TrauerPolitik – Verluste gestalten: Leidfaden 2019, Heft 3 [1 ed.] 9783666406706, 9783525406397, 9783525406700


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TrauerPolitik – Verluste gestalten: Leidfaden 2019, Heft 3 [1 ed.]
 9783666406706, 9783525406397, 9783525406700

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8. Jahrgang  3 | 2019 | ISSN 2192-1202

faden Leid

FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R

Saskia Jungnikl Das

Per­sönliche politisch ­machen – Einige Gedanken über das ­Verhältnis von Gesellschaft und Trauer  Thomas Geldmacher

Fehlstellen – Warum die Politik sich mit Trauer ­beschäftigen sollte  Sepp Fennes Rechtspopulismus – ein Trauerspiel?  Reiner Sörries Regulierung und Instrumentalisierung der Trauer durch die Politik

TrauerPolitik

Verluste gestalten

8. Deutsches Kinderhospizforum Würde sichern, Haltung zeigen 8. + 9. November 2019 Haus der Technik, Essen

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EDITORIAL

TrauerPolitik

© Parlamentsdirektion Wilke

uns über ihre Abschiede, Verluste und Nieder­ lagen zu reden, scheint die These zu bestätigen: »Die Kränkung sitzt noch zu tief«, »das Thema ist zu persönlich«, »ich kann noch nicht darüber sprechen« – wir waren wirklich überrascht, mit so vielen Ab- und so wenigen Zusagen konfron­ tiert zu sein. Dennoch ist es uns gelungen, Ab­ schieds- und Verlustkultur zu einem der Schwer­ punkte dieses Hefts zu machen. Darüber hinaus haben wir uns vielen expli­ zit politischen Fragen gewidmet: Wie könnten gesetzliche Maßnahmen aussehen, in denen der Umgang mit Trauer operationalisiert wird? Wel­ che mehr oder weniger gut funktionierenden Bei­ spiele gibt es schon, an denen sich der Gesetz­ geber ein Vorbild nehmen könnte? Und wer sind die Akteurinnen und Akteure, die entsprechende Forderungen formulieren und vertreten könnten? Denn allzu oft glauben wir zu wissen, was zu tun wäre, wissen aber nicht, wer es tun sollte. Dann flüchten wir uns in Formulierungen wie: »Da müsste man doch eigentlich …« – »Warum hat da noch niemand …« – »Man sollte endlich …« Die Autorinnen und Autoren dieses Leidfadens haben sich bemüht, die obigen Fragen so konkret wie möglich zu beantworten. Wir hoffen, wir lie­ fern Ihnen damit anregende Lektüre – und den einen oder anderen Denkanstoß. © Andreas Jakwerth

Im Oktober 2015, wenige Monate nach dem Tod seines Sohnes Joseph, genannt Beau, beschloss Joe Biden, der Vizepräsident der Vereinigten Staa­ ten von Amerika, nicht als demokratischer Präsi­ dentschaftskandidat anzutreten. »Ich wusste nicht, ob ich die emotionale Energie dafür aufbringen würde; und ich wusste aus früherer Erfahrung, dass Trauer ein Prozess ist, der sich nicht um Ter­ mine und Zeitpläne schert«, schrieb er.1 Der Rest ist Zeitgeschichte: Hillary Clinton verlor gegen Donald Trump. Für viele Menschen, nicht nur in den USA, ein Grund zu trauern. Der österreichische Vizekanzler und Wirt­ schaftsminister Reinhold Mitterlehner hingegen unternahm offenbar Anstrengungen, nach dem Tod seiner Tochter Martina im November 2016 so weiterzuarbeiten wie zuvor: »Man muss sich mit dem persönlichen Fall und dem Problem aus­ einandersetzen, aber auch versuchen, das politi­ sche Leben weiterzuführen«, erklärte er Monate später in einem Radiointerview.2 Trauer und Politik. Keine natürliche Paarung, könnte man meinen. Wir leben in einer Gesell­ schaft, die Trauer zunehmend privatisiert. In der Öffentlichkeit, so glauben wir, dürfen wir keine Schwäche, geschweige denn Tränen oder andere Trauerreaktionen zeigen. Trauer, so viel wissen wir aus der Forschung, hemmt aber Leistungs­ bereitschaft und -fähigkeit, lenkt von den Erfor­ dernissen des schulischen und beruflichen Alltags ab und widerspricht daher der ökonomischen Logik des Funktionierens. Schon allein deshalb ist Trauer ein eminent politisches Thema – und möglicherweise einer der Gründe, warum Poli­ tikerinnen und Politiker hierzulande versuchen, ihre Trauer tunlichst zu verbergen. Doch Trauer ist kein ausschließlich auf den Tod bezogenes Phänomen: Wir haben keine Ab­ schiedskultur – Ausnahmen bestätigen lediglich die Regel. Das war eine der Thesen, unter denen wir dieses Heft in Angriff nahmen. Die schiere Menge der Politiker/-innen, die es ablehnten, mit

Thomas Geldmacher

Christian Metz

Daniela Musiol

Anmerkungen 1

2

Joe Biden (2017): Promise Me, Dad. Zitiert nach M. Kru­ se, How Grief Became Joe Biden’s »Superpower«. https:// www.politico.com/magazine/story/2019/01/25/joe-biden2019-profile-grief-beau-car-accident-224178 (14.04.2019, Artikel vom 25.01.2019). https://oe3.orf.at/sendungen/stories/2818419 (02.03.2019).

Inhalt Editorial 1

4 Saskia Jungnikl

Das Persönliche politisch machen – Einige Gedanken über das Verhältnis von Gesellschaft und Trauer



8 Thomas Geldmacher

Fehlstellen – Warum die Politik sich mit Trauer

4 Saskia Jungnikl | Das Persönliche politisch machen

beschäftigen sollte

13 Sepp Fennes

Phänomen Rechtspopulismus – ein Trauerspiel?



16 Rainer Kinast

Abschiedskultur in Unternehmen – Erfahrungen der Vinzenz Gruppe



21 Katharina Heimerl, Elisabeth Reitinger und Gert Dressel Abschiedskultur und Hochschulpolitik – Saying Good-bye to IFF



24 Philipp Pertl

»Lass die Welt ein bisschen besser zurück, als du sie vorgefunden hast« – Verabschiedungskultur bei Pfadfinderinnen und Pfadfindern

24 Philipp Pertl | »Lass die Welt ein bisschen besser zurück, als du sie vorgefunden hast«



26 Corinna Woisin

Sag zum Abschied »danke« und »tschüss« – Ehrenamtliche Hospizbegleiter/-innen im Hospizdienst verabschieden



29 Thomas Geldmacher und Daniela Musiol

Am Ende steht Zynismus? – Die Politik und ihr Problem mit Abschieden

52 Eva Unterweger | »… nie mehr wird es so sein, wie es war«

34 Harald Dossi

Tod und Trauer am Arbeitsplatz – Präsidentin des Nationalrates Barbara Prammer



36 Reiner Sörries

Regulierung und Instrumentalisierung der Trauer durch die Politik



41 Tony Walter

Trauerkontrolle – Wie Familienstrukturen und Staat Trauerkultur prägen



46 Michael Lazansky

Arbeit an Grenzen – Tod und Trauer im Kontext der ärztlichen Ausbildung

80  Anna Daimler | Wenn die Krisen anderer zu Krisen im eigenen Job führen



49 Ursula Spät



»Mein Papa ist tot, echt tot!« – Tod und Trauer in

80 Anna Daimler

Wenn die Krisen anderer zu Krisen im eigenen Job

der elementarpädagogischen Ausbildung

52 Eva Unterweger

führen – Vom Umgang mit Schienensuiziden

»… nie mehr wird es so sein, wie es war« –



84 Clemens Hausmann

Krisenintervention für Mitarbeiter – KIMA –

Trauer, Trauerfälle und Trauerarbeit im Kontext

Psychologische Stabilisierung nach kritischen

der Lehrer/-innen-Bildung

Ereignissen

56 Martin Jäggle



»Dafür sind die Religionslehrer zuständig« –

88 Doris Beneder

Leidensfrei optimiert? – DSM-5, ICD-11 und

Zur Bedeutung von Bildung in der Entwicklung

das Geschäft mit der Trauer

und Förderung von Trauerkompetenz

59 Robert Steier

Tod und Trauer organisatorisch fassen – Erläuterungen zu einer Musterbetriebsvereinbarung



63 Roman Hebenstreit, Vorsitzender der Gewerkschaft vida, im Interview

Tabuthema »Trauer am Arbeitsplatz«

65 Martina Wurzer

Der kleine Schatten eines Meilensteins – ­Österreichs Familienhospizkarenz



88 Doris Beneder | Leidensfrei optimiert?

69 Waltraud Klasnic, Leena Pelttari und Anna H. Pissarek 51 umzusetzende Empfehlungen – Politische

Forderungen zu Trauerbegleitung aus der Sicht



von Hospiz und Palliative Care

73 Norbert Mucksch

Krank oder nicht oder wie jetzt!? – Zum Verhältnis der Krankenkassen zur Förderung von trauer­ begleitenden Angeboten sowie zur Förderung von Qualifizierungsmaßnahmen in Trauerbegleitung



77 Elisabeth Schneider

Peer Support nach dem Schusswechsel – Tod und Trauer im Polizeiberuf

93 Aus der Forschung: »Homophobie tut weh« Trauer als soziale Aktivität in Südafrika

95 Fortbildung: Abschied nehmen 98 Rezensionen 100 Verbandsnachrichten

103

Cartoon | Vorschau

104

Impressum

4

Das Persönliche politisch machen Einige Gedanken über das Verhältnis von Gesellschaft und Trauer

Saskia Jungnikl Die Welt ist voll von Menschen, die trauern. Was viele gemein haben, ist Stille und Unsicherheit. Es ist schwer, mit seiner Familie und seinen Freun­ den darüber zu reden. Es scheint nur im geschütz­ ten Rahmen möglich und erwünscht, in Selbst­ hilfegruppen etwa oder mit dem Pfarrer, der Pfarrerin oder der Therapeutin, dem Therapeu­ ten. Es wirkt fast unmöglich, öffentlich darüber zu reden. Noch unmöglicher, es in der Politik auf die Tagesordnung zu setzen. Zu schmal scheint die Schnittstelle zu sein zwischen Anteilnahme für öffentliche Trauer und dem Verurteilen von vermeintlich allzu sehr zur Schau getragener Ge­ fühlsdarstellung. Trauer ist ein Tabu. Als mein Bruder starb und vier Jahre danach mein Vater, schien es mir fast unmöglich, darüber zu reden. Zu groß die Unsicherheit, die Angst, missverstan­ den zu werden, oder auch die Sorge, anderen mit seiner Trauer zur Last zu fallen. Phasenverschiebungen Man sieht sich um und scheint von Menschen umgeben zu sein, die Todesfälle innerhalb von drei Tagen abhaken und ihr normales Leben wei­ terführen. Wer sich noch nach Monaten manch­ mal traurig und verzagt fühlt, kriegt leicht das Gefühl zu versagen. Ich dachte damals, am bes­ ten halte ich mich an die Trauerphasen. Still, für mich, dann werde ich meine Trauer durchtauchen und wieder die Alte werden. Als könnte ich die Trauer hinter mich bringen – und dann geht es mir wieder gut, dann bin ich wieder der Mensch, der ich vorher war. Ich habe die Phasen alle durchlaufen, brav wie nach Lehrbuch, einmal war ich traurig, dann wü­

tend, dann hatte ich Sehnsucht. Das Problem da­ bei war, dass diese Trauerphasen – wie das Wort Phase ja schon beschreibt – eine zeitliche Limi­ tierung suggerieren. Also ich bin vier Wochen traurig, dann vier Wochen wütend, dann habe ich vier Wochen Sehnsucht. Aber so funktioniert das nicht. Die Übergänge sind fließend, und sie verlaufen nicht von A nach B und dann C, son­ dern wild durcheinander. Nach der dritten Pha­ se kommt nämlich plötzlich wieder Phase eins. Trauer hält sich an kein Lehrbuch. Das zu ak­ zeptieren war wahnsinnig schwer für mich. Weil das Gefühl zu versagen mit jeder neuen Welle an Trauer größer wird. Eine Ethik des Funktionierens Politik kann in vielem Vorbildwirkung haben. Sie kann Gesetze schaffen, die Grundlage für ein bes­ seres Miteinander sind. Kann sie auch Vorbild­ wirkung in der Trauer haben? Dem voran steht die Frage: Was ist Trauer – und vor allem, wie hat sie auszusehen? Unsere Gesellschaft scheint eine ziemlich genaue Vorstellung davon zu ha­ ben, was Trauer zu sein hat und wie Menschen, die trauern, auszusehen und sich zu verhalten ha­ ben. Wenn jemand stirbt, der einem nahestand, hat man das Recht auf Beileidsbekundungen, viel­ leicht auf etwas Schonfrist und dann muss wieder funktioniert werden. Früher gab es das Trauer­ jahr, das gilt schon lange nicht mehr. Schwarz zu tragen, um seine Trauer zu zeigen, ist ein Ritual, das längst nicht mehr hält. Manche Menschen er­ warten, dass man sich in den ersten Wochen der Trauer zu Hause einsperrt. Geht jemand während dieser Zeit tanzen oder zeigt sich ausgelassen in

Trauer ist ein Grundgefühl. Sie gehört zu unseren Leben. Sie ist manchmal präsenter und manchmal nicht.

Thomas Geldmacher

einer Freundesrunde, heißt es schnell, sehr trau­ rig sein kann er oder sie aber nicht sein. Wir leben eine Ethik des Funktionierens. Trauer hat hier keinen Platz, und anstatt den Ver­ such zu unternehmen zu verstehen, dass Trauer in der Mitte unserer Gesellschaft ist, wird sie im­ mer an den Rand gedrängt – als unerwünschte Erscheinung, deren Existenz man, wenn schon, dann nur kurz, anerkennt. Doch Trauer ist ein Grundgefühl. Sie gehört zu unseren Leben. Sie ist manchmal präsenter und manchmal nicht. Mei­ ne Mutter sagt, eine gewisse Grundtrauer ist bei ihr immer da. Manchmal wird sie zugedeckt von schönen Dingen und auch von Zeit und durch Abstand. Es ist, wie wenn Laub von den Bäu­ men fällt und die Dinge darunter begräbt. Dann kommt ein Windstoß und trägt das Laub weg und lässt Trauer und Schmerz wieder präsenter sein. Und der nächste Windstoß deckt vielleicht wie­ der ein bisschen zu.

6   S a s k i a J u n g n i k l

Wir betrachten Trauer als Ausnahmezustand, und es muss so schnell wie möglich wieder der Nor­ malzustand hergestellt werden, als wäre sie ein Fehler im System oder eine Krankheit. Das er­ zeugt einen unheimlichen Druck. Dabei ist Trauer individuell. Jeder trauert anders. Manche trauern in den ersten Wochen gar nicht, bei manchen kommen die Trauer, das Sich-Einstellen auf eine nun völlig neue Lebensrealität erst viel später. Wie viel Zeit für Trauer wird einem zugestanden? Wie viel soll einem zugestanden werden? Noch vor wenigen Jahrzehnten war Trauer ge­ sellschaftlich viel anerkannter. Bräuche und Ri­ tuale wurden abgeschafft, doch an ihre Stelle tre­ ten keine neuen. Heute ist für viele Menschen die Diskrepanz zwischen dem inneren Gefühlschaos auf der einen und der Erwartungshaltung der Umgebung, dass man sein Leben wieder schnell aufnimmt, auf der anderen Seite sehr groß. Doch Trauer kommt in Wellen. Trauer hat keine Dead­ line. Man ist ja nicht durchgehend traurig, aber lange Zeit kann es einen unerwartet einholen. Es hat mir geholfen, darüber zu reden, darüber re­ den zu dürfen und zu können. Wenn ich etwas gelernt habe, dann, dass Reden hilft. Worte zu geben, wo keiner Worte findet, öffnet neue Mög­ lichkeiten. Manchmal ist nichts so hilfreich wie das Gefühl, verstanden zu werden. Oft reicht das schon, um Dinge in ein anderes Licht zu rücken. Also warum nicht über den Tod reden? Warum Trauer nicht zum Thema machen? Öffentlich trauern Öffentliches Trauern ist schwierig. Es ist eine Gratwanderung zwischen dem Verständnis und der Anteilnahme der Öffentlichkeit und einem Verurteilen der allzu offen zur Schau gestellten Trauer. Für mein öffentliches Umgehen mit mei­ ner Trauer habe ich auch Kritik geerntet – ich würde Aufmerksamkeit, Kapital aus dem Tod von geliebten Menschen schlagen. Der Vorwurf geht

m.schröer

Ausnahme- oder Normalzustand?

ins Leere. Wer einen Menschen verliert, den er liebt, will gar nichts, außer diesen Menschen wie­ der zurück. Der Tod der österreichischen Gesundheitsund Frauenministerin Sabine Oberhauser hat vor wenigen Jahren in der Politik über Parteigrenzen hinweg große Betroffenheit ausgelöst, genauso wie der Tod der österreichischen Nationalrats­ präsidentin Barbara Prammer. Es wurde kondo­ liert, die Fahnen wurden auf Halbmast gehängt, öffentliche Worte der Trauer gefunden. Wenn es aber um Tod und Trauer im Umfeld eines Poli­ tikers geht, dann gilt es als zu privat, danach zu fragen oder darüber zu reden. Doch wie privat soll Trauer sein – und ab wann bedeutet privat möglichst abgeschieden und für sich allein? Wie beispielgebend sollen Politikerinnen und Poli­ tiker sein? Politiker sind und können Vorbilder sein. An ihnen orientiert man sich. Wenn sie offen mit

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D a s Pe r s ö n l i c h e p o l i t i s c h m a c h e n    7

problembehafteten Themen umgehen, kann ih­ nen das manchmal zum Nachteil geraten, das ist richtig. Viel mehr und viel eher jedoch kann dies eine öffentliche Debatte auslösen, von der die Gesellschaft als Ganzes profitiert. Politiker und Politikerinnen sollten weniger Angst haben, ihre Trauer und damit eine vermeintliche Schwä­ che zu zeigen. Eine gut funktionierende Gesell­ schaft muss damit umgehen können, ja, sie muss lernen, damit umzugehen. Denn wie bereits oben gesagt: Die Welt ist voll von Menschen, die trau­ ern. Politiker wären in guter Gesellschaft. Und sie könnten Mut machen und Hoffnung geben. Und was noch wichtiger ist: Sie könnten Debatten an­ stoßen, die zu einer Änderung führen, die zu Ge­ setzen führen, die schlussendlich die Trauer aus ihrem Eck holen und ihr den relevanten Platz in der Gesellschaft geben, der ihr eigentlich gebührt. Arbeit an der Trauer William J. Worden hat die Trauer zu seinem Le­ bensthema gemacht, sein Buch »Beratung und Therapie in Trauerfällen« (1982/2017) ist ein Stan­ dardwerk der Trauerforschung. Worden definiert Trauer nicht über Phasen, sondern er schreibt von den vier Aufgaben des Trauerns – bewusst ohne jede Zeitangabe. Aufgabe eins ist es, den Tod und den Verlust zu begreifen und anzuneh­ men. Das ist viel schwerer, wenn es einem nicht möglich gemacht wird, darüber zu reden. Aufga­ be zwei bedeutet, die Vielfalt an Gefühlen zu er­ leben. Trauer ist nicht gleich Trauer. Wer jeman­ den verliert, den er liebt, stürzt in ein Chaos von Gefühlen, die nicht immer eindeutig zuzuordnen sind. Wer jemanden verliert, fühlt Schmerz, Wut, Ablehnung, Verzweiflung, Angst, aber vielleicht auch Erleichterung. Diese Gefühle nicht wegzu­ schieben, sondern auszuhalten und zu durchle­ ben, ist wichtig. Aufgabe drei besagt, man muss sich an die veränderte Umwelt gewöhnen und an­ passen. Die Welt, in der Menschen tot sind, die man geliebt hat, wird immer eine andere sein. Rollen haben sich verschoben, der Umgang mit

anderen sich geändert. In Aufgabe vier soll man dem oder der Verstorbenen einen neuen Platz zuweisen. In der ersten Zeit nimmt der Tote un­ glaublich viel Raum in den Gedanken und Ge­ fühlen ein. Das wird mit der Zeit weniger. Das bedeutet nicht, dass man die oder den Verstor­ benen vergisst. Nur der Platz wird ein anderer. Man kann manches nicht ungeschehen ma­ chen. Der Tod meines Bruders, der Tod meines Vaters, sie gehören zu meinem Leben und das werden sie auch bis an mein eigenes Lebensende tun. Sie bedeuten nicht, dass dieses Leben nicht trotzdem erfüllt und glücklich sein kann. Dazu hat es Unterstützung gebraucht und das Gefühl, dass es akzeptiert wird, wenn ich in meinem eigenen Tempo trauere. Dazu hat es gebraucht, dass ich darüber reden durfte und dass ich da­ nach gefragt wurde. Mein Leben ist heute erfüllt und glücklich. Das hätte ich allein nicht geschafft und ich hätte es nicht geschafft, wenn ich meine Gefühle verdrängt und dem gesellschaftlichen Schweigetabu untergeordnet hätte. Trauer hört nicht auf, aber sie verändert sich. Ich werde im­ mer wieder einmal traurig sein, und es wird mir doch immer gutgehen. Das ist, was ich heute ganz entschieden weiß und was ich Menschen sage, die gerade erst jemanden verloren haben: Man wird sich nicht immer so fühlen wie zu Beginn. Trauer wird anders. Es tut manchmal gut, das zu hören. Saskia Jungnikl ist Autorin und Jour­ nalistin. Sie arbeitete u. a. für die Wiener Stadtzeitung »Falter«, die Tageszeitung »Der Standard« und die Österreich-Aus­ gabe der Wochenzeitung »Die Zeit«. Je­ den Monat erscheint ihre Gesprächs­ © Rafaela Pröll kolumne »Auf Leben und Tod« im Magazin »Datum«. Ihr Erstlingswerk »Papa hat sich erschossen« (2014) erregte große mediale Auf­ merksamkeit. 2017 veröffentlichte sie »Eine Reise ins Leben oder wie ich lernte, die Angst vor dem Tod zu überwinden«. E-Mail: [email protected] Literatur Worden, J. W. (1982/2017). Beratung und Therapie in Trauer­ fällen. Ein Handbuch. Bern.

Tr a u e r Po l i t i k

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Fehlstellen Warum die Politik sich mit Trauer beschäftigen sollte

Thomas Geldmacher Der österreichische Gesetzgeber kennt keine Trauer. Eine Recherche im Rechtsinformations­ system des Bundes ergibt zwar zwölf Treffer, die­ se aber verweisen großteils auf Lehrpläne für den Religionsunterricht und auf Ausbildungs­ standards für Sozialarbeiterinnen und Sozial­ arbeiter.1 In Bundesgesetzen taucht der Begriff »Trauer« nicht auf. In Deutschland ist die Lage ganz ähnlich. Eine Recherche in der Gesetze-Datenbank des Bun­ desamtes für Justiz kommt auf vier Treffer.2 Drei beziehen sich auf Verordnungen für konkrete Berufsausbildungen (Bestatter/-in, Fachhaus­ wirtschafter/-in), einer auf eine Proklamation von Bundespräsident Roman Herzog aus dem Jahr 1996, in der dieser den 27. Januar zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozia­ lismus erklärte. Das Schweizer Bundesrecht verzeichnet genau einen Treffer.3 Eine Verordnung des Eidgenös­ sischen Finanzdepartements zur Bundesperso­ nalverordnung klärt neben vielem anderen, dass Angestellten des Bundes »beim Tod anderer Ver­ wandter oder von Dritten zur Teilnahme an der Trauerfeier« maximal ein Tag bezahlter Urlaub zu gewähren ist. Die Politik, so hat es den Anschein, drückt sich vor dem Umgang mit Trauer. Das ist bis zu einem gewissen Grad auch verständlich, wenn man Politik als Spiegel für den zunehmend pri­ vatisierten Umgang westlicher Gesellschaften mit Trauer betrachtet – wobei der Politik hier durch­ aus sensibilisierende Vorbildfunktion zukommen könnte – oder wenn man sich ein wenig mit den Reaktionen der Wählerin und des Wählers bei Todesfällen im politischen Bereich beschäftigt.

    

Umgänge mit Trauerfällen in der Politik Ein Blick nach Polen: Bei der Totenmesse für den ehemaligen polnischen Außenminister und Solidarność-Vordenker Bronisław Geremek im Sommer 2008 versammelten sich Anhänger/-in­ nen des katholischen Senders Radio Maryja vor der Warschauer Johannes-Kathedrale unter einem Transparent mit der Aufschrift: »Herr, wir danken dir, dass du ihn endlich von uns genom­ men hast!«4 In Österreich und Deutschland sind die Sensi­ bilitäten nicht entscheidend besser. Im November 2016 starb die Tochter des damaligen österreichi­ schen ÖVP-Vizekanzlers Reinhold Mitterleh­ ner an Krebs; wenige Monate später moderier­ te der Journalist Armin Wolf einen Beitrag in der ORF-Sendung »ZiB 2« über Mitterlehners partei­interne Schwierigkeiten mit einem Zitat aus einem Italo-Western an: »Django [Mitterlehners Couleurname im Cartellverband], die Totengrä­ ber warten schon«. Wolf entschuldigte sich zwar, der Vizekanzler legte dennoch kurze Zeit später alle seine Funktionen nieder und gab in seiner Abschiedspressekonferenz zu Protokoll, der Fern­ sehbeitrag habe »den letzten Mosaikstein« für den Rücktritt geliefert.5 Und als im April 2019 Angela Merkels Mutter starb und die Zeitschrift »Stern« auf ihrer Facebook-Seite darüber berichtete, häuf­ ten sich hämische Kommentare und fröhliche Smileys in den Kommentaren. Weder Reinhold Mitterlehner noch ­Angela Merkel unterbrachen auf sichtbare Weise den Arbeitsalltag, um sich ihrer Trauer zu widmen. Mitterlehner wollte die Krankheit seiner Tochter »nicht öffentlich an die große Glocke hängen und

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damit vielleicht sogar Mitleid erwecken«6 – er trat sogar in der vorbereitungsintensiven ORF-Fern­ sehsendung »Pressestunde« auf –, und auch An­ gela Merkel sagte, so wird kolportiert, in den Ta­ gen nach dem Tod ihrer Mutter keine Termine ab. Politiker/-innen haben, so scheint es, die sprich­ wörtliche stiff upper lip (die »steife Oberlippe«) verinnerlicht. Private Umstände haben auf die öffentliche Rolle keine Auswirkungen zu haben. Und gerade in Zeiten besonderer Verwundbar­ keit – wie etwa in Trauerprozessen – werden die Abwehr- und Schutzharnische ganz besonders fest gezurrt. Was bei allen anderen Menschen nicht klappt, soll bei Politikern und Politikerin­ nen funktionieren.

mern können. Die Frage, ob diese Abwesenheiten bezahlt werden oder nicht, ist gesetzlich nicht ge­ regelt, sondern Sache der Firmenpolitik oder in­ dividueller Arbeitsverträge.10 Trauer als betriebliche Belastung Ob die Parental Bereavement (Leave and Pay) Bill angesichts der Dramen rund um den Brexit auch tatsächlich Gesetzeskraft erlangt, lässt sich zum heutigen Zeitpunkt nicht sagen. Doch unabhän­

Lediglich in Großbritannien, der Heimat der stei­ fen Oberlippe, scheinen die Uhren anders zu ge­ hen. Die politisch gebeutelte Königreich macht sich gerade auf, Vorreiter in Sachen Trauerpolitik zu werden.7 Im Oktober 2017 kündigte die briti­ sche Regierung ein Gesetz an, das es Eltern nach dem Tod eines minderjährigen Kindes ermögli­ chen soll, eine zweiwöchige Trauerfreistellung bei vollen Bezügen in Anspruch zu nehmen. Die Parental Bereavement (Leave and Pay) Bill soll 2020 in Kraft treten.8 Es ist nicht unplausibel anzuneh­ men, dass diese Gesetzesinitiative unmittelbar auf das Ableben von Ivan Cameron zurückzuführen ist. Nach dem plötzlichen Tod seines sechsjähri­ gen Sohnes, der mit einer schweren Behinderung auf die Welt gekommen war, im Februar 2009 zog sich der damalige britische Premierminister David Cameron zwei Wochen lang völlig aus der Politik zurück, um gemeinsam mit seiner Fami­ lie zu trauern, und stand seither der Einführung von bezahlter gesetzlicher Trauerfreistellung zu­ mindest aufgeschlossen gegenüber.9 Im Moment gibt es für Arbeitnehmer/-innen in Großbritan­ nien lediglich einen »angemessenen Zeitraum« (»reasonable amount of time«), innerhalb dessen sie sich um Notfälle betreffend Angehörige küm­

picture alliance / REUTERS / Fotograf: Staff

David Camerons Vermächtnis

David Cameron mit seiner Ehefrau Samantha am 25. Februar 2009 nach dem Tod ihres sechsjährigen kranken Sohns Ivan.

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Mabel Amber, still incognito … / Pixabay

Präsentismus bedeutet, dass Personen zwar an ihrem Arbeitsplatz physisch anwesend sind, aber aufgrund von Krankheiten oder von Trauerprozessen nicht in der Lage sind, die von ihnen seitens des Arbeitgebers erwarteten Tätigkeiten effizient auszuführen.

gig von der persönlichen Betroffenheit einzelner Spitzenpolitiker gibt es eine ganze Menge Grün­ de, die die politischen Entscheidungsträger/-in­ nen dazu veranlassen sollte, sich ein wenig inten­ siver mit Trauer und ihren Folgen zu beschäftigen. Ganz oben auf der Liste: Trauer kostet Geld. Nach Berechnungen des deutschen Bundesamtes für Statistik verursachten psychische Krankheiten und Verhaltensstörungen11 im Jahr 2015 Kosten von 44,4 Milliarden Euro, das sind über 13 Pro­ zent der gesamten Krankheitskosten.12 Natürlich

hat nicht jede psychische Erkrankung und jede Verhaltensstörung mit Trauer zu tun, aber Ex­ perten gehen davon aus, dass psychischen Belas­ tungen häufig schlecht verarbeitete Trauerreak­ tionen zugrunde liegen. Darüber hinaus stehen Trauer, Stress und erhöhtes Gesundheitsrisiko in engem Zusammenhang, wie wir spätestens seit den Arbeiten von Thomas Holmes und R ­ ichard Rahe (1967) wissen, deren 43 Einträge umfas­ sende Social Readjustment Rating Scale unter den Top-5-Stressauslösern gleich vier Ereignis­

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se verzeichnet, die unmittelbar mit Trauer zu tun haben: Tod der Ehepartnerin/des Ehepart­ ners, Scheidung, Trennung vom Partner und Tod einer/s Familienangehörigen. Gemäß DAK-Gesundheitsreport 2013 entfallen rund 15 Prozent aller Arbeitsausfälle aufgrund von Arbeitsunfähigkeit auf psychische Erkran­ kungen13, der aktuelle BKK-Gesundheitsreport 2018 geht davon aus, dass 16,6 Prozent aller Kran­ kenstände auf psychische Belastungen zurückge­ hen14. Brathuhn, Freudenberg und Fuchs (2009, S. 150) gaben an, dass diese »psychischen Störun­ gen« jährliche Produktivitätsverluste in Höhe von 13 Milliarden Euro verursachen würden.15 2003 erschien in den USA der Grief Index, he­ rausgegeben von der in Kalifornien beheimate­ ten Grief Recovery Institute Educational Foun­ dation16, der den Versuch unternahm, Trauer zu quantifizieren. Das Vorgehen der Autoren mag methodologisch mitunter ein wenig fragwürdig gewesen sein, die Zahlen verdeutlichen aber zu­ mindest die Dimensionen: Todesfälle geliebter Personen kosten die US-amerikanische Wirt­ schaft jährlich 37,5 Milliarden US-Dollar (James et al. 2003, S. 24 f.). Die Hauptgründe dafür sind Fehlzeiten, verringerte Konzentrationsfähigkeit der Betroffenen, Stress, depressive Zustände und Substanzenmissbrauch, die zu geringerer Moti­ vation und drastisch gesunkener Effektivität am Arbeitsplatz sowie in weiterer Folge zum Treffen falscher, für das Unternehmen schädlicher Ent­ scheidungen führen. Damit ist ein Phänomen an­ gesprochen, das in der arbeits- und sozialwissen­ schaftlichen Forschung der letzten Jahre immer größere Bedeutung erhalten hat: der Präsentis­ mus. Damit ist, verkürzt gesagt, gemeint, dass Personen zwar an ihrem Arbeitsplatz physisch anwesend sind, aufgrund von Krankheiten – oder aufgrund von Trauerprozessen – aber nicht in der Lage sind, die von ihnen seitens des Arbeitge­ bers erwarteten Tätigkeiten effizient auszuführen. Zahlreiche internationale Studien kommen über­ einstimmend zu dem Schluss, dass die betriebs­ wirtschaftlichen Kosten bei Präsentismus jene

bei Absentismus, also bei ausgedehnten Kranken­ ständen, deutlich übersteigen (Steinke und Badu­ ra 2011, S. 105 f.) und dass die Präsentismuskosten gerade bei psychischen Belastungen und depressi­ ven Zuständen besonders hoch sind (S. 83). Fiss­ ler und Krause konstatieren lakonisch: »12 % der Gesamtproduktivität von Unternehmen geht auf­ grund von Gesundheitsproblemen verloren. Da­ von entfällt doppelt so viel auf Präsentismus wie auf Absentismus« (2010, S. 417). Trauernde Babyboomer Jedes Jahr sterben in Deutschland rund 900.000 Menschen, davon 15 Prozent, also etwa 100.000 Personen, im erwerbsfähigen Alter. Und es wer­ den immer mehr. Gemäß der Arbeitsmarkt­ prognose des deutschen Bundesministeriums für Arbeit und Soziales steigt der Anteil der Er­ werbstätigen, die älter als 55 Jahre sind, von jetzt 17,2 Prozent auf 25,6 Prozent im Jahr 2030.17 Auf­ grund der Erhöhung des Pensionsantrittsalters werden wir nicht nur alle länger arbeiten und, statistisch betrachtet, vermehrt sterben, während wir noch im Berufsleben stehen, in den nächs­ ten 15 bis 20 Jahren werden auch viele berufs­ tätige Menschen das Ableben ihrer Eltern zu be­ trauern haben. Die Generation der Babyboomer verliert ihre Mütter und Väter. Diese absehbare Häufung von Trauerfällen, die unmittelbare öko­ nomische Folgen nach sich ziehen werden, sollte für den Gesetzgeber ein Handlungsauftrag sein. Zumal sich Anstrengungen auf dieser Ebene nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich lohnen dürften: Schätzungen gehen davon aus, dass die Einführung von Employee Assistance Programs, also von Programmen, die die Mitarbei­ ter/-innen eines Unternehmens in Fragen des Ge­ sundheits-, Konflikt- oder Stressmanagements sowie im Umgang mit psychischen Belastungen am Arbeitsplatz beraten, eine Investitionsrendi­ te (return on investment, ROI) von rund 1:10 er­ bringt, da Fehlzeiten und Präsentismusphänome­ ne reduziert werden können.18 Ganz besonders

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effizient ist dabei offenbar die direkte Schulung von Führungskräften im adäquaten Umgang mit psychisch belasteten Mitarbeitern und Mitarbei­ terinnen (Strauss 2012, S. 32). Todesdiskrepanzen Und dann wäre da noch der chronisch unter­ dotierte Hospiz- und Palliativbereich, von des­ sen politischen Forderungen an anderer Stel­ le in diesem Heft zu lesen ist. Sozialpolitische Investitionen in mobile und stationäre Hospiz­ pflege sind schlicht unerlässlich, wenn die oft ge­ brauchte Formulierung von der »Würde am Ende des Lebens« mehr als eine hohle Phrase sein soll. Aus einem ganz einfachen Grund: 76 Prozent aller alten Menschen wollen zu Hause sterben, zehn Prozent im Hospiz, nur sechs Prozent im Krankenhaus und gar nur zwei Prozent im Al­ ten- oder Pflegeheim. Das hat der »Faktencheck Gesundheit« der Bertelsmann Stiftung herausge­ funden. Die Realität sieht aber so aus: Lediglich 20 Prozent der Menschen dürfen zu Hause ster­ ben. 46 Prozent der alten Menschen sterben in Krankenhäusern, 31 Prozent in Alten- und Pfle­ geheimen.19 Gesellschaftlicher Wunsch und ge­ sellschaftliche Realität stehen also längst in kei­ nem akzeptablen Verhältnis mehr. Wann, wenn nicht jetzt, und wo, wenn nicht hier, sollte der Gesetzgeber eingreifen!? Thomas Geldmacher ist Politikwissen­ schaftler, Mediator und Gesellschafter von Rundumberatung, einem Unterneh­ men, das sich insbesondere Fragen von Tod und Trauer am Arbeitsplatz widmet. © Andreas Jakwerth

E-Mail: [email protected]

Literatur Brathuhn, S., Freudenberg, E., Fuchs, M. (2009). Die Trauer und ihre Begleitung am Arbeitsplatz. In: ASUpraxis 11, S. 149–152. Fissler, E., Krause, R. (2010). Absentismus, Präsentismus und Produktivität. In: Badura, B., Walter, U., Hehlmann, T. (Hrsg.), Betriebliche Gesundheitspolitik. Der Weg zur gesunden Organisation (S. 411–425). Berlin/Heidelberg.

Holmes, T., Rahe, R. (1967). The Social Readjustment Rat­ ing Scale. In: Journal of Psychosomatic Research, 11 (2), S. 213–218. James, J. W., et al. (2003). Grief Index. The »hidden« annu­ al costs of grief in America’s workplace. Sherman Oaks. (Eine Kopie des Reports befindet sich in meinem Besitz.) Steinke, M., Badura, B. (2011). Präsentismus. Ein Review zum Stand der Forschung. Hrsg. von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Dortmund/Ber­ lin/Dresden. Strauss, N. (2012). Chancen und Grenzen von betriebli­ cher Stressprävention und Mitarbeiter-Unterstützung. In: ­Laske, S., et  al. (Hrsg.), PersonalEntwickeln. Loseblatt­ werk, 163. Ergänzungs-Lieferung, 9.22. Neuwied. Anmerkungen   1 Vgl. https://www.ris.bka.gv.at (02.03.2019).   2 Vgl. https://www.gesetze-im-internet.de (02.03.2019).   3 Vgl. https://www.admin.ch/gov/de/start/bundesrecht/ systematische-sammlung.html (02.03.2019).   4 Vgl. https://www.focus.de/politik/ausland/globus-hae­ me-nach-dem-tod-von-geremek_aid_320550.html (02.03.2019, Artikel vom 28.07.2008).   5 Vgl. https://derstandard.at/2000057322057/Mitterleh­ ner-ZiB-2-als-letzter-Mosaikstein-fuer-den-Ruecktritt (02.03.2019, Artikel vom 10.05.2017).  6 https://oe3.orf.at/sendungen/stories/2818419 (02.03.2019).   7 Vgl. https://www.gov.uk/government/news/new-leaveallowance-for-bereaved-parents-will-be-one-of-themost-generous-in-the-world (02.03.2019, Pressemit­ teilung vom 13.10.2017).   8 Vgl. https://publications.parliament.uk/pa/bills/cbill/ 2017–2019/0014/18014.pdf (02.03.2019).   9 Vgl. https://www.bbc.com/news/uk-scotland-25058053 (02.03.2019, Artikel vom 25.11.2013). 10 Vgl. https://www.gov.uk/time-off-for-dependants (02.03.2019). 11 Die Krankheitsgruppen folgen den Hauptkapiteln der Internationalen Statistischen Klassifikation der Krank­ heiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-11). 12 https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilun­ gen/2017/09/PD17_347_236.html (Zugriff am 02.03.2019). 13 https://www.dak.de/dak/download/vollstaendiger-bun­ desweiter-gesundheitsreport-2013–1318306.pdf, VI (Zu­ griff am 20.02.2018). 14 https://www.bkk-dachverband.de/fileadmin/publika­ tionen/gesundheitsreport_2018/BKK_Gesundheitsre­ port_2018.pdf, 44 (Zugriff am 02.03.2019). 15 Es ist mir allerdings bisher nicht gelungen, diese Zahlen nachzuvollziehen. 16 https://www.grief.net (Zugriff am 02.03.2019). 17 www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Pu­ blikationen/a756-arbeitsmarktprognose-2030.pdf, 41 (Zugriff am 02.03.2019). 18 Ich danke meiner Kollegin Franziska Offermann für diesen Hinweis. 19 Siehe https://faktencheck-gesundheit.de/de/faktenchecks/ faktencheck-palliativversorgung/ergebnis-ueberblick/ (Zugriff am 02.03.2019; ich danke Saskia Jungnikl-­Gossy für diesen Hinweis).

