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German Pages 400 [279] Year 2021
Claudia Bickmann
Transzendentalphilosophie und Idealismus Ausgewählte Aufsätze
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495825983
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B
Claudia Bickmann Transzendentalphilosophie und Idealismus. Ausgewählte Aufsätze
ALBER PHILOSOPHIE
A
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The author: Claudia Bickmann (1952–2017) was professor of philosophy at the University of Cologne since 2002. After her doctorate in Marburg (1984) which was in the intersection between philosophy and literary studies, her habilitation took place at the University of Bremen with the thesis »Differenz oder das Denken des Denkens. Topologie der Einheitsorte im Verhältnis von Denken und Sein im Horizont der Transzendentalphilosophie Immanuel Kant« (Hamburg 1996). From 2004 to 2016 she served as president of the Society for Intercultural Philosophy (GIP), and from 2006 to 2012 she was a board member of the German Society for Philosophy (DGPhil). In research and teaching, Claudia Bickmann was particularly committed to the Kantian and idealist tradition in German philosophy, but also to Platonic philosophy as well as to the diverse currents of 20th century continental philosophy. At the same time, by including the thought of non-European cultures, she was interested in expanding the existing horizons of philosophical inquiry. Die Autorin: Claudia Bickmann (1952–2017) war seit 2002 Professorin für Philosophie an der Universität zu Köln. Nach der Promotion in Marburg (1984) im Grenzbereich zwischen Philosophie und Literaturwissenschaften erfolgte an der Universität Bremen ihre Habilitation mit der Arbeit »Differenz oder das Denken des Denkens. Topologie der Einheitsorte im Verhältnis von Denken und Sein im Horizont der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants« (Hamburg 1996). Von 2004 bis 2016 war sie Präsidentin der Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie (GIP), von 2006 bis 2012 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Philosophie (DGPhil). Claudia Bickmann setzte sich in Forschung und Lehre insbesondere für die kantische und idealistische Traditionslinie der deutschen Philosophie ein, aber auch für die platonische Philosophie sowie für die vielfältigen Strömungen der kontinentalen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Zugleich strebte sie durch die Einbeziehung außereuropäischer Denkkulturen eine interkulturelle Erweiterung des philosophischen Horizonts an.
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Claudia Bickmann
Transzendentalphilosophie und Idealismus. Ausgewählte Aufsätze Herausgegeben von Nicolas Bickmann und Markus Wirtz
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Claudia Bickmann Transcendental Philosophy and Idealism. Selected Essays This volume brings together twelve essays by philosopher Claudia Bickmann written between 1995 and 2017. The texts provide a differentiated insight into Claudia Bickmann’s philosophical concerns. This includes the systematic connection to the themes and motifs of classical German philosophy as well as the intensive engagement with the philosophical traditions of world cultures. For philosophy, according to Claudia Bickmann, »bursts the boundaries of particular perspectives and inquires even into those horizons where man and nature come together.«
The editors: Nicolas Bickmann studied history and philosophy at the universities of Cologne, Paris-Sorbonne IV and Bonn. 2018–2019 he completed a research stay at the University of Chicago. He is a PhD student and a research assistant at the Philosophy Department of the University of Bonn. In his dissertation he explores the relationship between theoretical and practical reason in the early works of Johann Gottlieb Fichte. Markus Wirtz completed his habilitation thesis Religious Reason. Faith and Knowledge in an Intercultural Perspective (Religiöse Vernunft. Glauben und Wissen in interkultureller Perspektive; Karl Alber: Freiburg/München 2018) under the supervision of Claudia Bickmann. He is currently a private lecturer of philosophy at the University of Cologne and also a high school teacher of philosophy, history and music at the Kaiserin-Augusta-Schule in Cologne.
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Claudia Bickmann Transzendentalphilosophie und Idealismus. Ausgewählte Aufsätze Der vorliegende Band bündelt zwölf Aufsätze der Philosophin Claudia Bickmann, die zwischen 1995 und 2017 entstanden sind. Die Texte vermitteln einen differenzierten Einblick in die philosophischen Anliegen Claudia Bickmanns. Hierzu gehören die systematische Anknüpfung an die Themen und Motive der Klassischen Deutschen Philosophie ebenso wie die intensive Auseinandersetzung mit den philosophischen Traditionen der Weltkulturen. Denn Philosophie, so Claudia Bickmann, sprengt »die Grenzen der partikularen Perspektiven und fragt selbst in diejenigen Horizonte noch hinein, in denen Mensch und Natur zusammenfinden.«
Die Herausgeber: Nicolas Bickmann studierte Geschichte und Philosophie an den Universitäten Köln, Paris-Sorbonne IV und Bonn. 2018-2019 absolvierte er einen Forschungsaufenthalt an der University of Chicago. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am philosophischen Institut der Universität Bonn und arbeitet dort an einer Dissertation zum Verhältnis von theoretischen und praktischen Vernunftvermögen im Frühwerk von Johann Gottlieb Fichte. Markus Wirtz habilitierte sich 2017 mit der Schrift Religiöse Vernunft. Glauben und Wissen in interkultureller Perspektive (Karl Alber: Freiburg/München 2018), die von Claudia Bickmann betreut worden war. Er ist Privatdozent für Philosophie an der Universität zu Köln und Gymnasiallehrer an der Kaiserin-Augusta-Schule in Köln.
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© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Print) 978-3-495-49157-7 ISBN E-Book (PDF) 978-3-495-82598-3
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort (Nicolas Bickmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Einleitung (Markus Wirtz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Philosophie ist heute unverzichtbar, weil … (Claudia Bickmann zur gegenwärtigen und zukünftigen Bedeutung des Philosophierens anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Verlags Karl Alber; 2010) . . . . . . . . . . . .
21
I.
Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
1.
Auf dem Wege zu einer Metaphysik der Freiheit: Kants Idee der Vollendung der Kopernikanischen Wende im Experiment der Vernunft mit sich selbst (1995) . . . . . .
25
Selbstaufklärung der Aufklärung als transzendentalphilosophisches Programm (1998) . . . . . . . . . . . .
38
Zur systematischen Funktion der kantischen Ideenlehre (2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
Kants sinnliches Scheinen der Idee. Die Einheit von Ethik und Ästhetik in Kants Ethikotheologie (2005) . . . . . . .
102
Die eingebettete Vernunft in Kants Kritik der Urteilskraft. Wechselintegration vereint-entgegengesetzter Sphären (2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119
2. 3. 4. 5.
6.
Metaphysik der Erfahrung mit oder ohne Kant? (2012)
7.
Immanuel Kants ›Ideal des höchsten Guts‹ im Horizont neukonfuzianischer Annäherungen (2014) . . . . . . . . . .
. . 144 163
7 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
Inhaltsverzeichnis
II. Aufsätze zum Deutschen Idealismus 1.
Der Geist-Begriff im Platonismus und Idealismus: Hegels systemtragendes Prinzip jenseits von Subjektivität und Objektivität (2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185
Der Gigantenstreit zwischen Schelling und Hegel. Widersacher im eigenen Lager (2009) . . . . . . . . . .
204
Bedingungen der menschlichen Freiheit. Schellings Freiheitsschrift (2012) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
228
In-sich-widersprüchliche Selbstidentität. Wege der Annäherung zwischen Ost und West. Platon, Schelling und Laotse (2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
246
Sein und Selbst-Sein. Hegels Idee der Selbsterkenntnis zwischen Sich-Bestimmen und Sich-Setzen (2018) . . . . .
266
Bibliographische Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . .
277
2. 3. 4.
5.
8 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
Vorwort
Der vorliegende Band dient der Würdigung und zugleich der Einführung in das Werk der Philosophin Claudia Bickmann (1952–2017), die von 2002 bis zu ihrem frühen Tod als Professorin an der Universität zu Köln forschte und lehrte. Die Herausgeber sind sich der Tatsache bewusst, dass der hier gewählte thematische Schwerpunkt der Transzendentalphilosophie und des Idealismus gleichsam nur einen ausschnitthaften Blick auf Claudia Bickmanns Werk eröffnet, welches sich durch eine selten erreichte systematische Tiefe sowie durch eine historische und zugleich interkulturelle Weite auszeichnet. Claudia Bickmann suchte in Forschung und Lehre intensiv den Dialog mit den reichen und vielfältigen Traditionen der außereuropäischen Philosophie. In diesem Geiste bekleidete sie in den Jahren 2004 bis 2016 das Amt der Präsidentin der Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie (GIP). Ihrer Berufung auf die Kölner Professur gingen mehrere Gastprofessuren an der Universität Kairo, der Ain-Shams-Universität und der Universität in El-Menjya in Ägypten sowie an der Delhi-Universität in Indien voraus. Die Zusammenstellung der vorliegenden Beiträge lässt sich als Fortführung des von Claudia Bickmann angeregten Dialogs der Weltphilosophien verstehen. In ihren letzten Lebensjahren war sie zunehmend bestrebt, die integrativen Potenziale der Transzendentalphilosophie Kants sowie des nachkantischen Idealismus für eine mögliche Weltphilosophie herauszuarbeiten. Dabei rekurriert sie auf einen Gedanken, den sie bereits in ihrer 1996 veröffentlichten Habilitationsschrift Differenz oder das Denken des Denkens mit Blick auf die Philosophie Immanuel Kants ausgearbeitet hat: Die universale Frage nach einer möglichen Integration von Freiheit und Natur, von Intelligibilität und Materialität, lasse sich nur unter Annahme eines Prinzips beantworten, welches den gegensätzlichen Polen als ein ›übersinnliches Substrat‹, als ein Ort der Indifferenz vorausliegt. Nur unter der Annahme eines solchen Prinzips, welches weder mit 9 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
Vorwort
Freiheit noch mit Natur identifiziert werden kann, könne die Harmonie und die zweckmäßige Zusammenstimmung beider Sphären gedacht werden. Die Idee einer ›Vernunfteinheit der Zwecke‹ eröffne damit zugleich die Aussicht auf die Möglichkeit eines sinnvoll geführten Lebens inmitten der natürlichen und sozialen Umwelt – eine Aussicht, die in kritischer Perspektive auf die westliche Philosophie der Gegenwart häufig eingeklagt wird. Die nachkantischen Philosophien Fichtes, Schellings und Hegels deutet Claudia Bickmann dabei nicht als einen Bruch mit Kants transzendentalphilosophischem Ansatz, sondern als je verschiedene Gestalten der Weiterentwicklung des von Kant prägnant formulierten Vermittlungsgedankens. Leider war es Claudia Bickmann nicht mehr möglich, eine Monographie fertigzustellen, an der sie seit einigen Jahren arbeitete. Sie sollte unter dem Titel Rückgang in den Grund veröffentlicht werden und systematisch die verschiedenen Weisen der begrifflichen Explikation eines letztbegründenden Prinzips durchleuchten, welches schließlich nicht vollständig im Begriff aufgeht. Der vorliegende Aufsatzband soll daher auch der bescheidende Versuch sein, dem Ziel einer kondensierten Darstellung ihrer philosophischen Hauptmotive zumindest im Ansatz nachzukommen. Dem Karl Alber Verlag und insbesondere Sarah Bischoff, Martin Hähnel und Lukas Trabert sei für ihre umfassende Unterstützung bei der Veröffentlichung herzlich gedankt. Köln, im Mai 2021
Nicolas Bickmann
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Einleitung
Das Denken der Philosophin Claudia Bickmann, die von 2002 bis zu ihrem Tode 2017 als Professorin für Philosophie an der Universität zu Köln wirkte, war auf die großen Grundlegungsfragen der Philosophie ausgerichtet: Worin sind unsere theoretischen und praktischen Weltzugänge fundiert? Wie lassen sich die nicht abzuweisenden vernünftigen Ansprüche auf wahre Erkenntnis, moralische Richtigkeit und ästhetische Schönheit auch angesichts der Dominanz postmetaphysischen Philosophierens rechtfertigen? In welcher Relation steht die abendländische Philosophie zu den philosophischen Beiträgen außereuropäischer Kulturen sowie zu den Weltreligionen? Das Ideal einer aufs Ganze ausgreifenden und gleichwohl in sich differenzierten Weltphilosophie, das Claudia Bickmann vorschwebte, vermochte durch den analytischen und naturalistischen Mainstream, der die zeitgenössische akademische Philosophie am Anfang des 21. Jahrhunderts über weite Strecken beherrschte, kaum erfüllt zu werden. Durch Hyperspezialisierung auf mikroskopische Detailprobleme in sauber abgezirkelten Unterabteilungen theoretischer oder praktischer Philosophie kommt man ihm jedenfalls nicht näher. Aus diesem Grund schöpfte das Denken Claudia Bickmanns aus den ergiebigeren Quellen der philosophischen Klassiker, zu denen für sie nicht nur die Systeme und Gedankenwege der abendländischen Philosophie seit Platon, sondern auch außereuropäische Philosophien, etwa aus chinesischen, indischen und islamischen Kulturwelten, zählten. Darüber hinaus bewies sie in Forschung und Lehre immer auch eine sehr große Offenheit gegenüber den vielfältigen sog. »kontinentalen« Strömungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts wie der Hermeneutik, der Phänomenologie, der Existenz- und Lebensphilosophie bis zum Seinsdenken Martin Heideggers und zur Dekonstruktion Jacques Derridas. Die wichtigsten Gravitationszentren ihres Nachdenkens blieben für Claudia Bickmann jedoch die philosophischen Systeme des Plato11 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
Einleitung
nismus, der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants und des Deutschen Idealismus. Als in uns, den Herausgebern des vorliegenden Bandes, die Idee reifte, mit einer Aufsatzsammlung gleichsam einen repräsentativen Querschnitt aus dem facettenreichen Philosophieren Claudia Bickmanns vorzulegen, lag es nahe, die Zusammenstellung auf diese für ihr Denken zentralen Strömungen zu fokussieren. In Anbetracht der zahlreichen Aufsätze, die Claudia Bickmann zur klassischen deutschen Philosophie publiziert hat, haben wir uns dafür entschieden, die Textauswahl auf diese in historischer ebenso wie in systematischer Hinsicht einzigartige Epoche der neuzeitlichen Philosophie zu konzentrieren. Der vorliegende Band bündelt zwölf Aufsätze Claudia Bickmanns, die zwischen 1995 und 2018 in Fachzeitschriften und Sammelbänden erschienen sind. Von ihnen befassen sich sieben Aufsätze mit der Transzendentalphilosophie Kants und fünf mit Problemstellungen des Deutschen Idealismus, namentlich der Philosophien Hegels und Schellings. Die Texte sollen einen keinesfalls vollständigen, aber gleichwohl differenzierten Einblick in die philosophischen Anliegen Claudia Bickmanns vermitteln. Ein kurzer Überblick über die wesentlichen Themen und Gedankenmotive der ausgewählten Aufsätze mögen diese Anliegen einleitend verdeutlichen. Mit der Frage, wie eine transzendentalphilosophisch fundierte Metaphysik auch unter (vemeintlich) nachmetaphysischen Bedingungen möglich sei, befassen sich die beiden Aufsätze »Auf dem Wege zu einer Metaphysik der Freiheit: Kants Idee der Vollendung der Kopernikanischen Wende im Experiment der Vernunft mit sich selbst« (I.1.) sowie »Metaphysik der Erfahrung mit oder ohne Kant?« (I.6.). Der zuerst genannte Aufsatz rekonstruiert im Ausgang von der Problematik, wie Freiheit und Kausalität in einem System widerspruchsfrei vereint werden können, Kants Lösungsansatz als Begründung einer Vernunfterkenntnis, die einen auf Sinnlichkeit bezogenen Verstandsbegriff und einen vernunftbezogenen Ideenbegriff so ausbalanciert, dass er mit dem in der moralischen Ordnung letztlich angestrebten höchsten Gut systematisch zusammenstimmen kann. In »Metaphysik der Erfahrung mit oder ohne Kant?« wird zunächst an maßgeblichen Stationen der Philosophiegeschichte aufgewiesen, wie das spannungsvolle Verhältnis zwischen Metaphysik und Erfahrung seit Aristoteles vor allem innerhalb der Metaphysik selbst thematisiert wurde. Kants in erkenntniskritischer Absicht durchgeführtes Selbstexperiment der Vernunft wird in die12 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
Einleitung
sem Kontext so interpretiert, dass es den Raum für eine »Metaphysik des Endlichen« vorbereitet habe, die zwar die theoretische Erkenntnis auf empirische Gegenstände in Raum und Zeit einschränke, Erfahrbarkeit überhaupt allerdings in einer »Theorie der unbedingten Horizonte« fundiere. In den Text »Selbstaufklärung der Aufklärung als transzendentalphilosophisches Programm« (I.2.) spielt eine deutlicher akzentuierte ethische Orientierung hinein. Im Kontext einer Verständigung über den jeweils leitenden Vernunftbegriff, der die Aufklärung und ihre Kritik bestimmte, werden Antworten auf zeitgenössische moralisch-praktische Herausforderungen gesucht, die sich angesichts der Materialisierung des Geistes in Neurobiologie und Kognitionswissenschaften stellen. Dabei wird deutlich, dass für Claudia Bickmann das Auseinanderfallen von Erkenntnis- bzw. Wissenschaftstheorie und Ethik ein Problem für die adäquate Reflexion auf jene Herausforderungen darstellt. Denn weder lässt sich wissenschaftliche Tätigkeit unabhängig von stets auch moralisch relevanten Zwecksetzungen begreifen, noch kommt Moralphilosophie ohne eine Berücksichtigung erkenntnistheoretischer Grundlagen unserer Rationalität aus. Die entscheidende Frage ist daher, ob trotz des Auseinandertretens von theoretischer und praktischer Vernunft in der Moderne nicht doch eine »Integrierbarkeit beider Sphären« im Horizont einer ›integrativen Ethik‹, die beide Horizonte umspannt, gedacht werden kann. Zentrale Dualismen der philosophischen Tradition wie Materie und Geist, Sinnlichkeit und Verstand, Freiheit und Notwendigkeit könnten dadurch als komplementäre Pole einer in sich differenzierten Einheit begriffen werden. Den Aufweis einer derartigen Komplementarität, bezogen auf den vermeintlichen Gegensatz des Ontischen und des Epistemischen innerhalb des Kantischen Systems, unternimmt der Aufsatz »Zur systematischen Funktion der kantischen Ideenlehre« (I.3.). Dem Gedanken des Ideals kommt dabei die finalisierende Aufgabe einer Vermittlung zwischen der »gegebenen Seinsordnung« und der »bloß aufgegebenen Sollensordnung« zu. Diese Vernunfteinheit aller Zwecke in personifizierter Gestalt als höchstes Wesen, Gott, zu denken, ist innerhalb des Kantischen Systems freilich nur im Sinne eines äußersten Grenzbegriffs möglich, der den Bereich des Erkennbaren überschreitet, indem er ihn zugleich fundiert. Ist somit in Bickmanns Interpretation bereits innerhalb der Kritik der reinen Vernunft eine durch den Idealgedanken indizierte Kom13 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
Einleitung
plementarität von Ontologie und Erkennnistheorie angelegt, so zeigt sich eine andere Facette dieses Grundgedankens in der »Einheit von Ethik und Ästhetik in Kants Ethikotheologie«, wie der Untertitel des Aufsatzes »Kants sinnliches Scheinen der Idee« (I.4.) lautet. Auch hier geht Bickmann von einem philosophiehistorisch bedeutsamen Gegensatz aus – demjenigen zwischen einer autonomen und einer heteronomen Ästhetik – und verfolgt sodann den kantischen Lösungsansatz, der im Rahmen der Ethikotheologie eine wechselseitige Integration von Sinnlichkeit und Intelligibillität aufweist. Bickmanns Kantdeutung zufolge kann diese Integration aber nur unter der Voraussetzung eines übersinnlichen Substrats gelingen, das als einheitsstiftendes Prinzip jenseits der Dichotomie von Natur und Freiheit in einem »Ort der Indifferenz« zu situieren ist. Einer ähnlichen, auf die Wechselintegration von Natur und Freiheit abzielenden Problemstellung widmet sich auch der Text »Die eingebettete Vernunft in Kants Kritik der Urteilskraft. Wechselintegration vereint-entgegengesetzter Sphären« (I.5.). Der dritten Kritik Kants wird hier eine Brückenfunktion zwischen den Sphären der natürlich gegebenen und der in moralischer Hinsicht uns aufgegebenen Welt zugesprochen, wobei der letzteren die Priorität zukommt. Denn während die Ideen als Vernunftprinzipien in Bezug auf die Erkenntnis der natürlichen Welt eine regulative Funktion haben, ist ihre Bedeutung für die Gestaltung der moralischen Welt konstitutiv. Die Urteilskraft fungiert vor allem deswegen als vermittelndes Vermögen, weil sie anhand der Idee der Zweckmäßigkeit antizipierend auf jenen Horizont ausgreift, in dem Natur und Freiheit geeint sind. Paradigmatisch kommt dies in der Kunst zum Ausdruck, deren Produktion und Rezeption durch das freie Spiel der subjektiven Einbildungskraft die Möglichkeitsspielräume zur Gestaltung der gegebenen Welt offenbart. Aber auch in der Wahrnehmung des Schönen und Erhabenen in der Natur sowie ihrer Anschauung gemäß der teleologischen Urteilskraft zeigt sich eine noumenale Affinität der natürlichen Welt zu unseren Seelenkräften, die der rein theoretischen, auf Objektivität der Phänomenbeschreibung abzielenden Naturerkenntnis notwendigerweise verschlossen bleibt. Physiktheologie und Ethikotheologie werden somit in Kants Kritik der Urteilskraft wechselseitig systematisch integriert. In Abwandlung von Kants berühmten Diktum »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind« 1 zieht Claudia Bickmann das beeindruckende Fazit, dass Moralität leer bliebe, würde sie nicht auf die praktische 14 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
Einleitung
Urteilskraft bezogen, ebenso wie die die theoretische Erkenntnis ohne den Bezug zur moralisch aufgegeben Welt blind wäre. Dass im Ausgang von dieser integrativen Kant-Deutung interund transkulturelle Brückenschläge in außereuropäische Philosophien möglich sind, beweist der Aufsatz »Immanuel Kants ›Ideal des höchsten Guts‹ im Horizont neu-konfuzianischer Annäherungen« (I.7.). Bickmann lotet hier unter der gemeinsamen Leitdee einer »Harmonie der Zwecke« potentielle Berührungspunkte zwischen kantianischen und konfuzianischen Annäherungen an die Richtigkeit moralischer Rede aus, obgleich die enorme geistesgeschichtliche Distanz zwischen beiden Philosophieströmungen, wie Bickmann ebenfalls betont, keinesfalls unterschätzt werden darf. Wiederum ist es die Idee einer im Zweckbegriff finalisierten Einheit der natürlichen und der moralischen Weltordnung, der im Zentrum von Bickmanns Überlegungen steht. Gerade der hierin wirksame Gedanke einer Komplementärbeziehung zweier Sphären (Natur und Freiheit), die sowohl in ontologischer als auch in epistemologischer Hinsicht geradezu gegensätzlich zu sein scheinen, aber gleichwohl wechselseitig aufeinander verwiesen sind, weist deutliche Affinitäten zur klassischen chinesischen Philosophie sowie zum Neo-Konfuzianismus auf. In dem vorliegenden Aufsatz betont Bickmann allerdings nicht so sehr diesen gemeinsamen Grundgedanken einer polaren Wechselbestimmung scheinbar entgegengesetzter Felder als vielmehr die Differenz zwischen einer Konfuzius vorschwebenden hierarchischen Beziehung des ›edlen Philosophenherrschers‹, der seine Worte richtig zu wägen weiß, zum restlichen Volk und der selbstkritischen Prüfung der Vernunft und ihrer Begriffe, die Kant letztlich jeder/jedem Einzelnen zumutet. Die auf Aspekte des Deutschen Idealismus, namentlich der Philosophien Schellings und Hegels bezogenen Aufsätze Claudia Bickmanns, die im II. Teils dieses Bandes versammelt sind, beginnen mit einem Text, der die Systemkonzeptionen Schellings und Hegels in die philosophische Tradition aristotelisch-neuplatonischer Bestimmungen des Geistbegriffs stellt: »Der Geist-Begriff im Platonismus und Idealismus: Hegels systemtragendes Prinzip jenseits von Subjektivität und Objektivität« (2.1). Ebenso wie in ihrer KantAuslegung zeigt Bickmann auch in Bezug auf die Systeme des DeutImmanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft [im Folgenden zitiert als: KrV], A 51/ B 75.
1
15 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
Einleitung
schen Idealismus, dass diese nicht in erster Linie aus dem Prinzip der neuzeitlichen Subjektivität, sondern aus einem integrativen Bemühem um Vermittlung des (vermeintlichen) Gegensatzes zwischen Subjektivität und Objektität zu begreifen sind. Erst vom Begriff des Geistes aus, in dem sich das Denken selbst denkt, kann nach einem einheitsstiftenden Prinzip gesucht werden, das die ursprüngliche Spannung von Denken und Sein, Subjektivität und Objektivität, fundiert. Es muss sich dabei um ein indifferenzierendes Grundprinzip handeln, aus dem die Differenz allererst hervorgeht. Im Unterschied zu den (neu-)platonischen Versuchen, dieses Indifferenzierungsprinzip jenseits des Geistes zu fassen, ist es in Hegels absoluter Idee, die hierbei einer aristotelischen Grundintention folgt, untrennbar vom télos der Gesamtbewegung des nous, des sich selbst denkenden und darin selbsterhellenden Denkens als Geist. Aus dem anfänglichen Gegensatz zwischen Subjektivität und Objektivität wird schließlich eine wechselseitige Vermittlung der Extrempositionen, die sich an der kusanischen Denkfigur der coincidentia oppositorum orientiert. Diese Art der Entdfifferenzierung kennzeichnet Bickmann jenseits des metasystematischen Gegensatzes von Monismus und Dualismus als triadisch: Weder das nicht-entäußerte, nur bei sich bleibende Prinzip noch die Entäußerung als Differenz haben das letzte Wort, sondern erst im hegelianischen Sinne der sich wissende, doppelt negierende Zusammenschluss des Urprinzips mit sich selbst. Von dieser Einsicht aus lässt sich in analoger Weise Schellings Identitätssystem deuten. Stärker auf die Differenzen zwischen den idealistischen Systemansätzen Hegels und Schellings geht der Aufsatz »Der Gigantenstreit zwischen Schelling und Hegel: Widersacher im eigenen Lager« (2.2) ein. Zwischen Hegels Absorption des Einzelnen und Individuellen in die Systemtotalität des Begriffs und Schellings Insistenz auf der begrifflichen Uneinholbarkeit des Einzelnen, Individuellen, des »nackten Dass« der Existenz scheint zunächst keine Versöhnung möglich zu sein. Der späte Schelling hat seine »positive Philosophie«, die dem Faktum der individuellen Existenz Rechnung trägt, schießlich selbst von Hegels »negativer«, rein-rationaler Begriffsphilosophie unterschieden. Aber auch in diesem Zusammenhang erkennt Bickmann eine systematische Komplementarität, der sowohl Hegels als auch Schellings philosophische Ansätze bedürfen, um nicht in die einseitige Verabsolutierung einer der beiden Seiten des Gegensatzes zu geraten. Kants Ideal der reinen Vernunft als ›Idee in individuo‹ erweist sich für Bickmann hierbei als das begriffliche 16 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
Einleitung
Medium, aus dem sich Hegels dialektische Logik und Schellings positive Philosophie gleichermaßen begreiflich machen lassen. Schellings Hegel-Kritik scheint insofern nicht zuzutreffen, als in Hegels Wissenschaft der Logik die Sphären des Seins und des Wesens als vor- und außerbegriffliche Realitäten der Sphäre des Begriffs vorgeordnet sind. Der Begriff entwickelt sich erst aus seinem Anderssein in die ihm gemäße Gestalt des Anundfürsichseins, in der die Substanz zugleich Subjekt, d. h. sich selbst und ihr Anderes frei setzendes Sein, geworden ist. Ist somit die begriffliche Vermittlung des Hegelschen Systems auf ein vor- und außerbegriffliches Sein notwendig angewiesen, so kommt auf der anderen Seite aber auch Schellings Betonung der reinen Existenz des »unvordenklichen Dass« nicht ohne eine apriorische Beziehung des Seins zum Denken aus. Das Einzelne, Individuelle, dessen Eigensinn der späte Schelling hervorhebt, ist nämlich, so Bickmann, nicht mit der rohen Materalität des Einzeldings zu verwechseln, sondern es handelt sich um Individualität in ihrer durchgängigen Bestimmtheit, die auf Kants ›Idee in individuo‹ verweist. Nicht nur ein vermeintlicher, von Schelling freilich selbst bewusst so konstruierter Gegensatz zwischen den idealistischen Systementwürfen kann auf diese Weise entschärft werden, sondern auch die Etikettierung der Philosophien Hegels und Schellings als »idealistisch« verliert laut Bickmann ihre Berechtigung, da es schließlich beiden Denkern darum gegangen sei, Idealität und Realität, Denken und Sein, Geist und Natur miteinander zu versöhnen. Der Aufsatz »Bedingungen der menschlichen Freiheit« (2.3) geht Schellings Philosophie der Identitätsbildung und Selbstbestimmung nach. Gegenüber der bis in die Antike zurückreichenden philosophischen Tradition, Natur und Geist im Prozess der Selbstbildung miteinander zu versöhnen, konstatiert Bickmann in der gegenwärtigen philosophischen Konstellation eine naturalistisch-reduktive Objektivierung des Subjekts, die es zur Dementierung seiner eigenen Freiheitsspielräume nötigt. Die Vermittlung und Versöhnung von Natur und Geist kann demgegenüber als eine der zentralen systematischen Aufgaben der klassischen deutschen Philosophie betrachtet werden, wenn nicht als die entscheidende überhaupt. In Hegels System wird sie durch eine wechselseitige Vermittlung des Subjektiven und des Objektiven eingelöst, welche die Dynamik des Absoluten ausmacht. Den gemeinsamen Impetus der vielfältigen systematischen Ansätze Schellings erkennt Bickmann wiederum darin, die Vermittlung von Natur und Geist in einem Dritten zu verorten, das zu 17 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
Einleitung
einer Indifferenzierung der anfänglichen Gegensätze führt: sei es in der sinnlich-übersinnlichen Gestaltung durch die Kunst (System des transzendentalen Idealismus; 1800), in der absoluten Vernunft (Darstellung meines Systems der Philosophie; 1801), oder aber, seit Schellings ›Freiheitsschrift‹ (1809), in der individuierten Seele als ›verbesonderter Gestalt des Allgemeinen‹. Aufgrund ihres Freiheitsvermögens steht es dieser frei, das Ideal des höchsten Guten aktiv zu befördern oder aber den eigenen Partikularwillen zum leitenden Handlungsprinzip zu machen und damit das Böse in die Welt zu setzen. Erst durch einen sowohl philosophisch wie auch religiös konnotierten Bildungsweg, den Schelling in Orientierung an der platonischen Paideia-Konzept entwirft, vermag das Individuum eine Persönlichkeit aus sich selbst heraus zu gestalten, die aus freien Stücken an der Realisierung des höchsten Guten mitwirken will. Eine interkulturelle Horizonterweiterung im Ausgang von den Philosophien Platons und Schellings, und zwar in Bezug auf die Philosophie des Daoismus, nimmt der folgende Text »In-sich-widersprüchliche Selbstidentität. Wege der Annäherung zwischen Ost und West. Platon, Schelling und Laotse« (2.4) vor. Die Einführung zu diesem Aufsatz ist von besonderem Interesse, da Bickmann in ihr das leitende Ethos einer interkulturellen Öffnung philosophischer Reflexion umreißt. Nicht Einkapselung des philosophischen Denkens in die Grenzen einer je vereinzelten Kultur, sondern vielmehr Vermittlung und Übersetzung lauten die Aufgaben, vor die sich philosophisches Denken angesichts der Erfordernisse interkultureller Dialoge und Polyloge gestellt sieht. Der spezifisch abendländische Weg des Philosophierens zeichnet sich in Bickmanns Rekonstruktion vor allem dadurch aus, dass mit Platon die Reflexion auf die Beziehung des Denkens zu seinen Gegenständen und zu sich selbst zu einer Begriffserkenntnis führt, die sowohl die epistemischen Grundlagen des Wissens als auch die ontologische Genesis der Gegenstände in einer simultanen Bewegung durchsichtig macht. Auch in diesem Kontext kommt wieder jene metaphysische Grundlagenfrage ins Spiel, welche die meisten der in diesem Band versammelten Aufsätze wie ein roter Faden durchzieht: Benötigen Subjekt und Objekt, Wissen und Sache, Geist und Natur ein Drittes zu ihrer Verbindung und Versöhnung, oder genügt es, wenn sie sich wechselseitig ineinander vermitteln (so die Hegelsche Lösung)? – Neigt man zu der ersten Auffassung der Notwendigkeit eines Dritten, so wird dieses, da es jeglicher Gegenstandserkenntnis vorausliegt, in einem vor18 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
Einleitung
theoretischen, vorprädikaten Raum anzusiedeln sein. Und aus diesem Grund lässt es sich nicht nur mit der alles überstrahlenden platonischen Idee des Guten, sondern auch mit dem formlosen und unbestimmten Dao in Verbindung bringen, von dem das Daodejing sagt, dass es als der namenlose Ursprung von allem jeglicher Dualität – sogar noch derjenigen zwischen Erde und Himmel, Yin und Yang – vorausliege. Bickmann bezieht sich aber nicht nur auf die kosmologisch-metaphysische Bedeutung des Dao, sondern auch auf dessen ethisch-politische Anwendung auf das menschliche Miteinander. So wie im platonischen Sinne alles gute Handeln auf die unvordenkliche Idee des Guten bezogen ist und im daoistischen Sinne ein am unsichtbaren Dao ausgerichtetes Handeln ganz von selbst das Gute bewirkt, so mag auch das interkulturelle Zusammenleben und Philosophieren dann am besten gelingen, wenn wir einander nicht in wechselseitigen Zuschreibungen fixieren, sondern uns in einem für alle erschlossenen Raum des zukunftsoffenen Philosophierens wechselseitig erschließen. Der letzte in diesem Band abgedruckte, posthum im »HegelJahrbuch« 2018 veröffentlichte Aufsatz »Sein und Selbst-Sein. Hegels Idee der Selbsterkenntnis zwischen Sich-Bestimmen und Sich-Setzen« eröffnet eingangs einen ähnlichen Problemhorizont wie die Texte (2.1) und (2.3), indem wiederum die zeitgenössische epistemische Aufspaltung in Sein und Erkenntnis, Natur und Geist, zum Anlass genommen wird, ihr gegenüber an das beide Sphären versöhnende Denken der klassischen deutschen Philosophie zu erinnern. Und zwar ist es speziell die Idee der reflexiven Selbsterkenntnis, deren Rekonstruktion deutlich macht, dass eine einseitig objektivierende Betrachtung des Menschen notwendig fehlgehen muss. Keine Philosophie hat dies eindringlicher und umfassender herausgearbeitet als die Hegelsche. Bickmann betrachtet dabei Hegels Werk – nicht bloß die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, sondern auch die Phänomenologie des Geistes und die Wissenschaft der Logik – als eine systematische Gesamtheit von transzendentalheuristischer Hinführung (in der Phänomenologie des Geistes), prinzipientheoretischer Entfaltung (Wissenschaft der Logik) und realitätsbezogenem Aufweis der Manifestationen des Prinzips in Natur und Geist (Enzyklopädie). Als diese Einheit vermag Hegels System den Zusammenhang der Grundbegriffe der speziellen Metaphysik – Seele, Welt und Gott – durch den dialektischen Nachvollzug ihrer jeweiligen Begriffsform, die je nach Entwicklungsstufe ein Sich-selbst-Setzen durch Selbstnegation, ein Sich-Erkennen und 19 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
Einleitung
ein Sich-Bestimmen bedeutet, durchsichtig zu machen. In Bickmanns Hegel-Interpretation rückt die hegelsche Lösung der Versöhnung von Endlichem und Absolutem schließlich in die Nähe der kantischen Reformulierung der Metaphysik unter transzendentalphilosophischen Bedingungen: Der reinen Vernunft ist die unüberbrückbare Differenz zwischen Endlichem und Absolutem wohl bewusst, aber sofern sich die freie Selbstbestimmung in ethischer Hinsicht am Absoluten orientiert und sofern sie um ihre eigene Position innerhalb des Systemganzen weiß, ist die Ausrichtung am maßgeblichen Begriff einer Welt unter Freiheitsgesetzen, die uns nicht gegeben, sondern aufgegeben ist, nicht nur statthaft, sondern unumgänglich. Die Absolutsetzung empirischer Erkenntnisse über den Menschen bergen dagegen die Gefahr, die reichhaltigen Potentiale des Menschen zu einer freien Weltgestaltung, die sich an verallgemeinerbaren moralischen Grundsätzen orientiert, zu unterminieren. Sie verendlichen und verdinglichen den Menschen und verfehlen so dessen Proprium, als endliches Wesen gleichwohl mehr als eine bloße Ahnung vom Unendlichen zu haben. Da die in diesem Band zusammengestellten Aufsätze in unterschiedlichen Publikationsorganen (Sammelbänden und Fachzeitschriften) veröffentlicht worden sind, folgen sie zum Teil verschiedenen Zitierrichtlinien. Die Herausgeber des vorliegenden Bandes haben sich darum bemüht, die Zitierweisen der einzelnen Texte so weit zu vereinheitlichen, dass eine flüssige Lesbarkeit und Orientierung im gesamten Band gewährleistet ist. In einzelnen Fällen mussten daher Stellenangaben angepasst werden. Den zwölf Aufsätzen geht eine aufschlussreiche Auskunft über das philosophische Selbstverständnis Claudia Bickmanns voraus, die 2010 in dem Buch »Philosophischer Wegweiser« im Karl Alber-Verlag erschienen ist. Dem darin geäußerten, bleibend aktuellen Plädoyer Claudia Bickmanns, »angesichts der Herausforderungen einer beschleunigt zusammenwachsenden Welt unseren Blick für diejenigen philosophischen Fragen und Traditionen offenzuhalten, ohne deren Verständnis unser Handeln ohne Ziel und Richtungssinn bleiben müsste«, möchten sich die Herausgeber gerne anschließen. Wir würden uns freuen, wenn der vorliegende Band einen Beitrag dazu leisten könnte. Köln, im Mai 2021
Markus Wirtz
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Philosophie ist heute unverzichtbar, weil … (Claudia Bickmann zur gegenwärtigen und zukünftigen Bedeutung des Philosophierens anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Verlags Karl Alber; 2010)
Philosophie ist heute unverzichtbar, weil … sie nicht allein lichten, klären und schlichten kann, was wir wissen können, wie wir handeln sollten und was wir hoffen können, sondern weil die Philosophie auch diejenigen Horizonte noch aufzuhellen vermag, innerhalb derer dieses Lichten, Klären und Schlichten sich vollzieht. Damit sprengt sie die Grenzen der partikularen (individuellen, kulturellen, wissenschaftlichen oder religiösen) Perspektiven und fragt selbst in diejenigen Horizonte noch hinein, in denen Mensch und Natur zusammenfinden. Dass dieses Zusammenfinden letztlich dem freien Willen der Einzelnen wie ihrer Gemeinschaften unterliegt, macht die Fragilität und Gefährdung unserer Bemühung um eine friedliche moralische Welt deutlich. Welches ist für Sie die wichtigste philosophische Frage für das 21. Jahrhundert? Wie kann philosophische Reflexion und Analyse dazu beitragen, unser Denken, Handeln und Hoffen nicht weltanschaulich, religiös, kulturell oder wissenschaftlich engzuführen, sondern angesichts der Herausforderungen einer beschleunigt zusammenwachsenden Welt unseren Blick für diejenigen philosophischen Fragen und Traditionen offenzuhalten, ohne deren Verständnis unser Handeln ohne Ziel und Richtungssinn bleiben müsste? Welches Buch halten Sie für besonders geeignet, um in die Welt der Philosophie einzuführen? In unserem Kulturraum würde ich Platons Theaitetos und der Politeia eine solche Funktion zuschreiben. Welches ist Ihr philosophisches Lieblingsbuch? Da die vielfältigsten philosophischen Werke und Traditionen den eigenen Zugang zu philosophischen Fragen irritieren, erweitern, bereichern oder vertiefen konnten, rückte jeweils dasjenige in den Mittelpunkt, das an einer solchen Horizontverschiebung beteiligt war. Die nachhaltigste Wir21 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
Philosophie ist heute unverzichtbar, weil …
kung hatte darum nicht ein einzelnes Buch, sondern der Beitrag der verschiedensten Bücher als Meilensteine auf dem Wege der Klärung philosophischer Fragen. Unter all diesen haben jedoch die Spätdialoge Platons (insbesondere der Parmenides) und Kants drei Kritiken ihre größte Wirkung entfalten können. Haben Sie ein philosophisches Lieblingszitat? »Die Welt muß als aus einer Idee entsprungen vorgestellet werden, wenn sie mit demjenigen Vernunftgebrauch, ohne welchen wir uns selbst der Vernunft unwürdig halten würden, nämlich dem moralischen, als welcher durchaus auf der Idee des höchsten Guts beruht, zusammenstimmen soll.« (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft) Möchten Sie an dieser Stelle eine kontroverse/provokative These äußern, über die Sie gerne mit anderen diskutieren möchten? Der hohe Grad an Spezialisierung in unserem Fach kann nur fruchtbar sein, wenn wir erneut die Horizonte zurückgewinnen, in die die jeweiligen Mikroanalysen eingebettet sind: Naturalisierung, Epiphänomenalisierung und Depotenzierung (Detranszendentalisierung) der philosophischen Weisen der Weltorientierung haben dazu geführt, dass wir heute vielfach nicht einmal die Fragen mehr verstehen, auf die die großen philosophischen Systeme und Traditionen – wie auch die heute erneut erstarkenden nicht-europäischen Philosophien – eine Antwort suchten. Die integrativen Kräfte der Philosophien Platons, Aristoteles’, Kants, des Deutschen Idealismus bis zu Heidegger sind entweder versiegt oder an »Scheinargumenten« durch logische Analyse der Sprache, durch naturalisierende Epistemologien oder depotenzierende Fragmentierungen zu Fall gekommen.
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Erster Teil: Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
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1. Auf dem Wege zu einer Metaphysik der Freiheit: Kants Idee der Vollendung der Kopernikanischen Wende im Experiment der Vernunft mit sich selbst
1.
Die Wiederkehr eines unbewältigten Problems
Der sachliche Bezugspunkt, der Kants Kritik am Systemprogramm der Leibniz-Wolffschen Metaphysik wie auch seiner Kritik am »Pantheismus« Spinozas zugrundeliegt, läßt sich in einer knappen Skizze wie folgt beschreiben: Wenn 1. gelten soll, daß die Bestimmung eines Einzelnen (als »Gegenstand überhaupt«) an die Idee des »Alls der Realität« gebunden ist, wenn es als durchgängig bestimmt vorgestellt werden soll, – und wenn aus diesem Grunde 2. unser Weltbegriff selbst als durchgängig bestimmt vorgestellt werden muß, wenn ein Einzelnes als sein Teil erkannt werden soll, so wird 3. Freiheit als Bestimmungsgrund der sittlich agierenden Einzelnen in einem solchen Weltbegriff nur zu integrieren sein, wenn wir den Gedanken dieser durchgängig bestimmten »Seinsordnung« nicht auf ein extramundanes Prinzip gründen, dem natürliche und intelligible Bestimmungsgründe als seine Attribute bereits eingeschrieben sind. Denn Freiheit als das innere Bewegungsprinzip eines dynamischen Weltbegriffs ist mit dem Ganzen der durchgängig bestimmten Erscheinungswelt nur dann in einem Systemgedanken zu vereinen, wenn intelligible Kausalitäten in dieses System ganze widerspruchsfrei integrierbar sind und das systemtragende Prinzip darum mit Freiheit kompatibel ist. Freiheit als eine spontane Handlungsquelle frei setzender Wesen und Naturkausalität als Bewegungsform der äußerlich bewirkten Erscheinungsmannigfaltigkeit bringen nämlich, so Kant, unsere Vernunft nur dann nicht in einen Widerstreit ihrer Prinzipien untereinander, wenn die kausal geschlossene, erscheinende Welt mit der Offenheit der auf Freiheit gründenden moralischen Welt in einem System zusammenbestehen kann,
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I · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
ohne entweder unseren Verstandesbegriff der Erfahrung oder aber die Vernunftidee der Freiheit zu gefährden. 1 Wie aber soll Freiheit als ein intelligibler Bestimmungsgrund in den kausal geschlossenen Bereich der sinnlich gegebenen Erscheinungswelt integriert werden können, ohne 1. das Prinzip ihrer Verbindung in einem extramundanen Einheitsgrund zu finden, und 2. beide Sphären nur mehr als Attribute dieses Einheitsprinzips selbst zu beschreiben? Dies ist die Kernfrage, vor die sich Kants kritisch gewandelte Metaphysik gestellt sieht. 2 Ohne einen einfachen Bestimmungsgrund aller Vernunft zwecke untereinander bliebe, so lautet seine Überlegung, unsere Vernunfteinheit ohne ein transzendentales Prinzip. Und da die Notwendigkeit ihrer inneren Übereinstimmung nur durch ein solches Prinzip eingesehen und gerechtfertigt werden kann, das selbst noch die Vernunfteinheit auf Gründe bringen kann, so scheint die Frage nach einem extramundanen »Schlußstein« des Systems der Vernunftzwecke zugleich unabweisbar. 3 Darum ist es die Frage nach einer widerspruchsfreien Bestimmung dieses obersten Systemortes, die Kant dann zugleich vor diejenige Schwierigkeit stellt, die seit ihrer erstmaligen systematischen Betrachtung in Platons Parmenides mit der Verständigung über ein solches systemtragendes Prinzip verbunden ist: Wird der Systemgrund außerhalb des Systems gesetzt, so stellt sich die Frage, wie das Mannigfaltige aus ihm begreiflich zu machen ist; soll das systemtragende Prinzip umgekehrt innerhalb der Grenzen des Systems zu finden sein, so fragt sich, wie es dann ihr Grund noch sein kann. 4 Gelänge es nun Kants »veränderter Denkungsart«, die genannte Aporie einer jeden sich ihrer Grundlagen vergewissernden philosophischen Theorie zu vermeiden und ein oberstes Prinzip widerspruchsfrei als Grund und Substrat aller Vielfalt und Differenz zu denken, ohne es durch das zu bestimmen, was aus ihm allererst begreiflich zu machen ist, dann stünde einer kritischen Erneuerung der Metaphysik nichts mehr im Wege. Nun kann die Übereinstimmung der natürlichen mit den intelligiblen Kausalitäten im Sinne Kants nicht mehr in einem Prinzip gefunden werden, in welchem beide nach dem Muster einer absoluten Substanz oder einer göttlichen Urmona1 2 3 4
Kant, KrV, B XV. KrV, A 815 ff./B 843 ff. KrV, A 107; A 669 ff./B 697 ff.; A 815 ff./B 843 ff. Platon, Parmenides, 137esq.
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1. Auf dem Wege zu einer Metaphysik der Freiheit
de als apriori vereinigt gedacht werden können. Vielmehr muß die Tragweite unserer Vernunft zur Entdeckung und Erhellung eines solchen Prinzips allererst geprüft werden. Eine erkenntniskritisch gewendete Metaphysik wird dann nicht mehr – aristotelisch – auf das »Seiende, insofern es ist«, direkt bezogen sein, sondern sie wird nach der Erkenntnisart eines »Seienden, insofern es durch Freiheit möglich ist«, fragen wollen, um zu sehen, ob und in welcher Weise die Ideen des Unbedingten als intelligible Bestimmungsgründe unserer integrierenden Vernunft mit den funktionalen Einheitsgründen unseres Erfahrungswissens im System der Einen Vernunftwissenschaft harmonieren können. 5
2.
Die Vernunft selbst als ein Organ vorgestellt. Suche nach Übereinstimmung ihrer Vermögen untereinander in einer Vernunfterkenntnis aus Begriffen
Wie nun, so lautet in einem zweiten Schritt die Frage, kann die Übereinstimmung der Vernunftvermögen untereinander erreicht werden? Welches Bild der Vernunft wird vorausgesetzt, wenn ihre Einheit nicht nur postuliert, sondern im Begriffe ihrer Vermögen auch realisiert werden soll? Da eine mögliche Metaphysik im Sinne Kants allein mit dem befaßt ist, was die Vernunft rein aus sich selbst zu erkennen vermag, so hat sie als Prinzipienwissenschaft in der Vernunft ihren Sitz. Und insofern Metaphysik als Vernunftwissenschaft auf zweifache Weise – als Selbst- und als Welterkenntnis – als eine Grenzwissenschaft erscheint, so ist sie zugleich in eine doppelte Perspektive gebracht: Zum einen ist sie auf einen Weltbegriff bezogen, dessen Substrat allein in einem Raum-Zeitlichen zu finden ist. Zum anderen erstrebt sie die Einheit aller Vernunftprinzipien untereinander, welche selbst nur durch ein über sinnliches, systemtragendes Prinzip zu rechtfertigen ist. Und beide Perspektiven – die welterschließende, sich veräußernde wie auch die selbstreflexiv gewordene, in wendige Perspektive – müssen in ihren Funktionen zugleich
Und so wie in dieser erkenntniskritisch gewandelten Perspektive Metaphysik nicht eigentlich überwunden, sondern lediglich auf ein neues Fundament gestellt ist, so verbleibt nach dieser Interpretation ihres Verlaufs auch die dritte Etappe ihrer Selbstbesinnung – die seit Frege in Gang gebrachte Suche nach der rechten Verständigungsart über Seiendes – im Gravitationsfeld metaphysischer Reflexion.
5
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I · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
harmonieren können, wenn die Übereinstimmung der Vernunft mit sich selbst gewahrt bleiben soll. Kant rechtfertigt diese erstrebte Übereinstimmung durch eine Spiegelung der Vernunft im Bilde der Natur. Denn die Vernunft wird als eine mit sich einige Größe vorgestellt, »… in welcher ein jedes Glied, wie in einem organisierten Körper, um aller anderen und alle um eines willen dasind, und kein Prinzip mit Sicherheit in einer Beziehung genommen werden kann, ohne es zugleich in der durchgängigen Beziehung zum ganzen reinen Vernunftgebrauch untersucht zu haben.« 6 Die sich selbst erhellende Vernunft wird dann jedoch nicht allein als eine durchgängig bestimmte, mit sich einhellige Größe im Bilde der Natur – quasi-teleologisch – als ein zweckmäßiges Ganzes aus Teilen, mithin also als ein System aufeinander bezogener Zwecke greif bar. Die Projektion der Vernunft auf das Bild der Natur hat im Sinne Kants vielmehr auch eine methodische Konsequenz. Ganz im Sinne der aristotelischen Unterscheidung der vier Seinsgründe 7 wird die Vernunft nämlich – quasi-entelechial – als eine zweckgerichtete Einheit beschrieben: In dieser wird die Materie ihrer Tätigkeit von den Formen, in welchen sie sich vollzieht, ebenso unterschieden, wie zugleich die Bedingungen untersucht werden, unter denen ihre Betätigung, von äußeren Quellen veranlaßt, zur Erkenntnis einer gegebenen Seinsordnung führen – oder aber, unter denen sie, aus inneren Quellen, aus moralischen Zwecken in Gang gebracht, eine Sollensordnung zu begründen vermag, welche allein nur durch Freiheit möglich ist. Im »Organgedanken« der Vernunft liegt dann für Kant zugleich auch das Prüfkriterium ihrer inneren Übereinstimmung mit sich selbst: Bildet nämlich die Vernunft ein Verständnis ihrer Vermögen aus, nach welchem ihre Teilfunktionen in einen nicht auflösbaren Streit geraten, so hebt sie sich als Einheit zugleich selber auf. Wie aber soll ein solcher innerer Widerstreit der Vernunft zu entdecken und zu beheben sein? Kann doch die Vernunft auf dem Gebiete der Metaphysik nicht wie die reine Mathematik oder die reinen Naturwissenschaften ein »… Experiment mit ihren Objekten machen«. 8 Die Gültigkeit ihrer Annahmen wird sie, so Kant, an der Übereinstimmung ihrer Prinzipien und Begriffe untereinander ablesen müsKrV, B XXIII. Aristoteles, Physikvorlesung, II. Buch, 194 b 17–195 a 3; ferner: Aristoteles, De anima, II. Buch, 415 b 9 sq. 8 KrV, B XIV; B XVIII. 6 7
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1. Auf dem Wege zu einer Metaphysik der Freiheit
sen. Und wenn dabei ein Rückfall in eine dogmatische Metaphysik vermieden werden soll, so wird es im Sinne Kants erforderlich sein, Vernunfterkenntnis als eine Ideenwissenschaft zu begründen, der eine zweifache Funktion zugesprochen werden muß: Es wird 1. zu ihren Aufgaben gehören, unsere Verstandeserkenntnisse auf ein Erfahrungsfundament zu stellen, dem der Verstand zwar die Regeln gibt, welches durch seine Synthesisakte aber nicht allererst hervorgebracht wird. Denn Sein und Setzen sind im Sinne Kants nicht identisch. Ferner wird eine solche Vernunftwissenschaft 2. nicht allein die systematische Einheit unserer Verstandeserkenntnisse aus Prinzipien begreiflich machen müssen, sondern sie wird vermittels solcher Prinzipien auch eine aus Freiheit mögliche – moralische – Weltordnung schaffen wollen. 9 Indem Kant in der Konsequenz seiner Kritik an den Prämissen reinrationaler Metaphysik darum 1. – in seiner theoretischen Philosophie – nicht mehr davon ausgeht, daß synthetische Urteile versteckte analytische Urteile sind, – so daß im Begriffe bloß ent-rollt und im Urteil bloß ent-wickelt werden müßte, was etwa im Urbilde an sich seiender Ideen, im Bilde einer Urmonade oder eines ersten Bewegers bereits antizipiert werden kann, – so sucht er die Ontologie seiner zukünftigen Metaphysik in einer Transzendentalphilosophie zu verankern. Als Propädeutik zu einer zukünftigen Metaphysik und als Grenzwissenschaft im Bereiche unseres Erfahrungswissens soll sie beschreiben, wie weit unsere Erfahrungserkenntnisse reichen und in welcher Weise gleichwohl ein Raum freigegeben werden kann für die Annahme der Ideen des Unbedingten. Ein sinnlichkeitsbezogener Verstandesbegriff, dem erkennbar nur ist, was in irgendeiner Weise in Raum und Zeit erscheint, soll einem vernunftbezüglichen Ideenbegriff, der im Horizont eines Übersinnlichen ein Absolutes erstrebt, gemäß sein können, ohne die Übereinstimmung der Vernunftprinzipien untereinander zu gefährden. Und insofern es nun 2. – im Sinne Kants – zu den praktischen Bestrebungen unserer Vernunft gehört, die Regeln zu finden, durch die unsere sittlichen Zwecke mit den Bedingungen unserer Sinnlichkeit auch harmonieren können, so stellt sich auch auf diesem Gebiete die Frage, wie sittliches Handeln auf ein verbindliches Fundament gestellt werden kann, ohne seine Bedingungen aus einem universalen Präformationssystem a priori geleisteter Über-
9
KrV, A 321 ff./B 377 ff.
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I · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
einstimmung mehr ableiten zu können. 10 Insofern nämlich die erstrebte Übereinstimmung nicht analytisch bereits im Begriffe der Tugend (so im Stoizismus) oder im Begriffe der Glückseligkeit (wie im Epikureismus) enthalten ist, muß nach den Regeln ihrer Übereinstimmung allererst gesucht werden.
3.
Auf dem Wege zu einer aporiefreien Bestimmung des höchsten Prinzips
Wie, so lautet nun in einem dritten Schritt die Frage, soll die antinomische Lage, in welche unsere Vernunft durch die Annahme zweier entgegengesetzter Kausalitätsprinzipien geraten ist, zu vermeiden sein? Als Lösung der genannten Schwierigkeit in den beiden Bereichen der reinen Vernunft schlägt Kant programmatisch folgende, für die Einhelligkeit der Vernunft mit sich selbst zugleich unabdingbare Unterscheidung vor: Die Vereinigung der Kausalität, als Freiheit, mit ihr als Naturmechanismus, davon die erste durchs Sittengesetz, die zweite durchs Naturgesetz, und zwar in einem und demselben Subjekte, dem Menschen, fest steht, ist unmöglich, ohne diesen in Beziehung auf das erstere als Wesen an sich selbst, auf das zweite aber als Erscheinung, jenes im reinen, dieses im empirischen Bewußtsein, vorzustellen. Ohne dieses ist der Widerspruch der Vernunft mit sich selbst unvermeidlich.« 11 Darum, so heißt es in der Vorrede zur zweiten Auflage der KrV, schied … die Analysis des Metaphysikers (…) die reine Erkenntnis apriori in zwei ungleichartige Elemente, nämlich die der Dinge als Erscheinungen und dann der Dinge an sich selbst. Die Dialektik verbindet beide wiederum zur Einhelligkeit mit der notwendigen Vernunftidee des Unbedingten, und findet, daß diese Einhelligkeit niemals anders, als durch jene Unterscheidung herauskomme, welche also die wahre ist. 12
Wäre nämlich, so sucht Kant die erfolgte Unterscheidung zu rechtfertigen, die Erscheinung zugleich als ein Ding an sich selbst aufKant: Kritik der praktischen Vernunft [im Folgenden zitiert als: KpV], in: Gesammelte Schriften [Akademie-Ausgabe = AA]. Hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. V. Berlin 1910–1972. AA V, 110 ff. 11 KpV, AA V, 6. 12 KrV, B XXI. 10
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1. Auf dem Wege zu einer Metaphysik der Freiheit
gefaßt, so könnte es ein Jenseits oder Außerhalb zur erscheinenden Welt nicht geben, das den Titel vertrüge, ein Unbedingtes zu sein. Die antinomische Situation bezogen auf die rechte Begründungsart des philosophischen Systems, in welche er die verschiedenen rationalistischen Konzeptionen befangen sieht, wäre damit unvermeidlich. 13 Denn nur, insofern die Substrate der Erscheinungen, die nicht-erscheinenden Dinge an sich selbst, wenn auch nicht erkennbar, so doch als absolute Größen wenigstens widerspruchsfrei denkbar sind, steht auch der Annahme eines höchsten Urwesens als des obersten Substrates des durchgängig bestimmten Erfahrungsganzen wie des systemtragenden Grundes der Vernunfteinheit der Zwecke nichts mehr im Wege. 14 Eine »transzendentale Subreption« in der hypostatischen Bestimmung eines Unbedingten ist demnach im Sinne Kants nur zu vermeiden, wenn die Annahme eines Unbedingten, als dessen »Statthalter« die Ideen fungieren, mit den Bedingungen unserer Erfahrungserkenntnis nicht auf derselben Ebene und in derselben Reihe gedacht werden. 15 Und daß es zugleich, wenn von »Ding an sich selbst« die Rede ist, gänzlich unausgemacht bleiben muß, ob eine solche »transempirische Größe« die Funktion eines subjektiven oder aber eines objektiven Substrates innehat, da es sowohl als der Grund aller Verknüpfung in unserem Denken, als »transzendentale Einheit der Apperzeption«, oder als dasjenige transzendentale X fungieren kann, das einer empirischen Erscheinung, dem Erfahrungsganzen oder auch dem Sittengebot als ein unbedingtes Substrat zugrundeliegt, ist im Sinne Kants dann die Konsequenz der Funktion dieser indifferent gebliebenen Systemstelle. Sie erhält in ihrer Funktion als Fix- und Fluchtpunkt aller gedanklichen Verknüpfung wie auch als Einheitsort unserer praktischen Zwecke den logischen Status eines Dritten, das weder durch Kategorien aus dem Bereich des Subjektiven noch mit solchen aus dem Bereich des Objektiven hinreichend bestimmt werden kann. Und dies ist für Kant dann gleichbedeutend damit, daß es für unsere theoretische Spekulation ein bloßer Grenzbegriff bleiben muß, durch den eine kritische Metaphysik in ihrem theoretischen Teil dann nur mehr als eine »negative Metaphysik« zu beschrieben ist. In ihrem praktischen Teile jedoch wird sie die Wirksamkeit solcher Ideen pos13 14 15
KrV, A 617 f./B 645 f. KrV, B XXVI. KrV, A 621/B 469.
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I · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
tulieren können, die als innere Beweggründe dieser Seins- und Sollensordnung dem sich selbst bestimmenden und in Freiheit sich entäußernden Urprinzip Realität verleihen können. Ganz im Sinne einer »theologia negativa« wäre dann der Gedanke eines obersten Systemortes nur durch ein Ausgrenzen und Absprechen all der Prädikate greifbar, die raum-zeitlich gegebenen Erscheinungen zuzusprechen sind 16; ihr positiver Bestand jedoch, die Suche nach einem Prinzip der Übereinstimmung unserer sinnlichen mit unserer sittlichen Natur, könnte gleichwohl in einer aporiefrei denkbaren Finalursache münden, welche nach Analogie zu einem höchsten Wesen so aufgefaßt werden kann, als ob sie dieses durchgängig bestimmte Ganze der gegebenen Seins- und Sollensordnung »gründen, erhalten und vollführen« kann. 17 So schließt Kant einen generativen Ableitungsgang – von diesem Prinzip ausgehend auf das Prinzipiierte – für unseren praktischen Weltbezug zwar nicht aus, setzt ihn aber unter einen »Als-ob-Vorbehalt«, um sowohl die Unerreichbarkeit eines solchen Urprinzipes im Begriffe zu wahren als auch den Bildcharakter zu betonen, der für uns mit der Antizipation eines solchen unendlichen Horizontes verbunden ist.
4.
Die vernünftige Weltordnung in einem »Urbilde« antizipiert
Ganz im Sinne der nun kritisch gewandelten Denkungsart auf dem Gebiete der Metaphysik ist darum – wie im vierten Schritt zu zeigen ist – für Kant der Gedanke leitend, daß wir uns eine Welt harmonisch sich fügender sinnlicher und sittlicher Zwecke nur denken können, wenn wir sie nach den Regeln unserer Vernunft vermögen selbst allererst hervorbringen. Der Prozeß des freien Lebens wird dann solchen Regeln folgen können, die inneren und nicht bloß äußeren Bewegursachen entspringen, so daß die selbstbestimmt agierenden Einzelnen nicht in eine »prästabilierte« Ordnung bloß hineingestellt sind, sondern sich eine mögliche Ordnung durch ihren eigenen Willen und ihr eigenes Streben hindurch allererst ereignen und vollziehen kann. Denn mit dem Gedanken einer Finalursache, die Grund der erstrebten Übereinstimmung aller freien Willen untereinander ge16 17
KrV, A 675 ff./B 703 ff. KrV, A 814/B 842.
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1. Auf dem Wege zu einer Metaphysik der Freiheit
nannt werden kann, ist kein extramundanes Prinzip mehr ins Spiel gebracht, nach dem wir unser Handeln bloß auszurichten hätten. Im Sinne Kants verhält es sich vielmehr umgekehrt so, daß wir ein solches einigendes Prinzip – im Ideal erstrebter Übereinstimmung der höchsten sinnlichen mit den höchsten sittlichen Zwecken – unserem eigenen Streben zugrundelegen, um in seinem Urbilde die Idee einer auf Freiheit gründenden moralischen Weltordnung zu antizipieren. 18 Einer Selbstgesetzgebung aus Vernunftgründen zu folgen, bereitet dann weder dem Gedanken allseitiger Machbarkeit und Nützlichkeit den Weg, noch weiß sie sich von äußeren Handlungsmotiven bestimmt. Viel mehr bedeutet vernünftige Selbstgesetzgebung demnach allein, eine freie und nach Regeln der Sittlichkeit mögliche Welt nach einem Bilde zu gestalten, welches sich … das Ideal der höchsten ontologischen Vollkommenheit zu einem Prinzip der systematischen Einheit nimmt, welches nach allgemeinen und notwendigen Naturgesetzen alle Dinge verknüpft, weil sie alle in der absoluten Notwendigkeit eines einigen Urwesen ihren Ursprung haben. 19
Eine aus Ideen mögliche Welt kann darum mit der gegebenen Welt der Erscheinungen auch nur harmonieren, weil sie nicht in einer prästabilierten Ordnung bereits gegeben, sondern, ganz im Sinne der kopernikanischen Wende der Metaphysik, durch unser freies Handeln allererst aufgegeben ist. Und darum bringen wir auch durch das gesetzgebende Vermögen unserer Freiheit dieses durchgängig bestimmte Weltganze selbst allererst auf einen freien, sich seiner selbst gewissen wie bestimmenden Grund. Es läßt sich aus diesem Grunde die Realität des höchsten Prinzips von unserem zwecksetzenden Vermögen auch nicht mehr abtrennen und hypostatisch in einem Urwesen verkörpern, von dem wir dann unsererseits das Gebot unseres Handelns empfangen könnten. Denn das oberste Prinzip, insofern es unserem eigenen Handeln als Urbild in der Bestimmung des »abgeleiteten höchsten Gutes« dient, wird auch in seiner eigenen Realität durch diese aus Freiheit mögliche Ordnung allererst gesetzt. 20 Insofern wir nämlich als frei setzende Wesen dieses durchgängig bestimmte Ganze nach einem inneren Bewegungsprinzip gestalten und erneuern, so ist auch seine Realität nur in der Realisierung unserer
18 19 20
KrV, A 569/B 597; A 673/B 701. KrV, A 816/B 844. KrV, A 810/B 838.
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I · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
eigenen auf Freiheit gründenden Ordnung greifbar. »Sein« und »Setzen« finden darum erst in diesem frei gesetzten wie frei sich setzenden Sein – in den Aktionen selbstbestimmt agierender Wesen – das höchste Prinzip ihrer Einheit, so daß auf diese Weise »… alle Naturforschung eine Richtung nach der Form eines Systems der Zwecke« erhält und »… in ihrer höchsten Ausbreitung Physikotheologie« wird. 21 Insofern aber, so setzt Kant diesen Gedanken fort, durch das freie Setzen selbstbewußt agierender Wesen das durchgängig bestimmte Ganze selbst auf ein unbedingtes Fundament gestellt werden kann, so ist dieses Unbedingte der gegebenen Seinsordnung vom freien Setzen eines selbstbewußten höchsten Prinzips zugleich unabtrennbar. 22 Und wenn ferner gilt, daß die Vernunft zwar ihren eigenen Regeln gemäß sich verhalten kann, sie aber nicht zugleich auch die Bedingungen setzen kann, unter denen ihrer moralischen Absicht auch ein Erfolg beschieden ist, – da eine geglückte Übereinstimmung der höchsten sinnlichen mit den höchsten sittlichen Zwecken nicht apriori in einer Welt der prästabilierten Harmonie bereits antizipiert werden kann, – so wird eine mögliche Physikotheologie dann in einer »transzendentalen Theologie« zu verankern sein. 23 Denn eine glückende Übereinstimmung kann nur erhofft, nicht aber gewußt oder im durchgängig bestimmten Ganzen bereits gegeben sein. Und es hat die Hoffnung auf Übereinstimmung zwischen beiden Sphären im Sinne Kants nur dann eine Aussicht auf Erfolg, wenn beiderlei Gesetzgebungen in einem obersten, übersinnlichen Substrat den Grund ihrer Einheit finden können. Dieser aber kann dann weder durch unsere Vernunftzwecke bloß gesetzt noch mit unserer sinnlichen Natur bereits gegeben sein. 24 Und »um der Vernünftigkeit unserer eigenen Zwecke willen« wird das höchste Prinzip dann selbst als vernunftgemäß vorgestellt werden müssen. Denn insofern in uns selbst eine unbedingte Quelle, ein inneres Bewegungsprinzip wirksam ist, das die Zweckmäßigkeit der Natur auf Gründe zu bringen vermag, so haben wir – auch im Sinne Kants – teil am Prinzip »Sich-Bestimmen«, wie Wolfgang Cramer den absoluten Bestimmungsgrund der gegebenen Seinsordnung
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Ebd. Ebd. KrV, A 816/B 844. KrV, A 813/B 841.
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1. Auf dem Wege zu einer Metaphysik der Freiheit
in Anlehnung an Fichte nennt. 25 Doch sind es erst Fichte und Hegel, die diesen Kantischen Gedanken einer Weltordnung unter moralischen Zwecken in einem Systemprinzip verankern, als dessen eigene Entäußerung und Entfaltung sich dieses in Freiheit vollendende Ganze dann beschreiben läßt. Aus der Teilhabe menschlicher Freiheit an dieser absoluten Perspektive im Sinne Kants wird in diesen Konzeptionen dann die Beschreibung und Bestimmung der Bewegung dieser absoluten Perspektive selbst, so daß das Selbstbewußtsein der frei handelnden Einzelnen mit dem sich seiner selbst bewußt werdenden Sein ineinsgefügt wird. Die Strukturform unseres eigenen Selbstbewußtseins erscheint der Struktur des gedachten Urprinzips dann äquivalent. Mit seinem vorbehaltlichen Als-Ob läßt jedoch bereits Kant das Selbstsein einer auf Ideen gegründeten Ordnung mit dem im Ideal repräsentierten durchgängig bestimmten Zweckordnung zusammenfallen; doch quittiert er nicht ihre Differenz. Denn Freiheit wäre dahin, wenn sie im Urbilde einer durchgängig bestimmten Seinsordnung in ihrer Bewegungsrichtung bereits antizipiert werden könnte. Und so erhält er die Äquivalenz beider »absoluter Bestimmungsgrößen« allein in der Differenz ihrer Seinsmodi: Der Differenz zwischen dem abhängigen Sich-Bestimmen unserer eigenen Vernunft und der Vernünftigkeit des frei sich selbst wie sein Anderes setzenden Urprinzips. Im Sinne Kants zugleich als das Ideal unserer reinen Vernunft vorgestellt, ist dieses oberste Einheitsprinzip dann zwar auf seine regulative Funktion für die Übereinstimmung aller Vernunftzwecke untereinander beschränkt. Insofern dieses Ideal aber zugleich so aufgefaßt wird, als könnte es in unserer freien Selbstbestimmung auch eine konstitutive Funktion erhalten, so wird seine Realität an der Realität einer auf Freiheit gründenden Seinsordnung zu bemessen sein. Und doch wird das Ideal als das Schema durchgängiger Bestimmung ein bloß subjektives Prinzip bleiben, da (1) die Idee einer auf Freiheit gründenden Seinsordnung nur in uns selbst ihren Ursprung haben kann und (2) eine solche Idee auch nur als ein subjektives Prinzip apodiktisch gewiß sein kann. Denn wäre das Urprinzip als eine von uns selbst verschiedene Quelle vorgestellt, es wäre nicht zugleich auch seine eigene Ordnung, die wir im Urbilde der aus Freiheit möglichen Weltordnung antizipieren. Als von uns selbst verschieden
25
Ebd.; vgl. dazu: Opus postumum, AA XXII, 63.
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I · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
müßte die Quelle der gesamten Seinsordnung dann für uns aus (kontingenten) Erfahrungen allererst gewonnen sein: Dann aber fiele es der »Kritik« aller empirischen Erfahrung zum Opfer, nur mehr komparativ allgemein bzw. subjektiv verbindlich zu sein; mithin also nicht mehr als Urprinzip einer Ordnung fungieren zu können, die durch unser eigenes Wollen und Streben allererst vollendet und auf Gründe gebracht werden kann. Besäße dieses Prinzip darum nicht in unserem sittlichen Streben zugleich seine eigene Realität, die Möglichkeit der Übereinstimmung aller freien Willen untereinander müßte unbegreiflich bleiben. Und darum rettet nach Kant auch erst die Subjektivierung der Ideen – analog zur Subjektivierung der Anschauungsformen, welche die Mathematik auf den Weg der Wissenschaft gebracht hat, sowie auch nach Analogie zur Subjektivierung unserer Verstandesformen, wie sie eine Wissenschaft der erscheinenden Welt ermöglicht, – ihre objektivitätsgarantierende Funktion. Und erst durch diese Subjektivierung läßt er dann ein Unbedingtes wie »die Idee einer Gesetzgebung aus Freiheit« mit dem bloß Begrenzten und Bedingten unseres Erfahrungsfundamentes im Horizont der Einen Vernunftwissenschaft vereinbar erscheinen. Und da wir selbst es sind, die diese Widerspruchsfreiheit nicht allein erstreben, sondern durch unser freies Handeln zugleich bewirken müssen, so kann auch das Urprinzip der erstrebten Übereinstimmung aller vernünftigen Zwecke untereinander durch unser eigenes freies Handeln hindurch allererst Realität und Gestalt gewinnen. Und darum führt auch erst der Gedanke einer durch Freiheit möglichen Welt das metaphysische System in das Offene einer bloß erstrebten, niemals jedoch erreichten Harmonie. Denn die Welt der bedingten Kausalitäten ist mit der Freiheit selbstbestimmt handelnder Wesen nur vereinbar, wenn das Ideal des »höchsten Guts« nicht als eine Seinsordnung vorgestellt, sondern nur in einer auf freier Selbstgesetzgebung beruhenden Sollensordnung erstrebt werden kann. Und dann erst sind die höchsten Zwecke des vernünftig bestimmten Seins auch nichts mehr, dem wir unsere eigenen Zwecke bloß anzugleichen hätten, sondern nur mehr der Ausdruck unseres eigenen, in einem Unbedingten gründenden Selbstbewußtseins. Das Postulat freier Selbstgesetzgebung ist im Sinne Kants darum in eine »Wissenschaft vom Weltganzen« widerspruchsfrei nur zu integrieren, wenn auch auf dem Gebiete der Metaphysik die Ideen den Status apriorischer subjektiver Prinzipien erhalten, die als unbedingte Quellen unserer Vernunftordnung ihre Wirksamkeit in unserem Denken und Handeln erfüllen, ohne am Er36 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
1. Auf dem Wege zu einer Metaphysik der Freiheit
folg oder Mißerfolg des je Erreichten sich das Maß ihrer Gültigkeit nehmen zu müssen. Und wenn schließlich gilt, daß die Möglichkeit einer aus inneren, aus freien Quellen bewirkten Welt wie auch die Idee ihres Ursprungs aus einem höchsten Prinzip ohne die getroffene Unterscheidung der noumenalen von der phänomenalen Welt widerspruchsfrei nicht denkbar sind, ein solches oberstes Substrat aber als der Grund der erstrebten Übereinstimmung aller Vernunftzwecke untereinander unausweichlich ist, wenn Sinnliches und Sittliches, Intelligibles und Sensibles, in einer »Realrepugnanz« entgegengesetzter Kräfte zugleich als vereint gedacht werden sollen, so erweist sich diese Unterscheidung als berechtigt und Kants Vollendung der kopernikanischen Wende in Sachen Metaphysik wäre geglückt. 26 Denn erst, so lautete die Konsequenz dieser vollzogenen Revolution, wenn Sinnliches und Übersinnliches nicht »in derselben Reihe und auf derselben Ebene« gedacht werden, muß die Spannung zwischen diesen entgegengesetzten und in ihrer Funktion zugleich sich ausschließenden Prinzipien nicht kontradiktorisch sein; und erst wenn ihre Verbindung in einem gemeinsamen Dritten auch begreiflich geworden ist, kann am Leitfaden der drei Gegenstandsbereiche der speziellen Metaphysik eine widerspruchsfreie Antwort auf die Fragen gefunden werden: In welchem Sinne wir (1) mit Blick auf das »Leib-Seele-Problem« die sinnlichen Bedingungen unseres empirischen Ichs mit den transzendentalen Bedingungen unseres erkennenden Ichs vereinen können; in welcher Weise (2) eine auf Freiheit und Selbstbestimmung gründende Ordnung die Integration intelligibler Kausalitäten in den kausal geschlossenen Bereich der sinnlichen Erscheinungen erreichen kann, und schließlich (3), wie der höchste Systemort metaphysischer Reflexion – ganz im Sinne der kopernikanischen Wende der Metaphysik – mit den Bedingungen der menschlichen Freiheit derart in Einklang gebracht werden kann, daß er selbst in dieser aus Freiheit möglichen Ordnung erst seine eigene Realität gewinnt.
Vgl. dazu: H. Heimsoeth: Studien zur Philosophie Immanuel Kants II, Bonn 1970, 109–132 und 248–280.
26
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2. Selbstaufklärung der Aufklärung als transzendentalphilosophisches Programm Auf dem Wege zu einer integrativen Ethik
EINLEITUNG Eine Neubesinnung auf die Quellen und Potentiale unseres aufgeklärten Welt- und Selbstverständnisses scheint erforderlich, wenn wir über Geltungsansprüche wie auch den Revisionsbedarf der Leitideen dieser Epoche urteilen wollen. Der Weg in die Selbstverständigung über unser vernünftiges Weltverhältnis, über die Funktion und Bedeutung des Vernunftbegriffs im Rahmen von Aufklärung und Aufklärungskritik steht darum im Folgenden im Mittelpunkt der Betrachtung. In wenigen Zügen werde ich versuchen, diejenigen Fragen aufzuhellen, auf welche die ›Selbsterhellung der Vernunft‹ eine Antwort suchte und deren Antworten nun im Lichte unserer derzeitigen Herausforderungen neu gedacht werden müssen. Diese Herausforderungen sind heute weniger technisch-praktischer Art, vielmehr moralisch-praktischer Art. Darum führt das sukzessive Auseinandertreten von Ethik und Erkenntnistheorie, ehemals in einem einigen Vernunftverständnis vereint, in ein doppeltes Rechtfertigungsproblem: Indem das sie einigende Band verloren ist, wird weder die erkenntnistheoretische Frage nach einer möglichen Letztbegründung theoretischer Annahmen noch auch die moralphilosophische Frage nach dem Guten in einem absoluten oder relativen Sinne mehr auf ein hin reichendes Erklärungsprinzip zurückgeführt werden können. Wenn aber der schnelle Wandel der endlichen, der kontingenten Welt mit einer auf Freiheit gründenden moralischen Welt kompatibel bleiben soll, so bedarf es der Reflexion auf die Integrierbarkeit beider Sphären. Denn das ethische Implikat unserer epistemischen Aktionen ist ebensowenig ohne Rekurs auf einen Zweckbegriff in den Blick zu nehmen wie eine moralphilosophische Debatte ohne einen Rekurs auf er kenntnistheoretische Grundfragen sich ihrer Fundamente vergewissern kann. Diese Herausforderung hatten Thomasius, Wolff und Kant angenommen. Fichte, Schelling und He38 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
2. Selbstaufklärung der Aufklärung als transzendentalphilosophisches Programm
gel hingegen begriffen ihre eigenen systematischen Bemühungen als die Ausführungen des bloß propädeutisch angelegten Programms der kantischen Philosophie. In dieser Tradition stehend, zugleich über sie hinausgehend, haben die vielzähligen Arbeiten von Michael Benedikt diese Fragestellung in unserer gegenwärtigen Zeit systematisch vorangetrieben. Ich freue mich daher, in dieser Festschrift für Michael Benedikt einen Beitrag zur Würdigung seines umfassenden Werkes leisten zu können. 1 In 4 Schritten werde ich eine Annäherung an das Problemfeld der Selbstaufklärung der Aufklärung versuchen. Dabei wird der kurzen Skizze des Problemhorizontes, die ich in drei Punkten an den Anfang stellen möchte, in einem zweiten und dritten Teil mit Blick auf den kantischen Ausgangspunkt der Positionen Fichtes, Schellings und Hegels eine Beschreibung dreier Abgrenzungs- und Erneuerungsversuche folgen, in denen die Idee der Integration von Ethik und Erkenntnistheorie, Natur- und Geistphilosophie in je unterschiedlicher Weise leitend war. In einem letzten Schritt werde ich in wenigen Zügen mögliche Anschlußstellen für eine solche ›integrative Ethik‹ im Lichte der durch Aufklärung gewandelten und entzauberten Welt zu gewinnen versuchen.
