mich heraus, dass ich das Verständnis von Bildung im Cusanuswerk und seine praktische Realisierung auf Ferienakademien verändern möchte. Dabei hat sich dieses Thema immer mehr zu meinem Schwerpunktthema im Verhältnis zum Cusanuswerk entwickelt, da ich mit dessen Hilfe meine ambivalente Beziehung vermitteln konnte: Auf der einen Seite hatte ich die Möglichkeit, mich im Cusanuswerk zu engagieren, was aus einer bestimmten Art der Dankbarkeit in Form der Gegenleistung resultierte. Auf der anderen Seite konnte ich auch mein kritisches Verhältnis thematisieren, 78

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da meiner Debatte immer die Frage zugrunde lag, unter welchen Umständen Begabten- und Elitenförderung legitim sind. In dieser Ambivalenz fällt meine Position wie folgt aus: Die Förderung von Begabten bzw. Eliten ist nur dann legitim, wenn sie diese dazu bringen, kritisch über sich und die Welt nachzudenken – immer unter der Prämisse, sich am Ende selbst abzuschaffen. Auch wenn ich nicht weiß, ob ich zu viel Hoffnungen und Zuversicht in Bildungsprozesse habe, sah und sehe ich in diesen die Chance, meine Ziele umzusetzen. Dabei war es meine Intuition, dass sich der Begriff »Biografieförderung« und die Form der Fachschaftstagung dazu eignen, ein umfassenderes Bildungsverständnis im Cusanuswerk zu implementieren.

Konkreter Anlass: Die Fachschaftstagung Pädagogik »Biografieförderung – Eine bildungstheoretische Annäherung an cusanische Ferienakademien« Die oben genannte Fachschaftstagung stellte für meine Mitstreiter*innen und mich einen wichtigen Schritt in einem größeren Dialogprozess dar.2 Dabei war ein Zitat aus einem Text von Hannah Arendt, den wir in einem der TZI-Ausbildungskurse gelesen hatten, für mich leitend geworden: »Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln« (2000, S. 45). Bisher habe ich dargelegt, wie ich in Bezug auf das Cusanuswerk mit anderen versucht habe, im Einvernehmen zu handeln, um strukturelle Veränderungen zu bewirken – und somit politisch tätig zu sein. Besonders wichtig für mich war dabei der Austauscht mit Lea Hufnagel. Wir hatten beide eine Funktion im Cusanuswerk im Rahmen der sogenannten Geistlichen Kommission übernommen. Im Rahmen dieser Tätigkeit begannen wir, Ideen zu sammeln und zu überlegen, was unsere Anliegen für diese Tätigkeit 2 Das Organisationsteam bestand aus Clara Debour, Lea Hufnagel, Christoph Kruse, Manuela Soller und mir. Eine ausführliche Darstellung und Reflexion der Tagung und des damit verbundenen Dialogprozesses findet sich in Debour, 2020. Lebendiges Lernen ist Biografieförderung

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sind. Allerdings bestand die Schwierigkeit im Anfangsstadium darin, dass wir zumeist nur einen kurzfristigen Austausch mit anderen Personen gesucht haben, immer mit dem klaren Ziel, unser Gegenüber von unserem Anliegen zu überzeugen: Wir haben das Thema beispielsweise auf einer Cusanerkonferenz vorgetragen, den festangestellten Referent*innen des Cusanuswerks ein Argumentationspapier zukommen lassen und auf den Ferienakademien, auf denen wir anwesend waren, ein Forum zur Thematik angeboten. Dieses Vorgehen ist schnell an Grenzen gestoßen, da es uns nicht gelang, viele Menschen von unserer Position zu überzeugen und uns mit ihnen zusammenzuschließen. Grundsätzlich geändert haben sich unser Vorgehen und der Prozess erst, als wir mit der Planung und Organisation der Fachschaftstagung begannen. Die Idee der Tagung hatten Lea und ich noch allein entwickelt – wir dachten, ähnlich wie der Begriff Biografieförderung eine inhaltliche Form immanenter Kritik zuließe, ermöglichen Fachschaftstagungen eine formale Form immanenter Kritik und die Chance, langfristig mit vielen Menschen zu diesem Thema in den Austausch zu kommen. Mit immanenter Kritik ist gemeint, aus den Begriffen, Diskursformationen und Organisationsformen des Cusanuswerks selbst Kritik zu entwickeln und somit die bisher gültige Struktur zu überschreiten. Zuvor waren wir zumeist auf Unverständnis und Skepsis gegenüber unseres Vorhabens gestoßen und daher stand für uns fest: Wenn sich nun zeigen sollte, dass sich niemand für dieses Thema interessiert und begeistert, schließen wir damit ab. Planungsphase Vor dieser Aufgabe wollten wir jedoch noch einmal unsere ganze Energie mobilisieren. Durch glückliche Umstände fand sich zur Vorbereitung der Tagung ein Team von fünf Menschen zusammen, das sich nach und nach immer mehr für das Thema begeistern konnte und einsetzte. Bereits in der Vorbereitung der Tagung zeigte sich, dass die intensive diskursive Auseinandersetzung nicht nur Überzeugungsarbeit darstellte, sondern meine eigene Sicht veränderte und neue Impulse freilegte. Mein zu Anfang beschriebenes Grundziel, immanente Kritik am cusanischen Bildungsverständnis zu üben, blieb zwar gleich, die materiale Ausgestaltung änderte sich im Aus80

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tausch jedoch und wurde vor allem substanzieller und realitätsnäher. Banden bilden, sich zusammenschließen, um etwas zu erreichen und in einen gemeinsamen Prozess der inhaltlichen Bestimmung des gemeinsamen Vorhabens zu gehen  – das verband ich nun mit dem oben erwähnten Zitat von Hannah Arendt. Dies hat uns Handlungsmacht verschafft. Wir haben uns gegenseitig ermächtigt und bemächtigt, indem wir uns Zuspruch gaben und uns kritisierten. Aber vor allem waren wir nun eine Gruppe, die an einem gemeinsamen Thema und Ziel arbeitete: eine Fachschaftstagung zu organisieren, die zum einen bereits performativ das umsetzte, was wir forderten – also ganzheitliche Bildung – und zum anderen ein Forum bot, um über dieses Thema in den Austausch zu gelangen. Wie bereits beschrieben haben wir diese Tagung als Teil eines größeren Dialogprozesses betrachtet. Das Ziel der Fachtagung konkret zu formulieren, ist uns daher schwergefallen. Letztendlich definierten wir es als Dialog und Problematisierung des cusanischen Bildungsverständnisses. Konkrete Fragen waren für uns folgende: ▶ Was ist eigentlich Biografieförderung? Wie verstehe ich sie und was meint das Cusanuswerk damit? ▶ Entspricht die Praxis von Biografieförderung meinem Verständnis und dem des Cusanuswerks in der Form, wie ich sie zum Beispiel innerhalb von Ferienakademien kennengelernt habe? Wenn nein, wo liegen die Defizite in der Umsetzung? ▶ Welche pädagogischen Ansätze könnten eine wichtige Bereiche­ rung für die Biografieförderung sein? ▶ Wie wollen wir weiter an dem Thema und unseren Ideen arbeiten? Für mich persönlich bestand der Vorteil dieser offenen Fragen darin, dass ich meine eigene Position einbringen konnte, eine Offenheit für neue Ideen zu bewahren, ohne eine Richtung vorzugeben. Inhaltlich haben wir insofern eine Struktur aufgebaut, dass wir vier Workshops zu den Konzepten TZI, Systemische Pädagogik, Bibliodrama und Theaterpädagogik angeboten haben. All diese Konzepte vereint die Multidimensionalität von Bildungsprozessen: Es wird kognitiv, emotional und somatisch gelernt und der Bildungsprozess findet nicht nur auf der Sachebene statt, sondern es wird sowohl ein persönlicher Lebendiges Lernen ist Biografieförderung

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Zugang als auch ein gruppendynamischer Prozess ermöglicht. Für mich waren dabei zwei Anliegen dieser vier Konzepte besonders bedeutsam: Erstens, dass die rote Linie zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen durchbrochen wird und Lernen auf beiden Seiten stattfindet. In Anlehnung an Augusto Boal könnte man sagen: Alle Menschen können lehren, sogar Lehrer*innen selbst.3 Zum zweiten bewirken diese Konzepte eine – etwas emphatisch gesagt – kopernikanische Wende der Pädagogik, eine Wendung aufs Subjekt. Was ich damit meine, kann ich an einem einfachen Beispiel verdeutlichen, das aus der Theaterpädagogik Boals, des Theaters der Unterdrückten, entlehnt ist. Ich habe an einer Tagung zur Militärdiktatur in Brasilien teilgenommen, ein interessantes Thema, das jedoch zeitlich und geografisch weit entfernt ist. Erst durch eine theaterpädagogische Übung konnte ich den persönlichen Bezug zum Thema herstellen, der nicht nur auf einer kognitiven Ebene verblieb: Wir sollten als Kleingruppe ein Standbild darstellen, nach und nach in das Bild gehen und eine Position einnehmen, die uns in Erinnerung an das Thema der Militärdiktatur besonders berührt oder betroffen hatte. Ich wählte mir die Obrigkeitshörigkeit des einfachen Volkes, kniete mich hin, verschränkte die Hände wie zum Gebet und senkte meinen Kopf. Eine Brasilianerin, Carla, kam hinzu, stellte sich bedrohlich hinter und über mich und hielt ihre Arme hinter ihren Kopf, so als wollte sie mich mit einem schweren Gegenstand schlagen. Danach bekam alle Personen der Kleingruppe die Möglichkeit, durch einen Stellvertreter abgelöst zu werden, das Bild von außen zu betrachten und bei Bedarf Veränderungen vorzunehmen. Carla forderte mich auf, mit ihr die Rollen zu tauschen. Meine dadurch eingenommene körperliche Pose der Macht löste in mir direkt Unbehagen und Unwohlsein aus. Zudem veränderte sich mein Bewusstsein: Während der Militärdiktatur seien die weißen Männer die Unterdrücker gewesen und die Schwarzen Frauen die Unterdrückten. Schlagartig wurde mir die Aktualität und Nähe dieses Themas zu meinem Leben bewusst: Sexismus und Rassismus sind auch hier und jetzt strukturelle Übel, in die ich eingebunden bin, weil ich ein weißer Mann bin. 3 Augsto Boal hat gesagt: »Jeder kann Theater spielen – sogar die Schauspieler« (zit. n. Zumhof, 2012, S. 60).

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Die Rahmendaten: Reflexionen über die Bedingungen und die Zielgruppe ermöglichen eine gelungene Anleitung »Wer den Globe nicht kennt, den frisst er.« (Cohn u. Farau, 2001, S. 355)

Die von uns organisierte Fachschaftstagung fand vom 01. bis zum 03. Mai 2015 im Haus Venusberg in Bonn statt. Teilgenommen haben ungefähr vierzig Personen. Davon waren 25 Personen Cusaner*innen, die am Thema interessiert waren und die die übliche Gruppe auf den Fachschaftstagungen des Cusanuswerks darstellen: Sie sind zwischen 18 und 26 Jahre alt, in ihrem Studienfach leistungsstark und engagieren sich häufig ehrenamtlich. Inhaltlich sind sie sehr geübt darin, Kontroversen auszutragen. Diese 25 Personen stellen auch die Kernzielgruppe von Fachschaftstagungen im Allgemeinen dar, wobei wir auf unserer Tagung versuchen wollten, die rote Linie zwischen »Expert*innen« und »Laien« zu zerschneiden, sodass auch die anderen 15 Personen als unsere Kernzielgruppe bezeichnen werden können. Grob lässt sich festhalten, dass sich diese andere Gruppe paritätisch in unser Vorbereitungsteam, in die Referent*innen der Workshops und Stipendiat*innen von anderen Studienförderwerken, die auf der Tagung waren, um von ihren Bildungskonzepten und deren Umsetzung zu berichten, aufteilte. Fast alle genannten Personen nahmen an der gesamten Tagung teil, was ich als sehr fruchtbar erlebte, da der Austausch über ihre verschiedenen Hintergrundbereiche dadurch besonders gut gelang. Es erscheint mir auch wichtig zu erwähnen, dass zwei offizielle Vertreter des Cusanuswerks, ein Referent aus der Geschäftsstelle und der Leiter des Cusanuswerks selbst, am zweiten Tag der Tagung für zwei Stunden teilnahmen, um sich mit uns über das Thema der Biografieförderung auszutauschen.4 Allerdings verlief die Debatte relativ unkontrovers, vielmehr wurde 4 Im Cusanuswerk gibt es eine ehrenamtliche und repräsentative Leitung, eine operative Geschäftsführung (Generalsekretariat) und Referent*innen, die u. a. die Ferienakademien planen, organisieren und durchführen. Von manchen Personen in der Geschäftsstelle wird unser Anliegen als grundlegende Kritik an ihrer Arbeit verstanden. Lebendiges Lernen ist Biografieförderung

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unserem Anliegen tendenziell zugestimmt, ohne dass zum Abschluss ernstzunehmende strukturelle Veränderungen von den offiziellen Vertretern angebahnt wurden.

Reflexion des inhaltlichen Einstiegs in die Tagung auf Basis der TZI »Wer macht, hat Macht.« (Franz Meurer, Kölner Pfarrer, in einem persönlichen Gespräch)

Die gesamte Tagung haben wir mehr oder weniger explizit mithilfe der TZI geplant und durchgeführt. Fokussieren möchte ich nun den inhaltlichen Einstieg, den ich mit meiner Mitstreiterin Clara zusammen angeleitet habe. Unsere zentrale Frage war es, wie man akademische Bildungsprozesse, also inhaltsgeladene Prozesse, mit den Axiomen und der Methode der TZI gestalten könnte. Nun möchte ich reflektieren, wie und wodurch uns das gelungen ist und an welche Grenzen wir gestoßen sind. Die Reflexion wird anhand von drei Schlaglichtern durchgeführt. Erwähnenswert ist zunächst, dass dem inhaltlichen Einstieg bereits eine erste Einheit und das Abendessen vorangingen, er also nicht das unmittelbar erste Zusammentreffen der Gruppe darstellte. Vorher gab es schon Zeit für Kennenlernen, Auflockerungsspiele (Warming-ups) und Namens- bzw. Vorstellrunden. Der inhaltliche Einstieg war die letzte Einheit des Tages. Er hatte den Titel »Biografieförderung und Ich« und war dreigeteilt in Anstoß, Orientierung und Austausch. Anstoß und Austausch habe ich moderiert und angeleitet, den zweiten Schritt der Orientierung hat Clara übernommen. Beim Anstoß ging es darum, einen inhaltlichen Einstieg zu finden, der grobe Raster und Unterscheidungen ermöglicht, zu welchem Thema und auf welchen Ebenen wir arbeiten würden. Außerdem konnte ich dabei das politische Vorzeichen unserer Diskussion ansprechen: den Anspruch an uns und die Begabt*innenförderung vor dem Hintergrund unserer Privilegien. Beim Schritt Orientierung habe ich das geplante Programm, die Eingrenzung des Themas und unsere Ziele der Tagung vorgestellt. Wichtig war bereits hier, darauf zu verweisen, dass der Prozess auf dieser Tagung von allen gestaltet werden sollte. Auf fast allen cusa84

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nischen Tagungen wird dies nicht explizit eingeplant und die Leitung arbeitet die Ideen der Teilnehmer*innen nicht in den Prozess ein. Daher haben wir dies transparent gemacht und uns ausdrücklich dauerhaftes Feedback gewünscht. Abschließend haben wir den dritten Schritt Austausch wiederum in drei Schritten gestaltet: Zuerst haben wir einen Open Space angeboten, dann ein »Positionieren im Raum« zu kontroversen Thesen in Bezug auf Ferienakademien angeleitet und als letztes eine Einheit in Kleingruppen vorgesehen, in der Postkarten unter der Fragestellung »Wo habe ich bereits Biografieförderung auf Ferienakademien erfahren?« ausgesucht werden konnten. Auf Basis dieser Erläuterung der Fachtagungsstruktur können nun die drei Schlaglichter aufgeführt werden: 1. TZI ist themenzentriert Für mich stellten der Einbezug des ICHs der Teilnehmer*innen sowie des WIRs der Gruppe in den Arbeitsprozess das neuartige an der TZI dar, da ich dies weder in der Schule noch an der Universität in Bildungsprozessen erfahren durfte. Ebenso unabdingbar gehört zum Thema auch immer ein sachlicher Inhalt, das ES. Weder Sach- noch Beziehungstorso allein standen bei uns im Fokus, sondern eine ausgewogene Balance zwischen ICH, WIR, ES und GLOBE. Mein Anliegen war es schließlich, die Methodik der TZI in die Erwachsenenbildung einzubringen. Ich begann den inhaltlichen Einstieg mit einem kurzen Monolog, der auf einer PowerPoint-Präsentation basierte. Dieser Input war bewusst zugespitzt formuliert, daher betonte ich, dass er Widerspruch auslösen durfte und sollte. Meine inhaltliche Kernthese bestand darin, dass die einzige Existenzlegitimation für das Cusanuswerk und damit für unsere Förderung unser Dienst an der Gesellschaft, insbesondere an der Gruppe der Benachteiligten, sei (vgl. Lücking, 2010). Gleichzeitig sehen wir überall das Versagen von Eliten – Flüchtlingspolitik, Klimawandel, Eurokrise etc. – und wir wissen, dass »auch ein Land mit den besten Autobahnen, der pünktlichsten Eisenbahn und der effektivsten Industrieproduktion gleichzeitig ein Land der Barbarei sein kann« (Herzog zit. n. Debour, 2020, S. 467). Vor diesem Hintergrund stellten wir verschärft die Frage, wie unsere Bildung gestaltet Lebendiges Lernen ist Biografieförderung

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sein sollte, was Biografieförderung bedeutet und was konkret auf Ferienakademien passiert. Dieser inhaltliche Aspekt war mir enorm wichtig. Nun kam es darauf an, diese Inhalte an die Einzelperson als auch die Gruppe rückzubinden. Bevor ich erläutere, wie ich dies versucht habe und ob es gelang, möchte ich noch auf das zweite Schlaglicht, einen formalen Aspekt dieses Inputs, eingehen. 2. Lebendiges Lernen benötigt Strukturen Eines der wichtigsten Analysewerkzeuge der TZI stellt aus meiner Sicht das Dreieck Struktur-Prozess-Vertrauen dar. Ein formales Ziel meines Inputs war es, den Schwerpunkt auf die Achse StrukturVertrauen zu legen. Von vornherein war uns bewusst, dass die von uns geplante Form der Fachschaftstagung für die meisten Teilnehmer*innen gänzlich ungewohnt und daher wohl auch teilweise verunsichernd sein würde. In der Einheit zum Kennenlernen wurde mir dies dadurch deutlich, dass sie trotz der lockeren und spielerischen Atmosphäre auch von Unsicherheit und Vorsicht geprägt war. Es wurden beispielsweise nur wenige Wortbeiträge im Plenum artikuliert. Ich erhoffte mir, das Vertrauen der Teilnehmenden in unsere professionelle Leitung durch gut recherchierte Informationen und eine ansprechende Präsentation zu gewinnen. Unser Ziel war es, die Verschränkung von Person und Wissenschaft, eine Verbindung von theoretischer Auseinandersetzung mit persönlichen Themen und eine persönliche Betrachtung akademischer Fragen ins Zentrum der Tagung zu stellen. Auch auf inhaltlicher Ebene erhoffte ich mir Struktur, Ordnung und Sicherheit durch zwei Landkarten, die wir auf Grundlage der einjährigen Vorbereitung und der vielen Diskussionen darüber für sinnvoll hielten. Das entscheidende war nun, Strukturen zu setzen, in denen die Teilnehmer*innen einen persönlichen Zugang zum Thema finden können. 3. Die Leitung ist partizipativ und kann von allen übernommen werden Eines der zentralen Themen der TZI-Grundausbildung war für mich die Frage, was es bedeutet, Chairperson und partizipierende Leitung zu sein. Die Chairperson definiere ich als deskriptive Aussage mit normativem Anspruch. Deskriptiv gesehen entscheide ich 86

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mich immer – unbewusst oder bewusst –, wie stark ich mich in eine Gruppe einbringe, wem ich wann wie intensiv zuhöre oder wen ich wie und wozu ermächtige. Normativ wird jedoch auch der Anspruch artikuliert, meine Selbstbestimmung bewusst, lern- und lebensfördernd – also auf der Basis einer bestimmten Wertigkeit – in den Gruppen- und Lernprozess einzubringen. Auf Veranstaltungen des Cusanuswerks habe ich häufig eine demütige und freundlich-zuvorkommende Haltung seitens der Teilnehmenden erlebt, in der Autoritätskritik oder Konflikte eher vermieden wurden. Es bestand eine Atmosphäre, innerhalb der gehorsam den formalen Autoritäten, der jeweiligen Leitung, gefolgt wurde. Meines Erachtens lag dies jedoch auch an Bedingungen und Strukturen, die verhinderten, dass die Chairperson von allen gelebt werden konnte. Diese Thematik berührt die Frage, inwieweit man sich selbst Raum nehmen oder anderen Raum geben kann. Ich denke, die Rolle der Interdependenz sowie die Macht impliziter Normen und versteckter Regeln wird unterschätzt, wenn man glaubt, dass jede*r für sich unabhängig seine Chairperson leben könne. Insbesondere die Leitung hat die besondere Aufgabe, Hürden und Barrieren wegzuräumen und Regeln öffentlich zu machen, um diese gemeinsam aushandeln zu können und damit die Chairperson aller zu unterstützen. Ich selbst habe dies konkret dadurch versucht, dass ich – retrospektiv reflektiert – im Einstiegsinput einen Bruch eingebaut hatte. Clara stellte eine Folie mit der Aussage »Du bist gefragt!« vor. Da mir ihre Darstellung zu wenig pointiert erschien, nahm ich noch eine Ergänzung vor: »Diesen Leitsatz meinen wir vollkommen ernst und das bedeutet: Wenn wir alle entscheiden, dass uns das Programm, dass wir konzipiert haben, nicht mehr passt, dann schmeißen wir es komplett über den Haufen!« Diese Stelle habe ich als starken Bruch erlebt, auch weil kurz darauf der dritte Schritt Austausch folgte. Meine Mitteamer*innen haben dies als starke Intervention wahrgenommen, die sie positiv bewerteten, weil sie unser Anliegen unterstützte. Ergänzend zu meinen obigen Überlegungen ging es im Austausch darum, in den Prozess zu kommen, Strukturen zu setzen, die alle Teilnehmer*innen persönlich füllen konnten, und Raum für die Gruppe und ihre Dynamik zu schaffen. Verdeutlicht habe ich dies durch eine Fußballmetapher, die den Begriff Anstoß aus Lebendiges Lernen ist Biografieförderung

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dem ersten Schritt aufgriff und mit der ich den dritten Schritt einleitete: »Und nun kommt der Pass in die Spitze, es geht rund!« Und das tat es: Beim Open Space haben wir drei Tische mit Plakaten und Fragen im Raum verteilt. Sie lauteten beispielsweise: »Was wird eigentlich gefördert, wenn Biografien gefördert werden?« Die Resonanz war gewaltig und die Plakate waren schnell mit vielen interessanten Punkten und Bezugnahmen aufeinander gefüllt. Ziel dieser Einheit war es zum einen, relativ niederschwellig einen Austausch zu ermöglichen und die Begriffe (besonders »Biografieförderung«), die wir verwendeten, persönlich mit Leben zu füllen. Open Space ist eine Form des Schreibgesprächs, das auch ruhigeren Personen eine Positionierung vereinfacht. Dies war uns insbesondere deshalb wichtig, weil auf Veranstaltungen im Cusanuswerk zumeist nur die Menschen präsent sind, die gern vor vielen Leuten sprechen, sich präsentieren können und sehr selbstbewusst auftreten. Das Ergebnis des Open Space, die drei befüllten Plakate, habe wir daraufhin im Raum aufgehängt, weil sie eine Verständnisbasis für den weiteren Austausch boten. Zentral war dabei, dass wir ein gemeinsames Verständnis von und positives Verhältnis zu »Biografieförderung« entwickeln konnten: Wir verstanden darunter eine Form der Bildung, die Persönlichkeit und Biografie mit akademischem Lernen vermittelt, in einem humanistischen Wertehorizont stattfindet und damit auch sozialpolitische Verantwortlichkeit impliziert. Nach diesem ersten Schritt in der Einheit Austausch und einem kurzen Gespräch über die Inhalte im Plenum haben wir die Methode eines Positionierens im Raum zu kontroversen Thesen wie »Auf Ferienakademien kann ich mich mit meiner Person und meinen Bedürfnissen so einbringen, wie ich es möchte!« angewendet, über die wir anschließend in eine vertiefende Diskussion einsteigen konnten. Zum einen sollten so die Ressourcen der Teilnehmer*innen aktiviert werden, kontrovers über ein sachliches Thema zu diskutieren. Zum anderen konnten wir an manchen Stellen, wie an der aufgeführten These, immer wieder einen persönlichen Bezug herstellen und eine Brücke zum dritten Teil des Austausches schlagen. In diesem ging es darum, in Kleingruppen persönliche Erfahrungen einzubringen: Zu der Frage »Wo habe ich auf Ferienakademien schon einmal Biografieförderung erfahren?« konnten sich die Teilneh88

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mer*innen ein Bild/Postkartenmotiv aussuchen und von ihrer Erfahrung berichten. Zum einen ging es uns dabei darum, anhand von positiven Grunderfahrungen aufbauend zu erörtern, welches Konzept von Bildung diesen Akademien eigentlich zugrunde liegt bzw. welche Form von Bildung diese ermöglichen. Zum anderen erhofften wir uns einen existenziellen Zugang zum Thema und eine kreative Inspiration durch die Postkarten, die mehr als nur die kognitive Dimension ansprechen sollten. Diese gesetzten Strukturen, so unser Ziel, sollten das Chairperson-Sein aller fördern und vereinfachen.

Kritische Reflexion der Planung und Durchführung der ersten Einheit Grundsätzlich hat der inhaltliche Einstieg in unsere Fachtagung gut funktioniert – den Eindruck hatten wir als Team während unserer gemeinsamen Abendreflexion und auch der Verlauf des Wochenendes verdeutlichte dies. Die Teilnehmenden berichteten, dass ihnen viele Verknüpfungen von wissenschaftlich-pädagogischer Perspektive und Biografiearbeit gelungen seien und sie selten so intensiv über persönliche Fragen in den Austausch gekommen waren. Dennoch möchte ich gern ein paar Aspekte thematisieren, die mir im Nachhinein aufgefallen sind. Zum einen habe ich den Bruch zwischen der vorgegebenen Struktur und unserer Jetzt-seid-ihr-dran-Haltung als zu stark erlebt. Dafür, dass dies nicht nur ein persönlicher Eindruck war, sprechen aus meiner Sicht zwei Punkte: Erstens der Umgang mit der Zeit innerhalb der Gruppe. In der TZI wird die Leitung als Hüter*in der Zeit und des Themas gesehen. Mein Verhalten in der Kleingruppenphase gestaltete sich so, dass ich die Gruppe vorher auf den zeitlichen Rahmen und die Begrenzung unserer zeitlichen Ressourcen hingewiesen habe und dann einmal im Verlauf des Austauschs an die Zeit erinnert habe. Als viele Gruppen jedoch weiter in intensiven Diskussionen verblieben, habe ich unter dem Eindruck, dass diese ihnen aktuell wichtiger erscheinen, als dass wir weitermachen, entschieden, die angesetzte Zeit zu überschreiten. Ich habe dieses Verhalten der Gruppen als Konsequenz auf meine Aussage interpretiert, dass alle gemeinsam entscheiden, wie weitergearbeitet wird. Jedoch hatten auch schon einige Lebendiges Lernen ist Biografieförderung

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Gruppen ihre Diskussion beendet und waren dementsprechend unzufrieden darüber, dass sie nun auf die anderen Gruppen warten mussten. Ich habe meine Entscheidungsgrundlage an dieser Stelle zwar transparent gemacht, aber der Wunsch nach mehr zeitlicher Lenkung aufseiten der Leitung bestand innerhalb dieser Gruppen weiterhin. Ich bin mir unsicher, ob ich mich und mein Anliegen verständlich machen konnte. Es wäre möglich, dass ich in diesem Fall zu wenig Struktur geschaffen und Leitung übernommen habe. Auch dafür, dass wir den oben genannten Bruch zu stark gestaltet haben, spricht, dass in der letzten Einheit zu den Bildern viel weniger intensiv und persönlich gesprochen wurde, als ich es erwartet hatte. Oft wurde sehr abstrakt über die Bilder schwadroniert, ohne sich auf eine konkrete Situation oder Erfahrung zu beziehen, und in meiner Wahrnehmung war der ganze Austausch sehr verkopft und unpersönlich. Andererseits lag dies wohl auch daran, dass noch nicht genug Vertrauen in der Gruppe bestand und die Methode für manche wohl zu befremdlich war. Ich kann mir vorstellen, dass unterschiedliche Zugänge es einigen Teilnehmer*innen erleichtert hätten, an dieses Thema anzudocken. In diesem Moment hat meines Erachtens noch die Sicherheit gefehlt, was später anders war. Am nächsten Tag waren bereits tiefergehende Gespräche möglich. In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch ein weiteres Thema nennen, das wir als Leitungsteam nicht klar genug gehandhabt haben. Wir waren Teilnehmer*innen und Leitung zugleich – eine partizipierende Leitung im Sinne der TZI. Unser Interesse am Thema, die Augenhöhe unserer Funktion (fast alle Teilnehmenden waren Stipendiat*innen) und unsere Art anzuleiten haben es uns erleichtert, Teil der Gruppe zu sein. Andererseits waren wir teilweise überfordert, weil wir gleichzeitig in Kleingruppen mitdiskutierten, auf die Zeit achten mussten, die Gruppen mit Materialien versorgen und die Spätankömmlinge integrieren wollten. Wir hatten zwar für jede Einheit eine klare Verantwortungszuteilung, die uns geholfen hat, im Nachhinein denke ich aber, dass es uns ebenso unterstützt hätte, wenn die jeweils Verantwortlichen sich etwas mehr aus der Teilnehmer*innen-Rolle zurückgezogen hätten. Zudem fällt mir auf, dass ich partizipierend geleitet habe, als ich in der Kleingruppe an der Einheit mit den Bildern teilnahm und die Frage nach der Bio90

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grafieförderung sehr persönlich beantwortete sowie eine ganz konkrete Erfahrung erzählte. Auf der einen Seite habe ich – so glaube ich – dadurch das Eis gebrochen, auf der anderen Seite war es mir im Nachhinein etwas unangenehm, dass ich so viel persönlicher als die anderen berichtet hatte, und das auch noch aus dem pragmatischen Grund, einen tiefen Erfahrungsaustausch zu ermöglichen und das Ziel unserer Tagung zu verfolgen. Außerdem denke ich, dass ich den Input noch mehr hätte reduzieren und mehr Zeit in Kleingruppen hätte geben können. Zudem war unsere Themenformulierung für die Einheiten zu unpräzise, sodass wir diese Struktur zum Leiten nicht ausreichend nutzen konnten. Dennoch bin ich alles in allem sehr zufrieden mit der Einheit, weil an einigen Punkten deutlich wurde, dass ein Großteil der Teilnehmenden das Konzept der Chairperson schnell gelebt und internalisiert hat. Das zeigte sich zum Beispiel beim Positionieren, im Zuge dessen die Teilnehmer*innen mir widersprachen, als ich an einem Punkt aus Zeitgründen abbrechen wollte. Sie hatten den Wunsch, sich auch noch zu den letzten Thesen im Raum zu positionieren, wenn auch, um diese Arbeitsphase nicht zu lang werden zu lassen, ohne anschließende Diskussion. Diesen Vorschlag habe ich aufgegriffen, weil er innerhalb der Gruppe auf eine sehr positive Resonanz traf und ich meine Aussage zum Leitsatz »Du bist gefragt!« (s. oben) unterstreichen wollte. Insgesamt hatten wir wenig Zeit, was sich aber auch positiv auswirkte, weil dies ein Gefühl von Dichte, Notwendigkeit und Spannung hervorrief. Insbesondere gefiel mir, wie sehr wir uns als Leitungsteam und als Gruppe auf den Prozess eingelassen haben und ergebnisoffen für das, was am Ende als Konklusion erreicht wurde, waren. Die Tagung ist insgesamt ganz anders verlaufen, als es sonst im Cusanuswerk üblich ist, und das verstehe ich als großen Erfolg.

