Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit als kulturhistorisches Phänomen: Räume - Materialitäten - Erinnerungen 9783839445280

This volume shows: Transcultural multiple affiliation as a problem and an opportunity does not only mark the present, bu

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German Pages 252 Year 2019

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Table of contents :
Editorial
Inhalt
Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeiten
Verschleppte Kinder im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und die Grenzen transkultureller Mehrfachzugehörigkeit
Jeux charmants
Belonging and Belongings
Wo wurdest Du geboren, und wo überall hast Du gelebt?
»Zwischen seinen Nationen zerrieben«
Heinrich Schenker
(Nicht)verortet
»Der Schein des Dazugehörens«
»Was ist damals in Baku passiert?«
Zugehörigkeit, Autorschaft und die Debatte um eine ›Migrationsliteratur‹
»Neue Deutsche« mit Islam-Bezug: Navid Kermani und Zafer Şenocak
Türkei und zurück
Autorinnen und Autoren
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Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit als kulturhistorisches Phänomen: Räume - Materialitäten - Erinnerungen
 9783839445280

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Dagmar Freist, Sabine Kyora, Melanie Unseld (Hg.) Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit als kulturhistorisches Phänomen

Praktiken der Subjektivierung  | Band 13

Editorial Poststrukturalismus und Praxistheorien haben die cartesianische Universalie eines sich selbst reflektierenden Subjekts aufgelöst. Das Subjekt gilt nicht länger als autonomes Zentrum der Initiative, sondern wird in seiner jeweiligen sozialen Identität als Diskurseffekt oder Produkt sozialer Praktiken analysiert. Dieser Zugang hat sich als außerordentlich produktiv für kritische Kultur- und Gesellschaftsanalysen erwiesen. Der analytische Wert der Kategorie der Subjektivierung besteht darin, verwandte Konzepte der Individuierung, Disziplinierung oder der Habitualisierung zu ergänzen, indem sie andere Momente der Selbst-Bildung in den Blick rückt. So verstehen sich die Analysen des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« als Beiträge zur Entwicklung eines revidierten Subjektverständnisses. Sie tragen zentralen Dimensionen der Subjektivität wie Handlungsfähigkeit und Reflexionsvermögen Rechnung, ohne hinter die Einsicht in die Geschichtlichkeit und die Gesellschaftlichkeit des Subjekts zurückzufallen. Auf diese Weise soll ein vertieftes Verständnis des Wechselspiels von doing subject und doing culture in verschiedenen ZeitRäumen entstehen.

Post-structuralism and practice theories have shaken the Cartesian universal notion of the self-reflecting subject to its core. No longer is the subject viewed as the autonomous point of origin for initiative, but rather is analysed in the context of its respective social identity constructed by discourse and produced by social practices. This perspective has proven itself to be of exceptional utility for cultural and social analysis. The analytical value of the ensuing concept of subjectivation is the potential of supplementing related terms such as individualisation, disciplinary power, or habitualization by bringing new aspects of self-making to the fore. In this context, the analyses of the DFG Research Training Group »Self-Making. Practices of Subjectivation in Historical and Interdisciplinary Perspective« aim to contribute to the development of a revised understanding of the subject. They still take the fundamental dimensions of subjectivity such as agency and reflexivity into account, but do not overlook or lose sight of the historicity and sociality of the subject. Thus, the ultimate aim is to reach a deeper understanding of the interplay of doing subject and doing culture in various spaces of (and in) time. Die Reihe wird herausgegeben von Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Thomas Etzemüller, Dagmar Freist, Rudolf Holbach, Johann Kreuzer, Sabine Kyora, Gesa Lindemann, Ulrike Link-Wieczorek, Norbert Ricken, Reinhard Schulz und Silke Wenk.

Dagmar Freist, Sabine Kyora, Melanie Unseld (Hg.)

Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit als kulturhistorisches Phänomen Räume – Materialitäten – Erinnerungen

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4528-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4528-0 https://doi.org/10.14361/9783839445280 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeiten Räume | Materialitäten | Erinnerungen Vorwor t Dagmar Freist, Sabine Kyora und Melanie Unseld | 9

Verschleppte Kinder im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und die Grenzen transkultureller Mehrfachzugehörigkeit Rebekka von Mallinckrodt | 15

Jeux charmants Transkulturelle Mehr fachveror tungen in André Campras L’Europe Galante (1697) zwischen Musikhistoriografie, Politik und Publikum Gesa zur Nieden | 39

Belonging and Belongings Identity, Emotion and Memory stored in a Tobacco Box Angela McShane | 59

Wo wurdest Du geboren, und wo überall hast Du gelebt? Mehr fachzugehörigkeiten und Selbstveror tungen am Beispiel der Herrnhuter Weltgemeine im 18. Jahrhunder t Dagmar Freist | 83

»Zwischen seinen Nationen zerrieben« Nationale Doppelzugehörigkeit als Dilemma des Komponisten Anton Rubinstein Stefan Weiss | 103

Heinrich Schenker Deutscher und Jude im ›confessionellen Incognito‹ Martin Eybl | 119

(Nicht)verortet Transkulturelle Mehr fachzugehörigkeiten in Charlotte Salomons Leben? Oder Theater? Melanie Unseld | 141

»Der Schein des Dazugehörens« Zugehörigkeit als geteiltes Gefühl in Her ta Müllers Poetik-Vorlesungen Marion Acker und Anne Fleig  | 153

»Was ist damals in Baku passiert?« Kulturelle Mehr fachzugehörigkeiten und Gedächtnisdiskurse bei Autorinnen und Autoren mit osteuropäischem Hintergrund am Beispiel von Olga Grjasnowas Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt Axel Dunker | 169

Zugehörigkeit, Autorschaft und die Debatte um eine ›Migrationsliteratur‹ Saša Stanišić und Olga Grjasnowa im literarischen Feld Deutschlands Ruth Steinberg | 181

»Neue Deutsche« mit Islam-Bezug: Navid Kermani und Zafer Şenocak Kulturelle Mehr fachzugehörigkeiten in der Einwanderungsgesellschaft Michael Hofmann | 207

Türkei und zurück Transkulturelle Mehr fachzugehörigkeit in Emine Sevgi Özdamars Die Brücke vom goldenen Horn und Orhan Pamuks Schnee Sabine Kyora | 231

Autorinnen und Autoren  | 245

Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeiten Räume | Materialitäten | Erinnerungen Vorwort

Zugehörigkeiten, so eine der gesellschaftstheoretischen Grundannahmen, bestehen immer in Relation zu etwas, und lassen sich in historischer Perspektive institutionell (Vereine, Verbände etc.), sozial (Milieus, Gruppen), kulturell (Religion, Musik, Kunst, Literatur) und rechtlich (Territorien, Nation) sowie medial (Briefnetzwerke, Internetforen) umschreiben und ableiten. Zugehörigkeiten haben eine hohe Relevanz für die Selbstverortung von Personen und ihre Selbst- und Fremdwahrnehmung. Sie sind sowohl der Ausgangspunkt als auch das Ergebnis individueller und kollektiver Formen der Subjektivierung, beobachtbar etwa in der Hervorbringung spezifischer (sub-)kultureller Milieus, Sprache, Kleidung, Musik, Geschmack und Rituale, sie lassen sich räumlich verorten, werden materialisiert in Dingen und deren Gebrauchsweisen und in das kollektive Gedächtnis von Gruppen aufgenommen und permanent (re-)aktualisiert. Während Joanna Pfaff-Czarnecka in ihrer sozialanthropologischen Studie Zugehörigkeit in der mobilen Welt. Politiken der Verortung auf die affektive Dimension von Zugehörigkeit aufmerksam gemacht hat, die sich in dem Bedürfnis nach (Selbst-)Verortung in vertrauten sozialen Feldern und in der Bezugnahme auf geteilte Wissensvorräte und Erfahrungen gründet,1 wäre – praxeologisch gewendet – zu argumentieren, dass Zugehörigkeit Routinen und Praktiken in einer Welt gemeinsamer Bedeutungen hervorbringt und zugleich durch diese hervorgebracht wird. Insbesondere praxeologisch-soziologische Studien haben den latenten »Gemein-Sinn« gemeinsamen Handelns und Sprechens betont sowie die Wirkmächtigkeit kollektiver Wissens- und Deu-

1 | Pfaff-Czarnecka, Joanna: Zugehörigkeit in der mobilen Welt. Politiken der Verortung (= Das Politische als Kommunikation, Bd. 3), Göttingen 2012.

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Dagmar Freist, Sabine Kyora und Melanie Unseld

tungsschemata, die bestimmte Handlungsweisen nahelegen und andere als unpassend verwerfen.2 Ist dieser latente »Gemein-Sinn« die Grundlage intelligiblen sozialen Verhaltens und zugleich die affektive Dimension der Zugehörigkeit, so stellt sich die Frage, wie sich Zugehörigkeiten denken lassen in Gesellschaften, die von Migration sowie sozialer und räumlicher Mobilität geprägt waren und sind.3 Wie verorten sich Menschen selbst, und wie werden sie verortet unter Bezugnahme auf sehr unterschiedliche räumliche und zeitliche Dimensionen, welche kulturellen, religiösen und künstlerischen Zugehörigkeiten bilden sie in jeweils unterschiedlichen (Migrations-)Kontexten aus? Hieran anknüpfend geht es in vorliegendem Band um eine diachrone Betrachtung solcherart Mehrfachzugehörigkeiten, und zwar anhand vorgenommener Selbstverortungen, aber auch beobachtbarer Zuordnungen durch andere: Wie verorten Akteurinnen und Akteure ihr Selbst in verschiedenen, parallel erfahrbaren, aber möglicherweise zeitlich und räumlich versetzten Zeit/Raum-Dimensionen? Und wie gehen sie mit Brüchen um? Es geht um Beobachtungen, wie Mehrfachzugehörigkeiten erlebt, gestaltet und thematisiert werden und welche narrativen Muster aufgerufen, welche künstlerischen Praktiken und solche der Selbst-Bildung in transkulturell versetzten Raum/ Zeit-Strukturen erkennbar werden. Neben Praktiken des Alltags interessieren dabei auch ästhetische (Dis-)Kontinuitäten bzw. die Frage, welche künstlerischen Praktiken der Mehrfachverortung erkennbar werden, und wie sich künstlerische Mehrfachverortungen und Akkulturationsprozesse zueinander verhalten. Wie verschränken sich Zeit- und Raumstrukturen, Erinnerung und Gegenwart in Narrationen des Selbst, also in Autobiographien, Tagebüchern und anderen Egodokumenten? Schließlich geht es, neben der Beobachtung und der Narration auch darum, welche Rolle der Materialität der Zugehörigkeiten zukommt, die sich in Umgangsweisen mit Dingen und künstlerischen Praktiken ausdrückt: Welche Bedeutungsverluste oder -transformationen erleben Dinge und deren Gebrauch in neuen Kontexten, im Verlauf der Generationen und welche Rolle spielen sie als Wissensspeicher und Marker einer vergangenen aber gegenwärtig aktualisierten raum-zeitlichen Zugehörigkeit? Um diese Themen in einem interdisziplinären Kontext diskutieren zu können, waren anlässlich des Symposiums »Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeiten: Räume, Materialitäten, Erinnerungen« im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs 1608/2 »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« im Februar 2016 Kolleginnen 2 | Hörning, Karl H.: Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens, Weilerswist 2001. 3 | Ulbrich, Claudia/Medick, Hans/Schaser, Angelika (Hg.): Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, Köln/Weimar/Wien 2012.

Vor wor t: Transkulturelle Mehr fachzugehörigkeiten

und Kollegen der Geschichtswissenschaft, der Germanistik und der Musikwissenschaft eingeladen, Beispiele transkultureller Mehrfachzugehörigkeiten seit der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart vorzustellen. Die vorliegenden Beiträge bündeln die Vorträge des Oldenburger Symposiums, das durch eine Lesung der Autorin Anna Galkina (Das kalte Licht der fernen Sterne, 2016) sowie durch interdisziplinäre Workshops für Nachwuchswissenschaftler_innen begleitet worden war. Rebekka von Mallinckrodt (»Verschleppte Kinder im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und die Grenzen transkultureller Mehrfachzugehörigkeit«) geht mit der Perspektive auf verschleppte Kinder der Frage nach, wie sich in Fällen erzwungener Migration transkulturelle Mehrfachzugehörigkeiten ausprägen konnten, wie sie wahrgenommen und ausgestellt bzw. instrumentalisiert wurden. Historische Forschungen über Fälle verschleppter Kinder werden dabei, so Mallinckrodt, nicht nur durch die hohe Mobilität und den sozial niedrigen Stand erschwert, was die Sklavereiforschung insgesamt betrifft, sondern insbesondere auch durch das jugendliche Alter der Verschleppten. Zugleich sind es just jene »Hofmohren« oder kleinen »Mohrinnen«, die in der Repräsentationskultur des Adels des 18. Jahrhunderts fest verankert waren – erkennbar noch in der Rokoko-Rezeption von Hugo von Hoffmannsthal und Richard Strauss. Als Grenz- und Extremfälle zeigen die Beispiele verschleppter Kinder, welche »Mindestvoraussetzungen für die Ausbildung transkultureller Mehrfachzugehörigkeiten vorhanden sein müssen«, um historisch als Beispiele transkultureller Mehrfachzugehörigkeit überhaupt greif bar zu werden. Gesa zur Niedens Beitrag (»Jeux charmants: Transkulturelle Mehrfachverortungen in André Campras L’Europe Galante (1697) zwischen Musikhistoriografie, Politik und Publikum«) wendet sich einem 1697 erstmals aufgeführten opéra-ballet zu, in dem ausgewählte ›Nationen‹ in kontrastierender Art und Weise auf die Bühne gebracht werden sollten: André Campras und Antoine Houdar de la Mottes L’Europe Galante. Diese theatrale Darstellungsform kultureller Stereotype in L’Europe Galante war die Grundlage für nachhaltigen Erfolg, nicht nur im gesamten 18. Jahrhundert auf der Bühne, sondern auch bis in die Gegenwart in der Forschung. Gesa zur Niedens Beitrag nimmt mithilfe einer musikdramaturgischen Analyse beides in den Blick: die Gewichtung kultureller Stereotypisierung im Werk selbst und in seiner Rezeption. Sie stellt dabei die Frage, ob es sich in den fünf Entrées des opéra-ballets tatsächlich um kontrastierende Miniaturen kultureller Stereotype handelt oder ob L’Europe Galante einer übergreifenden musikalischen Dramaturgie folgt. Angela McShanes Beitrag (»Belonging and Belongings: Identity, Emotion and Memory stored in a Tobacco Box«) widmet sich Gegenständen einer sozial wie geographisch weitverbreiteten Alltagspraxis: Tabakdosen wurden für die Auf bewahrung des wertvollen Rauschmittels verwendet und zeigen in ihrer Materialität wie in ihrem Dinggebrauch Spuren eben dieser Praxis. Anhand

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Dagmar Freist, Sabine Kyora und Melanie Unseld

ihrer Analyse von Tabakdosen des 17. und 18. Jahrhunderts gibt McShane Einblicke in die soziale, ökonomische und politische Bedeutung des hochmobilen Gegenstandes und der damit verbundenen Praktiken. Davon ausgehend, dass zwar die Regelungen der religiös-konfessionellen, der sozialen oder der obrigkeitlichen Zugehörigkeit in der Frühen Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert auf Vereindeutigung abzielte, die Realitäten innerhalb gesellschaftlicher Dynamiken aber keineswegs eindeutig waren, analysiert Dagmar Freist in ihrem Beitrag (»Wo wurdest Du geboren, und wo überall hast Du gelebt? Mehrfachzugehörigkeiten und Selbstverortungen am Beispiel der Herrnhuter Weltgemeine im 18. Jahrhundert«) die von hoher Mobilität geprägte Herrnhuter Brüdergemeine. Quellen lassen unter dieser Perspektive Versuche erkennen, den individuellen Ort in einer komplexen Welt von Vergangenheit, Gegenwart und einer idealen Zukunft im Schreiben über transkulturelle Mehrfachzugehörigkeiten immer wieder (neu) zu (er-)finden. Über das Auf- und Zuschreiben nationaler Identität geht es auch im Beitrag von Stefan Weiss (»›Zwischen seinen Nationen zerrieben‹ – nationale Doppelzugehörigkeit als Dilemma des Komponisten Anton Rubinstein«): Rubinstein, als Komponist und Pianist äußerst erfolgreich, erfuhr in der zeitgenössischen Rezeption wie in der Forschungsliteratur Zuschreibungen (als deutsch/als russisch), die dort zu Rezeptionsabbrüchen führten, wo nationale Identität kanonisierend auf Repertoire und/oder Musikhistoriographie einwirkten. Das mehrfach ›heimatlos‹, das sich auch Gustav Mahler zuschrieb, erkennt und analysiert Weiss auch in der Selbst- wie der Fremddarstellung Anton Rubinsteins. Einen anderen Fall von Mehrfachzugehörigkeiten untersucht Martin Eybl: Heinrich Schenkers Identität als Jude, so die These, ist – trotz aller Friktionen der Zeit – von seiner Selbstverortung als Deutscher nicht abzukoppeln. In seinem Beitrag (»Heinrich Schenker: Deutscher und Jude im ›confessionellen Incognito‹«) geht Eybl daher der Frage nach, wie eine Mehrfachzugehörigkeit zwischen nationalem Deutschsein und Jüdischsein, darüber hinaus auch seine polnische Identität, in den in großer Fülle vorliegenden Ego-Dokumenten Schenkers zum Ausdruck kommt. Melanie Unseld wirft den Blick auf den latent autobiographischen Zyklus Leben? Oder Theater? der Malerin Charlotte Salomon, um anhand der Darstellung der Musik ebendarin die transkulturellen Mehrfachzugehörigkeiten nicht nur »zwischen Kulturen«, bzw. »quer durch unterschiedliche Kulturen«, sondern »auch innerhalb kultureller Zusammenhänge«4 zu beleuchten. Die Musik wird dabei als jene Kultursphäre erkennbar, in der Salomon die Selbst4 | Ulbrich, Claudia/Medick, Hans/Schaser, Angelika: Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, in: dies. (Hg.): Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Per­ spektiven, Köln/Weimar/Wien 2012, S. 1-20, hier S. 15.

Vor wor t: Transkulturelle Mehr fachzugehörigkeiten

verortungen zum Ausdruck bringen kann (etwa in der Berliner Musikkultur der 1920/30er Jahre) wie auch den Verlust dieser Verortung durch Flucht, Vertreibung und Exil. Die folgenden Beiträge gehen – alle aus germanistischer Perspektive – Fragen transkultureller Mehrfachzugehörigkeiten in der Gegenwartsliteratur nach, und zwar entlang von Autorinnen und Autoren, deren Schreiben und deren Existenz als Schreibende sich zwischen zwei oder mehreren Sprachen ereignet. Im Beitrag von Marion Acker und Anne Fleig (»›Der Schein des Dazugehörens‹: Zugehörigkeit als geteiltes Gefühl in Herta Müllers Poetik-Vorlesungen«) geht es nicht um ein neuerliches Aufrufen einer Anti-Heimatliteratur bei Herta Müller, sondern um die Ambivalenz von belonging im Sinne einer komplexen Herausforderung eines als relational gedachten Verständnisses von Zugehörigkeit und damit verstanden als ›Schlüssel‹ zu Herta Müllers »Poetik der Risse« (Thomas Roberg). Axel Dunker untersucht in seinem Beitrag den Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt der Autorin Olga Grjasnowa als eines von zahlreichen Beispielen von derzeit auf dem deutschsprachigen Büchermarkt höchst erfolgreichen Autorinnen und Autoren aus Osteuropa (»›Was ist damals in Baku passiert?‹ Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten und Gedächtnisdiskurse bei Autorinnen und Autoren mit osteuropäischem Hintergrund am Beispiel von Olga Grjasnowas Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt«). Dunker beobachtet dabei, dass sich die Autorin mit ihrer Herkunft aus einer Region auseinandersetzt, deren Geschichte durch zahllose Konflikten geprägt ist, und erläutert Spuren der Traumatisierung in Sujet, Figuren und Sprache von Grjasnowas Roman. Auch Ruth Steinberg wendet sich Grjasnowa als Autorin zu, vergleichend zudem auch Saša Stanišić. In ihrem Beitrag (»Zugehörigkeit, Autorschaft und die Debatte um eine ›Migrationsliteratur‹. Saša Stanišić und Olga Grjasnowa im literarischen Feld Deutschlands«) geht es um kulturpolitische Umgangsweisen mit »Migrationsliteratur« und darum, wie Autorinnen und Autoren zu dieser Form der Verortung durch den deutschen Literaturbetrieb Stellung beziehen. Michael Hofmann ergänzt diese Perspektive durch den Fokus auf Religion. In seinem Beitrag (»›Neue Deutsche‹ mit Islam-Bezug: Navid Kermani und Zafer Şenocak. Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten in der Einwanderungsgesellschaft«) setzt sich Hofmann mit muslimischen Autoren auseinander, die in ihrem Schreiben das eigene Muslimsein thematisieren, es sogar zu einem wesentlichen Moment ihres literarischen Konzepts machen, zumal autobiographisches Schreiben Eingang in die literarischen Produktionen von Navid Kermani und Zafer Şenocak fanden. Sabine Kyora schließlich betrachtet beispielhaft die Romane von Orhan Pamuk (Schnee, 2002) und Emine Sevgi Özdamar (Die Brücke vom goldenen Horn, 1998) als literarische Auseinandersetzung mit transkultureller Mehrfachzugehörigkeit, das hier als das entscheidende Problem sowohl des Textes selbst als auch der in den Roman auftretenden Figuren

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Dagmar Freist, Sabine Kyora und Melanie Unseld

verstanden wird. Kyora beobachtet dabei, wie die in den Romanen thematisierten Bewegungen – Flucht, Exil, Befreiung, Erwachsenwerden etc. – zwischen der Türkei und Deutschland unterschiedliche Konzepte von transkultureller Mehrfachzugehörigkeit in sich tragen können. Den Herausgeberinnen des Bandes ist es ein Anliegen, für das Gelingen des Symposiums und der Drucklegung der Beiträge mehreren Personen herzlich zu danken. Ein besonderer Dank geht dabei an die Autorinnen und Autoren, die sich auf den interdisziplinären Dialog eingelassen, ihre Vorträge präsentiert und diskutiert, schließlich auch nicht die Mühe der Verschriftlichung gescheut haben. Zum Gelingen des Symposiums hat wesentlich Marta Mazur beigetragen. Für die Einrichtung der Texte war die Mitarbeit von Katrin Schleffler und insbesondere von Daria Engelmann besonders hilfreich, ebenso die Koordination durch Marta Mazur und Robert Mitschke sowie das Korrektorat durch Haruki Noda. Ihnen allen gilt unser Dank ebenso wie den Mitarbeiterinnen des transcript Verlages, hier insbesondere Carolin Bierschenk. Dagmar Freist, Sabine Kyora und Melanie Unseld Oldenburg und Wien, im Juni 2018

Verschleppte Kinder im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und die Grenzen transkultureller Mehrfachzugehörigkeit 1 Rebekka von Mallinckrodt Abbildung 1: Johanna Charlotte von Brandenburg-Schwedt, Fürstäbtissin des Stiftes Herford, mit Carl Heinrich Leopold, um 1740.

Bildnachweis: Städtisches Museum Herford, Inv.-Nr. 92/91.

1 | Dieses Projekt wird durch den European Research Council (ERC) im Rahmen des EU-Forschungsförderprogramms »Horizon 2020« finanziert (ERC Consolidator Grant Agreement Nr. 641110 »The Holy Roman Empire of the German Nation and its Slaves«, 2015-2020). Der Beitrag gibt dennoch ausschließlich die Meinung der Autorin wieder, und der ERC ist nicht verantwortlich für seinen Inhalt noch für dessen Gebrauch.

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Rebekka von Mallinckrodt

Für ein repräsentatives Gemälde hat das Porträt der Johanna Charlotte von Brandenburg-Schwedt (1682-1750) einen erstaunlich empfindsamen, ja privaten und auch ein wenig uneindeutigen Charakter und zieht den Betrachter dadurch in den Bann (Abbildung 1):2 Es zeigt die geborene Prinzessin von AnhaltDessau – die am linken Bildrand halb zu sehende, abgelegte Krone verweist auf ihre Herkunft – in ihrer Funktion als Fürstäbtissin des Stiftes Herford, das als reichsunmittelbares, evangelisches Stift nicht nur im Reichstag vertreten war, sondern auch ein eigenständiges, wenn auch kleines Territorium umfasste. Über dem dunklen Kleid trägt sie an einem roten Band den Ordensstern des Stiftes, auf dem Kopf einen kleinen, ebenfalls dunklen Witwenschleier. Trotz der dargestellten herrschaftlichen Funktion vermittelt das Bild eine ungewöhnliche Nähe: Der nachdenklich auf die rechte Hand gestützte Kopf, der halb sinnierend, halb verträumte Gesichtsausdruck bringen mehr Emotionalität als sonst in Herrschaftsporträts üblich zum Ausdruck. Unentschieden bleibt dabei, ob die hochgezogenen Augenbrauen und Lippen eher ein Lächeln und unterdrückte Verschmitztheit andeuten oder ob der Eindruck einer gewissen Wehmut in den dunklen Augen der seit 1711 verwitweten Frau überwiegt, die seit 1729 dem Stift vorstand. Die Szene wirkt aber vor allem durch den um die Schultern eines afrikanischen Jungen gelegten Arm der Äbtissin zart, den sie so ein wenig zu sich heranzieht, so dass beide auf einem Sessel Platz finden, der im Hintergrund angedeutet ist, und den Betrachter gleichermaßen unvermittelt anblicken. Die weichen Gesichtszüge des Jungen lassen ebenso wie sein offenherziger Blick darauf schließen, dass er kaum dem Kleinkindalter entwachsen ist und die ihm zugedachte Rolle als dienender Hofmohr, erkennbar an Livree und Turban, noch kaum ausfüllen kann, wie auch die Geste der Äbtissin nicht für ein Verhältnis zwischen Diener und Herrin spricht, sondern eher für eine Beziehung zwischen Mutter und Kind, eine Geste der Zärtlichkeit, die sich im fortgeschrittenen Alter des Jungen verbieten würde, hier aber ebenso ihre Fürsorge wie seine Schutzbedürftigkeit ausdrücken kann, ohne anzüglich zu wirken, zumal Johanna Charlotte selbst sechs Kinder hatte. Die innige Atmosphäre des Gemäldes lässt dabei fast die Grausamkeit seiner Entstehungsbedingungen vergessen: Denn der hier dargestellte afrikanische Junge war keine fiktive Staffagefigur, wie zu jener Zeit aufgrund der hohen Preise für afrikanische Sklavinnen und Sklaven auf dem europäischen Kontinent durchaus üblich, um zumindest durch die bildliche Abbildung Weltläufigkeit ebenso wie Herrschaftskompetenz zu demonstrieren, 2 | Das Gemälde befindet sich heute im Städtischen Museum Herford (Inv.-Nr. 92/91). Bereits Thorsten Heese verweist darauf, dass das Bild »ganz gegen die Konventionen [seiner] Zeit« gestaltet ist (Heese, Thorsten: Von Mohren und Menschen. Der afrikanische Diener der Äbtissin Johanna Charlotte, in: Historisches Jahrbuch für den Kreis Herford (1997), S. 67-78, hier S. 68, s.a. S. 71).

Verschleppte Kinder

sondern ein reales Kind. Dafür sprechen nicht nur die Abwandlung des geläufigen Bildmotivs und die individualisierte Darstellung der beiden Porträtierten,3 sondern auch und vor allem schriftliche Zeugnisse: Es handelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um den auf den Namen Carl Heinrich Leopold getauften afrikanischen Jungen, der 1734 im Alter von sieben Jahren an den Hof der Äbtissin nach Herford kam und dort 16 Jahre lang bis zu ihrem Tod diente.4 Aufgrund der Trageweise des abgebildeten Damenstiftsordens und des Stils vermutet Thorsten Heese, dass das Gemälde Anfang der 1740er Jahre in Pesnes Werkstatt entstanden ist und somit die damals rund 60 Jahre alte Johanna Charlotte in schmeichelhafter Weise deutlich jünger zeigt, als es tatsächlich der Fall war.5 Wegen seiner weichen Gesichtszüge könnte man auch den Jungen wesentlich jünger schätzen, als es seinem Alter zur vermuteten Entstehungszeit entsprach, d.h. entweder ist das Bild tatsächlich früher entstanden oder es sollte einen früheren Zustand konservieren und zugleich jegliche sexuelle Anzüglichkeit bei der Abbildung eines älteren Jungen vermieden werden. Entsprechend wird auf einem im Stil ähnlichen Porträt die ältere Johanna Charlotte mit dem heranwachsenden afrikanischen Diener – nun mit deutlich zu erkennendem Sklavenhalsband dargestellt – im gebührenden körperlichen Abstand gezeigt.6 Weder der ursprüngliche Name des Kindes noch sein Herkunftsland, geschweige denn weitere biographische Details vor seiner Ankunft am Hof sind bekannt. Er ist der einzige in der mehrseitigen Auflistung der Dienerschaft der Äbtissin, bei dem die Spalte »Vaterland« leer bleibt.7 Nach dem Tod Johanna Charlottes begegnet er uns 1750 erneut auf dem Weg zu seiner neuen Dienstherrin, Markgräfin Sophie von Brandenburg-Schwedt (1719-1765), die mit Johanna Charlottes ältestem Sohn Friedrich Wilhelm ver3 | Zum bis ins 16. Jahrhundert zurückreichenden Bildtypus adeliger Protagonisten mit afrikanischen Begleitfiguren, der zwischen 1650 und 1750 besonders weit verbreitet war, vgl. u.a. Schmidt-Linsenhoff, Viktoria: Mit Mohrenpage, in: dies.: Ästhetik der Differenz. Postkoloniale Perspektiven vom 16. bis 21. Jahrhundert. 15 Fallstudien, Marburg 2010, S. 249-266. 4 | Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (im Folgenden abgekürzt: GStA PK), BPH Rep. 36, Nr. 87, fol. 11v-12r sowie BPH Rep. 36, Nr. 86 (nicht paginiert, nachträgliches Codicil). 5 | Heese, T.: Von Mohren und Menschen, S. 75. 6 | Siehe https://rkd.nl/en/explore/images/103038 vom 12.01.2018. Das Bild befindet sich in einer Privatsammlung in den Niederlanden: Kasteel Middachten, De Steeg (Rheden), Inv.-Nr. 195. Thorsten Heese datiert das Bild aufgrund des Stils zwischen 1720 und 1730, da es jedoch Diener und Äbtissin gealtert zeigt, erscheint mir eine spätere Datierung plausibler. 7 | Berlin, GStA PK, BPH Rep. 36, Nr. 87, fol. 11v-12r sowie BPH Rep. 36, Nr. 86 (nicht paginiert, nachträgliches Codicil).

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Rebekka von Mallinckrodt

mählt war. In einem Schreiben bittet Leopold nicht nur um Übersendung von Reisegeld, sondern auch – inzwischen selbst Vater eines unehelichen Kindes – um die Erlaubnis zur Heirat, die einer Notiz Friedrich Wilhelms auf dem Brief nach zu schließen jedoch nicht erteilt wurde.8 Nach diesem Brief – womöglich wegen dieser Absage – verliert sich seine Spur wieder im Dunkeln. Es ist diese durch hohe Mobilität und zumeist niedrige soziale Stellung charakterisierte, fragmentarische und verstreute Quellenlage, welche die Forschung zu verschleppten Menschen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation deutlich erschwert. Verschärft wird diese Quellenproblematik durch das junge Alter zahlreicher ›menschlicher Mitbringsel‹, denn Kinder geben meist nicht selbst über sich Auskunft; Kindheitserfahrungen tauchen zumeist retrospektiv in den biographischen Erzählungen Erwachsener auf oder indirekt, gespiegelt aus der Perspektive der anderen, sie umgebenden Personen. Neben dieser Schwierigkeit der Dokumentation ist auch die Betrachtung von Sklaverei vornehmlich unter dem Aspekt der Gewinnung von Arbeitskraft, welche diese sehr jungen Kinder häufig noch nicht erbringen konnten, vermutlich der Grund dafür, dass Heranwachsende erst allmählich in den Fokus der historischen Sklavereiforschung rücken, wie Gwyn Campbell, Suzanne Miers und Joseph C. Miller noch 2009 feststellten.9 Forschungsarbeiten zu verschleppten Menschen im Heiligen Römischen Reich verweisen zwar des Öfteren auf die sklavische Herkunft, wollen den Sklavenstatus für das Alte Reich selbst aufgrund fehlender Gesetze und konkreter Lebensbedingungen jedoch zumeist nicht gelten lassen und schließen damit bewusst nicht an die internationale Forschung zur Sklaverei an, die aufgrund der für das frühneuzeitliche Europa typischen rechtlichen Grauzonen und des illegalen bzw. verdeckten Menschenhandels auf dem Kontinent wichtige Anregungen auch für das Heilige Römische Reich geben könnte. Gleichzeitig merken Autorinnen und Autoren für den deutschsprachigen Raum wiederholt das junge Alter sogenannter ›Hofmohren‹ an,10 bei denen – anders als im transatlantischen Sklavenhandel – der Aspekt der Repräsentation gegenüber dem der Arbeitskraft im Vordergrund stand, machen das Lebensalter aber nicht selbst zum Thema. Dies erscheint dem Phänomen insofern nicht angemessen, als eine Reihe von 8 | Berlin, GStA PK, BPH Rep. 36, Nr. 73 [weder paginiert noch foliiert]. 9 | Vgl. Campbell, Gwyn/Miers, Suzanne/Miller, Joseph C.: Editor’s Introduction, in: Dies. (Hg.): Children in Slavery through the Ages, Athens 2009, S. 1-19, hier S. 1. Vgl. auch dies.: Children in European Systems of Slavery: Introduction, in: Slavery and Abolition 27, 2 (2006), S. 163-182, hier S. 164. 10 | So zum Beispiel Martin, Peter: Schwarze Teufel, edle Mohren. Afrikaner in Geschichte und Bewußtsein der Deutschen, Hamburg 2001, S. 129f., 136f.; KuhlmannSmirnov, Anne: Schwarze Europäer im Alten Reich. Handel, Migration, Hof, Göttingen 2013, S. 21, 36, Anm. 62, S. 45, 153f.

Verschleppte Kinder

Indizien darauf hindeuten (s.u.), dass die meisten verschleppten Menschen in einem sehr jungen Alter in das Heilige Römische Reich kamen, Kinder somit nicht nur eine Altersgruppe unter vielen darstellten, sondern eine charakteristische und zentrale Erscheinung innerhalb der Geschichte der Verschleppung von Menschen ins Alte Reich waren. Während die Frage des Rechtsstatus verschleppter Menschen im Reich an anderer Stelle diskutiert wird,11 analysiere ich deshalb in diesem Beitrag, warum bevorzugt Kinder in das Heilige Römische Reich Deutscher Nation verschleppt wurden (1.) und was dies in Konsequenz für das Oberthema dieses Sammelbandes – die Frage nach transkulturellen Mehrfachzugehörigkeiten – bedeutet (2.). Der Schlussteil reflektiert auf einer allgemeineren Ebene, welcher Erkenntnisgewinn sich daraus für die Sklavereiforschung einerseits und Forschungen zu transkulturellen Mehrfachzugehörigkeiten andererseits ergibt (3.). Da der transatlantische Sklavenhandel im 18. Jahrhundert seinen Höhepunkt erreichte und da in diesem Kontext auch die Anzahl von verschleppten Menschen in West- und Mitteleuropa in die Höhe schnellte, selbst wenn sie nicht immer direkt aus diesem Handel stammten, liegt der zeitliche Schwerpunkt dieses Beitrags im 18. Jahrhundert. Dieser Fokus spiegelt zugleich den zunehmenden Handel mit Kindern, deren Anteil auf Sklavenschiffen an der Küste Westafrikas vom 17. zum 18. Jahrhundert sich von zwölf auf fast 23% nahezu verdoppelte, wobei die Dunkelziffer angesichts der Tatsache, dass gerade sehr junge Kinder nicht verzeichnet wurden, deutlich höher lag.12

I. M otive und D imensionen der V erschleppung von K indern ins A lte R eich Aufgrund der hohen Kindersterblichkeit und – zynisch formuliert – der damit verbundenen, möglicherweise vergeblichen Investition war der bevorzugte Kauf und die Verschleppung von Kindern ins Alte Reich eigentlich erstaunlich. Dies galt im gesteigerten Maße für die hier gehandelten Heranwachsenden, da zum einen die Sterblichkeit auf der Überfahrt und in den Kolonien selbst

11 | Mallinckrodt, Rebekka von: There are no Slaves in Prussia?, in: Felix Brahm/Eve Rosenhaft (Hg.): Slavery Hinterland. Transatlantic Slavery and Continental Europe 1680-1850, Woodbridge 2016, S. 109-131; dies.: Verhandelte (Un-)Freiheit. Sklaverei, Leibeigenschaft und innereuropäischer Wissenstransfer am Ausgang des 18. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 43,3 (2017), S. 347-380. 12 | Lovejoy, Paul: The Children of Slavery – the Transatlantic Phase, in: Slavery and Abolition 27, 2 (2006), S. 197-217, hier S. 200f.

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extrem hoch war,13 zum anderen die Kinder aufgrund ihrer intendierten repräsentativen Funktion möglichst makellos aussehen sollten, während Pockennarben im Sklavenhandel sonst als positives Zeichen galten, da die davon Gezeichneten gegen die Krankheit immun waren,14 d.h. man handelte hier auch noch mit einem besonders anfälligen und damit gefährdeten Gut. Außerdem schlug sich die frühneuzeitliche Preissteigerung für Sklavinnen und Sklaven an der afrikanischen Küste auch in Europa nieder: 1685 war Rudolf August Mohr15 noch für fünfzig Reichstaler auf der Leipziger Messe verkauft worden, falls man der vierzig Jahre später gedruckten Leichenpredigt vertrauen kann.16 1733 ließ sich Martin Harnack im Amt Balga, das damals zu Preußen gehörte, schon einhundert Reichstaler für einen ›Mohrenknaben‹ zahlen, den er selbst in Guinea als Sklaven erworben hatte.17 Der Herzog von Holstein offerierte kurze Zeit später (vergeblich) einhundert Dukaten für denselben Jungen.18 1740 zahlte Friedrich der Große 500 niederländische Gulden, umgerechnet 200 Reichstaler,19 für einen von zwei über Amsterdam ›bestellten‹ afrikanische Jungen, zuzüglich weiterer Kosten für Ausstattung und Transport nach Preußen. Allerdings erschien ihm der erstandene »jeune negre bien fait« ausgesprochen teuer, weshalb er auf weitere Erwerbungen über die Niederlande verzichtete (»Mais comme le prix me paroit excesif vous n’avez pas besoin d’en chercher d’autres.«).20 Der preußische Botschafter Joachim Erdmann von Arnim musste 1774 in Kopenhagen jedoch ebenfalls 200 Reichstaler für einen schwarzen Jungen erlegen.21 Denn nicht alle hatten die Möglichkeit wie der deutsche, zeitweilig in englischen Diensten stehende Indienfahrer Christoph Adam Carl von Imhoff (1734-1788), der ursprünglich deutsche, dann in dänischen Diensten stehende Plantagenbesitzer Heinrich Carl von Schimmelmann (1724-1782) mit Zweitwohnsitz in Hamburg oder der Missionar Nikolaus 13 | Morgan, Kenneth: The Struggle for Survival. Slave Infant Mortality in the British Caribbean in the Late Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: G. Campbell/S. Miers/ J. C. Miller (Hg.): Children in Slavery through the Ages, S. 187-203. 14 | Campbell, G./Miers, S./Miller, J. C.: Editor’s Introduction, S. 6, 12. 15 | Zur Namensgebung vgl. unten S. 33-35. 16 | Kuhlmann-Smirnov, A.: Schwarze Europäer, S. 147. 17 | Berlin, GStA PK, XX. HA Historisches Staatsarchiv Königsberg, Etatsministerium (EM) 73, 4 Nr. 30 Der aus dem Collegium Fridericianum geraubte Mohrenknabe, 1733, Kaufvertrag, fol. 18r. 18 | Ebd., fol. 17r. 19 | Siehe www.pierre-marteau.com/currency/converter/rei-hol.html vom 23.08.​2016. 20 | Berlin, GStA PK, I. HA Geheimer Rat, Rep. 36 Hof- und Güterverwaltung, Nr. 304. 21 | Anonymous: Rechtsgeschichte eines erkauften Mohren, in: Beyträge zur juristischen Litteratur in den Preußischen Staaten, 6. Sammlung, 4. Abschnitt (1780), S. 296-311, hier S. 297.

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Ludwig von Zinzendorf (1700-1760) außerhalb Europas vergleichsweise preiswert Sklavinnen und Sklaven zu kaufen und mit nach Deutschland zu bringen. Während Erwerbungen in anderen europäischen Städten nicht günstiger waren, konnte die Gewinnspanne für Reisende bei einem Weiterverkauf der Kinder im Alten Reich beträchtlich sein, insofern man mehr als das Dreifache für ein solches Kind in Europa verlangen konnte.22 Wegen ihrer Kostbarkeit und vergleichsweise seltenen Erscheinung schreckten Bewohner des Alten Reiches deshalb selbst vor Kindesentführung nicht zurück.23 Die Mode, sich mit dunkelhäutigen Menschen zu umgeben, reichte dabei weit hinter das 18. Jahrhundert zurück, erfasste ganz Europa und hörte – trotz zunehmender Sparmaßnahmen in der aristokratischen Hofhaltung – auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch lange nicht auf. Welche besondere Rolle spielte hierbei aber das Alter der Verschleppten? Arbeiten zu sogenannten ›Hofmohren‹ haben bereits auf die ästhetische Funktion dieser in Europa exotisch anmutenden Menschen hingewiesen. Insbesondere sollte deren Dunkelhäutigkeit die vornehme Blässe ihrer Besitzerinnen und Besitzer besser zur Geltung bringen, weshalb man nicht nur besonders gut aussehende Personen nachfragte, sondern auch besonders dunkle.24 In zeitgenössischen Gemälden wird dieser hell-dunkel Kontrast als Bildstrategie bisweilen durch die Lichtführung verstärkt, so dass die hellhäutigen Protagonisten wie im Scheinwerferlicht entgegentreten, während die dunkelhäutigen Staffagefiguren fast mit dem Hintergrund verschmelzen.25 Diese Funktion, Hauptfigur und zugleich meist Auftraggeber der Bilder buchstäblich in einem besseren Licht erscheinen zu lassen, wurde bei Kindern durch die geringere Körpergröße verstärkt, denn dies erlaubte nicht nur – ähnlich wie für den Betrachter intendiert – einen aufschauenden Blick im Bild zu inszenieren, sondern neben der körperlichen, auch kognitive und emotionale Überlegenheit in Szene zu setzen. Die besondere Abhängigkeit von Kindern entsprach in der europäischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts zugleich dem gedachten Verhältnis 22 | Kuhlmann-Smirnov nennt als Einkaufspreise in Surinam Mitte des 18. Jahrhunderts 150 bzw. 156 holländische Gulden (Kuhlmann-Smirnov, A.: Schwarze Europäer, S. 142, 366, Nr. 341). 23 | Berlin, GStA PK, XX. HA Historisches Staatsarchiv Königsberg, Etatsministerium (EM) 73, 4 Nr. 30 Der aus dem Collegium Fridericianum geraubte Mohrenknabe, 1733. 24 | Martin, P.: Schwarze Teufel, edle Mohren, S. 100-104. Vgl. hierzu ausführlich Greve, Anna: Farbe – Macht – Körper. Kritische Weißseinsforschung in der europäischen Kunstgeschichte, Karlsruhe 2013. 25 | Besonders eindrücklich z.B. in einem Gemälde von Antoine Pesne, das Wilhelmine von Preußen und ihren Bruder Friedrich (den späteren Friedrich den Großen) 1714 gemeinsam mit einem ›Hofmohren‹ zeigt (Öl auf Leinwand, Berlin, Schloss Charlottenburg, Stiftung Preußischer Kulturbesitz).

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zwischen ›Weißen‹ und ›Schwarzen‹, die nach dieser Vorstellung niemals dem Kindsein entwuchsen, sondern lebenslang der Fürsorge, Erziehung und Kontrolle der ›Weißen‹ bedurften. In der Forschungsliteratur wird bisweilen von regelrechten Erziehungsexperimenten im Kontext der entstehenden Rassenlehre gesprochen,26 die Quellen geben dies jedoch nicht unbedingt in dieser Ausdrücklichkeit wieder und nur selten ließ man den Kindern eine so umfangreiche Erziehung angedeihen, wie dies zum Beispiel für Anton Wilhelm Amo belegt ist, der zum Universitätsdozenten aufstieg, weshalb die ästhetischrepräsentative Funktion wohl bei den meisten Besitzerinnen und Besitzern überwog. Angesichts der teilweise sehr präzisen Angaben in Bezug auf Alter und Aussehen gewünschter dunkelhäutiger Kinder27 ist es sogar denkbar, dass sich Bildtopos und Wirklichkeit wechselseitig beeinflussten, d.h. dass Kinder inspiriert durch solche Gemälde bei Mittelsleuten bestellt wurden, um so die Realität dem ästhetischen Ideal nachzubilden. Kinder hatten gleichzeitig den Vorteil, dass mit ihnen ein Exotismus ohne Angst vor dem Fremden in Szene gesetzt werden konnte. Ihre Unterlegenheit war gerade angesichts der Nähe im gemeinsamen Haushalt beruhigend, zumal sie im jungen Alter auch noch leicht formbar waren und ihre Unmündigkeit die Besitzerinnen und Besitzer – selbst bei unklarer Rechtslage – mit weitreichender Verfügungsgewalt ausstattete. So bot 1771 ein in Amsterdam lebender deutscher Arzt dem Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Kassel »einen Surinamesischen Mohren« an, den er »sehr jung gekauft« habe,28 das junge 26 | So Martin (Martin, P.: Schwarze Teufel, edle Mohren, S. 302) in Bezug auf den entführten ›Mohrenknaben‹; in den Quellen aber nicht explizit zu finden; Iris Wigger und Katrin Klein in Bezug auf Soliman (dies.: »Bruder Mohr«. Angelo Soliman und der Rassismus der Aufklärung, in: Wolf D. Hund (Hg.): Entfremdete Körper. Rassismus als Leichenschändung, Bielefeld 2009, S. 81-115, hier S. 90); in den Quellen aber nur als Mutmaßung eines Dritten. 27 | Vgl. z.B. die ›Bestellung‹ zweier Kinder durch Georg Christian von Ostfriesland 1663: »Nachdem Wir glaubwürdig berichtet worden sind, daß in der Stadt Amsterdam ein Schiff mit vielen Mohren angekommen sein soll und Wir dann derselben für unsere herzliebste Gemahlin […] zwei, also einen jungen Mohren und eine junge Mohrin, jeden von 5 oder 6 Jahren desideriren, so befehlen Wir Euch hiermit gnädig, Ihr wollet selbige für unsere herzliebste Gemahlin Durchlaucht einkaufen und bei Euerer Zurückkunft zugleich mit anhero bringen. Vor allem werdet Ihr dahin trachten, daß sie von guter Leibesdisposition und Gesicht sein mögen.« (zitiert nach Kuhlmann-Smirnov, A.: Schwarze Europäer, S. 164; auch in Martin, P.: Schwarze Teufel, edle Mohren, S. 104). 28 | Häberlein, Mark: »Mohren«, ständische Gesellschaft und atlantische Welt, in: Claudia Schnurmann/Hartmut Lehmann (Hg.): Atlantic Understandings: Essays on European and American History in Honor of Hermann Wellenreuther, Hamburg 2006, S. 77-102, hier S. 96.

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Alter und damit auch die Bildsamkeit wurde als besonderes Qualitätsmerkmal hervorgehoben. Kinder konnten sich außerdem noch weniger als Erwachsene wehren, mögliche Hilfswege wie zum Beispiel Petitionen eruieren und somit ihre unmittelbare Ansprechperson umgehen. Mit der Pubertät schien eine solche Nähe insbesondere zwischen Frauen der Oberschicht und ihren jugendlichen Dienern allerdings nicht mehr angemessen.29 Pierre H. Boulle, der zu Frankreich gearbeitet hat, vermutet, dass wegen befürchteter sexueller Beziehungen zwischen Herrin und Diener Jungen häufiger von den Hausherren entlassen wurden, wenn sie die Geschlechtsreife erreichten.30 Die Darstellung des deutlich jüngeren Knaben im eingangs beschriebenen Porträt Johanna Charlottes von Brandenburg-Schwedt würde somit solchen normativen Vorstellungen der Distanz zwischen den Geschlechtern entsprechen, indem die Kindlichkeit und somit ›Geschlechtslosigkeit‹ des Knaben betont wird, während das spätere Gemälde den heranwachsenden Jungen in größerem Abstand zu Johanna Charlotte zeigt. Bereits Hans Werner Debrunner sprach deshalb von lebendigen »playthings«31, Heese von »menschlichen Schoßhündchen«32 und Boulle von »turbaned pets«33, welche gleichermaßen dem Wunsch nach Exotik wie der verspielten Ästhetik des Rokoko dienten. Verschleppte Menschen im Alten Reich nahmen somit in einer ganz bestimmten Lebensphase, nämlich in ihrer Kindheit, diese Funktion für ihre Besitzerinnen und Besitzer ein und verloren sie danach bzw. wurden anderweitig eingesetzt. Durch die Konzentration der Forschung auf die höfische Welt wurde bislang vernachlässigt, dass neben ihrer Rolle als repräsentatives Statussymbol verschleppte Kinder auch einen emotionalen Mehrwert für ihre Besitzerinnen und Besitzer darstellen konnten, der sich nicht unbedingt nach außen hin mitteilte, aber die Ersatzväter und -mütter deutlich in ihrem Selbstwertgefühl hob, denn die Kinder waren durch ihre extreme Abhängigkeit noch anhänglicher als Erwachsene in einer fremden Umgebung. Umgekehrt hielten einige Besitzerinnen und Besitzer nicht mehr an ihren menschlichen Erwerbungen fest, wenn diese Funktion nicht mehr gegeben war. Vielmehr traten dann in ihren Augen die mühsamen Aspekte des Unterhalts und der Verantwortung in den 29 | Blom, Philipp: Von Mmadi Make zu Angelo Solliman – Eine Spurensuche, in: Ders./ Wolfgang Kos (Hg.): Angelo Soliman. Ein Afrikaner in Wien, Wien 2011, S. 67-79, hier S. 75. 30 | Boulle, Pierre H.: Slave and Other Nonwhite Children in Late-Eighteenth-Century France, in: G. Campbell/S. Miers/J.C. Miller (Hg.): Children in Slavery through the Ages, S. 169-186, hier S. 182. 31 | Debrunner, Hans Werner: Presence and Prestige. Africans in Europe. A History of Africans in Europe before 1918, Basel 1979, S. 97. 32 | Heese, T.: Von Mohren und Menschen, S. 72. 33 | Boulle, P. H.: Slave and Other Nonwhite Children, S. 169.

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Vordergrund.34 So beschwerte sich der bereits genannte Imhoff in einem Brief an seinen Freund Carl Ludwig von Knebel, dass einer der beiden aus Indien mitgebrachten und dort vermutlich gekauften35 Jungen in Deutschland nicht mehr so anhänglich war, und versucht ihn daraufhin zu verschenken, was sich jedoch aufgrund seines bereits jugendlichen Alters als schwierig erwies: Mein Ramjany hat seit der Zeit, daß er in Weimar war, beinahe all sein Attachement vor mich verloren, und dies ist Ursache, daß ich ihm, wann ihm Se. Durchlaucht der Prinz Constantin, dem ich mich zur Gnade empfehle, noch wollen, soviel er mich schon gekost hat, überlassen will, […]. 36

Solche Quellenbeispiele machen außerdem deutlich, dass es sich keineswegs nur um eine Mode des hohen Adels und der prächtigen Höfe handelte, sondern um ein Phänomen, das über den niederen Adel bis in das Bürgertum reichte, als Mittelsleute und Besitzer aber auch Soldaten, Kaufleute, Missionare, Handwerker und einfache Seeleute umfasste. So war der bereits erwähnte Harnack, der 1733 im Amt Balga einen ungefähr sieben- bis achtjährigen ›Mohrenkna-

34 | Vgl. z.B. Imhoff Indienfahrer. Ein Reisebericht aus dem 18. Jahrhundert in Briefen und Bildern, hg. und mit einer Einführung von Gerhard Koch, Göttingen 2001, S. 252, 254, 256. 35 | Da Imhoff im März 1773 kurz vor seiner Rückkehr nach Europa schreibt, dass sein Gefolge aus »3 schwarzen Bedienten, wovon 2 Sklaven und Jungen sind«, besteht, hat er die beiden Jungen wahrscheinlich käuflich erworben (Imhoff Indienfahrer, S. 213). An anderer Stelle weist er darauf hin, dass die meisten Sklaven in seinem indischen Umfeld Kinder sind (ebd., S. 184). 36 | Imhoff Indienfahrer, S. 252. Vgl. auch ebd., S. 254f.: »Ich habe Ihnen [Carl Ludwig von Knebel (1744-1834)] oder vielmehr Ihren durchl. Herrn meine Mohren angeboten. Ich habe gwünscht, etwas vor das viele, das sie mir schon gekost haben, zu bekommen. Ich sehe aber, daß ich sie nicht behalten kann, wann ich auch gar nichts davor griege. Junge Leute brauchen Erziehung, mit welcher ich mich nicht mehr abgeben kann und wozu in Mörlach weder der Ort noch die Gelegenheit ist. Se. Durchlaucht der Herzog haben Leute, die auf sie sehen können, Leute, die sie brauchbar machen können. Sie können, wann es die Mohren verdienen, solche versorgen, und wann sie es nicht verdienen, solche doch zu Soldaten machen oder weiterverschenken.« (Es handelt sich um den jüngeren Bruder des damaligen Herzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach, Friedrich Ferdinand Constantin (1758-1793), der Knebels Zögling war). Sowie ebd., S. 258: »Mein kleiner Schwarzer [also wahrscheinlich Ramjany] wird das Glück haben, Ihnen diesen Brief zu bringen. Und ich empfehle ihm Ihres guten Vorworts. Se. Durchlaucht der Herzog können mit ihm machen, was sie Lust haben, selbst behalten oder weiterschenken, aber in beiden Fällen hoffe ich, daß seine Erziehung besorgt wird.«

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ben‹ verkaufte, Schiffszimmermann.37 Carmel Oly, der auf den Namen Josua getauft wurde, kam 1734 als vermutlich Siebenjähriger mit dem Missionar Leonhard Dober nach Deutschland, nachdem er als Sklave von Afrika nach St. Thomas verschifft worden war.38 1767 schenkte der Hufschmied Johann Jakob Dreuzler dem württembergischen Herzog Carl Eugen einen jungen ›Schwarzen‹, den er in der niederländischen Kolonie Surinam als vermutlich Sieben- bis Achtjährigen gekauft hatte. 1782 entlief Avanturie, ein kleiner afrikanischer Junge, seinem Eigentümer Otto von Kamptz aus Waren, der bei der niederländischen Ostindien-Kompanie 1778/79 als Leichtmatrose gearbeitet hatte,39 und wurde von Herzog Friedrich von Mecklenburg aufgegriffen, der ihn von ersterem als freiwillig-unfreiwilliges Geschenk für sein Naturkabinett (!) erhielt.40 1793 brachte der Arzt und Naturhistoriker Dr. Joachim von Exter einen ›schwarzen‹ Jungen aus London mit und verschenkte ihn an den Advokat und Domvikar Dr. Joachim Karl Kellinghusen in Hamburg.41 Frauen ließen sich außerdem genauso gerne mit einem solchen exotischen ›Mitbringsel‹ schmücken wie Männer, wie nicht nur das eingangs beschriebene Porträt Johanna Charlottes deutlich macht, sondern auch zahlreiche andere Text- und Bildquellen. So schickte der dänische König Christian VI 1729 einen achtjährigen Jungen von der westindischen Insel St. Thomas aus Kopenhagen als Geschenk an seine Schwägerin am Hof in Aurich.42 Friedrich Ludwig Carl Ulrich Caesar aus Guinea kam bereits als Kleinkind nach Kopenhagen, von wo aus er wahrscheinlich als Siebenjähriger 1769 der Herzogin Louise Friederike von Mecklenburg-Schwerin übersandt wurde.43 Schimmelmann ließ auf den 37 | Berlin, GStA PK, XX. HA Historisches Staatsarchiv Königsberg, Etatsministerium (EM) 73, 4 Nr. 30 Der aus dem Collegium Fridericianum geraubte Mohrenknabe, 1733, fol. 18r-19r. 38 | Dies und das Folgende Kuhlmann-Smirnov, A.: Schwarze Europäer, S. 312, Nr. 123; S. 366, Nr. 341. 39 | https://www.openarch.nl/show.php?archive=ghn&identifier=f9f00ef1-4cef40da-9791-3bc1a2b63b5b&lang=de vom 14.09.2016. 40 | Juterczenka, Sünne: »Chamber Moors« and Court Physicians. On the Convergence of Aesthetic Consumption and Racial Anthropology at Eighteenth-Century Courts in Germany, in: Klaus Hoch/Gesa Mackenthun (Hg.): Entangled Knowledge. Scientific Discourses and Cultural Difference, Münster 2012, S. 165-182, hier S. 171. 41 | Albers, Wilhelm/Clasen, Arnim: Mohren im Kirchspiel Eppendorf und im Gute Ahrensburg, in: Zeitschrift für Niederdeutsche Familienkunde 41 (1966), S. 2-4, hier S. 3. 42 | Kuhlmann, Anne: Ambigious Duty, Black Servants at German Ancien Régime Courts, in: Mischa Honeck/Martin Klimke/Anne Kuhlmann (Hg.): Germany and the Black Diaspora. Points of Contact 1250-1914, New York 2013, S. 57-73, hier S. 60. 43 | Juterczenka, S.: »Chamber Moors« and Court Physicians, S. 167-170.

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Antillen einen »Neeger-Burschen« kaufen, der ebenfalls für die Herzogin von Mecklenburg bestimmt war und 1777 über Kopenhagen nach Lübeck gesandt wurde.44 ›Hofmohren‹ bzw. ›farbige‹ Kinderdiener konnte man noch in der tiefsten Provinz und gerade auch bei nicht regierenden Aristokraten finden.45 Beides spricht dafür, dass eine umso prächtigere Hofhaltung (nicht vorhandene) politische Wichtigkeit kompensieren sollte bzw. dass niedrige Adelige ranghöhere nachahmten ebenso wie vornehme Bürger bevorzugt einen aristokratischen Lebensstil annahmen. Aus der Perspektive der betroffenen Kinder sind die zahlreichen Stationen auf unterschiedlichen Kontinenten und das teilweise extrem junge Alter, in welchem sie ihren (vermutlichen) Geburts- oder zumindest ersten bekannten Aufenthaltsort verließen, auffällig: Der aus Ghana stammende Amo, von dem noch die Rede sein wird, wurde 1707 vermutlich als Sieben- oder Achtjähriger in der Schlosskapelle Salzthal zu Wolfenbüttel getauft, nachdem er bereits als Kleinkind (vermutlich 1704) von der Niederländisch-Westindischen Kompanie nach Amsterdam verschleppt und daraufhin Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel als Geschenk überreicht worden war.46 Angelo Soliman wurde mit sieben Jahren seinen Eltern in Afrika geraubt, kam über mehrere Stationen in Afrika nach Messina, dort 1734 an den Feldmarschall von Lobkowitz und mit ihm schließlich nach Wien.47 Der bereits erwähnte, von Joachim von Exter nach Hamburg mitgebrachte ›schwarze‹ Junge hatte seinen Geburtsort St. Eustache auf den Kleinen Antillen im Alter von sieben Jahren verlassen und war über Boston nach Großbritannien gekommen.48 1785 gab der ›Kammermohr‹ Azor in Berlin einen vermutlich typischen Lebenslauf zu Protokoll: Er heiße August Heinrich Ludwig Philipp Azor, sein eigentliches Alter wisse er nicht, weil er aus Africa gebürtig und als ein Kind von da nach Madera, und dann nach Bengalen, und endlich über Hamburg und aus dem Mecklenburgischen hierher gekommen sey, […].49 44 | Martin, P.: Schwarze Teufel, edle Mohren, S. 106. 45 | Bezeichnenderweise waren es unter den preußischen Prinzen die nicht-regierenden, die im Unterschied zu Friedrich dem Großen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts an dieser Mode festhielten, so z.B. Prinz Ferdinand von Preußen (1730-1813) (Berlin, GStA PK, I. HA, Rep. 133, Nr. 262). 46 | Ette, Ottmar: Anton Wilhelm Amo. Philosophieren ohne festen Wohnsitz. Eine Philosophie der Aufklärung zwischen Europa und Afrika, Berlin 2014, S. 14-16. 47 | Blom, P.: Von Mmadi Make zu Angelo Solliman, S. 72-76. 48 | Albers, W./Clasen, A.: Mohren im Kirchspiel Eppendorf und im Gute Ahrensburg, S. 3. 49 | Berlin, GStA PK, I. HA Rep. 133 Prinzliche Domänenkammern, Nr. 366 Klage des Kammerherrn von Pennavaire wegen tätlicher Beleidigung durch den Kammermohren Azor des Prinzen Ferdinand, 1785-1786, fol. 11v.

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Die hier beispielhaft aufgeführten Listen ließen sich unschwer verlängern. So waren auch die in den Türkenkriegen Gefangengenommenen in über der Hälfte der nachgewiesenen Fälle Kinder.50 Auch wenn es sich zumeist um geschätzte Altersangaben handelt, so kann man anders als bei dem alleinstehenden Begriff ›Mohrenkind(er)‹, der – analog zu ›Heidenkindern‹ – lediglich auf die Geschöpflichkeit, aber auch die Überlegenheit der ›weißen‹ Christen verwies, bei konkreten Altersangaben davon ausgehen, dass sie nicht in diesem übertragenen Sinne gebraucht wurden. Anscheinend war der Nexus zwischen jungem Lebensalter und fremder Herkunft so eng, dass der Autor des Eintrags »Mohrin« in Zedlers Lexikon aus dem Jahr 1739 automatisch von einer Verschleppung im Kindesalter ausging: Mohrin, nennet man ein Kind weiblichen Geschlechts, welches noch jung aus MohrenLand gebracht, und an dem Hofe einer Kayserin, Königin oder Fürstin auferzogen worden, die solches zu ihren Staat und Vergnügen um sich haben. 51

Dieser Eintrag ist allerdings insofern erstaunlich, als nach aktuellem Forschungsstand die Haltung einer ›Hofmohrin‹ weder ein spezifisches Phänomen adeliger Frauen war noch in der Mehrheit afrikanische Mädchen betraf,52 ein analoger Hinweis beim Eintrag »Mohr« in Zedlers Universallexikon aber fehlt. Quellenrecherchen und aktuelle Forschungen verweisen auf einen entgegengesetzten Befund: Auch wenn sich die Datenbank zu verschleppten Menschen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation noch im Auf bau befindet 53 und somit noch kein statistisches Material zur Verfügung steht, stellt Boulle auf Grundlage analoger Forschungen zu Frankreich fest, dass mehr als zweimal so viele ›farbige‹ Jungen wie Mädchen ins Land gebracht wurden, die zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in Frankreich meist zwischen acht und zwölf Jahre alt waren.54 In eine ähnliche Richtung im Hinblick auf Alter und Geschlecht deuten die oben aufgeführten Beispiele für das Alte Reich.

50 | Kuhlmann-Smirnov, A.: Schwarze Europäer, S. 175. 51 | Artikel »Mohrin«, in: Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste, 64 Bände, 4 Supplementbände, Halle und Leipzig 1732-1754, hier Band 21 (1739), Sp. 870. 52 | Kuhlmann-Smirnov, A.: Schwarze Europäer, S. 120. 53 | Demnächst zu finden unter: www.frueheneuzeit.uni-bremen.de/index.php/de/for​ schung/german-slavery. 54 | Boulle, P. H.: Slave and Other Nonwhite Children, S. 171.

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II. S puren und falsche F ährten tr anskultureller M ehrfachzugehörigkeiten Paradoxerweise standen diese verschleppten Kinder in der Außenwahrnehmung der Europäer für eine fremde Kultur, die sie selbst – auch aufgrund der zumeist mehrjährigen Zwischenaufenthalte in anderen (europäischen) Städten bzw. in den Kolonien – kaum kennengelernt haben konnten, an die sie sich womöglich gar nicht mehr erinnerten. Die Aufzeichnungen Karoline Pichlers über Soliman aus dem Jahr 1807, die in ihrem Quellenwert allerdings umstritten sind, da sie elf Jahre nach seinem Tod auf Grundlage der Aussagen seiner Freunde entstanden und – aufgrund des Stils – wahrscheinlich einige Ausschmückungen enthalten, nennen als Relikte seiner Herkunft Tätowierungen an seinen Oberschenkeln (die auch von anderen Zeitzeugen genannt werden), Erinnerungen an seinen Namen Mmadi Make, seine Eltern und eine kleine Schwester, an Lieder, ersten Unterricht im Pfeilschießen, die Betrachtung des Himmels und eine (imaginierte, zugeschriebene oder tatsächliche?) vornehme Herkunft, bevor der Junge im Alter von sieben Jahren im Gefecht geraubt wurde.55 Nach Pichlers Aussage nahm die Bedeutung und Emotionalität dieser Kindheitserinnerungen auch im fortgeschrittenen Alter nach Jahrzehnten in Europa nicht ab: Überhaupt kehrten ihm selbst in späteren Jahren die Erinnerungen an seine Jugend, an seinen ersten Unterricht im Pfeilschießen, worin er bald seine Gefährten übertraf, an manche einfache Sitte und den schönen Himmel seines Vaterlandes mit schmerzlicher Sehnsucht zurück, und er konnte nie ohne tiefe Bewegung die vaterländischen Lieder singen, die sein treffliches Gedächtniß aus jener frühen Zeit ihm treu bewahrt hatte. 56

55 | Pichler, Karoline: Angelo Soliman 1807, in: Wilhelm A. Bauer: Angelo Soliman, der hochfürstliche Mohr. Ein exotisches Kapitel Alt-Wien, hg. und eingeleitet von Monika Firla-Forkl, Berlin 1993, S. 112-118, hier S. 112f. In einer Fußnote werden noch weitere ›Erinnerungen‹ Solimans an seine Heimat genannt, warum diese allerdings graphisch abgesetzt wurden, ist unklar und lässt eher spätere Ergänzung vermuten, zumal es sich um relativ abstrakte Erkenntnisse und Bewertungen durch Dritte handelt: »Aus Angelo’s Erinnerungen scheint hervorzugehen, daß sein Stamm schon einige Cultur hatte. Sein Vater besaß viele Elephanten und selbst einige Pferde, die dort eine Seltenheit sind. Sie hatten keine Münze; aber der Tauschhandel wurde regelmäßig durch öffentliches Ausrufen und Feilbiethen bey ihnen getrieben. Ihre Religion war Gestirndienst. Sie beobachteten die Beschneidung: auch wohnten zwey weiße Familien unter ihnen.« (Ebd., S. 113). 56 | Pichler, K.: Angelo Soliman 1807, S. 112.

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Untersuchungen zu Sklavinnen und Sklaven im 19. Jahrhundert, die als Kind verschleppt wurden, belegen, dass die Kinder sich zwar äußerlich schnell ihrer neuen Umgebung anpassten, die Trennung von den Eltern aber immer als traumatisch empfunden und die Beziehung zu den Verwandten zwar zerstört, aber nicht vergessen wurde, wenn die Kinder nicht schon als Babys oder Kleinkinder verschleppt worden waren.57 Bezogen auf das 18. Jahrhundert und das Alte Reich begann die Inkultu­ ration, konkret das Erlernen der deutschen Sprache, eine neue Einkleidung, mehrjährige Vorbereitung auf die Taufe durch Katechismusunterricht teilweise schon vor der Ankunft in Deutschland. So befahlen hessische Offiziere ihren Feldgeistlichen bereits in Amerika die Ausbildung und Erziehung afrikanischer Kinder, die sie vor Ort gekauft hatten und nach Hessen schicken wollten.58 Der oben erwähnte, in Amsterdam lebende deutsche Arzt pries an seiner menschlichen Ware nicht nur das junge Erwerbungsalter, sondern auch, dass der Junge konfirmiert und von ihm sorgfältig erzogen worden sei.59 Aufgrund dieser Rahmenbedingungen standen die Chancen für die Bewahrung von Praktiken oder Objekten aus der Herkunftskultur vergleichsweise schlecht. In jedem Fall hatte die exotische Ausstaffierung der Kinder wenig mit den Kleidungsgewohnheiten ihrer Heimat zu tun und spiegelte vielmehr die Phantasien, Projektionen und politischen Botschaften ihrer Besitzerinnen und Besitzer wider. So diente die Kleidung kriegsgefangener Türken auch dann noch als Modell, als sie durch das Vordringen des Osmanischen Reiches kaum mehr im Reich zu finden war und verschleppte Kinder – gleich welcher Herkunft – mit einem Turban geschmückt wurden. Ein Porträt Solimans zeigt in seinem unbekümmerten Eklektizismus denselben in orientalischer Kostümierung vor ägyptischen Pyramiden, beides hatte wenig mit den Kleidungsgewohnheiten im Bornu-Reich zu tun, aus dem Soliman vermutlich stammte.60 Teilweise wurden diese Kinder gar nicht dem Reich der Kultur zugeordnet, sondern gemeinsam mit Papageien und Straußenvögeln als Bestandteil naturhistorischer Kuriositätenkabinette ›gesammelt‹ (s.o.)61 und im schlimmsten Fall nach 57 | Lovejoy, P.: Children of Slavery, S. 208-210; Debrunner bringt sowohl Beispiele für ein 20 Monate altes Kind als auch ein zwei- bis dreijähriges afrikanisches Mädchen (Presence and Prestige, S. 99). 58 | Diedrich, Maria I.: From American Slaves to Hessian Subjects. Silenced Black Narratives of the American Revolution, in: Mischa Honeck/Martin Klimke/Anne Kuhlmann (Hg.): Germany and the Black Diaspora. Points of Contact 1250-1914, New York 2013, S. 92-111, hier S. 99. 59 | Häberlein, M.: »Mohren«, ständische Gesellschaft und atlantische Welt, S. 96f. 60 | Vgl. hierzu zuletzt Blom, P.: Von Mmadi Make zu Angelo Solliman, S. 72. 61 | Juterczenka, S.: »Chamber Moors« and Court Physicians, S. 171.

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ihrem Tod als ausgestopfte Objekte in diesem Kontext ausgestellt.62 Heather Morrison weist zwar darauf hin, dass Soliman nach seiner Entlassung durch den Fürst Joseph Wenzel von Liechtenstein seine Kleidung frei wählen konnte und dabei westliche und östliche Elemente kombinierte,63 bezeichnenderweise variierte er dabei aber die ihm zunächst zugeschriebene ›orientalische‹ Kleidung, während afrikanische Kleidung in Wien wahrscheinlich nicht verfügbar war, der Kleidungsstil seiner Heimat Soliman eventuell gar nicht mehr vertraut oder angesichts zunehmend abwertender Zuschreibungen möglicherweise nicht attraktiv für ihn war. Subjektiv brachte er damit seine kulturelle Mehrfachzugehörigkeit kreativ zum Ausdruck, bezogen auf kollektive Identitäten konnte er einen Rückbezug auf seine afrikanische Herkunft jedoch nur durch Abweichung vom ›westlichen‹ Kleidungsstil zum Ausdruck bringen, durch Differenz, nicht aber durch Materialien und Gebrauchsweisen seiner Heimat, obgleich seine Tracht von den Wienern wiederum als »vaterländisch« bezeichnet wurde.64 Für die Bewahrung oder aber Ausbildung einer solcherart gemeinschaftlich gedachten und auf die Herkunftsregion bezogenen Kultur trat ein weiterer Faktor erschwerend hinzu: Im Unterschied zu den Plantagenkolonien waren verschleppte Menschen im Reich eine vergleichsweise seltene Erscheinung. Auch wenn sich am Hof von Mecklenburg-Schwerin mindestens vierzehn ›Mohren‹ in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts nachweisen lassen65 und am Stuttgarter Hof wechselseitige Übernahmen von Patenschaften durch Afrikanerinnen und Afrikaner auf Prozesse der Gemeinschaftsbildung hinweisen,66 so war die Vereinzelung die weitaus häufigere Situation.67 Der Verlust der Verwandten trat in der Regel bereits mit dem Verkauf auf ein Sklavenschiff ein.68 Im Unterschied zur Möglichkeit der Gemeinschaftsbildung in den Kolonien wurde die Situation im alten Reich durch die Schwierigkeit verschärft, Menschen zu finden, die das gleiche Schicksal und damit ähnliche Erfahrungen teilten. Das bedeutet nicht, dass verschleppte Menschen lebenslang allein blieben. Auch für sie sind, wenn sie nicht schon jung starben, Partnerschaften, Ehen 62 | So z.B. der berühmte, aber keineswegs einzigartige Fall Angelo Solimans (Wigger, I./Klein, K.: »Bruder Mohr«, passim; Morrison, Heather: Dressing Angelo Soliman, in: Eighteenth-Century Studies 44, 3 (2011), S. 361-382, hier S. 363, 375). 63 | Morrison, H.: Dressing Angelo Soliman, S. 369f. 64 | Pichler, K.: Angelo Soliman 1807, S. 118. 65 | Juterczenka, S.: »Chamber Moors« and Court Physicians, S. 170. 66 | Kuhlmann-Smirnov, A.: Schwarze Europäer, S. 231. 67 | Auf das Moment der Vereinzelung weist auch schon Martin (Martin, P.: Schwarze Teufel, edle Mohren, S. 151) hin. 68 | Lovejoy, P.: Children of Slavery, S. 210.

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und Familiengründungen bekannt, wenn sie auch aufgrund ihrer zumeist unklaren sozialen Herkunft und der erforderlichen obrigkeitlichen Genehmigung größere Schwierigkeiten hatten, eine Heiratserlaubnis zu erlangen, wie das eingangs erwähnte Beispiel Leopolds zeigt.69 Ihre Netzwerke mussten jedoch im Vergleich zu den vor Ort Geborenen erst neu geschaffen werden, da sie von ihrer Herkunftsfamilie abgeschnitten und dadurch stärker als andere Untertanen von ihrem Patron abhängig waren, wie die Bittschrift des afrikanischen Paukers Carl am Braunschweiger Hof – wenn auch aus strategischem Interesse – 1769 zeigt: Ich nehme solcher Halb meine alleruntherthänigste Zuflucht zu Ew. Herzogl. Durchl., flehe dieselben fußfällig wollen die Hohe Gnade haben, und für den armen Africaner von Dero miltigkeit etwas zufließen lassen, weil ich weder Vatter noch Mutter, die sich meiner annehmen, so bin ich eine verlaßne Wayse, und weiß mich auch nirgendt hinzuwenden, als zu Ew. Herzogl. Durchlaucht, welche ich in diesem zeitlichen für meinen größten Vatter verehre.70

Völlig ungewöhnlich in Bezug auf den Rest des Reiches war hingegen die Situation in Kassel: Hier lebten Ende des 18. Jahrhunderts neben nachweislich über die Niederlande erworbenen ›farbigen‹ Musikern und ›Mohrenfamilien‹,71 die Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel als exotisches Ensemble inszenierte, aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg mit den hessischen Truppen zurückgekehrte freie, befreite, geraubte und entlaufene ›farbige‹ Amerikaner. Nach Maria Diedrich handelte es sich um mehr als einhundert Männer, Frauen und Kinder, die zwischen 1782 und 1783 mit den Hessischen Truppen nach Kassel zurückkehrten und zumeist auch im Militär verblieben. Hier war definitiv ein Raum, um – bezogen auf eine Gruppe – überhaupt eine transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit auszubilden. Jedoch war es Diedrich, die sich intensiv mit der Kasseler Kolonie beschäftigt hat, bislang nicht möglich, mehr als nur fragmentarische Lebensläufe zu rekonstruieren, d.h. hier greift die oben beschriebene Quellenproblematik, die sie selbst so formuliert:

69 | S.o. S. 18. Vgl. auch Martin, P.: Schwarze Teufel, edle Mohren, S. 144f., 147f. 70 | Kittel, Ingeborg: Mohren als Hofbediente und Soldaten im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel, in: Braunschweigisches Jahrbuch 46 (1965), S. 78-103, hier S. 91. 71 | Inwiefern es sich tatsächlich um Familien handelte, die gemeinsam nach Kassel gekommen waren oder sich dort gebildet hatten, oder aber um Personen, die lediglich als Familie in Szene gesetzt wurden, ist unklar.

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Rebekka von Mallinckrodt [H]ow can we return a voice, how can we represent the agency and subjecthood of black women, men, and children, who, as a rule, left no written documentation whatsoever and who are beyond the reach of oral history?72

Diese Aussage trifft in ihrer Absolutheit zwar nicht auf alle verschleppten Menschen im Alten Reich zu, jedoch auf eine große Mehrheit. Gestalten wie Amo, der mehrere philosophische Werke hinterließ, sind demgegenüber als Ausnahmen anzusehen. Doch selbst in diesem Fall muss man – da sein rechtshistorisches Erstlingswerk, das seine eigene Lage thematisiert, bis heute verschollen ist – in seinen Texten nach Spuren transkultureller Mehrfachzugehörigkeit suchen. Sie erscheinen eher in Denkbewegungen bzw. in Randbemerkungen, sind aber selbst nicht ausdrücklich Thema der Texte. Liest man beispielsweise seine Dissertation über Die Apatheia der menschlichen Seele oder über Das Fehlen der Empfindung und der Fähigkeit des Empfindens in der menschlichen Seele und das Vorhandensein von beiden in unserem organisch lebenden Körper von 1734 nicht philosophiehistorisch, sondern als Ausdruck biographischer Erfahrung, könnte man zunächst an eine seelische Taubheit nach dem Trauma der Verschleppung denken, tatsächlich wird die Empfindung aber lediglich dem Körper zugewiesen und der Geist als Bestandteil des Menschen, der »außerhalb jedes Leides« steht, definiert.73 Wir gestehen zu, daß die Seele mit dem Körper vermittels gegenseitiger Vereinigung (mutua unio) handelt, aber wir leugnen, daß sie mit dem Körper zusammen leidet.74

Damit wird aber ein intellektuell-seelischer Rückzugsort bzw. ein Ort der Erhabenheit geschaffen, der über dem Leiden steht. Auch in seinem zweiten gedruckten philosophischen Werk über Die Kunst, nüchtern und sorgfältig zu philosophieren von 1738 findet sich seine spezifische Erfahrung und Sichtweise eher in Denkbewegungen, wie Ottmar Ette herausgearbeitet hat, so zum Beispiel im Begriff der ›Äquipollenz‹, der die gleiche Gültigkeit unterschiedlicher Perspektiven und Traditionen bezeichnet,75 oder aber in Nebenbemerkungen, welche die christliche Sichtweise als die einzig mögliche relativieren:

72 | Diedrich, M. I.: From American Slaves to Hessian Subjects, S. 95f. 73 | Amo, Anton Wilhelm: Über die Apatheia der menschlichen Seele in der Übersetzung von A. Blaschka, in: Burchard Brentjes: Anton Wilhelm. Der schwarze Philosoph in Halle, Leipzig 1976, S. 87-104, Zitat S. 91. 74 | Ebd., S. 99. 75 | Ette, O.: Anton Wilhelm Amo, S. 106, s.a. S. 158.

Verschleppte Kinder Anmerkung I. Ich sage ausdrücklich: Die Theologie der Christen. Es gibt nämlich außerdem eine Theologie der Heiden, der Türken usw., ferner je nach Verschiedenheit der Völker.76

Ähnlich wie bei Solimans Kleidung wird auch hier kein expliziter Rückbezug auf Afrika formuliert, sondern eine Differenz, die Relativierung einer einzigen Sichtweise und damit einer selbstverständlichen, unhinterfragten Zugehörigkeit, wie sie teilweise auch durch die Mehrsprachigkeit der verschleppten Kinder zum Ausdruck kam.77 Für die meisten verschleppten Kinder liegen solche Quellen jedoch nicht vor. Selbst unter diesen erschwerten Rahmenbedingungen lassen sich jedoch mindestens zwei Spuren transkultureller Mehrfachzugehörigkeit ausmachen, die sich auf Erfahrungen und Motivationen der verschleppten Menschen selbst zurückführen lassen: der bewusste Gebrauch des ursprünglichen oder vorgeblich ursprünglichen Namens bzw. eines Namenszusatzes und die selten belegte, aber sehr aussagekräftige Rückkehr nach Afrika. Dabei ist der Zugriff auf eine kulturelle Identität über den Namen weder direkt noch per se selbstbestimmt. So trugen die beiden von Imhoff mitgebrachten Jungen Ramjany und Huckerbordar keine indischen Eigennamen, sondern anglo-indische Bezeichnungen, die vor allem auf ihre Funktion hinwiesen: »Rum-johnnies hießen im 18. Jh. in Calcutta Handlanger, die europäischen Neuankömmlingen am Hafen ihre Dienste anboten«, und »hooka-burdar« war

76 | Amo, Anton Wilhelm: Tractatus de arte sobrie et accurate philosophandi, Halle 1738, zitiert nach Brentjes, Burchard: Anton Wilhelm. Der schwarze Philosoph in Halle, Leipzig 1976, S. 56. 77 | Der in preußischen Diensten stehende ›Mohrenpfeifer‹ Epoli kam vermutlich aus Frankreich, sprach auf jeden Fall Französisch (Berlin, GStA PK, I. HA Geheimer Rat, Rep. 47 Geistliche Angelegenheiten, Tit. 23, Fasz. 3, fol. 280v, 282v-283r). Soliman hatte durch seine Verschleppung Italienisch und Deutsch gelernt, in späteren Jahren auch noch Französisch, Lateinisch, ›Böhmisch‹ und Englisch (Pichler, K.: Angelo Soliman 1807, S. 114f., 117). Anton Wilhelm Amo war nicht nur des Hebräischen, Griechischen und Lateinischen mächtig, sondern sprach auch Französisch, Hoch- und – wahrscheinlich bedingt durch seinen Verschleppungsweg – Niederdeutsch (Auszug aus einem Bericht Isaac Winkelmans über die Reise Henry Gallandats an die Goldküste, in: Verhandelingen uitgegeven door het Zeeuwsch Genootschap der Wetenschappen te Vlissingen, D. 9, Middelburg 1782, S. XIXf., hier S. XX; Faksimile abgedruckt in: Antonius Gvuilielmus Amo Afer aus Axim in Ghana. Student, Doktor der Philosophie, Magister legens an den Universitäten Halle – Wittenberg – Jena 1727-1747. Dokumente/Autographe/Belege, ausgewählt und zusammengestellt von Burchard Brentjes, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Halle (Saale) 1968, S. 297f., hier S. 298).

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der »Träger der Wasserpfeife«.78 Wenn also die Bezeichnung »Ramjany« bei der Taufe in Deutschland hinter die beiden Taufnamen Christoph Friedrich an die Stelle eines Familiennamens rückte, so war damit kein Verweis auf seine indische Herkunft gegeben, sondern auf eine interkulturelle Interaktion aus der Sicht der Europäer; »Huckerbordar« wurde hingegen mit dem Hinweis auf die Berufsbezeichnung gänzlich umbenannt in Jacob Ludwig Carl Schwarz.79 Auch darin spiegelte sich die Perspektive der Deutschen, die dunkelhäutige Inder als »Schwarze« und »Mohren« bezeichneten.80 Insofern ist es selbst im Hinblick auf die Namensgebung schwierig, die andere Perspektive zur Geltung zu bringen, zumal die Namen – abgesehen von unterschiedlicher Aussprache, Schreibung und Missverständnissen – ohnehin häufiger wechseln konnten. Im Kontext des transatlantischen Sklavenhandels fand eine erste Umbenennung auf dem Sklavenschiff durch die Händler statt. Auf den Plantagen wurde diese Bezeichnung häufig durch einen, für die Europäer leichter eingängigen Spitznamen ersetzt, den die Pflanzer auswählten und der durch die Wahl heroischer Gestalten im scharfen Kontrast zur tatsächlichen Lage der Sklavinnen und Sklaven stand oder aber durch einen kindlich-verkleinernden Charakter die Erwachsenen demütigte. Dem suchten Sklavinnen und Sklaven teilweise durch Taufe und die damit verbundene neue Namensgebung zu entkommen.81 So wurde »Mohr Mars« 1705 am Auricher Hof auf den Namen Anton Eberhard Friedrich getauft, »Caesar« 1777 in der Hofkapelle von Ludwigslust auf den Namen Friedrich Ludwig Carl Ulrich, wobei er seinen vorigen Namen als Familiennamen behielt.82 In Bezug auf den 1733 von Harnack verkauften afrikanischen Jungen wurde im Kaufvertrag schlichtweg geschrieben, dass er »noch keinen Nahmen hätte«, weil er noch nicht getauft sei.83 Die frühere Identität wurde somit nicht anerkannt bzw. wahrgenommen und dadurch auch nicht überliefert. Nicht immer kann man außerdem feststellen, ob der Gebrauch eines Herkunftsnamens als Nachname selbst gewählt oder 78 | Imhoff Indienfahrer, Wort- und Sacherklärungen, S. 373f. 79 | Acta Historico-Ecclesiastica Nostri Temporis. Oder gesammlete Nachrichten und Urkunden zu der Kirchengeschichte unserer Zeit, 13. Teil, Weimar 1776, S. 709. 80 | Theoretisch könnten auch nach Indien eingeführte afrikanische Sklavinnen und Sklaven gemeint sein, bisweilen geht aus dem Kontext jedoch eindeutig hervor, dass es sich um Inderinnen und Inder handelt (vgl. z.B. Imhoff Indienfahrer, S. 151, 153, 161, 174 sowie Einführung von Gerhard Koch, in: ebd., S. 32). 81 | Patterson, Orlando: Slavery and Social Death. A Comparative Study, Cambridge 1982, S. 55-57. 82 | Kuhlmann-Smirnov, A.: Schwarze Europäer, S. 213, 223, 290, Nr. 18. 83 | Berlin, GStA PK, XX. HA Historisches Staatsarchiv Königsberg, Etatsministerium (EM) 73, 4 Nr. 30 Der aus dem Collegium Fridericianum geraubte Mohrenknabe, 1733, fol. 18r.