1.
Problemhorizont
1.1. Der Sinn der Rede von ›der Aufklärung‹ Der Titel »Selbstaufklärung der Aufklärung« fordert dabei einen Begriff von Aufklärung heraus, der weiter ist, als er durch seinen epochalen Bezug vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts übermittelt ist: Zum einen greift er in diejenige Epoche hinaus, die sowohl mit der Verlängerung der Aufklärung in das Geschichtliche, in das Ästhetische oder die Sprachbetrachtung in eine Verbindung gebracht wurde. Zum anderen aber läßt er sich retrospektiv in seine keimenden Ursprünge in die platonisch-aristotelische Traditionslinie hinein zurückverfolgen, in deren Horizont zugleich ein entscheidender Be1 Der Aufsatz wurde ursprünglich veröffentlicht in dem Sammelband: Achtung vor Anthropologie. Interdisziplinäre Studien zum philosophischen Empirismus und zur transzendentalen Anthropologie, M. Benedikt zum 70. Geburtstag, hg. v. J. Rupitz, E. Schönberger, C. Zehetner, Wien 1998, 400–414.
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
zugspunkt auch für die kantischen und nachkantischen Versuche zu finden ist, um die Kerndualismen der Zeit in einem einheitlichen Theorierahmen zu verankern. Ethik und Erkenntnistheorie, Freiheit und Notwendigkeit, Materie und Geist, Intelligiblität und Materialität, Sinnlichkeit und Verstand, Verstand und Vernunft sollten nicht länger in zwei disparaten Theorieteilen beheimatet sein: sondern in ihrer Verbindung durch ein einheitsstiftendes Prinzip derart sinnfällig gemacht werden können, daß die genannten Urgegensätze nur mehr als zwei konträre Seiten der Einen Seinssphäre erscheinen können. Mit Blick auf die nachkantischen Erneuerungs- oder Überbietungsversuche kann die Kontur einer Epoche ins Zentrum rücken, die im Rückgang hinter die scholastische Metaphysik auf die antike Philosophie zu einer gesuchten Synthese leitet: Synthetisiert werden sollte die neuzeitliche Neubegründung der Philosophie aus dem Prinzip Freiheit und Subjektivität, die mit dem Leitgedanken der Autonomie und Selbstbestimmung verbunden ist, mit dem der antiken Vereinbarung.
1.2. Das sinnstiftend Mythische und das analysierend Rationale – komplementäre Pole einer Kernintention? In diesem weiteren Sinne kann es als eine Kernintention der Aufklärung verstanden werden, auf der Suche nach dem Grund und der Quelle allen Seins – traditionsbrechend und mythenkritisch – zu allem Bedingten das Unbedingte, zu allem Gegründeten den zureichenden Grund, zu allem Gewordenen das Prinzip des Werdens anzugeben. Im Unterschied zur mythischen Erzählung, die am Leitfaden der auf Notwendigkeit und Folgerichtigkeit ausgerichteten Handlungskette sinnstiftend in ein Übersinnliches hinauszugreifen sucht, wird das Unbegreifliche, Erklärungsbedürftige in ihr mit rationalen Mitteln überprüfbaren Erklärungen zuzuführen versucht. Nicht ein Besonderes, sondern das Allgemeine soll Aufschluß über ihre innersten Beweggründe der phänomenalen Welt geben: Der Weg vom Mythos in den Logos, von Platon und Aristoteles systematisch vorangetrieben, entzaubert die Welt, löst sukzessive das Magische ins Machbare auf und bringt mit der Rationalität begründbaren Wissens Einzelnes und Allgemeines nach Regeln zusammen: Das neuzeitliche Erkenntnisinteresse im Horizont der sich entfaltenden Realwissenschaften 40 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
2. Selbstaufklärung der Aufklärung als transzendentalphilosophisches Programm
wird das Prinzip Rationalität dann zunächst radikalisieren und es mit Descartes’ Besinnung auf die Grundlagen der Erkenntnisgewißheit zunächst im Prinzip Subjektivität verankern wollen. Auf der Suche nach dem ersten Prinzip oder dem Unbedingten in der Reihe alles Bedingten wird Descartes’ Zweifel zum methodisch geregelten Zweifel, zur radikalen Skepsis an überbrachten Erkenntnisgewißheiten in syllogistischer Gestalt; Spinozas ›Ethik more geometrico‹ sucht selbst die Welt des Lebendigen, die Welt von Sittlichkeit und Moralität als mechanisch beschreibbare Ordnung begreiflich zu machen. Kants Frage ist auf eine mögliche Metaphysik, insofern sie als Wissenschaft soll möglich sein, gerichtet; Fichtes Wissenschaftslehre bedient sich der Grundsätze der Identität und der Widerspruchsfreiheit als Heuristik seiner transzendentalen Logik. Im Horizont der naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Annäherungen werden die Kausalketten in der Erklärung gegebener Ereignisse einem Erklärungstyp unterworfen, welcher der geregelten Beobachtung und dem reproduzierbaren Experiment zugänglich ist. Die in den entstehenden Humanwissenschaften sich vordrängende Annahme einer nach Regeln bildbaren Menschennatur soll im Sinne von Locke und Hobbes dem kodierten Kanon aufgeklärter Sittlichkeit folgen; oder aber im Sinne Rousseaus eine nach eigenen Regeln sich entfaltende Ursprungsnatur zum Ausgang naturgemäßer Erziehung machen. Im Perfektibilitätsgebot der nach Vervollkommnung strebenden Menschennatur erscheint dann das experimentelle Pendant zum Optimismus einer teleologisch ausgelegten kosmischen Natur. So soll das Natürliche einzig in einem Intelligiblen, in der Sphäre der Freiheit auf einen zureichenden Grund gebracht werden.
1.3. Das ontologische Prinzip vom zureichenden Grund Bei näherem Betrachten jedoch finden das analysierend Rationale einer Philosophie auf dem Wege zur Wissenschaft und das sinnstiftend Mythische wie komplementäre Pole in einer Kernintention zusammen; denn Analytisches und Synthetisches sind in beiden nur mit je unterschiedlichen Gewichtungen vereint: Die gegebenen Phänomene auf die Idee eines verstehbaren Sinnzusammenhangs hin auszulegen – wie es die sinnstiftende Leistung mythischen Denkens war – ist ebenso ein notwendiger Bestandteil der analytisch-rationalen Tätigkeit; wie um gekehrt die Idee der Kausalität notwendig auf41 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
einander folgender Ereignisketten zum analytischen Repertoire des mythischen Denkens gehört. Insofern nämlich auch der erklärende Duktus wissenschaftlicher Analyse von der Idee eines zu analysierenden Ganzen getragen ist, wird er mythisierend vorausgreifen in eine Sphäre, die sich aller Prognose und Beobachtung entzieht. Beiden ist somit die synthetisierende Idee sinnstiftender Horizonte gemein, innerhalb derer die Einzelphänomene als Teile eines Ordnungsgefüges auf analytischem Wege greifbar werden. Dieses Ineins von synthetisierender Mitte und analytischer Methode rückt den Aufklärungsgedanken in ein neues Licht, denn nicht nur kann unter Aufklärung verstanden werden, was sich der mythischen Potentiale enthebt, sondern Aufklärung wird als eine Grundhaltung verstanden, die selbst die Axiome des Erklärens und Verstehens noch auf ihre Möglichkeiten hin befragt. Dies ist es, was wir unter Selbstaufklärung der Aufklärung in der nachkantischen Philosophie begreifen. Der Aufklärungsgedanke wird darum im Folgenden weniger als Epochenbegriff zur Sprache gebracht: Vielmehr wird in ihm ein geistiger Aufbruch vergegenwärtigt, der im Spannungsfeld zwischen Dunkel und Vergewisserung für all diejenigen Unternehmungen leitend ist, die, wie Platon dieses Vorhaben bereits im 6. Buch seiner Politeia beschrieb, von Voraussetzung zu Voraussetzung zurück schreitend auf diejenige Sphäre zielen, die selbst nicht mehr auf weitere Voraussetzungen zurückgeführt werden kann. Von den frühen naturphilosophischen Ursprungsphilosophien bis zu Platon hin ist dabei – wie Aristoteles im Buch A seiner Metaphysik zur Sprache bringt – bereits das gesamte Spektrum naturalisierender bzw. spiritualisierender Erklärungsformen versammelt. Und ob es heute die empirischen Phänomene sind, an deren Leitfaden sich die Fragen nach der Kausalität der Ereignisse in Kausalketten einander bedingender Ursache- und Wirkungsverhältnisse beschreiben lassen, oder ob wir das Unbedingte in allem Bedingten in einem erfahrungsfreien Raum aufzuspüren suchen: seit Leibniz wird dieser Einstieg in die Weltbeschreibung auf das ontologische Prinzip vom zureichenden Grund zurückgeführt.
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2. Selbstaufklärung der Aufklärung als transzendentalphilosophisches Programm
2.
Grundsatzphilosophische und systemkritische Positionen im Ausgang von Kant
2.1. Die Dualismen der Seins- und Sollensordnung und ihre Konsequenzen Platon, Kant und der nachkantischen idealistischen Philosophie ist dabei auf diesem Wege ein dominantes Motiv gemeinsam: Zwischen der Sphäre des Sinnlichen und Sichtbaren der äußeren Natur und dem Intelligiblen, dem Sittlichen der übersinnlichen, der inneren Natur sollte nicht ein unüberbrückbarer Gegensatz, eine unauflösliche Spannung, sondern ein Verbindendes ausfindig gemacht werden, das ihr Zusammenbestehen in der gegebenen Seins- und Sollensordnung begreiflich machen kann. Im Streit der Giganten in Platons Sophistes 2, im Antinomienteil der Kantischen Dialektik 3 wie seiner ›teleologischen Urteilskraft‹ 4 oder aber in Fichtes Wissenschaftslehre 5, Schellings Form- oder Ichschrift und seinem Identitätssystem von 1801 6 oder aber der Hegelschen Logik 7 sollte die Frage Platon: Sophistes, 246a sq. Kant: KrV, A 406/B 433 ff., insb. A 517/B 545; ferner A 815/B 843 ff. 4 Kant: Kritik der Urteilskraft [im Folgenden zitiert als: KdU], A 300/B 304. 5 Vgl. Fichte: Wissenschaftslehre [im Folgenden zitiert als: WL] 1794, SW I, 91 ff., ferner: Fichte SW I, 66 f., 70). Bereits im ersten Lehrsatz zum § 4 der WL von 1794 weist Fichte auf die für den theoretischen wie den praktischen Teil der WL relevante Unterscheidung in der ›Wechselbestimmung‹ (Fichte, SW I, 131) von Ich und NichtIch hin: Durch den Satz: »das Ich setzt sich selbst, als beschränkt durch das Nicht-Ich« (ebd., 126) wird der theoretische Teil der Wissenschaftslehre, durch den Satz »das Ich setzt sich, als bestimmt durch das Nicht-Ich« (ebd., 127) ihr praktischer Teil begründet. Beide Teile der WL unterscheiden sich darum bezüglich ihres je unterschiedlichen Verhältnisses zwischen Sein (Nicht-Ich) und Setzen (Ich): Wird das Sein vom Ich gesetzt, so ist der Weg in die praktische Vernunft frei; wird umgekehrt das Ich durch das Nicht-Ich bestimmt, so ist das Ich als leidend bezüglich des Nicht-Ich bestimmt. Im Kern aber sind sie im sich setzenden absoluten Ich vereint. 6 Vgl. Schelling: Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie (1794), SW 1/1, 92/93; ferner ders.: Vom Ich als Prinzip der Philosophie, SW 1/1, 162/63; ders.: Darstellung meines Systems von 1801, SW I/4, 144 ff. 7 Hegel: Wissenschaft der Logik I, TW 5, 57. Wissen und der Gegenstand des Wissens sollten in ihm unmittelbar in eins gebildet sein (ebd., 43 ff.; vgl. ferner 45). Dieses Resultat, so Hegels Überlegungen, sei allein in einer spekulativen Auslegung des Seinssinns zu gewinnen, nach der das Sein weder in seiner bloßen Unmittelbarkeit, als leeres Ansich belassen, noch auch als ein bloßer Formbegriff erscheinen könne. Klassische Metaphysik, Empirismus und Transzendentalphilosophie bilden dabei, bezogen auf die in ihnen eingelagerte Stellung des Gedankens zur Objektivität, wie 2 3
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
nach dem Prinzip der Verbindung der Extreme die Systematisierungsabsichten leiten. Und mit dieser Fragestellung kann dann auch eine neuzeitliche Herausforderung ins Blickfeld rücken: Zwischen der Naturalisierung des Geistes, welche die Sphäre des Intelligiblen in sich aufzulösen sucht, oder aber einem Idealismus, der die Seinssphäre in sich absorbiert, bewegt sich ein ständiger Streit wechselseitiger Reduktionen: Entweder es soll das Intelligible, das geistige Prinzip, in einem Natürlichen gründen, oder das Natürliche auf ein Intelligibles zurückzuführen sein. Platons Philebos nimmt typologisch diese Problemstellung voraus: Indem das Gute weder in der unsinnlichen Vernunft noch in der sinnlichen Unvernunft zu finden sei, wird es an beiden Seiten einen Anteil haben müssen. 8 Auf der Suche nach einer inneren Vermittlung der Extreme soll dabei beides zugleich vermieden werden: Eine Naturalisierung des Geistes, die das intelligible Moment in sich aufzulösen sucht, als auch ein Idealismus, der die Seinssphäre in sich absorbiert.
2.2. Die antinomische Lage der reinen Vernunft als Ausgangspunkt der Spannung zwischen Ethik und Erkenntnistheorie Kant hatte die antinomische Lage seiner Zeit, die er mit dem Erfahrungsbezug der aufsteigenden empirischen Wissenschaften und den gleichwohl vorhandenen Ansprüchen des Unbedingten im menschlichen Wissen und Handeln verbunden sah, bereits in seiner ›Dialektik der reinen Vernunft‹ zur Sprache gebracht 9: Nur wenn dem ErfahHegel reklamiert, notwendige Vorstufen: Indem zunächst der Begriff des Objektiven nicht – wie in transzendentalphilosophischer Betrachtungsart – auf die in ihn eingelagerten Wissensformen reflektiert worden sei, wäre das Sein zunächst als ein bloßes Ansich-sein aufgefaßt; indem dann ferner der Empirismus dem bloß empirisch Gegebenen verhaftet geblieben sei, habe dieser zwar dem sich befreiten Geist in seiner Erfahrungsgewißheit Rechnung zu tragen vermocht, ohne jedoch eine Selbstverständigung der erkennenden Funktionen zu erreichen; indem dann der transzendentale Formalismus bloß die subjektiven Formen unseres Weltbezugs im Auge behielt, fehle ihm wie dem Empirismus ein jeder Aufschwung des Denkens, durch den allein in den Grund der Möglichkeit alles Seins zurückgefragt werden könne. 8 Für Schelling ist dieser Dialog darum das Muster einer integrativen Identitätsform: Die Gegensätze werden in ihm auf ein gemeinsames Drittes, die Idee des Guten zu beziehen sein, wodurch aus einem Kontradiktorischen ein bloß Konträres werde. 9 Die mit dem Erfahrungsbezug des Wissens einhergehenden Rechtfertigungsprobleme einer auf Freiheit gründenden, erfahrungsermöglichenden Ethik hatte er als die
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2. Selbstaufklärung der Aufklärung als transzendentalphilosophisches Programm
rungsbezug des Wissens in eins mit der Anerkennung des Unbedingten im Menschen Rechnung getragen werde, so seine Überlegung, können Ethik und Erkenntnistheorie auf ein sicheres Fundament gestellt werden. Eine Ethik nämlich, die sich vor der Kontingenz des Erfahrbaren zu rechtfertigen habe, oder eine Erkenntnistheorie, die aus reinen Begriffsverhältnissen Weltbegriffe herzuleiten versucht, verkenne entweder die regelsetzende Freiheit der menschlichen, der inneren Natur, oder die sinnlichkeitsbezogenen Erscheinungen der äußeren Natur. Kants Grenzbestimmung von Vernunft und Rationalität war ein Schritt in die Richtung der Selbstbegrenzung der Vernunft. Die Grenzen des Erkennbaren zu bestimmen, um der freien Selbstbestimmung in Moralität und Sittlichkeit wie auch dem Glauben Platz zu schaffen, war dabei sein stärkstes Motiv. Damit hatte er aber zugleich zwei Tendenzen den Weg bereitet: Sowohl diejenigen, die vom »Ich als dem Unbedingten in unserem Wissen« den Anfang machten, als auch diejenigen, die eine Neufundierung der Philosophie im reinen Seinsgedanken suchten, glaubten sich auf Kant berufen zu können. Kant schien sowohl die transzendentalphilosophischen Absichten der Wissenschaftslehre Fichtes und Hegels als auch deren Kritiker Jacobi, Hölderlin, Herder und der Frühromantiker befördert zu haben. Denn die Vernunft in einem Präreflexiven, einem Vorbegrifflichen gründen zu sehen, sollte ebenso dem kantischen Erfahrungspostulat Rechnung tragen wie die Berufung auf die Unhintergehbarkeit des transzendentalen Subjekts 10 auf Kants Versuch bezogen war, all unsere Erfahrungserkennntis im sich wissenden Ich gründen zu lassen. Mit dieser Einschätzung der heterogenen Tendenzen der nachkantischen Philosophie war dann aber erneut die antinomische Lage entstanden, auf die Kant mit Blick auf die empiristischen und rationalistischen Strömungen der frühen Aufklärungsphilosophie bereits reagiert hatte. Der Absolutierung der reinen Vernunft, die den Seinsgedanken in sich absorbiert, schien nun die Absolutierung des reinen Seins an die Stelle getreten zu sein, die die Vernunft in sich absorbiert. In welcher Gestalt Kant als Ausgangs- und Orientierungspol
antinomische Lage ins Auge zu fassen versucht, aus der zunächst nur eine kritische Grenzziehung unserer Erkenntnisansprüche einen Ausweg weisen könne. 10 ›Horizonthaftigkeit‹ hat die spätere philosophische Hermeneutik diese vorverständniskritische Reflexion genannt, und mit dem Wissen auch den Sinn- und Seinshorizont einzufangen versucht, der allem Welt- und Selbstverhältnis zugrundeliegt.
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
der nachkantischen Philosophie diente, dieser Intention gerecht zu werden, möchte ich im nächsten Teil meiner Ausführungen kurz zur Sprache bringen:
2.3. Platonisches im Idealismus Absolutierung der Vernunft vs. Depotenzierung des Begriffs Die These der folgenden Ausführungen lautet nun: Der nachkantische Idealismus sucht in seinem Rückgriff auf die antike Philosophie diese Spannung im Blick zu halten, indem er den Weg zu jenem anhypotheton 11 anzutreten sucht, das nicht mehr auf weitere Voraussetzungen zurückführbar ist. In der Kritik an der Problemanlage der Kantischen Philosophie vorbereitet, wird Platons Philosophie dann für die nachkantischen Positionen Fichtes, Schellings und Hegels in je unterschiedlicher Weise zum leitenden Bezugspunkt sowohl der Selbstdurchlichtung als auch der Selbstbeschränkung des Geistes. 12 – Wenn etwa im Sinne des späten Fichte erst in der »Selbstvernichtung des sich denkenden Ich« wie der Verneinung des sich wissenden Wissens 13 jener Seinsgrund aufleuchten soll, der Denken und Sein vereint, so ist ihm ab 1804 das Urprinzip nicht mehr durch das Denken gewiß. – Und wenn Schelling von einer zweiten Revolution der Denkungsart spricht, welche die innere Aporetik einer rein theoretischen Grundlegung der Philosophie vermeiden und den gordischen Knoten durchschlagen soll, so ist es auch in seinem Sinne verfehlt, ›die theoretische Philosophie durch die theoretische‹ begründen zu wollen. 14 Denn, so seine Überlegung, solange es bloß das Interesse sei, »ein philosophisches Gebäude zu errichten (…), mögen wir uns mit einem solchen Fundamente begnügen, so wie wir, wenn wir ein Haus bauen, zufrieden sind, daß es auf der Erde fest steht. Wenn aber von einem System die Rede ist, [wird die Frage,] worauf ruht die Erde, und woPlaton: Politeia, 511 b sq. Deutlicher Anklang findet sich in der Entwicklung der Philosophie Fichtes: Vgl. J. G. Fichte, SW X, 148; ferner: SW X, 118 ff. Vgl. zum Kerngedanken der Lichtmetaphorik im Horizont der johanneischen, platonischen-neuplatonischen Tradition: W. Beierwaltes: Denken des Einen. Frankfurt/M. 1985; Baumgartner 1980. 13 Fichte, SW X, 148. 14 F. W. J. Schelling: Idealismus der Wissenschaftslehre, AA I/4, 125 f. (SW I/1, 399). 11 12
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2. Selbstaufklärung der Aufklärung als transzendentalphilosophisches Programm
rauf ruht wiederum das, worauf die Erde ruht, uns so ins Unendliche fort« 15, mithin also die Suche nach einem Fundament unseres Wissens unvermeidlich sein. Doch führt uns die theoretische Perspektive in einen Regreß; denn: sowenig die »Kräfte, aus denen das Universum besteht, aus Materie zu erklären (sind, C. B.), kann das System des Wissens aus unserem Wissen erklärt werden, sondern es setzt selbst ein Prinzip voraus, das höher ist, denn unser Wissen und Erkennen.« 16 Mit dieser Diagnose der Schwierigkeit einer immanenten Grundlegung der theoretischen Philosophie hat Schelling bereits 1796 ein systematisches Argument gewonnen, das seinen Weg in eine Positive Philosophie und – damit verbunden – seinen Ausstieg aus der reinen Begriffsform vorbereitet. 17 – Und wenn schließlich Hegel von der Urteilung der Idee 18 in die Sphären des Subjektiven und des Objektiven spricht, so soll das Prinzip aller Prinzipien auch in seinem Sinne allererst in seinem reinen Insichsein zu erreichen sein, wenn es im Durchgang durch die verschiedenen Seinssphären in einer Negation der Negation die Gegensätze in sich aufgehoben und dann erneut jene Unmittelbarkeit erreicht hat, die jenseits aller Gegensätze, vor allen Spaltungen in die Extreme, reines Für-sich-selbstsein genannt werden kann. Nur dann, so lautet einhellig die These, können wir eine Reduktion der je einen Seite auf die andere vermeiden, wenn wir ihre Relation in einem Vor-relativen, in einem Prä-prädikativen, oder Vorrationalen gründen lassen, das aller Differenz und Mannigfaltigkeit enthoben, Differenz und Mannigfaltigkeit allererst garantieren kann. So ist allen dreien eine Kernintention gemeinsam: Sie suchen – in der erweiterten Grenzbestimmung unserer vernünftigen Vermögen – nach dem Integral einer Ordnung, in dem Ontisches und Epistemisches, Sinnliches und Sittliches, Ethik und Erkenntnistheorie zusammen bestehen können.
Ebd., 126 (SW I/1, 400). Ebd., 127 (SW I/1, 400). »Was aber allein alles unser Erkennen übersteigt, ist das Vermögen der transzendentalen Freiheit oder des Wollens in uns. Denn als die Grenze alles unseres Wissens und Thuns ist es notwendig auch das einzig Unbegreifliche, Unauflösliche – seiner Natur nach Grundloseste, Unbeweisbarste, eben deswegen auch Unmittelbarste und Evidenteste in unserem Wissen.« (ebd.) 17 Vgl. dazu: F. W. J. Schelling: Philosophie der Mythologie, SW II/1, 269, 413 ff. 18 Vgl. G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 577, TW 10, 394. 15 16
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
3.
Nach der Selbstaufklärung der Aufklärung: Neufundierungsversuche des Rationalen in einem Vor- oder Außerbegrifflichen
3.1. Die ontisch-ontologische Differenz Daß die Vernunft im nachkantischen Idealismus in den Positionen des frühen Fichte und des frühen Schelling wie auch der Logik Hegels als ein letztes, als derjenige unbedingte Horizont erschienen war, der den Seinsgedanken in sich absorbiert, schien ebenso mit Bezug auf Kant möglich geworden zu sein wie ihr Gegenstück: die Depotenzierung der Vernunft vor dem Hintergrund des reinen Seins. Mit dieser zweiten Traditionslinie wird im Spätidealismus dann bereits das Ter rain bestellt, auf dem sich die Neufundierungsabsichten solcher philosophischer Strömungen ansiedeln konnten, die nicht mehr in der Essenz, sondern in der Existenz, im Dasein oder reinen Sein den Ausgangspunkt aller philosophischen Verständigung suchten. Vom späten Schelling über Heidegger zu Sartre hin wird hier die Linie einer Philosophiebegründung eröffnet, die nun umgekehrt vor aller Essenz, vor aller Wesenhaftigkeit, vor allem Was- und Wiesein, das reine Daß-sein, die Existenz einer Sache zur Sprache bringen wollte.
3.2. Umschlag von Emphase in Selbstkritik: Intelligibilität einer Zweckordnung vs. Materialität einer vorrationalen Seinsordnung Erneut, so können wir sehen, finden wir auch im 20. Jhdt. in der Nachfolge einer reinen transzendentalen Formanalyse oder Ideenlehre den Weg zurück zum reinen Sein, zum Daß-sein, zur Existenz und mit diesem zugleich die Wiederkehr einer bereits vertrauten Problemkonstellation: Gegen Platon hatte Aristoteles die Phänomene, das empirische Wissen, die Universalia in rebus, eingeklagt; gegen Fichte hatte Schelling das reine Sein zur Sprache gebracht, und es war schließlich Heidegger, der gegen den Formalismus Husserls erneut auf die ontisch-ontologische Differenz hinzu weisen sucht; und damit auf ein Sein, das sich uns nicht in der Idee oder im Begriff, sondern allein in der Existenz, im Dasein, erschließt. Nach Nietzsches Vernunftkritik war diese Enthüllung dann nicht mehr noematischer Art, sondern – im Sinne Kierkegaards und des späten Schelling – als 48 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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ein Ereignis aufgefaßt: das uns plötzlich, unvermittelt das Unbedingte enthüllt, welches das Sein vor aller Bestimmung und Vermittlung als den tragenden Grund aller Phänomene offenbart. Damit erreichen wir einen Problemhorizont, an dessen Ausläufern wir heute stehen. Im Folgenden sei kurz die Diskussionslage skizziert, die sich aus der internen Spannungslage der Positionen des deutschen Idealismus in der Weiterführung des Fundierungsproblems ergeben hat: Die ursprüngliche Emphase der Vernunft ist in ihre Selbstkritik umgeschlagen; die Kritik, die einst an ihrem Anfang stand und mit Kants Reinigung ihrer Vermögen nach ihren Grenzen und Möglichkeiten suchte, greift nun das Medium der Kritik, die Vernunft selber an. Nicht länger mehr soll die vernünftige Selbstbestimmung das Organ der Einheit und Vermittlung sein: Die Vernunft hat sich viel mehr vor dem Horizont der außer- und vor-vernünftigen selbst zu rechtfertigen: Schopenhauers Wille zum Leben, Nietzsches Wille zur Macht, Freuds Trieblehre, Husserls Lebenswelt oder aber verstärkt in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts: die neuronale Struktur unseres Hirns sind ebensolche Topoi der vorrationalen Relativierung ihres Geltungsbereichs. Damit aber ist ein neuer transzendentaler Ort in den Mittelpunkt gerückt: der antizipierende Horizont ideengeleiteter Zwecke gerät zugunsten eines Vor- und Außerbegrifflichen aus dem Blick: die treibenden Kräfte werden nun nicht mehr in der Vernunft, dem Verstand, den Ideen geleiteten Aktionen vermutet, sondern in einen vorbegrifflichen Raum gestellt: Mit dieser Umkehrung im Fundierungsverhältnis ist aber zugleich auch das Kraftzentrum in Gefahr, das einstmals der wissenschaftlichen und theoretischen Erneuerung zum Durchbruch verhalf, das in Renaissance und Aufklärung die Vision eines frei sich entfaltenden Gemeinwesens entwarf. Nicht mehr die Intelligibilität einer Zweckordnung, sondern die Materialität einer vorrationalen Seinsordnung dominieren – quasi-vorkritisch – in den Humanwissenschaften wie auch ihren verschwisterten Disziplinen der Neurobiologie, Kognitionsforschung, der Hirnphysiologie das Feld. Das Gravitationszentrum der kulturellen Entwicklung ist damit verschoben: Der Selbstaufklärung der Aufklärung ist eine Phase der Ausdifferenzierung und schließlich der Auflösung ihrer Geltungsansprüche gefolgt, die dezentriert, dekomponiert, dekonstruiert, was einst als bewegendes Prinzip des Seinsgeschehens galt: und mit ihr ist zugleich das Kraftzentrum der Entwicklung aus dem Bestimmungsfeld der menschlichen Selbstbehauptung in ein vorrationales, präprädikatives 49 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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Sein gerückt: Nicht mehr die sich-bestimmende Monade Mensch im Kosmos der herabgestuften Seinseinheiten ist bewegendes Prinzip einer teleologisch gedachten Seinsstruktur, sondern, entwurzelt und vogelfrei, irrt die verlorene Seele ohne Mittelpunkt und bestimmende Kraft in einer Vielzahl möglicher heterogener Welten. Der Rückbesinnung auf das Selbst in Ethik und Erkenntnistheorie ist schwacher Widerhall der sichbestimmenden Monade Mensch: Ihm gilt nun das ungebundene Selbst als Nadelöhr zur Welt, die aufgehört hat, der Spiegel der unendlichen Gottheit, des Alls oder der Seinsganzen zu sein: Am Objektpol begegnet es nur mehr sich selbst und den Verrätselungen seiner Befindlichkeit; Stillstand und Ende einer Bewegung, die im Durchgang durch das Andere oder im Anderen allererst sich selbst gewann; der frühe Hegel hat als bewegendes Prinzip noch die Suche aufgefaßt, im Anderen seiner selbst bei sich zu sein und so die Liebe als bewegende Kraft vor alle Unterscheidung in Subjektivität und Objektivität gerückt: später wird sein universelles Geistprinzip ein Gleiches zu leisten haben: Als das einzige Medium, das in der Betrachtung des Anderen zugleich sich selber sieht, wird der Geist zum universellen Prinzip von Selbst- und Fremdbezug. Nun aber ist mit dem Fremdbezug auch das Selbst fraglich geworden. Sein meditatives oder selbstbezügliches Schwundstück bleibt ohne Durchgang durchs Allgemeine, ohne Aneignung des Fremden, d. h. ohne Arbeit am Begriff. Damit scheint der vereinzelte Einzelne zwar vor dem subsumierenden Griff des Allgemeinen gerettet, fällt nun aber nominalistisch aus dem generalisierenden Netzwerk selbst heraus: Solchermaßen ungebunden und vermittlungsfrei ist dem Einzelnen das verpflichtende Allgemeine verloren, in dem er vormals als der Teil eines Ganzen wirken konnte.
3.3. Natur- und Humanwissenschaften im Horizont sich selbst organisierender Systeme Doch scheint in der Gefahr das Rettende nicht weit, und so geben neuere Tendenzen zugleich Auskunft über ein zurückgewonnenes Allgemeines, über neue Perspektiven der Einbettung, durch welche die Autonomie der sich selbststeuernden Systeme vom Einzelnen auf die Ordnung, vom Individuellen auf das Allgemeine verlagert wird. Indem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Biologie die 50 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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Physik als Leitwissenschaft abgelöst hat, wird nun auch in den Human- und Sozialwissenschaften neben dem mechanischen ein teleologisches Denken zurückgewonnen. Die Theorie der sich organisierenden Systeme, in denen der Einzelne als der Teil eines Ganzen wirkt, das den Einzelnen erneut in ein Ganzes integriert, ihn zum Teil einer Bewegung macht, – die er als seine eigene Herausforderung begreifen soll, – tritt das holistische Erbe der systemtheoretischen Ansprüche an. Eine neue Suche nach einem Seinsganzen in Naturund Humanwissenschaften beherrscht und indiziert das verlorene Allgemeine: Ob dann das Quantum der Mikrophysik in der Welt sich organisierender Systeme das kosmische Ganze offenbaren soll, oder dem kleinsten Gen der Bauplan alles Lebendigen abzulesen sei; – der Blick der nachmetaphysischen Kosmologien und evolutionären Erkenntnistheorien ist stets auf diejenige Grundstruktur gerichtet, durch die natürliche und intelligible Phänomene auf ein Gemeinsames zurückführbar wären. Doch die Frage wird sein: Was ist die Bewegung ohne sich bestimmendes Aktzentrum, ohne sich-wissende Einzelne, deren Maß und Ziel Bestimmungsgrund des Ganzen ist? Ohne einen zureichenden Begriff der intelligiblen Entitäten, der objektkonstituierenden Bestimmungsgründe des transzendentalen Subjekts, wird eine Naturalisierung der Seinsbereiche unvermeidlich sein. Der zweite Weg, der Weg der Human- und Kulturwissenschaften, angetreten, das Einzelne, das Individuelle gegen die Abstraktion reiner Gesetzeshypothesen zu retten, um – wie Humboldt – in der Sprache, wie Herder in der Geschichte oder Literatur und Kultur der Nationen nach dem Besonderen, nicht subsumierbaren Einzelnen zu fragen, scheint der umgekehrten Wegerichtung zu folgen: In ihr wird der Realitätsbegriff zunehmend durch die Idee der Sprachspiele, der Regionalontologien und Diskurse ersetzt. Real ist demnach allein unsere Interpretation des Realen, die Konstruktion unserer Welten – Interpretationswelten ohne Substrat. Radikaler Konstruktivismus und Relativismus bilden so das andere Extrem zu einem reduktiven Naturalismus, für den die Welt des Wissens nur mehr epiphänomenale Bedeutung erhielt. Auf den unterschiedlichsten Wegen nach der verlorenen Verbindung suchen oder aber die Suche als post-metaphysisches Erbe qualifizieren, ist das Signum einer Zeit, welche die Emphase des vereinigenden Blickes verloren hat, der sich die Phänomene nur mehr in ihrer Vereinzelung offenbaren, deren Geschichte keinen Sinnzusammenhang mehr kennt. 51 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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3.4. Ethische Implikationen neuerer holistischer Entwürfe: zwischen Wertapriori und metaethischer Reflexion Damit aber wird das Fortschreiten in der Geschichte selbst zu einem Problem: der Fortschritt als das lineare Muster unendlicher Perfektibilität ausgelegt, gehört einer Denkform an, die zukunftsgewiß an die Verwirklichung universeller Prinzipien glaubt. Ist aber die Herkunft ungewiß, so muß auch das Ziel reine Fiktion bleiben. Und damit wird dann alles Fortschreiten selbst zu einem Problem. Längst ist die Linearität kausaldeterminierter Gesetze dem Gedanken synchroner Vernetzung gewichen, der Idee der zweckmäßigen Übereinstimmung aller Kräfte in einem Ganzen. Längst bestimmt ein neuer Holismus in Wissenschaftstheorie (so Quine), Naturphilosophie (Weizsäcker, Prigogine, Maturana etc.), evolutionärer Erkenntnistheorie (Vollmer, Riedel) oder der Theorie der sozialen Systeme (Luhmann) die Diskussion; längst wird jedoch mit der Idee der vernetzten Systeme ein neuer Zweckgedanke wach. Mit diesem aber betritt dann auch die Idee einer Finalursache, Aristoteles’ Prinzip der causa finalis erneut das Feld: Doch diese Finalität ist ohne letzte Ursache, ohne leitendes Ziel: ist Finalität in bloßer Selbstbewegung, Selbststeuerung, in blinder Mutation und Selektion oder aber in autopoetisch sich entfaltenden, gegeneinander blinden dehierarchisierten Systemen. Ist aber das leitende Ziel verloren, so fällt die Bewegung in sich zusammen oder verästelt sich vielzählig, bis die Tendenz zur Spezifikation die Verbindung zum tragenden Grund endgültig verloren hat. Diversifikation und Inversion der Zwecke sind das Resultat einer Bewegung, deren Selbsterneuerungs(steuerungs)kräfte ihr steuerndes Zentrum verloren haben; deren Bewegung ohne An fang und Ende in bloßer Vermehrung, reiner Ausdehnung ohne sie tragende Intensitäten verläuft. Mit dem Intensionsbegriff 19 war nämlich auch die Idee leiten der Qualia, möglicher Werte verloren: Schelers Wertapriori ist ein letztes Aufbegehren gegen diesen Verlust. Hilflose Sehnsucht nach einem ethischen Apriori, das seinsstiftende Funktion erhalten könnte. Der Weg in die metaethische Reflexion beschreibt dann notdürftig den versuchten Ausweg: einstmals mit Maximen des Sollens befaßt, wird nun in reflexiven Akten Argumentationsanalyse zum beherrschenden Gegenstand: Nicht der Gegenstand der Wissens oder des Den Intensionsbegriff hatte der frühe Wiener Kreis als Problem wissenschaftstheoretischer Analyse der formalisierten Kalkülbeschreibung geopfert.
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Wollens, sondern das Wie des Ethischen Diskurses über mögliches Wissen und Wollen rückt in das Zentrum der Betrachtung.
3.5. Reduktiver Naturalismus vs. konstruktiver Idealismus Nach der Zweiweltenlehre – in Sneeds These von den zwei Kulturen zum Ausdruck gebracht – wird nun die Idee der vielen Welten, der Pluralität und Differenz ohne Identität wach: Der Dolchstoß gegen den Primat der Identität wird diese als Signum der Macht, der Verdrängung auffassen wollen und mit der Rationalitätskritik auch das vermittelnde Medium der Vernunft selbst quittieren: Im Anderen der Vernunft wird das Vorrationale, das Außervernünftige erneut zur Sprache gebracht, um die Dominanz der Vernunft vor dem Horizont des Vorrationalen zu brechen. Soweit der diagnostische Blick, die knappe Skizze eines Problemhorizontes, der zu einer Archäologie der Wissensformen im Horizont von Aufklärung und Selbstaufklärung der Aufklärung veranlaßte, um in deren Lichte eine Problemlage zu er hellen, die zu einer vergleichbaren Alternative führt: Der Absolutierung der kognitiven Entitäten, die den Seinsgedanken in sich absorbiert, tritt nun die Naturalisierung des Mentalen an die Seite, welche die intelligiblen Phänomene – und selbst gar die transzendentale Perspektive – in sich absorbiert. Beide Reduktionsformen aber werden sich vor der Rationalität einer Frage zu bewähren haben, die für Kant und den ihm folgenden Idealismus noch leitend war: wie können wir uns ihre Integration in den einzelnen Seinsbereichen begreiflich machen, ohne jeweils eines im anderen bloß aufzulösen?
3.6. Zwischen Instrumentalisierung des Intelligiblen und Devitalisierung des Natürlichen: der Ort ethischer Reflexion Zwischen reduktivem Naturalismus und konstruktivem Idealismus bewegt sich darum erneut das Spannungsfeld zweier unversöhnlicher Pole, deren Urformen in der Gestalt der Unterscheidung von intelligibler und sinnlicher Sphäre Platon noch in seinem methexis-Gedanken, Kant in seiner teleologischen Urteilskraft, Schelling und Hegel 53 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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im Horizont einer integrativen oder dialektischen Identitätsform in eine versöhnliche Perspektive zu bringen suchten. Der Verlust einer solchen grenzüberschreitenden integrativen Perspektive hat dann jedoch nicht nur das Natürliche auf ein Mechanisches, sondern auch das Intelligible auf ein Instrumentelles reduziert: Mit der Instrumentalisierung des Intelligiblen und der Devitalisierung des Natürlichen ist aber zugleich jenes einigende Band verloren, das die Selbstbestimmung und Selbstbegrenzung des Geistes in der Epoche des philosophischen Idealismus noch offenbaren konnte: Im sich Sehen zugleich seine Grenzen verstehen und im Anderen das Andere seiner Selbst offenbaren, entbarg in der nachkritischen Philosophie – über sich selbst aufklärend – noch das Geheimnis eines Einfachen, das sich allein – für uns – als die Sphäre des Sinnlichsichtbaren der äußeren oder als Sphäre des Übersinnlich-unsichtbaren der inneren, der geistigen Natur, darstellen läßt. 20 Wenn aber mit der Hypothese des Ansich-vereinten das Phänomen des Lebendigen und seiner zwecksetzenden Vermögen besser aufschließbar sein sollten, so könnte der derzeit herrschende Gedanke der SelbstorganiWenn dieser Standpunkt des für uns Getrennten, der Sache nach jedoch Vereinten zurückzugewinnen wäre, könnten wir uns erneut als ein Teil dessen begreifen, was durch Aufklärung und neuzeitliche Naturwissenschaften zunächst als das Andere zur menschlichen Natur aufgefaßt worden ist: Kongenial jedoch in der äußeren Natur die Züge unseres eigenen inneren Wesens zu entdecken, macht dann erneut die Annahme eines prinzipiierten Dritten erforderlich, das – als beseelendes Prinzip – die Selbstbewegung und Selbstorganisation beider Sphären allererst begreiflich machen kann. Indem somit die Prozesse des Natürlichen erneut im Horizont eines finalisierenden Prinzips ausgelegt werden, wird der bloß mechanischen eine teleologische Betrachtungsart vorzuordnen sein, die über die Idee bloß äußerer Zweckmäßigkeit hinaus auch die selbstregulativen und sich-steuernden Funktionen des organischen Lebens in den Blick zu nehmen vermag: Dies aber bedeutet, daß der im Prinzip Selbstbewegung angelegte Zweckbegriff auch die Idee des Ganzen vor den Teilen erneut in die wissenschaftstheoretische Diskussion zurückbringen wird, wodurch es dann zugleich notwendig wird, intelligible und nicht mehr mechanisch-kausalbezügliche Bestimmungsgründe als eigentliche Prinzipien von Bewegung und Selbstbewegung in die Naturbeschreibung zu integrieren. Dann aber wird auch die systematische Anschlußstelle für das Prinzip freier Selbstbestimmung in einem Sozial- oder Gemeinwesen greifbar: Die frei assoziierten Einzelnen sind dann sowohl – im Sinne der Seinsordnung – zurückgebunden an die Sphäre des Organischen, deren Bewegungsprinzipien sie teilen, wie sie zum anderen auch – im Sinne der Sollensordnung – an dasjenige Übereinstimmungsprinzip gebunden sind, das die Harmonie der Zwecke als Übereinstimmung aller freien Willen untereinander allererst ermöglichen kann: an die Idee eines einigen Urprinzips, durch das die Möglichkeit einer solchen Übereinstimmung allererst begreiflich gemacht werden kann.
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sation lebendiger, sozialer oder kultureller Systeme vielleicht erneut in die Richtung auf eine integrative Ethik weitergedacht werden, indem in ihr das gedankliche Potential einer geistigen Bewegung zurück gewonnen würde, der die Vollendung des Natürlichen noch in der Idee einer zweckmäßigen Übereinstimmung aller natürlichen und der vernünftigen Zwecke leitend war.
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3. Zur systematischen Funktion der Kantischen Ideenlehre Das höchste Wesen bleibt also für den bloß spekulativen Gebrauch der Vernunft ein bloßes, aber doch fehlerfreies Ideal, ein Begriff, welcher die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönet, dessen objektive Realität auf diesem Wege zwar nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden kann, und, wenn es eine Moraltheologie geben sollte, die diesen Mangel ergänzen kann, so beweiset alsdenn die vorher nur problematisch angenommene transzendentale Theologie ihre Unentbehrlichkeit … 1
I.
Fragestellung
Kants Revolution der Denkungsart hat zu einem zweifachen, gleichwohl paradoxen Resultat geführt: 1. Zum einen gehört es heute in den verschiedensten Strömungen philosophischer Reflexion zu einem unbefragten philosophischen Selbstverständnis, daß es nicht der Seinsgedanke mehr ist, dem wir unsere epistemischen Bestimmungen bloß abzulauschen hätten, sondern daß es sich vielmehr umgekehrt so verhält, daß die Beschreibung einer möglichen Seinsordnung allein nur durch eine Beschreibung und Bestimmung unserer epistemischen Funktionen zu gewinnen ist. Ganz im Sinne der kritischen Wende der kantischen Erkenntnistheorie wird im Horizont von Konstruktivismus, Sprachidealismus, internem Realismus, Mentalismus etc. die Dominanz des Epistemischen vor allem Ontischen betont, so daß diese Traditionslinie – im Rückbezug auf Kant – in eine Skepsis bezogen auf den Seinsgedanken münden kann, dem – in letzter Konsequenz – selbst noch das Erfahrungsfundament unseres Wissens und mit diesem alle Erkenntnisgewißheit verloren scheint. 2. Doch auch eine zweite, gegenläufige Traditionslinie konnte sich auf die Ergebnisse der kantischen Erkenntniskritik berufen und führte im Gegenzug zur Absolutierung des Epistemischen zu einer 1
Kant: KrV, A 642/B 670.
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3. Zur systematischen Funktion der Kantischen Ideenlehre
Erneuerung des Seinsgedankens aus dem Geiste des Erfahrungsbezugs unseres Wissens: Gegen diejenigen Positionen, die den Gedanken von einem Seinsganzen allein nur aus Ideen für möglich hielten, wurde ein umgekehrter Einwand geltend gemacht. Sie gerieten in den Verdacht, sich des Erfahrungswissens zu entheben und so hinter Kants kritische Grenzlinie der Erkenntnistheorie zurückzufallen. Gegen diese, wie Lange es nennt, Gedankendichtung einer Seinsauslegung »rein nur in und aus Begriffen« 2, wurde darum sehr bald – nach Hegel – vorbereitet durch den Seinsgedanken Jacobis, Hölderlins, Schlegels, Novalis, Schleiermachers und des späten Schelling – der Erfahrungssinn des Wissens erneut ins Feld geführt; ein Einwand, der schließlich zu einer ersten Renaissance der kantischen Philosophie aus dem Geiste der Erneuerung eines rechten Verhältnisses zur Empirie führen sollte: Protagonisten dieser Bewegung in der nachhegelschen Ära waren die Hegelkritiker Friedrich Eduard Benekes, mit seiner ›Erfahrungsseelenlehre‹ 3; Christian Hermann Weiße mit seiner Kritik an Hegels ›formaler Wahrheit und materialer Unwahrheit‹ 4 oder aber der Fichte-Sohn Immanuel Hermann Fichte mit der Forderung nach einer ›gottoffenbarenden, den ontologischen Formbegriff ergänzenden Empirie‹. 5 Beides sollte mit Bezug auf Kant zu rechtfertigen sein: Der Erfahrungsbezug unseres Wissens konnte ebenso eingeklagt werden wie der Gedanke ideengeleiteter Erkenntnis, die nicht aus Quellen der Erfahrung mehr abzuleiten war. Im Folgenden möchte mit Blick auf die Systemanlage der kantischen Philosophie dieses Spannungsfeld in den Mittelpunkt meiner Überlegungen stellen: Gefragt werden soll nach der Art der Verbindung von Seinsgedanken und epistemischen Bestimmungen im Horizont des kantischen Systems: Dabei werden weniger die genannten Traditionslinien zur Sprache gebracht, die in dieser gegenläufigen Weise auf Kant bezogen sind, als vielmehr Kants eigenes Bemühen in den Mittelpunkt gerückt, nach einer inneren Verbindung zwischen Ontischem und Epistemischem zu suchen.
Vgl. G. Funke: Von der Aktualität Kants. Bonn 1979, 184 ff. Vgl. F. E. Benecke: Erfahrungsseelenlehre als Grundlage alles Wissens in ihren Hauptzügen dargestellt. Berlin 1820. 4 Vgl. Funke 1979, 185. 5 Vgl. ebd. 2 3
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
Mit Bezug auf die Spannung zwischen ontischen und epistemischen Bestimmungen gewinnen wir für die Analyse des kantischen Ideenbegriffs dann zugleich diejenigen zwei Eckpfeiler, die Kant in der Einheit seines Systemgedankens zusammenzubinden sucht: Es ist dies zum einen die ontologische Idee eines durchgängig bestimmten Seinsganzen und zweitens die epistemische Idee einer systematischen Einheit der Begriffe. Beiden Ideen wenden wir uns im Folgenden in zwei getrennten Teilen zu: Dabei bildet die ontische Idee einer durchgängig bestimmten Zweckordnung zugleich die Vorgabe, durch welche die Idee einer systematischen Zweckeinheit im Begriffe ihr sachliches Fundament erhält. Im dritten Teil schließlich wird die vermittelnde Idee des Ideals in ihrer systemtragenden Funktion zur Sprache gebracht. Vorbereitet durch ihren Stellenwert in den ersten beiden Teilen kann hier erst ihre ontisch-epistemische Doppelfunktion begreiflich werden. Gezeigt werden soll, daß sich die gesuchte innere Verbindung zwischen den beiden Polen Denken und Sein nur beschreiben läßt, wenn wir im kantischen Sinne die Idee von einem Seinsganzen voraussetzen. Die Idee von einem Seinsganzen läßt sich im Sinne Kants aber nur in einer Systemgestalt zur Darstellung bringen, in der alle Seinsbereiche in ihrer Funktion für das Ganze bestimmt werden können. Als System begreift Kant »die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, so fern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Theile untereinander a priori bestimmt wird. Der scientifische Vernunftbegriff enthält also den Zweck und die Form des Ganzen, das mit demselben congruirt.« 6 Wie nun, so lautet die Frage, sucht es Kant zu erreichen, in seiner Systemanlage einen Seinsgedanken zu gewinnen, der nicht auf epistemische Funktionen reduziert werden kann, bzw. ein philosophisches System zu entwerfen, in welchem die Entfaltung und Entwicklung der Realitätsgedanken den apriorischen Ideen des Unbedingten (Freiheit, Seele, Gott) nicht ihre systemtragende Funktion nimmt? 7 Ebd., A 686/B 714 ff.; A 697/B 725; A 699/B 727. Vgl. zum Verhältnis von Vernunftkritik und System vgl. Kant: KdU, H 1 ff. Bezogen auf die Erfahrung sucht Kant den Systemgedanken wie folgt einzugrenzen: »… ist von doch empirischen Gesetzen eine den unendliche Mannigfaltigkeit und eine so große Heterogenität der Formen der Natur, die zur besonderen Erfahrung gehören würden, möglich, daß der Begriff von einem System nach diesen (empirischen) Gesetzen dem Verstande ganz fremd sein muß, und weder die Möglichkeit noch die
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3. Zur systematischen Funktion der Kantischen Ideenlehre
Denn Kant wollte weder den Seinsgedanken im Ideengedanken absorbieren noch auch umgekehrt, den Ideengedanken einem sich ständig wandelnden Seinsgeschick unterwerfen. Welches ist nun die Idee seines Systems und welchen Ort haben die Ideen in diesem System?
a.
Die höchste Idee des Systems: der Zweckgedanke.
Zentral für die systematische Einheit des Systems ist Kants Zweckbegriff. Als höchster Begriff in der Bestimmung des Seinsganzen ist er zugleich Ausgang und Ziel einer Ideenordnung, die nur in systematischer Gestalt zu beschreiben ist. 8 Zweimal wird darum der Zweckbegriff mit ganz unterschiedlicher, doch bei näherem Betrachten verzahnt und verbundener Funktion genannt: als Vernunfteinheit der Zwecke und als Zweckeinheit der Vernunft. Im ersten Falle ist der Zweckbegriff auf ein ontisches Phänomen bezogen, auf die ›Zweckanordnung der Welt‹ 9, in einem zweiten Sinn thematisiert er ein epistemisches Programm 10. Als epistemische Zweckordnung gilt die systematische Einheit der Ideen – gleich wie in einem Organismus – als ein Ganzes aus zweckmäßig aufeinander bezogenen Teilen. Beide Bereiche sind ineinander verschränkt und finden, so im Folgenden die These, im Idealgedanken als fundierendem Prinzip der Systemanlage ihre systematische Verklammerung. Verbunden werden dabei zwei leitende Ideen: Zum einen der Weltbegriff, der zwischen Einzelnem und zweckmäßig bestimmtem Ganzen oszilliert und in Kants Erkenntniskritik zu den Grenzbegriffen von einem ›Gegenstande überhaupt‹ (als dem Grenzbegriff seiner Analytik, 11) und zu der Idee eines ›Alls der Realitäten‹ führt (wie er sie als Grenzbegriff seiner Dialektik entwirft 12). Zum anderen die Idee einer Zweckeinheit der Vernunft, die in Kants Idee einer Einheit aller Notwendigkeit eines solchen Ganzen begriffen werden kann«, KdU, H 8. Für die Urteilskraft jedoch, die das Erfahrungsganze nicht bloß aggregativ, sondern systematisch zu beschreiben sucht, indem sie das Besondere unter das Allgemeine bringt, wird der Gedanke der zweckmäßigen Übereinstimmung aller Teile in diesem Erfahrungsganzen dann zu einem transzendentalen Prinzip. 8 Zur Idee des Weltganzen als eines Systems aus Zwecken: Vgl. KdU, A 375/B 379 ff.; A 378/B 383; A 383/B 388 ff.; ferner: A 391/B 396 ff. 9 KdU, A 408/B 412. 10 KrV, A 832/B 860. 11 KrV, A 51/B 75. 12 KrV, A 576/B 604 f.
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
Vernunftzwecke im systematischen Ganzen der ›Vernunfterkenntnis aus Begriffen‹ 13 ihren theoretischen Ausdruck findet. 14 In diesem zweiten Sinne wird nach der Übereinstimmung aller vernünftigen Zwecke untereinander gefragt: d. h. die Vernunft ist sich nun selbst das Problem 15 und sucht nach einem Begriff ihrer eigenen Vermögen und Leistungen 16, – will sie sich nicht selbst das Dunkel bleiben, das anderes Dunkel, die Gegenstände der empirischen Erfahrung oder aber die Prinzipien sinnvollen Handelns, erhellen soll. 17 Die ›Zweckanordnung der Welt‹ wie auch die ›Zweckeinheit der Vernunft‹ sind darum in der kantischen Systemanlage einander komplementär: Die Idee des Ganzen als ›Vernunfteinheit der Zwecke‹ macht den systematischen Zusammenhang der Teile als ›Zweckeinheit der Vernunft‹ erforderlich. Die systematische Einheit der Erkenntnisse gibt dem Gedanken eines Ganzen eine angemessene Gestalt.
b.
Die drei Bewegungsrichtungen der Vernunft
Dabei lassen sich die Bewegungsrichtungen der Vernunft auf dreifache Weise so beschreiben: 1. Im ersten Fall auf ein Anderes, den Begriff von einem einzelnen Gegenstand wie der Ordnung insgesamt gerichtet, sucht sie dieKrV, A 713/B 741; KdU, H 1. Vgl. zur Architektonik des Systemgedankens den Methodenteil der KrV: A 707/ B735 ff.; Vgl. zur Einheit des Systems ferner: KrV, A 680/B 708. 15 KrV, B XIV; A 680/B 708. 16 KrV, A XX. 17 Vgl. zur Idee der Selbsterhellung der Vernunft: KrV, A XI. – Den Gedanken der Übereinstimmung aller sinnlichen und sittlichen Zwecke in der Welt unter moralischen Gesetzen wie auch der Idee eines philosophischen Systems (insbesondere in seiner Bedeutung für seine moralische Teleologie und Ethikotheologie) entwickelt Kant vornehmlich in folgenden Lehrstücken: KrV, A 669 ff./B 697 ff.; in der Religionsschrift (Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft, BA III ff.; ferner: A 119 ff./B 127 ff.); im zweiten Teil der Kritik der praktischen Vernunft, vgl. KpV, A 192 ff., sowie in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten, A 62 ff.; im Anhang zur Methodenlehre der Kritik der Urteilskraft (KdU, A 359 ff./B 364 ff.); ferner in einer Vielzahl an Reflexionen wie auch im Opus postumum. Zu einer neueren Auseinandersetzung mit Kants Idee eines Systems der Zwecke, wie sie in den verschiedensten Lehrstücken zum Ideengedanken zum Ausdruck kommt, vgl. R. Langthaler: Kants Ethik als ›System der Zwecke‹. Berlin 1991; D. Effertz: Kants Metaphysik, Welt und Freiheit. Freiburg/München1994. 13 14
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3. Zur systematischen Funktion der Kantischen Ideenlehre
jenigen Vernunftprinzipien bzw. Ideen zu bestimmen, durch die die Verstandesfunktionen zur Einheit der Erfahrungserkenntnis geführt werden können. 2. Im zweiten Falle wird die Vernunft selbstbezüglich, indem sie – auf der Suche nach der Übereinstimmung der Prinzipien untereinander – mit den Ideen zugleich solche »Gegenstandsbegriffe« gewinnt, die als Schemate der Vernunft Begriffe von möglichen ›Dingen an sich selbst‹ denkbar machen. 18 3. In einem dritten Schritt wird schließlich nach dem Prinzip dieser Prinzipien gefragt. Es ist dies eine Frage, die nicht mehr auf die systematische Einheit der Vernunftzwecke oder die Einheit eines möglichen Weltbegriffs zielt, sondern welche sich in den Grund der Einheit beider, in ihre Ermöglichungsbedingungen gleichermaßen hineinzudenken sucht.
c.
Idee der Einheit des Systems
Die Idee der Zweckmäßigkeit in der Übereinstimmung aller Teile in einem gegebenen- und erstrebten Weltganzen macht somit den Gedanken einer Vernunfteinheit erforderlich, mithin also eine intelligible Kausalität, durch welche selbst die Naturkausalität noch auf Gründe gebracht werden kann, ohne dabei in ihrer Eigengesetzlichkeit infragegestellt zu sein. So ist mit der systematischen Einheit aller Zwecke zugleich ein Systemgedanke verbunden, in welchem nicht allein die Prinzipien der Gegenstände des Denkens, sondern zugleich auch die Prinzipien des Denkens selbst als Prinzipien dieser systematischen Einheit zu erfassen sind. Soll darum eine zweckmäßige Einheit aller Seins- und Sollensprinzipien möglich sein, so ist mit dieser geforderten Einheit im
Den Schematismus der reinen Vernunftbegriffe entwickelt Kant nach Analogie zu den Schematen der reinen Verstandesbegriffe, welche als ›sinnliche Bedingungen des Gebrauchs der reinen Verstandesbegriffe‹ zwischen Kategorie und Erscheinung vermitteln (KrV, A 136/B 175). Obgleich jedoch für die durchgängige Einheit der Verstandesbegriffe kein Schema in der Anschauung gegeben werden kann, so soll die Idee der Vernunft jedoch »[…] ein Analogon von einem Schema der Sinnlichkeit« liefern, wenn auch mit dem Unterschied, daß die Schemate der reinen Vernunftbegriffe nicht auf Gegenstände der Erfahrung, sondern nur auf »die Einheit des Verstandesgebrauchs« gerichtet sind (ebd., A 665/B 693).
18
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
Sinne Kants die Idee eines Urwesens als Grund und Garant der zweckmäßigen Übereinstimmung aller Prinzipien verbunden.
d.
Kants Suche nach einem systemtragenden Prinzip
Auf dem Wege der Selbsterhellung der vernünftigen Vermögen gelangt Kant darum mit seiner Idee eines einigen Urwesens, dem Idealgedanken, zu einem Vernunftprinzip, das nicht mehr allein nur für unsere epistemischen Akte von Bedeutung ist, – indem es sie unter einen Einheitsgedanken in einem systematischen Zusammenhang stellt. Vielmehr soll bezogen auf den Idealgedanken als dem abschließenden und systemtragenden Prinzip aller vernünftigen Zwecke gelten, daß es selbst Kant am Dasein, am Erweis der Existenz, an der Realität und nicht bloß an der Idee eines solchen Prinzips gelegen war. 19 Auch wenn es zu Kants Hauptleistungen gehört, die Tradition einer spekulativen, rein-rationalen Metaphysik in ihrem Versuch, den Beweis für die Existenz eines höchsten Urwesens allein nur in und aus Begriffen in ihre Schranken gewiesen zu haben, und er es für einen dialektischen Schein hielt, in einer objektivierbaren Form von einem höchsten Wesen und dem Grund aller Dinge zu sprechen 20, so gelangt Kant gleichwohl – so die These – zu einer eigenständigen Beweisart für das Dasein des höchsten Wesens und damit verbunden auch für das Prinzip seines philosophischen Systems 21: Denn auch wenn Kant sich von den ontologischen, kosmotheologischen oder physikotheologischen Beweisgängen seiner Vorgänger fernzuhalten suchte, so wollte er doch mit diesen nicht auch die Idee Vgl. KrV, A 572/B 600 ff.; A 576/B 605: »Es ist aber auch durch diesen Allbesitz der Realität der Begriff eines Dinges an sich selbst, als durchgängig bestimmt, vorgestellt.« Das Ideal ist »… vollständige materiale Bedingung« der Möglichkeit eines Dinges. Im reinen praktischen Gebrauch unserer Vernunft »… wird auch das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesamten Natur, welche den Grund dieses Zusammenhanges, nämlich der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit enthalte, postuliert«, KpV, A 225. also ist die oberste Ursache der Natur, so fern sie zum höchsten Gute vorausgesetzt werden muß, ein Wesen, das durch Verstand und Willen die Ursache (folglich der Urheber) der Natur ist, d. i. Gott«, ebd., A 226. Vgl. zur Einschränkung eines solchen Erweises auf die praktische Vernunft: KdU, A 472/B 478. 20 Vgl. KrV, A 590/B 618 ff. 21 Vgl. KdU, A 414/B 418 ff. 19
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3. Zur systematischen Funktion der Kantischen Ideenlehre
eines einigen Urwesens quittieren, das diese durchgängig bestimmte Seins- und Sollensordnung gründen, tragen und erhalten kann. 22/23 Die Realität eines solchen Urwesens, wie auch seine rechte Bestimmung im Verhältnis zu den frei handelnden menschlichen Wesen lag vielmehr im Brennpunkt auch seiner Idee einer Metaphysik als Wissenschaft. 24 Dabei waren zunächst folgende drei Argumente für die Annahme der Existenz eines höchsten Urwesens als des systemtragenden Prinzips entscheidend: 1. Sollten die höchsten sinnlichen und sittlichen Zwecke in diesem Weltganzen harmonieren können, so mußte es ein Prinzip geben, durch das das Bedingte der bloß abhängigen Kausalitäten mit dem Unbedingten unseres freien Wollens übereinstimmen kann. 25 2. Wenn ferner gilt, daß die Idee der erstrebten Harmonie des Weltganzen weder allein synthetisch erreicht, noch auch rein analytisch aus Begriffsverhältnissen zu entfalten ist, da sie sowohl an die Bedingungen unserer Sinnlichkeit gebunden ist, als auch aus reinen Grundsätzen, aus moralischen Prinzipien apriori, für möglich gehalten werden soll, 26 so wird das gesuchte Prinzip in der Entfaltung des Weltganzen auch sowohl analytische wie synthetische Funktion erhalten: Es wird auf analytischem Wege zu gewinnen als auch – im
Vgl. KrV, A 814/B 841. Vgl. zum Begriff der materialen Einheit des Gedachten, KrV, A 572/B 600: »Das Principium der durchgängigen Bestimmung betrifft also den Inhalt und nicht bloß die logische Form. Es ist der Grundsatz der Synthesis aller Prädikate, die den vollständigen Begriff von einem Dinge machen sollen, und nicht bloß der analytischen Vorstellung, durch eines zweier entgegengesetzter Prädikate, und enthält eine transzendentale Voraussetzung, nämlich die der Materie zu aller Möglichkeit, welche a priori die Data zur besonderen Möglichkeit jedes Dinges enthalten soll.« 24 Vgl. KpV, 134: »Also wird durchs praktische Gesetz, welches die Existenz des höchsten in einer Welt möglichen Guts gebietet, die Möglichkeit jener Objekte der reinen spekulativen Vernunft, die objektive Realität, welche diese ihnen nicht sichern konnte, postuliert; wodurch denn die theoretische Erkenntnis der reinen Vernunft allerdings einen Zuwachs bekommt, der aber bloß darin besteht, daß jene für sie sonst problematische (bloß denkbare Begriffe) jetzt assertorisch für solche erklärt werden, denen wirklich Objekte zukommen, weil praktische Vernunft die Existenz derselben zur Möglichkeit ihres und zwar praktisch-schlechthin notwendigen Objekts des höchsten Guts unvermeidlich bedarf, und die theoretische dadurch berechtigt wird, sie vorauszusetzen.« 25 KpV, A 225 ff. 26 KpV, A 198 ff. 22 23
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
Horizont der erstrebten Sollensordnung – synthetisch zu entfalten sein. 3. Soll die Beförderung des höchsten Gutes in dieser abhängigen Welt der natürlichen Erscheinungen gemäß den Grundsätzen unserer Sittlichkeit apriori möglich sein, so wird die Integration intelligibler Kausalitäten in dieses durchgängig bestimmte Ganze nicht anders denkbar sein, »als unter Voraussetzung einer höchsten Intelligenz, deren Dasein anzunehmen (also) mit dem Bewußtsein unserer Pflicht verbunden ist« 27. Um der Intelligibilität der freien zwecksetzenden Wesen willen wird das Seinsganze darum nicht auf eine natürliche Ursache zurückführbar sein, sondern allein auf eine solche, die beiden Sphären gleichermaßen Rechnung trägt.
e.
Finalisierung des Seinsgedankens – Systematisierung der Vernunftzwecke
Mit der Annahme der erstrebten Realität des höchsten Urwesens wird die erkenntniskritische Wende Kants nicht verkannt, sondern allein nur der Zweck ins Spiel gebracht, von dem sie geleitet ist: Insofern nämlich Kants philosophisches System auf die Idee eines in ihren Funktionen einhelligen Seinsgedanken gegründet ist, konnte es nicht allein nur auf die gegebene Welt der Erscheinungen bezogen sein. Und insofern die aufgegebene Welt einer moralischen Zweckordnung mit der gegebenen Erscheinungsmannigfaltigkeit übereinstimmen sollte, so konnten die moralischen Ideen nicht mehr bloße Gesetzeshypothesen sein. Mit dieser Auslegung der kantischen Erkenntniskritik wird dann zugleich derjenigen Kantauslegung – wie sie etwa im Horizont des Marburger Neukantianismus von Natorp oder Cohen entwickelt wird – widersprochen, die nach einer Beschränkung des Geltungsanspruchs der kantischen Philosophie auf seine Funktion der Grundlegung der mathematischen Naturwissenschaften – nach dem Vorbilde Newtons – sucht. Denn würde Kants Ideengedanke als eine bloße Gesetzeshypothese ausgelegt, so bliebe der Seinsgedanke unterbestimmt, der in der Annahme der konstitutiven Funktion der Ideen für unser moralisches Handeln verborgen ist.
27
KpV, A 226 f.
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3. Zur systematischen Funktion der Kantischen Ideenlehre
Kant, so lautet darum im Folgenden die These, suchte nach einem von unseren epistemischen Akten unabhängigem Sein, indem er in seiner Grenzbestimmung der Vermögensbegriffe das erkennende und handelnde Bewußtsein auf die in ihm wirkenden apriorischen Formen zurückzuführen suchte, die als Objektivitätsgaranten Erfahrungsgewißheit ermöglichen und das Weltganze als eine moralische Weltordnung denkbar machen, die auf der Grundlage der Sittengesetzgebung auch Realität gewinnen konnte. An dieser moralischen Weltordnung selbst und nicht bloß an ihrer Idee war es ihm darum gelegen: Nach dieser Interpretation seines Seinsverständnisses wird Kants Philosophie darum in die Reihe derjenigen Versuche gestellt, die, ausgehend von der Idee eines Seinsganzen, nach dem Grundlegungsverhältnis fragen, aus dem ein solches Seinsverständnis heraus begreiflich zu machen ist. In erster Linie betrifft diese Suche nach einem einigen Urprinzip, einem absoluten Grund für alles Relative, den Metaphysiker Kant, dessen Ontologie – in seinem ersten propädeutischen Zugang – als Transzendentalphilosophie ausgelegt ist. Diese Problemanordnung, nach der das Ontische wie das Epistemische nur mehr als die zwei Seiten einer Zweckanordnung, einer Ordnung aus Ideen, erscheinen, nach der der Seinsgedanke darum finalisiert und das epistemische Programm systematisiert werden sollen, bringt beide Seiten in eine innere Beziehung zueinander: das Seinsganze wird mit der Idee einer Zweckeinheit verbunden sowie die epistemischen Bestimmungen auf einen Einheitsgedanken bezogen sind, der nur in systematischer Gestalt zu realisieren ist. Ontisches und Epistemisches darum zusammenzudenken, ohne je eine Seite auf die andere bloß zu reduzieren wird darum als entscheidendes Anliegen der kantischen Philosophie in allen ihren drei Teilen aufgefaßt. 28
In jeder der drei Kritiken hat die Suche nach einer Übereinstimmung von Sinnlichem und Übersinnlichen jedoch eine andere Gestalt und führt, ohne kritische Reinigung der Vernunftvermögen, in eine Dialektik möglicher Fehlschlüsse, die entweder, in der Kritik der reinen Vernunft, den Gegensatz zwischen dem sinnlichbedingten Erscheinungsmannigfaltigen und dem übersinnlichen Unbedingten der Ideenannahme nach sich zieht; in der Kritik der praktischen Vernunft in den Streit zwischen unserem höchsten sinnlichen bzw. unserem höchsten sittlichen Streben, d. h. zwischen Glückseligkeit und Tugendhaftigkeit führt. Oder aber sie führt den Gegensatz zwischen einer mechanischen und einer teleologischen Betrachtungsart herbei. 28
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
f.
Transzendentale Fragestellung
Wie aber, so wird zunächst zu fragen sein, sind beide Seiten innerlich aufeinander bezogen? Die Frage nach der inneren Verbindung beider Bereiche ist zentrales Anliegen transzendentalphilosophischer Reflexion: Im Unterschied zur rein logischen Betrachtung ist ihre Analyse auf die Frage nach dem impliziten Seinsbezug in unserem Denken gerichtet 29: Und es war diese transzendentale Frage, mit der Kant versuchte – nach der Entwicklung von Mathematik und den Naturwissenschaften – nun auch die Metaphysik auf einen wissenschaftlichen Grund zu stellen. 30 Insofern dann aber die metaphysische Frage nicht mehr allein auf einen Teilbereich des Seins, sondern auf das Seinsganze sowie auf seine systematische Beschreibung bezogen war, so war die geplante Metaphysik von der Idee eines fundierenden Prinzips getragen, durch das die gesuchte Verbindung aller Teilbereiche untereinander zu rechtfertigen war. 31 Mit dem Abschlußgedanken der kantischen Philosophie ist aber der Idealgedanken in Spiel gebracht und dies in einer zweifachen Hinsicht zugleich so, daß er sowohl dem Systemgedanken als auch, in diesen eingelagert, dem Gedanken einer moralischen Zweckordnung als fundierendes Prinzip dienen kann. Gefragt wird darum nach der Einheit des philosophischen Systems: Wie läßt sie sich durch den Idealgedanken garantieren und wie KrV, A 55/B 80 ff. KrV, A XII. 31 Unsere Erkenntnisfunktionen wie auch die unvermeidlichen Ideen des Unbedingten der Seele, Freiheit und Gott auf einen vergleichbar sicheren Grund zu stellen, indem bestimmt werden sollte, wie weit unsere Erfahrungserkenntnisse reichen, um den Vernunftideen des Unbedingten einen gebührenden Platz einzuräumen, ist Kants propädeutisches Bestreben auf dem Gebiete der Metaphysik. Dabei soll eine solche geplante Metaphysik weder überfliegend aus reiner Begrifflichkeit zur Erkenntnis der gegebenen Seinsordnung gelangen, noch auch unsere moralischen Zwecke auf ein Erfahrungsgegebenes gründen wollen; sondern sie soll die Frage beantworten, wie beides – der Erfahrungssinn des Verstandes wie auch der Vernunftsinn unserer Moralität und Sittlichkeit – in einem philosophischen Gebäude nebeneinander bestehen können, ohne sich in ihrer jeweiligen Funktion zu beschneiden. Diese Problemanordnung ist dann für Kant der Anlaß, nach der Art der Übereinstimmung aller Vermögen untereinander im Ganzen unserer philosophischen Erkenntnisse zu fragen: Denn nicht allein die erkennende Vernunft, sondern, – ihr in letzter Instanz dieser sogar vorgeordnet –, gleichfalls die praktische Vernunft wird in einem Systemgedanken zu verankern sein, in dem beide Sphären dann widerspruchsfrei miteinander bestehen können. 29 30
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3. Zur systematischen Funktion der Kantischen Ideenlehre
ist die erstrebte Vernunftordnung der Zwecke, die Idee eines durchgängig bestimmten Seinsganzen, mit der Zweckordnung der Vernunft, der Idee der Einheit aller Vernunftzwecke, durch den Idealgedanken innerlich verbunden? Mit einem Zweckgedanken, durch den eine gegebene Seinsordnung beschreibbar wird, und einem Zweckgedanken, der auf unser praktisches Vermögen zielt, sind zunächst die beiden Eckpfeiler unseres vernünftigen Weltbezugs umrissen, wie sie im folgenden Teil zur Sprache kommen und wie sie zugleich Gegenstand der ersten beiden Kritiken des kantischen Systems sind. Die Suche nach einem konsistenten Theorierahmen, innerhalb dessen beide Sphären einander kompatibel sind, wird vor die zweifache Forderung gestellt: a) Die Übereinstimmung der Vernunftfunktionen untereinander soll nicht allein bezogen auf die Binnenartikulation der jeweiligen Bereiche – des theoretischen wie praktischen Vernunft – erreicht werden, sondern es ist das Ziel des kantischen Systemgedankens, b) beide Bereiche auch untereinander zur Übereinstimmung zu bringen. Dabei wird es sich jedoch zeigen, daß allein aus einer Beschreibung der Binnenstruktur der beiden Bereiche auch der Weg in die Suche nach den Übereinstimmungsbedingungen beider Sphären untereinander gefunden werden kann. Dem Idealgedanken, dem dann der dritte und letzte Teil gilt, kommt dabei die entscheidende Vermittlungsrolle zu: Indem er bezogen auf die gegebene und erstrebten Seinsordnung als höchstes Prinzip ausfindig gemacht werden kann, dient er als der Abschlußgedanke transzendentalphilosophischer Reflexion. Indem er eine Welt unter moralischen Zwecken aber auch ermöglichen soll, dient er zugleich als Ausgang einer Zweckordnung, die nur durch Freiheit möglich ist. 32 Die analytische und synthetische Methode des kritischen Unternehmens sind darum für Kant untrennbar verzahnt.
Vgl. zum Ideal der reinen Vernunft als einem einzelnen, durch die Idee allein bestimmbaren oder gar bestimmten Ding: KrV, A 567/B 595 f.; ferner: Kant, Refl. 5146, AA XVIII, S. 103 und Refl. 5553, 224 f. – Zum Idealgedanken als Fundament der kantischen Theologie vgl. S. Andersen: Ideal und Singularität. New York/Berlin 1983; ferner: C. Piché: Das Ideal: Ein Problem der Kantischen Ideenlehre. Bonn 1984. – Die nachkantische, von Fichte, Schelling und Hegel erhobene Forderung nach einer Vermittlung der Extremen an ihnen selbst, so lautet hier die These, ist bereits der Intention der kantischen Systemeinheit selbst gemäß und wird von ihm bereits in
32
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
II.
Konvergenz der Systeme
a.
Zweckordnung des Seinsganzen
1.
Ontologie als Transzendentalphilosophie
Wenden wir uns zunächst der Binnenartikulation des Einheitsgedankens bezogen auf die je einzelnen Problemfelder zu: Die Frage bezogen auf die Idee einer zweckmäßig organisierten Seinsordnung, die in ihrer höchsten Ausprägung den Idealgedanken erforderlich macht, lautet: Wie kann das Seinsganze, als durchgängig bestimmt vorgestellt, im System aller Vernunftzwecke Gestalt annehmen? Aus transzendentalphilosophischer Perspektive, der an dieser Idee der Übereinstimmung aller epistemischen Funktionen bezogen auf einen möglichen Gegenstand der Erfahrung gelegen ist, wird die Frage zu beantworten sein, was ein Seiendes zu einem Seienden macht? oder: erkenntniskritisch reformuliert: welches sind die Bedingungen, von einem Gegenstande der Erfahrung zu sprechen? Ich versuche eine Annäherung in vier Schritten: 1. Der Weg in eine Wissenschaft vom Empirischen hat – im Horizont von transzendentaler Ästhetik und Analytik – nur den formalen Begriff des Empirischen zur Sprache gebracht: Der durch die Kategorien der Quantität, Qualität, Relation und Modalität gewonnene Begriff von einem Gegenstande überhaupt ist reiner Formbegriff und darum gegenüber der Idee eines durchgängig bestimmten Einzelnen, d. h. der materialen Bestimmung des Gegenstandes sowie der durchgängig bestimmten Seinsordnung unterbestimmt. 2. Insofern aber die materialen Bedingungen der Gegenstände, d. h. ihre durchgängige Bestimmung, nicht mehr ihrerseits aus apriorischen Regeln ableitbar sind, kann die materielle Seite des Gedachten – so Kants Überlegungen in seiner transzendentalen Dialektik – nur als Idee, als Idee einer omnitudo realitatis, einer allseits bestimmten Seinsordnung, gewonnen sein. 3. War nun mit der Idee des Alls der Realität, dem Grenzbegriff der Dialektik, zwar der unendliche Prädikationsgrund gewonnen, der durch Ein- und Ausgrenzung möglicher Prädikate den Gedanken eines Einzelnen möglich macht, so konnte nicht bereits einleuchtend eine Gestalt gebracht, an die die nachkantische Philosophie bloß anzuschließen brauchte.