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Phänomen Rechtspopulismus – ein Trauerspiel? Sepp Fennes In vielen – nicht nur europäischen – Ländern haben rechtspopulistische Parteien immer stär­ keren Zulauf: die AfD in Deutschland, die FPÖ in Österreich, die SVP in der Schweiz, Fidesz in Ungarn sowie die Lega in Italien, um nur einige zu nennen. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielschichtig. Im Folgenden soll zuerst das Phänomen Rechtspopulismus definiert werden. Danach wird untersucht, inwiefern das Modell der vier Trauerphasen nach Verena Kast (1982) und das Modell der vier Traueraufgaben nach William J. Worden (Worden 1982/2017) als Be­ schreibung eines gesunden Integrationsprozes­ ses von bedeutenden Verlusten (nicht nur nach Todesfällen) in diesem politischen »Trauerspiel« beobachtbar Anwendung findet. Was ist Rechtspopulismus? Rechtspopulismus ist eine heterogene politische Strömung, die zugespitzte Positionen aus dem politisch rechten Spektrum mit einem – oft frag­ würdigen – Bekenntnis zur Demokratie verbin­ det und sich in populistischer Manier gegen Ein�­ wanderer und Einwanderinnen (besonders aus anderen Kulturkreisen durch Schüren der Ängs­ te vor »Überfremdung«), die Europäische Union und deren aktuelle Struktur sowie die regieren­ den Parteien wendet (sofern man nicht gerade selbst an der Macht ist, wie zum Beispiel in Ös­ terreich, Italien oder Ungarn). Weitere Merk­ male sind die plakative Forderung nach einer leistungsorientierten Gesellschaftsordnung, ein kalkulierendes Bekenntnis zum »christlichen Abendland« sowie ein inbrünstiges Eintreten für den Erhalt nationaler Kulturen und Iden­ titäten. Dies wird meist mit Islamfeindlichkeit

und der Befürwortung einer »Law and Order«-­ Politik verbunden. Rechtspopulisten sehen sich gern als Sprach­ rohr einer »schweigenden Mehrheit«, deren In­ teressen andere Parteien angeblich ignorieren. Der »Appell an das Volk« soll dabei suggerieren, dass es einen genuinen Volkswillen gibt, der in seinem latenten Wahrheitsgehalt nur zutage ge­ bracht werden müsse. Die diesbezügliche Inter­ pretationshoheit schreiben die Rechtspopulisten dabei ganz selbstverständlich ausschließlich sich selbst zu. Der gemeinsame Kern rechtspopulistischer Politik besteht darin, eine Identitätspolitik zu for­ cieren, in der eine bedrohte Gemeinschaft kons­ truiert wird. Soziale Missstände und Krimina­ lität werden durch wiederkehrende rassistische Argumente erklärt. Inszenierte Tabubrüche und der Hang zu Verschwörungstheorien stehen an der Tagesordnung. So ließ Ungarns Minister­ präsident Viktor Orbán im EU-Wahlkampf pla­ katieren, der jüdische Milliardär George Soros verfolge gemeinsam mit EU-Kommissionspräsi­ dent Jean-Claude Juncker den Plan, Ungarn und Europa mit muslimischen Einwanderern zu über­ schwemmen. Das Trauerspiel als Metapher So wie das literarische bürgerliche Trauerspiel unter anderem den politischen Kampf gegen den Adel thematisierte, thematisiert der Rechtspopu­ lismus den Kampf gegen die Eliten – gegen »die da oben« – und fügt auch gleich die Ebene »die da draußen« (Flüchtlinge, Migranten, Muslime) hin­ zu. Und so wie im Trauerspiel der Held steht bei den Rechtspopulisten eine starke Führungsfigur

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im Zentrum, die an die »Sehnsucht nach dem star­ ken Mann«, nach einem – zumindest in der stili­ sierten Eigendarstellung – »edlen Helden« appel­ liert. Wohin das führen kann, zeigt die Geschichte des Zweiten Weltkriegs auf tragisch-dramatische Weise. Und es ruft »Jammern und Schaudern« mit kathartischem Effekt hervor (Aristoteles). Trauermodelle als ergänzender Erklärungsansatz für Rechtspopulismus Die Statisten in diesem Trauerspiel sind oft Men­ schen, die bedeutende Verluste durch Moderni­ sierung, Globalisierung und Digitalisierung erlit­ ten haben und gesellschaftlich wie ökonomisch in prekären Verhältnissen leben. Damit stehen sie in meist unbewussten Trauerprozessen, die auf eine verquere Art zutage treten. Nach einer Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens und der Orientierungslosigkeit (Trauerphase 1) folgen die »aufbrechenden Emotionen« (etwa Wut, Zorn, Angst, Hass = Trauerphase 2). Dabei gelingt es den Rechtspopulisten in vielen Ländern, diese Emotionen mit simplen Botschaften über Schul­ dige (Migranten, Eliten) zu ihrem eigenen Vorteil zu kanalisieren (siehe die Wahlerfolge der AfD oder die Ausschreitungen in Chemnitz und an­ deren Städten Deutschlands). Gleichzeitig bietet die aktive Unterstützung der rechtspopulistischen Agenda den (unbewusst) trauernden Gefolgsleu­ ten der Rechtspopulisten eine Art Erfüllung der dritten Traueraufgabe nach Worden, nämlich sich an die veränderte Umwelt anzupassen – durch neue Rollen und Aktivitäten sowie die Zugehö­ rigkeit zur postulierten »Volksgemeinschaft«. Ein möglicher tiefenpsychologischer ­Aspekt im Agieren der Rechtspopulisten könnte – folgt man dem Schweizer Psychoanalytiker Arno ­Gruen – darin bestehen, dass diese keinen Zugang zum eigenen, in ihrer Lebensgeschichte begründeten Trauerschmerz gefunden haben. Die Integration im Sinne der genannten Trauer­modelle bleibt demnach ungelebt. So müssen sie die Aggres­ sion, die den Schmerz begleitet, nach außen ver­

lagern. Der »Feind« lenkt von den eigenen Verlus­ ten und Verletzungen ab, kompensiert die eigene Hilflosigkeit. Die Feinde werden für das bestraft, was Eltern im Kind missbilligten oder ablehnten. Der halluzinierte Feind ist allgegenwärtig, was fast täglich in Form von Hetze und Aggression gegen­ über Schwächeren – Obdachlose, Sozialhilfeemp­ fänger, Arbeitslose, »Durchschummler« (O-Ton Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz) – bis hin zum Kampf für »Rassenreinheit« unter propagandisti­ scher Verwendung christlicher Versatzstücke wie dem Kreuz erlebbar ist. Der Schmerz der Opfer – der Abgeschobenen, der Ertrinkenden, der Ver­ achteten, der Ausgegrenzten – wird als verdiente Bestrafung erlebt, da auch sie in ihrer Kindheit be­ straft wurden. Ein Aspekt des dahinterstehenden Hasses mag der geleugnete Selbsthass auf die eige­ ne, kindliche Opferrolle sein (vgl. Gruen 1997). Katharsis bei den »Zusehern« Ein Blick in soziale Medien, Zeitungen und poli­ tische Diskussionen belegt das von Aristoteles be­ schriebene Jammern und Schaudern eindrucksvoll. Auch die Zuseher und Zuseherinnen des Trauer­ spiels sind mit bedeutenden Verlusten konfrontiert: Traditionsreiche Grundwerte wie Nächstenliebe, Solidarität, Menschlichkeit und Menschenrechte, Presse- und Informationsfreiheit, konstruktiver Parlamentarismus, Kommunikationskultur oder Sozialpartnerschaft werden in Frage gestellt, auf Inländer und Inländerinnen reduziert und bis­

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weilen auf perfide Art attackiert, wie in Ungarn und Österreich deutlich sichtbar. Nach der ers­ ten Trauerphase des fassungslosen Nicht-wahr­ haben-Wollens zeigt sich in einigen Teilen der ös­ terreichischen Gesellschaft seit Herbst 2018 eine verstärkte Bereitschaft, den Trauerschmerz zu durchleben (Trauer­aufgabe 2 nach Worden) und der durch die Gefährdung dieser Werte veränder­ ten gesellschaftlichen und politischen Realität ent­ gegenzutreten. Im parteipolitischen Alltag gelingt dies beispielsweise der vom Machtverlust stark be­ troffenen österreichischen Sozialdemokratie nur langsam. Das Auswechseln der Hauptdarsteller al­ lein ist sichtlich zu wenig. Bewusste Beschäftigung mit den Trauermodellen nach Kast und Worden im politischen Kontext könnte wesentlich zum Ge­ lingen der notwendigen Trauerarbeit beitragen. Teile der österreichischen Zivilgesellschaft ha­ ben schneller in die Trauerarbeit gefunden. Hier ist feststellbar, dass ungewohnte Rollen übernom­ men und neue, bisher nicht benötigte Fähigkeiten entwickelt werden (Traueraufgabe 3 nach Wor­ den). Einzelpersonen und Initiativen engagieren sich verstärkt politisch: Die wiederaufgenomme­ nen Donnerstagsdemonstrationen und ähnliche Veranstaltungen (z. B. von Music4HumanRights oder Asyl in Not) sind Zeichen für eine vielfälti­ ge Protest- und Demonstrationskultur. Künstler und Künstlerinnen äußern sich verstärkt kritisch. NGOs treten mutig und kantig auf. Bisher kaum politisch Aktive vernetzen ihr Engagement erfolg­ reich über soziale Medien. Mit den »Omas gegen

Rechts« hat sich zum Beispiel eine neue, von in Pension befindlichen Frauen getragene Bewegung gegründet, die Vorbildwirkung auch für Deutsch­ land entfacht hat. Dies alles kann als Ausdruck der Erfüllung der dritten Traueraufgabe nach Wor­ den gesehen werden, die durch die Anpassung und aktive Gestaltung einer veränderten (poli­ tischen) Realität erfolgt. Und so gebiert die uns innewohnende Aktualisierungstendenz (Rogers, 1959/2009) – als gesunde Reaktion auf die Verluste durch die Umtriebe des Rechtspopulismus – neue Rollen, Fertigkeiten, Beziehungen und Gemein­ schaften und kann zu einem neuen Selbst- und Weltbezug führen (vgl. Trauerphase 4 nach Kast). Ausblick Literarische Trauerspiele sind spätestens nach ei­ nigen Stunden wieder vorbei. Diese Gnade wird uns im Fall des Phänomens Rechtspopulismus nicht zuteil werden. Positiv betrachtet birgt dies die Chance, in der eigenen Trauerarbeit und in der gesellschaftlichen Katharsis voranzuschreiten, die Bedeutung von bewussten Trauerprozessen auch im politischen Leben aufzuzeigen und ge­ eignete Strategien zu finden, die Integration von Verlusten im Sinne der genannten Trauermodel­ le praktisch zu leben. Sepp Fennes ist Trainer und Coach für Persönlichkeitsentwicklung und Kom­ munikation, ehrenamtlicher Sterbe-, Trauer- und Demenzbegleiter im Hos­ piz am Rennweg (Caritas Socialis), Mo­ derator und Unternehmensberater. E-Mail: [email protected] Website: www.seppfennes.at Literatur Gruen, A. (1997). Der Verlust des Mitgefühls. Über die Poli­ tik der Gleichgültigkeit. München. Kast, V. (1982). Trauern – Phasen und Chancen des psychi­ schen Prozesses. Freiburg im Breisgau. Rogers, C. R. (1959/2009). Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Bezie­ hungen. München u. a. Worden, J. W. (1982/2017). Beratung und Therapie in Trauer­ fällen. Ein Handbuch. Bern.

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Abschiedskultur in Unternehmen Erfahrungen der Vinzenz Gruppe

Rainer Kinast Wenn Verantwortliche eines Betriebs eine be­ stimmte Unternehmenskultur wollen, dann müs­ sen sie auch etwas dafür tun. Die Umsetzung wird nur dann gelingen, wenn die Mitarbeitenden und ihre Führungskräfte die angestrebten Wertehal­ tungen selbst leben wollen. Oft sind es negative Erfahrungen, die bewusst machen, welche Kul­ tur angestrebt wird und wertvoll ist. Ein Beispiel: In einem Großküchenbetrieb waren eines Morgens alle Mitarbeitenden davon betroffen, dass ein Kollege in der Nacht an Herzversagen gestorben war und nicht in den Dienst kam. Der verständigte Priester hatte für das Küchen­ team nicht sofort Zeit. Nun muss man wissen, dass Küchenmitarbeiterinnen und -mitarbei­ ter unter enormem Zeitdruck stehen, da zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr viele Men­ schen gleichzeitig ihr Essen bekommen wol­ len. Der Priester erschien – unabgesprochen – gegen 11.00 Uhr in der Küche und hielt eine kleine Andacht für den Verstorbenen ab. Das entpuppte sich eher als ungewollte Störaktion der Küchenroutine denn als Unterstützung in der Trauer. Denn kurz vor der Mittagszeit herrschte Hochbetrieb – kaum jemand konnte angesichts zischender Pfannen und dampfen­ der Töpfe an der Andacht teilnehmen. Nach­ her war allen klar: So wollen wir es nicht mehr haben! Die Vorstellungen, wie in Zukunft bei solch einem dramatischen Fall agiert werden sollte, wurden konkret. Wer eine bestimmte Organisationskultur imple­ mentieren will, muss dafür investieren. Dafür ist erstens eine klare Beschreibung der beabsichtig­

ten Kultur notwendig, die meist in einem mehr­ stufigen Prozess erarbeitet wird. Je konkreter die Kultur beschrieben wird, desto realistischer wird die Umsetzung. Es braucht zweitens personelle

Überall, wo es ­Abschiede gibt, braucht es Raum und Prozesse für Trauer, damit die ­Menschen in ihren Funktionen lebendig bleiben und trotz schmerzhaften Abschieden engagiert arbeiten können.

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damit die Menschen in ihren Funktionen leben­ dig bleiben und trotz schmerzhaften Abschieden engagiert arbeiten können. »Toolbox« für den Anlassfall Die Vinzenz Gruppe hat vor rund zehn Jahren in jedem Krankenhaus eine Seelsorge eigens für die Mitarbeiter/-innen eingeführt. Bei regelmä­ ßigen Treffen dieser Seelsorger/-innen werden konkrete Ideen ausgearbeitet und deren Umset­ zung geplant. Eine der ersten Aktivitäten dieser

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Ressourcen und Zuständigkeiten, die das Kul­ turthema am Leben erhalten und konkretisieren. Drittens sind in Diskussionsprozessen die Werte­ haltungen zu stärken und zu präzisieren. Die Vinzenz Gruppe, ein Verbund von Kran­ kenhäusern und Gesundheitsbetrieben, hat jahre­ lange Erfahrungen mit strukturierter Werte- und Kulturarbeit. Einige Beispiele sollen verdeutli­ chen, dass Trauerarbeit nicht nur ein individuel­ les Geschehen ist, sondern auch die Organisation als Ganze betrifft. Denn überall, wo es Abschie­ de gibt, braucht es Raum und Prozesse für Trauer,

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Claude Monet, Tulips, 1885 / Private Collection / Bridgeman Images

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Arbeitsgemeinschaft war die Entwicklung von Bausteinen für Rituale zu konkreten Anlässen, die auch für nicht religiöse und andersgläubige Menschen nachvollziehbar sind. Das Thema »Tod eines Mitarbeiters« wurde proaktiv bearbeitet, die erarbeiteten Elemente haben sich inzwischen be­ reits einige Male bewährt. • Eine kleine Gedenkfeier wird mit dem Team vorbereitet und ist das Ergebnis eines gemein­ samen Würdigungs- und Trauerprozesses der ehemaligen Kolleginnen und Kollegen. • Ideen für eine Feier werden erarbeitet. So kann zum Beispiel in der Feier verbal und durch Symbole zum Ausdruck gebracht wer­ den, was die verstorbene Person dem Team bedeutet hat. • Die Ankündigung der Gedenkfeier und das Andenken an den Verstorbenen, das aus der Feier mitgenommen werden kann, brauchen eine sensible Gestaltung. • Manchmal ist ein separates Ritual im Ar­ beitszimmer des Verstorbenen sinnvoll, etwa wenn eine andere Person den Arbeits­ platz übernehmen soll. Ein so begleiteter Verarbeitungsprozess hilft, den Schock zu überwinden und sich dem alltäglichen Leben wieder zuzuwenden. Wer sich in seiner Betroffenheit ernst genommen fühlt, wird seine Feinfühligkeit für Beziehungen und sein Engage­ ment für Lebenswertes behalten. Die »Toolbox« ist als Hilfestellung gedacht und hinsichtlich der konkreten Situation zu adaptieren. Leitfaden im Umgang mit dem Tod eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin Der eingangs geschilderte Fall ist in einer der Küchen von Kulinario, einem Unternehmen der Vinzenz Gruppe, geschehen. Daraufhin wurde ein Leitfaden »Umgang mit dem Tod eines Mitarbei­ ters« entwickelt und implementiert. Er beinhal­ tet unter anderem:

• Namen der ersten Ansprechpersonen, wenn die Nachricht vom Tod des Kollegen oder der Kollegin eintrifft; • Hinweise zur Gestaltung einer würdevollen Nachricht betreffend den Tod des Mitarbei­ ters (»interne Traueranzeige«); • Hinweise zur Vorbereitung und Durchfüh­ rung einer Gedenkfeier; • Namen von Ansprechpartnern, die das Team bei der Planung einer Gedenkfeier unterstützen; • Hinweise zum Umgang mit den Angehö­ rigen. Führungsarbeit kann eine Basis schaffen, damit Trauerarbeit zum richtigen Zeitpunkt, im richti­ gen Rahmen und damit auch in begrenzten Zeit­ räumen gelebt werden kann. Verlegung von Abteilungen und Teams Eine gute Abschiedskultur ist die Basis für Change-Prozesse in Unternehmen. Und derer gibt es gegenwärtig viele. Da aus strategischen und gesundheitspolitischen Gründen die Verlegung von ganzen Abteilungen von einem Krankenhaus in das andere geplant wurde, standen viele Mit­ arbeiter/-innen der Vinzenz Gruppe vor massiven Veränderungen. Das bedeutete ein Herausgeris­ senwerden aus Gewohntem und ein bewusstes Abschiednehmen. Zugleich waren die verlegten Abteilungen in das neue Krankenhaus zu integrie­ ren. Den Verantwortlichen war bewusst, dass gut auf die betroffenen Menschen zu achten war, um deren Motivation in der Veränderung zu erhalten. Deshalb wurde ein eigener Workshop »Be­ ziehungskultur gestalten bei Abschied und In­ tegration von Abteilungen« für die zuständigen Führungskräfte und Kulturverantwortlichen durchgeführt. Dabei wurden wichtige Schritte des Veränderungsprozesses beschrieben, etwa den Schock, das Nicht-wahrhaben-Wollen, die Wür­ digung des Verlorenen, das Suchen von Unter­ stützung, die Entscheidung für die Aussöhnung

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mit der ungewollten Situation, das Suchen nach dem Sinn des Neuen, die Beendigung von Bezie­ hungen und die Bereitschaft, sich auf Neues ein­ zulassen. Die aktuellen Situationen wurden auf diese Theorie hin reflektiert. Es wurden Ideen entwickelt, diese Schritte zu begleiten. Dabei wurde den Verantwortlichen klar, dass das Viele, das nun bei den Menschen durcheinanderkommt, Ausdruck und Raum erhalten muss – begleitet durch klare Zukunftsorientierung und durchgän­ gige Beziehungsarbeit. Dieser Workshop war Ba­ sis für diverse Maßnahmen, Gespräche und Wür­ digungen im Veränderungsprozess der einzelnen Krankenhäuser. Wie bei jedem Sterben waren die Rituale wohl hilfreich, aber das Durchleiden blieb den Betroffenen nicht erspart. So waren die Er­ fahrungen des Loslassens und des Einlassens auf Ungewohntes trotz aller Begleitmaßnahmen für Einzelne nicht einfach. Abschied von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Wie in den meisten Gesundheitseinrichtungen sind die Anforderungen an die Belegschaft auch in der Vinzenz Gruppe hoch. Die Gefahr des kon­ zentrierten Arbeitens besteht darin, dass keine Zeit mehr zum Feiern und zum Würdigen von Leistungen bleibt – und wenn es nur ein kurzer Tratsch über den gelungenen Abschluss des Pro­ jekts bei einer Tasse Kaffee ist. Ich erinnere mich an den Abschied einer lei­ denschaftlichen Abteilungsleiterin, der es we­ gen der guten Zusammenarbeit mit dem Team schwerfiel, in Pension zu gehen. Gerade Men­ schen, die ihren Job gern tun, brauchen recht­ zeitig Rituale, damit sie merken: »Jetzt wird es ernst.«1 Bei der Feier für die Abteilungsleiterin war das Reden darüber, was gemeinsam erlebt, geleistet und errungen wurde, für alle Betroffe­ nen ein nochmaliges Ins-Antlitz-Schauen, um irgendwann innerlich zu der Entscheidung zu kommen: »Es ist jetzt genug an Würdigung des Vergangenen. Blicken wir doch nun in die Zu­

kunft!« So ähnlich hat es die Abteilungsleiterin selbst formuliert. Die Würdigung des Vergangenen ist Basis da­ für, um sich auf Neues einstellen zu können. Oder anders formuliert: Reflektierte Erfahrungen der Vergangenheit sind eine Ermutigung, neue Her­ ausforderungen anzugehen. Goethes Weisheit Meine Erfahrungen mit Betrieben und Organisa­ tionen haben mich gelehrt: Wenn die Mitarbei­ ter/-innen erleben, dass von ihnen zwar ein gutes Funktionieren gefordert wird, aber sie gleichzeitig als berührbare Menschen in ihrer Funktion ge­ sehen werden, dann sind sie auch bereit, sich zu engagieren. Raum und Zeit für Trauer zu erhal­ ten ist ein Beispiel dafür, dass jemand in seiner beruflichen Funktion Mensch sein kann und darf. Nach seinen persönlichen Ideen und Interessen, nach persönlich Wertvollem in der Arbeit gefragt zu werden, ist ein anderes Beispiel. Somit werden vermutlich alle Verantwortlichen, die engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben wollen, Johann Wolfgang Goethe recht geben, der in dem Gedicht »Selige Sehnsucht« schrieb: Und so lang du das nicht hast Dieses Stirb und Werde, Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde. Mag. Rainer Kinast ist Psychotherapeut (Existenzanalyse und Logotherapie) in eigener Praxis und arbeitet nach lang­ jährigen Erfahrungen in leitenden Funk­ tionen als Berater für Organisationsent­ wicklungen, Führungskräfteentwicklun­ gen und für nachhaltige Entwicklungen von Unternehmenskulturen. E-Mail: [email protected] Anmerkung 1

Ich selbst habe beim Rücktritt aus einer langjährigen Funktion erlebt, was es mit mir macht, wenn ich bei der letzten Sitzung eines Arbeitskreises eine Torte mit der Aufschrift »Adieu, Rainer!« erhalte.

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Abschiedskultur und Hochschulpolitik1 – Saying Good-bye to IFF Katharina Heimerl, Elisabeth Reitinger und Gert Dressel Die Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) wurde Ende der 1970er Jah­ re als interuniversitäres Institut, getragen von vier verschiedenen österreichischen Universitä­ ten, gegründet (Arnold und Dressel 2009). Seit 2004 institutionell an der Universität Klagenfurt verortet, bestand die IFF-Fakultät aus mehreren Instituten, die die Mission verband, in Forschung, Lehre und Beratung zur Bearbeitung gesellschaft­ licher Herausforderungen beizutragen. Sie war daher nicht entlang akademischer Disziplinen, sondern rund um gesellschaftliche Problemstel­ lungen gebaut (Winiwarter 2018). Die Fakultät stellte einen Ort dar, an dem Menschen aus ver­ schiedenen Fachrichtungen und Praxisfeldern miteinander arbeiteten und forschten und an dem es möglich war, die Trennung zwischen Wissenschaft und Praxis zu überwinden. Basie­ rend auf einem interventionsorientierten For­ schungsverständnis, wurden Lösungsangebote für zentrale gesellschaftliche Fragen – wie etwa Nachhaltigkeit oder das Altern der Gesellschaft – entwickelt. Damit nahm die IFF viele aktuelle universitäre Trends (unter anderem Responsible Science und Third Mission) vorweg. Erst un­ längst – und eigentlich posthum – wurde die Fa­ kultät als »ikonisch« bezeichnet (De la Riva 2018). Obwohl organisatorisch zur Universität Klagen­ furt gehörend, war zuletzt ein Großteil der Mit­ arbeiterinnen und Mitarbeiter am Standort in Wien tätig. Das Institut für Palliative Care und Organisa­ tionsEthik – eines der Wiener Institute der IFF – sah seine Aufgabe darin, würdevolles Altern und Sterben und damit Sorgekultur bis zuletzt an je­ nen Orten nachhaltig zu ermöglichen, an denen

Menschen ihre letzte Lebensphase leben – in Quartieren und Kommunen, zu Hause, im Pfle­ geheim, im Hospiz oder im Krankenhaus (Hel­ ler und Knipping 2018). Das Institut stellte eine fast zwanzig Jahre alte, international anerkann­ te und gesellschaftlich relevante wissenschaftli­ che Institution im Forschungsfeld von Palliative Care dar. Es ging – und geht – uns um sorgende Gemeinden und sorgende Organisationen (Hei­ merl, Wegleitner und Reitinger 2015). Dabei stellte sich immer wieder die Frage, in­ wieweit die Universität selbst einen sorgenden organisationalen Rahmen zur Verfügung stellt. Unsere diesbezüglichen Antworten sind ernüch­ ternd. Denn die Standorte Graz und Wien der Universität Klagenfurt wurden beziehungsweise werden geschlossen, und alle dort arbeitenden Kollegen und Kolleginnen brauchten beziehungs­ weise brauchen neue Arbeitsorte. Im Zuge der Auflassung des Wiener Standorts der IFF wurde am 31. Dezember 2018 auch das Institut für Pal­ liative Care und OrganisationsEthik geschlossen. Eine Ära geht damit zu Ende. Woran sie zu Ende gegangen ist, werden wir erst mit einigem Abstand verstehen. Wir haben einen organisa­ tionalen Kontext verloren, der uns besonders förderliche Rahmenbedingungen für gesell­ schaftsrelevante Forschung in interdisziplinärer Zusammenarbeit geboten hat (Dressel et al. 2014). Das Arbeiten sowohl am Institut als auch an der Fakultät war darüber hinaus getragen von gegen­ seitiger Sympathie und Wertschätzung – in An­ erkenntnis und Fruchtbarmachung disziplinärer und anderer Differenzen. Das war und ist Basis wie Methode für die interdisziplinäre und inter­ professionelle Zusammenarbeit.

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Phasen der organisationalen Trauer »While grief can be full of pain, it can also be full of resistance, of creativity, of collectivity, and of hope.« (Ashlee Cunsolo)2 Zu einer sorgenden Organisation gehört aus unserer Sicht, dass es auch Orte für organisa­ tionale Trauer gibt. Das Team hat – systemisch gesprochen – als Organisation alle Phasen der Trauer (Kübler-Ross 1969) mehrmals, gleichzei­ tig und hintereinander durchlaufen: In aufwendigen Prozessen der Strategieent­ wicklung haben wir auf Fakultätsebene Posi­ tionspapiere verfasst. Zahlreiche Szenarien von Entwicklungspfaden innerhalb der Universität Klagenfurt wurden formuliert und ausdifferen­ ziert. Diese dienten als Grundlage für Gespräche mit dem Rektorat. Dass es um das Überleben der Organisationseinheit ging, haben wir lange nicht wahrhaben wollen und daher verleugnet. Im jahr­ zehntelang gewachsenen Selbstverständnis gin­

gen wir davon aus, dass es auch in Konfliktsitu­ ationen immer Möglichkeiten der Aushandlung gibt, die zu einem für alle Beteiligten tragbaren Kompromiss führen. Dass dies mit Schmerzen, Verletzungen und Verlusten verbunden ist, war im Kontext von Arbeitsbeziehungen nicht grund­ sätzlich neu. Dass jedoch grundlegende Entschei­ dungen von so weitreichenden Konsequenzen gegen die Interessen der Mitarbeitenden getrof­ fen werden, haben wir lange – auch nachdem wir es wahrhaben konnten – nicht glauben wollen. Später haben wir unserem Ärger Ausdruck verliehen, wir haben protestiert. Die Entschei­ dung des Rektorats, die Standorte Graz und Wien zu schließen, wurde von der IFF mit Betroffenheit und Protest zur Kenntnis genommen und in einer Resolution dokumentiert. Dabei schwang immer noch Hoffnung mit. Es gab auch lange Phasen der Ratlosigkeit und der Depression. Phasen, in denen es sehr still wurde und unsere Kreativität litt. Wir haben uns in Konflikten verfangen und die Hoffnung verlo­ ren. Immer wieder jedoch wurden neue Perspektiven entwickelt. Und nachdem klar geworden war, dass es an der Uni­ versität Klagenfurt keine Zukunft für das Institut geben würde, kam es zu soge­ nannten »Sondierungsgesprächen« mit Vertretern und Vertreterinnen anderer Universitäten. Das Anerkennen der Rea­ lität hat es ermöglicht, Abschied zu neh­ men und damit offen für neue Entwick­ lungen zu sein.

suschaa / photocase.de

Abschiedskultur ist auch Feierkultur Schließlich haben wir uns dafür ent­ schieden, ein Abschiedsfest zu feiern. Dort war Platz für die gemeinsamen Er­ innerungen, für das Teilen von Trauer und Freude. Die Weggefährten und Weg­ gefährtinnen, die mit uns feierten, lie­ ßen die Highlights der zwei Jahrzehnte,

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die es das Institut gegeben hat, in unterschiedli­ chen Beiträgen noch einmal aufleben. Wir haben Fotos geschaut, Gedichte und Ansprachen gehört, über Kabarettistisches gelacht, uns im Kreistanz an den Schultern gehalten und uns damit unsere Verbundenheit bewusst gemacht. Und wir haben bis spät in die Nacht getanzt. Aus der Sicht organisationaler Abschiedskultur können solche Feste als Rituale interpretiert wer­ den. Sie haben es uns als Individuen, aber auch kollektiv ermöglicht, die Veränderungsprozesse in sinngebende Beziehungen und Bezüge zu in­ tegrieren. Die Mitglieder des ehemaligen Insti­ tuts für Palliative Care und OrganisationsEthik und des IFF-Standorts Wien sind nun an unter­ schiedlichen Organisationen verortet. Diese Ver­ änderungen lassen sich nicht nur als Verlust le­ sen, sondern auch so: Die vormaligen Mitglieder der Fakultät und des Instituts werden ab jetzt an verschiedenen Orten wirken und damit die Ideen des Forschungszusammenhangs – und auch der IFF-Philosophie – vervielfachen. In diesem Prozess haben wir viele bewegende Begegnungen miteinander geteilt: Ganz im Sin­ ne einer Sorgekultur, ja im Sinne einer sorgenden Organisation, haben wir einander erzählt und zu­ gehört, immer wieder haben wir miteinander ge­ trauert. Das ist mehr als nur tröstlich. Denn es trägt dazu bei, dass es in den sich stets wandeln­ den Communitys der IFF und des ehemaligen In­ stituts für Palliative Care und OrganisationsEthik auch in Zukunft gemeinsames Tun geben kann.

Assoz. Prof. Dr. Katharina Heimerl, Medi­zinstudium (Wien), Ausbildung zur praktischen Ärztin, Master of Public Health. Habilitation in Palliative Care und Organisationsentwicklung an der Universität Klagenfurt. Ehemals wissen­ schaftliche Mitarbeiterin des IFF-Insti­ tuts für Palliative Care und OrganisationsEthik und ehema­ lige Prodekanin der Fakultät für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung, Universität Klagenfurt. Seit Herbst 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pflegewissen­ schaft der Universität Wien. E-Mail: [email protected]

Assoz. Prof. Dr. Elisabeth Reitinger, Stu­ dium der Psychologie und Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Habilitation in Palliative Care und Organisationsfor­ schung, ehemals wissenschaftliche Mit­ arbeiterin des IFF-Instituts für Palliati­ ve Care und OrganisationsEthik an der Universität Klagenfurt, ist seit Herbst 2018 assoziierte Profes­ sorin am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Wien. E-Mail:  [email protected] Mag. Dr. Gert Dressel, Studium der Ge­schichte und Politikwissenschaften, ehemals Mitarbeiter des IFF-Instituts für Palliative Care und Organisations­Ethik der Universität Klagenfurt (Standort Wien), nunmehr wissenschaftlicher Mit­ arbeiter der IFF-Fakultät für Interdiszi­ plinäre Forschung und Fortbildung (Standort Wien der Uni Klagenfurt) sowie des Instituts für Pflegewissenschaft und der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (beides Universität Wien); Leiter, Berater und Mitarbeiter zahlreicher biografie-, erinnerungs- und/oder erzählorien­ tierter Forschungs-, Beratungs- und Bildungsprojekte sowie von inter- und transdisziplinären und partizipativen For­ schungsprozessen. E-Mail: [email protected]; [email protected]

Literatur Arnold, M., Dressel, G. (2009). iff – Geschichte einer inter­ disziplinären Institution. In: Arnold, M. (Hrsg.): iff. Inter­ disziplinäre Wissenschaft im Wandel. Wien. De la Riva, M. (2018): Das Ende einer ikonischen Fakultät. In: Der Standard (Beilage Der Unistandard), 10. März 2018. Dressel, G., Berger, W., Heimerl, K., Winiwarter, V. (Hrsg.) (2014). Interdisziplinär und transdisziplinär forschen. Praktiken und Methoden. Bielefeld. Heimerl, K., Wegleitner, K., Reitinger, E. (2015). Organisa­ tionsethik – von Caring Institutions und Compassionate Communities. In: FoRuM Supervision, 45, S. 63–73. Heller, A., Knipping, C. (2018). Palliative Care – Haltungen und Orientierungen. In: Steffen-Bürgi, B., Schärer-Sant­ schi, E., Staudacher, D., Knipping, C., Monteverde, S. (Hrsg.): Lehrbuch Palliative Care (S. 50 ff.). 3.  Auflage. Bern. Kübler-Ross, E. (1969). On death and dying. New York. Winiwarter, V. (2018). The other kind of research. On the ambivalent ties between disciplinary, multi-, inter- and transdisciplinary scholarship. In: European Review, 26, No. S2, S. 85–92. Anmerkungen 1

Wir bedanken uns sehr herzlich bei Dr. Georg Zepke für hilfreiches kollegiales Feedback. 2 http://niche-canada.org/2018/01/19/to-grieve-or-not-togrieve/ (Zugriff am 11.06.2019).

Tr a u e r Po l i t i k

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»Lass die Welt ein bisschen besser zurück, als du sie vorgefunden hast« Verabschiedungskultur bei Pfadfinderinnen und Pfadfindern

Philipp Pertl

Die Abschiedskultur der Pfadfinderei hat ihre Wurzeln bei Pfadfindergründer Lord Robert Baden-­Powell. Er prägte die Aussagen »Be pre­ pared« (»Allzeit bereit«) und »Einmal Pfadfin­ der, immer Pfadfinder«. Baden-Powell war kein Wunderwuzzi, sondern ein Vertreter des vik­ torianischen Zeitalters, der Mut zur Verände­ rung hatte und die Pädagogik revolutionieren wollte, sich aber zuerst selbst von gesellschaft­ lich angelernten Ansichten verabschieden muss­ te. Die Grundbotschaften des Miteinanders sind auch die Richtlinien für das Verhalten der Kin­ der und Jugendlichen, um sich voneinander zu verabschieden. Jede Pfadfindergruppe hat an­ dere Rituale entwickelt; in der Pfadfinderbewe­ gung lernen bereits die Kinder eine gute, leben­ dige Abschiedskultur. Von der linken Hand zum Abschlusskreis Das Geheimzeichen der Pfadfinder/-innen ist das Händeschütteln mit der linken Hand. Es sym­ bolisiert respektvolles Verhalten, Vertrauens­ vorschuss und wird als Begrüßungs- und Verab­ schiedungssymbol weltweit verwendet. Auch der Abschlusskreis spielt eine wichtige Rolle. Die Klei­ nen machen ihren »Dschungelkreis« mit Gesang und Rufen; auf den Pfadfinderlagern stellt das Verabschieden einen emotionalen Schlusspunkt dar, in dessen Rahmen auch Tränen des Respekts und der Gemeinschaft fließen. Akklamations­ rufe sind ausdrucksstarke, traditionelle Textzei­

© Philipp Pertl

Allzeit bereit – Abschied lernen

len, die weltweit verstanden und zur Begrüßung oder Verabschiedung ausgerufen werden. Lieder wie »Should Auld Acquaintance« (»Nun Brüder dieses Lebewohl«) stärken das Lebewohl-Sagen und die Kraft der anhaltenden Freundschaft. Das Geheimnis liegt in dieser Stärke; trotz Abschieds bleibt man immer Teil der Gemeinschaft. Lilien und Silberne Steinböcke Jede/-r Pfadinderleiter/-in oder ehrenamtliche Funktionär/-in ist von einer tief verwurzelten Beziehung zu ihrer/seiner Pfadfindergruppe ge­ prägt, daher achten die Mitpfadis auf Ehrungen und Verabschiedungen. Der Moment zum Auf­ hören kann selbstgewählt sein oder durch Gene­ rationenwechsel vollzogen werden. Die Prägung des Einander-Achtens, die Lebensphilosophie der Pfadfinderbewegung, die Pfadfindergeset­ ze und das Menschsein in einer Gruppe führen zu klaren Spielregeln des Abschieds, des Dan­ kes und der Funktionsweitergabe. Es gibt Orden für lang­gediente Pfadfinder/-innen; die Lilie wird als Symbol – in den olympischen Metallen ­Bronze, Silber, Gold – von Landes- oder Bundes­ verbänden vergeben. Der Entscheidungsprozess,

© Philipp Pertl

cc-by-sa 2.0, carolandjesse

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wer eine Boy Scout Medal oder Girl Guide Me­ dal bekommt, ist klar geregelt: Es gelten Jahres­ verdienstzeiten, Ausbildungsstand oder außer­ gewöhnliche Taten. Die Ehrenzeichen sind in Verbandsordnungen geregelt, wobei es auch in einzelnen Pfadfinder-Ortsgruppen Orden geben kann. Der Silberne Steinbock ist die höchste Aus­ zeichnung für außergewöhnliche Verdienste um die Pfadfinderbewegung. Er wird – außerordent­ lich selten – vom Bundesverband verliehen. »Leave this world a little better than you found it« – dieser Satz von Pfadfindergründer Robert Baden-Powell wird oft bei Verabschiedungen verwendet und dient als Richtlinie für korrek­ tes pfadfinderisches Verhalten. Abschied ist im­ mer ein Neuanfang, ein Auftrag: Wir stehen nie still, sondern finden neue Wege und Aufgaben, um unserer pfadfinderischen Einstellung gerecht zu werden. »Ich habe meine Aufgabe erfüllt und bin nach Hause gegangen«

es das Zeichen für den Tod bei den Pfadfindern. Es entstammt der Bodenzeichensprache und be­ deutet: »Ich habe meine Aufgabe erfüllt und bin nach Hause gegangen.« Am Ende des Bodenzei­ chenweges gehen die Pfadfinder/-innen zurück ins Lager und nehmen eine neue Herausforde­ rung in Angriff. Der Kreis mit Mittelpunkt ziert Nachrufe, Todesanzeigen, Parten und Grabstei­ ne von Pfadfinderinnen und Pfadfindern. Er ist zweifellos das stärkste unserer Verabschiedungs­ zeichen. Be prepared.

