Tragische Rhetorik: Darstellungsweise und dramatische Funktionen scheiternder Reden in der attischen Tragödie 9783647336077, 3647336076, 9783666336072

Ausgehend von der Figurenreden bei Aischylos, Sophokles und Euripides fragt Vanessa Zetzmann, woran die drei Tragiker di

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German Pages 293 [292] Year 2021

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Tragische Rhetorik: Darstellungsweise und dramatische Funktionen scheiternder Reden in der attischen Tragödie
 9783647336077, 3647336076, 9783666336072

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Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Friedemann Buddensiek, Sabine Föllinger, Hans-Joachim Gehrke, Karla Pollmann, Christiane Reitz, Christoph Riedweg, Tanja Scheer, Benedikt Strobel Band 211

Vandenhoeck & Ruprecht

Vanessa Zetzmann

Tragische Rhetorik Darstellungsweise und dramatische Funktionen scheiternder Reden in der attischen Tragödie

Vandenhoeck & Ruprecht

Verantwortlicher Herausgeber: Christoph Riedweg Diese Publikation wurde mit finanzieller Unterstützung aus den Fördermitteln der Studienstiftung des deutschen Volkes und der Dr. Papenhoff-Meyenburg-Stiftung (Stipendienprogramm für Altertumswissenschaftler*innen) gedruckt. Das vorliegende Buch ist die geringfügig überarbeitete Fassung der im WS 2019/2020 an der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften der Julius-Maximilians-Universität Würzburg angenommenen Dissertation.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Jean-Joseph Taillasson: Ulysse et Néoptolème enlevant à Philoctète les flèches d’Hercule. Musée des Beaux-Arts de Bordeaux (INV 8079). Satz: Reemers Publishing Services, Krefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-3407 ISBN 978-3-666-33607-2

Meiner Familie

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.1 Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.2 Rhetorik und Interaktion in der Tragödie: Von der Sophistik zur dialogischen Protorhetorik . . . . . . . . . . 18 1.3 Analyseaspekte und dispositive Bemerkungen . . . . . . . . . . . . 33 2. Textanalyse: Auktoriale Rezeptionslenkung im Hinblick auf Rhetorik und Kommunikation in Aischylos’ Tragödien . . . . . . . . . 41 2.1 Textanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.1.1 Aischylos, Septem 182–286 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.1.2 Aischylos, Septem 677–719 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.1.3 Aischylos, Supplices 882–965 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2.1.4 Aischylos, Agamemnon 810–974 . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.1.5 Pseudo-Aischylos, Prometheus 937–1079 . . . . . . . . . . . . 99 2.2 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2.2.1 Rhetorische Adaptation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2.2.2 Theory of Mind bei Aischylos? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2.2.3 Sprachverhalten und politeness . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 2.2.4 Metapragmatik: Häufigkeit, Gebrauch und explizite Plausibilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2.2.5 ἦθος des Sprechers und Autoritätsverhältnis der Gesprächspartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2.2.6 Vorläufiges Scheitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3. Textanalyse: Auktoriale Rezeptionslenkung im Hinblick auf Rhetorik und Kommunikation in Sophokles’ und Euripides’ Werk . . . 120 3.1 Textanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 3.1.1 Sophokles, Antigone 631–780 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3.1.2 Euripides, Hippolytos 902–1101 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3.1.3 Euripides, Medea 446–626 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3.1.4 Sophokles, Philoktet 1261–1471 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

8

Inhalt

3.2 Zwischenfazit: Sophokles & Euripides . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 3.2.1 Rhetorische Adaptation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 3.2.2 Theory of Mind bei Sophokles und Euripides? . . . . . . . . . 190 3.2.3 Sprachverhalten und politeness . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 3.2.4 Metapragmatik: Häufigkeit, Gebrauch und explizite Plausibilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 3.2.5 ἦθος des Sprechers und Autoritätskonflikte . . . . . . . . . . 193 4. Zwischen Kanonisierung und Fluidität des Mythos: Vorläufiges Scheitern als narratives Instrument und Reflexionsrahmen für literarische Mythenbearbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 4.1 Allgemeines: Dramatische Funktionen von vorläufigem Scheitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 4.2 Aischylos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 4.3 Sophokles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 4.4 Euripides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 4.5 Zwischenfazit: Tragische εἰ μή-Situationen und Mytheninnovation 253 5. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 5.1 Textanalyse: Auktoriale Rezeptionslenkung im Hinblick auf Rhetorik und Kommunikation (Kapitel 2–3) . . . . . . . . . . . . . 255 5.2 Zwischen Kanonisierung und Fluidität des Mythos: Vorläufiges Scheitern als narratives Instrument und Reflexionsrahmen für literarische Mythenbearbeitung (Kapitel 4) 266 5.3 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Textausgaben, Fragmentsammlungen und Scholien . . . . . . . . . . . 269 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Abkürzungsverzeichnis antiker Werke und Autoren . . . . . . . . . . . . . 281 Tabellen und Verzeichnis der metapragmatischen Aussagen . . . . . . . . 284 Tabelle 1: Metapragmatikanteil der analysierten Szenen . . . . . . . . . 284 Tabelle 2: Signifikanztest – Metapragmatikanteil der behandelten Tragödien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Versverzeichnis der metapragmatischen Aussagen . . . . . . . . . . . . 286 Stellenregister antiker Textstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Vorwort

Glücklicherweise entstehen Bücher nie gänzlich im Alleingang. Dies zeigt auch die Liste derer, denen ich zu Dank für Kritik und Rat verpflichtet bin: Michael Erler, Christian Tornau und Gunther Martin standen mir als Promotionsbetreuer stets mit scharfsinnigen Anmerkungen und hilfreichem Rat zur Seite. Unter ihrem Mentorat entstand nicht nur die beste Version dieses Buches; durch ihr Vertrauen konnte ich auch frei meinen fachlichen Interessen folgen und so das Buch realisieren, das genau meinen Vorstellungen entspricht. Die finanzielle Förderung der Studienstiftung des Deutschen Volkes und ein Stipendium der Fondation Hardt ermöglichten mir unbehelligte Forschungsarbeit. Auch den Herausgebern der Hypomnemata danke ich für die Aufnahme meines Buches in ihre Reihe. Meine Promotionszeit war wesentlich geprägt vom Kontakt nach und Veranstaltungen in Zürich, besonders im Rahmen des SNF-Projekts ›Die Pragmatik des Dialogs in der antiken Tragödie‹. Den dortigen Kollegen und Gastrednern gedankt sei für ihre Einführung in die Pragmatik, ihre lehrreichen Beiträge bei Tagungen und Workshops und das freigiebige Teilen unveröffentlichter Arbeiten: Gunther Martin, Severin Hof, Riccarda Schmid, Federica Iurescia, Evert van Emde Boas, Jon Hesk sowie Carlo Scardino. Eine stetig zunehmende Liebe zum Mythos und stets fruchtbare Diskussionen verdanke ich meiner Tübinger Kollegin Sabrina Mancuso und den Teilnehmern unserer Tagung ›Mythos und Rhetorik‹ (Würzburg, März 2019). Wertvolle Hinweise zu meiner Arbeit erhielt ich in Würzburg, Tübingen, Zürich, Pisa und Innsbruck von Jan Heßler, Martin Korenjak, Manfred Kraus, Irmgard Männlein-Robert, Enrico Medda und Christoph Riedweg, von welchen mich auch einige freundlicherweise in ihrem Forschungskolloquium vortragen ließen. Beate Sodian und Ricarda Schubotz, die ich im Rahmen einer Sommerakademie zur Theory of Mind 2014 kennenlernen durfte, prüften meinen Theory of Mind-Ansatz aus entwicklungspsychologischer und neurowissenschaftlicher Sicht. Das fertige Manuskript korrigierten Marcel Moser, Martin Bauer, Christine und Uwe Zetzmann, Janka und Jasmin Hofmann, Isabelle Vilsmeier und Antonia Mayr. Meinen (ehemaligen) Kollegen in Würzburg danke ich für ihre Kameradschaft und ihr offenes Ohr über die Jahre, besonders erwähnt seien Birgit und Peter, Anne und Christoph, Veronika, Tobias und Caroline, Jochen, Albrecht, Marianna, Angelica, Simone, Diana und Romy. Die Kolleginnen von Scientia,

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Vorwort

allen voran Antonia, Isabelle und Ruth, haben meine Promotionszeit nicht nur mit Potentialanalyse, sondern auch mit ihrer motivierenden Art, guten Freundschaft und unvergesslichen Ausflügen bereichert. Janka, Jasmin, Marion und Christoph danke ich für ihre langjährige Freundschaft und legendäre Pen and Paper-Runden. Mein Verlobter Martin Bauer trat zuerst als Teilnehmer meiner Konferenz in mein Leben. Heute ist er nicht nur geschätzter fachlicher Kollege, sondern aufrichtig liebender Partner, verlässlicher Ruhepol und bester Freund. Für seine bedingungslose Liebe, seinen unerschütterlichen Optimismus und seinen scharfsinnigen Humor bin ich ihm heute und in der Zukunft dankbar. Gewidmet sei dieses Buch meinen Eltern Christine und Uwe Zetzmann nebst meinen Großeltern Ingrid und Hans-Jürgen Hoffrichter sowie Helga (†) und Albrecht (†) Zetzmann. Sie alle haben mich mein Leben lang mit liebevoller Unterstützung begleitet, sodass ihnen der größte Dank gebührt. Vanessa Zetzmann

Ismaning, 6. Dezember 2020

1. Einführung

1.1 Fragestellung 1.1.1 Rhetorik und Tragödie Persuasive Reden und rhetorisches Sprechen machen bekanntlich einen wesentlichen Teil der attischen Tragödien des 5. Jh.s v. Chr. aus.1 Vor dem Hintergrund der öffentlichen Aufführungssituation und der als Bürgerpflicht geltenden Tragödienteilnahme2 erhält dieser sprachliche Aspekt besondere Relevanz: Da für einen Großteil des Publikums athenisches Bürgerrecht anzunehmen3 und im öffentlichen Leben Athens die Rolle der praktischen Rhetorik als essentiell zu verzeichnen ist,4 ist damit auch Autoren und Zuschauern der Tragödie praktische rhetorische Bildung zuzuschreiben.5 Rhetorik ist nicht nur integrales Element der Athener Gesellschaft im Allgemeinen, sondern besonders auch des Festes der Großen Dionysien.6 Doch angesichts ihres omnipräsenten Charakters in der gesamten Polis ist es bemerkenswert, dass in der attischen Tragödie vorgeführte Rhetorik und Kommunikation zwischen Charakteren selten reibungslos verläuft:7 Charaktere 1 Vgl. dazu seit Neuestem Zimmermann (2019). 2 Vgl. Cartledge (1997); Goldhill (1997) 54f. 67. Diese Bürgerpflicht wird auch durch die Einführung des Theorikons als staatliche Unterstützung für Eintrittsgelder nahegelegt (für eine Einführung ab ca. 350 v. Chr. argumentiert Ruschenbusch (1979), ein ähnliches Konstrukt schon zu Perikles’ Zeiten vermutet Cartledge (1997) 9f., der dem Zeugnis bei Plutarch (Plut. Per. 9,1) folgt). Roselli (2011) 90–92 fasst die Überlieferungslage gut zusammen und schließt überzeugend, dass eine sporadische Förderung von Theaterbesuchen durch Perikles eingeführt wurde (θεωρικά), aber noch nicht die offizielle Einrichtung der theorischen Staatskasse (θεωρικόν) existierte. 3 Goldhill (1997) 58. Dies gilt zumindest auf den zu bezahlenden Sitzplätzen des Theatrons, vgl. Roselli (2011) 85f. Zur Diversität des Publikums allgemein, vgl. Roselli (2011) 118–154. 4 Einen übersichtlichen Abriss der Rolle der Rhetorik im öffentlichen Leben Athens bietet Buxton (1982) 10–18. Speziell für das 4. Jh. v. Chr. vgl. seit Neuestem Wojciech (2019). 5 Zum Aufkommen spezifisch der geschriebenen Sprache als intellektuelle Kunstform und damit als Motor der umso weiteren Verbreitung der Rhetorik im Laufe des 5. Jh.s v. Chr., aktiv betrieben zumindest in Schulunterricht der Oberschicht, s. Enos (2012) 61–79. Rhetorikunterricht fand davor v.a. durch imitatio von Klassikern statt, vgl. Kennedy (2003) x–xi. S. allgemein zur politischen Notwendigkeit von Rhetorik und Rhetorikunterricht im 5. Jh. v. Chr. Rapp (2002) I, 197–204. 6 Vgl. Zimmermann (2019) 615. 7 Vgl. Battezzato (2017) 174.

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Einführung

missverstehen sich, scheitern daran, einander zu überzeugen, oder gehen in umso größerem Konflikt auseinander.8 Scheiternde Persuasion und Kommunikation können daher als essentiell tragisches Gestaltungselement angesehen werden: Denn wenn Rhetorik scheitert, scheitert auch die von Worten getriebene Handlung der Tragödien.9 Angesichts zunehmender Präsenz von Lehre und Praxis der Rhetorik im öffentlichen Leben Athens verwundert dieser Befund und bietet Anlass, diese Szenen genauer zu studieren.

1.1.2 Forschungsstand Die persuasive Ineffektivität der Tragödie wurde in der bisherigen Forschung vor allem für den euripideischen Agon festgestellt,10 in dessen Rahmen sogar Relevanz und Effektivität der Rhetorik an sich bestritten wurde.11 Bislang wurde Rhetorik in der Tragödie außerdem durch die Fokussierung auf euripideische Stücke12 vorwiegend als Reflex und nicht zuletzt auch Kritik an der aufkommenden Sophistik angesehen,13 ohne den eigenständigen epistemischen und dramatischen Wert öffentlich vorgeführter Rhetorik und Kommunikation schon bei Aischylos zu berücksichtigen. Dies ist, wie sich zeigen wird, problematisch; denn ein solcher Blick auf die Tragödien und ihre dargestellte Rhetorik bleibt eindimensional: Erstens bieten auch nicht-agonale erfolglose Redeszenen Einblicke in Rhetorisierung, Dramatisierung und Rhetorikrezeption eines Stücks. Zweitens scheitern nicht nur in Euripides’ Tragödien, sondern auch schon in Aischylos’ und Sophokles’ Werken Charaktere an ihren Redezielen. 8 Anders verhält sich dies bei den Reden und Befehlen der dei ex machina, vgl. Martin (im Erscheinen). 9 Dies bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass Rhetorik in der zeitgenössischen Praxis immer funktioniert habe – es ist aber auffällig, dass sie in der Tragödie fast ausschließlich scheitert. Für exempla scheiternder Rhetorik auch in der homerischen Literatur, vgl. ­Heßler (2019) 24f. 10 Vor allem für Euripides haben dies Lloyd (1992) 15; Strohm (1957a) 11 festgestellt. S.a. Battezzato (2017). 11 Dies vertritt v.a. Scodel (1999b), die der Rhetorik und gesprochenem Wort in Euripides’ Agonen jedwede innerdramatische Wirkung abspricht, damit aber den dramatischen und instruktiven Charakter vorgeführter Rhetorik unterbetont; auch Egli (2003) 191–197 folgt diesem Schema. S. aber Battezzato (2017), der den charakterisierenden und rhetorikreflexiven Mehrwert euripideischer Agone betont. 12 S. v.a. Scodel (1999b); Battezzato (2017). 13 Vgl. etwa Eur. Hec. 1187–1191; s. den Reflex in Aristoph. Ran. 771–778. Übermäßig stilisiertes und daher suspektes Reden in Euripides thematisieren u.a. Jouan (1984); Scodel (1999b) 7; Battezzato (2017) 164f. Vgl. schon Platons Kritik in Plat. Gorg. (501e–502d). Besonders Gondos (1996) verfolgt um ihrer These der zunehmenden Rhetorikreflexion willen einen stark biologistischen Ansatz der Entwicklung der Rhetorik erst mit Einsetzen der Sophistik. Anders sieht dies allerdings schon Kennedy (1963) 26–51.

Fragestellung

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Drittens besteht praktische Rhetorik aus mehr als nur technisierten Stilmitteln sophistischer Prägung. Daher möchte diese Arbeit einen Schritt zurück treten und ganz grundsätzlich fragen,14 woran tragische Charaktere letztendlich dramenintern scheitern, wenn sie ihr Redeziel verfehlen,15 und welche äußere dramatische Funktion dieser Szenentyp für das Dreigestirn der tragischen Autoren erfüllt. Diese Analyse berücksichtigt drameninterne und dramenexterne Faktoren,16 um ein genaueres Bild der angewandten Rhetorik der attischen Tragödie sowie ihrer möglichen zugrundeliegenden theoretischen Reflexionen zu zeichnen.

1.1.3 Thema: Warum Scheitern? Doch ist diese Analyse erfolgloser Rhetorik nicht Selbstzweck: Denn wie sich zeigen wird, enthalten scheiternde oder vorläufig scheiternde Redeszenen häufig eine Reflexion über Rhetorik und ihre Vorgaben – damit bewegen wir uns an der Schnittstelle zwischen praktischer und zur Theorie gewordener Rhetorik. Deren Scheitern wirkt als disruptives Element – kommt doch damit die tragische Handlung zu einem vorübergehenden Haltepunkt – und bringt den sprechenden Charakter dazu, Gedanken über seine Rede oder seinen Adressaten zu äußern, die bei einem Gelingen seiner Rede nicht nötig gewesen wären. Diese Szenen bergen genau durch ihr Nichtfunktionieren ein hohes Erkenntnispotential. Dieser Aspekt tragischer Rhetorik wurde in der bisherigen Forschung weniger beachtet.

14 Dieses Buch möchte konstatierende Grundlagenforschung betreiben, wie sie etwa Enos (2012) 8–14 als methodischen Ansatz für Rhetorikforschung fordert, nicht etwa eine Theorie der tragischen Rhetorik postulieren oder begründen. S.a. Lively (2016). Zur Entstehung systematischer Rhetorik in Griechenland, s. Enos (2012) 93–108. 15 Hiermit soll nicht argumentiert werden, dass das Drama etwa die Entwicklung der Rhetorik gefördert hätte, wie Sansone (2012) 224, sich seiner mangelnden Beweise bewusst, schlussfolgert: »We cannot prove that rhetoric owes its existence to the influence of the new and instantly popular dramatic genre. But I suggest that, as a hypothesis, it is both more plausible and more attractive than the single “fact” on which the traditional view is constructed, namely […] that Tisias and Corax were the first to lay down the foundations of the art […]« (für eine kritische Widerlegung dieser These s. Hesk (2015)). Vielmehr soll hier im Sinne einer ›natürlichen‹ und doch geübten, da üblichen, Rhetorik von einer gleichzeitigen Entwicklung und gegenseitigen Befeuerung der Phänomene ausgegangen werden (so auch Enos (2012) xvii et passim). Zu dem Phänomen der Protorhetorik in der griechischen Literatur, s. Hessler (2019); Pernot (2005) 1–9. Für den Begriff ›Protorhetorik‹, s. Bose & HannkenIlljes (2012). Zur wichtigen prärhetorischen Rolle der homerischen Epen, s. Knudsen (2014) 21–42; Enos (2012). S. schon Quint. inst. 2,17, 7f. 16 Diese Terminologie ist in Anlehnung an die Begriffe »intradramatisch« und »extradramatisch« von Pfister (2001) 20–22. 50 gewählt.

14

Einführung

Schon ein Blick in Aischylos’ Hiketiden zeigt etwa, dass sich bereits in der frühen17 Tragödie ein explizites Bewusstsein dafür abzeichnet, wie angepasste, erfolgreiche Rede aussehen sollte:18 ΔΑ. αἰδοῖα καὶ γοεδνὰ καὶ ζαχρεῖ’ ἔπη ξένους ἀμείβεσθ’, ὡς ἐπήλυδας πρέπει, τορῶς λέγουσαι τάσδ’ ἀναιμάκτους φυγάς. φθογγῇ δ’ ἑπέσθω πρῶτα μὲν τὸ μὴ θρασύ, τὸ μὴ μάταιον δ’ ἐκ σεσωφρονισμένων ἴτω προσώπων ὄμματος παρ’ ἡσύχου. καὶ μὴ πρόλεσχος μηδ’ ἐφολκὸς ἐν λόγῳ γένῃ· τὸ τῇδε κάρτ’ ἐπίφθονον γένος. μέμνησο δ’ εἴκειν χρεῖος εἶ ξένη φυγάς. θρασυστομεῖν γὰρ οὐ πρέπει τοὺς ἥσσονας.

195

200 (Αischyl. Suppl. 194–203)

Da. Antwortet den Gastgebern mit ehrfürchtigen, mitleiderregenden und dringenden Worten, wie es sich für Fremde geziemt, klar und deutlich von eurer Flucht berichtend, dass sie ohne Blutschuld ist. Vor allem aber möge eure Sprache nicht übermütig sein, und euer Blick möge nicht vergeblich sein, auch wenn er von eurem vernünftigem Antlitz und eurem ruhigen Auge kommt. Und werdet in eurer Rede nicht zu hastig oder schleppend: Denn darauf reagieren die Menschen hier sehr missgünstig. Vergesst nicht, nachzugeben: Ihr seid Bedürftige, Fremde, Flüchtlinge. Dreistes Aufsprechen ziemt den Schwächeren nicht.19

195

200

Danaos empfiehlt seinen Töchtern zu Beginn der Hiketiden Redestandards, um das rituell und rhetorisch verfolgte Ziel ihrer Hikesie vom Argiverkönig Pe 17 Zur Datierung der Hiketiden: Während Scullion (2002) 99–101 in Reaktion auf Wests Neuinterpretation des Didaskalienfunds (s. die Textausgabe von West (1990) 125 und Garvie (2013) zu POxy 2256,3; der Papyrusfund ließ bis dahin nur die Datierung auf 463 v. Chr. zu) die Hiketiden auf ca. 475 v. Chr. und damit als den Persern vorangehend betrachtet, folge ich hier Sandin (2005) 3f.: Er schlägt überzeugenderweise die späten 460er vor, da die attische Allianz mit Argos 462/1 und attische Expedition nach Ägypten 462 v. Chr. stattfand. Da im Kontext der Tragödie beide lokalen Elemente (argivische Abstammung der Io sowie ägyptische Abstammung der Danaiden) verbunden werden, leuchtet diese Datierung v.a. aus inhaltlichen Gründen ein. Denn die Verbindung von Argos (Io) und Ägypten (Danaiden) scheint bei Aischylos neu zu sein (Föllinger (2003) 219–226; Sandin (2005) 6). Aus historischer Sicht wird dies durch die Aufwertung der Volksversammlung und die Abwertung des Areopags in der Mitte 460er Jahre unterstützt, da in den Hiketiden die Frage nach der Rolle der Volksversammlung thematisiert wird, s. Meier (1988) 33; Welwei (1999) 91–93. S.a. Lloyd-Jones (1964) und seit Neuestem Sommerstein (2019) 40–44 zur Neudatierung. 18 Gondos (1996) geht in ihrer Sammlung von expliziten Aussagen zu Redestandards etwa kaum auf Aischylos ein, doch empfiehlt auch Aristoteles diese Aspekte später in seiner Rhetorik: z.B. πρέπον (Aristot. rhet. 1408a10–b20) oder πάθος (1378a20–1388b30). 19 Alle Übersetzungen sind von mir verfasst, soweit nicht anders angegeben.

15

Fragestellung

lasgos zu erlangen: Aufnahme in Argos zum Schutze vor ihren Cousins, den heiratswilligen Aigyptossöhnen. Zur erfolgreichen Durchsetzung der Hikesie postuliert Danaos eine deutliche, ruhige Sprache, die eher reaktiv und unterwürfig sein solle als zu selbstbewusst. Als die Danaiden selbst schließlich König Pelasgos gegenüberstehen, weist ihre Sprache eine deutliche Anpassung an ihren Rezipienten und an die von Danaos vorgegebenen Standards auf: ΧΟ. ἐγὼ δὲ πρὸς σὲ πότερον ὡς ἔτην λέγω, ἢ τηρὸν ἱεροῦ ῥάβδον, ἢ πόλεως ἀγόν; ΠΕ. πρὸς ταῦτ’ ἀμείβου καὶ λέγ’ εὐθαρσὴς ἐμοί. τοῦ γηγενοῦς γάρ εἰμ’ ἐγὼ Παλαίχθονος ἶνις Πελασγός, τῆσδε γῆς ἀρχηγέτης. […] ἔχουσα δ’ ἤδη τἀπ’ ἐμοῦ τεκμήρια γένος τ’ ἂν ἐξεύχοιο καὶ λέγοις πρόσω. μακράν γε μὲν δὴ ῥῆσιν οὐ στέργει πόλις. ΧΟ. βραχὺς τορός θ’ ὁ μῦθος Ἀργεῖαι γένος ἐξευχόμεσθα, σπέρματ’ εὐτέκνου βοός·

250

(Αischyl. Suppl. 247–275)

Cho. Ich aber, soll ich Euch ansprechen wie einen Mitbürger, einen Tempelhüter oder wie den Anführer der Stadt? Pe. Beantwortet mir dies und sprecht mutig zu mir: Denn ich bin Pelasgos, der Sohn des erdgeborenen Palaichthon, der Herrscher über dieses Land. […] Nachdem ihr schon die Beweise zu meiner Person erhalten habt, verkündet eure Abstammung und erzählt mir mehr davon. Doch lange Reden schätzt man in unserer Polis nicht! Cho. Unsere Rede ist kurz und konzis: Von argivischer Herkunft rühmen wir uns zu sein, Nachkommen der kindbeglückten Kuh.

250

275

Sie kommen Danaos und Pelasgos in ihrer Kommunikationshaltung auf zwei Arten entgegen: Sie fragen proaktiv nach der richtigen Anrede (247f.) und halten sich an Pelasgos’ Redestandard der kurzen, konzisen Rede (273f.). Wie der weitere Verlauf der Szene zeigen wird, scheitern die Danaiden – trotz ihrer Anpassung an vorgegebene Standards und Auffassungen des Rezipienten –, Pelasgos mit ihren Worten zu ihrer Aufnahme zu bewegen: Der Handlungsfluss erfährt eine Verzögerung durch das Versagen von persuasivem Sprechen. Erst als sie ihren Selbstmord androhen und damit ihren niedrigen Status durch Androhung

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Einführung

nonverbaler Gewalt aufwerten, hat ihr Anliegen Erfolg (ἐκ τῶνδ’ ὅπως τάχιστ’ ἀπάγξασθαι θεῶν 465)20 – bis dahin redeten sie mehr als 200 Verse vergeblich.21 Doch keinesfalls bleibt diese Szene dramatisch ungenutzt. Es liegt auf der Hand, dass das vorgeführte Scheitern und die explizite Formulierung von Redestandards dem Dichter der Hiketiden wohl nicht nur zur Definition der ›typischen‹ Sprechweise in Argos (273) dient: So, wie sich die Charaktere der Hiketiden im langwierigen Hikesiegespräch (234–489) immer wieder kommunikativ aufeinander einstellen müssen,22 wird auch der externe Zuschauer befähigt und angeregt, die Redeweise der Charaktere zu evaluieren und auf den Prüfstand zu stellen23 – reden die Charaktere der Situation und ihrem Gesprächspartner angemessen? Können sie sich flexibel an ihren Rezipienten anpassen? Oder finden sich andere Gründe für ein Scheitern des Redeziels? So zeigt sich im Falle der Hiketiden paradoxerweise, dass die Danaiden durchaus angepasst und gut argumentieren, Standards der Sprachgestaltung einhalten und sich unterwürfig verhalten, aber an externen Rahmenbedingungen – hier an Pelasgos’ politischen Kompetenzen – scheitern.24 Praktische Rhetorik und offenbar zeitgenössische Redestandards werden auf der Polisbühne als notwendig reflektiert und zugleich ad absurdum geführt – ans Licht gebracht durch ein Innehalten im Handlungsfluss. Diese Darstellung von intradramatischer Reflexion wäre in einer reibungslos funktionierenden persuasiven Szene unmöglich gewesen; die Parallelität von Worten und Taten in der Tragödie zeigt sich hier besonders deutlich. Wenn auf der tragischen Bühne vorgeführte Kommunikation scheitert und Redeziele schlussendlich nicht erreichbar sind, drängt sich dem Zuschauer und 20 Diese Drohung könnte in aristotelischer Terminologie unter πίστις ἄτεχνος fallen (Aristot. rhet. 1375a22–1371b11), da sie sich auf göttliche Normen und Gesetze beruft. 21 Vgl. ἦ κάρτα νείκους τοῦδ’ ἐγὼ παροίχομαι / θέλω δ’ ἄιδρις μᾶλλον ἢ σοφὸς κακῶν / εἶναι·γένοιτο δ’ εὖ, παρὰ γνώμην ἐμήν (453–455). In dieser Äußerung ist freilich weder eine absolute Ablehnung des Persuasionsziels noch eine absolute Zustimmung zu erkennen. Während Gödde (2000) 199 hier für ein definitives Erreichen des Ziels plädiert, nennt Sandin (2005) 200 dies treffender »yet more non-committal politician-talk«. Indem Pelasgos nämlich keine direkte Aussage macht, aber dabei seine Ehrfurcht vor den Göttern und die Sorge um die Ehre der Stadt offenbart, zeigt er den Danaiden genau, womit sie argumentieren müssen. Diese politeness-Strategie des Pelasgos, nicht explizit abzulehnen, deutet außerdem auf die emotionale Überzeugung der Danaiden im Rahmen des Möglichen hin: Im Vergleich zum harschen Ton zu Beginn der Szene ist Pelasgos schon deutlich milder und empathischer geworden. Damit können wir zumindest eine Verhaltensänderung des Pelasgos feststellen, der zuerst sehr abweisend und skeptisch gesprochen hatte (235–245). 22 Ein ähnliches Argument bringt auch Keum (2016) für die Situierung der platonischen Dialoge vor Publikum. 23 Zur Rezipientenlenkung in der homerischen Darstellung von Rhetorik, s. Pernot (2005) 3f. 24 Für die zwischen Pelasgos und der Volksversammlung aufgeteilte Entscheidungskompetenz für Supplikanten, s. Naiden (2006) 40. 176. Für die Abhängigkeit des Pelasgos vom Volk argumentiert auch schon Meier (1988) 109.

Fragestellung

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Interpreten die Frage nach angepasster und effektiver Rhetorik ganz besonders auf. Denn paradoxerweise wird dieses Scheitern zumeist in langwierigen Argumentationen und ausgedehnten Dialogen dargestellt. Durch das Missverhältnis zwischen der faktischen Auswirkung auf den plot und der Länge der Szene sticht dieses Phänomen unbestreitbar ins Auge. So ist dem Zuschauer zusätzlich aufgrund des Mythos klar, dass z.B. der Chor in Aischylos’ Septem (Aischyl. Sept. 677–719) daran scheitern muss, Eteokles vom Bruderkampfe abzuhalten; doch während dieser Szene stellen vor allem intercharakterliche Kommunikation betreffende Fragen: Woran genau scheitert das Gespräch? Auf welche Unzulänglichkeiten im Kommunikationsakt lenkt der tragische Autor den Fokus, um Scheitern von Rhetorik zu plausibilisieren?25 Welches Ausmaß an Interpretationsspielraum wird dem Zuschauer26 zugestanden?27 Die Irritation des Zuschauers durch vergebliche Charakterreden oder -dialoge eröffnet ex negativo einen Reflexionsrahmen für Rhetorik und Kommunikation in den jeweiligen Tragödien – so kann ein Erkenntnisgewinn über die bisherigen Fragestellungen zur Sophistik hinaus stattfinden. Diese Arbeit will erforschen, welchen individuellen Blick auf Rhetorik und Kommunikation die drei Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides ihrem Publikum vermitteln wollen, und so die komplexe dramatische Verwendung dieser nur scheinbar folgenlosen Szenen ans Licht bringen.

25 Für die Wichtigkeit von Plausibilisierung in der Tragödie als ›konzentriert‹ dargestellter Form, s. Scodel (1999a) bes. 5. Scodel (2017) 23f. macht hier den undifferenzierten Unterschied »bad persuasion« und »good persuasion« auf. Um diese Terminologie näher zu qualifizieren, soll sie in diesem Buch durch ›angepasste, rezipientenorientierte‹ bzw. ›unangepasste‹ Rhetorik ersetzt werden. 26 Zur Konstruktion eines Durchschnittszuschauers, der aufgrund der vorherrschenden Alltagskultur näher zu bestimmen ist, vgl. Roselli (2011) 3–5. 27 Hiermit meine ich die »auktorial intendierte Rezeptionsperspektive« von Pfister (2001) 90–92, die aus der kritischen Beurteilung der Figurenperspektiven entsteht. Für die Beobachtung, dass im euripideischen Agon die Rezeptionsperspektive so gelenkt wird, dass die Sichtweise des ἀδικήσας zum ersten Mal offenbart wird, s. Dubischar (2001) 191f.

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1.2 Rhetorik und Interaktion in der Tragödie: Von der Sophistik zur dialogischen Protorhetorik 1.2.1 Tragische Sprechakte und ihr Scheitern Tragische Persuasion vs. tragische Sprechakte Aristoteles definiert Rhetorik folgendermaßen: ἔστω δὴ ἡ ῥητορικὴ δύναμις περὶ ἕκαστον τοῦ θεωρῆσαι τὸ ἐνδεχόμενον πιθανόν.

(Aristot. rhet. 1355b26f.)

Rhetorik wird definiert als die Fähigkeit, in Bezug auf jeden Gegenstand das jeweils inhärente Überzeugende zu erkennen.

Diese Definition trägt der Theorie der rhetorischen Dialektik Rechnung, die Aristoteles in seinem Lehrbuch darstellt: Essentieller Teil rhetorischer Instruktion ist es, den Blick für das jeweils Überzeugende in jeder beliebigen Thematik zu schärfen.28 Jedoch bietet diese Bestimmung nur schwerlich einen Anhaltspunkt zur Beurteilung literarisch dargestellter, praktischer Rhetorik: Reicht die Erkenntnis des πιθανόν für seine gute Ausführung aus? Was, wenn die praktische Anwendung des als πιθανόν Erkannten keinen Effekt erzielt? Bedeutet Erfolg immer, dass gute Rhetorik zugrunde liegt? Diese Fragen zeigen, dass Aristoteles’ Rhetorik in der Analyse voraristotelischer und literarischer Texte zwar wichtige theoretische Grundlage, aber nicht umfassend praktikabel ist: Es ist dann nämlich fraglich, ob die Anrede der Hiketiden an König Pelasgos überhaupt als Rhetorik gelten darf, wenn sie keinen Erfolg hat, also die Sprecherinnen offensichtlich nicht τὸ ἐνδεχόμενον πιθανόν erkannt haben.29 Da Rhetorik an sich nicht scheitern kann, sondern lediglich ihre Ausführung, wagt diese Arbeit einen theoretischen Schritt weg von Aristoteles und hin zu neueren, allgemeineren Theorien der Rhetorik. Grundlegender kann Rhetorik nämlich als »Kunst der situations- und adressatenbezogenen wirkungsvollen Rede«30 definiert werden: So wird der Fokus auf Redeabsicht, Rezipientenbezug und praktischen Erfolg des Sprechers gelegt und ermöglicht die Analyse auch anderer Textarten aus rhetorischer Perspektive. Denn schon vor der schriftlich fassbaren rhetorischen Theoretisierung im 4. Jh. v. Chr. können wir im Sinne einer Protorhetorik absichtliche Gestaltung von Reden mit einer dezidierten 28 Vgl. Rapp (2002) 169. 29 Diese Ablösung vom Erfolg des Gesagten bei Aristoteles wird auch sichtbar bei Quintilian, der den Fokus auf die Ausbildung und Wesen des Sprechers legt (Quint. inst.1,1,9–16) und allein die gute rhetorische Äußerung als ars bezeichnet: ita oratori bene dixisse finis est (Quint. inst. 2,17,25). 30 Erler & Tornau (2019) 1.

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Redeintention beobachten:31 Ein Sprecher möchte entweder eine gewisse Handlung des Gesprächspartners hervorrufen (z.B. die Danaiden die Aufnahme in Argos) oder eine Änderung der Beziehung zum Gesprächspartner erreichen (z.B. Jason in Euripides’ Medea). Um diesen Mechanismus der »wirkungsvollen Rede«32 genauer zu beschreiben, bietet sich die Speech Act Theory33 als Analyseinstrument34 an: Sie schreibt mündlichen Aussagen einen Handlungscharakter und ebensolchen Effekt zu und bezeichnet diese damit als einen ›Sprechakt‹. Bei diesem Sprechakt wird zwischen drei Ebenen unterschieden: Einerseits die rein phatische Komponente, also die rein mündliche Äußerung (›Lokution‹); zweitens die Ebene der Handlung an sich, welche z.B. durch die Verben ›drohen‹, ›versprechen‹ oder ›bitten‹ angezeigt werden kann und einen vom Adressaten erkennbaren Sinn in die Rede hineinlegt (›Illokution‹);35 letztlich wird die Realisierung des gewünschten Effekts auf den Adressaten dieser Aussagen als ›Perlokution‹ bezeichnet. Im besten Falle sind alle drei Ebenen erfolgreich: Die Aussage wurde korrekt geäußert, ihre intendierte Illokution (z.B. ›Bitte‹) wurde erkannt und der Gesprächspartner reagiert wie gewünscht. Dann kann die Proposition, also die grundlegende Aussage des Sprechaktes, realisiert werden. Charakteren steht zur Verfolgung ihrer Redeintention immer ein vielfältiges Repertoire an illokutionären Sprechakten zur Verfügung, die kombinierbar sind: ein tatsächlicher Befehl ohne Argumentation (›Direktiv‹), eine Bitte (etwa im Rahmen einer Hikesie)36 und alle sonstigen, auch abgeschwächten Formulierungen einer Redeintention (persuasive Argumentation wie z.B. in einer Gerichtsrede). Um perlokutionär Erfolg zu haben, wird ein Charakter, selbst wenn er nur Direktive nutzt, seine Rede entsprechend anpassen, um einen größtmöglichen Effekt zu erzielen: Ohne entsprechende emotionale und rationale Argumentation, Rahmung und Tonanpassung ist es unwahrscheinlich, dass 31 Vgl. Hessler (2019); Zimmermann (2019) 601–603. Damit impliziere ich auch eine »ur-theory«, wie sie etwa Walker (2000) 6 für Hesiod vermutet und am expliziten Gebrauch etwa des Wortes πειθώ festmacht. 32 Erler & Tornau (2019) 1. 33 Austin (1962); Searle (1965); Grundy (2008) Kap. 4.2. 34 Als antiken Vorläufer der Speech Act Theory zitiert Schirren (2010) 79f. Protagoras A1 DK: διεῖλέ τε τὸν λόγον πρῶτος εἰς τέτταρα· εὐχωλήν, ἐρώτησιν, ἀπόκρισιν, ἐντολήν (οἱ δὲ εἰς ἑπτά· διήγησιν, ἐρώτησιν, ἀπόκρισιν, ἐντολήν, ἀπαγγελίαν, εὐχωλήν, κλῆσιν), οὓς καὶ πυθμένας εἶπε λόγων. Ἀλκιδάμας δὲ τέτταρας λόγους φησί·φάσιν, ἀπόφασιν, ἐρώτησιν, προσαγόρευσιν. Protagoras’ kleinste Spracheinheiten zeichnen somit das System der Sprechakte und ihrer Illokutionen vor; auch Anaximenes’ εἴδη (rhet. Alex. 1421b7–9) nimmt das Konzept der Illokutionen quasi vorweg. 35 Austin (1962) 98–115. 36 Der Kommunikationsakt der Hikesie besteht aus physischen Akten (Berührung der Knie/Füße, Tragen von Zweigen) sowie Sprechakten (Bitten, Direktive, Drohungen, Argumentation). Vgl. allgemein Naiden (2006).

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Propositionen angenommen werden. Hier soll Rhetorik im weitesten Sinne die situations- und adressatenbezogene Gestaltung eines jedweden intentionsvermittelnden Sprechaktes sein.

Scheiternde Rhetorik? Diesem Modell nach kann auch Rhetorik an sich nicht scheitern, sofern sie verbal realisiert wird und einen – vielleicht auch ungewollten – Effekt hat. Was jedoch scheitern kann, ist die Perlokution des Sprechakts, d.h. der gewünschte Effekt, den der Redner mit seiner Äußerung verfolgt.37 Um dies zu vermeiden, wird ein Sprecher seine Rede immer mit bestimmten Aspekten auszustatten versuchen, die seiner Meinung nach die Realisierung der Redeintention befördern – also im weitesten Sinne eine Rhetorik anwenden, die seine Kommunikation und das Erreichen seines Sprechaktes befördert. In diesem Aspekt weist Aristoteles’ Theorie eine Leerstelle auf. Doch ist dies etwa bei Klytaimestra in Aischylos’ Agamemnon zu beobachten, die zwar zum Erreichen ihrer Intention einen direktiven Sprechakt (Agamemnon solle auf die Gewänder steigen), aber dann im Nachgang eher verschiedene argumentative und persuasive Strategien bemüht. In unserem Kontext bezieht sich ›Scheitern‹ auf das Scheitern des perlokutionären Sprechaktes, da der illokutionäre Sprechakt erfolgreich sein, d.h. als ein solcher erkannt werden muss, damit die Proposition abgelehnt werden kann. Somit hat die Szene zunächst scheinbar keinen Einfluss auf den Dramenfortgang.

1.2.2 Rhetorische Adaptation und Theory of Mind Rezipientenanpassung in dialogischer Interaktion Da wir es in der Tragödie mit dialogischen und gleichzeitig rhetorisch geprägten Szenen zu tun haben, reichen monologische (also auf nur rezipierende, nichtantwortende Adressaten bezogene) Rhetorikbegriffe wie der des Aristoteles nicht aus, um die überzeugende Kommunikation von Figuren untereinander 37 Dies ist ablesbar an der Antwort, die der Interlokutor gibt. Im theoretischen Rahmen der Conversation Analysis wird dies greifbar (s. grundlegend Sacks, Schegloff & Jefferson (1974); Schegloff (2007)): Indem diese Theorie in der Dialogsequenz Äußerungspaare (›adjacency pairs‹) definiert, sodass der turn eines Sprechers entweder der ersten (›first pair part‹, FPP) oder zweiten (›second pair part‹, SPP) Stelle in der Frage-Antwort- bzw. AktionsReaktions-Sequenz zugeordnet wird, kann sie genau die verwendeten Sprechakte und deren Erfolg oder Misserfolg aufzeigen. Der perlokutionäre Erfolg eines Sprechaktes im FPP durch positive Antwort im SPP wird als preferred response, ein Misserfolg als dispreferred response bezeichnet. Weiterhin kann Conversation Analysis dazu dienen, den Kern eines Dialoges zu bestimmen: Die wichtigste, grundlegende Interaktion wird als base pair, bezeichnet, voroder nachbereitende Anfragen bzw. adjacency pairs als pre- oder post-expansion. Zur Anwendung der CA auf die attische Tragödie, s. Emde Boas (2017a).

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zu beschreiben und zu analysieren: Denn Aristoteles definiert seine ῥητορικὴ τέχνη als δύναμις […] τοῦ θεωρῆσαι τὸ ἐνδεχόμενον πιθανόν.38 Generell bedeutet dies zwar, dass ein Sprecher erstens über die Kenntnis des Adressaten und seiner Gedankenwelt39 verfügen sowie zweitens die rhetorische Fähigkeit vorweisen muss, entsprechende Argumente in seine Rede aufzunehmen und sinnvoll zu gruppieren.40 Allerdings lassen sich hiermit dialogische Aspekte kaum beschreiben, die tragischen Überzeugungssituationen inhärent sind.41 Aristoteles trifft einerseits – dem praktischen Lehrbuchcharakter seiner Überlegungen und der Masse des intendiertem Rednerpublikums völlig angemessen – eher generelle Annahmen über Typen von Adressaten,42 sodass der Aspekt der spontanen argumentativen Anpassung an den Gesprächspartner unterbetont bleibt.43 Andererseits ist Aristoteles’ Rhetorik grundlegend monologisch, da 38 ἔστω δὴ ἡ ῥητορικὴ δύναμις περὶ ἕκαστον τοῦ θεωρῆσαι τὸ ἐνδεχόμενον πιθανόν (Aristot. rhet. 1355b26f.) bzw. διὰ δὲ τῶν λόγων πιστεύουσιν, ὅταν ἀληθὲς ἢ φαινόμενον δείξωμεν ἐκ τῶν περὶ ἕκαστα πιθανῶν (Aristot. rhet. 1356a19f.). Im rein auf einseitige Persuasion bezogenen Rahmen der aristotelischen Rhetorik werden drei vom Redner zu gestaltende Faktoren genannt, an welchen sich der Erfolg von Rhetorik festmacht: τῶν δὲ διὰ τοῦ λόγου ποριζομένων πίστεων τρία εἴδη ἔστιν· αἱ μὲν γάρ εἰσιν ἐν τῷ ἤθει τοῦ λέγοντος, αἱ δὲ ἐν τῷ τὸν ἀκροατὴν διαθεῖναί πως, αἱ δὲ ἐν αὐτῷ τῷ λόγῳ διὰ τοῦ δεικνύναι ἢ φαίνεσθαι δεικνύναι. (Aristot. rhet. 1356a1–4). Aristoteles’ Analyse dreht sich um ἦθος, πάθος und λόγος, d.h. charakterliche, emotive und argumentative Eigenschaften der Rede. Ähnlich fasst auch Platons Sokrates im Dialog Gorgias die Rhetorikdefinition des namensgebenden Sophisten polemisch, da eindimensional, zusammen: λέγεις ὅτι πειθοῦς δημιουργός ἐστιν ἡ ῥητορική (Plat. Gorg. 453a2); gleich darauf deutet er jedoch einen weiter gefassten Rhetorikbegriff an (ἢ ἔχεις τι λέγειν ἐπὶ πλέον τὴν ῥητορικὴν δύνασθαι ἢ πειθὼ τοῖς ἀκούουσιν ἐν τῇ ψυχῇ ποιεῖν; Plat. Gorg. 453a4f.), den Gorgias allerdings ablehnt. 39 Vgl. rhet. Alex. 1428a23f.: εἰκὸς μὲν οὖν ἐστιν, οὗ λεγομένου παραδείγματα ἐν ταῖς διανοίαις ἔχουσιν οἱ ἀκούοντες. Für moderne Ansätze zum alignment, s. Pickering & Garrod (2006); zu Common Ground, s. Clark & Schaefer (1989). 40 ἔντεχνα δὲ […] ὥστε δεῖ τούτων τοῖς μὲν χρήσασθαι, τὰ δὲ εὑρεῖν (Aristot. rhet. 1355b37–39); vgl. Riedweg (2000) 27. Dies bietet auch eine Möglichkeit, sophistische Argumentationen und deren häufiges Scheitern im tragischen Dramenkontext zu erklären: Nur scheinbar passende Referenzrahmen oder Argumentationen zeugen von fehlender echter Einstimmung auf den Adressaten, die dem externen Rezipienten auffällt. Zum rezipientenorientierten Verhalten etwa des Odysseus gegenüber Thersites in Homers Odyssee, vgl. Hessler (2019) 7f.; Martin (1989) 23; Karp (1977) 245f. 41 Pernot (2005) 6 weist auf den dialogischen Charakter vieler rhetorischer Szenen in Homer hin. 42 Diese ökonomische Orientierung auf Typen von Adressaten in der öffentlichen Redepraxis erklärt auch Aristoteles’ Einführung von ἔνδοξα, d.h. allgemein gültigen Ansichten, da ein ihrer mächtiger Redner möglichst viele Menschen in der Polis zu überzeugen weiß (s. Aristot. rhet. 1358a10–14, τόποι κοινοί; top. 100b21–23). S.a. Aristot. rhet. 1356b30–32: οὐδεμία δὲ τέχνη σκοπεῖ τὸ καθ’ ἕκαστον, οἷον ἡ ἰατρικὴ τί Σωκράτει τὸ ὑγιεινόν ἐστιν ἢ Καλλίᾳ, ἀλλὰ τί τῷ τοιῷδε ἢ τοῖς τοιοῖσδε. S.a. Scodel (2017) 25. 43 Für einen der wenigen Belege für einen Individualbezug bei Aristoteles, s. Aristot. rhet. 1391b7–11. Bei Aristoteles ist der Bezug auf die Seele des Zuhörers wichtig, aber nicht so individuell wie im Sinne der platonischen ψυχαγωγία, vgl. Rapp (2002) II, 679–681. Zum

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sein adressierter Redeschüler vor einem rein zuhörenden Publikum auftritt,44 von dem keine spezifische rhetorische Reaktion in Form einer Gegenrede (also das Entstehen eines Dialogs) zu erwarten wäre; mit dieser Sicht bleiben aber auch spezifische sprachliche Merkmale unserer dialogischen Szenen der Tragödie unberücksichtigt.45 Sind Aristoteles’ Aussagen zur Rezipientenlenkung zwar sehr – und auch erstmals in der antiken Rhetorik – konkret personenbezogen im Rahmen der tatsächlichen öffentlichen Redesituation vor einem breiten Publikum, bleiben sie doch – dem Lehrbuchcharakter seines Werkes geschuldet – allzu typologischer Natur, um für den dialogischen Austausch zwischen zwei tragischen Figuren geeignet zu sein. Um in der Gedankenwelt der Antike zu bleiben, kann hier ein Blick auf Platon46 helfen,47 der den Blick für Rhetorik als dezidiert individuelle Psychagogie, die nicht nur Typen von Menschen überzeugen will, schärft.48 Im Dialog Phaidros lässt Platon Sokrates, freilich im Zusammenhang philosophischer Dialektik,49 folgendes für den idealen Redner postulieren: ἐπειδὴ λόγου δύναμις τυγχάνει ψυχαγωγία οὖσα, τὸν μέλλοντα ῥητορικὸν ἔσεσθαι ἀνάγκη εἰδέναι ψυχὴ ὅσα εἴδη ἔχει. ἔστιν οὖν τόσα καὶ τόσα, καὶ τοῖα καὶ τοῖα, ὅθεν οἱ μὲν τοιοίδε, οἱ δὲ τοιοίδε γίγνονται· τούτων δὲ δὴ οὕτω διῃρημένων, λόγων αὖ τόσα καὶ τόσα ἔστιν εἴδη, τοιόνδε ἕκαστον. οἱ μὲν οὖν τοιοίδε ὑπὸ τῶν τοιῶνδε λόγων διὰ τήνδε τὴν αἰτίαν ἐς τὰ τοιάδε εὐπειθεῖς, οἱ δὲ τοιοίδε διὰ τάδε δυσπειθεῖς· δεῖ δὴ ταῦτα ἱκανῶς νοήσαντα, μετὰ ταῦτα θεώμενον αὐτὰ ἐν ταῖς πράξεσιν ὄντα τε καὶ πραττόμενα, ὀξέως τῇ αἰσθήσει δύνασθαι ἐπακολουθεῖν, ἢ μηδὲν εἶναί πω πλέον αὐτῷ (Plat. Phaidr. 271de) ὧν τότε ἤκουεν λόγων συνών. Weil das Potential der Rede genau in der Psychagogie liegt, ist es notwendig, dass der Rhetorikschüler weiß, wie viele Formen die Psyche annehmen kann. Davon gibt es also so und so viele, diese und jene, woraus diese und jene Menschen entstehen. Nachdem dies so auseinandergesetzt wurde, gibt es wiederum diese und jene Formen von Reden, wobei eine jede in der einen oder anderen Form vorkommt. Die einen, die Menschen dieser Art, sind also von diesen Reden aus diesem Grund zu diesen Dingen leicht zu überzeugen, die anderen aber sind dadurch schwer zu überzeugen. Nachdem allgemeinen Rezipientenbezug des Aristoteles, s. die Abhandlung der Charaktertypen in Aristot. rhet. 1388b–1391b. 44 Auch seither orientierten sich die Rhetoriklehren des Mittelalters und der Neuzeit ebenso monologisch, beeinflusst von der monologischen Redesituation, die in den Traktaten des Aristoteles und des Cicero üblich ist, vgl. Zymner (2015) 3. 45 Dieses Problem der antiken Rhetoriktheorie sieht auch Scodel (2017) 23–26. 46 Schon Xenophon sagte über Sokrates ὁπότε δὲ αὐτός τι τῷ λόγῳ διεξίοι, διὰ τῶν μάλιστα ὁμολογουμένων ἐπορεύετο, νομίζων ταύτην τὴν ἀσφάλειαν εἶναι λόγου (Xen. mem. 4,6,15), beschreibt also die Adressatenorientierung des Sokrates in seinem λόγος (s. allgemein zum adressatenorientierten Bild des Sokrates Erler (2010)). 47 Zur Diskussion von Dialogizität und Monologizität, s. Plat. Prot. 338a–e. 48 Vgl. Erler (2019) 318 unter Hinweis auf Plat. Gorg. 453a; Phaidr. 261a. 49 Vgl. Plat. Phaidr. 261a. 271c, s.a. Erler (2019) 318. S.a. Scodel (2017) 24 für die Verbindung von ToM und Platon.

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der Rhetorikschüler dies ausreichend verstanden hat, ist es nötig, dass er, wenn er es in den Handlungen anderer und in der Praxis sieht, es mit großer Aufmerksamkeit verfolgen kann. Kann er dies nicht, hat er noch nicht mehr verstanden als damals, als er als Schüler solche Reden verfolgt hat.

Rhetorik wird hier eindeutig als individuell (τόσα καὶ τόσα) und rezipientenorientiert gesehen – wohl wegen ihres Vermittlungscharakters in der philosophischen Ausbildung: Es gehe darum, die ψυχή des konkreten Gesprächspartners zu kennen (ἱκανῶς νοήσαντα) und diese Erkenntnis auch in der Praxis zu verwenden. Im Endeffekt seien demnach unterschiedliche λόγοι für unterschiedliche Menschen überzeugend (ὑπὸ τῶν τοιῶνδε λόγων διὰ τήνδε τὴν αἰτίαν ἐς τὰ τοιάδε εὐπειθεῖς). Mit dieser individuellen Rezipientenorientierung in der dialogischen Kommunikation schließt Platon im philosophischen Bereich eine Leerstelle der antiken Theorie.50 Dieses Konzept übertragen etwa neuere rhetorische Theorien des 20. Jahrhunderts auf die rhetorische Ebene, auch indem sie den interaktiven Aspekt von Rhetorik und Kommunikation noch deutlicher herausarbeiten.51 Insofern ist jede Äußerung in ihrem kommunikativen Kontext zu sehen und daher auch daraufhin zu bewerten, inwiefern sie auf vorhergehende Äußerungen reagiert. Die Beobachtung einer Anpassung oder eines Aufbrechens der Struktur durch den Sprecher erlaubt daher Aussagen über die kommunikative und damit auch persuasive Strategie und Charakterisierung des Sprechers. 50 Heitsch (1993) 181 hält dezidiert die individuelle Rhetorik im Phaidros fest: »Die Kompetenz des Redners bewährt sich also angesichts der unübersehbaren Vielzahl möglicher Adressaten und denkbarer Situationen; seine Ausbildung dient daher […] allein dazu, daß er beliebigen Situationen in der realen Welt gerecht werden kann. Realität aber begegnet dem Redner […] primär nicht in politischen […] Versammlungen, sondern in einem einzelnen Menschen, also im Gespräch zu zweit.« Vgl. auch Yunis (2011) 10–14. 215f. S. allgemein Heitsch (1987). 51 Obwohl die Theorien der New Rhetoric (s. etwa Richards (1936); Perelman & ­Olbrechts-Tyteca (1969)) eine Öffnung des Rhetorikbegriffes über die öffentliche Redesituation hinaus vornehmen und ihr eine Rolle im Diskurs zuweisen, bleiben sie am Ende – wohl bedingt durch ihren Fokus auf die »Untersuchung menschlichen Zeichengebrauches« (Zymner (2015) 7f.) – doch monologisch und nehmen nicht die für Kommunikation wichtige gegenseitige Perspektivübernahme in den Blick. Stattdessen lohnt ein kurzer Abriss des dialogism (Linell (2009)). Er geht deutlich über die Speech Act Theory hinaus, die nur monologische Sprechakte in den Blick nimmt, indem Linell (2009) 296 seine Sprechakte »inter-acts« nennt, da man sie nur in ihrem kommunikativen Kontext betrachten könne: »Utterances, turns and larger sequences (communicative projects) are linked backwards to situations and prior contributions to the discourse, and they also have links to possible next actions or contributions, and thereby to projected changes in situations. They are not autonomous ›speech acts‹ uttered by speakers as autonomous acts, as if they had no context. Utterances are ›interacts‹ with retrospective and prospective aspects, or, with slightly different terms, ›responsive‹ and ›projective‹ properties.« S. auch den intersubjektiven Kommunikationsansatz von Verhagen (2005).

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›Rhetorik‹ soll daher in unserem Kontext weniger als die monologische sophistisch inspirierte Manipulation oder Deklamation verstanden werden, sondern vielmehr als an den Gesprächspartner angepasste interaktive52 Kommunikation mit einem bestimmten Redeziel. Dieser von Platon53 inspirierte Blick auf Rhetorik erlaubt es, die persuasive und kommunikative Darstellung der tragischen Charaktere abseits des herkömmlichen Sophistikdiskurses neu zu betrachten und zu würdigen.54

Theory of Mind Möchte man im Sinne der interaktionalen Rhetorik und Kommunikation genauer untersuchen, inwieweit eine argumentative Rezipientenanpassung und persuasive Flexibilität des Redners existiert, bietet das Konzept der Theory of Mind55 einen Analyserahmen, um von der Wahl der Argumente und des Sprachverhaltens durch tragische Charaktere Rückschlüsse auf die allgemeine Präsenz sozialer und linguistischer Kompetenz im tragischen Dialog zu ziehen. Fähigkeit zur Theory of Mind56 kann nämlich Menschen, und in unserem Fall auch Charakteren, dann zugeschrieben werden, wenn sie eine Vorstellung von den intersubjektiven Unterschieden bezüglich geistiger und emotionaler Zustände sowie kognitiver Annahmen des Gesprächspartners haben. In der neuesten altphilologischen Forschung ist ein zunehmender Fokus auf das Innenleben von Charakteren zu beobachten,57 und damit auch auf deren Theory of Mind-Fähig52 Auch in der modernen Linguistikforschung wird der interaktive Charakter des Dialogs unter dem Begriff alignment erfasst und als Voraussetzung für den Erfolg modernder Alltagsgespräche festgestellt von Pickering & Garrod (2006) 207: »[…] each interlocutor does not contribute autonomously to dialogue. Instead, dialogue should be regarded as a joint activity […], akin to collaborative problem solving or ballroom dancing.« Sie setzen weitestgehend gemeinsames grundlegendes Weltwissen, die gleiche Perspektive auf die Kommunikationssituation sowie übereinstimmendes linguistisches Wissen für erfolgreiche Kommunikation voraus. Ihre Belege sind zwar meist stichomythisch, aber ihr Grundgedanke lässt sich sowohl auf stichomythischen als auch auf rhesisbasierten Dialog anwenden. 53 Zum intellektuellen und didaktischen Nutzen der platonischen Dialoge für ihr Publikum, s. Keum (2016). 54 Ein Reflex der Sophistikkritik ist etwa in Eur. Hipp. 486–489; Phoen. 526f.; Bacch. 266–269; Aristoph. Ran. 971–978. 1491–1499 zu sehen, vgl. Zimmermann (2019) 620f. 55 Grundlegend zur Theory of Mind, s. Premack & Woodruff (1978). Ein guter Forschungsüberblick findet sich bei Sodian & Thoermer (2006); Rietz (2017) 71–76. 56 »The possession of theory of mind abilities broadly designates the capacity to attribute mental states to oneself and to others, and to reason on the basis of this information in order to interpret and predict others’ behaviors.« Zufferey (2010) 6. 57 Gill (1996); Gill (2006) und Padel (1992) besprechen zwar nicht Theory of Mind, aber die Konzepte von ›mind‹ und ›personality‹ in der antiken Literatur und speziell in der griechischen Tragödie. Beide konstatieren – unter Hinweis auf Platons Seelenteile – die Aufteilung der griechischen Persönlichkeit in verschiedene emotionale und rationale Aspekte, mit denen die Figur im Austausch steht und so wieder eine Einheit bildet (s. etwa Padel (1992) 48:

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keit,58 die besonders in den rhetorischen Äußerungen von Charakteren wichtig wird: Denn allgemein ist diese kognitive Leistung, die sich freilich noch detailreicher beschreiben lässt,59 nicht isoliert als reiner epistemischer Vorgang zu sehen, sondern weist einen ganz klaren Zusammenhang mit dem linguistischen Entwicklungsstand und der Sprachpraxis und komplexität eines Individuums auf.60 Zu Aufgaben mit komplexer Theory of Mind und komplexen linguistischen Anforderungen gehört auch persuasive Kommunikation, wie wir sie in den tragischen Rheseis und Dialogen finden. So besteht laut entwicklungspsychologischen Studien ein nachgewiesener Zusammenhang zwischen Variation

»Greek mind-words, in fact, suggest a unity in multiplicity somewhat similar to that which preoccupied Greek philosophers from the beginning, as they set out to give an account of inner and outer worlds in terms of the same material.« oder Gill (1996) 179: »One feature of Homeric and tragic vocabulary that is often noted is the drawing of a contrast between T (or ›he/she‹) and a psychological part or force.«). Integrales Kennzeichen dieses ›divided self‹ ist die Entstehung moralischer Ansichten desselben durch Interaktion mit sich und anderen: »Correspondingly, ethical education (at least in its earlier phases) is seen, especially by Plato and Aristotle, as the shaping of patterns of belief-based emotions and desires (dispositions) by interpersonal and communal interchange.« (Gill (1996) 180). Allerdings kann Gill (1996) 204–225 dieses ›divided self‹ nur bei Sophokles und Euripides beobachten und berücksichtigt Aischylos kaum. Einen interaktionalen Charakter der Seelenteile und der Seele mit äußeren Entitäten, v.a. göttlichen, stellt auch Eidinow (2015) 70f. im Rahmen der griechischen Gerichtsreden fest. 58 Folgende Arbeiten nehmen eine Anwendung von Theory of Mind auf die antike Literatur vor: Für die Theory of Mind-Aktivierung beim Zuschauer durch Literatur, s. Budelmann & Easterling (2010); Scodel (2012); für die Betrachtung der Charakterfähigkeit zur Theory of Mind im persuasiven Kontext, vgl. Scodel (2017). 59 Theory of Mind lässt sich etwa speziell in folgende Bewusstseinskonzepte zergliedern:»(1) diverse desire (DD; people’s desires can differ), (2) diverse belief (DB; people can have different, potentially true, opinions about the same situation), (3) knowledge access (KA; lack of information produces ignorance), (4) FB (beliefs can be untrue), and (5) hidden emotion (HE; someone can feel something but deliberately display a different emotion).« Peterson, Slaughter & Wellman (2018) 495. 60 So wird zwar zum Spracherwerb nicht zwingend eine Theory of Mind benötigt (Zufferey (2010) 16f.), jedoch hilft eine basale Theory of Mind in den ersten Lebensmonaten merklich bei der Aneignung von Vokabular, daraufhin aber umgekehrt ein komplexerer Spracherwerb und Kommunikationspraxis bei der Verbesserung der Theory of Mind. S. hierzu genauer Zufferey (2010) 19–21. 49f. Allgemein kann festgehalten werden, dass, je komplexer die ToM-Aufgaben und -Fähigkeiten werden, desto deutlicher ihr Zusammenhang mit sprachlichen Fähigkeiten ist, vgl. Zufferey (2010) 50; Ferstl & Michels (2012) formulieren offener und halten den grundlegenden Zusammenhang zwischen Theory of Mind und Sprache fest, ohne zu entscheiden, welche Fähigkeit sich zuerst entwickeln muss.

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und Anzahl an persuasiven Argumenten und der Theory of Mind-Entwicklung.61 Dies ist besonders bei komplexeren persuasiven Strategien relevant.62 Zeugnis einer ausgebildeten Theory of Mind, also im weitesten Sinne einer Fähigkeit zur Perspektivübernahme,63 sind korrekte Annahmen über den geistigen Zustand des Anderen und der bewusste Einsatz dieser Erkenntnis im Austausch. Dabei bedeutet Theory of Mind die korrekte Zuschreibung von kognitiven Annahmen und emotionalen Zuständen gleichermaßen,64 was offensichtlich für Redner relevant ist. Ein besonders deutliches Zeichen von Theory of Mind kann dabei aber auch der bewusste unkooperative Einsatz dieser Erkenntnis sein, also Manipulation oder Provokation.65 Theory of Mind ist zusammenfassend die zugrundeliegende Fähigkeit, die ein Redner für eine angepasste Argumentation bzw. die bewusste Nichtanpassung seiner Argumentation benötigt, und welche erfolgreiche interaktionale Kommunikation erst möglich macht.

61 Slaughter, Peterson & Moore (2013); Peterson, Slaughter & Wellman (2018). In diesen Studien wurden Kinder ab dem sechsten Lebensjahr gebeten, eine Puppe mit Sprache zu überzeugen, ihre Zähne zu putzen. Anschließend wurde die Kreativität ihrer Argumente mit ihren Theory of Mind-Fähigkeiten verglichen, welche durch einen false belief-Test gemessen wurden. 62 Slaughter, Peterson & Moore (2013). Eine Strategieänderung und somit eine Steigerung der Komplexität wurde durch die immer gleiche Antwort der Puppe gefordert. 63 Die erforderlichen Eigenschaften können also allgemein mit dem Begriff der »Perspektivübernahme« (s. allgemein Rietz (2017)) beschrieben werden, die wiederum verschiedene Entwicklungsstufen aufweist (s. Bischof-Köhler (2011) 81; Rietz (2017) 80). Dieser Aspekt der ToM hat ebenso zwei Komponenten: Die affektive Perspektivübernahme »bietet die Möglichkeit, unter Ausschluss der eigenen Emotionen gegenüber einem Sachverhalt, das Verhalten eines anderen vorherzusagen und die begleitenden Emotionen in die Vorhersage einzubeziehen.« (Rietz (2017) 79). Für unsere Zwecke ist die komplexeste Entwicklungsstufe relevant, die Perspektivrelativierung: Hierunter wird die Fähigkeit verstanden, die Vielfältigkeit von und die multiplen Einflüsse auf fremde Perspektiven zu würdigen. Rietz (2017) 92 interpretiert dies auf der narrator-narratee-Achse: »In der erzählten Welt können andere Norm- und Wertvorstellungen durch den Erzähler konstruiert werden, die mit der jeweiligen Zeit, in der der Rezipient lebt, übereinstimmen oder nicht. Der Rezipient kann seine eigene Perspektive, die durch sein Erfahrungs- und Weltwissen beeinflusst ist, bzgl. der durch den Erzähler präsentierten Sachverhalte relativieren.« Jedoch darf dies auch für die Achse Sprecher – Gesprächspartner gelten. 64 »›cognitive‹ ToM (involving the ascription of intentional states such as beliefs, perception, desires, etc.) and ›affective‹ ToM (dealing with the perception and ascription of emotional states).« Rakoczy, Harder-Kasten & Sturm (2012) 58. 65 Für diesen Hinweis und generelle Diskussionsbereitschaft danke ich Prof. Dr. Ricarda Schubotz, Arbeitseinheit Biologische Psychologie der Universität Münster. Diese Beobachtung fehlt bei Scodel (2017), die mangelnde Adaptation bzw. persuasives Scheitern grundsätzlich als Ausdruck geringer Theory of Mind-Fähigkeiten interpretiert.

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1.2.3 Pragmatik und Metapragmatik Da sich die Analyse persuasiver Interaktion nicht nur darauf beschränkt, was geäußert wird und wie diese Sprechakte zusammenhängen, sondern auch, wie etwas formuliert wird, dürfen stilistische und weitere pragmatische Aspekte66 hier nicht fehlen: Stilistisch kommt allenthalben die klassische rhetorische Textanalyse67 zum Tragen, die von einem ars-Gedanken68 etwa des Quintilian ausgeht und jedweden Text, also auch Reden, auf seine rhetorisch-stilistischen Gestaltungsmittel und die sich daraus ergebende Wirkung untersucht. Doch findet sich im hauptsächlich technisch interessierten Ansatz der rhetorischen Textanalyse nur ein geringer Fokus auf Sprachverhalten, Stilebenen und -register,69 was – im Bewusstsein über die betreffende Definitionsproblematik für die Antike – für unseren persuasiven Kontext aber essentiell wäre. Im persuasiven Dialog ist daher vielmehr über die klassischen Analysemittel hinauszugehen, um das Sprachverhalten der Charaktere völlig zu erfassen – denn wie sich eine Figur im Dialog verhält, was sie impliziert und ob dies angemessen oder unangemessen ist,70 lässt sich kaum anhand von klassischen rhetorischen Stilmitteln analysieren.

Pragmatik Für die umfassende Betrachtung persuasiver Äußerungen und dem Sprachverhalten von Charakteren bieten sich Instrumente der Pragmatik an, deren Nutzen so definiert wird: »[T]he distinction between what a speaker’s words (literally) mean and what that speaker might mean by his words.«71 Im Zusammenhang des Sprachverhaltens sollen – neben der oben beschriebenen Speech Act Theory – v.a. zwei Aspekte der Pragmatik einbezogen werden: politeness und Metapragmatik.

66 Die Speech Act Theory fällt auch bereits unter die Pragmatik, vgl. Grundy (2008) 38–41. 67 Plett (2000); Plett (2001); Zymner & Fricke (2007); Zymner (2015). 68 Quint. inst. 2,14,5; s. Plett (2001) 1–5. 69 Plett (2001) 127–134 S.a. knapp Knape (2000) 133–135. Für ›Register‹ im Griechischen, s. Dickey (1996) 12–14. 70 van Eemeren & Grootendorst (2004) 55 rezipieren dies in ihrem sozialen Aspekt der Argumentation: »In pragma-dialectics, argumentative discourse and texts are conceived as basically social activities, and the way in which the argumentation is analyzed depends on the kind of verbal interaction that takes place between the participants in this communication process. The ways in which the parties involved react to one another’s (genuine or assumed) standpoints, doubts, criticism, argumentation, and objections are regarded as a vital part of a joint process of conflict regulation.« 71 Atkinson, Kilby & Roca (1988) 217.

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Politeness theory betrachtet die zugrundeliegenden Prinzipien für sozial und rangmäßig angemessene Sprache,72 was im rhetorischen Kontext unabdingbar ist. Zur Bewertung der Angemessenheit und des Registers einzelner Äußerungen ordnet sie diese in ein Spektrum ein, das von hoher Direktheit (bald on record) über implizierende Indirektheit (off-record) bis zum gänzlichen Äußerungsverzicht reicht.73 Die Grundannahme ist, dass Sprache idealerweise so sensibel formuliert werden muss, dass das Gegenüber keinen Gesichtsverlust erleidet74 – dies ist höchst relevant für rhetorische Interpretationen, da so das Register bestimmter Äußerungen definiert werden kann. Freilich sind die Kriterien für diesen Gesichtsverlust schwer zu bestimmen, was einen jüngsten Kritikpunkt an der klassischen politeness theory darstellt:75 So stellt sich etwa die Frage, ob eine bald on record-Formulierung, i.e. eine sehr direkte Aussage, immer impoliteness bedeuten muss und damit immer Zeichen eines absichtlich abweisenden Sprachregisters ist. Tatsächlich kann sie auch eher neutral oder als Instrument kommunikativer Ökonomie benutzt werden.76 Zudem hängt die endgültige Definition von im-/politeness stets von ihrer Beurteilung durch den stückinternen Adressaten ab:77 Die Voraussetzung hierfür ist, dass die Implika72 Die klassische politeness theory wurde umfassend von Brown & Levinson (1987) systematisiert, s. aber auch Lakoff (1973); Leech (1980); Leech (1983). Kritik an diesen Ansichten übt Watts (2003), der eine jeweils individuelle, soziale politeness theory entwirft und warnt, den Begriff des face diachron zu verwenden oder zu verallgemeinern. 73 Grundy (2008) 287f. bietet folgende Übersicht der politeness-Strategien nach Brown & Levinson (1987): 1. Do the act on-record (direkte Anrede des Adressaten) a. baldly, without redress (direkte Anrede, direkte Formulierung) b. with positive politeness redress (direkte Anrede, kein Gesichtsverlust impliziert) c. with negative politeness redress (direkte Anrede, hoher Gesichtsverlust impliziert) 2. Do the act off-record (indirekte Anrede des Adressaten) 3. Don’t do the act (keine Äußerung) 74 Sie nennen das Kriterium für angemessene Sprache »face«, um die sozial-normative Komponente hervorzuheben (s.a. Goffman (1967) zum Begriff »face«): Ein Sender muss sich so ausdrücken, dass der Adressat sein Gesicht nicht verliert; dies hängt natürlich von ihrer Beziehung ab, s. Brown & Levinson (1987) 61–84. 75 Einen diskursiven Ansatz zu politeness vertritt Watts (2003) 93–98 und kritisiert an Brown & Levinson (1987) etwa die starre Schematisierung von positive und negative politeness sowie die Missachtung sozialer und kultureller Aspekte des face-Begriffs. Stattdessen schlägt er eine Trennung in politeness1 und politeness2 vor, um die Laiendefinitionen ›höflich‹ und ›unhöflich‹ (=politeness1, Watts (2003) 8f.) von der wissenschaftlichen Suche nach kulturübergreifenden Strategien und Faktoren dieser politeness1 (=politeness2) abzugrenzen. Für eine Problematisierung des nicht zu verallgemeinernden kulturellen Hintergrunds in der politeness theory s.a. Culpeper (2011) 12–14. 76 Vgl. etwa Metadirektive wie πιθοῦ oder λέγε μοι. Deutlich wird dies auch in Aischyl. Sept. 238, wo die direkte Formulierung eines Direktivs kommunikationsvereinfachend wirkt (s. Kapitel 2.1.1). 77 »[Sc. evaluative terms of politeness] are subject to discursive dispute in that participants in social interaction are likely to differ in attributing these Beurteilungs to individuals’

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tion der jeweiligen Äußerung deutlich markiert sein muss, also als ungewöhnliche, nicht neutrale Art der Kommunikation auffällt.78 Auch der übergeordnete Interaktionskontext beeinflusst die Einschätzung von im-/politeness:79 »A polite utterance is a speaker’s intended, marked and appropriate behavior which displays face concern; the motivation for it lies in the possibly, but not necessarily, egocentric desire of the speaker to show positive concern for the addressees and/or to respect the addressees’ and the speaker’s own need for independence.«80

vs. »Addressees will interpret an utterance as polite when it is perceived as appropriate and marked; the reason for this is understood as the speaker’s intention to show positive concern for the addressees’ face and/or the speaker’s intention to protect his or her own face needs.«81

Ungeachtet dieser Notwendigkeit, politeness stets anhand ihrer Markiertheit und externe Einschätzung zu beurteilen, wurde politeness theory in jüngster Zeit häufiger auf die griechische Tragödie angewandt,82 wobei aber in der Antike die Kriterien für politeness nicht endgültig zu definieren sind.83 Um weitere Erkenntnisse über Sprachregister im antiken Kontext zu erlangen, ist politeness theory sinnvollerweise am markierten, d.h. stückintern oder -extern als nicht neutral erscheinenden Einzelfall zu prüfen.84 In dieser Betrachtung soll interpretatorischer Nutzen aus dem Unterschied zwischen markierten bald on record-Formulierungen und indirekten off-record-Strategien gezogen werden. contributions to the interaction.« Watts (2005) xx. Vgl. Locher (2006) 251: »no utterance is inherently polite.« 78 Watts (2003) 275 definiert ›markiert‹ als: »that which occurs less frequently and thus appears unusual and salient.« Also muss nicht die Äußerung selbst sprachlich o.ä. markiert werden, sondern das durch sie ausgedrückte Verhalten als eben nicht neutral, vgl. auch den feststehenden Ausdruck »salient behaviour« Watts (2003) 5. Locher (2006) 258 nennt etwa »unmarked behavior« »non-polite«. 79 »It would also seem that whether or not a participant’s behaviour is evaluated as polite or impolite is not merely a matter of the linguistic expressions that s/he uses, but rather ­depends on the interpretation of that behaviour in the overall social interaction.« Watts (2003) 8. 80 Locher (2006) 252. 81 Locher (2006) 253. 82 Vgl. etwa Lloyd (2009); Lloyd (2006); Catrambone (2016); s.a. Dickey (1996) 15, die Verwandtschaftsbezeichnungen für Nichtverwandte auch im Griechischen als Ausdruck positiver politeness und als »in-group identity marker« ansieht. 83 Lloyd (2006) 227f. weist etwa in Soph. Oid. K. auf die Problematik hin, dass nicht jeder face threat automatisch impoliteness bedeuten muss, sondern der Kontext zu beachten ist. Allgemein wird dort deutlich, dass griechische Lexik differenzierter und fallbezogener interpretiert werden muss, um politeness theory sinnvoll nutzen zu können. 84 Dies postuliert auch Watts (2003) passim für jedweden Kultur- und Sprachraum.

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Denn hiermit kann zusätzlich zur schwer definierbaren politeness85 – die, wenn deutlich erfassbar, auch gewürdigt werden soll – auch das Konzept der impoliteness86 nachverfolgt werden. Als Hypothese soll impoliteness als eine mögliche Ursache scheiternder Sprechakte vermutet werden: »[…] behaviours are viewed negatively − considered ›impolite‹ − when they conflict with how one expects them to be, how one wants them to be and/or how one thinks they ought to be. Such behaviours always have or are presumed to have emotional consequences for at least one participant, that is, they cause or are presumed to cause offence.«87

Impoliteness-Strategien können etwa Beleidigungen, Kritik oder Flüche sein, die freilich zumeist bald on record formuliert sind.88 Allgemein sollen in dieser Arbeit – da Charaktere selten explizit die politeness oder impoliteness ihrer Mitcharaktere beurteilen89 – im-/politeness-Strategien analysiert werden, die markiert, also auch vom Interpreten deutlich in ihrem Kontext als solche zu erkennen sind.90 Hierbei sollen die Dichotomie zwischen impoliteness und politeness sowie das Spektrum zwischen bald on record und off-record Hilfe leisten. In einem zweiten Schritt ist ihr Einfluss auf den Erfolg des persuasiven Projektes zu bestimmen – denn die rhetorische Einsatzmöglichkeit von politeness liegt angesichts ihres Potentials für die Abschwächung von kommunikativen Anliegen auf der Hand. Bei einer flexiblen Anwendung der theoretischen Kategorien auf antike Texte91 kann politeness theory als Analyseinstrument genutzt werden, um die Angemessenheit von tragischer Sprache näher zu betrachten und zu untersuchen, ob politeness-Strategien einen Einfluss auf den Erfolg von Sprechakten haben.

85 Die einfachere Definition von impoliteness bemerkt auch Watts (2003) 5. 86 Zum Konzept s. Watts (2003) 5–8; Culpeper (2011). 87 Culpeper (2011) 254. 88 S. Culpeper (2011) 256 für eine Übersicht möglicher impoliteness-Strategien. 89 Als Ausnahme darf τίς τάδε νέμεσις στυγεῖ (Aischyl. Suppl. 235) gelten. 90 Vgl. etwa den Optativ αἰτουμένῳ μοι κοῦφον εἰ δοίης τέλος (Aischyl. Suppl. 260) des Eteokles, der im Kontext deutlich auffällt (vgl. Kap. 2.1.1.2). 91 Culpeper (2011) 257 weist zu Recht auf die extrem hohe Zahl an bald on record-­ Formulierungen im frühmittelalterlichen Beowulf im Vergleich zu heutigen Texten und Konversationen hin.

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Metapragmatik Bei einer Analyse angemessener und unangemessener Rhetorik in der Tragödie fallen unvermeidlich Ausdrücke der Charaktere auf, die sich auf die Metaebene des Gesprächs beziehen – beispielsweise messbar durch einschlägige, selbstreflexive Bemerkungen zum Gespräch und über Sprache allgemein:92 ΚΛ. πιθοῦ, κράτος μέντοι πάρες γ’ ἑκὼν ἐμοί.  (Aischyl. Ag. 943) Kl. Lass dich doch überzeugen: Du bleibst nach wie vor der Herrscher, selbst wenn du nun freiwillig nachgibst. KΡ. ὁ γοῦν λόγος σοι πᾶς ὑπὲρ κείνης ὅδε. ΑΙ. καὶ σοῦ γε κἀμοῦ, καὶ θεῶν τῶν νερτέρων.  Kr. Deine ganze Rede hältst doch nur ihretwegen. Hai. Und für dich, mich und die Jenseitsgötter. ΠΡ. ὀχλεῖς μάτην με  Pr. Du belästigst mich vergeblich mit deiner Rede.

(Soph. Ant. 748f.)

(Ps.-Aischyl. Prom. 1001)

ΙΠ. ἐγὼ δ’ ἄκομψος εἰς ὄχλον δοῦναι λόγον, ἐς ἥλικας δὲ κὠλίγους σοφώτερος. Hip. Ich bin unfähig, vor einer Menschenmenge zu sprechen, übertreffe nur wenige an Fertigkeit in meinem Alter.

(Eur. Hipp. 986f.)

ΜΗ. […] καὶ τῶνδε γονάτων, ὡς μάτην κεχρῴσμεθα […]. (Eur. Med. 497) Me. Und ihr meine Knie, die ihr von diesem vergeblich berührt wurdet. ΦΙ. πάντα γὰρ φράσεις μάτην.  Phi. Denn du sprichst alles vergeblich.

(Soph. Phil. 1280)

Diese Ausdrücke, die etwa performative Verben (λέγω, λίσσομαι etc.), Sprechaktverben (vgl. πιθοῦ Aischyl. Ag. 943),93 selbstreferentielle Aussagen (vgl. ἐγὼ δ’ ἄκομψος […] δοῦναι λόγον Eur. Hipp. 986f.), Partikeln, explizite Bezüge auf das laufende Gespräch (vgl. ὁ γοῦν λόγος […] ὅδε Soph. Ant. 748f.),94 indirekte Rede sowie das explizite Erwähnen einer Aussage statt des einfachen Ausdrucks 92 Hiermit fasse ich die Betrachtung also weiter als Gondos (1996) 1–6, die sich nur auf rhetorische Reflexionen, und zwar erst ab dem letzten Drittel des 5. Jh.s konzentriert, also Aischylos gänzlich ausklammert. Wie sich zeigen wird, gibt es bei Aischylos jedoch durchaus metapragmatische Aussagen und somit ebenso Anzeichen für ein hohes Sprachbewusstsein, vgl. Kapitel 2.2.4 und 5.1.4. 93 πιθοῦ markiert hier deutlich Klytaimestras Sprechakt ihres rhetorisch stilisierten Direktivs. Obwohl es als Imperativ der 2. P. Sg. formuliert ist, kategorisiert es doch eher formelhaft Klytaimestras Rede als persuasiv-direktiv. 94 Verschueren (2004) 53 nennt hierfür »“the text you have just started to read” and «thereby engaging in the conscious use of metalanguage”« als Beispiel: Hier wäre es die Aussage Kreons, Haimon halte diese Rede wegen Antigone.

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Einführung

ihrer Proposition95 sein können, werden als metapragmatische Aussagen96 bezeichnet.97 Während sie auf intersubjektiver Ebene Zeichen für kommunikatives Bewusstsein98 und ausgeprägte Theory of Mind99 sowie Mittel für ökonomische Kommunikation sind,100 erfüllen sie im Analyserahmen dieser Arbeit vor allem eine extradramatische Funktion: Durch die eindeutige Rahmung und Benennung des Sprechaktes durch die Figur erfährt der Zuschauer hier eine Einordnung und Lenkung seiner Rezeptionshaltung. Seine Denkleistung, Aussagen und Reden von Figuren einzuordnen und zu klassifizieren, wird ihm abgenommen. Der Autor gibt ihm durch die explizite Metasprache seiner Figuren einen Rezeptionsrahmen vor und findet in der Metapragmatik ein weiteres Plausibilisierungselement gelingender und scheiternder Redehandlungen, da sie Haltungen erklärt (vgl. Ps.-Aischyl. Prom. 1001; Soph. Phil. 1280) oder Sprechakte definiert.101 95 ›Ich ermahne euch, dass ihr euch falsch entschieden habt‹ vs. ›Ihr habt euch falsch entschieden‹. 96 Verschueren (2004) 61 bietet eine ausführliche Liste für metapragmatische Aussagen: »metapragmatic descriptions (e.g., by means of metapragmatic lexical items such as speech act verbs or performative verbs); self-referential expressions; discourse markers/particles or pragmatic markers/particles; sentence adverbs; hedges; explicit intertextual links; quoted and reported speech; “mention” (vs. “use”); some “shifters” (e.g., some evidentials); some “contextualization cues” (many of the above can be included in this category)«. Collins (2013) 52 fügt hinzu: »To negotiate the flow of a conversation (e.g. I’m sorry I didn’t hear you, can you talk a bit louder?) […]; To establish group rules (e.g. You must always look at me and listen when I am talking); To reflect on pragmatic rule violations (e.g. You didn’t say please, that’s not polite).« S.a. Grundy (2008) 236–239. 97 Metapragmatik soll hierbei definiert werden als »ability to reflect on language in a conscious way« Szücs & Babarczy (2017) 131 bzw. »ability to reflect on language by linking language to context« Collins (2013) 51. 98 »[…] metalanguage is an important topic for linguistic research because it reflects metapragmatic awareness, a crucial force behind the meaning-generating capacity of language in use. The reflexive awareness in question is no less than the single most important prerequisite for communication as we know it. It is part of what Tomasello (1999) describes as people’s ability to identify with others and thus to work collaboratively towards common goals.« Verschueren (2004) 53. 99 Den Zusammenhang von metapragmatischen Aussagen und persuasiver sowie ToMKompetenz belegen Szücs & Babarczy (2017); Collins (2013); Lucy (1993). Vgl. Caffi (2006) 86: »All such skills are not predicated on clumsy beginners (the ›model readers,‹ […] of many textbooks and grammars) but on social actors and ›competent readers‹ […] who use their communicative know-how, not with awe but with pleasure.« 100 In der modernen Forschung wird der Zweck metapragmatischer Äußerungen generell ausgedrückt als »dialogue management in terms of communicative effectiveness.« Caffi (2006) 86. S.a. Grundy (2008) 233: »[Speakers] typically use metapragmatic marking to guide addressees in the way they want what they say to be understood.« 101 Diese Ansicht geht über diejenige von Scodel (1999b) hinaus, die v.a. performative Funktionen für diese Ausdrücke festhält. Vgl. die Diskussion in den Schlussfolgerungen Kapitel 5.1.4 Anm. 965.

Analyseaspekte und dispositive Bemerkungen

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So kann durch erhöhtes kommunikatives Bewusstsein der Charaktere eine gezielte Zuschauerlenkung bei der Beurteilung intersubjektiver Kommunikation und Rhetorik stattfinden: Indem Philoktet etwa explizit seine Unüberzeugbarkeit ausdrückt (Soph. Phil. 1280), verlagert sich der Fokus des Zuschauers einerseits auf Neoptolemos’ Überzeugungsstrategien, nicht auf Philoktets Gründe für seine Ablehnung, und andererseits auf die kritische Beurteilung des Einflusses von Rhetorik an sich. Die tragischen Dichter lassen ihre Figuren metapragmatische Aussagen benutzen, um intradramatisch Macht über das kommunikative Projekt auszuüben: Allgemein zur Erzeugung der nötigen Transparenz und kommunikativen Ökonomie für den Rezipienten (und auch für den Zuschauer),102 bisweilen aber auch zur bewussten Eskalation des Austausches.103 Dies wird dem Zuschauer verdeutlicht. Im Zuge dieser Rezipientenlenkung durch den Autor muss die Verlagerung auf die Metaebene und ihr veränderter Gebrauch diachron104 in der attischen Tragödie beobachtet werden.

1.3 Analyseaspekte und dispositive Bemerkungen Im Rahmen dieses Buches soll die Protorhetorik105 der tragischen Charaktere betrachtet werden, die dialogisch und interaktiv zu verstehen ist und sich auch auf pragmatische Aspekte bezieht. Denn es ist von der Annahme auszugehen, dass tragische Charaktere ihre Sprechakte angemessen und bewusst gestalten, um ihr Ziel zu erreichen. Damit soll der Frage nachgegangen werden, woran der Autor seine Charaktere scheitern lässt und auf welchen Aspekt zwischenmenschlicher Interaktion und Kommunikation er den Fokus seiner Rezipienten legen möchte. So soll auch die Rhetorik der frühen Tragödie gewürdigt und ein neuer Blick auf interaktive Rhetorik in der Tragödie ohne Verengung auf die Sophistik betreffende Fragestellungen ermöglicht werden. Um diesen Blick auf die Rhetorik der Tragödie systematisch vorzunehmen, sollen verschiedene Aspekte die Textanalyse exemplarischer Szenen leiten. Der Schwerpunkt der Analysen wird hier ganz klar auf Aischylos liegen, aus dessen 102 Vgl. Caffi (2006) 86. 103 Zu Sprache als Machtmittel, vgl. Erler & Tornau (2019) 1 Anm. 1. Zur Metapragmatik als Ort für impoliteness, vgl. Kapitel 2.1.1.4 und 2.1.1.6. 104 Gondos (1996) 4f. m. Anm. 21 fokussiert v.a. auf Sophokles und Euripides und lenkt daher nur sehr sporadisch die Aufmerksamkeit auf Aischylos, der freilich noch frühere Belege zur rhetorischen Reflexion bietet. Diese werden freilich andere Akzente und andere Zahlenverhältnisse haben, sind aber deswegen nicht zu vernachlässigen. 105 Zum Begriff und Beispielen aus der archaischen und klassischen Literatur, s. Zimmermann (2019) 601–603; Hessler (2019). Zu Relevanz und Rhetorisierung der vor-aristotelischen Literatur, vgl. Worman (2009); Enos (2012).

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Einführung

Werk alle scheiternden Redeszenen106 bedacht werden: Denn Aischylos wurde bisher in der rhetorischen Forschung kaum berücksichtigt. Als Vergleich dazu folgt eine Auswahl von sophokleischen und euripideischen Szenen,107 die sich deutlich in ihrer Zuschauerlenkung unterscheiden, was Erfolg und Scheitern von Rhetorik angeht. Diese Szenen können teilweise als Agone bezeichnet werden,108 sollen aber aufgrund ihrer Interaktivität und rhetorischen Adaptation vor allem für ihre Redeziele auf der Beziehungsebene gewürdigt werden, sodass der moderne theoretische Rahmen109 des Agon zunächst zurückzustellen ist.110 Die ausgewählten Szenen in dieser Arbeit sollen anhand der folgenden Kriterien analysiert werden –111 dies mag dem Leser auf den ersten Blick zwar schematisch erscheinen, bringt aber einen entscheidenden Gewinn an Klarheit und macht die gewonnenen Einzelerkenntnisse über die interpretierten Szenen hinweg vergleichbar.

106 Aischyl. Sept. 182–286. 677–719; Suppl. 882–965; Ag. 810–974; Ps.-Aischyl. Prom. 937– 1079. Bei Aischyl. Choeph. 885–930 handelt es sich um einen Grenzfall: Klytaimestra scheitert zwar, Orestes von ihrer Tötung abzuhalten, aber die tatsächliche Argumentation und Auseinandersetzung dauert etwas weniger als 10 Verse (896–904). Da Orest auch noch Pylades τί δράσω (899) fragt, und Pylades zum Vergeltungsmord rät, wird die kommunikative Lage sehr unübersichtlich. Daher wird auf eine volle Analyse von Choeph. 885–930 verzichtet. 107 Soph. Ant. 631–780; Phil. 1261–1471; Eur. Hipp. 902–1101; Med. 446–626. 108 Zur starken Befolgung der Agonstruktur bei Euripides, s. Dubischar (2001) 83–95. 105–112; Lloyd (1992) 37–54. Griffith (1999b) 230 sieht Soph. Ant. 631–780 auch als Agon im weiteren Sinne an. 109 Vgl. etwa die formale Struktur, die Dubischar (2001) für den euripideischen Agon aufgestellt hat. 110 Lloyd (1992) 12 weist zwar zu Recht auf den thematischen Unterschied zwischen sophokleischen und euripideischen Agonen hin: In Sophokles entwickele sich die Feindschaft zwischen den Charakteren erst, während sie in Euripides’ Agonen Grundlage für die Auseinandersetzung sei. Diese Ansicht scheint nachvollziehbar, da sie ein weniger formstarres Gebilde bei Sophokles impliziert, bei welchem gleichzeitig der Ausgang offen ist – somit wird gleichzeitig beiden Parteien persuasiver Handlungsspielraum sowie ein persuasives Projekt gewährt. Jedoch muss m. E. ergänzt werden, dass der Umkehrschluss nicht gilt: Auch den euripideischen Figuren im Agon kann ein persuasives Ziel zugeschrieben werden, obwohl der Ausgang der Auseinandersetzung durch die vorhergehende Charakterbeziehung vorherbestimmt ist. Der Inhalt dieser Szenen darf daher nicht zugunsten der Struktur missachtet werden, sodass ein Aufbrechen der Agonstruktur neue Erkenntnisse bringen kann. 111 Um dem chronologischen Ablauf der jeweiligen Szene nah am Text und präzise zu folgen, werden in den Textanalysen einige Aspekte synchron betrachtet, aber in den Schlussfolgerungen zu den jeweiligen Autoren wieder gesondert aufgeführt.

Analyseaspekte und dispositive Bemerkungen

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1.3.1 Textanalyse: Auktoriale Rezeptionslenkung im Hinblick auf Rhetorik und Kommunikation (Kapitel 2–3) Um für das externe Publikum eine auktorial intendierte Rezeptionsperspektive112 zu rekonstruieren, also um zu entscheiden, zu welcher Sichtweise auf Rhetorik und Kommunikation der Zuschauer potentiell angehalten werden soll, sind folgende intradramatischen Aspekte an den Redeszenen zu untersuchen. In den jeweiligen Schlussfolgerungen der Textanalysen werden die einzelnen Analysekriterien miteinander in Beziehung gesetzt und so der jeweilige Schwerpunkt der Rhetorikdarstellung durch die drei tragischen Dichter offengelegt.113 Dies soll chronologische Entwicklungen im Blick auf Rhetorik und Kommunikation sichtbar machen (Kapitel 2 und 3).

1.3.1.1 Rhetorische Adaptation und Theory of Mind Um auf inhaltlicher Ebene zu überzeugen,114 ist es für den Sprecher unumgänglich, diejenigen Argumente und Argumentationsstrategien zu verwenden, die der Empfänger favorisiert. Doch wie kann ein Charakter in der drameninternen Überzeugungssituation die situative Disposition seiner Mitcharaktere erkennen? Denken wir an familiär verbundene Charaktere wie Klytaimestra/ Agamemnon oder Tekmessa/Aias, deren persuasives Projekt aber scheitert,115 scheint die naheliegende Kategorie der Vertrautheit keine Rolle in der kommunikativen Adressatenorientierung zu spielen.116 Da ein Charakter aber immer von szeneninternen Äußerungen seiner Gesprächspartner ausgehen kann, muss diese Anpassungskompetenz immer wieder neu im Gesprächsverlauf eruiert werden. Adressatenorientierung geschieht durch vorherige – nicht immer korrekte – Annahmen sowie durch Zuhören und die daraus folgende Erkenntnis der situativen, flexiblen Disposition des Anderen im Lauf des Diskurses.117 112 Für den Begriff, s. Pfister (2001) 90. 113 Dubischar (2001) 405f. nimmt etwa zur Bestimmung der auktorial intendierten Rezeptionsperspektive Prologreden, Chorkommentare und Äußerungen der »wichtigen Einzelpersonen« her. 114 Riedweg (2000) 15f. 115 Aischyl. Ag. 810–974; Soph. Ai. 430–595. In Klytaimestras Fall handelt es sich um ein vorläufiges Scheitern. 116 Vgl. etwa die kommunikative Anpassung des Odysseus an Neoptolemos (φύσιςDiskurs im Prolog des Philoktet), die aber auch nicht als enge Vertraute gelten können. 117 Durch die gattungstypische Form des tragischen Monologs und durch weitere, im Stück vorangegangene Äußerungen des zu überzeugenden Charakters, bietet sich dem Publikum – insofern dieser Monolog a parte oder in Abwesenheit des zu überzeugen suchenden Sprechers aufgeführt wird (vgl. Polyneikes in Soph. Oid. K., der für seine Überzeugung in 1256–1345 am besten Ödipus’ Monolog in 337–384 gehört hätte) – oder – im anderen Falle – auch dem Sprecher, die Möglichkeit, diese relevanten Punkte zu antizipieren.