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3. Zur systematischen Funktion der Kantischen Ideenlehre
sein: wie durch ihn ein Materielles, d. h. ein individueller Gegenstand, auch hinreichend zu bestimmen sei. Ist doch der Verstand für die Idee eines durchgängig bestimmten Einzelnen stets zu eng so wie umgekehrt die Ideen für den Verstand zu weit sind. 33 4. Die durchgängige Bestimmung eines Einzelnen ist demnach nur durch die Antizipation einer ›Idee in individuo‹ möglich, der alle Prädikate, die Gegenständen überhaupt zu gesprochen werden können, in höchster Vollendung eingeschrieben sind. Der Idealgedanke, das Urbild zu allen möglichen Gegenständen, die ihm gegenüber schlechte Kopien, bloße Nachbilder sind, steht somit zunächst in Funktion zur Komplettierung unserer Verstandeserkenntnisse und ist darum – als Vernunftidee – mit unserer Welterfahrung unmittelbar verbunden. 34 Kants Versuch, Sinnliches und Übersinnliches in einem System zu vereinen, besteht somit zunächst aus einer Bereichsunterscheidung zwischen dem kategorialen Gebrauch unserer Vernunft und ihrem Ideenbezug: Während die Verstandesformen allein auf die Gegenstände in Raum und Zeit bezogen sind, zielen die Ideen auf den Verstand, um ihn zur Übereinstimmung seiner Funktionen anzuleiten. In einer dreifachen Weise wird der Ideengedanken in seiner inneren Verschränkung zu unseren epistemischen Funktionen, genauer: den Relationskategorien, dann ins Spiel gebracht, um seine integrierende Funktion für unseren Verstandesgebrauch zu bezeichnen. 35 Näherhin sind dies in der kantischen Dialektik folgende drei integrative Einheitsbegriffe 36: Ist doch, so erläutert Kant in seiner Dialektik der reinen Vernunft, »Vernunfteinheit in bloßen Begriffen« als »absolute Einheit derselben« »für den Verstand zu groß, und, wenn sie dem Verstande angemessen, für die Vernunft zu klein« (KrV, A 422/ B 450). 34 Die Funktion des bei Kant häufig verwandten »nur« bezogen auf den Gebrauch der Ideen wäre jedoch, so Krings 1984, 97, in ihrer Intention zugleich mißverstanden, würde die gegen die traditionelle Metaphysik gerichtete Stoßrichtung des »nur« verkannt, da auf diese Weise häufig die konstitutive Funktion der Vernunftprinzipien für die Einheit unserer Verstandeserkenntnisse in ihrer Funktion vernachlässigt würde. Mit Kants Betonung des »nur« wird allein abgewiesen, vom Unbedingten auch im Sinne möglicher Gegenstandserkenntnis zu sprechen; die Vernunftideen des Unbedingten konstituieren dabei nur den Verstand, nicht aber die Gegenstände der Erfahrung. 35 Hier ist dann auch der Ort bezeichnet, an dem die Annahme der Ideen des Unbedingten selbst im Horizont unserer Erfahrungserkenntnis unausweichlich wird. 36 Vgl. zur Funktion der drei transzendentalen Ideen auch Kant, Refl. 5938 und 5939, 33
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
a. Die Idee von einem Substrat, das nicht mehr Prädikat eines anderen genannt werden kann. Soll unser Wissen auf ein Gegenständliches bezogen sein, so ist die Frage nach dem letzten einigenden Substrat, das als das gesuchte ›Ding an sich‹ unseren Prädikaten zugrundeliegt, unausweichlich. Ein solches oberstes Substrat im Gebrauch der kategorischen Synthesis, d. h. der Relationskategorie: Substanz und Akzidenz, kann aber nur die Idee von einem unbedingten denkenden Ich oder der menschlichen Seele sein, weil nur diese als ein letztes Substrat möglicher Prädikate nicht mehr selbst Prädikat in einem Urteil genannt werden kann. So wird die Idee der menschlichen Seele bereits in Kants Kapitel über die Paralogismen der reinen Seelenlehre zu jenem Unbedingten, das sich selbst allen weiteren Bestimmung entzieht. Als das oberste Substrat und als der Grund aller Prädikate ist dieses einfache Ich, das denkt, dann konsequent der einzige Gegenstand der rationalen Psychologie. In seinem eigenen Selbstsein können die Kategorien als Prädikate nichts über eine mögliche Seelensubstanz ausmachen, auch wenn wir mit ihrer Hilfe einen widerspruchsfreien Begriff jener einfachen Instanz, die denkt, zustande bringen können. b. Soll zweitens – bezogen auf die zweite Relationskategorie, die Kategorie von Ursache und Wirkung – die Suche nach einem Anfang in der Zeit, einem kleinsten Teil, einem Unbedingten in der Reihe der Bedingungen etc. mit unseren Bestrebungen nach einer vollständigen Explikation des Gegebenen unausweichlich verbunden sein, so kann eine solche Idee des Unbedingten in der Reihe des Bedingten dann als notwendige regulative Idee ins Spiel gebracht werden, die sich unserem Erfahrungswissen jedoch nur approximativ, auf dem Wege unendlicher Annäherung, erschließt. So bleibt sie unausweichliche Vernunftidee, nicht aber ein erkennbarer Bestimmungsgrund innerhalb einer möglichen Kosmologie. c. Soll schließlich drittens – und hier eröffnet sich die Perspektive auf Kants Idealgedanken – der Begriff von einem durchgängig bestimmten Ganzen für unser theoretisches und praktisches Weltverständnis leitend sein, so ist die Idee von einem ›All der Realitäten‹ 37 AA XVIII, 395, KrV, A 576/B 604: »Es ist aber auch durch den Allbesitz der Realität der Begriff eines Dinges an sich selbst, als durchgängig bestimmt, vorgestellt […]«. 37 Vgl. zur Idee des »Alls der Realität« als des transzendentalen Substratums aller durchgängigen Bestimmung KrV, A 571 ff./B 599 ff. Zur Bedeutung der Idee des »Alls der Realität« als einer ins Unbedingte gesteigerten Quantitätskategorie vgl. Heimsoeth 1981, 33 f.
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3. Zur systematischen Funktion der Kantischen Ideenlehre
unvermeidlich, aus dem durch Aus- und Eingrenzung dann der Begriff einer durchgängig bestimmten Ordnung gewonnen werden kann. Diese dritte Vernunftidee, die Kant aus dem transzendentalen Obersatz in einem disjunktiven Vernunftschluß gewinnt, ist nun zugleich der Ort, den Idealgedanken als den Gedanken von einem durchgängig bestimmte Ganzen aus unseren erkenntnistheoretischen Überlegungen zu gewinnen. 2.
Die Idee eines ›Dinges an sich‹
Da es somit Kant wie auch seinen vorkritischen Vorläufern, Leibniz und Spinoza, nicht allein an der Idee, sondern an der durchgängig bestimmten Seinsordnung selbst gelegen war, so konnte dieses nur in einer ›Idee in individuo‹ zu gewinnen sein, die dann nicht mehr nur die Bestimmbarkeit des Begriffs, sondern den Inhalt der Begriffsbestimmung selbst, die Idee von einem vollständig bestimmten Ding betraf. Wenn, so führt Kant in seinem Kapitel vom transzendentalen Ideal aus: … der durchgängigen Bestimmung in unserer Vernunft ein transzendentales Substratum zum Grunde gelegt wird, welches gleichsam den ganzen Vorrat des Stoffes, daher alle möglichen Prädikate der Dinge genommen werden können, so ist dieses Substratum nichts anderes, als die Idee von einem All der Realität (omnitudo realitatis) … Es ist aber auch durch diesen Allbesitz der Realität der Begriff eines Dinges an sich selbst, als durchgängig bestimmt vorgestellt, und der Begriff eines einzelnen Wesens, weil von allen möglichen entgegengesetzten Prädikaten eines, nämlich das, was zum Sein schlechthin gehört, in seiner Bestimmung angetroffen wird. Also ist es ein transzendentales Ideal, welches der durchgängigen Bestimmung, die notwendig bei allem, was existiert, angetroffen wird, zum Grunde liegt, und die oberste und vollständige materiale Bedingung seiner Möglichkeit ausmacht, auf welcher alles Denken der Gegenstände überhaupt ihrem Inhalte nach zurückgeführt werden muß. 38.
Kant begreift nun die regulative Idee eines solchen Urwesens, die er das ›Ideal der reinen Vernunft‹ nennt, als das Schema eines durchgängig bestimmten Ganzen, als Idee der Ordnung insgesamt, als ›Idee in individuo‹. Auf diese Weise wird der Gedanke des »Alls der Realität«, der omnitudo realitatis, in transzendentaler Perspektive zum 38
KrV, A 575 f./B 603 f.
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
universellen Prädikationsgrund aller durchgängigen Bestimmung. Als Prädikationsgrund wie als Gedanke einer durchgängig bestimmten Seins- und Sollensordnung hat das Ideal darum die Funktion, das Schema einer Ordnung zu repräsentieren, das für die gegebene Ordnung regulative wie die herzustellende, die moralische Welt, konstitutive Funktion besitzt. Die Idee eines Weltganzen, die Idee des Alls der Realität (omnitudo realitatis), in welchem alle Substanzen in Wechselwirkung zueinander vorgestellt werden können, macht darum die Annahme eines Systems aller Verstandesbestimmungen erforderlich. Denn um ein Einzelnes vollständig zu bestimmen, muß es, so Kant, nicht allein mit allen Gegenständen der Erfahrung, sondern auch mit allen nur möglichen Gegenständen überhaupt verglichen werden, damit es als ein von anderen wohl unterschiedenes Etwas zu Bewußtsein gebracht werden kann. Diese Idee allseitiger Bestimmung eines Einzelnen setzt darum die Idee eines allseitig bestimmbaren Ganzen voraus, aus welchem allein durch Ein- und Ausgrenzung aus diesem Inbegriff aller Möglichkeiten der Begriff des einzelnen Gegenstandes gewonnen werden kann. 39 Und so wie die regulative Idee der Vernunft auf den Grund der Möglichkeit durchgängiger Bestimmung bezogen ist, indem sie dem Verstand als Prinzip der Vervollständigung und Vereinigung seiner Operationen bezogen auf die durchgängige Bestimmung gegebener Erscheinungen dient, richtet sich das Ideal auf den Gegenstand selbst und seine welchselseitig aufeinander wirkenden Eigenschaften, indem es als ›Idee in individuo‹ die durchgängige Bestimmung nicht allein als eine Norm unseres Denkens, sondern als das Prinzip des Gedachten selbst verkörpern kann. 40 Die Ausgrenzung gegebener Erscheinungen aus dem vorausgesetzten Inbegriff aller Möglichkeiten am Leitbild des Ideals eines durchgängig bestimmten Gegenstandes ist jedoch nur in der Idee eines Systems zu verwirkDarum ist nach Kant auch »die Einheit des Weltganzen, in welchem alle Erscheinungen verknüpft sein sollen, […] offenbar eine bloße Folgerung des insgeheim angenommenen Grundsatzes der Gemeinschaft aller Substanzen, die zugleich sind: denn, wären sie isoliert, so würden sie nicht als Teile ein Ganzes ausmachen«, und so gilt, daß »die Gemeinschaft eigentlich der Grund der Möglichkeit einer empirischen Erkenntnis, der Koexistenz sei, und daß man also eigentlich nur aus dieser auf jene, als ihre Bedingung zurückschließe.« KrV, A 218/B 265 Anm. 40 Vgl. zum Ideal der reinen Vernunft als einem einzelnen, durch die Idee allein bestimmbaren oder gar bestimmten Ding: KrV, A 567/B 595 f.; ferner: Kant, Refl. 5146, AA XVIII, 103 und Refl. 5553, 224 f.- Zum Idealgedanken als Fundament der kantischen Theologie vgl. Andersen 1983; ferner: Piché 1984. 39
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3. Zur systematischen Funktion der Kantischen Ideenlehre
lichen, welches als der Inbegriff aller nur denkbaren Prädikate aufgefaßt und als regulativer Grund einer jeden Gegenstandserkenntnis vorausgesetzt werden kann. 41 Die Idee der Einheit unter unseren Verstandeshandlungen als Idee der Einheit durchgängig und vollständig bestimmter Gegenstände ist darum keine Kategorie mehr, die direkt aufgegebene Erscheinungen bezogen werden kann, sondern als Leitziel aller Verstandeshandlungen kann sie vielmehr nur einer Sphäre entstammen, die selbst noch die Verstandesfunktionen untereinander zu regeln vermag. Und so ist das Systematische aller Verstandeshandlungen auch der Zweck und das Ziel der Vernunft in der Erkenntnis des Empirischen. Denn, so führt Kant diesen Gedanken aus: »Der Verstand macht für die Vernunft ebenso einen Gegenstand aus, als die Sinnlichkeit für den Verstand. Die Einheit aller möglichen empirischen Verstandeshandlungen systematisch zu machen, ist ein Geschäft der Vernunft, sowie der Verstand das Mannigfaltige der Erscheinungen durch Begriffe verknüpft und unter empirische Gesetze bringt.« 42 Kant nennt den Ort dieser Ordnungsfunktion die Vernunft; die Art der Anwendung ihrer Prinzipien auf den Verstand den transzendenten Gebrauch der Vernunftbegriffe, da sie im Unterschied zu den Verstandesbegriffen nicht einen immanenten Gebrauch 43, mithin also die Erkenntnis empirischer Größen erlauben, sondern da sie die unbedingte Vollständigkeit in der Erkenntnis des Empirischen selber regeln. Transzendent kann dieser Gebrauch genannt werden, weil er über den immanenten Gebrauch unserer Verstandesbegriffe hinaus ein Transzendentes – wenigstens als Idee – denkbar macht. Und es ist ein solches Transzendentes, das Kant durch die Ideen des Unbedingten repräsentiert sieht, das er zugleich den eigentlichen Zweck aller Metaphysik nennt. 44 Denn ohne diese Ideen des Unbedingten, wäre ein innerer Begriff von Gegenständlichkeit nicht denkbar. Dann nämlich erst ist das Ziel der vollständigen, durchgängigen Bestimmung eines gegebenen Etwas erreicht, wenn die Totalität aller Bedin-
Zur Bestimmung der Art des Systems vermittels der einheitsstiftenden Funktionen der Vernunft vgl. KrV, A 680/B 708. Zur Idee des Systems als organisierte Einheit aller Vernunftzwecke vgl. KrV, A 832/B 860. 42 KrV, A 664/B 692; vgl. dazu ferner: Kant, Refl. 5553, AA XVIII, 221/222. 43 KrV, B 383/A 327. 44 Kant, Refl. 4851, AA XVIII, 10. 41
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gungen zu einem gegebenen Bedingten im System aller Bestimmungen erfaßt worden ist. Mit dem Idealgedanken hatte Kant darum gefunden, was in der Tradition rationalistischer Theologie und Metaphysik als der Gedanke von einem einigen Urwesen erschienen war, das in sich all die Prädikate enthielt, die einem jeweils Seienden überhaupt zugesprochen werden können; vergleichbar dem physikotheologischen Gedanken der Spinozanischen Ursubstanz, in die die Bestimmungen von ausgedehnter Materie und Intelligibilität als seine Attribute eingelagert sind, oder der Idee einer Urmonade als dem zureichenden Grunde innerhalb von Leibniz’ kosmotheologisch begründetem Seinsverständnis. Den Begriff eines solchen einigen Urwesens jedoch widerspruchsfrei so zu denken, daß er als das übersinnliche Substrat von Geist und Materie Freiheit möglich macht, ohne die Erfahrungssinn des Verstandes zu gefährden, war Kants Bestreben auf dem Wege zu einer möglichen Metaphysik als Wissenschaft. Und so kommen wir in einem nächsten Schritt zur Frage nach der inneren Kohärenz des kantischen Systems.
b.
Zweckeinheit der Begriffe
1.
Idee der Kohärenz des Systems
Mit dem Kohärenzanspruch des Systems wird als Kants eigene Intention aufgefaßt, was Anhalt und Ausgang der nachkantischen Philosophie bezogen auf seine Systemidee gewesen ist: Der Versuch, die erstrebte philosophische Wissenschaft auf ein Einheitsprinzip zu gründen, das eine zweifache Funktion zu erfüllen hatte: 1. Zum einen sollte die Einheit der Apperzeption die Verbindung zwischen Sinnlichem und Intelligiblem erlauben. 2. Zum anderen sollte – bezogen auf die Dialektik der Vernunftkritik – Kants Idealgedanke als der Gedanke von einem höchsten Seinssubstrat aufzufassen sein, das die innere Übereinstimmung aller sinnlichen und sittlichen Zwecke garantieren kann. Der Versuch, zwischen dem denkenden Ich als dem Substrat unserer Seinsgedanken und dem moralischen bzw. teleologischen Ich eine Brücke zu schlagen war, so die These, bereits Kants Ziel auf dem Wege zu einer Metaphysik als Wissenschaft. Theoretisches und praktisches Ich sollte nicht in zwei unverbundene Systemteile auseinanderfallen, sondern nur mehr die 76 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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zwei Dimensionen einer teleologisch beschreibbaren Seins- und Sollensordnung zum Ausdruck bringen, die nur durch moralische Zwecke zu komplettieren war. Doch waren es erst die Nachkantianer Reinhold, Fichte, Schelling und Hegel, die sich das Verdienst zusprachen, dem kantischen Systemgedanken eine ausgereifte Gestalt gegeben und Unverbundenes in einem Systemgedanken vereint zu haben. So hatte Fichte das moralische und das transzendentale Ich im absoluten Ich zu vereinen versucht: Im absoluten Ich sollte die abhängige Tätigkeit des erfahrungsbestimmenden Ich und die unabhängige Tätigkeit des freien moralischen Ich in einem Prinzip zusammenfinden können. Kant hatte jedoch das frei setzende moralische Ich und das abhängig bestimmte theoretische Ich in seiner Systemanlage, durch das Ideal als dem verbindenden Prinzip zwischen beiden Sphären, zusammengebracht. Nur der Ausgangspunkt beider Systemteile sollte dabei verschieden sein: Diente der theoretischen Vernunft das unbestimmte Material einer empirischen Anschauung als Stoff für die Synthesisakte, die es unter Kategorien bringen konnten; so war der materiale Gebrauch der Grundsätze der praktischen Vernunft für das frei handelnde Ich bloß nachträglich von Bedeutung: Zwischen der Sphäre des abhängigen sich-Bestimmens unserer theoretischen Vernunft und der Sphäre freier Selbstbestimmung auf dem Felde der Moralität und Sittlichkeit herrscht darum eine Spannung, die ihren sinnfälligen Ausdruck in der Art des Bezugs zum empirischen Material gewinnt: Was unserer theoretischen Vernunft ein Erstes ist, dient der praktischen Vernunft – als Zeichen ihrer Freiheit gegenüber den natürlichen Bestimmungsgründen – nur als Forum der Bewährung frei gesetzter moralischer Zwecke, mithin also als ein Abgeleitetes. Beide Bewegungsrichtungen in unserem vernünftigen Weltbezug sind darum so komplementär wie einander entgegengesetzt: Soll freies Handeln möglich sein, so ist der Vernunftbegriff einer Weltordnung vorausgesetzt, in den freie Zwecksetzung auch integrierbar sein muß. Die Welt muß demnach als aus Ideen heraus entsprungen vorgestellt werden, in der Sinnliches und Sittliches als vereint gedacht werden können. Solange nicht, so lautete die Kritik, beide Prinzipien die gesamte Seins- und Sollensgedanke zusammenzubinden vermöchten, müssten – wie Fichte dies in der WL von 1804 oder Schelling in seiner Ich-Schrift vermerken, – die Systemteile ohne inneres Prinzip ihrer Verbindung, d. h. ohne Möglichkeit ihrer Übereinstimmung bleiben, mithin also in unverbrüchlicher Entgegensetzung verharren. 77 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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Darum wird 1. das transzendentale Ich in der Folge der kantischen Philosophie zum neuralgischen Punkt eines Systemgedankens, nach welchem man nun aus der Seins-Sollens-Einheit des Urprinzips, des Prinzips: ›Sich-bestimmen‹, ein Potential zu gewinnen versuchte, beide Seinsbereiche, die abhängige Erscheinungswelt wie die auf Freiheit gründende moralische Welt in einer einigen Ursubstanz zu vereinen. Und es wird 2. das transzendentale Ideal als diejenige Finalursache aufgefaßt, die das vereinte Streben aller auf den Grund ihrer Übereinstimmung zu bringen vermag. Die nachkantische Philosophie lebte dabei sowohl von ihrem – durch Jacobi vermittelten Rückgriff auf Spinozas Ursubstanz – als auch aus dem Versuch, die kantischrousseauistische Freiheitsemphase in dieses Prinzip – als Finalursache – zu integrieren. Ein ›Spinozismus der Freiheit‹ sollte gefunden werden; ein über Spinozas Substanzgedanken hinausgreifendes Urprinzip, in dem die Urmonade ›Ich‹ – nicht mehr – dinganalog – der spinozanischen Substanz nachempfunden war, sondern in welcher zugleich die Spontaneität und Freiheit sich-bestimmender freier Wesen zu integrieren war, so daß ihr Ziel, die Idee der Übereinstimmung aller Vernunftzwecke im Ideal ihrer Ineinsbildung den Einheitsgrund aller Verbindung finden konnte. Darum ist Schelling recht zu geben, wenn er in seiner Philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie Kants Ideal als den entscheidenden Punkt beschreibt, »an den die spätere Entwicklung sich als eine nothwendige Folge anschloß.« 45. Kant hatte in seinem Ideal der reinen Vernunft dieser Einheitsidee vorgedacht, aus der heraus die nachkantische Philosophie ihren systematischen Funken schlug: In ihm bereits sollten die Bedingungen der theoretischen und der praktischen Philosophie als vereint vorgestellt werden können; die Idee eines einigen Urprinzips sollte gefunden sein, das die innere Übereinstimmung der Seinsbereiche untereinander wie auch das Systematische der erstrebten Theorieform auf ein Prinzip bringen sollte, das als Grund ihrer Möglichkeit zugleich nichts von alle dem sein durfte, was aus ihm begreiflich zu machen war. Soll im Idealgedanken, wie Kant ihn verstand, die höchste Zweckeinheit des Seinsganzen darum auf ein Prinzip zu bringen sein, Schelling: Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW II/1, 283.
45
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so konnte dieses Ideal des höchsten Wesens jedoch nicht anders aufzufassen sein, denn als ein »regulatives Prinzip der Vernunft, alle Verbindung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus einer allgenugsamen notwendigen Ursache entspränge, um darauf die Regel einer systematischen und nach allgemeinen Gesetzen notwendigen Einheit in der Erklärung derselben zu gründen«. 46 Der Vorbehalt gegenüber dem Seinsstatus des Ideals war im Sinne Kants nämlich weniger den Prinzipien seiner Erkenntnistheorie, als im Kern dem moralphilosophischen Status jenes Urprinzips geschuldet: Sollte das höchste Urwesen nichts sein, dem wir unsere Zwecke bloß abzulauschen hätten, sondern vielmehr ein durch unser eigenes Dazutun allererst zu vollführendes und zu realisierendes Einheitsprinzip, so konnte es nicht als ein gegenstandskonstitutives Prinzip mehr an den Anfang der gegebenen Seins- und Sollensordnung gestellt werden; sondern es sollte allein – nach dem Muster einer Finalidee – unser moralisches Handeln auf Gründe bringen können. 2.
Die Existenz des höchstens Seinsprinzips vor seiner Essenz?
An dieser Stelle können wir nun die Frage nach dem Seinscharakter des Ideals erneut aufgreifen: Wie sollte es Kant gelingen, trotz seiner kritischen Grenzziehung der Erkenntnistheorie den Idealgedanken als einen Seinsgedanken zu entwickeln, der mehr als ein bloßer Gedanke von einem höchstweisen Wesen sein konnte? Wie ist der Idealgedanke an einen Seinsgedanken gebunden, der zugleich von der Idee der Existenz vor aller Essenz getragen ist? Wie hat Kant – so lautet zugespitzt die Frage – mit diesem Idealgedanken das überkommene Problem der Existenz eines einigen Urwesens zu lösen vermocht? Wie sollte die Existenz des höchsten Wesens im kantischen Sinne zu verbürgen sein, wenn doch zugleich gelten sollte, daß »Sein kein reales Prädikat, d. h. von etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne« 47 mehr genannt werden konnte? Die Annahme der Existenz des Urwesens, das die gesamte Seinsund Sollensordnung gründen, tragen und erhalten kann, wird, so lautet die kantische Lösung des Existenzproblems, nicht den Charakter eines Prädikates haben, das aus reinen Begriffsverhältnissen bloß abzuleiten wäre und das zum Begriffe von einem Dinge noch hin46 47
KrV, A 619/B 647. KrV, A 598/B 626.
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
zukommen könnte oder gar als ein Implikat in einem Begriffe von einem ens necessarium oder ens perfectissimums bereits aufgehoben wäre. 48 ( ) Denn Leibniz’ oder Descartes’ Idee eines ens necessarium, dem – erfahrungsfrei – das esse per se eingeschrieben war, sollte nicht länger die Existenz des höchsten Wesens verbürgen können, – denn: »Sein ist kein reales Prädikat«. Kant sucht darum nach einem anderen Weg: Ich möchte diesen Weg kurz skizzieren, weil er beides zu retten sucht: Zum einen die Frage nach einem ursprünglichen göttlichen Wesen, die für Kant mit den Bedingungen unserer Vernunft unweigerlich verbunden ist und zum anderen die Annahme, daß ein solches höchstes Wesen nichts sei, was sich durch unsere Begriffe auch erkennen ließ. Die Existenz eines höchsten Urwesens soll nach Kant widerspruchsfrei nur zu denken sein, wenn die Idee der Existenz nach dem Muster der aristotelischen prote ousia – als erste Substanz – beschrieben wird: Als das zugrundeliegende Daß- vor allem Wie- und Wassein kann das höchste Wesen, (oder wie Kant es in seiner ›Kritik der Urteilskraft‹ nennt, das höchste übersinnliche Substrat), in seiner Funktion als das höchste Substrat aller Seinsgedanken die Verbindung der gegebenen Seinsordnung mit der bloß aufgegebenen Sollensordnung denkbar machen. Mit dem Idealgedanken hat Kant nämlich – bezogen auf die Erfordernisse der spekulativen Philosophie – zunächst allein einen Vernunftbegriff, d. h. eine bloße Idee, im Blick, die all unsere Vernunftzwecke krönt und beschließt. Mit ihm aber war zugleich der Gedanken von einem einigen Urwesen gewonnen, in dem alle nur denkbare Prädikate in höchster Vollendung vereint sind und dem die Vernunfteinheit der Zwecke als höchster sinnfälliger Ausdruck gilt. So war im Idealgedanken die Vernunfteinheit der Zwecke diesem höchsten Seinsgedanken gegenüber bereits sekundär; denn die Vernunfteinheit der Zwecke sollte in letzter Instanz auf ein Fundament zurückgeführt werden, das nicht selbst wiederum nur durch ihre Aktivitäten bloß gesetzt, sondern das als der Grund der Möglichkeit der inneren Übereinstimmung ihrer Zwecke untereinander mit diesen bereits gegeben ist. Gleichwohl aber kann die Idee eines einigen Urwesens für die Bedürfnisse unserer spekulativen Vernunft nicht den Charakter eines Seinsgedanken haben, dem alle Prädikate als seine Attribute bereits eingeschrieben sind, sondern –
48
KrV, A 592/B 620.
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im Sinne von Kants kopernikanischer Wende der Philosophie – es wird sich vielmehr umgekehrt so verhalten: 3.
Die Idee des Alls der Realitäten: vom Idealgedanken ermöglicht. Der Systemgrund kann nicht mehr innerhalb des Systems gefunden werden
Das Ideal als der höchste Seinsgedanke kann nur dann nicht mehr als eine bloße Vernunftidee, sondern als das höchste Substrat der Vernunft selbst aufgefaßt werden, wenn es, wie es der moralisch-praktische Gebrauch unserer Vernunftvermögen erforderlich macht, die Zweckeinheit der Vernunft selbst noch auf Gründe zu bringen vermag und dann, gemäß der Sollensordnung als einer erstrebten Welt unter moralischen Gesetzen als das einigende Prinzip aller sinnlichsittlichen Zwecke dient. Dann erst kann der Idealgedanke den Keim zu einer Vorstellung von einem Urwesen in sich bergen, in dem das Daßsein allem Was- und Wiesein vorgängig ist. Dann erst kann sein Stellenwert innerhalb der Grenzen eines solchen Systems als ›prote ousia‹, als das allen Seinsbestimmungen zugrundeliegende Seinssubstrat aufgefaßt werden, welches bezogen auf die durchgängig bestimmte Weltordnung ein unverwechselbar Individuelles anzuzeigen vermag. Mit ihm kann dann zugleich auch – bezogen auf das System aller Vernunftzwecke in der erstrebten Wissenschaft der Metaphysik –, derjenigen Systemgrund gefunden werden, der nicht mehr innerhalb der Grenzen des Systems zu erfassen ist. Im Sinne Kants wäre das Ideal dann zugleich als diejenige ›Idee in individuo‹ aufgefaßt, die in höchster Vollendung alle Seinsbestimmungen in sich trägt, indem es sie als seine Attribute in sich vereint. Kants Ideal kann darum nach dieser Auslegung die Frage beantworten, warum er bei allem Vorrang der epistemischen vor den ontologischen Funktionen seiner Erkenntniskritikgleichwohl einen Seinsgedanken ins Spiel zu bringen sucht, der das durchgängig bestimmte Seinsganze allererst auf einen Existenzgrund zurückzuführen vermag, der selbst nicht wiederum bloß der Gedanke »Existenzgrund« ist. Insofern nämlich die Seinseinheiten in ihrem Ausgang vom unbestimmten Einzelnen bis hin zur durchgängig bestimmten Seinsordnung als Seine Attribute aufgefaßt werden können, als die Qualia eines Seinsgedankens, von dem selbst alle Bestimmungen ferngehalten werden müssen, weil es dieses durchgängig bestimmte Ganze trägt und erhält, wird es von diesen Attributen als seinen Prädikaten auch nicht in seinem eigenen 81 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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Insichsein erkannt, sondern ist von aller Erkenntnis seiner Seinsgestalten in diesem Insichsein noch unterschieden. Auch dieser Gedanke ist nach einer Strukturanalogie zur aristotelischen Substanzkategorie gedacht: Das höchste Daß-sein wird vor allem Was- und Wie-sein selbst nicht mehr das Prädikat eines anderen genannt werden können, da es als Grund und Substrat all der Prädikate, die einer Sache als seine Seinsbestimmungen zugesprochen werden können, mithin also als ihr einigendes Band fungiert; als jener Einheitsort, bezogen auf den alle Bestimmungen in eine Übereinstimmung zu bringen sind. Im Unterschied zur Idee, die eine Vielzahl möglicher Welten denkbar macht, ist das Ideal der Gedanke von einem durchgängig bestimmten Ganzen, das nicht allein denkbar, sondern auch wirklich ist. Denkbar ist Vieles; wirklich aber nur die eine gegebene Welt. Und so kann, soll der Gedanken von einem Seinsganzen nicht bloß als die Idee einer möglichen Welt zu etablieren sein, sondern mit dieser die Regeln und Prinzipien der Seinsordnung selbst auf den Grund gebracht werden, der Idealgedanke im Postulat einer Welt unter moralischen Gesetzen zugleich objektive Realität gewinnen. Dann aber wird er nicht mehr bloß der Gedanke von einer solchen Welt, sondern vielmehr ihr konstitutives Prinzip genannt werden können: Bezogen auf die vorhandene Seins- und Sollensordnung wird mit der Essenz eines solchen höchsten Wesens seine Existenz dann insofern verbunden sein, als im Ideal der Konstitutionsgrund einer intelligiblen Welt gewonnen ist, der die gesamten Seinsordnung auf Gründe zu bringen vermag. In diesem Sinne allein kann dann auch für Kant gelten, daß mit der Essenz des höchsten Wesens auch seine Existenz notwendig verbunden sei. Nicht aus bloßen Begriffsverhältnissen läßt sich der Idealgedanke darum in seiner Existenz verbürgen, sondern allein nur durch unser freies Handeln in einer Welt unter moralischen Gesetzen realisieren. Darum hat sich Kant mit dieser Fragestellung, so lautet die These, vom Problemfeld einer reinrationalen Philosophie auch nicht eigentlich entfernt, sondern bleibt vielmehr auf ihre Kernfragen selbst zurückbezogen: In gleicher Weise interessiert ihn nicht bloß der Begriff eines höchsten Wesens als Urwesen, in dem alle Seinsprädikate vereint sind, sondern es interessiert ihn die Möglichkeit seiner Existenz, die Existenz unabhängig vom Was- und Wiesein in einer mög-
82 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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lichen oder gegebenen Seinsordnung. Denn, so betont Kant im Methodenteil der Kritik der reinen Vernunft, die Endabsicht, worauf die Spekulation der Vernunft im transzendentalen Gebrauche zuletzt hinausläuft, betrifft drei Gegenstände: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes. 49
Im Unterschied aber zur rein-rationalen Traditionslinie, deren Problembestand er mit dieser Frage weiterzuführen sucht, hat Kant nicht die Idee einer eigenen Wesenheit im Blick, die – vom Seinsganzen selbst noch unterschieden – in einer personifizierten, hypostasierten Gestalt sinnfällige Erscheinung annehmen könnte, sondern er versucht, die Wesenheit des Seinsganzen, insofern es durch moralische Gründe zu komplettieren ist, als Seine erstrebte Wirklichkeit zur Sprache zu bringen; indem er die Idee eines Weltganzen auf den Einheitsgrund eines einigen Urwesens bezieht, das als das Substrat einer solchen Seinsordnung selbst begriffen werden kann. Soll es aber als Substrat aller Seinsprädikate seine Wirksamkeit in diesem Seinsganzen erfüllen können, so wird umgekehrt auch das Seinsganze an seinem Maß zu orientieren und zu entfalten sein, indem ihm das höchste Urwesen als Bestimmungsgrund, oberstes Substrat und Finalursache ineins dienen kann. Als ein solcher Bestimmungsgrund ist er für unser Erkennen und Handeln dann der notwendige Einheitsgedanke, dasjenige Prinzip, das eine innere Übereinstimmung aller Vermögen untereinander in einer sittlichen Weltordnung erlaubt. Für unsere reflektierende Urteilskraft wird darum das Seinsganze in diesem Ideal zu antizipieren sein, und so im Horizont einer teleologischen Betrachtung der gesamten Zweckordnung den Gedanken der Idee des durchgängig bestimmten Ganzen vor den Teilen möglich machen. Insofern nämlich eine Welt unter moralischen Gesetzen als eine Welt aus Ideen aufzufassen ist, wird das Seinsganze selbst nur als aus Ideen entsprungen zu denken sein. Dann aber ist auch der Weltursprung, der Weltanfang nichts mehr, das sich im Rückgang von den Bedingungen zu einem ersten Bedingten unserer empirischen Erfahrung erschließt und darum in irgendeiner empirischen Wissenschaft zugänglich sein könnte, sondern er ist nur in und durch eine Idee, mithin also innerhalb einer Begriffsform greifbar, die zwischen den endlichen Verstandesbedingungen und den übersinnlichen Vernunftpostulaten deutlich zu unterschei49
KrV, A 798/B 826.
83 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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den vermag: Denn allein diesen ist die Idee von einem Seinsganzen zugänglich und mit ihr verbunden auch allererst diejenige Form, unter der es uns in seiner empirischen Begrenzung allein erscheinen kann. Das Seinsganze kann dann nur aus einem Prinzip heraus begreiflich werden, das die Teile quasi-organisch zu einem Ganzen fügt. 4.
Der Freiheitsgedanke als Ort des Umschlages
Soll aber das Seinsganze nicht als ein teleologisch sich entfaltendes Ganzes zu verstehen sein, in das die freien menschlichen Wesen bloß hineingestellt sind, so läßt sich die Dynamik der teleologisch beschriebenen Seinsordnung nicht im Horizont einer spekulativen Seinsauslegung hinreichend beschreiben und damit unabhängig vom freien Handeln der frei assoziierten Einzelnen bestimmen. Das Telos in der Entfaltung des durchgängig bestimmten Seinsganzen ist darum von der Freiheit des je einzelnen zugleich unabtrennbar, so daß für Kant der Finalitätsgedanke ohne den freien Willen der Einzelnen nicht zu komplettieren und zu vollführen ist. Die Vernunfteinheit der Zwecke, so lautet darum das Ergebnis, ist der Zweckeinheit der Vernunft darum korrelativ: Findet Kant in der Vernunfteinheit der Zwecke den höchsten Seinsgedanken, der auf der Übereinstimmung aller natürlichen und sittlichen Zwecke beruht, so soll dieser nur im systematischen Ganzen einer philosophischen Theorie, in der Zweckeinheit der Vernunft, zu vollführen sein, die als metaphysische Theorie die innere Verbindungzwischen unseren theoretischen und unseren praktischen Vermögen im verbindenden Entwurf einer Weltordnung zur Sprache gebracht werden kann, in der unser Wissen und Sollen im Hoffen auf die erstrebte Harmonie der Zwecke in Übereinstimmung gebracht werden kann.
III. Ausgangspunkt für die Einheit des Systemgedankens: Das Ideal der reinen Vernunft a.
Seins- und Erkenntnisordnung: Das ›Für-uns‹ und das ›An-sich‹ Erste
Mit der erstrebten Metaphysik als Wissenschaft ist bereits der Horizont benannt, aus dem heraus beide Zweckbegriffe aufeinander bezogen sind: Es ist dies zum einen die Idee einer Vernunftwissenschaft 84 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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aus Begriffen 50, in der der Begriff und das in ihm realisierte Vernunftpotential zugleich nicht ein Letztes sind und es ist zum anderen der Gedanke eines zweckmäßig organisiertes Seinsganzen, das nur aus Ideen möglich ist. 51 Dieser Unterscheidung zwischen Erkenntnisund Seinsordnung, auf die beide Zweckbegriffe bezogen sind, liegt ein aristotelischer Gedanke zugrunde, der zugleich die innere Verbindung beider Bereiche zum Ausdruck bringen kann: Es ist dies die Unterscheidung zwischen dem ›Für-uns‹ und dem ›An-sich‹ Ersten: Was der Erkenntnisordnung nach ein Erstes, wird der Sache nach ein Letztes sein. 52 Diese Unterscheidung zwischen Entdeckungsheuristik und Sachzusammenhang wird im Folgenden auch für die Auslegung des kantischen Systemgedankens fruchtbar gemacht: Denn, so die These, auch im Sinne Kants kehrt sich vom Ende her betrachtet, und damit nicht mehrgemäß der Erkenntnisordnung, sondern von der Idee einer Seinsordnung aus gedacht, das Verhältnis zwischen einem Denken, – das in der Gestalt einer Vernunftkritik auf die Übereinstimmung aller Vernunftzwecke untereinander zielt – und einem Seinsgedanken, dem das Denken nur als die Form seiner Explikation dient, um: Was Kant als ein für uns Erstes begreift, – die Selbsterhellung der Vernunft – gilt ihm, so die These, der Sache nach zugleich als ein Letztes. Denn der Sache nach zielt die Vernunftkritik auf einen Ordnungsgedanken, der nicht mehr bloß epistemischer Natur ist, sowie auf eine Vernunftordnung, die nur im Horizont einer möglichen Ontologie zu rechtfertigen ist. Denn die gesuchte Vernunftordnung aus Begriffen – so lautet die These – bliebe ihrerseits ohne Maß und Ziel, wäre dies Maß selbst wiederum rein innerepistemischer Natur. Als eine erstrebte Zweckordnung kann sie nur gelten, wenn sie auf eine Weltordnung bezogen ist, in die intelligible Zwecke auch integriert werden können. 53 So ist das der Sache nach Erste dann für unsere KrV, A 712/B 740 ff. Auch wenn der Gedanke von einem Weltganzen bereits aus der Kategorie der Wechselwirkung (der Substanzen) gefolgert werden kann, so wird er im System aller Begriffe jedoch allein nur als Idee zu repräsentieren sein; denn die Kategorien können »zwar zu Erklärung der Möglichkeit der Dinge in der Sinnenwelt, aber nicht der Möglichkeit eines Weltganzen selbst gebraucht werden, weil dieser Erklärungsgrund außerhalb der Welt und mithin kein Gegenstand einer möglichen Erfahrung sein müßte.« (KrV, A 677/B 705). 52 Aristoteles, Physik, 184a. 53 KrV, A 807/B 835. 50 51
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Erkenntnisordnung ein Letztes; denn wir mögen zwar vermittels der Vernunftkritik den Ausgang in der Analyse unserer Erkenntnisvermögen nehmen, – der Sache nach aber wird die gesamte Seins- und Sollensordnung auf ein Prinzip zurückzuführen sein, das dem Sein vor allem Erkannt- und Verstandensein eine Vorrangstellung zuweisen kann. Darum wird zwar nach der Erkenntnisordnung bei den epistemischen Funktionen der Anfang zu machen sein, so daß eine zukünftige Metaphysik als Wissenschaft durch die Vernunftkritik hindurchgehen muß, wenn sie sich die Art der Verflechtung von Ontischem und Epistemischem begreiflich machen will, – ihr inneres Telos sowie der Bestimmungsgrund ihrer Prinzipien aber wird selbst nicht mehr epistemischer Natur sein können, wenn die Vernunfteinheit der Zwecke nicht zirkulär wiederum nur auf vernünftige Operationen, sondern vielmehr auf die objektive Realität einer Welt unter moralischen Gesetzen bezogen sein soll. Darum führt im Verhältnis der reinen spekulativen zur reinen praktischen Vernunft auch die praktische Vernunft das Primat; denn in dieser sind unsere Ideen konstitutiv für eine Weltordnung, die nur aus Zwecken möglich ist: Denn es würde ohne diese Unterordnung ein Widerstreit der Vernunft mit sich selbst entstehen, weil, wenn sie einander bloß beigeordnet (koordiniert) wäre, die erstere für sich ihre Grenze enge verschließen und nichts von der letzteren in ihr Gebiet aufnehmen, diese aber ihre Grenzen dennoch über alles ausdehnen, und, wo es ihr Bedürfnis erheischt, jene innerhalb der ihrigen mit zu befassen suchen würde. Der spekulativen Vernunft aber untergeordnet zu sein, und also die Ordnung umzukehren, kann man der reinen praktischen gar nicht zumuten, weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist. 54 Zwei weitere Belege für die Überordnung von Seins- vor den Erkenntnisbestimmungen finden sich bereits auf dem Gebiet der theoretischen Vernunft: 1. Das erkennende Selbstverhältnis im ›Cogito‹ ist nur möglich, wenn das denkende Wesen auch ist; das ›sum‹ im cogito darum aus der Analyse des Denkaktes selbst gefolgert werden kann und nicht aus dem Akt erst erschlossen werden muß. 2. Mit der Idee eines übersinnlichen Urhebers, dem Ideal des durchgängig bestimmten höchsten Wesens, ist im Sinne Kants die Sphäre der Sinnlichkeit verlassen und der Weg freigeworden, den bloß intelligiblen Gegenstand unserer transzendentalen Idee – widerspruchsfrei – ebensogut für einen transzendenten Gegenstand zu halten. Denn insofern wir das Unbedingte »… (um das es doch eigentlich zu tun ist) in demjenigen setzen, was ganz außerhalb der Sinnenwelt, mithin außer aller möglichen Erfahrung ist, so werden die Ideen transzendent«; sie dienen nicht bloß der Vollendung des empirischen Vernunft-
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3. Zur systematischen Funktion der Kantischen Ideenlehre
Die These lautet darum: Kants transzendentalphilosophische Analyse nimmt zwar ihren Ausgang bei der Erkenntnisart, insofern sie apriori möglich ist, zielt aber innerhalb dieser Betrachtung nicht allein auf die Erkenntnisformen wie die erkenntnisleitenden Vermögen, sondern sucht vielmehr nach der möglichen Objektivität des Erkannten, nach dem »Hingelten« (E. Lask) der apriorischen Formen auf die Welt der erfahrbaren Erscheinungen wie die Idee von einem Weltganzen, – mag das Erkannte nun in der Spanne zwischen Einzelnem und Ordnung, d. h. im Horizont einer Vernunfteinheit der Zwecke oder aber auf die Selbsterkenntnis ihrer Vermögen wie ihre systematisierbare Gestalt, d. h. auf die Zweckeinheit der Vernunft, bezogen sein.
gebrauchs (der immer eine nie auszuführende, aber dennoch zu befolgende Idee bleibt),« (KrV, A 565/B 593), sondern erlauben es nun, den Sprung in die Sphäre des Noumenalen, des Transzendenten, zu vollziehen, und hierzu einer begrifflichen Ausdeutung des einigen Urwesens zu gelangen, das mit den Erfordernissen des Erfahrungsbezugs unserer Verstandeserkenntnis kompatibel ist, ohne unter seine Bedingungen gestellt zu sein. Denn dergleichen Ideen haben vielmehr einen bloß intelligiblen Gegenstand, »welchen als ein transzendentales Objekt, von dem man übrigens nichts weiß, zuzulassen, allerdings erlaubt ist.« (KrV, A 565/B 593). Mit der Idee eines übersinnlichen Urhebers, dem Ideal des durchgängig bestimmten höchsten Wesens, ist die Sphäre der Sinnlichkeit verlassen und der Weg freigeworden, den bloß intelligiblen Gegenstand unserer transzendentalen Idee – widerspruchsfrei – ebensogut für einen transzendenten Gegenstand zu halten. Denn insofern wir das Unbedingte »… (um das es doch eigentlich zu tun ist) in demjenigen setzen, was ganz außerhalb der Sinnenwelt, mithin außer aller möglichen Erfahrung ist, so werden die Ideen transzendent«; sie dienen nicht bloß der Vollendung des empirischen Vernunftgebrauchs (der immer eine nie auszuführende, aber dennoch zu befolgende Idee bleibt),« (KrV, A 565/B 593), sondern erlauben es nun, den Sprung in die Sphäre des Noumenalen, des Transzendenten, zu vollziehen, und hier zu einer begrifflichen Ausdeutung des einigen Urwesens zu gelangen, das mit den Erfordernissen des Erfahrungsbezugs unserer Verstandeserkenntnis kompatibel ist ohne jedoch unter seine Bedingungen gestellt zu sein. Denn dergleichen Ideen haben vielmehr einen bloß intelligiblen Gegenstand, »welchen als ein transzendentales Objekt, von dem man übrigens nichts weiß, zuzulassen, allerdings erlaubt ist.« (KrV, A 565/B 593). Denn das »Dasein der Erscheinungen fordert uns auf: uns nach etwas von allen Erscheinungen Unterschiedenem, mithin einem intelligiblem Gegenstande umzusehen«, bei welchem die Zufälligkeit der Erscheinungswelt aufhört (KrV, A 566/B 594).
87 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
b.
Die ›Realität‹ der höchsten Seinsgedanken
Der inneren Verbindung der beiden Grundbereiche der kantischen Kritiken möchte ich mich nun abschließend kurz zuwenden. Die These lautet: So wie die Zweckordnung des Seinsganzen als leitende Idee und Horizont der theoretischen Vernunft zugleich ihren Abschluß bildet, wird sie – im Rahmen der praktischen Vernunft – zum Ausgang einer Sollensordnung, die nur durch freie Zwecke möglich ist. Nun erst kann auch die Funktion der Umkehrung in der Konzeption der beiden ersten kantischen Kritiken deutlich werden: Wie bereits bezogen auf die Materie des Gedachten erläutert, sind beide Kritiken gegenläufig konzipiert: Dient der theoretischen Vernunft das Erfahrungsfundament des Wissens, mithin ein Seinsgedanke als Ausgang und Anhalt für die Entfaltung des Kategoriengebrauchs, so schreitet die Kritik der praktischen Vernunft – in einer umgekehrten Perspektive – von den Grundsätzen ausgehend zu denjenigen Bedingungen fort, die ihnen objektive Realität verschaffen können. Als Postulat in der objektiven Bestimmung unseres Willens kann der Begriff des höchsten Guts den Ideen der reinen Vernunft dann diejenige Realität zukommen lassen, die sie in spekulativer Hinsicht vermissen mußten: Denn nun, auf dem Gebiete der praktischen Vernunft wird 1. ein Seelenbegriff denkbar, der als das zeitübergreifende Substrat unserer Seinsgedanken, das Bleibende im Wechsel der empirischen Erfahrung begreiflich machen kann; 2. ein Freiheitsbegriff möglich, durch den eine intelligible Welt in die durchgängig bestimmte Erscheinungsmannigfaltigkeit integrierbar wird, sowie 3. schließlich ein Idealgedanke greifbar, der als das »oberste Prinzip des höchsten Guts« 55 dieses auf Freiheit gründende Weltganze krönt und beschließt, ohne doch zugleich von diesem auch getrennt und hypostatisch als eigene Wesenheit bestimmbar zu sein. Erneut scheint somit zunächst im Kantischen System die bereits Platon bestimmende Urdualität zwischen der natürlichen und der intelligiblen Welt leitend zu sein. Erneut scheint als oberste Disjunktion des Systems die Spannung zwischen dem Ausgedehnten der natürlichen Erscheinungen und dem Intelligiblen der vernünftigen Welt betrachtet zu werden. Doch sowie bereits Aristoteles Platons 55
KpV, A 240.
88 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
3. Zur systematischen Funktion der Kantischen Ideenlehre
Ideensphäre als Chorismos geißelte, durch welchen die Ideen eine gegenüber den Dingen unabhängige Existenz erhielten 56, waren die auf Kant folgenden philosophischen Systeme Reinholds, Fichtes, Schellings und Hegels von dem Bemühen getragen, die unglückselige Dualität zwischen einer auf Notwendigkeit beruhenden Erscheinungswelt und einer durch Freiheit möglichen sittlichen Welt zu überwinden. Sein und Sollen, Sittlichkeit und Sinnlichkeit sollten in einer Systemkonzeption zu vereinen sein, wenn das philosophische System einhellig und die beiden Sphären einander kompatibel sein sollten. Wie aber, so kann abschließend gefragt werden, soll das Verhältnis zwischen Prinzip und Prinzipiiertem, zwischen dem höchsten Urwesen und der Idee eines durchgängig bestimmten Weltganzen dann im Sinne Kants eine Weltordnung möglich machen, deren Realität nicht auf einer bloßen Idee, sondern auf dem praktisch wirkenden Willen in der Gestaltung einer freien Weltordnung beruht?
c.
Inversion von Seins- und Erkenntnisordnung
Zur Beantwortung dieser Frage ist ein näherer Blick auf den logischen Status von Kants Idealgedanken erforderlich. Bezogen auf diesen Idealgedanken möchte ich im Folgenden eine Interpretation der kantischen Philosophie nahelegen, wonach 1. das höchste Prinzip der Erkenntnisordnung doppelgesichtig, als ontisches und epistemisches Prinzip aufgefaßt werden kann, indem es nicht wiederum bloß als Idee, mithin also als eine epistemische Größe, sondern vielmehr – wie Schelling dies in seiner »Quelle der ewigen Wahrheiten auslegt« – als das durch die Idee bestimmte Ding – oder Sein – darzustellen ist. 2. Dieser Gedanke von einem durchgängig bestimmten Gegenstand läßt sich dann zweitens zugleich als der Ausgang und Anfang einer Seinsordnung gewinnen, die nun – in einem umgekehrten Wegesinn – vom Prinzip aus zu den Phänomenen herabzuführen vermag, und damit recht eigentlich erst zur Ausführung bringen kann,
Auf diese Weise sollte eine theoretische Beschreibung zu erreichen sein, nach der die Ideen in die Bestimmung der Seinseinheiten selbst, als universalia in rebus, zurückzunehmen sind.
56
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
was Kant mit seiner Propädeutik zu einer möglichen Metaphysik erstrebt. Näherhin führt diese genannte Inversion von Seins- und Erkenntnisordnung bezogen auf das Verhältnis von Propädeutik und ausgeführter Gestalt eines metaphysischen Systems in Kants Überlegungen methodisch zur zweifachen Konsequenz: nämlich 1. daß in einem analytischen Akte – im Ausgang von dem, »was uns Erfahrung unmittelbar an die Hand gibt«, 57 – die Selbsterkenntnis der eigenen Vermögen zu einem Weltbegriff führt, der seinerseits wiederum auf die Idee eines göttlichen Urwesens bezogen ist, um schließlich 2. in einem umgekehrten Wegesinn, auf synthetische Weise auszuführen, was der Sachordnung nach das Erste ist. (ebd.) Hier wird umgekehrt der höchste Seinsgrund, der Gedanke von einem Ideal eines durchgängig bestimmten Seinsganzen, als das Prinzip zu entfalten sein, aus dem eine mögliche Kosmologie oder eine reine Seelenlehre allererst zu gewinnen sind. Die Idee eines einigen Urwesens wird dann als der systematische Ausgang einer philosophische Theorie dienen, die den Namen ›Metaphysik‹ zu Recht verdient. Das Ideal scheint somit – nach dieser Auslegung – als der Ort des Umschlages und der Umkehr bezogen auf die Idee eines durchgängig bestimmten Seinsganzen, indem es vom erstrebten Abschlußgedanken einer transzendentalen Betrachtungsart – wie ihn Kant zu Beginn seiner Dialektik der reinen Vernunftbegriffe beschreibt, – zum Ausgang einer Systemidee werden kann, die selbst wiederum auf dieses Prinzip hin organisiert ist. Bezogen auf das systematische Verhältnis der Ideen des Unbedingten zueinander, die Kant in der ›Dialektik‹ der Kritik der reinen Vernunft untersucht, hat diese gegenläufige Bewegung von Sachund Erkenntnisordnung dann eine zweifache Konsequenz. In der ausgeführten Gestalt dererstrebten Metaphysik als Wissenschaft kehrt sich das heuristische Verhältnis der drei Problemfelder der ›speziellen Metaphysik‹ geradezu um: 1. Galt in der Vernunftkritik noch die Aufeinanderfolge der Ideen a) der unbedingten Substrates aller Seinsgedanken, des denkenden Ich, b) der Freiheit als dem Bestimmungsgrund einer unbedingten Kausalität und c) Gottes als dem einigen Urwesen als die sinngemäße Anordnung der Ideen, so wird hier die menschliche Seele – der Gegenstand einer rationalen Psychologie – in den erweiterten Horizont einer Kosmologie gerückt, vor die moralphilosophische Frage nach 57
KrV, A 338/B 395.
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3. Zur systematischen Funktion der Kantischen Ideenlehre
der Möglichkeit der Verwirklichung der Freiheit gestellt wird, um dann erst, in einem dritten und letzten Schritt, auf die Frage nach einem notwendigen Wesen hin überzuleiten, das die Verbindung der höchsten sinnlichen und sittlichen Zwecke erlaubt. 2. In der projizierten Metaphysik als Wissenschaft wird dieses analytische Verhältnis der drei Bereiche dann derart umgekehrt, daß nun »die angeführte Ordnung« in einer synthetischen Gestalt vom höchsten Seinsgrund aus entworfen wird, der in der Verbindung mit der Welterkenntnis – der Kosmologie – zur Selbsterkenntnis – der rationalen Seelenlehre – führt. Die Erkenntnis eines einigen Urwesens gilt im System der Metaphysik dann als der Ausgangspunkt, aus dem – in der Verbindung mit der Welterkenntnis – auch die Selbsterkenntnis in der Gestalt eines möglichen Seelenbegriffs begreiflich gemacht werden kann. Die Metaphysik, an deren Grundlegung es Kant in seinen drei Kritiken wesentlich gelegen ist, hat nämlich zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschung (…) nur die drei, (aus der Tradition der speziellen Metaphysik überkommenen, C. B.) Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, so daß der zweite Begriff, mit dem ersten verbunden, auf den dritten, als einen notwendigen Schlußsatz führen soll. Alles, womit sich diese Wissenschaft sonst beschäftigt, dient ihr bloß zum Mittel, um zu diesen Ideen und ihrer Realität zu gelangen. Sie bedarf ihrer nicht zum Behuf der Naturwissenschaften, sondern um über die Natur hinaus zu kommen. 58
Über die Natur hinauszugelangen, gelingt im Sinne Kants aber nur, wenn die – mit unserer Vernunft notwendig verbundenen – Ideen des Übersinnlichen nicht die Sphäre des raumzeitlich Bedingten gefährden und unsere Erkenntnisse zu Fehlschlüssen, Antinomien oder aber unhaltbaren Existenzbeweisen übersinnlicher Wesenheiten verleiten. Indem die Gedanken des Übersinnlichen nämlich den Boden aller Erfahrungsmannigfaltigkeit verlassen und im hypostasierten Begriffe überschwenglich werden können, besteht eben die Gefahr einer transzendentalen Subreption der reinen Verstandesbegriffe, einer Verdinglichung reiner Vernunftideen, die Kant in seiner Diagnose des dialektischen Scheins der Ideen aufzuhellen und zu vermeiden suchte.
58
KrV, A 338/B 395.
91 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
d.
Überschreiten der kritischen Grenzlinie der Erkenntniskritik?
An diese Art der Zielbestimmung der kantischen Philosophie schließen sich somit einige Fragen an: Ist nicht bereits mit der Rede vom Übersinnlichem, vom ›Unbedingten in der Reihe alles Bedingten‹ Kants kritische Grenzlinie überschritten worden und eine Wende in die Richtung auf diejenigen spekulativen Systeme Reinholds, Fichtes oder Schellings vollzogen, denen es an einer ›Ableitung‹ der Seinsgedanken aus einem höchsten Prinzip gelegen war; wird hier nicht ein Substanzgedanke ins Spiel gebracht, wie Kant ihn selbst bereits in seiner Kritik an Spinoza und der Leibniz-Wolffschen Philosophie zu Fall gebracht hatte? Hatte er nicht bezogen auf das Ideal als von einem bloßen »Gedankending« 59 gesprochen, das, als »subjektives Prinzip« bloß »heuristisch und regulativ« 60 aufzufassen sei, auf das zwar zurückgegangen werden könne, von dem jedoch niemals auch der Anfang zu machen sei? 61 Sollte ein Rückgang hinter die kritische Einsicht, die dem Erfahrungspostulat unseres Wissens Rechnung trägt, im Programm einer Metaphysik als Wissenschaft vermieden werden, so die These, so mußte Kant – gegenüber Spinoza, Leibniz und Wolff – einen neuen Weg beschreiten, wenn Freiheit und mir ihr die Idee einer moralischen Welt, nicht gefährdet werden sollen; ein Weg mußte gefunden werden, der die Extreme des Sinnlichen und Übersinnlichen vereinen konnte, ohne entweder den Erfahrungssinn des Wissens oder den Vernunftsinn der Ideen des Übersinnlichen zu zerstören. In dieser Problemanordnung jedoch liegt nach Kant die eigentliche Schwierigkeit seines geplanten Systems: soll das System alle Sphären der menschlichen Vernunft in sich einbegreifen, so darf es nicht nur dem Erfahrungsbezug unseres Wissens Rechnung tragen und von endlichen Dingen in einem endlichen Kosmos reden; und soll das philosophische Wissen nicht ohne die Idee der Verbindbarkeit der Teile zu einem Ganzen möglich sein, so wird es kohärentistisch auf die Idee der Übereinstimmung der Gegensätze in diesem Ganzen hin angelegt sein. Soll dabei dem Idealgedanken, wie Kant ihn im dritten Teil seiner transzendentalen Dialektik entwirft, die Stellung zukommen, als 59 60 61
KrV, A 566/B 594. KrV, A 616/B 644. Ebd.
92 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
3. Zur systematischen Funktion der Kantischen Ideenlehre
oberster Systemort innerhalb der philosophischen Theorie zugleich den Umschlag zu ermöglichen, der von der Erkenntnis- zur Seinsund Sollensordnung hinüberführt, so wird nach dem Seinsverständnis zu fragen sein, das dieser Leitidee zugrundeliegt. Denn der mit dem Idealgedanken ins Spiel gebrachte Seinsgedanke führt über die engen Grenzen eines raum-zeitlich Gegebenen im Sinne der Beschreibung einer »Position eines Dinges oder seiner Eigenschaften« 62, in einer zweifachen Weise hinaus: a) Zum einen kann das Ideal der reinen Vernunft in seiner Funktion als Grenzbegriff der ›Dialektik‹ die Idee von einem Seinsganzen denkbar machen. In der Beschreibung eines durchgängig bestimmten Seinsganzen fungiert es als dasjenige Prinzip, dem alle nur denkbaren Attribute in höchster Vollendung eingeschrieben sind. Dieser erste Überstieg im Gebrauch des Seinsgedankens – über die Annahme raum-zeitlich gegebener Entitäten hinaus, – ist auf das abschließende Prinzip einer möglichen Ontologie als Transzendentalphilosophie bezogen und gibt Antwort auf die Frage nach der Vernunfteinheit der Zwecke in der gegebenen Seins- und Sollensordnung. b) In einem zweiten Sinne fungiert der Idealgedanke dann als der Ausgang einer möglichen Weltordnung, die nur durch unser freies Handeln möglich ist. Die Komplettierung einer durchgängig bestimmten Seinsordnung kann nämlich im Sinne Kants nicht allein nur im Begriffe antizipiert, sondern sie muß von frei handelnden Wesen nach der urbildlichen Antizipation einer moralischen auch Welt realisiert werden. So wird das Ideal zum Ort des Umschlages der Erkenntnisordnung – wie sie im philosophischen System Gestalt gewinnt – in Richtung auf eine Seinsordnung, die nur durch moralische Zwecke möglich ist.
e.
Der transzendentale Schein der Ideen. Die Als-Ob-Teleologie
Bezogen auf die Kompatiblität beider Zwecksetzungen, der Vernunfteinheit der Zwecke wie der Zweckeinheit der Vernunft, sucht Kant die Einhelligkeit der Vernunftzwecke untereinander dadurch zu retten, daß er den Gegenstandsbegriff auf raum-zeitlich erfahrene Gegenstände restringiert. So wird es ihm möglich, die Ideen des Unbedingten als mögliche ›Gegenstandsbegriffe‹ in ihre Grenzen zu weisen: 62
KrV, A 598/B 626.
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
Indem nämlich von Gegenständen zu reden, eine raum-zeitliche Erfahrung zur Voraussetzung hat, kann nun bezogen auf den Realitätsgehalt der Ideen gesagt werden, daß sie zwar für unsere Verstandeshandlungen – regulativ – von Bedeutung sind, nicht aber die Erkenntnis von übersinnlichen Gegenständen erlauben. Indem Kant somit den Realitätsgedanken auf die raum-zeitlich erfahrbare Erscheinungswelt eingeschränkt, wird der Horizont des Übersinnlichen in den Bereich einer Als-Ob-Teleologie gerückt: Demnach können wir uns selbst als denkende und handelnde Wesen – im Horizont einer rationalen Psychologie – so betrachten, als ob wir als sinnliche Wesen in Raum und Zeit gleichwohl mit einer zeitüberdauernden Seele ausgestattet seien. Ferner können wir – auf dem Gebiete der Kosmologie – die Welt der erscheinenden Objekte so betrachten, als ob in ihr nicht allein blinde Notwendigkeit, sondern ebenso Freiheit möglich sei. Schließlich können wir – im Rahmen einer rationalen Theologie – widerspruchsfrei annehmen, daß das Seinsganze von einem einigen Urheber geschaffen, erhalten und getragen sei. 63 Allererst mit Blick auf diese drei Kernideen der klassischen speziellen Metaphysik schließt sich nämlich für Kant der Kreis: Denn nicht allein unsere praktische Vernunft macht solche Postulate wie die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, Freiheit und die Idee eines einigen Urhebers erforderlich, sondern Kants Idee einer Welt unter moralischen Gesetzen bildet bereits auf dem Gebiet der theoretischen Vernunft den unhintergehbaren Horizont, in dem wir selbst die empirischen Phänomene der raum-zeitlich bestimmten Welt der Idee einer durchgängig bestimmten Seins- und Sollensordnung unterwerfen. Darum müssen, so Kant, auch allererst die moralischen Begriffe hinreichend gereinigt sein, bevor wir im Bereich der theoretischen Philosophie nur einen Schritt vorangehen können. Wir finden daher auch in der Geschichte der menschlichen Vernunft: daß, ehe die moralischen Begriffe genugsam gereinigt, bestimmt und die systematische Einheit der Zwecke nach denselben und zwar aus nothwendigen Principien eingesehen waren, die Kenntniß der Natur und selbst ein ansehnlicher Grad der Cultur der Vernunft in manchen anderen Wissenschaften theils nur rohe und umherschweifende Begriffe von der Gottheit her-
Vgl. dazu Kants Ausführungen aus dem Kapitel: »Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft«, KrV, A 699/B 697 ff.
63
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3. Zur systematischen Funktion der Kantischen Ideenlehre
vorbringen konnte, theils eine zu bewundernde Gleichgültigkeit überhaupt in Ansehung dieser Frage übrig ließ. 64
Als Heuristik in der Auslegung des zweckmäßig bestimmten Ganzen machen die drei genannten Ideen darum eine Als-ob-Teleologie greifbar, durch die aller Mechanismus zuletzt auf Teleologie und diese schließlich auf die Idee einer moralischen Weltordnung zurückgeführt werden kann. So kann der eigentliche »Schlußstein« des kantischen Systems – als der Grund der Einheit beider – weder in der theoretischen noch auch in seiner praktischen Philosophiezu finden sein 65, sondern als oberster Systemorter – schließt sich vielmehr der als »Moraltheologie« ins Spiel gebrachte Gedanke, nach welchem die Welt als »[…] aus einer Idee entsprungen vorgestellet werden« muß 66, welche als die Idee eines höchsten Wesens diese gesamte Seins- und Sollensordnung »gründet, erhält und vollführet.« 67 »Die Moraltheologieistdabei nur nur von immanentem Gebrauche, nämlich unsere Bestimmung hier in der Welt zu erfüllen, indem wir in das System aller Zwecke passen.« 68 Da nun aber dieser oberste Systemort nicht mehr innerhalb des Systems zu finden ist, weil er ansonsten sein Grundstein nicht wäre, sondern nur nach Analogie zu einer höchsten zwecksetzenden Instanz so vorgestellt werden kann, als ob dieses durchgängig bestimmte Ganze »[…] in der absoluten Notwendigkeit eines einigen Urwesens ihren Ursprung« 69 habe, so soll im Sinne Kants dieses Weltganze nicht aus einem obersten Wesen abgeleitet werden, sondern wir sollen unseren Willen vielmehr so bestimmen, als habe er »in der absoluten Notwendigkeit« dieses Urwesens seinen Ursprung. 70 Kants Idee eines solchen Urwesens ist darum strukturell KrV, B 846. Wie zu zeigen ist, ist die Einheit der Apperzeption als der höchste Ort des Verstandes, der Transzendentalphilosophie wie auch der Logik als »analytische Einheit des Bewußtseins« (KrV, B 134 Anm.) nicht zugleich auch oberster Einheitsort der Verbindung von theoretischer und praktischer Philosophie. 66 Ebd., A 815/B 843. 67 Ebd., A 814/B 842. 68 KrV, A 820/B 848. 69 Ebd., A 816/B 844. 70 KrV, A 820/B 848: »Wir werden, so weit praktische Vernunft uns zu führen das Recht hat, Handlungen nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie darum als göttliche Gebote ansehen, weil wir dazu innerlich verbindlich sind. Wir werden die Freiheit unter der zweckmäßigen Einheit nach Princi64 65
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
der Platonischen Idee des Guten verwandt, insofern sie als systemtragendes Prinzip gleichfalls nicht mehr innerhalb der Grenzen des Systems begründet werden kann. 71 Wenn aber praktische Vernunft nun diesen hohen Punkt erreicht hat, nämlich den Begriff eines einigen Urwesens als des höchsten Guts, so darf sie sich gar nicht unterwinden, gleich als hätte sie sich über alle empirische Bedingungen seiner Anwendung erhoben und zur unmittelbaren Kenntniß neuer Gegenstände emporgeschwungen, um von diesem Begriffe auszugehen und die moralischen Gesetze selbst von ihm abzuleiten. Denn diese waren es eben, deren innere praktische Notwendigkeit uns zu der Voraussetzung einer selbstständigen Ursache oder eines weisen Weltregierers führte, um jenen Gesetzen Effekt zu geben (…) 72.
Zusammenfassend läßt sich also sagen: Kant folgt der Leitidee der systematischen Einheit aller Vernunftzwecke, für die er in seiner »Praktischen Vernunft« fordert, […] daß, wenn sie [die praktische Vernunft, C. B.] vollendet sein soll, ihre Einheit mit der spekulativen in einem gemeinschaftlichen Prinzip zugleich müsse dargestellt werden können, weil es doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß 73.
Wird darum die geforderte Zweckeinheit der Vernunftbegriffe, so Kant, in ihrem Ganzen Umfange übersehen, […] so finden wir, daß dasjenige, was die Vernunft ganz eigentümlich darüber verfügt und zustande zu bringen sucht, das Systematische der Erkenntnis ist, d. i. der Zusammenhang derselben aus einem Prinzip. Diese Vernunfteinheit setzt jederzeit eine Idee voraus, nämlich die von der Form eines Ganzen der Erkenntnis, welches vor der besonderen Erkenntnis der Teile vorhergeht und die Bedingung enthält, jedem Teil seine Stelle im Verhältnis zu den übrigen a priori zu bestimmen. Diese Idee postuliert demnach vollständige Einheit der Verstandeserkenntnis, wodurch diese nicht pien der Vernunft studiren und nur so fern glauben, dem göttlichen Willen gemäß zu sein, als wir das Sittengesetz, welches uns die Vernunft aus der Natur der Handlungen selbst lehrt, heilig halten, und ihm dadurch allein zu dienen glauben, daß wir das Weltbeste an uns und an andern befördern.« 71 Vgl. dazu Platon, Politeia, 508 c 1 – 509 a 6; ferner: Epistulai, WW 5, 341 b sq. Zum Systemgedanken der kantischen Philosophie vgl. Malter 1981; G. Funke: Von der Aktualität Kants. Bonn 1979; Guyer 1984; R. Langthaler: Kants Ethik als ›System der Zwecke‹. Berlin 1991. 72 KrV, A 818/B 847. 73 KpV, BA XV.
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3. Zur systematischen Funktion der Kantischen Ideenlehre
bloß ein zufälliges Aggregat, sondern ein nach notwendigen Gesetzen zusammenhängendes System wird 74.
f.
Die Ideen als konstitutive Prinzipien einer moralischen Weltordnung
Mit Blick auf Kants Grundlegung einer praktischen Philosophie war in diesem letzten Schritt der Ort näher bezeichnet, an dem sich – als dem Einschnitt und Umschlag in der bloß antizipierten Ideenordnung –, das Verhältnis von Seins- und Denkbestimmungen auch in der kantischen Philosophie umkehren läßt: Der Gedanke von der objektiven Realität des Gedachten ist nun nichts mehr, was für unser Denken bloß regulative Funktion besäße, sondern eine aus Ideen mögliche, moralische Welt kann nun zum konstitutiven Prinzip einer Seinsordnung werden, deren Prinzip nicht gegeben, sondern das durch unseren freien Willen allein aufgegeben ist. Eine solche Umkehr läßt sich dann nach Analogie zum ›Materie-Form‹-Prinzip wie folgt beschreiben: Sowenig wir mit Kant sagen können, die Materie sei Ursache der Form, in der uns eine Sache erscheint, so wenig wird die Idee eines Seinsganzen von der Existenz dieses Seinsganzen bewirkt, sondern sie ist vielmehr seine wohlverstandene Gestalt. Für Kant gilt darum, daß sich beide Begriffe, Materie und Form – bzw. analog: des Seins und der Idee – nicht unter die Kategorien bringen lassen, so daß ihr Verhältnis etwa als Kausalverhältnis von Ursache und Wirkung beschrieben ließe, sondern beide gelten nur als Reflexionsbegriffe: Als solche betreffen sie eine epistemische und nicht eine ontische Gestalt; denn für Kant gilt: Form und Materie sind der Sache nach untrennbar; getrennt sind sie allein für ein erkennendes Bewußtsein. Und darum kann analog gelten: Insofern das Seinsganze durch moralische Zwecke auf Gründe zu bringen ist, so werden die Formbestimmungen der Materie in den höchsten Vernunftprinzipien einer moralischen bestimmten Zweckordnung zu finden sein: Darum kann Kant auch im Methodenteil seiner Kritik der reinen Vernunft sagen: Aber diese systematische Einheit der Zwecke in dieser Welt der Intelligenzen, welche, obzwar, als bloße Natur, nur Sinnenwelt, als ein System der Freiheit aber intelligible, d. i. moralische Welt (regnum gratiae) genannt 74
KrV, A 645/B 673.
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
werden kann, führet unausbleiblich auch auf die zweckmäßige Einheit aller Dinge, die dieses große Ganze ausmachen, nach allgemeinen Naturgesetzen, so wie die erstere nach allgemeinen und notwendigen Sittengesetzen, und vereinigt die praktische mit der spekulativen. Die Welt muß als aus einer Idee entsprungen vorgestellt werden, wenn sie demjenigen Vernunftgebrauch, ohne welchen wir uns selbst der Vernunft unwürdig halten würden, nämlich dem moralischen, als welcher durchaus auf der Idee des höchsten Guts beruht, zusammenstimmen soll. 75
Das Ideal wird somit nicht als eine »an sich selbst notwendige Existenz« aufzufassen sein, von dem wir unsere höchsten Vernunftzwecken bloß abzuleiten hätten. Vielmehr wird sein Sein allein bezogen auf unseren Weltbegriff wie auch bezogen auf unseren Begriff der Zweckeinheit der Vernunft in seinem Was- und Wiesein zur Sprache gebracht werden können, so daß es sich uns allein im Begriffe und in seinen Prädikaten, nicht aber in seinem reinen Ansich-sein, seinem bloßen Daß-sein, erschließt. Kants kritische Grenzziehung zwischen der Welt der Erscheinungen und der bloß denkbaren Welt hatte nämlich bezogen auf sein höchstes Prinzip die Erkenntnis eines höchsten Urwesens auszuschließen versucht, nicht aber zugleich auch bezweifelt, daß ein widerspruchsfreier Begriff von ihm gleichwohl möglich – und sogar notwendig ist. Und darum kommen wir, so möchte ich zum Schluß, Jacobi abwandelnd, sagen: ohne eine kritische Beschränkung des Geltungsanspruchs der Ideen von einem Übersinnlichen in das kantische System nicht hinein, ohne ihre nähere Bestimmung als Postulate der praktischen Vernunft aber, die ihnen allererst objektive Realität verbürgen, kommen wir aus der kantischen Philosophie auch nicht hinaus.
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KrV, A 815/B 843.
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
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3. Zur systematischen Funktion der Kantischen Ideenlehre
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4. Kants ›Sinnliches Scheinen der Idee‹. Die Einheit von Ethik und Ästhetik in Kants Kritik der Urteilskraft
Einführung Platon bannte die Künstler, die Maler und Dichter, da ihnen nicht an der Wahrheit des Seins, sondern an der Kunst des Trug- und Scheinbildnerischen gelegen war. Der Schein um des Scheins willen fiel dem Verdikt des Täuschens anheim; die Wahrheit hingegen, um eine substantielle Mitte gruppiert, sollte einzig in der Kunst der Dialektik zu finden sein. Damit schien erstmals eine klare Trennungslinie zwischen der Ästhetik des Scheins und dem Wahrheitsanspruch unserer Seinsgedanken, zwischen Ästhetik und Philosophie, Ästhetik und Ethik, gesetzt: Fortan sollten sie getrennte Wege gehen: Eine von Wahrheitsansprüchen freie Kunst, der es am bloßen Schein des ästhetischen Ausdrucks gelegen ist und eine Kunst, die dem Ausdruck der Wahrheit verpflichtet ist. Eine Ästhetik des Scheins, mithin also eine autonome Ästhetik, so wird vielfach angenommen, begründen Kant – und verschärft, auch Arbeiten in der Folge von Fr. Nietzsche. Ihr gegenüber suchen Ästhetiken des zweiten Typs, sog. heteronome Ästhetiken, die Kunst im Lichte des Wahrheitsanspruchs wie der Moralitätspostulate der Philosophie auszulegen, so die metaphysischen Ästhetiken in der Nähe zum Mimesis-Gedanken von Platon bis Hegel. Zwei gegenwärtige, einander widerläufige Positionen treten die Nachfolge dieser Traditionslinie an: Die auf Heideggers Existentialontologie zurückgehende Hermeneutik und die Ästhetischen Theorien Benjamins und Adornos: Beiden gilt die Kunst als Ort der Wahrheit, die auf dem Wege des Enthüllens und Offenbarens, des Zeigens und Erscheinens zugleich dem Selbstaufschluß der Philosophie über ihre eigenen Grenzen und Möglichkeiten Rechnung zu tragen vermag. 1 In Platons Philosophie werden beide Perspektiven noch zusam102 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
4. Kants ›Sinnliches Scheinen der Idee‹
mengebracht: Während Platon der Ästhetik des bloßen Scheins eine Absage erteilt, soll die Ästhetik im Dienste der Wahrheit den Ideen eine angemessene Erscheinung verleihen. Die Wahrheitsverpflichtung des Ästhetischen bindet den Wahrheitsgedanken der Philosophie an eine Idee des Schönen, welche im Herzstück der philosophischen Selbstverständigung in Funktion der Grenzbestimmung der Philosophie als Wissenschaft tritt. Die Kunst der Dialektik als höchster Leitdisziplin stößt im Begriff an die Grenzen des Begriffs. An den Grenzen des Begriffs sucht Platon den Aussteig aus der Begriffsform: So wird in der Politeia die Bewegung zum höchsten Prinzip hin und von ihm fort die Gestalt einer Gleichnisrede erhalten, deren Bildcharakter auf indirekte Weise das Verhältnis zwischen Prinzip und Prinzipiiertem erhellt; im Timaios wird Platon ein Schöpfungsmythos mit dem reduzierten Erklärungsanspruch bloßer ›Wahrscheinlichkeit‹ als ursprungsphilosophische Erklärung dienen 2; im dialektischen Kernstück seiner Dialoge, im Parmenides, wird die Grundlegung eines philosophischen Systems in derjenigen Aporie münden, aus der ein Überstieg in die Sphären der Kunst, des Mythos oder aber die Gestaltung des staatlichen Lebens, konsequent erscheint. Die Konsequenz: Der Begriff wird selbst als ein Bild ausgelegt, das trotz unendlicher Annäherung das Vermeinte nur auf indirektem Wege erreicht; er reiht sich ein in die Stufenfolge all derjenigen Entäußerungen, durch die sich das Wahre nur annähernd, auf indirekte Weise, d. h. in bloßen Nachbildern er schließt. Damit bereitet Platon der These vom ›Universellen Bildcharakter alles Seienden‹ den Weg, wie sie später für die Ontologie und Ästhetik des Neuplatonismus richtungsweisend geworden ist. Kants philosophische Ästhetik sucht, wie es zunächst den Anschein hat, beide Extreme zu vermeiden: weder eine Ästhetisierung der Wahrheit noch ein Wahrheitsbezug des Ästhetischen wird erstrebt. Als Modellfall einer nicht-heteronomen Ästhetik, wie Rüdiger Bubner sie nennt, hat Kant Arbeiten – etwa im Umfeld von Jauß’ Rezeptionsästhetik, Cassirers Theorie der symbolischen Formen, Vgl. dazu: R., Bubner: Ästhetische Erfahrung. Frankfurt/M. 1989, darin insb.: »Zur Analyse ästhetischer Erfahrung«, S. 52–70. 2 Platon: Timaios, 29 c. 1
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
von Lyotards Ästhetik des Erhabenen, bis hin zu konstruktiven Ästhetiken in der Nachfolge von Nelson Goodman, inspiriert. Kant sei es, der mit seiner kopernikanischen Wende der Ästhetik – der Wende vom Kunstwerk zur ästhetischen Erfahrung – der autonom gewordenen modernen Kunst eine geeignete Reflexionsform biete. 3 Doch wird Kants Ästhetik auch in der entgegengesetzten Traditionslinie zum entscheidenden Ausgangspunkt: In der Ästhetik des Idealismus von Schiller bis Schelling wird Kants Anspruch einer auf Freiheit zielenden Weltordnung als sein ästhetisches Programm ausgelegt. Beide entgegengesetzten Interpretationen berufen sich auf Kant. Wie sollte dies möglich sein? Wie soll es der kantischen Philosophie gelungen sein, der Eigenständigkeit der ästhetischen Gebilde Rechnung zu tragen, ohne sie an einer verbindlichen Norm zu bemessen? Und wie soll es ihr zugleich – widerspruchsfrei – möglich gewesen sein, die ästhetische Erfahrung als wahrheitsverpflichtet zu begreifen? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich mich erneut auf transzendentalanalytische Fährten begeben. Diese sind in den letzten Jahren vielfach zugunsten überwiegend sprachanalytischer, oder auch semiotisch-pragmatischer Auslegungen in den Hintergrund getreten. 4 Im Horizont sprachanalytischer Betrachtung ließ sich dann zwar der Autonomieanspruch der ästhetischen Geschmacksurteile näher beleuchten, nicht aber konnte auf diesem Wege die Wahrheitsverpflichtung der Kantischen Ästhetik in den Blick geraten, wie sie für die zweite Interpretationslinie grundlegend ist. Zur Klärung des Wahrheitsanspruchs der kantischen Ästhetik reicht die Konzentration auf die ästhetische Erfahrung jedoch nicht aus. Die Wahrheitsfrage macht einen Blick auf die Systemanlage der kantischen Philosophie erforderlich, in deren Mitte die ästhetische Erfahrung eine zweifache Funktion er füllt: Gegenüber den Ansprüchen der theoretischen Vernunft fragt Kant: Wie soll in der ästhetischen Erfahrung ein Einzelnes in seiner sinnlichen Fülle und Präsenz vor dem Zugriff verallgemeinernder Begriff zu retten sein? Mit Blick auf die moralischen Forderungen stellt er die Frage, wie es möglich sei, im Medium der Kunst die Wirklichkeit der Freiheit sinnfällig zu machen? Vgl. Bubner 1989. Vgl. U. Franke (Hrsg.): Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks. Hamburg 2000; ferner: C. Fricke: Ästhetische Erfahrung als Zeichenprozess. München 2001.