© Pfadfinder und Pfadfinderinnen Österreichs

Philipp Pertl ist Moderator bei Radio 88.6, Eventmoderator und Journalist. Er ist Pfadfinder seit 1979, ehrenamtlicher Jugendleiter seit 1991. 2007–2013 war er Pressesprecher der Pfadfinder und Pfadfinderinnen Österreichs, 2012 hat er die Initiative für schwule und lesbi­ sche Pfadfinder_innen »Rainbow Scou­ ting Aus­tria« mitgegründet, 2014 eine Seepfadfindergruppe in Neusiedl/See (Burgenland) begründet. E-Mail: [email protected]

Auf dem Grabstein von Robert Baden-Powell wurde 1941 das Symbol eines Punktes, um den ein Kreis geschlagen wird, eingraviert; seitdem ist

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Sag zum Abschied »danke« und »tschüss« Ehrenamtliche Hospizbegleiter/-innen im Hospizdienst verabschieden

Corinna Woisin Ehrenamtliches Engagement in der Hospizarbeit bedeutet, dass Menschen meist über einen länge­ ren Zeitraum ihre Kraft, ihr Talent, ihr Wissen, ihre Zeit und ihre Energie unentgeltlich in die Begleitungsaufgabe des Hospizdienstes einbrin­ gen. Menschen gestalten für »Ehre« in den Diens­ ten mit; ein Ehrenamt in der Sterbebegleitung be­ deutet für viele Menschen mehr, als sich bloß zu verpflichten oder eine Aufgabe zu erledigen. Eh­ renamtliche sind meist mit hohem Engagement dabei. Die ambulanten Hospizdienste sind für viele Frauen und Männer wie eine zweite Heimat. Ehrenamtliche Hospizbegleiter/-innen frühe­ rer Jahre haben sich zumeist beständig in der Hos­ pizarbeit verpflichtet, in der heutigen Zeit binden sie sich eher für eine begrenzte Zeit. Jeder Dienst, auch ein kurzer, verdient Anerkennung – auch wenn der Hospizdienst eine andere Tradition hat und die Beteiligten ein längeres Engagement be­ vorzugen. Manche Hospizbegleiter/-innen müs­ sen gehen, auch wenn sie nicht wollen. Es kann sein, dass die Chemie nicht mehr stimmt, dass Menschen ihre Aufgaben nicht mehr schaffen oder diese nur unzuverlässig erfüllen. Abschie­ de auszusprechen ist eine wichtige und zugleich unangenehme Aufgabe für die Leitung oder die hauptamtlichen Koordinatorinnen/Koordinato­ ren. Die sachlichen Gründe müssen plausibel, ge­ recht, transparent und ehrlich benannt werden. Abschied gestalten Bei jedem Abschied spielen Gefühle eine gro­ ße Rolle, die häufig ambivalent sind. Sie reichen

von Trauer bis hin zur Erleichterung. Viele Men­ schen gehen mit Abschieden positiv um, für an­ dere Menschen ist das Ausscheiden dagegen ne­ gativ besetzt. Auf einen schwierigen Abschied können Zeichen hinweisen: Es fehlt die Motiva­ tion, zu den Gruppentreffen zu gehen, die Kom­ munikation ist unpersönlich oder findet vielleicht gar nicht statt, Informationen aus der Begleitung werden nicht weitergegeben, Nebensächlichkei­ ten werden hochstilisiert oder die Koordinato­ ren/Koordinatorinnen werden als Konkurrenz betrachtet. Auch die Haupt- und Ehrenamtlichen, die »verlassen« werden, spüren in solchen Situ­ ationen, neben Verständnis, nicht selten Enttäu­ schung oder gar Ärger. In jedem Fall aber ist ein wertschätzender Ab­ schied zu gewährleisten. Dies ist sowohl für den ausscheidenden Ehrenamtlichen als auch für den Hospizdienst insgesamt wichtig. Die Experten fürs Abschiednehmen bei Schwerkranken und Sterbenden sollten mit der eigenen Abschieds­ kultur im Dienst transparent umgehen. Dies ist von großer Bedeutung sowohl für die, die gehen, als auch für die, die bleiben. Um einen Abschied bewusst zu gestalten, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Dies kann ein rein formeller Abschied sein, in dem dienstbezo­ gene Materialien, Unterlagen abgegeben werden, oder ein persönlicher Abschied mit Abschluss­ gespräch, wertschätzendem Dank oder auch einer Auszeichnung mit Zeugnis zur Tätigkeit. Eine öf­ fentliche Verabschiedung findet im offiziellen Rahmen statt, etwa bei den Gruppenabenden, beim jährlichem Gottesdienst oder auch durch

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Ausscheiden aus dem Ehrenamt Zur Abschiedsphase im Ehrenamt gehören für mich vier Elemente, die ich, ausgehend von mei­ nen Erfahrungen im ambulanten Hospizdienst, konkret vorstellen möchte. Das Abschlussgespräch bietet die wertvolle Ge­ legenheit, gemeinsam mit den ausscheidenden Hospizbegleitern/-begleiterinnen auf die Zeit im Dienst zurückzublicken. Dies findet immer durch die Leitung oder die verantwortliche Ko­ ordinatorin/den Koordinator statt. Nur in Aus­ nahmefällen findet dieses Gespräch lediglich tele­ fonisch statt. Es werden die Eckpunkte zur ehrenamtlichen Tätigkeit des Begleiters/der Begleiterin bespro­ chen. Dies sind beispielsweise die Länge der Zu­ gehörigkeit im Dienst, bedeutsame Ereignisse in Begleitungen, besondere Erinnerungen an Fort­ bildungen und Veranstaltungen. Das Ziel des Gesprächs ist es, einen runden Abschluss zu er­ möglichen. Es signalisiert, dass der persönliche Einsatz des Ehrenamtlichen gesehen und nicht vergessen wird. Bei konflikthaften Trennungen ist das persönliche Gespräch besonders wertvoll. Ein offizieller Nachweis des ehrenamtlichen Engagements, als sachlicher Nachweis mit Zeit­ angaben und der Form der Tätigkeit – bei uns die

Zugehörigkeit entweder zur Sterbe- oder Trauer­ arbeit – wird immer unaufgefordert ausgehändigt. Dies ist ein wichtiger Ausdruck der Anerken­ nung. Wünscht der Ehrenamtliche einen quali­ fizierten Nachweis, wird dies nach dem Vorbild von Arbeitszeugnissen ausgestellt. Es kann für be­ rufliche Bewebungen oder als Engagementnach­ weis genutzt werden. Die öffentliche Verabschiedung: Wenn eine Hospizbegleiterin, ein Hospizbegleiter den Hos­ pizdienst verlässt, geht oft ein Lebensabschnitt zu Ende. Sowohl für die Ehrenamtliche/den Eh­ renamtlichen als auch für jene, die bleiben. Es ist wichtig, dass die Ehrenamtlichen die Mög­ lichkeiten erhalten, sich voneinander zu verab­ schieden. Bei uns sind die Ehrenamtlichen in fes­ te Supervisionsgruppen eingebunden, in denen über Jahre hinweg enge Beziehungen unterein­ ander entstanden sind. Ein Abschied in dieser vertrauten Runde ist für uns der geeignete Ort, »danke« und »tschüss« zu sagen. Dies findet im­ mer in der Gruppe statt, wobei die Ausgestaltun­ gen individuell variieren. Manchmal gibt es von jeder Ehrenamtlichen eine Blume, die gemeinsam

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namentliche Nennung im Jahresbericht. Über ein symbolisches Abschiedsgeschenk freuen sich alle Menschen. Obige Beispiele sind Anregungen, der Phan­ tasie sind keine Grenzen gesetzt. Es ist sinnvoll, Abschiede – oder deren wesentliche Elemente – für alle ehrenamtlichen Hospizbegleiter/-in­ nen gleich zu gestalten. So entsteht Transparenz, Gleichbehandlung und eine gemeinsam geleb­ te Abschiedskultur. Dennoch ist es wichtig, auf die Wünsche der Ausscheidenden einzugehen. Schließlich steht der Mensch im Mittelpunkt. Deshalb gehört es auf jeden Fall dazu, Menschen auch in Konfliktsituationen mit einem Danke­ schön zu verabschieden.

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einen bunten Strauß ergeben, manchmal wird ein gemeinsamer Erinnerungs- und Erfahrungsaus­ tausch angeregt. Die Supervisorin leitet und mo­ deriert dieses Ritual im Regelfall. Vom Hospizdienst aus überreichen wir zumeist ein symbolisches Geschenk, und zwar eine Kerze, die abbrennt, aber als Teelicht weiterhin zu ver­ wenden ist. Dazu geben wir eine von den Haupt­ amtlichen unterschriebene Karte, die die Sym­ bolik (»Pallium« der Kerze) erläutert. Zusätzlich werden je nach Wunsch und Einverständnis der/ des zu Verabschiedenden beim nächstfolgenden­ den jährlichen Treffen – Neujahrsempfang, Som­ merfest oder ökumenischer Gottesdienst – die ausgeschiedenen Kolleginnen und Kollegen na­ mentlich genannt. Da der Träger unseres Diens­ tes eine Hilfsorganisation ist, könnten wir auch Ehrungen vornehmen lassen. Meine Erfahrung nach möchten die meisten Menschen aber lieber still und leise den Hospizdienst verlassen. Kontakt halten: Die Bindung von Ehrenamtli­ chen an die Organisation kann über das eigentli­ che Amt hinausgehen. Viele bleiben dem Hospiz­ dienst als Fürsprecher/-innen, Multiplikatoren/ Multiplikatorinnen, Unterstützer/-innen erhal­ ten. Eine solche Verbundenheit wird gefördert durch Zusendung von Geburtstagskarten, Einla­ dungen zu Veranstaltungen, Information durch Jahresberichte, persönliche Treffen bei internen Veranstaltungen und vieles mehr – immer unter der Voraussetzung, dass die ausgeschiedene Mit­ arbeiterin dies wünscht. Bis vor wenigen Jahren gab es eine Gruppe von ehemaligen Ehrenamtlichen, die sich regel­ mäßig zum Austausch am »Stammtisch« trafen. Diese Treffen fanden oft in unseren Räumlichkei­ ten statt, und so fühlten sich die »passiven Mit­ arbeiter/-innen« weiterhin dem Dienst zugehö­ rig. Die Koordinatoren oder die Leitung waren manchmal eingeladen, so dass Informationsfluss und Bindung gelangen. Leider hängt das Bestehen solcher Gruppen oft von der Initiative von Einzel­ personen ab, die sich um Organisation und Um­ setzung kümmern.

Ehrenamtliche sehen und lernen, wie Menschen im Hospizdienst verabschiedet werden. Eine of­ fizielle Verabschiedung im Rahmen eines Grup­ penabends und eine öffentliche Würdigung moti­ vieren zur klaren Entscheidung und verhindern oft ein reines Wegbleiben oder Ausschleichen. Ein Abschied ist im jeweiligen Hospizdienst nor­ mal und wird nicht als Tabubruch behandelt. Dies ist wichtig, gerade in Zeiten, in denen es für die Hospizdienste nicht leichter wird, Ehrenamtliche zu gewinnen. Es ist von zentraler Bedeutung, die Vorbehalte der Ausscheidenden hinsichtlich so­ zialen Drucks, hinsichtlich des Gefühls der eige­ nen Unsersetzlichkeit oder hinsichtlich ihres möglichen schlechten Gewissens gegenüber den Begleiteten aktiv zu entkräften. Es gibt eine ge­ lebte Haltung der Abschiedskultur in der Ster­ bebegleitung und im Abschied miteinander. Of­ fene Türen, um zu kommen, und offene Türen zum Gehen. Corinna Woisin, Diplom-Pflegewissen­ schaftlerin (FH), Systemische Beraterin (DGSF), Pflegefachkraft Palliative Care und Koordinatorin, zertifizierte Pallia­ tive-Care-Trainerin. Sie ist Abteilungs­ leiterin für Hospizarbeit beim Malteser Hilfsdienst e. V. Hamburg, hat das Mal­ teser Hospiz-Zentrum Bruder Gerhard in Hamburg geleitet und hat dort als Koordinatorin im Dienst gearbeitet. Sie ist als Kursleiterin für Ehrenamtliche in der Hospizarbeit, für Pfle­ gende und Koordinatoren für ambulante Hospizdienste tätig.  E-Mail: [email protected] Literatur Flierl, J. (Red.) (2015). Selbstbestimmt in einem guten Rah­ men arbeiten. PraxisHilfe Ehrenamt für Kirche & Dia­ konie im Raum der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Nürnberg. http://www.praxishilfe-ehrenamt. de/fileadmin/user_upload/2015_PraxisHilfe_Ehrenamt_ klein.pdf Maurer, A.-L. (Red.) (2012). Gelungener Einstieg  – gutes Ende. Konzept für einen Studientag. WeiterBilden Ehren­ amt. Amt für Gemeindedienst in der Evangelisch-Luthe­ rischen Kirche in Bayern. Nürnberg. Weishaupt, I. (2018). Jeder Abschied ist schwer  … Eine Handreichung für Ehrenamtliche in der Flüchtlingsarbeit im Kontext von Trennung. Paderborn.

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Am Ende steht Zynismus? Die Politik und ihr Problem mit Abschieden

Thomas Geldmacher und Daniela Musiol Peter Kraus hat verloren. Das war er nicht ge­ wohnt. »Ich kannte das Thema ›Niederlagen‹ nicht«, sagt der Grünen-Politiker. »Ich bin 2010 bei meinem ersten Antreten Bezirksrat, 2015 bei meinem ersten Antreten Gemeinderat und Land­ tagsabgeordneter in Wien geworden; ich war er­ folgsverwöhnt.« Im Herbst 2018 bewarb sich der 32-jährige Volkswirt um die Spitzenkandidatur der Wiener Grünen für die Gemeinderatswahlen in Wien 2020 – und unterlag bei einer aufwendigen Ab­ stimmung, an der knapp 3.400 Personen teilnah­ men, der Sozialsprecherin der Wiener Grünen, Birgit Hebein. Auf einer kognitiven Ebene war die Möglich­ keit des Verlierens selbstverständlich kalkuliert, sagt Kraus: »Dass wir Abstimmungen und Man­ date verlieren, ist dem demokratischen System inhärent. Das gehört dazu. Dennoch streben wir immer danach, zu gewinnen. Kein Politiker zieht Bilanz, indem er erzählt, was er nicht durchgesetzt hat oder in welche Ämter er nicht gewählt wurde.« Von Politikerinnen und Politikern wird erwar­ tet, nach verlorenen Wahlen und Abstimmun­ gen rascher wieder zur Tagesordnung überzuge­ hen, als man dies bei anderen Berufsgruppen tun würde. In gewisser Weise lassen sich Trauerpro­ zesse nach Wahlniederlagen als »disenfranchi�­ sed grief«, als entrechtete Trauer nach Kenneth J. Doka (2002) lesen. Denn die Wählerin und der Wähler haben immer recht; man könnte argu­ mentieren, Trauer über die legitime, demokrati­ sche Entscheidung des Souveräns sei eigentlich unangemessen. Das weiß auch Sylvie Cohn, bis vor wenigen Jahren Regierungsmitglied in einer europäischen

Großstadt.1 Doch bei einer Kommunalwahl Mit­ te der 2000er Jahre verlor ihre Partei, obwohl ihr in Umfragen gute Arbeit attestiert wurde, nahe­ zu die Hälfte ihrer Stammwählerinnen und -wäh­ ler: »In diesem Moment habe ich mein Vertrau­ en in das Urteilsvermögen der Wähler verloren. Am Wahlabend hatte ich das Gefühl, von allen Menschen verraten worden zu sein, für die ich jahrelang gearbeitet hatte.« Cohn nahm die Ent­ täuschung über das Wahlverhalten der Wähle­ rinnen und Wähler als »Trauma« wahr. »Ich bin in die Politik gegangen, weil ich mit missionari­ schem Eifer die Welt verbessern wollte«, sagt sie, durchaus selbstironisch. »Das ist harte Arbeit: Ständig werden dir Messer in den Rücken ge­ rammt, aber du gehst unbeirrbar weiter wie der Terminator. Die Kraft schöpfst du daraus, dass du glaubst, die Menschen sehen, was du für sie tust; du glaubst, dass zumindest ein Teil der Be­ völkerung deine Leistung anerkennt.« Und dann kam die krachende, unerwartete Wahlniederla­ ge. »Ich bin an diesem Abend innerlich gestor­ ben«, sagt Cohn. Verlustreaktionen Die Privatperson Peter Kraus fühlte sich nach der verlorenen Spitzenwahl auch erleichtert: »Puh, ich muss mir keine Gedanken darüber machen, was ich tue, wenn ich einkaufen gehe und mich je­ mand erkennt.« Die Rückkehr in den politischen Alltag war allerdings »unglaublich ernüchternd«: »Du bist der Verlierer und hast plötzlich mit so vielen Menschen zu tun, die dir Enttäuschung entgegenbringen – nämlich die vielen Leute, die dich unterstützt haben. Die ersten Tage habe ich

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damit verbracht, diese Menschen zu trösten. Das war meine Strategie, mit der Situation fertigzu­ werden: den Unterstützerinnen und Unterstüt­ zern sagen, es ist alles gar nicht so schlimm, alles geht weiter.« Erkundigungen nach dem eigenen Befinden versuchte Kraus anfangs humorvoll und zuversichtlich zu beantworten, doch irgendwann konnte und wollte er die Frage »Wie geht’s dir jetzt?« nicht mehr hören: »Die Frage war für mich schon eine Aussage: Du hast verloren, und jetzt erzähl’s mir noch einmal in allen Details.« Dazu kommt, dass die Parteistrukturen der Grünen aus trauertheoretischer Perspektive aus­ schließlich wiederherstellungsorientiert im Sin­ ne von Stroebe und Schut (1999) handelten, wie Kraus erläutert: »In den Klausuren und Treffen nach der Wahl ging es nur um die Frage: Wer kriegt jetzt welche Posten? Es gab kein Wollen, sich mit den Ideen auseinanderzusetzen, die die Spitzenwahl-Kandidatinnen und -Kandidaten mitgebracht hatten, sich zu fragen, was der gan­ ze Prozess für die Partei bedeutet, sich zu über­ legen, wie man die Dynamik nutzen könnte, die entstanden war. Alle waren froh: Die lästige Wahl, bei der man so viel überlegen und diskutieren musste, ist vorbei, jetzt herrscht wieder Ruhe und wir können Formalitäten klären. Da haben sie mich in der ersten Phase wirklich verloren.« Mög­ licherweise spielte die Angst vor einer drohenden Spaltung der Partei eine Rolle, aber der Refle­ xion des Verlustes wurde kein Platz eingeräumt. »Nach der Wahl sagten alle: ›Aber jetzt müsst ihr schon gemeinsam an einem Strang ziehen!‹ Das habe ich im Prinzip verstanden, es aber als sehr beengend empfunden«, erzählt Kraus, »weil ich es nicht in meiner Verantwortung als Unterle­ gener sah, meine Emotionen der Parteiemotion unterzuordnen.« Sylvie Cohn hätte am Abend der verlorenen Wahl ihre Funktionen am liebsten sofort zurück­ gelegt, doch das war vorerst nicht möglich. »Ich heulte mir in der Wahlnacht die Augen aus dem Leib, doch tags darauf biss ich die Zähne zusam­ men und machte meine Arbeit weiter«, erzählt

sie. »Mein Entschluss, aus der Politik auszustei­ gen, stand im Prinzip schon fest, aber einfach auf­ zugeben und davonzulaufen stand für mich nicht zur Debatte; zu viele begonnene Vorhaben waren noch im Werden, und ich musste erst einmal ver­ arbeiten, dass ich mitten im Leben alles, was ich leidenschaftlich gern und, wie ich meinte, auch gut machte, aufgeben und mich verändern muss­ te.« Menschen, Gremien und Medienberichte, die sie zur Demission aufforderten, »haben mir im Prinzip nur die Entscheidung erleichtert, die ich allzu lang vor mir hergeschoben hatte.« Dennoch ging dem Vollzug der Entscheidung ein langer Prozess voraus, der einerseits der Verantwortung gegenüber der Stadt und ihrer Partei, anderer­ seits der individuellen Neuorientierung geschul­ det war. »Die Funktion aufzugeben bedeutete den Verlust der eigenen Lebensaufgabe, des eigenen Lebensentwurfs, der eigenen Identität, den Ver­ lust von allem, was ich bis dahin dachte zu sein«, sagt Cohn heute. »Ich musste realisieren: In we­ nigen Jahren werde ich jemand anders sein, und die nächsten Jahre sind die, in denen ich jemand anders werde. Und das war gut. Heute, einige Jahre später, bin ich jemand anders, und ich bin noch lange nicht fertig.« Reflexionsräume »Ich habe keinen Raum gefunden, über die Grün­ de für meine Niederlage nachzudenken, meine Fehler zu analysieren, zu überlegen, was ich beim nächsten Mal anders oder besser machen wür­ de«, erzählt Peter Kraus. »Man könnte sich ja auch konstruktiv mit dem Verlust auseinander­ setzen.« Doch dafür ließ die eigene Partei kaum Platz. Diese Form der verlustorientierten Refle­ xion war vorwiegend mit Personen aus anderen Parteien möglich: »Die haben keine eigenen In­ teressen, sind von den internen Dynamiken und Logiken nicht betroffen, kennen aber die Akteu­ rinnen und Akteure und deren Persönlichkeits­ strukturen.« Noch schwieriger war es für Kraus, Menschen zu finden, die ihm Tipps geben konn­

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ten, mit der Niederlage umzugehen. »Als es ru­ higer wurde, hatte ich das Bedürfnis, mit jeman­ dem zu reden, der diese Erfahrung gemacht hat«, sagt Kraus. »Doch ich habe gemerkt, da ist nie­ mand. Alle, die infrage kommen, sind weg, frus­ triert oder im Streit gegangen, so dass sie nicht erreichbar waren, oder ich hatte das Gefühl, de­ ren eigene Kränkung ist noch so groß, dass es bei einem Gespräch nicht um mich gehen würde. Ich war kurz davor, Eva Glawischnig2 anzurufen. Aber ich habe es nicht gemacht.« Mit der Abstimmungsniederlage umzugehen ist die eine Sache; eine große Herausforderung bestand für Kraus aber darin, die Beschäftigung mit dem Verlust nicht zum Quell permanenter Retraumatisierung zu machen: »Mein Plan liegt da vor mir, kommt aber nicht zur Umsetzung – und jetzt siehst du, wie ein anderer Plan umge­ setzt wird. Das permanente Vergleichen – was passiert jetzt? wie hätte ich das angelegt? – macht dich völlig irre. Ich habe begonnen, mir Momente zu suchen, in denen ich sagen konnte: Mein Plan wäre besser gewesen! Und irgendwann musste ich damit auch wieder aufhören.«

Todesfälle während der Amtszeit Sylvie Cohn nutzt die Todesfälle, mit denen sie während ihrer Amtszeit immer wieder konfron­ tiert war, zur Reflexion über den eigenen Ab­ schied. »Nach jedem Menschen, der geht, ist unsere Welt eine andere«, sagt sie. »Der Spruch ›Niemand ist unersetzbar‹ ist einfach falsch. Die meisten Menschen sind unersetzbar, und wenn unersetzbare Menschen gehen, passiert dir etwas Schreckliches: Deine Welt schrumpft. Du hast we­ niger Handlungsmöglichkeiten, denn die ande­ ren haben deine Welt verändert, in der du nun ohnmächtig gegen deinen Willen sitzt. Deshalb ist es wichtig zu gehen, bevor du endgültig zum Gefangenen wirst.«

Thomas Geldmacher

Die Funktion aufzugeben bedeutete den Verlust der eigenen Lebens­aufgabe, des eigenen Lebens­entwurfs, der eigenen Identität, den Verlust von allem, was ich bis dahin dachte zu sein. Tr a u e r Po l i t i k

Paul Gauguin, The Wave, 1888 / Private Collection / Bridgeman Images

Als eine enge Mitarbeiterin, die Beraterin Ni­ cole Mueller, stirbt, flüchtet sich Cohn in Arbeit. »Doch die Trauer um ihren Tod hat wahnsinnig viel Energie gekostet. Ich habe ständig Dialoge mit ihr geführt – was hätte Nicole getan und ge­ sagt? – und so die Beraterin am Leben gehalten. Aber ich hätte es auch nicht ertragen, ein paar Monate Auszeit zu nehmen. Die Regelmäßigkeit – aufstehen, zur Arbeit gehen, funktionieren – war Gold wert«, erzählt Cohn. Ähnlich reagierte sie, als ihre Mutter zu Beginn eines Wahlkampfs starb: »Es war sehr hilfreich, etwas tun zu müs­ sen, anstatt die Möglichkeit zu haben, mich in der Trauer zu verkriechen.« Zugleich führte sie der Tod der Mutter an die Grenzen des Erträglichen im politischen Alltag: »Da war eine Stadtteilver­ anstaltung in einem großen Festzelt mit volks­ tümlicher Musik und hunderten Menschen, die mich berühren und mit mir reden wollten. Da bin ich zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben ausgerastet, bin hinausgerannt und habe sehr lange gebraucht, um mich wieder zu ›nor­ malisieren‹. Später habe ich den Veranstaltern erklärt, dass meine Mutter gerade gestorben ist

und ich gerade keine Musik ertrage. Die haben sie dann abgestellt. Da ist das einzige Mal wirklich die Trauer in den Job hineingebrochen.« Abschiede und Kränkungen »Ich habe in der Politik so viel umgesetzt, dass ich gar keine Zeit hatte, über die anderen Dinge trau­ rig zu sein«, sagt Sylvie Cohn. Aber in der Pha­ se des Ausscheidens war sie plötzlich mit neuen Umständen konfrontiert: »Mein Umfeld erledig­ te bestimmte Aufgaben nicht mehr oder verzö­ gerte Entscheidungen, weil sie hofften, mein de­ signierter Nachfolger würde die Dinge anders sehen. Der begann plötzlich, Projekte zu hinter­ fragen, die mir sehr wichtig waren. Das hat mas­ sive Aggressionen ausgelöst, die ich für mich be­ halten habe. Und immer wenn ich daran dachte, fielen mir die Augen zu – Schlaf ist Wut, wie mein Therapeut zu sagen pflegte. Da hätte ich tagelang durchschlafen können.« Doch auch Macht- und Statusverlust wurden in den letzten Monaten vor dem tatsächlichen Abschied manifest. »Du wirst nicht mehr sofort zum CEO oder zum Bürger­

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Politikerinnen und Politiker brennen emotional aus. Sie betreiben Politik ja zumeist nicht der Karriere wegen, sondern aus Leidenschaft. meister durchgestellt oder mit unverbindlichen Rückrufversprechen beschwichtigt. Das war zwei­ fellos eine Umstellung, und da war ich auch kurz traurig. Aber es war Teil des Menschwerdungs­ prozesses«, sagt Cohn heute. Kraus hatte anfangs Schwierigkeiten damit, die positiven Aspekte seiner Kandidatur wahrzuneh­ men, »dass mich zum Beispiel tausend Leute ge­ wählt haben, die ich nicht kenne, dass andere Leute davon profitieren«. Ziel seines Antretens bei der Spitzenwahl war Kraus zufolge auch nicht die persönliche Karriere, »sondern die Umset­ zung einer gemeinsamen Vorstellung, wie es mit der Partei weitergehen soll, und dafür braucht es eben bestimmte Schritte. Diese Pläne hervor­ zuholen hilft mir, mich mit meiner persönlichen Motivation auseinanderzusetzen.« »Es ist praktisch unmöglich, sich in der Politik nicht zu kränken«, findet Peter Kraus. »Du sagst: ›Hier ist mein Angebot‹, und die Menschen sagen: ›Nein danke.‹« Wichtig sei es aber, sich mit diesen Kränkungsprozessen zu konfrontieren: »Ich ken­ ne so viele Menschen, die ihre Kränkungen we­ der ver- noch bearbeitet haben. Und dabei sitzt du ja in einer Partei danach oft neben der Person, die dich gekränkt hat. Die ist nicht weg, sondern weiter in deinem Team.« Diese unverarbeiteten Kränkungen lassen so viele Politikerinnen und Politiker mit der Zeit zynisch werden, analysie­ ren Kraus und Cohn übereinstimmend. »Politi­ kerinnen und Politiker brennen emotional aus. Sie betreiben Politik ja zumeist nicht der Karriere wegen, sondern aus Leidenschaft. Da neigt man dann zu Rechthaberei und Kompromisslosigkeit, aus denen Zerwürfnisse entstehen, die als Verrat erlebt werden, obwohl sie es nicht sind«, erläutert Cohn. Die Flucht in den Zynismus ist da eine na­ heliegende Schutzstrategie.

»Das ist weiterhin mein Grundsatz in der Politik: nicht zynisch und nicht so verdattert werden wie zum Teil diese alten Typen, die seit Jahrzehnten auf ihren Mandaten sitzen und nur noch griesgrä­ mig sind«, sagt Kraus. »Ich war nah dran. Aber der Antrieb ist da und man muss ihn ausgraben, damit er nicht unter der Enttäuschung verschwindet.« »Irgendwann wurde alles ganz einfach«, er­ zählt Sylvie Cohn. »Ich hatte so viele Aufgaben, ich habe beschlossen, jene nicht ins neue Leben mitzunehmen, die ich nicht gern erledigt habe. Die Aufgabenfindung für den Rest meines Le­ bens besteht in der Vereinfachung: aus einer lan­ gen Liste etliche Aufgaben zu streichen und dann mit dem, was übrigbleibt, das man sich bewusst ausgesucht hat, weiterzumachen.«

© Andreas Jakwerth

Thomas Geldmacher und Daniela Musiol betreiben gemeinsam Rundumbera­ tung, ein Unternehmen, das sich insbe­ sondere Fragen von Tod und Trauer am Arbeitsplatz widmet. Thomas Geldma­ cher ist Politikwissenschaftler und Me­ diator, Daniela Musiol Juristin, Media­ torin und Sozialarbeiterin. Sie war von 2008 bis 2016 Abgeordnete der Grünen zum österreichischen Nationalrat. E-Mail: [email protected], [email protected]

© Parlamentsdirektion Wilke

Literatur Doka, K. J. (2002). Disenfranchised Grief. New directions, challenges, and strategies for practice. Champaign, Ill. Stroebe, M., Schut, H. (1999). The dual process model of coping with bereavement: Rationale and description. In: Death Studies 23 (3), S. 197–224.

Anmerkungen 1 2

Der Name wurde geändert. Sylvie Cohn zieht es vor, an­ onym zu bleiben. Eva Glawischnig war ab 2009 Partei- und Fraktionsvorsit­ zende der österreichischen Grünen. Wenige Monate vor der Nationalratswahl im Herbst 2017 legte sie ihr Mandat zurück. Die Grünen erreichten bei der Wahl nur 3,9 Pro­ zent der Stimmen und verpassten den Wiedereinzug ins Parlament. Im März 2018 übernahm Glawischnig die Leitung der Stabsstelle für Nachhaltigkeitsmanagement und verantwortungsvolles Spiel beim Glücksspielkonzern Novomatic, der in den Jahren davor immer wieder Ziel von Kritik seitens der Grünen gewesen war.

Tr a u e r Po l i t i k

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Tod und Trauer am Arbeitsplatz Präsidentin des Nationalrates Barbara Prammer

Harald Dossi

© Parlamentsdirektion / Bildagentur Zolles KG / Leo Hagen

Auch die Parlamentsdirektion des österreichi­ schen Parlaments bleibt von Todesfällen im Kol­ legenkreis nicht verschont. Als verantwortungs­ bewusster Arbeitgeber bemühen wir uns in diesen Fällen, nicht nur rasch und wertschätzend zu in­ formieren, sondern auch in weiterer Folge ad­ äquate Unterstützung im kollegialen Umfeld des oder der Verstorbenen zu leisten. Wir orientieren uns dabei unter anderem auch an den wertvollen Anleitungen der vom Österreichischen Gewerk­ schaftsbund herausgegebenen Broschüre »Wenn Trauer keine Privatsache ist«1.

Barbara Prammer

Was nun den Tod von Nationalratspräsidentin Barbara Prammer betrifft, so möchte ich voraus­ schicken, dass dies kein »typischer« Todesfall im kollegialen Umfeld war. Denn obwohl sie bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Par­ lamentsdirektion eine sehr beliebte und geach­ tete »Hausherrin« war, so war sie doch für viele im Haus keine »Kollegin« im eigentlichen Sinn, nicht für alle im Arbeitsalltag präsent, die »Prä­ sidentin« eben. Umso bemerkenswerter finde ich es daher, welch große Anteilnahme fast alle Kol­ legen und Kolleginnen der Parlamentsdirektion an der Krankheit und am Tod von Barbara Pram­ mer genommen haben. Zwei Aspekte um die Erkrankung und um den Tod von Barbara Prammer möchte ich hervor­ heben. Einerseits die Offenheit, mit der sie mit ihrer Erkrankung umgegangen ist. Diese wurde Anfang September 2013 diagnostiziert, und be­ reits am 24. September hat Barbara Prammer in einer Pressekonferenz öffentlich gemacht, dass sie an Krebs erkrankt sei. Nur die genaue Art ihrer Erkrankung hat sie – bis zuletzt – der Öffent­ lichkeit vorenthalten. Ich glaube, dass ­Barbara Prammer nicht nur bewusst war, dass Erkran­ kung und möglicher Tod einer so hochgestellten öffentlichen Person, wie sie es war, ein besonde­ res Maß an Öffentlichkeit und Transparenz er­ fordern. Es war ihr auch ein Anliegen und hat ihrem gesamten politischen Handeln entspro­ chen, das von Transparenz und Öffnung des Par­ laments geprägt war. Andererseits hat Barbara Prammer von Be­ ginn an Wert darauf gelegt und keinen Zweifel daran gelassen, ihre politische Arbeit – insbe­ sondere in der von ihr mit ganzem Herzen aus­

To d u n d Tr a u e r a m A r b e i t s p l a t z    3 5

gefüllten Funktion als Präsidentin des National­ rates – so lange wie irgend möglich weiterführen zu wollen. Dass dies durchaus möglich war, wur­ de in der Pressekonferenz im September 2013 von ihrem behandelnden Arzt, dem Wiener Onkolo­ gen Univ.-Prof. Dr. Christoph Zielinsky, bestätigt. Barbara Prammer hat dann ihre Amtspflich­ ten neben den regelmäßig erforderlichen, in je­ der Hinsicht sehr belastenden Therapien fast bis zu ihrem Tod am 2. August 2014 beinahe ohne Ausnahmen wahrgenommen. So hat sie noch am 24. Juni ihre letzte Präsidialkonferenz, das höchs­ te Steuerungsorgan des Nationalrates, geleitet. Be­ sonders wichtig war ihr auch, dass sie am 29. Ok­ tober 2013 bei der – nach den Nationalratswahlen im September 2013 – konstituierenden Sitzung des Nationalrates mit großer Mehrheit wieder zu dessen Präsidentin gewählt wurde. Ich möchte betonen, dass diese hohe Arbeits­ disziplin während einer schweren Erkrankung we­ der selbstverständlich noch für andere Menschen mit einer ähnlichen Erkrankung möglich oder sinnvoll ist. Für Barbara Prammer war es aber die einzig denkbare Art, mit ihrem Schicksal umzu­ gehen. Politische Arbeit – so lange, wie es eben geht – war für sie Teil der Therapie, wohl auch im ganz individuellen Wissen, dass bei der Na­ tur ihrer Erkrankung die Heilungschancen gegen null standen. Darüber hat sie aber nie gesprochen. Angesichts der hohen politischen Funktion von Barbara Prammer war die Verabschiedung natürlich auch ein öffentliches Ereignis, das – den protokollarischen Vorgaben entsprechend – als Staatsakt organisiert wurde. Das Begräbnis selbst fand dann im engsten Familienkreis statt. Für die Vorbereitungen dieses Staatsaktes am 9. August 2014 stand also eine Woche zur Ver­ fügung. Diese Vorbereitungen waren auch des­ halb so aufwendig, weil die Verabschiedung – da Barbara Prammer eine Symbolfigur für die Öffnung des Hohen Hauses für die Bevölkerung war – nicht in einem der Sitzungssäle des Parla­ ments, sondern vor diesem unter freiem Himmel stattfinden sollte.

An den Vorbereitungen beteiligten sich zahl­ reiche Kollegen und Kolleginnen der Parlaments­ direktion sehr engagiert. Besonders hervorzuhe­ ben ist dabei, dass sich das alles in der Urlaubszeit zutrug. Eine gar nicht so kleine Anzahl an Kol­ legen meldete sich aus dem Urlaub und bot eine Rückkehr an, um mitarbeiten zu können. Ich deu­ te dies und ganz generell die Bewältigung dieser großen Aufgabe in sehr kurzer Zeit als Ausdruck großer Verbundenheit und hoher Anerkennung der Kolleginnen und Kollegen der Parlaments­ direktion für »ihre Präsidentin«. Für viele Mitarbeiter/-innen war es neben der Möglichkeit, an den Vorbereitungen für die öf­ fentliche Verabschiedung von Barbara Prammer aktiv mitzuarbeiten, auch wichtig, dass wir nur für sie – einer der wenigen Termine dieser Tage, die für Medienvertreter/-innen nicht zugänglich waren – eine Möglichkeit zur persönlichen Ver­ abschiedung am Sarg schufen, der in der Säulen­ halle das Parlaments aufgebahrt war. Zusammenfassend denke ich daher, dass in der akuten Situation der Betroffenheit und der Trauer, eine geachtete und geschätzte Vorgesetzte und wichtige Person des politischen Österreich verlo­ ren zu haben, beides wichtig war: sowohl die kol­ lektive Kraftanstrengung, an den Vorbereitungen für den letzten öffentlichen Auftritt von Barbara Prammer mitzuwirken, als auch die Möglichkeit, sich ein letztes Mal still von ihr zu verabschieden. Harald Dossi ist Jurist. Er war im Verfas­ sungsdienst im österreichischen Bundes­ kanzleramt tätig; Mitte der 1990er Jahre war er Leiter der Abteilung IV/5 im Bun­ deskanzleramt, das die Beitrittsverhand­ lungen Österreichs zur EU koordinierte, © Parlaments­ 1998–2007 war er stellvertretender Lei­ direktion/Wilke ter des Verfassungsdienstes im Bundes­ kanzleramt und dabei u. a. Prozessvertreter für die Republik Österreich vor dem Europäischen Gerichtshof. 2007–2012 leitete er die Sektion IV (Koordination) im Bundeskanzler­ amt, seit 2012 leitet er die Parlamentsdirektion. E-Mail: [email protected] Anmerkung 1

Der Ratgeber »Wenn Trauer keine Privatsache ist« ist unter https://bit.ly/2zebLL1 als Download erhältlich.

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Regulierung und Instrumentalisierung der Trauer durch die Politik Reiner Sörries Man möchte denken, dass der Tod eines Men­ schen und die Trauer um diesen eine sehr per­ sönliche, vielleicht sogar intime Angelegenheit der Familie und der engeren Angehörigen ist, in die sich gegebenenfalls Freunde und Nachbarn einreihen. Leicht übersieht man dabei, dass die Obrigkeit in mannigfacher Weise nicht nur an solcher Trauer mitwirkt, sondern auch eigene Formen politischer Trauer entwickelt. Die Poli­ tik schafft die Rahmenbedingungen für die Be­ stattung und die Art und Weise, wie getrauert wird. Zudem entwickelt sie eigene Gedenk- und Trauerformen, um bestimmte Ziele umzusetzen. Die politischen Rahmenbedingungen Jede Gesellschaft hat ein unverzichtbares Inte­ resse daran, dass die sterblichen Überreste der Verstorbenen hygienisch unbedenklich beseitigt werden. Unser Staat hat dafür ein Gesetz zur Be­ stattungspflicht erlassen, die den nächsten An­ gehörigen als Bestattungspflichtigen übertragen wird. Dabei ist es ihnen keineswegs erlaubt, nach Gutdünken zu verfahren, denn für die Art und Weise der Bestattung gibt es Regularien. Denkt man 150 Jahre zurück, so war damals nur die Be­ stattung des Leichnams in einem Erdgrab zulässig. Erst seit 1878 kann alternativ dazu eine Einäsche­ rung vorgenommen werden. Eine Mumifizierung des Leichnams, wie sie in der Frühen Neuzeit in adeligen Kreisen durchaus verbreitet war, ist seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr zulässig. Daran ist zu erkennen, dass die Rahmenbedingungen zeitlichen Veränderungen unterworfen sind. Die­ se sind wiederum von gesellschaftlichen Grund­ überzeugungen abhängig. Der starke kirchliche

Einfluss konnte die Zulässigkeit der Feuerbestat­ tung lange Zeit verhindern. Der Gesetzgeber hat bis heute an der soge­ nannten Friedhofspflicht festgehalten, die vor­ schreibt, die menschlichen Überreste auf einem öffentlichen Friedhof beizusetzen, dessen Betrieb nur einer Körperschaft öffentlichen Rechts er­ laubt ist. Das sind, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, politische oder Kirchengemeinden. Die jüngere Geschichte zeigt, dass diese Vorga­ ben allmählich liberalisiert werden, etwa in Form von Naturbestattungen in ausgewiesenen Wäl­ dern oder – durch jüngste Gesetzesnovellierun­ gen in Bremen – auch im eigenen Garten. Der Gesetzgeber lockert die Vorschriften, soweit er dadurch die öffentliche Ordnung oder die Ge­ sundheit der Bevölkerung nicht gefährdet sieht. Alternative Beisetzungen außerhalb von Fried­ höfen sind deshalb nur mit der hygienisch un­ bedenklichen Asche der Verstorbenen möglich. Die Abwehr gesundheitlicher Gefahren stand zunächst im Mittelpunkt staatlicher Vorgaben. Zu den ältesten erhaltenen, schriftlich fixierten Ge­ setzen gehört das um 450 v. Chr. in Rom erlasse­ ne Zwölftafelgesetz, dessen zehnte Tafel die Bestat­ tung regelt. Dort heißt es an erster Stelle, man soll den Leichnam eines Menschen »in der Stadt weder begraben noch verbrennen« (hominem mortuum in urbe ne sepelito neve urito), denn man fürchtete die gesundheitlichen Gefahren für die Lebenden. Das Zwölftafelgesetz besitzt noch weitere in­ teressante Bestimmungen, wenn es etwa heißt: »Frauen sollen ihre Wangen nicht zerkratzen und bei der Leichenfeier kein Totengeheul erhe­ ben« (mulieres genas ne radunto neve lessum funeris ergo habento). Der Staat versuchte damit,

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allzu große Trauerbekundungen in der Öffent­ lichkeit zu vermeiden. Die Vorschrift »Man soll dem Leichnam kein Gold beigeben« (neve aurum addito) wollte einschränkend auf gesellschaftlich ungesunden Bestattungsluxus einwirken. Das Be­ streben, den Aufwand bei der Bestattung zu re­ duzieren, muss als eines der Hauptmotive obrig­ keitlicher Einflussname auf das Bestattungswesen gesehen werden (Engels 1998). Da die Angehöri­ gen dazu neigten, angesichts einer Bestattung über ihre Verhältnisse zu agieren, fürchtete die Obrig­ keit private wie volkswirtschaftliche Probleme. Solange es in Deutschland ein Sterbegeld der Krankenkassen gab (bis 2004), konnte man aus dessen Höhe ablesen, was der Staat als angemes­ sen für eine Bestattung ansah. Ähnlich der Libe­ ralisierung der Bestattungsgesetze kann man an der Streichung dieser Leistung einen fortschrei­ tenden Rückzug der Politik aus dem Bestattungs­ wesen erkennen. Es ist absehbar, dass auch die Trägerschaft von Friedhöfen als hoheitliche Auf­ gabe zugunsten privatwirtschaftlicher Tätigkeit aufgegeben wird. Während der Staat einerseits den Gestaltungsspielraum bei der Bestattung er­ weitert, so erwartet er andererseits, dass die Bür­ gerinnen und Bürger die finanzielle Last in voller Höhe tragen. In Deutschland gab es nur in Sach­ sen während der Weimarer Republik eine kur­ ze Phase sozialstaatlicher Fürsorge für die kom­ plette Übernahme der Bestattungskosten durch die Kommune. Instrumentalisierung der Trauer Neben der Regulierung von Bestattung und Trauer agiert die Politik, in dem sie Trauer in­ szeniert und instrumentalisiert. Berühmtheit hat die Trauerrede des Perikles erlangt, die die­ ser im Winter 431/430 v. Chr. auf die Gefallenen des Krieges zwischen Athen und Sparta hielt. Nur vordergründig erfüllte er damit eine Ehrenpflicht gegenüber den Toten, vor allem mündete seine Rede in ein Lob auf die Stadt Athen und deren demokratische Verfassung: »Wir leben nämlich

unter einer Verfassung, die nicht die Einrichtun­ gen anderer nachäfft; vielmehr dienen wir selber eher als Vorbild, als dass wir andere nachahmen sollten. Der Name, den sie trägt, ist der der Volks­ herrschaft, weil die Macht nicht in den Händen weniger, sondern einer größeren Zahl von Bür­ gern ruht.« Die Trauerrede wurde zu einer Recht­ fertigung des Krieges, wobei der Erhalt der athe­ nischen Demokratie den Blutzoll der Gefallenen rechtfertigte: »Denn für einen Mann von edler Gesinnung ist eine durch Zaghaftigkeit verschul­ dete Erniedrigung schmerzlicher als ein rascher Tod, der den Mann inmitten der Kraft und froher Hoffnungen für das Vaterland dahinrafft.« Und so tröstete Perikles die trauernden Eltern, indem er ihren Verlust in das zu erreichende Staatswohl ummünzte: »Daher kann ich auch jetzt deren El­ tern, so viele ihr davon hier zugegen seid, nicht beklagen, sondern will lieber Trost zusprechen. Denn sie wissen, dass sie ein wechselvolles Leben geführt haben; glücklich aber sind diejenigen, die wie diese hier das ruhmvollste Ende, die wie ihr aber die ruhmvollste Trauer erlangen, und denen das Leben so zugemessen wurde, dass sich an ein glückliches Leben ein schöner Tod schließt.« So oder ähnlich klingen die Reden von Poli­ tikern und Politikerinnen noch heute, wenn sie Todesfälle rechtfertigen, die sie durch ihre Poli­ tik verursacht haben. Die staatlich inszenierte Trauer dient der Rechtfertigung politischen Han­ delns und wird gleichsam zur Durchhalteparole in schwierigen Zeiten. Die Reden während der Weltkriege klangen kaum anders, und die Spra­ che der gesetzten Denkmäler ist ähnlich. Der Tod der Gefallenen wird zum sinnhaften Ereignis sti­ lisiert. Auf einer Gedenktafel für die Weltkriegs­ gefallenen einer kleinen Ortschaft an der Ostsee­ küste heißt es: »Starbet wirklich ihr vergebens? Nimmer! Treue ist die Saat des Lebens, Euch und uns wird sie gedeihn.« Die Trauerzeremonien im Dritten Reich haben jene des Ersten Weltkriegs noch gesteigert. Grundsätzlich dient die politi­ sche Trauer als Indikator für das richtige Han­ deln der Politik.

