203 78 9MB
German Pages XVI, 327 [336] Year 2020
Kai-Uwe Schmitt · Peter F. Niederer Duane S. Cronin · Barclay Morrison III Markus H. Muser · Felix Walz
TraumaBiomechanik Einführung in die Biomechanik von Verletzungen 3. Auflage
Trauma-Biomechanik
Kai-Uwe Schmitt · Peter F. Niederer · Duane S. Cronin · Barclay Morrison III · Markus H. Muser · Felix Walz
Trauma-Biomechanik Einführung in die Biomechanik von Verletzungen 3. Auflage
Kai-Uwe Schmitt ETH Zürich Institut Biomedizinische Technik Zürich, Schweiz
Peter F. Niederer Prof.em ETH Zürich Zürich, Schweiz
Duane S. Cronin Department of Mechanical and Mechatronics Engineering, University of Waterloo Waterloo, Kanada
Barclay Morrison III Columbia University New York USA
Markus H. Muser AGU Zürich Zürich, Schweiz
Felix Walz AGU Zürich Zürich, Schweiz
ISBN 978-3-662-60935-4 ISBN 978-3-662-60936-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-60936-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2010, 2014, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Thomas Lehnert Springer Vieweg ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Geleitwort
Die Verbesserung der Fahrzeugsicherheit ist seit Jahrzenten ein gesellschaftliches Ziel der weltweiten Verkehrssicherheitsarbeit. Während hierbei zunächst insbesondere die Reduzierung der Anzahl der Verkehrstoten in den Fokus genommen wurde, hat sich das Entwicklungsziel inzwischen auch auf Schwerstverletzte erweitert. Im gleichen Zuge haben sich die Methoden bei der Entwicklung der Fahrzeugsicherheit weiter entwickelt. In den Anfangsjahren konnten die meisten Erfolge durch die Verbesserung der passiven Sicherheit (Maßnahmen zur Unfallfolgenminderung) erzielt werden, während heutzutage viele Aktivitäten in Richtung der aktiven Sicherheit (Maßnahmen zur Unfallprävention bzw. zur Senkung der Unfallschwere) gelenkt werden. Des Weiteren wurden Dummys weiter entwickelt, die Werkzeuge für die numerische Simulationen deutlich verbessert, Menschmodelle eingeführt und durch die Entwicklung von „Handlingtools“ nutzbar gemacht. Trotz der Fortschritte in der aktiven Sicherheit und der bevorstehenden Automatisierung des Kraftfahrzeugverkehrs wird die passive Sicherheit auf absehbare Zeit nicht vernachlässigbar sein. Im Gegenteil, der positive Trend in Bezug auf die Anzahl der getöteten Unfallopfer stagniert seit Jahren. Durch eine größere Diversifikation des Verkehrs zum Beispiel durch elektrifizierte Fahrräder oder Kleinstfahrzeuge sowie durch den demografischen Wandel und ein geändertes Mobilitätsverhalten stellen sich auch in Bezug auf die passive Sicherheit immer wieder neue Herausforderungen. Hierbei ist es wichtig zu begreifen, dass nicht der Dummy, das Dummymodell oder das Menschmodell geschützt werden soll, sondern der real lebende Mensch. Das Buch Trauma-Biomechanik hilft durch eine nach Körperregionen strukturierte Behandlung der Anatomie, der Verletzungen und Verletzungsmechanismen, Verletzungskriterien sowie Präventionsmaßnahmen, dem Ziel des Schutzes von lebenden Menschen näher zu kommen. Hierfür wird die Herkunft der Grenzwerte für die einzelnen Normen und deren Wirkbereiche erläutert, sodass eine Erarbeitung der Übertragbarkeit der eigenen Dummyergebnisse auf den Menschen ermöglicht wird. Allgemeine Ausführungen zur Biomechanik, die Behandlung von Schädigungen und Verletzungen durch eine chronische Belastung und Aufgaben mit Lösungen zu den einzelnen Kapiteln runden das Buch ab. Des Weiteren werden nicht nur Verletzungen infolge von Verkehrsunfällen, sondern auch Sportverletzungen und Traumata in Folge V
VI
Geleitwort
von Explosionen und ballistischen Belastungen adressiert. Während sich das Buch hauptsächlich an Einsteiger richtet, bietet es sich auch als Nachschlagewerk für den Experten bei spezifischen Fragestellungen an. Gegenüber der Vorgängerversion wurde neben einer generellen Überarbeitung und Aktualisierung insbesondere das Thema zelluläre Aspekte bei mechanischer Belastung (im Wesentlichen in Bezug auf Hirn- und Nervenverletzungen) hinzugefügt. Des Weiteren wurden die Kapitel zu Simulationsmodellen inklusive der Menschmodelle erweitert. Dr. Heiko Johannsen Unfallforschung der Medizinischen Hochschule Hannover Hannover, Deutschland
Vorwort
Die unterschiedlichsten biomechanische Belastungen können zu Verletzungen führen. Die neue Auflage des Buches umfasst nun das Spektrum von zellulären Aspekten mechanischer Belastung des Gehirns über Verletzungen im Straßenverkehr und Sport bis zu solchen durch Explosionen. Trotz der Erweiterung des Buchs – sowie der Überarbeitung aller anderen Kapitel – bleibt die ursprüngliche Intention unverändert. Das Buch richtet sich in erster Linie an Einsteigerinnen und Einsteiger in die Trauma- bzw. Verletzungsbiomechanik. Es soll dabei nicht nur einen strukturierten Zugang zur Materie ermöglichen, sondern auch zu weiterführender Beschäftigung anregen. Die globale, sozio-ökonomische Bedeutung von Verletzungen rechtfertigt jedenfalls eine ausgiebige Beschäftigung mit den verschiedenen Aspekten; sei es mit Verletzungsmechanismen oder mit Möglichkeiten zur Verletzungsprävention. Daraus und aus den vielen, damit zusammenhängenden menschlichen Tragödien ergibt sich die Motivation, zur Reduktion des Verletzungsrisikos beizutragen. Den Ko-Autoren sei für ihre Beiträge zur neuen Auflage herzlich gedankt und ein besonderer Dank gilt Frau Dr. med. Sylvia Schick für ihre Unterstützung bei der Erstellung dieser deutschen Ausgabe. Kai-Uwe Schmitt
VII
Vorwort zur zweiten Auflage
Die Verbesserung der Fahrzeugsicherheit hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte erzielt. So hat sich in der EU während der letzten 10 Jahre die Zahl der Verkehrstoten um zirka 40 % verringert. Wenn man nur die Insassen von Personenkraftfahrzeugen betrachtet, beträgt die Reduktion sogar mehr als 50 %. Dieser Fortschritt wurde sowohl durch eine Verbesserung der Fahrzeugstrukturen, der Rückhaltesysteme, sowie durch eine optimierte Verkehrserziehung verbunden mit einer stärkeren Überwachung des Verkehrsgeschehens, sowie durch eine Verbesserung der Infrastruktur erreicht. Ein großes Potenzial bildet aber weiter die passive Fahrzeugsicherheit. Bei einer detaillierten Analyse der Verkehrsunfälle zeigt sich, dass nur bei sogenannten Katastrophenunfällen derart große Intrusionen auftreten, dass für die Insassen kein ausreichender Überlebensraum verbleibt. Immer häufiger verursachen die auftretenden Beschleunigungen und Krafteinleitungen in den Körper die Ursache für schwerste oder tödliche Verletzungen. Im Fahrzeug gilt es hier die Rückhaltesysteme weiter zu optimieren und an die unterschiedlichsten Kollisionsszenarien anzupassen. Vor allem durch die zunehmende Überalterung der Bevölkerung stellen sich aber neue Anforderungen an die Fahrzeugsicherheit. So können ältere Menschen vielfach nur wesentlich geringere Beschleunigungen ertragen ohne Verletzungen. All diese Effekte verlangen aber ein detailliertes Verständnis der Biomechanik des Menschen und die aus den eingeleiteten Kräften resultierenden Verletzungsmechanismen. Nur so ist es möglich, alle Potenziale auszuschöpfen. Dies gilt gleichermaßen für den Schutz der Fahrzeuginsassen sowie der so genannten „Vulnerable Road User“, also Radfahrer und Fußgänger. Das gegenständliche Buch bildet hierbei eine wesentliche Grundlage, die bei Unfällen auftretenden Belastungs- und Verletzungsmechanismen besser zu verstehen. Es hilft auch dem Einsteiger in dieses Metier das Grundlagenwissen über den anatomischen Aufbau des Körpers zu erlangen. Das Buch ist so aufgebaut, dass die einzelnen Körperregionen mit den jeweils auftretenden Verletzungsmechanismen beschrieben und diskutiert werden. Ebenso sind
IX
X
Vorwort zur zweiten Auflage
bekannte Grenzwerte, bei deren Überschreitung Verletzungen zu erwarten sind, für viele Körperregionen enthalten. Es werden hierbei auch die unterschiedlichsten Verletzungsmechanismen diskutiert. So ist es möglich das Basiswissen aber auch später in Form eines Nachschlagewerkes biomechanische Fragestellungen leichter und besser beantworten zu können. Die sinnvolle Anwendung des in diesem Buch beinhalteten Wissens ermöglicht, über reine Dummy Grenzwerte hinaus, ein tieferes Verständnis für diese Verletzungsmechanismen aufzubauen. So können neue Rückhaltesysteme und Rückhaltemethoden entwickelt und deren Potenzial untersucht werden. Aber auch existierende Rückhaltesysteme können nur mithilfe dieses Wissens effizient und nachhaltig verbessert werden. Somit empfehle ich dieses Buch sowohl dem Einsteiger in dieses Wissensgebiet, um das Grundlagenwissen aufzubauen, aber auch dem Experten als Nachschlagewerk. Das Buch ist auch so verfasst, dass es für den Nichtmediziner gut verständlich ist. Für den Fahrzeugsicherheitsexperten bildet das vorliegende Buch eine wesentliche Grundlage für seine tägliche Arbeit. Prof. Dr. Hermann Steffan Technische Universität Graz Graz, Österreich
Vorwort zur ersten Auflage
Auf dem Gebiet der Verkehrssicherheit wurden in den vergangenen Jahren große Fortschritte erzielt. Dazu haben zahlreiche Maßnahmen beigetragen. Verbesserte Straßen sind ebenso zu nennen, wie die Gurtanlegepflicht und ein gesellschaftlicher Lernprozess bezüglich des individuellen Umgangs mit Risiken bei der Verkehrsteilnahme. Fahrwerksregelsysteme wie ABS und ESP gehören mittlerweile zur Serienausstattung und helfen viele Unfälle zu vermeiden und anderen eine mildere Verlaufsform zu geben. Wenn es dennoch zum Aufprall kommt, sorgen zunehmend verbesserte Karosseriestrukturen in den meisten Fällen für einen Überlebensraum ohne bedrohliche Intrusionen und bauen die kinetische Energie ab. Die Insassen werden durch vielfältige, aufeinander abgestimmte Rückhaltesysteme kontrolliert verzögert, sodass die biomechanischen Grenzen ihrer Belastbarkeit möglichst nicht erreicht werden. Schließlich können Unfallopfer auf eine rasche Alarmierung von Helfern, eine effiziente Rettungskette und eine hoch entwickelte Notfallmedizin rechnen. Tatsächlich ist die Zahl der im Straßenverkehr Getöteten in Deutschland, Österreich und der Schweiz und auch in der EU insgesamt trotz steigenden Verkehrsaufkommens seit Jahren rückläufig. Dennoch müssen noch mehr Fortschritte erreicht werden, wenn das Leitbild eines nahezu opferfreien Straßenverkehrs realisiert werden soll. Es gibt zahlreiche weitere Ansätze zur Verbesserung der Passiven Fahrzeugsicherheit. Bei gegebener, sehr guter Karosserie müssen die Rückhaltesysteme so ausgelegt werden, dass sie der Vielfalt der tatsächlich auftretenden Unfallsituationen und den interindividuellen Unterschieden der Fahrzeuginsassen gerecht werden können. Eine Voraussetzung dafür ist es, dass die biomechanischen Bedingungen für das Auftreten von Verletzungen bekannt sind. Der Nachweis der Schutzwirkung bei einem Unfall erfolgt für ein Kfz heute an Hand von Versuchen mit Anthropomorphic Test Devices, also Dummys. Dazu wurden biomechanisch begründete Schutzkriterien definiert, die den Zusammenhang zwischen den Messwerten am Dummy und der Wirkung auf den Menschen erfassen. Ergänzend werden inzwischen im Entwicklungsprozess in großem Umfang rechnerische Methoden mit numerischen Modellen von Fahrzeug, Rückhaltesystemen, Dummys und gegnerischen Objekten eingesetzt. XI
XII
Vorwort zur ersten Auflage
In Zukunft werden nicht nur die standarisierten Tests mit durchschnittlichen Personen zu bewerten sein, auch wenn diese für den Nachweis eines Mindestniveaus an Passiver Sicherheit für die Fahrzeugtypprüfung entscheidend bleiben. Zusätzlich ist eine Vielzahl von Unfallsituationen mit unterschiedlich großen, schweren, alten und gesunden Fahrzeuginsassen zu optimieren und zu überprüfen. Auf experimentellem Weg ist das unmöglich. Die Rolle der numerischen Simulation wird daher weiter zunehmen. Dazu sind aussagefähige, numerische Modelle der Biomechanik unter Berücksichtigung der Verschiedenheit der Menschen erforderlich. Untersuchungen zur Verletzungsentstehung können helfen, sie durch konstruktive Verbesserungen zu vermeiden oder in ihrer Schwere zu verringern. Von der Unfallbiomechanik sind also weiterhin wichtige Beiträge zur Verbesserung der Fahrzeugsicherheit zu erbringen. Prof. Dr. Volker Schindler Technische Universität Berlin Berlin, Deutschland
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Zum vorliegenden Buch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.2 Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2
Methoden der Trauma-Biomechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.1 Statistik, Feldstudien, Datenbanken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.2 Grundlagen der Biomechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.3 Verletzungskriterien, Verletzungsindizes und Verletzungsrisiko. . . . . . . 26 2.4 Unfallrekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.5 Experimentelle Untersuchungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.6 Standardisierte Testverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.6.1 Crashtest-Dummys. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.7 Numerische Simulationen und Computermodelle des Menschen. . . . . . 54 2.8 Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
3
Zelluläre Trauma-Biomechanik: Verletzungen des zentralen Nervensystems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.1 Grundlagen der zellulären Trauma-Biomechanik des zentralen Nervensystems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3.1.1 Zellphysiologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3.1.2 Anatomie von Nervenzellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3.2 Mechanoporation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3.2.1 Calcium- und Natriumeinstrom und Kaliumausstrom. . . . . . . . 80 3.3 Energieverbrauch und Exzitotoxizität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.3.1 Mitochondriale Funktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.4 Reaktive Sauerstoff- und Stickstoffverbindungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.5 Calpain-bedingter Proteinabbau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
XIII
XIV
Inhaltsverzeichnis
3.6 Störung der Blut-Hirn-Schranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.7 Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4 Kopfverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4.1 Anatomie des Kopfes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4.2 Verletzungen und Verletzungsmechanismen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4.3 Mechanisches Verhalten des Kopfes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.4 Verletzungskriterien für Kopfverletzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.4.1 Head Injury Criterion (HIC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4.4.2 Head Protection Criterion (HPC). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.4.3 3 ms Kriterium (a3 ms) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4.4.4 Generalized Acceleration Model for Brain Injury Threshold (GAMBIT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4.4.5 Brain Injury Criterion (BrIC). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 4.5 Kopfverletzungen im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4.6 Prävention von Kopfverletzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.6.1 Prävention von Kopfverletzungen bei Fußgängern. . . . . . . . . . 126 4.7 Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 5
Verletzungen der Wirbelsäule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 5.1 Anatomie der Wirbelsäule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 5.2 Verletzungsmechanismen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 5.3 Biomechanisches Verhalten und Toleranzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 5.4 Verletzungskriterien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 5.4.1 NIC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 5.4.2 Nij. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.4.3 Nkm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 5.4.4 Verletzungskriterien in ECE und FMVSS. . . . . . . . . . . . . . . . . 159 5.4.5 Weitere Verletzungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5.4.6 Korrelation zwischen Verletzungskriterien und -risiko. . . . . . . 162 5.5 Wirbelsäulenverletzungen im Sport. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 5.6 Prävention von HWS-Verletzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 5.6.1 Kopfstützen-Geometrie und -Material. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 5.6.2 Systeme zur Optimierung der Kopfstützen-Position. . . . . . . . . 168 5.6.3 Systeme mit kontrollierter Bewegung des Sitzes. . . . . . . . . . . . 169 5.7 Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
6 Thoraxverletzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 6.1 Anatomie des Thorax. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 6.2 Verletzungsmechanismen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Inhaltsverzeichnis
XV
6.2.1 Rippenfrakturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 6.2.2 Lungenverletzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 6.2.3 Verletzungen anderer Organe des Thorax . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 6.3 Biomechanisches Verhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 6.3.1 Frontale Belastungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 6.3.2 Laterale Belastungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 6.4 Verletzungstoleranzen und - kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 6.4.1 Beschleunigung und Kraft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 6.4.2 Thoracic Trauma Index (TTI) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 6.4.3 Compression Criterion (C). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 6.4.4 Viscous Criterion (VC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 6.4.5 Combined Thoracic Index (CTI). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 6.4.6 Weitere Kriterien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 6.5 Thorax-Verletzungen im Sport. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 6.6 Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 7