Abschließende Gedanken: Eine wichtige Lernerfahrung Zu Beginn dieser Arbeit habe ich über die TZI, Teilmächtigkeit und meine Sehnsucht nach einer humaneren Welt räsoniert. Die Erfahrung der Fachschaftstagung und des gesamten Prozesses im Cusanuswerk hat mir gezeigt, dass ich teilmächtig sein kann. Meine Begrenztheit und Ohnmacht werden mir zwar ständig vor Augen Lebendiges Lernen ist Biografieförderung

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geführt, aber dass ich auch etwas bewirken kann, erlebe ich selten. Die Erfahrung, dass meinem Wunsch nach einer strukturellen Veränderung von Ferienakademien jahrelang mit Unverständnis begegnet wurde, ich trotzdem nicht nachgelassen habe, diese Problematik zu thematisieren, und dieses Anliegen dann nach einem solchen Wochenende auch von anderen für offensichtlich, nachvollziehbar und wichtig erachtet wurde, war für mich beeindruckend. Es verdeutlichte mir erneut die enorme Bedeutung des Performativen, der Erfahrung und des Machens, weil es nur möglich ist, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, wenn man auch gemeinsame Erfahrungen macht. Auf einmal war mein Anliegen verständlich, weil wir auf der Fachschaftstagung gemeinsam erlebten, wie Bildungsprozesse anders ablaufen können. Die Frage, wie es nun mit diesen Erfahrungen weitergeht, beschäftigt mich dennoch und ich habe Zweifel, ob dadurch wirklich eine langfristige Veränderung entsteht. Schön finde ich, dass ich diese Frage loslassen kann, ohne dass sie mir gleichgültig ist. Ende September scheide ich aus dem Cusanuswerk aus und ich weiß, dass mein und unser Anliegen nur weitergetragen wird, wenn es auch für andere Mitglieder ein Anliegen bleibt. Deshalb bin ich nicht enttäuscht, dass sich kein Gremium Biografieförderung gegründet hat, weil die Institutionalisierung meines Erachtens nichts daran geändert hätte, dass es Menschen braucht, die für dieses Thema brennen. Ich habe für mich dieses Thema mithilfe dieser Tagung abgeschlossen und glaube, dass es sich nur dann weiterträgt, wenn es so etwas wie eine grassroots-Bewegung gibt. Zumindest hatte ich noch eine gute Abschlusserfahrung, die meiner abflachenden Energie für das Thema entgegenwirkte: Auf meiner letzten Ferienakademie bot ich eine Einheit an und analysierte mit der Methode Gruppeneintopf den bisherigen Prozess. Daraufhin stellten wir unsere Ideen, Utopien etc. für die Gestaltung von Ferienakademien vor, die wir auf der Fachschaftstagung erarbeitet hatten. Die Resonanz war sehr positiv, die Diskussion intensiv und energievoll und im Kleinen erlebte ich noch einmal wie innerhalb einer Gruppe ein Veränderungsprozess stattfinden kann, an dessen Ende manche Teilnehmer*innen das behandelte Thema als das ihrige ansehen. Daran wurde für mich deutlich, dass die nötige Energie zur Veränderung existiert. Wenn ich The92

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men verwirklichen möchte, die mir wichtig sind und mit denen ich auf institutionelle Hürden stoße, weiß ich nun: ▶ Inhaltlicher Widerstand gegen das Thema basiert häufig auf Unverständnis oder mangelndem Willen, etwas zu verändern. Um dies zu überwinden, hilft es, eine gemeinsame Erfahrungsbasis zu schaffen. Manchmal hilft es auch, das Thema mantraartig zu wiederholen. Irgendwann findet es Gehör. ▶ Alles braucht seine Zeit und alles hat seine Zeit. Wichtig ist daher Geduld. ▶ Vertrauen in die eigene Intuition ist gut. Sie kann auch dann noch vertrauenswürdig sein, wenn alle und alles gegen sie sprechen.

Literatur Adorno, T. W. (1971). Erziehung nach Auschwitz. In ders. (Hrsg.), Erziehung zur Mündigkeit (S. 92–109). Frankfurt a. M. Arendt, H. (2000). Macht und Gewalt. München. Cohn, R. C. (2009). Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion: Von der Behandlung einzelner zu einer Pädagogik für alle (16. Aufl.). Stuttgart. Cohn, R. C., Farau, A. (2001). Gelebte Geschichte der Psychotherapie: Zwei Perspektiven. Stuttgart. Debour, C. (2020). Kritische politische Bildung in der (kirchlichen) Begabtenförderung? Reflexion und Diskussion am Beispiel von Ferienakademien im Cusanuswerk. In C. Gärtner, J.-H. Herbst, Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik. Diskurse zwischen Theologie, Pädagogik und Politischer Bildung (S. 465–481). Wiesbaden. Freire, P. (2005). Pedagogía del Oprimodo (2. Aufl.). Burlington. Lücking-Michel, C. (2010). Was heißt Chancengerechtigkeit im Bildungswesen? Begabungen fördern. Herder Korrespondenz, 64 (6), 312–316. Schreiner, P., Mette, N., Oesselmann, D., Klinkbur, D. (Hrsg.) (2008). Paulo Freire – Pädagogik der Autonomie. Notwendiges Wissen für die Bildungspraxis. Münster. Zumhof, T. (2012). Pädagogik und Poetik der Befreiung. Der Zusammenhang von Paulo Freires Befreiungspädagogik und Augusto Boals ›Theater der Unterdrückten‹. Münster.

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JOHANNES HOCHHOLZER Rolle und Persönlichkeit: Ich handle und reflektiere bewusst als partizipierende Leitung

Ausgangssituation und Rahmenbedingungen Die Katholische Landjugendbewegung (KLJB) in meinem Heimatlandkreis befasst sich wie viele Jugendverbände und -organisationen mit der Herausforderung, Jugendliche und junge Erwachsene zu befähigen, Verantwortung zu übernehmen und eigenständige Projekte durchzuführen. Im Landkreis ist der Arbeitskreis Bildung (AK Bildung) für die Ausbildung der Jugendleiter*innen zuständig. Die Mitglieder des AKs hatten im Laufe der Jahre 2017 und 2018 einige frustrierende Erfahrungen gemacht. Beispielsweise fielen einige Veranstaltungen mangels Teilnehmenden aus, zusätzlich waren einige der Verantwortlichen auf Kreisebene frustriert, weil sie nur wenig tatkräftige Unterstützung für ihre Vorhaben bei anderen Mitgliedern im Verband erhalten hatten. Vor diesem Hintergrund wurde ich für einen Wochenendkurs zum Thema Motivation angefragt, nachdem ich bereits verschiedene Bildungsangebote im Landkreis gestaltet hatte. Auch in anderen Kontexten hatte ich schon zu persönlichen Ressourcen und Quellen der Motivation gearbeitet und darüber hinaus auch einen persönlichen Bezug zum Thema: Nach meinem Bachelorabschluss brach ich mit zwei Freunden zu einer neunmonatigen Reise entlang der Westküste Südamerikas auf und wir legten die 15.000 Kilometer von Feuerland bis Kolumbien mit dem Fahrrad zurück. Auf dieser Reise wurde ich jeden Tag mit der Frage nach meiner persönlichen Motivation konfrontiert, sowohl physisch als auch mental, unter anstrengenden Bedingungen und natürlich auch mit unbeschreiblichen Hochgefühlen. Der von mir konzipierte Motivations-Kurs umfasste ein Wochenende im Herbst 2018, von Freitagabend bis Sonntagnachmittag, in einem Selbstversorgerhaus und stand allen interessierten Verantwortlichen aus der Jugendarbeit offen – mit Fokus auf Mitglieder der KLJB. Nach einem zögerlichen Anmeldeverhalten fanden sich sieben Teilnehmende für den Kurs. Sechs Teilnehmende waren Jugendleiter*innen unter 27 Jahren, die größtenteils ein Amt (beispielsweise Vorstand, Ausschuss) auf Orts- und Landkreis-Ebene der KLJB innehatten. Ein Teilnehmer im Alter von 43 Jahren hatte sich angemeldet, da er sich für die Katholische Arbeitnehmerbewegung 96

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(KAB), einen Erwachsenenverband, engagierte. Innerhalb dieses Verbandes setzte er sich für den Aufbau einer Jugend- bzw. einer Nachfolgegeneration für die überalterten Strukturen in seinem Verband ein. Anfangs waren die Organisator*innen des Kurses skeptisch, ob diese Person wegen ihres Alters teilnehmen könne, nachdem der Kurs auf Jugendarbeit und junge Menschen ausgelegt war. Nach einem Telefonat konnte ich allerdings klären, ob die Erwartungen des Teilnehmers durch die Kursinhalte abgedeckt waren, und sagte ihm die Teilnahme zu. Diese Entscheidung basierte auch auf meiner Erfahrung mit anderen Persönlichkeitskursen, in denen Vielfalt in der Altersstruktur zu einem fruchtbaren Austausch über die Generationen hinweg geführt hatte.

Partizipierende Leitung als Reflexionsinstrument und Handlungsleitfaden Ich habe mich innerhalb meines Anwendungsprojekts dafür entschieden, mein Handeln als Leitung unter dem Aspekt der partizipierenden Leitung zu reflektieren. Die partizipierende Leitung stellt aus meiner Sicht einen Bestandteil der TZI dar, der sie von anderen Modellen oder Philosophien abhebt, da hier die Ambivalenz der Leitungsfunktion sichtbar wird: Die Leitung hat auf der einen Seite eine herausgehobene Rolle, da es ihre Aufgabe ist, das Gruppengeschehen in besonderem Maße zu leiten und zu beeinflussen. Auf der anderen Seite wird eine Leitungsrolle durch eine Person mit einer eigenen Persönlichkeit wahrgenommen. Ihre Entscheidungen sind also in den meisten Fällen subjektiv geprägt: An welchen Gruppenprozessen nehme ich teil? Welche Ereignisse nehme ich wahr und wie deute ich sie? Für welche Facetten und Perspektiven bin ich nicht empfänglich? Was stört mich und nimmt mir die Arbeitsfähigkeit? Je nachdem, wie bewusst oder unbewusst die Leitung diese Wahrnehmungen reflektiert, kann das Gruppengeschehen verschiedene Richtungen einschlagen. Ich stehe also als Leitung in einer stetigen inneren Verhandlung zwischen meiner Interpretation der Leitungsrolle und meiner Persönlichkeit, die ich selektiv authentisch einbringe. Im zweiten Methodenkurs meiner Zertifikatsausbildung für junge Erwachsene hatte ich intensiv erfahren, wie ich selbst Rolle und Persönlichkeit

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mit Rollen umgehe und wie mich eine (selbst- oder von Dritten zugewiesene) Rolle im Handeln beeinflusst. Ausgehend von diesen Erfahrungen wollte ich bewusst reflektieren, wie ich mich zur Balance zwischen Rolle und Persönlichkeit in Leitungssituationen verhalte. Hintner, Middelkoop und Wolf-Hollander (2009) unterscheiden vier Aspekte von partizipierender Leitung, um den Begriff weiter zu präzisieren. ▶ Mitmachen: Aufgaben als Teilnehmer*in ausführen, z. B. an einer Blitzlichtrunde teilnehmen. ▶ Anteilnehmen: Mitgefühl für unterschiedlichste Situationen im Leben der Teilnehmenden empfinden und/oder zeigen. ▶ Selbstaussagen machen: Persönliche Informationen preisgeben, eigene Erlebnisse schildern. ▶ Involviert sein: Unbewusst oder bewusst innerlich am Geschehen beteiligt sein, mit Passion »voll und ganz« dabei sein. Die Definitionen der Begriffe sind an die Ausführungen der Autor*innen angelehnt. Für den letzten Begriff habe ich eine persönliche Definition gewählt. Die Autor*innen schreiben, dass dieser Begriff am schwierigsten zu greifen sei, daher habe ich ihn mit meinen persönlichen Erfahrungen verbunden. Um mein eigenes Erleben als Leitung bewusst zu reflektieren, gestaltete ich einen Reflexionsbogen, den ich nach jedem größeren Zeitabschnitt (Freitagabend, Samstagmittag, Samstagabend, Freitagmittag) ausfüllte. Der Fragebogen gliedert sich in zwei Abschnitte: Zum einen lenkt er meine Aufmerksamkeit auf das Vier-Faktoren-Modell und mögliche Störungen. Zum anderen fragt er auf einer Skala von 0 bis 10 ab, wie stark ich die zuvor beschriebenen Faktoren partizipierender Leitung in meinem Handeln beobachtet habe. Ich erhoffte mir ausgehend von den Ergebnissen des Fragebogens einen Rückschluss auf Zusammenhänge im eigenen Handeln und Erleben.

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Planung und Vorbereitung des Kurses: Motivation mit der Brille der TZI betrachtet Nachdem ich durch den AK Bildung mit der Durchführung des Kurses beauftragt wurde, begann ich mit einer Auftragsklärung. Im Gespräch mit der verantwortlichen Koordinatorin für den Kurs stellte sich heraus, dass in den bisherigen Gesprächen zum Thema Motivation nur ein einzelner Aspekt zum Tragen gekommen war: Wie motiviere ich in meiner Rolle als Jugendleiter*in oder Verantwortliche*r für ein Projekt andere junge Erwachsene? Beispielsweise taten sich die Verantwortlichen für jährlich stattfindende Aktionen der KLJB schwer damit, andere junge Erwachsene im Verband für diese Aufgaben zu gewinnen. Außerdem war die Arbeitslast auf den Schultern weniger Ehrenamtlicher verteilt und diejenigen, die bereits viel Verantwortung übernahmen, konnten am Ende wenig Aufgaben umverteilen und fühlten sich für Erfolg oder Misserfolg von Aktionen und Veranstaltungen verantwortlich. Daraus erwuchs die genannte Erwartung an die Kursinhalte. In der Wunschvorstellung existierte ein Werkzeugkasten, mit dem andere junge Erwachsene und Jugendleiter*innen schnell und unkompliziert für Aufgaben gewonnen und begeistert werden könnten. Mir erschien das sehr einseitig und zu stark von Arbeitskontexten inspiriert, in denen Anreize durch Geld und sogenannte Incentives geschaffen werden. In der Vorbereitung näherte ich mich daher dem Thema Motivation auch aus der Perspektive der TZI an. Um eine möglichst ganzheitliche Sicht auf das Thema zu entwickeln, erkundete ich die verschiedenen Dimensionen anhand des VierFaktoren-Modells: ICH

▶ Erkunden der eigenen Geschichte (Motivations- u. Frustrationsgeschichten) ▶ Persönliche Stärken und Schwächen ▶ Was sind meine Antreiber? Worin sehe ich Sinn und Bestimmung für mich?

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WIR

▶ Typische Dynamiken in Gruppen (z. B. Dramadreieck aus der Transaktionsanalyse) ▶ Sitzungskultur, Miteinander und Umgangsweisen im Verband ▶ Implizite Regeln und Erwartungen für und an eine erfolgreiche Jugendarbeit ES

▶ Motivations- und Lernforschung ▶ Konkrete Wünsche der Teilnehmenden in Bezug auf Situationen, die sie beeinflussen und verändern möchten GLOBE

▶ Kulturelle Umgebung: Verwurzelung der KLJB in der katholischen Kirche, in den bayerischen Traditionen etc. ▶ Strukturen zur Förderung und Unterstützung von Jugendarbeit vor Ort ▶ Aktuelle Stimmung in der KLJB, insbesondere im AK Bildung ▶ Schwierigkeiten, Teilnehmende für das Wochenende zu begeis­ tern Diese Übersicht half mir, die Bedürfnisse der einzelnen Teilnehmenden und der Gruppe zu erspüren und anschließend nach passenden Methoden zu suchen.

Axiome und Postulate als Hilfestellungen und Hinweis­ geber für die Vorbereitung und das Kursgeschehen Innerhalb der Vorbereitung meines Wochenendkurses konnte ich anhand der Axiomatik und der Postulate der TZI zwei wesentliche Quellen von Frustration herausarbeiten und verstehen. Diese Aspekte lassen sich mit konkreten Erlebnissen im Kurs verbinden. Innerhalb des Chairperson-Postulats ist die Herausforderung formuliert, die eigenen Bedürfnisse der Situation entsprechend einzubringen. Je nachdem, wie stark die Chairperson bei den verschiedenen Personen in einem Gremium gelebt wird, kommt es zu mehr oder weniger starken Auseinandersetzungen mit den eigenen Be100

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dürfnissen. Dementsprechend legte ich in der Planung den Fokus darauf, im Kurs eine Atmosphäre zu schaffen, innerhalb der ich als Leitung die Chairperson der Teilnehmenden fördern und ermuntern könnte. Infolgedessen würden sich hoffentlich auch diejenigen einbringen, die sonst eventuell weniger über die eigenen Bedürfnisse sprechen. Besonders lebendig kann ich mich an eine Teilnehmerin des Kurses erinnern, die ich mit der Frage »Was ist denn dein persönliches Bedürfnis – jetzt gerade?« herausforderte. Sie antwortete, dass sie nicht über ihre persönlichen Gefühle und Bedürfnisse sprechen möchte, weil sonst in der Landjugend über sie »getratscht« werde. Daher war es mir besonders wichtig, im Kurs eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, damit wenigstens dort über diese persönlichen Themen gesprochen werden konnte. Der zweite Aspekt fand sich während der Vorbereitung im ersten Axiom: »Der Mensch ist eine psycho-biologische Einheit und ein Teil des Universums. Er ist darum gleichermaßen autonom und interdependent. Die Autonomie des Einzelnen ist umso größer, je mehr er sich seiner Interdependenz mit allen und allem bewusst wird.« (Farau u. Cohn, 1984, S. 357) Meine Erwartung war, dass in der Zusammenarbeit verschiedener Jugendleiter*innen die Balance zwischen Autonomie und Interdependenz nicht immer gegeben sein würde. Basierend auf meinen eigenen Erfahrungen als Jugendleiter besteht in solchen Gremien die Gefahr, dass sich die Jugendleiter*innen äußerlichen Sachzwängen und Notwendigkeiten unterordnen, ohne zuvor hinterfragt zu haben, ob überhaupt eine Notwendigkeit oder ein Sachzwang besteht oder nicht doch eine andere Lösung gefunden werden könnte. Neue Vorgehensweisen werden in solchen Fällen nicht ausgelotet, die Situation wirkt verfahren. Im Kurs beschrieben die Teilnehmenden Situationen aus der eigenen Erfahrung, in denen Autonomie und Interdependenz aus der Balance geraten waren: Oftmals fiel es ihnen schwer, Abhängigkeiten von anderen anzunehmen und Aufgaben ernsthaft zu delegieren Rolle und Persönlichkeit

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ohne eine starke Kontrollfunktion einzunehmen. Damit herrschte ein Ungleichgewicht, wie Autonomie von anderen gelebt werden durfte, im Vergleich dazu, wie die eigene Autonomie wahrgenommen wurde. Die Teilnehmenden beschrieben beispielsweise eine große Freude daran, dass sie eigenständig Projekte umsetzen können und somit aktiv mitgestalten. Gleichzeitig war es ihnen wichtig, dass sie die Umsetzung von delegierten Aufgaben stark kontrollieren können und wenig Freiheit zur Umsetzung zulassen. Daher erschien es mir sinnvoll, den Fokus vom Gelingen der einzelnen Aufgabe hin zur Förderung von lebendigem Wachstum der einzelnen Individuen und der Gemeinschaft zu lenken, wie es auch innerhalb des zweiten Axioms eingefordert wird (vgl. Farau u. Cohn, 1984, S. 358).

Prozessreflexion Bei der Auswertung meines Fragebogens fallen Entwicklungen bezüglich der vier Aspekte von partizipierender Leitung auf. Zum einen machte ich zu Beginn des Kurses deutlich mehr Selbstaussagen als im weiteren Verlauf des Kurses. Das entsprach soweit auch meiner Planung: Zu Beginn wollte ich vieles am Beispiel meiner eigenen Motivationsgeschichte nachvollziehbar machen, zum Ende hin konnten die Teilnehmenden verstärkt an ihren eigenen Geschichten arbeiten. Daher überrascht mich dieses Ergebnis nicht. Interessanter dagegen ist meine Selbsteinschätzung, wie involviert ich war. Der zeitliche Verlauf dieser Einschätzung entwickelte sich wie der Spannungsbogen einer Geschichte: Anfangs war ich wenig involviert, im letzten Drittel erreichte ich das höchste Niveau an Involviertsein, zum Ende hin nahm mein Involviertsein wieder ab. Diese Beobachtung wird durch die Rückmeldung eines Teilnehmers unterstützt. Am Samstagabend verwendete ich die Methode Forumtheater nach Augusto Boal, einem brasilianischen Theatermacher (Boal, 2004). Hier geht es darum, dass im Rahmen von klar definierten Spielregeln Alltagsszenen verändert werden können. Eine Person stellt sich als Fallgeber*in zur Verfügung und spielt gemeinsam mit einigen anderen Teilnehmenden eine Szene aus dem Alltag nach, hier mit Fokus auf frustrierende Gruppensituationen. Nachdem die Szene einmal gespielt wurde, können die Außenstehenden einen 102

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Änderungsvorschlag einbringen. Die vorschlagende Person ersetzt eine der Rollen in der Szene und die Szene wird erneut gespielt, die Person versucht ihren Vorschlag bestmöglich einzubringen. Ein großer Vorteil der Methode ist, dass die Teilnehmenden ins Ausprobieren kommen und Ideen nicht sofort kaputt geredet werden. Ich hatte die Einheit mit einigen Spielen und Übungen aus dem Bereich des Improvisationstheaters eingeleitet, in denen ich teilweise eine aktive Rolle einnahm. So entstand eine lockere Atmosphäre. Während des Forumtheaters hatte ich einerseits die Rolle des Beobachters inne, andererseits war es meine Aufgabe, darauf zu achten, dass die Struktur und die Spielregeln eingehalten wurden. In zwei Situationen wurde ich gebeten, aus meiner eigenen Erfahrung einen Vorschlag zu formulieren und diesen spielerisch in die Szene einzubringen, was mal mehr, mal weniger gelang. Für mich stellte das den Höhepunkt meines Involviertseins dar, auch weil die Methode selbst große Aufmerksamkeit, Präsenz und Empathie erfordert. Einer der Teilnehmenden meldete mir danach zurück, dass ihm diese Einheit bisher am besten gefallen hätte – auch deswegen, weil er mich als sehr präsent erlebt und meine Begeisterung für Theater gespürt habe. Andere Teilnehmende zeigten ein tiefergehendes Verständnis von Theorien und Modellen, die zuvor besprochen wurden. Was ich bisher als positive Auswirkungen von Involviertsein geschildert habe, kann allerdings auch einschränkend wirken, wie ich kurz darauf selbst erfuhr. Durch die vielen positiven Rückmeldungen ging ich sehr beschwingt in den Abend. Meine positive Stimmung wurde allerdings schon bald gedämpft, als ich die Teilnehmenden und ihre Interaktionen beobachtete. Die eben noch geäußerte Freude über das Verstehen von typischen Gruppensituationen und Ideen für Auswege und Veränderungen war schnell verpufft. Die weitere Abendgestaltung wirkte eher träge und wahllos auf mich. Dieser Eindruck war für mich sehr ernüchternd, hatte ich doch die Erwartung, dass diese Einheit ihre Wirkung auch im Miteinander zeigen würde. Hier erwies sich das starke Involviertsein als sehr hinderlich, weil ich den Teilnehmenden nicht ihren eigenen GLOBE, ihre eigene Per­ spektive, zugestanden hatte, sondern meine Deutung der Situation als gesetzt wahrnahm. Darin liegt für mich die Herausforderung: Ein Rolle und Persönlichkeit

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hohes Maß an Involviertsein erlaubt es, sehr intensiv und einfühlsam am jeweiligen Thema zu arbeiten. Wenn ich das tue, muss ich allerdings auch wieder bewusst loslassen und den Teilnehmenden die Freiheit zugestehen, dass sie nun mit dem Gelernten in Eigenverantwortung umgehen. Die Sorge, dass meine Arbeit verpufft und eventuell sogar wirkungslos gewesen war, wurde nach dem Kurs durch Rückmeldungen von Außenstehenden aufgelöst. Diese hatten begeisterte Teilnehmende nach dem Wochenende erlebt und berichteten von neuer Energie und dem Willen zur Veränderung. Eine weitere Gegebenheit, die mich in meiner Leitungsrolle bewegt hatte, war der Umgang mit einem Teilnehmer. Dieser hatte relativ früh im Kurs von sich selbst gesagt, dass er oft sehr kritisch wäre und Dinge hinterfrage. Im Laufe der Zeit bemerkte ich, dass ich sehr genervt von diesem Teilnehmer war und dieses Gefühl drohte, meinen Umgang mit dieser Person zu überschatten. Meine nun folgende Beschreibung dieser Situation greift auf das Modell für Gruppenrollen zurück, das Angelika und Eike Rubner formuliert haben (Ruber u. Rubner, 2016): Die Alpha-Rolle hat eine leitende Funktion inne, sie bringt durch ihre Handlungen die Gruppe voran. Die Omega-Rolle nimmt eher kritische Gegenpositionen zu den Äußerungen der Alpha-Rolle ein, deckt Verdrängtes auf und weist auf Ambivalenzen hin. Je nach Zusammenspiel der Alpha- und Omega-Rolle kann ein gelungenes Miteinander entstehen oder das Omega wird zur Rolle des Gegners und die Fronten verhärten sich. Aus meiner Perspektive als Alpha (Leitung der Gruppe) verhielt sich der betreffende Teilnehmer oftmals wie ein Omega: Leitungsaussagen wurden hinterfragt und der Gültigkeitsbereich von Aussagen meinerseits wurde eingeschränkt. Mehrmals wurden Vorschläge oder Ideen, die ich als Leiter einbrachte, zurückgewiesen (»Das geht nicht.« »Das können wir nicht machen.« »Ich glaube nicht, dass es so funktioniert.«). Dieses Verhalten bezog sich allerdings nicht nur auf mich als Leitung, sondern auch auf Vorschläge von anderen Teilnehmenden. Die beschriebene Person äußerte zudem Schwierigkeiten, sich auf die zuvor beschriebene Methode des Forumtheaters einzulassen, wich wiederholt den gegebenen Regeln aus und suchte eigene Wege, die Kritik am Inhalt oder an 104

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der Methode einzubringen. Mir fiel es in dieser Situation schwer, weiterhin klar und themenbezogen zu agieren, da ich mittlerweile von diesem (aus meiner Wahrnehmung) »spielverderbenden« und »störenden« Verhalten abgelenkt und genervt war. Ich entschied mich jedoch dafür, die Forumtheater-Einheit wie geplant durchzuführen und mich nicht durch diese Störung, die ich vor allem bei mir selbst spürte, beeinflussen zu lassen. Die Rückmeldungen der anderen Teilnehmenden gaben mir zu verstehen, dass mein Verhalten der Situation angemessen war. Jedoch konnte ich mit dem Verhalten des Teilnehmers persönlich nicht gut umgehen, es beschäftigte mich noch bis spät in die Nacht und hielt mich wach. Bei mir weckt ein solches Verhalten eine innere Stimme, die ich vielleicht als »Oberlehrer« oder »strenger, bestrafender Richter« bezeichnen würde. Antreiber dafür ist der Wunsch, der Person »mal so richtig zu zeigen, wie nervig dieses Verhalten ist und wie sehr sie sich selbst dadurch blockiert.« Diese Überzeugung entsteht daraus, dass ich glaube, vermeintlich besser Bescheid zu wissen, was für diese Person gut ist. Aus eigener Erfahrung ist mir jedoch bewusst, dass eine solche Konfrontation nicht hilfreich ist und sehr destruktiv wirkt. Dennoch musste ich die Emotionen für mich gut verarbeiten, trotz bewusstem Loslassen und Atemübungen dauerte das eine Weile. Ein Gespräch mit dem Teilnehmer am gleichen Abend wäre daher auch nicht zielführend gewesen. Jedenfalls lernte ich aus dieser Situation, dass ich achtsam sein möchte, wie ich aufgrund von Involviertsein oder starken Rollensituationen daran gehindert werde, die Leitungsrolle angemessen auszufüllen. Hier scheinen Schattenseiten meiner Persönlichkeit durch, die ich für zukünftige Gruppensituationen »auf dem Schirm« haben möchte, um von ihnen nicht überrascht zu werden. Ich glaube, dass sich eine angemessene Reaktion auf solche Erlebnisse immer nur aus der Situation selbst ergibt. Wichtigste Voraussetzung dafür ist die Selbstkenntnis, dass solche Verhaltensmuster auch zu meiner Persönlichkeit gehören. In der Rückschau auf den Kurs erinnerte mich diese Situation an ein Erlebnis im zweiten Methodenkurs meiner Zertifikatsausbildung, in dem ich intensiven Kontakt mit einer solchen Rollenkonstellation gemacht hatte. In einer Aufstellung zur Frage nach der damals aktuellen Rollenverteilung in der Gruppe ordnete ich Rolle und Persönlichkeit

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mich intuitiv als Omega ein. Durch diese Selbstzuweisung der Rolle bewertete ich viele darauffolgende Situationen als Verstärkung meiner Ablehnungshaltung und steigerte mich in die Omega-Rolle hinein, bis ich fast zum Gegner und Verweigerer geworden war. Erst die Erkenntnis der Selbstzuweisung machte es mir möglich, die Bewertungen zu relativieren und wieder am Gruppengespräch teilzunehmen. Von daher war mir diese kritische Verhaltensweise nicht fremd, nur war ich dieses Mal innerhalb des Kurses in der AlphaRolle. Abschließend möchte ich noch darauf eingehen, wie der Sonntagmorgen zu einem weiteren Höhepunkt meines Wochenendkurses wurde. Aufgrund des Wunsches der Teilnehmenden, noch mehr als bisher auszuprobieren und das Gelernte anwenden zu können, entwarf ich folgenden Ablauf: In Zweier-Gruppen sollten die Teilnehmenden ein Coaching-Gespräch führen. Eine Person nimmt die Rolle des Coachs ein und strukturiert das Gespräch anhand eines Leitfadens, den ich basierend auf der Arbeit des Psychologen Michael Pantalon (2015) entworfen hatte. Dieser Leitfaden wurde zuvor allen Teilnehmenden präsentiert, zusätzlich wies ich auf einige Techniken des aktiven Zuhörens hin. Die zweite Person nahm die Rolle des Coachee ein und stellte eine persönliche Herausforderung vor, die in den nächsten zwanzig Minuten bearbeitet werden sollte. Aufgrund der ungeraden Gruppengröße nahm ich selbst an einem CoachingGespräch teil und erlebte beide Rollen. Da ich für diese Einheit die Leitungsrolle lediglich als Zeitgeber wahrnehmen musste, konnte ich nun vollständig am Anliegen meines Coachee Anteil nehmen. Im Rahmen dieses Gesprächs bearbeiteten der älteste Teilnehmer und der Teilnehmer, den ich als Störenfried wahrgenommen hatte, ihre persönlichen Themen in einer Zweier-Gruppe. Wie eine Blitzlichtrunde danach offenbarte, zeigten sich in diesem Gespräch einige Aspekte, die mich zuvor als Leitung beschäftigt hatten: Thema der persönlichen Herausforderung war der Umgang mit ungewohnten Situationen, das Zulassen von Kritik und die Offenheit für Neues. Mehr Klarheit brachte zudem das Gespräch mit dem Teilnehmer, den ich als störend empfunden hatte, auf der Rückfahrt nach dem Wochenende. Er sprach von sich aus an, dass er sehr kritisch sei und oftmals Ideen im Keim ersticke. Er beschrieb seine Schwierigkeiten 106

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mit diesem Verhaltensmuster und bat mich um eine Einschätzung, wie ich ihn erlebt hätte. Erleichtert über die Offenheit, konnte ich meine Ambivalenz seinem Verhalten gegenüber beschreiben und ihn ermutigen, zukünftig seine Kritiker-Stimme zurückzuhalten und auszuprobieren, was daraus entstehen kann. Nicht nur in diesem Fall, sondern auch bei einigen anderen Teilnehmenden kamen Themen im Coaching-Gespräch zum Vorschein, die wir bereits vorher im Forumtheater gestreift hatten. Positiv wurde hervorgehoben, dass der Fokus auf das aktive Zuhören den Coachees erlaubt habe, eigene Ideen zu entwickeln und die Kraft für diese Veränderungen aus sich selbst zu schöpfen.