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Foto: Reiner Sörries

Den Tod der Gefallenen als sinnstiftendes Er­ eignis zu rechtfertigen und zum Fundament der eigenen Staatsordnung zu erklären, blieb auch der Bundesrepublik Deutschland ein politisches An­ liegen. Das 2009 eingeweihte Ehrenmal der Bun­ deswehr in Berlin trägt die Inschrift: »Den Toten unserer Bundeswehr für Frieden, Recht und Frei­ heit.« Damit wird kaschiert, dass die Gefallenen der Bundeswehreinsätze einer – vorsichtig aus­ gedrückt – fragwürdigen Politik geschuldet sind. Die individuelle Trauer der Angehörigen um ihre Toten soll durch die Deutung der Todesfälle als Opfer für überindividuelle, abstrakte Werte be­ sänftigt werden. Politische Trauer dient der Stabilisierung der herrschenden Verhältnisse, die durch individu­ elle Trauer nicht gestört werden dürfen. Ebenso werden öffentliche Trauerfeiern oder die Staats­ begräbnisse politischer Würdenträger/-innen als staatstragende Akte stilisiert. Mit der Ehrung politischer Größen wird weniger um die Toten selbst getrauert als vielmehr ihre politische Ein­ stellung gewürdigt, welche die herrschende poli­ tische Klasse selbst vertritt. Dabei lässt die De­ mokratie heute zu, dass auch die Opposition die Trauer um ihre Toten zum politischen Manifest erhebt. Beispielhaft seien die jährlich am 15. Ja­ nuar stattfindenden Trauermärsche für Karl Lieb­ knecht und Rosa Luxemburg genannt, die 1919 ermordet wurden – ein eindrucksvolles Bekennt­ nis zu linker Tradition unter Teilnahme der lin­ ken politischen Prominenz.

Bundeskanzlerin ­Angela ­Merkel verlässt am Freitag, 9. April 2010, nach einem Trauergottesdienst für die drei deutschen Soldaten, die am 2. April in Afghanistan getötet wurden, die St. Lamberti-Kirche in Selsingen, Niedersachsen.

Politische Trauer als Placebo fürs Volk Es waren die großen Kriege, die seit dem 19. Jahr­ hundert die Gesellschaft erschütterten. Viele El­ tern verloren ihre Söhne, Frauen ihre Männer, Kinder ihre Väter. Die Obrigkeiten stellten diese Verluste in den Dienst einer höheren Sache und errichteten Denkmäler. Auch unsere Feiertage zum Totengedenken entstammen dieser Inten­ tion. Als der preußische König Friedrich Wil­ helm III. 1816 für die Evangelische Kirche den jeweils letzten Sonntag des Kirchenjahres zum »Allgemeinen Kirchenfest zur Erinnerung an die Verstorbenen« bestimmte – den heutigen Toten­ sonntag –, waren, wie viele Historiker/-innen vermuten, die Kriegstoten der Befreiungskriege von 1813 bis 1815 der Anlass. Noch offenkundiger ist die Einführung des Volkstrauertages im Ge­ denken an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs.

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picture alliance / dpa / Fotograf: Jörg Sarbach

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Unter den Nationalsozialisten wurde dieser Tag in »Heldengedenktag« umbenannt. Die Intentionen waren immer dieselben: die Rechtfertigung des massenhaften Sterbens und die daraus zu schöp­ fende Kraft für die Staatsinteressen. Zugleich sind Trauer- und Gedenktage Aus­ einandersetzungen mit dem politischen Gegner. Nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR wurde dieses Datum zum »Tag der deut­ schen Einheit« erkoren. Es ging dabei weniger um die Opfer des Aufstandes als vielmehr um eine Demonstration politischen Willens. Reden und Kommentare an diesem Gedenktag waren geprägt von der politischen Konfrontation mit dem ande­ ren deutschen Staat. Den Offenbarungseid leiste­ te Thüringen, als es 2016 den 17. Juni per Gesetz zum Gedenktag für die Opfer des SED-Unrechts bestimmte. So rückte an die Stelle einer Diskus­ sion um die richtige Politik die Disqualifizierung

des falschen Systems, dem viele Menschen in den neuen Bundesländern durchaus noch Positives abzugewinnen wissen. Auch andere Gedenkta­ ge, etwa der Gedenktag der Maueropfer, folgen denselben Hintergründen und Intentionen. Die Politik trauert nicht um die Opfer, sondern ins­ trumentalisiert die Trauer zur Stabilisierung des eigenen Systems. Bemerkenswert waren die Trauerbekundun­ gen nach dem Terroranschlag 2016 am Breit­ scheidplatz in Berlin, der zwölf Opfer gefordert hatte. Wie in anderen Fällen auch bedauerten die politisch Verantwortlichen die Vorkommnis­ se zutiefst, räumten sogar Fehler ein, versuch­ ten jedoch das Volk mit der Versicherung zu be­ ruhigen, man werde künftig noch konsequenter und erfolgreicher gegen den Terror vorgehen und diesen letztlich überwinden. Bundeskanz­ lerin ­Angela Merkel sagte am ersten Jahrestag

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des Atten­tats: »Heute ist ein Tag der Trauer, aber auch ein Tag des Willens, das, was nicht gut ge­ laufen ist, besser zu machen.« Man wolle aus den Fehlern lernen, um ähnliche Vorkommnisse in Zukunft zu verhindern. Man könne jetzt getrost wieder auf Weihnachtsmärkte gehen. Gleichzei­ tig wurden die Trauerfeierlichkeiten von verschie­ densten politischen Akteuren instrumentalisiert: Neben einer Kundgebung des »Berliner Bündnis­ ses gegen Rechts« fand eine Versammlung »Ber­ lin gegen Islamisierung« statt. Nur vordergrün­ dig wurde der Opfer gedacht, vielmehr schien die Situation günstig, eigene politische Ziele zu transportieren. Schwierige Trauer Deutschland hat aufgrund seiner jüngeren Ver­ gangenheit durchaus Probleme mit Trauer und Gedenken zu verzeichnen. Während der Holo­ caust-Gedenktag in Israel bereits 1951 als Natio­ nalfeiertag eingeführt wurde, wurde in der BRD erst 1966 der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus eingeführt, war allerdings kein gesetzlicher Feiertag. Im öffentlichen Be­ wusstsein spielte der Tag kaum eine Rolle, und die Politik tat wenig, um diesem Gedenken mehr Ge­ wicht zu verleihen. Ein Denkmal für die ermorde­ ten Juden Europas in Berlin wurde erst 2005 nach langen politischen Diskussionen und Querelen eingeweiht. 13 Jahre später geriet es wieder in die politischen Schlagzeilen, als der thüringische AfD-Fraktionsvorsitzende Björn Höcke das Holo­ caust-Mahnmal als »Denkmal der Schande« be­ zeichnete: »Wir Deutschen sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt hat pflanzen lassen.« Verherrlichen Denkmale nicht die eigene politi­ sche Größe, haben sie einen schweren Stand. Ein Denkmal für die im Nationalsozialismus ermor­ deten Sinti und Roma Europas wurde erst 2012, wiederum nach langen und konfliktreichen Dis­ kussionen, enthüllt. Die Politik tut sich schwer mit Trauer und Gedenken, wenn sie nicht Hel­

den feiern kann, sondern sich zu ihren Opfern positionieren muss. Fazit und Ausblick In sehr unterschiedlicher Weise greift die Politik in die Trauer um die Verstorbenen ein. Sie über­ lässt es den Angehörigen keineswegs, ihre Trauer nach eigenen Vorstellungen zu leben, sondern setzt etwa der Art und Weise der Bestattung enge Grenzen. Sie reglementierte zunächst aus seu­ chenhygienischen Überlegungen und setzte ord­ nungspolitische Maßstäbe. Sie bestimmte die Ver­ antwortlichen der Totenfürsorge und damit auch die Verantwortlichkeit für die damit verbunde­ nen finanziellen Lasten. In jüngster Zeit libera­ lisiert die Politik zunehmend den ordnungspoli­ tischen Rahmen und zieht sich immer mehr aus der Finanzierung der Bestattung zurück. Davon unabhängig verantwortet Politik die öffentliche Trauer, die strukturell der Stabilisierung der herr­ schenden Verhältnisse dient und Ausdruck einer bestimmten politischen Überzeugung ist. Vergleichsweise neu ist der Umstand, dass die Politik bereits auf die Sterbephase des Menschen Einfluss nimmt, indem sie Patientenverfügungen zur Grundlage der letzten Lebensphase bestimmt und gesetzliche Regelungen zur Hospiz- und Pal­ liativversorgung erlässt. Doch davon ist in ande­ ren Beiträgen zu lesen. Dr. Reiner Sörries, Theologe, Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, apl. Professor für Christliche Archäologie und Kunstgeschichte am Fachbereich Theologie der Universität Erlangen. Er war von 1992 bis 2015 Ge­ schäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal und Direktor des Museums für Sepul­ kralkultur in Kassel. Er lebt in Kröslin an der Ostsee.

Literatur Engels, J. (1998). Funerum sepulcrorumque magnificentia. Begräbnis- und Grabluxusgesetze der griechisch-römi­ schen Welt mit Ausblicken auf das christliche Mittelalter und die Neuzeit. Stuttgart.

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Trauerkontrolle Wie Familienstrukturen und Staat Trauerkultur prägen

Tony Walter Familie In der konfuzianischen Philosophie werden der Respekt gegenüber Eltern, Familienältesten und Vorfahren sowie die Pflicht zur Fortpflanzung und zum Erhalt der Familie betont. Seit mehr als zweitausend Jahren orientieren sich ostasia­ tische Gesellschaften am Respekt gegenüber den Eltern. Diese Grundeinstellung beeinflusst maß­ geblich die Pflege von Sterbenden, den Umgang mit Suizid, die Beziehungen zu Verstorbenen so­

Konfuzius-Statue / Temple in Hanoi / Photo © Luca Tettoni / Bridgeman Images

Im Tod wie auch im Leben gilt: Keiner von uns ist ein isoliertes Individuum. Ob es uns zusagt oder nicht, wir alle sind Teil einer Familie, welche wie­ derum einen Teil einer Nation darstellt. In die­ sem Artikel erläutere ich die Arten und Weisen, in denen Familie und Nation das Trauern von Menschen beeinflussen oder sogar kontrollieren, sowie etwaige Gegenreaktionen. Ich konzentriere mich hierbei mehr auf Kultur und Politik als auf (Mikro-)Interaktionen inmitten einzelner Fami­ lien und führe Beispiele aus aller Welt an.

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wie die Verhältnisbestimmung, wer um wen zu trauern hat. Traditionell chinesische Beerdigungsrituale verwandeln das Bild der verunreinigten Leiche in einen verehrten Vorfahren, wodurch die Erb­ folge der väterlichen Linie legitimiert und der Wohlstand der Nachfahren gesichert wird. Ent­ sprechende Riten erhalten eine Verbindung zwi­ schen den Lebenden und den Verstorbenen, ins­ besondere zwischen dem ältesten Sohn und den männlichen Vorfahren. Die Beziehung ist durch eine gemeinsame und allen Zugehörigen gelten­ de Fürsorge geprägt; bisweilen fordert ein solcher Ritus jedoch leider auch eine gewisse Beschöni­ gung im Nachruf der Verstorbenen, auf dass die­ se den Hinterbliebenen »keinen Ärger machen«. Der traditionsgebundene Respekt gegenüber den Eltern definiert auch, wer wen zu betrauern hat. So wird von Familienmitgliedern erwartet, dass sie insbesondere die männlichen Älteren be­ trauern und nicht etwa diejenigen, die jünger sind als sie selbst. Dementsprechend wird es als äu­ ßerst respektlos bewertet, wenn Kinder vor ihren Eltern sterben, vor allem, wenn sie keinen Nach­ wuchs hinterlassen haben. Chinas Ein-Kind-Politik (1979–2015) brachte zwei Generationen von Eltern hervor, denen nur jeweils ein Kind zur Fürsorge für den Lebens­ abend und als Sterbebegleitung zur Verfügung steht. Manche dieser Eltern müssen gar den vor­ zeitigen Tod ihres einzigen Kindes miterleben und geraten nicht nur in finanzielle Schwierig­ keiten im Alter, sondern haben auch die Beschä­ mung zu ertragen, keine Nachfahren gezeugt zu haben, welche die Fürsorgepflicht ihren Vorfah­ ren gegenüber erfüllen können. In Verbindung mit der Ein-Kind-Politik bringt die konfuziani­ sche Tradition des unbedingten Respekts gegen­ über den Eltern trauernde Eltern in eine beson­ ders schwierige und stigmatisierte Position. Noch dramatischer werden die Umstände, wenn der Tod der Tochter oder des Sohnes frei gewählt erscheint. Suizid gilt in der chinesischen Gesellschaft als schrecklich — nicht so sehr, wie

im Westen, wegen des Verlustes eines wertvol­ len und verheißungsvollen Lebens, sondern viel­ mehr wegen der Scham und des Im-Stich-Las­ sens der Eltern. Patrilineale Vorfahren in China erinnern an die Oberschicht des viktorianischen Zeitalters in Großbritannien (und zweifellos auch andernorts in Europa), wo von Frauen erwartet wurde, dass sie den Vater ihres Ehemannes länger betrauerten als die eigene Schwester oder gar ihr eigenes Kind. Kulturelle Normen der Trauer dienen in einer pa­ triarchalen Gesellschaft mit patrilinealen Vorfah­ ren nicht dazu, Trost zu vermitteln, sondern dazu, diese Gesellschaftsform zu sichern. Doch solche Normen wurden in Frage gestellt. Im späten viktorianischen Großbritannien for­ derten Frauen das Recht von persönlicher Frei­ heit, wie und um wen sie trauern mochten. Die­ selben Frauen kämpften wenig später um das Wahlrecht. In Maos China ersetzte die Kultur­ revolution traditionelle durch sozialistische Be­ stattungen, die den Sozialismus und nicht länger generationalen Respekt legitimierten, indem die Verstorbenen als vorbildliche Vertreter/­-innen des Herrschaftssystems dargestellt wurden. In Viet­nam wandelte der Staat Familien- und Kom­ munalschreine zu Gedenkstätten verstorbener Revolutionäre/Revolutionärinnen um.

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Eine Frage der Auswahl

Kzenon / Shutterstock.com

In weiten Teilen Westeuropas weichen struk­ turierte Familienkonzepte flexibleren, ausver­ handelten Beziehungsformen und -strukturen (Beck und Beck-Gernsheim 1995). Wir leben heute immer weniger in klassischen Kleinfami­ lien mit Mutter, Vater und zwei Kindern. Nach Scheidungen leben viele Menschen in neu zu­ sammengesetzten Familien. Nach dem Tod eines Partners oder einer Trennung verbleiben viele Frauen zwar allein, jedoch häufig in bedeutsamen Freundschaften. Manche entscheiden sich dazu, kinderlos zu bleiben; andere leben in lesbischen oder schwulen Beziehungen. Binäre Kategorien wie männlich/weiblich oder hetero-/homosexu­ ell lösen sich zunehmend auf, da jüngere Gene­ rationen diese Kategorien als fließend wahrneh­ men und eher als eine Frage der persönlichen Entscheidung verstehen denn als eine der Gene­ tik. Wenn also Fluidität immer stärker charakte­ risiert, wie Menschen ihr Leben führen, gilt das auch für das Trauern? Oder schleichen sich da doch wieder konventionelle, altmodische Annah­ men über Familie herein? Gewiss haben Trauertheorien und therapeu­ tische Praxis diese fluiden Veränderungsprozes­ se reflektiert. Die Bindungstheorie interpretiert

Trauer beispielsweise als stark beeinflusst durch die individuelle Bindung Trauernder zu den Ver­ storbenen, welche wiederum durch die Bindung zur Mutter geprägt ist (Parkes 2008). Das Kon­ zept der entrechteten Trauer (»disenfranchised grief«; Doka 2002) versucht Trauer losgelöst von der formalen Beziehung zu bewerten, unabhän­ gig davon, an wen sie gerichtet ist. Doch erwar­ ten Menschen des 21. Jahrhunderts, dass Trauer und Beerdigungen eine persönliche Bindung un­ abhängig von formalen Familienstrukturen wi­ derspiegeln? Zwei britische Studien legen eher das Gegenteil nahe. Bestattungen Eine Studie, in der mehrere hundert Briten und Britinnen über aktuelle Begräbniserfahrungen berichteten, fand heraus, dass diese Bestattun­ gen wenig mit den Individuen und persönlicher Trauer zu tun hatten, sondern dass es vielmehr darum ging, einen sehr konventionellen Fami­ lienbegriff herauszustellen (Walter und Bailey 2019). Beerdigungen wurden selten von Freun­ den oder Nachbarn arrangiert, sondern von der Familie. Wenn Konflikte auftraten zwischen der Anerkennung von Trauer und der Repräsenta­ tion von Familie, setzte sich fast immer das Fa­

Ganz gleich wie unterschiedlich die Lebens­führung und die Beziehungen der Menschen auch sein mögen, am Ende des Lebens zeigt sich, wie tief ­traditionelle Familien­strukturen in Gesetzen, politischen Vorstellungen und kulturellen Erwartungen verankert sind.

Tr a u e r Po l i t i k

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milienbild durch. Die vorderen Reihen in der Auf­ bahrungshalle bleiben den Familienangehörigen vorbehalten; zutiefst erschütterte enge Freunde des oder der Verstorbenen müssen weiter hin­ ten Platz nehmen. Niemand problematisierte die De-facto-Entrechtung der Trauer von Nicht-Fa­ milienmitgliedern. Zugleich werden Verwandte, die der Beerdigung fernbleiben, kritisiert, obwohl sie der oder dem Verstorbenen nicht besonders nahe standen. Was auch immer diese Verwand­ ten empfinden oder nicht empfinden: Die Fami­ lie hat beim Begräbnis zu erscheinen. Trauer Eine weitere Studie zeigt, wie erstaunlich ein­ heitlich die Erwartungen von Britinnen und Bri­ ten hinsichtlich des Verhältnisses von Tiefe des Trauererlebens und Verwandtschaftsgrad sind (Robson und Walter 2012/13). Es zeigt sich – aus der Befragung von Einzelpersonen – eine deutli­ che Erwartungshierarchie: • Blutsverwandte und Ehepartner erleben in­ tensivere Trauer als angeheiratete Verwandte. • Primäre Verwandte (wie etwa Eltern, Kinder, Geschwister, Ehepartner) trauern mehr als sekundäre Verwandte (wie etwa Großeltern, Nichten, Cousins). • Fiktive Verwandte wie zum Beispiel Tauf­ paten und Taufpatinnen trauern ebenso sehr wie angeheiratete Angehörige, jedoch nicht so viel wie Blutsverwandte oder Part­ ner/-innen. • Nachbarn/Nachbarinnen oder Arbeitskolle­ ginnen/Arbeitskollegen trauern weniger als die Verwandtschaft. • Menschen, die in professioneller oder ge­ schäftlicher Beziehung zur verstorbenen Person standen, leiden deutlich weniger unter Trauer als die Verwandtschaft. Die Hierarchie ist auch formell in Regelwerke ein­ gebettet. Dienstfreistellungen bei Todesfällen be­

ziehen sich üblicherweise auf konventionell defi­ nierte enge Familienangehörige. Ganz gleich wie unterschiedlich die Lebensführung und die Be­ ziehungen der Menschen auch sein mögen, am Ende des Lebens zeigt sich, wie tief traditionel­ le Familienstrukturen in Gesetzen, politischen Vorstellungen und kulturellen Erwartungen ver­ ankert sind. Der Staat Der Staat kann – im Leben wie im Tod – be­ stimmte Familienstrukturen unterstützen oder untergraben. Japan etwa förderte eine bestimm­ te Art der Familienstruktur durch Totenriten: Die Meiji-Reformen von 1869–1912 begünstig­ ten den patrilinealen Dreigenerationen-Haus­ halt, der aus den Großeltern, dem ältesten Sohn, dessen Frau und deren Kindern bestand. Das Oberhaupt des Haushalts war gesetzlich dazu verpflichtet, sich um das Vorfahrengrab, das die Asche der Familienmitglieder enthält, in glei­ cher Weise zu kümmern wie der Kaiser um seine Untertanen oder eine Firma (später im 20. Jahr­ hundert) um ihre Angestellten. Heutzutage aber bestehen viele japanische Familien lediglich aus einem Paar oder gar nur einer einzigen Person; somit fehlen immer mehr Japanerinnen und Ja­ panern Nachkommen, die sich um ihre Gräber kümmern. Dieser Umstand hat zu neuen Heraus­ forderungen in der Altenpflege geführt und seit 1990 zu beträchtlichen Innovationen bezüglich der Fragen, wo und wie sterbliche Überreste ge­ lagert werden sollten. So wie Staaten eine bestimmte Form von Fa­ milie fördern können, so können sie auch be­ stimmte Familienstrukturen voraussetzen. Dies ist etwa bei Erbschaftsgesetzen und einzelnen Sozialleistungen der Fall. So erstattet beispiels­ weise der britische Staat ärmeren Familien einen Teil der Begräbniskosten, wenn Ehepartner/-in­ nen, Eltern oder enge Familienangehörige dies beantragen. Wer allerdings in einer Familie die Begräbniskosten übernimmt, hängt zumeist von

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der Beziehungsqualität der Familienmitglieder untereinander ab. Somit kann es durchaus Unter­ schiede zwischen den Annahmen der Regierung und der tatsächlich erfolgten finanziellen Las­ tenverteilung in der Familie geben – und unter Umständen hat die Person, die das Begräbnis be­ zahlt hat, unabhängig von ihren finanziellen Mit­ teln keinen Anspruch auf staatliche Kostenrück­ erstattung. Trauer und Staat können sich auch gegenüberstehen. In Sophokles’ Tragödie »Antigone« be­ steht die Protagonistin auf einer ordentlichen Beerdigung ihres Bruders, der im Bürgerkrieg auf der Verliererseite gekämpft hat und gestor­ ben ist. Dies erzürnt König Kreon, Antigones Onkel; er ist entschlossen, die politische Ord­ nung aufrechtzuerhalten, die vorsieht, einem Verräter den letzten Respekt zu verwehren und diesen stattdessen dort zurückzulassen, wo er gefallen ist. Diesen Konflikt zwischen Verwandt­ schafts- und Staatsgesetz greift Gail Holst-War­ haft (2000) auf. Sie führt Beispiele aus zweitau­ send Jahren an und belegt, dass Trauernde dort, wo sie zusammenstehen, statt – wie in der Mo­ derne häufig geschehen – sich in Isolation drän­ gen zu lassen, in der Lage sind, das System he­ rauszufordern. Ein dramatisches Beispiel dafür sind die Müt­ ter der Plaza de Mayo in Buenos Aires, die Müt­ ter von Argentiniens desaparecidos, der »Ver­ schwundenen«. Sie weigerten sich, von den Behörden mit (wahrscheinlich unechten) Kno­ chen vertröstet zu werden, nur um einen »Ab­ schluss« zu finden. Und so schrieb ihre Zeitung: »Mögen unsere Wunden nicht verheilen. Mö­ gen sie offen bleiben. Denn solange die Wunden bluten, gibt es kein Vergessen und unsere Stär­ ke wird wachsen.« Die kollektive Mobilisierung der Trauer dieser Mütter spielte eine Schlüssel­ rolle bei der politischen Umgestaltung in Ar­ gentinien. Unabhängig davon, ob dieses Ver­ halten für die einzelnen Mütter therapeutisch wirkungsvoll war, kam es ohne Zweifel dem Staat als Ganzes zugute.

Schluss Dieser Artikel hat gezeigt, wie Familie und Staat Macht über Trauernde und das Trauern ausüben; oft wird dies akzeptiert, manchmal wird Wider­ stand geleistet. Mit folgenden Fragen beschließe ich diesen Beitrag: • Welche Art(en), welcher Typ von Familie werden in Ihrer Gesellschaft offiziell geför­ dert? • Wie spiegelt sich dies, wenn überhaupt, beim Begräbnis, beim Trauern, bei der Erbschaft wider? Ist dies so akzeptiert? Wenn nicht, wie drückt sich Widerstand aus? Und durch wen? • Können Sie in Ihrer Gesellschaft Konflikte zwischen Individuen, Familie, Staat oder an­ deren Gruppen feststellen, die den Umgang mit Tod und Trauer betreffen? Wie werden diese Konflikte, falls überhaupt, gelöst? Übersetzung: Johannes Love Metz Prof. Tony Walter ist Soziologe und Ho­ norarprofessor für Death Studies an der Universität von Bath (UK). Er hat in in­ terprofessioneller Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen über viele As­ pekte des Todes in der modernen Ge­ sellschaft geforscht, vielfach publiziert und gelehrt, so etwa im Kontext von Palliative Care, Sozia­ len Netzwerken, Massenmedien, Bestattungen, Begräbniskul­ turen sowie zu öffentlichem Trauerverhalten, Jenseitsvorstel­ lungen und -glaube u. a. m. E-Mail: [email protected] Literatur Beck, U., Beck-Gernsheim, E. (1995). The normal chaos of love. Cambridge. Doka, K. J. (ed.) (2002). Disenfranchised grief. New directions, challenges, and strategies for practice. Champaign, Ill. Holst-Warhaft, G. (2000). The cue for passion. Grief and its political uses. Cambridge, MA. Parkes, C. M. (2008). Love and loss. The roots of grief and its complications. London. Robson, P., Walter, T. (2012/13). Hierarchies of loss: a critique of disenfranchised grief. In: Omega, 66 (2), S. 97–119. Walter, T., Bailey, T. (2019/in Druck). How funerals accom­ plish family. Findings from a mass-observation study. In: Omega.

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Arbeit an Grenzen Tod und Trauer im Kontext der ärztlichen Ausbildung

Michael Lazansky Was ist die Aufgabe von Ärztinnen und Ärzten? Heilung und Linderung von Beschwerden, das ist klar. Ein wesentlicher, wenn nicht der schwierigs­ te Teil dabei ist es, Menschen zu begleiten, sich auf sie einzulassen, sie als Individuen wahrzu­ nehmen und die komplexen Vorgänge während ihrer Erkrankungen und der damit verbundenen Leiden zu verstehen – auch an den Grenzen der Medizin. Sterbenden bis zu ihrem Tod zu helfen, ist Teil dieser Kompetenz. Das Fortschreiten des Leidens und – letztlich – der Tod werden oftmals als Schlappe, als Niederlage wahrgenommen. Bei solchen Kranken fühlen sich viele Kolleginnen und Kollegen hilflos und fehl am Platz. Es ist nicht verwunderlich, dass im Rahmen der universitären Ausbildung der Fokus auf dem präventiv-­kurativen, mechanistischen Aspekt der Medizin liegt. Diese Schwerpunktsetzung lässt das Selbstverständnis der Medizin, Helferin und Be­ gleiterin im Leiden bis zum Tod zu sein, nicht glei­ chermaßen sichtbar werden. Dem unerschütterli­ chen Fortschrittsglauben folgend, wird die Energie in zukünftige potenzielle Therapien gelegt. Aktu­ ell bestehende ungelöste psychosoziale Nöte und Probleme werden schnell zu lästigen Randerschei­ nungen. Die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod ist trotz zahlreicher Publikationen zur Psycholo­ gie des Sterbens, die seit den Pionierarbeiten von Elisabeth Kübler-Ross (1969, 1980) erschienen sind, in der medizinischen Ausbildung immer noch eingeschränkt. In der aktuellen Studienord­ nung der Medizinischen Universität Wien wird mittlerweile zwar mehr Wert auf soziale Kompe­ tenzen und Kommunikation gelegt, dennoch ist ein holistischer Ansatz in der didaktischen Auf­

bereitung des Medizinstudiums in Krankheiten und Fachrichtungen weiterhin unterrepräsentiert. Die Beschäftigung mit dem Sterben an sich ist kaum wahrnehmbar. Der Tod bedeutet totalen Abbruch. Das Ende von glücklichen oder belastenden Beziehungen, mit geliebten oder gehassten Menschen, das Ende von liebgewordenen und vertrauten Dingen und Ideen. Dies konfrontiert uns unweigerlich mit mächtigen Gefühlen wie Angst und dem Gefühl des absoluten Ausgeliefertseins. Als Schutzfunk­ tion zeigen sich Abwehrmechanismen wie Dis­ tanzierung, Verdrängung, Verleugnung und Ver­ meidung von Erfahrungen oder Gedanken, die mit Sterben und Tod zu tun haben.

Eine ehrliche, echte und offene Kommunikation über das Thema »Tod und Trauer« – etwa wie Informationen über den Verlauf einer schweren Krankheit transportiert werden – ist entscheidend für das Erleben der Patientinnen/­Patienten und der Angehörigen.

Ulrike Rastin

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Gefühle aushalten

Was tun?

Wie stehe ich zum Tod? Was bedeutet er für mich? Wie gehe ich mit den Gefühlen dabei um? Em­ pathie und die Dialogfähigkeit der Ärztin oder des Arztes entscheiden sowohl über den Erfolg als auch über die Nachhaltigkeit der meisten me­ dizinischen Interventionen. Eine ehrliche, ech­ te und offene Kommunikation über das Thema »Tod und Trauer« – etwa wie Informationen über den Verlauf einer schweren Krankheit transpor­ tiert werden – ist entscheidend für das Erleben der Patientinnen/Patienten und der Angehörigen. Schon in frühen Stadien einer schweren Krank­ heit ist es wichtig, den Betroffenen die Ernsthaf­ tigkeit von Prognosen und die Möglichkeit, an der betreffenden Krankheit zu sterben, in geeig­ neter Form mitzuteilen. Wenn im weiteren Ver­ lauf der Erkrankung der Tod absehbar wird, rü­ cken andere Themen in den Fokus. Aufgabe der Ärztin oder des Arztes ist es herauszufinden, wo­ rüber die Betroffenen sprechen wollen und wel­ che Ängste sie belasten. Aufgabe der Ausbildung ist es, Fähigkeiten zu­ künftig ärztlich tätiger Personen im Bereich des Wahrnehmens, des Zulassens und des Anneh­ mens eigener Gefühle zu trainieren. Aber auch das Aushalten dieser Gefühle, ausgelöst durch die unmittelbare Not von Menschen mit Nähe zum Tod, muss geübt werden. Die klassische ärztliche Rolle des Heilers/der Heilerin wird im Rahmen des Diplomstudiums der Medizin in Österreich gut vermittelt. Hinsicht­ lich der Rolle des ganzheitlichen Betreuers/der Be­ treuerin bleibt die Verantwortung allerdings wei­ terhin dem Interesse und dem Talent der einzelnen Studierenden und der Weiterbildung nach dem absolvierten Medizinstudium überlassen. Mögli­ cherweise liegt das daran, dass die psycho­soziale Betreuungskompetenz vieler Ärztinnen und Ärzte gegenüber den ihnen anvertrauten sterbenden Pa­ tientinnen und Patienten und deren Angehörigen nicht mit der medizinisch-technischen Behand­ lungskompetentz Schritt halten kann.

Drei Ansatzpunkte in der universitären Ausbil­ dung können beschrieben werden. Es braucht ers­ tens eine erweiterte Implementierung von Basis­ wissen zu Palliativmedizin bereits im Studienplan. Zweitens sollten verstärkt Wissen und Fertigkei­ ten hinsichtlich adäquaten Umgangs mit Ster­ benden sowie Kompetenzen in Schmerztherapie und Symptomkontrolle in die klinischen Teile des Lehrplans einfließen. Und drittens können erhöh­ te Praxiserfahrung im Umgang mit Sterbenden, verstärkte Trainings in spezifischer Gesprächs­ führung und bessere Anleitung für den Umgang mit Angehörigen im klinischen Teil der Ausbil­ dung die Situation verbessern. Auch die Routinen im Krankenhaus müssen sich ändern. Wir Ärztinnen und Ärzte haben unter zunehmendem Versorgungsdruck auf den Normalstationen nur selten Zeit, uns auf die spe­ ziellen Lebenssituationen unserer Patientinnen und Patienten einzulassen. Die Funktionstätig­ keiten haben oftmals Vorrang, und aufgrund der Arbeitsverdichtung sind Ärzte und Ärztinnen für Patientinnen und Patienten und deren Angehö­ rige häufig nicht greifbar. Die moderne Medizin muss sich als Team­ arbeit in einem Netzwerk definieren – wobei Ko­ operationsbereitschaft, Toleranz und Konflikt­ fähigkeit wichtige Voraussetzungen für Erfolg darstellen. Michael Lazansky ist Oberarzt und Kon­ siliarfacharzt für Psychiatrie im Wiener Kaiser-Franz-Josef-Spital und Mitglied im Ausschuss für ärztliche Ausbildung der Ärztekammer für Wien. © Anna Konrath

E-Mail: [email protected]

Literatur Kübler-Ross, E. (1969). On death and dying. New York. Kübler-Ross, E. (1980). Interviews mit Sterbenden. Güters­ loh.

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»Mein Papa ist tot, echt tot!« Tod und Trauer in der elementarpädagogischen Ausbildung

Ursula Spät »Mein Papa ist tot, echt tot!«, schrie Max, als er von seiner Mutter, die blass und teilnahms­ los wirkte, an einem sonnigen Frühlingstag in den Kindergarten gebracht wurde. Ich war da­ mals noch nicht lange als Elementarpädagogin tätig und wusste nicht, wie ich auf diese Situ­ ation reagieren sollte, war sprachlos der Mut­ ter gegenüber und wollte Max so schnell wie möglich ablenken, damit die anderen Kinder in meiner Gruppe nicht hörten, was Max stän­ dig wiederholte. Die Vergänglichkeit, der Lebenskreislauf, der Rhythmus der Jahreszeiten sind fixe Bestandtei­ le in der Arbeit mit Kindern im Kindergarten. Durch naturkundliche Beobachtungen – die Ver­ wandlung der Raupe in einen Schmetterling oder der Kaulquappe in einen Frosch, die Entwick­ lung eines Samenkorns zur Blume etc. – erfah­ ren Kinder, dass das Leben Veränderungen mit sich bringt. Sie erleben, dass es Anfang und Ende gibt. Wenn Kinder ein totes Insekt finden oder ein Haustier stirbt, wenn die Topfpflanze vertrocknet oder ein überfahrenes Tier auf der Straße liegt, werden sie mit der Vergänglichkeit konfrontiert. Das tote Tier bewegt sich nicht mehr, die Blume öffnet ihre Blüte nicht mehr und verblasst. Der Begriff des Todes Doch Kindern im Vorschulalter fehlt die Begriff­ lichkeit für die Endgültigkeit des Todes. Totsein wird in dasselbe Raster eingeordnet wie Schlafen und Erwachen, wie Fortgehen und Zurückkom­ men. Kinder fragen, ob das verstorbene Kanin­ chen auch unter der Erde genug zum Fressen hat,

nachdem es im Garten vergraben worden ist, oder wollen beim Begräbnis der Oma wissen, wann diese sie wieder vom Kindergarten abholt. Kinder unter sechs Jahren können nicht unterscheiden zwischen dem Tod und einer vorübergehenden Trennung. Ab dem vierten Lebensjahr beginnen Kinder Fragen zum Tod zu stellen. Oft sind dies sehr sachliche Fragen, die sachliche Antworten brauchen. Die Kinder sind neugierig und inter­ essiert, ohne emotional betroffen zu sein, da sie ja die Endgültigkeit des Todes und die Tatsache, dass auch sie selbst einmal sterben werden, erst spä­ ter verstehen lernen, spätestens mit zehn Jahren. Da sich das Todesverständnis von Kleinkin­ dern also wesentlich von jenem der Erwachsenen unterscheidet, ist es sinnvoll, entsprechende Wis­ sensvermittlung bereits in der Ausbildung zum Elementarpädagogen/zur Elementarpädagogin anzubieten. Selbst Kinder, die nicht gerade vom Tod einer nahestehenden Person betroffen sind, können Fragen zum Tod stellen oder Begräbnisse nachspielen. Sie brauchen Erwachsene, die die­ sem Thema nicht ausweichen, sondern auf ihre Bedürfnisse eingehen: Erwachsene, die Fragen nach dem Tod und dem Danach zulassen, die keine falsche Scheu in der Auseinandersetzung mit dem Thema zeigen, die bereit sind, auf spie­ lerische Weise gemeinsam mit den Kindern über den Tod zu philosophieren. Reflexion der eigenen Trauerbiografie Wenn ein Kind vom Tod eines nahestehenden Menschen betroffen ist, wird das Personal des Kindergartens vor unterschiedliche Aufgaben ge­ stellt. Es ist mit trauernden Eltern, Großeltern

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und anderen Verwandten konfrontiert und hat ein Kind zu betreuen, das auf Veränderungen innerhalb seiner Familie und auf die Trauer der Bezugspersonen reagiert. Je nach ihren eigenen Biografien und der emotionalen Nähe zur be­ troffenen Familie sind auch die Elementarpä­ dagoginnen und -pädagogen und Assistenten/ Assistentinnen traurig, hilflos oder selbst durch schmerzliche Gefühle stark belastet.

Auf alle Eventualitäten kann die Ausbildung in der Elementarpädagogik nicht vorbereiten: War die Mutter schwer krank, ist der Opa bei einem Ausflug gestorben? Ist die Oma eines Morgens einfach nicht mehr aufgewacht oder der Vater bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt? Der Tod hat so viele Facetten wie das Leben. Ist jedoch das Thema »Tod und Trauer« ein Teil der Ausbildung und hören die Auszubildenden,

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» M e i n Pa p a i s t t o t , e c h t t o t ! «    5 1

flexion der eigenen Trauerbiografie sind wesent­ liche Aspekte während der Ausbildung zum Ele­ mentarpädagogen/zur Elementarpädagogin und wichtige Voraussetzungen für ein pädagogisch angemessenes Verhalten, wenn Kinder während einer Zeit der Trauer im Kindergarten begleitet werden sollen.

