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German Pages [160] Year 2023
Transpositiones (2023), Volume 2, Issue 2, DOI 10.14220/trns.2023.2.issue-2
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Transpositiones Journal for Transdisciplinary and Intermedial Cultural Studies / Zeitschrift für transdisziplinäre und intermediale Kulturforschung
Chief Editors Joanna Godlewicz-Adamiec (University of Warsaw) Paweł Piszczatowski (University of Warsaw) Editors Neha Khetrapal (O.P. Jindal Global University) Piotr Kociumbas (University of Warsaw) Christian Struck (Harvard University) Justyna Włodarczyk (University of Warsaw) Advisory Board Hannes Bergthaller (National Chung Hsing University), Agata BielikRobson (University of Nottingham), Jane Desmond (University of Illinois at Urbana-Champaign), Andrzej Elz˙anowski (University of Warsaw), Francesca Ferrando (New York University), Julia Fiedorczuk (University of Warsaw), Greg Garrard (University of British Columbia), Ursula K. Heise (University of California Los Angeles), Eva Horn (University of Vienna), Lynn Keller (University of Wisconsin–Madison), Adam Lipszyc (Polish Academy of Sciences), Aleksander Manterys (University of Warsaw), Axel E. W. Müller (University of Leeds), Susan McHugh (University of New England), Sigrid Nieberle (Technical University of Dortmund), Ewa Szcze˛sna (University of Warsaw), Manfred Weinberg (Charles University in Prague), Urszula Zaja˛czkowska (Warsaw University of Life Sciences) and Evi Zemanek (University of Freiburg)
This journal is peer-reviewed.
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Transpositiones Volume 2, Issue 2 (2023)
Netzwerke des Lebendigen: Multispecies agencies und Formexperimente in hybriden Genres Herausgegeben von Gabriele Dürbeck, Urte Stobbe und Evi Zemanek
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Contents
Editorial
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Gabriele Dürbeck / Urte Stobbe / Evi Zemanek Netzwerke des Lebendigen: Multispecies agencies und Formexperimente in hybriden Genres. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Claudia Keller (Universität Zürich) Fungimorphismus: Merlin Sheldrakes Entangled Life als Experiment zukünftiger Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Laura M. Reiling (Universität Münster) „eine riesige verflochtene Masse“. Vegetabilische Mikroskopie und Symbiose in Barbara Schiblis Flechten . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
Annina Klappert (Universität Augsburg) Meet Snails and Humans: Current Artworks as “Knots of Entangled Companion Species” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
Sarah Pogoda (Bangor University) Towards Radical Intimacy with the More-than-Human in Co-Somatic Performance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
Sieglinde Grimm (Universität zu Köln) Rotpeter Revisited: Kafkas Posthumanismus in ökophänomenologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
Simon Probst (Universität Vechta) Posthumanistische Ästhetik der Metamorphose: Baum-Menschen und Stein-Werdungen in der narrativen Multimedia-Arbeit von Nonhuman Nonsense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
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Contents
Benjamin Thober (Universität Freiburg) Phytolinguistik im Urban Jungle: Kulturpoetische Überlegungen zu Zimmerpflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Gabriele Dürbeck (Universität Vechta) Das Blatt als medialer Filter: fragile Mensch-Pflanze-Beziehungen in Anna Ospelts Wurzelstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
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Editorial
Wir freuen uns sehr, Ihnen das vierte Heft der Zeitschrift TRANSPOSITIONES präsentieren zu dürfen, das eine mehrdimensionale Auseinandersetzung mit der Komplexität des Leitthemas Netzwerke des Lebendigen: Multispecies agencies und Formexperimente in hybriden Genres bietet. Gastherausgeberinnen des Heftes sind Gabriele Dürbeck, Urte Stobbe und Evi Zemanek, exzellente und weit über die Grenzen des deutschen akademischen Diskurses anerkannte Expertinnen im Bereich Environmental Humanities und Ecocriticism, deren Einfluss auf die Etablierung dieser Forschungsgebiete im deutschen Sprachraum unverkennbar ist. Dank ihrem profunden Fachwissen und umfassenden akademischen Vernetzung gelang es ihnen, eine herausragende Sammlung von Beiträgen zusammenzustellen, die innovative Blickperspektiven auf das Thema darstellen und die Verstrickung von biologischen, ökologischen, kulturellen und sozialen Aspekten des Lebendigen und dessen hybride Repräsentationen verdeutlichen. Die Zusammenarbeit mit den Gastherausgeberinnen des vorliegenden Heftes ist Teil unserer Bestrebungen, verschiedene Stimmen in TRANSPOSITIONES zu präsentieren und die Zeitschrift zu einer Austauschplattform zwischen Vertreter_innen unterschiedlicher akademischer Traditionen und Forschungsgebiete werden zu lassen. Einzelne thematische Hefte von externen Herausgeber_innen gestalten zu lassen, war von Anfang an ein wichtiger Bestandteil des Profils von TRANSPOSITIONES und wir freuen uns sehr, dass diese Idee bereits im vierten Heft ihre Verwirklichung gefunden hat. Weitere Hefte in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler_innen aus Polen, Großbritannien und den USA sind geplant und alle an solcher Kooperation Interessierten mögen sich herzlich eingeladen fühlen, das Redaktionsteam von TRANSPOSITIONES zu kontaktieren.
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Transpositiones 2, 2 (2023)
Wir möchten Gabriele Dürbeck, Urte Stobbe und Evi Zemanek für ihre exzellente Arbeit als Gastherausgeberinnen sowie allen Autorinnen und Autoren für ihre wertvollen Beiträge zu diesem Heft danken. Wir wünschen Ihnen eine inspirierende Lektüre! Joanna Godlewicz-Adamiec und Paweł Piszczatowski Warschau, Juni 2023
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Gabriele Dürbeck / Urte Stobbe / Evi Zemanek
Netzwerke des Lebendigen: Multispecies agencies und Formexperimente in hybriden Genres. Einleitung
Im Rahmen des Ecocriticism und der Environmental Humanities hat sich in den letzten Jahren ein Naturverständnis herausgebildet, das die lang etablierte Dichotomie zwischen Mensch/Kultur und ‚Natur‘ neu denkt. ‚Natur‘ wird nicht mehr als das ‚Andere‘, als Objekt wissenschaftlicher Erforschung oder ästhetischer Anschauung konzipiert. Vielmehr werden der Mensch und seine Kultur(en) als Teil einer durch menschliche Aktivitäten maßgeblich beeinflussten und gestalteten Um- und Mitwelt verstanden. Menschliche Gesellschaften und Kulturen sind einerseits von ihrer Umwelt abhängig, andererseits zerstören sie vielerorts ihre Mitwelten und natürlichen Lebensgrundlagen. Der Mensch ist demnach in wechselseitigem Austausch und Interdependenz mit anderen Spezies zu denken und nicht getrennt von ihnen. Davon ausgehend hat sich in diesem Forschungsfeld die Bezeichnung ‚NatureCultures‘ durchgesetzt. An die Stelle eines Uhrwerks oder einer austarierten Waage tritt die Vorstellung eines Netzwerks als zentrale Metapher für die Dynamiken und Abhängigkeiten in und von der ‚Natur‘. Diese Vorstellung eines ‚Netzwerks des Lebendigen‘ verbindet sich mit einer posthumanistischen Perspektive, deren Grundannahmen auf eine Dezentrierung und Relativierung der Stellung des Menschen zielen. Ausgehend von der Vorstellung einer grundsätzlichen Interkonnektivität ist jedes becoming letztlich als ein becoming with zu verstehen. In den Blick gelangen somit auch neue Arten von Interkonnektivität und Zeitlichkeit sowie biozentrische Narrative, die als counter-narratives dazu anregen, im Zeitalter des Anthropozäns das Mensch-NaturVerhältnis auf andere Weise zu konzipieren, aber auch historische Repräsentationen neu zu perspektivieren. Ausgangspunkt für die Suche nach multispecies agencies ist ein verändertes Verständnis von der Wirkmächtigkeit von Tieren, Pflanzen, Flechten, Mycorrhiza-Symbiosen und Mikroorganismen, das auch innovative Formen des Schreibens und Erzählens über die Interrelationen mit non human / other than human species anregt. In Wechselwirkung mit diesen und weiteren Theorieimpulsen aus den literatur- und kulturwissenschaftlichen Animal Studies, Plant Studies sowie Interspecies Studies entstehen vielfältige
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Formexperimente in hybriden Genres, welche die Vorstellung einer artenübergreifenden Agentialität und Dynamik erkunden, performativ erproben und kritisch reflektieren. Die Beiträge dieses Heftes beleuchten Darstellungs- und Ausdrucksformen, die bisherige Zuordnungen und Einteilungen ästhetisch untergraben, zerfasern, überwuchern und neu konstituieren. Von übergeordnetem Interesse sind dabei folgende Fragen: Auf welche Weise wird in verschiedenen Künsten und Medien die Grenze zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Welt verschoben und inwiefern werden dabei anthropozentrische Vorstellungen spielerisch umgekehrt? Wie kann es gelingen, die ‚Netzwerke des Lebendigen‘ in ihrer multiplen Agentialität zu vergegenwärtigen? Welche Rolle spielt dabei die Anthropomorphisierung nicht-menschlicher Entitäten? Claudia Keller widmet sich in ihrem Beitrag Fungimorphismus: Merlin Sheldrakes „Entangled Life“ als Experiment zukünftiger Beziehungen einem hybriden Werk, das Forschung, persönliche Erfahrung und Aktivismus mit dem Ziel verbindet, die verborgene Welt der Pilze sichtbar zu machen: Merlin Sheldrakes Entangled Life. How Fungi Make Our Worlds, Change Our Minds, and Shape Our Futures (2020). Anstatt Pilze zu anthropomorphisieren, dokumentiert Sheldrake in Buch und Videos den Prozess eines „Fungimorphismus“, um durch sprachliche und physische Transformationen ein neues Verhältnis zu Pilzen herzustellen und zukunftsfähige artenübergreifende Beziehungsweisen zu erproben, die angesichts der ökologischen Krisensituation von Bedeutung sein könnten. Ziel seines Experiments ist es, den Anthropozentrismus zugunsten einer Perspektive des verwobenen Lebens aufzugeben. Für einen Vergleich mit Sheldrake bietet sich Barbara Schiblis Roman Flechten (2017) an, der wissenschaftlich informierte Flechtenkunde mit der subjektiven Selbsterkundung der Protagonistin und Biologin Anna verknüpft. Dies untersucht Laura M. Reiling in ihrem Beitrag ‚eine riesige verflochtene Masse‘. Vegetabilische Mikroskopie und Symbiose in Barbara Schiblis „Flechten“. In diesem Roman wird die Flechte als Symbiose aus Algen und Pilzen mikroskopisch in den Blick genommen und ihr metaphorisches Potenzial für die Beschreibung der Beziehung von Zwillingen ebenso wie einer Lebensform und schließlich auch eines adäquaten Schreibverfahrens durchgespielt. Reiling macht damit nachvollziehbar, wie sich die Wahrnehmungsweise der Protagonistin versuchsweise zu einer pflanzlichen Perspektive erweitert. Im Beitrag von Annina Klappert Meet Snails and Humans: Current Artworks as „Knots of Entangled Companion Species“ geht es um die künstlerische Inszenierung von Begegnungen zwischen Menschen und Schnecken in der Architektur, einem Video von einer musikalischen Performance und einem Roman. In Orientierung an Donna Haraway (When Species Meet) fokussiert Klappert zur Charakterisierung von „knots of entangled companion species“ die beiden Ka-
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Gabriele Dürbeck / Urte Stobbe / Evi Zemanek, Netzwerke des Lebendigen
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tegorien respect und response, die sie mithilfe von Vicky Kirbys Konzepts von awareness beschreibt, da diese Begegnungen ohne menschliche Sprache auskommen. Klappert beschreibt drei unterschiedliche Arten der Begegnung, die von einer räumlichen Koexistenz ohne direkte Interaktion über eine Interaktion bis hin zu physischer Verbundenheit reichen. Eine andere Form der Interaktion untersucht der Beitrag von Sarah Pogoda Towards Radical Intimacy with the More-than-Human in Co-Somatic Performance, wobei sie sich auf die Metamorffosis-Bewegung bezieht. In einem somatischen Bewegungsexperiment soll eine intime Verbindung zwischen Menschen und anderen Spezies wie Bäumen und ihren unterirdischen Verflechtungen performativ erfahren werden. Anhand einer transkorporalen Analyse der Metamorffosis-Bewegung mit ihren multisensorischen, multimodalen, kulturellen und ökologischen Dimensionen wird erörtert, wie diese spezifische Ästhetik die Konzepte westlicher Normativität unterläuft und eine transformative Kraft über das Ökologische hinaus entfalten kann. Den Versuch, eine posthumanistische Perspektive retrospektiv auf einen Text des frühen 20. Jahrhunderts zu übertragen, unternimmt Sieglinde Grimm in ihrem Beitrag Rotpeter Revisited: Kafkas Posthumanismus in ökophänomenologischer Perspektive. Anhand von Kafkas Ein Bericht für eine Akademie untersucht sie, wie der Text das Tier-Mensch-Verhältnis und die Hierarchie der Lebewesen verhandelt, und stützt sich dabei auf Louise Westlings Auseinandersetzung mit Merleau-Pontys Wahrnehmungstheorie und dessen Beobachtungen zum Tierverhalten von Jakob von Uexküll und Konrad Lorenz. Sie zeigt, dass mit der Figur Rotpeter der Natur selbst ein Logos eingeschrieben ist, der sich nicht nur vom westlichen Anthropozentrismus, sondern auch von Darwins Evolutionsgedanken distanziert und damit eine neue Sicht auf Kafkas Text öffnet. Nicht die Übergänge zwischen Mensch und Tier, sondern die Grenzbereiche zu Bäumen und sogar zur unbelebten Materie stehen in Simon Probsts Beitrag Posthumanistische Ästhetik der Metamorphose: Baum-Menschen und SteinWerdungen in der narrativen Multimedia-Arbeit von Nonhuman Nonsense im Zentrum. Probst zeigt, wie das Künstlerduo Nonhuman Nonsense durch ungewöhnliche Performance-Experimente horizontale Übergänge über ontologische Grenzen hinweg erprobt, um Verwandtschaften zwischen Menschen und der mehr-als-menschlichen Welt in einer posthumanistischen Ästhetik der Metamorphose zu erkunden und erfahrbar zu machen. Der Beitrag Phytolinguistik im „Urban Jungle“: Kulturpoetische Überlegungen zu Zimmerpflanzen von Benjamin Thober zielt in Anknüpfung an LeGuin darauf, eine kulturelle Form der metaphorischen Phytolinguistik zu entwerfen. Am Beispiel der mittlerweile auch in Europa weiterverbreiteten Phalaeonopsis untersucht Thober verschiedene poetologische und ästhetische Konzepte von
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Zimmerpflanzen und deren komplexe Natur-Kultur-Verflechtungen. Dabei werden Raphaela Edelbauers Poetik der Entdeckung, Daniel Falbs Konzept des PoemPhone, David Farriers Idee einer von Donna Haraway inspirierten ‚Poetics of Kin-Making‘ sowie eine anthropozäne Ästhetik des Alltäglichen in Leif Randts Roman Allegro Pastell zusammengeführt. Um eine Sprache der Pflanzen und mehr noch der Wurzeln geht es auch in dem Beitrag von Gabriele Dürbeck Das Blatt als medialer Filter: Fragile Mensch-Pflanze-Beziehungen in Anna Ospelts „Wurzelstudien“. Sie zeigt zum einen, dass die sprachgenerative und metaphorische Kraft von Pflanzen und Wurzeln zur Rekonstruktion des eigenen Stammbaums und Reflexion des Schreibprozess der Ich-Erzählerin führt. Zum anderen untersucht Dürbeck, wie ein Buchenblatt als (romantischer) wahrnehmungsleitender Filter eingesetzt wird und dadurch experimentell eine andere Perspektive auf die Welt erprobt, die sich auch in den zahlreichen Fotos und Videostills der Wurzelstudien niederschlägt. Zudem verdeutlicht sie, wie die Figur des Rhizoms performativ die Textgenese bis hin zu einem Prosafragment mit der selbstbezüglichen Protagonistin Ivy Blum steuert. Die vorliegenden Artikel entstanden für das Panel „‚Netzwerke des Lebendigen‘: Multispecies agencies und Formexperimente in hybriden Genres“ auf der Jahrestagung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft (KWG), die vom 25. 5.–28. 5. 2022 an der Universität Graz, Österreich, stattfand. Allen Beiträgerinnen und Beiträgern wie auch denjenigen, die mitdiskutiert haben, sei herzlich für ihre Beteiligung gedankt.
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Claudia Keller (Universität Zürich)
Fungimorphismus: Merlin Sheldrakes Entangled Life als Experiment zukünftiger Beziehungen
Abstract Fungimorphism: Merlin Sheldrake’s Entangled Life as an Experiment in Future Relationships The paper understands Merlin Sheldrake’s Entangled Life. How Fungi Make Our Worlds, Change Our Minds, and Shape Our Futures (2020) as an example of storytelling in the transformative paradigm of biodiversity: as a hybrid genre, it combines research, personal experience and activism, with the aim of making the hidden world of fungi visible and abandoning anthropocentrism in favour of a perspective from interwoven life. In the book as well as in the videos produced in this context, Sheldrake uses aesthetic practices in order to establish a new relation with fungi. Instead of anthropomorphising fungi, Sheldrake’s text, like himself, undergoes a “fungimorphism” in order to explore the zones of uncertainty between humans and fungi by means of ideas as well as linguistic and physical transformations and in order to test – as multispecies agencies – future forms of relationship, as they will be of increasing importance in view of the ecological crises. Keywords: Aesthetic Practices, Bio Art, Biodiversity, Fungi, Interspecies Relationships, Multispecies Agency, Mycoremediation
„‚We‘ are ecosystems that span boundaries and transgress categories. Our selves emerge from a complex tangle of relationships only now becoming known.“1 Diese Kernaussage aus dem Bestseller Entangled Life (2020) des britischen Biologen, Historikers und Wissenschaftsphilosophen Merlin Sheldrake verdeutlicht, wie sehr die Erforschung von Pilzen auch unser Menschenbild zu verändern vermag. Ich möchte Sheldrakres Buch, das sich als hybrides Genre zwischen den Gattungen populärwissenschaftliche Monographie, Manifest, Memoiren und Nature Writing verortet, als ein Beispiel betrachten, wie sich Erzählen im Paradigma der Biodiversität neu gestaltet um, wie Donna J. Haraway
1 Merlin Sheldrake, Entangled Life. How Fungi Make Our Worlds, Change Our Minds & Shape Our Futures (New York: Penguin Press, 2020), 20. Diese Ausgabe wird im Folgenden unter EL in Klammern im Text zitiert.
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– auf die auch Sheldrake Bezug nimmt2 – formuliert, auf die dringlichen Zeiten mit entsprechenden Erzählungen zu reagieren.3 Was verstehe ich unter diesem Paradigma? Der Begriff Biodiversity wurde Mitte der 1980er Jahre geprägt, um den Verlust der Vielfalt der Arten, ihrer genetischen Vielfalt sowie der Vielfalt der Ökosysteme zu bekämpfen – eine globale Krise, die inzwischen als das sechste große Massensterben in der Geschichte unseres Planeten angesehen wird. Der Biologe Walter R. Rosen reflektierte rückblickend die Begriffsfindung folgendermaßen: „It was easy to do: all you do is take the ‚logical‘ out of ‚biological.‘“ Und präzisierte: To take the logical out of something that’s supposed to be science is a bit of a contradiction in terms, right? And yet, of course, maybe that’s why I get impatient with the Academy, because they’re always so logical that there seems to be no room for emotion in there, no room for spirit.4
Es ging also darum, mit mehr ‚Geist‘ und ‚Gefühl‘ und mit einem einprägsamen Begriff die Anliegen zum Erhalt der Vielfalt des Lebens auf unserem Planeten politisch und gesellschaftlich durchsetzen zu können. Das Paradigma Biodiversität trägt also nicht nur dazu bei, die Aufmerksamkeit auf die bislang wenig beachteten Organismen zu lenken, sondern ist auch mit dem Anspruch verbunden, das menschliche Selbstverständnis zu verändern. David Takacs, der die Begriffsgeschichte von Biodiversität aufgearbeitet hat, hält fest, dass Biolog:innen die Erde schon immer geliebt, aber den Wunsch, diese Liebe auch in Handlung zu übersetzen, unterdrückt hätten. Erst mit dem Aufkommen des Biodiversitätskonzeptes und seiner Situierung zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik wurde es ihnen möglich, to cross the save boundaries of their hermetic disciplines to defend Earth’s biologic bounty. With biodiversity, the efforts of Leopold, Elton, Carson, and other found fruition: biology, nature, and the way we conceive of the natural world would never be the same again.5
Biodiversität wurde als Begriff und als Konzept etabliert, um diese Liebe zur Natur mit dem Anliegen, sie zu schützen, zu verbinden und in Handlungsmöglichkeiten zu übersetzen. Der damit verbundene transformative Anspruch zielt dabei explizit auf die ‚mentalen Karten‘, die mit unserer Naturwahrnehmung verbunden sind: „Conservation biologists have generated and disseminated the 2 Vgl. ibid., 225. 3 „These are the times we must think; these are the times of urgencies that need stories.“ Donna J. Haraway, Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene (Durham: Duke University Press, 2016), 37. 4 Zit. nach: David Takacs, The Idea of Biodiversity. Philosophies of Paradise (Baltimore und London: John Hopkins University Press, 1996), 37. 5 Ibid., 40.
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Claudia Keller, Fungimorphismus
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term biodiversity specifically to change the terrain of your mental map, reasoning that if you were to conceive of nature differently, you would view and value it differently.“6 Was einst als „Natur“ dem Menschen gegenüberstand, wird in diesem neuen Paradigma durch ein komplexes Netzwerk des Lebendigen ersetzt – mit dem Ziel eine weniger anthropozentrische Ethik zu begründen. Merlin Sheldrakes eingangs zitierte Formulierung vom Menschen als „Ökosystem“ ist u. a. mitgeprägt von dem einflussreichen Satz: „We are all lichens“.7 Gilbert et al. formulierten mit ihm eine Hommage an Lynn Margulis, die lebenslang Symbiosen erforscht und wichtige Beiträge zur Biodiversität publiziert hat.8 Das Paradigma der Biodiversität führt zu einer zunehmenden Aufmerksamkeit auf die Vielfalt der Lebewesen, die Prokaryota und die in vier Bereiche gegliederten Eukaryota, wie Protista (u. a. Algen), Pflanzen, Tiere – und eben Pilze. Die als plant blindness9 bekannte Unfähigkeit der Menschen, Pflanzen überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn, ihre Bedeutung im eigenen Umfeld anzuerkennen, ließe sich mit dem gleichen Recht auch als fungi blindness formulieren, wurden doch Pilze erst 1969 von Robert Whittaker als eigenes „Reich“ anerkannt.10 Die Erforschung dieses Bereichs des Lebendigen ist noch ganz am Anfang, aber das Thema geht in den letzten Jahren ‚fungal‘:11 Angesichts der vielen Pilzbücher scheint es fast, als ob ein unsichtbares Mykorrhiza-Netzwerk die Buchhandlungen eingenommen und überall Fruchtkörper gebildet hätte.12 Und auch Sheldrake stellt ganz zu Beginn eine Diskrepanz zwischen der Om-
6 Ibid., 1. Vgl. zum Konzept Biodiversität auch: Uta Eser, „Die Grenze zwischen Wissenschaft und Gesellschaft neu definieren. ‚Boundary work‘ am Beispiel des Biodiversitätsbegriffs“, in Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie, hg. v. Ekkehard Höxtermann et al. (Berlin: VWB, 2001), 135–52. 7 Scott F. Gilbert et al., „A Symbiotic View of Life. We Have Never Been Individuals“, The Quarterly Review of Biology 87, Nr. 4 (2012): 325–41, https://doi.org/10.1086/668166. 8 Vgl. Lynn Margulis, Diversity of Life: The illustrated Guide to the Five Kingdoms (Boston: Jones and Bartlet Publishers, 1999). 9 Vgl. James H. Wandersee und Elisabeth E. Schussler, „Preventing Plant Blindness“, The American Biology Teacher 61, Nr. 2 (1999): 82–86, https://doi.org/10.2307/4450624. 10 Vgl. Robert H. Whittaker, „New Concepts of Kingdoms of Organisms“, Science 163, Nr. 3863 (1969): 150–60, https://doi.org/10.1126/science.163.3863.150. 11 Sheldrake reflektiert an einer Stelle darüber, was es bedeuten würde, wenn etwas nicht ‚viral‘, sondern ‚fungal‘ gehen würde. Vgl. EL, S. 218. 12 Auch Mira Shah spricht von einem „Trend zum Fungalen“ und gibt einige Hinweise aus Theorie, Kunst und Literatur (Mirah Shah, „Mit Pilzen denken: Fungale Ästhetiken des Posthumanen in Theorie, Kunst, Literatur und Film,“ Studia Germanica Posnaniensia, Sonderheft: Ästhetiken des Posthumanen in Literatur und Medien 42 (2022) [im Erscheinen]). Vgl. aus diesem Jahr zudem: Michael J. Hathaway, What a Mushroom Lives for. Matsutake and the Worlds They Make (Princeton: Princeton University Press, 2022) sowie im Bereich der Literatur: Benjamin von Wyl, In einer einzigen Welt (Zürich: Lectorbooks, 2022). Für eine künstlerische Rezeption von Sheldrake vgl. Maria Whiteman, „Fungi Umwelt“, The New Centennial Review 21, Nr. 3 (2021): 225–43, muse.jhu.edu/article/856153.
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nipräsenz von Pilzen und ihrer Unsichtbarkeit fest: „Fungi are everywhere but they are so easy to miss. They are inside you and around you“ (EL, S. 3). Das zentrale Anliegen seines Buches ist es, den Pilzen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen, ihre Rolle in der Welt und für uns darzustellen. Darüber hinaus hat das Buch jedoch auch – wie es für das Paradigma der Biodiversität typisch ist – eine aktivistische Komponente: Sheldrake konnte ein großes Publikum erreichen, weil er mit der Autorität der Wissenschaft ein umfassendes Wissen über die Materie mit narrativen und ästhetischen Verfahren sowie einem persönlichen Zugang verbindet. In dem Buch geht es, wie der Untertitel präzisiert, nicht nur darum, How Fungi Make Our Worlds, sondern auch Change Our Minds and Shape Our Futures. Ganz im Sinne des transformativen Anspruchs des Biodiversitätsparadigmas geht es darum, den Menschen als einen kleinen Punkt innerhalb eines komplexen Netzwerk des Lebendigen neu zu verorten, und es geht darum, wie wir gemeinsam mit den Pilzen Zukünfte zurückerobern, die aus dem Katastrophischen herausweisen.13 Entsprechend greift Sheldrake auch die aktuelle Tendenz auf, bei Erzählungen, vom eigenen Erfahrungshorizont auszugehen, und er schreibt sich in eine Reihe von berühmten Selbstexperimenten – wie etwa Walter Benjamins Haschich- oder Jean-Paul Sartres Meskalin-Konsum – ein. Um eine solche fungale Transformation erfahrbar zu machen, greift Sheldrake auf unterschiedliche ästhetische Verfahren zurück – Verfahren, in denen die Agency nicht-menschlicher Lebewesen zentral ist. Ich beschreibe diese Verfahren zunächst anhand von drei Videos, die Sheldrake rund um die Veröffentlichung seines Buches produziert hat und die somit zur Selbstinszenierungsstrategie für die Vermarktung seines Buches gehören. Sie sind aber, so die These, nicht allein effektvolle Werbung, sondern führen die zentralen Anliegen und Verfahren auch des Buches vor: Als hybrides Genre ist auch das Buch ein Formexperiment, um durch multispecies agencies neue Formen von Beziehungen zu gestalten mit dem übergeordneten Ziel die Vielfalt des Lebendigen auch in Zukunft auf unserem versehrten Planeten zu ermöglichen.
13 Mira Shah („Mit Pilzen denken“) bezeichnet dies, ohne Bezug zur Biodiversität, als eine „posthumane Bereicherung“.
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Verpilzung des Buches In dem Video, das den Trailer zum Buch darstellt,14 sieht man im Zeitraffer – einem für Naturfilme zentralen Darstellungsverfahren15 – einen Austernpilz (Pleurotus) aus dem Buch herauswachsen und hört die Geräusche, die der Pilz beim Verstoffwechseln des Buches macht (Abb. 1). Im Begleittext zum Video heißt es, dass die Aufnahmen von Michael Prime aufgenommen wurden, einem sound ecologist, der darauf spezialisiert ist, sonst unhörbare Klänge hörbar zu machen, und der ein eigenes Label mit dem Namen Mycophile hat.16 Die Aufnahmen wurden mittels Elektroden hergestellt, die die bioelektrische Aktivität des Pilzes erfassen und einen abstimmbaren Oszillatoren steuern. Die Aktivitäten des Pilzes, während er das Buch verzehrt, werden so in Echtzeit als Klangbilder mit schwankenden Tonhöhen und unterschiedlichen Rhythmen hörbar.17 Von Merlin Sheldrakes Bruder Cosmo Sheldrake18 mit Bass und Stimme ergänzt entsteht ein Stück, in dem der Pilz, der das Buch gerade verspeist, dieses Buch auch „besingt“ und anpreist. In einem weiteren Video sieht man zuerst das vom Pilz überwucherte Buch und die Soundinstallation von Michael Prime und hört wiederum die Geräusche des Pilzes. Dann schwenkt die Kamera zu Sheldrake, der damit beginnt, den Pilz am Piano zu begleiten. Auf dem Notenständer liegt ein Tablet, auf dem die Aufnahme der Pilz-Soundinstallation zu sehen ist, die man in der vorangegangenen Kameraeinstellung soeben noch gesehen hat. Im Begleittext zum Video formuliert Sheldrake mit dem für ihn typischen Humor: „The fungus made such a good noise that I couldn’t resist playing along on the piano…“19 Der Pilz gibt das Spiel vor, Sheldrake reagiert mit seinem Spiel darauf – es ist eine Improvi14 Vgl. „Oyster Mushrooms Sprouting from Merlin Sheldrake’s Book, Entangled Life“, Video, letzte Änderung am 03. 09. 2020, https://www.youtube.com/watch?v=chOsO7XhLB8. 15 Vgl. Therese Davis und Belinda Smaill, „Rethinking Documentary and the Environment. A Multi-Scalar Approach to Time“, Transformations 32 (2018): 19–37. 16 Vgl. „Oyster Mushrooms“. Zu Prime vgl. François Couture, „Biography. Michael Prime“, All Music, abgerufen am 30. 10. 2022, https://www.allmusic.com/artist/michael-prime-mn00008 88140/biography. 17 Vgl. „Oyster Mushrooms“. 18 Vgl. „Cosmo Sheldrake“, Cosmo Sheldrake, abgerufen am 30. 10. 2022, https://www.cosmos heldrake.com, sowie zur Zusammenarbeit zwischen den beiden: Somini Sengupta und Tomás Munita, „Unearthing the Secret Superpowers of Fungus“, The New York Times, 27. 07. 2022, https://www.nytimes.com/interactive/2022/07/27/climate/climate-change-fungi.html?smid= nytcore-ios-share&referringSource=articleShare&login=email&auth=login-email. 19 „The Sound of the Book, Entangled Life, Being Devoured by a Fungus – With a Piano Accompaniment“, Video, letzte Änderung am 18. 06. 2020, https://www.youtube.com/watch? v=6KAnGAtSSgE. Sheldrake versteht sich selbst nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Musiker. Vgl. Merlin Sheldrake, „About Merlin“, Merlin Sheldrake, abgerufen am 30. 10. 2022, https://www.merlinsheldrake.com/about.
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Abb. 1. Filmstill aus: „Oyster Mushrooms Sprouting from Merlin Sheldrake’s Book, Entangled Life“. Video. Letzte Änderung am 03. 09. 2020. https://www.youtube.com/watch?v=chOsO7Xh LB8.
sation oder, um es mit Anna Pomyalova zu formulieren, eine Jam Session mit einem Pilz (Abb. 2).20 Der Pilz isst also das Buch, d. h. eignet sich als Subjekt wieder das an, worin er zuvor der Gegenstand war und schafft dadurch neue ästhetische Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Dabei bleibt es aber nicht. In einem dritten Video führt Sheldrake das Experiment zu Ende, das er bereits am Ende seines Buches angekündigt hatte (vgl. EL, S. 251): Er erntet die aus dem Buch herausgewachsenen Pilze, brät und isst sie (Abb. 3, 4, 5).21 Sheldrake isst dabei aber nicht einfach nur Pilze, sondern er isst auch, wie er mündlich und im Begleittext festhält, seine eigenen, radikal transformierten Worte.22 Damit ergänzt er die alte poetologische Metapher vom „Einverleiben“ der Schrift um eine originelle materiell-semiotische Ausprägung.23 Während in den vorangehenden Videos eine kreative Zusammenarbeit entsteht, wird hier 20 Vgl. Anna Pomyalova, „Radio Mycelium (2018) – eine Jam Session mit Pilzen?“, Transpositiones 1, Nr. 1 (2022): 119–36, https://doi.org/10.14220/trns.2022.1.1.119. 21 Vgl. „Merlin Sheldrake Eats Mushrooms Sprouting from His Book, Entangled Life“, Video, letzte Änderung am 23. 06. 2020, https://www.youtube.com/watch?v=JJfDaIVl-tE. 22 Vgl. ibid. In diesem Begleittext wird auch das Prozedere beschrieben, mit welchem Sheldrake den Austernpilz aus seinem Buch wachsen ließ. 23 Ich entlehne diesen Begriff von Donna J. Haraway. Vgl. beispielsweise Haraway, Staying with the Trouble, 50. Mira Shah beschreibt dies als Kunstaktion und Autor-Performance, die das „ästhetische Potenzial des Denkens mit Pilzen“ aufzeigt (Shah, „Mit Pilzen denken“). Sie verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Illustrationen, die mit aus Pilzen gewonnener Tinte gezeichnet sind, vgl. EL, S. 7.
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Abb. 2. Filmstill aus: „The Sound of the Book, Entangled Life, Being Devoured by a Fungus – With a Piano Accompaniment“. Video. Letzte Änderung am 18. 06. 2020. https://www.youtube.com/wa tch?v=6KAnGAtSSgE.
Abb. 3. Filmstill aus: „Merlin Sheldrake Eats Mushrooms Sprouting from His Book, Entangled Life“. Video. Letzte Änderung am 23. 06. 2020. https://www.youtube.com/watch?v=JJfDaIVl-tE.
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Abb. 4. Filmstill aus: „Merlin Sheldrake Eats Mushrooms Sprouting from His Book, Entangled Life“. Video. Letzte Änderung am 23. 06. 2020. https://www.youtube.com/watch?v=JJfDaIVl-tE.
Abb. 5. Filmstill aus: „Merlin Sheldrake Eats Mushrooms Sprouting from His Book, Entangled Life“. Video. Letzte Änderung am 23. 06. 2020. https://www.youtube.com/watch?v=JJfDaIVl-tE.
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deutlich, dass das Buch eine Chance für den Pilz und der Pilz wiederum eine Chance für dem Menschen ist – sei es als tatsächliche oder als metaphorische Nahrung, um sich gegenseitig zum Wachstum und zum Erfolg zu verhelfen. Wenn Sheldrake aber zudem mit britischem Understatement darauf aufmerksam macht, dass es nichts zu bedeuten habe, dass der Pilz sein Buch regelrecht ‚verschlungen‘ habe, dann zeigt er, dass es bei dieser multicspecies agency um keinen Selbstzweck handelt: Initially I was flattered that Pleurotus had so eagerly devoured the book, but on reflection I’m not sure that I can interpret their behaviour as a vote of confidence. Pleurotus have famously diverse tastes and are able to eat an astonishing variety of things, from crude oil, to used cigarette butts, to glyphosate – they can even trap and consume worms when they need to.24
Sheldrake setzt seinen Bestseller mit umweltschädigenden Abfallprodukten gleich, nicht nur um die Distanz zu menschlichen Wertvorstellungen zu markieren, sondern auch um zu zeigen, wie der Appetit der Pilze auch zur Rettung der Welt verwendet werden könnte: „Growing cash crops on waste is a kind of alchemy. Fungi transform a liability with negative worth into a product with value. A win for the waste-producer, a win for the cultivator, and a win for the fungi.“ (EL, S. 201) In diesen Videos wendet Merlin Sheldrake bekannte Verfahren der Bio Art an: Dabei handelt es sich um eine Kunstform, die das Interesse auf „komplexe Beziehungen zwischen den Agenten der Umwelt“ richtet; die künstlerische Auseinandersetzung mit den ökologischen Strukturen ermöglicht, die Entwicklung ästhetischer Strategien, mit denen Künstler_innen unsere Wahrnehmung und Beziehung zur Umwelt oder Mitwelt verändern.25 Damit kann diese Form der Bio Art als eine Praxis verstanden werden, mit der im Paradigma der Biodiversität mit mehr „emotion“ und „spirit“ die mentalen Landkarten neu geformt werden.26 Es entsteht eine Begegnung zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem, das die „traditionelle Vorstellung einer hierarchischen Relation von Objekt und Subjekt, passivem Werk und aktivem Betrachter“ verschiebt und damit eine Kritik an binären Oppositionen wie etwa Natur/Kultur formuliert.27 Pomyalova untersucht in ihrem Aufsatz ebenfalls ein Beispiel einer Kollaboration zwischen Mensch und Pilz: die 2018 an der Taipei Biennale gezeigte Installation Radio Mycelium, die sie als Jam Session bezeichnet. Wohl nicht zufällig wird auch hier das gemeinsame Spiel mit dem Verkosten verbunden – der Pilz wird vor der
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„Merlin Sheldrake eats Mushrooms“. Pomyalova, „Radio Mycelium“, 121. Vgl. Takacs, The Idea of Biodiversity, 37. Pomyalova, „Radio Mycelium“, 121–22.
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Performance als Tee serviert.28 Ob damit, wie Pomyalova es suggeriert, tatsächlich Empathie dem Pilz gegenüber entstehen soll, sei dahingestellt;29 auf jeden Fall aber führen all diese (ästhetischen) Verfahren dazu, die Grenzen des Körpers und der Identität durchlässiger zu machen. Die Videos mit artenübergreifender Agentialität zeigen, dass Sheldrake nicht nur aus einer unbeteiligten wissenschaftlichen Position über ‚verwobenes Leben‘ schreibt, sondern eine solche symbiotische Kreativität, die Zersetzen, Wachsen, Verdauen und Entstehen zusammenführt, in sein Leben integriert. Statt einer Anthropomorphisierung des Pilzes findet eine Fungimorphisierung des Buches ebenso wie seines Autors statt. Indem Sheldrakes Videos uns über verschiedene Wechselwirkungen staunen lassen, heben sie einen zentralen Aspekt seines Buches hervor: Er bezieht seine persönlichen Erfahrungen, die durch die Pilze erfahrenen Wahrnehmungs- und Bewusstseinsveränderungen ein – mit dem Ziel auch die Wahrnehmung und das Bewusstsein seiner Leser_innen zu verändern.
(Metaphorische) Metamorphosen: Vom Api- zum Fungimorphismus Sheldrake, der über Pilznetzwerke in Panama promoviert hat, präsentiert in Entangled Life sein enormes Wissen über Pilze, erzählt aber auch alles, was rund um diese Forschung herum passiert. Er nimmt die Leser_innen mit auf Reisen, stellt Personen aus Forschung wie aus dem aktivistischen Kontext der Radical Mycology vor. Vor allem aber reflektiert Sheldrake, wie er sich selbst zu den Pilzen in Beziehung setzt angesichts der Schwierigkeiten, die mit der Erforschung dieser von einer grundlegenden otherness geprägten Lebensform einhergeht. Die bereits mit der Überschrift der Einleitung gestellte Frage „What is it like to be a fungus?“ (EL, S. 3) könnte kaum unwissenschaftlicher anmuten und doch ist die Frage nicht allein ein gutes Verkaufsargument, sondern Sheldrake macht plausibel, dass sie auch für die Wissenschaft relevant ist. Relevant ist sie für eine Wissenschaft, die davon ausgeht, dass alle Lebewesen darauf angewiesen sind, „to make workable living arrangements“, da alle Organismen die Welt für die anderen Organismen erst erschaffen und verändern.30 Mit dem Motto zum 7. Kapitel das von Ursula Le Guin stammt, bringt Sheldrake den Anspruch, mit der Erforschung der Pilze auch ein neues Dasein in der Welt zu lernen, zum Ausdruck: „To use the world well, to be able to stop wasting it and our time in it, 28 Vgl. ibid., 130 und 132. 29 Vgl. ibid., 132. 30 Anna Lowenhaupt-Tsing, The Mushroom at the End of the World. On the Possibility of Life in Capitalist Ruins (Princeton: Princeton University Press, 2015), 22.
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we need to re-learn our being in it“ (EL, S. 195). Und dazu gehört, so weiß Sheldrake mit Donna J. Haraway, die Art und Weise, wie gedacht und wie erzählt wird: „It matters which stories tell stories, which concepts think concepts […] which systems systematize systems“ (EL, S. 225). Um mit diesen Herausforderungen umzugehen, begibt sich Sheldrake immer wieder in Konstellationen, in denen er Pilzen auf körperlich-sinnliche Weise ausgesetzt ist. Er nimmt an einer wissenschaftlichen Studie teil, in der kontrolliert kleine Dosen von LSD verabreicht werden, um Forscher_innen dabei zu helfen, ein Problem in ihrer Arbeit zu lösen (vgl. EL, S. 22). Sheldrake nutzt die Erfahrung, um dank einer aus einem Pilz gewonnenen Substanz Lösungen für die Probleme seiner Pilzforschung zu finden: Mit geschlossenen Augen liegt er so eines Tages auf einem Krankenhausbett und fragt sich eben, „what it was like to be a fungus“ (EL, S. 23). Er schildert seine Vision, in der der ganze Boden ein nach außen gerichteter Darm ist, wo überall Verdauung stattfindet – überall „slimy infective emprace“ und „seething intimate contact on all sides“ (EL, S. 23). Eine Pilzhyphe führt ihn in eine Wurzel hinein, wo es ruhiger ist, und er ist erstaunt über diesen ruhigen Zufluchtsort. Anders als das Denken in Kosten/NutzenSchemata kommen hier Aspekte mit anderen Qualitäten in den Blick. Sheldrake behauptet nicht, mit diesem Trip eine Wahrheit über Symbiosen herausgefunden zu haben, aber doch lernte er etwas wichtiges: Das LSD brachte ihn dazu, sich einzugestehen, eine Vorstellungskraft zu haben und Pilze anders zu sehen. Er wollte sie nicht länger mit den üblichen mechanistischen Bildern betrachten und kontrollieren, sondern zulassen, dass es sich um Organismen handelt, die „lure me out of my well-worn patterns of thought, to imagine the possibilities they face, to let them press against the limits of my understanding, to give myself permission to be amazed – and confused – by their entangled lives“ (EL, S. 24). Pilze sind Inspiration, nicht nur wenn sie als Droge im Körper wirken, sondern sie stellen überhaupt die Frage, wie sich Fantasie und Forschung zueinander verhalten: There was something embarrassing about admitting that the tangle of our unfounded conjectures, fantasies, and metaphors might have helped shape our research. Regardless, imagination forms part of the everyday business of enquiring. Science isn’t an exercise in gold-blooded rationality. Scientists are – and have always been – emotional, creative, intuitive, whole human beings, asking questions about a world that was never made to be catalogued and systematised. Whenever I asked what these fungi were doing and designed studies to try and understand their behaviours, I necessarily imagined them. (EL, S. 21–22)
Aufgrund des naturwissenschaftlichen Paradigmas der vermeintlichen Objektivität fällt es zunächst schwer, die Bedeutung der eigenen Person, der Vorstellungen und Kreativität einzugestehen – aber gerade sie erweisen sich als zentral
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auf dem Weg zu einer Forschung jenseits der anthropozentrischen Perspektive. Sie helfen dabei, tradierte Kategorien, Klassifizierungen und Bilder von Pilzen und die damit transportierten hierarchischen Wertvorstellungen aufzubrechen und ermöglichen andere Denk- und Sprachstile. Entsprechend betont Sheldrake mit Richard Lewontin die Bedeutung von Metaphern gerade auch für die moderne Naturwissenschaft, die mit Phänomenen befasst sei, die man nicht sehen und auch sonst nicht direkt erfahren könne (EL, S. 235). Zwar kritisiert er bestimmte, aktuell omnipräsente Metaphern, wie etwa das „Wood Wide Web“ aufgrund der Technik-Analogie oder auch den politischen Ballast vieler mit der Natur verbundenen Ausdrucksweisen (vgl. EL, S. 235–237). Doch betont er das Potenzial von Metaphern, neue Denkweisen zu öffnen und stellt die Frage, wie die zunehmende Erforschung von Pilzen unser Weltbild grundsätzlich verändern könnte: „How different would our societies and institutions look if we thought of fungi, rather than animals or plants, as ‚typical‘ life forms?“ (EL, S. 239). Besonders interessiert ist Sheldrake an sprachlichen wie nicht-sprachlichen Verfahren, in denen die beiden in Verbindung zu bringenden Bereiche – der Mensch und der Pilz – verändert werden. Beziehungen in der Natur seien stets von Ambiguität geprägt: So sei etwa nie klar, welche Seite die andre dominiere und Parasitismus/Mutualismus seien nicht zwei gegensätzliche Beziehungsformen, sondern die Pole auf einem Kontinuum (vgl. EL, S. 239). Wird die Perspektive auf Beziehungen in diesem nicht-anthropozentrischen Sinn revidiert, dann entsteht ein reichhaltigeres Spektrum möglicher Narrative: „The narrative possibilities are richer. We have to shift perspectives and find comfort in – or just endure – uncertainty“ (EL, S. 239). Es braucht Metaphern und Geschichten, die nicht alte Sicherheiten reproduzieren, sondern die der neuen Lebensrealität gerecht werden, die zunehmend von solchen Unsicherheitszonen geprägt ist. Auch Anna Lowenhaupt Tsing, die in ihrem Buch The Mushroom at the End of the World (2015) die Prekarität als den allgemeinen Zustand unserer Gegenwart erkennt, formuliert die Notwendigkeit, sich in dieser Unsicherheit neu einzurichten und sieht in den Pilzen mögliche Komplizen auf diesem Weg: We might look around to notice this strange new world, and we might stretch our imaginations to grasp it’s contours. This is where mushrooms help. Matsutake’s willingness to emerge in blasted landscapes allows us to explore the ruin that has become our collective home.31
31 Lowenhaupt-Tsing, The Mushroom at the End, 5.
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Jetzt, wo deutlich wird, dass die Fortschrittsgeschichte gescheitert ist, gilt es „the knots and pulses of patchiness“ zu erkunden und sich mit Neugierde den Überraschungen der Pilze hinzugeben.32 Es braucht also eine Bereitschaft, sich auf das Verunsichernde von Beziehungen einzulassen. Um der anthropozentrischen Tendenz zur Antropomorphisierung entgegenzuwirken, geht es nicht allein um sprachliche, sondern auch um körperliche Erkundungen dieser Zwischenzonen. Dies zeigt Sheldrake mit Verweis auf einen Beitrag, in dem die Anthropologin Natasha Myers zeigt, dass bereits Charles Darwin solche Ambivalenzen erkundete.33 In seiner 1862 erschienenen Schrift On the Various Contrivances vergleicht Darwin die Gestaltung einer Orchidee mit der Haltung eines Mannes: The position of the antennae in this Catasetum may be compared with that of a man with his left arm raised and bent so that his hand stands in front of his chest, and with his right arm crossing his body lower down so that the fingers project just beyond his left side.34
Myers erkennt hier nicht nur eine Anthropomorphisierung der Pflanze, sondern auch eine Verpflanzlichung von Darwin durch die Blume, weil so ein neues Bild des männlichen Körpers entsteht. Darwin unterliegt also einem regelrechten Phytomorphismus – denn, so bemerkt Sheldrake, es sei nicht möglich, etwas zu verstehen, ohne dass etwas davon auch auf einen selbst abfärbe und zu einer Verwandlung führe (vgl. EL, S. 238). Gerade weil wir letztlich die otherness von Pflanzen oder Pilzen nicht überwinden können, gilt es die Zonen im Bereich zwischen ihnen und uns auszuloten. Dass Sheldrake sich immer wieder und durchaus mit vollem Körpereinsatz von seiner Umgebung verwandeln lässt, zeigt sein Buch an vielen Stellen. Die Urszene für diese metamorphotische Lust wird jedoch erst ganz zum Schluss im Epilog erzählt. Sheldrake erinnert sich an eine Spielszene aus seiner Kindheit – aus einer Zeit also, in der fast magische Verwandlungen auch den Menschen noch leicht zugänglich sind. Sheldrake erzählt, wie er mit seinem Vater „Biene“ spielte: He used to carry me around on his shoulders and bury my face in flowers as if I were a bee. We must have pollinated countless flowers as we shuffled from plant to plant, my cheeks smeared with yellows and oranges, my face scrunched into new shapes to better fit inside the pavilions that the petals made, both of us delighted with the colors and smells and mess. (EL, S. 249)
32 Ibid., 6. 33 Vgl. Natasha Myers, „Conversations on Plant Sensing. Notes from the Field“, Nature Culture 2 (2014): 35–66. 34 Charles Darwin, On the Various Contrivances by Which British and Foreign Orchids Are Fertilized by Insects, and on the Good Effects of Intercrossing (London: Murray, 1862), 235.