3 4
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4. Kants ›Sinnliches Scheinen der Idee‹
Die These lautet: Nur wenn die innere Verbindung zwischen ästhetischer Idee und Vernunftidee plausibel geworden ist, kann auch die Frage nach der Kohärenz von Kants Kritik der Urteilskraft wie ihres Zusammenhanges zu den beiden anderen Kritiken sinnvoll beantwortet werden. Gefragt werden soll ferner, ob sich Kant mit Blick auf die schematisierende Funktion des abbild-zeugenden Ideals der reinen Vernunft ungewollt in das Gravitationsfeld derjenigen Positionen begibt, die – wie Platons Philosophie – von der Idee der ›Universalen Bildstruktur des Seins‹ getragen ist?
1.
Kants Philosophische Ästhetik im Spannungsfeld zwischen Autonomieanspruch und Wahrheitsbindung
Lassen Sie mich zunächst einen Blick auf Kants transzendentale Analyse der ästhetischen Erfahrung – in der Spannung zwischen Autonomiepostulat und Wahrheitsbezug – werfen. Kant durchtrennt – gegenüber der Ästhetik Baumgartens, der Leibniz’ Monadologie um eine Analyse der vorbegrifflich dunklen Quellen der menschlichen Seelenvermögen erweitert – im Sinne seiner kopernikanischen Wende der Ästhetik den Nexus von ästhetischer Erfahrung und auf Wahrheit bezogener Vollkommenheit. Zwischen ästhetischer Erfahrung und Wahrheitsbezug sollte fortan keine notwendige Stufenfolge mehr möglich sein.
Die verstandesbezügliche Einbildungskraft in der ›Analytik des Schönen‹ Soll nun ein wahrgenommener Gegenstand in seiner ästhetischen, in seiner sinnlichen Beschaffenheit, Fülle und Präsenz, erfaßt und gewürdigt werden, und nicht bloß Objekt verallgemeinernder Betrachtung sein, so wird zu fragen sein, wie sich – im Ausgang vom sinnlich gegebenen Gegenstand ein ästhetisches Urteil von einem auf Wahrheit bezogenen Erkenntnisurteil, bestimmt unterscheiden läßt? Kant nennt drei Schritte: 1. Zunächst wird das dem Gemüt Gegebene, je nach Dynamik unserer frei spielenden Einbildungskraft, vor unserem inneren Auge nach formalen Strukturen der Ähnlichkeiten, Wiederholungen, Ver105 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
bindungen ertastend abgesucht, apprehendiert. Auf dieser Ebene greifen Sinnlichkeit und Einbildungskraft ineinander. 2. Die Tätigkeit, das durch Einbildung Apprehendierte in freier Bilderzeugung zu einer interpretierbaren Bildstruktur, oder Komposition, zusammenzufügen, bewerkstelligt zweitens der Verstand: es ist sein Vermögen, gegebene Ein drücke zu synthetisieren: entweder nach Regeln der Erkenntnis in einem Er kenntnisurteil, oder aber nach subjektiven Kriterien, die durch die bildgebende Fähigkeit unserer Einbildungskraft ermöglicht sind. Diese ist frei in ihren synthetisierenden Aktivitäten: sie fügt – der Besonderheit des je gegebenen Gebildes gemäß, die Strukturen dieser Singularität in ein inneres Wahrnehmungsbild zusammen: schafft im Akt der ästhetischen Erfahrung den Gegenstand neu. In diesem Wechselspiel zwischen Einbildung und Verstand wird zugleich die Interpretationsgrundlage von Kants Ästhetik als Ästhetik der Autonomie greifbar. Doch ist dieses freie Zusammenspiel der beiden Gemütskräfte nicht maßstabslos. Als inneres Maß gilt die raum-zeitliche Beschaffenheit unserer sinnlichen Erfahrung. Diese setzt, quasi von unten her, der frei spielenden Einbildungskraft enge Grenzen. Unfrei gegenüber den Sinnen bleibt die Einbildungskraft gleichwohl frei gegenüber dem Verstand, weshalb der Geschmack keine Vorschriften und Regeln gestattet, weil es hier die Einbildungskraft ist, die die Gesetze gibt, und diese frei ist. 5 3. Nun soll ein ästhetisches Urteil, obgleich subjektiv, gleichwohl objektiv im Sinne der intersubjektiven Verallgemeinerbarkeit genannt werden können. Es teilt mit dem logischen Urteil zwar zunächst die Gestalt der verallgemeinerbaren Form einer Identitätsaussage: Ein x ist Y, als Affinität zu den Funktionen des Verstandes, zu einer ›Erkenntnis überhaupt‹. 6 Doch erhält das Y nicht die Funktion eines Allgemeinbegriffes, unter dem der Gegenstand subsumiert werden kann, sondern es bleibt ein singuläres Urteil, ein Geschmacksurteil, durch das die lustvoll erlebte Zweckmäßigkeit zwischen unseren Seelenvermögen einen gemeinverbindlichen Ausdruck erfährt. Darum sperrt sich das Werk oder Artefakt auch gegenüber semantisch eindeutigen Auslegungen, ja, diese Indifferenz gegenüber einer bestimmenden, vereindeutigenden Interpretation gilt Kant nahezu als Bestimmungsgrund des Schönen. 5 6
Kant: KdU, A 43/ B 43 ff. Ebd., B XLIX.
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4. Kants ›Sinnliches Scheinen der Idee‹
Zwei gegenläufige Theorien reagieren auf dieses Phänomen: Die auf Vervollkommnung des Sinngeschehens ausgerichtete Hermeneutik, der im ständig sich wandelnden Erwartungshorizont ein Fluchtpunkt approximativer Annäherungen bleibt, sowie – gegenläufig dazu – in der Folge Nietzsches und der französischen Literaturkritik – diejenigen Positionen, denen alles Auslegen und Ausdeuten als Vereinnahmung, als Gewalttat gegenüber dem Werke erscheint. Kants Idee, nach der schön das sei »was in der bloßen Beurteilung (…) gefällt« 7, nimmt jedoch beide Positionen in sich auf: Den Widerstand der ästhetischen Phänomene gegen die Definitheit einer vorgegebenen Begrifflichkeit, so wie den Gedanken der Zweckmäßigkeit des ästhetischen Phänomens, durch den alle Auslegung allererst ein verbindliches Fundament erhält. Doch worauf beruht diese Idee der Zweckmäßigkeit? In welcher Weise wird hier zugleich auf das Objekt der ästhetischen Erfahrung, das Kunst- oder Naturschöne reflektiert?
2.
Die ästhetische Idee
(a) Kunst als Natur Ein Gegenstand, der nur aus Vorstellungen, aus Ideen, möglich ist, ist ein in sich gefügtes Gebilde, in dem die Teile als Teile eines Ganzen nur durch Bezug auf diese Idee als ihren Zweck, begreiflich sind. Und dieser Bezug auf ein sinnlich gegebenes Ganzes ist es, den Kant die äs thetische Idee nennt. Als ästhetische Ganzheit erschließt sie sich allein intuitivsynoptisch, ist allein dem Erleben gegeben, nicht aber dem Begriffe. Worauf beruht nun die einheitsstiftende Kraft der ästhetischen Idee? Kant läßt es hier nicht an Klarheit fehlen, indem er zu einer doppelten Spiegelung greift: Ihm gilt als schöne Kunst »eine Kunst, sofern sie zugleich Natur zu sein scheint« 8.Dennoch müsse man sich bewußt bleiben, »daß es Kunst sei, und nicht Natur.« 9
7 8 9
Ebd., A 132/ B 134. Ebd., A 177/ B 179. Ebd.
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
(b) Kunst als Symbol des Sittlich-Guten Wie nun, so wird zu fragen sein, spezifiziert Kant diese zugrundeliegende(ästhetische) Idee dieses Ganzen, durch die uns die Kunst wie Natur als in sich zweckmäßig, d. h. aus einem intelligiblen Grunde heraus möglich erscheint, doch zu gleich so, daß sie uns ebensowohl bewußt hält, sie sei bloß ein Werk der Kunst? Es ist, so Kant, das »Symbol des Sittlich-Guten«, 10 das der Kunst den Schein der Zweckmäßigkeit verleiht. Die Intelligibilität einer moralischen Ordnung gerinnt im Schönen zu einem sinnlich-gegenwärtigen Symbol. In der schönen Kunst wird ein Intelligibles sinnenfällig, aber zugleich nicht so wie in einer Allegorie – in der das Sinnliche dem Geistigen oder Intelligiblen äußerlich bleibt –, sondern vielmehr im Sinne einer Verkörperung, eines sinnlichen Scheinens dieser Idee. Nun bedeutete aber Autonomie des ästhetischen Urteils gerade, das Objekt weder nach moralisch-praktischen Vorgaben zu beurteilen, noch ästhetisch-pathologisch sich das Gegebene zum bloßen Genuß in einer angenehmen Empfindung zu unterwerfen; »Schön« sollte vielmehr das sein, »was in der bloßen Beurteilung – ohne alles Interesse – (…) gefällt.« 11 In welcher Weise soll Kunst nun aber als ›Symbol des SittlichenGuten‹ fungieren ohne sie zugleich an einer äußeren Norm zu bemessen? Wird hier nicht erneut das Schöne, wie vielfach kritisiert, in das Gravitationsfeld der Wahrheitsfrage gerückt und damit um seine Autonomie gebracht? Sehen wir uns die Symbolfunktion des Schönen näher an. Sie kann – darauf hat Friedrich Schiller hingewiesen, als Aufbauelement einer Moraltheologie gelten. Denn Grundlage der Idee der Kunst als Symbol des SittlichGuten ist die Idee des Schönen als Symbol der Liebe. Finden wir im Schönen doch, so Kant, den Aufschein dessen, was ein freies Anerkennen der Andersheit des Anderen bedeuten kann. »Das Schöne, so Kant, bereitet uns vor, etwas, selbst die Natur, ohne Interesse zu lieben.« 12 10 11 12
Ebd., A 250/ B 254. Ebd., A 5/ B 5. Ebd., A 114/ B 115.
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4. Kants ›Sinnliches Scheinen der Idee‹
Vom Symbol der freien Anerkennung zum Symbol des Guten ist es dann nur ein kleiner Schritt: Indem die ästhetische Erfahrung im sinnlichen Bezug auf ein Anderes dieses zugleich in seiner Andersheit zur Geltung bringt, ohne es äußeren Zwecken zu unterwerfen, gilt es als Aufschein der Freiheit gegenüber dem Sinnlichen, als Antizipation dessen, was in freier Regel unserer freien Selbstgesetzgebung – als moralisches Gesetz in uns – bezeichnet werden kann. Diese Antizipation einer Welt aus freier Selbstgesetzgebung ist somit zu gleich sinnenfällige – nicht theoretische oder normative – Antwort auf die Frage: Wie denn Freiheit wirklich werden kann? Oder spezieller – im Horizont der ›Metaphysik der Sitten‹ gefragt: wie denn der Andere stets bloßer Zweck, niemals aber als bloßes Mittel betrachtet werden kann? 13 Der freie Bezug zur schönen Erscheinung ist darum nicht Eigenschaft am gegebenen Objekt, sondern vielmehr die freie Haltung des frei reflektierenden Subjekts. Für diese Ineinsfügung von Sinnlichkeit und Sittlichkeit in einer ästhetischen Erfahrung bedarf es darum weder der Regeln noch des Gesetzes, sondern allein einer Haltung, die im Fremdbezug das Andere in seiner Andersheit respektiert. In dieser wird durch unsere Haltung eines frei-lassenden, liebenden Bezugs zur inkommensurablen Andersheit des ästhetischen Phänomens zugleich der Beweis erbracht, daß eine Welt freier Anerkennung möglich ist. Die Autonomie des ästhetischen Urteils gilt Kant darum als Aufschein einer Welt aus freier Selbstgesetzgebung – welche uns dann zugleich so erscheint, als sei sie von Natur aus so gewollt. Wird nun durch diese Einbettung der ästhetischen Erfahrung in den Horizont unserer praktischen Vernunft die Autonomie der ästhetischen Reflexion im Sinne des zweckfreien Urteils über das Schöne und Erhabene relativiert oder gar gefährdet und wird sie gar – durch die normative Kraft des Symbols des Sittlichguten, wie Jacques Derrida annimmt – in den Horizont heteronomer Ästhetiken gerückt? »Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.« (Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [im Folgenden zitiert als: GMS], BA 64).
13
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
Meine Antwort lautet: Für Kant gilt beides: Interesseloses Wohlgefallen und vorgegebene Regeln unserer Vernunftvermögen sind für Kant nicht unverträglich, sondern betreffen allein unterschiedliche Ebenen der Annäherung an das ästhetische Phänomen. Das Autonomie-Argument betrifft die Ebene der ästhetischen Erfahrung. Die Wahrheitsanbindung betrifft demgegenüber den Horizont einer philosophischen Ästhetik, in der die ästhetische Erfahrung in unseren theoretischen wie praktischen Weltbezug vergleichend und unterscheidend eingegliedert wird. Dabei trifft es sich dann, daß die Funktion des Schönen als Symbol des Sittlich-Guten, mit der gleichzeitig erhobenen Forderung nach Autonomie des äs thetischen Urteils nur darum nicht in einen Konflikt gerät, weil Kants Idee des Sittlich-Guten selbst auf der Autonomie freier Selbstgesetzgebung beruht.
(c) Die vernunftbezügliche Einbildungskraft in der ›Analytik des Erhabenen‹ Der Symbolgehalt des Schönen weist nun den Weg ins Erhabene: Bleibt das Subjekt in der ästhetischen Erfahrung noch gebunden an die vor gegebene schöne Form, an das glückliche Empfinden der Übereinstimmung mit dieser Form, so wird erst in einem weiteren Schritt, auf der Ebne des Erhabenen, die Idee der Freiheit in ihrer Unbedingtheit und Freiheit von aller Sinnlichkeit selbst in das Zentrum der ästhetischen Erfahrung gerückt. Das Schöne war noch Teil der phänomenalen Welt. Das Noumenale, rein Geistige aber in dieser Unabhängigkeit und Freiheit gegenüber der Sphäre des Sinnlichen findet allererst im Erhabenen seine angemessene Gestalt: In seiner zweifachen Ausprägung als mathematisch und als dynamisch-Erhabenes verspricht das Erhabene Freiheit von aller Sinnlichkeit, indem es die Sinnlichkeit selbst als adäquates Medium für den Ausdruck der Ideen depotenziert. Nicht Harmonie mit den Regeln des Verstandes, sondern ein prinzipielles Mißverhältnis zu allen Regeln von Sinnlichkeit und Verstand deutet sich an: Das Mathematisch-Erhabene weckt zunächst das Interesse an diesem Über sinnlichen, indem es »für die Anschauung Totalität fordert d. h. das Zusammen fassen aller Erscheinungen in Einer An-
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4. Kants ›Sinnliches Scheinen der Idee‹
schauung:« 14 Auch wenn wir die Darstellung des Unendlichen niemals erreichen können, weil es »schlechthin« und nicht bloß komparativ zu groß ist, so reicht das Mathematisch-Erhabene uns mit der Erweckung des Interesses am Übersinnlichen wenigstens die Leiter; das Dyamisch-Erhabene erreichen wir dann nur über einen Sprung: es gibt keinen Weg, keine Brücke vom Sinnlich-begrenzten Mannigfaltigen zum Unbedingten der Idee. Dies ist die Einbruchsteile der Vernunftidee der Freiheit: Sie weckt unser Begehrungsvermögen, »sich mit Ideen, die höhere Zweckmäßigkeit enthalten, zu beschäftigen«. 15 So macht uns der Gegenstand des Erhabenen schmerzlich bewußt, daß unsere Einbildungskraft die Mannigfaltigkeit der Eindrücke nicht zum Ganzen einer ästhetischen Erfahrung zusammenziehen kann. Doch werden wir nach einem anfänglichen Unbehagen an der unerreichbaren Erscheinung recht bald – durch den Aufschein einer die Grenzen alles Sinnlichen übersteigenden noumenalen Welt – in ein vergnügliches Verhältnis der Freiheit gegenüber der Sinnessphäre gesetzt. Das Erhabene als ästhetische Idee, die unser Gemüt veranlaßt, sich die Unerreichbarkeit der Natur als Darstellung von Ideen zu denken« 16 gefällt darum unmittelbar »durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne.« 17 Als prinzipiell Jenseitiges zur erfahrbaren sinnlichen Welt gibt es uns den Erweis der Gewißheit, daß jenseits des sinnlich Erfahrbaren noch eine Welt aus Ideen möglich ist. Sollte die moralische Symbolfunktion des Schönen darum eine erste Antwort auf die Frage sein: wie wir uns denn begreiflich machen können, daß wir in die Ordnung der natürlichen Dinge auch hinein passen. So stellt das Erhabene, in seinem strukturellen Mißverhältnis zwischen Sinnlichkeit und Idee, im nächsten Schritt eine Antwort auf die Frage dar: Wie denn das bloße Sollen unserer moralischen Gesetzgebung mit der durchgängig bestimmten Erscheinungswelt auch zusammenstimmen kann? Mithin also: wie denn Freiheit in dieses durchgängig bestimmte Ganzen integriert ist? Kants Antwort legt eine grundsätzliche Disharmonie frei: Sowenig moralische Zwecke eine Übereinstimmung mit unseren sinnlichen Neigungen nach sich 14 15 16 17
KdU, A 90/ B 91. KdU, A 76/ B 77. Ebd., A 114/ B 115. Ebd., A 115/ B 116.
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
ziehen, können umgekehrt aus den Neigungen unserer Sinnlichkeit Moralität und Freiheit hervorgehen. Beide Gesetztes- und Regeltypen lassen sich weder auseinander ableiten noch aufeinander reduzieren. Doch sind sie in unserer ästhetischen Erfahrung wie auch in unserem moralischen Handeln je schon integriert. Wie soll dies möglich sein? Kants Antwort weist voraus auf die Ethikotheologie: Sie nimmt Bezug auf jenes Ethos, durch das allein das höchste Gut in dieser Welt realisiert werden kann.
3.
Ästhetisierung der Philosophie? Wechselseitige Integration von Sinnlichkeit und Intelligibilität
(a) Das ›übersinnliche Substrat‹ 18 Denn, so Kants Überlegung, die wechselseitige Integration von Sinnlichkeit und Sittlichkeit, Intelligibilität und Materialität setzt voraus, daß wir in Bezug auf »etwas im Subjekte selbst und außer ihm« 19 ein Prinzip annehmen, das weder das Eine noch das Andere ist, mithin »nicht Natur, auch nicht Freiheit« 20 genannt werden kann – welches gleichwohl aber, wenn auch auf unbekannte Art, ihre Einheit begreiflich machen kann. Denn nur wenn wir ein solches Prinzip voraus setzen, muß der Gegensatz von Natur und Freiheit nicht antinomisch bleiben. Und nur, wenn dieses Prinzip weder mit der Natur noch auch allein mit Freiheit identifiziert wird, kann es – als Ort der Indifferenz – ihre Einheit begreiflich machen. So ist jenes Übersinnliche Substrat im Sinne der Kohärenz des Systems direkt gefordert. Denn gäbe es nicht jenes ›Übersinnliche intelligible Substrat‹, wodurch Ich und Welt, Freiheit der Zwecke und durchgängig bestimmte Erscheinungswelt, in ihrer Einheit begreiflich würden: Eine Antwort auf die Frage, wie denn Intelligibilität und Materialität in Natur und Kunst wechselseitig integriert sind, wäre nicht möglich.
18 19 20
Ebd., A 233/ B 236. Ebd., A 255/ B 258. Ebd., A 255/ B 258.
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4. Kants ›Sinnliches Scheinen der Idee‹
(b) Die ›urbildliche‹ Funktion der Ideen Die Idee einer moralischen, aus Ideen möglichen Welt setzt im Sinne Kants zu gleich eine schematisierende Vernunft voraus, die im Bilde entwirft, was aus moralisch-praktischen Überzeugungen in die natürliche Welt zu integrieren ist. Eine bildgebende, schematisierende Vernunft soll in einem antizipierenden Vorentwurf die Idee eines Ganzen möglich machen, in dem beide Gesetzestypen – die noumenale und die phänomenale Welt als integriert gelten können. So gilt Kant nicht allein die sinnlichkeitsbezügliche Einbildungskraft, die uns vermittels der Schemate den Begriff von einem ›Gegenstand überhaupt‹ möglich macht, sondern auch diejenige Einbildungskraft, die uns den Sinn für ein Ganzes erhellt, mithin also die vernunftbezügliche Einbildungskraft, als ein poietisches, ein produktives Vermögen unserer Vernunft: Am Muster der ästhetischen Erfahrung als freier bildzeugender Tätigkeit, wird auch die produktive Kraft der Ideen in sog. Urbildern antizipieren, was Struktur des Einzelnen wie der Ordnung insgesamt genannt werden kann. Wird die Welt also in einem Bilde antizipiert? Ist das Ganze dieser Welt vielleicht nur ein Bild unserer schematisierenden Vernunft? Finden wir hier erneut die Idee von der universalen Bildstruktur des Seins? Begreift Kant die Welt unter moralischen Gesetzen somit in einem ethikotheologischen Sinne als das Bild des Göttlichen?
(c) Die Funktion ästhetischer Kategorien für die Grenzbestimmung der Philosophie als Wissenschaft Lassen Sie mich zum Schluß jedoch noch kurz die zweite Dimension unserer eingangs formulierten Fragestellung betrachten und mit einer Frage enden. Stellt Kant auch umgekehrt das Ästhetische in den Dienst des Wahrheitsanspruchs des Systems, um in ihrem Lichte – ähnlich der Platonischen Grenzbetrachtung des Begriffs, – die Grenzen des begrifflich Faßbaren in ein Bild zu bringen? Zugespitzt gefragt: Findet hier vielleicht auch eine umgekehrte Spiegelung statt, nach der uns nun die Philosophie im Lichte ästhetischer Kategorien er scheint, so daß wir auch die kantische Philosophie
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
im Horizont derjenigen Traditionslinie antreffen können, die von der Idee der ›Universellen Bildstruktur alles Seins‹ getragen ist? Wie ist es um das rein gedankliche Fundament der kantischen Erkenntniskritik bestellt? Übernimmt vielleicht auch innerhalb der kantischen Philosophie – an den Grenzen des Begriffs – die Metapher, das Bild, die Analogie oder die Gleichnisrede die Funktion, das nicht mehr in Begriffen Sagbare nur mehr durch Andeutung, Vergleich etc. zur Darstellung zu bringen? Wie, so möchte ich darum abschließend fragen, können wir Kants transzendentales Verständnis der Philosophie begreifen, wenn er darunter »Das Urbild der Beurteilung aller Versuche zu philosophieren versteht«, welches jeder subjektiven Philosophie zu beurteilen dienen soll, deren Gebäude so mannigfaltig und so veränderlich« sind, derart, daß Philosophie eine bloße Idee von einer möglichen Wissenschaft, (bleibt, C. B.), die nirgend in concreto gegeben ist.« 21 Und wie können wir uns ferner die Suche nach einem solchen intelligiblen Urbild, jenem übersinnlichen Substrat als dem Einheitsgrund von Natur und Freiheit, begreiflich machen, wenn Kant sich »zu diesem Zwecke (…) auf den bodenlosen Abgrund der Metaphysik wagen« muß, den er einen ›finsteren‹ »Ozean ohne Ufer und ohne Leuchttürme, (nennt) wo man es wie der Seefahrer auf einem unbeschifften Meere anfangen muß, welcher, sobald er irgendwo Land betritt, seine Fahrt prüft und untersucht, ob nicht etwa unbemerkte Seeströme seinen Lauf verwirrt haben, aller Behutsamkeit ungeachtet, die die Kunst zu schiffen nur immer gebieten mag.« 22 Und wenn Kant dann schließlich jenes Urprinzip das »Urbild (prototypon) aller Dinge«, nennt, von welchem insgesamt nur»mangelhafte Kopien (ectypa), den Stoff zu ihrer Möglichkeit (…) nehmen, und, indem sie demselben mehr oder weniger nahe kommen, dennoch jederzeit unendlich weit daran fehlen, es zu erreichen.«? 23 Führt der zutiefst skeptische Grundzug der kantischen Philosophie wie auch seine Idee einer poietischen Kraft unserer Vernunft Kant nicht vielleicht in den Horizont derjenigen Traditionslinie zurück, der an Grenzen des Begriffs nur mehr eine ästhetische Ausdrucksgestalt angemessen schien?
21 22 23
Ebd., A 837/ B 866. Kant: Der einzig mögliche Beweis vom Daseyn Gottes. A 4. KrV, A 578/ B 606.
114 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
4. Kants ›Sinnliches Scheinen der Idee‹
Mit dieser Frage muß ich schließen, ihre Beantwortung würde einen weiteren Vortrag erforderlich machen.
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5. Die eingebettete Vernunft in Kants »Kritik der Urteilskraft« Wechselintegration vereint-entgegengesetzter Sphären
I.
Zielsetzung der dritten Kritik
Kants dritte Kritik, die Kritik der Urteilskraft, hat Vermittlungs- und Vollendungsfunktion in einem: Insofern sie die Frage zu beantworten sucht, in welcher Weise die kausalitätsbezogenen Naturgesetze mit den auf Freiheit beruhenden Willensgesetzen in einem einigen Weltentwurf zusammenstimmen können, ist sie auf der Suche nach einer Vermittlung zwischen zwei, wie es zunächst scheint, kontradiktorisch entgegengesetzter Gesetzestypen. Indem sie mit dieser Vermittlung aber zugleich die Frage zu beantworten sucht, wie denn eine aus freier Selbstgesetzgebung mögliche moralische Welt denkbar ist, wohnt ihr ein Telos inne: Sie wird den in ihr entwickelten Weltentwurf an dem zu bemessen haben, was mit unserer Freiheit und Selbstbestimmung als moralischer Wesen kompatibel ist. Mit diesem Zweck und Ziel der dritten Kritik wird die Idee des Seinsganzen als eine Hierarchie aufeinander bezogener Seinsebenen aufgefasst, die – je nach Nähe oder Ferne zur Freiheitsidee – einen größeren oder kleineren Anteil an der Verwirklichung einer moralischen Weltordnung haben können. Auf diese hin aber, auf die Idee eines höchsten in dieser Welt zu erreichenden Guts, ist die Systemanlage der dritten Kritik angelegt. Auch wenn die dritte Kritik nicht über einen eigenen Gegenstandsbereich verfügt, da sie allein ein transzendentales Prinzip zur Beurteilung der gegebenen und zu gestaltenden Welt bereitstellen soll, so schweißt sie doch zwei – wie es scheint zunächst getrennte – Welten in eine einige Welt zusammen derart, dass in dieser der moralischen Welt ein deutlicher Vorrang vor der bloß abhängig bestimmten kausalbezüglichen Naturordnung zukommen soll. Doch ist es nur diese eine einige Welt, in der wir nicht nur die 119 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
vielfältigen Weltansichten, sondern auch die entgegengesetzten Gesetztestypen vereint wissen, an deren Analyse und Beschreibung es Kant gelegen ist. Wie nun und auf welchen Fährten soll die dritte Kritik jene beiden Ziele erreichen können: wie kann sie Vermittlungs- und Vervollkommnungsinstanz in einem sein?
II.
Die Urteilskraft zwischen der gegenstandsbestimmenden und der frei setzenden Vernunft
Wenn die Kritik der Urteilskraft (KU) nicht über ein eigenes Objektgebiet verfügt, so muss alles je Denkbare und auch Mögliche Objekt der ersten beiden Kritiken sein; alles in dieser Welt der gegebenen und möglichen Gesetze muss durch diese beiden Kritiken zu beschreiben sein. Nun sind alle möglichen Objekte für unsere menschliche Vernunft in einer der beiden Sphären aufgehoben: In der theoretischen Vernunft sind diese zuvor »gegeben«, hier verhält sich die Vernunft passiv gegenüber der erscheinenden Welt, hier allein nimmt sie sich – abhängig bestimmt – das Material ihrer Erkenntnisse von den raumzeitlich gegebenen Objekten der empirischen Welt. Dass unsere Vernunft dabei gleichwohl Vorstellungen erzeugend, Gedanken verbindend, und schlussfolgend das Material sichtet, ordnet und zu Gesetzesaussagen zusammenschließt, lässt zwar unsere Gegenstandsbegriffe allein aus Verstandesaktivitäten begreiflich werden, doch bleibt unsere Vernunft mit Blick auf die Welt der gegebenen Erscheinungen durch jenes gegebene Sinnesmaterial abhängig bestimmt. Erst auf dem Gebiete der praktischen Vernunft, dort, wo wir unseren Willen frei bestimmen, zeugen wir eine Welt aus Gesetzen, legen wir selbst die Bedingungen der zu schaffenden Ordnung fest. Solchermaßen folgt unsere Vernunft darum zwei unterschiedlichen Bewegungsrichtungen und erweist sich als gebunden und bestimmt je dort, wo sie auf die Beschreibung und Erklärung der phänomenalen Welt gerichtet ist; aber als bestimmend und frei dort, wo sie sich eine vernunftgeleitete Gesetzesordnung schafft.
120 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
5. Die eingebettete Vernunft in Kants »Kritik der Urteilskraft«
III. Vermittlungs- und Vervollkommnungsfunktion der dritten Kritik Beide jedoch sind in der gegebenen und aufgegebenen einen Welt je schon integriert: Darum interessiert Kant in seiner dritten Kritik auch nicht die Frage, ob beide Gesetzesformen in dieser Welt zusammenstimmen können, sondern allein, in welcher Weise dies geschieht oder geschehen kann. So werden wir die dritte Kritik auf jene Vermittlungs- und Vervollkommnungsfunktion hin näher zu betrachten haben. Es wird zu prüfen sein, ob es Kant gelingt, ein Prinzip der Vermittlung zu finden, das beide Gesetzestypen nicht aufeinander reduziert oder auseinander abzuleiten sucht, sondern das beiden Kausalitätstypen Rechnung zu tragen vermag, indem es ihre Verbindung aus einem vereinigenden Dritten begreiflich machen kann.
IV. Die dritte Kritik als Ort der »eingebetteten« Vernunft In der dritten Kritik tritt uns nun, – neben der erkennenden und der willensbestimmenden Vernunft der ersten beiden Kritiken – die eingebettete, die verbesonderte Vernunft entgegen; diejenige Vernunft, die nicht die erscheinende Natur allgemeinen Gesetzen zurodnet und diese durch jene begreiflich macht, – wie dies Gegenstand der ersten Kritik ist, – sondern eine Vernunft, die solche Gesetze allererst finden und entdecken muss. Eingebettet in die Mannigfaltigkeit der je gegebenen Phänomene wird sie vielmehr die phänomenale Welt allererst auf mögliche Verbindungen und Verknüpfungen zwischen Erscheinungen abzusuchen und zu erforschen haben. Es ist darum der Weg »von unten auf«, von den vereinzelten Phänomenen zum allgemeinen Gesetz; mit Hilfe der reflektierenden Urteilskraft soll eine Heuristik der Annäherung an Singularitäten der natürlichen und sittlichen Phänomene zu gewinnen sein. Die Frage lautet nun zunächst, nach welchen Prinzipien es uns möglich ist, das gegebene mannigfaltige Material auf solche Regeln oder allgemeine Bestimmungen hin abzusuchen, die uns Auskunft über zugrundeliegende allgemeine Gesetze geben könnten. Ferner wird zu fragen sein: wie die Gesetze der erscheinenden Welt, wie sie durch die theoretische Vernunft beschrieben werden, mit den weltzeugenden Prinzipien unserer praktischen Vernunft zu 121 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
vermitteln sind. Beruhen doch unsere freie Selbstgesetzgebung auf dem Gebiete der Moralität und Sittlichkeit und unsere abhängige Bestimmung durch die Welt der gegebenen Erscheinungen auf zwei gegenläufigen Bewegungsrichtungen unseres Bewusstseins. Im Entwurf einer zu gestaltenden moralischen Welt wirkt unsere Vernunft projektiv, konstitutiv, weltbildzeugend; in der Beschreibung und Erklärung der gegebenen phänomenalen Welt bleibt sie abhängig bestimmt.
V.
Der Wille: »eine von den mancherlei Naturursachen in der Welt«: »nach Begriffen zu wirken« …
Blicken wir näher hin: gleich einleitend in die zweite Fassung zur Einleitung in seine Kritik der Urteilskraft wird diejenige Kraft ins Gespräch gebracht, die sich in ihren zwei gegenläufigen Bewegungsrichtungen mal selbstgesetzgebend – nach Begriffen wirkend, – mal das Andere bestimmend, verobjektivierend, verhält: Der Wille, als Begehrungsvermögen, ist (nämlich) eine von den mancherlei Naturursachen in der Welt, nämlich diejenige, welche nach Begriffen wirkt; und alles, was als durch einen Willen möglich (oder notwendig) vorgestellt wird, heißt praktisch-möglich (oder notwendig): zum Unterschiede von der physischen Möglichkeit oder Notwendigkeit einer Wirkung, wozu die Ursache nicht durch Begriffe (sondern, wie bei der leblosen Materie, durch Mechanism, und. bei Tieren, durch Instinkt) zur Kausalität bestimmt wird. 1
Die Wirkung nach Begriffen erscheint hier als diejenige Modalität einer Naturkraft, durch die sie sich des Intelligiblen wie unserer menschlichen Vernunft, als eines Vehikels und Mittels bedient. Es ist die im Bereiche des Praktischen bestimmende Vernunft, die sich selbst die Regeln gibt. Doch Kant spricht zunächst nicht von der Vernunft, sondern von einer »Naturkraft«, die sich in der und durch die Vernunft die Regeln gibt. Kant lagert somit der Vernunft eine Kraft ein, eine Naturkraft, die sich im vernünftigen Willen nach Begriffen bestimmt und bezogen auf die gegebene Welt der Erscheinungen durch dasjenige bestimmt wird, das nicht sie selber setzt und ist.
1 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft [im Folgenden zitiert als: KdU], A XIV/ B XIV.
122 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
5. Die eingebettete Vernunft in Kants »Kritik der Urteilskraft«
In dieser, der theoretischen Vernunft, ist jenes Nicht-Ich, auch wenn allererst durch die synthetisierende Vernunft in eine gedankliche Ordnung gebracht, das Substrat und Ziel aller Bestimmung. Vom raum-zeitlich gegebenen Objekte erhält die Vernunft den Gehalt und die Materie ihrer Tätigkeit. Die gedankliche Ordnung jedoch, in die das Einzelne hineingestellt wird, wird nach einem transzendentalen Prinzipe, dem Prinzip der Zweckmäßigkeit aller in der Erscheinungswelt verbundenen Phänomene, eigens erzeugt. Ein solches Prinzip, das allererst die Verbindbarkeit der Phänomene in einem Ganzen begreiflich werden lässt, ist dann so wenig wie die Formbedingungen unserer Anschauung oder die Verstandesoperationen, durch die die Phänomene synthetisiert werden, aus der phänomenalen Welt selbst ableitbar. Es geht aller Bestimmung vielmehr voraus und macht es erst möglich, dass die Mannigfaltigkeit gegebener Erscheinungen als Einheit eines durchgängig bestimmten Ganzen erscheinen kann.
VI. Der durchgängig bestimmte Gegenstand: Die Materie des Gedachten Die Einheit eines Gegenstandes wie auch die Idee einer Ordnung, in dem diese Erscheinungen ihren wohl angewiesenen Platz haben, macht somit eine andere transzendentale Bestimmung erforderlich, als sie durch die bloß formalen Gegenstandsbegriffe des Verstandes gegeben sind. Denn es ist in ihr mehr gedacht als möglicher »Gegenstand überhaupt« zu sein: ein Einzelnes, eine Singularität in Raum und Zeit wie auch die gegebene oder aufgegebene Ordnung sind vielmehr, als Einzelne wie im Ganzen – durchgängig bestimmte Einheiten, die nicht nur ihrer Form, sondern auch der Materie nach durchgängig bestimmt sind und für unseren Naturbegriff, der auf die Gesetze wie das Allgemeine in den Phänomenen gerichtet ist, etwas durchaus Zufälliges an sich haben. Zweierlei Voraussetzungen muss Kant darum machen, um auch die Singularität der gegebenen Erscheinungen wie die materiale Bestimmung der Ordnung insgesamt begrifflich zu erfassen: Zunächst antizipiert er im »Ideal der reinen Vernunft« die Idee der Materie eines durchgängig bestimmten Einzelnen wie der Ordnung insgesamt. Dieser Gedanke liegt noch ganz im Gravitationsfeld der ersten Kritik und bildet den Abschlussgedanken einer Ordnung, 123 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
in der nicht nur ein formaler Gegenstandsbegriff, sondern der Begriff eines Gegenstandes auch der Materie nach gewonnen ist. Ein jedes Ding aber, seiner Möglichkeit nach, steht noch unter dem Grundsatze der durchgängigen Bestimmung, nach welchem ihm von allen möglichen Prädikaten der Dinge, so fern sie mit ihren Gegenteilen verglichen werden, eines zukommen muß. Dieses beruht nicht bloß auf dem Satze des Widerspruchs; denn es betrachtet, außer dem Verhältnis zweier einander widerstreitenden Prädikate, jedes Ding noch im Verhältnis auf die gesamte Möglichkeit, als den Inbegriff aller Prädikate der Dinge überhaupt, und, indem es solche als Bedingung a priori voraussetzt, so stellt es ein jedes Ding so vor, wie es von dem Anteil, den es an jener gesamten Möglichkeit hat, seine eigene Möglichkeit ableite. Das Principium der durchgängigen Bestimmung betrifft also den Inhalt und nicht bloß die logische Form. Es ist der Grundsatz der Synthesis aller Prädikate, die den vollständigen Begriff von einem Dinge machen sollen, und nicht bloß der analytischen Vorstellung, durch eines zweier entgegengesetzten Prädikate, und enthält eine transzendentale Voraussetzung, nämlich die der Materie zu aller Möglichkeit (kursiv: C. B.), welche a priori die Data zur besonderen Möglichkeit jedes Dinges enthalten soll. 2
Die Materie der gegebenen Gegenstände ist stets nur in einer sinnlichen Erfahrung zugänglich; um aber den Gegenstand hinreichend von anderen gegebenen oder möglichen Gegenständen zu unterscheiden, muss der Begriff dieser Materie in einer Idee zu antizipieren sein: einer Idee, die alle möglichen Prädikate, die je einem Gegenstande zugesprochen werden können, bereits in sich enthält. Diese Idee, die Kant das Ideal oder die »Idee in individuo« nennt, macht es darum allererst möglich, dass wir auch den Begriff von jener Singularität erhalten, die in all ihren Teilen durchgängig bestimmt ist. Um nämlich durchgängig bestimmt zu sein, müssen wir dem Gegenstand alle die Prädikate zusprechen, die Für ihn zutreffend sind; und um ihn zugleich als Singularität von allen nur denkbaren Gegenständen zu unterscheiden, müssen wir, so Kant, einen solchen universellen Prädikationsgrund antizipieren, in dem nicht nur die gegebenen, sondern auch aller nur denkbaren Gegenstände a priori aufgehoben sind. Ohne eine solche Antizipation eines unendlichen Prädikationsgrundes nämlich wäre der einzelne Gegenstand nicht hinreichend von allen anderen unterschieden.
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft [im Folgenden zitiert als: KrV], A 572/ B 600.
2
124 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
5. Die eingebettete Vernunft in Kants »Kritik der Urteilskraft«
… noch weiter, als die Idee, scheint dasjenige von der objektiven Realität entfernt zu sein, was ich das Ideal nenne, und worunter ich die Idee, nicht bloß in concreto, sondern in individuo, d. i. als ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares, oder gar bestimmtes Ding, verstehe. 3
Die Idee einer Totalität aller Erscheinungen in einer gegebenen und noch zu gestaltenden möglichen Welt ist darum mit dem Gedanken eines durchgängig bestimmten Einzelnen selbst notwendig gesetzt: wir müssen je schon das Ganze antizipieren, wenn überhaupt nur der Begriff einer singulären Erscheinung möglich sein soll.
VII. Die Idee des zweckmäßig bestimmten Ganzen Der Gedanke eines zweckmäßig bestimmten Ganzen ist aber gebunden an einen nicht-linearen Typ von Kausalität, demgemäß wir nicht bloß gegebene Wirkungen aus möglichen Ursachen in einem einsinnigen Richtungssinn ableiten können, sondern demgemäß die Teile und das Ganze wechselseitig füreinander Ursache und Wirkung sind; eine solche Kausalität, in der die Teile und das Ganze einander wechselseitig verursachen, setzt aber die Idee eines Ganzen vor den Teilen voraus. Diese aber, da sie nicht aus einer Reihe von Ursache- und Wirkungsbeziehungen quasi-mechanisch ableitbar ist, kann nur als die Idee eines Zweckes aufgefasst werden, mithin also als eine intelligible Bestimmungsgröße. Ich würde vorläufig sagen: ein Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst (obgleich in zwiefachem Sinne) Ursache und Wirkung ist; denn hierin liegt eine Kausalität, dergleichen mit dem bloßen Begriffe einer Natur, ohne ihr einen Zweck unterzulegen, nicht verbunden, aber auch alsdann, zwar ohne Widerspruch, gedacht, aber nicht begriffen werden kann. 4
VIII. Die Gesetzlichkeit des Zufälligen Auf der Suche nach der »Gesetzlichkeit des Zufälligen« 5 gewinnt Kant darum im Prinzip der Zweckmäßigkeit eben jenes transzendentale Prinzip, das uns auch die Zufälligkeit der singulären Phänomene 3 4 5
KrV, A 568/B 596. KdU, A 282/B 286; vgl. auch KdU, A 286/B 290. KdU, A 340/B 344.
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
begreiflich machen kann, mithin also diejenigen Phänomene, die nicht aus natürlichen Kausalitäten bloß abzuleiten sind. Nicht aus kausalen Gesetzen ableitbar sein heißt für Kant ebensoviel wie zufällig zu existieren; aber, um der Kompossibilität im Reiche der natürlichen Kausalitäten willen, wird das Zufällige sich gleichwohl zweckmäßig in dieses hineinfügen müssen. So ist der Begriff von einem Objekt, »sofern er zugleich den Grund der Wirklichkeit dieses Objekts enthält, der Zweck« und die »Übereinstimmung eines Dinges mit derjenigen Beschaffenheit der Dinge, die nur nach Zwecken möglich ist«, nennt Kant dann »die Zweckmäßigkeit der Form derselben« 6. Und so ist »das Prinzip der Urteilskraft, in Ansehung der Form der Dinge der Natur unter empirischen Gesetzen überhaupt, die Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit.« Dies soll aber, um der Widerspruchsfreiheit der Vernunft mit sich auch auf dem Felde der Urteilskraft Genüge zu tun, die mannigfaltigen Erscheinungen der Natur nur so vorstellen, »als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte.« (ebd.) So ist »die Zweckmäßigkeit der Natur (…) ein besonderer Begriff a priori, der lediglich in der reflektierenden Urteilskraft seinen Ursprung hat.« (ebd.) Bewusst wird jenes Prinzip nur als Prinzip der Urteilskraft aufgefasst, da man es den Naturprodukten, »als Beziehung der Natur an ihnen auf Zwecke, nicht beilegen, sondern diesen Begriff nur brauchen, um über sie in Ansehung der Verknüpfung der Erscheinungen in ihr, die nach empirischen Gesetzen gegeben ist, zu reflektieren.« (ebd.) Handelte es sich um ein konstitutives Prinzip für die gegebenen Erscheinungen der Natur, – es müsste die Natur selbst in sich widersprüchlich aus natürlichen Kausalitäten wie aus freier Zwecksetzung bestimmt sein. Soweit die idealtypische Rekonstruktion einer Sache in der Besonderheit ihrer Erscheinung, die Kant an jenes reflektierende Prinzip der Zweckmäßigkeit bindet, durch das allein unsere Urteilskraft, nicht aber die Dinge selbst bestimmt werden. Und so weist uns die Urteilskraft reflektierend und nicht bestimmend den Weg – »von unten auf« – in die Richtung jener durchgängigen Bestimmung, indem sie am Leitfaden jenes transzendentalen Prinzips der Zweckmäßigkeit das Zusammenstimmen der einzelnen Erscheinungen zur Ganzheit eines Gegenstandes oder der Gegen6
KdU, A XXVI/B XXVIII.
126 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
5. Die eingebettete Vernunft in Kants »Kritik der Urteilskraft«
stände im Verbund einer größeren Ordnung zueinander zu bestimmen vermag. Mit der Idee des Seinsganzen ist dann zugleich aber auch jener Weltbegriff antizipiert, in dem alle Sphären in einer durchgängig bestimmten Harmonie denkbar sind: Sie müssen in ihr möglich, wenn auch nicht wirklich sein. Harmonie ist notwendige regulative Idee, die Idee eines Seinsganzen, in dem die höchsten sinnlichen mit den höchsten sittlichen Zwecken auch in einer inneren Übereinstimmung stehen können.
IX. Übereinstimmung aller Zwecke Die »Wirklichkeit« einer solchen Idee ist an die Akte unserer Freiheit gebunden; ja, ihre Wirklichkeit ist ein Akt der Freiheit selbst: Da jedoch die Freiheit mit den natürlichen Bestrebungen der Menschen nicht in einer a priori greifbaren Übereinstimmung steht, ist die erstrebte Harmonie eine ständige, wenn auch unerfüllbare Aufgabe in der gegebenen Welt. In dieser jedoch ist das Kernziel der kantischen Vernunftkritik greifbar: die Idee einer Welt unter moralischen Gesetzen; auf diese sind alle Funktionen gerichtet, in diesem soll die menschliche Vernunft ihre Erfüllung finden. 7 Ohne jene Finalisierungsabsicht aber, ohne jene Idee einer zu gestaltenden Welt, Kants Idee des Weltganzen begreifen zu wollen, lässt den Sinn des gesamten Unternehmen unberührt; erschließt sich doch von diesem aus allein der Zusammenhang aller Teile im sinnlich-sittlichen Seinsganzen: Darum lässt sich auch die Erkenntniskritik nicht isolieren und die Restriktionen auf eine raum-zeitlich bestimmte Welt begreiflich machen ohne jenen Vernunftanspruch der Freiheit, durch den allein die Vernunft mit sich selbst in eine Übereinstimmung gebracht werden kann. Die Beantwortung der Frage, wie unsere epistemischen Funktionen gleichwohl objektiv genannt werden können, ist bloß ein erster Akt der Annäherung an die Idee der gesuchten Übereinstimmung von Sinnlichkeit und Sittlichkeit. Wie, so fragt Kant in seiner »Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« können die Formbedingun7
Vgl. KrV, A 807/B 836.
127 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
gen unseres Denkens mit den von uns verschiedenen Phänomenen einer raum-zeitlichen Welt übereinstimmen? Für Kant gilt: wenn die Phänomene der gegebenen Erscheinungswelt von unserem Bewusstsein gänzlich verschieden wären, wir könnten von ihnen keine Kunde haben. Diese müssen vielmehr mit und in unserer Erfahrung so unfraglich wie gewiss »gegeben« sein. Darum ist für Kant alles Transzendenzbewusstsein je schon Immanenz in der Transzendenz: In uns selbst, in einem erlebenden, anschauenden und wahrnehmenden Bewusstsein wird jene Objektivität hergestellt, ohne die unsere Orientierung in einer raum-zeitlichen Welt gänzlich unbegreiflich wäre. Übereinstimmung mit den gegebenen Phänomenen kann darum nicht Korrelativität, Entsprechung zweier heterogener Seinssphären heißen; da eine mögliche »externe« Vergleichs- und Bezugsebene – für uns Menschen wenigstens – so unerreichbar wie unzugänglich ist. Wenn darum eine Orientierung in der erscheinenden Welt gleichwohl für möglich gehalten werden kann, so muss diese a priori in uns angelegt sein: unser Gemüt muss solche Initialstrukturen in sich ausprägen können, die selbst unfraglich, in – aber nicht durch – die Erfahrung gegeben sind. Wären demgegenüber selbst die Formen, in denen uns die Dinge im Nacheinander der Zeit und im Nebeneinander des Raumes erscheinen, allererst aus einer Erfahrung gewonnen, unsere Raum- und Zeitorientierung müsste ungewiss bleiben. Ungewissheit in einer jeweiligen empirischen Annäherung gehört zu den Möglichkeiten fallibler Erkenntnisse. Ungewissheit aber bezüglich der grundsätzlichen Möglichkeit objektiver Erkenntnisse schließt Kant aus, da wir uns unsere raum-zeitliche Orientierung wie auch die apriorische Formensprache der Geometrie und der Arithmetik ansonsten nicht begreiflich machen könnten. Nicht allein die Formbedingungen der Anschauung sind darum allein durch die apriorische Formensprache der Anschauung und des Denkens begreiflich, auch die Wege und Weisen der Synthesis des gegebenen Materials können nur auf solchen Regeln beruhen, die Objekterkenntnis begreiflich machen können. Der hier vorausgesetzte Regelbegriff unserer Verstandesoperationen ist jedoch rein formal und funktional: • •
Quantitativ bewegt er sich zwischen Einem und Allen. Qualitativ zeigt er das Sein oder Nicht-sein wie die Limitation zwischen beiden an.
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5. Die eingebettete Vernunft in Kants »Kritik der Urteilskraft«
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Relational betrifft er die notwendigen Beziehungen zwischen zwei Vorstellungen in Urteilen, zweier Urteile untereinander wie die Wechselwirkung zweier Urteile, welche die Minimalbedingung notwendiger Verknüpfungen zwischen unseren Vorstellungen sind. Diesen liegt die Struktur der syllogistischen Urteilsformen zugrunde. Demnach ist prädikatenlogisch die Verbindung zweier Vorstellungen in einem Urteil derart geregelt, dass eine der beiden Vorstellungen die Funktion des zugrundeliegenden Substrates hat, das nicht seinerseits mehr Prädikat in einem möglichen Urteil werden kann, da es das gegebene Objekt selbst in Subjektform anzuzeigen vermag. Demnach kann ferner die Kausalität zweier Ereignisse, Vorstellungen oder Sachverhalte die Objektivität von Ursache- und Wirkungsverhältnissen derart garantieren, dass ihre Abfolge die Linearität des Nacheinander in einem logischen oder gar zeitlichen Sinne anzuzeigen vermag. Im Wechselspiel der Ereignisse, Sachverhalte oder Eigenschaften der Dinge untereinander können schließlich alle füreinander wechselseitig Ursache und Wirkung sein: dieser Objektivitätsgehalt ist vorgeprägt in der Kategorie der Wechselwirkung.
X. Die zwei Bewegungsrichtungen der Vernunft: Pro- und episyllogistische Vernunftschlüsse Bezogen auf die notwendige Verbindung der Vorstellungen untereinander in möglichen Urteilen, der Urteile untereinander in möglichen Urteilsverbindungen, etc. interessiert Kant nun die Erklärungskraft, die mit diesen gesetzt ist. Alle drei relationalen Urteilsformen sind in einer zweifachen Bewegungsrichtung denkbar, je nachdem ob wir mittels der Urteile episyllogistisch zu den Phänomenen selbst herabsteigen oder aber prosyllogistisch in die Bedingungen aller Erscheinungen und Reihen hineinfragen. Auf dieser Ebene ist es der Versuch unserer Vernunft, nicht nur abgeleitete, sondern auch zureichende Erklärungen für die gegebenen Phänomene zu finden. Diese zwei Bewegungsrichtungen unserer Vernunft in der Anleitung unserer Verstandesoperationen entsprechen den Funktionen der Vernunft im »Liniengleichnis« der platonischen Politeia; auch Platon geht von einer Zweiteilung der Vernunftsphäre aus: auch ihm gilt, dass die Vernunft zum einen den Verstand in seinen Operationen in 129 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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Begriff, Urteil und Schluss immanent auf die (mathematisierbare) Gegenstandsbeschreibung und -erklärung hin ausrichten kann. Dann aber ist es für Platon wie für Kant gleichermaßen evident und eine notwendige Vernunftidee, dass wir zu allen bedingten Erscheinungen in Raum und Zeit, auch die zureichenden Gründe suchen müssen, die hinreichenden Bedingungen, jenes unhypotheton, das ein Ereignis, ein Sachverhalt oder ein Phänomen möglich machen kann. Diese Vernunftidee des Unbedingten gehört nach Kant zu den unhintergehbaren Leitzielen der erkennenden Vernunft: Sie würde die Gegenstände nicht zureichend erkennen, sondern sie unerklärt lassen, wenn sie den Rückgang auf die Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten nicht bis zum Unbedingten vorantreiben würde. Denn damit eine Sache aus ihren Quellen und Ursachen begreiflich ist, müssen all diejenigen Ursachen bekannt sein, die ihre Existenz begreiflich machen können. Ihre Existenz ist nur begreiflich, wenn auch die Gründe zureichend angegeben werden können, durch die sie möglich ist. Jene Rede vom Unbedingten, vom Absoluten, als Grund und Quelle selbst der Möglichkeit alles Endlichen und Relativen hat darum in Kants Philosophie selbst auf dem Felde der Erfahrungserkenntnis einen wohl angewiesenen Platz.
XI. Die Ideen des Unbedingten Die Ideen des Unbedingten nun – sie sind dreifach gemäß den drei Relationskategorien – verleiten die Vernunft dazu, sich mit jenen Ideen zugleich auch drei mögliche Gegenstände vorzustellen, die mittels der Prosyllogismen der jeweiligen Vernunftschlüsse gewonnen werden können. Nicht mehr wird die Vernunftidee des Unbedingten dann funktional für unsere Welterkenntnis in Gebrauch genommen, sondern diese verleitet uns zu jenem dialektischen Scheine, vom Bedingten zum Unbedingten nun auch den Gegenstand eines solchen Unbedingten gewonnen zu haben. Dieser Schluss auf einen gegebenen Gegenstand führt in folgende Schwierigkeit: 1.
Gemäß dem Prosyllogismus des kategorischen Vernunftschlusses treibt die Vernunft den Verstand in die Richtung einer letzten allen Urteilen zugrundeliegenden Instanz, die nicht ihrer-
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seits mehr Prädikat in einem weiteren Urteil genannt werden kann. Dieses einfache Substrat wird dann jedoch nicht mehr bloß funktional als die allen kategorischen Vernunftschlüssen zugrunde liegende Idee eines irreduziblen Substrates aufgefasst, das wir notwendig allen Prädikaten zugrunde legen müssen, sondern diese Idee eines unbedingten Substrates wird in einer transzendentalen Subreption in den Gedanken eines für sich bestimmten Gegenstandes verwandelt, welcher als Entität für sich Bestand haben kann und der mittels der Verstandesbestimmungen auch erkennbar ist. Analog gilt für den zweiten, den hypothetischen Vernunftschluss: Mit den hypothetischen Urteilsverbindungen – einem regressiven Rückgang vom Bedingten zum Unbedingten – ist die Idee des Unbedingten in der Reihe aller gegebenen Bedingungen verbunden, durch welche die Reihe des Bedingten selbst allererst als vollendet aufgefasst werden kann. Dieses Unbedingte wird nach der Art einer transzendentalen Subreption in eine einfache, unteilbare, spontanursächliche Entität verwandelt, die ihrerseits den Charakter eines möglichen erkennbaren Gegenstandes haben soll. Schließlich soll durch den disjunktiven Vernunftschluss ein Wesen aller Wesen zu gewinnen sein, das in sich alle nur möglichen und denkbaren Seinsbestimmungen in einer höchsten Steigerung enthält.
Zwischen der Annahme notwendiger letzter Horizonte jedoch, in denen wir die Welt der gegebenen Erscheinungen notwendig auszulegen suchen und der Hypostasierung jener Ideen zu möglichen Gegenständen einer empirischen oder intelligiblen Erfahrung, zieht Kant eine klare Trennungslinie: Während die erste genannte Operation mit den Bedingungen unserer Vernunft notwendig verbunden ist, verleitet uns der zweite Gedanke zu jenem notwendigen transzendentalen Schein, den Kant dann in seiner Dialektik der reinen Vernunft zu destruieren sucht: Der transzendentale Schein muss als ein notwendiger durchschaut und aufgedeckt werden, damit die Vernunft nicht in einen Widerspruch zu ihren eigenen Prinzipien gerät. Mittels jener deutlichen Grenzziehung unserer Erkenntnisfunktionen auf den Bereich des Gegebenen in Raum und Zeit werden die Anwendungsbedingungen unserer Verstandesfunktionen derart restringiert, dass eine mögliche Anwendung auf den Bereich des Über131 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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sinnlichen dann jenen trügerischen Schein wahrhaft existierender übersinnlicher Gegenstände nach sich zieht. So dienen die Ideen des Unbedingten in allen drei Vernunftschlüssen in den jeweiligen Urteilssituationen nur der Anleitung des Verstandes, auf der Suche nach den zureichenden Gründen des Gedachten systematische Einheit unter seinen Erkenntnissen zu bewirken. Mit dieser Suche ist aber zugleich auch die Idee eines Weltbegriffs antizipiert, der uns eine vollständige Bestimmung aller in diesen gegebenen oder gedachten Bestimmungen erlaubt.
XII. Das kritische Unternehmen als Propädeutik zur Idee einer möglichen Weltwissenschaft Die kritische Grenzziehung unserer Erkenntnisfunktionen ist jedoch nur der hinleitende Teil, die Propädeutik zu einer solchen Weltwissenschaft. Ihren vollständigen Begriff erreicht sie erst unter der Bedingung, dass in dieser Sinnliches und Sittliches in eine Harmonie miteinander gebracht werden können. Während jene Orte des Unbedingten für den Bereich des Epistemischen nur mehr als letzte Horizonte erschienen sind, in denen wir die Welt der gegebenen Erscheinungen auszulegen suchen, erhalten sie auf dem Gebiete der praktischen Vernunft nun konstitutive Kraft: Hier gelten sie unserer Vernunft als apriorische Prinzipien, mittels derer wir unseren freien Willen in einer Welt unter moralischen Gesetzen bestimmen können. So sind die Ideen als Prinzipien der Vernunft zugleich auch die Orte des Umschlages von einer bloß heuristisch in Gebrauch genommenen regulativen Funktion unserer Vernunftideen zur Idee ihrer konstitutiven Kraft und Funktion für die Gestaltung einer moralischen Welt: Es ist vornehmlich diese Idee einer zu gestaltenden moralischen Welt, die Kant als letzten verbindlichen Leithorizont unserem bewusstem Leben voranstellt. Für diese Zielsetzung bedürfen wir eines Vorbegriffs der Vollkommenheit: eines Urbildes, von dem unsere empirische Welt nur ein mehr oder weniger defizienter Abdruck sein kann.
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XIII. Die vermittelnde Kraft zwischen der gegebenen und der aufgegebenen Welt: die Urteilskraft Zwischen jenen beiden Welten: der gegebenen raum-zeitlichen empirischen Welt und zu gestaltenden freien moralischen Welt finden wir in Kant als vermittelnde Kraft die Urteilskraft: die Kraft der Verbindung des Verschiedenen, als Kraft der Subsumtion – aber auch als Kraft der Reflexion: als Kraft des antizipierenden Vorausgriffs nach Prinzipien. Am Leitfaden des Prinzips der inneren und äußeren Zweckmäßigkeit wird sie auf das Zusammenstimmen aller Phänomene in der gegeben und zu gestaltenden Welt gestoßen: Im freien Spiel der Einbildungskraft lässt sie die Phänomene frei in der ihnen eigenen Beschaffenheit vor unser inneres Auge treten; behält jenen Abstand, jene kontemplative Distanz vor der Welt der gegebenen Erscheinungen, der allem freien Weltverhältnis eigen ist, indem er die Phänomene nicht subsumierend zuordnet oder moralisch gewichtet, sondern indem er der ihnen eigenen Beschaffenheit Ausdruck und Gestalt verleiht. Kant wählt das Feld der Kunst, um jenen freien Bezug zur Welt der gegebenen Erscheinungen in produktions- und rezeptionsästhetischem Sinne zu verdeutlichen: Es ist dies die im Werk des Künstlers zu gestaltende Natur; im Rezipienten das freie Spiel seiner Einbildung, mittels dessen er der Besonderheit der Phänomene, der künstlerischen und nicht-künstlerischen Produkte, Rechnung trägt. Dabei ist Kant von einer inneren Affinität unserer Seelenkräfte mit der Welt der gegebenen Erscheinungen überzeugt: Nicht allein die apriorische Formensprache unseres erkennenden Gemüts hatte ihm eine solch mögliche Übereinstimmung angezeigt, denn der Begriff der Erscheinung sollte mal auf das Erscheinen für uns, mal auf den erscheinenden Gegenstandes bezogen sein. Im Genie nun findet Kant diejenige Instanz, durch die sich die Natur einem empfänglichen Gemüte in ihrer inneren Zweckmäßigkeit offenbart. Diese Phänomene betreffen jedoch zunächst allein die subjektive Zweckmäßigkeit, des Für-uns der gegebenen und zu gestaltenden Welt. In seiner teleologischen Urteilskraft geht Kant jedoch einen Schritt weiter: Er sucht nach der inneren Zweckmäßigkeit der gesamten natürlichen und sittlichen Ordnung: dh. nach den Prinzipien der objektiven Zweckmäßigkeit in dieser Welt, insofern sie zugleich aus inneren Quellen motiviert ist. Um jedoch dabei die Vernunft nicht in einen Widerspruch mit 133 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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sich selbst zu führen – indem die Phänomene zum einen als bedingt und verursacht in Raum und Zeit, zum anderen aber als aus freier Selbstorganisation für möglich gehalten werden, so dass die Kausalität gemäß den Gesetzen der Natur mit der intelligiblen Kausalität, der Kausalität aus Freiheit, in einen Konflikt geraten kann –, schränkt Kant jenes Prinzip der objektiven Zweckmäßigkeit auf die vorsichtige Formulierung des Als-Ob ein: Nicht können wir die Phänomene so betrachten, als seien sie aus intelligibler Kausalität möglich, sondern wir sind allein angeleitet, sie so zu betrachten, »als ob« sie aus einer solchen entstanden seien: nichts widerstreitet dann dem Gesetz der durchgängigen Naturkausalität, nichts aber widerspricht auch jener Annahme, nach der wir eine Selbstursächlichkeit in den natürlichen Phänomenen voraussetzen dürfen. Mit dem Prinzip der Selbstgesetzgebung oder Selbstverursachung, die einen Ort des Unbedingten in allem Bedingten vorauszusetzen scheint, durch den eine Reihe von Ursache- und Wirkungsbeziehungen von selbst beginnen kann, wird dann zugleich auch der Ort gefunden, an dem die praktische Vernunft sich dem Begriff der theoretischen Vernunft einzufügen vermag: Eine Welt der intelligiblen Kausalitäten ist mit jener Zweckeinheit der Natur nicht nur kompatibel, sondern sie vermag es auch, jene auf einen freien Grund zu stellen; d. h. die Welt so zu betrachten, als sei sie aus Ideen möglich. Und es ist jenes Prinzip der zweckmäßigen Übereinstimmung aller sinnlichen und sittlichen Phänomene, die uns diesen Umbruch in der Analyse des Weltbegriffs in die Richtung auf eine freie Gestaltung einer Welt erlaubt, die nun nicht mehr bloß den natürlichen, sondern ebenso den Freiheitsgesetzen folgt.
XIV. Der Endzweck der zweckmäßig bestimmten Seinsordnung: Kants Ethikotheologie Kants Idee der Weltgestaltung, der Betrachtung der Welt als einer zu vervollkommenen, als einer, deren Zwecke nur durch moralische Zwecke auch auf einen Endzweck gebracht werden können, kulminiert darum in einer Ethikotheologie: Es ist dies eine Theologie, die selbst die Idee des göttlichen Urhebers noch unserer Handlungsperspektive unterwirft; aber es ist zugleich auch eine Theologie, durch die wir dasjenige in der Welt befördern können, was die Welt selbst in 134 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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der von uns so beurteilten zweckmäßigen Gestalt vorbereitend ermöglicht. Wir können durch unser eigenes Tun das Glück in dieser Welt befördern; damit aber eine solches Bestreben auch Aussicht auf Erfolg haben kann, müssen wir ein übersinnliches Substrat voraussetzen, das unserem Handeln unverfügbar ist, weil es die Möglichkeit der Übereinstimmung dieser vereint-entgegengesetzten Kräfte garantieren und begreiflich machen kann. Und so kann die Idee jener Harmonie der vereint-entgegengesetzten Kräfte von Sinnlichkeit und Sittlichkeit, die wir mit dem Ideal des höchsten Gutes verbinden, noch als ein oberstes Prinzip für unsere Urteilskraft ausgelegt werden; ja, es ist jener letzte Horizont, jener Leithorizont, durch den wir uns allererst das gelingende Übereinstimmen aller gegensätzlichen Kräfte in der Welt der gegebenen Erscheinungen wie der übersinnlichen moralischen Welt begreiflich machen können. Doch ähnlich dem höchsten Guten in der aristotelischen Metaphysik wird auch Kants höchstes Gut uns nur als ein Fluchtpunkt unserer moralischen Handlungen offenbar: als ein stets zu erreichendes aber doch ebenso notwendig verfehltes Ziel.
XV. Kants Weg in die Freiheit der Selbstgesetzgebung: Vom Schönen über das Erhabene zur moralischen Welt Die Architektonik im Aufbau der dritten Kritik ist so angelegt, dass in ihr sukzessive der Weg der Befreiung unseres Willens von der Abhängigkeit durch die gegebene Erscheinungswelt greifbar werden kann. Sollte das Geschmacksurteil des Schönen noch von der Sinnessphäre bestimmt sein, indem diese der frei spielenden Einbildungskraft das Material zuweist, so sind wir bezogen auf das Erhabene in eine eigentümliche Schwebe gebracht: Das Missvergnügen an den erhabenen Gegenständen setzt uns in eine Spannung zur Sphäre des Sinnlichen und macht damit den Weg für eine größere Übereinstimmung mit unserer frei setzenden moralischen Vernunft frei; diese bleibt abhängig gebunden, wenn auch in negativer Gestalt. Erst die mit dem Endzweck der teleologischen Urteilskraft gesetzte freie moralische Welt weiß sich unabhängig von aller Heteronomie der Zwecke in der gegebenen Sinneswelt und vermag eine solche aus freiem Willen und in freier Selbstgesetzgebung selbst zu gestalten. Aus der möglichen Anerkennung der Besonderheit einer Sache 135 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
oder einer Person im ästhetischen Urteil wird schließlich die Anerkennung aller freien Wesen als selbstbestimmter Subjekte ihrer moralischen Handlungen. Und so wie bereits das Ethos der ästhetischen Betrachtung auf einem kontemplativen Verhältnis zur gegebenen Erscheinungswelt beruhte, so wird in der Selbstrelativierung der individuellen Zwecke in der moralischen Welt eine größtmögliche Freiheit gegenüber der Sinnenwelt erreicht. Kant sucht somit in seiner dritten Kritik ein Weltverhältnis zu begründen, das theoretischer und praktischer Natur zugleich genannt werden kann – beide erscheinen je wechselseitig integriert und verzahnt, indem bereits unsere ästhetische Annäherungen an die gegebene Erscheinungswelt ein Ethos zur Voraussetzung hat, durch das uns die Dinge nicht bloß mögliche Gegenstände der Verobjektivierung und Veräußerlichung sind, sondern durch das wir diese in uns aufnehmen und sie in der ihnen eigenen Besonderheit zur Erscheinung bringen. In der Nähe zu den Phänomenen wird darum bereits jene sittliche Haltung erprobt, durch die wir die Anderen nicht bloß eigenen Zwecken unterwerfen, sondern diese auch in ihrer Besonderheit zur Geltung bringen können. Darum ist jenes Ethos theoretischer, kontemplativer und praktischer Natur ineins: Kann uns doch nur durch die Haltung bewusster Selbstzurücknahme und Selbstrelativierung die Besonderheit einer Sache in der ihr eigenen Bedeutung erscheinen.
XVI. Die ästhetische Urteilskraft als ein Tun-Lassen Kant analysiert somit in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft zunächst diejenige Bedingung, durch die wir von der Besonderheit eines Gegenstandes angesprochen sind: der Gegenstand wird nicht – als bloßes Mittel für den Genuss – zum Mittel unserer angenehmen Empfindung oder unserer moralischen Beurteilung, sondern er soll frei in der ihm eigenen Dynamik in Erscheinung treten können. Dabei hat er auf dieser Ebene jenes unbegreifliche Vermögen vor Augen, durch das wir in der Lage sind, den Gegenstand in der Fülle und Weite seiner Erscheinung auf uns wirken zu lassen: es ist dies ein Tun-Lassen: durch das gegebene sinnliche Objekt wird unsere Wahrnehmung möglich – wir lassen uns von den Sinnesdaten bestimmen, die wir in unserer frei spielenden Einbildungskraft seiner Besonderheit gemäß 136 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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– apprehendieren. Nicht darum die Subsumtion unter zuvor gegebene Begriffe ist hier das Ziel, sondern das Zur-Geltung-Bringen der Besonderheit dessen, wodurch wir in einer sinnlichen Erfahrung selbst angesprochen sind. Jener Akt des Tun-Lassens, der durch unsere Einbildungskraft möglich wird, gilt Kant zugleich als Indikator für unsere prinzipielle Übereinstimmung mit der Welt der gegebenen Erscheinungen: als Indiz für die Tatsache, dass wir als sinnlich perzipierende Wesen auch in diese Welt passen. Wie eine Propädeutik zu unserem freien moralischen Handeln ist jenes freie Spiel unserer Einbildungskraft angelegt. Im Bilde des freien Spiels unserer Einbildungskraft können wir unsere freien moralischen Handlungen als einen Versuch begreifen, das Andere oder den Anderen in seiner Andersheit in Erfahrung zu bringen, ihn in seiner Besonderheit in uns aufzunehmen, ohne ihn an einem äußeren Maß zu bemessen. Und nur darum gilt Kant das Schöne zugleich als Symbol des Sittlich-Guten, als es jenes freie Achtungsverhältnis antizipiert, das wir in unserem moralisch verbindlichen Tun in ähnlicher Weise in Anschlag bringen. Betrachten wir nun jene innere Verzahnung des theoretischen und praktischen Weltverhältnisses, indem wir in den verschiedenen Stadien der Entwicklung der Urteilskraft diese kombiniert theoretisch-praktische Welt- und Selbstbeziehung zur Sprache bringen:
XVII. Von der ästhetischen Kontemplation zur freien moralischen Selbstgesetzgebung Wie nun sollen die transzendentalen Prinzipien der Urteilskraft uns jenen Weg weisen von unserem kontemplativen ästhetischen Weltzug zu jener freien Selbstgesetzgebung, durch die wir eine Welt unter moralischen Gesetzen schaffen? In beiden Fällen spielt die Einbettung der Urteilskraft in die gegebenen Welt der sinnlichen Erscheinungen bzw. in die Welt der natürlichen Kausalitäten die entscheidende Rolle: Weder ist der kontemplative Weltbezug in der ästhetischen Urteilskraft ohne die gegebenen sinnlichen Phänomene begreiflich, noch ist die frei setzende Vernunft unabhängig von der natürlichen und sittlichen Welt zur Sprache gebracht: In beiden Fällen ist die Vernunft in ihrer Einbettung in eine ästhetische Erfahrung bzw. in eine gegebene Welt Ge137 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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genstand der Reflexion. Von den besonderen Phänomenen der gegeben Welt wie ihrer zweckmäßigen Organisation ausgehend werden beide Grundhaltungen als die Eckpfeiler der »Kritik der Urteilskraft« thematisch. Dabei entwickelt Kant die gegebene und zu gestaltende Zweckordnung im Begriff von einem Seinsganzen, das seinen letzten Bestimmungsgrund aus einer intelligiblen Quelle gewinnt: Um der Vernünftigkeit unserer moralischen Ordnung willen kann das Seinsganze nicht bloß natürlicher Herkunft sein. So kehrt sich nun im Endzweck der gesamten Seins- und Sollensordnung das Abhängigkeitsverhältnis beider Sphären, der natürlichen und der intelligiblen Kausalitäten, um: von jener abhängigen Bestimmung durch die Welt der gegebenen Phänomene – sei es nun in theoretisch bestimmender oder ästhetisch-kontemplativer Weise, wird sukzessive der Weg in eine durch Freiheit mögliche Welt gesucht; die sich am Ende dann als das insgeheime Telos der gesamten Weltordnung erweisen soll. Kants Weltbegriff wird darum in dieser Betrachtung ähnlich den Interpretationen des nachkantischen Idealismus von Fichte bis Hegel – teleologisch ausgelegt: Selbst jenes vorbehaltliche Als-Ob, das allein der Übereinstimmung der Vernunft mit sich selbst dient, mag hier nicht als Einwand gelten: denn auch für die teleologische Urteilskraft gilt, analog zur bestimmenden Vernunft in der theoretischen Philosophie, daß wir einen widerspruchsfreien Begriff der Vernunft mit sich nur erreichen, wenn wir die Gegenstände wie das Seinsganze in einer zweifachen Perspektive als Noumena und als Phänomena begreifen: Auf der Ebene der Dinge an sich wird es dann gleichwohl möglich sein, die Gegenstände so zu betrachten, als seien sie nur aus Zwecken, d. h. aus intelligiblen Bestimmungsgründen möglich. Zwecke sind intelligible Kausalitäten; Gegenstände aber können, so Kant, nicht in ein und derselben Hinsicht als kausal determiniert oder als aus Ideen entsprungen vorgestellt werden. So gilt auch bezogen auf die dritte Kritik wie bereits bezogen auf die Prinzipien der ersten Kritik, dass wir die Übereinstimmung der Vernunft mit sich nicht gefährden, wenn wir die Dinge in einer zweifachen Hinsicht zu betrachten vermögen: Wenn wir sie in der Sphäre des Noumenalen als aus Ideen entsprungen uns vorstellen; bezogen auf die Phänomenale Welt aber unserer Erkenntnisoperationen auf die raum-zeitlich gegebene Sinnenwelt restringieren. So wie Kant darum im Horizont der kopernikanischen Wende 138 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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der Erkenntnistheorie unsere epistemischen Operationen aus einer spontanursächlichen Quelle freier Objektbestimmung begreiflich zu machen sucht, so wird auch die moralische Welt aus freier Selbstgesetzgebung möglich, – wodurch die gegebene Welt dann auf eine intelligible Kausalität zurückgeführt werden kann. Und darum kann Kant auch zu recht sagen: Aber diese systematische Einheit der Zwecke in dieser Welt der Intelligenzen, welche, obzwar, als bloße Natur, nur Sinnenwelt, als ein System der Freiheit aber intelligibele, d. i. moralische Welt (regnum gratiae) genannt werden kann, führet unausbleiblich auch auf die zweckmäßige Einheit aller Dinge, die dieses große Ganze ausmachen, nach allgemeinen Naturgesetzen, so wie die erstere nach allgemeinen und notwendigen Sittengesetzen, und vereinigt die praktische Vernunft mit der spekulativen. Die Welt muß als aus einer Idee entsprungen vorgestellet werden, wenn sie mit demjenigen Vernunftgebrauch, ohne welchen wir uns selbst der Vernunft unwürdig halten würden, nämlich dem moralischen, als welcher durchaus auf der Idee des höchsten Guts beruht, zusammenstimmen soll. Dadurch bekommt alle Naturforschung eine Richtung nach der Form eines Systems der Zwecke, und wird in ihrer höchsten Ausbreitung Physikotheologie. Diese aber, da sie doch von sittlicher Ordnung, als einer in dem Wesen der Freiheit gegründeten und nicht durch äußere Gebote zufällig gestifteten Einheit, anhob, bringt die Zweckmäßigkeit der Natur auf Gründe, die a priori mit der inneren Möglichkeit der Dinge unzertrennlich verknüpft sein müssen, und dadurch auf eine transzendentale Theologie, die sich das Ideal der höchsten ontologischen Vollkommenheit zu einem Prinzip der systematischen Einheit nimmt, welches nach allgemeinen und notwendigen Naturgesetzen alle Dinge verknüpft, weil sie alle in der absoluten Notwendigkeit eines einigen Urwesens ihren Ursprung haben. 8
So mündet die dritte Kritik in einem ethikotheologischen Beweis für die Existenz Gottes: Die Urteilskraft wird in ihrer reflektierenden Gestalt auf diese Weise zum Ausgang und Anhalt, die Welt freier Selbstgesetzgebung nicht nur normativ zu antizipieren, sondern sie auch schrittweise in der gegebenen, der erscheinenden Welt zu entfalten. Die »Kritik der Urteilskraft« ist darum ein theoretisches und praktisches Werk zugleich; sie reicht die Leiter von der ersten Annäherung an die sinnlich gegebene Welt, in der unser alltägliches Gebrauchswissen ebenso zu Hause ist wie unsere frei spielende Einbildungskraft, und entwickelt sich fort bis zur Idee einer Welt unter moralischen Gesetzen, die sich am Maß des höchsten Guten das Prinzip 8
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ihrer Verwirklichung nimmt. Auf diese Weise komplettiert darum die dritte Kritik das theoretische und praktische Bemühen der beiden ersten Kritiken: Denn Welt-Erkenntnis ohne den Bezug zu einer moralisch zu vollführenden Welt wäre ebenso blind wie die Ebene der Moralität bloß formal bleiben müsste, wenn sie nicht in der je gegebenen Handlungssituationen das zureichende Maß für die Ausführung unserer praktischen Urteilskraft gewinnen könnte.
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5. Die eingebettete Vernunft in Kants »Kritik der Urteilskraft«
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6. Metaphysik der Erfahrung mit oder ohne Kant?
I. Metaphysikkritik durch Erfahrungsbezug? Wir unterstellen zumeist, es sei Kant gewesen, der metaphysische Spekulation durch empiriegestütztes Wissen ersetzt habe, um im Namen des Erfahrungsbezugs unseres Wissens eine letzte große Epoche der Metaphysikkritik, ja selbst gar das nach-metaphysische Zeitalter einzuleiten. 1 Mit Kant, so die Annahme, seien die metaphysischen Fragen zureichend in ihre Grenzen gewiesen, so dass seither philosophisch relevantes Wissen ohne eine Orientierung an den Einzelwissenschaften kaum mehr sinnvoll zu rechtfertigen sei. Warum aber der Titel: Metaphysik der Erfahrung nach Kant? 1. Blicken wir zurück auf die Genesis der Spannung zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik, die uns seit der Antike in drei großen Epochen begegnet. Die erste Schrift, die nicht nur in einem buchtechnischen Sinne, sondern auch der Sache nach den Namen einer Metaphysik verdient, die aristotelische Metaphysik, ist bereits in sich selbst eine Reflexion auf das Spannungsfeld zwischen Metaphysik und Erfahrung. Gegenüber der platonischen Dominanz des Ideensinns vor dem Erfahrungsbezug des Wissens hatte Aristoteles eine Metaphysik der Erfahrung derart einzuklagen versucht, dass die Elementarbegriffe wie Materie und Form, Sein und Wesen, Einheit und Vielheit etc. nur in ihrer Manifestation in einer entelechial bewegten Singularität greibar sein sollten. Ein Etwas als Etwas, so die These, sei demnach durch eines gekennzeichnet, das als Grund aller Prädikate selbst nicht mehr Prädikat eines anderen genannt werden kann, sondern aller Erfahrung zugrunde liege. Das entelechial bewegte Seinsganze sollte Vgl. u. a. M. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik. Frankfurt/M. 1998; ferner: W. Bröcker: Kant über Metaphysik und Erfahrung. Würzburg 1970.