Verletzungen des Abdomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 7.1 Anatomie des Abdomens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 7.2 Verletzungsmechanismen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 7.3 Bestimmung des biomechanischen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 7.4 Verletzungstoleranzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 7.4.1 Verletzungskriterien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 7.5 Einfluss des Sicherheitsgurtes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 7.6 Verletzungen des Abdomens im Sport. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 7.7 Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
8
Verletzungen des Beckens und der unteren Extremitäten . . . . . . . . . . . . . . 219 8.1 Anatomie der unteren Extremitäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 8.2 Verletzungsmechanismen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 8.2.1 Verletzungen des Beckens und des proximalem Femurs. . . . . . 223 8.2.2 Bein-, Knie- und Fußverletzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 8.3 Belastungstoleranzen für Becken und untere Extremitäten. . . . . . . . . . . 230 8.4 Verletzungskriterien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 8.4.1 Kompressionskraft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 8.4.2 Femur-Kraft-Kriterium (Femur Force Criterion, FFC). . . . . . . 235 8.4.3 Tibia-Index (TI). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 8.4.4 Weitere Kriterien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 8.5 Verletzungen von Becken und unteren Extremitäten im Sport . . . . . . . . 237 8.6 Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 8.7 Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
XVI
9
Inhaltsverzeichnis
Verletzungen der oberen Extremitäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 9.1 Anatomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 9.2 Verletzungsmechanismen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 9.3 Verletzungstoleranzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 9.4 Verletzungskriterien und Bewertung des Verletzungsrisikos durch Airbags. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 9.5 Verletzungen der oberen Extremitäten im Sport. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 9.6 Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
10 Schädigungen und Verletzungen durch chronische Belastung. . . . . . . . . . . 267 10.1 Arbeitsmedizin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 10.2 Sport. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 10.2.1 Sportarten ohne Körperkontakt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 10.2.2 Sportarten mit Körperkontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 10.3 Hausarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 11 Ballistisches Trauma und Verletzungen durch Explosionen. . . . . . . . . . . . . 281 11.1 Ballistisches Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 11.1.1 Wundballistik und Verletzungen durch eindringende Projektile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 11.1.2 Persönliche Schutzausrüstung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 11.1.3 Performance und Prüfung von Schutzausrüstung . . . . . . . . . . . 291 11.1.4 Verletzungen trotz Schutzausrüstung: stumpfe Thoraxtraumen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 11.2 Verletzungen durch Explosionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 11.2.1 Sprengstoffe und Detonation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 11.2.2 Wellen und Impedanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 11.2.3 Explosionen in Luft und im Boden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 11.2.4 Verletzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 11.3 Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 12 Lösungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
1
Einleitung
Der menschliche Körper wird täglich mechanischen Belastungen ausgesetzt. Einerseits wirken Kräfte, die allgegenwärtig sein können wie die Schwerkraft oder die über große Distanzen übertragen werden können wie elektromagnetische Feldkräfte. Andererseits wirkt eine Vielzahl von Kräften, die durch direkten Kontakt mit unserer Umwelt entstehen. Auch durch physiologische Prozesse im Körper selbst werden Kräfte auf Organe und das Gewebe ausgeübt. Im Laufe der Evolution war die Entwicklung immer von solchen mechanischen Wechselwirkungen geprägt, teilweise sind solche Kräfte sogar notwendig, damit der Körper einzelne Funktionen – wie beispielsweise den Knochenumbau – überhaupt erst ausüben kann. Bereits in der Gebärmutter wird die Zell-Entwicklung durch mechanische Kräfte moduliert [Knothe Tate et al. 2008] [5]. Die Biomechanik bezieht sich in erster Linie auf die Analyse, die Messung und die Modellierung von Auswirkungen verschiedener mechanischer Belastungen auf den menschlichen Körper, untersucht werden diese Aspekte aber auch bei Tieren und Pflan zen. Ein quantitativer Ansatz steht dabei im Vordergrund. Die zu untersuchenden mecha nischen Belastungen umfassen innere wie äußere Kräfte. Beispiele für innere Kräfte finden sich im molekularen Bereich, dazu gehören auch Kräfte, welche durch kontraktile Fasern auf zellulärem Niveau entstehen wie auch makroskopisch wirkende Muskelkräfte oder Drücke und Schubspannungen, die durch Körperflüssigkeiten oder andere aktive biologische Transportprozesse einschließlich der Osmose entstehen. Äußere Kräfte beinhalten Kräfte, die in unserem Alltag auf uns wirken. Dementsprechend umfassen die in der Biomechanik untersuchten Kräfte Größenordnungen von pN bis MN (kleinere bzw. größere Kräfte sind dabei nicht von Interesse, da diese entweder kaum einen Effekt auf den Körper haben oder zu dessen vollständiger Zerstörung führen). Die relevanten Zeitdauern, während welcher die Kräfte wirken, reichen von Picosekunden bis Jahre. Eine mögliche unerwünschte Folge von inneren wie äußeren auf den Körper wir kenden Kräfte ist das Entstehen von Verletzungen. Solche werden üblicherweise mit © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K.-U. Schmitt et al., Trauma-Biomechanik, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60936-1_1
1
2
1 Einleitung
dem Auftreten von übermäßigen äußeren Kräften und/oder dem Auftreten von Kräften in ungünstigen Konstellationen, insbesondere im Rahmen von Unfällen, in Verbindung gebracht. Tatsächlich stellen Unfälle die häufigste Todesursache von jüngeren Men schen dar. Tab. 1.1 fasst die entsprechende US Todesursachen-Statistik zusammen, die für Industrieländer als repräsentativ betrachtet werden kann. Bei inneren Kräfte hingegen geht man meist davon aus, dass diese durch anatomische oder physiologische Gegebenheiten derart begrenzt werden, dass sie nicht zu Verletzungen führen. Dies muss jedoch nicht immer der Fall sein: Rippenbrüche als Folge intensiver Hustenanfälle, Muskelfaserrisse durch Krämpfe oder endokardiale Blutungen im Falle eines hypovolämischen Schocks sind Beispiele für Verletzungen, die durch den Körper selbst verursacht werden können. Der Teilbereich der Biomechanik, der sich mit dem Entstehen von Verletzungen durch mechanische Einwirkungen beschäftigt, wird als Verletzungsbiomechanik oder Trauma-Biomechanik bezeichnet. Das vorliegende Buch konzentriert sich auf diesen Aspekt der Biomechanik. Dabei gilt es viele verschiedene Arten von Verletzungen, unterschiedliche Verletzungsmechanismen und eine Vielzahl von verletzungsinduzierenden Belastungen zu betrachten. Um dieses Spektrum mit der nötigen Tiefe behandeln zu können, ist die Trauma-Biomechanik ein stark interdisziplinär ausgerichtetes Fach. Es umspannt makro skopische Bewegungsanalysen im Sport genauso wie sub-mikroskopische Modellie rungen von molekularen Transportvorgängen in Zellmembranen. Da hier lebendes Gewebe mit den ihm eigenen aktiven Prozessen wie Muskelkontraktionen oder elektrochemischen Prozessen im Mittelpunkt steht, sind biologische Aspekte involviert. Zudem
Tab. 1.1 Die 10 häufigsten Todesursachen in den USA im Jahr 2016 (Altersgruppe 35–44 Jahre) [Heron 2018] [3] Todesursache
Rang
Alle Todesfälle
Anzahl
[%]
77.792
100,0
Unfälle (unbeabsichtigte Verletzungen)
1
20.975
27,0
Bösartiger Tumor
2
10.903
14,0
Herzerkrankung
3
10.477
13,5
Selbst zugeführte Verletzung (Suizid)
4
7030
9,0
Körperverletzung (Tötungsdelikt)
5
3369
4,3
Chronische Lebererkrankung/-zirrhose
6
2851
3,7
Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit)
7
2049
2,6
Kardiovaskuläre Erkrankungen
8
1854
2,4
9
971
1,2
10
897
1,2
Humanes Immunschwäche-Virus (HIV) Sepsis (Blutvergiftung)
1.1 Zum vorliegenden Buch
3
ist natürlich die klinische Medizin relevant, beispielsweise im Zusammenhang mit der Verletzungsschwere. Das über Jahrzehnte gesammelte vielfältige Wissen aus der Mechanik und der Biologie trägt somit erheblich zum Verständnis der Trauma-Biomechanik, dem Verständnis von Verletzungen auf makroskopischem wie subzellulärem Niveau bei. Daher ist ein Grundwissen aus Mechanik, Anatomie, Physiologie und Medizin erforderlich, um ein systematisches Grundverständnis der Trauma-Biomechanik entwickeln zu können.
1.1 Zum vorliegenden Buch Nachfolgend sind einige Vorbemerkungen zum Inhalt, zur Intention sowie zum Aufbau des Buches aufgeführt: 1. Es ist zu unterscheiden zwischen Verletzungen, die durch unvorhergesehene, plötzliche und einmalige Ereignisse – also durch Unfälle im engeren Sinne – entstehen und Verletzungen infolge chronischer Überbelastung, d. h. durch Belastungen über einen längeren Zeitraum. Der Kopfanprall, den ein Fußgänger im Rahmen einer Kollision durch Anprall an der Fahrzeugfront erfährt und die graduelle Zerstörung von Haarzellen im Innenohr durch chronische Beschallung mit Lärm sind beides Beispiele für Verletzungen, wobei sich jedoch die Art der Verletzung, der Verletzungsmechanismus, die Belastungsgrenzen und Verletzungskriterien, die Methoden zur Rekonstruktion und Analyse der Ereignisse wie auch die Schutz maßnahmen grundsätzlich unterscheiden. Auch im Hinblick auf Versicherungs- und Haftungsfragen sind beide Fälle sehr unterschiedlich zu bewerten. 2. Der Zeitraum, der typischerweise im Rahmen eines Straßenverkehrsunfalls für das Entstehen von Verletzungen relevant ist, beträgt zwischen 100 und 200 ms, wobei die frühe Phase oftmals entscheidend ist. Häufig ist sich die involvierte Person der Unfallsituation nicht bewusst, sodass sie nicht im Vorfeld auf die drohende Gefahr reagiert (bzw. reagieren kann). Demnach können Muskelreaktionen, die mit einer Zeitverzögerung von 60 ms bis 80 ms auftreten, oftmals als zweitrangig betrachtet und daher vernachlässigt werden. Dieser Aspekt ist bei chronischen Belastungen grundsätzlich verschieden, da hier physiologische wie auch psychische Reaktionen immer im Vordergrund stehen. 3. Das Alter stellt einen weiteren wichtigen Aspekt dar. Die mechanischen Eigenschaften und insbesondere die Verletzungstoleranzen menschlichen Gewebes, der Organe bzw. des Körpers als Ganzes, verändern sich durch das Altern deutlich hin zu geringeren Toleranzen. Dies wird unter anderem durch einen reduzierten Wasseranteil im Körper einhergehend mit zunehmender Steifigkeit des Gewebes sowie einer fortschreitenden Demineralisierung von Knochen ab einem Alter von 30–40 Jahren begünstigt. Deutlich häufigere Verletzungen im Alter, vor allem Knochenbrüche, sind die Folge. In diesem Zusammenhang sind auch spontane
4
1 Einleitung
Brüche bekannt, bei denen der Knochen bereits unter normalen physiologischen Belastungen bricht. In Anbetracht der in den Industrienationen alternden Gesellschaft, verdienen solche Aspekte besondere Aufmerksamkeit. 4. Auch am anderen Ende der Altersspanne, den Heranwachsenden, bestehen bezüglich Trauma-Biomechanik große Herausforderungen, da sich die mechanischen und biologischen Eigenschaften von der Geburt bis zum Erwachsenenalter stark verändern. Experimente mit Kindern sind kaum vorstellbar und auch entsprechende Leichenversuche sind weder üblich noch einfach durchzuführen. Das Skalieren von an Erwachsenen bestimmten Eigenschaften auf Kinder ist schwierig („Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“). Die Entwicklung von Kinder-Crashtest-Dummys (Abschn. 2.6.1) ist daher nicht einfach. Wegen des Mangels an experimentellen Daten basieren die meisten Arbeiten zu Verletzungen bei Kindern auf statistischen Analysen. Ein signifikanter Beitrag zu diesem Themengebiet wurde beispielsweise durch „The Center for Injury Research and Prevention at The Children’s Hospital of Philadelphia“ geleistet (http://injury.research.chop.edu/). 5. Pathologische Veränderungen können die mechanischen Eigenschaften des Gewebes erheblich verändern. Aus der Urologie sind beispielsweise Nierenverletzungen als Folge von Spannungskonzentrationen im Bereich einer Zyste bekannt. Auch die Verstärkung von vorbestehenden Nackenbeschwerden durch ein zusätzliches „Schleudertrauma“ (siehe auch Kap. 5) wurde mehrfach beschrieben. 6. Unter ganz bestimmten Umständen könnten Mikro-Verletzungen auf zellulärem Niveau – zumindest bis zu einem gewissen Grade – vorteilhaft sein. Abb. 1.1 zeigt als Beispiel die Mikro-Kallusbildung in Folge von Mikro-Verletzungen in spon giösem Knochen; die Verletzung stimuliert hier die Knochenbildung. Nach langen, anstrengenden Bergwanderungen sind solche Mikro-Verletzungen auch im gesun den Fuß nicht außergewöhnlich. Chronische Überbelastung hingegen kann zu einer gegenteiligen Entwicklung führen. Abb. 1.2 zeigt eine Marathonläuferin, deren Ske lett durch exzessives Training stark demineralisiert wurde. 7. Verletzungen werden meistens im Zusammenhang mit Bewegung (Sport, Haushalt usw.) oder Mobilität (Verkehr) erlitten. Während in der Biologie Tierexperimente (unter entsprechenden Auflagen) üblich sind, verhindert die mit Bewegungen und den entsprechenden Verletzungsmechanismen einhergehende Nicht-Linearität die Skalierung von Ergebnissen, die beispielsweise an Ratten gewonnen wurden, auf den Menschen. Abgesehen von grundlegenden Aspekten (u. a. zur Physiologie) finden Tierexperimente in der Trauma-Biomechanik heute nur noch selten Anwendung. 8. Betrachtet man das gesamte Spektrum rund um „Verletzungen“ einschließlich deren Ursachen, Häufigkeit, Prävention, Heilung, Rehabilitation, Langzeitfolgen und den sozioökonomischen Folgen, so sind auch klinische Aspekte der Behandlung von Verletzungen zu berücksichtigen. Häufig wird vergessen, dass die Reduktion der spezifischen Mortalität (d. h. des Sterberisikos pro Fall) auch durch Entwicklungen der Notfall- und Intensivmedizin sowie der Rettungsdienste positiv beeinflusst wird. Als ungünstig fällt hingegen auf, wenn Verletzungsmechanismen oder Unfälle durch
1.1 Zum vorliegenden Buch
5
Abb. 1.1 Mikrokallus Bildung. Das Bild zeigt eine 3D Aufnahme (Mikro-Computertomografie, μ-CT) einer Biopsie aus dem menschlichen Beckenkamm. Mikrofrakturen haben die Neubildung von Knochen initiiert [Prof. R. Müller, ETH Zürich]
Abb. 1.2 28jährige Frau (links) und μ-CT Aufnahme deren Radius (Elle) nahe dem Handgelenk (rechts). Die extreme Demineralisierung des Knochen ist auf exzessives Training als Marathonläuferin zurückzuführen [Prof. Dr. med. M. Dambacher, Universitätsklinik Balgrist, Zürich]
6
1 Einleitung
Ärzte untersucht und beurteilt werden, obwohl ihnen nicht alle relevanten Fakten vorliegen. Die objektive, wissenschaftlich fundierte Beurteilung von Unfällen – insbesondere im Zusammenhang mit Verletzungsschwere und Kausalität von Verletzungen – erfordert einen multidisziplinären Ansatz. Zusätzlich zu medizinischen Informationen, die durch klinische Ärzte erhoben werden, sind die technischen und biomechanischen Umstände bei der Untersuchung und Rekonstruktion von Unfällen zu berücksichtigen. Dies ist insbesondere im Bereich der Gerichtsgutachten relevant. Eine spezialisierte Ausbildung sowie ausreichende Erfahrung sind Voraussetzungen für eine entsprechende Gutachtertätigkeit. 9. Dieses Buch beschäftigt sich in erster Linie mit unbeabsichtigt entstandenen Verletzungen. Grundsätzlich können Verletzungen jedoch auch bewusst verursacht bzw. in Kauf genommen werden – beispielsweise im Rahmen von Verbrechen, Suiziden, Terrorakten oder kriegerischen Auseinandersetzungen. Wundballistik, Schutzausrüstung für Soldaten oder spezielle, wenig verletzungsinduzierende Waffen für Einsätze der Polizei sind in diesem Zusammenhang relevante Themen. In Kap. 11 finden sich hierzu entsprechende Ausführungen. Interessierte Leser seien zudem auf Veröffentlichungen des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (http://www. icrc.org) verwiesen. Grundsätzlich sollte die Signifikanz von absichtlich zugeführten Schussverletzungen (außerhalb kriegerischer Auseinandersetzungen) nicht unterschätzt werden. Zu diesem kontroversen Thema gibt es z. T. sehr unterschiedliche Angaben. Gemäß Medienberichten wurden im Jahr 2013 in den USA 37.200 Per sonen durch Schusswaffen getötet (10,3 Getötete pro 100.000 Personen; inkl. Sui zide und Unfälle mit Schusswaffen). Zum Vergleich: im Straßenverkehr starben im gleichen Jahr 32.893 Personen. Für das Jahr 2017 wurde die Anzahl der weltweit durch Schusswaffen verursachten Todesfälle auf rund 250.000 geschätzt, wobei die Situation je nach Land sehr verschieden ist. Laut Statistik der Vereinten Nationen (UN) wurden 2009 in den USA 3,0 Tötungsdelikte pro 100.000 Einwohner mit einer Schusswaffe verübt. In Großbritannien hingegen war die Zahl mit 0,07 pro 100.000 Einwohner etwa 40mal kleiner, in Deutschland betrug sie 0,02. Auch in der Schweiz war die Anzahl der mit Schusswaffen verübten Tötungsdelikte im Jahr 2010 mit 0,52 pro 100.000 Einwohner recht klein, obwohl die Schweiz bezogen auf die Anzahl Waffen pro Einwohner weltweit auf Rang 3 steht. Selbstmord ist sodann eine weitere häufige Todesursache (Tab. 1.1 und 1.2). In diesem Zusammenhang sind insbesondere nicht-technische (u. a. soziale, politische, psychologische, allgemeine gesellschaftsbezogene) Aspekte in Betracht zu ziehen. Studien zum Einfluss physischer Gewalt in der Kindheit beinhalten beispielsweise die intensive Analyse sozio-psychologischer Faktoren [z. B. Paradis et al. 2009] [8]. 10. Am besten ist es, wenn Verletzungen erst gar nicht auftreten. Dementsprechend genießt die Verletzungsprävention hohe Priorität. Im Straßenverkehr sind Maßnah men zur Vermeidung von Unfällen bereits seit langem implementiert und als staatliche Aufgabe anerkannt. Im Gegensatz dazu wird die Prävention im Sportbereich primär als Aufgabe nationaler und internationaler Sportverbände bzw. als Teil der
1.1 Zum vorliegenden Buch
7
Tab. 1.2 Todesursachen in den USA (alle Altersgruppen, 2016) [Heron 2018] [3] Todesursache
Rang
Alle Todesfälle
Anzahl
[%]
2.744.248
100,0
Herzerkrankung
1
635.260
23,1
Bösartiger Tumor
2
598.038
21,8