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Wo Darwin einen Phytomorphismus erfährt, erlebt Sheldrake einen Apimorphismus: Auch wenn es natürlich nicht wirklich gelingt, sich in eine Biene zu verwandeln, so führen doch die mimetischen Anverwandlungen des Gesichts dazu, dass die beiden tatsächlich als Biene agieren und die Blüten bestäuben. Aus Sicht der Blume macht es keinen Unterschied, ob eine Biene oder ein Sheldrake die Bestäubung durchführt und Sheldrake hat mit Hilfe seines Vaters, der ihm das Fliegen ermöglicht, durch Mimikry seine übliche Art in der Welt zu sein radikal verändert. Dass aus diesem Kind später ein Wissenschaftler wird, der sich zunehmend wie ein Pilz verhält, erstaunt daher nicht. Sheldrake berichtet von seinem Forschernetzwerk zwischen Panama, Deutschland, Schweden, England, den USA und Belgien und reflektiert die Transformation seines Verhaltens: I never behave more like a fungus than when I’m investigating them, and quickly enter into academic mutualisms based on an exchange of favors and data. […] If my movements had left a trail behind them, they would have traced a complex network, complete with the bidirectional movement of information and resources. […] To study a flexible network, I had to assemble a flexible network. It is a recurring theme: look at the network, and it starts to look back at you. (EL, S. 239–40)
Dass wir in einer vernetzten Welt leben, die einem Myzel gleicht, ist hier weniger die Pointe, als dass sich das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt umkehrt: Nicht nur untersucht Sheldrake den Pilz, sondern ebenso steuert der Pilz sein Verhalten; lässt ihn in einen Mutualismus eingehen, dessen Beziehungsformen sich radikal vom Konkurrenzverhalten unterscheiden, von dem die Wissenschaft sonst oft geprägt ist. Nach dem Apimorphismus seiner Kindheit erfährt Sheldrake als Wissenschaftler einen Fungimorphismus, der in Frage stellt, wer hier die Kontrolle über wen hat – das Netzwerk, das man betrachten möchte, schaut auf einem selbst zurück. Anders als die kritisierte Metapher des „Wood Wide Web“ findet hier keine mechanistische Projektion auf einen Organismus statt, sondern mit dem Bild des Netzwerkes werden zwei Lebensformen auf eine Weise verbunden, die traditionelle Dichotomien aufhebt. Was die Videos spielerisch vorführen – eine Kreativität, die auf Mensch und Pilz gleichermaßen beruht –, gilt demnach auch für die Forschung.
Das gemeinsame Stoffwechsellied der Mykoremediation Dabei ist die artenübergreifende Kreativität kein Selbstzweck, sondern gibt eine Ahnung zukünftiger Beziehungen, wie sie auf dem versehrten Planeten von zunehmender Bedeutung sein werden. Im Kapitel über Radical Mycology lässt sich Sheldrake auf ein Experiment ein, das die Grenzen seines Körpers und seines Bewusstseins auflöst. Er begibt sich in ein Gärungsbad nach japanischem Vor-
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bild, bestehend aus einer Wanne voller Holzspäne, die von nichts anderem geheizt wird, als von der „fierce energy of decompositon“ – ausgelöst durch einen Pilz (EL, S. 196). Die körperliche Transformation beschreibt Sheldrake als eine Erfahrung, weniger Mensch und mehr Pilz zu werden: „My skin seemed to dissolve into the heat, and I lost track of where my body started and stopped; a complex cuccle, blissful and unbearable in turn.“ (EL, S. 198) In der Hitze gibt er sich seiner Trägheit und seinen daraus hervorgehenden Vorstellungen hin, geleitet von der Frage: „Might it be that we can’t adjust to life on a damaged planet without cultivating new fungal relationships?“ (EL, S. 196). Im Holzbad schwitzend sinniert Sheldrake über diese Frage mit Blick auf eine Graswurzelbewegung, die es sich seit Jahrzehnten zur Aufgabe macht, herauszufinden, „how mushrooms can save the world“ (EL, S. 204). Neben Terence McKenna und Peter McCoy, dessen Buch Radical Mycology (2016) für ein großes Netzwerk an sehr aktiven und experimentierfreudigen Amateur_innen von großer Bedeutung ist (vgl. EL, S. 200 und folgende), geht Sheldrake vor allem auf Paul Stamets und seine Ideen der ‚Mykoremediation‘ ein.35 Vertreter_innen dieser Graswurzelbewegung versuchen Pilze auf den Abbau von Schadstoffen (Rohöl, Glyphosat, Zigarettenkippen) zu trainieren oder mit ihrer Hilfe Bienen gegen Virusinfektionen immun zu machen. Die Perspektive ist verlockend – werden doch für den Menschen Probleme gelöst und für den Pilz neue Möglichkeiten geschaffen, wie Sheldrake es mit Blick auf die antivirale Pilzproduktion formuliert: „Once again, a global crisis was turning into a set of fungal opportunities“ (EL, S. 223). Dass in der Gegenwart ökologischer Krisen Aktivismus und Forschung nicht länger scharf getrennt werden können, zeigt sich daran, dass Stamets’ Experimente tatsächlich langsam auch von der Forschung aufgenommen werden. Die Fantasie des Pilzes als „Superheld“ und „Alleskönner“ gelangt zunehmend in den Mainstream-Diskurs.36 Sheldrakes Entangled Life gelingt es auch auf dieser Ebene, Brücken zu bauen und neue Beziehungen zu kultivieren. Mykoremediation könnte sich für das Überleben in den Ruinen unseres versehrten Planeten tatsächlich als zentral erweisen – darüber sind sich heute auch die Wissenschaftler_innen einig. Doch anders als es die Fantasie vom Pilz, der uns mit seinen Superkräften rettet, wie der Held in Comics, geht es Sheldrake 35 Zur Mykoremediation vgl. auch: Salome Rodeck, „Dying with ‚Infinity Mushrooms‘ – Mortuary Rituals, Mycoremediation and Multispecies Legacies“, Women, Gender and Research 3–4 (2019): 62–73. 36 Kathrin Burger, „Alleskönner aus dem Wald“, Brigitte, abgerufen am 09. 05. 2022, https:// www.brigitte.de/gesund/ernaehrung/pilze-alleskoenner-aus-dem-wald-13214118.html, sowie: Schweizer Radio und Fernsehen (SRF), „Weltenretter Pilze?“, SRF Kulturplatz, Video, letzte Änderung am 29. 03. 2023, https://www.srf.ch/play/tv/kulturplatz/video/weltenretterpilze?urn=urn:srf:video:d5ec7103-5dbe-46f5-8933-c82044115dd7. Sheldrake, der in dieser Sendung ebenfalls vorkommt, hat maßgeblich zu diesem Pilz-Trend beigetragen.
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um die gemeinsame Kollaboration, die auch den Menschen verändert. Mykoremediation ist kein neues Wundermittel für all unsere Probleme, sondern führt die sehr alte Zusammenarbeit von Mensch und Pilz mit Blick auf die Zukunft fort: This sort of partnering – in which different organisms together sing a metabolic „song“ neither could sing alone – enacts one of the oldest evolutionary maxims. Mycoremediation is just a special case. And it shows great promise. (EL, S. 205)
Das Bild des gemeinsam angestimmten Stoffwechselliedes legt den Fokus auf die Produktivität in der gegenseitigen Abhängigkeit. Unsere Welt überhaupt als ein Stoffwechsel-Lied zu verstehen, das von verschiedenen Arten gemeinsam hervorgebracht wird, bringt andere Qualitäten in die von Kosten-Nutzen-Abwägungen geprägte Denkweise. In der Verwendung dieser Metapher zeigt sich, dass die eingangs analysierten Videos einerseits diese zentrale Aussage des Buches ästhetisch umsetzen. Auch Entangled Life stellt solche Experimente zukünftiger Beziehungen vor und ist gleichzeitig selbst ein solches Formexperiment, das das Spektrum möglicher Bilder und Narrative erweitert, sinnliche wie rationale, ästhetische wie wissenschaftliche Zugänge miteinander verknüpfend. Beide, die Videos wie das Buch, weisen neue Wege, wie in der prekären Gegenwart unter Einbezug des Körpers, der Fantasie wie auch der Sprache und Musik kreative Lösungen entstehen können und stellen so eine wichtige Ergänzung zu dem stark ökonomisch und technologisch geprägten Nachhaltigkeitsdiskurs dar. Zu Beginn von Entangled Life vergleicht Sheldrake Pilze mit den Fähigkeiten eines Zauberers, denn beide – Pilz wie Zauberer – „trick us out of our preconceptions“ (EL, S. 16).
Fazit Erzählen im Paradigma der Biodiversität bedeutet nicht nur, die Aufmerksamkeit auf die – für unsere Wahrnehmung oft verborgene – Vielfalt des Lebendigen zu richten, sondern sich von dieser Vielfalt auch verändern zu lassen. Sheldrakes Buch ist ein herausragendes Beispiel für multispecies agencies, weil es beides leistet: Als hybrides Genre entwickelt es eine sprachliche Reflexion, aufgrund welcher wir nicht nur die Pilze anders sehen, sondern auch uns selbst. Nach der Lektüre ist für einen Moment aus einem anthropozentrischen ein beinah fungizentristisches Weltbild geworden, weil der Text neben den Anthropomorphisierungen der Pilze, immer auch deren Gegenteil, etwa die Fungimorphisierung Sheldrakes zur Darstellung bringt. Die spielerischen Möglichkeiten, die er im gemeinsamen Stoffwechselgesang mit dem Pilz erkundet, stellen darüber hinaus einen Zugang dar, der sich von
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Claudia Keller, Fungimorphismus
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dem aktuell omnipräsenten Katastrophennarrativ der Erderhitzung und des Massensterbens unterscheidet. Die New York Times berichtet darüber, wie die Mykologin Toby Kiers mit Merlin und Cosmo Sheldrake in Chile MykorrhizaNetzwerke untersucht, um mehr darüber zu erfahren, inwiefern Pilze einen bislang „underappreciated ally in the climate crisis“ darstellen.37 Dabei wirken Mykorrhiza-Netzwerke jedoch nicht nur als CO2-Senken und tragen damit direkt zur Eindämmung des Klimawandels bei – sie wirken auch als Vorbilder für die Menschen, wenn es gelingt, eine Perspektive einzunehmen, wie Sheldrake sie formuliert: „In difficult times, organisms find new symbiotic relationships in order to expand their reach. […] Crisis is the crucible of new relationships.“38 Wenn auch wir Menschen zur Erkenntnis gelangen, dass aus der Krise neue Beziehungen entstehen können, dann mögen die ökologischen Krisen der Gegenwart für uns zwar nicht gerade Chancen darstellen wie für die Pilze, aber es könnte uns zumindest gelingen, aus der Lethargie herauszufinden, um gemeinsam mit den Stoffwechselexperten die große Transformation anzugehen.
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Laura M. Reiling (Universität Münster)
„eine riesige verflochtene Masse“. Vegetabilische Mikroskopie und Symbiose in Barbara Schiblis Flechten
Abstract „eine riesige verflochtene Masse“: Vegetal Microscopy and Symbiosis in Barbara Schibli’s Flechten In her debut novel Flechten (2017), Barbara Schibli intertwines lichenology and the selfexploration of the biologist, twin sister and protagonist Anna. The novel is interweaving both in a symbiotic manner, similar to the subject, lichen, which is itself a symbiosis of algae and fungi. Schibli’s text extensively integrates scientific knowledge, but at the same time undermines scientific objectivity by promoting a subjective researcher’s perspective that constantly switches from lichen into personal life. The protagonist’s perspective on a human-nature connection expands into a vegetal perspective that undermines the scientific one. Lichen, also in its function as a metaphor (‘flechten’), is part of a habitat expansion by becoming a key participant in an identity discourse. The article examines the transfer of science into literature, questions the eco-critical facets of the text, and, based on the analysis of the lichenological practice in the novel, discusses the dynamics of agency as well as the mode of aesthetic intertwining. Keywords: Lichenology, Symbiosis, Subjectivity, Identity, Practice Flechten und Wuchtblöcke grollen zu dickt’em Rauch aufschaufelnder Steppe.1
Flechten, das 2017 erschienene literarische Debüt der Schweizer Literaturwissenschaftlerin Barbara Schibli, erzählt von der fiktiven Botanikerin2 Anna, die nach ihrem Studium in einem Zürcher Labor für Flechtenforschung arbeitet und 1 Oswald Egger, nihilum album. Lieder & Gedichte (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007), 43. 2 Lichenolog_innen werden hier zu den Botaniker_innen gezählt, vgl. dazu: Stefan Ungricht, „Der Krieg der Lichenologen: Ein Streit über Wesen, die heimlich heiraten“, Naturforschende Gesellschaft in Zürich, abgerufen am 20. 05. 2023, https://www.ngzh.ch/news/der-krieg-der-li chenologen („Flechtenkundler – die besagten Lichenologen – bilden eine kleine, eingeschworene Splittergruppe der Botaniker, von welcher man eher selten etwas in der Öffentlichkeit vernimmt“).
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im Laufe des Romans sowohl Feldforschung in der Schweizer Natur als auch in Finnland betreibt. Neben dem Erzählstrang der naturwissenschaftlichen Praxis wird das private Leben der Ich-Erzählerin geschildert, das sich vor allem auf das problematische Verhältnis Annas zu ihrer eineiigen Zwillingsschwester Leta, einer Fotografin, konzentriert. Nicht oft kommen in der (neueren) Literatur explizit Botaniker_innen-Figuren vor (neben Schibli etwa in Verena Stauffers Orchis oder in Klaus Modicks Moos). Schiblis Roman aber macht mittels seiner fachkundigen Protagonistin und entsprechender Habitate naturwissenschaftliche Forschung zum Sujet, was exemplarisch anhand der „kleine[n] Wissenschaft, Little Science“3 Lichenologie, der Flechtenkunde, geschieht. Der Roman beginnt mit einer Laborszene, wodurch man als Leser_in unmittelbar in ein Laboratorium, den „Prototyp des Experimentalorts“4 versetzt ist: Die Neue und ich sind für die Flechten hier, die anderen unserer Gruppe für Moose, Farne, Algen und Pilze, alles Kryptogamen – Gewächse, die im Verborgenen heiraten, so hat sie Carl von Linné in seiner Pflanzensystematik bezeichnet. Was wir am Institut tun, erscheint konspirativer, als es ist. Ich mikroskopiere […]. Mit einer Rasierklinge mache ich einen Schnitt durch eines der Ästchen der Cladonia, lege es auf den Objektträger, zoome hinein. Jetzt wächst alles, schlägt aus, treibt. Im Mikroskop wird jedes Ästchen zum Baum, ein Wald öffnet sich. Gleichzeitig verengt sich mein Blick immer mehr. Punkte, Linien, Netze, vermeintliche Bewegungen (Fl, S. 8).
Der Romananfang markiert explizit den Transfer von Naturwissenschaft in Literatur. Zum einen wird Linné als Erfinder der Taxonomie genannt, der Mitte des 18. Jahrhunderts das Pflanzenreich neu geordnet hat. Linné ordnete die Flechten, lateinisch Lichen, in die 24. Klasse des Systema Naturae (Cryptogamia). In Species plantarum (1753), das am Beginn der modernen (binären) botanischen Nomenklatur steht, bestimmte er (nur) 109 Arten; seine eigene LichenSammlung war klein, ebenso wie sein Interesse an Kryptogamen im Allgemeinen und Lichen im Speziellen.5 Zum anderen werden bei Schibli naturwissenschaftliche Termini eingeführt – die ‚Kryptogamen‘, deren sexuelle Vermehrung un-
3 Barbara Schibli, Flechten (Zürich: Dörlemann, 2017), 172. Im Folgenden wird der Text unter der Sigle Fl nachgewiesen. 4 Martina Wernli, „Der Ort des Experiments. Eine Annäherung“, in Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien, hg. v. Michael Gamper (Göttingen: Wallstein, 2010), 489. Karin Knorr Cetina stellt das Labor als „soziale Form“ und „artifiziellen“, „lokale[n] Handlungskontext[]“ dar („Das naturwissenschaftliche Labor als Ort der ‚Verdichtung‘ von Gesellschaft“, Zeitschrift für Soziologie 17, Nr. 2 (1988): 85, 87). 5 Vgl. Per M. Jørgensen et al., „Linnaean Lichen Names and Their Typification“, Botanical Journal of the Linnean Society 115 (1994), 262; Charles C. Plitt, „A Short History of Lichenology“, The Bryologist 12, Nr. 6 (1919): 77. Vgl. ferner Rolf Santesson, „Cladonia sylvatica and the Descriptive Method of Linnaeus“, Taxon 15, Nr. 2 (1966): 64–66.
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Laura M. Reiling, „eine riesige verflochtene Masse“
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auffällig, ohne Blüte, stattfindet.6 Die Protagonistin untersucht primär Cladonia, die Gattung der Strauchflechten.7 Benannt werden im Roman zahlreiche Arten wie Bart-, Krusten-, Lungen-, Rentier-, Totenbein-, Wimpern- und Wurmflechten (vgl. Fl, S. 68, 171, 181, 68, 103, 174), was dessen botanische Signatur markiert. Das Lexikon Botanik online beschreibt Flechten als „Organismengruppe, die man ebensowenig wie die Pilze zum Pflanzenreich rechnen darf. […] Wichtig ist, daß durch den Zusammenschluß von Algen und bestimmten Pilzen […] erfolgreiche, neuartige Formen entstanden sind“.8 Flechten sind keine Pflanzen, weshalb sie streng genommen auch nicht Teil neuerer kulturwissenschaftlicher Plant Studies9 sein können, sondern eine Symbiose aus Vegetabilischem und Nicht-Vegetabilischem; daher finden sie sich auch in den Symbiosen (2016) von Johann Brandstetter und Josef Reichholf.10 Schiblis Roman ist sich dieser schwierigen Zuordnung nicht nur bewusst und legt mehrfach Bestimmungen des Untersuchungsgegenstandes vor, sondern diese botanische, gewissermaßen epistemologische Indifferenz ist, so die These, bei Schibli zentraler Bestandteil einer poststrukturalistisch konzipierten Verflechtung von botanischer Forschung und diffiziler Figurenidentität. Mit Rekurs auf faktuale botanische Wissensbestände und reale Botaniker heißt es im Roman: „Die duale Hypothese der Schweizer Botanikers Simon Schwendener aus dem Jahre 1869: die Flechte,
6 Marion Poschmann nennt sie in ihrer etwas mystischen „Poetischen Taxonomie“ „Verborgendblühende[]“, Marion Poschmann, Mondbetrachtung in mondloser Nacht (Berlin: Suhrkamp, 2019), 118. 7 Vgl. Volkmar Wirth et al., Hg., Ulmers Taschenatlas Flechten und Moose (Stuttgart: Ulmer, 2018), 47–64 (von Cladonia stellaris bis Cladonia coniocraea). 8 „Flechten (Lichenes)“, Botanik online 1996–2004, abgerufen am 16. 08. 2022, https://www1. biologie.uni-hamburg.de/b-online/d33/33a.htm. Vgl. ferner „Flechten – unscheinbare wichtige Doppelwesen“, Naturkundemuseum Karlsruhe, abgerufen am 16. 08. 2022, https://www. smnk.de/forschung/botanik/wissenswertes-aus-der-botanik/flechten/. 9 Vgl. hierzu vor allem Urte Stobbe, „Plant Studies: Pflanzen kulturwissenschaftlich erforschen. Grundlagen, Tendenzen, Perspektiven“, Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 4 (2019): 95: „Plant Studies […] beschäftigen sich mit ethischen und philosophischen Fragen über den Status von Pflanzen, widmen sich den historischen wie gegenwärtigen Mensch-PflanzeVerhältnissen und fragen nach den Praktiken der Interaktion zwischen Menschen und Pflanzen in Literatur, Kunst und Kultur. Im Fokus des Interesses steht die Weise, in der botanisches und botanikales, d. h. ein nicht wissenschaftlich und institutionell anerkanntes Wissen über Pflanzen […] in literarischen und nicht-literarischen Texten repräsentiert, modifiziert und reflektiert wird – und gegebenenfalls Schreibweisen (mit-)hervorbringt, die mit dem Vegetabilen verbunden sind.“ Vgl. ferner Urte Stobbe, Anke Kramer und Berbeli Wanning, Hg., Literaturen und Kulturen des Vegetabilen. Plant Studies – Kulturwissenschaftliche Pflanzenforschung (Berlin: Lang, 2022). 10 Die Lichenologie werde „traditionell der Botanik angefügt, aber die akademische Zuordnung macht Flechten dennoch nicht zu Pflanzen“ (Johann Brandstetter und Josef H. Reichholf, Hg., Symbiosen. Das erstaunliche Miteinander in der Natur (Berlin: Matthes & Seitz, 2016), 266), ferner ibid., 268–69.
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ein Kollektiv aus zwei verschiedenen Individuen. Bis dahin wurden die Flechten als Sonderformen der Moose oder Algen betrachtet“ (Fl, 25–26).11 Die Erzählstimme in Flechten expliziert naturwissenschaftliches Arbeiten, indem die Praxis des Mikroskopierens detailliert beschrieben wird. Die entsprechende einführende Textstelle zeigt, dass Schiblis Roman ein realistisches Setting evoziert, nicht nur weil Termini und szientifische Praxis der Botanik vorgestellt werden, sondern auch, weil in jenem fiktionalisierten Zürcher Labor Forschungsgruppen benannt werden, die realiter in vergleichbarer Weise existieren, etwa in der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung.12 Der Text fokussiert auf eine individuelle Forscherin und blickt dadurch in ein wissenschaftliches Habitat. Zugleich fokussiert er von und mit dieser Figur auf eine Sichtachse durch ein Mikroskop, welche die Leser_innen qua Beschreibung nachvollziehen. In diesem Fokus kippt allerdings das realistische Moment insofern um, als die Beschreibung des szientifischen Prozesses ins Abstrakte fällt. Es öffnet sich in der Wahrnehmung der fiktiven Botanikerin erst ein Wald, das Gesehene wird anschließend abstrahiert zu geometrischen Figuren. Etwas später konstatiert die Protagonistin, weil sie „Schlieren in der Augenflüssigkeit“ als „fliegende[] Flecken“ sehe, die das Mikroskop-Licht auf die Netzhaut zurückwerfe: „Man meint, ein Stück unbekannte Natur zu beobachten, dabei ist es ein Teil von einem selbst“ (Fl, S. 8). Mit dieser Ähnlichkeit von Mensch und Kryptogamen wird das zentrale Moment des Romans skizziert: der Konnex von Flechtenforschung und Figurenidentität als Forscherin und Zwillingsschwester, bei dem die ‚Flechte‘ und das ‚Flechten‘ auch als Metapher fungieren. Die Verknüpfung von fiktiver naturwissenschaftlicher Praxis, Subjektivität und Textverfahren herauszuarbeiten, ist Ziel der Analyse.
11 Das wird später noch einmal expliziert, vgl. Fl, S. 83: „Die Flechte ist ein symbiotisches Gewächs. […] Der Pilz bestimmt das Aussehen der Flechte, er bildet die Architektur und ist meist auch der Namensgeber. Die häufig schlüsselförmigen Fruchtkörper bestehen aus fädigen Strukturen, in diese Myzele sind die Algen eingebettet.“ 12 „Botanik & Molekulare Evolutionsforschung. Kryptogamen“, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, abgerufen am 16. 08. 2022, https://www.senckenberg.de/de/institute/senck enberg-gesellschaft-fuer-naturforschung-frankfurt-main/abt-botanik-und-molekulare-evol utionsforschung/sekt-kryptogamen/; ferner ibid., „Sammlung Kryptogamen“, abgerufen am 16. 08. 2022, https://www.senckenberg.de/de/institute/senckenberg-gesellschaft-fuer-naturfo rschung-frankfurt-main/abt-botanik-und-molekulare-evolutionsforschung/sekt-kryptogam en/sammlung/.
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Ökokritische Konturierung So unscheinbar Kryptogamen wie Flechten, Farne, Moose, Pilze und Algen auch erst einmal wirken mögen (Linné schmähte Flechten gar als „rustici pauperimi“ der Vegetation, als ‚ärmste Landbewohner‘13), im Zuge einer neuerlichen (publizistischen) Aufmerksamkeit für eher unscheinbare ökologische Elemente treten diese zunehmend hervor. Robin Wall Kimmerer legte 2003 ihr Buch Gathering Moss vor und 2013 das Buch Braiding Sweetgrass (in dem Linné in einer imaginären Szene mit einem Indigenen zusammenkommt14), Merlin Sheldrake 2020 Entangled Life: How Fungi Make Our Worlds, Change Our Minds & Shape Our Futures (alle drei wurden zwischen 2020 und 2022 ins Deutsche übersetzt) und in der „Naturkunden“-Reihe des Matthes & Seitz Verlags erschien 2019 von Miek Zwamborrn ein Porträt über Algen. Zugleich mehren sich Romane, die Aspekte der Klimakrise markant in den Vordergrund rücken, wie beispielsweise jüngst T. C. Boyles Blue Skies (2023), Franziska Gänslers Ewig Sommer (2022), Jens Liljestrands Der Anfang von morgen (2022; orig. Även om allt tar slut, 2021) und Claire Thomas’ Die Feuer (2022; orig. The Performance, 2021). Schiblis Flechten, bereits 2017 erschienen, ist weder eine ökologisch-kulturwissenschaftliche Abhandlung noch dezidiert ein ‚Klimawandelroman‘,15 sondern zieht in die vorrangige plot-bezogene Verhandlung von naturwissenschaftlichen Tätigkeiten anhand der Flechten signifikant ökokritische Akzente ein. Damit ist die naturpolitische Konturierung ausgeprägter als in Texten wie Raoul Schrotts Tropen. Über das Erhabene (1998), Esther Kinskys Schiefern (2020) oder Oswald Eggers Val di Non (2017). In Kinskys Gedicht „Insel“ etwa werden Flechten in einen ökologischen Rahmen mit Farn und Hagedorn eingespannt: „Im nacken noch die wegrands / ersammelten wörter: bracken lichen / die starre von fichtenröhren brauner farn / die hellen flechten gelblich auf gra-
13 Carolus Linnaeus, Species plantarum (Stockholm: Laurentius Salvius, 1753), zit. nach: Patrick Jung und Burkhard Büdel, „ Lichens as Pioneers on Rock Surfaces“, in Life at Rock Surfaces. Challenged by Extreme Light, Temperature and Hydration Fluctuations, hg. v. Burkhard Büdel und Thomas Friedl (Berlin und Boston: De Gruyter, 2021), 141. 14 Vgl. Robin Wall Kimmerer, Braiding Sweetgrass: Indigenous Wisdom, Scientific Knowledge and the Teachings of Plants (London: Penguin, 2020), 209 („They stroll along discussing the names for things“). 15 Sylvia Mayer, „Klimawandelroman“, in Ecocriticism. Eine Einführung, hg. v. Gabriele Dürbeck und Urte Stobbe (Köln: Böhlau, 2015), 233–34: „Zu den Stimmen, die die ökologischkulturelle Komplexität des Klimawandels erkennbar werden lassen, gehört zunehmend auch die Stimme der Literatur. ‚Klimawandelliteratur‘, und hier insbesondere das Genre des ‚Klimawandelromans‘, nutzt das Experimentierfeld der Fiktion, um sich mit der konkreten Erfahrung des anthropogenen Klimawandels, seinen Ursachen und seinen bereits realen wie in der Zukunft möglichen Auswirkungen auseinanderzusetzen.“
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nit“.16 Farn und Flechten werden erst, kursiv gesetzt, mit den lateinischen bzw. englischen gebräuchlichen Begriffen17 als Worte und damit explizit als Sprachmaterial eingefügt, bevor deren Zustand hinsichtlich Ort und Farbigkeit genauer beschrieben wird. Bei Eggers Val di Non, wie Schiblis Flechten topographisch ebenfalls ein Tal-Text, ist bildreich die Rede von „Flöckchen grauere [sic] Flechte“, „Hirsegrasfluren dürftiger Flechten“, „Spülkelche[n] der Flechten“, „geharzten Bänderungen der Algen und Flechten“, „von Flechten rauh überzogenere[n] Felsen“, „Wucherungen der Algen und Flechten“, „mit Flechten und abgeflackte [sic] Moospolstern überzogenen Felsen“ und „Ruß- und Schurfflechten, dicke[n], filzige[n] Überzüge[n], die ein Gemenge von stachliger Substanz mit Staub und Distelsand sind“.18 Eggers richtet, ähnlich wie Kinsky, einen besonderen Fokus auf die sprachliche Nuancierung ästhetisch-naturkundlicher Betrachtung. Dieser Modus, Sprache bzw. Sprachvermögen und Natur „zu verflechten“19 und die Natur mit ihren Elementen wie Flechten dezidiert als Sprache zu reflektieren, tritt auch bei Schrott deutlich hervor.20 In dem zwischen Prosaminiatur und Gedicht schwankenden Text „Korollarien IV“ heißt es entsprechend über Flechten als gleichermaßen natürliches wie typographisches Element: „über den / wald führen nur die borkenkäfer / buch · die einzige sprache aber / der die bäume auch mächtig sind / schweigen sie auf einzelne zeilen / von flechten und moos“.21 Schibli verbindet beides: die Arbeit am auch dem naturwissenschaftlichen Feld entstammenden Sprachmaterial und ein handlungsbezogenes Operieren mit Flechten. In ihrem Text konstatiert sie die Omnipräsenz von Flechten, was deren Anpassungsfähigkeit zu skizzieren sucht und sie für mögliche Experimente neuer Ansiedelungen – nicht ganz ohne Ironie: im Weltall – prädestiniere: Flechten würden „an kargsten Orten“ wachsen, „[v]ermutlich […] gar auf anderen Planeten“, sie würden, so die naturkundlich korrekte Darstellung der Erzählstimme, „in Regionen vor[dringen], in denen fast kein anderes Pflanzenleben mehr möglich“ sei (Fl, S. 66–67).22 Das ökokritische Konturieren 16 Esther Kinsky, Schiefern (Berlin: Suhrkamp, 2020), 13. 17 ‚bracken, brake fern, bracken fern‘ im Englischen (Schiefern beschreibt eine schottische Gegend) sind Bezeichnungen für Adlerfarn, lat., Pteridium aquilinum, vgl. „Bracken (Pteridium aquilinum)“, Woodland Trust, abgerufen am 16. 08. 2022, https://www.woodland trust.org.uk/trees-woods-and-wildlife/plants/ferns/bracken/. 18 Oswald Egger, Val di Non (Berlin: Suhrkamp, 2017), 15, 71, 84, 87, 103, 111, 141, 176. 19 Egger, nihilum album, 24. 20 Es ist vom „alphabet / der bäume“ und der „keilschrift der nadeln“ die Rede, vgl. Raoul Schrott, Tropen. Über das Erhabene (München: Hanser, 1998), 43. 21 Ibid., 45. Interessanterweise (und hier wohl impliziert) ist eine Unterart des Borkenkäfers der Ips typographus, der ‚Buchdrucker‘, so von Wissenschaftler_innen benannt wegen des Aussehens der Brutgänge vom Käfer. 22 Letztere Formulierung suggeriert etwas, Flechten seien Pflanzen. Vgl. Jung und Büdel, „Lichens as pioneers“, 142: „Lichens grow naturally on all substrates, including very nutrientpoor ones such as rocks or even artificial surfaces. Their ability to take up most nutrients from
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markiert nicht nur das ökologische Agieren der fiktiven Forscher_innen, sondern auch die Indexfunktion von Flechten, aus der wiederum eine Agentialität der Natur spricht. Bodenkundliche Praktiken wie Monitoring und Kartierung werden ausgeführt und dabei heißt es, der Zürcher Flughafen sei ein Habitat von Flechten: [D]ie Flechtenflora breitet sich hier als großes Mosaik aus. […] Über neunzig Taxa konnten wir nachweisen. Darunter auch die besonders geschützte Wimpernflechte. […] [D]ie Artenzahl der Flechten [hatte sich] mehr als verdoppelt. Dieses positive Resultat lässt sich vor allem mit der Zunahme luftgetragener Stickstoffverbindungen und der Verminderung von Schwefeldioxid erklären (Fl, S. 103).
Durch eine Erweiterung des Flughafens würden jedoch, so wendet die Erzählstimme kritisch ein, „wertvolle Lebensräume verloren gehen“, dieser Verlust müsse wiederum durch neue Flächen kompensiert werden (Fl, S. 103). Die Aussage, Wimpernflechten seien streng geschützt, markiert zudem den realistischen Bezugsrahmen des Romans, den Rekurs auf naturwissenschaftliche Fakten.23 Nach Tschernobyl seien, so an anderer Stelle, Rentierflechten in Finnland mit radioaktiven Isotopen angereichert gewesen und in der Schweiz sei „mehr als ein Drittel der einheimischen Arten gefährdet. Luftverschmutzung, aber auch Forst- und Wasserwirtschaft tragen dazu bei“ (Fl, S. 181, 183). Flechten würden „stark auf Luftverunreinigung“ reagieren, weil diese das „Symbiosegleichgewicht von Pilz und Alge“ störe: „Die Flechten verfärben sich, hören auf zu keimen, zu wachsen, bis der ganze Thallus abstirbt.“ Die Forscher_innen würden daher Flechten, in Prozessen der Kartierung und der Dokumentation, als „Bioindikatoren für Luftschadstoffe“ einsetzen (Fl, S. 48–49). Die fiktive Biologin akzentuiert Flechten-Eigenschaften, die klimapolitische Belange unterstreichen.24
the air or ambient water enables them to colonize even rather hostile microhabitats that are mostly devoid of other vegetation.“ 23 Streng geschützt sind Wimpern-, Moos-, Rentier-, Lungen-, Schlüssel- und Bartflechten, vgl. „Flechten – unscheinbare wichtige Doppelwesen“. 24 Vgl. Brandstetter und Reichholf, Symbiosen, 270 (Flechte als „‚Bio-Indikator‘“), ferner „Flechten – unscheinbare wichtige Doppelwesen“: Flechten „können […] als Indikator für diverse Stoffe im Boden und Luft benutzt werden […]. Dabei geht es unter anderem um Schadstoffe wie Schwefeldioxid. […] In Gebieten mit hohen Schadstoffbelastungen existieren keine Flechten. So können Gebiete mit vielen Flechtenarten für eine gute Luftqualität stehen. […] Flechten [können] säure- und stickstoffhaltige Böden anzeigen“, „Flechten reagieren […] sehr empfindlich auf veränderte Umweltbedingungen. Flechten nehmen Nährstoffe ungefiltert aus der Luft auf. Sie lagern alle Stoffe, ohne sie abzubauen, in die Zellen ein. Somit reichern sich Schadstoffe immer weiter an, bis die Konzentration in den Zellen zu hoch wird und die Flechte abstirbt.“
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Lichenologische Praxis im Roman Die Ich-Erzählerin in Flechten beschreibt extensiv ihr eigenes szientifisches Arbeiten, wozu vor allem das Sammeln, Aufbewahren (im Herbarium), Mikroskopieren und Schreiben zählen. Sammlungspraktiken sind sowohl individuelle als auch kollektive taxonomische Prozesse, die in dem Roman durch die Darstellungen von Exkursionen in ein Schweizer Tal (Val Champagna) und nach Finnland gezeigt werden. Gekürzt liest sich der Ablauf der realistisch geschilderten25 Sammlungsexpedition in das unter Naturschutz stehende Val Champagna so: Ich entdecke die erste Ansammlung von Cladonien. Flechten besiedeln Extremstrandorte, sind hart im Nehmen. […] Mit einem feinen Klappmesser schneide ich Ästchen der Strauchflechte ab, wickle sie vorsichtig in die mitgebrachten Papiertücher ein. […] Die Flechte wird herbarisiert und konserviert. Nach dem Trocknen kommt sie in eine Falttüte. Wir gehen weiter. […] Ich entdecke eine Totenbeinflechte, hell leuchtet die Wurmflechte aus dem Gestein hervor. Ich knie nur kurz nieder […]. Ich gehe weiter, vorbei an größeren Felsbrocken, auf denen sich Krustenflechten angesiedelt haben. Landkartenflechten. […] Obwohl nicht mein Spezialgebiet, nehme ich auch von ihnen Proben. Ich knie nieder, setzte [sic] meine Schutzbrille auf und schlage mit meinem Hammer und einem kleinen Meißel mehrere Steinplättchen heraus (Fl, S. 66–68).
Der Fokus auf das „Ich“ wird durch den anaphorischen, präsentischen Ausdruck akzentuiert. Der Sammelvorgang der Ich-Erzählerin in Finnland wird in seiner Prozessualität ähnlich dargestellt wie in der Schweizer Wildnis, allerdings schreibt sich dabei ein ironischer Ton ein: Jeder geht für sich allein, wir sind territoriale Einzelgänger. […] Da liegen sie auf dem Waldboden ausgestreckt, zum Teil ältere Männer, plötzlich sehr gelenkig, das Binokular in die Augenhöhle geklemmt, wird jeder Quadratmeter gierig unter die Lupe genommen. Einige kleben an den Baumstämmen verschiedener Espen und fahren die Rinde mit einer Lupe auf und nieder, völlig absorbiert. […] Und wenn sie fündig werden, entwickeln sie eine unglaubliche Zärtlichkeit, berühren die Flechten mit liebevollsten Gesten. […] Wir sind fixiert […] (Fl, S. 173).
Augenfällig wechselt die Beschreibung zwischen Genauigkeit und ironisch-kritischer (Selbst-)Beobachtung, die in dem botanischen Sammeln emotionale Involviertheit („Zärtlichkeit“, „liebevoll[]“) erkennt und damit der Darstellung naturwissenschaftlichen Agierens einen stark subjektivistischen Impetus verleiht. Diese emotionale Ebene naturwissenschaftlicher Praxis verstärkt der Text durch biographische Rückblicke. „Früher“ habe die Ich-Erzählerin
25 Vgl. Wirt et al., Ulmers Taschenatlas, 11: „Zum Sammeln benötigt man bei Rinden-, Holz- und Erdflechten ein Messer zum Entfernen der ‚Proben‘, bei Felsflechten Hammer und Meißel.“
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Schätze unterschiedlichster Art zusammen(getragen): Steine jeglicher Größe, Wurzeln, Moose – auch schon Flechten – Federn, Mausskelette, rostige Schrauben, […] alles, was ich draußen finden konnte und was mir schön und wertvoll erschien. Ich konnte mich stundenlang mit diesen Dingen beschäftigen, ordnete sie, erkannte wieder andere Beziehungen zwischen ihnen (Fl, S. 113).
Es ist eine etwa bei Helen Macdonald wieder virulent werdende Haltung, nämlich die gegenwärtige naturkundliche Sammelpraxis biographisch zurückzubinden und in kindlichen Erkundungen frühe Spuren späteren wissenschaftlichen Agierens zu sehen. Ganz ähnlich heißt es in Abendflüge (2021; orig. Vesper Flights, 2020), Macdonald habe als Kind „eine Naturaliensammlung“ angelegt: „Da waren Pflanzengallen zu sehen, Federn, Samen, Kiefernzapfen […]“.26 Es scheint gar topisch, nicht nur das spätere naturkundliche Interesse biographisch zu rekonstruieren, sondern in der Darstellung der Naturforschung den eigenen Zugang zur Welt auszuhandeln und damit in der Ich-Erzählung und internen Fokalisierung auch die Konstituierung des (forschenden) Ichs zu umreißen. Das Erkunden der eigenen Umwelt ist zugleich Erkundung des eigenen Subjekts, das als Suchendes markiert wird. Dem Sammeln folgen, sowohl in realer naturwissenschaftlicher Praxis als auch im fiktional entfalteten lichenologischen Agieren, Aufbewahrung und Inventarisierung. Im Text wird das Prozedere des Aufbewahrens, also das der Typusbelege, detailliert beschrieben. Die Flechten befänden sich in Schränken,27 in Schubladen seien in gefalteten Tüten Herbarkapseln aufbewahrt, die Etiketten seien gestempelt, nummeriert und würden Name, Gattung, Fundort, Meereshöhe, Substrat, Sammlername, Taxon und Funddatum der Flechte vermerken. Die Flechten blieben in den ursprünglichen Originalverpackungen mit den entsprechenden Beschriftungen und würden dann noch einmal in institutseigene Tüten verpackt. Die Belege würden „alphabetisch sortiert, nach Gattungen und innerhalb dieser nach Arten“ (Fl, S. 25). Hierbei werden auch erforderliche Prozesse der Digitalisierung von Herbarien thematisiert, das Ziel sei „[l]ückenlose digitale Erschließung der Sammlung“ für den leichten Zugang für Wissenschaftler_innen. Dabei betont die Erzählstimme nicht nur die Unabdingbarkeit solcher Verfahren der Digitalisierung (die realiter so vollzogen werden, etwa in der Linnean Society of London, die ihre botanischen Bestände durchdigitalisiert hat), sondern sie meint auch, das „Teilen von Ergebnissen in der Forschung“ sei 26 Helen Macdonald, Abendflüge, übers. v. Ulrike Kretschmer (München: Hanser, 2021), 11. 27 Vgl. Anke te Heesen und Anette Michels, „Der Schrank als wissenschaftlicher Apparat“, in auf/zu. Der Schrank in den Wissenschaften, hg. v. Anke te Heesen und Anette Michels (Berlin: Akademie Verlag, 2007), 10: „Wissenschaft vollzieht sich zugleich auch im Rahmen von Architektur und Inneneinrichtung, technischen Medien und Papier, kurz: Materialität. […] Bibliotheken, Archive, Labore und Sammlungen könnten trotz oder gerade wegen aller Digitalisierungsmaßnahmen ohne Schränke nicht auskommen.“
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aufwendig und werde kaum honoriert (Fl, S. 21). Auffällig ist die Spannung, die sich durch das strukturierte Sammeln und Ordnen in Schränken in der dargestellten wissenschaftlichen Praxis auf der einen und dem subjektiven Verschränken von Kryptogamen-Forschung und Identitätsdiskurs als Zwilling auf der anderen Seite herstellt. Der Blick in Schränke, Schubladen und auf normierte Etiketten passt einerseits in den Rahmen akkurater szientifischer Praxis und des genauen Flechten-Sammelns der Protagonistin, andererseits mag er nicht zu dem diffusen Sich-Selbst-Finden passen, das permanent zu Disruptionen wissenschaftlicher actio führt und den Modus (erzählter) naturwissenschaftlicher Präzision stört. Ein narratives Moment der extensiven Integration naturwissenschaftlicher Wissensbestände im Roman ist die Präsentation eines spezifischen Herbar-Etiketts. Dieses setzt sich nicht nur ab durch die Änderung des Tons, nämlich eine Distanznahme zur Ich-Perspektive durch ein dokumentarisches Moment, dem zugleich ein Sprachwechsel ins Englische inhärent ist, sondern auch durch typographische Brüche wie Kursivierung und Einrückung. Der Roman imitiert die Beschriftung bei der Einführung der Forscher-Figur Lepo Pennanen, „Koryphäe für Cladonien, steht in Finnland der nationalen Flechtensammlung vor“ (Fl, S. 26). In Finnland holt der Professor aus der Sammlung „ein Papierpäckchen“ mit dem Baummoos bzw. der Blattflechte Evernia furfuracea hervor. Der Text bildet das Etikett ab, auf das die beiden Figuren blicken, und installiert dadurch eine literarische ‚Leseszene‘28 mit Simultaneität von Romanfiguren und -rezipierenden: Evernia furfuracea, SWITZERLAND, GRISONS. Bever: Val Bever, towards Spinas. On old arolla pine (pinus cembra) by hiking trail, abundant 46°33’ N, 09°51’ E. [Loc. 119/07], 22 Sept. 2007. Lepo Pennanen 68143 (Fl, S. 152).