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von außen motiviert wurde. Seit dem Ende seiner Studienjahre (1734ff.) fügte Amo jedoch bewusst, d.h. eigenhändig und ohne dass zuvor diese Benennung von außen vorgenommen wurde, den Zusatz »Afer« bzw. »Guinea Afer«, d.h. »Afrikaner«, hinzu 84 und markierte damit seine Zugehörigkeit auch für diejenigen, die ihn nicht sahen, sondern nur seinen Namen hörten oder lasen. Damit kehrte er die Bewegung der beständigen Fremdzuschreibung, der er sich durch seine Hautfarbe nicht entziehen konnte, in eine bewusste Markierung seiner Herkunft um. Weitaus radikaler und auch seltener zu finden ist die physische Rückkehr nach Afrika, aus der meines Erachtens sehr deutlich der Wunsch nach kultureller Zugehörigkeit spricht, die sich im schlimmsten Fall durch erneute Fremdheitserfahrung als imaginierte Zugehörigkeit herausstellen konnte. Der bereits 1682 zu findende Hinweis des brandenburgischen Majors Otto Friedrich von der Groeben (1657-1728), der im Auftrag der Brandenburgisch-Afrikanischen Companie die Goldküste bereiste, er sei auf »viel Mohren« gestoßen, die zuvor an europäischen Höfen gelebt hätten, lässt mehr Fälle vermuten, als bislang bekannt sind, und verweist auch die 65 Jahre nach seinem Verschwinden in Stuttgart 1739 von Bonaventura Riesch behauptete Rückkehr Christian Reals nach Guinea zumindest in den Bereich des Möglichen.85 Amo kehrte nach 1747 womöglich wegen einer anonym erschienenen Schmähschrift gegen ihn, aber auch aufgrund seiner schwierigen Situation als Hochschullehrer nach Afrika zurück. Nach Aussage des in niederländischen Diensten stehenden Schweizer Schiffsarztes David Henri Gallandat (1732-1782) wurde er nach dem Tod seines »Meesters« [Grégoire bezieht dies auf den Herzog von Braunschweig,86 es könnte sich aber auch auf seinen Förderer Johann Peter von Ludewig bezogen haben] trübsinnig und beschloss in seine Heimat zurückzukehren.87 Dort traf ihn Gallandat 1753 in der Nähe von Axim (Ghana), wo er als Eremit lebte. Später zog Amo nach Gallandat sogar in das Fort der Westindischen Kompanie St. Sebastiaan in Chama, somit in die Siedlung der Kompanie, die ihn als Kind verschleppt hatte. Dies zeigt aber sehr deutlich die Ambivalenz seiner Zugehörigkeit, denn obwohl er offensichtlich wusste, dass sein Vater und eine seiner Schwestern vier Tagesreisen ins Landesinnere wohnten, während ein Bruder als Sklave nach Surinam verkauft worden war, zog er anscheinend aufgrund seines langjährigen Aufenthaltes im Alten Reich vor (oder wurde dazu gezwungen?), bei und in unmittelbarer Nähe der Europäer zu leben. Es gab somit nicht die Möglichkeit einer Rückkehr zu einer wie 84 | Ette, O.: Anton Wilhelm Amo, S. 23, 83, 121, 124. 85 | Kuhlmann-Smirnov, A.: Schwarze Europäer, S. 238f., Zitat auf S. 239. 86 | Ette, O.: Anton Wilhelm Amo, S. 132. 87 | Dies und das Folgende: Auszug aus einem Bericht Isaac Winkelmans über die Reise Henry Gallandats an die Goldküste, S. 297f.

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auch immer gefassten ›ursprünglichen‹ Identität: Afrika selbst war durch den Sklavenhandel mit den Europäern verändert und Amo konnte vierzig Jahre Lebenserfahrung in Europa nicht auslöschen.

III. S chluss : Ü ber die positive A ussagekr af t von N egativbefunden Betrachtet man die Situation von verschleppten Kindern im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, so relativiert sich die bis heute umstrittene Frage nach deren rechtlichem Status, insofern die Gesetzeslage nur einen Aspekt ihrer Existenz ausmachte. Weitaus schärfer als durch Unfreiheit oder Abhängigkeit, die in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft in vielfach abgestuften und sich überlagernden Formen viele Menschen betrafen, unterschied sich ihre Lage von anderen Einwohnern des Alten Reiches durch das weitgehende Abgeschnittensein von ihrer Herkunft und ihre nicht zu verbergende, immer präsente physische Alterität. Durch das junge Lebensalter zum Zeitpunkt ihrer Verschleppung, die vielfachen Zwischenstationen und durch ihre relative Isolation hatten sie kaum eine Chance mit ihrer Herkunftsfamilie oder mit Menschen mit ähnlichen biographischen Erfahrungen in Kontakt zu treten. Unter den Kommunikations- und Publikationsbedingungen des 18. Jahrhunderts konnte in der Mehrheit der Fälle auch keine geistige Gemeinschaft an deren Stelle treten, welche ein Gefühl der Zugehörigkeit in der Diasporasituation vermitteln konnte. Dabei blieb die Erinnerung an die ursprüngliche Herkunft – wie die Befragung von im Kindesalter verschleppten Menschen deutlich macht – auch im hohen Erwachsenenalter bedeutsam und emotional. Durch dieses Abgeschnittensein von ihrer Vergangenheit – die bereits von Orlando Patterson herausgearbeitete »natal alientation« 88 – unterschied sich ihre Lage auch noch im Erwachsenenalter deutlich von anderen Dienern und Hofangestellten, Randgruppen oder Minderheiten, aber auch von religiösen Flüchtlingen. Durch ihre extreme Abhängigkeit von einer Person, durch fehlende bzw. erst neu zu schaffende familiäre Netzwerke und begrenzte Möglichkeiten in familienähnliche Verbünde einzutreten (z.B. durch den notwendigen Nachweis der ehrlichen Geburt bei Zünften und Bruderschaften) waren sie außerdem auch noch im Erwachsenenalter vulnerabler als einheimische Zeitgenossen. Bezogen auf das gemeinsame Oberthema des Sammelbandes kann dieses Beispiel als Grenz- und Extremfall deshalb nicht nur dazu beitragen, die Situation verschleppter Menschen im Reich besser zu verstehen, sondern auch deutlich machen, welche Mindestvoraussetzungen für die Ausbildung transkultureller Mehrfachzugehörigkeiten vorhanden sein müssen. Zwar ist die 88 | Patterson, O.: Slavery and Social Death, S. 7, 10, 26, 35-76.

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mögliche Diskrepanz zwischen Überlieferungslage und nicht schriftlich überlieferten Praktiken in Rechnung zu stellen, wie sie zum Beispiel bei den von Soliman gesungenen Liedern schlaglichtartig aufscheint, doch macht sein Fall gleichzeitig deutlich, dass er seine Erinnerung nicht mit einem Menschen teilen konnte, der ähnliche Erfahrungen gemacht hatte. Somit passten sich die meisten verschleppten Kinder zwangsweise so gut es ging und teilweise auch sehr erfolgreich ihrer Situation an, hatten aber – nach bisherigem Forschungsstand – in der Regel keine Möglichkeit, jenseits persönlicher Erinnerungen mit ihrer Herkunftskultur in Kontakt zu treten. Bezogen auf soziale Räume und Materialitäten blieb ihnen die Möglichkeit transkultureller Mehrfachzugehörigkeit somit vorenthalten und konnte selbst in vergleichsweise ›günstigen‹ Fällen wie dem gelehrten Amo durch seine Schriften oder Soliman durch seine Kleidungspraktiken lediglich als Differenz, Distanz und Relativierung ex negativo zum Ausdruck gebracht werden.

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Jeux charmants Transkulturelle Mehrfachverortungen in André Campras L’Europe Galante (1697) zwischen Musikhistoriografie, Politik und Publikum Gesa zur Nieden

H andlung und H istoriogr afie André Campras und Antoine Houdar de la Mottes L’Europe Galante, erstmals aufgeführt am 24. Oktober 1697 an der Académie Royale de Musique in Paris, folgt laut den zeitgenössischen Quellen und den Gattungsdefinitionen des opéra-ballet einem abwechslungsreichen wie simplen Auf bau. In fünf En­ trées wechseln sich ein Prolog und vier musiktheatrale Miniaturen über je eine bestimmte ›Nation‹ ab.1 Musikalisch-kompositorisch enthält jede dieser vier Miniaturen ein divertissement, bestehend aus unterschiedlichen Tänzen von Gavotte, Loure, Menuett, Rigaudon und Passepied bis Sarabande, Canarie, Passacaille und einer italienischen Forlana.2 In Bezug auf den Inhalt von L’Europe Galante wird bereits im Libretto auf die kontrastierenden Charaktere der ausgewählten ›Nationen‹ aufmerksam gemacht, durch die ein reges ›Spiel‹ auf dem Theater entstehen soll.

1 | Vgl. Rosow, Lois: Opera in Paris from Campra to Rameau, in: Simon P. Keefe (Hg.): The Cambridge History of Eighteenth-Century Music, Cambridge 2009, S. 272-294, hier S. 275-276. 2 | Vgl. hierzu die »Table. Airs à jouer« in: L’Europe Galante. Ballet, représenté en l’an 1697 par l’Académie Royale de Musique, de la Composition de Monsieur Campra, Maître de Musique de la Chapelle du Roy. Partition Generale, semblable à la derniere Edition d’Issé, Les Paroles de cette Piece sont de Monsieur de La Motte, de l’Academie Françoise, Paris 1724, S. 266.

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Gesa zur Nieden On a choisi des Nations de l’Europe, celles dont les caractères se contrastent davantage & promettent plus de jeu pour le Théatre: La France, l’Espagne, l’Italie & la Turquie. On a suivy les idées ordinaires qu’on a du genie de leurs Peuples. Le François est peint volage, indiscret & coquet; l’Espagnol, fidèle & romanesque; l’Italien, jaloux, fin & violent; Et enfin, l’on a exprimé, autant que le Théatre l’a pû permettre, la hauteur & la souveraineté des Sultans, & l’emportement des Sultanes. 3

Sowohl der eher unzusammenhängende Auf bau als auch die in den einzelnen Entrées musikalisch und sprachlich voneinander abgesetzten kulturellen Stereotype machten um 1700 anscheinend den herausragenden Erfolg des Stückes aus, das über das gesamte 18. Jahrhundert hinweg noch mehrmals in Paris aufgeführt wurde.4 Dies spiegelt sich zumindest in Liselotte von der Pfalz’ Brief an ihre Halbschwester Luise wider: Daß, so man jetzt spilt, ist zwar nur ein balet, aber recht artig. Es heißt L’Europe galante. Man erweist drin, wie die Frantzoßen, Spanier, Ittalliener und Turquen amour machen; der nationen humor ist aber so perfect drin observirt, daß es recht possirlich ist. 5

Die musikalische Wiedergabe kontrastierender kultureller Stereotype und die Wiederaufnahme von Balletten im französischen Musiktheater nach der Ägide von Jean-Baptiste Lullys und Philippe Quinaults dominierenden tragédies en musique bestimmten auch über lange Zeit die musikhistoriografischen Untersuchungen zu Campras L’Europe Galante. Gleichzeitig warf gerade diese Kombination aus kulturellen Charakteren und einer übergreifenden Orientierung am Tanz Probleme in der kulturellen Verortung des Werks zwischen Multikulturalität und Transkulturalität auf: Einerseits ließ sich das Werk unumwun3 | L’Europe Galante, Ballet, représenté pour la première fois par l’Académie Royale de Musique le 24. Octobre 1697. Et Remis au Theatre le 18. May 1706, Paris 1706, S. 8. 4 | Neu aufgeführt wurde L’Europe Galante in den Jahren 1706, 1715, 1716, 1724, 1725, 1736, 1747 und 1755, sowie fragmentarisch 1766, 1775. Vgl. Schneider, Herbert: André Campra. L’Europe Galante, in: Carl Dahlhaus/Sieghart Döhring (Hg.): Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Band 1, München 1986, S. 494-495, hier S. 495. Vgl. auch Lecomte, Nathalie: Entre cours et jardins d’illusion. Le ballet en Europe (15151715), Pantin 2014, S. 337, 415-418. Zur tänzerischen Ausführung der Wiederaufnahmen s. McCleave, Sarah: Marie Sallé and the development of the ballet en action, in: Jacqueline Waeber (Hg.): Musique et Geste en France de Lully à la Révolution. Études sur la musique, le théâtre et la dance, Bern 2009, S. 175-196, hier S. 175-193. 5 | Brief von Elisabeth Charlotte Herzogin von Orléans an ihre Halbschwester Luise Raugräfin zu Pfalz vom 10. November 1697, in: Wolfgang Menzel (Hg.): Briefe der Prinzessin Elisabeth Charlotte Herzogin von Orléans an die Raugräfin Louise 1676-1722, Stuttgart 1843, S. 22-24, hier S. 23-24.

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den im französischen Musiktheater und als französischer Kompositionsstil verorten, zumal der opéra-ballet auf dem ballet de cour und Pascal Collasses Ballet des Saisons fußen konnte6 und die dort verwendeten Tanzrhythmen gerade auch die Definition eines sogenannten ›französischen Stils‹ bereicherten. Dieser ›französische Stil‹ setzte sich jedoch andererseits von den Sequenzen und der Virtuosität des ›italienischen Stils‹ ab, den Campra kursorisch mittels italienischsprachiger »Airs italiens« in L’Europe Galante berücksichtigt hatte.7 Insofern brachten die vermeintlichen Inkursionen des italienischen Stils in L’Europe Galante Jean-Louis Le Cerf de la Viéville bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts innerhalb der querelle mit François Raguenet dazu, Campra zwar zu loben, L’Europe Galante jedoch gleichzeitig als rein ökonomischen Erfolg der Opernleitung unter Jean-Nicolas de Francine von weiteren französischen Musiktheaterwerken zu isolieren.8 Dementgegen postulierte Louis de Cahusac 1754, dass mit dem opéra-ballet ein genuin französisches Genre geschaffen worden sei, welches das Pariser Publikum von der tragédie en musique und den Balletten Quinaults geradezu erlöse.9 Die Frage, inwiefern für die politische, soziale und auch musikgeschichtliche Verortung von Campras L’Europe Galante von feststehenden kulturellen Stereotypen bzw. kulturellen Repräsentationskategorien auszugehen sei, im Gegensatz zu übergreifenden musikdramaturgischen Konzeptionen, steht auch heute noch im Fokus der Forschung. Nachdem Musikwissenschaftler wie James R. Antony im Zuge seiner Forschungen zu den verschiedenen Editionen von L’Europe Galante (1964-1991) und den über die Zeit hinzugefügten Airs die Fragilität von Begriffszuschreibungen wie ›ariette‹ oder der Da Capo-Form

6 | Vgl. De la Gorce, Jérôme: L’Opéra à Paris au temps de Louis XIV. Histoire d’un théâtre, Paris 1992, S. 101f. 7 | Die Gegenüberstellung von ›französischem‹ und ›italienischem‹ Stil war besonders für Maurice Barthélemy wichtig, einem der wichtigsten Spezialisten der Nachkriegszeit zu Campra und seinen Werken. Während in Barthélemys erster Monografie zu Campra von 1957 noch ein großes Kapitel mit dem Titel »L’Influence italienne« enthalten ist, geht Barthélemy in der zweiten, neu durchgesehenen Ausgabe von 1995 rein biografisch vor. Vgl. Barthélemy, Maurice: André Campra. Sa vie et son Œuvre (1660-1744), Paris 1957; und ders.: André Campra (1660-1744). Étude biographique et musicologique, Arles 1995 (mit der Angabe »Ce texte, publié en 1957 par les éditions Picard, a été revu et complété pour la présente édition«). 8 | Vgl. Le Cerf de la Viéville, Jean-Louis: Comparaison de la musique italienne et de la musique françoise, Brüssel 1704, S. 97. 9 | Vgl. Cahusac, Louis de: La danse ancienne et moderne, ou Traité historique de la danse, Band 3, La Haye 1754, S. 110.

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im beginnenden 18. Jahrhundert festgestellt hatten,10 rückten zwar vor allem Analysen in den Vordergrund, die L’Europe Galante einen temperierten Umgang mit den kulturellen Kategorien bescheinigen: Alain Niderst zum Beispiel brachte Campras opéra-ballet 1994 mit den Friedensverträgen von Turin und Rijswijk nach dem Pfälzischen Erbfolgekrieg in Zusammenhang, die auch die Auswahl der vier ›Nationen‹ Frankreich, Spanien, Italien und der Türkei (als Osmanisches Reich) rechtfertigten. Diese vier Nationen galt es nun als Friedenspartner zu zeichnen.11 Françoise Dartois-Lapeyre ging 1999 auf den Umstand ein, dass romanische Sprachen wie das Italienische oder das Spanische aufgrund ihrer Analogie zum Französischen leichter in divertissements eingebaut werden konnten, als das Deutsche oder Englische.12 Entgegen dieser dramaturgischen Analysen, welche die kulturellen Stereotypen anhand der Beleuchtung der Umgangsweisen mit ihnen als solche relativieren, gewinnen kulturelle Charaktere in der US-amerikanischen Forschung wieder an Kontur. Gerade ausgehend von prozessual verstandenen sozialen und politischen Konfigurationen werden sie hier als gut konturierte Motoren hybrider kulturgeschichtlicher Entwicklungen eruiert. Dies ist z.B. innerhalb der Erforschung politischer Netzwerkbildungen um den Grand Dauphin Louis de Bourbon und den zukünftigen Regenten Philippe d‘Orléans II. der Fall, die jenseits der Versailler Hofkultur in Paris einen eigenen regimekritischen, für die Musik italienischer Komponisten offenen Zirkel ausbildeten.13 Don Fader zufolge wurde Campra zu einem der Favoriten dieses Kreises aufgrund seiner »adoption of the Italian style in his opéras-ballets«14 ausgehend von L’Europe Galante. Darüber hinaus wird in den Beiträgen von Georgia Cowart, Rebecca Harris-Warrick und Don Fader der Umstand berücksichtigt, dass Campras 10 | Vgl. Antony, James R.: Air and Aria added to French Opera from the Death of Lully to 1720, in: Revue de Musicologie 77/2 (1991), S. 201-219. Hierzu und zur Entstehung der Gattungsbezeichnung opéra-ballet s. ders.: La Musique en France à l’Époque Baroque, Paris 2010, S. 183-185. 11 | Vgl. Niderst, Alain: L’Europe Galante de la Motte et Campra, in: Danièle Becker/ Irène Mamczarz (Hg.): Le Théâtre et l’Opéra sous le signe de l’histoire, Paris 1994, S. 75-80. 12 | Vgl. Dartois-Lapeyre, Françoise: Le chant en langue étrangère et régionale dans l’opéra aux XVII e et XVIII e siècles, in: Jean Quéniart (Hg.): Le chant, acteur de l’histoire, Rennes 1999, S. 101-123, hier S. 108. 13 | Vgl. Fader, Don: The ›Cabale du Dauphin‹, Campra, and Italian Comedy: The courtly politics of French musical patronage around 1700, in: Music & Letters 86/3 (2005), S. 380-413, hier S. 381. Vgl. auch Vernet, Thomas: André Campra, musicien des princes – 1697-1725, in: Jean Duron (Hg.): André Campra (1660-1744). Un musicien Provençal à Paris, Wavre 2010, S. 133-156, hier S. 132-155. 14 | Fader, D.: The ›Cabale du Dauphin‹, S. 396.

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L’Europe Galante u.a. die Lücke füllte, die für das Pariser Theaterpublikum durch die Schließung der Comédie-Italienne durch Ludwig XIV. entstanden war.15 Auch wenn die Schließung der Comédie-Italienne als eine klare politische Opposition von italienischem und französischem Theater durch Ludwig XIV. verstanden werden kann, kommen die Forscherinnen und Forscher dennoch zu dem Schluss, dass Campra mit L’Europe Galante nicht nur eine Theaterform aufgriff, in der sich bereits die italienische und französische Sprache mit dem Komischen mischten. Mit La Motte griff er auch auf einen Zirkel an Theaterschaffenden zurück, die in diese Theaterform bereits stark involviert waren (La Motte schrieb 1693 Les Originaux für die Comédie-Italienne)16, sodass Campras Werk eher als Umschwung von einer höfischen zu einer städtischen Musikkultur zu sehen ist anstatt als Fortsetzung des Lully’schen Musiktheaters. Der über die Figuren der commedia dell’arte und den Schauplatz Venedig bestehende musiktheatrale Bezug zur Comédie-Italienne und auch Foire/Jahrmarkt führte in der US-amerikanischen Forschung sogar dazu, dass auch der Werkbegriff für die Kompositionen um 1700 immer unschärfer wurde. Oft ist die Rede von ›borrowings‹ oder Zitaten in opéra-ballets, und die Reihe der Airs anderer Komponisten, die einzelnen Stücken wie auch L’Europe Galante nachträglich hinzugefügt wurden ist lang17 – genauso lang wie die Liste der Parodien auf Campras Werke, derer sich das Pariser Publikum erfreute.18 Insgesamt lässt sich sagen, dass gerade durch die Abkehr von Langzeitperspektiven und die Hinwendung zur Mikroperspektive auf die detaillierten Bedingungen und Einflüsse der Entstehung, der Aufführungen und der Rezeption von L’Europe Galante vieles in Fluss geraten ist, soziale Konstellationen und politische Repräsentationsformen ebenso wie Gattungsbegriffe und stilistische Abgrenzungen. Dennoch wird noch sehr oft mit kulturellen Stereotypen oder musikalischen Stilbegriffen operiert, als Platzhalter für politische und soziale Aushandlungsprozesse oder als Kategorien für die Beschreibung musikgeschichtlicher Entwicklungen. 15 | Vgl. ebd., S. 382; Cowart, Georgia: Carnival in Venice or Protest in Paris? Louis XIV and the Politics of Subversion at the Paris Opera, in: Journal of the American Musicological Society 34/2 (2001), S. 265-302. 16 | Vgl. Harris-Warrick, Rebecca: Dance and Drama in French Baroque Opera. A History, Cambridge 2016, S. 226. 17 | Vgl. Antony, J. R.: Air and Aria, S. 208f. und S. 217; Harris-Warrick, R.: Dance and Drama, S. 230f. Vgl. dagegen Cowart, G.: Carnival in Venice, S. 292f. 18 | Zu den Parodien zu Campras Opern siehe Le Blanc, Judith: La réception parodique des opéras d’André Campra sur la scène des théâtres Parisiens, in: Catherine Cessac (Hg.): Itinéraires d’André Campra. D’Aix à Versailles, de l’Église à l’Opéra (1660-1744), Wavre 2012, S. 151-164.

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In meinem Beitrag möchte ich der hier nachgezeichneten Problemstellung einer unklaren Gewichtung von kulturellen Stereotypen und musikdramaturgischen stilistischen Lösungen weiter nachgehen, die seit der ersten Aufführung von L’Europe Galante für die Rezeption und die musikhistorische Einordnung des Werks entscheidend war. Dies soll anhand einer musikdramaturgischen Analyse geschehen mit der Frage, ob es sich bei den fünf Entrées tatsächlich um einzelne Miniaturen handelt, in denen kulturelle Stereotype kontrastieren, oder ob L’Europe Galante einer übergreifenden musikalischen Dramaturgie folgt, die stil- und formentscheidend ist. Diese Fragestellung berührt einen traditionellen Streitpunkt, denjenigen, ob kulturelle Inhalte am ehesten durch Text oder auch durch musikalische Idiome transportiert werden können. Ausgangspunkt für meine Analyse ist dementsprechend die Feststellung Cahusacs, dass die unabhängige Zeichnung der einzelnen Charakterbilder als Grundlage für die neue Gattung des opéra-ballet eher aus der Arbeit des Librettisten La Motte und nicht durch Campra entstanden sei. In seinem Traité historique de la danse von 1754 schreibt Cahusac: Le Spectacle trouvé par La Motte est un composé de plusieurs Actes différens qui représentent chacun une action mêlée de divertissemens, de chant & de danse. Ce sont de jolies Vateau, des mignatures piquantes, qui exigent toute la précision du dessein, les graces du pinceau, et tout le brillant du coloris.19

Dass der Musik dagegen eine eher umfassende statt kontrastierende Wirkung über das gesamte Stück hinweg zukam, lässt sich anhand des Berichts des Paris-Reisenden Martin Lister erkennen. Bereits ein Jahr nach den ersten Aufführungen von L’Europe Galante schrieb er: I did not see many Opera’s, not being so good a French-Man as to understand them, when Sung: The Opera, called l’Europe Gallante, I was at several times, and it is lookt upon as one of the very best. It is extreamly fine, and the Musick and Singing admirable: The Stage large and magnificent, and well filled with Actors: The Scenes well suited to the thing, and as quick in the removal of them, as can be thought. The Dancing exquisite, as being performed by the best Masters of that Profession in Town; The Cloathing rich, proper, and with great variety. It is to be wondered, that these Operas are so frequented: There are great numbers of the Nobility that come daily to them, and some that can Sing them all: And it was one thing that was troublesome to us Strangers, to disturb the Box by these voluntary Songs of some parts of the Opera or other; That the Spectators may be said to be here as much Actors as those imployed upon the very Stage. 20 19 | Cahusac, L. de: La danse ancienne et moderne, S. 109. 20 | Lister, Martin: A journey to Paris in the Year 1698, London 1699, S. 170f.

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Aufgrund dieser Einschätzungen erscheint es relevant, vor allem den Umgang Campras mit dem Text von La Motte zu untersuchen und dabei gleichzeitig auf eine gewisse Anschlussfähigkeit oder inhaltliche Aktualität der Gesangsstücke zu achten, die das Publikum zum Mitsingen, wie bei den Jahrmarktsspektakeln, bewog. Diese Maßgaben sind erst einmal wenig speziell, sondern setzen ein recht generelles Verhältnis von Musik und Text an, das vielen musikdramaturgischen Analysen zugrunde liegt. Dennoch lassen sich gerade dadurch Hierarchien von Musik und Text für die Rezeption musiktheatraler Werke im Paris um 1700 nachgehen. Von hier aus lässt sich eruieren, ob Campras und La Mottes L’Europe Galante etwas zur Charakterisierung der europäischen ›Nationen‹ hinzufügte oder ob die kontrastreiche Charakterisierung der Musik eher von außen auferlegt wurde.

K l assische S pannungsdr amaturgie : D er Te x t Geht man von Cahusacs Feststellung aus, dass La Motte für die Charakterzeichnungen innerhalb der Miniaturen gleich einem Gemälde von Antoine Watteau verantwortlich sei, lässt sich das gut nachvollziehen, aber auch differenzieren. Der Text von L’Europe Galante folgt einem systematischen Aufbau, der eine Rahmenhandlung mit sprachlich, inhaltlich und auch formal voneinander abgesetzten Teilen kombiniert, d.h. es werden jeweils andere Figuren, Orte und auch Sprachen eingesetzt, die zum Teil stark aus der klassischen Szenerie herausgelöst und auf eine nicht-heroische, sondern alltägliche Handlung in einem jeweils typischen Ambiente abheben. Dennoch birgt die Rahmenhandlung mannigfache Elemente für übergreifende Bezüge, die auf detaillierter Ebene in den einzelnen Entrées verhandelt werden. Bei der Rahmenhandlung handelt es sich um einen Streit zwischen Venus und La Discorde, die jeweils l’Amour/die Liebe und die Zwietracht vertreten. Mit ihren jeweils eigenen Waffen kämpfen sie um die Vorherrschaft in Europa, die Liebe im Hinblick auf Zärtlichkeit, Schönheit, Glück und vor allem Vergnügen, die Zwietracht im Hinblick auf Stolz und Ruhm. Am Ende gewinnt die Liebe den Kampf und ruft die Allegorien des Vergnügens hervor, um ihr Reich und auch ihren Ruhm noch zu vergrößern. Dies äußert sich nicht zuletzt darin, dass die Liebe mithilfe des heldenhaften Königs den finsteren Knoten (»noeud«) der Zwietracht zu lösen gedenkt, während La Discorde sogar die Intention eines »enchaînement« verfolgt, also einer Ankettung der unterschiedlichsten Liebenden in einer szenentechnischen Kettenreaktion.21 21 | L’Europe Galante, Ballet, représenté pour la première fois par l’Académie Royale de Musique le 24. Octobre 1697. Et Remis au Theatre le 18. May 1706, Paris 1706, S. 4, 7. Bei den in Anführungszeichen gesetzten französischen Begriffen handelt es

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Während es hier also deutlich um eine ruhmreiche Vereinnahmung der Zwietracht durch die Liebe geht, fallen im Prolog noch zwei weitere Aspekte auf: zum einen die enge Verbindung des Kampfes mit Anspielungen an die Musik. Diese äußert sich in der textlichen Charakterisierung von La Discorde mittels Geräuschen und Donner,22 wobei La Discorde im Prolog mehrmals ablehnt, Venus überhaupt zuzuhören.23 Die Liebe hingegen sucht das positive Echo ihrer Schläge, mit denen eine neue Amor-Statue hergestellt werden soll: »Frappez, frappez, ne vous lassez jamais/Qu’à vos travaux l’Echo réponde«,24 ruft Venus den Allegorien der Plaisirs am Beginn der Première Entrée zu. Zum anderen wird im Text stark auf den Ort Bezug genommen, an dem der Prolog spielt: eine Schmiede (»une Forge galante«), an der sich über die Angaben »Univers« und »Europe« langsam alles zum Kampf »en ces lieux« zusammenzieht, die zum »théâtre à sa gloire« (der Liebe) werden sollen.25 Anhand einer Analyse des Textes der Première Entrée lässt sich zeigen, dass La Motte anscheinend beides anstrebte, sowohl die Pointierung der Szenen durch räumliche Charakterisierungen als auch die weitergehende Verbindung mit den folgenden Teilstücken des opéra-ballets. In der Seconde Entrée wird La France in Sachen Liebe und Streit geprüft. La France ist in einer pastoralen Heckenlandschaft mit einem Weiler angesiedelt, wo sich Hirtinnen und Hirten treffen. Die verschiedenen Figuren, von denen Silvandre seine geliebte Doris gegen Céphise eintauschen will, die seine Liebe jedoch nicht erwidert, nehmen in ähnlicher Weise wie schon im Prolog auf den Ort Bezug, indem sich die Heckenlandschaft für sie in ein Theater verwandelt. Dies bemerkt vor allem Céphise, die die »paisibles Lieux, agréables Retraites« den dort stattfindenden »spectacles« und »nouveaux concerts« vorgezogen hätte.26 In einen »lieu de haine« verwandelt sich der »boccage« jedoch auch für Doris nicht, die am Schluss beschließt, dennoch weiter vor Silvandre niederzuknien.27 Auch die Auflösungen und Neukonstellationen der Liebschaften weisen in ihrer Anlage starke Bezüge zum Prolog auf. Silvandre denkt wie La Discorde an »nouveaux noeuds« oder »noeuds plus charmants«28, begleitet vom Streben nach einer ruhmreicheren Liebe und einem Sieg über die widerstrebende Céphise. Tatsächlich gewinnt am Ende La Discorde, da sich Doris bei ihrer sich hier und im Folgenden um Ausschnitte aus dem Libretto, deren Inhalt paraphrasiert wird. 22 | Vgl. ebd., S. 2. 23 | Ebd., S. 4f. 24 | Ebd., S. 1. 25 | Ebd., S. 3f. 26 | Ebd., S. 12f. 27 | Ebd., S. 18. 28 | Ebd., S. 10f.

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Entscheidung für Silvandre eher in Worte wie »chaîne«, »haine« und »peine« hüllt, während Silvandre wie La Discorde »sourd à mes cris« ist.29 Interessant ist nun, dass La Motte in diese sehr harmonische Verbindung von Prolog und Première Entrée neue Begriffe und Themen einfügt. Bei La France handelt es sich um Wörter wie »serments«, »rigeur«, »aveu«, »raison«, »erreur«, »savoir«, »hommage«, »pardonner«, »remede« oder auch »langage« und »discours«.30 Insgesamt geht es um Täuschungen und Dementis bereits gehaltener Reden, zum Teil auch durch die bloße Flucht vor der Liebe, die Céphise generell vorzieht, Silvandre in Bezug auf Doris dann konkret vollzieht. In diesem Entrée ist dabei erstmals auch der Sehsinn wichtig: Auf die Frage Céphises an Silvandre hin, ob er sich erst seit zwei Tagen bewusst sei, dass seine Augen Doris weniger schön fänden, antwortet er kokett: »Doris est ma dernière amourette,/Vous estes mon premier amour«31. Dieser thematisch auf Lügen aufgebaute Knoten, der die Komik der Entrée La France ausmacht, wird in der Troisième Entrée L’Espagne weitergeführt. Sie spielt auf einem öffentlichen Platz in der Nacht, und ausgehend vom Schlaf, aber auch von der Eifersucht, sind die Augen ein zentrales Thema auch dieses Teilstücks. In einer Serenade singen Dom Pedro und Dom Carlos um die Liebe von Lucile und Leonore, die sich jedoch niemals zeigen. Kein Wunder also, dass La Motte diese Entrée durch Wörter wie »trouble«, »mistères«, »ardeur«, »droit«, »injuste esperance« oder »titre« charakterisiert und somit wie bereits in der Vorrede angekündigt den »treuen und romantischen« Spaniern Stolz und Ehre zuschreibt.32 Musikalisch bleibt den beiden Ehrmännern lediglich das seufzende Geräusch des Schlafes. Leider stört es jedoch die friedvolle Stille, statt derer sich die beiden Herren Gesänge erwartet hätten.33 Auch hier also eher: Punkt für La Discorde. In der Quatrième Entrée unter dem Titel L’Italie, die sich in einem Ballsaal mit französischen, griechischen, holländischen und schweizerischen Gästen abspielt, greift schließlich eine Venezianerin mit den Ausdrücken aus dem Prolog zu den Waffen der Liebe. Sie spielt gleichsam das Verbindungsglied zwischen Octavio, der Olimpia liebt, und dem verkleideten Mann, der vor den eifersüchtigen Augen Octavios mit Olimpia tanzt. Insgesamt setzt La Motte hier das »enchaînement«34 aus dem Prolog in Szene. Die Venezianerin pointiert Octavios Eifersucht und starke Gefühle, indem sie die französische Mentalität explizit des Ballhauses verweist: »Bannissons de ces lieux l’importune 29 | Ebd., S. 17f. 30 | Ebd., S. 9-18. 31 | Ebd., S. 17. 32 | Ebd., S. 10-24. 33 | Ebd., S. 24. 34 | Ebd., S. 7.

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raison,/Elle vaut moins qu’une aimable folie«35. Die Wortwahl La Mottes in diesem Teilstück zeigt darüber hinaus, dass er die spanische Mentalität noch einmal steigert. Auch hier kommen »vaine espoir« und eine »Nuit trop sombre« zur Sprache,36 werden aber vornehmlich von Begriffen wie »allarme«, »rage«, »rival«, »sang«, »vangeance«, »injuste loy«, »furie« und »rigueur« begleitet, die klar für starke Gefühlswallungen statt für reinen Status stehen.37 Statt des Sehsinns in L’Espagne stehen in L’Italie wieder die Musik und der Hörsinn im Vordergrund: Jetzt bittet Olimpia Octavio, seiner »injuste colère« nicht mehr zuzuhören, während Octavio nach der perfekten »Hymne« strebt, in der beide sich vereinen können.38 Genau wie vorher schon die französische Hirtin Doris fällt Octavio schließlich auf die Knie; für ihn gibt es keine liebende Verbindung ohne Verkettung mehr.39 Während die Quatrième Entrée zu L’Italie eine Steigerung des spanischen Ehrgefühls bei einem gleichzeitigen unmittelbaren Vergleich mit La France darstellt, bildet La Turquie spiegelbildlich zur männlichen Eifersucht in L’Espagne die Eifersucht zweier Frauen ab. Insgesamt steht in der Cinquième Entrée La Turquie jedoch die Vereinigung der Völker im Vordergrund. La Motte findet hier vollständig in das Vokabular aus dem Prolog zwischen Liebe, Zärtlichkeit, dem Entflammen und auch des Gewitters und des Sieges zurück und überführt den Garten eines Serails in einen blühenden Garten des Liebesreichs (»Et que le Ciel fasse toujours fleurir,/Et ses jardins & son Empire.«)40. Diese glückliche Wendung nach drei eher zugunsten von La Discorde entschiedenen Kämpfen der Liebe und des Streits in Frankreich, Spanien und Italien vollzieht sich auch in Chören über Texte in der frühneuzeitlichen lingua franca.41 Sowohl sprachlich als auch inhaltlich wird die türkische bzw. orientalische Mentalität also weniger entlang national-charakteristischer Stereotype, sondern eher kulturell übergreifend gezeichnet. Diese dem übergreifenden dramaturgischen Bogen von L’Europe Galante entsprechende Wendung spiegelt die Ankündigung im Vorwort, man habe »exprimé, autant que le Théatre l’a pû permettre, la hauteur & la souveraineté des Sultans, & l’emportement des Sultanes.« Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Libretto also keinesfalls lediglich voneinander abgesetzte Miniaturen bereithält, sondern vom Prolog an auf eine spannungstechnische Steigerung angelegt ist. Die Kontraste der 35 | Ebd., S. 30. 36 | Ebd., S. 33, 35. 37 | Ebd., S. 26-35. 38 | Ebd., S. 34f. 39 | Ebd., S. 35. 40 | Ebd., S. 45. 41 | Ebd., S. 44f.

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einzelnen ›Nationen‹ werden dabei nicht nur durch die Auswahl der Personen, Orte und Sprachen herbeigeführt, sondern vor allem durch ihren Umgang mit den bereits eingeführten Vokabularen aus dem Prolog und den vorangegangenen Entrées. In L’Europe Galante scheint damit kein kontrastierendes Material nebeneinandergestellt zu werden. Stattdessen wird offensichtlich eher ein stetig stärker pointierter Vergleich kultureller Aushandlungsprozesse um den Zusammenhang zwischen Streit und Liebe angestrebt. Während das Libretto also die politischen Bündnisse Frankreichs, vor allem mit dem Osmanischen Reich, untermalt und den Orient u.a. als Retter Europas hinstellt, rückt gleichzeitig der Kampf als künstliches, stilisiertes »Jeu charmant« in den Vordergrund, mit dem sich die verschiedenen Europäer – so der letzte Vers der Venus am Ende des Stücks – anscheinend auch in Zukunft dauerhaft herumschlagen werden.42 Wie sieht es also mit Campras Zeichnung des Stücks zwischen Watteau’scher Miniatur und übergreifenden musiktheatralen wie kompositorischen Konzeptionen aus?

M usikdr amaturgische A uflösung kultureller S tereot ype : D ie V ertonung Vom generellen Auf bau her folgen die fünf Entrées in ihren musikalischen Formen ebenfalls einer Steigerung, ausgehend von französischen Tanzformen und einer ausgewogenen Gegenüberstellung von Venus und La Discorde. In den beiden Szenen des Prologs wird Venus mit Menuett und Gavotte eingeführt, La Discorde mit einer Loure und einer Canarie, die sich beide aus der lebhaften Gigue herleiten, jeweils als langsame Version oder freie Improvisation, die Loure dabei laut verschiedener Lexika des 18. Jahrhunderts zudem für Stolz und Triumph stehend.43 Die weiteren Entrées stattet Campra mit Préludes, Marches und regional zu verortenden Tänzen wie der spanischen Sarabande oder der italienischen Forlana aus. Lediglich die Troisième Entrée mit ihren Serenaden enthält dabei keine Marche und spiegelt so die vorbereitende Rolle wider, die L’Espagne in Bezug auf die Entrée L’Italie ausfüllt. In der Troisième, Quatrième und Cinquième Entrée werden zudem noch Sarabande, Cha-

42 | »La Discorde à l’Amour cède enfin la victoire./Vous, Jeux charmants, tendres Plaisirs,/Volez de toutes parts pour servir ses desirs ;/allez accroître encor son empire & sa gloire.« Ebd., S. 46. 43 | Vgl. die Definitionen aus den französisch-, deutsch- und englischsprachigen zeitgenössischen Quellen in Miehling, Klaus: Das Tempo in der Musik von Barock und Vorklassik. Die Antwort der Quellen auf ein umstrittenes Thema, Wilhelmshaven 1993, S. 311-315.

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conne und Passacaille gegenübergestellt.44 Sie sind aufgrund ihres spanischen Ursprungs vergleichbar und schaffen somit einen fließenden Übergang vom Höhepunkt der durch die spanische Entrée vorbereiteten italienischen Entrée zur mit Ritournelle, Passacaille und Marche abrundenden türkischen Entrée.45 Während es also auch in dieser generellen Aufteilung kulturelle Pointierungen durch die verschiedenen Tanzarten zu geben scheint, lassen sich auch Übergänge entdecken. Insgesamt scheint die Anlage der Tänze und weiteren Instrumental- wie Gesangsformen dem Auf bau und der Figurenkonstellation des Librettos angepasst, zwischen dramaturgischen Kontrasten (Seconde und Quatrième Entrée) und übergreifenden Steigerungen. Diese Zweigliedrigkeit zwischen kulturellen Pointierungen und übergreifenden dramaturgischen Bögen spiegelt sich auch in der Anlage der einzelnen Divertissements wider. Die Abfolge der Tänze und Arien sowie die Anordnung der Divertissements variieren in den einzelnen Entrées. Sie setzen abwechselnd die Orte musikalisch in Szene (La France, L’Italie) und bilden den ausgewogenen Ausgang des Kampfes zwischen Venus und La Discorde ab (L’Espagne, La Turquie). In La France befindet sich das Divertissement in der Mitte der Entrée, um die Hirtenlandschaft in ein Theater mit neuen Konzerten für Céphise zu verwandeln. In L’Espagne sind zwei Ballettszenen in die zweite und dritte Szene eingebracht, und in L’Italie bildet die zweite von fünf Szenen ein einziges Divertissement, das den Ball in Szene setzt. In La Turquie sind die Tänze dann wieder gleichmäßig auf die zweite, dritte und fünfte Szene (von sechs Szenen) verteilt.46

44 | Vgl. hierzu die »Table. Airs à jouer« in: L’Europe Galante. Ballet, représenté en l’an 1697 par l’Académie Royale de Musique, de la Composition de Monsieur Campra, Maître de Musique de la Chapelle du Roy. Partition Generale, semblable à la derniere Edition d’Issé, Les Paroles de cette Piece sont de Monsieur de La Motte, de l’Academie Françoise, S. 266. 45 | Zur Definition und Rezeption von Chaconne und Passacaille vgl. Legrand, Raphaëlle: Chaconnes et Passacailles dansées dans l’opéra français : des airs de mouvement, in: Hervé Lacombe (Hg.): Le Mouvement en Musique à l’Époque Baroque, Metz 1996, S. 157-170. 46 | Vgl. L’Europe Galante. Ballet, représenté en l’an 1697 par l’Académie Royale de Musique, de la Composition de Monsieur Campra, Maître de Musique de la Chapelle du Roy. Partition Generale, semblable à la derniere Edition d’Issé, Les Paroles de cette Piece sont de Monsieur de La Motte, de l’Academie Françoise. In meinem Beitrag beziehe ich mich auf diese spätere Edition, da sie im Gegensatz zu den Erstausgaben alle Orchesterstimmen angibt und zudem den heutigen musikalischen Produktionen von L’Europe Galante zugrunde liegt. Zu den Entwicklungen der einzelnen Editionen während der vertraglich geregelten Zusammenarbeit zwischen Campra und Ballard sowie darüber

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Bereits im Prolog fällt auf, dass Campra mit den verschiedenen Tänzen keine Zuordnung zu einzelnen ›Nationen‹ anstrebt, sondern deren Material vielschichtig in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Prolog und den verschiedenen Entrées einsetzt. Insgesamt scheint Campra in seiner Vertonung den im Libretto angelegten Kampf zwischen Venus und La Discorde als wechselseitige Abhängigkeit noch weiter zuzuspitzen. Dies geschieht mittels gerader und ungerader Taktarten, Wortwiederholungen und Tonwiederholungen, die ein filigranes Spiel bilden und den gesamten opéra-ballet mit einem differenzierten Netz an Bedeutungen überspannen. Obwohl es zuerst einmal so scheint, als ob kurze Vorschläge und Läufe La Discorde charakterisieren, auf deren Musik Venus im Dreiertakt eines Menuetts antwortet, zeigen sich schnell Bezüge zwischen den musikalischen Ausdrucksweisen der beiden Figuren. Der Schein des klar Kontrastierenden besteht dabei vor allem auf der Ebene der Wortvertonung: Die drei- bis fünftönigen Vorschläge in der Prélude zur zweiten Szene im Prolog, die klar der Zwietracht zugeordnet ist,47 nehmen die schnellen Läufe der Airs und Chöre vorweg, die zuerst ein Echo auf La Discordes Worte »fière«, »odieux« oder »crainte« bilden,48 später dann als gesangliche Auszierungen des Verbs »enchaîner« fungieren.49 Gleichzeitig verweisen sie aber auch auf die kurzen Achtel der Textzeilen »Frapez, frapez«, mit denen Venus in die Schmiede einführt.50 Dieser wechselseitige Verweis ist bereits in der recht klassischen ›Ouvertüre‹ angelegt, in der Campra einen Teil mit punktiertem Rhythmus im alla breve-Takt mit einem weiteren Teil aus geradem Rhythmus kombiniert, wobei beide Teile erst im vollen Satz präsentiert werden, um dann mit Vorimitationen Stimme für Stimme wieder neu anzusetzen.51 Auf diese Weise schafft Campra auch hier schon eine homogene Verbindung des dann später auf Venus und La Discorde aufgeteilten Materials. Bemerkenswert ist, dass Campra im folgenden Prélude der Scène Première bereits einige Male hervorstechende dreifache Tonwiederholungen in halben Noten einbaut, zuerst in der Melodie, dann in den Begleitstimmen.52 Diese hinaus vgl. Antony, James R.: Printed editions of André Campra’s L’Europe Galante, in: The Musical Quarterly 56/1 (1970), S. 54-73. 47 | Vgl. L’Europe Galante. Ballet, représenté en l’an 1697 par l’Académie Royale de Musique, de la Composition de Monsieur Campra, Maître de Musique de la Chapelle du Roy. Partition Generale, semblable à la derniere Edition d’Issé, Les Paroles de cette Piece sont de Monsieur de La Motte, de l’Academie Françoise, S. 29. 48 | Ebd., S. 42f. 49 | Ebd., S. 57-64. 50 | Vgl. ebd., S. 8-18. 51 | Vgl. ebd., S. 1-8. 52 | Vgl. ebd., S. 6f., 12.

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Tonwiederholungen tauchen auch im Premier Air pour les Plaisirs wieder auf, hier jedoch in kürzeren Notenwerten und Synkopierungen.53 Sie nehmen auf diese Weise die Verkettung vorweg, die Venus und La Discorde im folgenden Schlussteil des Prologs eingehen: Während kurz nach dieser zweiten Tonwiederholung ein erstes Menuett gespielt wird, das Ton und Rhythmus für den Air des Chors »Souffiez que l’Amour vous blesse« angibt,54 arbeitet sich La Discorde mit dreimaligen Tonwiederholungen in Achteln55 so weit in diese dreiertaktige Ausdrucksweise von Venus und ihrem Gefolge ein, dass sich im Chor Faisons regner l’Amour eine metrische Inkongruität von Text und Takt ergibt, die aufführungstechnisch wie ein 6/4-Takt statt als 3/4-Takt umgesetzt wird.56 Auf diese Art nimmt der langsam und im unpunktierten Rhythmus gehaltene Chor die Canarie im 6/4-Takt vorweg, die nun wiederum mit regelmäßig punktierten Achteln aufwartet, allerdings die melodischen Gruppen durch einen Auftakt ebenfalls metrisch verschiebend.57 Die melodische Gestaltung des Abschlusschors folgt dann wieder der deklamatorischen Ordnung des Textes. Hier fällt allerdings auf, dass Campra erstmals Wortwiederholungen vornimmt, die im Libretto nicht vorgesehen waren. »Cedez, cedez à ses doues ardeurs/[…] Qu’il règne à jamais, à jamais dans vos cœurs«58, singt der Chor. Diese Wortwiederholung wäre nicht weiter erwähnenswert, würde sie im folgenden Verlauf von L’Europe Galante nur als den Notentext füllendes Detail auftauchen. Stattdessen ist zu erkennen, dass Campra in seiner Textvertonung die eingesetzten Wortwiederholungen kontinuierlich steigert, bis sie in der italienischen Arie Ad un cuore kulminieren,59 um dann im Gesang Unir, unir, li cantara in lingua franca noch einmal anzusteigen.60 Wortwiederholungen sind zuerst einmal in allen fremdsprachigen Airs zu beobachten, in Ad un cuore genauso wie im spanischen Gesang »El esperar en amor es merecer« (»Es ist es wert, auf die Liebe zu warten.«) in L’Espagne.61 Während Wort- oder Wortphrasenwiederholungen vor allem für italienische Arien typisch sein mögen und in der Forschung oft auch als Element des ›italienischen Stils‹ angeführt werden,62 werden sie von Campra hier tatsächlich 53 | Vgl. ebd., S. 24. 54 | Ebd., S. 26f. 55 | Vgl. ebd., S. 29. 56 | Vgl. ebd., S. 45-50. 57 | Vgl. ebd., S. 54. 58 | Ebd., S. 56. 59 | Ebd., S. 174f. 60 | Ebd., S. 245. 61 | Vgl. ebd., S. 127f. 62 | Vgl. Antony, R.: Air and Aria, S. 212, 215.

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auf die Spitze getrieben, mittels vor- und nachimitierenden Orchesterstimmen. Die musikalische Ausgestaltung der italienischen Da Capo-Arie nimmt dabei gleichzeitig diejenigen musikalischen Elemente auf, die in Bezug auf La Discorde verwendet worden waren, wie die Läufe, die Imitationen und vor allem aber die Beeinflussung des weiteren Verlaufs des opéra-ballet – nur dass die Ausweitung des melodischen Materials hier nicht vornehmlich in Bezug auf Rhythmus oder Deklamation, sondern auf die unmittelbare Orchesterbegleitung geschieht.63 In der zweiten Edition von 1698 fügte Campra sogar noch eine weitere italienische Arie ein, die denselben imitierenden Charakter wie Ad un cuore trägt.64 Es gibt darüber hinaus aber auch noch eine zweite Linie von Wortwiederholungen, und zwar in den Chören der divertissements. In La France versuchen die Hirtinnen und Hirten in rhythmisch-melodischer Anlehnung an das »Frapez, Frapez« aus der Amor-Schmiede Céphise zur Liebe zu bewegen.65 In L’Espagne machen sich die Chöre mit der Zeile »Chantons, chantons de si belles ardeurs« daran, den Stolz der Spanier ins Positive zu verkehren,66 nachdem Dom Pedro und Dom Carlos bei Wortwiederholungen wie »attendez, attendez« oder »à jamais, à jamais« bereits vorher auf Formeln aus dem Prolog zurückgegriffen hatten, um ihre Ungeduld zu zügeln.67 In L’Italie plädieren die Chöre für »tendres amants, rassemblons-nous, rassemblons-nous«, also den zärtlichen Zusammenhalt trotz Eifersucht.68 In dieser Linie schafft es Campra folglich, die unterschiedlichen kulturellen Stereotype ausgehend von der Rahmenhandlung mit einer hochgradig homogenen, das gesamte Stück übergreifenden Kompositionsweise zu verbinden. Die beiden Stränge – derjenige der fremdsprachigen Arien und derjenige der inhaltlich mäßigenden Chöre – laufen dabei parallel ab und bieten mannigfache Kongruenzen im Hinblick auf vielfältig verstandene musikalische Kulturen oder Kongruenzen zwischen kulturell unterschiedlich stereotypisierten musikalischen Ausdrucksweisen. Denn ein ähnlicher Mechanismus, bestehend aus Ton- und Wortwiederholungen, lässt sich in noch detaillierterer Weise in Bezug auf das Entrée L’Italie zeigen. Während dreimalige Tonwiederholungen in den beiden italienischen Arien höchstens kursorisch in den Begleitstimmen auftreten, weisen sowohl 63 | Vgl. L’Europe Galante. Ballet, représenté en l’an 1697 par l’Académie Royale de Musique, de la Composition de Monsieur Campra, Maître de Musique de la Chapelle du Roy. Partition Generale, semblable à la derniere Edition d’Issé, Les Paroles de cette Piece sont de Monsieur de La Motte, de l’Academie Françoise, S. 174f. 64 | Vgl. ebd., S. 189-191. 65 | Ebd., S. 80. 66 | Ebd., S. 142f. 67 | Ebd., S. 113f, 138f. 68 | Ebd., S. 161.

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die Chöre als auch der Tanz der Forlana in L’Italie vielfach dreifache Tonwiederholungen auf. Im Eingangschor werden diese zum Teil bei den Wortwiederholungen »rassemblons-nous, rassemblens-nous« eingesetzt.69 In der italienischen Forlana sind punktierte Tonwiederholungen dann ein integrales Element, das u.a. die Periodizität gewährleistet.70 Aus dieser Zusammenstellung ergibt sich zweierlei: Zum einen nimmt der italienische Tanz gerade den Dreierrhythmus und auch die Tonwiederholungen auf, die mit den Figuren Venus und Amour in Zusammenhang stehen, er steht hier also nicht lediglich für das venezianische Lokalkolorit. Zum anderen – und hier eben als italienisch ausgewiesener Tanz – gewährleistet er die rhythmische und auch melodische Vielfalt der ansonsten in regelmäßigen Auf- und Abstiegen (und nicht Tonwiederholungen) sich vollziehenden ›italienischen‹ Stimmen. Insofern lässt sich festhalten, dass Campras eigentliches Vertonungs- und Kompositionsmaterialien – verschiedene Rhythmen, Wort- und Tonwiederholungen – gerade in ihren dramaturgischen Verknüpfungsmöglichkeiten präsentiert werden. Gleichzeitig schafft es Campra, kulturelle Verortungen von Tänzen wie der Forlana in seiner Komposition auf eine Weise fruchtbar zu machen, indem er ihre kulturelle Herkunft als bloße Hülle der eigentlichen Botschaft einer größtmöglichen Verkettung ansetzt. Dreimalige Tonwiederholungen machen nicht zuletzt einen großen Teil der abschließenden Entrée La Turquie aus. Die regelmäßigen Tonwiederholungen aus der ansonsten an Lullys Le Bourgeois Gentilhomme gemahnenden Marche des Bostangis bilden dabei das Pendant zur italienischen Forlana mit ihren drei punktierten Noten am Beginn jeder Periodenhälfte. Auch bei den Bostangis lässt sich darüber hinaus eine klare Vorimitation erkennen.71 Die folgenden Ausrufe »Vivir, vivir, gran Sultana« erinnern in ihrer Rhythmik an das »Frappez, frappez« von Venus’ Gefolge aus dem Prolog, also einem wichtigen Verbindungspunkt zwischen Venus und La Discorde und somit einem wichtigen Element für den musikalischen Abschluss der Rahmenhandlung.72 Ähnlich des Prologs gibt es auch zu diesem geradtaktigen Chor ein dreiertaktiges Gegenstück, das Unir, unir li cantara, das ebenfalls mit Ton- und Wortwiederholungen arbeitet.73 Dreimalige Tonwiederholungen lassen sich dabei auch schon in dem ersten Air der Zaide erkennen, die über einen die folgende Passacaille vorwegnehmenden Bass ihre Liebe für den Sultan ausdrückt, und hierbei, wenn sie von »mes Yeux« spricht, auf drei gleiche Töne zurückgreift.74 69 | Vgl. ebd., S. 263-268. 70 | Vgl. ebd., S. 191-194. 71 | Vgl. ebd., S. 140f. 72 | Vgl. ebd., S. 142-144. 73 | Ebd., S. 245-248. 74 | Ebd., S. 209f.

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Zugleich arbeitet die Sultanin mit Sequenzen bei Wortwiederholungen75 oder Gefühlssteigerungen76 und singt vornehmlich in einem langsamen, regelmäßigen Rhythmus. Das darauffolgende Ritornell kündigt dagegen mit seinen punktierten Rhythmen und seinen Imitationen den nahenden Sultan an – und übertragend die Nähe von Venus’ Regelmäßigkeit und den Einfluss nehmenden musikalischen Strukturen von La Discorde, die einen neuen Kampf ankündigen. In dieser letzten Entrée fällt auf, dass sich die Melodik der Airs und Chöre einerseits stark an die regelmäßigen absteigenden Tonleitern der Passacaglia anpasst, sodass es auch in den Gesängen oft regelmäßige Auf- und Abstiege gibt, dass darüber hinaus jedoch größere Intervalle durchaus sehr präsent sind. Zeigen lässt sich das exemplarisch anhand weiterer Wortwiederholungen wie dem »Copir, copir« oder »il languit, il languit«.77 Diese größeren Intervalle stehen in Zusammenhang mit den rezitativischen Nennungen des Königs aus dem Prolog und untermalen somit die politisch-repräsentative Dimension des Stücks im Hinblick auf den Zusammenschluss Frankreichs mit dem Osmanischen Reich.78 In der Tat erscheint La Discorde am Schluss musikalisch gesehen mehr als verzweifelt. In absteigenden Salven und mit einer letzten Anstrengung, sich mit regelmäßigen Achteln auf gleicher Tonhöhe noch einmal aufzubäumen, flieht sie aus dem florierenden Liebesreich. Danach bleibt Venus nur noch, ihre Anhängerschaft durch ein virtuoses »Volez de toutes parts«, dessen Koloraturen durchaus im Orchester vor- und nachimitiert werden, im Dreiertakt zu vergrößern, bevor dieser Aufruf im Orchester noch einmal als Echo wiederholt wird.79 Man kann sich an dieser Stelle nicht erwehren, die Ausgestaltung dieses letzten Gesangs als Teilsieg der Discorde zu sehen, deren Material näher zu den fremdsprachigen Arien gestanden hatte, als dasjenige von Venus. Auf vergleichbare Weise wird Campra eine ähnliche Zeile später übrigens auch in

75 | Vgl. ebd., S. 213. 76 | Vgl. ebd., S. 210. 77 | Ebd., S. 252, 232. 78 | Vgl. ebd., S. 37f. Ludwig XIV. wählte L’Europe Galante zudem als Stück für die Hochzeitsfeierlichkeiten des Duc de Bourgogne und Marie-Adélaïde von Savoyen aus, vgl. Goujon, Jean-Philippe: L’arrivée d’André Campra à Paris et la réception de son œuvre par ses contemporains, in: Jean Duron (Hg.): Regards sur la musique… André Campra (1660-1744), un musicien provençal à Paris, Wavre 2010, S. 95-101, hier S. 102. 79 | Vgl. L’Europe Galante. Ballet, représenté en l’an 1697 par l’Académie Royale de Musique, de la Composition de Monsieur Campra, Maître de Musique de la Chapelle du Roy. Partition Generale, semblable à la derniere Edition d’Issé, Les Paroles de cette Piece sont de Monsieur de La Motte, de l’Academie Françoise, S. 262-265.

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Le Carnaval de Venise von 1699 komponieren, dann aber auf Italienisch, wie das »Amori volate, volate, volate mit ben« aus dem Ball des dritten Aktes.80

M usikalische Tr anskultur alität z wischen M usikerinnen und M usikern um 1700 Auf der Grundlage meiner Analyse lässt sich ausgehend von Campras Komposition eines feststellen: Campra legte mit L’Europe Galante eine Komposition vor, die unterschiedliche Stilelemente auf ihre Kleinteile reduzierte und von hier aus ein Stück schuf, das kulturelle Stereotype im Sinne der Friedensverträge eher auflöst, anstatt sie kommentarlos nebeneinanderzustellen. Neben seinem Augenmerk auf inhaltliche Symboliken wie dem Sehsinn, den Campra mit seiner Kompositionsweise besonders in Bezug auf die fürstliche Figur des Sultans hervorhebt und der sich demzufolge auch auf seinen Bündnispartner Ludwigs XIV. applizieren ließe, schien es Campra eher an der Vielfalt musikalischer Kulturen und ihrer Verknüpfungsmöglichkeiten gelegen zu sein, als an politisch repräsentativen Konfrontationen und musikalischen Stilen. Wie sich an der Aufeinanderfolge der drei Tänze Sarabande, Chaconne und Passacaille zeigen lässt, profitierte Campra dabei vom Horizont einer europäischen Musikkultur und nicht von spanischen oder italienischen Versatzstücken. Die Tanzformen machte Campra sich zunutze, indem er ihre Wiederholungen je nach musikalischer Zeichnung der Entrées ausgestaltete und ihre Abfolge in L’Europe Galante gleichzeitig als Steigerung anlegte: Die Sarabande und die Passacaille weisen eher regelmäßige Bässe auf, die Chaconne arbeitet eher mit Variationen. Alle drei folgen einem unterschiedlichen Tempo, von schnell bis sehr langsam und bilden somit einen weiteren Gegenlauf zu den sich verdichtenden Wortwiederholungen und Läufen. Die dem Libretto vorangestellten und im Text durch die Wortwahl in den Dialogen kenntlich gemachten kulturellen Stereotype greift Campra in L’Europe Galante durchaus musikalisch-stilistisch auf. Viel mehr noch als La Motte scheint er dann aber eher mit ihren definitorischen Klischees zu spielen, als mit eigentlichen Stilkopien. Dies geschieht vornehmlich durch die musikdramaturgische Einbindung von ihrem Ursprung her vermeintlich ›fremder‹ Tänze wie der Canarie über inhaltliche-symbolische Inkursionen von La Discorde in der musikalischen Deklamation oder über die auf taktmäßige Vielfalt bedachte Einbindung der Forlana neben der italienischen Da Capo-Arie. Insgesamt werden die miniaturhaften Verortungen der Handlungen in typisierten 80 | Campra, André: Le Carnaval de Venise, Paris 1699, hg. von James R. Antony (= French Opera in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, Band 17), Stuyvesant, N.Y. 1989, S. 156f.

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kulturellen Szenarien musikalisch quasi ent-ortet, und dies zugleich rückwirkend in Bezug auf eine französische Kompositionstradition als auch vorwärtsgerichtet als Mittel einer musikalischen Weiterentwicklung instrumentaler, melodischer und vor allem musikdramaturgischer Schreibweisen, die man als instrumentalmusikalische Tanzdramaturgie umschreiben könnte. Eine solche Tanzdramaturgie, die ihre Öffnung ins instrumentalmusikalische gerade durch Bezugnahmen auf musikkulturelle Idiome erhält, lebt auf der inhaltlichen Ebene nicht wenig von Karikaturen kultureller Stereotype, die jedoch stetig in der Schwebe bleiben. Dieser schwebende Charakter entsteht durch die stetig sich durchkreuzenden einzelnen dramaturgischen Verläufe, die Campra miteinander kombiniert: da ist zum einen die steigendende Anzahl von Wortwiederholungen, die sich einem stetig langsamer werdenden Tempo gegenübersieht, aber da ist auch die Ironie der Anspielungen auf die königliche Repräsentation in Bezug auf den Friedensschluss, der bisweilen über ›amourettes‹ und echte ›amours‹81 verhandelt wird. In dieser Hinsicht wäre Cowart zu folgen, die Campras L’Europe Galante als das erste Zeugnis einer »harderedged form of galanterie« beschreibt, »associated with illicit behaviour as well as a somewhat more cynical attitude«.82 Dennoch ist auf der Grundlage meiner Analyse davon auszugehen, dass Campras musikalische Vertonung eher einen moderaten Zug verfolgte, der Friedensbotschaften im Sinne des bereits im 17. Jahrhundert in Europa weit verbreiteten Topos einer Integration des Orients genauso transportierte, wie kleinere, punktuelle ironische Anspielungen auf Ludwig XIV. – ganz im Sinne der vielen anderen Zweigliedrigkeiten, die dem opéra-ballet inhärent sind. Vor diesem zugleich auf mehrfachen Orten als auch auf Transkulturalität beruhendem Hintergrund lassen sich nun auch die zeitgenössischen Einschätzungen des Werks neu lesen. Von der Pfalz scheint entgegen den kulturellen Charakteren eher das künstlerische Niveau des zugleich »artigen« und »possirlichen« Balletts hervorzuheben, seine diffizile, da zugleich bestätigende und konterkarierende Präsentation der vier ›nationalen‹ Stereotype. Die totale Durchsetztheit aller Entrées und somit aller ›Nationen‹ von Liebe und Zwietracht machte dabei anscheinend den Aktualitätsbezug für das Publikum aus, das sich als Akteur mit allen ›Nationen‹ in diesem europäischen galanten Spiel identifizierte und deren musikalisches Fassungsvermögen durch die Ton- sowie Wortwiederholungen und Gegenüberstellungen gerader und ungerade Takte anscheinend so stark angesprochen wurde, dass Antoine Jacques Labbet

81 | Vgl. z.B. L’Europe Galante, Ballet, représenté pour la première fois par l’Académie Royale de Musique le 24. Octobre 1697. Et Remis au Theatre le 18. May 1706, S. 31. 82 | Cowart, Georgia: The Triumph of Pleasure. Louis XIV & the Politics of Spectacle, Chicago/London 2008, S. 168.

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Source die Gesänge in L’Europe Galante 1755 sogar als »überaus einfach«83 abqualifizierte. Cahusac schreibt anscheinend gegen Le Cerf de la Viéville, der sich mit italienischen und französischen Stilkategorien beschäftigte, die sich durch den Notentransfer lesend bestätigen ließen, die aber an dem kulturellen Austauschpotential französischer Komponisten im Paris um 1700, ihrer italiengereisten Kollegen wie Jean Berain, Jean-Baptiste Anet, Michel Pignolet de Montéclair oder Jean-Baptiste Stuck sicherlich vorbeigingen. Die sich nicht nur auf das Musiktheater, sondern auch auf Vokal- und Instrumentalmusik beziehenden Interessen dieser Komponisten in Paris und in Italien scheinen ausschlaggebend dafür gewesen zu sein, dass Campra durchaus instrumentalmusikalische Verfahrensweisen in L’Europe Galante einbrachte, bevor er in die späteren opéra-ballets ganze Kantaten mit einbezog. Insofern verweist die musikalische Dramaturgie von L’Europe Galante explizit darauf, dass noch mehr Forschungen zu sozialen Umgangsformen zwischen Musikerinnen und Musikern um 1700 und ihren europaweiten Kontakten und Erfahrungen zu machen wären, als zu den politischen Netzwerken des französischen Adels und seinen musikalischen Repräsentations- oder Unterhaltungsbedürfnissen.

83 | Labbet, Antoine Jacques, abbé de Morambert/de Léris, Antoine (Hg.): Sentiment d’un harmoniphile sur différents ouvrages de musique, Amsterdam 1756 (reprint Genf 1972), S. 37-39, zitiert nach Caroline Wood/Graham Sadler (Hg.): French Baroque Opera: a reader, Aldershot 2000, S. 117.

Belonging and Belongings Identity, Emotion and Memory stored in a Tobacco Box 1 Angela McShane

I. Inspiration for this article came from the multidisciplinary »Transcultural multiple belongings: spaces, materials, memories« conference held at the Carl von Ossietzky Universität, Oldenburg, and from the theoretical framework of ›praxis‹ that it sought to explore, pithily summarized by social scientist Andreas Reckwitz as: a routinized type of behaviour which consists of several elements, interconnected to one another: forms of bodily activities, forms of mental activities, things and their use, a background knowledge in the form of understanding, know-how, states of emotion and motivational knowledge. 2

›Praxis‹ understands social agency as being distributed across all the constituents of a ›social communication network‹, as described above. Importantly, 1 | Research time for this article was supported by funding from the ESRC/AHRC Sheffield/V&A, Intoxicants and Early Modernity 1570-1740 project, and the V&A American Friends/J.H Bryan/V&A/RCA History of Design Programme Dated Objects and Marking Time in Early Modern Britain project. My particular thanks go to John H. Bryan and all the Crab Tree Farm team for access to and images of the John H. Bryan collection. Special thanks also to Mr. Tim Wales and Dr. James Brown, researchers for the Intoxicants project https://www.intoxicantsproject.org for all the Norfolk and Cheshire references used in the paper. 2 | Reckwitz, Andreas: Toward a Theory of Social Practices. A Development in Culturalist Theorizing, in: European Journal of Social Theory 5/2 (2002), pp. 243-263, here p. 249; see also Schmidt, Robert/Volbers, Jörg: Siting Praxeology The Methodological Significance of »Public« in Theories of Social Practices, in: Journal for the Theory of Social Behaviour, 41:4 (2011), pp. 419-440.

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›things‹ and their performative materialities are understood as necessarily intrinsic to social practice, requiring their role as co-agents to be fully understood on their own terms, rather than being seen merely as illustrative or anecdotal props or back-drops to traditionally made histories, drawn exclusively from textual sources.3 By dispersing social agency right across this ›entangled‹ network, Reckwitz’s formulation offers an elegant solution to the age-old problem of whether or how ›things‹ act on or in society, and if these actions are historically significant or discoverable.4 It allows the material archive to make its own substantive contribution to our social historical knowledge. This article explores the ›doings‹ and ›sayings‹ of a group of seventeenthand eighteenth-century tobacco boxes.5 These everyday objects participated in socially and geographically widespread practices of sociability that were of considerable social, economic and political significance in early modern society. In Britain, pipe smoking remained popular with all classes throughout the early modern period, while snuff taking became prevalent only in the mid-eighteenth.6 Many tobacco users engaged in both habits, perhaps using the same box or carrying two boxes at once, for example, Fanny Burney was shocked to find that Sir Joshua Reynolds carried a ›vile and shabby tin‹ box along with his gold one.7 Early modern tobacco boxes survive in relatively large numbers and have been popular with collectors since their inception in the seventeenth century. Today, they are subject to a very closely constructed system of aesthetic values based on design, age and patina and authorship.8 The form of the miniature box has perennially inspired high-level decorative vocabularies, 3 | See Barad, Karen: Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter, in: Signs: Journal of Women in Culture and Society 28/3 (2003), pp. 801-831. 4 | See Hodder, Ian: Entangled: An Archaeology of the Relationships between Humans and Things, Chichester 2012. 5 | See Schatzki, Theodore R.: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996. 6 | See Goodman, Jordan: Tobacco in History the cultures of dependence, London/New York 1993, pp. 66-73; Le Corbeiller, Clare: European and American Snuffboxes 17301830, London 1966, pp. 5-7. 7 | See Corbeiller, C.: European and American Snuffboxes, p. 62. Specialists have tried to identify snuff or smoking tobacco boxes by hinge or fit of lid and size, but there are very many exceptions. Personal snuff boxes were probably smaller, containing about one ounce, while smoking tobacco boxes often held two or three ounces or more. 8 | See discussions in Bedford, John: All Kinds of Small Boxes, London 1964; Corbeiller, C.: European and American Snuffboxes; Gage, Deborah/Marsh, Madeleine: Tobacco containers and accessories. Their place in eighteenth century European Social History, London 1988; Kisluk-Grosheide, Daniëlle O.: Dutch Tobacco Boxes in the Metropolitan

Belonging and Belongings

skills and techniques and well-known makers. Gold and enamel snuff boxes have been, and are, particularly revered for their artistry. Indeed, though some were ›worn‹ like jewellery by courtiers for a season, many of those that we find on display in museums, such as the spectacular Rosalinde and Arthur Gilbert Collection (now held at the V&A), were originally given and kept as objects d’art, for display in large royal or aristocratic collections, rather than for use.9 Take, for example, the silver tobacco box given to Charles II by the King of Bantam, in 1665, that was encrusted with four diamonds, each deemed to be worth an astronomical £1000.10 In contrast, the objects considered below are much less grand. They were made for, and owned by, relatively ›ordinary‹ people, including a wheelwright, a blacksmith, a ploughman and a clergyman. Most are explicitly inscribed with texts, images, and dates that have helped to locate them precisely in time, place, and sometimes even in the very hands of the men and women who once owned or gifted them. They come from the extensive John H. Bryan collection in Illinois, and it would be unlikely to find them displayed as examples of high design at the V&A, or nearby at the Chicago Institute of Art.11 But, in terms of examining the working of praxis, and locating the social in the material world, they are much more important than their gold enamelled, and diamond encrusted cousins. The ordinary boxes discussed below make explicit how socially acceptable identities could be fashioned and reproduced through objects, decoration and quotidian haptic ritual practices. Though they were often standard in form, and even factory-made by the late eighteenth century, even the most ordinary of boxes could provide a canvas on which statements of identity, allegiance or emotion were made, while the patina impressed upon them through use, adoption and adaptation, gives us a real sense of their past role in lived experience. By closely observing and contextualising these objects in their own time, we can understand much more about the powerful social practices that developed around tobacco-taking in the early modern period.

Museum of Art: A Catalogue Metropolitan Museum Journal, Vol. 23 (1988), pp. 201231. 9 | See Zech, Heike: Gold Boxes: Masterpieces from the Rosalinde and Arthur Gilbert Collection, London 2015. 10 | See TNA: SP 29/131f.69, Aug 29 1665: H. Muddiman to Sir Joseph Williamson. 11 | Collection of John H. Bryan, Chicago, Illinois (Henceforth JHB.) We anticipate that a detailed illustrated catalogue of the dated objects from this collection will be published as a companion to a forthcoming exhibition at the Yale Centre for British Art.

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II. From the late-sixteenth century, British men and women of all classes consumed tobacco in ever increasing quantities. Originating from the ›new world‹, it was at first subject to numerous experiments, medical, social and cultural. By the mid-seventeenth century, the plants were being grown commercially in Europe, as well as in colonial, slave-worked plantations in the Americas. This addictive trade was profitable, monopolistic and rife with crime and controversy. Debates raged in the press over its healthful or harmful effects, while government dependence on its profits had political implications; for example, attempts to undercut the American trade by setting up plantations in England led to riots and armed suppression, while the taxing of tobacco without parliamentary approval was one of the many crimes visited on Charles I’s unfortunate head.12 When Paul Hetzner, a German jurist, visited England in 1598, he noted the physical and emotional hold that tobacco had already gained on the early modern English psyche: I cannot refrain from a few words of protest against the astonishing fashion lately introduced from America – a sort of smoke tippling which enslaves its victims more completely than any other form of intoxication, old or new. These madmen will swallow and inhale with incredible eagerness the smoke of a plant they call herba nicotiana or tobacco.13

In his Counterblaste to Tobacco, published in 1604, King James I complained that elite men found maintaining a stance as a non-smoker socially difficult:

12 | See Withington, Phil: Intoxicants and Society in Early Modern England, in: Historical Journal, 54/3 (2001), pp. 631-657; Romaniello, Matthew: Who Should Smoke? Tobacco and the Humoral Body in Early Modern England, in: The Social History of Alcohol and Drugs, 27/2 (Summer 2013), pp. 156-173; Taylor, Alex: Tobacco Retail, Economic Agency and Political Conflict in 1630s England, in: Economic History Journal, forthcoming. My thanks to Alex Taylor for access to his pre-publication draft; Goodman, J.: Tobacco in History; Rowley, Anthony: How England Learned to Smoke: The Introduction, Spread and Establishment of Tobacco Pipe Smoking in England before 1640, University of York, Unpublished PhD thesis 2003; Shammas, Carole: Changes in English and Anglo-American Consumption from 1550-1800, in: John Brewer/Roy Porter (eds.):, Consumption and the World of Goods, London 1993, pp. 177-205; Macinnes, Colin. M.: Early English Tobacco Trade, London 1926. 13 | Cited in Burgen, Arnold: ›Tobacco‹, in: European Review, 13/4 (2005), pp. 577-589; Kisluk-Grosheide, D. O.: Dutch Tobacco Boxes, p. 201.

Belonging and Belongings divers men very sound both in judgement, and complexion, have bene at last forced to take it [tobacco] also without desire, partly because they were ashamed to seeme singular.14

By writing his pamphlet, the King sought to discourage the practice, warning, among other things, that smoking would cause cancer. Nevertheless, a decade later, chronicler Edmund Howes wrote, »at this day, [tobacco is] commonly vsed by most men and many women«.15 James did not give up his campaign. In 1619, a proclamation attempted to ban smoking from licenced alehouses, while, in the 1620s, high taxes were imposed in a bid to render it prohibitively expensive.16 But nothing worked; tobacco taking had become a »panacea for [early] modern living«.17 By the 1630s, it had become too valuable a commodity for the government to constrain. People ›drank‹ it in inns, alehouses and shops, in private houses and even in the streets (from which, in the 1670s, the Norwich authorities unsuccessfully sought to ban it).18 Key figures in parliament were developing vested interests in overseas plantations, while the customs and excise it brought to the public purse was substantial. Smoking became de rigeur at every level of society. Travelling in the West Country in the 1680s, M. Jorevin de Rochefort noticed how »the supper being finished they set on the table half a dozen pipes and a pacquet of tobacco for smoking, which is a general custom as well among women as men«, while in the 1690s, diarist Celia Fiennes, visiting Cornwall, wrote that: the Custome of the Country […] is a universall smoaking, both men women and children have all their pipes of tobacco in their mouths and soe sit round the fire smoaking wch was not delightfull to me.19

14 | King James: A Counterblaste to Tobacco, 1604, Sigs. D-Dv. 15 | See Howes, Edward: The Annales, or a Generall Chronicle of England. Begun by Maister lohn Stow, London 1615, p. 32. 16 | See Rowley, A.: How England, p. 120. Raised taxes simply encouraged smuggling, see Taylor, Alex: The Criminality of Tobacco in Seventeenth-century England, Unpublished PhD Thesis, University of Sheffield 2018. 17 | See Rowley, A.: How England, p. 70. 18 | See Norfolk Records Office: NCR Case 16a/24, Mayor’s Court Book, 1666-1677, fols. 275r, 281v: 13 May, 27 June 1674; Priestley, U./Fennere, A.: Shops and shopkeepers in Norwich, 1660-1730, Norwich 1985, p. 9. Thanks to Tim Wales for this point. 19 | Rochefort cited in Myer, Reginald: Chats on Old English Tobacco, 1930, p. 63; Fiennes cited in Taylor, A.: Tobacco Retail. Taylor also notes that Cornwall was a particularly heavy smoking county.

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The basic essentials that a smoker needed – a clay pipe, a light, and a pinch of tobacco – could always be obtained for a price in an alehouse, tavern, or coffeehouse.20 But tobacco ranged hugely in quality – a constant subject for debate in company – and nothing could compare to the comfort of having an ounce or two of one’s own favourite tobacco ever to hand. Personal tobacco boxes soon became indispensable to the British smoker.21 They are noted in printed literature from as early as 1607, in documentary sources, wills and inventories from the 1620s.22 By 1649, their ubiquity had increased to such an extent that Charles Hoole thought it necessary to adapt his best-selling Easie entrance to the Latin toungue by offering Latin translations of ›tobacco pipe‹, ›stopper‹ and ›tobacco box‹, for schoolboys.23 By 1700, a personalized box for snuff or tobacco was a vital accessory for any man, whether a labourer or a lord. Indeed, in 1706, William Wilson, a labourer from Curby, in Norfolk, accused his landlord’s son of stealing his tobacco box from his pocket after a fight.24 Smoking and snuffing involved an elaborate ritual choreography of objects, gestures and words that evoked a gamut of emotions, ranging from frustration to deep satisfaction. One comic play laid out the very precise actions of the smoking ritual by setting it out in the typical discourse of a routinized military discipline. It was to be exercised »till you stink, defile the room, offend your friends, destroy your liver and Lungs, and bid adieu to the world with a scowling flux.«25

20 | See Rich, Barnabee: The Honestie of This Age, London 1614, pp. 25-27. 21 | The use of boxes is thought to have distinguished British and Dutch smokers from Turks and Germans, who mostly used pouches, see Fume, Joseph [pseud.]: A Paper of Tobacco, London 1839, p. 145. 22 | 1st Literary ref.: Marston, John: VVhat you vvill, London 1607; 1st documentary ref: Calendar of the Cecil Papers in Hatfield House: Volume 22, 1612-1668:1622 Cash Book payment for tobacco Box; 1st tobacco box in Cheshire or Norfolk inventories ›3 tobacco boxes‹, Inv. No, 323, 1661; 1st ›stuffer‹ Inv. No 115 1666; earliest extant dated box located, Charles I gold box, 1641 (Sotheby’s Catalogue); earliest dated JHB box: 1661. 23 | See Hoole, Charles: An easie entrance to the Latine tongue, London 1649, p. 167. 24 | See Norfolk Records Office, NCR Case 12b, Box 2: parcel 4, information of William Wilson. 25 | See Gallobelgicus: VVine, beere, and ale, together by the eares A dialogue, written first in Dutch by Gallobelgicus, and faithfully translated out of the originall copie, by Mercurius Britannicus, for the benefite of his nation, London 1629, Sig C3.

Belonging and Belongings

1. Take your seal [possibly ›seat‹?]

13. Elbow your pipe

2. Draw your box

14. Mouth your pipe

3. Uncase your pipe

15. Give fire

4. Produce your Rammer

16. Nose your tobacco

5. Blow your pipe

17. Puffe up your smoke

6. Open your box

18. Spit on your right hand

7. Fill your pipe

19. Throw off your loose ashes

8. Ramme your pipe

20. Present to your friend.

9. Withdraw your Rammer

21. As you were.

10. Return your Rammer

22. Cleanse your pipe.

11. Make ready

23. Blow your pipe.

12. Present

24. Supply your pipe.

Later, writers in France appropriated this idea for satirising snuffing rituals, while, in 1711, the Spectator kept up a running joke about snuffing schools that prepared young gentlemen to pit their snuff boxes against that other fearsome social weapon – the fan – wielded by young women to the destruction of men’s hearts.26 When performed in company, these rituals also involved etiquettes of sharing and borrowing. Socialised smoking by groups of men in alehouses swiftly became common, but by the late 1600s, ›lighting a pipe‹ with a neighbour or friend at home had also became a ritualised social practice: as in 1698, when Martha Sconce went to ›light a pipe‹ at Jane Lock’s house in Norwich (but found her friend having sex with Thomas Turner there).27 Or, as in 1724, when Zachariah Rudd dropped by after a day’s farm-work on his neighbour, farmer William Wincent »about 6 o’clock in the evening to light his pipe«.28 Such companionable smoking offered a space for reflective conversation and helped friends to build up a close familiarity with each other’s smoking preferences and material paraphernalia. 26 | See The Spectator, 3 and 8 August 1711; for French snuff versions see Gage, D./ Marsh, M: Tobacco containers, pp. 22-24. 27 | See Norfolk Records Office, DN/DEP 53/58a, Deposition of Elizabeth Turner in Lock c. Sconce. 28 | See Norfolk Records Office, DN/DEP 58/62, Newson c Rudd, deposition of William Wincent.