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6. Metaphysik der Erfahrung mit oder ohne Kant?
durch ein Prinzip begreiflich werden können, das in sich unbewegt gleichwohl Grund aller Bewegung genannt werden kann. Gemäß dieser entelechialen Struktur des Einzelnen wie der Ordnung insgesamt sollte das Erfahrungsmannigfaltige das Maß seiner Finalität in der freien Selbstbestimmung des sich denkenden Denkens finden. Im sich selbst Denken des Denkens war das Göttliche Urprinzip als immanent Transzendentes zugleich als ein freies Wesen aufgefasst, das nur ist, weil es sich in Freiheit selbst setzt und in der Sphäre des Nous zugleich selbst auch sieht und begreift. 2 Plotins Metaphysikkritik wird diese begriffliche Vereinnahmung des höchsten Prinzips durch die Sphäre des Nous zurückzuweisen suchen, um die Vernunft erneut gegenüber einem nur exstatisch erlebbaren Augenblick eines überseienden, über-denkenden Göttlichen zu depotenzieren. 3 2. Vier Phasen der Entwicklung des Verhältnisses von Metaphysik und Erfahrung können wir bereits in der Antike unterscheiden: Aus dem emphatischen wie dogmatischen thetisch-antithetischenSetzen möglicher Ursprungsprinzipien oder Sinnstrukturen der vorsokratischen Philosophie wird in Platons kritischer Selbstbescheidung der Vernunft in der zweiten Phase eine Annäherung, durch die Ruhe und Bewegung, Identität und Differenz allein als Einheit in der Differenz zu begreifen sind, 4 um dabei jedoch – vernunftkritisch – zugleich jenseits von Differenz und Mannigfaltigkeit einen Ort denkbar zu machen, der als Vergleichs- und Unterscheidungsgrund nichts von alle dem sein kann, was aus ihm begreiflich zu machen ist und der sich darum allein einem intuitiv synoptischen Zugang, d. h. dem Erleben erschließt. 5 Platons Idee des Guten oder Einen, als ›Epekeina tes ousias‹ aufgefasst, wird darum der Sphäre des Übersinnlichen gegenüber der sinnlichen Mannigfaltigkeit der raum-zeitlichen Phänomene ontologische und epistemische Priorität einräumen, einer Sphäre, die Aristoteles in einem dritten Schritt erneut in die Selbstbewegung des sich sehenden Geistes zurückzubannen sucht: Aristoteles Synthese von Vernunft und Erfahrung kann darum als ein Versuch aufgefasst werden, im Begriffe über den Begriff hinaus zu gehen, um in ihm als
Aristoteles: Metaphysik, 1069 a ff. Vgl. u. a. Plotin: Enneade, VI, 9. In: H.-R. Schwyzer (Hrsg.): Plotini opera. Desclée de Brouwer, Paris 1951–1973 (kritische Standardausgabe), Band 3: Enneas VI. Paris 1973. 4 Vgl. Platon: Sophistes, 238 e ff. 5 Vgl. Platon: Politeia, 509 b ff. 2 3
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
dem Instrumentarium wissenschaftlicher Seinserhellung, das Sein selbst in der Sphäre des Nous durchsichtig werden zu lassen. 6 Dieser, wie Plotin es sah, aristotelischen Selbstüberhebung der Vernunft, dergemäß das höchste Prinzip als sich selbst denkendes Denken zirkulär an dem teilhaben kann, was durch es allererst ermöglicht werden soll, folgt dann mit Plotin in einer vierten Phase ein metaphysikkritischer Impuls in der Gestalt der Depotenzierung des Vernunftanspruchs zugunsten eines nur mehr dem Erleben zugänglichen höchsten Prinzips. Indem Plotin das überseiende Eine darum mit Platon erneut als unerreichbar für die Vernunft begreift, wird der Erfahrungsbezug des Einen gegenüber den begrifflichen Möglichkeiten einer Prinzipiendiskussion bekräftigt. 3. Zu Beginn der Neuzeit wird sich eine solche Genealogie vierer aufeinander folgender Schritte von Metaphysik und Metaphysikkritik im spannungsvollen Verhältnis zwischen Vernunft und Erfahrung wiederholen: Es ist Kant, der der thetisch-antithetischen Gestalt in der Beschreibung des Verhältnisses von Vernunft und Erfahrung in einer ersten Phase metaphysischer Setzungen, in einer kritischen Perspektive ein Modell entgegenhalten wird, in dem nicht allein Metaphysikkritik durch Erfahrungsbezug, sondern eine metaphysische Grenzbestimmung von Vernunft und Erfahrung im Sinne der Erneuerung der Metaphysik leitend ist. Kants kritische Grenzziehung unserer epistemischen Vermögen wird in Hegels Philosophie – vergleichbar der Aristotelischen dritten Phase der Kritik an Platons Grenzbestimmung – erneut eine Wissenschaftsorientierung nach sich ziehen, die Kants eingeklagten Erfahrungsbezug unseres Wissens in die Richtung eines spekulativen Überstiegs über die Schranken der phänomenalen Welt rückgängig zu machen sucht, indem Vernunft und Erfahrung in ihr in synchroner Bewegung als nur mehr zwei Seiten der einen Seinssphäre gelten. Dieser hegelsche Grenzüberschritt in die Richtung einer spekulativen Annäherung an die Seinssphäre wird dann viertens beim späten Schelling und Fichte wie auch in der ihnen folgenden Betonung einer unvordenklichen Seinssphäre eine Depotenzierung erfahren, nach welcher die Vernunft in eine erneute Abhängigkeit zum erfahrungsbezogenen Wissen geraten sollte.
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Vgl. Aristoteles: Metaphysik, Buch XII, 1069 a 30 ff.
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6. Metaphysik der Erfahrung mit oder ohne Kant?
4. Wäre nun dieser Entwicklungsdynamik vierer aufeinander bezogener Schritte nicht noch eine dritte Epoche gefolgt, in der erneut einem emphatischen thetisch-antithetischen Setzen eine kritische Grenzbestimmung der Vernunft wie darauf folgend eine erneute Suche nach Überwindung dieser kritischen Grenzziehung gefolgt sei, die ihrerseits in einem vierten Schritt depotenziert werden sollte, so könnte man diese Entwicklungsdynamik für eine Singularität oder ein kontingentes Phänomen halten: Doch macht sie in ihrer dreifachen epochalen Abfolge innerhalb der europäischen Philosophie deutlich, dass es sich dabei um mögliche Bewegungsrichtungen des menschlichen Geistes handelt, durch die er mal dem Ideen- oder Vernunftbezug, mal dem erfahrungsgebundenen Wissen die Richtung weist. 5. Meine Überlegungen zu diesem Entwicklungsgeschehen bleiben mit einer Analyse der kantischen Problemanlage auf die abendländische Philosophie beschränkt, doch ließe es sich zeigen, wie jene Dynamik von emphatischer Setzung und Entgegensetzung, kritischer Beschränkung, erneutem Überstieg über diese Beschränkung schließlich dem radikalen Sturz in eine Sphäre der Depotenzierung der Vernunft zugunsten des erfahrungsbezogenen Wissens auch in den verschiedenen nicht-europäischen Philosophien traditionsbildend geworden ist. 7 In der dritten Epoche, der Gegenwartsphilosophie, lässt sich diese vierfache Schrittfolge knapp wie folgt skizzieren: der im Neukantianismus versuchten Wissenschaftsorientierung sehen wir zunächst – antithetisch – Naturalismus, Vitalismus oder Lebensphilosophie (in der Folge Nietzsches und Bergsons) entgegentreten, um im zweiten Schritt, der Phase kritischer Grenzziehung, mit Husserls eidetischer Reduktion und Wittgensteins Sprachkritik in eine neue Phase kritischer Selbstbesinnung überzugehen; drittens wird die Überwindung des sprach- und erkenntniskritischen Impulses durch eine erneute emphatische Seinsorientierung im Sinne von Martin Heidegger versucht, um schließlich in einer vierten Phase erneut in einer Depotenzierung der Vernunft zu münden, durch die ins Sein hinausgreifenden Vernunftansprüche zugunsten von Orten jenseits der Gegensätze – sei es in Derridas Différance oder Levinas Idee der radikalisierten Alterität oder aber metaphysikkritisch durch den Erfahrungsbezug des empirischen Wissens zurückgewiesen werden. – Greifen wir die Spannungslage zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik nun an dem Orte auf, an dem wir zurzeit stehen, so scheint es, als sei bereits – von den Rändern unseres Kulturraumes aus – eine neue Runde eröffnet: Insbesondere in den nicht-europäischen Philosophien wird eine Rückbesinnung auf solche Fragen erneut eingeklagt, die, so Kant, mit der menschlichen Vernunft schicksalhaft verbunden sind und darum einer ernsthaften Analyse bedürfen, und es zeigt sich insbesondere in den neueren Modellen chinesischer oder japanischer Philosophie, dass uns hier – wie in den ersten
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Indem die europäische Philosophie somit bereits dreifach einer solchen Entwicklungsdynamik gefolgt ist, in deren Mitte sowohl dogmatische Setzungen als auch kritische Grenzbestimmungen, wenn auch aus je unterschiedlichen Problemlagen heraus erfolgt sind, könnte sie der Herausforderung einer kritischen Analyse und Begrenzung der beiden polaren Positionen – der prozessontologischen wie auch der seinsspekulativen Annäherung an das Verhältnis von Metaphysik und Erfahrung – in den verschiedenen nicht-europäischen Philosophien – im weltweit erweiterten Maß nun erproben und zur Geltung bringen. Ihre derzeitig dominante Tendenz zu einem wissenschaftsorientierten Erfahrungsbezug oder aber ihr Verharren in metaphysikfeindlicher Depotenzierung ist fern von einem Neubeginn, der spezifisch philosophische Züge tragen könnte. Erfahrungsbezug nach Kant und Metaphysikkritik bekräftigen sich vielmehr wechselseitig in der Überwindung der großen Themen der Metaphysik.
II. Eine Rückbesinnung auf Kant bezogen auf die Analyse des Zusammenhangs von Metaphysik und Erfahrung bringt nun ein Modell zur Sprache, für das die metaphysischen Fragen mit der menschlichen Vernunft noch unweigerlich verbunden sind 8 und dem darum nicht Überwindung durch Sprachkritik, sondern Erneuerung der Metaphysik durch Grenzbestimmung der Vernunft am Herzen lag. Indem Kants Analyse des Verhältnisses von Metaphysik und Erfahrung darum ihren systematischen Ort im Gravitationsfeld von Metaphysik und Metaphysikkritik findet, – seine Metaphysik der Erfahrung ist Baustein einer neuen Metaphysik wie auch eine Kritik an erfahrungsfreier Metaphysik gleichermaßen, – so soll mit Kant nach Phasen der genannten Epochen – in thetisch-antithetischer Gestalt die alten Gegensätze zwischen Ruhe und Bewegung, Identität und Differenz in Prozess- und Seinsorientierungen als zwei polar entgegengesetzte Positionen – etwa im taoistisch inspirierten Modell von Lik Kuen Tong oder dem zugleich konfuzianisch orientierten Modell von Guo Yi entgegentreten. Und so könnte es scheinen, dass wir nun in erweitertem Weltmaßstab wiederum vor der Aufgabe der kritischen Sichtung und Grenzbestimmung der mit diesen Gegensätzen verbundenen Vereinseitigungen stehen. 8 Kant: KrV, A VII.
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6. Metaphysik der Erfahrung mit oder ohne Kant?
den metaphysischen Implikationen der Erfahrung selbst wie der Unhintergehbarkeit der Metaphysik bereits auf dem Felde der Erfahrung gefragt werden. Diese Annäherung widerspricht der Annahme eines antithetischen Verhältnisses zwischen Metaphysik und Erfahrung, wie sie für die Rezeption nicht nur von Kants Philosophie, sondern vor allem für die auf ihn folgenden erfahrungsbezogenen Formen der Philosophie leitend ist: vielmehr, so die These, bilden beide Seiten im Sinne Kants wie auch der ihm folgenden Entwicklung wissenschaftsorientierter Philosophie irreduzible komplementäre Pole auf einer jeden Stufe der Annäherung an unser Selbst- und Weltverhältnis: Wie nun soll die Rede von Kants Metaphysik der Erfahrung zu verstehen sein? 1. Werfen wir einen Blick auf Kants Begriff der Erfahrung. Indem Kant die Grundlegung seiner Metaphysikkritik an eine Grenzbestimmung unserer Erfahrungserkenntnis bindet, wird zunächst diejenige Sphäre zu analysieren sein, die mit den Erfahrungsbezug unseres Wissens direkt befasst ist; hier gilt das Augenmerk zunächst der Idee der Gegenständlichkeit in Raum und Zeit; diese ist in einem erfahrungsbezogenen Sinne zum Brennspiegel der Kritik an möglichen Objektivitätsansprüchen unserer Erfahrungserkenntnis in den verschiedensten Strömungen und Traditionen der Gegenwartsphilosophie geworden: Nicht nur Martin Heideggers Kritik am präsentischen Vorurteil der abendländischen Metaphysik beruht auf einer Analyse von Gegenständlichkeit, von Objektivität, – auch die quantenphysikalische Auflösung beharrlicher Entitäten wie auch – im Lichte von Sellars Kritik am ›Mythos des Gegebene‹ – die non-essentialistische Wende neuerer Erkenntnistheorie bis in die poststrukturale Kritik an der Idee an sich bestimmter Entitäten zugunsten eines nur mehr negativ-differentiellen Charakters des sprachlichen Zeichens, gründen im kritischen Abweis möglicher Objektivitätsannahmen. Ferner, und dies ist für unsere Themenstellung von noch größerer Bedeutung, lässt es sich zeigen, dass selbst gar der Versuch, sich von metaphysischen Fragen durch logische Analyse der Sprache oder durch eine Orientierung an den empirischen Wissenschaften möglichst weit entfernt zu halten, zutiefst in den Spuren metaphysischer Prämissen wandelt. 2. In zwei Stufen wollen wir uns diesem metaphysischen Fundament in Kants Theorie der Erfahrung nähern: 149 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
Dabei wird es sich zeigen, dass der Bezug auf seine Idee von Objektivität, auf die Idee eines Etwas als Etwas, d. h. auf den Begriff eines erfahrbaren singulären Gegenstandes in Raum und Zeit, bereits eine weitere Erfahrungsdimension mit sich führt, die als reine Erfahrung von der empirischen zu unterscheiden ist und ihr gegenüber, da sie jene struktuiert, prioritär und auch der Sache nach ein Erstes genannt werden kann. Blicken wir nun näher auf die Konstitutionsleistungen des erfahrungsbezogenen Bewusstseins und gehen zunächst mit Kant davon aus, dass uns Gegenstände in Raum und Zeit zwar gegeben sind, sie als bloß Gegebene aber noch nicht Gegenstände für uns genannt werden können, da von Gegenstand zu sprechen Aktivität voraussetzt; Akte, die selbst gar, wie Kant in § 98 der A-Deduktion der KrV verdeutlicht, den Verstand allererst möglich machen: 9 Was aber, so werden wir fragen, sollte jene Tätigkeit sein, die selbst gar den Verstand allererst möglich macht, indem sie das gegebene Material der Anschauung solchen Funktionen unterwirft, die wir objektkonstitutive Funktionen des Bewusstseins nennen können? 3. Nun macht die Analyse der objekt-konstituierenden Funktionen des Bewusstseins nicht allein eine Wende des Blicks zurück auf die subjektiven Bedingungen jener Objektkonstitution erforderlich, als Analyse der Formbedingungen des erfahrungsgebundenen Wissens bringt sie zugleich – und dies ist die These der folgenden Analyse, – die metaphysischen Implikate dieser Konstitutionsleistungen zu Bewusstsein. Dabei ist der Titel ›Objektkonstitution‹ im Sinne Kants erläuterungsbedürftig: um welche Art von Objekt handelt es sich, wenn denn subjektive Leistungen vorausgesetzt sein sollen, die ihrerseits nicht substituierbar sind, wenn überhaupt nur von einem Gegenstande der Erfahrung die Rede ist? Was, so lautet darum die Frage, ist unter Erfahrung zu verstehen, wenn angenommen werden muss, dass die subjektiven Leistungen für unseren Objektbegriff irreduzibel sind? Sind Objekte bloß Objekte für ein erkennendes Bewusstsein, mithin also relativ zu unserer anschauenden, wahrnehmenden und erkennenden Tätigkeit? In Vgl. KrV, A 97 f.: »Diese (die Apprehension, die Reproduktion und die Recognition im Begriffe, C. B.) geben nun eine Leitung auf drei subjektive Erkenntnisquellen, welche selbst den Verstand und, durch diesen, alle Erfahrung, als ein empirisches project des Verstandes möglich machen.«
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welchem Sinne ist es dann erlaubt, von Objekt überhaupt zu sprechen? 4. Wenn etwa Wolfgang Carl in seiner Kritik an Quine und an Nagel das schwierige Zusammenspiel beider Sphären zueinander betont, da weder ein Parallelismus von subjektiver und objektiver Sphäre im Sinne Quines – noch die Idee einer sukzessiven Substitution des bloß Subjektiven durch das Objektive im Sinne Nagels ihr Verhältnis einsichtig mache – so fragt es sich, ob Wolfgang Carls eigene Rede vom Zusammenspiel zweier getrennter Sphären unseren Bezug zu einem Gegenstand der Erfahrung überhaupt begreiflich machen kann. 10 »Indem Kant das Subjektive als apriorische Bedingung des Objektiven denkt, kann nur ein Zusammenspiel zwischen beiden die Möglichkeit unserer Repräsentation der Welt so, wie sie unabhängig von uns ist, verständlich machen.« 11 Handelt es sich, so wird zu fragen sein, um das Zusammenspiel zweier Ebenen und ferner: Können wir ihren Zusammenhang im Sinne einer repräsentationalen Beziehung deuten? Wir werden sehen, dass die Rede vom Zusammenspiel der beiden Sphären das Spezifische der kantischen Lösung unbegreiflich lässt, da es im Sinne Kants verfehlt wäre, von einer Korrelation zwischen den zwei an sich bestimmbaren Sphären sprechen. Nicht von einer Repräsentation des Objektiven durch die Dimension des Subjektiven kann im Sinne Kants gesprochen werden, – denn Korrelation setzte die Kenntnis zweier voneinander unabhängiger Seiten voraus; – vielmehr ist Objektivität eines erfahrbaren Gegenstandes im Sinne Kants eine Funktion der Bewusstseinsleistungen des erkennenden Subjekts, – Objektivität mithin allein durch seine Funktionen verbürgt derart, so dass Kant sagen kann: Die subjektiven Funktionen der Erfahrungserkenntnis sind ebenso viele Bedingungen möglicher Gegenstände der Erfahrung. Daher zeigt sich hier [auf der Ebene der Verstandeserkenntnis; C. B.] die Schwierigkeit, die wir im Felde der Sinnlichkeit nicht antrafen, wie nämlich subjektive Bedingungen des Denkens sollten objektive Gültigkeit haben, d. i. Bedingungen der Möglichkeit aller Erkenntnis der Gegenstände abge-
Vgl. W. Carl: »Das Subjektive als Bedingung des Objektiven«, in: J. Stolzenberg: Kant in der Gegenwart. Berlin/New York 2007, 128. 11 Ebd. 10
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
ben: denn ohne Funktionen des Verstandes können allerdings Erscheinungen in der Anschauung gegeben werden (…). 12
So gestellt, weist die kantische Frage darauf hin, dass nicht zwischen zwei zuvor getrennten Ebenen nach einer Vermittlung gesucht werden soll, sondern es vielmehr zu erklären gilt, warum und wie die subjektiven Bedingungen des Denkens zugleich objektiv genannt werden können. Eine Antwort auf diese Frage setzt einen Einblick in den Charakter der Rede von Objektivität voraus: Wenn Objektivität als von der subjektiven Tätigkeit untrennbar vorgestellt wird, – die subjektive Ebene unter genau bestimmbaren Bedingungen selbst objektiven Charakter haben soll, so wird das Objekt – als ein Gedankengegenstand oder ein Gedankending – dennoch zugleich so aufgefasst werden müssen, dass es nicht auf bloß subjektiver Konstruktion beruht. Wie ist dies zu verstehen? Gefragt wird nach den objektivitätskonstituierenden Funktionen des Bewusstseins und nicht: wie können wir die Objektivität einer Sache erkennen. Diese Frage würde eine transzendentalphilosophische Annäherung verfehlen, denn gefragt wird, wodurch wird unser Bewusstsein selbst unter die Form des Objektiven gebracht, derart, dass seine Funktionen an sich selbst den Charakter haben, objektiv zu sein. 5. Am Beispiel der ersten Stufe der Annäherung an einen erfahrbaren Gegenstand in Raum und Zeit, der Stufe der Anschauung, bedeutet dies für Kant, dass selbst Anschauung bereits unter solchen Formbedingungen stehen muss, die mit der Anschauung und nicht bloß in ihr gegeben sind. Wären sie bloß in ihr gegeben, so wären sie das Resultat verallgemeinernder Abstraktion, mithin also abhängig von kontingenter raum-zeitlicher Erfahrung. Im Sinne Kants verhält es sich aber gerade umgekehrt so, dass die formalen Bedingungen der Anschauung a priori in diese eingelagert sein müssen, wenn überhaupt nur wir uns die apriorische Konstruktion räumlicher Gebilde oder die Zahlenreihe der Arithmetik begreiflich machen wollen. 13 So sei es allein kraft ihres – notwendigen und allgemeinen – d. h. apriorischen Charakters, dass wir verstehen können, 1. wodurch die Wahrnehmung eines Etwas als von unserem Orte im Raum verschieden 12 13
KrV, A 90/B 122. Ebd., A 24/B 38.
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genannt werden kann 14 und 2. wodurch wir zugleich in der Lage sind, a priori synthetische Konstruktionen – seien sie im Nacheinander der Zeit oder im Nebeneinander geometrischer Räume – zu zeugen; mithin also die Objektivität des bloß Subjektiven möglich zu machen. Bezugsgrößen für den Erweis dieser These sind die reinen Anschauungen der Arithmetik und der Geometrie: Philosophische Analyse, so die Überlegung, muss die Möglichkeit synthetisch-apriorischer Konstruktionen begreiflich machen können, d. h. die Möglichkeit eines Verstandes, welcher in seinen Konstruktionen apriori solchen Regeln folgt, die nicht erst in einer empirischen Erfahrung gewonnen sein können, sondern welche empirische Erfahrung allererst möglich machen; darum auch müssen die Regeln solcher Konstruktionen notwendig und allgemein sein, wenn sie synthetische Akte, die auf apriorischen Konstruktionen beruhen, begreiflich machen sollen. 15 6. Was jedoch bedeutet die Annahme sog. ›reiner Anschauungen‹ für die Anschauung eines Gegenstandes in einer empirischen Erfahrung, welcher nicht das Produkt apriorischer Konstruktion, sondern ein kontingent Gegebenes in Raum und Zeit genannt werden kann? Es bedeutet, dass wir selbst unserem erfahrungsgebundenen Wissen all diejenigen Formbedingungen zugrunde legen müssen, die den apriorischen Konstruktionen der reinen Anschauung Objektivität verleihen können: um die apriorischen Bedingungen möglicher Erfahrungserkenntnis zu ermitteln, ist vom Erfahrungsmannigfaltigen darum all das zu abstrahieren, was bloß in einer sinnlichen Erfahrung dem Erleben gegeben ist; denn nichts, das in einer empirischen Erfahrung gegeben ist, kann Garant möglicher Objektivität genannt werden. 16 Was nun aber, so Kant, erlaubt es uns dennoch, den bloß subjektiven Erfahrungen gleichwohl Objektivität zuzusprechen? 17 Alles, so die Überlegung, die Materie des Gegenstandes wie auch seine besondere Form und Gestalt, ist, weil kontingenten raum-zeitlichen Verhältnissen geschuldet, abstrahierbar; nicht aber kann davon abstrahiert werden, dass uns der Gegenstand in irgendeiner Weise im 14 15 16 17
Ebd. Vgl. § 19 der B-Deduktion (KrV, B 140 ff.). Vgl. KrV, B IX, A 43/B 51, A 53/ B 78. Ebd., A 22/ B 36.
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
Raume und in der Zeit gegeben sein muss. Ferner können auch die formalen Bedingungen raumzeitlicher Wahrnehmung selbst der Erfahrung nicht entstammen; ist es doch allein kraft ihrer, dass uns etwas im Nacheinander der Zeit wie im Nebeneinander des Raumes überhaupt als ein Etwas erscheinen kann. 7. Im Kapitel über die erste der drei synthetischen Handlungen, die selbst gar den Verstand möglich machen 18, erläutert Kant das notwendige Ineins von Raum- und Zeit-Erfahrung ex negativo wie folgt: denn als in einem Augenblicke enthalten, könnte das Gegebene nichts anderes als ein bloßer Jetztpunkt sein – es wäre mithin nicht Wahrnehmung von Etwas, wenn denn ein Etwas als Einheit mannigfaltiger Eigenschaften aufgefasst werden soll. 19 Die Wahrnehmung von Etwas als Etwas setzt darum bereits synthetisierende Operationen voraus; Aktivität ist darum erforderlich, wenn von der Wahrnehmung eines Gegenstandes in einer Erfahrung die Rede ist. Ist der Gegenstand somit ein Produkt von Zeugung – zeugen wir Gegebenes? Wie, so lautet die Frage, soll das Zeugnis subjektiver Verknüpfungsleistung gleichwohl objektiv genannt werden können; wie beschaffen müssen unsere Synthesisakte sein, wenn Objektivität durch sie erreicht werden soll? Soll subjektiv Apprehendiertes Objektwahrnehmung möglich machen, so wird neben dem apriorischen Außer- und Nacheinander, durch das allein raum-zeitliche Erfahrung möglich ist, eine regelgeleitete Aktivität erforderlich sein, die es erlaubt, bloß subjektive Funktionen gleichwohl objektiv zu nennen. Zu analysieren ist darum, in welcher Weise durch den Akt der Wahrnehmung ein Etwas Gegenstand einer sinnlichen Erfahrung werden kann. Ist von einem Etwas die Rede, so ist auf der Ebene der Anschauung ein Mannigfaltiges vorausgesetzt, das als Einheit zunächst apprehendiert werden muss, da ein Etwas als Einheit des Mannigfaltigen zugleich in sich differente Einheit ist. 20 Um nun zu begreifen, wie jenes Mannigfaltige, das wir gleichwohl Eines nennen, als diese Einheit wahrgenommen werden kann, werden wir neben der in der Empfindung gegebenen Materie darum auch Verknüpfungs18 19 20
Ebd., A 98. Ebd., A 99. Ebd.
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6. Metaphysik der Erfahrung mit oder ohne Kant?
leistungen voraussetzen müssen, die das gegebene Mannigfaltige zu einem Ganzen aus Teilen werden lässt. 8. Neben dem Akte der Identifikation ist somit Unterscheidung im Spiel: Das Etwas ist in sich differenzierte Einheit mannigfaltiger Erscheinungen, mithin also ein Ganzes aus Teilen. Ganzheit und Teile sind aber nicht Kategorien, unter denen selbst gar unsere Anschauung stünde, sondern es sind dies Vorstellungen, denen gemäß wir ein außer- und nebeneinander im Raume Gegebenes als Einheit apprehendieren. Es als eine Ganzheit aus Teilen zu apprehendieren setzt darum nicht nur die Assoziabilität der Teile, sondern auch ihre Affinität, näherhin die transzendentale Idee der zweckmäßigen Übereinstimmung der Teile in einem Ganzen voraus. 9. Wie aber kann das gegebene Mannigfaltige zu möglichen Einheiten synthetisiert werden? Wenn wir davon ausgehen müssen, dass nicht ein jedes subjektiv Reproduzierte auch Reproduktion eines raum-zeitlichen Objekts in der ihm eigentümlichen Beschaffenheit genannt werden, so müssen wir die subjektive Reproduktion von der objektiven Reproduktion des Mannigfaltigen unterscheiden können. Was aber kann diesen Unterschied begreiflich machen? Wenn selbst der Wahrnehmung eines Etwas Synthesisfunktionen vorausgesetzt sind, so müssen wir die Synthesisakte, die die Wahrnehmung möglich machen, von den zu Urteilen verknüpften Vorstellungen, der Synthesis der Synthesen, unterscheiden. Denn selbst unsere Wahrnehmung steht unter Regeln. Somit wird das Verhältnis von Wahrnehmung und Urteil bezogen auf den jeweiligen Regelgebrauch näher zu klären sein: In welchem Verhältnis stehen die Regeln der Synthesisfunktionen, welche die Wahrnehmung von Gegenständen möglich machen, zu denjenigen Regeln, durch die diese Vorstellungen in der Gestalt »x ist ein p« expliziert werden? 10. Bereits auf der Ebene der Wahrnehmung, so Kant in der ersten Synthesis der Apprehension, müssen wir davon ausgehen, dass Vorstellungen von Gegenständen ein Zusammengesetztes sind, ein Produkt solcher Funktionen des Gemüts, durch die es eine verstreute Mannigfaltigkeit gegebener Daten aufnimmt, um sie zu einem Etwas zusammenzunehmen, zu apprehendieren; dies nun setzt zugleich voraus, dass das Gemüt die Zeit hatte, die Momente des Gegebenen zu durchlaufen und sie im Durchlaufen auch zu reproduzieren. 21 Indem nun das je Reproduzierte als dasjenige auf gefasst wird, was mit dem 21
Ebd., A 100.
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
vorherigen auch identisch sein muss, wenn es als Teil eines reproduzierten Ganzen zu Bewusstsein gebracht werden soll; so wird zugleich deutlich, dass der Reproduktion des Mannigfaltigen bereits Recognition voraussetzt ist, durch die im Bewusstsein das Mannigfaltige ineinsgebildet wird. 22 Recognition im Begriffe nennt Kant darum – auf dem Wege zu den Urteilsfunktionen, die dritte, die eigentliche ›Synthesis der Synthesen‹ innerhalb der drei Synthesisfunktionen, welche selbst gar die Wahrnehmung eines Etwas und schließlich auch den Begriff von einem Etwas als Etwas allererst möglich machen. Diese drei Schritte sind im Blick auf Kants Theorie der Erfahrung diejenigen Formbedingungen des Verstandes, die es machen, dass das Reproduzierte auch als Objekt einer möglichen Erfahrung aufgefasst und wahrgenommen werden kann. Es muss somit, so Kant, dasjenige, was wir objektiv nennen wollen, nach Regeln apprehendiert, reproduziert und auch recogniziert worden sein; – Regeln, die a priori mit unserer Erfahrung und nicht erst in ihr gegeben sind, – ist doch allein kraft jener formalen Bedingungen unseres synthetisierenden Verstandes eine Verobjektivierung des Subjektiven möglich. Gegenüber dem Sprachtranszendentale, jener Protologik in der Folge Wittgensteins, wird hier somit die Analyse der Objektkonstitution bereits auf einer Ebene aufgenommen, die aller Prädikation zuvor, diejenigen kognitiven Leistungen des Bewusstseins bestimmt, die – wie Kant in A 99 der A-Deduktion ausführt – selbst gar den Verstand, und mithin also all unser Urteilen allererst möglich macht. Erst dann, so die These, kann die Aufeinanderfolge der Synthesissschritte, die in einem Urteil zur Sprache gebracht werden können, ihren Ort haben. Zunächst jedoch werden – gegenüber dem Linguistic turn – diejenigen Akte zu analysieren sein, die selbst den Verstand und damit allererst unser Urteilen möglich machen. 11. Wie aber lassen sich nun die Formbedingungen des Verstandes, die bereits in unserer Wahrnehmung wirksam sind, beschreiben? Analog der Aristotelischen Frage nach den Elementarbedingungen von Gegenständlichkeit analysiert Kant in reflektierender Abstraktion diejenigen apriorischen Bedingungen, unter denen selbst unsere Anschauung bereits stehen muss, wenn aus ihr der Gedanke eines Gegenstandes, eines Etwas als Etwas, werden soll. Das bloß subjektiv Empfundene wie bloß assoziativ Verknüpfte kann dabei so 22
Ebd., A 103.
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6. Metaphysik der Erfahrung mit oder ohne Kant?
wenig an jener Verobjektivierungsleistung beteiligt sein, wie ein Geschmacksurteil oder ein Urteil über etwas Angenehmes oder Schönes. Vielmehr bedarf es zum Verständnis der objektivitätszeugenden Funktion unseres Bewusstseins einer Reproduktion nach Regeln, die Kant näherhin als Formbedingungen des Verstandes, als Kategorien, begreift. Die Kategorien bilden diejenigen Formbedingungen des Bewusstseins, durch die der Verstand dem aufgenommenen und reproduzierten Material diejenige Regel gibt, durch die die synthetisierte Einheit als Einheit in der Vielheit der in ihr synthetisierten Erscheinungen aufgefasst werden kann, dahingehend, dass der nach Regeln erzeugte Gegenstand als Resultat der Synthesis aller für einen Gegenstand zutreffender Eigenschaften oder – auf der Ebene der Wahrnehmung, – der ihn charakterisierenden Momente aufgefasst werden kann. 12. Betrachten wir nun näher die von Kant in seiner Kategorientafel aufgenommenen Formbedingungen des Bewusstseins als ebensolche Bedingungen synthetischer Operationen, 23 so wäre eine Reproduktion nach Regeln denjenigen Regeln unterworfen, die es erlauben, ein Etwas als Etwas im Bewusstsein zu haben, es zu bezeichnen und näher zu bestimmen; dies kann bezogen auf die dabei in Gebrauch genommenen Verstandesformen wie folgt beschrieben werden: a. Gemäß der Kategorie der Quantität wird die Einheit von der Vielheit und Allheit dahingehend unterschieden, dass die Einheit eines nach Regeln erzeugten Gegenstandes das Resultat der Synthesis aller für einen Gegenstand zutreffender Eigenschaften oder – auf der Ebene der Wahrnehmung – der vielen ihn charakterisierenden Momente aufgefasst werden kann. Mit den reinen Formbedingungen des Verstandes, der zwischen Einheit, Vielheit und Allheit – jene Quantitäten zu unterscheiden vermag (als Ausdruck eines apriorischen Vermögens) und welcher uns in die Lage versetzt, auf rein formaler Ebene Quantitäten zu unterscheiden, ist jedoch nicht die Faktizität einer Sache, ihre Realität bereits verbürgt; dass sie ist, ist zwar nicht ein Problem des reinen Verstandes, sondern es ist dasjenige, von dem wir sagen können, dass es rein nur den Sinnen gegeben sein kann; dies aber in unserem Bewusstsein zu haben und es als Bestimmtes zu apprehendieren, setzt eine Leistung unseres Verstandes
23
Ebd., A 80/B 106.
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voraus; ein Etwas als Etwas aufzunehmen bedeutet, die Realität eines Etwas im Bewusstsein zu haben. b. Mit Blick auf die Voraussetzung eines Gegebenen in Raum und Zeit wird darum ferner – und hier greift die zweite, die Qualitätskategorie – sein Dasein vom seinem Nicht-sein unterschieden – nicht als Gegenstand eines Urteils, sondern als Voraussetzung für ein Urteil, insofern der innere Sinn durch ein Gegebenes erfüllt und durch die Formbedingung des Verstandes als Realität oder Negation gedacht werden kann. c. Das Verbinden zweier Vorstellungen nach einer Regel notwendiger synthetischer Verknüpfung ist dann eine Operation, die – mit der begrifflichen Bestimmung notwendig verbunden – unter der Kategorie der Relation vollzogen werden kann. Wann immer und bezogen auf welche Vorstellung auch immer zwei Vorstellungen in einer Ist-Aussage miteinander in eine Beziehung gebracht werden, ist von einer Relation die Rede. Bezogen auf die Suche nach der Objektivität des Gedachten darf es dann, so Kant, nicht beliebig sein, welche der beiden Vorstellungen in der Rolle des Subjekts, welche in der Rolle des Prädikats erscheint; denn es muss durch eine Regel des Bewusstseins verbürgt sein, – d. h. durch das Bewusstsein je schon in Kraft gesetzt sein, dass wir eines als das Zugrundeliegende, das andere aber als das Bestimmende, als dasjenige begreifen, durch welches das zugrunde liegende ein So-oder-so-beschaffenes genannt werden kann. 24 Dies ist die Leistung des Prädikates. Synthetisch werden beide Vorstellungen in der Gestalt einer Ist-Aussage derart verknüpft, dass sie auch als der Sache nach verknüpfte Momente erscheinen können. Wie sollte durch jene regelgeleitete – relationale Verknüpfung der Vorstellungen untereinander Objektivität zu garantieren sein? d. Der Sache nach verknüpft erscheinen die beiden Vorstellungen, so die These, nur, wenn die erste Vorstellung die notwendige Funktion hat, das Zugrundeliegende, mithin also jenes x zu repräsentieren, das als recogniszierte Vorstellung im Urteil expliziert gemacht werden soll und die zweite, die explizierende Vorstellung durch ein Prädikat dasjenige zum Ausdruck bringt, was bereits mit der ersten Vorstellung gegeben, aber noch nicht eigens gedacht und verstanden ist, von jenem Zugrundeliegenden aber ausgesagt werden soll. Dieses Prädikat kann bezogen auf die zu zugrundeliegende Vorstellung einer Sache zugleich nicht beliebig sein, sondern muss als Attribut der zu24
Ebd., B 128.
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6. Metaphysik der Erfahrung mit oder ohne Kant?
grunde liegenden Sache identifiziert werden können, wenn das kopulative Ist im Urteil zum Ausdruck bringen soll, dass das jeweilige Prädikat objektiv mit dem zugrundeliegenden Subjekt übereinstimmen soll. Ist durch die Ist-Aussage doch ein Akt der Identifikation beider Vorstellungen untereinander beansprucht. 25 13. Auch wenn die Zusprache bestimmter Eigenschaften zu einer zugrunde liegenden Sache im einzelnen Falle an die empirischen Vorstellungen in Raum und Zeit gebunden, so dass das Urteil als synthetisches Urteil den kontingenten Faktoren der empirischen Erfahrung verbunden bleibt, so kann das kategorische Urteil – näher betrachtet – zugleich als ein verstecktes analytisches Urteil ausgelegt werden, wenn denn die durch das Prädikat bestimmte Vorstellung bereits vor aller Prädikation in einem jeweiligen Erkenntnisurteil apprehendiert und reproduziert sein muss, wenn sie als ein bestimmendes Prädikat in einem Urteil fungieren soll. 26 Wenn ein Subjektives darum zu recht den Titel der Objektivität tragen soll, so steht es unter Regeln; und es muss unter diesen je schon stehen – und nicht als Resultat möglicher Übereinkunft allererst unter diese gebracht werden, da die Formbedingungen möglicher Gegenständlichkeit, die hier ihre Wirksamkeit entfalten, ansonsten bloße Konventionen von Seinsgedanken zeugenden Wesen wären, welche in Ihrer Übereinkunft bereits in Anspruch nehmen müssten, worüber ein Konsens allererst hergestellt werden soll. Dann aber würde Hegels Kantkritik zutreffend sein, nachdem zirkulär eine Erkenntnis vor aller Erkenntnis nötig wäre, die jedoch ihrerseits nur erkennend sich vollziehen könnte.
III. 1. Mit dem apprehendierten und recognistizierten Etwas hat Kant jedoch erst einen formalen Begriff eines Etwas erreicht. Der Begriff eines Etwas in seiner durchgängigen Bestimmung macht es jedoch erforderlich, auch die materiale Besonderheit des gegebenen Gegenstandes in einer transzendentalen Analyse zu antizipieren. Im Rahmen einer Analyse der erkenntnisleitenden Funktionen ist dabei nur eine transzendentale Ortsbestimmung jenes materialen Prinzips 25 26
Ebd., 128. Ebd., A 69/B 94.
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möglich, durch das ein gegebenes Etwas zugleich als ein durchgängig bestimmtes Einzelnes, als ein Individuelles, erscheinen kann. 27 Ein Individuelles ist zunächst allein durch seine Raum-Zeitstelle identifiziert, deren Dasein durch diese irreduzible Erscheinung in Raum und Zeit verbürgt ist; ein Etwas als ein von allen anderen unterschiedener Gegenstand aber ist erst durch all diejenigen Prädikate bestimmt, die auf es in Anwendung gebracht werden können. Transzendental reflektiert bedeutet dies, dass wir die Menge aller möglichen Prädikate, die überhaupt einem Gegenstande zugesprochen werden können, präsupponieren müssen, wenn denn ein einzelner Gegenstand von allen anderen ausgezeichnet sein soll. Den universellen Prädikationsgrund zu antizipieren, der allein es erlaubt, ein Einzelnes als Einzelnes von allen anderen Einzelnen auch zureichend zu unterscheiden, ist dabei das prädikatenlogische Pendant zur Idee der ›Omniduto realitatis‹, der Idee von einem Seinsganzen, das – als ›idee in individuo‹ in all seinen Teilen durchgängig bestimmt sein muss, sowie es selbst in der durchgängigen Bestimmung seiner Teile auch als ein Ganzes aus wohl bestimmten Teilen erscheinen können muss. 28 Diese Funktionen, so Kant, müssen wir präsupponieren, wenn wir uns überhaupt nur begreiflich machen wollen, wie es denn möglich ist, einen individuellen Gegenstand auch seiner Materie nach von allen anderen möglichen Gegenständen in einer empirischen Erfahrung zu unterscheiden. 2. Nun hat die Analyse den Punkt erreicht, an dem die Annahme regulativer Ideen notwendig geworden ist. Bereits das Verhältnis von Ganzheit und Teil war nicht mehr durch die Kategorien verbürgt, sondern allein nur begreiflich unter Voraussetzung eines transzendentalen Prinzips der zweckmäßigen Zusammenstimmung von Ganzem und Teil. Ideen aber als materiale Einheitsprinzipien und Gründe möglicher systematischer Einheit unter unseren Verstandeserkenntnissen sind im Sinne Kants zugleich die Bewährungsprobe der Metaphysik: Werden sie als materiale Einheitsprinzipien zugleich im Sinne möglicher Objekterkenntnis sog. übersinnlicher Entitäten in Anschlag gebracht, so wird zugleich eine elementare Voraussetzung möglicher Erfahrungserkenntnis außer Kraft gesetzt und wir verwandeln nach der Art einer transzendentalen Subreption verstandes27 28
Ebd., A 567/B 595. Ebd., A 568/B 596.
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leitende regulative Ideen in konstitutive Bestimmungen möglicher übersinnlicher Gegenstände. 3. Die Analyse der Erkenntnisfunktionen erfahrbarer Gegenstände in Raum und Zeit konnte die Funktionalität der Verstandesoperationen bezogen auf das gegebene Sinnesmaterial deutlich werden lassen. Es konnte erhellen, warum jene Formbedingungen auf das raum-zeitlich Gegebene als Operationsbasis verwiesen sind, wenn denn ein Etwas als Etwas auch empirisch gehaltvoll genannt werden soll. Der synthetisierende Verstand wird somit zur Form des Gedachten und vermag es darum, den Begriff von einem möglichen Gegenstand überhaupt hervorzubringen. Dieser formal bestimmte Gegenstand ist das Resultat zweier wechselintegrierter Funktionen unseres Gemütes, durch die die Materie gegeben, der bestimmte und begriffene Gegenstand aber allein gedacht werden kann. 4. Die bisherige Analyse, die Analyse der metaphysischen Implikationen unseres erfahrungsbezogenen Wissens, konnte – noch vor der Erkundung derjenigen Thematik, die im engeren Sinne das Bewährungsfeld metaphysischer Fragen genannt werden kann, zweierlei zeigen: Ein zureichender Begriff von empirischer Erfahrung erhellt solche erkenntnisleitenden Funktionen unseres Bewusstseins, die nicht mehr Gegenstand einer empirischen Erfahrung genannt werden können; als transempirische Bedingungen des Empirischen machen sie Erfahrungserkenntnis vielmehr erst möglich. Kants Metaphysik der Erfahrung tritt darum auch an die Stelle der vormaligen ›metaphysica generalis‹ und kann – als Analyse des metaphysischen Horizontes, in dem selbst unser erfahrungsgebundenes Wissen steht, – in einem zweiten Schritt, auf der Ebene der speziellen Metaphysik, zur Voraussetzung werden, in einem »Experiment der Vernunft mit sich selbst«, diejenigen Möglichkeiten und Grenzen zu erkunden, die eine Metaphysik als Wissenschaft überhaupt möglich macht. 5. Ein solches Experiment ist darum notwendig, weil der erfahrungsbezogene Grund allen Wissens zugleich – bezogen auf alle möglichen denkbaren Gegenstände – restringierenden Charakter hat: Mittels dieser vollzogenen Grenzbestimmung wird das Experiment der Vernunft mit ihren eigenen Ideen, den Ideen des Unbedingten, zunächst nur mehr den Negativcharakter des Ideenbegriffs enthüllen: Sie werden als Nicht-Gegenstände zu qualifizieren sein. Doch was bleibt? Welchen Status mögen die Ideen der klassischen Metaphysik 161 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
gleichwohl noch innehaben? Gibt es von unserem Selbst, der Seele oder der Freiheit nur einen Negativbegriff, den Begriff von einem Unbedingten, für das gilt, dass alle weiteren Prädikate der Gefahr einer transzendentalen Subreption ausgesetzt sind? Kant hat in seiner Metaphysik der Erfahrung den Weg zu einem solchen ›Negativbegriff‹ bereitet, indem er die Erkenntnis möglicher Gegenstände auf die erfahrbaren Phänomene in Raum und Zeit restringierte, um den Weg für eine Theorie der unbedingten Horizonte zu öffnen, innerhalb derer uns erfahrbare Gegenstände allein zugänglich und hinreichend von anderen unterscheidbar sind. Sein Quasi-Schematismus der reinen Vernunftbegriffe, den er analog zum ›Schematismus der reinen Verstandesbegriffe‹ konzipiert, 29 soll eine Metaphysik des Endlichen vorbereiten, in der die raum-zeitlichen Phänomene der endlichen Welt der Idee eines Unbedingten in, außer und über uns nicht widerstreiten müssen. Diese drei, den Kategorien der Relation gemäß gebildeten Quasi-Objekte näher zu erkunden, um auf diese Weise allererst Kants »Experiment der Vernunft mit sich selbst« zu komplettieren, 30 machte jedoch eine weitere Analyse erforderlich.
Ebd. A 682/B 710. Ebd., B 20: »Aber hierin liegt eben das Experiment einer Gegenprobe der Wahrheit des Resultats jener ersten Würdigung unserer Vernunfterkenntnis a priori, dass sie nämlich nur auf Erscheinungen gehe, die Sache an sich selbst dagegen zwar als für sich wirklich, aber von uns unerkannt, liegen lasse. Denn das, was uns notwendig über die Grenze der Erfahrung und aller Erscheinungen hinaus zugehen treibt, ist das Unbedingte, welches die Vernunft in den Dingen an sich selbst notwendig und mit allem Recht zu allem Bedingten, und dadurch die Reihe der Bedingungen als vollendet verlangt. Findet sich nun, wenn man annimmt, unsere Erfahrungserkenntnis richte sich nach den Gegenständen als Dingen an sich selbst, dass das Unbedingte ohne Widerspruch gar nicht gedacht werden könne; dagegen, wenn man annimmt, unsere Vorstellung der Dinge, wie sie uns gegeben werden, richte sich nicht nach diesen, als Dingen an sich selbst, sondern diese Gegenstände vielmehr, als Erscheinungen, richten sich nach unserer Vorstellungsart, der Widerspruch wegfalle; und dass folglich das Unbedingte nicht an Dingen, so fern wir sie kennen (sie uns gegeben werden), wohl aber an ihnen, so fern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst, angetroffen werden müsse: so zeiget sich, daß, was wir anfangs nur zum Versuche annahmen, gegründet sei.«
29 30
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7. Immanuel Kants ›Ideal des höchsten Guts‹ im Horizont neu-konfuzianischer Annäherungen »[…] bis vollkommene Kunst [oder Kultur, C. B.] wieder Natur wird: als welches das letzte Ziel der sittlichen Bestimmung der Menschengattung ist.« Kant: Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte 1
1.
Einführung: Ortsbestimmung der Idee des Guten: West-östliche Annäherungen
Wird innerhalb der neueren chinesischen, der neukonfuzianischen Philosophie, die Idee der ›Harmonie der Zwecke‹, als Leithorizont einer zu vollführenden sittlichen Ordnung zur Sprache gebracht, so scheint hier ein Prinzip formuliert, das nicht allein auf innerphilosophische Traditionen, sondern vor allem auf eine zu schaffende gesellschaftliche Ordnung – letztlich auch auf die Idee einer neuen Weltordnung – bezogen ist, auf die sich die Weltgemeinschaft soll verständigen können. Soll die Idee der ›Harmonie der Zwecke‹ darum zugleich das Maß für die Idee eines ›sittlichen Gemeinwesens‹ sein und der gegebenen Seins- und Sollensordnung als Leithorizont dienen, so wird zunächst in einer Begriffsklärung nach den Bedingungen möglicher Rede von der Übereinstimmung aller Zwecke in einer natürlichen und sittlichen Ordnung zu fragen sein. Dazu bedarf es – so Konfuzius in den Analects 2 wie auch im Sinne von Kants Darlegung der Motivlage seines kritischen Hauptwerkes, der Kritik der reinen Vernunft, – einer vorherigen Klärung der Begriffe. Dabei scheint Konfuzius’ Rede von der ›Richtigstellung‹ der Begriffe aus dem fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung von der Kantischen Idee der ›Selbsterhellung der Vernunft‹ im europäischen 18. Jahrhundert in einem nicht unerheblichen Punkte zugleich auch unterschieden. Für Konfuzius war es ›der Edle‹, der für eine Richtigstellung der Be1 2
Kant: AA VIII, 118. Vgl. Kungfutse: Gespräche, 131.
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griffe zu sorgen habe, damit das Volk orientiert sei. Eher darum der Rolle des Philosophenherrschers der griechischen Polis vergleichbar als der Kantischen Idee der Selbsterhellung der Vernunft, soll es Aufgabe des Edlen sein, für die ›Richtigstellung der Begriffe‹ zu sorgen: Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeiht Moral und Kunst nicht; gedeiht Moral und Kunst nicht, so treffen die Strafen nicht; treffen die Strafen nicht, so weiß das Volk nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Darum sorge der Edle, daß er seine Begriffe unter allen Umständen zu Worte bringen kann und seine Worte unter allen Umständen zu Taten machen kann. Der Edle duldet nicht, daß in seinen Worten irgendetwas in Unordnung ist. Das ist es, worauf alles ankommt. 3 So ist es im Sinne des Konfuzius der Edle, der seine Worte wägen, die Begriffe klären, nach rechten Begriffen handeln, Moral und Kunst gedeihen lassen soll. Kants Interesse der Selbsterhellung der Vernunft gilt demgegenüber der Kritik an der Dogmatik eines bloß spekulativen Gebrauchs der Begriffe, durch den – in Unkenntnis ihrer Grenzen und Möglichkeiten – in hypostatischer Weise von ersten Gründen, von der menschlichen Seele oder von einem göttlichen Wesen die Rede sein solle. Gegen die Dogmatik eines unbefragten Gebrauchs unserer Begriffe von Freiheit, Seele und Gott sollte die Analyse der Grenzen und Möglichkeiten der menschlichen Vernunft als Instanz einzusetzen sein, durch die wir deutlich zwischen einem bloß spekulativen und einem auf Erkenntnis bezogenen Gebrauch unserer Begriffe unterscheiden können. Dabei soll Kants Idee der Selbsterhellung der Vernunft einem jeden Einzelnen selbst zuzumuten sein: Ein jeder Mensch habe »den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen«. 4 Kant suchte darum zunächst in reflektierender und analysierender Weise die Bedingungen möglicher Rede von der Idee der Übereinstimmung aller Zwecke in einer sinnlich-sittlichen Ordnung Ebd. Vgl. Kant: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, in: AA VIII, 35: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«
3 4
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7. Immanuel Kants ›Ideal des höchsten Guts‹
zu klären. Auch ihm gilt die Idee der Übereinstimmung aller Zwecke nicht allein als Leithorizont einer philosophischen Theorie, sondern einer zu vollführenden sinnlich-sittlichen Ordnung in einer Welt unter moralischen Gesetzen gleichermaßen. Doch um einen jeden dogmatischen oder gar skeptischen Gebrauch unserer Begriffe zu vermeiden, wird, so Kant, aller ontologischen Perspektive voraus auf transzendentalen Fährten zu klären sein, wie die einander entgegengesetzten Bestimmungen und Gesetzesformen der natürlichen und der sittlichen Ordnung überhaupt widerspruchsfrei zusammengedacht werden können, ohne in dogmatischer Setzung des Übersinnlichen, Unbedingten, Zeitübergreifenden, dem Erfahrungsbezug unserer empirischen Erkenntnisse zuwider zu sein oder andererseits mit Blick auf die Fallibilität der empirischen Erkenntnisse etwa Freiheit als Bestimmungsort des Unbedingten zu gefährden? Die Frage nach der Einheit einander entgegengesetzter Bestimmungen hatte die abendländische Philosophie seit dem platonischen ›Gigantenstreit‹ zwischen Parmenides und Heraklit – in seinem Spätdialog Sophistes – in einen nahezu unversöhnlichen Streit einander entgegengesetzter feindlicher Lager gerückt. Dabei gerieten die polar entgegengesetzten Traditionslinien in die Gefahr, je eine der beiden Seiten zu verabsolutieren und mal das Intelligible wie die Ideen des Unbedingten zu naturalisieren oder dem Natürlichen als bloßem Ausdruck des Intelligiblen alles Eigenrecht zu nehmen. Darum attestierte Martin Heidegger den Spuren abendländischen Denkens seit ihrem Ausstieg aus Parmenides’ Logos der vernehmenden Rede und ihrem Einstieg in die begriffsdifferenzierende, die dianoetische Annäherung durch Platon und Aristoteles, einen unvermeidlichen Streit zwischen den vereinseitigten Polen: Sobald sich, so die These, das Denken nicht mehr vom Sein bestimmen lasse und von diesem sein Maß und Gesetz empfange, werde mal – wie in den Positionen idealistischer Spekulation – der Seins- im Wissenssinn, mal – wie in der nachhegelschen Ära seit Nietzsche – der Wissensim Seinssinn absorbiert. Platon hatte die Dualität und Irreduzibilität von Sinnlichem und Übersinnlichem, raum-zeitlich Bedingtem und überzeitlich Ewigen erstmals in aller Klarheit zur Sprache gebracht und ein dem steten Wandel der Erscheinungswelt verpflichteten Denken nur Doxa, Meinung, nicht aber Wissen zugesprochen, während Wissen allein durch die notwendigen und allgemeinen Dimensionen zeitübergreifender Ideen möglich sei. Doch nicht allein die frühen, sondern insbesondere die späten Dialoge (der Sophistes, der Theaite165 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
tos und der Parmenides) sind mit der Frage nach der Art der Teilhabe (methexis) beider Sphären aneinander befasst. Der Gedanke einer insich widersprüchlichen Selbstidentität, nach der alle Erscheinungen in ihrer Materialiät und Besonderheit an einer je bestimmten Form einen Anteil haben müssen und darum als raum-zeitlich begrenzte Entitäten auf die Intelligibilität der Form notwendig bezogen sind, schien Platon zwar ein Problem, – nicht aber bereits seine Lösung anzuzeigen. Gewahrt bliebe die Idee einer inneren Verbindung der Pole jedoch, so Heidegger, – in den vielfältigen nicht-europäischen Philosophien wie auch in der vorsokratischen griechischen Philosophie – im versuchten Ausgleich zwischen den Extremen von Natur und Geist, Freiheit und Notwendigkeit etc. Auf präsokratisch-orientalischen Fährten suchte Heidegger darum, aller Polarität voraus, im ›An-denken‹ an den ›Ort der Mitte‹ das einigende Band ihrer Verbindung zu lichten: Ähnlich dem Tao Laotses solle ein solcher Weg jenes ›Zwischen‹ erreichen, das die genannten Urpolaritäten trägt und erhellt und einen zeitlich bestimmten, stets gefährdeten Ausgleich mal im Bilde naturwissenschaftlicher Forschung (in der Gestalt der planetarischen Technik) mal – wie erhofft – im neuen Dichten und Denken finde. Doch nicht allein bezogen auf die innerphilosophischen Streitlagen, sondern – in der Ausweitung des Blicks auf die für lange Zeiten gegeneinander selbstständigen Traditionslinien des westlichen und des asiatischen Denkens beziehen neuere chinesische Philosophien nun ihren Impuls aus dem ›Geiste des Ausgleichs‹ zwischen den unterschiedlichen kulturellen Hemisphären: In Lik Kuen Tongs Suche etwa nach einer Auflösung der Gegensätze zwischen dem ›Logical inquiry‹ westlicher Rationalität, wie er den dominanten Traditionsstrang neuerer europäischer Philosophie charakterisiert, und dem östlichen – eher Lebenswegorientierten ›Dao-learning‹ soll ein dritter Weg, der mittlere Weg, ihre Verbindung erreichen. 5 Von der Idee der Einheit der Kräfte zwischen der westlichen Dominanz der theoretischen Philosophie und dem chinesischen Primat der Ethik ist auch Guo Yis Idee einer neuen, neu-konfuzianischen Lik Kuen Tong: »Dao and Logos. Prolegomena to a Quintessential Hermeneutics. With Specific Reference to its Implications for Intercultural Philosophy«, in: C. Bickmann/H.-J. Scheidgen/T. Voßhenrich/M. Wirtz (Hrsg.): Tradition und Traditionsbruch zwischen Skepsis und Dogmatik. Interkulturelle philosophische Perspektiven. Amsterdam/New York 2006, 461–468.
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7. Immanuel Kants ›Ideal des höchsten Guts‹
Metaphysik getragen: Das Weltgefüge der gedanklichen Ordnungen bewege sich, so Guo Yi, – in der Wechselverschränkung der Pole – auf einen Ausgleich zu: Aus den Defiziten beider Seiten – der westlichen wie der chinesischen Philosophie – müssten Wege in eine weltphilosophisch tragfähige Komplementarität der Pole gefunden werden: We need a clear understanding of the defects and tasks of Chinese and Western philosophies. The major defect of Chinese philosophy is the absence of a theory of knowledge, while the major defect of Western philosophy is the breakdown of its theory of value. Therefore the challenge for Chinese philosophy is to construct a theory of knowledge to support its theory of value. The challenge for Western philosophy is to reconstruct its theory of value to oversee its theory of knowledge. 6
Gesucht werde somit nach einem philosophischen System, einer Weltphilosophie, durch die die ethischen Maximen oder Zwecke in eine verpflichtende Rolle, die theoretische Philosophie aber in eine helfende Stellung gebracht werde. Die Suche nach einem geeigneten Ort der Vermittlung der genannten Extreme hat jedoch bereits die europäische Philosophie in den verschiedensten Epochen ihrer Entwicklung traditionsbildend geprägt. So war es die Philosophie Platons, der die auf Protagoras zurückgehende ›homo mensura-Lehre‹ mit der Seinsspekulation des Parmenides systematisch zu verklammern suchte; die Bemühung Kants, das erfahrungsbezügliche Wissen mit dem vernunftbezüglichen einer aus Freiheit möglichen moralischen Welt in Einklang zu bringen; die Bemühung der nachkantischen Systementwürfe, den Ort der Vermittlung zwischen den Extremen systematisch zu erkunden wie auch die Philosophie Martin Heideggers in ihrem Versuch, den Ort des ›Zwischen‹ in seiner ontisch-ontologischen Differenz zur Sprache zu bringen. In diesen Traditionslinien finden wir fruchtbare und anschlussfähige Modelle der Integration der Extreme: Kants systemtragendes Prinzip der Vermittlung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, dem ich mich im Folgenden widmen möchte, gewinnt dabei seine Zentralstellung für das abendländische Denken aus der Umbruchlage innerhalb der europäischen Philosophie: Indem sie bezogen auf die Hinwendung der neuzeitlichen Philosophie zu den Wissenschaften wie der damit verbundenen Vgl. Guo Yi: »Knowledge, Value and Life-World. A New Philosophical View based on Confucianism and Taoism«. Unveröffentlichter Kolloquiums-Vortrag während des Kongresses der DGPhil im September 2008.
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I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
›Überwindung der Metaphysik‹ nach einer Vermittlung zwischen den Extremen sucht, thematisiert sie implizit bereits eine Herausforderung der Gegenwartsphilosophie: Die im Horizont des Neu-Konfuzianismus wiedererwachte Idee der Fundierung unseres Wissens und Handelns in übersinnlichen Horizonten, in leitenden Wertvorstellungen, metaphysischen oder spirituellen Leitideen sieht sich, wie Kant zuvor, mit den Ansprüchen eines auf Beobachtbarkeit und Überprüfbarkeit verbundenen (natur-)wissenschaftlichen Wissens konfrontiert. Um dabei jedoch nicht in einen Widerstreit einander entgegengesetzter, gleichberechtigter Ansprüche zu geraten, hatte Kant auf transzendentalen Fährten durch eine Klärung der je in Gebrauch genommenen Begrifflichkeit nach den Bedingungen möglicher Metaphysik wie auch den Möglichkeiten des erfahrungsorientierten Erkennens gefragt, wenn das erfahrungsbezogene Wissen mit der Vernunftidee einer zu gestaltenden sinnlich-sittlichen Welt widerspruchsfrei in einem einigen Theorieentwurf zusammenbestehen soll. Indem Wissen und Erkennen dann nur noch dasjenige genannt werden konnte, was mit den Bedingungen der raum-zeitlichen Erfahrung kompatibel ist, sollte der Weg frei werden, unserem freien Handeln am Maß ›des höchsten Guten‹ in einer Welt unter moralischen Gesetzen Raum zu schaffen.
2.
Das Integral einer sinnlich-sittlichen Weltordnung – aus transzendentaler Perspektive
Wie nun soll die Kantische Synthese zwischen Natur und Freiheit, unserem theoretischen wie dem handlungsleitenden Vernunftgebrauch nicht allein im Rahmen von Kants eigener kritischer Philosophie, sondern zugleich bezogen auf die extremen Zugangsarten einer ethisch motivierten Philosophie des Dao-learning und der eher epistemisch orientierten Logos-Philosophie abendländischer Prägung als Modell der Vermittlung dienen können? Mit Kant wäre zunächst – gegen Leibniz – in Rechnung zu stellen, dass die Übereinstimmung aller sinnlichen und sittlichen Kräfte nicht mehr a priori im Horizont einer Universalmonade oder eines einigen sinnlich-sittlichen Kosmos, als prä-etabliert zu begreifen sei: Vielmehr wird die Fallibilität unserer empirischen Weltorientierung eine jede mögliche Übereinstimmung der natürlichen und der mora168 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
7. Immanuel Kants ›Ideal des höchsten Guts‹
lischen Bestrebungen zu einer stets bedrohten Herausforderung machen, die in unserem als vereint gesetzten Willen – im moralischen Gebot – zwar erstrebt, nicht aber durch diesen auch erreicht werden kann. Wie aber sollte nun mit Blick auf Kants Philosophie die Einheit zwischen diesen kontradiktorisch entgegengesetzten Kräften, der aus Freiheit möglichen Selbstgesetzgebung wie der auf die Sinnessphäre, die phänomenale Welt bezogenen durchgängig bestimmten Kausalität der gegebenen Erscheinungen in einem einigen Theorierahmen widerspruchsfrei zu erreichen sein? War nicht der Widerstreit der Vernunft mit sich selbst Kants letztes Wort, weshalb dieser Dualismus entgegengesetzter Kräfte zugleich zum produktiven Anstoß für die nachkantische Philosophie werden konnte, die Idee der Verbindbarkeit der Extreme prinzipientheoretisch zu sichern? Doch sehen wir näher hin. Kant selbst war sich des Problems eines Prinzips der Verbindung von Naturkausalität und Freiheit als Problem der Vermittlung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft wohl bewusst. Kants Mutmaßliche Anfänge der Menschheitsgeschichte benennen nun den letzten – alle weiteren Zwecke integrierenden – ›Endzweck‹ seines Unternehmens: Eine Kultur gelte es zu erstreben, die so beschaffen sei, als sei sie von Natur aus so gewollt. Zu erkunden, wie dies möglich sei, so die These, sei das letzte Ziel der Philosophie. Dieses aber ist, wie wir sehen werden, nur über die Idee einer Wechselverschränkung von Natur und Freiheit zu erreichen. Das erklärte Ziel wird dabei sein, so Kant, »soweit den in der Welt zu integrierenden Zwecken zu folgen […] bis vollkommene Kunst [oder Kultur, C. B.] wieder Natur wird: (als) welches das letzte Ziel der sittlichen Bestimmung der Menschengattung ist« 7. Zunächst reflektiert Kant einleitend in seine Metaphysik der Sitten, die ›Obereinteilung‹, »unter welcher die eben jetzt erwähnte steht, nämlich die der Philosophie in die theoretische und praktische«: Diese könne »keine andere als die moralische Weltweisheit« sein, durch welche allein eine wechselseitige Integration von theoretischem, auf die natürlichen Phänomene bezogenem Verstande und der Vernunftbezüglichkeit freier Selbstgesetzgebung der Vernunft möglich sei. In der Idee der Weltweisheit seien sie wechselseitig aufeinander bezogen: »Alles Praktische, was nach Naturgesetzen möglich sein soll (die eigentliche Beschäftigung 7
Kant: »Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte«; in: AA VIII, 118.
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der Kunst)« hänge, so Kant »seiner Vorschrift nach, gänzlich von der Theorie der Natur ab.« Im Bereich des Praktischen jedoch, der »nach Freiheitsgesetzen« nur »Prinzipien haben« kann, solle demgegenüber »von Theorie im engeren Sinne« nicht die Rede sein können; »[…] denn über die Naturbestimmungen hinaus«, so Kant, »gibt es keine Theorie.« Einer technisch-praktischen Vernunft, die – als abhängig gebunden – in Kunst und Technik von Naturgesetzen bestimmt sei, steht somit eine prinzipiengeleitete freie Vernunft gegenüber, für die es im eigentlichen Sinne keine Theorie, sondern bloß eine»moralisch-praktische Lehre« 8 geben kann, welche zugleich aber für ihre Manifestation in einer kausal bestimmten Welt mit den Naturgesetzen kompatibel sein muss. Weltweisheit nennt Kant darum das einigende Band zwischen den beiden Vermögensleistungen: Als praktisches Vermögen vermag die Weltweisheit den sittlich geleiteten moralischen Menschen, der aus vernünftigen Prinzipien zu handeln vermag, mit der Weltbezogenheit der Verstandesfunktionen, die auf die raum-zeitliche, die phänomenale Welt bezogen sind, in einem einigen Vermögen zu verbinden: Dabei würde dann der praktische Teil der Philosophie, insofern er nach der »Fertigkeit der Willkür nach Freiheitsgesetzen« auch Kunst genannt werden könne, gleich dem System der Natur ein System der Freiheit möglich machen, wenn denn der Mensch die für ihn nahezu unerreichbare göttliche Kunst beherrsche, dasjenige, »was uns die Vernunft vorschreibt, vermittelst ihrer auch völlig auszuführen, und die Idee davon ins Werk zu richten,« – wozu jedoch, so wird einschränkend betont, die endlichen, die natürlichen menschlichen Wesen kaum »im Stande wären« 9. Eine derartige Zweckordnung, die sich im Moralisch-Praktischen nur als ›Kunst‹ begreifen lässt, die analog dem System der Natur ein System der Freiheit möglich mache – wäre im Sinne Kants darum eine geradezu ›göttliche Kunst‹, an der sich die endlichen Wesen regulativ das Maß für die Gestaltung einer moralischen Welt nehmen können, um auf diese Weise das Glück aller Einzelnen zu befördern. Eine solche allein durch die Weisheit der Einzelnen mögliche Ordnung aus Zwecken mache nun, so Kant, zugleich »einen obern Zweck« erforderlich, »in welchem die andern Zwecke ihre Ein-
8 9
Kant: Die Metaphysik der Sitten, in: AB 12 ff. Ebd., AB 13.
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heit« 10 finden. 11 Dieser höchste Zweck gilt ihm dann als Ort des Integrals, in dem sich unser bewusstes Leben auszulegen sucht, als jenes letzte Worum-Willen der gesamten Seins- und Sollensordnung, das Kant mit der Idee eines ›höchsten Guts‹ 12 anzuzeigen sucht.
3.
Der Weg zum ›höchsten Gut‹
Auf drei Ebenen wollen wir nun Kants Idee des höchsten Guts als Quelle für die Übereinstimmung aller Zwecke in der natürlichen und der sittlichen Ordnung zur Sprache bringen: (I) In einem ersten Verwendungssinn werden wir dabei den sinnlichkeitsbezüglichen Gedanken der Übereinstimmung zwischen den Extremen, auf der zweiten Ebene (II) das vernunftbezügliche Verständnis der Übereinstimmung aller sinnlichen und sittlichen Zwecke und schließlich in einem dritten Sinn (III) das sinn-bezügliche Verständnis vereint-entgegengesetzter Kräfte zur Sprache bringen. Mit diesem letzten Ort ist dann zugleich auch der Sinnhorizont eröffnet, der sich nur im Wissen um die Grenzen des Wissbaren erschließt und der uns in der Idee eines selbst nicht mehr relativierbaren Sinnpostulates entgegentritt, das eine Antwort auf die (für uns unausweichliche) Frage nach einem letzten Worumwillen zu geben vermag, indem es die Möglichkeiten der Erfüllung unserer Hoffnungen in einem glückenden Leben in einer Welt unter moralischen Gesetzen in Aussicht stellt. Es ist dies eine Finalität, die wir in verschiedensten Ansätzen der neueren chinesischen Philosophie als ›ultimate reality‹, als ›final value‹ wie als ›Dao‹ ausgelegt finden: The sphere of Dao is the transcendent and absolute ontological world. It is the origin of the universe and the root of the world. It is an absolute ›great whole‹, boundless, ceaseless, all-embracing, without beginning or end. The sphere of Dao is formed by three fundamental elements, namely Zhi, Li and Qi. Zhi is the being of value and meaning. Qi is the being of energy and matter. Li is the being of form, reason, law and principle. 13 Ebd. Vgl. auch C. Bickmann: Immanuel Kants Weltphilosophie. Nordhausen 2006; sowie dies.: Differenz oder das Denken des Denkens. Topologie der Einheitsorte im Verhältnis von Denken und Sein im Horizont der Transzendentalphilosophie Kants. Hamburg 1996. 12 KrV, A 804/B 832. 13 Vgl. Guo Yi 2008. 10 11
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3.1 Der sinnlichkeitsbezügliche Ort der Übereinstimmung der sinnlichen und sittlichen Zwecke Der erste Schauplatz der gesuchten wechselseitigen Integration von natürlicher und sittlicher Ordnung ist die ästhetische Urteilskraft in Kants dritter Kritik: Von unten auf werden wir Zeuge der Integration unserer sinnlichen mit unserer übersinnlichen Natur, d. h. einer ins Sinnliche eingelassenen, eingebetteten Vernunft, die verdeutlicht, wie sinnliche und übersinnliche, intelligible Momente je schon integriert und aufeinander verwiesen sind. Dabei gilt die Kunst als erster Indikator jener Wechselintegration: Sie offenbart sowohl Einheit wie Differenz von Sinnlichem und Übersinnlichem, indem sie – im Geschmacksurteil des Schönen – in Harmonie mit der Natur oder – in der Sphäre des dynamisch Erhabenen – im Widerstreit mit ihr der ›ästhetischen Idee‹ Ausdruck verleiht, durch die die Sinnessphäre sich entweder in einem Kunstwerke organisiert oder aber aller Repräsentanz entzogen bleibt. Die ästhetische Idee indiziert dann das Zusammenspiel der Kräfte, indem sie vereint und trennt, teilhat am Bedingten wie am Unbedingten gleichermaßen. Im freien Spiel der Einbildung finden der frei apprehendierende Verstand und der Sinnesbezug in den verstreut gegebenen Erscheinungen zusammen; als Organ der Vermittlung zielt die Einbildung – rezeptiv den Phänomenen zugewandt – zugleich apprehendierend, ordnend, über diese hinaus auf ein Übersinnliches, auf die ästhetische Idee, die ihrerseits dann das Sittlich-Moralische vorzubereiten vermag. Die Sphäre der Kunst gilt Kant darum als ein erstes Indiz für die sinnlich-übersinnliche Doppelstruktur unseres Weltbezugs: Wir vermeinen jenes vorgegebene ästhetische Objekt in spontanen Akten selbst zu erzeugen, und werden doch (im freien Spiel unserer Einbildung) am Schattenriss der phänomenalen Welt in eine Übereinstimmung mit dieser gebracht. Allein in der Sphäre des Schönen jedoch erreichen wir ein harmonisches Zusammenspiel von Intelligibilität und Materialität, – um in der Gestalt des Dynamisch-Erhabenen zugleich auch Zeuge der Unverträglichkeit beider Sphären zu werden. Doch ist dieses freie Zusammenspiel beider Gemütskräfte für Kant nicht maßstabslos. Die raum-zeitliche Beschaffenheit setzt vielmehr (quasi) ›von unten her‹ der frei spielenden Einbildungskraft enge Grenzen. Und so wie dann »zur Beurteilung schöner Gegenstände als solcher Geschmack erfordert« sei, so »zur schönen Kunst, 172 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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d. h. der Hervorbringung solcher Gegenstände« 14, ein Talent, das der Natur die Regeln abzulauschen vermag 15 und das es vermag, die an sich zweckmäßige Organisation der Natur, ihre Zweckmäßigkeit ohne Zweck, als das ›natürliche‹ Leitbild seiner Produktion wie Rezeption in sich aufzunehmen und einen Gegenstand rein aus Ideen zu entwickeln. 16 Ein Gegenstand aber, der nur aus Ideen möglich ist, gilt Kant als ein in sich gefügtes Gebilde, in dem die Teile als Teile des Ganzen nur durch Bezug auf diese Idee als ihren Zweck begreiflich sind. Ein solcher Gegenstand ist im Sinne der Kritik der Urteilskraft dann sowohl das Kunstwerk als auch das zweckmäßig organisierte Gebilde der Natur. Und es ist dieser Bezug auf ein sinnlich gegebenes, zweckmäßig organisiertes Ganzes, den Kant ›ästhetische Idee‹ nennt. Worauf beruht nun die einheitsstiftende Kraft der ästhetischen Idee? Kant lässt es bezogen auf die sinnlichkeitsbezügliche Harmonie der Kräfte an Klarheit nicht fehlen, indem er zu der – bereits genannten – doppelten Spiegelung greift: Ihm gilt als schöne Kunst »eine Kunst, sofern sie zugleich Natur zu sein scheint« 17. Und dennoch müsse man sich bewusst bleiben, »dass es Kunst sei, und nicht Natur« 18; und gleichwohl muss die Zweckmäßigkeit in der Form desselben so erscheinen, »als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei. […] Die Natur war schön, wenn sie zugleich als Kunst aussah; und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewusst sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht« 19.
KdU, A 185/B 187. Ebd., A 178/B 181: »Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel giebt. Da das Talent als angebornes productives Vermögen des Künstlers selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborne Gemüthsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel giebt.« 16 Vgl. C. Bickmann: »Kants sinnliches Scheinen der Idee. Die Einheit von Ethik und Ästhetik in Kants Ethiko-theologie«, in: D. Wandschneider (Hrsg.): Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst, Würzburg 2005, 13–29 [ebenfalls abgedruckt in dem vorliegenden Band,] 17 KdU, A 177/B 179. 18 Ebd. 19 Ebd., A 177/B 180. 14 15
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3.2 Der vernunftbezügliche Harmoniegedanke Die ästhetische Idee ist zugleich Schlüssel für das Verständnis der moralischen Idee. Denn darin ist die ästhetische Idee der Vernunftidee verwandt, dass wir mit ihr in gleicher Weise intuitiv-synoptisch ein Ganzes in den Blick zu nehmen vermögen. Ästhetische Idee und Vernunftidee sind Platzhalter eines Einheitsgedankens – verantwortlich dafür, ein Ganzes als die Einheit polar entgegengesetzter Bestimmungen vorzustellen. Bezogen auf Kants Idee einer harmonischen Welt gilt somit der Zweckbegriff, die Finalität der gesamten Seins- und Sollensordnung als das einheitsstiftende Prinzip, durch das unsere höchsten natürlichen Bestrebungen mit unseren sittlichen auch harmonieren können. Nicht die Idee einer höchsten Substanz oder aber die Kausalität determinierender Gesetzlichkeit, auch nicht die Idee der Kosmologie, oder aber die Prinzipien der teleologischen Urteilskraft gelten Kant als letzte Horizonte für die Idee einer harmonischen Welt, sondern vielmehr dasjenige, was am Ende der Kritik der Urteilskraft als die Finalität einer aus Freiheit möglichen Gesetzesordnung und damit als ›Endzweck‹ des Seinsganzen begreiflich gemacht werden soll. Mit dem Endzweck harmonisch sich fügender Zwecke in einer Welt unter moralischen Gesetzen werden jedoch zwei Ebenen des vernunftbezüglichen Harmoniegedankens zugleich betreten: Vernunftbezügliche Harmonie betrifft nämlich nicht allein die ontische Sphäre lebendiger Zwecksetzung der freien moralischen Wesen, sondern betrifft auch die epistemisch-metaphysische Ebene der Vernunft selbst und ihre Prinzipien, durch die wir diese Ordnung zugleich sehen, ergründen und gestalten können. Denn auch die Vernunft wird als in sich gefügtes Ganzes, als Organ ausgelegt, durch das die Idee des gelingenden Lebens im Selbstbewusstsein der Einzelnen verankert ist. Die Einheit aus Zwecken muss darum mit der Selbstbezüglichkeit dieser Ordnung zugleich kompatibel sein, soll sie nicht blind und ohne Selbstbewusstsein bleiben. Und darum wird das Prinzip dieser Einheit – um der Intelligibilität jener höchsten Zweckordnung willen – als ein vernünftiges Prinzip auszulegen sein. Denn erst diese sich selbst sehende und begreifende Vernunft wird auch in der Lage sein, die notwendige Übersetzungsleistung zwischen den kulturell geprägten Weltauslegungen zu leisten. Dafür bedarf es nämlich nicht allein einer in die Naturordnung eingelassenen welthaltigen Vernunft, sondern einer Vernunft, die ihre Einheit und Differenz mit 174 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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der natürlichen Ordnung zugleich auch ergründen und begreifen und mit anderen Zugangsarten in ein Verhältnis setzen kann.
