Tugend, Gewalt und Tod: das Trauerspiel der Aufklärung und die Dramaturgie des Pathetischen und des Erhabenen 9783111384795, 9783484660014


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German Pages 351 [352] Year 1988

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Table of contents :
Einleitung
I. Die Herkunft des Pathetischen und des Erhabenen
1. Aristoteles
2. Cicero. Quintilian
3. Die Stillehre
4. Das Erhabene
5. Nachbemerkungen
II. Überleitung: Gottscheds Rhetorik, die Affektenlehre der Frühaufklärung und Boileaus Lehre vom Erhabenen
1. Johann Christoph Gottsched: ›Ausführliche Redekunst‹ (1736) I
2. Die Affektenlehre bei Christian Wolff und Christian Thomasius
3. Gottsched: ›Ausführliche Redekunst‹ II
4. Nachbemerkungen zur Stillehre. Boileaus Lehre vom Erhabenen und Corneilles ›Horace‹
III. Johann Christoph Gottsched
1. ›Rede über die Schauspiele‹ (1729) und ›Critische Dichtkunst‹ (1729)
2. ›Der sterbende Cato‹ (1732)
IV. Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger
BODMER
1. Das Erhabene und die Tragödientheorie
2. Allgemeine Aspekte des Erhabenen
BREITINGER
1. ›Critische Dichtkunst‹ (1740)
2. Zur Tragödie und über die Gleichnisse (1740)
V Johann Elias Schlegel
1. ›Herrmann‹ (1743)
2. ›Canut‹ (1746)
3. Schriften zur Dramentheorie (1739–1747)
4. Nachbemerkungen
VI. Gotthold Ephraim Lessing I
1. Zur Lehre von den Affekten und Gefühlen
2. Zum rührenden Lustspiel
3. Lessing: ›Miß Sara Sampson‹ (1755)
4. Friedrich Nicolai: ›Abhandlung vom Trauerspiele‹ (1757). – Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel (1756/57)
5. Nachbemerkungen
VII. Dramen der ausgehenden 50er Jahre
1. Friedrich Gottlieb Klopstock: ›Der Tod Adams‹ (1757)
2. Johann Friedrich von Cronegk: ›Olint und Sophronia‹ (1757)
3. Joachim Wilhelm von Brawe: ›Brutus‹ (1758)
4. Ewald Christian von Kleist: ›Seneka‹ (1758)
5. Christoph Martin Wieland: ›Lady Johanna Gray‹ (1758)
6. Lessing: ›Philotas‹ (1759)
VIII. Die Theorie des Erhabenen (vor Kants ›Kritik der Urteilskraft‹)
1. Edmund Burkes ›Enquiry‹ (1757) und Moses Mendelssohns Rezension (1758)
2. Mendelssohn: ›Ueber das Erhabene und Naive‹ (1758)
3. Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen‹ (1764)
4. Nachbemerkungen
IX. Gotthold Ephraim Lessing II
1. Christian Felix Weiße: ›Atreus und Thyest‹ (1766)
2. Lessing
3. Resümee
X. Rückblick und Ausblick: Friedrich Schiller
Die frühe Theatertheorie und ›Don Karlos‹
Die Lehre vom Erhabenen und ›Demetrius‹
Literaturverzeichnis
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Tugend, Gewalt und Tod: das Trauerspiel der Aufklärung und die Dramaturgie des Pathetischen und des Erhabenen
 9783111384795, 9783484660014

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ffieatron

Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste

Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele

Band 1

Georg-Michael Schulz

Tugend, Gewalt und Tod Das Trauerspiel der Aufklärung und die Dramaturgie des Pathetischen und des Erhabenen

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schuh,

Georg-Michael:

Tugend, Gewalt und Tod : d. Trauerspiel d. Aufklärung u. d. Dramaturgie d. Pathet. u. d. Erhabenen / Georg-Michael Schulz. — Tübingen : Niemeyer, 1988 (Theatron ; Bd. 1) N E : GT ISBN 3-484-66001-5

ISSN 0934-6252

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. •Printed in Germany. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Vorwort der Herausgeber

THEATRON ist eine interdisziplinäre Reihe, in der Studien zu allen Elementen und Sparten des Theaters — von Text und Partitur über die Schauspielkunst bis zur Szenographie, vom Figurentheater über den Tanz bis zu Drama und Oper — ihren Platz finden. Theaterwissenschaft, Musikwissenschaft und komparatistisch ausgerichtete Dramenforschung sollen sich in dieser Reihe verbinden. Ihren Schwerpunkt werden Arbeiten zur Theatertheorie und zu den dramatischen Gattungen aus den verschiedenen philologischen Disziplinen bilden, jedoch immer im Blick auf das Phänomen Theater als ein Ensemble verbaler und nonverbaler Elemente. Die Reihe wird programmatisch eröffnet mit einer Monographie, die sich einem Urproblem des europäischen Theaters zuwendet: der Pathosstruktur der Tragödie, um die alle poetologischen Erörterungen von Aristoteles bis Schiller kreisen. Die Aufklärung ist die letzte Epoche, in der die bis in die Antike zurückreichende, durch die Verbindung zwischen Rhetorik und Poetik bestimmte literarische Tradition noch lebendig wirksam ist, derzufolge die Tragödie bzw. das Trauerspiel eine Erschütterungskunst, ihr Telos die Erregung und Ausgleichung von Affekten ist. Die Implikationen dieser psychagogischen Dramaturgie in der Epoche der Aufklärung, die das Trauerspiel als >pathetisches< Ereignis — im Schillerschen Sinne dieses Begriffs — faßt, bilden den Gegenstand der vorliegenden Studie. Sie verfolgt die Geschichte der Kategorien des Pathetischen und Erhabenen von der antiken über die humanistische bis in die aufklärerische Poetik Europas und zeigt, wie sie als Leitwerte auch die dramatische Praxis des 18. Jahrhunderts bestimmen und jene Klammer von Tugend, Gewalt und Tod schaffen, in deren Zeichen die Aufklärung die antik-humanistische Wirkungspoetik erneuert. Der tugendhaft-erhabene Tod ist das Produkt der Gewalt, unter deren Ansturm die Tugend erst ihre Vorbildlichkeit beweisen kann. Aber auch in anderer Hinsicht eignet dem Pathos ein Aspekt des Gewaltsamen: es bedeutet Herrschaft über die Gemüter der Zuschauer, eine Macht, die der Tragiker wie der Redner in persuasiver Absicht erstreben. Gewalt ist also nicht nur ein Element der Handlung, sondern auch der >pathetischen< Wirkung, und dies gilt in gleicher Weise auch für das Erhabene und die Tugend. Die wirkungsdynamische Definition der Tragödie, die den Angelpunkt der alteuropäischen Tragödienpoetik bildet, die aber spätestens seit Goethes Nachlese zu Aristoteles' Poetik als obsolet aus dieser ausgeschieden wird, entfaltet ihre innovatorische Potenz noch einmal — zum letzten Mal — in der Aufklärung, in der zugleich jedoch die Phase der Theatergeschichte beginnt, die noch unsere Gegen-

V

wart prägt. Die erste Untersuchung dieser Reihe widmet sich also demjenigen zeitlichen und thematischen Kraftfeld, dessen Linien — vor- und rücklaufend — in alle Bereiche und Epochen des europäischen Theaters führen.

VI

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

ι

I. Die Herkunft des Pathetischen und des Erhabenen

9

1. Aristoteles

9

>Poetik
Rhetorik
Vom Erhabenen
Gemütserkennungskunst
Horace< III. Johann Christoph Gottsched 1. >Rede über die Schauspiele< ( 1 7 2 9 ) und >Critische Dichtkunst ( 1 7 2 9 )

55 63 63

Tragödie und Erbauung

63

Die tragischen Affekte

65

Der Zweck der Affekterregung

69 VII

Das Modell der erbaulichen Tragödie

73

Das Pathetische und das Erhabene

75

Die Stillehre

79

Das Erhabene, das Pathetische und die Ständeklausel

82

Fazit

87

2. >Der sterbende Cato< ( 1 7 3 2 ) Cato und Cäsar. Charaktere und politisch-moralischer Gehalt

88 . . . . . . .

Das Pathetische

88 97

Das Erhabene

103

Dramaturgie in Theorie und Praxis

109

I V . J o h a n n J a c o b B o d m e r und J o h a n n J a c o b Breitinger

113

BODMER

1 . D a s E r h a b e n e und die Tragödientheorie >Brief-Wechsel Von der Natur Des Poetischen Geschmackes* (1736)

1x3 . . . .

>Ueber die Poetischen Gemähide Der Dichter< (1741) I—>Critische Briefe< (1746), erster und zweiter Brief 2. A l l g e m e i n e A s p e k t e des Erhabenen >Critische Abhandlung von dem Wunderbaren* (1740)

113 116 120 120

>Ueber die Poetischen Gemähide Der Dichter* II

121

>Critische Briefe*, dritter und vierter Brief

123

Β REITINGER

ι . »Critische Dichtkunst* ( 1 7 4 0 )

129

2. Z u r T r a g ö d i e und über die Gleichnisse ( 1 7 4 0 )

134

Nachbemerkungen

136

B o d m e r : >Karl v o n Burgund* ( 1 7 7 1 )

137

V . J o h a n n Elias Schlegel

143

1. >Herrmann* ( 1 7 4 3 )

143

2. >Canut< ( 1 7 4 6 )

151

3. Schriften z u r D r a m e n t h e o r i e ( 1 7 3 9 — 1 7 4 7 )

160

4. N a c h b e m e r k u n g e n

166

V I . G o t t h o l d E p h r a i m Lessing I 1. Z u r L e h r e v o n den A f f e k t e n und G e f ü h l e n

168

Georg Friedrich Meier

168

Moses Mendelssohn

170

Immanuel Kant 2. Z u m rührenden Lustspiel

VIII

168

173 17 j

Lessing: theatralische Bibliothek* (1754—1758)

175

Geliert über das rührende Lustspiel

177

3· Lessing: >Miß Sara Sampson« (1755)

178

Mitleid und Selbst-Leiden

178

Verstellung und »Rollenhaftigkeit«

180

Die Leidenschaften und die Liebe

184

Tugend und Rührung

188

Das Pathetische und das Erhabene

192 —

4. Friedrich Nicolai: »Abhandlung vom Trauerspiele« (1757). Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel (1756/57) J.Nachbemerkungen

VII. Dramen der ausgehenden 50er Jahre 1. Friedrich Gottlieb Klopstock: >Der Tod Adams< (1757) 2. Johann Friedrich von Cronegk: »Olint und Sophronia« (1757) . . . . 3. Joachim Wilhelm von Brawe: >Brutus< (1758) 4. Ewald Christian von Kleist: >Seneka< (1758) j . Christoph Martin Wieland: >Lady Johanna Gray< (1758) 6. Lessing: >Philotas< (1759)

197 206

208 208 215 220 226 230 239

VIII. Die Theorie des Erhabenen (vor Kants >Kritik der Urteilskraft«) . . .

248

1. Edmund Burkes >Enquiry< (1757) und Moses Mendelssohns Rezension (1758) 2. Mendelssohn: >Ueber das Erhabene und Naive« (1758)

248 251

3. Kant: »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« (1764) 4. Nachbemerkungen

IX. Gotthold Ephraim Lessing II 1. Christian Felix Weiße: >Atreus und Thyest« (1766)

2

55 257

263 263

Zu Weißes >Richard dem Dritten« (1759) und zu Lessings Kritik

263

»Atreus und Thyest«

266

2. Lessing

271

»Hamburgische Dramaturgie« (1767/68)

271

»Emilia Galotti« (1772)

281

Das Pathetische

281

Die Gewalt

283

Die Tugend

288

Tugend, Gewalt und Tod

290

Schrecken und Einsicht

295

3. Resümee

297 IX

X . Rückblick und Ausblick: Friedrich Schiller Die frühe Theatertheorie und >Don Karlos< Die Lehre vom Erhabenen und >Demetrius< Literaturverzeichnis

X

299 299 309 321

Einleitung

Niemand will sterben, jedermann heirathen [...]. In diesem Fazit, meint G o e t h e im J a h r 1 8 2 7 , bestehe »der halb scherz-, halb ernsthafte Unterschied zwischen Trauer- und Lustspiel« in der Aristotelischen >PoetikCardenio und Celinde< (erschienen 1657), das in geradezu auffälliger Weise den T o d ausschaltet, indem es ihn durch ein memento mori ersetzt: »[...] denck jede Stund ans Sterben« (so lauten da die letzten Worte). Dennoch, wenn (nach J . E . Schlegels Canut) Lessings Nathan und Schillers Teil die nach ihnen benannten Dramen überleben dürfen, dann signalisiert das insofern eine Differenz zur Tradition, als hier dem Sieg über den T o d erstmals eine eigene dramatische Gattung als Podest zur Verfügung gestellt wird. Mit dem etwas hochgestochenen Wort vom >Sieg über den Tod< soll zunächst nur auf die besondere Beziehung zwischen Schauspiel und Tragödie hingewiesen sein. Denn das Schauspiel ist nicht eine Mischform aus Tragödie und Komödie, sondern ein verselbständigter Z w e i g der Tragödie. Z w a r scheint kaum eine andere literarische Gattung mit einem bestimmten Thema so eng verbunden zu sein wie die Tragödie mit dem Tod. Dennoch ist der exitus infelix ein umstrittenes Element; er gehört o f t , ' aber nicht grundsätzlich zur Definition der Tragödie. 4 So will Lessing es denn ausdrücklich »in des Dichters Gutbefinden« stellen, ob er einen glücklichen oder einen unglücklichen Ausgang wählt; 5 und da hätte Lessing sich unter anderem auf Racine berufen können, der im V o r w o r t zu >Berenice< (1670) Blut und T o d für durchaus nicht unabdingbar hält. 6 V o r allem aber ist es der Ahnvater der abendländischen Dramentheorie, Aristoteles, selbst, der (im Zusammenhang mit dem Thema der >WiedererkennungHerrmannMiß Sara SampsonNathan< ist, auch chronologisch gesehen, ein Grenzfall). G o e t h e s W o r t » N i e m a n d will sterben« gilt sicherlich f ü r das Schauspiel. Im Trauerspiel der A u f k l ä r u n g dagegen wird viel und — man muß es wirklich so sagen — o f t genug auch gern gestorben' (zumal wenn in Gestalt der Unsterblichkeit 1 0 eine prompte Vergütung zu erwarten ist). » N i m m doch dein Leben an« — mit diesen Worten wird (in Schlegels >CanutMiß Sara SampsonKabale und LiebeGewalt über die Gemüter (der Leser)< im 18. Jahrhundert ständig wieder, häufig (wenn es um das Drama geht) konkretisiert zur >Gewalt über die Leidenschaften (der Zuschauer)^ Und diese Gewalt steht seit der Antike unter dem Begriff des Pathos. Freilich mag man sich fragen, ob der Begriff der Gewalt da nicht eine bloße Metapher darstellt. Der Soziologe oder Politologe, der sich >einen operablen Gewaltbegriff< 26 wünscht, wird diese Frage vielleicht bejahen, auch wenn er sich nicht auf die physische Gewalt beschränken will. 27 So ganz eindeutig aber ist das nicht. Wenn der Gewaltbegriff — sinnvollerweise — über die physische Gewalt hinaus ausgedehnt wird, ist dann nicht in der Tat auch die demagogische Potenz des politischen Redners miteinzubeziehen, an der in der Antike die Formel von der Gewalt des Redners sich orientiert (als Beispiel dafür wird quer durch die Jahrhunderte immer wieder Demosthenes genannt)? Und die Gewalt des Dichters ist ja ein Pendant jener Gewalt des Redners. Sicherlich, wenn Cicero von der vis oratoris spricht, dann meint er zuerst die potestas und nicht die violentia. 22

V g l . z . B . J o h n Fräser: Violence in the A r t s ( 1 9 7 4 ) .

13

C i c e r o : D e officiis (ed. Gunermann) I 1 1 , 34. V g l . Röttgers: Z u einer Geschichte des

24

V g l . dazu unten S. 2 1 .

25

A d a m Schaff: Einführung in die Semantik (dt. 1 9 6 6 ; zuerst i960), S. 103.

26

W o l f - D i e t e r N a r r : Gewalt und Legitimität ( 1 9 7 3 ) . In Rammstedt (Hrsg.): Gewaltver-

17

Vgl. ebd. — V g l . auch den Abschnitt >Gewalt: sichtbar und unsichtbar bei Dieter

Redens über die G e w a l t , S. 1 6 1 .

hältnisse, S. 22. Senghaas: G e w a l t — Konflikt — Frieden ( 1 9 7 4 ) , S. 1 1 1 — 1 1 9 ; ebenso den Abschnitt >Macht und physische Gewalt« bei Niklas L u h m a n n : Macht ( 1 9 7 5 ) , S. 60—69.