Das fiktive Etikett im Herbarium stellt gleichwohl einen Moment des Dokumentarischen her, indem es in Teilen die zuvor im Zürcher Institut von der Protagonistin erwähnten Etikett-Bestandteile aufweist und der Fundort auch tatsächlich im Schweizer Bever-Tal lokalisiert werden kann. Einige Bestandteile des Etiketts, wie zum Beispiel „Loc. 119/07“ und die eventuell auf eine interne Nummerierung verweisende Zahlenfolge „68143“, bleiben für die Leser_innen 28 Laut Nicolas Pethes („Leseszenen. Zur Praxeologie intransitiver Lektüren in der Literatur der Epoche des Buchs“, in Leseszenen. Poetologie – Geschichte – Medialität, hg. v. Irina Hron et al. (Heidelberg: Winter, 2020), 132) ermöglichen literarische Leseszenen, „das Lesen selbst zu lesen und in dieser Selbstbezüglichkeit die praktische Basis traditionsbildender Kulturtechniken zu erkennen“; vgl. dazu Julika Griem, Szenen des Lesens. Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung (Bielefeld: transcript, 2021), 15–19.
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zugleich unklar. Aufbewahren und Wiederentdecken werden zudem im Sinne von Farges’ ‚Geschmack des Archivs‘29 subjektivistisch konturiert, denn der dokumentarischen Einfügung des (erdachten) formdivergenten Hypotextes folgt eine emotional ausgestattete Betrachtung des Typusbelegs: Ich öffne das Paket vorsichtig. Ein wunderbares Exemplar, grüne Spitzen, am Grund weiß, die Ästchen kleine Gabeln, aber nicht zu verwechseln mit der Ramalina und tatsächlich – dieser Beleg hat Apothecien, Fruchtkörper oben an den Schlauchpilzen. Beim Anblick lächeln wir beide. […] Es ist eine Verbindung. Alles scheint mit allem verknüpft. Bever und Helsinki (Fl, S. 153).
Offenkundig unterminiert der Text die durch die Niederschrift/Etikettierung angedeutete wissenschaftliche Objektivität, indem er eine subjektive Forscher_innensicht stark macht. Hier wird nicht nur Evernia furfuracea besprochen, sondern die Protagonistin bindet den Fund an ihre Heimat, das Bever-Tal, und sieht Verknüpfungen in „allem“, was eine unpräzise Beschreibung ist. Die Stelle ist exemplarisch dafür, dass im Roman immerzu von der Flechtenforschung wegassoziiert und wegabstrahiert wird. So lesen sich Sätze wie: „Die Flechten, Lepo und ich. Darin liegt eine tiefe Ordnung. Alles hat seinen Platz. Das Klassifizieren befriedigt ein Bedürfnis“ und: „Am meisten interessierten mich Dinge, die ähnlich, aber nicht identisch waren“ (Fl, S. 154, 113) als Reflexionen botanischer Praxis, aber auch als Suche nach der eigenen Identität. Dieses Unterminieren naturwissenschaftlicher Objektivität zugunsten von Subjektivität tritt deutlich auch in der Praxis des Mikroskopierens (Fl, S. 8, 145, 153, 176) hervor, welche die Lichenologin als „Rausch“ apostrophiert, sie selbst lasse sich in diesen Momenten „einsaugen“ (Fl, S. 13, 12). Nicht nur in der anfänglich zitierten Textstelle modifiziert sich der Blick auf die Cladonia in einen Wald und dann in ein geometrisches Gefüge, sondern der Blick durch das Mikroskop wird vor allem zur Selbst-Sicht, zum vornehmlich subjektiv-relationalen Moment, in dem das humane Subjekt in den Mikrokosmos der Flechte eintritt. Bemerkenswert ist, wie nicht nur die Flechte durch ihren Status als Symbiose schwer fassbar scheint und sich etwas der Pflanzen-Zuordnung entzieht, sondern inwiefern hier eine Symbiose von menschlicher und nicht-menschlicher Perspektive formuliert wird (womöglich könnte man hier auch schon im Haraway’schen Sinne von ‚companions‘ sprechen), die sich im Mikroskopieren zuspitzt: Die kleinen Ästchen ragen mir entgegen, die roten Bällchen, ihre Fruchtkörper, balancieren sie obenauf, strecken sie mir entgegen. Während ich die Flechte mit dem 29 Arlette Farge, Der Geschmack des Archivs, übers. v. Jörn Etzold (Göttingen: Wallstein, 2011), 14: „[D]er gefundene Gegenstand, die hinterlassene Spur werden Figuren des Wirklichen“, die Rede ist vom „Effekt der Empfindung der Wirklichkeit“; die Praxis im Archiv sei hier mit der in der botanischen Sammlung parallelisiert.
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Binokular untersuche, sehe ich plötzlich auch meine Finger. Sie haben sich verändert, die Flechten haben meine Finger schöner gemacht, ihre Bewegungen sind präziser, geschmeidiger (Fl, S. 180–81).
Beschrieben wird hier die Rotfrüchtige Säulenflechte, der lateinische Terminus wird auch genannt: Cladonia macilenta. Der literarische Text wechselt im Moment der Darstellung wissenschaftlichen Arbeitens zwischen szientifischer Haltung mit entsprechendem Vokabular, anthropomorphisierender und damit per se menschlicher Sicht auf die Flechte und imaginativ nicht-menschlicher Perspektive, indem die Flechte ragt, balanciert, sich entgegenstreckt und den Körper der Protagonistin verändert. Das wissenschaftliche Subjekt selbst verändert sich durch den Akt des Mikroskopierens, indem es sich als verschönert empfindet. Indem Anna durch das Mikroskop sowohl die Flechte als auch den eigenen Körper sieht, verbinden sich beide in einer Art Isomorphisierung. Doch auch diese epistemologisch diffizile, human/non-humane Symbiose entzieht sich wieder. Als die Ich-Erzählerin die Forschungsreise in Finnland beschreibt, heißt es: „Überlagert von Birken. Dichte Birkenwälder. In diese fliege ich hinein, die Forschungsstation an einem See. […] Und dann versinken, versinken, nur versinken in Flechtenpolstern. Nichts mehr hören. Die Flechten verschlucken alles.“ Später: „Der Sog der Flechten ist dann eben doch zu stark“ (Fl, S. 102, 160). Handlungsmächtig erscheint die Flechte, weil sie das menschliche Subjekt, sprachlich verstärkt durch dreiteilige Wiederholung und Parataxen, zu verschlucken scheint, weil sie ‚Stärke‘ zeigt. Handlungsgehemmt erscheint sie wiederum ob der rationalen Unmöglichkeit, ein menschliches Subjekt „verschlucken“ zu können, und weil ihre Existenz in der ausufernden Reflexion, der Vorstellungskraft der Protagonistin unterzugehen scheint. Die vierte zentrale wissenschaftliche Praxis, die der Text vorführt, ist die des Schreibens. Dabei gibt der Roman nicht Schreibprozesse der Protagonistin im Rahmen literarischer Schreibszenen wieder, etwa das Verfassen eines wissenschaftlichen Aufsatzes, sondern vielmehr eine Reflexion ebendieser Schreibprozesse mit dezidiert wissenschaftskritischer Pointierung. Wiederholt betont die Protagonistin, im wissenschaftlichen Schreiben gelte es die erste Person Singular zu vermeiden: „Schreibe niemals Ich. […] Auch Asper [der Institutsleiter] pocht darauf: kein Ich“ (Fl, S. 84). Sie müht sich mit dem objektivierenden „man“ ab, plädiert für ein „Wir“, „die Idee des Kollektivs“ (Fl, S. 84, 85). Sie bezieht ebendiese Regel wissenschaftlichen Schreibens auf ihre eigene Identität und verleiht dem Schreibmodus identitätskritisch Gewicht, denn es heißt: „In diesem Kokon der Objektivität schreitet meine Auflösung langsam voran“ (Fl, S. 84). Wissenschaftliche Schreibpraxis, die Streichung des ‚Ich‘, wird verschoben auf eine Ebene der problematischen Ich-Konstituierung respektive deren Brechung bis hin zur „Auflösung“.
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Dynamisierungen Der Kritik an der Vermeidung des Ichs folgt unmittelbar die Assoziierung einer actio der Flechte selbst. Nutzt die Protagonistin das unpersönliche „man“, wird es den Beobachtungen selbst zu bunt, sie lehnen sich auf: die Farben, Strukturen und Formen, die sich nicht normieren lassen wollen, grünlich, gelblichgrün, grüngelblich, ocker bis oliv, gräulich, schimmelig, verwässert, verschmiert, ölig, filzig-faserig, rau, lappig gegliedert und verzweigt, strauchig – auf allen Seiten rebellieren sie (Fl, S. 84–85).
Die vielgestaltige Flechte, verallgemeinert zu „den Beobachtungen“, als rebellierendes Element scheint in der Vorstellungskraft der Flechtenforscherin, und das ist mehr als erwartbare Agentialität, Widerstand leisten, sich aus dem passiven Zustand der Betrachtung lösen zu wollen. Sprachlich fällt auf, wie die Erzählstimme durch die Enumeration eine Detailliertheit artikuliert, die der Flechte eine eigene Präsenz anträgt, bis sie, nach der Einführung des Gedankenstrichs, fast einer Klimax oder doch eher Hyperbel gleich, selbst agiert, und das gleich in einer starken Form, jener der Rebellion, die aber auch zugleich Zuschreibung der menschlichen Akteurin ist. Dennoch schlägt ebendiese sprachliche Verselbstständigung der Flechten im Roman vielfach durch. An einer Stelle beispielsweise listet die Ich-Erzählerin mithilfe der lateinischen, kursivierten Namen eine Vielzahl von Flechtenarten auf („Cladonien, stellaris, furcata, gracilis, arbuscula, porentosa, unicalis, squamosa. […] Cetarien, nivalis, cucullata, islandica […], auch eine seltene Ramalina fraxinea. […] Cladonia rangiferina […], Candelariella corraliza, Ramalina capitata“, Fl, S. 173–74), wodurch die Praxis des Benennens, die Nomenklatur, und damit menschliche Agentialität in nuce im Vordergrund steht. Dann aber bricht der Modus des Erzählens um, und zwar von botanischer Konkretheit zu verniedlichender Anthropomorphisierung der Flechten: [I]ch bin offen für die Anmut der Flechten, die sich mir gerade darbietet. Die Strauchflechten verzweigen sich in alle Richtungen, strecken ihre Ärmchen neugierig aus, als würden sie etwas berühren wollen mit ihren kleinen Fingerchen. Bartflechten an Ästen, die da schon Jahrzehnte hängen, wachsen in die Länge, als würden sie sagen: Das vergeht schon wieder, Kleines. Wimpernflechten, die gerade heraus aus dem Boden schießen, die Stielchen von einer Feinheit, die einen schlichtweg berührt, Mosaike, die sich aus den verschiedensten Arten zusammensetzen und dann ganze Teppiche, in welchen sich Moose und Flechten gegenseitig durchdringen, eine riesige verflochtene Masse (Fl, S. 174).
Es wird ein Konnex von Mensch/Erkundender und Natur/Erkundetem geschaffen, der anfänglich vonseiten der Protagonistin perspektiviert ist („Ich bin offen“). Die Flechte bietet sich der Forscherin dar. Dann jedoch – hier spielt der
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Text mit Formen ‚botanischer‘ und ‚pflanzlicher Poetik‘30 – unterminiert eine ‚vegetabilische‘31 Perspektive die naturkundlich informierte. Die Flechten „strecken ihre Ärmchen neugierig aus“, haben „Fingerchen“, „Stielchen“. Es scheint, als würden sie berühren und sprechen wollen, konjunktivisch wird direkte Rede erdacht. Die Imagination einer Flechten-agency ist jedoch an die Perspektive des menschlichen Ichs gebunden. Es ist seine Vorstellung, die hier über die Flechte gestülpt wird. Die Agentialität der Flechte fällt über die Trope der Anthropomorphisierung in das menschliche Spektrum zurück. Augenfällig sind auch die Diminutive, die einem Perspektivwechsel zugunsten der Flechte entgegentreten, weil es ganz deutlich der Mensch ist, der auch qua Sprachmacht über die Flechte verfügt. Sukzessive verstärkt sich im Roman die symbiotische Verschränkung von Protagonistin und Flechte, und zwar über das Moment identitätskritischer Reflexion. Diese seltsame Symbiose wird vielfach durchgespielt. Das fängt auf basaler sprachlicher Ebene an, indem der Name Anna als Palindrom selbst eine Art Spiegelfiguration ist. Anna findet nicht nur die Unterscheidung der Flechtenarten mühsam, sondern auch die zwischen Leta und ihr: Manchmal ist es zum Verzweifeln: Sie zu differenzieren – das Bestimmen der einzelnen Arten bei der Gattung der Cladonien ist äußerst schwierig. […] Und was zunächst als individueller Organismus wahrgenommen wird, ist häufig genetisch identisch mit den Nachbarsgewächsen […]. Eineiige Zwillinge sind eine einzige Zumutung (Fl, S. 14–15).
Bei einem Arztbesuch vergleicht Anna eine Flechte und mit der eigenen Zahnwurzel. Dieser Vergleich funktioniert zugleich als Metapher (fehlender) Verwurzelung: „Bei der Flechte der Gattung Cladonia stygia sterben die unteren Teile ab und verrotten, ihre Spitzen verzweigen sich und wachsen weiter. Die Strauchflechte erneuert sich stetig. Meine Zahnwurzel hingegen ist unwiederbringlich dahin“ (Fl, S. 9–10). Auch beim Recherchieren kann sie sich, Leta und Flechten nicht trennen, wobei die Nomenklatur der Botanik durch das Spiel mit der Praxis des Benennens aufgerufen und unterminiert wird: Die obersten Einträge […] beziehen sich auf publizierte Artikel in Fachzeitschriften zur Flechtenforschung, der Lichenologie. Ich wechsle zur Bildersuche, zwischen den Fotos von mir sind auch solche von Leta eingereiht. Nicht nur die Gene, auch die Algorithmen
30 Evi Zemanek, „Durch die Blume. Das florale Rollengedicht als Medium einer biozentrischen Poetik in Silke Scheuermanns Skizze vom Gras (2014)“, Zeitschrift für Germanistik 28 (2018): 305. 31 Im engen Sinn gehören Flechten nicht zu den Pflanzen, hier aber mit Linné gesprochen: „Vegetabilia, quae dicuntur cryptogama“ (Carolus a Linné, Species Plantarum: Exhibentes Plantas Rite Cognitas Ad Genera Relatas Cum Differentiis Specificis, Nominibus Trivialibus Synonymis Selectis, Locis Natalibus Secundum Systema Sexuale Digestas, Bd. 5, Tl. 1 (Berolini: Nauk, 1810), vii).
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verbinden uns. […] Wenn ich bei der Suchmaschine ein L eintippe, ergänzt der Computer automatisch Leta, auch wenn ich eigentlich nach Lichen suche (Fl, S. 11).
In der bereits erwähnten Szene im Tal sammelt Anna Strauch- und Krustenflechten, ihre Schwester Leta fotografiert währenddessen und es entsteht eine Fotoserie von Flechten. Über dieses ekphrastische Moment wird zum einen Nähe reflektiert, denn die Protagonistin sucht die Nähe zu Flechten und Leta, dann stört sie wiederum letztere und sieht einerseits sich selbst und andererseits die Flechten von Leta bedrängt (Fl, S. 69). Zum anderen liest es sich als autoreflexiv, weil über die in der Fiktion dargestellte Fotografie die Frage nach dem künstlerischen Transfer von Natur evoziert wird. Es ist ein Transfer, den Schibli mit ihrem Roman kongruent zu Leta mit ihrer Fotografie vollzieht, der also transdisziplinär konturiert ist. Offensichtlich setzt der Text das binnenfiktional entwickelte künstlerische Element der Fotografie als Reflexion von Annas Identitätssuche ein. Entsprechend ist auch eine nicht flechtenbezogene Ausstellung von Leta betitelt mit „Observing the Self“ (Fl, S. 116). Indem die Ausstellung Letas Fotografien von Anna zeigt, reflektiert der Titel nicht nur Letas Selbst-Betrachtung in ihrem Zwilling, sondern auch Annas Betrachtung ihrer selbst im Rahmen der Ausstellung sowie die Gangart des Romans selbst.
Ästhetisches Verflechten In seinem Aufsatz „Die Evidenz des Präparats“ schreibt der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger: Materielle Dinge, die in der Produktion von Wissen eine Rolle spielen, […] epistemische Dinge also, können zwar, müssen aber nicht unbedingt unter die Kategorie des Spektakulären fallen. Des Öfteren sind sie eher von der unscheinbaren Art. […] Eine besondere Klasse von Epistemologica stellen die Präparate dar. Sie haben insbesondere in den mit Lebewesen beschäftigten Wissenschaften ganz spezifische Ausprägungen erfahren. Das hängt damit zusammen, dass es in der Regel besonderer Vorkehrungen bedarf, um lebendige Dinge auf Dauer zu stellen, sie für den erkennenden Blick zu stabilisieren.32
In Flechten wird das epistemische Ding, das Präparat der scheinbar unspektakulären Flechte, für den ‚erkennenden Blick‘ der fiktiven Wissenschaftlerin stillgestellt. Der literarische Text inszeniert die Praxis des Mikroskopierens, die, so Rheinberger, „neue Sichtbarkeiten“ erzeuge.33 Die Fiktion handelt diesen 32 Hans-Jörg Rheinberger, „Die Evidenz des Präparats“, in Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert, hg. v. Helmar Schramm et al. (Berlin: De Gruyter, 2006), 1–2. 33 Ibid., 10.
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Prozess im Modus ästhetischer Dynamisierung neu aus, indem die literarische Beschreibung zu einer Form der Vergrößerung des botanischen Objekts wird. Auffällig ist, dass die Protagonistin selbst mit dem Ausdruck des ‚Spektakulären‘ operiert, indem sie meint, das Mikroskopieren berge die Gefahr, „[d]ie Flechte zum Spektakel [zu] machen und damit ihr Wesen, das sich durch Unscheinbarkeit auszeichnet, [zu] verletzen“ (Fl, S. 13). Der Roman spielt ebendiese Überlegung selbst durch, indem er die Unscheinbarkeit der Kryptogamen infrage stellt und den Fokus auf die Flechte richtet. In diesem Transfer von Naturwissenschaft in Literatur und im Unterminieren naturwissenschaftlicher Praxis qua exaltierter Identitätssuche entstehen Reibungen zwischen wissenschaftlicher und literarischer Praxis. Rheinberger schreibt: „Präparate […] sind eine ganz besondere Sorte epistemischer Dinge. Es sind Wissensdinge – Forschungsdinge –, deren Eigenheit darin besteht, materialidentisch mit ihrer Referenz zu sein.“34 Schiblis Roman bricht diese Identität auf, indem er das Präparat in Literatur überführt, Metaphern und Anthropomorphisierungen als Formen der Dynamisierung von Mensch und Natur einzieht und eine seltsame Identität zwischen Flechtenkundlerin und Flechte schafft. Laborstudien zeigen, so Knorr Cetina in Die Fabrikation von Erkenntnis (1984), dass in Laboren produzierte Tatsachen „Konstruktionsprozessen unterliegen“.35 Flechten spielt mit solch einer wissenspraxeologischen Position, indem der Roman die naturwissenschaftliche Forschung in einen literarischen und überdies subjektiven und individuell konstruierten Vergleichshorizont einrückt, in dem die Figur selbst permanent Relationen von Untersuchungsgegenstand und Ich konstruiert. Schiblis Roman erweitert die Symbiose der Flechte aus Pilz und Alge. Die beiden Gleichungen Pilz + Alge = Flechte sowie Anna + Leta = Zwillinge verbinden sich zur Meta-Gleichung Flechte = Zwillinge. Die Flechte, ein Doppelwesen, verliert, trotz der naturwissenschaftlichen Auslassungen, nicht ihre Kontur, erfährt aber eine Habitat-Verschiebung, indem sie, jenseits vom Feld der Natur, maßgeblicher Aktant im Identitäts-Diskurs um Zwillingschaft, auch eine Art Doppelwesen/-gängertum, wird. Thesenhaft und zugleich ebendiese Wissenschaftlichkeit unterminierend, heißt es, typographisch hervorgehoben durch Absetzung: „Die Flechte ist keine Pflanze im eigentlichen Sinne, sie ist eine eigene Lebensform“ sowie: „Zum Flechten braucht es mindestens drei einzelne bewegliche Teile“ (Fl, S. 83, 188). Der wissenschaftliche Fokus, der etwa anfänglich durch den Mikroskop-Gebrauch markiert wird, verschiebt sich in einen identitär-metaphorischen und metaphysischen Gestus, der dem Gestus von Kimmerers Süßgras-Buch ähnelt. Darin wird das Flechten (von Süßgras) als indigene 34 Ibid., 17. 35 Karin Knorr Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2016), xi.
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Praxis beschrieben und es dient auch als Metapher für das Einvernehmen von Mensch und Natur sowie von indigenem Wissen und Naturwissenschaft.36 „Lebensform“ ist hier bei Schibli nicht mehr Teil biologischer Terminologie, die „Teile“ (bei Kimmerer „strands“) sind nicht nur Alge und Pilz, sondern eher Flechte, Leta/Anna und Lepo; die Flechten werden zu dem Flechten, zur Praxis. Bemerkenswert an dem Roman ist – und schließlich haben wir es mit dem Text einer Literaturwissenschaftlerin zu tun – dessen poststrukturalistische Gangart, insofern er eine Dynamik von den und dem Flechten entwirft. In vergleichbarer Weise nutzt Oswald Egger in Val di Non wiederholt den Begriff ‚Moiré‘, was, so Michael Braun, auf „Gewebe, Textur, das unablässige Knüpfen, Flechten eines Textes“ verweist, also auf ein ästhetisches (Ver-)Flechten von Natur und Sprache.37 Dieser Begriff passt auch für Schiblis Schreibprojekt, spielt es doch mit der Ähnlichkeit von biologischem Objekt und kultureller Praxis, die der Text dann selbst mitvollzieht und durch entsprechende Worte und Flechten-Beschreibungen wie „Mosaik“ (Fl, S. 103, 174) poststrukturalistisch grundiert. Die Flechte als Symbiose ‚wuchert‘ im Text narrativ aus dem engen mikroskopischen Blick der Ich-Erzählerin und Naturwissenschaftlerin heraus und fügt sich auf der plotEbene in die erzählte Identitätssuche und in den künstlerischen Ausdruck ein, der um Flechten kreist und entsprechende Bilder evoziert. Dass zugleich mit dem Labor eine „materiale Einrichtung[], die Zeichen prozessier[t]“, ein Ort, „durch den ein Strom von Zeichen fließt“ und der ein „Gewebe von Zeichen“ ist,38 an wesentlicher Stelle steht, konturiert nicht nur den praxeologischen Fokus auf Flechtengewebe, sondern auch den Differentes verflechtenden Modus des Romans. Der von der Figur verspürte „Sog der Flechten“ und die wahrgenommene „riesige verflochtene Masse“ werden als erzählerischer Gestus inszeniert, indem Flechten in Form flechtenhaften Schreibens die reziproke Affizierung von Flechte und Mensch entwirft.
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Annina Klappert (Universität Augsburg)
Meet Snails and Humans: Current Artworks as “Knots of Entangled Companion Species”
Abstract In her book When Species Meet, Donna J. Haraway suggests to examine the meeting points of species as ‘knots of entangled companion species’ and to focus on respect and response. In this sense, the paper aims to explore the meeting points between snails and humans in three contemporary artworks – in an example of architectural art (Kunst am Bau), in a video of a musical performance and in a novel. As human language fails as a form of communication and the focus on it tends to strengthen an anthropocentric view the paper proposes to think interspecies response and respect with Vicky Kirby’s notion of ‘awareness.’ In the artworks, the question is pursued as to whether and how a mutual response and awareness is staged in them. Each example shows a different quality of entanglement: Species can meet in a space without acting together, they can be directly related to each other in an activity, and they can be materially connected. Through the medial diversity of the examples, it is possible to show how they differently enact interspecies awareness as well as perspectives of looking and looking back. Keywords: Human Animal Relation, Hybrid Mediality, Communication, Awareness, New Materialism, Contemporary Art
In her book When Species Meet, Donna J. Haraway proposes to examine the connecting points at which species meet, as “knots of entangled companion species.”1 She argues for seeing the species as partners, as companions, between whom no definition of subject or object exists in advance: “The partners do not precede the meeting; species of all kinds, living and not, are consequent on a subject- and object-shaping dance of encounters.”2 The ‘we’ that will emerge is rather defined only through relation, through actual reference to each other: “As ordinary knotted beings, they are also always meaning-making figures that gather up those who respond to them into unpredictable kinds of ‘we.’”3 So, “response” is the one important term that qualifies this partnership of the 1 Donna J. Haraway, When Species Meet (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2008), 36. 2 Ibid., 4. 3 Ibid., 5.
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“companion species.”4 The mutual response establishes the reference of the species to one another and builds a ‘we’ that is only defined in its performance. Taxonomic presuppositions about the kind of species therefore always engage in a “dance” with the currently appearing partners, a “dance linking kin and kind.”5 This companion relationship is characterized also by the term “respect:” Looking back in this way takes us to seeing again, to respecere, to the act of respect. To hold in regard, to respond, to look back reciprocally, to notice, to pay attention, to have courteous regard for, to esteem: all of that is tied to polite greeting, to constituting the polis, where and when species meet. To knot companion and species together in encounter, in regard and respect, is to enter the world of becoming with, where who and what are is precisely what is at stake.6
In this sense, this paper aims to explore the meeting-points of snails and humansin three contemporary artworks; Margund Smolkas In search of (2011) as an example of architectural art (Kunst am Bau), Anri Sala’s video of a musical performance If and only if (2018) and Julia Kalnay’s novel Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens (2011). The paper understands these artworks as knots of entangled companion species. The examples are chosen in such a way that different qualities of being entangled and related in such ‘knots’ can be worked out: Species can meet in a space without acting together, they can be directly related to each other in an activity and they can be materially connected. In Smolka’s and Sala’s work the snails are shown as actual animals in the videos – the recording was preceded by an encounter between actual humans and snails –, while the snails in the novel are figures of the text. Through this it can be comparatively discussed which role an actual snail plays in the respective work of art in the communication between the species and how such a communication can precisely be reflected upon by the snail appearing not as an actual animal but as a figure in the text. In the analysis, the question is always pursued as to whether and how a mutual response is staged in the artworks and how it is made possible when human language fails as a form of communication. Through the medial diversity of the examples, it is possible to show how they differently enact various such modes of communication as well as different ways of looking and looking back. To what extent is this mutual response between snail and human enacted in these artworks? How do they envision or stage interspecies respect? How do both species “meet” in them? This is to be asked especially against the background of human cultural history where snails essentially appear as objects: there can be no question of a companion “dance” in this context. The snail appears early in records of human 4 Ibid., 16. 5 Ibid., 17. 6 Ibid., 19.
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Annina Klappert, Meet Snails and Humans
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cultural history, and usually in relation to its economic benefit for the human. Marcus Terentius Varro already had mentioned them in De re rustica (37 B.C.), the first known treatise on agriculture: The treatise gives advice on how to grow and cook snails, and mentions their economic viability.7 So, snails were economically important to humans as food or because of properties such as those of the purple snail, whose secretions were extracted in ancient times to obtain the highly valuable dye purple.8 Due to their handsome houses, snails were a soughtafter collector’s item and were often traded, as in the arts and crafts. In many coastal regions of Africa and Asia, the shells of cowries were long used as currency. In literary history, the snail appears as an allegory for slowness or for life in a portable house. Anthropomorphisms focus especially on these very qualities.9 There are also images of hybrid beings, each of with differently distributes the attributes of humans or snails on the imagined hybrid body, in that, for example, a human body carries a snail shell, protrudes from a snail shell, or carries the feelers of a snail. In these literary examples or imagery, the snail can as little be said to have its own agency or look back to the human as the human being can be said to respect or look back to the snail. To understand respect and response as parts of interspecies communication, it is crucial to ask in which terms this communication can be described, as the concept of language tends to prevent this from being thought. I suggest to work with the notion of ‘awareness,’ as it conceptually points to a direction that is not focused on humans. Vicky Kirby uses the term in her book Quantum Anthropologies von 2011.10 Therein, she considers how language can be thought of as something that exceeds the culture produced by human nature, a concept that, she states, should hardly have been thought of until now, “as if the suggestion that the human subject is not the interpretive architect of the world and origin of 7 “Magnis insulis in areis factis magnum bolum deferunt aeris. / If you build large islands in the yards, they will bring in a large haul of money.” Marcus Terentius Varro, De re rustica, Liber 3, XIV–XV, Latin original with English Translation: The Three Books of M. Terentius Varro Concerning Agriculture, trans. Thomas Owen (Oxford: Oxford University Press, 1800), 494– 99, 496–97. 8 See to the cultural history of snails by Florian Werner, Schnecken. Ein Portrait (Berlin: Matthes & Seitz, 2015). 9 Melanie Duckworth discusses the anthropomorphism of animals in children’s books, using The Whale and the Snail as an example. She argues that because animals are assigned human attributes – such as the book’s snails being motionless and unimaginative – it can both prevent understanding of the distinctiveness of nonhuman animals and promote it precisely through imaginative proximity – for example, in the same book, animals look at each other and are attentive to each other. See Melanie Duckworth, “Agency and Multispecies Communities in Picture Books. The Snail and the Whale and The Secret of Black Rock,” Environmental Humanities 14, no. 1, (2022): 162–88, 167–74. 10 Vicky Kirby, Quantum Anthropologies. Life at Large (Durham: Duke University Press, 2011), 19.
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language simply cannot be entertained.”11 As an example of the opening of language understanding, Kirby cites the neuronal networks of rays in which neighboring cells talk to each other, what she calls “neuronal chatter.”12 The remarkable thing is that the addressed cells can only be addressed if they sense that this is going to happen and they get prepared accordingly.13 Something similar can be observed in – to use Kirby’s wording – the “electric conversation” between lightning strikes and the place of their impact on the earth.14 Such an awareness of a mutual relatedness even before the reference, this being open towards a reference that can only occur if it is anticipated, is what Kirby calls the concept of “awareness.”15 The focus on human language produces a blind spot that is also present in those conceptualizations that turn to animals. Let me give you two examples before I move on to the analysis of the artworks. The explicit poetic project Francis Ponge’s poème en prose “Escargots” published 1942 in Le parti pris des choses is to turn to things and take their side. The objects impose a special form of rhetoric, the form of each poem shall be defined by its subject.16 With this “poetics of the nonhuman,” as Hugh Hochman has termed it, Ponge’s work “is a rich site of reflection on how language expresses and regulates the relationship of human beings to an environment populated by nonhuman things.”17 At the same time, it has to be “inevitably encumbered by the traces, or signs, of the human linguistic project that enacts it.”18 Thus, although Ponge’s Parti pris des choses is rightly credited for focusing its view on things, it is a project about things in the language of man. Focusing on “Escargots,” Elissa Marder acknowledges in regard to its specific language that “Ponge’s poetry […] engages a relation to the nonmeaning matter of language.”19 Trying to adjust the matter of language to the matter of things she votes for the non-meaning of Ponge’s thing-poems: “They are made of language and they make use of language in non-signifying ways.”20 Following Karen Barad, language rather is always already matter itself, and all matter – not only language – has meaning as an ongoing “(re)configuring[] of the 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Ibid., 15. Ibid., 9. Ibid., 11. Ibid. Ibid., 19. See Francis Ponge, “My Creative Method,” in Francis Ponge: Oevres completes, ed. Bernar Beugnot (Paris: Gallimard, 1999, 2001), 533. Hugh Hochmann, “Act Naturally. Francis Ponge’s Morals and Measures of Human Nature,” Studies in the 20th & 21st Century Literature 45, no. 1, Article 28, (2021): 1. Ibid. Elissa Marder, “Snail Conversions. Derrida’s Turns with Ponge,” Oxford Literary Review 37, no. 2 (2015): 185. Ibid.
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world.”21 She states that “meaning should not be understood as a property of individual words or groups of words. Meaning is neither intralinguistically conferred nor simply extralinguistically referenced. Meaning is made possible through specific material practices.”22 Coming from here, there’s no way out of questioning, how Ponge’s poem matters, that is, to ask for the meanings that their specific reconfigurations produce, and how the poem does matter in regard to the snails it deals with. The text describes what can be observed of snails, and the knowledge it conveys about snails is very general, as the fact that they crawl over the ground, eat leaves, secrete mucus, and so on. The snail (which snail, actually?) is ascribed human attributes such as “hubris” or also “nobility,” “wisdom,” “pride” and it is asked for its specific expression for “anger.”23 The narrative voice imagines the emotional life of snails: “Certainly it’s sometimes an inconvenience to carry this shell around with oneself, but they don’t complain about it and in the end they’re quite happy with it.”24 Undoubtedly, the narrative voice turns to snails and fans out possible ways of perceiving snails into multiple moods and impressions, but the descriptions are anthropomorphic as for example sometimes one of the snails ‘doesn’t want to wear its house everywhere’, but it ‘doesn’t complain.’ Do snails really complain or not complain or “honor” the earth when they glide over it?25 The text does not report a specific encounter between man and snail, but it concludes by apostrophizing the snail as a “hero,” whose existence is a “work of art,”26 the snails are “saints” who give man an example of how to make an artwork out of his life, to knowing himself, to knowing his own nature, and this nature of man would be humanism.27 Where is the snail’s response here? Where does it look back at the human being? Despite its ethical project, “to take nature’s substances and other species as models for human comportment” and to rethink man’s rank in nature,28 the poem is chiefly concerned with finding models for 21 Karen Barad, Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning (Durham: Duke University Press, 2007), 151. 22 Ibid., 148. Also, the argument that the poem cannot be translated – “although the French word ‘escargots’ means ‘snails,’ one loses the polysemic poetic force of the sounds and letters of ‘es-car-gots’ by assuming that it can be exchanged for the word ‘snails.’” (Marder, “Snail Conversions,” 185) – does not allow the conclusion that the poem has no meaning. 23 Francis Ponge, “Escargots,” Le parti pris des choses. Précédé de Douze petits écrits et suivi de Proêmes (Paris: Gallimard, 1972), 53–54, trans. AK; orig.: “orgueil,” “noblesse,” “sageur,” “fierté;” “L’expression de leur colère.” 24 Ponge, “Escargots,” 52, trans. AK; orig.: “Certainement c’est parfois une gêne d’emporter partout avec soi cette coquille mais ils ne s’en plaignent pas et finalement ils en sont bien contents.” 25 Ibid., 53, trans. AK.; orig.: “ils honorent la terre.” 26 Ibid., 54, trans. AK; orig.: “des héros”; “œuvre d’art”. 27 Ibid., 55. 28 Hochmann, “Act Naturally,” 3–4.
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human beings, not about finding a way for the snails to respond or to respect. The poem’s way of conveying knowledge about language is undisputed and important, even highly exciting, as is the way it turns to the non-human environment – yet it remains a projection of human qualities. In referencing the silver trace left by the snail, the poem seems closer to the trace of language than to the snail in question. One famous thinker of the trace is, of course, Jacques Derrida, who dedicates his writing about signature to Ponge in Signéponge (1975). Meanwhile, in a lengthy passage in When Species Meet Haraway is concerned with Derrida’s address from 1997 “The Animal That Therefore I Am (More to Follow).” Haraway emphasizes that Derrida not only excluded language as a criterion for describing practices of communication with animals, but also introduced the helpful distinction between response and reaction, “whether it is possible to know what respond means and how to distinguish a response from a reaction, for human beings as well as for anyone else.”29 Derrida, however, is not thinking, as Haraway argues, of respect, as he is describing the contact with the animal without a hint about what it “might actually be doing, feeling, thinking” or if there was possibly an “invitation.”30 While Derrida did “leave unexamined the practices of communication outside the writing technologies,” Haraway points to the importance of asking new questions: “Can animals play? Or work? […] Can I, the philosopher, respond to an invitation, or recognize it, when it is offered?”31 This kind of questions would open up the “possibility of mutual response.”32 Ponge and Derrida are chosen as two examples that foreground human language and thought. Ponge is particularly interesting here because he refers precisely to a snail, and the reference to Derrida arises from Haraway’s critique of unsuccessful interspecies communication. In the following, my aim is to discuss the “practices of communication” in three contemporary artworks that enact mutual interspecies awareness in neglecting the focus on human language. They do not implement the snail in a concept of writing like Ponge or set only the humans look at the snail in scene. Instead they perform the “possibility of mutual response.” They lead into each different medial arrangements that allow us to illuminate correspondingly different aspects of respect, response, and awareness: in shared space, in shared activity and in shared materiality.
29 30 31 32
Haraway, When Species Meet, 20. Ibid. Ibid., 21–22. Ibid., 22.
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Shared Space: Margund Smolka’s In search of Margund Smolka’s video installation In search of was developed in 2011 as part of a competition for the Center for Microsystems Technology in Berlin.33
Fig. 1–2. Snails outside the building. Margund Smolka: In Search of. Photos: Margund Smolka. Courtesy of the artist. © Margund Smolka.
33 See Margund Smolka, “In Search of, Projektbeschreibung für den Wettbewerb des ZMM Berlin,” Ausstellungskatalog. Kunst am Bau (Berlin 2012), 2.
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In the foyer of the research building, screens were arranged around a central support on all four floors, showing video loops of snails moving across the building’s facades, walls, and laboratory instruments. The project description states: “A snail explores the microsystems technology building. It crawls across the building, up and down the exterior walls and explores the public, interior spaces as well as the research areas.”34 There are ninety two-minute film sequences assigned to the areas of exterior facade, interior areas, offices and laboratories. For two weeks, one of these areas was shown in repetitive loops on one floor, then it moved on to the next floor. Smolka achieves unusual proportions by having the snails make their tracks over photographs of the building. The snails were thus not filmed on the building at all but moving over photographs lying on the floor. The arrangement in which the snails move is thus different from what can be seen in the viewing of the video loops. The exhibition propagates the proximity of the exploratory spirit of man with that of the snail in this center for microtechnology, but snail and human being do not meet in a shared “lab” in the sense that Haraway formulates in When Species Meet as “beings-in-encounter in the house, lab, field, zoo, park, office, prison, ocean, stadium, barn, or factory.”35 Is there any “knot of entangled companion species” in Smolka’s architectural installation? After all, the two species in question do not simultaneously move in one room, in one lab. They do not encounter one another. Strictly speaking, they do not meet. Furthermore, to what extent are response and respect between snail and human enacted in these artworks? Wouldn’t it be very one-sided to say that humans and snails look at and respond to each other when the snail explores the human-shaped environment and the human watches it doing so? And yet: Even if they don’t meet in the space of the lab, they meet in the space enacted by the artwork as if it were located in the lab. Precisely by shifting the filming situation – that is, filming the snails not in the laboratory, but on photographs of the laboratory – the images stage the snails as ‘looking back,’ as they draw attention to themselves through unfamiliar perspectives. They appear in the video sequences in altered proportions by being zoomed in either very large or very small. The invitation to look at the snail – to be aware of it – is generated by this arrangement of the images: whether through its unusual size or the fact that it is not always immediately discoverable in some of the images, attention is generated for the snail. The snail’s prominence as well as its hiddenness bring it into 34 Ibid., trans. AK; orig.: “Eine Schnecke erkundet das Gebäude der Mikrosystemtechnik. Sie kriecht über das Gebäude, an den Außenwänden hoch und runter und erkundet die öffentlichen Innenräume ebenso wie die Forschungsbereiche.” 35 Haraway, When Species Meet, 5.
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Fig. 3–4. Screens installed on a central support inside the building. Margund Smolka: In Search of. Photos: Margund Smolka. Courtesy of the artist. © Margund Smolka.
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Fig. 5–6. Snails on their architectural ways. Photos: Margund Smolka. Courtesy of the artist. © Margund Smolka.
the field of human vision. In the films, it searches for its path – under the illusion that it was filmed in its movement through the very building in which the films are shown –, and this path can be searched for while watching the films, by following the snail’s oversized feelers. In search of thus denotes the snail’s search of its way – even if only its way across the photographs – as well as the human’s search for the snail, which in some pictures is adapted to the human surroundings in such a way that it is difficult to find. The construction of the videos is an architectural installation and therefore also raises questions about architecture. “Become snails” is the architectural
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Fig. 7. Snail in the lab. Photo: Margund Smolka. Courtesy of the artist. © Margund Smolka.
program of Shu¯saku Arakawa und Madeline Gins in The architectural body as Tom Conley explains in his essay “A Snailspace”: [T]heir architectural body is one in which the built form constructs itself within the sentient being as it moves in the world. The body draws at once from itself what it encounters at the same time it gains awareness of its environment in what it senses in its midst. In doing so it creates, in a strong philosophical sense, an event of itself. To see how it suffices to see how and why Gins and Arakawa ask the guests who visit their garden to become snails. For them the snail’s pace is the snail’s space and the snail’s place. The snail becomes the emblem of the event, which they call the tentative constructing toward a holding in place.36
The exhibition catalog is less concerned with the awareness of the sixty snails than with the fact that, “in contrast to the rapid development of microsystems technology,” it “stands for deceleration and patience” and enables working people to gain corresponding insights.37 So do the snails only function as a model for human concepts in this art work? Does the snail only serve humans as a reflection of themselves? Contrary to what the catalog suggests, the film sequences do not ascribe ‘typical’ characteristics to snails, but rather place them in the picture. The images of the snail can invite one to look at the snails, to look at them differently, to get used to the snails as agents in one’s own environment. It cannot be ruled out that this invitation is declined, and that the snails only serve 36 Tom Conley, “A Snailspace.” Inflexions, special issue “Arakawa and Gins” 6 (2013): 298, original emphasis. 37 Smolka, “In Search of, Projektbeschreibung,” 2, trans. AK; orig.: “im Gegensatz zur rasanten Entwicklung der Mikrosystemtechnologie” steht sie “für Entschleunigung und Geduld.”
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as a projection surface as is suggested in the exhibition catalog. However, the film images stage each snail as a counterpart that demands attention and show it in its way of orienting itself in space and going its own way. In this respect, the video installation generates entanglements of human and snail that enable companionship and response thinking through the shared spaces. But still: Where is the “mutual response” in this? It can be found in Smolka’s artistic practice, which takes place under different conditions: Here it is important to engage with the slowness of the snail – all sixty snails38 – in a shared environment. In her project protocol, she describes this very reference to the snail’s form of movement. She registers a change in speed while filming the snails in the images: The closer the time of completion came, the slower and less energetic the snails became – due to the approaching winter. My patience was now tested to the maximum, because the actors now needed five times the time to get from A to B, forcing me into a meditative position and physical immobility while filming – time to think.39
Thus, at the very least, this is a protocol of a knot of entangled companionship and response on the side of aesthetic production.
Shared Activity: Anri Sala’s If and only if The next artwork I want to discuss as a “knot of entangled companion species” is the video installation If and only if by the Albanian artist Anri Sala, which was exhibited, among others, at Kunsthaus Bregenz in 2018. On the video screen, which almost spans an entire wall of the exhibition space, a vineyard snail can be seen slowly creeping to the top of a viola bow. The bow is guided by violist Gérard Caussé, who plays Igor Stravinsky’s Elegy for Viola of 1944. The snail crawls upwards along the bow, facing away from the spotlight because it is oriented towards the darker space at the top of the bow. Whenever the snail slows down, the violist switches to another tune. In point of fact, the composition is to be played as a duet on two strings simultaneously, but Caussé modifies this arrangement, as Sala describes: “When he [Caussé] saw that the 38 Peter Trechow, “Schnecken, Kunst und Mikrosysteme. Entschleunigung im ZMM-Forscheralltag,” WISTA Management GmbH, last modified 27. 10. 2011, accessed 20. 11. 2022, https://www.adlershof.de/news/schnecken-kunst-und-mikrosysteme/. 39 Smolka, “In Search of, Projektbeschreibung,” 2, trans. AK; orig.: “Je näher der Zeitpunkt der Fertigstellung rückte, desto langsamer und energieloser wurden die Schnecken – bedingt durch die nahende kalte Jahreszeit. Meine Geduld wurde jetzt im Höchstmaß auf die Probe gestellt, denn die Akteure benötigten nun die fünffache Zeit, um von A nach B zu gelangen, und zwangen mich beim Filmen in eine meditative Position und in körperliche Bewegungslosigkeit – Zeit zum Nachdenken.”
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Fig. 8–9. To the Shadow: Aims of the Snail. Anri Sala: If and Only If, 2018. Installation view, first floor, Kunsthaus Bregenz, 2021. https://www.kunsthaus-bregenz.at/en/press/anri-sala. Photo: Markus Tretter. Courtesy of the artist, Galerie Chantal Crousel, Paris, and Marian Goodman Gallery. © Anri Sala, Bildrecht Wien, 2021, Kunsthaus Bregenz.