Unfälle (unbeabsichtigte Verletzungen)
3
161.374
5,9
Chronische Erkrankungen der unteren Atemwege
4
154.596
5,6
Kardiovaskuläre Erkrankungen
5
142.142
5,2
Alzheimer-Krankheit
6
116.103
4,2
Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit)
7
80.058
2,9
Influenza (Grippe) und Pneumonie (Lungenentzündung)
8
51.537
1,9
Nierenerkrankungen
9
50.046
1,8
10
44.965
1,6
Selbst zugeführte Verletzung (Suizid)
Sportmedizin betrachtet. Restriktive Regelwerke, Verbote besonders gefährlicher Formen des Sports, die Entwicklung von Schutzausrüstung wie auch Training und Ausbildung sind Elemente der Prävention. Zudem unterstützen Versicherungsgesellschaften die Verletzungsprävention, wobei hier oftmals die Bereiche Arbeit und Haushalt im Mittelpunkt stehen. Während die Prävention auf potenziell verletzungsinduzierende Situationen abzielt, steht nach erlittener und behandelter Verletzung die Rehabilitation im Vordergrund. Auch diesbezüglich werden von staatlichen Stellen, Sportverbänden, Arbeitnehmervereinigungen, der klinischen Medizin wie auch von Versicherungsunternehmen erhebliche Anstrengungen unternommen. Da sich dieses Buch auf die Trauma-Biomechanik beschränkt, werden Aspekte der Prävention und Rehabilitation nur am Rande bzw. nur im Zusammenhang mit ausgewählten Verletzungen behandelt. In der Trauma-Biomechanik wurden bisher vor allem Straßenverkehrsunfälle systema tisch und quantitativ erforscht, obschon auch im Sport, am Arbeitsplatz oder im Haushalt viele Verletzungen auftreten (Statistiken zu Arbeitsunfällen finden sich u. a. auf der Homepage der International Labor Organization unter http://laborsta.ilo.org). Hierfür können insbesondere zwei Aspekte verantwortlich gemacht werden: Erstens geschehen im Straßenverkehr mehr schwere und tödliche Unfälle als in den anderen Bereichen (Tab. 1.1), sodass die damit verbundenen gesellschaftlichen Kosten höher sind. Rechtlicher Aspekte (Haftungsfragen), politische Interventionen und Gesetzgebungsinitiativen erzeugen entsprechenden Druck auf die Automobilindustrie (das 1965 erschienene Buch „Unsafe at any Speed“ von Ralph Nader erlangte eine unglaubliche öffentliche Resonanz) und spornten bzw. nötigten sie zu Forschungs- und Entwicklungsarbeiten an. Ein Unfalltod in jüngerem Alter ist besonders tragisch und rechtfertigt
8
1 Einleitung
entsprechende Anstrengungen zur Prävention; betrachtet man jedoch die Todesursachen allgemein (Tab. 1.2) so übersteigen Krankheiten die Unfälle bei weitem. Dies ist überhaupt nicht überraschend, da das Leben meist in fortgeschrittenem Alter bei (altersentsprechend) reduziertem Gesundheitszustand endet. Zweitens können Verkehrsunfälle, wenngleich sie natürlich wie andere Unfälle auch in einer Vielzahl von Variationen vorkommen, in einige typische bzw. repräsen tative Arten eingeteilt werden (z. B. Frontalkollisionen gegen ein Hindernis oder ein 90°-Seitenanprall), sodass es möglich wird, für diese Typen standardisierte Testverfahren und Prüfprotokolle zu entwickeln. Im Gegensatz dazu ist es in den Bereichen Sport, Arbeitsplatz oder Haushalt ungleich schwerer, typische Situationen zu definieren, die häufig zu Verletzungen führen. Verglichen mit Publikationen zu Straßenverkehrsunfällen ist die Literatur zu Verletzungen im Sport usw. – obschon reichlich vorhanden – aus biomechanischer Sicht weniger stringent. Sie beschränkt sich häufig auf allgemeine Statistiken, qualitative Beschreibungen von Verletzungsmechanismen, medizinische Therapieansätze oder praktischen Empfehlungen für Sporttrainings oder zur Arbeitsplatzsicherheit. Quantita tive Untersuchungen sind hingegen nur relativ wenige vorhanden. Stattdessen werden quantitative Aussagen zu Verletzungsgrenzen oder Verletzungskriterien auch in diesen Bereichen meistens aus Untersuchungen zu Straßenverkehrsunfällen abgeleitet bzw. übernommen. Zudem fällt auf, dass Untersuchungen zu Sportunfällen vor allem in den jenigen Disziplinen durchgeführt wurden, in denen große Geldsummen umgesetzt wer den wie beispielsweise Fußball, American Football oder Skifahren. Weniger prominente Sportarten wurden auch in der Forschung weniger oft behandelt. Verglichen mit Unfällen sind bei Verletzungen durch chronische mechanische (Über-) Belastung die individuellen anatomischen und physiologischen Gegebenheiten von größerer Bedeutung. Die Unterscheidung zwischen einer Schädigung durch chro nische Belastung und einer Invalidität durch eine Erkrankung, die nicht mit einer ent sprechenden Belastung in Verbindung steht, ist oftmals schwierig oder gar unmöglich. Psychische Einflüsse sind in diesem Zusammenhang sehr wichtig; quantitative Informa tionen hierzu sind dünn gesät. Bestimmungen zu Belastungen durch Schwingungen von Baumaschinen oder hinsichtlich des Lärmpegels in Fabriken basieren primär auf Langzeitstatistiken und nicht auf physiologischen Experimenten. Aus den oben dargelegten Gründen beschäftigt sich dieses Buch hauptsächlich mit Trauma-Biomechanik im Bereich der Straßenverkehrsunfälle. Nach einem allgemeinen Kapitel zu Grundlagen widmen sich die nachfolgenden Kapitel je einer Körperregion. Diese Kapitel sind systematisch aufgebaut und beginnen mit einer kurzen Zusammenfassung der im Zusammenhang mit Verletzungsmechanismen relevanten anatomischen Strukturen. Zudem werden je Körperregion mögliche Verletzungen, die zugrunde liegenden Verletzungsmechanismen sowie das biomechanische Verhalten unter Belastung beschrieben. Grenzwerte für verletzungsinduzierende Belastungen und davon abgeleitete Verletzungskriterien, mit denen das Verletzungsrisiko beurteilt werden kann, werden vorgestellt. Zu Sportverletzungen finden sich jeweils eigene Abschnitte, in denen die
1.2 Geschichte
9
relevanten Verletzungen, Verletzungsmechanismen und Verletzungstoleranzen für diesen Bereich dargestellt werden. Zu ausgewählten Teilbereichen werden zudem Möglichkeiten der Verletzungsprävention diskutiert. Für vertiefendes bzw. weiterführendes Lesen schließt jedes Kapitel mit einer Literaturliste ab. Ferner finden sich am Ende eines Kapitels Übungsaufgaben sowie eine Zusammenfassung. Verletzungen auf zellulärem Niveau spielen insbesondere bei Verletzungen des zentralen Nervensystems (d. h. des Gehirns und des Rückenmarks) eine wichtige Rolle. Daher wurde diesen Verletzungen ein eigenes Kapitel gewidmet (Kap. 3). Ferner finden sich zwei Kapitel zu speziellen Arten von mechanischen Belastungen und Verletzungen. Einerseits werden Verletzungen durch ballistisches Trauma und Explosionen dargestellt und entsprechende Möglichkeiten der Prävention diskutiert (Kap. 11). Zudem findet sich ein Kapitel zu Verletzungen durch chronische, mechanische Belastungen (Kap. 10). Sol che verletzungsinduzierenden Belastungssituationen können im Sport (z. B. Boxen), am Arbeitsplatz (z. B. Bauarbeiten) oder im Haushalt (z. B. längere Arbeit in gebückter Hal tung) vorkommen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere Aspekte der Ergonomie und der allgemeinen Arbeitsplatzsicherheit bzw. dem Berufsrisiko relevant. Eine auf einem Langstreckenflug erlittene Thromboembolie steht vor allem im Zusammenhang mit der Ergonomie des Sitzes und dem Verhalten des Flugpassagiers und hat weniger Bezug zur Trauma-Biomechanik. Da sich dieses Buch jedoch auf letztgenanntes Fachgebiet beschränkt, werden die anderen Bereiche hier nicht behandelt (weiterführende Informa tionen finden sich beispielsweise auf der Internetseite der US Occupational Safety and Health Administration, http://www.osha.gov).
1.2 Geschichte Biomechanik als Wissenschaft ist so alt wie die Mechanik selbst. Während sich Giovanni Alfonso Borelli (1608–1679; gelegentlich auch als „Vater der Biomechanik“ bezeichnet) als einer der ersten Wissenschaftler mit profunder Kenntnis der Biomechanik mit dem Vogelflug und dem Schwimmen der Fische beschäftigte, schrieb Leonhard Euler (1707– 1783), der die Grundlagen der Kontinuumsmechanik erarbeitete, eine ausführliche Abhandlung über den Blutfluss in Arterien („Principia pro motu sanguinis per arterias determinando“, op. posth.) [2]. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Mechanik von Verletzungen bzw. die Trauma-Biomechanik jedoch nicht systematisch erforscht. Dies könnte daran gelegen haben, dass Gefahren allgegenwärtig waren und Verletzungen einfach als zum Leben gehörend betrachtet wurden. Man sollte nicht vergessen, dass es in Europa vor 1945 für 2000 Jahre quasi keine Periode von mehr als 15 Jahren ohne Krieg gab. Verletzungsprävention wurde direkt und pragmatisch umgesetzt, z. B. in Form von Ritterrüstungen. Der erste bekannte systematische und wissenschaftliche Ansatz in Richtung Trauma-Biomechanik stammt vom deutschen Anatomen Otto Messerer aus München, der im Jahr 1880 die Ergebnisse seiner Forschung unter dem Titel „Über Elastizität
10
1 Einleitung
und Festigkeit der menschlichen Knochen“ veröffentlichte [7]. In der Forensik ist der sogenannte „Messerer-Keil“ (die Beschreibung eines speziellen Frakturbildes) heute noch bekannt. Wie bereits erwähnt, konzentriert sich die Trauma-Biomechanik heute hauptsächlich auf Verkehrsunfälle. Historisch liegen die Wurzeln jedoch in der Aviatik. Anlässlich der „1st National Conference on Street and Highway Safety“ (USA 1924) standen vor allem einfache und praktische Aspekte der Verkehrssicherheit, wie beispielsweise die Farbe von Lichtsignalanlagen (Ampeln) oder die Fahrerausbildung im Vordergrund, während die Trauma-Biomechanik keine besondere Rolle spielte. Im Gegensatz dazu war die Trauma-Biomechanik zu dieser Zeit bereits im Bereich der militärischen Flie gerei, in der der menschliche Körper extremen mechanischen Belastungen ausgesetzt ist, ein wichtiges Thema. Insbesondere Hugh DeHaven, von manchen – in Anlehnung an Borelli – als „Vater der Trauma-Biomechanik“ bezeichnet, begann mit der Ana lyse von Flugzeugabstürzen und den involvierten Verletzungsmechanismen. 1942 pub lizierte er seine Arbeit „Mechanical Analysis of Survival in Falls from Heights of 50–100 Feet“ („Mechanische Untersuchung zum Überleben von Stürzen aus Höhen von 15,2–30,5 m“). Auch in den darauffolgenden Jahren stand die Militäraviatik im Zentrum der Trauma-Biomechanik-Forschung. Die Belastungen bei Überschallflügen oder der Ausstieg mittels Schleudersitz waren wichtige Forschungsthemata. Zudem wur den grundlegende Methoden im Bereich der Trauma-Biomechanik eingeführt, z. B. die Durchführung von Freiwilligenversuchen zur Untersuchung des biomechanischen Verhaltens des Körpers unter subkritischen Belastungen oder die Entwicklung von anthropometrischen Testpuppen (Crashtest-Dummys). Auch die Grundidee des „airbags“ stammt aus der Aviatik. Der wahrscheinlich berühmteste Pionier der Trauma-Biomechanik in der Aviatik ist Colonel John Paul Stapp. Er wurde insbesondere für seine experimentellen Arbeiten bekannt. Zu diesen gehören unter anderem verschiedene Selbstversuche, in denen er sich unterschiedlichen, z. T. enorm hohen Belastungen aussetzte. In einer seiner spek takulären Testreihen Anfang der 1950er Jahre „setzte“ (er war umfassend gesichert) sich Stapp auf einen von einer Rakete angetriebenen Schlitten und ließ sich ausgehend von einer Geschwindigkeit von ca. 1000 km/h in 1,4 s bis zum Stillstand abbremsen. Er erfuhr dadurch eine Beschleunigung (Abbremsung) von etwa dem 40fachen der Erdbeschleunigung (Abb. 1.3). Schwere Verletzungen zog er sich bei diesem Experiment nicht zu. Stapp, von der Zeitschrift Time zu „the fastest man on earth and No. 1 hero of the Air Force“ gekürt (Time, September 12/1955), gründete zudem die jährlich stattfindenden Stapp Car Crash Conference, einer Konferenz zu Trauma-BiomechanikThemen. John P. Stapp starb 1999 im Alter von 89 Jahren. Auch Entwicklungen aus dem Bereich der Astronautik – obschon dort Untersuchungen zum Einfluss der Schwerelosigkeit im Mittelpunkt standen – haben die Trauma-Biomechanik beeinflusst. Das erste Computermodell zur dreidimensionalen Simulation von Bewegungen des Menschen (R.D. Young, Texas A&M, 1970) wurde im Zusammenhang mit der Analyse von Bewegungsmustern unter Schwerelosigkeit
1.2 Geschichte
11
Abb. 1.3 Colonel Stapp auf dem Raketen getriebenen Schlitten „Sonic Wind No. 1“ sitzend, mit dem er sich einer Beschleunigung von 40 g aussetzte [Stapp Car Crash Conference 2018] [10]
(d. h. beim Wegfall äußerer Kräfte) entwickelt. McHenry (Calspan Corp., Buffalo) erstellte das erste Computermodell zur Bewegungsanalyse im Falle einer Frontalkollision im Straßenverkehr. Da in diesem Fall der Einfluss äußerer Kräfte wichtig ist, beschäftigte sich ein großer Teil der Modellbildung mit der Wechselwirkung bzw. dem Kontakt zwischen dem menschlichen Körper und den ihn umgebenden (Fahrzeug-) Strukturen. Dadurch wurden die Modelle für damalige Verhältnisse derart komplex, dass anfangs nur zweidimensionale Berechnungen möglich waren. In den Anfängen des Straßenverkehrs wurde Sicherheit primär mit dem Fahrer bzw. dem Fahrstil in Verbindung gebracht. Die Sicherheit des Fahrers und seiner Passagiere wie auch die der anderen Verkehrsteilnehmer war quasi ausschließlich eine Frage des Fahrstils des Fahrers. Rückhaltesysteme wurden angedacht (Abb. 1.4) waren aber vor dem 2. Weltkrieg nicht sehr verbreitet. Nichtsdestotrotz verbesserte sich die Konstruktion der Fahrzeuge zwischen den 1920er und 1930er Jahren auch zum Vorteil der Sicherheit. Beispielsweise wurden zuverlässige Bremssysteme und laminierte Frontscheiben eingeführt. Weitere Entwicklungen betrafen die Beleuchtung sowie die Räder (z. B. schlauchlose Reifen). Fahrzeugstrukturen aus Stahl ersetzten Holzbauteile und erhöhten somit die Steifigkeit der Fahrzeuge. Nach dem 2. Weltkrieg nahm die Mobilität schnell zu, womit auch eine dramatische Zunahme der im Straßenverkehr erlittenen Verletzungen einherging. Folglich wurden diese Gegenstand detaillierter Untersuchungen. Das „Automotive Crash Injury Research Programme“ (ACIR, Cornell University, 1951) war ein früher systematischer Ansatz zur Untersuchung von Verletzungen im Straßenverkehr. Ein entscheidender Fortschritt war
12
1 Einleitung
Abb. 1.4 Patent über Sicherheitsgurte von Gustave D. Lebau (1903). Statt zur Sicherheit im Falle einer Kollision dienten die Gurte in erster Linie dazu, die Passagiere während der Fahrt (über unebene Straßen und ohne Stoßdämpfer) in den Sitzen zu halten
die Umsetzung der Kombination aus steifer Fahrgastzelle und vorgelagerter Knautschzone. Auch das Lenkrad wurde als mögliche Quelle für Verletzungen identifiziert und stand daher im Mittelpunkt verschiedener Forschungs- und Entwicklungsprojekte, die beispielsweise zur Einführung von energieabsorbierenden Lenksystemen führten. Weitere Verbesserungen betrafen das Crash-Verhalten des Armaturenbretts, die Entwicklung von Rückhaltesystemen wie dem 3-Punkt-Gurt und dem Airbag. Die Begriffe „passive“ und „aktive“ Sicherheit wurden eingeführt und Fahrzeughersteller begannen mit der Durchführung von systematischen Crashtests und entsprechenden Computersimulationen. Eine umfangreiche Zusammenfassung der Forschung zur Fahrzeugsicherheit bis 1970 findet sich im International Automobile Safety Conference Compendium (1970, SAE, New York) [9]. Im Rahmen der passiven Fahrzeugsicherheit können Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen ergriffen werden. Erstens können Verletzungen konstruktiv durch verbesserte
1.2 Geschichte
13
Crash-Eigenschaften des Fahrzeugs reduziert werden. Dies beinhaltet insbesondere die Entwicklung von Energie absorbierenden Strukturen. Zweitens kann die Insassenbewegung im Falle einer Kollision kontrolliert werden. Rückhaltesysteme wie der Sicherheitsgurt zielen darauf ab, die Insassen in der vorgesehenen Position zu halten und koppeln die Bewegung der Insassen an das Fahrzeug. Drittens kann der eigentliche Anprall, d. h. der Kontakt zwischen dem menschlichen Körper und den ihn umgebenden Strukturen, beeinflusst werden. Hierbei spielen Energieabsorption und die Verteilung der Aufprallkräfte auf der Kontaktfläche eine große Rolle. Aktive Sicherheit wiederum beschreibt hier Systeme, die den Fahrer unterstützen, um einen Anprall zu verhindern bzw. Systeme, die vor dem Anprall aktiv werden. Beispiele sind ABS-Bremssysteme, Abstandsradar und diverse Fahrassistenzsysteme. Die aktuelle Entwicklung von höher automatisierten Fahrzeugen treibt die Entwicklung weiterer sicherheitsrelevanter Systeme voran bzw. bringt neue Herausforderungen im Bereich der Fahrzeugsicherheit. In Ergänzung zu (fahrzeug-) technischen Möglichkeiten bemühen sich auch staatliche Stellen um eine Verbesserung der Sicherheit auf den Straßen. Nach dem 2. Weltkrieg richteten sich erste Programme an die Ausbildung von Fahrern, Verkehrsregeln oder die Entwicklung der Verkehrswege um die Sicherheit zu erhöhen. Die Gestaltung sowie der Bau von Straßen oder die Überwachung von Verkehrsvorschriften und Geschwindigkeitsbegrenzungen sind wichtige Beiträge des Staates zur Verbesserung der Verkehrssicherheit. Die Reduktion der im Straßenverkehr verletzten und getöteten Personen, die die amtlichen Statistiken der letzten Jahre in vielen Staaten ausweisen (Abb. 1.5), kann teilweise mit den Anstrengungen im Bereich der Trauma-Biomechanik erklärt werden, die sich auf die lebensbedrohlichen Verletzungen konzentrierten. Wie bereits erwähnt, ist der Straßenverkehr jedoch nur ein Teilgebiet, in dem Verletzungen auftreten. Verletzungen, die bei Arbeitsunfällen, im Sport oder sonst im Alltag erlitten werden, sind ebenfalls bedeutend. In Industriestaaten wie den USA ist bei jungen, bis Menschen mittleren Alters die Anzahl der im Straßenverkehr Getöteten ähnlich hoch wie die Anzahl der in anderen Unfallereignissen getöteten Personen (Tab. 1.1). Mit zunehmendem Alter verschieben sich die Todesursache dann von Unfällen hin zu Krankheiten (Tab. 1.2). Globale Statistiken zeigen, dass vor allem Verkehrsunfälle bei den tödlich verlaufenden Unfällen überwiegen: während die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Anzahl der im Straßenverkehr Getöteten im Jahr 2013 weltweit auf 1,25 Mio. Per sonen schätzt, geht die International Labour Organisation (ILO) derzeit von 2,78 Mio. Arbeitsunfällen pro Jahr aus. Die Expositionszeit, d. h. die Zeitdauer, in der man die verschiedenen Aktivitäten ausübt, kann ein entsprechender Indikator für das mit der jeweiligen Tätigkeit verbundene Risiko sein. Tab. 1.3 zeigt, dass die Teilnahme am Straßenverkehr – dank den unternommenen Anstrengungen zur Sicherheit – nicht per se übermäßig risikoreich ist, wenn man sie anderen Aktivitäten gegenüberstellt. Die hohe Expositionszeit im Straßenverkehr macht diesen Effekt jedoch zunichte.