6

A b e r gerade in historischer Perspektive scheint es sinnvoll, » G e w a l t als einen B e g r i f f zu fassen, in dem die K o m p o n e n t e n potestas

und violentia

aufeinander

bezogen bleiben«. 2 8 Z u m i n d e s t — und davon gehe ich im folgenden aus — gibt es bestimmte Analogien. W i e nämlich (anknüpfend an eine vorausgehende Tradition) der bürgerliche Gelehrte Gottsched sich bemüht, den Geistesadel als dem Schwertadel ebenbürtig erscheinen zu lassen, so stellt später G o e t h e die »politische Macht« und die » G e w a l t des Geistes« nebeneinander, 2 ' beide jeweils verstanden als potestas und die letztere als bürgerliche Kompensation f ü r die unverf ü g b a r e erstere. U n d da die politische potestas, ehedem angelehnt an die H e r r schaft G o t t e s , nunmehr, in der N e u z e i t , auf einen Gesellschaftsvertrag z u r ü c k geführt w i r d , ist dadurch gewissermaßen eine Stelle freigeworden, in die die potestas des Geistes einrücken k a n n ; B o d m e r jedenfalls bezieht die G e w a l t des erhabenen Genies auf die göttliche G e w a l t als deren eigentliches U r b i l d zurück. W e n n also, bezogen auf die potestas, eine Analogie zwischen politischer G e w a l t und Geistesgewalt besteht, ist es ja nicht abwegig, eine solche Analogie auch unter dem B l i c k w i n k e l der violentia zu suchen. G e n a u das entspricht tatsächlich dem H o r i z o n t des 18. Jahrhunderts: der illegitimen politischen G e w a l t , die in den D r a m e n dargestellt ist, korrespondiert die G e w a l t , die die Dramatik selbst über die G e m ü t e r der Zuschauer besitzt; und deren fehlende Legitimation w i r d im D r a m a bei Lessing und in der Dramentheorie spätestens bei Schiller bewußt — was dort zu der A n w e i s u n g an den Künstler führt, die G e w a l t über die Z u s c h a u e r zurückzunehmen und diesen Zuschauern die Gemütsfreiheit wiederzugeben. Es dürfte jedenfalls deutlich sein, daß die G e w a l t nicht nur als ein Element der dramatischen H a n d l u n g , sondern auch unter dem B l i c k w i n k e l der ästhetisch-theoretischen R e f l e x i o n , also der Dramentheorie, zu betrachten ist. D a s betrifft selbstverständlich auch die T u g e n d und den T o d . D i e K l a m m e r f ü r diese drei M o m e n t e (noch auf der E b e n e der dramentheoretischen Reflexion) ist in den Kategorien des Pathetischen und des Erhabenen zu finden. In diesem Sinne hat es übrigens etwas sehr Einleuchtendes, daß Kant seine Definition der B e g r i f f e >Macht< und >Gewalt< — nämlich eine >kontextfreieseelengeschichtlich< interessanten und reizvollen Vorformen der für uns heute bestimmenden Denk-, A n schauungs- und Empfindungsweisen sucht. 32 D e r Begriff der Dramaturgie, wie er im Titel verwendet wird, umfaßt die dramentheoretische Reflexion ebenso wie die dramatische Praxis. Beider Verhältnis — auch das übrigens macht den hier behandelten Zeitraum interessant — verschiebt sich zugunsten der Praxis. Z w a r erhebt Gottscheds >Critische Dichtk u n s t als Anweisungspoetik noch den Anspruch, der Praxis >critisch< reflektierte Regeln zu geben. A b e r die Praxis gehorcht nicht mehr; das bürgerliche Trauerspiel entsteht, obwohl es in der Theorie nicht vorgesehen ist, ebenso wie die Dramatik des Sturm und Drang der 70er Jahre sich Lessings >Hamburgischer Dramaturgie< (1767/1768) nicht fügen mag. Das heißt nicht, daß die Theorie hinter der Praxis nur noch hinterherhinken würde. Vielmehr entwickelt sich vorübergehend eine spannungsvolle Beziehung zwischen beiden. Folgt man, wie es hier geschieht, der Chronologie und wechselt man darum zwischen Theorie und Praxis hin und her, dann werden diese Spannungen, die Divergenzen neben den auch noch vorhandenen Konvergenzen, recht eigentlich sichtbar.

Die Darstellung wurde 1985 abgeschlossen und im Januar 1986 von der Philosophischen Fakultät der R W T H Aachen als Habilitationsschrift angenommen; f ü r den D r u c k wurde sie verschiedentlich gekürzt.

' 2 Vgl. Paul Mog: Ratio und Gefühlskultur (1976).

8

I. Die Herkunft des Pathetischen und des Erhabenen

ι. Aristoteles >Poetik< Kann Aristoteles, so fragt Goethe 1827, tatsächlich, wenn er sich auf poetische Werke bezieht und von der Construction des Trauerspiels redet, an die Wirkung, und was mehr ist, an die entfernte Wirkung denken, welche eine Tragödie auf den Zuschauer vielleicht machen würde?

So ungläubig die Frage, so entschieden die Antwort: Keineswegs! E r spricht ganz klar und richtig aus: wenn sie [ = die Tragödie] durch einen Verlauf von Mitleid und Furcht erregenden Mitteln durchgegangen, so müsse sie mit Ausgleichung, mit Versöhnung solcher Leidenschaften zuletzt auf dem Theater ihre Arbeit abschließen. 1

Abschließen, und zwar auf dem Theater, nicht also erst in der Seele des Zuschauers. Denn von der Wirkung her, meint Goethe, läßt sich das Wesen eines Werks oder einer Gattung nicht bestimmen. Darum kann die Katharsis nicht eine Wirkung, sondern muß ein Moment des Werkes selbst sein, eine »aussöhnende Abrundung, welche eigentlich von allem Drama, ja sogar von allen poetischen Werken gefordert wird«. 2 Goethe, so erläutert Max Kommerell, »sieht die Tragödie als Kunstphänomen, das sich in der Abrundung des Gebildes vollendet«. Für Aristoteles dagegen »gibt es die Tragödie als bloßes Kunstwerk gar nicht«. Was er vor Augen hat, ist »ein Werk der Wirkung«, der »Lebensvorgang der in der Tragödie sich vollziehenden tragischen Erschütterung, die selbstverständlich die Erschütterung der Zuschauer ist«.3 Diese Erschütterung ist das Pathos. Der Begriff des Pathos ist einer jener Begriffe der Aristotelischen >PoetikÜber die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften«, 1757), der sich seinerseits mit Charles Batteux auseinandersetzt (>Les Beaux-Arts reduits ä un meme Principe«, 1746). Poet. Kap. 6 ( i 4 4 9 b 2 4 ~ 2 8 ) ; Übers. (Fuhrmann), S. 19.

grenzt die Tragödie vom Epos ab; die Hervorhebung der Handlung und der Handelnden verweist auf den (gleich hernach ausdrücklich betonten) Vorrang der Handlung vor den Charakteren; und das Pathos endlich meint nicht mehr den Gegenstand der mimetischen, sondern die Wirkung der tragischen Darstellung." Die pathetischen Erregungszustände' 3 werden erläutert durch >eleos< und >phobos E b d . S. 197. "

E b d . S. 203.

17

Z . B . bei Hans M a y e r : Lessing und Aristoteles (1967). Vgl. auch M a x Pohlenz: Furcht und Mitleid? ( 1 9 5 6 ) und Hellmut Flashar: Die medizinischen Grundlagen der Lehre von der W i r k u n g der Dichtung ( 1 9 5 6 ) . Z . B . bei W o l f - H a r t m u t Friedrich: Sophokles, Aristoteles und Lessing ( 1 9 6 3 ) .

19

V g l . Friedrich, S. 1 4 t . , 18 u . ö . ; vgl. auch die Besprechung zu Schadewaldt: Hellas und Hesperien von Hermann Kunisch in: Literaturwiss. J b . N F 3 ( 1 9 6 2 ) , S. 379—400, hier S. 3 9 1 - 3 9 6 .

20

Vgl. A n m . 1 7 .

21

Vgl. Fuhrmann, S. 91 f., 293 f., 298.

22

Aristoteles: Rhet. II 8, 1 3 ; Übers. (Sieveke), S. 1 1 1 f. Ebenso II 5, 1 2 .

2)

Rhet. II 8, 8 - 1 0 ; Übers., S. 1 1 1 .

24

N i k . Eth. III 9; Übers. (Gigon), S. 1 1 4 . D e r Hinweis auf die >Nikomachische Ethik« findet sich (u.a.) bei Ekkehard E g g s : Die Rhetorik des Aristoteles (1984), S. 1 2 1 .

11

hung der >Rhetorik< ist jedenfalls nicht unproblematisch. Denn wie vielleicht schon (in eher verdeckter Weise) beim Mitleid 2 ' so ist bei der Furcht dort ganz eindeutig der Empfindende selbst das Ziel. In der >Poetik< dagegen fürchtet der Zuschauer nicht für sich selbst, sondern für den tragischen Helden; er empfindet also eine Art von >MitfurchtOedipus< die Furcht als Furcht vor dem Helden; und Lessing entwickelt an einer sehr merkwürdigen Stelle der >Hamburgischen Dramaturgie< (im 32. Stück) das Konzept einer Tragödie, die zwar Mitleid und Schrecken hervorruft (>Schrecken< als Äquivalent zum phobos), aber den Schrecken auf das Erschrecken des Zuschauers vor sich selbst begrenzt, nämlich vor den plötzlich eröffneten Abgründen seiner eigenen Seele. Daß die Katharsis — ursprünglich ein medizinischer Vorgang 27 — als »ein seelischer Purgierungsprozeß« 28 auf die Beseitigung und nicht nur auf die Läuterung der Affekte zielt, ist mittlerweile die allgemeine Auffassung. Der zweideutige Genitiv in der Aristotelischen Definition (των τοιούτων παθημάτων) ist mithin als gen. sep. (Reinigung von den Affekten) und nicht als gen. obj. (Reinigung der Affekte) zu verstehen.29 Gottsched, der mit der Katharsis ohnehin nicht viel anzufangen weiß, aber auch die Schweizer Bodmer und Breitinger ebenso wie Lessing und Goethe (in dem eingangs zitierten Aufsatz) vertreten bekanntlich noch diese letztere Auffassung. — Indessen, welche Affekte sollen eigentlich beseitigt werden? Umstritten ist immer noch der Geltungsbereich der genannten genitivischen Wendung (»Reinigung von derartigen Erregungszuständen«). Daß der Kreis der betroffenen Affekte über eleos und phobos hinausgeht, ist anzunehmen. Während aber Schadewaldt die übrigen Affekte »innerhalb der gleichen Art«, also innerhalb »des Mitleid- und Furchthaften« 30 sucht, sind nach Pohlenz »alle Regungen« gemeint, »die Aristoteles auch sonst mit Furcht und Mitleid unter dem Oberbegriff πάθη zusammenfaßt« 3 ' — in der >Nikomachischen Ethik< z.B.: »Begierde, Zorn, Angst, Mut, Neid, Freude, Liebe, Haß, Sehnsucht, Mißgunst, Mitleid«. 32 — Mit dem Hinweis auf die Katharsis will Aristoteles wohl auch den Platonischen Einwänden gegen die Affekterregung zuvorkommen. 33 Umstritten ist aber weiterhin die Frage, ob diese Katharsis ihrem Gehalt nach (in 21

16 17 28 i5 30 31

32 33

12

Man hat »beim Mitleiden selbst Angst um seinen Körper und sein Leben«, und: »Diese Angst vor eigenem Leiden teilt das Mitleiden mit der Furcht«; Eggs, S. 120. Kommereil, S. 96. Vgl. die (in Anm. 17 genannte) Darstellung von Flashar. Pohlenz, S. 65. Vgl. Franz Dirlmeier: Κ ά θ α ρ σ ι ς παθημάτων (1940). Schadewaldt, S. 217 Anm. 79 (Punkt 4). Pohlenz, S. 61. Ebenso Dirlmeier, S. 91 f. Anm. 3. — In der >Poetik< selbst wird an anderer Stelle (Kap. 19; 1456hl) der Oberbegriff >pathe< durch »Jammer«, »Schaudern«, »Zorn und dergleichen mehr« erläutert; Übers. (Fuhrmann), S. 61. Nik. Eth. II 2 ( n o 5 b 2 i ) ; Übers. (Gigon), S. 88. Vgl. Fuhrmann, S. 94—98.

dem von Schadewaldt angenommenen Maße) frei ist von jeder moralisch-didaktischen Zielsetzung34 oder ob nicht — da ja bei den Griechen »ästhetisches und ethisches Empfinden untrennbar verbunden sind« (so Pohlenz) —, ob also nicht auch der Katharsis »ein sittlicher Wert« zukommt, weil sie »zur Gesundung der Seele führt« und eben dadurch »die Grundlage für eine wahrhaft menschliche Lebensführung schafft«. 3 ' Auch in dieser letzteren Auffassung — das ist unzweifelhaft — wird die Katharsis nicht zum moralischen Instrument einer rigorosen Bekämpfung der Affekte (im Sinne der stoischen Leidenschaftslosigkeit, der Apathie). Weil Aristoteles vielmehr — gerade auch unter moralischen Vorzeichen — für ein mittleres Maß der Affekte eintritt,36 kann Lessing, anknüpfend an die ihm vorausgehende Poetik, die Katharsis als Herstellung einer bekömmlichen emotionalen Mittellage deuten, als Befreiung der Seele sei es von einem störenden Ubermaß, sei es von einem entsprechenden Mangel an Affekten. Meint das Pathos hier die Wirkung, so bezieht es sich im elften Kapitel der >Poetik< auf das Werk — dies im Sinne einer Wirkungsästhetik, der es natürlich um das Werk geht, nur eben um das unter dem Blickwinkel der Wirkung betrachtete.37 Das Pathos ist hier, im elften Kapitel, ein Teil der >Fabelmythosc es ist »ein verderbliches oder schmerzliches Geschehen, wie z.B. Todesfälle auf offener Bühne, heftige Schmerzen, Verwundungen und dergleichen mehr«.3® Ist man gewohnt, beim Pathetischen vor allem an einen Stil zu denken, dann mag es einen besonders überraschen, daß hier nun auch »die inhaltlichen Momente der Handlung (des Mythos)« 39 mit dem Begriff des Pathos gefaßt werden. Indessen, entgegen unserer Neigung, literarische Gattungen vornehmlich von ihren Strukturen her zu definieren, wird bis weit ins 18. Jahrhundert hinein eine Gattung wie die Tragödie nicht zuletzt von ihrer Festlegung auf bestimmte Inhalte her begriffen. Dafür ein bekanntes Beispiel: für Opitz, der sich hierin seinerseits an Scaliger anlehnt, gehört es zur Eigenart der Tragödie, daß sie nur von Königlichem willen / Todtschlägen / verzweiffelungen / Kinder- vnd Vätermörden / brande / blutschanden / kriege vnd auffruhr / klagen / heulen / seuffzen vnd dergleichen handelt.· 10

Das sind nun zwar pathe wenn nicht auf der Linie der >PoetikpathosPathos< qualifizierten Handlung. Gemeint ist hier nämlich »Begebenheit, oder Fall, Vorfall, Unfall« ; 45 denn >praxis< »heißt ebensosehr Begebenheit wie Tat«, und >pathos< drückt im Grunde »das an einer Tat aus, was nicht getan wird, sondern wovon man betroffen wird«. »Pathos wird allerdings durch menschliches Handeln eingeleitet, aber, wie man sagt, nur ins Rollen gebracht, dann rollt >es< weiter. Wer tut? Der Mensch. Wer geschieht? Das Schicksal.« 46 Gemeint ist eine »Ganzheit des G e schehens«, 47 in der das Handeln zugleich »ein auferlegtes Tun« ist und in der zum »Leiden« dessen »Komplementärbegriff«, nämlich »der sich ereignende ungeheure Fall«, dazugehört. 48 »Aristotelischer Tragödienheld« — ein Beispiel ist immer wieder Odipus — »ist der von einem ungeheuren Fall betroffene, in einen solchen verstrickte, gerade durch Tun verstrickte Mensch.« 49 Kommereil faßt zusammen: »Für das, was Aristoteles unter Pathos versteht, ist bestimmend: erstens der objektive Charakter des Erlittenen, als eines Vorfalls, zweitens eine gewisse, sorgfältig bedingte und eingeschränkte Verbindung dieses Vorfalls mit dem Willen« (nämlich als ungewollte Implikation eines willentlichen Handelns: Odipus bringt Laios um, die willentlich begangene Tat ist ungewolltermaßen ein Vatermord), »drittens eine entschiedene und enge Verbindung dieses Vorfalls mit dem Wissen, das nicht in das Belieben der Menschen gestellt ist« (dem Wissen, daß er unwissentlich den Vater ermordet hat, kann Odipus schließlich nicht mehr entrinnen), »viertens die Steigerung des durch diesen Vorfall gebrachten Leids zum Familiengreuel und fünftens die Zweizahl der Betroffenen, wobei der eine mehr handelnd« (Ödipus), »der andere mehr leidend« (Laios) »betroffen ist«'° (»mehr« handelnd, weil Ödipus nicht nur ein Täter ist, sondern auch das Opfer der eigenen Tat). O f f e n ist schließlich eine Frage, die uns — im Zusammenhang mit dem Pathos — möglicherweise als erste einfällt: die Frage nach dem pathetischen Stil. Von der >Poetik< her gesehen, gilt diese Frage den »Medien der Darstellung«: der >lexis< 41

Johannes Vahlen: Beiträge zu Aristoteles' Poetik ( 1 8 6 5 — 1867), S. 38. Ebenso Werner Söffing: Deskriptive und normative Bestimmungen in der >Poetik< des Aristoteles ( 1 9 8 1 ) , S. 7 8 f . ; vgl. auch ebd. S. 1 2 2 — 1 2 9 .

42

Fuhrmann in den Anmerkungen zu seiner Ubersetzung, S. 1 1 6 A n m . 9.

43

Lucas in >PoeticsPoetik< zur lexis' 2 helfen hier nicht weiter, da sie keine V e r bindung von den einzelnen Elementen der sprachlichen F o r m z u m Pathos ziehen. E s bleibt also die dianoia, der in der T a t unter anderem »das Hervorrufen von Erregungszuständen« 5 3 zugeordnet wird. N u r ist diese dianoia von H a u s e aus ein T h e m a der Rhetorik. Aristoteles verzichtet daher auf einen weiteren K o m m e n t a r und verweist den Leser auf die Rhetorik. 5 4

>Rhetorik< In der Rhetorik 5 5 — ich beschränke mich hier auf die Theorie und lasse die Praxis beiseite 5 ^ —, in der Rhetorik also ist das Pathos eines der >Überzeugungsmittel< ( π ί σ τ ε ι ς , Beweise). D i e Rhetorik bedarf solcher Uberzeugungsmittel, weil sie keine > Wissenschaft^ 7 ist. Sie hat es nicht mit der Wahrheit zu tun, sondern mit der Wahrscheinlichkeit, mit Meinungen, deren Plausibilität von einem Redner möglichst überzeugend darzutun ist. Q u e r durch ihre Geschichte hindurch und zumal im wissenschaftsgläubigen 18. Jahrhundert hat sie sich darum mit dem V o r w u r f mangelnder Seriosität auseinanderzusetzen. Man weiß, w i e barsch Kant

'' Neschke, Tl. I, S. 1 6 2 L Poet. Kap. 19 (1456334). - »Der Ausdruck δ ι ά ν ο ι α faßt in der aristotelischen Rhetorik [ . . . ] alle argumentativen Mittel des Redners — im Gegensatz zu deren stilistischer Zubereitung (λέξις) — zusammen«; Fuhrmann in den Anmerkungen zu seiner Ubersetzung, S. 1 1 1 A n m . 18. !l Poet. Kap. 2 0 - 2 2 . " Poet. Kap. 19 (1456338); Ubers. (Fuhrmann), S. 6 1 . Vgl. Poet. Kap. 19 ( 1 4 5 6 3 3 4 - 3 6 ) . " Bei den folgenden Hinweisen zur Rhetorik handelt es sich um Gemeingut, das im Grunde in jeder Darstellung dieser Materie zur Sprache kommt und häufig schon in den Nachworten zu den Ausgaben der klassischen Texte gebührend erwähnt wird. Von daher ist die Auswahl der von mir angeführten Sekundärliteratur notwendigerweise willkürlich. Ich habe dennoch nicht einfach 3uf Belege verzichten wollen und verweise daher zumindest auf die jeweils entsprechenden Stellen in den Darstellungen von Richard Volkmann: Die Rhetorik der Griechen und Römer ("1885) und Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik (i960). In diesem Sinne trennt Gottsched (in seiner Ausführlichen RedekunstRedekunst< (die Theorie) von der >Beredsamkeit< (der Praxis) ab und bringt die G e schichte der letzteren in einer >Historischen Einleitung< unter. Z u r Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis vgl. (in bezug auf Aristoteles) Volkmann, S. 6 f. und (in bezug auf Cicero) M. L. Clarke: Die Rhetorik bei den Römern (dt. 1968), S. 84—97. Z u m 17. Jahrhundert vgl. Wilfried Barner: B3rockrhetorik (1970), S. 57, 253 u. psss. — Weitgehend an der rhetorischen Praxis orientiert sich Werner Eisenhut: Einführung in die antike Rhetorik (1974); den Zusammenhang zwischen der Theorie und der öffentlichpolitischen Dimension der Beredsamkeit betont die Einführung von Msnfred Fuhrmann: Die antike Rhetorik (1984). " Z u r komplizierten Abgrenzung zwischen επιστήμη (Wissenschaft) und τέχνη (Kunstfertigkeit, Theorie) und zu Aristoteles' Bestreben, der Rhetorik ein einigermaßen ehrbares Aussehen zu verschaffen, vgl. (neben Antje Hellwig: Untersuchungen zur Theorie der Rhetorik bei Piaton und Aristoteles, 1973) Jürgen Sprute: Die Enthymemtheorie der aristotelischen Rhetorik (1982), pass, sowie Eggs, S. 5 1 - 5 5 .