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Durch dieses Wissensgefälle kann tragische Ironie erzeugt werden und eine Beurteilung des Redners durch das Publikum stattfinden. Inwiefern diese existente oder mangelnde Anpassung vom Autor als Aspekt rhetorischen Scheiterns betont wird, wird besonders vor dem Hintergrund zunehmender allgemeiner rhetorischer Lehre und Praxis118 im Laufe des 5. Jahrhunderts relevant, der eine bessere Einschätzung des und Anknüpfung an den Gesprächspartner nahelegen könnte. In den Einzelbeobachtungen des zweiten Kapitels wird zunächst die argumentative Adaptationsfähigkeit der Charaktere sowie ihre explizite Bezugnahme auf mentale Zustände ihrer Gesprächspartner beobachtet; am Ende des jeweiligen Autorenkapitels wird eine Einschätzung zur Komplexität der Theory of Mind der Figuren versucht, welche entweder implizit über die passenden Argumente oder explizit über die richtig geäußerte Einschätzung des mentalen Zustandes des Gesprächspartners gemessen werden kann.119

1.3.1.2 Sprachverhalten und politeness Um die Szene und ihre kommunikative Struktur zu würdigen, soll das Sprachverhalten der jeweiligen Charaktere eine eingehende Analyse erfahren. So werden einerseits die Disposition und das Wesen eines jeden Charakters offenbar, andererseits können durch die Identifizierung markierter Strategien120 – wie etwa die Anpassung von Anreden,121 indirekte, höfliche Formulierungen oder dezidiert so empfundene impoliteness122 – Aussagen über die spezifische Bemühung des Redners getroffen werden, sich auch in seiner Sprache an den Adressaten anzupassen und somit erfolgreiche Sprechakte zu vollziehen.123 Zu fragen ist, inwiefern die tragischen Autoren ihren Charakteren auch unpassendes 118 Damit meine ich allgemein aufkommende rhetorische Lehre und Praxis, vgl. Pernot (2005) 10–23. Ein Fokus auf Rezipientenorientierung kann nur deduktiv aus dem Werk des Aischylos vermutet werden, vgl. Kapitel 2.2.1. und 5.1.1. 119 Hinzu kommt der Aspekt, dass unpassende Argumentationen auch bewusst vom Gesprächspartner zu Zwecken der Irritation oder der Eskalation benutzt werden können: Dies würde für sehr hohe Theory of Mind-Fähigkeiten sprechen. Dies berücksichtigt Scodel (2017) in ihrer Analyse nicht und unterstellt diesen Figuren einen Mangel an Theory of Mind. 120 Die Markiertheit der Strategien ist in unserem Fall aus dem Szenen- und Dramenkontext zu gewinnen, der üblicherweise groß genug ist, um sprachliche Besonderheiten zu identifizieren. So sind etwa Beleidigungen wie in Ps.-Aischyl. Prom. 937–1079 (s. Kapitel 2.1.5.2) oder Klytaimestras over-politeness in Aischyl. Ag. 810–974 (s. Kapitel 2.1.4.2) durchaus auch vom modernen Interpreten als salient, also markiert, zu erkennen. 121 Dickey (1996). 122 Culpeper (2011) passim. 123 Vgl. etwa Hecubas scheiternde Rhetorik (Eur. Hec. 814–819), welche Riedweg (2000) 27 daran festmacht, dass sie »gleich zu Beginn ihrer Rede […] in eine wüste Beschimpfung des Odysseus und der gesamten undankbaren Brut der politischen Redner fällt.« Es ist völlig ersichtlich, dass sie damit ihren Sprechakt konterkariert.

Analyseaspekte und dispositive Bemerkungen

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Sprachverhalten verleihen, um das Scheitern von Sprechakten zu plausibilisieren, und damit korrektes Sprachverhalten ihrem Publikum gegenüber als essentielles Element für Persuasion und produktive Kommunikation betonen.

1.3.1.3 Metapragmatik: Häufigkeit, Gebrauch und explizite Plausibilisierung Die Beobachtung von Metapragmatik könnte Aufschluss darüber geben, wie bewusst der Autor das Publikum in der Rezeption seiner rhetorischen Darstellung lenkt. Dies kann auf zwei Weisen geschehen: Metapragmatische Kommentare können z.B. dramenintern sowohl adaptiv als auch eskalierend eingesetzt werden, sodass sich der Eindruck der absichtlich unpassenden, eskalierenden Rhetorik als Plausibilisierungsfaktor verstärken könnte. Andererseits können durch solche Aussagen auch externe oder charakterliche Gründe für eine Ablehnung der Redeintention formuliert werden, die sich sozusagen über den internen Bezugsrahmen der Szene hinwegsetzen. Damit kann der Autor den Blick auf unflexible Rhetorik oder auf externe Gründe und damit die Irrelevanz von Rhetorik lenken. Zu fragen ist: Wie verhält sich das quantitative Aufkommen der Metapragmatik diachron124 in der attischen Tragödie? Wie gestaltet sich ihr Gebrauch – eher adaptiv oder eskalierend? Inwiefern machen die drei Autoren sie als Plausibilisierungsinstrument für kommunikative Projekte im Rahmen einer gezielten Rezipientenlenkung nutzbar? Inwiefern ist die Verlagerung auf die Metaebene ein Dienst des Autors am Publikum?125

1.3.1.4 ἦθος des Sprechers und Autoritätskonflikte Zusätzlich zur sprachlichen Selbstdarstellung des Sprechers in der konkreten Überzeugungssituation126 beeinflusst sein allgemeiner Charakter, der sich aus der Summe der Meinungen, Handlungen und Verhaltensweisen im vorherigen Dramenverlauf sowie dessen Vorgeschichte ergibt,127 die Aufnahmebereitschaft des ohnehin voreingenommenen Adressaten; im dramatischen Kontext 124 Diese Untersuchung ist besonders relevant in Antwort auf Gondos (1996) 4f. m. Anm. 21, die metapragmatischen Aussagen bei Aischylos zu Unrecht nur geringe Bedeutung einräumt. 125 Hierbei setze ich mit der Beobachtung der Zentralität von Rhetorik im öffentlichen Leben Athens eine generelle Affinität des Publikums zur Rezeption rhetorisch gestalteten Sprechens voraus, vgl. Kapitel 1.1.1 m. Anm. 4. 126 Zur impliziten Darstellung von ἦθος durch explizite Argumente, vgl. Carey (1994) 36. 127 Im Gegensatz bezieht sich die Kategorie der Rhetorik lediglich auf Reden vor einer großen Versammlung, sodass die Aufgabe des Redners in der Selbstcharakterisierung in der Redesituation besteht (Aristot. rhet. 1377b; s. Carey (1994) 35–39) Im Drama verhält sich dies anders, da vorherige dialogische Begegnungen der Figuren berücksichtigt werden müssen. Aufgrund der Mündlichkeit ergibt sich allerdings für beide Formen eine Überschneidung von ἦθος mit πάθος und der Argumentation (Aristot. rhet. 1416a) sowie der allgemeine An-

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der Tragödie freilich entsteht dieses globale Charakterbild v.a. durch vorherige sprachliche Äußerungen, da sie der einzige Anhaltspunkt für die Einschätzung der Charakterdarstellung durch andere Figuren und das Publikum sind.128 Den intradramatischen Charakteren kann dieses Bild nur offenliegen, wenn vorher ein direkter oder indirekter kommunikativer Kontakt stattgefunden hat.129 So bedingt die Tatsache, dass Hippolytos’ Charakter schon außerhalb der Persuasionsszene von Theseus als suspekt rezipiert wurde, Hippolytos’ Scheitern und sogar seinen Tod, ohne dass Hippolytos darauf Einfluss hätte.130 Andererseits liegt in Aischylos’ Agamemnon ein Fall vor, in dem der nur dem Publikum bekannte negative Charakter der Klytaimestra ihr vorläufiges Scheitern gegenüber Agamemnon nach außen hin plausibler macht.131 Zu fragen ist , ob die tragischen Autoren globale, allgemeine Charakteraspekte verwenden, um Persuasion als unmöglich darzustellen. Auch das soziale Verhältnis132 zwischen Sender und Empfänger ist zu bestimmen: Grundlegende Autoritätsverhältnisse, soziale Rollenunterschiede sowie das zugrundeliegende Gewaltpotential der Charaktere beeinflussen den

spruch, das ἦθος möge tüchtig, angemessen, ein Identifizierungsangebot an den Adressaten und konsistent sein (Aristot. poet. 1454a15–b), vgl. Carey (1994) 36f. 39. 43. 128 Vgl. etwa Easterling (1990) 5–7 für die Meinung, dass alle Äußerungen der Charaktere zum Charakterbild beitragen und nicht durch supranaturalistische oder dramenökonomische Erklärungen beseitigt werden können. Dies ist freilich ein Anwendungsfeld der Theory of Mind des Publikums: Zugrundeliegende Haltungen aus den sprachlichen Äußerungen zu konstruieren. 129 So liegt etwa Eteokles in den Septem die Angst der thebanischen Frauen von Anfang an offen: Es dauert aber über 100 Verse, bis er auch seine Kommunikationsstrategie anpassen kann (s.u. 2.1.1.3). 130 Eur. Hipp. 902–1089. 131 Um die Kompatibilität von Charakteren zu überprüfen, lohnt ein Blick in die Poetik (zur wenig ausführlichen Behandlung der ἦθος-Plausibilisierung in der Rhetorik, s. Carey (1994) 40). Hier definiert Aristoteles in vier Kategorien einen allgemeinen Anspruch an den Charakter, was in unserem persuasiv-dramatischen Rahmen auch für den stückinternen Adressaten relevant ist: Das ἦθος möge tüchtig, angemessen, ein Identifizierungsangebot an den Adressaten und konsistent sein (χρηστόν, ἁρμόττον, τὸ ὅμοιον, τὸ ὁμαλόν, Aristot. poet. 1454a15–26; s.a. Schmitt (2008) 528–531). Nach Übertragung auf unsere Überzeugungssituationen müssen Aristoteles’ absolute moralische (vgl. Schmitt (2008) 396) Ansprüche im Polis- oder Dramenkontext dem relativ Guten, Angemessenen und Nachvollziehbaren, das von den Vorstellungen des jeweiligen Adressaten abhängt, weichen. Im Kontext der Polis ist klar, dass diese Werte meist gleich zu interpretieren sind, während in der Tragödie v.a. der diametrale und oft dilemmatische Wertekonflikt von individuellen Figuren im Fokus steht. 132 Aristoteles geht aufgrund des öffentlichen und monologischen Charakters seiner Rhetorik wenig auf die zugrundeliegenden Charakterbeziehungen ein. Eine grundlegende Einschätzung des Verhältnisses zwischen causa und Publikum bietet Ciceros Lehre der genera causae, für deren Gelingen er verschiedene Strategien der dispositio empfiehlt (Cic. inv. 1,20–26).

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Persuasionsvorgang maßgeblich.133 So muss etwa das Autoritätsverhältnis zwischen König und Chor oder Herold und Chor bzw. König in der Analyse berücksichtigt werden: Während dem Chor kein Druckmittel zur Verfügung steht, kann ein Herold zur Untermauerung seines Redeziels immer mit der Gewalt seines Auftraggebers drohen, obwohl er gerade zur Vermeidung von Gewalt gesandt wurde. Es ergeben sich auch generell Probleme, wenn Gleichgestellte sich gegenseitig zu überzeugen versuchen. Sprache wird so in gewissen Fällen zu einem stellvertretenden Machtmittel im Kampf um Autorität, der nicht selten zur Eskalation kommt.134 Es soll ebenso beobachtet werden, inwiefern Autoritätsunterschiede und konkurrierende Machtansprüche vom Autor als Problematisierung für funktionierende Kommunikation und Rhetorik verwendet werden: Lassen die Tragiker soziale Statusunterschiede die erfolgreiche Persuasion gänzlich verhindern? Kann Rhetorik in der Kommunikation tragischer Charaktere überhaupt als Lösung für reale Machtkonflikte genutzt werden?

1.3.2 Zwischen Kanonisierung und Fluidität des Mythos: Vorläufiges Scheitern als narratives Instrument und Reflexionsrahmen für literarische Mythenbearbeitung (Kapitel 4) Einige dramatische Effekte scheiternder Redeszenen liegen auf der Hand: Einerseits wird eine Retardierung des Geschehens erzielt (vgl. z.B. Klytaimestra an Agamemnon in Aischyl. Ag. oder Eteokles an den Chor in Aischyl. Sept.), andererseits wird durch das Scheitern von Rhetorik bisweilen Mitleid bei Chor und Zuschauer erzielt.135 Zusätzlich kann eine – scheinbar – narratologisch irrelevante scheiternde Rhetorikszene von ihrem Dichter für zusätzliche figurencharakterisierende Informationsvergabe nutzbar gemacht werden.136 Aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit klingen diese Aspekte in der Textanalyse in Kapitel 2 und 3 allenthalben an, ihnen wird aber kein eigenes Kapitel gewidmet. 133 Vgl. etwa Hekabe und Odysseus in Eur. Hec. 218–443. Hessler (2019) 7f. weist zu Recht darauf hin, dass Homer die Autorität Odysseus seine schlagende Rhetorik gegenüber Thersites tatkräftig mit seinem Szepter untermauern lässt (Hom. Od. 2,261–269). Odysseus gelingt es also, seine Autorität in Wort und Tat zu behaupten. 134 Im Rahmen der Speech Act Theory postuliert etwa Searle (1965) 239 die Autorität eines Sprechers über seinen Adressaten für den Erfolg eines direktiven Sprechaktes: »The preparatory conditions include that the speaker should be in a position of authority over the hearer, the sincerity condition is that the speaker wants the ordered act done, and the essential condition has to do with the fact that the utterance is an attempt to get the hearer to do it.« 135 Riedweg (2000) 30 betont die mitleidserregende Wirkung auf den Chor, die wiederum einen Effekt auf die Zuschauer hat. 136 Dies beobachtet etwa Dubischar (2001) 191f. in den euripideischen Agonen, die ebenso meist ohne Ergebnis ausgehen, und Euripides v.a. zur Präsentation der vorher unbekannten Perspektive des ἀδικήσας dienen.

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Stattdessen werden in Kapitel 4 die relativ neuen Forschungsfelder der Narratologie der Tragödie137 und der Mythopoesie138 für scheiternde Redeszenen fruchtbar gemacht: Scheiternde Redeszenen, die zunächst keinen Einfluss auf den plot zu haben scheinen, dienen dem Autor als narrative Technik, um mit plot-Alternativen zu spielen, das Publikum zu verunsichern139 und es zu aktiver Konstruktion der genauen dramatischen Darstellung des Mythos anzuregen. In bestimmten Fällen nimmt dieses plot-design noch eine weitere und dramenexterne Funktion ein, da im Rahmen verworfener plot-Versionen, d.h. des scheiternden Redeziels eines Charakters, auch gleichzeitig frühere Mythenversionen verworfen werden können. So lässt der Autor seine Charaktere in ihrer rhetorischen Auseinandersetzung vorgeführte Mythopoesie betreiben und auch markieren. Der Autor wird damit als Mythograph sichtbar. So können als Abschluss der Arbeit der autorenspezifische Schwerpunkt der plot- und Mythendarstellung noch präziser definiert140 und allgemeine Schlussfolgerungen zu Relevanz und Potential von Rhetorik in der attischen Tragödie gezogen werden.

137 Grundlegende Arbeiten zur Narratologie sind etwa Genette (1980); de Jong (1987); de Jong (2001), wobei die beiden letztgenannten Werke Wegbereiter für die allgemeine Anwendung in den Altertumswissenschaften waren. Speziell auf die attische Tragödie wenden die narratologische Methode etwa Roberts (1989); O’Higgins (1991); Goward (1999); Markantonatos (2002); Markantonatos (2012) an. 138 S. etwa Burian (1997); Seidensticker (2005); Torrance (2010); Torrance (2013). 139 Zur Rezipientenverunsicherung bei Platon, vgl. Erler (2015). 140 Bei Sophokles ergibt sich etwa tendenziell eine Verschiebung des plots auf die innere Welt der Charaktere, die durch das Scheitern von Rhetorik erzwungen wird.

2. Textanalyse: Auktoriale Rezeptionslenkung im Hinblick auf Rhetorik und Kommunikation in Aischylos’ Tragödien141

2.1 Textanalysen 2.1.1 Aischylos, Septem 182–286 2.1.1.1. Einleitung und Hintergrund Ein Paradebeispiel für vergebliche Kommunikation und erfolglose Sprechakte bei Aischylos ist die erste Episode der Sieben gegen Theben:142 Es lässt sich eine deutliche Diskrepanz zwischen adäquater und tatsächlich angewandter Argumentation erkennen. Aischylos lenkt die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf den Mangel an kommunikativer Adaptation und plausibilisiert so das Scheitern der Charaktersprechakte. In seiner zweitältesten erhaltenen Tragödie (467 v. Chr.) verarbeitet Aischylos die Ereignisse in Theben nach der Blendung und dem Exil des Oedipus. Polyneikes belagert die Stadt Theben mit seinen Verbündeten, dem argivischen Heer, um seinen rechtmäßigen Anteil an der Regierung zu erhalten. Diese militärische Bedrohung, die an jüngste attische Erlebnisse erinnert,143 ist vom ersten Vers an deutlich zu spüren: Eteokles tritt im Prolog (1–77) als Heerführer auf, der eine Kampfparänese an die Thebaner richtet; im Kontrast offenbart der Chor der Thebanerinnen in der emotional gehaltenen Parodos seine extreme Angst und tiefe Ehrfurcht vor den Göttern (78–181).144 Um die Militäraktion nicht zu gefährden, versucht Eteokles in der Konsequenz als Redeziel, die verzweifelten Thebanerinnen zum Schweigen zu bringen. Während bisher in der Forschung festgestellt wurde, dass Eteokles und die Frauen vorrangig in ihrer Sicht auf

141 Der aischyleische Text stammt, soweit nicht anders angegeben, aus der Edition von West (1990). 142 Trotz des Hinweises von Föllinger (2003) 218 m. Anm. 183 darauf, dass »lyrische Rede […] für rhetorische Strategien nicht gut geeignet« und die Szene nicht als rhetorische zu verstehen sei, betrachte ich diese Szene als rhetorische Auseinandersetzung, da Eteokles deutlich ein Redeziel verfolgt. 143 Vgl. die Erlebnisse der Perserkriege und den Bau von Befestigungen rund um Athen ab den 470er Jahren, vgl. Meineck (2007) 54. 144 So auch Brown (1977) 300.

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Textanalyse: Aischylos

frommes Gebet voneinander abweichen,145 soll hier gezeigt werden, dass Aischylos den Kontrast zwischen den Figuren noch viel grundsätzlicher anlegt. Der Sprecher Eteokles formuliert seine Rede in allen Aspekten unpassend: Er verwendet deutlich ein Sprachregister mit – wie ich zeigen möchte – markierter, also als relevant auffallender, impoliteness und wenig adaptiven, sondern autoritativen Argumenten. Damit stellt er sich als rein militärisch interessierter Anführer dar und sein Sprechakt kann daher nicht mehr als Persuasion, sondern als deutliches Direktiv verstanden werden. Demgegenüber steht der Kummer und die Angstbekundung des Chores der Thebanerinnen. Aischylos lenkt die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die Unterschiedlichkeit der emotionalen Dispositionen: Seine Charaktere führen ihre Einstellungen von Anfang an deutlich vor, sodass sie den jeweils anderen Charakteren eigentlich bewusst sein müssen – dies würde deren grundlegende Theory of Mind-Fähigkeit implizieren. Somit ist die zunächst mangelnde Erkenntnis der Charakterdispositionen durch andere Charaktere eine wichtige Grundlage für die externe Bewertung ihrer rhetorischen Adaptationsfähigkeit, d.h. für die praktisch-rhetorische Anwendung von Theory of Mind. Diese vorläufige Unfähigkeit der Charaktere zur gegenseitigen Erkenntnis unterstreicht Aischylos umso mehr, wenn er sie schließlich in einer Annäherung zwischen Eteokles und dem Chor revidiert. Darüber hinaus erzielt Aischylos einen grandiosen dramatischen und emotionalen Effekt, wenn er Eteokles, nervös ob der Belagerung, immer wieder vergeblich auf einen panischen Chor einreden lässt – der Zuschauer kann so selbst die Bedrohlichkeit der Lage nachvollziehen. Diese Szene erfuhr von Tragödienforschern eine kontroverse Einschätzung, da Eteokles’ kommunikatives Verhalten zum Teil als angemessen für einen Hee-

145 Vgl. Brown (1977) 306; Stehle (2005); Torrance (2007) 51–53.

Textanalysen

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resführer146 und zum Teil als sehr aggressiv147 eingestuft wurde. Außerdem wurde zu Unrecht auf die angeblich abrupte Zustimmung des Chores hingewiesen.148 Gegen die bisherige Forschung sollen in der Analyse Eteokles’ impoliteness sowie die schrittweise Entwicklung von Eteokles’ rhetorischer Annäherung offenbar gemacht werden.

146 Hieran wird deutlich, dass das politeness-Register für die Antike schwer zu bestimmen ist und auch maßgeblich von den subjektiven Vorstellungen des Forschers abhängt: Hutchinson (1985) 75 normalisiert etwa Eteokles’ Misogynie, indem er sie mit Stobaios’ Invektiven gegen Frauen (Stob. 4,22,7; 136. 166. 168. 173. 181) vergleicht. Schließlich schätzt er das Sprachregister des Eteokles durch Heranziehen weiterer Stellen (u.a. Aristoph. Thesm. 786–791) als nicht unüblich für misogyne Invektiven in der Dichtung ein: Sein Register sei also durchaus misogyn, aber nicht unüblich oder Zeichen seiner Verblendung oder Panik. Fraglich ist hierbei, ob ein Komödienbeleg als Beweis für das Sprachregister in der Tragödie verwendet werden sollte. Wohl aus der persönlichen Leseerfahrung heraus fragwürdig psychologisierend urteilt Lenz (1981) 437: »[…] eine gewisse Idiosynkrasie gegen Frauen mag man dem Sohn des Oidipus und der lokaste zugestehen. Charakterliche Schlechtigkeit des Sprechers beweisen diese Verse so wenig wie die vergleichbaren Heftigkeiten des sophokleischen Oidipus.« Dabei versäumt er zu berücksichtigen, dass es bei Eteokles weniger um eine individuelle Idiosynkrasie aus persönlicher Vorliebe heraus geht, sondern eher um seine repräsentative Identität als Herrscher, der seine Untertaninnen mit misogyner Sprache anredet. Edmunds (2017) 95f. führt ähnlich normalisierend die Rede des Atheners in Plat. leg. 813e3–814a5 als Parallelstelle an, in welcher er für die kriegerische Erziehung der Frauen argumentiert: Das weibliche Geschlecht solle nicht ὡς πάντων δειλότατον φύσει θηρίων wirken. Dabei missachtet Edmunds jedoch die Adressaten des Atheners: Kleinias und Megillas, die mit ihm eine private Diskussion führen. Rose (1956) 13, die quasi-öffentliche Kommunikationssituation der Septem korrekt berücksichtigend, unterstellt Eteokles dagegen zu Recht »[a] tone […] almost hysterical«, denn Eteokles’ Sprachverhalten ist ohne Zweifel markiert: Seine Anpassung am Ende der Szene beweist, dass er sich zwischen den beiden Registerextremen bewegt, dazu ordnet die entsetzte Reaktion der Frauen (τίς τάδε νέμεσις στυγεῖ; 235) Eteokles’ Verhalten als markierte impoliteness ein (dies beachtet Lenz (1981) 437 nicht: »Aufschlußreich ist, daß der Chor ihm die barschen Worte nicht übelnimmt, sondern mit freundlicher Ehrerbietung […] Verständnis und Abhilfe fur seine Angst sucht.«). In dieser konkreten Kommunikationssituation darf Eteokles’ Verhalten trotz einschlägiger, jedoch aus anderem Kontext stammender, intertextueller Parallelen nicht als registerneutral angesehen werden. 147 Torrance (2007) 94–101 dagegen nennt Eteokles’ Verhalten und Sprache zu Recht dezidiert misogyn und extrem, da er das γένος der Frauen im Allgemeinen ablehne und ihnen keinen Platz in der πόλις zuspreche. Damit folgt sie Vidal-Naquet (2006) 79f., der Invektiven gegen Frauen als normal, aber Eteokles’ spezielles Verhalten als normüberschreitend einstuft. S.a. Foley (1993) 130f. 148 Winnington-Ingram (1983) 28 formuliert etwa ohne Angabe weiterer Gründe: »Their compliance comes suddenly rather than by a gradual process of persuasion.« Wie sich zeigen wird, wird der Prozess der Zustimmung des Chores aber sehr wohl graduell und nachvollziehbar dargestellt.

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Textanalyse: Aischylos

2.1.1.2 Argumentativer Aufbau und Sprachverhalten Im Prolog des Stückes tritt Eteokles (1–38) – noch ohne Chor149 – als politischer und strategischer Anführer der Polis150 auf: ΕΤ. Κάδμου πολῖται, χρὴ λέγειν τὰ καίρια ὅστις φυλάσσει πρᾶγος ἐν πρύμνῃ πόλεως οἴακα νωμῶν, βλέφαρα μὴ κοιμῶν ὕπνῳ.

(Aischyl. Sept. 1–3)

Et. Ihr Bürger des Kadmos, es muss Angemessenes sprechen, wer den Staat bewacht, auf dem Achterdeck der Stadt die Ruder dirigierend, die Augen nie von Schlaf überkommen.151

In dieser Anrede befindet sich gleichzeitig eine rhetorische Reflexion, die ­bewusstes Reden voraussetzt und sogar einen rhetorischen Terminus verwendet (1 λέγειν τὰ καίρια).152 Eteokles wird eingeführt als ein Charakter, der seine Worte vor der Heeresversammlung bewusst wählt. An diesen Marker für kommunikative Reflexion schließt sich eine praktisch vorgeführte Paränese an: Eteokles betont zwar die einflussreiche Rolle der Götter (4), konterkariert sie aber gleichzeitig, indem er darauf hinweist, dass er bei einem Scheitern seiner Unternehmung, nämlich der Abwehr der Argiver, verantwortlich gemacht werde (6).153 Neben dieser ταπείνωσις154 benutzt Eteokles Zeus als Argument, um kriegerischen Mut bei seinen Soldaten hervorzurufen: Er bestreitet zwar nicht den Göttereinfluss (14), sieht aber nach der Prophezeiung eines schlimmen Sturmangriffes (24–29) menschliches Handeln und aktives Hinzutun als zwingende Voraussetzung für Zeus’ Hilfe an (35).155 Im Zuge seiner Kampfparänese spaltet er rhetorisch geschickt den Göttereinfluss vom menschlichen Tun ab, um einen möglichst großen Einsatz seiner Soldaten zu erreichen. 149 Hutchinson (1985) 41. 150 Zur Staatsschiffmetapher (2f.) in der gesamten Trilogie, s. Winnington-Ingram (1983) 20f. 151 Alle Übersetzungen der aischyleischen Stellen sind nach Werner (2011) bearbeitet und angepasst. 152 Zu καιρός als frühem rhetorischen Terminus in der Tragödie, s. Zimmermann (2019) 618f. S.a. πολλῶν πάροιθεν καιρίως εἰρημένων (Aischyl. Ag. 1372) für die weitere Verwendung dieses Terminus durch Aischylos. 153 Gegen eine Interpretation des Eteokles als unfromm, s. Brown (1977) 300. 154 Hutchinson (1985) 42 betont die Nähe zu den späteren Rednern (Antiph. 1); Spengel (rhet. Alex. 36,19 = p. 240f. Spengel (1847)) zitiert Dion. Hal. Lys. 17, um den Topos der Benachteiligung des Sprechers auch in der rhetorischen Theorie zu illustrieren (auch zitiert bei Hutchinson (1985) 42, der zudem auf den offiziellen Charakter hinweist, den solch eine Einleitung vermittelt). 155 Auch nach dem Bericht des Spähers (39–68) setzt Eteokles erst zuversichtlich die Leistung der Bürger voraus, bevor Götter zu Hilfe kommen müssen (69–77).

Textanalysen

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Während der Chor den Paränesenprolog nicht gehört hat, wird Eteokles Zeuge der folgenden Parodos.156 Hier vermittelt der Chor bereits wichtige Informationen über seine Disposition, die für angemessene Kommunikation relevant wären: Immer wieder betonen die Frauen ihre Angst157 und Frömmigkeit158 und rufen ängstlich die Götter an.159 Auch das Versmaß, ein Gemisch aus Dochmien und Jamben,160 unterstreicht die Emotionalität der Szene.161 Hinzu kommt, dass die Anrufe an das Pantheon eine szenische Hikesiedarstellung mit Statuen aller erwähnten Götter vermuten lassen.162 Prinzipiell formulieren die Frauen genau das Gegenteil der von Eteokles geäußerten Theologie: Während er im rhetorischen Rahmen seiner Paränese die Handlungsfähigkeit der Menschen betont, legen sie alles in die Hand der Götter.163 Sie konterkarieren damit Eteokles’ paränetische Aussage, die in einer nur von Göttern beeinflussbaren Welt wirkungslos wird: Menschliche Kriegsführung würde damit überflüssig.164 In dieser bereits konfliktgeladenen Hikesieszenerie beginnt Eteokles seinen Versuch, die Frauen zum Schweigen zu bringen: ΕΤ. ὑμᾶς ἐρωτῶ, θρέμματ’ οὐκ ἀνασχετά, ἦ ταῦτ’ ἄριστα καὶ πόλει σωτήρια, στρατῷ τε θάρσος τῷδε πυργηρουμένῳ, βρέτη πεσούσας πρὸς πολισσούχων θεῶν αὔειν, λακάζειν, σωφρόνων μισήματα; μήτ’ ἐν κακοῖσι μήτ’ ἐν εὐεστοῖ φίλῃ ξύνοικος εἴην τῷ γυναικείῳ γένει. κρατοῦσα μὲν γὰρ οὐχ ὁμιλητὸν θράσος, δείσασα δ’ οἴκῳ καὶ πόλει πλέον κακόν. καὶ νῦν πολίταις τάσδε διαδρόμους φυγὰς θεῖσαι διερροθήσατ’ ἄψυχον κάκην·

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156 Während Bees für ein Abtreten des Eteokles während der Parodos plädiert und nur vermutet, dass »das Geschrei der Frauen ihn aus dem Palast gerufen hat« (s. Bees (2009) 172. s.a. 159), bemerkt Hutchinson (1985) 74 korrekt, dass Eteokles das Gebet des Chors durchaus wahrnimmt, auch wenn dies in der Tragödie selten ist und später als archaisches Merkmal gelten wird. 157 78. 121. 132. 158 116. 128. 135. 140. 152. 154. 159. 159 87. 89. 97. 150. 157. 166f. 174. 160 Hutchinson (1985) 57. Zur besonderen emotionsfördernden Verwendung des Dochmien-Jambengemischs in diesem Teil der Septem im Vergleich zum sonst reflektierenden Charakter der Dochmien in den Septem s.a. Dale (1968) 110. 161 Es wird vermutet, dass sich die Emotionalität des Chores auch in ihrem chaotischen Einzug widerspiegelte, vgl. Taplin (1977) 141f. S.a. Stehle (2005) 104; Bees (2009) 160. 162 Hutchinson (1985) 55. 163 Über den Prozess der Anpassung ihres Gebets durch die Frauen, um εὐφημία zu erreichen, vgl. Stehle (2005). 164 Dieser Kontrast ist freilich ein rein situativer: Denn Eteokles kritisiert nicht prinzipiell Gebete als Gottesdienst, ruft aber in der aktuellen militärischen Situation zu Ordnung und Disziplin auf, um die Moral der Armee zu stärken. Vgl. Winnington-Ingram (1983) 28f.

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Textanalyse: Aischylos

τὰ τῶν θύραθεν δ’ ὡς ἄριστ’ ὀφέλλετε, αὐτοὶ δ’ ὑπ’ αὐτῶν ἔνδοθεν πορθούμεθα. τοιαῦτά τἂν γυναιξὶ συνναίων ἔχοις. κεἰ μή τις ἀρχῆς τῆς ἐμῆς ἀκούσεται, ἀνὴρ γυνή τε χὤτι τῶν μεταίχμιον, ψῆφος κατ’ αὐτῶν ὀλεθρία βουλεύσεται, λευστῆρα δήμου δ’ οὔ τι μὴ φύγῃ μόρον. μέλει γὰρ ἀνδρί – μὴ γυνὴ βουλευέτω – τἄξωθεν· ἔνδον δ’ οὖσα μὴ βλάβην τίθει. ἤκουσας, ἢ οὐκ ἤκουσας; ἢ κωφῇ λέγω;

195

200 (182–202)

Et. Ich frage euch, ihr unerträglichen Kreaturen, soll dies etwa das Beste sein und eine Rettung für die Stadt, oder Ansporn für unser hier umzingeltes Heer, wenn ihr, dahingesunken vor den Götterbildern der Stadt, 185 schreit und lärmt, besonnenen Männern ein Grauen? Weder im Übel noch im größten Glück wollte ich gern mit dem Geschlecht der Frauen zusammenwohnen. Denn herrschen sie, ist ihre Dreistigkeit unerträglich, 190 doch verängstigt sind sie für Haus und Stadt ein noch schlimmeres Übel. So flößt auch ihr nun, indem ihr rasch hin und her flieht, unseren Bürgern mutlose Furcht ein. Der Sache der Feinde draußen nützt ihr so zwar hervorragend, doch wir hier innerhalb der Mauern vernichten uns selbst. 195 Solches erleidet man, wenn man mit Frauen zusammenwohnt. Und wenn einer meinem Befehl nicht gehorcht, egal ob Mann, Frau oder etwas dazwischen, das Todesurteil wird ihnen ausgesprochen, der Steinigung durch die Bürger können sie nicht entfliehen. 200 Denn der Mann ist zuständig – nicht die Frau soll es entscheiden –, für alles Externe: Ihr Frauen bleibt also im Haus, um keinen Schaden anzurichten! Habt ihr mich gehört oder nicht? Oder spreche ich vergeblich?

Zunächst fällt ins Auge, wie Aischylos den Misserfolg von Eteokles’ Rede durch sein unpassendes Sprachverhalten plausibilisiert: Grundsätzlich ist seine Rede als Anführer Thebens nicht als Persuasion, sondern als Direktiv zu bezeichnen. Indem er aber nicht deutlich auffordert, sondern seine Aussage in eine lange, umständliche Frage und Beleidigungen hüllt (182–186), wird sein Anliegen alles andere als deutlich – und damit noch weniger zur bevorzugten Handlungsoption seiner Adressaten. Während diese Indirektheit in anderem Kontext als politeness-Strategie fungieren könnte,165 formuliert Eteokles aber voller impoliteness: Er vermittelt vor allem Unverständnis, eine Verhaltensabwertung 165 Etwa als Anspruch des »mutual interest […] to maintain each other’s face« von Brown & Levinson (1978) 65 oder »strategic conflict avoidance« von Leech (1980) 19, s. allgemein Kapitel 1.2.3 und 1.3.1.2.

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(αὔειν, λακάζειν 186) und extreme generalisierende Feindseligkeit (θρέμματ’ οὐκ ἀνασχετά 182. σωφρόνων μισήματα 186. 187f.).166 Eteokles’ Sprachverhalten erschwert ein Nachgeben der Rezipienten aufgrund von impoliteness167 und unökonomischer Indirektheit: Er befolgt seinen Grundsatz des λέγειν τὰ καίρια nicht.168 Auf argumentativer Ebene – denn trotz des direktiven Charakters seines Sprechaktes muss er sein Anliegen mit Gründen untermauern – benutzt er v.a. negative und verallgemeinernde Strategien, die wiederum die Wirkungslosigkeit seiner Rhesis für den Zuschauer plausibilisieren: Er erkennt zwar die Angst der Frauen an (δείσασα δ’ οἴκῳ καὶ πόλει πλέον κακόν 190), zeigt aber keinerlei Anpassung aufgrund dieser Erkenntnis, was angesichts seines sozialen Standes nicht verwunderlich ist. Stattdessen wirft er ihnen die Schädlichkeit für die gemeinsame Sache des Volkes vor (193f.) und setzt Gehorsam als oberste Pflicht voraus (196f.); daran fügt er noch eine Todesdrohung für all diejenigen, die ungehorsam seien (198f.). Der direktive Sprechakt wird auf inhaltlicher und sprachlicher Ebene deutlich. Zum Schluss formuliert er klar aus, was er mit seinem Anliegen an die Frauen bezwecken möchte, nämlich den Schutz der Stadt: ἔνδον δ’ οὖσα μὴ βλάβην τίθει (201). Allerdings ist dies wiederum keine angepasste Kommunikation: Eteokles sagt zwar den Thebanerinnen, was sie am besten tun sollen (ἔνδον δ’ οὖσα), um ihre störende und gefährdende Unruhe zu kaschieren; er erklärt ihnen aber nicht, wie sie auch das zugrundeliegende Ziel der emotionalen Gefasstheit erreichen könnten. Stattdessen gibt er lediglich den Befehl, Frauen sollen besser in der inneren Sphäre des Hauses bleiben.169 Die Emotionalität der Thebanerinnen steht in Kontrast zu Eteokles’ Härte und wird

166 Bei Aischylos und in der Tragödie finden sich die abstrakten Neutra auf -μα öfter als pejorative Anrede. Vgl. Aischyl. Eum. 73 (Apoll nennt die Erinyen μισήματα) und z.B. Soph. El. 289. K-G 2,1 §346a2 zitieren neben anderen Neutrabildungen z.B. μίασμα (Aischyl. Choeph. 1028), δήλημα (Aischylos TrGF III fr. 123 Radt), ἀπαιόλημα (Aischyl. Choeph. 1002) als »Schmähwörter«, weitere freilich auch aus anderen Tragikern. Aufgrund der Verallgemeinerung schätzen auch Vidal-Naquet (2006) 279f; Torrance (2007) 98f. Eteokles’ Sprachverhalten als impoliteness (freilich nicht in dieser Terminologie) ein. 167 Eteokles’ Sprachverhalten sehe ich aus drei bisher noch ungenannten Gründen als markierte impoliteness an: Wegen des starken Registerkontrastes 1) zum Paränesenprolog, in welchem Eteokles ebenso als Anführer auftritt, und 2) zu seiner Strategieänderung im zweiten Teil der Szene (s.u.); 3) wegen der solchen Einschätzung durch die Frauen (τίς τάδε νέμεσις στυγεῖ; 235). 168 So auch Zimmermann (2019) 618. 169 McClure (1999) 45f. gibt das von Solon im 6. Jh. verhängte Verbot öffentlicher, selbstverletzender Trauerbekundung für Frauen unter 60 (und spätere weitere solche Gesetze) zu Bedenken, das sowohl hier in der Bedrohung durch das Jammern der Frauen als auch etwa in Aischyl. Suppl. 95–97. 103. 290 reflektiert wird. S. hierzu auch Alexiou (1974) 14–23; Foley (1993) 102.

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Textanalyse: Aischylos

durch ihr kurzzeitiges Schweigen170 sowie durch die Nachfrage im letzten Vers der Eteokles-Rede markiert: ἤκουσας, ἢ οὐκ ἤκουσας; ἢ κωφῇ λέγω; (202).171 Obwohl er Wert auf kommunikativen Kontakt legt, kann keine Bereitschaft des Eteokles festgestellt werden, die vom Chor selbst geäußerte und dramatisch dargestellte Disposition – nämlich Angst, die er selbst auch als direkten Grund für ihr Jammern wahrgenommen hat – als Grundlage für seine Ansprache zu verwenden. Stattdessen wird ein gender bias vonseiten des Eteokles klar, die sich in der Weigerung zur angepassten Kommunikation ausdrückt:172 Indem er ihr Frausein vorschiebt und ihre Angst nicht ernst nimmt, verweigert er sich einer angemessenen Argumentation. Er argumentiert autoritär und befiehlt, ohne seine Rolle als Anführer zu verlassen – angesichts der Belagerung tut er dies wohl auch selbst aus Nervosität.173 Die erste Anrede des Chores an Eteokles selbst zeugt zwar von kommunikativem Kontakt, vermittelt aber erneut die brüchige emotionale Disposition der Frauen: ΧΟ. ὦ φίλον Οἰδίπου τέκος, ἔδεισ’ ἀκούσασα τὸν ἁρματόκτυπον ὄτοβον ὄτοβον, ὅτε τε σύριγγες ἐκλάγξαν ἑλίτροχοι, ἱππικῶν τ’ ἄπυεν πηδαλίων διαστόμια πυριγενετᾶν χαλινῶν. […] δὴ τότ’ ἤρθην φόβῳ πρὸς μακάρων λιτάς, πόλεος ἵν’ ὑπερέχοιεν ἀλκάν. Cho. Liebster Sohn des Ödipus, ich erschrak, als ich das ratternde Krachen der Streitwagen hörte, als die Naben im Lauf der Räder knarrten, und die Trensen der Pferdezügel im Gebiss knirschten. […] Daraufhin erhob ich aus Angst meine Bitten zu den glückseligen Göttern, damit sie uns Schutz gewähren.

205

(203–215)

205

215

170 Zum Schweigen in der Tragödie als Marker für emotionale Reaktionen, s. Zetzmann (2020b). Zur Eindämmung weiblichen Jammerns als Beschneidung des weiblichen Rechts der Trauer, vgl. Lamari (2007) 12f. 171 Diese Nachfrage darf auch als Wortregie gelten, um das kurze Schweigen der Thebanerinnen anzuzeigen; Hutchinson (1985) 77f. bemerkt die Üblichkeit der Formulierung als metapragmatischer Kommentar. 172 Zur kontrastiven Darstellung von Gender in Aischylos’ Tragödien, vgl. Zeitlin (1990). 173 Vgl. die Gnomen bezüglich seiner Autorität am Ende seiner Rede (194. 196) und auch die nervös wirkende Kontaktherstellung in 202. S.a. Winnington-Ingram (1983) 29 mit Hinweis auf de Romilly (1958). Zu Eteokles’ Rhetorik der Notwendigkeit, s. Bernhardt (2015).

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Die Reaktion eines Stoßgebetes erscheint für Frauen der griechischen Antike in einer solchen Situation völlig angemessen und richtig.174 Während spätestens hier das Mitleid der Zuschauer auf Seiten der Thebanerinnen ist, immer wieder angefacht durch die Gefahr der Situation und obendrein Eteokles’ drohendes Schicksal, bringt Eteokles auch in seiner folgenden Argumentation keine Empathie auf. Stattdessen weist er u.a. in einem für Griechinnen unpassenden175 Seefahrervergleich (ὁ ναύτης ἆρα μὴ ’ς πρῷραν φυγὼν / πρύμνηθεν ηὗρε μηχανὴν σωτηρίας, / νεὼς καμούσης ποντίῳ πρὸς κύματι; 208–210) auf die Nutzlosigkeit von Panik hin (217–219) und argumentiert erneut mit seiner Gehorsamsforderung sowie der menschlichen Handlungsebene, die den wohlwollenden Einfluss der Götter erst bedingt: ΕΤ. μή μοι θεοὺς καλοῦσα βουλεύου κακῶς· Πειθαρχία γάρ ἐστι τῆς Εὐπραξίας μήτηρ, γυνὴ Σωτῆρος· ὧδ’ ἔχει λόγος. Et. Erwägt nichts Schlechtes, während ihr die Götter anruft! Denn Gehorsamkeit ist die Mutter des Wohlergehens und die Ehefrau der Rettung: So lautet das Sprichwort.

(223–225)

225

Auf den Hinweis der Thebanerinnen, dass die Macht der Götter über menschlichem Wirken stünde und daher notwendigerweise zu verehren sei (226–229), fügt er ein stereotypes Geschlechterargument hinzu: ΕΤ. ἀνδρῶν τάδ’ ἐστί, σφάγια καὶ χρηστήρια 230 θεοῖσιν ἔρδειν πολεμίων πειρώμενους· σὸν δ’ αὖ τὸ σιγᾶν καὶ μένειν εἴσω δόμων.176 (230–232) 174 Brown (1977) 301. Zur frommen und regen Teilnahme von Frauen am Kultleben zumindest in Athen, vgl. Hartmann (2007) 56. Rein aus Eteokles’ Sicht und daher zu Unrecht interpretiert Fletcher (2007) 28 das angeblich ›wilde‹ Verhalten der Frauen als Symbol des wild tobenden externen Krieges: »This is a wild, chaotic, even animalistic pack of women who are unable to communicate in a rational and civilized manner. Eteocles’ desperate attempts to quell them testify to their enormous power.« Tatsächlich weichen sowohl Eteokles als der Chor in Kommunikation und Sprachverhalten von der Norm ab, zeigen aber gleichzeitig menschlich verständliches Verhalten, vgl. Brown (1977) 300f. 175 Hutchinson (1985) 80 bemerkt zu Recht, dass der Kontrast der beiden Vergleichspunkte (Verantwortung und Macht der Frau vs. des Steuermanns) überraschend ist. Aus diesem Kontrast schließe ich, dass das Gleichnis auf jeden Fall unpassend für die thebanischen Frauen gewirkt haben muss und deutlich machen soll, dass Eteokles aus seiner Perspektive argumentiert, eben nicht rezipientenorientiert. Vgl. als Kontrast die geschlechterübergreifenden Vergleiche in der Odyssee (Hom. Od. 19,108–114; 23,233–240), in welchen Penelope mit einer odysseusähnlichen Figur verglichen wird. S.a. Foley (1978). 176 Wie auch Brown (1977) 304–306 betont, sehe ich den Geschlechtergegensatz weniger als Essenz der gesamten Szene, sondern vielmehr als Symptom der Nervosität und des Autoritätsanspruches des Eteokles: Angesichts der bedrohlichen Lage argumentiert er stereotyp und mit Allgemeinplätzen, weil weibliche Bürgerinnen ihm die Lage durch ihr Verhalten zu

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Textanalyse: Aischylos

Et. Dies ist Sache der Männer, Tiere für Opfer und Orakelschau den Göttern zu weihen, wenn sie die Feinde auf die Probe stellen. Euch gebührt es allerdings, zu schweigen und im Haus zu bleiben.

230

Da alle Argumentationen des Eteokles auf nur vermeintlich177 allgemeinen Normen beruhen,178 widersprechen die Thebanerinnen und lehnen damit seine Redeintention ab. In ihrer Nachfrage nach seinen Motiven für dieses kommunikative Verhalten werden sie sehr konkret: ΧΟ. διὰ θεῶν πόλιν νεμόμεθ’ ἀδάματον, δυσμενέων δ’ ὄχλον πύργος ἀποστέγει. τίς τάδε νέμεσις στυγεῖ; Cho. Nur aufgrund der Götter erhalten wir unsere Stadt unversehrt und hält unser Bollwerk uns die Truppen der Feinde ab – aus welchem Hass verdammst du mich also?

(233–235)

235

Neben der deutlichen Abzeichnung strategischen Handelns (›Frömmigkeit erzeugt Göttergunst und damit Sicherheit‹),179 zeigt diese spezifische Frage nach dem Grund für seine Abneigung (235) durch die Alliteration τίς τάδε, die verkürzte Frage und das nachdrückliche Wort νέμεσις sehr deutlich die ablehnende Haltung der Thebanerinnen. In diesem Unverständnis wird einerseits das Scheitern von Eteokles’ Perlokution offenbar; gleichzeitig unterstellen sie dem Anführer damit extremen Hass gegen sie und ihre fromme Haltung, der – so wird impliziert – an Gotteslästerung grenzt.180 Auch die Frauen erfahren hierbei eine Charakterisierung: Während Eteokles ihnen Unfähigkeit zur normalen Kommunikation unterstellte (202), kommunizieren sie in der Tat,181 bestehen verschlimmern scheinen, vgl.. Bei aller Nachvollziehbarkeit ändert dies jedoch nichts an der Unfähigkeit des Eteokles, sich anzupassen, und damit an der denkbar schlechten, eher eskalierenden Wirkung des Arguments. 177 D.h. von Eteokles individuell konstruierten Normen, vgl. Schnurr-Redford (1996) 168. 178 Torrance (2007) 99 bemerkt zu Recht, dass Eteokles hier fälschlicherweise eine generelle Nichtbeteiligung von Frauen am kultischen Leben andeutet; tatsächlich ist Kultpflege sogar die Aufgabe von Frauen, um für das Wohlergehen der Polis zu sorgen. Vgl. Hartmann (2007) 56. 179 Vgl. Andromache in der Ilias VI, die ihrem Mann eine Heeresstrategie mitgibt (Hom. Il. 6,432–439). Für diesen Hinweis danke ich Christoph Riedweg. 180 Vergleichen wir archaische Haltungen zur Rolle der Götter, wie etwa Solon fr. 4 West (ἡμετέρη δὲ πόλις κατὰ μὲν Διὸς οὔποτ’ ὀλεῖται / αἶσαν καὶ μακάρων θεῶν φρένας ἀθανάτων·/ τοίη γὰρ μεγάθυμος ἐπίσκοπος ὀβριμοπάτρη / Παλλὰς Ἀθηναίη χεῖρας ὕπερθεν ἔχει […]), stellen wir fest, dass die Ansicht der Frauen offenbar nicht unüblich war. Damit konstruiert Eteokles Normen aus seiner persönlichen Agenda heraus. 181 Dass die Thebanerinnen durchaus die zugrundeliegende Proposition des Eteokles verstehen, zeigt sich sowohl in 203 als auch in 226 (ἔστι) und 233.

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aber auch auf ihrer Angst und ihrer Ehrfurcht vor den Göttern.182 Dies kollidiert mit Eteokles’ rhetorischer Argumentation sowohl aus dem Paränesenprolog als auch aus der aktuellen Szene, in der die Rolle der Menschen und ihrer korrekten Verehrung der Götter betont wurde, um eine Verhaltensänderung genau dieser Menschen hervorzurufen. Eteokles’ bisheriges perlokutives Scheitern in dieser Szene, das, wie bereits gezeigt, auf den Ebenen der Argumentation, des Sprachverhaltens und des Charakters (Eteokles als Heerführer) plausibilisiert wurde,183 hat den Effekt, dass die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf den Konflikt der beiden Dispositionen und Ansichten – auf die Angst des Chores und Eteokles’ mangelnde Anpassung – ­gelenkt wird.184 Dies erzeugt zudem Mitleid und Empathie im Publikum. Für die Erforschung tragischer Kommunikationsmechanismen ist es essentiell, die zweifache Änderung von Eteokles’ Strategie nach der Nachfrage τίς τάδε185 zu betrachten: Eteokles beginnt nun, sein Direktiv mit persuasiven Instrumenten zu modifizieren. Erstens gesteht er den Frauen explizit186 das Verehren der Götter zu187 und formuliert sein Anliegen deutlicher: ΕΤ. οὔτοι φθονῶ σοι δαιμόνων τιμᾶν γένος· ἀλλ’ ὡς πολίτας μὴ κακοσπλάγχνους τιθῇς, εὔκηλος ἴσθι μηδ’ ἄγαν ὑπερφοβοῦ.

(236–238)

Et. Ich missgönne euch nicht, das Göttergeschlecht zu verehren: Aber damit ihr unsere Bürger nicht verängstigt, seid furchtlos und habt nicht allzu übergroße Angst.

Er betont die Gemeinsamkeiten in ihrer beider Fragestellung: Dass die Götter zu verehren sind, ist in jedem Szenario der Fall. Insofern beobachten wir eine argumentative Annäherung an die Frauen, die vorher ihre Frömmigkeit ausdrückten. An diese passt sich Eteokles an – wohl auch um sich dem Vorwurf der

182 Dies kann ihnen wohl auch nicht zum Vorwurf gemacht werden: Vgl. hierzu Eur. Phoen. 88–102 und 193–201, woran deutlich wird, dass Frauen keineswegs in einer Bedrohungssituation das Haus hüten müssen, s.a. Schnurr-Redford (1996) 164–166. 183 Stehle (2005) 110 nennt Eteokles’ Rede δυσφημία im Vergleich zum Gebet der Frauen – dies mag leicht überzeichnet sein, aber trifft den Unterschied im Kern. 184 Brown (1977) 301. 185 Hutchinson (1985) 83 zitiert hier die Parallele οὐ γάρ τις νέμεσις φυγέειν κακόν (Hom. Il. 14,80), die mir semantisch aber nicht ersichtlich ist: In der Ilias sollte νέμεσις ›Schande‹ bedeuten, in unserem Zusammenhang aber eher das Ergebnis der Schande, nämlich ›Hass‹. 186 »οὔτοι in tragedy generally indicates that the contrary obtains to a marked degree« Hutchinson (1985) 83. 187 So hält auch Winnington-Ingram (1983) 27 fest, dass Eteokles nicht an der Frömmigkeit der Frauen an sich Anstoß nimmt, sondern an ihrer frommen Praxis.

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Textanalyse: Aischylos

νέμεσις zu entziehen. Nun fordert er sie explizit auf,188 verdeutlicht durch die Konjunktion ἀλλά (237),189 nicht in Panik zu verfallen und besteht damit weiterhin auf seiner Forderung nach Kampfesmut. Durch seinen Zusatz versucht Eteokles, sein Anliegen durchzusetzen, und tut dies zum ersten Mal explizit. Dieser erste Schritt kommunikativer Anpassung bringt die Frauen jedoch noch nicht zum Verstummen: Es folgt eine Stichomythie, in der tatsächlich kaum kommunikativer Kontakt190 stattfindet. Eteokles redet die Frauen mit seinem Befehl mehrmals an,191 diese drücken durch emotionale Ausrufe192 nur ihre Angst aufgrund neuer Schlachtgeräusche (245) aus. Zweitens ergibt sich gegen Ende der Stichomythie eine weitere Annäherung:193 Ετ. ὦ Ζεῦ, γυναικῶν οἷον ὤπασας γένος. Χο. μοχθηρόν – ὥσπερ ἄνδρας ὧν ἁλῷ πόλις. Ετ. παλινστομεῖς αὖ θιγγάνουσ’ ἀγαλμάτων; Χο. ἀψυχίᾳ γὰρ γλῶσσαν ἁρπάζει φόβος. Ετ. αἰτουμένῳ μοι κοῦφον εἰ δοίης τέλος.

(256–260)

Et. O Zeus, welch ein Frauengeschlecht hast du geschaffen! Cho. Ein armes, wie auch das der Männer, deren Stadt eingenommen wird. Et. Du sprichst Schreckliches und berührst dabei wiederum die Götterbilder? Cho. Ja, denn die Angst lähmt meine Zunge mit Mutlosigkeit. Et. Wenn du mir doch einen kleinen Gefallen erweisen würdest, ich bitte dich. 260 188 Vgl. die indirekte Formulierung oben 216–218. Dies zeigt erneut, dass bald on recordFormulierungen nicht impolite sein müssen: Vielmehr ist dieser Fall ein Entgegenkommen dem Rezipienten gegenüber, der so Klarheit erhält. 189 Damit betont Eteokles die Alternative zum δαιμόνων τιμᾶν γένος; es sei wichtiger, nun zu schweigen, als die Götter anzurufen. Vgl. hierzu Drummen (2016) III.2 §65: »The general function of ἀλλά can be described as the substitution of one alternative with another, which can include the correction of an explicit element, an implicit element, and the switch to a different topic.« Für weitere Literatur, s. Drummen (2016) III.2 §65 Anm. 152. 190 245. 247. 249. 251. 253. 255. Mastronarde (1979) 76f. nennt dies einen »involuntary break in contact« und erklärt dies richtig mit der Emotionalität des Chores. Zur Intentionalität von vermiedenem alignment im modernen Dialog, i.e. misalignment, s. Pickering & Garrod (2006) 215f. 191 οὐ σῖγα μηδὲν τῶνδ’ ἐρεῖς κατὰ πτόλιν; 250. οὐκ ἐς φθόρον σιγῶσ’ ἀνασχήσῃ τάδε; 252. 192 δέδοικ’· ἀραγμὸς δ’ ἐν πύλαις ὀφέλλεται 249. 251. 253. 255. 193 Gegen den persuasiven Charakter dieser Stichomythie argumentiert Sandin (2005) 168 Anm. 463: »Jens’s (1955,7) notion that this is an ›Überredungsstichomyhie im typischen Stil’ is remarkable: this stichomythia, as Jens himself observes, is completely unique in that there is no argumentation whatsoever from the chorus; they even refuse to listen to what Eteocles has to says until 257. Then, suddenly having taken notice of him, they immediately obey his request as he repeats it.« Dies ist m.E. zu vereinfacht gedacht: Unterscheiden wir genau zwischen Illokution und Perlokution, wird deutlich, dass Eteokles hier mittlerweile seine direktive Illokution mit persuasiven Elementen deutlicher macht und anpasst. Nur weil sich beim Chor nicht sofort ein illokutionärer und später ein illokutionärer, aber noch kein perlokutionärer Effekt einstellt, heißt dies nicht, dass es sich um keine persuasive Stichomythie handelt. Jens (1955) 8 beobachtet richtig die unmittelbare Anknüpfung des Eteokles an die Worte der Frauen, sodass seine persuasive Illokution deutlich wird.

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Eteokles’ erneute misogyne Beleidigung (256) kontern die Thebanerinnen mit einem Hinweis auf den drohenden Untergang der thebanischen Männer (257) – es wird zum ersten Mal reziproker kommunikativer Kontakt hergestellt. Eteokles nutzt diesen aus, um die Frauen mit ihrem eigenen Argument der Frömmigkeit zu schlagen: Den Untergang der Bürger vorherzusagen, während man zu den Göttern bete, sei ebenso unfromm (258). Als die Frauen hierauf erneut ihre Angst kundtun (259), findet Eteokles schließlich passendere Worte und weist ein verändertes Sprachverhalten auf: ΕΤ. αἰτουμένῳ μοι κοῦφον εἰ δοίης τέλος. ΧΟ. λέγοις ἂν ὡς τάχιστα καὶ τάχ᾽ εἴσομαι. ΕΤ. σίγησον ὦ τάλαινα, μὴ φίλους φόβει.

260 (260–262)

Et. Wenn ihr mir doch einen kleinen Gefallen erweisen würdest, ich bitte euch. 260 Cho. Sag nur schnell, und dann werde ich es schnell wissen. Et. Schweigt, ihr Elenden, und erschreckt nicht eure Lieben!

In Vers 260 bereitet er seine in 262 explizit formulierte Proposition194 vor, indem er den Frauen eine freundliche, indirekte Anfrage nach ihrer Bereitschaft vorausschickt und somit eine pre-expansion vornimmt.195 Hier lohnt auch ein genauerer Blick auf die politeness-Terminologie: Da sich idealerweise – also bei hoher politeness und damit möglichst adaptiver Kommunikationsweise – die Direktheit der Formulierung umgekehrt proportional zum Gewicht der Proposition verhält, zeigt uns Eteokles’ in 260 vorgeschickte Formulierung, dass er nun durchaus die Schwierigkeit seiner Anfrage berücksichtigt. Da Eteokles seine Anfrage verkleinert, indirekt ausdrückt196 und damit die möglicherweise 194 In 232 war σιγᾶν zwar auch die Proposition, aber wurde nicht klar formuliert; stattdessen war sie in eine allgemeine Verhaltensregel gehüllt. 195 Eine pre-expansion dient als nützliche Vorbereitung der Kernanfrage: »At any point in […] a sequence, speakers can insert “expansions,” to facilitate the most efficient possible resolution of the overarching sequence (the “base pair”) and to prevent dispreferred turns.« (Emde Boas (2017a) 414). Eine Konversationsanalyse zeigt den vorbereitenden Charakter einer pre-expansion (zu den Abkürzungen vgl. Anm. 37): Ετ. αἰτουμένῳ μοι κοῦφον εἰ δοίης τέλος. pre-expansion FPP Χο. λέγοις ἂν ὡς τάχιστα καὶ τάχ᾽ εἴσομαι. pre-expansion SPP Ετ. σίγησον, ὦ τάλαινα, μὴ φίλους φόβει. base FPP Χο. σιγῶ· σὺν ἄλλοις πείσομαι τὸ μόρσιμον. base SPP. Die hier vorliegende pre-expansion ist besonders in dem Sinne, dass sie das Hauptpaar 262f. durch eine politeness-Strategie überhaupt erst ermöglicht. Zu pre-expansions an sich, s. Schegloff (2007) 28–57. 196 Vollständig würde Eteokles’ Vers 260 als face threatening act with negative redress on record bezeichnet werden, da die Anfrage deutlich an den Chor gerichtet ist und nicht a parte o.ä. gesprochen wird; Brown & Levinson (1978) 181f. nennen diese Strategie »minimize the imposition«. In der einfacheren Interpretation von Watts (2003) würde es nicht als politeness, sondern als politic behaviour bezeichnet werden.

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Textanalyse: Aischylos

negative Auswirkung impliziert (κοῦφον sowie εἰ δοίης im Optativ197), ist hier im Vergleich zu seinen direkten Aussagen (bald on record impoliteness) zu Beginn der Szene eine markierte politeness-Strategie zu diagnostizieren – denn diese Art des Ausdrucks ist nicht die Norm.198 Im Gegensatz zu seinen anfänglichen Beleidigungen und Verallgemeinerungen zum Zwecke der Autoritätsdarstellung wendet Eteokles nun markierte politeness-Strategien an und ändert damit sein Sprachverhalten deutlich. Wie erwartet folgt aus Vers 260 die Aufnahmebereitschaft der Thebanerinnen (261), sodass Eteokles nun sein explizites Anliegen formulieren kann (262).199 Im Zuge dessen benutzt Eteokles zum ersten Mal den expliziten Imperativ σίγησον: Er vermeidet nun indirekte Formulierungen und formuliert einen klaren Imperativ mit der tatsächlichen, von Anfang an angedachten Proposition. Dies funktioniert aus zwei Gründen: Einerseits verliert die Direktheit der Formulierung ihre Schärfe, da durch indirekte Ausdrucksweise (260. 261) vorbereitet. Andererseits macht Eteokles in 262 noch einen wichtigen Zusatz: Indem er mit μὴ φίλους φόβει auf die persönlichen Verbindungen der Frauen eingeht und die Soldaten, die nicht verunsichert werden sollen, zum ersten Mal als die Verwandten der Frauen darstellt,200 beweist er schließlich kommunikative Adaptivität und erreicht somit seine Redeintention:201 ΧΟ. σιγῶ· ξὺν ἄλλοις πείσομαι τὸ μόρσιμον. (263) Cho. Ich schweige: Mit den anderen will ich mein Schicksal gemeinsam ertragen.

Ein Blick auf Eteokles’ Antwort zeigt, dass auch er sich in seiner Haltung und seinem kommunikativen Verhalten leicht verändert und angenähert hat: In 264–270 trägt Eteokles den Frauen auf, weitere Gebete abzuhalten, wohl auch aufgrund des Hinweises auf τὸ μόρσιμον durch den Chor. Aischylos lenkt den Blick auf diese Annäherung: Während Eteokles zunächst die gleichen ParäneseArgumente, die einem Heer gegenüber angemessen wären, benutzte, konnte er 197 Dies ist der erste Optativ des Eteokles in diesem Stück. 198 Hier spielt auch die indirekte Aussagekraft des Optativs hinein (»Der Optativ des Wunsches dient endlich […] in der II. und III. Person als mildere Form der Bitte und der Aufforderung.« K-G 2,1 §395,5). Freilich ist der Grad an politeness nie eindeutig aus der Formulierung abzulesen (vgl. Watts (2003) 168f.), in diesem Fall kann aber durch den Vergleich der Äußerungen zu Beginn der Szene ein deutlicher Kontrast festgestellt werden. 199 Hutchinson (1985) xxxv sieht in 260 »harsh, mocking irony«. Jedoch lässt sich durchaus eine Tonänderung feststellen und Eteokles’ spätere Zustimmung zum Gebet beweist, dass keine bitterböse Ironie im Spiel ist. 200 Zuvor hatte Eteokles diese entweder als πολῖται (191) oder als ὑπ’ αὐτῶν ἔνδοθεν (194) bezeichnet – also wenig an die Perspektive seiner Gesprächspartner angepasst. 201 Gegen Winnington-Ingram sehe ich diese Zustimmung keinesfalls als »suddenly« (Winnington-Ingram (1983) 28) kommend, denn wie gezeigt wurde, passt sich Eteokles nach und nach an. Die Zustimmung des Chores wurde offensichtlich von langer Hand vorbereitet.

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sich dann kommunikativ anpassen. Obwohl er schon vorher ein Konzept des mentalen Zustandes der Frauen hatte, bewiesen durch seine Hinweise auf ihre Angst (184–6. 191. 238), gelingt ihm nun die Anwendung dieser Einsicht: Eteokles zeigt Adaptation und kann sich rhetorisch gewinnbringend anpassen.202 Doch woher rührt diese zweifache Anpassung des Eteokles? Da keine Selbstreflexion seiner vergeblichen Rede zu verzeichnen ist, muss der Mechanismus beider Anpassungen genauer betrachtet werden: Vor Vers 235 erklärt der Chor Göttergunst als essentiell und unterstellte Eteokles νέμεσις, benutzt ein religiöses Argument; vor Vers 257 prophezeit der Chor den drohenden Untergang der thebanischen Männer, argumentiert folglich mit der Todesthematik. Also ändert Eteokles seine Perspektive immer nach Äußerungen, die Regel- oder Prophezeiungscharakter haben und ihn selbst bzw. seine Verantwortlichkeit angehen.203 Denkt man in diesem Sinne weiter, ist zu schlussfolgern, dass Eteokles mit pathetischen Äußerungen kaum umgehen kann204 und Angstargumentation nicht validiert bzw. ignoriert, aber sehr wohl die auch auf ihn selbst bezogenen, rationalen Argumente der Frömmigkeit und der Gefahr versteht. Wie in Nachahmung verwendet er schließlich selbst ein persönlich bezogenes Argument (μὴ φίλους φόβει 262) – mit Erfolg. Sein vorläufiges Scheitern und sein schlussendlicher Erfolg werden auf argumentativer, sprachlicher und charakterlicher Ebene für das Publikum plausibilisiert.

202 Zur Paränesenreflexion (1) sei gesagt: Während die Argumente an die Thebanerinnen auch für sich ein stimmiges ›unpassendes‹ Bild bieten würden, muss man sie jedoch vor der Kontrastfolie des Paränesen-Prologes sehen. Zunächst gibt Eteokles seine Argumente aus dem Prolog mutatis mutandis an die Frauen weiter, bietet aber gleichzeitig aber eine indirekte Anleitung für eine Paränese: Ex negativo kritisiert er jedwede emotionale sprachliche Äußerung (184–186), rastloses, ängstliches Umhereilen (191), jede Manifestation der Panik (238) sowie die lautstarke Prophezeiung. Wenden wir dies ins Positive, so erhalten wir die einfache Maxime der Gelassenheit und der Standhaftigkeit, um Unmut zu vermeiden. Dies kann sicherlich als Eteokles’ eigene Maxime angesehen werden, und sein Prolog beweist dies – im Austausch mit dem Chor scheint ihm die konsequente Befolgung schwerzufallen, und auch der Chor befolgt diese Maxime offensichtlich nicht (f. die emotionale Unerreichbarkeit des Eteokles und die rationale Unerreichbarkeit des Chores vgl. Brown (1977) 302). Er trägt den Frauen jedoch nach ihrer Kooperation auf, stattdessen einen frommen ὀλολυγμός zu singen (ὀλολυγμὸν ἱερὸν εὐμενῆ παιώνισον 268), d.h. ein formelleres und weniger verzweifeltes Liedgebet, das die Hilfsbedürftigkeit, aber auch die Frömmigkeit der Betenden unterstreicht, ohne in Panik zu verfallen. Hutchinson (1985) 87 erwähnt die Gleichsetzung der Begriffe ›Paian‹ und ὀλολυγμός, wobei Paian für Männer und ὀλολυγμός für Frauen galt. Das erste Stasimon erfüllt dies nicht gänzlich, da die Frauen immer noch von Unheil singen, vgl. Foley (1993) 130f. (anders Torrance (2007) 102). Insofern gelingt es Eteokles nur bedingt, von relativer Starrheit der Argumentation sogar zu einer Paränese für beide Typen von Thebanern zu gelangen, also im Nachhinein seine Maxime des λέγειν τὰ καίρια (1) zu erfüllen. 203 NB dass Eteokles dies aber auch selbst in fast jeder Äußerung ›prophezeit‹, und zwar als Argument für das Schweigen des Chores und für den Kampfesmut der Männer verwendet. 204 Vgl. die Herstellung kommunikativen Kontakts in 202.

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Während der Zuschauer anfangs Zeuge einer Gegenüberstellung scheinbar unvereinbarer Gedankenwelten und einer Kollision von weder falschen noch richtigen Meinungen wurde,205 kann er schließlich nachvollziehen, wie sich nach und nach ein Gleichgewicht einstellt. Da Eteokles und der Chor nun gedanklich geradezu eine Einheit darstellen,206 kann das Publikum mit beiden Parteien Mitleid haben: Mit dem Chor aus naheliegenden Gründen und mit Eteokles, weil er nun nicht mehr nur als Kriegsherr, wie in seiner Paränese an die Soldaten, erscheint, sondern zudem als religiöses Oberhaupt, das auch mit den inneren Angelegenheiten der Stadt nicht mehr überfordert ist.207 Wir beobachten, wie Eteokles versucht, den Diskurs im belagerten Theben zu kontrollieren208 und dabei möglichst große Zuversicht auszustrahlen.

2.1.1.3 Rhetorische Adaptation Um zu bestimmen, inwiefern Eteokles sich an die Gesprächspartnerinnen anpasst, sind im ersten Teil der Szene nur wenige explizite Hinweise zu finden: Eteokles zeigt zwar Bewusstsein für den geistigen Zustand der Anderen, wenn er die Frauen zu Anfang fragt, ob sie ihr Verhalten für gut befinden209 – diese Äußerung ist jedoch eher rhetorisch-ironisch zu verstehen denn als wahres konstruktives Interesse. Er sieht zwar ihre Angst ein (δείσασα δ’ οἴκῳ καὶ πόλει πλέον κακόν 190), zeigt aber keinerlei Anpassung aufgrund dieser Erkenntnis. Stattdessen wirft er ihnen die Schädlichkeit für die gemeinsame Sache des Volkes vor (193f.) und setzt Gehorsam als oberste Pflicht voraus (196f.); daran fügt er noch eine Todesdrohung für all diejenigen, die ungehorsam seien (198f.). Zudem kann Eteokles zwar die äußeren Anzeichen für die Panik der Frauen richtig einordnen (184–186. 191. 238), wendet dieses Wissen aber nicht an. Ebenso unterstreicht Eteokles’ Herstellung des kommunikativen Kontaktes (ἤκουσας, ἢ οὐκ ἤκουσας; ἢ κωφῇ λέγω; 202) lediglich seine Macht: Ihm ist wichtig, ob seine Botschaft angekommen ist, nicht wie die Frauen zu dieser stehen. Er passt sich zunächst mit Absicht nicht an seinen Gesprächspartner an: Er verbleibt in seiner Rolle des höhergestellten Machthabers, was sein Scheitern plausibilisiert. Schließlich beweist Eteokles’ Strategieänderung, dass er durchaus fähig ist, sich 205 Brown (1977) 302. S.a. Torrance (2007) 51–53 für das Dilemma des bewertenden Zuschauers. 206 Vgl. Bees (2009) 180 Dies wird freilich konterkariert durch die spätere Szene, in der der Chor Eteokles vom Kämpfen abhalten möchte (677–719). 207 Winnington-Ingram (1983) 51–53 bietet eine ähnliche Interpretation von Eteokles’ Zerrissenheit zwischen seiner Rolle als Anführer und als verfluchter Sohn des Ödipus: Somit wäre Eteokles’ rhetorischer Erfolg als Integration beider Rollen zu sehen. Anders Hutchinson (1985) xxxv. 208 Stehle (2005) sieht mit Zeitlin (1982) 28–49 hinter Eteokles’ Kontrolle des Diskurses seinen Umgangsversuch mit dem Fluch. 209 ὑμᾶς ἐρωτῶ, θρέμματ’ οὐκ ἀνασχετά, / ἦ ταῦτ’ ἀρωγὰ καὶ πόλει σωτήρια, […] 182f.

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an die Disposition des Gesprächspartners anzupassen. Dies unternimmt er allerdings erst in konstruktiver Weise, nachdem seine ablehnende, unangepasste Strategie gescheitert ist.

2.1.1.4 Metapragmatik: Häufigkeit, Gebrauch und explizite Plausibilisierung Insgesamt lässt sich Metapragmatik in dieser Szene selten beobachten210 und erfüllt eine rein deklarative Funktion. Wie zu erwarten ist die Anzahl der metapragmatischen Aussagen des Charakters mit einer Redeintention, d.h. Eteokles, deutlich erhöht.211 Im ersten Teil der Szene zeigt Eteokles zunächst nur eine Kontaktherstellung (202) und die performative Frage ὑμᾶς ἐρωτῶ (182). Die geringe Anzahl solcher expliziten Bezüge auf die kommunikative Situation und auf den Gesprächspartner deutet an, dass Eteokles zunächst mit Absicht keinen Einblick in sein kommunikatives Projekt gibt, seine direktiven Sprechakte wenig rahmen will und als höhergestellter König dies auch nicht tun muss. In jedem Falle unterstreichen diese Aussagen, wenn auch selten vorhanden, sein direktives Scheitern für den Zuschauer, da sie seine intendierten, aber unbeantworteten Sprechabsichten (Illokutionen) explizit markieren (ὑμᾶς ἐρωτῶ […] 182f. ἤκουσας, ἢ οὐκ ἤκουσας; ἢ κωφῇ λέγω; 202). Im zweiten Teil der Szene, als Eteokles seine Redeintention in einer Stichomythie durchsetzen kann, häufen sich dann die metapragmatischen Aussagen:212 ΕΤ. οὐ σῖγα μηδὲν τῶνδ’ ἐρεῖς κατὰ πτόλιν; ΧΟ. ὦ ξυντέλεια, μὴ προδῷς πυργώματα. ΕΤ. οὐκ ἐς φθόρον σιγῶσ’ ἀνασχήσῃ τάδε; ΧΟ. θεοὶ πολῖται, μή με δουλείας τυχεῖν. ΕΤ. αὐτὴ σὺ δουλοῖς κἀμὲ καὶ πᾶσαν πόλιν. ΧΟ. ὦ παγκρατὲς Ζεῦ, τρέψον εἰς ἐχθροὺς βέλος. ΕΤ. ὦ Ζεῦ, γυναικῶν οἷον ὤπασας γένος. ΧΟ. μοχθηρόν, ὥσπερ ἄνδρας ὧν ἁλῷ πόλις. ΕΤ. παλινστομεῖς αὖ θιγγάνουσ’ ἀγαλμάτων; ΧΟ. ἀψυχίᾳ γὰρ γλῶσσαν ἁρπάζει φόβος. ΕΤ. αἰτουμένῳ μοι κοῦφον εἰ δοίης τέλος. ΧΟ. λέγοις ἂν ὡς τάχιστα, καὶ τάχ’ εἴσομαι. ΕΤ. σίγησον, ὦ τάλαινα, μὴ φίλους φόβει. ΧΟ. σιγῶ· σὺν ἄλλοις πείσομαι τὸ μόρσιμον. ΕΤ. τοῦτ’ ἀντ’ ἐκείνων τοὔπος αἱροῦμαι σέθεν.

250

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(250–264)

210 Insgesamt: ⌀ 14% der Verse; Rhesisformen: ⌀ 4% der Verse; Stichomythie: ⌀ 22% der Verse. 211 12 Aussagen des Eteokles vs. drei Aussagen des Chores, vgl. Tabelle 1. 212 In dieser Szene zwei Aussagen in Rhesisformen vs. 13 in den stichomythischen und strophischen Formen.

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Durch diese – in der Stichomythie übliche – Verdichtung von Sprache und die Ausformulierung der Illokutionen wird das Publikum über den Stand der Konversation informiert.213 Die konstatierende Darstellung verdichtet sich im dialogischen Teil nach Eteokles’ Rhesis und markiert damit die Zuspitzung des Dialogs. Hier wird Metapragmatik als Markierung, aber nicht als Plausibilisierung oder Erklärung des kommunikativen Erfolges eingesetzt. Stattdessen findet eher eine Fokussierung auf die Schwierigkeiten von Kommunikation statt, sodass der Zuschauer für ein tiefergehendes Verständnis die Redeintentionen und Gedankenwelten der Charaktere reflektieren muss. Gleichzeitig spiegeln Eteokles’ zahlreiche Metadirektive seinen soziokulturellen Status wider: Als König kann er das Gespräch auch auf der Metaebene dominieren und nimmt Diagnosen des Sprachverhaltens vor.

2.1.1.5 ἦθος des Sprechers und Autoritätskonflikte Eteokles wird, wie wir gesehen haben, in Aischylos’ Septem von Beginn an die Rolle des militärischen Anführers und aggressiven Mannes zugeschrieben, der sich auch gegenüber den untergebenen Frauen so verhält: Durch rangkonformes Verhalten sollte er unter normalen Umständen auch durchweg die Befolgung seiner Befehle erfahren. In der Ausnahmesituation des Krieges jedoch nimmt sein vorläufiges Scheitern nicht wunder, da durch die extremen Emotionen Autoritätsverhältnisse nicht mehr fraglos zu gelten scheinen. Denn Eteokles’ Sprach- und Argumentationsverhalten zeichnet sich zunächst durch impoliteness, Direktive, frauenfeindliche Aussagen und allgemeine Nervosität aus, wozu das defensive, verängstigte Verhalten der Frauen einen starken Gegensatz bildet. Überautoritäres Verhalten und lähmende Ängstlichkeit hebeln die normalen Statusgesetze aus. Sprache, d.h. Klage und Jammern, wird in diesem Fall zu einem Machtmittel der Frauen, über das sich Eteokles hinwegsetzen muss. Durch seine rhetorische Anpassung gelingt es Eteokles schließlich, eine kommunikative und rangüberwindende Brücke zu seinen Gesprächspartnerinnen und Untertaninnen zu schlagen und seine Autorität im Gespräch wieder zu behaupten. In der anfänglichen argumentativen Distanz der Charaktere spiegelt sich ihr starkes Autoritätsgefälle wider, das durch Eteokles’ Anpassung relativiert wird.

213 In den behandelten Szenen zeigte sich stets eine höhere Konzentration der metapragmatischen Formen in der Stichomythie im Vergleich zu Rhesisformen (182–186: 4% Rhesis vs. 22% Stichomythie). S.a. Tabelle 1.

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2.1.1.6 Zusammenfassung An dieser Szene ist bemerkenswert, nebst der beobachteten rhetorischen Adaptation des Eteokles, dass Aischylos den Blick des Publikums konsequent auf unpassende redeinterne Merkmale lenkt: auf unhöfliches, beleidigendes Sprachverhalten, eine negative Charakterzeichnung des Eteokles als Kriegstreiber und autoritativer Herrscher sowie eine sture und unpassende, auf Soldaten zugeschnittene Argumentation. Der Kontrast der Charakterdispositionen liegt zwar ursächlich in der Definition angemessener Gebete begründet,214 wird aber auf allen Ebenen sprachlich illustriert. Da Eteokles die Angst der Thebanerinnen zumindest bewusst ist, ist davon auszugehen, dass seine fehlende kommunikative Anpassung weniger aus persönlicher Abneigung stattfindet als vielmehr aus durch die drohende Gefahr hervorgerufener Härte:215 In seiner Anführerrolle ist es für Eteokles zunächst kontraintuitiv, seine Befehle und Autorität durch Anpassung abzuschwächen. Deutlich kann hier die Erkenntnis, dass mit persönlich bezogenen, adaptiven Argumenten zu überzeugen ist, und nicht etwa mit allgemeinen Regeln, als wichtigstes Plausibilisierungselement von Scheitern festgehalten werden. Die Änderung in Eteokles’ Zugeständnissen (οὔτοι φθονῶ σοι δαιμόνων τιμᾶν γένος 262) und Argumenten (μὴ φίλους φόβει 262) macht dies offenbar.216 Eteokles’ verändertes Sprachverhalten illustriert und plausibilisiert dieses Umdenken weiterhin: Seine markierte impoliteness-Strategie zu Beginn führt zu Abweisung, seine markierte politeness-Strategie führt zur Annahme seiner Forderung. Kommunikative Adaptation wird praktisch vorgeführt. Metapragmatische Aussagen im Rahmen von Eteokles’ kommunikativen Projekt sind in geringer Anzahl zu beobachten, unterstreichen jedoch deklarativ seine Illokutionen, die in ihrer perlokutiven Wirkungen zunächst erfolglos blieben. Es ist auffällig, dass diese Adaptation trotz eines offensichtlichen Rangunterschiedes zwischen Eteokles und den Thebanerinnen nötig war – es ist zu vermuten, dass die besondere Ausnahmesituation ausgedrückt werden soll, in der sich König und Untertanen befinden, verstärkt durch ihre konträren Reaktionen auf die externen Ereignisse. Durch angepasste Rhetorik konnte Eteokles seine Autorität im Gespräch bestätigen. Somit stellt Aischylos Rhetorik als wirksames Mittel dar, Redeziele und Handlungsänderungen zu erreichen; dies gilt aber nur bei angepasster Verwendung durch den richtigen Sprecher. 214 Vgl. Torrance (2007) 51–53. 215 Winnington-Ingram (1983) 29 vermutet etwa, dass Eteokles’ Härte nicht etwa von seiner Angst um die Stadt komme, sondern von seiner Angst vor dem Fluch, weswegen er auch die Frauen zum Schweigen bringen wolle. Während diese Interpretation durchaus attraktiv ist, ist diese Frage jedoch letztlich subjektiv zu beantworten. 216 Hiermit konnte auch gegen die Annahme von Winnington-Ingram (1983) 28 argumentiert werden, der eine abrupte Zustimmung des Chores feststellte.

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Zuletzt bleibt die extradramatische Wirkung dieser allerersten Szene der Septem zu bedenken: Die Bedrohlichkeit der thebanischen Belagerung gepaart mit der hitzigen und vorläufig fehlschlagenden Kommunikation regt den Zuschauer bereits zu Beginn des Stückes zu emotionaler Anteilnahme an. Doch steht diese Szene – dies ist auch dem Zuschauer aufgrund seiner Kenntnis des Mythos bewusst – nicht allein im Handlungsgefüge der Septem: Der Ödipusfluch, der schließlich in den doppelten Brudermord münden wird, deutet sich bereits implizit an, wenn es Eteokles aus Nervosität misslingt, seine Bevölkerung im Angesicht des Argiverheeres zur Zuversicht anzuhalten.

2.1.2 Aischylos, Septem 677–719 2.1.2.1 Einleitung und Hintergrund Während rhetorisches Scheitern in der vorherigen Szene Eteokles’ Unzulänglichkeit als militärischer Anführer illustriert, fungiert es hier als Ausdruck des tragischen Verhängnisses für Eteokles. Denn diese Szene behandelt die Problematik des Ödipusfluches und seiner Gültigkeit:217 Nach dem ausführlichen Botenbericht über die sieben Argiver an den Toren Thebens und Eteokles’ jeweiliger Konterrede versucht der Chor, Eteokles zu überzeugen, nicht gegen Polyneikes zu kämpfen; der Chor äußert sich hier bemerkenswert ausführlich und sogar in Sprechversen.218 Er argumentiert, Eteokles’ bevorstehender Tod bringe Theben noch mehr Leid, seine Redeintention soll seinem Stande gemäß mit einem persuasiven, nicht mit einem direktiven, Sprechakt erreicht werden. Aber Eteokles verkündet bereits vor dem Überzeugungsversuch des Chores, dass er sich dem Kampf stellen werde (ἐχθρὸς ξὺν ἐχθρῷ στήσομαι 675). Diese Entschlossenheit ist nachvollziehbar – potenzieren doch die sieben ekphras 217 Stehle (2005) 117 sieht den Ödipusfluch in der Analogie der jeweils unangemessenen Gebetssprache von Eteokles und Polyneikes auch verbal repräsentiert (182–286 bzw. 631–641) und weist auf seine Implikationen für die Charakterhandlungen hin: »[…] when he hears that Polyneikes is at the seventh gate, he seems suddenly to yield to the curse. […] In fact, Polyneikes forces Eteokles to pray to kill his brother. Eteokles has no other choice: his brother is not just at the seventh gate but is determined to seek him out. Eteokles cannot pray to avoid him without relinquishing his role as defender of the city, the very thing that he has relied on to distinguish him from the attacker. On the other hand, killing his brother will leave him so polluted that he must wish to die himself. On moral as well as logical grounds, therefore, his prayer in opposition must be identical to his brother’s prayer.« Somit sind beide Brüder von δυσφημία gekennzeichnet und handeln auch dementsprechend. 218 »When the chorus speaks more than four lines in A., it is usually for a reason. Sometimes, the lines make a transition to or from a song […]; sometimes they mark a striking intervention by the chorus […]; sometimes they have particular weight […]. All these points are relevant here. […] now they attempt, in sober trimeters, to restrain the king himself.« Hutchinson (1985) 148.

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tischen Redepaare nicht nur für den Zuschauer die aus der Parodos geläufige Bedrohlichkeit ins Unermessliche, sondern auch für Eteokles, befeuert durch seine eigene Rede- und Kampfbeteiligung. So ist von vorneherein klar, dass Persuasion beinahe unmöglich ist, was in der Forschung zu Recht als Ausdruck des Ödipusfluches gesehen wurde.219 Zudem ist es unwahrscheinlich, dass sich Eteokles in seiner alarmierten Verfassung von seinen Untergebenen umstimmen lassen wird. Daher ist es sinnvoll, die genaue sprachliche und argumentative Darstellung dieses persuasiven Scheiterns zu untersuchen, um Aischylos’ rhetorische Rezipientenlenkung offenzulegen: Denn die thebanischen Frauen versuchen trotzdem einen Persuasionsakt – ihre Angst aus dem ersten Epeisodion steht wieder im Vordergrund, da sie um Eteokles und die Stadt fürchten. Allerdings sind nun die Sprecherrollen220 quasi vertauscht, da Eteokles argumentativ unerreichbar und durch den Fluch emotional beeinflusst ist – die Frauen fordern Mäßigung, aber sie scheitern.221 Hierbei ist festzustellen, dass der Chor zwar versucht, den mentalen Zustand des Eteokles mit Hass zu erklären, aber sein Verhalten nicht vollständig und nicht völlig korrekt interpretiert.222 Wie Aischylos den Fokus von scheiternder Rhetorik wiederum auf die Unvereinbarkeit von Charakteransichten und die mangelnde Erkenntnis der fremden, in diesem Fall sogar durch den Fluch beeinflussten Disposition legt, soll im Folgenden gezeigt werden.

2.1.2.2 Argumentativer Aufbau und Sprachverhalten Zunächst ist festzuhalten, dass die Frauen Eteokles’ Rhesis (653–676) eindeutig gehört haben müssen; in ihr hatte Eteokles neben seiner festen Entschlossenheit auch bereits seine Gründe für sein Verhalten angedeutet: Der Fluch (ἀραί 655) bringe ihn dazu, zu kämpfen (ξυστήσμοαι 672. στήσομαι 675),223 Emotionalität sei fehl am Platze (οὔτε κλαίειν οὔτ’ ὀδύρεσθαι πρέπει 656).224 Hinzu kommt

219 »honour and his fatalism« Hutchinson (1985) 148; »In tragedy, the decision is made by the hero and it is a repetition of an earlier decision that may have been made long before: as in the cases of the Atreidae or the Labdacids.« Vernant & Vidal-Naquet (1990) 257. 220 Was die Dynamik und Dominanz des Gesprächs angeht, nicht die Argumente oder Haltungen, s. Brown (1977) 316. S.a. Torrance (2007) 100. 221 Vgl. Winnington-Ingram (1983) 33; Hutchinson (1985) 148. Für Eteokles’ veränderte Haltung in Bezug auf Determinismus s. Kapitel 2.1.1.5. 222 »This does not, however, exclude the attribution to him of other mental states […]. It does not exclude, but entails, hatred of his brother.« Winnington-Ingram (1983) 35. 223 Zur Unterstreichung von Eteokles’ fester Entschlossenheit durch das Botenreferat von Polyneikes’ Gebet (631–641), s. Stehle (2005) 117f. 224 Dies ist eine Anspielung auf die Zwischenstrophen des Chores zwischen den sieben Redepaaren, die eine Hikesie- und Gebetsthematik aufweisen.

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die Tatsache, dass Eteokles in 675f. nach seiner Rüstung verlangt und sich wohl während der Szene rüsten lässt.225 Die Frauen gehen direkt auf Eteokles’ Rede ein: ΧΟ. μή, φίλτατ’ ἀνδρῶν, Οἰδίπου τέκος, γένῃ ὀργὴν ὅμοιος τῷ κάκιστ’ αὐδωμένῳ· ἀλλ’ ἄνδρας Ἀργείοισι Καδμείους ἅλις εἰς χεῖρας ἐλθεῖν· αἷμα γὰρ καθάρσιον. ἀνδροῖν δ’ ὁμαίμοιν θάνατος ὧδ’ αὐτοκτόνος, οὐκ ἔστι γῆρας τοῦδε τοῦ μιάσματος.

680 (677–682)

Cho. Lieber Sohn des Ödipus, werde nicht gleich an Zorn dem, der Schlimmstes spricht. Vielmehr ist es schon genug, wenn die kadmischen Männer gegen die Argiver stürmen: Denn dieses Blut ist sühnbar. 680 Aber wenn Männern gleicher Abstammung der Tod durch gegenseitige Hand zustößt, dann gibt es kein Verjähren dieser Blutschuld.

Sie sprechen ihn respektvoll und besorgt an (μή, φίλτατ’ ἀνδρῶν, Οἰδίπου τέκος 677) und argumentieren auf zwei Arten. Einerseits solle er nicht der ὀργή verfallen wie sein Bruder (678); andererseits seien das Blutvergießen und damit der Fluch nun zu beenden, da im Bruderkampf vergossenes Blut nicht sühnbar sei (678–682). Während das Sprachverhalten der Frauen und ihre charakterliche Darstellung als besorgte Untertaninnen völlig angemessen sind, wird angesichts von Eteokles’ Aussage, Emotionalität könne ihn nicht umstimmen, deutlich, dass ihre Argumentation unpassend ist: Die Frauen werfen Eteokles Zorn vor, obwohl er aus seiner Sicht rational handelt (dies zeigt seine Ablehnung alles Emotionalen in 656 und die glasklare Herleitung des Zwanges zum Kampf aus der ἀδικία des Polyneikes 658–671). Während Eteokles vorher den Fluch und seine Beilegung lediglich als Anlass für seinen Kampf nennt, sehen die Frauen den Bruderkampf vielmehr als potentielle aktive Fortsetzung des Fluches und damit als Eteokles’ sicheren Tod an; sie weisen also eine andere Bewertung des Fluches auf. Die Disposition des Gesprächspartners wurde offensichtlich von ihnen nicht erkannt und seine Argumente werden nicht entkräftet, sondern nur eine gegenläufige Interpretation des Fluches angeboten, für die es aber keine Quellen oder Beweise gibt. Die Einstellungen sind gegensätzlich: Der Chor interpretiert den Fluch, als sei er durch den Kampf mit den Argivern zu beenden und sühnbar, als verlängere ihn aber der Bruderkampf; dagegen sieht Eteokles den Fluch als die Ursache für den Bruderkampf an. Im Folgenden wird noch deutlicher, inwiefern Eteokles von einem anderen Standpunkt her argumentiert, wenn er die fehlende εὔκλεια bei einem Rückzug vom Bruderkampf bemängelt (685). Er sieht sich und seine Familie durch 225 So Winnington-Ingram (1983) 31f.

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weg als verflucht an (689–691), sodass er sich vom wiederholten Hinweis der Frauen auf die Schande seines Tuns (686–689. 692–694) nicht überzeugen lässt – für ihn sind das μίασμα (682) und die Problematik der ὀργή (678) schlichtweg keine r­ elevante Denkkategorie. Stattdessen sieht er sein Schicksal als besiegelt an (695–697) und versteht die Götter als Überbringer dieses Fluches (702f.). Die Frauen hingegen bestehen darauf, dass die Götter als Beschützer der Stadt mit Opfern zu besänftigen seien (701), was wiederum an den Kontrast der Dispositionen im ersten Epeisodion erinnert. Dieser Kontrast wird hier besonders an der Interpretation des Wortes θεός und der zugrundeliegenden Theologie konkretisiert: ΧΟ. ἀλλὰ σὺ μὴ ’ποτρύνου· κακὸς οὐ κεκλήσῃ βίον εὖ κυρήσας. μελάναιγις ἔξεισι δόμων Ἐρινύς, ὅταν ἐκ χερῶν θεοὶ θυσίαν δέχωνται. ΕΤ. θεοῖς μὲν ἤδη πως παρημελήμεθα, χάρις δ’ ἀφ’ ἡμῶν ὀλομένων θαυμάζεται· τί οὖν ἔτ’ ἂν σαίνοιμεν ὀλέθριον μόρον;

700

(698–704)

Cho. Aber du, steigere dich nicht noch hinein: Du erhältst keinen schlechten Ruf, wenn du auf dein Leben achtest. Die dunkel stürmende 700 Erinys verlässt dein Haus, wenn aus deinen Händen die Götter ein Opfer empfangen. Et. Von den Göttern erfuhr ich schon längst Missachtung. Ihre Gunst kann nur mein Tod erregen. Warum sollte ich dem tödlichen Schicksal noch schmeicheln?

Während der Chor die Götter als Retter der Stadt (701) sieht, versteht Eteokles die Götter als tödliche Fluchbringer. Der zugrundeliegende Konflikt dreht sich um die Frage, welche Rolle die Götter in der Stadt innehaben und ob Gebete wirksam sein können. Bestand Eteokles vorher auf der Handlungsfreiheit des Menschen, sieht er nun Gottgegebenes, also den Fluch, als determiniert und ausweglos an. Seine Haltung erfährt daher eine veränderte Darstellung, während die der Frauen grundlegend gleichbleibt. Neben diesen argumentativ-inhaltlichen Aspekten, die sich deutlich voneinander abgrenzen, müssen auch sprachliche berücksichtigt werden: Das Sprachverhalten der Frauen ist durchweg respektvoll und freundlich (μή, φίλτατ’ ἀνδρῶν, Οἰδίπου τέκος 677. τέκνον 686);226 die dem Herrscher gegenüber ver 226 τέκνον kann als markierte positive politeness-Strategie angesehen werden, insofern es als besorgte Anrede fungiert, wenn dem Adressaten von etwas abgeraten werden soll, s. Hutchinson (1985) 155. Dickey (1996) 66–68 definiert τέκνον als »kinship term«, der v.a. von Frauen angewendet wird und bei Anwendung auf Nichtverwandte wohlmeinende Nähe aus-

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wendeten Imperative können als besorgt interpretiert werden, stellen keine Grenzüberschreitung dar (μη […] γένῃ 677. ἀλλὰ σὺ μὴ ’ποτρύνου 698). Ihr Verhalten zeigt aber wenig Erfolg, da Eteokles von seinem Determinismusgedanken nicht abzubringen ist. Metrisch spiegelt sich der Kontrast der Ansichten in den sechs gesprochenen Versen, also Sprechversen, des Chores wider, in welchen das Anliegen des Chors genau auf Augenhöhe mit Eteokles formuliert wird (677–682).227 Die darauffolgenden dochmischen Verse des Chores, die jeweils von drei Sprechversen des Eteokles beantwortet werden (686–711), deuten wiederum auf emotionalen Aufruhr des Chores hin, der hier allerdings im noch größeren Kontrast zu Eteokles’ Unerreichbarkeit steht.228 Damit wird unterstrichen, dass Eteokles mit emotionalen Bitten nicht zu erreichen ist und stur in seiner Position verharrt (οὔτ’ κλαίειν οὔτ’ ὀδύρεσθαι πρέπει 656). In der Stichomythie werden die Frauen deutlicher und rekurrieren auf Eteokles’ misogynes Argument aus dem ersten Epeisodion: πείθου γυναιξὶ καίπερ οὐ στέργων ὅμως (712).229 Im Laufe der Auseinandersetzung offenbart Eteokles konzis seine Beweggründe, trotz aller Einwände, in den Kampf zu ziehen: seine Kampfeslust (715); sein Ehrgefühl als Soldat (717); seine Resignation gegenüber dem Willen der Götter (719),230 was, wie bereits erwähnt, einen Kontrast zu seiner Haltung in der Prologparänese darstellt. Insgesamt lassen sich diese Begründungen jedoch alle mit dem Fluch als Triebfeder für Eteokles’ Handeln zusammenfassen. Die Stichomythie beginnt mit zwei Metadirektiven: drücken soll. Hier wird die Parallelität dieser positiven politeness-Strategie zu rhetorischen Strategien deutlich, da sie beide ein Ziel beim Adressaten verfolgen, s. Torrance (2007) 100. 227 Hutchinson (1985) 148. 228 Hutchinson (1985) 148 schreibt, dass der Chor im ersten Epeisodion irrationalerweise Angst gezeigt habe und Eteokles nun »driven by a mad desire« und sein Charakter »horribly distorted« sei, sich also die Irrationalität der Ansichten genau umgekehrt habe. Vielmehr scheint es mir aber, als sei die Angst des Chores in beiden Fällen gerechtfertigt und Eteokles’ Position nun ein wenig extremer, da er seinen Tod in Kauf nimmt. Brown sieht Eteokles’ Verhalten richtigerweise als »wholly appropriate to the situation« an und sieht auch keine extreme Umkehrung der Rollen, s. Brown (1977) 309. 315. Denn die vorliegende Szene kann zwar als Extremsituation, jedoch nicht als von Wahnsinn geprägt angesehen werden (Solmsen (1937) 198 interpretiert etwa die Erinys des Eteokles in seine Äußerungen hinein). 229 Die Ansicht von Hutchinson (1985) 148, der Ton des Chors in der Stichomythie »becomes more subdued«, ist mir nicht ersichtlich, da die Proposition nun konkret ausgesprochen und sogar auf ein vorher benutztes Argument des Eteokles eingegangen wird, wie Hutchinson (1985) 159 auch selbst beobachtet. Meiner Ansicht nach wird der Ausdruck beider Gesprächspartner »blunter«, wie Hutchinson (1985) 148 dies allerdings nur Eteokles zuschreiben möchte. Doch geht es hier nicht um bald on record impoliteness, sondern um kommunikationsförderliche Deutlichkeit. Tatsächlich scheint dies m.E. die Hauptfunktion einer Stichomythie nach einem vorhergehenden ausführlichen Austausch zu sein: Eine fast vignettenartige Formulierung des Gesagten (vgl. den starken metapragmatischen Anstieg auch in der Stichomythie der ersten Szene, 182–286). 230 Diese drei Gründe hält Hutchinson (1985) 148f. fest.