Paul Klee, Winter Picture, 1930 / Private Collection / Photo © Christie‹s Images / Bridgeman Images

Tod im Kindergarten

dass sie in der Praxis höchstwahrscheinlich ir­ gendwann mit trauernden Menschen konfron­ tiert werden, erfahren sie, wie Kinder trauern und was sie für diese Kinder tun können. Sie ha­ ben dann immerhin Ressourcen, auf die sie not­ falls zurückgreifen können. Eine Auseinanderset­ zung mit den Gefühlen, den angenehmen, den unangenehmen und den ambivalenten, mit den dahinterstehenden Bedürfnissen sowie die Re­

Besonders belastend ist es für das Personal eines Kindergartens klarerweise, wenn ein Kind der Einrichtung verstirbt. Zur eigenen Betroffenheit kommt die Ungewissheit, ob und in welcher Form mit den Eltern des verstorbenen Kindes Kontakt aufgenommen werden sollte oder wie der Tod des Kindes mit den übrigen Kindern der Grup­ pe thematisiert werden kann. Dazu kommt die Unsicherheit, wie man auf Fragen und auf die Betroffenheit der anderen Eltern reagieren soll. Werden auch Trauerfälle dieser Art in der Aus­ bildung berücksichtigt und weiß der angehende Pädagoge/die angehende Pädagogin, dass es In­ stitutionen und Vereine gibt, die in solchen Fäl­ len beratend und unterstützend wirken, so trägt dies wesentlich zur Qualitätssicherung während solcher Ausnahmesituationen bei. An dieser Stel­ le möchte ich ganz besonders den österreichi­ schen Bundesverein »Rainbows« und den »Ro­ ten Anker« der Caritas Socialis als Anlaufstellen hervorheben. Der Kindergarten ist ein Ort des Lernens, des Entwickelns, des Heranreifens. Pädagogen und Pädagoginnen begleiten Kinder während einer prägenden Zeit. Wenn Kinder sich auch in Trau­ erprozessen gut durch Erwachsene begleitet füh­ len, wenn ihre Fragen ernstgenommen werden, können sie gestärkt weiter durch ihr Leben gehen. Ursula Spät ist Elementarpädagogin, Mediatorin und Trauerbegleiterin bei Rainbows und Rundumberatung, spe­ zialisiert auf Trauer von Kindern und Ju­ gendlichen. © Christian Minutilli

E-Mail: [email protected]

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»… nie mehr wird es so sein, wie es war« Trauer, Trauerfälle und Trauerarbeit im Kontext der Lehrer/-innen-Bildung

Eva Unterweger Trauer ist eine der Grundemotionen des Men­ schen – sie ist die emotionale Antwort auf un­ wiederbringlich Verlorenes. Etwas Vertrautes, das Sicherheit gegeben hat, ist nicht mehr da. Das Heute ist nicht mehr so, wie das Gestern war. In unserer durchgetakteten Gesellschaft wird das Gefühl Trauer oft als ein störender, »passi­ ver« Zustand angesehen, der in die Privatheit ab­ gedrängt wird. Es ist weitgehend verpönt, Trauer öffentlich zu zeigen. Manchmal ist Trauer auch noch geschlechtsspezifisch eingeschränkt: »Jun­ gen weinen nicht.« Die spürbaren Auswirkungen solcher ungelebten und unbearbeiteten Emotio­ nen, dieser nicht durchlebten Trauerprozesse be­ schreibt Luc Ciompi (2011) an historischen Per­ sonen, insbesondere aber an den Entwicklungen von Gesellschaften und Kulturen, die politische Prozesse durchdringen. Trauerprozesse brauchen genügend Zeit zum Abschiednehmen, um ein Abschließen zu ermög­ lichen, damit wieder Energie frei werden kann, et­ was Neues zu beginnen. Rituale helfen uns dabei. Trauervielfalt Lehrer und Lehrerinnen sind in ihrem Berufsall­ tag oft mit kleinen, aber auch mit großen Trauer­ fällen konfrontiert – mit ihren eigenen und je­ nen ihrer Schüler/-innen. Der Tod von nahen Familienangehörigen, Freunden/Freundinnen, Schulkollegen/-kolleginnen, Lehrerinnen/Leh­ rern, der Beziehungsverlust – wenn Freundschaf­ ten enden –, aber auch der Verlust von Heimat und dem vertrauten sozialen Umfeld (bei Um­

zug oder Migration), der Verlust der vertrauten Familienstruktur bei Scheidungen, der Tod von Haustieren, aber auch der Schulabschluss oder ein Schulwechsel können tiefe Trauerreaktionen hervorrufen. Wie Kinder und Jugendliche mit Trauer umgehen, ist individuell verschieden und abhängig vom jeweiligen Entwicklungsalter, von der Bindungs- und Beziehungsintensität zur ver­ lorenen Person, zum verlorenen Objekt oder dem verlorenen sozialen Sicherheitsrahmen. Entschei­ dend für den Umgang mit und die Bewältigung von Trauer ist auch die Art und Weise, wie das soziale Umfeld reagiert; die Reaktion ist beein­ flusst von den jeweils kulturell und sozial akzep­ tierten Formen und Konstruktionen von Trauer und Trauerfällen. Im Beziehungsnetz »Schulklasse« treten Trauerreaktionen auf große und kleine Verluste manchmal deutlicher auf als zu Hause, wo Kin­ der emotionale Belastungen oft aus Rücksicht auf die ohnehin schon niedergedrückte Familie nicht ausleben. Für Lehrer/-innen sind Trauersi­ tuationen Herausforderungen, die zu Überforde­ rungen werden können, besonders dann, wenn Lehrer/-innen eigene Trauerprozesse verdrängt haben, sie noch nicht genug Zeit hatten, diese zu integrieren, oder wenn sie in einen aktuellen schulischen Trauerfall selbst emotional stark in­ volviert sind. Wenn Schüler/-innen Trauer durch Aggression ausagieren, ist das meist eine besonde­ re professionelle Herausforderung für Lehrperso­ nen; in einem solchen Fall heißt es, Verständnis für den Trauerprozess auszudrücken, emotiona­ le Unterstützung zu geben und gleichzeitig klare

» …   n i e m e h r w i r d e s s o s e i n , w i e e s w a r «    5 3

Grenzen gegenüber Destruktivität in der Grup­ pe zu setzen.

einanderzusetzen. Als einmalige Initiative kann sie aber die Verankerung in der Ausbildung nicht ersetzen.

Und die Ausbildung? Abschied, Verlust, Tod und Trauer gehören zum menschlichen Leben und somit zum Zusammen­ leben in der Schule. Wie werden Lehrer/-innen in ihrer Ausbildung darauf vorbereitet, die Trauer einzelner Schüler/-innen, von ganzen Klassen und der Schule professionell zu begleiten? In den Curricula der österreichischen Institu­ tionen der Lehrer/-innen-Professionalisierung (Pädagogische Hochschulen und Universitäten) finden sich – wahrscheinlich vor allem auch we­ gen der knappen Abstraktheit – nur vereinzelt Belege in Bezug auf das Thema »Trauer«. Im Fol­ genden werden exemplarisch Curricula ange­ führt, ohne Anspruch auf flächendeckende Gül­ tigkeit. In manchen Lehrplänen fehlen Hinweise auf emotionale Arbeit völlig. Bei Nachfrage wird auf religionspädagogische Angebote verwiesen, wie etwa Lehrveranstaltungen zum Thema »Be­ grenztheit des Daseins, Trauer, Rituale – interreli­ giös reflektiert« oder »Sinnfragen stellen, Theolo­ gisieren und Philosophieren mit Kindern« (KPH Wien/Krems 2018). An einer anderen Primarstu­ fenausbildung (PH Salzburg Stefan Zweig 2018) wird im Schwerpunkt »Gesundheit und Lebens­ kompetenz in Schulen« ausdrücklich mit dem Thema »Trauer und Tod« gearbeitet (Todeskon­ zeptionen bei Kindern, Trauer und Trauerbe­ wältigung im Kindesalter, Rituale und pädago­ gische Hilfestrategien in der Trauerbegleitung, Trauer im Kinderbuch, Begleitung in Akutpha­ sen). An einer Ausbildungsinstitution mit ausge­ wiesener Persönlichkeitsarbeit wird über Verlust und Trauer im praxisbegleitenden Coaching mit Studierenden gearbeitet (PH Wien 2018). Eine eintägige Konferenz an einer anderen Pädagogi­ schen Hochschule zu »Trauer und Tod« (Braun­ steiner 2006) war sicher ein ertragreicher Impuls sowohl für zukünftige als auch für im Dienst ste­ hende Lehrer/-innen, sich mit dem Thema aus­

Beziehungsfähigkeit Ziel der Ausbildung muss die Kompetenz von Lehrern und Lehrerinnen sein, ihre Schüler/-in­ nen durch Trauerprozesse in sensibler Resonanz und emotional nährend pädagogisch zu beglei­ ten. Es geht um wesentliche Fragen des Mensch­ seins insgesamt und um philosophische Ausei­ nandersetzungen mit Sinnfragen des Lebens. In der Ausbildung müssen sich die zukünftigen Leh­ rer/-innen Wissen über entwicklungspsycholo­ gische Aspekte des Umgangs von Kindern und Jugendlichen mit Trauer, Trauerfällen und Tod aneignen können, aber auch kulturspezifische Unterschiede in Trauerritualen und im Durch­ leben und Zeigen von Trauer wahrnehmen und reflektieren. Die kognitive Auseinandersetzung allein reicht jedoch für eine professionelle, unterstützende Be­ gegnung mit Betroffenen im emotional heraus­ fordernden Schulalltag nicht aus. Die Arbeit an der eigenen Person ist eine wichtige Basis für die Lehrer/-innen-Professionalität; dabei sind die Entwicklung von Bewusstheit über die eige­ ne Vergänglichkeit durch Selbsterfahrung und Selbstreflexion und die biografische Begegnung mit eigenen Trauerprozessen hilfreiche Zugänge. Die emotionale Arbeit insgesamt führt im opti­ malen Fall zu professioneller emotionaler Kom­ petenz, was für die Lehrerin/den Lehrer bedeutet, eigene Emotionen wahrzunehmen, zu benennen, in einem sozialen Kontext adäquat auszudrücken, zu leben, aber auch regulieren zu können. Die Fä­ higkeit, mit anderen in Beziehung zu treten und zu bleiben, sowie ein Handlungsrepertoire, um für Schüler/-innen emotional nährend zu sein, ist für die Profession unumgänglich, speziell be­ deutend für den Trauerfall ist aber eine sensible Wahrnehmung dafür, was von trauernden Schü­ lerinnen und Schülern aktuell gebraucht wird.

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Zur pädagogischen Professionalität gehören auch das Wissen über Abschieds- und Trauer­ rituale und ein Bündel an pädagogischen Hand­ lungsstrategien, um mit Trauer und Abschied altersgemäß und unterstützend umgehen zu kön­ nen (gemeinsame Rituale für schöne Erinnerun­ gen, Dankesrituale, aber auch Rituale für Wün­ sche mit möglicher Zukunftsperspektive). Zum Blickwinkel auf die einzelne Person kommt in der Lehrer/-innen-Profession immer auch die Pers­ pektive auf die Gruppe – was in der betroffenen

Klasse gerade gebraucht wird. Für das gesamte System »Schule« und das Zusammenleben am Schulstandort ist gemeinsames Trauern bedeut­ sam und unterstützend für alle. Es gilt, für den Schulstandort und die Menschen vor Ort pas­ sende Rituale für das gemeinsame Erleben von Trauer und Abschied zu finden. Schon in der Aus­ bildung sollen Studierende daher diese Wechsel­ wirkungsprozesse zwischen Individuum, Gruppe und System wahrnehmen und die Bedeutung für das Zusammenleben bewusst reflektieren.

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» …   n i e m e h r w i r d e s s o s e i n , w i e e s w a r «    5 5

Eva Unterweger ist Psychologin und Psychotherapeutin. Sie war Professo­ rin an der Pädagogischen Hochschu­ le mit dem Schwerpunkt überfachliche personale Kompetenzen – Persönlich­ keitsarbeit in der Lehrer/-innen-Profes­ sionalisierung und führt derzeit Koope­ rationsprojekte zur Lehrer/-innen-Professionalisierung in der Ukraine und in saharauischen Flüchtlingslagern in Al­ gerien durch. E-Mail: [email protected] Literatur Braunsteiner, M.-L. (2006). Kindsein und Tod. Krisen im Leben von Kindern und Erwachsenen. Tagungsbericht zur 9. Allgemeinpädagogischen Tagung an der PA Baden. Baden: Kompetenzzentrum für Forschung und Entwick­ lung. Ciompi, L., Endert, E. (2011). Gefühle machen Geschichte. die Wirkung kollektiver Emotionen – von Hitler bis Oba­ ma. Göttingen. KPH Wien/Krems (2018). Curriculum Bachelorstudium zur Erlangung des Lehramtes Primarstufe. https://www. kphvie.ac.at/fileadmin/Mitteilungsblatt/KPH-2018_MB 149__Curriculum_Bachelorstudium_Lehramt_Primar­ stufe.pdf (Zugriff am 02.02.2019). PH Salzburg Stefan Zweig (2018). Curriculum Bachelor­ studium und Masterstudium Primarstufe. https://www.ph salzburg.at/fileadmin/PH_Dateien/Curr_Primar/Bache­ lor-und_Masterstudium_PS_04072018.pdf, S. 96 (Zugriff am 02.02.2019, konkrete Inhalte durch Nachfrage bei der Lehrveranstaltungsleiterin). PH Wien (2018). Curriculum Bachelorstudium für das Lehramt Primarstufe https://www.phwien.ac.at/files/VR_ Lehre/Mitteilungsblatt/Ziff_5/Bachelor-Studium%20 Primarstufe_mit_Erweiterungsstudien.pdf (Zugriff am 02.02.2019).

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Abschließend sei noch auf die Grenzen der pädagogischen Begleitung von Trauerprozes­ sen hingewiesen. Möglichst schon in der Ausbil­ dung soll über das Erkennen und Wahrnehmen der eigenen Grenzen reflektiert werden, beson­ ders wenn es um traumatische Verluste geht und wenn es dann notwendig ist, professionelle Hil­ fe von außen zu suchen und anzunehmen – für die betroffene Schülerin/den betroffenen Schü­ ler, für Schülergruppen und auch für die Lehre­ rin/den Lehrer selbst.

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»Dafür sind die Religionslehrer zuständig« Zur Bedeutung von Bildung in der Entwicklung und Förderung von Trauerkompetenz

Martin Jäggle Spontan fokussiere ich auf Schule: Nichts ist so si­ cher wie die Realität des Sterbens und des Todes im Raum der Schule beziehungsweise in ihrem unmittelbaren Umfeld. Dabei muss man nicht gleich an einen dramatischen, tödlichen Unfall am Schulweg denken. Es genügt, salopp formu­ liert, der plötzliche oder krankheitsbedingte, er­ wartbare Tod von jenen, die Teil der Schule sind, oder deren Angehörigen. Trotzdem blendet die Schule in der Regel diese Wirklichkeit aus, so lan­ ge es nur irgendwie geht. Sie schweigt den Tod tot und ist ganz überrascht – und somit auch über­ fordert, wenn er doch eintritt. Spätestens dann schlägt die Stunde der Reli­ gionslehrer/-innen. Es gibt kaum einen Bereich, in dem diese so gefragt sind, wie im Fall eines To­ des im Raum der Schule (Kind, Eltern, Angehö­ rige, Lehrer/-in, Katastrophen). Bei einer inter­ nationalen Tagung fragte ich eine Referentin, die vom Aufbau eines beispielhaften Ethikunterrichts als Alternativfach für Religionsunterricht berich­ tete: »Was geschieht bei Ihnen an der Schule, wenn jemand stirbt?« Darauf erhielt ich spontan die Antwort: »Dafür sind die Religionslehrer zustän­ dig.« Da war ich perplex, aber so ist die Realität. Grenzen des Lebens als Teil des Lehrplans Angesichts des Todes werden Religionslehrer/-in­ nen zu gesuchten Nothelfern. Sie können in ihrer Berufsrolle und vom Fach her das Thema »Ster­ ben und Tod« weder verdrängen noch ignorie­ ren. Natürlich bringen sie eine spezifische Kom­ petenz ein, weil die Grenzen des Lebens – im

    

Unterschied zum allgemeinen Lehrplan etwa der Volksschule beziehungsweise Grundschule – Teil des Lehrplans ihres Fachs sind, weil sie um die Bedeutung von Ritualen wissen und weil sie die Möglichkeiten zu deren Gestaltung kennen. Und es gehört zu den Aufgaben ihres Fachs, sich mit den großen existenziellen Fragen auseinander­ zusetzen wie dem Woher, Wohin und Wozu des menschlichen Lebens sowie den Interpretationen und Antworten, die die unterschiedlichen Reli­ gionen dazu liefern. Perspektiven für die Entwicklung von Trauerkompetenz Erfreulicherweise gibt es eine Professionalisie­ rung in der Begleitung von Trauernden – auch im Bereich der Schule. Damit ist der Erwerb einer zusätzlichen Kompetenz verbunden, die nicht automatisch Teil der Ausbildung ist und sein kann. Jede Schule benötigt Personen, die sich solch professionelle Kompetenz aneignen. Die Diözese Klagenfurt engagiert sich besonders für Trauerbegleitung – auch an Schulen. Sie hat als einzige Diözese ein eigenes Referat Trauerpasto­ ral und bietet einen Lehrgang Trauerbegleitung an, der den Qualitätskriterien der Bundesarbeits­ gemeinschaft Trauerbegleitung entspricht.1 In Deutschland sind ähnliche Lehrgänge spe­ ziell für Schulpastoral schon länger etabliert, in Österreich noch nicht. Neben Klagenfurt bie­ tet nur die Schulpastoral der Diözese Innsbruck Unterstützung an, weil Fragen des Sterbens im­ mer auch Lebensfragen sind.2

» D a f ü r s i n d d i e R e l i g i o n s l e h r e r z u s t ä n d i g «    5 7

• themenbezogene Projekte mit Schulklassen; • Fortbildung für Lehrpersonen; • Elternabende zum Thema »Tod und Sterben«. Zwei Publikationen sind interessant, weil sie über die Pflichtschule hinausgehen. Unverändert gut ist der Band der Katholischen Jugend Österreichs

picture alliance / imageBROKER / Oskar Eyb

• Beratung und Begleitung von Lehrpersonen/ Schulgemeinschaften; • Unterstützung bei Abschiedsritualen für Klassen und Schulen (in Zusammenarbeit mit allen Religionen); • begleitete Tage mit Schulklassen, die eine Kollegin/einen Kollegen verloren haben;

Am Tag nach dem Amoklauf in der Albertville-Realschule in Winnenden

Tr a u e r Po l i t i k

5 8   M a r t i n J ä g g l e

(Reinthaler und Wechner 2010), religionspäda­ gogisch besonders bemerkenswert ist eine Pub­ likation von Marose (2018), die über die Schule hinaus den Betrieb in den Blick nimmt, vom Pi­ lotprojekt »Trauerbegleitung am Arbeitsplatz« be­ richtet, Trauer als Aufgabe der betrieblichen Mit­ arbeiterfürsorge etablieren will und aufmerksam macht, wo der Umgang mit Sterben und Tod Teil der beruflichen Kompetenz sein kann, wie bei Sa­ nitätern, Polizistinnen, Altenpflegern und Kran­ kenschwestern. Interreligiöse Schwierigkeiten Ohne religiöse Bildung, die stets auch zur reli­ giösen Selbstreflexion und Selbstrelativierung anleitet, können die Chancen, die gerade reli­ giöse und weltanschauliche Vielfalt im Umgang mit Tod und Trauer bietet, kaum wahrgenom­ men werden. Zu oft bleiben als Möglichkeit nur die »Naturalisierung« des Todes oder der Ver­ such einer allgemeinen Religiosität. Natürlich ist der Tod ein Teil des Lebens, ja, er ragt in das Leben hinein, aber natürlich ist der Sinn des Todes nicht. Aus der Natur erschließt sich viel­ leicht sein Zweck, aber nicht sein Sinn. Der Tod ist ein Faktum, aber ob das Leben sinnvoll ist angesichts des Todes, beantwortet das Faktum nicht. Wohin führt der Anspruch, einen mög­ lichst natürlichen Umgang mit Tod und Trauer zu fördern? Eine Stadt stand unter Schock. Eine Amok­ fahrt verursachte Tote und Verletzte. Als Teil der öffentlichen Trauerarbeit fand eine Ge­ denkfeier statt, bei der jeweils ein Repräsen­ tant der katholischen Kirche, der evangeli­ schen Kirche, des Islams und des Judentums ein Gebet sprechen sollte. Der für die Gedenk­ feier ausgearbeitete Text enthielt keine expli­ zit christlichen Formulierungen, doch der jü­ dische Repräsentant sagte: »Das kann ich nicht beten!« Er wäre bereit gewesen, ein jüdisches Gebet zu sprechen, das wurde ihm aber ver­

weigert. Er nahm an der Gedenkfeier teil, kam aber nicht zu Wort. Der Gedenktext war in der Art konzipiert, wie in der Tradition des Christentums angesichts einer solchen Katastrophe gebetet wird. Was als all­ gemein-religiös gedacht war, war geprägt von christlicher Normalität. Der Gedanke, durch den Verzicht auf spezifisch christliche Inhalte könne ein alle betroffenen Religionen verbin­ dender Text entstehen, musste scheitern, allein schon deshalb, weil der Umgang mit Tod und Trauer in den einzelnen religiösen Traditionen so unterschiedlich ist. Während etwa die christli­ che Tradition im Gedenken an Verstorbene oder am Grab sehr vielfältige Bittgebete für die Ver­ storbenen und die Trauernden kennt, steht in der jüdischen Tradition das Lob Gottes. Es wird das Kaddisch gesprochen, ein Heiligungsgebet. Ein allgemein-religiöser, letztlich aber (west-)christ­ lich imprägnierter Text als Norm für alle bringt religiöse Vielfalt zum Verschwinden und igno­ riert die je besondere religiöse biografische Iden­ tität der Verstorbenen. Dr. theol. Martin Jäggle, verheiratet, drei erwachsene Kinder, fünf Enkelkin­ der, ist Universitätsprofessor i. R. für Re­ ligionspädagogik und Katechetik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Er ist Mitinitiator der © Barbara Mair ökumenischen Initiative »lebens.werte. schule« (www.lebenswerteschule.at) und u. a. Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusam­ menarbeit. E-Mail: [email protected] Literatur Marose, M. (Hrsg.) (2018). »Sterben, Tod und Trauer« im Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen. Kompe­ tenzen für Beruf und Leben. Münster. Reinthaler, M., Wechner, H. (2010). Plötzlich bist du nicht mehr da. Tod und Trauer von Jugendlichen. Innsbruck. Anmerkungen 1

Vgl. https://www.trauerbegleiten.at/download/Kaernten_ Lehrgang_Trauerbegleitung.pdf (Zugriff am 07.01.2019). 2 Vgl. https://www.dibk.at/Media/Organisationen/Schul­ amt/Schulpastoral2/Trauer (Zugriff am 07.01.2019).

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Tod und Trauer organisatorisch fassen Erläuterungen zu einer Musterbetriebsvereinbarung

Robert Steier Vor etwa mehr als einem Jahr wurde ich als Leiter des Rechtsreferats der österreichischen Gewerk­ schaft vida auf das Thema »Musterbetriebsverein­ barung Tod und Trauer« angesprochen. Groß ist die Zahl der Musterbetriebsvereinbarungen, die an Betriebsratskörperschaften zum Abschluss he­ rangetragen werden. Es bestand daher anfäng­ lich große Skepsis, ob eine Betriebsvereinbarung zum Tabuthema »Tod und Trauer«, die noch dazu sehr viel »soft law« beinhalten soll, ein gutes Ins­ trument für Betriebsräte ist. Je mehr wir uns in dieses Thema eingearbeitet und vertieft haben, desto mehr hat sich gezeigt, wie wichtig dieses Thema am Arbeitsplatz tatsächlich ist. Gemein­ sam mit Rundumberatung haben wir uns daran gemacht, eine Musterbetriebsvereinbarung zum Thema »Tod und Trauer« zu erstellen. Grundlagen In Österreich sterben jedes Jahr rund 80.000 Men­ schen, davon 10.000 bis 12.000 im erwerbsfähi­ gen Alter. Tod am Arbeitsplatz ist also kein unge­ wöhnliches Phänomen – jede größere Firma sieht sich immer wieder mit Todesfällen aufgrund von Unfall, Krankheit oder Suizid konfrontiert. Fol­ gerichtig legt die Präambel der Musterbetriebs­ vereinbarung das Ziel wie folgt fest: »Ziel dieser Betriebsvereinbarung ist es, eine betriebliche Kultur im Umgang mit der Thematik Tod und Trauer zu etablieren. Dabei sollen einerseits Unterstützungsleistungen für jene Beschäftigten angeboten ­werden, die aufgrund von Todesfällen in ihrem na­ hen familiären Umfeld trauern. In diesem

Zusammenhang wird auch auf das Verhältnis des Arbeitgebers zu den Hinterbliebenen verstorbener Beschäftigter eingegangen. Andererseits soll auch Betreuung und Hilfestellung für jene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereitgestellt werden, die Kolleginnen und Kollegen verloren haben oder die aus anderen Gründen mit Sterbefällen in ihrem beruflichen Umfeld konfrontiert sind (z. B. die Beteiligung an oder sonstige Wahrnehmung von schweren Unfällen, sonstigen Todesfällen oder Suiziden einer außenstehenden Person im Rahmen der beruflichen Tätigkeit).« Im günstigsten Fall legt die Betriebsvereinba­ rung Abläufe fest und hält für den Anlassfall einen Krisenplan bereit, der für Führungskräfte, Betriebs­rätinnen und Betriebsräte sowie Arbeits­ kolleginnen und Arbeitskollegen eine hilfreiche Leitlinie zur Bewältigung derartiger Situationen ist. Durch die Regelung kann die ohnedies auf­ tretende Stress­belastung minimiert und sicher­ gestellt werden, dass im Ernstfall nichts verges­ sen wird. Rechtliche Rahmenbedingungen Die Betriebsvereinbarung stützt sich insbesonde­ re auf § 97 Abs 1 Z  1 sowie § 97 Abs 1 Z  8 Arbeits­ verfassungsgesetz (Österreich). Im Wesentlichen sind damit die Themen Gesundheitsschutz sowie allgemeine Ordnungsvorschriften betroffen. Jene Teile der Betriebsvereinbarung, die das Verhalten am Arbeitsplatz und die äußeren Rahmenbedin­ gungen bei einem Todesfall regeln, sind damit auch vom Betriebsrat erzwingbar. Ein großer Teil

Paul Klee, Pine Tree, 1932 / Private Collection / Photo © Christie‹s Images / Bridgeman Images

To d u n d Tr a u e r o r g a n i s a t o r i s c h f a s s e n    6 1

der Betriebsvereinbarung bleibt weiterhin freiwil­ liger Natur. In Hinblick auf die betriebswirtschaft­ liche Umwegrentabilität einer solchen Betriebs­ vereinbarung, die langfristig die Einsatzfähigkeit und Belastbarkeit der Arbeitnehmer/-innen im Betrieb sichert, sind Arbeitgeber jedoch gut be­ raten, auch die freiwilligen Teile der Betriebsver­ einbarung abzuschließen und zu leben. Regelungsinhalte Folgende vier Aufgabenstellungen mit teilweise unterschiedlichem Anforderungsprofil versucht die Betriebsvereinbarung zumindest grundle­ gend zu behandeln: 1. Ein Angehöriger oder eine wichtige Bezugs­ person eines Arbeitnehmers stirbt und der

Trauernde ist neben seiner beruflichen Tä­ tigkeit mit der Verarbeitung dieses Verlus­ tes konfrontiert. 2. Ein Kollege in der Belegschaft verstirbt und die Belegschaft hat mit dem Tod des Arbeits­ kollegen umzugehen. 3. Ein Kollege wird durch einen Arbeitsunfall getötet und die Belegschaft hat die Heraus­ forderung, nicht nur den Tod des Kollegen, sondern auch die Tatsache, dass die Arbeit der Grund dafür war, zu verarbeiten. 4. Seitens eines Mitarbeiters des Unterneh­ mens wird fahrlässig der Tod eines Dritten herbeigeführt. Vor allem im Eisenbahnbe­ reich kommt es bedauerlicherweise immer wieder vor, dass Lokführer mit sogenann­ ten Schienensuiziden oder Eisenbahnkreu­ zungsunfällen zu tun haben.

Die Musterbetriebsvereinbarung gliedert sich daher auch entsprechend obigen Anforderungen in

a) Regelungsinhalte zum allgemeinen Ablauf In diesem Abschnitt werden Trauervertrauenspersonen eingeführt sowie deren Schulungen geregelt. Aufgaben dieser Trauervertrauenspersonen sind neben Erstberatungsgesprächen und Erstunterstützung auch die Unterstützung der Geschäftsleitung bei der Umsetzung der inner­ betrieblichen Abläufe und Strukturen im Fall des Todes eines Beschäftigten. b) Rechte beim Tod naher Angehöriger Die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen, wenn ein naher Angehöriger stirbt, sind in Ös­ terreich relativ rar. § 8 Abs 3 Angestelltengesetz bzw. § 1154b Allgemeines Bürgerliches Ge­ setzbuch gewähren – unjuristisch gesprochen – Freizeit im absolut notwendigen Ausmaß zur Abwicklung des Trauerfalls. Die Betriebsvereinbarung regelt darüber hinaus – auf rechtlich freiwilliger Basis – die Gewährung von Trauertagen sowie Trauerkarenz und Trauerfreistel­ lung. Insbesondere im Anschluss an eine gesetzlich geregelte Familienhospizkarenz (Sterbe­ begleitung) kann eine Trauerkarenz anschließen. Gerade diese beiden Rechtsinstitute, obwohl freiwilliger Natur, erhalten in besonders hohem Ausmaß die Arbeitsfähigkeit und Motivation der Mitarbeiter im Unternehmen. c) Tod von Beschäftigten Beim Tod eines Beschäftigten stellen sich vor allem Herausforderungen in Hinblick auf die In­ formation an die Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen und die Festlegung von Zuständig­

Tr a u e r Po l i t i k

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keiten innerhalb der Geschäftsleitung für die Abwicklung der rechtlich notwendigen Schritte. Zu regeln sind auch Dinge wie Beileidsbekundungen gegenüber den Hinterbliebenen durch die Arbeitskollegen sowie die Mitteilung an die Kunden über den Todesfall. Zu den zahlrei­ chen organisatorischen Regelungsinhalten zählt insbesondere auch der Schutz der Arbeitskol­ legen, damit sie mit der Trauer auch abschließen können und der Arbeitsplatz nicht dauerhaft in eine Gedenkstätte umgewandelt wird. Letztendlich stellt sich auch die Frage der Freistel­ lung für Arbeitskollegen, um am Begräbnis teilzunehmen. Die meisten der hier angesproche­ nen Regelungsinhalte sind allgemeine Ordnungsvorschriften und können im Ernstfall sogar rechtlich erzwungen werden. Arbeitsverfassungsrechtlich ist hier der Betriebsrat in der stärks­ ten Verhandlungsposition. d) Unterstützungen für Hinterbliebene von Beschäftigten Auch die Regelungen über Entgelt im Fall des Todes eines Arbeitnehmers sind relativ spärlich. Die Betriebsvereinbarung versucht hier, den Angehörigen durch Regelungen der Entgeltfort­ zahlung im Todesfall sowie der vollen Todesfallabfertigung entsprechend zu helfen. e) Arbeitsunfälle und sonstige Todesfälle am Arbeitsplatz Besonders kritisch sind jene Fälle, bei denen der Tod am Arbeitsplatz durch den Arbeitsplatz selbst verursacht wurde. Hier ist nicht nur die Trauerarbeit der Kollegen zu berücksichtigen, sondern auch die Tatsache, dass die Kolleginnen und Kollegen die gleiche Tätigkeit am glei­ chen Ort, die zum Tod eines ihrer Kollegen geführt hat, weiter ausüben müssen. Hier bedarf es insbesondere der Hilfe von psychosozialen Fachkräften mit demselben beruflichen Hinter­ grund und geeigneter psychologischer Fortbildung zur Führung von Entlastungsgesprächen. Zusätzlich lösen solche Arbeitsunfälle nicht selten auch Arbeitsgerichtsprozesse in Hinblick auf die Anerkenntnis als Arbeitsunfall sowie Strafverfahren in Hinblick auf fahrlässige Kör­ perverletzung und Tötung aus. Schlussendlich ist aber auch die Geltendmachung von Schock­ schäden und Schadenersatzansprüchen aufgrund der psychischen Belastung, die ausgelöst wird durch die Tatsache, am Tod eines Menschen schuld zu sein, denkbar.

Resümee Mit der nunmehr vorliegenden Musterbetriebs­ vereinbarung ist für Betriebsräte und Unterneh­ men ein wichtiges Werkzeug geschaffen worden, ein Tabuthema im Betrieb zu regeln. Von der Re­ gelung profitieren nicht nur Arbeitnehmer/-in­ nen, sondern auch Arbeitgeber, die die Gesund­ heit und Arbeitsfähigkeit ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen durch diese Maßnahmen ver­ bessern und erhalten können.

Robert Steier ist Jurist, Leiter des Rechtsreferats und Mitglied der Bundes­ geschäftsführung der Gewerkschaft vida. E-Mail: [email protected] © Gewerkschaft vida

Die Mustervereinbarung zum Down­ load: https://www.vida.at/cms/S03/S03_ 0.a/1342598544715/home/artikel/wiemit-tod-und-trauer-am-arbeitsplatz-um­ gehen

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Tabuthema »Trauer am Arbeitsplatz« Roman Hebenstreit, Vorsitzender der Gewerkschaft vida, im Interview Tod und Trauer sind auch am Arbeitsplatz vielfach Tabuthemen. Ist die vida aufgrund der von ihr vertretenen Branchen oft mit dem Thema »Tod am Arbeitsplatz« konfrontiert? Die Gewerkschaft vida vertritt Arbeitneh­ mer/-innen aus den Bereichen Eisenbahn, Luftund Straßenverkehr, Gesundheit und Soziales sowie aus dem Tourismus und auch aus der Si­ cherheitsbranche. Ob wir deswegen öfter als an­ dere mit dem Thema »Tod am Arbeitsplatz« kon­ frontiert sind, lässt sich nicht einfach beantworten. Jedenfalls stellen Verluste von Menschen für betroffene und trauernde Personen einschneiden­ de Ereignisse im Leben dar. Der Tod einer Kolle­ gin/eines Kollegen – denken Sie etwa an tödliche Unfälle im Eisenbahnbereich – kann die Beleg­ schaft erschüttern. Das Ableben der Partnerin/ des Partners oder eines anderen Familienangehö­ rigen trifft jeden Menschen hart. Der Tod ist im­ mer ein Einschnitt, der zutiefst betroffen macht. Ein Weiterarbeiten ist in vielen Fällen nur mehr schwer möglich. Was tun als Arbeitgeber, wie ver­ hält man sich am Arbeitsplatz richtig gegenüber Trauernden? Schweigen oder den Kopf in den Sand stecken ist jedenfalls der falsche Weg! Was hat die vida dazu bewogen, eine Musterbetriebsvereinbarung für den Umgang mit Tod und Trauer am Arbeitsplatz auszuarbeiten? Führungskräfte und Unternehmen erwarten von Kolleginnen und Kollegen, dass sie funktio­ nieren und ihre Trauer so schnell wie möglich ver­ arbeiten. Da wird dann zwar akzeptiert, dass Be­ troffene deswegen krankgeschrieben werden. Mit ihrer Trauer werden sie aber zumeist allein gelassen. Trauern heißt, starken Emotionen ausgesetzt zu sein. Oftmals dürfen diese Gefühle aber nicht

gezeigt werden. Sie erscheinen für die Betroffe­ nen unaufhaltbar, aber unzumutbar für das Um­ feld. In unserer laufenden Arbeit zum Thema ist uns deshalb wichtig, dass Trauernde ihre Gefühle nicht allein verarbeiten müssen. Vorgesetzte soll­ ten sich wertschätzend und authentisch gegen­ über den Betroffenen verhalten und ihr Mitge­ fühl ausdrücken. Empathie und Respekt sind am wichtigsten. Deshalb sollte in Unternehmen eine betriebliche Kultur des Umgangs mit Todesfällen entwickelt werden, und deshalb haben wir mit unserem Partner »Rundumberatung« eine Mus­ terbetriebsvereinbarung entwickelt. Wie sensibilisiert die Gewerkschaft vida ihre Betriebsräte und Behindertenvertrauenspersonen? Seit 2016 widmen wir uns diesem Thema. Wir sind hier gemeinsam mit der Gewerkschaft Öf­ fentlicher Dienst (GÖD) und unserem Part­ ner, der Österreichischen Beamtenversicherung (ÖBV), aktiv. vida und GÖD haben als erste Ge­ werkschaften gemeinsam einen Trauerratge­ ber für Betriebsratsgremien und Unternehmen entwickelt. Seitens der Gewerkschaft bieten wir für Betriebsratsgremien und auch für die Mit­ arbeiter/-innen psychologische Unterstützung an. Unser Angebot wird durch Seminare zum Thema und seit 2018 auch mit einer dreistufigen Ausbildung zur Trauervertrauensperson ergänzt. Teilen Sie den Befund, dass Trauer zusehends in den privaten Bereich »verräumt« wird, während man überall sonst zu funktionieren hat? Das Leben geht nach einem Trauerfall weiter. Jeder hat das Recht auf eine angemessene Trauer­ zeit. Es ist nicht schwierig, ein sogenanntes be­ triebliches Trauermanagement zu implementie­

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ren. Auch wenn der Begriff betriebswirtschaftlich klingt, ein vernünftiger und vor allem mensch­ licher Umgang mit Trauer ist wichtig und unse­ re gemeinsame Aufgabe. Wertschätzung und ein humaner Umgang mit Betroffenen sind eine Ver­ pflichtung.

Was braucht es, um trauernde berufstätige Menschen sinnvoll zu unterstützen? Egal, was uns gerade nahegeht, im Job sollen wir täglich funktionieren. Das ist nicht immer einfach – vor allem nicht nach dem Tod eines ge­ liebten Menschen, einer Arbeitskol­ legin oder eines Arbeitskollegen. Oft trösten schon wenige Worte der An­ teilnahme, da sie uns zeigen, dass wir nicht allein sind. Die Einschätzung, welche Worte zu welchem Zeitpunkt angebracht sind, ist vor allem im Arbeitsumfeld schwierig. Todesfäl­ le stellen auch eine Herausforderung an die betriebsinterne Kommunika­ tion dar. Es kommen Gerüchte auf, die Neugierde ist oft groß. Führungs­ kräfte sollten deshalb hier gleich von Anfang an mit Informationen über die Wahrheit gegensteuern. Ange­ sichts der Sensibilität dieses Themas fordern wir klare Regeln sowohl auf gesetzgeberischer als auch auf sozial­ partnerschaftlicher Ebene. Colourbox

In welcher Form könnten Regierung und Gesetz­ geber Maßnahmen setzen, damit Arbeitnehmer/ -innen, die trauern, zukünftig bessere Möglichkeiten der Bewältigung haben? Menschen sind keine Maschinen. Deshalb kann es auch vorkommen, dass wir plötzlich nicht mehr so funktionieren, wie es unser Umfeld gewohnt ist. Ein Unfall, eine plötzliche Erkrankung oder ein Todesfall, das kann jeden schnell aus der Bahn

werfen. Das muss dem Gesetzgeber als auch den Arbeitgeberverbänden klar werden. Es muss Maß­ nahmen sowohl zum Thema als auch abseits von betriebswirtschaftlichen Erfordernissen geben. Maßnahmen könnten ein gesetzlicher Mindest­ rahmen für eine Trauerkarenz, psychosoziale Be­ ratung am Arbeitsplatz im Rahmen einer Betriebs­ vereinbarung oder eines Kollektivvertrags sein. Es geht darum, den Menschen Möglichkeiten zu bie­ ten, dass sie im Arbeitsprozess bleiben können.

Der Tod ist immer ein Einschnitt, der zutiefst betroffen macht. Ein Weiterarbeiten ist in vielen Fällen nur mehr schwer möglich.

Roman Hebenstreit, gelernter Maschi­ nenschlosser und Triebfahrzeugführer bei den Österreichischen Bundesbah­ nen (ÖBB), ist seit 2016 Vorsitzender der Gewerkschaft vida. Er ist seit 1997 als Personalvertreter aktiv und seit No­ © Marek Knopp vember 2011 Vorsitzender des ÖBBKon­zern­betriebsrats. Er ist auch Vorstandsmitglied der Eu­ ropäischen Transportarbeiter-Förderation (ETF). E-Mail: [email protected]

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Der kleine Schatten eines Meilensteins Österreichs Familienhospizkarenz

Martina Wurzer »Wollt’ nur sagen, weil’s viele nicht wissen: Ste­ fan, Mario, Betti und ihr Angehörigen könntet jetzt alle (auch gleichzeitig) in Karenz gehen. Es geht nicht um Pflege, sondern um Beglei­ tung. Auch Arbeitszeit reduzieren ginge. Das ist rechtlich abgesichert, genannt Familien­ hospizkarenz.« Diese Kurznachricht schrieb ich (leider) kürzlich an eine Freundin, deren Schwiegermutter eine sehr schlechte Diagnose erhalten und bereits Aufnahme in einem Hos­ piz gefunden hatte. Ein lebensbedrohlich schlechter Gesundheits­ zustand naher Angehöriger, egal ob krank­ heits-, unfalls- oder altersbedingt, betrifft uns alle irgendwann. Die Möglichkeit einer Karenz zur Begleitung sterbender Angehöriger oder schwerstkranker Kinder kann dabei eine wich­ tige Entlastung bedeuten. Mit der Familienhos­ pizkarenz wurde in Österreich 2002 ein wesent­ licher Mosaikstein zur Betreuung von Menschen in der letzten Lebensphase gesetzt. Gegenmodell zur Sterbehilfe Tod und Krankheit im Familienkreis bringen viele Angehörige in psychisch belastende Situationen. Aufgabe von Karenzmodellen ist es daher, das fi­ nanzielle Risiko und die Komplexität von An­ trägen für begleitende Angehörige so gering wie möglich zu halten. Die Herausforderung in der Entwicklung der Familienhospizkarenz bestand wesentlich darin, die Vorstellungen und Ideen zur Begleitung der Angehörigen am Ende des Le­ bens legistisch praktikabel, unbürokratisch und sinnvoll umzusetzen. Dieses Unterfangen erwies

sich als komplex. Denn erstens war man mit sehr heiklen, auch ethischen Fragen konfrontiert, und zweitens konnte auf keine vergleichbare Rege­ lung in anderen Ländern zurückgegriffen werden. Um die Jahrtausendwende stand das Thema »Sterbehilfe« in einigen europäischen Ländern zur Diskussion, was etwa in Belgien und den Nie­ derlanden 2002 zu Gesetzen hinsichtlich aktiver Sterbehilfe führte. In Österreich wurde die De­ batte vor allem seitens der Caritas und des Hos­ pizwesens zum Anlass genommen, den Ausbau und leistbaren Zugang zu Palliativmedizin, Pflege und Hospizversorgung zu fordern. Dabei wurde auch die Grundidee einer Hospizkarenz artiku­ liert. Der gesetzlichen Legalisierung von Sterbe­ hilfe wurde die qualitativ hochwertige Betreuung von Menschen in der letzten Lebensphase gegen­ übergestellt. Das Ansinnen, am Ende des Lebens Angebote und Rahmenbedingungen zu schaffen, wie es sie auch am Beginn des Lebens gibt, wur­ de in Österreich breit geteilt. »So wie Eltern ihre Kinder ins Leben begleiten, sollen auch Kinder ihre Eltern und nahe Angehörige am Ende aus dem Leben begleiten können«, lautete das Ziel. Ein Teil dieses Angebots ist der Rechtsanspruch, Zeit mit sterbenden Menschen verbringen zu können. So entstand mit der Familienhospizka­ renz eine Maßnahme, die in dieser Form einma­ lig in Europa ist. Auf parlamentarischer Ebene begann die Dis­ kussion im Mai 2001 mit der Enquete »Solidari­ tät mit unseren Sterbenden – Aspekte einer hu­ manen Sterbebegleitung in Österreich«, die zu einer einstimmigen Entschließung des National­ rates führte, in der der zuständige Bundesminis­ ter für Wirtschaft und Arbeit aufgefordert wurde,

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»ein Modell zur Verwirklichung der Karenz zur Sterbebegleitung zu entwickeln, arbeitsrechtlich abzusichern und dem Nationalrat vorzulegen«.1 Am Ende stand die Einführung der Familienhos­ pizkarenz mit den Stimmen aller im Parlament vertretenen Parteien.