Abb. 1.5 Entwicklung der Anzahl von im Straßenverkehr verletzten und getöteten Personen in der Schweiz. Die Anzahl der leicht Verletzten stag niert auf hohem Niveau [bfu 2018] [1]
14 1 Einleitung
Literatur
15
Tab. 1.3 Geschätztes Risiko eines tödlichen Unfalls (Fatal Accident Rate, FAR) je nach Expositionszeit und individuellem Risiko pro Person und Jahr [McDonald 2004] [6] FAR pro 108 h Exposition
Individuelles Sterberisiko pro Person und Jahr (x10−4)
– Flugzeug
na
0,02
– Zug
3–5
0,03
– Bus
4
2,00
– Auto Tätigkeit/Arbeit in der:
50–60
2,00
– Chemischen Industrie
4
0,50
– Produktion
8
na
– Schifffahrt
8
9,00
– (Kohle-) Bergbau
10
2,00
– Landwirtschaft
10
na
– Boxen
20.000
na
– Klettern
4.000
1,40
Tätigkeit Reisen im:
Während der letzten Jahrzehnte haben die Forschung zu Verletzungen sowie entsprechende wissenschaftliche Publikationen zu diesem Thema stark zugenommen; auch die Spezialisierung innerhalb des Fachgebiets ist weitervorangeschritten. Aktuelle Forschungsergebnisse werden beispielsweise an der Konferenz des International Research Council on Biomechanics of Injury (Ircobi) sowie der Stapp Car Crash Confe rence vorgestellt [4, 10]. Auch erhalten Fachzeitschriften zu Sportmedizin, Arbeits- und Umweltmedizin und Arbeitssicherheit, zu Verletzungen und insbesondere zur Verletzungsprävention zunehmend mehr Aufmerksamkeit.
Literatur 1. bfu – Swiss council for accident prevention (2018) www.bfu.ch. Zugegriffen: 7. Okt. 2018 2. Euler L (1862) E 855 – Principia pro motu sanguinis per arterias determinando. Op Postuma 2:814–823 3. Heron, M (2018) Deaths: leading causes for 2016. National Vital Statistics Reports 67(6) 4. IRCOBI – International Research Council on Biomechanics of Injury (2018) annual confe rence proceedings published online. www.ircobi.org. Zugegriffen: 7. Okt. 2018 5. Knothe Tate ML, Falls TD, McBride SH, Atit R, Knothe UR (2008) Mechanical modulation of osteochondroprogenitor cell fate. Int J Biochem Cell Biol 40:2720–2738 6. MacDonald D (2004) Practical industrial safety, risk assessment and shutdown systems. Elsevier, Oxford (ISBN 07506 58045)
16
1 Einleitung
7. Messerer O (1880) Über Elastizität und Festigkeit der menschlichen Knochen. Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, Stuttgart 8. Paradis A, Reinherz H, Giaconia R, Beardslee W, Ward K, Fitzmaurice G (2009) Long-term impact of family arguments and physical violence on adult functioning at age 30 years: findings from the Simmons longitudinal study. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 48:290–298 9. SAE (1970) International automobile safety conference compendium, SAE, New York. www.sae.org. Zugegriffen: 7. Okt. 2018 10. STAPP Car Crash Conference (2018) www.stapp.org. Zugegriffen: 7. Okt. 2018
2
Methoden der Trauma-Biomechanik
Die Arbeit in der Trauma-Biomechanik wird durch einige Randbedingungen eingeschränkt, die in dieser Form in anderen Bereichen der Ingenieurwissenschaften und der Life Sciences nicht oder nur teilweise vorhanden sind. Experimente an Menschen, bei denen verletzungsinduzierende Belastungen auftreten können, sind selbstverständlich ausgeschlossen. Tierversuche sind nur sehr eingeschränkt nützlich, da es schwierig bis unmöglich ist, Verletzungssituationen vom Tier auf den Menschen zu übertragen. Auch ist es fraglich, in welchem Grade Tiermodelle die Biomechanik des Menschen repräsen tieren. Kosten und insbesondere ethische Überlegungen tragen dazu bei, dass Leichen versuche heute nur noch selten und nur unter besonderen Bedingungen durchgeführt werden. Dementsprechend werden in der Trauma-Biomechanik hauptsächlich indirekte Verfahren angewandt. In erster Linie kommen dazu die folgenden Methoden infrage: • • • • • • •
Statistik, Feldstudien, Datenbanken (Abschn. 2.1) mechanische Grundlagen der Biomechanik (Abschn. 2.2) Verletzungskriterien, Verletzungsindizes und Verletzungsrisiko (Abschn. 2.3) Unfallrekonstruktion (Abschn. 2.4) Experimentelle Untersuchungen (Abschn. 2.5) Standardisierte Testverfahren (Abschn. 2.6) Numerische Simulationen (Abschn. 2.7)
2.1 Statistik, Feldstudien, Datenbanken Die Epidemiologie ist in der Trauma-Biomechanik von grundlegender Bedeutung und stellt den ältesten methodischen Ansatz dar. Die Ermittlung von Verletzungsrisiken und dazugehörigen Einflussfaktoren basiert größtenteils auf epidemiologischen © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K.-U. Schmitt et al., Trauma-Biomechanik, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60936-1_2
17
18
2 Methoden der Trauma-Biomechanik
Erkenntnissen. Viele Präventionsstrategien wie auch technische und gesetzgeberische Ansätze zur Reduktion von Verletzungen leiten sich aus Resultaten epidemiologischer Studien ab. In welchem Ausmaß Ansätze zur Verletzungsreduktion tatsächlich erfolgreich sind, kann nur auf Grundlage statistischer Beobachtungen, die sich oftmals über längere Zeiträume erstrecken, beurteilt werden. Daher sind die detaillierte Erfassung und Auswertung von Unfällen bzw. Unfalldaten, vor allem im Hinblick auf Fragestellungen zur Reduktion von Verletzungsfolgen und zur Prävention, unerlässliche Voraussetzungen für die Forschung. Die Erfassung, Klassifizierung und Interpretation von Unfalldaten wird in vielen Fällen durch die Stichprobengröße eingeschränkt. Man sollte sich daher bewusst sein, dass die größten Einschränkungen der Anwendbarkeit von Ergebnissen aus statistischen Untersuchungen bereits durch Entscheidungen beim Aufbau einer Datenbank und bei der Datenerfassung begründet werden. Im Unterschied zu einem kontrollierten Experiment im Labor sind bei realen Unfallsituationen viele Parameter mit Unsicherheiten behaftet, die nicht kontrolliert werden können bzw. die größe Abweichungen aufweisen. Zudem sind Aussagen von Betroffenen oder Zeugen oftmals unpräzise oder werden durch (ver sicherungs-) rechtliche Überlegungen beeinflusst. Des Weiteren können bei der statisti schen Analyse von Auswirkungen bzw. der Effektivität neuer Sicherheitsmaßnahmen auch Faktoren wie beispielsweise die Zusammensetzung der Fahrzeugflotte, Treibstoffpreise, Gesetzesänderungen, Regeländerungen im Sport oder Änderungen bei der Versicherung von Arbeitsunfällen eine erhebliche Rolle spielen. Eine fundierte statistische Evaluation kann auch einfach daran scheitern, dass die Stichprobe zu klein ist, um reprä sentative Aussagen machen zu können. Methodisch werden zwei verschiedene Ansätze von Unfall- bzw. Verletzungsdatenbanken unterschieden: breit aufgestellte Datensammlungen, die sich durch eine größe Anzahl von Fällen – teilweise sogar durch Einschluss aller Unfälle – auszeichnen, und detailreiche, aber auf eine kleinere Stichprobe begrenzte Datenbanken. Allgemeine, breite Erhebungen werden beispielsweise durch die Polizei, andere staatliche Stellen oder Versicherungen durchgeführt. Solche Datensammlungen enthalten in der Regel viele Fälle, zu denen aber jeweils nur eine begrenzte Anzahl an Parametern erfasst wird. Im Gegensatz dazu wird beispielsweise durch spezialisierte Unfallforschungsteams für eine begrenzte Anzahl von Fällen eine größe Anzahl von Parametern erfasst. Zu diesem Parametern können genaue Angaben zum Unfallort (sei es auf der Straße, am Arbeitsplatz oder im Haushalt) wie auch Angaben zu Fahrzeugen, Sportgeräten, Polizei berichten, Zeugenaussagen, medizinischen Unterlagen, Wetterinformationen, etwaigen Videoaufnahmen oder Unfallrekonstruktionen gehören. Ergänzend können numerische Simulationen durchgeführt werden, um Aufschlüsse über die aufgetretenen Belastungen zu erhalten und um diese mit etwaigen Verletzungen zu korrelieren. Eine derart detail lierte Erfassung von Daten ist natürlich entsprechend kostspielig, sodass schon aus die sem Grund die Anzahl der zu untersuchenden Fälle begrenzt wird. Daher ist bei solchen Ansätzen vor allem die Repräsentativität der Stichprobe entscheidend.
2.1 Statistik, Feldstudien, Datenbanken
19
Versicherungsgesellschaften verfügen oftmals über größere Datenbanken als staatliche Stellen, da der Versicherung mehr Unfallschäden gemeldet werden als der Polizei. Dies gilt insbesondere für Selbstunfälle. Für Außenstehende sind Versicherungsdatenbanken allerdings meist nicht zugänglich und zudem weisen sie je nach Versicherten Verzerrungen auf oder sind nicht detailliert genug. Beispielsweise quantifizieren Versicherungen Fahrzeugschäden oftmals lediglich im Sinne von Reparaturkosten und nicht im Sinne biomechanisch relevanter Kriterien wie der Verformungsenergie. Des Weiteren werden Daten für breit angelegte Datenbanken oftmals nicht von spe zialisiertem Personal erfasst, sodass gravierende Fehler bzw. Fehlinterpretationen in die Datenbank eingehen können. Abweichungen können alleine schon dadurch entstehen, dass bei einer großen Zahl von erfassenden Personen die Daten nicht nach einheitlichen Kriterien erfasst werden. Die Heterogenität der Datenbanken macht es schwierig, die Ergebnisse verschiedener Auswertungen miteinander zu vergleichen. Selbst innerhalb eines bestimmten Typus von Datenbank (z. B. den Unfallstatistiken der Polizei), können grundlegende Definitio nen, die Stichprobengrößen oder verschiedene Datenschutz-Bedingungen zu Problemen der Vergleichbarkeit verschiedener Datenbanken führen. Ob beispielsweise ein älterer Patient, der zwei Wochen nach einem schweren Unfall im Krankenhaus an einer Lungenentzündung stirbt, als Unfallopfer betrachtet wird oder nicht, kann mitunter von der in diesem Krankenhaus üblichen Praxis der Datenerfassung abhängen. In den meisten Industriestaaten gehören Unfälle im Straßenverkehr, am Arbeitsplatz, im Haushalt oder beim Sport in den Kompetenzbereich unterschiedlicher staatlicher Stellen, Stiftungen, privater Institutionen, Sportverbände, Versicherungen usw., die gegenseitig wenige Berührungspunkte haben. Die Praxis von Unfallmeldungen bzw. Untersuchungen von Unfällen sind daher verschieden, und auch die jeweiligen Ansätze zur Prävention sind unterschiedlich. Dies ist auch bei Vergleichen zwischen verletzungsinduzierenden Situationen aus den unterschiedlichen Bereichen zu berücksichtigen. Statistiken, die auf einheitlichen Kriterien beruhen, sind oftmals nur in kleinen Staaten wie z. B. der Schweiz vorhanden, da hier die gleiche Stelle für die Aufbereitung von Unfalldaten aus verschiedenen Bereichen verantwortlich ist. Die größten systematischen Datensammlungen und Statistiken zu Straßenverkehrsun fällen werden durch die US National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) zur Verfügung gestellt. Sie beinhalten allgemeine Informationen zu Fahrzeugen, Crashverhalten, Trends (National Automotive Sampling System, NASS), Daten zu schweren Verkehrsunfällen (Crash Injury Research, CIREN) wie auch Daten zu Verkehrstoten (Fatal Accident Reporting System, FARS) (Gabler et al. 2015) [16]. Ähnliche, mitunter jedoch weniger systematisch aufbereitete Daten werden von fast allen Staaten bereitgestellt. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) stellt ebenfalls Daten zur Verfügung (International Road Traffic and Accident Database, IRTAD). Daten zur Sicherheit am Arbeitsplatz finden sich in den Statistiken der US Occupational Safety & Health Administration (OSHA). In den meisten Industriestaaten werden Arbeitsunfälle durch öffentlich-rechtliche (Versicherungs-) Organisationen bearbeitet, die Statistiken hierzu herausgeben.