Zusammenfassung und Fazit Mir hat es sehr geholfen, mein eigenes Leitungsverhalten unter dem Blickwinkel der partizipierenden Leitung zu betrachten. Durch die Auseinandersetzung mit diesem Konzept und den vier verschiedenen Dimensionen der partizipierenden Leitung (Hintner, Middelkoop u. Wolf-Hollander, 2009) konnte ich die Interaktion meiner eigenen Persönlichkeit mit der Leitungsrolle nochmals besser verstehen: ▶ In meiner Rolle als Leitung sind Axiome und Postulate Hilfestellungen für meine Wahrnehmung und geben Hinweise auf Schieflagen. ▶ Die vier verschiedenen Dimensionen von partizipierender Leitung (mitmachen, Anteil nehmen, Selbstaussagen treffen, involviert sein) sind mir jetzt aus eigener Erfahrung klar und deutlich präsent. Anhand dieser Kriterien kann ich verschiedene Methoden für unterschiedliche Phasen eines Prozesses auswählen und meine Wahrnehmung darauf schulen, sensibel für dominierende Dimensionen zu sein. Eine starke Ausprägung einer Dimension sollte bewusst gewählt werden, zugleich möchte ich mir in einem solchen Fall der negativen Nebeneffekte bewusst sein. Beispielsweise verschleiert ein starkes Involviertsein meine Fähigkeit, andere Bewertungen anzuerkennen. ▶ Themenzentrierte Interaktion fordert an vielen Stellen zur Balance auf: Autonomie und Interdependenz, Dynamische Balance, Ausgeglichenheit und angemessene Ausprägung in den DimensioRolle und Persönlichkeit

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nen der partizipierenden Leitung sind nur einige Beispiele. Diese Balanceakte kann ich am besten leben, wenn ich mir darüber im Klaren bin, wo und wie ich in Ungleichgewicht gerate. In diesem Anwendungsprojekt konnte ich einige neue Aspekte über meine Ausgeglichenheit und Nicht-Ausgeglichenheit besser verstehen. In der Interaktion zwischen Leitungsrolle und eigener Persönlichkeit liegt eine große Wirkmächtigkeit, die ich noch weiter durchdringen und auch bewusster einsetzen möchte. Diese Einsicht erinnert mich sehr daran, wie Otto Scharmer seine Theory U (Scharmer, 2009) zu gesellschaftlichem Wandel zusammengefasst hat: »We attend [this way], therefore it emerges [that way].«   (Scharmer, 2018) Meine Rolle als Leitung ist untrennbar mit meiner Persönlichkeit verbunden. Je aktiver ich diese Verbindung wahrnehme und zu nutzen weiß, desto stärker kann ich in einer Gruppe an den Themen arbeiten, die gerade anstehen. Im Zitat von Otto Scharmer spiegelt sich diese Verbindung darin wider, dass sich der Grad der Aufmerksamkeit, mit dem ich meinem eigenen Handeln begegne, direkt auf die Gruppe und die Qualität des Miteinanders auswirkt. Bestärkt durch diese Erkenntnisse möchte ich weiterhin aufmerksam mein Erleben von Gruppensituationen hinterfragen und verstehen – nun unterstützt durch das Konzept der partizipierenden Leitung. Im Rahmen der Reflexion dieses Kurses habe ich noch einen weiteren blinden Fleck meinerseits festgestellt. Ich hatte bereits teilweise versucht, prozessorientiert zu planen und mich so an die Bedürfnisse der Teilnehmenden anzupassen, allerdings war meine Vorbereitungsarbeit weiterhin sehr stark von Methoden und den daraus hervorgehenden Zielen geleitet. Wenn ich im Nachhinein meine Agenda durchgehe, kann ich für Einheiten, die sich in meiner Erinnerung »rund« anfühlen, ein klares Thema im Sinne der TZI formulieren. Für alle Einheiten, die ich als eher wackelig und unscharf in Erinnerung habe, fällt es mir schwer, ein Thema zu formulieren. Mir war in den TZI-Ausbildungskursen nicht wirklich klar geworden, wieso die Themenformulierung als Werkzeug hilfreich ist. Das Vor108

Johannes Hochholzer

gehen erschien mir mehr wie eine optionale Aufgabe zur Schärfung der Kommunikation, nicht wie eine Hilfe zur Orientierung in der Vorbereitung. Aufgrund dieser Erfahrung möchte ich nun versuchen, zukünftige Vorbereitungen stärker an Themen zu orientieren. Durch eine klare Formulierung kann ich auf direktem Wege herausfinden, welche Zielsetzungen (diskutieren vs. verstehen vs. erkunden etc.) und welche Sozialformen passend sind. Somit hat mir dieses Anwendungsprojekt geholfen, auch die Themenformulierung als weiteres Werkzeug in meinen Ausrüstungskoffer zu legen. Ich bin gespannt, in welchen Kontexten und Situationen ich diese Werkzeuge wieder aktiv ausprobieren und ihren Einsatz reflektieren darf. Ich bedanke mich bei meinem Zertifikats-Jahrgang, der mich über drei Jahre hinweg begleitet hat: Ihr habt mir sehr viele Lernchancen geboten, die ich mal mehr oder weniger mutig ergriffen habe! Die gemeinsame Zeit hat mich und mein Denken geprägt. Mein Dank geht auch an Kristin Fumagalli, die mich bei der Erstellung dieser Projektarbeit begleitet hat.

Literatur Boal, A., Spinu, M., Thorau, H. (2004). Theater der Unterdrückten: Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler. Frankfurt a. M. Farau, A., Cohn, R. C. (1984). Gelebte Geschichte der Psychotherapie: zwei Perspektiven. Stuttgart. Hintner, R., Middelkoop, T., Wolf-Hollander, J. (2009). Partizipierend Leiten. In M. Schneider-Landolf, J. Spielmann, W. Zitterbarth (Hrsg.), Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI) (S. 183–188). Göttingen. Pantalon, M. V. (2015). Motivation: Wie Sie sich und andere schnell und erfolgreich motivieren. München. Rubner, A., Rubner, E. (2016). Unterwegs zur funktionierenden Gruppe. Gießen. Scharmer, C. O. (2009). Theory U: Learning from the future as it emerges. San Francisco. Scharmer, C. O. (2018). Turning the Tide. Blog des Presencing-Institutes. https:// medium.com/presencing-institute-blog/turning-the-tide-living-inside-theaxial-shifts-3ed1ba4f5dfb (Zugriff am 29.12.2018).

Rolle und Persönlichkeit

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ANNA ROTH  Die Bedeutung des Chairperson-Postulats für Paarbeziehungen

In der vorliegenden Projektarbeit für den Abschluss der TZI-Grundausbildung für junge Erwachsene beschäftigte ich mich mit dem Chairperson-Postulat. Aus Gründen, die ich im zweiten Kapitel erläutern werde, entschied ich mich für dieses Element der TZI und dafür, die Projektarbeit im privaten Bereich anzusiedeln. Das Vorhaben bestand darin, das Chairperson-Postulat in meiner eigenen Paarbeziehung mit meinem Mann bewusst zu leben und einzuüben. Ich wollte beobachten und reflektieren, ob und was sich dadurch verändert – sowohl für mich persönlich als auch für die Dynamik unserer Beziehung. Die Idee war es, durch eine langfristige Durchführung in der Selbsterfahrung ergründen zu können, welche Rolle das Chairperson-Postulat in Paarbeziehungen spielt beziehungsweise spielen kann. Es gab folglich keine zeitlich begrenzte Veranstaltung für dieses Projekt. Ich habe mich im März 2016 entschieden, das ChairpersonPostulat als Selbsterfahrungsprojekt für meinen Mann und mich zu gestalten. Seitdem läuft dieser Selbstversuch und er ist auch mit Abschluss dieser Projektarbeit nicht zu Ende. Als ich die Idee zu dieser Projektarbeit hatte, habe ich dies mit meinem Mann besprochen und er war damit einverstanden, dass wir uns gemeinsam auf diese Selbsterfahrung einlassen. Ein institutioneller Rahmen war nicht gegeben, den Rahmen stellte unsere Paarbeziehung dar. Meine eigene Rolle in diesem Selbstversuch ist die der Partnerin innerhalb einer Paarbeziehung. Als ich das Projekt begann, waren mein Mann und ich seit sechs Jahren ein Paar, seit einem Jahr und drei Monaten standesamtlich verheiratet und standen kurz vor der kirchlichen Hochzeit. Zum damaligen Zeitpunkt hatten wir noch keine Kinder. Im Mai 2017 ist dann unser erster Sohn Jakob Immanuel zur Welt gekommen.

Begründung meines Projekts und des ausgewählten TZI-Elements Im Laufe der ersten Persönlichkeits- und Methodenseminare meiner Grundausbildung für junge Erwachsene bemerkte ich, dass ich das Chairperson-Postulat nicht nur sehr interessant, sondern auch sehr wichtig finde – im professionellen wie im privaten Kontext. 112

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Ich hatte den Eindruck, dass ich Aspekte des Chairperson-Seins in mein Handeln integrieren konnte und dies meinen Umgang mit anderen Menschen und mit mir selbst veränderte. Das ChairpersonPostulat war das Element der TZI, das meiner Wahrnehmung nach am unmittelbarsten und am stärksten mein Sein und Handeln beeinflusste. Den Fragen, was das Chairperson-Postulat für Ruth Cohn ausmachte und warum mich dies so sehr anspricht, wollte ich weiter auf den Grund gehen. Dieses verstärkte Interesse führte dazu, dass ich zu dem Entschluss kam, meine Projektarbeit in diesem Bereich zu schreiben. Die Idee, die Arbeit im privaten Bereich durchzuführen, hatte drei Gründe. Zum einen fiel die TZI-Ausbildung für mich in eine Zeit vieler Umbrüche: Studienwechsel, Umzug, etc. Dadurch befand ich mich in einer Phase, in der ich Engagements und Leitungen von Gruppen abgegeben und noch keine neuen angenommen hatte Daher erschien mir eine Anwendung im professionellen Bereich kaum realisierbar. Zum anderen bemerkte ich, dass mich das Chairperson-Postulat zu dem Zeitpunkt stärker in der Frage »Wie kann ich meine eigene Chairperson sein?« beschäftigte als in den Fragen »Wie leite ich und bin Chairperson zugleich? Wie begünstige und befördere ich in Gruppenkontexten das Chairperson-Sein der Teilnehmer*innen?«. Letztere sind ohne Frage wichtig für mich und meine Entwicklung als Leiterin, erschienen mir aber verfrüht – die Frage meines eigenen Chairperson-Seins und die Auseinandersetzung damit sind für mich eine wichtige Voraussetzung dafür, mich danach mit meinem Chairperson-Sein als Leiterin und der Förderung des Chairperson-Seins von Teilnehmer*innen beschäftigen zu können. Ein dritter Grund liegt in meiner beruflichen Zukunft: Ich denke darüber nach, eine Weiterbildung zur Ehe-, Familien- und Lebensberaterin zu machen und danach in diesem Bereich zu arbeiten. Ich habe ein großes Interesse daran, wie soziale Beziehungen gelingen können, und beschäftige mich mit dieser Frage insbesondere in Bezug auf Partnerschaft und Familie. Für eine beratende Tätigkeit ist es aus meiner Sicht ähnlich wie für eine leitende Tätigkeit sehr wichtig, seine eigene Persönlichkeit und eigenen Erfahrungen in Bezug auf die potenziell anstehenden Themen zu reflektieren, um mögliche Trigger-Punkte zu kennen und mit ihnen umgehen zu lerDie Bedeutung des Chairperson-Postulats für Paarbeziehungen

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nen. Somit sehe ich meine Projektarbeit nicht nur als persönliche Reflexion, sondern auch als Vorbereitung auf diese Ausbildung und die spätere Tätigkeit.

Die ersten Schritte in der Selbsterfahrung Meine Planung der Durchführung dieser Selbsterfahrung sah verständlicherweise anders als bei punktuellen beziehungsweise temporären Projekten im professionellen Bereich aus. Ich habe im Vorhinein, als ich die Idee zum Projekt hatte, ein langes Gespräch mit meinem Mann darüber geführt, dass ich versuchen möchte, das Chairperson-Postulat in unserer Paarbeziehung bewusster zu leben. Ich habe mit ihm meine Sorgen und Wünsche diesbezüglich geteilt und ihm Raum gegeben, seine Sorgen und Wünsche zu äußern. Hierbei hat es sich als sehr hilfreich erwiesen, dass wir beide gemeinsam die Grundausbildung durchlaufen haben und mein Mann somit mit der TZI und dem Chairperson-Postulat vertraut ist. So hatten wir eine gemeinsame Verständnisgrundlage. Ich habe mir konkret vor allem zwei Dinge vorgenommen und mein Vorhaben anhand von zwei konkreten Schritten geplant: Zum einen habe ich mir vorgenommen, mir in Kommunikations- und Entscheidungssituationen, die meinen Mann und mich betreffen, einen Moment des Innehaltens zu nehmen, um die Situation und meine Position in der Situation anhand der Kurzformel »schau nach innen, schau nach außen, triff eine verantwortete Entscheidung« zu reflektieren. Zum anderen war meine Idee, mir einmal in der Woche bewusst Zeit zu nehmen, um zu reflektieren, wie ich mich mit meinem Chairperson-Sein in der Paarbeziehung fühle, ob ich Veränderungen wahrnehme, ob meinerseits Gesprächsbedarf mit meinem Mann besteht. Hierzu wollte ich mir gegebenenfalls Notizen machen beziehungsweise Tagebuch führen. Darüber hinaus war es mir wichtig, meinen Mann zwischendurch aktiv anzusprechen und zu fragen, wie es ihm mit dem Umgang zwischen uns geht und ob er sich ein Gespräch darüber wünscht.

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Schritte auf dem Weg zu einem bewussten Chairpersonship Seit 2016 versuche ich mein Chairpersonship bewusst in meiner Paarbeziehung zu leben und einzuüben. Insgesamt ist das Projekt in etwa so verlaufen, wie ich es geplant hatte – wenn man es in Anbetracht der Ausgestaltung so formulieren möchte. Ich verstehe mein Projekt nicht als etwas, das ich nach der Ausbildung abschließe, sondern als (gemeinsamen) Entwicklungsweg. Auch wenn ich zwischenzeitlich Phasen hatte, in denen es mir weniger gut gelungen ist, an mir zu arbeiten, habe ich das Vorhaben insgesamt nicht aus den Augen verloren, sodass das Projekt in dieser Hinsicht so verlaufen ist wie geplant. Bezüglich meiner konkreten Vorhaben gab es unterschiedliche Entwicklungen: Das Vorhaben, in konkreten Situationen innezuhalten und mir einen Moment Zeit für eine bewusste (Re-)Aktion zu nehmen, konnte ich sehr gut realisieren. Anfangs war es erleichternd, dass mein Mann die TZI und das Chairperson-Postulat kennt und Verständnis dafür hatte, wenn ich einen Moment zum Innehalten benötigte, um in mich zu hören und mein inneres Team zu befragen (vgl. Cohn, 2009, S. 121 f.), nach außen zu schauen und so – bewusst und reflektiert – zu einer Position zu kommen. Mit entsprechender Übung war dafür immer weniger Zeit notwendig und es wurde zu einer Art Gewohnheit, die sich letztlich auch auf andere Situationen mit anderen Personen übertragen hat. Mein zweites Vorhaben hat sich als für mich in der Form nicht praktikabel erwiesen. Es kam mir etwas künstlich vor, mir beispielsweise jeden Sonntag um 17 Uhr Zeit für die Reflexion zu nehmen, und ließ sich auch schwer in meinen unregelmäßigen Alltag integrieren. Nach einer Phase der Frustration darüber kam ich zu dem Entschluss, diese Schwierigkeit und meine Unzufriedenheit damit erst einmal als solche anzunehmen und abzuwarten. Mit der entsprechenden Einstellung hat sich dann ergeben, dass sich quasi von selbst Räume und Zeiten eröffneten, in denen ich die größere Entwicklung meines Projekts beziehungsweise meiner Beziehung mit meinem Mann reflektieren konnte – so beispielsweise bei Spaziergängen, die ich sehr gern auch allein unternehme, bei MeditatioDie Bedeutung des Chairperson-Postulats für Paarbeziehungen

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nen, bei denen Gedanken zu meinem Projekt hochkamen, ich sie betrachten und wieder ziehen lassen konnte. Diese Art der Reflexion hat sich für mich deutlich natürlicher angefühlt als die vorher fest terminierte. Die Frustration löste sich auf, da ich bemerkte, dass ich auch ohne feste Zeiten genug Möglichkeiten in meinem Alltag fand, in Ruhe auf den Verlauf des Projektes zu schauen. Das Vorhaben, meinen Mann ab und zu auf das Projekt anzusprechen und ihm aktiv Räume des Gesprächs darüber anzubieten, habe ich anfangs sehr intensiv verwirklicht, da es mir wichtig war, ihm zu zeigen, dass ich mein Vorhaben nicht als Einbahnstraße verstehe. Im Laufe der Zeit habe ich dann zwei Dinge bemerkt, die dazu geführt haben, dass ich solche Räume weniger aktiv eröffnet habe: Zum einen ist mir aufgefallen, dass mein Mann – wie auch bei anderen Themen, die unsere Beziehung und unser Leben betreffen – von sich aus das Gespräch sucht und ich darauf vertrauen kann. Zum anderen wurde mir deutlich, dass sich, ähnlich wie für meine Reflexion, in unserem Alltag immer wieder Räume für solche Gespräche auftun, ohne dass ich dies aktiv herbeiführen muss: bei Wanderungen, während Bahnfahrten, in der Sauna etc. Ähnlich wie bei der Erfahrung mit meiner eigenen Reflexion nahm mir dies den Druck, dauerhaft Räume für die Reflexion schaffen zu müssen, und stärkte mein Vertrauen in uns, dass wir geübt genug darin sind, uns und unsere Beziehung – auch gemeinsam – zu reflektieren.

Reflexion meiner eigenen Erfahrungen innerhalb des Projekts Während meines Projekts und im Rahmen der Reflexion meiner Erfahrungen sind mir insbesondere vier Punkte bewusstgeworden: Erstens wurde mir klar, dass ein relativ großer Anteil der alltäglichen Kommunikation zwischen meinem Mann und mir aus dem Abgleichen und Zusammenbringen von Bedürfnissen besteht. Wenn sich Bedürfnisse und Wahrnehmungen decken, ist die Kommunikation leicht und es lässt sich schnell eine einvernehmliche Entscheidung treffen (beispielsweise haben wir beide Lust, den Abend im Theater zu verbringen, und entscheiden, gemeinsam dorthin zu gehen). Schwieriger ist es, wenn diese divergieren und es zu einer Art 116

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Aushandlungsprozess kommt. Hierbei ist mir aufgefallen, dass ich häufig nachgegeben beziehungsweise meine Bedürfnisse zurückgenommen habe, da ich die Auseinandersetzung scheute. Dies ging so weit, dass ich sie teilweise erst gar nicht geäußert habe. Im Laufe der TZI-Ausbildung ist mir bewusst geworden, dass ich tendenziell nach Harmonie strebe, und ich habe im Rahmen diverser Übungen versucht, dem auf den Grund zu gehen. Das ist für mich – nicht nur im Rahmen meiner Paarbeziehung – zu einem wichtigen Anliegen geworden, da ich in konkreten Situation zwar meist den Konflikt scheue, mir aber in der Reflexion im Nachhinein häufig bewusst werde, dass auch Konflikte notwendig sind, um sich (gemeinsam) zu entwickeln, und dass Konflikt nicht gleich Streit bedeuten muss. Ganz im Sinne des zweiten Postulats »Störungen nehmen sich Vorrang« ist es aus meiner Sicht nicht förderlich, Konflikten aus dem Weg zu gehen, da sich somit Unzufriedenheiten anstauen und Beziehungen belasten, was ich mir nicht wünsche und womit es mir nicht gut geht. Gleichzeitig sehe ich darin mittlerweile auch ein unfaires Verhalten dem jeweils anderen gegenüber, da ich ihm*ihr durch das Nicht-Artikulieren meiner Störung beziehungsweise meines Bedürfnisses gar nicht erst die Möglichkeit einräume, darauf zu reagieren und gemeinsam an einer guten Beziehung zu arbeiten. Warum ich mich immer wieder so verhalte, obwohl mir durch Reflexion schon klargeworden ist, dass ich mich anders verhalten möchte, habe ich versucht, in diversen Übungen im Rahmen verschiedener TZI-Kurse zu reflektieren. So beispielsweise in meinem zusätzlichen Persönlichkeitskurs, in dem es um Balance im Leben ging. Ich bin dankbar, dass ich im Laufe des vergangenen Jahres immer wieder üben konnte, Konflikte zuzulassen und auszuhalten, und die Erfahrung machen durfte, dass mich ein Konflikt im Nachhinein nicht mehr so stark belastet, wenn mein Mann und ich innerhalb eines Gesprächs gemeinsam zu einer Lösung gekommen sind, als wenn ich den Konflikt nicht angesprochen hätte. Für die Erfahrung, auf diese Art und Weise im Gespräch Konflikte lösen zu können und zu erleben, dass mal der eine und mal der andere und mal beide Kompromisse eingehen, bin ich sehr dankbar. Ich habe den Eindruck, dass diese Erfahrungen nicht nur unsere Beziehung stärken, sondern mich darauf vertrauen lassen, dass ich zu so einer Art der Konfliktlösung auch mit anderen Menschen fähig bin. Die Bedeutung des Chairperson-Postulats für Paarbeziehungen

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Zweitens wurde mir deutlich, dass Chairpersonship nichts mit Egoismus zu tun hat. Das ist nämlich einer der weiteren Gründe, warum ich meine Bedürfnisse in Konflikten oft zurückstelle, den ich mir im Rahmen diverser Übungen und Reflexionen bewusstmachen konnte. Ich möchte kein egoistischer Mensch sein. Nur habe ich den Eindruck, dass mich dies manchmal gehemmt hat, aktiv für meine Bedürfnisse einzustehen. Durch die Auseinandersetzung mit dem Konzept des Chairperson-Seins ist mir bewusst geworden, dass ein Einstehen für eigene Bedürfnisse nicht unbedingt Egoismus bedeutet. Ganz im Gegenteil: Ruth Cohn betont selbst, dass das Chairperson-Postulat vielfach falsch – nämlich als egoistisch und individualistisch – verstanden wurde und dass es das gerade nicht ist (vgl. Cohn u. Farau, 2001, S. 437). Gerade die Kurzformel »schau nach innen, schau nach außen, triff eine bewusste und verantwortete Entscheidung« hat mir gezeigt, dass ich aus Sorge, egoistisch zu sein, den Teil »schau nach innen« eher vernachlässigt habe. Deshalb versuche ich, innerhalb der Beziehung mit meinem Mann, die mir einen gewissen Schutzraum bietet, das nach innen Schauen einzuüben und für mich herauszufinden, welchen inneren Stimmen ich in welchen Situationen wie viel Gewicht geben möchte. Ein dritter Punkt, der teilweise schon angeklungen ist, ist das Ausstrahlen in andere Beziehungen. Zum einen beeinflussen frühere, andere Beziehungen mein Verhalten in der Paarbeziehung. Zum anderen beeinflusst auch die Art, wie mein Mann und ich unsere Paarbeziehung führen und gemeinsam daran arbeiten, wiederum mein Verhalten in anderen Beziehungen und Situationen. So habe ich bemerkt, dass es mir mittlerweile auch in anderen Kontexten leichter fällt, einer Innenschau Raum zu geben und bewusst zu entscheiden, was ich davon nach außen tragen möchte. Hierbei habe ich auch gelernt, der Erfüllung von Bedürfnissen proaktiv nachzugehen. Beispielsweise habe ich bei Tagungen und Seminaren meist ein starkes Bedürfnis, den Raum zu lüften. Bei einem dreitägigen Seminar im letzten Jahr habe ich daher entschieden, in der Anfangseinheit, in der Organisatorisches besprochen wird, aktiv zu werden und in der Runde mitzuteilen, dass mir frische Luft im Seminarraum ein Bedürfnis ist und ich daher in jeder Pause stoßlüften werde. Falls es jemandem zu kalt würde oder jemand aus anderen Gründen ein 118

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Problem damit hätte, könne man gern zu mir kommen und darüber sprechen. Diese klare Ansage von einer Teilnehmerin und nicht von der Leitung führte zunächst zu Verblüffung. Im Laufe des Seminars kamen jedoch einige Teilnehmer*innen zu mir und sagten mir, dass es ihnen häufig ähnlich ginge, sie sich aber nicht trauen würden, ihre Bedürfnisse in dieser Form einzufordern. Ich war dankbar für die Rückmeldung: Zum einen bemerkte ich, dass dieses klare Einfordern nicht als Egoismus wahrgenommen wurde, zum anderen sah ich, dass ich mit diesem Bedürfnis nicht allein dastehe. Ich habe einigen Teilnehmer*innen dann von meiner TZI-Ausbildung und dem Chairperson-Postulat erzählt, was auf großes Interesse gestoßen ist. Der vierte Punkt, der mir deutlich geworden ist und den ich zu Beginn meines Projekts in der Form nicht absehen konnte, ist die einschneidende Veränderung, die das erste eigene Kind mit sich bringt: für mich selbst und für meine Paarbeziehung mit meinem Mann. Aus zwei macht drei: aus zwei Personen, die ihr Leben zusammen gestalten und dabei versuchen, ihre Bedürfnisse zusammenzubringen, werden drei, wobei die dritte Person besonders am Anfang rein eigenbedürfnisorientiert handelt, dies nicht reflektiert und auch nicht im Gespräch kommunizieren kann. Ein Baby, das seine Eltern braucht, um Leben zu können, dominiert mit seinen Bedürfnissen. Jakob bei uns haben zu dürfen, ist für mich nicht nur ein großes Geschenk, sondern auch ein großes Wunder! In Bezug auf mein Lernanliegen, stärker auf meine eigenen Bedürfnisse zu schauen und für diese eintreten zu lernen, stellten seine Geburt und eigentlich bereits die Zeit der Schwangerschaft eine große Herausforderung dar. Denn durch seine Abhängigkeit fühlt es sich für mich viel schwieriger an, eigenen Bedürfnissen nachgehen zu können. Das nach außen Schauen gewinnt wieder an Gewicht. Natürlich kommt Jakob auch in meiner Innenschau vor: Ich habe das Bedürfnis, für ihn zu sorgen, mit ihm zu kuscheln etc. Aber ich habe auch Bedürfnisse, die mit seinen konfligieren: ausschlafen beispielsweise. Hierbei immer wieder auf seine Bedürfnisse einzugehen, ohne die eigenen Bedürfnisse komplett zu vernachlässigen, fällt mir manchmal durchaus schwer. Hinzu kommt die Sorge, dass mein Mann sich vernachlässigt fühlen könnte, da Jakob sehr viel von mir in Anspruch nimmt – zum Beispiel dadurch, dass ich ihn stille. Diese Sorge führte Die Bedeutung des Chairperson-Postulats für Paarbeziehungen

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dazu, dass ich versucht habe, meinem Mann so viel wie möglich bei der Erfüllung seiner Bedürfnisse entgegenzukommen. Wenn diese dann aber in Konflikt mit Jakobs Bedürfnissen standen, sah ich mich zwischen den Stühlen und habe mich selbst dabei manchmal ganz vergessen. Da mich dies sehr belastete, habe ich mit meinem Mann das Gespräch gesucht und mit ihm darüber gesprochen. Und wieder durfte ich eine wunderbare und bestärkende Erfahrung machen: Mein Mann machte mir klar, dass meine Bedürfnisse nach wie vor wichtig sind und zählen und ich mich nicht auf meine Mutterrolle reduzieren müsse, um eine gute Mutter zu sein. Er wies mich aber auch wieder darauf hin, dass es für ihn schwierig sei, wenn ich meine Bedürfnisse erst gar nicht äußere. Dies bestärkte mich darin, der Innenschau wieder mehr Raum zu geben, auch wenn ich weiß, dass die Bedürfnisse von Jakob momentan sehr dominant sind. Hierbei habe ich die interessante Erfahrung gemacht, dass bereits das Artikulieren meiner Bedürfnisse Ausdruck von Selbstliebe ist und ich mich durch das Bewusstwerden und Ausdrücken meiner Bedürfnisse mehr mit mir im Einklang fühle, auch wenn die Bedürfnisse häufig nicht erfüllt werden können. Insgesamt war mein Projekt für mich sehr bereichernd. Mir ist bewusst geworden, dass es mir wichtig war, mich dezidiert mit meinem Chairperson-Sein in meiner Paarbeziehung zu beschäftigen, da mein Mann meine wichtigste Bezugsperson darstellt und verschiedene Wünsche für diese Beziehung zusammen kommen, welche allerdings teilweise in Konflikt zueinander stehen: Ich möchte, dass wir als Paar durchs Leben gehen, in dem wir zwar jeweils immer wieder verschiedene Rollen einnehmen, aber uns als gleichberechtigte Lebenspartner*innen verstehen. Hierfür ist mir eine gelingende Kommunikation nicht nur in, sondern auch über die Beziehung sehr wichtig. Gleichzeitig möchte ich meinem Mann in verschiedener Hinsicht gefallen. Ich möchte ihm entgegenkommen und auf ihn zugehen, gemeinsam mit ihm einen Alltag gestalten, an dem er und ich Freude haben. Ich wünsche mir, dass er sich bei mir ganz fallen lassen und ganz er selbst sein kann. Ich habe den Eindruck, dass uns mein Projekt der Erfüllung dieser Wünsche noch nähergebracht hat und wir uns noch besser gegenseitig spüren können. Ich bin dankbar für die Impulse, die mir die TZI hierfür gegeben hat. 120

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Literatur Cohn, R. C., Farau, A. (2001). Gelebte Geschichte der Psychotherapie (3. Aufl.). Stuttgart. Cohn, R. C. (2009). Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion (16. Aufl.). Stuttgart.

Die Bedeutung des Chairperson-Postulats für Paarbeziehungen

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EMILIA RUDOLF  Gruppendynamische Prozesse mithilfe der TZI besser verstehen

Vorbemerkung Die Grundausbildung in der Themenzentrierten Interaktion hat meine Tätigkeit als Sprechtherapeutin sehr geprägt. Ich therapiere stotternde Menschen im Rahmen einer intensiven Gruppentherapie. Viele Aspekte der TZI fließen in diese Arbeit ein. Drei davon, die mir häufig in den Intensivkursen begegnen, möchte ich hier näher beleuchten. Dafür wird ein Kurs als Beispiel herangezogen, bei dem eine besondere Situation vorlag: Ein Kollege stieß erst nach einer Woche zu einem bereits laufenden Intensivkurs hinzu. Die erste Woche wurde von einer Kollegin und mir zu zweit geleitet, die zweite Woche war er als »neuer, zusätzlicher« Therapeut Teil des Teams. Es werden gruppendynamische Prozesse analysiert, entstandene Störungen beleuchtet und das Vier-Faktoren-Modell als Analyseinstrument genutzt. Als Basis dieses Artikels dient meine Abschlussarbeit für die Grundausbildung. Angegebene Literatur wird als Grundlage genutzt und entsprechend nicht wörtlich zitiert, die Reflexion des eigenen Erlebten steht im Vordergrund.

Intensive Sprechtherapie in der Gruppe – meine Arbeit mit stotternden Menschen Bei meiner beruflichen Tätigkeit werden stotternd sprechende Menschen in Gruppen intensiv therapiert. Die Klient*innen absolvieren eine einjährige Sprechtherapie, bei der sie eine neue Sprechweise erlernen, die ihnen Sprechkontrolle und -sicherheit vermittelt, sodass die Betroffenen flüssiger sprechen und sich mit mehr Sicherheit und Vertrauen in Kommunikationssituationen begeben können. Die Therapie startet mit einem zweiwöchigen stationären Kurs in Kassel. Auf solch einen Intensivkurs werden sich die Ausführungen in diesem Artikel beziehen. Der Kurs findet in einer Gruppe von acht Betroffenen, zwei Praktikant*innen und drei Therapeut*innen statt. In zwei Wochen werden 150 Stunden Therapie absolviert, entsprechend wird von morgens acht Uhr bis abends neun Uhr gemeinsam am Sprechen gearbeitet. In der ersten Woche wird das motorische Training der neuen Sprechweise fokussiert. Im Zuge dessen befindet sich die 124

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Gruppe überwiegend gemeinsam in der Therapieeinrichtung. In der zweiten Woche wird das Erlernte in alltagsnahe Situationen transferiert, weshalb mehrfach in die Stadt gefahren wird, um Fragen in Geschäften zu stellen, Vorträge vor Fremden zu halten oder Passant*innen anzusprechen. Das Leitungsteam besteht aus drei Therapeut*innen und zwei Praktikant*innen. Es wird in einem Schichtsystem gearbeitet, sodass zwischen zehn und achtzehn Uhr zwei Therapeut*innen im Kurs anwesend sind. In der Zeit morgens von acht bis zehn Uhr und abends von neunzehn bis einundzwanzig Uhr leitet ein*e Therapeut*in die Gruppe allein an. Die Praktikant*innen können die Leiter*innen bei organisatorischen Aufgaben, der Planung von Einheiten und der Durchführung von einzelnen Übungen unterstützen. Sie sind darüber hinaus ein wichtiges »Bindeglied« zur Gruppe, da sie diese über die Therapiezeit hinaus auch in den Pausenzeiten begleiten. Entsprechend nehmen sie gruppendynamische Prozesse und die Entwicklung einzelner Klient*innen aus einer besonderen Perspektive wahr. Das Team der Therapeut*innen und Praktikant*innen bespricht sich zum Schichtwechsel mehrfach am Tag.