!

5

sie abfertigt;®8 und wenn Gottsched, der durchaus noch in der großen Tradition der Rhetorik steht, wenn also Gottsched überlieferungsgemäß die >Überredung< ins Zentrum rückt, dann betont er zugleich, daß die Wahrscheinlichkeit, mit der der Redner es zu tun hat, eine nicht restlos demonstrierte Wahrheit sein müsse. 59 Die erwähnten Überzeugungsmittel sind den drei Bezugspunkten jeder Rede zugeordnet: dem Redner selbst, dem Publikum und dem Gegenstand, um den es geht; sie werden mit den Begriffen ethos, pathos und pragma bezeichnet. Ethos, d . h . der >Charakter des Redners< (ήθος του λέγοντος) in der Funktion des Überzeugungsmittels, bedeutet, daß der Redner Sympathien für seine eigene Person und dadurch mittelbar f ü r sein Anliegen gewinnt, indem er ein besonders vorteilhaftes Erscheinungsbild bietet, nämlich das einer tugendhaften und darum vertrauenswürdigen Persönlichkeit. Mit pathos ist die Erregung der Leidenschaften auf der Publikumsseite gemeint, also der vom Redner gesteuerte Einfluß der Emotionen auf die Meinungsbildung. Pragma schließlich ist der Sachverhalt, u m den es geht, d . h . der (frei von allen emotionalen Zutaten) f ü r sich selbst sprechende und seine eigene Beweiskraft entfaltende Gegenstand. 6 0 Aristoteles erläutert dieses pragma im Zusammenhang mit der Unterscheidung dreier Redegattungen, der Gerichtsrede, der politischen (beratenden) Rede (Staats-, Volksrede) und der Fest-(Prunk-)Rede (Gelegenheitsrede). So schön zunächst die drei Überzeugungsmittel auseinandersortiert erscheinen, so kompliziert wird die Aristotelische >Rhetorikincitare aut lenire< 94 ); es macht ihn gleichsam zu einem G o t t unter den Menschen (>deus, ut ita dicam, inter homines« 95 ). Eben das veranlaßt Quintilian immer wieder, wie erwähnt, auf die »sittliche Grundlage der echten Redekunst« zu pochen, entgegen einer Praxis, die zur »moralischen Indifferenz«' 6 neigt. E i n Seitenblick noch zu Gottsched hinüber, bei dem selbstverständlich auch das docere — delectare — movere wiederkehrt in Gestalt der »drey Pflichten eines Redners« — so etwa in der >Critischen Dichtkunst«. 9 7 U m so bemerkenswerter ist es, daß diese Formel (aus noch zu erörternden G r ü n d e n ) in der A u s führlichen Redekunst< nicht v o r k o m m t . D e r Sache nach ist sie auch hier von Bedeutung, etwa wenn Gottsched dem Redner empfiehlt, im Epilog die Zuhörer durch eine frohlockende Rede nochmals ganz triumphirend in Bewegung zu setzen [movere]; und ihnen die bis dahin erwiesene Wahrheit abermal einzuprägen [docere]. Denn wie diese Freudigkeit von seinem guten Gewissen ein Zeugniß ableget: so gewinnet er dadurch von neuem ein gutes Vertrauen bey dem Zuhörer [conciliare]. 98 W i e Gottsched hierin der Tradition verpflichtet bleibt, so k o m m t er schließlich auch bei der Erörterung des Pathos dieser Tradition entgegen — und das mit geringeren Vorbehalten, als man bei einem Nationalisten« und >Moralisten< erwarten könnte. D a v o n später.

92

Inst. orat. V I 2, 3 - 7 ; Übers. (Rahn). Bd. I, S. 699, 701. " Orator 69 und 97. ' 4 Ebd. 132. Entsprechend: De oratore I 1 7 ; 53; 219. " D e oratore III 53. 96 Otto Seel: Quintilian oder Die Kunst des Redens und Schweigens (1977), S. 30 u. pass. 97 Johann Christoph Gottsched: Critische Dichtkunst ( 4 i 7 5 i ) , S. 357 Anm. (künftig unter der Sigle C D ) . ' 8 Werke V I I / 1 , S. 254. 21

3· Die Stillehre Aristoteles Erst im L a u f e des 18. Jahrhunderts bekanntlich treten Poetik und Rhetorik auseinander. Bis dahin jedoch, und das heißt mindestens bis zu Gottsched und den Schweizern hin gilt, was Barner f ü r das 1 7 . Jahrhundert hervorhebt, daß nämlich »Poesie und Beredsamkeit [ . . . ] unter einen gemeinsamen rhetorischen Begriff subsumiert w e r d e n : als zweckgerichtete, intentional bestimmte Sprachkunst«. 9 9 Diese V e r b i n d u n g hat zur F o l g e , daß selbst solche M o m e n t e , bei denen man der D i c h t u n g am ehesten einen Sonderstatus zuerkennen möchte, unter dem B l i c k w i n k e l der R h e t o r i k behandelt w e r d e n . 1 0 0 D a s gilt auch f ü r den Stil. D i e Dichtung w i r d v o n alters her in die N ä h e der >GelegenheitsredeFest- und PrunkredeStil der schriftlichen DarstellungDebattenstil< dagegen k o m m t bei der Gerichtsrede mit einem geringeren und bei der politischen R e d e mit dem geringsten A n s p r u c h an die rhetorische Kunstfertigkeit aus. D a f ü r v e r k n ü p f t er sich (vor allem bei der politischen R e d e ) mit einem besonderen M a ß an »dramatischer Darstellung< und »dramatischem A u s d r u c k e 1 0 1 J e nach dem V o r r a n g v o n ethos oder pathos w i r d dieser Debattenstil nochmals in einen >ethischen< und einen »pathetischen Stil< unterteilt, die ihrerseits dann nicht weiter charakterisiert werden.'02 Wichtiger als die Redegattung ist die >angemessene< Relation ( π ρ έ π ο ν ) z w i schen dem Stil und dem Redeinhalt. Z w a r gilt Aristoteles' N e i g u n g im G r u n d e einer mittleren Stillage. 1 0 3 D e n n o c h gebietet der Gesichtspunkt der A n g e m e s s e n heit, daß auch das G e r i n g f ü g i g e und das Erhabene einen jeweils gemäßen A u s druck erlangen und »daß man nicht über Erhabenes ohne Sorgfalt und über G e r i n g f ü g i g e s erhaben spricht«. 1 0 4 Angemessen ist die Sprache eben dann, »wenn sie A f f e k t [pathos] und Charakter [ethos] ausdrückt und in der rechten Relation zu dem zugrundeliegenden Sachverhalt [pragma] steht«. 1 0 ' W i e danach 99 100

101

Barner: Barockrhetorik, S. 76. Selbst der furor poeticus, der nun wirklich exklusiv dem Dichter vorbehalten sein könnte, wird von Cicero als Beispiel für die emotionale Erregung genommen, die der Redner selbst empfinden muß, um auf seine Zuhörer einwirken zu können (De oratore II 194). Der psychologische Vorgang ist eben jeweils der gleiche: »Die rhetorische Psychagogie bedeutet so gut wie die dichterische das Überspringen der eigenen Ergriffenheit auf den andern«, so Fritz Wehrli: Der erhabene und der schlichte Stil in der poetisch-rhetorischen Theorie der Antike (1946), S. 15 f.

Rhet. III 12. Vgl. Volkmann, S. 533. Wie ethos und pathos so ergänzen auch ethischer und pathetischer Stil einander (statt sich wechselseitig auszuschließen). Vgl. Rhet. III 2, 1. Wehrli, S. 26. 104 Rhet. III 7, 2; Ubers. (Sieveke), S. 181. — Das Erhabene wird unten eigens behandelt. '°> Ebd. III 7, 1; Übers, ebd. 102

22

ein pathetischer Stil konkret aussieht, bleibt offen, zumal Aristoteles bei der Angemessenheit gar nicht an die Relation zwischen A f f e k t und Affektausdruck denkt, sondern beides, zusammengenommen, in eine sachgerechte Beziehung zum affekterregenden Anlaß, Gegenstand oder Thema gesetzt sehen will. 1 0 6 Cicero. Quintilian Die antike Stillehre erfährt ihre eigentliche Ausbildung erst nach Aristoteles vornehmlich durch dessen Schüler Theophrast und in der römischen Rhetorik. Die Angemessenheit (aptum) wird nun als eine von mehreren Redetugenden aufgefaßt 1 0 7 und der elocutio als einer der rhetorischen Arbeitsphasen 1 0 8 zugeordnet. Im Zeichen dieses aptum werden (zumeist) drei Stile voneinander unterschieden: ein einfacher und anspruchsloser (genus humile), ein mittlerer (genus medium) und ein hoher und erhabener Stil (genus sublime). 1 0 ' Die älteste lateinische Darstellung der Rhetorik — die (lange Zeit Cicero zugeschriebene) >Rhetorica ad Herenniumheftige< v o n besonderem Interesse. U b e r die R e d n e r , die v o r allem diesem Stil zuneigen, schreibt C i c e r o : nam et grandiloqui, ut ita dicam, fuerunt cum ampla et sententiarum gravitate et maiestate verborum, vehementes varii copiosi graves, ad permovendos et convertendos animos instructi et parati — quod ipsum alii aspera tristi horrida oratione neque perfecta atque conclusa consequebantur, alii levi et structa et terminata [ . . . ] . Denn es gab sozusagen >Hochtönendepoetischen Schönheiten< überhaupt, d.h. auf diejenigen poetischen Elemente, die eine emotionale Wirkung erzielen (und darum als >schön< apostrophiert werden). Dabei leugnet Klopstock die Möglichkeit einer apriorischen Zuordnung von poetischem Element und emotionaler Wirkung: »Wir werden die Natur unsrer Seele nie so tief ergründen, um mit Gewisheit sagen zu können, diese oder jene poetische Schönheit muß diese oder eine andre Wirkung [...] notwendig hervorbringen.«' 34 Möglich, meint Klopstock, sei allenfalls eine sorgsame empirische Erforschung jener Zusammenhänge. Sie würde freilich Mühe bereiten und wäre für den wahren Dichter nutzlos. Denn der muß dem hinter ihm hertrabenen >Theoristen< allemal voraussein.

4. Das Erhabene Magnitudo animi Im Verlauf der weiteren Entwicklung der Stillehre setzt sich zunehmend die Vorstellung einer Rangordnung der Stile durch, nach der es einen hohen, einen mittleren und einen niedrigen Stil gibt (Ciceros pathetischer Stil bildet da den hohen). Nun kennt Cicero, wie erwähnt, zwei Varianten des pathetischen Stils, eine rauhe und eine glatte.' 35 Solche Unterscheidungen finden sich auch andernorts; dem Demetrios von Phaleron wird sogar eine Stillehre zugeschrieben, bei der zwei selbständige Stile sich den höchsten Rang teilen, nämlich ein leidenschaftlich-heftiger, also pathetischer Stil einerseits und ein großartig-erhabener Stil a n d e r e r s e i t s . W i e immer die Theorien hier im einzelnen aussehen mögen — eines läßt sich jedenfalls konstatieren, daß nämlich die Einführung des Erhabe-

1,4

"5i

V o n den gleichgültigen Wörtern (Synonymis) in der deutschen Sprache. In: Critische Beyträge, 5. St. ( 1 7 3 3 ) , S. 16 f. Friedrich Gottlieb K l o p s t o c k : Die deutsche Gelehrtenrepublik. In Klopstock: Werke und Briefe ( H b g . Ausg.). Werke V I I / i , S. 172. Orator 20. — A u c h der mittlere Stil kommt bei Cicero in zwei Varianten vor; vgl. ebd. Wesentlich später setzt C . Chirius Fortunatianus bei allen drei Stilen zwei Unterarten an; vgl. Volkmann, S. 5 3 y f . , Lausberg, § 1079. Volkmann, S. 538 — 544; Lausberg, § 1079, 3. Vgl. auch Curtius, S. 62 (zu weiteren Theorien mit vier Stilen ebd. S. 62f.).

nen die Drei-Stile-Lehre in Unordnung zu bringen droht. Cicero orientiert sich am Modell der Gerichtsrede und meint mit dem Pathetischen einen besonders hohen Grad der affektiven Wirkung. Das Erhabene indessen, das vor allem der Dichtung nahesteht,' 37 ist im Modell der Gerichtsrede nur mit Mühe unterzubringen; und seine affektive Wirkung ist nicht nur dem Grad nach zu erfassen, sondern in ihrer Vermittlung über bestimmte Inhalte, nämlich über die hohe Gesinnung und die großen Gegenstände. In der römischen Rhetorik findet eine solche Gesinnung Ausdruck in der Idee der magnitudo animi, der Seelengröße. Zur Illustration des movere nennt Cicero Leidenschaften wie »Liebe, Haß, Zorn, Neid, Mitleid, Hoffnung, Freude, Furcht, Angst, läßt sie alle an Situationen hervortreten, die als Staats-, Kriegsund Revolutionsfälle anzusehen sind, »casus heroumvis et contention (Gewalt und Heftigkeit) »zusammen«. Zur Erläuterung des conciliare nennt Cicero »Eigenschaften wie Zugänglichkeit, Freimut, Milde, Frömmigkeit, Liebenswürdigkeit und faßt alle am Ende unter dem Begriff >hoc quod ad vitam et mores accomodaturvis et contentio< gegenüber >vita et mores< wird dieser aber nun identisch mit dem Gegensatz >magnitudo animi — vita et mores« oder >magnitudo animi — res humanaehohen Stil« hinaus' 6 ' zielt die Schrift auf das Erhabene der >großen Gesinnung« und des >großen Gegenstandes«: » G r o ß ist natürlicherweise nur die R e d e von Menschen mit machtvollen G e d a n k e n « , das Erhabene ist daher »der Widerhall einer großen Seele«, es keimt nur »in einer stolzen, weiten Gesinnung«.' 6 2 Hervorgebracht w i r d es »in A u s brüchen der göttlichen Eingebung, die nur schwer unter Gesetze gebracht w e r den könnten«,' 6 3 hervorgebracht von »gottgleichen Menschen«,' 6 4 die »sich weit über alles nur Sterbliche erheben« und deren R e d e auf das »Ubermenschliche« zielt.' 6 ' ' " Pseudo-Longinos: Vom Erhabenen (ed. Brandt) 1, 3 f.; Übers. (Brandt), S. 29, 31. 156 Vom Erhabenen 8, 1; Übers., S. 39, 41. 157 Ebd. 8, 2; Übers., S. 41. 158 Ebd. 9, 9; Übers., S. 45. — Vgl. dazu Eduard Norden: Das Genesiszitat in der Schrift vom Erhabenen (1955). Vom Erhabenen 8, 2; Übers., S. 41. ,io Vgl. dazu Pohlenz: Die Stoa. Bd. II ("1972), S. 121 f. ,großen< G e genstandes. Erhabene Gegenstände sind das Göttliche, sodann die Größe und Gewalt der N a t u r , weiterhin das Ubermenschliche der großen Heroen, die extrem gesteigerte Leidenschaft, schließlich aber auch das menschliche Leben als Gegenstand einer philosophischen Betrachtung, die das Irdische souverän überblickt. Dabei stehen neben den Bildern dynamisch-pathetischer Wucht und E r griffenheit — Bildern, denen die eigentliche Sympathie des Verfassers gehört — gelegentlich auch solche einer unpathetisch-gelassenen Erhabenheit, neben der »leidenschaftliche[n] Gespanntheit« die »würdevolle Größe«: 1 6 6 so neben dem welterschütternden Götterkampf (in der Ilias)' Totenbeschwörung< in der Odyssee)' 6 ' und neben Stellen aus Reden des Demosthenes, dessen Wirkung an »Blitz oder Gewitter«' 7 0 gemahnt, auch Passagen aus Schriften Piatons, in denen dieser sich »zur Größe steigert« und »majestätisch in seiner Würde verharrend«' 7 ' erscheint. Wie der erhabene Gegenstand und die erhabene Gesinnung des Redners oder Dichters aufeinander verweisen, so entspricht der letzteren wiederum die E m p fänglichkeit des Hörers und Lesers, der, zu guter Letzt »willenlos hörig«,' 7 2 der »Intensität und Gewalt«' 7 3 der mit »Kraft und Pathos« geladenen Rede erliegt.' 74 Neben dieser Gewalt, f ü r die wiederholt die Metapher des Blitzes steht,' 75 gibt es freilich auch rationalere Gesichtspunkte, mit deren Hilfe das Erhabene auf die Probe gestellt werden kann: das wirklich Erhabene nämlich muß sich nachhaltig und fortwirkend einprägen und auch der wiederholten Prüfung standhalten; und es muß nicht nur »jederzeit«, sondern — im Sinne eines intersubjektiven Konsenses — auch »einem jeden« erhaben erscheinen.' 76 Die Schrift sucht nicht nur, die Wirkung des Erhabenen zu beschreiben und Gesichtspunkte zu seiner Prüfung zu benennen; sie begründet diese Wirkung auch, nämlich mit dem Wesen des Menschen: Von der Natur irgendwie geleitet, bewundern wir [...] nicht die kleinen Bäche, [...], wenn sie auch durchsichtig und nützlich sind, sondern den Nil und die Donau oder den Rhein und noch viel mehr als sie den Ozean. Und über ein Flämmchen hier, das wir selbst anzünden, staunen wir, auch wenn es sein Leuchten rein bewahrt, nicht so sehr wie über jene Feuer des Himmels, die doch häufig ins Dunkel tauchen;' 77 auch die Krater des Ätna halten wir für ein größeres Wunder — große Steine und ganze Felsbrocken schleudert er bei seinen Ausbrüchen aus den Tiefen hervor, und manchmal läßt er Ströme jenes erdentstammten, willkürlichen Feuers entspringen.'78

168 170 171 171 174 176 177 178

32

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

15, 1; Übers., 9, Ii. 12, 4; Übers., 13, 1 u. 12, 3; 15, 9; Übers., 15, 9; Übers.,

S. 61.

167

Ebd. 9, 6. " ' E b d . 9, 2.