20
2 Methoden der Trauma-Biomechanik
Bei Unfällen und Verletzungen im Sport stellt sich die Situation etwas unübersichtlicher dar. Sport wird – mit Ausnahme z. B. vom Schulsport – üblicherweise auf freiwilliger Basis in der Freizeit betrieben. Daher kommen im Falle von Verletzungen meist verschiedene (Unfall-/Haftpflicht-/Kranken-) Versicherungen zum Tragen und auch die Aspekte der Produkthaftung (z. B. für Trampoline, Sprungbretter im Schwimmbad, Helme, Skibindungen) sind unterschiedlich geregelt. Allgemeine wie auch spezielle Statistiken, die das Unfallgeschehen über mehrere Jahre verfolgen und allenfalls auf Trends hinweisen könnten, fehlen größtenteils. Teilweise liegt dies wohl daran, dass Sportverletzungen im allgemeinen Bewusstsein erst in den letzten Jahrzehnten einen größeren Stellenwert eingenommen haben. Das olympische Komitee verfügt seit 1990 über Einrichtungen, die sich intensiver mit dieser Thematik beschäftigen. Auch die Fédération Internationale de Ski (FIS) hat in Zusammenarbeit mit dem Oslo Sports Trauma Research Centre ein System zur Erfassung von Verletzungen (Injury Surveillance System) entwickeln, das für FIS-Disziplinen wie Alpinskifahren, Ski langlauf, Skisprung, nordische Kombination, Freestyle-Skifahren und Snowboard zur Anwendung kommt. Viele andere Sportverbände geben hingegen gar keine systemati schen Informationen zum Unfall-/Verletzungsgeschehen heraus (es erscheinen jedoch immer wieder wissenschaftliche Publikationen, die einige Daten zu Teilgebieten enthalten). Detaillierte Datenerhebungen („in-depth studies“) werden von spezialisierten Teams durchgeführt und verfolgen in der Regel ein konkretes Ziel und/oder sind auf ein bestimmtes Gebiet, in dem die Unfalldaten erhoben werden, beschränkt. Um eine gute Grundlage für (vergleichende) statistische Auswertungen darzustellen, sollten solche Erhebungen über einen längeren Zeitraum und nach einheitlichen Kriterien erfolgen. Die meisten Projekte dieser Art werden im Zusammenhang mit Straßenverkehrsunfällen durchgeführt. Ein Team der Medizinischen Hochschule Hannover erhebt beispielsweise seit vielen Jahren im Rahmen des Projektes GIDAS (German In-Depth Accident Studies, www.gidas.org) sehr detaillierte Daten zu allen Unfällen, die in der Region Hannover geschehen. Seit 1999 erfolgt zusätzlich eine Erhebung nach gleichem Muster in Dresden. Da hier Daten systematisch, nach gleichem Protokoll und über eine lange Zeit erfasst werden, ist es beispielsweise möglich mithilfe dieser Datenbank den Einfluss von Änderungen in der Fahrzeugkonstruktion zu untersuchen. Nach ähnlichem Prinzip funktionieren die Datenbanken CIREN (USA) und RASSI (Indien). Ein anderes Beispiel ist die Datenbank zu Halswirbelsäulen-Beschwerden nach Verkehrsunfällen („Schleudertrauma“) der AGU Zürich (www.agu.ch). In dieser Datenbank werden schweizweit Fälle mit Beschwerden und nachfolgender Arbeitsunfähigkeit erfasst. Dank der Größe der Stichprobe können mithilfe dieser Datenbank spezifische technische, medizinische und biomechanische Fragestellungen untersucht werden [z. B. Schmitt et al. 2003, Linder et al. 2013] [27, 39]. Weitere umfangreiche Datenerhebungen werden von Fahrzeugherstellern durchgeführt, wobei sich diese üblicherweise auf Fahrzeuge der eigenen Produktion beschränken, um den Nutzen der Sicherheitssysteme zu überprüfen und um Verbesserungen bzw. neue Entwicklungen zu initiieren. Einiger dieser Datenbanken
2.2 Grundlagen der Biomechanik
21
enthalten daher auch Fälle, in denen zwar Fahrzeugschäden, aber keine Verletzungen aufgetreten sind. Umfangreiche Datenbanken wie die oben genannten Beispiele sind wichtige Werkzeuge der Trauma-Biomechanik. Im Rahmen von statistischen Auswertungen gestatten sie es, verschiedene (Kontroll-) Gruppen zu bilden, was in anderen Datensammlungen nicht unbedingt möglich ist. Die Relevanz der Unfall- und Verletzungsdatenbanken in Bezug auf die Auswahl, Umsetzung und Evaluation geeigneter Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit, lässt sich auch an verschiedenen Projekten zur internationalen Harmonisierung der Datenerhebung ablesen. Das European Road Safety Observatory (www.erso.eu) zielt beispielsweise darauf ab, die Erfassung von Unfalldaten zu vereinheitlichen, sodass (länderübergreifende) vergleichende Studien ermöglicht werden. Im Gegensatz dazu werden in den Bereichen Arbeit, Haushalt und Sport nur wenige vergleichbare Anstrengungen unternommen.
2.2 Grundlagen der Biomechanik Im Folgenden werden einige grundlegende Konzepte der Mechanik, die auch in der Trauma-Biomechanik wichtig sind, kurz zusammengefasst. Eine ausführliche Darstellung der in der Biomechanik verwendeten mathematischen Ansätze findet sich beispielsweise in Niederer (2010) [35]. Grundsätzlich unterscheidet man in der Mechanik zwischen Starrkörper- und Kontinuumsmechanik. Beide Formulierungen sind, insbesondere auch bei Anwendungen in der Trauma-Biomechanik, mit Annahmen und Approximationen verbunden, deren Anwendbarkeit, Validität und Limitierungen jeweils berücksichtigt werden müssen. Das Ziel der mechanischen Formulierungen ist eine quantitative Beschreibung der Auswirkungen von Kräften auf die Bewegung und Verformung von Körpern. In der Trauma-Biomechanik bezieht sich dies in erster Linie auf lebende Organismen. Masse [kg], Zeit [s] und Länge [m] sind die unabhängigen fundamentalen Grundgrößen als deren Funktion alle anderen mechanischen Größen dargestellt werden. Starrkörpermechanik: Grundgrößen sind die Masse m, die Zeit t, der Weg r (t), zusätzliche Größen sind das Trägheitsmoment I und die Rotationsgeschwindigkeit ω(t) . Der Längenvektor r (t) beschreibt die Position des Massemittelpunktes eines Starrkörpers als Funktion der Zeit. Weitere Größen, die daraus abgeleitet werden, sind die Geschwindig2 keit des Schwerpunktes v�(t) = dtd �r (t) und die Beschleunigung a�(t) = dtd 2 �r (t). Die Translationsbewegung eines Starrkörpers wird durch das zweite Newton‘sche Axiom beschrieben: m · a�(t) = F� i (t) (2.1) i
wobei F i (t) die Summe aller auf den Körper wirkenden Kräfte darstellt. Die räumliche Orientierung des Körpers ergibt sich aus dem Gleichgewicht der Momente,
22
2 Methoden der Trauma-Biomechanik
I·
d � i (t) ω(t) � = M dt i
(2.2)
und der Summe aller auf den Körper wirkenden mit der Winkelbeschleunigung dtd ω(t) i (t). Wegen des Erstarrungsprinzips („Stevin’s principle of solidification“) Momente M können diese Gleichungen auch auf verformbare Körper angewendet werden, wobei in einem solchen Fall der Massemittelpunkt jedoch nicht konstant ist, sondern sich bei Formänderung des Körpers verschiebt. Variationsprinzipien, die aus der Newton‘schen Mechanik hergeleitet werden können, führen zu Lagrange- oder Hamilton‘schen Formu lierungen, die je nach Problemstellung angewendet werden − können. → Kontinuumsmechanik Grundgrößen sind Dichte ρ r , t , Zeit t, Geschwindigkeitsfeld v(r , t). Die Dichte ρ(r , t) wie auch das Geschwindigkeitsfeld v(r , t) beziehen sich auf einen definierten Punkt im Raum (dieser Ansatz wird oftmals als Eulersche Beschreibung des Kontinuums bezeichnet). Die Bewegungsgleichung lautet →− ∂ − → − → → − → v = k + ∇ , σ ρ→ v + − v ∇ · ρ− ∂t
(2.3)
∂ � (ρ�v) = 0 ρ + ∇, ∂t
(2.4)
r , t) das Kraftfeld beschreibt (z. B. die Schwerkraft), σ (r , t) steht für den wobei k( Spannungstensor der inneren Kräfte des Kontinuums (d. h. die Kräfte pro Fläche wie � ist der Normal- und Scherspannungen) und beinhaltet auch äußere Kontaktkräfte. ∇ Nabla-Operator, in Klammer gesetzte vektorielle Größen, die durch ein Komma getrennt sind, beschreiben ein Skalarprodukt. Das Momentengleichgewicht (Drehmoment) bedingt, dass der Spannungstensor symmetrisch ist. Unter Berücksichtigung des Massegleichgewichts ergibt sich folgende Kontinuitätsgleichung
Gl. 2.4 ist nicht-linear. Das Geschwindigkeitsfeld ergibt sich aus der Lösung des Gleichungssystems, wobei die mechanischen Eigenschaften des Kontinuums als Randbedingungen berücksichtigt werden müssen [siehe auch Liu 2002] [28] . Für Festkörper ergibt sich das Geschwindigkeitsfeld aus den zeitabhängigen Verschiebungen der einzelnen Teile des Kontinuums. In der Literatur findet sich eine Vielzahl von Ansätzen wie diese Verschiebungen (bzw. die daraus resultierende Verformung des Kontinuums) mit den Spannungen verknüpft werden können. Für Flüssigkeiten kann der Spannungstensor aus dem Geschwindigkeitsfeld und dessen Gradienten bestimmt werden. Während Starrkörpermodelle durch eine endliche Anzahl von Freiheitsgraden und den entsprechenden Differenzialgleichungen beschrieben werden, überwiegen in der Kontinuumsmechanik partielle Differenzialgleichungen und unendlich viele Freiheitsgrade. Zur numerischen Lösung dieser partiellen Differenzialgleichungen sind spezielle Formulierungen und Randbedingungen notwendig – beispielsweise eine räumliche Dis kretisierung des Kontinuums in endlich viele Elemente wie bei der Finiten Elemente
2.2 Grundlagen der Biomechanik
23
Methode (FE-Methode, FEM). Die FEM wird in der Trauma-Biomechanik häufig angewendet (Abschn. 2.7). Grundlegende Eigenschaften biologischen Gewebes: Die Spannungs-DehnungsEigenschaften fester Gewebe sind üblicherweise nicht-linear, anisotrop und viskoelastisch. Die Nicht-Linearität entsteht hauptsächlich durch die in der Biomechanik beobachteten großen Verformungen des Gewebes, während die Anisotropie vom Faseranteil des Gewebes stammt. Die Viskoelastizität kann durch die innere Reibung des Aufbaus von Fasern und extrazellulärer Matrix erklärt werden. Des Weiteren beeinflussen aktive Bestandteile (Muskelfasern) die mechanischen Eigenschaften. Vor allem in ex vivo Experimenten ist die Muskelaktivität zu berücksichtigen (Muskelfasern können z. B. durch Barium-Verbindungen chemisch stimuliert werden). Genauso ist bei Experimenten mit einbalsamierten Leichen zu beachten, dass sich die mechanischen Eigenschaften durch die Konservierung verändern. Bei biologischen Flüssigkeiten kann die Berücksichtigung eines nicht-Newton’schen Verhaltens wichtig sein (eine ausführliche Beschreibung der Eigenschaften biologischen Gewebes findet sich u. a. in Holzapfel und Ogden 2006) [21]. In der Biomechanik wird oft zwischen „hartem“ und „weichem“ Gewebe unterschieden. Um diese Unterteilung etwas genauer zu quantifizieren, müssen die Nicht-Linearität, Anisotropie und teilweise auch die aktiven (Muskel-) Eigenschaften mittels linearer Approximation vereinfacht werden. Unter einachsiger Belastung eines langen und dünnen Probekörpers kann ein stückweise linearer Zusammenhang zwischen Spannung und Dehnung in Form des Hooke’schen Gesetzes angenommen werden, sodass ein lokaler Elastizitätsmodul E definiert werden kann. Für „weiche“ Gewebe vari iert E typischerweise zwischen einigen 10 bis 105 kPa, wohingegen die Werte für „harte“ Gewebe in der Größenordnung einiger GPa liegen. Während es unterschiedliche Arten von „weichem“ Gewebe (Weichteilen) gibt, kom men „harte“ Gewebe hauptsächlich in Form kalzifizierten Gewebes, vor allem Knochen, vor. Hydroxylapatit-Kristalle [Ca5 (PO4)3 OH], die in eine Kollagenmatrix eingebettet sind, enthalten dabei das CACalcium. Abgesehen von der Wichtigkeit für den Knochenaufbau und die mechanischen Eigenschaften von Knochen, ist ein physiologischer Calcium-Haushalt für die Homöostase des menschlichen Körpers von erheblicher Bedeutung. In vielen physiologischen Prozessen wie der Muskelaktivität, der Übertragung von Signalen im Nervensystem oder bei der Koagulation des Blutes spielt Cal cium eine entscheidende Rolle. Calcium ist mit Abstand das am häufigsten vorkommende Mineral im Knochen („Calcium-Reservoir“), andere Stoffe wie beispielsweise Phosphor kommen dagegen in viel kleineren Konzentrationen vor. Daher werden die Begriffe „Kalzifizierung“ und „Mineralisierung“ oftmals synonym verwendet. Die Knochendichte (bone mineral den sity, BMD) ist im Zusammenhang mit Knochenfrakturen relevant [Beason et al. 2003] [5]. Ein geringer Calciumgehalt im Knochen, wie im Falle von Osteoporose, erhöht das Frakturrisiko und reduziert somit die Verletzungstoleranz.
24
2 Methoden der Trauma-Biomechanik
Aus biomechanischer Perspektive gehören vor allem Elastin, Kollagen und glatte Muskelfasern zu den essenziellen Bestandteilen von weichem Gewebe. Der Elastizitätsmodul (wiederum unter der vereinfachenden Annahme eines unter uniaxialer Belastung stückweise linearen Modulus) von Elastin (einem globularen, stark dehnbaren Polypeptid) liegt im Bereich von 102–103 kPa. Kollagen (eine steife dreifache Helix-Struktur) weist einen E-Modul von bis zu 105 kPa auf. Für glatte Muskelfasern wird, je nach Aktivierung, ein weiter Bereich von Festigkeitseigenschaften angegeben, der zwischen denjenigen von Elastin und Kollagen liegt. Die Anatomie derjenigen Organe, die aus „weichem“ Gewebe bestehen, wird hauptsächlich durch deren physiologische Funktion bestimmt. Wegen der großen Menge solcher physiologischen Aufgaben variieren die Zusammensetzung wie auch das mecha nische Verhalten unter Belastung der Weichteile erheblich. Die Eigenschaften von Kno chen als solches variieren hingegen weniger stark, obwohl es verschiedene Formen von Knochen gibt. Kortikaler Knochen findet sich im Schaft (Metaphyse) von langen Kno chen und in der äußeren Schicht anderer Knochen. Trabekulärer Knochen kommt vor allem im Markkanal langer Knochen, insbesondere im Bereich nahe von Gelenken (Epiphyse), sowie in der Wirbelsäule und in Knochen, die nicht primär Belastungen übertragen (z. B. Schädel, Beckenkamm), vor. Da Verletzungen im Grunde genommen immer mit einer Verformung über die Belastungsgrenze hinaus verbunden sind, sind lineare Approximationen des mecha nischen Verhaltens grundsätzlich fragwürdig und sollten entsprechend vorsichtig verwendet werden. Vor einer irreversiblen, verletzungsinduzierenden Gewebeschädigung tritt nämlich meist eine zerstörungsfreie, nicht-lineare, viskoelastische Verformung auf, welcher eine Phase der plastischen Verformung folgt. Diese Plastizität kommt in Weichteilen durch eine im Allgemeinen reversible An- bzw. Umordnung der Gewebefasern zustande. Im Fall von „hartem“ Gewebe ist zurzeit noch unklar, durch welche Prozesse eine plastische Verformung zustande kommt; sie kann jedoch experimentell beobachtet werden (Abb. 2.1). Zudem wird vermutet, dass sich Spannungsspitzen im Knochen durch die Plastizität reduzieren lassen [u. a. Stitzel et al. 2003] [43]. Die Altersabhängigkeit der Gewebeeigenschaften ist erheblich. „Weiches“ Gewebe von Kindern ist sehr dehnbar, es wird erst mit zunehmendem Alter steifer. Dieser Effekt ist vor allem durch einen reduzierten Wasseranteil und eine zunehmende Anzahl von Verknüpfungen der Kollagenfasern zu erklären. Während der Wasseranteil am Körpergewicht bei Jugendlichen bis zu 70 % ausmacht, kann er sich im Alter auf ca. 50 % reduzieren. Je jünger ein Kind, desto biegsamer sind auch seine Knochen, da die Mine ralisierung mit der Entwicklung fortschreitet. Daher ist auch die Erscheinungsform von Knochenbrüchen in dem Sinne unterschiedlich, dass bei Erwachsenen die Frakturformen eher einem Bruch von sprödem Material ähneln. Allgemein werden in der Mechanik häufig zwei Versagenskriterien angewandt, wobei angenommen wird, dass Versagen auftritt, sobald ein Grenzwert einer beiden folgenden Parameter überschritten ist:
2.2 Grundlagen der Biomechanik
25
Abb. 2.1 Bildgestützte Untersuchung zum Knochenversagen an Proben aus der menschlichen Wirbelsäule (μ-CT Aufnahmen, Kantenlänge eines Querschnitts: 4 mm) Die obere Reihe zeigt eine Probe unter Druck, Kompression (strain) in Stufen von 4 %. Die mittlere und untere Reihe zeigen typische Ausformungen trabekulären Knochens. Die Platten bzw. Balken können sich vor dem Versagen deutlich plastisch verformen. Da der kortikale Knochen grundsätzlich aus der glei chen Basis besteht (Hydroxylapatit-Kristalle in kollagener Matrix), ist auch dort bei Belastung von lokaler plastischer Verformung auszugehen. (Aus: R. Müller et al., Functional Microimaging at the Interface of Bone Mechanics and Biology, in: Holzapfel and Ogden, op. cit.) [21]
• absorbierte Energie (von Mises-Kriterium, wird in der Trauma-Biomechanik verwendet, z. B. in Bezug auf Thoraxverletzungen) • Schubspannung (Kriterium nach Tresca, in der Regel ohne Anwendung in der Trauma-Biomechanik). Sowohl das von Mises-Kriterium wie auch das Tresca-Kriterium an sich gehen von Iso tropie aus, während in der Trauma-Biomechanik jedoch oftmals stark anisotrope Mate rialien relevant sind. Zusätzlich werden in der Trauma-Biomechanik folgende Größen zur Definition von Verletzungskriterien verwendet: • Beschleunigung (Anwendung z. B. bei Kopfverletzungen). • Verformung (Anwendung z. B. bei Frakturen).