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Tobacco boxes ranged widely in terms of cost and materials and were accessible to almost anyone.29 When the Norwich tobacconist Thomas Hutton died in 1674 he had four parcels of tobacco boxes in his shop. The most expensive were wainscot (fine quality foreign oak) valued at 12d each. He also had 10½ dozen boxes made of latten (a brass compound), ranging in value from 1¼d to 3d each.30 Even silver boxes are found amongst the only modestly prosperous, such as the Norwich petty chapman whose wife and servant hid his silver snuff box so that he could not use it as a stake in his gambling.31 Boxes were also ordered, by shopkeepers and individuals, from well-known shops or makers; for example, in 1641, Thomas Knyvett ordered two ›Hillingworth tobacco boxes with the Kings Picture of silver and a silver stopper‹ from London, costing 4s 6d each.32 The ›stopper‹ (also known as a ›rammer‹, ›stuffer‹ or ›tamper‹) was another essential piece of equipment. These also came in a wide variety of shapes, sizes and materials. Some that survive are miniature works of art, others were more crudely shaped, but they frequently took a figurative form of relevance to their first owner.33 Court records and other anecdotal sources tell us that many women used tobacco, which implies that they probably had their own boxes, but explicit evidence is hard to come by, for England at least.34 For example, in 1623, Endymion Porter was in Spain with Prince Charles’s marriage embassy. He wrote to his wife that he »sent my Ladie Villiers a tobackco [sic!] box, I hope shee will esteeme it as a token of my love«.35 In 1677, Susan Cotton left a silver tobacco box to her kinsman.36 In neither case can we be certain that these women used the boxes themselves – the former may have been a curiosity for a collection, the latter might have been a family heirloom – though both were clearly used as receptacles for social affection, obligation and personal memory. Though elite 29 | See ›Tobacco Boxes‹ in Cox, Nancy/Dannehl, Karin.: Dictionary of Traded Goods and Commodities 1550-1820, Wolverhampton 2007. 30 | See Norfolk Records Office, ANW 23/3/33, inventory of Thomas Hutton. 31 | See Norfolk Records Office, NCR Case 12b, Box 2 (parcel 6), examination of Elizabeth Kett. 32 | See Knyvett Letters, Schofill, B. ed.: London 1949, p. 100. My thanks to Bernard Capp for this reference. 33 | See list of shapes in Fume, J.: Paper of Tobacco, p. 149. 34 | See Goodman, J.: Tobacco in History, pp. 62-63; Corbeiller, C: European and American Snuffboxes, S. 13. Corbeiller catalogues several boxes inscribed with the names of their women owners in colonial America: Cat. Nos 363-377. I am currently working on an article that will explore this topic further. 35 | See TNA SP 14/142f.92 7 April 1623. 36 | See Nottinghamshire Records Office DD/T/118/29 Will and probate of Sarah Cotton of St. Clement Danes, widow.

Belonging and Belongings

women are often described as having their own snuff-boxes, no tobacco box has so far come to light that specifically names an English woman as owner. However, the use of heart decorations or affectionate inscriptions on tobacco boxes in which initials, rather than names, appear, alongside the shape of trade tools, may suggest that they were particularly popular gifts for young ladies to give to young men, and perhaps the other way round.37 Contrast this anonymising practice with a brass box, gifted between male friends that was expressly inscribed ›A Free Gift of Ralph Meddow to Sam Waterworth‹ in 1717.38 See Fig. 1. Figure 1: JHB D.O.W/37: Tobacco Box. Mahogany. Bone-Inlaid lid with hearts, comb and other implements. Initialled I. M. Dated 1777; JHB D.O.M/61: Tobacco Box. Brass. Hinged. Lid Inscribed. Dated 1717.

Photograph Courtesy of John H. Bryan.

The ever-wider call for such gifts led to traders developing ›populux‹ items, made in a variety of materials, that could be bought off the shelf, complete with appropriate messages if desired, and could then be personalised with initials, inscriptions and perhaps a date. For example, one range, thought to come from a single workshop operating between 1670 and 1710, were made of cedar and horn in various shapes and sizes. They were inlaid with inscribed kidney-shaped bone sections that were interchangeable and could be used to create ›posies‹ [rhymes]. See Fig. 2.

37 | For example JHB D.O.W/37: a circular, bone-inlaid mahogany box, the lid inlaid with comb and implements, initialed I. M. within hearts beneath the date 1777. 38 | See JHB: D.O.M/61.

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Figure 2: JHB D.O.O/70; 71; 72; 73; 75. Tobacco Boxes. Cedar and Horn. Bone-inlaid Posies, Initials and Dates, esp. top left: D.O.O/70: Inlaid Posy: ›If You Love Mee Lend Mee Not‹. Dated 1665.

Photograph Courtesy of John H. Bryan.

Other typical forms were made from brass, or horn and bone. Figure 3: JHB D.O.M./13; 77; 78; D.O.O. 26; 27; 28; 29. Tobacco Boxes. Horn and Brass. Standard shop-bought forms variously personalized with initials, decoration and dates.

Photograph Courtesy of John H. Bryan.

Belonging and Belongings

Off the peg boxes that were customised only with initials and a date, were ideal for expressing affection between men and women while at the same time avoiding the risks of contractual obligation, first by avoiding names, and second by limiting the monetary value of the gift.39 On the other hand, in songs, plays and jests, boxes were invested with such great sentimental value that men gave or bequeathed their beloved tobacco box to the women of their dreams as a sure pledge of their fidelity: Here Kate, take my ’bacco box – a poor soldier’s all, If by Frenchman’s blows your Tom is doomed to fall, When my life is ended, thou may’st boast and prove, Thou’st my first, my last, my only pledge of love. 40

III. Whatever their material value, or the process of their making, it was common for the decorative scheme of even the most ordinary tobacco box to link very directly to an owner’s identity, social status, interests, aspirations or emotions. They were very frequently inscribed with what we might describe as ›routinized‹ ›life writings‹ that might include a name, a place, a trade and a date related to a key personal moment. In some cases, boxes also incorporated ›posy‹, or verse inscriptions, that drew attention to the social obligation to be a convivial ›good fellow‹ and share their tobacco in company. For example, the inscription on a steel and brass box, once belonging to James Edwards of Silkstead in Hampshire, praised its own contents as ›an herb of virtues many‹ and invited any man ›to smoak with me/who of his own han’t any.‹41 See Fig. 4.

39 | See O’Hara, Diane: Courtship and Constraint: Rethinking the Making of Marriage in Tudor England, Manchester 2002. 40 | The Tobacco Box, in A Collection of New Songs, Newcastle 1815, p. 2. 41 | See JHB: D.O.M./10.

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Figure 4: JHB D.O.M./10. Tobacco Box. Steel and brass. Lid and base inscribed for James Edwards of Silkstead. Dated 1753.

Photograph Courtesy of John H. Bryan.

Since many boxes were given as gifts, we cannot know if this motto was of Edward’s own choosing, or that of a friend; we can perhaps assume, since the box was well used, that the inscription was intended as a compliment and not a barbed joke! In contrast, some inscriptions expressed deep anxiety surrounding sociability and loss: such as the three mottos that covered all sides of a copper box. See Fig. 5. Figure 5: JHB: D.O.M/63: Tobacco Box. Copper. Heavily inscribed and decorated. Multiple owners. Dated 1671 and 1700. P

Photograph Courtesy of John H. Bryan.

Belonging and Belongings

The first motto offered pipe tobacco in return for snuff and demanded reciprocity: ›’Fill your pip[e] but ke[e]p me not stil[l] and let my maister tak[e] a snuf[f] of your mil‹. The second combined welcome and exhortation, ›My in meat your velcom for to taist [taste] but return me back to my maister in heast [haste]‹ and finally, the third warned of consequences: Take a pyp and wellcom to it since that my maister doth allow it, but keep me not for fear of Shem [shame] retu[r]n me back to him again. 42

Much loved tobacco stoppers, small and easily ›palmed‹, also had a tendency to go missing. In one Norfolk case, a man was indeed shamed when he was brought to court, accused of stealing his friend’s silver stopper as his tobacco box did the rounds.43 Posies on some boxes advised against the emotional turmoil that loss might bring, for example ›If You Love Mee Lend Mee Not‹ (see Fig. 2.).44 On another, the verse insulted those who wanted to share: ›the best Virginia within I have [,] not free for any knave [,] my loving master ile supply [,] let begging fellows go and buy‹.45 Some boxes were explicitly designed to balk at the risky customs of a sharing economy: a clever design feature on some brass snuff boxes (several versions can be found) reduced the amount that could be taken by forcing the snuff-pincher’s fingers apart.46 Fig. 6. Anxieties around loss did not end with the obligation to share in convivial company: tobacco boxes were the first thing that thieves looked for when men were robbed as criminal court records make clear. These cases not only give a sense of the material range of boxes – such as the steel box valued at 6d taken from William Johnson in 1682 – but also the number of men who ›wore‹ their tobacco box close to the body.47 Sometimes the threat to a beloved box and the tobacco in it could come from closer to home. In Samuel Rowlands’ A crew of kind gossips, a wife complains about her husband’s filthy smoking habit that ›makes a chimney of his nose‹. She describes the troublesome palaver of her husband’s habit: ›for a Candle and a pipe he’ll call; a trencher ., let there a rush

42 | JHB: D.O.M/63: 1670 and 1700. The box changed hands several times, see discussion below. 43 | See Norfolk Records Office, C/S 3/53a. 44 | See JHB: D.O.W/28 1665. 45 | See JHB: D.O.M/20 Chesterfield, Dated: Jan 17th 1817. 46 | See JHB: D.O.M/76 Inscribed: J. A. 1745. 47 | See Middlesex County Records: Volume 4, 1667-88, Jeaffreson, John Cordy, London 1892, p. 1682.

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be got, Some paper, make the fire shovel hot, a knife, some match, and reach a little wyre, a tinder box, fetch me a coal of fyre‹. ›But now and then‹ she claims: I fit him in his kind, When any smoaky stuff of his I finde; For when I meete with his tobacco box, I send it to the priuie with a pox. Then he’ll go raging up and downe, and sweare, he misseth such most rare and holsome geare. 48

Figure 6: JHB: D.O.M/76: Tobacco Box. Brass. Swivel top. Inscribed J. A. Dated 1745.

Photograph Courtesy of John H. Bryan.

Intrinsic to these feelings of anxiety and loss was the ritual that put personal tobacco paraphernalia into action. People would go to enormous lengths to recover their goods. One woman in Chester was terrorised by a man who demanded entry to her alehouse late at night because he believed he had lost his tobacco ›rammer‹ there.49 In 1710, a man advertised for his lost tortoiseshell 48 | See Rowlands, Samuel: A crew of kind gossips, all met to be merrie complayning of their husbands, with their husbands ansvveres in their owne defence, London 1613, Sig. D2-D2v. 49 | See Cheshire Archives and Local Studies ZQSF/83/50 11 May 1685 Deposition of Jane Poole of Chester, Widow.

Belonging and Belongings

snuff box offering ›a guinea reward, and no questions ask’d‹ on its return to the Young Man’s Coffee House in Charing Cross.50 In a fictional account, written by confirmed smoker Henry Fielding, a squire sent the local parson on a hundred mile journey to look for the tobacco box he had left at an inn because it was ›an old acquaintance of above 20 years standing‹.51 A tobacco box was a constant companion, supplying feelings of friendship and company, even when there was none. One witness in a court case, attempting to conjure an image of domestic placidity, described Peter Huberd of Framingham Pigot »sitting very quietly smoking his pipe by the fireside«.52 As one poem published in 1761 described the comfort of smoking: When pensively we sit or walk, Each social Friend away, Snuff best supplies the Want of Talk, And cheers the lonely Day. 53

IV. Frequently gifted between family, friends or lovers, boxes were not only inscribed with the names of givers and receivers, with good wishes, jests and warnings, but they were also marked with dates, identifying box and owner with their achievements, experiences, relationships and stages along life’s journey. When John Woodhouse, an established Liverpool merchant, acquired ownership of a new ship in 1786, his friend ›WB‹ celebrated the fact, and their friendship, by inscribing both on a silver shield set into the lid of a fine new

50 | See Daily Courant, Thursday, December 14, 1710; Issue 2853. See also Daily Courant, Friday, August 27, 1708; Issue 2036; Post Boy, December 30, 1708 – January 1, 1709; Issue 2127; Daily Courant, Thursday, January 23, 1707; Issue 1490; Post Man and the Historical Account, December 30, 1708 – January 1, 1709; Issue 1697; Daily Courant, Thursday, June 9, 1709; Issue 2379; Post Boy, October 21 – 24, 1710; Issue 2410; Post Man and the Historical Account, January 11, 1711 – January 13, 1711; Issue 1962; Evening Post, January 20, 1711 – January 23, 1711; Issue 226; Daily Courant, Wednesday, February 7, 1711; Issue 2902.; Daily Courant, Monday, March 12, 1711; Issue 2930. 51 | See Fielding, Henry: The History of Tom Jones: a foundling, Dublin 1749, p. 246. 52 | See Norfolk RO, DN/DEP 58/62, Huberd c. Huberd, deposition of Susan, wife of Henry Smith. 53 | Bath Chronicle and Weekly Gazette, 29 October 1761.

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leather tobacco box (the height of fashion), shaped like a boat.54 Even mass-produced boxes could reveal a great deal about an owner’s life, personality, interests, social relationships, and trade. For example, Scotsman John Craford, ›hamer-man‹ (a blacksmith or similar metalworker), had his name, trade and the name of his town proudly inscribed on his standard tobacco box in 1726, perhaps to signal the end of his apprenticeship.55 Fig. 7. Figure 7: JBH D.O.M./78: Tobacco Box. Brass. Standard form. Lid and base inscribed for John Craford, Crawford’s Dyke. Dated 1726.

Photograph Courtesy of John H. Bryan.

He had every reason to be proud. Crafrods [Crawfords] Dike, after which he was named, had unsuccessfully lobbied the Scottish Parliament to build a new harbor in 1700. Not to be denied, Crawfords Dyke and the connected town of Greenock voluntarily imposed a local tax on beer in order to raise the money themselves. This was so successful that the new harbour was begun in 1707. By 1740, it was not only complete, but the debt incurred in the building was paid off and Crawfords Dike had developed from a tiny fishing village into a thriving town.56 Blacksmiths were notoriously heavy drinkers (their hot work made 54 | See JHB: D.O.O./1: Corbeiller, C.: European and American Snuffboxes, p. 92; TNA PROB 11/1793/374, Will of John Woodhouse, Merchant of Toxteth Park near Liverpool, Lancashire; Craig, Robert/Jarvis, Rupert C.: Liverpool Registry of Merchant Ships, Manchester 1967, p. 91 Entry 153: John Woodhouse, Merchant, registers ownership of the sloop ›Elizabeth‹ in 1786; see also Hailman, John. R.: Thomas Jefferson on Wine, Mississippi 2009, p. 306, who notes Woodhouse setting up his marsala business. 55 | See JHB: D.O.M 78. 56 | See Chalmers, George: Calendonia: Or, An Account, Historical and Topographic, of North Britain [4 vols.], Vol. III, Edinburgh 1890, pp. 806-809.

Belonging and Belongings

them thirsty) so James Craford would have paid more beer tax than most. But the outcome was a matter of considerable pride; there would be no shortage of work for this (perhaps) new-made ›hamer-man‹ in his self-made port town. But Craford was not just content with self-identification on his box. He also wanted it to perform wittily in social situations, and so a rhyme, warning young men against wily women and befuddling wine, was added to the bottom of the box where it could be seen by those of his friends that handled it.57 The social performativity of tobacco boxes made them ideal as canvases on which to demonstrate an owner’s wit and intellectual sophistication. Like alcohol, tobacco developed its own literary presence. Rowley cites several famous smokers, such as Hobbes and Newton, and literary figures who argued that smoking helped literary creativity and study. For example, poet, George Daniel, declared tobacco was a ›Nurseing flame‹ to ›fire the Braines‹, while Samuel Rowlands’ ›melancholy knight‹, needed a continuous supply of tobacco to »perfume« his brain while writing.58 Boxes also helped in developing a smoker’s identity through their shape and decoration. In 1711, The Spectator described a learned lady’s library in which a ›silver Snuff-box made in the shape of a little book‹ was laid on a table, while other ›counterfeit books‹ were being used to fill gaps on the upper shelves.59 Book shaped boxes became generally popular; they drew attention to an owner’s bookish interests, to their literary pretentions, or to their profession.60 See Fig. 8. One brass box, dated 1725, named its owner as Nicholas Vipond, gentleman and lawyer of Norwich, who acted as auditor for the Cathedral for many years.61 His box was not only shaped like a book, but the lovely calligraphy of the decoration on front and back was clearly inspired by handwriting manuals of the period and reflected his professional calling.62

57 | Inscribed on Base: ›Woman and Wine Will Now And Then Decive of Some Wise/ Men‹. 58 | See Rowley, A.: How England, pp. 163f. 59 | See The Spectator, Thursday 12 April 1711. 60 | See Pinto, Edward H.: Treen and Other Wooden Bygones, London 1979, Pls 367a-f.; see also JHB: D.O.W./25 David Jackson 1730. 61 | See Atherton, Ian [et al.] (ed.): Norwich Cathedral: Church, City, and Diocese, 1096-1996, London/Rio Grande 1996, p. 613. 62 | My thanks to Dr Jenny Saunt for this insight.

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Figure 8: JHB: D.O.M./26; 150; D.O.W./25. Tobacco Boxes. Various. Shaped as books.

Photograph Courtesy of John H. Bryan.

Boxes could also be decorated so as to advertise an owner’s social position and political allegiances, especially through the display of arms. Indeed, during the herald’s visitation of London in 1687, eight men brought silver tobacco boxes as evidence of their gentle status and family identity. For example, ›Mr Martin Morland, nephew to Sir Samuel, exhibited the arms here described, graved on a silver tobacco-box, which arms were given to his father as his coat by Sir Samuel Morland his brother‹. During the herald’s visitation of Wiltshire and Dorset in 1565, Charles Fowke’s crest was also confirmed as ›An Indian Goat taken from a Tobacco Box‹. Those who could only aspire to arms would simply make up a design and have it applied to tobacco boxes among other things. This could lead to considerable confusion for heirs, for example, William Bodington’s claim to gentility was rejected by the herald, who noted, ›The Arms from a Silver Tobacco Box, he alledged these to be his Arms and that the Family was of Buckinghamshire, but nothing of his Name to be found in the Visitacions

Belonging and Belongings

of that County.‹63 As well as personal arms (valid or not), boxes were also ideal for the display of royal arms or portraits that conveyed a smoker’s loyalty and allegiance in company. To facilitate loyal smoking, the print maker Peter Stent sold small prints of the King, Queen Princess and other nobility ›for to adorn tobacco boxes, much in use‹.64 An example of just such a box, in celebration of the King’s coronation in 1662, shows signs of having been well used by its owner.65 See Fig. 9. Figure 9: JHB: Uncatalogued. Tobacco box. Wood. Lined with hand-coloured prints [possibly Peter Stent]. Top: K Charles II Q. Catherine. Inside lid: K. Charles ye I. Q. Mary. Inside base: Duke, and Duchess of York. Base: Duke and Duch[ess of Albemarle]. Dimensions: 7/8ins X 3 1/8ins X 4ins.

Photograph Courtesy of John H. Bryan.

In the eighteenth century, horn or tortoiseshell boxes were moulded over portrait medals, and boxes of every quality were carved or decorated with the royal arms or heads.66 Boxes could also become tools for royal service, for example, in 1741, a spy (named ›101‹) was sent with ›intelligence‹ hidden in a snuff box – an object that could be kept close to the body without raising suspicion.67 In con63 | See Visitation of London, Vols. 16 & 17, 2004: 1.336; 1.54, 108, 142, 203, 212, 214; 2.454-5. My thanks to Tim Wales for bringing my attention to these references. 64 | See Jones, Malcolm: Print in Early Modern England, Yale 2010, p. 9. 65 | See JHB: undated tobacco box with portraits of Charles II and Queen Catherine of Braganza; George Monck, Duke of Albermarle; James, Duke of York and Anne Hyde, Duchess of York. 66 | See Handelsman, S.: Horn Snuffboxes, www.snuffbox.com (last accessed 20/04/​ 2018). 67 | See TNA S.P. 36/56 F. 109: Newcastle to Harrington.

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trast, some boxes were made as encouragements to disloyalty. In 1718, after the accession of the deeply unpopular George I, a ›very obscene‹ snuff box ›highly reflecting‹ on the King was being openly sold from shops at the Royal Exchange in 1718, and was even given a nickname as the ›bed tester‹ box.68 Though the church never expressly encouraged tobacco (as it did the drinking of alcohol), some tobacco boxes engaged in dissipating the persistent and intense anxieties of Protestant religion over the impermanence and brevity of human life and the uncertainty of salvation. For example, one brass box, given to a grandfather by two of his grandchildren, was inscribed on one side with a verse from Proverbs 17:6, ›Children’s children are the crown of old men; and the glory of children are their fathers‹. The other side was decorated with a sun, a moon and a clock. Effectively linking astrology, cosmology and biblical knowledge with the passing of time, the box was opened by turning the correct combination of sun, moon and clock hands, giving the owner the power to control who took his tobacco and when. Rather than promoting anxiety about salvation, the inscription emphasizes the comfort of family and simple pleasures to a happy and godly Protestant life.69 Other boxes engaged in ›graveyard humour‹. One classic example is a horn tobacco box, dated 1674, inscribed ›SIC VITA, SICVT FVMVS‹. The inscription circles the image of a skeleton holding an hourglass and flanked on one side by a shovel for grave digging and on the other side by a skull. The motto is a joking reference to Psalms 101:4: ›For my days are vanished like smoke: and my bones are grown dry like fuel for the fire.‹ The horn material (thought to be ideal for storing tobacco) conveyed symbolic rather than economic significance. Combined with the iconography of death, it acted as a potent reminder that human time is fleeting. Perhaps too, the image, though not the box, acted as a discouragement from the fatal attraction of taking tobacco.

V. Boxes not only communicated explicitly, through inscriptive texts, but also tacitly through materials, form and haptic use. They were carriers of practice, knowledge and know-how. The response of makers and users to the social practices of taking tobacco was routinized and socially patterned, but also adaptable for, or by, an individual. Moreover, the positioning of inscriptions and decorations, around rims, on the top and bottom of boxes, and sometimes inside as well as outside, not only led to discourse, but also encouraged handling beyond 68 | See TNA S.P. 35/11f.200 21 April 1718: Wingfield to Delafaye. 69 | See JHB: D.O.M./119: Brass Tobacco Box. The box was inscribed with two sets of initials: ›T.E.‹ and ›S.E.‹.

Belonging and Belongings

mere use – turning over, rubbing and caressing – creating identifiable and emotionally valued patina.70 A prime example of this is the accidental damage to a box, belonging to John Butler, Wheelwright of Cranborn in Dorset, which looks like it went under the wheel of a cart, and yet was kept and treasured for centuries.71 More revealing on this account, however, is a tobacco box that passed from hand-to-hand for over half a century.72 In 1716, Yorkshire-man John Pindar [or Pinder], left home for school, aged fourteen. At eighteen, he attended St John’s College, Cambridge. In 1725 he graduated and began his clerical career as a deacon in York on a modest stipend of £ 25 a year. He celebrated his homecoming by adding the date, his name, the diocese, and the word ›owner‹ on a second-hand brass tobacco box.73 Originally made in the mid-late seventeenth century, Pindar was the last of several people to inscribe personal details on the box. Two had applied roughly engraved (unknown) coats of arms to the top and bottom of the box. Another inscribed the initials ›T.S.‹ on the rim, and yet another his full name – John Richardson – on the base. Pindar may have been attracted to the box as an antique, or perhaps he knew Robertson (a clergyman of that name held a living nearby), and kept or was presented with the box as a memento of a friend or mentor. In any case, his choice tells us something of a man who preferred to take his tobacco from an object marked with the patina of time, friendship and conviviality, rather than something merely fashionable and new. Personal tobacco boxes were often designed for multiple purposes: as a mirror, a perpetual calendar, even for carrying letters.74 Sometimes they were adapted to another use altogether, such as the brass box that was ultimately converted into a pounce pot by perforating the surface.75 However, the Pindar case alerts us to how the social and emotionally charged practices we have observed could act to subvert the primary function of all these boxes from containers of tobacco to repositories of social identity, feeling and memory. Tobacco box70 | See McCracken, Grant: Culture and Consumption New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods and Activities, Bloomington, Ind. 1990. 71 | See JHB: D.O.M./82 Brass: Cast Portrait on top; Tree in Laurel Wreath on Bottom: Dated 1724. 72 | See JHB: D.O.M./80. See also JBH: D.O.M./63 above. 73 | The Clergy Database: http://db.theclergydatabase.org.uk/jsp/persons/Create​ PersonFrames.jsp?PersonID=72658 (last accessed 20/04/2018). 74 | For Mirrors, see Fitzgeffrey, Henry: Satyres and satyricall epigrams with certaine obseruations at Black-Fryers, London 1617, Sig. F4v; for Perpetual Calendars see JHB: D.O.M.149. 75 | See JBH: D.O.M./79: Round brass box, pounce holes pierced into a heart-shape over an earlier inscription: ›Edward Greaves 1632‹; the reverse side inscribed ›John Barton 1739‹.

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es were expressly willed as family heirlooms, and memorials, for example, in 1696, Richard Blackburn left his silver tobacco box to his daughter in law ›to be kept in rememberance of mee and preserved by her for my grandson‹ 76. But, implicitly, every one of those that survives today despite being passed from hand to hand, was carefully preserved as a memorial to people in the past. The most remarkable example of this transformative process is the Westminster tobacco box. See Fig. 10. Figure 10: Image from Past overseers’s society of the parishes of St. Margaret and St. John the Evangelist in the city of Westminster–representations of the embossed, chased, & engraved subjects and inscriptions, which decorate the tobacco box. Vol. 1. P. 1.

Image Courtesy of V&A, London.

Tobacco was often provided to civic and legal groups, for which boxes were needed, and often given as gifts by serving or retiring officers. However, the case of the Past Overseers’ Society of the parishes of St Margaret and St John the Evangelist, Westminster, was somewhat different. In 1713, Henry Monck presented his well-known horn box, bought for 4d at the local Horn Fair, to the members of the convivial Past Overseers Society, of which he was a founder. The box was an immediate reminder of the man, who had smoked and shared its contents (3oz of tobacco) with his fellow members at every tavern meeting. 76 | See Cheshire Archives and Local Studies: Archdeaconry of Cheshire Wills: Blackburn, Richard WS 1696.

Belonging and Belongings

On the occasion of the donor’s death in 1720, it was decided to adorn Monck’s box with a silver rim as a mark of respect. A tradition began: each new chairman added a silver decoration to the box during his year of office. Over a period of years the box was completely encased in silver panels that were heavily inscribed and illustrated with classical, literary, biblical and topical scenes and texts. Soon, no more could be done to the ›original‹ box, and so a new case was made to contain the old box. This became the new canvas on which chairmen could perform their commemorative duty. In celebration of the box’s centenary, in 1824 the overseers published a history of the box and its illustrations. The subversion of the box’s function was acknowledged as bringing ›to their recollection many of their former acquaintances now no more, who once formed part of the festive circle and enlivened it with their wit and good humour‹ and the ›unanimity of social feeling by which the chief agents in parish administration […] have been distinguished, and which all who enrol themselves in the same band under the standard of the tobacco box, are pledged to perpetuate.‹ 77 On its third centenary, in 2013, it was decided to begin yet another new case for the box, but by this time, the subversion of its original function was complete, since smoking during meetings has long been forbidden.

VI. How far might these objects be thought of as agents of transculturation? Though they were everyday items, tobacco boxes were also extraordinary hubs of global trade. They might be made with German brass, or Swedish iron, American silver or gold, they might incorporate Indian ivory, South American woods or Caribbean tortoiseshell. Even if they only imitated the look of more exotic materials with local materials such as bone or tin, they were often filled with tobacco originating from the New World. Tobacco boxes might be thought to have embodied global as well as local transactions, and yet we have seen how the texts on these objects tended firmly to reposition the global materials and contents of a box to the locality of the person owning it – to Crawfords Dike, to Cranborn in Dorset, or to the Diocese of York – and their personal concerns. Goodman’s study of the use of soft drugs in Enlightenment Europe similarly suggests a ›Europeanization‹ of goods and ideas: ›an ongoing process of appropriation, development and definition which […] began in the sixteenth

77 | See Anon.: Representations of the embossed, chased, & engraved subjects and inscriptions, which decorate the tobacco box and cases, belonging to the Past Overseers Society, of the Parishes of St. Margaret and St. John the Evangelist in the City of Westminster, London 1824, Sig. B-Bv.

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century and reached its apogee in the eighteenth century.‹ 78 Thus, rather than reading smoking habits as forms of transcultural exchange, modern historians aim to understand how tobacco came to be entangled in the fabric of English society.79 Andrew Sherratt has pointed out that the practice of smoking came to ›embody notions of status and value, as well as conceptions of identity and belonging, whether actual or desired […] in the competitive arena of social display‹, but the question of how this transformation in praxis took place has not so far been well explained.80 However, as we have seen above, the tobacco box played a crucial role in creating these cultural significations by presenting opportunities to ›display fellowship […] dexterity, fashionability and taste‹, as well as establishing social, political and even religious credentials in company.81 In their ›doings and sayings‹, their materiality, their inscriptions, their wear and use, these boxes qualify in themselves as ›social sites‹.82 They sat at a nexus of interconnected and routinized elements of social practice; they were carriers of motivational knowledge, skills, and social know-how, and incited bodily and emotional responses and activities. As such, they offer an ideal example of how paying attention to the role of things in our studies of praxis, can offer very new insights.

78 | See Goodman, Jordan: ›Excitantia: or How Enlightenment Europe Took to Soft Drugs‹, in: idem/P. Lovejoy/A. Sherratt (ed.): Consuming Habits: drugs in history and anthropology, London 1995, pp. 126-141. 79 | See Rowley, A.: How England, pp. 9-10. 80 | See Sherratt, Andrew: ›Alcohol and its Alternatives‹, in: J. Goodman/P. Lovejoy/A. Sherratt (ed.): Consuming Habits: drugs in history and anthropology, pp. 11-46, here pp. 12-13. 81 | See Rowley, A.: How England, p. 141. 82 | See Jonas, Michael: The social site approach versus the approach of discourse/ practice formations (= Reihe Soziologie, Sociological Series, 92), Wien 2009, p. 92.

Wo wurdest Du geboren, und wo überall hast Du gelebt? Mehrfachzugehörigkeiten und Selbstverortungen am Beispiel der Herrnhuter Weltgemeine im 18. Jahrhundert Dagmar Freist

I. Z ugehörigkeiten Die Frage der religiös-konfessionellen, der sozialen oder der obrigkeitlichen Zugehörigkeit war in der Frühen Neuzeit bis in das 18. Jahrhundert hinein eindeutig geregelt: Durch die Taufe wurde die Konfessionszugehörigkeit bestimmt und mit der erstmaligen Zulassung zum Abendmahl öffentlich beglaubigt, die soziale Zugehörigkeit ergab sich aus der Geburt in einen bestimmten Stand, und die obrigkeitliche Zugehörigkeit regelten das Aufenthaltsrecht und die Erteilung des Bürgerrechts einer Stadt. Diesen rechtlichen und kirchenpolitischen Vorgaben zur Vereindeutigung von Zugehörigkeiten standen eine gesellschaftliche Dynamik,1 eine religiös-konfessionelle Uneindeutigkeit 2 und

1 | Marian Füssel hat zur Beschreibung dieser Dynamik den Begriff der ›relationalen Gesellschaft‹ eingeführt, vgl. Füssel, Marian: Die relationale Gesellschaft. Zur Konstitution ständischer Ordnung in der Frühen Neuzeit aus praxeologischer Perspektive, in: Dagmar Freist (Hg.): Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung (= Praktiken der Subjektivierung, Band 4), Bielefeld 2015, S. 115-137. 2 | Vgl. dazu mit jeweils anderen Definitionen Stolberg-Rillinger, Barbara: Einleitung, in: Andreas Pietsch/dies. (Hg.): Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Band 214), Heidelberg 2013, S. 9-26, hier S. 12 und Freist, Dagmar: Einleitung, in: dies.: Glaube-Liebe-Zwietracht. Religiös-konfessionell gemischte Ehen in der Frühen Neuzeit (= Bibliothek Altes Reich, Band 14), München 2017, S. 9-11.

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ein Migrationsverhalten3 gegenüber, die in der Praxis weder räumlich-territorial, noch religiös-konfessionell oder gesellschaftlich eindeutige Zuordnungen erlaubten. Dies war auch den Zeitgenossen bewusst. Exemplarisch sei hier die Erstbefragung von Schiffsmannschaften bei einer kriegsrechtlich begründeten Kaperung angeführt, die dazu diente, die Herkunft der Menschen zu bestimmen: Wo bist Du geboren und wo hast Du in den vergangenen sieben Jahren gelebt? Wo lebst Du jetzt und wie lange lebst Du schon an diesem Ort? Wessen Prinz oder Fürst, oder wem überhaupt warst Du jemals Untertan? Welche Stadt hat Dich je als Bürger aufgenommen und unter welchen Bedingungen?4

Die rechtlich-territorial-räumliche Verortung wurde selbst noch im 18. Jahrhundert sowohl durch Befragungen und Zeugenaussagen als auch mithilfe offizieller Dokumente beglaubigt. Diese Kombination aus Befragungen, Zeugenaussagen und Dokumenten wurde ebenso für die Ermittlung der religiöskonfessionellen Zugehörigkeit angewendet.5 In beiden Fällen ging es darum, die tatsächlichen Verhaltensweisen und Gewohnheiten zu überprüfen und zu fragen inwieweit sich die beobachteten Praktiken in übersubjektive kollektive Praktiken einfügten, die spezifische Zugehörigkeiten erkennbar werden ließen. Die tatsächliche territorial-räumliche Zugehörigkeit sollte sich in Anwesenheit der Familie, Praktiken gesellschaftlicher Teilhabe und Nachbarschaftskontakten zeigen, die religiös-konfessionelle Zugehörigkeit wurde am öffentlich beobachtbaren Kirchgang und in den Umgangsweisen mit religiösen Artefakten und Praktiken gemessen. Für die gesellschaftliche Zugehörigkeit bildete das Grundprinzip politisch-sozialer Ungleichheit6 den Orientierungsrahmen der frühneuzeitlichen Gesellschaft, wurde in Ritualen, Raumanordnungen und Zeremonien immer wieder aktualisiert und sollte selbst in Kleidung und Lebensstil für alle sichtbar sein. Gleichzeitig häuften sich Beschwerden über die Verletzung von Kleider- und Rangordnungen, was von Zeitgenossen als An3 | Vgl. für einen Überblick Bade, Klaus/Emmer, Pieter C./Lucassen, Leo/Oltmer, Jochen (Hg.): Migration – Integration – Minderheiten seit dem 17. Jahrhundert: eine europäische Enzyklopädie, Paderborn 2007. 4 | The National Archives UK, High Court of Admirality (TNA, HCA, 32/507). [Übersetzung ins Deutsche; D.F.]. Für die Dokumentation von Identitäten und Zugehörigkeiten seit dem 16. Jhd. vgl. Groebner, Valentin: Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters, München 2004, bes. S. 124-158. 5 | Vgl. Freist, D.: Glaube-Liebe-Zwietracht, S. 178ff. 6 | Vgl. Weller, Thomas: Einleitung, in: Marian Füssel/Thomas Weller (Hg.): Soziale Ungleichheit und ständische Gesellschaft. Theorien und Debatten in der Frühneuzeitforschung, Frankfurt a.M. 2011, S. 3-23, hier S. 5.

Wo wurdest Du geboren, und wo überall hast Du gelebt?

griff auf die ständische Ordnung interpretiert wurde.7 Mit Recht haben Marian Füssel und Thomas Weller betont, dass sich die sozialen Unterschiede in der ständischen Gesellschaft nicht unmittelbar aus vermeintlich ›objektiven‹ Dimensionen sozialer Ungleichheit wie Einkommen, Subsistenzweise, rechtlichem Status etc. ergaben, sondern stets aufs Neue in der sozialen Praxis hergestellt und geltend gemacht werden mussten. 8

Zugehörigkeiten werden in Routinen und Praktiken in einer Welt gemeinsamer Bedeutungen hervorgebracht und als solche erkannt, und sie stellen diese Welt zugleich her und verändern sie. Für die Frage der räumlichen, religiösen und gesellschaftlichen Selbst-Verortung ist die Vertrautheit mit den jeweiligen Feldern, ein ›Knowing how‹, wie sich in Relation zu Menschen und Dingen zu verhalten ist, Anerkennung, und die affektive Bindung zu Menschen, Dingen und Materialitäten von hoher Bedeutung.9 Diese rechtlichen und sozio-kulturellen Voraussetzungen von Zugehörigkeiten – Dokumentation, Vertrautheit, affektive Bindung, Anerkennung – werden auf der individuellen (Selbst-Verortung) und der gesellschaftlichen Ebene (Erkennbarkeit von Zugehörigkeit) in Folge von Migration unübersichtlich und ungleich komplexer. Zugehörigkeiten müssen im Hier und Jetzt neugestaltet und zugleich über raum-zeitliche Entfernungen in die Herkunftszusammenhänge aufrechterhalten werden; und diese komplexen Formen der Mehrfachzugehörigkeiten mussten miteinander in Einklang gebracht werden.

7 | Vgl. Bulst, Neidhard/Lüttenberg, Thomas/Priever, Andreas: Abbild oder Wunschbild. Bildnisse Christoph Ambergers im Spannungsfeld von Rechtsnorm und gesellschaftlichem Anspruch, in: Saeculum 53/I (2002), S. 21-73, hier S. 29-32. 8 | Weller, T.: Einleitung, S. 6; und Füssel, Marian/Weller, Thomas: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentationen in der ständischen Gesellschaft, Münster 2005, S. 9-22, hier S. 11. Vgl. auch Freist, Dagmar: »Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen«. Praktiken der Selbst-Bildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik, in: Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/ Dagmar Freist (Hg.): SelbstBildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung (= Praktiken der Subjektivierung, Band 1), Bielefeld 2013, S. 151-174. 9 | Vgl. Pfaff-Czernecka, Johanna: Zugehörigkeiten in der mobilen Welt. Politiken der Verortung, Göttingen 2012.

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II. M igr ation und tr anskulturelle M ehrfachzugehörigkeiten Vor diesem neuzeitlichen Hintergrund greift der vorliegende Beitrag am Beispiel der von hoher Mobilität geprägten Herrnhuter Brüdergemeine die Frage auf, wie sich Zugehörigkeiten denken lassen in Gesellschaften, die von Migration sowie sozialer und räumlicher Mobilität geprägt waren. Die Forschung zu Diaspora-Gemeinden hat lange die Exklusivität dieser in der Regel ethnisch und religiös homogenen Gruppen sowie die Wirkmächtigkeit virtuell postulierter, entterritorialisierter Gemeinsamkeiten betont. In jüngeren Studien zu Diaspora wurde der Fokus bewusst auf lokale Vernetzungen und Formen transkultureller und transreligiöser Interaktionen gelegt.10 Gerade diese lokalen grenzüberschreitenden Vernetzungen bei gleichzeitigem Festhalten an alten Gewohnheiten, Loyalitäten und Bindungen haben in der geschichtswissenschaftlichen Forschung die Notwendigkeit einer transkulturellen Neuperspektivierung von Zugehörigkeiten aufgeworfen. Eine Pionierstudie ist der Sammelband Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, der von Claudia Ulbrich, Hans Medick und Angelika Schaser herausgegeben wurde. In der gemeinsam verfassten Einleitung hat die Herausgebergruppe den Analysebegriff der ›kulturellen Mehrfachzugehörigkeit‹ vorgeschlagen.11 In Anlehnung an Clifford James gehen sie von einer »ethnographischen Subjektivität« aus,12 und zwar als »Ausdrucksform der Positionierung und Beschreibung eines Selbst in unterschiedlichen kulturellen Kontexten«.13 Sowohl in regionalen als auch in globalen Kontexten könne »diese Positionierung von Personen in kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten als die eines vielschichtigen transkulturellen Selbst bezeichnet werden.«14 Jüngere, vor allem biographiegeschichtliche Ansätze zu einer globalen Mikrogeschichte haben ebenso die Frage nach dem Subjekt in globalen Zusammenhängen der Frühen Neuzeit gestellt, allerdings mit einem Fokus auf agency und transkulturelle Netzwerke statt auf

10 | Vgl. Trivellato, Francesca: The Familiarity of Strangers: The Sephardic Diaspora, Livorno, and Cross-Cultural Trade in the Early Modern Period, Yale, NH 2009. 11 | Medick, Hans/Ulbrich, Claudia/Schaser, Angelika: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 1-19, hier S. 17 sowie die Beiträge dieses Sammelbandes zu »Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten«, S. 181-270. 12 | Clifford, James: Über ethnographische Selbststilisierung. Conrad und Malinowski, in: Doris Bachmann-Medick (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, 2. Aufl., Tübingen 2004, S. 194-228, hier S. 195ff. 13 | Medick, H./Ulbrich, C./Schaser, A.: Einleitung, S. 17. 14 | Ebd., S. 18 [Hervorhebung im Original].

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Praktiken der Selbstverortung in transkulturellen Zusammenhängen.15 Zu den Ausnahmen gehört Thomas Cohen’s Studie zu Juden im Rom des 16. Jahrhunderts, in der er aufzeigt, auf welche Weise Juden ihrer eigenen Kultur, Religion und Sprache verhaftet waren und sich zugleich als Römer und als Teil der römischen Kultur präsentierten.16 John-Paul Ghobrial hat in seiner Analyse des Reiseberichts des Elias von Babylon den Einfluss dieses Weltreisenden auf die lokalen Zusammenhänge, in denen er sich aufhielt verwiesen, und die Notwendigkeit betont, das Wechselspiel lokaler und translokaler Zusammenhänge stärker zu berücksichtigen.17 Wie sich dieses Wechselspiel methodisch und theoretisch abbilden lässt, wird seit einigen Jahren insbesondere in der Frühneuzeitforschung in programmatischen Beiträgen zu einer globalen Mikrogeschichte diskutiert.18 Dabei geht es bislang nur in Ansätzen um die Frage transkultureller Mehrfachzugehörigkeiten19, stattdessen steht das Verhältnis von Mikro und Makro und die Bedeutung von Scale aus analytischer Perspektive im Mittelpunkt.20

15 | Vgl. Ogborn, Miles: Global Lives: Britain and the World, 1550-1800, New York/ Cambridge 2008; Andrade, Tonio: A Chinese Farmer, Two African Boys; and a Warlord: Toward a global Microhistory, in: Journal of World History 21/4 (December 2010), S. 573-591. 16 | Vgl. Cohen, Thomas V.: The Case of the Mysterious Coil of Rope: Street Life and Jewish Persona in Rome in the Middle of the Sixteenth Century, in: The Sixteenth Century Journal 19/2 (Summer 1988) S. 209-221; vgl. auch Davis, Natalie Zemon: Trickster Travels: A sixteenth-Century Muslim Between Worlds, London 2008; Siebenhüner, Kim: Conversion, Mobility and the Roman Inquisition in Italy around 1600, in: Past & Present, 200 (2008), S. 5-35; Subrahmanyam, Sanjay: Three Ways To Be Alien: Travails and Encounters in the Early Modern World, Waltham, Mass. 2011. 17 | Vgl. Ghobrial, John-Paul A.: The Secret Life of Elias of Babylon and the Uses of Global Microhistory, in: Past & Present, Vol, 222/1, 2014, S. 51-93; vgl. auch schon Berking, Hartmut: Global Flows and Local Cultures. Über die Rekonfiguration sozialer Räume im Globalisierungsprozeß, in: Berliner Journal für Soziologie 8 (1998), S. 381-392. 18 | Vgl. Medick, Hans: Turning Global? Microhistory in Extension, in: Historische Anthropologie, 24/2 (2016), S. 241-252. 19 | Vgl. Freist, Dagmar: A Global Microhistory of the Early Modern Period. Social Sites and the Interconnectedness of Human Lives, in: Quaderni Storici 155/a I.II, n.2, 2017, S. 537-555. 20 | Vgl. dazu American Historical Review Conversation. How Size Matters: The Question of Scale in History, in: American Historical Review, 118/5 (2013), S. 1431-1472, hier S. 1452; De Vito, Christian G./Gerritsen, A.: Micro-Spatial Histories of Labour: Towards a New Global History, in: Dies. (Hg.): Micro-Spatial Histories of Global Labour, forthcoming, S. 1-28, bes. S. 8-9.

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Die Frage nach Mehrfachzugehörigkeiten in der Frühen Neuzeit stellt sich überraschenderweise für die Angehörigen einer der am besten organisierten Diaspora des 18. Jahrhunderts, der der Herrnhuter. Die Herrnhuter verstanden sich als Gottes auserwähltes Volk und die Zugehörigkeit zu dieser Glaubensgemeinschaft bedeutete, Gottes Wort als lebenslange Mission weltweit zu verbreiten. Dies war kein temporärer Auftrag, sondern eine fortlaufende religiöse Praxis. Innerhalb von zehn Jahren seit der Gründung von Herrnhut durch Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf im Jahr 1722 entstanden weltweit Missionsstützpunkte, zu denen Frauen und Männer der Herrnhuter Brüdergemeinen von den verschiedenen europäischen Standorten geschickt wurden.21 Bekannt durch ein straff geführtes Kommunikationsnetzwerk,22 klare theologische Vorgaben zur Lebensführung und die Vereinheitlichung liturgischer Praktiken weltweit,23 bedeutete die Herausforderung, sich in diesen Diasporanetzwerken zu bewähren und zugleich erfolgreich in den verschiedenen Missionsstandpunkten zu wirken, permanente Aushandlungsprozesse zwischen den alltäglichen Anpassungen an die Gegebenheiten vor Ort und der erforderlichen Konformität zugunsten einer eindeutigen Zugehörigkeit. Die Bedingungen dieser Zugehörigkeit wurden in den regelmäßig verschickten Gemeine Nachrichten und Diarien immer wieder neu in Erinnerung gerufen, begleitet von ermahnenden Briefen aus Herrnhut an die Weltgemeinen, in denen jegliche Form der Devianz öffentlich kritisiert wurde.24 Neben diesem Anspruch religiöser Eindeutigkeit bestanden die alltäglichen Herausforderungen für Herrnhuter Frauen und Männer im Kontext von Migration und Mission darin, sich an lokale Gegebenheiten anzupassen. Diese Anpassungsstrategien lassen sich nur ansatzweise in der offiziellen Herrnhuter Korrespondenz nachzeichnen, finden aber Ausdruck in tausenden überlieferten Briefen, die als Kapergut während der zahlreichen Seekriege im 18. Jahrhundert als Beweismaterial für die Frage der Neutralität der gekaperten Schiffe in den Admiralitätsgerichtshof

21 | Vgl. die Beiträge in Gillespie, Michele/Beachy, Robert (Hg.): Pious Pursuits: German Moravians in the Atlantic World, New York/Oxford 2007. 22 | Vgl. Wessel, Carola: Connecting Congregations: The Net of Communication among the Moravians in the late 18th Century, in: Craig D. Atwood/Peter Vogt (Hg.): The Distinctiveness of Moravian Culture in Honor of Vernon H. Nelson on His Seventieth Birthday (= Moravian Historical Society), Nazareth 2003, S. 153-172; Mettele, Gisela: Weltbürgertum oder Gottesreich: Die Herrnhuter Brüdergemeine als globale Gemeinschaft, 1727-1857, Göttingen 2009, S. 43-49. 23 | Vgl. Walker, Mack: Imperial Communities, in: M. Gillespie/R. Beachy: Pious Pursuits, S. 23-32. 24 | Vgl. Mettele, G.: Weltbürgertum, S. 124-190.

Wo wurdest Du geboren, und wo überall hast Du gelebt?

nach London gebracht und dort bis heute weitgehend unangetastet und unsortiert auf bewahrt werden.25 Die Grundlage der nachfolgenden Analyse bildet eine Auswahl von Briefen, die die Herrnhuterin Catharina Borck geb. Lorenzen 1795, drei Jahre nach ihrer Ankunft mit ihrem Ehemann Jörgen Sörensen Borck in der Missionsstation Paramaribo in Surinam verfasste, ergänzt durch Briefe ihres Mannes. Borck wurde am 29. Dezember 1761 in Flensburg als eine von mehr als sechs Kindern des Kaufmanns Lorenzen und seiner Ehefrau geboren.26 Nach mehrfachen Bitten und Besuchen in Christiansfeld durfte ihre Familie 1776 der Herrnhuter Brüdergemeine beitreten und zog nach Christiansfeld, wo Catharina in dem Mädchenhaus und später in dem Chorhaus für ledige Schwestern aufwuchs. Christiansfeld war erst 1773 durch ein Privileg des dänischen Königs Christian VII. und seines Geheimen Kabinettsminister Johann Friedrich Struensee gegründet worden, die nach dem Vorbild der niederländischen Niederlassung der Herrnhuter in Zeist Anhänger der Brüdergemeine gezielt nach Dänemark holten. 1792 wurde Catharina mit dem Herrnhuter Borck verheiratet und beide erhielten den Auftrag, ihren Dienst in der Herrnhuter Mission in Surinam aufzunehmen. Die Beiden kamen am 29. Dezember 1792 in Paramaribo an und lebten dort mit acht Herrnhuter Paaren, alle zu dem Zeitpunkt kinderlos, wie Catharina verwundert beobachtete: »Etwas merckwürdig ist es indeßen doch, das wir 8 paar Eheleute hir in Paramaribo keine Kinder haben«.27 Das Ehepaar Borck bekam relativ spät Kinder und brachte, wie es damals üblich war, zunächst ihre Tochter Erdmuth, geboren 1796, und dann ihre zweite Tochter Maria, geboren 1798, im Alter von acht Jahren von Surinam zur Erziehung zurück nach Europa in eine Herrnhuter Einrichtung nach Kleinwelke. Nach einem kurzen Aufenthalt in Herrnhut und in Christiansfeld kehrten beide wieder zu ihrer Missionstätigkeit nach Surinam zurück.28 Dort starb ihr Mann nach kurzer Krankheit im Jahr 1812, ein Jahr später erfuhr sie von dem Tod ihrer Tochter Maria und kehrte 1814 geschwächt nach Europa zu ihrer älteren Tochter Erdmuth zurück. Sie heiratete noch einmal und starb sieben Jahre später. 25 | Dieser Herrnhuter Bestand in den National Archives (TNA) London, High Court of Admirality (HCA) wird derzeit von Jessica Cronshagen erschlossen. Vgl. u.a. Cronshagen, Jessica: Herrnhuter Diaspora, Erinnerungskultur und Identitätsbildung »in Abwesenheit«. Briefnetzwerke zwischen Europa und Surinam, in: Dagmar Freist/Matthias Weber (Hg.): Religion und Erinnerung. Konfessionelle Mobilisierung und Konflikte im Europa der Frühen Neuzeit, München 2015, S. 201-212. 26 | Vgl. den »Lebensgang«, den Catharina Borck für das Archiv in Herrnhut aufgezeichnet hatte: Unitätsarchiv Herrnhut R. 22. 70. 67. 27 | Unitätsarchiv Herrnhut R. 22. 70. 67. 28 | Vgl. ebd.

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Das Ehepaar gehörte zu der zweiten Generation von Herrnhutern, die die Missionsstation in Paramaribo weiter ausbauten, nachdem sie 1735 im Auftrag der niederländischen Westindien Kompanie, zunächst erfolglos, gegründet worden war. Neben Paramaribo wurden nach und nach kleinere Missionsstationen im Hinterland entlang der Flüsse in Sommelsdyk, in Pilgerhut, in Saron und Ephren (Hoop) sowie in Neu-Bambey gegründet. Zu dem Zeitpunkt hatte Surinam bereits eine wechselvolle Geschichte unter verschiedenen Kolonialmächten hinter sich. Im 18. Jahrhundert bis zu seiner Unabhängigkeit 1973 stand Surinam unter der Herrschaft der Niederländer, unterbrochen von einer kurzen Phase britischer Herrschaft zwischen 1799 und 1815. Die Angehörigen der Kolonialverwaltung sowie zahlreiche Händler, Handwerker und Soldaten aus verschiedenen europäischen Ländern, darunter viele sefardische und aschkenasische Juden, siedelten entlang der Küste und des Flusses Surinam und verdrängten die dort ansässigen Arawak und Warao ins Hinterland. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts stieg der Bevölkerungsanteil der Europäer auf ca. 3.000 Personen an, davon über ein Drittel Juden sowie Calvinisten, Katholiken, Lutheraner und Herrnhuter.29 Zu den größten religionsübergreifenden Volksfesten der Region zählte das jüdische Purimfest.30 Zum Anbau von Kaffee, Kakao, Zucker und Baumwolle wurden zahlreiche Plantagen errichtet und über 100.000 Menschen aus dem heutigen Ghana, Angola, Benin und Togo nach Surinam zwangsverschifft. Dort arbeiteten sie als Sklaven – Ende des 18. Jahrhunderts ca. 50.000 Menschen – auf den etwa 452 Plantagen, und in zahlreichen kleineren Unternehmen, darunter auch der Herrnhuter. Geflüchtete Sklaven, sogenannte Maroons, zogen sich in das Hinterland zurück, lebten Seite an Seite mit der indigenen Bevölkerung, entwickelten dort eigene gesellschaftliche und politische Strukturen und lebten ihre eigene Kultur. Sie positionierten sich zugleich politisch und griffen immer wieder die kolonialen Herrschaftsstrukturen an.31 Zu den bekannteren Maroon-Gesellschaften in Surinam gehörten die Saamaka bzw. Saramaccaner, zu denen die Herrnhuter über die Missionsstation Neu-Bambey Kontakt hatten, und die Ndyuka.

29 | Vgl. Kellenbenz, Hermann: Deutsche Plantagenbesitzer und Kaufleute in Surinam vom Ende des 8. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Lateinamerika 3 (1966), S. 141–163, hier S. 154155. 30 | Vgl. Ben-Ur, Aviva: Purim in the Public Eye: Leisure, Violence, and Cultural Convergence in the Dutch Atlantic, in: Jewish Social Studies 20/1 (2013), S. 32-76. 31 | Vgl. Price, Richard (Hg.): Maroon Societies: Rebel Slave Communities in the Americas. Third edition, Baltimore 1996.

Wo wurdest Du geboren, und wo überall hast Du gelebt?

Den Briefen von Borck ist zu entnehmen, dass ihre Gemeine in Paramaribo auf nahezu 200 Mitglieder überwiegend afrikanischer Herkunft anwuchs, ihr Mann nach ihrer Ankunft 1795 das Bäckerhandwerk erlernte und einen kleinen Bäckerladen öffnete, in dem sie ebenfalls arbeitete, dass sie zur Unterstützung ihres Bäckereibetriebs mehrere Sklaven hatten, dass das Ehepaar regelmäßig zu Gast bei verschiedenen Plantagen Besitzern entlang der Flüsse war,32 und dass sie sich jedes Mal über die Ankunft von neuen Gemeine Mitgliedern aus Europa freuten, die zunächst einige Tage in der Missionsstation in Paramaribo weilten, bevor sie in das Hinterland weiter reisten. Borck hat regelmäßig mit Freunden und Angehörigen der Herrnhuter Gemeine korrespondiert und war bemüht, die ›Unterhaltung‹ nicht abreißen zu lassen. So verfasste sie auch innerhalb weniger Tage Anfang des Jahres 1795 und, wie sie schreibt, unter großem Zeitdruck und während sie in dem Bäckerladen arbeitete, mehrere Briefe an enge Vertraute und Angehörige ihrer Gemeine in Christiansfeld, um sie in einem Briefpaket mit dem nächsten Schiff zurück nach Europa senden zu können. Dieses Briefpaket wurde auf der Fahrt nach Europa während der Seekriege zwischen Großbritannien und dem Königreich Holland während der Napoleonischen Kriege 1795 in einer kriegsbedingten Kaperung zusammen mit anderem Beweismaterial über die nationale Zugehörigkeit von Schiff und Schiffsgut in das Prisengericht beziehungsweise den Admiralitätsgerichtshof nach London gebracht und bildet die Grundlage dieser Analyse.33 In diesen Briefen berichtete Borck kaum etwas über ihre alltägliche Arbeit als Missionarin oder über ihre religiösen Ansichten. Das mag daran liegen, dass diese Themen in der offiziellen Korrespondenz, den Gemeine Nachrichten und den Diarien abgehandelt wurden und Catharinas Briefe für den persönlichen Austausch gedacht waren. Das offizielle Diarium in Paramaribo wurde von Wied verfasst, und aufgrund von Arbeitsüberlastung um 1800 an Catharinas Mann übertragen.34 Auch Hinweise auf ihre eigene Haltung zur Sklaverei, mit der sie bei ihren zahlreichen Besuchen auf den Plantagen konfrontiert wurde, sucht man vergeblich. Im Mittelpunkt stehen ihre Erlebnisse, Beobachtungen, sinnlichen Eindrücke, die Anpassung an die lokalen Verhält-

32 | Um 1790 gab es 452 Plantagen für den Anbau von Kaffee, Zucker, Kakao und Baumwolle, darunter einige Plantagen im Besitz von Deutschen. Vgl. Kellenbenz, H.: Deutsche, S. 149. 33 | Die Briefe befanden sich zum Zeitpunkt der Analyse in den National Archives (TNA) High Court of Admirality (HCA) in dem Bestand HCA 30-374 und HCA 30-228 und stammen von Februar und März 1795. Der Bestand wird derzeit neu sortiert. Die Nummerierung ›374‹ und ›228‹ bezieht sich auf je eine Box, in der die Briefe unsortiert und ohne eigene Signatur mit weiterem Schriftgut aufbewahrt werden. 34 | Vgl. Unitätsarchiv Herrnhut, Signatur: R. 15. L. b. 33. D. Paramaribo (1801).

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nisse, die Bereitschaft, sich in dieser für sie völlig fremden Umgebung zurecht zu finden und vor allem der Wunsch, den Kontakt nach Hause wachzuhalten.35 So schilderte Borck, dass sie regelmäßig die Gemeine Nachrichten und die Diarien der Herrnhuter las, sich an die vorgeschriebenen Gebetszeiten und die liturgischen Praktiken hielt, dass dies jedoch äußerst schwierig gewesen sei, denn hie im land wird übrigens wenig oder gar nicht dar angedacht, in welge zeiten wir leben, darher Gründunner Tag u Charfreidag gar nicht gefeuert wird, darum auch die arme Neger nur Abends kommen können um die leidens Geschichte zu hören, die Dunners Tags geschichte mus mitwogs gelesen werden weil dunnersdags das Abendmahl haben das Sabats liebes Mahl haben wir auch nogt abends. 36

Die Herrnhuter in Paramaribo hielten mithilfe dieser privaten Korrespondenzen, die sie ergänzend zu den offiziellen Briefen der Gemeine schrieben, familiäre und freundschaftliche Beziehungen im weltweiten Kommunikationsnetz aufrecht. Zugleich lebten sie im Hier und Jetzt in Paramaribo und mussten sich in den transkulturellen und transreligiösen Bezügen verorten, eine Herausforderung, die in den Briefen immer wieder thematisiert wird: »es sind in dieser Stadt allein viele Tausend Neger«.37 Borck und ihre Glaubensangehörigen beschrieben regelmäßig die religiöse und gesellschaftliche Vielfalt und Festkultur in Paramaribo. Borck tauchte in die Straßen dieser bunten Stadt ein, die sie visuell und sinnlich aufzunehmen schien, als sie das Purim Fest (»Yammans Fest«) beschrieb: In der Stadt haben wir ein recht lermider 38 Tag, da nemlich die Juden heute das Yammans Fest feiern 39; da her ihre Kinder sich verkleiden u Masken vor das Gesicht Thun, u so in 35 | Für einen Überblick über ihren Lebensweg und ihre Selbstwahrnehmung vgl. ebd., R. 22. 70. 67 36 | The National Archives (TNA) High Court of Admirality (HCA) 30-374, 17. März 1795 Brief von Catharina Borck, Paramaribo, an ihre Eltern in Christiansfeld. Der Brief wird hier in der originalen Schreibweise zitiert. 37 | TNA HCA 30-374 Catharina Borck, Paramaribo, an Ana Johan. Winklein, Chistiansfeld, 6. März 1795. 38 | Lärmender Tag. 39 | Termin und Bräuche deuten auf das Purimfest hin, das zum Gedenken der Errettung der Juden in der Diaspora in Persien gefeiert wird. Der Name »Yamman« könnte für »Haman« stehen, der im Buch Esther im Alten Testament als höchster Regierungsbeamter des persischen Königs beschrieben wird und der die Vernichtung der Juden angeordnet hatte. Die Juden werden gerettet und Haman wird getötet. Ich danke Mark Gamsa für diesen Hinweis.

Wo wurdest Du geboren, und wo überall hast Du gelebt? begleidung viele schwartzen die Theils ihre bedinten u Theils nur zuschauer sein, u in fürchterlig aus sehn u geschrei welges ein singen vorstehlen sol die Gassen auf u ab, das sol den das Freuden bezeugen sein das der Yamman eingebracht.40

Surinam war auch wirtschaftlich ein Anziehungspunkt, von dem neben dem Atlantikhandel zahlreiche innerkaribische Handelsrouten ausgingen, »where actors from a range of European and colonial backgrounds came to organize their business«.41 Auch die Herrnhuter Mission etablierte in Paramaribo eine Schneiderei und eine Bäckerei, die das Ehepaar Borck innehatte.42 Jörgen Sörensen schilderte in einem seiner ersten Briefe nach ihrer Ankunft in Paramaribo, wie schwierig es gewesen sei, die Backkunst zu erlernen und die Bäckerei erfolgreich zu führen, er hoffe aber auf höhere Erträge in naher Zukunft, derzeit seien »viele Blanke auf Plantagen«.43 Auch das »warme Klima« mache ihnen zu schaffen.44 Später berichtete er von der Konkurrenz durch zwei weitere Bäckereien, die eröffnet worden seien, er hatte aber Glück gehabt und besseres Mehl als seine Konkurenten kaufen können.45 Catharina schrieb noch drei Jahre später, dass der Ortswechsel durchaus beschwerlich gewesen sei, » weil man doch hir viel ein büsen muß, was man in der Gemeine genisen kann«.46 Obwohl Jörgen Sörensen über sprachliche Grundkenntnisse zu verfügen schien, fiel ihm die Verständigung mit seinem »Beckerneger« schwer. Er schrieb: wenn ich auch gleich alles versteht so halt es sehr schwer zu sammen bringen, weil so wenige worte Sind, u[nd] ein wor[t] mus also in so viele Meinungen gebraucht werden,

40 | TNA HCA 30-374 Brief von Catharina Borck, Paramaribo, an einen Glaubensbruder, Peter, in Christiansfeld, 28.2.1795. 41 | Fatah-Black, Karwan: Paramaribo as Dutch and Atlantic Nodal point, 1640-1795, in: Gert Oostindie/Jessica V. Roitmann: Dutch Atlantic Connections, 1680-1800: Linking Empires, Bridging Borders, Leiden/Boston 2004, S. 52-71, hier S. 55-64. 42 | Vgl. Unitätsarchiv Herrnhut, Signatur: R. 15. L. b. 33. D. Brief von Jörgen Sörensen Borck, Paramaribo, an die Herrnhut Gemeine in Berthels, wenige Monate nach der Ankunft in der Mission am 8. Februar 1793. 43 | Ebd. »Blanke« bedeutet hier »Weiße«. Auch die Herrnhuter sind häufig zu Gast bei den verschiedenen Plantagenbesitzer der Gegend und berichten in ihren Briefen darüber. 44 | Ebd. 45 | Vgl. Unitätsarchiv Herrnhut, Signatur: R. 15. L. b. 33. D. Paramaribo (1801). 46 | TNA HCA 30-228 Catharina Borck, Paramaribo, an Baronese A.B. Görtz, Chris­ tiansfeld, (Datum unleserlich) 1795.

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Dagmar Freist u[nd] bloß durch die aus Schprach zu unter scheiden ist, ofte gebe ich den muht auf u[nd] ich dencke ich werdens wohl nie Lernen.47

Auch Catharina berichtete in ihren Briefen über Spracherfahrungen. Ihrer Freundin Else Marie Möllern schilderte sie drei Jahre nach ihrer Ankunft in Paramaribo: du Glaubst das ich die Sprachen nun ganz mächtig bin u: auch sehr gern helfe auch ersten dienst zur anteword, das ich sie wol kann, aber doch nicht ganz ohne helfer es geht aber immer beser. es thut mir vile daran sie ganz zu lehrnen, verstehe kann ich alles u: die Neger verstehen mich auch, u: wenn ich sie frag so sagen sie immer du retest ganz recht, ich höre aber selbst das ich noch manchmal fehler mache.48

Weniger Schwierigkeiten schien die Verständigung mit Angehörigen anderer europäischer Länder bereitet zu haben, »wen wir anfangen teutsch Dänisch hollands Neger English zu reden u[nd] Br[uder] Arnolt mit sein Franscösish« dazu kam.49 Zu den Kunden der Schneiderei, die die Herrnhuter in Paramaribo unterhielten, gehörten nicht nur die Mitglieder der Mission, sondern Stoffe aus Europa stießen bei allen Bevölkerungsgruppen auf Interesse.50 So bestellte ein Mitglied der Gemeine blaue Schals aus Neutiedendorf in Sachsen Gotha Altenburg für »unsere Negerfrauen«.51 Sie hätten die kürzlich aus Europa gesandten blauen Schals gesehen und darum gebeten, auch solche zu bekommen. Wie lassen sich diese hier nur angedeuteten Prozesse beschreiben, in denen Menschen in Migrationskontexten sich – häufig improvisierend und tastend – eine fremde Welt aneigneten, sich selbst darin verorteten, neue Formen der Zugehörigkeit auf bauen und fremde Sprachen erlernen mussten und zugleich eng verbunden blieben mit alten Freundschaften, Gewohnheiten und vertrau47 | Unitätsarchiv Herrnhut, Signatur: R. 15. L. b. 33. D. 48 | TNA HCA 30-228 Catharina Borck, Paramaribo, an Else Marie Möllern, Christiansfeld, 9. März 1795. 49 | Unitätsarchiv Herrnhut, Signatur: R. 15. L. b. 33. D. Paramaribo (1801). 50 | Vgl. zu Praktiken des Konsumierens europäischer Güter in den karibischen Kolonialarrangements das Postdoc Forschungsprojekt von Annika Raapke im DFG 1608/2 GK Selbstbildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive mit dem Titel Konsumpraktiken und Begehren am Cap Français im 18. Jahrhundert. 51 | Freist, Dagmar: Dress and Belief, in: Peter McNeil (Hg.): A Cultural History of Dress and Fashion in the Age of Enlightenment (= A Cultural History of Dress and Fashion, 6 vols. ed. by Susan Vincent), London 2017, S. 87-104, hier S. 99.

Wo wurdest Du geboren, und wo überall hast Du gelebt?

ten Praktiken? In dieser Frage geht es nicht um den Grad der Hybridisierung von Gesellschaften und dessen kulturelle, religiöse und soziale Implikationen, sondern um die Frage, wie sich unter Bezugnahme auf sehr unterschiedliche räumliche und zeitliche Dimensionen von Zugehörigkeiten Mehrfachzugehörigkeiten ausbildeten und die Selbstverortung von Personen in diesen Raum-Zeit-Dimensionen prägten. Dass es ein Bewusstsein über diese RaumZeit-Dimensionen gab, und dass diese Auswirkungen auf soziale Beziehungen und Zugehörigkeiten hatten, spricht aus einem der Briefe von Borck besonders deutlich: du fragst mich ob mirs nicht manchmahl besunders vorkomt das ich hir in Surinam bin u ihr so weit von mir entfernt seid u das dirs noch oft wie ein Räthsel vor komt, darin hast du recht das mirs wenn ich in so eine enthfernung an euch dencke u das meiste ft artig vor komt das ich vieleicht in mein leben euch nicht mehr zu spregen krige, aber wie ein Rähtsel komt mirs nicht vor, weil ichs auf die Seh empfunden habe das ich so weit weg bin. 52

III. K ulturelle M ehrfachzugehörigkeiten und S elbst verortungen im M edium B rief Briefe, die in Postsäcken um die Welt gingen, Distanzen überbrückten, von der Welt berichteten und manchmal so etwas wie eine virtuelle Ko-Präsenz schufen, waren für die Herausbildung kultureller Mehrfachzugehörigkeiten über Räume und Zeiten hinweg das zentrale Medium.53 Die Alltagserfahrungen von Menschen in Migrationskontexten, die in diesen Briefen Ausdruck fanden, waren geprägt von Selbstbeobachtungen und Selbsterprobungen, die sich sowohl auf die soziale Verortung innerhalb dieser als kontingent erfahrenen und durch Nichtpassungen sozialer Praktiken gekennzeichneten Räume bezogen, wie auch auf die Frage, ob soziale Netzwerke, Freundschaften und Familien vor Ort und in den Herkunftsländern Bestand haben werden. Zugleich, und das interessiert insbesondere mit Blick auf die überlieferten Korrespondenzen, mit denen Menschen über weite Entfernungen alte Beziehungen beglaubigten 52 | TNA HCA 30-374, Brief von Catharina Borck, Paramaribo, an ihre Freundin Johannel in Christiansfeld, 28. Februar 1795. 53 | Ein Beleg für die Versendung von Briefen weltweit in der Frühen Neuzeit ist die Überlieferung von allein 100.000 Privatbriefen im Bestand des High Court of Admirality in den National Archives, London. Der gesamte Bestand wird seit dem 1. Januar 2018 in dem Projekt Prize Papers in Trägerschaft der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen an der Carl von Ossietzky Universität zusammen mit The National Archives digitalisiert und erschlossen.

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und neue begründeten, zugleich mussten die Akteure verstehbar bleiben für die Menschen zu Hause, die nicht über ein Praxiswissen um die Mikrologiken hybrider Gesellschaften im Kolonialgefüge der Frühen Neuzeit verfügten. So wurden Passagen, mit denen Berichte über neue Erlebnisse angekündigt werden ergänzt mit Formulierungen wie »ich weis freilich nichts was dir sehr Intrizant sein könnte«.54 Diese Einschränkungen deuten auf eine Unsicherheit hin, zwischen den verschiedenen Lebenswelten und Alltagserfahrungen überhaupt vermitteln zu können. Dennoch hatten die Briefe eine Art praxeologische Übersetzungsfunktion. So beschrieb Borck in ihren Briefen detailliert, was sie Neues erlebt hat und ›übersetzte‹ das Gesehene, indem sie Vergleiche mit vertrauten Bildern aus ihrer Heimat heranzog. Besonders deutlich wird dies in einem ihrer Berichte über einen Plantagenbesuch, den sie mit den Worten beendete »Das war so etwas von mein neues was ich auf Plantaschen gesehen«.55 Anlässlich ihres Besuches hatte der Verwalter der Plantage Skirinhack, »Herr Meier«, der sich offenbar den ganzen Tag sehr um die Besucher bemüht hatte und ihre Weiterreise absichtlich verzögerte, etwas ›Besonderes‹ für seine Gäste als Abendveranstaltung ausgedacht: »das die Neger Coffe Stampen sollten den das hate noch niemand von uns gesehen.«56 Borck beschrieb in ihrem Brief an einen ihrer Glaubensbrüder in Christiansfeld detailliert, was sie beobachtet hatte und streute immer wieder Vergleiche mit Vertrautem ein. Zunächst wurden in einer großen Halle, die wie eine Scheune aussah, nur viel schöner, einige Lampen angezündet. Als es Nacht wurde, kamen »Neger an marschiert«, die die Kaffeebohnen zerstampfen sollten. Sie trugen Gegenstände auf ihren Schultern, die sie mit Keulen verglich, und die an einem Ende sehr dick waren, und stellten sich auf beiden Seiten eines langen Troges, der Löcher im Boden hatte, auf. Dort begannen sie in gleichmäßigem Rhythmus, die Kaffeebohnen, die in die Löcher geschüttet wurden, zu zerstampfen. Catharina erläuterte für ihren Bruder in Christiansfeld: »das sah nun beina aus als wen Suldaten sich exsiziten, nur das sie alle Schwartz waren – es waren wol bey nah 100.«57 Andere brachten die zerstampften Bohnen in die Mühle, um die Schale zu entfernen, auf der gegenüber liegenden Seite warteten Frauen, die den Kaffee in große Körbe füllten und hin und her schüttelten. Was noch Schale hatte, wurde zurückgebracht, um weiter zerstampft zu werden. Alles schien eine große ineinander greifende rhythmische Bewegung zu sein. 54 | TNA HCA 30-228, Brief von Catharina Borck, Paramaribo, an ihre Freundin Gretel in Christiansfeld, 4. Februar 1795. 55 | TNA HCA 30-374, Brief von Catharina Borck, Paramaribo, an einen Glaubensbruder, Peter, in Christiansfeld, 28. Februar 1795. 56 | Ebd. 57 | Ebd.

Wo wurdest Du geboren, und wo überall hast Du gelebt?

Was für Borck eines von vielen neuen Erlebnissen auf den Plantagen war und was sie ohne Wertung für ihre Glaubensgenossen in Europa als etwas, was sie neu erlebt hatte, aufschrieb und erläuterte, ist aus heutiger Sicht eine ›folkloristische Aufführung‹ auf Sklaverei basierter Arbeitsprozesse und damit eine völlige Verharmlosung der Sklaverei auf den Plantagen, die sie offenbar so nicht empfand. Bezeichnend war die Normalität der Sklaverei im Alltag, die aus den Briefen spricht, und zumindest in ihrer Wahrnehmung keinerlei Kritik provozierte. Die Herrnhuter hatten sich offiziell in verschiedenen Schriften gegen Sklaverei geäußert, dennoch beschäftigten sie in ihren Missionsstationen und Handwerksbetrieben Sklaven und unterhielten freundschaftliche Kontakte zu Plantagenbesitzern, eine Beobachtung, die auch auf Borck und ihren Ehemann zutraf.58 Während Catharina sich bei ihrem Plantagenbesuch als Beobachterin einer Aufführung entwarf, spricht aus anderen Briefen bei aller Fremdheit, die sie weiter beschrieb und kommentierte, eine gewisse Normalität im Umgang mit Schwarzen im Alltag. Dennoch waren die Hierarchien zwischen den Herrnhutern und der schwarzen Bevölkerung aus Sicht der Herrnhuter eindeutig. Jörgen Sörensen beschrieb seine Umgangsweisen mit Schwarzen wie folgt: Mit meinen Neger in die Beckerei geht es auch gut, der Letze ist der Beste er heist Mingo sie mich, wen es etwas Langsam geht oder sie werden schläfrig, so fange ich an als wen ich solte alles zerreizen ohne ein wort zu sagen, so werden die so aufmercksam u[nd] springen herum u[nd] nehmen mir gern alles aus der Hand, sind mir alle 3 gehorsam u[nd] ich hoffe die Schwipe solte doch noch ein weile ruhe haben vor. 59

58 | Vgl. zu den daraus entstehenden Spannungen und Konflikten die neu herausgegebenen Erinnerungen des Herrnhuter Christian Georg Andreas Oldendorp, der sich von 1739-1769 in einer Herrnhuter Missionsstation in Dänisch-Westindien aufhielt und die Zustände für Sklaven auf den Plantagen dort beschrieb. Oldendorp, Christian Georg Andreas: Historie der caribischen Inseln Sanct Thomas, Sanct Crux und Sanct Jan, insbesondere der dasigen Neger und der Mission der evangelischen Brüder unter denselben. 1777, Kommentarband, hg. und ed. v. Gudrun Meier/Stephan Palmié/Stefan Stein, Dresden 2010. Für eine erste Interpretation dieser Neuausgabe vgl. Marquardt, Frank: Die Furcht vor der »Classe der Gefallenen« – Christian Georg Andreas Oldendorps Reflexion der Praktiken der Disziplinierung und Pädagogisierung in der Herrnhuter-Mission auf den Sklavenplantagen Dänisch-Westindiens 1739-1769. Unveröffentlichte Masterarbeit, Oldenburg 2015. Vgl. auch Sensbach, Jon: Slavery, Race, and the Global fellowship: Religious Radicals confront the Modern Age, in: M. Gillespie/R. Beachy: Pious Pursuits, S. 223-236. 59 | Unitätsarchiv Herrnhut, Signatur: R. 15. L. b. 33. D. Paramaribo (1801).

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In ihren Briefen verwendete Catharina sowohl die Bezeichnung ›Schwarze‹ und ›Blanke‹ für ›Weiße‹, als auch ›Neger‹. Der Begriff ›Sklaven‹ fiel nicht, dafür verwies sie auf »Schwarze« als »Bediente« jüdischer Familien,60 und bezeichnete die Mitglieder ihrer Gemeine abwechselnd, teilweise im gleichen Brief als ›Neger‹ oder ›Schwarze‹. Etwa, wenn sie einen Leichenzug der Herrnhuter Gemeine beschrieb und kommentierte: »Es sied sehr schön aus wen so eine ganze Schar ganz Schwartze, unter Leichengesang Paarweis hinter den Sarg gehen.«61 Waren diese Briefe in ihrer Materialität die Voraussetzung, um Beziehungen über weite Distanzen zu pflegen, so war das Verfassen und Versenden dieser Briefe eine soziale Praktik der Vergewisserung und Beglaubigung multipler Zugehörigkeiten über weite Entfernungen, sowohl für die Briefschreiberinnen und Briefschreiber selbst, als auch für die Rezipienten. Diese Selbstvergewisserungen bezogen sich zum einen darauf, einen Platz in der fremden Welt zu finden, zu verstehen und selbst verstanden zu werden, zum anderen aber, die Beziehungen zu der eigenen Familie aufrecht und lebendig zu halten. Äußerungen wie diese finden sich regelmäßig in Herrnhuter Privatbriefen: »Herzlichsten Dank u zu gleich den aller zärtlichsten Gruß u Kuß, du kanst dir kaum vorstellen was ich vor ein Fest habe, wenn ich brif von euch krige«.62 Im Schreibprozess projektierten die Verfasser ihr eigenes Selbst als Teil eines Netzwerkes von Familie, Freunden oder Geschäftspartnern, sie gedachten Geburtstagen, kommentierten Familiennachrichten, teilten Sorgen und Freuden und trugen zu lokalen Nachrichten und Klatsch bei, als seien sie selbst zuhause. Nicht wenige Briefe wurden als ›Unterhaltung‹ bezeichnet. Den Brief an ihre Eltern eröffnete Borck mit den Worten: »Mit vielen Freuden ergreif ich nun wieder einmahl die Feder um mich mit meinen lieben Eltern durch dieser paar Zeilen ein wenig zu unterhalten«,63 oder »Mit vielen Freuten ergreif ich

60 | TNA HCA 30-374 Brief von Catharina Borck, Paramaribo, an einen Glaubensbruder, Peter, in Christiansfeld, 28. Februar 1795. Vgl. zu den Bedeutungszusammenhängen von Hautfarbe im kolonialen Zusammenhang Louis, Abel A.: Les Libres de couleur en Martinique, Tome 1, Des origines à la veille de la Révolution Française 1635-1788, Paris 2012, p. 16-22. 61 | TNA HCA 30-228 Brief von Catharina Borck, Paramaribo, an Gretel, Christiansfeld, 4. März 1795. 62 | TNA HCA 30-374 Brief von Catharina Borck, Paramaribo, an einen Glaubensbruder, Peter, in Christiansfeld, 28. Februar 1795. 63 | TNA HCA 30-374 Brief von Catharina Borck, Paramaribo, an ihre Elten, 1. März 1795 (adressiert an Anne Johane Winklein in Christiansfeld).

Wo wurdest Du geboren, und wo überall hast Du gelebt?

nun wider-um die Feder, um ein wenig auf diesen Unwegen zu unterhalten.«64 Ihre Freundin Johannel fragte Borck nach gemeinsamen Bekannten, als sei sie gerade zum Tee vorbei gekommen: wie geht es den die Allele geht sie den mit zum Abenmahl, das du deine C:G: Schaggern verloren hast wunder mich nicht das dir das sehr weh thut, das die Grete aber am Bruter Schiffer verheiratet ist wahr mir sehr mürck würdig. nun meine beste du wirst doch nicht vergesen u dein verspregen halten mir zu melden wies mit die Stuben veränderung gegangen ist.65

Ähnlich nahm sie in einem Brief an ihre Freundin Anne Marie Richter ihre vertraute Rolle als Vermittlerin ein, knüpfte damit an aktuelle wie auch zurück liegende Konflikte an und fragte: »besinst du dich nicht manchmahl auf die Zeit wie wir noch besammen Wohnten, das es manchmahl was gab, wo ich in der mite wart u ich nicht wuste mit wem ichs halten sollte?«66 Doch der Zeitfaktor Brief und das Hin- und Herschicken von Dingen markierten räumliche Entfernungen, neue Selbstverortungen und lediglich die Illusion der Nähe. Borck thematisierte den Faktor Zeit und Raum in ihren Briefen häufig, wenn sie beispielsweise deutlich machte, dass bestimmte Ereignisse während des Schreibprozesses noch in der Zukunft lagen, bei Eintreffen ihres Briefes aber bereits Vergangenheit sein würden, etwa die Geburt des ersten Kindes einer Freundin: Für dein liebes Schreiben welches ich d 29 Octo richtig erhalten, dancke ich dir recht sehr Hertzlich, ich habe mit vielen vergnügen dar aus er sehn das du recht vergnücht mit Dein li: Man lebst, u du auch was kleines zu erwarten hast, u wen alles glücklich gegangen ist rechne ich dem Hl: zutraun das er dich glücklich durch geholfen du nun schon manches vergnügen da von haben kanst, ich Graduliere dir dem noch sehr Hertzlich dazu.67

Dennoch schien Borck in ihrer eigenen Selbstverortung in beiden Welten zugleich zu leben und versuchte in ihren Briefen, beide Welten und die damit ver64 | TNA HCA 30-228 Brief von Catharina Borck, Paramaribo, an die Baronese A.B. Görtz, Christiansfeld (Datum nicht leserlich, 1795). 65 | TNA HCA 30-374 Brief von Catharina Borck, Paramaribo, an ihre Freundin Johannel, in Chistiansfeld, 28. Februar 1795. 66 | TNA HCA 30-228 Brief von Catharina Borck, Paramaribo, an Anne Marie Richterin, Christiansfeld, 3. März 1795. 67 | TNA HCA 30-228 Brief von Catharina Borck, Paramaribo, an Marie Jensen, Christiansfeld, 4. März 1795.

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bundenen Zugehörigkeiten für sich wie auch für die Adressaten zu vereinen. Sie entwarf ihr Selbst in Relation zu anderen Menschen, indem sie eine erinnerte Vergangenheit, eine gelebte Gegenwart und eine antizipierte Zukunft miteinander verknüpfte. Immer wieder verband sie ihre Erlebnisse und Beobachtungen in Surinam mit ihren erinnerten Erlebnissen in Christiansfeld. Im Prozess des Schreibens verortete sie sich in den komplexen Raum-Zeit-Strukturen ihres Lebens in und zwischen Surinam und Christiansfeld. Nicht selten nahm sie ihre Korrespondenten mit in die Ereignis- und Klangwelten ihres Hier und Jetzt in Surinam, etwa, wenn sie ihren Schreibprozess in den Briefen kommentierte – »den ich mus schreiben weil ich noch viel zu schreiben ha, u so komd auch noch das da zu, das ich alles Auckenblick mus aufnehmen«68 – und erläuterte, was gerade im Moment des Schreibens um sie herum passierte. In einem Brief informierte sie ihre Glaubensschwester Gretel in Chistiansfeld, es »Sterben Täglich viel leute besonders Neger« und nahm dies zum Anlass, die Totenrituale der Schwarzen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zu beschreiben. Bei Todesfällen stimmte die Familie laute Klagelieder an, unterstützt von den Verwandten, und die Klagen schwollen besonders an, wenn die Leiche fortgetragen wurde. Mitten im Satz fügte sie ein, »eben da ich diesen Brief schrieb, wird dieser gesang fortgesetzt von einer Frau die ihren Man beklagt«,69 und zog so ihre Leserin im Schreibprozess in ihre eigene Lebens- und Klangwelt gewissermaßen in Echtzeit mit ein: diese Klage bestet eigendlich darin das sie erzälen wie es ihnen von Jugend auf gegangen ist, u was der Tote ihnen Gutes gethan hat, u was er ihnen erzält hat, u wen sie das alles überlegen so komt ihnen der Schmertz darüber so heftig an, das sie immer noch lauter schrein, ich habe groses mitleiten mit diesen Armen leuten, den sie kargen doch so ab, das sie mangmahl ganz schwag davon werden.70

Zugleich vermittelte sie, wie fremd dieser Gesang für ihre Ohren war: Catharina bezeichnete mehrfach das Singen von Schwarzen als Geschrei, etwa wenn sie schrieb: »u geschrei welges ein singen vorstehlen sol.« 71 Im weiteren Verlauf ihres Briefes kontrastierte Catharina diese Totenrituale in ihrer Nachbarschaft mit den Begräbnisritualen der Herrnhuter Gemeine in Paramaribo und betonte, wie leise, geordnet und feierlich ein solches Begräbnis ablief. Bei 68 | Ebd. Catharina Borck entschuldigte sich hier für die vielen Fehler im Brief und erläuterte, dass sie, während sie im Laden die Bestellungen aufnehmen musste, versuchte, zu schreiben. 69 | Ebd. 70 | Ebd. 71 | TNA HCA 30-374 Brief von Catharina Borck, Paramaribo, an einen Glaubensbruder, Peter, in Christiansfeld, 28. Februar 1795.