3.3 Der sinn-bezügliche Harmoniegedanke im Horizont der Idee des ›höchsten Guts‹ Diese notwendige Wechselintegration von Sinnlichkeit und Sittlichkeit, Intelligibilität und Materialität, setzt nun, so Kant, zugleich voraus, dass wir in Bezug auf »etwas im Subjekte selbst und außer ihm« 20 ein Prinzip annehmen, das weder das Eine noch das Andere ist, mithin »nicht Natur, auch nicht Freiheit« 21 (oder Geist) genannt werden kann – welches aber gleichwohl, wenn auch auf unbekannte Art, ihre Einheit begreiflich machen kann. Denn gäbe es nicht ein solches ›übersinnliches intelligibles Substrat‹, wodurch Mensch und Kosmos, Ich und Welt, Freiheit der Zwecke und durchgängig bestimmte Erscheinungswelt, in ihrer Einheit begreiflich würden: Eine Antwort auf die Frage, wie denn Intelligibilität und Materialität in Natur und Kunst wechselseitig integriert sind, wäre, so Kant, nicht möglich. 22 So können wir in diesem dritten, dem sinn-bezüglichen Verwendungssinn des Harmoniegedankens, den inneren Zusammenhang der harmonisch gedachten Seins- und Sollensordnung nur begreifen, wenn wir uns dieses durchgängig bestimmte Ganze als, wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft ausführt, »aus einer Idee entsprungen […] vorstellen« 23. Einen vergleichbaren Gedanken finden wir im ersten programmatischen Kapitel von Laotses Tao te King, in dem die beiden polar entgegengesetzten Kräfte als nur mehr zwei Namen des einen Ursprungs begriffen werden. »Beides habe«, wie es dort heißt, »einen Ursprung und nur verschiedenen Namen. Diese Einheit ist das Große Geheimnis. Und des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis: Das ist die Pforte der Offenbarwerdung aller Kräfte« 24. Dabei ist die für die reflektierende Urteilskraft leitende Annahme eines ›Endzwecks der Schöpfung‹, keineswegs der Schluss von der KdU, A 255/B 258. Ebd. 22 Vgl. zu diesen Ausführungen auch C. Bickmann: »Kants sinnliches Scheinen der Idee«, a. a. O. 23 KrV, A 815/B 843. 24 Laotse: Tao-Te-King. Übers. u. hrsg. v. Richard Wilhelm. München 1998, 41. 20 21
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moralischen Teleologie auf eine Theologie. Der moralphilosophische Beweis der Existenz eines einigen Urwesens nehme nicht ein von unseren moralisch bestimmten Zwecken unabhängiges höchstes Wesen an, sondern dieses ›einige Urwesen‹ sei uns »allein durch unseren freien moralischen Willen verbindlich«. 25 Dies bedeutet für uns allein, so zu tun, als ob dieser sein Maß von einer höchsten Instanz außer ihm selbst empfangen könne. Doch ist das Göttliche nur ein immanentes Maß und Prinzip unserer Handlungen. Denn wir selbst sind es, ›die vereinten Kräfte der Menschheit, die ihr moralisch verbindliches Handeln am Maß der Idee des höchsten Guts bemessen‹ – als ob es ein von unserem Handeln und Wollen unabhängiges höchstes Wesen wäre. Die Rede vom ›Als-ob-Charakter‹ des Göttlichen erhält ihren Sinn daraus, dass wir, so Kant, so weit praktische Vernunft uns zu führen das Recht hat, Handlungen nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie darum als göttliche Gebote ansehen, weil wir dazu innerlich verbindlich sind. Wir werden die Freiheit, unter der zweckmäßigen Einheit nach Prinzipien der Vernunft, studieren, und nur so fern glauben, dem göttlichen Willen gemäß zu sein, als wir das Sittengesetz, welches uns die Vernunft aus der Natur der Handlungen selbst lehrt, heilig halten, ihm dadurch allein zu dienen glauben, daß wir das Weltbeste an uns und an andern befördern. Die Moraltheologie ist also nur von immanentem Gebrauche, nämlich unsere Bestimmung hier in der Welt zu erfüllen, indem wir in das System aller Zwecke passen. 26
Somit schließt Kant, um der Moralität einer zu gestaltenden Weltordnung und mit dieser der Idee eines Endzwecks der Schöpfung willen, daß […] zu dieser Schöpfung, d. i. der Existenz der Dinge gemäß einem Endzwecke, erstlich ein verständiges, aber zweitens nicht bloß (wie zu der Möglichkeit der Dinge der Natur, die wir als Zwecke zu beurtheilen genöthigt waren) ein verständiges, sondern ein zugleich moralisches Wesen als Welturheber, mithin ein Gott angenommen werden müsse. 27
So haben wir im Sinne Kants und dies ist der Kern seiner Ethikotheologie, »nicht bloß einen moralischen Grund […], einen Endzweck der
25 26 27
KdU, A 819/B 847. Ebd., A 819/B 847 (kursiv C. B.) Ebd., A 428/B 433.
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7. Immanuel Kants ›Ideal des höchsten Guts‹
Schöpfung (als Wirkung), sondern auch ein moralisches Wesen als Urgrund der Schöpfung« anzunehmen. 28
4.
Das ›ethische Gemeinwesen‹ in einem weltbürgerlichen Ganzen 29
Mit dem Sittengebot, so Kant, sei darum nicht bereits die hinreichende Bedingung für ein gelingendes Leben erreicht; dazu bedarf es jedoch nach bisher Gesagtem noch eines ›materialiter erfüllenden Gehaltes‹, den der Mensch mit seinen moralischen Zwecken verbinden kann. Mit diesem allein, dem ›höchsten in der Welt zu realisierenden Gut‹ sollte dann erst eine Aussicht auf eine Erfüllung unseres moralisch bestimmten Willens in einem glückseligen Leben möglich sein. Was nun für das gelingende Leben der Einzelnen gilt, lässt sich nach Kant auch für die Herausbildung eines ›ethischen Gemeinwesens‹ sagen: so wie für den Einzelnen die Form der Sittlichkeit nur die eine Seite eines Verhältnisses ist und die Erfüllung seiner Hoffnungen allererst in dem ihr proportional zugemessenen materialen Gehalt, in der Glückseligkeit, zu finden ist, – so kulminiert der höchste Zweck der Menschheit auch in einem Prinzip, in dem die formale Seite des Prozesses – die Gesetzesform der ethischen Gemeinschaftlichkeit 30 – mit dem materialen Gehalt einer gelingenden Vergemeinschaftung auch zusammenfinden kann: Im Prinzip ihrer Verbindung, im ›höchsten abgeleiteten Gut‹, als dem Prinzip einer gelingenden weltbürgerlichen Gemeinschaft. In diesem sind wir dann nicht nur als sittliche Wesen präsent, sondern in ihm ist auch die Idee unserer Glücksversprechen aufgehoben: Glückswürdigkeit und Sittlichkeit sind in dieser Idee wie apriorische Form und aposteriorischer Gehalt miteinander vereint. Was nun in diesem Ideal des ›höchsten Guts‹ als a priori vereint gedacht werden kann, wird in der endlichen Welt zur unendlichen Aufgabe einer sich zum Besseren hin entwerfenden freien Menschheit. Dass ein solches ›höchstes Gut‹ aber angenommen werden muss, ergibt sich für Kant aus einem negativen Beweisgang: Denn insofern »die Beförderung des höchsten Guts, […] Ebd. Vgl. dazu: Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Drittes Stück, Erste Abteilung; ferner: KdU, A 389/B 394. 30 Ebd., A 389/B 394. 28 29
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ein a priori notwendiges Objekt unseres Willens ist, und mit dem moralischen Gesetze unzertrennlich zusammenhängt«, muss die Unmöglichkeit des höchsten Guts auch die Falschheit des moralischen Gesetzes beweisen. »Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muss auch das moralische Gesetz, welches gebietet, dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein.« 31 Somit gilt für Kant, dass der Mensch zur Hoffnung auf einen mit seiner sittlichen Handlung verbundenen glücklichen Ausgang auch berechtigt ist, da die Welt selbst so beschaffen ist, dass Sinnliches und Übersinnliches, Sittlichkeit und Glückseligkeit, in ihr prinzipiell zur Übereinstimmung gebracht werden können. Beide Gesetzestypen, Kausalität aus Freiheit und die natürliche Kausalität, müssen darum in einem Prinzip zusammenfinden können, das die Integrierbarkeit beider Sphären in einem System harmonisch aufeinander bezogener Kräfte auch begreiflich machen kann.
5.
Die Idee des ›höchsten Guts‹
Einleitend in seine Religionsschrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft verdeutlicht Kant nun die Art der Abhängigkeit zwischen Religion und Moralität: Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen, als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist, bedarf (zwar) weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten. 32
Denn Moralität setze Freiheit voraus, und so sei eine jede Legitimationsinstanz, die nicht »aus ihm selbst und seiner Freiheit entspringt« (ebd.), eine eigene Schuld. Die Moralität bedarf also »keineswegs der Religion, sondern, vermöge der reinen praktischen Vernunft, ist sie sich selbst genug«. 33 Doch auch wenn unser Wille frei und der Bestimmungsgrund unseres Willens allein auf der Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz beruht, so ist die freie moralische Willensäußerung gleichwohl an den notwendigen Folgen seiner Maximen interessiert. 31 32 33
Kant: KpV, A 205. Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B III. Ebd., B IV.
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7. Immanuel Kants ›Ideal des höchsten Guts‹
Denn Finalität unserer Handlungen kann nicht nur der Form nach, sondern muss auch »ihrem Gehalte nach als das Vollkommenste und Beste gelten« können. Und so können diese Zwecke nicht nur dasjenige betreffen, »was wir allein aus Pflicht tun sollen«, sondern auch dasjenige, was wir dementsprechend – proportioniert – als unser Lebensglück erhoffen dürfen. 34 Nun kann jedoch das erstrebte Objekt unseres freien Willens nicht ein je bestimmtes, konkretes Objekt sein, worumwillen unser Handeln moralisch ist, sondern der bloßen Gesetzesform gemäß ist allein die Idee von einem Objekte, welches die formale Bedingung aller Zwecke, wie wir sie haben sollen (die Pflicht), und zugleich alles damit zusammenstimmende Bedingte aller derjenigen Zwecke, die wir haben (die jener ihrer Beobachtung angemeßne Glückseligkeit), zusammen vereinigt in sich enthält, das ist, die Idee des höchsten Guts in der Welt, zu dessen Möglichkeit wir ein höheres moralisches, heiligstes und allvermögendes Wesen annehmen müssen, das allein beide Elemente desselben vereinigen kann. 35
Nicht ein singulärer Gegenstand darum, ein einzelnes empirisches Objekt kann jenes erstrebte, durch unsere moralische Willensbekundung ermöglichte Objekt sein, sondern es muss – quasi inbegrifflich – die formale Bedingung aller Zwecke genannt werden können, muss alle diese in höchster Vollendung in sich vereinen, mithin also Ermöglichungsgrund aller höchsten Zwecke, der natürlichen wie der sittlichen gleichermaßen sein können. Dieses formale Objekt der Harmonie sinnlich-sittlicher Zwecke nennt Kant die »Idee eines höchsten Guts in der Welt« 36. Umwillen dieser Idee einer harmonisch sich fügenden Weltordnung wird eine aufgeklärte Religion darum unvermeidlich: Nicht zur Ausführung unseres moralisch bestimmten Willens, – dazu bedarf es nach Kant »keines Zwecks, sondern das Gesetz«, – aber für die Realisierung der damit verbundenen höchsten Zwecke, nämlich das zu erreichende höchste Gut in dieser Welt, müssen wir ein »höheres, moralisches, heiligstes und allvermögendes Wesen annehmen […], das allein beide Kant: KpV, A 211: »durch diese Vorstellungsart aber kann man allein erreichen, was man sucht, nämlich daß Handlungen nicht bloß pflichtmäßig (angenehmen Gefühlen zu Folge), sondern aus Pflicht geschehen, welches der wahre Zweck aller moralischen Bildung sein muß.« 35 Ebd. 36 Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B VII. 34
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Elemente desselben vereinigen kann«. Denn bezogen auf unsere moralischen Handlungen kann diese Idee nicht leer sein – da sie allem »unserem Tun und Lassen doch irgendeinen Endzweck« beigesellt, »der von der Vernunft gerechtfertigt werden kann«. 37 So ist Moralität an die Idee eines Endzweckes gebunden. Erst durch diesen nämlich verschafft sie ihren Pflichten »einen besondern Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke« 38. Und es ist allein durch jenen Endzweck, dass eine Verbindung der »Zweckmäßigkeit aus Freiheit mit der Zweckmäßigkeit der Natur« 39 möglich wird. Die Einheit beider liegt unserem Handeln wie der Welt gegebener Abhängigkeiten nicht als präetablierte Ordnung bereits zugrunde, sondern wird als Endzweck bloß erstrebt; mithin also fluchtpunktartig als ein projiziertes Ziel in eine zu erstrebende Weltordnung gelegt. Einer solchen Verbindung aber können wir, so Kant, auch gar nicht entbehren, denn es ist allein dieser Endzweck, der ihrer Verbindung »objektiv praktische Realität verschafft« 40. Auch wenn nur aus Vernunftgründen möglich, so sollte dieser zu realisierende Endzweck doch gleichwohl so aufzufassen sein, als sei er von Natur aus so gewollt. Und so, wie das gelingende, das schöne Kunstwerk zugleich so erscheinen sollte, als ob es ein Stück Natur sei, so sollte auch die aus freien Akten geschaffene, die moralische Welt die Welt zugleich so erscheinen lassen, als sei auch sie von Natur aus so gewollt. Darin war Kant, wie wir sahen, Rousseau und auch der Stoa gefolgt und darin ist er auch vom Taoismus nicht weit entfernt: Nicht das Künstliche oder prinzipiell Transzendente in dieser Welt zu befördern, sondern diejenigen Gesetze aufzuspüren und zu vollführen, die unsere innere Übereinstimmung mit den Gesetzen der Natur möglich und begreiflich machen, um auf diese Weise das Göttliche in der Welt zur Erscheinung zu bringen. Kants Revolution der Denkungsart beruht darum auf seinem Versuch, Religion weder als unmittelbares Gefühl noch als Weltanschauung, noch auch in ›sensu scholastico‹ in rein begrifflicher Gestalt neben den Wissenschaften zu wahren. Seine Idee der aufgeklärten Religion soll vielmehr allein im Durchgang durch die weltaufschließende Funktion der Wissenschaften als der37 38 39 40
Ebd. Ebd., B VIII. Ebd. Ebd.
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jenige unvordenkliche Horizont zu gewinnen sein, der als das Ideal der Harmonie der Zwecke unserem moralischen Streben wie unserer Hoffnung auf ein glückseliges Leben in einer zu vollführenden weltbürgerlichen Gemeinschaftlichkeit je schon zugrunde liegt. An diese Reflexionsgestalt ließe sich anschließen, wenn wir Epistemologie und Ontologie, Metaphysik und Erfahrungswissen, Anthropologie und Naturphilosophie, Kunst, Religion und Philosophie in gemeinsamer Annäherung der vereint entgegengesetzten Kräfte des westlichen und des östlichen Denkens im Horizont einer Weltphilosophie integrieren wollen, die am Maß ›des höchsten Guten‹ der Beförderung einer friedliche Welt dienlich ist. Die Frage nach einer Verständigung bezogen auf den Gedanken der Übereinstimmung aller Zwecke in einem humanen Gemeinwesen lässt uns am Ende unserer Ausführungen zum Ausgang unserer Problemstellung zurückkehren: zur Idee einer Kongruenz der Zielsetzungen zwischen Kant und verschiedenen neu-konfuzianischen Annäherungen bezogen auf das Ideal des ›höchsten Guts‹ als Ziel und Fluchtpunkt einer möglichen Seins- und Sollensordnung. Versucht werden sollte, auf eine Schwierigkeit aufmerksam zu machen, die dieser das Gemeinwesen orientierenden Zielsetzung in beiden Traditionen zugrunde liegt: Will man die Möglichkeit der Harmonie von sinnlichen und sittlichen Zwecken in einer zu gestaltenden Welt nicht dogmatisch setzen, oder aber umgekehrt, grundlegende Skepsis bezogen auf ihre mögliche Kompossibilität walten lassen, so lässt sich eine Unterscheidung gewinnen, die zwischen den empirisch kontingenten Bedingungen unseres Handelns, unserer gleichwohl notwendigen moralischen Selbstgesetzgebung wie der damit verbundenen Idee einer möglichen Übereinstimmung von natürlichen und sittlichen Zwecken eine Richtung weist: Begreift man nämlich den Charakter des notwendigen mit unserem sittlichen Bemühen verbundenen Objekts, des ›Ideals des höchsten in dieser Welt zu schaffenden Guts‹, nicht als Bestimmungsgrund und Motiv unseres Handelns, sondern versteht es recht allein als eine erhoffte Größe angesichts maximaler menschlicher Bemühungen um ein sittliches Gemeinwesen, so lässt sich eine Wegmarke für eine gemeinsame Weltordnung finden, in der die Einzelnen ihre freie Selbstbestimmung zugleich am Maß einer moralischen Welt orientieren, dem sie sich innerlich verpflichtet fühlen, auch wenn die damit verbundenen Hoffnungen in der endlichen, der empirischen Welt unerfüllt bleiben. 181 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
I. · Aufsätze zur Transzendentalphilosophie Kants
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182 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
Zweiter Teil: Aufsätze zum Deutschen Idealismus
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1. Der Geist-Begriff in Platonismus und Idealismus: Hegels systemtragendes Prinzip jenseits von Subjektivität und Objektivität
Finden wir in den letzten Jahren vielfach die Bemühung, das Prinzip der Subjektivität oder das Prinzip der Tätigkeit aus dem Bannkreis der neuzeitlichen cartesischen Selbstbewußtseinsdebatte bis in die Spuren des Platonismus-Neuplatonismus zurückzuverfolgen, um auf diese Weise eine spezifisch neuzeitliche Problemstellung im Horizont ihrer Vorläufermodelle zu relativieren, 1 so scheint es an der Zeit, das auf diesen Fährten Verdrängte erneut zu Bewußtsein zu bringen: Verdrängt wurde, so die These der folgenden Überlegungen, in der Fixierung auf das neuzeitliche Prinzip der Subjektivität, daß selbst in den ausgereiftesten Modellen dieser Traditionslinie, in den Systemen Schellings und Hegels, nicht eigentlich das Prinzip der Subjektivität, sondern vielmehr ein Prinzip dominiert, das als ein Indifferenzierungsprinzip – die Gegensätze vermittelnd – jenseits dieser Gegensätze angesiedelt werden kann. Mit dieser These wird umgekehrt der Einfluß des platonischneuplatonischen Geistbegriffs bis in die Systementwürfe des Idealismus hinein verfolgt und Schellings und Hegels Rezeption des aristotelisch-neuplatonischen Geistbegriffs als Grundlage ihrer eigenen Fundierungsabsichten ausgelegt. Mit Blick auf die Sphäre des νοῦς – des Geistes oder der Vernunft – wird der Subjektpol dann nur mehr als eine Seite eines Verhältnisses erscheinen, an dessen Indifferenzierung es Schelling wie Hegel gleichermaßen gelegen ist. Das Subjektprinzip wird nach dieser Interpretation als systemtragendes Prinzip allein im Horizont jener Sphäre begreiflich gemacht, die ihrerseits den Gegensatz von Subjektivität und Objektivität hinter sich zu las1 Vgl. W. Beierwaltes: Platonismus und Idealismus, Frankfurt/M. 1972; ders.: Identität und Differenz, Frankfurt/M. 1980; ders.: Denken des Einen. Frankfurt/M. 1985; M. Frank (Hrsg.): Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre. Frankfurt/M. 1991; K. Düsing: Subjektivität und Freiheit. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002; Th. Kobusch et. al. (Hrsgg.): Selbst – Singularität – Subjektivität. Amsterdam/ Philadelphia 2002.
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II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
sen versucht. Auch wenn die Rolle des absoluten Geistes in Hegels Logik als Prinzip der Selbstbezüglichkeit, als Prinzip des Sich-Bestimmens, verstanden werden muß, so sind doch in der absoluten Idee – jener organisierenden Mitte zwischen den Polen – beide Seiten in ihrer Trennung wie ihrem Gegensatz zueinander gerade aufgehoben. Denn es soll, so Hegel in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, »der Gegensatz, die Einseitigkeit der Subjectivität mit der Einseitigkeit der Objectivität, aufgehoben« werden. 2 Analoges gilt für Schellings Vernunftbegriff in der Fassung von 1801: In ihm ist der Gegensatz von Subjektivität und Objektivität erloschen. Demjenigen, so Schellings Überlegung, der sich auf den Standpunkt der totalen Indifferenz zwischen beiden Polen stellt, hört die Vernunft unmittelbar auf etwas Subjektives zu seyn, wie sie von den meisten vorgestellt wird, ja sie kann selbst nicht mehr etwas Objektives genannt werden, da ein Objektives oder Gedachtes nur im Gegensatz gegen ein Denkendes möglich wird, von dem hier völlig abstrahirt ist. 3
Schellings Vernunft-Prinzip ist darum nicht das Prinzip der Subjektivität, sondern die Vernunft gilt ihm als das Absolute – als das wahre An-sich –, das den Gegensatz beider Sphären überwunden hat. Jenseits der Gegensätze also, jenseits jener höchsten Urdualität zwischen Materiellem und Intelligiblem, Subjektivem und Objektivem, so die Überlegung, müssen wir suchen, wenn wir nach den Fundierungsabsichten der Systementwürfe Schellings und Hegels fragen. Erst dann, so die These, auf der Grundlage einer gemeinsamen Aufgabenstellung, begreifen wir auch die Unterschiede bezogen auf die systemtragenden Prinzipien in den Entwürfen Platons, Aristoteles’ und Plotins einerseits wie der Systementwürfe des nachkantischen Idealismus in der Gestalt Schellings und Hegels andererseits. Auch wenn dann etwa für Hegel gilt, daß er den höchsten Systemort, jenes Indifferenzierungsprinzip der absoluten Idee, aus seiner prinzipiellen Jenseitigkeit, die jenem Prinzip in Plotins Enneaden noch zukommen sollte, in den Prozeß dynamisch zurückzubinden sucht, so ist doch jenes Prinzip der Dynamisierung und Vermittlung G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriße (1830), § 225, GW 20, 222. 3 F. W. J. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie, SW IV, 114. – Zum Identitätssystem Schellings im Allgemeinen siehe B. Rang: Identität und Indifferenz. Frankfurt/M. 2000. Zum Zusammenhang mit dem Platonismus vgl. C. Bickmann: »Schellings Identitätsform im Lichte der platonischen Dialektik«. 2
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1. Der Geist-Begriff in Platonismus und Idealismus
des obersten Prinzips im Prozeß der Kategoriengenese gleichwohl von der indifferenzierenden Idee einer ›coincidentia oppositorum‹ getragen: Im Resultat sollen die Gegensätze eben nicht nur in der Idee, sondern auch der Sache nach aufgehoben sein. Die These meiner Überlegungen lautet darum im Folgenden: Bezogen auf die Fundierungsabsichten der Schellingschen und Hegelschen Dialektik, ist beiden der Horizont der platonisch-aristotelischen Fragestellung näher, als es eine Verengung ihrer Problemstellung auf ein radikalisiert subjektphilosophisches Programm sichtbar werden läßt. Beide Positionen werden nach dieser Interpretation in einen Bezugsrahmen gestellt, dem es nicht primär an den Fragen des Subjekts oder des Bewußtseins gelegen war. Die Perspektive der Subjektivität bleibt in Schellings wie Hegels Ausdeutung zwar das eigentlich Treibende, den Prozeß Vorantreibende – gemäß der Leitidee: die Substanz solle als Subjekt auszulegen sein –, im Resultat aber wird die vermittelnde, treibende Perspektive des Prinzips der Subjektivität oder Tätigkeit nur mehr als eine Seite eines Verhältnisses erscheinen, dessen Ziel- und Fluchtpunkt, dessen τέλος auf der Indifferenzierung beider Extreme beruht. Eine solche Indifferenzierung hat dann aber die Gestalt, durch welche die beiden Extreme, indem sie sich in sich selbst mit ihrem anderen Extrem zusammenschließen, als Extreme zugleich aufgehoben sind. Eine solche Indifferenzierung gelingt aber nur im Horizont eines Theorieentwurfes, in dem auch die theoretische und praktische Perspektive als nur mehr zwei komplementäre Seiten der Einen Seinssphäre oder der Einen Vernunft aufgefaßt werden. Denn nicht soll das Prinzip des Sich-Bestimmens nur ideell antizipiert und im Horizont einer reinen Kategoriengenese bündig zur Darstellung gebracht werden, sondern das Prinzip des Sich-Bestimmens soll auch als das geheime τέλος, als das Prinzip des Seinsganzen, mithin als das Prinzip der Wirklichkeit selbst sichtbar werden können. Als τέλος einer zur Vernunft gekommenen Wirklichkeit soll es die Wirklichkeit der Vernunft selbst erweisen können. Ähnlich dem Aristotelischen und Plotinischen νοῦς wird dieses Resultat jedoch erst in einer Sphäre erreicht, die als sich wissendes Selbstverhältnis, mithin als ›Geist‹ bezeichnet werden kann. Denn erst in der Sphäre des Geistes ist jene wahre Übereinstimmung von Begriff und Realität erreicht, indem hier das Sein nicht mehr bloß gegebenes oder vorausgesetztes, sondern durch einen freien Akt – den Begriff – gesetztes Sein ist und in diesem freien Setzen 187 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
zugleich sich selbst durchsichtiges Sein geworden ist. In jener Sphäre des Geistes ist der Begriff dann das Medium wie sein eigener Gegenstand: Gegenstand und Begriff fallen im ›Begriff des Begriffs‹ zusammen; sie sind eins geworden. Jene höchstmögliche Form der Übereinstimmung zwischen Denken und Sein scheint erreicht, das Sein ist gewußtes, sich selbst durchsichtiges Sein geworden und das Wissen objektives – oder sachhaltiges – Wissen. Dies aber wird erst erreicht, wenn das Sein in seinen Grund und dann schließlich auch in das Prinzip des Sich-Bestimmens zurückgegangen ist. Aber diese Übereinstimmung, so Hegel, ist auch nur in der Sphäre des Geistes möglich; die Wirklichkeit des Vernünftigen ist von der Sphäre des Geistes zugleich unabtrennbar. Alles Endliche bleibt demgegenüber kontingent und von äußeren Quellen bestimmt.
I.
Der dialektische Horizont der Annäherung an das systemtragende Prinzip
Als Methode der Annäherung an dieses systemtragende Prinzip des Geistes gilt Schelling wie Hegel die Dialektik. 4 Diese sei allein imstande, die Art des Zusammenhangs wie der Verbindung der Extreme zu reflektieren und zur Darstellung zu bringen. Dabei gilt es, bezogen auf ihren Begriff wie ihre Funktion, zunächst folgendes zu unterscheiden: Eines ist es, von der Dialektik als der Kunst des Entgegensetzens, der Verbindung und Vereinigung des Verschiedenen zu sprechen, ein anderes ist es, von einem Problemfeld zu sprechen, das allein in dialektischer Gestalt zu bewältigen ist. 5 Im ersten Falle liegt das Gewicht auf der methodischen und formalen Dimension der Dialektik, im anderen wird das Worumwillen, der Sachbezug, einer jeglichen dialektischen Reflexion thematisiert. Welches, so fragt sich, ist die Trag- und Reichweite der Dialektik als Methode sowie als sachaufschließende Weise der Annäherung an einen möglichen Gegenstandsbereich der Philosophie? Dies zu beantworten setzt eine weitere Unterscheidung voraus: die Unterscheidung von analytischer und dialektischer Logik. Ihr gemäß wird innerhalb der Sphäre des Logischen die Analyse der formaZum Verhältnis von Dialektik und systemtragendem Prinzip vgl. J. E. Pleines: »Dialektik als Letztbegründung«. 5 Vgl. dazu im allgemeinen Y. Kubo: Der Weg zur Metaphysik. München 2000. 4
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1. Der Geist-Begriff in Platonismus und Idealismus
len Beschaffenheit unserer Urteile vom Bezug dieser Urteile auf ein Sachhaltiges, auf ein Etwas oder auf die Idee des Seinsganzen unterschieden. Im letztgenannten Sinne ist Gegenstand der Annäherung eine stufenweise Annäherung an die quidditas, die Washeit einer Sache, so daß alle logischen Operationen dann ihr Maß in der begrifflichen Entfaltung dieser Sache finden. Als Grundsatz der reinen Form des Denkens gilt Hegel der Satz der Identität und des auszuschließenden Widerspruchs. Dieser aber, so sein Argument, betrifft nur die Form der Rede und ist in seiner Geltung darum auf die reine Übereinstimmung des Denkens mit sich beschränkt. »Die Unvollständigkeit dieser Weise, das Denken zu betrachten, welche die Wahrheit auf der Seite läßt«, so schließt Hegel an, »ist allein dadurch zu ergänzen, daß nicht bloß das, was zur äußern Form gerechnet zu werden pflegt, sondern der Inhalt mit in die denkende Betrachtung gezogen wird.« 6 Dem formal Bestimmten, dem Gehalt des Gedachten, können dann kontradiktorisch entgegengesetzte Prädikate zugesprochen werden, ohne dem Grundsatz der Identität zu widersprechen. 7 Denn, so Hegel: »Es zeigt sich von selbst bald, daß was in der nächsten gewöhnlichsten Reflexion als Inhalt von der Form geschieden wird, in der That nicht formlos, nicht bestimmungslos in sich, seyn soll.« 8 Diese formale Bestimmtheit des Gedachten wird nur, wie Hegels spekulativer Satz verdeutlicht, in einer dialektischen Logik zu erfassen sein. Insofern nämlich der Satz »Seyn und Nichts ist eins und dasselbe«, den Hegel zu Beginn der Logik in seiner Wahrheit zu erweisen sucht, »die Identität dieser Bestimmungen ausspricht, aber in der That ebenso sie beyde als unterschieden enthält«, scheint er sich in sich selbst zu widersprechen und damit aufzulösen. 9 Hier aber liegt nicht ein Widerspruch der Form nach, sondern allein bezogen auf den Gehalt der Sache vor. Für die gesuchte Übereinstimmung von Denken und Sein, Subjektivität und Objektivität in der Sphäre des Geistes ist jedoch nicht 6 G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik. Erster Band. Die Lehre vom Sein (1832), GW 21, 17. – Zum Themenkreis von Subjektivität und Logik siehe K. Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Bonn 1995. 7 Vgl. Hegel: Die Lehre vom Sein (1832), GW 21, 17. 8 Hegel: Die Lehre vom Sein (1832), GW 21, 17. 9 Hegel: Die Lehre vom Sein (1832), GW 21, 77. – Zum Seinsbegriff am Anfang der Wissenschaft der Logik siehe Fulda 1966; ferner Bickmann 2000 [ebenfalls abgedrucktin diesem Band]
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II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
nur, wie wir sahen, die Widerspruchsfreiheit unseres Denkens richtungweisend, sondern, insofern unsere gedanklichen Operationen auf einen Gehalt bezogen sind, wird zugleich darüber zu entscheiden sein, wann und unter welchen Bedingungen sich uns eine Sache derart erschließt, daß wir von sachhaltigem Wissen bzw. einer gewußten Sache sprechen können. Dies aber ist dann nicht mehr allein das Problem einer logisch-argumentationstheoretischen Analyse, sondern einer Analyse, welche die Beziehung zwischen Wissen und Gewußtem, Denken und Gedachtem, zum Leitfaden ihrer Annäherung nimmt. Es ist dies zugleich die Perspektive, die traditionell das Aufgabengebiet von Transzendentalphilosophie, Wissenschaftslehre und dialektischer Logik sowie Phänomenologie bestimmt hat. 10 Diesen Positionen war es nicht allein an den Formen des Wissens, sondern ebensosehr an dem gelegen, was sich in diesen Formen je als ein Gewußtes erschließt. Ihnen sollte darum gelten: So, wie der Grundsatz der Identität und der Widerspruchsfreiheit für eine analytische Logik grundlegend ist, sollten elementare Kategorien und Grundsätze auch für die Analyse unserer Gegenstandserkenntnis zu finden sein. Mit dem Seins- bzw. Gegenstandsbegriff – sei es des Einzelnen oder der Ordnung insgesamt – war dann aber zugleich ein Widerpart in das Denken gesetzt, dessen Beschreibung allein in einer Begriffsform möglich war, die als transzendentale, dialektische oder spekulative Betrachtungsart beiden Seiten stets gleichermaßen Rechnung zu tragen versucht: der Form wie dem formal Bestimmten, dem Denken und dem Gedachten gleichermaßen. Beide galten ihnen nur mehr als die irreduziblen Pole der Binnenstruktur des Denkens. Für die Analyse des spekulativen Satzes im Sinne des Ausgangs der Hegelschen Logik bedeutet dies: Insofern das ›Sein‹ hier nicht sinnlich Erfaßtes oder ein bereits bestimmtes Sein thematisiert, sondern den obersten und leersten Seinsgedanken im reinen Wissen zur Sprache bringt, ist es auch nur im und durch ein Bewußtsein gesetzt. ›Sein‹ ist also nicht unabhängig davon, ob es gedacht wird oder nicht. Darum hebt sich das, was im Bewußtsein ob seiner leeren Unbestimmtheit ebensowohl als ›Nichts‹ aufgefaßt werden kann, tatsächlich ins ›Nichts‹ auf, wie umgekehrt das ›Nichts‹ qua Gedachtsein ebensowohl als ›Sein‹ aufgefaßt werden kann. Beide: Sein wie Nichts, sind darum – aufgrund dieser Identität mit ihrem Gegenteil – in ihr je Anderes immer schon übergegangen. 10
Vgl. dazu C. Bickmann: Differenz oder das Denken des Denkens. Hamburg 1996.
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1. Der Geist-Begriff in Platonismus und Idealismus
Aus diesem Grunde kann Hegel auch sagen, daß das ›Sein‹, insofern es sich in seiner leeren Unbestimmtheit als dasselbe wie das ›Nichts‹ erweist, als ›Sein‹ ins ›Nichts‹ wie auch das ›Nichts‹ ins ›Sein‹ übergeht bzw. genauer: immer schon übergegangen ist. Beide sind also dasselbe. Aus diesem Grunde, wonach beide nicht ›sind‹, sondern in ihrem jeweiligen Gegenteil immer schon verschwunden sind, kann Hegel auch sagen: Sie ›sind‹ nicht, sondern ›werden‹ immer nur. Damit nun soll in einem dritten Schritt dann zugleich die Kategorie ›Werden‹ gewonnen sein. Diese sei, so Hegel, aus der Analyse des spekulativen Satzes direkt abgeleitet. Dieses Prinzip des Umschlags der Gegensätze ineinander ist für die Hegelsche Logik insgesamt leitend. Denn Hegel sucht – bezogen auf die Zielsetzung des Gesamtunternehmens – zu zeigen, wie die beiden Pole der Einen Seinssphäre, das subjektive wie das objektive Prinzip, jeweils immer schon ineinander übergegangen sind. Dies soll im Folgenden in der Auseinandersetzung mit dem Prinzip des νοῦς, des Geistes, näher gezeigt werden. Die gesuchte Einheit von Identität und Nicht-Identität, die in ihrer Höchstform erst der Geist repräsentiert, ist nicht mehr das Problem einer bloß formalen Logik, sondern einer Logik, die Denken und Gedachtes in ihrem spannungsreichen Verhältnis zueinander zu betrachten sucht. Bereits Aristoteles hat den Ort jener reflexiven Selbstbetrachtung νοῦς oder das ›Denken des Denkens‹ genannt und mit ihm dasjenige systematisiert, was Platon der Methode der Dialektik, der Sphäre des noetischen Denkens, zugesprochen hatte. 11 Aufgehellt und systematisch beschrieben werden kann dieser Einheitsgedanke als das Ideal eines durchgängig bestimmten Ganzen darum, so Hegel, nur im Horizont einer Theorie, in der Denken und Gedachtes, Subjektives und Objektives in ihrer inneren Verbindung zueinander zur Sprache gebracht werden. Wie aber, so wird zu fragen sein, soll der Gegensatz beider Sphären, des Denkens als Tätigkeit und Vgl. dazu Bickmann 1996. Diesen Unterschied zwischen analytischer und dialektischer Logik müssen wir deutlich im Bewußtsein behalten, wenn wir dialektische Logik heute vielfach im Horizont analytischer Verfahren interpretiert sehen. Häufig sind in einer solchen analytischen Annäherung Ausgang und Ziel der dialektisch verfaßten Systemanlagen längst aus dem Auge verloren. Vgl. dazu M. Frank: Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Stuttgart 1991; ferner A. Arndt/ C. Iber (Hrsgg.): Hegels Seinslogik: Interpretationen und Perspektiven. Berlin 2000. – Zur Rezeption der Aristotelischen Philosophie bei Hegel: Kern 1971; A. Ferrarin: Hegel and Aristotle. Cambridge 2001.
11
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II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
des Gedachten als des Gegenstandes dieser Tätigkeit, in der absoluten Idee zugleich überwunden sein?
II.
Hegels Versuch, die μέθεξις-Frage zu lösen
Das Problem der Teilhabe der zwei heterogenen Seiten des Denkens und des Seins oder des Subjektiven und des Objektiven aneinander kann freilich als Platons Grundfrage: das Problem der μέθεξις, aufgefaßt werden, das er vornehmlich in seinen Dialogen Phaedo, Phaedrus, Timaeus, Theaetetus, Sophistes und Parmenides auseinanderzulegen versucht. Im Dialog Parmenides, dessen Frage auf die Bedingungen der Denkbarkeit des ersten Prinzips, des ἕν, gerichtet ist, greift Platon dieses Problem in zweifacher Weise auf. In seinem ersten und in seinem zweiten Teil wird das Teilhabeproblem bezogen auf die Frage nach der rechten Bestimmung des Verhältnisses von Einem und Seiendem zur Sprache gebracht. Dabei gilt es zunächst – im ersten Teil des Dialoges – nach der Art der Teilhabe der Dinge an den Ideen zu fragen, um daraufhin im zweiten Teil auf einer nächsthöheren Ebene – aus der Annahme eines allen Ideen zugrundeliegenden Einen – die Frage nach der Denkbarkeit des Einen wie der Teilhabe des Mannigfaltigen und Differenten an diesem Einen zu stellen. Platons μέθεξις-Problem wird im Sinne Hegels dann in die Frage transformiert, wie denn ein Subjektives sich in das Objektive hineinbilden kann und wie ein Objektives zugleich als vom Subjekt gesetzt aufgefaßt werden kann. In diesen nachkantischen Annäherungen wird Platons überseiender Einheitsgrund sukzessive in den Prozeß zurückgebunden und damit zugleich seiner Radikalität als eines gänzlich Anderen zu allem Anderen beraubt. 12
1.
Der freie Geist als Ort zwischen den Polen
Mit der Frage nach der Art der Übereinstimmung beider polar entgegengesetzter Sphären ist im Sinne Platons zugleich der Raum betreten, den er im Liniengleichnis der Res publica als Vernunft und Zur ethischen Dimension dieser Aufhebung siehe G. Römpp: Ethik des Selbstbewußtseins. Berlin 1999.
12
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1. Der Geist-Begriff in Platonismus und Idealismus
den Aristoteles im zwölften Buch seiner Metaphysica als die Sphäre des νοῦς – des Geistes – bezeichnet hat. Für diesen sollte es kennzeichnend sein, daß er nicht auf ein anderes, ein vom ihm verschiedenes Mehr bezogen ist, sondern als reine Selbstbeziehung aufgefaßt werden kann. Diese ist aber weniger mit unserem natürlichen Weltverhältnis oder aber unserem wissenschaftlichen Weltbezug in einer intentio recta gegeben, sondern ihre Aufgabenstellung ist eher derjenigen Sphäre überantwortet, die in der Rückwende des Blicks im Sehen des Anderen zugleich sich selbst zu sehen vermag. Da sich uns nämlich die Sache – das Einzelne wie die Ordnung insgesamt – nur unter Einschluß der Formbedingungen unseres Denkens, mithin der Vernunftfunktionen unseres Gemütes, in ihrem zureichenden Grunde erschließt und wir darum die Formbedingungen des Gedachten nicht allein vor der Klammer, sondern auch in der Klammer thematisieren müssen, wie dies einzig in der Sphäre des Geistes geschieht, so kann die Reflexion auf einen solchen zureichenden ontologischen Grund nur unter Einschluß der Reflexion auf die Bedingungen des Denkens – im Selbstverhältnis des sich wissenden Absoluten – möglich sein. Denn ohne den Selbsteinschluß des Denkens, so die These, bliebe der zureichende Bestimmungsgrund aller Seinssphären unbegreiflich. Darum sollte umgekehrt gelten, daß allererst in der vollständigen Entwicklung des Geistbegriffs sich uns auch diejenige Sphäre erschließt, in der das Seinsganze in seine Selbstdurchlichtung überführt werden kann. Auf diese Weise ist dann auch erst – so Schelling wie Hegel – die causa finalis des Seinsganzen zureichend erfaßt, wenn das Sein – Einwirken – und SichBestimmen des Geistes als das konstitutive, das Sein selbst nicht nur reflektierende, sondern frei setzende Prinzip – als Prinzip des Seinsganzen – verstanden worden ist.
2.
Platons und Plotins Suche nach dem Urprinzip ›vor dem Geiste‹
Mit dem Geistbegriff – der Sphäre des sich selbst denkenden Denkens – ist im eigentlichen Sinne auch erst der Ort der Suche nach einem systemtragenden Prinzip erreicht. Denn erst diese intensivste Form der Einheit zwischen Denken und Gedachtem, die der Geist repräsentiert, macht in einem nächsten Schritt auch die Suche nach dem einheitsstiftenden Prinzip dieser in sich differenzierten Einheit möglich, 193 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
mithin also die Suche nach der Explikation desjenigen Prinzips, das ›vor dem Geiste ist‹, welches darum selbst noch die Urspannung von Subjektivität und Objektivität, Denken und Sein, umgreift und übersteigt. Die These lautet – und darin sind Platon, Plotin, Schelling und Hegel sich einig –, daß erst ein Denken der Einheit zwischen den Polen in der Sphäre des Geistes ein Andenken an jenes indifferenzierende Urprinzip erlaubt. Daß Platon und Plotin dann über jenes Andenken an das einige Urprinzip hinaus aus systematischen Gründen nicht mehr versuchen, die Sphäre des Geistes zu bemühen, um im Begriffe zu erfassen, was einer jeden begrifflichen Annäherung sich entzieht, stellt zugleich den entscheidenden Unterschied zu den nachkantischen Versuchen dar, das Indifferenzierungsprinzip, sei es im Horizont der absoluten Idee oder aber der absoluten Vernunft, zu thematisieren. Mit Bezug auf die Sphäre des νοῦς wird jedoch für Aristoteles wie für Hegel zugleich auch das τέλος der Gesamtbewegung gesetzt: Im Denken soll die höchste Einheit zwischen Denken und Sein zu erreichen sein. Im Horizont der Hegelschen Philosophie lautet das Prinzip dann näher, wie folgt: Nichts soll als Gegebenes – als Objektives – zurückbelassen werden, das bloß gegeben oder vorausgesetzt und nicht von einem bestimmenden Prinzip, dem Prinzip der Subjektivität, frei gesetzt ist. Als τέλος der Gesamtbewegung gilt darum die Selbstbewegung und Selbstdurchlichtung der absoluten Idee. Diese Selbstdurchlichtung der absoluten Idee wird dabei gemäß der beiden in ihr vereinten Pole in einem doppelten Sinne zur Sprache gebracht: Sie ist zum einen – im Sinne eines genetivus obiectivus – das Wissen von der Idee wie ineins damit – im Sinne des genetivus subiectivus – das Wissen der Idee selbst. In dieser Form der reinen Selbstbezüglichkeit – im Denken des Denkens – ist der freie, sich bestimmende Geist dann das agens wie sein eigener Gegenstand. In der Artikulation des höchsten Prinzips ist die Hegelsche Vernunftkritik darum Selbstentäußerung und Selbstbestimmung ihrer Vernunft zugleich.
a.
Der Geist in subjektiver und objektiver Gestalt
Beide Seiten der Bewegung des Geistes erhalten im Prozeß der Gesamtbewegung jedoch je unterschiedliche Funktionen: Das Geistprinzip in der Funktion als Prinzip der Tätigkeit, d. h. als subjektives Prin194 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
1. Der Geist-Begriff in Platonismus und Idealismus
zip, bringt, indem der Geist sich selbst hervorbringt, zugleich sein Anderes hervor. 13 Das Andere, der Gegenstand dieser Tätigkeit oder das Gedachte, auf das dieses Denken bezogen ist, soll sich, als von jenem Prinzip aus ermöglicht, dem Prinzip zugleich gemäß erweisen. Als von jenem Prinzip des Sich-Bestimmens erzeugt und bewegt, wird das solchermaßen Bewegte erst dann diesem Prinzip entsprechen, wenn auch die objektive Seite des Prozesses, der objektive Geist, jenes Prinzip in sich aufgenommen hat und von ihm durchdrungen ist. So ist es die Realität des höchsten göttlichen Prinzips hervorzubringen, was ihm selbst ähnlich und gemäß ist. Das Prinzip muß somit zugleich hervorbringen, daß jene Anähnlichung sei. Das Prinzip nämlich setzt, indem es sich selbst hervorbringt und schließlich im Gleichen ein Gleiches sieht, zugleich den Fluchtpunkt der Gesamtbewegung frei: Das Hervorbringende, soll es sich im Hervorgebrachten sehen und als das Eigene aneignen und verstehen können, muß das Hervorgebrachte sich selbst gemäß erzeugen. Das Verobjektivierte, das Veräußerte dieses produktiven Aktes, wird darum auch erst dann als adäquater Spiegel, Bild und Ausdruck jenes Prinzips erscheinen können, wenn es dem Prinzip ähnlich geworden ist, d. h. wenn es selbst als objektive Sphäre zugleich Geist geworden ist, mithin also, wenn alles je Veräußerte zugleich als ein Innerliches, als ein Geistiges erscheinen kann. Der Prozeß der Entäußerung aus jenem Prinzip ist darum nicht nach dem Muster eines Werkbaumeisters gedacht, der präexistente Ideen als formbildende Instanzen mit der Materie der Dinge verknüpft; auch wird er nicht nach dem Muster einer creatio ex nihilo aufgefaßt; sondern er ist ewiges Werden, ewiges Sich-selbst-Hervorbringen, ewiges Produzieren. Doch wohnt diesem ewigen Produzieren ein τέλος inne, das den Prozeß von fern her lenkt und bestimmt: Bestimmbares wie das reine Sein im Ausgang der Seinslogik soll am Ende der Begriffslogik in sich bestimmtes, sich frei setzendes Sein genannt werden können; das ἄπειρον des unbestimmten reinen Seins im Ausgang der Logik von 1812 wird durch das Prinzip πέρας – Begrenzung und Bestimmung – zu einem Bestimmten: Ein Bestimmtes wird somit aus der Schwebe zwischen Bestimmbarkeit (dem reinen Sein) und Bestimmung (der
13
Vgl. dazu Henrich 1982.
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II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
von fern her leitenden Idee der durchgängigen Bestimmung) hervorgebracht. Diese Spannung zwischen unbestimmtem reinem Sein und durchgängig bestimmter, von fern her leitender Idee treibt darum die Gesamtbewegung nicht nur voran, sondern setzt ihr zugleich auch ein Maß und Ziel. Zwischen dem Hervorgang aus jenem höchsten Prinzip: dem reinen An-sich-Sein der Seinslogik, und dem Vorausgesetzt-Sein, d. h. für ein anderes Sein der Wesenslogik, hin zum reinen Sich-selbst-Bestimmen und Sich-Wissen des höchsten Prinzips am Ende der Begriffslogik vollzieht sich ein doppelter Bewegungssinn. Dieser besteht im Hervorgang aus dem höchsten Prinzip sowie der Rückkehr in den Grund der Möglichkeit jener Hervorbringungen.
b.
Hervorgang und Rückkehr
Die Bewegung von Hervorgang aus jenem höchsten Prinzip und Rückkehr in den Grund der Möglichkeit jener Hervorbringungen aus dem höchsten Prinzip ist eine Bewegung, die in sich selbst zurückkehrt – sich veräußert und verinnerlicht ineins. 14 Beide inversen Bewegungsrichtungen des höchsten Prinzips sind dabei dem Prinzip wesentlich; denn um sich zu finden, muß sich das Prinzip veräußert haben, an sein Anderes verloren haben; und um das Veräußerte, Verobjektivierte, als das eigene Selbst zu erkennen und aneignen zu können, muß diese Fremdheit zugleich zurückgenommen werden: Das Fremde muß als das veräußerte Eigene eingesehen werden können. Beide Sphären sind darum im Grunde wesensgleich, Eigenes und Fremdes, Subjektiv-Setzendes und Verobjektiviertes sowie Entäußertes, vor ihrer Entzweiung eins und einig. Im Prinzip des Geistes oder des Sich-Bestimmens sind beide in eine Indifferenz gebracht, nach der Tätiges und Gegenstand dieser Tätigkeit ununterscheidbar geworden sind. Im Gesamtprozeß bleibt das subjektive Prinzip, das Prinzip des Sich-Bestimmens, das eigentlich Treibende; denn es ist jenes Prinzip des Sich-Bestimmens: das Prinzip der Tätigkeit, das diktiert, daß im Resultat nichts zurückbleiben soll, das nicht von diesem Prinzip gesetzt ist, und daß nichts Gesetztes, nichts Objektives mehr existieren 14
Vgl. zum Folgenden Beierwaltes 1970.
196 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
1. Der Geist-Begriff in Platonismus und Idealismus
soll, das nicht zugleich auch von diesem Prinzip angeeignet und begriffen ist. Das Prinzip des Absoluten sucht, indem es sich selbst hervorbringt, ein Gleiches im Gleichen und sucht somit neben dem produktiven Impuls jenes Prinzips auch die Angleichung des Prinzipiierten an dieses Prinzip: In all seinen Entäußerungen ist das Prinzip darum bestrebt, sich im Anderen zu finden. Sich dort zu finden, bedeutet aber, die Fremdheit des Anderen aufzuheben und das Andere sich selbst gleich zu machen. Doch war die Fremdheit von Anbeginn an bloßer Schein: Als vom und durch das Prinzip gesetzt, war jenes Andere, das reine unbestimmte Sein im Ausgang der Seinslogik, bloß dem Scheine nach als das Andere der Vernunft aufgefaßt. In der Wesenslogik konnte dieser Schein des ›reinen Seinsgedankens‹ durch die relationalen Bestimmungen von Ursache und Wirkung, Wesen und Erscheinung, Identität und Differenz usw. als bestimmt durch ein Anderes durchsichtig gemacht werden. Ein solchermaßen bloß vorausgesetztes Sein, d. h. durch anderes bewirktes Sein, kann aber dem Begriffe des freien, sich selbst setzenden und durchsichtigen Seins noch nicht entsprechen. Jenes bloß vorausgesetzte Sein ist noch nicht zu sich gekommen; das göttliche Prinzip ist darum in ihm noch nicht zu seiner vollständigen Erscheinung gelangt, verbleibt noch auf der Ebene bloßer Gewißheit. Bloße Gewißheit seiner selbst bedeutet aber bloß unbestimmtes Ahnen, sich seiner selbst als Wissen noch nicht bewußt geworden zu sein; eine solche Gewißheit wäre mithin also bloßer Glaube. Das sich hervorbringende Prinzip des Sich-Bestimmens erfordert aber, um im Anderen vollends bei sich zu sein: völlige Selbstdurchsichtigkeit; denn erst die völlige Selbstdurchsichtigkeit läßt das Objektive nicht als ein opakes, bloß geahntes, bloß subjektiv Empfundenes mehr erscheinen, das gegenüber der Sphäre des Subjektiven das Andere zum Subjekt darstellen könnte. Es gewinnt ein Bewußtsein seiner selbst erst als ein frei sich selbst setzendes und sich seiner selbst bewußt gewordenes Prinzip, d. h. in der Sphäre des Begriffs des Begriffs. Ein göttliches Prinzip nämlich, das sich in seiner Veräußerung nicht selbst verstanden hätte, wäre widersprüchlich in sich. Das Andere muß somit im Resultat der Selbsthervorbringung des Prinzips im Kern gar nichts vom Prinzip Verschiedenes mehr sein; es muß vielmehr mit dem Prinzip identisch geworden sein, muß selbst dieses Prinzip verkörpern, muß adäquate Gestalt des Prinzips selbst sein können, so daß es im Resultat ebensoviel wäre zu sagen: ›Das Seinsganze ist konkretisierte göttliche Idee‹, wie: ›Die 197 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
Idee des Göttlichen hat ihr Sein nur in jener veräußerten Gestalt‹. So gedacht aber müssen Sein und Idee – die beiden Eckpfeiler der Hegelschen Philosophie – in ihrem Gehalte konvergieren. Das Sein als gewußtes und frei gesetztes Sein ist die Idee, wie umgekehrt die Idee im Seinsganzen allererst ihre konkretisierte Gestalt gefunden hat. Beide Extreme sind darum im Resultat nicht mehr als Extreme präsent, sondern werden durch ihre wechselseitige Transformation – ihr jeweiliges Übergehen ineinander – als Extreme zugleich aufgehoben.
c.
Das Ziel: der freie Geist
Die Objektivität der gegebenen Seinsbestimmungen wie auch die Subjektivität des Prinzips des Sich-Bestimmens oder der Idee haben im Resultate ihrer Vermittlung – am Ende des Prozesses von Hervorgang und Rückkehr – ihr je Anderes in sich aufgehoben. Hegels systemtragendes Prinzip operiert darum jenseits der Gegensätze von Subjektivität und Objektivität, jenseits der Spannung zwischen Sein und Idee; denn im Resultat gilt ihm das Sein als Idee wie auch die Idee in ihrem durchgängig entfalteten Sein. Darum ist seine Philosophie auch nicht eigentlich ein Ausdruck des radikalisierten Prinzips der Subjektivität, sondern eher ein Vorbote für eine Depotenzierung des Prinzips Subjektivität. Subjektivität als a priori eingebettet in eine Totalität von Seinsbestimmungen ist nicht abstrakt formaler Gegenpol zur Sphäre der Objektivität, sondern selbst objektiv geworden, wie umgekehrt die Seinsbereiche auch nur als subjektbestimmte ihre Wahrheit finden. Diese wechselseitige Durchdringung der Pole zur Darstellung zu bringen, dies ist es, was eine dialektische Logik als Onto-Theo-Logik zu leisten hat. Dies gilt, weil sie zeigen muß, wie Begriff und Realität, Denken und Sein, Subjektivität und Objektivität nur mehr als zwei Seiten eines Gesamtverhältnisses aufgefaßt werden können, in deren höchstem Prinzip sie als Gegensätze zugleich erloschen sind. Erst am Ende des Durchgangs durch jene Wechseldurchdringung der Pole haben wir uns dann zu demjenigen Prinzip vorgedacht, aus dem heraus dieser Gesamtprozeß allein begreiflich zu machen ist. Die These lautet: Erst der freie Geist, jenseits von Veräußerung und Rückkehr, wird die Gegensätze von Subjektivität und Objektivität wirklich hinter sich gelassen haben. Denn erst in der Sphäre des absoluten – des freien – Geistes ist auch das Prinzip zu sich selbst ge198 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
1. Der Geist-Begriff in Platonismus und Idealismus
kommen. Erst, wenn es im Anderen sich selbst als dessen Bestimmungsgrund erkannt hat, ist die höchstmögliche Einheit der Gegensätze erreicht. Es ist diese höchstmögliche Einheit der Gegensätze, die zugleich ›Realität des Prinzips‹ genannt werden kann. In ihr ist jenes Prinzip nicht mehr bloße Idee, sondern die Idee zugleich in ihrer Realität aufgefaßt. Gegenüber Kant hatte Hegel dies als seine entscheidende Aufgabe begriffen: nicht bloß die Idee des höchsten Prinzips, sondern auch seine Realität zu erweisen – ohne dabei in eine Subreption der Vernunftbegriffe zu verfallen. Als das verbindende Dritte fungiert in diesem polar entgegengesetzten Prozeß somit die Sphäre des Geistes, die als indifferent gegenüber den Differenzen aufgefaßt werden kann; denn dieser ist Prinzip und Realität des Prinzips zugleich. Der absolute Geist, jene im engeren Sinne Sphäre des Göttlichen, ist darum allererst die wirklich vollzogene Einheit von Subjektivität und Objektivität, mithin also jene indifferent subjektiv-objektive Ineinsbildung der Pole, der als sich selbst setzendes wie selbst sehendes Vermögen Setzen und Gesetztes, Sehen und Gesehenes, Denken und Gedachtes gleichermaßen genannt werden kann. So ist das Prinzip nichts ohne seine Entäußerung, seine Entzweiung, und nur im erfüllten Durchgang durch alle Stadien seiner Entäußerung haben wir das Prinzip in seiner vollendeten Gestalt. Erst im Resultate jenes Durchgangs durch alle Sphären der Seinstotalität läßt sich finden, was wir den obersten Bestimmungsgrund des Gesamtprozesses nennen können: Im Hegelschen Sinne ist dies das Geistprinzip in seiner Doppelgesichtigkeit als subjektives, all-ermöglichendes, sowie objektives Prinzip, als allumfassendes Prinzip. Es ist mithin seine eigene Identität, die hier zur Erscheinung kommt; es ist das Sich-Bestimmen des höchsten Grundes. Es ist auch dieses höchste Prinzip notwendig ein Selbstverhältnis, da nur durch seine Eigenschaft als selbstbezügliches Prinzip das prinzipiell Jenseitige des platonisch-neuplatonischen Urprinzips an den Prozeß der Entfaltung von Differenz und Mannigfaltigkeit zurückgebunden werden kann. Als neuplatonisch Jenseitiges aber hat es, so Hegel, einen der subjektiven Reflexionsphilosophie vergleichbaren Status: Es bleibt indifferent gegenüber dem Prozeß seiner Entfaltung. So sei es an der Zeit, fordert Hegel, zur Selbsterkenntnis der göttlichen Vernunft zurückzukehren; und das fiktive Jenseitige, zu dem es in platonisch-neuplatonischer Philosophie verurteilt sei, er199 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
neut in den Horizont der Vernunft zurückzuholen, um Prinzip und Prinzipiiertes, wie Aristoteles dies in seinem νοῦς versucht, wieder einander anzunähern. 15 Indem Hegel dieses Prinzip dann allererst im Durchgang durch alle Negationsstufen erreicht, werden Prinzip und Prinzipiiertes direkt aneinander angeschlossen. Doch gilt auch für Hegel, daß jene Indifferenzierungsform der absoluten Idee, die als Grund der Einheit der Gegensätze gelten soll, nur ex negativo – in der Negation der Negation – zu erfassen sei. So ist für Hegel das höchste Prinzip nicht mehr prinzipiell jenseits der Pole, sondern nur in deren dynamischer Differenzierung und Entdifferenzierung in ihrer Veräußerung greifbar geworden. Auch wenn sich das höchste Prinzip für Hegel dann nur auf dem Wege der Negation der Negation erschließt, so bleibt für ihn gleichwohl der Geist der Horizont, in dem sich jenes Urprinzip auszulegen und zu entfalten sucht. In Hegels Dialektik ist jener Indifferenzierungsprozeß dann in allen Stadien des Hervor- und Rückgangs derart zur Durchführung gebracht, daß sich an den Extremen selbst der Umschlag vollzieht. Indem die Extreme stets gesetzt und wieder aufgehoben werden, heben sich die Pole in ihrem Gegensatz zueinander auf und erweisen sich im Wesen als eins und einig. Sein und Idee, Sein und Setzen – die zwei Gegenpole der Hegelschen Dialektik – konvergieren somit in ihrem Gehalt: Sein ist in Wahrheit vom Geiste gesetztes, gezeugtes Sein, das im freien, sich selbst bestimmenden Sein allererst seine Erfüllung und Vollendung findet und somit die Finalität des Seinsganzen allererst auf der Ebene des sich selbst frei setzenden Geistes erreicht. Ganz aristotelisch ist dies der sich selbst sehende und im Sehen zugleich sich selbst setzende und sich selbst bestimmende Geist, dem allein eine vita contemplativa – von äußeren Zwecken befreit – in reiner Reflexion auf die Gründe der Möglichkeit des Seinsganzen Rechnung zu tragen vermag. In der symmetrischen Bewegung des Hervorgangs aus jenem höchsten einheitstiftenden Prinzip wie dem gleichzeitigen Rückgang in den Grund der Möglichkeit der freien Selbstentfaltung dieses Prinzips wird dann zugleich eine gegenläufige Bewegung in Gang gebracht, an deren äußersten Enden beide Extreme zusammenfallen, so daß der Gegensatz von Subjektivität und Objektivität in den Extrempolen von Sein und Idee je wechselseitig vermittelt ist. 15
Vgl. dazu J. Halfwassen: Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Bonn 1999.
200 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
1. Der Geist-Begriff in Platonismus und Idealismus
3.
Die triadische Gestalt des systemtragenden Prinzips
Im Resultat werden diese Bewegungen in ihrer Teilhabe am je anderen Pol durchsichtig. Ein Umschlag der Extreme ineinander ist vollzogen; die coincidentia oppositorum ihr insgeheim leitendes Prinzip. 16 Dies ist somit Hegels Versuch, Platons μέθεξις-Frage zu lösen. Als Gegensatz sind beide Extreme – ähnlich dem Indifferenzierungsprinzip Schellings – aufgehoben, als Entgegenstehende wesentlich als Einheit gesetzt, so daß ihre Unterschiede, wie Schelling dies methodologisch in der Darstellung seines Systems von 1801 auszudeuten versucht, nur quantitativer, nicht aber qualitativer Art mehr sein können. Damit ist jenes höchste Prinzip dann weder monistisch noch dualistisch, sondern triadisch angelegt. Denn das Prinzip ist nichts ohne seine Entäußerung. Bliebe nun aber die Entäußerung bloße Negation des indifferent Einen, dann wäre eine Dualität von Bestimmtheitsprinzip und Prinzip der Bestimmbarkeit nach dem Muster der Dualität von πέρας und ἄπειρον die Konsequenz. Doch schließt sich im Sinne Hegels das Ur-Prinzip im sich wissenden Selbstverhältnis erneut mit sich zusammen und hebt damit die Negation in einer doppelten Negation erneut auf. Ähnliches gilt schließlich für die Identitätsform des Schellingschen Identitätssystems. Das Prinzip A = A, das die Sphären des Intelligiblen wie des Realen dominiert, abstrahiert, so Schelling einleitend in seiner Darstellung meines Systems der Philosophie, sowohl vom subjektiven Prinzip, dem denkenden Ich, als auch von der Sphäre der Objektivität, da jene Unterscheidung erst in derjenigen Sphäre zur Erscheinung kommt, die dem Absoluten gegenüber nachgeordnet, mithin nachträglich ist.
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16
Vgl. dazu P. Trawny: Die Zeit der Dreieinigkeit. Würzburg 2002.
201 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
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202 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
1. Der Geist-Begriff in Platonismus und Idealismus
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203 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
2. Der Gigantenstreit zwischen Schelling und Hegel: Widersacher im eigenen Lager
I.
Schelling auf dem Weg zum ›irreduziblen Faktum der individuellen Existenz‹
Eintönig, ja beinahe einschläfernd sei Hegels Begriffsphilosophie, so Schelling in seinen Münchener Vorlesungen von 1827: In der angeblich notwendigen Entfaltung der Begriffe sei der Begriff als etwas sich selbst Bewegendes vorgestellt und, was die Lage verschärfe, die Übertragung der Bewegung auf den Begriff sei kaum in der Lage, den Hauptmangel des Unternehmens: »den Mangel des wahren Lebens zu verbergen« 1. Vom Begriffe zu sagen, er bewege sich durch seine »Momente hindurch«, sei »nicht etwa eine kühne, sondern nur eine frostige Metapher.« 2 Seine Identitätsphilosophie sei demgegenüber bereits »mit den ersten Schritten in der Natur, also in der Sphäre des Empirischen und somit auch der Anschauung«. 3 Über der Naturphilosophie aber eine »abstrakte Logik« aufzubauen, 4 so Schelling, heiße, den zweiten vor dem ersten Schritt zu tun. Die abstrakten Begriffe wie Werden, Dasein usw. werden darin zum Ersten, zum Wirklichen, zum eigentlich Treibenden; Abstrakta aber, so die Kritik, könnten natürlicherweise nicht eher dasein, für Wirklichkeiten gehalten werden, als das ist, wovon sie abstrahiert sind. Begriffe, »objektiv genommen«, seien »nach der Natur, nicht aber vor derselben« 5. Die Kategorie »Werden kann nicht eher sein als ein Werdendes, ein Dasein nicht eher als ein Daseiendes.« 6 Die Methode der Naturphilosophie aber auf die Logik 1 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen. (1833/34), SW I/10, 137. 2 Ebd., 138. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Ebd., 140 (Hervorh. im Text). 6 Ebd., 141.
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2. Der Gigantenstreit zwischen Schelling und Hegel
zu übertragen, mache leicht ersichtlich, »welche Erzwungenheit dadurch entstehen musste, dass er [Hegel, C. B.] die Methode, welche durchaus Natur zum Inhalt und Naturanschauung zur Begleiterin hatte, ins bloß Logische erheben wollte«. 7 Als negative oder rein-rationale Philosophie sei diese Philosophie trefflich beschrieben – man könne, so Schelling, Hegel für diesen bezeichnenden Ausdruck dankbar sein. 8 Doch blicken wir auf Schellings Einwände gegen Hegels reine Vernunftwissenschaft, auf den Streit zwischen einer Philosophie, die das nackte Dass, das unvordenkliche Sein, mithin also die Realität gegebener Größen, für irreduzibel wie unerreichbar im Begriffe hält, die das Sein vor allem Was- und Wie-Sein in sein Recht einzusetzen sucht einerseits und einer von Schelling als Begriffsphilosophie in Abweis gebrachten Logik, die den Gedanken des Seins zur durchgängigen kategorialen Bestimmung treibt, andererseits. In seiner höchsten Konkretion soll in der zweiten Variante das durchgängig bestimmte Ganze als in allen Teilen durchgängig bestimmte Seinsordnung gelten können. Die Rede vom reinen unmittelbaren Sein, frei von einer jeden Bestimmung und Vermittlung, gilt ihr als ein Widerspruch in sich. Wenn Schelling dann gegen Hegels reine Begriffsphilosophie das nackte Dass, das unvordenkliche Sein 9 (als das eigentliche ›principium individuationis‹) als den wahren Ausgang der Philosophie einzuklagen sucht, so wird mit dieser Neufundierung der Philosophie ein unversöhnlicher Streit erneut entfacht und mit ihm ein letzter Dolchstoß gegen ein Philosophieren aus reinen Begriffen versucht: Nicht allein die Wissenschaft, wie Kant dies wollte, sondern die Philosophie selbst sollte sich fortan vor dem Richterstuhl des empirisch erfahrbaren Lebens verantworten müssen. Nicht der Geist, sondern das Leben sei ihr wahrer Gehalt! Mit der ganzen Emphase des aristotelischen Empiristen, so Schellings Selbstbeschreibung 1842, soll die Dominanz der spekulaEbd., 138. Ebd., 141. Seither wird der Titel: negative und rein-rationale Philosophie zur geheimen Leitformel einer, wie der frühe Marx dies in Anleihe eines Jacobischen Diktums wähnt, vom Kopf auf die Füße gestellten Philosophie. 9 Ebd., 150. Ferner: Schelling: Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie (Zwischen 1847 und 1852), SW II/1, 13. Vorlesung, 312 ff. [Im Folgenden zitiert als: Schelling: Darstellung der reinrationalen Philosophie]. 7 8
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II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
tiven, bloß negativen Philosophie zu brechen sein: 10 Das unverrechenbar Einzelne, Individuelle, das wahrhaft Erstgegebene und Fraglose sei fortan wahrer Ausgang und wahres Ziel einer jeden positiven Philosophie! 11 Denn erst wenn wir die Dinge auf den Kopf stellten und unseren Ausgang im reinen Begriffe, den Ideen oder der bloßen Rechtfertigung von Argumenten wählen, werde uns das Konkrete, Gegebene, das Individuelle zu einem Problem. Dann werde in unendlicher Annäherung auf hoffnungslosen Fährten nach dem ›principium individuationis‹ gesucht. Vom Wesen, vom Logos zum Einzelnen aber führe kein Weg; alle generativen Schritte vom Begriff zur individuellen Entität verfehlten, was sie erstreben: »Vom Unendlichen zum Endlichen«, so Schelling mit Blick auf Spinoza und Kant, »kein Übergang!« 12 In einer anderen als in begrifflicher Gestalt müsse darum das ontologische Korrelat des Allgemeinen, das vor-begrifflich Individuelle, zu finden sein; von diesem können wir, so Schelling – Kant zitierend –, nur in einer sinnlichen, raum-zeitlichen Erfahrung Kunde haben. Durch verständige Operationen oder rein-rationale Rechtfertigungen erreichen wir nicht das irreduzible Faktum der individuellen Existenz, diese sei, so Schelling, aller begrifflichen Annäherung voraus. 13 Schellings Umwertung von Individuellem und Allgemeinem ist von langer Hand vorbereitet – werfen wir einen kurzen Blick ins späte 10 Vgl. Schelling: Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie (Berliner Vorlesung, vermutlich Wintersemester 1842/43), SW II/1, 102. 11 Vgl. dazu Schelling: Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW II/1, 269, 413 ff. 12 Schelling: Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literatur (Titel in späteren Ausgaben: Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre) (1797/98), AA I/4, 86; SW I/1, 367; Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus (1795), AA 1/3, 82 f.; SW I/1, 313. Ein solcher Übergang sei nur dort, wo »Endliches und Unendliches ursprünglich vereinigt sind«, und diese ursprüngliche Vereinigung sei nirgends, »als im Wesen einer individuellen Natur«, Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), AA I/5, 92; SW I/2, 37. 13 Auf Platons Timaios zurückgehend könne im überseienden Einheitsprinzip dann der Umschlagsort von Identität und Differenz, Tun und Leiden, auf ein prärationales Fundament gestellt, durch das Prinzip der Individualität in einem vorlogischen Raum zu retten sein, vgl. Platon: Timaios 34 b sqq.; vgl. ferner Schelling: Darstellung der relationalen Philosophie, SW II/1, 402.
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2. Der Gigantenstreit zwischen Schelling und Hegel
Mittelalter: Auf aristotelischen Fährten, bereits auf der Suche nach einem begrifflichen Ausdruck für die – dem Allgemeinen unzugängliche – Individualität, erweitert Duns Scotus das Gattung-ArtSchema des ›Arbor Porphyrii‹ um die species specialissima, um auf diese Weise die Individualität als Ausgang und Ziel der Annäherung im Begriffe nicht nur erscheinen, sondern als den reichsten Gegenstand erscheinen zu lassen. 14 Aristoteles hatte diesen Gedanken antizipiert: Eine jede ousia sollte als notwendige Einheit von stofflichem Gehalt und gestaltgebender Form Wesen und Existenz einer Sache als eine lebendige Entelechie greifbar werden lassen. Das erfahrbare Individuelle – als reichster Gegenstand aufgefasst – wird der empirischen Wende von der reinen Begriffswissenschaft zur Theorie erfahrbarer Gegenstände den Weg bereiten: Nur im empirischen Wissen, so der leitende Gedanke, begegne uns die wahre Fülle, die irreduzible Mannigfaltigkeit und Singularität individueller Existenz. Seit mit dem Nominalismus der Nexus zwischen Individuellem und Allgemeinem jäh durchtrennt und Individualität zu einer lokalisierbaren Stelle in einem raum-zeitlichen Kontinuum geworden ist, rücken die empirischen Gegenstände endgültig in das Zentrum der Forschung. Kriterium der Anerkennung von Individualität wird in dieser Traditionslinie eine Antwort auf die Frage sein, ob unsere Begriffe ihre ›Wahrmacher‹ in situierbaren Repräsentanten raum-zeitlicher Erfahrung finden können. Mit dieser Idee sinnlicher Repräsentanz für das begrifflich Allgemeine hinwiederum scheint der Begriff von Individualität als reichster Erscheinung verloren; an die Stelle des gattungsbestimmenden Allgemeinen wie der spezifizierenden Attribute treten situierbare Koordinaten gegebener Größen in Raum und Zeit. Mit Leibniz und Kant wird die Idee einer notwendigen Verbindung von Einzelnem und Allgemeinem jedoch erneut belebt und in der Urmonade bzw. im Ideal der reinen Vernunft auf einen neuen Grund gestellt: Kants ›Idee in individuo‹ ist die Idee eines in allen Teilen durchgängig bestimmten Einzelnen – sei es eines Dinges, eines Nach Hans Blumenberg wird durch Duns Scotus’ Erweiterung des Arbor Porphyrii um die species specialissima allererst die intelligible Erfassbarkeit der Individualität durch eine endliche Definition erreicht. Demgemäß werde das Individuelle dann zum reichsten und würdigsten Gegenstand der Erkenntnis, und damit werde dann zugleich auch die Empirie zur gemäßesten Erkenntnisweise, vgl. Blumenberg: Art. »Individuation und Individualität«.
14
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II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
lebendigen Individuums oder der Ordnung insgesamt. 15 Der Begriff des Individuellen ist damit an den Begriff aller möglichen Prädikate, die Gegenständen überhaupt zugesprochen werden können und damit an die Idee des Alls der Realität gebunden und ohne diesen nicht zu begreifen. Um nämlich den Gegenstand als durchgängig bestimmt begreifen zu können, müssen wir ihm alle die Prädikate zusprechen, die für ihn zutreffend sind; und um ihn zugleich als Singularität von allen nur denkbaren Gegenständen zu unterscheiden, müssen wir, so Kant, einen solchen universellen Prädikationsgrund antizipieren, in dem nicht nur die gegebenen, sondern auch alle nur denkbaren Gegenstände a priori aufgehoben sind. Ohne eine solche Antizipation eines unendlichen Prädikationsgrundes nämlich wäre der einzelne Gegenstand nicht hinreichend von allen anderen unterschieden. […] noch weiter, als die Idee, scheint dasjenige von der objektiven Realität entfernt zu sein, was ich das Ideal nenne, und worunter ich die Idee, nicht bloß in concreto, sondern in individuo, d. i. als ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares, oder gar bestimmtes Ding, verstehe. 16
Wie aber sollte im Sinne Schellings nun das unverrechenbar Einzelne, Lebendige, Individuelle gegen Hegels Begriffsphilosophie zu retten sein; und wie sollte das Sein, das nackte Dass – vor allem Wasund Wie-Sein – Individualität verbürgen können? Wie kann das reine unbestimmte Dass-sein als Garant von Individualität – wie Schelling es sucht – in Erscheinung treten, und wie soll Individualität im Begriffe zu reichster Fülle finden können, so dass diese allererst in beVgl. Kant: KrV, A 572/B 600: »Ein jedes Ding aber, seiner Möglichkeit nach, steht noch unter dem Grundsatze der durchgängigen Bestimmung, nach welchem ihm von allen möglichen Prädikaten der Dinge, so fern sie mit ihren Gegenteilen verglichen werden, eines zukommen muss. Dieses beruht nicht bloß auf dem Satze des Widerspruchs; denn es betrachtet, außer dem Verhältnis zweier einander widerstreitenden Prädikate, jedes Ding noch im Verhältnis auf die gesamte Möglichkeit, als den Inbegriff aller Prädikate der Dinge überhaupt, und, indem es solche als Bedingung a priori voraussetzt, so stellt es ein jedes Ding so vor, wie es von dem Anteil, den es an jener gesamten Möglichkeit hat, seine eigene Möglichkeit ableite. Das Principium der durchgängigen Bestimmung betrifft also den Inhalt und nicht bloß die logische Form. Es ist der Grundsatz der Synthesis aller Prädikate, die den vollständigen Begriff von einem Dinge machen sollen, und nicht bloß der analytischen Vorstellung, durch eines zweier entgegengesetzten Prädikate, und enthält eine transzendentale Voraussetzung, nämlich die der Materie zu aller Möglichkeit [Hervorh. C. B.], welche a priori die Data zur besonderen Möglichkeit jedes Dinges enthalten soll.« 16 KrV, A 568/B 596. 15
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2. Der Gigantenstreit zwischen Schelling und Hegel
grifflicher Gestalt ihren angemessenen Ausdruck gewinnen kann – wie Hegel dies sieht? Dieser Streit berührt den Grundlegungsgedanken von Schellings und Hegels Philosophie. Ist dieser Widerstreit unversöhnlich, oder zeigt es sich vielleicht bei näherem Betrachten, dass Schelling und Hegel ihren Widerpart im eigenen Lager je schon mit sich führen und darum beide in ihrer Argumentation auf das ›Ausgeschlossene‹ je wechselseitig bezogen und angewiesen sind? Mit der Genesis und Funktion des Begriffs für die Bewegung des Seinsgedanken in Hegels Philosophie werden wir beginnen. Der Weg vom Begriff des Begriffs führt über den »Begriff als Idee« in einem zweiten Schritt zu Kants ›Idee in individuo‹ als Leithorizont von Hegels Logik wie der Positiven Philosophie Schellings gleichermaßen. Im dritten Schritt wird sodann mit Blick auf diesen gemeinsamen Bezugspunkt eine Klärung darüber herbeizuführen versucht, welche Gestalt der Annäherung an den Individualitätsgedanken besser gerechtfertigt ist: die begriffsexplikative oder die seinsbezogene, der das Vor- und Überbegriffliche als eigentlicher Garant der Individualität gilt? Ich komme zum ersten Punkt:
1.
Die Genesis des Begriffs des Begriffs
Die Frage nach der Berechtigung von Schellings Kritik an Hegels reiner Begriffsphilosophie, wonach das Individuelle dem Allgemeinen geopfert werde, setzt eine Analyse von Hegels Begriff des Begriffs voraus. Hegels Begriff des Begriffs ist doppelgesichtig: Er ist logische Form wie genetische Exposition seiner Gehalte gleichermaßen. 17 Als Formbedingung des Denkens wie als Form des Gedachten ist alles Denken – sei es ein Denken des Etwas oder das Denken des Denkens – nicht ohne ein je Gedachtes, ein Worumwillen oder ein Zu-Denkendes, auf das es als Gegenstand oder Fluchtpunkt bezogen ist. Und so fragt es sich, wie in Hegels Logik, in seiner sog. Begriffsphilosophie, mithin also im Denken des Denkens die Formbedingungen des Den»Die objektive Logik, welche das Sein und Wesen betrachtet, macht daher eigentlich die genetische Exposition des Begriffes aus.«, Hegel: Wissenschaft der Logik II, TW 6, 245.