26
2 Methoden der Trauma-Biomechanik
2.3 Verletzungskriterien, Verletzungsindizes und Verletzungsrisiko Verletzungskriterien sind ein wichtiges Maß, um die Schwere von Belastungen bzw. das daraus resultierende Verletzungsrisiko zu beurteilen. Definitionsgemäß verknüpft ein Verletzungskriterium messbare, physikalische Parameter (z. B. Beschleunigung, Kraft) mit dem erwarteten Risiko, dass eine bestimmte Körperregion eine bestimmte Verletzung erleidet (z. B. Fraktur, Kontusion). Verletzungskriterien werden im Allgemeinen aus experimentellen Studien in Kombination mit empirischen Untersuchungen hergeleitet. Da am lebenden Menschen keine Experimente mit verletzungsinduzierenden Belastungen durchgeführt werden können, ist normalerweise eine Extrapolation der vorhandenen Daten notwendig, um ein Kriterium formulieren und validieren zu können. In Ergänzung zum Begriff „Verletzungskriterium“ sind auch die Ausdrücke „Schadenskriterium“ und „Schutzkriterium“ zu erwähnen. Während ein Verletzungskriterium darauf abzielt, eine Größe in Bezug zur Verletzungstoleranz von lebenden Organismen zu setzen, beschreiben Schutzkriterien normalerweise den Zusammenhang bezogen auf totes Gewebe (auch „post mortem test object“ PMTO genannt, z. B. eine Leiche) als Ersatz für lebendes. In beiden Fällen wird ein Grenzwert für eine Belastung (bestimmt aus physikalischen Parametern) definiert. Übersteigt die Belastung diesen Grenzwert, so kann für das untersuchte Gewebe mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Verletzung erwartet werden. Beim Schutzkriterium wird der Grenzwert aufgrund von Messungen mit anthropomorphischen Prüfkörpern (z. B. Crashtest-Dummys, Abschn. 2.6.1), als Surrogat für den Menschen, definiert. In diesem Fall wird der Zusammenhang mit Verletzungstoleranzen des Menschen meist über empirische Studien hergestellt. Dabei wird angenommen, dass ein gesunder Erwachsener mittleren Alters im Mittel keine der Verletzungen, auf die sich das Schutzkriterium bezieht, erleiden wird, sofern die Person einer Belastungssituation ausgesetzt ist, die mit derjenigen vergleichbar ist, welche zur Definition des Schutzkriteriums verwendet wurde. Das eigentliche Verletzungsrisiko kann dann mithilfe einer Risikofunktion ermittelt werden, die die Wahrscheinlichkeit, eine Verletzung zu erleiden, mit dem Kriterium (d. h. den jeweiligen gemessenen mechanischen Größen) verknüpft. Es ist jedoch anzumerken, dass nicht immer konsequent zwischen Verletzungs-, Schadens- und Schutzkriterium unterschieden wird. Hauptsächlich wird der Begriff Verletzungskriterium verwendet, mit dem dann verallgemeinernd ein Index bezeichnet wird, der eine Belastungsschwere quantitativ beschreibt. Schutzkriterien werden vor allem in internationalen standardisierten Testverfahren, meist in der Automobilindustrie (Crashtests), verwendet. Abschn. 2.6 beschäftigt sich ausführlich mit diesen Testverfahren. Verletzungskriterien für einzelne Körperregionen werden in den jeweiligen Abschnitten der nachfolgenden Kapitel diskutiert. Verletzungsindizes (bzw. Verletzungsskalen), wie sie beispielsweise für Verletzungen im Straßenverkehr entwickelt wurden, klassifizieren verschiedene Verletzungstypen basierend auf medizinischen Diagnosen. Der am häufigsten verwendete Index ist die
2.3 Verletzungskriterien, Verletzungsindizes und Verletzungsrisiko Tab. 2.1 Die AIS Klassifikation [AIS 2015] [1]
AIS Code
Verletzung
0
unverletzt
1
gering
2
mäßig
3
ernst
4
schwer
5
kritisch
6
maximal
9
unbekannt
27
„Abbreviated Injury Scale (AIS)“, die 1971 von der Association for the Advancement of Automotive Medicine (AAAM) [1] als System zur Klassifizierung der Schwere von im Straßenverkehr erlittenen Verletzungen entwickelt wurde. Die AIS-Skala (Tab. 2.1) wird seither regelmäßig überarbeitet und aktualisiert, wobei auch der medizinische Fortschritt berücksichtigt wird. Dabei steht die Lebensbedrohlichkeit bzw. die Überlebenswahrscheinlichkeit im Mittelpunkt, d. h. jede Verletzung wird nach ihrer Lebensbedrohlichkeit klassifiziert. Die AIS-Klassifizierung ist anatomisch aufgebaut und ordnet pro Körperregion jeder möglichen Verletzung einen Code zwischen AIS0 und AIS6 zu. Je höher der Code desto lebensbedrohlicher die Verletzung; AIS0 steht für „unverletzt“ und AIS6 für „maximal verletzt“. Der AIS-Code stellt also einen einzelnen, zeitunabhängigen Code für jede Verletzung jeder Körperregion dar. Die Schwere der Verletzung wird dabei immer in Bezug auf den ganzen Körper bewertet, d. h. man geht davon aus, dass ein sonst gesunder Erwachsener nur diese eine Verletzung aufweist. Es wird immer nur die Lebensbedrohlichkeit der jeweiligen Verletzung bewertet, die Folgen, die diese Verletzung haben kann (z. B. schwierige Behandlung, Arbeitsunfähigkeit, lange Rehabilitation, hohe Gesundheitskosten) werden nicht berücksichtigt. Schwere bleibende Einschränkungen wie der Verlust des Augenlichtes oder mögliche lebensbedrohliche Komplikationen wie Infektionen werden im Code nicht berücksichtigt, wenn die zugrunde liegende Verletzung an sich nicht lebensbedrohlich ist. Des Weiteren ist der AIS-Code nicht linear, d. h. der Unterschied zwischen AIS1 und AIS2 ist nicht vergleichbar mit demjenigen zwischen AIS5 und AIS6. Die Berechnung von durchschnittlichen AIS-Werten ist daher nicht sinnvoll (AIS 3,7 wäre z. B. vollkommen sinnlos). Um die Verletzungsschwere einer Person mit mehreren Verletzungen zu beschreiben, wird der MAIS (maximaler AIS-Code) benutzt. Der MAIS ist definiert als der höchste AIS-Code aller Verletzungen, die eine Person erlitten hat. Dies gilt auch, wenn die Person an verschiedenen Körperregionen Verletzungen des gleichen AIS Codes erlitten hat. Weist beispielsweise ein Fahrzeuginsasse nach einer Kollision AIS2-Verletzungen am Kopf wie auch an den Beinen auf, so bleibt der MAIS nichtsdestotrotz MAIS2.
28
2 Methoden der Trauma-Biomechanik
Zur besseren Berücksichtigung multipler Verletzungen wurde der Injury Severity Score (ISS) eingeführt, der – wie auch die AIS-Definitionen – regelmäßig aktualisiert wird (aktuelle Version: AIS 2015). Der ISS-Code unterscheidet 6 Körperregionen: Kopf/ Hals, Gesicht, Brust, Abdomen, Extremitäten einschließlich Becken, Haut (d. h. Ver brennungen, Schnitte, Schürfungen, Prellungen auf der Körperoberfläche). Für jede die ser Regionen wird der höchste AIS-Code bestimmt, Der ISS-Code berechnet sich dann aus der Summe der Quadrate der AIS-Codes der drei am schwersten verletzten Körperregionen. Der kleinste ISS-Code beträgt 0 und der größtmögliche 75 (zusammengesetzt aus drei AIS5 Verletzungen). Wird eine AIS6 Verletzung festgestellt, wird der ISSCode automatisch auf 75 gesetzt. ISS-Werte größer als 15 werden als schweres Trauma betrachtet. In der Literatur wird eine gute Korrelation des ISS-Codes mit Parametern wie der Sterblichkeit [z. B. Baker und O’Neill 1976] [3] oder Langzeit-Einschränkungen [z. B. Campbell et al. 1994] [7] beschrieben. Allerdings weist die ISS-Codierung auch gewisse Limitationen auf, wie beispielsweise die Beschränkung auf nur drei Körperregionen. Daher wurden verschiedene alternative Konzepte zur Codierung multipler Verletzungen wie auch Weiterentwicklungen der ISS-Skala wie der NISS (New Injury Severity Score) vorgestellt [siehe z. B. Chawla et al. 2004] [10]. Weitere Indizes beziehen sich auf spezifische Verletzungen einzelner Körperregionen. Die Quebec Task Force [Spitzer et al. 1995] [42] hat beispielsweise ein Schema zur Klassifizierung von Weichteilverletzungen der Halswirbelsäulen entwickelt (Kap. 5). Ein Schema zur Klassifizierung von Kopfverletzungen, das insbesondere in der Notfallmedizin verwendet wird, ist die Glasgow Coma Scale (GCS) [Teasdale und Jennett 1974] [46]. GCS kategorisiert den Bewusstseinsstatus eines Patienten einschließlich eini ger neurologischer Aspekte (z. B. Reflexe) und kann somit zum Einschluss/Ausschluss möglicher Verletzungsmechanismen beitragen. Die Einteilung reicht von GCS 3 (tiefes Koma) bis GCS15 (bei vollem Bewusstsein). Andere Klassifizierungen betreffen bleibende Beeinträchtigungen, Behinderungen und/oder soziale Folgen durch eine Bewertung der Langzeitfolgen einer Verletzung mit tels Zuordnung eines ökonomischen Wertes. Ein Beispiel ist die Injury Cost Scale (ICS) [Zeidler et al. 1989] [52]. Diese berücksichtigt die durchschnittlichen Kosten einer Ver letzung einschließlich der Kosten der medizinischen Behandlung und der Rehabilitation, einer etwaigen Behinderung sowie des Arbeitsausfalls. Weitere Klassifizierungen nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten sind das Injury Priority Rating (IPR) [Carsten und Day 1988] [9] und das HARM Konzept [Malliaris 1985] [30], das von der US Regierung verwendet wird. Eine der größten Herausforderungen der Trauma-Biomechanik ist das Herstellen einer Verbindung zwischen der Verletzungsschwere und den mechanischen Belastungen, die zu dieser Verletzung geführt haben. Es soll also eine Beziehung erstellt werden, die es ermöglicht einer bestimmten mechanischen Belastung (z. B. charakterisiert durch ein Verletzungskriterium) eine Wahrscheinlichkeit zuzuordnen, mit der diese Belastung zu einer Verletzung führt. Solche Zusammenhänge sind elementar, um Ergebnisse von Versuchen, wie Crashtests, sinnvoll interpretieren zu können. Daher ist es notwendig, das biomechanische
2.4 Unfallrekonstruktion
29
Verhalten durch gut instrumentierte Laborversuche mit verschiedenen, den Menschen approximierenden Modellen zu untersuchen und so Verletzungstoleranzen zu bestimmen, mit denen schließlich entsprechende Risikofunktionen aufgestellt werden können. Risikofunktionen werden unter Verwendung grundlegender statistischer Metho den, wie der „maximum likelihood method“, Analysen der kumulativen Häufigkeitsverteilungen oder Weibull-Verteilungen erstellt. In Kap. 4 findet sich ein Beispiel einer Risikofunktion bezogen auf Kopfverletzungen. Auf ausführliche Erläuterungen der sta tistischen Methoden zur oftmals schwierigen Analyse von Unfall- bzw. Verletzungsdaten wird hier verzichtet, interessierte Leser seien auf spezialisierte S tatistik-Fachbücher ver wiesen. Es sei angemerkt, dass solche Ansätze, mittels statistischer Methoden aus expe rimentellen Daten allgemeingültige, die Wirklichkeit beschreibende Risikofunktionen herzuleiten, einigen Einschränkungen unterliegen können. Folgende Punkte sind zu beachten: • oftmals ist nur eine kleine Anzahl an Experimenten durchgeführt worden, • das biomechanische Verhalten zwischen den in Experimenten verwendeten Modellen (z. B. Leichen) und dem lebenden Menschen unterscheidet sich, • zwischen Testpersonen und der realen Population können anthropomorphische Unterschiede auftreten (z. B. wenn Versuche nur an jungen, sportlichen Testpersonen durchgeführt werden), • Daten können sehr große Streuungen aufweisen (z. B. wenn (leicht) unterschiedliche Versuchsbedingungen geherrscht haben oder die Experimente durch verschiedene Forschungsgruppen/Labors durchgeführt wurden), • es gibt in manchen Bereichen eine große Anzahl möglicher Verletzungsmechanismen, sodass die Zuordnung zu einem spezifischen Mechanismus schwierig sein kann. Werden Unfallstatistiken statt experimenteller Daten verwendet, um Risikofunktionen zu erstellen, gelten grundsätzlich die gleichen Einschränkungen. Nichtsdestotrotz konnten in einigen Jahrzehnten der Trauma-Biomechanik-Forschung einige gut fundierte Korre lationen zwischen mechanischer Belastung und Verletzungswahrscheinlichkeit erarbeitet werden – zumindest für bestimmte Verletzungen bzw. Verletzungsmechanismen. Die Arbeit in diesem Bereich ist jedoch bei weitem noch nicht abgeschlossen und auch Anpassungen bereits verwendeter Kriterien sind bei Bekanntwerden neuer Erkenntnisse nicht unüblich.
2.4 Unfallrekonstruktion Die Rekonstruktion von Unfällen ist für die Trauma-Biomechanik unverzichtbar, da sich die Zusammenhänge zwischen mechanischer Belastung und Verletzung unter physiologischen Bedingungen nur im realen Unfallgeschehen manifestieren. Unfallrekonstruktionen werden auch häufig für forensische Zwecke durchgeführt.
30
2 Methoden der Trauma-Biomechanik
Die Rekonstruktion eines Unfalls besteht aus einer mathematischen Analyse des betroffenen Ereignisses auf Grundlage der in Abschn. 2.2 beschriebenen klassischen Grundsätze der Mechanik. Im Gegensatz zu Laborversuchen geschehen Unfälle in der Regel unter nicht kontrollierten und nicht überwachten Bedingungen. In Abhängigkeit von Umfang, Qualität und Genauigkeit der vorhandenen Unterlagen hat der Unfallrekonstrukteur verschiedene Annahmen und Approximationen zu treffen. Ein Skiunfall während eines Skirennens wird möglicherweise durch Video-/Fernsehaufzeichnungen festgehalten, Unfallspuren eines Verkehrsunfalls werden durch die Poli zei aufgenommen, doch ein Sturz von einer Leiter im Haushalt wird im Normalfall kaum dokumentiert sein. Zur Rekonstruktion sind alle verfügbaren Informationen wichtig. Wie in einem Puzzle müssen verschiedene Informationen kombiniert werden, um zu einer zuverlässigen und schlüssigen Abhandlung des Ereignisses zu gelangen; je nach Fall können hierzu ganz unterschiedliche Angaben notwendig sein, sei es die Sequenz einer Ampelschaltung in einer Fahrzeug-Fußgänger-Kollision oder die Materialeigenschaften eines Balls bei einem Sportunfall. Ein Augenschein an der Unfallstelle kann in diesem Zusammenhang wichtig sein. Zudem können Erfahrungen aus zuvor durchgeführten Versuchen unter Laborbedingungen oder Ergebnisse gut dokumentierter „vergleichbarer“ Unfälle sehr hilfreich sein. Von höchster Wichtigkeit ist in der Regel die Zusammenarbeit mit dem medizinisch-forensischen Experten (z. B. einem Rechtsmediziner), da auch Verletzungsmuster oder andere medizinische Befunde Hinweise für die Unfallrekonstruktion geben können. Fehlende Dokumentation oder fehlende sichtbare Spuren können zu Problemen bei der Unfallrekonstruktion führen. Im Falle von Fahrzeugkollisionen können Unsicherheiten z. B. durch Antiblockier-Systeme auftreten, weil diese oftmals keine Reifenabriebspuren auf der Straße erzeugen, oder die Rekonstruktion wird erschwert, weil keine oder nur marginale Fahrzeugdeformationen entstanden sind. Um die Reparaturkosten zu reduzieren, sind viele neuere Fahrzeuge derart konstruiert, dass bei Kollisionen geringer Intensität praktisch keine Beschädigungen entstehen (oder zumindest von außen nicht sichtbar sind und daher von Laien nicht erkannt werden). Ein fehlender Fahrzeugschaden ist also kein eindeutiges Indiz dafür, dass gar keine Kollision stattgefunden hat bzw. dass die Energie, die übertragen wurde, grundsätzlich zu klein war, um irgendwelche Verletzungen zu verursachen. Der Fall ist dann genauer abzuklären. Betrachtet man die Körperteile als Starrkörper (Gl. 2.1 und 2.2), konnte durch empi rische Untersuchungen und Laborexperimente gezeigt werden, dass die Beschleunigung im Schwerpunkt eines Körperteils ein wichtiger Parameter zur Beurteilung der Schwere dieser Belastung ist. In der Praxis wird das Beschleunigungsfeld a(t) oft als Vielfaches der Erdbeschleunigung (1 g = 9,81 m/s2) angegeben, weil so ein besserer Bezug zu alltäglichen Belastungen hergestellt werden kann. Die Beschleunigung, die ein Körper während eines Unfalls erfährt, ist allerdings eine Funktion der Zeit, sodass Größen wie „maximale Beschleunigung“ und „mittlere Beschleunigung“ immer zusammen mit dem dazu gehörigen Zeitintervall betrachtet werden müssen.