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ΧΟ. πείθου γυναιξὶ καίπερ οὐ στέργων ὅμως. ΕΤ. λέγοιτ’ ἂν ὧν ἄνη τις· οὐδὲ χρὴ μακράν. ΧΟ. μὴ ἔλθῃς ὁδοὺς σὺ τάσδ’ ἐφ’ ἑβδόμαις πύλαις. ΕΤ. τεθηγμένον τοί μ’ οὐκ ἀπαμβλυνεῖς λόγωι. ΧΟ. νίκην γε μέντοι καὶ κακὴν τιμᾷ θεός. ΕΤ. οὐκ ἄνδρ’ ὁπλίτην τοῦτο χρὴ στέργειν ἔπος. ΧΟ. ἀλλ’ αὐτάδελφον αἷμα δρέψασθαι θέλεις; ΕΤ. θεῶν διδόντων οὐκ ἂν ἐκφύγοις κακά.

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715

(712–719)

Cho. Gehorche uns Frauen, auch wenn du es ungern tust. Et. Dann fordere etwas, das man erreichen kann: Und es soll keine lange Rede sein. Cho. Mach dich nicht auf den Weg zum siebten Tor! Et. Sicher wirst du nicht meinen geschärften Plan mit Worten abstumpfen! 715 Cho. Der Gott ehrt auf jeden Fall auch einen schlechten Sieg. Et. Ein Soldat darf sich nicht von diesem Gedanken leiten lassen. Cho. Also willst du das Blut deines eigenen Bruders vergießen? Et. Wenn die Götter sie verhängen, kann man Übeln nicht entfliehen.

Die Metadirektive kündigen das Redeziel der Frauen an (712) und signalisieren die eingeschränkte Aufnahmebereitschaft des Zuhörers Eteokles (λέγοιτ’ ἂν ὧν ἄνη τις· οὐδὲ χρὴ μακράν 713). Es werden Autoritäts- und Genderunterschiede deutlich, wenn Eteokles explizit eine kurze Antwort von den untergebenen Frauen verlangt.231 Als in 714 schließlich die eigentliche Proposition des Sprechaktes der Frauen konkret ausformuliert wird, lehnt Eteokles ebenso konkret ab und spricht den Frauen die Macht ihrer Stimme ab (715),232 wie er es bereits im ersten Epeisodion tat, indem er sie zum Schweigen bringen wollte. Spätestens hier ist die Unüberzeugbarkeit des Eteokles auf sprachlicher Ebene völlig klar, und dieser Gedanke bestätigt sich in 719 – auf der Ebene der Bühnenhandlung hat sich Eteokles nun wohl bereits vollständig zum Kampfe gerüstet.233 Alles in allem scheint die vorliegende Stichomythie eine konkretere Ausführung der vorhergehenden Szene zu sein, da sich an den Argumenten und den Haltungen 231 Diese Vorgabe befolgen die Frauen auch, da sie ihr Anliegen in einem Vers formulieren. Für die Vorgabe der konzisen Rede an Frauen vgl. Aischyl. Suppl. 273: μακράν γε μὲν δὴ ῥῆσιν οὐ στέργει πόλις (Pelasgos an die Danaiden). 232 Diese konkrete Formulierung ist in einer Konversationsanalyse als base pair zu ­bezeichnen, das von 712 und 713 vorbereitet wird: 712 1a FPP request (pre-expansion to 2) 713 1b SPP (conditional) acceptance (pre-expansion to 2) 714 2a FPP base pair: request 715 2b SPP base pair: rejection 716 3a FPP assessment/request (post-expansion to 2) 717 3b SPP rejection (post-expansion to 2) 718 4a FPP question (post-expansion to 2) 719 4b SPP answer/rejection (post-expansion to 2) 233 Winnington-Ingram (1983) 31f.

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nichts ändert. Die Stichomythie dient sozusagen als verdichtende Motivwiederholung234 der vorher vorgeführten Gedanken. In dieser Szene ist zusammenfassend die grundlegende Diskrepanz wieder eng verzahnt mit unpassender Argumentation: Die Dispositionen der Charaktere sind verschieden, da Eteokles sich als verflucht und bereits als tot ansieht und sich darauf konzentriert, wenigstens noch die Stadt Theben zu schützen; währenddessen sieht der Chor die Götter als vergebend und wohlgesonnen an. Der Chor scheitert letztlich daran, die geäußerte Disposition des Anderen in seine Argumentation einzubauen.

2.1.2.3 Rhetorische Adaptation Dabei zeigen die Frauen durchaus affektives Interesse für den Gesprächspartner: Zu Beginn schreiben sie Eteokles ὀργή (678) zu und erkundigen sich später nach seinem mentalen Zustand: τί μέμονας, τέκνον; (686). Auf rhetorisch-kognitiver Ebene kann hier jedoch – auch gestützt durch die extreme Angstdarstellung in der Parodos – von einem tatsächlichen Unvermögen ausgegangen werden, die unpassende Argumentation zu erkennen und dementsprechend anzupassen: Eteokles thematisiert dies sogar einmal (οὐκ ἄνδρ’ ὁπλίτην τοῦτο χρὴ στέργειν ἔπος 717), was in Form seiner nun vollständig angelegten Rüstung durch Requisiten verstärkt wird.235 Durch diese Bemerkung des Adressaten lenkt Aischylos die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf den Mangel an Anpassung an kommunikative Gegebenheiten.

2.1.2.4 Metapragmatik: Häufigkeit, Gebrauch und explizite Plausibilisierung Metapragmatik236 wird in dieser Szene selten gebraucht, jedoch deutlich mehr durch Eteokles als durch den Chor. Sie nimmt v.a. eine deklarative Funktion ein, wie die einzige metapragmatische Aussage des Chores: πιθοῦ γυναιξί, καίπερ οὐ στέργων ὅμως. (712). Das kommunikative Anliegen des Chores wird zuletzt explizit markiert. Eteokles dagegen lehnt dreimal explizit die Möglichkeit des per 234 Für die Verwendung der musikalischen Terminologie für die Beschreibung von dramatischen Strukturen s. etwa Seidensticker (1970). Für ein erhellendes Gespräch zum musikalischen, auch auf Texte anwendbaren Phänomen der Motivarbeit danke ich Janka Hofmann. 235 Winnington-Ingram (1983) 51. 236 Insgesamt in dieser recht kurzen Szene: ⌀ 9% der Verse, davon alles in stichomythischen und strophischen Formen; in der ersten behandelten Szene aus den Septem konnten wir einen Metapragmatikanteil von 14% der Verse feststellen. Trotzdem liegen beide Szenen deutlich über dem Durchschnitt, da in den Septem im Gesamten lediglich 6% der Verse metapragmatische Aussagen bieten (s. Tabelle 2). Hierbei sehe ich mit Ryzman (1983) die Verse 1005–1078 als authentisch an.

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lokutionären Erfolgs ab.237 Diese Ausformulierung der Illokutionen nimmt eine Markerfunktion für den Zuschauer ein, für den das kommunikative Scheitern signalisiert wird; sie unterstützt als Wortregie die wohl stattfindende Rüstung des Eteokles deskriptiv.238 Ansatzweise geschieht auch eine explikative Verwendung: Eteokles begründet seine Ablehnung kurz mit seiner Identität als Soldat (οὐκ ἄνδρ’ ὁπλίτην τοῦτο χρὴ στέργειν ἔπος 717), was aber nicht der einzige Grund für seine Ablehnung ist, wie nach der Analyse der Szene deutlich wird: Vielmehr geht es Eteokles um den Fluch als maßgebliche Richtschnur für sein Handeln. Der Zuschauer muss größtenteils die Gründe für das Scheitern von Kommunikation selbst konstruieren. Der starke zahlenmäßige Unterschied in der selbstreferentiellen Sprache zwischen Chor und Eteokles lässt sich wohl am besten mit der nur wenig markierten Rolle des Chores begründen: Obwohl die Frauen ein persuasives Projekt ­verfolgen, zeigt sich ihr sozial und dramatisch niedriger Status daran, dass sie sich in 677–712 zunächst ein Bild von Eteokles’ Gemütslage verschaffen müssen (τί μέμονας, τέκνον; 686) und kaum Verständnis für Eteokles’ Lage aufbringen, wie ihre Argumentation zeigt (s.o.). Sie haben Mühe, Eteokles inhaltlich zu verstehen und unterliegen in der Unterhaltung aufgrund kognitiver und sozialer Rangunterschiede. Doch bevor die inhaltlichen und dispositionellen Verhältnisse in einem Gespräch nicht klar sind, ist an einen Wechsel auf die Metaebene nicht zu denken. Der Chor besitzt qua Rolle nur wenig kommunikatives Bewusstsein für seine eigenen Forderungen und drückt sich erst spät in der Szene deutlich aus (712).239 Eteokles hingegen wird als sprachlich und weltlich mächtiger König dargestellt, der deutlich ablehnen kann (715. 717) und die Metaebene des Gesprächs als Machtinstrument verwenden kann.240

2.1.2.5 ἦθος des Sprechers und Autoritätskonflikte Im Gegensatz zur ersten Szene aus Aischylos’ Septem schaffen es die Charaktere in der vorliegenden Szene nicht, sich über ihren Rang hinwegzusetzen: Der Chor der Frauen versucht zwar erneut, ihrem politischen und militärischen Anführer eine andere Sicht beizubringen und sich damit über ihre gesellschaftliche Stel 237 Es kommen auch wieder Autoritäts- und Genderaspekte zum Tragen, da Eteokles explizit auf die erwartete Kürze der Antwort hinweist und Redestandards für Soldaten formuliert: λέγοιτ’ ἂν ὧν ἄνη τις· οὐδὲ χρὴ μακράν. (713); τεθηγμένον τοί μ’ οὐκ ἀπαμβλυνεῖς λόγῳ. (715); οὐκ ἄνδρ’ ὁπλίτην τοῦτο χρὴ στέργειν ἔπος. (717). 238 Vgl. Winnington-Ingram (1983) 31f; Schadewaldt (1961). 239 Dies konnten wir auch in der ersten Septem-Szene beobachten, in welcher Eteokles 12, der Chor aber nur 3 metapragmatische Ausdrücke bot. 240 Vgl. auch 182–286, in welchem Eteokles das Gespräch durch seinen Wechsel auf die Metaebene dominieren konnte.

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lung hinwegzusetzen; doch er drückt sich dieses Mal angemessen und unterwürfig aus, im Gegensatz zur emotionalen Eskalation in der Parodos. Eteokles lehnt entschieden ab, wie von einem entschlossenen Anführer zu erwarten, und verteidigt so seine Autorität, ohne nachzugeben wie in der ersten Szene der Septem. Der Rede des Chores kommt in diesem Fall keine Macht zu: Eteokles ist hier nicht mehr nur der politische Anführer, der seine Untertanen für den Krieg vereinen muss; er sieht sich vielmehr in der Kausalkette des väterlichen Fluches und Verhängnisses (653–655), die ihn auf eine über-weltliche Ebene hebt. Die so stark entgegengesetzten Ränge der Gesprächspartner, auch auf der einseitig verteilten metapragmatischen Ebene widergespiegelt, werden durch die Unvereinbarkeit der Ansichten auf sprachlicher Ebene reflektiert.241

2.1.2.6 Zusammenfassung Wie im ersten Epeisodion betont Aischylos hier inkompatible Dispositionen, die sich in der Inkompatibilität der Argumentationen niederschlagen. Auch pragmatisch-stilistische Merkmale scheinen trotz sprachlicher Angemessenheit und allgemeiner politeness irrelevant. Der Unterschied zwischen beiden Szenen besteht darin, dass der Chor aufgrund von Eteokles’ unerreichbarer Disposition völlig daran scheitern muss, konvenierende Argumente für Eteokles zu erkennen und sich nicht wie Eteokles im Nachgang an den Gesprächspartner anpassen kann.242 Wurde in der Parodos ein auch vom Zuschauer nachvollziehbares rhetorisches Scheitern vorgeführt – Frauen, die aufgrund von ihrer Emotionalität nicht zur Ruhe kommen können, und ein nervöser militärischer Anführer ohne Einfühlsamkeit –, so schlägt sich in dieser Szene eine andere Qualität des Scheiterns nieder: Hier dient der Fokus auf scheiternde Adaptation und Argumentation dazu, die Fatalität des Ödipus-Fluches zu illustrieren, in welchen sich Eteokles durch die intensive Fokussierung auf das Kriegsgeschehen und seinen eigenen Platz darin (375–685) immer überzeugter einfügt. Die sieben Redepaare münden in seiner Erkenntnis der Notwendigkeit, selbst in den Kampf gegen den Bruder eintreten zu müssen (ἀρχόντί τ᾽ ἄρχων 674) und somit gleichzeitig den Ödipusfluch zu realisieren (653–655). Von Seiten des Chores war daher kein Verständnis und keine rhetorische Adaptation festzustellen, denn Eteokles’ Deter 241 So auch die allgemeine Einschätzung von Torrance (2007) 100: »Women who are successful in persuasion tend to be married, mature women or divine forces: Clytemnestra, Medea, Penelope, Circe, Calypso.« Während dies sicherlich ein Grund von vielen ist, muss doch in diesem Kontext m.E. v.a. die Begebenheit des Fluches als zugrundeliegender Faktor für Eteokles’ Unüberzeugbarkeit angesehen werden. Die Identität des Chores als unverheiratete Frauen und Untertaninnen verstärkt freilich die Ausweglosigkeit der Szene. 242 Dieser Punkt unterstreicht auch den tragischen Charakter der Szene und des argumentationsarmen Chores: Es wäre für die Frauen quasi unmöglich, passende Argumente zu finden (vgl. z.B. die Notwendigkeit eines deus ex machina in Soph. Phil., s. Kapitel 3.1.4.2).

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minismus – bezogen sowohl auf seine notwendige Verteidigung der Stadt gegen sein Gegenstück Polyneikes als auch auf seine Erfüllung des Fluches – ist durch die ängstlichen Untertaninnen nicht zu erfassen. Metapragmatische Ausdrücke spielen eine geringe Rolle, außer um die Unmöglichkeit der Überzeugung und die unpassende Argumentation deklarativ zu markieren – ein deutlicher Hinweis auf den deterministischen und daher zutiefst tragischen Charakter der Szene. Dabei behalten Gender- und Autoritätsaspekte ihre Gültigkeit: Obwohl ein grundlegender Dialog stattfindet, können sich die Charaktere – in diesem Fall der Chor der Frauen – nicht über ihre sozialen Rollen hinwegsetzen, um Persuasion zu erreichen. Es ist plausibel, dass ein König kaum von rangniederen Frauen überzeugt werden kann, zumal sich dieser König nicht nur in der Ausnahmesituation des Krieges, sondern auch im deterministischen Denken und in der Verblendung eines alternativlosen tragischen Schicksals befindet. Dies zeigt sich auch an seiner überlebensgroßen, distanzierten Dominanz im Gespräch, die eine deutliche Charakterentwicklung im Vergleich zu seiner zuletzt doch offenbarten Empathie der Parodos darstellt – währenddessen kann der Chor keinen Wechsel auf die metapragmatische Ebene vollziehen und muss sich völlig der kommunikativen Gewalt des Eteokles beugen. Aischylos stellt das unverrückbare Scheitern des besorgten und aufrichtigen Chores als tragisch dar: Nun ist offensichtlich, dass Eteokles in jedem Falle in den sicheren Tod schreitet.243 Er lenkt den Blick des Zuschauers auf die unvereinbaren Standpunkte, Ränge und Fallhöhen der Gesprächspartner und zeigt, dass Rhetorik keinesfalls wirksam sein kann, wenn sie die Gedankenwelt des Adressaten nicht berücksichtigt – vor allem wenn dieser schon tief in sein tragisches Schicksal verstrickt ist. In Vers 814ff. bringt ein Botenbericht schließlich die Gewissheit, dass Eteokles die Notwendigkeit des Kampfes richtig erkannt hat, aber mit seinem Tod bezahlen musste: πόλιν μὲν εὐπράσσουσαν, οἱ δ᾽ ἐπιστάται / […] / […] / ἕξουσι δὲ λαβώσιν ἐν ταφῇ χθονός (815–818).

2.1.3 Aischylos, Supplices 882–965244 2.1.3.1 Einleitung und Hintergrund In der dialogischen Szene der vierten Episode von Aischylos’ Hiketiden scheitert ein Direktiv. Nachdem die Aufnahme der Danaiden in Argos gewährt wurde – einerseits von König Pelasgos wegen ihrer Selbstmorddrohung, andererseits 243 Winnington-Ingram (1983) 31f. sieht in 675f. einen Beleg dafür, dass Eteokles sich nach und nach von seinen Sklaven rüsten lässt, was seine Entschlossenheit auch auf der Ebene der Requisiten unterstreicht. 244 In dieser Szene hat West (1990), dem ich hier folge, in seiner Textausgabe die Verse 873–884 folgendermaßen umgestellt: 882–884, 876–881, 872–875. Anders ordnet Sommerstein (2019).

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von der lokalen Volksversammlung wegen der nicht dargestellten Rede des Danaos –, spitzt sich die gefährliche Lage vor der Stadt zu: Ein ägyptischer Herold der Aigyptossöhne erreicht Argos, um offiziell die Auslieferung der Danaiden vom König zu fordern. Dies ist die Redeintention des Herolds,245 die er qua seiner Rolle mit direktiven Sprechakten zu erreichen sucht. Der argivische König Pelasgos und der ägyptische Herold vollziehen ein Wortgefecht, in dem an der Oberfläche der genaue Verbleib der Danaiden, tatsächlich aber die Frage nach Autorität und Dominanz im Gespräch auf dem Spiel steht. Der Herold scheitert jedoch – wie erwartet –, seine Redeintention durchzusetzen. Fragt sich der Interpret, wohin Aischylos hier die Rezeptionshaltung lenken möchte, fällt auf, dass die beiden Charaktere von unterschiedlichen Göttern reden246 und etwa in Bezug auf das ξενία-Konzept keine einvernehmlichen Ansichten haben.247 Dieses Missverständnis sowie die fehlende Bereitschaft, sich auf kognitiver und sprachlicher Ebene anzunähern, sind grundlegender Ausdruck des Konfliktes zwischen Griechenland und Ägypten.248 Dies liegt auch in der Rolle des Herolds an sich begründet: Er kann als Verkünder einer Botschaft nur drohen, aber nicht wirklich flexibel argumentieren. Trotzdem kann an dieser Szene deutlich gezeigt werden, wie das Scheitern eines Direktivs durch unvereinbare Charakteransichten und absichtlich unpassendes Sprachverhalten illustriert wird. Das Ergebnis dieser dialogischen Szene ist, dass der Konflikt aufgrund des eskalierenden Sprachverhaltens – deutlicher impoliteness – und der eher direktiven als persuasiven Einstellung der Charaktere bewusst noch mehr entzündet wird: Am Ende ist weniger der Verbleib der Danaiden Thema, sondern die Unvereinbarkeit von konträren Ansichten. Sprache spiegelt nicht nur die Charakterverhältnisse wider, sondern verschärft sie auch noch. Da all dies implizit geschieht und von den Figuren nicht interpretierend kommentiert wird, ist es Aufgabe des Zuschauers, intercharakterliche Verhältnisse und Gebrauchsweisen von Rhetorik aufzudecken.

245 Zu Geschichte und Begriff der Heroldfigur, s. Adcock & Mosley (1975) 152f. 246 Vgl. Friis Johansen & Whittle (1980) 3, 222. 247 In 917f. zeigt der Herold, dass er kein Konzept der Xenia hat. 248 Friis Johansen & Whittle (1980) 3, 222. Hall (1991) 15. 118f. et passim weist auf den Kontrast zwischen archaischer Sympathie für Ägypten und klassischer Skepsis bezüglich des barbarischen Ägypten hin, die in den Persern zu beginnen scheint und besonders in der Darstellung des Hiketiden-Herolds kulminiert. S.a. Froidefond (1971). Herodot (Hdt. 2,35) drückt jedoch um ca. 430 v. Chr. Bewunderung für Ägypten aus: Ἔρχομαι δὲ περὶ Αἰγύπτου μηκυνέων τὸν λόγον, ὅτι πλεῖστα θωμάσια ἔχει ἢ ἡ ἄλλη πᾶσα γῆ καὶ ἔργα λόγου μέζω παρέχεται πρὸς πᾶσαν χώρην. Dabei sieht er in Ägyptens Andersartigkeit kein Problem, vgl. Hartog (1988) 212–216.

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2.1.3.2 Argumentativer Aufbau und Sprachverhalten Vor der Auseinandersetzung mit Pelasgos interagiert der Herold bereits mit dem Chor selbst (882–910)249 und versucht, die Danaiden selbst zur Mitfahrt zu bewegen. In zweiter Instanz wendet sich der Herold an Pelasgos (911–965). Sein kommunikatives Ziel formuliert er den Danaiden gegenüber klar und explizit: βαίνειν κελεύω βᾶριν εἰς ἀμφίστροφον / ὅσον τάχιστα (Aischyl. Suppl. 882f.). Durch das Verb κελεύω wird der Sprechakt des Herolds als Direktiv bestimmt, und auch sein restliches Sprechverhalten stimmt hiermit überein: Konkrete, impertinente Imperative (ἴυζε καὶ λάκαζε καὶ κάλει θεούς 872. μηδέ τις σχολαζέτω 883),250 die die Ausweglosigkeit der Situation der Danaiden höhnisch ausdrücken sollen,251 sowie Hinweise auf seine eigene Unerbittlichkeit (βᾶριν οὐχ ὑπερθορῇ 873. ὁλκὴ γὰρ αὕτη πλόκαμον οὐδάμ’ ἅζεται 884. οὔτοι φοβοῦμαι 893) verleihen seinem Befehl eine unverschämte und aggressive Färbung.252 Dem Hybrisvorwurf (880) und der Drohung mit Götterzorn (892) durch den Chor gibt der Herold kaum nach, sondern entzieht sich der Gültigkeit der auf ihn angewandten Normen (οὐ γάρ μ’ ἔθρεψαν, οὐδ’ ἐγήρασαν τροφῇ. 894). Schließlich droht der Herold damit, ihnen die Kleider vom Leib zu reißen (903f.),253 woraufhin der Chor Hilfe bei Pelasgos sucht (905). Dies kontert der 249 Rehm (2004) 301f. vermutet diese Darstellung dieser Szene in der Orchestra. 250 Hier sind die direkten Äußerungen Zeichen von impoliteness, da sie im Kontext Hohn ausdrücken sollen. 251 Friis Johansen/Whittle scheinen sich bei diesen Imperativen nicht zwischen »ironical« und »defiant« entscheiden zu wollen, s. Friis Johansen & Whittle (1980) 3, 212. Ich denke, dass ›höhnisch‹ hier die Wirkungsabsicht am besten beschreibt. Besonders Friis Johansens & Whittles Hinweis auf die Imperative, die gefolgt sind von einem Ausdruck einer negierten Möglichkeit (Typ ἴυζε […] / Αἰγυπτίαν γὰρ βᾶριν οὐχ ὑπερθορῇ. 872f.) und die in der Tragödie häufig sind (vgl. etwa Aischyl. Sept. 1045; Soph. Oid. T. 426–28; Ant. 1037–1039; Eur. Med. 1358–1360 uvm.), zeigen deutlich den Hohn (und damit freilich die ironische Bedeutung des Imperativs im Sinne einer nicht ernst gemeinten Aufforderung); f. weitere Belegstellen, auch aus Homer und Aristophanes, s. Friis Johansen & Whittle (1980) 3, 212. Somit lässt sich diese Art von Periode in einem solchen Kontext als ein tragödien- und dichtungstypisches Mittel für markierte impoliteness festhalten: Ein nicht ernstgemeinter, höhnischer Imperativ gefolgt von der Verneinung der Möglichkeit eines Ausweges aus der jeweiligen bedrückenden Situation. 252 Friis Johansen/Whittle nennen das Verhalten des Herolds »a mixture of bland sarcasm […] and cool practicality […].«, s. Friis Johansen & Whittle (1980) 3, 205. Dieses Urteil wird, auch wenn weitestgehend richtig, doch nicht der sprachlichen Aggression des Herolds gerecht, die mir in dieser Szene vorzuherrschen scheint: Der Herold befiehlt, statt sich anzupassen – wie zunächst Eteokles in den Septem – und kann damit keine Persuasion erzeugen. 253 Auch hier diagnostizieren Friis Johansen/Whittle wieder ein »sarcastic threat« und »mocking formality« , s. Friis Johansen & Whittle (1980) 3, 225. Dieses Urteil ist nicht falsch, übersieht aber die übergeordnete, einschüchternde Wirkung des Herolds durch seine Aggressivität und seinen Hohn.

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Herold mit einer Gewaltandrohung, sollte seinem Befehl keine Hilfe geleistet werden (909f.). Ungewöhnlich ist, dass der Herold gleichzeitig sein Scheitern an den Mädchen quasi als Wortregie konstatiert: ἐπεὶ οὐκ ἀκούετ’ ὀξὺ τῶν ἐμῶν λόγων (910).254 Festzuhalten ist, dass Aischylos nicht einfach verbale Aggression und impoliteness wirken lässt, sondern auch inkompatible argumentative Züge einbaut: Angedrohter Götterzorn, der Pelasgos gegenüber als Argument funktionierte, lässt einen ägyptischen Herold ungerührt. Ebenso muss eine Gewaltandrohung gegenüber Hiketiden, denen Schutz vom einheimischen König versprochen wurde, wirkungslos bleiben. Sowohl ein fundamentales Missverständnis (nämlich die Frage, wer weisungsberechtigt ist und welche religiösen Normen gelten) als auch unpassende Argumentations- und Sprachmerkmale unterstreichen hier die Wirkung des direktiven Scheiterns. Nun tritt Pelasgos auf und vertritt in fünf Versen seine eigene Haltung und Autorität gegenüber dem Herold, indem er ihm drängende Fragen zum Grund seines Aufenthaltes stellt (911–915).255 Wie sich später herausstellen wird (930), stellt sich Pelasgos nicht vor und der Herold weiß nicht, wen er vor sich hat.256 Durch diesen Mangel an gegenseitiger Information257 lenkt Aischylos den Blick auf den schwelenden Konflikt zwischen den Charakteren: Tatsächlich wirken Pelasgos und der Herold in dieser Szene eher wie Gleichgestellte – denn der Herold vertritt einen ganzen Staat und missachtet zunächst aus Unkenntnis, später aus Abneigung Pelasgos’ Rang. Doch auch der Missklang auf inhaltlich-argumentativer Ebene wird schon zu Beginn der Auseinandersetzung ersichtlich: Pelasgos eröffnet in seiner ersten Äußerung den Gegensatz Barbaren – Griechen (κάρβανος ὢν Ἕλλησιν ἐγχλίεις ἄγαν· 914), womit er eindeutig eskalierend wirken möchte.258 Doch in der Folge neigen sich auch seine Sprache und sein Sprachverhalten in Richtung der impoliteness; denn seine Anrede ist respektlos (οὗτος […] ἀτιμάζεις 911f. κάρβανος […] ἐγχλίεις ἄγαν 914), seine Fragen sind 254 Friis Johansen/Whittle reden in Vers 910 von »a sarcastic imputation that failure to attend […] must be due to deafness« und führen Aischyl. Sept. 202 an: Dies geht jedoch am pragmatischen Gehalt dieser Aussage vorbei, da so einerseits kommunikativer Kontakt sichergestellt werden soll und andererseits das Scheitern der eigenen Proposition festgestellt wird. Der Herold impliziert also keineswegs, dass die Hiketiden taub seien, sondern meint, dass sie nicht gut zuhören und damit nicht auf ihn hören. Somit wird geradezu sein Scheitern als Marker für das Publikum festgehalten, zumal dieser Ausdruck am Ende der Szene steht, bevor Pelasgos auftritt. 255 Sommerstein (2019) 333 bemerkt den kolloquialen Charakter von Pelasgos’ Anrede οὗτος, τί ποιεῖς; (911). 256 Vgl. Friis Johansen & Whittle (1980) 3, 240. 257 Dies ist unüblich, denn vgl. dagegen Eur. Heraclid. 130–137 (Herold erwähnt auf Nachfrage seine Herkunft und seine Auftraggeber und auch erkundigt sich nach der Identität Demophons) und Eur. Suppl. 399–402 (Herold verlangt nach dem Landesherrscher und Theseus stellt sich vor). 258 »[…] [T]he Egyptian herald’s attempt to abduct the Danaids is referred directly to his barbarian provenance […].« Hall (1991) 187.

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herausfordernd (οὗτος, τί ποιεῖς; ἐκ ποίου φρονήματος […] 911. ἀλλ’ ἦ γυναικῶν ἐς πόλιν δοκεῖς μολεῖν; 913) und sein allgemeiner Ton beleidigend (καὶ πόλλ’ ἁμαρτὼν οὐδὲν ὤρθωσας φρένα 915). Charakterlich stilisiert sich Pelasgos als König und Autorität, indem er auf seinem autochthonen Anspruch auf sein Land besteht (913). All diese Faktoren tragen zur Eskalation des Konfliktes bei. Die Stichomythie (916–929) als zweiter formaler Teil des Aufeinandertreffens zwischen Pelasgos und Herold gipfelt endgültig in Pelasgos’ Ablehnung. Argumentativ-inhaltlich zeichnet sich auch die Stichomythie durch Unverständnis und unterschiedliche Dispositionen aus: Dazu zählt einerseits die grundlegende Feindschaft aufgrund der aktuellen Streitsache. Andererseits wird sie durch weitere Aspekte exemplifiziert: Pelasgos weist auf die Xenia-Konventionen in Argos hin (ξένος μὲν εἶναι πρῶτον οὐκ ἐπίστασαι 917) und fordert die angemessene, landesübliche Verehrung der Götter (θεοῖσιν εἰπών τοὺς θεοὺς οὐδὲν σέβῃ 921),259 während der Herold dies ablehnt (τἄμ’ [...] ἄγω 918) und auf seinen ägyptischen Göttern besteht (τοὺς ἀμφὶ Νεῖλον δαίμονας σεβίζομαι 922).260 Die Dispositionsdiskrepanz liegt letztlich in inkompatiblen kulturellen Hintergründen begründet. Schon Pelasgos’ erste schroffe Anrede οὗτος, τί ποιεῖς; (911)261 zeigt das Eskalationspotential und die beiderseitige fehlende kommunikative Anpassung.262 Nach der Feststellung der unterschiedlichen Auffassungen von Göttern durch Pelasgos (923) entsteht ein inhaltlich-argumentativer Schnitt in der Stichomythie: Das bisherige eskalierende und aggressive Sprachverhalten der Charaktere263 sowie ihre grundsätzliche gegenseitige, durch ihre gegensätzlichen Identitäten und Persönlichkeiten bedingte Ablehnung264 werden in diesem neuen Abschnitt noch einmal besonders deutlich und untermauern sichtlich 259 Die Berufung auf Hermes μαστηρίῳ (920) geht strikt gegen Pelasgos’ Normen (921). 260 Friis Johansen & Whittle (1980) 3, 235. 261 Das Wort οὖτος als Anrede vermittelt nicht etwa per se impoliteness, sondern ein niedriges Sprachregister (Dickey (1996) 154–157 führt v.a. aristophanische Stellen an und hält fest, dass diese Anrede kein Boshaftigkeit ist, sondern »disrespectful only in that it is extremely informal«). Für die offizielle Heroldszene darf dieses niedrige Register also als impoliteness gelten, da es Pelasgos trotz der formellen Situation wählt – freilich wird diese generell durch die allgemein vorherrschende Aggressivität pervertiert. Denn in einer anderen Heroldszene, in welcher sich die Argiver über dessen Ankunft freuen (Aischyl. Ag. 538), wird der Herold etwa mit Titel angesprochen: κήρυξ Αχαιῶν, χαῖρε, τῶν ἀπὸ στρατοῦ. S.a. Eur. Heraclid. 270–273, was Sommerstein (2019) 337 als Parallele für »vigorous and undiplomatic terms« im Kontext einer Heroldszene anführt. 262 Mastronarde (1979) 14 interpretiert den pragmatischen Gehalt der Frage als »Tu dies nicht!« implizierend und nennt diesen Typ von Fragen »epiplectic questions«. impoliteness wird durch diese Typisierung bereits angedeutet. 263 Etwa die unbekümmerten Fragen des Herolds (τί δ’ 916. πῶς δ᾽οὐχί 918), Pelasgos’ Vorwürfe (917. 919. 923). 264 Zum ägyptischen Herold als barbarischem Gegenbild zur σωφροσύνη der Argiver, vgl. Hall (1991) 125f.

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den oben aufgespannten Dispositionskonflikt. Denn in diesem zweiten Teil der Stichomythie geht es nur noch um die Oberhand im Gespräch, und dies an der Oberfläche, aber nicht mehr um den wirklichen Informationsaustausch: ΚΗ. ἄγοιμ’ ἄν, εἴ τις τάσδε μὴ ’ξαιρήσεται. ΠΕ. κλαίοις ἄν, εἰ ψαύσειας, οὐ μάλ’ εἰς μακράν. ΚΗ. ἤκουσα· τοὖπος οὐδαμῶς φιλόξενον. ΠΕ. οὐ γὰρ ξενοῦμαι τοὺς θεῶν συλήτορας. ΚΗ. λέγοιμ’ ἂν ἐλθὼν παισὶν Αἰγύπτου τάδε. ΠΕ. ἀβουκόλητον τοῦτ’ ἐμῷ φρονήματι.

925

(924–929)

He. Ich führe sie sehr wohl heim, sofern sie mir niemand entreißt.265 Pe. Du wirst heulen, wenn du sie anrührst, und zwar sehr bald. 925 He. Ich habe sehr wohl verstanden, was du gesagt hast, und ich empfinde es ­keines falls als gastfreundlich. Pe. Zu Recht, denn ich werde auf gar keinen Fall Gastfreund für Götterschänder sein. He. Also geh ich nun, um dies den Aigyptossöhnen mitzuteilen. Pe. Das lässt mich völlig unbekümmert und ohne Sorge.

In 924 wechselt der Herold abrupt das Thema und teilt seine Handlungsabsicht mit: ἄγοιμ’ ἄν.266 Pelasgos lehnt dies ab, indem er Gewalt androht (925 κλαίοις ἄν). Das nächste Verspaar (926f.) thematisiert wieder die oben kritisierten Xenia-Konventionen, die nun der Herold ironisch einfordert,267 und die Pelasgos ihm aufgrund seiner Asebie verweigert (συλήτορας 927) – erneut ein Konflikt um die Auslegung von Xenia und keine Annäherung. Als der Herold droht, Pelasgos’ Weigerung an die Aigyptossöhne weiterzugeben (928), und somit einen weiteren Beitrag zur Eskalation der Situation leistet, lehnt Pelasgos endgültig jedwede Handlungsänderung ab (ἀβουκόλητον 929) und besiegelt damit den Krieg gegen die Aigyptossöhne. Hier ist der Herold deutlich gescheitert, Pelasgos zum Handeln zu bewegen. Auf der sprachlichen und politeness-Ebene ist auffällig, dass der Potentialis oft verwendet wird: In 924 bekräftigend vom Herold, in 925 ironisch imitierend von Pelasgos, und in 928 erneut in der Drohung des Herolds. Wir sehen, wie der sonst abgeschwächte Potentialis hier in der ersten Person Singular268 auch einen »entschiedenere[n] Ausdruck des Willens«269 265 Sommerstein (2019) 336 bemerkt, dass Aischylos hier auf die Praxis der ἐξαίρεσις anspielt: »if A was attempting to seize B, claiming that B was his slave, a third party could prevent the seizure (pending a trial of the issue) by asserting that B was free.« Vgl. Isokr. 17,14. 266 Friis Johansen & Whittle (1980) 3, 237 weisen darauf hin, dass der Herold in 924 juristisches Vokabular imitiert: Sein εἴ τις τάσδε μὴ ’ξαιρήσεται erinnere an Partien aus attischen Rednern, in denen um rechtliche Streitigkeiten bezüglich Freiheit oder Unfreiheit von Sklaven gehe (vgl. Lys. 23,9–12). Mit dieser Aussage beansprucht der Herold quasi sein Entscheidungsrecht über die Danaiden. 267 NB die Bestätigung von kommunikativem Kontakt ἤκουσα. 268 Und in der parallelen 2. Person Singular in 925. 269 K-G 2,1 §396,4.

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ausdrückt und somit konfliktsteigernd wirkt. Durchweg werden dispreferred responses gegeben, sodass kein konstruktives Gespräch zustande kommen kann. Die unterschiedlichen Dispositionen der Charaktere spiegeln sich auch auf der pragmatischen Ebene wider, da Sprache aggressiv und konfliktfördernd eingesetzt wird; im Gegensatz zu absichtlicher impoliteness sind markierte politenessStrategien hier nicht zu beobachten. In den darauffolgenden Rheseis der beiden Charaktere (930–949) kommt zutage, dass der Herold Pelasgos’ Namen nicht kennt270 und der Konflikt gipfelt in der endgültigen Ablehnung durch Pelasgos. Argumentativ und inhaltlich ist zunächst die Kriegsdrohung des Herolds (ἀλλὰ πολλὰ γίγνεται πάρος / πεσήματ’ ἀνδρῶν κἀπολακτισμοὶ βίου 936f.) auffällig, denn diese Angelegenheit sei nicht mit Geschworenengericht oder Geld zu lösen (934–936). Dies wirkt sowohl für die innerdramatische Hörerschaft als auch für den Athener Zuschauer politisch problematisch, weil etwa in der Hikesieszene die Volksversammlung als das wichtigste Entscheidungsgremium thematisiert wurde. Die Ablehnung von μαρτύρων (934) kommt daher einem Affront der Demokratie gegenüber gleich.271 An genau diesem Punkt entzündet sich auch der zweite Konflikt der Dispositionen in Pelasgos’ Antwortrhesis: Er stellt den Frauen frei, freiwillig mitzugehen, nicht gezwungen oder mit Gewalt (ἑκούσας 940), besteht auf δημόπρακτος ἐκ πόλεως μία / ψῆφος (942f.) und weist auf seine Freiheit im Vergleich zu der als Barbarei empfundenen ägyptischen Staatsform hin (σαφῆ δ’ ἀκούεις ἐξ ἐλευθεροστόμου / γλώσσης 948f.). Auch die Forderung nach einem εὐσεβὴς […] λόγος (941) unterstreicht den Konflikt der Dispositionen: Vorher wurde der Herold schon einmal als unfromm für argivische Standards beschrieben; nun wird auf seine undemokratischen Forderungen angespielt.272 Dies kann auch im Sprachverhalten nachverfolgt werden: Der Herold beginnt zunächst mit drei selbstreflexiven, eigentlich inhaltslosen Versen, in welchen er die klare Formulierung und Aussagekraft der Botschaft eines Herolds auf einer Metaebene thematisiert273 und dann nach dem Namen des Angesprochenen, also Pelasgos, fragt – provokativ erst am Ende des Austauschs (932f.). Seine Kriegsdrohung schmückt er mit einer Allegorie des Ares aus und dehnt den drohenden Tod vieler Männer pleonastisch über zwei Verse aus (ἀλλὰ πολλὰ γίγνεται πάρος / πεσήματ’ ἀνδρῶν κἀπολακτισμοὶ βίου 936f.). Pelasgos’ Sprachverhalten spiegelt das des Herolds: Auf die provozierend späte Frage nach sei 270 Der Haltungsunterschied zu den Danaiden in der Hikesieszene ist auffällig, da aufgrund ihrer Unkenntnis sofort nach der richtigen Ansprache fragen (ἐγὼ δὲ πρὸς σὲ πότερον ὡς ἔτην λέγω, / ἢ τηρὸν ἱεροῦ ῥάβδον, ἢ πόλεως ἀγόν; 247f.). 271 Hall (1991) 192f. sieht den Herold zu Recht als bestes tragisches Beispiel für »barbarian political psychology«, da er im starken Gegensatz zu Pelasgos’ Demokratieliebe steht. 272 So auch Friis Johansen & Whittle (1980) 248. 273 ἀλλ’ ὡς ἂν εἰδὼς ἐννέπω σαφέστερον·/ καὶ γὰρ πρέπει κήρυκ’ ἀπαγγέλλειν τορῶς / ἕκαστα· (930–932).

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nem Namen weigert er sich, diesen zu nennen (938f.);274 sein Hinweis auf den εὐσεβὴς […] λόγος (941), der vielleicht überzeugen könne (im abgeschwächten Potentialis), wirkt höhnisch. Seiner Metapher (τῶνδ’ ἐφήλωται τορῶς / γόμφος διαμπάξ, ὡς μένειν ἀραρότως. / ταῦτ᾽ οὐ πίναξίν ἐστιν ἐγγεγραμμένα / οὐδ’ ἐν πτυχαῖς βύβλων 944–947),275 soll die Unverrückbarkeit der demokratischen Entscheidung unterstreichen, die nicht auf Gesetzestafeln oder in Büchern steht, sondern aus dem Mund eines freien Mannes ausreichend Gewicht und Gültigkeit hat (947f.). Damit greift Pelasgos wieder den Standard der Klarheit des Herolds auf (930–932): σαφῆ δ’ ἀκούεις ἐξ ἐλευθεροστόμου / γλώσσης (947f.). Durch diese emphatische Formulierung der unumstößlichen, und zwar dezidiert demokratischen Entscheidung wird dem Herold jedwede Reaktions- und Argumentationsmöglichkeit genommen und das Gewicht seiner eigenen Botschaft konterkariert. Bevor dieser antworten kann, schickt Pelasgos den Herold mit einem unmissverständlichen Imperativ (κομίζου δ’ ὡς τάχιστ’ ἐξ ὀμμάτων 949) weg und besiegelt damit die Entscheidung, Krieg zu führen. Sehr deutlich ist hier ein niedriges und von impoliteness geprägtes Sprachregister zu beobachten, das Heroldszenen in ihrer Formalität sonst nicht gerecht wird.276 Von beiden Seiten wird in dieser Szene kaum Einsatz gezeigt, um sich kommunikativ und inhaltlich anzunähern. Es ist besonders frappierend, dass der Herold den Namen des Pelasgos zunächst nicht weiß und Pelasgos ihn nicht mitteilen will. Diese Unklarheit bezüglich der Identität des Gesprächspartners ist eine bewusste Lenkung der Zuschaueraufmerksamkeit auf den zugrundeliegenden Konflikt, der im Endeffekt noch verschlimmert wird. Durch seine Weigerung, den Namen zu nennen, und durch seinen Heimvorteil behält Pelasgos zwar die Oberhand im Gespräch, provoziert aber gleichzeitig durch seine eskalierende Haltung277 Krieg.278 Der Schlussteil nach Pelasgos’ Ablehnung (950–965) beinhaltet die Bestätigung der Zuschauervermutung durch den Herold: Es werde definitiv neuen 274 Auf den Kontrast zu den Danaiden, die sehr früh nach Pelasgos’ Identität fragen, weisen hin Friis Johansen & Whittle (1980) 3, 246f. 275 Für die ägyptische Sitte, offizielle Dokumente auf versiegelte Papyrusrollen zu schreiben, s. Friis Johansen & Whittle (1980) 3, 251. 276 Vgl. etwa die jeweils ersten Anreden der Heroldszene in Eur. Suppl. 399. 405 (ΚΗ. τίς γῆς τύραννος; πρὸς τίν’ ἀγγεῖλαί με χρὴ […]. ΘΗ. πρῶτον μὲν ἤρξω τοῦ λόγου ψευδῶς, ξένε, […]) sowie den allgemeinen Ton. S. etwa auch die plataischen Gesandten in Thuk. 2,71,2: Ἀρχίδαμε καὶ Λακεδαιμόνιοι, οὐ δίκαια ποιεῖτε οὐδ’ ἄξια οὔτε ὑμῶν οὔτε πατέρων ὧν ἐστέ, ἐς γῆν τὴν Πλαταιῶν στρατεύοντες κ.τ.λ. 277 Zu Pelasgos’ unüblich respektlosen Verhalten gegenüber einem sonst sakrosankten Herold, s. Friis Johansen & Whittle (1980) 3, 238. 246. 278 Am Ende der Hiketiden ist noch unklar, wie der Kampf der Argiver mit den Ägyptern genau stattfinden wird, wird aber als deutliche Bedrohung dargestellt. Zum Ende der Hiketiden und ihrer Einbindung in eine Trilogie vgl. Rösler (1993).

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Krieg geben (ἤδη πόλεμον ἀρεῖσθαι νέον· 950). In einem konfliktbestätigenden Nachsatz beleidigt Pelasgos schließlich die Ägypter, indem er auf die Kraft der argivischen Kämpfer hinweist und das typisch ägyptische Getränk, Gerstensaft, verspottet (ἀλλ’ ἄρσενάς τοι τῆσδε γῆς οἰκήτορας / εὑρήσετ’, οὐ πίνοντας ἐκ κριθῶν μέθυ. 952f.). Wie zur Bestätigung bietet er in seiner restlichen Rhesis den Danaiden eine Wohnung in Argos und sich selbst als deren Patron an (954–965). Was die sozialen Unterschiede in dieser Szene angeht, zeigt sich eine kuriose Situation: Eigentlich sollte ein Herold dem König gegenüber respektvoll auftreten; hier zeigte sich aber ein Sonderfall, da der Herold einem akut verfeindeten König gegenübersteht. Ebenso sollte unter normalen Umständen mit Herolden respektvoll umgegangen werden, da sie unter göttlichem Schutz stehen:279 Diesen sozialen Rangunterschied beachtet auch Pelasgos – herausgefordert durch die Gewaltandrohung des Herolds – nicht, sodass von beiden Seiten eine Transgression der Normen und anerkannten Verhaltensweisen zu beobachten ist. Diese diplomatische Spezifität ist allerdings im kommunikativen Umgang der beiden Charaktere kaum zu spüren: vielmehr verhärtet sich der Konflikt durch die Stellvertreterrolle des Herolds für die ägyptischen Königssohne und die daraus resultierende autoritäre Kommunikationsform. Aischylos lenkt hier unsere Aufmerksamkeit auf den starken Konflikt der Dispositionen, die vom Gesprächspartner nie antizipiert oder übernommen werden. Dieser Konflikt bezog sich v.a. auf das ξενία-Konzept, das dem Herold unbekannt schien, und auf die Richtigkeit der einheimischen Götter als Versammlungs- und Polisgötter. Eskalierendes Sprachverhalten unterstreicht diesen Grundsatz.

2.1.3.3 Rhetorische Adaptation Was die Berücksichtigung der Gesprächspartner untereinander angeht, können keinerlei explizite Anzeichen festgestellt werden: Die beiden Konfliktparteien zeigten kein Interesse am oder ein Bewusstsein in Bezug auf den mentalen Zustand des anderen. Dies ist kommunikativ dann ökonomisch, wenn die fremde Meinung in diesem aggressiven Konflikt auf keinen Fall akzeptiert werden soll. Ganz grundlegend zeigt sich dies an der unklaren Identität der Gesprächspartner untereinander.280 Im Gegenteil gelingt es Pelasgos sogar noch, den Konflikt durch die ironische Andeutung von Interesse am Gesprächspartner weiter eskalieren zu lassen, als der Herold droht, die Danaiden mit Gewalt zu entführen (909f.): ΠΕ. οὗτος, τί ποιεῖς; ἐκ ποίου φρονήματος ἀνδρῶν Πελασγῶν τήνδ’ ἀτιμάζεις χθόνα;

(911f.)

279 S. Adcock & Mosley (1975) 153. Friis Johansen & Whittle (1980) 3, 238. 246f. 280 Vgl. 230.

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Pe. Du da, was tust du da? Mit welcher Frechheit schändest du diesen Boden der pelasgischen Bevölkerung?

Denn mit der Formulierung ἐκ ποίου φρονήματος unterstellt Pelasgos dem Herold implizit Arroganz und positioniert sich so deutlich als ablehnender Gesprächspartner, der dieses Interesse nur rhetorisch verwendet, um die Untragbarkeit seines Gegenübers herauszustellen. Die bewusste Ignoranz der fremden Disposition und die daraus resultierende Eskalation plausibilisiert so das Scheitern der Perlokution in dieser Szene.

2.1.3.4 Metapragmatik: Häufigkeit, Gebrauch und explizite Plausibilisierung Metapragmatische Aussagen kamen in dieser Szene häufiger vor281 und markieren genau den Stand der Kommunikation für den Zuschauer, fungieren deklarativ. Neu ist aber ihre eskalierende Verwendung, die somit auch als kommunikatives Machtmittel dient: Sowohl der Herold als auch Pelasgos sind sich ihrer kommunikativen Rolle und Autorität bewusst und setzen dieses Wissen absichtlich zur Eskalation ein. Dies kann ganz klar mit dem formellen Charakter einer Heroldszene begründet werden: Ein Herold kann angesichts seiner diplomatischen Aufgabe kaum flexibel argumentieren oder inhaltlich variieren. Stattdessen muss er seine kommunikative Autorität und damit diejenige seiner Auftraggeber emphatisch und deklarativ durch metapragmatische (910. 928. 930) und performative (930) Aussagen unterstützen: ΚΗ. ἐπεὶ οὐκ ἀκούετ’ ὀξὺ τῶν ἐμῶν λόγων.  He. Denn ihr versteht ja meine Worte nicht sehr gut.

(910)

ΚΗ. λέγοιμ’ ἂν ἐλθὼν παισὶν Αἰγύπτου τάδε.  He. Also geh ich nun, um dies den Aigyptossöhnen mitzuteilen.

(928)

ΚΗ. ἀλλ’ ὡς ἂν εἰδὼς ἐννέπω σαφέστερον – καὶ γὰρ πρέπει κήρυκ’ ἀπαγγέλλειν τορῶς ἕκαστα […]. He. Doch, damit ich mich bewusst noch klarer ausdrücke – denn es ist auch die Pflicht des Herolds, jede einzelne Information klar zu verkünden […].

(930–932) 930

Auch wird durch die explizite Verwendung des Wortfeldes ›λέγειν‹ der Fokus auf seine Rede und Inhalte gelenkt. Im Vergleich dazu weist Pelasgos als Angesprochener gesprächskommentierende (921. 923) und provozierende (938. 948f.) Bemerkungen auf: 281 Hier insgesamt: ⌀ 16% der Verse; Rhesisformen: ⌀ 11% der Verse; Stichomythie: ⌀ 19% der Verse.

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ΠΕ. θεοῖσιν εἰπὼν τοὺς θεοὺς οὐδὲν σέβηι.  Pe. Obwohl du zu den Göttern sprichst, ehrst du sie nicht.

(921)

ΠΕ. οἱ δ’ ἐνθάδ’ οὐδέν, ὡς ἐγὼ σέθεν κλύω.  Pe. Die Götter hier verehrst du aber gar nicht, wie ich von dir vernehme.

(923)

ΠΕ. τί σοι λέγειν χρὴ τοὔνομ’;  Pe. Warum sollte ich dir meinen Namen sagen?

(938)

ΠΕ. σαφῆ δ’ ἀκούεις ἐξ ἐλευθεροστόμου γλώσσης.(948f.) Pe. Das wirst du sehr deutlich aus meinem freien Mund hören.

Diese Aussagen dienen beiden Charakteren zum expliziten Festhalten des Gesprächsstandes für internes und externes Publikum und zur Verortung der eigenen Kommunikationshaltung. Insgesamt und besonders in Pelasgos’ Fall kann ihnen eine konfliktverstärkende und eskalierende Wirkung zugeschrieben werden, da die Figuren durch klares, deklaratives Sprechen ihre Autorität steigern wollen – überspitzt gesagt können sie als markierte impoliteness-Strategie eingesetzt werden. Diese Eskalation auf der kommunikativen Metaebene macht den Zuschauer, der bereits implizite Aspekte der Disposition und des Sprachverhaltens erkannt hat, explizit auf den unlösbaren Konflikt der Heroldszene aufmerksam. Somit wird der Zuschauer zur Reflexion über mögliche weitere Entwicklungen außerhalb der Szene angeregt. Die Ausgewogenheit der metapragmatischen Aussagen282 zwischen Pelasgos und dem Herold ist mit der formellen Kommunikationssituation zu begründen, in der Pelasgos sich selbst als König als höhergestellt ansieht (948f.), der Herold aber als Stellvertreter eines anderen Königs seinen kommunikativen Auftrag erfüllen muss. Dies kann am Gegenbeispiel verifiziert werden: Der Herold verfolgt zwar auch mit dem Chor ein kommunikatives Projekt, wechselt aber mit ihm nur dreimal auf die Metaebene (882. 872. 910), während der Chor als untergeordneter, wenig markanter Gesprächspartner dies nie tut.

2.1.3.5 ἦθος des Sprechers und Autoritätskonflikte Durch die rituell geregelte annähernde Ranggleichheit zwischen Pelasgos und dem Herold ergeben sich massive Kommunikationsprobleme,283 die Aischylos dramatisch nutzbar macht: Ist der Herold zwar streng genommen sakro-

282 Jeweils 6 Aussagen. 283 Die bloße Notwendigkeit seiner Anwesenheit verdeutlicht bereits die festgefahrene Situation: »The presence of heralds in exchanges between states was a virtual acknowledgement that war existed even if it had not been declared.« Adcock & Mosley (1975) 153.

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sankt,284 fordert er doch mit der Herausgabe der Danaiden eine Handlung von Pelasgos, die dieser aufgrund der formellen Annahme der Danaidenhikesie unmöglich gemacht hat. Zudem droht er mit der Machtkompetenz seiner Auftraggeber und macht so seinen – von seinen Auftraggebern eigentlich deeskalierend intendierten – Auftritt überflüssig. Dementsprechend übertreten beide Charaktere die durch ihre Ranggleichheit als neutral bestimmte Verhaltensgrundsätze285 und verwenden Sprache vielmehr als Macht- und Autoritätsmittel, um dem Gesprächspartner möglichst nichts zuzugestehen: Persuasion ist nicht um jeden Preis intendiert. Dies zeigt sich auch am Gebrauch der Metapragmatik. Ebenso können sich die Danaiden, da sie rechtlich unter Pelasgos’ Schutz stehen, dem Direktiv des Herolds widersetzen. Diesen zugrundeliegenden Autoritätskonflikt illustriert Aischylos mit der allgemeinen argumentativen und rhetorischen Unvereinbarkeit der beiden Seiten und, wie sich im religiösen Verständnis zeigte, kulturellen Welten.

2.1.3.6 Zusammenfassung Auch wenn in dieser Szene klar ist, dass der Herold kein Nachgeben erreichen kann – die Abstimmung in der Polis ist für Pelasgos, wie auch das Publikum weiß, bindend – bemüht Aischylos mehrere redeinterne Instrumente, um die konfliktbehaftete Kommunikation und Beziehung der Figuren überzeugend darzustellen. Wie sich anhand von unterschiedlichen Dispositionen, unangemessener Argumentation und impoliteness im Sprachverhalten zeigt, können die Figuren auf keinen Fall eine Einigung erzielen, und selbst sozial vorgeschriebene, diplomatische Verhaltensgesetze werden irrelevant. Aischylos zieht die Aufmerksamkeit sogar noch auf die Eskalation des Konfliktes: Bei keinem Charakter kann eine zielführende Adaptation an sein Gegenüber festgestellt werden, stattdessen verwendet Pelasgos diese in 911f. eskalierend, sodass statt der Befolgung gängiger diplomatischer Praxis der Versuch einer aggressiven Autoritätsverhandlung erfolgte. Metapragmatik dient dabei nicht nur deklarativer Klarheit, sondern auch der nachdrücklichen Bekräftigung der eigenen Sprecherposition – somit also der Konfliktverschärfung. Der eigentlich diplomatische Rahmen der Szene wird in Anbetracht des zugrundeliegenden Autoritätskonflikts der Charaktere konterkariert. Deutlich motiviert Aischylos Pelasgos’ Ablehnung durch redeinterne Merkmale und lenkt den Fokus der Rezipienten auf Unfähigkeit und Unwillen beider

284 Zum Herold in der Archaik als enger Vertrauter und somit würdiger Repräsentant des Königs, s. Mondi (1979) 405f. S.a. Sommerstein (2019) 322. 337. 339. 285 Verdeutlicht durch die frappante impoliteness. Friis Johansen & Whittle (1980) 3, 238. 246 weisen auf Pelasgos’ respektlose und unangemessene Behandlung des Herolds hin.

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Charaktere, sich sprachlich oder gedanklich aneinander anzupassen. Erneut wird die passende Anwendung von Rhetorik ex negativo als Kriterium definiert.

2.1.4 Aischylos, Agamemnon 810–974 2.1.4.1 Einleitung und Hintergrund286 Auch in der berühmten Szene zwischen Agamemnon und Klytaimestra im dritten Epeisodion des Agamemnon wird eine grundlegende Diskrepanz der Dispositionen und Standpunkte vorgeführt: Klytaimestras Redeziel, Agamemnon möge auf die purpurfarbenen Gewänder steigen, soll mit einem direktiven Sprechakt (905–907) erreicht werden; dieser ist durch eine lange Vor- und Nachrede (895–904. 908–913) mit persuasiven Elementen ummantelt. Zunächst ist Klytaimestra nicht bewusst, dass Agamemnon es als Hybris ansieht, auf wertvolle Gewänder287 zu steigen.288 Sie scheitert vorläufig, sodass Agamemnons Gewissenskonflikt deutlicher betont wird. Nachdem Agamemnon diese Hybris-Bedenken aber im Gesprächsverlauf äußert, gelingt es Klytaimestra, sich in ihrer Argumentation an ihn anzupassen und somit zu überzeugen. Zusätzlich unterstreicht Klytaimestras Sprachverhalten ihre unangepasste Argumentation und Kommunikationshaltung: Durch übermäßige Stilisierung als Frau und übermäßige politeness wirkt sie suspekt, statt zu überzeugen. Denn Klytaimestra scheitert trotz ihrer markierten politeness-Strategien zunächst, da sie die falsche Argumentation benutzt. Als sie jedoch lernt, auf die Gedankenwelt und Disposition des Gesprächspartners einzugehen, kann sie mit Direktheit sehr viel mehr erreichen und benötigt keine politeness-Strategien mehr.289 Bemerkenswerterweise setzt sich Klytaimestra mit ihrer Rede über Gender- und Autoritätsaspekte hinweg, da sie sich flexibel zwischen verschiedenen Sprachregistern und diversen Dominanzansprüchen bewegt. Zu bedenken ist schließlich, dass Klytaimestra hier täuscht und manipuliert:290 Dies ist dem Publikum aufgrund der Vorkenntnis des Mythos und des 286 Eine ausführlichere Analyse dieser Szene und ein Querschnitt durch die Orestie ist in Zetzmann (2020a) zu finden. 287 Für die korrekte Übersetzung mit ›Gewändern‹, s. Denniston & Page (1957) 148. 288 Medda (2017) 3, 37 bemerkt, dass Klytaimestra erst ab 855 auftritt, sodass sie Agamemnons Rhesis nicht gehört haben kann. Trotzdem kann aus Publikumsperspektive Klytaimestras Anpassung an Agamemnon beobachtet werden: Es ist landläufig davon auszugehen, dass Ehepartner ihre gegenseitige Disposition kennen. Dass dies in der Tragödie nicht der Normalfall ist beweist auch Soph. Ai. 430–595. 289 Die kommunikative Ökonomie von direkten Aussagen, und nicht etwa ihr genereller impoliteness-Charakter, fiel auch in Aischyl. Sept. 182–286 auf, vgl. Kapitel 2.1.1.2. 290 McClure (1999) 80–92 interpretiert Klytaimestras Rede als ›typisch weiblichen‹ magischen Zaubergesang, diese Interpretation lehne ich aber aufgrund des eher emotionalen Charakters der weiblichen Züge von Klytaimestras Rede ab.

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vorangegangenen Teils des Stückes bewusst. Die übermäßige Darstellung ihrer Gattenliebe könnte dies für den Zuschauer zusätzlich andeuten. Durch ihr unerwartetes vorläufiges Scheitern wird aber trotzdem Spannung erzeugt und genau diese zuerst unpassende, dann passende Manipulation als Prozess und Anpassungsstrategie in den Vordergrund der Publikumsaufmerksamkeit gerückt. Aischylos betont ex negativo rhetorische Anpassung als Hauptkriterium für gelingende Persuasion.

2.1.4.2 Argumentativer Aufbau und Sprachverhalten Agamemnon vermittelt in seiner Auftrittsrede (810–854), die wie ein Gebet wirkt,291 die Vorgaben für die Kommunikation, denn er vermittelt dem Publikum deutlich seine Weltsicht und Werte. Im ersten Teil seiner Rede (810–29) demonstriert er vor allem seine Frömmigkeit, da er die Rolle der Götter im trojanischen Krieg sowie seine tiefe Dankbarkeit für diesen Einsatz akzentuiert.292 Dieser Frömmigkeit mischt sich der Stolz des Siegers bei, der despektierlich über die Unterlegenen spricht.293 Seinen militärischen Sieg legitimiert er ex negativo mit der Rechtmäßigkeit294 und Unwiderruflichkeit295 der trojanischen Niederlage sowie mit der Beteiligung der Götter (μεταιτίους 811). Angesichts des religiösen Rahmens der Tragödienaufführung und der stückinternen Hinweise auf Frömmigkeit und Harmonie mit den Göttern in Leben und Krieg soll das Publikum Agamemnon wohl mit Empathie rezipieren296 – zumal dieser der Sieger über Troja ist. Im zweiten Teil seiner Rede (830–850) adressiert Agamemnon seine Bürger und macht auf die Problematik unehrlicher und missgünstiger Mitbürger aufmerksam (830–837)297 – für das Publikum eine Quelle tragischer Ironie. Ebenso ironisch lässt Aischylos Agamemnon sagen, er sei erfahren, was zwischenmenschlichen Betrug angehe: εἰδὼς […] εὖ γὰρ ἐξεπίσταμαι (838). Danach stilisiert sich Agamemnon als fürsorglicher und wohlwollender, demokra-

291 πρῶτον μὲν Ἄργος καὶ θεοὺς ἐγχωρίους / δίκη προσειπεῖν […] Aischyl. Ag. 810f. 292 810. 813–817. 821. 829. 293 812. 828. 824. 294 Besonders ausgedrückt durch die häufige Verwendung von Wörtern wie δίκη, δίκαιος und dem Gerichtsgleichnis in 813–817. S.a. Raeburn & Thomas (2011) 152. Für Gerichtsvokabular in der Tragödie als dichterischer Beitrag zur Entwicklung einer δίκη der Polis, s.a. Vernant & Vidal-Naquet (2006) 26. 295 824–826. 296 So Fraenkel (1950b) 371–375. Hybris unterstellen Denniston & Page (1957) 140, die in den Ohren individueller Zuschauer mitschwingen mag, die Klytaimestras Perspektive einnehmen und sich an das Iphigenieopfer erinnert fühlen. 297 Zu dieser Rede als Wiederaufgreifen des vorangehenden Chorliedes und als tragischironisches Motiv des Agamemnon, s. Zetzmann (2020a).

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tischer298 Anführer, indem er fordert, τὸ μὲν καλῶς ἔχον (846) durchzusetzen und die Stadt zu ›heilen‹ (πειρασόμεσθα πῆμ’ ἀποστρέψαι νόσου 850). Der Ausdruck τὰ δ’ ἄλλα πρὸς πόλιν τε καὶ θεοὺς / κοινοὺς ἀγῶνας θέντες ἐν πανηγύρει / βουλευσόμεσθα (844–846) verdeutlicht, dass Agamemnon demokratisch orientiert ist und sowohl die Götter als auch den Willen der Bürger achtet.299 Im dritten Teil seiner Rede (851–854) besinnt er sich in seiner Ankündigung, in den Palast zu gehen, auf das Private, weist dabei aber wiederum auf die Rolle der Götter hin: νῦν δ’ ἐς μέλαθρα καὶ δόμους ἐφέστιος / ἐλθὼν θεοῖσι πρῶτα δεξιώσομαι […] (851f.). Private Aspekte sind für Agamemnon untergeordnet. Wie aus seiner Rede abzulesen ist, spielen in seinem Weltbild sowohl die Götter als auch seine Bürger eine große Rolle, und er nimmt vor allem seine Verantwortung als Anführer und Lenker der Polisgeschicke sehr ernst. Im Sprachgebrauch macht Agamemnon kommunikative Vorgaben, die dann von Klytaimestra kaum aufgegriffen werden.300 Einerseits ist Agamemnons Rede sehr klar strukturiert und voller metapragmatischer Aussagen: Zunächst schickt er ein gebetsartiges φροίμιον (829) an die Götter voraus, das strukturiert eingeleitet wird (πρῶτον μὲν 810. θεοῖς μὲν [...] τόδε 829); als zweiten Teil führt er seine Antwortrede an den Chorführer ein mit τὰ δ’ ἐς τὸ σὸν φρόνημα (830–850); zuletzt kommentiert er seinen Aufbruch in den Palast (νῦν δ’ 851. 854). Der König führt bewusste, strukturierte Rhetorik vor. Andererseits ist zu bemerken, dass Agamemnon ein Bewusstsein für die vorherigen Äußerungen des Chores hat: ΑΓ. τὰ δ’ εἰς τὸ σὸν φρόνημα, μέμνημαι κλυών, καὶ φημὶ ταὐτὰ καὶ συνήγορόν μ’ ἔχεις. Ag. Was eure Gedanken angeht, ich hörte sie und habe sie im Gedächtnis; ich denke das Gleiche und bin euer Fürsprecher.

(830f.) 830

Er beweist mit dieser Struktur und Adaptation an den Gesprächspartner rhetorisches Rezipientenbewusstsein – dies wird Klytaimestra zunächst fehlen, und dieser Bezug auf das Gegenüber wird selten von ihr thematisiert.301 Agamem 298 Zum Kontrast ›demokratisch-griechisch‹ und ›barbarisch‹ in der attischen Tragödie, vgl. Hall (1991) 190–200. 299 Er schlägt öffentliche Versammlungen vor (κοινοὺς ἀγῶνας […] / βουλευσάμεθα 845f., vgl. etwa Pelasgos im mythischen Argos der Hiketiden), die im Gegensatz zu Argos später in der Trilogie in Athen stattfinden werden. Diese Darstellung der Sorge um die Polis wird verstärkt, indem Agamemnon verspricht, das πῆμ[α] [...] νόσου (850) im Staat auszumerzen – besonders assoziativ ist auch die Wortwahl κέαντες ἢ τέμοντες (849). All dies lässt den Rezipienten sofort an Agamemnons Tod denken. 300 Taplin (1972) 93; Medda (2017) 15. 37 weisen zu Recht auf Klytaimestras Abwesenheit bis 855 hin. Somit stellt Aischylos die unpassende Disposition der Klytaimestra dar, deren Rhetorik auf Anhieb unangepasst wirkt. 301 Der einzige Hinweis hierauf besteht in Klytaimestras Frage nach Agamemnons Gedanken in: 935 τί δ’ ἂν δοκεῖ σοι Πρίαμος, εἰ τάδ’ ἤνυσεν; Dies kann aber eher als manipulati-

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nons expliziter Ausdruck dieses Bewusstseins zeugt von seiner adaptiven und rezipientenorientierten Disposition als König, der sich um seine Bürger sorgt. Freilich missversteht Agamemnon die Sorgen des Chores aus Unwissenheit und zeigt sich fälschlicherweise zuversichtlich, was das gute Zusammenleben in der Polis angeht. Somit wird Agamemnon als wohlwollender und auch rhetorisch adaptiver König charakterisiert, der aber auf der Bühne getäuscht wird. Klytaimestras erste Rede (855–913) zerfällt in drei Teile, die genau von ihr strukturiert werden.302 Im ersten Abschnitt (855–894) wirkt ihr Stil politischrhetorisch (ἄνδρες πολῖται [...] / οὐκ αἰσχυνοῦμαι τοὺς φιλάνορας / τρόπους λέξαι πρὸς ὑμᾶς 855–857),303 da sie zunächst die Argiver anspricht, anstatt Agamemnon zu begrüßen oder direkt zu adressieren.304 Aischylos lässt sie ihren Mann imitieren, der auch die Bürger angesprochen hatte. Während ihre Anrede an eine symbouleutische Rede erinnert, wirkt der faktische Inhalt eher wie der einer Verteidigungsrede, da sie die verzweifelte Lage einer Ehefrau in Abwesenheit ihres Mannes (861–865) und ihre Bedrückung ob der Gerüchte über Agamemnons Tod (866–873) beschreibt. Explizit sagt sie, dass sie ihre φιλάνορας τρόπους (856) zeigen wolle.305 Beide rhetorischen Anklänge konkurrieren mit Agamemnons Gebetsstil (810–829), und offensichtlich ist sich Klytaimestra dieser Unangepasstheit bewusst, da sie ihr Verhalten entschuldigt: οὐκ αἰσχυνοῦμαι τοὺς φιλάνορας τρόπους λέξαι (855).306 Zusätzlich überakzentuiert Klytaimestra den Geschlechtsunterschied zwischen sich und ihrem Mann (861 γυναῖκα [...] ἄρσενος [...] ἔρημον. 867. 896–901).307 Im ersten Teil ihrer Rede an die Bürger ergibt sich bereits ein deutliches Spannungs- und Missverhältnis ves Überzeugungsmittel gesehen werden denn als echtes Interesse am mentalen Zustand des Anderen. 302 855–857 fungieren als Eingangsrahmen an die Bürger; 895–905a als indirekter Anrederahmen an Agamemnon (νῦν, ταῦτα πάντα τλᾶσ’ […]); 905b–907 als direkter Anrederahmen an Agamemnon (νῦν δέ […]). 303 So auch McClure (1999) 78. 304 Während in Kommentaren zu dieser Stelle freilich auf Aischylos’ allgemeine Gewohnheit hingewiesen wurde, wenig Interaktion zwischen Personen zu inszenieren (vgl. etwa Kitto (1950) 106), kann dies zwar im größeren Rahmen unserer Untersuchung als weiteres Indiz verstanden werden, dass Aischylos weniger häufig persönliche Bezugnahmen seiner Charaktere untereinander darstellt. In diesem Kontext verhält es sich jedoch anders: Klytaimestra spricht definitiv den Chor an und dezidiert zunächst nicht Agamemnon. Sie hält sich also an den sozial vorgegebenen Rahmen, den auch Dickey (1996) 6–8 in ihren Forschungen zur Anrede im Griechischen betont. Damit trifft Klytaimestra eine bewusste Entscheidung, Agamemnon nicht zu begrüßen. 305 Dies wird wohl begründet durch den Vorwurf des Chores, Klytaimestra verhalte sich zu männlich, zu Beginn des Stückes (κὰτ’ ἄνδρα σώφρον’ 351). S. hierzu auch Rutherford (2012) 300f. 306 Vgl. Michelini (1974) 527. 307 Klytaimestra gelingt diese Darstellung durch die Kontrastierung ihrer selbst als alleingelassener Ehefrau von Agamemnon als σταθμῶν κύνα, σωτῆρα, στῦλον sowie als πηγαῖον ῥέος für den Durstigen und als γῆν φανεῖσαν ναυτίλοις (896–901). Diese Überakzentuierung

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zwischen Ton und Botschaft: Im offiziellen rhetorischen Rahmen erscheinen Klytaimestras Liebesbeteuerungen unpassend und suspekt. Im zweiten Teil (895–905a) bezieht sie sich indirekt auf Agamemnon, indem sie über ihn spricht und ihm schmeichelt: Sie nennt ihn u.a. ›Wachhund‹ (τῶν σταθμῶν κύνα 896) und ›Stütze‹ ihres Hauses (στῦλον ποδήρη 897). Fünf weitere lobende Bezeichnungen folgen (896–901). Sie rekurriert zusätzlich einmal auf Agamemnons Rede, indem sie die Abwesenheit von menschlichem Neid postuliert: φθόνος δ’ ἀπέστω (904). Somit gibt sie ihm oberflächlich das Gefühl, auf seine Rede über die Aufrichtigkeit von Freunden eingegangen zu sein und ihm zuzustimmen. Dieses Zugeständnis wird verstärkt durch πολλὰ γὰρ τὰ πρὶν κακὰ ἠνειχόμεθα (904f.), was den Anschein erweckt, als habe Klytaimestra die Leiden von früher bewältigt. Der Inhalt ihrer bisherigen Rede steht in völligem Kontrast zu ihrer offiziell anmutenden Einleitung und dem öffentlichen Kontext ihrer Rede an die Bürger. Auch ihre stilistische Färbung wurde im zweiten Teil durch überschwängliches Lob deutlich persönlicher. Zudem wirkt dramenintern und -extern suspekt, dass Klytaimestra einerseits bei der Ankunft ihres Mannes aus dem Krieg nicht in ihrer Anrede und nicht inhaltlich auf ihren intendierten Gesprächspartner eingeht und sich andererseits dazu noch unaufgefordert verteidigt (οὐκ αἰσχυνοῦμαι τοὺς φιλάνορας τρόπους λέξαι πρὸς ὑμᾶς 855), so als hätte Agamemnons Vorwurf der Unaufrichtigkeit ihr gegolten.308 Es ist bisher kaum ein Eingehen auf die Disposition des Gesprächspartners zu beobachten, denn Klytaimestra spricht nur indirekt zu ihrem Mann und erwähnt nur kurz den von Agamemnon gefürchteten menschlichen Neid309 – Agamemnon dagegen hatte, wie bereits gesehen, die Notwendigkeit der Adaptation an den Gesprächspartner vorher noch explizit dem Chor gegenüber geäußert (830). Klytaimestras Rede ist daher wohl als Sympathieerregung gegenüber dem Chor intendiert, und als Vorbereitung ihrer Redeintention im öffentlichen Rahmen – indem ihre Rede zuerst dem Volk gilt, wird Agamemnon ein Ablehnen erschwert. Freilich hat diese Strategie weder im inneren (denn Agamemnon lehnt zunächst ab) noch im äußeren Rezeptionsrahmen eine Wirkung (das Publikum weiß um Klytaimestras Täuschung). Erst zum Schluss ihrer Rede, nach einer langen indirekten Lobpreisung des Agamemnon (895–905a), spricht Klytaimestra ihn direkt an. Sie formuliert ihr Redeziel explizit und argumentiert für Agamemnons Ausstieg aus dem Wagen und das Betreten der Gewänder:

beobachtet auch McClure (1999) 78f. und sieht in diesem Spannungsverhältnis zwischen beiden Geschlechteraspekten die Grundidee von Klytaimestras Rolle. 308 Diese Wirkung ergibt sich freilich nur für den externen Rezipienten. 309 Die lange Partie über Agamemnons hypothetischen Tod (865–876) charakterisiert Klytaimestra als besorgte Ehefrau. Zu den Mutmaßungen über Agamemnons Tod z.T. im Indikativ vgl. Raeburn & Thomas (2011) 158; Pelling (2005) 95. Zur Ambiguität ihrer Rede im Allgemeinen, s. Zetzmann (2020a).

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ΚΛ. νῦν δέ μοι, φίλον κάρα, ἔκβαιν’ ἀπήνης τῆσδε, μὴ χαμαὶ τιθεὶς τὸν σὸν πόδ’ ὦναξ Ἰλίου πορθήτορα. δμῳαί, τί μέλλεθ’, αἷς ἐπέσταλται τέλος πέδον κελεύθου στορνύναι πετάσμασιν; εὐθὺς γενέσθω πορφυρόστρωτος πόρος εἰς δῶμ’ ἄελπτον ὡς ἂν ἡγῆται Δίκη. τὰ δ’ ἄλλα φροντὶς οὐχ ὕπνῳ νικωμένη θήσει δικαίως σὺν θεοῖς εἱμαρμένα.

905

910 (905b–913)

905 Kl. Nun, mein lieber Mann, steig aus diesem Wagen aus! Nicht zu Boden setz deinen Fuß, Herr, du Zerstörer Ilions. Mägde, was zögert ihr, denen es zukommt, den Pfad mit Gewändern zu bedecken? 910 Auf der Stelle soll ein purpurbedeckter Weg entstehen, damit ihn Dike ins Haus führe, auch wenn es mittlerweile unverhofft schien. Alles andere wird meine Sorgfalt ordnen, nicht von Schlaf übermannt, gerecht und von den Göttern verhängt.

Neben diesem Eingehen auf den Gesprächspartner ist auch ein verändertes Sprachverhalten zu beobachten: Klytaimestra nennt Agamemnon φίλον κάρα (905) sowie ὦναξ (907), und bezeichnet ihn indirekt als Zerstörer Trojas (τὸν σὸν πόδ’ […] Ἰλίου πορθήτορα 907). Ihr Lob seines Sieges ist sehr deutlich. Sie möchte nicht, dass seine Füße den schmutzigen Boden berühren (906f.) und bittet ihn daher indirekt, auf die ausgebreiteten Gewänder310 zu treten: Er solle aus dem Wagen aussteigen (906) und die Dienerinnen sollen Gewänder ausbreiten (909). Es kann von einer negativen politeness-Strategie gesprochen werden, was die Gewänder angeht, da Klytaimestra ihn nicht direkt bittet, darauf zu steigen, sondern ihr Anliegen verhüllt und verkleinert.311 Hierbei sind ihre kurzen – dramenextern als ironisch zu verstehenden – Argumentationen mit Δίκη (911) und δικαίως σὺν θεοῖς εἱμαρμένα (913)312 bemerkenswert, da sie sehr an Agamemnons erste Rede erinnern, in der der Niedergang Trojas gerechtfertigt und mit der Einwirkung der Götter mit ähnlichem Vokabular erklärt wurde.313 310 Warum das Treten auf wertvolle Gewändern gewissermaßen ein Miasma gegen den eigenen οἶκος ist, erklären Denniston & Page (1957) 148. 311 Hierbei zeigt sich erneut die Parallelität zwischen politeness-Strategie und rhetorischen Strategien. 312 Bemerkenswerterweise benutzt Klytaimestra vor dieser Rede nie die Götter in ihrer Argumentation oder ihren Äußerungen allgemein. Jetzt, da Agamemnon aber seine Rede auf die Götter ausrichtet, erwähnt sie sie kurz und sagt, dass nun alles mit φροντίς sowie σὺν θεοῖς (913) geschehe. 313 813–817.

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Es scheint, als habe Klytaimestra sich entgegen ihrer anfänglichen Ignoranz gegenüber Agamemnon nun an ihn angepasst und ihr Sprachverhalten so gestaltet, dass Agamemnon geneigt ist, auf die Gewänder zu steigen – zumal er vorher bereits sein Vorhaben, in den Palast zu gehen, deutlich formuliert hat. Es ist unklar, wie viel Gewicht der Tatsache zugesprochen werden kann, dass Klytaimestra vorläufig Agamemnons Anwesenheit und Disposition ignoriert, indem sie sich zuerst dem Chor gegenüber rechtfertigt – denn dies ist stückintern notwendig aufgrund der Skepsis der Argiver. Viel stärker dürfte im Gegensatz wiegen, dass Klytaimestra eine an sich für Agamemnon undenkbare, gottlose Anfrage stellt, die auch mit der Götterargumentation nicht überspielt werden kann. Denn in Agamemnons Erwiderung (914–930) zeigt sich, wie falsch Klytaimestra die kommunikative Lage eingeschätzt hat: Er weist besonders ihre Hybris und die Anstößigkeit ihrer Argumente zurück. Zuvor übt er aber zweifache formale Kritik durch sein Sprachverhalten. Einerseits, als er in 914 Klytaimestra mit Λήδας γένεθλον, δωμάτων ἐμῶν φύλαξ anspricht und so Zuneigung und Wertschätzung von Klytaimestra in ihrer Rolle als Ehefrau314 nahelegt. Diese Anrede ist auffällig im Kontrast, da sie ihn zunächst gar nicht explizit angesprochen hatte. Andererseits kritisiert Agamemnons weiterhin Klytaimestras unangemessene Rede mit μάκραν γὰρ ἐξέτεινας (916)315 und formuliert damit einen 314 Zum allgemeinen Unmut der Kommentatoren über die angebliche Nichtbegrüßung des Agamemnon durch Klytaimestra (s. u.a. Michelini (1974), die weitere zitiert) lässt sich sagen, dass Agamemnon im Gegensatz zu ihr wenigstens seine Gesprächspartnerin anspricht und nicht lediglich die Männer der Versammlung, was wohl auch so schon als empörungswürdig angesehen werden musste. Jedoch muss auch bedacht werden, dass die Begrüßung der Charaktere untereinander auch nicht zu häufig vorkommt (s. Michelini (1974) 525f., so auch Easterling (1973) 18). 315 Von den Forschern vor Fraenkel wurde dieser Ausdruck als Beleidigung angesehen (v.a. Headlam (1938) und Verrall (1889) sowie weitere zitiert bei Michelini (1974) 525). Die Interpretation von Fraenkel (1950b) 414 schien dann wieder gemäßigt: Die Länge von Klytaimestras Rede werde zwar bemängelt; jedoch nennt er diesen Hinweis »Mild banter, but not at all unkind […].« Auch in späterer Zeit war es strittig, ob μάκραν γὰρ ἐξέτεινας (916) als Vorwurf eines langatmigen, ausschweifenden Redestils der Klytaimestra gelten darf (vgl. Raeburn & Thomas (2011) 164: »In tone, this remark could be meant seriously, or as a gentle pleasantry, rather than as a derisive.« vs. Denniston & Page (1957) 149: »This does not seem to us as a gracious, let alone cordial, way to address the wife whom he has not seen for ten years« [weisen dann aber auf den weniger pejorativen Charakter der Phrase hin, Anm. d. Aut.].). Michelini (1974) zeigt knapp 25 Jahre nach Fraenkel, dass ἐκτείνω oft als impliziter, strukturierender Verweis innerhalb einer Rhesis verwendet wird, um die eigene Rede klarer zu gestalten oder um die Aufnahme einer fremden Rhesis zu markieren (vgl. z.B. 829. 1295; Aischyl. Eum. 707: Hier wird überall weniger die Art oder Länge der Rede von einem anderen Charakter bemängelt, als lediglich wieder zum Hauptgeschehen zurückgeführt). Insofern kann eine Äußerung dieser Art eher als inhaltlich-argumentative Strukturierung und vielleicht sogar Dienst am Rezipienten gesehen werden. Jedoch argumentiert Michelini (1974) 527 weiter, dass auch die Hinweise mit μακρὰν nicht unbedingt ein pejoratives, son-

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Redestandard.316 Klytaimestras Missachtung der Standards illustriert die geringe Angemessenheit ihrer Rede, sowohl für die drameninterne Hörerschaft317 als auch für das zeitgenössische Publikum,318 denn Klytaimestras Rede war faktisch ungewöhnlich lang (58 vs. 14 Verse des Agamemnon).319 Agamemnons sofortige Reaktion auf Klytaimestras Rede kann insgesamt als negativ geprägt gesehen werden, und zwar in 916 aufgrund von rhetorischen Aspekten. Auch das weitere Sprachverhalten Agamemnons deutet seine Ablehnung an, ohne jedoch selbst unverhältnismäßig impertinent zu werden: Zunächst fällt auf, dass Agamemnon nicht wie Klytaimestra vorher eine warmherzige Bezeugung seiner Liebe und seiner Freude über die Wiedervereinigung einbaut. Dies allein ist nicht als absolut negativ zu beurteilen, da eine private Begrüßung nach Art der Klytaimestra wohl nicht üblich gewesen sein kann320 – sonst wäre ihre Entschuldigung οὐκ αἰσχυνοῦμαι (856) überflüssig.321 Agamemnons fehlende emotionale Reaktion darf nicht anachronistisch als feindselige Abneigung ver-

dern ein strukturierendes Element darstellen, das den Zuschauer wieder zum Geschehen auf der Bühne zurückholt. Die der Form unangemessene Darbietung einer unnatürlich langen Rhesis werde so naturalistischer, da ein Bezug auf den Gesprächspartner eingebaut werde. Die Formulierung habe also auf der Bühne selbst keinerlei Valenz. Dies ist jedoch nicht völlig schlüssig: Denn alle Stellen einer Qualifizierung mit μακρὰν stellen sich als Kommentar und sogar als direkte Erwiderung anderer Charakter über die Rede eines anderen Charakters heraus, sodass der Hinweis auf die Länge nicht nur für das externe Publikum gemeint sein kann (vgl. 1296: Chor über Kassandra; Soph. Ai. 1040: Chor an Teuker; Eur. Med. 1351: Medea hypothetisch über ihre eigene nicht stattfindende Antwort). Der Kommentar über die Tatsache, dass etwas gesagt wurde (ἐκτείνω) bleibt also strukturierend, während aber im Zusammenhang mit μακρὰν ein qualifizierendes Element hinzukommt, das auch auf Figurenebene Redestandards impliziert, die nicht eingehalten wurden. (vgl. Pelasgus’ Redestandard der Kürze in Aischyl. Suppl. 273, den auch Michelini (1974) 533 zitiert). 316 Dieser Redestandard ist auch intertextuell relevant: Der ἀναγνωρισμός zwischen Penelope und Odysseus (Hom. Od. 23,1–255) zeichnet sich dadurch aus, dass Penelope bei der Ankunft ihres Mannes zunächst schweigt, was Telemach sogar kommentiert (Hom. Od. 23,97–103). Penelopes Verhalten wird jedoch als sittsam und vernünftig dargestellt (τὸν δ’ αὖτε προσέειπε περίφρων Πηνελόπεια Hom. Od. 23,104; s.a. Bierl (2004)). Schon in der Odyssee wird ja auch ein starker Kontrast zwischen der sittsamen Ehefrau Penelope und der ›Täterin‹ Klytaimestra aufgemacht (Hom. Od. 11,429f. 452f. 24,96f.; vgl. Hölscher (1989) 306). Diesen Gedanken verdanke ich einer Diskussion mit Martin M. Bauer. 317 Etwa ist die Übereinstimmung zwischen εἰκότως und μάκραν (915f.) nur insofern vorhanden, als Klytaimestras Rede nur angemessen war, weil sie so lang war wie seine Abwesenheit; dies zeigt uns auch der sehr starke Gegensatz μὲν – ἀλλ᾽ (915f.), s. Raeburn & Thomas (2011) 164. 318 So Michelini (1974) 531–533. 319 Michelini (1974) 528. 320 Raeburn & Thomas (2011) 164f. 321 Michelini (1974) 527. Diese Art der ehelichen Gefühlsäußerung muss ein feminines oder wenigstens allzu privates Sprachregister dargestellt haben, das in der Öffentlichkeit nicht gern gesehen wurde und somit der sozialen Situation unangemessen ist.

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standen werden,322 jedoch durchaus als Zeichen seiner Ablehnung von Klytaimestras Proposition.323 Im Folgenden erhalten die Hinweise auf die unterschiedlichen Rollen von Frau und Mann und die damit verbundenen Erwartungshaltungen erhebliche Wichtigkeit. Agamemnon stilisiert seine Rede auch weiterhin sehr negativ und vor allem im Bezugsrahmen des Gegensatzes Frau – Mann. Agamemnon bemerkt, dieses Lob solle nicht unbedingt von Klytaimestra als Frau kommen (917–919). Seine Sprache mutet sehr männlich und militärisch, ja geradezu homerisch an, wenn er ihre Willkommensrede und den Empfang als γέρας (917) bezeichnet. Dieser Ausdruck aus dem öffentlichen Leben kontrastiert stark mit der um Intimität bemühten persona der weiblichen Spenderin. Im Anschluss zeigt Agamemnon erneut seine negative Haltung (919f.), wenn er ihr befiehlt, ihn nicht zu behandeln, als wäre er eine Frau (also zu emotional), und auch nicht, als wäre er ein Barbar (also mit Hybris und verweichlichter Maßlosigkeit).324 Diese Kontrastierung mit nicht-griechischen, nicht-bürgerlichen Idealen zeigt, wie falsch und unpassend Klytaimestras Willkommensrede wirkt. Allerdings missinterpretiert Agamemnon ihre Inauthentizität – nämlich nicht als täuschend, sondern als unangemessen aufgrund ihrer Gottlosigkeit und ihres ungebührlichen Verhaltens als Frau. Dies zeigen auch die Verse 922, 925 sowie 927f., in denen Agamemnon immer wieder die Götter erwähnt. Einerseits weist er auf die Art des Empfanges hin, die eher einem Gott gebühre als ihm (922, 925) und betont andererseits, wie sehr ein gutes Leben doch von Göttern abhänge (927f.). Aischylos lässt Agamemnon deutlich auf Pietät fixieren. Noch offensichtlicher wird Agamemnons negative Einstellung, zählt man die Anzahl der Verneinungen in seiner Rede: In 16 Versen begegnen immerhin 6 Verneinungen (918f. 921. 924f. 927), was dem Interpreten sehr auffällig erscheint. Doch auch der Bezugspunkt dieser Verneinungen ist beachtlich: Sie beziehen sich nicht etwa auf Klytaimestra selbst und ihre Aufrichtigkeit, sondern stets auf ihre überschwängliche, weibliche Art des Willkommenheißens und auf ihre fehlende Ehrfurcht vor den Göttern. Agamemnon nimmt Klytaimestra aus Unwissenheit wörtlich.325 Er lehnt Klytaimestras Redeziel indirekt ab und legt 322 Vgl. Medda (2017) 3, 65. 323 Gemäß den Überlegungen zur angemessenen Anrede von Dickey (1996) 6–8 kann argumentiert werden, dass Agamemnon hier eben den sozialen Kontext beachtet und keine privaten Äußerungen trifft, wie auch Klytaimestra zunächst, wenn sie den Chor der Bürger anredet. 324 Hierzu vgl. Hall (1991) 96. 325 Seine Mahnung zur menschengebührenden Bescheidenheit wird unterstützt durch weitere negativ besetze Begriffe, die in Agamemnons Rede eingeflochten sind: Mit βαρβάρου φωτὸς δίκην ἁβρύνεσθαι (919), γυναικὸς ἐν τρόποις (918) legt Agamemnon nahe, dass diese Behandlung ihn weiblich oder barbarisch dastehen lässt (so Denniston & Page (1957) 149; Hauptargument hierfür wäre, dass Klytaimestra als Frau ihn natürlich wie eine Frau behandelt; dies wird erst effektvoll, wenn man es auf ihn bezieht. Im Fall von βαρβάρου wird

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seine Gründe dar: Ehrfurcht vor den Göttern und Angemessenheit ihrer Rede im Allgemeinen. Agamemnon und Klytaimestra haben grundverschiedene moralische Einstellungen: Während Agamemnon die Götter von Anfang an in seine Rede miteinbezieht und diese als Gebet gestaltet, erwähnt Klytaimestra die Götter hier fast nie und nur als Argument für Agamemnon, auf die Gewänder zu steigen.326 Wollte man weiterdenken, warum Klytaimestras Rede problematisch ist, so wäre die scheinbare Besorgnis der Klytaimestra um die Bürger anzuführen. Denn sie spricht die Bürger zwar an, benutzt aber diese Ansprache lediglich, um ihre φιλάνορας τρόπους darzulegen. Dies wirkt unangemessen und oberflächlich – besonders unter Berücksichtigung der Einstellung des Chores zu Klytaimestra im ersten Epeisodion. Agamemnon hingegen sorgt sich aufrichtig um die Bürger und verspricht sogar Reformen und ein Ausmerzen aller Missstände in seiner Stadt (844–850). Weiterhin ist die Einhaltung der Geschlechterrolle als essentiell zu beobachten: Klytaimestras Sprache wird auch schon im ersten Epeisodion als κατ’ ἄνδρα σώφρον’ (351) bezeichnet327 und erweist sich zu Beginn ihrer Rede in 855–860 als männlich anmutend, da politisch-offiziell orientiert.328 Gleichzeitig aber über-inszeniert sie sich als emotionale Frau, was inkonsistent wirkt.329 Hinzu kommt die Schmeichelei, mit der sie Agamemnon – aus dessen Sicht – behandelt, als sei er eine Frau (918). Agamemnon hingegen fühlt sich von dieser Aufhebung und Übertretung der Geschlechterrolle bedroht und zeigt dies auch in seiner Rhetorik (vgl. die gehäuften Verneinungen in seiner zweiten Rede 914– 930).330 Zugleich vermittelt Agamemnon hier explizite Redestandards und Rederegister, indem er auf die ungewöhnlich lange Rede der Klytaimestra hinweist (916). Unterschiedliche Dispositionen, ebensolche Argumente, Sprachverhalten (Gebet vs. inkonsistente Mischung aus Gebet und emotionaler Rechtfertigung man es wohl sowohl auf Klytaimestra als auch auf Agamemnon beziehen können.) Für einen guten Überblick über die Prägung des Barbarischen als Feindbild der Griechen, vor allem in der Tragödie, s. Hall (1991) 1–13. Die negative, fast schroffe Grundstimmung bemerken auch Denniston & Page (1957) 149. Sie setzt sich fort in ἐπίφθονον (921). Denn Agamemnon ahnt bereits die schlechten Auswirkungen, sieht deren Grund aber im φθόνος der Götter; ebenso zeigen οὐδαμῶς ἄνευ φόβου (924) und κακῶς φρονεῖν (927) eine durchweg finstere Reaktion des Agamemnon – er fühlt sich in der Situation nicht wohl. 326 Außer in 913, was gewissermaßen den Höhepunkt ihrer Erklärung auf Agamemnons Gedankenebene darstellt; allerdings schreibt sie der personalisierten Gottheit Δίκη einen höheren Stellenwert zu (911), was hier sicherlich als rächende oder strafende Δίκη ausgelegt werden kann. 327 Dies negiert Klytaimestra nicht, es erscheint dem Chor aber suspekt, s. 485–487. Vgl. auch 10f. Zu Klytaimestras Sprache, vgl. Foley (2001) 207. 328 So auch Foley (2001) 209; Halliwell (1997). 329 Zu Klytaimestras androgyner Sprache und der resultierenden Skepsis ihrer Gesprächspartner, vgl. Wohl (1998) 103–110; McClure (1999) 73–80. 330 Agamemnon diagnostiziert hier also over-politeness, vgl. Locher (2006) 256.

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und Schmeichelei) und die daraus resultierende Verfehlung von Redestandards (zu lange Rede) spielen allesamt eine Rolle bei der Plausibilisierung dieses Scheiterns. Der Fokus lag jedoch auf Klytaimestras Argumenten und ihrem redeimmanenten Verhalten: Den Göttern und ihm als Mann gegenüber waren sie unangemessen und unfromm. In der folgenden Stichomythie331 kann Klytaimestra allerdings Agamemnon doch überreden;332 hier soll ihre Strategie aufgezeigt werden. So kann offengelegt werden, auf welchen rhetorischen Aspekt Aischylos damit den Fokus legen möchte. Während sich Forscher oft ohne Ergebnis die Frage nach dem Grund für Agamemnons Nachgeben gestellt haben,333 wird bei genauer Analyse der intercharakterlichen Kommunikation der Persuasionsmechanismus offensichtlich: Agamemnon scheut neben den Göttern vor allem auch den Neid der Menschen. Klytaimestra kommt die Aufgabe zu, ihm dies als unproblematisch darzustellen.334 Ihre Proposition bleibt dabei gleich, sie nähert sich nur auf argumentativer Ebene ihrem Gesprächspartner an. Diese Persuasion335 wird auf zwei Wegen plausibilisiert, auf argumentativer und sprachstruktureller Ebene.336 ΑΓ. εἰ πάντα δ’ ὣς πράσσοιμ’ ἄν, εὐθαρσὴς ἐγώ. 930 ΚΛ. καὶ μὴν τόδ’ εἰπὲ μὴ παρὰ γνώμην ἐμοί. ΑΓ. γνώμην μὲν ἴσθι μὴ διαφθεροῦντ’ ἐμέ. ΚΛ. ηὔξω θεοῖς δείσας ἂν ὧδ’ ἔρδειν τάδε; ΑΓ. εἴπερ τις, εἰδώς γ’ εὖ τόδ’ ἐξεῖπον τέλος. ΚΛ. τί δ’ ἂν δοκεῖ σοι Πρίαμος, εἰ τάδ’ ἤνυσεν; 935 ΑΓ. ἐν ποικίλοις ἂν κάρτα μοι βῆναι δοκεῖ. ΚΛ. μή νυν τὸν ἀνθρώπειον αἰδεσθῇς ψόγον. ΑΓ. φήμη γε μέντοι δημόθρους μέγα σθένει. ΚΛ. ὁ δ’ ἀφθόνητός γ’ οὐκ ἐπίζηλος πέλει. ΑΓ. οὔτοι γυναικός ἐστιν ἱμείρειν μάχης. 940 ΚΛ. τοῖς δ’ ὀλβίοις γε καὶ τὸ νικᾶσθαι πρέπει. ΑΓ. ἦ καὶ σὺ νίκην τήνδε δήριος τίεις; ΚΛ. πιθοῦ· κρατεῖς μέντοι παρεὶς ἑκὼν ἐμοί. 331 Allgemein zur Stichomythie, s. Jens (1955); Seidensticker (1971); mit Fokus auf Pragmatik und Narratologie Schuren (2015); im Besonderen zu Aischylos, s. Ireland (1974). 332 Wie in der Septem-Stelle, in der Eteokles zunächst am Chor scheitert, hört Klytaimestra mit Agamemnons zweiter Rede nun eine Begründung seiner Ablehnung und damit bestimmte Beweggründe und mögliche Ansatzpunkte für ihre erneute Argumentation. 333 So etwa Fraenkels Frage »Why does Agamemnon yield?« (Fraenkel (1950b) 441f.); weiter diskutiert bei Denniston & Page (1957) 151f.; Neitzel (1977); Buxton (1982) 105f.; Court (1994) 203f. 334 Ausführliche Besprechungen dieser Szene bieten Easterling (1973); Taplin (2002) 78–83; Konishi (1989). 335 Man könnte hier auch von Manipulation sprechen, da Klytaimestra täuscht und aus niederen Motiven handelt. 336 Für eine volle Konversationsanalyse dieser Stichomythie mit besonderem Fokus auf die Verwendung der Partikel, s. Emde Boas (2017a).

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ΑΓ. ἀλλ’ εἰ δοκεῖ σοι ταῦθ’, ὑπαί τις ἀρβύλας λύοι τάχος, πρόδουλον ἔμβασιν ποδός.