Impulse aus der TZI Die Ideen der TZI haben meine Arbeit in vielerlei Hinsicht bereichert. Im Folgenden werden die drei Aspekte gruppendynamische Prozesse, Störungspostulat und Vier-Faktoren-Modell näher beleuchtet und anhand des Kurses mit der Besonderheit eines hinzukommenden Therapeuten genauer ausgeführt. Gruppendynamische Prozesse als Analysefaktor Die Beobachtung gruppendynamischer Prozesse erscheint mir als besonders wichtiger Gesichtspunkt in der Arbeit mit Gruppen. In dem hier herangezogenen Intensivkurs ist die Analyse dieser Prozesse interessant, da das Hinzukommen des neuen Therapeuten Besonderheiten für die Gruppendynamik bedeutete. Innerhalb der ersten Woche konnten meine Kollegin und ich die Teilnehmer*innen bereits intensiv kennenlernen, wodurch die Gruppe sowie das Leitungsteam erste Phasen im gruppendynamiGruppendynamische Prozesse mithilfe der TZI besser verstehen

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schen Prozess durchlaufen hatten. Meiner Ansicht nach befanden sich die meisten Klient*innen bereits in der Vertrautheitsphase (vgl. Klein, 2016): Das Gemeinschaftsgefühl war stark ausgeprägt, die Teilnehmenden agierten als Gruppe und lösten mit viel Engagement gemeinsam Aufgaben. Bereits die Gemeinsamkeit des Stotterns als Grund für die Therapie stärkt oft das Zusammengehörigkeitsgefühl, der Austausch untereinander und das Erfahren einer neuen sprecherischen Kontrolle fördern dies ebenso. Schnell entwickelten sich in dieser Gruppe interne sprachliche Ausdrucksweisen, die Regeln im Umgang miteinander waren grundlegend abgesteckt. Diese Vertrautheitsphase der Gruppe wurde durch das Hinzukommen einer weiteren Person gestört. Der »neue« Therapeut muss als neuer Teil der Gruppe erst eine Orientierungsphase durchlaufen, um seine Rolle, den Platz in der Gruppe und den Umgang untereinander auszuloten (vgl. Klein, 2016). Seine Rolle ist zwar institutionell vorgegeben, da er als Therapeut eine Leitungsfunktion einnimmt. In Bezug auf die individuelle Gruppe ist es trotzdem unabdingbar, seine persönliche Rolle mit den anderen Teilnehmenden zu definieren. Auch die Gruppe müsste sich in Bezug auf die neue Person in eine Orientierungsphase begeben, ist miteinander aber bereits in der Vertrautheitsphase. So besteht die Gefahr einer Störung – sowohl beim Hinzugekommenen als auch bei einzelnen Teilnehmenden oder im Gruppengefühl, entsprechend auf der Ebene der ICHs und des WIRs (vgl. Farau u. Cohn, 1984). Als Gruppenleitung war es unsere Aufgabe, das Ankommen der Person in der Gruppe so zu gestalten, dass es sich nicht zu einer Störung entwickelt. Nach Irene Klein (2016) ist es sinnvoll, die Orientierungsphase als Leiter*in durch Kleingruppenarbeit zu befördern. Dies haben wir intuitiv umgesetzt, indem wir in den ersten Tagen der zweiten Woche vermehrt Kleingruppen bilden ließen, sodass der hinzugekommene Therapeut die Klient*innen gesondert intensiver kennenlernen konnte und nicht nur den Eindruck der Großgruppe hatte. Die andere Ebene, die durch die Erweiterung des Leitungsteams nach einer Woche beeinflusst wurde, ist die Gruppe der Leiter*innen. Wir kennen uns zwar bereits aus anderen Kursen und arbeiten häufig miteinander, trotzdem ist jeder Kurs ein neues Finden und Miteinander-Arbeiten. In der ersten Woche werden auch innerhalb der 126

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Leitung Rollen, Regeln, Ziele und Arbeitsweisen ausgehandelt. Meine Kollegin und ich arbeiten nach ähnlichen Methoden und mit einer sehr ähnlichen Grundhaltung, da wir das gleiche Studium und ähnliche Zusatzausbildungen (meine Kollegin ist systemische Beraterin) absolvierten. In der Therapie wird grundsätzlich ein Handbuch mit vorgegebenen Inhalten und groben Abläufen genutzt, um trotz der wechselnden Leitungsteams einen Standard für alle Kurse zu gewährleisten. Je nach Gruppe, Klient*innen und Leiter*innen kann dieses aber frei ausgelegt werden. So nutzen meine Kollegin und ich aufgrund der Ausbildung zu Sprechwissenschaftlerinnen viele Übungen zur Stimme und Kommunikation. Wir geben der Gruppe viel Spielraum zur eigenen Entdeckung und zum Ausprobieren und appellieren stark an die Selbstverantwortung der Teilnehmenden. Entsprechend der kongruenten Arbeitsweise konnten wir in der ersten Woche ein sehr vertrautes und harmonisches Miteinander entwickeln. Die Absprachen verliefen rasch und auch unser Eindruck der Teilnehmenden und das Gefühl für die Gruppe fielen ähnlich aus. Mit dem Hinzukommen des anderen Kollegen fühlte ich mich in dieser Vertrautheit gestört – weniger von ihm als Person als vielmehr davon, dass ich nun weniger Zeit in der Gruppe verbringen würde, die Absprachen aufwändiger würden und die Notwendigkeit bestünde, stärker konform nach Handbuch arbeiten zu müssen und weniger freie Ideen ausprobieren zu können. Darüber hinaus arbeitet mein Kollege viel direktiver. Er doziert häufig und nutzt vermehrt Gespräche in der gesamten Gruppe und weniger praktische Übungen zum Experimentieren. Dieses Störungsgefühl scheine ich unbewusst in meinem Verhalten geäußert zu haben, denn mein Kollege sprach mich am Ende des Kurses darauf an, dass er sich »als Mann vor einer weiblichen Front« sehe. Die Integration in das Leitungsteam schien folglich nicht gelungen zu sein. Die Analyse und Beobachtung der gruppendynamischen Prozesse sowohl auf der Ebene zwischen Klient*innen und Leitung als auch innerhalb der Leitungsgruppe war mir zum Zeitpunkt dieses Intensivkurses noch nicht gegenwärtig. Die daraus entstandenen Störungen zeigen, wie hilfreich ein bewusstes Wahrnehmen der Prozesse (am besten schon im Prozess) sein kann und wie dabei die TZI eine Orientierungsfunktion wahrnehmen kann. Gruppendynamische Prozesse mithilfe der TZI besser verstehen

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Das Störungspostulat als Richtungsweiser Wie in den obigen Ausführungen bereits angeführt werden konnte, verbirgt sich in der besonderen Situation dieses Kurses großes Potenzial für Störungen. Leider ist es in der konkreten Situation nicht gelungen, diesen Störungen entsprechend dem Postulat von Ruth Cohn (Farau u. Cohn, 1984) den Vorrang einzuräumen, den sie sich nehmen. Wie im obigen Kapitel bereits angesprochen, nahmen sich innerhalb der Leitungsgruppe Störungen den Raum, da sich der »neue« Kollege nicht von den anderen Leiterinnen eingebunden fühlte. Er bezog dies stark auf das Geschlecht (auch die Praktikantinnen waren weiblich). Meines Erachtens spielte dies allerdings eine untergeordnete Rolle. Vielmehr konnten wir Probleme während der Kurszeit, die aufgrund meines oben beschriebenen Gefühls des Gestört-Seins, der unterschiedlichen Haltung und Arbeitsweise sowie differierender Methodik bestanden, nicht klären. Erst in der Nachbereitung des Kurses wurde dies angesprochen. Darüber hinaus spielten eventuell unterschiedliche Persönlichkeitsstrukturen eine Rolle. Mein Kollege erscheint tendenziell hysterisch ausgeprägt – um das Modell von Fritz Riemann (2009) heranzuziehen – wenn nicht sogar mit einer Tendenz zum Narzissmus im Verständnis von König (2010). Im Verhalten äußerte sich dies in monologartigen Reden in theatraler Sprechweise oder durch das enge emotionale Binden einzelner Teilnehmer*innen an sich. Ich erscheine hingegen eher depressiv (vgl. Riemann, 2009). Durch meine eigene Angst vor Ablehnung und Kränkung ordnete ich mich meinem Kollegen schnell unter, obwohl ich sonst selbst eher forsch als Leiterin agieren kann. Auch meine stark ausgeprägten zwanghaften Anteile (vgl. Riemann, 2009) kollidierten meist mit der Persönlichkeit meines Kollegen. Ich gehe sehr planvoll vor und benötige diese Strukturierung als haltgebenden Anker. Mein Kollege leitet spontan lebendig und absolut im Jetzt, sodass beispielsweise Zeiten keine Rolle für ihn spielten. Dies verunsicherte mich und ließ mich noch stärker in eine Rückzugshaltung gehen. Auch auf die Beziehung zur Gruppe der Klient*innen hatte seine Persönlichkeitsstruktur großen Einfluss. Durch die von meinem Kollegen ausgestrahlte Souveränität und Kompetenz konnte er sich anfangs schnell in die Gruppe einfügen. Die fordernde und Raum 128

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einnehmende Art hingegen hat einige Teilnehmer*innen nach meinem Gefühl verschreckt und überfordert. Einzelne Klient*innen wirkten zum Teil verwirrt von seinen Ausführungen oder zeigten Widerstand gegenüber seinen Arbeitsaufträgen. Eine Person hatte Schwierigkeiten, sprecherisches Feedback von ihm anzunehmen, und begab sich in dieser Situation in eine klare Abwehrhaltung. Im Sinne der TZI wäre es sinnvoll gewesen, den einzelnen Störungen der Klient*innen und innerhalb des Leitungsteams den Raum zu geben, den sie sich nehmen, sie sichtbar und somit bearbeitbar zu machen (vgl. Farau u. Cohn, 1984). Leider haben wir dies nicht getan. Im Gegenteil, wir haben dies sogar vermieden: Wir wählten die Einzel- oder Kleingruppenbetreuung danach, welcher Teilnehmenden gut mit dem »neuen« Therapeuten auszukommen schienen. Während der Planungsrunden im Leitungsteam zogen wir uns stark auf inhaltliche und methodische Anliegen zurück. Die Störungen nahmen sich Vorrang und waren deutlich spürbar. Auf sie wurde aber nicht, wie im Postulat beschrieben, adäquat reagiert. Während des Kurses ist es mir nicht gelungen, das Geschehene einzuordnen. Ich denke, dass die Störungen sich nicht zum Konflikt entwickelten, ist lediglich der Zeit zu verdanken, da der Kurs vorher beendet wurde und wir zumindest die Störungen im Leitungsteam durch gegenseitige Rückmeldungen und Reflexionen im Nachhinein klären konnten. Das Vier-Faktoren-Modell als Hilfestellung Als besonders hilfreiches Instrument der TZI sehe ich die Idee der dynamischen Balance – für die Planung einzelner Einheiten, die Auswahl der Methoden und als Möglichkeit, mit Störungen umgehen zu können. Um der wie oben beschriebenen Problematik der unterschiedlichen gruppendynamischen Phasen (die Gruppe befand sich in der Vertrautheitsphase, durch den hinzugekommenen Therapeuten wurde eine Orientierungsphase benötigt) entgegenzuwirken, nutzten wir bewusst das Vier-Faktoren-Modell nach Ruth Cohn (Farau u. Cohn, 1984) als Analyse- und Planungshilfsmittel für die ersten Tage nach dem Hinzukommen. Besonders in den ersten beiden Tagen nach der »Leitungserweiterung« achteten wir auf die von Ruth Cohn (Farau u. Cohn, 1984) Gruppendynamische Prozesse mithilfe der TZI besser verstehen

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beschriebene dynamische Balance. Wir führten bewusst Übungen für das WIR durch, bei denen auch die Leitung teilnahm. Das ES sollte vorerst etwas in den Hintergrund treten, die einzelnen ICHs wollten wir zum WIR zusammenführen. Konkret haben wir hierfür Teambildungsspiele und Bewegungsspiele in der Gruppe durchgeführt, gemeinsamen Erfahrungsaustausch im Plenum auch mit den Therapeut*innen angeregt und mehr Small-Talk- und Spielerunden in gemütlicher, gelöster Atmosphäre angeleitet. Das WIR wurde vor allem durch gemeinsam zu lösende Aufgaben fokussiert. Das ICH konnte in Form von eigenen Erfahrungen und individuellen Stärken eingebracht werden, das ES wurde lediglich in den Erfahrungs- oder Small-Talk-Runden mitgedacht. Der GLOBE wurde bewusst angenehm und lockerer gestaltet, in dem wir häufig die Sitzecke mit Sofas wählten, Getränke und Süßigkeiten bereitstellten und Themen aus dem Leben der Klient*innen von diesen einbringen ließen. Leider gestaltete sich die weitere Umsetzung nach der beschriebenen Idee schwieriger, da in der zweiten Woche häufig In-VivoÜbungen in der Stadt durchgeführt werden. Diese finden stets in Kleingruppen statt. Zwei bis drei Personen gehen mit eine*r Therapeut*in gemeinsam in Geschäfte und stellen Fragen mit der neu erlernten Sprechweise. Die jeweilige Situation wird individuell vorund nachbereitet. Diese Übungen fokussieren entsprechend das ICH, da an persönliche (häufig auch negative) Erlebnisse angeknüpft wird und neue Erfahrungen gemacht werden. Jede*r Klient*in fokussiert dabei die eigenen Potenziale und Ressourcen in Sprechsituationen. Bereits aus zeitlichen Gründen konnten wir kaum Übungen für das WIR durchführen. Auch ist es schwieriger für den hinzugekommenen Therapeuten, die persönliche Betreuung für die Teilnehmenden zu übernehmen. Er muss sich ad hoc in eine Situation begeben, die große Vertrautheit und Sensibilität für die individuellen Schwierigkeiten der Klient*innen voraussetzt, ohne diese gut zu kennen. Trotz der vorangegangenen Tage des Kennenlernens bestand für ihn nicht die nötige Nähe zu den Teilnehmenden, die der Prozess der InVivo-Übungen normalerweise benötigt. Hinzukommend wird ein enormer GLOBE der Einzelnen eingebracht und der momentan bestehende GLOBE, beispielsweise in Form der Umgebungseinflüsse der Geschäfte, spielt eine große Rolle. Vieles aus den persönlichen 130

Emilia Rudolf 

Befindlichkeiten, Vorerfahrungen, Ängsten und Bedenken können wir als Therapeut*innen nur erahnen. Kennen wir die Klient*innen bereits intensiver und haben ein Vertrauensverhältnis aufbauen können, wird die Situation deutlich leichter bewältigt. Ebendies hatte bei unserem Kollegen aufgrund seiner geringen Zeit in der Gruppe (1,5 Tage) noch nicht in der nötigen Tiefe stattfinden können. Die Form der Kleingruppe sowie die freie Gruppenwahl erleichterten ihm die Situation allerdings etwas. Dieses Beispiel zeigt aus meiner Sicht gut, wie sehr das VierFaktoren-Modell und insbesondere der Gedanke der dynamischen Balance eine Hilfestellung in Kursen sein können. In einigen Fällen jedoch kollidiert dies mit meiner Arbeitswirklichkeit, ich kann die Idee nur teilweise umsetzen und muss diese Grenzen akzeptieren.

Was ich gelernt habe Wie aus meinen Ausführungen ersichtlich wurde, konnten wir auf die besondere Situation des Intensivkurses nicht gelingend eingehen. Lediglich die Fokussierung der vier Faktoren wurde bewusst vorgenommen. Das WIR wurde von uns in den Vordergrund gerückt. Die beschriebenen Störungen und gruppendynamischen Prozesse geschahen ohne aktive Reflexion und vieles Erlebte konnte ich folglich nicht einordnen. Besonders bestehende Störungen bei einzelnen Teilnehmenden, aber vor allem bei meinem Kollegen wurden nicht bearbeitet. Im Nachhinein fand Letzteres zwar statt, es wäre aber in der Situation des Kurses sicher sinnvoller gewesen. Hilfreich hätte es zudem sein können, einen anderen Zeitpunkt zum Hinzukommen des Kollegen zu wählen, grundlegend teambildende Maßnahmen in den Ablauf einzuarbeiten und ein offenes Feedback der Teilnehmenden, wie es ihnen gerade geht, einzuholen, aber auch die Rückmeldungen im Leitungsteam einzufordern, ob sich jede*r wohlfühlt in der eigenen Rolle (ICH), Gruppe (WIR) und Situation (GLOBE). Für zukünftige Konstellationen dieser Art werde ich persönlich versuchen, Störungen bewusster wahrzunehmen und ihnen Raum zu geben, das Störungspostulat also aktiver umzusetzen. Ferner möchte ich durch diese Erfahrung mein Verhalten gegenüber eines*r hinzuGruppendynamische Prozesse mithilfe der TZI besser verstehen

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kommenden Kolleg*in bewusster wahrnehmen und positiv beeinflussen, sodass er*sie sich nicht mehr vor einer »Front sieht«. Die hier angeführten Aspekte der TZI können mir dabei sicher helfen und werden meine Arbeit auch in Zukunft bereichern.

Literatur Farau, A., Cohn, R. C. (1984). Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Zwei Perspektiven. Stuttgart. Klein, I. (2016). Gruppen leiten ohne Angst. Themenzentrierte Interaktion (TZI) zum Leiten von Gruppen und Teams (15. Aufl.). Hamburg. König, K. (2010). Kleine psychoanalytische Charakterkunde (10. Aufl.). Göttingen. Riemann, F. (2009). Grundformen der Angst (39. Aufl.). München.

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Emilia Rudolf 

THOMAS E. SPINRATH Demokratielernen durch die Stärkung der Chairperson Das Leiten von Seminaren für Schüler*innenvertretungen mithilfe der TZI

»Die Demokratie von morgen braucht aktive Demokratinnen und Demokraten, die nicht nur überzeugt, sondern auch fähig sind, politische Verantwortung zu übernehmen.« Mit diesen Worten beschreibt Lothar Krappmann (2017, S. 30) eine der zentralen Herausforderungen für unsere demokratische Gesellschaft, die nicht zuletzt in Zeiten der zunehmenden Politisierung junger Menschen von großer Relevanz ist. Bei der Frage, wo Kindern und Jugendlichen Raum zum Demokratielernen ermöglicht wird, sollte in meinen Augen die Schule als zentrale Sozialisationsinstanz eine entscheidende Rolle spielen. So kann in Nordrhein-Westfalen beispielsweise die Schüler*innenvertretung die große Chance eröffnen, durch gelebte Partizipation Demokratie praktisch einzuüben. Gleichzeitig geht es bei der Schüler*innenvertretung nicht nur um eine in die Zukunft gerichtete pädagogische Maßnahme, sondern im besten Fall um die aktive Mitgestaltung eines für ihr Leben zentralen Lern- und Lebensortes durch die Schüler*innen. »Demokratie in der Schule ist beides zugleich: erstens Lern- und Probierform, Vorbereitung auf den gesellschaftlichen Ernstfall; und zweitens selbst Ernstfall: die Schule als Demokratie« (Edelstein, 2017, S. 269 f.). Aber auch gelungene Schüler*innenvertretungsarbeit gilt es zu lernen und die Schüler*innen in ihrem Engagement, ihren Rechten und ihrem Demokratiebewusstsein zu stärken. Aus diesem Grund leite ich seit einigen Jahren meist dreitägige Seminare für Schüler*innenvertretungen, welche in Tagungshäusern außerhalb der Schule stattfinden. Dabei ist es mein Ziel, einen Raum für die Schülervertreter*innen zu schaffen, sich mit ihrer SV-Arbeit auseinanderzusetzen, diese kritisch zu reflektieren, neue Ideen zu entwickeln und an konkreten Projekten und Vorhaben zu arbeiten. Je nachdem, welche Anliegen die Teilnehmenden mitbringen und inwieweit die Schüler*innenvertretung bereits ein lebendiges demokratisches Miteinander gestaltet, versuche ich auf den Seminaren beispielsweise rechtliche Grundlagen von SV-Arbeit zu vermitteln, demokratische Praxis in Form von Planspielen einzuüben oder den Schüler*innen Tipps für das Projektmanagement an die Hand zu geben. Das Ziel, auf diesen Seminaren Demokratielernen zu ermöglichen, stellt mich als Seminarleitung vor zwei Herausforderungen: 136

Thomas E. Spinrath

Erstens ist es mein Anspruch, auf den Seminaren gelebte Partizipation zu ermöglichen und als Leitung sensibel mit Macht umzugehen. Zweitens stellt sich mir die Frage, wie ich die Mitverantwortung jede*r Einzelnen stärken kann – und zwar das Wahrnehmen von Mitverantwortung für den Seminarprozess als Basis für lebendiges Lernen und gelebte Partizipation sowie das Wahrnehmen von Mitverantwortung für die Gestaltung der Schule und der Schüler*innenvertretungsarbeit als Basis für gelebte Demokratie in Schulen. Im Folgenden möchte ich daher reflektieren, wie ich bisher mit diesen Herausforderungen umgegangen bin und welche Hilfestellung hierbei zwei Elemente der Themenzentrierten Interaktion bieten. Zunächst setze ich mich mit der Rolle des Chairperson-Postulats auf meinen SV-Seminaren auseinander, bevor ich die Funktion von partizipierender Leitung für das Demokratielernen auf diesen Seminaren beleuchten werde. Abschließend diskutiere ich das Spannungsverhältnis zwischen meinem Partizipationsanspruch und meiner Machtposition als Leitung, welches sich in meinen Augen in Bezug auf das Ziel gelebter Demokratie ergibt.

Demokratielernen durch Stärkung der Chairperson Für das Ziel, die Mitverantwortung der Teilnehmenden zu stärken, stellt für mich innerhalb der TZI das Chairperson-Postulat eine große Inspirationsquelle dar. Ruth Cohn formuliert dazu: »Leite dich selbst bewußt: sieh nach innen, wie es in dir aussieht, was du möchtest und sollst, und nach außen, was es dort gibt, und entscheide zwischen allen Gegebenheiten, was und wie du etwas tun willst« (Cohn, 1975, S. 214). Das Chairperson-Postulat ermutigt, bewusste Entscheidungen in der Abwägung zwischen eigenen Bedürfnissen, den Bedürfnissen anderer bzw. der Gruppe, den Erfordernissen der Aufgabe einer Gruppe und den Möglichkeiten und Grenzen des GLOBEs zu treffen (Röhling, 2009, S. 96). In Bezug auf den Seminarkontext bedeutet dies, dass die Teilnehmenden sich ihrer eigenen Wünsche und Bedürfnisse sowie den Bedürfnissen und Anforderungen der Umwelt bewusst werden und sich daraufhin bewusst entscheiden, wie sie am Seminar teilnehmen und dieses mitgestalten möchten. Für die Frage der Mitverantwortung der Schüler*innen  Demokratielernen durch die Stärkung der Chairperson

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vertretung sehe ich hier zwei entscheidende Dimensionen: Erstens das Ziel, dass die Teilnehmenden sich die Frage stellen, was ihnen während des Seminars wichtig ist, und sich aktiv mit ihren Bedürfnissen einbringen und Wünsche für den Seminarprozess formulieren. Zweitens die Ermutigung, bewusst die Bedürfnisse anderer Schüler*innen wahrzunehmen und sich besonders in der Rolle als Schüler*innenvertreter*in mitverantwortlich für diese Bedürfnisse und das Einstehen für jene zu fühlen. Insofern kann gelebtes Chairperson-Sein auch als eine notwendige Basis für gelebte Demokratie angesehen werden. Denn demokratisches Zusammenleben erfordert das Einstehen für die eigenen Bedürfnisse und die Wahrnehmung von Bedürfnissen anderer Menschen, die womöglich mit den eigenen in Konflikt stehen. Als Leiter eines Seminars der politischen Bildung sehe ich mich in besonderer Verantwortung, die Selbstverantwortung der Teilnehmenden als Chairperson zu stärken. Denn »für die Leitenden von Lehr-, Lern-, Arbeits- und anderen Gruppen wird das Chairperson-Postulat dann Maxime für ihr leitendes Handeln: nämlich ihre Leitung so auszurichten, dass die Mitglieder der Gruppe so gut wie möglich in die Lage versetzt werden, die Selbstverantwortung für sich wahrzunehmen.« (Röhling, 2009, S. 97) Das Bewusstsein für diese Aufgabe ist bei mir in dieser expliziten Form erst im Laufe der TZI-Grundausbildung gewachsen. Mich beschäftigt deshalb fortwährend die Frage, wie ich dieses Ziel in einem SV-Seminar konkret umsetzen kann. Stärkung der Mitverantwortung für den Seminarprozess Bei meinen Überlegungen möchte ich zunächst bei der Stärkung eines Mitverantwortungsbewusstseins für den Seminarprozess ansetzen. Denn wenn es mir gelingt, dieses Mitverantwortungsbewusstsein im Seminarkontext zu wecken oder zu stärken, wird dies in meinen Augen auch auf den Schulkontext ausstrahlen, wenngleich es sich nicht eins zu eins übertragen lässt. Gleichzeitig bietet die Wahrnehmung von Mitverantwortung für den Seminarprozess 138

Thomas E. Spinrath

durch die Teilnehmenden erst die Basis für eine Struktur, die Raum zur Partizipation lässt. Es sind insbesondere zwei auf den ersten Blick recht unspektakuläre Elemente, die ich zu integrieren begonnen habe, die mich nach meiner Erfahrung meinem Ziel der Stärkung der Chairperson nähergebracht haben. Erstens habe ich entschieden, meine Erwartung der Mitverantwortung den Teilnehmenden zu Beginn eines Seminars explizit transparent zu machen. Dies habe ich in den letzten Seminaren im Rahmen der Erwartungsabfrage eingebaut. Ich habe die Teilnehmenden gebeten, Wünsche und Erwartungen an das Seminar zu formulieren, um diese in die Seminargestaltung einfließen zu lassen. Dazu habe ich unterschiedliche Methoden gewählt, immer jedoch gab es eine Plenumsrunde, bei der die Wünsche offen formuliert wurden. Am Ende der Runde habe ich mich angeschlossen und etwa Folgendes geäußert: »Ich habe auch einen Wunsch an euch formuliert, nämlich Verantwortung zu übernehmen. Für mich bedeutet Schüler*innenvertretung, in der Schule Verantwortung zu übernehmen. Deswegen wünsche ich mir, dass auch ihr Verantwortung für den Verlauf dieses Seminars übernehmt. Natürlich trage ich als Leitung nochmal eine besondere Verantwortung, aber ich wünsche mir von euch, dass ihr aktiv eure Bedürfnisse und Ideen einbringt. Das kann heißen, dass ihr eine Pause einfordert. Oder dass ihr ein Thema habt, was euch wichtig ist und euch bisher zu kurz gekommen ist. Oder dass ihr sagt, dass etwas unklar ist und ihr darüber sprechen wollt. Und erinnert mich gerne an Verabredungen, die wir getroffen haben, falls ich – was ich nicht hoffe – sie nicht einhalte.« Da bei gelungener Mitverantwortung der Teilnehmenden viele Faktoren eine Rolle spielen, kann ich kaum beurteilen, wie stark die Wirkung einer solchen Äußerung ist. Ich bin jedoch überzeugt davon, dass es wichtig ist, mein Verständnis von Mitverantwortung transparent zu machen, weil andere Leitungen, die die Teilnehmenden bisher in unterschiedlichen Kontexten erlebt haben, dies womöglich anders gehandhabt haben. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass auf den Seminaren, auf denen ich den Wunsch explizit formuliert habe, mehr und gerade auch jüngere Schüler*innen ihre Bedürfnisse und Vorschläge für die Seminargestaltung geäußert haben.   Demokratielernen durch die Stärkung der Chairperson

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Die explizite Formulierung des Wunsches der Mitverantwortung reicht in meinen Augen nicht aus. Gleichzeitig sehe ich meine Rolle als Seminarleiter auch darin, die Wahrnehmung und Formulierung durch entsprechende Themen und Strukturen anzuregen und teilweise einzufordern. So habe ich seit der TZI-Ausbildung begonnen, zusätzlich zu der Erwartungsabfrage zu Beginn und dem Ende des Seminars immer wieder Blitzlichtrunden in den Seminarverlauf einzubauen. Als Impuls formuliere ich beispielsweise: »Was beschäftigt mich noch von gestern? Was ist mir für heute wichtig?« Ich habe den Eindruck, dass es wichtig ist, solche Räume der Reflexion über die eigenen Gedanken und Bedürfnisse zu schaffen und auch mit der Blitzlichtrunde einen Raum zu öffnen, bei dem es etwas leichter ist, für ein eigenes Bedürfnis einzutreten, da explizit danach gefragt wurde und kein anderes Thema dadurch unterbrochen wird. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass eine Blitzlichtrunde auch Druck ausüben kann, sich äußern zu müssen, und ich dadurch in gewisser Weise in die Autonomie der Teilnehmenden eingreifen könnte. Grundsätzlich zeigt sich für mich ein Spannungsverhältnis zwischen dem demokratiepädagogischen Anspruch, das Eintreten für eigene Bedürfnisse zu stärken, und der gleichzeitigen demokratischen Autonomie und Freiheit, sich in Abwägung mit dem wahrgenommenen Innen und Außen nicht einzubringen – denn auch das beinhaltet das Chairperson-Postulat. Ferner ist mir in Bezug auf die gewählte Struktur aufgefallen, dass Blitzlichtrunden offenbar von einigen Schüler*innen direkt mit Feedbackrunden assoziiert werden. So musste ich besonders auf einem Seminar immer wieder auf die formulierte Frage zurücklenken, da viele Teilnehmende den vergangenen Tag an sich bewerteten und weniger die bewusst persönlich gestellte Frage aufnahmen. Insgesamt scheint das Wahrnehmen und Äußern persönlicher Bedürfnisse in einer größeren Lerngruppe für einige Schüler*innen ungewohnt zu sein. Die SV-Seminare können im besten Fall in einem geschützten Rahmen ein Lernfeld dafür darstellen. Stärkung der Mitverantwortung für das Schulleben Ein wichtiges Ziel auf den SV-Seminaren ist es, wie eingangs bereits beschrieben, auch, über den Seminarkontext hinaus das Wahr140

Thomas E. Spinrath

nehmen der eigenen Bedürfnisse und der Bedürfnisse der Mitschüler*innen in der Schule sowie ein verantwortungsvolles Eintreten für deren Bedürfnisse zu stärken. Mir ist während der TZI-Grundausbildung deutlich geworden, dass ein zentrales Element meiner SVSeminare, welches ich aus dem Konzept des Bildungswerkes übernommen habe, zur Annäherung an genau dieses Ziel geeignet ist: Wenn Teilnehmende auf einem Seminar an eigenen Projekten in Kleingruppen arbeiten, gebe ich ihnen als Hilfestellung dazu die Methode der Zielorientierten Projektplanung an die Hand. Dieser Projektmanagementansatz legt großen Wert auf die Reflexion über und die Formulierung von konkreten Zielen, welche mit dem Projekt erreicht werden sollen. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass Schüler*innenvertretungen seit Jahren Projekte durchführen, weil sie diese schon immer so gemacht haben. Darüber geht dann mitunter das Bewusstsein dafür verloren, was die SV mit diesem Projekt eigentlich erreichen möchte. Wenn die Schüler*innen nun an Projekten arbeiten und sich – auch mit dem Blick auf die grundsätzlichen Ziele ihrer SV-Arbeit – mit Projektzielen beschäftigen, stellen sie sich häufig bereits aktiv Fragen wie: Was möchte ich persönlich erreichen? Welche Wünsche und Bedürfnisse haben meine Mitschüler*innen in Bezug auf dieses Projekt? Welche Anforderungen stellen und Erwartungen haben andere Akteur*innen wie Schulleitung, Eltern, Lehrer*innen? Wie stehe ich dazu? Passt das Projektziel zum demokratischen Anspruch von Schüler*innenvertretung? Auch beim Begleiten der Kleingruppen oder in einer Plenumsrunde zur Präsentation der Arbeitsergebnisse rege ich immer wieder dazu an, sich die eine oder andere Frage in diese Richtung zu stellen, wenn sie nicht von den Schüler*innen bereits selbst gestellt wird. Innerhalb der Reflexion über meine SV-Seminare wurde mir deutlich, dass diese Reflexion der Teilnehmenden einen zentralen Aspekt von Ruth Cohns Anspruch hinter dem Chairperson-Postulat berührt. Denn Cohn »hatte vor allem die Übung des Abwägens von Sollen (d. h. Ethos und Moral), Möchten (der eigene Wunsch) und Müssen (die Realität) im Blick« (Röhling, 2009, S. 96). Wenn die Schüler*innen dazu angeregt werden, sich bewusst zu machen, was sie mit ihrem Projekt erreichen wollen, und dies nicht einfach nur machen, weil sie es immer schon so gemacht haben, regt dies   Demokratielernen durch die Stärkung der Chairperson

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genau zur Abwägung und Differenzierung zwischen Müssen, Sollen und Möchten an. Wenn eine SV beispielsweise seit Jahren Waffeln am Schulfest verkauft, stellt sich die Frage: Möchten wir das oder ist das gerade ein Müssen, weil die Schulleitung uns diese Aufgabe mehr oder weniger aufzwingt? Ruth Cohn selbst hat innerhalb dieser Reflexion eine politische Dimension verortet: »Cohn hofft, dass die sorgfältige Unterscheidung [zwischen Sollen, Möchten und Müssen] in Verbindung mit gutem Kontakt zum ›organismischen Werte-Sinn‹ zu starken Persönlichkeiten führt, die nicht zu manipulieren sind und dem Sog der Masse nicht erliegen. Hier liegt der Ursprung für die politisch-gesellschaftliche Wirksamkeit des Chairperson-Postulats.« (Röhling, 2009, S. 96)