S. 57. Übers., S. 57, 55. S. 65. Ebd. 34, 4; Übers., S. 97. ,7 S. 65. < Ebd. 1, 4; 12, 4; 34, 4.

Ebd. 7, 3 f. Nämlich von den Wolken verdeckt; vgl. Fuhrmann, S. 181. Vom Erhabenen 35, 4f.; Übers., S. 99.

U n d das F a z i t : » B e w u n d e r u n g [ . . . ] erregt immer das Unerwartete«,' 7 9 τ ό π α ρ ά δ ο ξ ο ν , dasjenige, was unsere gewöhnlichen Alltagsvorstellungen übersteigt. D i e N a t u r selbst, deren Großartigkeit w i r anstaunen, hat »unseren Seelen sogleich ein unzähmbares Verlangen eingepflanzt nach allem jeweils G r o ß e n und nach dem, w a s göttlicher ist als w i r selbst«.' 8 0 Wenn der Redner oder Dichter sich z u m Erhabenen aufschwingt und dem Göttlichen nähert, so gehorcht der Leser o d e r H ö r e r einfach der menschlichen N a t u r , w e n n er sich davon mitreißen läßt: Denn von Natur wird unsere Seele vom wirklich Erhabenen emporgetragen, sie empfängt einen freudigen Auftrieb und wird erfüllt von Lust und Stolz, als habe sie, was sie hörte, selber erzeugt. 181 D e r moralisch begründeten Skepsis, die die Rhetorik v o n A n f a n g an begleitet, ist damit zugleich der B o d e n entzogen. Ü b e r diesen G e d a n k e n z u m Erhabenen, f ü r die sich im 18. Jahrhundert v o r allem die Schweizer begeistern — B o d m e r mehr noch als Breitinger —, über diesen G e d a n k e n also sei die stilistische Seite nicht gänzlich übergangen. B e m e r kenswert — v o n der Erörterung einzelner Stilmittel sehe ich hier ab —, bemerkenswert ist P s e u d o - L o n g i n s B e m ü h u n g u m einen Ausgleich zwischen >Natur< (physis) und >Kunst< (techne).' 8 2 A l s ein P r o d u k t der Kunst soll die Rede dennoch w i e »ein gleichsam organisches G e b i l d e « ' 8 3 erscheinen; sie soll »den E i n druck [ . . . ] der Improvisation«' 8 4 erwecken und den Anschein, ihre in Wahrheit »sorgfältig einstudierten Z ü g e « seien »dem A u g e n b l i c k entsprungen und [ . . . ] spontan h e r v o r g e b r a c h t « : ' 8 ' »Die Kunst nämlich ist dann v o l l k o m m e n , wenn sie N a t u r zu sein scheint, die N a t u r wiederum erreicht ihr Ziel, w e n n sie unmerklich K u n s t in sich birgt.«' 8 6 Z u diesem G e d a n k e n ein Zitat von K a n t : »Die N a t u r w a r schön, w e n n sie zugleich als K u n s t aussah; und die K u n s t kann nur schön genannt werden, w e n n w i r uns bewußt sind, sie sei K u n s t , und sie uns doch als N a t u r aussieht.«' 8 7 — P s e u d o - L o n g i n erläutert das an bestimmten Stilmitteln: das Pathos verlangt »gewagte Metaphern« und »kühne Bilder« — aber: »kühne Bilder, als seien sie durchaus notwendig«,' 8 8 als seien sie nicht künstlich arrangiert, sondern von der besprochenen Sache selbst herbeigezwungen

(αναγ-

κ α ί ο ς ) . — D e m inneren Widerstreit der Stilmittel — daß sie f ü r bestimmte W i r kungen sorgen sollen, aber aufgrund ihrer durchschaubaren Künstlichkeit diese W i r k u n g e n gefährden können —, diesem Widerstreit gilt der H i n w e i s , »daß keines dieser Stilmittel, getrennt v o m Erhabenen, aus eigener K r a f t v o l l k o m m e n sein k a n n « . ' 8 ' Wesentlich ist also der erhabene Gehalt, der aufgrund seiner Authentizität die Stilmittel sogar v o m G e r u c h des Künstlichen befreit: ,7

> Ebd. ,8 ° Ebd. 35, i ; Übers., S. 99. ' Ebd. 7, 2; Übers., S. 39. ,8i Vgl. Fuhrmann, S. 143, 157 u. pass.; Brandt: Einleitung, S. i7f. ,8j Vom Erhabenen 10, 1; Übers., S. 49. 184 ,8 Ebd. 22, 3; Übers., S. 77. ' Ebd. 18, 2; Übers., S. 73. 186 187 Ebd. 22, 1; Übers., S. 77. K U , S. 306 (B 179). 188 Vom Erhabenen 32, 4; Übers., S. 89. l8 ' Ebd. 1 1 , 2; Übers., S. $5. ,8

33

Das Erhabene und die leidenschaftliche Bewegung stellen deswegen ein Gegengift und erstaunliches Hilfsmittel dar, um den A r g w o h n gegen den Gebrauch von Figuren zu beschwichtigen, und wenn die raffinierte A u s f ü h r u n g rings umstrahlt wird von Schönheit und G r ö ß e , bleibt sie nicht länger sichtbar und ist jedem Verdacht entzogen. 1 , 0

5. Nachbemerkungen Emil Staiger hat in seinen Grundbegriffen der Poetik< dem Pathos eine besondere Bedeutung zuerkannt, indem er es als zentrales Moment einer der beiden Arten des Dramatischen ansetzt. Er liefert in diesem Rahmen eine ganze Anzahl eindrücklicher Erläuterungen und zieht, wie besonders vermerkt sei, bereits den Begriff der Gewalt zur Erklärung des Pathos heran. 1 ' 1 Dennoch konnte die vorliegende Arbeit aufgrund ihrer andersartigen Fragestellung daran nicht so recht anknüpfen. Es ist bei Staiger nun einmal die systematische Zielsetzung, die über das Historische verfügt. Autoritäten wie Aristoteles und Cicero werden durchaus befragt; aber ihre Erläuterungen werden — im Zuge der Bemühung, das zu erhellen, was »unser moderner Ausdruck«' 92 des Pathos meint — als wenig förderlich eingestuft. Der vorausgehende Rückblick dagegen will keineswegs zwar einen gleichbleibenden Inhalt des Begriffs >Pathos< behaupten, wohl aber die Kontinuität der geistigen und kunsttheoretischen Orientierung deutlich machen — darum die gelegentlichen Verweise auf Gottsched oder Lessing oder Schiller. — Und ein weiteres: es liegt Staiger fern, beim Pathos vornehmlich an einen Sprachstil zu denken. Dennoch spricht er des öfteren vom Stil, im Sinne nämlich eines Gattungsstils, hier also des »dramatischen Stils«. 193 In der vorliegenden Darstellung wird anders akzentuiert. Das Pathetische ist durchaus auch als Sprachstil eingeführt worden, bezogen indessen — im Horizont der Rhetorik und der von ihr geführten Poetik — auf den Leitgesichtspunkt des aptum. Demzufolge ist das Sprachliche in seiner Abhängigkeit von einer Vielzahl von Faktoren zu sehen, vom Sprechenden, den besprochenen Gegenständen, den Adressaten usw., natürlich auch von der Gattung, bei der es jedoch nicht nur um eine Hauptgattung wie das Drama gehen kann, sondern die Entscheidung für das Trauerspiel oder das Lustspiel (oder eine andere dramatische Untergattung) von ausschlaggebender Bedeutung ist. Vor allem aber sollte der Rückblick in bezug auf Fragen des Stils deren historische Hintergründe bewußt machen, damit nachher deutlicher wird, in welcher Weise Stileigenschaften von ehedem sich im Laufe des 18. Jahrhunderts zu selbständigen ästhetischen Qualitäten emanzipieren. E b d . 1 7 , 2 ; Übers, S. 7 1 . — Daß die Stilmittel nicht >an sich< und unabhängig von ihrer konkreten V e r w e n d u n g eine bestimmte W i r k u n g besitzen, ist ja auch oben schon, im Zusammenhang mit der Stillehre, festgestellt worden. 1,1

Staiger, S. 149 f.

" * E b d . S. 146. 153

E b d . S. 1 4 4 u . ö . — Daß es v o r allem um >das Dramatische< (als eine bestimmte Qualität) und nicht so sehr um das D r a m a (als Gattung) geht, spielt hier keine Rolle.

34

U m , daran anknüpfend, das Bisherige kurz zu rekapitulieren: die Begriffe des Pathetischen und vor allem des Erhabenen, wie wir sie heute verwenden, meinen ästhetische Qualitäten relativ unabhängig von bestimmten Gegenständen oder Kunstgattungen. In der antiken Poetik und Rhetorik dagegen bildet die Frage nach der Wirkung den Ausgangspunkt, und das >Pathos< ist dabei die (nach der Seite des Leidens hin akzentuierte) Leidenschaft. Die pathetische Wirkung setzt die Vorführung entsprechender Inhalte und die Wahl der gemäßen Mittel, einschließlich der sprachlichen, voraus; im Fall des Theaters werden leiderfüllte Situationen gezeigt, im Fall der Rede führt der Redner seine eigene Erregtheit vor, um den Funken auf die Zuhörer übersingen zu lassen. Als Wirkung konkretisiert das theatralische Pathos sich in eleos und phobos; die pathetischen Inhalte finden demgegenüber weniger Beachtung. Anders verhält es sich beim Erhabenen. Dessen Wirkung, von der auch hier ausgegangen wird, ist nicht so prägnant zu fassen: eine intensive Ergriffenheit, Begeisterung, Entzücken, Bewunderung. Dafür sind die Inhalte konkreter: das Göttliche, die Natur in ihren kosmischen Dimensionen, das Heroische und die große Gesinnung, insbesondere in der mit heldenhafter Selbstüberwindung errungenen Leidenschaftslosigkeit.

35

II. Überleitung: Gottscheds Rhetorik, die Affektenlehre der Frühaufklärung und Boileaus Lehre v o m Erhabenen

i.Johann Christoph Gottsched: >Ausführliche Redekunst< (1736) I Rhetorik und Philosophie Die kunstvoll ausgebildete Eloquenz trägt im 17. Jahrhundert den Titel »Wohlredenheitempirischen< und einer »rationalen Psychologie< unterscheidet. Beide (in den Ergebnissen kongruierenden) Disziplinen werden behandelt in den Kapiteln 3 und 5 der »Deutschen Metaphysik« und in den Einzelwerken »Psychologia empirica« (1732) und »Psychologia rationalis« (1734). Die entsprechende Zweiteilung findet sich bei Gottsched in den beiden Abschnitten der »Geisterlehre« in der »Weltweisheit Ischön< oder >häßlichgutböse< (oder >übelBewegungsgründeviel Gutes< oder >viel Böses< in einem enthält;20 und die Zuordnung zum Begehrungsvermögen bedeutet, daß die Affekte allemal sachbezogene voluntative Impulse sind. Der Begriff des Affekts, der sich (nach perturbatio und passio) als Entsprechung zum griechischen pathos durchgesetzt hat, erscheint auch bei Wolff und Gottsched noch als eine Art Sammeltitel: er bezeichnet das gesamte nicht-rationale Seelenleben (soweit nicht eindeutig das Erkenntnisvermögen betroffen ist).21 Das hat in der Vergangenheit sachliche Differenzierungen nicht ausgeschlossen. Ich erinnere an Quintilian, der den einen Begriff des Affekts als Äquivalent für pathos und ethos einsetzt, indem er zwischen >affectus concitati< und >affectusmites atque compositi< unterscheidet, und zwar hinsichtlich des Grades (heftig bzw. mild) wie hinsichtlich der Dauer der affektiven Erregung (zeitweilig-kurzfristig bzw. dauerhaft-stetig). 22 Man könnte auch an Descartes denken, der mit dem einen Begriff der >passion< auskommt und dennoch bei bestimmten Leidenschaften unterscheidet zwischen dem rein emotionalen Phänomen einerseits (das wir heute Gefühl nennen) und dessen Verbindung mit der Begierde andererseits, einer Verbindung, in der die Leidenschaft dann zum handlungssteuernden Willensimpuls wird. 23 Demgegenüber ist die rationale Vermögenspsychologie, wie Gottsched sie rezipiert und weitertradiert, an einer solchen Differenzierung gar nicht interessiert. Während Descartes die beiden Seiten der >passionrationalistisches< Konzept anknüpfen, sondern auch an die mancherlei >sensualistischen< Ansätze englischer ebenso wie französischer und italienischer Herkunft. Wenn — so lautet eines der vieldiskutierten Probleme —, wenn der Affekt (nach Wolff) als eine sinnliche Begierde jederzeit auf einen begehrten Gegenstand bezogen ist, wie verhält es sich dann mit dem von der Kunst erregten Affekt und dessen fiktivem Gegenstand? An diese Frage heftet sich eine ganze Anzahl von Überlegungen zur Nachahmung der Natur, zur Illusion, zur Unterscheidung zwischen unmittelbar empfundenem und nur mitempfundenem Affekt usw. Und in diesem Zusammenhang greift man auch auf Dubos zurück. Ihm zufolge erstreben Dichtung und Malerei vor allem emotionale Wirkungen und entsprechen damit einem ursprünglichen menschlichen Bedürfnis : L ' a m e a ses besoins comme le corps; & Tun des plus grands besoins de l'homme, est celui d'avoir l'esprit occupe. L'ennui qui suit bientot l'inaction de l'ame, est un mal si douloureux pour l'homme, qu'il entreprend souvent les travaux les plus penibles, afin de s'epargner la peine d'en etre tourmente.' 2

Leidenschaften können unangenhem sein; aber noch unangenehmer ist für das Gemüt der Zustand der Untätigkeit, der seelischen Leere. 33 Aufgenommen wird dieser Gedanke wie eine komplementäre Ergänzung zu Wolffs Lehre, und zwar zunächst bei den Schweizern, besonders in Breitingers >Critischer Dichtkunst; er spielt eine Rolle in Lessings, Mendelssohns und Nicolais Briefwechsel über das Trauerspiel sowie in Mendelssohns psychologischen Schriften und kehrt bei Klopstock ebenso wie schließlich, vermittelt über Sulzer, bei Schiller wieder.

Ji

Jean Baptiste D u b o s : Reflexions critiques sue la Poesie et sur la Peinture ( ' 1 7 7 0 ; zuerst 1 7 1 9 ) . Bd. I, S. 6. — Z u D u b o s vgl. B. Munteano: Constantes dialectiques en litterature et en histoire ( 1 9 6 7 ) , S. 2 9 7 — 3 7 4 ; Alberto Martino: Geschichte der dramatischen Theorien in Deutschland im 18. Jahrhundert I ( 1 9 7 2 ) , S. 45 — 84; zur Wirkung D u b o s ' in Deutschland ebd. S. 55—76.

33

» [ . . . ] les hommes en general souffrent encore plus ä vivre sans passions, que les passions ne les font souffrir«; ebd. I, S. 12.

42

Christian Thomasius Theoretische Aufklärung gipfelt in der Einwirkung auf die Lebensgestaltung. 34 Die Orientierung an der Lebenspraxis, um derentwillen Thomasius dem Wollen sogar einen Vorrang vor dem Denken einräumt,35 diese Orientierung ist bestimmend für die Thomasische Ethik, die dementsprechend nicht lediglich eine Tugendlehre, sondern zugleich eine praxisbezogene Verhaltenslehre auf empirischer Basis ist. Und in deren Zentrum steht Thomasius' Lehre von den vier Haupt-Affekten, die den Menschen allemal beherrschen bzw. beherrschen sollen. — Menschliches Streben zielt auf die »Glückseeligkeit«. 36 Die wahre Glückseligkeit — Thomasius schließt sich hierin ausdrücklich an die Alten an — besteht in der »Gemüths-Ruhe«, 37 die ihrerseits der »vernünfftigen Liebe« 38 entspringt. Diese Liebe — der einzige gute Affekt — ist gleichbedeutend mit der gottgewollten Vernunft-Natur des Menschen als eines sozialen Wesens; 39 sie ist die Quelle, aus der »alle wahre Tugenden« 40 hervorgehen. Der vernünftigen Liebe steht die unvernünftige gegenüber in Gestalt dreier böser Affekte, nämlich der drei (aus der Bibel übernommenen) »Haupt-Laster« der Wollust, des Ehrgeizes und des Geldgeizes. 41 — Angesichts dieser Ausgangssituation will Thomasius' Ethik — im Dienst »der vernünfftigen Kunst böse Affecten zu dämpfen« — eine »Artzney wider die unvernünfftige Liebe« liefern. 42 Vom Vertrauen auf die Souveränität der Vernunft wird die Erörterung in der Tat zunächst bestimmt. Thomasius gibt eine breit angelegte Beschreibung der vier Haupt-Leidenschaften (und der aus ihnen hervorgehenden Tugenden bzw. Untugenden), er untersucht die möglichen Kombinationen (unter der Voraussetzung, daß jeweils ein Laster dominiert) und behandelt die äußerlichen Kennzeichen der Laster. Dabei geht es um 34

Z u r V e r k n ü p f u n g von Erkenntnis und Ethik bei Thomasius, Lessing und Kant vgl. Peter Pütz: Die deutsche A u f k l ä r u n g (1978), S. 10—12. Z u Thomasius vgl. M a x Fleischmann: Christian Thomasius ( 1 9 3 1 ) ; Walther Bienert: D e r A n b r u c h der christlichen deutschen Neuzeit (1934); Wundt, S. 1 9 - 6 1 ; Hans M . W o l f f : Die Weltanschauung der deutschen A u f k l ä r u n g ( ' 1 9 6 3 ; zuerst 1949), S. 27—45; Ernst Bloch: Christian Thomasius ( 1 9 5 3 ) im Anhang zu Bloch: Naturrecht und menschliche Würde ('1980), S. 3 1 5 — 356; Werner Schneiders: V o r w o r t e zu den Nachdrucken der E i n l e i t u n g zur Sittenlehre< und der >Ausübung der SittenlehreRedekunst< und in der >Dichtkunst< sich auf Lamy beruft, vgl. die Register in Werke VII/4 und VI/4. — Zu Gottscheds Beziehung zu Lamy vgl. Wechsler, S. 72—74; Rudolf Behrens: Perspektiven für eine Lektüre des art de parier von Bernard Lamy (1980), S. 19—24.

passions ont un langage particulier. Les expressions qui sont les caracteres des passions sont appellees Figures«. 1 0 3 D a s soll in der T a t besagen, daß die Leidenschaften, ohne nach techne und ars zu fragen, sich ihre Sprache selber suchen: »les passions se peignent elles-memes dans le discours, & elles ont des caracteres qui se forment sans etude & sans art«; 10 ·· f ü r diese >caracteresSchwulst< vgl. insbesondere Schwind (oben S. 37 Anm. 8). — Vgl. auch Weniger, S. 41—48. Weniger übertreibt, wenn er bei Gottsched wie in der Aufklärung überhaupt immer wieder nur eine rein »negative Einstellung zum Erhabenen« (ebd. S. 46) wittert. Die Konsequenz dieses Ansatzes ist, daß schon Bodmer nicht mehr der Aufklärung angehört (ebd. S. 48). Gottsched trennt nicht terminologisch zwischen Eigenschaften und Arten des Stils; er spricht in beiderlei Hinsicht von Schreibarten« oder >Gattungen der Schreibart«. Vgl. Variantenverz. Werke VII/3, S. 1 9 9 ^ »Gelassen« ist offenbar die Übersetzung von >summissus«, das in den (in der 5. Auflage neu aufgenommenen) Cicero-Zitaten auftaucht, ebd. S. 406 Anm., 407 A n m . Ebd. S. 410. Ebd. S. 406.