(930–945)

Ag. Wenn es mir in allem so erginge, wäre ich froh. 930 Kl. Aber sag mir doch dies, und zwar deine wahre Meinung: Ag. Du musst aber wissen, dass ich meine Meinung nicht ändere. Kl. Hättest du den Göttern in einem Moment der Angst gelobt, diese Gewänder zu opfern? Ag. Wäre ich wohlwissend wie kein anderer, hätte ich dies versprochen. Kl. Was denkst du aber, hätte Priamos getan, hätte er solches erreicht? 935 Ag. Er wäre wohl ganz sicher auf die Gewänder gestiegen. Kl. Aber in deinem Fall musst du keinen menschlichen Tadel fürchten! Ag. Das Gerede im Volk ist allerdings sehr einflussreich. Kl. Wer nicht beneidet wird, ist nicht nachahmenswert. Ag. Frauen sollten wirklich keinen Streit suchen. 940 Kl. Dafür können die, die ohnehin Glück haben, ohne Scham einmal nachgeben! Ag. Der Sieg in diesem Kampf ist dir also so wichtig? Kl. Lass dich doch überzeugen: Du bleibst nach wie vor der Herrscher, selbst wenn du  nun freiwillig nachgibst. Ag. Wenn du es wirklich so wünschst, dann löse mir jemand schnell die Sohlen, die meinem Fuß als Untergrund dienen. 945

In der Stichomythie wird neben dem Inhaltlichen zunächst metapragmatisch auch über Sprache und die Dominanz im Gespräch gesprochen: Agamemnons Fehleinschätzung εὐθαρσὴς ἐγὼ (929) veranlasst Klytaimestra, noch einmal nachzuhaken und ihn nach seiner wahren Meinung zu fragen (μὴ παρὰ γνώμην 931).337 Hierbei imitiert sie Agamemnons Wortstellung, woraufhin er ihre Satzstruktur übernimmt (930–934). Somit vermittelt sie Agamemnon, ihn zu verstehen und mit ihm zu sympathisieren, worauf er in 932 eingeht.338 Auf argumentativer Ebene und als Reaktion auf seine vorangegangene Rede kommen zwei Argumente zum Tragen, die nun deutlich eine Anpassung an den Gesprächspartner zeigen: Einerseits impliziert Klytaimestra in 933 eine Situation, in welcher er seinen Fuß auf die Gewänder setzen würde: Sie fragt ihn, ob er in einer sehr gefährlichen Situation nicht lieber von Göttern erbeten

337 Natürlich schwingt hier auch die Bedeutung ›widersetze dich nicht meiner Meinung‹ mit, zieht man ἐμοί hinzu. Der Reiz liegt wohl in der Unbestimmtheit, auf Figurenebene muss es aber sicherlich ›verhülle nicht deine wahre Meinung mir gegenüber‹ heißen. Anders Fraenkel (1950b) 421, der γνώμην auf Klytaimestra bezieht; ich folge jedoch Denniston & Page (1957) 152, da Klytaimestra sich so entlarven würde und außerdem ja in Wahrheit darauf abzielen muss, eine Verhaltensänderung in ihm aus eigenem Antrieb hervorzurufen. Dafür muss seine eigene Meinung als Ausgangspunkt genommen werden. 338 Zur Synchronisation den Gesprächspartners, um Sympathie zu erreichen, s. Ireland (1974) 513.

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hätte,339 ihnen Gewänder opfern zu dürfen, um der Gefahr zu entkommen.340 Sie normalisiert das Betreten der Gewänder, indem sie es als Dankesritual darstellt. Andererseits fragt sie in 935, was Priamos getan hätte. Tatsächlich können wir in 934 und 936 feststellen, dass Agamemnon Zustimmung signalisiert und die Struktur ihrer Sprache aufgreift,341 d.h. ihren Irrealis aus 933 und 935. Er sagt εἰδώς γ’εὖ (934) ›wenn man wirklich gut Bescheid weiß und es als Pflicht darstellt, [sc. dann würde ich es tun]‹342 – Agamemnon maßt sich keine Allwissenheit an. Dann beantwortet er Klytaimestras Frage aus 935 ohne Partikel und als direkte Fortführung:343 ἂν κάρτα μοι βῆναι δοκεῖ (936). Damit findet eine gedankliche und sprachliche Synchronisation der Figuren statt, da sich Agamemnon plötzlich das gewünschte Verhalten bei göttlicher Lenkung und bei Priamos, seinem Feind, vorstellen kann.344 Hiermit gelingt es Klytaimestra, das Problem ihrer angeblichen Hybris zu beheben. In 937 kommt sie als Zweites auf menschliche Missgunst zu sprechen, die Agamemnon wohl fürchte, die aber unwichtig sei. Agamemnon widerspricht der Unwichtigkeit dieses Aspektes und lehnt damit Klytaimestras Argumentationslinie vorerst noch ab: φήμη [...] μέγα σθένει (938).345 Klytaimestra widerspricht ihm mit dem Argument, dass Neid nur ein Zeichen für Bewunderung sei (939).346 Agamemnon reagiert mit einem Geschlechterklischee: Frauen sollen nicht streitsüchtig sein (οὔτοι γυναικός ἐστιν ἱμείρειν μάχης 940).347 Dieses Argument ad hominem, mit dem er durch seinen Hinweis auf eine Agonsituation gleichzeitig auf die sprachliche Metaebene wechselt, zeigt seine argumentative 339 Dies spielt wohl auf Iphigenies Opferung in Aulis an, s. Conacher (1987) 37. 340 Dies interpretieren auch Raeburn & Thomas (2011) 167. Ich folge der Interpunktion von Page. 341 Zum alignment, vgl. Pickering & Garrod (2006). 342 Denniston & Page (1957) 152 vermuten ein Priester oder ein Orakel, zumal θεοῖς (933) dies unterstützt. 343 Zur parataktischen Weiterführung der Stichomythie s. Ireland (1974). 344 Zum alignment als Voraussetzung für erfolgreiche Kommunikation, s. Pickering & Garrod (2006). 345 γε μέντοι bedeutet eine scharfe Ablehnung, die auch in Agamemnons Fall zutrifft, s. Denniston & Dover (1954) 412; zur Verwendung von γε in Ausdrücken des Zorns und im scharfen Kontrast zum vorher Gesagten, s. Drummen (2016) Bd. III.5 §51–63. 346 Ireland (1974) 515 beobachtet die fehlenden Partikeln in Agamemnons Part, dagegen bemüht sich Klytaimestra um rezipientenbezogene Vermittlung ihrer Fragen durch drängende logische Partikeln (931–936); mit dem erstmaligen Gebrauch von γε μέντοι (937) stellt er Agamemnons erstmalige Dominanz im Dialog fest. Tatsächlich ändert sich der Partikelgebrauch ab 939 bei Klytaimestra, da dieser nun reaktiv wird. Gegen Agamemnons Einwand wird mit adversativen δέ eine konkurrierende Meinung erwidert, dabei wird eine Spiegelung von Agamemnons γε vorgenommen. Auch Seidensticker (1971) 188 weist auf die pragmatische Färbung der Stichomythie durch Partikel von 937 an hin. 347 τοι signalisiert eine starke persuasive Absicht, s. Denniston & Dover (1954) 537–555; vgl. Drummen (2016) Bd. III.4 §58: »an appeal to the addressee, who is strongly encouraged to take note of, and believe, the statement being uttered.«

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Wehrlosigkeit an. Mit ihrem nächsten, daran anschließenden Argument, dass erfolgreiche Feldherren nicht in allem gewinnen müssen (941), schmeichelt Klytaimestra; gleichzeitig verharmlost sie jedoch damit ihre Anfrage, sodass Agamemnon kaum Gründe hat, sie abzulehnen.348 Über die hypothetische Frage zum göttlichen Beistand und zu Priamos’ Verhalten und der Aushebelung des Arguments des menschlichen Neids (›Sieger dürfen sich alles erlauben‹) hat Klytaimestra – zumindest oberflächlich – alle Argumente des Agamemnon von oben aufgegriffen und widerlegt. Klytaimestras Proposition bleibt gleich, aber sie verändert ihre Argumentation, um rhetorische Anpassung an ihren Gesprächspartner zu erreichen.349 In 942f. kommentieren die Charaktere ihr Gespräch wieder auf der metasprachlichen Ebene, wenn sie rhetorischen Erfolg und Misserfolg thematisieren: Agamemnon stellt Klytaimestras Unnachgiebigkeit und damit sein eigenes Nachgeben dar, woraufhin sie mit dem metapragmatischen Marker πιθοῦ ihr Direktiv explizit formuliert.350 Agamemnon gehorcht schließlich nicht nur, sondern nimmt mit ἀλλ’ εἰ δοκεῖ σοι auch eine Imitation der Wortstellung von Klytaimestra vor (ἐμοί 943). Auf gedanklicher und auf sprachlicher Ebene wurden die beiden Gesprächspartner synchronisiert.351 Gleichzeitig vermittelt Klytaimestras Sprachverhalten eine Dominanz im Gespräch durch Fragen (933. 935), Imperative (931. 937) und Gnomen (939. 941). Dieser Dominanz konnte sich Agamemnon allerdings wegen der Aussagekraft und Adaptation der Argumentation nicht mehr entziehen. Klytaimestra ist von erfolglosen over-­politenessStrategien über negative politeness-Strategien (906–909) zu direkten bald on record-Aussagen gewechselt, die Erfolg versprechen.352 Klytaimestras Sieg in

348 Hier wäre höchstens im weitesten Sinne von einer politeness-Strategie zu sprechen: Die Verkleinerung der Anfrage geschieht hier eher durch eine Definition bzw. durch eine separate Aussage. 349 Besonders in den Versen 933. 935. 939 beobachtet dies auch Scodel (2017) 29. 350 Trotz textkritischen Unsicherheiten impliziert das sicher erhaltene ἐμοί am Ende von 943 direktive Absicht, da es Agamemnons Wortstellung aus z.B. 919 imitiert. 351 Zum syntaktischen und semantischen alignment im Dialog moderner Sprachen, s. Pickering & Garrod (2006). Vgl. ἀλλά (944) als Einleitung einer dispreferred response, s. Denniston & Dover (1954) 17; vgl. Drummen (2016) Bd. III.4 §53: »If a speaker cannot or does not want to provide an answer to a question, grant a request, or otherwise utter a preferred response to a certain first pair part, the response tends to be formally marked. Dispreferred responses are less straightforward in form in English conversation […]. Speakers of dispreferred responses tend to start speaking after a pause, use turn-initial discourse markers, be indirect in their formulation, and give accounts for why they do not answer, grant, accept, or obey.«; s. insbesondere Drummen (2009). 352 Hieran wird wieder der nicht zwingend impolite Charakter von bald on record-­ Aussagen deutlich: In Stichomythien dienen sie eher als ökonomisches Kommunikationsinstrument.

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diesem Verhör353 wird später von Agamemnon noch festgestellt: ἀκόυειν σοῦ κατέστραμμαι τάδε (956). In dieser Stichomythie kann Klytaimestra ihre Strategie demnach ändern. Aischylos zieht die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf diese rhetorische Anpassung, auch indem er Klytaimestra nach Agamemnons Tod selbst verkünden lässt, sie habe der Situation angepasst gesprochen (πολλῶν πάροιθεν καιρίως εἰρημένων / τἀναντί’ εἰπεῖν οὐκ ἐπαισχυνθήσομαι· 1372f.).354 Damit bringt sie die Pointe späterer sophistischer Rhetorik auf den Punkt: Was καίριος ist, ist situations- und perspektivenabhängig.

2.1.4.3 Rhetorische Adaptation In dieser Szene des Agamemnon berücksichtigen beide Charaktere den Gesprächspartner, benutzen dies jedoch nur bedingt gewinnbringend für eine rhetorische Adaptation. Agamemnon signalisiert Verständnis und Interesse am geistigen Zustand des Gesprächspartners, wenn er in seiner Auftrittsrhesis auf den Chor eingeht: ΑΓ. τὰ δ’ ἐς τὸ σὸν φρόνημα, μέμνημαι κλυών, καὶ φημὶ ταὐτὰ καὶ συνήγορόν μ’ ἔχεις.

(829–830)

Dieser Ausdruck findet sich allerdings in keinem persuasiven Kontext, sodass von keiner effektiven Wirkung dieses Bewusstseins auf ein persuasives Projekt gesprochen werden kann. Klytaimestra hingegen benutzt ihr Bewusstsein bezüglich des Gesprächspartners auch explizit und implizit als Überzeugungsmittel. Zunächst demonstriert sie in Ansätzen ihr rhetorisches Verständnis, indem sie Orests Abwesenheit in einer Prolepse vorwegnimmt (877), bevor Agamemnon diese kommentieren kann. Während Aischylos zunächst im weiteren Verlauf ihrer kommunikativen Strategie auf ihre fehlende Berücksichtigung von Agamemnons Befürchtungen hinweist, macht er ihre Adaptation im zweiten Anlauf offenbar: Einerseits explizit, indem sie – mit manipulativen Absichten – Agamemnon zur Perspektivübernahme auffordert: τί δ’ ἂν δοκεῖ σοι Πρίαμος, εἰ τάδ’ ἤνυσεν; (935). Andererseits zeigt Klytaimestra implizit eine rhetorische Adaptation an den Gesprächspartner, da sie ihre Gesprächsstrategie anpassen und sich nach Agamemnons Hinweis auf die Gründe seiner Ablehnung in ihn hineinversetzen kann.355 353 Käppel (1998) 156 sieht in der Stichomythie ein auch inhaltlich ein Verhör Agamemnons durch Klytaimestra – m.E. sollte eher auf formaler Ebene von einer Verhörstichomythie gesprochen werden, da es auch Kooperation gibt. 354 Foley (2001) 209 sieht diesen rhetorischen Terminus als Zeichen von Klytaimestras androgyner Charakterisierung an. 355 πολλῶν πάροιθεν καιρίως εἰρημένων / τἀναντί’ εἰπεῖν οὐκ ἐπαισχυνθήσομαι (1372f.).·

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2.1.4.4 Metapragmatik: Häufigkeit, Gebrauch und explizite Plausibilisierung Auch in dieser Szene ist eine nicht zu vernachlässigende Anzahl an metapragmatischen Aussagen zu finden,356 die beinahe ausgewogen auf Agamemnon und Klytaimestra verteilt sind.357 Metapragmatik dient hier der deklarativen Markierung des Gesprächsstandes und der Themen: Beide Charaktere benutzen etwa Strukturierungen und Rahmen (also performative Verben etc.), um ihre Rede zu verorten und dem halböffentlichen Charakter der Szene Rechnung zu tragen.358 Agamemnon tut sich dabei durch seine deutliche und sorgfältige Trennung zwischen dem Öffentlichen, d.h. Politischem und Religiösen, sowie dem Privaten hervor, die sich auf der Ebene der Metapragmatik hervorragend ablesen lässt.359 Außerdem bezieht er sich in seiner Strukturierung ausdrücklich auf den zuvor sprechenden Chor (830f.) und führt Rezipientenorientierung explizit und konkret vor. Auch Klytaimestra rahmt ihre erste Rede mit einer Verortung der Rede im öffentlichen Raum und mit einer Themenbestimmung, nämlich der Liebe für ihren Mann360 und markiert die Rückkehr ihrer Rede ins Private.361 In der Stichomythie wird der Stand der Unterhaltung besonders von Klytaimestra verdeutlicht: ΚΛ. καὶ μὴν τόδ’ εἰπὲ μὴ παρὰ γνώμην ἐμοί. ΑΓ. γνώμην μὲν ἴσθι μὴ διαφθεροῦντ’ ἐμέ. ΚΛ. ηὔξω θεοῖς δείσας ἂν ὧδ’ ἔρδειν τάδε; ΑΓ. εἴπερ τις, εἰδώς γ’ εὖ τόδ’ ἐξεῖπον τέλος. ΑΓ. οὔτοι γυναικός ἐστιν ἱμείρειν μάχης. ΚΛ. τοῖς δ’ ὀλβίοις γε καὶ τὸ νικᾶσθαι πρέπει. […] ΚΛ. πιθοῦ· κρατεῖς μέντοι παρεὶς ἑκὼν ἐμοί.

(931–934) 940 (940–943)

Diese vermehrt vorkommenden Ausdrücke in der Stichomythie dienen als Marker für das Publikum, um den Stand der Unterhaltung nach außen hin festzuhalten. Hinzu kommt in diesem Fall der generell verdichtende Charakter der 356 Insgesamt: ⌀13% der Verse; Rhesisformen: ⌀ 11% der Verse; Stichomythie: ⌀ 38% der Verse. Dies liegt leicht über dem Durchschnitt von 10% des gesamten Agamemnon, s. Tabelle 1 und 2. 357 Klytaimestra: 12; Agamemnon: 10. 358 Etwa 810. 829. 855–857. 359 Religiös: πρῶτον μὲν Ἄργος […] προσειπεῖν (810f.); τὰ δ᾽ ἄλλα προς πόλιν τε καὶ θεούς […] (844); politisch: τὰ δ᾽εἰς τὸν σὸν φρόνημα (830); privat: νῦν δ᾽ἐς μἐλαθρα καὶ δόμους […] (851). 360 ἄνδρες πολῖται, πρέσβος Ἀργείων τόδε, / οὐκ αἰσχυνοῦμαι τοὺς φιλάνορας τρόπους / λέξαι πρὸς ὑμᾶς· (855–857). 361 νῦν […] λέγοιμ’ ἂν ἄνδρα τόνδε (895f.). Damit imitiert sie auch den offiziellen Charakter der Rede ihres Mannes.

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Stichomythien, in denen weniger neue Argumente als vielmehr kommunikative Spielbälle ohne neue Proposition im Rahmen eines Ringens um kommunikative Dominanz hin- und hergeworfen werden.362 Hierbei äußert sich der Charakter mit dem kommunikativen Projekt häufiger metapragmatisch als der Angesprochene. Dieser deklarative Gebrauch von Metapragmatik lässt den Zuschauer auf die genaue Ausführung der angekündigten Reden fokussieren sowie über deren Erfolg und Scheitern reflektieren. Zusätzlich explizieren hier zwei Ausdrücke des Agamemnon mögliche Gründe für Klytaimestras vorläufiges Scheitern und lenken die Rezeptionshaltung: ΑΓ. μάκραν γὰρ ἐξέτεινας [...]. ΑΓ. καὶ τἄλλα μὴ γυναικὸς ἐν τρόποις ἐμὲ ἅβρυνε […].

(916) (918f.)

Das Publikum erhält einen Hinweis auf die korrekte Interpretation der intercharakterlichen Kommunikation. Wie es implizit schon Klytaimestras unpassende Argumente vorausdeuteten, benennt Agamemnon dann auch tatsächlich den wahren Grund seiner Ablehnung: Klytaimestra hat sich unangemessen verhalten, und zwar inhaltlich und sprachlich. Durch diesen expliziten Hinweis auf unpassende Rhetorik regt Aischylos das Publikum an, im Folgenden besonders auf Klytaimestras Rezipientenanpassung zu achten. Mit dem Befund ihrer im Vergleich zu Agamemnon nur leicht verringerten Verwendung von Metapragmatik kann Klytaimestras rhetorische Sonderstellung als Frau im aischyleischen Opus unterstützt werden: Sie zeigt extrem hohes Bewusstsein über das Gespräch und ihren Gesprächspartner, so wie ihre rhetorischen Fähigkeiten allgemein exzeptionell sind.363 Freilich ist dies zusätzlich durch ihren quasi ebenbürtigen und hohen sozialen Status als Königin bedingt, der es ihr erlaubt, Agamemnon auf Augenhöhe zu begegnen und das Gespräch mit Metadirektiven zu dominieren.

2.1.4.5 ἦθος des Sprechers und Autoritätskonflikte Aischylos präsentiert Klytaimestra als negativ, da sie als Frau die halböffent­liche Redesituation der Rückkehr ihres Mannes als Raum für ihren Liebesbeweis fehlinterpretierte, der ihr von Agamemnon negativ, da zu weiblich, angerechnet wird und sie als Sprecher suspekt erscheinen lässt. Dies deckt sich zwar tragischerweise mit dem Publikumswissen um Klytaimestras Täuschung, ist aber 362 In konversationsanalytischen Termini nimmt die Stichomythie also die Valenz einer post-expansion ein, vgl. Schegloff (2007). 363 Diese rhetorische Stärke stellt auch Medda (2017) 1,108; 2,74.85 fest. Vgl. 351. 855–860. Vgl. πολλῶν πάροιθεν καιρίως εἰρημένων / τἀναντί’ εἰπεῖν οὐκ ἐπαισχυνθήσομαι (1372f.).

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aus Agamemnons Sicht einzig Klytaimestras Rede, also der konkreten Situation geschuldet: Misserfolg und Erfolg liegen allein in Klytaimestras rhetorischem Auftreten begründet. An dieser Szene werden außerdem Probleme deutlich, Klytaimestras ursprüngliches Rangverhältnis zu Agamemnon eindeutig zu bestimmen: Einerseits verhält sich Klytaimestra geradezu männlich, v.a. in ihrer formell geprägten Sprache,364 auf der anderen Seite wird sie für ihr übermäßig weibliches Reden gerügt. Allerdings erscheint es nach Agamemnons kritischem Hinweis auf diese Grenzüberschreitung so, als seien Agamemnon und Klytaimestra dramenintern nahezu auf gleicher Ebene: Klytaimestra ergreift in ihrem zweiten Versuch die Macht über das Gespräch und über die intercharakterliche Beziehung – ablesbar an ihrer Dominanz des Gespräches auf metapragmatischer Ebene. Dabei passt sie sich rhetorisch an Agamemnon an und betont seine höhere Stellung als Sieger.365 Indem sie ein Stück ihrer Autorität an Agamemnon abtritt, kann sie paradoxerweise ihr Redeziel erreichen.366 Klytaimestra fällt einerseits aus ihrer sozial zugedachten Rolle als Frau,367 versteht es aber gleichzeitig, das Potential ihrer Stellung als Königin auch rhetorisch für sich nutzbar zu machen: So kann Aischylos den Blick auf Klytaimestras suspekte und grenzüberschreitende Rhetorik lenken, die Machtkonstellationen neu verhandelt. Dazu steht Agamemnons Unwissenheit im tragischen Kontrast.

2.1.4.6 Zusammenfassung In dieser Szene, die zu Agamemnons sicherem Tod führt, lenkt Aischylos durch Klytaimestras nachträgliche Anpassung den Blick des Zuschauers auf Adaptivität von Rhetorik: Die nichterkannte Disposition des Gesprächspartners bedingt das Scheitern der Persuasion. Agamemnons Ablehnungsrhesis zeigt Klytaimestras argumentatives und sprachliches Fehlverhalten: Ihre Hybris und sprachliche Unangemessenheit werden sogar explizit metapragmatisch bemängelt. In diesem Falle kann von over-politeness368 gesprochen werden. In der Stichomythie gelingt es Klytaimestra, Agamemnons Argumentationen zu begegnen und 364 Vgl. Anm. 358–360. 365 ΚΛ. τοῖς δ’ ὀλβίοις γε καὶ τὸ νικᾶσθαι πρέπει (942). 366 Die könnte global auch als politeness-Strategie bezeichnet werden, um einen Gesichtsverlust des Gesprächspartners durch Betonung des eigenen Ranges zu vermeiden. Eine ähnliche Strategie sehen wir bei Eteokles in Aischyl. Sept. 182–286. Während dies dem Chor der Septem aufgrund seiner deutlich niedrigeren Stellung Eteokles gegenüber nicht möglich war, kann Klytaimestra – ungeachtet ihrer genauen Machtstellung zu Agamemnon – mit dieser Strategie Erfolg haben. 367 Ihre Männlichkeit wurde etwa bereits vom Chor im ersten Epeisodion festgestellt, s. 351; vgl. auch 855–860. 368 Locher (2006) 256.

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rhetorische Anpassung, etwa durch ταπείνωσις,369 vorzunehmen. Sie setzt sich sogar über ihn hinweg, indem sie auf der Metaebene die Kontrolle über das Gespräch erlangt. Mit ihrem vorläufigen kommunikativen Fehlverhalten legt Aischylos intercharakterliche Adaptation als Grundbedingung für erfolgreiche Kommunikation offen: Klytaimestras rhetorische Fehleinschätzung der Situation bringt ihr persuasives Projekt kurz in Gefahr. Festzuhalten ist, dass Aischylos scheiternde Persuasion rein mit redeinternen Faktoren darstellt und diese als unpassende Rhetorik problematisiert. Somit führt die Anpassung der Argumentation an den Gesprächspartner auch hier, wie in Aischylos’ Septem,370 zum Erfolg und wird auf sprachlicher Ebene illustriert.371

2.1.5 Pseudo-Aischylos, Prometheus 937–1079 2.1.5.1 Einleitung und Hintergrund Wie Aischylos in der Heroldszene der Hiketiden auf allen Ebenen unpassende Rhetorik vorführt, die sogar noch zu einer Verschärfung des Konflikts führt, stellt der Dichter des Prometheus Vinctus auch Hermes’ scheiternde Rhetorik an Prometheus dar: Im vierten Epeisodion des pseudo-aischyleischen Prometheus versucht Hermes, Prometheus zur Herausgabe des für Zeus autoritätsgefährdenden Geheimnisses zu bewegen.372 Seine Redeintention versucht er allerdings, mit direktiven Sprechakten durchzusetzen, denn auch hier liegt eine Art Heroldszene vor. Zur Datierung und Unechtheit des Prometheus, zu dem keine Didaskalien erhalten sind, der aber ca. seit dem 3. Jh. v. Chr. als aischyleisch373 galt, lassen sich folgende Hauptpunkte festhalten: Das Datum des Prometheus wird aufgrund von diversen Kriterien auf einen Zeitpunkt nach Aischylos’ Tod (456 v. Chr.) ca. um 440/30 angesetzt; dazu gehören einerseits externe Merkmale wie textuelle 369 Vgl. im Kontrast dazu den vergeblichen Versuch des Chores in Aischyl. Sept. 677–719, der trotz politeness und Selbstverkleinerung über Eteokles keine kommunikative Macht ausüben kann. 370 Bemerkenswerterweise verwenden beide aischyleische Figuren, die sich anpassen können, i.e. Eteokles und Klytaimestra, metapragmatische Aussagen zum Wortfeld ›passende Rede‹: λέγειν τὰ καίρια (Aischyl. Sep. 1) vs. πολλῶν πάροιθεν καιρίως εἰρημένων (1372). 371 Später im Agamemnon wird Klytaimestra hingegen vollständig scheitern, Kassandra zum Reden zu bringen. Diese Stelle (1035–1071) soll hier aus Platzgründen ausgelassen werden, zumal dort aufgrund von fehlendem kommunikativen Kontakt auch Argumente eine geringere Rolle spielen. Eine vollständige Besprechung mit Fokus auf die Rolle des Schweigens in dieser Szene findet sich in Zetzmann (2020b). 372 Das Geheimnis besteht in der Prophezeiung, Zeus zeuge einen Sohn, der seine Herrschaft stürzen werde. Vgl. 768. 920–924 mit Pind. I. 8,27–40. 373 Griffith (1983) 32.

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Hinweise auf den Ätna-Ausbruch im Jahr 479 oder 475 v. Chr.374 und das Prometheus-Zitat in den 414 v. Chr. aufgeführten aristophanischen Vögeln (terminus ante quem),375 andererseits interne Faktoren, wie der dramatische Aufbau,376 die Anzahl der Schauspieler,377 Fragen der Inszenierung und auch metrische Überlegungen.378 Ein weiteres Merkmal fiel Forschern jedoch zusätzlich auf: die Ähnlichkeit der Sprache mit Sophokles und Euripides, die daher ein späteres Datum als Sophokles’ ersten Auftritt in 468 nahelege.379 Dies manifestiert sich vor allem in »sophistic and rhetorical elements […] [and] the fastidious articulation of speeches […].«380 Griffith381 bemerkt in diesem Zusammenhang den strukturierten und explizit die logische Abfolge kommentierenden Aufbau der Rheseis im Prometheus und vermutet daher einen Einfluss der stärker werdenden Sophistik zu Sophokles’, aber spätestens zu Euripides’ Zeit.382 All diese Faktoren legen eine Datierung in die 440/430er Jahre nahe, sodass der Prometheus als pseudo-aischyleisch angesehen werden muss. In der Analyse dieser Szene fällt – zusätzlich zu und im Einklang mit den bereits genannten Argumenten der bisherigen Forschung – ein weiterer sprachlich-rhetorischer Aspekt auf: Im Kontext der oben besprochenen Szenen sind metapragmatische Aspekte zwar 374 Vgl. die Verse 363–372 als aition für diesen Ausbruch. Diesen terminus post quem sieht als sicher an Griffith (1983) 32.152; Bees (1993) 16–22 hält ihn für unsicher. 375 Aristoph. Av. 1547 korrespondiert etwa mit 975, s. ›Terminus ante quem‹ bei Bees (1993) 22–27. 376 Bees (2009) 28 weist auf den geringen Choranteil hin, der erst nach Aischylos so üblich wird. 377 Drei statt nur zwei und damit entweder nach Sophokles’ erstem Auftritt in 468 (Aristot. poet. 1449a14–19; Diog. Laert. 3,56 bezeugen Sophokles als Erfinder des dritten Schauspielers, sind aber umstritten) oder, ausgehend von den erhaltenen Dramen mit drei Schauspieler wie die Septem (467) oder die Choephoren (458), nach 467 zu datieren, s. Bees (1993) 29–33. 378 Zusätzlich weist Bees (2009) 37–42 auf die strukturelle Ähnlichkeit etwa mit den Troerinnen des Euripides (415 v. Chr. aufgeführt) hin. Für einen ausführlichen und kritischen Forschungsüberblick zur metrischen und strukturellen Ähnlichkeit mit Euripides, s. Bees (1993) 37–42. 50–72. 379 Griffith (1983) 33. Zuerst formulierte diese Theorie Schmid (1929); im Anschluss daran brachte eine erste stylometrische und umfassende Analyse Griffith (1981), s. besonders 1–13 für einen Forschungsüberblick. So auch Bees (1993) 70–72, der zusätzlich die Argumente für die Echtheit des Prometheus widerlegt, s.a. Bees (1993) 131f. 380 Griffith (1983) 34. 381 In seinem Kommentar (Griffith (1983) 28) auch unter Hinweis auf Griffith (1981) 207–214. 382 Griffith (1983) 28: »In Prom., each longer rhesis is carefully constructed, with brief introductory remarks […] leading into the more flowing narrative proper […], clearly marked transitions from one topic to another […], and the whole neatly capped and rounded off […]. This concern for the tidy articulation of speeches, which may owe something to developments in rhetorical prose under the influence of the Sophists, lends a rather stiff and formal air to the dialogue, peculiar to this play.«

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vorhanden, aber im pseudo-aischyleischen Prometheus ist plötzlich ein erheblicher Anstieg an metapragmatischen Aussagen zu finden.383 In Prometheus’ und Hermes’ Aufeinandertreffen lenkt der pseudo-aischyleische Autor aber die Rezeptionshaltung der Zuschauer nicht nur auf den stückimmanenten Mangel an kommunikativer Einsicht und Anpassung der Charaktere; zusätzlich – und dies war in den aischyleischen Szenen nicht festzustellen  – argumentiert Prometheus explizit mit einer externen Begründung seiner absoluten Unüberzeugbarkeit: Dem verhassten und diskreditierten Charakter des Hermes.384 Hier wird ein von markierter impoliteness geprägter Konflikt dargestellt, der von vornherein unlösbar ist, aber durch die fehlende gedankliche und kommunikative Anpassung der Charaktere dazu noch eskaliert:385 Am Ende des Prometheus stürzt der Fels, an den Prometheus geschmiedet worden war, durch ein von Zeus gesandtes Unwetter fast ein. Conacher nennt diese Szene zu Recht »[a] great quarrel scene«,386 und auf den Ringkompositionscharakter, der aufgrund der argumentativen Ähnlichkeit zwischen dem Gott Κράτος im Prolog und Hermes in der vorliegenden Szene zutage tritt, wurde häufig hingewiesen.387 Vor der zu besprechenden Szene wurde Prometheus durch Ios Erzählung und Schicksal (562–906) vollends gegen Zeus aufgebracht; neben Io selbst ist auch der Chor der Okeaniden von Zeus’ Macht verängstigt (928–934).388 Prometheus dagegen verwünscht Zeus und zeigt damit eine zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber Zeus.389 Die drohende Eskalation mit Hermes, also der Endpunkt des Stückes, wird intensiv vorbereitet.390

383 S. Kapitel 2.1.5.4 und Tabelle 1. 384 εἰδότι τοί μοι τάσδ’ ἀγγελίας ὅδ’ ἐθώϋξεν· / πάσχειν δὲ κακῶς ἐχθρὸν ὑπ’ ἐχθρῶν οὐδὲν ἀεικές (Ps.-Aischyl. Prom. 1040f.). 385 Hinzu kommt, dass das charakterliche und soziale Verhältnis dieser zwei Götter von Beginn an feindlich ist und sich jeder gerechtfertigt sieht in seinem Machtanspruch: Hermes durch seine Legitimierung als Zeus’ Bote und Prometheus aufgrund seines uralten Lebensalters. 386 Conacher (1980) 70. 387 Conacher (1980) 69; Griffith (1983) 253; Lefèvre (2003) 40–50. 388 Die Entwicklung der Okeaniden von Furcht zu Mut und Ablehnung der Macht des Zeus am Ende des Stücks beobachtet präzise Scott (1987) und begründet diese Haltungsänderung des Chores v.a. mit der Erzählung von Ios Leid. 389 186–192. 522–525. 907–928, s. Conacher (1980) 66 mit Anm. 58. 390 Direkt vor der Szene mit Hermes fallen die prophezeienden Futurausdrücke des Prometheus auf, sodass er als respektlos und stolz charakterisiert wird. Conacher (1980) 67 weist auf 910f. und 925f. hin. 929 formuliert explizit Prometheus’ Prophetieanspruch. Diese Hybris führt etwa laut Conacher (1980) 68 dazu, dass Hermes überhaupt erst auftritt.

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2.1.5.2 Argumentativer Aufbau und Sprachverhalten Die Szene lässt sich in mehrere Sinnabschnitte gliedern, die alle die Unüberzeugbarkeit des Prometheus unterstreichen:391 Zunächst äußert sich Prometheus abschätzig über Zeus und kündigt dessen Boten auf ebenso pejorative Weise an (937–943). Hermes unterstreicht in seiner Rolle als Herold die Autorität des Zeus und fordert, Prometheus solle das herrschaftsgefährdende Geheimnis verraten (944–952). Prometheus lehnt dies ab (953–963). In einer von impoliteness gekennzeichneten Stichomythie (964–986)392 wird der Konflikt weiter ausgetragen und eskaliert schließlich in einer dezidierten Ablehnung und Gegenforderung393 des Prometheus, die Fesseln zu lösen (987–996). In einem weiteren stichomythischen Dialog (997–1000) ruft Hermes Prometheus wiederholt zur Besonnenheit auf, was jedoch nur eine weitere Ablehnung des Prometheus erzeugt (1001–1006). Hermes konstatiert schließlich sein Scheitern und fügt eine ekphrastische Drohung bezüglich Prometheus’ Schicksal an (1007–1035). Auch als der Chor Hermes zustimmt (1036–1039), lehnt Prometheus eine Herausgabe des Geheimnisses immer noch ab (1040–1052). Resigniert wendet sich Hermes an den Chor und argumentiert mit der von Prometheus ausgehenden Gefahr (1054–1062) – der Chor ändert aber in diesem Moment seine Meinung und lehnt Hermes’ Warnung als nicht überzeugend ab (1063–1070). Mit diesem ungelösten Konflikt muss das Stück enden, da Zeus’ olympische Macht entgegen den Prophezeiungen des Prometheus durchaus bis zum Felsen des Titanen wirken kann und ihn zerschmettert. Auf argumentativ-inhaltlicher Ebene kann die Dynamik beobachtet werden, dass die Charaktere um die Legitimität der olympischen Götter rechten: Prometheus drückt seine Verachtung für Zeus aus (ἐμοὶ δ’ ἔλασσον Ζηνὸς ἢ μηδὲν μέλει 938) und offenbart damit seinen aktuellen emotionalen und gedanklichen Zustand, an den sich Hermes für ein Erreichen seines Redeziels anpassen müsste. Hermes geht jedoch keineswegs auf Prometheus’ Hass ein, sondern betont im Gegenteil noch die Macht des Zeus, die auch ihn legitimiert, da er als sein Herold die Anliegen des göttlichen Vaters vorzubringen hat (πατὴρ ἄνωγέ σ’ 947). Genau diesen Punkt lehnt Prometheus im Gegenzug ab, da er die ihn

391 Anders als Conacher (1980) 69 gliedere ich die Szene genauer und nehme auch noch Hermes’ Ansprache an den Chor mit hinzu (1054–1070). Die drei von Conacher vorgeschlagenen Teile (944–963 als jeweilige Schmähreden; 964–986 als Schmähdialog mit detailreicheren Beleidigungen; 987–1035 als Paar von Ultimaten) können jedoch als Orientierungshilfe gelten. 392 Etwa ablesbar an der aggressiven Unterstellung von falschen Motiven und der Umprägung der vom Gesprächspartner verwendeten Begriffe. 393 Wobei diese Forderung als Argument eingesetzt wird: Er werde der Forderung des Hermes nicht nachkommen, bevor man ihm nicht die Fesseln gelöst habe.

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zum Gehorsam auffordernden Götter als νέον νέοι (955) abwertet und damit ihren Machtanspruch verneint.394 In der Stichomythie spitzt sich der Konflikt zu:395 ΕΡ. χλιδᾶν ἔοικας τοῖς παροῦσι πράγμασιν. ΠΡ. χλιδῶ; χλιδῶντας ὧδε τοὺς ἐμοὺς ἐγὼ ἐχθροὺς ἴδοιμι· καὶ σὲ δ’ ἐν τούτοις λέγω. ΕΡ. ἦ κἀμὲ γάρ τι συμφορᾶς ἐπαιτιᾷ; ΠΡ. ἁπλῷ λόγωι τοὺς πάντας ἐχθαίρω θεούς, 975 ὅσοι παθόντες εὖ κακοῦσί μ’ ἐκδίκως. ΕΡ. κλύω σ’ ἐγὼ μεμηνότ’ οὐ σμικρὰν νόσον. ΠΡ. νοσοῖμ’ ἄν, εἰ νόσημα τοὺς ἐχθροὺς στυγεῖν. ΕΡ. εἴης φορητὸς οὐκ ἄν, εἰ πράσσοις καλῶς. ΠΡ. ὤμοι. ΕΡ. τόδε Ζεὺς τοὖπος οὐκ ἐπίσταται. 980 ΠΡ. ἀλλ’ ἐκδιδάσκει πάνθ’ ὁ γηράσκων χρόνος. ΕΡ. καὶ μὴν σύ γ’ οὔπω σωφρονεῖν ἐπίστασαι. ΠΡ. σὲ γὰρ προσηύδων οὐκ ἄν, ὄνθ’ ὑπηρέτην. ΕΡ. ἐρεῖν ἔοικας οὐδὲν ὧν χρῄζει πατήρ. ΠΡ. καὶ μὴν ὀφείλων γ’ ἂν τίνοιμ’ αὐτῷ χάριν. 985 ΕΡ. ἐκερτόμησας δῆθεν ὥστε παῖδά με. (971–986) Her. Du scheinst dich wohlzufühlen in deiner misslichen Lage. Pr. Ich fühle mich wohl? Ein solches Wohlgefühl möchte ich bei meinen Feinden sehen! Und zu diesen zähle ich auch dich! Her. Und du beschuldigst wohl auch mich wegen deines Unglücks? Pr. Kurz gesagt, ich hasse alle Götter, 975 die, obwohl ich ihnen Gutes tat, mir widerrechtlich Böses tun! Her. Ich höre, dass du nicht an einem leichten Wahnsinn leidest. Pr. Ich bin tatsächlich wahnsinnig, wenn es Wahnsinn ist, die Feinde zu hassen. Her. Du wärst unerträglich, wärest du gesund. 980 Pr. Weh mir! Her. Dieses Wort kennt Zeus nicht. Pr. Doch die voranschreitende Zeit wird ihn alles lehren. Her. Doch du weißt bis heute nicht, wie man vernünftig ist. Pr. Stimmt, denn sonst spräche ich wohl kaum mit dir, einem Lakaien. Her. Du wirst wohl tatsächlich nichts von dem sagen, was der Vater verlangt. Pr. Sollte ich ihm etwa so seine Gunst erwidern, als schulde ich ihm etwas? 985 Her. Du verspottest mich, als wäre ich ein Kind!

Hermes weist hier neben der Macht des Zeus (980. 984) immer wieder auf die fehlende Besonnenheit und Krankheit des Prometheus hin (971. 974. 977. 982). 394 Prometheus’ Punkt für Punkt widerlegende Antwort auf Hermes beobachtet Griffith (1983) 256. 395 »Then the tempo quickens as they exchange insults in stichomythia […]«, Griffith (1983) 253. Zur Asymmetrie der Stichomythie als möglicher Hinweis auf eine Korruptel s. Griffith (1983) 257.

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Dies akzeptiert Prometheus zwar, jedoch auf ironische Weise (972. 977f.)396 und so umgeformt, dass der Konflikt eskaliert (983). Freilich wirft die Weigerung des Prometheus, Hermes’ Argumente anzunehmen, gleichzeitig den Schatten seines Untergangs voraus.397 Jedoch sehen wir mit Hermes einen Charakter vorgeführt, der seine Argumentationsstrategie auch bei wiederholter hämischer Ablehnung nicht ändert398 – denn auch er will den Konflikt eigentlich nicht beilegen, sondern als Herold des Zeus seine Botschaft durchsetzen: Dadurch kann er nicht beliebig argumentieren, sondern muss und will als Zeussohn die Autorität des Göttervaters wahren. Nach Prometheus’ dezidierter Ablehnung (985–996), in der er seine Befreiung als Voraussetzung für die gewünschte Information fordert (991), ruft Hermes erneut zu Besonnenheit auf (997. 999) und konkretisiert den Anspruch: Es gehe um richtiges und falsches Verhalten (πρὸς τὰς παρούσας πημονὰς ὀρθῶς φρονεῖν 1000). Erneut beobachten wir fehlende Anpassung und das Bestehen auf dem eigenen Standpunkt und der Strategie. Dasselbe lässt sich auch von Prometheus’ kommunikativer Haltung sagen, da er allein die Möglichkeit des Nachgebens verneint (τοῦ πάντος δέω 1006). Der Konflikt zwischen jungen und alten Göttern, vermeintlicher Besonnenheit und individueller Eigenwilligkeit, Machtanspruch und Unabhängigkeit wird als unlösbar vorgeführt. Diese Konflikteskalation wird deutlich unterstützt durch die Ebene der Sprache und des Sprachverhaltens, die von markierter impoliteness durchzogen ist. Neben den bereits pejorativen Äußerungen des Prometheus über Zeus und Hermes zu Beginn der Szene (937–943), fallen die despektierliche Anrede des Hermes an Prometheus (σὲ τὸν σοφίστην, τὸν πικρῶς ὑπέρπικρον [...] ἐξαμαρτόντ’ [...] τὸν πυρὸς κλέπτην λέγω 944–946)399 sowie der Pleonasmus seiner drohenden Forderung nach Ehrlichkeit und Korrektheit (949–952) auf. Dies wird zurückgegeben in Prometheus’ beißender, herausfordernder Ironie (953f.) und einem abfälligen Gegenbefehl (σὺ δὲ / κέλευθον ἥνπερ ἦλθες ἐγκόνει πάλιν· 961f.). ­A llgemein ist bei den häufigen Beleidigungen in der Stichomythie signifikant, dass diese nicht nur bald on record geschehen (vgl. u.a. 968–973) und damit auch sprachlich keinerlei Zweifel an der Abneigung gegen ihren Adressaten lassen, sondern sich sogar noch gegenseitig bedingen, indem beleidigende Wörter und Begriffe wiederaufgegriffen und umgeprägt werden (λατρεία 966. 968. χλιδᾶν 971f.). Beide Seiten lassen den Konflikt bewusst eskalieren. 396 Conacher (1980) 71f. 397 Conacher (1980) 71f. 398 Etwa 997–999, als Hermes trotz der Ablehnung sofort das Besonnenheitsargument wieder bringt. 399 Griffith (1983) 254 spricht hier von »a peremptory and belligerent mode of address, in sharp contrast to the customary civilities of tragic dialogue (e.g. 18, 136, 589–90); cf. Soph. Aj. 1228 […]« sowie von einem »accusative σέ«, das hier prominent am Versanfang steht, um den Vorwurf zu verdeutlichen.

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Einen Sonderfall zum Zusammenhang von bald on record-Direktheit und normalerweise desto stärkerer impoliteness bildet das folgende Verspaar: ΕΡ. κλύω σ’ ἐγὼ μεμηνότ’ οὐ σμικρὰν νόσον. ΠΡ. νοσοῖμ’ ἄν, εἰ νόσημα τοὺς ἐχθροὺς στυγεῖν.

(977f.)

Her. Ich höre, dass du an keinem geringen Wahnsinn leidest. Pr. Ich bin tatsächlich wahnsinnig, wenn es Wahnsinn ist, die Feinde zu hassen.

Hier wird – statt einer bald on record-Ablehnung – negative politeness in einer scheinbaren Zustimmung (da in einem Potentialis) ironisch benutzt, um im Nachsatz umso mehr impoliteness zu erzeugen.400 Ansonsten finden sich nur Beispiele von bald on record-impoliteness, sowohl in Hermes’ von Imperativen gespickten Vorwürfen als auch in Prometheus’ Ablehnung.401 Aufschlussreich ist nun – neben Hermes’ Konstatieren seines Scheiterns (1007) – seine Erklärung und Umgang mit der persuasiven Niederlage. Er ­beschreibt Prometheus als aggressiv (βιάζῃ καὶ πρὸς ἡνίας μάχῃ 1010) und irrational (ἀτὰρ σφοδρύνῃ γ’ ἀσθενεῖ σοφίσματι 1011), sodass am Ende der Grund für Hermes’ wirkungslose Rhetorik tatsächlich bei Prometheus liege: ΕΡ. αὐθαδία γὰρ τῷ φρονοῦντι μὴ καλῶς αὐτὴ καθ’ αὑτὴν οὐδενὸς μεῖζον σθένει.

(1012f.)

Her. Denn Übermut ist dem, der nicht gut denken kann, an sich weniger nützlich als nichts.

Indem Hermes – wie bereits unzählige Male vorher formuliert – Sturheit bei Prometheus diagnostiziert,402 schiebt er die Schuld am gescheiterten kommunikativen Projekt auf seinen Adressaten und thematisiert somit gar nicht die Problematik seiner eigenen starrsinnigen Argumentation – wohl im Sinne seiner Rolle, da Hermes immer noch als Herold des Zeus agiert. Der Autor betont – was bei Aischylos nicht zu finden war – die Unüberzeugbarkeit des Adressaten, der durch keinerlei angepasste Rhetorik bewegt werden kann. Dieser Argumentation stimmt der Chor zunächst zu (1036–1039) und ­benutzt auch die Besonnenheitsargumentation an Prometheus, was dieser deutlich mit seiner prinzipiellen Feindschaft ablehnt (εἰδότι τοί μοι τάσδ’ ἀγγελίας ὅδ’ ἐθώϋξεν· / πάσχειν δὲ κακῶς ἐχθρὸν ὑπ’ ἐχθρῶν οὐδὲν ἀεικές. 1040f.). Wie um

400 »ironically polite assent« Griffith (1983) 259. 401 Hermes: καὶ μὴν σύ γ’ οὔπω σωφρονεῖν ἐπίστασαι (982). ἐκερτόμησας δῆθεν ὥστε παῖδά με (986). τόλμησον, ὦ μάταιε, τόλμησόν ποτε / πρὸς τὰς παρούσας πημονὰς ὀρθῶς φρονεῖν (999f.). Prometheus: ὀχλεῖς μάτην με (1001). τοῦ παντὸς δέω (1006b). 402 »main point: αὐθαδία without εὐβουλία is useless« Griffith (1983) 263.

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Textanalyse: Aischylos

persuasiven Erfolg doch wenigstens bei den Okeaniden sicherzustellen, wechselt Hermes den Adressaten und spricht den Chor an: ΕΡ. ἀλλ’ οὖν ὑμεῖς γ’, αἱ πημοσύναις συγκάμνουσαι ταῖς τοῦδε, τόπων μετά ποι χωρεῖτ’ ἐκ τῶνδε θοῶς, μὴ φρένας ὑμῶν ἠλιθιώσῃ βροντῆς μύκημ’ ἀτέραμνον. Her. Ihr aber, die ihr mit diesem mitleiden müsst, verlasst diesen Ort schnellstens, damit das erbarmungslose Krachen des Donners nicht euren Sinn betäubt.

1060 (1058–1062) 1060

Sein Argument ist hier, dass die Okeaniden immer noch gefährdet seien, auch wenn sie ihre früheren leidvollen Erfahrungen mit Prometheus bereits wohlbehalten überstanden hätten. Damit verwendet er eigentlich die Argumentation, mit welcher der Chor versuchte, Prometheus zum Nachgeben zu bringen: Es drohe Gefahr, wenn man nicht einlenke (ἐξαμαρτάνειν 1039). Überraschenderweise folgt hierauf eine Ablehnung des Chores, der Hermes’ Argumente als nicht überzeugend ansieht und ein anderes Argument fordert: ΧΟ. ἄλλο τι φώνει καὶ παραμυθοῦ μ’ ὅ τι καὶ πείσεις· οὐ γὰρ δήπου τοῦτό γε τλητὸν παρέσυρας ἔπος. πῶς με κελεύεις κακότητ’ ἀσκεῖν;

(1064–1066)

Cho. Sprich etwas anderes und argumentiere so, dass du auch überzeugst: Denn unerträglich ist das Wort, mit dem du mich anredest. Wie kann es sein, dass du mir schlechtes Verhalten befiehlst?

Das Argument des Chores ist nun wieder ein moralisierendes, ähnlich dem des Hermes in 1000 (πρὸς τὰς παρούσας πημονὰς ὀρθῶς φρονεῖν), nämlich dass schlechtes Verhalten (κακότητ’ 1066) untragbar sei.403 Es wird eine Relativität der Standpunkte deutlich, was genau gutes und schlechtes Verhalten bedeutet. Zuletzt bezeichnen die Okeaniden Hermes als Verräter und beschreiben dies als die eigentliche Krankheit, die oben Hermes Prometheus vorgeworfen hatte:404 ΧΟ. τοὺς προδότας γὰρ μισεῖν ἔμαθον, κοὐκ ἔστι νόσος τῆσδ’ ἥντιν’ ἀπέπτυσα μᾶλλον. Cho. Ich habe nämlich gelernt, die Verräter zu hassen, es gibt keinen Wahnsinn, den ich mehr verabscheue!

(1069f.). 1070

403 Scott (1987) 94 argumentiert überzeugend, dass diese Kritik an Prometheus’ Verhalten keine pro-olympische Haltung zeige, sondern lediglich der Versuch, nicht noch mehr Leid wie das der Io sehen zu müssen. 404 Aufgreifen von νόσος aus Vorwurf des Hermes an Prometheus in 977.

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Hermes scheitert hier in zweifacher Weise: einerseits durch die definitive Ablehnung, auch durch den Chor; andererseits lässt sich feststellen, dass der Chor nun argumentativ die Punkte des Hermes besser und sachlicher widerlegt als Prometheus mit seiner emotionalen Konflikteskalation. Jede Ablehnung eines Einwands wird begründet (›gut und schlecht sind Ansichtssache‹, ›Verrat ist die Krankheit, nicht Prinzipientreue‹). Durch Prometheus’ endgültige Ablehnung scheint sich auch der Chor gegen Hermes positioniert zu haben, tut dies aber mit mehr Abstand und auch mit mehr rhetorischem Bewusstsein (1063–1066, s.a. unten). Der Adressatenwechsel des Hermes bleibt auch ohne Erfolg, obwohl die Rolle des Chores zuerst eine vermittelnde zu sein schien (vgl. 928–936). Um eine vorläufige Schlussfolgerung aus dieser Szene zu ziehen, ist die übergeordnete Frage zu beantworten, worauf der Autor die Rezeptionshaltung der Zuschauer lenken möchte. Einerseits liegen deutliche Konflikte in der Gedankenwelt und in zentralen Auffassungen zwischen den beiden Charakteren zugrunde: Diese Inkompatibilität zeigt sich in den Spannungsfeldern ›Olympische Götter vs. Titanen‹, ›jung vs. alt‹, ›Machtanspruch vs. Eigenwilligkeit‹, ›Besonnenheit vs. Prinzipien‹ aus. Andererseits werden diese Konflikte durch das Sprachverhalten noch verschärft und dadurch unumgänglich gemacht: Drohungen, bald on record-impoliteness, nicht zuletzt in der Stichomythie, gepaart mit eskalierendem, gewolltem Missverstehen des Gesprächspartners führen zu erschwerter Verständigung statt zu einer Lösung.405 Ein deutliches Alleinstellungsmerkmal dieser Szene ist Prometheus’ externer Grund seiner Ablehnung, den er im schon zuvor diskreditierten Charakter des Hermes sieht und explizit formuliert (εἰδότι τοί μοι τάσδ’ ἀγγελίας ὅδ’ ἐθώϋξεν· / πάσχειν δὲ κακῶς ἐχθρὸν ὑπ’ ἐχθρῶν οὐδὲν ἀεικές 1040f.).

2.1.5.3 Rhetorische Adaptation Angesichts dieser eskalierenden Verwendung von Kommunikation stellt sich die Frage nach dem rhetorischen Bewusstsein der Charaktere füreinander. Tatsächlich bestätigt sich diese steigende Tendenz zur absichtlichen Eskalation auch in den expliziten Annahmen über den mentalen Zustand der Gesprächspartner. Prometheus benutzt dieses Mittel provozierend, indem er verallgemeinernde Annahmen über Hermes als Stellvertreter für alle Götter macht: ΠΡ. καὶ δοκεῖτε δὴ ναίειν ἀπενθῆ πέργαμ’ […]. Pr. Und ihr denkt, ihr könnt ohne Schaden eure Burg bewohnen?

(955f.) 955

405 Gegen Lefèvre (2003) 47, der einen »Positionentausch« im Rahmen der Szene ausmacht, gehe ich eher von einer reziproken ablehnenden Haltung aus, die sich von Anfang bis Ende nicht ändert.

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Textanalyse: Aischylos

ΠΡ. μή τί σοι δοκῶ ταρβεῖν ὑποπτήσσειν τε τοὺς νέους θεούς;

(959f.)

Pr. Ich scheine dir doch nicht etwa die jungen Götter zu fürchten oder zu scheuen?

960

Durch seine Annahme, die ›jungen‹ Götter wiegten sich in falscher Sicherheit, was die Legitimität ihrer Herrschaft angeht, unterstellt er ihnen Weltfremdheit und Gleichgültigkeit. Dieses Unterstellen von Annahmen wirkt provokativ und wird zum rhetorischen Mittel: Prometheus schätzt sein Gegenüber falsch ein, da er so auf seiner Position beharren kann. Hermes zeigt ebenso nur eine solche provozierende Einschätzung des Gesprächspartners, wenn er Prometheus in 971 ironisch unterstellt, er genieße seine schwierige Lage: ΕΡ. χλιδᾶν ἔοικας τοῖς παροῦσι πράγμασιν. ΠΡ. χλιδῶ; χλιδῶντας ὧδε τοὺς ἐμοὺς ἐγὼ ἐχθροὺς ἴδοιμι· καὶ σὲ δ’ ἐν τούτοις λέγω.

(971–973)

Her. Du scheinst mir deine aktuelle Situation noch zu genießen. Pr. Zu genießen? Ich würde gerne meine Feinde einmal auf diese Art genießen sehen! Denn auch dich zähle ich zu meinen Feinden.

Die explizite Berücksichtigung des Gesprächspartners ist in beiden Fällen eskalierend und fungiert als kognitiv-rhetorisches Mittel. Hier liegt keine affektive Sympathiebekundung vor, sondern eine absichtliche Aufwiegelung des Gesprächspartners durch Unterstellung. Deutlich liegt ein archaisches Moralprinzip mit polemischem Gegensatz zwischen Freund und Feind zugrunde.406 Dementsprechend ist keine Anpassung an den Gesprächspartner zu beobachten. Dieser Mangel an Einstellung auf den Gesprächspartner, gemeinsam mit den provokativen Einschätzungen des Anderen, plausibilisiert das Scheitern von Hermes’ Direktiv.

2.1.5.4 Metapragmatik: Häufigkeit, Gebrauch und explizite Plausibilisierung Ein auffallendes Merkmal dieser Szene ist die häufige407 Metapragmatik in der Sprache der Charaktere, und zwar besonders mit Vokabular aus dem Wortfeld ›überzeugen‹.408 Ihre Funktion ist hier vor allem eine deklarative, was je 406 Vgl. Solon fr. 13,5f. West: εἶναι δὲ γλυκὺν ὧδε φίλοις, ἐχθροῖσι δὲ πικρόν, / τοῖσι μὲν αἰδοῖον, τοῖσι δὲ δεινὸν ἰδεῖν. 407 Insgesamt: ⌀ 24% der Verse; Rhesisformen: ⌀16% der Verse; Stichomythie: ⌀ 26% der Verse. Dies ist im Vergleich zum Durchschnitt bei Aischylos (⌀ 10% der Verse) deutlich erhöht. Im gesamten Prometheus lässt sich ein Metapragmatikanteil von 19% feststellen. 408 Vgl. 3 Ausdrücke zu πείθειν (1014. 1039. 1064) vs. 1 (Aischyl. Sept. 712 und Ag. 943). S.  Verschueren (2004) 64 für eine Liste von expliziten metapragmatischen Markern, zu

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doch auffällig häufiger als in den bisher besprochenen Szenen geschieht. Der deklarative Einsatz von Metapragmatik wird zwischen Prometheus und Hermes jedoch auch zur Eskalation des Konfliktes verwendet. In den Rheseis, wie in offiziellen Reden üblich, finden sich rahmende Elemente, die Performativa enthalten.409 In der Stichomythie wird auch der Gesprächsstand festgehalten, Prometheus verneint etwa die Möglichkeit der Überzeugung (ὀχλεῖς μάτην με 1001.410 τοῦ παντὸς δέω 1006b). Daraufhin erkennt Hermes lexikalisch korrespondierend sein Scheitern selbst an (λέγων ἔοικα πολλὰ καὶ μάτην ἐρεῖν· 1007).411 Doch wird auch provozierend kommentiert412 und so die Unlösbarkeit des Konflikts in den Fokus gerückt. Während Hermes vor allem Prometheus’ widerspenstige Haltung im Gespräch feststellt (ἐρεῖν ἔοικας οὐδὲν ὧν χρῄζει πατήρ 984. ἐκερτόμησας δῆθεν ὥστε παῖδά με 986). Metapragmatik dient auch als impoliteness-Strategie. In seiner angefügten Drohung diagnostiziert Hermes erneut das Scheitern seiner Persuasion: ΕΡ. σκέψαι δ’, ἐὰν μὴ τοῖς ἐμοῖς πεισθῇς λόγοις, οἷός σε χειμὼν καὶ κακῶν τρικυμία ἔπεισ’413 ἄφυκτος· Her. Bedenke aber, wenn du meine Worte nicht befolgst, welcher Sturm und welche Welle dreifachen Übels, beide unentrinnbar, dich dann heimsuchen wird.

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denen er auch Sprechaktverben und performative Verben zählt. 409 Z.B. Hermes: σὲ τὸν σοφιστήν, τὸν πικρῶς ὑπέρπικρον, / τὸν ἐξαμαρτόντ’ εἰς θεοὺς ἐφημέροις / πορόντα τιμάς, τὸν πυρὸς κλέπτην λέγω· (944–946). Prometheus: σεμνόστομός  γε καὶ φρονήματος πλέως / ὁ μῦθός ἐστιν, ὡς θεῶν ὑπηρέτου (953f.). S.a. 1071. 410 »The sea, or a rock, is a common image for ›deaf ears‹«, Griffith (1983) 263, der Eur. Andr. 537; Lykophr. 1452 und Eur. Med. 28. 242–247 zitiert. 411 Diese Formulierung scheint formelhaften Charakter zu haben, vgl. Soph. Oid. K. 1565– 1567 πολλῶν  γὰρ  ἂν  καὶ  μάταν / πημάτων  ἱκνουμένων / πάλιν  σφε  δαίμων  δίκαιος  αὔξοι. Griffith (1983) 264 interpretiert beide Stellen so: »at great length but not to purpose.« 412 Vgl. Aischyl. Sept. 245–263: Im Austausch des Eteokles mit den argivischen Frauen geht es explizit um σιγᾶν, weniger um πείθειν; Aischyl. Ag. 930–943: Hier wird in drei Versen persuasiver Sieg thematisiert (941–943). Sowohl in Aischyl. Sept. 245–263 als auch in Aischyl. Suppl. 455–467 geht es v.a. um den kommunikativen Kontakt, der durch metapragmatische Ausdrücke betont wird. 413 ἔπεισ’ ist als Präsenform mit Futurbedeutung (ἐπιέναι) zu verstehen, vgl. LSJ s.v.

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Textanalyse: Aischylos

In der Auseinandersetzung zwischen Hermes und Prometheus fällt jedoch auch ein Sondergebrauch der Metapragmatik auf, der sich am ehesten als explikativ klassifizieren lässt: ΠΡ. εἰδότι τοί μοι τάσδ’ ἀγγελίας ὅδ’ ἐθώϋξεν·1040 πάσχειν δὲ κακῶς ἐχθρὸν ὑπ’ ἐχθρῶν οὐδὲν ἀεικές. (1040f.) Pr. Dass er mir diese Botschaft mit Gewalt aufzwingen würde, war mir völlig klar; und es war ja zu erwarten, dass man von seinem Feind feindlich und gemein behandelt wird.

Prometheus positioniert sich als längst verfeindet mit Hermes, führt einen szenenexternen Grund für seine Ablehnung an: Hermes kann gar nicht überzeugen. Der Autor expliziert mit dieser Äußerung das Scheitern intercharakterlicher Kommunikation und lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums eher auf die intercharakterliche Beziehung als die genaue rhetorische Strategie des Sprechers. Die Beobachtung der deklarativ-kommentierenden Metapragmatik setzt sich im Kommentar des Chores fort, der in einer Litotes Hermes’ Argumente414 zunächst für vernünftig befindet: ΧΟ. ἡμῖν μὲν Ἑρμῆς οὐκ ἄκαιρα415 φαίνεται λέγειν·[…] πείθου· σοφῷ γὰρ αἰσχρὸν ἐξαμαρτάνειν.

(1036–1039)

Cho. Uns scheint Hermes nicht unangemessen zu reden […] Gib doch nach: Denn für den Weisen ist eine Verfehlung eine Schande.

Damit markiert der Autor die Zwischenstellung des Chores, der hier noch zu vermitteln sucht und durch seine metapragmatische Reflexion über Hermes’ Argumentation (οὐκ ἄκαιρα 1036) Prometheus’ extreme, unvernünftige Position offenbar werden lässt. Als Hermes sich im Verlauf der eskalierenden Szene nun an den Chor wendet (1054–1062), wird dem Zuschauer – vermittelt durch metapragmatische Beurteilungen – klar, dass Hermes ein zweites Mal scheitern wird.416 Denn der 414 Denn trotz des groben Sprachverhaltens des Hermes werden seine Gewaltdrohungen großen Eindruck auf den Chor der Okeaniden machen. 415 Dieser Ausdruck erinnert an Eteokles’ ersten Auftritt in Aischylos’ Septem 1: Κάδμου πολῖται, χρὴ λέγειν τὰ καίρια […]. Dies signalisiert ebenso bewusstes Reden, also eine implizite Rhetorik. 416 Lefèvre (2003) 47 weist in anderem Kontext auf die Parallelität mit der Okeanos-Szene hin (284–396). Im Zusammenhang der Metapragmatik und der Verneinung der Möglichkeit von Persuasion fällt hier besonders 330–334 auf: ζηλῶ σ’ ὁθούνεκ’ ἐκτὸς αἰτίας κυρεῖς, /

Textanalysen

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Chor vollzieht nach Hermes’ Invektive gegen seinen Beschützer Prometheus eine Meinungsänderung und lehnt Hermes’ Anliegen auch ab. Stattdessen fordert er explizit angepasste Rhetorik, um erfolgreich zu sein: ΧΟ. ἄλλο τι φώνει καὶ παραμυθοῦ μ’ ὅ τι καὶ πείσεις· οὐ γὰρ δήπου τοῦτό γε τλητὸν παρέσυρας ἔπος. πῶς με κελεύεις κακότητ’ ἀσκεῖν;

1065 (1064–1066)

Cho. Sprich etwas anderes und argumentiere so, 1065 dass du auch überzeugst: Denn unerträglich ist das Wort, mit dem du mich anredest. Wie kann es sein, dass du mir schlechtes Verhalten befiehlst?

Mit dieser explikativen Diagnose des Chores, Hermes scheitere wegen unangemessener Rhetorik, lenkt der Autor nun den Fokus auf Hermes’ Argumente: Die Okeaniden und Hermes haben keine vorbelastete Beziehung wie Hermes und Prometheus, sodass die geäußerten Argumente wichtig sind. Der Zuschauer wird so eher angeregt, über passendere Rhetorikstrategien nachzudenken. Metapragmatik wird in dieser Szene v.a. deklarativ-provozierend, aber auch zweimal explikativ verwendet: Prometheus führt passende Rhetorik ad absurdum, während der Chor genau diese von Hermes einfordert. Ähnlich wie in der Heroldszene der Hiketiden ist hier ein ausgewogener Gebrauch der Metapragmatik417 zu verzeichnen, in dem sich einerseits der formelle Charakter der Heroldszene, andererseits aber der gleichwertige soziale Rang der Charaktere widerspiegelt: Hermes und Prometheus sehen sich als gleichgestellt an und verlegen daher beide ihre Sprache auf die Metaebene, um die Beziehungsebene, nicht den Inhalt, zu verhandeln. Hierbei kommentiert Hermes vor allem Prometheus’ Sprachverhalten auf provokante Weise (984. 986. 1007. 1014), Prometheus lehnt v.a. ab (1001. 1006. 1014). Dem Chor kann aber trotz vergleichbarer Rolle ein höherer metapragmatischer Anteil als in der korrespondierenden Szene in den Hiketiden zugeschrieben werden, was ungewöhnlich scheint.418 Die außergewöhnliche Anzahl an metapragmatischen Äußerungen kann schließlich auch als ein zusätzliches Argument verwendet werden, den Prometheus ins letzte Drittel des 5. Jahrhunderts vor Christus zu datieren und damit

πάντων μετασχὼν καὶ τετολμηκὼς ἐμοί. / καὶ νῦν ἔασον μηδέ σοι μελησάτω. / πάντως γὰρ οὐ πείσεις νιν· οὐ γὰρ εὐπιθής. / πάπταινε δ’ αὐτὸς μή τι πημανθῇς ὁδῷ. 417 Hermes 16 vs. Prometheus 14 Aussagen. Aber auch insgesamt tauchen metapragmatische Aussagen deutlich häufiger in dieser Szene als in der Heroldszene der Hiketiden auf Diese Beobachtung deckt sich auch mit dem gesamten Metapragmatikanteil in beiden Stücken: Prometheus 19%, Hiketiden 10%. 418 5 Ausdrücke vs. 0 in Supplices 882–965 (14,3% vs. 0%). S. Tabelle 1 für die ebenfalls geringe metapragmatische Beteiligung des Chores bei Sophokles und Euripides (max. entfallen 15% der Aussagen in Soph. Ant. 631–780 auf den Chor).

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Textanalyse: Aischylos

die Annahme der Unechtheit des Prometheus aus sprachlichen Überlegungen heraus zu unterstützen.419

2.1.4.5 ἦθος des Sprechers und Autoritätskonflikte Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass Prometheus in dieser Szene bereits an den Felsen geschmiedet ist (1–127) und somit eigentlich ein Machtgefälle zwischen ihm und dem höhergestellten Zeusgesandten Hermes zu verzeichnen sein müsste. Prometheus setzt sich aber radikal über dieses Gefälle hinweg und Hermes lässt sich ebenso wenig in seiner Autorität bedrängen: Als Prometheus zu Beginn des Gesprächs Zeus und Hermes geringschätzt (942f.), reagiert Hermes ebenso despektierlich (944–946). Indem Hermes mit Gewalt droht, obwohl er Prometheus mit Worten zur Herausgabe des Geheimnisses bringen soll, wird Prometheus’ Unnachgiebigkeit umso tragischer und dilemmatischer gezeichnet. Auf diese Problematik lenkt der Autor die Aufmerksamkeit, wenn er die Charaktere einen sprachlichen und metasprachlichen Machtkampf austragen lässt, den Hermes verliert. Den zugrundeliegenden Autoritätskonflikt veranschaulicht der Autor mit der argumentativ-dispositiven Unvereinbarkeit der Charaktere.

2.1.4.6 Zusammenfassung In Anbetracht von Hermes’ erfolgloser Rhetorik lenkt der Autor den Blick auf die allgemeine kommunikative Inkongruenz zwischen den Charakteren: Diametral verschiedene Auffassungen und Argumente, der Unwille, sein Bewusstsein für den Gesprächspartner anders als eskalierend einzusetzen, sowie markierte impoliteness im Sprachverhalten erzeugen ein stimmiges Bild. Dabei fallen die vielen metapragmatischen Ausdrücke zum Stand des Gesprächs und zum Thema ›Überzeugen‹ auf, die persuasives und rhetorisches Bewusstsein implizieren und das Stück daher in das letzte Drittel des 5. Jahrhunderts verweisen. Jedoch kommt in dieser Passage ein neuer Gesichtspunkt hinzu, der diese Szene deutlich von den bisher analysierten unterscheidet: Die explizite metapragmatische Begründung für das Ablehnen eines Redeziels mit dem Charakter des Sprechers,420 also einem redeexternen Aspekt, ist bei Aischylos nicht zu finden. 419 Vgl. Tabelle 1. 420 εἰδότι τοί μοι τάσδ’ ἀγγελίας ὅδ’ ἐθώϋξεν· / πάσχειν δὲ κακῶς ἐχθρὸν ὑπ’ ἐχθρῶν οὐδὲν ἀεικές (1040f.). Bei dieser Formulierung fällt die Parallele zu Aussagen zum ἦθος des Sprechers in sophokleischen und euripideischen Agonen ähnlicher Konstellation auf: κάκιστος ὤν (Eur. Hipp. 944). σωφρονέστερος γεγώς (Eur. Hipp. 955); ἔχθιστος γεγώς wird sowohl von Medea über Jason (Eur. Med. 467) als auch von Philoktet über Neoptolemos (Soph. Phil. 1284) in einer scheiternden Redeszene gesagt. In allen drei Szenen stellt das ἦθος des zu überzeugen suchenden Charakters das Hauptkriterium für die Ablehnung dar. Die Parallelität in

Zwischenfazit

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2.2 Zwischenfazit 2.2.1 Rhetorische Adaptation Die bisherige Analyse zeigt, dass Aischylos scheiternde Rhetorik vor allem durch redeinterne Merkmale vorführt: Redner scheitern an der Einschätzung der situativen Gedankenwelt ihres Gesprächspartners und berücksichtigen diesen in ihren Argumentationen kaum. Aischylos führt eine charakterliche und kognitive Diskrepanz vor. Sie wird je nach Konfliktsituation, d.h. nach Sprechakt, entweder als zielgerichtet oder als versehentlich dargestellt: Pelasgos und der Herold sowie Prometheus und Hermes weigern sich jeweils schlicht; Eteokles ist zuerst absichtlich unkooperativ, passt sich aber dann an; der Chor in den Septem ist zwar sehr höflich, besitzt aber nicht die Ausdrucksweise, um sich anzupassen; Klytaimestra passt sich zwar an, tut es aber aus manipulativen Gründen. Diese Unfähigkeit, sich aufeinander zu beziehen, wirkt dabei aber keineswegs schematisch oder befremdlich;421 denn diese Grundkonstante der unpassenden Argumentation wurde z.T. zusätzlich plausibilisiert: In den Septem 182–286, in den Hiketiden 911–965 und im pseudo-aischyleischen Prometheus kommt impoliteness als starker Faktor hinzu. In den Septem 677–719 und im Agamemnon 810–974 standen neben argumentativer Unangepasstheit Elemente des sozialen Status, und bei Klytaimestra auch over-politeness im Vordergrund. Der unpassende Charakter der redeinternen Argumente wird im aischyleischen Agamemnon (Aischyl. Ag. 917–920) sowie in den Septem (Aischyl. Sept. 717) auch explizit mit dem Wortfeld καιρός kommentiert und an anderer Stelle wird die Notwendigkeit angepasster Argumentation explizit postuliert.422 Aischylos leitet sein Publikum zur Beurteilung rhetorischer Adaptation an, die er konsequent als unzureichend darstellt. Rhetorischer Erfolg und Misserfolg seiner Figuren erfahren eine szenenimmanente und rhetorikbasierte Erklärung.423 Dagegen kann im pseudo-aischyleischen Prometheus eine deutliche Ähnlichkeit zu späteren Stücken wie Euripides’ Medea oder Sophokles’ Philoktet gesehen der genauen Formulierung hat wohl metrische Gründe, trotzdem fällt die Wortwahl auf. Da wir den Hippolytos als ältestes Stück (Eur. Hipp. 436–433) annehmen müssen, dann Medea (Eur. Med. 431) und als jüngstes Stück Philoktet (Soph. Phil. 409), könnte – bei aller Berücksichtigung der bruchstückhaften Überlieferungslage – von einem Selbstzitat des Euripides und schließlich einer formelhaften Übernahme der Wendung durch Sophokles ausgegangen werden. S. Kapitel 3.1.1.4, 3.1.2.4, 3.1.3.4 und 3.1.4.4. 421 Easterling (1973) 15 legt zu Recht viel Wert auf die Nachvollziehbarkeit der aischyleischen Charaktere, die eben nicht nur durch dramatische Notwendigkeit zu erklären seien. 422 Vgl. die metapragmatischen Aussagen des Eteokles λέγειν τὰ καίρια (Aischyl. Sept. 1) und der Klytaimestra πολλῶν πάροιθεν καιρίως εἰρημένων / τἀναντί’ εἰπεῖν οὐκ ἐπαισχυνθήσομαι· (Aischyl. Ag. 1372). 423 Vgl. Aischyl. Ag. 916. 918f.: Agamemnon lehnt Klytaimestras Anfrage aufgrund ihrer rhetorischen und argumentativen Strategien ab, nicht aufgrund ihres Charakters.

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Textanalyse: Aischylos

werden: Dort wird explizit mit szenenexternen Charakteraspekten argumentiert,424 die Rhetorik irrelevant erscheinen lassen.425

2.2.2 Theory of Mind bei Aischylos? Wie oben gezeigt, illustriert Aischylos das Scheitern kommunikativer Projekte, indem er eine mangelnde argumentative Anpassung an den Gesprächspartner modelliert. Ist eine potentielle Diagnose von Theory of Mind-Fähigkeiten, also die Fähigkeiten der Perspektivübernahme und des Bewusstseins über den mentalen Zustand anderer Charaktere, bei aischyleischen Charakteren angedacht, muss auf zwei Ebenen argumentiert werden. Erstens ist auf der rhetorisch nachvollziehbaren Ebene festzustellen, dass aischyleische Charaktere ihre Theory of Mind selten tatsächlich einsetzen.426 Zweitens aber ist es zielführend, explizite Kommentare eines Charakters zu suchen, die uns ein korrektes mentalising verraten, dessen praktische rhetorische Anwendung aber ausbleibt. Explizit greifbar sind solche Hinweise in folgenden Szenen: In den Septem (Aischyl. Sept. 182–286) stellt Eteokles die Angst der Frauen explizit fest (Aischyl. Sept. 190), passt sich aber erst nach Bemerkungen zu seinem eigenen Schicksal an (Aischyl. Sept. 235. 257). In den Hiketiden (Aischyl. Suppl. 911–965) zeigt Pelasgos in einer rhetorischen Frage ironisches Interesse am Gedankengang des Herolds (οὗτος, τί ποιεῖς; ἐκ ποίου φρονήματος / ἀνδρῶν Πελασγῶν τήνδ’ ἀτιμάζεις χθόνα; Aischyl. Suppl. 911f.). Natürlich ist Pelasgos völlig klar, was seinen Gesprächspartner antreibt; durch diese ironische Frage und seine unkooperative Argumentation zeigt er aber eine bewusste Missachtung der Erkenntisse aufgrund seiner Theory of Mind. Im pseudo-aischyleischen Prometheus (Ps.-Aischyl. Prom. 937–1079), dessen betrachtete Szene deutlich nach der Heroldszene der Hiketiden modelliert ist, machen Prometheus und Hermes ironisch-eskalierende Annahmen über den jeweils anderen (Ps.-Aischyl. Prom. 955f. 959f. 971–973) und beweisen damit auch den bewusst unkooperativen Einsatz ihrer Theory of Mind: Natürlich sind ihnen die wahren Ansichten des anderen bekannt. Die parallele Darstellung zur Heroldszene ist ersichtlich.427 424 Vgl. Anm. 420. 425 Die Erklärung des Scheiterns mit szenenexternen Charakteraspekten könnte also als weiteres Argument für eine Spätdatierung und Unechtheit des Prometheus gelten. 426 Klytaimestra in Agamemnon 810–974 stellte eine Ausnahme dar, da sie Orests Abwesenheit vorwegnimmt (Aischyl. Ag. 877) und Priamos erfolgreich als ›wunden Punkt‹ des Agamemnon erkennt (τί δ’ ἂν δοκεῖ σοι Πρίαμος, εἰ τάδ’ ἤνυσεν; Aischyl. Ag. 935). Auch den Danaiden kann freilich eine Theory of Mind zugeschrieben werden, da sie ihren Gesprächspartner überzeugen können. 427 Zu beachten bleibt, dass der Prometheus auch aufgrund zahlreicher Kriterien jedoch als pseudo-aischyleisch charakterisiert werden muss: Es scheint also, als wäre die Szene Ps.-

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Einmal beobachten wir ein falsches mentalising: In den Septem (Aischyl. Sept. 677–719) unterstellt der Chor der thebanischen Frauen (der selbst sehr emotional auftritt) Eteokles ὀργή (Aischyl. Sept. 678) und verfehlt damit genau den Punkt von Eteokles’ Motivation. Denn für diesen präsentiert sich die Lage eindeutig als kalkulierbare Folge der ἀραί (Aischyl. Sept. 655) seines Vaters, denen nicht zu entkommen sei. Dies könnte man als versuchte Anwendung einer affektiven Theory of Mind beschreiben, die aber scheitert.428 Wann immer Theory of Mind in den besprochenen aischyleischen Szenen auftritt, erweist sie sich mehr als kognitiv-rhetorisch (vgl. Klytaimestra, Hermes) denn als rein affektiv, mit Ausnahme des Chores an Eteokles in den Septem.429 Somit kann allen hier besprochenen aischyeischen Charakteren – dem SeptemChor mit Einschränkungen – eine Theory of Mind zugeschrieben werden. Die Charaktere betreiben mentalising, zuletzt findet aber kein rhetorischer oder gar kooperativer Einsatz dieser Erkenntnis statt. Zum Teil wird diese Erkenntnis absichtlich eskalierend oder manipulativ eingesetzt, was einen sehr komplexen Einsatz von Theory of Mind nahelegt.430 Bei Aischylos ist ein unüberbrückbarer psychologischer Abstand zwischen den Charakteren festzustellen, die nicht zueinander durchdringen können bzw. wollen.431

2.2.3 Sprachverhalten und politeness Im Sprachverhalten der Charaktere zeigt sich aufgrund der Diversität der Szenen wenig Konsistenz: Auf keinen Fall kann markierte politeness als Prädikator für erfolgreiche Sprechakte gelten. Festzuhalten ist jedoch, dass markierte impoliteness stets als Instrument der Eskalation verwendet wird (Eteokles, Herold/Pelasgos, Hermes/Prometheus). Over-politeness lässt Klytaimestra suspekt wirken und wird von ihrem Gesprächspartner kritisiert. Auffällig ist, dass im stichomythischen Kontext eine progressive Veränderung von negativer (d.h. inAischyl. Prom. 937–1079 entweder eine Imitation der Verse Aischyl. Suppl. 911–965 oder der gleiche übliche Szenentyp. 428 Dies könnte mit der potentielle Zuschauerreaktionen suggerierenden, aber eben nicht vorschreibenden Rolle des Chores zusammenhängen, der immer weniger als der Zuschauer weiß. Vgl. hierzu die Probleme des Chores in Aischylos’ Agamemnon, Kassandras geistige Prozesse nachzuvollziehen, s. Budelmann & Easterling (2010) 296–298. 429 Dieses Ergebnis könnte mit einer bewussten weniger facettenreichen Zeichnung des Chores durch Aischylos erklärt werden. 430 Diese Möglichkeit bedenkt Scodel (2017) 41 in ihrer Untersuchung von Theory of Mind in den Tragödien nicht, sondern schreibt den Figuren Unfähigkeit zum mentalising zu. 431 Diese Erkenntnis deckt sich mit der Beobachtung von Jones (1962) 114–118, der die unverrückbaren traditionellen sozialen Rollen und daraus resultierende Isolation aischyleischer Charaktere feststellt. S.a. Knox (1966) 213: »Aeschylean drama is linear; its principal figures, their decision once made, pursue their chosen course to the bitter end.«

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direkter) politeness (Aischyl. Sept. 260. 712; Ag. 941) zu direkten bald on recordAussagen zu beobachten ist (Aischyl. Sept. 262. 714; Ag. 943): Dies kann nicht als impoliteness gelten, sondern ist hier vielmehr Ausdruck steigender kommunikativer Ökonomie,432 die typisch für die Stichomythie zu sein scheint. Der klassische Ansatz von Brown & Levinson hat sich auch anhand des aischyleischen Materials als zu starr erwiesen.433

2.2.4 Metapragmatik: Häufigkeit, Gebrauch und explizite Plausibilisierung Während bei Aischylos metapragmatische Ausdrücke in jeder analysierten persuasiven Szene festzustellen sind,434 fallen doch deutliche Unterschiede auf: In den Szenen der Septem, der Hiketiden und des Agamemnon ist ein recht stabiler435 Anteil an solchen Aussagen zu finden. Je formeller und öffentlicher eine Redesituation ist, desto mehr steigt der Anteil an metapragmatischen Ausdrücken. In zwei Szenen (Eteokles’ Paränese an die Frauen, der ägyptische Herold an Pelasgos) ist der höchste Anteil an diesen Ausdrücken im authentischen Werk des Aischylos zu bemerken: Dies ist vermutlich mit dem formalen und offiziellen Rahmen der Szenen zu erklären, der einen hohen Grad an deklarativem Reden verlangt. Gleichzeitig wird hierdurch hohes kommunikatives Bewusstsein der öffentlich agierenden Charaktere vermittelt. Somit kann in den üblichen Redesituationen des Aischylos von einer Existenz von Metapragmatik, jedoch nicht von einer Prävalenz gesprochen werden. Im pseudo-aischyleischen Prometheus steigt die Anzahl der Ausdrücke jedoch deutlich an436 und metapragmatische Diagnosen werden v.a. zur Eskalation verwendet. Das höhere kommunikative Bewusstsein korrespondiert mit der zur Abfassungszeit des Prometheus üblicher gewordenen Praxis technisierter Rhetorik. Metapragmatik dient bei Aischylos v.a. der kurzen deklarativen Zusammenfassung des Gesprächsstandes (zumeist des rhetorischen Scheiterns) und einer strukturierenden und verdichtenden Darstellung des Gesprächs. Z.T. wird Metapragmatik als impoliteness-Strategie zur Eskalation des Gespräches verwendet. Ihre adaptive, d.h. die Argumentation unterstützende Verwendung ist nicht zu beobachten. Das Wechseln auf die Metaebene des Dialogs scheint in einigen 432 Die politeness-Aussagen dürfen daher als pre-expansion zu den bald on record-Formulierungen gelten. 433 So auch Watts (2003) 8; Locher (2006) 252. 434 Damit kann die Arbeit von Gondos (1996) um ein breites Corpus an metapragmatischen Aussagen bei Aischylos erweitert werden, vgl. Tabelle 1 und das Stellenverzeichnis in Kapitel. 8.3. 435 Zwischen durchschnittlich 9% (Aischyl. Sept. 677–719) und 16% (Suppl. 882–965) der Verse weisen metapragmatische Ausdrücke auf. 436 Ø 24% der Verse mit metapragmatischen Ausdrücken.

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Fälle auch eine soziale und rangverhandelnde Funktion zu erfüllen: Das Überwinden der Inhaltsebene hat das Ringen um kommunikative Macht zur Folge und darf in der Tragödie auch als Repräsentation der reellen Macht gelten. Dem Chor als drittem Gesprächspartner kommen etwa generell weniger metapragmatische Aussagen zu,437 was wohl in seiner dramatisch wenig markierten und sozial niedrig gestellten Rolle begründet liegt. Sind Charaktere auf dem gleichen sozialen Rang, oder wollen sie dies signalisieren, weisen sie eine ausgewogene Anzahl an Metadirektiven auf (Herold – Pelasgos, Klytaimestra – Agamemnon). Mit Metapragmatik lenkt Aischylos den Blick des Zuschauers nur selten explizit auf die rhetorische Beurteilung durch die Figuren selbst: Lediglich zweimal kritisieren Charaktere redeinterne Aspekte der Rede ihres Gesprächspartners als argumentativ oder sprachlich unangemessen.438 Rückschlüsse auf rhetorische Unzulänglichkeiten und Ablehnungsgründe muss das Publikum hauptsächlich aus den implizit in der Szene selbst vergebenen Informationen schließen. Durch die deklarative Funktion der aischyleischen Metapragmatik wird der Stand des Gespräches verdeutlicht, die Interpretationsaufgabe aber zumeist dem Publikum überlassen. Somit kann zum Reflexionsniveau des Autors Aischylos selbst gesagt werden, dass er mit dem rhetorischen Potential des Publikums spielt: Er lässt die Figuren in den persuasiven Szenen selbst wenig zu Wort kommen, was den Diskurs um gute oder schlechte Rhetorik angeht.439 Das konstruierte Scheitern aufgrund mangelnder Rezipientenanpassung zeugt aber von seiner eigenen kommunikativen Kompetenz.440 Wie sein Gebrauch der Metapragmatik zeigt, verwendet Aischylos Sprache reflektiert und als Symbol für soziale Macht, sodass rhetorisch-kommunikative Prozesse und damit auch reelle soziale Beziehungen der Charaktere vom Zuschauer aktiv mitverfolgt und konstruiert werden müssen.

437 Dies ändert sich in der Agonstruktur bei Sophokles und Euripides, s. Tabelle 1. 438 οὐκ ἄνδρ’ ὁπλίτην τοῦτο χρὴ στέργειν ἔπος (Aischyl. Sept. 717). μάκραν γὰρ ἐξέτεινας (Aischyl. Ag. 916). καὶ τἄλλα μὴ γυναικὸς ἐν τρόποις ἐμὲ / ἅβρυνε […] (Aischyl. Ag. 918f.). 439 Die vielen Redestandards in den Hiketiden sind ungewöhnlich bei Aischylos, aber freilich dem Themenkomplex ›Hikesie‹ geschuldet, für die mündlich argumentiert werden musste. 440 Dies bezeugen die nicht zu vernachlässigenden Redestandards passim im aischyleischen Werk: Beispielsweise in den Hiketiden (Αischyl. Suppl. 194–204. 247–275) oder z.B. die Aussagen λέγειν τὰ καίρια (Aischyl. Sept. 1) bzw. πολλῶν πάροιθεν καιρίως εἰρημένων / τἀναντί’ εἰπεῖν οὐκ ἐπαισχυνθήσομαι· (Aischyl. Ag. 1372f.). Eine Übersicht der metapragmatischen Aussagen im Allgemeinen bietet Tabelle 1.

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Textanalyse: Aischylos

2.2.5 ἦθος des Sprechers und Autoritätsverhältnis der Gesprächspartner Wie deutlich geworden ist, spielen szenenübergreifend konstante Charakteraspekte kaum eine Rolle bei Aischylos, da jede Ablehnung mit redeinternen Merkmalen zu begründen war. Die vorangegangene negative Charakterisierung des ägyptischen Herolds als ›barbarisch‹ in den Hiketiden beeinflusst zwar unleugbar das Ergebnis der Unterhaltung, wird aber nicht als zentral thematisiert: Vielmehr ist es die tatsächliche Realisierung dieser Vorannahme des Pelasgos, die sich in der Rede des Herolds manifestiert. Seine Rede an sich disqualifiziert seine Bemühungen, nicht nur sein szenenübergreifendes, von Pelasgos subjektiv eingeschätztes ἦθος.441 Dagegen stecken Autoritätsverhältnisse die Grenzen von Rhetorik und Kommunikation grundlegend ab: Starke Rangunterschiede (Chor – Eteokles, Aischyl. Sept. 677–719) – gemeinsam mit stark differierenden Ansichten – bedingen ohne Zweifel scheiternde Rhetorik. Viel mehr rhetorisches und dramatisches Potential wurde aber aus der Konterkarierung dieser frappanten Rangunterschiede (Eteokles – Chor, Aischyl. Sept. 182–286) oder aus der problematischen Ranggleichheit von Charakteren (Aischyl. Suppl. 882–965. Ag. 810–974. Ps.-Aischyl. Prom. 937–1079) gezogen. Hieraus können auch Schlüsse über die Verwendung und das Beherrschen von Rhetorik durch verschiedene soziale Ränge gezogen werden: Herolden steht aufgrund ihrer Weisungsgebundenheit und Frauen aufgrund ihrer Zuordnung ins Private generell weniger argumentativer Freiraum zu; wollen weibliche Charaktere ihr Ziel erreichen, müssen sie manipulieren. Dem Chor kann nie ein persuasiver Erfolg gelingen.442 Aischylos begründet somit seine scheiternden Redeszenen nie ausschließlich mit konträren Autoritätsaspekten oder weist gar explizit auf diese hin; vielmehr stellt er diese als grundlegend für das Potential von Sprache dar und führt praktisch vor, welche intercharakterlichen Probleme in Bezug auf Argumente und Sprachverhalten sich ergeben, wenn die abgesteckten Autoritätsverhältnisse überschritten werden oder neu um sie gerungen werden muss.

441 In der analogen Szene aus Ps.-Aischyl. Prom. 937–1079 wird etwa im Vergleich explizit der Charakter als Grund der Ablehnung benannt. Dies können wir bei Aischylos nicht ­beobachten, vielmehr wird durch den metapragmatischen Fokus auf das Wortfeld ›λέγειν‹ der Fokus auf die Rede des Herolds an sich gelegt, vgl. Aischyl. Suppl. 910. 928. 930–932. 442 Nicht einmal im Rahmen der Hikesie in Aischylos’ Hiketiden kann der Chor ohne Drohung seine Redeziel erreichen.

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2.2.6 Vorläufiges Scheitern Teil unserer Analysen waren auch zwei Szenen mit einem vorläufigen Scheitern, das dann zum Erfolg führte, Eteokles in den Septem und Klytaimestra im Agamemnon. Ein Vergleich der beiden Szenen wirft bemerkenswerte Parallelen auf: Beide Charaktere ändern ihre Argumentation nicht völlig, indem sie etwa gänzlich neue Argumente erfinden, und verändern auch keineswegs ihre Proposition, sondern versuchen lediglich, ihre Argumente mit den Ablehnungsargumenten ihres Gesprächspartners zu kombinieren oder deren Vereinbarkeit zu demonstrieren. Eteokles gesteht den Frauen explizit443 das Verehren der Götter zu (Aischyl. Sept. 236f.),444 formuliert sein Anliegen genauer, nämlich dass es ihm um die Stille gehe und nicht um das vermeintlich unerlaubte Verehren der Götter. Hiermit arbeitet er die Gemeinsamkeiten in ihrer beider Fragestellung heraus, nämlich dass die Götter zu verehren seien. In seiner späteren Anpassung seines Tons (Aischyl. Sept. 260) kommt ihm dies zugute. Klytaimestras Reaktion auf Agamemnons Ablehnung gestaltet sich ähnlich: Auch ihre Proposition ändert sich nicht, aber auf argumentativer Ebene beobachten wir eine Annäherung. Einerseits geschieht dies durch ihre hypothetische Annäherung in Aischyl. Ag. 933 und 935, worauf Agamemnon antwortet, dass er selbst auf Befehl der Götter und Priamos ohnehin seinen Fuß auf die Gewänder setzen würde. Damit findet eine gedankliche und sprachliche Synchronisation der Figuren statt, da sich Agamemnon plötzlich das gewünschte Verhalten bei göttlicher Lenkung und bei Priamos, seinem Feind, vorstellen kann. Hiermit gelingt es Klytaimestra, das Problem ihrer angeblichen Hybris zu beheben. In Aischyl. Ag. 937 hebelt Klytaimestra Agamemnons Bedenken zur menschlichen Missgunst aus und fügt hinzu, dass Neid nur ein Zeichen für Bewunderung sei (Aischyl. Ag. 939). Über die hypothetische Frage zum göttlichen Beistand und zu Priamos’ Verhalten und der Aushebelung des Arguments des menschlichen Neids (›Sieger dürfen sich alles erlauben‹) greift Klytaimestra – zumindest oberflächlich – alle Argumente des Agamemnon von oben auf und widerlegt diese. Bemerkenswert ist nun, dass der Ton von Eteokles und Klytaimestra sich unterscheidet: Während Eteokles seinen harschen Ton anpasst und politeness-Strategien anwendet, zeigt Klytaimestra zunächst over-politeness und benutzt pleonastische Ausdrücke hierfür, wird dafür später direkter. Beide benutzen jedoch metapragmatische Ausdrücke in der Stichomythie und mildern ihre Anfragen durch indirekte Formulierungen deutlich ab (Aischyl. Sept. 260. Ag. 941), bevor sie sich direkt äußern (Aischyl. Sept. 262. Ag. 943): Auf dem Weg zur Persuasion in der Stichomythie werden ähnliche politeness-Strategien als pre-expansion verwendet, was als aktive Bemühung um und Anpassung an den Gesprächspartner gelten darf. 443 »οὔτοι in tragedy generally indicates that the contrary obtains to a marked degree« Hutchinson (1985) 83. 444 Winnington-Ingram (1983) 127.

3. Textanalyse: Auktoriale Rezeptionslenkung im Hinblick auf Rhetorik und Kommunikation in Sophokles’ und Euripides’ Werk445

3.1 Textanalysen In Sophokles’ und Euripides’ Tragödien kommen unter anderem auch scheiternde Redeszenen vor, in denen sich ein anderes Bild als in den oben besprochenen Szenen in Aischylos bietet.446 Grundsätzlich ist in den exemplarisch besprochenen, zumeist als Agon447 bezeichneten Szenen die gleiche Ausgangssituation wie bei Aischylos’ Szenen zu beobachten: Zwei Charaktere treffen aufeinander, deren Dispositionen und Gedankenwelten nicht übereinstimmen. Bei Aischylos werden diese potentiellen Konflikte jedoch ausgetragen und es wird durch kommunikative bzw. anderweitige Anpassung meist doch eine Lösung gefunden (Septem, Hiketiden, Agamemnon); unwiderrufliche Eskalation trotz bzw. durch Rhetorik und Kommunikation, also Sprache als Gewalt, können wir in der Heroldszene der Hiketiden sowie im pseudo-aischyleischen Prometheus beobachten.448 Dieser eskalierende Charakter ist auch in den hier besprochenen Szenen von Sophokles und Euripides zu beobachten, sodass in der Forschung bisher immer geschlussfolgert wurde, Agone intendierten keinen Sieger und seien rein zur Darstellung einer performance gedacht.449 Brechen wir aber die starre Agonstruktur auf, können wir nicht nur persuasive Ziele definieren und damit die Kommunikationshaltung der einzelnen Figuren besser würdigen, sondern können auch dezidierte Unterschiede zu Aischylos’ vergleichbaren Szenen feststellen: Die Autoren Sophokles und Euripides lenken den Blick des Rezipienten nicht vorrangig auf unpassende Argumentatio 445 Der sophokleische und euripideische Text folgt, soweit nicht anders angegeben, den Textausgaben von Lloyd-Jones & Wilson (1990) und Diggle (1981–1994). 446 Freilich gibt es in Sophokles und Euripides noch mehr scheiternde Rhetorikszenen. Diejenigen, die aber hier besprochen werden, sind besonders frappierend aufgrund ihrer Verschiedenheit zu dem, was bei Aischylos üblich ist. 447 Hierzu grundlegend Dubischar (2001); Lloyd (1992). 448 Hiketiden: späte 460er; Ps.-Aischyl. Prom.: 440/430er. 449 »The debate is not designed to depict one party swaying the other through argument, but to show how the speakers on the two sides lack the basis for mutual understanding and talk right past each other.« Mastronarde (2009) 247. »Commentators have pointed out how often persuasion is ineffective; in particular, speakers in formal agones do not convince each other, and indeed frequently deepen their disagreement.« Scodel (1999b) 130.

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nen und redeimmanente Aspekte wie Aischylos, sondern vor allem auf andere, externe Faktoren wie etwa den allgemein diskreditierten Charakter des Sprechers. Generell zeigen die überzeugen wollenden Charaktere z.T. hier eine viel zielführendere Verwendung und bessere Einschätzung ihres Gesprächspartners und zudem steigt die Zahl der expliziten metapragmatischen Aussagen erheblich.450 Frappierend ist die Wirkung dieser Explizitheit angesichts des doch stets scheiternden persuasiven Projektes: Durch die erhöhte Rhetorisierung wird das Scheitern noch geradezu betont und der Blick wird explizit auf Charakteraspekte, nicht rein rhetorische Aspekte gelenkt. Damit wird scheiternde Rhetorik als dramatisches Element benutzt und auch der Zuschauer zu einer allgemeinen Reflexion über Gelingen, Scheitern und Macht von Überzeugung und Kommunikation angehalten.