Wo wurdest Du geboren, und wo überall hast Du gelebt?

aller Empathie für die lauten Klagelieder in ihrer Nachbarschaft ließ sie keinen Zweifel daran aufkommen, wo sie sich selbst verortete: da geht aber alles Stile zu wen die leiche unsre geschwester nicht all zu endfernd Wohnen so wird dieselbe erst in unser Haus gebracht u dan wird eine kleine rede in die kirge gehalten da dan die leichen derweilen Hausen vorstet vorher wird noch ein vers drausen in Hof gesungen u als dan Tragen sie ihre leiche ganz Stile hinaus.72

Jörgen Sörensen malte ebenfalls Klangbilder für die Glaubensanhänger in Europa, in einem Fall bezogen auf Klänge aus der Natur, und ertappte sich selbst dabei, die fremden Klänge nicht einordnen zu können. Was er als »außerordentlich schönen Vogelsang« bewunderte, wurde als der Gesang großer Frösche von ortskundigen Glaubensbrüdern entlarvt, und er stellte verwundert fest »wie Betrogen auf einmal war ich.« 73 Catharina versuchte ihre Glaubensanhänger nicht nur klanglich in ihre neue Welt mit einzubeziehen, sondern auch sinnlich, indem sie Früchte aus Surinam nach Christiansfeld schickte und in einem ihrer Briefe besorgt fragte: »wie sah es den mit die beeren aus, habt ihrs vieleicht nicht komen sehn was es war, waren sie etwa noch zu gebrauchen so schreibe mir doch einmahl wie sie geschmeckt haben.« 74 Borck, das lässt sich aus ihren Briefen ablesen, verortete ihr Selbst in einer erinnerten und wach gehaltenen Vergangenheit jenseits des Atlantiks, einer gelebten Gegenwart in Surinam und zugleich virtuell in Christiansfeld, und in einer antizipierten Zukunft sowohl in Surinam als auch in ihrer alten Heimat. In den Praktiken des Schreibens versuchte sie, ihre raum-zeitlich und kulturell getrennten Zugehörigkeiten miteinander zu verknüpfen und ihren eigenen Ort in dieser komplexen Welt immer wieder neu zu finden. Allerdings erwecken ihre Briefe den Eindruck, dass sie emotional so sehr an ihre Herkunft gebunden blieb, dass sie zwar praktisch ein ›ethnographisches‹ oder ›transkulturelles‹ Selbst auszubilden vermochte, also über ein Knowing How verfügte, wie sie sich in der ihr erst langsam vertraut werdenden Welt zu bewegen hatte, aber keine affektive Bindung an diese unbekannte Welt, ihre Praktiken, Gebräuche und Sinneswelten entwickelte.

72 | TNA HCA 30-228, Brief von Catharina Borck, Paramaribo, an ihre Freundin Gretel in Christiansfeld, 4. Februar 1795. 73 | Unitätsarchiv Herrnhut, Signatur: R. 15. L. b. 33. D. Paramaribo Februar 1793. 74 | TNA HCA 30-228 Catharina Borck, Paramaribo, an Johannel, Christiansfeld, 28. Februar 1795.

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»Zwischen seinen Nationen zerrieben« Nationale Doppelzugehörigkeit als Dilemma des Komponisten Anton Rubinstein Stefan Weiss

I. In einer Kultur, die der Nationalität hohe Bedeutung beimisst, kann nationale Doppel- oder gar Mehrfachzugehörigkeit zu einer Belastung mit unabsehbaren Folgen werden. Ein Mensch, der sich aufgrund seiner Herkunft zwei miteinander rivalisierenden Nationen A und B zugehörig fühlt, hat potentiell noch ein größeres Problem als ein anderer, der eindeutig nur der Nation B angehört, aber als Fremder in einer von A dominierten Kultur lebt. Gehören aus der Perspektive von A beide zur ›falschen‹ Nation B, so wird der Mehrfachzugehörige zusätzlich mit dem Problem konfrontiert, dass Akteure der Kultur A seine Zugehörigkeit zu ihr als nicht exklusiv oder nicht verlässlich beargwöhnen könnten. Und genau so – mutatis mutandis – wird es ihm gehen, wenn er die Grenzen überschreitet und sich in der Kultur von B verorten will, während sein Gegenüber mit eindeutiger B-Zugehörigkeit dort problemlos akzeptiert würde. Damit ist selbstverständlich nur ein Idealtypus umrissen, der die wesentlich komplexeren Realitäten schematisch vereinfacht, doch kommt der Fall des Komponisten Anton Rubinstein1 (1829-1894) diesem Idealtypus schon recht nahe. Welchen Stellenwert Rubinstein für die problematischen Musikbegegnungen der Nationen Deutschland und Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte, kann ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte der russischen Oper verdeutlichen. Fragt man nach den Inszenierungen von Werken russi1 | Der leichteren Lesbarkeit zuliebe verwendet dieser Aufsatz für die Umschrift russischer Eigennamen die Duden-Transkription (Rubinstein, Tschaikowski usw.); im Interesse der Eindeutigkeit folgt dagegen die Umschrift bibliografischer Angaben in den Fußnoten der ISO-Transliteration (Rubinštejn usw.).

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scher Komponisten an deutschen Bühnen bis zum Ersten Weltkrieg, so stößt man in den Quellen viel eher auf Rubinsteins Œuvre als auf dasjenige Repertoire, das heute kanonisiert ist. Bis 1918 hatte man an deutschen Bühnen die heute als Klassiker bezeichneten russischen Opern des 19. Jahrhunderts noch kaum kennengelernt.2 Von Michail Glinkas beiden Opern war nur Ein Leben für den Zaren bekannt, das zwischen 1873 und 1908 sieben Inszenierungen erfahren hatte. Von Alexander Dargomyschski war nur Rusalka ein einziges Mal 1908 – im Rahmen des Gastspiels eines russischen Ensembles in Berlin – zu hören gewesen. Modest Mussorgskis Boris Godunow hatte eine einzige Inszenierung erlebt (1913 in Breslau), und ähnlich stand es um das Œuvre Nikolai Rimski-Korsakows (nur Mainacht in Frankfurt a.M., 1900). Alexander Borodins Fürst Igor harrte am Ende des Ersten Weltkrieges sogar noch der ersten deutschen Inszenierung, die erst 1925 in Mannheim herauskommen sollte. Unter den heute als ›russische Klassiker‹ gehandelten Komponisten konnte sich nur Peter Tschaikowski ab der Jahrhundertwende mit den auch heute noch kanonisierten Opern Eugen Onegin und Pique Dame sowie der – damals wie heute – wesentlich seltener gespielten Jolanthe durchsetzen. Bis dahin aber war es Rubinstein, der die deutschen Vorstellungen über die russische Oper dominiert hatte, als der bei Weitem meistgespielte russische Komponist auf deutschsprachigen Opernbühnen, nicht nur hinsichtlich der Anzahl der Inszenierungen, sondern auch hinsichtlich der Anzahl der Werke, von denen nicht weniger als zehn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgeführt wurden (siehe Tabelle).3 Wiewohl Rubinsteins Name in der Musikgeschichte geläufig ist, wird er heute selten genannt, wenn es um die russische Kompositionsgeschichte seiner Zeit geht. In modernen Überblicksdarstellungen über russische Musik des 19. Jahrhunderts figuriert er vornehmlich als der Begründer des ersten russischen Konservatoriums, also als Persönlichkeit mit Verdiensten um den institutionellen Auf bau des russischen Musiklebens, nicht als Komponist. Vor diesem Hintergrund muss der in der Tabelle festgehaltene Befund erstaunen, zumal von den zehn einstmals in Deutschland verbreiteten Rubinstein-Opern allenfalls eine einzige heute noch eine gewisse Bekanntheit hat, nämlich Der Dämon.4 Gespielt wird auch der Dämon an deutschen Bühnen nur noch sehr vereinzelt; aber warum kennt man dieses Werk nach dem gleichnamigen Poem 2 | Für das Folgende vgl. Weiss, Stefan: Zur Frühgeschichte der russischen Oper an deutschsprachigen Bühnen bis 1918, in: Musiktheorie 30. Jg. (2015), S. 209-221. 3 | Zieht man außerdem seine ›geistlichen Opern‹ Moses und Christus in Betracht (die aber, soweit ersichtlich, nur konzertant aufgeführt wurden), erhöhen sich die Zahlen sogar auf 62 ›Inszenierungen‹ von 12 Opern. 4 | Grundlegend zu Rubinsteins Opern: Täuschel, Annakatrin: Anton Rubinstein als Opernkomponist (= studia slavica musicologica 23), Berlin 2001.

»Zwischen seinen Nationen zerrieben«

von Michail Lermontow wenigstens dem Namen nach, während von den anderen – selbst von der ehemals meistgespielten seiner Opern, Die Maccabäer, von der 17 Inszenierungen an deutschen Bühnen zwischen 1875 und 1904 nachweisbar sind – sogar die Titel dem Vergessen anheimfielen? Lag es vielleicht daran, dass diesen anderen Rubinstein-Opern meist nicht russische, sondern deutsche Textbücher zugrunde lagen, und dass sich dieser Umstand mit verbreiteten Vorstellungen vom Wesen einer russischen Oper nicht verträgt? Tabelle: Inszenierungen von Opern russischer Komponisten an deutschsprachigen Bühnen bis 19185 Komponist

Anzahl der Inszenierungen

verteilt auf […] Werke

Rubinstein

52

10

Tschaikowski

41

3

Glinka

7

1

Rimski-Korsakow

1

1

Mussorgski

1

1

Dargomyschski

1

1

Andere

8

5

In der Tat hat es den Anschein, als ob der russische Komponist Rubinstein, der Opern auf deutsche Libretti schrieb, ein Opfer seiner nationalen Doppelzugehörigkeit geworden sei, zumindest was seine posthume Rezeption angeht. Symptomatisch ist fast 20 Jahre nach Rubinsteins Tod das Verdikt des renommierten Musikkritikers Oskar Bie. In seiner 1913 publizierten, viel gelesenen und bis in die Gegenwart immer wieder nachgedruckten Monografie Die Oper ist Bie offensichtlich kaum mehr bereit, Rubinstein der russischen Musik zuzurechnen. Wenn er die Geschichte der russischen Oper entwirft, bleibt für Rubinstein nur noch ein achtzeiliger Annex. »Ich will Rubinstein nicht so ausführlich wehe tun«, beginnt Bie den letzten Absatz seines Kapitels »Nationale Opern«, aber doch seinen Namen an den Schluß dieses Kapitels setzen, das zu zeigen hatte, wie aus den Liedern und Tänzen der Nationen sich eine farbige Opernwelt zu bilden wußte. 5 | Grundlage der Tabelle ist eine im Einzelnen noch unveröffentlichte Quellenerhebung des Verfassers. Vgl. Weiss, S.: Zur Frühgeschichte der russischen Oper an deutschsprachigen Bühnen, S. 209f.

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Stefan Weiss Er kam über die Lieder und Tänze nicht ernstlich heraus, er setzte das Nationale allenfalls als farbigen Fleck in die Oper ein, zu einer weiteren klimatischen Einfühlung versagte die Kraft. Ein hinreißender Künstler, ein großer Mensch, ist er als Schaffender wesenlos geblieben. Hier ist einer, der zwischen seinen Nationen zerrieben wurde.6

Rubinstein als »hinreißenden Künstler« zu bezeichnen rechtfertigt sich über dessen Wirken als Konzertpianist. Auf diesem Gebiet war er über jeden Zweifel erhaben: als der international am meisten gefeierte Pianist seiner Generation, nach allgemeinem Dafürhalten der größte seit Franz Liszt. Es ist nicht der Musiker schlechthin, sondern der Komponist Rubinstein, über den Bie umstandslos die Akten schließt. Das Verdikt »wesenlos« bindet Bie nun aber an ein Zugehörigkeitsproblem, denn »zwischen seinen Nationen zerrieben« kann nichts anderes bedeuten, als dass Rubinstein diejenige Entfaltung versagt blieb, die anderen Komponisten kraft ihrer national eindeutigeren Orientierung zukam. Dass Rubinstein selbst dieses Problem bewusst war, zeigt seine vielleicht meistzitierte Selbstbeschreibung: Den Juden bin ich ein Christ, den Christen ein Jude, den Russen bin ich ein Deutscher, den Deutschen ein Russe, den Klassikern bin ich ein Zukünftler, den Zukünftlern ein Retrograde u. s. w. Schlußfolgerung: ich bin weder Fisch noch Fleisch – ein jammervolles Individuum.7

Dieser Gedanke aus der posthum herausgegebenen Aphorismensammlung Gedankenkorb erinnert jede Musikerin und jeden Musiker an den wohl noch häufiger zitierten Satz Gustav Mahlers: »Ich bin dreifach heimatlos: als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt. Überall ist man Eindringling, nirgends ›erwünscht‹.« 8 Wo aber bei Mahler von ineinander verschachtelten kulturellen Zugehörigkeiten die Rede ist, schreibt Rubinstein sein Problem einander abstoßenden binären Oppositionen zu. Egal in welcher Konstellation: Rubinstein sieht sich immer der jeweiligen Gegenseite zugeordnet und hat dabei so viel Aussicht auf stabile Zugehörigkeit wie ein Ping-Pong-Ball. Mehrfachzugehörigkeiten sind in seiner Eigensicht immer auch – und vor allem – Mehrfach-Nicht-Zugehörigkeiten.

6 | Bie, Oskar: Die Oper, Berlin 1913, S. 382. 7 | Anton Rubinstein’s Gedankenkorb, mit einem Vorwort von Hermann Wolff, Leipzig 1897, S. 95f. 8 | Zit. nach Mahler, Alma: Gustav Mahler. Erinnerungen und Briefe, Amsterdam 1949, S. 139 (Hervorhebung im Original).

»Zwischen seinen Nationen zerrieben«

II. Diese Problemlage ist in den letzten Jahren wiederholt zum Gegenstand kritischer Auseinandersetzung geworden. Ein Blick auf die Titel neuerer Forschungsarbeiten lässt die dominierende Denkrichtung bereits ansatzweise erkennen: So heißt ein im Jahr 2000 von Albrecht Gaub veröffentlichter Aufsatz Anton Rubinstein – Anton Grigor’evič Rubinštejn: Russe oder nicht Russe, das ist hier die Frage,9 und drei Jahre später beschrieb Marina Frolova-Walker The Disowning of Anton Rubinstein.10 Der Fall Rubinstein11 – so der jüngste Titel Elena Chodorkovskajas – wird in all diesen Texten auf eine im Prinzip ähnliche Weise interpretiert. Es geht um das Verhältnis der russischen Musikgeschichtsschreibung zu ihm, das als von Anfang an problematisch beschrieben wird und laut Frolova-Walker letztlich zu einem ›Disowning‹ führt, einer Verstoßung aus dem Kanon der russischen Kunstmusik. Von den dreien greift Gaub am stärksten auf die eigenen Schriften des Komponisten zurück, um so die These zu untermauern, dass Rubinstein an seinem negativen Bild in russischen Quellen, seiner Stigmatisierung als ›Nicht-Russe‹ nicht unschuldig gewesen sei. Denn aus Sicht der national ausgerichteten russischen Musiker des späten 19. Jahrhunderts gehörte Rubinstein der gegnerischen Seite an, seit er in seinem Aufsatz Die Componisten Russland’s, der 1855 in den Wiener Blättern für Musik, Theater und Kunst und in veränderter Form nochmals 1861 in einer russischen Zeitschrift herausgekommen war, die Idee einer spezifisch nationalen Opernkunst zurückgewiesen hatte: Die Oper, so Rubinstein, drücke allgemein menschliche Gefühle aus und sei daher in ihrem Wesen international zu denken, zudem sei das russische Volkslied, das von Glinka und seinen Nachfolgern zur Basis der russischen Oper gemacht wurde, zu monoton, um über größere Kontraste und zeitliche Distanzen zu tragen. Ferner attackierte er den Dilettantismus, der in der damaligen russischen Musik einen besonderen Nimbus besaß: Glinka und Dargomyschski waren nicht Musiker, sondern komponierende Gutsbesitzer; 9 | Vgl. Gaub, Albrecht: Anton Rubinstein – Anton Grigor’evič Rubinštejn: Russe oder nicht Russe, das ist hier die Frage, in: Musik als Lebensprogramm. Festschrift für Constantin Floros zum 70. Geburtstag, hg. von Gottfried Krieger und Matthias Spindler, Frankfurt a.M. 2000, S. 75-88. 10 | Vgl. Frolova-Walker, Marina: The Disowning of Anton Rubinstein, in: »Samuel« Goldenberg und »Schmuyle« – Jüdisches und Antisemitisches in der russischen Musikkultur (= studia slavica musicologica, Band 27), hg. von Ernst Kuhn, Jascha Nemtsov und Andreas Wehrmeyer, Berlin 2003, S. 19-60. 11 | Vgl. Chodorkovskaja, Elena: Der Fall Rubinstein, in: Musik im Spannungsfeld zwischen nationalem Denken und Weltbürgertum. Franz Liszt zum 200. Geburtstag (= GRM Beiheft 67), hg. von Dorothea Redepenning, Heidelberg 2015, S. 223-233.

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die angehenden Größen der neuen russischen Schule, des sogenannten ›Mächtigen Häufleins‹, waren streng genommen Amateure: Borodin war eigentlich Chemiker, Mussorgski ein Beamter und Rimski-Korsakow hatte die Marinelauf bahn eingeschlagen. Während diese Zeitgenossen sinngemäß argumentierten, nur durch Dilettantismus eine Unabhängigkeit von der kulturellen Hegemonie der etablierten Musiknationen wie Deutschland erreichen zu können, war ein romantisch verklärter Nicht-Akademismus aus Sicht Rubinsteins ein Mangelsymptom, das durch das Fehlen einer geregelten Musikausbildung in Russland verursacht wurde. Doch je intensiver er – letztlich mit Erfolg – auf die Etablierung einer Konservatoriumsausbildung nach westlichem Vorbild in Russland hinarbeitete, desto mehr Feinde machte er sich unter den ihren Dilettantismus hochhaltenden Komponisten des ›Mächtigen Häufleins‹ und ihren Apologeten. In seiner Autobiografie beschreibt Rubinstein diese Diskussionen so: Die Gegner [der Konservatoriumsidee] nisteten in vielen officiellen Kreisen. [… Der Komponist] A.[lexander] Sjerow hechelte uns auf allen Kreuzwegen und in der Presse durch, ohne sich irgend welche Rücksicht aufzuerlegen. ›Das ist Zunft-Pedantismus, das sind ja alles Deutsche!‹ hörte man ihn überall predigen.12

Es war Rubinsteins partiell deutsche Herkunft, die als Argument nicht nur gegen die Einrichtung des Konservatoriums, sondern später auch gegen seine Aufnahme in den Kanon der russischen Musik diente. Die 1880 in französischer Sprache erschienene und nachmals enorm verbreitete Studie La musique en Russie des Komponisten Cesar Cui, einem Mitglied des ›Mächtigen Häufleins‹, formulierte kategorisch: »Rubinstein, wenn auch gebürtiger Russe und vielfach verdient um die Entwicklung der Musik in seinem Land, ist ein deutscher Komponist, ein direkter Nachfolger Mendelssohns.«13 In der Erwähnung des letzteren Komponisten schwingt zudem der Unterton mit, dass es sich bei Rubinstein – wie bei Felix Mendelssohn Bartholdy – nicht nur um einen Deutschen, sondern um einen assimilierten Juden handele. In der Tat sind Mendelssohn-Anklänge in Rubinsteins Werk leicht zu finden. Wer den 1851 entstandenen ersten Satz seiner Zweiten Symphonie (der sogenannten ›Ozean‹-Symphonie) hört, kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass es sich um eine Art kompositorisches Bewerbungsschreiben um die Nachfolge Mendelssohns als Oberhaupt der ›Leipziger Schule‹ handelt. 12 | Rubinstein, Anton: Erinnerungen aus fünfzig Jahren 1839-1889, aus dem Russischen von Eduard Kretschmann, Leipzig 1893, S. 84f. 13 | »Quoique Russe de naissance et ayant beaucoup fait pour le développement de la musique de son pays, Rubinstein est un compositeur allemand, successeur direct de Mendelssohn.« Cui, César: La Musique en Russie, Paris 1880, S. 133.

»Zwischen seinen Nationen zerrieben«

Für die Rubinstein-Rezeption hatte diese Ausgrenzung indes gravierende Folgen. Die Komponisten des ›Mächtigen Häufleins‹ und ihre öffentlichen Sprachrohre wie der Gelehrte Wladimir Stassow gewannen nämlich nach und nach die Deutungshoheit über das Wesen der russischen Musik; ihre Sichtweise blieb über die Jahrzehnte maßgeblich, im Ausland wie im Inland, durch die Sowjetzeit hindurch bis heute. War schon Tschaikowski mit dem Idealbild einer nationalrussischen Musik nicht jederzeit vereinbar – sein Stil galt mitunter als zu stark westlich beeinflusst, um als ›authentisch russisch‹ durchzugehen –, so wurde Rubinstein mit der Durchsetzung dieser Sichtweise dauerhaft aus dem russischen Kanon ausgeschlossen. Von diesen Prozessen berichten die genannten Arbeiten von Frolova-Walker und Chodorkovskaja, aus denen auch revisionistische Bemühungen um eine Neubewertung sprechen. Es mehren sich in den letzten Jahren die Anzeichen für einen neuen Konsens, demzufolge Rubinstein von der früheren russischen Geschichtsschreibung zu einseitig negativ beurteilt wurde. »Posterity has not been entirely kind to Anton Rubinstein«14 – der Satz, mit dem Philip S. Taylor 2007 seine Rubinstein-Biografie beginnen lässt, wirkt wie das Resümee eines Erkenntnisprozesses, der durch das Fortwirken ideologisierter Vorstellungen über das ›Russische‹ in der Musik lange Zeit behindert worden war. Diesem mittlerweile gut aufgearbeiteten Anteil der Geschichte – der Analyse und der Revision des russischen Rubinstein-Bildes – soll im Folgenden nicht weiter nachgegangen werden. Stattdessen möchte dieser Aufsatz auf das noch kaum erforschte deutsche Komplement dieser Geschichte aufmerksam machen. Schließlich klagt Rubinstein nicht nur »den Russen bin ich ein Deutscher«, sondern fügt hinzu: und »den Deutschen ein Russe« – was ja suggeriert, dass er eine deutsche Zugehörigkeit empfand, sich aber auch darin zurückgewiesen fühlte.

III. An dieser Stelle sind einige Bemerkungen zu Rubinsteins Herkunft unerlässlich: Geboren wurde er 1829 in Vychvatinec (auch Wychwatinzy/Ofatinţi), einem kleinen Ort des Gouvernements Podolien, der damals zum Russischen Reich gehörte und heute auf dem Gebiet Moldawiens nahe der ukrainischen Grenze gelegen ist. Beide Eltern waren jüdischen Glaubens, der Vater stammte aus einer russischen, die Mutter aus einer deutschen Familie. Noch bevor Anton das Schulalter erreicht hatte, waren zwei hinsichtlich der Zugehörigkeitsfrage gravierende Veränderungen erfolgt: Erstens trat die gesamte Mehrgenerationenfamilie zum orthodoxen Glauben über, und zweitens zog sie nach 14 | Taylor, Philip S.: Anton Rubinstein – A Life in Music, Bloomington 2007, S. xv.

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Moskau um, wo sich bald der erste Musikunterricht ergab, und zwar durch die Mutter. Zu dieser hatte Rubinstein zeitlebens eine enge Beziehung, und die Sprache, in der er mit ihr korrespondierte, war das Deutsche. Über die Sprache hinaus findet sich in den vielen Briefen Rubinsteins an seine Mutter wenig Konkretes hinsichtlich eines Empfindens der Zugehörigkeit zur deutschen Kultur. Sich dazu zu äußern, hätte bei seinen vielen ausgedehnten, teils mehrjährigen Reisen, die er als junger konzertierender Pianist vornehmlich durch deutschsprachige Länder unternahm, mancherlei Anlass bestanden. Wenn aber Rubinstein in den Briefen von der Heimat spricht und seinem Vaterland, ist stets Russland gemeint – was unmittelbar verständlich ist, denn schließlich war er dort aufgewachsen, und auch die Mutter, mit der er korrespondierte, lebte ja dort. Rubinsteins Verhältnis zur deutschen Kultur nimmt in Selbstzeugnissen eher die Form einer Germanophilie an, die mit professionellen Überzeugungen einherging. Seinem frühen Erfolg als Pianist zum Trotz sah sich Rubinstein selbst zunehmend als Komponist, und auf diesem Gebiet wiederum – ungeachtet der vielen Lieder und Opern – als Komponist von Instrumentalem, von Klavier-, Kammer- und Orchestermusik: »für mich«, schrieb er am Ende seines Lebens, »fängt die Musik (mit Ausnahme des Liedes und des Kirchengebetes) erst da an, wo das Wort aufhört«.15 In der Instrumentalmusik aber war in seinen Augen die deutsche Kultur der Maßstab, an dem es sich zu orientieren galt. Der folgende Auszug stammt aus seinen Erinnerungen: Nach meiner Meinung ist Deutschland das musikalischeste [sic!] Land der Welt. […] Musik, ernste, hohe Musik giebt es nur in Deutschland. Frankreich besitzt nur eine Filiale auf musikalischem Gebiet, die allerdings florirt und sehr geschätzt wird, doch von einem Vergleich mit Deutschland kann keine Rede sein. Wahres Verständniß für hohe Tonschöpfungen existirt aber nur in Deutschland.16

Diese Aussage ist umso mehr von Bedeutung, als Rubinstein sie nicht für einen deutschen, sondern einen russischen Leserkreis machte – seine Erinnerungen verdanken sich der Initiative des Redakteurs der geschichtskundlichen Zeitschrift Russkaja Starina (etwa ›Russische Altertümer‹), in der sie 1889 auch erstveröffentlicht wurden. Schon früh in seiner Karriere war es für ihn fraglich, ob ihm Russland – im Gegensatz zu Deutschland – jemals Verständnis für seine Musik entgegenbringen werde. An seine Mutter schrieb der 25-Jährige, der sich damals auf einer mehrjährigen Konzertreise befand, aus Deutschland: »All die Zeit über bemühe ich mich um eine Rückkehr in meine Heimat 15 | Rubinstein, Anton: Die Musik und ihre Meister. Eine Unterredung, Leipzig 1892, S. 96. 16 | Rubinstein, A.: Erinnerungen aus fünfzig Jahren, S. 102f.

»Zwischen seinen Nationen zerrieben«

[gemeint ist Russland]. Aber wer weiß, wie es mir dort ergehen wird. Ich werde immer ernsthafter in meiner Kunst, und unseren Musikerdilettanten wird das wenig angenehm sein.«17 Auch in diesen Zeilen steht – ungeachtet der aus ihnen hervorgehenden Affinität zur deutschen Kultur – die primäre Zugehörigkeit zur russischen Seite nicht in Frage. Dass Rubinstein nicht nur für die deutsche Kultur schwärmte, sondern ihr regelrecht angehöre, wurde indes von prominenten zeitgenössischen Repräsentanten dieser Kultur mit mehr oder weniger großem Nachdruck behauptet. Die dazu im Folgenden betrachteten Belege deutscher Autorinnen und Autoren entstammen einer Zeit, in der Rubinstein wieder einmal ausgedehnte Reisen unternahm. Seit er 1867 die Leitung des St. Petersburger Konservatoriums niedergelegt und damit einem zehnjährigen kontinuierlichen Wirken in Russland ein Ende bereitet hatte, konzertierte er wieder verstärkt in Deutschland. Diesen Schritt kommentiert der in Königsberg wirkende Klavierpädagoge und Musikschriftsteller Louis Köhler in einem biografischen Aufsatz von 1868 wie folgt: Ist der Aufenthalt in dem fernen Petersburg für Künstler überhaupt nachtheilig befunden worden, so erkennen wir darin auch das Motiv, das Rubinstein jetzt endlich wieder nach Deutschland trieb, wo er mit seiner Familie wahrscheinlich für immer weilen und [sich] so bethätigen wird, daß er nunmehr mit Leib und Seele als Künstler ersten Ranges zu den Unsern gehört.18

Unzweifelhaft geht es hier um eine Vereinnahmung Rubinsteins für eine als deutsch empfundene Musikkultur, denn dass Köhler bei den zuletzt zitierten Worten an eine andere Identität, etwa einer Gruppe, gedacht haben könnte, ist auszuschließen. Köhler stand der Neudeutschen Schule um Liszt und Richard Wagner besonders nahe, doch für Rubinstein traf genau dies nicht zu. Ihn »mit Leib und Seele […] zu den Unsern« zu rechnen kann aus Köhlers Sicht also nur die vollständige Integration in die deutsche Musikkultur bedeutet haben, wofür auch die Distanzierung von der »fernen« und explizit als kunstfeindlich bezeichneten russischen Hauptstadt spricht. Köhlers Vereinnahmung Rubinsteins als deutscher Künstler ist dabei kein Einzelfall. Sieben Jahre später schreibt Marie Lipsius, die unter dem Pseudo-

17 | Brief vom 9. Juli 1855, in russischer Übersetzung ediert in: A. G. Rubinštejn: Pis’ma [Briefe] 1850-1871 (= Literaturnoe nasledie v trech tomach [Literarisches Erbe in drei Bänden], Band 2), hg. von L. A. Barenbojm, Moskva 1984, S. 71f., hier S. 72 (Rückübersetzung vom Verf.). 18 | Köhler, Louis: Anton Rubinstein, in: Westermanns Monatshefte 1868, Nr. 144, S. 590-599, hier S. 593.

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nym La Mara zu den meistgelesenen Musikschriftstellerinnen ihrer Zeit gehörte, in einem weiteren biografischen Abriss: Was uns an Rubinstein oft fremdartig berührt: gewisse Maßlosigkeiten und ästhetische Unregelmäßigkeiten, jenes durch und durch impulsive Wesen, das der Mehrzahl seiner Gebilde den Charakter von Improvisationen verleiht, erklärt sich weniger durch individuelle als vielmehr nationale Besonderheiten, die uns indeß nicht verhindern sollen, ihn als den anzuerkennen, der er in Wahrheit ist: einer der Besten unter den Unseren!19

Der Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick schließlich formulierte im selben Jahr 1875 lapidar, im Hinblick auf die häufigen Exotismen in Rubinsteins Musik: »Wie Felicien David unter den Franzosen, so ist Rubinstein unter den deutschen Komponisten der Pächter des musikalischen Orients.«20 So selbstverständlich wird Rubinstein hier zu »den deutschen Komponisten« gezählt, dass es beim ersten Lesen weitaus weniger auffällt, als wenn Köhler und La Mara von der Zugehörigkeit »zu den Unseren« schreiben und damit an eine Zeit erinnern, für die diese Verortung noch diskutabel war. Für Hanslick, so hat es jedenfalls den Anschein, ist Rubinsteins Zugehörigkeit zur deutschen Musiknation längst kein Gegenstand mehr, über den man noch geteilter Meinung sein könnte. Die drei Äußerungen belegen, dass es innerhalb der deutschen Musikkultur um 1870 keinesfalls abwegig war, Rubinstein als dieser Kultur zugehörig zu betrachten. Gleichzeitig stellen sie unterschiedliche Abstufungen dieser Auffassung dar. Köhler rückt diese Zugehörigkeit in den Bereich des Möglichen, Hanslick hält sie für eine ausgemachte Sache, und La Mara verrät uns etwas über ihre drohende Gefährdung: Kann man als Komponist gleichzeitig russische Nationalcharakteristika ausprägen und der deutschen Musikkultur angehören? Sind jene »Maßlosigkeiten und ästhetische[n] Unregelmäßigkeiten, jenes durch und durch impulsive Wesen« und das Improvisatorische der Formgebung nicht letztlich zu »fremdartig«, um diese Zugehörigkeit zu rechtfertigen? La Mara versucht solche Skepsis zu entkräften, spätere Beobachter waren weniger wohlwollend. Und man könnte, ausgehend von dieser frühen Phase der Bereitschaft zur Vereinnahmung, für spätere Jahre auch auf deutscher Seite ein solches »Disowning of Anton Rubinstein« nachzeichnen, wie es Frolova-Walker für russische Autoren analysierte. Dieser Prozess scheint in zwei Stufen zu verlaufen. Eine Zeitlang kann Rubinstein für die Repräsentantinnen und Repräsentanten der deutschen Mu19 | La Mara [Lipsius, Marie]: Anton Rubinstein, in: Dies.: Musikalische Studienköpfe aus der Jüngstvergangenheit und Gegenwart, Leipzig 1875, S. 179-232, hier S. 184. 20 | Hanslick, Eduard: Die moderne Oper, Kritiken und Studien, 4. unveränderte Auflage, Berlin 1880 [erstmals 1875], S. 327.

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sikkultur sowohl Russe als auch Deutscher sein, bis sich eine erste Tendenz der Abgrenzung durchsetzt, die ihn auf sein Russentum fixiert, ja ihn geradezu zum typischen russischen Komponisten stilisiert. In der Illustrirten Musikgeschichte des Dresdner Autors Emil Naumann etwa nimmt Rubinstein 1885 den größten Anteil des nicht eben umfangreichen Abschnitts über russische Musik ein. Er ist der einzige Komponist, dem in diesem Zusammenhang die Ehre einer Portraitabbildung widerfährt, und die Motive, die sich in diesen Jahren an russische Musik anlagern – nicht zuletzt im Gefolge der zunehmenden Kenntnis der Musik des ›Mächtigen Häufleins‹ –, werden von Naumann umstandslos auf ihn übertragen, sei es der »Nationalstolz«, die »Naturkraft« oder die »wehmutsvolle Stimmung«, die an die »Steppen im Centrum von Rußland« erinnere.21 Mit der Betonung dieser Rolle als idealtypischer russischer Tonsetzer aber laufe Rubinstein Gefahr, sein deutsches Publikum zu verlieren – so jedenfalls beschreibt es die 1888 publizierte Rubinstein-Biografie des Leipziger Musikkritikers Bernhard Vogel, der sich auf die – in der Tat mit vielen Anspielungen auf das nationalrussische Idiom des ›Mächtigen Häufleins‹ durchsetzte – Fünfte Symphonie bezieht: Für Rubinstein ist diese G-Moll-Symphonie auf alle Fälle sehr charakteristisch, aber es fällt ihm schwer bei der ausgesprochenen nationalen Sondertendenz, das deutsche Ohr dauernd zu fesseln. Der Hörer läßt sich nicht gern von einer Stimmung, einem Extrem in das andre schleudern; beständig wechselt Andacht und Orgelklang mit Tanzlust und Dudelsack; das mag wohl ganz gut dem Charakter des südslawischen Volkes entsprechen, weil es gerade in derlei Haltlosigkeiten die Würze des Daseins findet; deutscher Gesinnung aber entspricht solches nicht und dieses Verfahren ist nicht einmal im strengen Sinne künstlerisch. 22

Auf diesen ersten Schritt einer deutschen ›Verstoßung‹, die Rubinstein stärker als noch in den 1870er Jahren als ›russisch‹ markiert, erfolgt dann um die Jahrhundertwende ein zweiter, der nun auch den Reiz seiner Musik als Repräsentantin des Exotisch-Anderen in Frage stellt. Die mittlerweile in Russland, aber auch besonders wirkmächtig in Frankreich23 verbreitete Ansicht, er sei kein echter Russe, oder jedenfalls nicht russisch genug, wird nach Deutschland exportiert, und führt zu Äußerungen abwertender Art wie der eingangs 21 | Naumann, Emil: Illustrirte Musikgeschichte, Band 2, Berlin 1885, S. 1100. 22 | Vogel, Bernhard: Anton Rubinstein. Biographischer Abriß nebst Charakteristik seiner Werke (= Musikheroen der Neuzeit, Band 5), Leipzig 1888, S. 76 [Beide Hervorhebungen im Original gesperrt]. 23 | Vgl. Groote, Inga Mai: Östliche Ouvertüren. Russische Musik in Paris 1870-1913 (= Schweizer Beiträge zur Musikforschung, Band 19), Kassel 2014.

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zitierten aus Bies Buch Die Oper. Nun war Rubinstein also in Deutschland weder Deutscher noch Russe. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg schien ihn in der Tat niemand mehr haben zu wollen, zumal inzwischen – 20 Jahre nach seinem Tod – auch sein Ruhm als Pianist verblasst war.

IV. Wie für die russische Seite, so kommt auch für die deutsche der Vorbehalt gegen sein Judentum erschwerend hinzu. Rubinstein selbst, so erinnerte sich nach dessen Tod sein Librettist Julius Rodenberg, hat aus seiner jüdischen Herkunft niemals ein Hehl gemacht […]. Einmal – es war auch in London – hatte [der Dirigent] Hans von Bülow, zu der Zeit, Anfang der achtziger Jahre, von einer, übrigens sehr leichten und rasch vorübergehenden, antisemitischen Anwandlung befallen, seine Karte bei ihm abgegeben, welche die ganze Reihe seiner Titel aufführte: Dr. phil., Hofmusikintendant S. H. des Herzogs von Meiningen u. s. w. Als Rubinstein den Besuch erwiderte, schrieb er unter seinen Namen auf der sonst leeren Karte nichts weiter als die zwei Worte: ›Slavischer Semit‹. 24

Jenseits solcher Anekdoten lud Rubinsteins kompositorisches Œuvre durchaus an der einen oder anderen Stelle dazu ein, ihn als bekennend-jüdischen Komponisten aufzufassen. Vor allem die alttestamentarischen Stoffe seiner Opern Die Maccabäer, Sulamith und Moses eröffneten diese Möglichkeit, mehr noch die verschiedentlich anzutreffende und oben auch schon angesprochene Beobachtung, Rubinsteins besondere musikalische Gabe habe im Entwerfen orientalischen Kolorits bestanden. (Die beiden Begriffe ›orientalisch‹ und ›jüdisch‹ wurden zu dieser Zeit im deutschen Musikschrifttum mitunter synonym verwendet.) Gerade seine in Deutschland vielleicht meistgespielte Oper, Die Maccabäer nach der Tragödie von Otto Ludwig, zog den Vorwurf einer übertriebenen musiktheatralischen Darstellung der jüdischen Kultur auf sich. Die beiden zu zitierenden Stimmen von Bernhard Vogel und Eugen Zabel haben vielleicht deshalb besonderes Gewicht, weil sie aus dem Kontext von Rubinstein-Biografien in Buchform stammen: Sie zeigen, dass selbst dort, wo man eigentlich besonderes Wohlwollen unterstellen sollte – wer verfasst die Biografie eines lebenden Künstlers, wenn nicht ein Enthusiast? –, dieser Aspekt seines Schaffens auf Vorbehalte stieß. So beschreibt Zabel 1892 bei seiner Diskussion der Maccabäer:

24 | Rodenberg, Julius: Meine persönlichen Erinnerungen an Anton Rubinstein. Nebst Briefen, in: Deutsche Rundschau Band 82 (Januar-März 1895), S. 242–262, hier S. 244.

»Zwischen seinen Nationen zerrieben« die unerträgliche Situation bei Beginn des zweiten Actes der Oper, wenn sich die Juden im Kampfe gegen die Syrer nicht dazu entschließen wollen am Sabbath zum Schwert zu greifen und sich unter dem Absingen von Psalmen von den Feinden einfach abschlachten lassen. [… Dies ist] eine unverzeihliche Ungeheuerlichkeit, über welche ein moderner Zuschauer allenfalls lächeln und den Kopf schütteln, aber keinesfalls tragische Rührung empfinden wird. Daß so etwas bei den Juden wirklich vorgekommen ist[,] giebt Niemandem ein Recht es auf die Bühne zu bringen und unser Mitgefühl dafür zu fordern. 25

Hinter der Argumentation, die sich auf Grundsätze der Dramenpoetik beruft, steht eine klare und von Herablassung geprägte Polarisierung zwischen ›den Juden‹ und dem ›Wir‹. Deutlicher auf die musikalische Gestaltung der Maccabäer hatte Vogel in seiner Rubinstein-Biografie von 1888 abgezielt: Und die gehäuften Synagogenreminiszenzen, werden sie auf andre Ohren als auf israelitische einen bedeutendern Eindruck ausüben und werden sie vor einem vorzugsweise nichtjüdischen Opernpublikum jemals mit vollerem Genuß vernommen werden? Mit derartigen rituellen Essenzen läßt sich der abendländische Geschmack nicht befriedigen, am allerwenigsten im Theater; bei ihrer aufdringlichen Verwendung auf der Bühne hinterlassen sie sogar bei uns einen unangenehmen Eindruck. 26

Für die deutsche Rubinstein-Rezeption verhält es sich dabei ähnlich wie für die russische: Es liegen keine belastbaren Anzeichen dafür vor, dass Rubinstein aus antisemitischen Beweggründen permanente Benachteiligung erfuhr, aber seine jüdische Herkunft war zweifellos ein Motiv, das erschwerend gegen ihn dort ins Feld geführt werden konnte, wo er ohnehin unter kritischem Beschuss stand. Dass er auch verteidigt wurde, soll nicht verschwiegen werden. Niemand anders als der antisemitische Wortführer des Bayreuther Kreises, Houston Stewart Chamberlain, ließ es sich angelegen sein, Rubinsteins arische Herkunft nachzuweisen, und zwar auf der Basis einer von ihm durchgeführten Untersuchung der Hand des Künstlers. Chamberlain hatte sich einstmals während einer Konzertpause als Sanitäter betätigt und eine Verletzung des Pianisten medizinisch versorgt. Und nach genauem Studium »dieses merkwürdigen Werkzeuges« kam er zu der Ansicht, dass zwar auch »Übung von früher Kindheit an« dahinterstecke, aber die Grundzüge dieser außerordentlichen Physis »angeboren gewesen sein« müssen: Rubinstein war ganz sicher kein Semit, geschweige ein Jude […], was in Deutschland aber bemerkt zu werden verdient, weil man hier immer wieder, des Namens wegen, der 25 | Zabel, Eugen: Anton Rubinstein. Ein Künstlerleben, Leipzig 1892, S. 166. 26 | Vogel, B.: Rubinstein. Biographischer Abriß, S. 51. [Hervorhebung im Original gesperrt.]

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Stefan Weiss irrigen Behauptung begegnet. Dem Typus nach stammte er aus Zentralasien, und zwar wahrscheinlich aus einer Mischung von Mongole und Arier. 27

Jahrzehnte nach Rubinsteins Tod – Chamberlains Erinnerungen erschienen 1919 – war der Ping-Pong-Ball noch immer nicht zur Ruhe gekommen. Hat Rubinstein selbst irgendwann seinen Frieden mit dem Dilemma der Nicht-Zugehörigkeiten gemacht? Sein letzter großer Ortswechsel führte den 62-Jährigen wieder einmal dauerhaft über die Grenze zur anderen Kultur; 1891 verlagerte er seinen Lebensmittelpunkt von St. Petersburg nach Dresden. Nur noch für kurze Zeitspannen kehrte er danach in die russische Hauptstadt zurück, zuletzt kurz vor seinem Tod 1894. Der deutschen Übersetzung seiner Erinnerungen, die er 1893 bei seinem Leipziger Hauptverleger Bartholf Senff erscheinen ließ, fügte er ein Notenblatt mit einem Liedanfang hinzu. Der Beginn des Textes lautet »Wo wird einst des Wandermüden letzte Ruhestätte sein?« (siehe Abbildung 1). Abbildung 1: Notenfaksimile auf der letzten Seite von Rubinsteins Erinnerungen (Leipzig 1893)

Rubinstein, A.: Erinnerungen aus fünfzig Jahren, S. 125.

27 | Chamberlain, Houston Stewart: Lebenswege meines Denkens, München 1919, S. 230.

»Zwischen seinen Nationen zerrieben«

Dieses am Ort seiner Veröffentlichung unkommentierte Notenblatt hat am Ende der ins Deutsche übersetzten Erinnerungen Anton Rubinsteins eine im Sinne der Zugehörigkeitsfrage geradezu emblematische Funktion: Für deutsche Leserinnen und Leser drängt sich die Parallele zu Heinrich Heine auf, der diese Zeilen schrieb, und dessen Grab in Paris sie heute schmücken. Zugehörigkeit, das könnte die von Rubinstein beabsichtigte Botschaft in diesem Kontext sein, bleibt in manchen Fällen bis an das Lebensende offen, und bleibt ein Gegenstand der Aushandlung bis weit über den Tod hinaus.

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Heinrich Schenker Deutscher und Jude im ›confessionellen Incognito‹ Martin Eybl

Der österreichische Musiktheoretiker Heinrich Schenker (1868-1935) kam 1884 als Jugendlicher aus seiner Heimat Galizien am östlichen Rand der Donaumonarchie in die Hauptstadt des Habsburgerreichs. Er studierte Rechtswissenschaften und Musik, arbeitete als Pianist und Musikjournalist, bevor er sich um die Jahrhundertwende auf seine Einkünfte als Privatlehrer beschränkte. Daneben gab er Klaviermusik bei der Wiener Universal-Edition heraus und schrieb musiktheoretische Bücher. Viele seiner jüdischen Schülerinnen und Schüler mussten vor dem Nationalsozialismus fliehen. Etliche gingen in die USA, wo sich Schenkers Analyseansatz als gängige Grundlage der akademischen Ausbildung an den Universitäten und Hochschulen etablierte. Der starken Resonanz in Amerika stand in Europa, insbesondere im deutschsprachigen Raum, lange große Skepsis gegenüber, bis schließlich in den 1990er Jahren auch diesseits des Atlantiks ein anhaltendes Interesse für Schenkers Theorie aufkam. Die folgenden Beobachtungen verfolgen primär eine kulturwissenschaftliche Perspektive. Dass die Wahl auf Schenker fiel, hat weniger mit der Raffinesse und Tragkraft seiner Theorie als mit seiner (trans-)kulturellen Selbstverortung und vor allem mit der günstigen Quellenlage zu tun. Umfangreiche Tagebücher aus mehreren Jahrzehnten sind erhalten und zum großen Teil online publiziert. Auf der Plattform Schenker Documents Online (SDO) ist außerdem in großem Umfang die Korrespondenz Schenkers zugänglich. Vor wenigen Jahren erschien eine Auswahl von Schenkers Korrespondenz in englischer Sprache.1 Überdies ist 2015 ein Aufsatz der in Southampton lehrenden 1 | www.schenkerdocumentsonline.org/index.html (29. 1. 2017). (Alle Zitate aus dem Tagebuch stammen aus dieser Datensammlung und werden im Folgenden mit dem Kürzel ›Tb‹ und dem Datum zitiert; Entsprechendes gilt für Briefe. Wo nicht anders angegeben, stammt die Transkription von Marko Deisinger.); Schenker, Heinrich: Selected

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Germanistin Andrea Reiter über Schenkers jüdische Identität erschienen. Die Autorin untersucht darin Schenkers Reaktionen auf literarische Werke, die die gesellschaftliche Stellung von Jüdinnen und Juden in verschiedenen Ländern Europas zum Thema haben.2 Die folgenden Überlegungen gehen von der These aus, dass Schenkers Identität als Jude von seiner Identität als Deutscher nicht abzukoppeln ist. Beide Komplexe, so gegensätzlich sie im konkreten Fall erscheinen, gehören zusammen, und die Art des Zusammenhangs gilt es zu bestimmen. Dazu kommt eine Identität als Pole, die dem jungen Schenker zumindest als Option offenstand. Noch in den ersten Studienjahren in Wien gab er abwechselnd Polnisch und Deutsch als seine Muttersprachen an. In seinem Buch The Schenker Project (2007) widmet sich Nicholas Cook3 dem komplexen Zusammenhang von Musiktheorie und sozialer Identität. Er führt Schenkers Musikverständnis und seine theoretischen Ambitionen mit dessen Weltbild, seiner jüdischen Identität und seinem konservativem Selbstverständnis zu einem Komplex zusammen, den er Schenkers ›Projekt‹ nennt und kontextualisiert dieses Projekt auf breiter Basis und mit großer Literaturkenntnis im Wien der Jahrhundertwende. Auf dieses Buch, insbesondere das vierte Kapitel »The Politics of Assimilation«, beziehen sich die folgenden Überlegungen implizit und explizit. Dabei soll Schenkers Selbstverständnis aus der Perspektive der Mehrfachzugehörigkeit noch ein noch schärferes Profil gewinnen.

›C onfessionelles I ncognito ‹ Schenker war kein frommer, aber doch ein gläubiger Jude. Die Aufgabe seiner Konfession stand für ihn nie zur Debatte. Er zahlte regelmäßig Steuern an die Israelitische Kultusgemeinde in Wien, wenn er auch nie die Synagoge besuchte. Im täglichen Leben ließ er seine jüdische Identität nicht erkennen. Sprache und Habitus verrieten ihn nicht.4 Er und seine Lebensgefährtin Jeacorrespondence, hg. von Ian Bent, David Bretherton und William Drabkin, Woodbridge, Suffolk/Rochester, NY 2014. Der österreichische Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung (FWF) finanzierte die Edition der Tagebücher 1918-1925 (2007-2011) sowie 1912-1914 und 1931-1935 (2014-2018). Die Edition der Tagebücher 1926-1930 wurde vom Arts & Humanities Research Council, Great Britain (2011-2014) gefördert. 2 | Siehe Reiter, Andrea: A literary perspective on Schenker’s Jewishness, in: Music Analysis 34 (2015), S. 280-303. 3 | Cook, Nicholas: The Schenker Project: Culture, Race, and Music Theory, Fin-de-siècle Vienna, Oxford 2007. 4 | Cooks (auf Angaben von Hedi Siegel zurückgehende) Annahme, dass Schenker mit jiddischem Akzent sprach, beruht auf einem Missverständnis. In einem unpublizierten Text bezog sich Schenker auf eine Generalbasslehre aus dem Bach-Umkreis. Die Noten-

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nette Kornfeld verstanden ihr ›confessionelles Incognito‹5 so gut aufrecht zu erhalten, dass etwa die antisemitischen Kommentare, die ein Bahnwächter in Altenmarkt ihnen als scheinbaren Verbündeten gegenüber äußerte, sie bloß belustigten.6 Vor dem Hintergrund zunehmender Feindseligkeit gegenüber Jüdinnen und Juden nach dem Ersten Weltkrieg ist das Verbergen der eigenen jüdischen Identität leicht nachvollziehbar. Schenker ging es darum, die Anerkennung des eigenen Werks, die ohnedies in seinen Augen zu langsam und unzureichend vonstatten ging, nicht weiter zu gefährden. Er betonte, es sei »[s]eine Pflicht, das Werk zur Ausführung zu bringen, nicht aber erst zu riskiren [sic!], daß eine an sich überflüssige Bekanntgabe [seiner Konfession] das Werk vielleicht in Frage stellt.« 7 Sicher standen hinter dieser Diskretion auch praktische Überlegungen, etwa die Absicht, die eigene Bewegungsfreiheit nicht einzuschränken. Schenker liebte die Berge und machte gemeinsam mit seiner Frau regelmäßig Urlaub in Tirol. In den 1920er Jahren wurden immer mehr antisemitische Stimmen im Fremdenverkehr laut, manche forderten eine ›judenfreie‹ Sommerfrische. Etliche Hütten des ›Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins‹ schlossen Jüdinnen und Juden als Gäste aus. Schenker wollte von all dem nichts bemerken; nichts davon steht im Tagebuch.8 Von antisemitischen Äußerungen fühlte er sich nicht betroffen, im Gegenteil, er sympathisierte mit ihnen – eine unter assimilierten Jüdinnen und Juden nicht ungewöhnliche Haltung, wenn sie sich etwa mit armen Zugewanderten aus Galizien konfrontiert sahen. »[N]othing was more guaranteed to arouse their beispiele werden dort eingeleitet mit dem Satz: »Mehrere Erleuchterung zu geben sind folgende Exempel ausgesetzet«. Schenker modernisiert irrtümlich mit »Erleichterung« (›Erläuterung‹ wäre das entsprechende Wort). Erleichterung ist ein normales hochdeutsches Wort, nicht jedoch, wie Cook meint, eine irreguläre, jiddische Form (wie etwa ›heite‹ für ›heute‹): Vgl. ebd., S. 232. Hätte Schenker mit Akzent gesprochen, wäre es kaum so gut gelungen, seine jüdische Identität zu verbergen. Zur Scheu, seine jüdische Identität preiszugeben, siehe ebd., S. 223-229. 5 | Tb 19.06.1928. 6 | Ebd., 07.09.1919; vgl. Eybl, Martin: »Schnadahüpfeln an Floriz«: Heinrich Schenker als Sommergast in Salzburg und Tirol 1919-1924, in: Ursula Hemetek/Evelyn Fink-Mennel/Rudolf Pietsch (Hg.): Musikalien des Übergangs. Festschrift für Gerlinde Haid, Wien 2011, S. 237-249, hier S. 245. 7 | Tb 30.09.1925. In einem Brief an Oswald Jonas ersucht Schenker seinen Schüler, einen enthusiastischen Aufsatz von Israel Citkowitz, der Schenker in der Zeitschrift Modern Music vorstellte, nur einem ausgewählten Kreis von Freunden zu zeigen, »doch immer unter Discretion: Zwei Juden auf einmal wären für feindlich gestimmte Seelen zu viel.« (Brief Schenker an Jonas, 21.12.1933, transkribiert von John Rothgeb und Heribert Esser). 8 | Siehe Eybl, M.: Schnadahüpfeln, S. 244f.

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ire than the sight of a bearded, caftan Jew in the streets of Vienna with his ›Yiddish singsong intonation‹, reminding them of their not so distant past in the pre-emancipation ghettos«.9 Will man für das Habsburgerreich die gesamte Bandbreite an Anpassung und Annäherung jüdischer Individuen an die dominante deutsch-christliche Kultur erfassen, genügt es nicht, Assimilation an Konversion oder den Wechsel in einen Status ›konfessionslos‹ festzumachen.10 So wie konvertierte Jüdinnen und Juden und aus der Israelitischen Kultusgemeinde Ausgetretene selbstverständlich in ein Panorama jüdischer Identität aufzunehmen sind, weil jüdische Identität nicht notwendig an der jüdischen Konfession und Religion festzumachen ist und sich Jüdinnen und Juden auch nach dem Verlassen ihrer Religionsgemeinschaft weiterhin als solche verstanden, lassen sich unterschiedliche Grade und Strategien der Assimilation bei mehr oder weniger frommen gläubigen Jüdinnen und Juden feststellen. Will man das Bild von Assimilation in der österreichischen Monarchie und der ersten Republik differenzieren, bildet Schenker in seinem eigenwilligen Weg ein instruktives Fallbeispiel.

P olitisches B ekennertu m Marsha L. Rozenblit untersuchte in mehreren Studien die politische Identität österreichischer Jüdinnen und Juden in der Endphase des Habsburgerreichs und den Jahren danach. Sie betonte mehrfach die Loyalität einer großen Mehrheit von Jüdinnen und Juden mit dem Herrscherhaus und dem Staat Österreich: »almost all Jews proclaimed an Austrian political identity and vigorously asserted their loyalty to Austria and the Habsburgs«.11 Geprägt durch die »old Habsburg tripartite identity« waren sie dreifach verortet: »Austrian by political loyalty, German by culture, and ethnically Jewish.« Die Autorin behauptet, es habe keine deutschnationale Identität unter den österreichischen Jüdinnen und Juden gegeben. Der Zusammenbruch der Monarchie bedeutete eine Identitätskrise, die dennoch die Mehrheit nicht davon abgehalten habe, die alte Lo9 | Wistrich, Robert: The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph, London 1989, S. 51, zitiert nach Cook, N.: Schenker Project, S. 227. 10 | Zum Status ›konfessionslos‹ siehe Stourzh, Gerald: The Age of Emancipation and Assimilation – Liberalism and its Heritage, in: Hanni Mittelmann/Armin A. Wallas (Hg.): Österreich-Konzeptionen und jüdisches Selbstverständnis. Identitäts-Transfigurationen im 19. und 20. Jahrhundert, Tübingen 2001, S. 11-28, bes. S. 18-22. 11 | Rozenblit, Marsha L.: The Dilemma of Identity: The Impact of the First World War on Habsburg Jewry, in: Ritchie Robertson (Hg.): The Habsburg legacy: National identity in historical perspective, Edinburgh 1994, S. 144-157, hier S. 144.

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yalität gegenüber dem Staat Österreich nach 1918 auf den stark geschrumpften Kleinstaat Österreich zu übertragen. Die meisten Jüdinnen und Juden wären einem Anschluss an Deutschland ablehnend gegenüber gestanden.12 Vor diesem Hintergrund erscheint Schenkers prononciert deutschnationale Haltung sehr auffällig und als Ausdruck eines besonderen Individualismus. Umgekehrt ist die Frage zu stellen, ob eine so einheitlich verstandene Identität österreichischer Jüdinnen und Juden, wie sie Rozenblit skizziert, der Realität entsprach und nicht eine durch die Auswahl der Quellen bedingte Simplifizierung bedeutet. Die Autorin stützt ihre Darstellung vor allem auf Artikel in jüdischen Zeitungen und Zeitschriften. Schenker, der seine eigenwillige Meinung durchaus auch öffentlich kundtat, mag als Repräsentant jener vielleicht gar nicht so kleinen Gruppe assimilierter Jüdinnen und Juden in Österreich gelten, die sich durch jüdische Periodika nicht in ihrer Meinung vertreten sahen und ihre jüdische Identität, die sie nicht aufgeben wollten, auf vielfältige, abweichende Weise entwickelten. In seiner auf Tagebüchern und Briefen beruhenden Biografie Schenkers war Hellmut Federhofer bemüht, die deutschnationale Einstellung Schenkers zu verschleiern. Schenker war gegen die Demokratie und für eine monarchische (oder auch: autoritäre) Regierungsform. Er zog die Habsburgermonarchie den modernen demokratischen Staaten, die an ihrer Stelle entstanden, vor. Federhofer leitet aus einer einschlägigen Bemerkung Schenkers ab, er sei habsburgtreuer Monarchist gewesen und habe sich »zeitlebens dem Habsburgerreich verbunden [gefühlt], dessen Untergang er aufrichtig beklagte.«13 Diese Auffassung wird bis heute wiederholt.14 Doch hat die zitierte Bemerkung eine durchaus habsburgkritische Note; Schenker greift den deutschnationalen Topos von der ungerechtfertigten Bevorzugung nichtdeutscher Völker in der Habsburgermonarchie auf, wenn er betont, dass »gerade die Habsburger [Hervorhebung M.E.] um die Völkerscherben, die heute ihre Selbstbestimmung in so grotesker Weise mit Undank und Verrat beginnen, die größten Verdienste«15 haben. Schenkers Begeisterung galt viel mehr dem Preußentum, etwa in Gestalt von Otto von Bismarck und Wilhelm II., als den Habsburgern. Die in der Sixtus-Affäre publik gewordenen, von Kaiser Karl 1917 initiierten Geheimverhandlungen um einen Frieden Österreich-Ungarns mit Frankreich beurteil12 | Rozenblit, Marsha L.: Reconstructing a national identity: The Jews of Habsburg Austria during World War I, New York/Oxford 2001, S. 155-158, Zitate S. 155. 13 | Federhofer, Hellmut: Heinrich Schenker. Nach Tagebüchern und Briefen in der Oswald Jonas Memorial Collection, Hildesheim 1985, S. 326. 14 | Z.B. Cook, N.: Schenker Project, S. 150f.; Rothfarb, L.: Henryk Szenker, Galitzianer: The Making of a Man and a Nation, in: Journal of Schenkerian Studies 11 (2018), S. 1-50 (im Erscheinen). Ich danke dem Autor für die Einsichtnahme in das Manuskript. 15 | Tb 03.11.1918.

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te er sehr negativ. Nach dem Ersten Weltkrieg positionierte er sich politisch in der Nähe der Alldeutschen Bewegung des deklarierten Antisemiten Georg Schönerers.16 Deutschland galt ihm als Wahlheimat, nicht Österreich: »[M]ein Bekenntnis zu Deutschland als meiner Wahlheimat [erfordert] durchaus nicht organisch ein Bekenntnis auch zum Judentum«,17 meinte er 1925. Der Erste Weltkrieg, den Schenker fast 50-jährig als kritischer Zeitungsleser in Wien erlebte, löste in ihm eine nationalistische, deutschnationale Aufwallung aus. Die Tagebücher sind voll von Invektiven gegen slawische Völker und jene des Westens. Deutschland wird als das Opfer einer internationalen Verschwörung hingestellt. Auch die 1916 erschienene sogenannte Erläuterungsausgabe von Ludwig van Beethovens Sonate op. 111 schlägt solche Töne an. Im Vorwort stellt Schenker die deutsche Nation als »die fähigste der Erde, mit Talenten und Fähigkeiten reicher als selbst die griechische und römische ausgestattet«, vor. Deutschland sei mit diesem, ihm »freventlich aufgezwungenen« Krieg auf dem »Weg ins Freie«: heraustretend aus einem Zustand jahrhundertealter Unterschätzung durch Nationen, die »sich frivol überschätzend, […] in Dünkel und Übermut den Fuß auf den Nacken Deutschlands« setzten.18 Unmittelbar nach dem Krieg führte Schenker diese nationalistischen Polemiken in seinen Veröffentlichungen fort. Mit wüsten Beschimpfungen ging er in der Zeitschrift Der Tonwille, in der er nach dem Modell der Fackel nur eigene Texte publizierte, auf die westlichen Siegermächte los. Im Eröffungsartikel des Organs von 1921 wimmelt es von Ressentiments gegen Frankreich, England und die USA.19 Das autoritäre Weltbild mit dem Deutschtum als höchster kul16 | Zu Schenkers politischer Verortung nach 1918 siehe Eybl, Martin: Ideologie und Methode. Zum ideengeschichtlichen Kontext von Schenkers Musiktheorie (= Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft, Band 32), Tutzing 1995, S. 21-23. 17 | Tb 30.09.1925. 18 | Schenker, Heinrich: Die letzten fünf Sonaten von Beethoven. Kritische Ausgabe mit Einführung und Erläuterung. Sonate C moll Op. 111, Wien 1916, S. 3. 19 | Schenker, Heinrich: Von der Sendung des deutschen Genies, in: Der Tonwille 1 (1921), S. 3-21. Analysen dieses Textes bieten Eybl, M.: Ideologie und Methode, S. 1129; Reiter, Andrea: »Von der Sendung des deutschen Genies«: The music theorist Heinrich Schenker (1868-1935) and cultural conservatism, in: Rüdiger Görner (Hg.): Resounding Concerns, München 2003, S. 135-159; Cook, N.: Schenker Project, S. 143-155. Die englische Ausgabe des Textes ist von Ian Bent ausführlich kommentiert: Schenker, Heinrich: Der Tonwille: Pamphlets in Witness of the Immutable Laws of Music: Issues 1-5 (1921-1923), hg. von William Drabkin, übers. von Ian Bent [u.a.], New York 2004, S. 3-20. – Auch in der Erläuterungsausgabe von Beethovens op. 101 wird Schenkers deutschnationale Haltung klar artikuliert: Schenker, Heinrich: Die letzten fünf Sonaten von Beethoven. Kritische Ausgabe mit Einführung und Erläuterung. Sonate A-dur Op. 101, Wien 1921, S. 26: »Nenne man es national oder wie immer, die deutsche Seele

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tureller Ausprägung korreliert mit dem Deutschnationalismus vieler Wagnerianerinnen und Wagnerianer, von denen sich Schenker durch seine Skepsis gegenüber Richard Wagner und den Neudeutschen jedoch klar distanzierte. Schenker anerkannte Wagners tragende Rolle in der Entwicklung der musikalischen Moderne. Als Gegner der Moderne machte er dies jedoch dem Komponisten zum Vorwurf, ohne freilich dessen hohe künstlerische Qualitäten zu verleugnen. An wen richteten sich diese rabiaten Äußerungen? Man denkt zuerst an mehr oder weniger einflussreiche Korrespondenz- und Gesprächspartner, deren Meinung Schenker in diesen Jahren interessiert registrierte und deren Anerkennung er genoss. Kurz vor dem Weltkrieg begann die Korrespondenz mit dem Musikschriftsteller Walter Dahms, Autor zahlreicher Musikerbiografien von Komponisten vor allem des 19. Jahrhunderts. Der Komponist und Musiktheoretiker August Halm führte sich 1916 bei Schenker ein mit der Versicherung, einen »gemeinsamen Kunstwillen« und »dieselben Feinde«20 zu haben. Neben Dahms und Halm kommt auch der 30-jährige Wilhelm Furtwängler, der nach dem Krieg einige Jahre in Wien engagiert war, als Adressat von Schenkers deutschnationalen Polemiken in Frage. Schenker lernte den Dirigenten im Mai 1919 bei einer Abendgesellschaft im Hause des Bankiers Paul Hammerschlag kennen. Man sprach über die Beethoven-Biografie von Romain Rolland, die eben (1918) in deutscher Übersetzung erschienen war. Es ist bezeichnend, dass Schenker in der Diskussion versuchte, den Pazifisten Rolland, einen strikten Gegner des Nationalismus, unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Ebenso charakteristisch für ihn ist der Umstand, dass er gegen alle übrigen Gesprächsteilnehmer opponierte. Er gegen alle: Das war sein bevorzugter Plot. [D]as Gespräch bewegte sich wieder in vorsichtigen Bahnen, da man befürchten mochte, gerade auf dem Gebiete der allgemein interessierenden Fragen einander wehe zu tun oder nahezutreten. Unter anderem wurde auch von Rolland gesprochen, dessen Roman [sic!] bei allen ungeteilte Bewunderung gefunden. Demgegenüber habe ich, freilich nicht ohne vorauszuschicken, daß ich nur eine Inhaltsangabe kenne u. im übrigen verschiedene Aufsätze u. Zitate, sofort das möglich drastischeste Gegenurteil formuliert u. gemeint, Rolland wäre so etwas wie ein französischer Bahr, nur in großerer [sic!] Aufmachung. Sofort bemerkte ich, daß das Urteil in dieser Form den Anwesenden nicht zugänglich sein konnte; der Hausherr produzierte zum Beweis seiner hohen Meinung seinen an ihn gerichteten Brief von Rolland, worin sich dieser zu einer Dankesschuld an muß sich endlich dem Gift und Schmutz des Westens entwinden.« Ähnliches gilt für die Einleitung zu Schenker, Heinrich: Kontrapunkt, Band 2, Wien 1922. 20 | Brief Halm an Schenker, undatiert, vermutlich November/Dezember 1916, OJ 11/35, [0], transkribiert von Lee Rothfarb.

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Mar tin Eybl Deutschland bekennt u. mit Michelet emphatisch ausruft ›Mein Deutschland‹ – Dieses Dokument hat mich im erst recht stutzig gemacht; schon die Schrift, mit allerlei Zierlichkeiten versehen, Arabesken, kokettierenden Schnörkeln u. Initialen u. hernach nun erst der Inhalt! Allmälig habe ich es aber doch dahin gebracht, daß die Bewunderer Rollands, einer nach dem andern, zu dem Geständnis schritten, nicht recht zu wissen, wie R. selbst über die Deutschen u. deutsche Kunst urteile, ob er im Helden seines Romanes Beethoven oder irgendeinen imaginierten Musiker verkörpere, kurz zu vielen Widersprüchen auch sonst noch Anlaß gebe. Diese Verwirrung hat wieder nur meinen eigenen Eindruck von Rolland bestätigt. 21

Halm, Furtwängler und zunächst auch Dahms standen politisch mehr oder weniger rechts. Aber auch sie hatten für Schenkers Polemiken nicht uneingeschränkt Verständnis. Halm bedauerte, dass Schenker »wider die Franzosen ziehe«.22 In einem Gespräch mit Furtwängler äußerte sich Schenker ähnlich martialisch und rief damit ebenfalls Widerspruch hervor: Noch einmal wird meine Polemik [möglicherweise gegen Paul Bekker, Anm. ME] besprochen u. ich bemerke, daß F. seinen Standpunkt wieder einmal ändert; es klingt, als fühlte auch er selbst sich mitbetroffen u. dies macht mich noch gereizter: ich vertrete u. begründe mein Recht auf Polemik leidenschaftlich wie sonst u. auf dem Weg ins Caféhaus lasse ich mich so weit hinreißen zu sagen, daß ich das Bedürfnis habe, die Gegner totzuschlagen. »Da haben wirs« meinte F. »was wundern Sie sich dann, daß die Anderen sich wehren.«23

Wenn auch Schenker mit seiner nationalistischen Pose kaum Freunde gewann, gelang es ihm wenigstens mühelos, sich Feinde zu schaffen. Bei seinen Attacken gegen verschiedene Musikwissenschaftler und -theoretiker waren die jeweiligen Adressaten der Polemiken klar. Anders bei seinen Ausfällen gegen die Westmächte: Nicht die angegriffenen Nationen scheinen das eigentliche Ziel zu sein. Wer in Frankreich, England oder den USA sollte solche Polemiken überhaupt wahrnehmen? Vielmehr dürfte es hier um die Positionierung in einem innerjüdischen Diskurs gehen, bei dem das Angriffsziel eine kosmopolitische und pazifistische Weltanschauung wäre, die Schenker mit, wie er meinte, falsch verstandenem Judentum verknüpfte. Seiner Auffassung nach hätten Jüdinnen und Juden keine eigene Heimat; eine neue Heimat in Palästina zu finden, war für ihn keine Option. Die Juden hätten »ihr eigenes Land, Geschichte, Poesie, Kultur überhaupt verloren« und »können nie mehr eine eigene Kultur zurückerobern, weil diese an eine eigene Heimat gebun21 | Tb 04.05.1919. 22 | Ebd., 25.08.1922. 23 | Ebd., 24.04.1920.

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den ist.«24 Ohne eigenes Land »muß der Jude, um geistig wirken zu können, eine Heimat optiren u. in einer Kultur wirken, die er wählt.«25 Juden seien ewige »Zimmerherren der übrigen Nationen«.26 Schenkers Wahlheimat war, wie erwähnt, Deutschland. Juden, die hier leben, »das Deutschtum aber zugunsten des Internationalen« herabsetzen, würden nach seiner Auffassung einen Widerspruch begehen.27 Emil Hertzka, Direktor der Universal-Edition und Schenkers Verleger, gab in Schenkers Augen ein Beispiel für diesen Widerspruch ab, woraus sich mehrfach Konflikte ergaben. Hertzka wollte Schenker von der Veröffentlichung politischer Polemiken abbringen – verständlich, denn er und der Typus, den er aus der Sicht Schenkers verkörperte, waren das eigentliche Ziel der Angriffe. Ein anderer Widerpart, mit dem Schenker denselben Konflikt, allerdings weniger heftig, austrug, war der Grafiker und Maler Viktor Hammer, der ein Porträt Schenkers anfertigte. In ihren Gesprächen ging es mehrfach um jüdische Identität. »Hammer bekennt sich zu einer internationalen Gesinnung, ich zur nationalen u. ich ziehe sogar wider die Semiten los.« Schenker bringt dabei ein antisemitisches Stereotyp ein: dass die internationale Ausrichtung von Jüdinnen und Juden der deutschen Kultur schade. »Aus ihrem Unvermögen zur Kultur sind sie unempfindlich gegen wahre Kultur überhaupt u. verführen zumal ein Volk, das von Haus aus sich wegzuwerfen geneigt ist, zur Ueberbetonung von anationalen Momenten.«28

P r ak tiken des F eierns und E rinnerns Wie man sich andern gegenüber zeigt und von ihnen gesehen werden will, ist eine Seite von Identität, die eigene Lebenspraxis eine andere. Schenker teilte sein Leben in vielerlei Hinsicht mit seiner Frau. Feiertage und Alltag waren nur ausnahmsweise von religiösen Praktiken bestimmt, die die beiden in ihrer Kindheit kennengelernt haben mochten. Doch in dem Prozess der Säkularisierung, der sich in der Lebenspraxis des Paares abzeichnet, bleibt dennoch die religiöse Grundlage aufgehoben. Die Frau an Schenkers Seite, Jeanette Schiff (1874-1945), war eine außergewöhnliche Person; Schenker verband mit ihr bis zu seinem Tod eine sehr innige Beziehung. Sie stammte ebenfalls aus einer jüdischen Famlie, wuchs in Aussig an der Elbe (Böhmen) auf und heiratete dort den Geschäftsmann Emil Kornfeld, mit dem sie zwei Söhne hatte. Korn24 | Ebd., 26.06.1924. 25 | Ebd., 01.11.1925. 26 | Ebd., 13.04.1910, zitiert nach Federhofer, H.: Heinrich Schenker, S. 311. Siehe auch Reiter, A.: Literary perspective, Fn. 53. 27 | Tb 30.09.1925. 28 | Ebd., 26.06.1924.

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feld und Schenker waren befreundet, so lernten sich Jeanette und Heinrich spätestens 1903 kennen. 1910 verließ sie ihre Familie, ging nach Wien, und ein langer Kampf um die Scheidung begann. Erst 1919 konnten Kornfeld und Schenker heiraten. Schenker sprach von seiner Frau immer mit höchstem Respekt. Nachdem er in einem Brief an Halm ihre Kochkunst gelobt hatte, war es ihm ein Anliegen zu betonen, sie stehe ihm »vollkommen gerüstet […] auch geistig zur Seite«29 – hier wiederum, wie selbstverständlich, eine martialische Metapher. Nach 1935 kümmerte sie sich um Schenkers Nachlass, der in den USA erhalten blieb. Sie reiste 1936 für fünf Monate nach Chile, kehrte aber nach Wien zurück. 1942 wurde sie ins KZ Theresienstadt deportiert, wo sie 70-jährig im Januar 1945 ums Leben kam.30 Feiern sind Orte der Erinnerung. Sie markieren aktuell Ereignisse, die der Erinnerung wert sind, oder halten nachträglich die Erinnerung an solche Ereignisse lebendig. Das Tagebuch gibt über das tägliche Leben des Paares detailliert Auskunft. Allgemein wurde im Haus Schenker selten gefeiert, und wenn, wurde dem Feiern wenig Raum gegeben. Der Hochzeitstag ging unbemerkt vorüber. Gegenseitige Geschenke an seinem oder ihrem Geburtstag werden im Tagebuch nicht erwähnt; eine besondere Menüfolge oder ein kleines Hauskonzert, das er ihr gab, genügten.31 Stets wurde an solchen Tagen auch gearbeitet. Das Arbeitsverbot am Sabbat wurde ebenso wenig befolgt wie die sonntägliche Feiertagsruhe. Die jüdischen Feste wurden nicht begangen.32 An den großen christlichen Festen gab es Geschenke für die (christlichen) Hausangestellten; man schrieb der Verwandtschaft und lud eventuell zum Essen ein.33 Schenker, der Deutsche (mit österreichischem Pass!34), weigerte sich beharrlich, den österreichischen Staatsfeiertag zu begehen.35 An öffentlichen Feiern, Umzügen oder Prozessionen nahmen Heinrich und Jeanette Schenker nicht teil. 29 | Brief Schenker an Halm, 02.11.1922, S. 3 unten, transkribiert von Ian Bent und Lee Rothfarb. 30 | Siehe www.schenkerdocumentsonline.org/profiles/person/entity-000771.html vom 22.3.2016. 31 | Vgl. Tb 19.06.1924, 30.08.1919, 30.08.1923. 32 | Siehe Cook, N.: Schenker Project, S. 216. Cook weist darauf hin, dass an Sonntagen und christlichen Feiertagen nicht unterrichtet wurde. Doch von seiner musiktheoretischen Arbeit ließ sich Schenker dadurch nicht abhalten. 33 | Vgl. Tb 24.12.1926, 24.12.1927, 07.04.1928 (Ostern). 34 | Siehe ebd., 2. und 8. März 1920. 35  |  Siehe ebd., 12.11.1921: »Staatsfeiertag, empfange aber Schüler.« Ebd., 12.11.1924: »Staatsfeiertag! – ich halte ihn nicht.« Seine Skepsis gegenüber der Republik Österreich hielt ihn jedoch nicht davon ab, an jeder Nationalratswahl teilzunehmen – auch das eine Art Ritual, siehe ebd., 17.10.1920, 21.10.1923, 24.04.1927 und 09.11.1930.

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Jüdische Bräuche gehörten zu Schenkers verschütteten Erinnerungen. In scheinbaren Nebensächlichkeiten oder fast zufällig begegnen sie bisweilen; nur an wenigen Stellen des Tagebuchs blitzt solche Erinnerung auf. Gelegentlich erfahren wir, dass Jeanette einen »Weihnachtsstrietz« oder »Strieze« buk, ähnlich dem Barches, der an jüdischen Feiertagen zubereitetet wurde. Weihnachten 1922 schrieb Schenker an seinen engsten Freund Moriz Violin noch deutlicher: »Was macht deine Frau? Mein Lie-Liechen macht ›Feiertag‹ im Hause, allerlei K[ontra]p[unkt], Umkehrungen der Möbel, Strieze – der Jude singt: ›ma nischtanu‹?«36 Das ist eine launige und ziemlich überraschende Erinnerung an – das falsche Fest. Schenker zitiert den Anfang des Dialogs, der die Hagada, das Zeremoniell des Passahfestes37, einleitet: »Was macht diese Nacht so besonders gegenüber allen übrigen?« Zu Ostern 1907 hatte Schenker noch bei solchen Feiern selbst teilgenommen. Er gab sich Kindheitserinnerungen hin, und prompt verschwand die akute Magenverstimmung: »Abends mit Mutter bei Onkel u. Tante Einschenk, zum Passahfest. Alte Erinnerungen. Das Rituelle Essen behebt unerwartet ein schon mehrere Tage anhaltendes Uebelbefinden des Magens!«38 Die Spannung zwischen der weitgehend profanen Welt seiner Gegenwart und der religiös geprägten Kindheit führte zu einer Ambivalenz gegenüber den Lieux de mémoire, wie sie religiöse Feste repräsentieren. Sie erscheinen fremd und vertraut zugleich. Einzelne Bestandteile solcher Feste, die man herbeizitieren kann, führen zurück in die eigene Vergangenheit. Doch eine tragfähige Basis für die aktuelle Existenz geben sie nicht mehr ab. Eine ähnliche Ambivalenz von Fremde und Nähe, Desinteresse und Engagement zeigte sich beim Tod der Mutter im Dezember 1917. Heinrich und Jeanette nahmen die Mühe nicht auf sich, etwa zwei Stunden nach Waidhofen an der Thaya zu fahren, um an der Beerdigung der Mutter teilzunehmen. Es dauerte sechs Jahre, bis sie die kleine Reise zum ersten Mal unternahmen. Man sollte daraus nicht ableiten, dass dem Sohn die Mutter wenig bedeutet hätte. Er scheint zu ihr ein sehr enges Verhältnis gehabt zu haben; immerhin schrieb Schenker einen sechs Seiten langen Nachruf auf die Mutter ins Tagebuch.39 Auch war ihm das Grab der Mutter ein großes Anliegen. Er überlegte, ihre Leiche nach Wien überführen zu lassen, um selbst neben ihr und seiner Frau bestattet zu werden.40 Als das Paar endlich das Grab besuchte, gefiel 36 | Brief Schenker an Violin 21.12.1922, transkribiert von William Drabkin; vgl. Tb 22.12.1918. 37 | Bei Hagada und Passahfest übernehme ich die Schreibung aus dem Tagebuch, wo die Begriffe (selten genug!) vorkommen. 38 | Tb 30.03.1907 (Samstag). Derselbe Kreis traf sich zum Passahfest sechs Jahre später, siehe ebd., 21.04.1913. 39 | Siehe ebd., 22.12.1917, 23.12.1917. 40 | Siehe ebd., 24.01.1918.

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Schenker die Sachlichkeit des Grabsteins und wohl auch das konfessionelle Inkognito, da Hinweise auf die Religionszugehörigkeit fehlten; der Idee, das Grab noch stärker einem profanen bürgerlichen Modell anzunähern, konnte er ebenfalls etwas abgewinnen: »da schon die Marmortafel u. die Gravierung das Orthodoxe überschreiten, so hat Lie-Liechen [Jeanette] Recht, daß sie noch eine Einfassung u. Epheuschmuck wünscht.«41 Während in der Lebenspraxis von Heinrich und Jeanette Schenker mithin Erinnerungskultur eine eher geringe Bedeutung hatte, wurde sie an einem Punkt besonders deutlich. Ein Fest wurde regelmäßig und mit besonderer Emphase begangen. Es war ein ganz privates Fest und wurde dennoch (oder gerade deswegen) religiös verbrämt. Gefeiert wurde die Ankunft Jeanettes in Wien am 30. September 1910, nachdem sie ihre Familie verlassen hatte. Der Jahrestag wurde von beiden mit Genuss begangen. Man kleidete sich festlich.42 Wiederholt suchten sie das Hôtel de France auf, in dem Jeanette zunächst abgestiegen war.43 1930 probierten sie bei dieser Gelegenheit erstmals ein motorisiertes Taxi, und Jeanette nutzte die Gelegenheit, »halb Wien zusammenzukaufen«: »sie steigt ab beim Uhrmacher, bei Pirringer [wo es Schokolade und Bonbons gab], kauft den Festapfel, steigt ab bei Waldstein, bei Fritz, bei der Post, bei Sima, bei der Blumenhändlerin«.44 Jedes Jahr wurden ein oder zwei Äpfel gekauft, und sie nannten ihr Jubiläum das Apfelfest. Rosch ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest, fällt in den Zeitraum zwischen 5. September und 5. Oktober. Jeanette und Heinrich verbanden ihren persönlichen Jahrestag mit diesem Fest. Ihr ›Apfelfest‹ erinnerte an den Brauch, zu Rosch ha-Schana in Honig getunkte Äpfel zu essen. Einmal nannte Schenker den Jahrestag »LieLiechens Hagada« und brachte so neuerlich das Passahfest ins Spiel. Ihr Liebesfest deutete er damit als ein Fest der Befreiung (Jeanettes Befreiung aus den Fesseln einer Ehe, die sie beengte) und spiegelte solcherart in einem Akt radikaler Säkularisierung die Geschichte des Volkes Israel in der eigenen Lebensgeschichte. Am Tag nach dem Apfelfest, am 1. Oktober, begann jeweils ein neues Studienjahr. Die Privatschülerinnen und -schüler kamen wieder ins Haus. Und unter den bei Schenker so raren Praktiken der Erinnerung begann eine mit einem neuen Zyklus: das Schreiben des Tagebuchs. Auch in den Sommermonaten, die das Paar immer außerhalb Wiens in der Sommerfrische verbrachte, wurde Tagebuch geschrieben; doch mit dem 1. Oktober begann ein neuer 41 | Ebd., 13.09.1923. 42 | Siehe ebd., 30.09.1930 – Für den Hinweis auf die große Bedeutung dieses regelmäßig begangenen Jahrestages danke ich Marko Deisinger. 43 | Vgl. ebd., 30.09.1923, 30.09.1925. – 1924 wurde den ganzen September gefeiert und mehrfach im Hôtel de France gespeist: siehe ebd., 06.09.1924, 12.09.1924. 44 | Ebd., 30.09.1930.

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Jahrgang. Tagebuch schreiben bedeutet Erinnerungsarbeit. Der Text wurde ›durchgekaut‹, intensiv performiert, dreimal geschrieben und einmal diktiert. Beide waren beteiligt: Heinrich machte sich Notizen, diktierte sie später – bis zu einem Jahr später! – seiner Frau, die alles in Kurzschrift notierte und danach in Reinschrift ausführte.45 Es wird als sein Tagebuch inszeniert; das Ich des Tagebuchs ist Heinrich, und Jeanette erscheint mit ihrem Kosenamen ›LieLiechen‹. Erst ganz am Ende des Tagebuchs taucht ihre Stimme auf. Überaus stilsicher und sehr berührend beschreibt sie die letzten Tage und Stunden ihres Mannes, nennt nun entsprechend ihn mit seinem Kosenamen ›Heinelein‹. Neun Tage nach seinem Tod schloss sie das Tagebuch: »Diese 3970 Blätter waren nie für die Öffentlichkeit bestimmt, nur für uns als Gedächtniskrücke«.46 Man kann sich vorstellen, dass der Text sich allein durch die oftmalige Wiederholung eingeprägt hat. Auch wenn es nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, schien es ihr der Bewahrung wert. Die letzten von ihrem Mann geschriebenen Tagebuch-Notizen schenkte sie Violin als Erinnerungsstück.47 Die Reinschrift des Tagebuchs aber übergab sie vor dessen Flucht in die USA an Schenkers Schüler Oswald Jonas. So blieb der Text erhalten. Schenker starb als Deutscher. Jüdische Bräuche oder Erinnerungen an die religiöse Praxis der Kindheit spielten in den letzten Tagen keine Rolle mehr. An Schenkers Todestag, dem 13. Januar 1935, fand die Volksabstimmung im Saargebiet statt, bei der eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung für die Vereinigung mit dem Deutschen Reich stimmte. 1921 hatte Schenker öffentlich auf das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung des Saargebietes gepocht.48 Noch wenige Stunden vor seinem Tod interessierte ihn der Ausgang der Abstimmung. »Ich will nur wissen, wie das mit der Saar ausgegangen ist«, fragte er seine Frau. Und was ihm zuletzt einfiel, ist durch und durch deutsch, durch und durch christlich. Aus einer leichten Benommenheit höre ich ihn dann sagen ›… aus . .‹ was denn, aus, sage ich, wir werden noch miteinander tanzen – u. mit einer ärgerlichen Geste, weil ich nicht verstanden habe, setzt er fort: ›… aus, . . aus der Matthäuspassion ist mir etwas eingefallen . .‹ das waren die letzten Worte meines Heißgeliebten.49

Das Tagebuch ist ein Lieu de mémoire auf verschiedenen Ebenen, zunächst als »Gedächtniskrücke«, um die eigenen Unternehmungen zu bewahren: Es unterstützt eigene Erinnerung. Sodann ist es ein Ort, an dem eigene Erin45 | Siehe dazu Eybl, M.: Schnadahüpfeln, S. 240f. 46 | Tb 22.01.1935. 47 | Siehe ebd., 04.01.1935. 48 | Schenker, H.: Von der Sendung des deutschen Genies, S. 12-13. 49 | Tb 04.01.1935.