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Fig. 10–11. In Touch: A Snail and a Human Being as Companions. Anri Sala: If and Only If, 2018. Installation view, first floor, Kunsthaus Bregenz, 2021. https://www.kunsthaus-bregenz.at/en /press/anri-sala. Photo: Markus Tretter. Courtesy of the artist, Galerie Chantal Crousel, Paris, and Marian Goodman Gallery. © Anri Sala, Bildrecht Wien, 2021, Kunsthaus Bregenz.
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snail was not progressing, he would continue only with the upper voice. As soon as he saw that the snail was moving on, he played the notes of the lower voice that he had omitted before. Through these difurcations, the composition became longer, not through delay, but by means of difurcation.”40 The title If and only if is precisely chosen, because the second voice only sounds if and when the snail moves. The violist translates the snail’s movement as well as its non-movement into music and into pauses. The “mutual response” is immediately apparent here, unlike in Smolka’s work, since not only the snail but also the violist appear on the projection screen. In the filmed situation, both are in the same space with light and shadow and in the immediate vicinity of the viola bow, which represents a common contact surface for them. “The sliding of the snail affects not only the length of the piece, but also the stability and playing technique of the violist. The musician must avoid any abrupt movement in order not to lose the animal with its unstable balance,”41 says a description of another exhibition venue. The violist directs his own musical activity entirely towards his musical partner. He is aware of the snail with all his senses, and this is precisely what the film conveys. He devotes his undivided attention to it in order to bring its response into the concert. Here, one could indeed speak of a “subject- and object-shaping dance of encounters” in Haraway’s sense.42 The hybrid mediality of the video installation also makes it possible to stage the snail differently than usual. Thus, the relation between the larger human and the smaller snail is revised by the fact that the snail moves at eye level in the musical performance, whereby the close-up additionally places it in the center of the film image; or the film editing can cut the violist out of the picture entirely if, for example, only the bow is shown with the snail, which moves or pauses in the direction of the shadow in the sound space that it helps to create. The usual proportions are additionally shifted by the fact that the video can be seen on a wall-sized screen in the museum and the snail on it is enlarged many times. In this enlargement, the snail moves into the picture as something respectable. As in Smolka’s work, then, the proportions are adjusted, and here too the artist responds to the movement of the snail, which is slower than the score prescribes. This creates a complex shared activity: although the installation is Sala’s, it features a piece composed by Stravinsky and played by the violist Caussé – whose playing tempo is in turn determined by the snail. The effect attained by the ‘constraints’ placed on the original composition in the performance is the alien40 Anri Sala: “Videokunst von Anri Sala im Kunsthaus Bregenz,” SWR 2, Kultur Aktuell, last modified 16. 07. 2021, accessed 25. 11. 2022, https://www.swr.de/swr2/kunst-und-ausstellung /bildergalerie-anri-sala-kunsthaus-bregenz-102.html. 41 See Announcement of the Exposition. https://hausamwaldsee.de/en/blog/anri-sala-if-and-o nly-if/, abgerufen am 20. 11. 2022. 42 Haraway, When Species Meet, 4.
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ation of the elegy. Sala uses “constraint, manipulation, rewriting and disruption” as “tools of redefinition” in other artworks as well.43 The musical outcome is an effect of this interplay: “One of the principal consequences is that the music does not illustrate or accompany an action but is actually the consequence of the action played out in the film.”44 It may be the slowness that is striking: “The dialogue between man and animal implies attention to the slightest slowing down of one or the other. The snail becomes master of measure and of time, slowing down the musician who ends up stretching the original version of the score from five to nine minutes;”45 but this slowness is not a concept for which the snail is a model, but an effect that results from the interaction of snail and performer from the “attention” of the man for the snail, whose speed of movement flows into the music that is created.
Shared Materiality: Julia Kálnay’s Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens Juliana Kálnay’s 2011 novel Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens tells of an apartment building to which its oldest inhabitant, Rita, is connected as if to her own body.46 Rita moves into the house on the day of her birth, which she thinks about in the chapter titled “1st floor, right: snails and what Rita thought (but didn’t say):” There are people who are their house, and there are people who just live in it. They buy furniture, set up a wardrobe and a bed and a bedside lamp, and then they say this is my house, this is where I live. […] Not many carry around the house they live in like a snail. Have moved their organs there, heart, stomach, kidneys. Not many feel when cracks start to pull through the walls. Physically feel it, I mean. Not many have skin that tightens with the suffering of the walls, bones that creak with the stairs, backs that ache as the masonry ages.47 43 Galerie Chantal Crousel: The Poetry of Geopolitics. Announcement of the Exposition 15. 10.– 24. 11. 2018 in Paris. 44 Ibid. 45 Natalie Desmet, “Review of [Anri Sala, If and Only If. Galerie Chantal Crousel, Paris],” esse arts + opinions 95, (2019): 98, trans. AK; orig.: “Le dialogue entre l’homme et l’animal suppose une attention aux moindres ralentissements de l’un ou de l’autre. L’escargot devient maître de la mesure et du temps, freinant le musicien qui finit par étirer la version originale de la partition de cinq à neuf minutes.” 46 Julia Kálnay, Eine kurze Chronik allmählichen Verschwindens (Berlin: Wagenbach, 2017). This edition is quoted below under the sigle K with the page number in the text. 47 Trans. AK; orig.: “1. Stock, rechts: Schnecken und was Rita dachte (aber nicht sagte);” “Es gibt Menschen, die sind ihr Haus, und es gibt Menschen, die wohnen nur darin. Sie kaufen sich Möbel, stellen eine Garderobe auf und ein Bett und eine Nachttischlampe und dann sagen sie, das ist mein Haus, da wohne ich. […] Nicht viele tragen das Haus, in dem sie leben, wie eine
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Rita is materially and sensually attached to the apartment building in which she lives. “It’s the house,” she says, “it’s in my bones. Or is it me that’s in the house’s walls?”48 When she coughs, the walls still shake even in distant apartments (see K, p. 145). She knows things she actually cannot know and can “apparently see through walls.”49 Rita has lived in the house since the day of her birth, which at the time is mostly empty and can therefore be ‘occupied’ by her as a whole, as it were. Accordingly, after her death, the whole house is silent, the “hairline cracks have moved from the plaster,” the railing no longer squeaks, “the knocking, these dull noises everywhere” are gone.50 One resident of the house has long suspected that her traces would remain in the house, if Rita were once no longer there: And somehow. I suspected that traces would have to remain when Rita was gone. Not only on us, who had made a habit of asking her advice about this and that and all matters. I mean traces on the house. After all, she had lived here for so long. It seemed inconceivable to me that someone else would move into her apartment. […] You will probably think I am crazy now, but I was firmly convinced that the day Rita left us, the roof would collapse on us.51
And indeed, some time after Rita’s death – in accordance with this premonition – the house burns down.52 Kálnay’s novel thus goes far beyond a simple analogization of people who are as connected to their house as snails are to theirs. The novel is another exploration of the meeting-points of snails and humans, though it is a meeting point where species do not meet but are already entangled in their way of being. Metamorphoses and shape shifting further impel this material togetherness, such that the apartment building as a whole can be described as a network of the living. Thus, a man named Don climbs into a bucket on a balcony and there, under the loving care of his wife Lina, gradually transforms into a tree whose fruit she distributes to all the inhabitants of the house. Little Toni, who breaks an arm
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Schnecke mit sich herum. Haben ihre Organe dahin verlagert, Herz, Magen, Nieren. Nicht viele spüren, wenn Risse anfangen, sich durch die Wände zu ziehen. Körperlich spüren, meine ich. Bei nicht vielen spannt die Haut mit dem Leiden der Wände, knarzen die Knochen mit den Treppenstufen, schmerzt der Rücken, wenn das Gemäuer altert.” (K, p. 34). Trans. AK; orig.: “Es ist das Haus,” she says, “es steckt mir in den Knochen. Oder bin ich es, die dem Haus in den Mauern steckt?” (K, p. 132). Trans. AK; orig.: “anscheinend durch Wände sehen” (K, p. 13, 26). Trans. AK; orig.: Die “Haarrisse haben sich aus dem Putz verzogen,” “das Klopfen, diese dumpfen Geräusche überall” (K, p. 165). Trans. AK; orig.: “Und irgendwie ahnte ich, dass Spuren bleiben müssten, wenn Rita fort wäre. Nicht nur an uns, die wir uns angewöhnt hatten, sie um Rat zu fragen bei diesem und jenem und in allen Angelegenheiten. Ich meine Spuren am Haus. Sie wohnte ja nun schon so lange hier. Mir schien es unvorstellbar, dass jemand anderes in ihre Wohnung zog. […] Ihr werdet mich jetzt wohlmöglich für verrückt halten, aber ich war fest davon überzeugt, an dem Tag, an dem Rita uns verließe, würde das Dach über uns zusammenbrechen” (K, p. 133). Ibid., chap. 2. Stock, rechts: Beisetzung.
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while climbing Don, henceforth bears a scar that feels like bark, and the “tree groans.”53 Later Toni disappears in a vacant apartment, where he communicates with the house – with Rita? (K, p. 110) For his friend, the only visible remnant of Toni is “a crack in the wall. Its shape reminded her of Toni’s scar. The one he had on his arm since he had fallen from Lina’s tree. The wall also felt a little like bark at this point.”54 The house seems to be like an organism in which materialities of every kind are absorbed or repelled, and Rita is the one who physically perceives these processes: “I feel the rooms contracting with the cold and the walls swelling like my legs in the heat. I feel how the house breathes. How it repels and devours residents.”55 Yet another boy literally eats holes in the walls and is thus its own microorganism that feeds within the larger organism of the house (see K, p. 100– 01). The novel also explicitly mentions the slugs living in the apartment, the slugs. Those that do not have a house, even if they are somewhere. During the day they hide in the ground and under plants, crawl into holes. In the evening they come out. We didn’t have many of that variety here either, the odd resident maybe. Don once told me that some nudibranchs still have a shell in the juvenile stage into which they retreat, and that this shell gradually recedes or is swallowed by their own soft tissues. I am not sure about nudibranchs and their species. As I said, my metier is the house.56
This is how Rita speaks about the slugs, and this is how the novel tells of the multiple metamorphoses and entanglements of humans and non-human beings that merge into the house or its surroundings, or are already hybrid beings, sharing a sensory connection with the house and those who dwell within it. The whole novel unfolds a web of awareness of each other, amutual listening to each other, sensing, seeing, observing, telling, and communicating without human language. Thus, Maia, the mole girl “almost never spoke, she did not need it. If she wanted to communicate something […], we understood her even
53 Trans. AK; orig.: Der “Baum ächzt” (K, p. 20). Another inhabitant, Bell, turns into a fish (K, p. 126). 54 Trans. AK; orig.: “Riss in der Wand. Seine Form erinnerte sie an Tonis Narbe. Die, die er am Arm trug, seitdem er von Linas Baum gefallen war. Ein wenig fühlte sich auch die Wand an dieser Stelle wie Rinde an” (K, p. 110). 55 Trans. AK; orig.: “Ich spüre, wie sich die Räume zusammenziehen mit der Kälte und wie die Wände bei großer Hitze anschwellen wie meine Beine. Ich spüre, wie das Haus atmet. Wie es Bewohner abstößt und verschlingt” (K, p. 34). 56 Trans. AK; orig.: “die Nacktschnecken. Jene, die kein Haus haben, auch wenn sie sich irgendwo aufhalten. Tagsüber verstecken sie sich in der Erde und unter Pflanzen, verkriechen sich in Löchern. Abends kommen sie hervor. Auch von der Sorte hatten wir nicht viele hier, den einen oder anderen Bewohner vielleicht. Don erzählte einmal, dass manche Nacktschnecken im Jugendstadium noch ein Gehäuse besitzen, in das sie sich zurückziehen, und dass sich dieses Gehäuse nach und nach zurückbildet oder von ihren eigenen Weichteilen verschluckt wird. Ich bin mir nicht sicher, was Nacktschnecken und ihre Arten betrifft. Wie gesagt, ist mein Metier das Haus” (K, p. 35).
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without words.”57 It is impossible to decide whether Maia is a mole or a girl: she constantly digs holes in the ground, where she hides, blinks out of small eyes and finally disappears into the earthy environment without being found again. Response and respect function between the species without language or with another kind of language that consists of touching, smelling, and listening. Odors are often noticed, or that the light in the house has gone out once again and makes a change of the sensorium to touching necessary: Hands groping, groping the cold stone, groping. A hand! A hand that is warm and small and has hair on its knuckles. A hand that silently grasps my hand, helps me stand up, pulls me behind it, breathing a little loudly only. A hand that knows the way, that steps safely and guides me to my door.58
This helpful hand could have been one of Maia’s “mole hands” that not only palpate but also hold, breathe, know the way and tread confidently (see K, p. 48).59 In the chapter “Hallway, Hearing,”60 two voices on the right and left of the page are arranged in dialogue, talking about a vacant apartment in the stairwell. “Did you hear anything?” asks someone in the chapter “Living Room, Center,”61 and in dialogue with another voice, an attempt is made to qualify what is heard: “A knock? / More powerful. / Knocks? / More muffled / Something like a thump? / Exactly. A thump as if from something really heavy”62 and later: “Wait a minute, there was something. Did you hear that too? / What? / Well, a clang, very quiet. There, again.”63 Knocking, banging, rumbling, clanking – the sounds can be caused by any being in this house, as well as by the house itself, which appears as its own being. The communication between the different beings takes place as much through language as through the sensual interconnectedness in the shared materiality of the house.
57 Trans. AK; orig.: “Maia hat fast nie gesprochen, sie brauchte es nicht. Wenn sie etwas mitteilen wollte […], verstanden wir sie auch ohne Worte” (K, p. 8). 58 Trans. AK; orig.: “Hände tasten, tasten den kalten Stein, tasten. Eine Hand! Eine Hand, die warm ist und klein und Haare hat an den Fingerknöcheln. Eine Hand, die stumm meine Hand greift, mir hilft aufzustehen, mich hinter sich herzieht, ein wenig laut atmet nur. Eine Hand, die den Weg kennt, die sicher tritt und mich leitet bis zu meiner Tür” (K, p. 43). 59 The original actually names it “Maulwurfhände.” 60 Trans. AK; orig.: “Flur, horchend.” 61 Trans. AK; orig.: “Wohnzimmer, Mitte.” 62 Trans. AK; orig.: “Ein Klopfen? / Kräftiger. / Schläge? / Dumpfer / Sowas wie ein Poltern? / Genau. So ein Poltern wie von was richtig Schwerem” (K, p. 29). 63 Trans. AK; orig.: “Moment mal, da war doch was. Hast du das auch gehört? / Was denn? / Na, so ein Klirren, ganz leise. Da, nochmal.” (K, p. 31).
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Interspecies Respect, Response, and Awareness What do the connecting points look like when “species meet?” The three artworks discussed in this paper show that species can meet in shared spaces, shared activities, and shared materialities. But what do these three knots of entangled companionship tell us about the possibility for respect and mutual response? Especially when awareness is not understood metaphorically, but as actual communication between species, which allows snails not to be grasped in linguistic terms, but to enable responses beyond language in the sense of Haraway. In Smolka’s work, the snails and humans are together in one place during the process of creation, but this meeting moment is no longer visible in the videos. It is an actual, but a filmed animal. Nevertheless, the videos show the response of the snail to its architectural surroundings, they stage the snail through unusual proportions in its way of being, in the human environment. The snail looks back – in the pictures – away from the architecture of the human being, while, in the sense of Arakawa and Gins, in each of its movements it designs its own architectural structure in the space it traverses. Sala’s video, meanwhile, shows a shared activity of an actual human and snail, in which both are closely related to each other, “as beings who look back and whose look their own intersects.”64 The violist’s attention is fixed on the snail crawling up his bow and the music emerges according to her movements. The images zoom in on the snail so that it fills the screen and focuses the view of the violist: every movement of this snail matters now! The film shows the meeting of both species and enacts their mutual response. In her novel, Kálnay creates images of a shared materiality in which the entangled beings meet on the basis that they are already intra-materially entangled. The connecting point is the house as knot of different species. They sense one another, they are aware of one another and use or don’t use human language to communicate. It is precisely through its specific language design that the novel can make this speechless communication in the sensory network imaginable. How do the medial arrangements make possible enactments of respect, response, and awareness? In all three examples, the framing of perspectives play an essential role. In Smolka’s work, snails first crawl across photographs while being filmed during this movement. These films, which are displayed at different locations in the building, can then show the snails from different perspectives and address their orientation in space. The snails also appear in unusual proportions through this complex remediation of photo in film. In Sala, there is a musical performance. The polyphony of the two voices makes it possible to render the exchange between the species perceptible in the shared sound space. Their mutual response becomes audible. By filming this performance, sections can be 64 Haraway, When Species Meet, 21.
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selected, and zooming is possible. Zooming can be understood here as a perceptual practice of seeing something which first appears small writ large and shifting the center of the gaze. Finally, this film, which remediates the musical performance, itself appears in a large installation in the rooms of the art museum. As with Smolka, the initial scene (of the encounter) is transformed into another medium and projected into an even larger space. In Kálnay’s work, the textual surface of the novel creates the impression of spatiality, sounds and noises in space, for example, by placing individual questions on the white surface of the page, evoking the reverberation of voices in empty space.65 Dialogues appear in typographic juxtaposition on the page. Thus, with their respective medial diversity, each of the three examples refers in its own way to the multi-sensuality of the environments in which humans and snails meet and can orient themselves in awareness of the presence of the other species and adjust to their activities. What does this reciprocal reference, this awareness, look like in the three artworks? Smolka describes how, during the filming of In search of, she “necessarily […] turned her focus to the snails’ particularities,” which “slowly changed her perspective” and created a “snail diary,” but the snails also show just such a disposition of open attention to their new surroundings.66 First and foremost, the title In search of points to searching as the increased attention given to something that one would like to find. In Sala’s If and only if, mutual awareness, as tense as the viola bow, is the condition of possibility for rendering audible both voices of the music piece, insofar as the violist looks at the snail, whose movements he will record, to whose movements he is attentive before they occur, and the snail must pay attention to the bow that carries it and the next movement it will make on it towards the shadow. Here, too, the title If and only if points to the interconnectedness of this communication, the common activity, music, art. Kálnay’s novel is about this attention as listening, hearing and sensing each other. Rita “senses” the house, she says, specifying, “physically sense, I mean,”67 and she, in turn, emits sounds that can be heard throughout the house for as long as she lives. In their respective specific way, these artworks enact knots of reciprocal awareness; they discuss, how “we are in a knot of species co-shaping one another in layers of reciprocating complexity all the way down. Response and respect are possible only in those knots.”68 Using the example of the snail’s traditional attributes – such as ‘slow’ and ‘carrying its house with it’ – the difference that the artworks make in terms of 65 On an otherwise completely blank page, there are only the words in about the middle “Rita? Bist du es?” – “Rita? Is that you?” (Kálnay, Eine kurze Chronik allmählichen Verschwindens, 7, trans. AK). 66 Smolka, “In Search of, Projektbeschreibung,” 2. 67 Trans. AK; orig.: “Körperlich spüren, meine ich” (K, p. 34). 68 Haraway, When Species Meet, 42.
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mutual awareness can be clarified. In Smolka and Sala, the slowness of the snail is important insofar as human beings have to adjust to it in order to be able to create something alongside it. But this is not about the snail as a model for slowness: Smolka orients her perception to the increasingly slow movements of the hibernating snails, and Caussé waits for the snail’s next movement so that he can continue playing its voice. Already the selection of the elegy as a slow piece of music is an adaptation allowing the snail to co-create the piece. In Kálnay, slowness does not play a role at all, but the house does. In the novel, the house is the point of connection between the species, but it does not represent a tertium comparationis: Rita does not carry the house around like a snail. Rather, the link between her and the house is an intra-material bond: Rita is the house, and the house is Rita, and both are part of a larger, sensual network. Touch, response, and respect are qualities not only of awareness, but for Haraway they are also the conditions of possibility for responsibility: My premise is that touch ramifies and shapes accountability. Accountability, caring for, being affected, and entering into responsibility are not ethical abstractions; these mundane, prosaic things are the result of having truck with each other […]. Touch, regard looking back, becoming with – all these make us responsible in unpredictable ways for which worlds take shape.69
To be entangled in a knot of companion species means not to see snails as “works of art” like Ponge suggests, but to enact the snail’s responses in works of art. How does this difference matter? The snail would then be seen as a knowing being as, in Barad’s sense, knowing does not require a human intellect, but “is a matter of differential responsiveness.”70 It would not be seen as a “thing,” “hero,” or “saint,” all of which imply a distanced and one-sided relationship, but it would be seen as “kin,” in the sense that Michael Hadfieldt and Haraway point out in their “Tree Snail Manifesto:” “Kin is about sustained relationality, about who and what are accountable to whom and what. If Michael has a snail, a snail has him; that is kinship.”71 For them, this accountability and kinship results, among other things, in noticing that snails are threatened with extinction. Engaging with them means “to learn enough about them to actually do something to slow or even prevent the extinctions that we were observing in the field.”72 Being aware, could mean facing the snail’s way to meet the face of the snail. “The ones with face were not all human,”73 states Haraway. In Smolka’s work, the face of the snail appears writ 69 Ibid., 36. 70 Barad, Meeting the Universe Halfway, 149. 71 Michael G. Hadfield, and Donna J. Haraway, “The Tree Snail manifesto,” Current Anthropology 60, Suppl. 20 (2019): 234. 72 Ibid., 221. 73 Haraway, When Species Meet, 42.
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large above the facades and walls of the building; in Sala’s work, it takes centre stage on the bow of a viola, and in Kálnay’s work, it can be imagined as sentient vision in the multisensory network. An interspecies communication of humans and snails could direct our attention just as much to the feelers with which snails look at us as to that other pair of feelers, with which snails feel the space in which we all move – to be aware of how the snail’s feelers look and sense back to us.
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Sarah Pogoda* (Bangor University)
Towards Radical Intimacy with the More-than-Human in Co-Somatic Performance
Abstract Metamorffosis Movement is a somatic movement experiment exploring intimate interspecies connectivity and opening up ways of staging the entanglement between the human and more-than-human through embodiment. Drawing on notions of art engaging with the more-than-human or concepts of inter-species creativity, this research challenges paradigms of modern Western aesthetics, ranging from authorship to beauty. This article will be the first to introduce the concept of co-somatic performance and consider notions of uncanny intimacy, thus enabling an understanding of how inter-species connectivity translates into an aesthetic experience for performers and audiences of Metamorffosis Movement. Using a transcorporeal analysis of Metamorffosis Movement, including its multisensory, multimodal, cultural and ecological dimensions, It will further discuss how its aesthetics subverts concepts of Western normativity and thus carries transformative power beyond the ecological. Keywords: Somatic Movement, Performance, Kinaesthetic, More-than-Human, InterSpecies Sociality, Site-Specificity
Introduction Following the Covid-19 pandemic lockdowns introduced to mitigate the spread of the Coronavirus, many people increased their time spent outdoors. As Welsh Government regulations allowed people to leave their houses for recreational purposes, walks in parks and woodland gained in popularity, and so did various new recreational trends. One of them was ‘forest bathing.’ Emerging from the ecotherapy niche into mainstream lockdown reality, forest bathing takes mindfulness and meditation into the outdoor natural environment to harvest therapeutical benefits. Unsurprisingly, the ‘experience economy’ had already cottoned on to this trend, with National Geographic offering a global map of best
* The research conducted for this essay has been funded by the Arts and Humanities Research Council.
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forest bathing wildlife areas a year before the pandemic began.1 Supported by scientific data concerning its beneficial effects on blood pressure and cortisol, the National Trust presents forest bathing in their wellbeing programme, advertising it as an activity to “escape the hustle and bustle” and to “return to your roots.”2 In these examples, forest bathing is mostly promoted as a way of re-connecting with nature in a comforting and uncontested manner. Although challenging the “somatophobia”3 rooted in Western society, forest bathing reaffirms the culture of nature distinction and its quest for recreational effects; the natural environment is once more approached as a resource for recovery and as a site for contemplation. Health service providers or nature organisations seem ignorant of the fact that our reading of the natural environment is as much a cultural construct created at the level of the human as the hustle and bustle we seek to escape. Leaving aside the liberal, managerialist reformism intrinsic to discourses and policies on mindfulness and wellbeing in the UK,4 the promotion of forest bathing is representational of the blindfolded call “back to nature” resonating in the public discourse for promoting an ecological turn.5 This is in direct contrast to current shifts towards ecological thinking in scholarship, be it in fields of Object-Oriented Ontology e. g., by Timothy Morton,6 Physics as with Karen Barad7 or New Materialism most prominently argued by Donna J. Haraway and Jane Bennett.8 All question the boundaries of embodiment and entwinement with environments and suggest viewing nature “in terms of dynamic forces, fields of transformation and upheaval.”9 In an extended sense, ecological thinking proposes a radical transformational power when re-
1 Sunny Fitzgerald, “The Secret to Mindful Travel? A Walk in the Woods,” National Geographic, 28. 10. 2019, https://www.nationalgeographic.com/travel/article/forest-bathing-nature-walk-h ealth. 2 “A Beginner’s Guide to Forest Bathing,” National Trust, accessed 09. 06. 2022, https://www.na tionaltrust.org.uk/lists/a-beginners-guide-to-forest-bathing. 3 Elizabeth Grosz, Time Travels: Feminism, Nature, Power (Durham: Duke University Press, 2005), 7. 4 Joanna Cook, “Mindful in Westminster: The Politics of Meditation and the Limits of Neoliberal Critique,” HAU: Journal of Ethnographic Theory 6, no. 1 (2016): 141–61, https://doi.org /10.14318/hau6.1.011. 5 A seminal monograph on the discourses on nature to consult on this is Kate Soper, What is Nature? Culture, Politics and the Non-Human (Oxford: Blackwell, 1995). 6 Timothy Morton, Ecological Thought (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2010). 7 Karen Barad, Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning (Durham: Duke University Press, 2007). 8 Donna J. Haraway, Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene (Durham: Duke University Press, 2016); Jane Bennett, Vibrant Matter: A Political Ecology of Things (Durham: Duke University Press, 2010). 9 Grosz, Volatile Bodies. Toward a Corporeal Feminism (Bloomington: Indiana University Press, 1994), 5.
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Sarah Pogoda, Towards Radical Intimacy
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thinking the relational ontology of the human and more-than-human.10 A full exploration of their meaning far exceeds the scope of this article. The pertinent point here is that ideas of a non-hierarchical and process-oriented ‘becomingwith’11 may imply the possibility of an extended sociality, namely that of humans and more-than-humans entwined. It is the arts in particular that have been engaging with ways to access such extended sociability. For instance, for artists, attentiveness to multi-species agency opens new pathways to understanding authorship or creative process, and venturing into the more-than-human world requires them to experiment towards new aesthetics. The following article engages with the co-somatic performance project Metamorffosis Movement (June 2021) to explore how ecological thinking and multispecies agencies generate new art forms and new aesthetic experiences within and with the environment.12 It is mostly concerned with the strategies adopted via Metamorffosis Movement to enable interspecies sociality in the artistic process and, at the same time, to communicate intimate connectivity with the more-thanhuman to the audience. Here, I will introduce an enhanced concept of somatic movement practice which I provisionally want to call co-somatic performance to describe the multimodal trajectory of intimate interconnectivity. I will then carve out how the Metamorffosis Movement succeeded in co-creating an intimate aesthetic situation that made strange what were ostensibly familiar perceptions of body and place. This will highlight paths towards a new aesthetic of the morethan-human which suggests its subversive power in radical intimacy. Although the genealogy of the project was informed by the psychotherapy and movement therapy background of the leading artist Samina Ali, the rehearsal process as well as the context and historical situation of the performance pushed 10 The term More-than-Human stems from ecocriticism and ecology studies but is more and more applied in other disciplines as well, particularly in the Arts & Humanities for thinking beyond the Anthropocene. More-than-Human is often used to describe what we used to call nature but from an ethical standpoint which emphasizes that we exist in ‘a communicative, reciprocal relationship with nature’ (John Cianchi, Radical Environmentalism: Nature, Identity and More-than-human Agency (London: Palgrave Macmillan, 2015), 32, https://doi.o rg/10.1057/9781137473783_3) and engage in inter-species relationships (Haraway, Staying with the Trouble). 11 Donna J. Haraway, When Species Meet (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2008). 12 Stacy Alaimo has advanced into this field when introducing the concept of “trans-corporeal.” According to her, the “trans-corporeal subject is generated through and entangled with biological, technological, economic, social, political and other systems, processes, and events, at vastly different scales” (Stacy Alaimo, “Trans-corporeality,” in Posthuman Glossary, ed. Rosi Braidotti and Maria Hlavajova (London: Bloomsbury Academic, 2018), 436). A transcorporeal approach in critical thought allows a consideration of manifold agencies with a focus on embodied non-human agencies. This summarizes the holistic approach to cosomatic performance pursued in this essay.
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the project beyond lifestyle aestheticism or naive attempts to find comfort in nature. Instead, it generated a subversive quality, only very unlikely attainable when simply going for a walk in a forest.
Methodology The following explorations emerge from ethnographic observations I made as part of the research-project “Re-Inventing the Live Arts Event with Local Communities (Covid-19),” funded by the Arts and Humanities Research Council (AHRC) and based at Bangor University. The project examined how practitioners creatively re-invented live formats to align to government regulations for mitigating the Covid-19 pandemic and how audiences experienced potentially unusual event formats resulting from such artistic innovation. The project involved a week-long combined-arts festival Metamorffosis (June 21–27, 2021) which enabled me to study artists, art formats and audiences.13 The evidence is drawn from qualitative and quantitative data I collected through seven artist interviews, which includes one interview with an art group of seven artists,14 and two questionnaires. The bi-lingual questionnaires were circulated immediately after the festival, one designed for artists,15 one for audiences, using a mix of open questions, multiple choice, multiple response, rating and likert-grids. These data are complemented by field notes in form of writing, film, photography, and sound, alongside film documentation of the festival by the film company Culture Colony (Machynlleth). Metamorffosis offered 25 different events with some running multiple times. Though diverse in genre, format and theme, the most cutting-edge contributions experimented with interspecies aesthetics or encounters with the more-thanhuman world. These events enabled a radical shift from imagining a community of human beings towards a community of human and more-than-human beings, often echoing experiences made during lockdown. Most events, including Metamorffosis Movement, were site-specific and were seeking an affective involvement of the audience with the multi-species environment, its atmosphere and 13 For an overview of the programme, see the bi-lingual website: https://metamorffosis.jimdosi te.com/. There is also a playlist of videos introducing most of the participating artists and their event available via the following link: https://www.youtube.com/playlist?list=PLeyZp VVVr6i_QOktoJ6zm5q1uarqIf-WW. Both accessed 09. 11. 2022. 14 Edited interviews accessed 09. 11. 2022: http://re-inventing-live-events.bangor.ac.uk/intervie w.php.en. 15 The artist questionnaire was circulated after Metamorffosis (June 2021) to 34 participating artistic participants (professional and non-professional artists), yielding a total of 12 responses.
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manifold history. The artist questionnaire suggests that the pandemic restrictions significantly triggered these shifts in artistic formats. For almost all involved artists Metamorffosis Festival acted as a platform for testing out ideas and practices with which they expanded into new art forms, new materials, or new collaborations, resulting for most artists in art formats which were experimental and took more risk than usual.
Metamorffosis Movement Metamorffosis Movement was an experiment challenging traditional genres of performance for exploring human encounters with the more-than-human world through physical movement and perceptual processes around feeling and sensing, as Samina Ali, the facilitator of the experiment, stated in an interview in 2021. Informed by somatic movement practice and the emphasis on intimate intersubjectivity in psychotherapy, Ali guided a group of eight people (in the following addressed as performer/s) aged between 30 and 78 over the course of one month. In five meetings prior to the performance at the Metamorffosis Festival in Northwest Wales, the group met at four different sites in Gwynedd (a grove in Llanberis; a slate mine at Dinorwig Slate Quarries; the Menai Bridge Stone Circle; the Paxton Cascade at Treborth Garden)16 for a 20-minute long experimental performance.
Towards the Co-somatic All sessions started with exercises derived from established techniques in somatic dance practice to develop “a deeper sense of connectivity and intimacy between self and place.”17 The exercises raised everyone’s proprioceptive awareness, focusing on the felt body and its position within the site. Ali intended for nonmentalistic and embodied experience of and being with and within the site. This method emphasises the manifold nuances of body-informed engagement with the world rather than a conceptual mapping of space, bodies and objects. At the same time, Ali was seeking to avoid the privatisation of subjective experience. While some somatic practice advertises stillness and focuses on attentiveness to the interiority of experience, Ali deployed bodies in motion to trigger and 16 Edited footage from the fourth rehearsal at the Paxton Cascade: “Metamorffosis Movement – Exploring New Forms of More Than Human Intersubjectivity through Movement,” Video, last modified 23. 11. 2021, https://youtu.be/cH27q67DihU. 17 Miriam Marler, “Stillness, Touch and Cultivating Intimacy with ‘Vibrant’ Landscapes,” in Performance of the Real, 2 (2021): 71, https://doi.org/10.21428/b54437e2.8866cd9c.
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maintain an affective involvement and entanglement with the environment. This kind of kinaesthetic approach enabled performers to experience not only their own body as moving in the site but to relate to the site as being in motion itself. The sessions began by warming up the body, stretching it, breathing off the immediate experiences of the day. As Ali explained to the group, the exercises were aiming to enable the group to unlearn the intellectual routines and social protocols we perform and apply in our everyday lives. The following kinaesthetic exercises included a sharing of everybody’s favourite movement. Each performer was asked to demonstrate a movement they enjoy doing and the group was asked to mimic it, thus gaining an embodied sense of what the other person physically enjoys and how the movement feels for oneself when mimicked. These movements varied with each meeting and ranged from familiar Yoga poses (warrior, tree etc.) to classic warm-up exercises to more playful movements. Those preparation exercises were followed by 15 to 20 minutes of individual exploration of the felt body and the site. Guided by invitations rather than instructions from Ali, and supported by music, the performers moved to a spot they felt attracted to. To avoid motionless contemplation in nature, Ali guided the performers into a movement within and responsive to their environment, sensing the nuanced intimacy of embodied encounters with the more-than-human. Learning to withdraw from mentalistic objectivation in favour of feeling into the body and site in motion, the performers also avoided integrating the lived experience into our symbolic system via conceptual reflection. Yet, when gathering as a group afterwards, everyone was invited to share their experiences, meaning the performers were required to translate the somatic experience into linguistic discourse the performers admitted to be almost impossible. Still, the conversations uncovered that the kinaesthetic engagement with the site varied for each performer. For some mimicking the other being was a way for relating and understanding, for others, it was about focusing on the movement their own body performed when approximating the other being – for a river the movement was different than for a boulder or a tree –, and for others it was about positioning themselves within the shared space with other beings. During this first session, some participants reported that they almost lost sense of the presence of the other human members of the group, as they merged into the multi-species environment. While the first meeting focused on developing somatic attentiveness and its state of sensual openness to dynamic entanglement with the more-than-human world individually, the following meetings expanded to also observe the movements of other performers in order to then imitate or respond to them through movement. Metamorffosis Movement would thus only be understood to a limited extent, if linked to neuroscientific knowledge on the relevance of so-called
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mirror-neurons for empathy only.18 While mirror-neurons enable the echo of observed movement through our own somatic sensation, Ali’s aim was to enhance the mirror-neuron effect by physical activity: somatic communication so to speak. This kind of embodied communication was deployed as a kinaesthetic network, consisting not only of human performers, and co-created not only by human agents. The kinaesthetic network and somatic communication were multi-species kind It was co-created with the more-than-human beings at the site, insofar as the performers’ movements were an immediate embodiment of the mutual encounter-in-process. As this somatic and communicative dynamic is beyond the usual understanding of somatic movement practice, I propose to introduce an enhanced term of co-somatic performance to describe Metamorffosis Movement rather than simply using somatic. On first sight, the suggested term might seem an oxymoron, given that Thomas Hanna denies somatic its communicative potential when defining it as an experience within and of the body from a firstperson perspective.19 However, Ali’s aim was to enable embodied understanding beyond language, including ‘visceral empathy,’ when inviting the performers to mimic each other’s movements. It should be noted, that the group also gained a sense of each other’s somatic sensations, when mimicking the various warm-up movements. Here, applying Thomas Fuchs’ terminology of “embodied interaffectivity” allows for a better understanding of the co-somatic communication in place. Embodied interaffectivity is grounded in bodily resonance which “conveys an intuitive understanding of others’ emotions in our embodied engagement with them.”20 Though Fuchs deploys concepts of intercorporeality and interaffectivity21 mainly for mundane social situations, it opens a pathway to better understand how somatic practice can expand from individual states into a cosomatic, i. e. social situation. The idea of the co-somatic enables us to acknowledge Metamorffosis Movement as “a process of mutual modification of bodily and emotional states”22 through movement; movement which is embedded in and entangled with an environment equally integral to the mutual process as the performers. Focussing on such interaffective movement, we con18 For a comprehensive review of existing scholarship on dance and neuroscience, see: Andrea Zardi et. al., “Dancing in Your Head: An Interdisciplinary Review,” Frontiers in Psychology 12 (2021): 649121, https://doi.org/10.3389/fpsyg.2021.649121. 19 Thomas Hanna, “What Is Somatics?,” Somatics 5, no. 4 (1986): 4–9. 20 Thomas Fuchs, “Intercorporeality and Interaffectivity,” in Intercorporeality: Emerging Socialities in Interaction, Foundations of Human Interaction, ed. Christian Meyer et. al. (New York: Oxford University Press, 2017), 195, https://doi.org/10.1093/acprof:oso/978019021046 5.003.0001. 21 Ibid., 195. 22 Ibid.
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ceive emotions, empathy and experience not as inner states exclusive within individuals who then consciously express them using representational techniques, e. g., a repertoire of classical dance choreographies, but rather we understand movement as an invested embodiment and immediate expression of an intimate dynamic between affected and affective agents.
Uncanny Intimacy Fuchs’ concepts of intercorporeality and interaffectivity still allow to uphold the concept of subjectivity as a firm entity, through which all beings potentially relate to each other. Expanding this relation, Morton’s ecological thinking transgresses the idea of the Western self to an almost unfathomable degree. For Morton, all living and non-living things are interconnected as a so called mesh of “infinite connections and infinitesimal differences”23 that turn subjectivities into ambiguous intimate intensities within the mesh: “Who or what is interconnected with what or with whom? The mesh of interconnected things is vast, perhaps immeasurably so. Each entity in the mesh looks strange. Nothing exists all by itself, and so nothing is fully ‘itself ’.”24 In the co-somatic practice of Metamorffosis Movement every movement is, so to speak, always moving as such intimate intensity. Definitive interior and exterior boundaries of beings become obsolete and former familiar entities – such as the human self – are rendered ambiguous by their infinite and utmost intimate interconnectedness with other beings.25 Metamorffosis Movement intensifies this intimate connectedness by sensing into the relation itself. Considering Morton’s notion of the strange mesh, the co-somatic situation of the performance turns into one of radical intimacy with the strange stranger. In the following, I will show how this intimacy is integral not only to the aesthetic experience of Metamorffosis Movement but for an aesthetic of the more-than-human in general. Testimonials from the performers how the rehearsals left them with a sense of discomfort or vulnerability, suggesting that the intimate encounter, which the cosomatic technique engendered, eventuated in the self being challenged. The somatic opening and intimate relating to the strange strangeness triggers an experience of ambiguity, perceived as uncertainty. At the same time, all performers agreed they had gained a sensitivity for the mutual entanglement of human and more-than-human beings as something precious but fragile. Metamorffosis Movement thus offers an experience of the natural world quite opposite 23 Morton, Ecological Thought, 30. 24 Ibid., 15. 25 Ibid., 39.
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to the recreational and comforting purposes intrinsic to the practice of forest bathing. Whereas forest bathing envisages participants emerging as reinvigorated versions of themselves, Metamorffosis Movement resulted in unsettling the self and gaining new experience. The intimacy intrinsic to the cosomatic encounter with the more-than-human is radical in a literal way, as it impinges upon prerequisites of the Western master subjectivity. It is also aesthetically transformative in developing a sensibility of being-with the more-thanhuman, as interaffectivity and intercorporeality in the co-somatic situation intimate a more-than-human co-authorship. The performers’ movements are no longer simply expressive of human agency only. However, if we allow ourselves to envision the intrinsic paradigmatic shift of uncanny ecological experience, the embodied sociality of Metamorffosis Movement also suggests a sense of solidarity with the uncanny ambiguity of the strange stranger we encounter in the cosomatic practice. However, if uncanny intimacy is so intrinsic to Metamorffosis Movement, we need to ask how an audience, not engaging in the somatic practice nor familiar with concepts of the more-than-human, would experience such performance? In order to examine this, we need to consider its historic situation and specific context as part of the week-long Metamorffosis Festival.
Metamorffosis Movement as Uncanny Performance Emerging from the mitigating measures in place during the Covid-19 pandemic, the festival was organised from within the local art community and attracted mostly local audiences. The audience was very likely to be familiar with the site and venues used for each performance, particularly in the case of the Paxton Cascade for Metamorffosis Movement. Furthermore, the art community of rural Northwest Wales is well connected, and it was thus very likely that members of the audience knew the performers of Metamorffosis Movement either in their role as artists or as friends. The audiences were also small in number due to government limitations to maximum gatherings of 30 people, and given the festival context, it was also likely that members of the audience know each other, either from previous festival events (Metamorffosis Movement was the last but one event on the last festival day) or from other occasions. This familiarity of performers, audience and site was beneficial to generating a sense of connectedness and intimacy which most participants of the audience questionnaire highlighted as a unique feature of their festival experience. Despite the Covid-19 protocols implemented for the festival, audiences and artists felt they were part of a community. Responses also suggest that the more experimental art forms bridged the pandemic-related physical distancing as they enabled new forms and intensities
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of audience engagement. Here, almost all answers used terms such as “intimate” or “intimacy,” “interaction” or “connectedness,”26 Based on these findings, I will engage with the aesthetic dynamic of intimacy and familiarity of the event. This dynamic is particularly relevant for Metamorffosis Movement, as some members of the audience will have watched familiar bodies moving in a strange way at a well-known local site which would not necessarily have invited such movement. It is this making unfamiliar that will be core to understanding how Metamorffosis Movement engendered a sense of uncanniness for the audience, albeit an uncanniness quite different in nature to that of the performers. Although Ali is a trained psychotherapist and studied movement therapy with Beatrice Allegranti, a choreographer, clinical practitioner, and theorist, Ali does not have training or experience as a dancer or choreographer herself; Metamorffosis Movement was the first time she had applied movement practices to create an artistic performance. Ali understood her role in facilitating a collaborative encounter which is indeed the role of the choreographer in contemporary dance.27 However, for Metamorffosis Movement Ali did not work with professional dancers, but with lay performers who did not command dancing skills nor classical dance moves, nor did they have any inner mental image of modern or classical dance repertoires – neither did Ali. With the exception of one performer trained in acrobatics, none of them fulfilled the physical expectations of dancers in terms of flexibility, strength, balance, or elegance. Their movements were within the average scope and limitations of their age group. This did not only result in Metamorffosis Movement breaking with body images still predominant in professional modern dance. Furthermore, by not drawing on familiar dance repertoires, Metamorffosis Movement transgressed into the uncanny terrain of a semantically less coded realm, further feeding into the effect of “making unfamiliar” as it subverted attempts to understand the performance by reading it via semantic systems of choreography.28 Frustrating the meaningmaking process might result in increased unfamiliarity and discomfort, as the unfamiliarity of the grotesque bodies which almost embarrassingly deviated from all aesthetic and social norms could not be read as a meaningful script. Not redeeming common expectations of beautiful moving bodies, the intimate artistaudience relationship is challenged. Watching a friend or respected artist moving in a strange way at a site that has not been used for such purposes before, creates an ambiguous situation. Spectators could either respond with abjection and opt 26 The questionnaires, however, were not designed to identify how the artistic formats of the individual events interrelated with bridging social distancing, nor is it possible to see what understanding of intimacy or connectedness was implied. 27 Susan Leigh Foster, Choreographing Empathy: Kinesthesia in Performance (London: Routledge, 2011), 6. 28 Foster, Choreographing Empathy, 5.
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for a more distanced and self-aware spectator position or – as questionnaires suggest – maintain the intimate relation and remain open to the emerging unfamiliarity. Although the performance did not include the audience in the cosomatic situation itself, it transgressed aesthetic expectations and generated notions of uncanny intimacy.
Fig. 1. Uncanny Bodies – Metamorffosis Movement performance. © Huw Jones (2021).
Similar defamiliarization happened to the site of the performance at the periphery of Bangor’s Botanical Garden which is a popular destination for walks or evening strolls. The marginal “Paxton Cascade” that Ali has chosen for the performance, comes with semantic layers, well known by locals. Its most prominent and name-giving feature is a small cascade, named after its creator Joseph Paxton. In the late 19th century Paxton, then renowned architect of Birkenhead Park, had ambitious plans for the not yet developed Treborth area. Though his grand spa hotel complex never came to fruition, some of Paxton’s drainage and sewerage plans did, which resulted in the cascade. Supported by light masonry, a natural stream now finds its way over the steeply sloping terrain into the Menai Strait. The Menai Strait separates the island of Anglesey from mainland Wales. The location between the Menai Suspension Bridge and the Britannia Bridge is also known as The Swellies which is considered particularly difficult to navigate because of the varying speeds at which the tides wash around the island of Anglesey. Shoals, whirlpools and unpredictable surf have caused legendary shipwrecks throughout history, and even today a spectator can easily
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visualise risks. The movement of the water is audible up the cliff by the Paxton Cascade, accompanied by the rather mild sound of its falling waters. Small trees and wild undergrowth – the botanic park management barely intervenes here – however, frustrates any potential sublime panorama.