3.1.1 Sophokles, Antigone 631–780 3.1.1.1 Einleitung und Hintergrund In seiner Antigone451 – aufgeführt wohl 440 v. Chr.452 – führt Sophokles unter anderem die Tragik der Kreon-Figur vor, der trotz guter Argumente von verschiedenen Seiten weder sein Bestattungsverbot (163–331) noch sein Edikt zur Bestrafung Antigones zurückruft und den Fehler dieses Tuns erst zu spät bemerkt. Nachdem Antigone als Täterin, nämlich als widerrechtliche Bestatterin ihres Bruders Polyneikes, überführt wurde, spricht Kreon im zweiten Epeisodion (384–581) ein Todesurteil für Antigone und ihre Schwester Ismene aus. Im darauffolgenden zweiten Stasimon (582–630) besingt der Chor bedeutungsvoll das Leid des thebanischen Königshauses453 und kündigt Haimons Auftritt an. Es scheint nun, als könne niemand Kreons Beschluss rückgängig machen,454 und so lässt Sophokles sein Publikum rätseln, wie die Charaktere mit diesem Urteil umgehen. Mit Haimons Auftritt im dritten Epeisodion (631–780) führt Sophokles einen Charakter ein, der rhetorisch ganz anders als die bisher bei Aischylos und Pseudo-Aischylos beobachteten agiert: Haimon formuliert zunächst deutlich 450 Dies ist vermutlich, wie im pseudo-aischyleischen Prometheus, durch die erhöhte Verbreitung rhetorischer Lehrwerke und rhetorischen Unterrichts zu erklären. Keinen rhetorischen Unterricht bzw. keine rhetorische (wenn auch passive) Praxis des Aischylos anzunehmen, erscheint mir unwahrscheinlich (vgl. Aischyl. Sept. 1. Ag. 1372). 451 Die Antigone ist Sophokles’ drittes erhaltenes Stück; früher zu datieren sind nur Trachinierinnen (vor 442 v. Chr.) und Aias, s. Zimmermann (2001). 452 Zimmermann (2001). 453 εὐδαίμονες οἷσι κακῶν ἄγευστος αἰών. / οἷς γὰρ ἂν σεισθῇ θεόθεν δόμος […] (Soph. Ant. 583f.). 454 Kreons unnachgiebige Charakterzeichnung stellt Budelmann (2000) 75–77 bereits in dessen ersten Rede (175–184) anhand der Gnomenverwendung fest.

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sein Redeziel, nämlich einen Appell auf der Beziehungsebene in Form einer Sympathiebekundung an seinen Vater (πάτερ, σός εἰμι κτλ. 635–638).455 Im Laufe der Unterredung wird aber klar, dass er implizit auch ein persuasives Ziel verfolgt, nämlich die Freilassung Antigones. Dies deutet er schon mit dem Ausdruck τὸ γὰρ σὸν ὄμμα δεινὸν ἀνδρὶ δημότῃ (690) sowie seinem Bezug auf Antigone (πασῶν γυναικῶν ὡς ἀναξιωτάτη 694) an und verdeutlicht es schließlich durch sein Direktiv ἀλλ’ εἶκε, θυμῷ καὶ μετάστασιν δίδου (718). Die Szene ist zweigeteilt:456 In der Rede an seinen Vater bietet Haimon gute und angepasste Argumente (nämlich etwa die πόλις als Beurteilungsrahmen), die deutlich die vorher von Kreon geäußerten Gedanken und Einstellungen wieder aufgreifen; freilich versieht Haimon sie mit seinen persönlichen Akzenten, da er ein persuasives Projekt verfolgt und sein Anliegen realisieren möchte. Auch auf der Ebene des Sprachverhaltens und der Charakterzeichnung erlaubt sich Haimon zunächst keine Fehltritte und verwendet politeness-Strategien.457 Paradoxerweise lenkt Sophokles nicht den Blick auf eine falsche rhetorische Verwendung der Disposition: Haimon erkennt die Disposition seines Vaters sehr genau und argumentiert angepasst, verhält sich adaptiv, gesteht Dinge zu, argumentiert flexibel und versucht zunächst, die Situation zu deeskalieren. Trotz dieser deutlichen Demonstration einer guten Einschätzung des Gesprächspartners und der rhetorischen Verwendung derselben scheitert er, da sein Charakter bei Kreon bereits diskreditiert ist (633f.). Dies illustriert vielmehr die unverrückbare Disposition des Gesprächspartners: Angesichts von Kreons Verblendung gelingen alle Argumente erst im Nachhinein und nicht als direkte Folge der Äußerungen Haimons.458 Stattdessen eskaliert die Situation genau aufgrund von Haimons Adaptation in einem zweiten Schritt, sodass auch Haimon gegen Ende des Gesprächs markierte impoliteness verwenden muss. Haimon scheitert auf Beziehungsebene und im persuasiven Sinne.

455 Scodel (2017) 29f. klassifiziert diese Szene von vorneherein als Agon und versäumt so in kritischer Weise, die einzelnen Redeintentionen zu klären: Haimon hat in dieser Szene durchaus ein Redeziel, das er auch passend zu vermittlen sucht. 456 »The Haemon of Sophocles maintains an entire calm and self-control so long as a ray of hope remains; his pleading is faultless in tone and tact; he knows Creon, and he does not intercede with him as a lover for his betrothed; he speaks as a son solicitous for his father’s reputation, and as a subject concerned for the authority of his king; he keeps his temper under stinging taunts; it is only when Creon is found to be inexorable that the pent-up fire at last flashes out.« Jebb (1949) xiii–xiv. So auch schon Cesareo (1901) XIII, der allerdings Haimons angebliche Liebesbekundung Antigone gegenüber zu stark macht. 457 Zum ruhigen Wesen Haimons, s. Jebb (1949) xiii–xiv. 458 So auch das Urteil von Winnington-Ingram (1980) 121: »the issue from beginning to end of the play is a matter of phrenes, of states of mind […], which determine decisions for good or ill.«

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3.1.1.2 Argumentativer Aufbau und Sprachverhalten Die Szene (631–780) ist aufgrund ihres schematischen459 Aufbaus als Agon zu bezeichnen:460 Nach Kreons Ankündigung von Haimons Ankunft (4 Verse), spricht Haimon seinen Vater mit einer ebenso vierzeiligen captatio an (635–638). Hierauf folgt eine Rhesis Kreons (639–680, 42 Verse), in der er die Ordnung, sowohl in der Familie als auch in der Polis, als höchstes Gut ansieht und Frauen im Privaten sowie Verbrecher im Öffentlichen als Störenfriede verdammt. Nach einem zweizeiligen Kommentar des Chors (681f.), der die Vernunft in Kreons Rede lobt, folgt eine sehr adaptive Rede des Haimon (683–723, 41 Verse). Haimon weist auf die Notwendigkeit hin, Ruhe und Vernunft zu bewahren, und berichtet seinem Vater von der Kritik des Volkes (638–700); nach allgemeinen Aussagen zur faktischen Pluralität von Meinungen (701–717) fordert er seinen Vater explizit auf, seine Meinung zu ändern (718), und begründet dies mit dem Vorrang der Vernunft über Erfahrung oder Alter (719–723). Der Chor kommentiert in 724f., beide hätten gut gesprochen, Kreon jedoch kritisiert in zwei Versen den Übermut der jungen Leute, worauf Haimon in zwei Versen antwortet, die Sache sei wichtiger als das Alter (726f. 728f.). Die Stichomythie (730–757) lässt Haimon zunächst adaptiv und unterwürfig erscheinen,461 jedoch wird er durch Kreons abweisende und trotzige Haltung auch selbst immer deutlicher und konfrontativer. Schließlich sprechen beide noch jeweils 4 Verse (758–765): Kreon kündigt Antigones unumgänglichen Tod an; Haimon droht daraufhin mit Selbstmord. Auf argumentativer Ebene fällt zunächst ein Kontrast zum Agon zwischen Kreon und Antigone auf (441–525): Während es bei ihnen um ihre jeweiligen Grundhaltungen ging und ihr Konflikt unübersehbar war – es ist keine Persuasionsabsicht der Antigone zu erkennen –, schlägt Haimon andere Töne an. Er verhält sich viel adaptiver und weniger konfrontativ, sodass der Zuschauer bei reiner Beurteilung seines Redeverhaltens geneigt ist, seinem persuasiven Projekt Erfolgschancen einzuräumen. Für die Beurteilung der angepassten Rhetorik bietet Kreon folgende Kommunikationsvoraussetzungen: Als Argument für sein Bestattungsverbot nennt Kreon im ersten Epeisodion etwa die Absicht, der Polis durch Gesetze zu nützen (τοιοῖσδ’ ἐγὼ νόμοισι τήνδ’ αὔξω πόλιν 191) und verkündet die allgemeine Meinung, dass die Guten zu ehren seien und die Schlechten zu bestrafen (τοιόνδ’ ἐμὸν φρόνημα, κοὔποτ’ ἔκ γ’ ἐμοῦ / τιμὴν προέξουσ’ οἱ κακοὶ τῶν ἐνδίκων. / ἀλλ’ ὅστις εὔνους τῇδε τῇ πόλει, θανὼν / καὶ 459 Dieses Schema hat – u.a. – auch beobachtet Griffith (1999b) 232. 460 Griffith (1999b) 230. Wie Lloyd (1992) 12 bemerkt, entwickele sich bei Sophokles die reziproke feindselige Haltung zwischen den Charakteren erst während der Szene. Bei Euripides ist sie bereits gegeben. Trotz des schon vorgegebenen Ausgangs muss allerdings Argumentation und Rhetorik genau untersucht werden. Duchemin (1945) 56–58 betont den bereits formal ausgereiften Charakter des sophokleischen Agons. 461 Zur Üblichkeit von alignment im Dialog, s. Pickering & Garrod (2006).

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ζῶν ὁμοίως ἐξ ἐμοῦ τιμήσεται 207–210).462 Im Zusammenhang mit Polyneikes’ unpatriotischem Verhalten äußert er außerdem, die Götter seien wichtige Elemente im Staat, würden aber nur die Guten beschützen: ἢ τοὺς κακοὺς τιμῶντας εἰσορᾷς θεούς; / οὐκ ἔστιν· […] (288f.). Auch wenn Haimon bei diesen Szenen nicht auf der Bühne ist, so ist zu vermuten, dass sich der Zuschauer an diese Aussagen erinnert – und es ist ebenso davon auszugehen, dass Haimon diese Disposition seines Vaters kennt. In der Argumentation der Szene selbst ergreift Kreon zuerst das Wort und verwendet eine Prolepse, die der Chor vorher auch aufwarf (626–630):463 Haimon komme sicher, um mit seiner Verlobung mit Antigone zu argumentieren (ὦ παῖ, τελείαν ψῆφον ἆρα μὴ κλύων / τῆς μελλονύμφου πατρὶ λυσσαίνων πάρει; / ἢ σοὶ μὲν ἡμεῖς πανταχῇ δρῶντες φίλοι; 632–634).464 Mit dieser metapragmatischen Aussage lenkt Sophokles gleichzeitig den Blick des Publikums auf Kreons Vorurteil, nämlich Haimons bereits diskreditierten Charakter:465 Durch Kreons Prolepse wird deutlich, dass Haimons kritisierter Charakter seine Argumentation überschattet. Geschickt umgeht Haimon jedoch diese Prolepse466 und geht stattdessen auf Kreons letzte Frage (634) ein, die auf Haimons Vaterliebe abzielt. Durch diese

462 Zu dieser Charakterisierung des Kreon, s.a. Scodel (2017) 30–32, die auf den tragischironischen Vorbotencharakter derselben hinweist. 463 Easterling (1990) 97 weist zu Recht auf die Fokussierung des Chores auf Haimons Stimmung hin und zeigt daran ihr Konzept des tragischen Charakters, das zu konstruieren sei. Auch in der Besprechung von Winnington-Ingram (1980) 93f. nimmt die Frage nach der wahren Einstellung des Haimon (Liebe, wie der Chor 781–805 besingt) viel Platz ein, wird jedoch als »tragic fact« gesehen, mit dem die Entscheidung Haimons, sich gegen seinen Vater zu stellen, begründet wird. Zum Konzept der φιλία vs. dem des ἔρως in der Antigone, s. Goldhill (1990) 104f. 464 Budelmann & Easterling (2010) sehen diese Äußerung zu Recht als Zeichen für mentalising an, versäumen aber zu sagen, dass Kreon in seiner Einschätzung nicht richtig liegt: Haimon will ihn nicht nur aufgrund seiner Liebe zu Antigone von ihrer Verurteilung abhalten, sondern um Kreons Vernunft und Ansehen zu retten. 465 Diese Vorwegnahme beobachtet bereits Müller (1967) 148. 466 Müller begründet das Umgehen der Liebe als Thema folgendermaßen: »Der liebende und durch das Todesurteil tiefbewegte Haimon darf von seiner Liebe nicht sprechen. Auch Antigone selbst würde das mißbilligen; denn sie kann nicht wünschen, aus Rücksicht auf persönliche Umstände begnadigt zu werden.«, s. Müller (1967) 150. Während ich die Richtigkeit dieser moralischen Begründung nicht zu beurteilen vermag, scheint doch in diesem Zusammenhang vor allem die feinfühlige rhetorische Fertigkeit des Haimon deutlich zu werden: Eine Argumentation mit seiner Liebe ist einem rechtsliebenden Herrscher wie Kreon gegenüber, der seine Polis-Werte vorher deutlich gemacht hatte, – mag es auch der Vater sein – unpassend und würde zur Diskreditierung des Redners führen. Redeintentionen sollten den Charakteren also durchaus unterstellt werden dürfen: Nicht alles muss mit dem Plan der Götter begründet werden.

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Alternative in 634 (s.o.)467 zwingt Kreon seinen Sohn geradezu, sinnvollerweise auf seine Vaterliebe einzugehen – zum Gewinn beider:468 ΑΙ. πάτερ, σός εἰμι, καὶ σύ μοι γνώμας ἔχων χρηστὰς ἀπορθοῖς, αἷς ἔγωγ’ ἐφέψομαι. ἔμοὶ γὰρ οὐδεὶς ἀξιώσεται γάμος μείζων φέρεσθαι σοῦ καλῶς ἡγουμένου. Hai. Vater, ich bin auf deiner Seite, und du, weil du vernünftige Ansichten hast, wirst mich lenken: Und ich werde folgen. Denn keine Ehe wird mir mehr wert sein als dass du mich richtig führst.

635 (635–638) 635

In seiner Antwortrhesis (639–680) stimmt Kreon diesem Gedanken direkt zu: ΚΡ. οὕτω γάρ, ὦ παῖ, χρὴ διὰ στέρνων ἔχειν, γνώμης πατρῴας πάντ’ ὄπισθεν ἑστάναι· Kr. Denn so, mein Sohn, muss man sich aufrichtig verhalten, nämlich dass die Meinung des Vaters allem vorangestellt wird.

(639f.) 640

Allgemein benutzt Kreon folgende Themen und Argumente in seiner Rhesis, die seine autoritäre Disposition noch genauer zeichnen: Kann als übergeordneter Begriff sicher das Thema der »Ordnung«469 genannt werden, so gliedert er dies in drei verschiedene Bereiche, in denen Ordnung herrschen sollte.470 Die ersten beiden Bereiche betreffen die Familie: Erstens sei Gehorsam von Söhnen gegenüber ihren Vätern wichtig (641–644) und schlechte Kinder seien eine Schande (645–647); zweitens dürfen sich Männer nicht von Frauen beherrschen lassen (648f.), denn schlechte Frauen seien ein großes Übel (650–652). Der dritte Bereich betrifft die Polis: Wie man im Privaten sei, so sei man im Öffentlichen, deswegen müsse in der Polis durchgegriffen werden (659–662);471 mit guten und gerechten Herrschern lasse es sich aber gut in der Polis leben (668–671), sodass Anarchie, das schlimmste Übel, vermieden werde (672–675); πειθαρχία

467 Griffith (1999b) 233. 468 Scodel (2017) 33 erkennt korrekt den diplomatischen Charakter dieser Rede, wenn sie auf ihren äquivoken Charakter hinweist, der sich besonders in der grammatikalischen Interpretation der Partzipien ἔχων und ἡγουμένου niederschlägt, die bei kondizionaler Bedeutung eben keine unbedingte Liebe des Haimon implizieren. 469 Griffith (1999b) 234 nennt dies »obedience«. S. Griffith (1999a) für eine ausführliche Besprechung des zugrundeliegenden Konflikts. 470 S.a. Griffith (1999b) 238 für die Beobachtung von drei grundlegenden Prämissen, die Kreon als wahr annimmt: »three principles: (i) sons are extensions of their fathers; (ii) women are a danger and a distraction to men; (iii) the key to domestic and military-political order is ›obedience‹ […] to the father/leader […].« 471 S. Jebb (1949) 149.

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rette die Polis (676).472 Aus diesen drei Bereichen zieht Kreon folgende Schlüsse: Antigone müsse bestraft werden, sterben und statt Haimon einen Schatten im Hades heiraten (653f.), denn sie war untreu der Polis gegenüber (655f.) und habe die Gesetze übertreten (658f. 663–665). Zum Schluss verwendet Kreon noch einmal sein, wie er denkt, schlagendes Argument: Männer dürfen nie schwächer als Frauen sein (677–680). Dies illustriert den Machtgedanken des Kreon, der auch in diesem Dialog sichtbar wird.473 Haimons Antwortrhesis auf dieses von Kreon gegebene kommunikative Setting greift argumentativ auf das von Kreon bereits Geäußerte zurück: In 683f. betont er, dass die Vernunft zu bewahren und gottgegeben sei. Damit spricht er sich gegen den vorherigen Vorwurf der ἡδονή (μή νύν ποτ’, ὦ παῖ, τὰς φρένας γ’ ὑφ’ ἡδονῆς / γυναικὸς οὕνεκ’ ἐκβάλῃς, εἰδὼς ὅτι […] 648f.) aus und stellt, wie Kreon zuvor, eine enge Verbindung zwischen guten Männern und den Göttern her (vgl. Kreons ἢ τοὺς κακοὺς τιμῶντας εἰσορᾷς θεούς; / οὐκ ἔστιν· […] 288f.). Freilich zieht Haimon hieraus einen anderen Schluss als Kreon, da er damit versucht, seinen Vater zur Mäßigung seines absolutistischen Machtanspruches zu bringen. Mit seinem Bericht über die Stimmen im Volk (688–700) greift Haimon wiederum ein Thema auf, dem Kreon vorher einige Verse gewidmet hatte, nämlich die essentielle Ordnung im Staat (667–676):474 Genau der von Kreon gelobte anständige und gehorsame Bürger beschwere sich nun über Kreon, traue sich aber nicht, dies zu äußern. Dies ist zwar eine Kritik an Kreon als Herrscher, aber gleichzeitig ein Reflex von Kreons eigenem Argument, es gäbe keinen Ungehorsam in gut verwalteten Poleis.475 Nach einer Betonung des Wohlwollens für seinen Vater (701–704) argumentiert Haimon für eine Pluralität der Meinungen, für Reflexion und Maß, da man sonst als κενός wahrgenommen werde (705–711). Hiermit greift er halb ein erwähntes, halb ein implizites Argument des Kreon auf: Einerseits bezieht er 472 Griffith (1999b) 234: »These principles would doubtless be endorsed by most fifthcentury Greek men (cf. esp. Herakles and Hyllos at Tr. 1174–80.« Für den allgemeinen, dem Gespräch zugrundeliegenden Konflikt der Demokratie s.a. Griffith (1999a) 65–74. 473 Vgl. Kamerbeek (1978) 35 beobachtet den Gegensatz »γύνη – ἀνήρ« bei Kreon weiterhin in 248. 484f. 525. 746. 474 Vgl. v.a. καὶ τοῦτον ἂν τὸν ἄνδρα θαρσοίην ἐγὼ / καλῶς μὲν ἄρχειν, εὖ δ’ ἂν ἄρχεσθαι θέλειν (668f.). 475 Scodel (2017) 35 nennt Haimons Argument hier »misjudged«, was aber m.E. inkorrekt ist: Vielmehr ist Haimons Strategie, die Kritik dem Volk in den Mund zu legen, für dessen Wohlergehen sich Kreon vorher verantwortlich zeichnete, ein sehr geschickter Schachzug. Scodel (2017) 36 hat jedoch Recht, wenn sie auf Kreons sensible Reaktion gegenüber Widerspruch hinweist (vgl. 289–292). Hier zeigt sich also keine völlig fehlende Rezipientenanpassung, sondern es deutet sich bereits Haimons Wut über die Taten seines Vaters an, die ab Vers 735 voll zum Tragen kommt. Denn Haimon passt sich an Kreons Aussage aus 667–676 an und versucht, versteckt Kritik zu üben.

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sich wieder auf die φρένας (648), die man sich nicht von einer Frau verschleiern lassen solle; andererseits knüpft er an eine Prämisse an, auf deren Grundlage Kreon argumentiert, nämlich die zwangsläufig vorausgesetzte, unumstrittene Vernunft des Herrschers, der wisse, was die Bürger brauchen und dem alle guten Bürger gehorchen sollen. Diese Vernunft, die Kreon wie selbstverständlich für sich beansprucht, solle auch über dem Alter stehen (719–723). Daher formuliert Haimon die explizite Aufforderung: Ἀλλ’ εἶκε, θυμῷ καὶ μετάστασιν δίδου (718). Während zunächst deutlich wurde, dass Haimon sich klar auf vorher geäußerte Argumente des Kreon bezieht, kann diese Adaptation an den Gesprächspartner noch expliziter nachgewiesen werden, da Haimon an vielen Stellen explizit auf Kreons Aussage bzw. Haltung verweist: ΑΙ. ἐγὼ δ’ ὅπως σὺ μὴ λέγεις ὀρθῶς τάδε, […]. (685) Hai. Ich aber [könnte nicht sagen], dass du dies alles zu Unrecht sprichst […]. 685 ΑΙ. τὸ γὰρ σὸν ὄμμα δεινὸν ἀνδρὶ δημότῃ λόγοις τοιούτοις οἷς σὺ μὴ τέρψῃ κλύων.  Hai. Denn dein Blick schreckt den normalen Bürger ab, solche Worte zu verwenden, die du nur ungern hörst.

(690f.) 690

ΑΙ. ἔμοὶ δὲ σοῦ πράσσοντος εὐτυχῶς, πάτερ,  (701) Hai. Für mich gibt es keinen wertvolleren Besitz als dass es dir, Vater, gut geht. ΑΙ. μή νυν ἓν ἦθος μοῦνον ἐν σαυτῷ φόρει, ὡς φῂς σύ, κοὐδὲν ἄλλο, Hai. Vertritt also nicht nur die eine Meinung, dass was du sagst, nichts anderes, korrekt sei. ΑΙ. ἀλλ’ εἶκε, θυμῷ καὶ μετάστασιν δίδου.  Hai. Doch gib nach und ändere deine Ansicht!

(705f.) 705 (718)

Neben deutlichen Bezügen auf das Gesagte des Vaters (685. 706) finden wir auch Annahmen über den mentalen Zustand des Gesprächspartners und Hoffnung auf Einwirkung auf denselben (691. 718). Damit beweist Haimon einen bewussten, konstruktiven Bezug auf den Gesprächspartner. Sinnvollerweise erwähnt Haimon nie Antigone selbst,476 sondern führt die Problematik um ihre Person durch das rhetorisch geschickte indirekte Referat des ›einfachen Mannes‹ ein:477 Er verwendet eine off-record politeness-Strategie, um Kritik verhüllt darzustellen und so eine Handlungsänderung hervorzurufen. Haimon beweist Bewusstsein für seinen Gesprächspartner, dem offene Kritik nicht präsentiert werden darf. 476 Griffith (1999b) 240. 477 Müller (1967) 154.

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Textanalyse: Sophokles und Euripides

Obwohl der Chor aussagt, beide hätten gut geredet (723f.),478 lehnt Kreon diese Rede absolut mit seinem Altersdünkel ab:479 ΚΡ. οἱ τηλικοίδε καὶ διδαξόμεσθα δὴ φρονεῖν ὑπ’ ἀνδρὸς τηλικοῦδε τὴν φύσιν;

(727f.)

Kr. Wir, wo wir doch so alt sind, müssen uns nun von so einem jungen Mann beibringen lassen, wie wir zu denken haben?

In der Stichomythie als zweiter Sinnabschnitt der Szene geht Haimon – freilich der sprachlichen Form geschuldet – noch enger auf die von Kreon genannten Argumente ein, zeigt aber nun weniger Adaptation und lässt damit den Konflikt zum ersten Mal deutlicher werden: ΚΡ. ἔργον γάρ ἐστι τοὺς ἀκοσμοῦντας σέβειν; ΑΙ. οὐδ’ ἂν κελεύσαιμ’ εὐσεβεῖν ἐς τοὺς κακούς. ΚΡ. οὐχ ἥδε γὰρ τοιᾷδ’ ἐπείληπται νόσῳ; ΑΙ. οὔ φησι Θήβης τῆσδ’ ὁμόπτολις λεώς. ΚΡ. πόλις γὰρ ἡμῖν ἁμὲ χρὴ τάσσειν ἐρεῖ; ΑΙ. ὁρᾷς τόδ’ ὡς εἴρηκας ὡς ἄγαν νέος; ΚΡ. ἄλλῳ γὰρ ἢ ’μοὶ χρή με τῆσδ’ ἄρχειν χθονός; ΑΙ. πόλις γὰρ οὐκ ἔσθ’ ἥτις ἀνδρός ἐσθ’ ἑνός. ΚΡ. οὐ τοῦ κρατοῦντος ἡ πόλις νομίζεται; ΑΙ. καλῶς ἐρήμης γ’ ἂν σὺ γῆς ἄρχοις μόνος. ΚΡ. ὅδ’, ὡς ἔοικε, τῇ γυναικὶ συμμαχεῖ. ΑΙ. εἴπερ γυνὴ σύ· σοῦ γὰρ οὖν προκήδομαι. ΚΡ. ὦ παγκάκιστε, διὰ δίκης ἰὼν πατρί; ΑΙ. οὐ γὰρ δίκαιά σ’ ἐξαμαρτάνονθ’ ὁρῶ. ΚΡ. ἁμαρτάνω γὰρ τὰς ἐμὰς ἀρχὰς σέβων; ΑΙ. οὐ γὰρ σέβεις, τιμάς γε τὰς θεῶν πατῶν. ΚΡ. ὦ μιαρὸν ἦθος καὶ γυναικὸς ὕστερον. ΑΙ. οὔ τἂν ἕλοις ἥσσω γε τῶν αἰσχρῶν ἐμέ. ΚΡ. ὁ γοῦν λόγος σοι πᾶς ὑπὲρ κείνης ὅδε. ΑΙ. καὶ σοῦ γε κἀμοῦ, καὶ θεῶν τῶν νερτέρων. ΚΡ. ταύτην ποτ’ οὐκ ἔσθ’ ὡς ἔτι ζῶσαν γαμεῖς. ΑΙ. ἥδ’ οὖν θανεῖται καὶ θανοῦσ’ ὀλεῖ τινα. ΚΡ. ἦ κἀπαπειλῶν ὧδ’ ἐπεξέρχῃ θρασύς; ΑΙ. τίς δ’ ἔστ’ ἀπειλὴ πρός σ’ ἐμὰς γνώμας λέγειν; ΚΡ. κλαίων φρενώσεις, ὢν φρενῶν αὐτὸς κενός.

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478 Dies wird wieder mit dem rhetorischen Terminus καίριον ausgedrückt (724). Coleman (1972) 14 sieht in diesem Hinweis des Chores zu Recht eine erste Haltungsänderung der greisen Thebaner, die nun Kreon mit kritischeren Augen betrachten. 479 Kreon lehnt es eben nicht mit dem Argument ab, dass die Stimme des Volkes irrelevant sei, was die Argumentation von Scodel (2017) 35 aber impliziert.

Textanalysen

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ΑΙ. εἰ μὴ πατὴρ ἦσθ’, εἶπον ἄν σ’ οὐκ εὖ φρονεῖν. ΚΡ. γυναικὸς ὢν δούλευμα, μὴ κώτιλλέ με.

755 (730–756)

Kr. Soll man nun die Unziemlichen ehren? 730 Hai. Ich würde niemals befehlen, die Schlechten zu verehren. Kr. Ist diese denn nicht von einer solchen Krankheit befallen? Hai. Das einstimmige thebanische Volk sagt dies nicht. Kr. Werden die Bürger mir etwa sagen, was ich zu befehlen habe? Hai. Siehst du, wie kindisch du sprichst? 735 Kr. Muss denn ein anderer oder ich über dieses Land herrschen? Hai. Die Polis gehört nicht nur einem einzigen Mann. Kr. Schreibt man nicht die Polis dem Herrscher zu? Hai. Du würdest sicher hervorragend alleine über ein menschenleeres Land regieren. Kr. Der hier, ich bin mir sicher, ist mit der Frau verbündet. 740 Hai. Nur, wenn du die Frau bist: Denn ich sorge mich ja um dich. Kr. Verwerflicher, und trotzdem streitest du mit deinem Vater? Hai. Ja, denn ich sehe, wie du Unrecht tust und dich verfehlst. Kr. Ich verfehle mich, indem ich meine Herrschaft schütze? 745 Hai. Aber du schützt sie nicht, indem du auf die Ehre der Götter trittst. Kr. Du hast einen verdorbenen Charakter und bist der Frau Untertan. Hai. Nie wäre ich dem Schändlichen Untertan. Kr. Deine ganze Rede hältst doch nur ihretwegen. Hai. Und für dich, mich und die Jenseitsgötter. 750 Kr. Du wirst sie unmöglich heiraten, solange sie noch lebt. Hai. Also wird sie sterben und in ihrem Tod jemand weiteren umbringen. Kr. Drohst du mir etwa schamlos und gehst mich an? Hai. Welche Art Drohung ist es denn, gegen leere Meinungen zu reden? Kr. Du wirst bald heulend zur Vernunft kommen: Du hast völlig den Verstand ­verloren. Hai. Wärst du nicht mein Vater, würde ich sagen, dass du den Verstand verloren hast. Kr. Frauendiener, belästige mich nicht mit deinen Reden.

Kreons Altersdünkel (726f.) setzt er die noch diplomatische Aussage entgegen, die Sache sei wichtiger als das Alter der Beteiligten und es gehe keinesfalls um Unrecht (728f.) – eines der Hauptargumente des Kreon von oben. Aber schon Kreons Aussage, Antigone sei verwerflich, widerspricht Haimon mit Hinweis auf die Meinung im Volk (733–735); Kreons alleinigen Machtanspruch widerlegt Haimon (737–740) mit Hinweis auf das Unrecht seines Vaters (742–745). Ab der Eskalation in 733 können fast nur noch Widersprüche gegen Kreon durch Haimon beobachtet werden, abgesehen von kleinen Hinweisen auf seine Sorge um den Vater (742) und auf das Götterrecht (747). Haimons sprachliche argumentative Adaptation schwindet in der Stichomythie. Obwohl Kreon die Themen vorgibt, scheint Haimon immer ein widerlegendes Argument parat zu haben, sodass seine Argumentation nicht unfähig wirkt, aber eben in der Stichomythie aufgrund des Konfliktpotentials und Kreons Unwillen, entgegen-

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Textanalyse: Sophokles und Euripides

zukommen, nicht mehr zielführend für sein persuasives Projekt sein kann.480 Das Ergebnis dieser Eskalation ist, dass Kreon Antigone bestraft, weil Haimon ihn durch seinen Überredungsversuch nur noch entschlossener macht. Dabei argumentiert Haimon adaptiv, verliert aber am Ende die Fassung und macht aus seinen Widersprüchen keinen Hehl mehr. Die direkte Folge aus dieser eskalierten Redeszene ist Antigones sicherer Tod und Haimons Selbstmord: Seine vergebliche Bemühung unterstreicht die Tragik seines Scheiterns. Kreon setzt in seinem Sprachverhalten einen sehr autoritativen Ton: Mit der allerersten Anrede ὦ παῖ (639)481 macht er von Anfang an seinen Autoritätsanspruch als Vater gegenüber seinem Sohn klar. Diese familiäre, aber auch politische Autorität lässt sich auch an den vielen – zwar indirekt formulierten, aber doch Wissen andeutenden – Gnomen, der häufigen Verwendung der ersten Person (655–660) und den Imperativen ablesen, die diese Rhesis selbstzentriert und sehr direkt wirken lassen. Imperative (μή νύν ποτ’, ὦ παῖ, τὰς φρένας ὑφ’ ἡδονῆς / γυναικὸς οὕνεκ’ ἐκβάλῃς 648f. oder ἀποπτύσας ὡσεί τε δυσμενῆ μέθες 653) und Ausdrücke der Notwendigkeit (οὕτω γάρ […] χρή διὰ στέρνων ἔχειν 639) sind sehr direkte Aussagen, die keine Abschwächung der Aussage vornehmen möchten. All diese wenig Empathie markierenden Elemente setzt er entweder in allgemeinen Aussagen – mit einer auffällig häufigen, Wissen beanspruchenden Verwendung der Partikel γάρ482 – oder in Aussagen über sich als Herrscher ein. Wenn Kreon Fragen stellt, sind dies stets rhetorische Fragen im nachdrücklichen Potentialis (646. 651), sodass er rechthaberisch und belehrend483 erscheint. Haimons Rede erscheint dagegen, wie häufig festgestellt wurde,484 in einem ganz anderen Licht: Seine Rede ist gespickt mit diversen politeness-Strategien, die seine eigentliche Aussage abschwächen und verdecken sollen.485 Er redet seinen Vater respektvoll zweimal mit πάτερ (635. 683) an und verwendet häu 480 So auch Griffith (1999b) 247: »Throughout, it is Kreon who leads off […], Haimon who caps or refutes his father’s questions and complaint, often by reusing the same key words […]. Thus Haimon emerges as the clear verbal and moral victor in the debate […].« 481 Für παῖ als ›kinship term‹, der nicht das Alter des Angesprochenen, sondern das familiäre Verhältnis betonen soll, s. Dickey (1996) 214–217. 482 7x in 41 Versen: 639. 641. 651. 655. 659. 661. 679. 483 Müller (1967) 152 sagt über die Gnomen, sie »setzen die Pädagogik an Haimon fort« und drückt damit genau den gewünschten Effekt aus: Haimon soll als Schuljunge herabgesetzt werden. 484 »he keeps his temper under stinging taunts«, Jebb (1949) xiv; »Haimon presents himself as a devoted son and counsellor.« Griffith (1999b) 240. 485 Griffith (1999b) 240 meint dies, erklärt aber nicht, inwiefern dies geschieht, wenn er behauptet »On the surface, Haimon’s speech is respectful; but his description of the citizens’ fear of Kreon (688–92, 700) and of their praise of Ant. (694–9), as well as his insistence on the need for Kreon to ›adapt‹, ›bend‹ and ›yield‹ (705, 710–18), leaves little doubt how misguided he thinks him to be.«

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fig – im Gegensatz zu seinem Vater – die zweite Person Singular.486 Zudem schmeichelt er seinem Vater als liebender Sohn (703f.). Er beginnt ausweichend mit einer Gnome über die Götter (683) (off-record politeness) und plädiert mit negativer politeness für das Anerkennen einer anderen Meinung:487 ΑΙ. ἐγὼ δ’ ὅπως σὺ μὴ λέγεις ὀρθῶς τάδε, οὔτ’ ἂν δυναίμην μήτ’ ἐπισταίμην λέγειν· γένοιτο μεντἂν χἀτέρῳ καλῶς ἔχον. Hai. Dass du mit diesen Worten nicht recht hast könnte ich nicht sagen und wüsste nicht, wie. Doch auch einem anderen kann eine gute Einschätzung gelingen.

685 (685–687) 685

Hier wird durch die Verwendung von negative politeness in Form eines Potentialis nicht nur der Inhalt – Erkenntnisskeptizismus bezüglich seiner eigenen Kenntnis – ausweichend, sondern parallel hierzu auch die äußere Form. In 690–695 schwächt Haimon seine kritische Aussage ab, indem er sie dem Volk in den Mund legt – eine off-record politeness-Strategie, ebenso wie die Naturund Schiffsmetaphern in 712–717, die indirekt seine Meinung ausdrücken sollen, Nachgeben sei wichtig. Selbst als Haimon einen bald on record-Imperativ ­benutzt, schwächt er diesen durch Erwähnung der vom Gegenüber erwähnten πειθαρχία (676) ab: ΑΙ. μή νυν ἓν ἦθος μοῦνον ἐν σαυτῷ φόρει, ὡς φῂς σύ, κοὐδὲν ἄλλο, τοῦτ’ ὀρθῶς ἔχειν· Hai. Vertritt also nicht nur die eine Meinung, dass was du sagst, nichts anderes, korrekt sei.

705 (705–f.) 705

Diese vorbereitenden und abmildernden off-record sowie negative politenessStrategien erlauben es ihm, gegen Ende seiner Rhesis eine bald on record-Formulierung seines Anliegens zu bringen: ἀλλ’ εἶκε, θυμῷ καὶ μετάστασιν δίδου (718). Vorher hatte Haimon sich stets indirekt ausgedrückt. Zusätzlich umgibt er diese bald on record-Formulierung mit Metaphern (Natur- und Schiffmetapher 712– 717) und Gnomen (720–723), die wiederum eine Distanz aufbauen zwischen seiner Person und dem Gemeinten. Durch die Parallelität zum Gnomengebrauch Kreons oben wählt Haimon eine geschickte Strategie, um sich auf Sprachebene anzupassen, dem Gesprächspartner aber andere Inhalte vermitteln zu wollen. Es fällt nämlich auf, dass zu dieser allgemeinen Indirektheit des Ausdrucks immer wieder Versuche hinzukommen, andere Sichtweisen einzuflechten (ἐγὼ δ’ 685. 486 688. 706. 711. 718. 487 Griffith (1999b) 241 beschreibt diese Verwendung negativer und off-record-politeness unterminologisch so: »Haimon begins deferentially […] [w]ithout directly contradicting his father […].«

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Textanalyse: Sophokles und Euripides

σὺ δ’ 688. ἐμοὶ δ’ 692. ἐμοὶ δ’ 701), auch durch viele Gnomen (707–711),488 die wiederum eine off-record politeness-Strategie darstellen, um andere Meinungen und die geforderte Handlungsänderung unbemerkt zu vermitteln.489 Wie in der Form der Stichomythie üblich, werden die Aussagen der beiden Charaktere nun deutlicher und weniger verhüllt, also bald on record ausgedrückt. Dies geschieht zunächst jedoch nicht bei beiden Charakteren auf dieselbe Weise: Der Unterschied ist, dass Kreon viel nachfragt, also die Themen bestimmt, viele Beleidigungen einfließen lässt und sehr persönlich wird. Im Gegensatz dazu bleibt Haimon als der kommunikativ Untergeordnete zu Anfang noch diplomatisch (μηδὲν τὸ μὴ δίκαιον· 728. οὐδ’ ἂν κελεύσαιμ’ εὐσεβεῖν εἰς τοὺς κακούς 731). Als später Haimon auch bald on record impoliteness-Aussagen macht (z.B. ὁρᾷς τόδ’ ὡς εἴρηκας ὡς ἄγαν νέος 735. 737. 741. 753), beginnt die Eskalation des Konflikts: Kreons politische Macht spiegelt sich auch in der Kommunikation wider. Trotz einer abschwächenden Aussage wie die in einer Sorgebekundung um den Vater und daher durch positive politeness ausgedrückte Kritik (εἰ μὴ πατὴρ ἦσθ’, εἶπον ἄν σ’ οὐκ εὖ φρονεῖν. 755) kann dieser Konflikt nicht mehr gelöst werden: Entmutigt diagnostiziert Haimon am Ende Unfähigkeit zu Kommunikation bei seinem Vater (βούλει λέγειν τι καὶ λέγων μηδὲν κλύειν; 757). Insofern haben wir gesehen, wie Haimon in seiner Rhesis noch in der Lage ist, jedwede Kritik durch politeness-Strategien zu verhüllen und indirekt auszudrücken. In der Stichomythie wird dies jedoch unmöglich, da einerseits Kreon immer direkter und persönlicher spricht und andererseits die monostichische Form an sich es unmöglich macht, langwierige Verhüllungen vorzunehmen. Bisher ist festzustellen, dass in diesem Gespräch Haimon derjenige ist, der argumentative Adaptation beweist und politeness-Strategien verwendet.

488 Während Budelmann (2000) 75–77 zu Recht auf Kreons übermäßigen Gebrauch von Gnomen hinweist, betont Emde Boas (2017b) 40–47, f. Zitate s. S. 44 in seiner allgemeinen theoretischen Behandlung von gnomischer Sprache drei Aspekte der Gnomen. Einerseits stellt er ihre auch extern valente, tragisch-ironische Funktion (»general reflections are used to manipulate the varying levels of knowledge between different characters and between the characters and the audience.«) sowie eine autoritätsinduzierende Funktion fest – dies dürfte für Kreons ›Ordnungs‹-Gnomen relevant sein – , andererseits auch – und dies ist bei Haimons Gnomen (707–711) der Punkt –, ihren Gebrauch als politeness-Strategie (»as a way in which a speaker can obscure or decrease the personal commitment s/he expresses towards his/her utterance. Gnomic utterances can allow a speaker to deny responsibility for the content of his/ her utterance, exactly by focusing not so much on the particular as on the generic […].«). 489 In zeitgenössischen Studien zur Pragmatik der militärischen Befehlskette wurde festgestellt, dass indirekte, abgemilderte Aussagen von Unteroffizieren an Offiziere nur schwerlich einen perlokutionären Effekt erzielen; diese unökonomische Kommunikation kann gefährliche Konsequenzen in Notsituationen haben und etwa zu Flugzeugabstürzen führen, vgl. Linde (1988).

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3.1.1.3 Rhetorische Adaptation Haimons Adaptation an seinen Vater findet sowohl auf kognitiver als auch auf affektiver Ebene statt. Seine Argumente erscheinen angepasst und er handelt Kreons Argumente und Vorwürfe der Reihe nach ab. Zusätzlich lassen seine Verweise – einerseits auf das vom Vater Gedachte und Gemeinte, andererseits auf seine Gefühle – ein Bewusstsein für die Andersartigkeit der Gefühle und Meinungen des Anderen durchscheinen: ΑΙ. ἐγὼ δ’ ὅπως σὺ μὴ λέγεις ὀρθῶς τάδε, […].  (685) Hai. Ich aber [könnte nicht sagen], dass du dies alles zu Unrecht sprichst […]. 685 ΑΙ. τὸ γὰρ σὸν ὄμμα δεινὸν ἀνδρὶ δημότῃ λόγοις τοιούτοις οἷς σὺ μὴ τέρψῃ κλύων.  Hai. Denn dein Blick schreckt den normalen Bürger ab, solche Worte zu verwenden, die du nur ungern hörst.

(690f.) 690

ΑΙ. ἐμοὶ δὲ σοῦ πράσσοντος εὐτυχῶς, πάτερ, οὐκ ἔστιν οὐδὲν κτῆμα τιμιώτερον· Hai. Für mich gibt es keinen wertvolleren Besitz als dass es dir, Vater, gut geht.

(701f.) 700

ΑΙ. μή νυν ἓν ἦθος μοῦνον ἐν σαυτῷ φόρει, ὡς φῂς σύ, κοὐδὲν ἄλλο, Hai. Vertritt also nicht nur die eine Meinung, dass was du sagst, nichts anderes, korrekt sei.

(705f.) 705

ΑΙ. ἀλλ’ εἶκε, θυμῷ καὶ μετάστασιν δίδου.  Hai. Doch gib nach und ändere deine Ansicht!

(718)

Wie bereits erwähnt, ist hier neben Verweisen und Annahmen auf Kognitives und Affektives (685. 691. 701. 706) auch die grundlegende Möglichkeit der Meinungsänderung explizit erwähnt: ἀλλ’ εἶκε, θυμῷ καὶ μετάστασιν δίδου (718). Damit beweist Haimon ein Bewusstsein für die Folgen von Persuasion, also eine Meinungsänderung, das vorher nur bei Klytaimestra und Agamemnon in ihrem bewussten Bezug auf den Gesprächspartner zu sehen war – Klytaimestra aber gelingt diese Einsicht in die Gedankenwelt des anderen erst beim zweiten Versuch.490 Es scheint, als wäre es genau diese Einschätzung491 des Kreon, die Haimon aufgrund der gegenseitigen Eskalation scheitern lässt:492 Indem Haimon die wunden Punkte seines Vaters thematisiert, bringt er ihn gegen sich auf. 490 Auch Klytaimestra weist etwa explizit auf die mögliche Meinungsänderung hin: ΚΛ. πιθοῦ· κρατεῖς μέντοι παρεὶς ἑκὼν ἐμοί (Aischyl. Ag. 943). 491 Haimon und dem Volk ist genau bewusst, was Kreon hören und nicht hören möchte, vgl. τὸ γὰρ σὸν ὄμμα δεινὸν ἀνδρὶ δημότῃ / λόγοις τοιούτοις οἷς σὺ μὴ τέρψῃ κλύων. (690f.). 492 Zu diesem Schluss kommt auch Scodel (2017) 41: »The attempts of father and son to persuade each other do not just fail, but make them more hostile to each other.«

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Textanalyse: Sophokles und Euripides

Kreon hingegen benutzt zwar eine Prolepse, indem er auf Haimons mögliche Argumentation mit seiner Liebe zu Antigone hinweist,493 verbleibt aber auf einer rein kognitiv-rhetorischen Ebene und weist dabei keinerlei affektives Hineinversetzen in seinen Gesprächspartner auf. Insofern beweist der überzeugende Haimon eine deutliche und explizite Berücksichtigung des Gesprächspartners sowie deren rhetorische Anwendung. Trotzdem scheitert sein persuasives Projekt. Kreon hingegen hat wohl auch diese Einsicht in seinen Gesprächspartner – die Antigone-Prolepse zeugt davon –, benutzt sie aber absichtlich nicht kooperativ, um auf seinem Standpunkt zu beharren und um Haimon keine Angriffsmöglichkeit zu bieten.

3.1.1.4 Metapragmatik: Häufigkeit, Gebrauch und explizite Plausibilisierung Metapragmatik tritt in dieser Szene deutlich häufiger auf als bei Aischylos;494 ihre Funktion ist sowohl deklarativ als auch explikativ, unterscheidet sich aber in zwei Punkten deutlich von Aischylos: Einerseits besteht ein deutlicher Kontrast in ihrem Gebrauch zwischen Haimon und Kreon, was Eskalation und Anpassung angeht; andererseits bietet sie nun explizite Erklärungen von Kreons Weigerung: Denn schon bevor das Gespräch zwischen Haimon und Kreon b ­ eginnt, drückt Kreon bereits seine Ablehnung aufgrund von Haimons vermeintlich verwerflichem Charakter aus, da er sich mit Antigone verbündet habe: ΚΡ. ὦ παῖ, τελείαν ψῆφον ἆρα μὴ κλυὼν τῆς μελλονύμφου πατρὶ λυσσαίνων πάρει;

(632f.)

Kr. Mein Sohn, du kommst doch nicht aus Zorn über deinen Vater, weil du das Todesurteil über deine Verlobte hörtest?

Kreon bietet bereits vor der Äußerung jedweder Argumente ein Kriterium zur Bewertung von Haimons Rede. Damit lenkt Sophokles den Blick des Zuschauers nicht so sehr auf die Argumente des Sprechers Haimon, sondern vielmehr auf Kreon, der sich selbst verhängnisvollerweise als eigensinnigen Charakter darstellt, und den Konflikt, der sich hierdurch ergibt.

493 632–634. 494 Allgemein können hier mehr metapragmatische Aussagen als bei Aischylos beobachtet werden: Insgesamt: 18% der Verse; Rhesisformen: ⌀ 13% der Verse; Stichomythie: ⌀ 26%. Der Chor äußert in vier seiner sieben Verse metapragmatische Aussagen (682f. 724f.) und hat damit einen Anteil von 15% der gesamten Metapragmatik der Szene; diese höhere Anzahl an metapragmatischen Aussagen besteht immer aus Kommentaren zu den Charakterrheseis, wie wir sie auch in diesem Verhältnis aus den euripideischen Agonen kennen und bereits im pseudo-aischyleischen Prometheus Vinctus beobachtet haben. Auch den Okeaniden im Prometheus konnte ein Anteil von 15% der Metapragmatik zugerechnet werden.

Textanalysen

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Weiterhin kann ein kommunikativer und deutlich charakterisierender Unterschied zwischen Kreon und Haimon beobachtet werden: Während Kreon metapragmatische Diagnosen eskalierend verwendet, zeigt Haimon auch auf der Metaebene mehr Adaptivität im Gespräch.495 Wie bereits erwähnt, rekurriert Haimon auf die Äußerungen des Anderen (685. 690f. 706). Doch dies ist nicht alles: Er formuliert seine Proposition auf metapragmatische Weise, wenn er seinen Vater auffordert, von seiner starren Denkweise abzuweichen. ΑΙ. μή νυν ἓν ἦθος μοῦνον ἐν σαυτῷ φόρει, ὡς φῂς σύ, κοὐδὲν ἄλλο, τοῦτ’ ὀρθῶς ἔχειν  Hai. Vertritt also nicht nur die eine Meinung, dass was du sagst, nichts anderes, korrekt sei. ΑΙ. ἀλλ’ εἶκε, θυμῷ καὶ μετάστασιν δίδου.  Hai. Doch gib nach und ändere deine Ansicht!

(705f.) 705 (718)

Somit kann ihm ein Bewusstsein über sein persuasives Ziel, den Stand der Unterhaltung und somit ein tieferer, bewussterer Einblick in die Kommunikation zugeschrieben werden.496 Dies wird auch unterstrichen durch seinen Kommentar zur unüberlegten Redeweise Kreons (ὁρᾷς τόδ’ ὡς εἴρηκας ὡς ἄγαν νέος; 735), der freilich eskalierend wirkt. Somit können dem überzeugen Wollenden insgesamt mehr metapragmatische Aussagen zugeschrieben werden,497 dabei aber auch solche, die seine Adaptation an den Gesprächspartner widerspiegeln. Kreon dagegen zeigt keine solche Anpassung: Dieser Unterschied kann in ihren konträren sozialen Rollen begründet liegen, die vorher von Kreon schon festgestellt wurden, nämlich ›Vater vs. Sohn‹ und ›Herrscher vs. Bürger‹, deren Meinung er keineswegs anerkennt. Kreon befindet sich somit in einer Position, in der er sich nur schwerlich überzeugen lassen kann, selbst wenn er ein kommunikatives Bewusstsein hat. In der Stichomythie kommentiert Kreon auch eskalierend das Gespräch. Er wirft seinem Sohn dreimal vor, völlig von Antigone vereinnahmt zu sein, jedwede Argumentation um ihretwillen zu führen. Hierauf antwortet sein Sohn jeweils mit scharfen Gegenargumenten: ΚΡ. ὅδ’, ὡς ἔοικε, τῇ γυναικὶ συμμαχεῖ. ΑΙ. εἴπερ γυνὴ σύ· σοῦ γὰρ οὖν προκήδομαι.  Kr. Der hier, ich bin mir sicher, ist mit der Frau verbündet. Hai. Nur, wenn du die Frau bist: Denn ich sorge mich ja um dich.

(740f.) 740

495 Haimon äußert 15 metapragmatische Aussagen, Kreon 8. 496 Hierzu zählt auch seine Aussagen zum Redner: ὅστις γὰρ αὐτὸς ἢ φρονεῖν μόνος δοκεῖ, / ἢ γλῶσσαν ἣν οὐκ ἄλλος ἢ ψυχὴν ἔχειν, / οὗτοι διαπτυχθέντες ὤφθησαν κενοί. (707–709). καὶ τῶν λεγόντων εὖ καλὸν τὸ μανθάνειν. (723). 497 15 vs. 8.

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Textanalyse: Sophokles und Euripides

KΡ. ὁ γοῦν λόγος σοι πᾶς ὑπὲρ κείνης ὅδε. ΑΙ. καὶ σοῦ γε κἀμοῦ, καὶ θεῶν τῶν νερτέρων.  Kr. Deine ganze Rede hältst doch nur ihretwegen. Hai. Und für dich, mich und die Jenseitsgötter. KΡ. ἦ κἀπαπειλῶν ὧδ’ ἐπεξέρχῃ θρασύς; ΑΙ. τίς δ’ ἔστ’ ἀπειλὴ πρὸς κενὰς γνώμας λέγειν; Kr. Drohst du mir etwa schamlos und gehst mich an? Hai. Welche Art Drohung ist es denn, gegen leere Meinungen zu reden? ΚΡ. γυναικὸς ὢν δούλευμα, μὴ κώτιλλέ με. ΑΙ. βούλει λέγειν τι καὶ λέγων μηδὲν κλύειν;  Kr. Frauendiener, belästige mich nicht mit deinen Reden. Hai. Willst du etwa sprechen und dann im Sprechen nicht zuhören?

(748f.)

(753f.)

(756f.)

Kreon wechselt erst zum Schluss auf die Metaebene, indem er Haimons Gesprächshaltung zu diagnostizieren beginnt: Er zeigt seine Weigerung zur Argumentation aufgrund seiner sozialen Rolle, nämlich die des Königs, und bewirkt eine Eskalation, da diese Diagnosen scheinbare Argumentationen, und zwar ad hominem, sind. Haimon verwendet metapragmatische Kommentare immer in einem Kontext der Adaptivität – er tut dies, um seine Argumentation möglichst nah an die des Kreon anzuschließen und auf gedankliche Alternativen zu Kreons Einstellung hinzuweisen. Dies ist ein neuer Gebrauch der metapragmatischen Aussagen, den wir so bei Aischylos nicht beobachten konnten. Kreons Aussagen in der Stichomythie sind jedoch eindeutig eskalierend gemeint und heben auf eine persönliche Ebene ab, die nicht mehr zum argumentativen Diskurs einladen. Dem Zuschauer wird weniger Interpretations- und Konstruktionsspielraum gelassen: Indem Sophokles Kreon mehrfach Haimons Redeintention kommentieren und zu Anfang sogar im Kommentar zu Haimons diskreditiertem Charakter seine Voreingenommenheit zeigen lässt, lenkt er den Zuschauer dahin, nicht über die Gründe für Kreons Ablehnung nachzudenken – denn diese hat er selbst explizit formuliert –, sondern macht ganz plakativ den unlösbaren Konflikt und starken Kontrast zwischen Kreon und Haimon deutlich: Kreon will schlicht nicht nachgeben und lässt damit jedwede Argumentation hinfällig werden; auch jedwede Rhetorik muss scheitern. Insofern kann Kreons Verhalten als Ausdruck der festgefahrenen kommunikativen Situation und Eskalation angesehen werden und als Repräsentation seines Ringens um Macht auf kommunikativer und weltlicher Ebene. Doch durch Metapragmatik scheinen sich die Figuren auch deutlich zu positionieren und zu charakterisieren: Insgesamt kann Kreon kommunikativ und argumentativ als – wohl absichtlich aufgrund seiner Rolle, die er hier einnimmt – unflexibel beschrieben werden, während Haimon als flexibel denkend und redend erscheint. Seine vergebliche Flexibilität ist tragisch, worauf das Publikum durch seine evaluative Aussage am Anfang

Textanalysen

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hingewiesen wird (632f.). Das Publikum muss Annahmen darüber treffen, wie Sophokles diese unverrückbare Haltung Kreons dramatisch nutzbar machen wird und verlagert damit den Fokus auf den Rest des Stückes: Am Ende wird Kreons Haltung ihm zum Verhängnis werden.

3.1.1.5 ἦθος des Sprechers und Autoritätskonflikte Wie deutlich wurde, ist Haimons ἦθος bereits vor Beginn der Szene explizit bei Kreon diskreditiert,498 sodass Haimons Redeziel schon aufgrund der Sprecherperson unmöglich zu erreichen war. Hinzu kommen aber auch noch explizit benannte Gründe des Rangs: Kreon kritisiert den Übermut des jugendlichen Alters (726f.) und zeigt damit seinen Dünkel, der ihn unüberzeugbar macht. In dieser Szene besitzt der Adressat tragischerweise bereits ein unwiderrufliches Bild des Sprechers, sodass Sophokles hier durch explizite Hinweise auf Macht und Rang die Unüberzeugbarkeit des Adressaten untermauert. Autoritätskonflikte sind weniger wichtig, da sich Haimon von selbst unterordnet und Sprache nicht zuvorderst als Machtmittel einsetzt.

3.1.1.6 Zusammenfassung Fragen wir uns abschließend, welchen Aspekt Sophokles im scheiternden persuasiven Projekt des Haimon in den Fokus nehmen will, so ist Folgendes festzustellen: Freilich sind die dargestellten Dispositionen und Grundhaltungen der Figuren grundverschieden, denn sonst wäre kein persuasives Projekt des Haimon nötig. Angesichts von Kreons Voreingenommenheit, die sich durch Haimons vermeintlich diskreditierten Charakter begründet, ist eine Persuasion durch Haimon jedoch schlicht unmöglich. Und dies, obwohl Haimon auf im Vergleich zu Aischylos bemerkenswerte Weise kommunikative Adaptation zeigen kann: Er nimmt explizite Rückgriffe und Bezüge auf das Gesagte des Gesprächspartners vor, er beteuert seine Sorge, geht argumentativ von den Ansichten des Gegners aus und zeigt (vor der Eskalation mit Kreon) eine ruhige, von negativer und off-record politeness geprägte Art zu sprechen. Durch Kreons ablehnende Provokation eskaliert der Austausch jedoch immer weiter und seine Rede muss scheitern.499

498 ὦ παῖ, τελείαν ψῆφον ἆρα μὴ κλύων / τῆς μελλονύμφου πατρὶ λυσσαίνων πάρει; / ἢ σοὶ μὲν ἡμεῖς πανταχῇ δρῶντες φίλοι; (632–634). 499 Im Vergleich zur dezidierten, starren Ablehnung des Eteokles in Aischyl. Sept. 677–719 lässt sich über Kreon nicht sagen, dass er sein Schicksal angenommen habe, vgl. Kamerbeek (1978) 29: »As it is, Creon’s stubbornness and αὐθαδία make him persevere on his course of ἄτη.«

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Textanalyse: Sophokles und Euripides

In diesem Fall verschiebt der Autor den Fokus des Publikums durch explizite metapragmatische Aussagen auf Kreon als ›unüberzeugbaren‹ Charakter,500 da er starrsinniger gezeichnet wird als Haimon und offensichtlich vernünftige Argumente ausschlägt.501 Erst mit dem Auftreten eines solchen unerreichbaren Charakters wird die Irrelevanz des Sprechens klar. Die Tatsache, dass Haimon trotz seiner Anpassung an den Gesprächspartner und seiner kommunikativen Strategien scheitert – ohne seine Ideale aufzugeben, hätte Haimon nicht angepasster und bemühter reden können –, erzeugt eine deutlich größere Tragik und mehr geistige und emotionale Involvierung des Zuschauers: Denn Sophokles arrangiert erst nach Haimons und Antigones Tod die Erkenntnis und Charakteränderung des Kreon, inszeniert ihn als unbeugsame Figur, die sich – ganz im Gegenteil zu Pelasgos in Aischylos’ Hiketiden – zu spät ändert.502 500 Für die Sturheit Kreons argumentiert auch Müller (1967) 148: »Das Gespräch zwischen Vater und Sohn wird deswegen zu keiner Verständigung führen, weil Kreon alle Argumente auf das »Rasen« des Verliebten zurückführt und für den Hinweis auf das Recht blind ist.« 501 Dies stellt auch Knox (1964) 70–72 fest. 502 Das weitere Verhalten des Kreon zeigt, dass er im Lauf des Stückes von einer Argumentationskette (vgl. Erler (2013)) seiner Gesprächspartner überzeugt wird – allerdings nicht auf kohärente Weise: Am Ende der oben besprochenen Szene lässt sich Kreon zunächst vom Chor dazu bringen, Ismene zu begnadigen (770f.), nachdem Antigone dies in der ersten Überzeugungsszene an Kreon versucht hatte (531f.; s. Griffith (1999b) 232). Es fällt auf, dass der Chor in seinem Chorlied (929–943) wiederum ein Argument des Haimon aufgreift, nämlich das des Mitleids mit Antigone (vgl. 690–699); Kreon hört dies, reagiert aber noch nicht. In der dritten Szene, in der ein Charakter versucht, Kreon zu überzeugen (Teiresias und Kreon 988–1114) wird das Argument des missglückten Opfers (998–1032) und Kreons drohender Tod von Teiresias bemüht (1064–1090). Während Kreon diese Argumente von Teiresias selbst abweist, zeigt sich nach der Zustimmung zur Wahrheit von Teiresias Prophezeiungen (1091–1094) und einem erneuten Hinweis des Chores auf das drohende Gericht über die Schlechten (1103f.) ein ganz anderes Bild, da Kreon plötzlich in einen beratenden Dialog mit dem Chor einsteigt (1095–1114). Kreon gibt schließlich nach, und dieses Nachgeben wurde anscheinend durch den Chor vermittelt – dies ist ungewöhnlich (vgl. »This is a surprising and agonizing reversal. It is rare for a major tragic character, (esp. in S.) to change her/his mind so completely, and Kreon’s efforts at restitution are sincere and prompt […].« Griffith (1999b) 310). Als Gründe vermutet Griffith (1999b) 310 entweder Kreons Sorge um seine Familie oder um sein politisch-religiöses Decorum, oder sogar beides. Während man dieses Problem wohl nicht abschließend beurteilen kann, lohnt es, die Reihenfolge der vom Chor verstärkten Argumente zu verfolgen: Zunächst wurde das Mitleid mit Antigone stark gemacht, dann der Wahrheitsanspruch der Prophezeiungen und zuletzt die Tatsache, dass Kreon böse Folgen erleiden könnte, wenn er wie angedacht handelt. Gehen wir von einer natürlichen Steigerung vom schwächsten zum stärksten Argument aus, so können wir wohl vermuten, dass das persönlich auf Kreon bezogene memento mori-Argument verständlicherweise den größten Einfluss auf Kreon hatte: Ein konkreter Adressatenbezug erzeugte hier ein direkte Reaktion. Interessanterweise erinnert uns dies an die Szene aus den Septem, in welcher Eteokles stets nach Bemerkungen zu seiner Autorität und seinem Leben eine Strategieänderung vornahm und seine Meinung änderte (s.o.).

Textanalysen

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Sophokles bietet einen ernüchterten Blick auf Rhetorik und unterstreicht ihre Wirkungslosigkeit.

3.1.2 Euripides, Hippolytos 902–1101 3.1.2.1 Einleitung und Hintergrund Diese Szene aus Euripides’ Hippolytos kann auch als »Abrechnungsagon«503 bezeichnet werden, bei dem Theseus als Geschädigter auftritt: Phaidras Brief beschuldigt Hippolytos klar als Täter, sodass Theseus voreingenommen gegenüber Hippolytos’ Charakter ist. Im Kontext der euripideischen Agone504 wird oft gesagt, es gehe bei diesen Debatten nicht um den rhetorischen Sieg des einen Gesprächspartners.505 Dies verhält sich zumindest mit Blick auf das Resultat des Hippolytos-Agons tatsächlich so, da die Charaktere nicht die Ansicht des anderen annehmen. Es lohnt jedoch, diese starre Form wieder aufzubrechen und deutlicher nach den kommunikativen Absichten der Figuren und deren Umsetzung zu fragen. So ist durchaus ein persuasiv verfolgtes Ziel des Hippolytos zu bestimmen: Er scheitert bei seinem Versuch, Theseus von seiner Unschuld und von seinem ehrlichen Charakter zu überzeugen und somit die Verbannung zu widerrufen.506 Als Resultat gehen die beiden im Konflikt auseinander und Hippolytos’ Schicksal – im Nachgang auch das des Theseus – ist besiegelt. Ein weiterer Aspekt, der bei Euripides – wie vorher auch schon in Sophokles’ Antigone – nun hinzukommt, ist ein deutlicher Anwuchs der selbstreferentiellen und damit metapragmatischen Ausdrücke. Sie wurden schon oft allgemein für Euripides festgestellt,507 sollen hier aber das Publikum dezidiert auf die richtige Interpretation der intercharakterlichen Kommunikation hinlenken. Ein reines Nachvollziehen der formalen Agonstruktur würde solche Aspekte und ihre Wirksamkeit auf der Bühne vernachlässigen.

503 Vgl. Dubischar (2001) 105–113. 504 Vgl. Lloyd (1992) 12. 505 »As is typically the case in agones, neither side persuades the other.« Halleran (1995) 226. »Commentators have pointed out how often persuasion is ineffective; in particular, speakers in formal agones do not convince each other, and indeed frequently deepen their disagreement.« Scodel (1999b) 130. 506 Explizit ist sein Redeziel auf der Beziehungsebene zu erkennen (βουλοίμην δ’ ἂν ἐκ σέθεν κλύειν Eur. Hipp. 904. πάτερ, πυθέσθαι βούλομαι σέθεν πάρα 910), welches sein zugrundeliegendes Ziel, also die Aufhebung seiner Verbannung, vorbereitet. 507 »Euripides’ agon speeches show a great degree of self-conscious rhetorical structuring and do indeed appeal to the taste for display and iconoclastic argumentation associated with the sophists.« Mastronarde (2009) 247.

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Der Hippolytos wurde zwischen 436 und 433 v. Chr.,508 etwa 4–7 Jahre nach der Antigone aufgeführt und war Euripides’ erster Sieg im Agon der Großen Dionysien. Er siedelt die tragische Geschichte um Hippolytos und seine Stiefmutter Phaidra in Troizen an; diese hatte sich aus unglücklicher Liebe zu Hippolytos erhängt. Die Szene setzt ein, nachdem Phaidras Mann Theseus ihren Leichnam und den Intrigenbrief entdeckt hat, in welchem sein Sohn Hippolytos als Phaidras Schänder verleumdet wird. Als direkte Folge des Briefes verbannt Theseus seinen Sohn auf der Stelle, sodass der Ausgang der folgenden Redeszene klar ist509 – Hippolytos Sieg im Agon erscheint dem Zuschauer unwahrscheinlich. Als Hippolytos seinen Vater Theseus von seiner Unschuld zu überzeugen und so seine Verbannung zu verhindern versucht, ein persuasives Projekt verfolgt, bietet er eine objektiv glaubwürdige Argumentation, die in strukturierter Form die Vorwürfe des Theseus Punkt für Punkt abhandelt; aufgrund falscher Ausgangsinformationen – der Intrige der Phaidra – erhält er allerdings trotzdem eine absolute Ablehnung des Theseus. Hier soll erforscht werden, auf welchen Aspekt der intercharakterlichen Kommunikation der Autor Euripides seine Rezipienten durch diese Szenengestaltung aufmerksam macht.

3.1.2.2 Argumentativer Aufbau und Sprachverhalten Der formale Aufbau der Szene ist gut mit der Agonstruktur510 nachzuvollziehen: In der Szeneneinleitung (899–935) fragt Hippolytos besorgt nach dem Grund für Phaidras Tod, wird aber von Theseus zunächst ignoriert. Vorübergehend geht der Vater auch nicht auf ihn ein, die Charaktere reden aneinander vorbei. Nach Hippolytos’ Befürchtung der Verleumdung seiner Person beginnt das eigentliche Rededuell (936–1037). Theseus tadelt in seiner Rhesis (936–980) den Charakter und die Taten des Hippolytos aufgrund des ihm vorliegenden Sachbeweises; außerdem nimmt Theseus in einer Prolepsis Hippolytos’ mögliche Argumente vorweg und widerlegt diese, nämlich 1) dass Schwüre und Verteidigungsreden auch etwas gelten, 2) dass Phaidra ihn aus Hass beschuldigt 508 Das Datierungsproblem des Hippolytos stellt sich folgendermaßen: Es ist sicher, dass es zwei Hippolytos-Stücke gab (H. stephanephoros, d.h. der erhaltene, und H. kalyptomenos), von welchen das Spätere 428 v. Chr. aufgeführt wurde, wobei unklar bleibt, welches das erhaltene ist. Seit neuestem wird für eine Frühdatierung des erhaltenen Hippolytos argumentiert, da er etwa die geringste Zahl von Auflösungen der iambischen Länge im euripideischen Corpus habe, s. Roth (2015) 6f.; außerdem seien Prolog und Anfangsszene so lang wie in Sophokles’ Aias, während diejenigen in der Medea viel kürzer seien, s. Roth (2015) 7. Diese Argumentation hat zuerst Gibert (1997) vertreten, während u.a. Barrett (1964) 10 noch für eine Spätdatierung argumentiert. Für einen Überblick der aktuellen Diskussion, s. Roth (2015) 7. 509 Strohm (1957b) 10. 510 Für die Struktur an sich, s. Dubischar (2001) 105.

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habe, und 3) dass Phaidra wahnsinnig gewesen sei.511 Hippolytos’ Verteidigung (983–1035) dreht sich um die Rehabilitation seines Charakters und versucht, mit einem Schwur gegen den Sachbeweis des Briefes zu argumentieren. Er inszeniert sich als ›unrhetorischer‹ Mann, der aber seine Aufrichtigkeit in Freundschaften und seine Jungfräulichkeit betont. Somit kann ihm durchaus ein persuasives Projekt zugeschrieben werden, das uns wiederum wegführt von der reinen Agonform: Hippolytos will sein Ansehen retten, um Glaubwürdigkeit bei Theseus zu erlangen und somit seine Verbannung rückgängig zu machen. Die vom Vater aufgebrachten Argumente widerlegt er außerdem damit, dass er keinen Vorteil davon hätte, mit Phaidra zu schlafen: 1. sei sie nicht schön genug; 2. wolle er kein Erbe von ihr; 3. erstrebe er auch nicht die Tyrannis. Im Ausgang des Rededuells (1038–1101) wird ohne neue Argumente512 der Diskurs Sachbeweis vs. Schwur/Orakel diskutiert sowie die Verbannung des Hippolytos erneut wiederholt: Denn all dies hilft nicht, Theseus zu überzeugen, der sich fest auf Phaidras Brief beruft. Insofern muss Hippolytos verbannt werden und kann sich nicht retten. Argumentativ und in Bezug auf das Sprachverhalten wird Hippolytos’ Scheitern von Euripides folgendermaßen dargestellt: Die Szeneneinleitung (899–935) zeichnet sich aufgrund von Theseus’ ablehnender Haltung durch nicht stattfindende Kommunikation und Argumentation aus – Theseus ignoriert Hippolytos’ Rede zunächst. Hippolytos’ Auftritt wird dramatisiert durch viele echte, kurze Fragen, warum Geschrei zu hören sei (902f.), die seine Verwirrung513 ausdrücken (905. 909. 910). Hierbei zeigt er jedoch auch echtes Interesse am mentalen Zustand des Gesprächspartners: τὸ μέντοι πρᾶγμ’ ἐφ’ ᾧτινι στένεις / οὐκ οἶδα, βουλοίμην δ’ ἂν ἐκ σέθεν κλύειν (903f.) Nach seiner performativen Einleitung πάτερ, πυθέσθαι βούλομαι σέθεν πάρα (910), die wiederum Interesse am Gesprächspartner signalisiert und seine Ankunftsrede beschließt, muß eine längere Pause eingehalten worden sein, da Hippolytos nun das Schweigen des Theseus kommentiert: σιγᾷς· σιωπῆς δ’ οὐδὲν ἔργον ἐν κακοῖς (911).514 Dieses fundamentale Scheitern macht Hippolytos’ Redesituation deutlich: Theseus ­beachtet ihn nicht und ist bereits durch den Brief, den er noch in der Hand hält, voreingenommen – dies ist die fundamentalste Form von impoliteness. Danach wird die Verfolgung eines persuasiven Ziels unter erschwerten Bedingungen vorgeführt. Auf Theseus’ Schweigen hin argumentiert Hippolytos mit einer captatio und drückt seine Fürsorge und sein nahes Verhältnis zu Theseus aus.515 Doch statt mit seinem Sohn zu kommunizieren, äußert sich Theseus im Gno 511 Vgl. Kreons Prolepsis in Soph. Ant. 631–634. 512 Dies könnte in CA-Terminologie als post-expansion bezeichnet werden. 513 Wohl Pausen nach einzelnen Fragen anzunehmen mit Roth (2015) 247. 514 Zu diesen Ausdrücken des Schweigens s. Zetzmann (2020b). 515 σιωπῆς δ᾽ οὐδὲν ἔργον ἐν κακοῖς (911). οὐ μὴν φίλους γε κἄτι μᾶλλον ἢ φίλους / κρύπτειν δίκαιον σάς, πάτερ, δυσπραξίας (914f.). Diese captatio bleibt auch erhalten und wird

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menstil – hier eine markierte impoliteness-Strategie, da nicht direkt mit dem Gesprächspartner kommuniziert wird516 – und merkt verzweifelt die Unvernunft der Menschheit an (ὦ πόλλ’ ἁμαρτάνοντες ἄνθρωποι μάτην […] 916–920); im Hinblick auf Hippolytos’ verzweifelte Nachfragen beklagt er den mangelnden νοῦς der Menschheit und bezweifelt die Möglichkeit, den Menschen diesen beizubringen (φρονεῖν διδάσκειν οἷσιν οὐκ ἔνεστι νοῦς; 920). Hippolytos missversteht517 dieses offene, abfällige a parte-Sprechen als aufrichtige Kommunikation auf Augenhöhe und nimmt die Unterhaltung auf (δεινὸν σοφιστὴν εἶπας 921); er antwortet aufrichtig auf Theseus’ Reflexion und bezweifelt – ironischerweise – die Möglichkeit, Unverstand zu bezwingen. Damit zeigt er aus Theseus’ Sicht seinen Unverstand und es wird deutlich, wie Kommunikation auf der grundlegendsten Ebene scheitert: Die Charaktere missverstehen sich. Ebenso auf tragisch-ironische Weise erklärt sich Hippolytos Theseus’ Ignorieren: Der Schmerz verwirre seinen Vater (ἀλλ’ οὐ γὰρ ἐν δέοντι λεπτουργεῖς, πάτερ, / δέδοικα μή σου γλῶσσ’ ὑπερβάλῃ κακοῖς 923f.). Hippolytos macht aus seinem Unwissen heraus eine falsche Annahme über den geistigen Zustand seines Gesprächspartners: Er vermittelt kommunikatives Bewusstsein und Interesse, kann jedoch wegen des Wissensgefälles keine richtige Aussage treffen. Auch dies ignoriert Theseus, der stattdessen den Wunsch nach einem τεκμήριον σαφές für die Aufrichtigkeit von Freunden äußert518 und damit vermeiden will, erneut so getäuscht zu werden (κοὐκ ἂν ἠπατώμεθα 931). Er wünscht sich zwei Stimmen für jeden Menschen (δισσάς τε φωνὰς 928), von denen eine als Korrektiv für ungerechte Reden fungieren solle: Die Aufrichtigkeit von Rhetorik wird erneut infrage gestellt. In Anknüpfung an diese Aussage fragt Hippolytos, ob er von solch einem Freund verleumdet worden sei (ἀλλ’ ἦ τις ἐς σὸν οὖς με διαβαλὼν ἔχει 932), obwohl er doch unschuldig sei (νοσοῦμεν δ’ οὐδὲν ὄντες αἴτιοι 933).519 Dieser Erkenntnis folgt ein Ausdruck der Furcht (ἔκ τοι πέπληγμαι·520 σοὶ γὰρ ἐκπλήσσουσί με / λόγοι παραλλάσσοντες ἔξεδροι φρενῶν. 934f.), der für Theseus gespielt wirken muss, für den Zuschauer aber die Irritation verstärkt, die er durch seinen Wissensvorsprung hat.

gar prägnanter, wenn man mit Barrett die Verse 912f. tilgt und somit Hippolytos’ suspekt wirkende Aussage über seine Neugierde tilgt, s. Barrett (1964) 338. 516 Emde Boas (2017b) 44f. beobachtet den autoritären Charakter von gnomischem Stil. 517 Hippolytos bemerkt nicht, dass der Vater von ihm, nicht mit ihm redet, s. Roth (2015) 253. 518 φεῦ, χρῆν βροτοῖσι τῶν φίλων τεκμήριον / σαφές τι κεῖσθαι καὶ διάγνωσιν φρενῶν, / ὅστις τ’ ἀληθής ἐστιν ὅς τε μὴ φίλος, / δισσάς τε φωνὰς πάντας ἀνθρώπους ἔχειν (925–928). 519 Wegen dieser inhaltlich passenden Anknüpfung spreche ich mich gegen eine Verschiebung der Verse 932f. an die Position nach 947 aus, wie vorgeschlagen von Roth (2015) 259. 520 Vgl. 342 bei Phaidras Enthüllung ggü. der Amme, s. Roth (2015) 255.

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Theseus antwortet nun in seiner Rhesis – weiterhin abgewandt – mit Gnomen: Er beklagt den Übermut und die Frechheit der Menschheit (936–942). Es kommt noch keine direkte Kommunikation zustande. Argumentativ dreht sich seine Rhesis um genau den expliziten Vorwurf, Hippolytos habe sein Ehebett entehrt. Daher ist das einzige Redeziel des Theseus, den Charakter des Hippolytos zu verunglimpfen: κάκιστος ὤν (944f.). Hierzu verwendet Theseus zahlreiche ad hominem-Argumente, die sich v.a. mit Hippolytos’ unkonventionellem Lebensstil beschäftigen (948f. 952f. 954),521 und drei Prolepseis:522 Egal, was Hippolytos sage, Worte oder Schwüre (960f.) nützten nichts angesichts eines Beweises (ἥδε 958); Phaidra könne auch nicht Hippolytos aus Hass beschuldigt haben, da sie zu klug dafür sei (962–965); ein Wahnsinn der Phaidra scheide als Argument auch aus, da auch Männer vor Liebe verrückt werden könnten (966–970). Allenthalben wird der Vorrang der τεκμήρια über λόγοι thematisiert (950f. 971f.).523 Auf der Ebene des Sprachverhaltens lässt sich feststellen, dass Theseus eine Hinwendung zu Hippolytos in Stufen vornimmt: Er zeigt zwar auf Hippolytos, spricht aber noch über ihn zum Chor (σκέψασθε δ’ ἐς τόνδ’ 943).524 Erst im dritten Absatz kommuniziert er direkt mit Hippolytos. Er schreitet langsam von seiner fundamentalen impoliteness-Strategie der totalen Ignoranz immerhin zu direkter Kommunikation fort. Doch zeugen seine zahlreichen Imperative (943. 946. 952. 954. 973) und sein nachdrücklicher Potentialis (οὐκ ἂν πιθοίμην τοῖσι σοῖς κόμποις ἐγὼ / θεοῖσι προσθεὶς ἀμαθίαν φρονεῖν κακῶς. 950f.) von konstanter markierter bald on record impoliteness. Als indirekte impoliteness kann seine fehlende Anrede für den Sohn beschrieben werden, da diese besonders im Kontrast zu der zweimaligen Anrede πάτερ des Hippolytos (910. 983) auffällt. Als Abschluss und Ergebnis der Rede spricht Theseus erneut die Verbannung des Hippolytos aus (ἔξερρε γαίας τῆσδ’ ὅσον τάχος φυγάς 973). Seine Härte begründet er mit einer irrealen Folge: Täte er dies nicht, würde man ihm seine Heldentaten nicht mehr glauben.525 Theseus formuliert in seiner Rhesis deut 521 Durch die abfällige Aufzählung dieser angeblichen Gewohnheiten verwendet Theseus ein wohl überspitztes Klischee rhetorisch, sogar orphische und dionysische Elemente mischend, vgl. Roth (2015) 261. 522 Vgl. schon Barrett (1964) 345. 523 οὐκ ἂν πιθοίμην τοῖσι σοῖς κόμποις ἐγὼ / θεοῖσι προσθεὶς ἀμαθίαν φρονεῖν κακῶς (950f.). νῦν οὖν – τί ταῦτα σοῖς ἁμιλλῶμαι λόγοις / νεκροῦ παρόντος μάρτυρος σαφεστάτου; (971f.). Dies wird in der rhetorica ad Alexandrum dann theoretisch aufgearbeitet, vgl. rhet. Alex. 1430b14–22. S.a. Chiron (2010) 94. 99. 524 So auch Barrett (1964) 341. Der deiktische Charakter des Demonstrativpronomens erinnert hier an eine Gerichtssitutation. 525 εἰ γὰρ παθών γε σοῦ τάδ’ ἡσσηθήσομαι, / οὐ μαρτυρήσει μ’ Ἴσθμιος Σίνις ποτὲ / κτανεῖν ἑαυτόν, ἀλλὰ κομπάζειν μάτην, / οὐδ’ αἱ θαλάσσῃ σύννομοι Σκιρωνίδες / φήσουσι πέτραι τοῖς κακοῖς μ’ εἶναι βαρύν (976–980). Diese Aussage dient einerseits der Selbstdarstellung durch Theseus’ Heldentaten, andererseits steckt jedoch wieder die hohe Bewertung der τεκμήρια

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lich, dass ein Beweis stärker sei als Wort oder Schwur, verunglimpft Hippolytos’ Charakter und nimmt so den Ausgang der Verteidigung vorweg, indem er seine eigenen Standards der Überzeugung setzt: Ein schlechter Charakter könne auch mit guter Rhetorik nichts erreichen. Hippolytos’ Rhesis zeugt von kommunikativer Adaptation und rhetorischem Können: Einerseits beweist er dies in seiner Einleitung, welche er mit einer direkten526Anrede (πάτερ 983) beginnt und – zu Recht – einen inneren Konflikt des Vaters (μένος μὲν ξύστασίς τε σῶν φρενῶν / δεινή· 983f.) impliziert.527 Seine eigentliche Verteidigung beginnt er mit einer ταπείνωσις,528 in der er sich als schlechter Redner stilisiert (ἐγὼ δ’ ἄκομψος εἰς ὄχλον δοῦναι λόγον, / ἐς ἥλικας δὲ κὠλίγους σοφώτερος 986f.). Diese Aussage steht in Widerspruch zu seiner strukturierten529 und argumentativ präzisen Rede.530 Seinen Charakter versucht er dreifach zu rehabilitieren:531 Kein Mann sei anständiger als er (εἰσορᾷς φάος τόδε / καὶ γαῖαν· ἐν τοῖσδ’ οὐκ ἔνεστ’ ἀνὴρ ἐμοῦ, / οὐδ’ ἢν σὺ μὴ φῇς, σωφρονέστερος γεγώς532 993–995), da er fromm (996), treu in Freundschaften (997–1001) und keusch sei (1002–1006). Als Kontrast zu dieser Verteidigung stellt er Theseus’ Unglauben und damit sein eigenes Scheitern explizit fest: καὶ δὴ τὸ σῶφρον τοὐμὸν οὐ πείθει σ’ (1007). Nun verwendet er eine εἰκός-Argumentation, um allgemein den Wert zu bezweifeln, den eine Verbindung mit Phaidra für ihn hätte; Hippolytos geht mit Recht nicht auf die dahinter: Wenn Theseus die τεκμήρια der Leiche Phaidras missachtet, könnten auch seine eigenen Heldentaten in Zweifel gezogen werden. Zum Bekräftigungstopos, s. Roth (2015) 265. 526 Theseus vermeidet die direkte Anrede mit ›Sohn‹, vgl. Roth (2015) 265. 527 Dies hatte zuvor auch die Amme an Phaidra so formuliert (παράφρων 232). 528 Für diesen topos vgl. Lys. 12,3. 19,2; Isokr. 8,5. 10,1; Demosth. or. 27,2. 55,7, zitiert bei Barrett (1964) 348. 529 Vgl. etwa 990f. 530 Nach Goff wird der agon so auf eine neue Ebene gehoben, da es nun nicht nur darum geht, was gesagt wird, sondern auch wie. Der rhetorische Status zwischen Theseus und Hippolytos wird damit zum Thema, s. Goff (1990) 43. 531 Roth (2015) 271. 532 Bei den Ausdrücken κάκιστος ὤν (944). σωφρονέστερος γεγώς (955) fällt die Parallele zu Aussagen zum ἦθος des Sprechers in anderen Agonen ähnlicher Konstellation auf: ἔχθιστος γεγώς wird sowohl von Medea über Jason (Eur. Med. 467) als auch von Philoktet über Neoptolemos (Soph. Phil. 1284) in einer scheiternden Redeszene gesagt. In allen drei Szenen stellt das ἦθος des zu überzeugen suchenden Charakters das Hauptkriterium für die Ablehnung dar. Die Parallelität in der genauen Formulierung hat wohl metrische Gründe, trotzdem fällt die Wortwahl auf. Da wir den Hippolytos als ältestes Stück (436–433), dann Medea (431) und als jüngstes Stück Philoktet (409) datieren müssen, kann von einem Selbstzitat des Euripides und schließlich einer Übernahme der Wendung durch Sophokles ausgegangen werden. Zu der wohl frühesten bzw. ca. mit Hippolytos und Medea zeitgleichen expliziten Aussage zum ἦθος als Grund für Ablehnung s. Ps.-Aischyl. Prom. 1040f. (εἰδότι τοί μοι τάσδ’ ἀγγελίας ὅδ’ ἐθώϋξεν· / πάσχειν δὲ κακῶς ἐχθρὸν ὑπ’ ἐχθρῶν οὐδὲν ἀεικές) der zwischen 440 und 430 v. Chr. aufgeführt wurde (s. Anm. 420).

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Prolepseis des Theseus ein, zumal dies rhetorisch zu einem Misserfolg führen würde – diese Argumentationen sind bereits widerlegt. Erstens sei Phaidra nicht die schönste Frau, die er kenne (1009f.); zweitens habe er sich sicherlich nicht Theseus’ Erbe durch eine Heirat mit ihr erhofft, da dies vergeblich sei (1010f.);533 drittens strebe er auch nicht die Tyrannis an, da die Herrschaft nur Unkluge anziehe (1013–1015).534 Seine Zufriedenheit mit seiner Position, die ihn als Täter unwahrscheinlich macht, begründet Hippolytos nun mit einer absoluten Antithese zu Theseus’ Lebensentwurf:535 Er möchte lieber im Sport der Erste sein, im Staat aber der Zweite (1015–1020). In einer Prolepsis gibt er seine argumentative Schwäche zu – Zeugen und die hypothetische Aussage der lebendigen Phaidra fehlen – und fügt sich damit in das von Theseus eröffnete Schema ein, das nur auf Tatsachen (ἔργοις) beruht.536 Daher sieht er sich gezwungen, wie von Theseus antizipiert, seine Verteidigung auf einem Schwur beruhen zu lassen, dessen Wirksamkeit soeben von ihm selbst und davor von Theseus bezweifelt wurde.537 Auf der Ebene des Sprachverhaltens fällt der diagnostische, direkte Charakter von Hippolytos’ Sprache auf,538 die allerdings in einer Verteidigungsrede wie der seinen nicht verwunderlich ist: Durch viele direkte Indikative, die auch Aussagen über seinen guten Charakter beinhalten, vermittelt er Faktizität, die essentiell für seine Sache ist, ohne impoliteness zu implizieren – denn er bekundet ebenso seine Sorge (902–905). Seine Anrede πάτερ (911. 983) steht im Kontrast zu Theseus’ fehlenden Anrede an ihn selbst (s.o.). Positive politeness-Strategien und positiver Inhalt normalisieren neutrale bald on record-Aussagen, die damit auch für kommunikative Ökonomie eingesetzt werden können. Der Chor kommentiert Hippolytos’ Rede mit der Aussage, dass der Schwur als nicht gering anzusehen sei (1036f.). Indem dieses Beweismittel539 thematisiert wird, wird automatisch eine, wenn auch aussichtslose, Erwartungshal 533 Denn dies würde einen Tod des Theseus voraussetzen. Im zeitgenössischen Athen wäre das Erbe allerdings gar nicht auf die Frau übergegangen, im Gegensatz zum Mythenzeitalter, in dem Ehefrauen erben konnten, vgl. Roth (2015) 271. 534 Mit Barrett (1964) 351 lässt sich feststellen, dass die beiden letzten Argumente schlecht gewählt sind, da diese keine Vergewaltigung, sondern Verführung implizieren, und sogar die Beseitigung des Theseus. 535 Vgl. Kreons Argumentation ggü. Ödipus in Soph. Oid. T. 580, dass er die dritte Stelle im Staat bevorzuge. 536 εἰ μὲν γὰρ ἦν μοι μάρτυς οἷός εἰμ’ ἐγώ, / καὶ τῆσδ’ ὁρώσης φέγγος ἠγωνιζόμην, / ἔργοις ἂν εἶδες τοὺς κακοὺς διεξιών (1022–1024). 537 νῦν δ’ ὅρκιόν σοι Ζῆνα καὶ πέδον χθονὸς / ὄμνυμι τῶν σῶν μήποθ’ ἅψασθαι γάμων / μηδ’ ἂν θελῆσαι μηδ’ ἂν ἔννοιαν λαβεῖν (1025–1027). Um diesem Schwur mehr Gewicht zu verleihen, fügt Hippolytos einen pleonastischen Todeswunsch ein (1028–1031), eine »für einen Griechen des 5. Jahrhunderts schlimmstmögliche Selbstverfluchung« (Roth (2015) 275). 538 Vgl. ένος μὲν ξύστασίς τε σῶν φρενῶν / δεινή· (983f.). 539 In archaischen Zeugnissen konnte dies offenbar als Beweis der Unschuld gelten, wie etwa Soph. Oid. K. 644f. zeigt: Iokaste und der Chor schenken Kreon Glauben, während

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tung im Zuschauer geweckt: Vielleicht könnte dieser Schwur doch vor Theseus ausreichen. Im Schlussteil des Agons (1038–1101) wird jedoch klar, dass dies nicht der Fall sein wird: Argumentativ stellt dieser Teil eher eine post-expansion dar, da keine neuen Argumente geboten werden, sondern die vorhandenen Positionen wiederholt und verstärkt werden. Es ergibt sich eine Eskalation des Konfliktes.540 Auf der Ebene des Sprachverhaltens stechen Theseus’ direkte und ediktmäßige Aussagen (1045–1049. 1057–1059) hervor, die hier aber wegen ihres Inhaltes als markierte impoliteness fungieren; seine Formulierung οὐκ εἶ πατρῴας ἐκτὸς ὡς τάχιστα γῆς; (1065)541 als Reaktion auf die Verteidigung des Verbannten drückt Ungeduld – und damit impoliteness – aus. Am Schluss gibt Theseus den Befehl, Hippolytos abzuführen (1084f.), wogegen sich dieser wehren will (1086f.); Theseus hat hierfür nur ablehnende und klar seine Autorität definierende Worte übrig: δράσω τάδ’, εἰ μὴ τοῖς ἐμοῖς πείσῃ λόγοις· / οὐ γάρ τις οἶκτος σῆς μ’ ὑπέρχεται φυγῆς (1088f.). Angesichts von dieser Autoritätsdemonstration kann Hippolytos in seinem Schlusskommentar nur resignieren (ἄραρεν, ὡς ἔοικεν· ὦ τάλας ἐγώ 1090) und sein Dilemma bedauern: Obwohl er die Wahrheit weiß, darf er seinen Schwur nicht brechen (ὡς οἶδα μὲν ταῦτ’, οἶδα δ’ οὐχ ὅπως φράσω 1091). Ausführlich gestaltet Hippolytos seine Abschiedsrede, in der er sich an Artemis (1092), Athen (1094), Troizen (1095) und seine Gleichaltrigen in Troizen (1098) wendet. Zuletzt betont er seinen Anstand und die Tatsache, dass sein eigener Vater ihm nicht glauben wollte: ὡς οὔποτ’ ἄλλον ἄνδρα σωφρονέστερον / ὄψεσθε , κεἰ μὴ ταῦτ’ ἐμῷ δοκεῖ πατρί. (1100f.). In dieser Szene führt Euripides vor, wie ein einziges – gefälschtes – Beweismittel jedweden Versuch eines Charakters, sich zu verteidigen, zunichtemachen kann.542 Während Hippolytos zu Beginn noch adaptiv und bemüht argumentierte, eskaliert der Konflikt zwischen Vater und Sohn im Schlussteil (1038–1101), was zu Hippolytos’ endgültiger Verbannung führt. Sein Scheitern bedingt nun die zweite Katastrophe des Stückes und somit den tragischen Fall des Theseus. Indem Euripides Theseus explizit auf seine voreingenommene Vorstellung von Hippolytos’ vermeintlich diskreditiertem Charakter hinweisen lässt, lenkt er den Ödipus ihm misstraut; vgl. Roth (2015) 275. Für den frühesten Beweis von Eiden als Überzeugungsmittel, s. Hom. Il. 18, 503–508. 540 Vgl. Theseus’ Entlarvung von Hippolytos’ Strategie (1038–1040), die er als ἐπῳδὸς καὶ γόης πέφυχ’ ὅδε (1040) bezeichnet, Hippolytos’ Gegenablehnung (καὶ σοῦ γε ταὐτὰ κάρτα θαυμάζω, πάτερ 1041) und Theseus’ erneute Forderung der Verbannung, da Hippolytos sich seinen Tod nicht selbst aussuchen solle (1045–1050). In Fragen und Ausrufen drückt Hippolytos nun seine Verzweiflung aus (1066f. 1070f. 1074f. 1078–1080. 1082f.), woraufhin Theseus lediglich seine ›stummen Zeugen‹ und seine daher erfolglose Verteidigung anführt (ἐς τοὺς ἀφώνους μάρτυρας φεύγεις σοφῶς· / τὸ δ’ ἔργον οὐ λέγον σε μηνύει κακόν 1076f.). 541 Sie findet eine inhaltliche Parallele in Eur. Med. 321 (ἀλλ’ ἔξιθ’ ὡς τάχιστα, μὴ λόγους λέγε·), s. Roth (2015) 281. 542 Vgl. den Tadel der Artemis an Theseus in 1321, dass er einen Beweis und eine Prophezeiung nicht abgewartet habe.

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Blick des Zuschauers auf Theseus als unüberzeugbaren Charakter und regt ihn zur Konstruktion des weiteren Handlungsverlaufes an: Wie wird c umgehen?

3.1.2.3 Rhetorische Adaptation Hippolytos zeigt – aufgrund seines persuasiven Projektes – starkes Interesse am geistigen Zustand des Gesprächspartners: ΙΠ. τὸ μέντοι πρᾶγμ’ ἐφ’ ᾧτινι στένεις οὐκ οἶδα, βουλοίμην δ’ ἂν ἐκ σέθεν κλύειν  Hip. Ich weiß nicht, worum du genau trauerst, aber ich würde es gerne von dir hören. ΙΠ. πάτερ, πυθέσθαι βούλομαι σέθεν πάρα.  Hip. Vater, ich will es von dir erfahren!

(903f.).

(910) 910

Hinzu kommen Diagnosen des geistigen Zustands des Gesprächspartners, wie etwa Schmerz, Verwirrtheit, Unglück (916f. 926. 983). Zuletzt zeigt Hippolytos eine rhetorische Strategie, indem er seinen Gesprächspartner zu einer Perspektivübernahme anleitet: ΙΠ. καὶ σοῦ γε ταὐτὰ κάρτα θαυμάζω, πάτερ· εἰ γὰρ σὺ μὲν παῖς ἦσθ’, ἐγὼ δὲ σὸς πατήρ, ἔκτεινά […].

(1041–1043)

Hip. Dasselbe wundert mich an dir, Vater. Denn wärst du mein Kind und ich dein Vater, ich würde dich töten […].

Diese Aussage wirkt bereits weniger kooperativ und resignierter als oben: Er benutzt einen hypothetischen Rollentausch, um seinem Vater zu unterstellen, dass er, da er als Strafe lediglich die Verbannung und nicht den Tod fordere, eigentlich an Hippolytos’ Unschuld glaube oder zu weich sei. Indem er seinen Vater so herausfordert und Weichheit unterstellt, baut er einerseits auf die Vernunft seines Vaters, das Verbannungsgebot gegen ihn doch fallenzulassen. Andererseits ist mittlerweile völlig klar, dass Theseus diese Unterstellung nicht akzeptieren wird. Seine Strategie muss daher eskalierend wirken. Zunächst zeigt Hippolytos Interesse und eine richtige Einschätzung des Gesprächspartners – eine affektive Berücksichtigung und rhetorische Anpassung – benutzt jedoch diese Fähigkeit schließlich aus wachsender Verzweiflung zur Eskalation. Theseus’ Berücksichtigung des Gesprächspartners bezieht sich v.a. auf rhetorische Belange: Durch seine Prolepsen543 illustriert er Hippolytos’ vermeintlichen geistigen Zustand und macht ihn rhetorisch manövrierunfähig. Denn The 543 Worte oder Schwüre seien wirkungslos (960f.); Phaidra scheide als Denunziantin aus (962–965); Phaidra leide nicht an einem Wahn (966–970).

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seus trifft direkt ins Schwarze: Später wird Hippolytos tatsächlich mit Schwüren argumentieren; Phaidras untragbaren Charakter und den Wahnsinn der Frauen hatte Hippolytos bereits vorher (vgl. 616–668) – freilich ohne Theseus’ Anwesenheit – ausgedrückt. Auch, was seine eigene Wirkung als rhetor angeht, zeigt Theseus ein Bewusstsein für Kommunikation und rhetorische Adaptation: In einer if not-Situation stellt er sich die Meinung fiktiver Untertanen vor, die ihm seine Heldentaten nicht mehr glauben würden, falls er nun nicht konsequent bliebe.544 Theseus weist auch ein starkes rhetorisches Bewusstsein seiner Zielgruppe auf: Er immunisiert sich argumentativ durch seine Prolepsen; aber ihn interessiert der mentale Zustand seines Gesprächspartners nur, wenn es um die Widerlegung des Gegners oder seinen eigenen Ruhm geht. Insofern kann bei ihm eine kognitiv-rhetorische Perspektivübernahme, aber keine affektive Berücksichtigung des Gesprächspartners beobachtet werden. Er benutzt hier mit Absicht keine Empathie, um seine rhetorische Position nicht zu verlassen.