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nerungen an die Kindheit aufgezeichnet wurden: Es speichert Erinnerung. Schließlich ist es ein Ort, der Erinnerung an Schenker und seine Frau schaffen soll, sodass neben dem Werk Schenkers weitere Spuren von ihm erhalten bleiben: ein Denkmal. Ganz im Sinne ihres Mannes schloss Jeanette Schenker die Aufzeichnungen mit einem Zitat aus Johann Wolfgang von Goethes Faust: Die Spanne Zeit, die zu leben mir noch bestimmt ist, werde ich nur dem Werke widmen – was sonst in mir u. um mich herum noch vorgehen mag ist – ohne ihn! – nicht wert, festgehalten zu werden, u. so schließe ich ab mit dem zuversichtlichen Gedanken: Es kann die Spur von unsern Erdentagen nicht in Aeonen untergeh’n –. 50

P ole oder D eutscher Wie hängen die drei vorgestellten Aspekte von Schenkers Identität – konfessionelles Inkognito, politisches Bekennertum und Praxis des Feierns – miteinander zusammen? Die angesprochene Säkularisierung von Orten der Erinnerung und die ins Private übersetzten Motive religiöser Feiern vertragen sich gut mit dem konfessionellen Inkognito: Was an Schenker jüdisch war, sollte seine Privatsache bleiben. Das lautstarke Bekenntnis zum Deutschtum jedoch steht zu dieser leisen Praxis in krassem Widerspruch. Im Selbstverständnis jüdischer Mitteleuropäer des frühen 20. Jahrhunderts gab es verschiedene Optionen zwischen jüdisch nationalen (zionistischen), kosmopolitischen und nationalen Einstellungen. Schenker wählte darunter eine Position als Deutschnationaler und gehörte so innerhalb des gesamten Spektrums politisch Aktiver einer zunehmend größer werdenden Gruppe an, unter Jüdinnen und Juden sicher aber einer Minderheit. Was trieb ihn dazu? Schenkers Deutschtümelei ist in einen tiefen Kulturpessimismus eingebettet, der zusammen mit Antimarxismus und Antimodernismus der Wirkung seines Werks mit Sicherheit mehr geschadet als genützt hat.51 Rationale Gründe für sein Bekennertum – im Sinne einer zweckmäßigen Unterstützung seines Wirkens als Musiktheoretiker – wird man also kaum finden. Gründe seiner lautstarken politischen Positionierung scheinen in seiner Herkunft aus Galizien zu liegen und in dem Selbstentwurf seines Lebens, mit dem er auf Richard Wagners Antisemitismus reagierte. Schenkers Kindheit 50 | Ebd., 22.01.1935. 51 | Der von Schenker am Ende seines Lebens behauptete Erfolg im rechten Lager ist schwer nachzuvollziehen. »Bis heute stehe ich im Geruche eines blonden Germanen u. war seit jeher deshalb persona gratissima bei sämtlichen katholischen, antisemitischen u. ä. Blättern (auch in Wien) gewesen.« (Brief Schenker an Jonas 21.12.1933, transkribiert von John Rothgeb und Heribert Esser).

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und Jugend, der Lee Rothfarb kürzlich einen grundlegenden, materialreichen Aufsatz widmete, war von einer starken Polonisierung Galiziens geprägt, die durch eine Verfassungsänderung der Habsburgermonarchie ermöglicht wurde.52 Dasselbe Gesetz aber, das Staatsgrundgesetz von 1867 mit der rechtlichen Gleichstellung von jüdischen und christlichen Staatsangehörigen, bildete auch die Grundlage jüdischer Emanzipation. Hauptsächlich in Galizien und der Bukowina neu eingerichtete Gymnasien eröffneten begabten Kindern aus jüdischen Familien bis dahin ungeahnte Aufstiegschancen. Der Anteil an jüdischen Schülern war verhältnismäßig groß.53 Zugleich stieg der Anteil der polnisch sprechenden Bevölkerung in Cisleithanien von 14,9% im Jahr 1880 auf 17,8% 1910. Ursprünglich deutsch sprechende Jüdinnen und Juden in Galizien gaben zunehmend Polnisch als ihre Muttersprache an. 1880 nannten 60,4% der Jüdinnen und Juden Polnisch als Muttersprache, 1910 waren es 92,5%.54 Schenker wuchs in einer multiethnischen Kultur auf, in der Jiddisch, Deutsch, Polnisch und Ruthenisch gesprochen wurde. Er besuchte Gymnasien in Lemberg und Brzezany, Schulen mit polnischer Unterrichtssprache; Polnisch, Deutsch, Russisch, Latein und Griechisch gehörten zu den Unterrichtsfächern.55 In allen drei Schulen wurde er als Henryk Schenker geführt. Die Sta52 | Rothfarb, L.: Henryk Szenker, Galitzianer: The Making of a Man and a Nation, in: Journal of Schenkerian Studies 9 (im Erscheinen). Zum jüdischen Leben in Galizien weiterführend: Wróbel, Piotr: The Jews of Galicia under Austrian Polish Rule, 1869-1918, in: Austrian History Yearbook 25 (1994), S. 97-138; Brix, Emil: Assimilation in the Late Habsburg Monarchy, in: Hanni Mittelmann/Armin A. Wallas (Hg.): Österreich-Konzeptionen und jüdisches Selbstverständnis. Identitäts-Transfigurationen im 19. und 20. Jahrhundert, Tübingen 2001, S. 29-41, bes. S. 37. 53 | Vgl. Stourzh, G.: The Age of Emancipation, S. 17f. mit Bezug auf Burger, Hannelore: Sprachenrecht und Sprachgerechtigkeit im österreichischen Unterrichtswesen 18671918, Wien 1995; und Cohen, Gary B.: Education and Middle Class Society in Imperial Austria 1848-1918, West Lafayette, In. 1996. 54 | Brix, E.: Assimilation, S. 32, 37. 55 | Von 1876 bis 1879 war Schenker Schüler des Lemberger Franz-Joseph-Gymnasiums, danach ging er ein Jahr in das Gymnasium IV in Lemberg und setzte ab 1880 die Oberstufe im Gymnasium von Bereschany (Břzežany) fort, wo er 1884 als Klassenbester maturierte. Als Quellen dafür dient eine Reihe von Jahresberichten: Sprawozdanie dyrektora c. k. Lwowskiego Gimnazyum Im. Franciska Józefa za rok szkolny 1878 [und 1879], Lwow 1878-79 (Exemplare der Österreichischen Nationalbibliothek, Sign. 390.235-B), Sprawozdanie Dyrekcyi c.k. Gimnazyum IV. we Lwowie za rok szkolny 1880, Lwow 1880 sowie Sprawozdanie Dyrektora c. kr. wyższego gimnazyum w Břzežanach za rok szkolny 1881[-1884], Břzežany/Sambor 1881-84 (www.pbc.rzeszow.pl/dlibra/ publication?id=6, www.pbc.rzeszow.pl/dlibra/docmetadata?id=5039&from=publica​ tion, http://pbc.up.krakow.pl/dlibra/plain-content?id=1276 vom 23.3.2016.

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tistiken in den Jahresberichten der Schulen dokumentieren die Sogwirkung der polnischen Kultur. Von den 1047 Schülern des Franz-Joseph-Gymnasiums in Lemberg im Jahr 1879 (als Schenker die III. Klasse besuchte) waren knapp zehn Prozent jüdisch; doch nur insgesamt acht Schüler, also unter ein Promill, hatten der Statistik zufolge Deutsch als Muttersprache.56 Im deutschsprachigen Gymnasium Lembergs waren die Verhältnisse natürlich andere. Warum Schenker nicht diese Schule besuchte, in der es auch einen höheren Anteil jüdischer Schüler gab, ist nicht bekannt.57 Die VII. Klasse des Gymnasiums von Brzezany besuchten 1883 neben zwölf (ruthenisch sprechenden) griechischkatholischen Schülern neun römisch-katholische und acht jüdische Schüler; einer davon war Henryk Schenker. Laut den Angaben des Jahresberichtes hatten diese 17 Schüler Polnisch als Muttersprache, kein einziger Deutsch.58 Bei der Immatrikulation an der Universität Wien und den folgenden Inskriptionen gab er in den ersten fünf Semestern ebenfalls Polnisch als Muttersprache an. 1887/88 wechseln seine Angaben zwischen Polnisch und Deutsch.59 Dennoch ist von Polen und der polnischen Sprache in Schenkers Tagebuch kaum die Rede. Sein Deutsch ist fehlerfrei; dass er überhaupt Polnisch sprach, verrät das Tagebuch kaum je. Im Herbst 1913 erreichte ihn ein Bittgesuch eines früheren Klassenkameraden, für das er wenig Verständnis auf brachte. »Ueberdies«, vertraut er dem Tagebuch an, »ist der Brief in polnischer Sprache gehalten, die mir schon den Buchstaben nach heute ganz barbarisch ins Ohr klingt.«60 Dem heranwachsenden Schenker, der stets zu den ›Vorzugsschülern‹ zählte, war vermutlich auch der Weg offengestanden, ein polnischer Intellektueller zu werden. Nachdem er ausnahmslos polnische Gymnasien besucht hatte, lag es nahe, an eine polnischsprachige Universität wie etwa jene in Lemberg oder Warschau zu gehen. Der Sozialdemokrat Hermann Diamand (1860-1931) oder auch der Autor und Kritiker Wilhelm Feldman (1868-1919), die ebenfalls aus Galizien stammten, wandten sich als Juden bewusst der polnischen Kultur zu

56 | Sprawozdanie dyrektora c. k. Lwowskiego Gimnazyum Im. Franciska Józefa 1879, S. 53. 57 | Vgl. Rothfarb, L.: Henryk Szenker, Galitzianer.– Nicholas Cooks Annahme, Schenker habe deutsche Schulen besucht, ist zu korrigieren: Cook, N.: Schenker Project, S. 17, 202. 58 | Siehe Sprawozdanie Dyrektora c. kr. wyższego gimnazyum w Břzežanach 1883, S. 115. 59 | Siehe Chiang, Yu-ring: Heinrich Schenkers Wiener Gedenkstätten: Gedanken zu seinem sechzigsten Todesjahr, in: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft 30 (1996), S. 41-51. 60 | Tb 08.11.1913. Ich danke für den Hinweis Marko Deisinger.

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und befürworteten die Assimilation an die polnische Nation.61 Wenn Schenker Deutschland als seine Wahlheimat bezeichnete, hatte er Alternativen in seiner Wahl. Seine Zugehörigkeit zur deutschen Kultur war das Resultat einer bewussten Entscheidung. Wann genau sie fiel, wissen wir nicht. Vielleicht war Schenker zunächst einfach auch dem Vorbild Moriz Rosenthals (1862-1946) gefolgt und ging nach Wien, primär um dort als Musiker Karriere zu machen. Der gefeierte Pianist Rosenthal war nur sechs Jahre älter als Schenker; in Lemberg geboren, übersiedelte er bereits mit 13 Jahren nach Wien, um bei Rafael Joseffy und später bei Franz Liszt zu studieren. Bei Schenkers Entscheidung für das Deutsche dürfte die Grenzziehung zwischen katholisch-polnischer und jüdischer Kultur eine Rolle gespielt haben, mit der er sich, wohl ähnlich wie Martin Buber, in Galizien unweigerlich konfrontiert sah. Buber, der zehn Jahre nach Schenker das Franz-Joseph-Gymnasium in Lemberg besuchte, erzählte über die prägende Wirkung seiner Schulzeit. Er erinnert sich, dass, wie zwischen den Völkerschaften der Monarchie allgemein, auch in der Schule »gegenseitige Verträglichkeit ohne gegenseitiges Verständnis«62 herrschte. Das beziehungslose Nebeneinander zwischen der polnischen Mehrheit und einer jüdischen Minderheit drückte sich in der täglichen Praxis des Morgengebets aus. Täglich wurde die Grenze markiert zwischen denen, die dazugehörten, und den übrigen, den anderen: Um 8 Uhr ertönte das Klingelzeichen; einer der Lehrer trat ein und bestieg das Katheder, über dem an der Wand sich ein großes Kruzifix erhob. Im selben Augenblick standen alle Schüler in ihren Bänken auf. Der Lehrer und die polnischen Schüler bekreuzigten sich, er sprach die Dreifaltigkeitsformel und sie sprachen sie ihm nach, dann beteten sie laut mitsammen. Bis man sich wieder setzen durfte, standen wir Juden unbeweglich da, die Augen gesenkt. Ich habe schon angedeutet, daß es in unserer Schule keinen spürbaren Judenhaß gab; ich kann mich kaum an einen Lehrer erinnern, der nicht tolerant war oder doch als tolerant gelten wollte. Aber auf mich wirkte das pflichtmäßige tägliche Stehen im tönenden Raum der Fremdandacht schlimmer, als ein Akt der Unduldsamkeit hätte wirken können. Gezwungene Gäste; als Ding teilnehmen müssen an einem sakralen Vorgang, an dem kein Quentchen meiner Person teilnehmen konnte und wollte; und dies acht Jahre lang Morgen um Morgen: das hat sich der Lebenssubstanz des Knaben eingeprägt. 63

61 | Vgl. Mendelsohn, Ezra: Jewish Assimilation in Lvov. The Case of Wilhelm Feldman, in: Slavic Review 28/4 (1969), S. 577-590; neuerlich in: Andrei S. Markovits/Frank E. Sysyn (Hg.): Nationbuilding and the Politics of Nationalism. Essays on Austrian Galicia, Cambridge MA 1982, S. 94-110. 62 | Buber, Martin: Begegnung. Autobiographische Fragmente, Heidelberg 1978, S. 20. 63 | Ebd., S. 20f.

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Der von Buber beschriebenen ritualisierten Grenzziehung war Schenker sicherlich ebenso ausgesetzt. Die Entscheidung für Wien und die dort herrschende deutsche Kultur versprach ihm möglicherweise eine kulturelle Heimat in einer von ihm verehrten Tradition, ohne zugleich sein Judentum zu verraten. Schenker plädierte jedoch nicht dafür, die Grenzen zwischen den Konfessionen grundsätzlich zu kassieren, im Gegenteil: Am Theater in der Josefstadt sah er 1925 John Galsworthys Stück Loyalities (1921), das unter dem Titel Gesellschaft in der Inszenierung von Max Reinhardt gezeigt wurde.64 In einem umfangreichen Tagebucheintrag diskutierte Schenker die Problematik von Integration und Abgrenzung anhand der Figur des De Levis. Dieser junge Jude schließt sich einer Gruppe Gleichaltriger aus besseren Verhältnissen an, die ihn mit spöttischen Bemerkungen etwa über seine extravagante Kleidung auf Distanz halten. Schenker kritisiert den »zudringlichen« Charakter dieser Figur. Der »reiche Jude weiß von Anbeginn, daß er in gewissen Kreisen nur geduldet ist, drängt sich dennoch in diese ein u. – das der Bruch – ist er der erste, der den Vertretern jener Kreise den Vorwurf ins Gesicht schleudert, daß sie ihn nur dulden.« Er gerät in einen Konflikt und beharrt dabei auf seiner Sonderstellung, zu Unrecht, wie Schenker meint: »Für diesen Juden gab es nur einen Ausweg, sich in die Gesellschaft zu fügen, das hätte jeder vernünftige Mensch, ob Jude oder Christ, getan«.65 In der Auseinandersetzung mit Galsworthys Figur skizziert Schenker eine Maxime, an die er sich selbst hielt. Als Jude wie überhaupt als Individuum habe man zwei Möglichkeiten: Entweder man passe sich einer Gesellschaft an oder man meide sie, wenn man nicht dazu passt. Man sollte sein Anderssein nicht zum Ausdruck bringen, wenn man zugleich dazugehören möchte. Wer sich nicht einfüge, müsse sich fernhalten. Die Interpretation durch Reiter, Schenker störe an der Figur ein Mangel an Anpassung, greift meines Erachtens zu kurz.66 Denn genauso kritisiert er ein Zuviel an Anpassung: De Levi dränge sich in die Gesellschaft hinein, von der er weiß, dass er nur geduldet werde. Beides kann falsch sein, ein Zuviel oder ein Mangel an Anpassung. Assimilation um jeden Preis selbst ist nicht der Punkt, den Schenker markiert; er betont, dass der Selbstentwurf, der das eigene Verhältnis zu einer Gruppe souverän festlegt, und das entsprechende Verhalten übereinstimmen müssen. Zwei Jahre später erinnerte sich Schenker an das Stück, als er sich in einer vergleichbaren Situation befand. Er war von Guido Adler, dem Doyen 64 | Vgl. die ausführlichen Überlegungen in Reiter, A.: Literary perspective, S. 289291. 65 | Tb 07.05.1925. 66 | »Schenker criticizes De Levi’s behavior […] because the character makes no attempt to fit in.« Reiter, A.: Literary perspective, S. 290.

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der akademischen Musikwissenschaft, eingeladen worden, beim Kongress zur Beethoven-Zentenarfeier einen Vortrag zu halten. Das versprach die Chance zu internationaler Reputation als Beethoven-Experte. Die Sache ließ Schenker nicht kalt; er musste sich Vertrauten wie Otto Erich Deutsch und Anthony van Hoboken gegenüber dafür rechtfertigen, dass er am Ende die Einladung nicht angenommen hatte.67 Schenker hielt nicht viel von Adler und seiner »Horde von Bubiköpfen mit ihrer historischen Weisheit«. So wollte er »nicht den Fehler des Juden in Galsworthys ›Gesellschaft‹ machen […], in den Kreis der Musikhistoriker zu treten, und mich über sie lustig zu machen, wie ich es seit 35 Jahren tue.«68 Für seine Ablehnung wählte Schenker im Schreiben an Adler eine bemerkenswerte Formulierung. Man würde erwarten, er lehne ab, weil er von seiner bisher geübten Art über Beethoven zu schreiben nicht abgehen wolle und finde, dass diese zu einem Kongress nicht passe. Stattdessen wählte er den Begriff des inneren Zwangs, so als könnte er gar nicht anders als sich abgrenzen, sich nicht einfügen. Er fasste im Tagebuch das (nicht erhaltene) Schreiben an Adler so zusammen: »An Prof. Adler (Br[ief]): danke für die Einladung, lehne aber ab, weil ich unter dem innern Zwange stehe, mich in der bisher geübten Weise zu Beethoven zu äußern, die aber zu einem Kongreß nicht passe.«69 Die Formulierung verrät, dass sich hinter der Absage mehr verbirgt als eine bloße Laune, nämlich die Alternative zwischen Integration und Abgrenzung, die Schenker selbst durch die Anspielung auf Galsworthy mit seiner jüdischen Identität in Verbindung bringt. Auf seine Beethoven-Forschung angewandt, erscheint der Ausdruck ›innerer Zwang‹ zu hoch gegriffen; er gehört eher zu Schenkers jüdischer Identität, die ihn dazu zwingt, bestimmte Grenzen zu ziehen. Man könnte die Komponenten, die zu Schenkers Formulierung geführt haben, wohl so entfalten: So, wie ich als Jude einem inneren Zwang folge, mich abzugrenzen, weil ich anders meine Existenz aufgeben würde, so muss ich mich von dem Kongress fernhalten, in dessen Kreis ich nicht passe und nicht passen will.

S chenkers I dentität : D er be wusste A ussenseiter Eine zweite Spur, die man verfolgen kann, will man den Gegensatz zwischen Schenkers leiser jüdischer Identität und seinem lauten Bekenntnis zum Deutschtum verstehen, führt zu Schenkers Wagner-Lektüre. Cook sieht in Schenkers ›Projekt‹ ganz wesentlich einen ›Akt der Wiederaneignung‹ deutscher Kultur durch Schenker als Juden. Er stellt einen direkten Bezug zu 67 | Vgl. Tb 02.02.1927, 09.02.1927, 11.02.1927. 68 | Ebd., 11.02.1927. 69 | Ebd., 07.02.1927.

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Wagners Aufsatz Was ist deutsch? (entstanden 1865, veröffentlicht 1878) her, in dem der Komponist und Autor ›deutsche Tiefe‹ ›romanischer Oberflächlichkeit‹ gegenüberstellt und damit die zentralen Begriffe vorstellt, die Schenker mit Deutschtum verbindet: ›Tiefe‹, ›Genie‹, ›Geist‹ und ›Logik‹. Doch Schenker, so Cook, verschiebe den Fokus und belege die Vorzüge des Deutschen mit einem anderen Repertoire. »Schenker redefines the German in music: he wrenches it away from the Wagnerians and relocates it back in time to the Viennese classics, back to a legacy that is common to Jew and gentile.« 70 Der Antisemit Wagner habe Schenker teils zur Aneignung seiner Gedanken, teils – darauf auf bauend – zu konzeptionellen Gegenentwürfen provoziert. Schenker übernehme aus Wagners wirkungsmächtigem Aufsatz Das Judenthum in der Musik die Strategie, das Eigene durch Abgrenzung von einem verächtlich gemachten Anderen zu definieren, verkehre dabei aber die Zuschreibung der Eigenschaften: Aus der angeborenen Oberflächlichkeit jüdischer Musiker bei Wagner werde die Oberflächlichkeit der Neudeutschen Komponistenschule bei Schenker.71 Das ist vielleicht nicht mehr als simple Rhetorik, ein Spiel mit Worten. Allerdings schreibe Wagner, dessen Antisemitismus sich mit der Entscheidung vertrug, Hermann Levi den Parsifal dirigieren zu lassen, Jüdinnen und Juden auch die Eigenschaft zu, besonderes Verständnis für fremde Kulturen zu entwickeln – eine Eigenschaft, die in Wagners Einschätzung Juden und Deutsche teilten. Die Umkehrung von Wagners antisemitischer Polemik sei in dessen Schriften bereits angelegt. 1869 wurde sein Aufsatz zum Judentum in der Musik neuerlich aufgelegt. Cook zitiert das Nachwort, in dem Wagner einräumt, dass ›geistreiche‹ Juden sich längst entschlossen hätten, »nicht nur mit uns, sondern in uns zu leben« [to live among us], und eine Art von Assimilation propagiert, die beiden Seiten, Deutschen und Juden, nütze: Das Judentum als fremdes Element solle »uns in der Weise assimilirt werden, daß es mit uns gemeinschaftlich der höheren Ausbildung unsrer edleren menschlichen Anlagen zureife«.72 Die Sonderstellung der Juden und die Mission ihrer besten Köpfe innerhalb der deutschen Kultur ist in Wagners Schriften Was ist deutsch und besonders Vom Judenthum in der Musik vorgezeichnet. Doch schießt es über das Ziel hinaus, wie Cook zu behaupten, Wagner sehe im Judentum die Erlösung der deutschen Kultur (»redeemers of German music«): »Put bluntly, the conti70 | Cook, N.: Schenker Project, S. 86-88, hier S. 88. 71 | Ebd., S. 229: »Wagner, the Anti-Semite in relation to whom […] Schenker forged much of his thinking through opposition or appropriation«; S. 235: »Schenker admits Wagner’s strategy of defining the self in opposition to a vilified other, but reverses the polarity.« 72 | Wagner, Richard: Das Judenthum in der Musik, Leipzig 1869, S. 55, 57, in (etwas abweichender) Übersetzung zitiert bei Cook, N.: Schenker Project, S. 236.

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nuation of German music is in the hands of the Jews«. Eine solche Lesart kann für jene Passagen, die Cook zitiert, nicht überzeugen.73 Schenker aber sah sich in dieser Rolle. Er sah sich gerade als Jude berufen, die deutsche Musik zu retten. Er verstand sich als eine Art Prophet, als Moses der Musikkultur. Diese Sendung kommt etwa in seiner Grabinschrift zum Ausdruck, die er selbst für sich formulierte: »Hier ruht, der die Seele der Musik vernommen, ihre Gesetze im Sinne der Großen verkündet wie Keiner vor ihm.« 74 In einem Brief an seinen Schüler Jonas schrieb Schenker ähnlich von seiner »Mission« und der »musikalischen Offenbarung«, die er der Welt und den Deutschen überbringe. Die »Sache der deutschen Musikgenies, die, von den Deutschen unverstanden, verraten, geschändet, seit Langem aber Menschheitsgut geworden« sei, sei bestimmt, »nun eine neue Weltbotschaft des Judentums für die nächsten Ewigkeiten zu sein«.75 Dass sich Schenkers Mission – seine Mission als Jude – gerade aus dem Gedankenfundus des Antisemiten Wagner herleiten sollte, dessen Schaffen der reife Schenker ja so kritisch gegenüber stand, gehört zu den überraschenden Pointen von Cooks Buch. Schenker sieht sich deutscher als die Deutschen; er, der Jude, will der bessere Deutsche sein. Und diese Überlegenheit erlaubt es ihm, sein Deutschtum so überdeutlich auszustellen. Vor dem Hintergrund seiner polnischen Sozialisation gewinnt die Entscheidung, ein Deutscher zu sein, eine neue Dimension. Sie zeigt Schenkers Bereitschaft, seinen ›inneren Zwang‹, Grenzen zu ziehen, einen Sonderweg einzuschlagen, anders zu sein. Für arische Deutschnationale ist das Deutschtum ein Erbe, das es zu verteidigen gilt; für Henryk Schenker aber bedeutete es das Gelobte Land, den Abschied von der Kultur seiner Kindheit und das Terrain, in dem er als Jude seine Mission erfüllen könne.

73 | Cook, N.: Schenker Project, S. 236-238, hier S. 237. Auch dass Chopin, Smetana und Scarlatti, gerade weil sie Außenseiter sind, das Wesen der deutschen Musik treffen, ist so in Schenkers Texten nicht zu lesen und muss ihm von Cook in den Mund gelegt werden, siehe S. 238-242. 74 | Zusatz vom 20. Mai 1934 zu Schenkers Testament, Schenker Documents Online, OJ 35/6 [1], transkribiert von Ian Bent. Der Text ist auf Schenkers Grab am Wiener Zentralfriedhof zu lesen. 75 | Brief Schenker an Jonas, 21.12.1933, zitiert auch bei Cook, N.: Schenker Project, S. 208.

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(Nicht)verortet Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeiten in Charlotte Salomons Leben? Oder Theater? Melanie Unseld

Charlotte Salomon (1917-1943) schrieb, malte und komponierte zwischen 1940 und 1942 den Zyklus Leben? Oder Theater?.1 Im südfranzösischem Exil entstand ein künstlerisches, insgesamt 1325 Blätter umfassendes, text-bildnerisches Werk, das dem begrenzten Ort, der ständigen Bedrohung und der eng bemessenen Zeit im Exil einen Reichtum an künstlerischen Grenzüberschreitungen abrang. Es ist der Lebensrückblick einer jungen Frau, in dem in vielfältig verschachtelten Erzählebenen die Geschichte Charlotte Salomons, ihrer jüdischen Familie, der Musikkultur der 1930er Jahre und auch politische Ereignisse zwischen 1913 und Salomons Exil-Gegenwart Revue passieren. Einem Genre lässt sich diese künstegrenzenüberschreitende Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte nicht recht zuordnen und so sind viele Perspektiven in der künstlerischen wie wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Charlotte Salomons intermedialem Werk Leben? Oder Theater?2 denkbar. Eine die1 | Der gesamte Zyklus ist einsehbar auf der Homepage des Jüdischen Museums Amsterdam: https://charlotte.jck.nl/section (letzter Zugriff: 05.06.2018). 2 | Einen Einblick in den Zyklus gibt: Salomon, Charlotte: Leben? Oder Theater? Ein autobiographisches Singspiel in 769 Bildern. Mit einer Einleitung von Judith Herzberg, Köln 1981; sowie die Website www.charlotte-salomon.nl/collectie/thema’s/charlottesalomon vom 23.02.2017. Vgl. außerdem: Schmetterling, Astrid: Charlotte Salomon 1917-1943. Bilder eines Lebens, Berlin 2001. In den letzten Jahren hat Salomons Werk Leben? Oder Theater? zahlreiche Ausstellungen erlebt und internationale Aufmerksamkeit erfahren. Über die Künstlerin, ihre Lebensgeschichte und ihre Gouachen sind in mehreren Sprachen Bücher erschienen, Erinnerungsliteratur, wissenschaftliche Arbeiten, ein Roman sowie mehrere Spiel- und Dokumentarfilme. 2014 gaben die Salzburger Festspiele bei Marc-André Dalbavie (Komposition) und Barbara Honigmann (Libretto)

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ser Perspektiven ist, Salomons Singespiel als künstlerisch-autobiographische Selbstreflexion und als Markierung der eigenen Liminalität zu verstehen, als Versuch einer künstlerischen Selbstverortung, entstanden in einer isolierten Exilsituation, in der Selbstverortung in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung darstellte. Wenn im Folgenden nach künstlerischen, vor allem musikbezogenen Praktiken der gelingenden und misslingenden Verortung in Leben? Oder Theater? gefragt wird, ist Zweifaches vorab zu klären: In welcher Weise kann von kultureller Mehrfachverortung die Rede sein, wenn der rein geografische Radius den kulturellen Horizont, in den sich Salomon explizit selbst verortet – die europäische Kulturgeschichte –, nicht überschreitet? Dies ist die Frage nach dem konkreten Verständnis von kultureller Mehrfachverortung. Zum anderen stellt sich die Frage, warum insbesondere die musikbezogene Ebene des in über 1325 Gouachen vorliegenden »Singespiels« in den Blick genommen wird. Dies liegt, soviel sei vorausgeschickt, nur bedingt an der eigenen disziplinären Brille (und der Einsicht in die Grenzen eigener interdisziplinärer Mehrfachverortung). Claudia Ulbrich, Hans Medick und Angelika Schaser leiten im Vorwort des 2012 erschienen Bandes Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven das Konzept einer kulturellen Mehrfachzugehörigkeit vom (sich des Dilemmas seiner »verkürzende[n] Denkannahmen«3 wohl bewussten) Begriff der ›Transkulturalität‹ ab, das sie nicht nur auf Prozesse und Praktiken »zwischen Kulturen, quer durch unterschiedliche Kulturen« beziehen, sondern »auch innerhalb kultureller Zusammenhänge«.4 Dies ist insofern für die Perspektive auf Selbstzeugnisse interessant, da durch dieses Verständnis nicht nur nach Spuren konkreter Wanderungserfahrung gesucht wird, sondern auch nach einer »besondere[n] Form der Person[en]konstituierung in und gegenüber multiplen kulturellen Zugehörigkeiten«.5 Dadurch sei nicht nur die »hybride die Oper Charlotte Salomon in Auftrag, uraufgeführt in einer Inszenierung von Luc Bondy am 28. Juli 2014, und 2015 wurde die Ballettoper Charlotte Salomon. Der Tod und die Malerin von Michelle DiBucci in der Choreografie und Inszenierung von Bridget Breiner im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen uraufgeführt. Man kann mithin von einer internationalen und intermedialen Charlotte Salomon-Rezeption sprechen, die selbst transkulturell verfasst ist, und die einer eigenen Betrachtung wert ist. Vgl. die Dissertation von Elisabeth Reda (Oldenburg), die in diesem Zusammenhang im Kontext musikwissenschaftlicher und transmedialer Erinnerungsforschung im Entstehen begriffen ist. 3 | Ulbrich, Claudia/Medick, Hans/Schaser, Angelika: Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, in: Dies. (Hg.): Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, Köln/Weimar/Wien 2012, S. 1-20, hier S. 16. 4 | Ebd., S. 15. 5 | Ebd., S. 18.

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Subjektivität von Migranten als displaced persons« beschreibbar, sondern auch kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten, die auf das (auch ortsgebundene) Agieren in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen zurückgehen und die im Handeln wie im Selbstverständnis des oder der Handelnden integriert werden (müssen), kurz: »kulturelle Mehrfachzugehörigkeit als prägendes Moment personaler Identität«.6 Von beiden Möglichkeiten kultureller Mehrfachzugehörigkeit macht Leben? Oder Theater? in hohem Maße Gebrauch. Einerseits prägt sich hier eine »hybride Subjektivität« aus,7 die sich aus der Exilerfahrung ableiten lässt, andererseits auch jene Mehrfachzugehörigkeiten »innerhalb kultureller Zusammenhänge«, nämlich der verschiedenen Künste und Kunstsphären (›Hochkultur‹, Alltagskultur etc.), der Selbst- und Fremdlebensbeschreibung, der Konfessionen, Generationen, den Räumen und Orten, Heimat und Exil, Sprachen und Sprachstilen u.v.m. Am Beispiel der musikkulturellen Mehrfachzugehörigkeit lässt sich dies besonders anschaulich machen, zum einen, da das ›Feld Musik‹ für die Malerin Salomon bereits eine Doppelverortung darstellt, zum zweiten, da ihre Darstellung der Musik auffallend mehrdimensional ist (wovon noch die Rede sein wird), und schließlich, weil Singen in Leben? Oder Theater? als mehrfachverortendes Element eine konstituierende Rolle spielt: inhaltlich, metaphorisch und formal. Anders gesagt: Eine musikalische Praxis, das Singen, ist das Element der (Selbst-)Verortung in der Liminalität, freilich ein Singen, das mehrfach ›gebrochen‹ ist, so dass es auch für das Auflösen der (Möglichkeit einer) Selbstverortung steht. Auf den ersten Blick ist Leben? Oder Theater? eine pseudonymisierte Familiengeschichte, partiell biografisch (etwa die ›Biographie‹ Paula LindbergSalomons), partiell auch autobiografisch. Und auch wenn eine rein autobiografische Lesart nicht zu Unrecht in der Kritik steht,8 spielt die Frage nach der auto|biografischen Qualität des Werkes dann eine Rolle, wenn man davon 6 | Ebd. 7 | Vgl. dazu Unseld, Melanie: Biographie und Musikgeschichte. Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie, Köln/Weimar/Wien 2014, S. 305-312. 8 | Das Werk sei, so betont Gertrud Koch, »von seiner eigenen Geschichte überdeterminiert« (Koch, Gertrud: Bilderverbot als Herkunftsmetapher. Zu Charlotte Salomons Buch ›Leben oder Theater?‹, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 12 (1993), S. 5874, hier S. 60). Zu betonen ist daher, dass hier keiner rein autobiografischen Lesart das Wort geredet sei, im Gegenteil: als Egodokument betrachtet und mit der Perspektive auf die Frage einer kulturellen Mehrfachzugehörigkeit scheint die Hybridität des Werkes auch in puncto seines autobiografischen Gehalts besonders gut herauszustellen zu sein.

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ausgeht, in Leben? Oder Theater? eine kulturelle Mehrfachverortung erkennen zu können. Zunächst ist zu konzedieren, dass Salomon mit autobiografischen Topoi spielt. Aber sie dekomponiert auch das Autobiografische, indem sie mehrere, generationen- und künsteübergreifende, künstliche Künstlerinnen-Auto|Biografien konzipiert und ineinandergreifen lässt: die der Paulinka Bimbam (alias Lindberg-Salomon) und ihre eigene. Aber Komposition und Dekomposition können als Teil der Mehrfachverortung verstanden werden, insofern das Werk eine künstlerische Erinnerungsarbeit inmitten eigener Liminalität darstellt – mithin auch als Egodokument lesbar ist. Unbenommen davon ist freilich, dass zu den kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten auch nicht-biografische zu zählen sind: Salomons Texte aus Leben? Oder Theater? können partiell als Roman, als gesangstheoretische oder musik- und kunstästhetische Abhandlung, als Tageszeitung bzw. Geschichtsdarstellung oder auch als Comic gelesen werden. Das Singespiel könnte aufgeführt werden, zugleich lässt die zum Teil äußerst narrative Bildgestaltung und der zuweilen quasi filmmusikalische Charakter der Musik eine ›Lesart als Film‹ zu. Anders gesagt: Leben? Oder Theater? ist in besonderem Maße hybrid und insofern ein besonders interessanter Gegenstand für die Frage der kulturellen Mehrfachzugehörigkeit, da die Komplexität des Werkes und seine genuin intermediale Anlage bereits auf die Zugehörigkeit zu verschiedenen Genres, Medien und Künsten verweisen. Ohne dass sie die musikbezogenen Genres aufruft, beschreibt die Kunsthistorikerin Doris Hansmann allein die die visuellen, literarischen und theatralen Künste betreffenden Ebenen als herausfordernd: Mit traditionellen kunsthistorischen Kriterien ist dieses Werk nicht zu fassen: Seine Gliederung in Vorspiel, Hauptteil und Nachwort, Akte und Aufzüge entspricht der Struktur eines Bühnenstücks, filmisch angelegte Sequenzen mit Vor- und Rückblenden, Nahaufnahmen und wechselnden Perspektiven lassen die Nähe zum expressionistischen Film erkennen, auf narrativer Ebene erzählt Leben? Oder Theater? einen Familienroman, und auf der Bildebene schließlich läßt es sich als gemalte Autobiografie bezeichnen. 9

Hinzu kommt, dass sich die autobiografische Verfasstheit, angesiedelt zwischen Fiktionalität und Faktizität, auf verschiedenen Ebenen abspielt, die Selbstverortung dabei zwischen diesen Ebenen changiert, mit der Salomon auf Johann Wolfgang von Goethes Autobiografie Dichtung und Wahrheit anspielt: »Die Binnenspannung von erinnerter Lebensgeschichte und Dichtung im Sin9 | Hansmann, Doris: ›…ich fühl es, ich kann nicht länger leben!‹ Selbstmord, Todessehnsucht und Identität in Charlotte Salomons ›Leben? oder Theater?‹, in: Ute JungKaiser (Hg.): ›…das poetischste Thema der Welt‹? Der Tod einer schönen Frau in Musik, Literatur, Kunst, Religion und Tanz, Bern [u.a.] 1999, S. 227-248, hier S. 229.

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ne einer ›höheren Wahrheit‹, wie sie Goethe bei seiner Titelwahl intendierte, hat sich verschärft zu einer Grundirritation an der Erinnerung selbst und an der Darstellbarkeit von Lebensgeschichten.«10 Solche kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten, deren Spuren in Text, Bild und Musik zu verfolgen sind, sind in Salomons Positionierung als »vielschichtig[es] transkulturelle[s] Selbst«11 lesbar. Leben? Oder Theater?, die Loseblattsammlung von über 1300 Gouachen, besitzt neben ihrer (offensichtlichen) Bildebene eine Text- und eine theatrale Ebene, aber insbesondere auch eine Musikebene. Zwischen den Gouache-Blättern sind zum Teil Textseiten gelegt, zum Teil ist Text direkt in die Bildsprache integriert, als Teil der visuellen Gestaltung eines Blattes. Musik ist ebenfalls vielfach interpoliert, sowohl visuell (Noten, Notenblätter etc.) als auch inhaltlich (u.a. Aktivitäten des Jüdischen Kulturbundes, die Biografie der Sängerin Lindberg-Salomon). Musik wird auch thematisiert durch das Aufrufen von Klingendem, etwa wenn annotiert ist, welche Musik ›gespielt‹ bzw. gesungen (vorgestellt) werden soll. Die Gattungsbezeichnung ›Singespiel‹ verweist auf die immanente Theatralität von Leben? Oder Theater?, zugleich ist sie Hinweis auf die enorme Bedeutung des Singens bzw. Gesangs für das Gesamtwerk.12 Musik ist auf diese Weise im gesamten Zyklus und in umfassendem Maße Gegenstand, Medium und Metapher: Gegenstand, etwa wenn es um die Ausbildung und Karriere der Sängerin Paula Lindberg oder den Gesangspädagogen Alfred Wolfssohn alias Amadeus Daberlohn geht; Medium, indem verschiedene Medialitäten von Musik gezeichnet, benannt oder thematisiert werden, indem auch das Medium Musik als beobachtetes Objekt und zugleich als Beobachtungsinstrument aufscheint, und schließlich auch Metapher, wenn Stimme und Stimmlosigkeit politisch gedeutet werden (etwa in den Bemühungen von Kurt Singer alias Doktor Singsang, der jüdischen Künstlerinnen und Künstlern innerhalb des Jüdischen Kulturbundes gegen alle Diskriminationen weiterhin eine Stimme zu geben versucht). Diese Komplexität verdichtet sich in der Bedeutung des Gesangs für Leben? Oder Theater?. Dieser wird nicht nur immer wieder Gegenstand inhaltlicher Darstellung, sondern insbesondere auch – für die Analyse einer in einem Egodokument greif baren kulturellen Mehrfachzugehörigkeit besonders wichtig – als Ausdruck der Erinnerung aufgerufen, sogar als einzig möglicher Aus-

10 | Unseld, M.: Biographie und Musikgeschichte, S. 306. 11 | Ulbrich, C./Medick, H./Schaser, A.: Selbstzeugnis und Person, S. 18. 12 | Dazu Unseld, Melanie: Die eigene Biographie als Singespiel – Zur Musik in Charlotte Salomons ›Leben? oder Theater?‹, in: Cordula Heymann-Wentzel/Johannes Laas (Hg.): Musik und Biographie. Festschrift für Rainer Cadenbach, Würzburg 2004, S. 443461.

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druck von Erinnerung, als Katalysator der Erinnerungsmöglichkeit. Im Vorwort schreibt Salomon: Die Entstehung der vorliegenden Blätter ist sich folgendermassen vorzustellen: Der Mensch sitzt am Meer. Er malt. Eine Melodie kommt ihm plötzlich in den Sinn. Indem er sie zu summen beginnt, bemerkt er, dass die Melodie genau auf das, was er zu Papier bringen will, passt. Ein Text formt sich bei ihm, und nun beginnt er die Melodie mit dem von ihm gebildeten Text zu unzähligen Malen mit lauter Stimme solange zu singen, bis das Blatt fertig scheint. Oftmals werden mehrere Texte gebildet und es entsteht ein Doppelgesang, oder es passiert sogar, dass alle Darzustellenden Personen einen verschiedenen Text zu singen haben, womit ein Chorgesang entsteht.13

An dieser Stelle, prominent im Vorwort formuliert, nimmt Salomon eine künstlerische (Selbst-)Verortung in Malerei und Gesang vor, indem sie in der Überkreuzung von Fiktion und Realität und in der expliziten Interdependenz von Malen und Singen den Ursprung der Entstehung von Leben? Oder Theater? benennt. Zugleich aber entsteht gerade durch diese Überkreuzung Eigentümliches: eine Zurücknahme des agierenden, Erinnerung produzierenden Selbst und zugleich eine Ausdifferenzierung der dargestellten Personen durch Malen, Summen und textbasiertes Singen. Salomon, Urheberin des Egodokuments, entsubjektiviert sich (»der Mensch«), während die »darzustellenden Personen« durch individuellen Gesang (»verschiedenen Text zu singen«) an Kontur gewinnen. Was im Vorwort angelegt ist, konkretisiert sich in vielen Stufen dann auch auf den Gouachen und ihren Zwischenblättern – die Frage der Individualität im Gesang bzw. durch Singen, kulminierend in der Auflösung der Stimme in Analogie zur seelenverlorenen Seejungfrau Hans Christian Andersen’scher Prägung,14 kulminierend aber auch in einer umfänglichen und die eigene Lebensgeschichte in familial-biografischen wie kulturellen Versatzstücken zusammensetzenden (= komponierenden) Rückschau. Salomon nimmt, ohne Rücksichten auf auto|biografische Faktizität, mehrfach Bezug auf die europäische Kultur- und Musikgeschichte, setzt quasi mosaikhaft Topoi und Motive zu ihren fiktionalisierten Künstlerinnen-Auto|Biografien zusammen. Das betrifft Motive der Kunstgeschichte (die hier nicht weiter betrachtet werden) und mehrfach auch der Musikgeschichte, hierzu nur zwei knappe Beispiele. Die europäische Kulturgeschichte kennt zahlreiche künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Motiv ›Der Tod und das Mädchen‹;15 aus der Mu13 | Salomon, C.: Leben? Oder Theater?, S. 5f. 14 | Vgl. Unseld, M.: Biographie als Singespiel, S. 460-461. 15 | Zur Motivgeschichte Tod/Weiblichkeit vgl. die kulturgeschichtliche Studie von Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München

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sikgeschichte wohl am bekanntesten ist dabei Franz Schuberts gleichnamiges Lied und der darauf basierende Variationensatz aus dem d-Moll-Streichquartett D 810. Dass Salomon ein Bild mit dem Titel »Der Tod und das Mädchen« gemalt habe, wie sie auf mehreren Gouachen behauptet, wäre angesichts der regen Motivgeschichte zwar nicht verwunderlich, ist aber nicht nachweisbar. Die Frage der Faktizität steht daher nicht im Vordergrund, bemerkenswert aber ist, welch großen Raum die Diskussionen um eben dieses (möglicherweise fiktive) Bild im Zyklus einnimmt: »Charlotte Kann« (alias Salomon) ist hier im Dialog mit »Daberlohn«, der nicht nur als musikalisches Pendant zu »Kann« figuriert, sondern auch als (Wunsch-)Gesprächspartner über ästhetische Fragen. Im Motiv von ›Der Tod und das Mädchen‹ überkreuzen sich mithin mehrere auto|biografische und fiktive Ebenen, wobei das Fiktionale als Moment einer tatsächlichen (und damit nicht-fiktionalen) Selbstverortung in jener komplexen Motivgeschichte von ›Der Tod und das Mädchen‹ zu verstehen ist. Sie ist damit Teil des Selbstverortungsprozesses von Salomon. Mit dem zweiten Beispiel wird dieser Selbstverortungsprozess möglicherweise noch deutlicher. Der Chor »Wir winden Dir den Jungfernkranz« aus Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz ist gewissermaßen der musikalische Grundbass, der die Darstellung der Lebensgeschichte von Salomons Mutter begleitet. Er zieht sich wie eine leitmotivisch konzipierte ›Filmmusik‹ durch die gesamte biografische Erzählung dieses Abschnitts, inhaltlich passgenau ausgehend von der Hochzeitsszene selbst bis hin zum Freitod der Mutter. Damit nimmt die Melodie eine besondere Funktion ein: Von einer passenden musikalischen Begleitung der Hochzeit bis zu den düsteren Todesvisionen begleitet der Jungfernchor fast penetrant die gemalten Lebensstationen der Mutter und das Überleben der Tochter. Er scheint omnipräsent, auch und gerade wenn er inhaltlich nicht zu den dargestellten Szenen passt. Diese Omnipräsenz aber erinnert stark an die 1827 veröffentlichten Briefe aus Berlin von Heinrich Heine, in denen der Autor sich vor der allüberall hörbaren Melodie »Wir winden Dir den Jungfernkranz« vergeblich in Sicherheit zu bringen versucht, anspielend auf den immensen Erfolg des Freischütz, im Zuge dessen vor allem der Jungfernchor zu einem veritablen Gassenhauer avancierte: Bin ich mit noch so guter Laune des Morgens aufgestanden, so wird doch gleich alle meine Heiterkeit fortgeärgert, wenn schon früh die Schuljugend, den ›Jungfernkranz‹ zwitschernd, an meinem Fenster vorbeyzieht. Es dauert keine Stunde, und die Tochter meiner Wirthin steht auf mit ihrem ›Jungfernkranz‹. Ich höre meinen Barbier ›den Jungfernkranz‹ die Treppe heraufsingen. Die kleine Wäscherin kommt ›mit Lavendel, Myrth’ 1994. Außerdem auch Guthke, Karl S.: Ist der Tod eine Frau? Geschlecht und Tod in Kunst und Literatur, München 1997; Unseld, Melanie: ›Man töte dieses Weib!‹ Tod und Weiblichkeit in der Musik um 1900, Stuttgart/Weimar 2001.

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Melanie Unseld und Thymian.‹ So geht’s fort. Mein Kopf dröhnt. Ich kann’s nicht aushalten, eile aus dem Hause und werfe mich mit meinem Aerger in eine Droschke. Gut, daß ich durch das Rädergerassel nicht singen höre. Bey ***li steig’ ich ab. Ist’s Fräulein zu sprechen? Der Diener läuft. Ja. Die Thüre fliegt auf. Die Holde sitzt am Pianoforte, und empfängt mich mit einem süßen: ›Wo bleibt der schmucke Freiersmann, Ich kann ihn kaum erwarten.‹ – Sie singen wie ein Engel! ruf’ ich mit krampfhafter Freundlichkeit. ›Ich will noch einmal von vorne anfangen‹, lispelt die Gütige, und sie windet wieder ihren Jungfernkranz, und windet, und windet, bis ich selbst vor unsäglichen Qualen wie ein Wurm mich winde, bis ich vor Seelenangst ausrufe: ›Hilf Samiel!‹ Und nun den ganzen Tag verläßt mich nicht das vermaledeite Lied. Die schönsten Momente verbittert es mir. Sogar wenn ich bey Tisch sitze, wird es mir vom Sänger Heinsius als Dessert vorgedudelt. Den ganzen Nachmittag werde ich mit ›veilchenblauer Seide‹ gewürgt. Dort wird der Jungfernkranz von einem Lahmen abgeorgelt, hier wird er von einem Blinden heruntergefidelt. Am Abend geht der Spuk erst recht los. Das ist ein Flöten, und ein Gröhlen, und ein Fistuliren, und ein Gurgeln, und immer die alte Melodie. Das Kasparlied und der Jägerchor wird wohl dann und wann von einem illuminirten Studenten oder Fähndrich, zur Abwechselung, in das Gesumme hineingebrüllt, aber der Jungfernkranz ist permanent; wenn der Eine ihn beendigt hat, fängt ihn der Andere wieder von vorn an; aus allen Häusern klingt er mir entgegen; Jeder pfeift ihn mit eigenen Variationen; ja, ich glaube fast, die Hunde auf der Straße bellen ihn.16

Diese Art einer Omnipräsenz des »vermaledeiten« Jungfernchores begegnet auch in Salomons Mutter-Erzählung. Eine tatsächliche Vorliebe der Mutter für dieses Stück Musik ist nicht verbürgt. Auch eine inhaltliche Begründung für die Verwendung des Jungfernchores – als Hochzeitslied und selbst noch die Anspielung auf die Todesmetapher ergibt Sinn17 – liefert allenfalls eine gewisse Plausibilität für den biografischen Rahmen Hochzeit/Tod. Die Omnipräsenz und Alltagsdurchdringung des Jungfernchores aber erhellt sich erst, wenn sie – mit Rekurs auf Heines Berliner Soundscape-Erzählung – auf eine musikkulturelle Atmosphäre in Berlin verweist, die aufzurufen Salomon hier wichtig gewesen zu sein scheint, mitsamt den bei Heine nachlesbaren Verweisen auf die Durchdringung von Hoch- und Alltagskultur sowie auf die gelingende bzw. auch nicht gelingende Assimilation bzw. Akkulturation. Beides aber steht auch für eine potentielle transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit und entspre16 | Heine, Heinrich: Briefe aus Berlin, Nr. 1, Hamburg 1827, S. 299-308, hier: S. 301307. 17 | Vgl. Weber, Carl Maria von: Der Freischütz, 3. Akt, 2. Szene: Als Ännchen die Schachtel mit dem erwarteten Brautkranz öffnet, liegt darin versehentlich eine Totenkrone.

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chender -verortung. Salomons Mutter (ähnlich wie Heine) scheitert an einer solchen Selbstverortung, sie geht (anders als Heine) in den Freitod. Beiden Beispielen ist eigen, dass Salomon kanonisiertes musikalisches Material verwendet, nicht so sehr, um Auto|Biografisches zu fixieren, sondern um die musik(trans-)kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten der Figuren bzw. ihrer selbst im europäischen bzw. explizit auch berlinischen Kulturkreis herauszustellen. Diese (Selbst)Verortung ist Salomon zugleich auch Anlass, das Scheitern bzw. die Auflösungsprozesse dieser Verortung zu thematisieren. Salomon, im südfranzösischen Exil zum Nicht-Handeln-Können gezwungen, zur Nicht-Teilhabe am kulturellen Leben, das ihr aus ihrer Berliner Heimat vertraut war, entschließt sich, die erzwungene Nicht-Teilhabe in ein anderes, selbstgewähltes und – wie sie es nennt – »verrückt Besonderes«18 Handeln zu wenden. Sie entschließt sich, die künstlerische Arbeit in der Form von Erinnerungsarbeit als Substitut für Teilhabe zu verstehen, um sich so zum HandelnKönnen zu ermächtigen: Im letzten Teil des Zyklus, der Erzählfluss ist in der Gegenwart angekommen, findet sich der Dialog mit dem Großvater: Charlotte: »Weißt du, Großpapa, ich hab das Gefühl, als ob man die Welt wieder zusammensetzen müßte.« Großvater: »Nun nimm dir schon endlich das Leben, damit dies Geklöne endlich aufhört.«19

Für den desillusionierten Großvater ist nur im Suizid der Endpunkt jenes Auflösungsprozesses denkbar. Doch Salomon entscheidet sich für eine WiederVerortung: Die Idee, die innerlich und äußerlich aus den Fugen geratene Welt wieder ›zusammenzusetzen‹, wird konkret als Ausgangspunkt zur Arbeit an Leben? Oder Theater? benannt. Und mehr noch: Salomon nimmt die Idee des Zusammensetzens als Grundmodell ihrer künstlerischen Arbeit. Die Gouachen sind lose Blätter, sie lassen sich aufgrund der zuweilen fehlenden Seitenzahlen nicht durchgehend chronologisieren. Und auch ästhetisch verfolgt Salomon den Gedanken des Zusammensetzens – der verschiedenen Künste, der Stilhöhen, des Bildauf baus etc. Die Montage wird auf diese Weise zum sinnstiftenden Modell für Erinnerung, aber auch Sinnbild des ›Stückwerks‹ der Weiterexistenz der Person Salomon. In einer Zeit, in der »die Welt immer mehr zerfiel«20 und in der »niemand mehr imstande war, einem anderen zuzuhören, sondern gleich begann, von sich selbst zu erzählen«, wurde das Zusammensetzen von Erinnerungen für Salomon zur Möglichkeit, der Zerris18 | Salomon, C.: Leben? Oder Theater?, S. 775. 19 | Ebd., S. 774. 20 | Dieses und die folgenden Zitate sind dem Nachwort entnommen, ebd., S. 775783.

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senheit der eigenen Existenz produktiv zu begegnen, das Selbst »aus der Tiefe ihrer Welt neu zu schaffen«. In der Sammlung der Erinnerungen scheint ihr Selbstverortung (zumindest temporär) wieder möglich gewesen zu sein. Wie existentiell dieser Prozess für Salomon gewesen ist, spricht sie im Nachwort aus: »Und sie sah sich vor die Frage gestellt, sich das Leben zu nehmen oder etwas ganz verrückt Besonderes zu unternehmen. […] Und dabei entstand: Das Leben oder das Theater???« Das »verrückt Besondere[]« aber bezieht sich nicht auf die Tatsache, dass Salomon ihre Lebens- und Familiengeschichte erinnert und aufzeichnet, sondern die Art und Weise, wie sie dies tut, wobei der Grundgedanke einer (trans-)kulturellen Mehrfachzugehörigkeit eine zentrale Rolle spielt. Das Nicht-Handeln können und die Rückkehr zu (teilweise möglicher) Handlungsmacht durch künstlerische Produktion hatte sie in Berlin selbst miterlebt und thematisiert dies auch auffallend ausführlich in ihrem Zyklus. Denn vor der Exilerfahrung, im Berlin der 1930er Jahre, hatte sie den sukzessiven Ausschluss jüdischer Künstlerinnen und Künstler aus dem vitalen Kulturleben der Stadt erlebt, hatte, vermittelt über Lindberg-Salomons Aktivitäten und ihren Kreis, miterlebt, wie durch die Enklave im Jüdischen Kulturbund ein künstlerisches Handeln partiell noch möglich blieb, aber auch, unter welchen Bedingungen: Die kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten (konfessionelle, ästhetische, künstlerisch-praktische, räumlich-örtliche etc.), die in einer Avantgarde- und Unterhaltungsmetropole wie Berlin zuvor zu den Konstituenten der zeitgenössischen Kultur gehörten, waren durch die nationalsozialistische Kulturpolitik erodiert. Die bislang vorhandenen und produktiv gepflegten Mehrfachzugehörigkeiten mussten neu reflektiert, Zugehörigkeiten aufgrund der nationalsozialistischen (Kultur-)Politik zwangsweise neu konstruiert werden. So wurden zum einen durch den Ausschluss jüdischer Akteurinnen und Akteure aus dem aktiven Kulturleben und den Ausschluss jüdischer Werke aus dem Repertoire bislang gültige Zugehörigkeiten verboten und negiert, zum anderen fanden jüdischen Akteurinnen und Akteure mit einem Repertoire, das dezidiert unbesehen konfessioneller Zugehörigkeiten einer ›europäischen Kulturgeschichte‹ verpflichtet blieb, eine Enklave, der sie sich kulturell zuordnen konnten. Dabei ist auffällig: Auch wenn als jüdisch ausgewiesene Künstlerinnen und Künstler nicht mehr mit ihren ehemaligen Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten durften, spiegelte das Musik-Repertoire des Kulturbunds Deutscher Juden (ab 1933) bzw. des Jüdischen Kulturbundes (ab 1935) noch exakt jene Mehrfachzugehörigkeiten wider, die das Musik-Repertoire vor 1933 geprägt hatte: Johann Sebastian Bach neben Felix Mendelssohn Bartholdy, Kabarett neben Oratorium usw. Gerade weil Lindberg-Salomon und Kurt Singer maßgeblich auch in der Aushandlung und Ausgestaltung jenes Raumes mit beteiligt waren (beide gehörten zu den Gründerinnen und Gründern und maßgeblich Aktiven des Kulturbunds Deutscher Juden und des Jüdischen Kul-

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turbunds), erlebte Salomon den Prozess von erzwungener Auflösung und produktiver Rekonstituierung kultureller Mehrfachzugehörigkeiten direkt mit. Dieser Prozess nimmt kaum zufällig auch in Leben? Oder Theater? einen nicht unerheblichen Raum ein. Das Erleben kultureller Mehrfachzugehörigkeiten war mithin für Salomon vor 1933 präsent, ebenso die Veränderungen des Berliner Kulturlebens nach 1933. Sie hatte – insbesondere im Feld der Musik – direkte Erfahrungen damit gemacht, wie die politisch motivierte Ausgrenzung jüdischer Künstlerinnen und Künstler zu einer Neu-Verortung zwang und wie dies gerade mit dem Bekräftigen der (weiteren) Teilhabe an einer ›europäischen Kultur‹ gelingen sollte. Denn darauf beruhte das Konzept, das Singer entworfen hatte: In den Musikaufführungen des Jüdischen Kulturbundes sollte diese Teilhabe die kulturelle Selbstverortung jedes Einzelnen ermöglichen. Diese Idee einer solcherart weiten ›europäischen Musikkultur‹ wird übrigens gerade auch in Salomons Musikauswahl für ihren Zyklus greif bar: Neben Schlagern, Chansons, Kinder- und Volksliedern, neben Kunstliedern und Liederzyklen verwendet Salomon auch Opern, Sinfonik, Oratorium, Konzertmusik u.a. m. Die Musikauswahl scheint das widerzuspiegeln, was in Berlin in Konzertsälen, im Radio und auf Schallplatten, in Cabarets und Bars, in der Oper und in den bürgerlichen Wohnhäusern hörbar gewesen ist: Historisches neben Gegenwärtigem, Kunst- neben Alltags- und Gebrauchsmusik. Auch die Art, wie Salomon dieses Repertoire thematisiert, spricht dafür, dass sie darin genau jene kulturelle Selbstverortung wahrnimmt: Sie zeigt Konzerte und Aufführungen, Probensituationen, Rezensionen und das (begeisterte) Publikum – kurzum, das aktive Musikleben in allen möglichen Facetten, sodass es als ›gelebte‹ Kultur greif bar wird. Sie zeigt auch, dass durch diese Art der ›gelebten‹ Kultur der jüdische Assimilationsprozess (teilweise, bzw. temporär) gelang. In der Art und Weise, wie Salomon Musik in den Zyklus Leben? Oder Theater? einwebt, werden Praktiken kultureller Mehrfachzugehörigkeit erkennbar: gelingende, wie auch sich auflösende, scheiternde. Das Scheitern einer Selbstverortung thematisiert Salomon gerade und insbesondere am Schluss ihres Zyklus am Beispiel des Todes ihrer Großmutter. Diese ist suizidal gefährdet und die Enkelin »Charlotte Kann« (alias Salomon) versucht, die alte Frau durch die Ode an die Freude aus Ludwig van Beethovens Neunter Symphonie von ihrem Selbsttötungsversuch abzuhalten. Sie macht ihr damit das Angebot einer kulturellen Verortung, die an das anknüpft, was im Berliner (Musik-)Leben vor 1933 ein Element kultureller Mehrfachzugehörigkeit darstellte: Beethovens Symphonie, die im jüdischen Akkulturationsprozess eine zentrale Rolle spiel-

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te.21 Die Großmutter erreicht dies nicht mehr, sie stürzt sich aus dem Fenster. Die Enkelin aber tut es – trotz der fatalistischen Aufforderung des Großvaters – ihr nicht nach, sondern beginnt ihre Erinnerungsarbeit als Arbeit des Zusammensetzens aus Bruchstücken der kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten. Zugleich bleibt das Gelingen einer Selbstverortung offen, der Zyklus schließt zumindest ambivalent. Salomon greift dafür in das Bildgedächtnis und wählt ein ähnlich stark kanonisiertes Werk der europäischen Kulturgeschichte aus, wie sie es für die Großmutter ausgewählt hatte: Andersens Kleine Seejungfrau. Die visuelle Allusion an die Lille Havfrue von Edvard Eriksen, 1913 in Kopenhagen installiert, ist überdeutlich, doch nimmt man den Ausgangspunkt der künstlerischen Selbstverortung – das Ineinandergreifen von malen, singen und erinnern – ernst, verweist diese intertextuelle Anleihe auf ein Scheitern kultureller Mehrfachverortung. Über die Stimme der Kleinen Seejungfrau heißt es nämlich am Schluss des Märchens: »Ihre Stimme war wie Sphärenklang, aber so geistig, daß kein menschliches Ohr sie vernehmen […] konnte. […] ihre Stimme klang […] so geistig, daß keine irdische Musik sie wiedergeben kann.«22 Wenn sich die Stimme schlussendlich auflöst, wie das Motiv der sterbenden Seejungfrau nahelegt, ist damit auch das, was durch Erinnerung, Mehrfachverortung in verschiedensten kulturellen Zugehörigkeiten und Bezugnahme auf geteilte Kultur- und Wissensvorräte montageartig möglich schien, eine Selbstverortung ohne finalen Zusammenhalt.

21 | Vgl. dazu – am Beispiel Joseph Joachims ausgeführt: Kraus, Beate Angelika: Joseph Joachims ›religiöses Glaubensbekenntnis‹: Die 9. Symphonie Ludwig van Beethovens, in: Beatrix Borchard/Heidy Zimmermann (Hg.): Musikwelten – Lebenswelten. Jüdische Identitätssuche in der deutschen Musikkultur, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 117-134. 22 | Andersen, Hans Christian: Die kleine Seejungfrau, in: Sämtliche Werke Bd. 1, vom Verfasser besorgte Ausgabe, Leipzig 1853, 122f. Vgl. dazu ausführlicher: Unseld, M.: Biographie als Singespiel.

»Der Schein des Dazugehörens« Zugehörigkeit als geteiltes Gefühl in Herta Müllers Poetik-Vorlesungen 1 Marion Acker und Anne Fleig »If you have to think about belonging, perhaps you are already outside.« 2

Herta Müller thematisiert in ihren Texten immer wieder Fragen nach ›Heimat‹,3 Identität, Selbstverortung und (Nicht-)Zugehörigkeit. Dies gilt für ihre im engeren Sinn literarischen Texte ebenso wie für ihre Poetik-Vorlesungen und Essays. Damit fragt die Autorin gleichzeitig nach dem Ort ihres eigenen Schreibens, der für sie alles andere als selbstverständlich ist. ›Heimat‹ und Zugehörigkeit rufen bei ihr vielmehr zwiespältige, wenn nicht gar negative Gefühle hervor, die einer doppelten Bewegung unterliegen: »Heimat ist das, was man nicht los wird und was man nicht ertragen kann. Je mehr man sich losreißen will, umso mehr verstrickt man sich darin«,4 heißt es in einem Interview mit Ulrike Ackermann aus dem Jahr 2004. Ganz ähnlich beschreibt Müller in ihrer 2003 gehaltenen Poetik-Vorlesung Wie kommt man durchs Schlüsselloch

1 | Dieser Beitrag geht aus dem SFB-Teilprojekt »Geteilte Gefühle. Entwürfe von Zugehörigkeit in der transkulturellen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« hervor und ist gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – SFB 1171. 2 | Probyn, Elspeth: Outside belongings, London/New York 1996, S. 8. 3 | Aufgrund der problematischen Aufladung des Begriffs ›Heimat‹, setzen wir diesen durchgängig in Anführungszeichen. 4 | Müller, Herta (im Gespräch mit Ulrike Ackermann): Ich glaube, Sprache gibt es nicht, in: Die Welt vom 23.06.2004. Online unter: https://www.welt.de/103003411 vom 26.03.2018; vgl. auch Müller, Herta (im Gespräch mit Renata Schmidtkunz): Ich glaube nicht an die Sprache, Klagenfurt 2009, S. 39: »Ich glaube, ›Heimat‹ ist das, was man nicht aushält und nicht loswird.«

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das Dazugehören als ein Gefühl, »in das man sich, während man es abstreift, nur tiefer verstrickt«.5 Insofern die Rede von ›Heimat‹ immer auch Fragen der ›Zugehörigkeit‹ adressiert, sind beide Begriffe eng miteinander verwoben und bilden einen gemeinsamen Problemzusammenhang. Doch soll es in diesem Beitrag nicht darum gehen, Müllers Werk erneut der Anti-Heimatliteratur zuzuordnen oder ihre emotionale Ablehnung des ›Heimat‹-Begriffs nochmals zu erörtern.6 Stattdessen soll die Ambivalenz ihrer Zugehörigkeitsgefühle analysiert und als ›Schlüssel‹ zu Müllers »Poetik der Risse« 7 verstanden werden. Damit verfolgt unser Beitrag ein doppeltes Ziel: Zum einen möchten wir Müllers Poetik-Vorlesungen mit Ansätzen der aktuellen Forschung zu belonging und Zugehörigkeit ins Gespräch bringen, denn Fragen der Zugehörigkeit sind für Müllers Schreiben – wie schon ihre erste, 1991 publizierte Poetik-Vorlesung Wie Wahrnehmung sich erfindet zeigt – konstitutiv. Zugehörigkeit erweist sich in ihren Texten als komplexe Herausforderung, sie erscheint niemals bruchlos und artikuliert sich entsprechend in geteilten Gefühlen, d.h. in Gefühlen, die zugleich trennen und verbinden. Dieser Zwiespalt begründet ein prozesshaft und relational gedachtes Verständnis von Zugehörigkeit. Vor diesem Hintergrund möchten wir zum anderen zeigen, dass Müllers Autorschaftsentwurf das eigene Schreiben an einen Ort bindet, den sie in immer neuen Anläufen auf seine affektiven Dynamiken im Spannungsfeld von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit befragt. Die Geschichte ihrer Autorschaft erscheint so als Manifestation fundamentaler Dissonanz. Der Begriff der ›Zugehörigkeit‹ taucht in der Müller-Forschung zwar immer wieder auf, er wird aber ebenso wie in weiten Teilen der Literatur- und 5 | Müller, Herta: Wie kommt man durchs Schlüsselloch?, in: Corina Caduff/Reto Sorg (Hg.): Nationale Literaturen heute – ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem, München 2004, S. 141-148, hier S. 143. 6 | Vgl. hierzu beispielsweise Predoiu, Graziella: Faszination und Provokation bei Herta Müller. Eine thematische und motivische Auseinandersetzung, Frankfurt a. M. 2001, bes. Kap. 4.1.1.: Herta Müllers Heimatbegriff, S. 55-62; Compagne, Roxane: Fleischfressendes Leben: Von Fremdheit und Aussichtslosigkeit in Herta Müllers Barfüßiger Februar, Hamburg 2010, bes. Kap. 5: »Heimat als Ort der Fremdheit«, S. 42-56; Merchiers, Dorle: Perception et représentation de la terre natale (Heimat) dans l’oeuvre de Herta Müller, in: Dorle Merchiers/Jacques Lajarrige/Steffen Höhne (Hg.): Kann Literatur Zeuge sein? La littérature peut-elle rendre témoignage? Poetologische und politische Aspekte in Herta Müllers Werk. Aspects poetologiques et politique dans l’oeuvre de Herta Müller (= Jahrbuch für internationale Germanistik: Reihe A; 112), Bern [u.a.] 2014, S. 49-60. 7 | Roberg, Thomas: Bildlichkeit und verschwiegener Sinn in Herta Müllers Erzählung Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt, in: Ralph Köhnen (Hg.): Der Druck der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung, Frankfurt a. M. 1997, S. 27-42, hier S. 34.

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Kulturwissenschaften eher unreflektiert gebraucht. ›Zugehörigkeit‹ meint im Anschluss an Joanna Pfaff-Czarnecka zunächst ein Gefühl der sozialen Verortung, das sich auf Räume, Dinge oder andere Menschen beziehen kann: Zugehörigkeit bietet eine emotionale soziale Verortung, die durch gemeinsame Wissensvorräte, das Teilen von Erfahrungen oder die Verbundenheit durch Bande von Gegenseitigkeit entsteht und bekräftigt wird, die man nicht explizit zu thematisieren braucht. 8

Aufgrund dieser vermeintlich präreflexiven Selbstverständlichkeit hat der Begriff der ›Zugehörigkeit‹ umstrittene Begriffe wie ›Identität‹ oder ›Heimat‹ in den letzten Jahren vielfach ersetzt, teilweise aber auch verändert.9 Dass ›Zugehörigkeit‹ im Allgemeinen als etwas Positives und Erstrebenswertes gilt,10 hat sicher dazu beigetragen. Das englische ›belonging‹ hebt zudem seinen prozesshaften Gehalt deutlich hervor. Dennoch zeigen beide Ausdrücke auch die Besitzdimension von ›Zugehörigkeit‹ an, die immer schon durch Machtverhältnisse strukturiert ist. Müllers Poetik-Vorlesungen Wie Wahrnehmung sich erfindet, In jeder Sprache sitzen andere Augen (2001/03) und Wie kommt man durchs Schlüsselloch problematisieren die »biographische Navigation«11 durch multiple, sprachlich und kulturell differente Zugehörigkeitsräume. Zugleich sind diese Texte mehr als der Ausweis der sprachlich-kulturellen Mehrfachzugehörigkeit der empirischen Autorin Müller. Sie lassen sich von der Lebensgeschichte ihrer Autorin nicht trennen, erschöpfen sich aber auch nicht darin.12 Die Poetik-Vorlesungen sind daher wie Müllers literarische Texte, mit denen sie auf vielfache Weise verbunden sind, als autofiktional zu begreifen. Der durch die französische Literatur und Literaturtheorie eingeführte Begriff der ›Autofiktion‹, den Müller selbst verwendet, impliziert eine Kritik an sprachlicher Repräsentation bzw. an der Vorstellung einer mimetischen Abbildung außersprachlicher Erfahrungswirklichkeit: »Wirklich Geschehenes lässt sich niemals eins zu eins 8 | Pfaff-Czarnecka, Joanna: Zugehörigkeit in der mobilen Welt. Politiken der Verortung, Göttingen 2012, S. 8. 9 | Vgl. Lähdesmäki, Tuuli/Saresma, Tuija/Hiltunen, Kaisa [u.a.]: Fluidity and flexibility of »belonging«. Uses of the concept in contemporary research, in: Acta Sociologica 59 (2016), S. 233-247, hier S. 234. 10 | »In general, belonging is regarded as positive, and as something to be achieved.« Ebd., S. 238. 11 | Vgl. Pfaff-Czarnecka, J.: Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 47-62. 12 | Vgl. Ursin, Marja: Autofiktion bei Herta Müller, in: Ulrich Breuer/Beatrice Sandberg (Hg.): Grenzen der Identität und der Fiktionalität (= Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Band 1), München 2006, S. 344-368, hier S. 345.

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mit Worten fangen« und muss deshalb »gänzlich neu erfunden werden«.13 In ihren Essays und Vorlesungen entwirft Müller ein poetologisches Programm, das einerseits auf der Verankerung der Literatur in der Lebenswelt beharrt, andererseits aber auch der transformatorischen Eigendynamik sprachlicher Prozesse Rechnung trägt. Die poetologischen Texte bewegen sich dabei selbst in eben jenem »Grenzbereich«14 zwischen Autobiografie und literarischer Fiktion, welchen sie inhaltlich thematisieren (und taugen daher auch nicht als Interpretationshilfen zu den literarischen Werken im engeren Sinn). Müllers »poetischer und theoretischer Diskurs durchdringen«15 sich und bilden das Kontinuum der Erfindung ihres hochreflektierten Lebens-Werkes. Dabei wird gerade die Autofiktion zum Ort der Verhandlung und Hervorbringung multipler ›Zugehörigkeit‹, in dem gegenläufige affektive Bewegungen aufeinander treffen: Die eingangs zitierte Bewegung des ›Sich-Losreißen-Wollens‹ entspringt – so unsere These – der Erfahrung einer grundlegenden Dissonanz, die zum Ausgang des Schreibens wird und letztlich Müllers politische Autorposition begründet.

I. Z ugehörigkeit als ge teiltes G efühl Müller gilt allgemein als eine Autorin, die sich gegen jegliche Vereinnahmung wehrt, »weder in ihrem Leben noch in ihrem Werk die ›Zugehörigkeit‹ zu einer Gruppe sucht«,16 essentialistische Vorstellungen von ›Identität‹ und ›Heimat‹ zurückweist und sich als Außenseiterin positioniert.17 »Nicht Geborgenheit oder Zugehörigkeit«,18 sondern, im Gegenteil, Gefühle der Fremdheit, 13 | Müller, Herta: Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm – wenn wir reden, werden wir lächerlich, in: Dies.: Der König verneigt sich und tötet, Frankfurt a. M. 2008, S. 74-105, hier S. 86. Zum Begriff der ›Autofiktion‹ bei Müller vgl. grundlegend Bozzi, Paola: Autofiktionalität, in: Norbert Otto Eke (Hg.): Herta Müller Handbuch, Stuttgart 2017, S. 158-167. 14 | Eke, Norbert Otto: Augen/Blicke oder: Die Wahrnehmung der Welt in den Bildern. Annäherung an Herta Müller (Einleitung), in: Ders. (Hg.): Die erfundene Wahrnehmung, Paderborn 1991, S. 7-21 hier S. 18. 15 | Ebd. 16 | Bozzi, Paola: Der fremde Blick. Zum Werk Herta Müllers, Würzburg 2005, S. 20. 17 | Bereits Eke hat die »Außenseiterrolle Herta Müllers als Autorin« konstatiert, die sich in einer »Poetik des Randes« niederschlage. Feststellungen wie diese gehören seither zu den wiederkehrenden Topoi der Herta-Müller-Forschung. Eke, N. O.: Augen/Blicke, S. 12. 18 | Harnisch, Antje: Ausländerin im Ausland. Herta Müllers Reisende auf einem Bein, in: Monatshefte 89 (1997), S. 507-520, hier S. 510.

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Entfremdung, Distanz, Einsamkeit und Nicht-Zugehörigkeit erweisen sich als affektives Movens ihres Schreibens. Müller macht auf die negativen Aspekte kollektiver Eingebundenheit aufmerksam, wie beispielsweise den Druck der Anpassung, die Mechanismen der Inklusion und Exklusion, die soziale Kontrolle, die Normen, Verbote und Tabus oder die Besitzdimension von ›Zugehörigkeit‹: Wenn ich als Kind auf der Dorfstraße ging, fragten mich auf diesen dreihundert Metern Weg vom Haus bis in den Laden, oder zu meiner Großmutter, oder in die Kirche jedes Mal, nachdem ich gegrüßt hatte, die alten Leute: Wem gehörst du? Und ich antwortete prompt: Dem Gion Kathi und dem Müller Sepp. Das waren die Namen meiner Eltern. Damit waren die Besitzverhältnisse geklärt, die Fragenden wussten nun, wo sie mich hintun sollten, sie gingen zufrieden mit dieser Antwort weiter. So deutlich ausgesprochen fing das Dazugehören an.19

Das Zitat verdeutlicht die Performativität von ›Zugehörigkeit‹ als einer Praxis affirmierender Wiederholung, es verweist aber auch auf den mitunter identitätsfixierenden und autoritären, imperativischen Charakter der Zugehörigkeitsfrage, die »jedes Mal« aufs Neue ein eindeutiges Bekenntnis erzwingt. Diese problematischen Aspekte werden in der interdisziplinären Forschung zu ›belonging‹ und ›Zugehörigkeit‹ eher selten diskutiert. Insofern haftet der positiv konnotierten Konzeptualisierung von ›belonging‹ »as a desirable enddestination and non-belonging as inherently negative«20 eine bemerkenswerte Normativität an. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken muss betont werden, dass ›Zugehörigkeit‹ und Nicht-Zugehörigkeit unmittelbar aneinandergebunden sind, ›Zugehörigkeit‹ mithin Nicht-Zugehörigkeit impliziert. In diesem Sinne verstehen wir Zugehörigkeitsgefühle als ›geteilte Gefühle‹. Die Doppelsemantik von ›teilen‹ zielt zunächst auf die Ambiguität von ›geteilt‹ im Sinne von trennen und verbinden, die auch in der Assoziation der ›gemischten‹ Gefühle mitschwingt. Sie betont darüber hinaus den kommunikativen Charakter der Mitteilung: Es geht um die im Schreiben mitgeteilten Gefühle von ›Zugehörigkeit‹, die sowohl die Autorin (resp. der Autor) und das Lesepublikum als auch Erzählinstanz und Figuren mit anderen teilen und mit ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Umgebung verbinden. In diesem Sinne stellt beispielsweise Karin Bauer fest, dass Müller ein ambivalentes Gefühl der ›Zugehörigkeit‹ »mit den Erzählerinnen und Protagonistinnen ihrer Texte«21 teile. Geteilt sind diese Gefühle aber auch, weil sie Ambivalenzen und 19 | Müller, H.: Schlüsselloch, S. 141. 20 | Ebd., S. 242. 21 | Bauer, Karin: Tabus der Wahrnehmung. Reflexion und Geschichte in Herta Müllers Prosa, in: German Studies Review 19 (1996), S. 257-278, hier S. 262.

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Brüche aufweisen und Differenz zum Bestehenden ausdrücken. Eine solche fundamentale Differenz wird in den Texten Müllers nicht nur artikuliert und reflektiert, sondern zu einer »Poetik der Risse«22 erhoben, die ohne jedes Lamento über den Verlust unhinterfragter ›Zugehörigkeit‹ auskommt und sich gegen jegliche romantische Verklärung sperrt. Wie eingangs ausgeführt, bezeichnet ›Zugehörigkeit‹ ein Gefühl sozialer Verortung. Mit Pfaff-Czarnecka lässt sich festhalten, dass der Begriff der ›Zugehörigkeit‹ ein »unproblematisches Aufgehobensein in einem geschützten Raum in der Welt«23 bezeichnet. Das Gefühl der ›Zugehörigkeit‹ bzw. Zusammengehörigkeit ist selbstverständlich und muss folglich nicht eigens thematisiert werden.24 Im Gegenteil, insofern der Akt der Artikulation den Inhalt der Proposition dementiert, führt die Mitteilung dieses Gefühls sogar zu einem performativen Selbstwiderspruch: »Die Zusammengehörigkeit fußt auf dem unausgesprochenen Teilen dieses Empfindens. Sobald sie explizit zum Thema wird, geht zumindest ein Teil ihrer Selbstverständlichkeit verloren.«25 Diese Bestimmung korrespondiert mit Müllers Auffassung von ›Zugehörigkeit‹ als einem Gefühl der Selbstverständlichkeit, das »man nicht beweisen« und »nicht artikulieren« muss, weil es als »fertige Tatsache […] vorhanden ist«.26 Bei Müller führt nicht erst das Verlassen ihres Herkunftsortes zum Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit und Fremdheit. Die Einsicht, dass »Selbstverständlichkeit nie mehr wiederkehrt, wenn sie einem fast komplett geraubt worden 22 | Roberg, T.: Bildlichkeit und verschwiegener Sinn in Herta Müllers Erzählung Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt, S. 34; vgl. auch Predoiu, G.: Faszination und Provokation, S. 161-165. 23 | Pfaff-Czarnecka, J.: Zugehörigkeit in der mobilen Welt. Politiken der Verortung, S. 18; vgl. auch Röttger-Rössler, Birgitt: Multiple Zugehörigkeiten. Eine emotionstheoretische Perspektive auf Migration, Working Paper SFB 1171 Affective Societies Nr. 4 (2016). 24 | Vgl. dazu Müller im Interview: »Geredet wird nur über die Handgriffe der Arbeit. Wenn aber jemand kein Wort über sich sagt, wodurch existiert dann das Zusammengehören? Vielleicht ist es nur eine Tatsache, die so stark ist, dass man gar kein Gefühl braucht. Oder das Gefühl ist da, aber von der Tatsache getrennt. Vielleicht war die Tatsache des Zusammengehörens so stark, dass man das Gefühl nicht spürte. Es war für alle normal, dass wir zusammengehören, das wurde nicht mit Worten und Gesten ausgedrückt. Es hat doch etwas Klares und Gültiges, wenn man zusammen am Tisch sitzt, wenn man die gleiche Tür benutzt, das gleiche Besteck und den gleichen Kochtopf, wenn die Kleider nebeneinander an der Wäscheleine hängen, dann gehört man zusammen, das haben die äußeren Dinge garantiert.« Müller, Herta: Mein Vaterland war ein Apfelkern. Ein Gespräch mit Angelika Kammer, München 2014, S. 17. 25 | Ebd., S. 20. 26 | Müller, H.: Schlüsselloch, S. 142.

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ist«27 und »nur so lange da [ist], wie man nicht weiß, daß man sie hat«,28 wird nicht erst durch die Erfahrung der Migration begründet. Müller löst die Begriffe der ›Heimat‹ und ›Fremde‹ aus ihrer Oppositionsstarre, indem sie darauf aufmerksam macht, dass »die Praxis des fremden Blicks auch in der Heimat wirken kann«.29 Darüber hinaus unterzieht sie diese Begriffe einer Umwertung, wenn sie postuliert, dass Fremdheit »die ideale Beziehung zu einer Umgebung« darstellt. »Bewußte Wahrnehmung und kritische Sicht werden immer Fremdheit zur Folge haben.«30 In ihren autofiktionalen Texten umkreist Müller das Spannungsverhältnis von unausgesprochenem Zusammengehörigkeitsgefühl und einem Differenzbewusstsein, das bereits in der frühen Kindheit einsetzt und zum Gefühl »akute[r] Einsamkeit«31 führt. Die Vorlesungen Wie Wahrnehmung sich erfindet und In jeder Sprache sitzen andere Augen sind strukturiert durch den Gegensatz von ›Innen‹ und ›Außen‹, der mit dem Kontrast von ›Tun‹ und ›Sagen‹, ›Wahrheit‹ und ›Täuschung‹ parallel geführt wird. Müllers Schreiben setzt damit an jener Stelle an, an der die gegenläufigen Bewegungen von Zusammengehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit aufeinandertreffen und zu einem Bruch führen. Es reflektiert genau diese affektiv aufgeladene Bruchstelle, an der sich Risse, Spalten, Lücken und Klüfte auftun. Apel hat Müllers Schreiben entsprechend als destruktive »Trennungsarbeit« charakterisiert, die mit dem »Verlust von Zusammenhang, Wärme und Nähe bezahlt wird«.32

27 | Müller, Herta: Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis (= Rede zur Verleihung des Nobelpreises der Schwedischen Akademie in Stockholm am 8. Dezember 2009), in: Dies.: Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel, München 2010, S. 7-21, hier S. 18. 28 | Müller, H.: Der Fremde Blick oder Das Leben ist ein Furz in der Laterne, in: Dies.: König, S. 130-150, hier S. 147. 29 | Leipelt-Tsai, Monika: Auge und Blick in Texten Herta Müllers, in: Jens Christian Deeg/Martina Wernli (Hg.): Herta Müller und das Glitzern im Satz. Eine Annäherung an Gegenwartsliteratur (= Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie, Band 42), Würzburg 2016, S. 217-236, hier S. 233. Vgl. auch Müller, H.: Der Fremde Blick, S. 147: »Den Fremden Blick als Folge einer fremden Umgebung zu sehen ist deshalb so absurd, weil das Gegenteil wahr ist: Er kommt aus den vertrauten Dingen, deren Selbstverständlichkeit einem genommen wird.« 30 | Haines, Birgit/Littler, Margret: Gespräch mit Herta Müller, in: Birgit Haines (Hg.): Contemporary German Writers. Herta Müller, Cardiff 1998, S. 14-24, hier S. 20. 31 | Müller, H.: Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis, S. 21. 32 | Apel, Friedmar: Schreiben, Trennen. Zur Poetik des eigensinnigen Blicks bei Herta Müller, in: N. O. Eke: Die erfundene Wahrnehmung, S. 22-31, hier S. 29.