Fig. 2. Bench at Paxton Cascade, facing slopes and view to The Swellies. © Sarah Pogoda (2022).
The North Wales Coast Path passes at the back of the Paxton Cascade and a centrally situated bench invites walkers to linger on the perfectly balanced drama this natural theatre deploys. The bench offers a safe spot to enjoy the dramatic view and contemplate the numerous existential struggles of sailors with nature. The Paxton Cascade can be read as a man-made stage for “shipwrecks with spectators,”29 to refer to Hans Blumenberg’s seminal work on the metaphor of existence. It stages life as a drama of man vs nature, while the spectator is on safe terrain. Their safety however is only guaranteed when sitting on the bench, otherwise, they risk slithering down one of the many slopes. Ali’s short introduction to the performance draws the audience’s attention to more-than-human Beings as equal participants, without being ignorant of the aforementioned semiotic layers of the site which was familiar to most of the audience members in its purposes for contemplation, a contemplation of a 29 Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979).
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human-nature dichotomy so intrinsic to Western philosophy and Western dramaturgy. However, the non-professional performers’ bodies and their strange movements did not support the aestheticization of these semantic layers and juxtaposed its familiar dramaturgy as follows: Different to an indoor or theatre venue with an empty stage which can be designed appropriately to a rehearsed choreography, the “found location” of the Paxton Cascade enforced limitations on bodies in motion,30 forced the performers to respond to the givens of the site, moving “within distributive agency rather than dancing away on [their] own.”31 At the same time, the location frustrated the common panoramic gaze provided by a theatre stage. If Metamorffosis Movement spectators were to have full sight of the human bodies in motion, they would have to move around themselves, confusing sight and physical engagement with the locality further. With spectators in motion, everyone risked blocking the view of other spectators, thus mutually forcing each other to continue moving around. The site thus demanded an audience in motion to observe the individual performers in motion. At the same time being in motion required the audience to be cautious of the site topography. This attentiveness also enabled the perception of often unacknowledged non-human elements feeding into the experience, such as the fleeing sunbeams falling through leaves, themselves set in motion by the coastal breeze. In this respect, Metamorffosis Movement did not only perform entanglement in motion but also deployed it among the spectators and afforded the spectators to physically invest in the performance. This enabled a corporeal understanding of its choreographic agency. Spectators in motion embodied the infinite entanglement of human and more-than-human agencies in place for this performance. The resulting intimacy countered the dichotomic shipwreck with spectator trajectory which the Paxton Cascade once was designed to contemplate. If spectators did not move around, as was the case for some, they either had to accept the limited view or enter an aesthetic mode that does not read human bodies as central to the performance. The latter approach could result in a flat understanding in which foreground/background perceptions dissolve.32 This was further supported by the clothing the performers picked for the performance 30 Foster refers to Kenneth Olwig’s study on landscape and body politics in her study on choreography, making clear that a shaped and cultivated landscape suggests a choreography for bodies to move within the designed landscape and to experience it in a particular way. Kenneth Olwig, Landscape Nature and the Body Politic: From Britain’s Renaissance to America’s New World (Madison: University of Wisconsin Press, 2002). 31 Paula Kramer, “Bodies, Rivers, Rocks and Trees: Meeting Agentic Materiality in Contemporary Outdoor Dance Practices,” Performance Research 17, no. 4 (2012): 87. 32 A seminal study on nature as background can be consulted with Val Plumwood, Feminism and the Mastery of Nature (New York: Routledge, 1993).
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Fig. 3. Audience and performers at Paxton Cascade just after Metamorffosis Movement performance. © Huw Jones (2021).
(brown, green, beige). In this scenario, Metamorffosis Movement was not a performance in a scenic landscape, but rather an emerging landscape itself. This cocreative aesthetic mode allowed the audience to become landscape, too, thus flattening the anthropocentric hierarchy still in place in contemporary dance aesthetics.
Conclusion The co-somatic performance Metamorffosis Movement responded to paradigmatic shifts in ecological thought. For all parties involved, it expanded the ecological senses that a walk through the forest does not usually hold.33 It realises a shifting away from the anthropocentric subject-object relation between humans and nature towards an uncanny intimacy. It was an endeavour which challenges the ingrained concepts of Western master subjectivity that also inform our social behaviours and aesthetic preferences. The intimate performance crossed boundaries and common sense in terms of how to behave within and towards ‘nature’ and ‘non-nature.’ It transgressed norms intrinsic to social33 Lara Stevens, “Anthroposcenic Performance and the Need For ‘Deep Dramaturgy’,” Performance Research 24, no. 8 (2019): 89–97, https://doi.org/10.1080/13528165.2019.1718436.
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isation of the self. Its performers’ strange physicality and movements destabilize seemingly fixed categories of meaning rooted in Western subjectivity. It is true to say that Metamorffosis Movement emerged from a historically unique situation. The respirational management introduced as part of the mitigating measures during the Covid-19 pandemic made us physically experience that our bodies are fluent borders rather than contained units. The mask preventing us from incorporating other bodies’ respirations, made material reality that being social creatures had always implied – consciously or unconsciously – the suspension of our bodily integrity and the fact that the respirational connection with our environment is the indispensable presupposition for human life. Thinking ecologically requires a radical acknowledgement of this ontological entanglement, challenging Western ideas of human autonomy and subjectivity. Therefore, Metamorffosis Movement found an audience that had gained a sensibility for the strange strangeness of being with others. Its review in this article, suggests the need to start discussing a new aesthetic, an aesthetic of the morethan-human. In the context of an encroaching economising of arts as creative industries that serve our desires for comfort and entertainment, such new aesthetics are intrinsically subversive, intimate and draw us into a space in which radical change is possible.
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Sieglinde Grimm (Universität zu Köln)
Rotpeter Revisited: Kafkas Posthumanismus in ökophänomenologischer Perspektive
Abstract Rotpeter Revisited: An Ecological Perspective on Kafka’s Posthumanism The article examines Kafka’s A Report for an Academy in the light of the post humanist conception of the human being, which departs from the idea that humans stand at the top of the hierarchy of living beings and thus at the center of everything that happens. The argument follows Louise Westling’s discussion of Merleau-Ponty’s theory of perception and his observations on Jakob von Uexküll’s and Konrad Lorenz’s animal behaviour in her study The Logos of the Living World (2014). On this basis, the character of the ape Rotpeter will be investigated with regard to his perception of the environment, the relationships between animals and humans, and the function of imitation in contrast to freedom. Based on Westling’s thesis, the aim of the following article is to identify a logos inscribed in nature itself in Kafka’s Report, which contrasts with Western anthropocentrism as well as with Darwin’s evolutionary idea, and to make it productive for a new view on Kafka’s Rotpeter. Keywords: Theory of Perception, Behavior of Animals, Anthropogenesis, Darwinism, Mimicry
In Franz Kafkas Ein Bericht für eine Akademie1 geschieht die Menschwerdung des Affen Rotpeter durch Verhaltensweisen, die normalerweise nicht mit vernunftgeleitetem menschlichen Handeln assoziiert werden, nämlich beispielsweise ‚Spucken, Trinken, Rauchen‘. Diese Auffälligkeit betrifft den Kern der folgenden Auseinandersetzung mit Kafkas Bericht. Blickt man in die umfangreiche Forschung, so ist die Frage, was es mit Rotpeters Versuch der Menschwerdung auf sich hat, nach wie vor ungeklärt; die Titelfigur – die einzig positiv gezeichnete Figur in Kafkas Werk – verbleibt in einem unbestimmten Zustand zwischen Tier und Mensch, was sich in der Erzählinstanz der Künstlerfigur
1 Vgl. Franz Kafka, „Ein Bericht für eine Akademie“, in Franz Kafka: Drucke zu Lebzeiten, hg. v. Wolf Kittler et al. (Frankfurt a. M.: Fischer, 1996), 299–313. Im Folgenden als Bericht.
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fortsetzt.2 Laut Gerhard Neumann ist mit Kafkas Bericht eine „Erkundung der Grenze zwischen Kultur und Natur“ aufgerufen.3 Die geschilderte Ursprungsgeschichte des Menschen aus dem Tierkörper betrifft demnach die mit Darwin gegebene anthropologische Situation, welche den Menschen mit der „Fremdheit des Eigenen“4 schockiert und seinem „Hochmut […] gegenüber allen anderen natürlichen Lebewesen“5 den Boden entzieht. In diesem Sinne hat Harald Neumeyer herausgearbeitet, „dass Rotpeter die gängige Hierarchisierung der Arten abbaut, indem er die Vorstellung vom Menschen als ‚Krone der Schöpfung‘ widerruft.“6 Dies entspricht zugleich der posthumanistischen Auffassung, welche die anthropozentrische Vorstellung, der Mensch stehe im Mittelpunkt allen Geschehens, verabschiedet. So sind es nach Hansjörg Bay die Errungenschaften des aufklärerischen Projekts, nämlich „Freiheit, Vernunft und Authentizität“,7 die durch Rotpeters Entwicklung unterlaufen werden. Ausgehend von einer Bemerkung Max Brods, Kafkas Geschichte sei „grotesk und erhaben in einem Atemzug“,8 vermutete man Parallelen zwischen Kafkas Bericht und Schillers Ästhetik des Erhabenen. Diese Annahme wurde jedoch zurecht zurückgewiesen und Rotpeters vorgebliche Bildung als Satire auf „Schillers humanistische Ideale“ entlarvt.9 Zudem gehen die Thesen einer Verabschiedung des Humanismus nicht widerspruchslos auf, gehören doch Sprache, Handschlag und Erinnerung als Auszeichnung Rotpeters auch dem spezifisch Menschlichen an. Angesichts der damit verbundenen und nach wie vor offenen Fragen, etwa auch zum Einfluss Darwins, soll nun eine ökophänomenologische Betrachtungsweise im Kontext des Posthumanismus, die in der zeitgenössischen Verhaltensforschung und der 2 Vgl. Juliane Blank, „Ein Landarzt. Kleine Erzählungen“, in Kafka-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Manfred Engel und Bernd Auerochs, ProQuest Ebook Central (Stuttgart: Metzler, 2011), 235. 3 Vgl. Gerhard Neumann, „MENSCHEN / AFFEN. Erkundung der Grenze zwischen Kultur und Natur“, in Natur – Kultur: Zur Anthropologie von Sprache und Literatur, hg. v. Thomas Anz (Paderborn: mentis, 2009), 93–108. 4 Ibid., 101. 5 Ibid., 94. 6 Harald Neumeyer, „Peter – Moritz – Rotpeter. Von ‚kleinen Menschen‘ (Carl Hagenbeck) und ‚äffischem Vorleben‘ (Franz Kafka)“, in Die biologische Vorgeschichte des Menschen: Zu einem Schnittpunkt von Erzählordnung und Wissensformation, hg. v. Maximilian Bergengruen et al. (Freiburg i. Br. et al.: Rombach, 2012), 296. 7 Hans-Jörg Bay, „Das eigene Fremde der Kultur. Travestien der ethnographischen Situation bei Kafka“, Deutsche Vierteljahrsschrift 83 (2009): 306. 8 Max Brod, „Literarischer Abend des Klubs jüdischer Frauen und Mädchen“, in Franz Kafka: Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912–1924, hg. von Jürgen Born (Frankfurt a. M.: Fischer, 1979), 128. 9 Holger Rudloff, „Zwei Berichte für Akademien. Franz Kafkas Ein Bericht für eine Akademie und Friedrich Schillers Antrittsvorlesung an der Universität Jena“, Wirkendes Wort 65 (2015): 68.
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sinnlich-materiellen Lebenswelt ansetzt, zum weiteren Verständnis beitragen. Leitend dafür ist Louise Westlings Studie zu Merleau-Pontys Theorie der Wahrnehmung und dessen Untersuchungen zum Tierverhalten bei Jakob von Uexküll und Konrad Lorenz,10 vor deren Hintergrund sich die Figur Rotpeters noch einmal neu erschließt. Im Folgenden ist zunächst zu fragen, was mit der exzeptionellen Stellung des Menschen im Sinne des Anthropozentrismus überhaupt gemeint ist und in welcher Weise Merleau-Ponty aus posthumanistischer Perspektive daran Kritik übt (I). Weiter wird erörtert, inwieweit Uexkülls Begriff der Umwelt und Lorenz’ Forschungen zum Instinkt diese Argumentation stützen (II). Danach erfolgen Rückschlüsse auf die Figur Rotpeters im Hinblick auf seine Wahrnehmung der Umwelt, auf das Mensch-Tier-Verhältnis und die Funktion der Nachahmung als Ausweg in Abgrenzung zur Freiheit (III). Ein Blick auf die hybride Erzählform des Berichts bildet den Abschluss (IV).
Die anthropozentrische Stellung des Menschen und Merleau-Pontys Kritik Zunächst ist die anthropozentrische Stellung des Menschen, welche durch die Figur Rotpeters herausgefordert wird, im Blick auf Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu erläutern. In der Aufklärung wurde die Ausnahmestellung des Menschen mit Kants Formulierung, „der Verstand“ schöpfe seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibe „sie dieser vor“11, als sogenannte Kopernikanische Wende festgeschrieben. Damit begründet Kant den Primat des Verstandes gegenüber der sinnlichen Anschauung bzw. der Natur, wofür er mit der Forderung: „Das ‚ich denke‘ muss alle meine Vorstellungen begleiten können“12 einsteht. Dieser Primat des Verstandes setzt sich im deutschen Idealismus mit Hegels Begriff des Geistes fort. Westling kritisiert, dass diese Wende eine Trennung des menschlichen Subjekts von der Natur zur Folge hatte und im westlichen Denken für eine Tradition den Grundstein gelegt hat, welche darauf abzielt, „to ignore or denigrate body in favor of mind, just as the natural world has been denigrated in favour of a nonmaterial realm of spirit“.13 Für Merleau-Ponty birgt diese Entwicklung zwei 10 Vgl. Louise Hutchings Westling, The Logos of the Living World: Merleau-Ponty, Animals, and Language (New York: Fordham University Press, 2014). 11 Immanuel Kant, „Prolegomena“, abgerufen am 16. 12. 2022, https://www.projekt-gutenberg.o rg/kant/prolegom/prolegom.html, 25. 12 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in Immanuel Kant: Werksausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 3–4 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974), 136. 13 Westling, The Logos, 31.
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Konsequenzen: zum einen eine „Verarmung des Naturbegriffs“, weil die Natur auf ein „einfaches Korrelat der Wahrnehmung“ reduziert werde und all ihrer „Wildheit“ verlustig gehe; zum anderen eine veränderte Auffassung der Natur als ein Konstrukt des Verstandes, das „in uns als Plan vorhanden“ sei und wodurch die Grundsätze des Denkens der Natur gleichsam apriorisch vorgeschaltet würden (N, S. 42).14 Dem Kantischen ‚ich denke‘ setzt Merleau-Ponty die Behauptung „Die Welt ist nicht, was ich denke, sondern das, was ich lebe!“15 entgegen. In der Konsequenz, so Westling, habe sich Merleau-Ponty forthin der Untersuchung der Körper- bzw. Tierwelt zugewandt.16 Damit setzt er der Bewusstseinsphilosophie die leibliche Existenz entgegen, welche die Rationalität an die Erfahrung zurückbindet. Den Primat des Leiblichen begründet MerleauPonty in seinem Hauptwerk Phänomenologie der Wahrnehmung (frz. 1945, dt. 1966), das als Replik auf Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) zu verstehen ist. Dies lässt sich am Begriff ‚Wahrnehmung‘ festmachen, den MerleauPonty wie folgt definiert: Wahrnehmung ist eben gerade diejenige Aktart, welche die Trennung des Aktes selbst von seinem Gegenstand nicht zuläßt. Wahrnehmung und Wahrgenommenes haben notwendig dieselbe Modalität des Daseins, da von der Wahrnehmung nicht das Bewußtsein zu scheiden ist, das sie hat oder vielmehr ist, die ‚Sache selbst‘ zu treffen.17
Ein eigener, dem Erkennen des Gegenstandes vorausgehender Akt des Denkens oder Tätigkeit des Geistes werden unterbunden. Dies entspricht ganz dem phänomenologischen Schlagwort ‚zu den Sachen selbst‘,18 in dem Tätigkeit und Gegenstand intentional aufeinander bezogen sind. Mit seinem Verständnis von Wahrnehmung plädiert Merleau-Ponty für eine Umkehrung von Hegels idealistischer Auffassung, derzufolge Wahrnehmung „als reines Auffassen“ eines Bewusstseins19 definiert wird, welches im „Reichtum des sinnlichen Wissens“20 verankert ist. Hier bleibt die Wahrnehmung einer unteren Stufe des Erkenntnisprozesses verhaftet, die im dialektischen Aufstieg des Geistes vom Anspruch des begrifflichen Wissens überholt wird. Für die Natur in Hegels idealistischer Phänomenologie hat dies aus Sicht Merleau-Pontys die Konsequenz, dass er 14 Maurice Merleau-Ponty, Die Natur. Vorlesungen am Collège de France 1956–1960 (München: Fink, 2000). Im Folgenden unter der Sigle N. 15 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (Berlin: De Gruyter, 1966), 14; Westling, The Logos, 32. 16 Vgl. Westling, The Logos, 31: „Merleau-Ponty began by turning phenomenology to an examination of the body.“ 17 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 427 [429/430]. 18 Dieses Schlagwort geht bekanntlich zurück auf den Phänomenologen Edmund Husserl. 19 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, mit einer Einleitung von Wolfgang Bonsiepen, hg. v. Heinrich Clairmont und Hans Friedrich Wessels (Hamburg: Meiner, 1988), 82. 20 Ibid., 80.
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(Hegel) „der Natur jede eigene Wirksamkeit [verweigert]“ (N, S. 78–79). Gegenüber Kant und Hegel versteht Merleau-Ponty den Menschen in einer ‚wahrgenommenen‘ Umwelt als „inkarnierte[s] Subjekt“21: Anders als bei der ‚Einbildung‘ und dem ‚Urteil‘ als Instrumente des Kantischen Verstandes zielt die Wahrnehmung auf das „Erfassen eines […] dem Sinnlichen eigenen Sinnes“, das jedem Urteil des Bewusstseins wie auch dem begrifflichen Anspruch des (Hegelschen) Geistes zuvorkommt.22 Das Subjekt wird dahingehend modifiziert, dass der Leib – differenziert in Raum, Motorik und sprachlichen Ausdruck – als das primäre Medium gilt, mittels dessen der Mensch in der Welt ist. Die leiblich wahrgenommene Welt wird von einem der Natur eigenen Logos durchzogen, der sich im Übergang von Gesten und Gebärden hin zum sprachlichen Ausdruck herausbildet.23 Soweit ist zu sehen, dass Merleau-Ponty die Isolation des Kantischen ‚ich denke‘ gegenüber der natürlichen Welt durch eine Neubewertung der Wahrnehmung zu überwinden sucht; in ähnlicher Weise zielt Kafkas Rotpeter auf die Aufhebung der Trennung von Mensch und Tier, in dem er aus der Perspektive der animalischen Welt heraus einen Anspruch auf Bildung formuliert. Es stellt sich nun die Frage wie die Aufwertung der Wahrnehmung bzw. der sinnlichen Welt begründet wird.
Merleau-Pontys Rückgriff auf Uexkülls Begriff der Umwelt und Lorenz’ Forschungen zum Instinkt In seinen Vorlesungen zur Natur (1959–1960) erforscht Merleau-Ponty die Wahrnehmung durch die Beobachtung von Tierverhalten. Er versucht zu zeigen, dass das Dasein der Lebewesen durch einen diesen selbst innewohnenden Logos bestimmt wird. Dazu beruft er sich auf Uexkülls Begriff der Umwelt: „Die Umwelt markiert den Unterschied zwischen der Welt, so wie sie an sich als Welt existiert, und der Welt von diesem oder jenem Lebewesen“ (N, S. 232). Dies bedeutet, dass es eine einheitliche Welt, in der Zeit und Raum für alle Lebewesen gleich sind, nicht gibt. Giorgio Agamben bringt den Posthumanismus dieser Sichtweise auf den Punkt, wenn er bemerkt, dass Uexkülls Experimente den Leser dazu zwingen, „mit nicht-menschlichen Augen ihm wohl vertraute Orte zu be-
21 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 76. 22 Ibid., 57. 23 Merleau-Ponty spricht von einem „Logos der natürlichen Welt“, kraft dessen „die Kommunikation im Sichtbaren […] von einer Kommunikation im Unsichtbaren auf unsere Gesten und Worte hin fortgesetzt“ wird (N 299).
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trachten.“24 Gegenüber der Umwelt agiert der Mensch laut Uexküll nicht auf Basis eines reflektierenden ‚ich denke‘; diese Vorstellung wird abgelöst durch ein bestimmtes ‚Verhalten‘ zur Welt. Anders als die auf einen „objektiven Raum“ bezogene „Umgebung“ zeichnet sich die Umwelt durch eine Reihe von Merkmalen aus, die für ein bestimmtes Lebewesen von Bedeutung sind und mit dessen Rezeptionsorganen sie eine „funktionale Einheit“ bilden.25 Uexküll verwirft dabei den darwinistischen Gedanken einer ständig verbesserten Anpassung, da für Darwin das Überleben eines Organismus von dem es bestimmenden Milieu abhängt (vgl. N, S. 211).26 Stattdessen seien alle Lebewesen gleich angepasst, um zu überleben. Er unterscheidet die Umwelt niederer Tiere wie etwa den Meerwurm oder die Zecke von der Umwelt der höheren Tiere. In seinen Darlegungen zu Uexküll präzisiert Agamben drei Merkmale der Umwelt, auf welche die Zecke reagiert: „1) Der Geruch der Buttersäure“ im Schweiß von Säugetieren; „2) Die Temperatur von 37 Grad, die derjenigen des Blutes der Säugetiere entspricht; 3) Die Typologie der Haut der Säugetiere, die in der Regel mit Haaren und Blutgefäßen versehen ist.“27 Die Zecke hat nur einen Sinn für Geruch, Licht und Wärme und lebt ganz in diesen Beziehungen. Sind die Merkmale durch ein Lebewesen in der Umwelt erfüllt, lässt sie sich auf es fallen, wobei das Ziel auch verfehlt werden kann (vgl. N, S. 241–42). Kraft des so verstandenen UmweltBegriffs ist der „Organismus in seiner Beziehung zur Außenwelt“ nicht mehr „als eine Ursache zu betrachten“ (N, S. 246). Es gibt nicht, wie bei Kant, ein inneres Bewusstsein, welches unabhängig von der äußeren Welt agiert: „Die Weltsicht reduziert sich nicht nur auf eine Summe äußerer Ereignisse oder auf einen Innenbezug, der nicht dieser Welt entnommen ist“ (N, S. 245). Stattdessen besteht zwischen einer gegebenen äußeren Situation und der Bewegung der Tiere ein „Sinnzusammenhang“, den der Ausdruck ‚Umwelt‘ begrifflich fasst (N, S. 242). Demnach gilt als „Umwelt […] die durch die Bewegungen des Tieres implizierte Welt, die ihre Bewegungen durch ihre Eigenstruktur reguliert“ (N, S. 242). Es erfolgt keine Reizung von außen, die nicht von einer eigenen Bewegung des Tieres hervorgerufen wird. Während bei Darwin die Entwicklung der Lebewesen zufällig erfolgt, verzahnen sich nach Uexküll die Motorik des Lebewesens und die Stimuli der je eigenen Umwelt ineinander.28 In diesem Sinne sieht Westling die 24 Giorgio Agamben, Das Offene: Der Mensch und das Tier, deutsche Erstausgabe, 5. Auflage, übers. v. Davide Giurato (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2017), 54. 25 Ibid., 50–51. 26 Merleau-Ponty kritisiert Darwins Idee, „wonach das Milieu das unterscheidet, was das Überleben des Organismus ermöglicht oder nicht“ bzw. dessen Auffassung einer „perfekten Aufteilung zwischen dem Organismus und den äußeren Bedingungen des Organismus“ (N, S. 211). 27 Agamben, Das Offene, 55–56. 28 „Jede Aktion der Umwelt wird durch die Aktion des Tieres bedingt, das Verhalten des Tieres ruft Reaktionen bei der Umwelt hervor. Es gibt eine Aktion in Erwiderung auf das, was das
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Relevanz der Umwelttheorie Uexkülls darin, dass dem Organismus gegenüber Darwins Vorstellung von Evolution eine eigene Wirkmacht zurückgegeben wird: „it [Uexküll’s Umwelt-theory] restores agency to organisms which conventional Darwinian thinking seems to have lost, with its fixation on natural selection and random mutation, forces operating on essentially passive organisms.“29 Gleichwohl stellt sich die Frage einer Abgrenzung zur menschlichen Umwelt, welche Merleau-Ponty im Anschluss an Uexküll als „offenes Feld“ (N, S. 246) gegenüber der tierlichen Umwelt bezeichnet. Diese Offenheit grenzt er vom Freiheitsverständnis der idealistischen Philosophie ab. Das Offene der Umwelt meint demnach nicht das „Produkt einer Freiheit im Kantischen Sinn, eine durch Ereignisse realisierte Freiheit, die sich in der Entscheidung beweist“ und einen Akt des Willen voraussetzt; vielmehr handele es sich um eine „strukturelle Freiheit“ (N, S. 246), die an den Raum bzw. die Sprache gebunden bleibt. Nach Agamben kann diese Offenheit nur auf dem Wege durch „das Nicht-Offene der animalischen Welt erreicht werden.“30 Merleau-Ponty verfolgt, in welcher Weise Lorenz als Schüler Uexkülls dessen Überlegungen fortführt. Ziel ist es herauszufinden, inwieweit Tierverhalten gegenüber der Darwinistischen Sichtweise durch einen (angeborenen) Instinkt bestimmt wird. Unter Instinkttätigkeit versteht Lorenz ein „intentionales Verhalten“, welches zum Vorschein kommt, wenn etwa ein Adler seine Beute fixiert (N, S. 264). Antriebsmoment ist die Auflösung einer „endogene[n] Spannung“, die nicht direkt auf ein Objekt – in diesem Fall die Beute – als Zweck gerichtet ist (N, S. 264). Die Beute kann zwar den Instinkt auslösen, es handelt sich aber nicht um einen automatischen Reflex. Dabei zeigt die aus dem Inneren heraus entwickelte Tätigkeit gegenüber dem Objekt „eine gewisse Blindheit“, was bedeutet, dass etwa ein Star in seinem Verhalten den typischen Ablauf einer Fliegenjagd vorführt, „ohne jemals vorher ein solches Verhalten an den Tag gelegt zu haben oder es bei seinen Artgenossen gesehen zu haben“ und „obwohl es absolut keine Fliege in seiner Umgebung gibt“ (N, S. 264). Der Auslöser ruft hier „einen angeborenen Komplex wach“ (N, S. 265). Jenseits eines Automatismus gibt es grundsätzlich Unterschiede, wofür eine „Prägung“ (N, S. 267), etwa dass eine Gans einem Menschen folgt und nicht anderen Gänsen, verantwortlich sein kann. Diese Prägung, die auch die Grundlage für Dressur abgibt, kann nur in einem bestimmten Zeitfenster erfolgen (vgl. N, S. 268). Wird das ‚Etwas-instinktiv-tun‘ in ein ‚So-tun-als-ob‘ verwandelt, so entsteht ein symbolhaftes Verhalten, das auch ohne Objekt ausgeführt werden kann (vgl. N, S. 269). Es bilden sich dabei Tier gemacht hat, die wiederum das tierische Verhalten in Gang setzt“ (N, S. 242). Gegen Darwin gerichtet schreibt Merleau-Ponty: „Das Arrangement einer Umwelt [im Sinne Uexkülls] kann also kein zufälliges Arrangement sein“ (N, S. 243). 29 Westling, The Logos, 111–12. 30 Agamben, Das Offene, 17.
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protokulturelle Verhaltensmuster heraus, die bewirken, dass das Tier von der Art akzeptiert wird. Vor diesem Hintergrund zielt Merleau-Pontys Rezeption des Uexküll’schen Umwelt-Begriffs darauf zu zeigen, dass lebenden Organismen eine eigene Aktivität zukommt, die sich unabhängig von einer dem (menschlichen) Bewusstsein im anthropozentrischen Sinne vergleichbaren Instanz entwickelt und – wie es Lorenz Forschungen zum Instinkt zeigen – eine funktionelle Einheit mit der Außenwelt bilden. Dies bedeutet nichts weniger als eine „Rehabilitierung der sinnlichen Welt“ (N, S. 323) gegenüber der menschlichen Rationalität.
Relektüre von Kafkas Rotpeter-Figur Inwiefern lassen sich diese Ausführungen für das Verständnis von Kafkas Rotpeter fruchtbar machen? Zunächst wird die auf seine Umwelt gerichtete Wahrnehmung Rotpeters in den Blick genommen. In einem weiteren Schritt soll der von Rotpeter gewählte Ausweg, den er in der Nachahmung erkennt, und dessen Abgrenzung von der Freiheit untersucht werden. Hinsichtlich der Wahrnehmung lässt sich in zweifacher Weise an Kafkas Rotpeter anknüpfen. Zum einen zeichnet Rotpeters Entwicklung den Verlust des Wilden nach, den Merleau-Ponty in der Subjektphilosophie Kantischer Provenienz erkennt. Dieser Verlust setzt ein mit der Gefangennahme, bei der Rotpeter von zwei Schüssen getroffen wird. Der eine hinterlässt auf seiner Wange eine rote Narbe, die ihm den Namen Rotpeter einbringt; der andere trifft ihn „unterhalb der Hüfte“; entscheidend ist die Feststellung: „Nach jenen Schüssen erwachte ich“ (Bericht, S. 301–02). Das plötzliche Erwachen – laut einer Notiz Kafkas zum Proceß-Roman der „riskanteste Augenblick“31 – als Bewusstwerdung seiner selbst birgt eine einschneidende Wende: „Hier beginnt allmählich meine eigene Erinnerung“ (Bericht, S. 302). Das Im-Dunklen-Hocken und gleichzeitige Eingepresstsein in den Käfig während sich ihm „die Gitterstäbe ins Fleisch einschnitten“ (Bericht, S. 302) als erste „im menschlichen Sinn“ (Bericht, S. 303) vorteilhafte Maßnahme zur „Verwahrung wilder Tiere“ (Bericht, S. 302) zeigt, dass und in welch schmerzhafter Weise Rotpeter diesen Prozess am eigenen Leib erfährt. Durch die örtliche Fixierung im Käfig – „ich war festgerannt“ (Bericht, S. 304) – fokussiert sich seine Wahrnehmung auf alltägliche Verrichtungen der Matrosen. Aufgrund des sprichwörtlichen Nachahmungstriebes von Affen lässt sich argumentieren, dass hier, d. h. unmittelbar nach dem Erwachen, eine Art Prägung stattfindet, die mit einer Regulierung des Animalischen und Wilden 31 Gerhard Neumann und Barbara Vinken, „Kulturelle Mimikry. Zur Affenfigur bei Flaubert und Kafka“, Zeitschrift für deutsche Philologie 126, Nr. 16 (2007): 139.
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einhergeht. Darüber hinaus scheint Rotpeter diese Verhaltensweisen in seiner weiteren Entwicklung zu bewahren, was an Lorenz’ Forschungen zur Prägung als tierischer Aktionsart erinnert. Kafka konnte sich auf zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zum Verhalten von Affen bzw. Verhaltensänderungen von gefangenen Affen stützen.32 So ist etwa belegt, dass er sich aus den Darstellungen des Gorillas und des Schimpansen in Brehms Tierleben, das in erster Auflage 1863–1869 erschien, mehr als „20 Punkte“ notiert, sich kritisch mit dem Sozialdarwinismus auseinandergesetzt33 und insbesondere über das Nachahmungsverhalten von Tieren bzw. die Übertragung tierischer Handlungen auf den Menschen informiert hatte.34 Zum anderen gewinnt Rotpeter zusehends menschliche Züge. Seine Fähigkeit sich zu erinnern als Auszeichnung des Menschsein stellt sich erst in dem Augenblick ein, in dem er im Käfig eingesperrt ist und er sich zum ersten Mal „ohne Ausweg“ sieht (Bericht, S. 303). Diese Entwicklung spiegelt die Spannung von reflektierendem Denken und Körper bzw. Natur in der Argumentation Rotpeters wider. Er ahnt, dass er im Käfig „unweigerlich verreckt“ und beschließt, das Affendasein aufzugeben: „Ein klarer, schöner Gedankengang, den ich irgendwie mit dem Bauch ausgeheckt haben muß, denn Affen denken mit dem Bauch“ (Bericht, S. 304). Der Anspruch des Denkens als wesentlicher Bestandteil menschlicher Identität wird zwar gestellt, aber vermittels des Körpers relativiert. Illustriert wird dies in Rotpeters Entscheidung für das Künstlerdasein im Varieté: Während er sich auf die Vorstellungen vorbereitet, verflüchtigt sich sein äffisches Wesen: „Die Affennatur raste, sich überkugelnd, aus mir hinaus und weg“ (Bericht, S. 311–12). Dieser Prozess lässt sich vergleichen mit Schillers humanistischer Ästhetik, derzufolge der Mensch „in seinem physischen Zustande“ – das entspräche Rotpeter in seiner Affennatur – „die Macht der Natur“ bloß „erleidet“, während er sich dieser Macht „in dem ästhetischen Zustand“ – das entspräche Rotpeter im Varieté – „entledigt“.35
32 Vgl. Walter Bauer-Wabnegg, „Der Affe und das Grammophon. ‚Ein Bericht für eine Akademie.‘ Zur Quellenlage. Deutung“, in Walter Bauer-Wabnegg: Zirkus und Artisten in F. K.s Werk. Ein Beitrag über Körper und Literatur im Zeitalter der Technik (Erlangen: Palm & Enke, 1986), 127–59. 33 Paul Heller, Franz Kafka: Wissenschaft und Wissenschaftskritik (Tübingen: Stauffenburg, 1989), 155–190; vgl. Gerhard Neumann, „‚Ein Bericht für eine Akademie‘. Erwägungen zum ‚Mimesis‘-Charakter Kafkascher Texte“, Deutsche Vierteljahrsschrift 49 (1974): 182. Neumann vermutet, dass Kafka für den Bericht Brehms Tierleben in der Ausgabe von 1883 konsultiert hat. 34 Vgl. Neumann, „‚Ein Bericht für eine Akademie‘“, 182. 35 Friedrich Schiller, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, in Friedrich Schiller: Sämtliche Werke in fünf Bänden, Bd. 5, hg. v. Jost Perfah, (München: Winkler, 1975), 385; Vierundzwanzigster Brief.
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Die Relativierung reflexiver Rationalität, welche der eingangs formulierten Angabe entspricht, „auf jeden Eigensinn“ zu verzichten (Bericht, S. 299), wiederholt sich in der Figur Rotpeters auf verschiedenen Ebenen. Seine kognitiven Fähigkeiten werden durch den Rahmen sinnlich bedingter unmittelbarer Beobachtungen limitiert. Schon Differenzierungen wie etwa im Hinblick auf die Handhabung einer Pfeife fallen ihm schwer: „den Unterschied zwischen der leeren und der gestopften Pfeife verstand ich lange nicht“ (Bericht, S. 308). Dem entspricht, dass Rotpeter über seine Situation nicht ‚rechnet‘, d. h. nicht reflektiert, sondern nur wahrnimmt und auch zwischen den Menschen nicht differenziert: „Ich rechnete nicht, wohl aber beobachtete ich in aller Ruhe. Ich sah die Menschen auf und ab gehen, immer die gleichen Gesichter, die gleichen Bewegungen, oft schien es mir, als wäre es nur einer“ (Bericht, S. 307). Die von ihm beanspruchte „Durchschnittsbildung eines Europäers“ (Bericht, S. 312), mit der er sich zufrieden gibt, beschränkt sich auf „triviale Vergnügungen“, wie die Weinflasche, den Umgang mit einer halbdressierten Schimpansin und die beruflichen Erfolge im Variéte. Ähnlich wie in Merleau-Pontys Verständnis der Wahrnehmung wird die Welt im wahrsten Sinn des Worts unmittelbar ‚für wahr genommen‘. Diese Wahrnehmungen erhalten für Rotpeter bei seiner Suche nach einem Ausweg Erkenntnisstatus. Wichtig für das Verständnis des Auswegs ist der Gegensatz zur Freiheit36: Ich gebrauche das Wort [gemeint: Ausweg] in seinem gewöhnlichsten und vollsten Sinn. Ich sage absichtlich nicht Freiheit. Ich meine nicht dieses große Gefühl der Freiheit nach allen Seiten. […] Was mich […] anbelangt, verlangte ich Freiheit weder damals [als Affe] noch heute (Bericht, S. 304).
Als Grund für die Präferenz des Auswegs gibt Rotpeter an, dass die Menschen zu oft mit der Freiheit betrogen worden seien. Beispielhaft dafür wird die Vorstellung des Künstlerpaars am Trapez genannt, dessen „selbstherrliche[r] Bewegung“ er eine zu verachtende „Menschenfreiheit“ zuspricht, die ihm als „Verspottung der heiligen Natur“, erscheint (Bericht, S. 305). Die menschlichen Trapezkünstler sind der Natur entfremdet und deren Kunststücke funktionslos. Die verworfene Freiheit ‚nach allen Seiten‘ entspricht einer Haltung, als deren Anhänger er „gewiß das Weltmeer dem Ausweg vorgezogen“ (Bericht, S. 308) hätte. Um diese Argumentation zu erhellen, ist ein Blick auf Max Brods Kommentar hilfreich: „Der Assimilant, der nicht Freiheit, nicht Unendlichkeit will, nur einen Ausweg, einen jämmerlichen Ausweg. […] die nichtgewollte Freiheit
36 Vgl. Franz Kafka, Das Urteil und andere Erzählungen; [Text und Kommentar], hg. v. Peter Höfle, 6. Auflage (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2015), 162. Für Höfle bildet der Begriff des Auswegs „zusammen mit ‚Freiheit‘ die gedankliche Achse“ des Textes.
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Gottes steht drohend hinter der tiermenschlichen Komödie.“37 Diese Rhetorik einer Freiheit, die ins Unendliche zielt, fußt auf einer dem romantischen Idealismus zugehörigen anthropozentrischen Haltung. Die Ablehnung der Freiheit im idealistischen Verständnis findet sich auch in der posthumanistischen Vorstellung des Offenen bei Merleau-Ponty. Rotpeter muss einen Ausweg im Sinne der umschriebenen, ins Unendliche gerichteten Freiheit ablehnen, da dieser sich nur auf Basis der Ausbildung des Denkens bzw. der Rationalität durchsetzen ließe. Demgegenüber verbleibt Rotpeter im lebensweltlichen Bereich der Beobachtung. Das Beobachten der Menschen, an denen er zwar einen „trüben Blick“ erkennt, die sich aber unbehelligt überall bewegen können, geht der Suche nach einem Ausweg voraus: „Jedenfalls aber beobachtete ich sie [die Menschen] schon lange vorher, […] ja die angehäuften Beobachtungen drängten mich erst in die bestimmte Richtung“ (Bericht, S. 308). Diese Richtung besteht darin, dass Rotpeter die Menschen nachzuahmen versucht. An dieser Stelle ist genauer auf die Nachahmung einzugehen, die in den an Darwin anschließenden Tierforschungen eine große Rolle spielt und mit dem alltagssprachlich den Affen zugesprochenen ‚Nachäffen‘ korrespondiert. Neumann und Vinken haben Rotpeters Nachahmung menschlicher Verhaltensweisen als „kulturelle Mimikry“ beschrieben.38 Mimikry betrifft zunächst den Sachverhalt, dass Tiere z. B. die Farbe der Umgebung annehmen oder andere Tiere gleichsam als Tarnung benutzen. Voraussetzung dafür ist, dass „zwischen der tierischen Morphologie und der Umwelt eine innere Ähnlichkeitsbeziehung“ vorliegt (N, S. 260). Dabei lehnt Merleau-Ponty die Möglichkeit, von einer Mimikry auf ein bewusstes Verhalten der Tiere zu schließen jedoch ab, denn dafür müssten die Tiere „sich ihrer selbst bewußt sein“ (N, S. 256). In Bezug auf Rotpeters Mimikry erklären Neumann und Vinken: Der Affe als Simulacrum des Menschen, verwandelt zuletzt alle diese Bedrohungen der ‚Eigentümlichkeit‘ des Menschen [gemeint sind die bekannten Kränkungen menschlicher Herrschaft durch Kopernikus, Freud und Darwin] in seine eigene Figur, die damit, in Gestalt von Mimikry, als einzig mögliche Form des Überlebens sich offenbart.39
Zuzustimmen ist dem insofern, als Rotpeters Mimikry die Funktion zukommt, sein Überleben zu sichern. Der entscheidende Punkt jedoch ist, dass dieser ‚Ausweg‘ weder auf einer von der Umwelt unabhängigen Reflexion eines ‚ich 37 Max Brod, „Literarischer Abend des Klubs jüdischer Frauen und Mädchen“, Selbstwehr 12, Nr. 1, 4 (1918): 4–5. Zit. nach: Hans-Gerd Koch, „Ein Bericht für eine Akademie“, in Franz Kafka: Romane und Erzählungen, hg. v. Michael Müller (Stuttgart: Reclam, 2015), 177–78. 38 Neumann und Vinken, „Kulturelle Mimikry“, 142. 39 Ibid., 142.
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denke‘ beruht, noch als Ergebnis einer Verstandestätigkeit, einer ‚List‘ oder einer begrifflichen Einsicht im Hegelschen Sinne aufzufassen ist.40 Letzteres würde der Erzähllogik, wonach Rotpeters Verhalten innerhalb der Wahrnehmung im Bereich des unmittelbaren Auffassens verbleibt, widersprechen. So konzedieren Neumann und Vinken, dass der Affe Rotpeter die (darwinistische) Bedrohung bzw. den damit einhergehenden Schock „durch einen performativen Akt“ – nämlich durch den mit dem Bauch ausgeheckten Gedanken „auffängt“.41 Dies unterstreicht auch Westlings Argumentation, wonach die Mimikry (in Abgrenzung zu Darwin) als aktive Auseinandersetzung der Tiere bzw. des Organismus mit der Umwelt herausgestellt wird, in welcher sich symbolisches bzw. kulturelles Verhalten anbahnt: Each animal, operating within its own Umwelt, Merleau-Ponty explains, „defines its territory as a privileged emplacement“ and functions in a symbolic realm […]. A crab, for example, can use a sea anemone to camouflage its shell and protect it from predators or indeed to replace its shell if it has been lost, or it can use the sea anemone as food.42
Deutlich wird, dass Mimikry sich in multiplen Aktivitäten entfalten kann, die auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen von Organismen Ähnlichkeit zeigen, sich jedoch nicht durch einen vorweg gefassten Plan beweisen lassen, sondern sich in verschiedenen Umwelten auf der Suche nach günstigen Überlebensbedingungen bewegen. Merleau-Ponty spricht dabei vom „Beginn einer Kultur“ (N, S. 244): Die Symbolarchitektur, die das Tier seinerseits einbringt, definiert so innerhalb der Natur eine Art von Vor-Kultur. Die Umwelt wird immer weniger zielgerichtet und immer mehr Symbolinterpretation. Aber es gibt keinen Bruch zwischen dem geplanten Tier und dem sich planenden Tier und dem planlosen. (N, S. 244)
Dies lässt sich auch als Erklärungsmuster für Rotpeters Verhalten geltend machen, dessen Beobachtungen geradezu wie von selber in nachahmende Handlungen übergehen. Rotpeter hegt die Hoffnung, dass er in der für ihn neuen ‚Art‘ von Lebewesen, nämlich derjenigen der Menschen, aufgenommen und integriert wird. Beobachtung und Nachahmung werden als Modalitäten des Erkennens aufgewertet, verbleiben aber im Bereich der Wahrnehmung.
40 Demgegenüber argumentiert Neumann, dass Rotpeters Gebrauch des „‚Nachahmungs‘modells […] nicht zu freier Aneignung des Gegenüber[s] der Menschenwelt“ führe, sondern ihn „zur Aufgabe seines freien, seines paradiesischen Selbst in ‚listiger‘ Verstellung“ zwinge. Vgl. Neumann, „‚Ein Bericht für eine Akademie‘“, 174. 41 Neumann und Vinken, „Kulturelle Mimikry“, 142. 42 Westling, The Logos, 82; vgl. N, S. 244.
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Die Form des Berichts Letztlich prägt Rotpeters Stellung zwischen menschlichem Verhalten und tierlicher Gebundenheit auch die sprachliche Form des Berichts, die in der KafkaForschung allerlei Mutmaßungen hervorgebracht hat. Laut Neumann und Vinken geht es bei dieser Form des Berichts nicht nur um eine „Denkform“, sondern auch um eine „Kunstform“, die es in dieser Weise „bislang nicht gegeben“ habe.43 Sie weisen verschiedene mögliche Genres zurück: So ist denn auch dieser ‚Bericht‘ des Affen Rotpeter weder eine autobiographische Allegorie, noch ein wissenschaftlicher Diskurs; es handelt sich weder um einen Theatermonolog, noch spricht der Affe in erlebter Rede; es ist kein Essay und keine anthropologische Fallgeschichte, sondern eher dasjenige, was man ein Texthybrid nennen möchte, ein Artefakt, um die Erkenntnis des Humanen aus dem paradoxen ‚Selbstbewusstsein‘ des Tieres herauszufiltern. Man könnte Kafkas ‚Bericht‘-Text als eine Membran zwischen Wissenschaft und Poesie auffassen, die den Hiat zwischen Tierkörper und Menschenlaut auf paradoxe Weise ‚zur Sprache bringt‘.44
Der Bericht selbst wird gleichsam eingeklammert von zwei autorreflexiven Kommentaren: Eingangs erfahren die Leser_innen von Rotpeter, dass sein Bericht das „äffische Vorleben“ ausspart (Bericht, S. 299). Am Ende weist er jegliches menschliche „Urteil“ zurück: „ich will nur Kenntnisse verbreiten, ich berichte nur, auch ihnen, hohe Herren von der Akademie habe ich nur berichtet“ (Bericht, S. 313). Über sein Vorleben vor dem Erwachen kann er mangels Bewusstsein keine Erinnerung haben. Die Zurückweisung eines Urteils am Ende ist zu verstehen in Abgrenzung zu den mit einem Bericht üblicherweise verbundenen Forderungen. Ein Urteil ist an eine Wertung gebunden und setzt Reflexion bzw. eine Aktivität des Denkens voraus, die den Bereich der Wahrnehmung durchbräche und sein Erkenntnisvermögen übersteigt. Kennzeichen seines Berichts ist somit die Aussparung jeglicher reflektierenden Bewertung. Wiederum ist der ökophänomenologische Blick Westlings – hier auf MerleauPontys Sprachphilosophie – aufschlussreich. In deren Zentrum steht, dass er die menschliche Rede entschieden als „essentially gestural“, d. h. also als an Gesten und Gebärden gebunden und somit als Teil des physischen Lebens begreift. Dies steht im Gegensatz zur Vorstellung der Sprache als einer entkörperten Aktivität des Denkens, als „part of our physical life rather than belonging to some di-
43 Neumann und Vinken, „Kulturelle Mimikry“, 141. 44 Neumann und Vinken, „Kulturelle Mimikry“, 141. Die Autoren verweisen hier auf Agamben, wonach dieser Hiat eine „zentrale Leere“ ausstellt, der im Menschen den Menschen vom Tier trennt. Vgl. Agamben, Das Offene, 100.