3.1.2.4 Metapragmatik: Häufigkeit, Gebrauch und explizite Plausibilisierung Auf der Ebene der metapragmatischen Aussagen, die hier wiederum zahlreicher als bei Aischylos sind,545 wird zwar auch der Gesprächsstand deklarativ für den Gesprächspartner festgehalten. Vor allem aber lenkt Euripides stark den Fokus auf Hippolytos’ vermeintlich unglaubwürdigen und Theseus’ unnachgiebigen Charakter und expliziert damit den Konflikt zwischen Theseus und Hippolytos. Theseus zeichnet von vorneherein Hippolytos’ Charakter, indem er eine allgemeine Aussage zu Ehrlichkeit und Unehrlichkeit von Sprechern trifft: ΘΗ. δισσάς τε φωνὰς πάντας ἀνθρώπους ἔχειν, τὴν μὲν δικαίαν, τὴν δ’ ὅπως ἐτύγχανεν, ὡς ἡ φρονοῦσα τἄδικ’ ἐξηλέγχετο 930 πρὸς τῆς δικαίας, κοὐκ ἂν ἠπατώμεθα. (928–931) The. Alle Menschen sollten mit zwei Stimmen sprechen, die eine gerecht, die andere jeweils so, wie es gerade passt. So könnte die ungerechte Stimme von der gerechten überführt werden und wir würden nie getäuscht.

930

Mit diesem Bewusstsein um den möglichen schädlichen Effekt von Rhetorik setzt er den Ton und das Thema der gesamten Szene. Im Laufe seiner ersten 544 εἰ γὰρ παθών γε σοῦ τάδ’ ἡσσηθήσομαι, / οὐ μαρτυρήσει μ’ Ἴσθμιος Σίνις ποτὲ / κτανεῖν ἑαυτόν, ἀλλὰ κομπάζειν μάτην, / οὐδ’ αἱ θαλάσσῃ σύννομοι Σκιρωνίδες / φήσουσι πέτραι τοῖς κακοῖς μ’ εἶναι βαρύν (976–980). 545 Insgesamt: ⌀ 23% der Verse; Rhesisformen: ⌀ 22% der Verse; Stichomythie: ⌀ 27% der Verse.

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Rhesis trifft er immer wieder Diagnosen bezüglich des Gesprächsstandes, die sich um das Wortfeld ›sich nicht überzeugen lassen‹ drehen und daher abweisend wirken: Er lehnt die – noch nicht einmal ausführlich dargelegte – Selbstdarstellung des Hippolytos ab mit der Begründung, seine Geschichte müsse falsch sein (οὐκ ἂν πιθοίμην τοῖσι σοῖς κόμποις ἐγὼ / θεοῖσι προσθεὶς ἀμαθίαν φρονεῖν κακῶς 950f.); dazu nennt er Schwüre und Worte unglaubwürdig (ἐν τῷδ’ ἁλίσκῃ πλεῖστον, ὦ κάκιστε σύ· / ποῖοι γὰρ ὅρκοι κρείσσονες, τίνες λόγοι / τῆσδ’ ἂν γένοιντ’ ἄν, ὥστε σ’ αἰτίαν φυγεῖν; 959–961).546 Diese Gedanken werden im Schlussgespräch wiederholt, wenn er Hippolytos’ Strategie als Zauberei entlarvt (ἐπῳδὸς καὶ γόης πέφυχ’ ὅδε 1040) und erneut den Brief als wertvolleres Beweismittel ansieht (ἡ δέλτος ἥδε κλῆρον οὐ δεδεγμένη / κατηγορεῖ σου πιστά· 1057f.). Nicht nur mit dem Feststellen des Gesprächsverlaufs zeigt Theseus k­ ommunikatives Bewusstsein, sondern auch mit dem Agon-Rahmen, mit welchem er seine Rede abbricht, da für ihn die vorliegenden Fakten ausreichen (νῦν οὖν – τί ταῦτα σοῖς ἁμιλλῶμαι λόγοις / νεκροῦ παρόντος μάρτυρος σαφεστάτου; 971f.). Es scheint jedoch, als sei diese kommunikative Explizitheit vor allem auf Konfrontation ausgelegt:547 Seine Ungläubigkeit wird explizit ausgesprochen und allgemeine Ansichten sowie Diagnosen über seinen Gesprächspartner werden klar gefällt. Theseus vermittelt in seinen metapragmatischen Aussagen vor allem Ablehnung. Hippolytos’ metapragmatische Aussagen sind im Gegensatz einerseits häufiger548 und weisen andererseits eine höhere Themen- und Funktionsvielfalt auf: Er trifft direkte Kommentare zum Sprachverhalten des Gesprächspartners, wenn er etwa Theseus’ Schweigen kommentiert (σιγᾷς· σιωπῆς δ’ οὐδὲν ἔργον ἐν κακοῖς 911) oder ihm grüblerische Haarspalterei vorwirft und die daraus resultierende beängstigende Wirkung verdeutlicht.549 Strukturierende Kommentare und Kommentare zum Stand des Gesprächs sind bei Hippolytos häufiger als bei Theseus zu finden: Formulierungen zu seiner Redeintention,550 zur Struktur zu

546 Weiterhin bezieht er sich in seinen Prolepsen auch zweimal metapragmatisch auf das von Hippolytos Geäußerte oder bald Geäußerte (κακὴν ἄρ’ ἀυτὴν ἔμπορον βίου λέγεις 964. μισεῖν σε φήσεις 962); einmal bewertet er eine Aussage des Hippolytos kritisch: ὡς ἄξιον τόδ’ εἶπας (1045). 547 So auch seine explizite Drohung δράσω τάδ’, εἰ μὴ τοῖς ἐμοῖς πείσῃ λόγοις (1088). 548 18 Äußerungen des Theseus vs. 27 des Hippolytos. Der ein kommunikatives Projekt verfolgende Charakter weist also erneut eine höhere und vielfältigere Anzahl an metapragmatischen Aussagen auf. 549 ἀλλ’ οὐ γὰρ ἐν δέοντι λεπτουργεῖς, πάτερ, / δέδοικα μή σου γλῶσσ’ ὑπερβάλῃ κακοῖς (923f.). ἔκ τοι πέπληγμαι· σοὶ γὰρ ἐκπλήσσουσί με / λόγοι παραλλάσσοντες ἔξεδροι φρενῶν (934f.). 550 βουλοίμην δ’ ἂν ἐκ σέθεν κλύειν (904). πάτερ, πυθέσθαι βούλομαι σέθεν πάρα (910).

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Beginn551 und im Laufe seiner Rede552 sowie seine Feststellung der Ungläubigkeit des Theseus553 legen höheres kommunikatives Bewusstsein554 nahe und stellen ihn als adaptiven, unterwürfigen Charakter dar. Diese Tendenz unterstützen allgemeine Reflexionen zu allzu rhetorisierten Reden.555 Zuletzt formuliert Hippolytos eine ταπείνωσις seiner rhetorischen Fähigkeiten auf metapragmatische Weise: ΙΠ. ἐγὼ δ’ ἄκομψος εἰς ὄχλον δοῦναι λόγον, ἐς ἥλικας δὲ κὠλίγους σοφώτερος. ἔχει δὲ μοῖραν καὶ τόδ’·

(986–988)

Hip. Ich bin unfähig, vor großen Mengen zu sprechen, übertreffe nur wenige an Fertigkeit in meinem Alter. Doch auch das kann nützen.

Der Inhalt dieser rhetorisch verwendeten captatio-Strategie steht somit im deutlichen Widerspruch zu seiner strukturierten und argumentativ präzisen Rede556 und zeugt von erhöhter kommunikativer Adaptation des Hippolytos im Vergleich zu Theseus. Doch vor allem verwendet Euripides sie als Mittel der Rezipientenlenkung, um auf die angepasste und bemühte Redeweise des Hippolytos hinzuweisen, die aber erfolglos bleibt. Während Theseus Metapragmatik vor allem zur Abgrenzung und Ablehnung benutzt, verwendet Hippolytos diese Metaebene, um seine Rede und damit auch seine Autorität auf eine offizielle Ebene zu heben (vgl. die strukturierenden Rahmen seiner Rede) und damit seine kommunikative und soziale Macht zu stärken. Gleichzeitig beweist er durch seine ταπεινώσεις, also seine Selbstdarstellung als einfacher Redner (984f. 986–989), Adaptation an den Gesprächs 551 ὅμως δ’ ἀνάγκη, ξυμφορᾶς ἀφιγμένης, / γλῶσσάν μ’ ἀφεῖναι πρῶτα δ’ ἄρξομαι λέγειν, / ὅθεν μ’ ὑπῆλθες πρῶτον ὡς διαφθερῶν / κοὐκ ἀντιλέξοντ’. (990–993). 552 δεῖ δή σε δεῖξαι τῷ τρόπῳ διεφθάρην. (1008). ἓν οὐ λέλεκται τῶν ἐμῶν, τὰ δ’ ἄλλ’ ἔχεις·(1021). 553 Feststellen von Theseus’ mangelnder kommunikativer Kooperation: καὶ δὴ τὸ σῶφρον τοὐμὸν οὐ πείθει σ’ (1007). εἰ μὲν γὰρ ἦν μοι μάρτυς οἷός εἰμ’ ἐγώ, / καὶ τῆσδ’ ὁρώσης φέγγος ἠγωνιζόμην, / ἔργοις ἂν εἶδες τοὺς κακοὺς διεξιών· (1022–1024). οὐδ’ ὅρκον οὐδὲ πίστιν οὐδὲ μάντεων / φήμας ἐλέγξας ἄκριτον ἐκβαλεῖς με γῆς; (1055f.). ὦ θεοί, τί δῆτα τοὐμὸν οὐ λύω στόμα, / ὅστις γ’ ὑφ’ ὑμῶν, οὓς σέβω, διόλλυμαι; / οὐ δῆτα· πάντως οὐ πίθοιμ’ ἂν οὕς με δεῖ, / μάτην δ’ ἂν ὅρκους συγχέαιμ’ οὓς ὤμοσα (1060–1063). 554 Hinzu kommen auch a parte-Kommentare, die seine Gebundenheit an den Schwur signalisieren: ἐμοὶ γὰρ οὐ θέμις πέρα λέγειν. (1033). ὦ θεοί, τί δῆτα τοὐμὸν οὐ λύω στόμα, / ὅστις γ’ ὑφ’ ὑμῶν, οὓς σέβω, διόλλυμαι; (1060f.). ὡς οἶδα μὲν ταῦτ’, οἶδα δ’ οὐχ ὅπως φράσω (1091). 555 τὸ μέντοι πρᾶγμ’ ἔχον καλοὺς λόγους, / εἴ τις διαπτύξειεν, οὐ καλὸν τόδε. (984f.). οἱ γὰρ ἐν σοφοῖς / φαῦλοι παρ’ ὄχλῳ μουσικώτεροι λέγειν (988f.). 556 Nach Goff (1990) 43 wird der agon so auf eine neue Ebene gehoben, da es nun nicht nur darum geht, was gesagt wird, sondern auch wie. Der rhetorische Status zwischen Theseus und Hippolytos wird damit zum Thema.

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partner, den König, der ungern von einem Rangniederen rhetorisch oder sozial übertrumpft werden möchte. Die entgegengesetzte Charakterisierung der Figuren als eskalierend bzw. adaptiv sowie ihr unüberbrückbarer Konflikt rücken zusätzlich in den Mittelpunkt. Metapragmatische Aussagen dienen hier – wie in Sophokles’ Antigone – durch ihren diagnostischen Charakter der Markierung der Kommunikation für Gesprächspartner und Zuschauer.557 Es fällt aber deutlich auf, dass ihre explikative Funktion einen viel größeren Raum als bei Aischylos einnimmt: Bereits in den metapragmatischen Aussagen zu Anfang wird der Ausgang der Unterhaltung plausibilisiert, wenn Theseus von Anfang an das Kriterium seiner Ablehnung formuliert, nämlich Hippolytos’ Charakter. Dem liegt auch eine allgemeine Skepsis gegenüber der Rhetorik zugrunde. Weiterhin dient die Metaebene erneut als Austragungsort von Rangkämpfen – Theseus verfolgt dies konfrontativ, während Hippolytos durch seine Strategie der ταπείνωσις eine defensive Rolle einnimmt, aber doch nicht überzeugen kann. Der Zuschauer wird wiederum kaum zu einer Interpretation der charakterlichen Gedankenwelten der Charaktere angeregt, sondern muss sich im Hinblick auf Theseus’ Unüberzeugbarkeit fragen, wie der plot sonst gelöst werden kann. Somit erhält die Szene einen vorausweisenden Charakter.

3.1.2.5 ἦθος des Sprechers und Autoritätskonflikte Hippolytos’ Charakter ist, wie Haimons, bereits vor Beginn der Szene verunglimpft,558 da Theseus Phaidras Leiche als Beweismittel hat. Eine Überzeugung ist, wie Theseus explizit formuliert, daher schwerlich möglich. Aspekte des Rangunterschieds kommen in dieser Szene weniger zum Tragen: Hippolytos, der als Thronfolger und jüngerer Mann seinem Vater untersteht, verteidigt sich zwar vorsorglich gegen mögliche Vorwürfe einer Usurpation (1015–1020), Hauptaugenmerk liegt aber auf der – aus Theseus’ Sicht – unaufrichtigen Täuschung durch Hippolytos.559 Die charakterliche Diskreditierung des Hippolytos liegt der gesamten Szene zugrunde und wird als Hauptaspekt seines rhetorischen Scheiterns deutlich gemacht.

3.1.2.6 Zusammenfassung In dieser Szene des Hippolytos lenkt Euripides den Blick wiederum auf die Voreingenommenheit des Adressaten, die das rhetorische Scheitern des Sprechers bedingt. Von vorneherein setzt Theseus kommunikative Vorgaben, denen sich 557 Dies zeigt auch der für den Agon übliche metapragmatische Kommentar des Chores (ἀρκοῦσαν εἶπας αἰτίας ἀποστροφήν, / ὅρκους παρασχών, πίστιν οὐ σμικράν, θεῶν. 1036f.). 558 936–980. 559 κοὐκ ἂν ἠπατώμεθα (931).

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Hippolytos unmöglich anpassen kann: Der Zuschauer wird auf die negative Darstellung von Hippolytos’ Charakter sowie auf den Vorrang von τεκμήρια gegenüber Schwüren und Worten aufmerksam gemacht. Dies geschieht explizit durch metapragmatische Aussagen. Obwohl Hippolytos’ Rede strukturiert, argumentativ sinnvoll aufgebaut und angepasst ist, schafft er es nicht, Glaubwürdigkeit zu vermitteln, ohne diejenigen geheimen Informationen preiszugeben, die für einen vollständigen Wissensstand des Theseus und damit für seine eigene Ehrenrettung sorgen würden. Durch seinen eigenen Schwur gegenüber der Amme hat Hippolytos seine späteren Schwüre gegenüber seinem Vater, seine angepasste Argumentation und Rede wertlos gemacht.560 Diese Voreingenommenheit des Theseus wird unterstrichen durch den Kontrast zwischen Hippolytos’ politeness und Theseus’ impoliteness. In den metapragmatischen Aussagen der Charaktere bestätigt sich dieses Charakterverhältnis: Während beide kommunikatives Bewusstsein zeigen – Hippolytos mehr als Theseus –, formuliert Theseus eher ablehnende und ich-bezogene Aussagen, verwendet aber seine Einschätzung des Gesprächspartners in seinen Prolepsen gewinnbringend; Hippolytos gibt sich dagegen interessiert und gesprächspartnerbezogen, wird aber im Lauf des Gesprächs zunehmend verzweifelt und nachdrücklicher – diese vergebliche kommunikative Anpassung, die zuletzt fallen gelassen wird, unterstreicht damit erneut sein Scheitern. Allgemein verwendet Euripides Metapragmatik hier, um den Gesprächsstand zu diagnostizieren und um kommunikative Beurteilungsstandards – Theseus’ Charaktervorurteil – offen zu vermitteln und gleichzeitig Hippolytos’ Scheitern zu erklären.561 Neben tragischer Ironie, enttäuschten Erwartungshaltungen und einer deutlichen Figurencharakterisierung562 illustriert diese Szene auch die Vergeblichkeit von aufrichtiger, angepasster Rhetorik.

560 Goff (1990) 18 weist auf das die Tragödie durchdringende Motiv der Enthüllung hin: »Like Phaidra before him, he is caught in the paradox of the play’s language of revelation.« 561 Dieser Agon findet eine deutliche Parallele in dem später zu besprechenden Agon aus Euripides’ Medea: Medea und Jason verhalten sich beide ablehnend, argumentieren explizit mit ἦθος und empfinden ihre Gesprächspartner als suspekt (s.u.). Als weitere Parallele, die hier aus Platzgründen unbesprochen bleiben soll, darf Medeas Rede an Kreon in Eur. Med. gelten: Medeas ἦθος überschattet dort ihre Argumentation; erst als sie die von Kreon gebotenen Informationen verwendet, kann sie eine Zustimmung für ihren zweitägigen Verbleib in Theben erhalten. Zusätzlich wird das lohnende Aufbrechen der Agonstruktur deutlich, da so das persuasive Projekt des Hippolytos identifiziert und seine Umsetzung bzw. sein Scheitern näher beleuchtet werden kann. 562 Diese Funktionen, allerdings ohne eine rhetorisch-kommunikative festzustellen, schreibt auch Halleran (1995) 226f. der Szene zu.

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3.1.3 Euripides, Medea 446–626 3.1.3.1 Einleitung und Hintergrund Blicken wir auf Euripides’ Medea, die mindestens zwei und höchstens fünf Jahre nach Euripides’ Hippolytos, nämlich 431 v. Chr. aufgeführt563 wurde, so weist der Agon zwischen Jason und Medea durch seinen starken Fokus auf charakterliche Aspekte und die Irrelevanz rhetorischer Strategien Parallelen zum früher verfassten Hippolytos und zum später verfassten sophokleischen Philoktet auf. Jason verstieß Medea, indem er ihr seine Absicht mitteilte, die lokale Königstochter zur Frau zu nehmen – dies erfahren wir durch den Prolog der Amme und durch ihre Unterhaltung mit dem Chor (1–213). Zudem verbannte Kreon in der vorherigen Szene Medea aus Korinth, sodass zwei Ungerechtigkeiten gegen Medea vorliegen.564 Jason kann Medeas Rachemonolog nicht gehört haben.565 Als Anlass darf aber ohne Zweifel die wohl zirkulierende Nachricht der Verbannung Medeas aufgrund ihrer gefährlichen Verstimmung gelten. Somit dient seine Rede oberflächlich dazu, Medea zu beruhigen – immerhin betont er immer wieder sein Wohlwollen und seine Sorge um Medeas Zustand (σὺ δ’ οὐκ ἀνίεις μωρίας Eur. Med. 457. 455f. 459. οὐκ ἂν δυναίμην σοὶ κακῶς φρονεῖν ποτε. 464). Ein weiteres Indiz für Jasons persuasives Projekt ist Medeas spätere Ablehnung einer Hikesie (καὶ τῶνδε γονάτων, ὡς μάτην κεχρῴσμεθα / κακοῦ πρὸς ἀνδρός 497f.), die eindeutig eine Redeintention des Jason definiert, was die Beziehung zu Medea betrifft. Jedoch ist ein wichtiger Unterschied zu beobachten: Jason scheint, wie sich bei genauerer Betrachtung seines Sprachverhaltens zeigt, nur vordergründig überzeugen zu wollen.566 In seiner Besänftigungsrede an Medea, um sie von seinem Wohlwollen zu überzeugen und somit ihre Rachegedanken zu beruhigen – ein persuasives567 Projekt auf Beziehungsebene568 –, findet ­Jason zunächst oberflächlich gute Argumente, aber sein Ton und sein Auftreten passen nicht zu seiner vordergründig zu vermittelnden Botschaft;569 tatsächlich argumentiert Jason vor allem mit Schuldzuweisungen an Medea, verfolgt eine Strategie der remotio. Daher wird sein Charakter von Medea nicht nur aufgrund seiner vorherigen Wiederverheiratung als nicht vertrauenswürdig angesehen,570 563 Mastronarde (2009) 4. 564 Zu den ἀδικίαι vgl. Dubischar (2001) 121. 565 Vgl. Mastronarde (2009) 247. 566 Dies beobachtet auch Scodel (1999b) 27f. 567 Angedeutet durch die Erwähnung von Medeas Zorn: μὴ παύσῃ ποτὲ / λέγουσ᾽ Ἰάσον᾽ ὡς κάκιστός ἐστ᾽ ἀνήρ. / ἃ δ᾽ ἐς τυράννους ἐστί σοι λελεγμένα, / πᾶν κέρδος ἡγοῦ ζημιουμένη φυγῇ (451–454). 568 Anzunehmen aufgrund der Beteuerung seines Wohlwollens, etwa οὐκ ἂν δυναίμην σοὶ κακῶς φρονεῖν ποτε. (464). 569 Dies deutet auch Dubischar (2001) 122 an. 570 Strohm (1957b) 9 zum euripideischen Agon: »Auch dies darf im Vorgriff gesagt werden, daß ein Streitgespräch sich stets an der verschiedenen Wertung von Vergangenem entzündet.«

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sondern erscheint auch dem Zuschauer wegen seines rhetorischen Auftretens in der Szene selbst suspekt. Folglich gehen die beiden im Konflikt auseinander und Medeas Rache verschlimmert sich.571 Der Autor lenkt den Blick auf Medeas Voreingenommenheit, aber auch auf Jasons halbherzig angepasste Persuasion.572 Um persuasive und rhetorische Strategien offenzulegen, soll hier wieder weniger Wert auf die formale Agonstruktur573 gelegt, sondern vielmehr die intercharakterliche Kommunikation betrachtet werden: So werden individuelle Charakterabsichten nicht vernachlässigt und auch selbstreferentielle und metapragmatische Ausdrücke erfahren ihre volle Würdigung.574

3.1.3.2 Argumentativer Aufbau und Sprachverhalten Der Aufbau der Szene folgt dem typischen Schema eines Agons: In seiner ersten Rhesis (446–464) will Jason sein Wohlwollen vermitteln und helfen, fügt aber »belehrenden Tadel«575 an, indem er Medea nahelegt, vernünftig zu sein;576 in ihrer Antwortrhesis (465–519)577 lehnt Medea dies deutlich ab und bietet stattdessen einen Katalog ihrer Leistungen. Der Chor kommentiert dies 520f. mit der Aussage, dass der Zorn zwischen ehemaligen Liebenden problematisch sei. In seiner zweiten Rhesis (522–575)578 rechnet Jason Medea ihre Vorteile durch die Ehe mit ihm auf und betont sein – zumindest früher – uneingeschränktes Wohl 571 Die Relevanz der genaueren Betrachtung von scheiternder Überzeugung in diesem Agon kann mit mythengeschichtlichen Aspekten begründet werden: Dass die Tötung der Kinder durch Medea selbst vor Euripides wohl nicht kanonisch war, ist mittlerweile aufgrund mangelnder Gegenbeweise communis opinio; doch meiner Meinung nach kann diese Innovation anhand des vorliegenden Agons noch deutlicher belegt werden. Denn zunächst stellt der Agon selbst eine Innovation dar, deren Ausgang dem Zuschauer nicht bewusst gewesen sein kann; weiterhin liefert Jason aber auch durch sein Sich-Erklären und sein argumentatives Scheitern selbst die Argumente, die Medea braucht, um ihn zu vernichten: den Tod der Kinder. 572 Gill (1996) 169 sieht den zugrundeliegenden Konflikt zu Recht in ihrem Verantwortungsgefühl gegenüber der Familie begründet: »the great difference between Jason and Medea […] inheres in the extent to which they are sensitive to this conflict between their respective plans and the ties of philia.« 573 Dubischar (2001) 66. 83–96 bezeichnet auch diese Szene als »Abrechnungsagon«. 574 Mastronarde (2009) 247 bemerkt zwar den Anstieg der Metapragmatik, assoziiert sie jedoch ausschließlich mit Sophistik und versäumt, ihre dramatische Funktion zu würdigen: »Euripides’ agon speeches show a great degree of self-conscious rhetorical structuring and do indeed appeal to the taste for display and iconoclastic argumentation associated with the sophists.« 575 Dubischar (2001) 122. 576 Diese Rhesis lässt sich formal auch so beschreiben: »Herstellung der Agonkonfiguration durch Hinzutreten des ἀδίκησας […] [sowie] [z]usätzliche Erzürnung des ἀδικούμενος« Dubischar (2001) 85. 577 »Anklage des ἀδίκησας durch den ἀδικούμενος« Dubischar (2001) 85. 578 »Rechtfertigung des ἀδίκησας« Dubischar (2001) 85.

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wollen; gleichzeitig schließt er erzürnt mit einem Klischee der Frauenfeindlichkeit. 576–578 kommentiert der Chorführer, beide hätten gut gesprochen, der Tatbestand der ἀδικία bleibe aber bestehen. In einem abschließenden stichomythischen Gespräch (579–626)579 eskaliert der Konflikt nun, und es wird ohne Ergebnis diskutiert, ob materieller Nutzen oder Aufrichtigkeit wertvoller sei. Zunächst soll gezeigt werden, worauf der Dichter bei Jasons Scheitern den Fokus legt. Wie bereits erwähnt,580 werden oft die unterschiedlichen Dispositionen und Einstellungen der Figuren als eines der wichtigsten Darstellungsziele dieses Agons bzw. der euripideischen Agone allgemein gesehen. Doch kann noch eine genauere Rezipientenlenkung des Autors beobachtet werden, wenn wir sowohl implizite Plausibilisierungen betrachten als auch die Figuren selbst explizit zu Wort kommen lassen. Zuerst spielt die markierte impoliteness durch Jason, dann Medeas explizite Kritik seines ἦθος wegen der ἀδικία und schließlich differierende Ansichten eine Rolle. Dieser Agon bietet mehr kommunikative Informationen als nur unterschiedliche Dispositionen von Charakteren. Jasons persuasives Ziel in seiner ersten Rhesis ist es scheinbar, Medea zur Vernunft zu bringen und sie wieder dazu zu bringen, ihm zu vertrauen (σὺ δ’ οὐκ ἀνίεις μωρίας 457. 455f. 459. οὐκ ἂν δυναίμην σοὶ κακῶς φρονεῖν ποτε. 464). Während seine Äußerungen und Argumente dies teilweise widerspiegeln, fallen auch widersprüchliche Elemente auf. Sein allgemeines Redeverhalten macht deutlich, dass er nicht durchgängig von seiner wohlwollenden Haltung überzeugt ist und diese wohl nur als Argument vorschiebt: Jason drückt sich in sehr direkten, Faktizität andeutenden Aussagen aus,581 dazu bedient er sich fast nur der 1. P. Sg. und 2. P. Sg. und postuliert somit stetig einen deutlichen Gegensatz zwischen Medea und ihm. Spezifischer sticht hervor, dass seine erste tadelnde Aussage, Medeas Zorn habe zu Problemen geführt, ihr deutlich eine Selbstverschuldung des Leids unterstellt:582 ὀργὴν ὡς ἀμήχανον κακόν (447). Zusätzlich rahmt Jason seine anfängliche Beteuerung des Wohlwollens mit einer unangemessenen Rede,583 indem er ihr ohne Anrede584 Zorn und vergebliche Reden (τραχεῖαν ὀργὴν 447. 579 »Sich zuspitzende Fortführung der Auseinandersetzung« Dubischar (2001) 85. 580 S. Kapitel 3.1.2.1. 581 Sowohl Indikativ Präsens als auch andere Direktive: Futur τοίγαρ ἐκπεσῇ (458). παρὸν (448); Imperativ ἡγοῦ (454). Sein einmaliger Potentialis οὐκ ἂν δυναίμην σοὶ κακῶς φρονεῖν ποτε. (464) muss hier als nachdrücklicher Potentialis verstanden werden. 582 Dies wird auch später ein scheiterndes Argument des Neoptolemos an Philoktet in Soph. Phil. sein. 583 Überblickshaft zur »Erzürnung des ἀδικούμενος« s. Dubischar (2001) 86. 584 Mastronarde (2009) 247 sieht dies als Indiz für die generell fehlende politeness des Jason. Dickey (1996) 40f. weist zu Recht auf die Problematik hin, dass Anreden zum Beginn von Reden auch als Wortregie benutzt werden kann – daher wäre hier die fehlende Anrede genauso gut als ›unnötig‹ zu rechtfertigen, da Medea ja bereits bekannt ist. Allerdings gibt es verschiedene andere Reden, in denen Charaktere sich auch während ihres Gespräches immer

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λόγων ματαίων 450) vorwirft. Hierdurch wird Medea als emotional und ihre Rede als leichtfertig diagnostiziert. Jasons geringer Respekt für sie wird durch impoliteness verdeutlicht. Während er vorgibt, sein Handeln habe nichts mit einer persönlichen Kränkung durch Medea zu tun, und seine Wichtigkeit abwertet (κἀμοὶ μὲν οὐδὲν πρᾶγμα· μὴ παύσῃ ποτὲ / λέγουσ’ Ἰάσον’ ὡς κάκιστός ἐστ’ ἀνήρ· 451f.), betont er die Bedeutung der guten Beziehung mit Herrschern (ἃ δ’ ἐς τυράννους ἐστί σοι λελεγμένα, / πᾶν κέρδος ἡγοῦ ζημιουμένη φυγῇ 453f.), versucht seine neue Beziehung zu rechtfertigen. Im Kontrast hierzu beteuert er seine bereits erfolgte Hilfe für Medea und seinen Wunsch, Medea möge in Korinth verbleiben (κἀγὼ μὲν αἰεὶ βασιλέων θυμουμένων / ὀργὰς ἀφῄρουν καί σ’ ἐβουλόμην μένειν· 455f.); diesem scheinbar wohlwollenden Wunsch setzt er nun aber wieder den Vorwurf der Unvernunft entgegen und sieht die Verbannung als gerechtfertigt an (σὺ δ’ οὐκ ἀνίεις μωρίας, λέγουσ’ ἀεὶ / κακῶς τυράννους· τοιγὰρ ἐκπεσῇ χθονός 457f.). Obwohl wohlwollend scheinende Gedanken in die Rede hineingemischt sind, wirkte bisher der generelle Duktus beleidigend und abwertend. Im Abschluss der Rede fokussiert Jason wiederum sein vermeintliches Wohlwollen. Er erklärt seine Verpflichtung ihr und seinen Kindern gegenüber (ὅμως δὲ κἀκ τῶνδ’ οὐκ ἀπειρηκὼς φίλοις / ἥκω, τὸ σὸν δὲ προσκοπούμενος, γύναι / ὡς μήτ’ ἀχρήμων σὺν τέκνοισιν ἐκπέσῃς / μήτ’ ἐνδεής του· πόλλ’ ἐφέλκεται φυγὴ / κακὰ ξὺν αὑτῇ. 459–463), begründet dies aber mit Medeas untragbarem Verhalten (καὶ γὰρ εἰ σύ με στυγεῖς, / οὐκ ἂν δυναίμην σοὶ κακῶς φρονεῖν ποτε 463f.). Durch diese kontrastive Darstellung seiner unbedingten Gunst stellt Jason sich aber nicht als Ehemann dar, der v.a. an Medeas Person und deren Überzeugung interessiert sei, sondern argumentiert auch mit seinen Kindern (461f.), wirft Medea bei diesem Gunstbeweis erneut implizit ihre Unvernunft585 sowie ihren Hass vor (463f.) und wälzt generell alle Schuld auf sie ab. Die, wenn isoliert auftretend, neutrale Anrede γύναι (460),586 die sonst durch den Kontext587 gefärbt wird, sollte hier aufgrund ihrer engen Stellung zu τὸ σὸν δὲ προσκοπούμενος (460) als positiv verstanden werden. Somit wird der Effekt erreicht, dass Ton und Botschaft oberflächlich kongruieren, implizit aber nicht übereinstimmen: Obgleich die Wohlwollensbezeugung mehrmals ausgesprochen wird, ist sie so von unhöflichen und beleidigenden Elementen, markierten wieder anreden (vgl. etwa Agamemnon an Klytaimestra, Aischyl. Ag. 810–974). Daher kann wohl – ohne die Berechtigung von Dickeys Einwand nivellieren zu wollen – von einer bewussten Wahl des Tons als impoliteness ausgegangen werden, zumal dies mit dem restlichen Sprachverhalten des Jason korreliert. 585 ὅμως δὲ (459). ὡς μήτ’ ἀχρήμων […] μήτ’ ἐνδεής του (461f.). 586 Dickey (1996) 86. 587 Für den positiven Gebrauch aufgrund der Anrede eines positiv geprägten weiblichen Charakters im Stück, vgl. Eur. Alc. 337. 386. 463. 1061; für den negativen Gebrauch vgl. Eur. Hipp. 656: Hippolytos’ Hassrede an die Amme. Für den positiven Gebrauch von Aigeus an Medea, s. 703. 720. 725.

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impoliteness-Strategien, durchwirkt, dass sie nicht aufrichtig erscheint: Jason schiebt die gesamte Schuld an der Situation auf Medeas Verhalten. Medeas Antwortrhesis ist entsprechend abweisend und ebenso beleidigend:588 Ihre Hauptargumente sind, dass ihre Rolle in der Argonautenfahrt wichtiger gewesen sei, als Jason zugeben wolle (475–487); Jasons Schwurbruch (495) sowie ihr daraus resultierendes schlimmes Schicksal (letzter Teil). Ihr allgemeines Sprachverhalten weist, wie Jasons, viele Faktizität andeutende und anklagende Ausdrücke in der 1. oder 2. P. Sg. Indikativ589 auf, die hier als markierte impoliteness-Strategie fungieren.590 Nun wird in dem Agon Fakt gegen Fakt, fast schon diagnostisch, abgerechnet (vgl. z.B. Ausdrücke wie ἔσωσά σ’ 476). Im Einzelnen bemängelt sie vor allem die Taten des Jason, die ihn als unwürdigen und nicht vertrauenswürdigen Gesprächspartner erscheinen lassen: Sie diagnostiziert ihm ein feiges, schamloses Wesen (εἰς ἀνανδρίαν κακόν· 465f. φίλους κακῶς δράσαντ’ ἐναντίον βλέπειν 470. ἀναίδεια 472) aufgrund seines Verrats (προύδωκας ἡμᾶς; οὐκ εὔορκος ὤν 489). Somit bietet sie den Grund für ihre Ablehnung: ἔχθιστος γεγώς 467.591 Diese Ablehnung bzw. Argumentation wird sich wortwörtlich später auch im sophokleischen Philoktet finden; nicht wörtlich, aber der gleiche Gedanke taucht auch in der Ablehnung des Prometheus im Prometheus Vinctus auf, sodass wohl von einem auffälligen Neuaufkommen metapragmatischer Ausdrücke bzw. selbstreferentieller Kommentierungen als Begründung für das eigene Sprachverhalten gesprochen werden kann.592 Daraufhin folgt eine narratio (475–487) mit einem Katalog ihrer Leistungen für Jason;593 hierbei erwähnt sie ihre Rolle bei der Fahrt der Argonauten, ihre Tötung des Drachens und ihr Opfer, ihre Heimat zu verlassen, sowie die indirekte Tötung des Pelias.594 An ihre Schilderung schließt sie den Vorwurf des 588 Geringe politeness und Beleidigungen: ὦ παγκάκιστε, […] / […] εἰς ἀνανδρίαν κακόν· (465f.). ἀναίδεια (472). 589 467. 473. 476. 484. 489. 515. 590 Diese Direktheit war in Hippolytos’ Rhesis (Eur. Hipp. 983–1035) nicht Zeichen von impoliteness, da es sich um eine Verteidigungsrede handelt und von vielen politeness-Ausdrücken gerahmt war. 591 Diese Argumentation begegnet uns mehrmals in älterer wie in jüngerer Zeit: Ps.-Aischyl. Prom. 1040f. (εἰδότι τοί μοι τάσδ’ ἀγγελίας ὅδ’ ἐθώϋξεν· / πάσχειν δὲ κακῶς ἐχθρὸν ὑπ’ ἐχθρῶν οὐδὲν ἀεικές) sowie Soph. Phil. 1284 (ἀρίστου πατρὸς ἔχθιστος γεγώς.), 440/430 v. Chr. bzw. 409 v. Chr. 592 Sinngemäß konnten wir diese Ablehnung auch im Agon des Hippolytos und in dem der Antigone beobachten. 593 Gerahmt durch einen Marker für ihre lange Erzählung: ἐκ τῶν δὲ πρώτων πρῶτον ἄρξομαι λέγειν (475). 594 Möglicherweise ist hier ihre Erzählung geschönt, da in Pindars Version (Pind. P. 4,249) Jason seine eigenen τέχναι für die Drachentötung liefert und Medea neben ihren φάρμακα höchstens an der Tötung des Pelias beteiligt ist (Pind. P. 4,250f.: κλέψεν τε Μήδειαν σὺν αὐτᾷ, τὰν Πελίαο φονόν) – genauso gut kann sich aber Euripides hier auf eine ältere Version beziehen, in welcher Medea den Drachen tötete (s. Mastronarde (2009) 47). Wenn wir davon

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Verrates an (488–491) und betont seinen Schwurbruch (ὅρκων δὲ φρούδη πίστις 492), sodass ihre ablehnende Haltung durch die Darstellung seines Charakters gerechtfertigt wird. Nach ausführlicher emotionaler Darstellung ihres Leides (496–515), in der sie bereits ihre Standhaftigkeit gegenüber Jasons Rhetorik andeutet (καὶ τῶνδε γονάτων, ὡς μάτην κεχρῴσμεθα / κακοῦ πρὸς ἀνδρός 497f.), ruft sie Zeus an (516) und bezeichnet Jason als Betrüger. Hierbei bittet sie Zeus um ein Erkennungszeichen für diesen Typ Mensch (517–519). Der Chor bietet nun eine Warnung vor Medeas Zorn und kommentiert die schlimmen Folgen, die entstehen, wenn Liebende sich streiten (520f.). Jasons folgende Rede weist nun keinerlei Anpassung an die Rezipientin mehr auf:595 Seine Argumente unterstreichen, wie oben Medeas Punkte, dass seine Rolle höher zu bewerten sei als ihre (526), Medeas Vorteile durch die gemeinsame Ehe (534–545), ihre Vorteile und sein durch seine Taten offensichtliches Wohlwollen (546–567) sowie abschließend ein Vorurteil gegen Frauen, Medea sei schlechthin getrieben von der Eifersucht auf die andere Frau (568–575). In einem Segelgleichnis kommentiert er Medeas spitze Zunge (τὴν σὴν στόμαργον, ὦ γύναι, γλωσσαλγίαν 525); gleichzeitig thematisiert er die Notwendigkeit rhetorischer Anstrengung, die er metaphorisch durch die Schifffahrt mit gerefften Segeln ausdrückt (κεδνὸν οἰακοστρόφον / ἄκροισι λαίφους κρασπέδοις 523f.).596 Auf metapragmatischer Ebene fungiert ein Teil dieser Aussage gleichermaßen als Rahmen und als Indikator für Jasons Technik: Er kündigt an, sich einerseits rhetorisch anzustrengen (δεῖ μ’, ὡς ἔοικε, μὴ κακὸν φῦναι λέγειν, 521),597 andererseits seine Gesprächspartnerin zu widerlegen (ἐγὼ δ’, ἐπειδὴ καὶ λίαν πυργοῖς χάριν, 526). Mit der letzten Formulierung nivelliert er gleichzeitig Medeas Äußerung und ihre zugrundeliegende Meinung, sodass dies als feindselige kommunikative Aussage gelten kann – der Ton steht im klaren Widerspruch zur o.g. Botschaft des Wohlwollens.598 Es folgt ein Kampf ums Narrativ, der auch Ausdruck der Beziehungsprobleme zwischen den beiden ist, wenn Jason erklärt, Medea übertreibe (526), da Kypris verantwortlich für Medeas Hilfe und damit seine Rettung sei, nicht Medea selbst (Κύπριν νομίζω τῆς ἐμῆς ναυκληρίας / σώτειραν εἶναι θεῶν τε κἀνθρώπων μόνην 527f.).599 In diesem Zusammenhang macht Jason Medea Komplimente zweiter ausgehen, dass Pindars Version zu Euripides’ Zeit gängig war, wird Medea zu einer unzuverlässigen Erzählerin: Sie verteidigt sich, indem sie den bisher bekannten Mythos auf für sich selbst vorteilhafte Weise erzählt. 595 Mossman (2011) 269 bemerkt Jasons sophistisches Auftreten. 596 Mastronarde (2009) 259. 597 Vgl. etwa Aischyl. Sept. 1: καίρια λέγειν. Damit wird auch hier der Fokus auf Jasons unpassende Argumentation gerückt, die aber misslingt. 598 Bei Haimon in Soph. Ant. war etwa solch eine Art von deutlicher Feindseligkeit nicht zu finden. 599 Dubischar (2001) 310 nennt diese »remotio […] nicht überzeugend […]« und weist auf die »moralisch fragwürdigen Position […]« anderer solcher Kypris–Argumentationen

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Klasse, da er sie jeweils durch ein ἀλλ’ (529) oder ein μείζω γε μέντοι (534) relativiert: Ihren Verstand nennt er λεπτός (529), nennt aber Eros als verantwortlich für seine Rettung; er gibt zu, dass sie ihm auch Hilfe leistete, betont aber ihren größeren Nutzen durch ihre gemeinsame Verbindung (534f.). Es folgt ein explizierender Abschnitt, der Medeas Vorteil mit einem Barbarenklischee deutlich machen soll: Zunächst sei Medeas Gewinn, dass sie nun in Griechenland statt im Barbarenland leben könne und somit in den Genuss von Gesetzen und Gerechtigkeit komme (πρῶτον μὲν Ἑλλάδ’ ἀντὶ βαρβάρου χθονὸς / γαῖαν κατοικεῖς καὶ δίκην ἐπίστασαι / νόμοις τε χρῆσθαι μὴ πρὸς ἰσχύος χάριν 537–539); zweitens habe sie in Griechenland einen guten Ruf für ihre Weisheit erhalten – dies wäre in den ›äußersten Gebieten‹ nicht möglich gewesen (πάντες δέ σ’ ᾔσθοντ’ οὖσαν Ἕλληνες σοφὴν / καὶ δόξαν ἔσχες· εἰ δὲ γῆς ἐπ’ ἐσχάτοις / ὅροισιν ᾤκεις, οὐκ ἂν ἦν λόγος σέθεν 540–542). Diese Strategie des Weisheitslobes erweist sich als unpassend: Medea hatte in ihrer Rede an Kreon eine μείωσις verwendet, in der sie ihren Ruf als Weise verdammte, da er ihr nur Leid und Hass eingebracht habe (εἰμὶ δ’ οὐκ ἄγαν σοφή 305). Im Rahmen ihres Planes, der ja bereits hier ins Rollen gebracht wurde, muss Medea jeden Hinweis auf ihre Weisheit ins Leere laufen lassen, zumal sie auch in der vorhergehenden Szene ihre benachteiligte Stellung hervorhebt. Für den negativen Beigeschmack ihres Rufes kann auch der Kommentar der Amme zu Beginn des Stückes sprechen (39–41), der Medea als schwierige Gegnerin stilisiert und somit Jasons Argument ihres Vorteils durch einen angeblich guten Ruf zunichtemacht. Außerdem ist Jasons Lob auf Griechenland aus Medeas Sicht, aus der Sicht der sie favorisierenden Charaktere und aus Sicht des Publikums unpassend, da im Chorlied zuvor, in welchem der Chor sich offensichtlich auf Medeas Seite schlägt, der Mangel an αἰδώς und das Fehlen von eingehaltenen Eiden in Griechenland explizit besungen wird (439f.).600 Der Zuschauer wird deutlich dahin gelenkt, Jasons Argumente als falsch für Medea gewählt anzusehen, zumal es wahrscheinlich ist, dass Medeas Argumentation mit ihren Leistungen in Kolchis als mythische Tradition gelten darf.601 Darauf hin (vgl. Eur. Hipp. 438. 443–450; Tro. 940–950). Vgl. auch die Argumentation des Gorgias im Helena-Enkomion (Gorg. Hel. 15): εἰ γὰρ ἔρως ἦν ὁ ταῦτα πάντα πράξας, οὐ χαλεπῶς διαφεύξεται τὴν τῆς λεγομένης γεγονέναι ἁμαρτίας αἰτίαν. ἃ γὰρ ὁρῶμεν, ἔχει φύσιν οὐχ ἣν ἡμεῖς θέλομεν, ἀλλ’ ἣν ἕκαστον ἔτυχε· διὰ δὲ τῆς ὄψεως ἡ ψυχὴ κἀν τοῖς τρόποις τυποῦται. 600 Mastronarde (2009) 261 Für die Parteinahme der Amme, des Pädagogen und des Chores für Medea, s. Dubischar (2001) 238. Für die Herausstellung des Eidbruches als dramatisches Mittel, s. Dubischar (2001) 239f; Allan (2007). 601 Im dritten und vierten Buch der Argonautika des Apollonios Rhodios wird Medea deutlich als Akteurin dargestellt (Moreau (1994) 30–33): Sie gibt Jason das Zaubermittel gegen die Stiere des Ares (Apoll. Rhod. 3,948–1145) und versetzt den Drachen in einen Schlaf, sodass Jason das Vlies holen kann (Apoll. Rhod. 4,109–211). Vermutlich wurde Medeas Hilfe schon in den Ehoien erwähnt (Seeliger (1894) 2487f.), sicher jedoch in den Naupaktien (fr. 5–9 Davies); als älteste zusammenhängende Darstellung kann Pind. P. 4,213–250 gelten, wobei besonders Pind. P. 4,220–223. 232–233 auf Medeas Hilfe durch φάρμακα (παμφαρμάκου

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wurde er auch durch Jasons Agonrahmen δεῖ μ’, ὡς ἔοικε, μὴ κακὸν φῦναι λέγειν (521) aufmerksam gemacht. Auch in Jasons Begründung für die Wichtigkeit und den Vorzug von Ruhm wird die Divergenz zu seiner Gesprächspartnerin klar: Er betont, wie wichtig für ihn der Ruhm sei, und wertet dabei andere Werte wie Reichtum oder die Musenkunst ab (εἴη δ’ ἔμοιγε μήτε χρυσὸς ἐν δόμοις / μήτ’ Ὀρφέως κάλλιον ὑμνῆσαι μέλος, / εἰ μὴ ’πίσημος ἡ τύχη γένοιτό μοι. 542–544).602 Der Agon-Rahmen, den Jason anfügt, nimmt seine Bemerkung vom Anfang wieder auf (δεῖ μ’, ὡς ἔοικε, μὴ κακὸν φῦναι λέγειν, / ἀλλ’ ὥστε ναὸς κεδνὸν οἰακοστρόφον / ἄκροισι λαίφους κρασπέδοις ὑπεκδραμεῖν / τὴν σὴν στόμαργον, ὦ γύναι, γλωσσαλγίαν. 522–525): Er spricht nicht wahllos, sondern gezielt, um Medea zu überzeugen, und ist sich der agonalen Redesituation bewusst (τοσαῦτα μέν σοι τῶν ἐμῶν πόνων πέρι / ἔλεξ’· ἅμιλλαν γὰρ σὺ προύθηκας λόγων 545f.).603 Nun rechtfertigt Jason implizit, ohne seinen Eidbruch einzugestehen,604 sein Handeln: Er betont, klug und als Freund für sie und ihre Kinder gehandelt zu haben (ἐν τῷδε δείξω πρῶτα μὲν σοφὸς γεγώς, / ἔπειτα σώφρων, εἶτα σοὶ μέγας φίλος / καὶ παισὶ τοῖς ἐμοῖσιν – ἀλλ’ ἔχ’ ἥσυχος 548–550).605 Er begründet dies mit seiner unsicheren Stellung und Armut in Korinth (ἐπεὶ μετέστην δεῦρ’ Ἰωλκίας χθονὸς / πολλὰς ἐφέλκων συμφορὰς ἀμηχάνους, / τί τοῦδ’ ἂν εὕρημ’ ηὗρον εὐτυχέστερον / ἢ παῖδα γῆμαι βασιλέως φυγὰς γεγώς; 551–554). Medeas Vorwurf, dass dies gegen sie persönlich oder ihre Kinder gerichtet sei, wird thematisiert (οὐχ, ᾗ σὺ κνίζῃ, σὸν μὲν ἐχθαίρων λέχος, / καινῆς δὲ νύμφης ἱμέρῳ πεπληγμένος, / οὐδ’ εἰς ἅμιλλαν πολύτεκνον σπουδὴν ἔχων· 555–557) und widerlegt (ἅλις γὰρ οἱ γεγῶτες οὐδὲ μέμφομαι· 558). Stattdessen bietet Jason seine Beweggründe für die Neuverheiratung, die Medea wiederum von seinem Wohlwollen überzeugen sollen: 1) Leben in Sicherheit und gesicherten Verhältnissen (ἀλλ’ ὡς, τὸ μὲν μέγιστον, οἰκοῖμεν καλῶς / καὶ μὴ σπανιζοίμεσθα, γιγνώσκων ὅτι / πένητα φεύγει πᾶς τις ἐκποδὼν φίλος 559–561);606 2) angemessene Erziehung für seine schon vorhandenen Kinder, Pind. P. 4,233) hinweisen (s.a. Sophokles TrGF IV fr. 336–349 Radt für Evidenz eines Stückes Κολχίδες) – auch wenn sie freilich den Drachen nicht eigenhändig getötet hat (vgl. Pind. P. 4). Insofern hat Medea zumindest teilweise Recht, wenn sie auf ihren Leistungen besteht – dies wird auch den Zuschauern bewusst gewesen sein. 602 Zu Recht weist Mastronarde (2009) 262 mit Mezzabotta (1994) auf die Ironie der Figur des liebenden Orpheus hin, dessen Liebe auch dem zeitgenössischen Publikum bekannt gewesen sein muss. 603 Für weitere Agon-Rahmen s. Mastronarde (2009) 546 Zum ernstgemeinten ­Sprechen Jasons s. Dubischar (2001) 311 Anm. 318. Dubischar (2001) 310 betont richtig die verdächtige Charakterzeichnung, die Jason durch diese Aussage erfährt. S.a. Lloyd (1992) 43. 604 Dubischar (2001) 310. 605 »unilateral and self-centered planning for the future«, Mastronarde (2009) 263. 606 NB die Medea und ihn einschließende Verwendung der 1. P. Pl. οἰκοῖμεν καλῶς / καὶ μὴ σπανιζοίμεσθα (559f.).

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und zwar durch das Zeugen weiterer Kinder von gehobenem Stand (παῖδας δὲ θρέψαιμ’ ἀξίως δόμων ἐμῶν / σπείρας τ’ ἀδελφοὺς τοῖσιν ἐκ σέθεν τέκνοις / ἐς ταὐτὸ θείην, καὶ ξυναρτήσας γένος / εὐδαιμονοίην. σοί τε γὰρ παίδων τί δεῖ; / ἐμοί τε λύει τοῖσι μέλλουσιν τέκνοις / τὰ ζῶντ’ ὀνῆσαι. μῶν βεβούλευμαι κακῶς; 562–567). Diese Argumente sind zweifelsohne egoistisch607 und in keiner Weise adaptiv Medea gegenüber, zumal Jason seine Argumentation abschließt mit der Aussage, Medea benötige keine weiteren Kinder, für ihn selbst sei dies aber wichtig. Es fällt außerdem auf, dass Jason an zentraler Stelle von der ersten Person Plural in den Singular wechselt,608 markierte politeness-Strategien aufgibt. Statt einer an sie angenäherten Argumentation schließt Jason seine Rede mit dem Vorwurf der Liebeseifersucht (οὐδ’ ἂν σὺ φαίης, εἴ σε μὴ κνίζοι λέχος 568) und der frauenfeindlichen Verallgemeinerung, dass Frauen eifersüchtig seien (ἀλλ’ ἐς τοσοῦτον ἥκεθ’ ὥστ’ ὀρθουμένης / εὐνῆς γυναῖκες πάντ’ ἔχειν νομίζετε, / ἢν δ’ αὖ γένηται ξυμφορά τις ἐς λέχος, / τὰ λῷστα καὶ κάλλιστα πολεμιώτατα / τίθεσθε. 569–573a). Zuletzt wünscht sich Jason noch, dass das Geschlecht der Frauen unnötig zur Fortpflanzung sei (χρῆν γὰρ ἄλλοθέν ποθεν βροτοὺς / παῖδας τεκνοῦσθαι, θῆλυ δ’ οὐκ εἶναι γένος· / χοὕτως ἂν οὐκ ἦν οὐδὲν ἀνθρώποις κακόν 573b–575). Durch diesen emotionalen Ausbruch wird die Kontrarietät der vorherigen Argumente noch verstärkt und der Agon eskaliert. Auch der Chor bestätigt diese Sicht, gesteht Jason zwar eine gute rhetorische Ausgestaltung zu (Ἰᾶσον, εὖ μὲν τούσδ’ ἐκόσμησας λόγους· 576), stellt aber die Problematik seiner Botschaft fest, die nämlich ungerecht und ungerechtfertigt sei (ὅμως δ’ ἔμοιγε, κεἰ παρὰ γνώμην ἐρῶ, / δοκεῖς προδοὺς σὴν ἄλοχον οὐ δίκαια δρᾶν 577f.) – damit widerlegt der Chor Jasons gesamte Aussage und der Autor lenkt den Blick des Publikums auf Jasons suspekten Charakter.609 Im folgenden stichomythischen Gespräch ist ein Disput über Anpassungs­ fähigkeit und Starrsinn im Allgemeinen sowie spezifisch über den genauen Grund für Medeas Zorn. Im Anschluss an das Urteil des Chores antwortet Medea mit einer Gnome, in der sie ebenfalls auf die Ungerechtigkeit Jasons (ἄδικος ὢν 580), aber gleichzeitig auf die rhetorische Ausgestaltung seiner Rede hinweist (σοφὸς λέγειν / πέφυκε 580f.) – diese komme ihr, wie vielen euripideischen Cha-

607 Unterstützt durch die 1. P.Sg. εὐδαιμονοίην, die seine ›Maßnahme‹ des Zeugens weniger um der Kinder mit Medea willen wirken lässt, sondern eher um sein eigenes Glück zu befördern, s. die Medea-Edition von Diggle (1981–1994), vgl. Mastronarde (2009) 265. 608 Bemerkt von Gill (1996) 163 Anm. 246. 609 Dubischar (2001) 310f. sieht hierin einen Hinweis auf die »auktorial intendierte[.] Rezeptionsperspektive«. Vgl. Mastronarde (2009) 266 für den Vorwurf der οὐ δίκαια an die zeitgenössische Sophistik; s. Hose (1990) 221f. für die generelle Rolle des Chores (zitiert bei Dubischar (2001) 311).

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rakteren,610 trügerisch vor (γλώσσῃ γὰρ αὐχῶν τἄδικ’ εὖ περιστελεῖν 582). Die Inkonzinnität zwischen Jasons rhetorischer Ausgestaltung und seinem charakterlichen Anstand wird erneut diagnostiziert: ὡς καὶ σὺ μή νυν εἰς ἔμ’ εὐσχήμων γένῃ / λέγειν τε δεινός (584f.). Medea exemplifiziert dies mit einem Enthymem: Wäre Jason anständig, hätte er sie erst von der Idee der neuen Heirat überzeugt (χρῆν σ’, εἴπερ ἦσθα μὴ κακός, πείσαντά με / γαμεῖν γάμον τόνδ’, ἀλλὰ μὴ σιγῇ φίλων. 586f.). Insofern wird deutlich, warum Medea ihn ablehnt: Besteht eine Unzulänglichkeit an positivem Charakter, kann auch Rhetorik nicht helfen. Diesen suspekten Charakter unterstreicht Jason selbst durch seine Ironie in der Aussage, er hätte sie niemals überzeugen können (καλῶς γ’ ἄν, οἶμαι, τῷδ’ ὑπηρέτεις λόγῳ, / εἴ σοι γάμον κατεῖπον, 588f.). Durch den Vorwurf von Medeas ungezügeltem Zorn verstärkt er die markierte impoliteness seiner Rede (ἥτις οὐδὲ νῦν / τολμᾷς μεθεῖναι καρδίας μέγαν χόλον. 589b–590). Auf diesen Vorwurf antwortet Medea mit einem Gegenvorwurf der Fremdenfeindlichkeit um seines sozialen Aufstieges willen: οὐ τοῦτό σ’ εἶχεν, ἀλλὰ βάρβαρον λέχος / πρὸς γῆρας οὐκ εὔδοξον ἐξέβαινέ σοι (591f.).611 Jason streitet dies nur implizit ab, da er es lediglich verneint, wegen einer anderen Frau diese Ehe einzugehen (μὴ γυναικὸς οὕνεκα 593); stattdessen begründet er sein Tun mit der – faktisch wohl unbegründeten612 – Rettung Medeas (σῷσαι θέλων / σέ 595f.), die allerdings durch seinen eigenen sozialen Aufstieg als neuer Gemahl der Königstochter bedingt wird (καὶ τέκνοισι τοῖς ἐμοῖς ὁμοσπόρους / φῦσαι τυράννους παῖδας, ἔρυμα δώμασι 596f.). Insofern beteuert Jason in einer nun inhaltlichen Inkonzinnität zwar sein Wohlwollen für Medea, tut dies aber genau durch die Handlung, die Medeas Kritikpunkt war.613 Sein Anliegen muss angesichts Medeas Unverrückbarkeit scheitern, er kann sein Tun nicht ungeschehen machen und verweigert sich einer Aufgabe seines Standpunktes. Dass deutlich wird, wie er Medea immer wieder missversteht, unterstreicht sein Scheitern; ebenso scheint seine generell kalte Berechnung für seinen Vorteil nicht zu seinem Gesprächspartner zu passen.614 Im Folgenden wird dargestellt, wie sich der Konflikt immer weiter zuspitzt: Medea lehnt nun Jasons ersehnten Lebensentwurf in Reichtum und Sicherheit 610 γλώσσῃ γὰρ αὐχῶν τἄδικ’ εὖ περιστελεῖν (582). 584f. ὡς καὶ σὺ μή νυν εἰς ἔμ’ εὐσχήμων γένῃ / λέγειν τε δεινός (584f.). Vgl. etwa Eur. Hipp. 486–489. S. seit neuestem Karamanou (2017) 190 für eine ausführliche Liste von euripideischen Passagen, die Skepsis gegenüber eloquenten Sprechern ausdrücken. S.a. Scodel (1999b) 130. 611 Vgl. Mastronarde (2009) 268. 612 Vgl. Mastronarde (2009) 269. 613 Vgl. Mastronarde (2009) 268. 614 Mastronarde beobachtet umfassend: »In the agon-scene Jason in fact suggests a competition, which he assumes he wins in terms of wisdom/cleverness and planning well, as he boasts of the calculations by which he determined to take a new wife to benefit his future prospects and those of his children. Medea, however, outdoes him in every way, until her bouleumata and contriving entrap their author herself.« Mastronarde (2009) 14.

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ab, da er für sie Unglück bedeute (μή μοι γένοιτο λυπρὸς εὐδαίμων βίος / μηδ’ ὄλβος ὅστις τὴν ἐμὴν κνίζοι φρένα 598f.) – dies hatte sie bereits vorher ausdrücklich deutlich gemacht. Jason antwortet nun mit einem Gedanken, der sehr genau den Unterschied zwischen ihren Wesensarten wiedergibt: ΙΑ. οἶσθ’ ὡς μέτευξαι, καὶ σοφωτέρα φανῇ·615 600 τὰ χρηστὰ μή σοι λυπρὰ φαίνεσθαι ποτέ, μηδ’ εὐτυχοῦσα δυστυχὴς εἶναι δοκεῖν. (600–602) Ja. Dir ist klar, dass du klüger wärst, würdest du dir anderes wünschen? 600 So könnte dir das Nützliche nie betrüblich scheinen und du würdest dich nie unglücklich fühlen, wenn du eigentlich glücklich bist.

Jason meint, Medea tue besser daran, ihre Wünsche an die Gegebenheiten anzupassen und somit auf einfache Weise glücklich zu werden, da sie über alles Lebensnotwendige und genügend materielle Mittel verfüge; im Moment schätze sie diese aber schlicht falsch ein. Erneut vermissen wir hier eine Anpassung an den Gesprächspartner, da Jason im Gegensatz zu Medea annimmt, man könne seine Einstellung und sein Werteverständnis leicht ändern – Jason selbst tut dies als Schützling des Herrscherhauses jedoch auch nicht. Die negative Charakterzeichnung Jasons erfährt durch diese Aussage, nachdem seine Berechnung ausreichend deutlich wurde, einen Höhepunkt. Wie erwartet, erscheint Medea dies höhnisch (ὕβριζ’ 603) und sie weist auf ihre gegensätzlichen Situationen hin (ἐπειδὴ σοὶ μὲν ἔστ’ ἀποστροφή, / ἐγὼ δ’ ἔρημος τήνδε φευξοῦμαι χθόνα. 603f.). Hierauf reagiert Jason erneut mit einer sophistischen Argumentation, die indirekt auch auf das Naturrecht abzielt: Sie habe ihr Unglück selbst gewählt (αὐτὴ τάδ’ εἵλου· μηδέν’ ἄλλον αἰτιῶ 605). Medea wirft ihm nun seine Vergehen vor (Betrug trotz ihrer Ehe, 606), woraufhin Jason ihr den Fluch auf das Königshaus vorwirft (607). Um die Eskalation beinahe zu vollenden, fügt Medea einen Fluch auf Jasons neue Familie hinzu, was auch auf seine jetzigen Kinder anspielt616 (καὶ σοῖς ἀραία γ’ οὖσα τυγχάνω δόμοις 608). Jason gibt nun endgültig auf: ὡς οὐ κρινοῦμαι τῶνδέ σοι τὰ πλείονα (609); um seine Sicherheit und die seiner Familie zu gewährleisten, fügt er jedoch eine Beschwichtigung hinzu, indem er Medea Unterstützung, freies Geleit sowie 615 Im Gegensatz zu Mastronarde, der am Ende dieses Verses ein Interrogativsemikolon setzt, bevorzuge ich hier die Interpunktion mit einem Hochpunkt: In Übereinstimmung mit K-G §397 A.3 sehe ich die ursprünglich interrogative Wendung οἶσθ’ ὡς + aor. imp. als grammatikalisiert im Sinne eines Imperativs verwendet an. Eine interrogative Bedeutung ginge zudem völlig an der Pragmatik der Verse 600–602 vorbei: Jason gibt einen Ratschlag und stellt keine echte Frage. Der einführende Vers 600 muss also eher als pragmatischer Rahmen verstanden werden denn als Frage. Für den Hinweis auf diesen Unterschied danke ich Michael Erler. 616 Vgl. Mastronarde (2009) 270.

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den Schutz seiner Gastfreunde zusagt (610–613). Allerdings kombiniert er diese freundliche Aussage mit zwei Beleidigungen: Medea sei töricht, wenn sie dies nicht annehme (καὶ ταῦτα μὴ θέλουσα μωρανεῖς, γύναι 614) und sie habe mehr Vorteil, wenn sie von ihrem Groll ablasse (λήξασα δ’ ὀργῆς κερδανεῖς ἀμείνονα 615). Damit missachtet er ihre Ausgangsposition und hat geringe Chancen, ihr sympathisch zu erscheinen. Medea lehnt dies dezidiert ab (616–618), sodass nun Jason bei den Göttern schwört, er sei Medea und den Kindern wohlgesonnen (619f.). Er macht aber Medea für die Konsequenzen aus ihrer Ablehnung (αὐθαδίᾳ 621) verantwortlich und sagt ihr Leid voraus (τοιγὰρ ἀλγυνῇ πλέον 622b). Medea schickt ihn weg (χώρει 623) und droht ihrerseits unter Hinweis auf einen Gott (624f.).617 Zahlreiche Imperative unterstreichen diese Ablehnung (μήδ’ ἡμῖν δίδου 617. χώρει 623. νύμφευ’ 625), die wohl auch durch Jasons remotio-Strategie zu begründen ist. Damit ist das kommunikative Projekt des Jason, das die Rehabilitierung der Beziehung und damit das aktive Vermeiden von Medeas Rache als Ziele hatte, gescheitert. Hierbei wurden zunächst auf impliziter Ebene Aspekte der impoliteness, später explizite Kritik an seinem Charakter aufgrund der ἀδικίαι und schließlich grundsätzlich unterschiedliche Ansichten der Charaktere als Plausibilisierungskomponenten deutlich. Dieser Agon bot mehr kommunikative Informationen als nur unterschiedliche Dispositionen von Charakteren.

3.1.3.3 Rhetorische Adaptation Betrachten wir die Art, wie Jason sich in seiner ersten Rhesis an seine Rezipientin anpasst, sehen wir, dass Euripides auch auf Jasons mangelnde rhetorische Anpassung hinweisen möchte: Durchweg nahm Jason Schuldzuweisungen an Medea vor. Zudem greift Jason zwar auf, was ihm wohl von Medea zu Ohren gekommen sein muss: ΙΑ. μὴ παύσῃ ποτὲ λέγουσ᾽ Ἰάσον᾽ ὡς κάκιστός ἐστ᾽ ἀνήρ. ἃ δ᾽ ἐς τυράννους ἐστί σοι λελεγμένα, πᾶν κέρδος ἡγοῦ ζημιουμένη φυγῇ

(451–454)

Ja. Verkünde ruhig ohne Unterlass, dass Jason der schlechteste Mann ist. Bei allem, was du gegen die Herrscher gesagt hast, sieh es als Gewinn an, wenn du nur mit Verbannung gestraft wirst.

617 Mastronarde (2009) 272 weist darauf hin, dass diese Drohung wohl a parte gesprochen wurde und somit v.a. für die Zuschauer bestimmt gewesen sein muss – doch auch intradramatisch ergibt eine Drohung Medeas Sinn.

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Er wertet es jedoch ab, indem er die Irrelevanz des Gesagten feststellt. Es trifft Annahmen über den geistigen Zustand des Gesprächspartners, jedoch gelingt ihm hierbei nur eine falsche Einschätzung: Schon kurz zuvor schrieb er Medeas τραχεῖαν ὀργήν (447) zu.618 Statt einfühlsam wirkt der Einsatz und die Mitteilung dieses Bezugs auf den Gesprächspartner provozierend. Den gleichen Mechanismus mit falschen Annahmen über Medeas Disposition beobachten wir, als er ihr Eifersucht vorwirft (σοὶ δ’ ἔστι μὲν νοῦς λεπτός 529. οὐχ, ᾗ σὺ κνίζῃ 555. οὐδ’ ἂν σὺ φαίης, εἴ σε μὴ κνίζοι λέχος 568). Vorher hatte Medea eigentlich bemängelt, er habe den Schwur gebrochen und ihr gegenüber Unaufrichtigkeit gezeigt. Jasons Annahme wirkt herablassend – vor allem im späteren Kontext des sexistischen Vorurteils (569–573a) – und daher eskalierend. Eine eskalierend gebrauchte Annahme über den anderen ist auch in Jasons Implikation zu bemerken, es sei einfach, die eigene Einstellung zu ändern: ΙΑ. οἶσθ’ ὡς μέτευξαι, καὶ σοφωτέρα φανῇ· Ja. Dir ist klar, dass du klüger wärst, würdest du dir anderes wünschen?

(600)

Hiermit beweist er zwar Bewusstsein für fremde Meinungen, aber keinerlei Sensibilität für die individuelle Situation seines Gegenübers. Mit diesen Annahmen gelingt es dem Autor, Jason seine Gesprächspartnerin aus der Fassung bringen zu lassen und sich so die Oberhand im Gespräch zu bewahren. Dieses pragmatische Ziel deckt sich allerdings nicht mit dem übergeordneten Ziel des Jason, Medea zu besänftigen. Im Gegensatz zu Jasons eskalierenden Bezügen auf seine Gesprächspartnerin zeigt Medea keinerlei Anzeichen eines Bewusstseins für den mentalen Zustand des Jason, da sie seine Versöhnungsversuche strikt ablehnt und nie Perspektivübernahmen vornimmt – sie kritisiert Jasons Taten, aber nicht seine Gedanken oder Gefühle. Im Gegenteil macht die von ihr aufgestellte Problematik des statischen Charakters eine Perspektivübernahme schlicht unmöglich und irrelevant – sie sieht die Worte des Jason als Charade und nicht als Äußerung seines Gemütszustandes. Ihr Wunsch nach einem äußerlichen Kennzeichen,619 an welchem man den Charakter eines Menschen erkennen könne, unterstreicht ihre mangelnde Bereitschaft zur Perspektivübernahme (517–520).

618 Das Urteil der absichtlichen Fehleinschätzung trifft auch Scodel (2017) 27. 619 Vgl. hierzu die ähnliche Konstellation und Theseus’ Wunsch nach äußerlichen Kennzeichen für Betrüger in Eur. Hipp. 915–935.

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3.1.3.4 Metapragmatik: Häufigkeit, Gebrauch und explizite Plausibilisierung Eine wichtige Rolle spielen zudem auch die zahlreichen metapragmatischen Aussagen:620 Sie finden sich bei beiden involvierten Charakteren, jedoch verwendet Jason sie häufiger (25 vs. 16). Dies kann mit der kommunikativen Haltung des Jason begründet werden, da er definitiv ein persuasives Projekt verfolgt.621 Wie auch schon in den oben besprochenen Szenen weist die Hauptfigur, die überzeugen möchte, mehr solche Aussagen auf. Metapragmatik wird hier zwar auch deklarativ, v.a. aber explikativ für das gestörte Verhältnis der Charaktere und den Ausgang des Gespräches – Medeas Ablehnung – verwendet. Jedoch benutzt Jason diese Elemente nicht mit Gewinn, sondern eskalierend: Er geht zwar auf das von ihr Gesagte ein,622 nivelliert es aber (ἃ δ’ ἐς τυράννους ἐστί σοι λελεγμένα, 453). In seiner zweiten Rhesis rahmt er das gesprochene Wort so, dass neben seiner rhetorischen Struktur auch sein Selbstbewusstsein bezüglich seiner Inhalte herauskommt.623 In zwei Passagen wertet er zusätzlich Medea und ihre Rede ab: τὴν σὴν στόμαργον, ὦ γύναι, γλωσσαλγίαν (525). ἐγὼ δ’, ἐπειδὴ καὶ λίαν πυργοῖς χάριν (526). Medea positioniert sich ebenso mit metapragmatischen Aussagen: Sie wertet Jason ab (ὦ παγκάκιστε, τοῦτο γάρ σ’ εἰπεῖν ἔχω, / γλώσσῃ μέγιστον εἰς ἀνανδρίαν κακόν· 465f.), sich selbst auf (ἐγώ τε γὰρ λέξασα κουφισθήσομαι / ψυχὴν κακῶς σε καὶ σὺ λυπήσῃ κλύων. 473f.) und strukturiert ihre Rede einmalig, wobei sie Vollständigkeit vermittelt (ἐκ τῶν δὲ πρώτων πρῶτον ἄρξομαι λέγειν. 475). Am Ende ihrer Rhesis unterstreicht sie ihre Haltung mit einer expliziten Ablehnung Jasons.624 Nach Jasons zweiter Rhesis lehnt Medea seine Annäherungsversuche erneut auf metapragmatischer Ebene ab und begründet dies mit ihrer Skepsis gegenüber Jasons jetzigen schlauen und daher täuschenden Reden und gleichzeitig mit Jasons vorherigem Schweigen, wenn er sie damals eigentlich hätte überzeu-

620 Insgesamt: ⌀ 24% der Verse; Rhesisformen: ⌀ 20% der Verse; Stichomythie: ⌀ 35% der Verse. 621 Dies zeigte sich auch bei Haimon und Hippolytos. Wie in Agonen üblich, kommentiert auch der Chor die Reden der Figuren: Ἰᾶσον, εὖ μὲν τούσδ’ ἐκόσμησας λόγους· (576). 622 μἠ παύσῃ ποτὲ / λέγουσ᾽ Ίάσον᾽ ὡς κάκιστός ἐστιν ἀνήρ. (451f.). 623 δεῖ μ’, ὡς ἔοικε, μὴ κακὸν φῦναι λέγειν, (522). ἀλλ’ οὐκ ἀκριβῶς αὐτὸ θήσομαι λίαν (532). ὡς ἐγὼ φράσω (535). πρῶτον μὲν (536). τοσαῦτα μέν σοι τῶν ἐμῶν πόνων πέρι / ἔλεξ’· ἅμιλλαν γὰρ σὺ προύθηκας λόγων. (545f.). ἃ δ’ ἐς γάμους μοι βασιλικοὺς ὠνείδισας, / ἐν τῷδε δείξω πρῶτα μὲν σοφὸς γεγώς, (547f.). μῶν βεβούλευμαι κακῶς; (567). 624 ὅρκων δὲ φρούδη πίστις, οὐδ’ ἔχω μαθεῖν (492). φεῦ δεξιὰ χείρ, ἧς σὺ πόλλ’ ἐλαμβάνου, / καὶ τῶνδε γονάτων, ὡς μάτην κεχρῴσμεθα / κακοῦ πρὸς ἀνδρός, ἐλπίδων δ’ ἡμάρτομεν. (496–498).

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gen sollen. Euripides lässt sie damit ihre Ablehnung625 explizit begründen und lenkt so den Blick des Publikums auf diesen Aspekt:626 ΜΗ. ἐμοὶ γὰρ ὅστις ἄδικος ὢν σοφὸς λέγειν πέφυκε, πλείστην ζημίαν ὀφλισκάνει· γλώσσῃ γὰρ αὐχῶν τἄδικ’ εὖ περιστελεῖν, τολμᾷ πανουργεῖν· ἔστι δ’ οὐκ ἄγαν σοφός. ὡς καὶ σὺ μή νυν εἰς ἔμ’ εὐσχήμων γένῃ λέγειν τε δεινός. ἓν γὰρ ἐκτενεῖ σ’ ἔπος· χρῆν σ’, εἴπερ ἦσθα μὴ κακός, πείσαντά με γαμεῖν γάμον τόνδ’, ἀλλὰ μὴ σιγῇ φίλων.

580

585 (580–587)

580 Me. Aus meiner Sicht ist der, der schlau redet, obwohl er innerlich unaufrichtig ist, der höchsten Strafe schuldig. Denn er plustert seine Rede auf, um sein Unrecht zu verbergen: Damit begeht er ein schamloses Verbrechen, doch ist er nicht allzu weise. Und ebenso versuche auch du nicht, vor mir mit schönen Worten Eindruck zu schinden. Denn ein einziges Wort bringt dich zu Fall: 585 Du hättest erst mich, wenn du nicht so schändlich wärst, überzeugen und erst dann diese Ehe eingehen müssen – aber nicht ohne mich zu informieren.

Diese metapragmatische Aussage korrespondiert mit Jasons Aussage, er wolle sich rhetorisch anstrengen, um Medea zu überzeugen: δεῖ μ’, ὡς ἔοικε, μὴ κακὸν φῦναι λέγειν (522). Durch diesen expliziten Hinweis macht der Autor sein Publikum auf das Thema der angepassten Rhetorik (μὴ κακὸν […] λέγειν) aufmerksam: Bald fällt dem achtsamen Zuschauer auf, dass Jason keineswegs gut spricht, um Medea zu überzeugen. Sowohl redeinterne als auch -externe Aspekte machen eine intercharakterliche Kommunikation unmöglich. Indem dem Zuschauer der Grund für Medeas Ablehnung aber explizit geboten wird, fällt die Interpretation des Innenlebens der Figuren weg: Stattdessen wird der Fokus auf Medeas Unverrückbarkeit als Charakter, auf Jasons unangepasste Rede und auf mögliche Lösungswege des plots verschoben. Insofern wurde deutlich, dass – neben der deutlich höheren Anzahl an metapragmatischen Aussagen als bei Aischylos627 – beide Charaktere bewusst reden, sich aber nicht aufeinander einlassen, sondern das Gespräch durch den Wechsel auf die Metaebene eher eskalieren lassen, also damit impoliteness-Strategien 625 Jason reagiert hierauf ebenso abwehrend, indem er meint, er hätte Medea auch bei einer Nachfrage im Vorhinein nicht überzeugen können (καλῶς γ’ ἄν, οἶμαι, τῷδ’ ὑπηρέτεις λόγῳ, / εἴ σοι γάμον κατεῖπον, ἥτις οὐδὲ νῦν 588f.). Mit zwei Rahmen beendet er das Gespräch (ὡς οὐ κρινοῦμαι τῶνδέ σοι τὰ πλείονα. 609) und betont die Wahrhaftigkeit seiner Aussagen (ἀλλ’ οὖν ἐγὼ μὲν δαίμονας μαρτύρομαι 619). 626 In diesem Abschnitt zähle ich drei metapragmatische Aussagen: Eine allgemeine Aussage zur Täuschung (580–583); die konkrete Anwendung auf Jason und die kommunikative Situation (584f.) sowie die Aussage zur früher nötigen Überzeugung (586f.). 627 Vgl. Tabelle 1.

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verwenden. Hier diente die Verwendung von Metapragmatik wieder einer Verhandlung von kommunikativer Autorität und sozialen Rängen, wobei keiner der Charaktere nachgab. Diese Aussagen bedingen teilweise die Eskalation des Gespräches im Rahmen eines hohen kommunikativen Bewusstseins, fungieren aber gleichzeitig als Marker für das Publikum, mit denen Scheitern und die Unmöglichkeit der Überzeugung deutlich gemacht wird. Besonders ist hier, wie auch schon in der Antigone und dem Hippolytos zuvor, dass der Grund für Jasons Scheitern explizit wird: ἐμοὶ γὰρ ὅστις ἄδικος ὢν σοφὸς λέγειν / πέφυκε (580f.). Diesem Urteil lässt Euripides auch den Chor beipflichten.628

3.1.3.5 ἦθος des Sprechers und Autoritätskonflikte In diesem Agon zwischen Medea und Jason fiel auf, dass Jasons Charakter b ­ ereits vor der Szene diskreditiert und somit unglaubwürdig war: Medea diagnostiziert sogar seinen ungerechten Charakter explizit (ἐμοὶ γὰρ ὅστις ἄδικος ὢν σοφὸς λέγειν / πέφυκε, 580f.). Somit wird – wie in den beiden besprochenen Szenen – der Fokus auf die Unüberzeugbarkeit des Adressaten gelegt. Rangunterschiede spielen zwischen den ehemaligen Eheleuten insofern eine Rolle, als Jason durch seine Heirat der in Theben isolierten Medea übergeordnet ist. Trotzdem ist in Medeas und Jasons jeweiligem rhetorischen Auftreten und der rhetorischen Eskalation der Stichomythie eine gewisse Gleichberechtigung abzulesen: Medea setzt sich über die realen Machtverhältnisse hinweg, zumal sie bereits verbannt ist. Vielmehr lenkt Euripides den Blick der Zuschauer auf das längst verdorbene Verhältnis zwischen Medea und Jason.

3.1.3.6 Zusammenfassung In dieser Szene rücken mehr Aspekte als nur unpassende Argumente in den Vordergrund. Durch das zeitweilige Beiseitelassen der Agonform als alleiniges Strukturmerkmal wird deutlich, dass Euripides Jasons Scheitern auf zwei Ebenen erklärt: Szenenintern und implizit wird die authentische Darstellung von Jasons Scheitern sowohl durch inhaltliche Aspekte, d.h. seine Argumentation für die Rechtschaffenheit seiner vorherigen Taten, seine remotio-Strategie durch die Schuldzuweisung an Medea,629 sprachliche und pragmatische Aspekte der 628 Ἰᾶσον, εὖ μὲν τούσδ’ ἐκόσμησας λόγους· / ὅμως δ’ ἔμοιγε, κεἰ παρὰ γνώμην ἐρῶ, / δοκεῖς προδοὺς σὴν ἄλοχον οὐ δίκαια δρᾶν (576–578). 629 Gill (1996) 156f. hält hier eine wichtige Parallele zur Gesandtschaft an Achill im neunten Buch der Ilias fest: »In gauging the significance of the agon, it is helpful to place it against the background of the embassy in Iliad 9, which […] provides the prototype for many tragic exchanges between angry, isolated heroes and others who approach them. Jason’s mode of dealing with Medea represents a version of that applied by Odysseus and Phoenix to Achilles, in which the appeal to the other to control his anger and ›be reasonable‹ is combined with

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impoliteness – etwa seine Faktizität andeutende Ausdrucksweise erreicht. Jasons metapragmatischer Hinweis auf gutes Reden (522) lässt den Zuschauer hierauf aufmerksam werden.630 Explizit rückt jedoch definitiv Medeas metarhetorische Diagnose in den Vordergrund, dass jemand, der Ungerechtes getan habe, und ›weise‹ rede, unglaubwürdig und suspekt sei: ἐμοὶ γὰρ ὅστις ἄδικος ὢν σοφὸς λέγειν / πέφυκε, (580f.).631 Es wird deutlich auf die Person des Sprechers eingegangen, der sich durch die in der Vergangenheit liegenden Taten diskreditiert hat – dieser szenenexterne Aspekt ist später auch im sophokleischen Philoktet der Fall und konnte so auch im euripideischen Hippolytos und in der sophokleischen Antigone beobachtet werden. Als Ergebnis des Agons lässt sich wiederum eine Eskalation des Konfliktes beobachten, die schließlich zu Medeas Kindermord führt.632 Doch dieser Agon weist auch Unterschiede zu Sophokles’ Antigone und Euripides’ Hippolytos auf: Während Medea, Kreon und Theseus sich alle ablehnend verhalten, mit Charakteraspekten argumentieren und ihre Gesprächspartner als suspekt einschätzen, fällt auf, dass Jason markierte impoliteness zeigt – Haimon und Hippolytos taten dies nicht, da sie in der schwächeren Position standen.633 In Anbetracht der Tatsache, dass zwischen Hippolytos- und Medea-Agon eine Spanne von lediglich drei Jahren liegt, kann vermutet werden, dass Euripides hier eine Variation seiner eigenen literarischen Struktur vornimmt und somit Wie-Spannung erzeugt. Analog zum Agon des Hippolytos stellt Euripides Rhetorik explizit als unwirksam dar, insofern sie an der Voreingenommenheit des Adressaten scheitert – selbst eine angepasste Rhetorik Jasons hätte Medeas Skepsis kaum beheben können.

advice about what is in the other’s best interests.« Insofern hat Jasons kommunikatives Verhalten literarische Tradition. 630 Ähnlich präsentierten sich solche Hinweise in Aischyl. Sept. 1 und Ag. 1372f. 631 Vgl. Karamanou (2017) 190; Scodel (1999b) 130. S. Anm. 609. 632 Vgl. Jasons Kinderargumentation in 562–567 et passim. Gill (1996) 166 sieht als Haupteffekt des Agons Medeas Idee des Kindermordes, die eine »continuation of their argument« sei. 633 Somit ist also in diesem Fall dem Urteil von Scodel (1999b) 132, euripideische Charaktere »regularly enter the performance register in order to perform, not in order to accomplish anything beyond the performance«, zuzustimmen.

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3.1.4 Sophokles, Philoktet 1261–1471 3.1.4.1 Einleitung und Hintergrund In Sophokles’ Philoktet – 409 v. Chr. aufgeführt und damit das späteste Stück in unserer Betrachtung634 – spielen die Konzepte der Täuschung, der persuasiven Überzeugung und nicht zuletzt auch des Schweigens eine zentrale Rolle.635 Die Tragödie lebt von den zahlreichen, insgesamt fünf persuasiven Versuchen der Charaktere,636 den ausgesetzten und erkrankten Philoktet zur Mitreise zu bewegen, da der Bogen des Herakles und Philoktets Beteiligung am Kampf laut einer Prophezeiung des Helenos für den Trojasieg der Griechen essentiell sind. Dieses Scheitern der Rhetorik an Philoktet wurde in der inhaltlichen Gliederung mancher Forscher aufgegriffen. So weist Bernd Manuwald auf das Thema des zweiten Handlungsteils hin, in dem es darum gehe, »Philoktet in Übereinstimmung mit der Weissagung des Helenos zu überzeugen; so erhält er die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden […].«637 Andere schlagen eine Dreiteilung vor: »Macht des verstellten Wortes – Ausbruch der Wahrheit – Ohnmacht des Wortes«638 bzw. »deceit, violence, persuasion«.639 Im gesamten Stück wird der Gegensatz zwischen δόλος, πειθώ und βία thematisiert.640 Auch in der vorliegenden Szene geht es um das Spannungsverhältnis dieser Begriffe: Als Neoptolemos versucht, Philoktet wieder von seiner Vertrauenswürdigkeit zu überzeugen und zur Heimreise zu überreden, also ein Redeziel auf Handlungs- und Beziehungsebene verfolgt, bietet er die passenden Argumente. Doch sein Redner-ἦθος wurde im vorherigen Dramenverlauf negativ für Philoktet geprägt (durch die schließlich aufgedeckte Intrige 897–916), was Neoptolemos’ Argumentation überschattet und hinfällig macht. Dies wird auf der Metaebene explizit kommentiert. Doch trotz Neoptolemos’ Ausweichens auf die Ebene der Handlung, indem er Philoktet den Bogen zurückgibt, und einer daraus resultierenden leichten charakterlichen Annäherung der Figuren kann Philoktet aufgrund seiner vorherigen Erfahrungen mit dem unbedachten Ge 634 Vgl. Schein (2013) 1. 635 Vgl. Zetzmann (2020b). 636 Vgl. Winnington-Ingram (1980) 292–301. 637 Manuwald (2018) 15. 638 Schmidt (1973) 250. 639 Garvie (1972). 640 Nicht so sehr ein Gegensatz, als vielmehr ein Spannungsverhältnis zwischen diesen Begriffen ist bereits in Aischyl. Ag. 385 (βιᾶται δ’ ἁ τάλαινα Πειθώ); ein paralleles Verhältnis der vergöttlichten Abstrakta lässt Herodot Themistokles formulieren, der die Andrier so zur Zahlung ihrer Abgabe zwingen möchte: Πειθώ τε καὶ Ἀναγκαίην (Hdt. 8,111, vgl. Blösel (2004) 285). Wohl ca. zeitgleich formuliert Gorgias in seiner Helenarede (Gorg. Hel. 20): εἴτ᾿ ἐρασθεῖσα εἴτε λόγῳ πεισθεῖσα εἴτε βίᾳ ἁρπασθεῖσα εἴτε ὑπὸ θείας ἀνάγκης ἀναγκασθεῖσα. Zur Parallelität von πειθώ und δόλος sowie allgemein zum Gegensatz πειθώ – βία mit weiteren Beispielen vgl. Buxton (1982) 58–66.

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brauch von Rhetorik, die zu einer besonders starren Charakterhaltung führen, nicht überzeugt werden.641 Sophokles lenkt den Fokus der Rhetorikbeurteilung eindeutig nicht auf die argumentative Ebene innerhalb der Szene, sondern auf ungünstige, konträre Charakterkonstellationen, die durch den unaufrichtigen Gebrauch von Sprache außerhalb der Szene zustande kamen; folgerichtig in der Logik des Dramas wird Sprache sogar negativ kommentiert sowie von Philoktet als Kommunikationsmedium verdammt und von Neoptolemos als nutzlos angesehen. Um den Aufbau642 der vorliegenden Szene zu verdeutlichen, soll zunächst ein Ausschnitt aus Dion Chrysostomos’ Abhandlung über die Philoktetdramen herangezogen werden, in dem Inhalt und Aufbau des plots, besonders der Exodos, konzise beschrieben wird: ἔπειτα πεισθεὶς [Neoptolemos, Anm. d. Aut.] ὑπὸ τοῦ Ὀδυσσέως καὶ ἐξαπατήσας αὐτὸν καὶ τῶν τόξων ἐγκρατὴς γενόμενος, αἰσθομένου ἐκείνου καὶ ὡς ἐξηπατημένου σχετλιάζοντος καὶ ἀπαιτοῦντος τὰ ὅπλα, οὐ κατέχει, ἀλλ’ οἷός τέ ἐστιν ἀποδιδόναι αὐτά, καίτοι τοῦ Ὀδυσσέως ἐπιφανέντος καὶ διακωλύοντος, καὶ τέλος δίδωσιν αὐτά· δοὺς δὲ τῷ λόγῳ πειρᾶται πείθειν ἑκόντα ἀκολουθῆσαι εἰς τὴν Τροίαν. τοῦ δὲ Φιλοκτήτου μηδένα τρόπον εἴκοντος μηδὲ πειθομένου, ἀλλὰ δεομένου τοῦ Νεοπτολέμου, ὥσπερ ὑπέσχετο, ἀπαγαγεῖν αὐτὸν εἰς τὴν Ἑλλάδα, ὑπισχνεῖται καὶ ἕτοιμός ἐστι ποιεῖν τοῦτο, μέχρι ἐπιφανεὶς Ἡρακλῆς πείθει τὸν Φιλοκτήτην ἑκόντα εἰς τὴν Τροίαν πλεῦσαι. (Dion Chrys. 52,16f.) Dann wird er von Odysseus überredet, täuscht Philoktet und bemächtigt sich des Bogens. Als Philoktet bemerkt, dass er getäuscht wurde, und jammernd den Bogen zurückfordert, kann Neoptolemos sich nicht zurückhalten, sondern ist bereit, den Bogen zurückzugeben, – obwohl Odysseus auftritt und es verhindern möchte – und am Ende gibt er ihn zurück. Als er ihn zurückgibt, versucht er, Philoktet mit Worten zur Mitfahrt nach Troja zu bewegen. Philoktet gibt aber auf keinen Fall nach und wird nicht überzeugt; stattdessen bittet er Neoptolemos, ihn wie versprochen nach Griechenland zu bringen. Neoptolemos will sein Versprechen einlösen und ist bereit, es zu tun. Doch kurz davor erscheint Herakles ex machina und überzeugt Philoktet, freiwillig nach Troja zu segeln.

Durch Dion Chrysostomos’ Referat wird bereits der Fokus auf die Rolle von Überzeugung und deren Scheitern klar, die handlungskonstituierend sind – Philoktet kann sogar die Situation umdrehen und zum Überzeugenden werden (ἀλλὰ δεομένου τοῦ Νεοπτολέμου ὥσπερ ὑπέσχετο, ἀπαγαγεῖν αὐτὸν εἰς τὴν 641 Diese Charakterrehabilitation ist einzigartig in den bisher besprochenen Szenen, hat aber wenig Auswirkung: Denn Teil von Neoptolemos’ Versprechen ist es, Philoktet nach Hause zu bringen, s. auch Dion Chrys. 52,16f. 642 Gliederung leicht anders bei Manuwald (2018) 15, hier wird der Einschnitt mit Odysseus von 1292–1301 gesehen, da Neoptolemos und Philoktet ab 1302 schon wieder miteinander argumentieren.

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Ἑλλάδα, ὑπισχνεῖται καὶ ἕτοιμός ἐστι ποιεῖν τοῦτο […] Dion Chrys. 52,17), bis Herakles das Dilemma auflöst (μέχρι ἐπιφανεὶς Ἡρακλῆς πείθει τὸν Φιλοκτήτην ἑκόντα εἰς τὴν Τροίαν πλεῦσαι. Dion Chrys. 52,17). Vor dem Einsetzen der zu besprechenden Szene legt Neoptolemos seine von Odysseus angeordnete Täuschung des Philoktet offen (895–926), wird aber von Odysseus gezwungen, mitsamt dem Bogen des Philoktet Richtung Schiff zur Heimreise aufzubrechen. Der Chor versucht in einem Kommos, Philoktet zur Mitfahrt zu überreden (1081–1217) und scheitert. Neoptolemos erscheint plötzlich wieder vor Philoktets Höhle und will den Bogen zurückgeben; Odysseus versucht, ihn daran zu hindern, entschließt sich aber dann, Neoptolemos’ Fehltritt den restlichen Griechen zu verkünden, da er so mehr erreichen könne (1222–1260).

3.1.4.2 Argumentativer Aufbau und Sprachverhalten Grob kann die Szene in drei Teile gegliedert werden: Ein Überredungsversuch des Neoptolemos, bevor er den Bogen zurückgibt (1261–1301); ein zweiter Versuch nach der Rückgabe des Bogens, der allerdings in einer Überredung des Neoptolemos durch Philoktet endet (1302–1408); sowie die erste und einzige erfolgreiche Einflussnahme auf Philoktet im gesamten Stück durch Herakles ex machina (1409–1471). Auf argumentativer Ebene soll zunächst die Redeintention des Neoptolemos bestimmt werden: Sie ist einerseits als die Beziehungsebene betreffend zu definieren, da Neoptolemos in der vorherigen Szene mit Odysseus eine Wiedergutmachung der vorherigen – den Anstand und die Kommunikation betreffenden – Fehler (λύσων ὅσ’ ἐξήμαρτον ἐν τῷ πρὶν χρόνῳ. Soph. Phil. 1224) und eine Wiederherstellung des Vertrauens durch die Rückgabe des Bogens (1228. 1232) vorhat. Darauf basierend soll, wie auch das Referat des Dion bezeugt (vgl. δοὺς δὲ τῷ λόγῳ πειρᾶται πείθειν ἑκόντα ἀκολουθῆσαι εἰς τὴν Τροίαν. Dion Chrys. 52,16) diese Relation auch eine konkrete Handlung, nämlich Philoktets freiwillige Abreise, zur Folge haben (βούλομαι δέ σου κλύειν / πότερα δέδοκταί σοι μένοντι καρτερεῖν, / ἢ πλεῖν μεθ’ ἡμῶν 1273–1275). Angesichts von Neoptolemos’ φύσις (79) und seinem Unbehagen mit dem δόλος-Plan (86–92) muss die Beziehungsebene als der vorrangige und wichtigste Schauplatz der Unterhaltung angesehen werden. Als relevanteste Passage kann hier der erste Überzeugungsversuch gelten, in dem vor allem auf der Metaebene argumentiert wird (1261–1286). Nach der Anrede des Philoktet durch Neoptolemos (1261f.), die Philoktet mit einem Vorwurf kontert (1263–66), folgt ein stichomythisches Streitgespräch (1267–1280), das – wie erwartet – in eine Ablehnung des Philoktet (1281–1286a) mündet. Daraufhin gibt Neoptolemos im Sinne eines letzten Auswegs den Bogen zurück (1286b–1292), mit dem Philoktet schließlich den zurückgekehrten Odysseus

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vertreibt (1293–1301). Im zweiten Überzeugungsversuch (1302–1408) kann nun bereits von einer Versöhnung des Philoktet mit Neoptolemos gesprochen werden; dies zieht allerdings trotzdem keinen rhetorischen Erfolg für Neoptolemos nach sich. Nach einem informellen Gespräch in 1308–1313 wenden sich die Figuren in jeweils einer Rhesis aneinander:643 Neoptolemos (1314–1347) weist auf den von ihm zurückgegebenen Bogen hin und argumentiert mit der Prophezeiung des Helenos, während Philoktet (1348–1372) voller Ressentiments ablehnt und Neoptolemos um die versprochene Heimfahrt bittet. In einer Stichomythie (1373–1392) rechten die beiden um den Wert von Freundschaft nach einem Vertrauensbruch, bis im letzten Abschnitt (1393–1408) Philoktets Aussage, Versprechen gingen über alles andere, Neoptolemos bewegt, aufrichtig zu seinem Versprechen zu stehen und ihn nach Hause zu bringen – der Appell an Neoptolemos’ ἦθος trägt Früchte. Im dritten Teil (1409–1471) erscheint schließlich Herakles ex machina und verhindert die unmythische Lösung, sodass Neoptolemos und Philoktet – wie prophezeit – gemeinsam nach Troja abfahren können. Neoptolemos scheitert in dieser Szene zweimal: Einmal ist er erfolglos mit seiner Redeintention, einmal kann er Philoktets Anliegen nicht ablehnen. Obwohl Neoptolemos zuvor Rhetorik und Kommunikation im Sinne des Odysseus gebraucht und damit Philoktet in eine ablehnende Haltung gedrängt hatte, erscheint seine Anrede an Philoktet (1261f.) im ersten Abschnitt der Szene (1261–1301) voller Respekt.644 Er verwendet markierte politeness, da er der Anrede mit Patronym einen gesamten Vers widmet und seine offensichtlich unreine Höhle pathetisch als πετρήρεις στέγας bezeichnet – dies ist im Übrigen eine Anpassung an die Wortwahl Philoktets von zuvor:645 ΝΕ. σὺ δ’, ὦ Ποίαντος παῖ, Φιλοκτήτην λέγω, ἔξελθ’ ἀμείψας τάσδε πετρήρεις στέγας.

(1261f.)

Ne. Du aber, Sohn des Poias, Philoktet meine ich, verlasse deine felsige Wohnung und komm nach draußen!

Der Adressat Philoktet bietet dem Sprecher Neoptolemos wichtige kommunikative Vorgaben: Er bezeichnet seine Höhle als ἄντροις (1263), signalisiert also schon in seinem Vokabular Ablehnung von Neoptolemos’ Wortwahl στέγας.646 Er gibt abwehrende Kommunikationsvorgaben, die sich vor allem auf seine Ver 643 Dies wurde auch als formeller Agon angesehen: »The long speeches of Ne. and Phil. (34 and 28 lines), which follow their brief exchange in 1308–13, constitute virtually a formal debate.« (Schein (2013) 319). 644 Vgl. Manuwald (2018) 365. Hier ist politeness auch als rhetorische Strategie angewandt. 645 286. 298. 1262. Der Ausdruck στέγη impliziert ›menschengemacht‹ laut Schein (2013) 313. 646 Vgl. Schein (2013) 313.