2.4 Unfallrekonstruktion
31
Verfahren zur Unfallrekonstruktion wurden vor allem für Straßenverkehrsunfälle entwickelt. Einige fahrzeugspezifische Parameter haben sich auch hinsichtlich der Beurteilung der Belastungssituation der Fahrzeuginsassen als nützlich erwiesen. • Die Kollisionsgeschwindigkeit eines Fahrzeugs ist wahrscheinlich der am häu figsten in der genannte Parameter. Bei der Unfallrekonstruktion ist auch die (Einlauf-) Geschwindigkeit, also kurz bevor beispielsweise ein Bremsvorgang begonnen wurde, gelegentlich von Bedeutung. Dies gilt in erster Linie für Vermeidbarkeitsbetrachtungen, bei denen untersucht wird, unter welchen Voraussetzungen (z. B. Geschwindigkeiten) das Ereignis hätte verhindert werden können oder wenn interes siert, ob eine Geschwindigkeitsbegrenzung eingehalten wurde. Für die TraumaBiomechanik sind diese Parameter hingegen weniger wichtig. • Die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung (delta-v) des betrachteten Fahr zeugs ist in den meisten Fällen, in denen die Insassenbelastungen im Vordergrund ste hen, geeignet, um die Kollisionsschwere zu beschreiben. Der delta-v Wert entspricht – bei Kollisionen mit nur einem Anprall und ohne signifikante Rotation – ungefähr dem Integral der linearen Fahrzeugbeschleunigung über die Kollisionsdauer. Bei komplexen Kollisionen (Überschlag, Abkommen von der Straße usw.) kann die Cha rakterisierung nur mittels des delta-v Werts ungenau bzw. ungenügend sein. • Der Parameter „energy equivalent speed (EES)“ ist ein Maß für die Energie, die notwendig ist um ein Fahrzeug zu deformieren. Der EES-Wert ist im Wesentlichen eine theoretische Vergleichsgröße. Er entspricht der Anprallgeschwindigkeit an eine starre Barriere, die nötig gewesen wäre, um die gleiche bleibende Verformung wie im realen Unfall zu erzeugen. Der EES-Wert wird in [km/h] angegeben und kann für viele Fahrzeugtypen sogenannten EES-Katalogen entnommen werden. Diese Kataloge werden auf Basis von Crashtests (gemäß einer definierten Testvorschrift) erstellt. Für einen konkreten Unfall schätzt man den EES-Wert dann durch Vergleich mit den Katalogdaten ab. • Ein weiterer Parameter zur Beschreibung der Anprallkonfiguration ist die Überdeckung. Sie gibt den Anteil an, um den sich das Fahrzeug und der Kollisionspartner (z. B. ein anderes Fahrzeug oder eine Barriere in einem Crashtest) überdecken. Die Überdeckung wird üblicherweise in Prozent der gesamten Fahrzeugbreite des inter essierenden Fahrzeugs angegeben. Bei einer Frontalkollision mit 50 % Überdeckung linksseitig berührt somit die linke Hälfte der Fahrzeugfront den Kollisionspartner. • Das aus der Mechanik bekannte Prinzip von elastischer und plastischer Verformung sowie die diese Anteile beschreibende Stoßzahl k werden verwendet, um die elas tische und plastische (d. h. permanente) Deformation von Fahrzeugstrukturen zu charakterisieren. Die Stoßzahl hängt von der Anprallgeschwindigkeit ab; sie wird in Crashtests ermittelt. Das Design der Fahrzeugfront, d. h. der Stoßfänger und der darunter liegenden Pralldämpfer, hat einen Einfluss auf die Stoßzahl, dies gilt insbesondere für Kollisionen bei niedriger Geschwindigkeit. Die Vorgabe, dass bei
32
2 Methoden der Trauma-Biomechanik
solchen Kollisionen kein oder nur ein sehr geringer Fahrzeugschaden entstehen soll, hat dazu geführt, dass die Stoßfängerstrukturen steifer und elastischer gebaut wur den. Neuere Fahrzeuge weisen daher im Niedriggeschwindigkeitsbereich höhere Stoßzahlen auf. Es gibt außerdem Konstruktionen, bei denen sich die Pralldämpfer nach einer Verformung langsam, d. h. erst nach der Kollision, wieder rückverformen. Da diese Restitution nicht während der eigentlichen Kollision erfolgt, verformt sich das Fahrzeug eigentlich vollplastisch, obwohl nach der Kollision möglicherweise keine Verformungen festzustellen sind. Heute werden die meisten Unfallrekonstruktion unter Verwendung spezialisierter Computerprogramme, die hauptsächlich die Gleichungen der Starrkörpermechanik (Gl. 2.1 und 2.2) anwenden und die für diese Anwendungen validiert wurden, durchgeführt. Grundsätzlich können bei solchen Computerprogrammen zwei Methoden unterschieden werden: „Vorwärts-“ und „Rückwärtsrechnungen“. Im ersten Fall wird die Kinematik vor der Kollision angenommen, d. h. die initialen Bewegungsrichtungen, Geschwindigkeiten usw. werden den Kollisionspartnern zugeordnet. Anschließend wer den die Kollision und die Endlagen der Kollisionspartner mittels Integration der Starrkörpergleichungen unter Berücksichtigung u. a. von Reifen- und Kollisionskräften berechnet. Abschließend werden die tatsächlichen, am Unfallort vermessenen Fahrzeugpositionen und Spuren mit den Ergebnissen der Berechnung verglichen. In einem iterativen Prozess werden nun die Eingabeparameter so lange variiert bis in zufriedenstellendem Maß eine Übereinstimmung der Rechenergebnisse mit den Unfalldaten entsteht. Beim „Rückwärtsrechnen“ startet man mit der Untersuchung der Endlagen der Kollisionspartner. Dann werden die (Auslauf-) Bewegungen nach der Kollision mit den vorhandenen Spuren (z. B. Abriebspuren der Reifen) abgeglichen, sodass man die Kon stellation zum Zeitpunkt der Kollision bestimmen kann. Auch hierzu wird wieder eine Approximation durch Starrkörpergleichungen verwendet. Schließlich bekommt man die Eingangsparameter die zur Kollision geführt haben. Die Rekonstruktion des Unfalls kann anschließend durch entsprechende Grafiken visualisiert werden. Wegen der großen Massedifferenz zwischen Insasse und Fahrzeug, kann der Einfluss des Insassen sowie anderer nicht fest mit dem Fahrzeug verbundener Gegenstände (d. h. Beladung) durch eine einfache Abschätzung berücksichtigt werden. Dies gilt allerdings nicht für Unfälle mit Motorrädern oder Fahrrädern; in diesen Fällen können die oben erwähnten Programme nur eingeschränkt verwendet werden und die Ergebnisse sind mit entsprechender Vorsicht zu interpretieren. Die Phasen einer Kollision sind – nicht nur bei Straßenverkehrsunfällen – in der Regel mit einem Verformungsprozess verbunden, für den Approximationen auf Grundlage der Kontinuumsmechanik (Gl. 2.3 und 2.4 sowie entsprechende Zusatzbedingungen) not wendig sind. Aus verschiedenen Gründen, sind Automobilhersteller mit der Veröffentlichung bzw. Offenlegung der von ihnen zur Untersuchung des Crashverhaltens ihrer Fahrzeuge verwendeten (Finite Elemente-) Modelle sehr zurückhaltend. Daher werden in den allgemeinen Rekonstruktionsprogrammen einige Vereinfachungen vorgenommen.
2.5 Experimentelle Untersuchungen
33
Verbreitet ist Annahme einer segmentierten Steifigkeitsverteilung an der Fahrzeugfront und der Integration der Bewegungsgleichungen der involvierten Fahrzeuge über die Kollisionsdauer. Eine andere Möglichkeit, die häufig bei europäischen Rekonstruktionsprogrammen anzutreffen ist, ist die Annahme, dass die Kollisionsdauer unendlich kurz sei (verglichen mit den Bewegungen der Fahrzeuge vor und nach dem Crash), sodass nur die Übertragung der (translatorischen und rotatorischen) Impulse von einem zum anderen Fahrzeug berechnet wird. Die bereits beschriebenen E ES-Werte können in beiden Ansätzen als Kontrollwerte verwendet werden, um nicht nur das Momentengleichgewicht, sondern auch die Energieerhaltung zu berücksichtigen. Wurde die Fahrzeugbewegung rekonstruiert, kann die während der Kollision erfolgte Bewegung der Insassen oder etwaiger externer Kollisionspartner (Fußgänger, Zweiradfahrer) wiederum durch Starrkörpermodelle angenähert werden. Weitere Extrapolationen, insbesondere betreffend Verletzungen, erfordern jedoch einen Sachverstand, der über die klassische (mechanische) Unfallrekonstruktion hinausgeht. Dasselbe gilt für Arbeits-, Haushalts- oder Sportunfälle. Unter bestimmten Umständen und mit entsprechender Anpassung an den zu untersuchenden Sachverhalt können Modelle und Programme aus der Rekonstruktion von Verkehrsunfällen auch für andere Unfälle verwendet werden. Sollen die dabei entstandenen Verletzungen im Detail rekonstruiert wer den, kann die anschließende Anwendung eines Finite Elemente Modells des Menschen hilfreich sein. Dies ist jedoch mit erheblichen Aufwand verbunden, der oftmals nicht zu rechtfertigen ist. Unfälle werden auch manchmal durch ein genaues Nachstellen am tatsächlichen Unfallort oder im Labor und unter Verwendung gleicher Fahrzeuge, gleicher Sportausrüstung usw. rekonstruiert (bei Straßenverkehrsunfällen auch Nachfahrversuche genannt). Ein solches Vorgehen ist vor allem bei Unfällen außerhalb des Straßenver kehrs wichtig und wird meist im Rahmen von juristischen Auseinandersetzungen, in denen große Schadenersatzforderungen die hohen Kosten solcher Tests rechtfertigen, durchgeführt.
2.5 Experimentelle Untersuchungen Jede mechanische Eigenschaft, die sich auf das zeitabhängige Verhalten des menschlichen Körpers, eines Körperteils, eines Organs oder Gewebes unter dynamischer mecha nischer Belastung bezieht, wird unter dem Begriff biomechanische Systemantwort oder biomechanisches Verhalten zusammengefasst. Die Kinematik des Kopf-Hals-Bereiches bei einem Kopfball im Fußball oder die Kraft-Verformungs-Charakteristik der Brust bei einer Frontalkollision im Straßenverkehr sind Beispiele für das biomechanische Verhalten des menschlichen Körpers. Abgesehen von mechanischen Schäden kann das biomechanische Verhalten auch zu physiologischen Veränderungen wie Nackenschmerzen, Lungenödemen oder Abweichungen im EKG (Elektrokardiogramm) führen.
34
2 Methoden der Trauma-Biomechanik
Die fundierte Kenntnis des biomechanischen Verhaltens ist für die Entwicklung von Maßnahmen zur Verletzungsprävention bzw. zur Verletzungsminimierung unerlässlich. Da Unfallsituationen per se hochdynamische Vorgänge sind, sind Experimente zur Untersuchung des biomechanischen Verhaltens im Allgemeinen ebenfalls unter vergleichbaren Belastungsbedingungen durchzuführen. Nichtsdestotrotz werden auch quasi-statische Versuche durchgeführt, da diese von der Durchführung und Instrumen tierung her einfacher zu gestalten sind. Eine Extrapolation der Ergebnisse hin zu dyna mischen Bedingungen ist dann allerdings erforderlich, um die Ergebnisse sinnvoll interpretieren zu können. Untersuchungen des biomechanischen Verhaltens des menschlichen Körpers sind nicht nur für das Verständnis von Verletzungsmechanismen entscheidend, sondern sie werden auch zur Definition und Verifikation von Verletzungsgrenzwerten benötigt. Dabei spielt die biologische Variabilität, insbesondere altersabhängige Veränderungen, eine wichtige Rolle. Für eine zuverlässige Bestimmung einer Risikofunktion der Verletzungen ist eine große Menge experimenteller Daten notwendig. Da biologisches Material für die Durchführung von Experimenten nur eingeschränkt zur Verfügung steht, sind insbesondere statistische Auswertungen wichtig. Zudem kann es auch sein, dass die Durchführung von Versuchen durch praktische Einschränkungen z. B. hinsichtlich der Möglichkeiten der Instrumentierung beschränkt wird. Insbesondere die Pionierarbeiten der Trauma-Biomechanik, die bis auf die 1940er Jahre zurückgehen, weisen – aus heuti ger Sicht – einige Mängel hinsichtlich der Instrumentierung auf, die teilweise auf man gelndes Wissen und/oder eingeschränkte technische Möglichkeiten zurückzuführen sind. In den Kapiteln zum biomechanischen Verhalten der einzelnen Körperregionen werden diese spezifischen Probleme näher erläutert. Zudem widmet sich Abschn. 2.6.1 der Verwendung von mechanischen Menschmodellen (Dummys) im Rahmen von Crashtests, bei denen die mit den Dummys gewonnenen Messdaten im Hinblick auf ihre biologische Plausibilität interpretiert werden müssen. Im Folgenden werden experimentelle Modelle zur Bestimmung des biomechanischen Verhaltens zusammengefasst. Dabei können fünf verschiedene Typen unterschieden werden: Freiwilligenversuche, Leichenversuche, Tierversuche, mechanische Menschmodelle, und mathematische Modelle. Freiwilligenversuche sind verständlicherweise auf leichte Belastungen beschränkt, also auf Bereiche, in denen mit Sicherheit noch keine Verletzungen auftreten. Als obere Belastungsgrenze für Experimente mit Freiwilligen wird oftmals die sogenannte Schmerzgrenze verwendet. Der entscheidende Vorteil von Freiwilligenversuchen ist das Vorhandensein „realer“ anatomischer und physiologischer Verhältnisse. Zudem kann der Einfluss des Muskeltonus untersucht werden, sodass beispielsweise ein Anspannen der Muskulatur vor einer Kollision berücksichtigt werden kann. Die Freiwilligen stellen allerdings in der Regel keine repräsentative Kohorte da, die Auswahl der Freiwilligen entspricht also nicht der Population, die dem zu untersuchenden Verletzungsrisiko ausgesetzt ist. Insbesondere Frauen, Kinder und ältere Personen sind in den vorhandenen Daten aus Freiwilligenversuchen unterrepräsentiert. Schwierigkeiten
2.5 Experimentelle Untersuchungen
35
bestehen zudem hinsichtlich der Instrumentierung, da Sensoren oftmals nicht an der interessierenden Stelle angebracht werden können (z. B. im Kopfschwerpunkt oder am obersten Brustwirbel). Eine starre, externe Positionierung der Sensoren am Körper ist ohnehin schwierig, da sich die Haut gegenüber den darunter liegenden anatomischen Strukturen verschieben kann. Fortschritte in der Videotechnologie (z. B. High-speed Video) und entsprechende Software zur Auswertung haben jedoch erheblich zu einer Verbesserung der Ergebnisse von Freiwilligenversuchen beitragen. Auch konnte durch den Einsatz von Cineradiographie (Röntgen-Bildgebung) die Bewegung des Skeletts während einer Belastung dargestellt werden (z. B. zur Untersuchung der Bewegung der Halswirbelsäule, Ono und Kaneoka (1997) [36]). Da die Anzahl der mit dieser Methode durchgeführten Versuche jedoch sehr klein ist, ist eine Übertragung der Ergebnisse auf andere als die getestete Personengruppe und auf höhere Belastungsschwere besonders schwierig. Leichen (oftmals auch als „post mortem human subjects“ (PMHS) oder „post mor tem test objects“ (PMTO) bezeichnet) sind die zweite Art von Modellen, die verwendet werden können, um das biomechanische Verhalten des Menschen unter Belastung zu untersuchen. Obwohl große anatomische Übereinstimmungen mit dem leben den Menschen bestehen, sind einige Faktoren, die die Messergebnisse beeinflussen, zu beachten. Erstens ist das Alter der PMHS oftmals hoch, es ist daher mit altersentsprechenden degenerativen Veränderungen zu rechnen. Osteoporose führt beispielsweise zu einer höheren Anzahl von Frakturen. Zweitens wird das biomechanische Verhalten durch den fehlenden Druck in Lunge und Blutgefäßen, das Fehlen eines Muskeltonus sowie durch Veränderungen aufgrund der Präparationstechnik (d. h. Unterschiede zwischen konservierten oder frischen Leichen) erheblich beeinflusst. Frische Leichen haben sich dabei als gute Modelle für die Untersuchung von Fraktu ren, Gefäßrupturen und Lazerationen erwiesen. Physiologische Veränderungen als Verletzungsfolge (z. B. Nackenschmerz oder EKG-Abweichungen) können hingegen grundsätzlich nicht untersucht werden. Zur Untersuchung des Verhaltens einzelner Körperteile, z. B. des Beins (Kap. 8), kön nen auch Leichenteile verwendet werden, wobei dann jedoch durch den Versuchsaufbau die Anbindung an den restlichen Körper in geeigneter Weise nachgebildet werden muss. Tiermodelle sind für die Trauma-Biomechanik des Menschen nur beschränkt anwendbar. Trotzdem stellen Versuche an anästhesierten Tieren die einzige Möglichkeit dar, physiologische Reaktionen auf schwere mechanische Belastungen zu untersuchen. Im Tierversuch können zudem die unterschiedlichen Reaktionen von lebendem und totem Gewebe verglichen werden und somit wichtige Erkenntnisse für die Interpretation von Leichenversuchen gewonnen werden. Wegen der Unterschiede in Anatomie und Physiologie sind die Möglichkeiten, die Resultate auf den lebenden Menschen und insbesondere auf Grenzwerte für Verletzungen zu übertragen, limitiert. Weiter werden in der Trauma-Biomechanik mechanische Menschmodelle, d. h. Crashtest-Dummys (auch „anthropomorphic test devices“ (ATDs) genannt) sowie mathe matische (Computer-) Modelle verwendet. Aufgrund ihrer Rolle in standardisierten