Partizipierendes Leiten auf SV-Seminaren Gelungene Partizipation auf den SV-Seminaren hängt nicht allein von den gewählten Strukturen ab. Deswegen möchte ich als nächstes einen Blick auf mein Leitungsverhalten im Zuge des Ziels der Förderung der Chairperson lenken. Hierbei hat mich im Rahmen der TZI-Grundausbildung vor allem das Konzept der partizipierenden Leitung inspiriert. In der TZI wird unter partizipierender Leitung »das bewusste, selektiv-authentische Gestalten der Partizipation/der Teilnahme auf der Basis der Balance zwischen diagnostischer Distanz und persönlichem Miterleben« (Hintner, Middelkoop u. WolfHollander, 2009, S. 186) verstanden. Dieses erstreckt sich auf den Dimensionen mitmachen, anteilnehmen, Selbstaussagen machen und involviert sein (Hintner, Middelkoop u. Wolf-Hollander, 2009, S. 186 f.). Partizipierend leite ich vor allem aus zwei Gründen auf SVSeminaren: erstens als Vorbild zur Stärkung der Chairperson und zweitens zum Abbau von Machtasymmetrien. Zunächst möchte ich mich dem Aspekt des Vorbildseins widmen. Jens Röhling (2009, S. 97) schreibt über die Stärkung der Selbstverantwortung: »Die gelingt den Teilnehmenden umso besser, je authentischer sich der Leiter oder die Leiterin verhält. Der Leiter ist damit ein Modellteilnehmer.« Diesen Punkt möchte ich an zwei praktischen Beispielen verdeutlichen. In Plenumsrunden wähle 142

Thomas E. Spinrath

ich oft bewusst das Mitmachen als Leitungsstil. So kann ich zeigen, dass ich Anteil am Gruppenprozess nehme, den eine SV auf einem Seminar durchläuft. Denn Demokratielernen kann in meinen Augen nur gelingen, wenn die Teilnehmenden den Eindruck haben, dass ihnen und ihrer SV-Arbeit insbesondere von mir als Leitung Wertschätzung entgegengebracht wird und ich ihre Arbeit authentisch als wichtig und relevant erachte. Das Anteilnehmen ist in diesem Rahmen jedoch keine bewusste Entscheidung, da ich durch meine eigene Zeit als Schüler*innenvertreter mich, ohne dies bewusst zu entscheiden, als persönlich involviert wahrnehme. Bewusst ist allerdings die Entscheidung, einzelne Aspekte davon beispielsweise gezielt in Blitzlichtrunden zu äußern. Im Plenum mache ich darüber hinaus teilweise auch transparent, warum ich mich für welchen nächsten Schritt im Seminarprozess entschieden habe und was ich dabei abgewogen habe. Auch wenn dieses Transparentmachen nicht primär darauf zielt, kann es doch auch der Vorbildrolle meiner Leitungsposition für die Stärkung der Selbstverantwortung der Teilnehmenden dienen. Außerdem kann es dazu ermutigen, dass Teilnehmende meine Entscheidung infrage stellen, da ich die Entscheidung als Prozess und nicht als von außen gegebene Realität deutlich mache. Abbau von Machtasymmetrien zur Stärkung von Demokratie Partizipierend zu leiten bedeutet für mich, in einem demokratiepädagogischen Kontext auch bewusst Machtasymmetrien, die durch das Verhältnis Leitung vs. Teilnehmende automatisch vorhanden sind, abzubauen, denn Demokratie sollte im Ideal ein Miteinander zwischen freien und gleichen Individuen darstellen. Dazu gehört für mich beispielsweise, phasenweise auch andere Personen, wie zum Beispiel die Schulsprecher*innen, moderieren zu lassen, und mich dann in mitmachender Rolle wie alle anderen zu melden, wenn ich sprechen möchte, und mir nicht einfach das Wort zu nehmen. Wichtig ist mir im Weiteren auch die Dimension der Selbstaussagen. In manchen Situationen erzähle ich von meiner eigenen Zeit als Schüler*innenvertreter. Einerseits können authentische Beispiele wieder dem Vorbildsein zur Stärkung der Chairperson dienen. Zweitens sende ich damit vor allem folgende Botschaft an die   Demokratielernen durch die Stärkung der Chairperson

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Teilnehmenden: »Wir haben einen gemeinsamen Erfahrungsraum, in dem wir uns auf Augenhöhe begegnen können.« Dabei bin ich mir bewusst, dass es darauf ankommt, solche Schilderungen situativ und gezielt punktuell einzusetzen, um mir als Person nicht zu viel Raum in der Gruppe zu nehmen. Dass ich den Schüler*innen auf Augenhöhe begegne, kann in meinen Augen ferner dazu anregen, dass auch begleitende SV-Lehrer*innen den Schüler*innenvertretenden im Seminar auf Augenhöhe begegnen. Diese Veränderung des Rollengefüges und der damit verbundene Abbau des Machtgefälles sind in Situationen, in denen es um Partizipation und die gemeinsame Entscheidungsfindung von Lehrer*innen, Eltern und Schüler*innen an einer Schule geht, von enormer Bedeutung für ein demokratisches Miteinander. Darin liegt eine große Herausforderung für SV-Arbeit: Schüler*innen sind in der Schulkonferenz vom Gesetz her gleichberechtigt und auf Augenhöhe mit den Lehrer*innen, die sie vormittags noch unterrichtet und womöglich benotet haben. Der Abbau von Machtasymmetrien ist also ein Schlüssel von SV-Arbeit und Demokratie in der Schule, den ich mithilfe der partizipierenden Leitung bereits im Seminar beginnen und unterstützen kann. Transparentmachen von rollenbedingter Autorität und Machtasymmetrie Eine Kritik am Konzept der partizipierenden Leitung lautet jedoch, »dass Gleichheit vorgegaukelt und Unterschiede vertuscht werden, die Auseinandersetzung mit Leitung, Macht und Autorität erschwert werden« (Hintner, Middelkoop u. Wolf-Hollander, 2009, S. 186). Dies ist nicht unmittelbar von der Hand zu weisen. Auch wenn ich versuche, durch partizipierende Leitung bewusst Machtasymmetrien abzubauen, kann es nicht der Anspruch sein, einen machtfreien Raum im Seminar herzustellen. Dies wäre erstens nicht möglich, da sich durch interindividuelle Differenzen und Rollenzuschreibungen automatisch Machtasymmetrien bilden. Zweitens ist dies auch nicht der Anspruch von Demokratie. Auch wenn wir als Freie und Gleiche miteinander leben wollen, bringt Rollenverteilung in einer demokratischen Gesellschaft zwangsläufig Asymmetrien mit sich. Wichtig ist, dass diese situativ und rollengebunden 144

Thomas E. Spinrath

bleiben. Das heißt, ich stehe als Seminarleiter nicht grundsätzlich im Leben über meinen Teilnehmenden, sondern übernehme durch meine Rolle besondere Leitungsverantwortung für die Situation des Seminars. Wichtig ist mir deshalb, einerseits unnötige Machtgefälle abzubauen, andererseits sensibel mit Asymmetrien umzugehen, diese transparent zu machen und rollenbedingte Autorität und Verantwortung an manchen Stellen sogar zu betonen. Dies mache ich auf SV-Seminaren dadurch, dass ich den laufenden Seminarprozess in Pausen oder abends zusammen mit den Schulsprecher*innen reflektiere. Während ich manche Dinge zusammen mit der ganzen Gruppe entscheide, wie beispielsweise die Seminar- und Pausenzeiten oder die Auswahl von Themen für Kleingruppenarbeiten, entscheide ich andere Dinge nur mit den Schulsprecher*innen und zum Teil auch mit den SV-Lehrer*innen. Dies betrifft zum Beispiel Fragen wie: Wieviel Raum soll der Arbeit an eigenen Projekten gegeben werden? Soll Zeit für ein längeres Planspiel eingeräumt werden? Hier beziehen wir Punkte aus der Erwartungsabfrage und den Rückmeldungen im laufenden Seminar mit ein, jedoch stärke ich hier ganz bewusst die Rolle und auch die Verantwortungsposition (und damit auch die Selbstverantwortung als Chairperson) der Schulsprecher*innen, da ihre Rolle die Leitung der SV beinhaltet und ich mich nur als temporäre zusätzliche Begleitung von außen betrachte. Und dies umfasst auch eine gewisse Machtasymmetrie zwischen den Schulsprecher*innen und den anderen Teilnehmenden, welche jedoch an ihre Rolle und nicht an ihre Person geknüpft ist.

Das Verhältnis von Partizipationsanspruch und Leitungsautorität Die dargestellten Machtasymmetrien sind aus meiner Sicht immer begründungsbedürftig, auch wenn sie rollengebunden und situativ sind. Insbesondere bei der Leitung von politischen Bildungsseminaren mit Kindern und Jugendlichen besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem demokratischen Partizipationsanspruch einerseits und der besonderen Machtposition und Autorität der Leitung andererseits, welches es in meinen Augen immer wieder zu   Demokratielernen durch die Stärkung der Chairperson

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hinterfragen und auszuloten gilt. Deswegen möchte ich hierzu zum Schluss noch ein paar Gedanken formulieren. Bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wie auf SV-Seminaren wird eine Herausforderung des Chairperson-Postulats besonders deutlich, denn die Selbstverantwortung als Chairperson ist ein Lernprozess. So habe ich die Frage aufgeworfen, wie ich diesen Lernprozess der Kinder und Jugendlichen, ihre Chairperson weiterzuentwickeln, als Seminarleitung positiv begleiten und stärken kann. Diese Frage zu stellen geht zwangsläufig damit einher, dass ich mir als Leitung die Autorität zuspreche, hier Hilfestellungen zu leisten und damit Einfluss zu nehmen. Ich habe als Leitung eine besondere Machtposition, welche immer begründungsbedürftig sein muss. Ich muss kritisch hinterfragen, was ich auf SV-Seminaren vermitteln möchte, welche Themen und Strukturen ich setze und welche Arten des Zugangs ich wähle. Wenn ich Teilnehmende beispielsweise über rechtliche Grundlagen der SV-Arbeit informiere, nehme ich damit Einfluss auf ihren Zugang zu den rechtlichen Grundlagen. Die Einflussnahme kann ich jedoch damit begründen, dass ich in der Folge die Freiheit der Schüler*innen vergrößern kann, da ihnen als SV womöglich neue Handlungsspielräume bewusst werden. Es wird deutlich, dass sich das Spannungsverhältnis, in dem ich als Leitung stehe, nicht gänzlich auflösen lässt. Einerseits habe ich durch meine Autorität und Einflussnahme eine Machtposition inne, die in Konflikt mit meinem demokratischen Anspruch stehen kann, und gleichzeitig kann ich durch ebenjene Autorität in Gruppen auch immer wieder Räume zur Partizipation öffnen, die durch bisherige Machtbeziehungen verschlossen waren. Dies kann sich auf eine Gruppendynamik einer SV beziehen oder darauf, dass die Schulleitung oder andere Lehrer*innen die Schüler*innen im Unwissen über ihre Rechte gelassen haben. Auch Ruth Cohn machte deutlich, dass die Stärkung der Selbstverantwortung als Chairperson immer auch fragwürdig ist und das Maß an Hilfestellung und päda­gogischer Intervention sorgsam ausbalanciert sein muss. Denn: »Zuwenig geben ist Diebstahl, zuviel geben ist Mord« (Farau u. Cohn, 1984, S. 285). Abschließend möchte ich betonen, dass das Chairperson-Postulat eine große Bereicherung für meine demokratiepädagogische Arbeit 146

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mit Schüler*innenvertretungen darstellt. Gleichzeitig ist die Stärkung der Selbstverantwortung als Chairperson eine große und kontroverse Aufgabe, der es sich immer wieder neu zu stellen gilt. Die Art und Weise, wie ich ein SV-Seminar gestalte, muss ich immer wieder kritisch hinterfragen. Für mich bedeutet das, immer wieder das Spannungsverhältnis zwischen Partizipation und Leitungsautorität kritisch zu reflektieren. Denn es gibt gute Gründe, dass ich als Leitung durch meinen Erfahrungsvorsprung eine besondere Rolle einnehme, die zwangsläufig mit Autorität und einer besonderen Verantwortung einhergeht. Deswegen muss ich immer wieder fragen, wo ich noch mehr Partizipationsmöglichkeiten schaffen kann, um lebendige Demokratie zu ermöglichen.

Literatur Cohn, R. C. (1975). Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Stuttgart. Edelstein, W. (2017). Bildung, Teilhabe, Rechte der Kinder: Demokratie lernen und leben in einer demokratischen Schule. In L. Krappmann, C. Petry (Hrsg.), Worauf Kinder und Jugendliche ein Recht haben. Kinderrechte, Demokratie und Schule: Ein Manifest (S. 266–279). Bonn. Farau, A., Cohn, R. C. (1984). Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Zwei Perspektiven. Stuttgart. Hintner, R., Middelkoop, T., Wolf-Hollander, J. (2009). Partizipierend Leiten. In M. Schneider-Landolf, J. Spielmann, W. Zitterbarth (Hrsg.), Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI) (S. 181–188). Göttingen. Krappmann, L. (2017). Kinderrechte, Demokratie und Schule. Ein Manifest. In L. Krappmann, C. Petry (Hrsg.), Worauf Kinder und Jugendliche ein Recht haben. Kinderrechte, Demokratie und Schule: Ein Manifest (S. 17–53). Bonn. Röhling, J. G. (2009). Chairperson-Postulat. In M. Schneider-Landolf, J. Spielmann, W. Zitterbarth (Hrsg.), Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI) (S. 95–100). Göttingen.

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GEORG STUCKE  Mein Weg zur cooltour – Die TZI als Türöffnerin für musikalische Persönlichkeitsentwicklung

Kann Musik persönliches Wachstum ermöglichen? Transportiert Musik mehr als nur die Töne, die wir hören, oder ist Musik Träger von Werten, die über das Hörbare hinausgehen? Diese Fragen stelle ich mir schon sehr lange. Zu Beginn meines Musikstudiums musste ich ein Motivationsschreiben verfassen, worin ich meine Motivation für dieses Studium erläutern sollte. Ich zitierte Jean Ziegler: »Die Musik, das Theater, die Poesie – kurz: die Kunst – transportieren die Menschen jenseits ihrer selbst. Die Kunst hat Waffen, welche der analytische Verstand nicht besitzt: Sie wühlt den Zuhörer, Zuschauer in seinem Innersten auf, durchdringt auch die dickste Betondecke des Egoismus, der Entfremdung und der Entfernung. Sie trifft den Menschen in seinem Innersten, bewegt in ihm ungeahnte Emotionen.« (Ziegler, 2011) Diese Worte umreißen genau das, was ich empfinde, wenn ich Musik mache – als Trompeter im Sinfonieorchester Wuppertal, im Unterricht mit meinen Schüler*innen, beim Besuch eines Konzertes. Der strenge Lehrplan des Studiums beendete diese Auseinandersetzung zwischenzeitlich und erst die TZI-Ausbildung führte meine Gedanken erneut zu diesem Thema. Zunächst möchte ich auf einige Überlegungen eingehen, die ich innerhalb meiner Masterarbeit 2018 im Rahmen meines musikpädagogischen Masterstudiums an der Musikhochschule Basel entwickelt habe. Darin stelle ich Überlegungen an, ob und wie sich die TZI auf Musikgruppen jeglicher Art anwenden lassen könnte. Ich beziehe dabei alle Gruppen ein, in denen gemeinsam musiziert wird, unabhängig von Alter, Kontext oder Können. Im Anschluss gebe ich einen kurzen Überblick über die Arbeit des Vereins Helden e. V., bei dem ich eine erlebnispädagogische Ausbildung zum Anti-MobbingTrainer gemacht habe. Abschließend stelle ich meine Arbeit als Musikpädagoge bei einer cooltour vor, durchgeführt durch den Träger kultursegel. Ich werde erläutern, wie ich Elemente der erlebnispädagogischen Ausbildung von Helden e. V. in meine Arbeit bei der cooltour einbauen konnte und welche gruppendynamischen Effekte dies hatte. Zum Schluss ziehe ich ein Fazit, indem ich erkläre, weshalb für mich die cooltour TZI beinhaltet und wie TZI bei der cooltour wirkt. 150

Georg Stucke

TZI in der musikpädagogischen Arbeit Im Rahmen meiner Masterarbeit habe ich mich mit Fragen der TZI in der musikpädagogischen Arbeit auseinandergesetzt (Stucke, 2018). Ich habe mich ausgehend von praktischen Erfahrungen in der Arbeit mit Grundschüler*innen damit beschäftigt, wie die TZI in Gruppen, in denen gemeinsam musiziert wird, praktiziert werden kann. Zudem bin ich der Frage nachgegangen, wie Haltung und Methode der TZI in Musikgruppen wirksam sein können. Hier habe ich mich insbesondere mit der Gleichgewichtigkeitshypothese, dem Störungspostulat sowie der Persönlichkeitsentwicklung in einer Musikgruppe auseinandergesetzt. Eine zentrale Erkenntnis meiner Masterarbeit war, dass es in einer Musikgruppe eine enge Verwobenheit des ES (dem reinen Notentext) mit dem ICH (den einzelnen Musizierenden) und dem WIR (der Musikgruppe) gibt, weil es sich um Musik handelt, die immer ganzheitlich wirkt. Zwar bedarf die dynamische Balance der drei Ecken des TZI-Dreiecks auch in einer Musikgruppe der Beachtung. Jedoch habe ich festgestellt, dass es mir als Leiter einer Musikgruppe möglich war, das ES überproportional im Vergleich zu den anderen Faktoren in den Mittelpunkt der Gruppenarbeit stellen zu können, ohne dass die dynamische Balance verloren ging. An Tagen, von denen ich selbst nicht vermutete, dass eine gute Arbeitsatmosphäre möglich sein könnte, stellte ich fest, dass sich über die Arbeit mit Musik destruktive Energien veränderten und abschwächten.

Das Störungspostulat im Kontext der Musikgruppenleitung Das Störungspostulat der TZI ist ein wichtiger Ansatz für das Gruppenwachstum und unterstützt die Gruppenleitung dabei, Prozesse anzustoßen, neue Wege zu entdecken, Grenzen zu erweitern und Lernen zu ermöglichen. Allerdings ist das nur dann möglich, wenn die Gruppenleitung das Postulat richtig verstanden hat und dementsprechend richtig anwendet. »Störungen und Betroffenheit nehmen sich Vorrang, ob wir es wollen oder nicht! Es kommt nur darauf an, wie wir mit ihnen umgehen – darin liegt ein Teil unserer Freiheit«   Mein Weg zur cooltour

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(Cohn zit. n. Löhmer u. Standhardt, 2015, S. 58), sagte Ruth Cohn einmal ergänzend zum Störungspostulat. Meiner Meinung nach ist die Arbeit mit dem Störungspostulat eines der wirksamsten Arbeitsinstrumente in meiner musikpädagogischen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Welche Formen von Störungen kann es in Musikgruppen geben? Zunächst einmal gibt es Störungen organisatorischer Natur, die im weiteren Sinne zur Chairperson gehören. Dazu gehören vergessene Noten oder vergessene Musikinstrumente (sehr häufig in Gruppen mit Kindern). Auch äußere Einflüsse können störend auf einen musikalischen Gruppenunterricht einwirken. Dann gibt es Störungen, die das ICH betreffen. Beispielsweise kann es passieren, dass ein Gruppenmitglied die Teilnahme am Gruppenprozess aktiv verweigert oder passiv nicht Anteil nimmt. Des Weiteren gibt es Störungen, die mit dem WIR zusammenhängen. Dazu gehören Konflikte innerhalb einer Gruppe oder mit der Gruppenleitung. Und zu guter Letzt existieren auch Störungen, die das ES betreffen. Beispielsweise kann ein Musikstück zu schwer für eine Gruppe sein. Oder die Gruppe mag ein Stück nicht und möchte es deshalb nicht spielen (Thema). Was Störungen in musikalischen Kontexten im Vergleich zu anderen Gruppenzusammenhängen unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie in einer Musikgruppe immer und unmittelbar die gesamte Gruppe betreffen. Ein passives Musizieren in der Gruppe ist unmöglich – ebenso wie innerliche Abwesenheit und eine sich auf körperliche Anwesenheit beschränkende Teilnahme. Deshalb ist eine Nicht-Teilnahme einer einzelnen Person direkt eine bedeutende Störung für alle anderen Mitglieder einer Musikgruppe. Eine wichtige Stimme fehlt, auf die die anderen Gruppenmitglieder möglicherweise angewiesen sind. Hier unterscheidet sich die Arbeit in Musikgruppen von anderen Gruppenkontexten, in denen eine Nicht-Teilnahme von einzelnen Mitgliedern nicht zwingend bedeutet, dass eine Gruppe in Gänze nicht mehr funktioniert. Dadurch, dass Störungen Einzelner in einer Musikgruppe unmittelbar das Kollektiv betreffen, greift eine musikalische Gruppenleitung im Sinne der TZI möglichst jede individuelle Störung auf, um dadurch das Gruppenwachstum zu fördern. Deswegen kommt dem 152

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Störungspostulat bei der Arbeit mit Musikgruppen eine besondere Bedeutung zu.

Musik als Persönlichkeitsentwicklung innerhalb der Gruppe Ein weiteres Thema, welches mich beschäftigte, war die Möglichkeit der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung jedes*jeder Einzelnen durch Musizieren in einer TZI-geführten Gruppe. »Wenn eine Saite schwingt, Beitöne erzeugt und fortpflanzt, so ist das der Klang; daß aber Spannung und Gravitationen ihn durchsetzen, – das sind wir, darin spiegelt sich nicht das klingende Phänomen, sondern unsere Psyche […], indem wir die psychischen Grundinhalte in ihn hineintragen, komponieren wir erst den Tonreiz zum musikalischen Ton.« (Kurth, 1931, S. 11 u. 22) Aus meiner Sicht beschreibt dieses Zitat von Ernst Kurth ein wesentliches Moment von Musik und des Musizierens: Musikalischer Ausdruck ist immer ein persönlicher Ausdruck. Und so, wie wir durch die Musik berührt werden, ist ein echter musikalischer Ausdruck das Ergebnis eines inneren Prozesses, der diese Musik untrennbar mit dem*der Interpret*in verknüpft. Deshalb ist die Arbeit mit Musik zugleich eine Arbeit am ICH. Dieser Aspekt des persönlichen Wachstums ermöglicht es, die Arbeit in Musikgruppen mit dem Anliegen der TZI zu verbinden. Neuropsychologen konnten in den letzten Jahren immer besser erklären, warum sich Menschen mit Musik umgeben. So behauptet Christian Lehmann, dass uns die Evolution die Notwendigkeit zum Musizieren in die Gene gepflanzt hat (Lehmann, 2010, S. 19). Die enorm tiefe Verankerung von Musik im Leben der Menschen spreche dafür, dass musikalisches Empfinden essenziell für unser Überleben gewesen sei und den Menschen dabei unterstützt habe, sein Überleben zu optimieren. Die Fähigkeit, Musik zu produzieren, zu konsumieren und zu verarbeiten, habe dem Menschen möglicherweise dabei geholfen, die Grenzen eigener Beschränkungen zu erweitern und sich über die Musik neue Formen des Denkens, Füh  Mein Weg zur cooltour

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lens und Erlebens zu erschließen. Hier wird also auf die Bedeutung von Musik für das Selbsterleben bzw. die Selbstwahrnehmung und -erweiterung des Menschen hingewiesen. Dies ist auch der Ansatz, mithilfe dessen die musikalische Erziehung und Bildung ihren Auftrag und ihr Selbstverständnis beschreibt. Wie kann die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung im Sinne der TZI im Rahmen der musikalischen Gruppenarbeit aufgegriffen und im Prozess des gemeinsamen Musizierens aktiv gestaltet werden? TZI kann den Gruppenprozess darin unterstützen, dass in einer Musikgruppe nicht nur einfach richtige Noten gespielt werden, sondern dass die Gruppenmitglieder sich trauen, eine intime Seite von sich zu zeigen, ohne dabei die Erfahrung machen zu müssen, zurückgewiesen zu werden. Diese Erfahrung kann Kindern und jungen Erwachsenen dabei helfen, ein positives Bild von sich und von ihrem Platz in der Gemeinschaft im Sinne der TZI zu entwickeln. Insbesondere die Erfahrung, dass die eigene Leistung und die eigene Persönlichkeit, die sich durch die Musik ausdrückt, als wertvolle Stimme in der (Musik-)Gruppe erlebt werden, ist nach meiner persönlichen Erfahrung eine tiefgreifende Möglichkeit, um Selbstakzeptanz und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu erlangen. Sich selbst in einer Gruppe musikalisch auszudrücken, kann also persönliches Wachstum und die Erweiterung von Grenzen unterstützen. Eine Musikgruppe, die nach dem Ansatz der TZI geleitet wird, stellt diesen Anspruch in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Die Auseinandersetzung mit der Aufgabe, richtige Noten zu produzieren, ist dabei nur ein Teilaspekt (ES). Wesentlich ist die innere und äußere Entwicklung der eigenen Stimme (ICH) im Wechselspiel mit den Stimmen der anderen (WIR) in der Musik (Thema) – und einem damit einhergehenden vertieften Erleben der eigenen Verbundenheit mit sich selbst und der Gruppe. In diesem Prozess eröffnet Musik insbesondere beim selbsttätigen Musizieren Erlebniswelten und ein Selbsterleben des ICHs. Die persönliche Beziehung ist vermutlich das wichtigste Element in der Arbeit mit TZI. Sowohl in der Ausbildungsgruppe der TZI, aber auch in Musikgruppen, konnte ich erleben, dass die persönliche Anteilnahme der Gruppenleitung an den Prozessen und Mitgliedern der Gruppe der Hauptfaktor für gegenseitiges Vertrauen und Wachstum in der Gruppe war. Dass persönliche Anteilnahme – statt 154

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äußerlicher Inhaltsvermittlung – auch in der Beziehung zwischen Psychotherapeut*in und Klient*in der Hauptfaktor für Genesung ist, vertritt bereits in den 50er Jahren die humanistische Psychologie. Dieser Hintergrund, durch den Ruth Cohn stark geprägt wurde, entwickelte sich in der TZI zu einem zentralen Element der Gruppenarbeit. Persönliche Anteilnahme im Sinne der TZI muss ganzheitlich gedacht werden. Es bedeutet, die Gruppenmitglieder in ihrer ganzen Person zu akzeptieren und ernst zu nehmen, in ihren Stärken und ihren Schwächen. Diese persönliche Beziehung, die in der TZI die Voraussetzung für Gruppenarbeit darstellt, ermöglicht es aus meiner Sicht, die Musik als etwas erklingen zu lassen, was für die Gruppenteilnehmenden mehr ist als einfach nur richtige Töne. Vom ES (richtige Töne) zum Thema (der persönliche musikalische Ausdruck) kann es manchmal ein verworrener und sogar beängstigender Weg sein, der Mut erfordert. Die TZI kann Musiker*innen in Gruppen auf diesem Weg unterstützen. Sicherheit und Geborgenheit in Gruppenkontexten sind zentrale Erfahrungen des Menschseins. Sie ermöglichen es den Musiker*innen, sich ganz dem Thema hinzugeben und sich auf die Suche nach ihrem individuellen (musikalischen) Ausdruck zu begeben.

Meine Erfahrungen mit Gruppenkonflikten 2016 trat ich im August meine erste feste Stelle als stellvertretender Solotrompeter im Sinfonieorchester Wuppertal an. Zuvor hatte ich verschiedene befristete Engagements gehabt, aber eine feste Stelle als Musiker im Orchester, darauf hatte ich seit Beginn meines Studiums hingearbeitet. Mit Sicherheit hatte ich zuvor die Arbeit als Orchestermusiker idealisiert und mich zu wenig mit den schwierigen Aspekten dieses Berufes auseinandergesetzt. Diese Idealisierung hatte mir geholfen, mich zu motivieren, um eine der begehrten Stellen zu erhalten. Die darauffolgende Desillusionierung konnte ich allerdings nur schwer und langsam verarbeiten. Unvermittelt und unvorbereitet erlebte ich Feindseligkeiten, die an Mobbing grenzten. Ich erlebte eine angespannte und teilweise vergiftete Stimmung. Das verunsicherte mich in den ersten Wochen tief, nach ein paar Monaten kam ein Gefühl von Ohnmacht und Wut hinzu. Es war belastend, drei bis vier Konzerte pro Woche zu spielen, laufend neue   Mein Weg zur cooltour

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Stücke vorzubereiten und gleichzeitig dem Druck standzuhalten, im Konzert unter ständiger Beobachtung durch Kolleg*innen und Publikum Höchstleistung erbringen zu müssen. Ich fragte mich, wie ich als Gruppenmitglied zu einem besseren Arbeitsklima beitragen könnte, wusste aber keine Antwort. Die Maxime »Love it, change it or leave it« begleitete mich zu dieser Zeit ständig. Dabei pendelte ich oft zwischen »change it« und »leave it« hin und her. Am Ende entschied ich mich für »change it«. Als Musiker in einem Orchester zu arbeiten, empfand ich nach wie vor als ein Geschenk, welches ich nicht leichtfertig ablehnen wollte. Mit dem Ende der Probezeit begann im Sommer 2017 meine TZIAusbildung. Hier bekam ich die Möglichkeit, mich fundiert und systematisch mit Gruppenprozessen auseinanderzusetzen. Ausgehend vom Vier-Faktoren-Modell begriff ich, dass Konflikte nach TZI als Störungen zu betrachten sind, welche sich immer Vorrang nehmen würden. Ich begriff, dass ich den Konflikten und der Feindseligkeit proaktiv begegnen müsste, sollte ich eine bessere Arbeitsatmosphäre schaffen wollen. Doch wie kann so etwas funktionieren? Wie konnte ich mich einbringen, ohne selbst zur Zielscheibe zu werden? Ich war ratlos, hatte Angst und fühlte mich hilflos. Ich erinnerte mich an meine Schulzeit, in der Wegschauen und Ignorieren die einzigen Reaktionen auf Konflikte und Mobbing waren. So trug ich dieses Thema, welches im Laufe der Zeit auch zu meinem Thema im Sinne der TZI wurde, für längere Zeit mit mir herum. Die Ausbildung in TZI gab mir in den folgenden Monaten ein theoretisches Verständnis dessen, was sich an meinem Arbeitsplatz abspielte. Was mir fehlte, waren praktische Methoden und die individuelle Erfahrung, eine aktive Rolle in den Konflikten einzunehmen. Wie fühlt es sich an, Partei zu ergreifen und sich möglicherweise dadurch bei Kolleg*innen unbeliebt zu machen? Würde ich selbst zum Außenseiter? Ich recherchierte in Lernmaterialien, in der Fachliteratur zum Thema Mobbing und stieß schlussendlich auf eine Dokumentation des YouTube-Kanals »Die Frage«, die einen Anti-Mobbing-Trainer einen Tag lang bei seiner Arbeit begleitete.1 1 https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=wERF_W624xM&t=189s (Zugriff am 29.09.2021).

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Diese Dokumentation berührte mich unwahrscheinlich und ich war sofort begeistert von den Methoden, die ich in der Dokumentation sehen konnte. Sie forderten und trainierten Zivilcourage, respektvollen Umgang, Wertschätzung für jede*n Einzelne*n in der Gruppe und Teamgeist. Nach kurzer Recherche fand ich heraus, dass es die Möglichkeit einer Ausbildung bei dem Träger dieser Programme, dem Verein Helden e. V. in Bielefeld, gab.

Meine erlebnispädagogische Ausbildung beim Helden e. V. Kurzentschlossen meldete ich mich im Frühjahr 2018 zu einer erlebnispädagogischen Ausbildung beim Helden e. V. an, welcher seit mehreren Jahren schwerpunktmäßig Anti-Mobbing-Programme an Schulen durchführt. Die Ausbildung bestand aus einer Mischung aus erlebnispädagogischen Kooperationsaufgaben, der Auseinandersetzung mit verschiedenen sozialpsychologischen Effekten und einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Phänomen Mobbing. Ich lernte, wie Mobbing entsteht, unter welchen Umständen Mobbing erfolgreich sein kann und welche Folgen Mobbing für Betroffene haben kann. Ich verstand, warum es überhaupt Mobbing gibt und weshalb Mobbing auch dann alle Mitglieder einer Gruppe betrifft, wenn es nur ein Opfer gibt. Die Ausbildung richtete einen besonderen Fokus auf die erfolgreiche Bewältigung erlebnispädagogischer Kooperationsaufgaben, wodurch die Ausbildungsgruppe von 25 Personen schnell zusammenwuchs. Zugleich förderte die kritische Auseinandersetzung über die Gruppenprozesse während der Kooperationsaufgaben ein Bewusstsein über eigenes Verhalten und nicht genutzte Wachstumspotenziale. Neben den theoretischen Grundlagen lernte ich, wie in Gruppen durch erlebnispädagogische Kooperationsaufgaben ein Zusammengehörigkeitsgefühl ohne Mobbing geschaffen werden konnte. Ich bekam eine Ahnung davon, wie es sich anfühlt, in einer Gruppe Geborgenheit zu spüren. Geborgenheit, aus der heraus der persönliche Ausdruck entstehen könnte, über den ich mir ein Jahr zuvor in meiner Masterarbeit Gedanken gemacht hatte. Die Ausbildung veränderte meinen Blick auf meine Arbeit im Orchester und rückte ein Thema in meinen Fokus, was die TZI als   Mein Weg zur cooltour

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GLOBE bezeichnet. Wieder beschäftigte mich die Frage nach dem Sinn meiner Arbeit und meiner Wirksamkeit in der Welt. Bei mir manifestierte sich das Gefühl, dass es mir nicht reicht, ausschließlich Orchestermusiker zu sein. Ich wollte einen neuen Impuls setzen. So entstand die Idee, Erlebnispädagogik mit Musikpädagogik zu verknüpfen und daraus im Kontext der TZI ein Anliegen des GLOBEs zu machen. Dann hatte ich Glück. Ich bekam eine Anfrage von der Organisation kultursegel.