53

von der hochtrabenden recht zu unterscheiden«" 2 (das >Niederträchtige< und das >Hochtrabende< sind zwei der vorher diskutierten zehn Fehler). — Schwierigkeiten bereitet Gottscheds Einteilung, weil sie partiell dennoch der traditionellen ähnelt. Die gelassene Schreibart, der Stil des täglichen Umgangs" 3 entspricht nämlich durchaus dem genus humile und wird denn auch durch ein Cicero-Zitat erläutert, das sich tatsächlich auf dieses genus subtile bezieht." 4 Ebenso ist die bewegende Schreibart, »auf griechisch die pathetische, auf lateinisch die affectuöse genannt«, als diejenige »Art des Ausdruckes, die den Leidenschaften eigen ist«," 5 ohne größere Bedenken auf das genus grande zurückzubeziehen; Cicero wird hier denn auch mit einem längeren Zitat zum genus vehemens als Zeuge angerufen." 6 Nicht leicht einzuordnen ist jedoch die sinnreiche Schreibart. Denn dieser Stil — alles andere als ein >mittlerer Stil< — hat es mit >schönen und nachdenklichen Einfällenvielen und unerwarteten Gedanken< zu tun und vor allem mit dem Erhabenen-, dementsprechend ist hier Pseudo-Longin mit einigen Exempeln der Gewährsmann. In sprachlicher Hinsicht ist diese sinnreiche Schreibart bemerkenswert unpräzis gefaßt. Sie besteht einerseits aus »auserlesenen Worten«, »aus den edelsten Begriffen, die man nur haben kann«, und aus den »kräftigsten Wörtern«; sie soll also im Hinblick auf ihren >erhabenen< Inhalt deutlich über das bescheidenere Vokabular und die schlichteren Gedanken der gelassenen Schreibart hinausgehoben sein. Da Gottsched aber auch die mögliche Nähe zum >Schwulst< scheut, soll dieser Stil andererseits »weder nachläßig noch gar zu künstlich verfahren«," 7 also sich wohl doch eher in der Mitte halten. Gottscheds zwiespältiger Versuch, dem »Sinnreichen, in so weit es erhaben ist«," 8 einen zwar angemessenen, aber nicht geradezu hohen Stil zuzuordnen, entspringt wohl nicht zuletzt einem anti-barocken Impuls. Das >Sinnreiche< ist nämlich ein Abkömmling der barocken >argutiaRedekunst< das Drama gestreift wird, das sich des erhabenen wie des pathetischen Stils zu bedienen hat; die »Poeten der Griechen«, so meint Gottsched, haben die trefflichsten Spuren der Beredsamkeit blicken lassen: wenn sie ihren Helden auf der Schaubühne die allerschönsten, beweglichsten und oftmals erhabensten Reden in den M u n d geleget h a b e n . " 5

4. Nachbemerkungen zur Stillehre. Boileaus Lehre vom Erhabenen und Corneilles >Horace< Daß Gottsched den mittleren Stil zum erhabenen macht, verdient festgehalten zu werden. Man muß jedoch hinzufügen, daß gerade der mittlere Stil seit der Spätantike höchst unterschiedlich gefaßt wird. Eine Rolle spielt dabei, daß die Lehre Werke V I I / 1 , S. "> E b d . S. 64.

4iof.

55

von den genera dicendi in drei verschiedenen Traditionen fortlebt.124 Die erste geht, anknüpfend an Cicero, von Augustinus aus. Sie orientiert sich am klassischen >elocutionellen< Stilbegriff, der den Stil von der elocutio, also von der Sprachgebung her begreift und der zwar auch die Wahl eines >angemessenen< Stoffs verlangt, dabei aber der sprachlichen Seite eine Art Eigenleben und einen eigenen ästhetischen Wert zuerkennt.12' — Daneben gibt es zwei andere Traditionen, die durch einen eher >materiellen< Stilbegriff gekennzeichnet sind. Es sind dies einerseits die Vergil-Tradition, die von den Vergilkommentaren und -viten ausgeht, und andererseits die horazisch-pseudociceronische Tradition, die die >Ars poetica< und die >Rhetorica ad Herennium< (in wechselseitiger Interpretation) zugrunde legt.' 26 Der (diesen beiden Richtungen gemeinsame) Stilbegriff geht von der Qualität des Stoffs, der materia, und das heißt von den res und den personae als den stilbestimmenden Elementen aus, mit deren Wahl bereits die Entscheidung für einen bestimmten Stil gefallen ist;127 den sprachlichen Aspekten kommt hier kaum mehr eine selbständig stil-konstituierende Bedeutung zu. Steht die rhetorische Wirkung im Vordergrund, dann wird der hohe Stil eher als pathetischer Stil gefaßt, der sich hinsichtlich der Kunstmittel zurückhält. Bilden Poesie und Poetik, also Vergil und Horaz, den Ausgangspunkt, dann wird der hohe Stil eher als ein erhabener Stil gesehen, der mit vollen Händen in die Schmuckkiste greift. Dieses Nebeneinander ist schon kompliziert genug. Hinzu kommen aber noch die Probleme des mittleren Stils, der einmal als eine Mischung aus den anderen beiden Stilen,128 ein andermal als selbständiger Stil (mit eigener res und eigenen personae) zwischen den beiden anderen gefaßt wird. 12 ' Zudem kann man ihn aufwerten, indem man ihn zurückbezieht auf den »allgemein philosophischen Begriff der mediocritas aurea aus Horaz, den goldenen Mittelweg [...] der Lebensführung«.130 Oder aber man läßt ihn auch einfach wegfallen (darauf komme ich im Zusammenhang mit Gottscheds >Critischer Dichtkunst zurück). Schon die Annahme einer Mischung aus den anderen beiden Stilen läuft ja auf die Gegenüberstellung zweier Stile hinaus, die je für sich bestehen und zusätzlich noch miteinander kombiniert werden können. Die Auffassung, daß in Wirklichkeit »nur zwei wesensverschiedene Stilarten existie114

Verwiesen sei nochmals auf die bereits genannte Darstellung von Quadlbauer: D i e antike Theorie der genera dicendi im lateinischen Mittelalter. Vgl. auch Weniger; C u r tius: Die Lehre von den drei Stilen; Fischer, S. 1 0 6 - 1 8 3 . V g l . Quadlbauer, S. 3 8 f . , 4 2 , 162, 269 u.ö.

116

>Pseudo-ciceronischRhetorica ad Herennium< Cicero zugeschrieben wurde. — Eine Zusammenfassung aller drei Traditionen bei Quadlbauer, S. 1 5 9 — 1 6 9 und 266—271.

Iz;

E b d . S. 36, 4 2 f . , 90, 104, 1 6 2 , 269 u . ö . — Eine Systematisierung dieses Konzepts stellt die >Rota Vergilii« dar, bei der ein Kreis in drei Stilsektoren zerlegt wird, in die, verteilt auf unterschiedliche Höhenlagen, Elemente aus verschiedenen Bereichen eingetragen sind (Berufe, mythische Figuren, Tiere usw.); vgl. Quadlbauer, S. 1 1 4 .

"8

Quadlbauer, S. 3 6 f . , I 4 6 f . , 149, 1 7 9 , 2 2 5 , 267.

" » E b d . S. 9 3 , 9 5 , 1 7 8 L , 1 8 1 . ' 5 ° E b d . S. 4 5 ; weiterhin ebd. S. 49, 51 f., 7 5 , I 4 7 f . , 1 6 6 f .

56

ren«, 13 ' liegt besonders dort nahe, wo die Stillehre (im Anschluß an die >Ars poetica«) mit der Gegenüberstellung von Tragödie und Komödie verbunden wird. Tragödie und Komödie werden hier nicht als dramatische Gattungen, sondern als Arten der Dichtung überhaupt gesehen, eben als erhabene und nichterhabene Dichtung und liefern die entsprechenden Stilmodelle: die Tragödie das für den erhabenen Stil, die Komödie das für den nicht erhabenen (der dann als niedriger oder mittlerer Stil bestimmt wird' 32 ). Gottsched stellt zwar einen erhabenen Stil neben den pathetischen, aber er denkt nicht daran, das Erhabene als eine selbständige Qualität vom erhabenen Stil abzulösen — im Unterschied zu Boileau, der ansonsten (in poetischen Dingen) für ihn unter den Neueren das gleiche Gewicht besitzt wie Horaz unter den Alten. Unter dem Titel >Traite du Sublime, ou du merveilleux dans le discours< veröffentlicht Boileau 1674 seine Übersetzung der Schrift »Vorn Erhabenem, 133 in deren Folge, wie schon erwähnt, Pseudo-Longin zu einer von den Anciens ebenso wie von den Modernes in Anspruch genommenen Autorität aufsteigt.' 34 In bezug auf das Erhabene legt Boileaus >Traite du Sublime< auch den Grundstein für die Emanzipation der ästhetischen Kategorie von der Stilqualität — eine Entwicklung, die bekanntlich auch das Schöne betrifft (als eine ehedem auf den mittleren Stil fixierte Qualität' 35 ). Das Erhabene, so führt Boileau im Vorwort aus, findet sich durchaus auch in solchen Passagen, qui bien que tres-sublimes, ne laissent pas d'estre simples et naturels, et qui saisissent plütost l'ame qu'ils n'eclatent aux y e u x . [ . . . ] II faut done s^avoir que par Sublime, L o n g i n n'entend pas ce que les O r a t e u r s appellent le Stile s u b l i m e : mais cet extraordinaire et ce merveilleux qui f r a p e dans le discours, et qui fait q u ' u n o u v r a g e enleve, ravit, transporte. L e Stile sublime veut toujours de grands m o t s ; mais le S u b l i m e se peut trouver dans une seule pensee, dans une seule figure, dans un seul tour de p a r o l e s . 1 , 6

Es gibt also auf der einen Seite den erhabenen Stil, der durch die Verwendung von »grands mots« charakterisiert ist und der seinem Gegenstand »rien d'extraordinaire ni de surprenant«' 37 abverlangt — eine Feststellung, die implizit bereits einer Abwertung gleichkommt. Und es gibt auf der anderen Seite den erhabenen Gehalt, der des erhabenen Stils nicht bedarf und seinen angemessenen E b d . S. 2 2 5 . 1,1

Z u den D i c h t u n g s a r t e n >Tragödie< und >Komödie< ebd. S. 1 5 0 , 1 5 3 f . , 1 7 7 . 133 Bereits v o r h e r ist die Schrift >Vom Erhabenen< (editio prineeps 1 5 5 4 ) ins Lateinische ( 1 5 7 2 , 1 6 1 2 ) u n d ins Englische ( 1 6 5 2 ) übersetzt w o r d e n . Z u den U b e r s e t z u n g e n und A u s g a b e n vgl. A l f r e d R o s e n b e r g : L o n g i n u s in E n g l a n d ( 1 9 1 7 ) , S. 1 — 1 9 ; Samuel H . M o n k : T h e S u b l i m e ( 1 9 3 5 ) , S. 1 8 — 2 0 ; B r o d y , S. 9 — 1 8 . ' 3 ' 1 V g l . M o n k , S. 25 f. Z u r P s e u d o - L o n g i n - R e z e p t i o n vgl. (neben der bereits oben und der in A n m . 1 3 3 genannten Literatur) auch K a r l B o r i n s k i : D i e A n t i k e in Poetik und K u n s t t h e o r i e I I ( 1 9 2 4 ) . S. 1 9 5 - 1 9 8 u. pass. (vgl. Register). I3i V g l . D o c k h o r n , S. 57, 64 u. pass. 136

B o i l e a u : Traite du Sublime. In B o i l e a u : Dissertation sur la J o c o n d e , A r r e s t B u r l e s q u e , T r a i t e du S u b l i m e (ed. B o u d h o r s ) , S. 45.

137

» U n e chose peut estre dans le stile Sublime, et n'estre pourtant pas Sublime, c'est-ä-dire n ' a v o i r rien d'extraordinaire ni de surprenant.« E b d . S. 45.

57

Ausdruck geradezu in einer schlichten und natürlichen Sprache findet (»simple et naturel« Ij8 ), in einer »simplicite«, 13 ' die, stiltheoretisch betrachtet, vorher dem genus humile zugehört. Auf diese >simplicite< ist im übrigen zurückzuverweisen, wenn hernach in Deutschland — bis zu Kant hin — die Einfalt als das eigentliche Kennzeichen des Erhabenen gilt. Z u r Bekräftigung zitiert Boileau das Genesis-Wort, das schon bei PseudoLongin selbst — »au milieu des tenebres du Paganisme« 140 — so auffällig wirkt: »Dieu dit: Q u e la lumiere se fasse; et la lumiere se fit.« U n d er resümiert: »II faut done entendre par Sublime dans Longin, l'Extraordinaire, le Surprenant, et commme je Tai traduit, le Merveilleux dans le discours.« 141 Was darunter nun inhaltlich konkret vorzustellen ist, bleibt freilich offen. Auch diese fehlende Konkretheit ist dafür verantwortlich, daß Boileaus Darlegung auf Widerspruch stößt, unter anderem bei dem Bischof Pierre-Daniel Huet. Boileau setzt sich damit in einigen >Reflexions critiques< auseinander, die 1 7 1 3 , posthum, erscheinen. 142 Huet, der in dem Genesis-Wort nichts Erhabenes entdecken kann (weil die Sprache denn doch zu alltäglich sei' 43 ), Huet also unterscheidet vier Arten des Erhabenen: »le Sublime des termes, le Sublime du tour de l'expression, le Sublime des pensees, et le Sublime des choses«. 144 Boileau sieht sich nun seinerseits zu einer Definition veranlaßt: Le Sublime est une certaine force de discours, propre ä eslever et ä ravir l'Ame, et qui provient ou de la grandeur de la pensee et de la noblesse du sentiment, ou de la magnificence des paroles, ou du tour harmonieux, vif et anime de l'expression; c'est-ädire d'une de ces choses regardees separement, ou ce qui fait le parfait Sublime, de ces trois choses jointes ensemble.'45 Daß die »magnificence des paroles« sich schlecht mit der »simplicite« verträgt, ist klar.' 46 Bemerkenswert ist auch, daß Boileau eine von Huets Arten des Erhabe" 8 Ebd. S. 45 und 48. Ebd. S. 48. Vgl. Brody, S. 90—92. — Die Aufwertung der >simplicite< besitzt eine (hier nicht weiter zu erörtende) Vorgeschichte. Man denke etwa an Scaliger, demzufolge die Tragödie (also eine traditionell hohe Gattung) sich neben der schmuckreichen auch der schlichten und kurzen Ausdrucksweise (»sententia simplex ac praecisa«) bedient; Julius Caesar Scaliger: Poetices libri Septem (1561), III 97. Nachdr. (ed. Buck), S. 145. Vgl. Jacques Morel: Rhetorique et tragedie au X V I F siecle (1968), S. 92. 140 Traite du Sublime, S. 46. ,4 ' Ebd. 142 Gemeint sind die »Reflexions X—XIIQuerelle< mit Charles Perrault. Vgl. Charles-H. Boudhors: Notice. In Boileau: Dialogues, Reflexions critiques, (Euvres diverses (ed. Boudhors), S. 252—258. Ich zitiere die »Reflexions critiques« nach dieser Ausgabe. 143 Vgl. die Huet-Zitate in den Anmerkungen von Boudhors, ebd. S. 316, sowie in den Anmerkungen zum »Traite du Sublime>, S. 161. 144 Zit. nach Reflexions critiques, S. 172. ,4 > Ebd. S. 184. 146 Boudhors, ebd. S. 312, spricht allgemein von Widersprüchen und will dabei offenlassen, ob Boileau sich dieser Widersprüche bewußt gewesen ist. J»

nen unterschlägt, nämlich >le Sublime des choses«, das später dann in Frankreich von Silvain und in Deutschland von Mendelssohn vertreten wird. Als neueren Autor, der über die erhabene >simplicite< verfüge, nennt Boileau Corneille. Dem >Art Poetique« zufolge ist >plaire et toucher< der Zweck der Tragödie' 47 — eine Formel, die von den Zeitgenossen, z.B. Rapin'48 und Racine,'49 ebenso verwendet wird wie hernach von Dubos' 50 und (der Kuriosität halber sei es vermerkt) von Friedrich II. von Preußen.'5' Das >toucher< konkretisiert sich näherhin zur Erregung von Schrecken und Mitleid; gemeint sind damit freilich domestiziert-gedämpfte Affekte: »une douce Terreur« und »une Pitie charmante«.''2 Mit Aristoteles hat das wenig zu tun; aber Boileau interessiert sich ohnehin eher für die Gesamtwirkung als für die Einzelaffekte: »Emouvoir, etonner, ravir«'53 und >echauffer et remuer le coeur«.1,4 Denkt man an das Erhabene, »qui [...] enleve, ravit, transporte«, dann liegen die Wirkungen dieses Erhabenen (als eines einzelnen ästhetischen Phänomens) und der Tragödie (als einer literarischen Gattung) offenkundig auf einer Linie. Ein Beispiel dafür ist eben Corneille, dessen Tragödie >Horace< (1640/41) von Boileau im Vorwort zum >Traite du Sublime< gepriesen wird. — Ich möchte darauf kurz eingehen, denn just mit dieser Tragödie (und nicht mit einem Stück eines deutschen Autors oder einem >Exempel der AltenDie Deutsche Schaubühne« (1740—1745). Überdies ist Corneilles Dramatik als Gegenstand der Kritik ein dankbares (oder eigentlich eher mißhandeltes) Objekt nicht nur in Lessings >Hamburgischer Dramaturgie«, sondern auch noch für Schiller, der, ein Jahrhundert nach Corneilles Tod (1684), offenkundig immer noch meint, seine eigenen dramentheoretischen Vorstellungen in der Auseinandersetzung mit Corneille (und Voltaire) profilieren zu müssen. Das ist natürlich zugleich ein Beleg für die Ausstrahlungskraft Corneilles, der denn auch — bei aller Kritik — wenigstens in Sachen des dramatischen Heroismus von Schiller wie von Goethe als die zuständige Autorität anerkannt wird,'" ohne daß da jedesmal gleich eine distanzierende Anmerkung nachfolgt. 147