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sembodied activity of the mind.“45 In der Konsequenz besagt dies wiederum eine Aufwertung lebensweltlichen Wahrnehmung.
Fazit Rotpeters Oszillieren zwischen Mensch und Tier lässt sich vordergründig durchaus im Sinne einer Hinterfragung, ja sogar Aushebelung der humanistischen Tradition deuten. Dies allein griffe jedoch im Sinne einer ökophänomenologischen Betrachtung zu kurz. Aus der Perspektive Merleau-Pontys und Westlings wird deutlich, dass dem Organismus eine eigene Wirkmacht zugesprochen wird, wobei eine Ähnlichkeit zwischen niederen und höheren Organismen besteht. So geht es nicht primär um den von Darwin provozierten ‚Schock‘, dass sich der Mensch aus dem Tier heraus entwickelt oder um eine völlige Aufhebung der Grenzen zwischen Tier und Mensch, sondern um eine Kritik an der Abtrennung bzw. Isolation der menschlichen Rationalität, welche das Animalische des Menschen, den „rohen und wilden Geist“ (N, S. 290) auflöst oder gar negiert. Rotpeter wäre somit zu verstehen als Inkarnation des Einwands, dass zum einen ein ‚reines Bewusstsein‘ nicht möglich ist, und zum anderen, dass dem ‚wilden Sein‘ ein eigener Logos innewohnt, der die sinnliche Welt rehabilitiert und Anerkennung verlangt. Hierin verbinden sich Merleau-Ponty und Kafkas Rotpeter. In diesem Sinne sei das Schlusswort Louise Westling überlassen: „Merleau-Ponty wanted to explain how a kind of mute meaning or Logos is everywhere in the primordial or wild Being that is our only environment and that of every organism on the planet. The function of human language and culture is to make this visible and to extend it.“46
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45 Westling, The Logos, 113. 46 Westling, The Logos, 136.
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Simon Probst (Universität Vechta)
Posthumanistische Ästhetik der Metamorphose: Baum-Menschen und Stein-Werdungen in der narrativen Multimedia-Arbeit von Nonhuman Nonsense
Abstract Posthumanist Aesthetics of Metamorphosis: Tree Humans and Becoming Stone in the Multimedia Stories of Nonhuman Nonsense The aesthetic representation of metamorphosis focuses attention on transitions in the liminal zones of ontology. In their implicit and explicit evaluations of the transitional directions, narratives and representations of metamorphosis negotiate assumptions about ontological differences and hierarchies. The article shows how the artist duo Nonhuman Nonsense narrates horizontal transitions across ontological boundaries and thus makes kinships between humans and non-humans tangible in a posthumanist aesthetics of metamorphosis. Keywords: Metamorphosis, Posthumanisms, Anthropomorphism, Nonhuman Nonsense, Multimedia Storytelling
Vorüberlegungen: Verwandlungen als ontologische Kartierungen Geschichten von Verwandlungen überschreiten verschiedene Arten von Grenzen. Narziss wird zur Blume, Daphne zum Lorbeer, Jupiter zum Stier, Battus zum Stein, Pilze zu Menschen, Chaos zu Welt. Die Verwandlung transportiert Wesen über die Trennlinien zwischen Spezies hinweg und lässt sie sogar die scheinbare Kluft zwischen ontologischen Abgründen überwinden, dem Belebten und Unbelebten, dem Ewigen und dem Vergänglichen, dem Göttlichen und dem Menschlichen. Trotzdem ist die Erzählung von Metamorphosen nicht per se ein posthumanistisches oder neumaterialistisches Manöver. Die Darstellung der Übergänge, des Vorgangs des Hinübergehens, konzentriert die Aufmerksamkeit auf Bewegungen in den liminalen Zonen der Ontologie. Unterschiede werden dabei paradoxerweise nicht aufgelöst, sondern nachgezeichnet, betont, kartiert. Die Verwandlung bringt im Rückstoß ihrer transzendierenden Bewegung eben jene Grenzen hervor, die sie überschreitet. Die Ränder zwischen den Bereichen verschwimmen für einen Moment, werden danach aber umso schärfer gestellt. Der narrative Kontext setzt die miteinander
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verknüpften Bereiche in ein bedeutungsvolles, oft moralisch konnotiertes und hierarchisch codiertes Verhältnis. Die Metamorphose kann Abstieg oder Aufstieg, Gewinn oder Verlust, Belohnung oder Bestrafung sein.1 In ihren impliziten und expliziten Bewertungen der Übergangsrichtung verhandeln Verwandlungserzählungen und -darstellungen anschaulich Annahmen über ontologische Differenzen und Hierarchien (Grade von Freiheit, Geist, Vollkommenheit). In ihnen können zum einen speziesistische und anthropozentrische Ideologien wiederholt und gefestigt werden. Zum anderen macht es die ontologische Verdichtung im Moment der Metamorphose möglich, die Verwandlung als narrativästhetisches Modell für alternative Kartierungen vom Gebiet des Seienden zu gestalten. Im Folgenden soll es vor dem Hintergrund dieser Ambivalenz darum gehen, wie Verwandlungserzählungen im Rahmen einer posthumanistischen Ästhetik zur Destabilisierung von Anthropozentrismen beitragen und artenübergreifende Verwandtschaften in Netzwerken des Lebendigen erfahrbar machen.
Verwandlungsanalyse: Becoming Stone und Tale of a Tree Human (Nonhuman Nonsense) Das Künstler_innenduo Nonhuman Nonsense, Leo Fidjeland und Linnea Våglund,2 arbeitet erklärterweise an Transformationen menschlicher Beziehung zu Nichtmenschen3 – von Tieren, über Pflanzen, bis zu Steinen und Planeten. Die Wirkungsabsicht der multimedialen spekulativen Designkunstwerke besteht in einer ästhetischen Erfahrbarmachung ontologischer Grenzüberschreitungen. In ihrer Installation Becoming Stone luden sie die Rezipient_innen dazu ein, sich mit allen Sinnen der Welt eines Steins anzunähern.4 Zu diesem Zweck wurden Besucher_innen dazu aufgefordert, Steine zu ertasten, sich mit ihnen zu berühren, das Ohr an sie zu legen, zu lauschen, sie in den Mund zu nehmen und zu 1 Friedmann Harzer unterscheidet zwischen der „Ascension“ und der „Degradation“ als möglichen Richtungen der Verwandlung. Dabei beruht insbesondere der aus Hegels Vorlesungen über die Ästhetik übernommene Begriff der Degradation auf einer anthropozentrisch hierarchischen Trennung zwischen ‚dem Geistigen‘ und ‚dem Natürlichen‘, wobei ersteres zu letzterem degradiert wird und dieses dabei aufwertet. Vgl. Friedemann Harzer, Erzählte Verwandlungen. Eine Poetik epischer Metamorphosen (Ovid – Kafka – Ransmayr) (Tübingen: Niemeyer, 2000), 30. 2 Seit kurzem auch als Trio zusammen mit Filips Stanislavskis. 3 Vgl. „About,“ Nonhuman Nonsense, abgerufen am 22. 09. 2022, https://nonhuman-nonsen se.com/about. 4 Für photographische Impressionen und Reflexionen der Künstler_innen, „Becoming Stone“, Nonhuman Nonsense, abgerufen am 22. 09. 2022, https://nonhuman-nonsense.com/becoming -stone.
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schmecken. Zusätzlich lag ein Steinanzug bereit, ein grobes Kleidungsstück aus mit Stricken verbundenen Steinstücken. Diesen konnten sich die Besucher_innen umlegen, sich mit ihm niederlassen und in der so gewonnenen Schwere die mögliche Innenwelt des Steinseins meditieren. Nonhuman Nonsense artikuliert auf dem zur Installation gehörigen Internetauftritt des Artistic Research-Projekts Turn to Stone eindeutig die Position, dass Steine (ebenso wie andere nichtlebende Entitäten) eigene Welten besitzen. Damit richten sie sich mit Timothy Mortons Philosophie einer mehr-als-menschlichen Solidarität5 gegen die anthropozentrische Position Martin Heideggers, der unterschiedliche Existenzweisen nach der Reichhaltigkeit ihrer Welten beschreibt, nur Menschen vollgültige Welten zugesteht, Tiere als ‚weltarm‘ abwertet und nichtbelebten Dingen eine Welt vollständig abspricht.6 Würde man von einer solchen Hierarchie des Welt-Habens ausgehen, wäre die Verwandlung in einen Stein ein eindeutiger Abstieg auf der Stufenleiter des Seins. Stellt man sich stattdessen auf eine Position des Nichtwissens und geht von der Annahme oder zumindest der Möglichkeit einer andersartigen Steinwelt aus, wird die Verwandlung zur Erkundungstour in ein benachbartes, aber uneinsehbares Gebiet der Existenz. Allerdings verwandelt sich in dieser Installation niemand tatsächlich in einen Stein. Der Ansiedlung in der Welt der realen Körper fehlt die metamorphische Freiheit fiktiver Welten. Aber schon dem bloßen So-Tun-Als-Ob wohnt eine Kraft inne, ontologische Vorurteile gegenüber Steinen in Frage zu stellen. Denn damit es sich überhaupt lohnt, eine solche unmögliche Verwandlung in Angriff zu nehmen, muss auf ihrer anderen Seite eine Welt vermutet werden. Die Fiktion der Verwandlung bringt als fiktive ontologische Implikation die Welten hervor, zwischen denen sie zu reisen behauptet. Die Besucher_innen verwandeln sich zwar nicht in Steine aber im Experiment ihres eigenen Petromorphismus verkörpern sie die Annahme einer Stein-Welt. In der synästhetischen Erfahrung des Steins bilden sich hypothetische Überlappungspunkte der Welten, in der wortwörtlichen Berührung zeichnen sich übertragene Berührungspunkte in den Körper unseres Wissens über die Dinge und die Beziehungen zwischen ihnen. Das heißt, neben der physischen und der psychischen Transformation, die 5 Morton greift Heideggers Argument der ‚Weltarmut‘ auf und dehnt es von Pflanzen und Tieren auf Menschen aus: Welten seien immer unvollständig, unvollkommen und unabgeschlossen, so dass eine Welt zu haben immer automatisch bedeute, arm an Welt zu sein, am Anspruch einer vollendeten Welt Mangel zu leiden. Dieser Mangel begründet die Möglichkeit der Solidarität zwischen den porösen und einander überlappenden Welten heterogener Existenzformen. Weil sie offen sind, sind Welten verwundbar, dem Eindringen von Anderem ausgesetzt, endlich und angewiesen. Diese Prekarität stiftet eine übergreifende Gemeinsamkeit in einer Welt vieler Welten. Timothy Morton, Humankind. Solidarity with Nonhuman People (London und New York: Verso, 2017), 37. 6 Vgl. „Turn to Stone“, Nonhuman Nonsense, abgerufen am 22. 09. 2022, https://nonhuman-non sense.com/turn-to-stone.
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Abb. 1. Becoming Stone. © Nonhuman Nonsense.
zwischen Menschsein und Steinsein liegen, geht es auch um die ontologische Metamorphose der jeweiligen Weisen der Welterzeugung.7 Der Versuch der Metamorphose wird zu einer Übung in der Transformation verkörperter Ontologie. In der Arbeit Tale of a Tree Human (2019) bringen Nonhuman Nonsense das körperliche So-Tun-Als-Ob einer Verwandlung mit deren vollendetem Vollzug in
7 Die Arbeiten lassen sich damit einer modernen Entwicklungslinie in den bildenden Künsten zuordnen, die Christa Lichtenstern insbesondere seit den Surrealisten beobachtet und bei der die Metamorphose Inhalt, „Gestaltungsprinzip“ und „ästhetische Kategorie“ (Hervorhebung im Original) zugleich ist und auf eine Befreiung aus den Wahrnehmungsmustern des bewussten menschlichen Denkens zielt. Im allgemeineren Sinn schreiben Nonhuman Nonsense sich auch der großen Tradition von Metamorphosedarstellungen seit Ovid ein, die sich dadurch auszeichnet, dass „eine Gestaltverwandlung im Bereich von Mensch und Natur vorliegt und diese eine existenzielle Grenzerfahrung mit einschließt“ (Hervorhebung im Original). Christa Lichtenstern, Metamorphose vom Mythos zum Prozeßdenken. Ovid-Rezeption, Surrealistische Ästhetik, Verwandlungsthematik in der Nachkriegskunst (Weinheim: VCH, 1992), 2–4. Die Variation dieses Musters besteht nun darin, dass die Verwandlung weder ontologischer Ab- noch Aufstieg ist und dass es auch nicht darum geht, ‚Menschlichkeit‘ weiterzuentwickeln. Stattdessen geht es um eine horizontale Grenzerfahrung und die Begegnung mit den Welten anderer Spezies.
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einer fiktionalen Erzählung zusammen.8 Das Werk basiert auf umfassenden Recherchen zum Ökosystem des East Vättern Scarp Landscape Biosphärenreservats in Schweden, Gesprächen mit Wissenschaftler_innen und der Naturerfahrung vor Ort. In seinem Zentrum steht eine kleine, wissenschaftsbasierte, mythologisch anmutende Erzählung. Sie handelt von dem Mädchen Vide, dessen schwedischer Name ‚Weide‘ bedeutet und schon auf die Anlage eines Baumseins in ihr, also auf ein Metamorphosepotential hindeutet. Vide lernt den Wald des East Vättern Scarp kennen, seine Pflanzen und Tiere, ebenso wie deren vielfältigen Beziehungen und deren Bedrohungen durch den Menschen. Von einem mythischen Wisent (eine Art, die im Schweden des 21. Jahrhunderts ausgestorben ist), erhält sie einen Samen, der die Sprache des Waldes enthält. Am Ende der Erzählung entscheidet Vide, den Samen zu essen und sich in einen Baum zu verwandeln. Dadurch wird sie befähigt, mittels ihrer Wurzeln und deren Verbindungen zum Netzwerk eines großen Pilzmyzels die Sprache des Waldes zu verstehen und zu ‚sprechen‘.9 Die Erzählung wird in zwei Formen präsentiert: Erstens als ein Leporello mit Vides Legende, das sich zu einem langen Band auffalten lässt, illustriert von der Künstlerin Vivianna Maria Stanislavska. Zweitens als eine Ansammlung begehbarer semi-permanenter Skulpturen: Baumstümpfe mit aufgemalten Augen, in deren Rissen sich scheinbar menschliches Fleisch befindet; Baumstümpfe, die wieder austreiben und auf deren Schnittfläche die Künstler_innen Füße geschnitzt haben, in die sich Betrachter_innen stellen können, um ihre eigene Verwandlung in einen Baum zu imaginieren. Die Künstler_innen schreiben in ihrer eigenen Wiedergabe, der von ihnen erfundenen Legende: It is said that Vide met a visent, a type of european bison that grazed the sunlit slopes of Lake Vättern before the arrival of humans and created a savannah-like landscape with high biodiversity. The visent went extinct in Sweden in the 11th century, and it’s role in the ecosystem was replaced by domesticated animals, driven by humans. From the visent, Vide was given a seed containing the language of the forest, and started to hear wishes whispering in the wind. In the middle of Österängen, at the southern tip of Lake Vättern, Vide realizes that Vide is the forest and chooses to give up their humanity, take root and become a tree. A sacrifice that opens a portal across species 8 Die Online-Präsentation des Projekts erzählt sowohl die Legende kurz nach, benennt die künstlerischen Ziele und enthält Photographien der Skulpturen sowie der illustrierten Druckversion von Vides Legende. Vgl. „Tale of a Tree Human“, Nonhuman Nonsense, abgerufen am 22. 09. 2022, https://nonhuman-nonsense.com/tale-of-a-tree-human. 9 Die Konzeption der Sprache des Waldes in der Kunstlegende ist dabei weit entfernt davon, Fiktion zu sein. Vielmehr schließt sie eng an Erkenntnisse darüber an, wie Bäume in Wäldern über unterirdische Pilznetzwerke miteinander verbunden sind und Nährstoffe und Informationen austauschen. Vgl. dazu Suzanne Simard, „Mycorrhizal Networks: Mechanisms, Ecology and Modeling“, Fungal Biology Reviews 26 (2012): 39–60.
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boundaries. Here you [gemeint sind die Besucher_innen der Skulpturen; S. P.] can still meet Vide, connect your feet and listen to the forest through the network of fungal mycelium and roots that connect the plants underground.10
Die Funktion der Verwandlung wird hier eindeutig benannt: ein Mittel für Verbindungen über Speziesgrenzen hinweg. Vides Aufgabe ihrer Menschengestalt bedeutet zwar ein Opfer, Abschied von Vertrautem, aber keinen ontologischen Abstieg. Denn für den Verlust ihrer animalischen Bewegungsfreiheit, ihrer Fähigkeit zu sprechen und an der menschlichen Gesellschaft teilzuhaben, erhält sie die Gabe, der vielstimmigen Sprache des Waldes zu lauschen, sie zu verstehen, und sie wird mit den ihr wachsenden Wurzeln in den großen Bedeutungsaustausch myzelischer Netzwerke eingebunden. Weder Aufstieg noch Abstieg vollzieht Vide, keine vertikale Umwertung ihres Seins, sondern eine horizontale Umwandlung. Auch die Wirkungsabsicht benennt Nonhuman Nonsense eindeutig – und zwar in Form eines Handlungsvorschlags für die Besucher_innen: Diese sollen sich auf die Skulpturen von Baummenschen stellen und sich imaginativ von ihren Füßen ausgehend mit dem Myzelium und Wurzelwerk des Waldes verbinden. Die Baumwerdung ist in dem Werk zum einen ein mythisches Motiv und erfüllt die symbolische Funktion, die Möglichkeit artenübergreifender Verbindungen anschaulich zu machen. Zum anderen ist die Verwandlung, wie bei Becoming Stone, eine verkörperte Praxis der tastenden speziesübergreifenden Einfühlung und ontologischen Metamorphose des eigenen Seins (oder zumindest die Idee, die utopische Fiktion einer solchen Praxis). Diese doppelte Funktion korrespondiert dem Zusammenspiel der einzelnen Elemente in Tale of a Tree Human: den Verbindungen von Kunstmythos und Skulptur, die sich in ihrem Wechselspiel ebenfalls medial-ontologischen Transformationen und Verschiebungsprozessen aussetzen. Die Legende von Vide gehört zunächst dem ontologischen Bereich menschlicher Symbolsysteme an. Es handelt sich um eine mit den Mitteln der menschlichen Imagination, als Teil eines künstlerischen Projektes erdachte, in menschlicher Sprache verfasste und illustrierte Kunst-Legende. Mit ihrer Objektwerdung in den Skulpturen erhält diese Legende eine materielle Form, durch die vermittelt sie in die East Vättern Scarp Landscape eingebettet wird. Die Geschichte wird auf diese Art als Teil der dortigen Ökologien und Netzwerke des Lebendigen inszeniert und erfahrbar gemacht. Die Skulpturen der Baummenschen hingegen wurden aus Baumstümpfen gefertigt.11 Sie gehören zunächst dem ontologischen Bereich der materiell-ökologischen Beziehungen des Naturparks an. Indem auf ihre Abschnittflächen Füße eingeprägt und sie mit Augen und 10 „Tale of a Tree Human“. 11 Für das Kunstwerk wurden keine Bäume gefällt, die Baumstümpfe waren schon vorher da (Gespräch mit den Künstler_innen).
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künstlichen Fleischeinwüchsen ausgestattet werden, verwandeln sie sich in symbolische Objekte. Durch die Einbettung in den Kontext der Legende von Vide erhalten sie klar artikulierte mythisch-symbolische Bedeutungen, die die Beziehung von Menschen und Wald betreffen. Als Skulpturen reichen die Baumstümpfe in den ontologischen Bereich der Fiktion und des Mythos hinein. Die Illustration der Legende, in der die Baum-Menschen schon zu sehen sind, fungiert dabei als eine Art mediale Vermittlung zwischen der Sprachlichkeit der Legende und der Materialität der Skulpturen. Auf diese Weise wird die East Vättern Scarp Landscape durch die aus ihr gewachsenen und in ihr stehenden Skulpturen für die menschlichen Betrachter_innen mit einer symbolisch-mythologischen Bedeutungsschicht angereichert. Die Verwandlung erfüllt hier eine grundlegende Funktion poetischer Sprache und ästhetischer Gestaltung: die ‚stumme‘ Wirklichkeit dem Bereich des Zeichenhaften anzuverwandeln, so dass zuvor gleichgültige Dinge die Betrachter_innen plötzlich etwas angehen und an‚sprechen‘.12 Eine entscheidende Verschiebung zu dieser Konzeption besteht darin, dass die Metamorphose in Tale of a Tree Human auf tatsächliche und in der Welt bzw. den Netzwerken des Lebendigen selbst liegende nichtsprachliche Semioseprozesse hinweist und diese hörbar macht.13 Die Beziehung zwischen den Baummensch-Skulpturen und der Legende von Vide erinnert in ihrer Funktionsweise sehr an religiöse, magische und rituelle Gebrauchsobjekte und Reliquien. Auch bei diesen findet eine ähnliche Doppelbewegung statt: Die Objekte werden mit der symbolischen Bedeutung von Geschichten, Legenden und Mythen durchdrungen und verleihen diesen Fiktionen umgekehrt eine objektive Gestalt und verstärken deren Wirkmacht im menschlichen Zusammenleben. Die Beziehung zwischen Skulptur und Legende ist deshalb in der Installation nicht illustrativer Natur. Auch sind die Plastiken der Baummenschen nicht einfach die Materialisierung oder Objektwerdung der Legende. Denn die Installation ist von Nonhuman Nonsense als eine Einladung an ihre Rezipi12 Vgl. Johannes Anderegg, Sprache und Verwandlung: zur literarischen Ästhetik (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1985), 101–02. 13 Das nichtsprachliche Zeichenhandeln von Pflanzen und nichtmenschlichen Tieren wird in zunehmend umfassender Weise untersucht und hat in der Bio- und Ökosemiotik auch eine theoretische Fundierung gefunden. Einen Überblick über wichtige Konzepte der Ökosemiotik und deren Entwicklung bietet Timo Maran, „Two Decades of Ecosemiotic in Tartu“, Sign System Studies 46, Nr. 4 (2018): 630–39, https://doi.org/10.12697/SSS.2018.46.4.11. Dass die Zuschreibung von aktiver Semiose an nichtmenschliche Wesen eine wichtige Rolle bei der Überwindung anthropozentrischer Weltanschauungen spielt hat Eduardo Kohn argumentiert, vgl. Eduardo Kohn, How Forests Think. Towards an Anthropology Beyond the Human (Berkeley: University of California Press, 2013), 40. In diesen Erkenntnissen darüber, dass nichtmenschliche (Lebe-)Wesen auch fühlen, denken und kommunizieren, also Akteure von Semioseprozessen sind, lässt sich eine zentrale wissensgeschichtliche Voraussetzung für nicht-hierarchische, horizontale Metamorphosekonzeptionen sehen.
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ent_innen intendiert, Vides Verwandlung nachzuvollziehen: sich in ihre Fußspuren zu stellen, ihrem Beispiel zu folgen und ein Verstehen der Sprache des Waldes und die eigene Metamorphose, ein mögliches Baum-Werden zu imaginieren. Das heißt, die aufgestellten Baummenschen sind – in der Logik des Gesamtwerks – materielle Spuren von Vides Geschichte und der Beziehung, die sie mit dem Wald am Lake Vättern eingegangen ist. Erst am Ende von Vides Legende und in Folge ihrer Entscheidung, sich zu verwandeln, existieren die in den Skulpturen dargestellten Baum-Menschen überhaupt. Sie sind die Folge von Vides Handeln. Die Baummenschen stehen also nicht nur in einer repräsentativen, sondern auch in einer fiktiven kausal-zeitlichen Beziehung zu Vides Legende und führen deren Verwandlungsbewegung fort, geben deren Impuls an die Besucher_innen weiter. Analysiert man Tale of a Tree Human systematisch, zeigen sich mehrere Schichten von Metamorphosen. Auf werkimmanenter Ebene vollzieht Vide eine Verwandlung in einen Baum mit dem erklärten Ziel, dadurch die Sprache des wispernden Waldes zu lernen. Sie gibt ihre menschliche Gestalt auf und opfert ihre Möglichkeit an der menschlichen Gesellschaft teilzuhaben, um dafür in die Gesellschaft des Waldes einzugehen. Sie arborealisiert sich. Allerdings verliert Vide ihre menschlichen Eigenschaften nicht vollständig, so bleiben ihr die Augen, und auch andere Spuren verweisen auf ihr vormaliges Menschsein und darauf, dass dieses in ihrer Baumgestalt fortdauert (ebenso wie ihr Name schon auf die Baum-Anteile ihres Menschseins hingewiesen hat). So wird Vide zum einen zur Vermittlerin zwischen der Waldwelt und der Menschenwelt. Zum anderen wird sie – nicht ganz Baum und nicht ganz Mensch, sondern Zwitterwesen – zum Symbol für die Verflechtung und Durchdringung unterschiedlicher (Um)Welten. Auf Produktionsebene lässt sich annehmen, dass die Künstler_innen beim Imaginieren und Schreiben von Vides Legende deren Arborealisierung ein wenig mitvollzogen haben. Bei der Anfertigung der Skulpturen lässt sich aber auch eine entgegengesetzte Verwandlungsrichtung beobachten. Bäume, genauer gesagt Baumstümpfe, werden mit Glas-Augen und Plastik-Fleisch-Einschlüssen auf eindrückliche Art anthropomorphisiert. Während sie also die Verwandlung eines Menschen in einen Baummenschen repräsentieren, handelt es sich bei ihnen de facto um die gestalterische Verwandlung von Bäumen in Baummenschen. Auf Rezeptionsebene wiederum sind die Skulpturen eine Einladung an die sie betrachtenden, berührenden und betretenden Menschen, sich vorzustellen, wie es wäre, selbst ein solcher Baummensch zu werden, die eigene Gestalt aufzugeben, holzig zu werden, Wurzeln zu schlagen und das Wispern des Waldes zu verstehen. Die Vermenschlichung von Bäumen und die ‚Verbäumlichung‘ von Menschen sind in der Werkstruktur von Tale of a Tree Human aufs Engste miteinander verschränkt.
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Abb. 2. Tale of a Tree Human. © Nonhuman Nonsense.
Metamorphotische Ästhetik: Verwandlung als Verwandtschaft und Vergleichsgrundlage Um die narrativ-ästhetische ebenso wie die ontologische Struktur der Metamorphose in Tale of a Tree Human zu verstehen, hilft es zwei Gedankenfiguren miteinander zu verschränken: Jane Bennetts ‚strategischen Anthropomorphismus‘ und Bruno Latours Idee des ‚Metamorphismus‘. Bennetts Idee besagt, dass die Anthropomorphisierung, selbst wenn sie nichtmenschlichen Wesen irrtümlicherweise menschliche Eigenschaften zuschreibt, doch den Gewinn bringt, dass sie Ähnlichkeiten, Verflechtungen und
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Resonanzbeziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen aufdeckt und erfahrbar macht. Bennett beschreibt als ein Beispiel, wie Charles Darwin die von ihm beobachteten Regenwurmkulturen vermenschlichte und genau dadurch die Komplexität von deren Existenzweise auf die Schliche kam. Ihre Schlussfolgerung ist: „an anthropomorphic element in perception can uncover a whole world of resonances and resemblances – sounds and sights that echo and bounce far more than would be possible were the universe to have hierarchical structure.“14 Als rhetorisches Stilmittel und kognitiv-imaginatives Werkzeug trägt der Anthropomorphismus so auf kontraintuitive Weise dazu bei, eine anthropozentrische Weltsicht zu destabilisieren. Zum Beispiel bringt uns die ‚Vermenschlichung‘ von Tieren oder Pflanzen näher, dass diese auch wahrnehmen, fühlen, kommunizieren etc., was uns ohne das rhetorische Mittel und kognitive Werkzeug des Anthropomorphismus tendenziell verborgen bleibt, weil Pflanzen und Tiere dies auf andere Weise tun und ausdrücken als Menschen.15 Die Idee des Metamorphismus bei Latour ist demgegenüber dezidiert ontologisch konzipiert und liefert eine Kritik an der rhetorisch-kognitiven Konzeption des Anthropomorphismus.16 Latour weist darauf hin, dass der Anthropomorphismus keineswegs die einzige Verwandlungsrichtung ist, die in (mensch14 Jane Bennett, Vibrant Matter. A Political Ecology of Things (Durham: Duke University Press, 2010), 99. 15 Der strategische Anthropomorphismus ist damit dem „kritischen Anthropomorphismus“ (Hervorhebung im Original) in der Philosophie verwandt. Ralf Becker benutzt diesen Begriff für eine Denkbewegung bei Hans Jonas: Ausgehend von Darwins Evolutionstheorie und der damit beschriebenen Kontinuität des Lebens kritisiert Jonas den „dogmatisch[en] Anti-Anthropomorphismus“ (Hervorhebung im Original), der jede Übertragung von Geist, Innerlichkeit, Sprache, Empfinden auf nichtmenschliche Wesen verbietet. Jonas argumentiert, dass die evolutionäre Verwandtschaft von Menschen mit allen anderen Lebensformen es logisch gebietet, die Möglichkeit von Geist bei nichtmenschlichen Wesen zuzulassen. Die Durchdringung eines materiellen Körpers mit Geist, die Verflechtung von psychischer und physischer Existenz ist der menschlichen Anschauung aber nur am Menschen selbst konkret gegeben. In der Folge ist ein anthropomorphisierendes Denken notwendig, um vom menschlichen Standpunkt aus, die Möglichkeit von Geist bei anderen Wesen zu repräsentieren. Ralf Becker, Der menschliche Standpunkt. Perspektiven und Formationen des Anthropomorphismus (Frankfurt a. M.: Klostermann, 2011), 302–11. 16 In dieser Argumentation lassen sich bei Latour die Auswirkungen einer ontologischen Umwertung ursprünglich epistemologischer Fragestellungen und damit auch eine Wende im Nachdenken über das Phänomen des Anthropomorphismus erkennen. Denn, wie Daniel Hermsdorf in seiner ideen- und mediengeschichtlichen Arbeit beobachtet, hat das „philosophische Denken des Anthropomorphismus in der Moderne sich auf erkenntnistheoretische Aspekte konzentriert und in dieser Hinsicht Darstellung und Kritik mythologischer Symbolsysteme (Kant, Feuerbach, Nietzsche), Kategorienlehre (Nietzsche, Heidegger) und Anthropologie (Scheler, Plessner)“ betrieben. Daniel Hermsdorf, Filmbild und Körperwelt. Anthropomorphismus in Naturphilosophie, Ästhetik und Medientheorie der Moderne (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011), 468. Demgegenüber stellt Latour Verbindungen her zwischen rhetorisch-semiotischen Strukturen und den Strukturen der Welt selbst.
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lichen) Welten auftritt. Die Ontologie der Welt sei vielmehr durch unzählige Morphismen verschiedenster Art gekennzeichnet.17 Aus seiner Sicht verwandeln sich alle Dinge, die einander begegnen, wechselseitig. So machen menschliche Wesen in ihren Begegnungen mit petrofossilen Infrastrukturen, mit der Atmosphäre, Romanen, der Metro, einem Konferenzraum, Steinen oder Bäumen ebenso viele Verwandlungen oder zumindest Umwandlungen durch. Deshalb denkt Latour sich die Welt als metamorphische Zone („metamorphic zone“),18 in der alle Entitäten über die Fähigkeit verfügen, sich wechselseitig in ihre Verwandlungsprozesse einzumischen, d. h. über eine als Verwandlungskraft näher bestimmte Wirkmacht. Die in dieser ontologischen Idee implizite Kritik an der rhetorischen Konzeption des Anthropomorphismus lautet: Indem wir in unserer Analyse von Kommunikationsakten so sehr auf Anthropomorphismen – und ihre Austreibung – konzentriert sind, übersehen wir die anderen immer auch (sprachlich) präsenten Multi-Morphismen. So legen wir die Verwandlungs- und Aneignungskraft einzig den Menschen bei und festigen auf diese Weise, entgegen der Intention der Anthropomorphismuskritik, letztlich eine anthropozentrische Weltsicht. An der Verwandlungs-Darstellung von Tale of a Tree Human lässt sich der intrikate Zusammenhang von Anthropomorphismus und Multimorphismus beobachten. Während die Baumstümpfe durch ihre Umgestaltung vermenschlicht werden, erfüllen sie die ästhetische Funktion, eine Arborealisierung zu repräsentieren und für die Betrachter_innen vorstellbar zu machen. Beide Morphismen laufen über Kreuz: Bäume werden zu Menschen, damit Menschen zu Bäumen werden. Im mythisch-materiellen Schnittpunkt dieser Bewegungen entsteht eine Baummenschlichkeit. Auf dieser Weise entwirft die Installation um das Verwandlungsgeschehen herum ein ästhetisch-ontologisches Modell einer Welt vieler gleichberechtigter Welten. Wo der strategische Anthropomorphismus Resonanzen vom privilegierten menschlichen Standpunkt aus aufdeckt und ihnen über die Grenzen einer ontologischen Hierarchie hinweg nachspürt, kartiert die metamorphotische und dezidiert posthumanistische Ästhetik von Nonhuman Nonsense tentativ horizontalen Verbindungslinien. In verwandter Weise modelliert der Philosoph Emanuele Coccia die Verwandlung als ein Konzept, das es erlaubt, die Beziehungen alles Existierenden über die Grenzen der Lebensformen und Seinsweisen hinweg nachzuzeichnen.19 Die Geschichte des Universums und des Lebens erscheint in seiner Perspektive
17 Vgl. Bruno Latour, „Agency at the Time of the Anthropocene“, New Literary History 45, Nr. 1 (2014): 12. 18 Ibid., 13. 19 Vgl. Emanuele Coccia, Metamorphosen. Das Leben hat viele Formen. Eine Philosophie der Verwandlung, übers. v. Caroline Gutberlet (München: Hanser, 2021), 13.
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als eine „Maskerade, die in der Zeit abläuft, nicht im Raum.“20 Im Stein wie im Licht, in der Pflanze wie im Mensch, immer sind es Anteile der gleichen Materie und Energie, die in flüchtigen Entitäten sich neue Masken aufsetzen, neue Verbindungen eingehen, provisorisch ihre Umrisse und Grenzlinien einzeichnen. Die Philosophie der Metamorphose deckt diese Kontinuitäten auf, indem sie die Radikalität des vollständigen Formwandelns als Kernprinzip der Ontologie einführt. In analoger Weise lässt sich die Metamorphose als eine ästhetische oder „poetische Anschauungsform“21 begreifen. Ihre Darstellung gibt der Zeit und dem Werden eine narrative Struktur und macht es so der Wahrnehmung verfügbar.22 In der Metamorphose verdichten sich die meist zeitlich weit ausgedehnten Übergänge zwischen den Formen auf einen Moment, eine überschaubare und anschauliche Ereignissequenz. Verdichtet wird im Geschehen der Verwandlung nicht nur Zeit. Auch nichtlineare, nicht-temporale Verbindungen im Werden kommen zum Vorschein. So besteht keine unmittelbare Evolutionsbeziehung zwischen Menschen und Bäumen. Trotzdem lassen sich in der Geschichte des Lebens Verbindungslinien zwischen ihnen erkennen. Diese vollziehen nicht eine lineare zeitliche Relation nach, sondern schraffieren einen geteilten Prozessraum der Evolution. Diese Schraffur markiert Nachbarschaft in einer dicht vernetzten Nische. Als ästhetische Anschauungsform verdichtet die Verwandlung im Nukleus ihres Ereignisses komplexe Verwandtschaften. Außerdem bedarf die Metamorphose – und darin verschränkt sie sich mit der sprachlichen und kognitiven Struktur der Metapher – eines ontologischen tertium comparationis. Der Übergang zwischen den Formen braucht im mindesten einen kleinsten gemeinsamen Nenner der jeweiligen Pole. Zwischen Menschen und Bäumen gibt es eine große Schnittmenge: Leben, Tod, Erfahrung von Mangel und Fülle, Fortpflanzung, komplexe Wahrnehmungsorgane, Existieren in Gemeinschaften, Kommunikation. Aber selbst mit einem Stein, mit dem die Verwandtschaftsgrade entfernter sind, bleibt noch die Materie (und viele Aspekte ihrer Organisation) als große Vergleichsgrundlage. Darstellung von Verwandlung verweist auch hier noch auf die „commonality of matter“.23 Die ästhetisch gestaltete Metamorphose bei Nonhuman Nonsene ist in diesem Sinn eine posthumanistische Einladung an Rezipient_innen heterogene Resonanzbeziehungen und Durchdringungen mit nichtmenschlichen ebenso wie mit nichtbelebten (Um)Welten als einen verkörperten Prozess ontologischer Gleichberechtigung zu erfahren. Eine so konzipierte Ästhetik der Verwandlung 20 21 22 23
Ibid., 14. Harzer, Erzählte Verwandlungen, 26. Vgl. ibid., 15. Rosi Braidotti, Metamorphoses. Towards a Materialist Theory of Becoming (Cambridge und Malden: Polity, 2002), 162.
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partizipiert durch die Erfahrbarmachung ontologischer Verwandtschaften daran, ein Gefühl für Zugehörigkeit und damit auch die Empathie auf den Bereich des Nichtmenschlichen auszuweiten.24
Vewandlungskritik In den vorherigen Abschnitten habe ich die Arbeit von Nonhuman Nonsense im Sinne einer posthumanistischen Ästhetik der Metamorphose dargestellt. Abschließen möchte ich nun mit einer kritischen Überlegung. Denn die Funktionalisierung nichtmenschlicher Entitäten (Steine, Bäume) als Vehikel einer Ausdehnung und Transformation des Menschlichen produziert in ihrem Rücken einen Anthropozentrismus zweiter Ordnung.
Abb. 3. The Anti-Anthropocentric Vending Machine. © Nonhuman Nonsense.
Symptomatisch und zugleich selbstreflexiv wird diese epistemologische ‚Emission‘ der fingierten Verwandlungen in der von Nonhuman Nonsense so ge-
24 Wie Literatur und auch Film zu einer solchen Ausweitung beitragen hat z. B. Alexa Weik von Mossner ausführlich beschrieben. Vgl. Alexa Weik von Mossner, Affective Ecologies. Empathy, Emotion and Environmental Narrative (Columbus: Ohio State University Press, 2017).
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nannten „Anti-Antropocentric Vending Machine“. Dabei handelt es sich um eine Art Kaugummiautomaten, der in kleinen Plastikkugeln Steine verkauft mit der Aufforderung, diese zu essen und dadurch die Welt des Steines zu erfahren. Der Stein und die Erfahrung einer steinartigen Welt wird als ästhetisch-imaginatives Produkt verkauft; oder wie Nonhuman Nonsense schreibt: „A vending machine (allegedly) sells ‚cures for anthropocentrism‘.“25 Die ‚Heilung‘ des Anthropozentrismus ebenso wie die mögliche Welt der Steine werden zu Waren auf einem Markt und befriedigen die Bedürfnisse eines ästhetischen „semio-capitalism“,26 dessen Konsument_innen es nach neuen Bedeutungen und Erfahrungen verlangt. Man könnte darin den Spiegel des Paradigmas einer posthumanistischen Persönlichkeitsentwicklung erkennen, die verdrängt, dass sie die Begegnungen mit (oder den Konsum von) nichtmenschlichen Wesen nutzt, um eine Expansion der eigenen Welt zu erreichen. Das Nichtmenschliche wird so zur Ressource von ästhetischer Wertschöpfung.27 Der Versuch nichtmenschliche Welten zu erfahren, zentriert sich hier um das Projekt einer posthumanistischen Subjektwerdung. So hat die künstlerische Anthropozentrismuskritik einen ambivalenten Charakter: Einerseits trägt eine posthumanistische Ästhetik der Metamorphose dazu bei, neue, gleichberechtigtere Ontologien zu kartieren und zur verkörperten Anschauung zu bringen. Andererseits zeigt eine kritische Analyse aber auch die anthropozentrischen Konfigurationen zweiter Ordnung, die durch menschliche Verwandlungsprojekte notwendig mit hervorgebracht werden.
Fazit: Aspekte einer posthumanistischen Ästhetik der Verwandlung In den Arbeiten von Nonhuman Nonsense sind Verwandlungserzählungen- und inszenierungen explizit in eine posthumanistische Philosophie eingebettet. Diese geht in ihrem Kern davon aus, dass nicht nur Menschen, sondern auch andere Wesen, von Steinen bis zu Bäumen und Planeten über eigene Welten und Weisen der Welterzeugung verfügen. Netzwerke des Lebendigen sind aus dieser Sicht nicht nur Orte des Austauschs von Energie und Materie, sondern auch Gefüge sich überlagernder Welten. In diesem posthumanistischen Rahmen zeichnet sich die Ästhetik der Verwandlung durch folgende Aspekte aus: 1) An die Stelle einer 25 „The Anti-Anthropocentric Vending Machine“, Nonhuman Nonsense, abgerufen am 22. 09. 2022, https://nonhuman-nonsense.com/the-antianthropocentric-vending-machine. 26 Franco Berardi, Precarious Rhapsody. Semio-Capitalism and the Pathologies of the PostAlpha Generation (London: Autonomedia, 2009), 8. 27 Vgl. Alecks Ambayec et al., „Changing Perspectives on Performance Collaboration: Problematizing More-Than-Human Subjectivities“, Global Performance Studies 4, Nr. 2 (2021), https://doi.org/10.33303/gpsv4n2a4.
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moralischen Bewertung der Verwandlung, die im Sinne einer ontologischen Hierarchie entweder Aufstieg oder Abstieg, Gewinn oder Verlust an Welt bedeutet, tritt eine horizontale Konzeption. 2) In dieser horizontalen Konzeption macht die Verwandlung als erzählerisches bzw. künstlerisches Mittel die Beziehungen artenübergreifender Welten erfahrbar. Die Verwandtschaften und ontologischen Gemeinsamkeiten der heterogenen Wesen, die sich in Netzwerken des Lebendigen zusammenfinden, werden in der posthumanistischen Metapher der Verwandlung und Verwandelbarkeit anschaulich. 3) Die Darstellung der Verwandlung spricht die Betrachter_innen in ihrer eigenen Körperlichkeit an, fordert dazu auf, ihre menschliche Erfahrung als eine spezifische Weise der Welterzeugung in einer Welt vieler Welten zu reflektieren und lädt sie zur Einfühlung in die Welten und Erfahrungsweisen nichtmenschlicher Wesen ein. 4) Gleichzeitig ist der posthumanistischen Ästhetik der Metamorphose ein ambivalenter Charakter zu eigen. Diese Ambivalenz resultiert daraus, dass nichtmenschliche Wesen in den künstlerischen Praktiken zum Mittel für die Erweiterung menschlicher Subjektivität und zur Produktion ästhetischen Werts genutzt werden, während gleichzeitig eine Einfühlung in den Eigensinn ihrer mehrals-menschlichen Welten angestrebt wird.
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Benjamin Thober (Universität Freiburg)
Phytolinguistik im Urban Jungle: Kulturpoetische Überlegungen zu Zimmerpflanzen
Abstract Phytolinguistics in the Urban Jungle: Cultural Poetic Reflections on Houseplants This essay explores a cultural poetic perspective on houseplants. The aim is to conceptualize a cultural form of the metaphorical ‚phytolinguistics‘ imagined by literary writer Ursula K. Le Guin. To this end, the phenomenon of houseplants is examined by making use of a variety of poetological and aesthetic concepts that highlight the complex relations between nature and culture in the Anthropocene. It takes inspiration from Raphaela Edelbauer’s poetics of discovery, Daniel Falb’s concept of the PoemPhone, David Farrier’s idea of a “Poetics of Kin-Making” inspired by Donna J. Haraway, and an anthropocene aesthetics of the everyday life identified by Heinz Drügh and Moritz Baßler in Leif Randt’s novel Allegro Pastell. Keywords: Houseplants, Phytolinguistics, Cultural Poetics, Plants, Anthropocene
In Ursula K. Le Guins Kurzgeschichte The Author of the Acacia Seeds (2016) tritt in einem fiktiven Vorausblick auf die zukünftige Entwicklung der Wissenschaften eine Figur auf, die sich der Erforschung der Pflanzensprache verschrieben hat: der Phytolinguist.1 Die Erzählung – analysiert von Donna J. Haraway (2018) im Hinblick auf das Konzept der „Sympoiesis“, das gemeinschaftliche „Mit-Werden“ von Menschen und anderen Spezies2 – thematisiert die Ignoranz früherer Generationen von Wissenschaftler_innen, denen aufgrund fehlender Wahrnehmungsmöglichkeiten die kommunikative Produktivität der Flora verschlossen geblieben sei.3 Das Ziel des Artikels besteht darin, die ‚Sprache der Pflanzen‘, genauer: der Zimmerpflanzen in einer kulturpoetischen Perspektive zu untersuchen, durch die das Verständnis von Poesie und Poetik über den klassisch-literaturwissen1 Vgl. Ursula K. Le Guin, The Unreal and the Real. The Selected Short Stories of Ursula K. Le Guin (English Edition) ([o. O.]: Saga Press, 2016), Tl. II, Kap. 32, Kindle. 2 Donna J. Haraway, Unruhig bleiben. Über die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, übers. v. Karin Harrasser (Frankfurt a. M.: Campus Verlag, 2018), 172, vgl. 161–73. 3 Vgl. Le Guin, The Unreal, Tl. II, Kap. 32; Haraway, Unruhig bleiben, 168–69.