Cooltour – Erfahrungen einer musikalischen Klassenreise Die cooltour wird von der Organisation kultursegel angeboten und ist eine musikalische Klassenreise. Kultursegel hat seinen Sitz in Mecklenburg-Vorpommern und bietet Programme zur musikalischen Bildungsarbeit an. Die Organisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit ihren Aktivitäten Menschen und Organisationen der musischen Bildung miteinander zu vernetzen und musische Bildung zu vermitteln. Hiermit soll die bestehende Bildungs- und Kulturlandschaft, vor allem in Mecklenburg-Vorpommern, gestärkt werden. Langfristiges Ziel von kultursegel ist der Aufbau einer Landesmusikakademie in Mecklenburg-Vorpommern, um den verschiedenen musikalischen Gruppen in diesem Bundesland eine Heimat zu geben. Die Anfrage von kultursegel war ein Glücksfall für mich. Ich bekam gemeinsam mit zwei weiteren Dozentinnen die Möglichkeit, aus meinen Überlegungen ein Programm zu formen, in das ich sowohl meine musikpädagogischen Ideen, die erlebnispädagogischen Übungen vom Helden e. V. und meine Gedanken aus der Masterarbeit einfließen lassen konnte. Bei der Gruppe handelte es sich um eine sechste Klasse aus Schwerin, in der drei Kinder mit Förderbedarf inklusiv betreut wurden. Wir wussten, dass dies die letzte gemeinsame Klassenfahrt für diese Klasse sein würde, da es nach den Sommerferien auf die weiterführenden Schulen ging. Deshalb wählten wir als zentrales Thema der Klassenfahrt das Thema »Freundschaft«. Wir wollten den Kindern ein Erlebnis mit auf den Weg geben, an das sie sich gern zurückerinnern würden. In der folgenden Tabelle können Sie sich einen Überblick über den Ablauf der Klas158

Georg Stucke

senfahrt verschaffen, bevor ich die einzelnen Elemente der Klassenfahrt näher erläutere. Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Warm-up & Kennen­ lernen

Warm Up & Kennen­ lernen

Warm Up

Warm Up

Warm Up

­Erkunden des Gelän­des

Bauen von Musikinstru­ menten

Komponierwerkstatt

Komponierwerkstatt

Generalprobe

Bauen von Musikinstrumenten

Erlebnis-­ pädagogische Teamaufgabe

Komponierwerkstatt

Erlebnis-­ pädagogische Teamaufgabe

Feedback­ runde »War­ mer Rücken«

Gemeinsames Singen

Gemeinsames Singen

Gemeinsames Singen

Gemeinsames Singen

Abschlusskonzert

Abendritual

Abendritual

Abendritual

Abendritual

Verabschiedung

Kursiv = musikpädagogische Einheit Fett = TZI-orientierte Einheit Unterstrich = erlebnispädagogische Einheit

Kennenlernen Wir begannen die cooltour mit einem ausgedehnten KennenlernSpiel. Ganz im Sinne der TZI, sich gerade zu Beginn viel Zeit zu nehmen, wollten wir der Gruppe und uns Dozent*innen die Möglichkeit geben, sich neu kennenzulernen. Deshalb spielten wir das Spiel »Das-Komischste-an-mir-ist«. Die Gruppenmitglieder lernten sich bei diesem Spiel von einer neuen, komischen Seite kennen, indem sie eine komische oder lustige Geschichte aus ihrem eigenen Leben auf einen Zettel schrieben. Im Anschluss wurden die Zettel gemischt und erneut an die Gruppe verteilt, sodass jedes Gruppenmitglied die Geschichte einer anderen Person in der Hand hielt. Aufgabe des Spiels war es nun, die jeweils passende Person zu dem Zettel zu finden. So bekamen die Mitglieder weitere kuriose Geschichten zu hören, was den Abbau von Berührungsängsten und Hemmungen erleichterte. Ziel war es, die individuelle Verlegenheit jedes*jeder Einzelnen abzubauen, verbunden mit der Hoffnung, dass es den Kindern in den nächsten Tagen leichter fallen würde, vor anderen Kindern und am Ende vor den Erwachsenen zu musizieren.   Mein Weg zur cooltour

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Im Laufe der Woche wiederholten wir ähnliche Übungen, um Ängste bei den Teilnehmenden abzubauen. So spielten wir am zweiten Tag das Spiel »Heikle-peinliche-Fragen«. Bei diesem Spiel geht es darum, den Mut zu trainieren, sich vor einer Gruppe bei harmlosen, aber ein wenig peinlichen Sachen zu »outen« und sich dadurch möglicherweise vor der Gruppe verletzbar zu machen. Während sich zuerst niemand traute, aufzustehen und durch die Mitte zu laufen, taten dies im Verlauf des Spiels immer mehr Kinder. Dies war für uns Dozierende ein Indiz dafür, dass sich Hemmungen und Ängste langsam abbauten. Die Erfahrung der Kinder, für ihre »heiklen« und »peinlichen« Geschichten nicht ausgelacht zu werden, bestärkte das Gefühl des gegenseitigen Vertrauens. Die Komponierwerkstätten In den Komponierwerkstätten komponierten die Kinder unter der Anleitung der Dozent*innen Musik zum Thema Freundschaft. Dabei wurden verschiedene Aspekte von Freundschaft näher beleuchtet: zusammen und allein, gleich und anders, glücklich und traurig. In den Komponierwerkstätten konnten wir meine Überlegungen zur Verbindung der TZI mit der Musikgruppenarbeit besonders gut umsetzen. So halfen uns die Überlegungen in Bezug auf das Störungspostulat sehr. Wir konnten Störungen als das ansehen, was sie in einem Kompositionsprozess sind – ein zu überwindendes Hindernis, um an das kompositorische Ziel zu gelangen. Wenn beispielsweise der Text nicht auf den Rhythmus passte, arbeiteten wir mit den Kindern daran, den Text so zu gestalten, dass sich der Sprachrhythmus zwar änderte, die Aussage aber erhalten blieb. Der Vorteil der Eigenkompositionen bestand darin, dass sie alle Bestandteile des Vier-Faktoren-Modells beinhalten. Die Gruppen erarbeiteten den Notentext (ES), indem sie ihre Individualität (ICH) in die Gruppe (WIR) einbrachten und zu einem individuellen musikalischen Ausdruck (Thema) fanden. Den Themen näherten sich die Gruppen über verschiedene pädagogische Zugänge. So komponierte die erste Gruppe einen Rap. Die zweite Gruppe komponierte ein Stück, indem sie an den Instrumenten ein Klangspiel spielte, und die dritte Gruppe komponierte ein »minimal music«-Stück (Musik, die aus einfachen musikalischen Bausteinen zusammengesetzt wird 160

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und durch stetige Wiederholung ihre besondere Qualität entwickelt). Alle Kompositionen waren dabei Produkte individueller Kreativität der Kinder und Einigungsprozessen innerhalb der Gruppen. Somit wurden nicht nur Kreativität, sondern auch soziale Fähigkeiten wie gemeinsame Lösungswege zu finden trainiert. Erlebnispädagogische Kooperationsaufgaben Die erlebnispädagogischen Kooperationsaufgaben waren neben den Komponierwerkstätten das zentrale Element der cooltour. Erlebnispädagogische Kooperationsaufgaben sind erst dann geschafft, wenn alle Mitglieder einer Gruppe die Aufgabe bewältigt haben. Individueller Erfolg ist somit vom Erfolg aller Gruppenmitglieder abhängig. Bei der Kooperationsaufgabe Moorpfad geht es beispielsweise darum, mithilfe weniger Bodenplatten ein »Moor« zu überqueren, um das rettende Ufer auf der anderen Seite zu erreichen. Die Aufgabe ist dann geschafft, wenn alle »sicher« das Moor überquert haben. Ziel dieser und aller anderen Aufgaben ist es, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe zu stärken und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass individueller Erfolg immer auch vom Erfolg der Gruppe abhängt. In der Dramaturgie platzierten wir je eine Kooperationsaufgabe am Dienstag (2. Tag) und am Donnerstag (4. Tag). Ziel war es, der Gruppe vor den Komponierwerkstätten und vor dem Abschlusskonzert die Möglichkeit zu geben, sich darüber bewusst zu werden, dass sie als Gruppe Herausforderungen meistern kann und alle Klassenmitglieder wichtig für den Erfolg der Gruppe sind. Das Abschlusskonzert Die während der Woche erarbeiteten Stücke wurden beim Abschlusskonzert präsentiert. Dazu wurden die Eltern eingeladen und der Proberaum in eine kleine Konzerthalle verwandelt. Vor dem Abschlusskonzert machten wir mit der Klasse die Feedbackrunde Warmer Rücken. Dafür klebten sich die Schüler*innen ein Blatt Papier mit dem eigenen Namen auf den Rücken. Im zweiten Schritt konnten alle jedem*jeder Einzelnen ein individuelles Kompliment auf den Rücken schreiben. Das Ergebnis war für jede*n ein Zettel, welcher mit den Komplimenten der anderen Kinder gefüllt war. Unser Ziel war dabei, der Klasse vor dem Konzert die Möglichkeit zu ge  Mein Weg zur cooltour

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ben, sich selbst Mut zuzusprechen und das Vertrauen in die Gruppe zu stärken, um die Herausforderung des Abschlusskonzertes gut zu meistern. Im Anschluss fand das Konzert, bei welchem sowohl die Kompositionen als auch Chorstücke präsentiert wurden, statt. Es fiel auf, wie viele sich trotz ihrer Nervosität selbstbewusst auf der Bühne bewegten. Dies war unserer Meinung nach darauf zurückzuführen, dass sich die Gruppe während der Projektwoche etwas erarbeitet hatte, auf das sie sich verlassen konnte – eine echte Gemeinschaft. Das konnte man spüren, man konnte es aber auch sehen. Die Kinder nahmen sich während des Konzertes in den Arm, lächelten sich an und sprachen sich gegenseitig Mut zu. Eine Atmosphäre der Solidarität und des Zusammenhaltes trug die Klasse durch das Konzert. Im Ergebnis war die Performance auf der Bühne besser als in jeder Probe zuvor. Noch viel wichtiger aber war der Spaß und die Freude aller Beteiligten am eigenen Tun und Erleben.

Resümee Vieles von dem, worüber ich mir 2018 in meiner Masterarbeit Gedanken gemacht habe, konnte ich innerhalb der cooltour praktisch ausprobieren. Zum einen verfestigte sich meine Vermutung, dass die Arbeit mit Musik alle vier Aspekte des Vier-Faktoren-Modells berührt. Die Art und Weise, wie manche Kinder im Laufe der Woche über sich hinauswuchsen und bei der Abschlusspräsentation auf der Bühne standen, hat mir diese Gewissheit verschafft – auch wenn ich es vermutlich nie wissenschaftlich werde beweisen können. Außerdem hat mir die cooltour gezeigt, welchen erstaunlichen Effekt aktives Training für prosoziales Verhalten auf das Miteinander in der Gruppe hat. Im Laufe der Woche konnten wir als Dozent*innen feststellen, wie prosoziales Verhalten während der Probenarbeit, im Kompositionsprozess und während der Freizeit praktiziert wurde. Die Kinder begriffen, dass – genauso, wie sie bei den Teamaufgaben nur als Team gewinnen konnten – auch ihre gemeinsamen Kompositionen gewinnen würden, wenn sie sich gegenseitig unterstützen. Die Rückmeldungen sowohl der Kinder als auch der Eltern bestätigten den Eindruck, den wir als Dozent*innen hatten. Eltern schrieben 162

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nach der Woche Mails an kultursegel, dass ihre Kinder glücklich und gelöst nach Hause zurückgekommen seien und wie sehr sie die Atmosphäre beim Abschlusskonzert bewegt hätte. Besonders ein Moment zu Beginn des Abschlusskonzertes hat mich berührt. Das Konzert wurde durch die Kompositionsgruppe Gleich & Anders eröffnet, welche ich betreute. Deren Komposition begann damit, dass Lena (Name geändert), ein Kind mit Trisomie 21, gemeinsam mit mir auf die Bühne gehen sollte, um mit dem Grundrhythmus das Stück zu beginnen. Direkt vor Beginn des Konzertes warnte mich Lenas Mutter vor, dass ihr Kind solch prominente Auftritte in der Regel meiden würde. Zusätzlich nahm ich vor dem Konzert die Nervosität und Anspannung der anderen Kinder aus meiner Gruppe wahr. Als ich dann allerdings Lena direkt vor dem Auftritt fragte, ob sie bereit sei, blickte mich ein selbstbewusstes und glückliches Kind an. Ohne zu zögern ging sie mit mir auf die Bühne, übernahm selbstsicher ihren Part und wurde dadurch zum Vorbild für die anderen Gruppenmitglieder. Aus dem Augenwinkel konnte ich Lenas Mutter sehen, die mit Tränen in den Augen ihr Kind verfolgte. Sie konnte nicht nur sehen, wie ihr Kind als selbstverständlicher Teil der Gruppe ein Musikstück mitgestaltete – Lena hatte mit ihrem Mut und ihrem Vertrauen in die Gruppe den anderen Gruppenmitglieder das für kurze Zeit verlorene Vertrauen in sich und die Gruppe wieder zurückgegeben. Diesen Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung im Sinne der TZI wollten wir bei der cooltour erreichen. Kinder, die sich zu Beginn der Woche niemals auf eine Bühne getraut hätten, um sich und ihre Arbeit dort zu präsentieren, taten dies am Ende selbstverständlich und selbstbewusst. Das konnte jede*r spüren. Werte wie Hilfsbereitschaft, Toleranz, Solidarität und Respekt wurden in den Komponierwerkstätten und den erlebnispädagogischen Teamaufgaben auf die Probe gestellt und trainiert. Die Verknüpfung der einzelnen Faktoren des Vier-Faktoren-Modells über die Musik ließ für die Teilnehmenden das Thema Freundschaft entstehen, an welchem alle wachsen konnten. Musik ist mehr als nur die Summe der Einzelnen. Sie kann und sollte ein Rückzugsort sein. Diesen Rückzugsort in der cooltour nutzbar zu machen, um Menschen persönliches Wachstum zu ermöglichen, ist mein Beitrag zu einer Welt, wie Ruth Cohn sie sich gewünscht hat.   Mein Weg zur cooltour

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Literatur Cohn, R. C. (1975). Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Stuttgart. Farau, A., Cohn, R. C. (1984). Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Stuttgart. Knodt, P. (2017). Einblicke/Perspektiven. Wiesbaden. Kurth, E. (1931). Musikpsychologie. Berlin. Lehmann, C. (2010). Der genetische Notenschlüssel. München. Levitin, D. J. (2006). Der Musik-Instinkt. Berlin. Löhmer, C., Standhardt, R. (2006). TZI: Die Kunst, sich selbst und eine Gruppe zu leiten. Stuttgart. Mahlert, U. (2011). Wege zum Musizieren. Mainz. Petrat, N. (2011). Psychologie des Instrumentalunterrichts. Kassel. Petrat, N. (2014). Glückliche Schüler musizieren besser! Augsburg. Scheithauer, H., Hayer, T., Petermann, F. (2003). Bullying unter Schülern. Erscheinungsformen, Risikobedingungen und Interventionskonzepte. Göttingen. Stucke, G. (2018). Die Themenzentrierte Interaktion im musikalischen Gruppenunterricht. Wuppertal. Ziegler, J. (2011). Nicht gehaltene Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele. https://www.sueddeutsche.de/kultur/dokumentation-jean-ziegler-nichtgehaltene-rede-zur-eroeffnung-der-salzburger-festspiele-1.1124001-0#seite-2 (Zugriff am 29.09.2021).

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JONATHAN TERFURTH  Die TZI-Axiome als Kompass für einen verantwortungsvollen Umgang mit Robotik

Einführung und Hintergründe TZI und Robotik – lassen sich diese beiden Felder in Verbindung bringen und aus der TZI Vorschläge für einen förderlichen Umgang mit Robotern und deren Weiterentwicklung erarbeiten? Zunächst möchte ich die Hintergründe dieser Arbeit vorstellen. Inwiefern betreffen mich beide Aspekte? Was ist der Kern der TZI? Wie ist Robotik definiert und was versteht »die Gesellschaft« darunter? Welche technischen Entwicklungen sind absehbar? In einem zweiten Schritt möchte ich TZI und Robotik miteinander verknüpfen sowie Überschneidungen und Gegensätze untersuchen. Abgeleitet aus diesen Erkenntnissen entstehen folgende Fragen: Welche Haltungs- und Handlungsvorschläge ergeben sich für Entwickler*innen und die Gesellschaft als Ganzes? Wie ist ein nachhaltiger, förderlicher Umgang mit der Robotik möglich? Nach einem Bachelorabschluss in »Erneuerbare Energien« und einem angeschlossenen Masterstudium »Elektromobilität« an der Universität Stuttgart bekam ich Ende 2016 das Angebot, im Bereich »elektrische Antriebe« zu promovieren, und habe dieses angenommen. Zu diesem Zeitpunkt lag bereits die Hälfte der TZI-Grundausbildung hinter mir und die Überschneidungen zu den rein fachlich ausgelegten Angeboten der Studiengänge hatten sich bis hierhin in Grenzen gehalten. Qualifikationen im sozialen Bereich, wie zum Beispiel die TZI-Grundausbildung, kommen meiner Ansicht nach in den klassischen Ingenieurstudiengängen, die ich studiert habe oder über Umwege kennenlernen konnte, viel zu kurz. Mit der Konkretisierung meiner Promotionsziele hin zu elektrischen Robotik-Antriebssystemen sah ich die Chance, die beiden Themen zusammenzubringen, gekommen. Deshalb entschied ich, die Robotik in dieser Abschlussarbeit zu thematisieren, mithilfe der TZI einzuordnen und ein Stück weit zu bewerten. Während einer ersten Ideensammlung kamen mir viele Ansatzpunkte in den Sinn, wie das Vier-Faktoren-Modell, die formulierten Axiome und die Postulate sich auf den Umgang mit Robotik anwenden oder umsetzen lassen. Um den Rahmen dieser Abschlussarbeit nicht zu sprengen, habe ich mich für die genauere Betrachtung der Axiome entschieden – auch wenn immer wieder die anderen Aspekte berührt werden. Auch der 168

Jonathan Terfurth

eine oder andere Gedanke, was Ruth Cohn wohl zu meinen Ausführungen und Ideen sagen würde, kommt zwischendurch auf. Ich bin mir sicher, dass ich, so wie ich sie damals kennenlernen durfte, eine intensive Diskussion mit ihr zu meinen Promotionsabsichten in diesem Bereich hätte führen können. Das konkrete Projekt, in dem ich promovieren werde und aus dessen Perspektive ich diese Abschlussarbeit schreibe, ist ein durch die deutsche Forschungsgesellschaft gefördertes internationales Forschungsprojekt, bei dem die Universitäten in Stuttgart und Auckland, Neuseeland, zusammenarbeiten. Jeweils zehn Doktorand*innen widmen sich ganz unterschiedlichen Teilaspekten der Robotik. Ein Hauptziel des Gesamtprojekts ist die Verbesserung der Zusammenarbeit von Mensch und Maschine durch die Verbesserung der Kontaktaufnahme mit weichen Materialien wie Menschen, Tieren oder Früchten seitens der Maschine.

Themenzentrierte Interaktion Die Themenzentrierte Interaktion ist im Wesentlichen durch das sogenannte Vier-Faktoren-Modell, bestehend aus ICH, WIR, ES, GLOBE, welche alle gemeinsam dynamisch in Balance gehalten werden sollten, sowie drei Axiome und zwei Postulate definiert. Auf dieser Basis sind zusätzlich die Hilfsregeln entstanden (ruth cohn institute for tci international, 2017). Alle diese Elemente lassen sich auf die Robotik beziehen und anwenden. Ich werde in dieser Arbeit den Schwerpunkt auf die drei Axiome und deren Auswirkungen auf das Handeln im Zusammenhang und in Zusammenarbeit mit Robotern legen. Im Folgenden sind die drei Axiome in ihrer deutschen Übersetzung nach Ruth C. Cohn zitiert: 1. »Der Mensch ist eine psycho-biologische Einheit. Er ist auch Teil des Universums. Er ist darum autonom und interdependent. Autonomie wächst mit dem Bewusstsein der Interdependenz.« (Cohn, 2016, S. 120) 2. »Ehrfurcht gebührt allem Lebendigem und seinem Wachstum. Respekt vor dem Wachstum bedingt bewertende Entscheidungen. Das Humane ist wertvoll; Inhumanes ist wertbedrohend.« (Cohn, 2016, S. 120)   Die TZI-Axiome als Kompass

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3. »Freie Entscheidung geschieht innerhalb bedingender innerer und äußerer Grenzen, Erweiterung dieser Grenzen ist möglich.« (Cohn, 2016, S. 120) Alle drei Axiome zielen darauf ab, Werte und ein diesen entsprechendes Menschenbild zu vermitteln und zu leben (ruth cohn institute for tci international, 2017). Sie stammen aus einer Zeit, in der erste als Roboter zu bezeichnende Automaten bereits existierten, aber in der Gesellschaft noch so gut wie keine Rolle spielten. Einen direkten Bezug herzustellen, ist daher schwer. Daher möchte ich die Bedeutung der Axiome, übersetzt auf die Veränderungen unserer Zeit, aus meinem aktuellen professionellen und persönlichen Kontext heraus finden und darstellen.

Technischer Hintergrund und Entwicklungen in der Robotik Robotik polarisiert. Während die einen von den neuen Möglichkeiten, die sich ergeben, begeistert sind, haben andere starke Bedenken oder Ängste. Beides ist nachvollziehbar. Als Grundlage für die folgende Diskussion über die Thematik gibt dieses Kapitel einen einfach gehaltenen Überblick der Robotik hinsichtlich Herkunft, Definition, Technik und Entwicklung. Dadurch soll ein subjektives Empfinden der Thematik keinesfalls ersetzt, sondern vielmehr ergänzt werden. Der Name »Roboter« tauchte 1920 zum ersten Mal auf, als der Autor Karel Čapek diesen Begriff in seinem Theaterstück »Rossum’s Universal Robots« für von Menschen erschaffene Wesen verwendete, die den Menschen schwere Arbeit abnehmen sollten, am Ende aber gegen ihre Schöpfer*innen revoltierten. Der Begriff selbst stammt aus dem slawischen und ist von »Robota« abgeleitet, was so viel bedeutet wie »Fronarbeit« (Merriam-Webster, 2017). Schon hier tauchen beide oben angedeuteten Gefühle, die Freude über Arbeitserleichterungen und die Angst vor den Robotern, auf. Während der Begriff »Roboter« in der Folge hauptsächlich für humanoide Roboter, die dem Menschen nachempfunden werden und ihm ähnlich sein sollen, verwendet wurde, ist die Nutzung mittlerweile 170

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ausgeweitet, sodass auch automatische Staubsauger, Spielzeuge oder anderes als Roboter bezeichnet werden. Eine standardisierte Definition für Industrieroboter liefert die europäische Norm DIN EN ISO 10218–1: »Automatisch gesteuerter, frei programmierbarer Mehrzweck-Manipulator, der in drei oder mehr Achsen programmierbar ist und zur Verwendung in der Automatisierungstechnik entweder an einem festen Ort oder beweglich angeordnet sein kann.« (DIN Deutsches Institut für Normung e. V., 2011, S. 7). Während Roboter vor einigen Jahren noch eine immens risikobehaftete Investition waren, die hauptsächlich für Spezialanwendungen, wie beispielsweise Raumstationen im All, in Kauf genommen wurde, beschleunigt und vergünstigt die Robotik heute in vielen Fertigungslinien die Herstellung von Maschinen, Fahrzeugen oder anderen Produkten. Dabei werden Menschen in vielen Fällen nicht unterstützt, sondern deren Handgriffe ersetzt. Durch die immer ausgefeiltere Technik, die schnelleres Arbeiten, schwerere Lasten und präzisere Manöver ermöglicht, wird sich dieser Trend auf absehbare Zeit fortsetzen. Neben den hier beschriebenen Industrierobotern finden sich kleinere und bezahlbare Roboter auch immer mehr in Privathaushalten wieder. Parallel zu der arbeitsabnehmenden Robotik entwickelt sich eine Art, die auf die Zusammenarbeit mit Menschen ausgelegt ist. Entweder durch gemeinsames Erledigen der Arbeit, wobei vor allem die Kommunikationsschnittstelle zwischen Mensch und Roboter entscheidend ist, oder durch eine Verschmelzung von Roboter und Mensch, zum Beispiel in Form von Exoskeletten, die wie ein Anzug getragen werden und beim Anheben schwerer Lasten unterstützen. Auch in Bezug auf meinen eigenen Forschungsschwerpunkt steht dieser immer weiter wachsende Bereich mit im Fokus. Unabhängig vom konkreten Einsatzort besteht ein Roboter wie viele andere technische Geräte aus einer Einheit von Hardware und Software. Während die Hardware die mechanischen Anforderungen, wie bestimmte Festigkeiten oder Sensoren, erfüllen muss, ist es die Aufgabe der Software, die gewünschten Bewegungsabläufe zu steuern. Hierbei müssen Sensoren, Steuerbefehle des Menschen und Regelung der Elektromotoren oder hydraulischen Antriebe perfekt aufeinander abgestimmt sein. Selbst für erste Einsätze sogenannter   Die TZI-Axiome als Kompass

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künstlicher Intelligenz entsprechen die Funktionen dabei dem, was die Entwickler*innen für die Maschine vorgesehen haben. Aufgrund der technischen Weiterentwicklungen gibt es immer wieder neue Bereiche, in denen Arbeitsplätze durch Maschinen ersetzt werden oder diese den Menschen als kompetente Hilfe oder Partner zur Seite stehen können. Die meisten Roboter sind aber noch auf eine Anwendung spezialisiert und können nicht einfach umgelernt werden oder selbst neue Prozesse entwickeln.

Störung »Robotik« Warum manche Menschen Roboter als gefährlich oder unberechenbar und durch die Beeinflussung ihres Handelns als eine Art Störung im Sinne der TZI empfinden, ist auf den ersten Blick leicht zu beantworten. Schnell kommt im Gespräch das Beispiel eines Bandarbeiters mit einer vergleichsweise einfachen Aufgabe auf, der seinen Arbeitsplatz an einen Roboter verliert, da dieser die Arbeit schneller, zuverlässiger und nach der Anfangsinvestition auch günstiger ausführt. Die Angst, überflüssig zu werden, weil Maschinen unsere Arbeit besser machen, ist so alt, wie die Maschinen selbst. Eines der bekanntesten vergleichbaren Beispiele der Geschichte ist der Weber*innenaufstand Mitte des 19. Jahrhunderts. Dieser kam auf, nachdem die Handwebstühle mehr und mehr durch Maschinen ersetzt wurden. Die Frage, wie mit Menschen umgegangen werden kann oder soll, die ihren Arbeitsplatz an Maschinen verlieren, ist also schon lange und nach wie vor aktuell. In der Regel führt eine Automatisierung von Arbeitsplätzen in der direkten Folge zum Verlust einfacher Arbeitsplätze und schafft gleichzeitig einige neue Arbeitsplätze mit komplexeren Aufgaben, zum Beispiel im Maschinenbau und der Entwicklung. Als Kompensation für diese Entwicklung wird häufig die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens genannt. Aber kann dieses den Menschen, denen es nicht nur um den Verdienst, sondern auch um die Arbeit geht, überhaupt weiterhelfen, geschweige denn einen Lebensinhalt oder -sinn geben? Beispiele wie die der Webmaschinen werden auch gern und oft dazu genutzt, die Arbeitsplatzverluste als temporäres Problem dar172

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zustellen. Eine gewisse zeitliche Schwankung sei ganz normal und die arbeitslosen Arbeiter*innen würden schon bald darauf an anderer Stelle gebraucht, soll dabei die Aussage sein. Es gibt tatsächlich Statistiken, die nahe legen, dass eine hohe Automatisierung keine Arbeitsplätze vernichtet, sondern sogar neue schafft. Beispielsweise haben die beiden höchstautomatisierten Länder der Welt, Südkorea und Japan, mit etwa vier Prozent beziehungsweise etwa drei Prozent eine der geringsten Arbeitslosenquoten (Statista, 2021). Die Gründe dafür sind aber vermutlich deutlich vielfältiger als einzig die fortschreitende Automatisierung. Neben dem Ersetzen von menschlicher Arbeitskraft existiert ein weiterer möglicherweise sehr gefährlicher Punkt: Die zunehmende Intelligenz der Roboter. Horrorszenarien wie im Theaterstück von Karel Čapek oder aktuelleren Filmen wie »I, Robot«, in denen die Roboter immer intelligenter und menschenähnlicher werden und am Ende sogar gänzlich die Macht über unsere Welt übernehmen, sind bisher eine Utopie. Fehlfunktionen führen, wenn überhaupt, zu Unfällen oder Verletzungen – noch keineswegs zu einer Art Revolution. Dennoch beschäftigen sich schon jetzt Forscher*innen damit, wie ein in den Filmen beschriebenes Szenario und Verhalten von automatischen Maschinen von Beginn an verhindert werden könnte.