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Textanalyse: Sophokles und Euripides

letzung und sein Misstrauen durch die vorherigen Lügen sowie das erfahrene Leid an sich gründen: ΦΙ. ὤμοι· κακὸν τὸ χρῆμα. μῶν τί μοι μέγα πάρεστε πρὸς κακοῖσι πέμποντες κακόν; Phi. O weh! Was für eine schlimme Sache. Seid ihr etwa hier, um zusätzlich zu meinem alten Leid neues zu bringen?

(1265f.) 1265

Wie um auf die verhassten κακά des Philoktet zu antworten, fordert Neoptolemos ihn in der Stichomythie (1267–1280) auf, zuversichtlich zu sein und weist auf seine folgende Rede hin (θάρσει· λόγους δ’ ἄκουσον οὓς ἥκω φέρων. 1267): Das Argument ist, dass λόγοι gegen κακά helfen bzw. diese wiedergutmachen können – ein Argument auf der Metaebene von vielen, die noch folgen werden. Philoktet greift λόγοι auf, lehnt aber Neoptolemos’ Sicht auf diese ab, indem er auf die Gefahren von Worten hinweist: ΦΙ. δέδοικ’ ἔγωγε. καὶ τὰ πρὶν γὰρ ἐκ λόγων καλῶν κακῶς ἔπραξα σοῖς πεισθεὶς λόγοις.

(1268f.)

Phi. Ich bin skeptisch. Schon zuvor habe ich wegen schöner Worte leiden müssen, nachdem ich mich von deinen Worten hatte überzeugen lassen.

λόγοι – nämlich die falsch und feindlich gebrauchten des Odysseus und Neoptolemos – stellen für Philoktet ein solches Problem dar, dass er gar nicht auf den Inhalt der Worte wartet, sondern den Modus der Rede an sich völlig ablehnt. Als Argument, das Neoptolemos nicht widerlegen kann, schwingen die vorherigen Erfahrungen im Hintergrund mit. Argumente werden gar nicht erst zugelassen, sondern aufgrund des diskreditierten ἦθος des Gesprächspartners abgelehnt, das deutlich als schädlich beurteilt wird: ἐκ λόγων καλῶν κακῶς (1268f.). Der markierten politeness-Strategie des Neoptolemos setzt Philoktet markierte impoliteness entgegen.647 Neoptolemos erkennt jedoch den Denkfehler an Philoktets Aussage und legt den Finger darauf, indem er nach der Möglichkeit einer Haltungsänderung fragt: ΝΕ. Οὔκουν ἔνεστι καὶ μεταγνῶναι πάλιν;  Ne. Ist es denn nicht möglich, seine Meinung wieder zu ändern?

(1270) 1270

Hiermit beweist er ein Bewusstsein für eigene und fremde mentale Zustände und fragt auf zwei, jeweils abstrakten, Ebenen: Einerseits nach der Möglichkeit, den Ruf seines ἦθος bei anderen durch einen Haltungswechsel wiederherzustellen, andererseits wohl implizit auch nach der Möglichkeit, Menschen zu einer 647 Etwa durch kurze bald on record-Imperative und aggressive τί-Fragen, 1263–1265. 1275. 1280.

Textanalysen

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anderen Überzeugung zu bringen. In seinem Fall fallen diese Möglichkeiten sogar zusammen: Seine Haltungsänderung, also eine ἦθος-Rehabilitation, könnte eine Haltungsänderung bei Philoktet hervorrufen. Philoktet lehnt diese Möglichkeit jedoch ab, da für ihn Haltungen und Dispositionen anscheinend statisch sind: Vorherige Täuschung heiße auch nun Täuschung (τοιοῦτος ἦσθα τοῖς λόγοισι χὤτε μου / τὰ τόξ’ ἔκλεπτες πιστὸς ἀτηρὸς λάθρᾳ. 1271f.) – zumal Neoptolemos immer noch λόγοι verwendet, die Philoktet ja aufgrund der gemeinsamen Erfahrungen verdammt hatte. Hier scheint eine weniger flexible Einschätzung mentaler Zustände durch: Meinungsänderung bzw. Haltungsänderung durch weitere Informationen wird aufgrund der vorherigen Erfahrungen mit Neoptolemos und seiner unveränderten Reden abgelehnt.648 Philoktet benutzt einen Wahrscheinlichkeitsschluss, wenn er Neoptolemos’ Charakter weiterhin als verdorben ansieht. Nun wird das Gespräch zum ersten Mal inhaltlich konkret, da Neoptolemos Philoktets Entscheidung über seinen Verbleib wissen möchte; er beweist Anpassung an den Gesprächspartner, indem er Interesse an seiner Meinung verkündet (βούλομαι δέ σου κλύειν 1273) und ihm somit flexible Entscheidungsfreiheit andeutet. Philoktet lehnt dies dezidiert ab, und zwar mit einer metapragmatischen Aussage: ΦΙ. παῦε, μὴ λέξῃς πέρα·  μάτην γὰρ ἃν εἴπῃς γε πάντ’ εἰρήσεται.  Phi. Hör auf, sprich nicht weiter. Denn du sprichst alles vergebens, was auch immer du sagen willst.

1275 (1275f.) 1275

Offensichtlich hat Neoptolemos’ bisheriges Verhalten solch einen negativen Eindruck auf Philoktet gemacht, dass der Inhalt seiner Worte irrelevant ist: Seine Taten und täuschenden Worte korrelierten nicht. In diesem stichomythischen Gespräch wird stets direkt und ohne Umschreibung kommuniziert, sodass an der Botschaft der Sprecher kein Zweifel besteht – v.a. Philoktet verwendet diese bald on record-Aussagen als impoliteness ohne Abmilderung seiner Sprache. Häufige ἀντιλαβαί unterstreichen zudem den Aufruhr des Gesprächs, der bereits jetzt die Vergeblichkeit desselben impliziert.649 Auch auf Neoptolemos’ Nachfrage ändert Philoktet nichts an seiner Aussage (1276), sodass Neoptolemos sein Scheitern diagnostiziert: 648 Hier benutzt Philoktet die Anklagestrategie, die in der späteren Lehrrhetorik αd Alexandrum als εἰκός-Argumentation besprochen wird (rhet. Alex. 1428b8–20): ἕτερον δὲ μέρος ἐστὶ τῶν εἰκότων ἔθος, ὃ κατὰ συνήθειαν ἕκαστοι ποιοῦμεν. […] κατὰ δὲ τῶν ἀνθρώπων ἐν μὲν ταῖς κατηγορίαις, ἐὰν ἔχῃς, ἐπιδείκνυε αὐτὸν τοῦτο τὸ πρᾶγμα πολλάκις πεποιηκότα πρότερον, εἰ δὲ μή, ὅμοια τούτῳ. 649 Pucci (2011) 302 sieht hierin ein Zeichen für »l’inadeguatezza della parola a mostrare i veri sentimenti«, die zumindest aus Philoktets Sicht zutrifft.

176

Textanalyse: Sophokles und Euripides

ΝΕ. ἀλλ’ ἤθελον μὲν ἄν σε πεισθῆναι λόγοις650 ἐμοῖσιν· εἰ δὲ μή τι πρὸς καιρὸν λέγων κυρῶ, πέπαυμαι.

(1278–1280)

Ne. Ach, wie gerne sähe ich es, würdest du dich von meinen Worten überzeugen lassen. Aber da ich wohl nicht passend reden kann, 1280 höre ich auf.

Hierbei beweist er wiederum Bewusstsein um den Stand des Gespräches und um den mentalen Zustand des Gesprächspartners: Er erkennt, dass er gar nichts Passendes sagen kann (εἰ δὲ μή τι πρὸς καιρὸν λέγων 1279), obwohl er sich aus Sicht des Zuschauers bestmöglich verhalten hat. Neoptolemos’ Scheitern auf der Beziehungsebene bedingt damit auch ein Scheitern seines Redeziels. Wie Tamara Visser651 zu Recht bemerkt, zitiert die Phrase ἀλλ’ ἤθελον μὲν ἄν σε πεισθῆναι λόγοις (1278) die Formulierung des vom Späher referierten HelenosOrakels πείσαντες λόγῳ (612) und beinhaltet durch den Diathesenwechsel eine Perspektivänderung: Plötzlich sieht der Zuschauer auf Philoktet, seine Reaktion und seine Gründe für eine Ablehnung.652 Die Tatsache, dass Neoptolemos dies äußert, zeigt seine bewusste und adaptive Kommunikationshaltung. Sophokles lenkt den Blick des Rezipienten auf Philoktet, dem keine Rede πρὸς καιρὸν sein kann. Im Sinne der Perspektivverlagerung auf Philoktet erhalten Neoptolemos und der Zuschauer nun seine Gründe für die Ablehnung: ΦΙ. πάντα γὰρ φράσεις μάτην. οὐ γάρ ποτ’ εὔνουν τὴν ἐμὴν κτήσῃ φρένα, ὅστις γ’ ἐμοῦ δόλοισι τὸν βίον λαβὼν ἀπεστέρηκας· κᾆτα νουθετεῖς ἐμὲ ἐλθών, ἀρίστου πατρὸς ἔχθιστος γεγώς. ὄλοισθ’, Ἀτρεῖδαι μὲν μάλιστ’, ἔπειτα δὲ ὁ Λαρτίου παῖς, καὶ σύ. Phi. Denn du sprichst alles vergeblich, du wirst nämlich nicht meinen Sinn wohlwollend stimmen. Denn du hast mir ja mit List meinen Lebensunterhalt geraubt. Und dann kommst du nur, um mich zu tadeln, du schändlichster Sohn eines hervorragenden Vaters.

1280

1285 (1280–1286) 1280

650 Mit λόγοις wird der Zuschauer bereits darauf hingewiesen, dass eine Rückgabe des Bogens als Ausweg bleiben könnte, vgl. Manuwald (2018) 367. 651 Vgl. Visser (1998) 191f. 652 »Bisher stand das Verhalten der Griechen im Vordergrund, die die πείθειν-Klausel mit verschiedenen Methoden zu erfüllen suchten, nur nicht so, wie sie gemeint war, nämlich mit Überredung. Jetzt, da Neoptolemos den ersten anständigen Versuch in dieser Richtung  unternehmen will, wendet Sophokles den Blick auf die Reaktion Philoktets.« Visser (1998) 192.

Textanalysen

Ihr möget alle sterben, vor allem die Atriden, danach Laertios’ Sohn, und auch du!

177 1285

Wie um eine Begründung für Neoptolemos’ scheiternde Rhetorik zu bieten, erwähnt er die Intrige (δόλοισι 1282) und die allgemeinen schlechten Charaktere der Atriden, des Odysseus und des Neoptolemos (1284–1286). Hiermit wird der Zuschauer auch explizit auf szenen- und redeexterne Merkmale aufmerksam gemacht, die Philoktets ablehnendes Verhalten erklären: ἔχθιστος γεγώς (1284). Besonders an der Konstellation des Philoktet ist, dass diese Ablehnung von Neoptolemos’ diskreditiertem ἦθος auf dem vorherigen falschen Gebrauch von Sprache und Kommunikation beruht. Nun nimmt Neoptolemos eine Strategieänderung vor und bietet Philoktet – sozusagen als neues Argument653 – seinen Bogen an (1286f.). Da Philoktet ungläubig reagiert, unterstützt er seine Tat654 mit einem Eid als Überzeugungsmittel655 (ἀπώμοσ’ ἁγνοῦ Ζηνὸς ὕψιστον σέβας 1289). Dieser Schwur auf Zeus in Kombination mit der Geste des Bogens verspricht schließlich Erfolg, da eine deutliche Gemütsänderung bei Philoktet festgestellt werden kann: ΦΙ. ὦ φίλτατ’ εἰπών, εἰ λέγεις ἐτήτυμα.  Phi. Oh, du sagst höchst Willkommenes, wenn du denn aufrichtig sprichst.

(1290) 1290

Ohne inhaltliches Argumentieren und ohne Eintracht bezüglich der Frage, ob Charaktere statisch seien oder ob man seine Haltung ändern könne, sind Neoptolemos und Philoktet nun aufgrund der praktischen Handlung der Bogenrückgabe wieder auf einer Seite – Neoptolemos’ Projekt scheint auf der Beziehungsebene erfolgreich, sein erklärtes Handlungsziel der Trojafahrt des Philoktet scheint jedoch zu scheitern. Für diese Versöhnung argumentiert Neoptolemos weiterhin im zweiten Teil, nachdem er Philoktet davon abhalten konnte, Odysseus mit dem Bogen zu töten. Im Vorhinein bietet Neoptolemos Gründe für Philoktets Sympathie: Seine Besorgnis um die Ehre Philoktets (1304 im Rahmen der Verhinderung des Angriffs auf Odysseus) und den nun zurückgegebenen Bogen (1308) – diese Aussagen formuliert er sehr direkt, als seien sie unumstößlich und hätten vollen Wahrheitsanspruch (οὐκ ἂν μεθείην 1302.656 ἀλλ’ οὔτ’ ἐμοὶ καλόν τόδ’ ἐστὶν οὔτε σοί 1304. εἶεν· τὰ μὲν δὴ τόξ’ ἔχεις, κοὐκ ἔσθ’ ὅτου / ὀργὴν ἔχοις ἂν οὐδὲ μέμψιν εἰς ἐμέ. 1308f.). Das Ergebnis dieser Anrede ist eine Synchronisierung657 653 Vgl. Visser (1998) 192. 654 Den Umschwung von ›Worten‹ zur ›Tat‹ bemerkt u.a. Manuwald (2018) 369. 655 Zur nachdrücklichen Verwendung des Aorists in diesem Schwur, vgl. Pucci (2011) 303. 656 Hier muss eindeutig ein nachdrücklicher Potentialis vorliegen. 657 »Neoptolemos […] legt dafür die Basis, indem er etwaige Ressentiments Philoktets ihm gegenüber, die auf der Wegnahme des Bogens beruhen könnten, für erledigt erklärt […].

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Textanalyse: Sophokles und Euripides

der Gesprächspartner, zumal Philoktet nun Neoptolemos’ Ähnlichkeit mit der Großmut seines Vaters preist658 und ihn sympathisierend anspricht (φίλτατον τέκνον 1302. ὦ τέκνον 1310). Neoptolemos’ folgende Rhesis kann deutlich als symbouleutische Rede klassifiziert werden und weist ein hohes kommunikatives Sendungsbewusstsein auf: Neoptolemos geriert sich quasi als Seher,659 der eine Auslegung des Helenosorakels für Philoktet darbietet. Er verwendet viele explizite Rahmungen,660 Metadirektive661 und Gnomen.662 Hinzu kommen deutliche bald on record-Diagnosen zur Lage des Philoktet, die durch die häufige Verwendung von σύ vorwurfsvoll klingen:663 Er wirft ihm seinen Starrsinn vor (1314–1323). Der Ton ist deutlich schärfer als zuvor, wohl durch das erste Scheitern des Neoptolemos begründet. Seine Argumente wurden vielfach664 zusammengefasst, sodass hier bereits eine Liste der angesprochenen Themenbereiche geboten werden soll:665 1314–1323: Philoktets Ablehnung heißt selbstgewähltes Leid666 1324–1335: Beenden der Krankheit durch Reise nach Troja 1336–1342: Helenus’ Prophezeiung bedeutet Notwendigkeit der Realisierung667 Durch Philoktets Erwiderung (1310–1313) und Neoptolemos’ Reaktion darauf (1314–1315a) ergibt sich eine Einvernehmlichkeit ihrer moralischen Ansichten, die sich in dem übereinstimmenden Urteil über Achill ausdrückt.« Manuwald (2018) 375. 658 Vgl. Visser (1998) 193. 659 Vermittelt durch den Rahmen ὧν δέ σου τυχεῖν ἐφίεμαι / ἄκουσον. ἀνθρώποισι τὰς μὲν ἐκ θεῶν / τύχας δοθείσας ἔστ’ ἀναγκαῖον φέρειν· (1315–1317). 660 ὅμως δὲ λέξω· Ζῆνα δ’ ὅρκιον καλῶ· (1324). ὡς δ’ οἶδα ταῦτα τῇδ’ ἔχοντ’ ἐγὼ φράσω (1336). 661 ὧν δέ σου τυχεῖν ἐφίεμαι / ἄκουσον (1315f.). καὶ ταῦτ’ ἐπίστω, καὶ γράφου φρενῶν ἔσω. (1325). 662 Gnome (ἀνθρώποισι τὰς μὲν ἐκ θεῶν / τύχας δοθείσας ἔστ’ ἀναγκαῖον φέρειν· / ὅσοι δ’ ἑκουσίοισιν ἔγκεινται βλάβαις, 1316–1318); oft γάρ (1337. 1344). 663 ὥσπερ σύ, τούτοις οὔτε συγγνώμην ἔχειν / δίκαιόν ἐστιν οὔτ’ ἐποικτίρειν τινά. / σὺ δ’ ἠγρίωσαι, κοὔτε σύμβουλον δέχῃ, / ἐάν τε νουθετῇ τις εὐνοίᾳ λέγων, / στυγεῖς πολέμιον δυσμενῆ θ’ ἡγούμενος. (1319–1323). 664 Pucci (2011) 305 nennt die Rhesis etwa »la teodicea di Neottolemo«; Manuwald (2018) 375 nennt die »Helenos-Weissagung […] und die Vorteile […], die die Fahrt nach Troja für ihn bedeute […].«; s.a. Visser (1998) 193–195. 665 Übernommen aus Kamerbeek (1980) 18f., der die konziseste und sinnvollste Zusammenfassung der Argumente bietet. 666 »Die Einstellung des Neoptolemos entspricht der des Chors […].« Manuwald (2018) 375 mit Hinweis auf die Verse 1095–1101. 1121f. 1163–1166. Er weist auch auf Neoptolemos’ Vernachlässigung des Unrechts und des Traumas des Philoktet hin. Schein (2013) 320 stellt außerdem einen Unterschied in der Argumentation zu 192–200 fest, als Neoptolemos noch Philoktets Leid als göttlichen Willen betont. 667 Schein (2013) 320 bemerkt, dass Neoptolemos den genauen Wortlaut der Prophezeiung nicht aus erster Hand wissen kann; Visser (1998) 195–200 stellt die rhetorische Anpassung des Orakels durch Neoptolemos fest, sodass er aus persuasiven Gründen die Heilung des Philoktet in den Vordergrund stellt, und nicht wie in der Version des Spähers den Gang nach Troja.

Textanalysen

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1343–1347: Anreiz des Ruhms als Trojazerstörer. Wie sich zeigt, sind diese Argumente auf den ersten Blick zwar persönlich auf Philoktet bezogen und sinnvoll gewählt: Er orientiert sich in seiner Version des Orakels an den Bedürfnissen des Adressaten, indem er die Heilung des Philoktet als wichtigsten Inhalt betont.668 Beachtenswert ist, dass Neoptolemos mit dem letzten Argument des Ruhmes vor allem auf seine eigene Erfahrung zurückblicken, also seine eigene φύσις berücksichtigen kann: Im Prolog mit Odysseus hatte er sich von dem Versprechen des Ruhmes überzeugen lassen, Philoktet zu täuschen (119). Es ist fraglich, ob das Argument des Ruhmes auch Philoktet überzeugen kann, der nur Rache an den Griechen nehmen möchte. Insofern verwendet Neoptolemos nicht ausschließlich rezipientenorientierte Argumente. Zusätzlich weist sein tadelndes Sprachverhalten durch diagnostische bald on record-Formulierungen eher markierte impoliteness auf – dies kann als Zeichen seiner Ungeduld gewertet werden. Philoktets Ablehnungsrhesis (1348–1372) lässt sich argumentativ in vier Teile aufteilen.669 Zunächst zeigt Neoptolemos’ Argumentation eine gewisse Wirkung, da Philoktet Zweifel an seiner vorherigen Entschlossenheit zeigt (1348– 1353, bes. 1350f.):670 ΦΙ. οἴμοι, τί δράσω; πῶς ἀπιστήσω λόγοις 1350 τοῖς τοῦδ’ ὃς εὔνους ὢν ἐμοὶ παρῄνεσεν; (1350f.) Phi. Oh weh, was soll ich tun? Wie kann ich den Worten dieses Mannes misstrauen, wenn er mir doch so wohlwollend zuspricht?

1350

Er nennt sogar die kommunikative Haltung des Neoptolemos nun εὔνους, sodass ein rhetorischer Teilerfolg, nämlich auf der Beziehungsebene, des Neoptolemos festgestellt werden kann.671 Ab 1354–1361 argumentiert er jedoch wieder entlang der bereits oben verfolgten Linie, nach der menschlicher Charakter statisch sei und ein böser Mensch böse bleiben müsse. Dies stellt er plastisch dar mit einem Wahrscheinlichkeitsargument,672 in welchem er sich die Situation vor Troja mit seinen Feinden lebhaft vorstellt (1354–1357). Im zweiten Teil (1362–1366) bietet Philoktet ein Gegenargument, mit dem er schließlich versucht, Neoptolemos für sich zu gewinnen: Die Griechen haben Achills Rüstung auch an Odysseus und nicht an Neoptolemos gegeben, sodass Neoptolemos 668 Vgl. Visser (1998) 199f. 669 Diese Gliederung nimmt auch Schein (2013) 324 vor. 670 Medda (1983) 146 betont hier, dass Philoktets Rede nur wie a parte scheine, aber nicht so gemeint sei, da zu viele Ansprachen an Neoptolemos vorkommen – dies ist wohl so zu unterstreichen. 671 Knox (1964) 155f. stellt dies als Vorbereitung für Philoktets Nachgeben gegenüber Herakles fest: »It could be said there is some slight gradualness to his reversal.« 672 Vgl. Winnington-Ingram (1980) 296.

180

Textanalyse: Sophokles und Euripides

diesen gar nicht mehr vertrauen könne. Als peroratio (1367–1372) zieht Philoktet den Schluss, Neoptolemos solle ihn, wie ausgemacht, nach Hause bringen, und benutzt hierfür sein Argument von oben, man solle den Bösen nicht helfen, da man sonst selbst böse scheine: ΦΙ. μὴ δῆτα, τέκνον· ἀλλ’, ἅ μοι ξυνώμοσας, πέμψον πρὸς οἴκους, καὐτὸς ἐν Σκύρῳ μένων ἔα κακῶς αὐτοὺς ἀπόλλυσθαι κακούς. χοὔτω διπλῆν μὲν ἐξ ἐμοῦ κτήσῃ χάριν, διπλῆν δὲ πατρὸς κοὐ κακοὺς ἐπωφελῶν δόξεις ὅμοιος τοῖς κακοῖς πεφυκέναι. Phi. Oh nein, mein Kind: Vielmehr bringe mich, wie du es mir versprochen hast, nach Hause und bleibe selbst in Skyros. Dann lass die Schlechten selbst auf schlechte Weise zugrunde gehen. Und so wirst du doppelten Dank von mir erhalten, und doppelten von meinem Vater. Wenn du den Bösen nicht hilfst, erscheinst du ihnen nicht gleich.

1370 (1367–1372)

1370

Durch direkte, wohlwollende Anrede (τέκνον 1367), bindende Hinweise auf Neoptolemos’ Schwur und den moralischen Anspruch zeigt Philoktet nun deutlich seine kommunikative Anpassungsfähigkeit: Er bezieht sich so direkt auf Neoptolemos’ φύσις, durch welche er als aufrichtig und gut erscheinen möchte. Direkte Imperative unterstützen den Nachdruck seiner Forderung. Oft wurde hier die Tragik der Argumentation und ihrer Auswirkung bemerkt, da Neoptolemos nun Opfer seiner eigenen Intrige wird und aufrichtig zu seinem im δόλος ausgesprochenen Schwur stehen muss.673 Neoptolemos’ Widerspruch findet nun wieder auf der Metaebene statt und gestaltet sich plötzlich indirekter und mit negativer politeness im Vergleich zu den vorherigen Imperativen: ΝΕ. λέγεις μὲν εἰκότ’, ἀλλ’ ὅμως σε βούλομαι θεοῖς τε πιστεύσαντα τοῖς τ’ ἐμοῖς λόγοις φίλου μετ’ ἀνδρὸς τοῦδε τῆσδ’ ἐκπλεῖν χθονός. Ne. Du sagst zwar Einleuchtendes, aber trotzdem möchte ich gerne, dass du den Göttern und meinen Worten vertraust und mit mir von dieser Insel fortsegelst.

(1373–1375)

1375

673 Knox (1964) 137–139 weist auf Neoptolemos’ Ehrenkodex hin; Medda (1983) 148 bemerkt, Philoktet spekuliere auf die χάρις und die φιλία des Neoptolemos, die stärker sei als sein Pflichtgefühl gegenüber den Griechen. M.E. ist aber mit Knox Neoptolemos’ natürliche Skepsis bezüglich Listen, also seine φύσις, als Ziel von Philoktet anzusehen. Schmidt (1973) 234f. betont Neoptolemos’ Tragik, nun in seinem Schwur ernstgenommen zu werden.

Textanalysen

181

Indem Neoptolemos seinem Gesprächspartner mit dem rhetorischen Terminus εἰκότ’ (1373)674 einleuchtende Argumentation zugesteht, signalisiert er einen Anschluss an dessen Rede, um dann eine andere Meinung einzuführen:675 Philoktet solle doch mit ihm nach Troja fahren. Nach einer kurzen Stichomythie (1373–1392) – mit mehr bald on record-Formulierungen, wie üblich in dieser Form –, in der Neoptolemos versucht, Philoktet mit seiner Freundschaft und seinem Wohlwollen nach Troja zu leiten676 und Philoktet dagegen mit dem für ihn eklatanten Vertrauensbruch argumentiert, verlegt sich das Gespräch wieder auf eine explizite und metapragmatische Ebene: ΝΕ. τί δῆτ’ ἂν ἡμεῖς δρῷμεν, εἰ σέ γ’ ἐν λόγοις πείσειν δυνησόμεσθα μηδὲν ὧν λέγω; ὡς ῥᾷστ’ ἐμοὶ μὲν τῶν λόγων λῆξαι, σὲ δὲ ζῆν, ὥσπερ ἤδη ζῇς, ἄνευ σωτηρίας. ΦΙ. ἔα με πάσχειν ταῦθ’ ἅπερ παθεῖν με δεῖ· ἃ δ’ ᾔνεσάς μοι δεξιᾶς ἐμῆς θιγών, πέμπειν πρὸς οἴκους, ταῦτά μοι πρᾶξον, τέκνον, καὶ μὴ βράδυνε μηδ’ ἐπιμνησθῇς ἔτι Τροίας· ἅλις γάρ μοι τεθρήνηται γόοις. ΝΕ. εἰ δοκεῖ, στείχωμεν. ΦΙ. ὦ γενναῖον εἰρηκὼς ἔπος.

1395

1400 (1393–1402)

Ne. Was soll ich also tun, wenn ich dich niemals mit Worten überzeugen kann, egal, was ich sage? Es ist wohl am leichtesten für mich, ich höre zu reden auf; 1395 für dich aber, ohne Rettung zu leben, wie du es schon vorher tatst. Phi. Lass mich ertragen, was ich ertragen muss. Was du mir zugesagt hast, als du meine rechte Hand berührtest, nämlich mich nach Hause zu bringen, das erfülle mir nun, mein Kind, 1400 und schieb es nicht auf und erinner mich nicht an Troja. Denn es wurde mit genügend Seufzern von mir beweint. Ne. Wenn du dies möchtest, gehen wir. Phi. Oh, da sprichst du ein ehrenvolles Wort.

Nachdem Neoptolemos explizit sein Scheitern – zum zweiten Mal in dieser Szene – festgestellt hat, wird auch Philoktet in seiner Forderung konkret und 674 Vgl. schon Platon, der εἰκός als üblichen Terminus verwendet und ihn auf Teisias und Gorgias zurückführt: δεύτερον δὲ δὴ διήγησίν τινα μαρτυρίας τ’ ἐπ’ αὐτῇ, τρίτον τεκμήρια, τέταρτον εἰκότα· […]. Τεισίαν δὲ Γοργίαν τε ἐάσομεν εὕδειν, οἳ πρὸ τῶν ἀληθῶν τὰ εἰκότα εἶδον ὡς τιμητέα μᾶλλον, τά τε αὖ σμικρὰ μεγάλα καὶ τὰ μεγάλα σμικρὰ φαίνεσθαι ποιοῦσιν διὰ ῥώμην λόγου, καινά τε ἀρχαίως τά τ’ ἐναντία καινῶς, συντομίαν τε λόγων καὶ ἄπειρα μήκη περὶ πάντων ἀνηῦρον; (Plat. Phaidr. 266e–267b). 675 Der Ausdruck λέγεις μὲν εἰκότ’ (1373) erinnert an die rhetorische Praxis des ausgehenden 5. Jh.s und auch an die Theorie des 4. Jh.s., s. Anm. 673 und vgl. Schmitz (2000). 676 Die Argumente des Neoptolemos sind im Einzelnen: Wille der Götter (1374), Freundschaft (1375. 1383. 1385. 1391), Heilung (1378f. 1381). Dann wechselt er erneut auf die Metaebene (1387. 1389. 1393f.), was wiederum argumentative Verzweiflung andeutet.

182

Textanalyse: Sophokles und Euripides

verwendet explizite Imperative, um auf den Schwur des Achillessohns hinzuweisen. Er kombiniert dies mit der Erwähnung seines Leids, sodass Neoptolemos schließlich zustimmt (εἰ δοκεῖ, στείχωμεν 1402). Während vor der Rückgabe des Bogens vor allem Philoktets Ressentiments aufgrund vorher gezeigter Charaktereigenschaften zu einem Verbleib des Gesprächs auf der Metaebene führten, lenkt Sophokles im zweiten Teil der Szene, also nach Rückgabe des Bogens, den Fokus der Zuschauer nicht nur auf Aspekte des – durch falsche Rhetorik diskreditierten – ἦθος, sondern auch auf argumentativ-dispositive Inkompatibilitäten: Völlig unterschiedliche Werte677 treffen aufeinander. Jedoch scheint es hier eindeutig so, als liege das Problem bei Philoktet, der keine rationalen Argumente wie die Heilung seiner Krankheit zulässt und stattdessen mit dem Schwur des Neoptolemos argumentiert, gegen welchen er mit seinen Taten verstoßen und sich damit als nicht vertrauenswürdig erwiesen habe: Somit verbleiben die verhassten Griechen und Neoptolemos für ihn letztlich auf einer Ebene, da Neoptolemos sich nur durch Taten und durch die Aufhebung des δόλος wieder rehabilitieren könnte. Insofern ist ein Grund für das Scheitern des persuasiven Projekts im zweiten Teil der Szene durchaus die Inkompatibilität der Überzeugungen und Dispositionen.678 Sophokles scheint jedoch – auch durch den Gebrauch vieler Metadirektive und metapragmatischer Aussagen – wiederum vor allem die Unüberzeugbarkeit des Philoktet zu betonen, in die ihn Odysseus’ und Neoptolemos Intrige geführt hat. Diese Haltung verändert sich auch aufgrund seines schon vorher bestehenden Leides und Schmerzes keineswegs. Der Hauptfokus liegt wiederum auf Merkmalen, die nicht in Neoptolemos’ Überzeugungsrede selbst liegen, sondern auf seinem diskreditierten ἦθος, das auf seinem unaufrichtigen Gebrauch von Rhetorik beruht. Neoptolemos beweist hierbei scheinbar kommunikative Adaptation, indem er auf die Situation des Philoktet eingeht und die Heilung als Argument stark macht, ist aber in seinem Ton so belehrend und vorwurfsvoll, dass er Philoktet weder überzeugen noch milde stimmen kann. Philoktet zeigt im zweiten Teil der Szene jedoch eine höhere Adaptation, indem er sich die φύσις des Neoptolemos im Rahmen seiner dezidierten Ablehnung zunutze macht und so Neoptolemos davon überzeugt, ihn nach Hause zu bringen. Das Redeziel des Neoptolemos scheint damit auf Beziehungsebene erfüllt, auf der Handlungsebene ist es jedoch endgültig gescheitert: Sein Redner-ἦθος macht es ihm unmöglich, unaufrichtige Rhetorik zu versuchen.

677 Pucci (2011) 305 nennt dies »dibattito appassionato e radicale«. 678 Manuwald (2018) 383 weist auf einen Ratschluss des Zeus hin, den Neoptolemos hier aber anscheinend nicht kennt, da er ihn nicht erwähnt. Herakles wird ihn dagegen später erwähnen.

Textanalysen

183

Philoktet wird schließlich im dritten Teil der Szene von Herakles überzeugt,679 wobei Sophokles wiederum den Fokus auf Herakles’ positiv geprägtes ἦθος legt:680 Neben dem Autorität implizierenden Rahmen über seinen Status als Gott und Zeus’ Beschlüsse benutzt Herakles in seinem Auftritt ex machina zuerst sein eigenes analoges Schicksal als Argument, da ja auch er Schmerzen auf dem Weg zur Unsterblichkeit habe erleiden müssen (1418–1420). Sogleich lässt er den möglichen Ruhm nach der Zerstörung Trojas (1422) und die Befreiung des Philoktet von Schmerzen (1424) als Anreize folgen.681 Somit zeigt Herakles qua seiner eigenen Geschichte die ultimative, wenn auch unmarkierte, Rezipientenanpassung: Als Analogieschluss zu seinen Erlebnissen und dem daraus folgenden Ruhm kann er nun authentisch Gehorsam von Philoktet einfordern.682 Hinzu kommt die Tatsache, dass Herakles aus dieser Gegebenheit heraus auch nicht mit einer Selbstverschuldung des Leids argumentiert, wie dies Neoptolemos tat.683 Aufgrund dieser vielschichtigen Beleglage ist Herakles’ ἦθος Philoktet grundlegend sympathisch, es kommt jedoch noch ein viel grundlegenderer Aspekt zum Tragen: Herakles hat Philoktet – im Vergleich zu Odysseus und Neoptolemos – nicht belogen. All dies hüllt Sophokles in deutliche bald on record-Formulierungen, die freilich den Prophezeiungscharakter unterstützen sollen und aufgrund von Herakles’ göttlicher Identität keine markierte impoliteness-Strategie darstellen. Aufgrund dieses essentiellen ἦθοςUnterschiedes zu Neoptolemos, der sich auch auf der sprachlich-argumentativen Ebene erkennbar wird, wirkt Herakles’ rhetorischer Erfolg plausibel. Denn Herakles bringt im Kern gleichen Argumente wie Neoptolemos,684 kann aber aufgrund seines positiv belegten ἦθος und seiner analogen Erfahrungen einen Zugang zum Hörer finden und überzeugen.685 679 Zur Heraklesszene als endgültige »persuasion« des Philoktet, s. Garvie (1972). Zu den fünf Überzeugungsversuchen an Philoktet allgemein, s. Winnington-Ingram (1980) 292–301. Zur Parallelität der Herakles- und Philoktetfigur, s. Kott (1975) 162. 680 So überzeugend Taplin (1971) 39; Easterling (1978) 35. Die Verbindung meiner allgemeinen These des ἦθος als Voraussetzung für Persuasion mit diesem Aspekt verdanke ich einem Kommentar von Gunther Martin. 681 Der Kritik von Martin (im Erscheinen) an Kyriakou (2012) 158, Herakles’ Analogieschluss zwischen seinem und Philoktets Schicksal sei nicht ausschlaggebend für seine Überzeugung, kann ich jedoch nicht völlig folgen: M.E. wird das von G. Martin zu Recht als ausschlaggebend bemerkte ἦθος durch die Bemerkungen zum gemeinsamen Schicksal weiter unterstrichen. Daher sehe ich die Ansichten von Kyriakou (2012) und Martin (im Erscheinen) als komplementär an. 682 Winnington-Ingram (1980) 301. »Not only was it necessary that this should happen, but it was psychologically plausible that Heracles should succeed where Odysseus, the Chorus and even Neoptolemus had failed.« Winnington-Ingram (1980) 299. 683 Vgl. Manuwald (2018) 35. 684 Dies beobachtet auch Kyriakou (2012) 158. 685 Der konkreten Aussage von Kyriakou (2012) 165, Herakles »offers a paradigm of past heroic behaviour, which Philoctetes, a man fixated on the past, is bound to wish to emulate«

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Textanalyse: Sophokles und Euripides

Somit lenkt Sophokles deutlich die Rezeptionshaltung auf den redeexternen Charakteraspekt und auf Philoktets zumeist »kompromisslos abweisende [...] Haltung«.686 Die verzweifelte und tragische Figur des Neoptolemos, der gute Argumente durch das verdorbene Verhältnis mit Philoktet nicht anbringen kann687 und durch sein vorheriges Scheitern ungeduldig und belehrend wird, obwohl er eigentlich Verantwortung für seine vorherige Täuschung übernehmen möchte,688 stellt Sophokles dem rhetorischen Erfolg des Herakles gegenüber, der seinen Schützling Philoktet beeinflussen kann. Die Aspekte des unbescholtenen Sprechercharakters des Sprechers sowie der zwingenden Kongruenz von ἦθος und Botschaft werden von Sophokles betont. Auffällig ist schließlich, dass sämtliche Kommunikations- und Überzeugungsprobleme im »Drama der Kommunikation«689 Philoktet auf dem unaufrichtigen und falschen Gebrauch von Rhetorik beruhen.

3.1.4.3 Rhetorische Adaptation Wie durch Neoptolemos’ passende Argumente sowie seine Metadirektive und metapragmatischen Ausdrücke im ersten Teil der Szene deutlich wurde, weist er ein hohes Bewusstsein für Kommunikation und den Gesprächspartner auf. So fragt er häufig nach dem geistigen Zustand des Gesprächspartners und zeigt durch seine Besorgnis eine affektive Berücksichtigung (z.B. βούλομαι δέ σου κλύειν 1273). Diese demonstrierte Adaptation an den Gesprächspartner, um sein Redeziel zu erreichen, bleibt aber erfolglos. Dieses hohe kommunikative kann ich nicht wörtlich folgen: Freilich wird Herakles’ ἦθος überzeugender und eindrucksvoller, wenn er seine heroische Vergangenheit erwähnt. Plausibler erscheint hierbei die Argumentation von O’Higgins (1991) 48, Herakles habe u.a. deswegen Erfolg, weil er Philoktets leidvolle Vergangenheit als ruhmvoll lobe: »Significantly, Heracles focuses on Philoctetes’ bitter and solitary past as productive of kleos, rather than on his more conventionally heroic future.« S.a. Knox (1964) 156f. Allgemein gilt doch, wie in Anm. 679 bemerkt, dass Herakles’ ἦθος von Sophokles durch verschiedene, vielschichtige sprachliche und mythische Elemente als dem Philoktet sympathisch gezeichnet wird. Martin (im Erscheinen) Anm. 5. 48 führt dagegen nur die Freundschaft der beiden Charaktere als Voraussetzung für Herakles’ positiv geprägtes ἦθος an. 686 Manuwald (2018) 32. 687 »Seine Verhärtung zeigt sich insbesondere daran, dass er, als Neoptolemos ehrlich mit ihm spricht, auf den verheißenden Gewinn (Heilung und Erfolg vor Troja), den ein Nachgeben für ihn brächte (919f.), nicht reagiert. Wenn Neoptolemos als Fahrtziel Troja und die Atreus-Söhne nennt, die Philoktet haben aussetzen lassen, ruft das bei ihm stereotyp die traumatische Erfahrung der Aussetzung und ihrer Umstände hervor (915–918). […] Dass ausgerechnet der vermeintliche Freund Neoptolemos ihn zunächst hinterging, verstärkt noch die Verbitterung. Eine Zustimmung kommt daher für ihn nicht in Frage, und er ist nur darauf fixiert, den für ihn lebenswichtigen Bogen wiederzubekommen.« Manuwald (2018) 32f. 688 Vgl. Manuwald (2018) 38. 689 Martin (im Erscheinen).

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Bewusstsein ist wohl auch Ausdruck seiner aufrichtigen φύσις (79). Seine Unfähigkeit, diese φύσις zu bewahren und sich der betrügerischen Verwendung von Rhetorik im Rahmen von Odysseus’ Intrige zu entziehen, ist als besonders tragisch einzustufen. Mit seinem hohen kommunikativen Bewusstsein provoziert er Philoktet auch, indem er dessen Bereitschaft und Möglichkeit zur Meinungsänderung impliziert: ΝΕ. οὔκουν ἔνεστι καὶ μεταγνῶναι πάλιν; Ne. Ist es denn nicht möglich, seine Meinung wieder zu ändern?

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Diese Ansicht erinnert an Jasons Frage nach einer spontanen Haltungsänderung an Medea690 und erzielt hier eine ebenso eskalierende Wirkung, da sie die individuellen Beweggründe für die feste Meinung eines Gesprächspartners außer Acht lässt und somit eigentlich das genaue Gegenteil des von Philoktet implizierten statischen ἦθος signalisiert. Im zweiten Teil der Szene weist Philoktet argumentativ Rezipientenanpassung auf, kann aber aus Verzweiflung und Ungeduld seinen Ton nicht entsprechend anpassen. Trotz seiner Anpassung im ersten Teil der Szene kann er mit seiner Rede nicht überzeugen. Auch Philoktet zeigt Einblick in die Persönlichkeit seines Gegenübers, indem er Neoptolemos’ Schwur anführt (ἅ μοι ξυνώμοσας 1367) und sich dabei auf seine φύσις bezieht, durch die Neoptolemos immer als aufrichtig gelten will (κοὐ κακοὺς ἐπωφελῶν / δόξεις ὅμοιος τοῖς κακοῖς πεφυκέναι. 1471f.). Diesen seinen einzigen Bezug auf den Gesprächspartner setzt er jedoch nicht kooperativ ein, sondern absichtlich manipulativ.

3.1.4.4 Metapragmatik: Häufigkeit, Gebrauch und explizite Plausibilisierung Im Philoktet sind metapragmatische Aussagen äußerst zahlreich.691 Ihnen kommen sowohl deklarative als auch dezidiert explikative Funktionen zu: Im mittleren Teil des Stückes (731–966) spielen vor allem die Metadirektive des Schweigens eine Rolle,692 als Kommunikation unter erschwerten Bedingungen dargestellt wird. In der vorliegenden Szene wird etwa besonders im ersten Teil (1261–1286), in den Neoptolemos’ kommunikatives Projekt aufgrund der vorherigen sprachlichen Manifestation seines negativen ἦθος abgelehnt wird, metadirektiv und -pragmatisch das Gelingen und Scheitern von Persuasion formuliert und kommentiert.693 690 οἶσθ’ ὡς μέτευξαι, καὶ σοφωτέρα φανῇ· (Eur. Med. 600). 691 Insgesamt: ⌀ 25% der Verse; Rhesisformen: ⌀ 18% der Verse; Stichomythie: ⌀ 29% der Verse. 692 Vgl. Zetzmann (2020b). 693 15 metapragmatische Aussagen von insgesamt 53 in dieser Szene, s. Tabelle 1.

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Besonders deutlich wird dies gegen Ende, als sich Philoktets Ablehnung zuspitzt: ΦΙ. παῦε, μὴ λέξῃς πέρα· μάτην γὰρ ἃν εἴπῃς γε πάντ’ εἰρήσεται. ΝΕ. οὕτω δέδοκται; ΦΙ. καὶ πέρα γ’ ἴσθ’ ἢ λέγω. ΝΕ. ἀλλ’ ἤθελον μὲν ἄν σε πεισθῆναι λόγοις ἐμοῖσιν· εἰ δὲ μή τι πρὸς καιρὸν λέγων κυρῶ, πέπαυμαι. ΦΙ. πάντα γὰρ φράσεις μάτην. οὐ γάρ ποτ’ εὔνουν τὴν ἐμὴν κτήσῃ φρένα, ὅστις γ’ ἐμοῦ δόλοισι τὸν βίον λαβὼν. Phi. Hör auf, sprich nicht weiter. Denn du sprichst alles vergebens, was auch immer du sagen willst. Ne. So denkst du wirklich? Phi. Und überzeugter, als ich sagen kann! Ne. Ach, wie gerne würde ich dich mit meinen Worten überzeugen. Aber da ich wohl nicht passend reden kann, höre ich auf. Phi. Denn du sprichst alles vergeblich, du wirst nämlich nicht meinen Sinn wohlwollend stimmen. Denn du hast mir ja mit List meinen Lebensunterhalt geraubt.

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Mit Philoktets expliziter Begründung seiner Ablehnung, nämlich auf der Basis von Neoptolemos’ vorherigen Worten und Taten sowie der damit einhergehenden charakterlichen Diskreditierung, wird der Zuschauer auf Philoktet als unüberzeugbaren Charakter aufmerksam gemacht und muss damit überlegen, inwiefern der plot nun noch gelöst werden kann. Zusätzlich wird klar, dass sich die Auseinandersetzung nicht mehr um Inhaltliches dreht, sondern dass auch die realen Machtverhältnisse in einer Art Metadiskussion über den Dialog thematisiert werden: Beide Charaktere machen im gleichen Maße Bemerkungen auf der Metaebene.694 Es fällt auf, dass hier der zu überzeugende Philoktet sich auch des Stands der Unterhaltung bewusst ist, bemerkt, dass er überredet werden soll, und dies auch kommentiert. Neoptolemos als eindeutig jüngerer und aufrichtiger Charakter kann sich kaum effektiver der sprachlichen Metaebene bedienen als der leiderfahrene und starrsinnige Philoktet.695 Vielmehr stehen die kommunikativen und Verständnisprobleme im Vordergrund, die Neoptolemos mit Philoktet hat. Dieser deutliche und häufige Wechsel auf die Metaebene bedeutet zwei Dinge: Einerseits vermittelt er, plotbedingt, ein noch höheres kommunikatives Bewusstsein der Figuren als in den vorherigen Stücken – wie bereits erwähnt, ist Persuasion und Täuschung im ganzen Philoktet ein wichtiges Thema, denn seine Charaktere kommentieren dies durchweg. Diese explizite Darstellung 694 23 metapragmatische Aussagen des Neoptolemos vs. 24 des Philoktet. 695 Diese Haltung erklären Winnington-Ingram (1980) 290–292; Kyriakou (2012) 151 korrekt mit Philoktets Isolation.

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führt aber nicht zu besserem Verständnis oder besserer Kommunikation, sondern lenkt den Fokus noch stärker auf die kommunikativen Probleme zwischen den Figuren, die sich auch als stellvertretend für einen Autoritätskampf lesen lassen, an dem Neoptolemos kaum aktiv teilnehmen möchte696 und den Philoktet daher durch seine Geradlinigkeit gewinnt.697 Insofern kann diese Eigenart des Philoktet nicht nur als Marker für das Publikum fungieren, um den Stand des Gespräches deutlich zu vermitteln und um eine Reflexion zum Thema Persuasion und Sprache anzustoßen: Da aufrichtige Sprache an sich im Philoktet zu scheitern scheint, insofern sie nicht von einem Gott verwendet wird, wird der Zuschauer auch eingeladen, sich über die Grenzen von Reden und Sprache allgemein Gedanken zu machen. Der Missbrauch von Sprache im Rahmen der Intrige lässt immerhin den plot des Philoktet überhaupt erst entstehen. Diese Scheitern von Sprache und Kommunikation wird aufgehoben, als Herakles mit prophetischer, also performativer und dicht markierter698 Sprache das dramatische Problem löst und Philoktet zur Mitfahrt anhält. Im Falle des deus ex machina spiegelt die metapragmatische Ebene auch die große Wirkungsmacht seines prophetischen Wortes wider. Für unsere Interpretation ist besonders die Beobachtung wichtig, dass in dieser Redeszene der Grund für das Scheitern eines kommunikativen Projektes explizit als Charakter oder Disposition699 des Sprechers benannt wird und unabhängig von situativen Argumenten oder Sprechweisen ist. Im Gegensatz zum aischyleischen Werk konnte dieser Umstand auf ähnliche Weise auch in Sophokles’ Antigone sowie in Euripides’ Medea und Hippolytos beobachtet werden; hier dagegen wurde diese ›redeexterne‹ Plausibilisierung, d.h. die nicht in den Argumenten der betrachteten Szene begründet liegt, von den Charakteren im Laufe des Stückes durch den falschen Gebrauch von Sprache selbst hergestellt. Dies selbst herbeigeführte Diskreditierung des eigenen Charakters durch den unaufrichtige und täuschende Kommunikation darf programmatisch für den sophokleischen Philoktet gelten.

3.1.4.5 ἦθος des Sprechers und Autoritätskonflikte Auch in dieser Szene lag der Fokus deutlich auf dem ἦθος des Sprechers: Philoktet kommentiert zweimal die diskreditierenden Taten des Neoptolemos,700 sodass Sprache an sich als obsolet erschien. Hierbei ist zu betonen, dass Neoptolemos’ negativ geprägtes ἦθος aus seinem vorherigen Betrug an Philoktet ent 696 εἰ δὲ μή τι πρὸς καιρὸν λέγων / κυρῶ, πέπαυμαι (1279f.). 697 Vgl. etwa μάτην (1276. 1280). 698 6 metapragmatische von insgesamt 39 Versen, also ein Anteil von 15%. 699 καὶ τὰ πρὶν γὰρ ἐκ λόγων / καλῶν κακῶς ἔπραξα σοῖς πεισθεὶς λόγοις (1268f.). τοιοῦτος ἦσθα τοῖς λόγοισι χὤτε μου / τὰ τόξ’ ἔκλεπτες πιστὸς ἀτηρὸς λάθρᾳ (1271f.). 700 S. Anm. 697.

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standen ist – also einer unaufrichtigen Verwendung von Rhetorik, die zusätzlich gegen Neoptolemos’ φύσις verstößt. Insofern ist Philoktet in dieser zwar grundsätzlich durch seine Krankheit und Isolation in der schwächeren Position, Neoptolemos passt sich aber aufgrund seiner aufrichtigen φύσις und aufgrund seines persuasiven Projektes rhetorisch und kommunikativ an. Somit erhält Philoktet alle kommunikative Macht, die er auch angesichts von Gewaltdrohungen in Form seiner Ablehnung auszuüben wagt. Schließlich überwiegt Philoktets Skepsis gegenüber Neoptolemos’ ἦθος, sodass seine Selbstdarstellung als passiver, besorgter Freund fruchtlos bleibt. Erst Herakles als Gleichgestellter, da Leidensgenosse des Philoktet und völlig unberührt vom vorherigen Intrigenplot, kann eine Handlungsänderung hervorrufen.

3.1.4.6 Zusammenfassung Erneut lenkt Sophokles den Blick auf die redeexternen Aspekte einer persuasiven Szene. Denn im ersten Teil der Szene zeigt sich Neoptolemos durchweg rezipientenorientiert und angepasst. Er deutet unter Einsatz von markierter politeness Flexibilität von Meinungen und Haltungen an und erwartet die Möglichkeit, dies auch auf der kommunikativen Ebene vermitteln zu können. Jedoch lenkt Sophokles mit seiner Verwendung expliziter metapragmatischer Aussagen den Blick auf Neoptolemos’ bisher manifestiertes ἦθος als Grund des Scheiterns: Philoktet lehnt ab, indem er dessen vorherige Taten und missbrauchte Worte aufrechnet und daraus mit einem Wahrscheinlichkeitschluss eine negative Vorhersage für sein jetziges Verhalten trifft.701 Auch in Neoptolemos’ zweitem Scheitern – trotz der Rückgabe des Bogens – betont Sophokles Philoktets vorherige Erfahrungen mit ihm sowie Philoktets leidbedingte Unerreichbarkeit: Neoptolemos verwendet zwar naheliegende und sinnvolle Argumente, wenn auch in symbouleutisch anmutendem, tadelndem Ton. Aber er muss erkennen, dass Philoktet auch bei sich selbst ein μεταγνῶναι nicht zulässt: Obwohl Philoktet kurz zögert, lehnt er im Endeffekt dezidiert ab, mit der Begründung, Charaktere seien unveränderbar. Durch den Fokus auf das szenenexterne – aber in diesem Fall durch Rhetorik induzierte – negative ἦθος unterstreicht Sophokles Philoktets Wesen für das Publikum als unüberzeugbar702 – und zeigt, dass Sprache und Rhetorik absurd sind, sofern sie nicht korrekt gebraucht werden. Dies ist gleichzeitig der Schlüssel zum Verständnis des Stückes, das zu Recht ein »Drama der Kommunikation« genannt werden darf:703 Im Rahmen von 701 Diese ἦθος-Argumentationen sind auch in Ps.-Aischyl. Prom. 1040–1042; Soph. Ant. 632–634; Eur. Hipp. 955; Eur. Med. 467 zu finden. 702 Dieses Urteil fällt auch Knox (1964) 117. 138f., allerdings ohne eine Untersuchung der persuasiven Szenen. 703 Vgl. Martin (im Erscheinen).

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Odysseus’ Intrige und Neoptolemos’ kontraintuitiver Mitwirkung daran führt der unaufrichtige Gebrauch von Sprache und Rhetorik zu einer endgültigen Vergeblichkeit von Kommunikation, die nur Herakles ex machina auflösen kann.

3.2 Zwischenfazit: Sophokles & Euripides 3.2.1 Rhetorische Adaptation Die exemplarisch behandelten Szenen aus Sophokles und Euripides sind trotz ihrer formalen Agonstruktur, wie gezeigt wurde, als persuasive Szenen zu behandeln. Somit kann den neu auftretenden Charakteren jeweils eine Redeintention zugeschrieben werden: Haimon, Hippolytos, Jason und Neoptolemos streben vergeblich eine Haltungsänderung ihres Gesprächspartners an und verfehlen dabei zudem eine Annäherung auf der Beziehungsebene. In drei von vier Fällen zeigen die Charaktere (Haimon, Hippolytos, Neoptolemos) deutliche Rezipientenanpassung und Interesse am Gesprächspartner.704 Obwohl diese argumentative und sprachliche Anpassung sogar explizit formuliert wird,705 scheitert die Strategie. Jason in Euripides’ Medea formuliert eine unpassende Rede, er scheitert aber laut Medea aufgrund seines Charakters. Das Scheitern dieser Charaktere wird nicht, wie bei Aischylos beobachtet, mit szeneninternen Merkmalen der Rede an sich begründet: Statt inadaptiver Rhetorik lenken Sophokles und Euripides hier die Aufmerksamkeit ihres Publikums auf szenenund redeexterne Faktoren des Charakters, der sich diskreditiert hat.706 Somit rückt die Voreingenommenheit und uneinsichtige Art des Adressaten in den Fokus, der sogar angesichts von adaptiven Redeweisen (vgl. Haimon, Hippolytos, Philoktet) nicht nachgibt. Rhetorische Adaptation bleibt aufgrund externer Merkmale ohne Erfolg.707 704 Das Urteil von Scodel (1999b) 132, »in political contexts, however, successful persuasion usually demands attention to the situation and concerns of the auditor. Some Euripidean speeches show such attention […], but many do not«, kann damit teilweise revidiert werden. 705 Vgl. Kapitel 3.1.1.4, 3.1.2.4, 3.1.4.4. 706 Anders als Dubischar (2001) 58f. et passim betone ich das verallgemeinernde Wesen dieser Beurteilungen, die zwar – zumindest in Euripides – in der ἀδικία begründet liegen, sich aber absichtlich auf den szenenübergreifenden Charakter des Gesprächspartners beziehen und auch so gemeint sind. Damit lässt sich ein sowohl bei Sophokles als auch Euripides gültiges Merkmal des Agons festhalten. Die persönlich verletzende Reaktion von sophokleischen Helden stellt Knox (1964) 19–21 fest. 707 Für Euripides deutet Scodel (1999b) 134 die Unerreichbarkeit des Empfängers an: »As often, however, Euripides then contrasts the weakness of even the best verbal performance as a weapon in the face of an enemy immune to persuasion and capable of force.« Doch auch sophokleische Charaktere bleiben auffällig unflexibel: Weder Kreon (Ant.), Philoktet (Phil.) noch Ödipus (Oid. T.) lassen sich auf den ersten Versuch von ihren Mitcharakteren überzeu-

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Ein Sonderfall liegt im sophokleischen Philoktet vor: Hier diskreditiert Neoptolemos seinen Charakter aufgrund seiner fehlgeleiteten Rhetorik im Rahmen der Intrige, sodass sich Philoktets Standpunkt völlig verhärtet und er unempfänglich wird gegen jedwede Art von Argument oder rhetorischer Anpassung. Philoktet wird daher einerseits aufgrund seiner Krankheit, andererseits aber auch aufgrund des – rhetorischen und tätlichen – Fehlverhaltens des Neoptolemos zu einer uneinsichtigen Figur, in der sich zugleich Sophokles’ Problembewusstsein bezüglich unbedacht und falsch gebrauchter Rhetorik spiegelt – und dies in einer der letzten erhaltenen Tragödien der rhetorikbasierten Gattung schlechthin.

3.2.2 Theory of Mind bei Sophokles und Euripides? Bei drei der vier ausgewählten Szenen sind Argumente durchweg passend gewählt und es findet ein expliziter Bezug auf den Gesprächspartner statt. Dies kann u.a. am häufigen Gebrauch des Personalpronomens σύ festgemacht werden und an weiteren expliziten, kooperativen Kommentaren zum Gesprächspartner. Damit macht der Autor seine Zuschauer auf bewusste rhetorische Berücksichtigung aufmerksam. Die Charaktere Haimon, Hippolytos und Neoptolemos haben eine hohe affektive und kognitive Theory of Mind, die beobachtbar ist. ­Jason dagegen macht durchweg falsche und provozierende Annahmen über seine ­Gesprächspartnerin – ihm deswegen unausgereifte Theory of Mind zu unterstellen, wäre jedoch falsch. Vielmehr zeugt es von sehr komplexer Theory of Mind-Anwendung, Medea mit Absicht zu reizen, um die Oberhand im Gespräch zu bewahren. Damit konterkariert er freilich sein Redeziel, d.h. die Abwendung von Medeas Rache. Bei den Adressaten der jeweiligen Sprechakte bietet sich ein geschlossenes Bild: Es sind durchweg unerreichbare Charaktere, die in ihrer ablehnenden Haltung als ›Geschädigte‹ in der Agonstruktur keinerlei affektive Theory of Mind offen zeigen – denn der Einsatz affektiver Theory of Mind würde ihre kommunikative, nämlich ablehnende, Haltung konterkarieren (Kreon, Theseus, Medea, Philoktet). Dagegen sind z.T. zielführende Verwendungen ihrer rhetorisch-kognitiven Theory of Mind zu beobachten: Kreon verwendet eine falsche Prolepse, um Haimon abzuwehren (Soph. Ant. 626–630); Theseus verwendet eine korgen – vielmehr müssen andere Wege der Erkenntnis gefunden werden, wie etwa schmerzvolle Selbsterkenntnis (Ödipus) oder ein deus ex machina (Philoktet). Wie Emde Boas (2020) zeigt, stellt etwa Ödipus mit Abstand die meisten Informationsfragen im sophokleischen Corpus, kann dieses Wissen aber keinesfalls anwenden. Somit unterstützt sein kommunikatives Verhalten seine Darstellung als Figur, die nicht nur physisch und emotional, sondern auch intellektuell isoliert ist. Allgemein zur Sturheit von sophokleischen Helden (ohne Berücksichtigung von Nebencharakteren), s. Knox (1964) 1–27.

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rekte Prolepse und macht Hippolytos argumentierunfähig (Eur. Hipp. 960–970); Philoktet verwendet die Erkenntnis von Neoptolemos’ φύσις gegen ihn (Soph. Phil. 1367–1372).708 Daher sollte den Charakteren bei Sophokles709 und Euripides sogar ein sehr komplexer Gebrauch von Theory of Mind zugeschrieben werden, da sie z.T. mit Absicht eskalierend und abwehrend eingesetzt wird.710 Auch die Theory of Mind des Zuschauers und Interpreten wird hierdurch bemüht, da nach den zugrundeliegenden Ansichten und Intentionen der Charaktere gefragt werden muss, um die auf der Bühne vorgeführte Kommunikation zu verstehen.711 Sophokles und Euripides bieten ihrem Publikum hierfür Orientierung an, indem sie ihren Charakteren explizite Beurteilungen von Rhetorik in den Mund legen.

3.2.3 Sprachverhalten und politeness Auf der Ebene des Sprachverhaltens ist zu konstatieren, dass die überzeugen wollenden Charaktere generell zunächst versuchen, adaptiv und konstruktiv zu kommunizieren, ihre Gesprächspartner dies aber verweigern.712 Markierte politeness-Strategien spielen hier nur auf Seite der Überzeugenden eine Rolle, wobei sich dies in indirekten off-record-Aussagen (z.B. verdeckt geäußerte Kritik des Haimon), positiver politeness (schmeichelnde Anreden) und in negativen, also abmildernden, politeness-Strategien manifestiert. Jeweils im letzten Teil der Szenen verschwinden jedwede markierte politeness-Strategien zugunsten deutlich markierter impoliteness, die v.a. von den Rezipienten als Eskalationsstrategie benutzt wird.713 So eskaliert die Kommunikation durch markierte impoliteness – bisweilen im Rahmen einer Stichomythie. Gegen Ende der hier analysierten 708 Diese absichtlich falsche Unterstellung von Motiven wird von Scodel (2012) 323 im homerischen Epos als Zeichen einer hohen Theory of Mind angesehen. 709 Eine erhöhte Betonung der mentalen Zustände in Sophokles’ Antigone (v.a. zwischen Ismene und Antigone) konnten auch Budelmann & Easterling (2010) feststellen. 710 Hiermit widerspreche ich Scodel (2017) 41, die v.a. in der Antigone den Charakteren geringe Theory of Mind zuschreibt: Gerade der eskalierende Gebrauch von ToM ist als komplex zu bezeichnen. 711 Ein weiterer Theory of Mind-bezogener Diskurs zeichnet sich in den besprochenen Szenen ab: Immer wieder wurde der Punkt des negativen und polemisch als unveränderlich bezeichneten Charakters als Vorwurf gebracht (Theseus, Medea, Philoktet); hierauf wurde in drei Fällen, von Haimon, Jason und von Neoptolemos, die Möglichkeit einer Meinungsänderung thematisiert. Hierdurch wird auch für den Zuschauer ein Bewusstsein für mentale Einstellungen geschaffen und eine Reflexion darüber eröffnet, wie und ob sich solche geistigen Zustände – oder noch viel allgemeiner: Persönlichkeiten – beeinflussen lassen. Im Endeffekt beweist dies auch die Theory of Mind der Autoren, die bei ihrem Publikum ein solches Bewusstsein schaffen. 712 Auch Jasons Sprache ist zu Beginn des Agons deutlich adaptiver, vgl. Kapitel 3.1.3.3. 713 Vgl. aber die Tonänderung bei Haimon und Neoptolemos.

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Stichomythien sind bald on record-Aussagen als impoliteness-Strategien zu beobachten (Haimon und Hippolytos), die zur Eskalation führen.714 Generell sind aber, wie oben gezeigt, bald on record-Aussagen in der Stichomythie erwartungsgemäß und haben nicht zwingend impoliteness-Charakter – besonders, wenn sie durch vorbereitende politeness-Strategien gerechtfertigt werden; tatsächlich können sie auch kommunikative Ökonomie bedeuten (vgl. Soph. Ant. 735. 737. 741. 753; Eur. Hipp. 902–915).715

3.2.4 Metapragmatik: Häufigkeit, Gebrauch und explizite Plausibilisierung Bei Sophokles’ und Euripides’ Szenen fällt die deutlich höhere Anzahl an metapragmatischen Aussagen auf, die u.a. Metadirektive, strukturierende Aussagen, Reflexionen zum Sprecher und zur Rhetorik beinhalten.716 Weiterhin sticht der deutliche Überhang dieser Aussagen bei den Charakteren mit persuasivem Projekt ins Auge: Haimon, Hippolytos und Jason treffen deutlich mehr explizite Aussagen zur Persuasion als ihre Gegner. Eine Ausnahme ist bei Philoktet und Neoptolemos zu beobachten: Hier äußern sich beide Charaktere etwa gleich oft zum Stand der Unterhaltung und beschreiben ihre Sprechakte explizit.717 Metapragmatischen Aussagen kommen hier drei Funktionen zu: Die Verdeutlichung des Gesprächsstandes für die Beteiligten und das Publikum; Selbstpositionierung der Figuren auf der Beziehungsebene durch Kooperation bzw. Eskalation; die Definition eines szenenexternen Kriteriums für die Beurteilung von Rhetorik. Metapragmatische, da den Gesprächsverlauf kommentierende, Ausdrücke wie ἔχθιστος γεγώς (Eur. Med. 467. Soph. Phil. 1284)718 oder κάκιστος ὤν (Eur. Hipp. 944) werden dabei als quasi formelhafte Beurteilung und Ablehnung des Gesprächspartners geprägt.719 714 Vgl. Culpeper (2011) 228, der »coercive impoliteness« v.a. in asymmetrischen Machtsituationen auch in der modernen Sprache beobachtet. 715 Mit dieser Feststellung des nicht inhärent impoliten Charakters von bald on recordAussagen bestätigt sich die Kritik von Watts (2003) xx. 5–8. 716 In den behandelten Szenen: ø Aischylos: 13% der Verse; ø Prom.: 24% der Verse; ø Sophokles: 22% der Verse; ø Euripides: 23% der Verse. Dies deckt sich mit dem allmählichen chronologischen Anstieg der Prozentzahlen der metapragmatischen Aussagen in den behandelten Gesamtstücken (s.a. Tabelle 2): Septem 6%, Hiketiden 10%, Agamemnon 10%, Prometheus 19%, Antigone 12%, Hippolytos 13%, Medea 12%, Philoktet 14%. 717 Dies könnte mit der rhetorischen und charakterlichen Unterlegenheit des Neoptolemos sowie mit der allgemein wichtigen Rolle der Persuasion im gesamten Philoktet erklärt werden. 718 Vgl. auch Ps.-Aischyl. Prom. 1040f. (ca. 440/430 v. Chr.): εἰδότι τοί μοι τάσδ’ ἀγγελίας ὅδ’ ἐθώϋξεν· / πάσχειν δὲ κακῶς ἐχθρὸν ὑπ’ ἐχθρῶν οὐδὲν ἀεικές. 719 Kreons Bemerkung in Soph. Ant. 632f. (ὦ παῖ, τελείαν ψῆφον ἆρα μὴ κλυὼν / τῆς μελλονύμφου πατρὶ λυσσαίνων πάρει;) ist nicht Teil dieser Formulierung.

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Metapragmatik wird zum frei einsetzbaren Instrument, bisweilen freilich der impoliteness, und ist von der Intention des Benutzenden abhängig.720 Somit wird besonders bei Euripides Rhetorik als suspekt dargestellt. Immer fällt auf, dass Metapragmatik stellvertretend für reale Macht- und Autoritätskämpfe fungiert, die so jenseits der Bedeutungsebene sprachlich ausgetragen werden. Doch gleichzeitig kann in unserem dramatischen Kontext dieses Phänomen nicht nur zwischen den Figuren, sondern auch dem Publikum als Marker und Vereinfachung fungieren, um stets den kommunikativen Bewusstseins- und Ergebnisstand zu erhalten. Besonders an der Verwendung von Metapragmatik in Sophokles’ und Euripides’ Stücken ist, dass sie die Plausibilisierung einer vergeblichen Rede explizit darstellen und so dem Zuschauer keinerlei Zweifel über die mentale und kommunikative Situation zwischen den Sprechern lassen: Somit wird er zur Reflexion über die anderweitige Lösung des dargestellten Konflikts angeregt. Diese Beobachtung legt Autoren mit hohem metapragmatischem Bewusstsein nahe, die es verstehen, die dargestellte Kommunikation besser zu vermitteln und zum Gegenstand der Reflexion werden zu lassen. Somit können und müssen wir auch rhetorisch geschulteres Publikum voraussetzen,721 da durch diese Kommentare ein hohes Bewusstsein für Überzeugungsstrategien und Sprache an sich vorausgesetzt sowie eine genaue Reflexion darüber angeregt wird. Der Dichter nutzt das rhetorische Potential der Zuschauer mit dramatischem Gewinn.

3.2.5 ἦθος des Sprechers und Autoritätskonflikte Im Gegensatz zu den aischyleischen Szenen lenkten Sophokles und Euripides in den behandelten Szenen den Blick des Publikums vor allem auf die szenenextern geschehene Diskreditierung eines Charakters, der die Unnachgiebigkeit seines Adressaten in der Überzeugungsszene plausibilisiert. Es wird immer mit expliziten Begründungen für die Abweisung eines Überzeugungsversuchs gearbeitet, sodass die Kriterien für Überzeugung immer verdeutlicht und reflektiert werden. Auffällig ist hier die explizite Diagnose eines verhassten Charakters, der sich aufgrund gewisser – tatsächlicher oder vermeintlicher – Untaten diskreditiert hatte.722 In Sophokles’ Philoktet begegneten wir einem Sonderfall, da 720 Vgl. Caffi (2006) 85. 721 Vgl. etwa allgemein Fuhrmann (2011) 15–17. Einen konzisen Überblick über Ursprünge und Folgen der Rhetorisierung im 5. Jh. bietet Müller (2011) 13f. 722 Hierzu setzte sich sogar die quasi formelhafte Wendung ἔχθιστος γεγώς (Eur. Med. 467; Soph. Phil. 1284) bzw. κάκιστος ὤν (Eur. Hipp. 944). σωφρονέστερος γεγώς (Eur. Hipp. 955) durch. S.a. Ps.-Aischyl. Prom. 1040f.: εἰδότι τοί μοι τάσδ’ ἀγγελίας ὅδ’ ἐθώϋξεν· / πάσχειν δὲ κακῶς ἐχθρὸν ὑπ’ ἐχθρῶν οὐδὲν ἀεικές.

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hier die Ablehnung des zu überzeugenden Gesprächspartners tatsächlich aus dem vorherigen Missbrauch von Sprache resultierte. Autoritätsaspekte als limitierender Faktor für Argumentationen treten in den Hintergrund und sind weniger als bei Aischylos Quelle für kommunikative Machtkämpfe: Alle Sprecher verbleiben innerhalb ihrer sozialen Rolle. Vielmehr wird auf die externe Kategorie des Redner-ἦθος fokussiert, das in speziellen, individuellen723 Taten statt in allgemeinen Rangaspekten begründet liegt. Auf charakterlicher Ebene werden Rhetorik und Kommunikation in diesen Szenen als tendenziell irrelevant dargestellt,724 besonders wenn, wie im sophokleischen Philoktet, Sprache zuvor als Gewaltinstrument verwendet und somit eine Übereinkunft durch Sprache unmöglich gemacht wurde.

723 Im Gegensatz dazu sorgte die reine Autoritätsbedrohung durch Herold bzw. Hermes in Aischyl. Suppl. bzw. Ps.-Aischyl. Prom. für einen Konflikt, der unabhängig von der konkreten Heroldspersönlichkeit war. 724 Dies deutet auch Scodel (1999b) 130f. an, sieht aber den Mehrwert der Rhetorik euripideischer Charaktere in ihrer sophistischen »performance« ihrer selbst.

4. Zwischen Kanonisierung und Fluidität des Mythos: Vorläufiges Scheitern als narratives Instrument und Reflexionsrahmen für literarische Mythenbearbeitung

4.1 Allgemeines: Dramatische Funktionen von vorläufigem Scheitern In der Untersuchung der sprachlichen und rhetorischen Darstellung scheiternder rhetorischer Szenen wurde ein deutlicher Unterschied zwischen den drei Tragikern festgestellt, was die Bedeutung angepasster Rhetorik angeht. Nun soll auf die dramatische Funktion dieser Szenen eingegangen werden. Denn paradoxerweise nehmen scheiternde Reden oder Sprechakte in der Tragödie großen Raum ein, obwohl sie kaum Auswirkung auf die Dramenhandlung haben: In euripideischen Agonen findet keine Meinungsänderung und somit keine Veränderung des plots statt,725 und auch nach den endgültig scheiternden Reden in Aischylos ist keine Handlungsänderung zu beobachten.726 Eine naheliegende dramatische Funktion ist daher zunächst die Vergabe von wichtigen Informationen zu Charakter und Motivation: In den in Kapitel 2 ­behandelten Szenen wurde deutlich, dass Charaktere hier durch die Verwendung von bestimmten Argumenten ihre Disposition formulieren und mitteilen, was entweder in einer gedanklichen Annäherung an ihre Gesprächspartner resultiert oder eine weiterhin bestehende Meinungsverschiedenheit zur Folge hat.727 Zusätzlich, so soll hier vorgeschlagen werden, kann manchen dieser Szenen eine weitere dramatische und metapoetische Funktion zugeschrieben werden, die sich auf ihr Nebeneinander verschiedener Standpunkte und Argumente bezieht. Denn es finden sich einige Szenen, in denen Charaktere rhetorisch nur fast scheitern: Sie äußern eine Redeintention, mit welcher sie aufgrund diverser Hindernisse nicht sofort Erfolg haben, gelangen aber dann durch eine rhetorische oder anders geartete Strategieänderung doch zu ihrem gewünschten Redeziel. Dieses Phänomen soll im Folgenden mit ›vorläufigem rhetorischen Scheitern‹ 725 Vgl. Lloyd (1992) 15; Battezzato (2017) 167. 726 Vgl. Chor an Eteokles, Herold an Pelasgos, Hermes an Prometheus. 727 Vgl. etwa die ängstlich-emotionale Zeichnung des Chores in den Septem, die im Rahmen der Überzeugungsversuche des Eteokles deutlich wird. Ähnliches gilt für alle behandelten Szenen, so auch z.B. Haimon und Kreon (Kap. 3.1.1), die sich in ihrem Agon kennenlernen, oder für Medea und Jason, die ihre Beweggründe aufrechnen (Kap. 3.1.3).

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Zwischen Kanonisierung und Fluidität des Mythos

bezeichnet werden. Indem der Autor dieser – ja nur beinahe eintretenden – Diskursentwicklung keine direkte Handlungsrelevanz verleiht, kann er einem impliziten Diskurs über verschiedene plot- und Mythenversionen Raum geben. So lassen die drei tragischen Dichter bisweilen durch das vorläufige rhetorische Scheitern ihrer Charaktere alternative plot-Versionen andeuten, die dann wieder verworfen werden.728 Da der Tragödiendichter sich nicht nur innerhalb seines gewählten plots bewegt, sondern sich auch im Spannungsfeld zwischen mythischer, durch ihre Historizität kanonisierter729 Vergangenheit und seiner eigenen, zeitgenössischen Auslegung derselben wiederfindet,730 wird mit diesem dramatischen Instrument bisweilen sogar eine Mytheninnovation markiert. So wird der Zuschauer aktiviert und abwechslungsreich unterhalten, da er auf seine mythologisch-literarische Bildung zurückgreifen muss.731 Der tragische Dichter bewegt sich einerseits auf einer narrativen und andererseits auf einer mythischen Ebene, die als intratextuell und intertextuell bezeichnet werden können: Denn die Andeutung von unerwarteten plot-Verläufen innerhalb eines Stücks, das sich bereits einem bestimmten plot-Verlauf verschrieben hat, bezieht sich auf die narrative Technik des Autors. Diese werden in der Tragödie v.a. durch vorläufiges Scheitern betont. In einigen Szenen, wie wir sehen werden, weist das intradramatische Spiel mit konkurrierenden plot-Verläufen gleichzeitig auf neuordnende Rückgriffe auf andere, mündlich oder literarisch tradierte Mythenversionen, also eine Mytheninnovation, hin.732 Durch die explizite Thematisierung alternativer Handlungsverläufe kann den tragischen Dichtern daher ein hohes narratologisches und literarisches Bewusstsein in ihrer Bearbeitung des Mythos zugeschrieben werden, die damit ihre jeweilige Autorität über Narrativ und

728 Diese Technik könnte auch im weitesten Sinne unter den Begriff »dolos« fallen, den Goward (1999) 39f. in ihrer narratologischen Analyse tragischer Szenen unter Rückgriff auf Detienne & Vernant (1991) für die unzuverlässige Informationsvergabe der Dichter verwendet. Ähnlich analysiert auch Scodel (1999a) 111–124. 729 Zur antiken Wahrnehmung des Tragödienmythos als tatsächliche Vergangenheit vgl. etwa Neumann (1995) 9–15, der die beiden einschlägigen antiken Stellen referiert: In Aristoph. Ran. 1010–1012 wirft Aischylos Euripides vor, die Heroen falsch dargestellt zu haben – was suggeriert, es gebe eine historische ›Wahrheit‹, die Euripides verdrehe; ebenso Aristoteles verortet den Stoff der Tragödie in der historischen Realität, da sich die Dichter an das ›Geschehene‹ (τὰ … γενόμενα) halten (Aristot. poet. 1451b15–19). 730 S. etwa Neumann (1995) 13f. sowie passim für die Beobachtung der Gegenüberstellung von mythischer Wirklichkeit und zeitgenössischer Gegenwart durch den Tragödiendichter. 731 Zum aktivierenden Effekt von Innovationen in plot und Mythos, vgl. Burian (1997) 179f. Torrance (2013) 182 vermutet ebenso die Fähigkeit des attischen Publikums, metapoetische und metamythologische Anspielungen zu verstehen. 732 Seidensticker (2005) hat hierfür den Begriff der »Mythenkorrektur« geprägt. Grundlegend zur Fluidität des griechischen Mythos, v.a. bei Homer und Hesiod, vgl. Griffith (1990) 196–200.

Allgemeines: Dramatische Funktionen von vorläufigem Scheitern

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mythischen, also auch historischen, Rahmen deutlich machen.733 Vorläufiges Scheitern von Rhetorik kann, so die Argumentation dies Kapitel, als essentielles literarisches Instrument des Dichters interpretiert werden, der die vom Mythos vorgegebene Vergangenheit neu aufrollt.

4.1.1 Vorläufiges Scheitern als potentielle Handlungsalternative: Tragische εἰ μή-Episoden Im Hinblick auf vorläufig scheiternde Redeszenen soll nun exemplarisch auf deren narrative Verwendung hingewiesen werden, die den Zuschauer verunsichert und Aussagen über die narrative Technik und das metapoetische Bewusstsein des Autors erlaubt. De Jong hat für die homerische Erzählkunst auf eine Art von hypothetischem Satz hingewiesen, die sie »if not-Situation«734 genannt hat. Als Prototyp darf etwa Hom. Il. 8,90f. gelten:735 […] καί νύ κεν ἔνθ’ ὁ γέρων ἀπὸ θυμὸν ὄλεσσεν εἰ μὴ ἄρ’ ὀξὺ νόησε βοὴν ἀγαθὸς Διομήδης· Und da hätte auch nun fast der Greis sein Leben verloren, wenn ihn nicht der gute Rufer Diomedes scharf bemerkt hätte.

90 (Hom. Il. 8,90f.) 90

Diese Satzgebilde vermitteln in der Apodosis ein irreales Geschehen, in der Protasis ein tatsächlich stattgefundenes Geschehen, eingeleitet mit εἰ μή. Hierbei steht die Apodosis immer zuerst, um auf die unerwartete Handlung hinzuweisen.736 De Jong betont hierbei den rhetorischen und dramatischen Effekt, den dieses narrative Mittel auf die Zuhörer habe, da es zur Charakterisierung, Pathoserzeugung und Betonung des Unerwarteten diene.737 733 So argumentiert auch Torrance (2013) 135–142 in ihrem Kapitel »Writing and SelfConscious Mythopoiesis« zu Euripides, die sich aber auch auf das Konzept des Schreibens oder auf die Verwendung des Wortes μῦθος in der Tragödie als explizite metapoetische Metapher für Innovationen konzentriert und so Euripides’ auktoriales Bewusstsein zeigt. In unserem Kontext soll vielmehr der implizite Umgang mit alternativen Handlungsverläufen und Mythen als Zeichen für metapoetisches Bewusstsein behandelt werden. S.a. ähnlich Torrance (2010). 734 de Jong (1987) 68. 735 Zitiert bei de Jong (1987) 68. 736 Vgl. de Jong (1987) 68. 737 Vgl. de Jong (1987) 79. Auch für Nesselrath (1992) 3 steht die Zuschauererwartung im Mittelpunkt, wenn er Schol. Hom. Il. 18,151f. zitiert: τοῖς μὲν ἀκροαταῖς ἐλπὶς ἦν ἐξειλκύσθαι Πάτροκλον, ὁ δὲ πάλιν ἐπιταράττει τὴν διάνοιαν, ἵνα ἐπὶ τὸ ἀκμαιότατον προαγαγὼν τὴν ἀγωνίαν πιθανὴν ποιήσηται τὴν Ἀχίλλεως ἔξοδον. Wäre also Patroklos’ Leiche den Achaiern wieder von Hektor entrissen worden, wäre Achill niemals in den Kampf zurückgekehrt: καί νύ κεν εἴρυσσέν τε καὶ ἄσπετον ἤρατο κῦδος, / εἰ μὴ Πηλεΐωνι ποδήνεμος ὠκέα Ἶρις / ἄγγελος ἦλθε θέουσ’ ἀπ’ Ὀλύμπου θωρήσσεσθαι (Hom. Il. 18,165–167). Diese Stelle u.a. wurde bereits

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Zwischen Kanonisierung und Fluidität des Mythos

Viel wichtiger ist jedoch für De Jong der narratologische und selbstreflexive Wert dieser Stellen: Zusätzlich zur externen Wirkung betont sie den Einblick in den Schaffensprozess des Autors, der mit einer εἰ μή-Bemerkung seine faktisch begrenzten, aber doch fiktional-literarisch vorstellbaren Wahlmöglichkeiten im Rahmen des semihistorischen Mythos einfließen lassen kann.738 Hiermit unterstreiche der von den Musen inspirierte homerische Sänger sogar noch seine narrative Autorität, da er durch das Wissen um irreale, aber verworfene Alternativen seine Kenntnis des Figurenschicksals, also des Mythos, beweise.739 Es soll im tragischen Kontext gefragt werden: Können vorläufig scheiternde persuasive Szenen in den Tragödien als vorgeführte εἰ μὴ-Situation gelten, die – in Ermangelung eines epischen Erzählers – so zum Marker der narrativen Autorität des Dichters wird? Kann – zusätzlich zu einer Verunsicherung des Publikums740 – der Autor durch solche Szenen kurzzeitig als bewusster Entscheider über den plot in Erscheinung treten, indem er irreale Handlungsoptionen einbringt, dann aber durch den rhetorischen (Miss-)Erfolg seiner Charaktere verwirft?

zuvor zitiert bei de Jong (1987) 75. 79. Während im homerischen Epos auf Figurenebene die αἶσα als Regel gelte, die durch eine εἰ μή-Situation scheinbar konterkariert werde (Nesselrath (1992) 1), gehe es auf Zuhörerebene um das Vermeiden von Monotonie und um die vorübergehende Enttäuschung der Erwartungshaltung (Nesselrath (1992) 3). Dies habe ich bereits in Kapitel 4.1 als dramatische Funktion des rhetorischen Scheiterns festgehalten. 738 »In other words, the (counterfactual) event x is not a real, but only an imaginary alternative.« de Jong (1987) 81. Hierbei betont sie auch, dass antike Mythen nicht im gleichen Maße als Fiktion gelten können wie etwa moderne Romane, die solche Bemerkungen aufweisen. 739 Vgl. de Jong (1987) 81. Ohne auf diese metapoetische Funktion einzugehen, aber spezifischer zum Drama beobachtet Nesselrath (1992) 152 im kurzen Ausblick seines Buches: »Es leuchtet unmittelbar ein, daß auch auf der Bühne die Andeutung einer möglichen Entwicklung das, was dann tatsächlich dort geschieht, aufschlußreich kontrastieren und in seiner Bedeutsamkeit noch erheblich unterstreichen kann.« So nennt er etwa auch die gegenseitigen Beschuldigungen der Kreusa und des Ion in Euripides’ gleichnamigem Stück als nicht berichtete, wie im Epos, sondern sogar vorgeführte ›Beinahe-Szene‹: Es käme fast zum Eklat, könnte sich Kreusa nicht an den Altar flüchten und würde nicht die Pythia den Streit durch die Enthüllung beilegen. Hierbei sieht Nesselrath (1992) 152f. das Eingreifen der Pythia als Verhinderung schlimmerer Folgen oder einer Abweichung vom plot; Martin (2018) 478 dagegen betont Ions Respekt vor Kreusas Hiketidenstatus als Ursache für die Konfliktentschärfung. Freilich kann ungeachtet dessen der Eingriff der Pythia als metapoetischer Hinweis auf das Spiel mit plot-Versionen gezählt werden. Die Pythia fungiert wie eine Art explizites plot device: Kurz bevor keinerlei Rettung des plots mehr zu erwarten ist (Martin (2018) 458), tritt sie auf und löst den Konflikt (»the equivalent of a first dea ex machina« Martin (2018) 480). 740 Zur aktiv plot-konstruierenden Rolle des Tragödienpublikums, vgl. Goward (1999) 13f.

Allgemeines: Dramatische Funktionen von vorläufigem Scheitern

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4.1.2 Mytheninnovation in εἰ μή-Episoden In einigen Szenen kommt zu dem gewählten und betonten plot der Tragödien noch eine Dimension der Mytheninnovation hinzu, da der tragische Dichter mit dem narrativen Instrument der εἰ μή-Episode auch die Neuartigkeit seiner literarischen Mythenbearbeitung markieren kann.741 In unserem tragischen Kontext bedeutet dieser Eingriff in den Mythos sogar eine Manipulation der quasihistorischen Vergangenheit742 und markiert daher die absolute narrative Macht des Autors. Es soll hier nicht dezidiert auf einzelne Mytheninnovationen,743 sondern exemplarisch auf die mytheninnovative und metapoetische Technik der Autoren durch vorläufig scheiternde Redeszenen hingewiesen werden. Der oben festgestellte narrative Umgang mit verschiedenen plot-Verläufen bekommt daher in einigen Szenen der Tragödie auch eine intertextuelle Funktion: Im Zuge einer neuen literarischen Bearbeitung eines Stoffes findet– soweit die Überlieferungslage uns dieses Urteil erlaubt – eine Mytheninnovation statt,744 die bisweilen auch einen Kommentar zu vorherigen Versionen enthält. Dies ist besonders relevant angesichts von – polemischen745 – poetologischen Diskursen in der Komödie des 4. Jh.s v. Chr., deren greifbarer Vertreter Antiphanes behauptet, der Mythos in der Tragödie sei stets bekannt und der Dichter müsse nur altbekanntes Zuschauerwissen aktivieren.746 Denn dieses Urteil ist zu relativieren:747 Wie sich zeigen wird, stellt das beobachtete Nebeneinander verschiedener literarischer Mythenversionen748 grundsätzlich kein Problem für den antiken Zuschauer dar, sondern dient viel eher 741 Zur Souveränität des homerischen Dichters gegenüber dem Mythos, s. Radke (2007). 742 Vgl. Neumann (1995) 9–15. 743 Für Euripides beobachtet Wright (2005) 58–60 eine spezifische, extreme mytheninnovative Technik der euripideischen ›escape-tragedies‹ und verwendet in seiner Analyse den Begriff des »counterfactual«: In den besagten Tragödien (Iphigenie auf Tauris, Helena, Andromeda) gehe es immer darum, zu zeigen, dass etwas nicht so passiert sei, wie es allgemein, also in der Grundkonstante des Mythos, bekannt ist. Er nennt Euripides »metamythological« (Wright (2005) 134; Wright (2016) 480), weist aber dabei v.a. auf die explizite Metamythologie des Euripides hin (etwa das häufige Vokabular des Wortfeldes ›Ruhm‹ in Eur. Iph. T. und Hel., das auf den kanonisierenswerten Mythos hinweisen soll; er führt auch Eur. Or. 875 als Innovationsmarker an: τί καινὸν Ἄργει;). Hier soll jedoch auf implizite Metamythologie und ihre verschiedenen Ausprägungen fokussiert werden. 744 Zum Begriff »Mythenkorrektur« vgl. Seidensticker (2005) passim. 745 Vgl. Wright (2016) 470. 746 Antiphanes PCG II fr. 189,1–5 Kassel: μακάριόν ἐστιν ἡ τραγῳδία / ποίημα κατὰ πάντ’, εἴ γε πρῶτον οἱ λόγοι / ὑπὸ τῶν θεατῶν εἰσιν ἐγνωρισμένοι, / πρὶν καί τιν’ εἰπεῖν· ὥσθ’ ὑπομνῆσαι μόνον / δεῖ τὸν ποιητήν· 747 So auch Wright (2016). 748 S.a. Neschke-Hentschke (1988) 52–55, die sinnvollerweise den Begriff des »recit« für die einzelne literarische Mythenbearbeitung verwendet und die Frage nach ›dem‹ Mythos als nicht zielführend verwirft.

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Zwischen Kanonisierung und Fluidität des Mythos

als Quelle für literarische Aktivierung.749 Zweitens basiert tragische Dichtung vor allem auf der neuartigen Darstellung von festgelegten mythischen Rahmenhandlungen, deren mythisches Personal so gut wie feststeht,750 wobei aber keine diese Komponenten immer statisch ist. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen kann sich der Autor für einen plot, also eine genaue Art der literarischen Gestaltung, entscheiden, den er in seiner Tragödie exponiert und durchspielen lässt,751 wie dies auch Aristoteles festhält: τοὺς μὲν οὖν παρειλημμένους μύθους λύειν οὐκ ἔστιν, λέγω δὲ οἷον τὴν Κλυταιμήστραν ἀποθανοῦσαν ὑπὸ τοῦ Ὀρέστου καὶ τὴν Ἐριφύλην ὑπὸ τοῦ Ἀλκμέωνος, αὐτὸν δὲ εὑρίσκειν752 δεῖ καὶ τοῖς παραδεδομένοις χρῆσθαι καλῶς.753 (Aristot. poet. 1453b22–26) Die übernommenen plot-Elemente also kann man nicht ändern, wie etwa dass Klytaimestra von Orest umgebracht wird und Eriphyle von Alkmeon. Der Dichter muss aber zugleich auf sinnvolle Weise Innovationen finden und das überlieferte Plotmaterial benutzen.754 749 Wright (2005) 156f. argumentiert zu Recht, dass der antike Zuschauer sicherlich Werke und Traditionen präsent hatte, deren Innovation u.a. Grund für seinen Theaterbesuch gewesen sei. Den geübten Umgang mit Innovationen und paradoxen Versionen nehmen auch Goward (1999) 13f; Föllinger (2003) 25–27 an. 750 Was die Ursache einer solchen Kanonisierung angeht, existieren zwei Erklärungsversuche: Einerseits die mündliche Tradierung – unter Hinweis auf die Schwierigkeit der Nachprüfung für der Antike – laut Burkert (1979) 17; andererseits die schriftliche Fixierung, die dem erzählten Mythos seine Fluidität nehme laut Graf (1985) 9. 111. Föllinger (2003) 23f. folgert zu Recht eine Synthese aus beiden Ansichten, sowohl mündliche als auch schriftliche Tradierungen könnten zur Kanonisierung einer bestimmten Mythenversion beitragen, weist aber auch auf die hohe Variabilität von Mythen hin, die kein Problem für das antike Publikum darstellen müsse. Dies erklärt auch Wright (2005) 71–73 für die euripideische Tragödie und das Athener Publikum im Allgemeinen. 751 Burian (1997) 185 bemerkt zusammenfassend: »plot stood open to invention, most obviously in the areas of motivation and characterisation, but also in such features as location and sequence of events.«; ebenso Föllinger (2003) 26: »Das Faktische einer Dramenhandlung ist also das Wiederholbare und somit der Stoff, aus dem der Tragödiendichter nun seine eigene Erzählung machen kann.« So generell auch Burian (1997) 183–185; Wright (2005) 60f., die beide in diesem Kontext die Polemik des Antiphanes PCG II fr. 189,1–5 Kassel zitieren. 752 Aufgrund der Antithese τοὺς μὲν οὖν παρειλημμένους μύθους […] αὐτὸν δὲ εὑρίσκειν δεῖ […] schlussfolgere ich, dass εὑρίσκειν sich auf das Gegenteil von παρειλημμένους bezieht, also neue plots meint. 753 Auf die Probleme dieser Forderung, die zunächst im Widerspruch zur faktisch ­beobachtbaren Fluidität des Mythos steht, weist hin Wright (2005) 62–65 und schlägt vor, μῦθος als ›plot‹ zu übersetzen (Wright (2005) 73), der eben auch die vorherigen literarischen Bearbeitungen eines Mythos mit einschließe. Ähnlich übersetzt Schmitt (2008) 526: »Die überlieferten Geschichten kann man nicht ändern […] Aufgabe des Dichter aber ist es, beim Erfinden wie beim Gebrauch überlieferter Stoffe der Kunst gemäß vorzugehen.« 754 Übersetzung V.Z. nach Schmitt (2008) und Wright (2005).

Aischylos

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Somit stehen der antike Mythos und seine literarische Darstellung im Spannungsverhältnis zwischen quasihistorischer Kanonisierung und Fluidität.755

4.2 Aischylos 4.2.1 Aischylos, Septem 182–286: Narrative Technik Einführung In der Eingangsszene von Aischylos’ Septem scheitert Eteokles zunächst (einschl. 237) damit, die Thebanerinnen zum Schweigen zu bringen: Mit diesen zwei Handlungsalternativen – Schweigen oder Nichtschweigen – ergeben sich die Rahmenbedingungen für eine εἰ μή-Situation. Wie in Kapitel 2 gezeigt, gelingt Eteokles’ Vorhaben im kommunikativen Austausch mit den Frauen und durch seine rhetorische Anpassung letztendlich doch. Dies wird sehr deutlich markiert und betont;756 außerdem dauert es von Vers 182 bis 262, also 80 Verse, bis eine Einigung erzielt wird. Es liegt nahe, die Spanne dieser nachträglichen Überzeugung als Digression vom exponierten plot zu sehen. Eteokles’ Scheitern wird zur irrealen Folge, sein für das Publikum nun unwahrscheinlicher Überzeugungserfolg zum Inhalt der εἰ μή-Protasis. Um den dramatischen Effekt dieser Szene zu würdigen, soll zunächst die zeitgenössische Zuschauererwartung in Bezug auf den Septem-plot und die von Aischylos präsentierte irreale Alternative dazu betrachtet werden.

755 Damit folge ich der Ansicht von Neschke-Hentschke (1988) 53f., die eine diachrone Analyse der verschiedenen literarischen Mythenversionen vorführt, um zum kanonischen Kern des Mythos zu gelangen, von dem dann die einzelnen Autoren in ihrer Behandlung mehr oder weniger abweichen. Diesem Blick auf den Mythos folgen auch Föllinger (2003) 29f. und implizit auch Burian (1997) 191 und Wright (2005) 65, der unter Hinweis auf Genette (1980) formuliert: »myths ›underlie‹ their diverse tellings, certain essential elements may be said to be implicitly present in any version, even when they are not explicitly narrated.« S. Wright (2005) 67 für eine – laut Autor zugegeben subjektive – Übersicht der Grundkonstanten der Mythen in den euripideischen Fluchttragödien. Seidensticker (2005) 38 spricht hier von »Plastizität«, Bär (2018) 19 von »Duktilität«. 756 Vgl. die Kontaktherstellung in Aischyl. Sept. 202 (ἤκουσας, ἢ οὐκ ἤκουσας; ἢ κωφῇ λέγω;), die wiederholten verneinten Imperative (μή μοι θεοὺς καλοῦσα βουλεύου κακῶς· / πειθαρχία γάρ ἐστι τῆς εὐπραξίας / μήτηρ, γυνὴ Σωτῆρος 223–225) sowie die Metadirektive der Stichomythie (οὐ σῖγα μηδὲν τῶνδ’ ἐρεῖς κατὰ πτόλιν; / […] / οὐκ ἐς φθόρον σιγῶσ’ ἀνασχήσῃ τάδε; 250–252). S. Kap. 2.1.1.4.

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Narrative Technik: Exponierter plot Die Überlieferungslage der literarischen Bearbeitungen des thebanischen Mythenkreises ist zwar nicht eindeutig gesichert,757 kann aber etwa so rekonstruiert werden: In den literarischen Reflexen Thebens im 8. und 7. Jh.s v. Chr. liegt der Fokus auf Theben als unbesiegbare Stadt, die für ihre Stärke bekannt ist.758 Aischylos mag an diese Version erinnern, wenn er in der rhetorischen Gestaltung von Sept. 677–719 eine Alternative zwischen dem Bruderkampf des Eteokles und einem ›normalen‹ Krieg eröffnet.759 Die Fokussierung des Ödipus-Mythos auf den Bruderkampf ist bereits in den kyklischen Epen760 zu beobachten; und in Stesichorus’ Thebais ist der Bruderkampf fester Bestandteil des Mythos, soweit wir es aus der überlieferten Rede der Iokaste entnehmen können.761 Diese Form des Mythos wird erst in Pindars zweiter Olympischer Ode als zusammenhängende literarische Erzählung fassbar, die um das Jahr 476 entstand,762 also ca. neun Jahre vor den Septem: οὕτω δὲ Μοῖρ’, ἅ τε πατρώϊον τῶνδ’ ἔχει τὸν εὔφρονα πότμον, θεόρτῳ σὺν ὄλβῳ ἐπί τι καὶ πῆμ’ ἄγει, παλιντράπελον ἄλλῳ χρόνῳ· ἐξ οὗπερ ἔκτεινε Λᾷον μόριμος υἱός συναντόμενος, ἐν δὲ Πυθῶνι χρησθέν παλαίφατον τέλεσσεν.