Ausgestaltung der Familienhospizkarenz Wie sieht die aktuell geltende Regelung der Fami­ lienhospizkarenz auf einen Blick aus?

• •

• Seit 1. Juli 2002 gibt es in Österreich für Arbeitnehmer/-innen einen Rechtsanspruch auf Anpassung ihrer Arbeitszeiten für die Begleitung sterbender Angehöriger, wobei sowohl eine Reduzierung der Stundenan­ zahl, eine Verlagerung der Arbeitszeit als auch eine völlige Dienstfreistellung mög­ lich sind. • Auch für die Pflege eines schwersterkrank­ ten Kindes kann eine Karenzierung in An­ spruch genommen werden. • Familienhospizkarenz können Ehepart­ ner/-innen und deren Kinder, Lebensge­ fährten/Lebensgefährtinnen und einge­ tragene Partner/-innen und deren Kinder, Eltern, Großeltern, Adoptiv-, Stief- und Pfle­ geeltern, Kinder, Enkelkinder, Adoptiv- und Pflegekinder, Schwiegereltern und -kinder und Geschwister in Anspruch nehmen. Die Karenzierung mehrerer begleitender Ange­ höriger gleichzeitig ist möglich. Das Vorlie­ gen eines gemeinsamen Haushalts ist nicht erforderlich. • Familienhospizkarenz wird für die Dauer von drei Monaten gewährt, bei Bedarf ist eine Verlängerung bis zu sechs Monaten möglich. • Die Begleitung eines im gemeinsamen Haus­ halt lebenden, schwersterkrankten Kindes kann zunächst für fünf Monate beantragt werden und auf neun Monate verlängert werden. Dies umfasst auch Adoptiv- oder





Pflegekinder und die Kinder der Ehepart­ nerin/des Ehepartners, des Lebensgefähr­ ten/der Lebensgefährtin oder der eingetra­ genen Partnerin/des eingetragenen Partners. Für die Dauer der Karenz bleiben Arbeit­ nehmer/-innen kranken- und pensionsver­ sichert. Sie sind während dieser Zeit und vier Wochen danach ebenfalls vor Kündi­ gung geschützt. Seit 2014 besteht Anspruch auf ein einkom­ mensabhängiges Pflegekarenzgeld. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit, einen Zu­schuss aus dem FamilienhospizkarenzHärte­ausgleich zu erhalten. Der Antrag auf Genehmigung von Fami­ lienhospizkarenz ist dem Arbeitgeber/der Arbeitgeberin schriftlich zu übermitteln, der Arbeitnehmer/die Arbeitnehmerin kann die Karenz fünf Arbeitstage nach Bekanntga­ be antreten. Familienhospizkarenz kann auch von Ar­ beitslosen und Notstandshilfebeziehenden in Anspruch genommen werden.

Sozial abgesichert? Durch den einstimmigen Beschluss aller im Par­ lament vertretenen Parteien allseits als Schritt in die richtige Richtung gewürdigt, hatte die 2002 beschlossene Regelung von Anfang an ein großes Manko – die mangelnde existenzielle Absiche­ rung. Der Österreichische Gewerkschaftsbund hielt die Gesetzesänderung sozialpolitisch für »durchaus begrüßenswert«, sah jedoch eine »we­ sentliche Schwachstelle« in der »nicht ausreichen­ den finanziellen Absicherung«. Nicht »zu unserer Zufriedenheit gelöst« sei die Frage der existenziel­ len Absicherung, hielt der Wiener Caritas-Direk­ tor Michael Landau beim gemeinsamen Pressege­ spräch mit Minister Martin Bartenstein anlässlich der Präsentation des Karenzmodells im Oktober 2001 fest. »Unser Zugang war und ist es, dass Ster­ bebegleitung nicht zum Privileg einiger weniger werden darf. Die Karenz für die Begleitung der

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Edvard Munch, Springtime (Lovers by the shore), 1911–1913 / Private Collection /  Photo © Christie‹s Images / Bridgeman Images

Der gesetzlichen Legalisierung von Sterbehilfe wurde die qualitativ hochwertige Betreuung von Menschen in der letzten Lebensphase gegenübergestellt.

eigenen Angehörigen darf also nicht etwas wer­ den, das man sich leisten können muss. Es geht um Recht und nicht um Luxus«, erinnerte Lan­ dau an die Forderung der Caritas nach existen­ zieller Absicherung. Bei Einführung der Familienhospizkarenz gab es lediglich die Möglichkeit, bei finanziel­ ler Notlage Unterstützung in Form des Fami­ lienhospiz-Härteausgleichs zu erhalten. Die Finanzierung erfolgte über den Familienlasten­ ausgleichsfonds, ein Rechtsanspruch war nicht gegeben. Dem Ziel, niemanden wegen begrenzter finanzieller Ressourcen von der Möglichkeit zur Begleitung eines sterbenden Angehörigen oder schwersterkrankten Kindes auszuschließen, nä­ herte man sich erst im Jahr 2013 an. Seit der No­ velle des Bundespflegegeldgesetzes 2013 haben auch Personen, die eine Familienhospizkarenz in Anspruch nehmen oder ihre Arbeitszeit zu diesem Zweck reduzieren, Rechtsanspruch auf

Pflegekarenzgeld. Ein wichtiger Schritt, der eine wesentliche Hürde zur Inanspruchnahme der Maßnahme beseitigt hat. Wer geht in Karenz? Im Jahr 2017 haben 1052 Personen Pflegekarenz­ geld für Familienhospizkarenz, Familienhospiz­ teilzeit oder die Begleitung schwersterkrankter Kinder bezogen.2 Aus dem Titel »Familienhospiz­ karenz-Zuschuss« wurden 237 Zuwendungen von insgesamt 304.357 Euro geleistet – 26 Prozent der eingelangten Anträge. Die durchschnittliche mo­ natliche Zuwendungshöhe betrug 368,84 Euro (in einer Bandbreite von 16,93 bis 1.026,40 Euro pro Monat in Abhängigkeit vom jeweiligen Haus­ haltseinkommen), wobei in 54 Prozent der Fäl­ le aufgrund des niedrigen Familieneinkommens unter Einbeziehung des Pflegekarenzgelds der ge­ samte Einkommensausfall ersetzt werden konnte.

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In 75 Prozent der Ansuchen handelte es sich um die Pflege schwersterkrankter Kinder, in zwölf Pro­ zent der Fälle wurden Eltern oder Großeltern aus dem Leben begleitet. 2017 starben in Österreich 83.270 Menschen, 85 Prozent davon über 70 Jahre alt. Das Instrument der Familienhospizkarenz, das es »Kindern ermöglichen soll, ihre Eltern aus dem Leben zu begleiten«, wird also wenig angenommen. Dabei lagen die Erwartungen ganz anders: Bei Beschlussfassung ging man im Ministerial­ entwurf vom Herbst 2001 noch von etwa 13.000 Arbeitnehmern/Arbeitnehmerinnen pro Jahr aus, die die Familienhospiz­karenz in Anspruch neh­ men werden, davon würden 1.300 Personen eine vollständige Karenzierung und 11.700 eine Teil­ freistellung beanspruchen.3 Die Absicht des Ge­ setzgebers hinsichtlich der Familienhospizkarenz war es, rasche Entscheidungen und eine möglichst lebensnahe Ausgestaltung zu erzielen. Das ist nur zum Teil gelungen. Bei der Familienhospizkarenz geht es – im Licht der gesamten Entstehung der heute geltenden Re­ gelung – nicht um eine Freistellung erwerbstätiger Familienangehöriger zum Zweck der Pflege ihres schwerstkranken Angehörigen, die professionell und den Bedürfnissen entsprechend zu leisten sie

in der Regel auch gar nicht in der Lage sind. Viel­ mehr geht es darum, Ressourcen im Hinblick auf Zeit und Geld bereitzustellen, die es den Ange­ hörigen ermöglichen, sich in jeder Hinsicht um die schwerstkranken und sterbenden Familien­ angehörigen zu kümmern. Familienhospizkarenz bedeutet also nicht Pflege, sondern Begleitung. Dieses Missverständnis aufzuklären, könnte ein wichtiger Ansatz sein, die Nutzung der Maßnah­ me zu steigern. Das setzt freilich Strukturen vor­ aus, die die Angehörigen auch effizient entlasten. Martina Wurzer ist Politikwissenschaft­ lerin und war 2010–2015 Landtagsab­ geordnete und Gemeinderätin der Grü­ nen in Wien. E-Mail: [email protected] Anmerkungen 1

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933 d. B. zu den Stenographischen Protokollen des Na­ tionalrates, XXI. GP, https://www.parlament.gv.at/PAKT/ VHG/XXI/I/I_00933/fnameorig_605220.html (Zugriff am 02.03.2019). Vgl. https://www.frauen-familien-jugend.bka.gv.at/fami­ lie/finanzielle-unterstuetzungen/familienhospizkarenzzuschuss/familienhospizkarenz-zuschuss.html (Zugriff am 02.03.2019). Vgl. Analyse Familienhospizkarenz 2002–2012, hrsg. von der Arbeiterkammer NÖ, St. Pölten 2012, 9.

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51 umzusetzende Empfehlungen Politische Forderungen zu Trauerbegleitung aus der Sicht von Hospiz und Palliative Care

Waltraud Klasnic, Leena Pelttari und Anna H. Pissarek Trauerbegleitung1 ist eine der Kernaufgaben von genommen: von Einzelbegleitungen durch ent­ Hospiz und Palliative Care. Trauer in ihren vielen sprechend ausgebildete Ehrenamtliche oder Formen setzt bei An- und Zugehörigen sowie den Psy­cho­therapeuten/Psychotherapeutinnen, Psy­ Erkrankten und Sterbenden schon lange vor de­ chologinnen/Psychologen über mehr oder we­ ren Tod ein. Sie kann für Eltern oder eine Fami­ niger offene Trauergruppen bis zu Trauer­cafés. lie mit der Geburt eines Kindes beginnen, wenn dieses mit schwersten Beeinträchtigungen gebo­ Fehlende Finanzierung ren wird oder schwer erkrankt. Hospiz- und Palliativbetreuung enden daher Derzeit endet die öffentliche Finanzierung einer nicht mit dem Tod der betreuten Patientinnen Hospiz- und Palliativbegleitung mit dem Tod der und Patienten, sondern beglei­ Patientin, des Patienten. Trauer­ Hospiz- und ten die An- und Zugehörigen begleitung, wie sie von der Bun­ Palliativbetreuung enden in ihrer Trauer, wenn diese es desarbeitsgemeinschaft Trauer­ nicht mit dem Tod der wünschen. Trauer­begleitung hat begleitung (BAT)2 gefördert, betreuten Patientinnen in Österreich viele Formen an­ entwickelt und angeboten wird,

Norbert Spang

und Patienten, sondern begleiten die An- und Zugehörigen in ihrer Trauer, wenn diese es wünschen.

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ist in Finanzierungsmodellen trotz der präven­ tiven Wirkung von Trauerbegleitung nicht ent­ halten. Die oben erwähnten Angebote werden, sofern nicht jemand als Psychotherapeut/-in/Psy­ chologe/Psychologin/Lebens- und Sozial­bera­ter/ -in in eigener Praxis arbeitet, von den Anbietern selbst, meistens über Spenden, finanziert. Das betrifft sowohl die Angebote der speziali­ sierten Hospiz- und Palliativversorgung (Hospiz­ team, mobiles Palliativteam, stationäre Hospize, Kinder-Hospizteam, mobiles Kinder-Palliativteam etc.) als auch die Grundversorgung (Krankenhaus, Pflegeheim, Hauskrankenpflege). Ein Beispiel: In der mobilen Pflege und Betreuung zu Hause (Hauskrankenpflege) werden nach dem Tod der Patientin/des Patienten keine abschließenden Ge­ spräche der betreuenden Mitarbeiter/-innen mit den Angehörigen finanziert. Diese Gespräche ha­ ben aber einen Mehrwert: Sie stellen nicht nur eine Entlastungsmöglichkeit für die Angehörigen dar (als positive Auswirkung auf die eigene Trauer), sondern auch für die Menschen, die in der Pflege

und Betreuung arbeiten und Patienten und Patien­ tinnen oftmals über Jahre hinweg betreut haben (als Möglichkeit der Selbst­reflexion und dadurch Verbesserung des eigenen beruflichen Handelns, positive Auswirkung auf die Arbeitszufriedenheit). Die Betreuenden können zu einem Begräbnis ge­ hen, doch geschieht das entweder in ihrer Freizeit oder durch vom Träger selbst finanzierte Stunden, die nicht vom Fördergeber erstattet werden. Die Vision Im November 2018 stellte der Dachverband Hos­ piz Österreich anlässlich des 25-jährigen Be­ stehens zusammen mit den überregionalen Mit­ gliedern Caritas Österreich, Diakonie Österreich, MOKI – Mobile Kinderkrankenpflege Österreich, Österreichisches Rotes Kreuz und Vinzenz Grup­ pe gemeinsame Forderungen in einem Presse­ frühstück der Öffentlichkeit vor. Die Forderungen formulieren einleitend die Vision3 und schließen vor allem im letzten Absatz Trauer mit ein:

Wir haben die Vision, dass unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, Einkommen und Wohnort Erwachsene, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Österreich bei höchstmöglicher Lebensqualität bis zuletzt leben und in Würde sterben können, weil die abgestufte Hospiz- und Palliativversorgung ein selbstverständlicher und ausreichend öffentlich finanzierter Bestandteil des Sozial- und Gesundheitswesens ist. Wir haben die Vision, dass Menschen, die es brauchen, durch ein professionelles und gewachsenes Netzwerk in schwerer Krankheit, Sterben, Tod und Trauer unterstützt und begleitet werden. Wir haben die Vision, dass Hospiz und Palliative Care in allen Einrichtungen des Gesundheitsund Sozialwesens […] erfolgen kann, da die meisten Menschen in der Betreuung in diesen Einrichtungen sterben. Wir haben die Vision, dass schwerkranke Erwachsene, Kinder und Jugendliche und ihre Angehörigen in komplexen Situationen durch Angebote der spezialisierten Hospiz- und Palliativversorgung begleitet und betreut werden, die auf ihre spezifischen Bedürfnisse abgestimmt sind. Wir haben die Vision, dass schwere Krankheit, Sterben, Tod und Trauer von der Gesellschaft als Teil des Lebens wahrgenommen werden und dass in Österreich lebende Menschen in sorgende Gemeinschaften, in denen die Grundsätze von Hospiz und Palliative Care gelebt werden, eingebettet sein können.

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5 1 u m z u s e t z e n d e E m p f e h l u n g e n    7 1

Die Forderungen Auf Basis dieser Grundanliegen fordern die ge­ nannten Organisationen gemeinsam mit der Öster­ reichischen Palliativgesellschaft (OPG) die zügige Umsetzung der abgestuften Hospiz- und Palliativ­ versorgung, wie sie in den 51 Empfehlungen der Parlamentarischen Enquete-Kommission »Würde am Ende des Lebens« mit breitem politischen Kon­ sens im Nationalrat verabschiedet wurde. Folgende Maßnahmen müssen umgesetzt wer­ den, damit diese Visionen Wirklichkeit werden: • Die Zuständigkeit zwischen Bund, Ländern und Sozialversicherungsträgern sowie zwi­ schen den Sozial- und Gesundheitsberei­ chen muss geklärt werden. • Eine ausreichende öffentliche Finanzierung der Angebote der abgestuften Hospiz- und Palliativversorgung für Erwachsene sowie für Kinder und Jugendliche mit ihren Fa­ milien ist sicherzustellen. • Betroffene müssen einen rechtlichen An­ spruch auf Betreuungs- und Unterstützungs­ angebote erhalten. Dabei ist auf die speziel­ len Bedürfnisse von Kindern und Jugendli­ chen mit lebensverkürzenden Erkrankungen und ihren Familien ein besonderes Augen­ merk zu legen. • Für die Hospiz- und Palliativversorgung in allen Settings ist die Ausbildung qualifi­ zierter haupt- und ehrenamtlicher Mitarbei­ ter/-innen zu garantieren. • Adäquate Aus-, Fort- und Weiterbildungs­ angebote in Hospiz und Palliative Care sind für alle in der Betreuung schwerkranker und sterbender Erwachsener, Kinder und Ju­ gendlicher tätigen Berufsgruppen (Ärzte/ Ärztinnen, Pflegepersonen, Mitarbeiter/-in­ nen in psychosozialen Berufen etc.) festzu­ legen und zu fördern. • Autonomie und Selbstbestimmung der Men­ schen am Lebensende müssen bestmöglich gefördert werden.

• Unterstützungsangebote für pflegende und trauernde Angehörige aller Altersgruppen müssen bedarfsgerecht erweitert und ge­ schaffen werden. • Ebenso müssen Ehrenamtlichkeit/Freiwil­ ligkeit gefördert werden, Caring Commu­ nities entwickelt und Forschungsvorhaben im Bereich Hospiz und Palliative Care do­ tiert werden. Wie eine Umsetzung solcher Maßnahmen jeweils konkret aussehen könnte, muss noch in Gesprä­ chen abgestimmt werden. Spezifische Forderungen zu Trauer und Trauerbegleitung In zwei Punkten sind die Forderungen spezifisch auf Trauer und Trauerbegleitung bezogen. Es geht um Ausbildung und die gesamte Zivilgesellschaft im Sinn einer Caring Community: 1. Die Aus-, Fort- und Weiterbildung der ehrenamtlichen Hospizbegleiter/-innen gemäß den österreichweiten Curricula von Hospiz Österreich sind öffentlich zu finanzieren beziehungsweise zu fördern. Diese Curricula umfassen auch die in der Bundes­ arbeitsgemeinschaft Trauerbegleitung (BAT) er­ arbeiteten Curricula zur Befähigung zur Trauerbe­ gleitung, die auch, aber nicht nur, für ehrenamtliche Hospizbegleiter/-innen entwickelt wurden. 2. Sorgende Gemeinschaften, sogenannte Car­ ing Communities, die das zivil­gesell­schaft­­liche Engagement in der Sorge insbesondere im Alter und am Lebensende fördern, indem sie Netzwerke und Austauschmöglichkeiten bilden und Informationen bereitstellen, müssen unterstützt werden. Unterstützungsangebote für pflegende und trau­ ernde Angehörige aller Altersgruppen müssen

Tr a u e r Po l i t i k

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erweitert werden. Der Umgang mit den Themen »schwere Krankheit, Sterben, Tod und Trauer« muss in Kindergärten, Schulen und am Arbeits­ platz Raum finden. Das kann durch Aus- und Weiterbildung geschehen und durch erfolgrei­ che Projekte wie »Hospiz macht Schule«. Diese und ähnliche Projekte müssen finanziell unter­ stützt werden. Der Vollständigkeit halber sei auch erwähnt, dass besonders Maßnahmen, die sich dem The­ ma »Trauer am Arbeitsplatz« widmen, ein gro­ ßes Echo finden und gefördert werden sollten. Ebenso sind Möglichkeiten wie Familienhospiz­ karenz auf den finanziellen Aspekt bezogen noch ausbaufähig.

zialversicherung vertreten sind, hat den Auftrag zur Mitarbeit an der Entwicklung einer Regelfi­ nanzierung. Die österreichische Bundesregierung hat in ihrem Programm für die Hospiz- und Pal­ liativversorgung den weiteren Ausbau der Kapa­ zitäten und die Überführung in eine nachhalti­ ge und effektive Finanzierung ab dem Jahr 2022 festgeschrieben. Waltraud Klasnic ist Präsidentin des Dachverbands Hospiz Österreich in Wien. E-Mail: [email protected] © Studio Fischer, Graz

Mag.a Leena Pelttari, MSc (Palliative Care) ist Geschäftsführerin des Dach­ verbands Hospiz Österreich in Wien.

Fazit Wir sind davon überzeugt, dass ein Zugang zu guter und angemessener Hospiz- und Palliativ­ versorgung, sei es in ihren spezialisierten Formen oder in der Grundversorgung, viel zu einer gu­ ten Bewältigung der schwierigen Situationen bei schwerer Erkrankung, Sterben und Tod und der damit verbundenen Trauer beiträgt. Das Gefühl und die Erfahrung zu haben, nicht allein zu sein in dieser Zeit, dass jemand die Last mitträgt und sich kundig einsetzt für das, was noch getan oder gelassen werden kann, entlastet und hilft. Diese Unterstützung muss An- und Zugehörigen auch in der Zeit nach dem Tod der Patienten, der Pa­ tientin gewährt werden, wenn sie es wünschen. Insofern ist eine Umsetzung der Forderungen und Maßnahmen dringend notwendig, für die Schwerkranken und Sterbenden selbst und auch für all jene, die ihnen nahestehen. In verschärftem Maß gilt das, wenn Kinder, Jugendliche und jun­ ge Erwachsene mit ihren Familien betroffen sind. Wir arbeiten daran. Ausblick Das im Mai 2016 eingerichtete Hospiz- und Pal­ liativforum, in dem auch Bund, Länder und So­

E-Mail: [email protected] © Hospiz Österreich

Mag.a Anna Pissarek ist tätig in der Pro­ jektkoordination und Öffentlichkeits­ arbeit des Dachverbands Hospiz Öster­ reich in Wien. E-Mail: [email protected] © Hospiz Österreich

Anmerkungen 1

Wir weisen darauf hin, dass wir in diesem Beitrag uns ausschließlich auf Trauer in ihren vielfältigen Formen be­ ziehen, die nicht einer psychiatrischen oder vertieft psy­ chotherapeutischen Begleitung und Behandlung bedarf. Dass »komplizierte« Trauer einen ICD-Code erhalten wird, ist einerseits positiv für alle Betroffenen, die dann Hilfe erhalten können, andererseits stärkt es den bedenk­ lichen Trend zur Pathologisierung von Lebensbereichen. 2 Die Bundesarbeitsgemeinschaft Trauerbegleitung (BAT) wurde 2013 vom Kardinal-König-Haus, der Caritas der Erzdiözese Wien, dem Dachverband Hospiz Österreich, der österreichischen Caritaszentrale, der Österreichi­ schen Pastoralamtsleiter/-innen-Konferenz und dem Österreichischen Roten Kreuz ins Leben gerufen. Rain­ bows und das Hospizteam der ÖBR sind weitere Mitglie­ der. Die BAT will mittels Zusammenarbeit und gemein­ sam entwickelten Qualitätskriterien für eine Ausbildung in Trauerbegleitung österreichweit eine Basis für eine qualitätsvolle Begleitung Trauernder schaffen (siehe www. trauerbegleiten.at). 3 Vgl. https://www.hospiz.at/wordpress/wp-content/uplo ads/2019/02/Forderungen_mit_ueberregionalen_Mit­ gliedern_-2018_11_19_final.pdf (Zugriff am 07.02.2019).

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Krank oder nicht oder wie jetzt!? Zum Verhältnis der Krankenkassen zur Förderung von trauerbegleitenden Angeboten sowie zur Förderung von Qualifizierungsmaßnahmen in Trauerbegleitung

Norbert Mucksch Ein Beitrag zu dieser Fragestellung muss mit einer Feststellung beginnen, für die der Bundesverband Trauerbegleitung und der Deutsche Hospiz- und Palliativverband seit langem sehr entschieden ein­ treten: Trauer ist keine Störung, sondern Trauer ist, grundsätzlich betrachtet, die Lösung und eine heilende Kraft in einer Situation des Verlustes; damit ist Trauer zugleich Chance und Ressource, die allen Menschen als Fähigkeit zu eigen ist, die aber aufgrund besonderer (Todes-)Umstände in ihrer hilfreichen und lösenden Funktion einge­ schränkt sein kann. Diese Position entspricht der Grundhaltung der genannten großen Verbände und wehrt sich deutlich gegen jegliche Form einer Pathologisie­ rung von Trauer. Trauerbegleitung – Die Position der Krankenversicherer Auf Basis dieser Sichtweise argumentieren folge­ richtig auch die Krankenversicherer in Deutsch­ land, wenn sie sowohl die Finanzierung der Trauerbegleitung wie auch die finanzielle Förde­ rung von entsprechenden Qualifizierungsmaß­ nahmen nicht als Bestandteil ihres Leistungska­ talogs ansehen. In der Systematik und Logik der Krankenversicherer besteht eine Leistungspflicht nur für Maßnahmen, die gezielt der Krankheits­ bekämpfung dienen. Im Umkehrschluss bedeu­ tet das, dass Trauerbegleitung nur dann als Leis­ tung der Krankenkasse in Frage kommen kann, wenn man Trauer als Krankheit definieren würde.

Förderung von Qualifizierungsangeboten Ähnlich verhält es sich im Hinblick auf die durch­ aus wünschenswerte, denkbare und anzustreben­ de Finanzierung von Weiterbildungen und Qua­ lifizierungen zur Trauerbegleitung. Der für die Sterbebegleitung wesentliche § 39a Abs. 2 SGB V, der auch die Förderung der Fort- und Weiterbil­ dung sowohl der ehrenamtlichen wie auch der hauptamtlich Mitarbeitenden regelt, erlaubt kei­ ne Anwendbarkeit auf das unzweifelhaft wich­ tige Tätigkeitsfeld der Trauerbegleitung. Nach gegenwärtigem Stand lässt sich aus den gesetz­ lichen Vorgaben des SGB V ausschließlich und ohne Ausnahme eine Finanzierung von Weiter­ bildungsangeboten für das Tätigkeitsfeld Ster­ bebegleitung herleiten. Die Möglichkeit der Fi­ nanzierung von Qualifizierungen im Bereich Trauerbegleitung ist bis dato auf diesem Weg ein­ deutig nicht gegeben. Es stellt sich an dieser Stel­ le die Frage, ob eine Förderung allein durch die Krankenversicherer erstrebenswert ist. Wer ist der richtige Ansprechpartner? – Die Rolle der Politik Denkt man in dieser Konsequenz weiter, dann muss der Adressat für diesen Wunsch nach fi­ nanzieller Förderung von trauerbegleitenden An­ geboten ein anderer sein. Und an dieser Stelle kommt die Politik ins Spiel, die sich als Legislati­ ve, aber auch in ihrer Funktion als Meinungsbild­ nerin dieses Themas annehmen kann und meines

m.schröer

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Erachtens auch muss. Es gibt gewichtige gesund­ heits- und gesellschaftspolitische Argumente, dies konkret und alsbaldig zu tun. Die gesundheitspolitische Perspektive Zunächst zum gesundheitspolitischen Aspekt: In diesem Zusammenhang sei an den Präven­

tionsgedanken erinnert, ohne damit die Fähigkeit zur Trauer doch noch, quasi durch die Hinter­ tür, mit dem Krankheitsbegriff belegen zu wol­ len. Trauerbegleitung und vor allem die durch Hospizeinrichtungen getragene und angebotene kollegiale Beratung und Supervision, die fachli­ che Reflexion ermöglichen, stecken schon längst nicht mehr in den Kinderschuhen. Zahlreiche Er­

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K r a n k o d e r n i c h t o d e r w i e j e t z t ! ?    7 5

fahrungen aus diesem Feld machen deutlich, dass dieses überwiegend nicht kommerzielle, mensch­ lich-solidarische Angebot deutlich und wirksam dazu beiträgt, dass trauernde Menschen aus ihrer Einsamkeit und Isolation herauskommen und die Erfahrung machen dürfen, dass sie mit ihrem schweren Thema gehört, wertgeschätzt und ver­ standen werden. Die Studie »TrauErleben« der Hochschule Ravensburg-Weingarten aus dem Jahr 2013 mit Befragung von 680 Trauernden und 319 Trauerbegleitenden hat eindrucksvoll belegt, dass Trauerbegleitung eine nachweisbare Wirkung hat, aber auch, dass Trauerbegleitende besondere Kompetenzen mitbringen sollten, vor allem in den Bereichen innere Haltung, Methodik, Selbstreflexion und Gesprächsführung. Damit sind zentrale Inhalte benannt, die fester Bestand­ teil in den Curricula für Trauerbegleitende sind. Gesellschaftspolitische Aspekte Was aber ist aktuell erstrebenswert in diesem wei­ ten Feld? Nach meiner Einschätzung überwiegen die gesellschafts- vor den gesundheitspolitischen Aspekten. Legislative Reformen in der Gesund­ heitspolitik anzustreben, kann im Sinne der ein­ gangs angeführten Argumentation dazu führen, dass es ungünstigenfalls zu sehr starren gesetzli­ chen Regelungen kommt, die wenig Spielräume lassen und einen nicht unerheblichen administ­ rativen Aufwand mit sich bringen. Darüber hin­ aus besteht hier auch das Risiko, dass Trauer all­ zu sehr mit dem Begriff »Störung« in Kontakt kommt. Im Bereich der Prävention hingegen sehe ich Möglichkeiten, die aber sehr gut abgewogen sein und in klarer Abgrenzung zum Krankheits­ begriff stehen müssen. Für eine Kultur der Trauer Trauer als vor allem gesellschaftspolitische Auf­ gabe zu sehen und die in Deutschland langsam wieder erstarkende Trauerkultur und deren Erhalt und Weiterentwicklung als gesamtgesellschaftli­

che Aufgabe zu betrachten, scheint mir der be­ deutsamere und weitreichendere Ansatzpunkt zu sein. Nach vielen Jahrzehnten der verbreite­ ten »Unfähigkeit zu trauern« (Mitscherlich und Mitscherlich 1969) hat sich nicht zuletzt durch das Wirken ungezählter Hospizinitiativen mit ihren Trauerbegleitungsangeboten eine verbin­ dende Akzeptanz entwickelt, die intensiv auf so­ lidarischem Tun beruht und ohne Zweifel einen großen Wert in sich darstellt. Zwei Aspekte sind hier zu benennen: zum einen die für viele trau­ ernde Menschen hilfreichen Angebote, die dazu beitragen, dass Trauernde aus der Isolation und Einsamkeit in soziale Bezüge zurückfinden, die ihnen behilflich sein können, mit dem erlittenen Verlust zu leben; zum anderen das breit gestreute soziale Ehrenamt, welches in einer immer mehr auseinanderbrechenden Gesellschaft ein glaub­ würdiges und intensives Gegenbeispiel setzt und als sozialer Kitt wirkt. Kitt stabilisiert, er hält Dinge zusammen. Wenn eine Bewegung wie die Hospizbewegung und mit ihr die zahlreichen Trauerbegleitungs­ initiativen mit vielen Engagierten in der Gesell­ schaft tätig ist, dann kann Politik nicht umhin, dieses stabilisierende Engagement nicht nur an­ erkennend wahrzunehmen, sondern sie muss eine solche breite soziale Initiative auch fördern, ideell wie auch finanziell. Und dabei geht es um mehr als die an sich schon wichtige Förderung des sozialen Ehrenamts allgemein. Es geht auch um die Förderung einer Bürgerbewegung, die zu einer der größten in der Geschichte der Bundes­ republik gehört. Und diese Bewegung handelt in Zeiten erstarkender nationalistischer, fremden­ feindlicher und rassistischer Tendenzen zutiefst integrativ und verbindend. Sterbe- und Trauerbegleitung als inklusives Handeln Die Hospizbewegung mit ihren beiden Aufga­ benbereichen (Sterbe- und Trauerbegleitung) ist in Zeiten einer oftmals zerrissenen Gesell­

Tr a u e r Po l i t i k

7 6   N o r b e r t M u c k s c h

schaft mit Spaltungs- und Ausgrenzungstenden­ zen somit eine zutiefst inklusive Akteurin. Das ist nicht der Hauptgrund für den Appell an die politisch Verantwortlichen, das Engagement von Trauerbegleitenden zu unterstützen. Es ist aber ein Aspekt, der an dieser Stelle Erwähnung fin­ den muss. Die nächsten Schritte 1. Ohne den Wert der angeführten Studie »TrauErleben« zu schmälern, scheint es mir wichtig, eine aktuelle wissenschaftliche Stu­ die auf den Weg zu bringen, die noch breiter angelegt sein sollte. 2. Vermutlich braucht es mittelfristig eine bun­ desweite Stiftung zur weiteren Förderung der Trauerkultur in Deutschland. 3. Wünschenswert wäre es, wenn sich auf Bun­ desebene (politisch) entweder ein bestehen­ der Arbeitskreis speziell dieses Anliegens annehmen oder sich ein entsprechendes Gremium konstituieren würde, um dem Anliegen Gewicht zu verleihen. 4. Ein Schwerpunkt bei der Realisierung wäre sinnvoll: Auch im Sinne der Stärkung des Ehrenamts sollte die Förderung der Quali­ fizierungsmaßnahmen zur Trauerbegleitung zunächst Vorrang haben vor der Förderung der Trauerbegleitung selbst. Qualifizierte Fortbildung wird von den Ehrenamtlichen selbst zumeist als Gratifikation empfunden und kann so zu einer größeren Attraktivität des Ehrenamtes beitragen. Erste Signale Erste Signale, wie eine solche Förderung jenseits oder auch ergänzend zu einer Finanzierung durch die Krankenversicherungen aussehen könnte, hat im vergangenen Jahr das Bundesland Baden-­ Württemberg gesetzt. Im Rahmen des Aktions­ plans »Hospiz- und Palliativversorgung« stärkt das Landesministerium für Soziales und Inte­

gration fünf Schwerpunkte in der Hospiz- und Palliativversorgung mit einem Volumen von ins­ gesamt 1,3 Millionen Euro, darunter die Förde­ rung der Trauerbegleitung mit bis zu 700 Euro pro Weiterbildungskurs. In der Begründung des Landes­ministeriums heißt es: »Trauerbegleitung zielt darauf ab, Menschen in einer schwierigen Lebensphase zu unterstützen und zu stabilisie­ ren, um damit vor Krankheiten wie z. B. Depres­ sionen zu bewahren.«1 Ende Februar 2019 hat das niedersächsische Sozialministerium verlautbart, dass es für den Bereich Trauerbegleitung immer­ hin 100.000 Euro zur Verfügung stellen wird. Da­ bei geht es um die Unterstützung ehrenamtlicher Arbeit im Bereich Trauerbegleitung. Die Initiativen in Baden-Württemberg und Niedersachsen machen deutlich, dass es eine zu­ nehmende Wahrnehmung der gesellschaftlichen Bedeutung von Trauerbegleitung bereits gibt; Trauerbegleitung ist, wie die niedersächsische Sozialministerin Carola Reimann in der Presse­ erklärung betont hat, »ein elementarer Bestand­ teil der Sterbebegleitung«. Es bleibt zu wünschen, dass auch andere Landesregierungen diesen Bei­ spielen folgen. Der Anfang ist gemacht. Norbert Mucksch, Diplom-­Theo­loge, Diplom-Sozial­arbeiter, Pastoral­psycho­ loge (DGfP), ist Fachbereichsleiter »Sterbe- und Trauerbegleitung« an der Kolping-Bildungsstätte Coesfeld/Heim­ volkshochschule und Lehrbeauftragter an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Münster. Darüber hinaus ist er tätig als Berater, Fortbild­ ner, Moderator und als Supervisor (DGSv). Er ist Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes Trauerbegleitung (BVT). Literatur Mitscherlich, A., Mitscherlich, M. (1967). Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München. TrauErleben (2013). http://www.projekt-trauerleben.de/Wir­ kungen  der  Trauerbegleitung.pdf  (Zugriff am 25.01.2019). Anmerkung 1 https://stm.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/ pressemitteilung/pid/land-staerkt-hospiz-und-palliativ­ versorgung (Zugriff am 26.02.2019). Vgl. dazu auch den Beitrag von Susanne Haller in diesem Heft (Verbands­ nachrichten, S. 100 f.).

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Peer Support nach dem Schusswechsel Tod und Trauer im Polizeiberuf

Elisabeth Schneider Polizisten und Polizistinnen sind in ihrem Be­ rufsalltag oft mit dem Tod konfrontiert, zu­ mal Todesfälle unter gewissen Umständen zum Gegenstand exekutiven Einschreitens werden können – wie beispielsweise tödliche Gewalt­ delikte, (Verkehrs-)Unfälle, Suizide, Suchtgift­ todesfälle oder plötzliche Kindstode. Auch das Überbringen von Todesnachrichten gehört zu den Aufgaben der Polizei – und stellt eine der am meisten belastenden Tätigkeiten für die Kol­ legen und Kolleginnen dar. Eines der zentralen Themen in diesem Zusammenhang ist der (le­ bensgefährdende) Waffengebrauch, der letztlich zur Entwicklung des Betreuungssystems in der österreichischen Exekutive beigetragen hat. Die Polizei ist somit eine jener Berufsgrup­ pen, die den Tod nicht nur aus Film und Fern­ sehen kennt, wo er allgegenwärtig und doch weit weg ist, sondern aus dem Alltag – wo er in seiner realen Gestalt für die meisten Menschen nahe­ zu unsichtbar bleibt. Die Begegnung mit dem Tod im polizeilichen Alltag hat viele Facetten und geht an den meis­ ten nicht spurlos vorüber. Der Umgang mit Si­ tuationen eigener Bedrohung sowie jenen Men­ schen, die vom Tod »betroffen« sind, berührt viele selbst in ihrem Innersten. Aus all diesen Gründen haben Einsatzkräfte und andere (Erst-) Helfer/-innen ein gewisses Risiko sekundärer oder indirekter Traumatisierung, selbst wenn sie aufgrund ihrer Rolle, ihrer Ausbildung und ihrer Erfahrungen auf die Konfrontation mit Tod und Leid bis zu einem gewissen Grad vor­ bereitet sind.