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schaftlichen Gegenstandsbereich des Textes hinaus erweitert und somit zur kulturwissenschaftlichen Untersuchung realweltlicher Phänomene nutzbar wird.4 In Anlehnung an Le Guins Neologismus gehe ich vor diesem Hintergrund davon aus, dass der Schlüssel zu einer poetischen Neuentdeckung von Pflanzen und deren Interaktionen mit Menschen und anderen Lebewesen im Aufbau einer Form der Phytolinguistik liegen dürfte, mit der die kulturelle Dimension der ‚Pflanzensprache‘ rezeptiv entschlüsselt werden kann. Die hier gemeinte Phytolinguistik fragt dementsprechend nicht nach den naturwissenschaftlichen Voraussetzungen der Pflanzenkommunikation,5 sondern fokussiert die Einbettung der Pflanzen in einen gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang, an dem menschliche und nicht-menschliche Agenzien gleichermaßen beteiligt sind.6 Ziel ist die Formulierung einer Rezeptionshaltung, die es erlaubt, Zimmerpflanzen als Vermittlungsinstanzen zwischen Menschen- und Pflanzenwelt wahrzunehmen. Eine solche Vorgehensweise deckt sich mit den Überlegungen der Literaturwissenschaftlerin Solvejg Nitzke, die zu einer „Kulturpoetik der Bäume“ forscht.7 Ihre Anregung besteht darin, „[d]ie Debatte um eine Erzählbarkeit nichtmenschlicher Agenzien um eine Perspektive der Lesbarkeit zu er-
4 Damit verortet sich der Artikel im Kontext der „Plant Studies als kulturwissenschaftliche[m] Forschungsfeld“, in dem nicht nur „Darstellungsformen des Vegetabilen in Kunst und Literatur“, sondern ebenso „in der Alltagskultur“ fokussiert werden können. Grundsätzlich geht es darum, „Praktiken der Interaktion zwischen Menschen und Pflanzen“ zu untersuchen, Urte Stobbe, „Plant Studies: Pflanzen kulturwissenschaftlich erforschen – Grundlagen, Tendenzen, Perspektiven“, Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 4, Nr. 1 (2019): 95. 5 Dies würde im Prinzip einer Erforschung der „intrinsischen Sprache der Pflanzen“ in ihrem biologischen Habitat entsprechen (Stobbe, „Plant Studies“, 100). Naturwissenschaftlich scheint der Ansatz in Le Guins Geschichte zu sein, insofern eine Figur mit „time-lapse photography“ arbeitet, „to produce a lexicon of sunflower“, eine Unternehmung, die jedoch scheitert. Vermutet wird dahinter die „extreme slowness of the kinesis of plants“ (Le Guin, Unreal). 6 Damit wird eher die „extrinsische“ Pflanzensprache fokussiert, derer sich menschliche Akteur_innen in ihrer Reflexion des Vegetabilen bedienen (Stobbe, „Plant Studies“, 100), wobei dies nicht ausschließen soll, dass die Pflanzen in der Kommunikation dennoch eine Rolle spielen können. So betont Donna J. Haraway: „Pflanzen kommunizieren auf vollkommene Weise in einer riesigen Bandbreite terrestrischer Modalitäten; sie produzieren und vermitteln Bedeutungen inmitten einer erstaunlichen Galaxie von Assoziierten quer durch alle Taxa lebendiger Wesen“ und seien mithin eingebettet in komplexe „Weltbearbeitungen von ArtGenossInnen“ (Haraway, Unruhig bleiben, 168). Damit reagiert Haraway explizit kritisch auf den zentralen Protagonisten aus Le Guins Kurzgeschichte, den Präsidenten der Therolinguistischen Gesellschaft, der die noch zu entschlüsselnde ‚Kunst der Pflanzen‘ („Art of the Plant“) zunächst als „passive art“ konzipiert, die „not an action, but a reaction: not a communication, but a reception“ sei (Le Guin, The Unreal, Tl. II, Kap. 32), wobei bereits die Gegenüberstellung von ‚Kommunikation‘ und ‚Rezeption‘ als falsche Opposition erscheint. 7 Solvejg Nitzke, „Alte Bäume lesen. Tiefenzeitlektüren als Beziehungsarbeit im Anthropozän“, in Anthropozäne Literatur. Poetiken – Genres – Lektüren, hg. v. Gabriele Dürbeck et al. (Berlin: Metzler, 2022), 183.
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gänzen“.8 Es geht demnach nicht zuerst um die Frage nach neuen literarischen Formaten oder einer innovativen poetischen Sprache zur Beschreibung der Pflanzenwelt. Im Zentrum steht vielmehr die Absicht, Pflanzen in ihrem kulturellen Kontext möglichst adäquat ‚lesen‘ zu können. In dieser Hinsicht werden die hier zu untersuchenden Zimmerpflanzen auch rezeptionsästhetisch genau wie die von Nitzke fokussierten „Bäume als Gegenstände nicht nur botanischer, sondern auch literatur- und kulturwissenschaftlicher Arbeit […] konzeptualisier[t]“.9 Als artifiziell gezüchteten und in die kontrollierte Umwelt eines Topfes verpflanzten Lebewesen ist Zimmerpflanzen ein hybrider Charakter zwischen Natur und Kultur zu attestieren. Sie lassen sich als medial vermittelnde Knotenpunkte zwischen Menschen- und Pflanzenwelt lesen, die im Falle von Orchideen und Kakteen den tropischen Regenwald oder eine Wüstenlandschaft scheinbar umstandslos ins wohltemperierte Wohnzimmer überführen.10 Methodisch nähere ich mich dieser Lesart, indem ich verschiedene poetologische bzw. ästhetiktheoretische Skizzen von Literat_innen und Literaturwissenschaftler_innen auf das realweltliche Phänomen der Zimmerpflanzen übertrage. Die Anregung dafür gibt Raphaela Edelbauers Entdecker-Poetik: Ihre poetologische Anleitung dient nicht primär dem Ziel, auf der Grundlage realer Erfahrungen einen literarisch verdichteten Text verfassen zu können, sondern wird vielmehr als Perspektivierung angeboten, um den poetischen Gehalt der Welterfahrung selbst zu betonen.11 So schreibt Edelbauer „[s]ogar de[m] Wuchs der Brennessel [sic!]“ eine entzifferbare poetische Qualität zu.12 Dadurch öffnet sie den Raum zu einem erweiterten Begriff von Poesie und Poetik, der dem poststrukturalistischen Verständnis der „Welt als Text“13 zu entsprechen scheint, und der sich, wie ich im 8 Ibid., 186. 9 Ibid. 10 Zu diesem Temperatur-bezogenen Schluss kommen auch Ratgeber wie jener von Brigitte Goede am Beispiel der unter anderem im Regenwald wachsenden Orchideen, vgl. Brigitte Goede, Das Orchideen-Buch für Fortgeschrittene (München: BLV, 2010), 8. Die ‚Wüstenlandschaft‘ entwerfen explizit Caro Langton und Rose Ray, House of Plants. Mit Sukkulenten, Luftpflanzen und Kakteen leben (Kempen: teNeues, 2018), 157. 11 Vgl. Raphaela Edelbauer, Entdecker. Eine Poetik. Mit Zeichnungen von Simon Goritschnig (Wien: Klever, 2017), 10–12. 12 Ibid., 11. Damit unterscheidet sich meine Vorgehensweise auch von jener Konzeption einer „Phytopoetics“, die Joela Jacobs entwirft. Jacobs untersucht, „how plants prompt poetic productions“, indem sie „narratives by modernist German authors“ untersucht und einem „close reading“ unterzieht (Joela Jacobs, „Phytopoetics. Upending the Passive Paradigm with Vegetal Violence and Erotism“, Catalyst. Feminism, Theory, Technoscience 5, Nr. 2 (2019): 1). 13 Peter Rusterholz, „Poststrukturalistische Semiotik“, in Semiotik/Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur / A Handbook on the SignTheoretic Foundations of Nature and Culture, Bd. 1, hg. v. Roland Posner et al. (Berlin und New York: De Gruyter, 1998), 2334.
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Folgenden zeige, für eine kulturpoetische Neubetrachtung des Phänomens der Zimmerpflanze besonders eignen könnte.
Phytolinguistik: Die Sprache der Pflanzen Die Idee einer wissenschaftlichen Disziplin der Phytolinguistik beinhaltet nach Haraway die Erkenntnis, dass Pflanzen eine eigenständige Form der Kommunikation und Bedeutungsproduktion entwickelt haben, die in ihren Auswirkungen alle Lebewesen betreffe.14 Sie illustriert dies beispielhaft anhand der evolutionsbiologisch erforschten Interaktion von Akazien und Ameisen, die bereits in Le Guins Kurzerzählung eine zentrale Rolle spielt: Beide Spezies seien auf vielfältige Weise miteinander verflochten und bildeten Allianzen, etwa indem die Akazie den Ameisen einen Schutzraum in ihrem Blätterkleid biete und dafür ihrerseits von den Ameisen vor Schädlingen geschützt werde.15 Le Guins Erzählung und Haraways Nachvollzug markieren als bemerkenswerten Aspekt, dass die Phytolinguistik selbst in der erzählten Welt noch keine etablierte Disziplin ist, sondern eine, die erst am Horizont der naturwissenschaftlichen Reflexion aufleuchte. Dadurch wird in den Worten eines bei Le Guin auftretenden Wissenschaftsfunktionärs, der Tiersprachen erforscht, sichtbar, „[that] we must rethink the very elements of our science, and learn a whole new set of techniques“.16 Erstaunlicherweise findet sich die Idee einer linguistischen Perspektive auf die ‚Sprache der Pflanzen‘ sogar in jüngeren naturwissenschaftlichen Studien: So greifen die Pflanzenchemiker Robert A. Raguso und André Kessler, das lässt sich bei Nitzke nachlesen, auf Analogien aus der Linguistik zurück, um die chemische Interaktion der Pflanzen untereinander und mit ihrer Umwelt greifbar zu machen, sodass Menschen die beobachteten biochemischen Prozesse als Kommunikationsform verstehen und analysieren können.17 Das somit skizzierte Problem einer sprachlichen Vermittlung der Welt scheint auch in Raphaela Edelbauers ‚Poetik des Entdeckens‘ auf, wonach „die Sprache der zentrale Baustein der Welt“ sei, der alle möglichen natürlichen und artifiziellen Muster begründe, wie beispielsweise selbst das Flugverhalten von Vögeln.18 Mit Edelbauer lässt sich die Weltbetrachtung umstellen hin zu einer Poetik, die „in den Texten nicht nach der Welt, sondern in der Welt nach diesen 14 15 16 17 18
Vgl. Haraway, Unruhig bleiben, 168–69; siehe auch das Zitat in Anm. 6. Vgl. ibid., 169–171. Le Guin, Unreal, Tl. II, Kap. 32; vgl. Haraway, Unruhig bleiben, 168. Vgl. Nitzke, Alte Bäume lesen, 191–92. Edelbauer, Entdecker, 12: „die Sprache [ist] der zentrale Baustein der Welt […]. Ihre Tiefensemantik wird im Flug der Vögel ebenso artikuliert wie durch eine Handgeste oder in einem Essayband von Karl Kraus“.
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Texten“19 sucht, genauer: nach jenen poetologischen Texten, die die Autorin in ihrer Entdecker-Poetik formuliert und in denen sie verschiedene Naturphänomene sprachlich zu umreißen sucht. In einer kulturpoetisch erweiterten literaturwissenschaftlichen Perspektive lässt sich diese Verfahrensweise jedoch prinzipiell auf weitere Anwendungsfälle übertragen, insofern auch andere literarische Poetiken gewissermaßen nur darauf warten, in der Welt entdeckt zu werden. Durch ein solches, eher experimentelles Vorgehen lassen sich dann neue Akzentuierungen im Blick auf realweltliche Erscheinungen gewinnen. Diesen Schritt möchte ich in meiner Analyse vollziehen, indem ich das Phänomen der Zimmerpflanzen mithilfe dreier poetologischer bzw. ästhetiktheoretischer Entwürfe befrage, die sich jeweils auf den Diskurs um das Anthropozän als einem neuen, vom Menschen geprägten Erdzeitalter beziehen: Ich greife auf Daniel Falbs poetologisches Modell des PoemPhoneTM zurück, mit dem sich materielle Stoffströme fokussieren lassen (1), nutze die von David Farrier im Rekurs auf Donna J. Haraway formulierte Idee einer „Poetics of Kin-Making“ zwischen Menschen und Nicht-Menschen (2) und rekurriere auf die von Moritz Baßler und Heinz Drügh beschriebene Alltagsästhetik des Anthropozäns, die die beiden Autoren in Leif Randts Roman Allegro Pastell identifizieren (3). Mit diesem Vorgehen verbinde ich weniger die Absicht, die anthropozentrische Perspektive zugunsten einer von der Pflanzenwelt ausgehenden Betrachtungsweise abzulösen, wie es beispielsweise Heather I. Sullivan in ihren Überlegungen zu einem anthropozänen Plant Scale versucht.20 Vielmehr soll ausgelotet werden, welche kulturellen Sinngebungen in der jeweiligen poetologischen Perspektivierung der Zimmerpflanzen sichtbar werden. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass Zimmerpflanzen und „Bäume nicht selbst erzählen“, was nach Nitzke jedoch keinesfalls bedeutet, „dass sie nicht Träger von Geschichte(n) sein können. Die Arbeit des Lesens und (weiter) Erzählens verbleibt dann bei den Menschen“.21 Quellen der Untersuchung sind insbesondere Pflanzenratgeber und lifestyleorientierte Fotobände oder Blog-Beiträge. Dazu zählt auch der Band Plant Tribe von Igor Josifovic und Judith de Graaff, die als Urban Jungle Bloggers bekannt wurden22 und deren labelling auch für diesen Artikel titelgebend ist. Im 19 Ibid., 12. 20 „A florospheric view, however estranging and skewed by human inflection it will inevitably be“, argumentiert Sullivan, „grounds our thinking with a multispecies frame“ (Heather I. Sullivan, „Plant Scale and the Anthropocene“, in Narratives of Scale in the Anthropocene. Imagining Human Responsibility in an Age of Scalar Complexity, hg. v. Gabriele Dürbeck und Philip Hüpkes (New York und London: Routledge, 2022), 95. 21 Nitzke, Alte Bäume lesen, 193, hier mit Bezug auf eine Studie von Erin James: James lese Bäume „wie eine Leserin von Literatur“. 22 Vgl. Igor Josifovic und Judith de Graaff, Plant Tribe. Vom glücklichen Leben mit Pflanzen. Fotos von Jules Villbrandt (München et al.: Prestel, 2020), 239.
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Kern zielen meine Überlegungen darauf, die Zimmerpflanzen vermittels der Poetiken und Ästhetiken als mediale Knotenpunkte zu lesen, also als Vermittlungsinstanzen zwischen Menschen und Pflanzen sowie ihren ursprünglichen Lebensräumen oder auch den Ökobilanzen, die aus ihrer Verarbeitung resultieren.
Zimmerpflanzen im PoemPhoneTM Daniel Falb schlägt mit seiner Poetik für Anthropozän-Institutionen vor, die Welt der Institutionen nach der Logik der Smartphone-Benutzung poetisch zu erschließen: Das Poem ist das Phone – ein mobiles, handgetragenes, internetfähiges Recherchegerät mit einer buchstäblich unbegrenzten Menge von kognitiven Apps (finanziell, juristisch, statistisch etc.). Gibt Ihnen jemand ein Poem, ist es so, als würde er/sie Ihnen ein Smartphone rüberreichen, mit bestimmten noch geöffneten Apps und Dateien und Websites – und mit einer Leseanweisung für einen bestimmten kognitiven Pfad durch sie hindurch.23
Die von Edelbauer skizzierte Logik, die Texte in die Welt zu tragen, anstatt die Welt in den Texten nur nachzubilden, ist auch hier ein zentrales Prinzip, denn Falbs Dichtung soll ein Werkzeug zur Intervention in das neue geologische Zeitalter des Anthropozäns darstellen.24 Inhaltlich geht es ihm vor allem darum, das Anthropozän als Machteffekt zu verstehen, der Wissen in geologische Kraft transformiert und sowohl positive als auch negative soziale und ökologische Auswirkungen zeitige.25 Diese Auswirkungen sollen poetisch nachvollziehbar und institutionenkritisch gewendet werden, etwa durch die Untersuchung des eng verwobenen stofflichen und ideellen Metabolismus von Kulturinstitutionen vermittels des Studiums bürokratischer Textgattungen.26 Anwendungsfälle des Falb’schen Phone finden sich im Gedichtband Orchidee und Technofossil (2019),27 jedoch auch, so meine Lesart, in einigen essayistischen Texten Falbs. So reflektiert der Dichter in seinem Beitrag für den Begleitband zum Droste Landschaft: Lyrikweg die artifizielle Umwelt der münsterländischen Landwirtschaft und ihre potenzielle Vermessung durch Technologien der Augmented Reality: „Worauf wir unseren Blick zunehmend richten“, argumentiert Falb, „sind nur mehr die
23 Daniel Falb, „Poetik für Anthropozän-Institutionen“, Edit 80 (2020): 47. 24 Vgl. Daniel Falb, Anthropozän. Dichtung in der Gegenwartsgeologie (Berlin: Verlagshaus Berlin, 2015), 36–37. 25 Vgl. Falb, „Poetik“, 43–44. 26 Vgl. ibid., 46–47, 53–56. 27 Vgl. Daniel Falb, Orchidee und Technofossil (Berlin: kookbooks, 2019).
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Displays, Anzeigen, Karten und Diagramme“.28 In Falbs Beitrag entsteht aus dieser Perspektivierung jedoch kein Gedicht, sondern eher eine essayistische Reflexion. In diesem essayistischen Sinne möchte ich das PoemPhone auf das Phänomen der Zimmerpflanzen richten. Richtet man die Kamera eines aktuellen iPhones auf ein typisches Exemplar aus der Orchideengattung der Phalaenopsis, so erkennt das Smartphone die Pflanze umstandslos: Über die Funktion ‚Siri-Wissen‘ vermittelt es eine kurze Lexikondefinition aus Wikipedia und es zeigt ähnliche Pflanzenbilder aus dem Internet an.29 Hebt man das hier vorliegende Exemplar der Orchidee anschließend aus dem Übertopf, so verrät der auf den Innentopf aufgedruckte Plant Passport der Europäischen Union, dass die Orchidee aus einer niederländischen Züchtung stammt. Der Plant Passport enthält außerdem einen „Rückverfolgbarkeitscode“, der es den Behörden ermöglichen soll, die Pflanzengesundheit sicherzustellen.30 Durch den von der Europäischen Union gesteckten Rechtsrahmen verweist die Pflanze selbst noch im Wohnzimmer der Endkund_innen auf ihren Warencharakter, ihre Züchtungsentwicklung sowie ihre Transportgeschichte. Das ermöglicht eine institutionenkritische Lektüre im Sinne des PoemPhone, wobei die durch den Plant Passport flankierte Orchidee gleichsam selbst zum Lesegegenstand wird. Für Falb muss sich die Dichtung im Anthropozän ohnehin für eine Ablösung von der Schrift öffnen und stattdessen die Zahlen- und Datenwelt des neuen Erdzeitalters durchmessen31 – ja, selbst der „dunkle[] Mageninhalt“ wird für ihn nicht nur zum Gegenstand, sondern gar zur möglichen Verkörperung des PoemPhone.32 Da erscheint es nur als kleiner gedanklicher Schritt, auch eine Pflanze als potentiell poetisches Medium zu lesen, das die florale Ästhetik untrennbar mit der stofflichen und institutionellen Dimension der Pflanzengeschichte verknüpft. Gerade die durch Bilderkennungssoftware ermöglichte automatisierte Benennung der Pflanze sowie ihre Verknüpfung mit weiterführenden Informationstextwelten im Smartphone kennzeichnet ihre Poetisierung im Sinne des PoemPhone, insofern das Phone den poetischen Blick perspektiviert. Falb und sein Illustrator Andreas Töpfer deuten eine entsprechende Logik übrigens genau am Beispiel der hier besprochenen Pflanze auf dem Coverbild von 28 Daniel Falb, „Die Erweiterte Realita¨t der Annette von Droste-Hu¨ lshoff“, in Droste-Landschaft. Lyrikweg. Wanderbuch, hg. v. Jörg Albrecht et al. (Havixbeck: Burg Hülshoff Center for Literature, 2021), 87. 29 Bei dem verwendeten Gerät handelt es sich um ein iPhone der zwölften Generation. 30 Vgl. Landwirtschaftskammer Nordrhein-Westfalen, „Der neue EU-Pflanzenpass“, abgerufen am 19. 12. 2022, https://www.landwirtschaftskammer.de/landwirtschaft/pflanzenschutz/psd /pdf/pflanzenpass.pdf. 31 Vgl. Falb, Anthropozän, 29, 34–35. 32 Falb, Poetik, 55: „Essen sie die Sachen und gehen sie mit vollem Magen zur Veranstaltung. Ihr dunkler Mageninhalt ist das PoemPhone“.
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Orchidee und Technofossil an: Das Außencover zeigt eine Hand mit erhobenem Smartphone, aus dessen bereits brüchig gewordenem Display einige Orchideenblüten herauswachsen. Das Innencover wiederum zeigt kein Smartphone mehr, sondern nur noch die Orchidee in der gezeichneten Hand: Das Phone ist hier das Poem, und das Poem ist die Orchidee. Dem Titel entsprechend ist dem Gedichtband das berühmte Zitat von Deleuze und Guattari zum Verhältnis von Wespe und Orchidee vorangestellt,33 wenngleich die Pflanze in den Gedichten keine weitere Rolle mehr spielen wird. Um der institutionenkritischen Dimension des PoemPhone gerecht zu werden, lohnt sich ein von den bisherigen Informationen ausgehender Blick auf ein aktuelles Paper zum Global Orchid Market aus dem Jahre 2021, mit dem die Anwesenheit der Pflanze in unseren Wohnräumen – übrigens besonders in Wohnzimmern und Küchen34 – als Resultat eines globalen ökonomischen Marktgeschehens sichtbar wird. Demzufolge ist die Phalaenopsis die wirtschaftlich bedeutsamste Orchidee am globalen Markt. Sie werde besonders in Belgien, den Niederlanden, Taiwan und Thailand unter der Zuhilfenahme elaborierter Züchtungstechnologien produziert.35 Mit Blick auf die europäische Konsumentenstruktur mahnen die Autor_innen zeitgemäße Marketingstrategien insbesondere im Internet an. Zu den wichtigsten Kaufgründen zählen sie den Preis, hilfreiche Pflegehinweise, lange Blütephasen und eine geringe Chemiebelastung.36 Grundsätzlich florieren Zimmerpflanzen zunehmend in den Social-Media-Profilen urbaner Millennials, wobei unter anderem Klimaschutzaspekte und Wellness-Trends eine Begründung für die wachsende Beliebtheit der Pflanzen in der jüngeren Generation liefern könnten.37 Die Kulturwissenschaftlerinnen Marianna Szyczygielska und Olga Cielemecka weisen jedoch auf die koloniale Verflechtungsgeschichte zahlreicher Zimmerpflanzen hin, die von ihren lifestyleorientierten Besitzer_innen meist nicht reflektiert werde.38 Einschlägige Medienbeiträge referieren zudem, dass die Ökobilanz von Zimmerpflanzen oftmals problematisch sei.39 Es gibt allenfalls einzelne Anbieter, die 33 „Seid der rosarote Panther und ihr werdet euch lieben wie Wespe und Orchidee, Katze und Pavian. Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus“. Falb, Orchidee, 4–5. 34 Vgl. Shih-Chang Yuan et al., „The Global Orchid Market“, in The Orchid Genome. Compendium of Plant Genomes, hg. v. Fure-Chyi Chen und Shih-Wen Chin (Cham: Springer Nature Switzerland, 2021), 28. 35 Vgl. ibid., 1. 36 Vgl. ibid., 26–27. 37 Vgl. Marianna Szczygielska und Olga Cielemecka, „Introduction to Special Section. Plantarium. Human-vegetal ecologies“, Catalyst. Feminism, Theory, Technoscience 5, Nr. 2 (2019): 1–2. 38 Vgl. ibid., 2–5. 39 Vgl. „Nachhaltige Zimmerpflanzen. Wie ökologisch ist der Urban Jungle zu Hause?“, Bayern 3, letzte Änderung am 17. 06. 2020, https://www.bayern3.de/puls-reportage-nachhaltige-zim merpflanzen-wie-oekologisch-ist-der-urban-jungle-zuhause.
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explizit auf einen umweltfreundlichen Züchtungsprozess achten. Dazu zählt Hanspeter Meyer, Geschäftsführer einer Orchideenzucht im schweizerischen Kanton Zürich. In einem Blogbeitrag auf dem Karrierenetzwerk Linkedin skizziert er den hohen Energieaufwand in der europäischen Zucht einer aus der tropischen Klimazone stammenden Pflanze, die zusätzliche „Wärme und teilweise auch künstliches Licht“ benötige sowie den entsprechenden Lösungsansatz, dafür nur „Energie aus erneuerbaren und CO2-neutralen [sic!] Quellen“ zu verwenden. Auch in der Kundenberatung gehöre es zur Unternehmensphilosophie, eine möglichst ökologische Düngestrategie ohne Chemieeinsatz zu empfehlen.40 Ein poetologisch informierter Blick auf die Phalaenopsis illustriert unter Zuhilfenahme des PoemPhone somit die vielfältigen Verknüpfungen der einzelnen Pflanze mit ihren institutionellen Produktions- und Distributionsstrukturen und eröffnet Wege zu einer Problematisierung. Die Orchidee wird in dieser Betrachtung zu einem Medium, das die Reflexion anthropozäner Stoffströme befördert.
Zimmerpflanzen und ‚Poetics of Kin-Making‘ Der Literaturwissenschaftler David Farrier labelt eine Untersuchungskategorie in seiner Studie zur Lyrik des Anthropozäns unter Rückbezug auf Donna J. Haraway als „Poetics of Kin-Making“ zwischen Menschen und Nicht-Menschen.41 In diesem Zusammenhang betrachtet er das Leben selbst als reziproke „form of poiesis“, wobei er darunter die ‚wechselseitige Erzeugung‘ („mutual making“) aller miteinander verknüpften Lebensformen versteht.42 Im engeren Sinne einer literarischen poiesis argumentiert Farrier normativ, die von ihm erhoffte Poetik müsse sich thematisch dem „knotty problem of love among knotted beings“ widmen und Imaginationsräume eröffnen, in denen Zukunftsszenarien zwischen Welterzeugung und Apokalypse verhandelt werden.43 Haraway selbst fordert, angesichts der ökologischen Krise seien ganz neue Erzählungen zu entwickeln, damit „etwas komponiert werden kann, das lebbarer ist“.44 Sie schlägt dafür eine Erzählhaltung vor, die menschliche und nicht-menschliche 40 Hanspeter Meyer, „Nachhaltigkeit bei Orchideen“, letzte Änderung am 27. 07. 2019, https:// www.linkedin.com/pulse/nachhaltigkeit-bei-orchideen-hanspeter-meyer?trk=public_post. 41 David Farrier, Anthropocene Poetics. Deep Time, Sacrifice Zones, And Extinction (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2019), 89–123. 42 Ibid., 93, vgl. auch 91: „Each individual is the outcome of an unfathomably dense and rich series of symbiotic relations.“ 43 Ibid., 93. 44 Haraway, Unruhig bleiben, 74.
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Agenzien gleichermaßen einbeziehen soll.45 Handlungsträger_innen sollen die „Tentakulären“ sein,46 worunter alle denkmöglichen Wesen gefasst werden, die sich netzwerkartig in einem „Multispezies-Gewirr“ zusammenschließen können.47 Der tentakuläre Charakter von Orchideen lässt sich metaphorisch vielleicht an den Luftwurzeln der in der Natur zumeist epiphytisch wachsenden Pflanzen ablesen, die also nicht in der Erde, sondern auf anderen Pflanzen und Ästen gedeihen. Sie stellen auch in den Wohnzimmern gemäßigter Klimazonen noch eine visuelle Verweisstruktur auf den tropischen und subtropischen Ursprung der meisten Orchideen dar.48 Bei Haraway wird das lebendige Zusammenspiel von Orchideen und den Insekten diskutiert, die sie bestäuben.49 Vor dem Hintergrund des beschleunigten Artensterbens verweist sie zur künstlerischen Illustration auf den Cartoon ‚Bee Orchid‘ von xkcd, in dem eine Orchidee als letztes verbliebenes Erinnerungsbild einer bereits ausgestorbenen Insektenart erscheint: „Nothing of the bee remains, but we know it existed from the shape of the flower. It’s an idea of what the female bee looked like to the male bee… as interpreted by a plant.“50 Schließlich verspricht eine der beiden menschlichen Figuren des Cartoons, sich seinerseits das Bild der Orchidee einzuprägen, da diese aufgrund des Aussterbens ihres wichtigsten Bestäubungspartners ebenfalls vom Aussterben bedroht sei und sich nur noch in einer Art Notfallmechanismus selbst bestäuben könne.51 Die meisten Orchideen in den heimischen Wohnzimmern sind Hybride aus artifizieller Produktion, an deren Entstehung oft um die fünfzehn Arten beteiligt waren.52 Sie können durch eine Vielzahl von Züchtungsmethoden entstehen: So gerät zunehmend auch das neuere gentechnologische Instrument CRISPR/Cas9 in den Fokus von Züchter_innen.53 Insgesamt wurden bereits mehr als 200.000 45 46 47 48
49 50 51 52 53
Vgl. ibid., 80–81. Vgl. ibid., 49. Vgl. ibid., 50, vgl. 49–50. Grundsätzlich zu den Charakteristika der Epiphyten, ihren vorrangigen Herkunftsgebieten und der Bedeutung der Orchideen innerhalb dieses Pflanzentypus vgl. Wolfgang Frey und Werner Lösch, Geobotanik. Pflanze und Vegetation in Raum und Zeit, 3. Auflage (Berlin und Heidelberg: Springer Spektrum, 2010), 403–04, 409–10; Andreas Sendtko, „Epiphyten“, in Lexikon der Biologie, hg. v. Rolf Sauermost (Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag, 1999), https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/epiphyten/21920; Goede, Das OrchideenBuch, 8–9. Vgl. Haraway, Unruhig bleiben, 96–100. Xkcd, „Bee Orchid“, zitiert nach: Haraway, Unruhig bleiben, 100. Vgl. Haraway, Unruhig bleiben, 99–100. Vgl. Shih-Chang Yuan et al., „The Breeding of Phalaenopsis Hybrids,“ in The Orchid Genome. Compendium of Plant Genomes, hg. v. Fure-Chyi Chen und Shih-Wen Chin (Cham: Springer Nature Switzerland, 2021), 29–30. Vgl. Chengru Li et al., „A review for the breeding of orchids. Current achievements and prospects“, Horticultural Plant Journal 7, Nr. 5 (2021): 383–85; Vgl. Pablo Bolan˜os-Villegas et al., „The Tiny Twig Epiphyte Erycina 3 pusilla, a Model for Orchid Genome“, in The Orchid
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artifizielle Orchideenhybride gezüchtet.54 Kultivierte Pflanzen mit einem entsprechenden Vermarktungsnamen – wie beispielsweise das Kultivar ‚Rainbow‘ – sind stets genetisch identisch und exakte Kopien voneinander.55 Die lebendigen Dynamiken zwischen Orchideen und Insekten spielen in der Züchtung also keine Rolle mehr. Aus einer Vogelperspektive auf das Leben der Erde, darauf hat Heather I. Sullivan hingewiesen, ist das menschliche Leben „still a subcategory of the larger scale of vegetal, photosynthesizing life.“56 Im menschlichen Blick auf die Zimmerpflanze hingegen scheint vordergründig jene moderne Konstellation der Naturbeherrschung zu dominieren, die Sullivan als faustisch oder prometheisch charakterisiert.57 Andere Perspektivierungen sind denkbar: Womöglich konstituiert die fürsorgende Aufmerksamkeit, die informierte Besitzer_innen ihren Pflanzen widmen, eine genuine Form der Verbundenheit, die der menschlichen Erinnerung an die aussterbende Orchidee aus dem Cartoon von xkcd durchaus nahekommt – hier jedoch von der zeitlichen auf die räumliche Ebene verschoben. Denn die Ansiedlung tropischer und subtropischer Pflanzen in den Wohnzimmern gemäßigter Klimazonen könnte auch als Versuch gewertet werden, eine Verwandtschaftsbeziehung zu einer geographisch weit entfernten Pflanzenwelt im Sinne Haraways herzustellen. So ist in Ratgebern nachzulesen, wie die menschliche Umsorgung der Orchideen zum Versuch führen kann, ein möglichst tropisches Klima nachzubilden. Als Strategien werden das Übersprühen der Pflanzen, die Positionierung auf mit Wasser gefüllten Schalen oder sogar der Einsatz eines mit Ultraschall arbeitenden Luftbefeuchters vorgeschlagen.58 Darin wird eine Erfahrung der Annäherung an das weit entfernte Fremde sichtbar, wie sie gleichsam in umgekehrter Blickrichtung auch Caro Langton in ihrem gemeinsam mit Rose Ray gestalteten Lifestyle-Fotoband House of Plants (2016) schildert: Sie assoziiert die Kindheitserfahrung der „wild und unbekümmert“ wachsenden Zimmer- und Gartenpflanzen mit „Geschichten, die in fernen Ländern spielten“.59 In ihren Reflexionen preist Langton ein Leben mit Pflanzen
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Genome. Compendium of Plant Genomes, hg. v. Fure-Chyi Chen und Shih-Wen Chin (Cham: Springer Nature Switzerland, 2021), 44. Vgl. G. Seeja und S. Sreekumar, „Orchid Biodiversity and Genetics“, in Orchids. Phytochemistry, Biology and Horticulture. Fundamentals and Applications, hg. v. Jean-Michel Merillon und Hippolyte Kodja (Cham: Springer Nature Switzerland, 2022), 156. Jon Vanzile, „Understanding Orchid Hybrids“, in The Spruce. Make your best home, letzte Änderung am 24. 05. 2021, https://www.thespruce.com/understanding-orchid-hybrids-1902 817. Sullivan, „Plant Scale“, 94. Vgl. ibid., 96–100. Vgl. Isabelle Bert, Orchideen im Haus von A–Z. Das Katalogbuch zum Nachschlagen und Entscheiden, übers. v. Feryal Kanbay (Stuttgart: Ulmer, 2008), 29–30. Langton und Ray, House of Plants, 11.
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als ästhetische Feier des Lebendigen: „Pflanzen im Haus bedeuten für mich […] Lebendigkeit, Atmen, Veränderung, aufsprießendes Leben und Wachstum. Ich fühle mich mit Zimmerpflanzen auf eine Weise verbunden, wie ich es niemals mit einem Blumenstrauß sein könnte“.60 Die beiden Autorinnen schildern Momente der intensiven sinnlichen Resonanz, insbesondere der Geborgenheit, die sich im Zusammenspiel mit den Zimmerpflanzen auch zwischenmenschlich entwickelt hätten.61 Ähnlich regen auch die Urban Jungle Blogger ihre vertraulich in der zweiten Person adressierten Leser_innen dazu an, „eine enge Beziehung zu deinen Pflanzen auf[zu]bau[en]“ und diese sogar „als Mitbewohner“ zu imaginieren.62 So betrachtet tragen auch Zimmerpflanzen zu einer ‚Poetics of KinMaking‘ bei.
Zimmerpflanzen und Alltagsästhetik Die Literaturwissenschaftler Moritz Baßler und Heinz Drügh erkennen in Leif Randts Roman Allegro Pastell63 eine besondere Form der anthropozänen Ästhetik, in der „selbst Themen wie Nachhaltigkeit oder Diagnosen über das Anthropozän in Verbindung mit einer Stilkomponente prozessiert werden“.64 Sie fragen, ob diese Form einer zwar unpolitischen, aber doch nicht gleichgültigen Perspektive auf die ökologische Krise womöglich plausibler sei „als Szenarien radikalen Verzichts“.65 Randt verhandele den Konnex von Ressourcenverbrauch, „Popkultur und Alltagsästhetik“ implizit in einer „Ästhetik [der] Mikroentscheidungen“, in der „Gefühle[] und persönliche[] und politische[] Einstellungen mit dem Markt“ verwoben seien.66 So betrachtet könnten auch Zimmerpflanzen zur potentiellen Ausdrucksform eines Lebensgefühls werden, in dem ein ästhetisches Bewusstsein für die nicht-menschliche Ökologie des Anthropozäns entwickelt, aber gleichzeitig doch von ökonomischen Aspekten durchdrungen wird. Zimmerpflanzen fügen sich nicht nur organisch in die Architektur moderner Wohnräume ein, so schildert es die Kunsthistorikerin Stefanie Marlene Wenger, sondern werden von ihren Besitzer_innen zugleich als sympathisch anthropomorphisiert: Dadurch können sie ein „postanthropozentrische[s] Welt-
60 61 62 63 64
Ibid., zum Aspekt der feierlichen Lebendigkeit vgl. auch 201. Vgl. ibid., 201. Josifovic und de Graaff, Plant Tribe, 14. Vgl. Leif Randt, Allegro Pastell (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2020). Moritz Baßler und Heinz Drügh, Gegenwartsästhetik, 2. Auflage (Konstanz: Konstanz University Press, 2021), 245. 65 Ibid., 245. 66 Ibid., 245–46.
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bild[]“ in einem Haraway’schen Sinne befördern.67 Wenger zeigt jedoch andererseits, dass in der Zimmerpflanzenästhetik das „Lifestylemodell“ der digitalen Nomaden zum Ausdruck komme, die über ein „ökologisches, jedoch vor allem ein ökonomisches und ästhetisches Bewusstsein“ verfügen.68 Gerade die sinnlich-ästhetische Perspektivierung verspricht zwar eine genuine Verbindung zwischen Menschen und Pflanzen, wie sie beispielhaft in den obigen Zitaten von Caro Langton und den Urban Jungle Bloggers deutlich wurde, doch wird die angestrebte affektive Beziehung zur Lebendigkeit der vegetabilen Welt zugleich von einer funktionalen Logik überlagert, wenn etwa in House of Plants geschildert wird, dass Pflanzen am Arbeitsplatz „wunderbar zur Produktivität […] beitragen“ können, als „erfrischender Kontrast zu all der Technik“.69 Auch Josifovic und de Graaff betrachten Pflanzen als förderlich für die „Kreativität am Arbeitsplatz“ und preisen sie in einer leichten Übersteigerung der ökonomischen Logik sogar „als Geschäftsidee“.70 In einer Szene in Randts Allegro Pastell, die in der Rezeption besondere Aufmerksamkeit erfahren hat,71 trinken die beiden Hauptfiguren Tanja und Jerome gemeinsam grünen Tee, ohne dabei miteinander zu sprechen: „Mithilfe der Teezeremonie hatten sie sich bewiesen, dass sie auch gemeinsam schweigen konnten“.72 Für Tanja kontrastiert dieses wiederkehrende „Ritual“ mit der Erinnerung an die Nikotinabhängigkeit eines früheren Partners, dem sie auf dem Balkon beim Rauchen Gesellschaft leistete.73 Implizit werden in dieser Szene jene „mannigfaltigen Affären“ aufgerufen, „die wir mit der Welt, mit Materialien und Rohstoffen und auch mit der Natur haben“ und die nach Baßler und Drügh bei Randt nicht zuletzt die „Alltagsästhetik“ durchdringen.74 Die Urban Jungle Bloggers wären mit der geschilderten Szene vermutlich einverstanden – wobei sie auf den Tee potentiell verzichten könnten. Ihrerseits erleben Josifovic und de Graaff Momente der „Entschleunigung“ in der Begegnung mit Pflanzen: Sie seien „die besten Lehrmeister für ein entschleunigtes, bewusstes Leben. Pflanzen benötigen Zeit, um zu wachsen. Sie hetzen nicht“.75 Durch eine solche Haltung, 67 Stefanie Marlene Wenger, „Beyond Decoration. Die Wirkmacht der Topfpflanze im KunstDisplay der Postdigitalität. Eine Case Study am Beispiel von New Eelam,“ Postdigital Landscapes. Kunst und Medienbildung in der digital vernetzten Welt, hg. v. Kristin Klein und Willy Noll, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2019, 11, abgerufen am 19. 12. 2022, https://zkmb.de/beyond-decoration-die-wirkmacht-der-topfpflanze-im-kunst-display-derpostdigitalitaet/; vgl. auch ibid., 7–11. 68 Ibid., 11. 69 Langton und Ray, House of Plants, 162, ähnlich auch vgl. 201. 70 Josifovic und de Graaff, Plant Tribe, 162, 164. 71 Vgl. Ijoma Mangold, „Das absolute Jetzt“, in Die Zeit Nr. 11 (2020). 72 Randt, Allegro Pastell, 76. 73 Ibid. 74 Baßler und Drügh, Gegenwartsästhetik, 246. 75 Josifovic und de Graaff, Plant Tribe, 143.
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nimmt man sie ernst, wird der planetarischen Ökologie zumindest kein Schaden zugefügt.
Fazit Die Perspektivierung der Zimmerpflanzen vermittels aktueller Poetiken und Ästhetiken zum Mensch-Natur-Verhältnis hat gezeigt, was es bedeuten könnte, Zimmerpflanzen als poetische Medien zu lesen, die ihre Besitzer_innen mit vielfältigen Verknüpfungspunkten zur lebendigen Pflanzenwelt konfrontieren. Mehr noch als neue literarische und künstlerische Ausdrucksformen und Genres braucht es in diesem Sinne neue Rezeptionsformen, die den multispecies-Netzwerken der Gegenwart ausreichende Aufmerksamkeit schenken können.
Bibliografie Baßler, Moritz und Heinz Drügh. Gegenwartsästhetik. 2. Auflage. Konstanz: Konstanz University Press, 2021. Bert, Isabelle. Orchideen im Haus von A–Z. Das Katalogbuch zum Nachschlagen und Entscheiden. Übersetzt von Feryal Kanbay. Stuttgart: Ulmer, 2008. Bolan˜os-Villegas, Pablo, Chen Chang und Fure-Chyi Chen. „The Tiny Twig Epiphyte Erycina 3 pusilla, a Model for Orchid Genome“. In The Orchid Genome. Compendium of Plant Genomes. Herausgegeben von Fure-Chyi Chen und Shih-Wen Chin, 41–47. Cham: Springer Nature Switzerland, 2021. Edelbauer, Raphaela. Entdecker. Eine Poetik. Mit Zeichnungen von Simon Goritschnig. Wien: Klever, 2017. Falb, Daniel. Anthropozän. Dichtung in der Gegenwartsgeologie. Berlin: Verlagshaus Berlin, 2015. –. „Die Erweiterte Realita¨ t der Annette von Droste-Hu¨ lshoff“. In Droste-Landschaft. Lyrikweg. Wanderbuch, Herausgegeben von Jörg Albrecht, Claudia Ehlert, Jochen Grywatsch, Farah Heiß, Monika Rinck, John Burnside, Iain Galbraith, Lydia Daher, Imtiaz Dharker und Sophie Beese 84–93. Havixbeck: Burg Hülshoff Center for Literature, 2021. –. Orchidee und Technofossil. Berlin: kookbooks, 2019. –. „Poetik für Anthropozän-Institutionen“. Edit 80 (2020): 40–57. Farrier, David. Anthropocene Poetics. Deep Time, Sacrifice Zones, And Extinction. Minneapolis: University of Minnesota Press, 2019. Frey, Wolfgang und Werner Lösch. Geobotanik. Pflanze und Vegetation in Raum und Zeit. 3. Auflage. Berlin und Heidelberg: Springer Spektrum, 2010. Goede, Brigitte. Das Orchideen-Buch für Fortgeschrittene. München: BLV, 2010. Haraway, Donna J. Unruhig bleiben. Über die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Übersetzt von Karin Harrasser. Frankfurt a. M.: Campus, 2018.