Robotik – (in)human? »Das Humane ist wertvoll; Inhumanes ist weltbedrohend«, sagt Ruth Cohn in einem Teil des zweiten Axioms. Nach dem Beispiel eines*einer einfachen Arbeiter*in ist eine Bedrohung seiner*ihrer persönlichen Welt in Form der eigenen Existenz und der eigenen Familie durch die Entlassung und anschließende Ersetzung durch einen Roboter eindeutig vorhanden. Wie kann ein betroffener Mensch damit umgehen? Vermutlich möchte auch dieser Mensch technologisch gesehen nicht zurück in die Zeit oder Welt vor der Industrialisierung, die für die meisten Menschen deutlich schwieriger und anstrengender war. Gleichzeitig steckt hinter vielen der vermeintlichen und wirklichen Fortschritte ein Ersatz menschlicher Arbeitskraft, ganz unabhängig davon, ob es um eine weit entwickelte Infrastruktur mit Gasleitungen, Internet oder Autos geht oder um   Die TZI-Axiome als Kompass

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Massenproduktionen von Lebensmitteln, Kleidung oder Geräten. Die Robotik scheint eines der nächsten Kapitel zu sein, die in dieser Geschichte geschrieben werden. Was sie für technologische Möglichkeiten bieten wird, ist langsam absehbar. Welche Risiken sie bringen wird, zeichnet sich bereits ab; und welche neuen Möglichkeiten sich daraus für den Menschen und seine Umwelt ergeben, zeigt sich ebenfalls schon ansatzweise. Roboter werden wohl immer eine Mischung aus wertvoll und weltbedrohend bleiben, sowohl in den Köpfen als auch aus technologisch-wissenschaftlicher Sicht. Es bleibt also nur die Möglichkeit, die Ambivalenzen unterschiedlicher Beispiele wahrzunehmen und mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft möglichst gut abzuwägen, ob bestimmte Einsatzzwecke sinnvoll sind oder nicht. In unserer älter werdenden Gesellschaft wird es immer schwerer, die Menschen zu versorgen, die ein gewisses Lebensalter erreicht haben. Daher erscheint die Idee, Roboter zu entwickeln, die sich um Menschen kümmern, die allein nicht mehr lebensfähig sind, prinzipiell sinnvoll. Beispiele, die sich bereits in der Testphase befinden, gibt es verschiedene. Eins ist der »Care-O-Bot« des Fraunhofer IPA, der in der mittlerweile vierten Generation zeigen soll, dass Hilfe in der Küche, im Altenheim oder im Krankenhaus durch Roboter sinnvoll und technisch möglich ist (Fraunhofer-­Institut für Produktionstechnik und Automatisierung, 2017). Spätestens wenn diese Roboter nicht nur ein Glas Wasser reichen, sondern ebenfalls Memory mit den Bewohner*innen des Altenheims spielen sollen, entwickelt sich – zumindest bei mir – das starke Gefühl des inhumanen Handelns. Mit dem Einsatz von Robotern in der Seniorenarbeit entzieht man der älteren Generation trotz körperlich problemloser Unterstützung den für das mentale und emotionale Überleben häufig viel wichtigeren Aspekt des Humanen – Empathie, Beziehung und Kontakt – fast gänzlich. Ist es respektvoll, so wie es das zweite Axiom der TZI verlangt, Menschen oder möglicherweise auch Tiere durch Maschinen betreuen zu lassen? Was passiert, wenn wir uns gegen diese Art der Betreuung entscheiden? Wo ist die Grenze? Wo ist es sinnvoll, die Verbindung und Zusammenarbeit von Mensch und Maschine zu nutzen? Neben dem Einsatz der Roboter als Hilfe und Unterstützung des Menschen ist das bereits mehrfach genannte Beispiel eines Men174

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schenersatzes aktuell eine der häufigsten Anwendungen der Robotik. Hierbei können auch gesundheitliche Aspekte miteinbezogen werden. Häufig wird angeführt, dass die Ausführung körperlich schwerer Arbeit durch Roboter eine Entlastung der Menschen bedeutet. Auch bei dieser Argumentation für die Robotik wird die Existenzangst der entlassenen Menschen außer Acht gelassen. Zu der Sicherheit, finanziell überlebensfähig zu bleiben, gehört auch die Möglichkeit, einer sinnvollen Arbeit als Teil eines Gesamtlebenssinns nachzugehen. Neben der Arbeit selbst entfallen in diesem Fall auch soziale Kontakte, ob am Fertigungsband oder beim Betriebssport; das Risiko gefährlicher Langeweile und Unzufriedenheit nimmt dagegen drastisch zu. Zusätzlich muss sich auch die Gesellschaft die Frage stellen, wie aus politischer und ethischer Sicht mit solchen Schicksalen umzugehen ist. Wie werden Personen weiterhin integriert? Wie werden neue passende Arbeitsplätze geschaffen? Wie können ein Zusammenhalt und eine weit verbreitete Zufriedenheit garantiert werden? Nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung werden diese Fragen immer drängender, da bei weitem nicht nur körperlich anstrengende Berufe zunehmend automatisiert werden (Dämon, 2015). Auch in Bereichen wie kaufmännischen oder juristischen Berufen gehen die Arbeitsmarktforscher*innen von einer Substituierbarkeit der Arbeitsplätze von etwa 27 Prozent beziehungsweise ungefähr 18 Prozent aus, was jedem vierten bis fünften Arbeitsplatz entspricht. Der Studie nach liegt einzig im Feld der sozialen Berufe oder Berufen mit Lehrtätigkeit die Ersetzbarkeit im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Mit dem Fortschritt der Entwicklung im Bereich der Automatisierung werden aber auch diese Zahlen zunehmend steigen. Vielleicht noch grundsätzlicher als die Frage nach dem Humanen oder Inhumanen ist die nach der Definition vom »Lebendigen«, welches Ruth Cohn als absolut achtenswert bezeichnet. Fallen Roboter aus Metall und Kunststoff als Schöpfung des Menschen direkt aus dem Raster oder entwickeln sie durch die zunehmend intelligenter werdenden Systeme eine Lebendigkeit, die wir Menschen ihnen mitgeben? Wenn man Kinder sieht, die mit humanoiden Robotern aufwachsen und diese als Teil ihres Lebens sehen, könnte einem dieser Gedanke   Die TZI-Axiome als Kompass

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kommen. Häufig entwickeln sich hier – einseitig – sehr starke emotionale Bindungen. Dies kann aber nicht wirklich als Argument für Lebendigkeit dienen. Wenn lebendig sein bedeutet, eine Art Willen zu haben, der sich ändern kann und nicht aus einer vorgefertigten Formel entwickelt wird, ergibt sich bei dem heutigen Stand der Intelligenz von Robotern ein unlebendiges Bild. Abhängig von Sensoren oder Spracherkennung werden Algorithmen durchlaufen, die meist reproduzierbar oder zufällig, nicht aber emotional gesteuert sind. Nimmt man das dritte Axiom hinzu, bedeutet das, dass die Grenzen für freie Entscheidungen extrem eng gesteckt und vor allem ausschließlich durch die Entwickler*innen eines Roboters definiert sind. Die Hersteller können durch die Ergänzung der Software oder Hardware weitere Handlungen ermöglichen, diese aber bei korrekter Funktion problemlos weiterhin vorhersagen. Nur wenn diese Reproduzierbarkeit und entsprechende Vorhersagen nicht mehr möglich sind, müsste man von wirklich freien Entscheidungen sprechen. Erst sobald die Grenzen dafür nicht mehr bestehen, sind Entwicklungen wie in »I, Robot« überhaupt vorstellbar. »Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen und seinem Wachstum« (Cohn, 2016, S. 120) kann noch aus einem weiteren Blickwinkel betrachtet werden. Es stellt sich nicht nur die Frage, ob Roboter eine Art von Lebendigkeit besitzen, sondern ob auch die Achtung vor dem tatsächlich Lebendigen durch die Weiterentwicklung der Robotik gegeben ist. Beispielsweise Pflegeroboter im Altenheim sind in dieser Hinsicht fraglich. Achten wir uns noch selbst und gegenseitig? Oder sind wir, getrieben vom Wunsch nach immer neuen Entdeckungen und technischen Möglichkeiten, davon abgekommen, Dinge auf mehreren Ebenen zu hinterfragen? Diese Fragestellung lässt sich auf das dritte Axiom erweitern. Aus einem religiösen Blickwinkel stellt sich beim Lesen die Frage, inwiefern die Menschheit sich noch an die ihr gesteckten Grenzen hält, wenn sie versucht, sich ein mechanisches und elektrisches Ebenbild zu schaffen. Allerdings scheinen unsere Grenzen in dieser Hinsicht deutlich weiter zu sein, als wir sie unseren Schöpfungen, den Robotern, zurzeit noch gewähren. Unsere Entscheidungen sind entsprechend frei getroffen, beachten aber teilweise nicht die anderen beiden Axiome. 176

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Auch das erste Axiom bietet Diskussionspotenzial. Roboter sind zum Teil dieses Universums geworden und werden es immer mehr. Sind sie noch ein technisches System oder entwickeln sie sich bereits in die Richtung einer psychisch-technischen Einheit mit Entscheidungsgewalt? Inwiefern das ein Bewusstsein für eine Interdependenz oder Autonomie bedeutet, ist ebenfalls offen und vielleicht erst in einigen Jahren absehbar. Allerdings ist nicht nur das mögliche Bewusstsein einer Interdependenz der Roboter untereinander entscheidend, sondern das Bewusstsein der Gesellschaft, dass eine neue Interdependenz zwischen Mensch und diesen Maschinen mit der Zeit unumgänglich sein wird. Je abhängiger wir uns von Automaten machen, desto mehr Fragestellungen ergeben sich. Auch ethische Gesichtspunkte werden dann immer wichtiger. In letzter Zeit gab es viele Diskussionen über die Entwicklung und Einführung autonomer Fahrzeuge. Diese müssen im Falle eines unausweichlichen Unfalls beispielsweise entscheiden, ob sie in den Gegenverkehr oder in eine Familie auf dem Bürgersteig fahren (JeanFrançois Bonnefon, 2016). Solche Entscheidungen werden bisher instinktiv und innerhalb von Sekundenbruchteilen durch uns Menschen getroffen. Auf einmal ist Zeit, darüber nachzudenken, und es wird offenbar, dass Menschenleben als verschieden wertvoll bewertet werden. An dieser Stelle muss eine Zusammenarbeit zwischen technischer Entwicklung und ethischer Abschätzung erfolgen, die für autonome Fahrzeuge genauso gilt wie für Industrieroboter, Drohnen oder Maschinen aus dem Bereich der Heimautomatisierung.

Die Bedeutung der Axiome für mein Projekt und meine Promotion Robotik ist und wird eine große Herausforderung für die Menschheit sein. Sie sorgt schon jetzt für intensive Diskussionen, die mal emotionaler, mal technischer geführt werden. Es geht um Einzelschicksale und gesellschaftliche Entwicklungen. Auf unabsehbare Zeit wird das so bleiben. Dass ich Teil dieser Entwicklung bin, bietet mir die Chance, sie aktiv mitzugestalten und zu beeinflussen. Ich werde die hier beschriebenen Fragestellungen, Probleme und Ideen, die noch fast   Die TZI-Axiome als Kompass

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ausnahmslos weit weg von den rein technischen Inhalten meiner Forschung und Promotion sind, möglichst oft im Hinterkopf haben – sei es für mich und meine Einschätzung einer Entwicklung oder für mögliche Veränderungen oder ein Umdenken, das ich bewirken möchte und kann. Meine konkreten Handlungen werden sich parallel zu der Entwicklung auf technischer Ebene immer wieder verändern. Eine Haltung habe ich schon jetzt für mich anfangen können aufzubauen. Diese Arbeit zeigt, wie sehr alles miteinander zusammenhängt. Dass es vermutlich auch Ruth Cohn ein Dorn im Auge gewesen wäre, Studiengänge wie »Erneuerbare Energien« oder »Elektromobilität« fast völlig ohne ethische Hintergründe und den Bezug zur Wirkung auf die Gesellschaft und das Universum als Ganzes, einzig mit dem Fokus auf technische Aspekte, auszulegen, ist dabei nur eine Randnotiz. Unsere Gesellschaft muss darauf achten, nicht aus der Balance zu geraten. Alle Teile, Aspekte, beruflichen und privaten Schwerpunkte müssen in die Entwicklung und den Fortschritt unserer Welt einbezogen werden. Nicht alles, was technisch machbar oder denkbar ist, ist auch sinnvoll. Gleichzeitig ist häufig nicht absehbar, welche Folgen eine Entwicklung hat oder im zeitlichen Verlauf haben könnte. Das können negative, zerstörerische Folgen sein, wie zum Beispiel eine militärische Nutzung einer Erfindung. Es können sich auch positive Entwicklungen ergeben, mit denen vorher nicht zu rechnen war. Es darf also nicht von Beginn an die Entwicklung einer Erfindung aus Angst vor einer schlechten Nutzung eingestellt werden. Vielmehr muss im laufenden Prozess immer wieder eine Bewertung möglicher Auswirkungen erfolgen. Ich persönlich möchte versuchen, die Entwicklung einer Technik möglichst früh auch über die technischen Gesichtspunkte hinaus zu betrachten. Als Elektroingenieur bietet sich mir, genau wie allen anderen Menschen in ähnlichen oder ganz anderen Bereichen, die Möglichkeit, die Gesellschaft zu bereichern oder sie zu berauben. Diese Chance will ich so positiv wie möglich nutzen. Dass ich dabei immer wieder Aspekte gegeneinander abwägen muss, ist Teil der Verantwortung, die ich für mich und die Gesellschaft trage. 178

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»Be your own chairperson. – Übernimm Verantwortung für dich, die anderen und die Welt.« – frei nach Ruth Cohn Eine konkrete Regel möchte ich mir an dieser Stelle noch setzen. Wo ich es in der Hand habe, möchte ich dafür sorgen, dass Roboter jeglicher Art zu keinem Zeitpunkt in der Lage sein werden, die Grenzen ihrer mehr oder weniger freien Entscheidungen eigenmächtig zu erweitern.

Zusammenfassung und Ausblick Abschließend möchte ich die drei Axiome und den daraus abgeleiteten Handlungsleitfaden zum verantwortungsvollen und nachhaltigen Umgang mit Robotik noch einmal in den Mittelpunkt stellen. Welche Übersetzung auf den Drang nach Fortschritt ist möglich? Wie können die Axiome einen Kompass für heutige und künftige Entwicklungen im technischen und sozialen Bereich sein? »Der Mensch ist eine psycho-biologische Einheit. Er ist auch Teil des Universums. Er ist darum autonom und interdependent. Autonomie wächst mit dem Bewusstsein der Interdependenz.« (Cohn, 2016, S. 120) Eine Diskussion über die Existenz von Robotik ist nicht mehr zeitgemäß. Roboter sind Teil unserer Welt geworden. Ein verantwortungsvoller, humaner und freier Umgang ist nur möglich, wenn wir uns dessen bewusst sind und entsprechend handeln. »Ehrfurcht gebührt allem Lebendigem und seinem Wachstum. Respekt vor dem Wachstum bedingt bewertende Entscheidungen. Das Humane ist wertvoll; Inhumanes ist wertbedrohend.« (Cohn, 2016, S. 120) Solange wir mit der Entwicklung von Robotern der Menschheit und allem Lebendigen dienen und nichts gefährden oder zerstören, ist dies sinnvoll. Dann ist auch der Respekt vor dem Lebendigen durch die Entwicklung und die Robotik selbst gegeben. Eine ständige   Die TZI-Axiome als Kompass

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Abwägung aller Aspekte ist dafür unerlässlich und kann als Kompass für Entwicklungsschritte und Entscheidungen dienen. »Freie Entscheidung geschieht innerhalb bedingender innerer und äußerer Grenzen, Erweiterung dieser Grenzen ist möglich.« (Cohn, 2016, S. 120) Die Grenzen unserer Gesellschaft sind erweiterbar. Ein Schritt auf diesem Weg kann die Robotik darstellen, allerdings nur bei Beachtung der beiden ersten Axiome. Werden die Interdependenz und das Lebendige akzeptiert und respektiert, können Grenzen nachhaltig erweitert werden. Zu keinem Zeitpunkt aber darf es einer technischen Entwicklung möglich sein, ihre Grenzen eigenmächtig zu erweitern. Die Macht über Autonomie und freie Entscheidung gehört einzig dem Menschen.

Literatur Bonnefon, J.-F., Shariff, A., Rahwan, Y. (2016). The social dilemma of autonomous vehicles. https://www.science.org/doi/abs/10.1126/science.aaf2654 (Zugriff am 01.10.2021). Cohn, R. C. (2016). Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Stuttgart. Dämon, K. (2015). Computer können Jobs von 4,4 Millionen Deutschen übernehmen. Studie Digitalisierung und Arbeitsplätze. http://www.wiwo.de/ erfolg/beruf/studie-digitalisierung-und-arbeitsplaetze-welche-jobs-betroffen-sind/12724850-2.html (Zugriff am 30.07.2017). DIN Deutsches Institut für Normung e. V. (2011). DIN EN ISO 10218. Industrieroboter – Sicherheitsanforderungen. Berlin. Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (2017). Care-OBot 4. https://www.care-o-bot.de/de/care-o-bot-4.html (Zugriff am 30.07.2017). Merriam-Webster (2017). robot. https://www.merriam-webster.com/dictionary/ robot (Zugriff am 29.07.2017). ruth cohn institute for tci international (2017). Was ist TZI? http://www.ruthcohn-institute.org/was-ist-tzi.html (Zugriff am 27.07.2017). Statista (2021). Japan: Arbeitslosenquote von 1980 bis 2020 und Prognosen bis 2026. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/17317/umfrage/arbeitslosenquote-in-japan/ (Zugriff am 01.10.2021). Statista (2021). Südkorea: Arbeitslosenquote von 1980 bis 2020 und Prognosen bis 2026. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/17318/umfrage/ arbeitslosenquote-in-suedkorea/ (Zugriff am 01.10.2021).

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JUDITH WÜLLHORST  Das Störungspostulat als pädagogischer und politischer Wegweiser Workshop zum Umgang mit Diskriminierung und Rassismus im Alltag in Anlehnung an die Methode und Haltung der TZI

Die Suche nach (m)einem Thema »Wenn wir uns stören lassen von dem, was uns stört, und Störungen als Hindernisse und als Chance erkennen und zu behandeln bereit sind, sind wir im Prozess eines Fortschritts im Humanum. Wenn wir uns nicht stören lassen von der großen Störung im Weltbereich von Not und Inhumanität, kann diese Störung sich verselbstständigen und zur letzten aller Störungen werden.« (Ockel u. Cohn, 1992, S. 205) Die zentrale Frage von Ruth Cohn, wie es gelingen kann, diese Welt humaner zu gestalten und Störungen im gesellschaftlichen Miteinander zu überwinden, ist die Frage, die mich vor mehr als fünf Jahren zur TZI geführt hat. Schon in jungen Jahren spürte ich den Wunsch in mir, mit meinem Leben einen Beitrag zu einer gerechteren und humaneren Welt zu leisten. Ich begab mich auf die Suche, wie dies für mich, mit meinen individuellen Stärken und Fähigkeiten, möglich sein könnte. Ich suchte nach einem Weg, wie ich die Dinge, von denen ich als Mensch und als gläubige Christin überzeugt war, erlebbar und erfahrbar machen konnte. Mein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in Tansania und meine Studienwahl (Theologie und Sozialwissenschaften) waren erste Schritte auf dieser Suche. Schnell merkte ich jedoch, dass es mir nicht ausreichte, als Theologin in Universitätsveranstaltungen darüber zu philosophieren, wie ein Leben in Fülle aussehen könnte oder wie in Jesu Handeln das Reich Gottes auf Erden erfahrbar wird. Ich wollte in die Praxis, mit Menschen sprechen, arbeiten und suchen – nach Wegen, wie eine Veränderung denkbar und realisierbar werden könnte, und wie wir alle dazu beitragen könnten. Während meines zweiten Semesters wurde ich durch einen Freund auf die Katholische Studentische Jugend (KSJ) und ihr Angebot von »Tagen religiöser Orientierung« aufmerksam gemacht, was mich sofort sehr begeisterte. Dort erklärte man mir, man würde mit der Methode und Haltung der TZI arbeiten. Nachdem ich mich, angeleitet durch erfahrene Teamer*innen und auf verschiedenen Fortbildungen, näher mit diesem Konzept auseinandergesetzt hatte, wurde mir klar, wie sehr die Arbeit mit der TZI meinem Bild eines 184

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menschlichen Miteinanders und einer gelebten christlichen Haltung entsprach. Dem anderen Menschen mit Wertschätzung und Respekt zu begegnen, ihn ernst zu nehmen und als handelndes und reflexionsfähiges Subjekt anzuerkennen, prozessorientiert zu arbeiten und auf die Bedürfnisse des Einzelnen und der Gruppe zu achten und schließlich Anteil zu nehmen, an dem, was passiert: all dies sind zentrale Aspekte der TZI – Aspekte, die mir am Herzen liegen, die jedoch alles andere als selbstverständlich sind. Über fünf Jahre habe ich im Rahmen von »Tage religiöser Orientierung« (TrO) und FSJ-Kursen mit Gruppen zu den Themen gearbeitet, die für sie relevant waren. Häufig waren dies Themen wie Selbst- und Fremdwahrnehmung, Liebe, Freundschaft und Beziehungen, Zukunft oder der Sinn des Lebens. Ich halte diese persönlichen, oftmals biografischen Themen für absolut wichtig und doch habe ich in den letzten Monaten gemerkt, dass mir hier die politische Dimension der TZI häufig fehlt. Die Auseinandersetzung mit sich selbst bleibt selbstverständlich eine zentrale Grundlage, doch wie kann es gelingen, dass der Prozess nicht selbstreferenziell wird, sondern die persönlichen Veränderungen auch zu einer Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse führen? Als TZI-ler*innen vertreten wir bestimmte Haltungen, die Axiome bilden das unabdingbare Fundament des Arbeitens und doch frage ich mich, wie wir unsere Haltungen konkret werden lassen können? Ob wir nicht in der Verantwortung stehen, immer wieder auch für gesellschaftspolitische Herausforderungen zu sensibilisieren? Ein zentraler Gewinn durch TZI liegt meines Erachtens darin, dass eine Verbindung zwischen ICH, WIR, ES und GLOBE hergestellt wird, dass es meine Themen sind, die dort verhandelt werden. Angesichts von Kriegen und Naturkatastrophen, einer zunehmenden globalen Ungerechtigkeit sowie eines Wiedererstarkens von Fremdenfeindlichkeit und Faschismus frage ich mich, wie die TZI dazu beitragen kann, dass all diese zerstörerischen Entwicklungen wieder stärker zu einem gesellschaftspolitischen Thema werden und dass Menschen diese als ihr Thema begreifen. Aus diesen Fragen ist das Thema erwachsen, unter dem meine Arbeit stehen soll: Auch das Politische ist persönlich – TZI als päda­ gogisches und politisches Instrument.   Das Störungspostulat als pädagogischer und politischer Wegweiser

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Im Kern ging es mir darum, etwas, das ich als Störung im gesellschaftlichen Raum wahrnehme, in Form eines Workshops zu bearbeiten. Dieser Workshop sollte im Rahmen meines FSJ-Kurses durchgeführt und mit dem Vier-Faktoren-Modell geplant werden. Ziel war es, die Teilnehmenden dafür zu sensibilisieren, Störungen nicht nur im privaten, sondern auch im gesellschaftlichen Raum wahrzunehmen und zu bearbeiten. Der konkrete Titel lautete daher: »Das Störungspostulat als pädagogischer und politischer Wegweiser – Ein Workshop zum Umgang mit Diskriminierung und Rassismus im Alltag in Anlehnung an die Methode und Haltung der TZI.«

Begründung des Projektes und des ausgewählten TZI-Elements Das Anliegen der TZI lebendig werden zu lassen, bedeutet für mich, nicht nur eine bestimmte Haltung gegenüber mir selbst und meinen Mitmenschen einzunehmen, sondern auch der Gesellschaft gegenüber. Je mehr ich mich in den letzten Jahren mit der TZI beschäftigt habe, desto mehr ist mir bewusst geworden, dass diese nicht nur ein pädagogisches, sondern auch ein politisches Konzept ist, das mich persönlich herausfordert. Die Haltung der TZI einzunehmen, bedeutet zwangsläufig auch eine Haltung einzuüben, die sich an destruktiven gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder ökologischen Tendenzen stört (vgl. Cohn u. Farau, 2008, S. 361). Es bedeutet, die Missstände in der Welt zum Thema zu machen und auf eine Veränderung der Gesellschaft hinzuarbeiten. Es fiel mir schwer, mich auf ein TZI-Element zu fokussieren, weil sich die unterschiedlichen Elemente meines Erachtens nach gegenseitig bedingen. Die Motivation für mein Projekt erwuchs aus der intensiven Auseinandersetzung mit den Grundlagen und Axiomen der TZI. Den konkreten Anstoß zu dem Projekt gab mir die Beschäftigung mit dem Störungspostulat und die Aussage Ruth Cohns, dass dieses ein »pädagogischer und politischer Wegweiser« (Cohn u. Farau, 2008, S. 361) sei. Ich habe mir die Frage gestellt, wie sehr wir uns von strukturellem Rassismus beeinflussen lassen und wie TZI dazu beitragen kann, dafür sensibler zu werden und Diskriminierungsstrukturen aufzudecken. 186

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Dass das systematische Abwerten einer bestimmten Gruppe von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft oder anderer Merkmale der TZI diametral entgegensteht und es ein Anliegen jedes*jeder TZI-ler*in sein sollte, diese Mechanismen aufzudecken und zu dekonstruieren, muss an dieser Stelle wohl nicht weiter begründet werden. Überall in Europa kommt es aktuell zu einem Erstarken rechtspopulistischer Gruppen. Fremdenfeindlichkeit und Neo-Rassimus sind heute zwar häufig verdeckter, aber nicht weniger wirkmächtig. Immer lauter wird in den letzten Jahren daher die Frage diskutiert, wie diesen Entwicklungen Einhalt geboten werden kann. Zwar gibt es hierzu bereits eine Reihe guter pädagogischer Ansätze und Konzepte, noch immer ist das Thema aber in Schule und Ausbildung stark unterrepräsentiert. Für mich stellt die kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien und gesellschaftlichen Wirkmechanismen von Rassismus die zentrale Grundlage dafür dar, einer rechten Normalisierung und strukturellem Rassismus zu begegnen. Besonders junge Menschen sollten meines Erachtens für diese Problematik sensibilisiert werden, denn, wie Paulo Freire formulierte, »Bildung verändert nicht die Gesellschaft. Bildung verändert Menschen: Menschen aber verändern die Gesellschaft« (Freire, 1993, S. 66). Dies war auch das ureigene Anliegen von Ruth Cohn: durch TZI eine Form der Gesellschaftstherapie zu leisten und dazu beizutragen, »dass Auschwitz nicht noch einmal sei« (Adorno, 1966, S. 674). Trotz der grausamen Erfahrungen des zweiten Weltkrieges hielt sie fest: »Meine Erfahrungen und Erkenntnisse auf der psychoana­ lytischen Couch gaben mir Hoffnung und Glauben an humane Lebens- und Erziehungsmöglichkeiten. Aber wie könnte das geschehen? Wieviel Patienten würde z. B. eine Analytikerin je behandeln können? 8, 10, 12 in je drei Jahren? Und draußen litt sich die Menschheit zu Tode – und zum Töten. Die Couch war zu klein.« (Cohn, 1998, S. 105) Auf die Frage, was für sie das eigentlich Zentrale der TZI sei, antwortete sie: »Das ist eigentlich das Politische, das zur Basis der TZI gehört. Es ist mein Anliegen, daß es sehr viele gut ausgebildete TZI  Das Störungspostulat als pädagogischer und politischer Wegweiser

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Leute geben soll, die die Methode in verschiedenen Bereichen praktizieren und weitergeben.« TZI sei für sie von Anfang an politisch gewesen und seit ihren Erfahrungen in der Nazizeit habe sie versucht, einen Weg zu finden »gesellschaftstherapeutisch zu arbeiten, pädagogisch und politisch. Dieser Wunsch war stets lebendig, treibende, innere Kraft« (Cohn u. Farau, 2008, S. 323). Die Auseinandersetzung mit Ruth Cohn und aktuellen Ereignissen hat mich darin bestärkt, zu überlegen, wie Menschen mit der TZI auch für politische Themen sensibilisiert werden könnten. Mich interessierte, ob es mir gelingen könne, dass ein Thema, welches viele von uns intuitiv eher beim ES verorten würden, trotzdem zu einem lebendigen und persönlichen Thema der Teilnehmenden werden würde. Dabei war es mir wichtig, ein gesellschaftspolitisches Thema zu wählen, das mich persönlich beschäftigt und das ich für sehr relevant halte. Die Auseinandersetzung mit Rassismus und Diskriminierungserfahrungen in Deutschland ist ein wichtiges Thema für mich und liegt mir aufgrund meiner Erfahrungen in Tansania, aber vor allem auch aufgrund meiner Erfahrungen mit strukturellem Rassismus in Deutschland besonders am Herzen. TZI-Elemente, die für mich dabei im Fokus stehen, sind das Störungspostulat sowie das dritte Axiom der TZI und die Planung mit dem Vier-FaktorenModell.

Planung vor der Durchführung Für die Durchführung meines Projektes bot es sich an, dass ich während meines FSJ-Kurses vom 24.04. bis zum 28.04.2017 einen Workshop zu einem Thema meiner Wahl anbieten sollte. Es wurde betont, dass man ein gesellschaftspolitisches Thema sehr befürworten würde – mein Workshop zum Thema Rassismus kam also beiden Seiten gelegen. Bei der Zielgruppe handelte es sich um eine Gruppe von Freiwilligen (16–22  Jahre alt) im Kontext des Freiwilligen Sozialen Dienstes (FSD) des Bistums Münster. Der Workshop wurde blockübergreifend, parallel zu anderen Workshops angeboten, konnte frei gewählt werden und dauerte ungefähr fünf Stunden. Die Gruppe bestand insgesamt aus 73 Teilnehmenden, die in drei Untergruppen 188

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aufgeteilt waren. Eine dieser Gruppen leite ich seit September 2016 auf Honorarbasis und kenne diese Teilnehmer*innen dadurch deutlich besser als andere Gruppenleiter*innen. Ich habe mir im Vorfeld viele Gedanken darüber gemacht, wie ich das Thema so aufarbeiten kann, dass es die Teilnehmenden anspricht und zu einem lebendigen Thema für sie wird. Auch war ich besorgt, ob sich überhaupt genug Leute finden würden, die Interesse an meinem Thema haben. Zwei bis drei Tage habe ich mich mit verschiedenen Methoden und Materialien auseinandergesetzt und mich dann für das konkrete Thema meines Workshops entschieden: »Rassismus – was geht mich das an? Workshop zum Thema Rassismus in Deutschland und meinem Umgang mit Diskriminierung und Privilegien.« Die konkrete Planung sah dann wie folgt aus: 1. Zunächst eine kurze Begrüßung und Vorstellung meiner Person und der prozessorientierten Methodik des Workshops, danach die erste Einheit zum Thema: »Rassismus – was geht mich das an? – Wir stellen uns vor und beschreiben, was uns mit diesem Thema verbindet.« Auf diese Weise kann sich jede*r themenbezogen vorstellen, jede Stimme wird einmal im Raum gehört und ich kann einen ersten Eindruck davon gewinnen, was die Teilnehmenden an dem Thema interessiert und warum sie den Workshop gewählt haben. 2. Um anschließend mit einem stärkeren ICH-Fokus in die Arbeit einsteigen zu können, habe ich mich für die »Zitronen-Methode« entschieden (vgl. Informationsbüro Nicaragua e. V., 2015, S. 14). Die Teilnehmenden setzen sich hierbei auf Basis eigener Erfahrungen mit Vorurteilen, Schubladendenken, Stereotypisierung und Diskriminierung sowie deren Folgen auseinander. Der Ablauf ge­staltet sich wie folgt: Zu Beginn wird den Teilnehmenden eine Zitrone gezeigt und sie werden gebeten, zu beschreiben, »wie Zitronen sind«. Die genannten allgemeinen Merkmale (gelb, sauer, frisch etc.) werden von der Leitung unkommentiert auf ein Plakat geschrieben. Danach bekommt jede*r eine Zitrone ausgeteilt, die sie sich für eine Weile in Ruhe anschauen sollen. Nach etwa drei Minuten werden alle Zitronen wieder eingesammelt und gemischt. Nun werden die Teilnehmenden gebeten, in kleinen   Das Störungspostulat als pädagogischer und politischer Wegweiser

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Gruppen nacheinander in die Mitte zu kommen und zu versuchen, »ihre« ­Zitrone wiederzufinden. Im Anschluss daran werden Fragen gestellt wie beispielsweise »Wie war es möglich, deine Zitrone wiederzufinden?«, »Woran hast du sie erkannt?«, Hat dich etwas überrascht oder ist dir irgendetwas aufgefallen?«, »Hat diese Übung etwas mit deinem Alltag zu tun?«. Das Ziel ist es, durch diese Reflexion den grundlegenden Mechanismus von Verallgemeinerungen und Generalisierungen deutlich zu machen, der für die Komplexität unseres Lebens zwar notwendig ist, jedoch genau dort problematisch wird, wo er zu unhinterfragten Verallgemeinerungen führt und ein genauerer Blick ausbleibt. 3. Im Anschluss an diesen Einstieg sollen sich die Teilnehmenden damit auseinandersetzen, wo sie schon einmal in Schubladen gesteckt wurden und wo sie andere in Schubladen gesteckt haben. Da diese Methode sehr persönlich ausgerichtet ist und viel Vertrauen erfordert, suchen die Teilnehmenden sich selbst Kleingruppen. Sie haben dreißig Minuten Zeit für den Austausch über folgende Impulsfragen: 1) Wann hast du dich mal in eine Schublade gesteckt gefühlt? Hast du dich dabei bewertet gefühlt? Erzähle eine konkrete Situation. Wie würdest du die Schublade nennen, um die es ging (Gender, Nationalität, soziale Schicht o. ä.)? Wie hast du dich gefühlt? Wie bist du mit der Situation umgegangen? 2) Wann hast du einen anderen Menschen in eine Schublade gesteckt? Hast du eine Bewertung damit transportiert? Erzähle eine konkrete Situation. Warum hast du das getan? Was steckte deiner Meinung nach dahinter? Kannst du darin Mechanismen entdecken? In den Kleingruppen erhalten die Einzelnen zunächst Zeit zum Nachdenken, um sich konkrete eigene Erfahrungen ins Gedächtnis zu rufen. Dann einigt sich die Gruppe darauf, mit welcher Seite der Erfahrung (»in Schubladen gesteckt werden«, »andere in Schubladen stecken«) sie das Gespräch anfangen möchte. Nacheinander erzählen alle von ihren Situationen, Gefühlen, Mechanismen und Umgangsweisen. 4. Nach der Pause wird im nächsten Schritt im Plenum besprochen, wie die Einzelnen sich während des Austausches gefühlt haben. 190

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Auf zwei Plakaten werden 1. die »Schubladen« gesammelt, in die die Teilnehmenden andere Menschen gesteckt haben (ohne die konkrete Situation zu hören), und 2. die »Schubladen« gesammelt, in die sie selbst gesteckt wurden. Vermutlich werden verschiedene »Schubladen« auftauchen und möglicherweise auch manche auf beiden Seiten zu sehen sein. Hiervon ausgehend möchte ich in ein Gespräch mit den Teilnehmenden darüber kommen, was ihnen auffällt, was Aspekte sind, die sie überrascht haben, und was ihnen dadurch bewusst geworden ist. 5. Nachdem wir mit diesen Einheiten sehr auf der ICH-WIR-Achse geblieben sind, wird in einem nächsten Schritt stärker auf das ES geschaut. Hierfür habe ich Plakate zum Thema Rassismus vorbereitet, mit Hintergrundinformationen dazu, was Rassismus ist und wie und wodurch Rassismus so wirkmächtig wird. Diese sollen sich die Teilnehmenden in Ruhe anschauen und sich Fragen notieren. Gemeinsam gehen wir dann auf einzelne Aspekte der Plakate ein. Um die Atmosphäre danach wieder etwas aufzulockern und einen anderen methodischen Zugang zu zeigen, folgt der kurze Filminput »Shit some germans say to other germans« und gegebenenfalls auch noch der TED Talk »danger of a single story«. Noch vor der Mittagspause plane ich eine kurze Austauschrunde darüber, wie die Teilnehmenden den Workshop bisher bewerten, was sie sich noch wünschen würden und woran sie gerne weiterarbeiten möchten. Mir ist es wichtig, während des Workshops prozessorientiert zu arbeiten und auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden einzugehen. 6. Nach der Mittagspause beginne ich mit einer Methode, die »One step forward« heißt. Hierbei zieht jede*r Teilnehmende eine Rollenkarte und muss dann auf Grundlage seiner*ihrer Rolle entscheiden, bei welchen Aussagen er*sie zustimmen kann (also einen Schritt nach vorne macht) und bei welchen er*sie stehen bleiben muss. Auf diese Weise wird visualisiert, welche unterschiedlichen Privilegien Menschen in Deutschland je nach Lebenssituation, sozialem Hintergrund, Geschlecht, Haut  Das Störungspostulat als pädagogischer und politischer Wegweiser

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farbe und ökonomischen Ressourcen haben. Gleichzeitig sollen die Teilnehmenden überlegen, wie viele Schritte sie hätten gehen können, wenn sie die Fragen ohne vorgegebene Rollenzuschreibung für sich persönlich beantwortet hätten. So wird nochmals den Bezug zum ICH hergestellt und eine Sensibilisierung für die eigenen Privilegien geschaffen. Danach habe ich innerhalb der Planung für das Raum gelassen, was die Teilnehmenden sich spontan noch wünschen. Zwar habe ich unterschiedliche Methoden in der Hinterhand, finde es aber wichtig, hier abzuwarten, wohin der gemeinsame Prozess geht. Beendet wird die Runde mit einem Blitzlicht dazu, was die Einzelnen aus dem Workshop mitnehmen und mir als Feedback geben möchten.