Kollegen/Kolleginnen unterstützen Kolleginnen/Kollegen Zu den Aufgaben des Psychologischen Dienstes des Bundesministeriums für Inneres (kurz: BMI) gehört in diesem Zusammenhang die Unterstüt­ zung und Beratung von Kollegen und Kollegin­ nen nach belastenden Ereignissen sowie die Lei­ tung und Koordination des Peer Support. Dieses Unterstützungssystem basiert auf der Idee der Kollegenhilfe und ist in der österreichischen Poli­ zei seit den 1990er Jahren etabliert, damals noch vor dem Hintergrund einer Post-Shooting-Betreu­ ung. Der (lebensgefährdende) Waffengebrauch und die damit verbundene Betreuung von Polizis­ ten und Polizistinnen, die aufgrund einer Bedro­ hungssituation von ihrer Schusswaffe Gebrauch machen, einen anderen Menschen dabei viel­ leicht verletzen oder sogar töten mussten, war die Grundlage für das vom Psychologischen Dienst gemeinsam mit den damaligen Gruppen Bun­ despolizei und Bundesgendarmerie im BMI ini­ tiierte Betreuungssystem innerhalb der österrei­ chischen Polizei. Unter anderem basierend auf den Erkennt­ nissen amerikanischer Forscher/-innen, die sich mit den Auswirkungen von Combat-Stress sowie Stress von Katastrophenhelfern und -helferinnen beschäftigten und feststellten, dass bei Polizis­ ten, die in Schießereien verwickelt waren, ähn­ liche Reaktionen auftreten können, wurden zu Beginn der 1990er Jahre österreichische Polizis­ ten (damals ausschließlich männliche Kollegen), die bei einem Schusswaffengebrauch einen Men­ schen getötet oder schwer verletzt hatten, vom Psychologischen Dienst des BMI zu einem Erfah­

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beispielsweise in Deutschland als SbE (Stressbe­ arbeitung nach belastenden Ereignissen) oder beim Österreichischen Roten Kreuz unter SvE (Stressverarbeitung nach belastenden Einsätzen). Der heutige Peer Support in der österreichi­ schen Exekutive basiert auf all diesen Erfahrun­ gen und Erkenntnissen; die Umbenennung von »Post Shooting« zur – frei übersetzt – »Kollegen­ unterstützung« sollte auch die Tatsache abbilden, dass die Bandbreite an möglichen Themen und Belastungen, die sich aus dem polizeilichen All­ tag ergeben können, groß und nicht nur auf einen lebensgefährdenden Waffengebrauch beschränkt ist.

kallejipp / photocase.de

rungsaustausch eingeladen. Die Erlebnisse die­ ser Beamten bildeten schließlich die Grundlage für den Aufbau der Post-Shooting-Betreuung und auch für den Peer Support. Die zugrundeliegen­ de Struktur orientierte sich dabei sehr stark an dem von George S. Everly und Jeffrey T. Mitchell entwickelten Modell des Critical Incident Stress Management (CISM; Everly und Mitchell, 2001), einem aus verschiedenen Interventionsformen bestehenden Maßnahmenpaket für Einsatzkräfte mit dem Zweck der Vorbeugung möglicher Spät­ folgen nach belastenden Einsätzen. Vergleichbare Nachsorgemodelle für Einsatzkräfte finden auch in anderen Bereichen und Ländern Anwendung,

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Pe e r S u p p o r t n a c h d e m S c h u s s w e c h s e l    7 9

Getragen wird dieses Unterstützungssystem von sogenannten Peers, also speziell ausgebildeten und qualifizierten Polizeibeamten und -beamtin­ nen, die sich freiwillig zur Verfügung stellen und die Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen als Zusatzaufgabe zu ihrer eigentlichen Tätigkeit wahrnehmen. Im Zuge einer Interessenten­suche werden die geeignet erscheinenden Bewerber/-in­ nen vom Psychologischen Dienst des BMI so­ wie von erfahrenen Peers ausgewählt und in einer dreiwöchigen Grundschulung auf die neue Auf­ gabe vorbereitet. Die Themen der Ausbildung sind vielfältig. Psychologische Grundlagen der Wahrnehmung und Persönlichkeitspsychologie sowie Kenntnisse über Stress, Stressmanagement und Psychotraumatologie gehören ebenso dazu wie allgemeine und spezielle Formen der Kom­ munikation sowie verschiedene Interventionsfor­ men und andere Spezialthemen. Zusätzlich zum Wissenserwerb stehen Selbsterfahrung, prakti­ sche Übungen und die Thematisierung von Gren­ zen im Fokus. Die Peers und Polizeipsychologen/-psycholo­ ginnen stehen ihren Kollegen als kompetente und vertrauliche Ansprechpartner/-innen nach be­ lastenden Erlebnissen zur Verfügung. Wichtig ist, dass dieses System auf Erstmaßnahmen und -gespräche sowie kurzfristige Begleitungen auf­ gebaut ist. Ist der Bedarf erkennbar größer, als er von einem Peer geleistet werden kann, oder erscheint eine psychologische Behandlung oder Psychotherapie angebracht, unterstützen die Peers bei der Suche nach einem geeigneten Profi. Die Stärke des Peer-Systems erwächst dar­ aus, dass Peers und Betroffene aus dem gleichen beruflichen Umfeld kommen, dieselbe Sprache sprechen und ähnliche berufliche Erfahrungs­ hintergründe haben. Die fachliche Leitung und Unterstützung der Peers sowie deren Aus- und Fortbildung werden von Klinischen und Gesund­ heitspsychologen/-psychologinnen des Psycholo­ gischen Dienstes des BMI wahrgenommen. Unter Einsatzkräften wurden das Eingestehen von Ängsten und das Sprechen über Belastungen

lange Zeit als Schwäche empfunden – »als Poli­ zist/-in muss man das aushalten«; eine Einstel­ lung, die wahrnehmbar seltener wird. Im Jahr 2018 wurden weit über 500 Polizisten und Poli­ zistinnen in Einzel- oder Gruppensettings unter­ stützt. Im Jahr 2000 waren es noch 124 Beamte und Beamtinnen. Die Zahlen unterliegen in Ab­ hängigkeit von den Ereignissen naturgemäß ge­ wissen Schwankungen. Dennoch ist ersichtlich, dass Akzeptanz und Annahme stetig wachsen. Um manchen Vorbehalten, die zuweilen auch aus Unwissenheit resultieren, zu begegnen, ist Information die wichtigste Strategie. Seit vie­ len Jahren wird daher über potenzielle Belas­ tungen im Polizeidienst sowie die zur Verfügung stehenden Unterstützungsmöglichkeiten infor­ miert, sowohl in der polizeilichen Grundausbil­ dung als auch in internen Aus- und Fortbildun­ gen. Ein weiterer wesentlicher Faktor, um die Akzeptanz weiter zu erhöhen, ist schließlich die Mundpropaganda – von jenen Kolleginnen und Kollegen, die den Peer Support in Anspruch ge­ nommen haben und die positiven Erfahrungen weitergeben. Elisabeth Schneider ist Leiterin des Referats für Psychologische Fachausbil­ dung, Notfall- und Traumapsychologie beim Psychologischen Dienst des Bun­ desministeriums für Inneres in Wien. © BMI-Weisheimer 2014

E-Mail: [email protected]

Literatur Andreatta, M. P. (2006). Erschütterung des Selbst- und Welt­ verständnisses durch Traumata. Auswirkungen von pri­ märer und sekundärer Traumaexposition auf kognitive Schemata. Kröning. Everly, G. S., Mitchell, J. T. (2001). CISM  – Stressmanage­ ment nach kritischen Ereignissen. Wien. Küfferle, M., Walter, P. (1994). Nach dem Schusswaffen­ gebrauch. »Posttraumatische Belastungsreaktion« und »Post-Shooting-Trauma« bei Exekutivbeamten. In: Öf­ fentliche Sicherheit 3/94, S. 35–38. Schönherr, C., u. a. (2005). Belastungen und Stressverarbei­ tung bei Einsatzkräften. Aktuelle Forschungsergebnis­ se der Arbeitsgruppe Notfallpsychologie der Universität Innsbruck. Innsbruck. Trappe, T. (2012). Die Polizei und der Tod. Geschichten und Gedanken zu einer Über-Lebens-Frage. Frankfurt a. M.

Tr a u e r Po l i t i k

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Wenn die Krisen anderer zu Krisen im eigenen Job führen Vom Umgang mit Schienensuiziden

Anna Daimler

Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit Ihrem Auto mit hoher Geschwindigkeit durch die Nacht, Sie sind allein im Fahrzeug. Plötzlich sehen Sie jemanden vor Ihr Auto springen. Sie bremsen – aber Sie wis­ sen auch, dass Sie nicht mehr rechtzeitig stehen­ bleiben werden. Für viele Triebfahrzeugführer/-innen ist die­ se Situation leider Teil ihres beruflichen Alltags. Nur sind sie nicht mit dem eigenen PKW unter­ wegs, sondern mit einer tonnenschweren Lok. Und sie sind nicht nur für sich selbst verantwort­ lich, sondern auch für das sichere Abstellen des Fahrzeuges und in vielen Fällen de facto für die Fahrgäste im Zug. Pro Jahr finden in Österreich laut Sicherheits­ untersuchungsstelle des Bundes rund 90 Suizide und Suizidversuche auf Eisenbahn- und U-Bahn­ gleisen statt. Neben Suiziden kommt es vor allem an Eisenbahnkreuzungen nicht selten zu Unfällen mit Schwerverletzten und Toten. Autos oder Fuß­ gänger/-innen überqueren die Gleise und werden dabei von einem Schienenfahrzeug erfasst. Oder es befinden sich Personen auf Gleisen, die dort nichts zu suchen haben. In Summe kamen 2017 auf diese Weise in Österreich laut Sicherheits­ bericht der Sicherheitsuntersuchungsstelle des Bundes 20 Personen ums Leben, weitere 30 wur­ den schwer verletzt. In allen diesen Fällen erlebt das Bahnpersonal – neben den Lokführern/Lokführerinnen oft auch die Zugbegleiter/-innen, die Fahrdienstleiter/

Iwan Wassiljewitsch Kljun, Futuristische Lokomotive, 1914 / akg-images

We n n d i e K r i s e n a n d e r e r z u K r i s e n i m e i g e n e n J o b f ü h r e n    8 1

Tr a u e r Po l i t i k

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-innen, das Reinigungspersonal oder die Not­ fallkoordinatorinnen/-koordinatoren – sehr be­ lastende Situationen, in denen sie häufig einen sicheren Zugbetrieb gewährleisten, die Rettungs­ kette in Gang setzen, Fahrgäste in Sicherheit brin­ gen sowie deren Weiterreise organisieren, Ver­ letzte erstversorgen und Angehörige betreuen müssen. Traumatische Erlebnisse dieser Art kön­ nen zu akuten Belastungsreaktionen führen und posttraumatische Belastungsstörungen hervor­ rufen. Politische Forderungen … Die Gewerkschaft vida ist der Meinung, dass der Arbeitgeber hier eine Fürsorgepflicht für die Be­ schäftigten in Eisenbahnunternehmen hat. Wir wollen, dass es klare Regelungen für die gesam­ te Branche gibt: • Wer ein solches Ereignis miterlebt hat, der soll von jeglicher Arbeitsleistung für zumin­ dest 72 Stunden freigestellt werden. • Es muss in der ganzen Branche eine entspre­ chende psychologische Akutbetreuung vor Ort geben. • Der Transport der Mitarbeiter/-innen von der Unfallstelle nach Hause oder zur Dienst­ stelle muss sichergestellt werden. • Die Freistellung von der Arbeit mit Entgelt­ fortzahlung muss geregelt werden. • Die Nachbetreuung der Betroffenen muss si­ chergestellt werden – im Güterverkehr und im Personenverkehr. Es reicht nicht aus,

wenn die Kolleginnen und Kollegen nach einem Vorfall einfach in den Krankenstand gehen und allein mit den Bildern im Kopf fertig werden müssen. Wir sind der Meinung, dass niemand, der solch traumatische Ereignisse meistern muss, gleich wieder für Güter und Personen verantwortlich sein soll. Wer einmal einen schweren Unfall mit einem PKW miterlebt hat, der versteht auch so­ fort, warum. In diesem Schockmoment Züge mit mehreren tausend Tonnen weiter zu lenken, hal­ ten wir für gefährlich. … und deren Umsetzung Die Gewerkschaft vida sieht grundsätzlich drei Umsetzungsebenen: Die betriebliche Ebene Über Betriebsvereinbarungen zwischen Betriebs­ rat und Unternehmen können klare Regelungen zur Vorgehensweise bei traumatischen Erlebnis­ sen dieser Art geschaffen werden. Die kollektivvertragliche Ebene Zwischen Arbeitgebervertretung, also der Wirt­ schaftskammer, und Arbeitnehmervertretung, also der Gewerkschaft, können im Kollektivver­ trag branchenweite Regelungen vereinbart wer­ den. Auf gesetzlicher Ebene Um branchenweite Regelungen mit Vorbildcha­ rakter in Österreich und in weiterer Folge in der gesamten Europäischen Union zu schaffen, ist eine gesetzliche Regelung sicherlich die beste Ba­ sis. Die Gewerkschaft vida hat daher Verkehrs­ minister Norbert Hofer und Sozialministerin Hartinger-Klein bereits dazu aufgefordert, gesetz­ liche Vorkehrungen für die gesamte Branche zu

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treffen. Bei der nächsten gesetzlichen Anpassung kann die Regelung schon umgesetzt werden, ein entsprechender Formulierungsvorschlag wurde von vida bereits vorgelegt. Krisenintervention in der ÖBB Innerhalb des ÖBB-Konzerns (Österreichische Bundesbahnen) hat sich die Belegschaftsvertre­ tung für eine wirksame Krisenintervention stark gemacht. Gemeinsam mit dem Unternehmen wurde ein gut funktionierendes System erarbeitet. In Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz werden die Kollegen und Kolleginnen durch Notfallinter­ ventionsteams betreut. Gerhard Cecil, der Leiter der Notfallinterventionsteams, beschreibt die He­ rausforderungen: »Außergewöhnliche Ereignisse, wie zum Beispiel Suizide im Gleisbereich, Unfäl­ le auf Eisenbahnkreuzungen, körperliche Über­ griffe oder Naturereignisse, treten plötzlich und unerwartet ein. Der übliche Ablauf des Alltags wird schlagartig unterbrochen.« Der Anblick von Zerstörung, das Verhalten von Verletzten erschreckt und kann oft nicht rich­ tig verarbeitet werden. Eine Schockreaktion ist normal und sehr belastend. Um die Auswirkun­ gen von derart belastenden Situationen möglichst gering zu halten, haben die Österreichischen Bundesbahnen bereits seit 1997 ein Laienhelfer­ system zur psychosozialen Betreuung von Mit­ arbeiterinnen und Mitarbeitern aufgebaut, die durch außergewöhnliche Ereignisse oder deren Folgen traumatisiert wurden. Diese nicht extra entlohnte Aufgabe übernehmen Kolleginnen und Kollegen vom Notfallinterventionsteam der ÖBB (NIT), die aus demselben beruflichen Um­ feld kommen (Lokführer betreuen Lokführer). Um eine lückenlose Betreuung der betroffenen Kolleginnen und Kollegen sicherzustellen, arbei­ tet das Notfallinterventionsteam der ÖBB sehr eng mit dem Kriseninterventionsteam des Ro­ ten Kreuzes zusammen. Dabei kommt das Kri­ seninterventionsteam des Roten Kreuzes in der ersten Schockphase direkt an den Unfallort. Das

NIT startet mit der weiteren Betreuung spätestens 24 Stunden später. Diese Betreuung wird sehr gut angenom­ men. Kolleginnen und Kollegen werden auch in schwierigen Stunden nicht allein gelassen. Die psychologische Hilfe muss rasch und aktiv ein­ setzen, entlasten und stabilisierend wirken. Wich­ tig ist, dass die Betroffenen nicht allein gelassen werden. Eine Betreuung und Begleitung durch die schwierige Situation ist für den Verarbeitungspro­ zess wichtig. »Wir geben zunächst dem Schock und den unterschiedlichsten Gedanken Raum, aktivieren eigene Ressourcen und Kompeten­ zen, damit die Betroffenen die Situation bewäl­ tigen können. Dadurch wird persönliches Leid gemindert und die traumatische Situation bes­ ser verarbeitet. Die Arbeitsfähigkeit wird deut­ lich schneller wiederhergestellt«, erläutert Ger­ hard Cecil. Das System NIT hat national, aber auch international Vorbildwirkung. Anna Daimler hat in Wien Betriebs­ wirtschaft und Soziale Arbeit studiert. Seit 2007 ist sie bei der Gewerkschaft vida tätig, derzeit Fachbereichssekretä­ rin des Fachbereichs Eisenbahn mit dem Schwerpunkt Interessenvertretung der © Gewerkschaft vida Beschäftigten im Eisenbahn- und Seil­ bahnwesen. 2016–2018 war sie im Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie. E-Mail: [email protected]

Betroffene können sich jederzeit an ihren Betriebsrat vor Ort oder direkt an die Gewerkschaft vida ([email protected]) wenden.

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Krisenintervention für Mitarbeiter – KIMA Psychologische Stabilisierung nach kritischen Ereignissen

Clemens Hausmann Von Pflegepersonen und anderen Mitarbeiterin­ nen und Mitarbeitern im Gesundheitswesen wird erwartet, auch in schwierigsten Situationen pro­ fessionell zu handeln und diese psychisch zu be­ wältigen. Situationen, die für andere Menschen außerhalb ihres täglichen Erfahrungshorizonts liegen, werden normal. Manche Notfälle über­ steigen jedoch die kritische Marke der erprobten Handlungsmöglichkeiten. Solche kritischen Er­ eignisse liegen außerhalb dessen, was selbst im er­ weiterten beruflichen Bezugsrahmen normal ist. Ein kritisches Ereignis ist ein potenziell trau­ matisches Einzelereignis, das die professionelle Bewältigungs- und Anpassungsfähigkeit des oder der Betroffenen in hohem Maß beansprucht, in manchen Fällen auch überfordert. Kritische Ereignisse sind • extrem (weit außerhalb des erweiterten Be­ zugsrahmens), zum Beispiel der plötzliche/ dramatische Tod eines Patienten, qualvolles Leid einer Patientin, ohne Möglichkeit zu helfen; ein schwerverletztes/misshandeltes/ sterbendes Kind, Suizid oder Suizidversuch eines Patienten, mögliches schuldhaftes Ver­ halten, gravierende Anschuldigungen; • ähnlich (persönliche Bekanntschaft, Ähn­ lichkeit zu privater Situation), zum Beispiel die persönliche Bekanntschaft mit einem schwerverletzten/sterbenden Patienten, eine starke Ähnlichkeit eines schwerverletzten/ sterbenden Patienten mit einem oder einer eigenen Angehörigen; • gefährlich (realistische physische Gefahr), zum Beispiel ein Arbeitsunfall mit poten­ ziell gravierenden Folgen, eine Attacke oder realistische Bedrohung durch Patienten/An­

gehörige, eine gravierende Verletzung oder der Tod eines Kollegen/einer Kollegin. Kritische Ereignisse bewirken bei fast allen Be­ troffenen eine zumindest vorübergehende Be­ einträchtigung der psychischen und biologischen Funktionsabläufe. Bereits ein einzelnes kritisches Ereignis kann für die Betroffenen auf Tage und Wochen sehr belastend sein und auch langfristige psychische Folgen bedeuten. Häufige Reaktionen nach einem kritischen Ereignis sind: • • • • • • • • •

Erschöpfung, Müdigkeit, Gedächtnis-, Konzentrationsprobleme, Nervosität, Gereiztheit, Ärger, Wut, Konflikte, Unsicherheit, Traurigkeit, Angst, Schuldgefühle, Grübeln, sozialer Rückzug, belastende Erinnerungen und innere Bilder, Schlafstörungen, Albträume.

Unterstützung nach einem kritischen Ereignis er­ folgt am besten rasch und niederschwellig. (Ohne Vorbereitung ist sie leider oft improvisiert, un­ strukturiert und zu kurz.) Sie sollte organisato­ risch klar geregelt und in die internen Abläufe des Krankenhauses oder Heims integriert wer­ den. Dazu ist es wichtig, dass die Unterstützung von der obersten Leitung gewünscht und von den Führungskräften ermöglicht wird. Drei Ebenen der Unterstützung Seit 2013 steht im Kardinal-Schwarzenberg-Kli­ ni­kum (Schwarzach im Pongau, Österreich) für

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alle Mitarbeiter/-innen ein dreistufiges Unter­ stützungssystem nach kritischen Ereignissen zur Verfügung (Hausmann 2016). Diese Kriseninter­ vention für Mitarbeiter (KIMA) basiert auf dem CISM-Konzept von Mitchell und Everly (2001) und greift internationale Erfahrungen in orga­ nisationsinterner Traumabewältigung auf (Rick O’Regan und Kinder 2006; Gröben 2011).

Ebene 3 In besonders schweren oder extremen Fällen kann die Unterstützung/Behandlung durch ex­ terne Traumatherapeutinnen/-therapeuten nötig sein. Die Vermittlung erfolgt über die Experten der Ebene 2. Eine begrenzte Anzahl von Einhei­ ten steht dem oder der Betroffenen unbürokra­ tisch zu Verfügung. Die Kosten dafür übernimmt der Arbeitgeber.

Ebene 1 Ebene 2 Ebene 3 Entlastungs­ gespräch unter Kollegen

psychologisches Stabilisierungs­ gespräch

fokussierte Traumatherapie

vertraute Kollegin

Notfallpsycholo­ gen, Ärzte inner­ halb des Hauses

externe Trauma­ therapeuten

innerhalb einiger Stunden

innerhalb einiger Tage

für Extremfälle

Ebene 1 Ein Entlastungsgespräch bietet eine rasche und niederschwellige Unterstützung. Es dauert zehn bis 15 Minuten und soll möglichst in den ersten Stunden nach dem kritischen Ereignis stattfinden. Die Führungskräfte oder das Team stellen dafür Zeit und Raum zur Verfügung. Ein Entlastungs­ gespräch kann grundsätzlich von allen Kollegen und Kolleginnen durchgeführt werden. In halb­ tägigen Schulungen werden möglichst viele Mit­ arbeiter/-innen des Hauses in der entsprechenden Gesprächsführung geschult (nicht nur einzelne Peers). Ziel ist es, alle Berufsgruppen und Abtei­ lungen zu erreichen. Ebene 2 Ein Stabilisierungsgespräch ist hilfreich, wenn ein Entlastungsgespräch nicht stattgefunden oder nicht ausgereicht hat. Hausinterne Notfallpsy­ chologen/-psychologinnen und Ärztinnen/Ärzte können über eine eigene Helpline oder persönlich kontaktiert werden. Sie führen in den Tagen nach dem kritischen Ereignis ein erstes Gespräch und klären den allfälligen weiteren Betreuungsbedarf.

Entlastungsgespräch unter Kollegen und Kolleginnen (KIMA-Ebene 1) Das Entlastungsgespräch mit einer Kollegin ist eine wesentliche Säule der Stabilisierung nach einem kritischen Ereignis. Es zielt darauf ab, emo­ tional und gedanklich wieder auf den Boden zu kommen und die berufliche Routine wiederauf­ zunehmen. Hilfreich ist vor allem: zuhören, In­ formationen geben und die nächsten Schritte be­ sprechen. Diese beziehen sich auf den weiteren Dienst sowie auf die ersten Stunden und Tage zu Hause. Nicht hilfreich ist: emotionale Aspekte be­ tonen, vorschnell trösten oder eigene Geschich­ ten erzählen. Wenn möglich, sollte das Gespräch noch in der Dienstzeit stattfinden oder zumindest bevor der oder die Betroffene von der Arbeit nach Hause fährt. Nötig sind dazu ein ungestörter Ort und 15 Minuten Zeit. Betroffene und Intervenierende sind für die Dauer des Gesprächs von sonstigen Tätigkeiten freigestellt. Kollegen und Vorgesetz­ te nehmen darauf Rücksicht. Falls Zeit und/oder Ort für ein Entlastungsgespräch nicht vorhanden sind, kann es zu einem späteren Zeitpunkt (etwa nach Dienstende) nachgeholt werden. Im Entlastungsgespräch werden drei Punk­ te besprochen: 1. Fakten: »Was ist passiert? Erzähl mir!«, »Was hast du als Nächstes getan?«, »Was ist dann passiert?« 2. Reaktionen: »Wie geht es dir jetzt?«, »Was geht dir im Kopf herum?«

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3. Nächste Schritte: »Was wird/soll als Nächstes passieren?«, »Was möchtest du jetzt tun?«, »Wie lange hast du heute Dienst?«, »Was hät­ test du heute noch vorgehabt?«

Situation erzählen konnte«, »dass ich mich ver­ standen gefühlt habe«.

Alle Mitarbeiter/-innen werden auf verschiedenen Kanälen informiert (Folder, Vorträge, Hauszeitung, Intranet), und es finden Schulungen zur konkreten Durchführung von Entlastungsgesprächen statt.

KIMA-Schulungen finden zwei- bis dreimal pro Jahr statt. 20 Prozent aller Mitarbeiter/-innen sind

Schulungen im Entlastungsgespräch

Empirische Ergebnisse zu KIMA Zur Überprüfung des Effekts von KIMA wur­ den in einer explorativen Querschnittstudie alle 1479 Mitarbeiter und 179 Pflegeschüler und -stu­ denten per Online-Fragebogen befragt (Fuchs 2018). 91 Prozent der Mitarbeiter kannten KIMA. Auf einer Schulnotenskala von 1 (sehr gut) bis 5 (nicht genügend) wurde KIMA mit durchschnitt­ lich 1,7 benotet. 18 Prozent kannten Angestellte, die KIMA in Anspruch genommen haben, 13 Pro­ zent hatten in den letzten sechs Monaten selbst ein Entlastungsgespräch (KIMA-Ebene 1) in An­ spruch genommen. Die Unterstützung wurde als »hilfreich« bis »sehr hilfreich« erlebt. Auf die Frage »Was hat sich durch das Ge­ spräch verändert?« nannten die Befragten vor allem: geringere Nervosität, emotionale Entlas­ tung und Kontrolle über die Situation. Als wich­ tigstes Ergebnis des Gesprächs wurde genannt: Verbesserung der Befindlichkeit, wieder arbeits­ fähig werden, Verbesserung des Selbstwertgefüh­ les. Besonders geholfen habe, »dass ich von der

Manche Notfälle übersteigen die kritische Marke der erprobten Handlungsmöglichkeiten. Solche kritischen Ereignisse liegen außerhalb dessen, was selbst im erweiterten beruflichen Bezugsrahmen normal ist.

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im Führen von Entlastungsgesprächen geschult, ebenso alle Absolventinnen und Absolventen der Schule für Gesundheits- und Krankenpflege. Mit­ arbeiter, die ein Entlastungsgespräch führen, füh­ len sich dadurch nicht wesentlich belastet. Jene Mitarbeiter, die an einer KIMA-Schulung zum Entlastungsgespräch teilgenommen haben, füh­

len sich noch weniger belastet. Sie wissen besser über kritische Ereignisse Bescheid und fühlen sich durch die Schulung gut auf das Führen eines Entlastungsgesprächs vorbereitet. Keine Unterstützung angenommen Es kommt aber auch vor, dass nach einem kriti­ schen Ereignis keine Unterstützung angenommen wird. Auch danach wurde in der Untersuchung gefragt. Als Gründe wurden genannt: Gespräche mit Kollegen/Kolleginnen haben ausgereicht, kei­ ne Notwendigkeit, selbst klargekommen. Kritisch angemerkt wurde, dass vereinzelt Kol­ legen mit dem Gespräch überfordert waren. Man sollte, wurde angemerkt, KIMA regelmäßig in Er­ innerung rufen und neuen Mitarbeitern vorstellen. Bei seiner Einführung war KIMA das einzige derartig umfassende System im deutschsprachigen Raum. Inzwischen wurde es von mehreren Kran­ kenhäusern und Klinikverbänden übernommen.

© Brigitte Grabner-­ Hausmann

Clemens Hausmann ist klinischer Psy­ chologe am Kardinal-Schwarzenberg-­ Klinikum in Schwarzach im Pongau (Salzburg), Notfallpsychologe und Trau­ matherapeut (EMDR) mit Lehraufträgen an der Universität Salzburg und der FH Gesundheitsberufe OÖ. E-Mail: [email protected]

Thorsten Gast, Berlin

Literatur Fuchs, A. (2018). Psychische Gesundheit von Krankenhaus­ angestellten  – Evaluierung des Programms Kriseninter­ vention für Mitarbeiter (KIMA) am Kardinal Schwarzen­ berg Klinikum in Schwarzach im Pongau. Masterarbeit Zur Erlangung des Mastergrades Master of Science an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Paris-Lodron-Uni­ versität Salzburg. Gröben, S. (2011). Psychologische Betreuung nach belasten­ den Ereignissen – das Betreuungskonzept für Mitarbeiter der Deutschen Bahn AG. In: Lasogga, F., Gasch, B. (Hrsg.), Notfallpsychologie. 2. Auflage (S. 267–270). Berlin. Hausmann, C. (2016). Interventionen der Notfallpsychologie. Was man tun kann, wenn das Schlimmste passiert. Wien. Mitchell, J., Everly, G. (2001). Critical Incident Stress De­ briefing. 3., revised edition. Ellicot City. Rick, J., O’Regan, S., Kinder, A. (2006). Early intervention following trauma. A controlled longitudinal study at Ro­ yal Mail Group. Institute for Employment Studies, Report 435. Brighton: University of Sussex.

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Leidensfrei optimiert? DSM-5, ICD-11 und das Geschäft mit der Trauer

Doris Beneder Welcher sozialpolitische Bedarf zur Unterstüt­ zung einzelner Individuen in schwierigen Lebens­ situationen ermittelt wird, hängt ganz wesent­ lich vom aktuell dominierenden Menschen- und Gesellschaftsbild ab, insbesondere von den Vor­ stellungen über das Verhältnis zwischen indivi­ dueller und gesellschaftlicher Verantwortung für Gesundheit und Krankheit. Eine prägende Idee ist die Definition der World Health Organisation (WHO), die psychische Gesundheit folgenderma­ ßen beschreibt: »Zustand des Wohlbefindens, in dem der Einzelne seine Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, pro­ duktiv und fruchtbar arbeiten kann und imstande ist, etwas zu seiner Gemeinschaft beizutragen«.1 Auf dem Weg in die Dystopie Grundsätzlich erachte ich diese Definition als anzustrebende Vision. Kritisch sehe ich jedoch den Anspruch, dass all diese Herausforderungen in einem Zustand des permanenten Wohlbefin­ dens bewältigt werden sollen. Darüber wird das Bild einer »leidensfreien Gesundheitsgesellschaft« (Dörner 2002) gezeichnet, die Scheitern, Verlust, Schmerz und Leid als notwendige Lebenserfah­ rung ausschließt. Hinter dieser Idee steht ein indi­ vidualistisches und technologiezentriertes Men­ schenbild der Selbstoptimierung, das ich eher als Dystopie denn als idealistische Utopie verstehe. Gesundheit als Zustand des Wohlbefindens zu definieren, leistet darüber hinaus der Patholo­ gisierung durchschnittlicher menschlicher Ver­ haltensweisen aktiv Vorschub. Solche Vorstellun­ gen isolieren den Menschen von seinen sozialen und kulturellen Bezügen. Gesundheit wird zur

individuellen Verpflichtung und Verantwor­ tung, die durch die Inanspruchnahme spezieller Dienstleistungen und Produkte hergestellt wer­ den kann und darüber einen boomenden, zu­ nehmend privat organisierten Gesundheitsmarkt etabliert. Therapeutische Einrichtungen unter­ werfen sich der Marktlogik und sind zur Ge­ winnmaximierung verurteilt. Der Wettbewerb zwischen den Anbietern soll Kosten senken, was schließlich über die Ausweitung der Menge kom­ pensiert wird und die viel zitierte »Kostenexplo­ sion« im Gesundheitswesen zur Folge hat. Ge­ sundheit gilt als Megatrend des 21. Jahrhunderts und erweist sich in Krisenzeiten als stabilisieren­ der Wirtschaftsfaktor, dessen durchschnittliches Wachstum jährlich 3,3 Prozent beträgt und da­ mit um rund einen Prozentpunkt höher liegt als die Entwicklung der Gesamtwirtschaft der BRD (vgl. Ostwald 2018, S. 874). Sterben und Tod passen nicht in dieses tech­ nologiezentrierte Gesellschaftsbild, weshalb sie in den westlichen Gesellschaften in konsequen­ ter Weise unsichtbar sind. Sie finden in Kranken­ häusern, Hospizen oder Pflegeheimen statt und gehören nicht mehr zur natürlichen Lebenswelt der Menschen. Dem Trauern wird ein eigener (wirtschaftlich verwertbarer) Raum zugewiesen, die Unterstützung der Trauernden nicht mehr als gemeinschaftliche Aufgabe verstanden. Vielmehr wird dem/der Trauernden ein bestimmter Zeit­ raum (drei bis sechs Monate) zugestanden, um den Schmerz zu verarbeiten. Reicht die Trauer über diesen Zeitraum hinaus, wird sie zum patho­ logischen Verhalten, der sogenannten Trauerstö­ rung. Nun werden Experten und Expertinnen auf den Plan gerufen, mit deren Hilfe das »Problem«

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gelöst werden soll. Im Alltag will man so wenig wie möglich davon berührt werden. Die Macht der Manuals Die wirtschaftliche und sozialpolitische Wirk­ macht, die die herrschenden Klassifikations­ systeme Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitspro­

bleme (ICD) und Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) erreicht haben, unterstützen den Prozess der Pathologisierung von normalpsychologischen Vorgängen. Wenn in der 11. Revision des ICD unter den Stress-­Erkran­ kun­gen die »Anhaltende Trauerstörung« als neue Kategorie psychischer Erkrankungen eingeführt wird, darf man einen entsprechenden ökonomi­ schen Fußabdruck erwarten.

Um eine anhaltende Trauerstörung zu diagnostizieren, muss mindestens eines der folgenden Symptome an der Mehrzahl der Tage klinisch signifikant mindestens zwölf Monate seit dem Tod andauernd auftreten: • • • •

anhaltendes Weinen/Verlangen nach dem Verstorbenen intensive Trauer und emotionaler Schmerz in Antwort auf den Tod beherrschende Beschäftigung mit dem Verstorbenen beherrschende Beschäftigung mit den Todesumständen

Mindestens sechs der folgenden Symptome treten an der Mehrzahl der Tage klinisch signifi­ kant mindestens zwölf Monate seit dem Tod andauernd auf: • • • • • •

Reaktive Belastung aufgrund des Todes:  große Schwierigkeiten, den Tod zu akzeptieren Ungläubigkeit oder emotionale Taubheit gegenüber dem Verlust Schwierigkeiten mit positiver Erinnerung an den Verstorbenen Bitterkeit oder Wut in Bezug auf den Verlust unangepasste Selbsteinschätzungen in Bezug auf den Verstorbenen und den Tod (z. B. Selbstbeschuldigung) • exzessives Vermeiden von Erinnerungen an den Verlust Soziale Störung/Identitätsstörung: • • • •

Todeswunsch, um bei dem Verstorbenen sein zu können seit dem Todesfall Schwierigkeit, anderen zu vertrauen sich seit dem Tod alleine oder von anderen getrennt fühlen Gefühl, dass das Leben ohne den Verstorbenen bedeutungslos und leer ist oder dass man ohne ihn nicht funktionieren kann • Irritation über die eigene Rolle, vermindertes Identitätsgefühl • seit dem Todesfall Schwierigkeiten oder Widerwille, eigene Interessen zu verfolgen oder für die Zukunft zu planen

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Die American Psychiatric Association (APA) ist die wichtigste Vereinigung von Psychiatern und Psy­ chiaterinnen in den USA und gibt das DSM heraus, das detaillierte Kriterien für psychische Erkran­ kungen enthält. Dieses wiederum beeinflusst die Inhalte des von der WHO herausgegebenen ICD, an dem vielfach dieselben Wissenschaftler/-innen beteiligt sind. Dass die in den Klassifikationspro­ zess eingebundenen Expertinnen und Experten gute Geschäfte machen, ist keine Unterstellung weniger geschäftstüchtiger Berufsgruppen, son­ dern wird sogar von der APA selbst aufgezeigt. Von den gegenwärtig 141 Wissenschaftlern und Wis­ senschaftlerinnen, die in 13 Arbeitsgruppen am DSM-5 arbeiten, geben 69 Prozent finanzielle Be­ ziehungen zur Industrie an. Arbeitsgruppen im DSM-5 (n = 141) Anteil der ­Mitglieder mit Interessen­ konflikten 1. Anxiety, obsessive-compulsive spectrum, posttraumatic, and dissociative disorders

57 %

2. Eating disorders

50 %

3. Neurocognitive disorders (incl. dementia)

89 %

4. Disorders in childhood and adolescence

0 %

5. ADHD and disruptive behavior disorders

78 %

6. Neurodevelopmental disorders

33 %

7. Mood disorders (incl. depression)

67 %

8. Personality and personality disorders

27 %

9. Psychotic disorders

83 %

10. Sexual and gender identity disorders 11. Sleep/wake disorders (incl. restless legs)

38 % 100 %

12. Substance-related disorders

58 %

13. Somatic distress dirsorders

70 %

Gesamte Task Force

69 %

Abbildung 1: Anteil der Mitglieder des DSM-5-Board mit Interessenkonflikten2

Das Aufzeigen der Verflechtungen von Wissen­ schaftlern und Wissenschaftlerinnen mit Phar­ maunternehmen stellt einen ersten Schritt in Richtung Transparenz dar, die wirtschaftlichen Verflechtungen erweisen sich jedoch weitreichen­ der: Die Inhalte der Klassifikationsmanuale wer­ den unterrichtet, darauf aufbauende Leitlinien werden erstellt, über die Anzahl der Zitationen wird die wissenschaftliche Reputation der Exper­ ten und Expertinnen ausgewiesen, die wiederum zu Stellungnahmen und Gutachten bei gesund­ heitspolitischen Fragen herangezogen werden. Ein Beispiel für die Wirkmacht solcher Etiket­ tierungsprozesse stellt die Zunahme der Diagno­ se Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADS) seit den 1990er Jahren dar, in deren Folge die Ver­ schreibung von Medikamenten aus der Gruppe Methylphenidat (zum Beispiel Ritalin) exorbitant zugenommen hat.3 Darüber hinaus werden in der Leitlinie4 verschiedene psychosoziale Inter­ ventionen (von Psychotherapie bis Eltern- und Lehrertrainings, bevorzugt nach evaluierten und standardisierten Manualen) empfohlen. Von ge­ sellschaftlichen Maßnahmen – wie der Schaffung und dem Erhalt von passendem Bewegungsraum – ist keine Rede. Schließlich beobachtet man die Entwicklung eines ADS-Spezialistentums, bis sich letztendlich sogar die Vorstellung der betroffe­ nen Personen über sich selbst ändert. Die Störung wird für sie zur Realität, in der die betroffene Per­ son nicht mehr eine Krankheit hat, sondern all­ mählich zu dieser wird (vgl. Beneder 2011). In einer alternden Gesellschaft sind immer mehr Menschen mit dem Tod und dessen Bewäl­ tigung konfrontiert. Deshalb könnte mit der Dia­ gnose der anhaltenden Trauerstörung eine ähn­ liche »Epidemie« wie bei ADS erzeugt werden. Auch bisher haben Menschen, die Schwierigkei­ ten bei der Bewältigung von Verlusten hatten, psy­ chotherapeutische Hilfe bekommen, wenn auch unter einem anderen Etikett. Jede neue Diagno­ se entwickelt ihre spezifische Wirkmächtigkeit. Es ist anzunehmen, dass neue Medikamente auf den Markt kommen, spezifische Behandlungsmanua­

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le5 entstehen und sich ein neues Expertentum ent­ wickelt. Überlegungen, welche gesellschaftlichen Bedingungen zur Bewältigung von Verlusterfah­ rungen beitragen können, werden nicht angestellt. Alternativen: Lewins Feldtheorie Kurt Lewin hat mit seiner Feldtheorie ein alter­ natives (relationales und situationales) Klassifi­ kationsmodell vorgeschlagen, in dem die psy­ chischen Phänomene in ihrer funktionalen Bedeutung erklärt werden. Dieses werde ich am Beispiel des Phänomens der Trauer kurz skizzie­ ren. Den Tod eines geliebten Menschen kann man

funktional als Verlust eines zentralen Bezugssys­ tems (als Partner/-in, Elternteil usw.) auffassen. Will man diese Situation bewältigen, muss man sich der Herausforderung der Veränderung und Anpassung stellen. Pathologische Prozesse er­ kennt man daran, dass am Gewohnten festgehal­ ten wird – mit all den unterschiedlich wahrnehm­ baren Symptomatiken (zum Beispiel depressive Antriebslosigkeit oder halluzinatorische Wahr­ nehmungsverzerrungen). Aus dieser anderen Art des Diagnostizierens und Klassifizierens spricht ein optimistisches Menschenbild: Nicht die ein­ zelne Person ist irgendwie defizitär, sondern es werden die situativen Bedingungen der Person

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mosaiko / photocase.de

Sterben und Tod passen nicht in das technologiezentrierte ­Gesellschaftsbild, weshalb sie in den westlichen Gesellschaften in konsequenter Weise unsichtbar sind. Sie finden in Kranken­ häusern, Hospizen oder Pflegeheimen statt und gehören nicht mehr zur natürlichen Lebenswelt der Menschen.

Z2sam / photocase.de

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in Wechselwirkung mit ihrer jeweiligen Umwelt ganzheitlich in die Betrachtung einbezogen. In vielen (wenn auch nicht allen) Fällen kann über Nachbarschaftshilfe, Besuchsdienste etc. effekti­ ver geholfen werden als mit Medikamentengabe oder auch Psychotherapie. Dieses Menschenbild hat vielfältige Konse­ quenzen, weil es die gesellschaftlichen und poli­ tischen Makrosysteme genauso zur Veränderung auffordert wie den einzelnen Menschen. Dieser Denkansatz fordert eine Hinwendung zum Ein­ zelfall, statt den betroffenen Menschen in einer abstrakten Klasse zu verlieren. Mit der Förde­ rung sozialer Tugenden wie zum Beispiel Für­ sorge, Geduld und Zuwendung lässt sich jedoch nicht gut verdienen, sie entsprechen so gar nicht dem neoliberalen Geist des Gesundheitsmarktes. Dafür steckt in diesem feld- und systemtheore­ tischen Denkansatz enormes gesellschaftliches (und persönliches) Entwicklungspotenzial.

Doris Beneder ist Lehrtherapeutin für Gestalttheoretische Psychotherapie in der Österreichischen Arbeitsgemein­ schaft für Gestalttheoretische Psycho­ therapie (ÖAGP), Mitglied des öster­ reichischen Psychotherapiebeirats und © Fotostudio Mitterer, Mitherausgeberin der Zeitschrift »Psy­ Bad Vöslau chotherapie Forum« des Österreichi­ schen Bundesverbandes für Psychotherapie (ÖBVP). E-Mail: [email protected] Literatur Andersch, N. (2014). Symbolische Form und psychische Er­ krankung. Argumente für eine »Neue Psychopathologie«. Klinische und philosophische Überlegungen. Würzburg. Beneder, D. (2011). »ICD-10-Diagnose? Das mache ich doch nur für die Kasse!« In: Phänomenal 2011, 3 (1), S. 3–7. Dörner, K. (2002). Die allmähliche Umwandlung aller Gesunden in Kranke. Warum die Gesundheitsgesell­ schaft ihre Vitalität verliert. In: Frankfurter Rundschau, 26.10.2002. Ostwald, D. A. (2018). Die sozialpolitische Rolle der Ge­ sundheitswirtschaft. In: Kubon-Gilke, G. (Hrsg.), Gestal­ ten der Sozialpolitik. Theoretische Grundlegungen und Anwendungsbeispiele (S. 868–880). Marburg.

Anmerkungen 1 2 3 4 5

http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0012/216210/RC63-Fact-sheet-MNH-Ger.pdf?ua=1 (06.04.2019). https://www.der-arzneimittelbrief.de/nachrichten/dsm-5-transparenz-schuetzt-nicht-vor-einflussnahme (06.04.2019). https://offenesparlament.at/gesetze/XXIV/J_14844 (06.04.2019). Die Leitlinien werden von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) herausgegeben, die seit 2002 einen Kooperationsvertrag mit dem Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMI) hat, das die deutsche Version des ICD herausgibt. https://www.karger.com/Article/Abstract/489509 (06.04.2019).