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Gabriele Dürbeck (Universität Vechta)
Das Blatt als medialer Filter: fragile Mensch-Pflanze-Beziehungen in Anna Ospelts Wurzelstudien
Abstract The Leaf as a Media Filter: Fragile Human-Plant Relationships in Anna Ospelt’s Wurzelstudien This paper examines the text-image assemblage Wurzelstudien (Root Studies) by Anna Ospelt. Based on a close reading, the analysis arrives at five conclusions: 1) The hybrid, auto-fictional book, praised by literary critics for its ‘gentle empiricism’, combines genealogical reconstruction and close observation of nature with reflection on the writing process. The experimental text is therefore discussed in the context of the current discussion on German-language nature writing. 2) The first-person narrator uses a language of resonance, which she applies to explore in many neologisms both the proximity and the fine lines of difference between the human and vegetal spheres. 3) The medial construction of nature is performed in text and image (e. g., by means of microscope, camera eye, or beech leaf as filter); here, references can be made to Brentano’s aesthetics of Romanticism and to Marion Poschmann’s notion of ‘poetic perception of nature’. 4) The metaphorical use of the botanical concepts of rhizome (ivy) and metamorphosis (lily bulb) contrasts the hierarchical concept of the family tree as a structure for genealogical reconstruction. 5) The text articulates a caring attitude in dealing with the vegetal as the basis and precondition of the possibility of writing. Wurzelstudien is thus a medially highly reflective example of a literature of fragile human-plant relationships. Keywords: Nature Writing, Language of Resonance, Genealogy, Rhizome, Metamorphosis, Human-Plant Relationships
Anna Ospelts Wurzelstudien, von der Literaturkritik als „behutsame Wissenschaft“ bzw. „sanfte Empirie“1 im Sinne Goethes gelobt,2 ist eine autofiktionale Text-Bild-Kombination über die mannigfaltigen Beziehungen des Menschen zu 1 Beat Mazenauer, „Ein Rhizom der Erkenntnis“, letzte Änderung am 07. 04. 2020, abgerufen am 06. 11. 2022, https://www.viceversaliteratur.ch/book/21079. 2 Für die Arbeit am Text erhielt Ospelt ein Stipendium für Nature Writing, das gemeinsam von der Bayerischen Akademie des Schreibens sowie der Stiftung Kunst und Natur Nantesbuch seit 2019 vergeben wird, vgl. „Deutscher Preis für Nature Writing“, Wikipedia, abgerufen am 06. 11. 2022, https://de.wiki.li/Deutscher_Preis_f%C3%BCr_Nature_Writing.
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Bäumen, Blättern, Blumenzwiebeln, Wurzeln und Rhizomen. In dem neueren Feld der literatur- und kulturwissenschaftlichen Plant Studies sind nicht nur Bäume, ihre Bedeutung, unterirdische Verbundenheit und die Frage nach ihrer Intelligenz ein vieldiskutiertes Thema, sondern auch philosophische Fragen zum Status von Pflanzen, ihrer Agenzialität und den Mensch-Pflanze-Verhältnissen, auch in historischer Perspektive.3 In einem Sonderheft über „arboreal imaginaries“ haben Helga Braunbeck und Solvejg Nitzke jüngst die vielschichtige „lange und komplizierte Beziehung“ zwischen Bäumen und Menschen analysiert.4 Sie betrachten Bäume nicht nur als „great connectors“,5 die in einem Wald kommunizieren und Gemeinschaften bilden können, sondern auch die Idee von Mensch-Baum-Metamorphosen und den „legitimen und materiellen Wunsch, mehr als ein Mensch zu werden und an einer planetarischen ‚Overstory‘ des Lebens teilzunehmen“.6 In diesem Zusammenhang bringt das kleine Buch Wurzelstudien der aus Liechtenstein stammenden Schriftstellerin Anna Ospelt eine andere Facette in die Diskussion ein. Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln der autofiktionalen Erzählerin konzentriert es sich – begleitet von einem im Rechercheprozess schütter werdenden Buchenblatt – auf die sowohl poetische als auch mikroskopische Betrachtung von Bäumen, Blüten, Blumenzwiebeln, Wurzeln und Rhizomen, die den eigenen Schreibprozess und zugleich die Fragilität der Mensch-Pflanze-Beziehungen reflektieren.
Textform der Wurzelstudien und das Genre des Nature Writing Ospelts Wurzelstudien besteht aus einem Prolog, vier Mappen, einem losen Blatt, Schnipseln zwischen den Seiten und einem Postskriptum sowie 38 Fotografien und Videostills, die eng auf den Text bezogen sind.7 Zu Beginn des schmalen 3 Vgl. Urte Stobbe, Anke Kramer und Berbeli Wanning, „Plant Studies – kulturwissenschaftliche Pflanzenforschung. Einleitung“, in Literaturen und Kulturen des Vegetabilen. Plant Studies – Kulturwissenschaftliche Pflanzenforschung, hg. v. Urte Stobbe, Anke Kramer und Berbeli Wanning (Berlin: Lang, 2022), 15; vgl. auch Joela M. Jacobs und Isabel Kranz, „Einleitung. Das literarische Leben der Pflanzen: Poetiken des Botanischen“, Literatur für Leser 40 (2019): 85– 89; Urte Stobbe, „Plant Studies: Pflanzen kulturwissenschaftlich erforschen – Grundlagen, Tendenzen, Perspektiven“, Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 4, Nr. 1 (2019): 91–106. 4 Vgl. Helga Braunbeck und Solvejg Nitzke, „Arboreal Imaginaries. An Introduction to the Shared Cultures of Trees and Humans“, Green Letters, special issue „Arboreal Imaginaries“ 25, Nr. 4 (May 2022): 341–355. 5 Mit Bezug zu David George Haskell, The Songs of Treas. Stories from Nature’s Great Connectors (New York: Viking Penguin, 2017). 6 Braunbeck und Nitzke, „Arboreal Imaginaries“, 342. 7 Vgl. Anna Ospelt, Wurzelstudien (Zürich: Limmat, 2020). Diese Ausgabe wird im Folgenden unter der Sigle W zitiert.
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Bandes berichtet die Erzählerin, sie habe ein hellblaues Buch und eine Mappe auf einem Tisch in einem Stall auf dem Grundstück ihrer Eltern in Vaduz (Liechtenstein) gefunden. Das Buch, das der Leser in Händen hält, hat ebenfalls einen hellblauen Einband und scheint das geordnete Material der gefundenen Mappen zu enthalten. Die Ausgangslage ist demnach vergleichbar mit Adalbert Stifters Roman Mappe meines Urgroßvaters, in dem ein junger Mann in seinem Elternhaus eine alte Mappe mit der Biographie seines Urgroßvaters entdeckt haben will; die vom Erzähler angeordneten Dokumente erscheinen als authentischer Lebensbericht. Doch Wurzelstudien geht über dieses intertextuelle Vorbild hinaus, denn die Ich-Erzählerin verbindet die genealogische Rekonstruktion mit Naturbeobachtungen und der Reflexion auf der eigenen Schreibprozess. Die erste Mappe mit 38 Abschnitten enthält die Lebensgeschichte und einige aus dem Archiv gehobene Gedichte von Henry Goverts, des von den Nazis verfolgten Verlegers und Schriftstellers und zugleich früheren Besitzers des Elternhauses. Die Erzählerin benutzt ein verwelktes Blatt der alten Hängebuche mit dem Namen „Henry Goverts“ (W, S. 15) aus dem elterlichen Garten nicht nur als Linse für eine fokussiertere Beobachtung, sondern auch als Filter für eine andere Form des Sehens.8 Die zweite Mappe erzählt die Geschichte des Großvaters Roman, der seinerzeit mit seinem Bruder eine Eiche pflanzte, die die Ich-Erzählerin besucht. Sie lernt dort verschiedene Produkte kennen, die aus Rinde, Blättern, Blüten und Wurzeln der Eiche herstellbar sind. In diesem Kontext beschreibt sie auch die harten Hände ihres noch lebenden Großonkels, der früher in der örtlichen Gerberei gearbeitet hat. Die Abbildung eines „technologische[n] Stammbaum[s] der Lederindustrie“ (W, S. 67) zeigt eine hierarchische Struktur auf. Dem steht die anschließende Erzählung von ihrem metamorphotischen Schälprozess gleich einer Lilienzwiebel gegenüber. Auf der Rückseite des losen Blattes folgt eine Reflexion am Grab ihrer Großeltern, wo die Ich-Erzählerin versucht, sich den familiären Wurzeln zu nähern. Die dritte Mappe mit dem Titel „Rhizom“, die aus 61 aphoristisch anmutenden Sätzen und Episoden besteht, erzählt von einem Mikroskopierkurs im Naturkundemuseum Berlin und einer Einführung in den Botanischen Garten zur Erstellung eines Herbariums und entfaltet eine Art rhizomatische Struktur. Zudem berichtet die Erzählerin, wie sie den Namen „Ivy“ für ihren Starbucks-Becher wählt und damit „als Rhizom adressiert“ wird (W, S. 111). Die letzte Mappe schließlich präsentiert eine Textprobe des möglichen ersten Kapitels eines Romans, dessen Protagonistin mit dem sprechenden Namen Ivy Blum die Mensch-Pflanze-Beziehung als Thema etabliert. 8 Siehe dazu unten, der dritte Abschnitt. Den Hinweis auf die Funktion des Blattes als „Filter“ verdanke ich Helga Braunbeck, der ich auch für weitere konstruktive Hinweise zu diesem Artikel sehr herzlich danke.
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Angeregt durch den Deutschen Preis für Nature Writing9 hat in den letzten Jahren eine fruchtbare Diskussion über die Rolle dieses Genres in der deutschen Literaturgeschichte begonnen. Entgegen der Annahme, es gebe keine eigene deutschsprachige Tradition, weil „der Nationalsozialismus mit seiner Blut- und Boden-Ideologie die sprachliche Matrix für das Schreiben über das Verhältnis von Mensch und Natur kontaminiert“10 habe, kann gezeigt werden, dass es eine längere, wenn auch verborgene Nature Writing-Tradition seit Goethe und Alexander von Humboldt gegeben hat, ohne jedoch dieses Label zu verwenden.11 So lassen sich fruchtbare Beziehungen zwischen Henry Thoreau, dem ‚Vater‘ des amerikanischen Nature Writing, und deutschen Autoren wie Hölderlin, Humboldt, Stifter, Fontane, Lehmann, Jünger oder Handke finden, wenngleich auch spezifische Traditionslinien bestehen, die sich möglicherweise nicht hinreichend mit dem aus dem britischen und amerikanischen Kontext übernommenen Genrebegriff des Nature Writing erfassen lassen.12 Außerdem müsste die in der Forschung bislang stark männlich dominierte Traditionslinie kritisch reflektiert werden, zumal in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur viele prominente Autorinnen zu finden sind wie etwa Ulrike Draesner, Esther Kinsky, Marion Poschmann oder Judith Schalansky.13 Nature Writing ist gemäß Thomas Lyons breit rezipiertem Guide to American Nature Writing durch drei Hauptkriterien gekennzeichnet: „natural history information, personal responses to nature and philosophical interpretation of nature“.14 In ähnlicher Weise bestimmt Simone Schröder den „Naturessay“ durch die Trias „Deskription, Introspektion und Reflexion“, die durch „wis9 Dieser Literaturpreis wird seit 2017 durch den Matthes & Seitz-Verlag Berlin gemeinsam mit dem Umweltbundesamt und seit 2019 auch in Kooperation mit der Stiftung Kunst und Kultur verliehen, vgl. „Ausschreibung zum Deutschen Preis für Natur Writing 2023“, Matthes & Seitz Berlin, abgerufen am 06. 11. 2022, https://www.matthes-seitz-berlin.de/news/deutscher-prei s-fuer-nature-writing-2021.html. 10 Bernhard Malkmus, „‚Die Poesie der Erde ist nie tot‘. Robert Macfarlane gibt Landschaften ihre Sprache zurück“, Neue Rundschau 131, Nr. 1 (2020): 18. Vgl. auch Ursula K. Heise, „Preface: The Anthropocene and the Challenge of Cultural Difference“, in German Ecocriticism in the Anthropocene, hg. v. Caroline Schaumann und Heather Sullivan (New York: Palgrave Macmillan, 2017), 2. 11 Vgl. die Beiträge in Deutschsprachiges Nature Writing von Goethe bis zur Gegenwart. Kontroversen, Positionen, Perspektiven, hg. v. Gabriele Dürbeck und Christine Kanz (Berlin: Metzler, 2020). 12 Das Für und Wider der Kategorisierung diskutiert die Einleitung von Gabriele Dürbeck und Christine Kanz, „Gibt es ein deutschsprachiges Nature Writing? Gebrochene Traditionen und transnationale Bezüge“, in Deutschsprachiges Nature Writing von Goethe bis zur Gegenwart. Kontroversen, Positionen, Perspektiven, hg. v. Gabriele Dürbeck und Christine Kanz (Berlin: Metzler, 2020), 1–37. 13 Vgl. Dürbeck und Kanz, Hg., Nature Writing in der deutschsprachigen Literatur. 14 Thomas Lyons, This Incomparable Land. A Guide to American Nature Writing (Minneapolis: Milkweed Editions, 2001), 20.
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senschaftliche, subjektiv-emotionale und ethische Inhalte verknüpft“ sind und wobei ein „kontinuierliche[r] Ebenenwechsel“ zwischen naturkundlicher Beobachtung, Innensicht und Empathie mit der Natur stattfindet.15 In der Regel handelt es sich dabei um non-fiktionale, essayistische Literatur, die auf „authentischen“ Naturerfahrungen und deren ästhetisch anspruchsvoller Darstellung beruht.16 Während die amerikanische Tradition im 19. Jahrhundert stark von nostalgisch-eskapistischen Phantasien und „nationalistischen Konventionen“17 geprägt war, wendet sich die neue, sehr fruchtbare Strömung des sog. New Nature Writing seit der Jahrtausendwende der Darstellung und Reflexion von ökologischen, lokalen und urbanen Zusammenhängen zu.18 Gemäß Robert Macfarlane, selbst ein prominenter Vertreter des Nature Writing, ist diese neue Strömung „energized by this [emergenceny of climate change] sense of menace and hazard“19 und ist durch „originality and playfulness with form“20 charakterisiert. Um deutschsprachiges Nature Writing näher zu bestimmen, spricht Jürgen Goldstein von einer „sprachgeleiteten Schule der Aufmerksamkeit zur Entdeckung des Sichtbaren, aber Übersehenen“21 und hebt die „wahrnehmungsgestaltende Funktion“ der Sprache hervor.22 Ausgehend von dem Soziologen Hartmut Rosa beklagt er eine umfassende „Resonanzkatastrophe“ unserer Gesellschaft, so dass Nature Writing die Möglichkeit biete, dem „drohenden Verstummen[] der Welt eine Natursensibilität entgegenzusetzen, um die Resonanzfähigkeit in uns zu steigern.“23 Das Schreiben über Natur ist ein sprachreflexives und sprachbildendes oder sogar ein „sprachpolitisches Projekt“, da es 15 Simone Schröder, „Deskription, Introspektion, Reflexion. Der Naturessay als ökologisches Genre in der deutschsprachigen Literatur seit 1800“, in Ökologische Genres. Naturästhetik – Umweltethik – Wissenspoetik, hg. v. Evi Zemanek (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018), 344. 16 Ludwig Fischer, Natur im Sinn. Naturwahrnehmung und Literatur (Berlin: Matthes & Seitz, 2019), 45–46. 17 Jos Smith, The New Nature Writing: Rethinking the Literature of Place (London: Bloomsbury, 2017), 206. 18 Vgl. Karla Armbruster, „Nature Writing“, in Keywords for Environmental Studies, hg. v. Joni Adamson et al. (New York: New York University Press, 2016), 157. 19 Robert Macfarlane, „New Words on the Wild. Robert Macfarlane Reflects on the Recent Resurgence in Nature Writing“, Nature 468 (2013): 167. 20 Anna Stenning, „Introduction: European New Nature Writing“, Ecozon@ 6, Nr. 1 (2015): 5. 21 Jürgen Goldstein, „Nature Writing. Die Natur in den Erscheinungsräumen der Sprache“, Dritte Natur 1 (2018): 104. 22 Jürgen Goldstein, Naturerscheinungen. Die Sprachlandschaften des Nature Writing (Berlin: Matthes & Seitz, 2019), 27. 23 Goldstein, „Nature Writing“, 108. Unter Rückgriff auf den Soziologen Hartmut Rosa wird Resonanz verstanden als eine Beziehung des wechselseitigen Sich-Antwortens, wobei ein Subjekt von der Welt affiziert wird, indem es diese in ihrer Anders- und Eigenartigkeit wahrnimmt.
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laut von Bernhard Malkmus darum geht, der „erschütternde[n] Sprachlosigkeit“ hinsichtlich der Natur entgegenzuwirken und eine neue „Sprache der Resonanz“ für die „Erfahrbarkeit von Weltzusammenhängen jenseits des Menschen“ zu finden.24 Auch Ludwig Fischer sieht das Nature Writing auf „Prozesse der Selbstfindung in Naturumgebungen“ und die „Schaffung neuer Resonanzräume“ angelegt, wobei der „Hinwendung zur natürlichen Mitwelt“ eine „Protestenergie“ innewohne.25 Im Unterschied zur amerikanischen Tradition ist für das deutschsprachige Nature Writing kennzeichnend, dass der Bezug zum Lokalen nicht notwendig mit konventionellen Vorstellungen von Heimat und nationaler Identität verbunden ist.26 Zudem hat Goldstein die besondere Bedeutung der Lyrik „für die Entfaltung einer subtileren Sprachform“ als einen bislang „unterbeachtete[n] Zweig des [deutschen] Nature Writing“27 aufgezeigt. Insofern ist es wohl kein Zufall, dass die Mehrzahl der bisherigen Preisträger_innen des Deutschen Preises für Nature Writing neben Prosatexten und Essays auch Naturgedichte verfasst haben. Vor diesem Hintergrund kann Ospelts Buch Wurzelstudien als ein Beispiel des neuen deutschsprachigem Nature Writing gelten, zeichnet es sich doch durch die Kombination von Aphorismen, Gedichten, Prosafragment sowie den Text-BildKombinationen durch ‚originality and playfulness with form‘ (Stenning) aus. Zudem betreibt es mit seinen Pflanzenstudien eine ‚Schule der Aufmerksamkeit‘ (Goldstein) und verquickt die Naturbeobachtungen mit dem eigenen Schreibprozess. So fesseln mal übersehene Dinge wie das Gewicht des Schnees auf den Ästen von Laubbäumen und Sträuchern (vgl. W, S. 6), die Stadien der Ausdünnung eines Buchenblattes, die auch in den Illustrationen gezeigt werden (vgl. W, S. 52–53), die Wurzeln einer Hyazinthe ohne Erde (vgl. W, S. 83), das Verhalten einer Hortensie im Wasser und ohne Wasser (vgl. W, S. 86, 88) oder das frische Grün der Tannenzweigspitzen im Frühjahr, das die Ich-Erzählerin mit dem Wachsen ihrer eigenen Texte in Verbindung bringt (vgl. W, S. 89), ihre Aufmerksamkeit; diese lösen eine Sprache der Resonanz als Beziehung des Antwortens und der Wahrnehmung der Andersartigkeit der natürlichen Welt aus.
24 25 26 27
Malkmus, „‚Die Poesie der Erde ist nie tot‘“, 21–22, 24 und 25. Fischer, Natur im Sinn, 108, 112 und 58–59. Vgl. Dürbeck und Kanz, „Gibt es ein deutschsprachiges Nature Writing?“, 30–31. Goldstein, Naturerscheinungen, 211.
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Wortschöpfungen, Resonanzen und (Un-)Ähnlichkeiten Die Ich-Erzählerin schildert zahlreiche Momente der Resonanz mit der pflanzlichen Welt und findet dafür eine Sprache mit reizvollen Neologismen. So beschreibt sie metaphorisch, wie sie durch Tanzen eine Metamorphose vollzieht: „Ich lilienzwieble mich“ (W, S. 75). In einem der Schnipsel hält sie fest: „Ich schließe die Augen und wurzele in Herrn Büchels Garten“28 (W, S. 75). Während diese Tätigkeitsverben von Substantiven abgeleitet sind, erhält die vegetabile Sprache den Charakter des Handelns und der Verwandlung. Eine weitere Textstelle beschreibt eine vergleichbare Resonanzbeziehung zwischen der Ich-Erzählerin und einem japanischen Fächerahorn im Garten ihrer Eltern: „Ich streichle über die Äste. Die Blätter züngeln sich, sie kitzeln sich. Die erfrorenen Blätter, die ich abzupfe, die krausen sich“ (W, S. 88). Wörter wie „züngeln sich“, „sich kitzeln“ oder „sich krausen“ betonen das Reflexive, so dass die Aktivität als intrinsisch motiviert erscheint. Es ist also nicht übertrieben zu behaupten, dass die Erzählerin versucht, eine ‚Sprache der Resonanz‘ in Bezug auf die Natur zu entwickeln, wobei die Agentialität der pflanzlichen Welt betont wird. Die pflanzliche Sprache wird auch in weiteren Passagen metaphorisch verwendet, etwa wenn die Ich-Erzählerin von unbekannten Vorfahren in Bilderrahmen des Hauses ihres Großvaters mitteilt: „Sie eichten mich an“ (W, S. 68). Die Wortneuschöpfung „aneichen“ verbindet das altehrwürdige Bild der Eichen mit den menschlichen Vorfahren und verleiht ihnen damit etwas Urwüchsiges. Aber die Erzählerin spielt auch andere Formen einer Baum-Mensch-Beziehung durch, etwa wenn sie nach Gemeinsamkeiten zwischen ihrem Namen und arborealen Bezeichnungen sucht: „In Anna Barbara Ospelt steckt zwar nicht das Wort Baum, aber Arbor, lateinisch für Baum. Auch Alon, maskulin, die hebräische Eiche wächst aus meinem Namen, genau wie Alona, Femininum von Alon“ (W, S. 70). Die Aussage, aus den Buchstaben ihres Namens lasse sich eine hebräische Eiche bilden, betont zumindest auf sprachlicher Ebene eine Art Verwandtschaftsbeziehung, welche zugleich einen ansonsten nicht weitergeführten jüdischen Kontext aufruft, der nur indirekt im Goverts-Kapitel hergestellt worden ist. Über diese metaphorischen und sprachlichen Mensch-Baum-Beziehungen hinaus ist der Text aber auch eine Studie über deren Differenz. In dieser Hinsicht ist die Auseinandersetzung der Ich-Erzählerin mit der Vorstellung, ein Baum zu werden, aufschlussreich: KONNEXION Neuerdings hinterlasse ich Blätter, Erde und Nadeln in der Dusche.
28 Herr Büchel ist der Gärtner der Eltern.
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KONNEXION Ich möchte kein Baum werden. Ich möchte ein Baum werden wollen. Ich möchte daher poetisch ein Baum werden wollen, weil ich stetig fliehe vogelartig bin ständig umziehe. KONNEXION Allerdings hat bereits das Baumwerdenwollen eine transformative Wirkung auf mich. (W, S. 108)
Diese lakonischen Äußerungen sind sowohl vom Inhalt als auch von der Form her bemerkenswert. In inhaltlicher Hinsicht führt der Bezug auf die verbreitete Idee einer Baumwerdung29 in Ospelts Wurzelstudien zu einer wichtigen Variation. Da ein Baum unwiderlegbar Wurzeln hat, könnte eine Baumwerdung möglicherweise helfen, die eigenen Wurzeln zu finden, was als ein Ziel des Textes erkennbar ist. Ein solches Unterfangen wird aber zurückgewiesen. Denn das Ich sagt, es möchte kein Baum werden. Stattdessen heißt es, allein der Wille, ein Baum zu werden, würde bereits die gewünschte Wirkung haben. Die bewusst gesetzte Anapher „Ich möchte“ zeigt die markante Verschiebung von einer ontologischen Frage zu einer epistemologischen an und gibt zugleich Auskunft über das poetische Verfahren. Der Text führt hier die poetische Imagination als transformative Kraft vor. Interessant ist auch die Erklärung des Grundes für diesen Wunsch, der zögerlich, erst im dritten Anlauf, mitgeliefert und zugleich wieder zurückgenommen wird: die Wurzellosigkeit der eigenen Existenz. Formal bemerkenswert ist, dass der durchgestrichene Teilsatz beibehalten und damit hervorgehoben wird. Solche durchgestrichenen Sätze werden in historischkritischen Editionen verwendet, um den Entstehungsprozess eines Textes nachvollziehbar zu machen. Wenn sich die Autorin der Wurzelstudien für den Abdruck eines gestrichenen Teilsatzs entschieden hat, wird der essayistische, tentative Charakter betont. Der durchgestrichene Satz „weil ich stetig fliehe vogelartig bin ständig umziehe“ ist ohne Komma angeordnet und nennt drei mögliche Gründe, die im Kontrast zur relativen Sesshaftigkeit eines Baumes stehen, aber zugleich widerrufen werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die rechte Seite mit zwei parallel gesetzten Fotografien (Abb. 1). Das linke Bild zeigt die innere Struktur eines Buchenblattes, das rechte Bild vermutlich die Innenseite eines Handgelenks, wahrscheinlich von der Autorin selbst. Die Bilder sind durch eine feine weiße Linie getrennt. Die Parallelisierung zeigt sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede. Das blasstürkisgrüne Blatt ist durchzogen von einer vertikalen Mittelachse und diagonal nach oben verlaufenden Adern in violettem Farbton. Das rechte Bild des Handgelenks ist blass29 Vgl. Sumana Roy, How I Became a Tree (New Haven: Yale University Press, 2021). Zum Topos der Baumwerdung vgl. auch den Beitrag von Simon Probst im vorliegenden Heft.
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Abb. 1. Ohne Titel. Quelle: Anna Ospelt: Wurzelstudien (Zürich: Limmat Verlag, 2020), 109.
rosa mit horizontalen Falten und einer einzelnen diagonalen nach unten verlaufenden Ader in grün-bläulichem Ton. Obwohl beide Bilder Linien und Adern zeigen, ist die jeweilige Materialität, Textur und Farbe unterschiedlich. Bemerkenswert ist die bewusste Anordnung der beiden Segmente, die etwas scheinbar Unvergleichliches gegenüberstellen, ein Baumblatt und ein menschliches Handgelenk. Die Leserichtung von links nach rechts setzt das pflanzliche Blatt vor den menschlichen Körper und lässt sich damit zum einen auf die Geschichte der Entstehung des Lebens und die Abhängigkeit des Menschen von pflanzlichem Leben beziehen. Zum anderen versucht die Anordnung eine Vergleichsperspektive der maximalen Ähnlichkeit zu finden, ohne jedoch die Unähnlichkeit kaschieren zu können. Der Text auf der gegenüberliegenden Seite mit der Schlussfolgerung „Ich möchte daher poetisch ein Baum werden wollen“ verweist auf die Einsicht der Unmöglichkeit eines ontologischen Übergangs zwischen den beiden Seinsweisen und etabliert stattdessen die poetische Imagination als geeignete Methode zur Überwindung dieser Kluft. Während die Bilder letztlich die
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Unähnlichkeit und Differenz ausstellen, auch indem sie durch die weiße Linie getrennt bleiben, kann der Text poetisch eine Brücke herstellen.
Poetische Naturwahrnehmung und romantisches ‚Perspektiv‘ Das vorgeführte poetische Verfahren deckt sich in gewisser Weise mit einer Bemerkung von Marion Poschmann, der ersten Preisträgerin des Deutschen Preises für Nature Writing. In ihrer Dankesrede reflektiert sie seit Jahren „versuche, einen Baum zu schreiben“, der nur auf den ersten Blick einfach erscheine, bei dem aber bald das „grundsätzliche Problem“ des Nature Writing deutlich werde: „der unüberbrückbare Hiatus zwischen Sprache und Welt“.30 Um über Natur schreiben zu können, müsse gemäß des japanischen Dichters Matsuo Basho¯, auf den sich Poschmann beruft, eine Haltung der „Verbindung zur Natur“ gefunden werden mit dem Ziel, „mit der Natur eins zu werden“; d. h., das Dargestellte trägt auch Züge des Subjekts und „seine Fähigkeit der poetischen Erkenntnis“.31 Vor dem Hintergrund einer bedrohten und zugleich bewahrenswerten Natur bestimmt Poschmann die Aufgabe des Naturschreibens in einer „neue[n] Romantisierung der Welt, eine[r] poetische Naturwahrnehmung“ jedoch ohne „sentimentale Verklärung“.32 In ihren Wurzelstudien sucht Anna Ospelt nach einer solchen poetischen Naturwahrnehmung, die in einer genauen Beobachtung, Kontemplation und imaginativen Arbeit besteht. Die Erzählerin versucht in immer wieder neuen Anläufen eine innige Verbindung zur Natur herzustellen und führt dabei zugleich den Konstruktionsvorgang, ihre Herangehensweisen und ihre Haltung zur Natur vor. In der ersten Mappe schildert sie eine Situation, als sie in Berlin eine Hängebuche hinter einer Mauer entdeckt, die der Govertschen in Alter und Größe ähnelt. Als sie klingelt und fragt, ob sie die Buche anschauen dürfe, begründet sie ihr Anliegen damit, sie „wolle die Buche poetisch betrachten“ (W, S. 35). Als ihr aber bei dem Sichttermin ein Gärtner mit Misstrauen begegnet, bleibt der Betrachterin die Hängebuche „fremd“ (W, S. 35). Für eine von der romantischen Ästhetik inspirierte Perspektive auf die Natur ist die Beschreibung des Umgangs mit dem Lichtmikroskop aufschlussreich, hier am Beispiel eines „Tragblatt[s] der Lindenfrucht“ (W, S. 94). In einer Fußnote beschreibt die Erzählerin den Unterschied von „Feintrieb“ zur Einstellung der Bildschärfe und dem „Grobtrieb“ zur Regulierung des Abstands zwischen Objekt 30 Marion Poschmann, „Laubwerk. Zur Poetik des Stadtbaums. Rede zur Verleihung des Deutschen Preises für Nature Writing 2017“, Dritte Natur 1 (2018): 123. 31 Ibid., 128 und 131–32. 32 Ibid., 125 und 133.
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und Objektiv (W, S. 94). Bei dieser Beschreibung der doppelten Einstellung des Mikroskops verweist sie auf ein berühmtes Zitat aus Clemens Brentanos Godwi (1801): „Alles, was zwischen unserm Auge und einem entfernten zu Sehenden als Mittler steht, uns den entfernten Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von dem Seinigen mitgiebt, ist romantisch. […]. Das Romantische ist ein Perspektiv“ (W, S. 94). Allerdings wird der zweite Satz abgekürzt und damit der berühmte zweite Teil des Zitats unterschlagen, der das Romantische als mediale Perspektive erläutert: „die Farbe des Glases und die Bestimmung des Gegenstandes durch die Form des Glases.“33 Das Godwi-Zitat steht im Kontext eines Diskurses über die Unterscheidung zwischen dem reinen schönen Kunstwerk, das bloß die Natur nachahme, und dem romantischen Kunstwerk, bei dem die Wahrnehmung durch ein bestimmtes Kolorit oder ein „Medium diaphanum“,34 ein durchscheinendes Medium wie Wasser, Luft, oder Kristall mit seiner verzerrenden Wirkung perspektiviert wird. Entscheidend für die Perspektive ist damit das Medium, durch das ein Gegenstand betrachtet wird, wobei das Romantische erst durch die poetische Behandlung eines Gegenstandes hervorgebracht wird.35 Vor diesem Hintergrund kann die Wiedergabe des Blicks auf die beispielhafte Lindenfrucht als romantisch bezeichnet werden, da diese von der technischen Einstellung von Bildschärfe, Linse und Abstand zum Objekt geprägt ist. Die Konzentration auf das Sehen, den visuellen Sinn, ist ein durchgehendes Thema in Wurzelstudien. Der Blick durch ein zunehmend schütteres Buchenblatt, der die Wahrnehmung verändert und perspektiviert, zieht sich leitmotivisch durch den Bildteil vor allem von Mappe I (vgl. W, S. 23, 27, 29, 31, 41, 51, 53, 55), aber auch von Mappe III (vgl. W, S. 99, 109). Dieser Blick wird mehrfach auch im Text aufgegriffen. So heißt es im Goverts-Kapitel: „Ich lass das Blatt den Baum anschauen“ (W, S. 22). Gezeigt werden zwei Fotos eines verwitterten Buchenblattes, das die Ich-Erzählerin hochhebt wie eine Lupe, durch die sich ein undeutliches Bild des dahinterliegenden Waldes abzeichnet. Das Blatt wird einmal in einem gewissen Abstand vor das Kameraauge gehalten, beim zweiten Bild steht es direkt vor der Linse, so dass sich das Wahrnehmbare des Waldes entscheidend verändert. Zwar lässt sich nicht beantworten, was das Blatt sieht, das nun den Wald anschaut, aber es zeigt sich, dass das Blatt als Filter den Blick perspektiviert und der Betrachterin als Medium dient. Das Blatt ist zudem Begleiter bei der Spurensuche nach Henry Goverts, etwa wenn es um ihn als Regievolontär bei Max Reinhart geht: „Ich besuche mit dem Blatt die Proben am Deutschen Theater“ (W, S. 30). Auf der rechten Bildseite ist eine alte Abbildung vom Deutschen 33 Clemens Brentano, Godwi oder das steinerne Bild der Mutter, in Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 16, Prosa I (Stuttgart: Kohlhammer, 1978), 314. 34 Stefan Hoffmann, „Brentano mit McLuhan. Über die romantische Aufhebung unreiner Medien. Eschatologische Strukturen in der Medientheorie“, Athenäum 11 (2001): 130. 35 Vgl. Lothar Pikulik, Frühromantik. Epoche Werke – Wirkung (München: Beck, 1992), 78.
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Theater in der Schumannstraße zu sehen, vor die am linken Bildrand zwei verwelkte Buchenblätter montiert sind. Durch diese Montage wird das Foto indirekt personalisiert bzw. symbolisch mit Goverts verbunden. Das Goverts-Kapitel endet mit einer Reflexion auf die Funktion des Blattes: „Ich sehe mich durchs Blatt, ich schaue nach Innen. Ich beginne mich zu drehen. Ich versuche zu sehen, was Henry Goverts in mir sieht. Er ist mein Verleger“ (W, S. 54). Diese fünf kurzen Sätze, viermal eingeleitet mit dem Personalpronomen in der ersten Person, zeigt die eigene Verortung an. Das Blatt wird hier als Medium bestimmt, sowohl nach innen zu sehen als auch die Blickrichtung umzukehren mit der Frage, wie die betrachtete Person die Betrachtende sehen würde. Der abschließende Satz „Er ist mein Verleger“, der realiter nicht zutreffen kann, da Goverts verstorben ist und sein Verlag nicht mehr existiert, betont das „mein“, also die persönliche Sicht auf den Verleger. Die Funktion der Spiegelung findet sich teilweise auch in den Abbildungen, was besonders für die letzten Fotos in Mappe I zutrifft.
Abb. 2. Ohne Titel. Quelle: Anna Ospelt: Wurzelstudien (Zürich: Limmat Verlag, 2020), 53.
In dieser Abbildung (Abb. 2) zeigt das linke Bild das Adergeflecht eines verwitterten Buchenblattes, hinter dem sich verschwommen ein Raum in Schwarz-, Weiß- und Grautönen abzeichnet. In der Schwebe bleibt durch den Fokus auf das Blatt, ob es sich um einen Innen- oder Außenraum handelt. Im rechten Foto sind im Bildvordergrund Daumen und Zeigefinger der linken Hand der Betrachterin, die zwei filigrane Buchenblätter am Stil hält, sowie die Spiegelung vermutlich ihres Kopfes zu erkennen. Im linken Teil des Bildes hebt sich expressiv eine barock geschwungene architektonische Struktur ab, deren Ellipsen die Rundung
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der Buchenblätter verstärken. In einem weiteren Beispiel ist die Montage des Blicks der Betrachterin in die Abbildung des Blattes noch offensichtlicher.
Abb. 3. Ohne Titel. Quelle: Anna Ospelt: Wurzelstudien (Zürich: Limmat Verlag, 2020), 55.
Dieses Foto (Abb. 3), das letzte der ersten Mappe, zeigt ein horizontal angeordnetes, halb grünes, halb verwittertes Buchenblatt, durch dessen Lücken zwei Augen zu sehen sind. Am rechten unteren Bildrand ist ein hellgraues Muster wahrscheinlich in einem Außenraum erkennbar. Für alle drei Bilder ist kennzeichnend, dass die Aufmerksamkeit auf das Blatt gelegt und eine Verbindung zur Betrachterin hergestellt wird, deren Perspektive das Bild verdeutlicht. In weiteren Fotos ist das Buchenblatt teilweise wie ein Baum platziert, als ob es diesen vertreten soll. Die Trompe l’oeil-Wirkung lässt einen anderen Blick auf die dargestellte Welt zu, wobei das Blatt mal als Medium der andersgearteten Betrachtung, mal als Stellvertreter fungiert. So nimmt auf einer Fotomontage das filigrane Buchenblatt sogar dieselbe Größe wie zwei Bäume rechts und links von ihm ein (vgl. W, S. 99). Gefiltert durch ein Blatt und andere Medien wie das Mikroskop und das Kameraauge wird der Betrachterstandpunkt mitreflektiert
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und zeigt damit, dass der Zugang zur Natur immer von bestimmten medialen Bedingungen abhängig ist.
Konnexionen, Wurzeln und Rhizome Während Mappe I und II sich ausgehend von der Goverts-Buche hauptsächlich mit Herkunft und Stammbaum befassen, lenkt Mappe III den Fokus auf das titelgebende „Rhizom“. Die 61 Beobachtungen und kurzen Episoden sind alle mit „Konnexion“ betitelt, die sich gewissermaßen rhizomatisch in die Fläche zu einem großen Netzwerk ausbreiten. Die Ich-Erzählerin versammelt darin Annäherungen an die Natur von ganz unterschiedlicher Art: ein Versuch sich die Spiegelung in den Facettenaugen eines Glühwürmchens vorzustellen, was bei ihr eine Benommenheit hervorruft (vgl. W, S. 80), ein Gespräch mit einem Zahnarzt über Zahnwurzeln (vgl. W, S. 82), das Zeichnen der Wurzeln einer Hortensie, um durch Beobachtung eine genauere Vorstellung von ihr zu bekommen (vgl. W, S. 84) sowie wiederholte Besuche eines Mikroskopierkurses. Der zweite Abschnitt schließt mit einer Erinnerung an die Umweltaktivistin Julia Butterfly alias Julia Hill, die 1997–1999 738 Tage lang einen Mammutbaum an der kalifornischen Küste besetzte (vgl. W, S. 101) und auch in Richard Powers Overstory eine wichtige Rolle spielt. Mit dem Hinweis, dass „radical“ von „radix“, Wurzel, Ursprung, kommt (vgl. W, S. 101), wird eine Verbindung zum Hauptthema der Wurzelstudien hergestellt, so dass der Text implizit eine ethisch-politische Dimension erhält. Der letzte Abschnitt beschreibt schließlich die Verbindungen zwischen dem Schreibprozess und der Metamorphose von Pflanzen mit Bezug auf Goethes gleichnamiges Gedicht sowie Haraways Lobrede auf Humus und „kom-post“ (vgl. W, S. 105). Er endet mit dem Satz: „Ivy ist die einzige sprechende Pflanze in diesem Text“ (W, S. 111). Damit stellt er eine enge Verbindung zum Efeu, einem typischen Rhizomgewächs her, das zum Sinnbild für die eigene Sprecherposition wird und sich im ‚Geflecht‘ der Konnexionen niederschlägt. Bei all den unterschiedlichen Annäherungen ist es bemerkenswert, dass Ospelt sich nicht mit den Funktionen von Wurzeln befasst, wie etwa dem Speichern von Wasser, der Nahrungszufuhr einer Pflanze oder auch die Kommunikation von Pflanzen in einem „Wood Wide Web“, eine Vorstellung, die die Waldökologin Suzanne Simard 1997 aufgebracht hat und die seither weithin popularisiert, aber auch kritisiert worden ist.36 Obwohl die Ich-Erzählerin eine 36 Vgl. Suzanne Simard et al., „Net Transfer of Carbon between Ectomycorrhizal Networks Tree Species in the Field“, Nature 388 (1997): 579–582; Merlin Sheldrake, Entangled Life. How Fungi Make Our Worlds, Change Our Minds & Shape Our Futures (New York: Penguin Press, 2020), Kap. 6.
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Reihe von intertextuellen Bezügen herstellt, spielt ein weiterer naheliegender Bezug, die prominente Auseinandersetzung mit dem Rhizom bei Deleuze und Guattari,37 nur am Rande eine Rolle. Wie ist das Rhizom in Ospelts Wurzelstudien also zu denken? Könnte man diese Figur auf das Schreibverfahren oder auf die Struktur der Text-Bild-Kombination anwenden? Wie verhalten sich Rhizome und genealogische Wurzeln zueinander? Aufschlussreich dürfte in diesem Kontext die Beschreibung von eingebürgerten und invasiven Pflanzen sein, mit der die Ich-Erzählerin die Unbeweglichkeit der Pflanzen in Frage stellt.38 Hinsichtlich der Immobilität zitiert Ospelt aus Wolfgang Hensels Pflanzen in Aktion (1993), der festgestellt hat, dass Pflanzen, die mit Wurzeln im Boden verankert sind, ihren Standort nicht verlassen können, davon aber Rhizome ausnimmt: Rhizome wachsen an ihrer Spitze und sterben an ihrem Ende ab. So kriechen sie langsam durch den Erdboden. […] Erhalten haben sich die teilungsfähigen Zellen der Sprossspitze, die immer neue Rhizomzellen gebildet haben und so die Identität des Individuums garantieren. Die Pflanze hat ihren Standort verlagert, sie hat sich – wenn auch sehr langsam – bewegt. (W, S. 96–97)39
Wenn man nun diese langsame Fortbewegung als modellhaft auf das Schreibverfahren der Wurzelstudien überträgt, könnte man das fein gesponnene Geflecht, das in der Auseinandersetzung der Ich-Erzählerin mit der Natur und ihren vielfältigen Erscheinungsweisen entsteht, als ein solches Rhizom beschreiben. Dieses assoziative Netz aus naturkundlichen Beobachtungen, Spaziergängen, Lesefrüchten, und allerlei Bemerkungen über Pflanzen und ihr Verhalten steht der hierarchischen Struktur eines Stammbaums entgegen. In diesem Zusammenhang betont die Ich-Erzählerin mehrfach, dass sich „Samenkörner nicht an Grenzen […] halten“ (W, S. 98) oder „die Grenzen [zwischen eingebürgerten und einheimischen Arten] fließend“ (W, S. 98) sind. Es heißt, ein Stammbaum, der fest verwurzelt ist, lasse sich nicht fällen (vgl. W, S. 91). Während die genealogische Recherche zu den Wurzeln, zum Ursprung führt, stellt die Beschäftigung mit dem Konzept des Rhizoms einen anderen Bezugsrahmen her, einen des Weiterwachsens, der Fortbewegung, des Geflechts. Damit entfaltet das Rhizom37 Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Rhizom, übers. v. Dagmar Berger (Berlin: Merve, 1977); Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, übers. v. Gabriele Ricke und Ronald Voullié (Berlin: Merve, 1992). 38 In Bezug auf Neophyten unterscheidet sie zwischen eingewanderten Pflanzen wie dem Sommerflieder als harmlos und dem aggressiven Japanischen Staudenknöterich, der schnell alles überwuchert und einheimische Pflanzen verdrängt (vgl. W, S. 97). 39 Wolfgang Hensels Pflanzen in Aktion. Krümmen, Klappen, Schleudern (Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag, 1993), 31. Dieser nimmt in gewisser Weise Stefano Mancusos Bestseller Die unglaubliche Reise der Pflanzen, übers. v. Andreas Thomson (Stuttgart: KlettCotta, 2018) vorweg.
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Kapitel durch seine verflochtene Struktur der Konnexionen eine gegenläufige Bewegung zur hierarchischen Struktur eines Stammbaums. Doch dieses Geflecht hilft offenbar auch, den Ursprung zu finden. Denn am Ende dieser dritten Mappe verkündet die Ich-Erzählerin: „Ich trage Wurzeln im Mund“ und „Ich wurzle auf Papier“ (W, S. 110). Anschließend folgt das sechsseitige Prosafragment mit der Protagonistin Ivy Blum. Mit der Rede von den Wurzeln im Mund, suggeriert der Text, dass die Sprache selbst eine Möglichkeit bietet, nicht-hierarchische Wurzeln zu schlagen.
Fazit Ospelts Wurzelstudien verbindet eine deskriptive mit einer introspektiven und reflektierenden Dimension, was typisch für einen Natur-Essay und im weiteren Sinne für Nature Writing ist. In der deskriptiven Dimension bedient sich der Text einer analytischen Methode mit der genauen Beobachtung von Bäumen, Blättern, Blüten, Wurzeln und anderen Pflanzenteilen, auch durch eine mikroskopische Linse. Die naturkundliche Beobachtung wird teilweise in einschlägigen Abhandlungen kontextualisiert, die allerdings nicht botanisch ausgewertet, sondern assoziativ-metaphorisch verwendet werden. In der introspektiven Dimension ermöglicht die Beschäftigung mit Genealogie und pflanzlichen Wurzeln der Ich-Erzählerin, die eigenen Wurzeln und damit die Quelle für den kreativen Prozess zu finden, der zu dem vorliegenden Buch geführt hat. In der reflexiven Dimension betrachtet der Text die Möglichkeiten unserer Sprache, die Agentialität der Natur darzustellen, erzeugt vielfältige Resonanzen zwischen menschlicher und vegetabiler Sphäre, wobei im Wissen um deren ontologischen Differenz die poetische Arbeit in der imaginären Auflösung dieser Grenze besteht. Neben der medialen Perspektive des zunehmend schütteren Blatts als Filter sind es drei Modelle – Genealogie, Metamorphose und Rhizom –, die in den ‚Konnexionen‘ der Ich-Erzählerin zur vegetabilen Sphäre erkennbar sind und als teilweise gegenläufige Bewegungen den Schreibprozess vorantreiben. Im Postskriptum eröffnet die Ich-Erzählerin in einem Tagtraum auch die Perspektive auf den Klimawandel und die Auswirkungen der globalen Erwärmung wie Dürre und die Gefahr von Waldbränden. Die dünnen Baumstämme, wie sie in den letzten beiden Fotos abgebildet sind, würden schnell abbrennen und einer Dürre nicht standhalten. Die Ich-Erzählerin schildert, dass sie während einer Hitzewelle im Sommer den elterlichen Garten, den Baum Henry Goverts und Romans Eiche, aber auch die Bäume am Saum des Waldes tränkt (vgl. W, S. 122). Damit artikuliert sie eine fürsorgliche Haltung im Umgang mit dem Vegetabilen, bilden sie doch Ursprung und Voraussetzung der Möglichkeit des
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Schreibens. Vor dem Hintergrund des Nature Writing verweist dies auf eine ethisch-politische Dimension der Wurzelstudien.
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