17
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II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
kens auf das je zu Denkende bezogen sind? Wenn Hegel als Telos allen wahrheitsbezogenen Denkens die Idee der Übereinstimmung des Denkens mit dem je Zu-Denkenden begreift, so wird im Resultat der Annäherung der Gedanke der durchgängig bestimmten Sache wie auch die Sache selbst im Gedanken, im Begriffe, erscheinen. Nun fragt es sich, wie das Individuum ein möglicher Gegenstand des Begriffs sein kann. Für Schelling ist der Ort der Individualität ein Ort außerhalb der Sphäre des Begriffes. Mit Kant nimmt er ein Begriffsjenseitiges in Anschlag, um das im Begriffe zugleich Ausgegrenzte, Nicht-Artikulierbare, gegen die Hermetik der subsumierenden Begriffsform zu retten; Hegel habe demgegenüber – sei es im Horizonte der Analyse der »sinnlichen Gewissheit« oder im Ausgang der Logik von 1812 – im Medium des Allgemeinen stets quittiert, was sich als irreduzible Besonderheit oder Individualität begrifflicher Vereinnahmung notwendig entzieht. 18 Das Gegebene, nicht ein bloß Gesetztes und Gezeugtes, sei als Begriffsjenseitiges ein Schattenreich bloßer Vermittelung, das Widerlager, in dem alles begreifende Denken – soll es nicht bloß Denken des Denkens sein – als in seinem Anderen, dem Vor- und Außerbegrifflichen, zu verankern ist. Als reines Sein darum allem Denken, allem Wesen und aller Bestimmung voraus, verleihe es als Ziel und Fluchtpunkt der Seinsentfaltung dem Denken allererst die Kraft und seinem Gehalte Fülle und Realität. Demgegenüber werde im Horizont reiner Begriffsphilosophie der Hegelschen Art das Sein nur in und aus dem Begriffe und nicht unabhängig davon, als das aufgefasst, was ist und wodurch allein das zertrennte Seiende vermögend ist, zusammengehalten zu werden. 19 Auf die Frage etwa: »Was ist Kallias?« kann ich, so Schelling, »mit einem Gattungsbegriff antworten, z. B. er ist lebendes Wesen; aber was ihm Ursache des Seins (hier also des Lebens) ist, das ist nicht ein Allgemeines mehr, nicht ousia im zweiten, sondern im ersten und höchsten Sinne, protē ousia, und diese ist jedem eigen und keines anderen, während das Allgemeine mehreren gemein [ist]«; allein die protē ousia, jenes nackte Dass sei »des Individuellen ›ti ēn einai‹ ; und auch sie ist eines jede eigne und nicht mehreren gemein.« 20 Vgl. zum Problem des Ortes der Individualität in Schellings Philosophie Bickmann 2004. 19 Vgl. Schelling: Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW II/1, 407. 20 Ebd., 406 f. 18
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2. Der Gigantenstreit zwischen Schelling und Hegel
Beide nun, Hegel und Schelling, sollten sich in der Auslegung des principium individuationis auf Kant berufen können: Wie sollte dies möglich sein? Schellings Kritik prüfend, werden wir zunächst fragen: Ist Hegels Sein-Gedanke bloß der Gedanke »Sein«? Wird die Logik alles Sein im Wissenssinn absorbieren und damit das Sein seiner Unabhängigkeit gegenüber dem seinssetzenden, wesensbestimmenden Denken berauben, oder nimmt auch Hegel den Gedanken der Realität vor allem Geist- und Bewusstseins-Sein, vor allem Was- und WieSein ernst und in Gebrauch? Wir entsinnen uns der Kritik Schellings: Hegel habe nicht »die Gegenstände oder die Sachen, wie sie […] im Begriff sich darstellen betrachtet, sondern Begriffe zum Gegenstand gemacht, die wiederum nur den Begriff zum Inhalt haben« sollen. 21 Ein Denken jedoch, das sich derart in sich selbst zurückziehe, könne man nicht wirklich »Denken« nennen. 22 Die ganze Welt liege »gleichsam in den Netzen des Verstandes oder der Vernunft«, aber die Frage sei eben, »wie sie in diese Netze gekommen sei, da in der Welt offenbar noch etwas anderes und etwas mehr als bloße Vernunft ist, ja sogar etwas über diese Schranken Hinausstrebendes.« 23 Wie nun – so die beiden Positionen zugrundeliegende Frage – muss Vernunft aufgefasst werden, wenn ein Anderes zu ihr möglich sein soll, und wie soll jenes Andere dann in einem Vor- und Außerbegrifflichen überhaupt zu retten sein? Zur Beantwortung dieser Frage blicken wir nun näher auf Hegels Begriff des Begriffs. Es verwundert nicht, dass Hegel dem Begriff im engeren Sinne in seiner Logik von 1812 zunächst eine genetische Exposition, eine Genesis aus einem Vor- und Außerbegrifflichen, aus einem Realitätsgedanken vorangestellt hat. Denn auch für Hegel gilt: Allein diese Genesis aus einem Vorbegrifflichen vermag dem Begriffe Realität und Bedeutung zu verleihen. In der Seins- und Wesenslogik, der Sphäre des Objektiven, wird darum – ganz in Schellings Sinne – ein dem Begriffe Entgegengestelltes, ein nicht-Identisches als das Andere zum Begriffe zur Sprache gebracht.
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Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, SW I/10, 141. Ebd. Ebd., 143 f.
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II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
In dieser Sphäre des Objektiven geht das Werden des Realen in noch unbegriffener Form allem Begriffe voraus – als Sein und Wesen aller Realitätsgehalte; mithin also als die ontogenetische Entfaltung derjenigen Sphäre, durch welche der Begriff allererst Bedeutung und Realität erhält. Von diesem Orte der Seins- und Wesenslogik, vom Realitätsgedanken aus soll sich die Sphäre des Alls der Realitäten erst in einem weiteren Schritt in einem Medium durchsichtig werden, das Licht auf dasjenige Licht zu werfen vermag, das zuvor nur Mittel der Erkundung eines Anderen war: dies erst ist die Sphäre des Begriffs des Begriffes. So wird der Begriff aus seinem bloßen an sich, wodurch er nur der Möglichkeit nach Begriff ist, zum sich selbst setzenden und bestimmenden Begriff. Im sich durchlichtenden Begriff wird dabei nicht mehr die Realität, wie sie Gegenstand der Wissenschaften wie des alltäglichen Bewusstseins ist, sondern ebenso auch die Selbst-Durchlichtung des Begriffs selbst in der Durchlichtung des Realen, d. h. im Begriffe des Begriffs, zur Darstellung gebracht –, auf diese Funktion des Begriffes kommt es Hegel in seiner Begriffslogik an. Als die einzige Sphäre aber, die im Anderen zugleich sich selbst sieht, das Andere nur mehr als das Andere ihrer selbst begreift, kann – so Hegel in der Tradition des aristotelischen und neuplatonischen Nous-Gedankens – der Geist aufgefasst werden. Selbst- und Fremdbezug sind in ihm zur Einheit gebracht, indem die Form selbst der Gehalt und der Gehalt die Form ist. Beide Sphären, Realität und Begriff, – auch wenn im Begriff des Begriffs im sich selbst durchlichtenden Geiste in eine höherstufige Einheit gebracht – bleiben jedoch in dieser Einheit zugleich auch unterschieden; denn Sein und Wesen als Sphären der objektiven Logik, des Alls der Realitäten, sind nicht selbst bereits begriffliche Verhältnisse; erst der Begriff des Begriffs trägt auch die Form eines Gehaltes, welcher ist, unabhängig davon, ob er in der Form des Begriffs erscheint oder nicht. Die genetische Exposition der wesentlichen Formen jener Seinsgedanken ist aller Explikation durch Begriffe voraus. 24 Doch welch ontisch-epistemischer Status sollen Sein und Wesen in ihrer Unabhängigkeit vom Begriffe zuzusprechen sein, wenn beide »Die objektive Logik, welche das Sein und Wesen betrachtet, macht daher eigentlich die genetische Exposition des Begriffes aus«, Hegel: Wissenschaft der Logik II, TW 6, 245.
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2. Der Gigantenstreit zwischen Schelling und Hegel
als das Ansich des Begriffs, jedoch nicht selbst bereits als Begriff aufzufassen sind? Was bedeutet dieses An- und Fürsichsein des Begriffs? Trifft hier nicht Schellings Kritik die Hegelsche Begriffsphilosophie zu Recht, dass diese den Seinsgedanken im Wissenssinn absorbiere? Hegel unterscheidet: Das Ansich-sein im Ausgang der Seinslogik wie auch das Für-sich-Sein der Wesenslogik gelten ihm als vorbegriffliche Verhältnisse, Verhältnisse realer Wesenheiten, die das Dasein als Etwas und Anderes, Endliches und Unendliches etc. konstituieren: In ihnen sollen nicht bloße Begriffe, sondern die Wirklichkeit selbst als in sich reflektiert aufgefasst werden. Dabei machen die Reflexionsbegriffe des Identischen und Verschiedenen etc. die realen Verhältnisse zwischen Erscheinung und Wirklichkeit, wie sie sich in den drei Relationen von Substanz und Akzidenz, Kausalität und Wechselwirkung ausprägen, allererst lesbar, und diese Lesbarkeit des Realen in der Gestalt der Reflexionsbegriffe soll das Seinsganze in seiner inneren Notwendigkeit als ein Wechselspiel aufeinander verweisender Verhältnisse – und nicht bloß als begriffliches Verhältnis – durchsichtig werden lassen. Dass dabei die Sphäre des Objektiven die Form des Ansichs des Begriffes trägt, bringt Hegel nicht in Verlegenheit; selbst Schelling – so wäre sein Einwand – kann nicht unbedacht lassen, dass bereits eine jede Rede vom ›nackten Dass‹ vor allem Was- und Wiesein nur in einer Form zu vergegenwärtigen ist, deren Zeichengestalt nicht leer sein kann. Somit gelten auch Hegel »Sein« und »Wesen« nicht als bloße Gedanken, sondern als Bewegungen des Realen: Auch wenn in der Logik als reinem Kategoriendenken die kategorialen Verhältnisse des Seins und Wesens zur Darstellung gebracht werden, so sollen die Kategorien – darin folgt Hegel der aristotelischen Tradition – nicht allein die Begriffe »Realität« und »Wesen«, sondern in ihrer ontischepistemischen Doppelgestalt sollen sie ebenso wohl die Konstitutionsprinzipien des Realen selbst zum Ausdruck bringen. Mit den Seins- und Wesensbestimmungen wird somit dem Begriffe dasjenige vorangestellt, das als genetische Exposition des Begriffes den Begriff aus der vor- und außerbegrifflichen Sphäre der Realität in seine eigene Sphäre hinüberführt:
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II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
2.
Die Substanz als unmittelbare Voraussetzung der Sphäre des Begriffs 25
Die Schritte sind dabei folgende. Die Realität des Wesens – als einheitsstiftende Substanz vorgestellt – ist unmittelbare Voraussetzung des Begriffes, insofern die Substanz als das an sich bestimmte Wesen der Manifestation in einer einheitsstiftenden Gestalt bedarf. Diese erhält sie in der Form des Begriffs. Das substantielle Sein im Sinne Hegels hat eine a priori notwendige Beziehung zum Begriff. So ist der Begriff gegenüber Sein und Wesen das Dritte: ihre Grundlage und Wahrheit, durch die Sein und Wesen allererst in ihrer Identität greifbar werden. 26 Der Weg zum Begriff ist dabei folgender: Seiendes, substantielles Sein – zunächst in der Wechselwirkung seiner Attribute noch als in einem Anderen gründend und durch Anderes bestimmt vorgestellt – ist in dieser Abhängigkeit von den jeweils vorausgesetzten Verhältnissen noch nicht sich selbst setzende, freie Substanz geworden, sondern ist bloß Substanz, die aus äußeren Quellen ermöglicht und bewirkt wird und einen fremden Grund zu ihrer Bestimmung hat. Hegel nennt diese von äußeren Abhängigkeiten bestimmte Substanz am Ende der Wesenslogik: »passive Substanz«. 27 Diese Substanz in der Wechselwirkung ihrer Attribute zerstört zunächst den Schein jener unbestimmten Unmittelbarkeit. Das einfache Ansich-sein wird als durch ein Anderes gegründet und ermöglicht offenbar. Es ist dies der Ort, den Schelling gegen Hegel einklagt: der Begriff der bewegenden und durch Anderes bewegten lebendigen Substanz. Auf diese Weise aber ist die bewegte lebendige Substanz noch nicht sich selbst setzende freie Substanz. Erst im Übergang zur BeVgl. Hegel: Wissenschaft der Logik II, TW 6, 246: »Der Begriff hat daher die Substanz zu seiner unmittelbaren Voraussetzung, sie ist das an sich, was er als Manifestiertes ist. Die dialektische Bewegung der Substanz durch die Kausalität und Wechselwirkung hindurch ist daher die unmittelbare Genesis des Begriffes, durch welche sein Werden dargestellt wird.« 26 Ebd. 245. 27 »Passiv ist das Unmittelbare oder Ansichseiende, das nicht auch für sich ist, – das reine Sein oder das Wesen, das nur in dieser Bestimmtheit der abstrakten Identität mit sich ist. – Der passiven steht die als negativ sich auf sich beziehende, die wirkende Substanz gegenüber. Sie ist die Ursache, insofern sie sich in der bestimmten Kausalität durch die Negation ihrer selbst aus der Wirkung wiederhergestellt hat, [ein Anderes,] das in seinem Anderssein oder als Unmittelbares sich wesentlich als setzend verhält und durch seine Negation sich mit sich vermittelt.«, ebd. 233 f. 25
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griffslogik ist der Weg zur aktiven Substanz frei: zur Aktivität, die sich von der äußeren Abhängigkeit befreit und – sich selbst setzend – in ihrem Selbstbezug auf ihr Anderes bezogen ist. Die aktive Substanz bringt eine innere Reflexivität des Seins zum Ausdruck – ein Sein, das zugleich ein sich selbst im Anderen sehendes Sein geworden ist, durch das sich das vorausgesetzte Sein darum in ein freies sichselbst-bestimmendes Sein überführen kann. Doch wie ist nun die Rede vom Übergang der passiven zur aktiven Substanz zu verstehen? Wodurch kann eine Substanz – als aktive Substanz – von sich selbst zugleich Ursache und Wirkung sein? Nicht kann sie es, so Hegel, eingelassen in die Dunkelheit der Kausalitätsverhältnisse. In ein freies Selbstverhältnis überführen kann sich einzig eine sich selbst setzende und sehende Substanz: Als solche aber ist sie Begriff. Denn erst im Begriff kann sich die Substanz der Abhängigkeit gegebener Kausalitätsverhältnisse entwinden und sich als freie sich selbst setzende Substanz zu »selbst durchsichtig werdender Klarheit« fortentwickeln, d. h. »zum Begriffe befreite« Substanz werden. 28 Was nun bedeutet diese Rede von einer zum Begriffe befreiten Substanz? Wie sollte die Substanz selbst der Begriff sein können? Welches ist die zur freien Existenz gelangte Substanz? Es ist dies – so Hegel – nichts anderes als das Ich oder das reine Selbstbewusstsein: 29 in diesem erst ist die Substanz, so der Gedanke, wesentlich Subjekt geworden. Nicht soll dies so aufgefasst werden, als gäbe es zum einen ein Ich und dann noch eine davon unterschiedene Substanz; das Ich, so Hegel, sei vielmehr selbst der reine Begriff der Substanz – der Begriff der Substanz, die Ursache ihrer selbst genannt werden kann, freies sich selbst setzendes Subjekt: die Substanz als Begriff. 30 Dies nun – so Hegel – sei der wahre Begriff des Begriffs. 31 Das Dasein des Begriffs ist gewonnen: und es ist dies – hier folgt Hegel den Spuren der kantischen ›Deduktion der reinen Verstandesbegriffe‹ – die Einheit der Apperzeption, die freie schrankenlose Sichselbst-Gleichheit, die von allem Inhalte abstrahiert, weil sie alle Bestimmtheit und allen Inhalt in sich aufgehoben hat, sich in den Inhalt 28 29 30 31
Ebd., 251. Ebd., 252. Ebd. Ebd.
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versenkt hat und nur seine bloße Gleichheit mit sich zurückbehält. 32 Darum ist das Dasein des Begriffs zugleich Allgemeinheit: das aller Bestimmtheit, allem Seinssetzen zugrundeliegende Allgemeine; aber, so Hegel, insofern es vom Vollzug jener Einzelheit des denkenden Ich zugleich unabtrennbar bleibt, ist es zugleich Individuelles, Einzelnes, das einem jeden anderen Einzelnen in seiner absoluten Vereinzelung gegenübertritt. 33 So ist jene absolute Allgemeinheit, die hier im einzelnen Selbstbewusstsein zugleich als vereinzelte auftritt, die ist, insofern sie sich setzt und im sich Setzen sich zugleich ihr Dasein gibt: so ist es die Natur des Begriffs, durch das Ich und im Ich gesetzt zu sein. Auch darin ist die Hegelsche Logik der kantischen ›Deduktion der reinen Verstandesbegriffe‹ gefolgt: Indem das reine Ich als Grund der Verbindung und Verknüpfung des gegebenen Mannigfaltigen im Begriffe fungiert, ist jene Apperzeptionseinheit zugleich Begriff des Begriffs. Kant, so Hegel, habe dies gesehen, indem er als Objekt jenes gefasst habe, in dessen Begriff das Mannigfaltige der gegebenen Anschauung als vereint gedacht werden könne. 34 Was eine Sache an und für sich ist, sei darum – wie Hegel zu Recht schließt – allein in und durch das Denken ausgemacht; das Denken hebe die Unmittelbarkeit, mit der uns der Gegenstand zunächst entgegentritt, auf und mache so ein Gesetztes aus ihm: dies aber, sein Gesetztsein, sei sein Anundfürsichsein, seine Objektivität. Der Gegenstand hat seine Objektivität darum allein im und durch den Begriff, 35 und diese wiederum könne nichts anderes sein als die Einheit des Selbstbewusstseins, in die er aufgenommen wird. Objektivität oder der Begriff einer Sache sei darum nichts anderes als die Natur des Selbstbewusstseins selbst, denn sie habe keine anderen Momente oder Bestimmungen als das Ich. Darum müsse man, um zu erkennen, was der Begriff ist, sich der Natur des Ich entsinnen. Objektivität, so kann geschlossen werden, ist darum ein Sichselbstsetzen im Anderssein: nicht finden wir hier ein Ich und dort seine möglichen Gedanken, sondern die Objektivität ist der Gedanke – das Selbstbewusstsein darum in ein und demselben Akte auch seine 32 33 34 35
Ebd., 253 ff. Ebd., 254 ff. Ebd., 254. Ebd., 255.
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eigene Veranderung: Der Begriff der Objektivität ist somit an den Begriff des Setzens wie des Entgegensetzens gleichermaßen gebunden: Ich und nicht-Ich konstituieren sich in ein und demselben Akt. Das Selbstbewusstsein erzeugt Objektivität darum nicht als von ihm selbst unterschiedene, sondern es ist ein Selbst in der Veranderung: beide sind nur mehr die komplementären Pole des einen Gedankens! Gleichwohl muss allem Begreifen zuvor ein Vorbegriffliches, ein Sinnliches als der Stoff zur gedanklichen Form gegeben sein – auch darin sind Kant und Hegel sich einig. Was darum etwa in der Phänomenologie des Geistes in der Lehre vom Bewusstsein die sinnliche Gewissheit und die Wahrnehmung ist, sei in der Psychologie das Gefühl und die Anschauung, schließlich die Vorstellung; nach Analogie dazu seien es in der Logik die Stufen Sein und Wesen, die dem Begriffe vorangestellt seien. 36 Von der Seins- zur Wesenslogik werde in dialektischer Bewegung die Entfaltung des Seins vom reinen bestimmungsfreien Sein zur Einheit der Substanz – durch Kausalität und Wechselwirkung – in ihre wesentliche Bestimmung gebracht: Diese Bewegung gilt Hegel als die eigentliche Genesis des Begriffs, als das Werden des Begriffs aus seinem Anderssein in seine anundfürsichseiende Gestalt. Denn erst im Anundfürsichsein, im Begriffe, ist die Substanz Subjekt, d. h. sich frei setzendes Sein geworden; erst im Begriffe ist die Substanz auch der Form nach Ausdruck des Aktes freier Selbstbestimmung. 37 So ist der Begriff des Begriffs die Form einer Substanz, die zu sich selbst gekommen ist, indem sie nicht nur ist oder Äußerliches bewirkt, sondern etwas in sich selbst bewirkt und sich selbst und ihr Anderes auch der Form nach frei setzt. Und darum ist sie auch erst im Begriffe – als sich frei selbst setzendes und bestimmendes Sein, Substanz, die Subjekt geworden ist. 38 Ebd., 256. Ebd., 251: »Im Begriffe hat sich daher das Reich der Freiheit eröffnet. Er ist das Freie, weil die an und für sich seiende Identität, welche die Notwendigkeit der Substanz ausmacht, zugleich als aufgehoben oder als Gesetztsein ist und dies Gesetztsein, als sich auf sich selbst beziehend, eben jene Identität ist.« 38 Ebd. Durch diese Argumentation ist leicht ersichtlich, dass Hegels spekulative Annäherung an die Seinsfrage nicht ins Bodenlose fallen muss, sobald wir empirische Verhältnisse ins Auge fassen: Erweisen sich seine kategorialen Analysen doch bei näherer Betrachtung als Formen des Empirischen wie ihrer gedanklichen Durchdringung gleichermaßen: Natur und Geist gelten Hegel als Manifestation einer Formensprache, durch die alles Empirische auf die Gründe seiner Möglichkeit befragt und zurückgeführt werden kann: Nicht mehr als die Formbedingungen des Endlichen 36 37
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Dies bedeutet für Hegels Systemanlage zugleich, dass erst hier, in der subjektiven Logik oder der Logik des Begriffs derjenige Ort gefunden ist, an dem Hegel über Spinoza und Kant hinausgegangen ist. Über Spinoza, da für Hegel die durchgängig bestimmte Substanz sich allererst im sich wissenden Begriff als sich frei setzende Substanz – als an und für sich seiende Substanz – ergreifen kann. Somit ist sie nicht Substanz, in deren Attributen die Freiheit des Einzelnen erlischt, sondern muss als Substanz aufgefasst werden, die den Akt des freien Sich- selbst-setzens der Subjektivität in ihre Gründungsurkunde aufgenommen hat. Über Kant hinaus bleibt jenes Ansichsein nicht mehr bloß unerreichbarer Fluchtpunkt und Grenzbegriff gedanklicher Annäherung, bloß regulative Idee, sondern die Sphäre des Anundfürsich wird zum Orte der Selbsterkenntnis des Absoluten selbst: mithin also eines Ansich, dem Freiheit und Selbstbestimmung eingeschrieben ist. Bereits für Kant sollte das Ansich Platzhalter der Ideen des Unbedingten wie der Freiheit und des Wesens aller Wesen sein. Hegel radikalisiert diesen Gedanken: 39 Allein die anundfürsichseiende Idee soll dem Akte freier Selbstbestimmung gemäß sein können: Ein Absolutes sei gewonnen, dem das Prinzip des Sich-Bestimmens als Maß und Quelle der Entfaltung aller Seinseinheiten gilt. Ihrem Maß sollte zugleich auch der Grad der Freiheit in Natur und Geist ablesbar sein. Gegen Schelling kann darum eingewandt werden: Nicht aus und in Begriffen wird in Hegels Logik das Einzelne, das Mannigfaltige abzuleiten sein oder gar durch den Begriff in seiner Besonderheit quittiert, sondern als unsynthetisierte Mannigfaltigkeit oder als das reine Sein ist es auch für Hegel – in einer jeden empirischen oder nicht-empirischen Erfahrung – allem Begriffe voraus. Auf das unverrechenbar Einzelne ist ein jeder empirische Begriff als auf seinen Realitätsgehalt bezogen. Im Unterschied zur Psychologie oder Phänomenologie jedoch gehen die zugrundeliegenden konkreten Gestalten in Raum und Zeit die Logik weiter nichts an. Dies nun haben Schelling und die ihm folgende Philosophie von Feuerbach über Marx und Nietzsche bis in den Wiener Kreis gründlich außer Acht gelassen, indem sie die transzendentale Analyse der Kategorien in Hegels Logik in welthaltiges Wissen verwandelt und und nicht Verhältnisse innerhalb der Sphäre des Endlichen sollen sie zur Darstellung bringen. 39 Hegel: Wissenschaft der Logik II, in: TW 6, 246.
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darum den spekulativen Begriff des Begriffs mit dem empirischen Begriff des erfahrbaren Lebens konfundiert haben. Das Leben oder die organische Natur in der Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungen ist im Sinne Hegels allein auf derjenigen Stufe der Entwicklung verbürgt, auf welcher der Begriff zuallererst hervortreten kann – wenn auch zunächst als blinder, sich selbst noch nicht fassender, d. h. nicht als denkender Begriff. Blinder, sich selbst nicht erfassender, nicht denkender Begriff – jenes unbewusste, bloß vorausgesetzte Sein, das in der Realphilosophie durch die anorganische und organische Natur sowie im Leben des noch nicht zu sich gekommenen Geistes zum Ausdruck gebracht wird, ist auch für Hegel noch nicht sich selbst durchlichtender Begriff, sondern vielmehr nur der Begriff in seinem Anderssein. Sich durchlichtender, denkender Begriff wird er erst im und durch den Geist sein. 40 In der Phänomenologie des Geistes – in idealtypischen Formationen antizipiert – sind Natur und Geist zunächst bloß Stufen in der Entfaltung zu stets höherer Klarheit; in der Entäußerung des Geistes in die Sphären der Realphilosophie sind beide dann zunächst sich nicht selbst wissende Zwecke der Natur, die sie als gefügtes Ganzes aus Zwecken erscheinen lässt, und ferner – im Geiste – Zwecke, die als solche frei gesetzt von einem Bewusstsein angeeignet und verstanden sind, in der objektiven Sphäre des Staates Gestalt gewinnen und im intelligiblen Medium freier Selbstentäußerung in Kunst, Religion und Philosophie zur Erscheinung des freien Geistes werden.
3.
Der Begriff in der Idee
Doch was ist das eigentliche Movens der Bewegung? Ist es, wie Schelling vermutet, der Begriff? Der Begriff, so Hegel, kann den Begriff nicht bewegen. Telos und Movens jener Bewegung kann nicht selbst wiederum der Begriff sein. Es muss vielmehr, so Hegel, »zugegeben werden, dass der Begriff als solcher, noch nicht vollständig ist«. 41 Er muss sich vielmehr erst »in die Idee […] erheben«. 42 Erst die Idee kann als das innere Band zwi40 41 42
Ebd., 257. Ebd., 258. Ebd.
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schen Realität und Begriff erscheinen. Die Idee und nicht der Begriff ist das eigentlich Treibende, das Movens der Gesamtbewegung. In dieser erst finden wir, so Hegel, die seit Parmenides gesuchte Einheit von Denken und Sein, die Hegel in der Idee der Einheit von Begriff und Realität am Werke sieht. Erst durch die Idee, so Hegel, wird die Natur oder das wesentliche Sein zu sich selbst finden, indem sie über die blinden Kausalitätsverhältnisse hinaus freie selbstbestimmte Subjektivität möglich macht. So ist es die Idee, die diesen Prozess vom bloßen Ansichsein der realen Verhältnisse zum Fürsichsein begrifflicher Bestimmungen voranzutreiben vermag, indem sie das Reale zur Selbstdurchlichtung im Begriffe und das Subjektive zu seiner Realisierung in einer freien Gesetzesordnung bewegt. Wir können festhalten: Beiden – Hegel wie Schelling – gilt das reine bestimmungsfreie Sein als allem Bewusstsein, allem Was- und Wie-Sein voraus: Der blinde, sich nicht fassende Begriff gewinnt erst in der Form des Begriffs seine Klarheit und Durchsichtigkeit. Erst im Begriff des Begriffes ist darum auch die ›Eine‹ Seinsordnung in ihre Selbstdurchlichtung gebracht, zerfällt nicht mehr in eine Zufälligkeit gleichgültiger, einander äußerlicher Substanzen, sondern wird als eine durchgängig bestimmte, in sich konkrete, organisierte Seins-Totalität greifbar. Dies ist der Begriff des Seinsganzen – in seine Unverborgenheit gebracht, die sich – in der Sphäre des Nous, des Geistes – selbst durchsichtig geworden ist. Ich komme zum zweiten Punkt:
II.
Kants ›ldee in individuo‹ als Leithorizont der Kontrahenten
Als dieses in sich selbst zurückkehrende Sein – im sich durchlichtenden Seinsganzen – ist das Ganze zugleich als ein Einzelnes gesetzt. 43 Als ein Ganzes aber, das zugleich als Einzelnes gesetzt ist, das in all seinen Teilen durchgängig bestimmt und durch unsere moralische Selbstgesetzgebung auf einen freien Grund gestellt ist, hatte bereits Kant den höchsten Seinsgedanken, das »Ideal der reinen Vernunft« ausgelegt: Als ein solches trug es die Bezeichnung einer ›Idee in individuo‹. 44 Dabei sollte die Einzigartigkeit des Individuellen – so der 43 44
Ebd., 240. KrV, A 567/B 596.
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Gedanke – nur durch jene Idee des Alls der Realität, d. h. von der Idee der unendlichen Fülle ihres möglichen Begriffsumfanges bestimmt sein: Individualität im höchsten Sinne war dann eine solche, der alle nur denkbaren Prädikate in höchster Vollendung zugesprochen werden können. 45 Für Kant – wie für Leibniz und Hegel – sollte ein solcher Zustand dabei nur göttlichen Wesen vorbehalten sein; alles Endliche sollte demgegenüber durch Negation unendlich weit vom Ideal eines vollkommenen Einzelnen entfernt bleiben – gleichwohl aber durch dieses allererst in seiner eigenen Individualität verbürgt sein können. So ist – diesem Ideal der ›Idee in individuo‹ gemäß – die Totalität aller Seinssphären die Konkretion aller in einer Ordnung aufeinander bezogener Sphären. Erst durch das freie Sich-selbst-Setzen im Begriffe soll für Hegel wie für Kant – aber schließlich auch für Schelling – ein zureichender Grund einer möglichen Ontologie gefunden sein: Nicht das Seiende, insofern es ist, sondern das Seiende, insofern es durch Freiheit möglich ist, soll für die genannten Autoren als Prinzip und Maxime des vollständig entfalteten Begriffs der Realität wirksam werden. Auch diese Funktion eines zureichenden Grundes des Seinsganzen trägt in Kants Philosophie der höchste Gedanke, das Ideal der reinen Vernunft, seine ›Idee in individuo‹ : Von der bloßen Idee – die nur Gedanke ist – ist diese ›Idee in individuo‹ auch im kantischen Sinne durch ihren Seinsgehalt unterschieden, indem sie nicht nur als regulative Idee der Übereinstimmung unserer Verstandesfunktionen untereinander, sondern – darin ist Kant ganz platonisch – als das Urbild einer zu gestaltenden Ordnung dient, an dem alle empirischen Weltverhältnisse als Leitfaden und Fluchtpunkt ihrer Entfaltung ihr Maß zu nehmen haben. Mit dem Ideal der reinen Vernunft sollte darum mehr als nur eine regulative Idee für unsere Verstandeshandlungen, mit ihm sollte auch ein der Materie nach zu gestaltender, durchgängig bestimmter Seinsgedanke gewonnen sein. Ihr ›materialer Gehalt‹ stammt dabei aus den Quellen der reinen Intelligibilität einer Gesetzesordnung, die nur durch den freien Willen moralisch bestimmter Einzelner zu bewegen und zu bewerkstelligen ist. 46 Schelling wird Kants Ideal der reinen Vernunft den Kerngedanken nennen, an dem »die spätere Entwicklung (des Idealismus, C. B.) 45 46
Ebd. A 569/B 597; A 573 ff./B 601 ff. Ebd.
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sich als eine notwendige Folge anschloss«. 47 In seiner Abhandlung über die Quelle der ewigen Wahrheiten wird Schelling Kants Unterscheidung zwischen bloßer Idee und seinsbezogenem Ideal zum Ausgangspunkt seines eigenen Fundierungsgedankens der Philosophie: Kant habe zunächst gezeigt, dass »zur verstandesmäßigen Bestimmung der Dinge die Idee der gesamten Möglichkeit oder eines Inbegriffs aller Prädikate« gehöre. 48 Als Idee schlechthin, ohne alle weitere Bestimmung, sei dieser Gedanke darum in der nachkantischen Philosophie auch aufgefasst worden; »diese Idee selbst nun aber«, so fährt Schelling fort, »existiert nicht, sie ist eben, wie man zu sagen pflegt, bloße Idee; es existiert überhaupt nichts Allgemeines, sondern nur Einzelnes« – dieser Gedanke wird nun gleichermaßen auf die Idee des Alls der gesamten Möglichkeiten bezogen: diese existiert nicht – nur Einzelnes existiert: es ist dies das »reine Dass – actus purus.« 49 Die erste Substanz. »Das allgemeine Wesen existiert darum nur«, so Schelling, »wenn das absolute Einzelwesen es ist.« 50 So folgert Schelling für das Ideal der reinen Vernunft: das Ideal ist Ursache des Seins der Idee. »Nicht die Idee ist dem Ideal, sondern das Ideal ist der Idee Ursache des Seins, wie man auch insgemein zu sagen pflegt, dass durch das Ideal die Idee verwirklicht ist.« 51 Das Ideal ist darum jene Wirklichkeit der Idee, ohne das die Idee bloß der Möglichkeit nach ein Seiendes wäre. Ob für das Einzelwesen oder das Wesen aller Wesen: Beide haben ihr Sein nicht im Was- und Wie-Sein, sondern in diesem vorgängigen Dass-Sein. Die Idee in ihrer Wirklichkeit ist darum das Ideal – weshalb ihm Kant auch den Titel ›Idee in individuo‹ verlieh. Dasjenige individuierte Allgemeine sollte es zum Ausdruck bringen, das nicht nur dem Einzelnen, sondern der gesamten Seinsordnung, dem Seinsganzen, Bedingung der Existenz genannt werden kann. Und Existenz, so Schelling mit Blick auf Kant, sei allein durch die Individualität garantiert. Mit Blick auf diese häufig verkannte kantische Unterscheidung von Ideal und Idee sucht Schelling nun, den Seinsgedanken – darin Kant und Aristoteles verbunden – vor die Idee zu stellen: »In dem Schelling: Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW II/1, 283. Schelling: Abhandlung über die Quelle der ewigen Wahrheiten (1850), SW II/1, 586 Anm. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd. 47 48
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Satz: das Ideal ist die Idee, hat also das ist nicht die Bedeutung der bloßen logischen copula.« 52 Denn »Gott ist die Idee heißt nicht: er ist selbst nur Idee, sondern: er ist der Idee (der Idee in jenem hohen Sinn, wo sie der Möglichkeit nach alles ist), er ist der Idee Ursache des Seins, Ursache, dass sie Ist, aitia tou einai, im aristotelischen Ausdruck.« 53 In ihm als der ›Ersten Substanz‹ ist aber kein Was, er ist das reine Dass – actus purus. Dies ist es dann, was für Schelling im eigentlichen Sinne Individualität heißt: Diese sei allein durch die unverrechenbare Existenz verbürgt. Ich komme nun zum dritten Punkt – dem Versuch einer Versöhnung:
III. Annäherung der Extreme: Die »wahre Stelle für die Einheit von Denken und Sein« 54 An diese Individualität, das nackte Dass, gerichtet, fragt Schelling nun – nicht überraschend – ähnlich wie Hegel im Übergang vom reinen Sein zum Gedanken des durchgängig bestimmten Ganzen: »Aber […], wenn in ihm [dem nackten Dass, C. B.] selbst kein Was und nichts Allgemeines ist, durch welche Notwendigkeit geschieht es, dass was selbst oder in sich ohne alles Was ist, dass dieses das allgemeine Wesen, das alles begreifende Was ist?« 55 Als jenes »chôriston«, d. h. als »Individuellste[s]«, »aus dem nichts Allgemeines folgen kann« kann es, so Schelling, »das Alles Begreifende nur sein – infolge einer über ihn selbst hinausreichenden Notwendigkeit. Aber welcher Notwendigkeit?« 56 Wodurch kann aus dem bestimmungsfreien Dass ein Was- und Wie-Sein werden? Schelling sucht nun die Notwendigkeit des Übergangs – auch darin nicht überraschend Hegel nah – durch eine apriorische Beziehung des Seins zum Denken, zum Begriff, mithin also mit Bezug auf dasjenige zur Sprache bringen, unter dem das reine Sein je schon steht: wie die Form zum Wesen, so das Denken zum Sein. Das Sein,
52 53 54 55 56
Ebd. Ebd. Ebd., 587. Ebd., 586. Ebd., 587.
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II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
so die These, sei a priori notwendig auf das Denken bezogen. Um ›in seiner Wahrheit zu existieren‹, so Schelling, hat das reine Sein darum ein unmittelbares Verhältnis zum Denken: Denn »was Nichts ist, d. h. was kein Verhältnis zum Denken hat, auch nicht wahrhaft Ist.« 57 Da Gott in seinem reinen Innesein »nichts als das reine Dass des eigenen Seins« enthält, hätte sein Sein keine Wahrheit, »wenn er nicht Etwas wäre«. 58 Sein und Wesen, Denken und Sein bilden somit eine untrennbare Einheit; doch nicht als ›omnitudo realitatis‹ ist jenes Sein aufgefasst, sondern als die absolute individuelle Existenz, deren Essenz das All der Realitäten genannt werden kann. Doch um ein Missverständnis zu vermeiden: Gott, so Schelling, sei selbstverständlich nicht eine Entität, ein Etwas »im Sinn eines Einzel-Seienden«, sondern allein das ›alles Seiende‹, das All der Möglichkeiten. 59 Dieses aber sei, so Schelling, der Begriff des Begriffs, mithin also die Idee: Denn Gott wäre nicht, »wenn er nicht ein Verhältnis zum Denken hätte, ein Verhältnis nicht zu einem Begriff, aber zum Begriff aller Begriffe, zur Idee.« 60 Dieser Ort nun, der Begriff aller Begriffe, der durch die Idee repräsentiert auf ein unvordenkliches Dass-sein bezogen ist, um die absolute Existenz mit der Essenz des Göttlichen a priori zu verbinden, dieser Ort sei, so Schelling, »die wahre Stelle für jene Einheit des Seins und des Denkens, die einmal ausgesprochen auf sehr verschiedene Weise angewendet worden.« 61 Auch wenn es Schelling nun in der Umkehr der Begründungsverhältnisse gegen Hegel darauf ankommt, in dieser Einheit »die Priorität nicht auf Seiten des Denkens« zu setzen, sondern das Sein als »das Erste, das Denken erst das Zweite oder Folgende«, 62 so ist beiden Positionen nicht allein jene a priori notwendige Beziehung des Seins zum Denken gemeinsam, sondern für beide gilt ebenso, dass der Gedanke der Individualität, jene ›Idee in individuo‹, als der höchste Seinsgedanke zugleich als durchgängig bestimmte Individualität aufzufassen ist, die zugleich nicht nur aus Begriffsverhältnissen
57 58 59 60 61 62
Ebd. Ebd. Ebd., 586. Ebd., 587. Ebd. Ebd.
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2. Der Gigantenstreit zwischen Schelling und Hegel
abgeleitet oder diesen unterworfen, sondern die Ausgang und bleibendes Ziel aller gedanklichen Annäherung ist. 63 Platon und Aristoteles ruft Schelling als Ahnherren dieses Gedankens in Erinnerung. Leicht sei man geneigt, beiden zu attestieren, dass sie das Denken über das Sein gesetzt haben; Platon? – nun ja, wenn man jene einsame Stelle im sechsten Buch der Republik übersieht, wo er von dem agathon, d. h. von dem Höchsten in seinen Gedanken, sagt: ouk ousias ontos tou agathou all’ eti epekeina tês ousias […], also, dass das Höchste nicht mehr ousia, Wesen, Was ist, sondern noch jenseits des Wesens, das an Würde und Macht ihm Vorangehende. 64
So kann schließlich auch für Schelling gelten, dass das Was, das Wesen der Dinge, in ihrem Dass enthalten und begriffen ist. 65 Dieses Dass soll zudem im Sinne lebendiger Wesen als ›Seele‹ bezeichnet werden, die als ein Immaterielles gegenüber der Materialität des Seienden als das eigentlich Seiende, das Selbst-Sein einer Sache oder Person genannt werden soll, mithin also als dasjenige, wodurch ein jedes überhaupt nur es selbst genannt werden könne. So scheint auch für Schelling das ›principium individuationis‹ nicht allein durch sein nacktes Dass-Sein, sondern ebenso durch sein Wie- und Was-Sein verbürgt: da das Wie- und Was-Sein das Einzelne allererst als ein Einzelnes durch Bezug auf das gemeinschaftsbezogene Allgemeine – sei es durch Sprache, Geschichte oder Kultur – d. h. in seiner Generalisierung begreiflich werden lässt. Hegel hat diesen Gedanken spekulativ ausgearbeitet, indem er das Seinsganze, als die ›Idee in individuo‹, im Gedanken des in all seinen Teilen vollständig bestimmten höchsten Wesens entfaltet hat. Dabei sollte der vollständige Begriff des Seinsganzen allererst im Durchgang durch alle seine Sphären – im mit dem Allgemeinen zusammengeschlossene Einzelnen – als die Idee eines durchgängig bestimmten Ganzen greifbar werden. Dies hatte Hegel bereits in seiner Logik im Blick. Mit einer derartigen Konvergenz der Extreme, die uns zum Schluss deutlich wurde, werden nun diejenigen unzufrieden sein, die in Schelling den Vorschein der Neufundierung der Philosophie in einem unverrechenbaren ›unvordenklichen Seinsgedanken‹ finden: einen Schelling, der eher realistische als spekulativ-idealistische Züge 63 64 65
Ebd. Ebd., 588. Schelling: Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW II/1, 407.
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II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
trägt, der mit Naturalisierungen besser als mit Idealisierungen verträglich ist und der über Marx, Schopenhauer und Nietzsche ins 20. Jahrhundert weist – und es werden aber auch diejenigen unzufrieden sein, die in Hegels Logik die Unhintergehbarkeit begrifflicher Vermittlung gegen jede Annahme eines vor- und außerbegrifflichen Seins verteidigen wollen, bringen beide doch in ihren eigenen Reihen ihren Widersacher je schon mit: Hegels reine Begriffsphilosophie ist nichts ohne ihr vorbegriffliches Dawider, worauf der Begriff als sein Realitätsgehalt bezogen ist, und Schellings positive Philosophie ist nichts ohne eine notwendige Beziehung des nackten Dass, des Seins, zum Begriff, durch welchen – im Begriff des Begriffes, in der Idee, ganz ähnlich der Hegelschen Philosophie – allererst das wahre Band zwischen Realität und Begriff gewonnen ist. Schließlich werden auch diejenigen ein Ungenügen an einem solchen Ergebnis finden, die Platon und Kant ungern in ihrem vorgängigen Seinsgedanken – in der Vorgängigkeit des Ideals vor der Idee – so deutlich an die nachkantischen Systembildner heranrücken wollen. Ohne noch näher auf diese Einwände eingehen zu können, möchte ich abschließend Folgendes bedenken: Wenn gezeigt werden kann, dass Hegels Philosophie vom Orte der Substanz aus zu denken sucht und diese in Seins- und Wesenslogik mal als passive, in der Begriffslogik dann als sich selbst setzende, aktive Substanz zu begreifen sucht, so wird auch in Hegels Philosophie das Prinzip ›Subjektivität‹ nur mehr als eine besondere Modalität des Seins ausgelegt: als sich bestimmendes, selbstdurchsichtiges, sich selbst setzendes Sein. Und wenn ferner gezeigt werden kann, dass Schellings Idee des ›unvordenklichen Dass‹ a priori mit ihren Wesensfunktionen verbunden ist und dass dieses nackte Dass zudem als die sich bestimmende Seele aufgefasst werden kann, die als das Prinzip der Selbstbewegung ihren Attributen vorausgesetzt ist, so schwinden die Abstände: Beide bringen – wie Platon bezogen auf die Wechselintegration der Pole bereits im »Gigantenstreit« des Sophistes antizipiert hatte – ihren Widersacher im eigenen Lager immer schon mit. Dies war es, was Hegel und Schelling meinten, wenn sie sich beide vehement gegen die Zusprache des bloßen Idealismus wehrten: Sei ihnen doch gerade an der Art der Verbindung von Realität und Idealität, Natur und Geist, Denken und Sein, mithin also an der Überwindung dieser Gegensätze gelegen, so dass weder das Denken im 226 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
2. Der Gigantenstreit zwischen Schelling und Hegel
Seinssinne noch der Seins- im Wissenssinne absorbiert werden könne, weil beide – in der Idee, die Kant als ›Idee in individuo‹ antizipiert hatte – immer schon über diese Gegensätze hinausgegangen sind.
Literaturverzeichnis: Bickmann, Claudia: »Schellings Identitätsform im Lichte der Dialektik Platons«, in: Rainer Adolphi (Hrsg.): Das antike Denken in der Philosophie Schellings. Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, 147–196. Blumenberg, Hans: »Individuation und Individualität«, in: Hans D. Betz/ Don S. Browning/ Bernd Janowski/ Eberhard Jüngel (Hrsgg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Band 4. Tübingen 2007. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe [TW]. Redaktion von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1969 ff. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hamburg 1990. [zitiert als KrV mit entsprechender Seitenzahl der 1. Auflage (A) und der 2. Auflage (B)]. Platon: Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Hrsg. von Gunther Eigler und übersetzt von Friedrich Schleiermacher. Darmstadt 1977. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Historisch-kritische Ausgabe [AA]. Thomas Buchheim, Jochem Hennigfeld, Wilhelm G. Jacobs, Jörg Jantzen u. Siegbert Peetz (Hrsgg.). Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff. Schelling, Karl Friedrich August (Hrsg.): Friedrich Wilhelm Joseph Schellings sämmtliche Werke [SW]. 14 Bde. Stuttgart u. Augsburg 1856–1861.
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3. Bedingungen der menschlichen Freiheit
I.
Einführende Fragestellung: Das Prinzip Sich-Bestimmen, Sich-Bilden
In allen Weltphilosophien sollte ehemals die Idee einer gegenüber ihrer natürlichen Existenz freien menschlichen Natur zur Quelle und zum Fluchtpunkt der Bildbarkeit des Menschen werden. Innerhalb der abendländischen Philosophie kulminiert dieser Gedanke, der in Platons Paideia seinen griechischen Ausdruck findet, in Hegels Prinzip des freien Sich-bestimmens des verobjektivierten Geistes. Seit dem 19. und 20. Jhd. gilt die bildbare menschliche Natur jedoch innerhalb der abendländischen Philosophie weder in ihren epistemischen Funktionen mehr als Integrationsinstanz (Apperzeptionseinheit) des theoretischen Geistes, noch soll sie als moralisches Ich im Reich der Zwecke mehr als spontanursächliche Quelle freier Selbstgesetzgebung fungieren oder sich auf fühlende und strebende Weise noch in Kunst, Natur und Religion in die Welt der gegebenen Erscheinungen hineinbilden können. In kritischer Abgrenzung gegen das Bemühen, unser wissendes, wollendes und fühlendes Selbst- und Weltverhältnis noch in einem einigen Bildungsgang zu vereinen, ist die bildbare menschliche Natur aus ihrer vermittelnden Rolle zwischen der vorausgesetzten natürlichen Welt und der durch freie Akte möglichen moralischen Welt entlassen. Nicht mehr soll sich die Natur, der Grund im Bewusstsein, im freien Geiste lichten. Und nicht mehr ist darum der Bildungsgedanke Gegenstand einer Annäherung, die sich noch um ein Integral aller die Bildbarkeit der menschlichen Natur betreffenden Sphären bemüht, sondern der Einzelne wird vielmehr als beobachtbares und beschreibbares Objekt im relationalen Gefüge innerer und äußerer Abhängigkeiten zur Selbstdementierung und Selbstannihilierung seines wissenden und wollenden Selbstverhältnisses genötigt. Indem eine solche Selbstbeschreibung nur mehr Relationen, 228 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
3. Bedingungen der menschlichen Freiheit
aber keine sich wissenden Individualitäten mehr kennt – deren ›SichWissen‹ im ›sich setzenden Selbstvollzug‹ (Fichte) verankert ist – liefert sie dem Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit (Schleiermacher) ungewollt ein sachliches Fundament und verneint den Gedanken der Bildbarkeit des Menschen als eines sich in Freiheit reflektierenden und bestimmenden Wesens. War es nun bereits Platon, wie Martin Heidegger dies sah, der die abendländische Philosophie auf den Sonderweg einer ›Verwalterin der Ratio‹ brachte, indem er sie durch Verwunderung und Staunen ihrer liebenden Nähe zu den Dingen beraubt habe? Sollte die abendländische Philosophie durch ihre erkenntnisgeleitete Abkehr vom weisheitsgebundenen Leben bereits durch Platon und Aristoteles auf den Abweg einer forschenden Perspektive gebracht worden sein, die in verobjektivierender Distanz sich von der Welt der gegebenen Erscheinungen in Natur und Lebenswelt entfernt (entfremdet hat) und den Weg einer Prinzipienwissenschaft beschritten hat? Sollte in der Frage nach dem ›Was ist X‹, ›was es ist, ein Etwas zu sein‹, nach der Quidditas des Gedachten, die Abkehr vom Lebensvollzug des Denkens und Handelns begründet sein, die in reflektierender Abstraktion trennt, was im Leben des Einzelnen wie der Gemeinschaft stets nur zusammen bestehen kann, so dass nun, wenn wir nach dem ›ti estin‹ fragen, wir entweder Platons ›Idea‹ meinen oder aristotelisch von Ousia sprechen, im Sinne Schellings oder Hegels die absolute Vernunft oder aber im Sinne Nietzsches die natürliche Unvernunft vor Augen haben? Nicht mehr, so Martin Heidegger, meine Logos seither ein liebendes Sich-versammeln im Einvernehmen mit dem Sein, worin ursprünglich die parmenideische Idee der Einheit von Denken und Sein begründet sei. Die Unvermeidlichkeit einer prinzipientheoretischen Annäherung möchte ich im Folgenden zur Sprache bringen und dabei – nach einem kurzen Problemaufriss mit Blick auf Platons Paideia-Gedanke und einem Seitenblick auf Laotses Tao-Te-King – Schellings Annäherung an das Prinzip der menschlichen Freiheit als Grundlage der Idee der Bildbarkeit der menschlichen Natur ins Auge fassen. Die genannte Diagnose schrittweiser Verobjektivierung durch reflektierenden Selbstbezug trifft Platons Idee des Bildungsweges, wie er für die Genesis der abendländischen Philosophie Leitbildfunktion erhalten hat, ins Herz: Sollten doch die Höhlenbewohner in ihrer Sprachlichkeit zwar über den Gebrauch der Worte, nicht aber bereits über einen Begriff der Dinge verfügen, so dass allein durch eine re229 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
flektierende Rückwende des Blickes, durch einen Bruch mit den eingespielten Vorverständnissen, das im Gesagten Vermeinte, aber nicht Erkannte, Einsicht in die Quidditas einer Sache erhellen konnte; eine Einsicht, zu deren Vollbegriff dann nicht nur die Einsicht in die Quellen des Wissens, sondern auch in die Genesis der Sache aus einer ihr zugrundeliegenden Wirk- und Finalursache gehören sollten. Beides – das Wissen wie das Gewusste, mithin also der Begriff in jenem doppelten Sinne, nach dem er Medium der Erkenntnis wie auch das Allgemeine der Sache selbst genannt werden kann, sollten ihrerseits unbegreiflich sein, wenn nicht auch das Prinzip verstanden war, aus dem die Verbindung von Denken und Sein einsichtig zu machen ist. Der eigentlich philosophische Weg sollte darum als ›Paideia‹, als ein Bildungsweg zu verstehen sein, der als Weg der Prämissentransparenz auf eine Präsuppositionsanalyse bezogen war, die die in Gebrauch genommenen Kategorien und Ideen zu Bewusstsein bringen sollte. Bildung war darum nicht allein ein Einüben in bereits bestehende Konventionen der Sprache und des Denkens, sondern zielte – im Sinne des ›Gnothi seauton‹ – auf Durchsichtigkeit der in unserem Denken und Handeln unbewusst in Gebrauch genommenen Prinzipien. Der radikale Bruch mit den kontextbezüglichen Vorverständnissen in Rede und Handlung sollte seither in Dialektik, Transzendentalphilosophie, in spekulativer Philosophie etc. für die abendländische Philosophie richtungweisend sein. Freiheit im Sinne von Selbsterkenntnis und Selbstbildung war von einer Selbstdistanz in reflexiven Akten dianoetischer Annäherung unabtrennbar. Abendländisch wird nun die Wunde, die Abstraktion und Reflexion der eingespielten weisheits- oder mythenorientierten Lebenspraxis schlugen, zur ständigen Herausforderung. Ein Seitenblick auf das Tao von Laotses Tao-Te-King mag den Unterschied verdeutlichen: Wenn es etwa in jenem Weisheitsbuch im ersten Kapitel heißt: Der Sinn [das TAO, C. B.], den man ersinnen kann, ist nicht der ewige Sinn [das ewige TAO, C. B.]. Der Name, den man nennen kann, ist nicht der ewige Name 1 –
Laotse: Tao Te King – Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Düsseldorf/Köln 1952, 3.
1
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3. Bedingungen der menschlichen Freiheit
so wird auch hier sentenzhaft eine grundlegende Differenz zwischen unserem eingespielten Sprachverstehen und der Einsicht in die zugrundeliegende Sache an den Anfang gesetzt; in Gedanken – so die Annahme – erreichen wir nicht den Fluchtpunkt des Vermeinten. Und wenn es dann weiter heißt: Jenseits des Nennbaren liegt der Anfang der Welt. Diesseits des Nennbaren liegt die Geburt der Geschöpfe 2 –
so öffnet sich ursprungsphilosophisch ein metaphysischer Horizont zwischen Transzendenz und Immanenz: Dabei werden die transzendenten Kräfte jenseits des Nennbaren mit der Immanenz des raumzeitlich gebundenen Daseins in eine unauflösliche Spannung gerückt, aus der ein zweifaches Streben erwächst: Ein Streben nach der Schau der ewig jenseitigen Kräfte wie ein Streben »zum Schauen der Kräfte, im Ewig-Diesseitigen, der Räumlichkeit.« 3 Beide, die sinnliche und die übersinnliche Welt haben dann – analog der Funktion der Idee des Guten in der platonischen Gleichnisrede – »Einen Ursprung und nur verschiedenen Namen«. 4 Doch so wie die Quelle der Einheit von natürlichen und intelligiblen Phänomenen »das Große Geheimnis« ist, so sei noch rätselhafter als dieses Geheimnis, des Geheimnisses Geheimnis: Es sei dies »die Pforte der Offenbarwerdung aller Kräfte.« 5 Unbegreiflich darum der Akt der Genesis der sinnlichen und übersinnlichen Welt aus diesem Prinzip. Auch hier gilt analog für Platon: Sowenig sich das Prinzip der sinnlich-sichtbaren Welt in dianoetischen Akten ergründen lässt, so sehr bleibt auch die Quelle der Einheit von sinnlicher und übersinnlicher Welt, die Idee des Guten, in ihrem reinen Innesein – als Epekeina tes ousias – begrifflicher Analyse unzugänglich. Stets dort, wo das höchste Prinzip als Quelle der Genesis der Differenz und Mannigfaltigkeit begreiflich zu machen wäre, wählt Platon darum entweder, wie im Parmenides die aporetische Rede oder, wie im Timaios, die Rede nach der Art der Wahrscheinlichkeit. Auch ihm bleibt der Weg vom höchsten Prinzip ausgehend in ein Offenbarwerden aller Kräfte das unauflösliche Rätsel.
2 3 4 5
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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Doch der Unterschied zwischen beiden Positionen ist unverkennbar: Nicht bloß apersonal wie in Laotses letzter Sequenz als anonymer Akt der Selbstoffenbarung erscheint uns der Grund allen Seins: sondern es ist im Sinne Platons das Geheimnis der »Pforte der Offenbarung aller Kräfte« 6, dass es sich allein im lebendigen, eingebetteten Vollzug durch den Akt der Bewusstwerdung im je Einzelnen allererst vollziehen muss, d. h. dass eine solche Einsicht an den mühseligen Akt der Selbsterkenntnis gebunden ist. Darum ist Unverborgenheit im Sinne Platons nicht bloß ein Geschehen, ein Tun-Lassen im Sinne des Wu-wei, ein Sich-von-selbst-Vollziehen, sondern es ist sich vollführende Selbsttätigkeit, ist ein Akt des Sich-bestimmens und Sichbildens in Freiheit, der Akte der Enttäuschung und Selbstdistanz ebenso voraussetzt wie den Rückgang des Einzelnen in eine zu gestaltende Gemeinschaftlichkeit. Sollte darum innerhalb der griechischen Philosophie die Offenbarkeit des höchsten Prinzips an einen systematisch vollzogenen Akt der Selbsterhellung des erkennenden Bewusstseins – als sein Bildungsweg – gebunden und dieser zugleich unvermeidlich sein, so markiert dieser Weg nicht nur die Berechtigung der Rede von der Entdeckung des Geistes bei den Griechen, sondern er wird auch zum Anlass für eine folgenschwere, aber ebenso unvermeidliche Verselbständigung der beiden Urprinzipien voreinander: Geist und Natur, Freiheit und Notwendigkeit werden nicht mehr unbefragt als die komplementären Pole der Einen Seinssphäre aufgefasst, sondern in eine ständige Spannung und Entgegensetzung, in einen Prinzipienstreit, gebracht, nach dem mal die Intelligibilität, mal die natürliche Sphäre Leitfunktion erhält. Auch wenn sich zunächst, so Martin Heidegger, das Leitwort des logos sowenig wie das chinesische Tao übersetzen lasse, so solle doch – vorsokratisch – auch im griechischen Denken der Ort des logos indizieren, dass das Sein mit dem Denken in dasselbe gehöre, indem der Logos bereits sei, was er sage, beide mithin nurmehr zwei Seiten eines Verhältnisses seien, während in der später so genannten Metaphysik oder Prinzipienwissenschaft die Identität mal in das Denken mal in das Sein, mal in die Freiheit mal in die Notwendigkeit gesetzt werde; so dass ihr Zusammengehören seither stets unergründlich bleibe. 7 6 7
Ebd. Vgl. M. Heidegger: Was ist das – die Philosophie? Pfullingen 1956, 12 ff.
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3. Bedingungen der menschlichen Freiheit
II.
Schellings zweiter Anfang. Auswege aus der Begriffsform?
Von seinen frühen Timaios-Studien an auf Platons Spuren sucht Schelling nun, beide Extreme zu meiden: Weder soll die Sphäre der Intelligibilität den Seinssinn in sich absorbieren, noch soll umgekehrt das Sein die Intelligibilität als ihr bloßes Derivat marginalisieren. Dabei markiert seine Philosophie einen Ort des Umbruchs innerhalb der abendländischen Philosophie: In ihr kulminiert die Tradition der platonisch-neuplatonischen Philosophie; zugleich aber ist ihr auch der Richtungssinn einer Form des Philosophierens eingeschrieben, der dem Erfahrungsbezug des Wissens Rechnung zu tragen sucht, ohne dabei das Prinzip des Geistes oder der Freiheit bloß epiphänomenal aus vorausgesetzten Legitimationsinstanzen (dem gesellschaftlichen Sein, dem Willen zum Leben oder den neuronalen Netzwerken unserer Hirnzellen o. ä.) zu gewinnen. Ein solcher Epiphänomenalismus, der Kants ›Ding an sich‹ als ein neues Unbedingtes in vorprädikativen Strukturen zu etablieren sucht, vermag dem wissenden und wollenden Selbstverhältnis nicht mehr gerecht zu werden. Dabei wird Kants kritische Grenzziehung der Erkenntnistheorie nicht durch Schellings spekulative Dialektik, sondern viel eher durch eine Philosophie gefährdet, welche die basalen gesellschaftlichen oder neuronalen Verhältnisse für gewiss, das sich wissende Selbstbewusstsein aber für fraglich hält. Wie nun findet Schelling eine Konzeption von Freiheit, die trotz ihrer Orientierung am erfahrungsgebundenen Wissen unser wissendes und wollendes Selbstverhältnis nicht quittiert? Schelling hatte deutlich gegen die ›Ungereimtheit‹ des »gewöhnliche[n] Begriff[s] der Freiheit« protestiert, nach welchem sie (als Willkürfreiheit oder als Prädetermination) »in ein völlig unbestimmtes Vermögen gesetzt wird«, sich zwischen »zwei contradiktorisch Entgegengesetzten, ohne bestimmende Gründe, […] für A oder – A entscheiden zu können«. 8 Damit würde sich der Mensch von einem Tier, »das […] zwischen zwei Haufen Heu von gleicher Entfernung, Größe und Beschaffenheit verhungern müsste […], eben nicht auf die vorzüglichste Weise unterscheiden«, 9 indem dies nur das Vorrecht bedeuten würde, ganz unvernünftig zu handeln. Moralität und Sitt8 Schelling, Karl Friedrich August (Hrsg.): Friedrich Wilhelm Joseph Schellings sämmtliche Werke [SW]. Stuttgart u. Augsburg 1856–1861. Bd. VII, 382. 9 Ebd.
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II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
lichkeit müssten durch den Begriff der gänzlichen Zufälligkeit unbegreiflich bleiben. Ein solcher Begriff der Zufälligkeit der einzelnen Handlungen sei wohl eher mit der zufälligen Abweichung der Atome vergleichbar, die Epikur in der Physik in gleicher Absicht ersann, nämlich dem Fatum zu entgehen. Zufall aber, so der Gedanke, sei »unmöglich«, widerstreite »der Vernunft wie der notwendigen Einheit des Ganzen«; und »wenn Freiheit nicht anders als mit der gänzlichen Zufälligkeit der Handlungen zu retten« sei, so sei sie »überhaupt nicht zu retten.« 10 Schellings These: Das intelligible Wesen könne daher, so gewiss es schlechthin frei und absolut handele, so gewiss nur seiner eignen inneren Natur gemäß handeln, […] denn frei ist, was nur den Gesetzen seines eignen Wesens gemäß handelt und von nichts anderem weder in noch außer ihm bestimmt ist. 11
Was aber sollte dies heißen, was soll es bedeuten, die Freiheit des Menschen an die Gesetze seines eigenen Wesens zu binden? 1. Um dem Erfahrungsbezug unseres Wissens Rechnung zu tragen, sucht Schelling zunächst auf Kants Fährten die – von Leibniz’ entelechial interpretierte – Idee des lebendigen Wesens mit der Notwendigkeit des Erfahrungsbezugs unserer Sinne zu versöhnen; zugleich aber sucht er mit Aristoteles’ ›Noesis noeseos‹ ein Prinzip von Selbsterkenntnis und Sich-bestimmen, durch das menschliche Freiheit an das Prinzip der Selbstbildung gebunden ist. Beiden Seiten wollte er Rechnung tragen: Die beiden gleich ewigen Anfänge der Natur und der Freiheit sollten in Natur- und Transzendentalphilosophie in zwei unterschiedenen, aber untrennbar aufeinander bezogenen Identitätsreihen, in ihrer jeweiligen Wechselimplikation zu beschreiben sein. Wie können wir dies verstehen? Wie, so lautet die Frage, sollte auf diese Weise eine nicht-reduktive Beschreibung des Verhältnisses von Natur und Freiheit möglich sein? 2. Zunächst hat Schelling die dreifache Gefahr einer zirkulären, regressiven oder dogmatischen Annäherung an ein höchstes Prinzip bereits gesehen, der eine systematische Beschreibung des Prinzips ihrer Verbindung ausgesetzt ist: 10 11
Ebd., 383. Ebd., 384.
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3. Bedingungen der menschlichen Freiheit
Darum sollte ein solches Prinzip auch weder – wie in Hegels Geistphilosophie – zirkulär seine eigenen Prämissen bereits voraussetzen noch wie Reinholds Prinzip der Vorstellung in einen Regress münden oder aber im Sinne von Fichtes Wissenschaftslehre – grundsatzphilosophisch – auf einer dogmatischen Setzung beruhen. Anders darum als Hegel, der beide Extreme in sich selbst zu vermitteln suchte, indem sich die Sphäre des Subjektiven erst in ihrer durchgängigen Verobjektivierung im Seinsgeschehen vollenden sollte sowie umgekehrt, das bloß objektiv Gegebene, das Sein nur dann in seine Wahrheit gebracht sah, wenn es aus freier Selbstgesetzgebung begreiflich geworden war, sucht Schelling auf den Fährten Platons ihre Vermittlung in einem Ort der Indifferenzierung der Pole, mithin also in einem Dritten: Sei es – wie im »System des transzendentalen Idealismus« von 1800 – der Kunst, in der »Darstellung meines Systems« in der absoluten Vernunft – oder aber – wie in der Freiheitsschrift und seiner späten Kritik an der reinrationalen Philosophie – in einem Prinzip der Verbesonderung des Allgemeinen – im Individuum oder der menschlichen Seele. Und so wie die Kunst im »System des transzendentalen Idealismus« eine Indifferenzierung der Pole in sinnlichübersinnlicher Gestalt zum Ausdruck bringt, wird 1809 in der Freiheitsschrift wie in der Spätphilosophie das Individuum quasi-entelechial zur verbesonderten Gestalt des Allgemeinen, durch das Mikround Makrokosmos einander symbolisch wie in einem Brennspiegel begegnen. Nicht darum in rein-rationaler, rein begrifflicher Gestalt, in der der Geist sich selbst findet und erkennt, sondern in einer sinnfällig gewordenen symbolischen Gestalt – darin auf den Fährten von Platons Timaios, in der sinnlich-übersinnlichen Doppelnatur des menschlichen Wesens – soll das Mittlere zu finden sein, das an beiden Seiten, der Natur wie der Freiheit, einen Anteil hat. Denn, so die Überlegung, erst im Menschen findet das Sein oder die Natur in Gott ihre gottähnliche, freie Gestalt, durch die es das Seiende nicht bloß ist, sondern sich als seine eigene Tat setzen und begreifen kann. Im Menschen, so die These, findet darum auch erst die Natur in Gott ihren Lichtungspunkt, den Springpunkt der Freiheit. Doch wie soll dies möglich sein? Der Idealismus sei bis zur Idee der Freiheit vorgedrungen, seine Realität aber, seine Einbettung in die Natur habe insbesondere der Idealismus Fichtes – aber auch der Kants – noch nicht zu zeigen vermocht. Nur das bloße Prinzip, die Form der Freiheit sei gewonnen; 235 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
mit der Form der Philosophie aber seien zugleich auch die materiellen, die realen Bedingungen alles Lebendigen noch aus Prinzipien begreiflich zu machen. Zu zeigen sei, wie denn Freiheit als Prinzip in der Natur verankert sei: Die ganze neu-europäische Philosophie seit ihrem Beginn (durch Descartes) hat diesen gemeinschaftlichen Mangel, daß die Natur für sie nicht vorhanden ist, und daß es ihr am lebendigen Grunde fehlt. Spinozas Realismus ist dadurch so abstrakt als der Idealismus des Leibniz. Idealismus ist Seele der Philosophie; Realismus ihr Leib; nur beide zusammen machen ein lebendiges Ganzes aus. 12
Wie sollte dies möglich sein? Zunächst wird Schellings Philosophie nicht wie Hegels Philosophie reine Begriffsphilosophie, bloße Vernunftwissenschaft mehr sein, durch die die Einheit von Denken und Sein, der Weg zum freien Sich-bestimmen und Sich-setzen des absoluten Prinzips allein in der Sphäre des Geistes sich vollzieht, sondern es sollte sich – programmatisch bereits in der Freiheitsschrift – das Prinzip ihrer Verbindung als Prinzip der Indifferenz von Geist und Natur bzw. von Natur und Freiheit in einem Wesen verkörpern können, in dessen Natur bereits Freiheit und Notwendigkeit verankert sind. Da nun im Unterschied zur göttlichen Natur im Menschen Grund und Existenz der Freiheit nicht nur unterschieden, sondern auch trennbar seien und als Natur und Freiheit in einen Widerstreit geraten können, so bedürfe es eines lebendigen Prinzips, die im Menschen stets gefährdete Eintracht und Harmonie gleichwohl möglich zu machen. Der menschlichen Seele nämlich stehe es frei, sich in ihrem Eigenwillen gegen den Universalwillen zu verschließen (indem sie den Partikularwillen in sich zum übergeordneten Prinzip erhebt) oder aber die Möglichkeit des Guten in dieser Welt zu ergreifen, indem sie sich im Gefühl der unendlichen Liebe auf den Universalwillen hin zu entgrenzen sucht. Der Richtungssinn seiner Existenz ist nicht vorentschieden: Es steht dem Menschen frei, sich im liebenden Einvernehmen mit dem Urwillen auf das Ideal des höchsten Guten hin zu bewegen. Erst durch das Wesen der menschlichen Freiheit wird somit die Frage nach dem Grunde des Bösen in dieser Welt überhaupt erst sinnvoll zu stellen sein. 12
Ebd., 356.
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3. Bedingungen der menschlichen Freiheit
Von seinem frühen Timaios-Kommentar bis in die Spätphilosophie ist die Transzendentalphilosophie darum an eine Form der Realphilosophie geknüpft, durch deren Mittelbegriffe von Totalität und Einzelnem, Wesen und Form 13, Affirmierendem und Affirmiertem 14, Egoität und Liebe 15, Grund und Existenz 16, Sein und Seiendem 17, Dass- und Was-sein je unterschiedliche Brückenprinzipien zur Sprache gebracht sind, durch die das vorbegrifflich Unbedingte mit den Bedingungen begriffsdifferenzierender Rede, der unbedingte Seinsgrund mit dem Bedingten unserer temporalen Existenz, zusammenzuschließen sind. Wäre nun, so Schelling, die Suche nach dem indifferenzierenden Dritten, nach einem vermittelnden Prinzip zwischen den Polen, allein ein Problem der theoretischen Philosophie, so wäre die genannte – zirkuläre, regressive oder dogmatische – Situation unvermeidlich, in die sich eine jede sich ihrer Grundlagen vergewissernde Philosophie verstrickt. Schelling sucht einen Ausweg aus den Fallstricken dieser aporetischen Struktur reinrationaler Philosophie, indem er die genannten Mittelbegriffe mit Blick auf Kants »Kritik der teleologischen Urteilskraft« wie auch auf Aristoteles’ Ousia-Begriff in das Geflecht der vier aufeinander bezogenem Ursachetypen 18 einzubetten sucht, wodurch allererst eine innere Verbindung zwischen Form und Materie, von Wesen und Form, Grund und Existenz, oder Egoität und Liebe begreiflich werden kann: Das Substrat dieser Einheit, Schelling nennt es in seiner ›Freiheitsschrift‹ den Un-Grund, fungiert demnach dann (Platons hen und Kants übersinnlichem Substrat vergleichbar) als Verbindungsprinzip, indem es die kontradiktorisch Entgegengesetzten Natur und Freiheit als konträre Pole der einen Seinssphäre greifbar werden lässt und sie zum anderen auf ein Etwas bezieht, das nur als Singularität, als IndiVgl. Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen, SW I/7, 426. Vgl. Schelling: System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, SW I/6, 148, 161 ff. 15 Vgl. Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen, SW I/7, 439; ferner: ders.: ›Freiheitsschrift‹, SW I/7, 376 f. 16 Vgl. Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen, SW I/7, 428. 17 Vgl. Schelling: Abhandlung über die Quelle der ewigen Wahrheiten, SW II/1, 578, 585, 588; ders.: Philosophie der Mythologie, SW II/1, 273 f., 302 f., 313 f., 345, 363, 516 f. 18 Vgl. SW II/1, 319, 346, 355, 386–418. 13 14
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II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
viduum, als Person, durchgängig bestimmtes Einzelnes genannt werden kann. 19 Dabei ist die Singularität einer Person dann nicht in sich ruhendes Substrat, ein nacktes Dass, sondern es ist eine sich in sich finalisierende, sich bildende Größe, die danach strebt, ihre sinnlich-sittlichen Kräfte in Übereinstimmung zu bringen. In der Abkehr darum von einer sich in Aporien verstrickenden Vernunftmetaphysik soll das vorbegriffliche Seinssubstrat die außertheoretischen Wurzeln aller theoretischen Annäherungen freilegen und darüber hinaus – darin Kant und Fichte nah – das reine Sein als Prinzip von Tätigkeit, von Produktivität – ganz im Sinne von Platons Idee der Selbstbildung – erneut an den Anfang stellen. 20 In transzendentaler Perspektive wird dabei die kantische »Idee in individuo«, das Ideal des in all seinen Dimensionen durchgängig bestimmten Gegenstandes, von Schelling als unendlich wirksame Macht ausgelegt, die nichts außer sich, sondern alles nur in sich selbst bewirkt 21 und die als finalisierende Größe zugleich danach strebt, bloß Gegebenes, abhängiges Dasein aus Freiheit zu setzen, um sich mit sich selbst einig zu machen. 22 Neben der Formal- und Materialursache des Seins, dem Wesen und der Form, wird damit – quasientelechial – das innere Telos der Gesamtbewegung zur Sprache gebracht: Das sich bildende Individiuum sucht demnach nach einer Übereinstimmung mit dem Universalwillen, um die gegebene Welt auf einen freien Grund zu stellen. 23 Insofern dann aber in der gegebenen Welt bloß möglich ist, was im urbildlichen Sein als wirklich vorgestellt werden kann, fallen Sein und Sollen in der endlichen Welt auseinander. Und indem im höchsten Guten alles Mögliche zugleich wirklich und alles Wirkliche auch notwendig ist, können der Einzelne wie das zu gestaltende Gemeinwesen an der Vollkommenheit des Inbegriffs aller Realitäten, der Idee Vgl. Schelling: Philosophie der Natur, in: Historisch-kritische Ausgabe [AA]. Hrsg. v. Thomas Buchheim, Jochem Hennigfeld, Wilhelm G. Jacobs, Jörg Jantzen u. Siegbert Peetz. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff., Bd. I/5, 97 f.; SW I/3, 37 f.; Philosophie der Mythologie, SW II/1, 285 f. 20 Vgl. Schelling: Idealismus der Wissenschaftslehre, AA 1/3, 155; SW I/1, 428; ferner ders.: Bruno, SW I/4, 303. 21 Vgl. ebd., AA 1/2, 151, 122, 147; SW I/1, 121, 195, 217. 22 Vgl. Schelling: Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie, AA 1/1, 282; SW I/1, 98; ders.: Vom Ich als Prinzip der Philosophie, AA 1/2, 77 ff., 100 ff., 123 ff.; SW I/1, 157 ff., 177 ff. 197 ff. 23 Ebd., AA 1/2, 234 ff. 172 ff.; SW I, 197 ff., 239 ff. 19
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3. Bedingungen der menschlichen Freiheit
des einigen Urwillens, das Maß ihrer Entwicklung finden. Was für die endlichen Wesen dann »nur regulatives Prinzip ist«, ist für jene »objektive Einheit« 24, die zur immanenten werden soll; weshalb Schelling bereits in seiner Ichschrift Gott – regulativ – als dasjenige begreift, »das wir ins Unendliche fort zu realisieren streben« und nicht als einige Substanz, die – im Sinne Spinozas – uns selbst bereits als ihr Prädikat enthält. 25 So gilt für Schelling, wie er im Bruno sagt, das Sollen nicht nur als »Urstoff des Handelns, sondern auch alles Seins.« 26 Mit Aristoteles’ Ousia-Gedanke, der Idee der ersten Substanz, und Leibniz’ Idee der Monade sucht Schelling darum, das Prinzip der Vermittlung zwischen den Polen im Individualitätsprinzip zu verankern: Das gesamte philosophische System nimmt seit der Freiheitsschrift vom Begriff der Individualität, der Existenz des Einzelnen, seinen Ausgang, um – ganz im Sinne von Platons Seelenbegriff – den Ort zu finden, an dem Unendliches und Endliches, Unbedingtes und Bedingtes, ursprünglich vereint sind. 27 Dabei sei es Spinozas Verdienst gewesen, mit dem Prinzip: ›Ex nihilo nihil fit‹ vom Unbedingten zum Bedingten keinen Übergang, sondern unmittelbare Ineinsbildung walten zu lassen: »Vom Unendlichen zum Endlichen – kein Uebergang«. 28 Und diese ursprüngliche Vereinigung sei nirgends, »als im Wesen einer individuellen Natur.« 29 Auf Platons Timaios zurückgehend, könne in der menschlichen Seele der Umschlagsort von Identität und Differenz, Tun und Leiden, auf ein prärationales Fundament gestellt, – durch das Prinzip der Individualität dann in einem vorlogischen Raum zu retten sein. 30 Ebd. Schelling: Idealismus der Wissenschaftslehre, AA 1/3, S. 145 f. 26 Vgl. ebd., 327. 27 Vgl. Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus, AA 1/3, 49–112, 82 f.; SW I/1, 313; (Abk.: Briefe): Als Spinozas Verdienst begreift es Schelling, dem Prinzip: ›Ex nihilo nihil fit‹ erneut im Horizont der Ursprungsphilosophie zum Durchbruch verholfen zu haben, indem zwischen dem Unbedingten und dem Bedingten kein Übergang, sondern unmittelbare Ineinsbildung walte. Vgl. ferner Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur, AA 1/5, 97; SW I/2, 36. 28 Schelling: Idealismus der Wissenschaftslehre, AA 1/1, 86; SW I/1, 367; vgl. ferner ders., Briefe, AA 1/3, 82 f.; SW I/1, 313. 29 Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur, AA 1/5, 98; SW I/3, 37. 30 Vgl. Platon: Timaios, 34 b sq.; vgl. ferner: Schelling: Philosophie der Mythologie; SW II/1, 402. 24 25
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II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
Unter der Leitidee »Vom absoluten Ich zum durchgängig bestimmten Einzelnen« rückt die ›Freiheitsschrift‹ mit ihrem Individualitätsgedanken darum in die Mitte zwischen der frühen ›Ichschrift‹ und seiner späten Kritik an der ›Negativen Philosophie‹ aus den Jahren 1847/52, indem sie nach dem Ermöglichungsgrund der Freiheit im lebendigen Gefühl fragt und damit die transzendentale Fragestellung in dem Horizont der Analyse der Natur des Menschen zu verankern sucht. Innerhalb der endlichen Sphäre bilden dabei die beiden gegenläufigen Identitätsreihen Natur und Geist oder Natur und Freiheit nun zwei wechselweise verschränkte Bewegungsprinzipien: Der Geist als das Urbild der sich organisierenden Natur ist der Lichtungspunkt für das Natürliche im Menschen, und das Leben als »das sichtbare Analogon des Geistigen Seins« 31 ist, unbewusste Poesie des Geistes. In der Terminologie der Potenzen bedeutet dies: Zwischen den Endpunkten des reinen Seinkönnens, dem Unbegrenzten, apeiron, – ähnlich Platons Materie als dem Inbegriff aller Möglichkeiten 32, – und dem freiem Willen des Einzelnen liegt dann der Prozeß von der selbstbezüglichen Natur, ihrer Egoität, zur Freiheit – zum Fürsichsein, zum Sich-selbst-Besitzen, das allein im Menschen und spezieller: in der Sphäre des Geistes erreicht werden kann. Hegels Logik darum antizipierend, Aristoteles’ und Plotins Nous-Begriff komplettierend wird die belebte Natur darum nicht mehr als »Ding an sich«, sondern nurmehr als »Produkt eines freien Geistes« ausgelegt. 33 Doch Schelling beeilt sich zu betonen, dass nicht der Geist, das Prinzip des Allgemeinen, das Höchste sein könne. Denn insofern die Individualität an einen Grund zurückgebunden sei, den sie nicht selber setzt, musste das Prinzip, wenn es die Einheit des Ideellen und Materiellen auf Gründe bringen sollte, dasjenige Prius sein, das vom »ganz Ideen-Freien«, vom ›hen tí‹, dem reinen Daß seinen Ausgang nimmt. 34
Ebd., AA 1/3, 115; SW I/1, 388. Schelling: Timaeus, 59; Schelling: Idealismus der Wissenschaftslehre, AA 1/3, 74; SW I, 356); ferner: Schelling: Philosophie der Mythologie; SW II/1, 291, 388 f., 391 ff. 33 Vgl. Schelling: Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie, AA 1/1, 286/87 Fn. A; SW I/1, 173, 207., Fn.; ders.: Vom Ich als Prinzip der Philosophie, AA 1/2, 96, 135; SW II/1, 570. 34 SW II/1, 570. 31 32
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3. Bedingungen der menschlichen Freiheit
Darum konnte die Individualität nur auf einem Prinzip beruhen, durch das die Einzelseienden nicht unter ein Allgemeines subsumiert, sondern in ihrer Unverwechselbarkeit begreiflich gemacht werden konnten. Und darum durfte das Prinzip auch nicht mehr bloße Idee, Begriff oder bloßes Postulat mehr sein: sondern es mußte die Individualität des Einzelnen in einem Prinzip verankern können, durch welches das Einzelne zugleich strebende, fühlende und sinnliche Natur genannt werden konnte. Der Begriff des Individuellen, so Schelling, war darum nur in einem außerwissenschaftlichen Raum zu retten: Die Betonung der unverrechenbaren Individualität hat Konsequenzen für Schellings Philosophieverständnis: Unweigerlich wird sich die Philosophie, deren Prinzip das Allgemeine, der Begriff ist, auf diejenige Sphäre hin öffnen, in der das individuelle Allgemeine, das lebendige menschliche Wesen Gegenstand und Fluchtpunkt der Annäherung ist. Mit dem Individualitätsgedanken steht die Freiheitsschrift darum ganz im Zeichen einer von Schelling postulierten ›philosophischen Religion‹. Drei Argumente sind dabei entscheidend: 1. Sowenig die Forderung nach Glückseligkeit »vom Denken« ausgehen kann, sowenig ist sie ein Postulat der praktischen Vernunft. Denn nicht ein bloßer Gedanke oder eine mögliche Handlungsmaxime, sondern allein das Individuum als Ort der Ineinsbildung führe zu Gott. 35 Darum: Wie die Vernunft und das Gesetz nicht lieben, sondern nur die Person lieben kann 36, verlangt das Individuum, nicht »das Allgemeine im Menschen […] nach Glückseligkeit.« 37 2. Dem kantischen Idealgedanken analog hat Schelling nun die höchste Idee der Übereinstimmung von sinnlichen Glück und sittlicher Verpflichtung als ›Idee in individuo‹ ausgelegt, deren Sein und nicht bloß deren Begriff wir fordern 38: Darum fordern wir, so Schelling, als lebendige Individuen nicht die Idee eines höchsten anonymen Urwesens, sondern den seienden, den personalen Gott: denn nur aufgrund dieser Eigenschaft, so die Über-
Ebd., 569. Vgl. ebd., 569 Fn. 37 Ebd., 569. 38 Das ›Sein‹ und nicht die bloße ›Idee‹ des Guten hatte Schelling auch als Forderung von Platons Politeia ausgelegt: SW II/1, 570. 35 36
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II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
3.
legung, kann das einige Urprinzip auch Grund und Substrat des Individuellen im Menschen genannt werden. 39 Dieses aber und nicht bloß seine allgemeine Gestalt gelte es zu begreifen. Darum wird auch erst nach Schelling durch die ›Idee in individuo‹ der Individualitätsgedanke auf ein Prinzip zurückgeführt, durch das die Unverwechselbarkeit und Würde des Einzelnen begreiflich und für unser praktisches Handeln auch verpflichtend sind. Soll Freiheit darum der Anfang und das Ende der Philosophie sein, so wird sie sich als Postulat nur in ihrer Realisierung, im Entschluß und der Tat, d. h. im Bildungsweg des Einzelnen, bewähren: Denn nur im Einzelnen, im Individuum, kann das Urprinzip – der Funktion der Weltseele im Timaios vergleichbar – mit dem Mannigfaltigen und Bedingten einer sich ständig wandelnden Werdewelt zusammentreffen.