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II. N icht -Z ugehörigkeit Die Rede vom ›Verlust der Zugehörigkeit‹ setzt einen Zustand voraus, der diesem Verlust vorgelagert war. Entgegen der theoretischen Annahme eines präreflexiven Seins-Zustands unhinterfragter Selbstverständlichkeit erscheint das Einverständnis zwischen Ich und Welt, Wort und Ding bei Müller jedoch von Anfang an gebrochen. Wenn es stimmt, dass »ein Gefühl der Zugehörigkeit nur dort möglich ist, wo Übereinstimmung mit der Lebenswelt herrscht«,33 dann stellt sich dieses Gefühl bei Müller als ständig bedrohtes, fragiles, labiles, ja immer schon zerstörtes dar. Kindheit und Dorf werden in Müllers Werk durchgängig als »negative Idyllen«34 gezeichnet. Damit formuliert Müller eine klare Absage an die Vorstellung einstmals ungebrochener, intakter ›Zugehörigkeit‹ und den Mythos vom verlorenen Kindheitsparadies. Der Essay Wie Wahrnehmung sich erfindet spricht ambivalente Gefühle bezüglich des dörflich-familiären Zugehörigkeitskontextes an. Der Text problematisiert das Abweichen von der Norm in der konformistischen Dorfgemeinschaft, den kollektiven Anpassungsdruck, die Unterdrückung von Individualität und macht damit auf die Dimension der Hörigkeit in Zugehörigkeit aufmerksam. Müller spricht in diesem Zusammenhang auch vom »Untertanendenken«.35 Den Zwiespalt zwischen dem »Leiden an der repressiven Normalität des Dorfes«36 und der gleichzeitigen Sehnsucht nach ›Zugehörigkeit‹ beschreibt sie folgendermaßen: Meine größte Arbeit war, das, was im Kopf stand, zu verstecken. Das Täuschen war die Arbeit meiner Kindheit. Wußte ich doch sehr genau, daß man als »krank« erklärt werden konnte. Und wie rasch so was ging. Und wie endgültig das war und blieb, wenn es einen mal getroffen hatte. »Geisteskrank« sagten sie dazu, wenn sie Mitleid empfanden. Doch meist empfanden sie keins und sagten »verrückt«. Und ich wußte auch, daß es hinter der Norm nichts mehr gab, wodurch man dazugehörte, in einem kleinen Dorf. Und ich wollte dazugehören. 37

33 | Binder, Beate: Beheimatung statt Heimat. Translokale Perspektiven auf Zugehörigkeit, in: Manfred Seifert (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ›Heimat‹ als Argument im Prozess der Moderne, Dresden 2010, S. 189-204, hier S. 191. 34 | Predoiu, G.: Faszination und Provokation, S. 55. 35 | Müller, Herta: Wie Wahrnehmung sich erfindet, in: Dies.: Der Teufel sitzt im Spiegel, Berlin 1991, S. 9-32, hier S. 14. 36 | Zierden, Josef: Deutsche Frösche. Zur »Diktatur des Dorfes« bei Herta Müller, in: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 155 (2002), S. 30-38, hier S. 35. 37 | Müller, H: Wie Wahrnehmung sich erfindet, S. 13 [Hervorhebung; M.A./A.F.].

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Die selbstverständliche ›Zugehörigkeit‹ zum dörflichen Kollektiv wird im Moment ihrer Bewusstwerdung fragwürdig. Der damit vollzogene Bruch zwischen Ich und Dorfgemeinschaft evoziert geteilte Gefühle: Die Erfahrung der eigenen Differenz erzeugt Trennung und lässt dadurch erst den ›Wunsch‹ nach ›Zugehörigkeit‹ entstehen,38 »a desire that is increasingly performed in the knowledge of the impossibility of ever really and truly belonging«.39 Anders als dem deutschen Begriff der ›Zugehörigkeit‹ ist dieser Wunsch dem englischen ›belonging‹ bereits eingeschrieben. Der englische Ausdruck versteht ›Zugehörigkeit‹ nicht nur als etwas selbstverständlich Gegebenes, sondern auch als schon Entbehrtes. Bei Müller wird sehr deutlich, dass das Reflexivwerden von ›Zugehörigkeit‹ bzw. die Bewusstwerdung der eigenen Differenz mit »Angst«40 vor sozialer Ausgrenzung einher geht. Aus ihren Vorlesungen lässt sich ableiten, dass ›Zugehörigkeit‹ als relationales Phänomen prozesshaft hervorgebracht wird: ›Zugehörigkeit‹ ist nicht nur eine Frage subjektiver Empfindung, sondern auch der Anerkennung von außen. Diese Reziprozität, die Pfaff-Czarnecka als eine von drei Dimensionen der ›Zugehörigkeit‹ beschreibt,41 bringt Müller folgendermaßen auf den Punkt: »Ich gehörte dazu, das stand damals für mich außer Zweifel. Es gab das Dazugehören von ihnen aus und das Mich-dazu-Zählen von mir aus, also einen ordentlich geschlossenen Kreis.«42 Obwohl diese Geschlossenheit einerseits als einengend erlebt wird und die Bande der Gegenseitigkeit einschnürend wirken,43 ist das kindliche Ich andererseits darum bestrebt, den »Schein des Dazugehörens«44 trotz empfundener 38 | Die Dynamik dieser doppelten Bewegung fasst Müller an anderer Stelle wie folgt: »Ich entgleiste aus dem Wir-Gefühl, obwohl ich es teilen wollte. Man will als Kind dazugehören zu denen im Haus, zu denen im Dorf. Man ist auf etwas immer Geregeltes angewiesen. Ich sehnte mich danach und ermüdete daran.« Müller, Herta: Die Insel liegt innen – die Grenze liegt außen, in: Dies.: König, S. 160-175, hier S. 163. 39 | Probyn, E.: Outside belongings, S. 8. 40 | Müller, H.: Wie Wahrnehmung sich erfindet, S. 10, passim. 41 | ›Zugehörigkeit‹ entsteht laut Pfaff-Czarnecka »durch das Wechselspiel (1) der Wahrnehmungen und der Performanz der Gemeinsamkeit, (2) der sozialen Beziehungen der Gegenseitigkeit und (3) der materiellen und immateriellen Anbindungen oder auch Anhaftungen«. Pfaff-Czarnecka, J.: Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 12. 42 | Müller, H.: Schlüsselloch, S. 142. 43 | Dieses Gefühl der Enge bündelt sich in der Metapher der »Dorfkiste«. Müller, Herta: In jeder Sprache sitzen andere Augen, in: Dies.: König, S. 7-39, hier S. 10. – Zu weiteren »Figuren des Einschlusses« siehe die erhellende Studie von: Johannsen, Anja K.: Kisten, Krypten, Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller, Bielefeld 2008, S. 165-179. 44 | Müller, H.: Wie Wahrnehmung sich erfindet, S. 13.

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Differenz weiter aufrechtzuerhalten. »Zwischen dem Bedürfnis nach individueller Freiheit und kollektiver Geborgenheit hin und her geworfen«,45 lernte es schon früh, »das, was im Kopf stand, zu verstecken«.46 Kurz gesagt: ›Zugehörigkeit‹ gerät zur ›Täuschungsarbeit‹. Mit analoger Semantik beschreibt Müller in ihrem Essay In jeder Sprache sitzen andere Augen ein Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit, das durch die »abweichenden Wege«47 des Kopfes verursacht wird. Der »Irrlauf im Kopf« muss »versteckt«48 werden, um den äußerlichen Schein von ›Zugehörigkeit‹ zu wahren. Zugehörigkeitspraxis und Zugehörigkeitsgefühl, äußerliches Tun und subjektives Erleben klaffen weit auseinander. Das dörfliche Sozialgefüge wird dabei als ein einschränkendes, individualitätsfeindliches und totalitäres ›Zugehörigkeitsregime‹49 charakterisiert, das nach einer exklusiven Logik operiert, die dem »Bewahren der Identität«50 dient und keine normative Abweichung duldet. Staatlicher Totalitarismus stellt für Müller lediglich eine »Ausdehnung«51 der Dorfdiktatur und ihrer repressiven Mittel dar (Verbot, Überwachung, Kontrolle usw.). Müllers Beharren auf Nicht-Zugehörigkeit, ihre Selbstverortung außerhalb des kollektiven Sozialgefüges, dient daher nicht nur der Profilierung einer Singularität behauptenden Autorschaft. Ihre widerständige, affektive Dissonanz oder – mit Theodor W. Adorno gesprochen – das »Gefühl des nicht ganz Dabeiseins«52 begründet vielmehr den politischen Impetus ihrer Prosa, ja bildet geradezu seine Voraussetzung. Der Bruch im Einverständnis zwischen Ich und Welt wird so lesbar als Ausdruck eines prinzipiellen NichtEinverstanden-Seins, das Grundlage und Antriebsfaktor eines Schreibens darstellt, welches sich programmatisch dem »kritischen Auf brechen der Wirklichkeit«53 verpflichtet sieht. Der unmittelbare Zusammenhang von ›Zugehörigkeit‹ und Nicht-Zugehörigkeit wird von Müller nicht nur immer wieder reflektiert, er wird von ihr auch sprachlich vollzogen. Parataktische Reihung und fragmentierte Syntax gelten neben der Bildlichkeit des Ausdrucks als die wesentlichen Merkmale von Müllers Sprachstil. Arm, einfach, dürftig, spröde, karg und nüchtern – so lauten die Eigenschaftswörter, die Müllers Prosa zugeschrieben werden und 45 | Bauer, K.: Tabus der Wahrnehmung, S. 262. 46 | Müller, H.: Wie Wahrnehmung sich erfindet, S. 13. 47 | Müller, H.: In jeder Sprache sitzen andere Augen, S. 7. 48 | Ebd., S. 14. 49 | Vgl. Pfaff-Czarnecka, J.: Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 77-93. 50 | Müller, H.: In jeder Sprache sitzen andere Augen, S. 20. 51 | Ebd. 52 | Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Gesammelte Schriften Band 6, Frankfurt a. M. 1997, S. 356. 53 | Eke, N. O.: Augen/Blicke, S. 16.

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die sogenannte littérature mineure im Sinne Gilles Deleuzes/Pierre-Félix Guattaris charakterisieren. Müllers Stil evoziert in der Tat, wie vielfach konstatiert, den Eindruck von Kälte und Emotionslosigkeit,54 der in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zu den »emotional gequälten und überspannten Innenwelten der Ich-Erzähler«55 und der »Art Empfindsamkeit«56 steht, die Müller in ihren autofiktionalen Texten so stark geltend macht. Doch findet die affektive Dynamik von ›Zugehörigkeit‹ und Nicht-Zugehörigkeit gerade in der syntaktischen Unterbrechung der Sätze ihr formales Korrelat, wie sich am obigen Beispiel illustrieren lässt: Vier der neun Sätze werden anaphorisch durch die Konjunktion »und« eingeleitet. Durch ihre exponierte Stellung am Satzanfang wird ihre verbindende Funktion besonders akzentuiert. Das hierdurch vermittelte Gefühl der ›Zugehörigkeit‹ wird durch die trennende Interpunktion umso wirkungsvoller gebrochen. Dieses Verfahren wird auch in anderen Texten, wie beispielsweise im Kurzroman Reisende auf einem Bein, ausgiebig eingesetzt, um die geteilten, gespaltenen, von Zerrissenheit geprägten Gefühlswelten der Figuren erfahrbar zu machen.

III. G eschlossener K reis und e x -zentrische B ahn Die Erfahrung einer grundlegenden Differenz, Inkongruenz und Nicht-Übereinstimmung steht auch am Ausgangspunkt der Tübinger Poetik-Vorlesung In jeder Sprache sitzen andere Augen. Bereits der erste Satz beschreibt ein Verhältnis der Distanz, das im Folgenden als »Lücke« prononciert wird: In der Dorfsprache – so schien es mir als Kind – lagen bei allen Leuten um mich herum die Worte direkt auf den Dingen, die sie bezeichneten. Die Dinge hießen genauso, wie sie waren, und sie waren genauso, wie sie hießen. Ein für immer geschlossenes Einverständnis. Es gab für die meisten Leute keine Lücken, durch die man zwischen Wort und Gegenstand hindurch schauen und ins Nichts starren mußte, als rutsche man aus seiner Haut ins Leere. 57

54 | Becker beispielsweise attestiert Müller eine »emotionslose […] Sprache«. Becker, Claudia: ›Serapiontisches Prinzip‹ in politischer Manier. – Wirklichkeits- und Sprachbilder in Niederungen, in: N. O. Eke: Die erfundene Wahrnehmung, S. 32-41, hier S. 35. 55 | Spiridon, Olivia: Herta Müllers frühe Erzählungen. Kontexte, literarisches Umfeld und formende Impulse, in: Merchier [u.a.]: Kann Literatur Zeuge sein?, S. 61-79, hier S. 76. 56 | Müller, H.: Wie Wahrnehmung sich erfindet, S. 13. 57 | Müller, H.: In jeder Sprache sitzen andere Augen, S. 7.

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Evoziert wird eine »sprachphilosophische Urszene«, in der Wort und Ding eine »präbabylonische Einheit«58 bilden. Das Kind scheint von diesem »Einverständnis« der »meisten Leute« jedoch ausgenommen zu sein; »früh schon scheint es durch einen Riss […] geschaut zu haben«.59 Als Fokalisierungsinstanz erscheint das kindliche Wahrnehmungs-Ich, wie die Lokalpräposition »um […] herum« signalisiert, im Zentrum der Szenerie verortet. Zugleich ist es außerhalb situiert. Wie lässt sich Müllers permanenter Rekurs auf die Kindheit interpretieren? Wenn die Autorin ihre poetologischen Ausführungen immer wieder mit Kindheitsanekdoten beginnt, so löst sie damit ein, was sie theoretisch immer wieder reflektiert und programmatisch formuliert: dass nämlich Literatur und Leben keine getrennten Sphären bilden, sondern unauflöslich miteinander verschränkt sind.60 Diese Verortung der Literatur im Leben ist aufs Engste mit der Begründung der eigenen Autorschaft auf dem Fundament eines grundlegenden In-Dissonanz-Seins verbunden, welches in seiner Funktion als Ausgangsund Rückkehrpunkt die Bewegung des Schreibens selbst kennzeichnet. Die affektive Dynamik von ›Zugehörigkeit‹ und Nicht-Zugehörigkeit bildet für Müller ein wiederkehrendes (Resonanz-)»Muster«,61 eine sich in unterschiedlichen Lebenskontexten und wechselnden Umgebungen wiederholende »Formel«,62 die ihren Ursprung in der Kindheit hat. Die doppelte Bewegung von ›Zugehörigkeit‹ und Nicht-Zugehörigkeit erscheint als eine affektive Grundkonstellation, die sich auf der Ebene der Erfahrung und damit auch der Sprache sedimentiert und in zukünftigen Bezügen aktualisiert.63 Im Rückgang auf die eigene Kindheit wird diese Bewegung nach- und neuvollzogen: Im Schreiben bzw. im Prozess der erinnernden Rekonstruktion werden die verschiedenen Zugehörigkeitsräume neuerlich durchquert, (oftmals traumartig) ineinander geblendet, die affektiven Relationen zu diesen Räumen austariert und die Selbstverortung in diesen Räumen vollzogen. Müller geht es dabei nicht darum, ›Zugehörigkeit‹ abzubilden oder gar im Schreiben herzustellen, sondern Fluchtlinien auszuloten, die eine mögliche Befreiung aus dem 58 | Weissmann, Dirk: Die verschiedenen Augen der Sprache(n). Zur Rolle von Muttersprache und Mehrsprachigkeit bei Herta Müller, in: J. C. Deeg/M. Wernli: Herta Müller und das Glitzern im Satz, S. 177-192, hier S. 183. 59 | Ebd., S. 182. 60 | Vgl. Husser, Irene: Vom Nutzen und Nachteil der Autorpoetik. Überlegungen zum literaturwissenschaftlichen Potential von Herta Müllers poetologischen Essays, in: J. C. Deeg/M. Wernli: Herta Müller und das Glitzern im Satz, S. 261-278, hier S. 262. 61 | Müller, H.: Schlüsselloch, S. 143. 62 | Ebd. 63 | Zu diesen affektiven Zusammenhängen vgl. ausführlich Mühlhoff, Rainer: Immersive Macht. Affekttheorie nach Spinoza und Foucault, Frankfurt/New York 2018.

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geschlossenen Wahrnehmungskreis des ›Um-Herums‹ darstellen und die Prozesshaftigkeit von ›Zugehörigkeit‹ hervorheben. Die geradezu obsessive Thematisierung von Kindheitserfahrungen wird so als ein Versuch lesbar, sich aus der bedrückenden räumlichen Enge ›herauszuschreiben‹. Die Dynamik der geteilten Gefühle wird zum »Schleudersitz«,64 mit dem sich das autofiktionale Ich aus der Mitte katapultiert. Auch in diesem Sinne lässt sich Müllers Schreiben als ›ex-zentrisch‹ (also außerhalb der Mitte) charakterisieren.65 »Die Erfahrung der Porosität und Labilität des Einverständnisses von Welt (Gegenständen) und Sprache (Wörtern)«,66 »das Auseinanderfallen von Erfahrung/Denken/Sprache und Wirklichkeit« steht Norbert Otto Eke zufolge dabei »an der Basis […] einer Ästhetik, die – im Sinne Deleuzes/ Guattaris ›Bindungen löst‹«.67 Inwiefern damit auch ein Prozess der sprachlichen Dezentrierung und Deterritorialisierung in Gang gesetzt ist, soll abschließend diskutiert werden.

IV. D e territorialisierung der ›M ut terspr ache ‹? Die ›Muttersprache‹ ist selbstverständlich gegeben, »sie ist momentan und bedingungslos da wie die eigene Haut«,68 man hat sie »fast ohne eigenes Zutun«,69 so Müller.70 Mit Einsatz der Reflexion jedoch »rutsch[t] man aus seiner Haut ins Leere«.71 Hier greift einmal mehr die affektive Dynamik von ›Zugehörigkeit‹ und Nicht-Zugehörigkeit: Einerseits thematisiert Müller Gefühle instinktiver Verbundenheit und inniger Vertrautheit mit der Muttersprache. Andererseits prägen Distanz, Nicht-Zugehörigkeit und ein grundsätzliches Misstrauen das Verhältnis der Autorin zur Sprache. 64 | Müller, H.: Schlüsselloch, S. 143. 65 | Vgl. Eke, Norbert Otto: In jeder Sprache sitzen andere Augen. Herta Müllers exzentrisches Schreiben, in: Hans Richard Brittnacher (Hg.): Unterwegs. Zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert, Köln 2008, S. 247-259. 66 | Eke, Norbert Otto: Von Taschentüchern und anderen Dingen, oder Die »akute Einsamkeit des Menschen«. Herta Müller und der Widerspruch, in: Literatur für Leser 34.2 (2011), S. 71-81, hier S. 76. 67 | Eke, N. O.: Herta Müllers ex-zentrisches Schreiben, S. 256. 68 | Müller, H.: In jeder Sprache sitzen andere Augen, S. 26. 69 | Ebd., S. 25. 70 | Zum Motiv der Haut vgl. etwa Johannsen, A.: Kisten, Krypten, Labyrinthe, S. 203: »Klar ist, dass die Grenze zwischen menschlichem Körper und Außenraum bei Müller prinzipiell durchlässig, die Haut als permeable Membran gedacht wird.« Dies gilt auch, so lässt sich hinzufügen, für die Sprachgrenzen. 71 | Müller, H.: In jeder Sprache sitzen andere Augen, S. 7.

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Die Konfrontation mit Mehrsprachigkeit vertieft die frühkindliche Erfahrung einer Sprachkrise,72 treibt zu ständigen Sprachvergleichen an und schmälert die Muttersprache zu einer unbemerkten, letztlich zufälligen »Mitgift« 73: »Im einzig Selbstverständlichen blinkt auf einmal das Zufällige aus den Wörtern. Die Muttersprache ist fortan nicht mehr die einzige Station der Gegenstände, das Muttersprachenwort nicht mehr das einzige Maß der Dinge.« 74 Mit anderen Worten: »Im Geschau anderer Sprachen« 75 wird das vermeintlich Eigene fremd und »der Absolutheitsanspruch der Muttersprache«,76 wenn nicht gebrochen, so doch wenigstens, wie Müller sagt, »relativiert«.77 Entgegen der kulturellen Norm einer eindeutigen ›Zugehörigkeit‹ zu einer vermeintlich ›natürlichen‹ und selbstredend maßgeblichen Muttersprache zeugt Mehrsprachigkeit von der Möglichkeit ›multipler Zugehörigkeit‹. Die Rede von ›multipler Zugehörigkeit‹ oder ›Mehrfachzugehörigkeit‹ ist allerdings genaugenommen ein Pleonasmus, denn ›Zugehörigkeit‹ ist immer multipel.78 Die Idee der Mehrfachzugehörigkeit setzt voraus, »dass es so etwas wie Einfachzugehörigkeit geben könnte«.79 Genauso beinhaltet der Begriff der ›Mehrsprachigkeit‹ die Annahme von Einsprachigkeit, die als historische Norm bis in die Gegenwart wirksam ist.80 Müllers Mehrsprachigkeit impliziert, problematisiert und vollzieht Mehrfachzugehörigkeit. Sie stellt kein additives Nebeneinander dar, sondern rückt die Wirkungsdynamiken in den Fokus, die sich im Zusammentreffen mehrerer Sprachen ereignen und auf die prinzipielle Dialogizität von Sprache im Sinne Michail M. Bachtins aufmerksam machen. Auf der Suche nach existenziellem »Halt« 81 setzt sich Müllers Schreiben der Sprache rückhaltlos aus, die keinen

72 | Vgl. Weissmann, D.: Die verschiedenen Augen der Sprache(n), S. 184. 73 | Müller, H.: In jeder Sprache sitzen andere Augen, S. 25. 74 | Ebd., S. 26. 75 | Ebd., S. 27. 76 | Weissmann, D.: Die verschiedenen Augen der Sprache(n), S. 177. 77 | Müller, H.: In jeder Sprache sitzen andere Augen, S. 26. 78 | Vgl. das Unterkapitel zu »›Multiple Belonging‹« in Pfaff-Czarnecka, J.: Zugehörigkeit in der mobilen Welt, S. 53-75. 79 | Scheer, Monique: Alltägliche Praktiken des Sowohl-als-auch. Mehrfachzugehörigkeit und Bindestrichidentitäten, in: Dies. (Hg.): Bindestrich-Deutsche? Mehrfachzugehörigkeit und Beheimatungspraktiken im Alltag, Tübingen 2014, S. 7-27, hier S. 8. 80 | Vgl. Gramling, David: Zur Mehrsprachigkeitsforschung in der interkulturellen Literaturwissenschaft. Wende, Romanze, Rückkehr?, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7 (2016), S. 135-150. 81 | »Ich wollte doch keine Literatur schreiben, sondern Halt finden.« Müller, H.: Apfelkern, S. 42.

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»sicheren Boden unter den Füßen« 82 bietet. Die verschiedenen Sprachen83 treten in eine dynamische Interaktion und intensive Wechselbeziehung: Im Dialekt des Dorfes sagt man: Der Wind GEHT. Im Hochdeutschen, das man in der Schule sprach, sagte man: Der Wind WEHT. Und das klang für mich als Siebenjährige, als würde er sich weh tun. Und im Rumänischen sagt man: Der Wind SCHLÄGT, vîntul bate. Das Geräusch der Bewegung hörte man gleich, wenn man schlägt sagte, und da tat der Wind nicht sich, sondern anderen weh. […] Das Beispiel vom Wind ist nur eines von den ständigen Verschiebungen, die zwischen Sprachen bei ein- und derselben Tatsache passieren. Fast jeder Satz ist ein anderer Blick. Das Rumänische sah die Welt so anders an, wie seine Worte anders waren. 84

Während Mehrsprachigkeit an Stellen wie diesen manifest präsent ist, so ist das Rumänische als poetologische Struktur in Müllers Texten stets implizitlatent enthalten. Müller nutzt ihre Mehrsprachigkeit »positiv als Möglichkeit produktiver Sprach- und Bildimpulse«.85 Zudem evoziert Mehrsprachigkeit neue Blicke auf die sinnlichen Eigenschaften, die Affektivität und Materialität der Sprache(n) jenseits ihrer – in sprachskeptischer Tradition problematisierten – Repräsentationsfunktion. So machten die rumänischen Wörter – Müller zufolge – im Unterschied zum Deutschen »große Augen«,86 womit metaphorisch ihre ausgeprägte Sinnlichkeit gemeint ist, aber auch das kindliche Staunen der Autorin im Spiegel der Sprache. An anderer Stelle bekundet sie, dass ihr die rumänischen Wörter ästhetisch schmecken würden.87 Und schließlich lässt sie sich von der klanglichen Nähe der Wörter zueinander leiten: »Und weil der Zug auf Rumänisch TREN und die Träne im Banater Dialekt TRÄN heißt, glich das Quietschen der Züge auf den Schienen in meinem Kopf immer dem Weinen.«88 Homophone Wörter werden in semantische Relation zueinander gebracht und in einen Prozess der Bedeutungspluralisierung versetzt. Beispiele wie diese zeu82 | Müller, H.: In jeder Sprache sitzen andere Augen, S. 29. 83 | Um genau zu sein differenziert Müller zwischen dem banatschwäbischen Dialekt, dem schulischen Hochdeutsch, der deutschen Literatursprache, der als ›sinnlich‹ qualifizierten rumänischen Landessprache und der ideologischen (unsinnlichen) rumänischen Staatssprache. 84 | Müller, H.: In jeder Sprache sitzen andere Augen, S. 24f. [Hervorhebung im Original]. 85 | Bozzi, P.: Der fremde Blick, S. 120. 86 | Müller, H.: In jeder Sprache sitzen andere Augen, S. 24. 87 | Müller, H.: Apfelkern, S. 85. 88 | Müller, H.: Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis, S. 13 [Hervorhebung im Original].

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gen nicht nur von der ausgeprägten affektiven Sensitivität der Autorin, sondern machen auch deutlich, dass Mehrsprachigkeit Ambivalenzen und Polyvalenzen erzeugt, die einer monosprachlichen – und damit: monokulturellen – Festlegung tendenziell entgegensteuern und im Sinne einer verfremdenden Desautomatisierung eingeschliffene Wahrnehmungsmuster irritieren.89 Müllers Mehrsprachigkeit erfüllt also eine doppelt kritische Funktion: Zum einen vollzieht sie eine Loslösung vom monolingualen Paradigma der Muttersprache, zum anderen sperrt sie sich gegen totalitäre Eindeutigkeit,90 indem sie Mehrdeutigkeit hervorbringt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich Müllers Schreiben vor dem Horizont sprachlich-kultureller Mehrfachzugehörigkeit eindeutiger Festlegungen entzieht. Ausgehend von der Erfahrung der Differenz und Inkongruenz als zentralem Antrieb, vollzieht es eine Bewegung zwischen Deterritorialisierung und Reterritorialisierung, unternimmt transkulturelle Grenzüberschreitungen und trassiert Fluchtlinien, welche sich aus der muttersprachlichen ›Komfortzone‹91 herausbewegen. »Weggehoben von der Geographie«,92 wird die Autofiktion zu einem entorteten Ort, an dem Müller ihre Autorschaft im Zeichen einer grundlegenden affektiven Dissonanz entwirft. Diese ermöglicht insofern Kritik, als sie die Selbstverständlichkeit von ›Zugehörigkeit‹ hinterfragbar und der Reflexion allererst zugänglich macht.

89 | Vgl. Kilchmann, Esther: Poetik des fremden Worts. Techniken und Topoi heterolingualer Gegenwartsliteratur, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3 (2012), S. 109-129, bes. S. 113-118. 90 | Vgl. Eke, N. O.: Herta Müllers ex-zentrisches Schreiben, S. 254. 91 | Vgl. Mironescu, Doris: Uncomfortable spaces: language and identity in Herta Müller’s work, in: World Literature Studies 7 (2015), S. 60-70. 92 | Müller, H.: Schlüsselloch, S. 147.

»Was ist damals in Baku passiert?« Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten und Gedächtnisdiskurse bei Autorinnen und Autoren mit osteuropäischem Hintergrund am Beispiel von Olga Grjasnowas Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt Axel Dunker

In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nehmen in den letzten Jahren Autorinnen und Autoren mit osteuropäischem Hintergrund eine zunehmend wichtige Rolle ein. Die mittlerweile mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichneten Autorinnen und Autoren stammen aus den unterschiedlichsten Ländern Osteuropas. Um nur einige zu nennen: Melinda Nadj Abonji (Serbien), Ursula Ackrill (Rumänien), Marica Bodrožić (Kroatien), Alina Bronsky (Russland), Jan Faktor (Tschechien), Marjana Gaponenko (Ukraine), Lena Gorelik (Russland), Olga Grjasnowa (Aserbaidschan), Nino Haratischwili (Georgien), Jan Himmelfarb (Ukraine), Eleonora Hummel (Kasachstan), Wladimir Kaminer (Russland), Dmitrij Kapitelman (Ukraine), Kat Kaufmann (Russland), Olga Martynova (Russland/Sibirien), Terézia Mora (Ungarn), Matthias Nawrat (Polen), Katja Petrowskaja (Ukraine), Julya Rabinowich (Russland), Saša Stanišić (Bosnien), Nellja Veremej (Sowjetunion),1 Vladimir Vertlib (Russland). Die Liste ließe sich sicher noch erheblich verlängern.2 Es fällt dabei auf, dass Autorinnen gegenüber männlichen Autoren quantitativ erheblich dominieren. 1 | So die Angabe im Klappentext von Veremej, Nellja: Berlin liegt im Osten. Roman, Salzburg/Wien 2013. 2 | Eine Aufstellung, die bis April 2008 reicht, bietet Ackermann, Irmgard: Bio-bibliographischer Anhang: Autoren aus Ost- und Südosteuropa in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, in: Michaela Bürger-Koftis (Hg.): Eine Sprache – viele Horizonte… Die Osterweiterung der deutschsprachigen Literatur. Porträts einer neuen europäischen Generation. Wien 2008, S. 23-38. Viele der hier genannten Autorinnen und Autoren

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Mehrere der Genannten sind mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert-Bosch-Stiftung ausgezeichnet worden, der literarische Werke »deutsch schreibender Autoren nicht deutscher Muttersprache« auszeichnet. Seit 2012 ist die Definition des damit adressierten Autorinnen- und Autorenkreises etwas verändert worden.3 Er wird jetzt verliehen an »herausragende auf Deutsch schreibende Autoren, deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist. Die Preisträger verbindet zudem ein außergewöhnlicher, die deutsche Literatur bereichernder Umgang mit Sprache.«4 Auch wenn der Begriff ›Kulturwechsel‹ eher den Übergang von einer fest definierten Kultur in eine andere suggeriert, lässt sich der Chamisso-Preis wohl als Preis verstehen, der eine transkulturelle Literatur auszeichnet. Paradoxerweise liefert das eine neue kulturelle Identität, die eben in der Transkulturalität besteht, was sich u.a. daran zeigt, dass man von ›Chamisso-Literatur‹ spricht. So gibt es z.B. an der LMU München ein ›Internationales Forschungszentrum Chamisso-Literatur‹ (IFC),5 das ebenfalls von der Robert-Bosch-Stiftung finanziell unterstützt wird. Mittlerweile haben allerdings eine ganze Reihe dieser Autorinnen und Autoren zahlreiche weitere, nicht entsprechend festgelegte Literaturpreise erhalten, bis hin zum publikumswirksamsten deutschen Literaturpreis, dem Deutschen Buchpreis für Melinda Nadj-Abonjis Roman Tauben fliegen auf (2010) und Térezia Moras Das Ungeheuer (2013). Viele der transkulturellen Autorinnen und Autoren mit osteuropäischem Hintergrund stammen aus Gegenden Mittel- und Osteuropas, die Martin Pollack als »kontaminierte Landschaften« bezeichnet hat. Das sind »Landschaften, die Orte massenhaften Tötens waren, das jedoch im Verborgenen verübt wurde, den Blicken der Umwelt entzogen«.6 Nur einige dieser Orte wie Babij Jar oder Katyń sind im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit präsent, sie bilden jedoch untergründig einen Teil der kulturellen Prägungen dieser Autorinnen und Autoren. Das gilt noch stärker für nicht so lange zurückliegende Konflikte wie die Jugoslawien-Kriege oder die Auseinandersetzungen zwischen Armefinden sich bei Ackermann noch nicht, weil sie erst nach dem Frühjahr 2008 mit Büchern in Erscheinung getreten sind. 3 | Vgl. dazu den Beitrag von Ruth Steinberg im vorliegenden Band. 4 | www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/14169.asp vom 25.1.2016. 5 | Vgl. Blum-Barth, Natalia: Chamisso-Literatur. Einige Anmerkungen zu ihrer Definition, Provenienz und Erforschung, in: literaturkritik.de, August 2013 (www.literatur​ kritik.de/public/rezension.php?rez_id=18242); kritisch zu diesem Begriff: Lamping, Dieter: Deutsche Literatur von nicht-deutschen Autoren. Anmerkungen zum Begriff der »Chamisso-Literatur«, in: Chamisso. Viele Kulturen – eine Sprache. Robert-Bosch-Stiftung, März 2011/5, S. 18-21. 6 | Pollack, Martin: Kontaminierte Landschaften, St.Pölten/Salzburg/Wien 2 2014, S. 20.

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nien und Aserbaidschan um Bergkarabach. Gezeigt werden soll diese Prägung im Folgenden am Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) von Grjasnowa. Geboren 1984 in Baku, Aserbaidschan, kam Grjasnowa 1996 mit ihrer Familie als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland. Sie hat zunächst Kunstwissenschaft und Slawistik studiert, wechselte dann ans Deutsche Literaturinstitut in Leipzig, wo sie ›Literarisches Schreiben‹ studiert hat. Der Russe ist einer, der Birken liebt ist ihr erster Roman, inzwischen liegt mit Die juristische Unschärfe einer Ehe (2014) ein weiterer vor. In ihrem ersten, stark autobiografisch unterfütterten Roman erzählt Grjasnowa die Geschichte einer in Baku geborenen Aserbaidschanerin namens Mascha, die – wie ihre Autorin – 1996 mit ihrer Familie als Teil eines Kontingents jüdischer Flüchtlinge nach Deutschland kommt. Hier studiert sie – und damit hören die Parallelen zur Autorin auf – Dolmetscherwissenschaften und Arabistik; ihr Berufsziel ist, als Dolmetscherin für die Vereinten Nationen zu arbeiten. Nach einer Affäre mit einem Libanesen namens Sami, der zwischen Deutschland und den USA pendelt, verliebt sie sich in den aus Ostdeutschland stammenden Elias, dessen Tod durch eine Blutvergiftung als Folge eines Sportunfalls Mascha aus der Bahn wirft und das aktualisiert, was Grjasnowa in einem Essay selbst als »posttraumatische Belastungsstörung« 7 bezeichnet hat: Als Kind hatte Mascha in Baku während des Pogroms an den Armeniern im Januar 1990 »den Mord an einer armenischstämmigen Frau mit angesehen«.8 Aus Verzweiflung und Perspektivlosigkeit geht sie dennoch nach Israel, um dort als Dolmetscherin für eine deutsche Hilfsorganisation zu arbeiten, deren Einsätze ihr als »gemütliche Ausflüge ins Westjordanland«9 erscheinen. Sie freundet sich mit der jungen Israelin Tal an, die sich für Breaking the Silence 10 engagiert, einer »Organisation, die Soldaten dazu ermunterte, über die Situation in den besetzten Gebieten zu sprechen.«11 Im letzten Teil des Buches begleitet Mascha Tal nach Ramallah. Wiederum mit Traumatisierungen konfrontiert, überkommt sie eine neue Welle ihrer Depression: Sie klettert aus dem Fenster und steht plötzlich ganz allein im Zentrum von Ramallah. Ein junger Palästinenser namens Ismael, der – wie sich später herausstellt – früher 7 | Grjasnowa, Olga: Recherche zu Der Russe ist einer, der Birken liebt, in: Stephanie Catani/Friedhelm Marx (Hg.): Über Grenzen. Texte und Lektüren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Göttingen 2015, S. 87-93, hier S. 87. 8 | Ebd. 9 | Grjasnowa, Olga: Der Russe ist einer, der Birken liebt. Roman, München 2012, S. 184. 10 | Vgl. Breaking the Silence. Israelische Soldaten berichten von ihrem Einsatz in den besetzten Gebieten, Berlin 2012. 11 | Grjasnowa, O.: Russe, S. 198.

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Mitglied der Hamas war, spricht sie an und hilft ihr. Am Ende des Romans steht sie orientierungslos im Niemandsland zwischen Israel und den Palästinensergebieten und ruft verzweifelt ihren Freund Sami an, der ihr verspricht, mit dem nächsten Flugzeug zu kommen. Man hat dem Buch – sehr zu Recht – bescheinigt, es teile »die postkoloniale Kritik an identitätsstiftenden Zuschreibungen, die das Subjekt religiös, geschlechtlich und ethnisch möglichst eindeutig zu klassifizieren suchen.«12 Mascha lehnt alle »kulturabhängigen Identifikationsangebote«13 ab, der Roman insgesamt stellt traditionelle Gender-Modelle genauso in Frage wie starre sexuelle Orientierungen. Stephanie Catani hat die »›entgrenzten‹ Identitätsentwürfe« der transkulturellen Figuren Mascha, Sami und Cem auf Homi Bhabhas Konzept des Hybriden bezogen: Hybridität bedeutet in diesem Kontext keineswegs die bloße Vermischung eines vermeintlich ehemals ›reinen‹ Unvermischten, sondern richtet den Blick auf jene Differenzen und Widersprüche, die Identität immer schon definieren, zugleich einer klaren Hierarchie unterworfen sind und spezifische Machtverhältnisse offenlegen14,

wobei die »Schwierigkeiten eines solchen im ›Zwischenraum‹ verorteten Identitätsmodells«15 nicht verschwiegen würden. Vorausgesetzt scheint dabei für den Roman durchaus ein entsprechender Theorie-Hintergrund zu sein. Tatsächlich wird der Figur Cem, als er zusammen mit Mascha am Strand von Tel Aviv beobachtet, wie »eine weiße russischstämmige Oma«16 mit ihrem schwarzen Enkel spielt, die folgende Äußerung in den Mund gelegt: »der Kleine […] wird alles lesen und alles verstehen: alle Klassiker der Post Colonial Studies, der Critical Whitness [sic!] Studies, der Rassismustheorien, Fanon, Said, Terkessidis.«17 Wobei es ein wenig seltsam erscheint und vielleicht leichte Zweifel an der ›Theoriefestigkeit‹ aufkommen lassen kann, dass sich an dieser Stelle gleich zwei Druckfehler finden: Es ist ungebräuchlich, ›Post Colonial‹ in zwei Wörtern zu schreiben und den ›Critical Whiteness Studies‹ fehlt in Whiteness das e. Eine wichtige Rolle spielt im Zusammenhang von Hybridität und Transnationalität die Sprache. Die drei genannten Figuren sind allesamt vielsprachig, 12 | Catani, Stephanie: Im Niemandsland. Figuren der Entgrenzung in Olga Grjasnowas Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt, in: Dies./F. Marx (Hg.): Über Grenzen, S. 95109, hier S. 95. 13 | Ebd., S. 97. 14 | Ebd., S. 100. 15 | Ebd. 16 | Grjasnowa, O.: Russe, S. 220. 17 | Ebd., S. 221.

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Cem etwa spricht besser Türkisch als seine türkischen Eltern und zugleich besser Deutsch als viele Deutsche und Sami ist »deutscher Staatsbürger, in Beirut geboren und in Paris sowie in Frankfurt a.M. aufgewachsen, Sohn eines Schweizer Bankiers und einer Libanesin, seine eigentliche Muttersprache ist Französisch.«18 Auf den ersten Blick erscheint der Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv als liminaler, transnationaler Raum, an dem sich israelische »Soldaten, russische Großmütter, orthodoxe Juden und arabische Großfamilien«19 aufhalten, was zu einem sprachlichen Konglomerat führt, das sogar einen ›Dritten Raum‹ im Sinne Bhabhas konnotieren könnte: »in der Flughafenhalle vermischten sich die Sprachmelodien zu einem Klangteppich: Russisch, Hebräisch, Englisch, Italienisch und Arabisch.«20 Es gibt jedoch ein Geräusch, das die harmonische Vermischung stört: »Über die Lautsprecher mahnte eine tiefe Frauenstimme immer wieder, das Gepäck nicht aus den Augen zu lassen, und fügte hinzu: ›It’s prohibited to carry weapons in all the terminal halls.‹«21 Die dem Klangteppich unterlegte artikulierte Stimme markiert diesen Raum als einen Raum der Gefahr und des Konflikts. Der Klang von Sprache als Unterscheidungsmerkmal führt nach Baku. In einem Rückblick berichtet Mascha vom Februar 1988, in dem der Konflikt um Bergkarabach zwischen Aserbaidschanern und Armeniern zum ersten Mal gewaltsam ausbrach: Wir standen in der Schlange für Brot, und die Frau vor uns erzählte der anderen auf Russisch, sie hätten das Auto ihrer Freunde angehalten, die Insassen aussteigen lassen und verlangt, dass jeder das aserbaidschanische Wort für Haselnuss – fundukh – aufsagen sollte. ›Sag fundukh!‹, hätte der Angreifer geschrien. ›Wenn du fundukh sagen kannst, bist du ein Muslim. Dann ist alles gut.‹ Meine Mutter erklärte mir, Aserbaidschaner und Armenier würden das Wort unterschiedlich aussprechen. 22

Ethnie und Religion sind hier per Schibboleth vermeintlich sprachlich markiert. Im Buch der Richter im Alten Testament ist die richtige oder falsche Aussprache des Wortes Schibboleth bekanntlich das Erkennungszeichen für die Zugehörigkeit zum Volk der Gileaditer oder dem der Ephraimiter: Wenn nun einer von den Flüchtlingen Ephraims sprach: Laß mich hinübergehen!, so sprachen die Männer von Gilead zu ihm: Bist du ein Ephraimiter? Wenn er dann ant18 | Catani, S.: Niemandsland, S. 98. 19 | Grjasnowa, O.: Russe, S. 161. 20 | Ebd. 21 | Ebd. 22 | Ebd., S. 45.

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A xel Dunker wortete: Nein!, ließen sie ihn sprechen: Schibboleth. Sprach er aber: Sibboleth, weil er’s nicht richtig aussprechen konnte, dann ergriffen sie ihn und erschlugen ihn an den Ufern des Jordan. 23

Vielleicht ist es an dieser Stelle mehr als eine Randnotiz wert, dass in Paul Celans berühmten Gedicht Schibboleth gerade der Februar, der bei ihm auf den »Arbeiteraufstand in Wien und den des revolutionären Madrid«24 verweist, eine Rolle spielt: Herz: gib dich auch hier zu erkennen, hier, in der Mitte des Marktes. Ruf’s, das Schibboleth, hinaus in die Fremde der Heimat: Februar. No pasarán. 25

Jacques Derrida vermerkt dazu in seiner Deutung des Gedichts: Die Fremde, die Fremdheit der Heimat, das Nicht-zuhause-Sein, das Hinaus-aus-derHeimat – oder das Aus-dem-Zuhause-in-die-Heimat-gerufen-Sein, dieser ›Schritt‹ des ›nicht‹ [sic!] der jede Überschreitung der Grenze in sich und aus sich hinaus sichert und bedroht, dies Moment des Schibboleth findet sich in dem Datum, in dem Monat und in dem Wort Februar vermerkt. 26

Das ließe sich gut auf Olga Grjasnowas Mascha übertragen, deren Entfremdung von der Heimat Aserbaidschan sich von hier aus datiert: Das Pogrom in Sumgait, einer Stadt 30 km nordwestlich von Baku, auf das sich Grjasnowa hier bezieht (»Fast alle 14 000 Einwohner armenischer Abstammung flohen aus Sumgait«27), fand am 27. Februar 1988 statt. In der Folge der Ereignisse, die im Februar 1988 ihren Anfang nehmen und dazu führen, dass Mascha mit ihrer Familie schließlich Baku verlässt, sagt Mascha später von sich: »Eigentlich hielt ich nichts von vertrauten Orten

23 | Das Buch der Richter, 12, 5-6. 24 | Celan, Paul: Brief an Isac Chiva, 3.10.1954 (zitiert nach Celan, Paul: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt a.M. 2 2003, S. 637). 25 | Celan, P.: Gedichte, S. 83. 26 | Derrida, Jacques: Schibboleth, in: Werner Hamacher/Winfried Menninghaus (Hg.): Paul Celan. Frankfurt a.M. 21990, S. 61-80, hier S. 62. 27 | Grjasnowa, O.: Russe, S. 46.

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– der Begriff Heimat implizierte für mich den Pogrom.«28 Das Pogrom ist Mascha dabei auch körperlich näher gekommen, was dazu führt, dass sie auf die Frage ihres Freunds Elias »Was ist damals in Baku passiert?«29 keine richtige Antwort geben kann. In ihrem erwähnten Recherchebericht bringt Grjasnowa Maschas Probleme auf den Begriff: »Die Hauptfigur meines Romans – Mascha – hat als Kind den Mord an einer armenischstämmigen Frau mitangesehen. Seitdem leidet sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die sie nicht überwinden kann.«30 Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, wie sich das im Roman niederschlägt und in welchem Verhältnis Maschas Traumatisierung zum Entwurf der gelebten Transkulturalität steht. In der Ausgangsszene – Elias liegt mit einem Beinbruch im Krankenhaus – erzählt sie ihrem Freund in der dritten Person von diesem Mord: Es gab ein Kind, und es gab einen Vater. Der Vater wollte das Kind in Sicherheit bringen. Bis zu Großmutters Wohnung mussten sie zehn Minuten lang laufen. Das Kind war noch keine sieben und spürte, dass sich in den letzten Tagen etwas verändert hatte, aber es hätte nicht sagen können, was. Daran dachte das Kind, als eine Frau neben ihm aufschlug. Das Blut rann langsam bis zu den Kinderschuhen, und die Schuhspitzen des Kindes färbten sich rot. Das Blut war warm, und die Frau war jünger, als ich es heute bin. Das Kind wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und das Blut blieb an seiner Wange. Es hätte schlimmer kommen können, sagte die Großmutter am späten Abend, während sie die Blutkruste von den Kinderschuhen abwusch. 31

Der Vater, das Kind, die junge Frau, das Blut und die Großmutter, diese Elemente sind hier mit der Szene verbunden. Aktualisiert wird diese Szene nach Elias’ Tod an einer Sepsis, für den Mascha sich die Schuld gibt: »Wenn ich meine Augen schloss, sah ich sein Gesicht, und wenn ich sie zu lange geschlossen hielt, sah ich das Gesicht einer jungen Leiche im hellblauen Unterkleid. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, aus ihrem Schoß tropfte Blut.«32 Der Vater und die Großmutter sind aus dem Bild verschwunden, die Gestalt der jungen Frau hat sich verändert – aus der jungen Frau ist eine junge Leiche geworden, hinzugekommen ist das hellblaue Unterkleid, und das Blut wird jetzt mit deren Schoß in Verbindung gebracht. Im Hintergrund könnte hier auch noch eine Abtreibung stehen, die Mascha vor ihrer Beziehung zu Elias hatte vornehmen lassen. Schon wenig später taucht das gleiche Bild wieder auf: 28 | Ebd., S. 203. 29 | Ebd., S. 89. 30 | Grjasnowa, O.: Recherche, S. 87. 31 | Grjasnowa, O.: Russe, S. 42f. 32 | Ebd., S. 104.

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A xel Dunker Ich lag im leeren Bett und sah die Leiche einer jungen Frau im hellblauen Unterkleid direkt vor meinen Füßen aufschlagen, mit verdrehten Beinen und blutendem Unterleib. Ich riss mich von meinem Vater los und rannte zur Frau. Ihr Kleid war blutgetränkt, und auch auf dem Asphalt breitete sich eine Blutlache aus. Das Blut rann bis zu meinen Schuhen. Färbte sie rot. 33

Beide Bilder haben sich jetzt miteinander verbunden: die junge Frau, die neben dem Kind Mascha aufschlägt, trägt jetzt das blaue Unterkleid und blutet aus dem Unterleib. Eine andere Aktualisierung des traumatischen Bildes bringt die Situation in Israel mit sich. Die junge Israelin Tal, mit der Mascha eine lesbische Beziehung eingeht, leidet selbst unter posttraumatischen Störungen, die mit ihren Erfahrungen in der Armee zusammenhängen. Wir beide wussten, was Krieg bedeutete und wie es war, jemanden sterben zu sehen. Jemanden sterben zu lassen. Meine Albträume wurden zu Tagträumen. Wenn ich übersetzte oder meinen Orangensaft trank, sah ich den hellblauen Stoff, der sich langsam mit Blut tränkte, und die Blutlache auf dem Asphalt. Ich konnte meine Hand nach ihr ausstrecken. Ich konnte sie berühren. Ich hörte die Stimmen ihrer Mörder. Immer deutlicher. Die meisten Gewehrläufe, die ich sah, waren real. 34

Das Bild löst sich hier noch weiter von seinem konkreten Hintergrund (Vater und Großmutter sind verschwunden) und fügt sich in die Realität und deren Wahrnehmung ein. Zugleich deutet sich hier eine Zusammengehörigkeit an, bei der es allerdings fraglich ist, ob man sie eine kulturelle nennen kann: Mascha und Tal haben vergleichbare Erfahrungen gemacht mit vergleichbaren psychischen Folgen, was sie miteinander verbindet, aber zugleich die Beziehung zwischen beiden auch ungemein erschwert. Für Mascha führt das zum Zusammenbruch. Auf einer Party hat sie eine Panikattacke, es muss ein Notarzt gerufen werden, der ihr eine Beruhigungsspritze gibt: »Die Atmung verlangsamte sich. Die Angst, Elischa und die Frau im hellblauen Unterkleid waren verschwunden.«35 Die Fahrt nach Ramallah bringt dann eine einschneidende Veränderung des Motivs. Die Gruppe um Tal, die Mascha als Dolmetscherin begleitet, trifft auf eine junge Palästinenserin namens Salam, die aus ihrem Leben erzählt. »Ich komme aus einer traumatisierten Familie, mein Vater, Mitglied der Kommunistischen Partei Palästinas, hat zehn Jahre lang in israelischen Gefängnis-

33 | Ebd., S. 107. 34 | Ebd., S. 198f. 35 | Ebd., S. 224.

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sen gesessen.«36 Tal reagiert darauf mit körperlicher Anspannung. Als Salam das Wort ›Bombe‹ verwendet, zuckt sie zusammen, »vielleicht dachte sie an ihre Tante und ihren Onkel«.37 Wichtiger aber ist etwas anderes: »Tals Kleid war hellblau, nicht dunkelblau, nicht ultramarinblau, nicht azurblau, nicht graublau. Hellblau. Sie sah mich nicht einmal an. Ich durchwühlte meine Tasche nach Benzodiazepinen, aber ich fand keine.«38 Was passiert hier? Die mehrfach traumatisierte Mascha (Baku und Elias) trifft auf eine traumatisierte Israelin und eine traumatisierte Palästinenserin. Man könnte sich vorstellen, dass hieraus eine ganz neue Möglichkeit des Miteinanderredens erwächst, Traumatisierung als etwas Transnationales und Transkulturelles erkennbar wird. Dahinter steht auch noch die Shoah, die Maschas Großmutter überlebt hat;39 auch Mascha kommt wie Salam aus einer ›traumatisierten Familie‹ und für Tal dürfte das auch gelten. Es passiert aber eher das Gegenteil: Tal und ihr hellblaues Kleid lösen bei Mascha einen neuen Schub der posttraumatischen Belastungsstörung aus, was Kommunikation gerade unmöglich macht. Während Salam und Tal einander aus der aktuellen Konfrontation zwischen Israelis und Palästinensern heraus verstehen, bleibt Mascha isoliert. Als Reaktion darauf klettert diese aus dem Fenster der Toilette und läuft allein in einer für diesen Ort vollkommen unpassenden Bekleidung durch das Zentrum von Ramallah. Dort wird sie von Ismael, einem jungen Palästinenser, der sie an Elias erinnert, angesprochen. Er verwickelt sie in ein Gespräch über nationale Identitäten, in dem der dem Roman den Titel gebende Satz über die Russen, die Birken lieben, fällt und nimmt sie, als sie erneut zusammenbricht, schließlich mit zu seiner Familie, die in Jenin im Westjordanland lebt. Zunächst scheint sich wiederum die Möglichkeit eines Gesprächs über transnationale Grenzen hinweg zu eröffnen, auch weil es kulturelle Grenzen gar nicht zu geben scheint – Ismael hört Bob Dylan, seine Eltern waren früher genauso wie die Maschas Kommunisten. Mascha stellt sich dort als »internationale Friedensaktivistin« vor, »die Sorte Frau war in Palästina bekannt«.40 Für die anstehende Hochzeitsfeier bekommt Mascha von einer der Schwestern Ismaels ein Kleid: »Das geliehene Kleid war hellblau.«41 Mehrere Frauen umkreisten die Braut, die wie eine Puppe geschminkt war. Wer nicht tanzte, klatschte den Takt mit. Die Musik war laut und die Düfte aufdringlich. Alle hatten 36 | Ebd., S. 262. 37 | Ebd. 38 | Ebd. 39 | Vgl. etwa ebd., S. 276. 40 | Ebd., S. 278. 41 | Ebd., S. 279.

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A xel Dunker ihre Kopftücher und Mäntel ausgezogen. Ich sah mich zufällig im Spiegel. Blaues Kleid. Die Musik war ohrenbetäubend laut und draußen noch Tag.42

Mascha bricht wieder aus und irrt durch den Ort voller »Plakate von Gefangenen, die in israelischen Gefängnissen einsaßen, und von Selbstmordattentätern, mit der genauen Angabe ihres Todesdatums.«43 Mascha bekommt Nasenbluten und als sie in einem Café ein Porträt von Saddam Hussein sieht, stellt sich ein erneutes Flashback ein: Beeile dich, sagte mein Vater. Über uns waren Schreie, polyphones Geschrei und eine langgezogene weibliche Stimme. Das Geräusch eines aufprallenden Körpers. Das Blau ihres Kleides. Die Blutlache. Mein Vater versuchte, mir die Augen zu verschließen. Ich riss mich los. Lief zu ihr. Ihr Blut färbte meine Schuhe karminrot. Mein Vater wollte mich nicht alleine lassen. Großmutter schrie ihn an. Geh. Geh zurück zu deiner Frau. Dann versuchte sie mir gut zuzureden. Sie wickelte mich in eine Decke und legte mich auf ihr Bett. Ich bekam Nasenbluten.44

Mit dem Begriff des ›Polyphonen‹ nimmt Grjasnowa hier einen Lieblingsbegriff der inter- wie der transkulturellen Literaturwissenschaft auf, der aber ins Gegenteil verkehrt wird: keine transkulturelle Mehrstimmigkeit, die die Alterität harmonisch in einer Konstellation der Hybridität aufnimmt, sondern ein Schrei des Entsetzens, vor dem es kein Entkommen zu geben scheint. Als dann auch noch ein Aserbaidschaner vor der Tür steht, der die Wohnung der Großmutter nach versteckten Armenierinnen oder Armeniern durchsuchen will, äußert die Großmutter einen Satz, den Catani als »heimliches Mantra des Romans«45 bezeichnet: »Alles wiederholt sich, murmelte sie. Alles wiederholt sich. Alles wiederholt sich.« 46 Für die Großmutter wiederholt sich das Pogrom im Zeichen des Holocaust im Pogrom von Baku. Es ist aber auch das Wesen des Traumas, das sich alles wiederholt, dass es aus den Flashbacks kein Entkommen gibt. Für Mascha hat das unmittelbar zur Folge, dass sich die Szene aus dem Pogrom in Baku und die aktuelle Realität in Jenin ineinanderschieben, der zeitlose psychische Raum und der gegenwärtige Raum werden ununterscheidbar. Sie ruft Sami an – »Ich sah mich um, ich wusste nicht mehr, wo ich war […] ›Sami, ich verliere Blut.‹«47 Das auf den ersten Blick so harmlos scheinende 42 | Ebd., S. 280. 43 | Ebd. 44 | Ebd., S. 281f. 45 | Catani, S.: Niemandsland, S. 100. 46 | Grjasnowa, O.: Russe, S. 283. 47 | Ebd., S. 284.

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Nasenbluten48 ist Teil der Aktualisierung der traumatischen Szene, das nur in einem Traumbild von Elias gestillt werden kann: »Elischa reicht mir ein Taschentuch. Ich halte es an meine Nase und lehne den Kopf zurück. ›Du musst den Kopf hochhalten. Sonst hört die Blutung nicht auf.‹«49 »Was ist damals in Baku passiert?« Diese Frage erweist sich als die Schlüsselfrage des Romans. Die psychisch nicht verarbeiteten Ereignisse in Baku strukturieren die Wahrnehmung aller nachfolgenden Geschehnisse. Übrigens gehört zu Baku auch noch die (verleugnete, nicht akzeptierte) jüdische Identität: Meine Mutter hatte schnell meine Sachen gepackt, dicke Wollstrümpfe, Kleider, Pullover. Sie weinte leise vor sich hin. Als sie meinen Mantel zuknöpfte, schaute sie mir lange ins Gesicht, dann nahm sie den Davidstern, den ich seit meinem dritten Lebensjahr trug, von meinem Hals. Ich protestierte, doch sie sagte, es sei nicht an der Zeit. 50

Offenbar war es seitdem nie wieder an der Zeit. Was heißt das für die Frage nach den kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten? Als Mascha mit einem Taxi durch die »ärmere[n] südlichere[n]« Gebiete von Tel Aviv fährt, merkt sie, dass sie »zu Hause mit Orten assoziierte, die [sie] an Baku erinnerten.«51 Dorthin aber gibt es keine Rückkehr – Wohin ich mich sehnte, war ein vertrauter Ort. Eigentlich hielt ich nichts von vertrauten Orten – der Begriff Heimat implizierte für mich stets den Pogrom. Wonach ich mich sehnte, waren vertraute Menschen, nur war der eine tot, und die anderen ertrug ich nicht mehr. Weil sie lebten. 52

Die einzige wirkliche Zugehörigkeit Maschas ist wohl die zum Trauma, das immer wieder alle Möglichkeiten von anderen, auch transkulturellen Mehrfachzugehörigkeiten überschwemmt und zum Verschwinden bringt. Dass aber das Trauma (wie das Pogrom) selbst etwas Transkulturelles ist, das die Shoah, die Bürgerkriege um Bergkarabach, die Auseinandersetzungen zwischen Israelis 48 | Vgl. etwa Sigrid Löffler: »Im Schlussbild des Romans steht Mascha völlig verloren und allein auf einem Feld am Rande eines Palästinenserlagers bei Ramallah, hat Nasenbluten und weiß nicht wohin. Per Handy ruft sie ihren Ritter Sami aus Europa herbei: Er soll sofort herkommen und sie retten. So verendet ein ehrgeiziges postfeministisches Roman-Unternehmen im Rückfall auf ausgelaugte, vor-emanzipatorische Stereotypen« (zitiert nach Catani, S.: Niemandsland, S. 107). 49 | Grjasnowa, O.: Russe, S. 284. 50 | Ebd., S. 281. 51 | Ebd., S. 253. 52 | Ebd., S. 203

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und den Palästinensern wie auch den ›privaten‹ Schmerz um den Verlust eines geliebten Menschen miteinander verbindet, diese Erkenntnis sollte eigentlich eine Chance beinhalten: Es gibt eine transkulturelle, universal menschliche Zugehörigkeit zum durch Grausamkeit und Schmerz zugefügten Verlust und dessen psychischen Folgen. Das sollte eigentlich die Möglichkeit eröffnen, gemeinsam aus diesem historischen Albtraum zu erwachen. Die Literatur kann dazu einen Beitrag leisten, indem sie zumindest auf diese Möglichkeit aufmerksam macht.

Zugehörigkeit, Autorschaft und die Debatte um eine ›Migrationsliteratur‹ Saša Stanišić und Olga Grjasnowa im literarischen Feld Deutschlands Ruth Steinberg

I. »M igr ationsliter atur ist ein toter K adaver « 2006 äußerte der deutsch-türkische Schriftsteller Feridun Zaimoğlu in einem Interview für die Reihe edition text + kritik seine kritische Einstellung gegenüber der Kategorie ›Migrationsliteratur‹, insbesondere gegenüber der Art, wie die Literatur von Autorinnen und Autoren nichtdeutscher Sprachherkunft im literarischen Feld Deutschlands verortet wird. Er distanziere sich zunehmend von Migrationsprojekten, so der Autor, da dort »sehr viel Kunsthandwerk« und »weniger Willen zur Kunst oder zur Aufregung«1 zu finden seien. Er habe »weder auf Politkasperei Lust […], auf eine Salonradikalität, noch auf all die Migrationsprojekte«. Nach der Debatte um ›Migrationsliteratur‹ gefragt, die nach Ansicht der Interviewpartnerin eine »regelrechte Modeerscheinung im Literaturbetrieb [sei], die von bestimmten Schlagworten wie ›Bereicherung‹, ›Farbigkeit‹, ›Sinnlichkeit‹ und ›Vitalität‹« lebe, gibt sich der Autor gelassen: Öffentlichen Personen, so Zaimoğlu, würden immer »bestimmte Attribute und Klischees zur Kennzeichnung« zugeschrieben, weswegen Autorinnen und Autoren mit einem biografischen Hintergrund wie dem seinen aufgrund von Lesererwartungen »egal, welches Buch sie schreiben, in die Verlegenheit geraten, der Migrationskultur, [daher]: der exotischen Kultur zugeschlagen«2 zu werden. »Dieses zoologische Interesse, das wird weiterhin bestehen blei-

1 | Alle Zitate dieses Absatzes aus Zaimoğlu, Feridun/Abel, Julia: »Migrationsliteratur ist ein toter Kadaver«. Ein Gespräch, in: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband Literatur und Migration, München 2006, S. 159-166, hier S. 162. 2 | Ebd., S. 163.

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ben.«3 Zum Ende des Interviews positioniert sich Zaimoğlu als Autor selbst jenseits der seiner Ansicht nach kollektivierenden Zuschreibungen des Literaturbetriebs. Ihm sei es, so glaube er, »trotz [der] vielen Zuschreibungen, gelungen, als ein […] Solitär aufzutreten, als einer, der nicht bloß ein Kollektivbewusstsein zu Papier bring[e]; als ein deutscher Autor, mit […] interessanten Büchern«.4 Er begrüße den »Zerfall der Literaturtruppe mit migrantischem Hintergrund in Einzelgänger«.5 Das Interview mit Zaimoğlu kreist auf einer ersten Ebene um Prozesse der Verortung und der Selbstverortung deutschsprachiger Autorinnen und Autoren nichtdeutscher sprachlicher und biografischer Herkunft im literarischen Feld: Thematisiert wird ihre Verortung und die ihrer Werke durch verschiedene Feldakteure – Leserinnen und Leser, Verlage und Literaturkritikerinnen und Literaturkritiker – sowie die Rolle der biografischen Erfahrungen einer Autorin oder eines Autors, die mit kollektivierenden und stereotypisierenden Zuschreibungen verbunden sein und die Rezeption literarischer Werke dominieren können. Das Interview zeigt zudem, wie ein in Deutschland aufgewachsener Autor mit türkischen Wurzeln die an ihn und seine literarischen Texte herangetragenen kollektivierenden Zuschreibungen reflektiert und der Zuordnung zu einer ›Migrationskultur‹ zu entkommen sucht, indem er in der Selbstdarstellung das Bild einer individuellen Autorpersönlichkeit, eines ›Solitärs‹ entwirft. Auf einer zweiten Ebene geht es daher, so möchte ich argumentieren, um Fragen der Zugehörigkeit im literarischen Feld: Im Streben nach Anerkennung als ›ernstzunehmende‹ Autorpersönlichkeit erweist sich die Identifikation mit dem Bild einer ›Migrationsautorin‹ oder eines ›Migrationsautors‹ offenbar als Störfaktor, weswegen sich Zaimoğlu unter Nutzung aussagekräftiger dichotomisch platzierter Substantive (Kunsthandwerk vs. Kunst, Attribute und Klischees vs. interessante Bücher, Kollektiv vs. Solitär) vehement kritisch dazu positioniert. Ziel dieses Beitrags ist es, diese individuellen Handlungsmöglichkeiten zugewanderter Autorinnen und Autoren im literarischen Feld Deutschlands anhand von zwei Fallbeispielen in den Blick zu nehmen und ihre Selbstverortungen, insbesondere im Umgang mit der Kategorie ›Migrationsliteratur‹ zu untersuchen.6 Im Kern wird ein Perspektivwechsel in der Debatte um ›Migrationsliteratur‹ vollzogen: Über die Perspektive verschiedener Akteurinnen und 3 | Ebd. 4 | Ebd., S. 165. 5 | Ebd., S. 166. 6 | Als Quellen dieser Untersuchung dienen Feuilletonbeiträge wie Rezensionen, Artikel und Interviews, Essays, die in verschiedenen Print- und Onlinemedien publiziert wurden, sowie die im Internet zugänglichen Laudationes zur Vergabe des Adelbert-vonChamisso-Preises der Robert-Bosch-Stiftung.

Zugehörigkeit, Autorschaf t und die Debatte um eine ›Migrationsliteratur‹

Akteure sowie Akteurs-Gruppen der Zuwanderungsgesellschaft (der Literaturkritik, der Literaturförderung, der Literaturwissenschaft) hinaus, die oft von kollektivierenden Sichtweisen auf zugewanderte Autorinnen und Autoren und ihr Schreiben geprägt sind, soll die Perspektive ausgewählter Autorinnen und Autoren eingenommen, ihre Positionierungen im literarischen Feld untersucht und ihre individuellen Lauf bahnen nachgezeichnet werden. Zu diesem Zweck wird das Konzept der ›Zugehörigkeit‹ 7 und seine »Privilegierung einer Ego-Perspektive«8 mit jüngeren Überlegungen zu einer ›Subjektform Autor‹9 und Bourdieus ›literarischem Feld‹ zu einem methodischen Rahmen verknüpft. Unter Zugehörigkeit versteht Joanna Pfaff-Czarnecka (2012) die »emotionsgeladene soziale Verortung«10 einer Person in verschiedenen sozialen Feldern, die sich in bestimmten Stadien durch den »prozesshaften Charakter des Erschaffens neuer Zugehörigkeiten«11 auszeichnet. Indem die Figur der ›biographischen Navigation‹ egozentriert ist, kommt darin der lebensweltliche, von ›unten‹ gedachte und hauptsächlich kleinräumige Charakter der Zugehörigkeit zum Ausdruck. […] Diesem Perspektivwechsel liegt die Ansicht zugrunde, dass die Integrationsforschung den persönlichen Wegen der Selbstintegration – v.a. in Zuwanderungskontexten – zu wenig Beachtung geschenkt hat.12

Diese Gegenüberstellung von Integrationskonzepten und dem Ansatz der ›Zugehörigkeit‹ lässt sich m.E. nach in erhellender Weise auf die Debatte um Beschreibungskategorien für die durch »Dynamiken der Migration und Zuwanderung«13 geprägte Literatur anwenden. Begriffe wie ›Migrationsliteratur‹, ›inter-‹ oder ›transkulturelle‹ Literatur sowie eine Vielzahl anderer Bezeichnungen entstehen aus der Perspektive der Zuwanderungsgesellschaft und scheinen im Kern das Problem zu bergen, dass sich, wie Pfaff-Czarnecka es ausdrückt, »[d]ie kollektivierende Sicht eines nationalen Wir […] in den Stereotypisierungen ethno-nationaler ›Migrantengruppen‹ fort[setzt].«14 Der Litera7 | Vgl. Pfaff-Czarnecka, Joanna: Zugehörigkeit in der mobilen Welt. Politiken der Verortung, Göttingen 2012. 8 | Ebd., S. 57. 9 | Vgl. Kyora, Sabine (Hg.): Subjektform Autor. Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2014. 10 | Pfaff-Czarnecka, J.: Zugehörigkeit, S. 12. 11 | Ebd., S. 44. 12 | Ebd., S. 58. 13 | Ebd., S. 16. 14 | Ebd., S. 49. Vgl. bspw. Disoski, Meri: Im Dazwischen schreiben?, in: www.migrazi​ ne.at, online magazin von migrantinnen für alle, http://migrazine.at/artikel/im-dazwi​ schen-schreiben vom 26.09.2016.

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turbetrieb, die literarische Öffentlichkeit und mitunter auch die Literaturwissenschaft zeichnen sich bis in die jüngste Zeit hinein, so der Tenor, durch eine Überbetonung des Biografischen und eine Vernachlässigung textästhetischer Kategorien aus, also, so Julia Schöll (2012) »vor dem Hintergrund des Interesses, wer erzählt und was erzählt wird, tritt die Frage danach, wie erzählt wird, in den Hintergrund«.15 Darüber hinaus suggerieren, so Myriam-Naomi Walburg (2015) zu Recht, die Kategorien die Existenz einer wenn nicht homogenen, so zumindest vergleichbaren Literatur, die bspw. Fälle eines »nicht vorhandenen Schreib-Sprachwechsels« völlig außer Acht lasse.16 Wie Walburg anhand des Beispiels von Gino Chiellino und Gesa Husemann (2011) für Zaimoğlu17 zeigt, versucht von jeher ein Teil der Autorinnen und Autoren bewusst zu erreichen, dass ihr »biographischer Hintergrund nicht als wichtigste Analysekategorie auf ihr Werk [bezogen], sondern diese Literatur nach Fragen der Literaturästhetik [beurteilt wird]«.18 Im letzten Jahrzehnt äußerte sich eine Reihe jüngerer, nach 1989/90 in die Bundesrepublik eingewanderter Autorinnen und Autoren im Rahmen von Feuilletondebatten, poetologischen Stellungnahmen und anderen epitextuellen Äußerungen zu der Einordnung und Bewertung ihrer Literatur im öffentlichen, aber auch im wissenschaftlichen Diskurs.19 Stellungnahmen wie diese zeigen nicht nur eine Distanzierung von kollektivierenden Kategorien, sondern formulieren unter Rückgriff auf tradierte Autorschaftskonzepte auch ein jeweils individuelles Autorschafts-Verständnis. Auf diese Beobachtung gründet sich meine These, dass »das Konzept des Autors, das er selbst entwirft, wie auch die in der Öffentlichkeit verbreiteten Autorschaftsbil15 | Schöll, Julia: Unterwegs im Text. Kritische Rückfragen zum Begriff Migrationsliteratur, in: Das Argument 298 (2012), S. 539-547, hier S. 539. 16 | Walburg nennt beispielhaft Marica Bodrožić, die im Alter von acht Jahren nach Deutschland kam und deren erste Schreibsprache das Deutsche wurde. Noch überzeugender ist m.E. das Beispiel Feridun Zaimoğlus, der mit seiner Familie 1965 im ersten Lebensjahr von der Türkei nach Deutschland übersiedelte. Walburg, Myriam-Naomi: »Ich schlage vor, unsere Literatur als Literatur zu bezeichnen«. Über die Kategorie der Migrationsliteratur, in: Metin Toprak/Ali Osman (Hg.): Migration und kulturelle Diversität 1: Literatur- und Übersetzungswissenschaft, Frankfurt a.M. 2015, S. 73-85, hier S. 78. 17 | Vgl. Husemann, Gesa: »Vom Sprachrohr der Kanaken« zum »deutschen Dichter«. Feridun Zaimoğlu, in: Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, Heidelberg 2011, S. 383-404. 18 | Walburg, M.-N.: »Ich schlage vor, unsere Literatur als Literatur zu bezeichnen«, S. 73. 19 | Eine Übersicht über das Spektrum der Positionen bietet der Band Pörksen, Uwe/ Busch, Bernd (Hg.): Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positionen des Schreibens in unserem Einwanderungsland (= Valerio 8), Göttingen 2008.

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der«20 und deren Wechselwirkung bei der Positionierung eines Autors und der Kreierung von Zugehörigkeit im literarischen Feld eine zentrale Rolle spielen. In diesem Beitrag soll am Beispiel zweier junger Gegenwartsautorinnen und -autoren, die in der ersten Zuwanderungsgeneration in Deutschland leben und in deutscher Sprache schreiben, Saša Stanišić und Olga Grjasnowa, der Prozess des Schaffens von Zugehörigkeit im literarischen Feld untersucht werden. Zunächst wird anhand zweier bekannter Beispiele aus den Bereichen Literaturkritik und Literaturförderung die Verortungen bestimmter Autorinnen und Autoren durch verschiedene Feldakteure nachgezeichnet: Bei den Beispielen handelt es sich zum einen um eine Feuilletondebatte zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur im Frühjahr 2014 und zum anderen um die Literaturpreisvergabe am Beispiel des Adelbert-von-Chamisso-Preises. Im zweiten Schritt analysiere ich, mittels welcher feldspezifischer Praktiken sich Stanišić und Grjasnowa im literarischen Feld positionieren, welche Rolle kritisch geartete Bezugnahmen auf ›Label‹ wie ›Migrationsliteratur‹ bzw. ›Migrationsautorin‹ bzw. ›Migrationsautor‹ dabei spielen und welche Konzepte sie bezüglich ihrer eigenen Autorschaft entwerfen.

II. V erortungen Beispiel 1: Literaturdebatte im Frühjahr 2014 Anfang 2014 flammte zum wiederholten Male die Debatte um den Zustand der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in den Feuilletons der Tageszeitungen auf.21 Der Schriftsteller Florian Kessler monierte in seinem in der ZEIT erschienenen Essay Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn! einen vermeintlichen Konformismus deutscher Nachwuchsschriftstellerinnen und Nachwuchsschriftsteller, dessen Ursachen er im einheitlich bildungsbürgerlichen Herkunftsmilieu der jungen Akteurinnen und Akteure, in den professionellen Ausbildungen der Schreibschulen der Universität Hildesheim und des Deutschen Literaturinstituts Leipzig sowie den Anforderungen des von »mächtige[n] Handelsketten«, »Verlagskorporationen« und »Literaturagenten« dominierten Buchmarkts lokalisiert: »Die zwanzigjährigen Rolf Dieter Brinkmanns 20 | Kyora, Sabine: Subjektform ›Autor‹? Einleitende Überlegungen, in: Dies.: Subjektform Autor. Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung, S. 11-20, hier S. 11. 21 | Bereits 2008 wurde in der FAZ gefragt, »warum die Gegenwartsliteratur die Gegenwart meidet«. Kämmerlings, Richard: Am Tellerrand gescheitert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.01.2008, www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/literatur-amtellerrand-gescheitert-1516224.html vom 27.02.2014.

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von heute machen alles Mögliche, bloß nicht ausgerechnet die Literatur mit abweichenden Stimmen und Erfahrungshintergründen anreichern.«22 Von dieser Mehrheit der ›Jungautorinnen und Jungautoren‹ nimmt er bestimmte Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus und schränkt ein: »Natürlich gibt es auch einige Olga Grjasnowas, Saša Stanišićs und Clemens Meyers da draußen, wobei übrigens auch jemand mit Häkchen über dem Nachnamen humanistische Bildung genossen haben kann.«23 An dieser Auswahl ist bemerkenswert, dass Kessler mit Stanišić und Grjasnowa gleich zwei Personen nennt, die am Literaturinstitut Leipzig einen Abschluss gemacht haben und die aus dem östlichen Europa stammen. Kessler distanziert sich von einer Exotisierung der genannten Autorinnen und Autoren aufgrund ihrer transkulturellen Biografie, bringt sie jedoch in seinem Essay in Verbindung mit der Forderung nach Texten, welche die deutschsprachige Literatur mit »abweichenden Stimmen und Erfahrungshintergründen« bereichern und ihre Re-Politisierung vorantreiben sollen. Die Rolle zugewanderter Autorinnen und Autoren rückte wenige Wochen später erneut in den Fokus, als Maxim Biller in seinem polemischem Beitrag in der ZEIT Letzte Ausfahrt Uckermark einen seiner Ansicht nach bedauernswerten Zustand der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur diagnostizierte – sie sei langweilig, kraftlos, provinziell – und diesen dem Fehlen der »lebendige[n] literarische[n] Stimmen von Migranten«24 zuschrieb. Die zugewanderten Autorinnen und Autoren aber passten sich dem von den »Nachfahren der Nationalsozialisten« dominierten Literaturbetrieb an: thematisch, indem sie ihre »Immigrantenbiographie« lediglich als »Folklore« bzw. »szenische Beilage« einbrächten, statt sie zum Ausgangspunkt der Figurenkonflikte zu machen, ästhetisch durch eine verbreitete Adaption der »herrschenden« stilistischen Tradition, die Biller als »kalte[n], leere[n] Suhrkamp-Ton«25 umschreibt. Titelstiftendes Beispiel Billers ist Saša Stanišić, dessen Debütroman Wie der Soldat das Grammophon repariert (2006) über das Leben und den Krieg in Bosnien Anfang der 1990er, er als »grandiose[n], weil universell verständliche[n] Roman« bezeichnet. Am zweiten Roman Vor dem Fest (2014) und dessen dörflichem Schauplatz in der nordostdeutschen Region Uckermark moniert er einen vermeintlichen »radikale[n], antibiografische[n] Themenwechsel« des Autors: »Hat den ehemaligen Leipziger Literaturstudenten Saša Stanišić der Mut ver22 | Kessler, Florian: Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!, in: Zeit online vom 16.01.2014, www.zeit.de/2014/04/deutsche-gegenwar tsliteratur-brav-konformis​ tisch vom 05.02.2014. 23 | Ebd. 24 | Biller, Maxim: Letzte Ausfahrt Uckermark, in: Zeit online vom 20.02.2014, www. zeit.de/2014/09/deutsche-gegenwartsliteratur-maxim-biller vom 15.01.2016. 25 | Ebd.

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lassen? Ist es ihm wichtiger, als Neudeutscher über Urdeutsche zu schreiben als über Leute wie ihn?«26 Biller legt die zugewanderten Autorinnen und Autoren im Beitrag nicht nur auf ihren biografischen Erfahrungen nahestehende Themen fest, sondern nimmt sie auch als Kollektiv in die Pflicht: Warum hat sich bis heute der Chor der vielen nicht deutschen Schriftsteller nicht zu einer einzigen lauten Stimme vereinigt? Wo bleibt die große Welle, die alles Bestehende kurz einmal wegspült und die Sicht auf Neues freigibt? 27

Die zahlreichen kritischen Reaktionen auf Billers Polemik zielten vor allem auf dessen skandalheischende Wortwahl und Argumentation, die despektierliche Darstellung des Literaturbetriebs und eine, wie Ijoma Mangold pointiert zusammenfasst, Überhöhung des »erfahrungssatten migrantischen Autors als abstraktes Ideal, der allein die deutsche Literatur aus ihrer selbstreferentiellen Sterilität […] erlösen könne«.28 Hinsichtlich der hier untersuchten Verortungen von Autorinnen und Autoren durch Feldakteure sind Billers Zuschreibungen bemerkenswert: (1) Die Literatur zugewanderter Autorinnen und Autoren soll literarische Innovation generieren und das etablierte Literaturfeld »in Bewegung und durcheinander bringen«.29 (2) Alleinstellungsmerkmale dieser Literatur – und Quelle der Innovation – sollen eine authentische Gesellschaftsdarstellung und eine spezifische, realistische Ästhetik sein, die Ethnizität mit Authentizität paart (schön, brutal, ehrlich). (3) Zu den von Biller präferierten Sujets und Gestaltungstechniken seien die Autorinnen und Autoren aufgrund der »Freiheit [ihrer] Multilingualität und Fremdperspektive«30 befähigt. Biller arbeitet, wie Tommek aufzeigt, mit der Forderung nach literarischer »Authentizität«, »Erfahrung« und »wirklichkeitsrelevanter Gegenwärtigkeit« langfristig und programmatisch an der »Legitimierung eines neuen Realismus im literarisch-journalistischen Mittelbereich«31 des literarischen Feldes und nimmt die zugewanderten Autorinnen und Autoren für die Realisierung einer innovativen, wirklichkeitsnahen und biografisch fundierten Literatur als Kollektiv in die Pflicht. Bezogen auf die Frage der Zugehörigkeit, ist festzustellen, dass Biller die Autorinnen und Autoren dazu auffordert, sich der Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft, zum Literaturbetrieb und zur deutschsprachigen (Na26 | Ebd. 27 | Ebd. 28 | Mangold, Ijoma: Fremdling, erlöse uns!, in: Zeit online vom 27.02.2014, www.zeit. de/2014/10/erwiderung-maxim-biller-deutsche-gegenwartsliteratur vom 10.08.2016. 29 | Biller, M.: Letzte Ausfahrt Uckermark. 30 | Ebd. 31 | Tommek, Heribert: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960-2000, Berlin [u.a.] 2015, S. 240.

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tional-)Literatur bewusst zu verweigern, um diese extreme Außenperspektive als Motor ihres literarischen Schaffens nicht zu gefährden.

Beispiel 2: Der Adelbert-von-Chamisso-Preis Stanišić wurde 2008 für seinen Debütroman Wie der Soldat das Grammophon repariert mit dem Hauptpreis und Grjasnowa 2015 für ihren zweiten Roman Die juristische Unschärfe einer Ehe (2014) mit dem Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis der Robert-Bosch-Stiftung ausgezeichnet. Literaturpreisen ist laut Richter eigen, dass sie »Aufmerksamkeit erzeugen oder konzentrieren, eine Hierarchisierung von Autoren im literarischen Feld betreiben, Kanonisierungsprozesse in Gang setzen oder verstärken, [und] als Werbeargumente für den Buchverkauf verwendet werden können.«32 In dieser Funktion betrachte ich Literaturpreise, insbesondere deren Satzungen sowie deren Kernelemente Laudatio und Dankrede als öffentlichkeitswirksame Orte der Verortung und der Selbstverortung von Autorinnen und Autoren.33 Hinsichtlich der Frage nach der Verortung von Autorinnen und Autoren ist die langjährige Vergaberichtlinie für den seit 1985 verliehenen Adelbert-von-Chamisso-Preis aufschlussreich, welche die nichtdeutsche Herkunft zur Bedingung für die Auszeichnung erklärt.34 »[D]ie im einzelnen sehr unterschiedlichen Erfahrungen von Grenzüberschreitungen und deren literarischer Niederschlag«, so Irmgard Ackermann 2004, seien die Kriterien für die Zuerkennung des Chamisso-Preises sowie des damit verbundenen Förderpreises für Autoren, die […] ›nichtdeutscher Sprachherkunft sind oder die in einer anderssprachigen und anderskulturellen Umgebung aufgewachsen sind‹, die also von 32 | Richter, Steffen: Der Literaturbetrieb. Eine Einführung. Texte – Märkte – Medien. Darmstadt 2011, S. 43. Vgl. auch Dahnke, Michael: Literaturpreise, in: Heinz Ludwig Arnold/Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3. völlig veränderte Aufl., München 2009, S. 333-343. 33 | Die Analysen der Laudationes, die Aufschluss über die Verortung Grjasnowas und Stanišićs durch die Feldakteure geben können, finden sich weiter unten im Text; die für Fragen der Selbstverortung interessanten Dankesreden der Autorinnen und Autoren sind als Quelle leider nicht erhalten. 34 | Auf der Internetseite der Robert-Bosch-Stiftung heißt es: »Der Preis wurde damals definiert als Auszeichnung für deutsch [sic!] schreibende Autoren nicht deutscher Muttersprache. Wurde die mit dem Preis gewürdigte Literatur seit den 80er Jahren zunächst noch »Gastarbeiterliteratur« genannt, entwickelte sie sich nach Öffnung des Eisernen Vorhangs zur sogenannten »Migrationsliteratur«, die verstärkt auch außereuropäische Einflüsse umfasste.« www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/14169.asp vom 02.02.2016.

Zugehörigkeit, Autorschaf t und die Debatte um eine ›Migrationsliteratur‹ ihrer Herkunft und Erfahrung her interkulturelle Perspektiven in die deutsche Literatur bringen. 35

Gesellschaftliche Entwicklungen, insbesondere die Tatsache, dass »eine stetig wachsende Autorengruppe mit Migrationsgeschichte Deutsch als selbstverständliche Muttersprache«36 spräche, führten 2012 zur Neuorganisation des Preises. Laut Selbstauskunft der Bosch-Stiftung werde er nunmehr an Autorinnen und Autoren vergeben, »deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt [sei]« und die sich durch einen »außergewöhnliche[n], die deutsche Literatur bereichernde[n] Umgang mit Sprache«37 auszeichneten. Die Anpassung der Vergaberichtlinien sowie die Einstellung des Preises im Jahr 2017 mögen unter anderem der wiederholt geäußerten Kritik an einer vermeintlichen Marginalisierung der Preisträgerinnen und Preisträger im Feld geschuldet sein.38

III. S aša S tanišić Stanišić wurde 1978 als Sohn eines Serben und einer Bosnierin in Višegrad in Bosnien-Herzegowina geboren und floh 1992 mit seiner Familie vor dem jugoslawischen Bürgerkrieg nach Süddeutschland. In Heidelberg ansässig geworden, schrieb er nach eigenen Angaben während der Schulzeit erste Gedichte und Erzählungen.39 Stanišić stammt aus einem gebildeten, bürgerlichen Milieu: Er studierte nach dem Abitur Slawische Philologie und Deutsch als 35 | Ackermann, Irmgard: Der Chamisso-Preis und der Literaturkanon, in: Manfred Durzak/Nilüfer Kuruyazici (Hg.): Die andere deutsche Literatur. Istanbuler Vorträge, Würzburg 2004, S. 47-51, hier S. 47. 36 | Internetseite der Robert-Bosch-Stiftung. www.bosch-stiftung.de/de/projekt/adel​ bert-von-chamisso-preis-der-robert-bosch-stiftung/im-detail vom 17.04.2018. 37 | Ebd. 38 | Laut Kister sei »auch von Autorenseite der Vorwurf erhoben [worden], der Preis stigmatisiere seine Träger [und] ordne sie in Schubladen des Sprachwechsels und des Nicht-Dazugehörens.« Kister, Stefan: Klassenziel erreicht – ohne Auszeichnung. Chamisso-Preis wird eingestellt, in: Stuttgarter Nachrichten online vom 20.09.2016, www.stuttgar ter-nachrichten.de/inhalt.chamisso-preis-wird-eingestellt-klassenziel-erreichtohne-auszeichnung.964383b1-3b2c-44e0-98d3-85b7ac2e0388.html  vom 16.​10.​ 2016. Vgl. zu den kritischen Stimmen: Ackermann, I.: Der Chamisso-Preis und der Literaturkanon, S. 48f.; vgl. auch Shchyhlevska, Natalia: Chamisso-Literatur. Einige Anmerkungen zu ihrer Definition, Provenienz und Erforschung, in: literaturkritik.de 8 (2013). 39 | Vgl. Heckendorf, Katharina/Stanišić, Saša: Es ist wie im Märchen, in: Zeit online vom 03.02.2015, www.zeit.de/campus/2015/01/sasa-stanisic-autor-fluechtling-hei​ delberg vom 20.05.2016.