148

1,1

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»Le secret est d'abord de plaire et de toucher«; L'Art Poetique. In Boileau: Epitres, Art Poetique, Lutrin (ed. Boudhors), III 25, S. 96. Vgl. Rene Rapin S. J . : Reflexions sur la Poetique (1674, '1675; ed. Dubois), Lexique s.v. Passion, Piaire, Toucher. Übrigens bezieht Gottsched sich wiederholt auf Rapin; vgl. die Register in Werke VI/4 und VII/4 sowie das Register zur >Critischen Dichtkunst« (ed. Horch). »La principale regle est de plaire et de toucher. Toutes les autres ne sont faites que pour parvenir ä cette premiere.« Preface zu >BereniceDe la Litterature allemande« (1780) verwirft Friedrich die Dramatik Shakespeares mit den Worten: »Comment ce melange bizarre de bassesse et de grandeur, de bouffonnerie et de tragique, peut-il toucher et plaire?« In: D L D 16 (ed. Geiger), S. 23. L ' A r t Poetique III 18f., S. 96. Epistre VII. Α Μ. Racine. In Boileau: Epitres (s. Anm. 147), S. 39. L'Art Poetique III 16, S. 96. Bei Schiller auch dies in einschränkender Formulierung: »[...] ich habe [bei Corneille] 59

Ich skizziere kurz die Handlung der Tragödie >Horaceeinfachen< (»simple«) — oder, wie es später in Deutschland heißt, den >einfältigen< — Stil des Erhabenen findet, sondern auch einen >natürlichen< (»naturel«) Ausdruck >aus tiefstem Herzen< (»du fond du cceur«) — ich zitiere im Zusammenhang: Voila de fort petites paroles. Cependant il n'y a personne qui ne sente la grandeur heroi'que qui est renfermee dans ce mot, Qu'il mourüt, qui est d'autant plus sublime, qu'il est simple et naturel, et que par lä on voit que c'est du fond du coeur que parle ce vieux Heros, et dans les transports d'une colere vraiment Romaine. [...] Ainsi c'est la simplicite mesme de ce mot qui en fait la grandeur.'"

Noch kurz zum Fortgang des Dramas. Der Kampfbericht, auf den der alte Horace in der geschilderten Weise reagiert, ist unvollständig gewesen; wie man

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noch nichts als das eigentlich Heroische glücklich behandelt gefunden, doch auch dieses, an sich nicht sehr reichhaltige, Ingrediens einförmig behandelt«, so im Brief an Goethe vom 31. 5. 1799. Mit weniger Vorbehalt meint Goethe 1827: »Von Corneille ging eine Wirkung aus, die fähig war, Heldenseelen zu bilden«; Eckermann: Gespräche mit Goethe (ed. Beutler), 1. 4. 1827, S. 616. - In >Ueber das Pathetische< verweist freilich auch Schiller (ohne weitere Reserven) im Zusammenhang mit dem >Erhabenen der Fassung< auf die »Antwort der Medea« ( Ν Α X X , S. 211). Gemeint ist damit Corneilles Medea, der die Frage gestellt wird, was ihr in einer durchweg feindlich gesonnenen Welt noch bleibe; sie antwortet: Ich. (Corneille: Medee I/j). Corneille: CEuvres completes (ed. Stegmann), S. 249 (das Zitat entstammt dem »Examens 1660). Ebd. S. 248. Ebd. S. 260 (III/5). Traite du Sublime, S. 48.

in der Folge erfährt, hat Horace nach dem Tod seiner Brüder sich nur scheinbar zur Flucht gewandt und dann allein alle drei Gegner erschlagen. Er hat Rom gerettet. Zwischen dem Zurückgekehrten und seiner Schwester Camille kommt es zum Streit, in dessen Folge Horace Camille ersticht. Er geht straffrei aus, weil er Rom gerettet hat und weil solche Staatsdiener wie er über den Gesetzen stehen — der König entscheidet: »De pareils serviteurs sont les forces des rois, / Et de pareils aussi sont au-dessus des lois.« l6 ° Es könnte nach dieser Skizze so erscheinen, als sei Horace einfach ein Wüterich. Corneille sucht indessen zu zeigen, daß es dieselbe >vertu farouche< ist, die Horace erst »un peril illustre« überstehen läßt, »oü il ne peut succomber que glorieusement«, um ihn dann in einen »peril infame« zu stürzen, »dont il ne peut sortir sans tache«.' 6 ' Die Forschungsliteratur hat denn auch genugsam auf die höchst komplexen politischen und moralischen Faktoren, die individuellen Bedingtheiten und die überindividuellen Horizonte hingewiesen, die für das Handeln des Horace von Bedeutung sind.162 Mir geht es hier freilich nicht um das Drama selbst, sondern um dessen Rezeption in Deutschland im Horizont der (auch an Boileau anknüpfenden) Auffassung vom Erhabenen. Und rezipiert wird diese Tragödie nicht um ihrer Komplexität willen, sondern als Verherrlichung des erhabenen Helden und als Beispiel für die erhabene Sprache. Beide Horace, Vater und Sohn, meint Gottsched, seien »so groß und edelmüthig abgeschildert, daß sie die Aufmerksamkeit der Zuschauer um die Wette auf sich ziehen«. 16 ' Auch der junge Lessing teilt diese Wertschätzung, wenngleich aus anderen Gründen. Er hält es mit der Kraft statt der Schönheit, er möchte lieber »einen lebendigen Herkules« als »einen lebendigen Adonis« schaffen und mit Bezug auf die überlieferten dramatischen Regeln »lieber die nicht zu regelmäßigen Horazier des Peter Corneille, als das regelmäßigste Stück seines Bruders, gemacht haben«.' 64 Unter veränderten Vorzeichen setzt Lessing freilich auch andere Akzente, so wenn er unter dem Blickwinkel der Empfindsamkeit den »Heroismus« als »Unempfindlichkeit« deutet und »alle unempfindliche Helden für schöne Ungeheuer« halten will.' 6 ' Vergleichsweise zählebiger als der Typus des erhabenen Helden ist der Eindruck, den Corneilles erhabener Sprachstil hinterläßt, nämlich die lakonische 160

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Corneille, S. 267 (V/3). Ebd. S. 248. Vgl. u.a. Serge D o u b r o v s k y : Corneille et la dialectique du heros. Paris 1963 (Bibliotheque des idees), S. 1 3 3 — 1 8 4 ; Jacques Maurens: La Tragedie sans tragique. Le neostoi'cisme dans l'oeuvre de Pierre Corneille. Paris 1966, S. 251 — 269; Andre Stegmann: LTferoi'sme cornelien. Genese et signification. Bd. II. Paris 1968, S. 286—288, 481 f. u. pass.; Wolfgang Mittag: Individuum und Staat im dramatischen Werk Pierre Corneilles. Münster, Phil. Diss. 1976, S. 195 — 220. Vorrede zu B d . I der >Deutschen Schaubühne< (1742), S. 10.

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Vorrede ( 1 7 5 6 ) zu >Des Herrn J a c o b Thomson sämtliche Trauerspielen In Lessing: Sämtliche Schriften (ed. Lachmann, Muncker). Bd. V I I , S. 68 f. (ich zitiere Lessing künftig nach dieser Ausgabe unter der Sigle >LMDie Horazier< ist der deutsche Titel von Corneilles >Horace Brief an Mendelssohn vom 28. 1 1 . 1 7 5 6 ; Briefwechsel über das Trauerspiel (ed. Schulte-Sasse), S. 64.

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Prägnanz des >Qu'il mourütMiß Sara Sampson< — seine eigene Bemühung um eine erhitzte pathetische Darstellung. 16 ' Insofern ist es bemerkenswert, wenn ein Lessing-Kritiker, wahrscheinlich Johann Jakob Dusch, sich auf das >Qu'il mourüt< bezieht und — vermeintlich mit Erfolg — nach entsprechenden Stellen in Lessings bürgerlichem Trauerspiel fahndet.' 70 Wenn da die Corneille-Kenntnis die Lessing-Lektüre steuert, dann macht das immerhin auf eine Gemeinsamkeit aufmerksam, nämlich auf den Lakonismus, nur daß der bei Lessing nicht mehr eigentlich einen erhabenen Gehalt transportiert, sondern sich zunehmend mit dem Sarkasmus verbindet. Die Umdeutung der erhabenen in eine gefühllose Standhaftigkeit — »Wo ist die alte Standhaftigkeit, mit der ich ein schönes Auge konnte weinen sehen?«, so Mellefont (in >Miß Sara SampsonEmilia GalottiNathanGedanken von der Tragödie^ abgedr. im A n h a n g z u m >Sterbenden CatoGedanken< bilden auch die Einleitung zum 1. Bd. der >Deutschen SchaubühneJARede über die Schauspiele< (1729) und >Critische Dichtkunst (1729)

Tragödie und Erbauung W a s ein Trauerspiel 1 ist, hat Gottsched unter anderem in einer >Rede über die Schauspiele^ erläutert, die (wie die >Critische Dichtkunst) 1 7 2 9 entstanden ist. D o r t heißt es: Ein Trauerspiel [...] ist ein lehrreiches moralisches Gedicht, darinn eine wichtige Handlung vornehmer Personen, auf der Schaubühne nachgeahmet und vorgestellet wird. Es ist eine allegorische Fabel, die eine Hauptlehre zur Absicht hat, und die stärksten Leidenschaften ihrer Zuhörer, als Verwunderung, Mitleiden und Schrecken, zu dem Ende erreget, damit sie dieselben in ihre gehörige Schranken bringen möge. Die Tragödie ist also ein Bild der Unglücksfälle, die den Großen dieser Welt begegnen, und von ihnen entweder heldenmüthig und standhaft ertragen, oder großmüthig überwun' Ich beschränke mich im folgenden, soweit es geht, auf Gottscheds Tragödien-Theorie. Zu deren Quellen vgl. Joachim Birke: Gottscheds Critische Dichtkunst: Voraussetzungen und Quellen (1964), S. 231 — 245. Gottscheds allgemeiner literaturtheoretischer Ansatz ist neuerdings mehrfach behandelt worden. Vgl. Hans-Peter Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft (1970); Hans Freier: Kritische Poetik (1973); Angelika Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch (1981); Peter Borjans-Heuser: Bürgerliche Produktivität und Dichtungstheorie (1981); Uwe Möller: Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie (1983). Die Darstellungen von Herrmann, Wetterer und Möller beziehen neben dem philosophischen auch den rhetorischen Hintergrund der Gottschedischen Theorie ein. Borjans-Heuser hebt die Einheit von naturwissenschaftlichem und philosophischem Ansatz als Basis des poetologischen Konzepts hervor. — Neben den entsprechenden Abschnitten bei Heinrich von Stein (Die Entstehung der neueren Ästhetik, 1886) und Friedrich Braitmaier (Geschichte der Poetischen Theorie und Kritik I, 1888) vgl. an älteren Darstellungen auch Johannes Crüger: Einleitung zu J . Chr. Gottsched und die Schweizer J . J . Bodmer und J . J . Breitinger (ed. Crüger, 1884); Fritz Brüggemann: Einführungen zu D L E . Reihe Aufklärung. Bde. II und III (1930, 1935); Bruno Markwardt: Geschichte der deutschen Poetik II (1956), S. 55—71 u. pass. 2

Der vollständige Titel lautet: »Die Schauspiele, und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen«. Erstmals erschienen ist die Rede in der Ausführlichen Redekunst^ Ich zitiere den Abdruck in Gottscheds >Gesammleten Reden< (1749) nach Werke IX/2 (ed. Scholl). Gehalten wurde die Rede 1729; vgl. die Anmerkung Eugen Reichels in Gottsched: Gesammelte Werke (ed. Reichel) VI, S. 323. — Weitere Definitionen (bzw. Teildefinitionen) finden sich in Gottscheds Zeitschrift >Der Biedermanns 85. und 95. St. (1728/1729) und in den Vorworten zu Gottscheds Dramensammlung >Die Deutsche Schaubühne< (1740—1745), besonders in den Bänden 3 bis 6.

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den werden. Sie ist eine Schule der Geduld und Weisheit, eine Vorbereitung zu Trübsalen, eine A u f m u n t e r u n g zur T u g e n d , eine Züchtigung der Laster. Die Tragödie belustiget, indem sie erschrecket und betrübet. Sie lehret und warnet in fremden Exempeln; sie erbauet, indem sie vergnüget, und schicket ihre Zuschauer allezeit klüger, vorsichtiger und standhafter nach Hause.

Das gilt, so fügt Gottsched hinzu, für die regelmäßigen und wohleingerichteten Tragödien, nicht dagegen für die verächtlichen Haupt- und Staatsaktionen. Denn diese sind keine Nachahmungen der Natur, da sie sich von der Wahrscheinlichkeit fast überall entfernen. Sie sind nicht in der Absicht verfertiget, daß der Zuschauer erbauet werde. Sie erregen keine große Leidenschaften, geschweige, denn, daß sie selbige in ihre Schranken bringen sollten. Sie sind nicht fähig, edle Empfindungen zu erwecken, oder die Gemüther der Zuschauer zu einer großmüthigen Verachtung des Unglückes zu erheben; sondern sie befördern vielmehr die Kleinmuth und Zaghaftigkeit, durch die Beyspiele ohnmächtiger und verächtlicher Helden.'

Ich schließe gleich die Trauerspiel-Definition aus der >Critischen Dichtkunst an. Die vollkommene griechische Tragödie konnte [ . . . ] gar w o h l ein Trauerspiel heißen: weil sie zu ihrer Absicht hatte, durch die Unglücksfälle der Großen, Traurigkeit, Schrecken, Mitleiden und Bewunderung bey den Zuschauern zu erwecken. Aristoteles beschreibt sie derowegen, als eine N a c h a h mung einer Handlung, dadurch sich eine vornehme Person harte und unvermuthete Unglücksfälle zuzieht. D e r Poet will also durch die Fabeln Wahrheiten lehren, und die Zuschauer, durch den Anblick solcher schweren Fälle der Großen dieser Welt, zu ihren eigenen Trübsalen vorbereiten. ( C D 606)4

Ich beginne mit der allgemeinen Zweckbestimmung. Die Tragödie »lehret« und »belustiget«, »sie erbauet, indem sie vergnüget«. Nicht Aristoteles, sondern Horaz steht hier natürlich Pate. Für die Tragödie (wie für alle Dichtung) gilt die Vorschrift des >prodesse< und des >delectaresimul et iucunda et idonea dicere vitaeErbauung< und setzt dementsprechend den Zweck der Dramatik in die »Erbauung und Belustigung der Zuschauer« ( C D 91). Der Begriff der Erbauung, der im 17. Jahrhundert im Protestantismus (noch vor dem Pietismus) an Bedeutung gewinnt,6 wird offenkundig hier bereits im säkularisierten Sinne verwendet; 7 er zielt, unter Einschluß des

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Werke I X / 2 , S. 494f. Ich zitiere die 4. A u f l a g e ( 1 7 5 1 ) der >Critischen D i c h t k u n s t (unter der Sigle C D ) . Vgl. H o r a z : A r s poetica v. 3 3 } f . ; Ubers. (Schäfer), S. 25. Vgl. H . - H . Krummacher: Erbauung (in: Hist. Wörterbuch der Philosophie 2, 1972).

Räsonnements über Welt und Menschen, auf die moralische Stabilisierung der Zuschauer. Die Tragödie »erbauet, indem sie vergnüget«. Ihr eigentliches Ziel ist also die Erbauung. Und das Vergnügen ist ein Begleiter oder eigentlich ein Diener der Erbauung: es dient als Mittel, die Zuschauer bei der Stange zu halten. Der emotionale Gehalt des Vergnügens (der Lust bzw. der Belustigung, der Ergötzung, der Unterhaltung usw.) steht außer Frage. Schließlich geht das Vergnügen ja — über das Horazische >iucunda dicere< — auf das rhetorische delectare zurück. Wenn Gottsched von der Erbauung (= docere bzw. prodesse) und der Belustigung (= delectare)8 spricht und (wie schon der Lehrmeister Horaz 9 ) das movere übergeht, dann vertritt also die Belustigung sämtliche emotionalen Wirkungen der Dichtung. Das wirft keine Probleme auf, solange nicht die spezifisch tragische Erregung der Leidenschaften zur Debatte steht. Denn da wäre nun eigentlich der Unterschied zu behandeln zwischen der Erregung der Lust (im allgemeinen) und der Erregung der tragischen Leidenschaften, die ja — im Anschluß an Aristoteles — mit einer (wie auch immer zu interpretierenden) therapeutischen Behandlung ebendieser Leidenschaften verbunden sein soll. Daß die Wölfische Seelenkunde die Leidenschaften als unterschiedliche Arten der Lust (bzw. der Unlust) faßt, ist oben festgestellt worden. Das besagt nun aber noch nichts für den funktionalen Zusammenhang zwischen delectare und movere, ethos und pathos in der Rhetorik und der Poetik. In der >Redekunst< erspart Gottsched sich eine Erörterung dieses Zusammenhangs, indem er das delectare unterschlägt. 10 Aber auch in der >Dichtkunsterbaulichen< Wirkung der antiken Tragödie auf deren Nähe zum Kultisch-Religiösen ( C D 606). Z u r Formel >belustigen und erbauen< vgl. C D 420 und 643 (hier in bezug auf die Komödie); zu den Begriffen >erbaulich< und >Erbauung< vgl. weiterhin C D 448, 544, 580, 608. Vgl. dazu George C . Fiske: Cicero's >De oratore< and Horace's >Ars poetica< (1929), s- 9 4 - 9 7 · Vgl. oben S. 50f.