Darum wird Schelling ausgehend von seiner Freiheitsschrift die Apriorität des Faktischen, das Prius in seiner späteren positiven Philosophie, – als modifizierter, kritisch gewandter und aristotelisch ausgelegter Empirismus 40 zum Ausgang und Anlauf einer Philosophie, deren Wirksamkeit und Prinzip allein im Entschluß, in der Tat, und dies heißt für das Individuum, in einem auf Freiheit wie auf Kontingenz gründenden Bildungsweg – seine Rechtfertigung finden kann. Darum kann das gesuchte Prinzip der Indifferenzierung der Pole auch nicht der Geist mehr sein, wenn es den lebendigen Geist begreiflich machen soll: diese Funktion kann, so Schelling, nur der auf den Universalwillen hin sich entgrenzenden Liebe zukommen. Wäre jedoch im Endlichen, in der Natur des Menschen nicht jener unvermeidliche Widerstreit der Prinzipien, sondern wie im Urprinzip: der Grund der Existenz – die Natur in Gott – mit seiner Existenz eins und einig, so bedürfte es, so Schelling, der Liebe nicht. Doch teilt sich »der Ungrund […] in die zwei gleich ewigen Anfänge, nur damit die zwei, die in ihm, als Ungrund, nicht zugleich oder Eines seyn konnten, durch Liebe eins werden, d. h. er teilt sich nur, damit Leben und Lieben sey und persönliche Existenz.«
Schelling: Philosophie der Mythologie, SW II/1, 571. Vgl. Schelling: Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie (Berliner Vorlesung, vermutlich Wintersemester 1842/43), SW II/1, 102. 39 40
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3. Bedingungen der menschlichen Freiheit
So kann der Geist darum auch »nicht das Höchste [sein, C. B.]; er ist nur der Geist, oder der Hauch der Liebe. Die Liebe aber ist das Höchste. Sie ist das, was da war, ehe denn der Grund und ehe das Existirende (als getrennte) waren, aber noch nicht war als Liebe, sondern – wie sollen wir es bezeichnen?« Und Schelling fährt fort: Wir treffen hier endlich auf den höchsten Punkt der ganzen Untersuchung […] es muß vor allem Grund und vor allem Existirenden, also überhaupt vor aller Dualität, ein Wesen seyn; wie können wir es anders nennen als den Urgrund oder vielmehr Ungrund? Da es vor allen Gegensätzen vorhergeht, so können diese in ihm nicht unterscheidbar noch auf irgend eine Weise vorhanden seyn. Es kann daher nicht als die Identität, es kann nur als die absolute Indifferenz beider bezeichnet werden. 41
Auch wenn nun die Liebe höher noch sei als der Geist, so könne jedoch auch sie nicht das Letzte sein, denn sie sei weder in der Indifferenz, wo es keine Trennung zwischen Grund und Existenz gebe, noch dort, »wo Entgegengesetzte verbunden sind, die der Verbindung zum Seyn bedürfen, sondern [… und dies sei, C. B.] das Geheimniß der Liebe, daß sie solche verbindet, deren jedes für sich seyn könnte und doch nicht ist, und nicht seyn kann ohne das andere«. 42 Darum sei nun »über dem Geist […] der anfängliche Ungrund, der nicht mehr Indifferenz (Gleichgültigkeit) ist, und doch nicht Identität beider Principien, sondern die allgemeine, gegen alles gleiche und doch von nichts ergriffene Einheit, das von allem freie und doch alles durchwirkende Wohlthun, mit Einem Wort die Liebe, die Alles in Allem ist.« 43 Sollte Schelling mit diesem Prinzip nun, indem er jenen Ungrund als die in allem waltende Liebe begreift, – zurückgekehrt sein zu Heideggers Idee des liebenden wie grundlosen Einvernehmens mit dem Sein, das er mit der platonisch-aristotelischen Tradition verloren sah? Hat Schelling Platons Bildungsweg, der unser Weltbewusstsein an das sich wissende Selbstverhältnis, an das gnothi seauton wie das identifizierende Denken, gebunden hat, zugunsten des vernehmenden Denkens erneut verlassen? Schelling würde ihm antworten: »Wer also […] sagen wollte: es sey in diesem System Ein Princip für alles, es sey ein und dasselbe 41 42 43
SW I/7, 406. SW I/7, 408. Ebd.
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II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
Wesen, das im finstern Naturgrund und das in der ewigen Klarheit waltet, […] das nämliche, das mit dem Willen der Liebe im Guten und mit dem Willen des Zornes im Bösen herrscht, der hätte, obgleich er das alles ganz richtig sagt, doch dieß nicht zu vergessen: daß das Eine Wesen in seinen zwei Wirkungsweisen sich wirklich in zwei Wesen scheidet, daß es in dem einen bloß Grund zur Existenz, [mithin also bloß Natur ist, C. B.], in dem andern bloß Wesen (und darum nur ideal [oder Geist, C. B.] ist)« – ganz so wie es eben unter den Bedingungen des Endlichen sich verhält. Entscheidend aber sei zweierlei: 1. dass nur im sich sehenden und bestimmenden Geiste, im Prinzip Sich-bestimmen und Sich-Bilden die absolute Identität beider Prinzipien möglich sei, und 2. dass diese Identität zugleich »nur dadurch und insofern [… sei], daß und inwiefern beide seiner Persönlichkeit unterworfen sind.« 44 Denn der Geist als das Urbild der sich organisierenden Natur und das »Leben als das sichtbare Analogon des Geistigen Seins« 45 – wie Schelling es begreift – bilden zwar die beiden Bewegungsprinzipien einer Seinsordnung, nach denen der theoretische Geist im Betrachten seiner selbst sich in der Materie als in seinem eigenen Äußeren verliert, um im Bewußtsein seiner selbst – im Medium des frei sich setzenden Geistes – aus diesem Außersichsein in einer stufenweisen Organisation die Übereinstimmung mit sich selbst zurückzugewinnen. Beide jedoch finden nur zusammen in der sich in Freiheit bildenden lebendigen Persönlichkeit, die als fühlende, strebende, begehrende Seele im Gefühl der Liebe zugleich eine Rückwende des Blicks vollziehen und sich auf den Universalwillen hin entgrenzen kann. So ist das vermittelnde Dritte nun in Schellings Freiheitsschrift nicht mehr wie im System von 1800 die Kunst oder wie in der »Darstellung meines Systems« von 1801 die absolute Vernunft, sondern es ist – und darin bleibt Schelling Platons Paideia verbunden, die philosophische Religion, durch die er in transzendentaler Perspektive – im »lebendigen Band der Seele«, die sich bildende freie Persönlichkeit als den Ort der Vermittlung zwischen Natur und Geist, Freiheit und Natur gewinnt, indem sich in ihrem reflektierenden Selbst- und Weltbezug der dunkle Grund der Selbstheit im Springpunkt der Frei44 45
SW I/7, 409. AA 1/3, 115; SW I/1, 388.
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3. Bedingungen der menschlichen Freiheit
heit lichtet und sie im freien alles durchwirkenden Wohltun, in der unendlichen Liebe, die Möglichkeit des Guten in dieser Welt ergreifen lässt. Solange, und damit möchte ich schließen, ein heutiges Verständnis von Freiheit nicht den Prozess der Selbstbildung mehr begreift, wird sie nicht einmal bis zu der Frage vorgedrungen sein, auf die Schellings Philosophie eine Antwort sucht.
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4. In-sich-widersprüchliche Selbstidentität. Wege der Annäherung zwischen Ost und West. Platon, Schelling und Laotse
1.
Einführung
In nahezu allen Weltphilosophien erwacht das Bemühen, nach Jahrhunderte währender Dominanz der westlichen Kultur verstärkt den je eigenen indischen, chinesischen, afrikanischen oder arabischen Weg zu betonen. Politisch ist dieser Schritt zurück zu den Quellen der eigenen Kultur gut begreiflich, wenn denn Autonomie, Freiheit und Selbstbestimmung zu den Leitlinien der Selbstartikulation der Kulturen gehören. Die philosophische Reflexion jedoch, das Organ der Selbstdurchlichtung und Selbstreflexion der jeweiligen kulturellen Selbstverständnisse, hat eine davon grundlegend unterschiedene Funktion: Als einzige Instanz, die im Weltkonzert der Stimmen das verbindende Allgemeine artikuliert, kann sie Übersetzungshilfe leisten und damit eine dazu komplementär entgegengesetzte, eine vermittelnde wie grenzüberschreitende Aufgabe wahrnehmen. Diese Aufgabe fällt ihr jedoch nur zu, wenn sie sich mit den Prinzipien und Prämissen ihrer Annäherung nicht zugleich in die jeweils kulturell geprägte Herkunftswelt einzuschließen versucht. Denn sollte über dem Bemühen der Bekräftigung der je eigenen Perspektive die weltphilosophische Öffnung verloren gehen, wäre die Gefahr antagonisierender und einander fremd bleibender, gegeneinander blinder Selbstverständnisse unvermeidlich. So ist in Zeiten verstärkter Selbstbehauptung – nach jahrhundertelanger Dominanz westlicher Selbst- und Weltauslegungen in nahezu allen Teilen der Erde – Selbstreflexion und Selbstbesinnung auf die je eigenen Prinzipien und Prämissen der Selbst- und Weltauslegung ein notwendiger komplementärer Schritt. Er bedeutet Öffnung nach innen wie nach außen: indem wir uns auf dem Wege der Selbsttransparenz gegenüber den je in Anspruch genommenen Prinzipien und Prämissen in ein Verhältnis setzen, ist Selbstdistanz möglich; und indem wir dergestalt eine Außenperspektive auf unsere kul246 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
4. In-sich-widersprüchliche Selbstidentität
turellen Selbst- und Weltverständnisse gewinnen, wird Transparenz auch nach außen hin möglich. Dann erst können wir in einem nächsten Schritt – bei aller Differenz der Selbstund Weltauslegungen– auch die Gemeinsamkeiten in einer weltphilosophischen Perspektive sichtbar werden lassen. Und tatsächlich haben in der gegenwärtigen Situation verstärkter Selbstaffirmation und Selbstbekräftigung der je eigenen kulturellen Selbstauslegungen – angesichts allseitiger Infragestellung und Gefährdung – nahezu alle Weltphilosophien auch damit begonnen, vormals inwendige Perspektiven durch Akte der Selbstreflexion und Selbstexplikation weltphilosophisch zu öffnen. Die Beispiele sind vielfältig, von der Kyoto-Schule über die neuesten Ansätze der chinesischen konfuzianischen und taoistischen Philosophie, der neueren Philosophien des Islam, sowie, in einer integralen Sicht auf die Weltphilosophien, in einer verständigungsorientierten, grundlangen-bezogenen Reflexionsform die inter-/transkulturelle Philosophie. So sind Weltphilosophien als Formen der Selbstauslegung der Kulturen dasjenige Organ, das in selbstreflexiver, sich von sich selbst distanzierender Weise eine Außensicht auf das Eigene erlaubt und Selbstdistanz durch Selbstreflexion erreichen kann, indem es – sich verandernd, – auch gegenüber der Annäherung der je anderen Philosophien an die eigenen Vorverständnisse zu öffnen vermag. Doch nicht von geo-politischer, sozialer oder nationaler Identität oder von der ihr korrelierten Fremd- oder Andersheit ist in meinem Beitrag die Rede, auch sind nicht die Begriffe der Identität oder Differenz, der Fremdheit oder Andersheit selbst das Thema meiner folgenden Überlegungen. Vielmehr versuche ich diese Unterscheidung phänotypisch am Leitfaden eines Prinzips sinnfällig werden zu lassen, das sich zu einem Indiz für den sog. ›Europäischen Sonderweg‹ : das ›principium individuationis‹ als Prinzip der Identität der Person. Bis zu einer Philosophie aus dem Geiste der Subjektivität hin sollte dieses Prinzip innerhalb der west-lichen Philosophie gesteigert werden und nach Descartes – aufgipfelnd in Hegel – die Grenze zwischen modernen aufgeklärten und solchen Zivilisationen markieren, denen es an einer Apriori-Einbettung in den gemeinschaftsbezogenen Rahmen tradierter Gesellschaften gelegen war. Die Rede ist darum von einem möglichen Sonderweg der abendländischen Philosophie durch die Formen der Selbstreflexion und Selbstbestimmung des sich in seiner Zentralität für irreduzibel haltenden Individuums. 247 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
Die These meiner Ausführungen lautet, dass die Zentralität des unverrechenbaren Einzelnen, d. h. der herausgehobene Stellenwert der Idee der Invidualität innerhalb der abendländischen Philosophie ihre Grundlage in der Art und Anlage der Selbstartikulation und Selbstreflexion innerhalb dieser Traditionslinie findet. In einem ersten Schritt werde ich den Weg markieren, auf dem sich die heutige Frage nach der Identität der Person bzw. des Individuums als eine theoretische Herausforderung stellt. Dazu wird es 1. notwendig sein, die Formen der Selbstreflexion und Selbstbestimmung, die seit der Antike die westliche Philosophie bestimmen, auf den Punkt zuzuspitzen, der das Problem der Irreduzibilität der Individualität begründungstheoretisch greifbar werden lässt. 2. Werde ich dann ein Modell in den Mittelpunkt rücken, das die Identität der Person als eine in-sich-widersprüchliche Selbstidentität zur Sprache bringt. Es ist dies zugleich eine Begründungsfigur, die wir im Rahmen der Kyoto-Schule in ähnlicher Weise für die Beschreibung des Selbst, der Identität einer Person, finden. 1
2.
Wege und Weisen der Selbstreflexion innerhalb der abendländischen Philosophie
Als Problem einer prinzipientheoretischen Annäherung ist Selbstreflexion und Selbstbestimmung innerhalb der abendländischen Philosophie bereits der antiken Philosophie seit Platon vertraut. Zu einer weltphilosophischen Herausforderung indes wird die Selbstreflexion und Selbstbesinnung kultureller Selbstverständnisse erst, seit wir vor eben denjenigen Spannungen stehen, die bereits die Ausgänge der abendländischen Philosophie bei den Griechen prägten: vor dem Streit und Widerstreit über die Geltungsansprüche der jeweiligen Zugänge zur Welt der Natur und des Geistes. Innerhalb der abendländischen Philosophie nun haben Selbstreflexion und Selbstdistanz epistemische Differenzierungsgrade erreicht, die – bei aller Gefahr ihrer Verselbständigung vor ihren lebensweltlichen Einbettungen – bereits in der Antike zu ersten systematisch angelegten Typologien bezüglich des Verhältnisses von Identität und Differenz insbesondere 1 Vgl. dazu K. Nishida: Über das Selbstgewahren, in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. VIII. Tokyo 1965–1966; ders.: Logik und Leben, in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. X. Tokyo 1965–1966.
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4. In-sich-widersprüchliche Selbstidentität
in den Spätdialogen Platons: im Theaitetos, Sophistes wie auch dem Parmenides geführt. Zwei Grundlinien sind vorherrschend: Entweder es wurde von Platon bis Hegel der Einheitssinn zum dominanten Bezugspunkt der Annäherung bei gleichzeitiger Gefahr, den Differenzsinn im Identitätssinn zu absorbieren. Oder es sollte umgekehrt in der nachhegelschen Philosophie (im Gefolge der Neufundierung der Philosophie aus dem Geiste des erfahrungsbezogenen Wissens) bis in die poststrukturale Analyse der neueren französischen Philosophie die Perspektive der Differenz alle Rede von möglichen für sich bestehenden Identitäten quittieren. Beide Zugangsarten bilden jedoch nicht objektunterscheidende Bestimmungen, sondern nur gegenläufige Heuristiken oder Hinsichten der Annäherung an die Objekte des Vergleichs und der Unterscheidung. Es sind dies Lesarten, die mal der Generalisierung, mal der Spezifikation den Vorrang geben: Sollte abendländisch seit der Antike zunächst die Suche nach dem Verbindenden im Unterschiedenen der Vorrang gebühren, so ist die gegenläufige Bewegung der nun freigelassenen Differenten ihr komplementäres – neuzeitliches – Pendant. Denn so wie aller identitiätsstiftenden Generalisierung Differenz innewohnt, bleibt eine jede Spezifikation der Differenten auf ein zugrundeliegendes Allgemeines bezogen, auf das die Differenzen als Differenzen bezogen sind. Das einheitsbezogene Modell fand seinen wesentlichen Niederschlag in einer Denkfigur, in der beide Extreme – Identität und Differenz, Natur und Geist etc. -in einer vermittelnden dialektischen oder reflexionslogischen Gestalt als nur mehr zwei komplementäre Seiten der Einen Seinssphäre galten. Relationalität und Differenz sollten darin nur mehr Attribute oder Derivate des Prinzips ›Identität‹ oder ›Indifferenz‹ sein können: Von Parmenides bis Husserl sollten die Antworten auf die Frage nach dem zugrundeliegenden identitätsstiftenden Allgemeinen dabei stets in einer gedoppelten Perspektive – mal urteils- mal sachlogisch – zu gewinnen sein. Auf der urteilslogischen, der epistemischen Ebene bedeutete dies: dass ein jedes Urteilen als ein Verbinden von Unterschiedenen derart diagnistiziert wurde, dass ihm ein Vergleichs- und Unterscheidungsgrund zugrunde liegen sollte, wodurch eine jede Relation zweier Vorstellungen nur durch ihren Bezug auf ein Drittes, auf das einige denkende Ich – auf Seiten unserer Vermögensleistungen – wie auf den zu bestimmenden Sachverhalt oder Gegenstand – 249 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
auf Seiten des Objektes – begreiflich sein sollte. Relationalität und Differenz konnten in diesem Modell darum nicht ein Letztes sein, sondern sie galten jeweils als ermöglicht durch ein vorausgesetztes Drittes. Nur abgeleiterweise waren die Differenten begreiflich: keine Disjunktion sollte ohne Konjunktion und keine Konjunktion ohne ein verbindendes Drittes verständlich sein, so die These. Auch sollte dieses Dritte erst in und durch jene Unterscheidung allererst entstehen, mithin also seine Funktion oder Existenz allein in der Verbindung des Verschiedenen greifbar sein. Die urteilslogische Vermittlung zwischen Identität und Differenz sollte in diesem Modell auf die sach-logische Ebene derart apriori bezogen sein, dass das begrifflich Allgemeine, als logischer Grund aller Prädikate in einem Urteil, sein sachlogisches Pendant im Gattungsbegriff erhielt, durch den eine Sache zu identifizieren und durch differenzierende Hinsichten von anderen gleich- oder ähnlich gearteten Gegenständen art-logisch zu unterscheiden war. Bezogen auf den Charakter dieses Dritten als Grund der Unterscheidung von Identität und Differenz sind die Modelle dann vielgestaltig – je nachdem, ob wir a) parmenideisch – oder auch taoistisch und buddhistisch – beide Pole im Einigen als identisch aufzufassen suchen; b) platonisch-neuplatonisch wie in den verschiedenen Schulen der Advaita-Vedanta das Eine jenseits der Urdisjunktion von Identität und Differenz annehmen, oder c) spiniozanisch das Dritte in einer absoluten Substanz verorten; es d) im Sinne Hegels in der gegenläufigen Bewegung der Extreme als Einheit in der Differenz oder aber e) als Ort der Indifferenzierung im Sinne Schellings zur Sprache bringen. Seit im 20. Jhd. dann im Sinne von Adornos negativer Dialektik oder Derridas Dekonstruktion ein vermittelndes und versöhnendes Drittes als Geste der Dominanz in Abweis gebracht wurde und wir im Sinne der ›Différance‹ nur mehr die Spur eines Dritten gewahren sollten, – nicht aber mehr eine nennbare mit sich einige Instanz als Ort ihrer Vermittlung und Versöhnung, so wird im Sinne der nun frei-gelassenen Extreme, die nicht mehr in einem Dritten ihre Verbindung finden, eine – wenn auch implizite – Beziehung zu jenen asiatischen Positionen wach, die im Sinne des Taoismus und Buddhismus von einer Urpolarität der Kräfte – vor aller Identität – ihren Ausgang nehmen, indem ihnen ein jedes lebendige Phänomen nur durch seine Anteile an den Gegenprinzipien des Yin und Yang in
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4. In-sich-widersprüchliche Selbstidentität
den je unterschiedlichen Proportionen oder Potenzen begreiflich erscheint. Betrachtet man nun diese gegenpolige Prioritätensetzung innerhalb der abendländischen Philosophie – vom Vorrang der Einheit und Identität vor aller Differenz von Parmenides bis Hegel sowie die Umkehr dieser Relation in der nachhegelschen Philosophie bis in die moderne postrukturale Analyse – so legt die Frage nach dem Grund für die jeweilige Dominanzstellung der einen oder anderen Seite einen Perspektivwechsel frei, wonach mal dem jeweils zugrundeliegenden Allgemeinen, mal den mannigfaltig gegebenen Phänomenen, den Individualitäten und Singularitäten Priorität zugesprochen wird. Galt das Einzelne, das Individuelle, in der platonisch-aristotelischen Tradition noch als unerreichbar für den Begriff und bloß für uns als ein Erstes, der Sache nach, an sich, aber als ein Abgeleitetes, als das Letzte 2, so rückt das Einzelne und Singuläre, das Individuelle, im Horizonte empiristischer, aber auch geschichts- sprach- oder kulturphilosophischer Traditionslinien 3 seit dem 18. Jhd. in die Rolle des An-Sich-Ersten und wird zum unverrechenbaren Bezugspunkt der Annäherung. Das Problem jedoch: vom Einzelnen zum Allgemeinen gibt es keinen Übergang! 4 Indem somit dem erfahrungsgegebenen Einzelnen, dem unverrechenbar Individuellen, ein bestimmend Allgemeines und Identisches als inhärentem Bezugspunkt verloren geht, findet es sich – theoretisch heimatlos geworden – als ein individuiertes und aggregiertes Einzelnes in einer Welt der schlechthinnigen Abhängigkeiten. Schleiermacher, Nietzsche, Kirkegaard aber auch Heidegger und Sartre rücken dies je unterschiedlich – mal als Verzweiflung, mal als Angst etc. – ans Licht. Gegenüber diesem Verlust des Allgemeinen im Horizont des Nominalismus verhält sich die allseitige Aufwertung des Individuellen in Politik, Recht, Kunst und Kultur entgegengesetzt Vgl. Aristoteles: Metaphysik, 1036a. Vgl. M. Frank: Das individuelle Allgemeine. Frankfurt/M. 1985. Es ist dies das Prinzip, das Arthur Schopenhauer – als gebunden an Raum und Zeit – ein zu Überwindendes nennt. Im Sinne der indischen Atman-Brahman-Identität soll der Einzelne versuchen, mit dem höchsten Prinzip eins zu werden, indem er seine bloß individuelle Natur überwindet. Vgl. A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und als Vorstellung. Bd. 1. Zürich 1977. 4 F. W. J.: Schelling: Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, SW I/1, 367. 2 3
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proportional: Die Zentralstellung von Individualität, Subjektivität oder Personalität innerhalb der politischen Philosophie seit dem 16. Jhd. lässt sich auf diese Problemlage zurückführen. So sollte vor den Wegen in die europäische Moderne von Platon bis Leibniz und Hegel noch ähnlich wie in den verschiedenen nichteuropäischen Philosophien ein Ort der Vermittlung zwischen Identität und Differenz, Selbst- und Fremdbezug, greifbar sein, durch den das freie Selbst oder die Person apriori mit dem je Anderen, dem Nicht-Ich verbunden war. In Platons Paideia wie in Hegels Prinzip der freien Sich-bestimmung sollte der sich entfaltende und im Anderen seiner selbst gewisse Einzelne einen angemessenen Ausdruck finden können. Seit dem 19. und 20. Jhd. aber gilt das freie Selbst innerhalb der abendländischen Philosophie dann weder in seiner identitätsstiftenden epistemischen Funktion mehr als Integrationsinstanz (als Apperzeptionseinheit) des denkenden Ich, noch als ein mit sich einiges moralisches Ich im Reich der Zwecke, in welchem es als spontanursächliche Quelle freier Selbstgesetzgebung fungieren oder als fühlendes und strebendes Wesen in Kunst, Natur und Religion in die Welt der gegebenen Erscheinungen sich noch hinein-bilden könnte. Vielmehr sollte seither unser wissendes, wollendes und fühlendes Selbst aus seiner vermittelnden Rolle zwischen der vorausgesetzten natürlichen Welt und der durch freie Akte möglichen moralischen Welt entlassen sein und sich nicht mehr in einem mit sich einigen Wesen fin-den können. Als beobachtbares und beschreibbares Objekt im relationalen Gefüge innerer und äußerer Abhängigkeiten in Evolutionstheorie oder Neurotheorie ist der Einzelne vielmehr zur Selbstdementierung und Selbstannihilierung seines wissenden und wollenden Selbstverhältnisses genötigt. Indem eine solche verobjektivierende Selbstbeschreibung dann nur mehr kausalbezügliche oder wechselwirkende Relationen, aber keine sich wissenden Individualitäten mehr kennt – deren ›Sich-Wissen‹ noch im ›sich setzenden Selbstvollzug‹ (Fichte) verankert wäre – liefert sie dem Gefühl der existentiellen Verzweiflung und Angst ungewollt ein sachliches Fundament.
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3.
Fragestellung
Auf das Phänomen des unverrechenbaren Indviduellen als der Keimzelle und als Ort von Identität und Differenz, von Selbst- und Fremdbezug, möchte ich im Folgenden den Blick lenken: Wie sollte unter den Bedingungen einer skeptisch gestimmten Moderne noch ein Ort des verbindlich Allgemeinen greifbar sein, auf das ein abendländisch heimatlos gewordenes Individuum bezogen sein könnte? Dabei sollen zuvor die Quellen des Verlustes eines inhärenten, identitätsstiftenden Allgemeinen ebenso beleuchtet wie ein Modell zur Sprache gebracht werden, welches das ›principium individuationis‹ als ein Unbedingtes in allem Bedingten in einem vorlogischen, vortheoretischen wie auch vor-kulturellen Raume zu retten sucht. Den Nervpunkt europäischen Denkens, die Idee der personalen Identität, sowie die Bedingungen der Annäherung an den Personenkern des Individuums in der Spannung zwischen identitätsstiftendem kulturellen Allgemeinen und begrifflich unverrechenbarer Differenz des je Einzelnen stehen im Folgenden zur Diskussion.
3.1. Der abendländische Sonderweg Nun fragt es sich, wo die Quellen für den abendländischen Sonderweg zu suchen sind. Finden wir sie tatsächlich erst in der Radikalisierung des Prinzips Subjektivität in der Philosophie der Neuzeit – oder hatten bereits, wie Martin Heidegger dies sah, Platon und Aristoteles die abendländische Philosophie auf den Sonderweg einer ›Verwalterin der Ratio‹ gebracht, indem sie sie durch identifizierendes und unterscheidendes Denken ihrer liebenden Nähe zu den Dingen beraubte? 5 Sollte durch ihre erkenntnisgeleitete Abkehr vom weisheitsgebundenen Leben der Abweg in eine forschende Perspektive möglich geworden sein, indem sich die Menschen nun in verobjektivierender Distanz von der Welt der gegebenen Erscheinungen in Natur und Lebenswelt entfernt und den Weg einer Prinzipienwissenschaft beschritten haben? Sollte darum in der Frage nach der Identität einer Sache, nach dem ›Was ist X‹, ›was es ist, ein Etwas zu sein‹ 6, vielleicht eine Abkehr vom Lebensvollzug des Denkens und Handelns be5 6
M. Heidegger: Was ist das, die Philosophie? Pfullingen 1984, 9. Ebd.
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gründet sein, die in reflektierender Abstraktion trennt, was im Leben des Einzelnen wie der Gemeinschaft stets nur zusammen bestehen kann, so dass nun, wenn wir nach der Identität einer Sache, dem ti estin, fragen, entweder Platons idea meinen oder aristotelisch von ousia sprechen, im Sinne Schellings oder Hegels die absolute Vernunft oder aber im Sinne Nietzsches die natürliche Unvernunft vor Auge haben? 7 Nicht mehr, so Martin Heidegger, meine Logos bereits seit Platon und Aristoteles ein liebendes Sich-versammeln im Einvernehmen mit dem Sein, worin ursprünglich die parmenideische Idee der Identität in der Differenz begründet sei. 8 Indem die abendländische Philosophie in ihrer Gesamtbewegung auf den Weg einer ›Verwalterin der Ratio‹ gebracht schien, wird ihre prinzipientheoretische Orientierung vielfach als ein Sonderweg diagnostiziert. Diese prinzipientheoretische Orientierung möchte ich im Folgenden bezogen auf das Problem der Individualität in ihren Möglichkeiten und Grenzen näher beleuchten: In welcher Hinsicht, so die Frage, können wir die Philosophie als ›Wissenschaft von den ersten Prinzipien‹, von den Wegen und Weisen des identifizierenden und differenzierenden Den-kens, für fraglich halten oder aber seine Unvermeidlichkeit behaupten? Im Blick auf Platon und einen vergleichenden Blick auf Laotses Tao-Te-King – wird zunächst einen Problemhorizont eröffnet, der in Schellings principium individuationis dann eine mögliche Vermittlung in einer weltphilosophischen Perspektive weisen kann. 9 3.1.1. Die Unvermeidlichkeit der Fragestellung: Platons erster Anfang Die genannte Diagnose schrittweiser Verobjektivierung und Rationalisierung durch eine wissende, reflektierende und identifizierende Selbstbeziehung trifft Platons Idee einer Suche nach dem Allgemeinen im Besonderen, dem Identischen im Verschiedenen ins Herz: Sollten doch die Höhlenbewohner in Platons Republik in ihrer
Ebd., 15. Ebd., S. 12 ff. 9 Dabei soll mit Schelling typologisch eine gedankliche Figur zur Sprache gebracht werden, die wir, wenn ähnlich auch bei Nishida, Rumi, wie auch in Laotse finden könnten. 7 8
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Sprachlichkeit zwar über den Gebrauch der Worte, nicht aber bereits über einen Begriff der Dinge verfügen, so dass allein durch eine reflektierende Rückwende des Blickes, durch einen Bruch mit den eingespielten Vorverständnissen, das im Gesagten Vermeinte, aber nicht Erkannte, Einsicht in die Identität, die Quidditas einer Sache erhellen konnte; eine Einsicht, zu deren Vollbegriff dann nicht nur die Einsicht in die Quellen des Wissens, sondern auch der Genesis der Sache aus einer ihr zugrundeliegenden Wirk- und Finalursache gehören sollten. Dieser gedoppelten Perspektive des ineinsgefügten Sach- und Selbstbezuges nun entstammt jenem dialektischen Zugang, dem die Einheit von Sach- und Selbstbezug nur durch Rekurs auf ein Drittes gerechtfertigt schien. Beides nämlich – die Identität des Wissens wie der Sache, mithin also der Begriff in jenem doppelten Sinne, nach dem er identifizierendes Medium der Erkenntnis wie auch das Allgemeine, die Identität der Sache selbst genannt werden kann, sollten ihrerseits unbegreiflich sein, wenn nicht auch das Prinzip verstanden war, aus dem ihre Verbindung einsichtig zu machen ist. Der eigentlich philosophische Weg sollte darum Prämissentransparenz durch Präsuppositionsanalyse genannt werden können, indem er die je in Gebrauch genommenen Kategorien und Ideen als selbstund weltbestimmend zu Bewußtsein bringen sollte. Die Identität des Menschen war darum nicht allein durch ein Einüben in bereits bestehende Konventionen der Sprache und des Denkens verbürgt, sondern zielte – im Sinne des gnoti seauton – auf Durchsichtigkeit der in unserem Denken und Handeln unbewusst je bereits in Gebrauch genommenen Prinzipien. Der damit vollzogene Bruch mit den kontextbezüglichen Vorverständnissen in Rede und Handlung sollte seither als Dialektik, Transzendentalphilosophie, in spekulativer Philosophie etc. für die abendländische Philosophie richtungsweisend sein; das principium individuationis einer identifizierenden und unterscheidenden Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung seither von Selbstdistanz in reflexiven, in dianoetischer Akten unabtrennbar sein. Abendländisch wird dann jedoch die Wunde, die Abstraktion und Reflexion der eingespielten weisheits- oder mythenorientierten Lebenspraxis schlugen, zur ständigen Herausforderung. Ein Seitenblick auf das Tao von Laotses Tao-Te-King mag den Unterschied verdeutlichen: Wenn es etwa in jenem Weisheitsbuch im ersten Kapitel heißt: 255 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
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Das TAO, das man ersinnen kann, ist nicht das ewige TAO. Der Name, den man nennen kann, ist nicht der ewige Name 10,
so wird auch hier sentenzhaft eine grundlegende Differenz zwischen unserem eingespielten, dem identifizierenden Sprachverstehen und der Einsicht in die zugrundeliegende Sache an den Anfang gesetzt: In Gedanken – so die Annahme – erreichen wir nicht den Fluchtpunkt des Vermeinten. Und wenn es dann weiter heißt: Jenseits des Nennbaren liegt der Anfang der Welt. Diesseits des Nennbaren liegt die Geburt der Geschöpfe 11,
so öffnet sich auch hier ursprungsphilosophisch ein metaphysischer Horizont zwischen Transzendenz und Immanenz: Beide, die sinnliche und die übersinnliche Welt haben – analog der Funktion der Idee des Guten in der platonischen Gleichnisrede – »Einen Ursprung und nur verschiedenen Namen« 12 – eine Identität in der Differenz ihrer Erscheinungen. Analog sollte für Platon gelten: Sowenig sich das Prinzip der sinnlichsichtbaren Welt in dianoetischen Akten ergründen lässt, so sehr bleibt auch die Quelle der Einheit von sinnlicher und übersinnlicher Welt, die Idee des Guten, als Prinzip der Identität in der Differenz der Erscheinungen, in ihrem reinen Inne-sein – als epekeina tes ousias – begrifflicher Analyse unzugänglich. 13 Stets dort, wo das höchste Prinzip als Quelle der Genesis der Differenz und Mannigfaltigkeit begreiflich zu machen wäre, wählt Platon darum entweder, wie im Parmenides, die aporetische Rede oder, wie im Timaios, die Rede nach der Art der Wahrscheinlichkeit. 14 Auch ihm bleibt das Offenbarwerden aller Kräfte aus einem einigen Prinzip als Weg vom höchsten Prinzip, vom Identischen zur Differenz, das unauflösliche Rätsel. Doch der Unterschied zwischen beiden Positionen ist greifbar: Nicht bloß apersonal wie in Laotses letzter Sequenz als anonymer Akt der Selbstoffenbarung erscheint uns der Grund allen Seins: sondern es ist für Platon das Geheimnis der ›Pforte der Offenbarung aller 10 11 12 13 14
Laotse: Tao-Te-King. Düsseldorf/Köln 1952, 41. Ebd. Ebd. Platon: Politeia 509 b. Platon: Parmenides 137 c ff. und Platon: Timaois 48 d.
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Kräfte‹ 15, dass es sich allein im lebendigen, eingebetteten Vollzug durch den Akt der Bewusstwerdung im je Einzelnen allererst vollziehen muß, d. h. dass eine solche Einsicht an den Akt der Selbsterkenntnis des Einzelnen gebunden ist. Darum ist Unverborgenheit im Sinne Platons nicht bloß ein Geschehen, ein Tun-Lassen im Sinne des Wu-wei, ein Sich-vonselbst-Vollziehen, sondern es ist sich vollführende – zunächst epistemische – Selbsttätigkeit, ist ein Akt des Sich-bestimmens und Sich-bildens in Freiheit, der Akte der Ent-Täuschung und Selbstdistanz ebenso voraussetzt wie den Rückgang des Einzelnen in eine zu gestaltende Gemeinschaftlichkeit. Innerhalb der griechischen Philosophie sollte die Offenbarkeit des höchsten Prinzips an einen systematisch vollzogenen Akt der Selbsterhellung des erkennenden Bewusstseins gebunden und dieser zugleich umvermeidlich sein, so dass die Rede von der Entdeckung des Geistes bei den Griechen 16 auf diese Weise begreiflich werden kann. Doch war diese Art der Annäherung zugleich auch Anlass für eine folgenschwere aber ebenso unvermeidliche Verselbständigung der beiden Urprinzipien voreinander: Identität und Differenz wie ihre Derivate Geist und Natur, Freiheit und Notwendigkeit sollten in der Folge nicht mehr unbefragt als die komplementären Pole der Einen Seinssphäre gelten, sondern in eine ständige Spannung und Entgegensetzung, in einen Prinzipienstreit gebracht werden; durch den später die so genannten Metaphysik oder Prinzipienwissenschaft mal die Identität oder auch Intelligiblität, mal die natürliche Sphäre, die Differenz und Mannigfaltigkeit Leitfunktion erhälten sollte. So hat nach dieser Diagnose das Prinzip Sich-Wissen, Sichbestimmen oder Selbsterkenntnis, das sich in ein distanziertes Verhältnis zur Welt der gegebenen Erscheinungen zu setzen weiß, und das auch dem neuzeitlichen Konzept von Individualität zugrunde liegt, bereits in der Antike seine Wurzeln. 3.1.2. Schellings zweiter Anfang. Auswege aus der Begriffsform? Schelling nun sucht seit seinen frühen Timaios-Studien 17 auf Platons Fährten – unter den Vorzeichen der skeptisch gewordenen westlichen Moderne – ein Drittes, einen Ort zwischen Selbstund Andersheit, 15 16 17
Laotse: Tao-Te-King, 41. B. Snell: Die Entdeckung des Geistes. Göttingen 2009. Vgl. F. W. J. Schelling: Timaeus (1794). Stuttgart-Bad Canstatt 1994.
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Identität und Differenz, um das principium individuationis aus aller Relationalität und verallgemeinernden Bestimmung zu entlassen und es gleichwohl in seiner Irreduzibilität gegenüber Anderen zu retten. Es war Schelling, der den Nervpunkt europäischen Denkens, die Annäherung an den Personenkern des Individuums in der Spannung zwischen dem identitätsstiftenden Allgemeinen und der begrifflich unverrechenbaren Differenz des Einzelnen auf einen Grund zu stellen versuchte, indem er gleich zweierlei Problemfelder berührte: die Kritik am identifizierenden und verobjektivierenden Denken bezogen auf die personale Identität, die von Heidegger ausgehend in die neuere französische Philosophie und Phänomenologie hineingewirkt hat, wie auch die Tendenz zur Naturalisierung des Individuums in neurobiologischer oder evolutionstheoretischer Hinsicht. Zunächst hat Schelling die dreifache Gefahr bereits gesehen, der eine jede systematische Beschreibung jenes Dritten als Grund der Verbindung von Identität und Differenz, ausgesetzt ist: Das vermittelnde Dritte sollte weder als identitätsstiftendes Prinzip zirkulär seine eigenen Prämissen bereits voraussetzen, noch sollte es in einem Regress münden oder aber grundsatzphilosophisch – auf einer dogmatischen Setzung beruhen. Anders darum als Hegel, der beide Extreme in sich selbst zu vermitteln suchte, sucht Schelling auf den Fährten Platons ihre Vermittlung in einem Ort der Indifferenzierung der Pole, mithin also in einem Dritten. 18 Hegel hatte, indem die Sphäre des Subjektiven sich erst in ihrer Verobjektivierung und Veranderung vollenden sollte, sowie umgekehrt, das bloß objektiv Gegebene, das Andere zum Geist, nur dann in seine Wahrheit gebracht war, wenn es aus den Quellen freier Selbstgesetzgebung begreiflich geworden war, beide Seiten als gegenläufige, ineinander wechselseitig umschlagende Sphären in einem einigen Prozess der Selbstentfaltung des höchsten Prinzips zur Sprache gebracht. Schelling nun sucht nach einem vermittelnden, indifferenzierenden Dritten: im System von 1800 in der Kunst oder aber – wie in der Freiheitsschrift – im Prinzip der Verbesonderung des Allgemeinen – im Individuum oder der menschlichen Seele. So wie die Kunst eine Indifferenzierung der Pole in sinnlichübersinnlicher Gestalt zum Ausdruck bringe, so gilt ihm das Individuum quasi-
18 Vgl. F. W. J. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie (1801), AA I/10.
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entelechial als verbesonderte Gestalt des Allgemeinen, durch das Mikround Makrokosmos einander symbolisch wie in einem Brennspiegel begegnen. Erst im Menschen, im Individuum, so Schelling, findet das Sein seine gottähnliche, freie Gestalt, mithin also eine Identität, durch die es das Seiende nicht bloß ist, sondern sich als seine eigene Tat setzen und begreifen kann. Makrokosmisch betrachtet findet darum auch erst ›die Natur in Gott‹ im Menschen ihren Lichtungspunkt, den Springpunkt der Freiheit. 19 Wie sollte dies zu verstehen sein? Wie können wir dies widerspruchfrei denken, ohne bezogen auf ein solches Letztprinzip unvermeidlich in die von Schelling gefürchtete zikuläre, regressive oder dogmatische Struktur zu verfallen, in die sich eine jede sich eine jede ihrer Grundlagen vergewissernde Philosophie verstricken kann. Wäre nun, so Schelling, die Suche nach dem indifferenzierenden Ort des Zwischen, jenem Dritten zwischen Identität und Differenz, Selbstund Andersheit, ein Problem der theoretischen Philosophie, so wäre diese Problemlage unvermeidlich. Er sucht darum einen Ausweg aus der genannten aporetischen Struktur reinrationaler Philosophie, indem er den individuierenden Un-Grund im Mensch als Verbindungsprinzip der konträren Momente der Identität und Differenz, der Selbst- und Andersheit, auf ein Etwas beziehbar machen, das nur als Singularität, als Individuum, als Person, durchgängig bestimmtes Einzelnes genannt werden kann. 20 Dabei ist die Singularität der Person nicht in sich ruhendes Substrat, ein nacktes Dass, sondern es ist eine in sich finalisierende, sich bildende Größe, die danach strebt, ihre sinnlich-sittlichen Kräfte in Übereinstimmung zu bringen. So sei die ursprüngliche Vereinigung von Identität und Differenz, Bedingtem und Unbedingtem, nirgends, so Schelling, ›als im Wesen einer individuellen Natur‹. 21 Auf Platons Timaios zurückgehend, wird das unverrechenbar Einzelne im Menschen als Umschlagsort von Identität und Differenz, Tun und Leiden, auf ein prärationales Fundament gestellt,
Vgl. Schelling: Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder das Unbedingte im menschlichen Wissen, AA I/2, 177. 20 Vgl. Schelling: Einleitung zu: Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft (1797), AA 1/5, 97 f.; SW I/2, 37 f.; ders., Philosophie der Mythologie, Zweites Buch. Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie (zwischen 1847 und 1852), SW II/1, 285 f. 21 F. W. J. Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur, AA I/5, 98; SW I/3, 37. 19
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durch das das Prinzip der Individualität dann in einem vorlogischen Raum zu retten sei. 22 Gegenüber der Intelligiblität des Menschen als Urbild der sich organisierenden Natur wie als der Lichtungspunkt für das Natürliche im Menschen ist seine Leiblichkeit und Lebendigkeit »das sichtbare Analogon des Geistigen Seins« 23: »bewusstlose Poesie des Geistes« 24. Der Urpolarität der Kräfte im buddhistischen und taoistischen Yin und Yang vergleichbar, sind beide Pole je wechselintegriert und in je unterschiedlichen Potenzen mal übergewichtig zugunsten des intelligiblen, mal quantitativ deutlicher zugunsten des materialen Prinzips im einzelnen Lebewesen repräsentiert. So kann auch für Schelling der Geist als das Prinzip des Allgemeinen nicht das Höchste sein. Individualität sei vielmehr nur in einem vorlogischen, einem außerwissenschaftlichen Raum zu retten: Eine Philosophie nun, deren Prinzip auf diejenige Sphäre hin sich öffnet, in der das Individuelle Allgemeine, das sinnliche, fühlende und liebende menschliche Wesen Gegenstand und Fluchtpunkt der Annäherung ist, wird dann weder allein theoretische noch praktische Philosophie mehr sein können. Denn sowenig die Forderung nach Glückseligkeit »vom Denken« ausgehen kann, sowenig ist sie ein Postulat der praktischen Vernunft. Nicht ein bloßer Gedanke oder eine mögliche Handlungsmaxime, sondern allein das Individuum ist Ort der Ineinsbildung zwischen Sinnlichem und Sittlichem. 25 Wie die Vernunft und das Gesetz nicht lieben, sondern nur die Person lieben kann 26, so verlangt das Individuum, nicht »das Allgemeine im Menschen nach Glückseligkeit.« 27 Nur im Einzelnen, im Individuum, können darum Identität und Differenz – der Funktion der Weltseele im Timaios vergleichbar – unmittelbar zusammentreffen. Dem kantischen Idealgedanken analog hat Schelling die höchste Idee der Übereinstimmung von sinnlichen Glück und sittlicher Verpflichtung darum als ›Idee in individuo‹ ausgelegt, deren Sein und nicht bloß deren
Vgl. Platon: Timaios, 34 b sq.; vgl. ferner: F. W. J. Schelling: Philosophie der Mythologie, SW II/1, 402. 23 F. W. J. Schelling: Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre (1796/97), SW II/1, 388. 24 F. W. J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus, SW I/3, 349. 25 F. W. J. Schelling: Philosophie der Mythologie, SW II/1, 569. 26 Ebd., 569. 27 Ebd., 569. 22
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Begriff wir fordern 28: Darum fordern wir, so Schelling, als lebendige Individuen nicht die Idee eines höchsten anonymen Urprinzips, sondern ein Prinzip, das selbst noch den Gedanken der Personalität und Individualität auf Gründe zu bringen vermag; mithin also ein seiendes, ein personalen Prinzip: denn nur aufgrund dieser Eigenschaft kann das einige Urprinzip auch Grund und Substrat des Individuellen im Menschen genannt werden 29, wodurch schließlich auch seine Unverwechselbarkeit und Würde begreiflich und für unser praktisches Handeln auch verpflichtend genannt werden kann. So ist der Geist »nicht das Höchste«, »er ist nur der Geist, oder der Hauch« eines noch Höheren: über dem Geist sei der anfängliche Ungrund, der nicht mehr Indifferenz (Gleichgültigkeit) ist, und doch nicht Identität beider Prinzipien, sondern die allgemeine, gegen alles gleiche und doch von nichts ergriffene Einheit, das von allem freie und doch alles durchwirkende Wohltun, mit Einem Wort die Liebe, die Alles in Allem ist. 30
So ist »die Liebe (…) das Höchste. Sie ist das, was da war, ehe denn der Grund und ehe das Existierende (als getrennte) waren, aber noch nicht war als Liebe, sondern – wie sollen wir es bezeichnen?« 31 Wäre, so fährt Schelling fort, »im Endlichen, in der Natur des Menschen nicht jener unvermeidliche Widerstreit der Prinzipien, sondern wie im Urprinzip: der Grund der Existenz – die Natur in Gott – mit seiner Existenz eins und einig«, so bedürfte es, so Schelling, der Liebe nicht. 32 Doch teilt sich »der Ungrund … in die zwei gleich ewigen Anfänge, nur damit die zwei, die in ihm, als Ungrund, nicht zugleich oder Eines sein konnten, durch Liebe eins werden, d. h. er teilt sich nur, damit Leben und Lieben sei und persönliche Existenz.« 33 Für Schelling gilt darum: Es muß vor allem Grund und vor allem Existierenden, also überhaupt vor aller Dualität, etwas sein; wie können wir es anders nennen als den Urgrund oder vielmehr Ungrund? Da es vor allen Gegensätzen vorhergeht, so könDas ›Sein‹ und nicht die bloße ›Idee‹ des Guten hatte Schelling auch als Forderung von Platons Politeia ausgelegt: vgl. F. W. J. Schelling: Abhandlung über die Quelle der ewigen Wahrheiten, SW II/1, 598. 29 F. W. J. Schelling: Philosophie der Mythologie, SW II/1, 571. 30 F. W. J. Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit. Stuttgart 1983, 126. 31 Ebd. 32 Ebd., 127. 33 Ebd. 28
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nen diese in ihm nicht unterscheidbar noch auf irgendeine Weise vorhanden sein. Es kann daher nicht als die Identität, es kann nur als die absolute Indifferenz beider bezeichnet werden. 34
Sollte Schelling mit diesem Prinzip nun, indem er jenen Ungrund als die in allem waltende Liebe begreift, – zurückgekehrt sein zu Heideggers Idee des liebenden wie grundlosen Einvernehmens mit dem Sein, das er mit der platonisch-aristotelischen Tradition verloren sah und das der späte Heidegger zugleich in den asiatischen, speziell den buddhistischen Tradionen zu finden glaubte? Hat Schelling Platons Weg in ein wissendes Selbstverhältnis, das er an das ›gnoti seauton‹ wie das identifizierende Denken, gebunden hat, zugunsten des vernehmenden Denkens erneut verlassen? Schelling würde ihm antworten: Wer (…) nun sagen wollte: es sei in diesem System Ein Prinzip für alles, es sei ununterscheidbar ein und dasselbe Wesen, das im finstern Naturgrund und das in der ewigen Klarheit waltet, … das nämliche, das mit dem Willen der Liebe im Guten und mit dem Willen des Zornes im Bösen herrscht, der hätte, obgleich er das alles ganz richtig sagt, doch dies nicht zu vergessen: daß das Eine Wesen in seinen zwei Wirkungsweisen sich wirklich in zwei Wesen scheidet, daß es in dem einen bloß Grund zur Existenz, (mithin also bloß Natur) ist in dem andern bloß Wesen (und darum nur ideal ist); (oder Geist) 35
ist, ganz so wie es eben unter den Bedingungen des Endlichen sich verhält. Entscheidend aber sei zweierlei: 1. dass nur im sich sehenden und bestimmten Geiste, im Prinzip Sich-bestimmen und Selbsterkennen die absolute Identität beider Prinzipien möglich sei, und 2. dass diese Identität zugleich »nur dadurch und insofern (sei), daß und inwiefern beide seiner Persönlichkeit unterworfen sind.« 36 Wenn somit der Geist als das Urbild der sich organisierenden Natur und das Leben als »das sichtbare Analogon des geistigen Seyns« 37 die beiden Bewegungsprinzipien einer Seinsordnung bilden sollen, so hat Schelling neben der Wechselintegration der Pole ein vermittelndes Drittes gefunden, das nicht mehr wie im System von Ebd., 134. Ebd., 130. 36 Ebd. 37 Schelling: Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, AA I/3, 115; SW I/1, 388. 34 35
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1800 die Kunst, oder wie in der Darstellung meines Systems von 1801, die absolute Vernunft genannt werden kann, sondern als das lebendige Band der Seele, 38 sich bildende freien Persönlichkeit, genannt werden kann, die nun das eigentlich Vermittelnde zwischen Identität und Differenz, Natur und Geist, Freiheit und Natur genannt werden kann. Demnach verliere sich der theoretische Geist im Betrachten seiner selbst in der Materie als in seinem eigenen Äußeren, um im Bewußtsein seiner selbst – im Medium des frei sich setzenden Geistes – aus diesem Außersichsein in einer stufenweisen Organisation die Übereinstimmung mit sich selbst zurückzugewinnen. Zusammenfinden können beide demnach nur in der sich in Freiheit bildenden lebendigen Persönlichkeit, die als fühlende, strebende, begehrende Seele sich im Gefühl der Liebe zugleich eine Rückwende des Blicks vollziehen und sich auf den Universalwillen hin entgrenzen kann. Dieser Ort nun, unerreichtbar für den Begriff und nicht bloß ein Postulat der praktischen Philosophie, wäre dann in einer Sphäre zu verankern, die Schelling philosophische Religion nennt: Durch sie allein, so der Gedanke, im individuellen Allgemeinen, lichte sich der dunkle Grund der Existenz des Einzelnen, seine Egiotät und Selbstheit, der Partikularwillen des Einzelnen – im Springpunkt der Freiheit, in reflektierender Selbstund Weltbeziehung, um im freien alles durchwirkenden Wohltun, in der unendlichen Liebe, die Möglichkeit des Guten in dieser Welt zu ergreifen. Vielleicht ist dies das Meiste, was wir über das Prinzip der Vermittlung und Versöhnung, über jenes Dritte zwischen Identität und Differenz sagen können, dass es im lebendigen Vollzug sich bewähren und sich durch den auf den Gemeinwillen hin erweiternden Partikularwillen manifestieren und entfalten kann. Das gewonnene Prinzip, insofern es in einem vor-logischen, in einem außertheoretischen Raum verankert ist, und die Menschen nicht primär als Träger von Attributen und Eigenschaften, sondern als liebende und leidende Wesen im hochgradig individualisierten Mit-einander wahrzunehmen sucht, einander-vernehmend, sich-öffnend, gemeinsam nach Wegen in eine offene, stets gefährdete ZuVgl. Platon: Timaios, 31 c; F. W. J. Schelling: Darstellung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre. Eine Erläuterungsschrift der ersten, SW I/7, 54–61; Ideen zu einer Philosophie der Natur, SW I/2, 55; Von der Weltseele, SW I/2, 360 ff.
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kunft suchend, – dieses Prinzip wäre nicht Ausstieg aus der Begriffsform, sondern ein Weg und eine Weise, Interkulturalität nicht im unversöhnlichen Nebeneinander, auch nicht in einem prä-etbaliert harmonischen Miteinander, sondern im stets gefährdeten Für-einander so zu begreifen, dass uns der Andere, wie Emmanuel Levinas dies sucht, stets die Verpflichtung ist, durch die ich allererst mich selbst finden und verstehen kann.
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4. In-sich-widersprüchliche Selbstidentität
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5. Sein und Selbst-Sein Hegels Idee der Selbsterkenntnis zwischen Sich-Bestimmen und Sich-Setzen
1.
Ortsbestimmung des Problems
Während Selbsterkenntnis von Platon bis Hegel noch von der Idee der Wahrheit unabtrennbar schien, so dass sie zugleich als Rückkehr des Menschen in den Grund von Allem galt, so ist der Nexus zwischen der Seele des Menschen und dem Prinzip allen Denkens und Seins in nachmetaphysischen Zeiten durchtrennt. Nicht mehr soll die Hypostasis Seele zwischen der sich stets wandelnden Werdewelt und dem Reich des Intelligiblen noch die Mitte halten können. Die Teilhabe beider Sphären aneinander wird zu einem unauflöslichen Problem. Selbsterkenntnis ist seither nicht mehr aus einem Prinzip heraus begreiflich, durch das zugleich die »Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen, wie des Wahrhaften an und für sich« 1 greifbar werden könnte. Darum ist auch die Philosophie nicht mehr die privilegierte Disziplin der Selbsterkenntnis des Menschen. Denn nicht mehr kann sich die depotenzierte Vernunft mehr als Inbegriff »alles Seyns bewußt« werden. 2 Ausgelagert in evolutionäre Anthropologie, empirische Psychologie, Kognitionsforschung oder Neurobiologie löst sich die Selbsterkenntnis vielmehr in eine Vielzahl möglicher Aspekte auf, denen die Suche nach dem Wahren im Menschen wie dem Wahren an und für sich nicht mehr eingeschrieben ist. Doch wird auf diese Weise allein getrennt, was der Sache nach notwendig verbunden ist: Kann Selbsterkenntnis sich doch nur um den Preis eines Selbstwiderspruchs in einer bloß wissenschaftsbezogenen, verobjektivierenden Perspektive vollführen. In dieser verliert
G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Gesammelte Werke [GW]. Hrsg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968 ff., Bd. 20, 379. 2 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817), GW 13, 17. 1
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5. Sein und Selbst-Sein
sie gerade aus dem Blick, woran ihr in epistemischer und praktischer Absicht gelegen ist: in allem Selbst- und Weltbezug unser wissendes und wollendes Selbstverhältnis zu erkunden. Darum wird erneut die Analyse der Formen und Prinzipien zu re-integrieren sein, die in unsere Anschauung, unser Denken und Handeln zwar eingelagert sind, ohne aber durch unser Denken auch durchsichtig geworden zu sein. Diese notwendige reflexive Wende, durch die mit dem Angeschauten und Gewussten auch die Formbedingung des Anschauens und des Wissens zu Bewusstsein gebracht werden kann, hat Kant in einer transzendentalen Analyse und Hegel unter dem Titel des Sich-Wissens im Wissen, des Sich-Bestimmens im Denken und Handeln zur Sprache gebracht, – um damit zugleich erkenntlich zu machen, dass eine rein verobjektivierende Perspektive die dem Menschen eigene Wesensnatur geradezu verfehlen muss. In Hegels Werk sind es die drei aufeinander bezogenen Analyseschritte in Phänomenologie, Wissenschaft der Logik und Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, die auf je verschiedene Weise von der Idee der Vermittlung und Integration beider Pole bezogen auf das Selbst oder die Seele, auf die Welt und auf Gott geleitet sind: 1. transzendentalheuristisch-hinführend (Phänomenologie des Geistes), 2. prinzipientheoretisch-entfaltend (Wissenschaft der Logik) und 3. realitätsbezogen in den Manifestationen des Prinzips in Natur und Geist (Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften). Dabei berühren die Mittelbegriffe von Subjektivität und Objektivität, von Denken und Sein oder von Natur und Geist die seit Platon leitende Methexis-Frage auf allen Ebenen der allgemeinen und speziellen Metaphysik. Hegels Antwort: Ohne eine spekulative Begriffsform, die nach der Einheit der Gegensätze fragt, muss die Art ihrer Teilhabe aneinander unverständlich bleiben. So wird das gesuchte Ineins beider Pole in spekulativer Begriffsform, sei es als Ineins von Unmittelbarkeit und Vermittelung, sei es bezogen auf die drei höchsten Gegenstände der speziellen Metaphysik Seele, Welt und Gott, zur Sprache gebracht. Platons Methexis-Frage gewinnt in spekulativer Begriffsform dann eine neue Gestalt: Gefragt wird nach der Einheit der Gegensätze derart, dass je ein Extrem – wie in Platons Gigantenstreit zwischen den Idealisten und den Realisten – das andere je bereits mit sich führt und an ihm einen Anteil hat. So lautet die Frage bezogen auf die drei Felder der speziellen Metaphysik: Wie soll das Selbst oder die Seele des Menschen im Akte der Selbsterkenntnis mit dem Prinzip von Allem so zu vermitteln sein, dass sich in und durch 267 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
seine Selbsterkenntnis zugleich das gesamte kosmische Seinsgeschehen lichte und in den Grund seiner Möglichkeit zurückzuführen lasse? Dies zu zeigen wird in den drei Werken der Phänomenologie, Logik und Enzyklopädie das Prinzip Sich-Bestimmen und Sich-Setzen zunächst als erscheinendes Prinzip, dann als sich wissendes und sich bestimmendes Prinzip (als apriorische Formensprache allen Wandels und Werdens) explizit gemacht, um schließlich in Natur und Geist als sich frei setzendes und veräußerndes Prinzip das Telos seiner Gesamtbewegung zu erreichen: d. h. die Idee einer vernünftig gewordenen Wirklichkeit und eine Vernunft, die sich in allen Sphären der endlichen und der unendlichen Welt auch einen angemessenen Ausdruck verleihen soll. Die Phänomenologie des Geistes legt dabei in einem ersten Schritt im sich erscheinenden Geist das unskeptische Fundament der sich vollführenden Skepsis frei und zeigt so die Teilhabe des Bewusstseins am Prinzip Sich-Wissen-im-Wissen. Die Wissenschaft der Logik erkundet dieses ›Sich-Wissen-im-Wissen‹ in einem zweiten Schritt als Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung des Prinzips. Schließlich weist die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften in der realphilosophischen Entäußerung des Prinzips der Selbsterkenntnis des Menschen den systematischen Ort als Springpunkt der Freiheit in der Natur zu: Hier wird deutlich, wie und auf welche Weise das Prinzip zwischen Selbstentfremdung in der Natur und Sich-Bestimmen und Sich-Erkennen im menschlichen Geiste nur mehr die extremen Orte seiner Selbstbewegung und Selbstvermittlung gewinnt. Selbsterkenntnis ist dabei verstanden als Rückkehr aus der bewusstlosen Natur wie zugleich als Lichtung der Natur im Wesen der menschlichen Freiheit. Beides sind auch für Hegel nurmehr zwei irreduzible Seiten der einen kosmischen Ordnung, deren Bestimmungsgrund Geist und dessen integrales Prinzip Idee genannt werden kann. Auch wenn die drei Schritte hier nur skizzenartigen Zuschnitt haben können, so mag doch deutlich geworden sein, in welcher Weise in der Architektonik der Gesamtanlage des Werkes die drei Ideen der speziellen Metaphysik eine besondere Transformation erfahren: Die Phänomenologie des Geistes – als reformulierte rationale Seelenlehre – wird in der Wissenschaft der Logik durch eine – in eine Onto-theo-logie transformierte – rationale Theologie auf den Grund ihrer Möglichkeit zurückgeführt. Schließlich kulminiert die System268 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
5. Sein und Selbst-Sein
anlage der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften in einer neuen Gestalt einer rationalen Kosmologie, deren Weltbegriff mit Freiheit kompatibel ist.
2
Aufgabe der Allgemeinen Metaphysik
Um in seiner reformulierten speziellen Metaphysik Seele, Welt und Gott aus einem Prinzip heraus begreiflich zu machen, das sich als Prinzip Sich-selbst-Setzen durch Selbstnegation verobjektiviert, um schließlich im Prinzip Sich-Erkennen und Sich-Bestimmen in einer Negation der Negation diese Veränderung und Verobjektivierung in Natur und Geist wiederum rückgängig zu machen und im Anderen dann nur mehr sich selbst zu sehen und zu begreifen, erhält die allgemeine Metaphysik in Hegels Philosophie folgende Funktionen: 1. Nicht soll – wie in den Wissenschaften – je Einzelnes oder einzelne Ausschnitte in der Welt, sondern darin ganz aristotelisch, das Seiende, insofern es ist, genauer insofern es durch Freiheit möglich ist, kategorial bestimmt werden. (Dies der notwendige Systemanspruch der Philosophie.) Als allgemeine Metaphysik wird sie ferner von der Idee des Ganzen ihren Ausgang nehmen, in welchem die Wechselbeziehung der Teile nur durch ein Prinzip begreiflich gemacht werden kann, das weder als überseiend (wie im Neuplatonismus), noch als unvordenklich- präprädikatives Dass- vor allem Was-sein (wie bei Jacobi oder dem späten Schelling) aufgefasst werden kann. Denn wenn es nicht unerreichbar für den Begriff sein soll, dann können Prinzip und Prinzipiiertes nur als a priori vermittelt, d. h. als unmittelbar und vermittelt zugleich aufzufassen sein. Weder als begriffsjenseitig, noch aber auch als bloß verstandesbezüglich wie in den Verstandesschlüssen der Gottesbeweise von Anselmus bis Descartes soll das Prinzip der Metaphysik – als Prinzip von Allem in Allem – darum gedacht werden: im ersten Falle – erreichbar nur in einer intelligiblen Anschauung, in der beseligenden Schau oder im Exaiphnes, dem glücklichen Augenblick, – bleibe, so Hegel, der Zusammenhang zwischen beiden Sphären unbegreiflich; im zweiten Falle, in der Form der abstrakten Verstandesschlüsse bleibe die absolute Idee als das Prinzip der Vernunft unterbestimmt. (Kant hatte bereits die Beweisarten der Existenz des Göttlichen in den Abstraktionen solcher Verstandesschlüsse mit dem Seinsgedanken konfrontiert, und argumentiert, 269 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
dass sich aus diesen ein Seiendes – so wenig wie aus dem Begriff der 100 Taler wirkliche 100 Taler – herausklauben ließe.) 2. Wenn darum das Verhältnis zwischen Prinzip und Prinzipiiertem nicht undurchsichtig bleiben soll, so muss vom Prinzipiierten ausgehend zum Prinzip – vom Bekannten zum noch Unbekannten – in begrifflich nachvollziehbarer, methodisch geregelter Weise eine Schrittfolge der Annäherung möglich sein, durch die das Prinzipiierte als Selbstverobjektivierung des Prinzips aufgefasst werden kann (der Weg der ›Phänomenologie zum reinen Wissen‹). 3. Dann erst wird dieser Prozess als Prozess der Bildung, des SichBestimmens und Sich-Erkennens ausgehend vom Prinzip, dem reinen Seinsgedanken zum Prinzipiierten, d. h. zur Idee des durchgängig bestimmten Ganzen begreiflich sein können, indem solchermaßen das Prinzipiierte nurmehr in dasjenige zurückkehrt, das es von Beginn an, wenn auch noch in unbestimmter und unbegriffener Weise, bereits gewesen ist (Wissenschaft der Logik). 4. Mit dieser Rückkehr in den eigenen Grund kann quasi transzendentallogisch und transzendentalheuristisch antizipiert werden, was allem je Einzelseienden an Allgemeinem und Bestimmendem je bereits eingelagert und eingeschrieben ist (Vorbereitung auf den realphilosophischen Teil des Systems in der Enzyklopädie). Beide Seiten bringen sich dabei zugleich je wechselseitig hervor: Das Einzelseiende wird im Rückgang auf seinen Grund als Manifestation des Allgemeinen ebenso erkennbar wie das Allgemeine – das reine Sein zu Beginn der Wissenschaft der Logik – als Grund und Quelle für die Genese des Einzelnen durchsichtig werden kann.
3
Die Deduktion der reinen Wissenschaft in der ›Phänomenologie des Geistes‹. Der Weg des Bewusstseins in seinen Grund
Doch wenn die Rede von der notwendigen Vermittlung der Pole nicht bloß ein Postulat sein soll, so gilt es in einem ersten Schritt der Annäherung – vom Prinzipiierten zum Prinzip – die mögliche Übereinstimmung des Bewusstseins mit den Gegenständen des Wissens allererst zu zeigen, mithin also die un-skeptischen Implikationen der sich 270 https://doi.org/10.5771/9783495825983 .
5. Sein und Selbst-Sein
vollführenden Skepsis, nach der Art einer Deduktion der reinen Wissenschaft, freizulegen. Gleich zu Beginn der Phänomenologie des Geistes entzieht Hegel darum dem vermeinten unüberbrückbaren Hiat zwischen Ich und Welt (dessen Überwindung bereits die zentrale Herausforderung in Kants Deduktion der reinen Verstandesbegriffe war) den Boden: Ist doch selbst die unmittelbare Situierung eines Etwas in Raum und Zeit in der sinnlichen Gewissheit des Hier und Jetzt nur subjektiv vermittelt begreiflich. Selbst in einer sinnlichen Gewissheit sind Unmittelbarkeit und Vermittlung untrennbar vereint. Auf dem Wege zum reinen Wissen können die Formen der Anschauung und des Wissens, die das Individuum dann auf den Stufen der Annäherung je in Gebrauch nimmt, als ebenso viele eingelagerte Stufen des sich erkennenden Geistes durchsichtig werden, – als an sich bereits vollbrachte Stufen des Geistes, seine»zur Möglichkeit getilgte Wirklichkeit«, seine bereits »bezwungene Unmittelbarkeit« 3; als das bloß erinnerte Ansich, das schrittweise im Bewusstsein des Individuums zu einem Fürsich-sein des Wissens werden soll. Doch nicht erreicht bereits die Phänomenologie des Geistes ein Wissen um die in sie eingelagerten und zu Möglichkeiten herabgesunkenen Formen des reinen Wissens.
4
Grundlegung des Bewusstseins aus dem Geiste der ›Wissenschaft der Logik‹
Dieses selbst zu erkunden und zu begreifen, erscheint dem Bewusstsein in der Wissenschaft der Logik dann als Zumutung, die ungewohnte Stellung einzunehmen, auch einmal »auf dem Kopfe zu gehen« und damit ein bloß »Verkehrtes« d. h. die »Form des Unwirklichen« zu betreten. 4 Doch im Sinne der notwendigen Selbsterkenntnis – als Erkenntnis des Wahren im Menschen wie auch des Wahren an und für sich, – gilt es zunächst zu zeigen, dass und wie dieses Wissen dem Bewusstsein selbst angehört, d. h. von diesem – ohne sein Wissen und Dazutun – je bereits bestimmt ist. Darum gilt es zugleich, die im endlichen Bewusstsein bloß schlummernde geistige Substanz auch als eine solche, d. h. als Geist zu begreifen. Um sich 3 4
Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, 26. Ebd., 23.
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II · Aufsätze zum Deutschen Idealismus
aber zu zeigen, muss sich die geistige Substanz zunächst – im Bewusstsein – frei setzen, sich »äussern und für sich selbst […] werden«. 5 Dies aber heißt auch für Hegel: das Bewusstsein soll, indem es das Geistige als seine wesentliche Natur erkennt, Geist werden: nootenai, (das Geistige im Menschen, mithin seine sittliche Natur, soll als sein Selbst-Bewusstsein zu begreifen sein.) Erst in der Wissenschaft der Logik wird das Denken dann wirklich frei: ist es nicht mehr bloße Form möglicher Seinsgedanken, d. h. auf ein von ihm selbst Verschiedenes gerichtet, mithin nur Wissen für ein erkennendes Bewusstsein, sondern ein Denken, dem das Denken selbst zum Objekt geworden ist. Denken des Denkens ist darum: ›Objektives Denken‹, Analyse des reinen Wissens, d. h. des reinen Gedankens »insofern er eben so sehr die Sache an sich selbst ist, oder die Sache an sich selbst, insofern sie eben so sehr der reine Gedanke ist« 6. Dies ist selbstbezügliches Denken – oder ein ›Sich Wissen im Wissen‹. In diesem dann erst, dem reinen Denken des Denkens, erreicht das Wissen die höchstmögliche Form der Selbstbezüglichkeit, ist nicht mehr bloß ein Sich-fühlen oder Vernehmen im Bewusstsein, sondern Sich-Wissen im Wissen, auf das alle Erkenntnis seiner Möglichkeit nach zurückgeführt werden kann. Dabei ist Wissenschaft der Logik nicht mehr als ein Explizitmachen der im erkennenden, wollenden oder ästhetisch betrachtenden Bewusstsein eingelagerten Formbedingungen; sie erkundet nichts, als was nicht in unaufgeschlossener, unaufgehellter und selbstverlorener Weise mit dem weltzugewandten Bewusstsein der Phänomenologie des Geistes bereits vorausgesetzt ist, ohne jedoch eigens verstanden und begriffen zu sein. Hier liegt darum im Sinne Hegels der wahre Ort der Selbsterkenntnis auch des Bewusstseins; um sich zu begreifen, muss es Geist werden. Aus dem genannten Grunde hat Hegel auch eine Interpretation der Wissenschaft der Logik zurückgewiesen, nach der sie in einem Reiche jenseitiger Ideen beheimatet sei, »ausserhalb welcher die Welt der Wirklichkeit sich befinde«. 7 Diese Kritik am sog. Chorismos der reinen Formen des Wissens – mithin der Trennung der Logik von Phänomenologie und Realphilosophie – sei bereits der platonischen 5 6 7
Ebd. Hegel: Wissenschaft der Logik I, GW 11, 33. Ebd., 34.
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5. Sein und Selbst-Sein
Idee entgegengebracht worden: als seien nicht bereits Platons Ideen nichts anderes als das »Allgemeine oder bestimmter der Begriff des Gegenstandes«, 8 des Gegenstandes in seiner durchgängigen Bestimmung. Denn nur in diesem, im bestimmenden Allgemeinen habe »etwas Wirklichkeit«. 9 Am Beispiel der Idee des Staates sucht er dieses Ineins von Logik und Realphilosophie zu verdeutlichen: Wenn […] ein Gegenstand z. B. der Staat seiner Idee gar nicht angemessen, das heißt, vielmehr gar nicht die Idee des Staates wäre, wenn seine Realität, welche die [der] selbstbewussten Individuen ist, dem Begriffe ganz nicht entspräche, so hätten seine Seele und sein Leib sich getrennt; […] Der schlechteste Staat, dessen Realität dem Begriffe am wenigsten entspricht, insofern er noch existirt, ist er noch Idee. 10
5
Rückkehr des Bewusstseins aus seiner Veränderung in der Natur. Die Funktion der ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹
Doch gehört das mögliche Auseinandertreten von Begriff und Realität, von Wirklichkeit und Idee in einem engeren Sinne noch nicht der reinen Formensprache der Wissenschaft der Logik an: In dieser wird die Idee als Leben, als Erkennen und auf ein Telos, das Gute, hin ausgerichtet in allgemeiner Form entfaltet; um dergestalt mit der Idee der Einheit von Begriff und Realität, theoretischer und praktischer Vernunft den zu vollführenden Leithorizont in der Sphäre des Endlichen zu gewinnen. Erst jedoch die Sphäre des Endlichen – in der Realphilosophie – ist durch ein Auseinandertreten der Extreme in je unterschiedlichen Proportionen oder Potenzen gekennzeichnet. Der Akzent des dritten Systemteils, der Realphilosophie, liegt darum auf der mit dem Endlichen notwendig einhergehenden Differenz der Pole sowie auf der durch diese Differenz möglichen spannungsreichen Bewegung: einer Bewegung nicht zwischen zwei Polen, die ebenso gut auch voneinander getrennt sein könnten, sondern einer Bewegung, in der beide Extreme nur je unterschiedliche Grade der Manifestation
Ebd. Ebd. 10 Hegel: Wissenschaft der Logik II, GW 12, 175 f. 8 9
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des einen Prinzips: Sich-Bestimmen, Sich-Erkennen zum Ausdruck bringen: Als schlummernden Geist oder als »bewusstlose Poesie des Geistes« 11 hatte Schelling darum in seiner Potenzlehre diejenige Sphäre des Endlichen aufgefasst, die als mechanische Natur – durch das Prinzip bloß gesetzt und von außen bewegt, nicht aber bereits – wie im Organismus – zum Prinzip Sich-Bewegen und – wie in der menschlichen Seele – zum Sich-Erkennen, Sich-Wissen und Sich-Bestimmen, mithin also zum Selbst-Bewusstsein vorgedrungen ist. Analog sucht auch Hegel im realphilosophischen Teil der Enzyklopädie die Bewegung zwischen Natur und Geist als ein-sinnigen, in sich dynamisch bewegten, quasi organischen Prozess des Seinsganzen zu begreifen, der im Prinzip Sich-Bestimmen und Sich-Setzen das Movens seiner Bewegung und in der Idee ihrer Einheit das Ziel seiner Entfaltung erfährt. Und nur, weil das höchste Prinzip in seinen Manifestationen zugleich selbstbezüglich ist, kann es sich auch von sich selbst – als dem Bestimmungsgrund von Allem – einen Begriff nehmen und im ›Begriff des Begriffs‹ dann jene Gestalt der Selbstexplikation des Prinzips finden, von der die Selbsterkenntnis des Menschen nur ein schwaches Abbild erreicht. Analog zu Kants Transformation der speziellen Metaphysik, durch die ihre drei Ideen nicht mehr als für sich seiende hypostatisch gedachte Wesenheit zu begreifen sind, sondern diese an den Prozess der Genese und Entfaltung des Endlichen zurückbindet, sucht Hegel nun auch in der ehemaligen rationalen Kosmologie nach einer Lösung der antinomischen Lage, in die Kant den Weltbegriff der reinen Vernunft geraten sieht. Durch die sukzessive Entfaltung der Freiheit in Natur und Geist soll eine genealogische Lösung zu finden sein: Je nach Grad der in Natur und Geist erreichten Freiheit und Selbstbestimmung gelten sie als mehr oder weniger angemessener Ausdruck des Prinzips Sich-Bestimmen und Sich-Erkennen. Doch ist völlige Selbst-durchsichtigkeit und differenzfreie Einheit für die Sphäre des Endlichen nur ein regulatives Maß: Denn dem Endlichen ist ein unüberbrückbarer Hiat zwischen Begriff und Realität eingeschrieben; darum muss das Telos der Selbstbestimmung und 11 F. W. J. Schelling: System des Transzendentalen Idealismus, in: Karl Friedrich August Schelling (Hrsg.): Friedrich Wilhelm Joseph Schellings sämmtliche Werke. 14 Bde. Stuttgart u. Augsburg 1856–1861. Bd. I/3, 349.
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5. Sein und Selbst-Sein
Freiheit im Einzelnen wie in der moralischen Welt unendliche Annäherung bleiben. Hegel, der ›spekulative Idealist‹ ist darum in einem tiefsten Sinne ein Realist: Denn nicht soll die Idee des Absoluten im Endlichen einen adäquaten Ausdruck finden können, sowenig umgekehrt aber auch das Endliche selbst, – wie etwa in den gegenwärtigen Wissenschaften, – zum absoluten Maß und Bestimmungsgrund unserer Selbst- und Weltorientierung werden kann. Denn wenn Freiheit und Selbsterkenntnis in der endlichen Welt – in einer Welt unter moralischen Gesetzen – möglich sein sollen, so kann unser endliches Wissen in einer endlichen Welt – auch für Hegel – nicht ein Letztes sein. Daran aber leidet die wissenschaftsbezogene Aufklärung der Moderne: Sie hat das Prinzip der reinen Vernunft als Orientierungsmaß ihrer Selbstverständigung verloren. Darum kann Selbsterkenntnis, die im Horizont der neueren Anthropologie auf die partikularen Charaktere, die Nöte und Leidenschaften der Menschen sich beschränkt, den systematischen Ort der Selbsterkenntnis, ›der Wahrheit im Menschen wie die Wahrheit an und für sich selbst‹, nicht mehr finden. Damit aber hat sie den notwendigen Orientierungssinn in einer zu vollführenden sittlichen Welt endgültig eingebüßt.
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