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Fremdsprachenphilologie an der Universität Heidelberg und ab 2004 am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Die Entscheidung für den Autorenberuf sowie die Frühphase im literarischen Feld waren augenscheinlich – Stanišić berichtet in Interviews von einer finanziell prekären Studienphase – von sozialer Unsicherheit einerseits und dem Wunsch nach kreativer künstlerischer Betätigung anderseits geprägt. Schon ab 2001 publizierte er Essays und Erzählungen in Anthologien und Literaturzeitschriften u.a. in der unregelmäßig erscheinenden Underground-Literaturzeitschrift Krachkultur. 2005 nahm Stanišić mit der autobiografisch gefärbten Erzählung Was wir im Keller spielen… am Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis teil und gewann den KelagPublikumspreis.40 2006 erschien Stanišićs Romandebüt Wie der Soldat das Grammofon repariert, in dem aus der Sicht eines kindlichen Erzählers vom Bosnienkrieg Anfang der 1990er Jahre, der Flucht einer Familie aus dem zerfallenden Jugoslawien und der Ankunft in Deutschland erzählt wird. Der Roman erfuhr eine tendenziell positive Resonanz in der Literaturkritik, insgesamt ist in seiner Rezeption der Hinweis auf eine biografische Lesart vorherrschend.41 Des Weiteren wird eine »bild-« bzw. »märchenhafte Sprache« (SZ) sowie dem Autor ein erzählerisches Talent attestiert (Tagesspiegel). Ein Aspekt, der wiederholt Kritik hervorrief, war die Schilderung der Kriegssituation aus einer kindlichen Erzählperspektive (ZEIT, SZ, Jury des Bachmann-Wettbewerbs). Stanišićs Romandebüt erlebte nicht nur einen beachtlichen ökonomischen Erfolg, worauf die Aufnahme auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2006 und die Übersetzung in 31 Sprachen hindeuten,42 der Autor wurde für das Werk auch mit zahlreichen Preisen und (Stadtschreiber-)Stipendien ausgezeichnet, die für einen Zugewinn an symbolischem Kapital im literarischen Feld stehen, bspw. mit dem Förderpreis zum Literaturpreis der Stadt Bremen 2007 und dem Heimito-von-Doderer-Literaturpreis 2008.43 40 | Die Erzählung ging später in überarbeiteter Form in den 2006 erschienenen Debütroman Wie der Soldat das Grammofon repariert ein. Vgl. http://archiv.bachmann​ preis.or f.at/bachmannpreisv2/bachmannpreis/informa ​t ion/stories/42826/  vom 27.05.2016. 41 | Bspw. Richard Kämmerlings in der FAZ: »Indem sich Aleksandar/Saša seiner Vergangenheit versichert, kann er sie hinter sich lassen. Wir aber können uns freuen über die Ankunft eines jungen, hochbegabten Erzählers in der deutschen Literatur.« Kämmerlings, Richard: Als die Fische Schnurrbart trugen. Sasa Stanisics Debüt erzählt von einer bosnischen Kindheit, in: FAZ vom 04.10.2006, Nr. 230, S. L4. 42 | Vgl. www.randomhouse.de/Autor/Sasa-Stanisic/p157719.rhd vom 29.05.2016. 43 | Die Vergabekriterien für den Förderpreis zum Heimito-von-Doderer-Preis umfassen den Anspruch »hoher Sprachsensibilität und -originalität in der Tradition des großen österreichischen Schriftstellers«, die »packende Beschäftigung mit einem Stoff«,

Zugehörigkeit, Autorschaf t und die Debatte um eine ›Migrationsliteratur‹

»Vertreter der sogenannten Migrationsliteratur« Stanišićs Etablierungsphase im literarischen Feld ist von Bemühungen des Autors um die Akkumulation symbolischen Kapitals bestimmt, während ihm das Romandebüt zudem einen entscheidenden Zugewinn an ökonomischem Kapital einbrachte. In dieser Phase verbindet sich seine Autorschaft mit der Position des ›Migrationsautors‹, wofür Positionierungen der Literaturkritik und der Literaturförderung einerseits und Selbstpositionierungen in Form des Debütwerks und epitextuelle Äußerungen anderseits verantwortlich sind, die seine biografischen Flucht- und Migrationserfahrungen überproportional häufig thematisieren: Dem TAGESSPIEGEL gilt Stanišić 2006 als »deutsch-bosnischer Autor« und noch 2014 bezeichnet Thomas Andre seine Prosa im SPIEGEL als »leuchtendes Beispiel einer Immigrantenpoetik, die mit Konventionen bricht und das vermeintlich langweilige deutsche Einerlei mit ihrer Lebendigkeit und anderen, bikulturellen Erfahrungen befruchtet«.44 Symptomatisch für diese Positionierung des Autors im Feuilleton ist die oben skizzierte, Anfang 2014 erneut auflebende Debatte um den Stellenwert der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur im Anschluss an Kesslers Essay Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!, in dessen Rahmen er das Schreiben eingewanderter Autorinnen und Autoren einer vermeintlich konformistischen und irrelevanten Gegenwartsliteratur gegenüberstellt. Stanišić bezieht öffentlich Position zu Billers Verortung seines Schreibens und rückt im Gespräch mit FAZ-Redakteur Andreas Platthaus dezidiert von dessen Position ab: »Selten ist mir etwas so Engstirniges, Bevormundendes, Überholtes, Klischeehaftes, Falsches begegnet in den zahlreichen ›Debatten‹ der letzten Jahre.«45 Zur Herausbildung des Images eines »Vertreter[s] der sogenannten Migrationsliteratur«46 trug nicht zuletzt Stanišićs Auszeichnung mit Literaturpreisen wie dem Adelbert-von-Chamisso-Preis und dem Hohenemser Literaturpreis für deutschsprachige Autoren nichtdeutscher Muttersprache 2013 eine »formale Reife und das Anliegen, gut zu schreiben.« www.doderer-gesellschaft. org/preis.html vom 29.05.2016. 44 | Andre, Thomas: Ostdeutsche Provinz. Null Kneipen, aber Sterni mit Schnittchen, in: Spiegel online vom 06.03.2014, www.spiegel.de/kultur/literatur/sasa-stanisic-vordem-fest-a-955575.html vom 30.05.2014. 45 | Platthaus, Andreas: Weltliteratur aus der Uckermark, in: FAZ vom 08.03.2014, S. L3. 46 | »Vertreter der sogenannten Migrationsliteratur, die die deutsche Sprache bereichert und die deutsche Erzähllandschaft erweitert hat«. Magenau, Jörg: Sasa Stanisic – Ein Vertreter der Migrationskultur erfindet sich neu, in: Cicero online vom 13.03.2014, www.cicero.de/salon/heimatroman-ver treter-der-migrationskultur-er findet-sichneu/57201 vom 16.01.2016.

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bei. Bereits Stanišićs Arbeit an Wie der Soldat das Grammofon repariert, genauer gesagt die Recherchereise in sein Herkunftsland Bosnien war mit einem Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung gefördert worden;47 2008 erhielt er schließlich den von dieser Stiftung ausgelobten Adelbert-von-Chamisso-Preis. Die euphorische Laudatio des Journalisten Wolfgang Herles kreist um die Biografie des Autors und kehrt in einer rhetorischen Kreisbewegung aus Verweisen auf biografische Parallelen zur Kriegs- und Fluchterfahrung des Protagonisten Aleksandar und die Rolle des Schreibens bei der Bewältigung existentieller Krisen- und Umbruchsituationen immer wieder zu ihr zurück.48 Herles geht auch auf die Erzählperspektive, die Sprachgestaltung des Romans und das Spiel mit phantastischen Elementen ein – indem er jedoch mehrfach darauf hinweist, der Preis würde dezidiert nicht für »vorbildliche Bewältigung eines Schicksals«, das Erzählen vom »Leben eines Kriegsopfers und Flüchtlings« und nicht für die Leistung der Sprachbeherrschung in kurzer Zeit vergeben, erhält Stanišićs persönlicher Werdegang indirekt doch eine starke Präsenz in der Rede. Noch im Jahr der Preisverleihung kommt es zu einer bemerkenswerten Positionierung Stanišićs mit der Publikation des Essays Wie ihr uns seht. Über drei Mythen vom Schreiben der Migranten, einer poetologischen Stellungnahme zu den Vorurteilen, Erwartungen und Zuschreibungen bezüglich der Texte von Autorinnen und Autoren, deren Perspektive »von mindestens zwei verschiedenen Kulturen, nationalen Identitäten oder Sprachen bestimmt«49 sei. Der Essay erschien zunächst in englischer Sprache in dem Literaturmagazin Words without Borders,50 anschließend in der Heftreihe der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung – also in einem akademischen Publikationszusammenhang. Um die »Widersprüche zwischen dem Bild der Migrantenliteratur, das Medien, Leser und Literaturkritik« verbreiten, und seinen Vorstellungen aufzuzeigen, exemplifiziert er diese thesenhaft in drei »Mythen«:

47 | Vgl. den Bericht zu der Recherchereise auf der Homepage der Robert-Bosch-Stiftung: www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/3033.asp vom 27.05.2016. 48 | Laudatio von Wolfgang Herles auf Saša Stanišić. Adelbert-von-Chamisso-Preis 2008, 28.02.2008. www.bosch-stiftung.de/content/language2/downloads/Laudatio​ nes_Chamisso_08.pdf vom 28.05.2016. 49 | Stanišić, Saša: Wie ihr uns seht. Über drei Mythen vom Schreiben der Migranten, in: U. Pörksen/B. Busch: Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positionen des Schreibens in unserem Einwanderungsland, S. 104-109. 50 | Stanišić, Saša: Three Myths of Immigrant Writing, A View from Germany, in: Words without Borders. The Online Magazine for International Literature, 2008, www.words​ withoutborders.org/ar ticle/three-myths-of-immigrant-writing-a-view-from-germany vom 28.05.2016.

Zugehörigkeit, Autorschaf t und die Debatte um eine ›Migrationsliteratur‹

Der erste Mythos besteht Stanišićs Ansicht nach in der Annahme, ›Migrationsliteratur‹ sei »[p]hilologisch gesehen […] eine selbständige Kategorie, die insofern im Bezug zu den jeweiligen Nationalliteraturen eine fruchtbare Anomalie erschaff[e]«.51 Diese Kategorienbildung nivelliere nicht nur in unangemessener Weise die biografischen, thematischen und ästhetischen Unterschiede der inkludierten Autorinnen und Autoren und ihrer Werke; eine »objektive Kritik«52 müsse generell Aspekte wie »Genre, Stil, Tradition«53 berücksichtigen, und zudem die Diskurse über Gegenstände oder Perspektiven, die einen ästhetischen Ansatz, »insbesondere im Kontext der jeweiligen Nationalliteratur«54 verfolgen, als bedeutsamer einstufen als die Herkunft und den sozialen Status einer Autorin oder eines Autors. Der zweite Mythos bestünde in der Annahme, die Literatur von Migrantinnen und Migranten sei ausschließlich auf Themen wie Migration und Multikulturalität festgelegt und diese Autorinnen und Autoren hätten eine »engere[] und deshalb interessantere[] Beziehung [zu den damit] verbundenen Fragen.«55 Obwohl sich Werke zugewanderter Autorinnen und Autoren statistisch gesehen häufig mit »einer einzigen (oft autobiografischen) Migrationserfahrung«56 beschäftigten, kritisiert Stanišić eine thematische Festlegung. Kreativität und Erfindungsreichtum ermöglichten es jeder Autorin und jedem Autor, sich mit neuen Aspekten der menschlichen Existenz vertraut zu machen, aus ihnen das »Erzählbare«57 zu konstruieren und jede denkbare Erzählinstanz zu schaffen: »Die Qualität eines Textes erhöht sich nicht automatisch durch den Umstand, daß der Autor fünf Kriege überlebt hat und nun der Welt davon erzählt.«58 Als dritten Mythos identifiziert Stanišić die Einschätzung, »[e]in Autor, der nicht in seiner Muttersprache schreib[e], bereicher[e] die Sprache, in der zu schreiben er sich entschlossen ha[be].«59 Literaturkritischen Urteilen, welche die Tatsache, dass eine Autorin oder ein Autor in ihrer oder seiner zweiten oder gar dritten Sprache schreibt, als literarisches Qualitätskriterium hervorheben, misstraue er grundsätzlich. Wie zuvor die Themenwahl fasst Stanišić die stilistisch-sprachliche Werkgestaltung als genuin künstlerische, bewusste Entscheidung des kreativen Subjekts auf: Nicht der Sprachduktus, der der Autorin oder dem Autor sozusagen »unterläuft«, nicht eine Art »folkloristischer« 51 | Stanišić, S.: Wie ihr uns seht, S. 105. 52 | Ebd. 53 | Ebd., S. 106. 54 | Ebd. 55 | Ebd., S. 107. 56 | Ebd. 57 | Ebd. 58 | Ebd., S. 108. 59 | Ebd.

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Sprachgestaltung zur Erzeugung eines »Sounds«60 sei ausschlaggebend; nur die durchdachte und »logisch betriebene«61 Sprachverwendung sei eine angemessene Schreibstrategie, beispielsweise die Nutzung einer zweiten Sprache »durch unmittelbare Übersetzung von Wendung und Redensarten, durch strukturelle Transformationen und rhythmische Nachahmungen«62 oder die Schaffung von Neologismen. Stanišić dekonstruiert die mit seiner auktorialen Verortung durch verschiedene Feldakteurinnen und Feldakteure in der Sparte der ›Migrationsliteratur‹ verbundenen Zuschreibungen und deckt sie als Formen einer ›positiven Diskriminierung‹ auf. Wie die Sprachforschung gezeigt hat, werden bestimmte Sprachhandlungen von sogenannten ›emanzipatorischen Migranten‹ mit einer verstärkten Zugehörigkeitsempfindung zum Einwanderungsland als »Diskriminierung bzw. Marginalisierung in der Kommunikation«63 wahrgenommen. Als ›positiv‹ wird diese Form des Rassismus bezeichnet, weil sie einzelne Aspekte des als nicht-genuin-zur-deutschen-Gesellschaft-zugehörig kategorisierten Migranten nicht negativ, sondern zum Beispiel lobend und (angeblich) fördernd, also positiv hervorhebt.64

Beispiele für diese ›positiven Rassismen‹ bilden etwa Situationen, in denen von Zugewanderten erwartet wird, dass sie eine ›Expertenrolle‹ für ihre angeblichen Heimatländer übernehmen sollen, oder auch solche, in denen sprachkompetente Personen für ihre Beherrschung der deutschen Sprache gelobt werden.

Stanišićs Konzeption eines Autorbildes Im Zuge seiner Abgrenzung von einer medial hergestellten, als inhaltlich und ästhetisch determinierend empfundenen »(Gruppen-)Autorposition«65 des ›Migrationsautors‹ entwirft Stanišić in Über drei Mythen vom Schreiben der 60 | Ebd., S. 109. 61 | Ebd. 62 | Ebd. 63 | Cindark, Ibrahim: »Was machen Du?« und »Sie können aber gut Deutsch!«. Das Deutsch der Deutschen gegenüber Migranten und rhetorische Verfahren der »emanzipatorischen« Migranten, damit umzugehen, in: Sprach Report 1, 28 (2012), S. 2-7, hier S. 2. 64 | Ebd., S. 3. 65 | Tommek spricht im Zusammenhang mit der »Ausrufung eines ›neuen Fräuleinwunders‹« im Anschluss an einen Feuilletonbeitrag von Volker Hage im SPIEGEL 1999 von der Herstellung einer Position im literarischen Feld, die im Unterschied zu der ›Gruppen-

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Migranten ein alternatives Autorbild: Er betont 1. die biografische Heterogenität der zugewanderten Autorinnen und Autoren sowie die Individualität ihrer Werke hinsichtlich Themen, Stil, Genres und literarischer Tradition. 2. Er hebt als wichtige Eigenschaften der Autorin und des Autors Kreativität und Erfindungsgabe hervor und spricht auch von Schöpfertum.66 3. In der Forderung nach einer Beurteilung nach literaturästhetischen Kriterien zeigt sich ein autonomes Literaturverständnis. 4. Im Essay sowie in mehreren Interviews findet sich zudem die Betonung der Relevanz von handwerklichem Können und einer professionellen Arbeitsweise der Autorin und des Autors (Recherche, durchdachte und logisch betriebene Schreibstrategie). Mit dieser Auffassung von Autorschaft positioniert er sich z.B. in einem in der ZEIT erschienenen Interview im Zusammenhang mit seiner Ausbildung am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig: ZEIT Campus: Haben Sie [aus der Leipziger Ausbildung; R.S.] etwas mitgenommen, was Ihnen heute beim Schreiben hilft? Stanišić: Ja, viel Handwerkliches. Wann ein Motiv wieder auftauchen darf, damit es beim Leser noch präsent ist, zum Beispiel. Oder: Wann Wortspiele und Tonveränderungen Sinn machen, man muss es an die Charaktere binden, das ist eine banale Erkenntnis, aber über so was habe ich vorher nicht nachgedacht.

Und weiter unten, nach seinen Arbeitsgewohnheiten gefragt: Stanišić: [A]m Ende, wenn die Deadlines kommen, übernehmen Zweifel und Panik. Das alte Bild jedenfalls vom Genie, das am Schreibtisch sitzt und niemanden ranlässt, weil sowieso jeder Gedanke und jeder Satz sitzt – so ist das bei mir nicht. Ich lasse auch andere Autoren auf meine Texte schauen und bespreche alles mit ihnen. Am Ende zählt, dass der Text gut ist. Wie er dahingekommen ist, ist dann wurscht.67

Wirft man einen Blick auf die historischen, seit der Antike maßgeblichen Autorschaftmodelle, scheint hier die Verknüpfung eines auf ›Individualität‹ bzw. ›stilistischer Individualität‹ beruhenden Autorbildes, wie es für die deutsche Traditionslinie der Genie-Poetik charakteristisch ist, mit einem Kompetenzinszenierung‹ der sogenannten Popliteraten »einzig und allein aus einer Fremdzuschreibung durch die Medien [resultierte]«. M. E. nach kann man im Fall der deutschsprachigen Autorinnen und Autoren nichtdeutscher Sprache und Herkunft von der »medialisierten Herstellung einer (Gruppen-)Autorposition« sprechen. Vgl. hierzu Tommek, H.: Der lange Weg, S. 276ff. 66 | Vgl. Stanišić, S.: Wie ihr uns seht, S. 108. 67 | Heckendorf, K./Stanišić, S.: Es ist wie im Märchen, 03.02.2015, http://zeit.de/ campus/2015/01/sasa-stanisic-autor-fluechtling-heidelberg vom 17.04.2018.

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modell (poeta faber) vorzuliegen, das den »Autor als kompetenten Kenner und Anwender von ›technischem Fachwissen‹«68 sieht. Tatsächlich indiziert gerade das Konzept der Schreibschulen ein Autorschafts-Verständnis im »flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich«69 des Feldes, das die Vorstellung einer »Erlernbarkeit literarischen Schreibens« und einer professionellen Arbeitsweise mit der »Leitidee vom schöpferischen Individuum« und der Vorstellung nicht erzeugbaren Talents verknüpft.70 Tommek weist darauf hin, dass es in diesem Spannungsfeld zwischen Heteronomie und Autonomie zu »spezifischen Kompromissbildungen« 71 kommt: Bei Stanišić zeigen sich diese reflexiv im oben skizzierten ›kompromisshaften‹ Autorschaftverständnis, praktisch in seinen Positionierungsstrategien, sich einerseits als literarischer Autor am Pol des ›autonomen‹ kulturellen Kapitals zu verorten (poetologische Stellungnahmen, Lesungen), anderseits aber ein medienwirksames Auftreten zu pflegen und massenmedial ausgerichtet kulturjournalistisch tätig zu sein.72

Jenseits einer ›Migrationsliteratur‹ – Eine neue auktoriale Identität Nach dem Essay zur Kategorie ›Migrationsliteratur‹ vergingen acht Jahre bis zur Publikation von Stanišićs zweitem Roman Vor dem Fest 2014. Diesen kennzeichnet auf den ersten Blick eine scheinbar radikale stoffliche Wende, die nach einer expliziten Umsetzung der in Über drei Mythen vom Schreiben der Migranten angekündigten Programmatik anmutet, der zufolge Kreativität und Erfindungsreichtum es dem Autor ermöglichten, sich mit neuen Aspekten der 68 | Jannidis, Fotis [u.a.]: Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Historische Modelle und systematische Perspektiven, in: Ders. [u.a.] (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen/Berlin 1999, S. 3-35, hier S. 5. 69 | Der flexibel ökonomisierte und medialisierte Mittelbereich ist »[f]eldanalytisch gesehen« laut Tommek »zwischen den Subfeldern der eingeschränkten und der Großoder Massenproduktion ausgebildet«. Charakteristisch sei die Vermischung und Wechselwirkung »ästhetische[r] Werte, Funktionen der Unterhaltung und ökonomische[r] Erfolgskriterien«, die »eine eigene hybride ›Ökonomie‹« ausbildeten – es kommt zu einer »tiefenstrukturellen Ökonomisierung der kulturellen Produktion«. Tommek, H.: Der lange Weg, S. 217ff. 70 | Vgl. ebd., S. 221. Vgl. auch Hummelt, Norbert: Schreiben lernen. Der Leipziger Weg, in: Heinz Ludwig Arnold/Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland, München 2009, S. 59-71. 71 | Tommek, H.: Der lange Weg, S. 220. 72 | Vgl. ebd.

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menschlichen Existenz vertraut zu machen und jede denkbare Erzählinstanz zu schaffen: »Wer schreibt, der erfindet Welten, die nicht Teil der Welt des Schreibenden sind.« 73 In Vor dem Fest erzählt Stanišić von einem abgelegenen Dorf in der nordostdeutschen Provinz in der Nachwendezeit, von dessen Dorfgeschichten und Mythen, dessen skurrilen Bewohnerinnen und Bewohnern und ihren Vorbereitungen für das jährliche Dorffest.74 Tatsächlich hat der Autor sich seinem Postulat zufolge durch ausgiebige Recherchen in die Lebens- und Gedankenwelt des neuen Schauplatzes eingearbeitet,75 sich mit der Geschichte und dem Sagenschatz der Region Uckermark auseinandergesetzt, für den neuen Roman die »kollektive Erzählperspektive« 76 des Dorfs sowie für sein Figurenarsenal eine eigene Sprache entwickelt. Insofern die medial hergestellte und v.a. durch Feuilleton und Literaturförderung an Stanišić herangetragene (Gruppen-)Autorposition des ›Migrationsliteraten‹ nach der Formel Prägung des Werks durch die transnationale Biografie und den Sprachwechsel des Verfassers – ›Exotik‹ des Stils – ›Welthaltigkeit‹ – thematische und sprachlich-stilistische ›Bereicherung‹ der deutschen Gegenwartsliteratur funktioniert, nimmt der Autor durch das Abrücken von der Immigrationsthematik, daher des biografischen Themas, und die Wahl eines Schauplatzes in der ostdeutschen Provinz eine erkennbare – wenn auch schon sechs Jahre zuvor angekündigte – Neu-Positionierung im Feld vor. Dieser thematische Richtungswechsel ist im literarischen Feuilleton nur vereinzelt thematisiert und bewertet worden. Die meisten Rezensenten der großen Tageszeitungen besprechen das Werk jenseits einer problematischen Kategorienbildung, richten den Fokus dagegen auf vom Debüt her wiedererkennbare Gestaltungsmerkmale. Richard Kämmerlings etwa betont in DIE WELT »die unvergesslichen Figuren, die Fabulierlust, das Spiel mit Erzählformen und -traditionen, die effektvolle Bedeutungsaufladung von Details«.77 Nur wenige Kritiken argumentieren mit den Zuschreibungen der Sparte ›Migrationsliteratur‹ oder thematisieren die veränderte Positionierung.78 »Ein Ver73 | Stanišić, S.: Wie ihr uns seht, S. 107. 74 | Vgl. Stanišić, Saša: Vor dem Fest. Roman. München 2014. 75 | Platthaus, Andreas: Heute Nacht ist die rechte Zeit für Tapferkeit, in: FAZ vom 08.03.2014, Nr. 57, S. L3. 76 | Jung, Werner: Ohne jede Tümelei. Saša Stanišićs »Vor dem Fest« als Heimatroman, in: literaturkritik.de 4 (2014), http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_ id=19133 vom 01.06.2016. 77 | Platthaus, A.: Heute Nacht ist die rechte Zeit für Tapferkeit, S. L3. 78 | Aus dem Rahmen fällt Verena Auffermanns Besprechung in der ZEIT, die scheinbar unreflektiert mit den medialen Zuschreibungen an sog. ›Migrationsautoren‹ arbeitet, indem sie Stanišić Welterfahrung und die Fähigkeit zuschreibt, Ideen entwickeln zu können, »auf die kein einheimischer Nesthocker kommt«. Darüber hinaus spricht sie von

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treter der Migrationskultur erfindet sich neu« titelt Jörg Magenau bei CICERO online, es scheine ganz so, als wolle der Autor »Klischees unterlaufen und die Migrationsschublade, in die er gesteckt wird, ein für alle Mal schließen«.79

IV. O lga G r jasnow a Auch die 1984 im aserbaidschanischen Baku geborene Autorin Grjasnowa und ihr literarisches Werk sind aufgrund der Biografie der Autorin von vergleichbaren Zuschreibungen und Wertungen betroffen. Grjasnowa kam 1996 mit ihrer Familie, russisch-jüdischen Kontingentflüchtlingen, nach Deutschland, absolvierte das Abitur in Frankfurt a.M. und studierte zunächst Kunstgeschichte und Slawistik in Göttingen, bevor sie 2007-2010 das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig besuchte.80 Nach ersten schriftstellerischen Arbeiten im Jugendalter nahm Grjasnowa am Klagenfurter Literaturkurs 2007 und an der Jürgen-Ponto-Schreibwerkstatt 2010 teil; für ihr erstes Drama Mitfühlende Deutsche wurde sie 2010 mit dem Dramatikerpreis der Wiener Werkstätten ausgezeichnet. Grjasnowas Romandebüt Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) hat eine junge Dolmetscherin aserbaidschanischer Abstammung zur Protagonistin und behandelt den Lebensalltag junger, beruflich gut qualifizierter Migrantinnen und Migranten in Deutschland, die sich mit Problemen der ethnischen, religiösen und kulturellen Zugehörigkeit reflektiert auseinandersetzen. Den zeitgeschichtlichen Rahmen der Handlung bilden, neben bundesdeutschen Integrationsdebatten, der postsowjetische Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan und der israelisch-palästinensische Konflikt. Den Romanerstling werten zahlreiche Literaturkritikerinnen und Literaturkritiker – in diesem Punkt mit Stanišićs Debütroman vergleichbar – als Überraschungserfolg. Im Querschnitt der berücksichtigten Rezensionen zeigt sich, dass der Roman hinsichtlich seines Erzählstils, der Handlung, der Figurenzeichnung und der zeitgeschichtlichen Aktualität von literarischen Gegenwartstexten abgesetzt und ihm zugleich Aspekte literarischer Innovation als Charakteristika zugeschrieben werden. »Olga Grjasnowa«, so z.B. Matthias Wulff bei DIE WELT online, habe »einen eigenen, rauen und zugleich verzweifelten Ton gefunden, einem »geschärften Bewusstsein für die Konturen des Ruins« sowie einem »an Fremdheit […] geschärften Verstand«. Auffermann, Verena: Eineinhalb Neonazis. »Vor dem Fest«: Saša Stanišićs entdeckt das Gemeinsame an Bosnien und der Uckermark, in: ZEIT online vom 06.03.2014, www.zeit.de/2014/11/sasa-stanisic-vor-dem-fest-roman vom 20.05.2016. 79 | Magenau, J.: Sasa Stanisic. 80 | Vgl. den Eintrag ›Grjasnowa, Olga‹ in Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv, www.munzinger.de/document/00000029307 vom 16.9.2016.

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der anders [sei] als bei der Mehrzahl jüngerer deutscher Schriftsteller, deren Protagonisten in Selbstzweifel, Orientierungslosigkeit und Sinnsuche gefangen« 81 seien. Nicole Henneberg (FAZ) charakterisiert die Protagonistin Mascha Kogan als »leistungsbereite, weltgewandte und bissige junge Frau« und ordnet sie als »starke Figur, [als einen] neue[n] Typus in der deutschen Gegenwartsliteratur« 82 ein. Einen Schritt weiter geht Ursula März (ZEIT), die Mascha – offensichtlich in Anlehnung an die im Verlagsklappentext angebotene Deutung – als literarische Verkörperung des »Typus einer neuen Generation« bezeichnet, einer »Generation, für die Globalisierung nicht nur eine Floskel aus den Wirtschaftsnachrichten ist, sondern Lebensalltag«.83 Fokussiert man neben inhaltlichen Argumenten wie zeitbezogene stoffliche Aktualität, Zeitdiagnostik und der Auseinandersetzung mit ›migrantischen‹ Lebensrealitäten, die üblicherweise die Grundlage für die Einordnung eines Werks als ›Migrationsliteratur‹ bilden, auch die Relevanz biografischer Lesarten, zeigen sich die Kritiken von Grjasnowas Debüts tatsächlich als von Hinweisen auf die Autorinnenbiografie durchzogen. Symptomatisch werden Spekulationen über biografische Parallelen zwischen Autorin und Protagonistin angestellt. Das Spektrum ist breit: Während Jörg Plath in der NZZ andeutet, die Autorin habe für den Roman Bestandteile ihrer eigenen Biografie

81 | Wulff, Matthias: Wütend, ruppig, verletzt, in: Die Welt online vom 08.02.2012, https://www.welt.de/print/welt_kompakt/vermischtes/article13856300/Wuetendruppig-verletzt.html vom 26.09.2016. Eine ähnliche Einordnung findet sich in März’ Besprechung in der ZEIT, in der sie Grjasnowas Roman Judith Hermanns Erzählungen Sommerhaus, später (1998) gegenüberstellt und sie als exemplarische Texte zweier Zeitalter, zweier Generationen und zweier Zeitbewusstseine bezeichnet, die im Wesentlichen durch politisch zäsurhaft wirkende Ereignisse wie 9/11, Angriffe in europäischen Hauptstädten und die jüngsten US-amerikanischen Kriege im Nahen Osten getrennt werden. März, Ursula: Sie ist auf Alarm. Sie sucht eine Schulter zum Anlehnen. Sie schläft nicht. Sie haut ab, in: Zeit online vom 15.03.2012, www.zeit.de/2012/12/OlgaGrjasnowa vom 26.09.2016. 82 | Henneberg, Nicole: Hier kommt die neue deutsche Frau, in: FAZ vom 25.02.2012, Nr. 48, S. 35. 83 | März, U.: Sie ist auf Alarm. Die Deutung der Protagonistin als ›Repräsentantin‹ einer Generation geht nicht auf März zurück, sondern erfolgt im vom Verlag gestalteten Klappentext: »Mit perfekter Ausgewogenheit von Tragik und Komik und mit einem bemerkenswerten Sinn für das Wesentliche erzählt Olga Grjasnowa die Geschichte einer Generation, die keine Grenzen kennt, aber auch keine Heimat hat.« Vgl. die Homepage der Hanser Literaturverlage, https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/der-russeist-einer-der-birken-liebt/978-3-446-23854-1/vom 28.09.2016.

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»aufgenommen, verfremdet und erweitert«,84 wird die Analogie von Kritikerinnen wie Henneberg (FAZ) unversehens gezogen: Grjasnowa erzähle von »ihrem Alter Ego Mascha Kogan, die, wie sie selbst, 1996 als jüdischer Kontingentflüchtling aus Baku nach Deutschland kam«.85 In vielen Literaturkritiken stehen Zuschreibungen der politischen Aktualität und der ›Welthaltigkeit‹, Analogiebildungen biografischer Details von Autorin und Protagonistin sowie Grjasnowas Erzählstil im Vordergrund, während möglicherweise außergewöhnliche sprachliche und ästhetische Gestaltungsmerkmale infolge ihres Sprachwechsels kaum eine Rolle spielen. Eine explizite Zuordnung des Textes zur Traditionslinie einer ›Migrationsliteratur‹ nimmt lediglich März (ZEIT) vor: Nach vierzehn Jahren begann sie die Arbeit an einem Roman, der die Gattungsreihe jener deutschsprachigen Migrationsliteratur fortsetzt, die von Emine Sevgi Özdamar bis Melinda Nadj Abonji reicht, deren Vielstimmigkeit längst das Wort Tradition verdient und der vielleicht die Zukunft der deutschen Literatur gehört. Der Russe ist einer, der Birken liebt steuert etwas Unverwechselbares bei: eine radikal antifolkloristische, antilarmoyante Stimme. 86

Die literaturkritische Rezeption von Grjasnowas zweitem Roman Die juristische Unschärfe einer Ehe (2012) weist ein im Vergleich zum Debüt verändertes Spektrum von Zuschreibungen auf. Zwar bleibt der Hinweis auf die Herkunft und die Migrationserfahrung der Autorin obligatorisch, doch bilden Rückschlüsse vom literarischen Text auf die Biografie der Autorin nicht mehr die dominante Grundlage der Deutung. Stattdessen werden textästhetische Merkmale des formal streng komponierten Romans thematisiert und sein hohes Erzähltempo mit jenem des Debüts verglichen.87 Die bereits in dessen Rezep84 | Plath, Jörg: Hochtouriges Identitätskarussell, in: NZZ online vom 13.03.2012, www.nzz.ch/hochtouriges-identitaetskarussell-1.15713595 vom 27.09.2016. 85 | Henneberg, N.: Hier kommt die neue deutsche Frau [Hervorhebung; R.S.]. Die Reflektion der Rezensentinnen und Rezensenten hinsichtlich der Problematik einer biografischen Lesart ist weitgehend unterschiedlich. So weist von Sternburg in der Frankfurter Rundschau bspw. darauf hin, dass es »nicht leicht [sei], die Romanheldin von der Autorin zu trennen«, während Ursula März (ZEIT) warnt: »Man darf Mascha Kogan, obwohl einige biografische Elemente, Alter, Judentum, die Herkunft aus Aserbaidschan, mit Olga Grjasnowa übereinstimmen, nicht mit dieser verwechseln. Olga Grjasnowa kam nicht als kriegstraumatisiertes Kind aus dem Kaukasus nach Mitteleuropa, sondern als Kontingent-Flüchtling«. März, U.: Sie ist auf Alarm. 86 | März, U.: Sie ist auf Alarm [Hervorhebungen; R.S.]. 87 | Vgl. bspw. Fessmann, Meike: Dehnen und sehnen, in: SZ vom 07.10.2014, Bayern, Deutschland, München, S. V2/12 und Backes, Johanna: Sie hat es wieder getan,

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tion anzutreffende Diagnose einer zeitaktuellen Stoffwahl mit dem Verweis auf die hybriden kulturellen Identitäten der Hauptfiguren und die Darstellung »multiethnischer Lebensmilieus« 88 wird über den gesellschaftspolitischen Bereich hinaus auf das Private, d.h. auf die Schilderung von Beziehungs- und Liebeskonstellationen, ausgedehnt und zunehmend als »Generationenporträt«89 gedeutet. Diese diskursiv entwickelte Zuschreibung wird in Sibylle Birrers Rezension in der NZZ wieder unmittelbar an die empirische Autorin rückgebunden, die sie als die »Stimme einer neuen Generation«90 bezeichnet und dabei ein umstrittenes Generationenkonzept bemüht: Die »Generation Y« hat Einzug gehalten in die Gegenwartsliteratur. Mit den 1980er und 1990er Jahrgängen sind Autorinnen und Autoren am Schreiben, die den Mauerfall gleichermassen [sic!] historisch taxieren wie die permanente digitale Kommunikation als alltagsimmanente Selbstverständlichkeit erachten. Umso globaler begeben sie sich auf Sinnsuche – zumal die eigenen familiären Wurzeln meist über Länder oder gar Kontinente hinausgreifen. 91

Dass sich die Zuschreibungen im literaturkritischen Diskurs von einer ›Etikettierung‹ als Werk der ›Migrationsliteratur‹ hin zu jener des zeitdiagnostischen ›Generationenporträts‹ wandeln, zeigt im Fall von Grjasnowas zweitem Roman besonders überzeugend, wie die Verleihung des Chamisso-Preises 2015 in Kontrast zu einer über dessen Vergabeprinzipien hinausgehenden feuilletonistischen Wertung treten kann. Westphal konstatiert in ihrer Laudatio anlässlich der Vergabe des Chamisso-Förderpreises 2015 an Grjasnowa, die »Globalisierung« sei den polyglotten und gut ausgebildeten Migrantinnen und Migranten in: literaturkritik.de, Nr. 1 (Januar 2015), http://literaturkritik.de/public/rezension. php?rez_id=20102 vom 17.04.2018. 88 | März, U.: Sie ist auf Alarm. 89 | So der Wortlaut bei Strigl, wobei die Deutung des Romans als Porträt der Generation seiner Autorin im Gegensatz zum Debüt nicht durch den Verlagsklappentext vorgegeben war. Grjasnowa erzähle, so Strigl in der FAZ, »vom bald unterkühlten, bald überhitzten, meist jedenfalls unaufgeräumten Gefühlshaushalt ihrer Generation«. Strigl, Daniela: Der Rücken einer Ballerina hält alles aus, in: FAZ Nr. 209, S. 10; vgl. auch Hildebrand, Kathleen: Beim Bankett mit Putin spricht keiner über Homophobie, in: SZ online vom 27.11.2014, http:/sueddeutsche.de/kultur/schriftstellerin-olga-grjasnowa-beimbankett-mit-putin-spricht-keiner-ueber-homophobie-1.2239643 vom 27.09.2016. 90 | Birrer, Sibylle: Im Ungefähren, in: NZZ online vom 13.01.2015, www.nzz.ch/feuille​ ton/buecher/im-ungefaehren-1.18459560 vom 27.09.2016. 91 | Ebd. Vgl. zur Kritik am Generationenkonzept Schütz, Marcel: Eingebildete Generation, in: der Freitag, 25.09.2015, https://www.freitag.de/autoren/marcel-schuetz/ die-eingebildete-generation vom 27.09.2016.

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im Roman »zum Lebensalltag« geworden, und deutet die Zeitaktualität der Figuren als Ausdruck einer neuen, vermeintlich antifolkloristischen Entwicklung in der »transkulturellen Literatur«.92 Die Rede von einer Autorin, die der Leserin und dem Leser in der Tradition Adelbert von Chamissos Zugang zu »verschiedenen Welten« verschaffe, und einer Literatur, »die sich so unstet wie souverän zwischen den Kulturen und Sprachen« bewege »wie ihre Protagonisten, eine Literatur gewissermaßen ohne festen Wohnsitz«, zeigt erkennbare Anleihen an das rhetorische Repertoire der Chamisso-Preis-Tradition.

Grjasnowas Konzeption eines Autorbildes Grjasnowa publizierte seit Beginn ihres Leipziger Literaturstudiums neben literarischen Texten regelmäßig Artikel und Essays sowie Interviews und Porträts mit Stellungnahmen, anhand derer sich ihre Selbstverortung im literarischen Feld untersuchen lässt. Hierbei handelt es sich im Unterschied zu Stanišićs Drei Mythen vom Schreiben der Migranten nicht um dezidiert poetologische Äußerungen, sondern um die kritischen Kommentare zu aktuellen Ereignissen und Debatten einer jungen Intellektuellen, die sich auch als Autorin versteht. Grjasnowa betont in den Stellungnahmen häufig ihre polyglotte Biografie und ihre Migrationserfahrungen, z.B. in dem frühen Essay Ich gebe mir Mühe, Herr Koch! Integration und die neue globale Kultur (2008), in dem sie sich selbst als gängiges Beispiel »für die Zunahme der Globalisierung und der Migration, des Plurilinguismus [sic!], der Enthomogenisierung der europäischen Bevölkerung und der Kontaminierung aller Reinheitskriterien«93 bezeichnet. Eng verbunden mit dieser Verortung ist Grjasnowas Überzeugung, dass von Migrationserfahrungen geprägte Biografien und Mehrsprachigkeit ebenso 92 | Alle direkten und indirekten Zitate dieses Absatzes aus Westphal, Dorothea: Laudatio für Olga Grjasnowa, Adelbert von Chamisso-Förderpreis 2015, 05.03.2015, www. bosch-stiftung.de/content/language1/downloads/Laudatio_Westphal_Grjasnowa. pdf vom 27.09.2016. 93 | »Mein Pass ist deutsch, ich wurde in Aserbaidschan geboren, wuchs zuerst dort und dann in Deutschland auf, lebe nun in Warschau. Im nächsten Jahr wird es Moskau.« Grjasnowa, Olga: Ich gebe mir Mühe, Herr Koch! Integration und die neue globale Kultur, in: Telepolis vom 20.01.2008, www.heise.de/tp/artikel/27/27103/1.html vom 05.10.2016. Auch der politische Zusammenhang ihrer familiären Migration als jüdischer Kontingentflüchtling aus der ehemaligen Sowjetunion wird von Grjasnowa wiederholt thematisiert. Vgl. Bartels, Gerrit: Rastlos in Kreuzberg, in: Der Tagesspiegel online vom 12.02.2012, www.tagesspiegel.de/kultur/literatur-rastlos-in-kreuzberg/6199286. html vom 27.09.2016; Dannenberg, Meike: Sprache ist Macht, in: Bücher 7/2012, www. buecher-magazin.de/magazin/gesichter-und-geschichten/portrait/sprache-ist-macht vom 27.09.2016.

Zugehörigkeit, Autorschaf t und die Debatte um eine ›Migrationsliteratur‹

wie die Koexistenz verschiedener kultureller Einflüsse längst Teil der bundesdeutschen Lebensrealität seien.94 Vor diesem Hintergrund lässt sich Grjasnowas Anspruch einer analytischen und reflektierten Auseinandersetzung mit Schlagworten und Kategorien aktueller Integrationsdebatten, mit Nationalstereotypen, inkorporierten Vorurteilen und verfestigten Denkmustern sowohl in publizistischen als auch in literarischen Texten verstehen.95 Dieser Anspruch der akribischen Dekonstruktion verinnerlichter Vorurteile und Denkmuster bestimmt auch Grjasnowas Beitrag zur Literaturdebatte im Frühjahr 2014, der als Replik auf Kesslers Essay Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn! am 8. Februar in der Zeitung DIE WELT erschien.96 Dem Text geht es zum einen darum, Kesslers Kritik an den Ausbildungsinstituten für literarisches Schreiben zu entkräften und zum anderen darum, die Hervorhebung von Grjasnowas (als auch Stanišićs) Person als Ausnahmeerscheinungen unter den vermeintlich konformistischen deutschen Nachwuchsautorinnen und Nachwuchsautoren zu relativieren. »Gönnerhaft gesteht Kessler uns humanistische Bildung zu, aber nicht unseren Eltern«, interpretiert die Autorin seine Polemik. »Dass jemand gleichzeitig Migrant und Intellektueller sein könnte, kommt ihm nicht in den Sinn, was vielleicht schon einiges über sein Politik- und Kunstverständnis aussagt – aber vor allem über seine mangelnde Recherche.«97 Auch sie als Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig sei ein »Produkt des deutschen Literaturbetriebs«, auch sie sei durch die Herkunft aus einer Akademikerfamilie privilegiert, in der sich die Studienberufe der weiblichen Ahnenreihe bis hin zur als Ärztin tätigen Urgroßmutter zurückverfolgen ließen. Im nächsten Schritt wechselt Grjasnowa in der Argumentationslinie ihrer Kessler-Kritik in der für sie markanten Verfahrensweise auf eine Metaebene und wirft dem Autor vor, er verwechsle die Diskussion um literarische, daher ästhetische Fragen mit einer politischen Debatte, deren Kernfragen sich um den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Teilhabemöglichkeiten im 94 | »›Das ist meine Lebensrealität‹, antwortet Grjasnowa auf die Frage, ob ihre Figuren vielleicht nicht ganz gerade repräsentativ seien. ›Ich kenne gerade in deutschen Großstädten so viele in meiner Generation, die einen ausländischen Hintergrund haben, die Medizin, Psychologie oder Geisteswissenschaften studieren‹.« Bartels, G.: Rastlos in Kreuzberg [Hervorhebung; R.S.]. Vgl. auch Fiedler, Cornelia: Akzentfrei denken. Die 27-jährige Olga Grjasnowa schreibt aus Wut über kulturelle Abgrenzungsversuche, in: SZ vom 17.03.2012, S. 19. 95 | Vgl. Bartels, G.: Rastlos in Kreuzberg; Fiedler, C.: Akzentfrei denken. 96  |  Grjasnowa, Olga: Deutschland, deine Dichter – bunter als behauptet, in: Die Welt online vom 08.02.2014, https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article124655990/ Deutschland-deine-Dichter-bunter-als-behauptet.html vom 27.09.2016. 97 | Ebd. [Hervorhebungen; R.S.].

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deutschen Bildungssystem drehten. Erneut positioniert sich die Autorin als ›kritische Intellektuelle‹, wenn sie mithilfe eines präzise recherchierten Beitrags zur Tradition der Schreibschulen aus der Arbeiterklasse – gemeint sind das Literaturinstitut Leipzig und das Maxim Gorki Literaturinstitut Moskau – Kesslers Vorwurf eines bildungsbürgerlichen Hegemonialanspruchs der Ausbildungsstätten entkräftet. In Kesslers polemischem Kommentar zum Zustand der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vermisst Grjasnowa Überlegungen, die unabhängig von der Milieuzugehörigkeit und dem Migrantenstatus der Akteurinnen und Akteure nach ›Handwerk‹ und ›Talent‹ fragen, daher nach der literarischen Qualität. Der Beitrag schließt mit dem Plädoyer: »Vielleicht wäre es an der Zeit, sich von nationalen Zuordnungen in der Literatur zu verabschieden und sich der Ästhetik und dem Handwerk zuzuwenden. Dann könnte man auch endlich aufhören, die Häkchen über den Namen zu zählen.«98 Auch aus Grjasnowas epitextuellen Äußerungen lässt sich demnach ein Autorbild erschließen, das als Selbstpositionierung gelesen werden kann: Wie Stanišić hebt sie als unverzichtbare Eigenschaften einer Autorin oder eines Autors 1. das Talent und 2. das handwerkliche Können sowie eine professionelle Arbeitsweise hervor – die Kritik an Kesslers Artikel betont insbesondere die Notwendigkeit gründlicher Recherchearbeit des Schreibenden. Auch in diesem Fall deutet 3. die Forderung nach einer Textbeurteilung hinsichtlich literarischer Qualität und ungeachtet der sozialen und/oder ethnischen Zugehörigkeit der Verfasserinnen und Verfasser auf ein autonomes Literaturverständnis hin.

V. R esümee Im literarischen Feld der Gegenwart haben zugewanderte Autorinnen und Autoren und ihre Texte numerisch keinen Minderheitenstatus mehr, sondern werden von anderen Feldakteurinnen und Feldakteuren als selbstverständlicher, bedeutender Teil der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wahrgenommen.99 Dennoch tragen im Fall des Autors Stanišić und der Autorin Grjasnowa bestimmte Merkmale der Biografie und der Textproduktion zur Entstehung bestimmter öffentlicher Autorschaftsbilder bei, die zu deren Festlegung auf eine medial hergestellte ›Gruppen-Autorposition‹ führen. Für die Generierung des entsprechenden marktgängigen Labels vermischen sich nicht nur »in einer für den Mittelbereich ästhetischer Unterhaltungsliteratur charakteristischen 98 | Ebd. 99 | Vgl. Lamping, Dieter: Deutsche Literatur nicht-deutscher Autoren. Anmerkungen zu, Begriff der »Chamisso-Literatur«, in: Chamisso. Viele Kulturen – eine Sprache. Robert Bosch Stiftung, März 2011/5, S. 18-21, hier S. 20.

Zugehörigkeit, Autorschaf t und die Debatte um eine ›Migrationsliteratur‹

Weise verschiedene gesellschaftliche Diskurse [Migrations- und Integrationsdiskurse; R.S.] sowie symbolische und ökonomische Kategorien«,100 sondern es werden auch höchst unterschiedliche Autorinnen und Autoren mittels generalisierender Zuschreibungen zusammengefasst.101 Autorinnen und Autoren haben m.E. nach einer Zuordnung zu dieser Feldposition – oft infolge eines autobiografisch gefärbten Debüts – die Möglichkeit, das ›migrantische Image‹ in Positionierungen zu reproduzieren und dessen ökonomische Vorteile bei der Distribution und Rezeption ihrer Texte zu nutzen, oder sie können den Anspruch erheben, mittels einer individuellen ›posture‹ eine neue Feldposition zu erstreiten.102 Sowohl Stanišić als auch Grjasnowa tun dies, indem sie zum einen, wie hier gezeigt wurde, die generalisierenden Zuschreibungen der Mediendiskurse öffentlich kritisch reflektieren und individuelle Autorschafts- und Literaturauffassungen kommunizieren, die statt der biografischen Disposition des Schreibenden künstlerische Individualität, Talent und handwerkliches Können betonen, zum anderen, indem sie hinsichtlich der literarischen Sujets den Erwartungshorizont verlassen. In den hier untersuchten Selbstverortungen rückt die in den Fremdverortungen übermächtig betonte Zugehörigkeit zum Herkunftsraum, zur Herkunftssprache und zur Herkunftsgemeinschaft ebenso in den Hintergrund wie die konstruierte Zugehörigkeit zu einer, wie Zaimoğlu formulierte, »Literaturtruppe mit migrantischem Hintergrund«103. Die Akteurinnen und Akteure lehnen im Vorgang des individuellen »Sich-Zugehörigkeit-Schaffens«104 die ihnen im Literaturfeld der Zuwanderungsgesellschaft angebotene, möglicherweise als poeta minor verstandene Position ab und betonen stattdessen kunstautonome Überzeugungen. Es ist davon auszugehen, dass diese Selbstverortungen feldlogisch als Ausdruck des Ringens um symbolisches Kapital, daher um Relevanz und Anerkennung zu verstehen sind.

100 | Tommek, H.: Der lange Weg, S. 277. 101 | In Anlehnung an Tommeks Ausführung zur »medialisierten Herstellung« der »(Grup­ pen-)Autorposition« des literarischen »Fräuleinwunders« kann m.E. auch von einer ›generativen Formel‹ einer sog. ›Migrationsliteratur‹ gesprochen werden. Vgl. ebd. 102 | Vgl. zu dem Begriff Meizoz, Jérôme: Die posture und das literarische Feld. Rousseau, Céline, Ajar, Houellbecq, in: Markus Joch/Norbert-Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen 2005, S. 177-188. 103 | Zaimoğlu/Abel: »Migrationsliteratur ist ein toter Kadaver«. 104 | Pfaff-Czarnecka, J.: Zugehörigkeit, S. 44.

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»Neue Deutsche« mit Islam-Bezug: Navid Kermani und Zafer Şenocak Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten in der Einwanderungsgesellschaft Michael Hofmann

In diesem Beitrag sollen transkulturelle Mehrfachzugehörigkeiten mit Bezug auf deutsch(sprachig)e Schriftsteller analysiert werden, die Muslime sind und in ihrem Schreiben dieses Muslimsein thematisieren, ja sogar zu einem wesentlichen Moment ihres literarischen Konzepts machen. Navid Kermani und Zafer Şenocak sind herausragende Vertreter einer inter- und transkulturellen Gegenwartsliteratur, die in den aktuellen Diskussionen über den Islam eine wichtige Rolle spielen und in der deutschen Öffentlichkeit Gehör finden, was sich insbesondere in der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Navid Kermani im Jahre 2015 zeigt. Mein Beitrag geht aber nicht auf die allgemeinen Fragen zum Thema ›Islam in Deutschland‹ ein, sondern auf die Frage, wie beide Autoren eine Mehrfachzugehörigkeit konstruieren, indem sie sich als islamische Deutsche positionieren. Bei Kermani gehe ich aus von den zahlreichen autobiografischen Erzählelementen in dem Essay Wer ist Wir – Deutschland und seine Muslime (2009) und beziehe diese als ›Ego-Dokumente‹ auf die Leitfragen dieses Sammelbandes. Danach demonstriere ich, was literarische Mehrfachzugehörigkeit bedeuten kann, und zwar an der originellen Verbindung von europäisch-amerikanischer Popkultur und islamischer Mystik in dem Text Das Buch der von Neil Young Getöteten (2002). Anschließend thematisiere ich Zafer Şenocak. Auch hier gehe ich von ›EgoDokumenten‹ aus. Zunächst ist zu verweisen auf eine Mehrfachzughörigkeit innerhalb der türkischen Kultur, die Zafer in seiner Kindheit entsprechend seiner autobiografischen Konstruktion in München erlebt hat: die Spannung zwischen dem Vater, der islamische Schriften publizierte, und der kemalistischen Mutter (Das Geheimnis der Nachmittage, 2006). Schließlich führe ich vor,

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wie sich Şenocaks Mehrfachzugehörigkeit in der Rekonstruktion seiner Enkulturation und seines Werdegangs als Schriftsteller zeigt (Deutschsein, 2011): Gegen die von ihm so verstandene Verdrängung romantischer und religiöser Traditionen im Mainstream der Gruppe 47 ruft Şenocak die deutsch-jüdische Tradition auf (vor allem mit Paul Celan, aber auch mit Heinrich Heine und Franz Kafka) und er kombiniert diese mit der türkischen Tradition insbesondere bei Nȃzim Hikmet, wobei er den Bezug zwischen Avantgarde und Sufismus unterstreicht (Deutschsein). Als Ergebnis bei Şenocak ist festzuhalten, dass dieser Mehrfachzugehörigkeit in der Retrospektive so interpretiert, dass er in der Nachkriegsliteratur eine partielle Verdrängung der deutschen Traditionen wie vor allem der Romantik feststellt, dass er diese Verdrängung mit Bezug auf die deutsch-jüdische Literatur, aber auch auf die in seinem Verständnis vom Islam mitgeprägte türkische Moderne zurücknimmt und eine eigenständige Position einnimmt, bei der die islamische Religion zu einem Teil seines Selbstverständnisses wird.

I. Kermani, geboren 1967 als Sohn iranischer Einwanderer, kann als Schriftsteller, Islamwissenschaftler und Publizist auf ein vielgestaltiges, komplexes und interessantes Œuvre zurückblicken. Kermani ist eine eigenwillige und prägnante Stimme der deutschen Gegenwartsliteratur und -kultur. In seinen Texten befasst er sich mit alltäglichen wie existentiellen Fragen und Problemen unserer Gegenwart und es gelingt ihm dabei, die islamische Tradition in überraschender Weise ins Spiel zu bringen. Indem er einerseits den Islam mit zeitgemäßen wissenschaftlichen Methoden neu interpretiert und andererseits eine undogmatische Frömmigkeit in seinen deutschen Alltag einfließen lässt, bietet er dem deutschen Publikum überraschende und innovative Einsichten, die gleichzeitig voller Humor und Ernst literarische und publizistische Texte bieten. Kermani trat zunächst 1999 als Islamwissenschaftler mit dem Werk Gott ist schön hervor, in dem es um die ästhetische Dimension der islamischen Überlieferung ging, und er befasste sich 2005 in Der Schrecken Gottes mit der Theodizee-Problematik und dem religiösen Hadern mit Gott, das er mit Bezug auf muslimische, aber auch jüdische und christliche Texte untersuchte. Bereits 2002 legte er mit dem Buch der von Neil Young Getöteten seinen literarischen Erstling vor, in dem er in origineller und eindringlicher Weise eine Verbindung zwischen westlicher Popmusik und islamischer Mystik herstellte. 2011 kam dann sein bisheriges ›opus magnum‹ heraus, der mehr als 1000 Seiten umfassende Roman Dein Name, in dem er autobiografische Motive mit Reflexionen zu Religion und Zeitgeschichte, aber auch mit Phänomenen der Alltagskultur und mit einer eindringlichen Erinnerung an seine Vorfahren im

»Neue Deutsche« mit Islam-Bezug: Navid Kermani und Zafer Şenocak

Iran verband. 2012 erläuterte er in der Frankfurter Poetikvorlesung die Grundlagen seines literarischen Schaffens mit Bezug auf Jean Paul und Friedrich Hölderlin, die von Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller zurückgewiesenen Außenseiter der deutschen klassischen Literatur. 2014 publizierte er Große Liebe, 2015 eine Sammlung mit literaturkritischen Essays Zwischen Koran und Kaf ka, und 2016 seinen bisher letzten Roman Sozusagen Paris. Neben seinen islamwissenschaftlichen und literarischen Texten hat Kermani Reisereportagen und publizistische Interventionen verfasst, in denen er insbesondere die Rolle des Islam in den Auseinandersetzungen nach dem 11. September 2001 und speziell in der deutschen Gesellschaft untersucht. In Kermanis Essay Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime 1 findet sich getreu der Tradition des Essays eine autobiografische Grundierung, in der das Thema der kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten eine wichtige Rolle spielt. Nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel sei es heute, so Kermani, dass Menschen mehrere Zugehörigkeiten aufweisen: Daß Menschen gleichzeitig mit und in verschiedenen Kulturen, Loyalitäten, Identitäten und Sprachen leben können, scheint in Deutschland immer noch Staunen hervorzurufen – dabei ist es kulturgeschichtlich eher die Regel als die Ausnahme. Im Habsburger oder im Osmanischen Reich, bis vor Kurzem in Städten wie Samarkand oder Sarajewo, heute noch in Isfahan oder Los Angeles waren oder sind Parallelgesellschaften kein Schreckgespenst, sondern der Modus, durch den es den Minderheiten gelang, einigermaßen unbehelligt zu leben und ihre Sprache und Kultur zu bewahren. 2

Kermanis eigenes Leben folgt dieser Regel. Er wurde in Siegen als Sohn eines iranischen Arztes geboren, der in einem katholischen Krankenhaus arbeitete. So erlebte er in seiner Kindheit zwei Welten, die persische und die deutsche. Er siezte die Eltern auf Persisch, wollte dies aber nicht auf Deutsch tun.3 Die Ordnung in der Familie und die Ordnung der Hefte und des Ranzens waren nicht wie bei den deutschen Familien,4 ohne dass dies zu einer Diskriminierung geführt hätte: »ich will nicht behaupten, daß ich meine Fremdheit niemals als Problem empfunden hätte. Aber es war, wenn überhaupt, kein besonders großes Problem.«5 Heute sei das Lebensgefühl in deutschen Großstädten im Vergleich zu Kermanis Jugend offener und freier: 1 | Kermani, Navid: Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime, 2., durchgesehene Auflage, München 2010. 2 | Ebd., S. 12f. 3 | Vgl. ebd., S. 10f. 4 | Vgl. ebd., S. 11f. 5 | Ebd., S. 11.

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Michael Hofmann Deutschland ist heute ungleich weltoffener als noch vor zwei, drei Jahrzehnten. Es hat sich an die Einwanderung gewöhnt. […] Ich finde es wunderbar, um mich herum so viele Sprachen und Gerüche und Lebensformen vorzufinden, so daß sich das Innen und das Außen meiner Kindheit zueinander öffnen, und ich freue mich, daß das Lebensgefühl mindestens in den Großstädten immer kosmopolitischer wird.6

Im Kontext der verschiedenen Orientierungen und Zugehörigkeiten, die Kermani persönlich prägen, erscheinen seine Reflexionen zum Thema ›Heimat‹ von besonderem Interesse. Er identifiziert sich nicht mit Deutschland als Land oder Nation, sondern bezieht sich auf die Stadt Köln, in der er seit einigen Jahren wohnt, und auf die persische wie die deutsche Sprache: Meine Heimat ist nicht Deutschland. Sie ist mehr als Deutschland: Meine Heimat ist Köln geworden. Meine Heimat ist das gesprochene Persisch und das geschriebene Deutsch: Wenn ich im Ausland bin, fühle ich mich sofort unter Landsleuten, wenn ich Persisch höre – nicht wenn ich Deutsch höre. Aber das erste, was ich tue, ist zu schauen, wo es eine deutsche Zeitung gibt. Ich vermeide, soweit es geht, jede fremdsprachige Lektüre, weil ich für mein Leben gern gutes Deutsch lese.7

Im Blick auf die wissenschaftliche (und literarische) Publikationstätigkeit hält Kermani ein engagiertes Plädoyer für die deutsche Sprache: Schreiben gar will ich nur auf Deutsch, in dieser Hinsicht bin ich ein regelrechter Nationalist. Als Wissenschaftler werde ich immer wieder angehalten, auf Englisch zu veröffentlichen. Ich kenne keinen Wissenschaftler, der so halsstarrig wie ich darauf beharrt, deutsch zu schreiben. Die geschriebene deutsche Sprache ist meine Heimat; nur sie atme ich, nur in ihr kann ich sagen, was ich zu sagen habe. Aber nur die geschriebene Sprache. […] Meine Literatur ist deutsch, Punkt, aus, basta – so deutsch wie Kafka, wie ich dann zugegeben etwas hochtrabend gern sage. 8

Demgegenüber bleibt das Persische die bevorzugte mündliche Sprache, die er insbesondere mit seinen Kindern spricht: Mit meinen Kindern sprach ich vom ersten Augenblick an, ohne darüber nachgedacht zu haben, persisch. Mit der gesprochenen deutschen Sprache verbinde ich nicht Gefühle der Vertrautheit, Wärme, Geborgenheit, ich spreche deutsch auch viel zu schnell. Ich fühle mich nicht wohl darin. Wenn ich dagegen Persisch höre, fühle ich mich zu-

6 | Ebd., S. 54. 7 | Ebd., S. 131. 8 | Ebd., S. 131-133.

»Neue Deutsche« mit Islam-Bezug: Navid Kermani und Zafer Şenocak hause. Zwar beherrsche ich es weiß Gott nicht perfekt – aber es ist nun mal meine Muttersprache. 9

›Heimat‹ erscheint als eine gewählte Zuordnung, die sich auf hoch- wie populärkulturelle Phänomene, auf Hölderlin wie den 1. FC Köln, beziehen kann – wobei sich der kosmopolitische Charakter der rheinischen Metropole sogar in den Fangesängen manifestiert: Ja, Hölderlin ist Heimat, eindeutig – oder der 1. FC Köln, ebenfalls Heimat, seit ich vier Jahre alt bin, ein Verein übrigens, in dessen inoffizieller Hymne es heißt: Wir sind multikulturell. Ich fühle mich wunderbar, wenn 50.000 Deutsche vor jedem Fußballspiel singen: Wir sind multikulturell. Dann werde ich gewissermaßen auch zum Deutschen. Wenn das »Wir« aus vielen Kulturen besteht, kann ich sagen: »da simmer dabei, dat is prima: Viva Colonia«.10

So wie aber vieles an der Heimat auf einer eigenen Wahl beruht, so bewahrt sich der aus Westfalen zugereiste Kölner mit iranischen Vorfahren doch eine gewisse Distanz gegenüber der deutschen Gesellschaft; die Zugehörigkeit, die zweifellos vorhanden ist, verbindet sich mit einer gewissen reflektierten Reserve: Nicht ganz dazuzugehören, sich wenigstens einige Züge von Fremdheit zu bewahren, ist ein Zustand, den ich nicht gern aufgeben möchte. Selbst in Köln, wo ich gern lebe, bin ich selten so lokalpatriotisch, wie ich auf Reisen tue. Dort fühle ich mich wohl, ein Zugezogener zu sein, und sei es ein Westfale.11

Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass die deutsche Gesellschaft im Gegensatz zu den traditionellen Einwanderungsgesellschaften eine wirkliche Einbürgerung erschwert: Meine Eltern sind vor über fünfzig Jahren zum Studium vom Iran nach Deutschland gekommen. Sie sind bestens integriert, bemühen sich um Toleranz und Verständigung, engagieren sich sozial, sprechen gut Deutsch – fromme Muslime nach dem europäischen Bilde. Sie sind froh, in Deutschland zu leben. Sie sind dankbar dafür. Aber auch nach fünfzig Jahren würden sie nicht von sich sagen, sie seien Deutsche. Ich glaube nicht, daß das nur an meinen Eltern liegt. Es liegt vielleicht auch an Deutschland. Ich selber sage von mir selten, Deutscher zu sein. Ich bin hier geboren, ich habe seit einigen Jahren neben einem iranischen auch den deutschen Paß, die Sprache, in der ich lebe und von 9 | Ebd., S. 131. 10 | Ebd., S. 133. 11 | Ebd., S. 134.

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Michael Hofmann der ich lebe, ist Deutsch. Und dennoch geht mir der Satz, Deutscher zu sein, nicht oft über die Lippen. Allenfalls sage ich’s im Doppel, beinahe entschuldigend: Deutsch-Iraner. Mein Cousin, der seit acht Jahren in den Vereinigten Staaten lebt, sagt jetzt schon, er sei Amerikaner. Man wird nicht Deutscher. Als Migrant bleibt man Iraner, Türke, Araber noch in der zweiten, dritten Generation.12

Mit dem Begriff ›Heimat‹ eng verbunden ist die Frage nach der ›Identität‹. In Deutschland wird die ›Identität der Muslime‹ im herrschenden Diskurs problematisiert. Dabei ist mit dieser Frage nach einer Identitäts-Zuweisung eine Einschränkung und potentiell eine unerträgliche Fixierung verbunden. ›Muslim‹ suggeriert eine feste Identität; dabei wird vergessen, dass jeder Mensch verschiedene Facetten einer Identität besitzt, die sich nicht auf die religiöse Zugehörigkeit begrenzen lassen: Identität ist per se etwas Vereinfachendes, etwas Einschränkendes, wie jede Art von Definition. Es ist eine Festlegung dessen, was in der Wirklichkeit vielfältiger, ambivalenter, durchlässiger ist. […] ich sage von mir: Ich bin Muslim. Der Satz ist wahr, und zugleich blende ich damit tausend andere Dinge aus, die meiner Religionszugehörigkeit widersprechen können – ich schreibe zum Beispiel freizügige Bücher über die körperliche Liebe oder bejahe die Freiheit zur Homosexualität. […] Nicht alles, was ich tue, steht in bezug zu meiner Religion. Für mich selbst sind solche Handlungen und Bekenntnisse in meinem Muslimsein überhaupt nicht eingeschränkt. Das mag sich paradox anhören, aber mit dieser Religiosität bin ich aufgewachsen, mit all diesen Ambivalenzen, Brüchen, Widersprüchen.13

Kermani beklagt, dass Stereotype durch die Reduzierung der Identität auf die Religion ausgebildet werden. Dabei seien soziale Unterschiede häufig gravierender als religiöse und kulturelle.14 Und in der Selbst- und Fremddefinition mit stereotypen Fixierungen, in der starren Konstruktion dessen, was man selbst ist, und in der Abgrenzung von anderen liege ein Gewaltpotential.15 Hieraus folgt für einen Autor wie Kermani, dass der Reiz seiner Position darin liegt, sich in der Frage nach einer Identität gerade nicht festzulegen. Dies bedeutet anders gewendet, dass die Mehrheitsgesellschaft nicht das Recht hat, eine Entscheidung für eine eindeutige Identität und eine vermeintlich eindeutige kulturelle Zugehörigkeit zu verlangen. Was aber für einen bereits anerkannten Autor zu einem besonderen kulturellen Kapital werden kann, ist für viele junge Muslime in Deutschland eine Belastung, wenn diese zwar ein 12 | Ebd., S. 139. 13 | Ebd., S. 17. 14 | Vgl. ebd., S. 25. 15 | Vgl. ebd., S. 27.

»Neue Deutsche« mit Islam-Bezug: Navid Kermani und Zafer Şenocak

Teil der deutschen Gesellschaft sein, gleichzeitig aber das Muslimische ihrer Identität nicht aufgeben wollen: Womöglich hielten sie es für selbstverständlich oder haben nicht darüber nachgedacht, daß der Westen ihre Heimat ist. Jetzt sind sie gezwungen, darüber nachzudenken, zu welchem »Wir« sie gehören. Sie sind zu einer Entscheidung gezwungen. Gehörst du zu uns, kannst du nicht zu denen gehören. Die wenigsten Migranten der zweiten und dritten Generation scheinen diesen Schritt mitzumachen. Sie sehen kritisch, was im Namen des Islam geschieht. Aber sie können nicht einfach die Seite wechseln. Zur Entscheidung gezwungen, entscheiden sich immer mehr Muslime – aus meiner Sicht – falsch: allein dadurch, daß sie sich für eine Seite entscheiden.16

Hier erkennen wir die zentrale Perspektive Kermanis auf die Frage, wie man mit Mehrfachzugehörigkeit umgehen sollte. Es geht zunächst einmal darum, den Gedanken überhaupt zuzulassen, dass eine Identität und eine kulturelle Orientierung möglich sind, die eben mehrere Zugehörigkeiten beinhalten. Und wenn viele Migrantinnen und Migranten sich scheinbar dogmatisch für eine Seite entscheiden, nämlich gerade für die nicht-deutsche, so ist dies nach Kermanis Meinung zu einem sehr großen Teil die Schuld der Mehrheitsgesellschaft, weil diese bewusst oder unbewusst eine eindeutige Zuordnung einfordert – ohne zu bedenken, dass gerade die Menschen mit einer kulturellen Mehrfachzugehörigkeit das kulturelle Profil auch der Mehrheitsgesellschaft positiv verändern können. Kermani wiederum reflektiert seine eigene durchaus privilegierte Position, indem er darauf verweist, dass die Funktion des Intellektuellen vor allem darin liege, Kritik und Selbstkritik zu üben. Und indem er sich seiner Mehrfachzugehörigkeit immer wieder vergewissert, sieht er für sich die Chance wie die Pflicht, die deutsche wie die islamische Kultur zu kritisieren, aber beide Mal mit einem Aspekt der Selbstkritik.17 Damit widersetzt sich Kermani einer Debattenkultur, wie wir sie etwa in den Talkshows finden, wo die Auftretenden sich jeweils als Repräsentantinnen und Repräsentanten einer eigenen Kultur und als Kritikerinnen und Kritiker des oder der Anderen verstehen. Dies leitet wieder zurück auf die Frage nach der Heimat und der Zuordnung zu einer kulturellen Identität: Erst seit einigen Jahren werde ich dauernd gefragt, als was ich mich empfinde – als Deutscher oder Iraner, als Europäer oder als Muslim. Irgendwann beginnt man tatsäch-

16 | Ebd., S. 89. 17 | Vgl. ebd., 91.

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Michael Hofmann lich, darüber nachzudenken. Dabei möchte ich mich in keine Identität pressen lassen, selbst wenn es meine eigene wäre.18

Der immer weiter um sich greifende ›Identitätswahn‹, die Überzeugung, dass es unmöglich sei, zwei Kulturen oder zwei Nationalitäten zu haben, erscheint Kermani als eine Folge der ethnisch-religiösen ›Säuberungen‹ des 20. Jahrhunderts: Die Wirklichkeit eines Lebens, eines jeden Lebens, ist noch viel komplizierter, diffiziler, als daß sie sich auf einen abstrakten Begriff wie den der Identität reduzieren ließe – und man sich auch noch für die eine und damit gegen eine andere Identität entscheiden soll. Das ist ein moderner Anspruch, der erst möglich wurde, weil Europa in zwei Weltkriegen die eigentlich selbstverständliche Vermischung kultureller Bezüge zu vernichten versucht hat, weil jüdisches Leben in Berlin und deutsches Leben in Czernowitz ausgelöscht wurde, weil die Türken aus Saloniki und die Griechen aus Izmir vertrieben wurden, um nur vier von Hunderten von Beispielen für den Identitätswahn anzuführen, der Europa schon so oft in eine Hölle verwandelt hat.19

Der kosmopolitische Intellektuelle hat in Kermanis Sicht somit die Funktion, den immer wieder aufkommenden ›Identitätswahn‹ in der Gesellschaft zu bekämpfen – und dies allein schon dadurch, dass er die Möglichkeit einer pluralen Identität und einer Mehrfachzugehörigkeit lebt und demonstriert und dadurch der Verarmung und der potentiellen Vereinheitlichung einer Gesellschaft widerstrebt. Dies zeigt sich konkret, indem Kermani am kulturellen Gedächtnis des Islam festhält, das ihm durch seine Familie vermittelt worden ist, und indem er Elemente der islamischen Kultur in das deutsche kollektive Gedächtnis einspeist. Als Person mit iranischen Wurzeln sieht er sich in der Pflicht, dieses Erbe zu bewahren; er erklärt, »daß wir doch nicht von dem Erbe unserer Eltern und Großeltern lassen dürften, von all den Schätzen, der Literatur, der Mystik, der Mitmenschlichkeit, die uns im Namen des […] Islams gelehrt worden sind«.20 Damit ist aber gleichzeitig gesagt, dass die Positionierung eines Intellektuellen, der sich in Europa mit den Traditionen des Islam befasst, gleichzeitig zu einem polemischen Kampf gegen die Erstarrung des Islam in der heutigen Zeit motiviert: »Auch angesichts des totalitären islamischen Gottesstaats und seiner Diktatur konnte ich […] die Werte meiner eigenen religiösen Erziehung nicht vergessen und das Vorbild an Güte nicht übersehen, das mir

18 | Ebd., S. 129. 19 | Ebd., S. 130. 20 | Ebd., S. 97.

»Neue Deutsche« mit Islam-Bezug: Navid Kermani und Zafer Şenocak

manche ältere und besonders fromme Verwandte weiterhin waren«.21 Ganz besonders sieht Kermani die Verpflichtung, den Sufismus, die islamische Mystik, mit seinen anti-dogmatischen und humanistischen Gehalten an die Kultur des Westens anzuschließen: »Die Mystik als der verinnerlichte Islam könnte sich als eines der Felder erweisen, auf dem Frömmigkeit und Aufklärung, Individuation und Gottergebenheit zusammenfinden, auch in der Kunst«.22 Damit wird einem verbreiteten Bild in Europa widersprochen, das den Islam als eine homogene und monolithische Ideologie versteht, mit welcher die Freiheit unterdrückt und die Autonomie des Menschen behindert würde. Demgegenüber postuliert Kermani polemisch, dass es darum gehe, die islamische Kultur, Poesie und Mystik durch den Widerspruch zu definieren, in dem sie zur sogenannten reinen Lehre stehen.23 Als Intellektueller mit pluraler Identität und Mehrfachzugehörigkeit wendet sich Kermani in den aktuellen Debatten um den Islam gegen die Dogmatikerinnen und Dogmatiker auf beiden Seiten. Er kritisiert stereotype Wahrnehmungen des Islam im Westen und vor allem Verallgemeinerungen extremistischer Phänomene wie Ehrenmord.24 Aber er kritisiert auch und vor allem die gegenwärtige Situation des Islam, der sich auf einem geistigen Niveau befinde, das gegenüber der Tradition erschreckend niedrig sei: Die intellektuelle Auszehrung des orthodoxen Islams – dessen einstige Beweglichkeit einen nur staunen machen kann –, dieser Niedergang einer hochstehenden religiösen Kultur ist es, was den Fundamentalismus erst ermöglicht hat. Der Fundamentalismus ist nicht in der Orthodoxie entstanden, sondern ist eine Antwort auf die Krise der Orthodoxie. 25

Der Protest gegen die Mohammed-Karikaturen war in der gewählten Form illegitim und ungeschickt.26 Kermani weiter: Die Protestierenden haben vergessen, dass die arabische Kultur voller Kritik am Islam ist.27 Insofern hatte der indische Schriftsteller Salman Rushdie das Recht, in seinem Roman Satanische Verse seine eigene Kultur zu diffamieren.28 Der Islam lebt, wie viele andere Religionen auch, gerade aus dem Spannungsverhältnis zwischen den Texten 21 | Ebd., S. 106. 22 | Ebd., S. 12. 23 | Vgl. ebd., S. 18, 109. Vgl. dazu grundlegend: Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011. 24 | Vgl. Kermani, N.: Wer ist Wir, S. 39. 25 | Ebd., S. 85. 26 | Vgl. ebd., S. 44. 27 | Vgl. ebd., S. 45. 28 | Vgl. ebd., S. 46.

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und ihren Leserinnen und Lesern;29 ›aufgeklärte‹ Muslime dürfen nicht aus dem Islam ausgeschlossen werden.30 Die Islamistinnen und Islamisten, die in den aufgeregten Diskussionen in Europa als die exemplarischen Repräsentanten des Fremden erscheinen, sind von der westlichen Kultur geprägt;31 sie vertreten eigentlich eine bürgerliche Ideologie.32 Die Auflösung fester Identitätsmuster in der Globalisierung erzeugt ein Bedürfnis nach einer eindeutigen und widerspruchsfreien Lebensweise.33 Dabei ist der Islamismus kompatibel mit Marktliberalismus.34 Die islamistischen Terroristinnen und Terroristen haben sich an einem bestimmten Punkt von der westlichen Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind, radikal abgewandt.35 Aber auch Europa muss sich kritischen Fragen Kermanis stellen: Werden die arabische Philosophie, Al Andalus und das Osmanische Reich als Teil der europäischen Geschichte angesehen? Erkennen die Europäer im Kontext der Mohammed-Karikaturen, dass Scherze über eine ausgegrenzte Minderheit durchaus als Ausdruck von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit verstanden werden können?36 Aber Kermani zeigt sich versöhnlich: In Europa bilde sich Islamfeindlichkeit, aber auch eine neue Offenheit gegenüber dem Islam.37 Ein Beispiel für eine gelingende Kommunikation zwischen den Muslimen und der Mehrheitsgesellschaft erblickt Kermani in den engagierten Diskussionen um den Moscheebau in Köln-Ehrenfeld.38 Kermani meint aber auch, Integration gelinge dort, wo die heimische Kultur nicht schamhaft in den Hintergrund gerückt wird.39 Und letztlich führt Kermani die Reflexion über Identität und Zugehörigkeit zu einem emphatischen Bekenntnis zu Europa: Wenn ein politisches Gebilde religiösen und ethnischen Minderheiten eine gleichberechtigte Teilhabe in Aussicht stellt, dann ein vereinigtes Europa. Anders als der Nationalstaat bezeichnet Europa einen Wertekanon, zu dem man sich, unabhängig von seiner Nation, Rasse, Religion oder Kultur, bekennt oder nicht bekennt. Das hebt Unterschiede 29 | Vgl. ebd., S. 111. 30 | Vgl. ebd., S. 113f. 31 | Vgl. ebd., S. 26. 32 | Vgl. ebd., S. 29. 33 | Vgl. ebd., S. 30. 34 | Vgl. ebd., S. 31. 35 | Vgl. ebd., S. 86. 36 | Vgl. ebd., S. 47. 37 | Vgl. ebd., S. 53. 38 | Vgl. ebd., S. 56. 39 | Vgl. ebd., S. 61.

»Neue Deutsche« mit Islam-Bezug: Navid Kermani und Zafer Şenocak nicht auf, im Gegenteil. Europa ist gerade kein erweiterter Nationalstaat, sondern ein Modus, Unterschiede politisch zu entschärfen, um sie zu bewahren. Wer zum europäischen »Wir« gehört, entscheidet nicht der Geburtsort der Großeltern, sondern die Vorstellung von der Gegenwart.40

So mündet die Reflexion über eine kulturelle Mehrfachzugehörigkeit politisch in ein Plädoyer für ein Europa, das nationale Grenzziehungen überwindet, Differenzen zwischen den Nationen und Gesellschaften toleriert und sogar organisiert und das innerhalb der Gesellschaften die Anerkennung ethnischer und religiöser Minderheiten fördert – ein Konzept von Europa, das in unseren Tagen einer engagierten Verteidigung bedarf!

II. Das Buch der von Neil Young Getöteten 41 ist ein autografisch geprägter Essay über die Wirkung der Musik des im Titel genannten Sängers und Gitarristen. Die Bedeutung dieser Musik für das in Vielem dem Autor nachempfundenen Ich dieses Essays war immer schon sehr groß, intensivierte sich aber, als er eines Tages zufällig feststellte, dass seine gerade geborene Tochter nur bei dieser Musik ruhig wurde bzw. einschlief. Der Text besteht aus einer autobiografisch inspirierten Erzählung, die sich auf das Leben mit der sehr jungen Tochter, aber auch auf eine schwere Erkrankung des Vaters bezieht, und aus Betrachtungen und Reflexionen zu Liedern und Texten von Neil Young. In Sinne unserer Überlegungen verbindet Kermani Youngs Musik mit Texten islamischer Mystikerinnen und Mystiker und er macht damit seine kulturelle Mehrfachzugehörigkeit fruchtbar, indem er Zusammenhänge zwischen der westlichen Populärkultur und der islamischen Mystik herstellt, die von Menschen mit einer monokulturellen Prägung kaum jemals gesehen werden könnten. Vorherrschend sind in Youngs Musik, so die Darstellung Kermanis, melancholische bis depressive Stimmungen, die in ungewöhnlichen, häufig monotonen musikalischen Formen ausgedrückt werden und dabei oft ins Geräuschhafte gehen. Diese Musik löst bei dem schreibenden Ich, nach seiner Meinung aber auch bei anderen Menschen, einen Sog aus, bei dem die Erfahrung des Verlorenseins und der Hilflosigkeit paradoxerweise eine attraktive Wirkung hat. In der Melancholie und Verzweiflung, die Youngs Stücke ausdrücken, artikuliert sich nach Kermanis Darstellung ein Ringen um Sinn und Geborgenheit, das mit einer religiösen Erfahrung verbunden werden kann, aber nur in 40 | Ebd., S. 136. 41 | Kermani, Navid: Das Buch der von Neil Young Getöteten, Zürich 2002.

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einem speziellen Sinn, der mit dem Leiden an der Abwesenheit Gottes und mit der Erfahrung einer Trennung von ihm geprägt erscheint (wie in Kermanis Abhandlung über Attars Buch der Leiden und in der Hiob-Tradition). Genau diese Erfahrung findet Kermani aber in einem mystischen Text mit dem erstaunlichen Titel Das Buch der vom Koran Getöteten (aus dem 11. Jahrhundert): Vor vielen Jahren stieß ich auf eine Handschrift, in der von Mystikern die Rede sein sollte, die den Koran gehört haben und darüber gestorben sind. Das Buch der vom Koran Getöteten hieß sie. Noch bevor ich die Handschrift studierte, faszinierte mich der Titel. Ich hatte das Gefühl, genau zu wissen, was gemeint war. Zu der Zeit hörte ich Down by the river, und es zog mir jedesmal das Herz zusammen, bis ich für eine Zehntelsekunde meinte, ersticken zu müssen. Als ich auf das Buch der vom Koran Getöteten aufmerksam wurde, erschien es mir daher keineswegs kurios oder unglaubwürdig, dass Menschen nur durch einen Gesang getötet worden sein sollten. […] Mittlerweile habe ich das Buch der vom Koran Getöteten gelesen, darüber ein eigenes Buch geschrieben und herausgefunden, daß meine Annahme stimmte und sich auf eine ästhetische Grunderfahrung bezieht, die Menschen seit jeher versucht haben zu rationalisieren. Es hat also lange gedauert und mich den Umweg über die islamische Mystik, Baudelaire, Rudolf Otto und Adorno gekostet, bis ich endlich den Versuch unternommen habe, die Gleichzeitigkeit von Lust und Schrecken, in der sich beides aufhebt, dort zu beschreiben, wo sie mir selbst zum ersten Mal ins Bewußtsein gerückt ist, bis ich also Das Buch der von Neil Young Getöteten entdeckte; nicht wenige seiner Protagonisten hat es unten am Fluß erwischt. Jetzt sehe ich mein Trachten des vergangenen Lebensdrittels, der Jahre des Studiums von Büchern und Empfindungen, die Beschäftigung mit dem Koran, der Poesie, dem Essen, der Liebe und vor allem dem Sex, jetzt sehe ich, daß es sich auf nichts anderes richtete, als die Sekunde zu fassen, gleich nachdem Neil Young »Dead« gejault hat. Wem das übertrieben vorkommt, der kann das Stück nicht aufmerksam gehört haben oder er hat von Sex keine Ahnung.42

Youngs extreme Hingabe an Gefühle der Depression und des Leidens an der Normalität stellt ihn in die Nähe der radikalsten Mystik: Daß er sich restlos auch und besonders den Stimmungen hingibt, die von der Erhabenheit am entferntesten sind, der Schwäche, dem Neid, den Schuldkomplexen, daß Neil Young sich mit der Melancholie nicht aufhält und sich gleich in die pure Verzweiflung und den quälenden Katzenjammer stürzt, das kenne ich in vergleichbarer Radikalität nur aus der frühislamischen Askese, mag es auch vermessen sein, die Wehwehchen unserer wohlanständigen Gemütlichkeit mit dem Hiobsleid der Großen in einem Atemzug zu nennen (es ist nicht vermessen, weil wir die Gnade, die uns zuteil geworden ist, 42 | Ebd., S. 110f.