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druck in der Klage (CD 20 Anm. 34; 191); sie ist in Gottscheds Augen durchaus zu den heftigen Affekten zu zählen" und wird allerdings als ein spezifisch tragischer Affekt nur hier genannt. — Das Mitleid ist der Zentralaffekt der abendländischen Tragödie schlechthin. Es basiert auf der Liebe und gilt vorzüglich dem unschuldig Leidenden (CD 165), zumal wenn dieser — nach Art des Märtyrers — auch noch »um einer guten Sache« willen leidet.12 Soweit das Mitleid dabei lediglich als >Liebe unter besonderen Umständen< gefaßt wird, fällt es im Grunde mit der allgemeinen Identifikation des Zuschauers mit einem Helden zusammen. Der Schrecken (bzw. die Furcht) ist bekanntlich das Pendant zum Mitleid. Zwar nennt Gottsched einmal »die Furcht, das Schrecken und Mitleiden« als die spezifisch »tragischen« Affekte nebeneinander (CD 650). Dennoch sind Schrekken und Furcht nur zwei verschiedene Erscheinungsweisen eines und desselben Affekts. Die >Weltweisheit< erläutert die Furcht als »ein Misvergnügen über ein vermeyntlich bevorstehendes Uebel«. Tritt dieses Mißvergnügen »plötzlich« auf, »so heißt es ein Schrecken«.'3 Die Furcht läßt sich beseitigen. »Das Schrecken aber, weil es ganz unverhofft kömmt, kann nicht zum Voraus gestöret werden: es wäre denn durch die tägliche Vorstellung möglicher Unglücksfälle«.14 D.h. durch ein vorbeugendes psychisches Training, wie es — nicht zuletzt — die Tragödie liefert (davon unten). Gilt das Mitleid dem Leidenden, so bezieht der Schrecken1' sich auf »das Abscheuliche und Schreckliche« (CD 163). Am Beispiel des Sophokleischen >OedipusOedipusUnverhoffte< jedenfalls (»die unverhoffte Entdeckung«) kennzeichnet den Schrecken als eine unvermittelte und heftige Form der Furcht. Nur, worauf bezieht sich diese Furcht eigentlich? Offenkundig fürchtet der Zuschauer nicht für oder mit Oedipus, er fürchtet sich vor Oedipus, vor dessen »abscheulichen " Vgl. Weltweisheit I, § 964; II, § 517; Ausführliche Redekunst, Werke V I I / i , S. 237. Zu den tragischen Leidenschaften überhaupt vgl. Martino, S. 186—273. 12 Die Ausführliche Redekunst hebt die Liebe zum Leidenden hervor und dessen Unschuld. Besonders heftig ist das Mitleid, wenn »der Nothleidende um einer guten Sache, um der Religion, um der Liebe zur Wahrheit und Tugend halber leideft]« (Werke V I I / i , S. 234). Und das tut nun einmal der Märtyrer. — Vgl. auch Weltweisheit I, § 966; II, § 520. IJ Weltweisheit I, § 970. 14 Ebd. II, § 523. 15 Von der zitierten einen Stelle abgesehen, spricht die >Critische Dichtkunst nur vom Schrecken. Die Ausführliche Redekunst* konzentriert sich auf die Furcht (Werke VII/ i, S. 239—241). Die >Weltweisheit< bezieht sich gleichermaßen auf Furcht und Schrekken. — Zu den terminologischen Schwankungen vgl. Martino. S. 239—241. 66

Thaten« ( C D 606) und dessen »unerhörten Lasterfn]« ( C D 612). Bildet Oedipus den Gegenstand des Mitleids und des Schreckens, dann vereinigt er in seiner Person zwei einander entgegengesetzte Seiten. In der (französischen und deutschen) Dramatik des 17. Jahrhunderts verkörpern sich diese beiden Seiten gemeinhin in zwei verschiedenen Figuren: im rabiaten Gewalttäter einerseits und im leidenden Opfer andererseits. Auch die Bewunderung,

die das Sophokleische Drame überdies hervorrufen

soll, besitzt wiederum ein Objekt für sich: man »bewundert [...] die göttliche Rache, die gar kein Laster ungestraft läßt« ( C D 608), oder — in anderer Formulierung — »man erstaunet über die strenge Gerechtigkeit der Götter« ( C D 612). Offenkundig mag Gottsched keinesfalls auf die Bewunderung als tragischen Affekt verzichten. Kommerell zufolge, so möchte ich hier einfügen, kommt die Bewunderung aus der dichterischen Praxis. Selbst in der Theorie Corneilles spielt sie nicht die Rolle, die ihr in Wahrheit als dem tragischen Affekt durch die Tragödie Corneilles zugewiesen wird. Und indem diese Tragödie ganz ebenso stark zum Verwundern wie zum bewundern führt [...], so lernt man daraus, daß [...] durch die Natur der beiden [...] Affekte selbst eine Auswechselung naheliegt.'' Vorher, in der Poetik der Renaissance und des beginnenden 17. Jahrhunderts, gehe es durchweg um die Verwunderung; Kommerell verweist auf Antonio Sebastiano Minturno und betont, daß Minturno niemals bei dem Wort admiratio an die Bewunderung ungemeiner sittlicher Qualitäten, sondern immer an die Verwunderung über ungeheure Zufälle und Wechselfälle, seltsame Fügungen usw. gedacht hat [...].' 7 Gottsched schließlich habe die Bewunderung entbarockisiert [...], indem er das sich Verwundern [...] in ihr getilgt hat und ein vernünftiges Gefühl übrig ließ: Bewunderung, als die spezifische tragische Lust, ist die vergnügliche Anschauung bemerkenswerter moralischer Vorzüge. Das gilt freilich nur im großen, und nach unserem Wortgebrauch! Auch die Verwunderung fristet noch ein dürftiges Dasein als »Erstaunen«, sich mehr auf das Ereignis als auf den Mann beziehend.'8 Das ist noch etwas genauer zu fassen. 1 ' Da weder die >Weltweisheit< — trotz Descartes 20 — noch die Ausführliche Redekunst· sich mit der Bewunderung ' 6 Kommereil: Lessing und Aristoteles, S. 277f. — Zur Bewunderung allgemein vgl. Martino, S. 242—273. 17 Kommereil, S. 280. Vgl. auch Hans-Jürgen Schings: Consolatio Tragoediae (1971), S. 7f., 8 Anm. 28. ,s Kommerell, S. 278. Neben Bewunderung und Verwunderung (sowie dem Erstaunen) gehört eigentlich auch die Überraschung hierher. Im Grimmschen Wörterbuch wird (s.v. >VerwunderungCritische Dichtkunst< selbst halten. D o r t ist das >Wunderbare< 2! der Gegenstand sowohl der Bewunderung als auch der V e r w u n d e r u n g . In der Regel »bewundert man nichts Gemeines und Alltägliches, sondern lauter neue, seltsame und vortreffliche Sachen« ( C D 170). G o t t sched, so zeigen diese W o r t e , trennt nicht eindeutig zwischen den >neuen und seltsamen SachenWeltweisheit< eben auch in diesem Punkt dem Lehrer Wolff. 21 22

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Vgl. Karl-Heinz Stahl: Das Wunderbare (1975), zu Gottsched bes. S. 80—122. Im Zusammenhang mit den Haupt- und Staatsaktionen äußert Gottsched sich in den >Vernünfftigen Tadlerinnen< (1. Tl. 17. St., 1725) ausgesprochen kritisch über die fürstlichen Dramenfiguren. In der zweiten Auflage der Zeitschrift (1738) schränkt er die Kritik zugunsten des regelmäßigen Trauerspiels ein. — Vgl. Ekkehard Gühne: Gottscheds Literaturkritik in den >Vernünfftigen Tadlerinnen< (1978), S. 129 und ebd. Anm. 76. — Vgl. auch Reichel: Gottsched I, S. 501 f.; Richard Daunicht: Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels ( 2 1965), S. 106; Peter Weber: Das Menschenbild des bürgerlichen Trauerspiels (1970), S. 93; Peter Michelsen: Z u r Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels (1981), S. 85.

D e n n das W u n d e r b a r e soll — im Sinne der Rhetorik 2 3 — den L e s e r und Zuschauer »einnehmen und gleichsam bezaubern« ( C D 170). U n d die extremen G r a d e nicht nur der T u g e n d , sondern auch des Lasters machen mehr »Eindruck« ( C D 188) als das M i t t e l m ä ß i g - G e w o h n t e . Wenn das >große< Laster wunderbar ist und das Wunderbare >anzieht, einnimmt und gleichsam bezauberterhabenen V e r b r e c h e n ausgeht — eine klare Trennungslinie zwischen der Ästhetik und der M o r a l zieht. N i c h t z w a r in der >Critischen D i c h t k u n s t (auf die K o m m e r e i l sich bezieht), w o h l aber in einer seiner Reden 2 4 hat Gottsched die v e r n ü n f t i g e Bewunderung< v o n der >unvernünftigen< getrennt und damit nun doch einer Unterscheidung zwischen B e w u n d e r u n g und V e r w u n d e r u n g vorgearbeitet. »Neues«, »Unerhörtes«, »Unvermuthetes« ruft »Erstaunen« hervor und rüttelt so »die schläfrigen G e m ü t h e r der Menschen« wach. 2 S Das (noch nicht weiter qualifizierte) U n e r wartete kann nun aber ebensowohl »Hochachtung« wie »Schauer«, »Grausen« und »Furcht« wecken. 2 6 Wirkliche Hochachtung begnügt sich also nicht mit der Seltenheit eines Gegenstandes, sie verlangt »Seltenheit und Vollkommenheit«. 2 7 E s gilt daher, zwischen »einer klugen und [einer] thörichten B e w u n d e r u n g « zu unterscheiden. 2 8 J e n e , die »vernünftige, erleuchtete und mäßige [ = angemessen dosierte] B e w u n d e r u n g « , 2 9 verlangt »was vollkommenes und vortreffliches«' 0 und ist Sache der »gescheidesten K ö p f e « ; 3 ' diese, die törichte B e w u n d e r u n g , findet sich bei den »Unverständigen« und gilt nur dem Außerordentlichen überhaupt.

D e r Z w e c k der A f f e k t e r r e g u n g So weit die tragischen A f f e k t e im einzelnen. Weshalb aber sollen sie überhaupt erregt w e r d e n , oder, anders formuliert, w o z u dient das Pathetische? B e v o r ich darauf eingehe, eine kleine V o r b e m e r k u n g (im Anschluß an die oben gegebenen H i n w e i s e zur A f f e k t e n l e h r e der frühen A u f k l ä r u n g ) . Gottsched hat ein reichlich

2J 24

25 26 28 50

Vgl. Lausberg, § 270 (Stichwort >mirariGesammleten Reden< (1749) nach Werke IX/2. Werke IX/2, S. 536. 27 Ebd. S. 5 J 7 f . Ebd. S. 538. 2 Ebd. S. 539. » Ebd. S. 540. Ebd. S. 537. " Ebd. S. 540. 69

ambivalentes Verhältnis zu den Affekten. Er steht sicherlich nicht auf dem Standpunkt des Thomasius, der — zumindest zeitweise — in den Affekten schlichtweg Laster sieht und darum die Gemütsruhe als höchsten Wert ansetzt. Vielmehr ist Gottsched davon überzeugt, daß die Affekte zum menschlichen Leben hinzugehören und daß es darum nicht nur nicht möglich ist, sie auszurotten, sondern auch nicht sinnvoll, sie ausrotten zu wollen. 32 Man könnte sich sogar an Dubos erinnert fühlen, wenn Gottsched meint: »[···] die menschlichen Affecten [wollen] ohne Unterlaß gerühret seyn: denn eine angenehme Unruhe ist besser, als eine gar zu einträchtige Stille, worinnen nichts veränderliches vorkömmt [in der also alle Seelentätigkeit stagniert]« ( C D 497). 33 In diesem Sinne jedenfalls läßt Gottsched sich bei Gelegenheit ganz ungezwungen mit den Affekten ein, zumal dann, wenn deren Rolle durch eine alte Tradition abgesegnet ist wie im Fall der Rhetorik und der Poetik. Allerdings, so ganz verzichtet er nun doch nicht auf alle Vorbehalte. Denn er ist eben auch der Moralphilosoph, dem »die Gewalt der sinnlichen Begierden und Leidenschaften« 34 Furcht einjagt. Und für den Moralphilosophen sind die Affekte nun einmal Störfaktoren, die den Menschen bei der Vervollkommnung seiner Tugend und so auch auf dem Weg zur Glückseligkeit behindern — und zwar alle Affekte, auch solche wie Mitleid, Dankbarkeit und Hoffnung, 3 5 weil sie — als Affekte — auf verworrenen Vorstellungen beruhen und daher entweder gedämpft oder zu vernünftigen Begierden geläutert werden müssen. 3i Geht es gar noch (wie im Falle des Trauerspiels) um »große Leidenschaften«, ja um »die stärksten Leidenschaften« überhaupt (so die >Rede über die SchauspieleCritischen Dichtkunst) gleich beteuert, die Leidenschaften würden »auf eine der Tugend gemäße Weise« erregt ( C D 612). Hinzufügen möchte ich, daß Gottsched angesichts dieser ambivalenten Einstellung zu den Affekten immerhin auch nicht rundweg mit dem Stoizismus in Verbindung gebracht werden kann, wenngleich der Rückblick von der warmherzigeren (eben auf das Mitleid fixierten) Dramenp

A f f e k t e basieren auf sinnlichen Empfindungen, »die w i r Zeit Lebens nicht los werden,

"

Wohlgemerkt, die Anklänge an D u b o s sind bemerkenswert. W i e Stahl, S. 98, erläutert,

die w i r auch nicht entbehren können«; Weltweisheit II, § 5 1 0 . Vgl. oben S. 32. bezieht Gottsched sich tatsächlich aber auf Rene le Bossu (Traite du poeme dramatique, 1 6 7 5 ) . -

Z u r (unausdrücklichen) Polemik Gottscheds gegen die (>sensualistisch-

subjektivistische«) Position D u b o s ' vgl. Baeumler, S. 6 6 f . ; Peter Michelsen: Die E r r e gung des Mitleids durch die Tragödie (1966), S. 5 5 3 ; Wölfel: Moralische Anstalt, S. 4 9 — 5 6 . — Z u D u b o s vgl. oben S. 42. "

Weltweisheit II, § 4 4 1 .

»

V g l . ebd. §§ $20, 522, 5 2 3 .

' 6 V g l . oben S. 4 1 . — Gottsched vertritt damit natürlich nicht einen nur individuellen Standpunkt. Z u m weiteren H o r i z o n t vgl. die >SozialdisziplinierungEntwurf zu einer Theorie der Zivilisation«, B d . 2, S. 3 1 2 — 4 3 4 .



theorie Lessings her dazu verführen mag. 37 Zweifellos hat Gottsched (wie später auch Kant) ein gewisses Faible für die stoische Morallehre (sein Cato ist dafür ein sprechendes Beispiel), zumal diese Lehre mit der christlichen (unter dem gemeinsamen Dach der >natürlichen ReligionCritischen Dichtkunst« heißt es (in bezug auf die antike Tragödie und Komödie): durch »die Erregung der Affecten [...] suchet man die Leidenschaften der Zuschauer zu reinigen« ( C D 91). Die >Rede über die Schauspiele« präzisiert: die Tragödie erregt »Verwunderung, Mitleiden und Schrecken [...], damit sie dieselbe in ihre gehörige Schranken bringen möge«. Diese Deutung — Reinigung im Sinne des genitivus obiectivus und bezogen nur auf die erregten Affekte — kann sich auf die Aristotelische Auffassung vom erwünschten Mittelmaß der Affekte berufen und in der entsprechenden E i n schränkung« der Affekte auf ihr >gehöriges< Maß ein moralisches Ziel sehen;3® sie wird in der Poetik der Renaissance von Robortello, dann im Ubergang zum Barock von Heinsius vertreten und hernach von Lessing wiederaufgenommen, 39 und sie kehrt schließlich beim jungen Schiller wieder. 40 Gottsched geht zwar pflichtgemäß, aber doch recht beiläufig auf die Katharsis ein, weil für seine Vorstellungen von der tragischen Affekterregung die andere Tradition der Rhetorik von weitaus größerer Bedeutung ist. Wie der Redner so bedient auch der Poet sich der Affekte, nur eben zum Zweck nicht der Überredung, sondern der Belehrung und Erziehung. Affekte — das haben die Hinweise zu Wolff und Thomasius gezeigt 4 ' — enthalten moralische Implikationen; als Formen der Begierde und des Abscheus schließen sie ein Urteil darüber ein, ob 37

Und das ganz unabhängig vom jeweiligen literaturtheoretischen Standpunkt; vgl. Lothar Pikulik: »Bürgerliches Trauerspiel« und Empfindsamkeit (1966), S. 1 3 2 — 1 3 6 ; Weber, S. 89, 127, 128, 129 u.ö.; Rolf Grimminger: Einleitung zu Grimminger (Hrsg.): Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution (1980), S. 44. 38 In diesem Sinne wird bei anderen Autoren vielfach statt von der >Reinigung< gleich von der Verbesserung der Leidenschaften« gesprochen, z.B. in Friedrich Nicolais A b handlung vom Trauerspiele«, aber auch schon im Umkreis Gottscheds; vgl. Critische Beyträge, 14. St. (1736), S. 293. " Vgl. Kommerell, S. 268, 272—274; Schings: Consolatio Tragoediae, S. 11 —13. 40 Bei der Reinigung wird gemeinhin (so auch bei Gottsched) nur an eine Dämpfung der zu starken Affekte gedacht. Die Reinigung muß aber nach Lessing eine entsprechende zweite Seite haben: die Steigerung der zu schwachen Affekte; vgl. Kommerell, S. 267. — Auf diese beiden Seiten bezieht Schiller sich in seinem »Schaubühnen-Aufsatz«: im Theater weint der »Unglückliche [...] mit fremdem Kummer seinen eigenen aus —, der Glückliche wird nüchtern, und der Sichere besorgt. Der empfindsame Weichling härtet sich zum Manne, der rohe Unmensch fängt hier zum erstenmal zu empfinden an.« N A X X , S. 100. Vgl. oben S. 41 f.