Tatsächlicher Verlauf Da ich viel Arbeit in die Vorbereitungen des Workshops gesteckt habe, war ich sehr nervös, ob dieser nun überhaupt angenommen würde und ob er so verlaufen würde, wie ich es mir erhofft hatte. Im Plenum am Montagabend habe ich den Workshop kurz vorgestellt und war positiv überrascht, dass direkt danach zwei Teilnehmerinnen zu mir kamen und sagten, sie würden unbedingt in meinen Workshop gehen wollen, weil dieses Thema sie schon lange beschäftige, sie aber noch nie einen Raum geboten bekommen hätten, sich intensiver damit auseinanderzusetzen. Das hat mich überrascht und gefreut, hatte ich doch zunächst Sorge gehabt, dass das Thema zu sehr auf der ES-Ebene verortet ist und als ein stark inhaltlich ausgerichtetes Thema auf weniger Interesse bei den Teilnehmenden stößt. (Alternativangebote waren Improvisationstheater, ein Bastelworkshop, ein Workshop zum Thema Zukunftsgestaltung und einer zum Thema Glaube und Religion.) Gleichzeitig erschreckt es mich immer wieder, wie wenig das Thema Rassismus und Kolonialismus im schulischen Kontext Raum findet. Insgesamt haben sich 16 Teilnehmende für meinen Workshop angemeldet, was bei insgesamt 70 Teilnehmenden und sechs unterschiedlichen Workshops eine Quote war, mit der ich nicht gerechnet hatte und mit der ich sehr zufrieden war. Diese Erkenntnis, dass das Thema Rassismus und Diskriminierung wohl doch viel persönlicher für die Teilnehmenden war, als ich es gedacht 192

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hatte, zog sich durch den gesamten Workshop. Schon vor dem offiziellen Start erzählte mir eine Teilnehmerin von ihrem Vater, der aus Kroatien stamme und sich immer wieder Anfeindungen ausgesetzt sehe, und dass sie so oft damit überfordert sei, wie sie darauf reagieren könne. Auch in der ersten Runde wurde sehr viel persönliches Interesse an diesem Thema bekundet: »Es regt mich auf, dass in meiner Umgebung viel diskriminiert und ausgegrenzt wird.« »Auf meiner Arbeitsstelle bekomme ich immer wieder mit, wie ausländischen Jugendlichen Diskriminierungen entgegengebracht werden, das stört mich und ich weiß oft nicht, wie ich damit umgehen soll.« »Das Thema sollte uns alle etwas angehen und es muss dringend etwas gegen Fremdenhass getan werden.« »Es stört mich, dass in unserer Welt immer wieder Menschen aufgrund von Hautfarbe, Religion oder Herkunft diskriminiert werden.« – Dies sind nur ein paar Beispiele für Aussagen der Teilnehmer*innen. Von Anfang an waren die Teilnehmenden sehr interessiert und präsent, ich hatte das Gefühl, schnell eine Beziehung zu ihnen zu bekommen, obwohl ich zehn der sechszehn Teilnehmenden zuvor noch nicht kannte. Bei der Zitronenmethode hatte ich große Sorge, wie diese wohl funktionieren würde, weil ich sie vorher noch nie durchgeführt hatte. Aber sie erzielte, was ich mir erhofft hatte: Die Teilnehmer*innen waren amüsiert und gleichzeitig auch etwas erstaunt darüber, wie schnell auch sie mit allgemeinen Kategorien operieren. Der Transfer von dem, was diese Methode mit dem Thema Rassismus zu tun hat, fiel ihnen allen recht leicht und ich hatte das Gefühl, dass ihnen der grundlegende Wirkmechanismus von Rassismus auf diese Weise sehr deutlich bewusst geworden ist, gerade weil sie persönlich involviert waren und ich ihnen nicht nur gesagt habe: »Rassismus funktioniert dadurch, dass Menschen zu Objekten gemacht werden und ihnen verallgemeinerte Aussagen zugeschrieben werden.« Auch im Feedback haben viele diese Methode als positiv hervorgehoben. Bei der darauffolgenden Einheit merkte ich erneut, wie wichtig es ist, in der Planung unterschiedliche Sozialformen zu berücksichtigen. Auch die Teilnehmenden meldeten mir nachher zurück, dass es gut gewesen sei, dass wir nicht nur im Plenum saßen, sondern auch Zeit allein und in Kleingruppen hatten. Das anschließende   Das Störungspostulat als pädagogischer und politischer Wegweiser

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Sammeln der »Schubladen« und der Austausch darüber in Kleingruppen und im Plenum hat viel länger gedauert, als ich gedacht hatte, weil viele Teilnehmende auch in der Großgruppe nochmals persönliche Dinge teilten. Das hat mich gefreut, zeugte es doch davon, dass sie das Klima als angenehm und vertrauensvoll empfanden. So erzählte ein Teilnehmer von seinem Freund, der in Zügen von Holland nach Deutschland grundsätzlich auf Drogen kontrolliert werde, nur weil er »ausländisch« aussehe, und wie schlecht er sich fühle, wenn er daneben sitze und merke, dass er nicht kontrolliert werde, nur weil er blond und blauäugig sei. Ein anderer Teilnehmer erzählte von seiner Arbeit im Jugendheim, wo er extreme antisemitische Beleidigungen hörte. Wiederum eine andere Teilnehmerin erzählte von ihrem Mitschüler, dem regelmäßig das N-Wort hinterhergerufen werde. Eine Teilnehmerin beschrieb, wie oft sie auf ihr angeblich »türkisches Aussehen« reduziert werde und sich – sogar auf dem FSJ-Kurs – Sprüche zu ihrer Hautfarbe anhören müsse. Sie beschrieb, wie schmal die Grenze zwischen spaßhafter Bemerkung und ernsthafter Verletzung für sie sei und wie schwer es ihr oft falle, damit umzugehen. Eine andere Teilnehmerin berichtete, wie regelmäßig Lehrer*innen und Mitschüler*innen sie in eine Schublade steckten, weil sie Raucherin gewesen wäre und sich anders gekleidet habe als die Mehrheit. Wieder eine andere berichtete von ihrer alleinerziehenden Mutter, die beim Dorfkaffee der Frauen in ihrem neuen Heimatdorf nicht mitmachen durfte, weil sie ja »keine richtige Ehefrau« wäre. Während die Teilnehmende das erzählte, musste sie weinen, was die Gruppe aber durch Anteilnahme und sensible Nachfragen gut auffing. Sie selbst sagte danach, dass sie überrascht sei, dass sie so emotional geworden wäre, dass aber solche Erfahrungen sie sehr belasten würden. In ihrer damaligen »scheiß Situation« auch noch Ablehnung zu erfahren und so diskriminiert zu werden, hätten sie und ihre Mutter nur sehr schwer ausgehalten. Mir schien, dass es gut für die Teilnehmende war, hier einen Raum zu erhalten, in dem sie Verständnis erfuhr. Sie hat sich im Anschluss auch noch einmal bedankt. Es sei schön gewesen, dass sie über diese Verletzungen habe sprechen können. All dies hat mir gezeigt, wie persönlich und wichtig dieses Thema für die Teilnehmenden zu sein scheint und wie intensiv eine Auseinandersetzung 194

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werden kann, wenn ein Thema wirklich zu einem lebendigen Thema für die Teilnehmenden wird. Auch während dieses eher theoretischen Teils kam es immer wieder zum Austausch von persönlichen Berichten, was mich überraschte, aber für mich auch ein Zeichen war, dass die Planung mit dem Vier-Faktoren-Modell gefruchtet hatte: Die Teilnehmenden bewegten sich eigenständig auf den unterschiedlichen Achsen, manche waren mehr beim ES, andere beim ICH und für manche schien die Gruppe sehr im Vordergrund zu stehen. Vor der Mittagspause habe ich um ein kurzes Blitzlicht darüber gebeten, was die Teilnehmenden sich für den Nachmittag noch wünschen würden, habe diese Wünsche dann in der Mittagspause aufgegriffen und meinen Plan ein wenig umgestellt. Aus Zeitgründen musste ich schweren Herzens auf die Methode »Die Gefahr einer einzigen Geschichte« verzichten. Dabei kam mir meine langjährige Erfahrung im Planen und Leiten nach der Methode der TZI zugute. Früher habe ich oftmals gedacht: »Aber das und das ist doch auch wichtig und spannend, das müssen wir unbedingt noch machen.« Das Ergebnis waren dann oft viel zu volle Tage, die zu wenig Raum für Spontanes und für eine entspannte Grundstimmung ließen. Am Ende musste ich mich dann kritisch fragen, ob diese Methode für die Teilnehmenden wirklich so gewinnbringend und wichtig war oder es vor allem um meine eigenen Präferenzen ging. Seitdem versuche ich, teilnehmer*innenorientierter zu planen und mich von vornherein mit dem Gedanken anzufreunden, dass ich nicht alles so durchführen muss, wie ich es geplant habe, sondern dass es im Gegenteil auch gut sein kann, einen Plan über Bord zu werfen und sich ganz auf den Prozess einzulassen. Trotzdem halte ich es im selben Maße für wichtig, einen Plan und ein Ziel, auf das hingearbeitet wird, im Hinterkopf zu haben. Nach der Mittagspause sind wir, wie geplant, mit der Methode »one step forward« eingestiegen. Anschließend habe ich mir, aufgrund der Rückmeldungen der Teilnehmenden, ein neues Vorgehen überlegt. Sie sollten sich nochmals in Kleingruppen über Situationen und über Möglichkeiten, mit Rassismus umzugehen, austauschen. Ich habe dann, in Anlehnung an das Störungspostulat, die These in den Raum gestellt, dass Rassismus und Diskriminierung in der   Das Störungspostulat als pädagogischer und politischer Wegweiser

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Gesellschaft nur überwunden werden können, wenn wir uns stärker davon stören lassen. In einer Gruppenarbeit sollten die Teilnehmenden sich zu folgenden Fragen austauschen: a) Rassismus und Diskriminierung – welche konkreten Situationen und Aktionen empfinde ich als Störung? b) Wo möchte ich mich in Zukunft stärker von Rassismus und Diskriminierung stören lassen, wofür will ich sensibler werden? c) Wie kann und möchte ich auf Störungen durch Rassismus und Diskriminierung reagieren? Bewusst wollte ich mit dieser Einheit den Blick erneut darauf richten, was wir im Kleinen und in unserem Alltag gegen Rassismus tun können. In Anlehnung an den Satz von Ruth Cohn »Du bist nicht ohnmächtig, du bist nicht allmächtig, du bist teilmächtig« haben wir diskutiert, wie wir diese Teilmächtigkeit in Bezug auf Rassismus und Diskriminierung leben könnten. Danach sind wir zur Abschlussrunde übergegangen. Hier habe ich die Teilnehmenden gebeten, aufzuschreiben, was sie aus diesem Workshop mitnehmen und was für sie wichtige Erkenntnisse dabei waren. Es kamen Aussagen wie: »Rassismus ist in so vielen Teilen unserer Gesellschaft verankert und es sollte unsere Aufgabe sein, dies zu verändern.« »Ich nehme mit, dass man öfter mal darüber nachdenken sollte, was man sagt oder wie man handelt.« »… dass ich mich in Situationen mehr dafür einsetze, Rassismus zu unterbinden.« »Ich finde Rassismus immer noch scheiße.« »Es ist wichtig, mehr den Mund aufzumachen und mehr drauf zu achten.« »Ich möchte meine eigenen Vorurteile mehr hinterfragen.« »Ich kann mehr machen als ich dachte.« »Ich bin sensibler für das Thema geworden.« »Ich möchte bewusster an einige kritische Momente und Situationen herangehen, um schneller handeln zu können, wenn jemand Hilfe braucht.« »Mir wurden Dinge bewusst, die ich vorher nicht als rassistisch eingeschätzt hätte.« »Rassismus geht uns alle etwas an und aus diesem Grund haben wir alle die Aufgabe, etwas dagegen zu tun.« Wenn ich heute, mit einigen Wochen Abstand, noch einmal auf diese Aussagen blicke, dann spüre ich wieder, was ich auch damals nach dem Workshop gespürt habe: Ich bin sehr zufrieden damit, wie er gelaufen ist. An einigen Stellen kam etwas Unerwartetes, man196

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ches musste ich umplanen, aber damit hatte ich sowieso gerechnet. Ich bin insgesamt immer noch verwundert darüber, wie glatt alles gelaufen ist und wie rund der Tag war. Vielleicht lag es daran, dass ich mir so viel Zeit für die Vorbereitung genommen hatte, vielleicht hat auch einfach nur vieles gestimmt. Ich bin zumindest zufrieden mit dem tatsächlichen Verlauf des Workshops und habe auch im Nachhinein viel positives Feedback dazu erhalten. Mehrere Teilnehmer*innen sagten mir, dass sie die Atmosphäre im Workshop als sehr angenehm empfunden haben und es schön fanden, dass ich mit ihnen zusammen um diese Thematik gerungen und prozessorientiert und partizipativ geleitet habe. Meine Kollegin erzählte mir, dass einer ihrer Teilnehmer im Anschluss in der Seminargruppe rund eine Viertelstunde von diesem Workshop erzählt habe und man seine Begeisterung förmlich spüren konnte. Dieses Feedback hat mich gefreut, denn die Sensibilisierung für dieses Thema als ein persönliches, bestenfalls nachwirkendes Thema war mein oberstes Ziel für diesen Workshop.

Reflexion »Die Frage nach der politischen Dimension der TZI mag sich entsprechend den veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten von Zeit zu Zeit anders stellen – aufgegeben werden kann sie nicht.« (Johach, 2009, S. 32) Rückblickend bin ich sehr froh, mich der Herausforderung gestellt zu haben, ein für mich komplett neues Thema mit der TZI vorzubereiten und als Workshop durchzuführen. Ich habe dabei viel gelernt und auch viel Mut gewonnen, zukünftig öfter mal neue Dinge und Themen auszuprobieren, vor allem wenn mir diese selbst sehr am Herzen liegen. Ich habe mir, wie es für mich typisch ist, vor der Durchführung sehr viele Sorgen gemacht: Wird dieses politische Thema wirklich zu einem Thema, das die Teilnehmenden packt, kann es lebendig werden? Wie finde ich die Balance zwischen ICH, WIR und ES? Wie kann ich angemessen auf die unterschiedlichen Bedürfnisse eingehen? Wie lassen sich die Teilnehmenden auf den Prozess ein? Tausend Fragen sind mir durch den Kopf gegangen und   Das Störungspostulat als pädagogischer und politischer Wegweiser

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haben mich vor dem Workshop sehr angespannt werden lassen. Das ist etwas, was ich häufig bei mir wahrnehme, vor Kursen, Prüfungen oder anderen wichtigen Dingen. Ich glaube, dass eine gewisse Angst und Anspannung gut sind, zeigen sie doch, dass mir etwas sehr am Herzen liegt. Ich muss jedoch aufpassen, dass diese nicht unverhältnismäßig werden. Auch bei diesem Projekt habe ich wieder meinen großen Drang zur Perfektion gespürt. Wenn ich etwas mache, möchte ich es sehr gut machen und auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Das führt häufig zu einem sehr guten Ergebnis, zieht allerdings auch viel Kraft. Dazu kommt, dass ich mich schwer damit tue, etwas, das ich mache, einfach als gut anzuerkennen. Auch bei diesem Workshop war ich, wie bereits erwähnt, selbst überrascht darüber, wie gut er gelaufen ist. Ich neige dazu, alles immer sehr kritisch zu sehen, und habe gemerkt, dass ich, wenn es tatsächlich wenig gibt, was ich kritisieren könnte, anfange zu kritisieren, dass es ja fast schon zu rund gelaufen ist. Mein erster Gedanke nach dem Workshop war: »Cool, das war ein richtig schöner Tag, es hat Spaß gemacht mit den Teilnehmenden zu arbeiten. Ich habe das Gefühl, dass etwas hängen geblieben ist und ich mein Anliegen umsetzen konnte – schön, dass meine Planung so gut war und ich anscheinend die richtigen Ideen mitgebracht habe.« Direkt danach meldete sich jedoch wieder mein wohlvertrauter innerer Kritiker, der, fast schon enttäuscht darüber, dass es so wenig zu kritisieren gab, anfing, genau das zu kritisieren: »Vielleicht ist es zu rund gelaufen? Hätte es nicht wenigstens eine kleine Störung geben sollen, damit ich in dem Bericht auch etwas Spannendes schreiben kann? Du kannst doch nicht allen Ernstes sagen, dass der Workshop richtig gut war, wie wirkt das denn?« Diese Stimme in mir hat so viel Macht gewonnen, dass ich mich lange schwer damit getan habe, diesen Bericht zu verfassen. Lösen konnte ich dies für mich dadurch, dass ich diesen Gedanken und der Macht meines inneren Kritikers in meiner Selbstreflexion und Selbsteinschätzung, die ja ebenfalls am Ende dieser TZI-Ausbildung steht, nochmal intensiver nachgegangen bin. Dies hat mir sehr geholfen und es war wertvoll für mich, dass mir dieses persönliche Thema durch die Reflexion meiner Praxisarbeit erneut so deutlich bewusst geworden ist. 198

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Ich freue mich auch, dass ich durch dieses Projekt gemerkt habe, wie viel ich von dem, was Leiten mit TZI bedeutet, in den letzten sechs Jahren und verstärkt durch die Ausbildung in den letzten zwei Jahren schon gelernt und verinnerlicht habe. Ich freue mich, dass ich jedes Mal die Erfahrung mache, dass meine Ängste und Sorgen verschwinden, sobald ich mich in den Prozess mit den Teilnehmenden begebe, dass ich diese Arbeit liebe und dort das Gefühl habe, ganz ich selbst sein zu können. Ich empfinde es als ein großes Privileg, dass ich in der Arbeit mit Gruppen einen Ort gefunden habe, wo ich selbst so viel lernen kann, wo ich Menschen begleiten und stärken kann und die Möglichkeit bekomme, Themen zu setzen, die mir am Herzen liegen. Ich möchte auch in Zukunft immer wieder dafür eintreten, dass die TZI auch ein politischer Wegweiser und das Politische aus der TZI nicht wegzudenken ist. Dies bedeutet für mich auch, sich immer wieder mit der Frage zu konfrontieren, welche Herausforderungen es anzunehmen gilt, wenn diese politische Dimension der TZI ernst genommen werden soll. Auch das Politische ist persönlich – das hat mir dieses Projekt nochmals deutlich gezeigt – und es ist wertvoll für mich, durch die TZI eine Methode und Haltung vermittelt bekommen zu haben, die mir hilft, genau dies in meiner Arbeit zu zeigen und zu leben.

Literatur Cohn, R. C. (1998). Es geht ums Anteilnehmen. Die Begründerin der TZI zur Persönlichkeitsentfaltung (3. Aufl. der erg. Neuausg.). Freiburg im Breisgau. Cohn, R. C. (2016). Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Von der Behandlung einzelner zu einer Pädagogik für alle (18. Aufl.). Stuttgart. Cohn, R. C., Farau, A. (2008). Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Zwei Perspektiven (4. Aufl.). Stuttgart. Freire, P. (1993). Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Reinbek bei Hamburg. Informationsbüro Nicaragua e. V. (2015). Fokuscafé Lateinamerika. Bildungsmaterialien. Kolonialismus und Rassismus. Düsseldorf. Johach, Helmut (2009). Historische und politische Grundlagen. In M. SchneiderLandolf, J. Spielmann, W. Zitterbarth (Hrsg.), Handbuch Themenzentrierte Interaktion (S. 27–32). Göttingen.

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Langmaack, B. (2011). Einführung in die themenzentrierte Interaktion. Das Leiten von Lern- und Arbeitsgruppen erklärt und praktisch angewandt (5., vollst. überarb. Aufl.). Weinheim. Ockel, A., Cohn, R. (1992). Das Konzept des Widerstands in der Themenzentrierten Interaktion. Vom psychoanalytischen Konzept des Widerstands über das TZI-Konzept der Störung zum Ansatz einer Gesellschaftstherapie. In C. Löhmer, R. Standhardt (Hrsg.), TZI. Pädagogisch-therapeutische Gruppenarbeit nach Ruth C. Cohn (S. 177–206). Stuttgart. Standhardt, R., Löhmer, C. (1994). Zur Tat befreien. Gesellschaftspolitische Perspektiven der TZI-Gruppenarbeit. Mainz.

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Judith Wüllhorst

Die Autor*innen

Carolin Bücking

Carolin Bücking absolvierte von 2010– 2018 ihr Studium der katholischen Theologie und Sozialwissenschaften in Münster und Buenos Aires. 2015–2017 erwarb sie ihre TZI- Grundausbildung für junge Erwachsene und befindet sich aktuell in der Diplomausbildung. Zusätzlich ist sie Mitglied im RCI. Von 2018–2020 war sie Referentin für Freiwilligendienste im Ausland und Referentin für pastoraltheologische Grundsatzfragen. Seit Oktober 2020 leitet sie die Fachstelle Weltkirche im Bischöflichen Generalvikariat, Bistum Münster. Miriam Cheema

Im Jahr 2012 absolvierte Miriam Cheema ihr Abitur am St. Ursula Gymnasium in Freiburg und begann ein Studium für gymnasial Lehramt an der Albert-Ludwigs-Universität in den beiden Hauptfächern Sport und Spanisch. Zeitgleich nahm sie ihre Tätigkeit als Tanzvermittlerin in Freiburg auf, diese Arbeit bestätigte sie immer wieder auf ihrem Lehramtsweg. Sie tanzt bereits seit sie acht Jahre alt ist und seit neun Jahren unterrichtet sie urbane Tänze. Die Lehrtätigkeit und das Vermitteln von Wissen an junge Erwachsene hat ihr schon immer Spaß gemacht. Die TZI Grundausbildung 2013 hat Miriam Cheema hierbei sehr bereichert Die Autor*innen

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und inspiriert. Durch ihren Auslandsaufenthalt 2015 in Kolumbien, in dem sie an der Universidad del Valle Literatur studierte und an der Deutschen Schule in Cali gearbeitet hatte, entdeckte sie zusätzlich ihre Begeisterung für das Unterrichten der deutschen Sprache. Deshalb begann sie bei der Organisation Bildung für alle e. V. ehrenamtlich Deutsch für Flüchtlinge zu unterrichten. Ende 2019 beendete sie ihr Studium und fokussierte sich ein Jahr auf das Tanzen und verschiedene Weiterbildungen. Sie bekam unter anderem ein Tanzstipendium in Zürich und absolvierte einen Zertifikatskurs im Fach »Deutsch als Fremdsprache« beim Teacher Training Institut in Freiburg. Seit Januar 2021 hat sie nun mit ihrem Referendariat begonnen und vertieft ihr Wissen im pädagogischen und schulischen Bereich. Ester Freitag

Esther Freitag, Jahrgang 1984, hat Diplom-Heilpädagogik an der Universität Köln studiert und währenddessen die TZI-Ausbildung für junge Erwachsene ab­solviert. Heute arbeitet sie an einem Förderzentrum für geistige Entwicklung als heilpädagogische Förderlehrerin. Sie lebt mit ihrer Familie, die erst im August 2020 durch die Geburt der dritten Tochter komplett wurde, in Coburg. Manuel Halseband

Manuel Halseband ist studierter Erziehungswissenschaftler. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsstelle Hochschuldidaktik an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Zudem arbeitet er auch als Organisationsberater, Coach und Trainer. 2015 erwarb er sein Diplom in Themenzentrierter Interaktion und bildete sich 2017 in der Systemisch-agilen Organisationsbegleitung weiter. Er ist Mitglied im Ruth Cohn Institut für TZI Württemberg e. V. und der Gilde Agile Organisationsentwicklung.

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Die Autor*innen

Jan-Hendrik Herbst

Jan-Hendrik Herbst ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Theologie und Religionspädagogik am Katholisch-Theologischen Institut der Technischen Universität Dortmund. Außer­dem ist er ausgebildeter Lehrer für Mathematik und katholische Religionslehre. Johannes Hochholzer

Johannes Hochholzer, M.Sc. in Biophysik, hat eine Leidenschaft für komplexe Systeme und Ökosysteme und versteht sich als ein Globetrotter im Sinne des TZI GLOBEs. Daher arbeitet er am liebsten mit Menschen unterschiedlichster Disziplinen in ko-kreativen Prozessen und bringt seine Leidenschaften für Kunst, sei es Musik oder Theater, Natur und systemischen Wandel ein. Er ist Geschäftsführer des Cohaus Kloster Schlehdorf, einem Projekt der Genossenschaft WOGENO München. In einem ehemaligen Kloster entsteht ein lebendiger Ort zum gemeinsamen Wohnen, Lernen und Arbeiten. Er ist außerdem Gründer von MIWO e. V., einem Verein, der in München ein neues Wohnheim für Studierende aller Nationen eröffnen wird. Christoph Huber

Christoph Huber ist Erziehungswissenschaftler und als Organisationsentwickler, Berater, Coach, Supervisor und Trainer tätig. Außerdem ist er Lehrbeauftragter des Ruth Cohn Institute for TCI – International, Transaktionsanalytiker (CTA), Supervisor (DGTA), Geschäftsführender Gesellschafter des ARGO-Instituts für Unternehmensentwicklung und hat einen Lehrauftrag an der Universität Tübingen und der Internationalen Bodensee Hochschule. Die Autor*innen

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Zusätzlich leitet er die Tübinger Akademie für Fortbildung (TAFF) an der Forschungsstelle für Schulpädagogik. Prof. Bernhard Lemaire

Bernhard Lemaire, Dipl. Soz. Arb. (FH), ist Erziehungswissenschaftler und promovierte zum Thema Jugendarbeit in Japan und Deutschland. Er absolvierte Forschungsaufenthalte in Japan und hat eine Professur an der Katholischen Stiftungshochschule inne. Zusätzlich ist er Visiting Fellow an der Sophia-Universität Tokyo, Supervisor (DGSv), Lehrbeauftragter für TZI und Mitglied der Vereinigung für Sozialwissenschaftliche Japanforschung. Anna Roth

Anna Roth studierte Philosophie, Katholische Theologie, Sozialwissenschaften und Französisch an der Sciences Po Paris, der WWU Münster, der Päpstlichen Universität Gregoriana, der University of Virginia und der Cusanus Hochschule. Während ihres Studiums führte sie das Forschungsprojekt »Partnerschaftsethik und Familienbilder von Katholikinnen und Katholiken – Eine interkulturell-komparative Studie zum Verhältnis von kirchlicher Lehre, gelebter Praxis und sozialisatorischen Parametern« durch. Neben diversen Publikationen und Vorträgen wurde sie hierfür mit einem Sonderpreis der Herbert-Haag-Stiftung ausgezeichnet. Während des Studiums gründete sie ein Social Start up. Aktuell ist sie als freie Traurednerin tätig und bereitet eine Promotion vor. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem dreijährigen Sohn in Marburg. In ihrer Freizeit leitet sie Frauenkreise, tanzt gern und interessiert sich für Kräuterheilkunde.

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Die Autor*innen

Emilia Rudolf

1990 wurde Emilia Rudolf in Dresden geboren. Für ihr Studium der Sprechwissenschaft zog sie nach Halle (Saale), wo sie 2014 den Master mit den Schwerpunkten in Sprechtherapie und Rhetorik absolvierte. Seit 2015 arbeitet sie als Therapeutin und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Kasseler Stottertherapie. Die TZIGrundausbildung für junge Erwachsene hat sie 2017 abgeschlossen. Thomas E. Spinrath

Thomas E. Spinrath hat einen Bachelor in Politikwissenschaft und Soziologie von der Universität Bonn und studiert derzeit im Master Transformationsstudien an der Europa-Universität Flensburg. Er war zu seiner Schulzeit Schüler*innensprecher und arbeitet seit 2016 als Politischer Bildungstrainer mit dem Schwerpunkt Coaching von Schüler*innenvertretungen. Thomas E. Spinrath hat von 2017 bis 2019 die TZI-Grundausbildung für junge Erwachsene absolviert. Georg Stucke

Georg Stucke wurde 1992 in HenstedtUlzburg bei Hamburg geboren. Nach dem Abitur und einem Jahr als Zivildienstleistender begann er 2011 sein Musikstudium an der Folkwang Universität der Künste in Essen. 2012 wechselte er an die Musikhochschule Basel, wo er 2019 sein Studium mit Auszeichnung abschloss. In dieser Zeit war er Mitglied des Schweizer Jugendsin­ fonieorchesters, des Schleswig-Holstein Festival Orchesters und der Jungen Deutschen Philharmonie. Nach Stationen an der Philharmonie Dresden und dem WDR Funkhausorchester ist Georg Stucke seit Die Autor*innen

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2016 stellvertretender Solotrompeter im Sinfonieorchester Wuppertal, wo er seit 2019 auch ehrenamtlich im Vorstand aktiv ist. Von 2017 bis 2019 absolvierte er die TZI-Grundausbildung. Seit dem Frühjahr 2019 arbeitet er als Trainer für den Helden e. V., welcher sich gegen Mobbing an Schulen engagiert. Außerdem ist er als Dozent bei der Organisation kultursegel aktiv, welche musische Bildungsprogramme in Mecklenburg-Vorpommern durchführt. Jonathan Terfurth

Jonathan Terfurths persönlicher Kontakt zur TZI kam durch Begeisterung für die TZI in der Familie und den ein oder anderen Kontakt mit Ruth Cohn ganz ohne klassische Seminare, eher nebenbei, zustande, als er noch ein kleines Kind war. Ebenfalls schon sehr früh entdeckte er seine Begeisterung für Technik aller Art. Nach Studien der Erneuerbaren Energien und der Elektromobilität im Feld der Elektrotechnik entschloss er sich im Bereich der elektrischen Robotikantriebe zu einer Promotion. Schon immer kam ihm die gesellschaftliche, soziale Komponente in Ingenieurstudiengängen zu kurz. Dies war einer der Gründe, sich für die TZI-Grundausbildung für junge Erwachsene zu entscheiden. Die Kopplung der beiden in diesem Artikel behandelten Aspekte schien ihm ein sehr interessantes Thema für seine abschließende Ausarbeitung zu sein. Judith Wüllhorst

Judith Wüllhorst studierte in Münster und Buenos Aires katholische Theologie und Sozialwissenschaften und arbeitet seit 2018 als Referentin für Freiwilligendienste im Ausland in der Fachstelle Weltkirche des Bischöflichen Generalvikariates in Münster. Von 2015 bis 2017 hat sie die Grundausbildung in TZI für junge Erwachsene am Ruth Cohn Institut absolviert. 206

Die Autor*innen

Über die Stiftung Ruth Cohn zur Förderung junger Erwachsener

Es ist das Ziel der Stiftung Ruth Cohn, jungen Menschen eine kostengünstige Ausbildung in Themenzentrierter Interaktion (TZI) zugänglich zu machen und ihnen dadurch eine weitere wichtige Berufsqualifikation zu ermöglichen. Junge Menschen sollen auf Grundlage humanistischer Werte in ihrem eigenständigen Denken und Handeln gestärkt und dazu befähigt werden, in diesem Sinne und mit geeigneten Methoden Prozesse in Gruppen, Organisationen und Teams zu analysieren, zu planen und zu gestalten. Aktivitäten der Stiftung

• Unterstützung von zertifizierten Ausbildungskursen (seit 2004 mit einer beständig hohen Nachfrage), • Vergabe von Stipendien, • Teilnahme an von der EU geförderten Projekten.

In Gruppen von zwanzig Teilnehmenden und international vernetzt vermitteln Lehrbeauftragte des Ruth Cohn Institute ehrenamtlich an dreißig Seminartagen Grundlagen zu Persönlichkeitsentfaltung, Gruppenprozessen, Konfliktlösungsstrategien und wertorientiertem Handeln. Regelmäßige Berichte und ein jährlicher Spenderbrief halten dabei alle Unterstützer*innen auf dem Laufenden. Über die Stiftung Ruth Cohn zur Förderung junger Erwachsener

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Zusätzlich ist die Stiftung Unterzeichnerin der Initiative Transparente Zivilgesellschaft. Sie verpflichtet sich damit, offenzulegen, welche Ziele die Stiftung verfolgt, woher die eingesetzten Mittel stammen, wie sie verwendet werden und wer darüber entscheidet.

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