36
2 Methoden der Trauma-Biomechanik
(gesetzlichen) Prüfvorschriften zur Fahrzeugsicherheit kommt den Dummys eine besondere Bedeutung zu; sie werden daher gesondert in Abschn. 2.6.1 behandelt. Die Ziele von Crashtests bestehen in der realistischen Simulation des Unfalls sowie in der Bestimmung der mechanischen Belastungen die ein Mensch möglicherweise in einem solchen Unfall erleiden kann. Viele Crashtest-Anlagen konzentrieren sich auf die Durchführung der großen Anzahl gesetzlich vorgeschriebener Tests. In der Automobilindustrie werden zudem Versuche zur Bewertung und Auslegung von Rückhaltesystemen sowie zur Entwicklung neuer Sicherheitssysteme durchgeführt. Kontrollierte Laborversuche werden unter anderem auch zur Zertifizierung von Sporthelmen oder der Entwicklung von Skibindungen durchgeführt. Reale Unfallereignisse sind vielfältig, es können aber nur ausgewählte Szenarien in Crashtests nachgestellt werden. Weil die Ergebnisse solcher Crashtests wiederholbar und vergleichbar sein sollen, gleichzeitig aber die Kosten und der Zeitaufwand solcher Tests erheblich sind, wird verständlich, dass man sich meist auf einige standardisierte Tests mit exakt definierten Testprotokollen, vorgegebenen Auswerteprozeduren und Schutzkriterien beschränken muss. In Abschn. 2.6 werden solche standardisierte Testverfahren ausführlich beschrieben. Im Automobil-Bereich werden drei verschiedene Kategorien von Crashtests unterschieden: Crashtests mit kompletten Fahrzeugen (Full-scale Tests genannt), Schlittenversuche und Komponententests (Abb. 2.2). Die Grundprinzipien bezüglich Prüfpraxis, Evaluation der Ergebnisse und Dokumentation werden ebenso im Test- und Zertifizierungswesen wie in anderen Fachbereichen angewendet, z. B. zur Bestimmung der Kraft sich schließender Aufzugtüren oder der Prüfung der Reißfestigkeit von Feuer wehrnetzen. In Full-scale Tests prallt ein Fahrzeug gegen ein Hindernis oder ein anderes Fahrzeug oder es wird mittels eines beweglichen Stoßkörpers (z. B. dem in Seitenaufpralltests verwendeten Stoßwagen) beaufschlagt. Die Fahrzeuginsassen im zu untersuchenden Fahrzeug werden durch Crashtest-Dummys ersetzt. Die Kinematik sowie die mechani sche Belastung der Dummys werden während dem Anprall gemessen. Full-scale Tests haben den Vorteil, dass durch die Verwendung eines realen Fahrzeugs dessen Eigenschaften (z. B. die Verformungscharakteristik) vollständig berücksichtigt werden. Diese fahrzeugspezifischen Eigenschaften beeinflussen beispielsweise die Fahrzeugbeschleunigung und damit auch die Belastung der Insassen. Zusätzlich zu Aspekten der Fahrzeugsicherheit geben Full-scale Tests auch Auskunft über die nach einer Kollision zu erwartenden Reparaturkosten. Solche Tests werden daher, meist in eher niedrigen Geschwindigkeitsbereichen, auch von Versicherungen durchgeführt und die Ergebnisse werden bei der Festlegung der Versicherungsprämien berücksichtigt. Full-scale Tests die nen auch nicht-biomechanischen Zielsetzungen, wie der Prüfung der Integrität des Tanksystems. Während in Full-scale Tests das Zusammenwirken von Rückhaltesystemen und Deformationseigenschaften des Fahrzeugs untersucht wird, werden Schlittenversuche primär zur isolierten Prüfung von Rückhaltesystemen oder Fahrzeugkomponenten
2.5 Experimentelle Untersuchungen
37
Abb. 2.2 Verschiedene Methoden von Crashtests. Von oben nach unten: Tests mit ganzen Fahrzeugen (auch Full-scale Tests genannt, z. B. Überschlag, Frontal-, Seitenanprall), Schlittenversuche und Impaktortests (verschiedene Anprallkörper wie sie z. B. bei der Prüfung der Fahrzeugfront zum Fußgängerschutz verwendet werden)
38
2 Methoden der Trauma-Biomechanik
(z. B. Sitzen) durchgeführt. Zu diesem Zweck werden Teile des Fahrzeugs bzw. die entsprechenden Komponenten auf einem Schlitten montiert. Der Schlitten wird anschlie ßend ohne wesentliche Beschädigung des Versuchsaufbaus kontrolliert beschleunigt bzw. abgebremst. Somit können der Schlitten und der Aufbau mehrfach verwendet werden, wodurch die Kosten für den Versuch deutlich reduziert werden. Nachteile die ses Testverfahrens sind u. a. die Beschränkung auf eine unidirektionale Belastung des Schlittens sowie die Tatsache, dass der Beschleunigungspuls des Schlittens bzw. des durch den Schlitten dargestellten Fahrzeugs vorher angenommen oder bestimmt werden muss (z. B. in einem Full-scale Test oder durch Computersimulation). Komponententests schließlich stellen die dritte Kategorie von Testverfahren dar. Durch sie können einzelne Fahrzeugteile quasi-statisch wie auch dynamisch untersucht werden. In quasi-statischen Versuchen wird beispielsweise die Festigkeit der Anbindung der Sicherheitsgurte an der Karosserie geprüft. Prüfkörper wie der „free motion head form“ (FMH) werden zur Beurteilung der Nachgiebigkeit und der Ener gie absorbierenden Eigenschaften von Fahrzeuginnenraumstrukturen eingesetzt. Das Verletzungsrisiko eines Fußgängers kann durch das Beaufschlagen einer Fahrzeugfront mit Dummyteilen-Teilen (z. B. Modellen des oberen/unteren Beins, Erwachsenen/ Kinder-Kopfform) beurteilt werden. Komponententests bieten grundsätzlich den Vorteil, dass der Anprallpunkt, z. B. der Auftreffpunkt einer Kopfform auf der Motorhaube, millimetergenau festgelegt werden kann. Außerdem sind die Tests im Vergleich zu Fullscale- oder Schlittentests kostengünstig.
2.6 Standardisierte Testverfahren Neue Fahrzeugmodelle müssen zahlreiche Anforderungen zum Insassenschutz erfüllen, um die Zulassung zum Markt zu erhalten. Diese Anforderungen unterscheiden sich oft mals je nach Wirtschaftsraum. Die wichtigsten regionalen Prüfstandards sind dabei die jenigen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Europäischen Union. In Europa werden die Prüfvorschriften durch die UN Economic Commission for Europe (UNECE Inland Transport Committee) aufgrund der Verträge von 1958 und 1998 festgelegt. Die Ergänzungen zum Abkommen von 1958 beinhalten verschiedene Regelungen, in denen Testverfahren zum Insassenschutz definiert werden. UN R94 beschreibt beispielsweise die Testvorschrift zur Sicherheit bei Frontalkollisionen, während in UN R95 Seitenkollisionstests definiert sind. Diese Bestimmungen sind in EC Direktiven verankert. Direktive 96/27/EC bezieht sich beispielsweise auf UN R95 und 96/79/EC beinhaltet UN R94. Dem Abkommen von 1958 sind heute Länder aus allen Kontinenten beigetreten, die Mitgliedsstaaten sind jedoch nicht verpflichtet, alle UNECE Regelungen in nationale Gesetze zu überführen. Der Einfachheit halber verwenden wir in den folgenden Kapiteln die verkürzten Bezeichnungen UN Rxx. In den USA sind die „Federal Motor Vehicle Safety Standards“ (FMVSS) Teil des Federal Register 49 CFR part 571. Da die meisten Automobilhersteller ihre Fahrzeuge
2.6 Standardisierte Testverfahren
39
weltweit verkaufen wollen, stellen die unterschiedlichen Anforderungen in den verschiedenen Regionen ein erhebliches Problem dar. Die internationale Harmonisierung von Testvorschriften sowie die internationale Anerkennung von Versuchsergebnissen aus zertifizierten Testzentren bzw. -labors sind daher wichtige Aspekte des Welthandels. Dementsprechend wurden zahlreiche bilaterale Handelsabkommen zwischen verschiedenen Ländern, Freihandelsinitiativen, sowie UN, US und EU Aktivitäten („Cassis de Dijon“-Prinzip) unternommen bzw. initiiert. Eine eigene Arbeitsgruppe der UNECE (die Arbeitsgruppe WP.29) wurde im Rahmen des ergänzenden Abkommens von 1998 beauftragt harmonisierte Vorschriften, sogenannte „Global Technical Regulations“ (GTR), zu entwickeln. Bezüglich des Crashverhaltens von Flugzeugen wurden durch die U.S. Federal Aviation Administration (FAA) einige Crashtest-Vorschriften als Teil der Federal Avia tion Regulations (FAR) verankert. Diese sind größtenteils mit den entsprechenden Bestimmungen der European Aviation Safety Agency (EASA) identisch. Zusätzlich sind technische Geräte, Apparaturen, Sportgeräte usw. einer Vielzahl von Vorschriften, Richtlinien und Empfehlungen unterworfen, die durch Regierungsstellen, Hersteller, Versicherungen, Sportverbände und Verbraucherorganisationen aufgestellt wurden. Je nach Land finden sich sehr unterschiedliche Richtlinien und Anwendungen, sodass eine allgemeine Übersicht kaum erstellt werden kann. In Europa werden die meisten Sicherheitsanforderungen jedoch in Verbindung mit der Produkthaftung geprüft und sind Bestandteil der Produktzertifizierung (CE Symbol). Wie aus Tab. 2.2 und 2.3 ersichtlich, sind sich die Vorschriften nach UNECE und FMVSS sehr ähnlich und enthalten auch viele vergleichbare Anforderungen. Unter schiede bestehen hingegen in den vorgeschriebenen Dummytypen, den Testbedingungen und den Auswertungen der Tests (Abb. 2.3). Zudem werden in manchen Fällen ver schiedene Schutzkriterien angewendet. Die Erfüllung der UNECE- und FMVSS-Richt linien wird häufig auch von anderen Ländern vorgeschrieben, sodass diese Richtlinien als die weltweit bedeutendsten Sicherheitsvorschriften angesehen werden können. Für eine vollständige und aktuelle Beschreibung der Richtlinien wird empfohlen, die jewei ligen Internetseiten zu konsultieren, da die Richtlinien regelmäßig ergänzt bzw. geändert werden. In Tab. 2.4 und 2.5 sind die Vorschriften zum Insassenschutz gemäß UN R94 und FMVSS 208 für Frontalkollisionen und gemäß UN R95 und FMVSS 214 für seitliche Anpralle zusammengefasst. Ausführlichere Informationen zu den in den Tabellen erwähnten Schutzkriterien und ihren Grenzwerten finden sich für jede Körperregion in den Kapiteln Kap. 4 bis 9. Es ist anzumerken, dass es weder UNECE- noch FMVSS-Vorschriften gibt, die sich auf Heckkollisionen bei niedrigen Geschwindigkeiten bzw. bei geringem delta-v Wert beziehen, obwohl diese Kollisionen häufig vorkommen, häufig zu Beschwerden führen und daher eine erhebliche sozio-ökonomische Bedeutung haben. Um diese Lücke zu schließen wurde ein Testverfahren (Schlittentest) entwickelt [Muser et al. 1999] [33], das in modifizierter Form im ISO Standard ISO/TC22/SC10 verankert wurde. Ferner wurden einige Vorschriften zum Design von Kopfstützen
40
2 Methoden der Trauma-Biomechanik
Tab. 2.2 UNECE Richtlinien (mehr Details unter http://www.unece.org). KRS: Kinderrückhaltesystem Richtlinie
Kollisionstyp
Anprallgeschwindigkeit
Testkonditionen
R94
Frontal
56 km/h
40 % Überdeckung, 2 Hybrid III Dummys verformbare Bar riere
R137
Frontal
50 km/h
Starre Wand, 100 % Hybrid III 50 % Mann, Überdeckung Fahrerseite Hybrid III 5 % Frau, Beifahrerseite
R33
Frontal
48..53 km/h
Starre Wand
Betrifft Stabilität der Fahrgastzelle
R95
Seitlich
50 km/h
Bewegliche Bar riere, 90° Winkel
1 EuroSID II als Fahrer
R32..34
Heckwärts
35..38 km/h
Bewegliche, starre Barriere (Masse: 1100 kg)
Integrität des Tanksystems
R42
Geringe Kol lision
2,5 km/h, 4 km/h
Pendel
Nur Funktionsprüfung
R44
KRS
50 km/h
Schlittentest
Verwendung verschiedener Dummys je nach KRS
R129
KRS
32 km/h, 50 km/h
Schlittentest
KRS mit ISOFIXSystem
R16
Sitze
–
Statisch
Lehnenmoment, Deformation
R17
Sitze
–
Schlittentest, 20 g
Sitzverankerung am Fahrzeugboden, Kopfstützengeometrie
R14
Sicherheitsgurte
–
Statisch
z. B. Verformung
Kommentare
im Jahr 2008 in die GTR 07 integriert, wodurch vor allem bestehende UNECE- und FMVSS-Vorschriften harmonisiert wurden. Ergänzend zu den Crashtests, die durch Gesetzgeber vorgeschrieben werden, führen auch Verbraucherorganisationen Tests durch. Da die gesetzlich vorgeschriebenen Tests nur Mindestanforderungen an die Sicherheit von neuen Fahrzeugen stellen und da die Ergebnisse dieser gesetzlichen Tests normalerweise nicht veröffentlicht werden, wollen Verbraucherorganisationen durch eigene Tests die Fahrzeughersteller dazu anhalten, höhere Standards als nur die Mindestanforderungen zu erfüllen. Die Testergebnisse wer den dabei der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. So sollen die Verbraucher zuverlässige
2.6 Standardisierte Testverfahren
41
Tab. 2.3 FMVSS Richtlinien (mehr Details unter http://www.nhtsa.dot.gov). KRS: Kinderrückhaltesystem Richtlinie
Kollisionstyp
Anprallgeschwindigkeit
Testkonditionen
Kommentare
571.208
Frontal
25 mph
100 % Überdeckung, 0–30° starre Barriere
2 nicht angegurtete Hyb rid III Dummys (50 % Mann)
35 mph
100 % Überdeckung, 0° starre Barriere
2 angegurtete Hybrid III Dum mys (50 % Mann)
25 mph
100 % Überdeckung, 0° starre Barriere (max. 5° schräg)
2 nicht angegurtete Hyb rid III Dummys (5 % Frau)
35 mph
100 % Überdeckung, 0° starre Barriere (max. 5° schräg)
2 angegurtete Hybrid III Dum mys (5 % Frau)
25 mph
40 % Überdeckung, 0° deformierbare Barriere
2 angegurtete Hybrid III Dum mys (5 % Frau)
–
Verschiedene Konfigurationen, Auslösen von Airbags
Verschiedene Dummys in OOP Situationen („out of position“)
571.204
Frontal
30 mph
100 % Überdeckung, starre Barriere
Lenksäule, rückwärts Verschiebung
571.212
Frontal
30 mph
100 % Überdeckung, starre Barriere
Betrifft die Befestigung der Frontscheibe
571.203
Frontal
15 mph
Impaktortest
Bestimmung der Kraft auf einen „body block“-Im paktor
571.214
Seitlich
33,5 mph
Bewegliche, deformierbare Barriere, schräger Anprall
Alt: 2 SID Dum mys, Neu: 1 ES-2re vorne und SID IIs hinten
571.214
Seitlich
20 mph
Beweglicher Pfahl, 2 ES-2re oder schräger Anprall SID IIs (Fortsetzung)
42
2 Methoden der Trauma-Biomechanik
Tab. 2.3 (Fortsetzung) Richtlinie
Kollisionstyp
Anprallgeschwindigkeit
Testkonditionen
Kommentare
571.301 + 303
Heckkollision, frontal, seitlich
30 mph
Bewegliche, starre Barriere (Masse:1800 kg)
Integrität des Tanksystems
581
Geringe Kollision
2,5 mph (Heckanprall), 5 mph (frontal)
Pendel/Barriere
Nur Funktionsprüfung
571.213
KRS
30 mph
Schlittentest
Verwendung verschiedener Dummys je nach KRS
571.210
Sitze
–
Statische Tests
z. B. Verformung
571.209
Sicherheitsgurte
–
Statische Tests
z. B. Verformung
Abb. 2.3 UNECE (links) und FMVSS (rechts) schreiben bei Seitenkollisionen unterschiedliche Testbedingungen vor
und vergleichbare Informationen zum Crashverhalten einzelner Fahrzeugmodelle erhalten. In Europa wurde die Insassenbelastung in solchen Konsumententests schon mit tels Dummys bestimmt, lange bevor diese Verfahren auch Einzug in die gesetzlichen Richtlinien hielten. So wurde der Öffentlichkeit die Wichtigkeit der passiven Sicherheit veranschaulicht. Darüber hinaus zeichnen sich Verbrauchertests durch ein Bewertungssystem aus, durch welches die Verbraucher die Möglichkeit erhalten sol len, das Insassen-Schutzpotenzial verschiedener Fahrzeugtypen zu vergleichen. Solche Bewertungssysteme beinhalten oftmals Dummysymbole mit farblich gekennzeichneten Körperregionen von grün (d. h. geringe Belastung) bis rot und Sternsymbole, wobei die Anzahl der erreichten Sterne mit der Anzahl der im Test erhaltenen Bewertungspunkte korreliert. Dabei können Bewertungspunkte jedoch nicht nur aufgrund der Crashtests,
2.6 Standardisierte Testverfahren
43
Tab. 2.4 Grenzwerte für Frontalkollisionen FMVSS 208
UN R94/UN R137
Dummys
Hybrid III 50 % Mann, 5 % Frau
2 Hybrid III 50 % Mann
Kopf
HIC 15