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Niko Knigge [CC BY 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0)]

AUS DER FORSCHUNG

»Homophobie tut weh« Trauer als soziale Aktivität in Südafrika

Vorgestellt von Lukas Radbruch

Julie Moreau (2017): »Homophobia hurts«: Mourning as resistance to violence in South Africa. In: Journal of Lesbian Studies, 21, S. 204–2181 Julie Moreau berichtet in ihrem Artikel »›Homo­ phobia hurts‹ – mourning as resistance to violence in South Africa« von Free Gender, einer Organisa­ tion von schwarzen lesbischen Frauen in Kapstadt. Sie schildert die Teilnahme der Gruppe an der Be­ erdigung einer 19-Jährigen, die ermordet worden war. Die Gruppe nahm an der Trauerfeier teil und marschierte singend und mit einem Banner mit der Aufschrift »Homophobia hurts« (»Homophobie tut weh«) durch den Stadtteil bis zum Gemeindezen­ trum, wo bis in die Nacht weiter gefeiert wurde. Die Autorin untersucht in ihrer ethnographi­ schen Studie, was die Gruppe mit der Teilnahme

an solchen Beerdigungen und Trauerfeiern errei­ chen will. Sie stellt die Hypothese auf, dass die Gruppe diesen Anlass als öffentliche Demonst­ ration ihrer Trauer nutzt. Damit stellen die Akti­ vitäten von Free Gender eine soziale Bewegung dar, die aber keine politische Änderung anstrebt, sondern Widerstand gegen Gewalt leisten soll. Letztendlich soll das Konzept der Trauer, wie es Free Gender umsetzt, die Vorstellung der Ge­ meinschaft ändern, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Moreau beschreibt ausführlich den kulturellen und geschichtlichen Rahmen der Homosexuali­ tät in Südafrika. Mit der Apartheid war bis 1994 eine Manifestation der Kolonialzeit mit einer Auf­ teilung in weiße, schwarze und farbige Rassen in Südafrika gültig. Mittels vieler Gesetze und Vorschriften wurden nicht nur die weißen Bür­

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ger/-innen ökonomisch bevorzugt, sondern auch eine geographische Trennung erreicht, mit wei­ ßen Enklaven in den Stadtzentren und schwar­ zen Townships in der Peripherie. Nach dem Ende der Apartheid wurden Geset­ ze geändert, um eine »Dekolonialisierung« zu er­ reichen. Unter anderem wurde ein Zusatz in die Verfassung aufgenommen, der den Schutz von LGBTI2-Minderheiten gewährleisten und Dis­ kriminierungen vermeiden soll. Jedoch ist dies im südafrikanischen Alltag nicht umgesetzt. Im Gegenteil, im Zuge der Dekolonialisierung wird Homosexualität oft als »unafrikanisch« ange­ sehen, als etwas, das mit der westlichen Kultur importiert worden sei. Homosexualität komme deshalb in den Townships gar nicht vor, sondern werde in den weißen Enklaven verortet. Es feh­ len sogar die Worte, um Beziehungen zwischen lesbischen Partnerinnen oder ihren Kindern zu beschreiben. In der öffentlichen Wahrnehmung haben ho­ mosexuelle Menschen keine Angehörigen, und sie scheinen nicht in soziale Netzwerke einge­ bunden. Die Autorin leitet daraus ab, dass damit den LGBTI-Minderheiten die Trauer abgespro­ chen wird und ihnen dadurch (durch die Nicht­ wahrnehmung ihres Todes und ihrer Trauer) das prinzipielle Menschsein abgesprochen wird. Durch die fehlende Wahrnehmung wird ver­ mittelt: Diese Leben waren nie richtige Leben. Moreau vergleicht diese Ausgrenzung mit dem Fehlen jedweder offizieller Anerkennung von ge­ töteten Iraker/-innen durch die US-Regierung nach der Invasion 2003. In der Konsequenz sind LGBTI-Menschen in Südafrika häufig Opfer von Gewalt, auch gewaltsame Todesfälle sind keine Seltenheit. Wie können die Aktivitäten von Free Gender nun gegen diese Ausgrenzung wirksam werden? Mit der Teilnahme an den Trauerfeiern zeigen die Mitglieder von Free Gender sich selbst als lesbi­ sche Frauen in der Township und machen sich als Teil der Gemeinschaft sichtbar. Vorbereitung und Durchführung von Trauerfeiern oder Beerdi­

gungen dauern in der Regel zwei Wochen und in diesen Wochen kommt es zu vielen Interak­ tionen mit anderen Trauernden. Die Mitglieder der Organisation helfen der Familie der Verstor­ benen. Dies bietet die Chance, Vorurteile (lesbi­ sche Frauen vereinen die schlimmsten Aspekte der Männer, sie rauchen und trinken, sie den­ ken, dass sie Männer wären) zu widerlegen. Die Mitglieder der Gruppe nehmen an den üblichen traditionellen Praktiken der Gemeinschaft teil und fordern diese Traditionen gleichzeitig he­ raus, indem sie offen als lesbische Frauen dar­ an teilnehmen. Gleichzeitig zeigen sie öffentlich, dass die Verstorbene wie auch die Mitglieder der Organisation Teil eines sozialen Netzwerkes sind und dass Identitäten wie Homosexuelle, Mutter, Tochter oder Schwester miteinander vereinbar sein können. Sie können zeigen, dass sie fürein­ ander sorgen und dass sie die gleichen Vorstel­ lungen darüber, was sozial richtig und gut ist, mit der restlichen Gemeinschaft teilen. Die ethnografische Studie von Moreau schil­ dert Trauer als eine soziale Aktivität, mit der kei­ ne politische, aber eine soziale Veränderung er­ reicht wird. Free Gender erreicht nicht mehr und nicht weniger, als dass das in der südafrikani­ schen Gesellschaft vorherrschende Konzept, was es bedeutet, menschlich zu sein, erweitert wird und auch LGBTI einschließen muss. In Deutschland hat die Aufmerksamkeit für das Thema »LGBTI« zum Beispiel in der Alten­ pflege in den letzten Jahren zugenommen. In der Palliativversorgung wird in Europa der Umgang mit LGBTI-Lebensweisen aber noch kaum öf­ fentlich diskutiert. Auf dem diesjährigen Kon­ gress der EAPC3 wird deshalb eine internationale Arbeitsgruppe zu LGBTI und Palliativversorgung gegründet.

Anmerkungen 1 DOI: 10.1080/10894160.2016.1146569w 2 LGBTI: Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersexual. 3 EAPC: European Association for Palliative Care.

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FORTBILDUNG

Abschied nehmen Trauerwissen in Mediation und Supervision – Konfliktwissen in der Trauerbegleitung

Daniela Musiol Als Mediatorin und Supervisorin einerseits und als Trauerberaterin andererseits bin ich fest da­ von überzeugt, dass die beiden Disziplinen viel voneinander lernen können. Sehr häufig erleben Trennungspaare in Mediationen Aha-Momente, wenn ihnen klar wird, dass die vermeintlich irra­ tionalen Reaktionen, das permanente Oszillieren zwischen dem wehmütigen Beklagen des Verlusts und dem optimistischen Blick nach vorn, zwi­ schen tiefer Gekränktheit und einem heiter-gelas­ senen Blick auf den Ex-Partner oder die Ex-Part­ nerin ganz normale Trauerprozesse sind. Und ebenso häufig erlebe ich in Trauerberatungen, dass die Betroffenen sich anfangs nicht erklären können, warum die familiären Konstellationen nach dem Tod eines Angehörigen plötzlich so konfliktbeladen sind – bis sie von Rollentheo­ rien, Tiefenkulturen und Eskalationsstufen hören. Trauerreaktionen treten nicht nur nach To­ desfällen auf. Es gibt eine ganze Reihe von bio­ grafischen Verlusterfahrungen, die Trauer auslö­ sen können, ohne dass jemand stirbt: neben der Trennung vom Partner oder von der Partnerin etwa der Verlust von Freundinnen und Freunden aufgrund eines Umzugs, der Verlust eines Jobs, der Auszug der Kinder von zu Hause, der Verlust von körperlichen Fähigkeiten oder das Ende einer bestimmten Lebensphase – etwa durch Hoch­ zeit, Abschluss des Studiums oder berufliche Neu­ orientierung. Trauermodelle können helfen, die­ se spezifischen Verlusterfahrungen zu erfassen und methodisch zu bearbeiten. Die Betrachtung etwa einer Trennung oder auch einer signifikan­ ten Veränderung im Berufsleben unter den As­

pekten der Trauer eröffnet völlig neue Perspekti­ ven und ermöglicht neue Erzählformen. Auf der anderen Seite kann die Kenntnis von Konflikttheorien nützlich für Trauerberater/-innen und -begleiter/-innen sein, etwa wenn es darum geht, das durch einen Todesfall veränderte soziale, gruppendynamische Setting in einer Familie, aber auch in einem Unternehmen zu analysieren und Maßnahmen zu überlegen, die es ermöglichen, so­ wohl Konflikt als auch Trauer zu bearbeiten. Aus diesem Grund veranstalten wir bei Rund­ umberatung regelmäßig Fortbildungsseminare mit maximal 15 bis 20 Teilnehmenden, die sich sowohl an Mediatorinnen, Supervisoren und Coaches als auch an Trauerbegleiter/-innen rich­ ten. Die Einblicke in die jeweils andere Berufs­ welt haben sich als äußerst befruchtend erwie­ sen. Die Teilnehmenden lernen unterschied­liche Trauermodelle und Konflikttheorien kennen und erproben die Anwendung dieser Modelle auf Verlusterfahrungen in Mediation und anderen Beratungsformaten beziehungsweise lernen, Kon­ fliktmodelle und -konstellationen in die Trauer­ begleitung zu integrieren. Modellhafter Ablauf eines Workshops Einstieg: Trauersoziometrie Ich beginne praktisch immer mit einfachen so­ ziometrischen Aufstellungen und frage nach der letzten Trauererfahrung, ob diese sich auf einen Todesfall oder ein anderes Ereignis bezieht und wie lange diese Trauererfahrung zurückliegt. Wei­

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ters sollen sich die Teilnehmer/-innen in Gruppen zusammenfinden, je nach der dominanten Emo­ tion, die auftaucht, wenn sie an Trauer denken. Schritt 1: Bilder finden So angewärmt, dürfen die Teilnehmer/-innen sich wieder setzen. Es folgt die nächste Frage: Wel­ che Bilder entstehen, wenn Sie an »Trauer« oder »Konflikt« denken? Hier beginnt die Suche zu­ meist bei vermeintlich klassischen Sujets wie trä­ nenvollen Gesichtern, Gesten der Verzweiflung oder einsamen Personen in leeren Räumen so­ wie einander anbrüllenden oder einander den Rü­ cken zukehrenden Menschen. Sehr häufig zeigt sich aber bei längerem Nachdenken, dass die Symbolik immer weniger eindeutig wird und es daher immer schwieriger zu entscheiden ist, ob ein Bild nun »Trauer« oder »Konflikt« illustrieren soll. Wenn Sie es mit psychodramatisch oder auch nur performativ interessierten Personen zu tun haben, können Sie die Teilnehmer/-innen auch kleine Vignetten spielen lassen. ▷ Dauer: rund 15 Minuten (wenn Sie Vignetten einsetzen: zumindest 30 Minuten)

Schritt 2: Wissenstransfer Sie teilen das Seminar entlang der Berufsgrup­ pen. Lassen Sie die Mediatorinnen/Mediatoren und Coaches die Frage bearbeiten, was nützliches Konfliktwissen für Trauerbegleiter/-innen sein könnte, und die Trauerbegleiter/-innen Über­ legungen dazu anstellen, was nützliches Trauer­ wissen für Mediatorinnen/Mediatoren und Coa­ ches sein könnte. Im Anschluss daran werden die jeweiligen Hypothesen präsentiert und überprüft. ▷ Dauer: rund 45 Minuten (15 Minuten Arbeit in der Kleingruppe, je 10 Minuten Präsentation, 10 Minuten Diskussion im Plenum) Schritt 3: Trauer suchen In welchen biografischen, nicht todesbezogenen Ereignissen spielt Trauer eine Rolle? Ermuntern Sie die Teilnehmer/-innen, Anlassfälle einfach herauszurufen, und halten Sie die Wortmeldun­ gen auf dem Flipchart fest. Dabei ergibt sich fast immer ein sehr facettenreiches Bild: Trennung, Jobverlust oder -wechsel, Flucht von zu Hause, Auszug der Kinder, unerfüllter Kinderwunsch, körperliche Beeinträchtigungen, Menopause, be­ ruflicher Statusverlust, (sportliche) Niederlagen, Umzug etc. Zentral dabei ist der Hinweis, dass auch freudige Ereignisse wie Hochzeit (Verlust des Nachnamens), Studienabschluss (Verlust des studentischen Lotterlebens) oder der Kauf einer Eigentumswohnung (Verlust der Unabhängigkeit) Trauerprozesse auslösen können. ▷ Dauer: rund 20 Minuten

m.schröer

Schritt 4: Theorie Ganz ohne Vortrag geht es nicht. Auf Ebene der Konflikttheorie konzentriere ich mich auf Fried­ rich Glasls Eskalationsstufen, Bruce Tuckmans Phasenmodell der Gruppenentwicklung sowie auf Jacob L. Morenos Rollentheorie, ich erwäh­ ne aber auch das – je nachdem, wen Sie fragen – auf Sigmund Freud, Ernest Hemingway oder Phi­

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lip Zimbardo zurückgehende Eisberg-Modell als kommunikationstheoretische Grundlage. Bei den Trauertheorien beschränke ich mich zumeist auf William Wordens Traueraufgaben sowie auf des­ sen Bild des ausgleichenden Pendels (das Gute im Schlechten und das Schlechte im Guten), das duale Prozessmodell von Margaret Stroebe und Henk Schut sowie das Konzept der entrechteten Trauer von Kenneth J. Doka, das meines Erach­ tens besondere Überzeugungskraft hinsichtlich der Verbindung von Trauer und Konflikt entwi­ ckelt hat. Die Herausforderung hier besteht dar­ in, die Inhalte auch für die jeweils andere Berufs­ gruppe interessant zu halten. Besonderes Augenmerk lege ich auf theoreti­ sche Ansätze, in denen die Wechselwirkung von Trauer und Konflikt systemisch angelegt ist. Das ist zum einen das Modell des Beziehungsselbst von Verena Kast, zum anderen das Konzept der Tiefenkultur von Johan Galtung und Vamık D. Volkan, dem zufolge unbewältigte, in einer Grup­ pe, einer Organisation oder einem Staat kollek­ tiv als traumatisch erlebte Trauerprozesse an die nächsten Generationen weitergegeben werden und konfliktauslösend und verstärkend wirken. ▷ Dauer: maximal 45 Minuten Schritt 5: Rituale Dieser Punkt taucht zumeist schon in Schritt 2 (Wissenstransfer) auf. Mediatorinnen/Mediato­ ren neigen dazu, die Kraft von Ritualen betref­ fend Abschied und Abschluss zu unterschätzen und den Fokus – begreiflicherweise – auf Ver­ handlungsergebnisse und Vereinbarungen zu le­ gen. Trauerbegleiter/-innen hingegen verfügen zumeist über ein reiches Arsenal an Symbolhand­ lungen. Hier geht es nun in Kleingruppen darum, durch die Integration der Konfliktebene gemein­ sam Rituale zu erproben, abzuwandeln oder neu zu entwickeln, die die Handlungsspielräume so­ wohl der Mediatorinnen/Mediatoren als auch der Trauerbegleiter/-innen vergrößern. ▷ Dauer: rund 45 Minuten

Schritt 6: Fallarbeit – »Büro für Intervision« Am Ende steht die Arbeit an konkreten Fällen. Die Anweisungen an die Teilnehmer/-innen könnten etwa lauten: Suchen Sie ein Beispiel aus Ihrer Arbeit, in dem Trauer und Konflikt eine Rolle spielten. Erzählen Sie einander in gemisch­ ten Kleingruppen von diesen Beispielen. Wäh­ len Sie einen Fall aus und besprechen Sie die­ sen Fall – in einer De-facto-Intervision – unter besonderer Berücksichtigung der eben kennen­ gelernten Trauer- und Konfliktmodelle: Was ist geschehen? Wie lassen sich die Ereignisse kon­ flikt- beziehungsweise trauertheoretisch deuten? Was ließe sich lernen? Was würde ich beim nächs­ ten Mal anders machen? In welchen Bereichen habe ich das neu erworbene Wissen bereits un­ bewusst oder zufällig angewendet? Im Anschluss daran erfolgen die Präsentation und Diskussion der Fallanalysen im Plenum. ▷ Dauer: rund 60 Minuten Schritt 7: Abschluss Sehr häufig beende ich Workshops dieser Art mit einer zweidimensionalen Soziometrie. Der Se­ minarraum wird zu einem Koordinatensystem. Auf der x-Achse frage ich nach dem individu­ ellen Nutzen, den das Seminar gebracht hat, auf der y-Achse nach der Einschätzung der eigenen aktiven Teilnahme. Nachdem sich die Teilneh­ mer/-innen im Raum positioniert haben, bitte ich sie um einen (kurzen) Satz, mit dem sie erläutern, warum sie dort stehen, wo sie stehen. ▷ Dauer: rund 10 Minuten

© Parlaments­ direktion/Wilke

Daniela Musiol ist Juristin, Mediatorin und Sozialarbeiterin. Sie war von 2008 bis 2016 Abgeordnete der Grünen zum österreichischen Nationalrat. Zusam­ men mit Thomas Geldmacher betreibt sie Rundumberatung, ein Unternehmen, das sich insbesondere Fragen von Tod und Trauer am Arbeitsplatz widmet. E-Mail: [email protected]

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REZENSIONEN

100 Tage. Das Sterben meines Vaters

Michael Schacht (2018): 100 Tage. Das Sterben meines Vaters. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 221 Seiten 100 Tage – hinter diesem kurzen Titel des Buches von Michael Schacht verbergen sich zunächst ein­ mal die Prognose eines Arztes und der gemein­ same Weg eines sterbenskranken, todgeweihten Mannes und seines Sohnes. Dieser Sohn – der Autor des Buches – lässt die Leserin/den Leser intensiv an diesem gemeinsamen Weg teilha­ ben. Entstanden ist ein mutiges, weil persönli­ ches Buch, in dem der Autor seine Tagebuchauf­ zeichnungen seit Aussprechen der Prognose zur Verfügung stellt und damit die Leserin/den Le­ ser mit seinem persönlichen Weg des Abschieds konfrontiert: mit allen Traurigkeiten, mit allen Überraschungen, Entwicklungen und Annähe­ rungen … Dazu nutzt Schacht das Stilmittel, die Kapitel des Buches von 100 (100 maximal prog­ nostizierte Lebenstage) herunterzuzählen. Das letzte Kapitel in seinem Buch ist das Kapitel 30, der Tag nach dem Tod des Vaters. Auf diese Wei­ se nimmt der Autor die Leserin/den Leser tief mit hinein in seine persönlichen Erfahrungen. Schachts Vater verstirbt 70 Tage nach der ausge­ sprochenen Prognose ohne die körperliche An­ wesenheit seines Sohnes, der jedoch mental tief und intensiv mit seinem Vater verbunden ist. Die Erfahrung des Sterbens und des Todes macht dem Autor deutlich, dass er seinem Vater innerlich viel näher war, als er zu wissen meinte. Schacht formuliert eine Aussage, die auch viele trauernde Menschen fühlen, denken, ausspre­

Norbert Mucksch chen: »Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an meinen Vater denke.« Und macht damit deut­ lich, dass sich Trauer nicht in zeitliche Rahmen und Struktu­ ren pressen lässt. Man merkt dem Buch deutlich an, dass es von einem erfahrenen Journalisten geschrieben wur­ de. Es liest sich gut und flüssig, nutzt sehr stim­ mig sprachliche und strukturelle Stilelemente und zeichnet sich durch hohe Eloquenz des Autors aus. Schacht ist ein versierter Erzähler, der den Leser im besten Sinn gefangennimmt. Dennoch wirkt dieses autobiografische Buch aber nicht un­ angemessen routiniert oder professionell, son­ dern ist ein überaus persönliches Zeugnis des ge­ meinsamen Weges und der Entwicklung zweier Menschen im lebendigen Prozess des Abschied­ nehmens und Sterbens. 100 Tage ist ein Buch, das Mut dazu machen kann und will, die durch Krankheit begrenzte Lebenszeit eines Angehörigen oder Freundes be­ wusst zu nutzen. Es kann – ohne ein Ratgeber im klassischen Sinn zu sein – dazu ermutigen, sol­ che schweren Wege mit Bedacht zu gehen. Und gerade weil es kein Ratgeber und eben auch kein Fachbuch ist, sei dieses Buch vor allem trauern­ den Menschen empfohlen, ob sie nun vorgreifend trauern in der Erwartung des absehbaren Ster­ bens oder nach dem Tod eines geliebten Men­ schen. Darüber hinaus eignet es sich als lehr­ reiche Lektüre für Menschen in der Sterbe- und Trauerbegleitung, weil es in der Lage ist, einen authentischen Einblick in das innere Erleben von Menschen in diesen Ausnahmesituationen zu ver­ mitteln.

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Dem Sterben Leben geben

Monika Müller (2018): Dem Sterben Leben geben. Die Begleitung sterbender und trauernder Menschen als spiritueller Weg. Ergänzte und überarbeitete Neuausgabe. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 285 Seiten Im Frühjahr 2018 erschien ein Buch in überarbei­ teter und ergänzter Neuauflage, das in der über­ großen Vielfalt an Literatur zum Themenkreis Tod, Sterben und Trauer getrost als Standardwerk bezeichnet werden darf. Dem Sterben Leben geben von Monika Müller hat mich erneut zu die­ sem seit Jahren in meinem Bücherregal stehenden und viel genutzten Titel greifen lassen, voller Vor­ freude auf die Ergänzungen und Überarbeitun­ gen. Mein Interesse und meine Neugier richteten sich daher vor allem auf die beiden neuen Kapitel. In der Neuauflage finden sich im Grunde ge­ nommen alle Kapitel der Erstauflage aus dem Jahr 2004 wieder, die für Begleitende so unge­ mein wertvoll und hilfreich sind. Eines dieser »al­ ten« Kapitel möchte ich zunächst an dieser Stel­ le hervorheben, da es mir in der Fortbildung von Trauerbegleiterinnen und Trauerbegleitern be­ sonders wichtig geworden ist, und zwar »Vom Geist der Absichtslosigkeit«, in dem die »absichts­ lose Geistesgegenwart« als zentrale Haltung in der Begleitung beschrieben wird. Ich kenne nur wenige Texte, die die gebotene und notwendige Haltung in der Sterbe- und Trauerbegleitung so treffend beschreiben. Grund genug, dies an dieser Stelle noch einmal explizit zu betonen. Die zwei neu hinzugefügten Kapitel tragen die Titel »Vom Geist des Vertrauens« und »Vom Geist des Trostes«. In ihren Ausführungen durchwirkt Monika Müller sehr aufschlussreich den Termi­ nus »Vertrauen« und zeigt auf, dass in ihm der

Norbert Mucksch Begriff »Treue« enthalten ist. Alle Unterkapitel sind entsprechend überschrieben und sensibilisie­ ren für dieses so wichtige Wort, diese so zentrale Haltung: »Dem Sterben trauen«, »Sich anvertrau­ en«, »Den anderen betrauen«, »Sich vertraut ma­ chen«, »Sich getrauen«, »Dem Selbst trauen«. Bei­ spiele aus Monika Müllers Fallpraxis und Bezüge zur Weltliteratur (u. a. »Der kleine Prinz« von Saint-Exupéry) verdeutlichen die Gedankengän­ ge der Autorin sehr hilfreich. »Vom Geist des Trostes« bildet das Schluss­ kapitel. Müller eröffnet den Abschnitt mit Er­ fahrungen und Gedanken aus ihren verschiede­ nen Reisen auf den indischen Subkontinent und schafft damit einen weiteren Bezug zum Thema »Spiritualität«, von der sie im weiteren Verlauf ihrer Ausführungen schreibt, dass diese nichts mit Glanz und Glorienschein zu tun habe. Es ist nur stimmig und konsequent, dass dieses Kapi­ tel, welches den durchaus zu hinterfragenden Be­ griff des Trostes im Titel trägt, den Schlussakkord der Neuauflage darstellt. Fast einem Vermächt­ nis gleich sind gegen Ende folgende Zeilen zu le­ sen: »Wissen allein macht noch nicht das Können. Intuition, Erfahrung und die sprichwörtlich ge­ öffneten Hände sind es oft, die echte Begegnung ermöglichen. Die Experten sind die uns anver­ trauten Sterbenden und Trauernden.« Monika Müller bleibt mit den beiden ergänz­ ten Kapiteln in der markanten Struktur und Sys­ tematik des Buches, die die Begleitung sterbender und trauernder Menschen als spirituellen Weg begreift. Ein Buch, das auch ohne die Erweite­ rungen große Aktualität und Bedeutung besitzt, mit den beiden neuen Kapiteln aber noch lesens­ werter ist, als es schon die erste Auflage war. Und ein Buch, das in jeden Befähigungskurs in der Hospiz­arbeit gehört.

Tr a u e r Po l i t i k

Unterstützung aus der Politik Förderung der Qualifizierung der Trauerbegleitung in Baden-Württemberg

Susanne Haller

Ulrike Rastin

Schon 2014 hat das damalige Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren (heute Ministerium für Soziales und Integration) mit einer Hospiz- und Palliativver­ sorgungskonzeption für Baden-Württemberg die Weichen für die Förderung der Trauerbegleitung in Baden-Württemberg gestellt.1 Das Ministe­ rium wurde und wird dabei fachlich vom »Lan­ desbeirat Hospiz- und Palliativversorgung« durch Expertinnen und Experten aus verschiedenen Palliativ- und Hospizversorgungsstrukturen be­ raten. Das vorrangige gesundheitspolitische Ziel der Landesregierung ist es, »sterbenden Men­ schen zu ermöglichen, ihre letzte Lebensphase zu Hause bzw. in der ihnen vertrauten Umge­ bung zu verbringen«.

    

Da Palliative Care nicht mit dem Tod aufhört, sondern die Begleitung in Zeiten der Trauer ein wesentlicher Bestandteil von Palliative Care ist, hat sich die Landesregierung zudem zum Ziel gesetzt, die Begleitung trauernder Menschen in Baden-Württemberg zu verbessern. Daraus re­ sultiert der Beschluss, dass seit September 2018 die entsprechenden Weiterbildungsangebote in der Trauerbegleitung in Baden-Württemberg ge­ fördert werden. Der Förderaufruf »Hospiz- und Palliativ­ versorgung BW – Förderung der Trauerbeglei­ tung in Baden-Württemberg« erreichte uns mit der Vorstellung des »Maßnahmenpakets Ba­ den-Württemberg« am 14. September 2018. Dort wurde im Rahmen einer Tagesveranstaltung in Stuttgart das Förderprogramm bekanntgegeben. Die Grußworte für die Sparte Trauerbegleitung sprach Marianne Bevier (Vorstandsvorsitzende des BVT), den fachlichen Input in Form eines berührenden Vortrags hielt Claudia Landenber­ ger (Mitglied im BVT, Begleitende). Es bestand die Möglichkeit, mit den Referatsleitern des So­ zialministeriums zu diskutieren, Fragen zu stellen und Wünsche zu äußern. Die Referatsleiter haben sich in offener und unkomplizierter Art und Wei­ se als Ansprechpartner für das Förderprogramm und für die Förderanträge vorgestellt. Der Kon­

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takt zu ihnen ist direkt und einfach. Die ersten Fragen wurden relativ schnell geklärt. Der Antrag auf Förderung wird ausschließlich durch den Träger der Bildungsmaßnahme gestellt. Das bedeutet für die Bildungsträger zwar einen zusätzlichen Aufwand, aber der Antrag ist sehr einfach gehalten. Gefördert werden ausschließ­ lich Weiterbildungskurse in Trauerbegleitung, die den Qualitätsstandards des Bundesverbands Trauerbegleitung e. V. entsprechen. Darüber hin­ aus müssen die Bildungsträger ihren Sitz in Ba­ den-Württemberg haben, und auch die Kurs­ teilnehmenden müssen einer Einrichtung (zum Beispiel der freien Wohlfahrtspflege, Trägerver­ eine) oder einem Dienst (Hospizgruppe etc.) mit Sitz und Tätigkeit in Baden-Württemberg zugehö­ rig sein. Die Förderhöhe beläuft sich auf 250 Euro pro Teilnehmer/-in für einen Befähigungskurs mit 80 Unterrichtseinheiten (UE) und mit 700 Euro pro Teilnehmer/-in für die Große Basisqualifika­ tion mit 200 UE. Die Elisabeth-Kübler-Ross-Aka­ demie hat bereits einen Antrag für den Basiskurs Palliative Care (200 UE) und einen Antrag für den Basiskurs Trauerbegleitung (200 UE) gestellt. Die Anträge sind mit einer Förderzusage sehr schnell bearbeitet und beantwortet worden. Die Teilneh­ menden im neu gestarteten Kurs waren positiv überrascht, da die Fördermaßnahme noch keinen hohen Bekanntheitskreis außerhalb der Hospiz­ dienste hat. Die ambulanten Hospizdienste und stationäre Hospize wurden durch den Hospizund Palliativverband Baden-Württemberg und dessen Mitwirkung im Landesbeirat Hospiz- und Palliativversorgung über die Förderung in Kennt­ nis gesetzt. Da die Kurse erst begonnen haben und die För­ dermittel am Ende der Weiterbildungsmaßnah­ men fließen, geben wir bei unserer Rechnung­ stellung nach einer Kurswoche der Einfachheit halber schon die Kursgebühren mit den zugesag­

ten Fördermitteln an. Bei Abbruch der Qualifizie­ rung müssten wir dann den vollen Betrag bei den Teilnehmenden nachfordern. Dies könnte sich an manchen Stellen schwierig gestalten. Nun sind wir nicht nur eine lehrende Einrichtung, sondern auch ein lernende, das heißt, wir werden sehen, wie die Förderung sich im Bildungsträger-Alltag weiter gestalten wird. Die Förderung für die Qualifizierungsmaß­ nahmen in der Trauerbegleitung ist eine tolle Unterstützung für alle, die sich in diesem Bereich engagieren. Das ist eine großartige Wertschätzung für das ehren- wie auch hauptamtliche Engage­ ment. Zum Schluss kommt die Förderung genau dort an, wo sie gebraucht wird – nämlich bei den trauernden Menschen. Trauernde brauchen Men­ schen an ihrer Seite, die mit geduldigem Zuhören, wenn Trauernde von der Vergangenheit erzählen, helfen, einen Weg durch die Trauer zu finden. Ziel der Weiterbildungen ist es, den Teilnehmenden dafür grundlegende Kenntnisse in Trauer und Trauerbegleitung zu vermitteln und eine hilfrei­ che Haltung zu entwickeln. Natürlich träumen wir alle von einer Refinanzierung der Trauerbeglei­ tung. Dafür ist die Fördermaßnahme des Landes Baden-Württemberg richtungsweisend. Somit kann die Förderung der Weiterbildungs­ angebote bundesweit als Beispiel für das Küm­ mern um die Bürger und Bürgerinnen gesehen werden. Dann kommt Politik genau dort an, wo sie hinsoll – bei den Bürgern! Susanne Haller ist Krankenschwester, Personzentrierte Beraterin, Superviso­ rin (DGSv), Qualifizierendes Mitglied im BVT und Leitung der Elisabeth-­KüblerRoss-Akademie für Bildung und For­ schung des Hospiz in Stuttgart. Anmerkung

E-Mail: [email protected]

1 https://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/de/ gesundheit-pflege/medizinische-versorgung/palliativund-hospizversorgung (Zugriff am 07.02.2019).

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Güte-Siegel BVT: Wer wir sind – Wofür wir stehen Jahrestagung des Bundesverbands Trauerbegleitung 10.–12. März 2019 in Ludwigshafen im Heinrich-Pesch-Haus Vor Beginn der BVT-Jahrestagung gab es ein spe­ zielles Angebot, um für die eigene Qualität zu sorgen: In zwei Supervisionsgruppen reflektier­ ten Teilnehmende ihre eigene Trauerbegleitungs­ praxis. Dabei standen ihre jeweils mitgebrachten Themen und Anliegen im Mittelpunkt; aufmerk­ sam wurde mit- und voneinander gelernt, neue Sichtweisen auf die eigene Situation wurden ge­ sucht und ausprobiert. Nach der Begrüßung gab es Gelegenheit zur Begegnung mit alten und neuen Bekannten. Der fachliche und persönliche Austausch wurde mit einem »Open Space« eröffnet. Nachmittags stan­ den Workshops zu verschieden Themen auf dem Programm, so etwa »Trauer und Trauma«, »Trauer am Arbeitsplatz«, »Trauer und Musik«, »Kunstthe­ rapie in der Trauer«, »Kühler Kopf für Herzensan­ gelegenheiten – keine Angst vor Selbständigkeit«. Am Abend trafen sich Begleitende und Qualifizie­ rende zunächst unter sich. Im Rahmen der tradi­ tionellen »Blauen Stunde« gab es für beide Grup­ pen die Möglichkeit, sich auszutauschen. Am Montag wurde in mehreren berufsfeld­ orientierten Gruppen zum Thema »Qualität« ge­ arbeitet, die Ergebnisse wurden anschließend im Plenum vorgestellt und besprochen. Besonders kam zur Sprache, was unter Qualität verstanden wird, wie sie beschrieben und konkret erlebt wer­ den kann, wie sie sich in Haltung, Selbstverpflich­ tung und Transparenz zeigt und was dafür getan werden muss. Ebenso wurde deutlich, welchen Vorteil für Trauernde und Mitglieder das Selbst­ verständnis des BVT als Fachverband hat: Er si­ chert die fachliche Qualität der Arbeit. Abends gab es einen Vortrag über »Trauer am Arbeitsplatz« von Dr. Franziska Offermann.

Der Dienstag bot Raum für die ordentliche Mitglie­ derversammlung des Jahres 2019. Dabei berichte­ te Marianne Bevier über das vergangene Jahr mit seinen verschiedenen Veranstaltungen zum zehn­ jährigen Jubiläum des BVT, bei denen auch Ehren­ preise für das »Engagement für Trauernde in der Öf­ fentlichkeit« an Heike Werner (Sozialministerin in Thüringen), Meike Wengler (Projektleitung Mes­ se »Leben und Tod«, Bremen), Matthias B ­ rodowy (Schirmherr von »Ein Lied für Dich«) verliehen wurden. Nicole Friederichsen, die Kassenwartin, berichtete über die Finanzen des Vereins und stellte das geplante Budget 2019 vor. Nach der Veröffent­ lichung des Ergebnisses der Kassenprüfung wurde der Vorstand entlastet. Als weiteres Vorstandsmit­ glied wurde Eva Kersting-­Rader für den verbleiben­ den Teil der Wahlperiode (2017–2020) nachgewählt. Es folgten Berichte aus den Sprechergruppen der Begleitenden und der Qualifizierenden. Vor dem Hintergrund der langjährigen Erfah­ rung, dass der Großteil der Arbeit im Verband in den Arbeitsgruppen (AGs) geleistet wurde, war im Fachgruppentreffen die Idee entstanden, die Eintei­ lung in Fachgruppen aufzuheben und stattdessen verschiedene Arbeitsgruppen zu inhaltlichen The­ men zu beauftragen. So bleibt es etwa Aufgabe der Qualifizierenden, sich um die Standards der Quali­ fizierungen zu kümmern. Es wurden AGs neu ein­ gerichtet oder mit der Weiterarbeit beauftragt: AG Wege in den BVT, AG Vom Tod bis zur Bestattung, AG ICD-11 (Weiterarbeit), AG Website, AG zur Er­ stellung einer Qualifizierungsordnung. Der Vor­ stand wurde beauftragt, eine Anpassung der Sat­ zung vorzubereiten, die auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung beschlossen werden kann. 

Christine Fleck-Bohaumilitzki

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Als Politiker muss ich Optimismus verbreiten. Erheitere mich! Er wird dir rückmelden, ob es gelingt!

Vorschau Heft 4 | 2019 Thema: Bindung Mit Sicherheit und Vertrauen Herausforderungen im Leben bewältigen Bindungen als Entwicklungsgrundlage

Psychotraumatische Erfahrungen und ihre Wirkung auf die Bindungs- und Beziehungsfähigkeit Reorganisation familiärer Beziehungen und kindliche Anpassungsprozesse nach einer Scheidung Das »Zürcher Modell« am Beispiel Babyweinen

Zu Bindungsaufbau und Bindungsabbrüchen

Bindung und Verlust – Abschied in Psychotherapie und ­Beratung Mit dem Glauben durchs Leben – oder ohne? Was heißt eigentlich religiöse Bindung?

Die Bedeutung von Gerüchen für Beziehungen u. a. m.

Impressum Herausgeber/­innen: Monika Müller M. A., KAB­Ring 22, D­53359 Rheinbach E­Mail: vr­[email protected] Prof. Dr. med. Lukas Radbruch, Zentrum für Palliativmedizin, Von­Hompesch­Str. 1, D­53123 Bonn E­Mail: [email protected] Dr. phil. Sylvia Brathuhn, Frauenselbsthilfe nach Krebs e. V., Landesverband Rheinland­Pfalz/Saarland e. V./Bundes­ verband e. V. Bonn Schweidnitzer Str. 17, D­56566 Neuwied E­Mail: Brathuhn@t­online.de Dr. Dorothee Bürgi (Zürich), Prof. Dr. Arnold Langenmayr (Ratingen), Dipl.­Sozialpäd. Heiner Melching (Berlin), Dr. Christian Metz (Wien), Dipl.­Päd. Petra Rechenberg­Winter M. A. (Hamburg), Dipl.­Pflegefachfrau Erika Schärer­Santschi (Thun, Schweiz), Dipl.­Psych. Margit Schröer (Düsseldorf), Dr. Patrick Schuchter (Wien), Prof. Dr. Reiner Sörries (Erlangen) Bitte senden Sie postalische Anfragen und Rezensionsexemplare an Monika Müller, KAB­Ring 22, D­53359 Rheinbach Wissenschaftlicher Beirat: Dr. Colin Murray Parkes (Großbritannien), Dr. Sandra L. Bertman (USA), Dr. Henk Schut (Niederlande), Dr. Margaret Stroebe (Niederlande), Prof. Robert A. Neimeyer (USA) Redaktion: Ulrike Rastin M. A. (V. i. S. d. P.), Verlag Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Robert­Bosch­Breite 6, D­37079 Göttingen, Tel.: 0551­5084­423, Fax: 0551­5084­454 E­Mail: ulrike.rastin@v­r.de Bezugsbedingungen: Leidfaden erscheint viermal jährlich mit einem Gesamtumfang von ca. 360 Seiten. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 70,00 D / € 72,00 A. Institutionenpreis € 132,00 D / € 135,80 A / SFr 162,00, Einzelheftpreis € 20 D / € 20,60 A (jeweils zzgl. Versandkosten), Online­Abo inklusive für Printabonnenten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 01.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D­37073 Göttingen; Tel.: 0551­5084­40, Fax: 0551­5084­454 www.vandenhoeck­ruprecht­verlage.com ISSN 2192­1202 ISBN 978­3­525­40670­0 ISBN 978­3­666­40670­6 (E­Book) Umschlagabbildung: Nach der Trauerfeier für die verstorbene Nationalratspräsidentin Barbara Prammer (SPÖ) vor dem Parlament in Wien, 9.8.2014/Herbert P. Oczeret/APA/picturedesk.com Anzeigenverkauf: Anja Kütemeyer, E­Mail: anja.kuetemeyer@v­r.de Bestellungen und Abonnementverwaltung: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Servicecenter Fachverlage, Holzwiesenstr. 2, D­72127 Kusterdingen; Tel.: 07071­9353­16, Fax: 07071­9353­93, E­Mail: v­r­journals@hgv­online.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. © 2019 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D­37073 Göttingen Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany

Ungewöhnliche Zugänge zu einem schwierigen Thema Eine trauernde Frau und ein professioneller Trauerbegleiter kommen in einer Küche zusammen. Es entwickelt sich eine ernste Küchenplauderei, in der ungewöhnliche und auf besondere Weise heilsame Kochrezepte entstehen: Gespräch und sinnlicher Genuss beim Kochen und Essen lassen eine positive Grundstimmung entstehen, die das Leben wieder lebenswert macht. Mit stimmungsvollen Fotos und 52 einfachen Rezepten. 176 Seiten / durchgehend vierfarbig mit ca. 22 Fotos / gebunden € 18,00 (D) / ISBN 978-3-579-07315-6

Was passiert mit uns, wenn wir altern, sterben, tot sind? Ohne Sentimentalität, aber sehr empathisch beschreibt Oliver Müller dies in seinem Buch – ein nüchterner, erhellender und kluger Blick auf die Biologie alles Lebendigen.

Marianne Sägebrecht erzählt in ihrem neuen, sehr persönlichen Buch von ihren Begegnungen mit Sterbenden. Sie öffnet darin ihre eigenwillige Schatzkiste besonderer Lebensphilosophie zu Themen wie Körper und Geist, Liebe und Unsterblichkeit.

336 Seiten / geb. mit Schutzumschlag € 22,00 (D) / ISBN 978-3-579-01471-5

192 Seiten / geb. mit Schutzumschlag € 18,00 (D) / ISBN 978-3-579-07319-4

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Matthias Schnegg Was trägt? Trauer und Spiritualität 2018. 158 Seiten, mit Illustrationen des Autors, Paperback € 17,00 D | eBook: € 13,99 D ISBN 978-3-525-40637-3

Gina Krause | Mechthild Schroeter-Rupieper Menschen mit Behinderung in ihrer Trauer begleiten Ein theoriegeleitetes Praxisbuch 2018. 144 Seiten, Paperback € 17,00 D | eBook: € 13,99 D ISBN 978-3-525-40636-6