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ein Gegenstand als begehrenswert oder verabscheuungswürdig erscheint. Darum können sie in den Dienst moralischer Modelle und Lehren treten: Mitleid und Bewunderung gelten der leidenden oder heldenhaften Tugend, der Schrecken bezieht sich auf das »Abscheuliche und Schreckliche« der dargestellten Laster ( C D 163). Diese Funktion der pathetischen Affekterregung läuft auf die Erbauung hinaus. Vielleicht darum stellt Gottsched sich nicht die Frage, wie die A f f e k te zugleich gereinigt und in Dienst genommen werden können. Beides muß sich freilich nicht widersprechen (weil ja die Reinigung nicht auf die stoische Apathie zielt). Deutet man die »in ihre gehörige Schranken« gebrachten A f f e k t e als die subjektiv zuträglichen und objektiv angemessenen, dann können solche A f f e k t e natürlich desto eher »auf eine der Tugend gemäße Weise« ihre moralischen Aufgaben erfüllen. Indem Gottsched das Katharsis-Konzept an den Rand rückt, 42 verschafft er sich einige Freiheiten. E r kann so, ohne sich auf Detail-Begründungen einzulassen, den tragischen U r - A f f e k t e n Mitleid und Schrecken die Bewunderung einfach an die Seite stellen und mit (je nach Zusammenhang) variierten A f f e k t k o m binationen operieren. 43 E r kann den Kreis der zu erregenden A f f e k t e ausdehnen auf »edle Empfindungen« überhaupt (so in der >Rede über die SchauspieleTragischzur Tragödie gehörigRäuber< ein >AvertissementOedipusUnglücksfällen< der Großen und Vornehmen aus. Zugrunde liegen dabei jedoch zwei verschiedene Tragödien-Typen. In der >Critischen Dichtkünste spricht er von »einer Handlung, dadurch sich eine vornehme Person harte und unvermuthete Unglücksfälle zuzieht«. Gottsched denkt dabei sicherlich an »das klägliche Ende«, das Oedipus »um seiner abscheulichen Thaten halber« gefunden hat ( C D 606). Das Unglück bildet hier also den Endpunkt in einem dramenbestimmenden Schuld-Sühne-Zusammenhang. Und die Zuschauer? Sie sollen »durch den Anblick solcher schweren Fälle [...] zu ihren eigenen Trübsalen« vorbereitet werden. Unversehens rutscht die Argumentation damit in eine ganz andere Bahn: an die Stelle von Schuld und Sühne treten Prüfung und Bewährung. Denn die Vorbereitung zu den eigenen Trübsalen bedeutet ja, daß den Zuschauern diejenige Gefaßtheit vermittelt wird, die es ihnen erlaubt, im eigenen Unglück standzuhalten. Das Unglück ist da nicht mehr der moralisch notwendige Endpunkt einer Verstrickung in Schuld, sondern der Ausgangspunkt einer Bewährungsprobe. Und ebendas entspricht jenem anderen Tragödientypus, auf den Gottsched sich in der >Rede über die Schauspiele< bezieht: hier geht es um die »Unglücksfälle, die den Großen dieser Welt begegnen,

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W o h l g e m e r k t : die moralische E r z i e h u n g (als eigentliches Ziel) und die A f f e k t e r r e g u n g (als Mittel) fallen (praktisch) z u s a m m e n , o b w o h l sie (theoretisch) z w e i verschiedene D i n g e bleiben. Bei Lessing w i r d dann beides auch theoretisch in eins g e z o g e n .

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und von ihnen entweder heldenmüthig und standhaft ertragen, oder großmüthig überwunden werden«. Diese Großen, so ist zu unterstellen, haben sich — anders als Oedipus — ihr Unglück nicht selbst zugezogen, sie sind unschuldig. Als schuldlose Opfer stellen sie >HeldenmutStandhaftigkeit< und >Großmut< unter Beweis, und das heißt: sie sind erhaben. Sie erheben sich »zu einer großmüthigen Verachtung des Unglückes«, und ihr Vorbild ist fähig, »die Gemüther der Zuschauer« zu ebenderselben Haltung »zu erheben« (so immer noch die >Rede über die Schauspiele«). Standhaftigkeit und Großmut, constantia und magnanimitas, sind im barocken Trauerspiel die zentralen Tugenden.49 Gottscheds Vorstellungen vom Trauerspiel knüpfen offensichtlich an das Barock an. Das gilt nicht nur für den Inhalt: die Standhaftigkeit und Großmut des exemplarischen Helden,50 insbesondere des Märtyrers; es gilt auch für die Wirkung der Tragödie, die (in beiden Tragödien-Definitionen erwähnte) Vorbereitung des Zuschauers auf seine eigenen Trübsale. Diese Wirkung, die natürlich wesentlich mehr vom Schrecken lebt als vom Mitleid, bildet den Kern der tragischen Erbauung. Nicht die griechische Tragödie, sondern der von Gottsched favorisierte Typus des Trauerspiels ist in der Lage, durch die »Bewunderung und durch das Schrecken zu erbauen« (CD 190). Die Unglücksfälle lösen Schrecken aus, die Standhaftigkeit ruft Bewunderung hervor; und das Mitleid wird nicht eigens erwähnt, weil es als ein begleitender Affekt nur die Identifikation des Zuschauers mit dem Helden fördert und mit der eigentlichen, eben der auf Bewunderung und Schrecken basierenden Wirkung des Trauerspiels wenig zu tun hat. — Der Gedanke der Vorbereitung des Zuschauers auf seine eigenen Trübsale geht nun freilich nicht nur auf das Barock zurück,' 1 er lebt andererseits auch noch bis zu Schiller hin fort. Die Schaubühne, meint der junge Schiller, führt uns Schicksale vor »und lehrt uns die große Kunst, sie zu ertragen«, so daß »unausbleibliche Verhängnisse uns nicht ganz ohne Fassung finden«. An diesem Gedanken hält Schiller auch später fest, wenn er, Mitte der 90er Jahre, vom Pathetischen als einer »Inokulation des unvermeidlichen Schicksals« spricht.52 Wie Gottscheds Begriff der Trübsale an4

' Schings: C o n s o l a t i o , S. 20.

5

° E s gibt (nicht nur in diesem Punkt) auffällige Entsprechungen zu G e o r g Philipp H a r s dörffers >Poetischem Trichter«: » D e r H e l d [ . . . ] sol ein E x e m p e l seyn aller v o l l k o m m e nen T u g e n d e n / und v o n der U n t r e u e seiner Freunde und Feinde betrübet w e r d e n ; jedoch dergestalt / daß er sich in allen Begebenheiten grossmüthig erweise und den Schmertzen [ . . . ] mit Tapferkeit überwinde««; Poetischer Trichter, II. Tl., 1 1 . Stunde, A b s c h n . 1 3 . — Z u den Spuren des Barock in der >Critischen Dichtkunst« vgl. auch den G o t t s c h e d - A b s c h n i t t bei D a v i d E . R . G e o r g e : Deutsche Tragödientheorien ( 1 9 7 2 ) . V g l . dazu K o m m e r e i l , S. 2 7 2 — 2 7 4 u . ö . ; Schings: Consolatio, S. I 2 f . , 19, 21 u . ö .

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Letzteres in >Ueber das Erhabene«, ersteres im >Schaubühnen-Aufsatz«. D i e Unheilserw a r t u n g zieht sich, teils stoisch, teils christlich gefärbt, quer durch das 18. Jahrhundert hindurch. E i n Z e u g e dafür ist auch Geliert, der in seinen >Moralischen Vorlesungen« seine Z u h ö r e r mahnt: » N i c h t s von den Freuden der äußern U m s t ä n d e ist ganz unser. N i c h t s v o n den U e b e l n des Lebens ist ganz fern, oder auf immer fern v o n uns. [ . . . ] L e r n e n Sie an den kleinen Widerwärtigkeiten, die Ihnen in der J u g e n d begegnen, die größern ertragen, die Ihnen vielleicht, ja ich mag sagen, gewiß, bevorstehen«. Sämmtl.

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deutet, soll der Zuschauer sich nicht seinerseits auf die spektakulären Unglücksfälle der Großen und Vornehmen vorbereiten. Denn die Erinnerung an die allgemeine Menschennatur stellt zwar (in der >Rede über die SchauspieleMitfurcht< sprechen müßte. 6 ' Vorausgesetzt ist bei alledem zweierlei, daß nämlich der Zuschauer sich mit dem Dramenhelden identifiziert und daß beide psychisch ähnlich disponiert sind. Entfällt die erstere Voraussetzung (wie z . B . im Fall der Komödie 6 2 ), dann 58

Poetik, K a p . 1 1 . Vgl. oben S. 4. V g l . H o r a z : A r s poetica, v. 1 0 1 —103; Ubers. (Schäfer), S. 1 1 . 60 Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 78. St. 6 ' Kommerell, S. 96. — Mitleid und (Mit-)Furcht gehören freilich dennoch zu den dargestellten A f f e k t e n , soweit sie von den mitspielenden Dramenfiguren empfunden und zum A u s d r u c k gebracht werden. In bezug auf den leidenden Helden sind die Mitspieler eben selbst Zuschauer. U n d die Darstellung ihrer affektiven Reaktionen ist f ü r den Dramatiker ein willkommenes Mittel, die A f f e k t e des Theaterpublikums zu steuern. 62 Die K o m ö d i e stellt z w a r A f f e k t e dar (ζ. B. Z o r n , Liebe, Stolz), aber sie ist nicht auf die Affekterregung hin eingerichtet. Verboten ist ihr allerdings nur die Erregung tragischer 59

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können zwar A f f e k t e dargestellt sein, ohne daß das aber eine pathetische Wirkung erzielt. Identifiziert der Zuschauer sich tatsächlich mit einem Helden, dann kann dieser — und das betrifft die zweite Voraussetzung — dennoch anders reagieren, als der Zuschauer selbst es in der gleichen Lage tun würde. Diese Diskrepanz ist nötig, wenn die Bewunderung erregt werden soll. Die Unglücksfälle sind zwar auf die Erregung von Mitleid und Schrecken hin angelegt; wenn aber die vermittelnde Dramenfigur überraschenderweise nicht selbst leidet und Furcht empfindet, sondern ihr Unglück >heldenmüthig und standhaft erträgt oder es großmüthig überwindet< (so die >Rede über die Schauspiele*), dann verwandelt sich die emotionale Reaktion des Zuschauers in Bewunderung. Diese Bewunderung ist nun freilich im Rahmen der pathetischen Wirkung ein Grenzfall. Z w a r mag sie — wenigstens in der gesteigerten F o r m der hingerissenen Begeisterung — die Intensität aufweisen, die ein tragischer A f f e k t besitzen soll. A b e r sie ist hier der einzige »angenehme« A f f e k t 6 ' und besitzt nicht denselben Gegenstand wie die anderen Affekte, nicht Unglück und Leiden, sondern Unglück und moralischen Widerstand gegen das Leiden. U n d dieser Widerstand ist erhaben. Das Erhabene ist - ähnlich wie in der Tradition 64 — eine Qualität bestimmter Inhalte. Allerdings fällt es nicht leicht festzustellen, um welche Inhalte es dabei geht. Gottsched verwendet zwar das Adjektiv >erhaben< des öfteren (und vor allem in bezug auf den Stil). Das zugehörige Substantiv lautet aber nicht >das Erhabenes 6 ' sondern die >Hoheit< bzw. >das Hoheerhabendas Erhabene< allgemein gebräuchlich wird. Möglicherweise ist das erst Ende der 30er Jahre der Fall, im Anschluß an Bodmers Schriften, etwa den >Briefwechsel< mit Calepio (1736), der das Erhabene schon auf dem Titelblatt nennt, und im Anschluß an die erste deutsche Pseudolongin-Ubersetzung durch Heineken ( 1 7 3 7 ) . D a ß Gottsched mit Heineken und hernach auch mit B o d m e r in Fehde liegt, mag mit dazu beigetragen haben, daß er auch später keine Lust hat, den mittlerweile etablierten Begriff des Erhabenen aufzugreifen. Es ist jedenfalls bezeichnend, daß auch noch in seinem »Handl e x i k o n (1760) kein Stichwort >erhaben< oder »das Erhabene< zu finden ist. In der 1. A u f l a g e der »Critischen Dichtkunsts die sich aus dem Variantenverzeichnis in Werke V I / 3 rekonstruieren läßt, taucht >das Erhabenes soweit ich sehe, nur einmal auf, und z w a r als Übersetzung f ü r »the Sublime« ( C D i o 8 f . Anm.). Im Zusammenhang mit Boileaus Erläuterungen zu Pseudolongin erwähnt Gottsched auch noch in der 4. A u f l a ge die »Hoheit«, die mithin ein Äquivalent f ü r >le Sublime< bleibt ( C D 347). In bezug auf Pseudolongin selbst spricht Gottsched zunächst wiederum von der »Hoheit« ( C D 366), in der 2. A u f l a g e auch vom »Erhabenens wobei er in der Auseinandersetzung mit Heineken lediglich dessen Begriff aufnimmt ( C D 366, mit Verweis darauf im Register C D 823). N u r ein einziges Mal entschließt er sich, in der 4. A u f l a g e ( C D 180) das >Hohe< durch das »Erhabene* zu ersetzen; vgl. Werke V I / i ( = 3. Aufl.), S. 235.

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Ursprung aller Dinge, d.i. der Götter und der Welt« ( C D 569), also um metaphysisch-religiöse Themen (in mythologischer Fassung). Bei den »erhabenen Sachen« ( C D 430), mit denen Pindar sich beschäftigt, handelt es sich wieder um die Götter, um Helden und lobenswerte Tugenden. Ein wenig weiter führt ein anderer Hinweis: die Fabeln poetischer Werke können theils im Absehen auf ihren Inhalt, theils im Absehen auf die Schreibart, in erhabene und niedrige eingetheilet werden. Unter die erhabenen gehören die Heldengedichte, Tragödien und Staatsromane: darinnen fast lauter Götter und Helden, oder königliche und fürstliche Personen vorkommen, deren Begebenheiten in einer edlen Schreibart entweder erzählet oder gespielet werden. ( C D 154)

Es ist also der Rang des Personals, der einen Inhalt als erhaben qualifiziert; und die Begebenheiten haben sich an diesem Niveau zu orientieren: sie müssen »eben sowohl seltsam und ungemeyn seyn, als die Personen und Handlungen« ( C D 194). Dieser letztere Hinweis findet sich im Kapitel über das Wunderbare. Wie schon angedeutet, gehört das Erhabene tatsächlich in den Bereich des Wunderbaren; erhaben ist freilich nicht das Außerordentliche überhaupt, das Verwunderung erregt, sondern nur das außergewöhnlich Vortreffliche, das Bewunderung hervorruft. — Dem Ansatz Boileaus, der Trennung zwischen erhabenem Stil und erhabenem Gehalt, entspricht später Moses Mendelssohns Unterscheidung zwischen an sich erhabenen Gegenständen und solchen, die allererst durch die künstlerische Darstellung erhoben werden. Auch Gottsched setzt diese letztere Möglichkeit voraus, etwa indem er (ebenfalls im Kapitel über das Wunderbare) vermerkt, Homer habe »auch den natürlichsten Dingen, durch seine Beschreibungen ein wunderbares Ansehen zu geben gewußt« ( C D 197). Zu fragen bleibt schließlich, wie das Pathetische und das Erhabene, gefaßt primär als Kategorien einerseits der Wirkung und andererseits des Inhalts, sich zueinander verhalten. Das Erhabene kann eine pathetische Wirkung haben, indem es zur Bewunderung hinreißt (dieser Wirkung fehlt dann eben die schmerzliche Komponente). Es kann aber (und wird zumeist auch) anders wirken, nämlich »edle Empfindungen« wecken und »die Gemüther der Zuschauer [...] erheben« (so die >Rede über die SchauspieleHeldenmuths< und der >Standhaftigkeit«, sowie die »großmüthige Verachtung des Unglücks< und die E r h e b u n g über die Leidenschaften, diese D i n g e machen recht eigentlich den erhabenen Gehalt aus, den G o t t s c h e d v o m Trauerspiel erwartet.

D i e Stillehre Stilistische A s p e k t e k o m m e n in der >Critischen D i c h t k u n s t an mehreren Stellen (und in unterschiedlichen Fassungen) zur Sprache. D i e im Kapitel >Von der poetischen Schreibart< vorgetragene Stiltheorie unterscheidet drei Schreibarten und kennzeichnet sie k u r z als »hoch, oder sinnreich, oder niedrig« ( C D 347). W i e die Terminologie verrät, laufen da zwei Ansätze ineinander: einerseits die Unterscheidung v o n Stilniveaus (»hoch« und »niedrig«), die Gottsched hernach in der A u s f ü h r l i c h e n Redekunst< v e r w i r f t , und andererseits die funktional-inhaltliche Unterscheidung der Stile (»sinnreich«). Diese Zweideutigkeit fällt ins A u g e , weil die anschließende Darstellung der Stile der eben zitierten K u r z k e n n zeichnung sachlich nicht entspricht. Im einzelnen werden die Schreibarten nämlich folgendermaßen erläutert: [...] eine [Schreibart] ist die natürliche oder niedrige; die andere ist die sinnreiche oder sogenannte hohe; die von andern auch die scharfsinnige oder geistreiche genannt wird; und die dritte ist die pathetische, affectuöse, oder feurige und bewegliche Schreibart. ( C D 355) D i e >Höhe< ist nunmehr eine Qualität des an zweiter Stelle genannten Stils (während sie vorher noch den Spitzenstil charakterisierte). D a s ist kein Versehen. G o t t s c h e d verteidigt diese A u f f a s s u n g vielmehr ausdrücklich, indem er — von der zweiten A u f l a g e der >Critischen D i c h t k u n s t ( 1 7 3 7 ) an — sich auf das traditionelle Schema des docere — delectare — movere beruft (und damit f ü r neue V e r w i r r u n g sorgt): Ein Redner oder Dichter will seine Zuhörer entweder schlechterdings unterrichten und lehren, oder er will sie belustigen, oder er will sie endlich bewegen. Bis ins 1 7 . Jahrhundert hinein w i r d die Dichtung als >oratio ligata< verstanden, als >gebundene Redesimplicite du sublime« gerecht zu werden. Die pathetische Schreibart ist (wie in der >RedekunstBürgerlichen< 82 zugehört, ist zunächst einfach ein bürgerlicher Gelehrter; und dieser Gelehrte begreift sich selbst nicht als gelehrten Bürger, er bezieht sich in seinem Selbstverständnis vielmehr auf seine Tätigkeit

und nicht allein auf seinen Standort innerhalb der sozialen

Hierarchie.

In diesem Sinne ist er — pro d o m o — zuerst einmal daran interessiert, dem >Adel der Feder< eine selbständige Geltung neben dem >Adel des Schwertes< zu verschaffen (oder eigentlich wieder zu verschaffen 8 3 ). In den >Ergetzungen der V e r nünftigen Seele