»Neue Deutsche« mit Islam-Bezug: Navid Kermani und Zafer Şenocak nur als weitere Ungerechtigkeit gegenüber den Opfern sehen können, nur als den Gipfel des Weltzynismus, der ihrem Unglück auch noch unser Glück vor die Nase stellt, das wegen ihres Unglücks aber nicht Glück zu nennen ist): »Was meinst du von den Leuten, die mit einem Schiff ausgefahren sind, die aber nachdem sie mitten auf dem Meer waren, Schiffbruch erlitten haben, so daß sich jeder von ihnen an einer Planke festhält: In welchem Zustand befinden sie sich?« fragte Hassan al-Basri. »In einem schlimmen Zustand«, antwortete der, der ihn nach seinem Befinden gefragt hatte. »Mein Zustand ist schlimmer als ihrer.« 43

Depression und Verzweiflung verweisen auf die Abwesenheit einer Erfüllung des Lebens mit Sinn und die Musik Youngs ist somit Ausdruck einer Gottesferne, die schon die frühislamischen Mystikerinnen und Mystiker empfunden und beklagt haben. Zugleich bewirkt die Einsicht in universelle menschliche Grunderfahrungen eine Option für die Gleichheit aller Menschen (die sich in der Reflexion über die vor allem materiell Unglücklichen in unserer Welt zeigt) und dieser Aspekt verweist auf das herrschaftskritische Moment, das sich in Youngs Texten und seiner Musik findet und das sich auch aus den mystischen Texten ablesen lässt. Dies zeigt sich nach Kermani in Youngs Lied Cortez the Killer, das die Kolonialisierung Lateinamerikas besingt und die Schuld, welche die Europäerinnen und Europäer in diesem Zusammenhang auf sich geladen haben: Cortez the Killer [ist] ein Epos über die Menschheit: ihr unlogisches Festhalten daran, daß das, was ist, nicht alles und Erlösung möglich ist, daran, daß wir geliebt werden, ein Glaube, so realistisch wie die Existenz einer verborgenen aztekischen Prinzessin im heutigen Mexiko-City [Anspielung auf Youngs Lied Pocahontas]; die Katastrophe des Anfangs als schemenhafte Erinnerung, die Verstrickung in eine Schuld, von der wir nicht einmal genau wissen, worin sie besteht – im Zweifel ein Mensch zu sein, dem Geschlecht eines Mörders wie Cortez anzugehören: »For the angry gods to see«.44

Bemerkenswert ist bei all diesem, dass der Ton von Kermanis Text trotz dieser Thematisierung der Depression und eines allgemeinen ›Weltschmerzes‹ (wie er in Zwischen Koran und Kaf ka mit Bezug auf Heine formuliert) nicht düster und depressiv, sondern mild ironisch und fast heiter erscheint. Diese scheinbare Paradoxie wird im Buch der von Neil Young Getöteten explizit thematisiert. Und zwar sieht Kermani sehr im Gegensatz zu Theodor W. Adorno, dem Autor der Minima Moralia, auf den er sich immer wieder beruft, die Möglichkeit, trotz der allgemein konstatierten Schwärze der Welt nicht zu einem ›Schwarzseher‹ zu werden: 43 | Ebd., S. 133f. 44 | Ebd., S. 79.

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Michael Hofmann Neil Youngs Lieder sind so düster und besonders seine Stücke mit Crazy Horse solche Brecher, daß man ihn für einen dauerdepressiven Weltankläger halten könnte, doch beruhte der Schluß auf einem Mißverständnis. Wer düster denkt, muß nicht düster sein, im Gegenteil. Ich selbst bin von der Negativität des Großen und Ganzen völlig überzeugt, aber deswegen blase ich nicht täglich Trübsal. Die quälende Anstrengung, sich dem Unheil möglichst nicht zu verschließen, verwässert oder sublimiert sich nach einer Weile zu einer entspannten Schwermut, so ab dem 29. Lebensjahr, habe ich festgestellt, und erst recht, wenn man Vater wird. Andere haben das vor mir bemerkt.45

Und er fährt fort: Wenn man es als Menschenschicksal begreift, aus der Bahn geworfen zu sein, läßt man sich nicht von jedem Stolperstein aus der Ruhe bringen; wenn man es aufgegeben hat, seinen Frieden mit der Welt zu machen, fällt einem der innere Friede leichter. Indem man zu den Waffen der Selbstironie und des Trotzes greift, versucht man das Beste auf der Planke zu machen, die uns noch ein paar Jahre vor dem Ertrinken rettet. […] Nur als Pessimist lasse ich mich durch die obligatorische Enttäuschung nicht davon abhalten, weiterhin nach Gerechtigkeit, Versöhnung oder Freiheit zu streben, habe ich doch die Vergeblichkeit von Anfang an einkalkuliert.46

Im Buch der von Neil Young Getöteten zeigt sich also die Realisation religiöser Denk- und Erfahrungsmuster in einer essayistisch-reflexiven Beschreibung der Musik von Young, die Erfahrungen von Negativität, von Depression, Schuld und Schmerz artikuliert und auf diese Weise einen Sog auslöst, der existentielle und politische, aber auch traditionell religiöse Erfahrungen und Gefühle aufruft, die, wie auch der Titel ausdrückt, von Kermani in einen Kontext der islamischen Mystik gestellt werden. Während in dem Young-Buch dieser Bezug zum Sufismus hauptsächlich in der zentralen Metapher des Getötetwerdens angedeutet wird und der Hauptakzent auf der Beschreibung der musikalischen Erfahrung liegt, hat Kermani in dem Roman Große Liebe (2014) ein anderes, expliziertes Verfahren gewählt, in dem er den Text, bei dem es sich diesmal um einen autobiografischen Roman handelt, mit expliziten Zitaten sufischer Denkerinnen und Denker, vor allem des Andalusiers Ibn Arabi aus dem 12./13. Jahrhundert, füllt und mit der Struktur des Textes auf die hundert Namen Allahs anspielt. Diese Vorgehensweise erscheint insofern plausibel, als er bei seinen deutschen Leserinnen und Lesern keine oder eine nur sehr geringe Kenntnis der islamischen Prätexte voraussetzen kann. Während wir im Young-Buch die religiöse Denkweise der Sufis sozusagen indirekt über die Analyse der Young-Lieder geboten bekamen, 45 | Ebd., S. 147. 46 | Ebd., S. 148f.

»Neue Deutsche« mit Islam-Bezug: Navid Kermani und Zafer Şenocak

werden wir jetzt explizit mit Wissen von konkreten Texten bedient. Das macht das Konzept einerseits klarer, andererseits hätte der neue Text recht didaktisch wirken können, wenn er nicht durch Brechungen der Ironie und des Humors erleichtert worden wäre.

III. In dem autobiografischen Text Das Geheimnis der Nachmittage aus dem Jahre 2006 beschreibt Zafer Şenocak die Spannung zwischen dem säkularen Weltbild seiner an der Moderne Atatürks orientierten Mutter und dem frommen Weltverständnis seines Vaters, der ein muslimischer Gelehrter war. Es gibt einen ›Pakt‹ der Eltern: Die laizistische Mutter erlaubt ihrem Mann das einmal wöchentlich stattfindende religiöse Treffen mit den Freunden; aber der Sohn darf nicht teilnehmen und nichts davon erfahren. Der Islam wird so zum »Geheimnis der Nachmittage: »Mit der Zeit bemerkte ich, dass fast alle Freunde meines Vaters diese geheimnisvolle Schrift [des Korans] lesen konnten«, so erzählt das autobiografische Ich Şenocaks. »Er empfing sie immer am Freitagnachmittag, zum Ausklang der Woche. Sie schlossen sich im Arbeitszimmer ein. Bei diesen Zusammenkünften durfte ich nicht dabei sein. Ich drückte mein Ohr an die Tür und lauschte. Von draußen war nichts zu hören.«47 Trotz der etwas gewaltsamen Trennung zwischen dem Säkularen und dem Religiösen habe sich das erzählte Ich ein gelassenes Verhältnis zu den frommen Gewohnheiten seines Vaters und damit auch ein unverkrampftes Verhältnis zum muslimischen Religiösen bewahrt: Der Glaube meines Vaters hat mich weder gläubig noch ungläubig gemacht. Ich kann weder den Eifer der einen noch der anderen verstehen. Glauben und Geheimnis gehören für mich untrennbar zusammen. Mit einem Glauben, der öffentlich paradiert, gar schreienden Halses unter die Menschen gebracht wird, kann ich gar nichts anfangen. Der nachmittags in einem verschlossenen Zimmer aus der Stille empor wachsende Gesang aber klingt mir noch heute in meinen Ohren.48

Vor diesem Hintergrund vollzieht sich eine originelle Sozialisation, indem der Heranwachsende einerseits am deutschen Gymnasium Abitur macht, andererseits aber durch die Gespräche mit seinem Vater einen engen Bezug zur islamischen Kultur bewahrt. So kommt es dazu, dass der angehende Lyriker 47 | Şenocak, Zafer: Das Geheimnis der Nachmittage, in: Ders.: Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch, München 2006, S. 21-25, hier S. 22f. 48 | Ebd., S. 25.

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sehr früh Texte des in türkischer Sprache wirkenden Mystikers Yunus Emre49 ins Deutsche überträgt. Dabei ist von großer Bedeutung, dass Emre ein einfacher Wanderderwisch war, der zwar wohl eine gewisse Bildung hatte, der aber in einfachen, volkstümlichen Versen die Weisheit des Sufismus verbreitete. Dabei hebt Şenocak die existentiellen Reflexionen Emres ebenso hervor wie die religiöse Toleranz, die sich aus seinen Texten ergibt: Vor zwanzig Jahren saß ich an der Übersetzung des lyrischen Werks von Yunus Emre, einem anatolischen Mystiker aus dem 13. Jahrhundert. Was brachte mich, einen in der Türkei geborenen, in Deutschland aufgewachsenen, auf deutsch schreibenden angehenden Lyriker dazu, die Gedichte eines islamischen Mystikers aus dem Mittelalter zu übersetzen? Zugegeben, es waren ästhetisch reizvolle Texte, mit denen ich es da zu tun hatte. Sie entfalteten nicht nur poetische Kraft, sondern legten auch Zeugnis davon ab, dass es in der muslimischen Literatur individuelle Stimmen gegeben hatte, die jenseits von dogmatischen Überzeugungen und Gruppenmechanik die Einsamkeit und Verzweiflung eines Einzelgängers beschrieben. Der Blick auf die Anderen in Yunus Emres Werk war ein ganz anderer als der Blick in religiös motivierten Texten muslimischer Gelehrter. Die Grenzen zwischen Glaube und Unglaube und zwischen den Religionen waren durchlässig, der Blick auf den Anderen war nicht durch die Rhetorik des Eigenen getrübt, vielmehr ein befremdeter Blick auf das Eigene. 50

In dieser speziellen Form der Sozialisation lag nach der Einschätzung des autobiografischen Rückblicks eine Bereicherung, aber es entstand auch eine gewisse Distanz zu den Interessen und Obsessionen der gleichaltrigen ›nur‹ Deutschen. Es entwickelt sich die Basis der postkolonialen Weltliteratur in der bayrischen Metropole München, die in dieser Perspektive kaum eigene Anregungen zu bieten hatte, sodass diese aus dem familiären Umfeld heraus entwickelt werden mussten: Die Übersetzung dieser Gedichte war eine sprachliche Herausforderung, literarisch überaus reizvoll. Doch mit der deutschen Lebens- und Denkwirklichkeit hatten diese Gedichte fast nichts zu tun. Oder doch? Um mich herum tobte sich gerade die No-Future Generation aus. Wer noch einen Sinn im politischen Engagement sah, fand sich in den Armen etablierungshungriger Achtundsechziger wieder. Yunus Emre aber war mein Anker in eine andere Zeit und Welt. Es war so, als führte mir bei der Übersetzung jemand aus meiner Kindheit die Hand, einer Kindheit, in der die islamische Kultur in ihrer gelebten und gedachten Form eine große Rolle gespielt hatte. 51 49 | Vgl. Schimmel, Annemarie: Wanderungen mit Yunus Emre, Köln 1989. 50 | Şenocak, Zafer: Zwischen Koran und Sex Pistols, in: Ders.: Das Land hinter den Buchstaben, S. 29-33, hier S. 30. 51 | Ebd., S. 31.

»Neue Deutsche« mit Islam-Bezug: Navid Kermani und Zafer Şenocak

Weit entfernt vom Klischee einer ›Gastarbeiter-Jugend‹ wurde Şenocak so zu einem jungen Intellektuellen, dem es selbstverständlich war, neben Goethe, Schiller und Kafka auch Emre und Ibn Arabi oder Mevlana Rumi zu lesen und dem der Koran als kulturelles Dokument sehr vertraut war. So konnte der Autor auch zu einem Mittler werden, der in glänzenden essayistischen Texten einem heterogenen Lesepublikum wichtige Aspekte einer schwierigen Konstellation zu veranschaulichen suchte.

IV. Zafer Şenocak widmet sich dem Thema ›Islam‹ nicht nur literarisch, sondern auch in essayistischen Texten. Er kann als die intellektuelle Stimme der deutsch-türkischen Literatur gelten. Dabei ist einerseits zu betonen, dass er keine repräsentative Funktion ausübt und nur für sich selber spricht. Andererseits ist deutlich, dass er etwa durchaus im Sinne von Emine Sevgi Özdamar kritische Positionen sowohl gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft als auch gegenüber den religiösen und kulturellen Positionen der Muslime vertritt. Şenocak hat im Jahre 2006 eine Essay-Sammlung mit dem Titel Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch herausgebracht, in der er seine Haltung in scharfsinnigen Texten vertreten hat. Gegenstand seiner Kritik ist zunächst der deutsche und europäische Rechtspopulismus, der seiner Meinung nach mit klischeehaften Bildern des Islam operiert und eine Atmosphäre des Misstrauens und der Feindseligkeit erzeugt. Şenocak weist aber auch darauf hin, dass es eine geheime Komplizenschaft zwischen dem Rechtspopulismus und dem islamischen Konservativismus gibt. Indem dieser auf Provokationen reflexhaft reagiert, sind die Feindbilder stabilisiert und differenzierte Einsichten über den Islam und die Wandlungen des Islam in Deutschland und Europa haben kaum noch eine Chance: Die neue Rechte in Europa bedient sich statt des unbequem gewordenen Antisemitismus der Islamophobie. Die verzerrten, schablonenhaften Bilder des Fremden funktionieren hüben wie drüben. Auf der einen Seite ist eine gekränkte islamische Psyche entstanden, die auf jede Provokation wie ein Pawlow’scher Hund reagiert. Die islamische Welt bedient die Bilder, die von ihr kursieren, eifrig selbst. Brennende Fahnen, im Sturm eingenommene Botschaftsgebäude, Morddrohungen, all das kommt im Westen nur als Bestätigung eines gewaltbereiten, unzivilisierten, dialogunfähigen Typus von Muslim an. 52

52 | Şenocak, Zafer: Karikaturen des Glaubens, in: Ders.: Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch, München 2006, S. 41-44, hier S. 43.

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Dabei weist Şenocak auch den eigentlich gut gemeinten Rat vieler ›aufgeschlossener‹ europäischer Intellektueller zurück, die meinen, der Islam benötige nach europäischem Vorbild eine Reformation und eine Aufklärung. Diese gönnerhafte Haltung ist nach Şenocaks Auffassung nicht frei von eurozentrischen Überlegenheitsgefühlen gegenüber dem Islam. Außerdem wäre es schwer zu vermitteln, dass die islamische Religion den Prozess imitieren sollte, der in Europa einerseits zweifelsfrei tiefgreifende Verbesserungen des gesellschaftlichen Lebens mit sich gebracht hat, andererseits aber auch in eine ›Dialektik der Aufklärung‹ geführt hat, die etwa von Max Horkheimer und Adorno als Teil einer Unheilsgeschichte angesehen wurde. Der von vielen ersehnte ›europäische Islam‹ braucht aber eigentlich keine Anleihen bei Gotthold Ephraim Lessing oder gar Voltaire zu nehmen, er kann vielmehr – und das ist Şenocaks zentrales Argument – auf verdrängte Strömungen und Impulse der islamischen Überlieferung zurückgreifen: Den Islam gibt es seit vierzehn Jahrhunderten. In den ersten zehn Jahrhunderten dieser Zeitspanne waren Staaten und Kulturen der islamischen Welt dominant. Auf allen Gebieten des menschlichen Daseins, in der Kultur, in den Wissenschaften, des Militärund Staatsapparats war die islamische Welt dem christlichen Europa überlegen. Die Muslime kamen mit dem Schwert, aber sie legten kein Feuer in den eroberten Gebieten. Vielmehr errichteten sie Gemeinwesen, die für die damalige Zeit lebenswerter, freier und gerechter waren als vergleichbare Strukturen in der übrigen Welt. Das war das Geheimnis ihres Erfolgs über Jahrhunderte. Die muslimische Philosophie inspirierte die Renaissance in Europa. 53

Die Muslime müssten, so Şenocak, die muslimische Philosophie des Mittelalters mit Ibn Ruschd und Ibn Arabi und auch die Strömungen des Sufismus in ihr kulturelles Gedächtnis aufnehmen. Die islamische Überlieferung ist reich an divergierenden Positionen und an Offenheit gegenüber Andersdenkenden und diese Traditionen müssten in einem gewissen Sinne strategisch aufgewertet werden. Dann würden die Debatten um den Islam nicht mehr durch äußerliche Fragen wie Kleidervorschriften und rituelle Praktiken bestimmt. Und auch die Rolle der Frau würde nicht mehr in einer so problematischen Weise von Freundinnen und Freunden, Anhängerinnen und Anhängern und Gegnerinnen und Gegnern des Islam in den Mittelpunkt gestellt. Eine Öffnung und Modernisierung des Islam könne sich auf dessen eigene Wurzeln beziehen; sie müsse aber auch mit obsoleten religiösen Vorstellungen brechen: Wenn Muslime in Deutschland behaupten, dass sie loyal zur Verfassung dieses Landes stehen, heißt das auch, dass sie sich misstrauischen Fragen stellen müssen. Denn es 53 | Ebd., S. 50.

»Neue Deutsche« mit Islam-Bezug: Navid Kermani und Zafer Şenocak gibt im Koran Verse, die eindeutig nicht verfassungskonform sind. Ohne eine grundlegende Reform des islamischen Glaubenssystems können weder die Gleichberechtigung der Frau noch die Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft legitimiert werden. Der mit Gewalt verknüpfte Kampfauftrag gegen Ungläubige und der Überlegenheitsanspruch gegenüber anderen Religionen und Kulturen müssen kritisch hinterfragt werden. Andernfalls bleibt das Bekenntnis zum Grundgesetz und zur offenen pluralistischen Gesellschaft lediglich ein Lippenbekenntnis. 54

Hier seien also Aspekte zu erkennen, bei denen eine Modernisierung des Islams auch europäischen Vorstellungen entgegenkommen könnte und müsste. Wer sich allerdings gegen eine Diskriminierung des Islam durch die Mehrheitsgesellschaft ausspreche, müsse auch für eine Erneuerung des Islam aus der Fülle seiner Tradition heraus eintreten.

V. Şenocak versucht in seinem Buch Deutschsein. Eine Auf klärungsschrift (2011) systematische Reflexionen über Konstruktionen deutscher Identität und deutschen kollektiven Gedächtnisses anzustellen. Er verbindet in der Tradition der Essays bei Michel de Montaigne diese allgemeinen Reflexionen mit autobiografischen Perspektiven. Dabei kommt dem individuellen Erlebnis eine hohe Evidenz und eine gewisse Exemplarität zu, weil Şenocak seine eigene Enkulturation beschreibt, die vom deutschen Bildungssystem bestimmt, aber auch von einem islamisch orientierten Vater und einer kemalistisch eingestellten Mutter erheblich mitbestimmt war. Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft, so die implizite Strategie des Autors, können seinen besonderen deutschen Lebensweg, der in spezifischem Sinne deutsch-türkisch ist, aufnehmen und das Deutsch-Türkische als Herausforderung ihrer eigenen Identitätskonstruktion begreifen. Was dabei zunächst abstrakt klingt, wird in einer dynamischen Argumentation, die sich – wie dargelegt – zwischen allgemeinen kulturgeschichtlichen Reflexionen und persönlichen Erfahrungen bewegt, in einer plausiblen und anregenden Weise konkretisiert.55 In der Tradition der Diskussionen um die Haltung Thomas Manns im Ersten Weltkrieg und im Exil thematisiert Şenocak zunächst die Idee einer spe54 | Ebd., S. 51. 55 | Die folgenden Ausführungen folgen Şenocak, Zafer: Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift, Hamburg 2011, S. 23-85. Vgl. auch Hofmann, Michael: Über das Türkische als Perspektive des Deutschen oder »Deutschsein« in der Einwanderungsgesellschaft – mit Bezug auf Zafer Şenocak, in: Ders.: Deutsch-türkische Literaturwissenschaft, Würzburg 2012, S. 15-26, vor allem S. 20-25.

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ziellen deutschen Entwicklung, die Aufklärung und Demokratie eher fremd gegenüberstand: Es gab ein deutsches Unbehagen an der Moderne. Der deutsche Sonderweg, der aus dieser negativen Grundhaltung zum westlichen Zivilisationsmodell, aus der Ablehnung einer individualistisch und zivilgesellschaftlich organisierten, demokratischen Bürgergesellschaft geboren wurde, ist oft beschrieben worden. Aber seine psychologischen Folgen sind bis heute nicht aufgearbeitet. Denn dieser Sonderweg führte auch das deutsche Nationalempfinden in eine Sackgasse. 56

Und zwar verband sich nach Şenocaks Meinung die auch nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch latent vorhandene Skepsis gegenüber dem westlichen Zivilisationsmodell auf unklare Weise mit der Anbindung an den Westen durch die Besatzungsmächte. Dabei verwandelte sich die Verletzlichkeit der eigenen nationalen Identität in eine Abwehrhaltung gegenüber den Fremden. Die deutsche nationale Identität erscheint angesichts der historischen Erfahrungen als problematisch und imaginierte sich gegenüber den neu auftauchenden Fremden, den ›Gastarbeitern‹, und erst recht nach der ›Wiedervereinigung‹ als einheitlich und stark; aber diese Stärke ist vorgetäuscht und verletzlich: Das Deutsche, das sich heute und hier dem Fremden entgegenstellt, fantasiert sich wieder stärker als eine homogene, unverletzte Einheit. Sie, die Einheit, aber ist lediglich ein Gefühl, eine fragmentierte Erinnerung an Traditionen und Geschmack des Zusammenhalts, der lange Zeit gar nicht wahrgenommen wurde. Ein wieder auf den Geschmack gekommenes deutsches Nationalgefühl sucht eine Sprache, um sich mitzuteilen. Doch bislang eher vergeblich. Die Deutschen sprechen ein »gebrochenes Deutsch«, wenn sie über ihre Identität, über ihr Deutschsein sprechen. 57

Dieses ›gebrochene Deutsch‹ kann sich in äußerst konträren Formen artikulieren: so in dem vergeblichen Versuch der Widergewinnung eines ungebrochenen Nationalgefühls, wie es etwa bei Martin Walser diagnostiziert werden kann, oder in einer Weigerung, als deutscher Staat Verantwortung für bedrohte Völker in der Welt zu übernehmen, wie in den Debatten um Friedensmissionen der Bundeswehr. Şenocaks Forderung geht dahin, dass die Deutschen zwischen Allmachtsphantasien und einer Verleugnung des deutschen kulturellen Gedächtnisses die deutsche nationale Identität in ihren Brüchen und Widersprüchen offener thematisieren und annehmen. Ein kurzer Blick auf die deutsche Tradition der Aufklärungs- und Modernisierungskritik zeigt, dass Thomas Mann und vor allem Horkheimer und 56 | Şenocak, Z.: Deutschsein, S. 25. 57 | Ebd., S. 28.

»Neue Deutsche« mit Islam-Bezug: Navid Kermani und Zafer Şenocak

Adorno auch berechtigte Kritik am Prozess der Aufklärung geübt haben, dass aber die Position des späten Mann und die der Frankfurter Schule, denen es um eine Selbstkritik der Aufklärung und um eine Verbindung von philosophischer Tradition und Engagement für die Demokratie ging, nur sehr einseitig und verkürzt aufgenommen wurden. Der Weg in die Moderne habe Deutschland, so Şenocak, tief gespalten; es sei seit den Gründerjahren des 19. Jahrhunderts das Land der Romantik und das Land der Maschinen gewesen, ohne dass die widerstrebenden Impulse miteinander verbunden worden wären. Und im Zuge der Debatten um ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹ sei keine Perspektive auf einen wirklichen Umsturz der Herrschaftsverhältnisse entwickelt worden. In diesen Kontext stellt Şenocak nun die epochale Bemühung der deutschen Gesellschaft nach 1945 um die ›Aufarbeitung der Vergangenheit‹. Dabei stellt er fest, dass die deutschen kulturellen und literarischen Eliten im Bemühen um eine Zurückdrängung der antidemokratischen und irrationalen Potentiale der deutschen Kultur wichtige Momente derselben unterdrückt haben. So konstatiert er eine Zurückdrängung des deutschen romantischen Erbes durch die Gruppe 47. Deren sachliche, an amerikanischen Vorbildern orientierte literarische Sprache sei das Zeugnis einer »Täterkultur, die das emotionale Potenzial der Sprache so weit wie möglich ausklammert und auf diese Weise eine Art Katharsis anstrebt«58. In der Auseinandersetzung mit der Lyrik und der Person Celans haben sich nach Şenocak die Grenzen dieser Haltung deutlich gezeigt: Es fehlte jedes Verständnis für »eine der tiefstmöglichen Verwundung abgerungene Sprache. Die bilderreiche, in jeder Hinsicht der Kahlschlagliteratur der unmittelbaren Nachkriegsliteratur widersprechende Ausdrucksweise Celans war eine Provokation. Celan wurde zum zweiten Mal zum Opfer, zum Opfer des Schweigens der Gefühle.«59 So habe sich der Antifaschismus als restringierter Realismus gezeigt und eine Zurückweisung Celans in Kauf genommen. Damit habe aber die Gruppe 47 als repräsentative Institution der Nachkriegskultur das deutsch-jüdische Erbe letztlich ausgeschlagen, das sich auch auf die jüdische Mystik bezogen habe (in der Tradition Scholems, Benjamins, Kafkas und Celans). Damit wurde aber übersehen, dass in der Beziehung zwischen der deutschen Kultur und ihrem deutsch-jüdischen Anteil gerade die Romantik eine wichtige Rolle spielte. So hat der Düsseldorfer Jude Heine die Romantik zwar kritisiert, gleichzeitig aber wesentliche Momente ihrer Tradition weitergeführt. Die Gruppe 47 hat dieses Erbe nach Şenocaks Meinung ausgeschlagen und Ingeborg Bachmann, die vor allem in ihrer Lyrik in reflektierter Form das Erbe der Romantik aufgenommen habe, sei von der Gruppe 47 nur als Außenseiterin aufgenommen worden.

58 | Ebd., S. 82f. 59 | Ebd., S. 83.

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Hier wechselt Şenocak jetzt die Perspektive von der kulturgeschichtlichen Betrachtung zur autobiografischen. Er erinnert daran, dass er in den 1970er und 1980er Jahren als Sohn türkischer Eltern in München aufgewachsen ist und er beschreibt seine literarische Sozialisation, bei der er sich gerade nicht von den »Dichtern ohne Lieder«60 in der Tradition der Gruppe 47 angesprochen fühlte. Vielmehr habe er sich einerseits auf die Tradition der Romantik, aber auch der expressionistischen Moderne und der deutsch-jüdischen Tradition und besonders auf Celan und Bachmann bezogen: Ich fand vor allem durch die Gedichte von Paul Celan und Ingeborg Bachmann wieder Anschluss an die Sprache der deutschen Dichtung der Nachkriegszeit. Sie hatte jetzt Platz auf meiner Weltkarte der Poesie. So konnte ich wieder zu Georg Trakl und Rainer Maria Rilke zurückblättern, ohne das Gefühl zu haben, in einen anderen Sprachraum zu wandern.61

Dabei stellt sich heraus, dass die für Şenocak prägenden Lyrikerinnen und Lyriker der deutschen Sprache nicht einfach nur eine ›romantische‹ Tradition verkörpern, dass ihr Schaffen vielmehr durch Kontakt zu anderen Kulturen und damit durch Hybridität geprägt erscheint: Diese Dichter kommunizierten über Ländergrenzen hinweg. War es ein Zufall, dass sie ihre Dichtung an der Sprachgrenze des Deutschen formulierten? Bachmann hatte das Slowenische als Gegenüber, Rilke wurde in Prag geboren, Celan stammte aus Czernowitz, einem Schnittpunkt von West und Ost, rumänisch, russisch, deutsch, jüdisch. Im Fall von Celan berührten sich das Ostjüdische mit seinen hebräischen Wurzeln und die europäische Moderne.62

Vergleicht man nun Şenocak selbst (was er nicht tut) mit diesen Autorinnen und Autoren, so stellt man fest, dass bei ihm nicht nur der Bezug zu den durch Hybridität gekennzeichneten Dichterinnen und Dichtern einer unter anderem auch romantisch und mystisch inspirierten Moderne festzustellen ist, sondern dass er selber eine spezifische Hybridität in die deutsche Literatur einbringt. Denn er hat eine enge Verbindung mit der türkischen Tradition aufrechterhalten. Dabei ist bedeutsam, dass die für Şenocak wichtige Tradition der türkischen Lyrik sich einerseits auf den sufistischen Poeten Emre bezieht, von dem Şenocak Gedichte ins Deutsche übersetzt hat.63 Und weiterhin verbindet sich 60 | Ebd., S. 75. 61 | Ebd., S. 83f. 62 | Ebd., S. 84. 63 | Vgl. Emre, Yunus: Das Kummerrad/Dertli Dolap. Übersetzt von Zafer Şenocak, Köln 1992.

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für ihn in der Rezeption des bedeutenden kommunistischen türkischen Lyrikers Nâzım Hikmet die Tradition des politischen Engagements mit einem Bezug zu Surrealismus und Romantik: Meine türkischen Wurzeln mit ihrem hybriden Charakter passten gut dazu. Meine Lyrik entstand im Umfeld einer Übersetzungskultur. Ich schrieb Ghasele auf Deutsch. Ich übersetzte Lyrik aus dem Diwan Yunus Emres ins Deutsche. In den futuristisch aufgedrehten Versen Nâzım Hikmets entdeckte ich die Formenstrenge der Diwan-Dichter. […] das Osmanische Reich war in kreativem Sinne unrein. Dichter, die mich begeisterten, haben versucht, in ihren Werken von dieser Unreinheit so viel wie möglich zu bewahren gegenüber der puristischen Ideologie der Republik.64

Şenocaks Argumentation verläuft hier in zwei Richtungen: Zum einen wendet er sich mit der türkischen Gegenwartsliteratur gegen eine Verdrängung des osmanischen Erbes und gegen eine Verleugnung der ethnischen, religiösen und kulturellen Vielfalt der anatolischen Tradition; zum anderen bringt er in die deutsche Literatur und Kultur eine Haltung mit, bei der sich Modernität und Offenheit für Tradition und für den Ausdruck emotionaler Anliegen in keiner Weise ausschließen. Der deutsch-türkische Lyriker Şenocak sieht sich also in der Funktion, an verschüttete deutsche Traditionen anzuschließen, die aus seiner Sicht übertriebene Sachlichkeit einer vermeintlich anti-irrationalen Haltung zu überwinden und türkische Traditionen in die deutsche Literatur einzubringen, die ihrerseits mit Mystik, Klassizismus, aber auch mit Expressionismus und Moderne in Beziehung stehen: Die intensive Beschäftigung mit diesen Vorgängern und meine Sehnsucht nach einer die Sinne anfachenden Lyrik, die ungehemmt mit den Gefühlen kommuniziert, verhinderten in meinem Fall, die Dichtung als Spielwiese sprachlicher Experimente oder als begriffsgesteuerte Entsorgungsanstalt des Zivilisationsmülls anzusehen. Vielmehr sah ich in der poetischen Ausdrucksweise eine Möglichkeit, das verstopfte Herz zu öffnen, wie mit einem Katheter, um die Ablagerungen in den Adern der Sprache zu entfernen.65

Es ist von grundlegender Bedeutung, den Zusammenhang zwischen Şenocaks kulturgeschichtlichen Reflexionen und den autobiografischen Betrachtungen deutlich zu erkennen. Was hat also ›Deutschsein‹ mit der literarischen Sozialisation eines aus der Türkei stammenden Münchener Gymnasiasten zu tun? Nun, Şenocak ist davon überzeugt, dass die Verdrängungen und Verwerfungen der deutschen Identitätskonstruktionen, die wesentliche Momente des deutschen kulturellen Gedächtnisses ausblenden, durch die Begegnung mit 64 | Şenocak, Z.: Deutschsein, S. 84f. 65 | Ebd., S. 85.

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der türkischen Kultur, die eine wesentliche Perspektive der Deutschen geworden ist, überwunden werden können. Wenn man für einen Moment hypothetisch und provisorisch Şenocaks Erzählung als exemplarisch und repräsentativ ansieht, dann macht die türkische Kultur der deutschen ein großherziges Angebot: Denn sie bringt Momente des kulturellen Gedächtnisses der Türkei (sufistische Mystik, Diwan-Poesie, futuristischer Aktivismus Hikmets usw.) in die deutsche Kultur ein und eröffnet dieser nicht nur neue Möglichkeiten, sondern auch einen neuen Blick auf die eigene Tradition. So kann das ›verstopfte Herz‹ geöffnet werden und im Kontakt mit der türkischen Lyrik für den Wärmestrom der deutschen romantischen und deutsch-jüdischen Überlieferung wieder geöffnet werden. Auf das Kollektive bezogen heißt dies: Gelingende ›Integration‹ nach beiden Seiten der deutschen Gesellschaft bestünde darin, dass die Deutschen mit den ›Fremden‹ ihre eigene Geschichte neu entdecken und aufarbeiten. Dabei sollten sie eine Selbstdeutung der deutschen Kultur als einer hybriden Kultur vornehmen, die sich vornehmlich im Austausch mit Jüdinnen und Juden und Französinnen und Franzosen entwickelt hat. Und die deutsch-türkische Literatur und Kultur könnte im funktionalen Sinne den Platz einnehmen, den insbesondere die deutsch-jüdische hatte (und auch zu einem wesentlichen Teil wieder hat): nämlich die sterile Orientierung an einem homogenen und monokulturellen Selbstbild zu verhindern und die Fülle und Weite der Kultur zu entwickeln, die auch in der Orientierung an ökonomischen Erfolgen häufig verloren geht. In dieser Perspektive ist die deutschtürkische Literatur und Kultur in einem sehr präzisen und starken Sinne eine Herausforderung für die deutsche Kultur. Denn es geht nicht darum, dass die deutsche Kultur ein paar exotische Einsprengsel bekommt; es geht vielmehr darum, dass sie sich fundamental verändert und erweitert, dass sie ein neues Verhältnis zu ihrer eigenen Tradition entwickelt und dass sie aus der türkischen Überlieferung neue Impulse aufnimmt.

Türkei und zurück Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit in Emine Sevgi Özdamars Die Brücke vom goldenen Horn und Orhan Pamuks Schnee Sabine Kyora

Trans- und Interkulturalität als Teil literarischer Phänomene ist in den letzten Jahren in der Germanistik, auch im Zuge der Übernahme von postkolonialen Perspektiven, diskutiert worden.1 Der folgende Beitrag wird den Schwerpunkt nicht auf die Diskussion dieser Begriffe legen, sondern versuchen, einen Weg der Anwendung zu finden. Dabei wird Transkulturalität verstanden als gekennzeichnet durch Prozesse und Praktiken, die sich sowohl zwischen Kulturen, quer durch unterschiedliche Kulturen, aber auch innerhalb kultureller Zusammenhänge entfalten. Ein solches Verständnis unterscheidet sich damit kritisch von einem holistischen Kulturverständnis, in dem Kultur als ein homogener Raum erscheint, der durch eindeutig gezogene Grenzen und Abgrenzungen von anderen Kulturen geschieden ist. 2

Die »analytische Kategorie«3 der Mehrfachzugehörigkeit bildet dabei die Seite des Subjekts ab, das im Kreuzungspunkt unterschiedlicher Kulturen steht 1 | Vgl. Hofmann, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn 2006; vgl. Heimböckel, Dieter/Weinberg, Manfred: Interkulturalität als Projekt, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5 (2014), H. 2, S. 119-144; vgl. Dunker, Axel/Dürbeck, Gabriele (Hg.): Postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren, Bielefeld 2014. 2 | Ulbrich, Claudia/Medick, Hans/Schaser, Angelika: Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, in: Dies. (Hg.): Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven. Köln/Weimar/Wien 2014, S. 1-19, hier S. 14f. 3 | Ebd., S. 17.

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und sich in seinen Praktiken mit ihnen auseinandersetzt. Dieses »prägende Moment personaler Identität« zeigt sich an den »konkreten Praktiken der Verortung«,4 die Subjekte sich aneignen, mit denen sie aber auch verortet werden. Was könnten also Möglichkeiten von Mehrfachzugehörigkeit sein? Einige Beiträge in diesem Band betrachten unterschiedliche Zugehörigkeiten, die einander zeitlich ablösen, z.B. bei einer religiösen Konversion oder beim Erlernen einer zweiten Sprache. Andererseits können Zugehörigkeiten auch, zeitlich gleichzeitig, nebeneinander bestehen z.B., wenn man mehrere Sprachen spricht oder zwei Pässe besitzt. Das Subjekt kann also durch diese Mehrzugehörigkeit bestimmt gelesen werden, bestimmt sich aber auch selbst durch sie, und zwar in seinen und durch seine Praktiken. Durch die theoretische Ausrichtung des Oldenburger Graduiertenkollegs Selbst-Bildungen inspiriert, möchte ich im Folgenden die Praktiken der transkulturellen Mehrfachzugehörigkeit genauer beschreiben. Praktik meint dabei einen Zusammenhang von Handlungen und Sprechakten5 als sozial geregelte, typisierte, routinisierte Form körperlichen Verhaltens (einschließlich des zeichenverwendenden Verhaltens).6 Transkulturell können Praktiken sein, die sowohl zwischen den Kulturen (z.B. Praktiken des Reisens), quer durch unterschiedliche Kulturen (z.B. Praktiken des ›Links-Seins‹), aber auch innerhalb eines kulturellen Zusammenhangs (z.B. Praktiken der religiösen Konversion) situiert sind. Eine Praktik kann also transkulturell sein und dadurch das Subjekt ›infizieren‹, es ist aber auch möglich, dass als kulturell unterschiedlich definierte Praktiken (z.B. westeuropäische Säkularisiertheit der Hauptfigur und ihre Verehrung für einen religiösen Führer in Schnee) in einer subjektiven Praxis aufeinanderstoßen, die dann als transkulturelle, die Mehrfachzugehörigkeit anzeigt, zu verstehen wäre. Dabei konstruieren literarische Texte sowohl kulturelle Grenzen wie transkulturelle Überschreitungen. Diese Konstruktionen können zudem auf ganz unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sein: Sie können durch die Praktiken, also die routinisierten Handlungen und Sprechakte der Figuren, zum Ausdruck kommen, sie können auf der Ebene des Erzählers angesiedelt sein oder auf der Ebene von Textverfahren etwa der Metaphorik. Im Mittelpunkt meines Beitrags werden zwei Romane stehen, die beide Hauptfiguren zeigen, die sich von der Türkei nach Deutschland und wieder zurück bewegen: Orhan Pamuks Roman Schnee von 2002 und Emine Sevgi Özdamars Text Die Brücke vom goldenen Horn von 1998. Die dort geschilderten Reisen und Aufenthalte haben sehr unterschiedlichen Charakter: Sie be4 | Ebd., S. 18. 5 | Vgl. Schatzki, Theodore R.: Social Practices: A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge/New York/Melbourne 1996, S. 89. 6 | Vgl. Reckwitz, Andreas: Subjekt, Bielefeld 2008, S. 135.

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deuten Flucht und Exil, Befreiung und Erwachsenwerden, Arbeiterin sein und Künstlerin, die Liebe suchen und den ›Diamanten‹ verlieren. Das Phänomen der Mehrfachzugehörigkeit scheint mir das entscheidende Problem der Texte und ihrer Figuren zu sein. Dabei muss die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kulturen nicht unbedingt durch den Wechsel des Landes verursacht sein, vielmehr zeigt Pamuks Roman sehr deutlich das Mehrkulturenland Türkei.

I. O rhan Pamuk , S chnee (2002) Der Schnee ist in Pamuks Roman das alles durchdringende Phänomen, er führt dazu, dass der Dichter Ka in einer ostanatolischen Stadt eingeschlossen wird und er wie alle anderen Bewohner dem Putsch einer kleinen Gruppe von Kemalisten ausgeliefert ist. Er ist aber auch als Schneekristall Kas Bild für seine Subjektivität und den entstehenden Gedichtband. Ka kommt aus dem westeuropäisch orientierten Istanbuler Bürgertum und ist nach Frankfurt a.M. emigriert, weil er wegen eines politischen Artikels verurteilt wurde und Gefahr lief, inhaftiert zu werden. Zum Begräbnis seiner Mutter kehrt er nach Istanbul zurück und reist danach, beauftragt von einer Istanbuler Zeitschrift, nach Kars, um von dort über die Selbstmordserie von jungen Mädchen zu berichten, darunter auch sogenannte Kopftuchmädchen, d.h. junge Frauen, die sich scheinbar wegen des Verbots in der Universität Kopftuch zu tragen, umgebracht haben. Dabei trifft er seine Studienfreundin Ipek wieder und verliebt sich in sie, mit ihr will er, wenn die Wege wieder frei sind, nach Frankfurt zurückkehren. Durch die Recherche für die Zeitung lernt Ka die unterschiedlichen Gruppen in der Stadt kennen, von dem ehemals kommunistischen, nicht religiösen Vater von Ipek über die gemäßigten Islamisten bis zum islamistischen Terroristen Lapislazuli. Geschildert werden Kas Erfahrungen durch einen Erzähler, der nach Kas Tod – er wird vier Jahre nach seinem Besuch in Kars in Frankfurt erschossen – seine Geschichte rekonstruiert und versucht, die in Kars entstandenen und dann verschwundenen Gedichte zu finden. Auffällig ist bei der Darstellung von Kars die ethnische, religiöse und politische Pluralität, die trotz der deutlichen Gegenüberstellung von Metropole und Westeuropa auf der einen Seite und Provinz und Anatolien auf der anderen erkennbar ist. Auch transnationale Elemente sind in Kar erkennbar: Russische Bauten finden sich in der Stadt, Armenier sind ebenso Einwohner wie Kurden, Aserbaidschaner oder Turkmenen.7 Auf der Ebene der Intertextualität wird diese transnationale Komponente durch die Motti aus drei unterschiedlich sprachigen Literaturen deutlich. Darüberhinaus wird mit der Figur Hans 7 | Vgl. Pamuk, Orhan: Schnee. Aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann, Frankfurt a.M. 2009, S. 55.

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Hansen auch aus der deutschen Literatur zitiert – aus Thomas Manns Tonio Kröger – ; ›Ka‹, der Name von Pamuks Hauptfigur, lässt sich wiederum auf Kafkas Protagonisten ›K.‹8 beziehen. Der Bereich der religiösen Pluralität ist allerdings auf Formen des Islams und der Säkularisierung begrenzt, trotzdem zeigen sich innerhalb dieser Grenzen ganz unterschiedliche Positionierungen. Um Praktiken der transkulturellen Mehrfachzugehörigkeit genauer in den Blick zu nehmen, werde ich in Schnee also sozial geregelte, typisierte, routinisierte Formen körperlichen Verhaltens9 betrachten. Diese Praktiken können transkulturell sein, aber auch innerhalb eines kulturellen Zusammenhangs situiert sein, diesen jedoch aus der Perspektive des Subjekts auf brechen und zum Wechsel von einer in eine andere Zugehörigkeit führen. Zwei Praktiken will ich herausgreifen: die Praktik des sich Kleidens (am auffälligsten sind hier die Bedeutung von Kas Mantel und die Debatte um das Kopftuch der Studentinnen) sowie Praktiken des Mediengebrauchs, vor allem bezogen auf die unterschiedlichen Zeitungen und auf das Fernsehen. Beide Praktiken werden im Roman als kulturell markiert dargestellt. Die Frage ist dabei, wie in einzelnen Szenen kulturelle Grenzen konstruiert werden und welche Verfahren Transkulturalität und Mehrfachzugehörigkeit von Figuren und Praktiken anzeigen.

1. Sich kleiden Kleidungsstücke und die Praktiken des Sichkleidens spielen im Text eine herausgehobene Rolle: Es geht nicht nur um das Kopftuch, sondern auch um Ipeks Kleider, um die Kostüme auf der Bühne und um die Kleidung der Putschisten. Deswegen soll der Mantel von Ka, seine Verwendung und das Tragen oder Abnehmen des Kopftuchs nun genauer betrachtet werden. Dabei kann der Mantel als transkulturelles Kleidungsstück bzw. Zeichen von transkultureller Mehrfachzugehörigkeit verstanden werden; das Kopftuch erscheint zunächst als Zeichen der kulturellen und religiösen Zugehörigkeit der Frauen. Ka hat einen Mantel, den er in Frankfurt gekauft hat und mit dem er dem türkischen Winter trotzt: »Wir wollen vorausschicken, daß dieser schöne flauschige Mantel in den Tagen, die er in Kars verbringen würde, für ihn eine Quelle von Scham und Unbehagen, aber auch von Sicherheit sein sollte«,10 kommentiert der Erzähler und konstruiert so eine doppelte Bedeutung des Mantels, die zudem direkt mit dem subjektiven Gefühl des Protagonisten verknüpft ist, gleich zu Anfang des Romans. An dem Mantel ist Ka erkennbar 8 | Vgl. dazu Gramling, David J.: Pamuk’s Dis-orient: Reassembling Kafka’s Castle in Snow (2002), in: Transit 3 (1) (2007), S. 1-20. 9 | Vgl. Reckwitz, A.: Subjekt, S. 135. 10 | Pamuk, O.: Schnee, S. 12.

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als Exilant, als europäischer Türke von bürgerlicher Herkunft und als (Groß-) Städter, eine Erkennbarkeit, die in der Umgebung von Kars zu Kas »Scham und Unbehagen« führt, obwohl er sich in seinem Geburtsland bewegt und auch sprachlich kommunizieren kann, während er nach eigener Aussage kein Deutsch gelernt hat. Trotzdem sind sein Leben in Deutschland und seine Rolle als Exilant dort etwas, das Ka Sicherheit gibt, denn in Deutschland wird er nicht verfolgt. Sorgfältig nahm er seinen aschgrauen Mantel vom Haken und verließ das Zimmer. Während er die Treppe hinunterging, roch er einen Moment an dem Mantel, der ihn an Frankfurt erinnerte, und für einen Augenblick vermißte er sein Leben in Deutschland in all seinen Farben.11

Kas Mantel steht also einerseits für sein Leben in Deutschland, andererseits unterstützt er im Kontext von Kars die ihm zugeschriebene Identität: »du bist ein Bourgeois aus Istanbul«.12 sagt Lapislazuli. Der Mantel könnte die kulturelle Mehrfachzugehörigkeit von Ka anzeigen, weil er sowohl räumlich wie sozial unterschiedlich verortet werden kann. Für die Einwohner von Kars macht es dabei wenig Unterschied, ob der Mantel aus Istanbul oder aus Frankfurt kommt – eins ist so fremd wie das andere und beide gelten als »europäisch«. Für Ka ist dagegen Frankfurt das Exil und Istanbul seine Heimat, der Mantel verbindet das eine mit dem anderen. Deutlich wird, wie sehr diese Zuschreibungen vom Standort oder der Perspektive abhängig sind. Für Ka und für den Erzähler zeigt das Tragen des Mantels so etwas wie kulturelle Mehrfachzugehörigkeit, weil über ihn Frankfurt und Istanbul, Heimat und Fremde verbunden werden; für die Einwohner von Kars definiert es Ka als Fremden, sie ziehen eine eindeutige Grenze und sehen Ka als nicht zu ihnen gehörig an. Von den Islamisten wird zudem die Einordnung als Muslim oder Europäer als Gegensatz definiert, so dass eine Mehrfachzugehörigkeit nicht möglich ist. Wenn Ka sagt: »Ich wäre gerne Westler und gleichzeitig, fähig zu glauben«,13 so stiftet er damit einen Zusammenhang, der von den Islamisten als unmöglich angesehen wird.14 Was für ihn ein Wunsch ist, der als Praktik von transkultureller Mehrfachzugehörigkeit verstanden werden könnte, ist aus einer anderen Perspektive die Überschreitung der kulturellen Grenzen.

11 | Ebd., S. 337. 12 | Ebd., S. 145. 13 | Ebd., S. 272. 14 | Vgl. dazu Neumann, Justin: Religious Cosmpolitanism? Orhan Pamuk, the Headscarf Debate, and the Problem with Pluralism, in: Minnesota Review 77 (2011), S. 143161, hier S. 153.

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Auch Kopftuchtragen kann als sozial geregelte, typisierte, routinisierte Form körperlichen Verhaltens angesehen werden. Die sozial geregelte Form zeigt sich daran, dass diese Praktik als etwas Bestimmtes verstanden wird, als Zeichen der Unterordnung unter die religiösen Regeln des Islams zum Beispiel. Als Zeichen für die Schamhaftigkeit der Frau hat sie dabei eine sowohl gegenderte wie religiöse Komponente. Schon Kas Zuweisung dieser Praktik zur sozialen Herkunft zeigt aber die Mehrdeutigkeit und Standortgebundenheit einer Deutung dieses Zeichens: Für ihn bedeutet das Kopftuch, dass die Frau aus der Unterschicht stammt, weil in Istanbul nur die »Frau des Milchmanns«15 Kopftuch trägt. Es zeigt sich also ähnlich wie bei dem Tragen des Mantels auch beim Kopftuchtragen eine Bündelung von Zuschreibungen, die als Zeichen für Mehrfachzugehörigkeiten gelesen werden kann. Ein kulturell eindeutig definiertes Verständnis, allerdings auch die Praktik insgesamt, werden entroutinisiert, indem sie als Protest der Studentinnen gegen den laizistischen Staat gezeigt werden. Zudem ist Kadife, die Schwester Ipeks und Geliebte von Lapislazuli, ein Beispiel dafür, dass die Verknüpfung von weiblicher Tugend und Gehorsamkeit mit dem Tragen des Kopftuchs ebenfalls unterlaufen werden kann. Kadife besteht darauf Kopftuch zu tragen, versteht das aber als einen rebellischen Akt, der gegen den Staat gerichtet ist. Sie hat sich mit den anderen Mädchen, die Kopftuch tragen, solidarisiert und bringt ihnen bei, nicht zu schweigen, sondern »dagegen zu halten«.16 Auch im Umgang der Medien mit den ›Kopftuchmädchen‹ betont sie, dass die Frauen ihre eigene Stimme erheben und nicht die Männer über sie sprechen lassen sollen.17 Man könnte diese Art des Umgangs mit der Praktik des Kopftuchtragens mit Judith Butlers Konzept der Performativität von Genderzuschreibungen18 lesen, nämlich als verschiebende Wiederholung, die aus der routinisierten eine emanzipatorische Praktik macht und sowohl religiöse wie feministische Elemente hat. Ausgehend von der religiösen Kultur hätten wir es dann mit einer transkulturellen Überschreitung zu tun, die Kadife als mehrfach zugehörig erscheinen lässt, weil sie Praktiken des (westlichen) Feminismus mit denen des Islams verbindet.

15 | Pamuk, O.: Schnee, S. 48. 16 | Ebd., S. 218. 17 | Vgl. ebd., S. 448. 18 | Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991.

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2. Medienpraktiken Beauftragt von der Istanbuler Zeitung Cumhuriyet reist Ka nach Kars, Cumhuriyet wird im Text als die »säkularste«19 Zeitung der Türkei bezeichnet. Ka trifft in Kars auf die Vertreter der regionalen Presse, die wegen des frühen Drucks der Zeitung und der Berechenbarkeit der Provinz Ereignisse schildern, die noch gar nicht passiert sind. Der dritte Akteur in diesem Bereich ist die ›europäische Presse‹. Die Istanbuler Presse interessiert sich für die Provinz nur, wenn europäische Medien berichten, behauptet Lapislazuli, so dass politische Ereignisse erst dann in Istanbul ankommen, wenn sie den Umweg über Europa genommen haben. Die Frankfurter Rundschau wird von Ka als Äquivalent zu Cumhuriyet benannt, er erfindet dort einen Journalisten, den er angeblich kennt, mit dem Namen Hans Hansen. Diesem Journalisten soll ein Bericht über den Putsch in Kars übermittelt werden, der »den Sieg der Islamisten in demokratischen Wahlen«20 verhindert hat. Weil diese eindeutige Parteinahme für die Islamisten wiederum gegen den westlichen Pluralismus verstößt,21 müssen noch andere Parteien die Proklamation über den Putsch mitunterschreiben. Die Praktiken der Mediennutzung, die sich hier zeigen, beziehen sich also vor allem auf die Produktion von Nachrichten. Die regionale Presse kann nicht nur deswegen Ereignisse vorwegnehmen, weil diese in der Provinz vorhersehbar sind, sondern auch, weil sie den örtlich Autoritäten folgt und aus deren Vorgaben Nachrichten macht. Dadurch sind diese Nachrichten genauso fiktiv wie Kas angeblicher Bekannter, der deutsche Journalist. Gleichzeitig ist die von Lapislazuli verlangte Praktik, Nachrichten quasi über die Bande zu spielen, ein Element von transkultureller Aktion, weil die Nachricht von Kars über Frankfurt nach Istanbul geschickt wird. Die Frage ist dann, ob diese Nachricht dadurch transkulturell mehrfach zugehörig wäre. Zumindest wird die Nachricht schon bei der Entstehung verändert, weil der westliche Pluralismus sie beeinflusst. Sie wäre also bereits an diesem Punkt transkulturell und sowohl der türkischen Kultur durch die sich äußernden Gruppen wie der westlichen als Ausdruck des Pluralismus zugehörig. Dagegen ist die sich als kulturell homogen verstehende, regionale Nachricht – wenn man vorsichtig werten wollte – orientiert an der jeweiligen herrschenden Autorität und also kein Ausdruck unterschiedlicher Gruppen und Interessen. Anteile von Fiktivität haben die produzierten Nachrichten allerdings beide, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: die regionalen Nachrichten, weil sie Dinge im Voraus als Tatsachen ausgeben, die transkulturellen, weil Ka den Verbreiter der Nachricht, diesen bestimmten Journalisten bei der Frankfurter Rundschau, erfunden hat. 19 | Pamuk, O.: Schnee, S. 109. 20 | Ebd., S. 431. 21 | Vgl. Hofmann, M.: Interkulturelle Literaturwissenschaft, S. 62f.

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Der Fernsehkonsum der Figuren ist dagegen deutlich anders strukturiert. Das Fernsehen läuft nicht nur ständig nebenher, es sehen sich auch alle Soap Operas an. Vor allem Marianna, eine mexikanische Serie, wird gebannt verfolgt. Das regionale Fernsehen dagegen überträgt aus Versehen live den Putsch und wird von den Putschisten in der Folge als Propagandamedium benutzt. Auch hier kann man in der Soap Opera ein Element von Transkulturalität erkennen, das dem eindimensionalen Provinzfernsehen gegenübergestellt wird. Insgesamt wird in Schnee deutlich, dass transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit nur unter Kennzeichnung des Standortes, von dem etwas als transkulturell angesehen wird, beschrieben werden kann. Darüber hinaus lässt sich im Bereich der Mediennutzung und Nachrichtenproduktion eine Nähe von transkultureller Mehrfachzugehörigkeit und Fiktivität erkennen. Möglicherweise ist dieser Zusammenhang verbunden mit den intertextuellen, transkulturellen Referenzen (Th. Mann, Kafka, Browning, Dostojewski u.a.) als Präferenz für die literarisch inszenierte, transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit lesbar: Anders als der Protagonist kann der Erzähler sich als transkulturell verstehen, ohne dass er zumindest im Rahmen des Romans soziale Konsequenzen fürchten muss. Andererseits könnte man den skizzierten Zusammenhang – pessimistischer oder als Satire – auch als Hinweis auf den nur fiktiven Status von Transkulturalität lesen: Nur ein ausgedachter Journalist ist der Adressat einer Proklamation gegen einen Theaterputsch.

II. E mine S e vgi Ö zdamar , D ie B rücke vom goldenen H orn (1998) In Özdamars Roman berichtet eine namenlose Ich-Erzählerin von ihrem Pendeln zwischen der Türkei und Deutschland Ende der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre, dabei steht ihre politische und sexuelle Entwicklung im Mittelpunkt. Wie Ka ist sie durch ihre Herkunft aus dem Istanbuler Bürgertum geprägt. Sie kommt zunächst als Arbeiterin für Telefunken nach Berlin, um sich das Geld für ihre Schauspielausbildung in Istanbul zu verdienen. Nach einem Jahr im ›Frauenwonaym‹ der Fabrik geht sie zurück, um die Türkei bald wieder zu verlassen, weil ihre Familie beschlossen hat, sie sollte wenigstens Deutsch lernen. Sie kommt erneut nach Deutschland und arbeitet nach dem Sprachkurs wieder in Berlin als Dolmetscherin, sie lernt in Paris ihre erste Liebe kennen und wird schließlich von der Familie wieder nach Istanbul zurückgerufen. Dort nimmt sie Schauspielunterricht, engagiert sich in linken Gruppen im Kontext der Studentenrevolten und hat eine längere Beziehung mit Kerim, einem Filmemacher. Am Ende dieser Zeit geht sie wieder nach Berlin, um dort am Theater zu arbeiten. Ihre individuelle Entwicklung ist dabei eingebunden in die politische, die geprägt ist von den Studentenunruhen und Arbeiter-Pro-

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testen in Deutschland, Frankreich und der Türkei. Der Versuch, im Folgenden transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit zu akzentuieren, wird sich vor allem auf Sprachpraktiken, das Rauchen und sexuelle Praktiken beziehen.

1. Sprechen und Rauchen Das Pendeln zwischen Deutschland und der Türkei lässt sich als Zeichen von Transkulturalität lesen, das würde aber bedeuten, dass die Türkei und Deutschland als jeweils differente, in sich geschlossene Kulturen zu sehen wären. Nun wird dieses Konzept auch im Text von einzelnen Figuren durchaus vertreten, interessant ist aber, dass die Ich-Erzählerin diese Position durch verschiedene Praktiken unterläuft. Allein durch die politischen Hintergründe der Zeit lassen sich zwischen der BRD und der Türkei Gemeinsamkeiten finden: Sowohl die gemeinsame Geschichte etwa im ersten Weltkrieg wie Tendenzen der Amerikanisierung, schließlich die Streiks und Unruhen um das Jahr 1968 herum lassen die Darstellung zu einer transnationalen werden.22 Diese Art der Grenzüberschreitung wird in der Forschung auch für die erzählerischen Verfahren, die Mehrsprachigkeit inszenieren, herausgestellt: Vor allem bei der Schilderung des ersten Aufenthalts in Berlin wird der Umgang der türkischen Arbeiterinnen mit deutschen Sprachpartikeln wiedergegeben, der die Herrschaftsverhältnisse in der Fabrik entlarvt. Auch türkische Worte und transkulturelle Elemente tauchen auf, letztere etwa wenn die Dolmetscherin auf der eigentlich englischen Bestätigungsformel »okay« besteht und dieses mit dem türkischen Wort dafür – »tamam«23 – verbunden wird, sich im Wohnheim dann aber »okay« – weder deutsch noch türkisch – durchsetzt. Diese Sprachund Erzählpraktiken ändern sich, nachdem die Ich-Erzählerin Deutsch gelernt hat. Die Beherrschung der zweiten Sprache führt zum Verschwinden der Sprachverknüpfungen, dafür wird über den Zusammenhang von Identität und Sprache im Text reflektiert. Die Eltern der Ich-Erzählerin glauben z.B., dass ein Mensch mit zwei Sprachen auch zwei Persönlichkeiten hat. Ihr Vater meint, sie sei nun eine »türkische Nachtigall« und ein »deutscher Papagei«.24 Damit wäre aber eine Grenze zwischen der Schönheit des Türkischen bzw. der Türkin und dem bloßen Nachplappern des Deutschen gezogen – die allerdings eine eher trotzige Behauptung des Vaters ist, welcher der ihm fremdgewordenen Tochter eine Hierarchie ihrer Identitäten vorgeben will.

22 | Vgl. Schonfield, Ernest: 1968 and transnational history in Emine Sevgi Özdamar’s Die Brücke vom goldenen Horn, in: German Life and Letters 68 (1) (2015), S. 66-87. 23 | Özdamar, Emine Sevgi: Die Brücke vom goldenen Horn, in: Dies.: Sonne auf halbem Weg. Die Berlin-Istanbul-Trilogie, Köln 2006, S. 437-781, S. 448. 24 | Ebd., S. 619.

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Ein drittes Element der Sprachpraktiken sind die literarischen Referenzen, der durchgehend linke, literarische Kanon und der die letzte Istanbuler Phase beherrschende Politjargon. Dabei sind diese sprachlichen Praktiken zumindest auf der Figurenebene eng mit der Praktik des Rauchens verbunden, denn: »Die Zigarette ist das wichtigste Requisit eines Sozialisten«,25 wie eines der Kapitel überschrieben ist. In Berlin wie in Istanbul treffen sich die Linken in Cafés und Kneipen, trinken Kaffee oder Tee, reden über Politik oder Literatur (gerne Lorca oder Brecht) und gehen danach ins Kino, um den neuen GodardFilm anzusehen. Auch das Lesen derselben Zeitung in Istanbul, die schon bei Pamuk in den Kontext der Säkularisten und Linken gehört, nämlich Cumhuriyet, gehört zu diesem Ensemble von Praktiken. Darüber hinaus ist die Praxis des Links-Seins charakterisiert durch Praktiken, die männlich dominiert sind, z.B. die politische Diskussion, bei der die Erzählerin meist die einzige Frau ist und schweigt (oder raucht), während die Männer die Welt erklären.26 Das Rauchen ist für die Ich-Erzählerin fester Bestandteil dieser Kultur: Ich dachte, alle Linken rauchen. Wenn ich in der Nacht mit dem letzten Schiff zur asiatischen Seite nach Hause fuhr und junge Männer sah, die Zigaretten in ihren Händen hatten, dachte ich, es wären Linke. Ich rauchte dann auch eine Zigarette, damit sie verstehen, daß ich auch eine Linke bin. 27

Die Zugehörigkeit zeigt sich also anhand des Rauchens. Das Rauchen wiederum ist einerseits ein Zeichen für die Performativität der Praktiken, die routinisiert sind, aber als Teil einer Praxis des Links-Seins auch für diese gesamte Praxis stehen. Was die Ich-Erzählerin dann allerdings erkennen lässt, ist, dass es sich um eine gegenderte Praxis handelt und das Rauchen als mehrfach zugehörige Praktik angesehen werden kann. Denn der eher experimentelle Umgang der Ich-Erzählerin mit linker, subkultureller Identität 28 zeigt sich in einer Situation, in der sie Männer, die rauchen, als vermeintliche Linke mit parteipolitischer Propaganda anspricht. Diese verstehen ihre Aktion jedoch als sexuelles Angebot. Für diese Männer gehört Rauchen also nicht zu einer linken Praxis, sondern vor allem zu männlichen Praktiken. Die Erzählerin lässt so die Mehrfachzugehörigkeit des Rauchens deutlich werden: Einerseits versteht sie sich selbst als Linke, als zugehörig zu dieser Kultur, andererseits wird sie als Frau in die Kultur der Geschlechterbeziehungen eingeordnet – erkennbar wird, dass Mehrfachzugehörigkeit, auch ›transkulturelle‹, nicht an einen Länderwechsel gebunden ist, sondern innerhalb eines Landes z.B. zwischen 25 | Ebd., S. 666. 26 | S. dazu Schonfield, E.: 1968 and transnational history, S. 76f. 27 | Ebd., S. 687. 28 | Vgl. ebd., S. 77.

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Mehrheits- und Minderheitskultur (konventionelle Geschlechterbeziehung vs. Linke) auftauchen kann. Die Zugehörigkeit zur linken, transnationalen Kultur ist zudem eine selbstgewählte Zugehörigkeit der Ich-Erzählerin, während geschlechtliche, ethnische und nationale Bindungen von vielen Figuren im Text zunächst einmal als konstitutiv für die Bildung der Identität verstanden werden.29 So zeigt die selbstgewählte Zugehörigkeit auch den Emanzipationsprozess der Erzählerin, die den Bindungen ihrer Kindheit eine eigene hinzufügt.

2. Sexuelle Praktiken Der zweite Bereich von Praktiken, den ich abschließend betrachten möchte, umfasst sexuelle Praktiken und schließt damit an die Mehrfachcodierung des Rauchens an. Vor allem beim ersten und zweiten Berlin-Aufenthalt, auch beim Abstecher nach Paris geht es immer wieder um den Verlust des ›Diamanten‹, dabei ist der Diamant das Bild für die Jungfräulichkeit. An der Formulierung wird die Verknüpfung von sprachlichen und sexuellen Praktiken ebenso deutlich wie bei der Mehrfachzugehörigkeit des Rauchens. Wörtlich bedeutet Diamant noch etwas anderes, in der übertragenen Bedeutung gehört er zu den sprachlichen Codierungen von sexuellen Praktiken. Der Verlust des Diamanten wird von den älteren Frauen im Wohnheim, die sich als Stellvertreterinnen der Väter und Mütter in der Türkei sehen, als Gefahr für die jungen Mädchen dargestellt. Die Ich-Erzählerin berichtet zunächst von den Liebschaften der anderen Mädchen, hat aber schließlich die Idee, dass es an der Zeit wäre, sich auch von ihrem Diamanten zu befreien. Vor allem die linken Männer machen immer wieder klar, dass nur eine entjungferte Frau kein Kind mehr ist, andererseits ist die sexuelle Aktivität für die Ich-Erzählerin auch ein Akt der Befreiung. Der Mythos der weiblichen Geschlechtsidentität durch Entjungferung wird jedoch entlarvt: Sie bekommt den Moment gar nicht mit, weil sie immer erwartet, dass sie blutet, erst im Nachhinein kann sie rekonstruieren, dass sie in Paris mit Jordi ihre Jungfräulichkeit verloren haben muss.30 Ihre Identität und ihr Bewusstsein haben sich also nicht verändert, insofern verstößt sie gegen die Einschätzung der patriarchal geprägten, linken Männer, mit denen sie zusammen ist. Ihre Entwicklungsgeschichte hat so nicht den behaupteten Bruch, der den Übergang vom Kind zur Erwachsenen markiert. Dabei erweist sich schon die ›Herkunftskultur‹ als mehrfach codiert 29 | Vgl. Shafi, Monika: Joint Ventures: Identity Politics and Travel in Novels by Emine Sevgi Özdamat und Zafer Senocak, in: Comparative Literature Studies 40/2 (2003), S. 193-214. 30 | Vgl. Weber, Beverly M.: Work, Sex, and Socialism: Reading beyond Cultural Hybridity in Emine Sevgi Özdamar’s Die Brücke vom Goldenen Horn, in: German Life and Letters 63/1 (2010), S. 37-53; vgl. Özdamar, E.: Brücke, S. 604.

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bezogen auf die Praktiken der Entjungferung: Während die älteren Frauen sie als Zeichen der Entehrung begreifen, wenn sie nicht in der Ehe stattfindet, halten die linken Männer sie für nötig, damit eine ›richtige‹ Frau aus dem Kind wird. Für die Ich-Erzählerin ist die Entjungferung wiederum eine Praktik, die für sie das Bekenntnis zu freier Sexualität ohne Ehe bedeutet. Würde man die Einschätzung der älteren Frauen noch als Norm der türkischen, islamisch geprägten Kultur begreifen, dann wird in der Einschätzung der linken Männer eine ›transnationale Allianz‹ erkennbar; gleichgültig ob Spanier, Türke oder Deutscher: Der Übergang vom Kind zur Frau wird von allen ähnlich definiert. Die auftretenden Männer haben also alle das Kennzeichen ›links sein‹ sowie eine Gender-Perspektive gemeinsam, sind aber unterschiedlicher nationaler und religiöser Herkunft. Hier zeigt sich sehr deutlich die transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit als prägender Teil personaler Identität, die gleichzeitig aber Teil einer Gruppenbildung ist. Die Perspektive der Erzählerin ist bereits als Zeichen für eine transitorische Existenz verstanden worden,31 die damit – das wäre hinzuzufügen – die Standortgebundenheit von kulturellem Wissen ebenso deutlich macht wie transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit als Teil einer Gruppenbildung. Die Performativität des Textes, die von den Komödien Shakespeares und den Stücken Brechts beeinflusst sein könnte,32 stellt die Widersprüche von kulturellen Zugehörigkeiten aus, ohne sich auf eine Reflexionsebene einzulassen. Dieses Erzählverfahren lässt sich durchaus in die Tradition des Picaro-Romans33 einordnen, zudem führt es zur Entroutinisierung von kulturellen Zuschreibungen bei der Leserin und dem Leser. So hat die Erzählerstimme in beiden Romanen ein spezifisches Verhältnis zu den skizzierten transkulturellen Mehrfachzugehörigkeiten: In Pamuks Schnee fügt der Erzähler Orhan der Ebene des Geschehens als Reflektor und Rekonstrukteur noch eine weitere hinzu, weil er den Entstehungsprozess des Textes miterzählt. Die kulturellen Grenzziehungen, aber auch transkulturelle Mehrfachzugehörigkeiten werden so als von den Figuren konstruierte erkennbar. Die Ich-Erzählerin in Özdamars Roman probiert dagegen eher Praktiken der Grenzziehung wie der Mehrfachzugehörigkeit aus. In diesem Prozess des Ausprobierens zeigt sich – ohne dass er reflexiv eingeholt werden müsste – die Relativität von Grenzziehungen, während ihre Bedeutung für die Praxis nicht abgestritten würde. Wenn man Elemente eines Konzeptes von kultureller Mehrfachzugehörigkeit skizzieren wollte, wäre im literaturwissenschaftlichen 31 | Vgl. zur transitorische Identität: Theilen, Ines: Von der nationalen zur globalen Literatur. Eine Lese-Bewegung durch die Romane Die Brücke vom goldenen Horn von Emine Sevgi Özdamar und Café Nostalgia von Zoé Valdés, in: Arcadia 40 (2005), Heft 2, S. 318-337. 32 | Vgl. Shafi, M.: Joint Ventures, S. 204f. 33 | Vgl. Hofmann, M.: Interkulturelle Germanistik, S. 222.

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Kontext zunächst darauf zu bestehen, dass Formen kultureller Mehrfachzugehörigkeit nicht an so genannte Migrationsliteratur gebunden sind, die sich zudem häufig über die Migrationserfahrung der Autorin oder des Autors konstituiert. Vielmehr führen beide Texte Elemente transkultureller Mehrfachzugehörigkeit vor, die von der Biografie der Autorin und des Autors offensichtlich nicht abhängig sind und die ebenfalls innerhalb von kulturellen Zusammenhängen, die sich programmatisch als homogen deklarieren, zu finden sind. Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit zeigt sich vielmehr in Praktiken von Subjekten (bei den Erzählern wie bei den Figuren), die kulturelle Grenzziehungen nicht als bindend begreifen, wobei die so entstehende transkulturelle Kombinatorik weder widerspruchsfrei ist noch zu einer neuen einheitlichen Identität führt.

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Autorinnen und Autoren

Marion Acker, M.A., hat in Bonn, Paris und Berlin Germanistik, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Politik und Gesellschaft studiert. Seit 2015 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin im Teilprojekt »Geteilte Gefühle. Entwürfe von Zugehörigkeit in der transkulturellen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« (Leitung: Prof. Dr. Anne Fleig) des SFB 1171 »Affective Societies« an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen (mehrsprachige) Gegenwartsliteratur, Gattungstheorie (Autobiographie, Autofiktion) und kulturwissenschaftliche Affekttheorie. Gegenwärtig arbeitet sie an einer Dissertation zum Verhältnis sprachkritischer Reflexivität und Affektivität in autofiktionalen Texten von Herta Müller, Ilma Rakusa und Yoko Tawada. Axel Dunker, Studium der Germanistik und Anglistik in Frankfurt a.M. und Bielefeld. Promotion 1993 in Bielefeld, Habilitation 2001 in Mainz. 2005/06 einjährige Gastprofessur an der Universität Wien. Seit 2010 Professor für neuere und neueste deutsche Literaturwissenschaft und Literaturtheorie an der Universität Bremen. Mitglied der Jury der LiteraTour Nord und des HildeDomin-Preises für Literatur im Exil. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Prosa der Moderne, Holocaust und Literatur, Literatur nach 1945, Gegenwartsliteratur, Postkoloniale Literatur- und Kulturtheorie. Letzte Veröffentlichungen: Dirk Göttsche/Axel Dunker/Gabriele Dürbeck (Hg.): Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart: Metzler 2017; Amatso Obikoli Assemboni/ Anna Babka/Laura Beck/Axel Dunker (Hg.): Postkolonialität denken. Spektren germanistischer Forschung in Togo. Wien: Praesens 2017; Axel Dunker/ Thomas Stolz/Ingo H. Warnke (Hg.): Benennungspraktiken in Prozessen kolonialer Raumaneignung. Berlin/Boston: de Gruyter 2017; Bernd Blaschke/ Axel Dunker/Michael Hofmann (Hg.): Reiseliteratur der DDR. Bestandsaufnahmen und Modellanalysen. Paderborn: Fink 2016; Axel Dunker/Sabine Kyora (Hg.): Arno Schmidt und der Kanon. München: edition text + kritik 2015.

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Transkulturelle Mehr fachzugehörigkeiten

Martin Eybl ist Professor für Musikgeschichte am Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Er unterrichtete 1991-2004 an der Universität Wien, 19942002 Mitarbeit am SFB »Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900« (Graz), seit 2007 Leiter der Publikationen der Denkmäler der Tonkunst in Österreich (DTÖ). Im Studienjahr 2011/12 Gastprofessor an der University of Chicago. Von 2013 bis 2017 Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Musikwissenschaft, seit 2015 geschäftsführender Editionsleiter der Alban-Berg-Gesamtausgabe. Schwerpunkte seiner Forschungen liegen in den Bereichen Ästhetik und Musiktheorie des frühen 20. Jahrhunderts, österreichische Musik des 18. Jahrhunderts sowie Editionen Alter Musik. Zu seinen Publikationen zählen: Die Befreiung des Augenblicks. Schönbergs Skandalkonzerte von 1907 und 1908. Eine Dokumentation (2004); Zyklus und Prozess. Joseph Haydn und die Zeit (2012). Anne Fleig, seit 2010 Professorin für Deutsche Philologie an der Freien Universität Berlin; Projektleiterin im SFB 1171 »Affective Societies«. Forschungsschwerpunkte: Drama und Theater, Körpertheorie und -geschichte, Geschlechtergeschichte der Literatur, Affekte, Gefühle, Zugehörigkeiten, Mehrsprachigkeit. Publikationen: Handlungs-Spiel-Räume. Dramen von Autorinnen im Theater des ausgehenden 18. Jahrhunderts (1999), Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports (2008), Körper-Inszenierungen. Präsenz und kultureller Wandel (Mhg. 2000), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle (Mhg. 2000), Figurationen der Moderne. Mode, Sport, Pornographie (Mhg. 2011), Schreiben nach Kleist. Literarische, mediale und theoretische Transkriptionen (Mhg. 2014), seit 2018 Mhg. des Kleist-Jahrbuchs. In Vorbereitung: Affektivität und Mehrsprachigkeit. Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Mhg. 2019). Dagmar Freist ist seit dem WS 2004/2005 Professorin für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Praktiken religiöser Koexistenz, Politische Kultur und Öffentlichkeit, Globale Mikrogeschichte, Historische Praxeologie. Zuletzt erschienen sind die Monographie Glaube Liebe Zwietracht. Religiös-konfessionell gemischte Ehen in der Frühen Neuzeit. München 2017, der Sammelband Connecting Worlds and People. Early Modern Diasporas. London 2017 zusammen mit Susanne Lachenicht und der Aufsatz »A Global Microhistory of the Early Modern Period. Social Sites and the Interconnectedness of Human Lives«, in: Quaderni Storici 155/a. LII, n. 2, agosto 2017, S. 537-555. Seit Januar 2018 leitet sie das Akademieprojekt »Prize Papers« in Kooperation mit den National Archives UK und dem Deutschen Historischen Institut London.

Autorinnen und Autoren

Michael Hofmann, Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Paderborn, Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie an den Universitäten Bonn und Poitiers, Promotion 1990 zu Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands«, Habilitation 1997 zu Christoph Martin Wielands Versepen, Lehrtätigkeiten an den Universitäten Bonn, Nancy und Lüttich; Forschungsschwerpunkte: Aufklärung, Weimarer Klassik, Literatur nach Auschwitz, interkulturelle Literaturwissenschaft; Herausgeber des Peter Weiss Jahrbuchs und des Jahrbuchs Türkisch-deutsche Studien; Veröffentlichungen (Auswahl): Interkulturelle Literaturwissenschaft, Paderborn: Fink UTB 2006; Afrika-Diskurse in der deutschen Literatur und Kultur (Hg. mit Rita Morrien), Amsterdam: Rodopi 2011; Einführung in die interkulturelle Literatur. Darmstadt: WBG 2015 (mit Iulia-Karin Patrut). Sabine Kyora, Studium der Literaturwissenschaft und Geschichte in Bielefeld und Hamburg; Dissertation 1991 mit der Arbeit »Psychoanalyse und Prosa im 20. Jahrhundert«, Habilitation 1999 mit »Eine Poetik der Moderne« (Würzburg 2007). Seit Oktober 2002 Professorin für Deutsche Literatur der Neuzeit an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Veröffentlichungen zur Literatur der klassischen Moderne und zur Gegenwartsliteratur, Arno Schmidt, Friederike Mayröcker und Paul Wühr sowie zu methodischen Fragen der Literaturwissenschaft, insbesondere subjekttheoretischen Ansätzen. Rebekka von Mallinckrodt, seit 2012 Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Bremen, 2015-2020 Principal Investigator des ERC Consolidator Grant Projekts »German Slavery«, 2008/2009 Humboldt-Stipendiatin in Paris, 2007-2012 Mitglied der Jungen Akademie der Wissenschaften, 2005-2012 Juniorprofessorin an der FU Berlin, 2001-2005 wiss. Mitarbeiterin am MPI für Geschichte in Göttingen, 1999-2001 Stipendiatin am Augsburger Graduiertenkolleg »Wissensfelder der Neuzeit«, 1991-1998 Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Tübingen, Rom und Bonn. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Verflechtungsgeschichte Europas mit der außereuropäischen Welt, Geschichte der Sklaverei, Körpergeschichte, Geschichte des Sports und der Bewegung, Erforschung der Meere. Publikationen (Auswahl): Verhandelte (Un-)Freiheit. Sklaverei, Leibeigenschaft und innereuropäischer Wissenstransfer am Ausgang des 18.  Jhs., in: GG 43,3 (2017), 347-380; Exploring Underwater Worlds. Diving in the Late Seventeenth-/Early Eighteenth-Century British Empire, in: D. Hacke/P. Musselwhite (Hgg.): Empire of Senses, Leiden 2017, 300-322; gem. mit A. Schattner (Hgg.): Sports and Physical Exercise in Early Modern Culture, London 2016; gem. mit A. Bandau und M. Dorigny (Hgg): Les mondes coloniaux à Paris au XVIIIe siècle. Circulation et enchevêtrement des savoirs, Paris 2010.

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Transkulturelle Mehr fachzugehörigkeiten

Angela McShane is a social and cultural historian, she has published on political printed songs, material culture of the everyday, and the social and cultural role of intoxicants across the early modern Atlantic world. She is also a co-I for the AHRC/ESRC funded Intoxicants and Early Modernity Project (https:// www.intoxicantsproject.org). She is currently Head of Research Development at London’s Wellcome Collection, and was previously based in the Research Department of the Victoria and Albert Museum London, as Head of Early Modern Studies for the V&A/RCA Postgraduate programme in History of Design and Material Culture. Gesa zur Nieden ist Juniorprofessorin für Musikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Nach ihrem Studium in Bochum, Venedig und Paris wurde sie 2008 an der EHESS Paris und an der Ruhr-Universität Bochum mit einer Arbeit über das Théâtre du Châtelet promoviert. Danach war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am DHI Rom; 2016/2017 hatte sie die Gastprofessur »inter artes« an der Universität zu Köln inne. Seit 2010 beschäftigt sie sich mit der frühneuzeitlichen Musikermobilität, zu der sie zusammen mit Kolleginnen aus Frankreich, Kroatien, Slowenien und Polen mehrere internationale Forschungsprojekte einwarb (ANR-DFG »Musici« 2010-2013, EU-HERA »MusMig« 2013-2016 und aktuell DFG-NCN »Pasticcio« 2018-2020). Ihre derzeitigen Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Opernpasticcio des 18. Jahrhunderts, der postmigrantischen Popmusik sowie auf einer Ethnographie von Richard Wagner-Verbänden. 2016 erschien der mit Berthold Over herausgegebene Sammelband Musicians’ Mobilities and Music Migrations in Early Modern Europe. Ruth Steinberg, Studium der Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg. Promotion zur Dr. phil. in Oldenburg 2011; die Dissertation, eine literatursoziologisch ausgerichtete Studie zu weiblicher Autorschaft im deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik, erschien unter dem Titel Die Schriftstellerin Emmi Lewald 1866-1946. Weibliche Autorschaft, Zeitgeist und Literaturmarkt (2015). Die Arbeit wurde mit dem Schweizer Ravicini-Preis für Arbeiten zur Trivialliteratur 2012 ausgezeichnet. 2011-2014 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) im Rahmen des Projekts Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Seit April 2014 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Oldenburg. 2016/17 Gastdozentur am Institut für deutsche und niederländische Philologie an der Freien Universität Berlin (Professur-Teilvertretung). Ihr Habilitationsprojekt befasst sich mit deutschsprachiger Literatur von Autor/innen aus postsowjetischen Staaten und dem öst-

Autorinnen und Autoren

lichen Europa. Forschungsschwerpunkte: Weibliche Autorschaft, Literatur um 1900, Literatursoziologie, deutschsprachige Gegenwartsliteratur nach 1989. Melanie Unseld ist Professorin für Historische Musikwissenschaft am Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Sie studierte Historische Musikwissenschaft, Literaturwissenschaft, Philosophie und Angewandte Kulturwissenschaft in Karlsruhe und Hamburg. 1996 Magister an der Universität Hamburg, 1999 Promotion ebenda (»Man töte dieses Weib!« Tod und Weiblichkeit in der Musik der Jahrhundertwende, Stuttgart/Weimar 2001). 2002-2004 war sie Stipendiatin des Lise Meitner-Hochschulsonderprogramms, 2005-2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik und Theater Hannover, hier ab 2006 am Forschungszentrum für Musik und Gender. 2008-2016 hatte sie die Professur für Kulturgeschichte der Musik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg inne, wo sie 2009-2015 auch Direktorin des Interdisziplinären Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung (ZFG) war. Sie vertrat 2011/12 die Professur für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und habilitierte sich ebenda 2013. Stefan Weiss studierte Musikwissenschaft, Englische und Deutsche Philologie an der Universität zu Köln und promovierte über Die Musik Philipp Jarnachs (Köln 1996). Von 1997 bis 2003 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Musik »Carl Maria von Weber« Dresden, seitdem ist er als Professor für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover tätig. Seine Forschungsinteressen gelten vor allem der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts mit einem regionalen Schwerpunkt auf Mittel- und Osteuropa, besonders Russland/Sowjetunion. In den letzten Jahren richtete sich sein Interesse verstärkt auf die Musikbegegnungen zwischen Deutschland und Russland im 19. und 20. Jahrhundert.

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Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3

Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Götz Großklaus

Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturwissenschaft Rainer Guldin, Gustavo Bernardo

Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3

Till Breyer, Rasmus Overthun, Philippe Roepstorff-Robiano, Alexandra Vasa (Hg.)

Monster und Kapitalismus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2017 2017, 136 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3810-3 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3810-7

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7

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