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757 Vgl. Föllinger (2003) 145; Bethe (1891); Robert (1915); Baldry (1956). 758 Vgl. etwa Hom. Il. 4,370–410. 5,800–808. 10,285–290. 14,114; Od. 11,326–327. 15,244– 248. Diese Beobachtung sowie eine Besprechung dieser und weiterer Stellen ist zu finden bei Ganter (2020) 13f. 759 Vgl. Kap. 2.1.2. 760 Hierzu s. seit Neuestem Ganter (2020) 14. Es sind die Titel Thebais und Oidipodeia in den Scholien zu Soph. Oid. K. 1375 und zu Aristoph. Pax 1270 überliefert. Einen Bruderkampf – wenn vielleicht nicht zwingend tödlich ausgehend – bezeugen zwei Fragmente aus der Thebais: ὡς οὔ οἱ πατρώϊ’ ἐνηέι φιλότητι / δάσσαιντ’, ἀμφοτέροισι δ’ ἀεὶ πόλεμοί τε μάχαι τε (Thebais PEG I fr. 2,9f. Bernabé); εὖκτο Διὶ βασιλῆϊ καὶ ἄλλοις ἀθανάτοισι / χερσὶν ὑπ’ ἀλλήλων καταβήμεναι Ἄιδος εἴσω. (Thebais PEG I fr. 3,4f. Bernabé). Der Prosaschriftsteller Pherekydes von Athen behandelt ebenso den thebanischen Sagenkreis, vgl. Föllinger (2003) 145f.; grundlegend zu Pherekydes s. Kirk, Raven & Schofield (2001) 59–61. 761 Vgl. παίδας ἐνὶ μεγάροις θανόντας, Stesich. PMGF fr. 222b,216 Davies. Iokastes Rede ist überliefert auf dem Papyrus aus Lille (P. Lille 76abc und 73, edd. Parsons (1977) und PMGF fr. 222b Davies), in dessen Rahmen Teiresias den Bruderkampf vorhersagt und die Iokaste diesen vergeblich verhindern möchte, vgl. Finglass (2018) 17f; West (1978). Für eine detaillierte Besprechung von dieser Thebais des Stesichorus, s. Davies & Finglass (2014) 129–133. Zu Stesichorus’ eigener Mythopoesie im Allgemeinen, vgl. Davies & Finglass (2014) 32–39. 762 Vgl. Verdenius (1987) 4.

Aischylos

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ἰδοῖσα δ’ ὀξεῖ’ Ἐρινύς ἔπεφνέ οἱ σὺν ἀλλαλοφονίᾳ γένος ἀρήϊον· (Pind. O. 2,35–42) So führt die Moira, die seit Väterzeit Lenkt ihr wohlgesinnt Geschick, mit gottentsprungner Beglückung Irgend ein Leid auch herbei, sich wieder wandelnd zu anderer Zeit; Wie totschlug den Laios ja nach Schicksalsschluß sein Sohn, ihm Begegnend, und damit, was in Pytho vordem Geweissagt ward, erfüllte. Da’s scharfen Augs sah Erinys, Hat sie mit Wechselmord ihm getilgt sein kampfbegieriges Geschlecht.763

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Pindars Bearbeitung des Mythos zeigt, dass offensichtlich der Bruderkampf infolge von Ödipus’ Fluch, der durch seinen Vatermord initiiert wurde (ἰδοῖσα δ’ ὀξεῖ’ Ἐρινύς 42), ein bekanntes Element des Thebenmythos war. Dies darf als zugrundeliegender plot des Aischylos gelten,764 der Ödipus’ Fluch wohl im zweiten Stück der Trilogie, dem Oedipus, ankündigte765 und auch bereits zu Beginn und im Laufe der Septem auf ihn hinweist.766 In anderen Quellen767 vor Pindar und Aischylos scheint es dagegen irrelevant zu sein, ob der Bruderstreit tödlich ist oder nicht.768 Ungeachtet dieser Unter 763 Übersetzung von Werner (1967). 764 Zur Relevanz des Brudermordes, vgl. auch Kapitel 2.1.1.2. 765 Hutchinson (1985) xxivf. folgert diesen Inhalt des Oedipus aus einer Passage des zweiten Stasimons: τέκνοις δ’ ἀρχαίας / ἐφῆκεν ἐπίκοτος τροφᾶς, / αἰαῖ, πικρογλώσσους ἀράς, / καί σφε σιδαρονόμῳ / διὰ χερί ποτε λαχεῖν / κτήματα (785–790). Unklar ist jedoch der genaue Grund für den Fluch des Ödipus, der von der Interpretation des Wortes τροφᾶς entweder als »Vernachlässigung der Gerotrophie« oder als die »inzestuöse Zeugung seiner Söhne« abhängt, vgl. Föllinger (2003) 155–157, bes. 156. Föllinger (2003) 157 schlägt als weitere mögliche Erklärung vor, damit sei Oedipus’ eigene Abstammung gemeint, die ja ­bereits gegen göttliches Gesetz war. Dies ist plausibel, da ja bereits in Pindars Version der Grund für den Fluch bis zum unlauteren Tod des Laios zurückreicht. 766 ὦ Ζεῦ τε καὶ Γῆ καὶ πολισσοῦχοι θεοί, / Ἀρά τ’ Ἐρινὺς πατρὸς ἡ μεγασθενής, / μή μοι πόλιν γε πρυμνόθεν πανώλεθρον / ἐκθαμνίσητε δῃάλωτον, Ἑλλάδος / φθόγγον χέουσαν, καὶ δόμους ἐφεστίους (69–73). 767 In den Thebais-Fragmenten sind zwei verschiedene Ausgänge angedeutet, vgl. Thebais PEG I fr. 2,9f. 3,4f. Bernabé, s. Anm. 751. Sommerstein (2006) 123f. meint, dass nur die mildere Version der Thebais, also die Aufteilung des Reiches, in Aischylos’ Septem verwendet sei. Doch offensichtlich stehen beide Versionen bei Aischylos im Hintergrund und müssen mindestens durch die Thebais und durch Pindar O. 2 bekannt gewesen sein, s.a. Cameron (1971) 24. 768 Föllinger (2003) 157f. bemerkt, dass der genaue Inhalt des Fluches, also die tödliche oder nichttödliche Ausprägung des Bruderzwistes, in den Septem bis zuletzt unklar sei (in πατρώιων χρημάτων δατήριοι (711). κτεάνων χρήματοδαίτας (729). κτήμαθ᾽ ὥστ᾽ ἴσον λαχεῖν (908) wird nicht auf eine gewalttätige Auseinandersetzung hingewiesen). Erst in 945 konstatiert der Chor den tödlichen Bruderkampf als Ergebnis des Fluches: κακὸς δατητὰς Ἄρης, ἀρὰν πατρώι/αν τιθεὶς ἀλαθῆ (945f.).

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schiede war in jedem Falle das persönliche Aufeinandertreffen der Brüder im Versuch um eine wie auch immer geartete Aufteilung Thebens ein Grundelement des Mythos, was nahelegt, dass Aischylos in seinem grundlegenden plot nur gering von seinen Vorgängern abwich.769 Aischylos’ Zuschauer erwarteten mit hoher Wahrscheinlichkeit den schicksalhaften Tod des Eteokles.

Narrative Technik: Fiktive Handlungsalternative Die in den 80 Versen angedeutete irreale Handlungsalternative zu diesem erwarteten plot ist aber eine deutlich andere: Aischylos lässt Eteokles selbst dieses irreale Geschehen sogar in seiner Argumentation andeuten, da er immer wieder auf den negativen Effekt des Klagens der Thebanerinnen hinweist. Denn wenn sich die Frauen nicht beruhigen können, so Eteokles, gehe die gesamte Stadt gemeinsam unter: ΕΤ. καὶ νῦν πολίταις τάσδε διαδρόμους φυγὰς θεῖσαι διερροθήσατ’ ἄψυχον κάκην· τὰ τῶν θύραθεν δ’ ὡς ἄριστ’ ὀφέλλετε, αὐτοὶ δ’ ὑπ’ αὐτῶν ἔνδοθεν πορθούμεθα. Et. So flößt auch ihr nun, indem ihr rasch hin und her flieht, unseren Bürgern mutlose Furcht ein. Der Sache der Feinde draußen nützt ihr so zwar hervorragend, doch wir hier innerhalb der Mauern vernichten uns selbst. ΕΤ. ἀλλ’ ὡς πολίτας μὴ κακοσπλάγχνους τιθῇς, εὔκηλος ἴσθι μηδ’ ἄγαν ὑπερφοβοῦ. Et. Aber damit ihr unsere Bürger nicht verängstigt, seid furchtlos und habt nicht allzu übergroße Angst. ΕΤ. αὐτὴ σὺ δουλοῖς κἀμὲ καὶ πᾶσαν πόλιν. Et. Ihr selbst versklavt mich und die gesamte Stadt!

(191–194)

(237f.)

(254)

Dies wird zwar stückintern als emotionalisierendes Argument für die Frauen benutzt, stellt aber gleichzeitig auf externer Ebene einen Vorboten für das potentielle Geschehen bei Eteokles’ autoritärem Versagen dar. Mit diesem Aufzeigen von Alternativen spiegelt Aischylos genau Iokastes Rede in Stesichorus’ Thebais: αἰ δέ με παίδας ἰδέσθαι ὑπ’ ἀλλάλοισι δαμέντας μόρσιμόν ἐστιν, ἐπεκλώσαν δὲ Μοίραι, ἀυτίκα μοι θανάτου τέλος στυγεροῖο γένοιτο πρίν ποκα ταῦτ’ ἐσιδεῖν 769 Vgl. die direkte Abhängigkeit der aischyleischen Version von der des Stesichorus, s. Hutchinson (1985) xxx n. 12.

Aischylos

ἀλγέσσι πολύστονα δακρυόεντα παίδας ἐνὶ μεγάροις θανόντας ἢ πόλιν ἁλοίσαιν.

205 215

(Stesich. PMGF fr. 222b, 211–217 Davies)770

Wenn es mir denn bestimmt ist, dass ich sehe, wie meine Söhne sich gegenseitig töten, und die Moiren dies so verhängten, möge mir sofort das Ende des verhassten Todes zuteil werden, bevor ich jemals eine dieser furchtbaren Tragödien zu meinen Leiden noch hinzukommen sehen muss: Dass meine Söhne im Palast zu Tode kommen oder dass die Stadt eingenommen wird.

215

Iokaste wünscht sich hier den Tod herbei, da die Folgen des Fluches in jedem Falle verheerend sind: Entweder findet der vorherbestimmte Bruderkampf statt, oder, wenn Iokaste den Bruderkampf verhindern kann,771 wird die Stadt von den Argivern eingenommen. Wie die genaue Handlungsalternative im Kontext der Septem aussehen wird, wird schon zuvor im Prolog für den Zuschauer angedeutet. In 69–72 fürchtet Eteokles die Vernichtung der Stadt:772 ΕΤ. ὦ Ζεῦ τε καὶ Γῆ καὶ πολισσοῦχοι θεοί, Ἀρά τ’ Ἐρινὺς πατρὸς ἡ μεγασθενής, 70 μή μοι πόλιν γε πρυμνόθεν πανώλεθρον ἐκθαμνίσητε δῃάλωτον […].773 (69–72) 770 Hier wird der Lesbarkeit halber der von Davies in PMGF erstellte Text ohne Transkriptions- und Editionsmarkierungen verwendet. 771 Dieses Motiv wird ihr deutlich in Stesich. PMGF fr. 222b,232f. Davies unterstellt: ὣς φάτο δῖα γυνὰ μύθοις ἀγανοῖς ἐνέποισα, νείκεος ἐν μεγάροις π[αυο]ίσα παίδας […] (Ergänzung von Campbell (1991) 138). 772 Vgl. das indirekte Zitat des Fluches in 778–790. Die Verse 69–72 boten früheren Forschern Anlass, sich Gedanken über das korrekte Verständnis des Fluches durch Eteokles zu machen, wenn er im Gebet den Fluch auf die Stadt und auf sich selbst bezieht, s. etwa Patzer (1958) bes. 98–101: Eteokles habe also am Anfang den Fluch falsch interpretiert und beziehe den Fluch nur auf den Untergang der Stadt. Dies ist sprachlich zwar möglich, wie Hutchinson (1985) 53 zugibt, dass γε (71) sich sowohl auf θεοί als auch auf Ἐρινὺς beziehen und somit beide Gottheiten als Verantwortliche für das Wohlergehen der πόλις darstellen könne. Grundsätzlich lehnt er diese extreme Ansicht aber ab unter berechtigtem Hinweis auf die fehlende weitere Illustration dieses doch sehr grundlegenden Fehlers. Das Problem löst sich auf, wenn man an Eteokles’ Argumentation aus dem Prolog erinnert, die die Handlungsfreiheit des Menschen gegenüber der göttergelenkten Welt deutlich machte: Dies ist der Teil seines Schicksals, den Eteokles beeinflussen kann; den Bruderkampf wohl nicht. Zudem kann von einem Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber der Polis ausgegangen werden, sodass sein eigenes Schicksal und das der Stadt aus seiner Sicht eng verbunden sein müssen. Eteokles bittet also sämtliche relevanten Gottheiten, nicht auch noch seine Stadt untergehen zu lassen und nimmt dies gleichzeitig als Argument für seine Paränese. 773 73 [φθόγγον χέουσαν, καὶ δόμους ἐφεστίους·] del. Dawe.

206

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Et. O Zeus, o Erde, o ihr Stadtgötter, o Fluch, o mächtige Erinys des Vaters, entwurzle mir nicht die dem Verderben geweihte Stadt, vom Feind bewältigt […].

70

Eteokles fürchtet zusätzlich zu seinem Fluch, also der Erinys des Vaters (70), nämlich dass die Brüder um ihr Erbe kämpfen werden, einen völligen Untergang der Stadt der von verschiedenen Göttern oder eben den Rachegeistern erwirkt werden könnte. Der Untergang Thebens droht, wenn der Krieg an sich nicht gewonnen wird. Daher betet er zu verschiedenen Gottheiten, auch um im Rahmen seiner Prolog-Paränese an seine Soldaten ein ungünstiges Szenario zu stilisieren, das bei mangelnder Anstrengung der Kämpfer droht. Auch später zu den Frauen redet Eteokles immer von der gesamten Stadt774 und macht so das allgemeine Wohlergehen der Stadt vom Schweigen der Frauen abhängig. Umgekehrt sieht sich Eteokles zusätzlich auch nach seinem persuasiven Erfolg als potentieller Sieger und Retter der Stadt: ΕΤ. Δίρκης τε πηγαῖς ὕδατί τ’ Ἰσμηνοῦ λέγω, εὖ ξυντυχόντων καὶ πόλεως σεσωμένης,  μήλοισιν αἱμάσσοντας ἑστίας θεῶν, 275 ταυροκτονοῦντας θ’ οἷσιν ὧδ’ ἐπεύχομαι,  θήσειν τροπαῖα, καὶ λάφυρα δαΐων στέψω πρὸ ναῶν δουρίπληχθ’. (273–278) Et. Dirkes Quellen und der Flut des Ismenos verkünde ich es: Wenn die Polis wohlbehalten gerettet ist, sollen die Götteraltäre sich mit Lammblut färben und Stieropfer den Göttern geschlachtet, denen ich es versprochen habe. Ich werde Siegestrophäen weihen, und die speerversehrten Rüstungen der Feinde vor den Tempeln als Kränze aufhängen. ΕΤ. ἐγὼ δέ γ’ ἄνδρας ἓξ ἐμοὶ σὺν ἑβδόμῳ ἀντηρέτας ἐχθροῖσι τὸν μέγαν τρόπον εἰς ἑπτατειχεῖς ἐξόδους τάξω μολών […].

275

(282–284)

Et. Ich aber werde sechs Männer, mit mir als siebten, den Feinden als kraftvolle Widersacher gegenüberstellen, in die sieben Tore, die den Zugang zur Stadt bilden […].

774 Für die grundsätzliche Ausklammerung der Stadt aus dem Fluch zu Eteokles’ Schicksal argumentiert Hutchinson (1985) 53. Bezieht man jedoch die Verse 193f. 254. 277f. 282–284 mit ein, wird deutlich, dass Eteokles jedenfalls sein Schicksal eng mit dem der Stadt verknüpft – damit wird seine mutmaßlich unkorrekte Interpretation des Fluches irrelevant. Dies geschieht wohl aus rhetorischen Gründen (dem Chor in der Anfangsszene gegenüber) und auch aus naheliegenden, da eine Stadt mit verfluchtem und getötetem Herrscher wohl kaum als glücklich bezeichnet werden kann, wie auch Hutchinson (1985) 53f. zugibt.

Aischylos

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Das irreale Geschehen, das bei einem Scheitern von Eteokles’ Redeintention angedeutet wird, ist der drohende Untergang der gesamten Stadt, der den von Aischylos exponierten plot, i.e. den Wortlaut des Ödipusfluches, unrealisierbar machen würde. Stesichorus ließ seine Iokaste diese Alternativen bereits andeuten, Aischylos schmückt diese dramatisch aus und lässt sie vor dem Auge des Publikums sichtbar werden. Gleichzeitig lenkt er den Blick auf Eteokles’ in jedem Falle verhängnisvolles Schicksal. Vielleicht auch deswegen wird der nachträgliche rhetorische Erfolg des Eteokles in seinen zwei kommunikativen Anpassungen (s. Kapitel 2.1.1) auch auf metapragmatischer Ebene so deutlich markiert: ΕΤ. οὔτοι φθονῶ σοι δαιμόνων τιμᾶν γένος· ἀλλ’ ὡς πολίτας μὴ κακοσπλάγχνους τιθῇς, εὔκηλος ἴσθι μηδ’ ἄγαν ὑπερφοβοῦ.

(236–238)

Et. Ich missgönne euch nicht, das Göttergeschlecht zu verehren: Aber damit ihr unsere Bürger nicht verängstigt, seid furchtlos und habt nicht allzu übergroße Angst. ΕΤ. αἰτουμένῳ μοι κοῦφον εἰ δοίης τέλος. ΧΟ. λέγοις ἂν ὡς τάχιστα καὶ τάχ᾽ εἴσομαι. ΕΤ. σίγησον, ὦ τάλαινα, μὴ φίλους φόβει.

260 (260–262)

Et. Wenn ihr mir doch einen kleinen Gefallen erweisen würdest, ich bitte euch. 260 Cho. Sag nur schnell, und dann werde ich es schnell wissen. Et. Schweigt, ihr Elenden, und erschreckt nicht eure Lieben!

Die verschiedenen Handlungsschritte werden quasi metapoetisch durch Metapragmatik nachgezeichnet. Indem vorher das irreale Geschehen, der drohende vernichtende Ausgang für Stadt und Bevölkerung, auf Figurenebene impliziert und dann in der rhetorischen Szene in Form von Argumenten als beinahe eintretende Möglichkeit umso stärker angedeutet wird, lässt es der Dichter kurzzeitig so aussehen, als könne eine unmythische Variante ohne spezifische Bruderkonkurrenz eintreten und stattdessen ganz Theben in einem allumfassenden Krieg zugrunde gehen. Dies würde aber den Ödipus-Fluch massiv konterkarieren und erscheint somit als irreale Alternative: Und auch durch die offensichtliche Markierung des εἰ μή-Falls durch Eteokles’ kommunikative Anstrengungen wird die Rückkehr zum ursprünglichen und auch bekannten plot offenbar. Der spezielle Fall des thebanischen Geschlechts wird hiermit hervorgehoben.

Schlussfolgerungen Obwohl dem Zuschauer bereits zu Anfang klar ist, dass Eteokles zuletzt lediglich sich selbst nicht retten kann, wird in der dialogischen Auseinandersetzung mit den Frauen die Vernichtung der gesamten Stadt kurz zur nicht mehr völlig un-

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Zwischen Kanonisierung und Fluidität des Mythos

wahrscheinlichen Handlungsalternative: Eteokles skizziert dieses Szenario plastisch als Argument an seine Gesprächspartnerinnen. Dieses intradramatische Argument zeigt nicht nur Aischylos’ Realisierung der verkürzten stesichoreischen Vorlage (Stesich. PMGF fr. 222b,212–217 Davies); es lässt den Zuschauer auch überlegen, wie Aischylos bei einem Scheitern des Eteokles doch noch den üblichen plot verwirklichen könnte. Diese Digression vom plot kann im letzten Moment verhindert werden, indem Eteokles die Frauen doch zur Kooperation bringt. Somit kommt Eteokles’ scheiterndem Versuch eine narrative Funktion zu, da er im Sinne einer εἰ μή-Situation als metapoetischer Ausdruck der dichterischen Macht über den plot gilt, der aber letztlich wieder auf die bekannte Form hinauslaufen muss.775 Hiermit betont Aischylos die spezielle Situation, die sich den Bewohnern Thebens bietet: Statt eines normalen Krieges mit Sieger und Verlierer wird in Aischylos’ Septem ein Krieg vorgeführt, der aufgrund von göttlichem Fluch mit zwei Verlierern, nämlich Polyneikes’ und Eteokles’ Tod, enden wird. Mit dieser Strategie bestätigt und kanonisiert Aischylos – nicht als Erster, aber unter augestaltender Verwendung seiner Vorgänger – den Bruderkampf als integrales Element des thebanischen Mythos, was auch spätere Tragiker wieder aufgriffen.776

4.2.2 Aischylos, Agamemnon 810–974: Narrative Technik und Mytheninnovation Einführung In der Teppichszene in Aischylos’ Agamemnon (810–974) findet sich ein vorläufiges Scheitern von Persuasion, das, bisher unbeachtet,777 als narrative Technik des Autors gelten darf: Klytaimestras Direktiv, Agamemnon solle auf die Gewänder steigen (νῦν δε μοι, […], / ἔκβαιν’ ἀπήνης τῆσδε, μὴ χαμαὶ τιθείς / τὸ σὸν πόδ’ […] Aischyl. Ag. 905–907) hat erst Erfolg, nachdem sich Klytaimestra angepasst hat.778 Den Zuschauern präsentiert sich ein Unsicherheitsmoment, ob 775 Ähnliches beobachten wir in der späteren Szene der Septem (677–719), in welcher der Chor Eteokles vom Kampf abzuhalten versucht. Explizit zwei verschiedene Folgen werden diskutiert, die bei Eteokles’ Nachgeben eintreten könnten: Aus Sicht des Chores fällt das – zugegeben naive – Argument, Eteokles würde dann am Leben bleiben (βίον εὖ κυρήσας 699), was eine unerwartete Abweichung vom Mythos bedeuten würde. Er kontert dies mit einer Gegenvorstellung und benutzt dabei sogar bildliche Ausdrücke: ἄγαν δ’ ἀληθεῖς ἐνυπνίων φαντασμάτων / ὄψεις, πατρῴων χρημάτων δατήριοι. (710f.). Durch die Verwendung von ἄγαν δ’ ἀληθεῖς […] ὄψεις zeichnet Eteokles ein sehr starkes, plastisches Bild der möglichen negativen Folge, sodass diese – dramenintern und -extern – freilich wahrscheinlicher wirkt. 776 Vgl. die Voraussetzungen in Soph. Ant. 777 Garvie (1978) 80 stellt zu Unrecht fest: »Here [sc. im Agamemnon] there is little playing upon the audience’s expectation.« 778 Diese Anpassung kulminiert in Vers 943: πιθοῦ· κρατεῖς μέντοι πάρες γ᾽ ἑκών ἐμοί.

Aischylos

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sich Klytaimestra doch durchsetzen kann, das von Agamemnons Ablehnung (918) bis zu seiner Zustimmung (944), also über 35 Verse, dauert. Abgesehen von der in Kapitel 2 beschriebenen Plausibilisierung von Klytaimestras zweitem Überzeugungsversuch fällt hier wiederum auf, dass ein irreales Geschehen angedeutet, dann aber wieder verworfen wird: Durch den Symbolcharakter der blutroten Gewänder erschiene Klytaimestras heimlicher Mordplan bei einer Weigerung Agamemnons geradezu unausführbar. Denn seine Weigerung käme einem Misstrauensbeweis gleich779 und würde Klytaimestras unvorhergesehenen Mord im Inneren des Palastes vereiteln: Nur wenn Agamemnon ihr konfliktlos und ohne Argwohn in den Palast folgt,780 kann sie ihn alleine und ohne Ägisths Gewalteinsatz ermorden. Somit ist gleichzeitig von einer Markierung der aischyleischen Mytheninnovation auszugehen, die Klytaimestras Rolle als Mörderin aufwertet.

Narrative Technik: Exponierter plot Zunächst wird hier wieder Aischylos’ narrative Technik offenbar: Der von Aischylos intendierte plot ist dem Zuschauer der Orestie von Anfang an klar, nämlich dass Agamemnon, indem er auf die Gewänder steigt, sein verhängnisvolles Vertrauen gegenüber Klytaimestra demonstriert und wehrlos von ihr getötet wird. Denn auf der einen Seite zieht sich das Motiv von Klytaimestras Täuschung durch den gesamten Agamemnon, sodass auch in der Teppichszene kein Zweifel mehr an Klytaimestras Plan bleibt;781 auf der anderen Seite bedeutet die Tatsache, dass Aischylos die Bühnenhandlung auf den Platz vor Agamemnons Palast verlegt, automatisch eine geringere Rolle des Ägisth, der während Agamemnons Anwesenheit vor dem Palast verborgen bleiben muss782 – somit kommt ihm automatisch eine geringere Rolle zu. Als dritter Punkt kommt die rote Farbe der Gewänder hinzu,783 die bedrohlich und todesverheißend zwischen Agamemnon und seinem heimischen Palast liegen – bühnentechnisch der

779 McNeil (2005) 7–10 betont die einheitsstiftende Symbolkraft der ausgebreiteten Gewänder, die wohl für die Hochzeit verwendet wurden. Die harmonische Wiedervereinigung zwischen Odysseus und Penelope in Hom. Il. 23,289–301 auf einem delikaten Gewebe und unter Verwendung weiterer Webemetaphern durch Homer belegt den Symbolcharakter dieser Gewänder: Lehnt es Agamemnon ab, die Gewänder zu betreten, käme dies einem Affront gegenüber Klytaimestra gleich und ihr Mordplan könnte nicht wie geplant im Palast stattfinden. 780 Meridor (1987) 40 m. Anm. 16 weist zu Recht auf Aischylos’ bewusste Entscheidung hin, Agamemnon ohne Kassandra eintreten zu lassen, um den Mordplan nicht zu gefährden. 781 S. 264–281. 315–351. S. ausführlicher Zetzmann (2020a). 782 Raeburn & Thomas (2011) xxvii. 783 εὐθὺς γενέσθω πορφυρόστρωτος πόρος (910).

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einzige Ort, an dem sein Mord stattfinden kann. Der plot, den Aischylos gewählt hat, ist von Anfang an deutlich.784

Narrative Technik: Fiktive Handlungsalternative Klytaimestra fordert Agamemnon in dieser Szene auf, auf die ausgebreiteten Gewänder zu steigen. Als Agamemnon in 917 aus Frömmigkeits- und Leumundgründen zunächst ablehnt, ist kurz unklar, wie sich dies auf Klytaimestras Racheplan auswirkt: Ist seine Tötung direkt abhängig von seinem Betreten der Gewänder? Wie kann die Situation zu Klytaimestras Gunsten und im Sinne des vorbereiteten plots gerettet werden?785 Eine direkte, einfache Lösung wird durch die irreale Handlungsalternative kurz infrage gestellt. Es dauert 28 unsichere, aber rhetorisch nachvollziehbar gestaltete Verse,786 bis Agamemnons Entscheidung für das Betreten der Gewänder klar wird und Klytaimestra doch Erfolg hat (die εἰ μή-Handlung). Im Laufe dieser Szene werden wieder die beiden plot-Alternativen als Argumente diskutiert. Agamemnon wirft etwa einen Grund auf, nicht zu gehorchen: Bei Klytaimestras Nachgeben wäre sein Ruf beim Volk immerhin gesichert (φήμη γε μέντοι δημόθρους μέγα σθένει 938), bei seinem Nachgeben sei ja genau dies fraglich. Nur die Zuschauer und Klytaimestra wissen, dass sein Nachgeben mehr bedeutet als einen schlechten Ruf beim Volk: Sein Misstrauen gegenüber Klytaimestra könnte ihren Plan vereiteln. Klytaimestra wiederum argumentiert mit der ungefährlichen Konsequenz ihrer Handlungsvariante: Wenn Agamemnon ihr gehorche, sei er immer noch Sieger und Herrscher des Landes (πιθοῦ· κρατεῖς μέντοι πάρες γ’ ἑκὼν ἐμοί 943) – wiederum wissen nur sie und das Publikum, dass Agamemnon in diesem Fall in Wahrheit sterben wird. Somit werden auf Figurenebene zwei Handlungsalternativen diskutiert, die sich stückintern für Agamemnon, da gelogen, wenig unterscheiden, stückextern für das Publikum, das die ironisch zu verstehenden Begründungen der Charaktere einordnen kann, von essenzieller Konsequenz sind: Durch diese ironische Argumentation für und gegen die exponierte Handlung wird der Blick des Zuschauers quasi metapoetisch auf den Umgang des Autors mit dem Mythos und seinem angekündigten plot gelenkt. Auch metapragmatische Ausdrücke weisen das Publikum auf diese narrative und hier auch mythopoetische Technik hin: Durch Klytaimestras πιθοῦ· κρατεῖς μέντοι πάρες γ’ ἑκών ἐμοί (943) und 784 So auch Garvie (1978) 66. 785 Leider vermisse ich in den gängigen Agamemnon-Kommentaren (Fraenkel (1950b); Denniston & Page (1957); Raeburn & Thomas (2011)) einen Hinweis auf die Zuschauererwartung bzw. die externe Wirkung auf dieses vorläufige Ablehnen. Taplin (2002) 79. 82 weist zumindest auf die zuschauerinvolvierende Unklarheit hin, wie genau Agamemnon nun zum Palast gelangt, und erkennt die Gewänder als böses Omen für Agamemnons Schicksal. 786 S. Kapitel 2.1.4.2.

Aischylos

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Agamemnons auf dem Fuße folgendes ἀλλ’ εἰ δοκεῖ σοι (944) wird die Rückkehr zum intendierten plot unterstrichen.

Mythopoesie Diese Beobachtung ist im Falle des Agamemnon besonders relevant, insofern Aischylos’ literarische Bearbeitung des Mythos nicht nur eine narrative Strategie zur Unterstreichung seiner Autorität aufweist, sondern gleichzeitig eine Mytheninnovation. Damit darf diese Technik nicht nur als kurzzeitige Enttäuschung der Zuschauererwartung gelten: Denn bezüglich des Agamemnon können wir von anders gestalteten literarischen Bearbeitungen des Atridenstoffes ausgehen, die dem zeitgenössischen Tragödienzuschauer bekannt sein mussten. Es ist zu vermuten, dass Aischylos mit dieser Technik auch die Aufwertung der Klytaimestrarolle als Mörderin des Agamemnon markiert. Doch die Quellenlage für voraischyleische Bearbeitungen des Atridenmythos ist problematisch: In Homers Odyssee, dem wohl frühesten Zeugnis, bietet sich ein widersprüchliches Bild, was Klytaimestras Täterrolle angeht.787 Denn einerseits wird im Kontext der Telemachie nur Ägisth788 als der ausführende Mörder des Agamemnon beschrieben:789 ὡς καὶ νῦν Αἴγισθος ὑπὲρ μόρον Ἀτρεΐδαο 35 γῆμ’ ἄλοχον μνηστήν, τὸν δ’ ἔκτανε νοστήσαντα […]. (Hom. Od. 1,35f.) So ehelichte nun auch Ägisth, sein Schicksal überschreitend, 35 die Ehefrau des Atriden; diesen tötete er dann bei seiner Heimkehr. τόφρα δὲ ταῦτ’ Αἴγισθος ἐμήσατο οἴκοθι λυγρά, κτείνας Ἀτρεΐδην, δέδμητο δὲ λαὸς ὑπ’ αὐτῷ. Währenddessen überlegte sich Ägisth zuhause Betrübliches, tötete den Atriden und das Volk war unter ihm bezwungen.

(Hom. Od. 3,303f.)

Andererseits finden sich auch Formulierungen in der Nekyia, die Klytaimestras aktive Täterschaft nahelegen, jedoch diese nicht explizit formulieren: οἷον δὴ καὶ κείνη ἐμήσατο ἔργον ἀεικές, κουριδίῳ τεύξασα πόσει φόνον. So überlegte sich auch jene eine unglaubliche Tat und ermordete ihren gehelichten Mann.

(Hom. Od. 11,429f.) 430

787 Für eine neuere Behandlung des Orestes-Mythos vor und bei den tragischen Dichtern, s.a. Brown (2018) 1–3. 788 Für eine Übersicht zu Ägisths Rolle in der Odyssee, s. Raeburn & Thomas (2011) xxii– xxiv. 789 Klytaimestra wird zu Beginn der Odyssee sogar gelobt: Nestor bestätigt Klytaimestras erklärten Widerstand gegen Ägisth in Hom. Od. 3,266.

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ἡ δ’ ἐμὴ οὐδέ περ υἷος ἐνιπλησθῆναι ἄκοιτις ὀφθαλμοῖσιν ἔασε· πάρος δέ με πέφνε καὶ αὐτόν. Aber meine Frau ließ es nicht zu, dass mein Sohn meine Augen erfreut: Zuvor tötete sie selbst mich.

(Hom. Od. 11,452f.)

Schließlich findet sich in der zweiten Nekyia im letzten Gesang der Odyssee auch noch eine Aussage des Geistes des Agamemnon, in der sowohl Klytaimestra als auch Ägisth Täter sind: ἐν νόστῳ γάρ μοι Ζεὺς μήσατο λυγρὸν ὄλεθρον Αἰγίσθου ὑπὸ χερσὶ καὶ οὐλομένης ἀλόχοιο. Auf der Heimreise beschloss mir Zeus schreckliches Verderben durch die Hand des Ägisth und meiner verdorbenen Ehefrau.

(Hom. Od. 24,96f.)

Der Unterschied in den Erzählungen liegt wohl in den jeweiligen narrativen Kontexten: In der Telemachie erhält der Mythos des gattenmordenden Freiers Ägisth einen paränetischen Charakter, da Athene Telemach zur Suche seines Vaters und zur Verteidigung seiner Herrschaft anleiten möchte.790 In der ersten Nekyia, in Hom. Od. 11,452f., spricht etwa der Geist des Agamemnon selbst, der aus polemischer Opfersicht Klytaimestras Verantwortung rhetorisch stark macht791 und somit Penelopes guten Ruf durch den Kontrast zu Klytaimestra vermehrt. Allgemein ist Klytaimestra im Rahmen der paradigmatischen Verwendung des Atridenmythos792 in der Odyssee daher deutlich in den Racheplan involviert, 793 aber wohl nicht alleinige Täterin,794 wie Agamemnons Formulierung aus der zweiten Nekyia belegt (Hom. Od. 24,96f.). Vielmehr wurde ihre Aktivität im Mord an Agamemnon nach rhetorisch-literarischer Notwendigkeit wohl verschiedentlich stark herausgearbeitet.795 Auch in einer weiteren Quelle 790 So argumentiert Hölscher (1989) 304f. 791 Vgl. den vorher explizit formulierten Kontrast mit Penelope: ἀλλ’ οὐ σοί γ’, Ὀδυσεῦ, φόνος ἔσσεται ἔκ γε γυναικός· / λίην γὰρ πινυτή τε καὶ εὖ φρεσὶ μήδεα οἶδε / κούρη Ἰκαρίοιο, περίφρων Πηνελόπεια. (Hom. Od. 11,444–446). 792 Diesen Charakter der Parallele formuliert richtig Hölscher (1989) 306. 793 Sie tötet in der Odyssee etwa Kassandra, s. Hom. Od. 11,421–426, s.a. Gantz (1993) 664; Raeburn & Thomas (2011) xiii. 794 Auf eine deutlicher akzentuierte Mittäterschaft der Klytaimestra im elften Buch der Odyssee (Hom. Od. 11,430. 453), weist hin Föllinger (2003) 60f., plädiert aber für keine eigenständige Rolle der Klytaimestra. Auch Davies (1987) 67 argumentiert, dass im Kontext der Nekyia wohl das Motiv des Mordes im Bad wohl als Gegenbild zu Penelopes Treue exponiert werden soll. 795 Hölscher (1989) 305f. schlussfolgert, dass dies jedoch nicht heißen müsse, dass der Odyssee zwei Versionen zugrunde gelegen hätten. Hölscher (1989) 309 folgert aus dieser ›literarisch‹ notwendigen ambigen Interpretation des Mythos, dass dem homerischen »Dichter […] keine andere Form der Sage bekannt [gewesen sei] als dem Aischylos […].« Für konkur-

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vor Aischylos, Stesichorus’ Orestie, ist eine alleinige Täterschaft Klytaimestras nicht konkret fassbar.796 Auch in der ikonographischen Evidenz um 458 v. Chr. ist Klytaimestra nicht die alleinige Täterin.797 In Aischylos’ Agamemnon verhalten sich die Dinge jedoch anders: Aischylos führte nach Quellenlage als erster die alleinige Täterschaft der Klytaimestra ein.798 Indem er Klytaimestra und ihren heimlichen Mordplan vorläufig scheitern, dann aber gelingen lässt, nimmt er eine Mytheninnovation vor. Diese wird deutlich markiert: Denn durch Agamemnons vorläufige Weigerung, Klyrierende Versionen zu Homers Zeit, mit denen Homer spielt und für eine von welchen sich Aischylos entscheidet, argumentiert Garvie (1986) xx–xxii. Doch vielmehr legt der Sachverhalt, so meine Einschätzung, nahe, dass in Homer eine Version, in der Ägisth und Klytaimestra den Mord gemeinsam geplant und wohl wahrscheinlicher Ägisth ihn alleine ausgeführt hat, literarisch interpretiert wird. Diese Deutung der schillernden Klytaimestrafigur deutet auch Föllinger (2003) 61 an. Eine konstante Form des Mythos seit Homer erscheint mir fragwürdig, da Klytaimestras Beteiligung immer im rhetorischen Rahmen (einmal sogar aus Agamemnons Mund) angedeutet wird. Vielmehr erscheint mir bei Homer und damit allgemein eher eine gemeinsame Täterschaft zugrunde zu liegen, da der Mord auch auf Terrakotten und Bronzeschildzeichen immer eine von Klytaimestra und Ägisth gemeinsam ausgeführte Tat ist, s. Prag (1985) 1–5; Garvie (1986) xxiiif. Diese interpretiert dann Aischylos um. 796 Auch bei Stesichorus ist Klytaimestra wohl in den Racheplan involviert; die überlieferten Zeugnisse erwähnen allesamt nichts von einer Aufwertung der Klytaimestrarolle als unabhängige Mörderin oder einer so gearteten Änderung des plots gegenüber Homer (Stesichorus PMGF fr. 210–219 Davies). Vielmehr legt Stesichorus PMGF fr. 217 Davies einen weitestgehend konservativen Umgang des Stesichorus mit Hesiod und Homer nahe, wie etwa die Ergänzung von Campbell (1991) 130 zeigt: [… ὅ τε Στη]|σίχορος ἐχρήσατ[ο διηγήμασιν, τῶν τε ἄλλ[ων ποι]ητῶν οἱ πλείονες τ[αῖς ἀφορ]μαις ταῖς τούτου· με[τὰ γὰρ] Ὅμηρον κα[ὶ] Ἡσίοδον [οὐδενὶ] μᾶλλον Στησιχόρου [συμ]φων[οῦσι] (»[…] Stesichorus used narratives (of Homer? And Hesiod?), and most of the other poets used his material; for after Homer and Hesiod they agree above all with Stesichorus.«). Auf den kanonbildenden Einfluss des Stesichorus auf die Tragiker weist Griffith (2002) 246 hin, was aber nichts über die Klytaimestrarolle aussagt. Lesky (1967) 7f. dagegen argumentiert u.a. mit Stesichorus PMGF fr. 219 Davies (τᾶι δὲ δράκων ἐδόκησε μολεῖν κάρα βεβροτωμένος ἄκρον, / ἐκ δ’ ἄρα τοῦ βασιλεὺς Πλεισθενίδας ἐφάνη.) für eine alleinige Täterschaft der Klytaimestra, weil sie in ihrem Traum eine Schlage mit blutigem Kopf sieht: »Das Blut auf dem Kopf der Schlange deutet auf die Kopfwunde, die Klytaimestra dem König mit dem Beile beibrachte.« Doch dies könnte auch lediglich für Klytaimestras Mittäterschaft stehen und ist daher nicht als endgültiger Beweis zu sehen. S. allgemein für eine Innovation des Aischylos gegenüber Stesichorus Garvie (1986) xviii–xxii; Föllinger (2003) 60–62. Föllinger (2003) 62f. argumentiert auch für eine Priorität des Agamemnon vor Pind. P. 11, sodass Aischylos tatsächlich als Erfinder der alleinigen Täterschaft Klytaimestras gelten darf; so auch Herington (1984) und Kurke (2013). 797 S. Vermeule (1966) zum ›Orestie-Krater‹ des Dokimasiamalers, Museum of Fine Arts, Boston, 63.1246. 798 Medda (2017) 30–39; Föllinger (2003) 66f. Klytaimestras Mittäterschaft, nicht ihre alleinige Täterschaft, ist schon früher in Literatur und Kunst bezeugt, vgl. Gantz (1996) 664–676. In der Vasenmalerei ist immer Ägisth der ausführende Mörder, s. Föllinger (2003) 65f; Vermeule (1966).

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taimestras Anordnungen zu folgen, wird auf mythologischer Ebene die innovative Aufwertung der Klytaimestrarolle – wie oben gezeigt bereits seit dem Prolog exponiert – kurzzeitig wieder aufgehoben: Ihr Wort hätte keine Macht bei Agamemnon und würde daher auch ihre hinterhältige Täterschaft erschweren. Somit scheint es, als würde sich die Figur des Agamemnon sträuben, sich in das innovierte mythische Geschehen einzufügen.799 Indem Klytaimestra doch Erfolg hat, kann ihre angedeutete neue Rolle als hinterlistige Agamemnonmörderin doch durchgesetzt und zudem so markiert werden.

Schlussfolgerungen Durch das kurzzeitige Abweichen vom erwarteten plot im Rahmen des vorläufigen Scheiterns und der Diskussion über Konsequenzen von Handlungsvarianten unterstreicht Aischylos die Autorität seines plots: Abweichungen, wie sie Agamemnon versucht, dürfen nicht vorkommen, sind im Sinne eines irrealen Geschehens zu verwerfen. Klytaimestras vorläufiges Scheitern darf daher als vorgeführte εἰ μή-Situation mit metapoetischer Funktion par excellence gelten, wie auch Eteokles’ vorläufiges Scheitern in den Septem. Im gleichen Zuge mit dieser plot-verstärkenden narrativen Technik wird auch eine mythische Neuerung markiert, die durch ihr nur annäherndes Scheitern als kanonisierenswert dargestellt soll.

4.2.3 Aischylos, Supplices 234–467: Narrative Technik Einführung In den Supplices (234–467) lässt sich ebenso eine metapoetische Funktion der εἰ μὴ-Situation beobachten: Das rhetorisch-persuasive Scheitern der Danaiden in ihrer Bitte um Aufnahme deutet hier zunächst eine irreale plot-Version an, in welcher es zwar keinen Krieg gäbe, sie aber trotz ihres vorübergehenden sakrosankten Hiketidenstatus im Endeffekt vogelfrei wären, da Pelasgos sie den Aigyptossöhnen überlässt.800 Auch dieses Scheitern ist nur vorläufig, da es überraschenderweise durch die Transgression der Danaiden – sie drohen, sich mit ihren Gürteln zu erhängen801 – aufgehoben wird. So wird einerseits die Tragik der macht- und sprachlosen Frauen vermittelt, die zu drastischeren Mitteln als sprachlichen greifen müssen.802 Andererseits fungiert aber das vorläufige 799 S. ansatzweise Taplin (2002) 79 für eine Reflexion alternativer Handlungsverläufe. 800 Zum Mythos und der Danaidentrilogie an sich, s. Sommerstein (1995). 801 Für den Begriff, s. Gödde (2000) bes. 215–248. Zum Gebrauch von Drohungen in Hikesien, vgl. Naiden (2006) 84–86. 802 So argumentiert v.a. Gödde (2000) 199–207.

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Scheitern als Verunsicherung des exponierten plots und die Transgression als ›Rettung‹ des plots, also als εἰ μή-Handlung.

Narrative Technik: Exponierter plot und fiktive Handlungsalternative Der Inhalt der Hikesie wird erstmals in Vers 341 offenbar: Die Danaiden erflehen, von Pelasgos gegen die Aigyptossöhne verteidigt zu werden (αἰτοῦσι μὴ ’κδοὺς παισὶν Αἰγύπτου πάλιν Aischyl. Suppl. 341). Eine Aufnahme in Argos wäre die von ihnen präferierte Konsequenz ihrer Ansprache, ungeachtet der Tatsache, dass in Argos sowohl König als auch Volksversammlung befragt werden müssen.803 Die kritische, Ablehnung signalisierende Antwort des Pelasgos lädt die Zuschauer sofort ein, sich einen anderen möglichen plot vorzustellen: βαρέα σύ γ’ εἶπας, πόλεμον ἄρασθαι νέον (342). Er argumentiert mit dem Krieg gegen die Aigyptossöhne, den seine Zustimmung als Handlungskonsequenz zur Folge hätte. Eine Abwägung zwischen dieser und einer anderen Handlungsoption wird in der weiteren Argumentation dieser Szene praktisch vorgeführt, etwa wenn die Danaiden die potentiellen religiösen Auswirkungen ihrer abgelehnten Hikesie erklären: ΧΟ. βαρύς γε μέντοι Ζηνὸς ἱκεσίου κότος.804(347) Cho. Schwerwiegend ist doch der Zorn des Zeus Hikesios. ΧΟ. μένει τοι Ζηνὸς ἱκταίου κότος 385 δυσπαραθέλκτους παθόντος οἴκτοις.805(385f.) 385 Cho. Der Zorn des Zeus Hikesios droht denen, die sich nicht vom Mitleid für Leidende erweichen lassen.

Die Darstellung, Pelasgos begehe, wenn er den Hiketidenstatus der Danaiden trotz einer korrekt ausgeführten Hikesie missachte, einen Verstoß gegen das heilige Recht der Hikesie und habe mit negativen Konsequenzen zu rechnen, ist rhetorisch gefärbt. Denn freilich gäbe es mit Blick auf weitere Quellen antiker Hikesie auch gute Gründe für die Ablehnung derselben.806 Trotzdem ist die Ar 803 Dies wissen die Danaiden jedoch nicht, vgl. Naiden (2006) 85. 162. 804 Hier folge ich dem Text von Page (1972) und teile nicht wie West (1990) diesen Vers Pelasgos, sondern dem Chor zu. Anders s. Sandin (2005) 183. 805 Friis Johansen & Whittle (1980) 294 bemerken, dass Pelasgos das drohende μίασμα später als Argument für die Aufnahme der Danaiden benutzt (615–620). Außerdem bemerken sie die Darstellung der Alternativen durch die Danaiden (Friis Johansen & Whittle (1980) 338f.), versäumen aber die Beobachtung, dass sich dies auch auf die Zuschauererwartung auswirkt. 806 Naiden (2006) 129 zeigt, dass die Ablehnung von Hikesien in der Antike durchaus nicht unüblich ist: »Rejection occurs in every genre and culture, and it occurs regardless of the suppliant’s choice of gesture, his choice of argument, or his request. Nor does it offend the gods, who do not punish it – in contrast to their punishment of betrayal.« An anderer Stelle

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gumentation mit den Göttern auch in anderen Tragödien fassbar und daher nicht unüblich.807 Auch Pelasgos nimmt schließlich den religiösen Grund der Hiketiden ernst und beleuchtet das Dilemma daraufhin von beiden Seiten, indem er beide Szenarien schildert. In 407–416 wägt er die Alternativen ab, nämlich entweder Krieg mit den Aigyptossöhnen oder die Verfolgung durch Rachegeister: ΠΕ. δεῖ τοι βαθείας φροντίδος σωτηρίου, δίκην κολυμβητῆρος ἐς βυθὸν μολεῖν δεδορκὸς ὄμμα, μηδ’ ἄγαν ᾠνωμένον, ὅπως ἄνατα ταῦτα πρῶτα μὲν πόλει, αὐτοῖσί θ’ ἡμῖν ἐκτελευτήσει καλῶς, καὶ μήτε Δῆρις ῥυσίων ἐφάψεται, μήτ’ ἐν θεῶν ἕδραισιν ὧδ’ ἱδρυμένας ἐκδόντες ὑμᾶς τὸν πανώλεθρον θεὸν βαρὺν ξύνοικον θησόμεσθ’ Ἀλάστορα, ὃς οὐδ’ ἐν Ἅιδου τὸν ἀλιτόντ’ ἐλευθεροῖ. Pe. Tiefsinniges Nachdenken um die Rettung ist nötig, wie ein Taucher muss ich in die Tiefe gehen, mit sehendem Auge, nicht zu sehr vom Wein verwässert, damit dies alles vor allem für die Polis, aber auch für uns selbst gut zu Ende geht; damit weder Zwist eurer Sicherheit folgt, noch dass wir euch, die ihr so am Göttertempel lagert, vernachlässigen und damit die schlimme Rache des verderbenbringenden Gottes auf uns als Mitbewohner ziehen, der nicht einmal im Hades den Verstorbenen freilässt.

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415 (407–416)

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Bisher ist die genaue Entscheidung dieser Szene unklar, und im Geiste des Zuschauers werden beide Szenarien lebendig. Gleichzeitig macht Aischylos das Dilemma des Pelasgos, das wohl in jeder Hikesie zutrifft, präsent. präzisiert er, dass – während bisher geglaubt wurde, dass der Adressat der Hikesie nur ablehnen kann, wenn die Hikesie falsch ausgeführt wurde – es legitime Gründe für Ablehnung seien, wenn der Supplikant sich tatsächlich ein schweres Vergehen zu Schulden habe kommen lassen, s. Naiden (2006) 129. 146f. Zu dem Gedanken, es sei v.a. αἰδώς, die Ablehnungen von Hikesien verhindere, s. Gould (1973) 89. Zum Krieg als üblichen Grund für – vorläufige – Ablehnung bzw. besondere Hervorhebung der Aufnahme, vgl. Mastronarde (1986) 202f.: »The wronged parties supplicate a more fortunate state; an internal obstacle is overcome; an external opposition to reception of the suppliants is first expressed in threatening words and then acted out in an armed conflict off-stage; but the protecting state wins and receives appropriate thanks. All or most of these features can be found in Aeschylus’ Supplices and (with modifications) Eumenides, Euripides’ Heraclidae and Supplices, and Sophocles’ Oedipus Coloneus.« 807 Vgl. etwa Demophons Aufnahme der Herakliden, welche er auch mit Zeus begründet: τὸ μὲν μέγιστον Ζεὺς ἐφ’ οὗ σὺ βώμιος / θακεῖς νεοσσῶν τήνδ’ ἔχων πανήγυριν (Eur. Heraclid. 238f.).

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Doch welchen plot exponiert Aischylos zu Beginn der Hiketiden, welche Option macht er grundsätzlich für das Publikum wahrscheinlicher? Während die Hikesie der Danaiden in Argos und ihr Ausgang in keiner vorherigen erhaltenen Version des Danaidenmythos überliefert ist,808 wird doch stückintern eine deutliche plot-Tendenz vorbereitet: Aischylos betont nämlich deutlich, wie sehr sich die Danaiden um eine korrekte Hikesie und Sympathie bemühen und deutet daher eine Aufnahme des Pelasgos aus Sicht der Danaiden als wahrscheinlich an. Dies kann mit drei Aspekten belegt werden: Zunächst birgt die vorläufige Ablehnung dramatisches Potential809 und war wohl so sicherlich bereits vor Aischylos’ Hiketiden ein wiederkehrendes Motiv, das sich geradezu anbietet für eine Tragödie.810 Euripides’ Hiketiden werden später dasselbe Motiv aufweisen. Zweitens kann die Bemühung der Danaiden um die rituell korrekte Ausführung der Hikesie angeführt werden, denn sie setzen sich an die Zeusstatue und halten Zweige in der Hand.811 Drittens haben wir die für eine Aufnahme essentielle argumentative Anpassung der Danaiden an den Gesprächspartner bereits in Kapitel 1 beobachtet: Sie konnten ihren Gesprächspartner korrekt ansprechen, waren auf Konventionen bedacht und konnten die Zweifel an ihrer Verbindung mit Argos nach und nach beschwichtigen. All dies legt eine erfolgreiche Hikesie nahe,812 sodass der Zuschauer sich fragen muss, wie Aischylos den exponierten plot nun doch einhalten kann, obwohl Pelasgos eine indirekte Antwort gibt und damit eine deutliche Entscheidung für die Aufnahme der Danaiden verweigert:

808 Vgl. Föllinger (2003) 213; Sandin (2005) 7f. 809 Garvie (1978) 74f. sieht hierin etwa eine Technik des Aischylos, das Publikum kurz von der Bedrohung durch die Aigyptossöhne abzulenken. 810 Allerdings hat Aischylos als Erster die Danaiden als Hiketiden auftreten lassen, vgl. Gödde (2000) 15. 811 Dies wird erkenntlich aus Danaos’ Anweisung an seine Töchter (πάγον προσίζειν τόνδ’ ἀγωνίων θεῶν. / κρεῖσσον δὲ πύργου βωμός, ἄρρηκτον σάκος. / ἀλλ’ ὡς τάχιστα βᾶτε καὶ λευκοστεφεῖς / ἱκτηρίας, ἀγάλματ’ αἰδοίου Διός, 189–192), aus dem Performativ der Danaiden (θέλοιμ’ ἂν ἤδη σοὶ πέλας θρόνους ἔχειν 210), s.a. 240f. Sandin (2005) 183 stellt die ›Umwidmung‹ des Zeus als Hikesiegott durch die Zweige an der Statue fest. 812 Aus einer ritualistischen Perspektive darf dies wohl auch die Grundidee der Hikesie sein, vgl. Gould (1973) 80: »So long as contact was unbroken there was no question but that any violence brought against the suppliant was a direct challenge, either to the power of the god whose sanctuary or altar was involved to protect his own suppliants, or more generally to the power of Zeus ἱκέσιος […].« Naiden (2006) 11. 78 et passim weist aber zu Recht auf die Wichtigkeit von Argumenten hin und zeigt anhand der literarischen Evidenz deutlich, dass Ablehnungen von Hikesien nicht unüblich waren. Zur korrekt ausgeführten Hikesie, vgl. Gödde (2000) 27–32.

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ΠΕ. ἦ κάρτα νείκους τοῦδ’ ἐγὼ παροίχομαι· θέλω δ’ ἄιδρις μᾶλλον ἢ σοφὸς κακῶν εἶναι· γένοιτο δ’ εὖ, παρὰ γνώμην ἐμήν.

(452–454)

Pe. Ich möchte sicherlich am liebsten diesen Streit umgehen: Ich bin lieber unwissend in den Übeln als allzu wissend. Es möge gut ausgehen, wenn auch gegen meine Erwartung.

Erst in 478f. zeigt Pelasgos eine Tendenz813 zur Unterstützung der Danaiden, nachdem die Danaiden mit ihrem Selbstmord an den Götterstatuen gedroht haben (455–465): ΠΕ. ὅμως δ’ ἀνάγκη Ζηνὸς αἰδεῖσθαι κότον ἱκτῆρος· ὕψιστος γὰρ ἐν βροτοῖς φόβος.

(478f.)

Pe. Trotzdem ist es notwendig, den Zorn des Zeus Hikesios zu fürchten: Denn er sorgt für größte Angst unter den Sterblichen.

Somit ist klar, dass die erste Hürde der Aufnahme genommen ist, und der von Aischylos intendierte plot wird nun realisiert: Danaos darf für seine Töchter vor der Versammlung sprechen und auch dort Asyl erbitten (480f.).814

Schlussfolgerungen Das irreale Geschehen einer Ablehnung des Pelasgos wurde durch die transgressive Drohung der Danaiden, im narratologischen Sinn eine εἰ μή-Handlung, verhindert. Die irreale Folge eines argumentativen Scheiterns wird daher fast bis zur Realität durchgespielt, und erst im letzten Moment erfolgt eine Richtungsänderung des plots. Diese Änderung erfolgt im Falle der Danaiden mit einer Aggression und Schlagartigkeit, die sich damit auch auf die narrative Technik des Aischylos übertragen lässt: Durch die Abwägung der verschiedenen Optionen auf argumentativer Ebene und einer abrupten Entscheidung für die wahrscheinliche, aber kurzzeitig unsichere Option wird daher die Souveränität des Autors über seinen exponierten plot betont, der gar nicht anders ausgehen sollte. Diese narrative Strategie des Aischylos kann ebenso übereinstimmen mit dem Urteil, das I. De Jong über den homerischen Dichter fällt, der mit seinen if not-Situationen die Legitimation seiner eigenen literarischen Mythenbearbeitung betonen möchte.815 Gehen wir davon aus, dass Aischylos zuerst das Asyl der Hiketiden in Argos darstellte, können wir auch von einer mythopoetischen Markierung 813 S. Sandin (2005) 205f.: »Pelasgus is finally convinced. […] The matter is not entirely settled […].« 814 Zu Danaos als würdigen Fürsprecher für die Danaiden, vgl. Naiden (2006) 84f. 815 Vgl. de Jong (1987) 81.

Sophokles

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des neuen Handlungselements in Aischylos’ literarischer Bearbeitung des Hiketidenmythos ausgehen.816

4.3 Sophokles 4.3.1 Sophokles, Oedipus Tyrannus 300–462: Narrative Technik und Mytheninnovation Einführung Auch in Sophokles’ Werk begegnen uns Szenen, in denen eine Figur ihr persuasives Projekt nicht sofort durchsetzen kann. In Sophokles’ Oedipus Tyrannus (300–462) fordert Ödipus eine Interpretation des eingeholten Orakelspruches (310f.) vom Seher Teiresias. Dieser weigert sich aber bis Vers 353, also mehr als 40 Verse lang, eine konkrete Aussage zu machen (ὡς ὄντι γῆς τῆσδ’ ἀνοσίῳ μιάστορι. Soph. Oid. T. 353). Während seiner Ermittlungen im Laios-Mord versteht Ödipus zunächst nicht, dass diese sich letztlich auf ihn selbst richten. Daher erfüllen seine vorläufigen Schwierigkeiten, Teiresias zum Reden zu bewegen, eine narrative Funktion im Kontext verschiedentlicher plot-Möglichkeiten:817 Indem Teiresias Ödipus’ Tat beinahe nicht enthüllt, wird der Zuschauer – durch seine kulturelle Prägung auf Wie-Spannung im tragischen Genre –818 dazu gedrängt, sich nach Sophokles’ Umgang mit der aufzudeckenden Prophezeiung zu fragen: Auf welche Weise sonst wird Ödipus seine Täterschaft entdecken? Wird Teiresias unverrichteter Dinge wieder abgehen und damit ein Enthüllungsdrama anstoßen? Oder wird er kurzerhand den gesamten Sachverhalt zu Beginn des Stückes aufdecken? Es stellt sich also die Frage, ob Sophokles den plot linear (sofortige Aufdeckung von Ödipus’ Täterschaft) oder komplex (Enthüllungsdrama mit Verwicklungen) durchführt. Es ist nicht nur überraschend, dass Teiresias sodann tatsächlich sein Wissen über Ödipus verkündet – also die Auflösung des plots schon jetzt preisgibt –, sondern besonders Sophokles’ nachträgliche Komplikation der scheinbar leichte Auflösung des Rätsels: Indem Ödipus die Worte des Teiresias als falsche Anklage versteht (354. 359), wird der plot wird auf das innere Geschehen und die Erkenntnis des Ödipus verlagert.819 Die ›Lösung‹ des Stückes wird dem Publikum von Anfang an preisgegeben, aber 816 Vgl. Föllinger (2003) 213; Sandin (2005) 7f. 817 Segal (2001) 59 nennt den plot des Oid. T. »carefully chosen and constructed«. 818 Vgl. Aristot. poet. 1453b22–26. 819 Finglass (2018) 29 sieht dies als Innovation des Sophokles an. Die Tatsache, dass Sophokles die Morde bereits vor dem Oid. T. geschehen ließ, bedeute, dass das innere Geschehen der Charaktere im Mittelpunkt stehen könne: »Sophocles can build his play around the ideas of discovery and recognition, which thereby become central to the theme of self-knowledge.« Finglass (2018) 28, s.a. 53–57.

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von den intradramatischen Figuren nicht verstanden. Der von Sophokles exponierte plot funktioniert formal auf extradramatischer Ebene, aber nicht auf Figurenebene. Hier wird scheiternde Kommunikation also zum Ausdruck des tragischen Verhängnisses, das die Figuren unfähig zur Kommunikation macht. Dies erzeugt Mitleid und Spannung, und lässt den Zuschauer auch über mögliche plot-Lösungen reflektieren.

Narrative Technik: Erwarteter vs. exponierter plot Betrachten wir zunächst die Zuschauererwartung, die von Sophokles durch seine vorherige plot-Organisation vorbereitet wird. Zu Beginn des Stückes sucht Ödipus den Mörder des Laios, da dieser laut Orakelspruch für die Pest in Theben verantwortlich sei (28. 103); dem Publikum ist schon bewusst, dass es sich um Ödipus selbst handelt.820 Dem Publikum stellt sich die Frage, wie diese Information auf der Bühne enthüllt wird: Linear oder mit dramatischer Ausgestaltung?821 Während wohl aus der Rezeptionserfahrung des Publikums heraus ein dramatischer, verschlungener plot mit Missverständnissen erwartet wird, führt Sophokles plötzlich Teiresias als lineare ›Lösung‹ des plots ein, der diese Information ohne Weiteres mitteilen könnte.822 Denn sowohl vom Chor als auch von Ödipus wird das Publikum über die tragende Rolle und den baldigen Auftritt des Teiresias informiert: XΟ. ἄνακτ’ ἄνακτι ταὔθ’ ὁρῶντ’ ἐπίσταμαι μάλιστα Φοίβῳ Τειρεσίαν παρ’ οὗ τις ἂν σκοπῶν τάδ’, ὦναξ, ἐκμάθοι σαφέστατα. Cho. Am ehesten sieht Teiresias dasselbe wie der Herr Apoll, wie ich weiß. Fragt man ihn danach, erfährt man es sicher am verlässlichsten.

285 (284–286) 285

820 Dies können wir etwa aus der thebanischen Trilogie des Aischylos folgern, vgl. Segal (2001) 26; Finglass (2018) 21–24. In diesem Fall ist wohl der Polemik des Antiphanes (Antiphanes PCG II fr. 191 Kassel) rechtzugeben: ὥσθ’ ὑπομνῆσαι μόνον / δεῖ τὸν ποιητήν· Οἰδίπουν γὰρ ἂν μόνον / φῶ, τἄλλα πάντ’ ἴσασιν· ὁ πατὴρ Λάιος, / μήτηρ Ἰοκάστη, θυγατέρες, παῖδες τίνες, / τί πείσεθ’ οὗτος, τί πεποίηκεν. S.a. Wright (2016) 471. 821 In Anbetracht des oben zitierten Antiphanesfragments (Antiphanes PCG II fr. 189 Kassel, s. Anm. 751) die Handlung des Ödipus sei im 4. Jh. v. Chr. allenthalben bekannt gewesen, formuliert Finglass (2018) 27f. in Bezug auf Sophokles’ Version: »[…] it is a mistake to infer that ›in Oedipus Tyrannus, the end is [...] known from the beginning‹.« Damit widerlegt er die Ansicht von Wohl (2015) 20. 822 Lefèvre (2001) 122f. konstatiert zu Recht, dass eine Funktion der Szene auch in der Demonstration von Ödipus’ ›blinder‹ Disposition liege. Dies ist jedoch m.E. bei weitem nicht, wie Lefèvre (2001) 123 Anm. 127 bemerkt, ihr wichtigster Zweck.

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Sophokles

ΟΙ. ἀλλ’ οὐκ ἐν ἀργοῖς οὐδὲ τοῦτ’ ἐπραξάμην· ἔπεμψα γὰρ Κρέοντος εἰπόντος διπλοῦς πομπούς· πάλαι δὲ μὴ παρὼν θαυμάζεται.

(287–289)

Oe. Ohne Untätigkeit habe ich dies schon getan, denn ich habe schon zwei Boten gesandt, so wie Kreon es riet. Es wundert mich aber, dass er seit langem nicht da ist.

Auch der Zweck von Teiresias’ Auftritt, nämlich die Aufklärung des Sachverhaltes, wird deutlich gemacht: παρ’ οὗ τις ἂν […] ἐκμάθοι σαφέστατα (285f.).823 Der plot des Sophokles ist exponiert: Im einfachsten Falle würde Teiresias konzise den Seherspruch erklären. Der Zuschauer ist daher kurz verunsichert, ob Sophokles den plot tatsächlich linear verlaufen lassen könnte. Der vom Zuschauer erwartete plot und exponierter plot unterscheiden sich , laufen aber letztendlich auf dasselbe Ergebnis hinaus. Dies ist ein Alleinstellungsmerkmal des Oedipus Tyrannus: Sophokles spielt mit der Erwartung des Zuschauers auf Wie-Spannung und lässt die Handlung auf der psychologischen Ebene stattfinden.

Narrative Technik: Der erwartete plot als scheinbar fiktive Handlungsalternative zum exponierten plot Sophokles lässt Ödipus zunächst scheitern, Teiresias zum Reden zu bringen, und stärkt somit wiederum die Erwartung eines komplexen plot-Ablaufs: Der exponierte, lineare plot wird als zunächst unmöglich verworfen. Das Publikum wird in seiner Erwartung eines dramatischen plots bestätigt. Ödipus fordert Teiresias ausdrücklich zum Reden auf und drückt sich hierbei respektvoll aus: ΟΙ. ὦ πάντα νωμῶν Τειρεσία, διδακτά τε ἄρρητά τ’ οὐράνιά τε καὶ χθονοστιβῆ, πόλιν μέν, εἰ καὶ μὴ βλέπεις, φρονεῖς δ’ ὅμως οἵᾳ νόσῳ σύνεστιν· ἧς σὲ προστάτην σωτῆρά τ’, ὦναξ, μοῦνον ἐξευρίσκομεν. Oe. O allessehender Teiresias, lehrbares, unaussprechliches, himmlisches und irdisches. Du weißt, auch wenn du die Stadt nicht sehen kannst, woran sie krankt. Dich, Herr, haben wir als ihren einzigen Beschützer, und ihren Retter ausgemacht.

300

(300–304) 300

823 Finglass (2018) 262f. sieht diese Äußerung als ironischen Hinweis auf Teiresias’ Sehergabe und Ödipus’ Blindheit. Zu der dramatischen Wichtigkeit von Teiresias’ Blindheit und zu Blindheit bei Sophokles im Allgemeinen, s. Buxton (1980) 23–25.

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Teiresias jedoch lehnt dies mehrmals ab824 und begründet dies mit dem negativen Inhalt der Botschaft (ὡς ἂν εἴπω μὴ τὰ σ’, ἐκφήνω κακά. 329). Ödipus’ Scheitern wird durch diese metapragmatische Ablehnung deutlich unterstrichen. Teiresias’ vorläufige Weigerung, sein Wissen wörtlich zu verkünden und damit einem linear verlaufenden plot Raum zu geben, stellt einen solchen linearen plot zunächst als fiktiv dar. Doch macht Sophokles den linearen plot und sein Verwerfen stattdessen dramatisch nutzbar: Denn es stellt sich dem Zuschauer, wie später auch manchem Interpreten,825 die Frage, warum Teiresias erst jetzt während der Pest auftritt, obwohl er schon länger von den Orakeln weiß. Einerseits wurde vorgeschlagen, dass Sophokles dies mit den folgenden Versen zu erklären versuche: ΤΕ. φεῦ φεῦ, φρονεῖν ὡς δεινὸν ἔνθα μὴ τέλη λύῃ φρονοῦντι· ταῦτα γὰρ καλῶς ἐγὼ εἰδὼς διώλεσ’· οὐ γὰρ ἂν δεῦρ’ ἱκόμην.826 (316–318) Te. Oh weh, wie schrecklich, zu wissen, während es dem Wissenden nicht nützt: Denn obwohl ich es genau wusste, habe ich es verworfen. Sonst wäre ich nicht hierhergekommen.

Demnach führt Teiresias seine Gewissheit an, dass seine Erkenntnis keinen Nutzen haben werde. In der Tat ist auf einer ersten Ebene die Szene wohl eingefügt, damit »Nicht-Wissen und Wissen in extremem Gegensatz aufeinanderprallen«.827 Doch neben Teiresias’ expliziten Zweifeln an Ödipus’ Einsicht dient auch Ödipus’ Scheitern, Teiresias zum Reden zu bringen, als Plausibilisierung von Teiresias’ spätem Auftritt und langem Schweigen828 – dies ist ein meines Wissens bisher noch unbeobachtetes Gestaltungselement. Teiresias wollte und will dem linearen plot schlicht nie folgen,829 redet nicht. Es fällt nämlich auf, wenn Teiresias insgesamt sechsmalig deutlich ablehnt, sein Wissen zu verkünden:830 824 Vgl. etwa φεῦ φεῦ, φρονεῖν ὡς δεινὸν ἔνθα μὴ τέλη / λύῃ φρονοῦντι· (316f.) oder ἄφες μ’ ἐς οἴκους· (320). 825 Vgl. Kamerbeek (1967) 16; Dawe (1982) 11; Manuwald (2012) 25. 113. 826 »Dass er […] überhaupt gekommen ist, wird durch seine Eingangsworte (vv. 316–318) nur mühsam überspielt.« Manuwald (2012) 25. 827 Manuwald (2012) 25. 828 Dies wird explizit thematisiert von Ödipus in 390–398. 558–568, vgl. Segal (2001) 57. 829 Segal (2001) 57 erklärt das späte Enthüllen durch Teiresias plausiblerweise so: »Even if Apollo had revealed the truth to Teiresias long ago […], presumably the god also revealed that he, Apollo, would bring it to light in his own sweet time.« Ein Hinweis von Michael Erler erklärt das späte Eingreifen aus meiner Sicht noch plausibler: Die Pest erfüllt eine wichtige Funktion als tragisches Ereignis, das die ganze Stadt betrifft und Ödipus’ Vergehen in seiner ganzen Monstrosität darstellt. Wäre sie verhindert worden, wäre Ödipus’ Tat nicht gesühnt worden. 830 Flaig (1998) 66 bemerkt zu Recht die Plausibilisierungslücke, dass Ödipus sich bei Teiresias’ dezidierter Weigerung nicht wundert, begründet dies allerdings mit der »tyrannen-

Sophokles

ΤΕ. φεῦ φεῦ, φρονεῖν ὡς δεινὸν ἔνθα μὴ τέλη λύῃ φρονοῦντι·[…] Te. Oh weh, wie schrecklich, zu wissen während es dem Wissenden nicht nützt: […]. ΤΕ. ἄφες μ’ ἐς οἴκους· […].  Te. Lass mich nach Hause gehen […]. ΤΕ. πάντες γὰρ οὐ φρονεῖτ’· ἐγὼ δ’ οὐ μή ποτε τἄμ’, ὡς ἂν εἴπω μὴ τὰ σ’, ἐκφήνω κακά.  Te. Denn ihr wisst es ja nicht: Ich aber spreche nicht mehr weiter, damit ich nicht deine Übel aussprechen muss.

223 315 (316f.) 315

(320) 320

(328f.)

ΤΕ. […] οὐ γὰρ ἂν πύθοιό μου. Te. […] Denn von mir wirst du es nicht erfahren.

(333)

ΤΕ. ἥξει γὰρ αὐτά, κἂν ἐγὼ σιγῇ στέγω.  Te. Es kommt von selbst, wenn ich es in Schweigen hülle.

(341)

ΤΕ. οὐκ ἂν πέρα φράσαιμι […]. Te. Ich werde nicht mehr weiterreden […].

(343)

Teiresias empfindet die Wahrheit offensichtlich als zu schrecklich, um sie laut auszusprechen (328f.) und weigert sich daher.831 Der durch Teiresias’ Auftritt exponierte, lineare plot wird mit Teiresias’ eigener Ablehnung in Frage gestellt und zunächst als fiktiv verworfen: Die irreale Folge von Teiresias’ Ablehnung wäre die zunächst fehlende Information über den Laiosmörder – dies würde einen dramatisierenden, komplexen plot versprechen. Gleichzeitig dient Sophokles diese Ablehnung als Plausibilisierung für Teiresias’ spätes Eingreifen in Ödipus’ Schicksal.

Narrative Technik: Kombination von erwartetem und exponiertem plot Aber diese dramatisierende, da uninformative Folge tritt vorläufig nur beinahe ein. Nach Ödipus’ aggressivem Vorwurf an Teiresias, dieser habe den Mord begangen (ἴσθι γὰρ δοκῶν ἐμοὶ, / καὶ ξυμφυτεῦσαι τοὔργον 346f.), antwortet Teiresias schließlich: ΤΕ. ἄληθες; ἐννέπω σὲ τῷ κηρύγματι ᾧπερ προεῖπας ἐμμένειν, κἀφ’ ἡμέρας

350

feindlichen Ideologie«, die Tyrannen so zeichne. Ich würde vielmehr hierin einen Beleg für Ödipus’ mangelnde rezeptive Disposition sehen, vgl. auch Lefèvre (2001) 122–130. 831 Vgl. Lloyd-Jones & Wilson (1990b) 87.

224

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τῆς νῦν προσαυδᾶν μήτε τούσδε μήτ’ ἐμέ, ὡς ὄντι γῆς τῆσδ’ ἀνοσίῳ μιάστορι. Te. Meinst du das ernst? Ich verlange von dir, bei deinem Edikt zu bleiben, das du aussprachst, und an diesem Tag weder diese noch mich anzusprechen, denn du bist ja der frevelhafte Beflecker dieser Erde.

(350–353) 350

Indem Teiresias reagiert und die Wahrheit ausspricht, stellt sich Ödipus’ Scheitern als vorläufig heraus; es scheint kurz, als würde mit der Enthüllung tatsächlich ein linearer plot gewählt werden, der vorher wegen Teiresias’ Ablehnung als nicht durchführbar galt. Nun kombiniert Sophokles aber beide plot-Erwartungen, indem er einen Rollentausch vollführt: Nun will Ödipus Teiresias nicht verstehen und lehnt seine Botschaft ab (ὅσον γε χρῄζεις· ὡς μάτην εἰρήσεται. 365). Im weiteren Verlauf der Szene wird deutlich, dass Ödipus Teiresias’ Äußerung nicht korrekt verstanden hat: Der plot muss nun auf die innere Ebene des Hauptcharakters verlegt werden und seinen Erkenntnisprozess verfolgen. Das tragische Verhängnis des Ödipus – seine Unfähigkeit, sich zu erkennen – wird im Scheitern von Rhetorik ausgedrückt. Der Zuschauer hat eine doppelte Enttäuschung seiner Erwartungshaltung erfahren: Zunächst durch das Auftreten des Teiresias, was einen ›undramatischen‹, linearen plot versprach, und weiterhin durch das vorläufige Scheitern des Ödipus, diesen linearen plot durchzusetzen. Als Ergebnis hat Ödipus’ Direktiv, Teiresias solle reden, formal funktioniert – doch durch Ödipus’ Missverstehen wird aus dem formal linearen plot ein komplexer, da nun die laut formulierte Information von Ödipus nach und nach erkannt werden muss.832 Sophokles schafft durch Ödipus’ mangelnde Einsicht einen plot-Verlauf mit dramatisierendem Effekt. Ödipus’ vorläufiges Scheitern und die Weigerung des Teiresias haben daher mehrere Funktionen, was die Zuschauererwartung angeht: Einerseits plausibilisiert Teiresias’ Ablehnung seine späte Enthüllung des Orakels – Teiresias will offensichtlich das Orakel eigentlich nicht verkünden und weigert sich daher, zu reden und dem linearen plot zu folgen. Andererseits dient diese Szene in doppelter Hinsicht als Raum, in dem jene verschiedenen plot-Verläufe auf der Metaebene verhandelt werden können: Sophokles kombiniert am Ende sogar beide plots. Nach dieser Szene ist dem Zuschauer vollends klar, wie das Stück

832 Dies ist, so Segal (2001) 60–68, durch die stückweise Vergabe von Informationen ­bezüglich der Vorgeschichte des Ödipus, der dramatische Reiz des gesamten Stückes und damit Konstruktionsaufgabe für das Publikum. Freilich kann Ödipus’ Unverständnis auch wieder als Kritikpunkt für eine fehlende Plausibilisierung gelten, vgl. Segal (2001) 56; Dawe (1982) 11f.

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grob verlaufen muss: Ödipus muss nun zur Selbsterkenntnis gebracht werden, worin aber genau die Tragik seines Charakters liegt.

Mythopoesie Doch dieses auffällige doppelte Spiel mit plot und fiktiven plot-Verläufen dient in dieser Szene zusätzlich noch der Markierung einer Mythopoesie durch den Dichter. Denn in Sophokles’ Version des Ödipus-Stoffes begegnet uns eine mythische Neuerung: Teiresias erhält eine viel wichtigere Rolle in der Aufdeckung der Wahrheit als etwa in Homers Odyssee, in welcher die Götter auf unbestimmte Weise verantwortlich sind für die Enthüllung (ἄφαρ δ’ ἀνάπυστα θεοὶ θέσαν ἀνθρώποισιν. Hom. Od. 11,274):833 Er enthüllt die Wahrheit zum ersten Mal und unterstreicht so für das Publikum Ödipus’ Unfähigkeit, die Wahrheit zu verstehen. Sophokles hat seine literarische Bearbeitung des Mythos auch auf andere Weise erweitert: Er akzentuierte das delphische Orakel mehr als Aischylos, indem er zwei Orakelsprüche hinzufügte (nämlich den Vatermord und Ödipus’ Inzest mit Iokaste)834 und Ödipus’ Exil als Möglichkeit in den Raum stellt – dies finden wir nicht bei Aischylos, aber als Prophezeiung in Sophokles’ Teiresias-Szene (417f.) und somit als weitere Akzentuierung der Teiresias-Rolle.835 Diese Aufwertung der Teiresiasrolle wird durch ihr Weigern und ihre Zustimmung vom Autor unterstrichen: Es ist 40 Verse lang nicht klar, ob Teiresias tatsächlich die größere Rolle spielen wird, die ihm von Sophokles durch seine Neueinführung als Figur dramatisch angekündigt wurde.836

Schlussfolgerungen Durch Teiresias’ Auftritt wird ein linearer plot mit einer sofortigen Erklärung des Orakelspruchs exponiert, was auf das Publikum undramatisch wirken und die Erwartungshaltung für eine Tragödie konterkarieren würde. Dieser plot wird als fiktiv verworfen: Denn durch Teiresias’ vorläufige Weigerung wird der Zuschauererwartung eines komplexen plots kurz stattgegeben. Als aber Ödipus Teiresias doch zum Reden bringen kann, wird das Publikum doppelt verunsichert: Es wird zwar die relevante Information linear und damit ›undramatisch‹ 833 Diese Aussage gilt unter Berücksichtigung der aktuellen Überlieferungslage: Zugegeben gäbe es hier prinzipiell die Möglichkeit einer homerischen Anspielung auf vorherige ­ausführlichere Versionen. Doch auch später in Aischylos’ Ödipus-Trilogie fehlt eine Enthüllung der Verfehlungen des Ödipus in der Überlieferung, vgl. Segal (2001) 24f.; Manuwald (2012) 11. 834 Vgl. Segal (2001) 24; Manuwald (2012) 11f. 835 Vgl. Manuwald (2012) 14f. 836 Auch Segal (2001) 45 Anm. 43 vermutet die tatsächliche Neueinführung der Teiresiasrolle durch Sophokles.

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vergeben, doch wird der plot dadurch dramatisiert und kompliziert, dass Ödipus diese Information nicht verstehen kann – ein Ausdruck seines tragischen Verhängnisses. Im Dialog wird der undramatische, lineare plot angedeutet und dann als fiktiv verworfen. Durch die unerwartete Kombination dieser beiden Möglichkeiten erreicht Sophokles einen besonderen dramatischen Effekt, einen Fokus auf die Psychologie der Charaktere und prägt damit die Autorität seiner Mythenbearbeitung. Doch die Teiresiasszene darf nicht nur als Enttäuschung und Bestätigung der Zuschauererwartung im Sinne eines Konterkarierens der angedeuteten plot-Version gelten, sondern auch als Markierung der neuen Mythenbearbeitung.837 Damit gelingt es dem Autor Sophokles, ein aufmerksames Publikum nicht nur durch Tragik zum Mitleid zu bewegen, sondern auch intellektuell zu aktivieren. Zusätzlich stellt er durch das Verwerfen fiktiver Handlungsoptionen seine eigene plot- und Mythenversion als kanonisierenswert dar.

4.3.2 Sophokles, Philoktet 50–135: Narrative Technik und Mytheninnovation Einführung Auch in Sophokles’ Philoktet finden wir einen Mythenkommentar und eine Mytheninnovation in einem diskursiven Rahmen, nämlich im Zuge des vorerst scheiternden Überzeugungsversuches des Odysseus, der Neoptolemos als Komplizen gewinnen möchte.838 Die Beteiligung an der Intrige lehnt Neoptolemos zunächst ab, sodass Odysseus zu ausführlicheren Argumentationen gezwungen wird. Damit führt Sophokles eine fiktive plot-Variante zu seiner intendierten Version ein – er ließ Neoptolemos ja bereits auftreten – und stellt mit seiner Innovation gleichzeitig eine Alternative zur bisher bekannten Mythenversion dar. Durch die dramatische Darstellung von zunächst scheiternder, dann gelingender Rhetorik wird diese Innovation nicht einfach als unproblematische Neuerung eingeführt, sondern metapoetisch betont und mit wichtigen Informationen über die Charaktere und die plot-Exposition angereichert.839 Gleichzeitig gelingt Sophokles mit dieser Technik die Verlagerung der Handlung in die in-

837 Damit kommt der Szene eine wichtigere dramatische Funktion zu, als Segal (2001) 78 mit dem Urteil, »it creates suspense […]« zugeben möchte. 838 Zum allgemeinen Verwerfen und Scheitern von aufrichtiger πειθώ im Philoktet, die aber im Prolog bereits als »narrative seed« angedeutet wird, vgl. Taousiani (2011) 434–438. Zu bemerken ist jedoch, dass Odysseus in Vers 103 keinen Beweis geben kann, ob Philoktet tatsächlich nicht zu überzeugen sei. 839 Zum Vokabular des Wortfeldes ›Mythos‹ und ›Prophezeiung‹ im Philoktet als Rezipientenlenkung, vgl. Budelmann (2000) 93–108.

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nere Welt der Charaktere, die durch Intrige, Rhetorik oder Ehrlichkeit zwischen ihren und fremden Gedankenwelten vermitteln müssen.840

Aufbau der Szene Im Prolog des Philoktet sendet Odysseus den Achillessohn Neoptolemos aus, um Philoktets Höhle auf Lemnos auszuspähen (22–25)841 – das Gelingen seiner Intrige, seines σόφισμα (14), hängt davon ab.842 Nach einer ekphrastischen Stichomythie zwischen den beiden Charakteren (26–49) trägt Odysseus ihm in einer langen Rhesis (54–85) auf, Philoktet zu täuschen.843 Odysseus bietet in dieser ersten Rhesis bereits Argumente, wieso Neoptolemos Teil der Intrige werden solle: Es liege im Interesse aller Griechen (66f.), Neoptolemos sei im Umgang mit Philoktet unbescholten und daher eine neutrale Person (71–76), der Gewinn des Bogens und der Sieg über Philoktet seien erstrebenswert und ruhmvoll (81. 85).844 Zudem nimmt er bereits Neoptolemos’ moralisches Wertesystem vorweg, verwendet eine Prolepse seiner ehrenhaften Natur (79f.). Neoptolemos lehnt dies, wie von Odysseus erwartet, dezidiert aus moralischen Gründen ab (86–95) und es folgt ein langer, interaktiver Überzeugungsprozess, in dem Odysseus mehr Informationen und Argumente verwenden muss, um das Problem von Neoptolemos’ φύσις zu umgehen und die Intrige als richtigen Handlungsweg darzustellen (96–120).845

840 Vgl. Seidensticker (1994) 280. 841 Odysseus spricht Neoptolemos bereits in Vers 4 mit Namen an, was auf die Neuartigkeit des Charakters und daher auf die Notwendigkeit seiner Vorstellung für das zeitgenössische Publikum schließen lässt. 842 Zu Odysseus als narrator, s. Markantonatos (2004). Pucci (2011) 160 zieht eher eine Parallele des Odysseus mit sophistischem Gedankengut – dies mag für das zeitgenössische Publikum anklingen, scheint mir aber nicht das wichtigste Element an der Rhetorik des Odysseus zu sein. An anderer Stelle bemerkt Pucci (2011) 164 treffender die dramatische Macht des Odysseus: »Odisseo agendo come il didaskalos che istruisce gli attori, mostra il teatro nel suo farsi.« 843 Für einen intertextuellen Vergleich der erfolglos täuschenden Odysseusfigur in Sophokles’ Philoktet mit Hinweis etwa auf die aufrichtige πειθώ des Odysseus in Euripides’ Philoktet und in Sophokles’ Aias, s. Taousiani (2011). 844 Dies entspricht Aristoteles’ Postulaten für die deliberative Rede, vgl. Aristot. rhet. 1358b22–24: τῷ μὲν συμβουλεύοντι τὸ συμφέρον καὶ βλαβερόν· ὁ μὲν γὰρ προτρέπων ὡς βέλτιον συμβουλεύει, ὁ δὲ ἀποτρέπων ὡς χείρονος ἀποτρέπει […]. 845 Taousiani (2011) 427f. bemerkt zu Recht, dass Odysseus’ Argumente in seinem ersten Versuch wenig stringent wirken.

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Problem und neue Gedanken zur Funktion der Szene Die Darstellungsweise von Neoptolemos’ Rekrutierung als Komplize erscheint umständlich und ausgesprochen langwierig, benötigen die Charaktere doch fast 70 Verse, um von Odysseus’ erster Aufforderung bis zu Neoptolemos’ Zustimmung zu gelangen. Diese scheinbare, kontraintuitive Langwierigkeit sollte jedoch nicht lediglich als Instrument der dramatischen Spannungserzeugung interpretiert werden: Vielmehr erscheint sie ausgesprochen sinnvoll und dramatisch wirksam, wenn wir bedenken, dass Neoptolemos ein zeitgenössisch unübliches Mitglied der dramatis personae war und Sophokles eine Innovation des Mythos vornahm. Odysseus’ Argumentation und ihrem vorläufigen Scheitern kommen dramatische, mythopoetische und mythenkommentierende Funktionen zu: Zunächst werden dem Zuschauer mit Odysseus’ Überzeugungsversuch wichtige Informationen für das plot- und Figurenverständnis mitgeteilt. Zweitens wird durch den zunächst scheiternden Überzeugungsversuch und die Argumentation des Odysseus die Neueinführung des Charakters Neoptolemos in den Philoktetmythos unterstrichen: Denn es liegt bereits im freien Gestaltungsspielraum des Sophokles, seinem Publikum keine lineare Gegebenheiten zu bieten, indem er Neoptolemos nicht einfach als gegebenen Charakter einführt – bereits dadurch wird Sophokles’ Mytheninnovation markiert. Wie zuletzt gezeigt werden soll, gelingt es Sophokles aber noch drittens, einen metapoetischen Kommentar zu seiner Wahl der Charaktere und eine metamythologische Aussage zu den Mythenversionen seiner Vorgänger zu machen.

Dramatische und narrative Funktion: Exposition des Neoptolemos-plots Allgemein bietet Odysseus in den fast 70 Versen, die sein erster und zweiter Überzeugungsversuch einnehmen (54–120), wichtige Informationen über den neu eingeführten Charakter Neoptolemos, die für das volle Verständnis des plots durch den Zuschauer unabdingbar sind. Denn Sophokles lässt Odysseus bereits in seiner rhetorischen Prolepse, die er unmittelbar an seine erste Aufforderung anschließt, jedwede Einwände widerlegen, die Neoptolemos gegen die Intrige haben könnte, und exponiert so explizit Neoptolemos’ φύσις:846 ΟΔ. ἔξοιδα, παῖ, φύσει σε μὴ πεφυκότα τοιαῦτα φωνεῖν μηδὲ τεχνᾶσθαι κακά· ἀλλ’ ἡδὺ γάρ τι κτῆμα τῆς νίκης λαβεῖν, τόλμα· δίκαιοι δ’ αὖθις ἐκφανούμεθα. νῦν δ’ εἰς ἀναιδὲς ἡμέρας μέρος βραχὺ

80

846 In 473–480 wird Philoktet genau diese Argumentation gegenüber Neoptolemos verwenden, wie Schein (2013) 133 bemerkt. Die charakterzeichnende Funktion dieser Szene bemerkt auch Markantonatos (2004) 135.

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δός μοι σεαυτόν, κᾆτα τὸν λοιπὸν χρόνον κέκλησο πάντων εὐσεβέστατος βροτῶν. Od. Ich weiß, mein Sohn, dass du von Natur aus nicht dazu Geschaffen bist, solches zu sprechen und dir Übles auszudenken. Doch ist es süß, den Sieg für sich zu besitzen. Wag es! Wir werden später wieder gerecht erscheinen. Nun aber begib dich heute für kurze Zeit in meine Hände, und dann nenne dich den Rest der Zeit den rechtschaffensten aller Menschen.

229 (Soph. Phil. 79–85) 80

85

Aus diesem kurzen Stück gewinnt der Zuschauer bereits aufschlussreiche Einsichten in Neoptolemos’ Persönlichkeit (φύσει 79): Ein gerechtes und rechtschaffenes847 Wesen und keinerlei Verwicklung in Intrigen (τοιαῦτα φωνεῖν μηδὲ τεχνᾶσθαι κακά 80) scheinen besonders wichtig für ihn.848 Odysseus vermittelt sein Anliegen auf durchaus rhetorische Weise, wenn er den möglichen Nutzen der Intrige betont (ἡδὺ γάρ τι κτῆμα 81. κᾆτα τὸν λοιπὸν χρόνον / κέκλησο πάντων εὐσεβέστατος βροτῶν 84f.) und ihm väterliche Nähe vermittelt (δεῖ σ’ […] γενναῖον εἶναι 50f.849 παῖ 79850). Als Odysseus zunächst scheitert und Neoptolemos ablehnt (τούσδε καὶ πράσσειν στυγῶ 87), bieten sich in Neoptolemos’ Ablehnung und in Odysseus’ erneuter Argumentation weitere Gelegenheiten für eine Charakterisierung des Achillessohns:851 Dieser begründet seine Weigerung mit seiner Wahrheitsliebe und seiner Aufrichtigkeit (ἔφυν γὰρ οὐδὲν ἐκ τέχνης πράσσειν κακῆς 88. ἀλλ’ εἴμ’ ἑτοῖμος πρὸς βίαν τὸν ἄνδρ’ ἄγειν / καὶ μὴ δόλοισιν· 90f. βούλομαι δ’, ἄναξ, 847 Diese treffende Übersetzung bietet Manuwald (2018) 90. 848 Taousiani (2011) 433 bemerkt zu Recht, dass diese Vorzüge des Neoptolemos ihn eigentlich für πειθώ qualifizieren und δόλος überflüssig machen würden: Damit nimmt Sophokles das Ende des Stückes vorweg, als Neoptolemos ehrlich Philoktet gegenüber den δόλος-Plan aufdeckt. Dem Artikel von Taousiani (2011) bleibt jedoch hinzuzufügen, dass Odysseus’ Aussage οὐ μὴ πίθηται (103) rein rhetorisch verwendet wird, um Neoptolemos für seine Intrige zu gewinnen. Für diesen Hinweis danke ich Gunther Martin. 849 Blundell (1988) 137f. bemerkt den aristokratische Verhaltenskodex, der sich hinter γενναῖος verbirgt, der aber Neoptolemos nicht von seinem toten Vater nahegelegt werden kann: So kann Odysseus diese beratende Rolle einnehmen und den jungen Neoptolemos beeinflussen. 850 Sowohl Odysseus als auch Philoktet und der Chor werden Neoptolemos häufiger im Lauf des Stückes mit παῖ ansprechen. Blundell (1988) 138; Manuwald (2018) 91 sehen hierin eine quasi familiäre Verbindung. Dickey (1996) 65–72 bemerkt aber zu Recht, dass παῖ auch schlichtweg zur Markierung einer nahen, nichtverwandtschaftlichen Beziehung benutzt werden kann. Odysseus benutzt diese Anrede also rhetorisch, um eine enge Beziehung zu und Sorge um Neoptolemos zu signalisieren. Odysseus’ väterliche Rolle wird auch unterstrichen durch die Betonung seines Wissens: ἔξοιδα (79) bzw. σάφ’ ἴσθ’, ἐπείπερ εἰσάπαξ συνῄνεσα. (122), hierzu vgl. Schein (2013) 133. 851 Diese Funktion beschreibt auch Pucci (2011) 155f.

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καλῶς / δρῶν ἐξαμαρτεῖν μᾶλλον ἢ νικᾶν κακῶς. 94f.).852 Im Verlauf der Stichomythie nimmt Neoptolemos etwa erneut Anstoß am ψευδῆ λέγειν (100). Neben Odysseus’ Aussage, dass man Philoktet nicht mit Worten oder Gewalt überzeugen könne (103), Philoktets Bogen aber essentiell sei für den Sieg vor Troja (114),853 hat schließlich sein Argument schlagenden Erfolg, dass Neoptolemos einen hervorragenden Ruf aufgrund seiner intellektuellen und moralischen Qualitäten erhalten werde:854 ΟΔ. σοφός τ’ ἂν αὑτὸς κἀγαθὸς κεκλῇ’ ἅμα. ΝΕ. ἴτω· ποήσω, πᾶσαν αἰσχύνην ἀφείς. Od. Man würde dich klug und mutig zugleich nennen. Ne. Na gut, dann werde ich es tun, und lege alle Scheu ab.

(119f.) 120

Odysseus’ scheiternde und gelingende Überzeugungsversuche zeichnen ein umfassendes Bild von Neoptolemos’ φύσις, die das gesamte Stück über eine Rolle spielen und sich auch gegen den Intrigenplot wenden wird, etwa wenn es Philoktet paradoxerweise zuletzt gelingt, den reuigen Neoptolemos nach seinem Geständnis von der gemeinsamen Heimfahrt zu überzeugen.855 Dieses plot 852 In dieser Aussage und in Odysseus’ Entgegnung liegt zugleich ein Kampf um die Interpretation des Helenosorakels, wobei Visser (1998) 75 zeigt, dass Odysseus’ Plan die richtige Interpretation der Prophezeiung ist, wie die Emporos-Szene später auch zeigt (λόγῳ / πείσαντες 593f.). 853 Kyriakou (2012) 163 argumentiert trotz Neoptolemos’ Nachfragen und Odysseus’ Erklärungen bezüglich der Einnahme Trojas in 112 und 114, dass Neoptolemos die Helenosprophezeiung gekannt haben muss, und begründet dies mit der Tatsache, dass Odysseus bereits in 68f. von der Notwendigkeit des Bogens gesprochen hatte und es unwahrscheinlich sei, dass Neoptolemos als Figur dies nicht gehört haben oder berücksichtigen könne. Vielmehr unterstreichen laut Kyriakou Neoptolemos’ Nachfragen seinen Unwillen, Teil dieses Schicksal und damit dieser Intrige zu sein – Neoptolemos ziehe einen Kampf oder Überredung vor (102). Freilich kann diese Argumentation nicht in letzter Instanz verifiziert werden, doch lenkt sie erneut und gewinnbringend den Blick auf Neoptolemos’ φύσις, die durch seine Involvierung in die Prophezeiung problematisiert wird (vgl. etwa seine Aussage in 839–842, als er die Prophezeiung und den ihm daraus entstehenden Zwang erwähnt, s.a. Kyriakou (2012) 163). 854 Blundell (1988) 138 sieht auch hierin das ausschlaggebende Argument: »The turning point for Neoptolemus comes with Odysseus’ promise not only of success and profit (111–5), but of a reputation as both agathos and sophos (119)«. Manuwald (2018) 99 weist zu Recht auf die Ambiguität der Wörter σοφός und ἀγαθός hin, die Neoptolemos im moralischen und Odysseus im sophistischen Sinne interpretiert. S. Visser (1998) 59 zur daraus resultierenden Höherstellung des Neoptolemos über seinem Vater. 855 In 1367–1402 gelingt es Philoktet – kurz vor der deus ex machina-Szene –, Neoptolemos an sein in der Intrige gegebenes Versprechen der gemeinsamen Heimfahrt zu erinnern und überzeugt ihn aufgrund seiner φύσις davon, dies tatsächlich einzulösen; Manuwald (2018) 397 weist darauf hin, dass Philoktet in 1367 Neoptolemos’ Versprechen sogar als Eid bezeichnet hat. Zur Verwendung der Theory of Mind und des Schweigens als Überzeugungsmittel, s. Zetzmann (2020b).

Sophokles

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relevante Innenleben der Charaktere wird dem Zuschauer plakativ im Prolog vorgeführt und so als Wissensgrundlage für den gesamten plot geboten: Die scheinbare Langatmigkeit des Überzeugungsprozess nimmt eine wichtige dramatische, da informative Funktion ein. Zusätzlich wird Sophokles’ exponierter plot verstärkt, da er fast scheitert.856

Mythopoesie des Sophokles: Markierung Sophokles’ Vorgänger in der dramatischen Bearbeitung des Philoktet-Stoffes, Euripides und Aischylos, verwenden Neoptolemos nicht, wie wir aus Dion Chrysostomos’ ausführlichem Vergleich der drei Philoktetbearbeitungen wissen:857 In beiden Versionen ist es der Diebstahl des Bogens, der Philoktet zur Mitfahrt zwingt;858 in Aischylos’859 Philoktet stiehlt ihn allerdings nur Odysseus, Euripides860 lässt Diomedes und Odysseus gemeinsam zum Diebstahl des Bogens auftreten.861 Von den epischen Darstellungen des Stoffes erwähnt allein die Ilias parva Neoptolemos, wobei aber der Philoktet- und Neoptolemos-plot getrennt dargestellt werden:862 μετὰ ταῦτα Ὀδυσσεὺς λοχήσας Ἕλενον λαμβάνει, καὶ χρήσαντος περὶ τῆς ἁλώσεως τούτου Διομήδης ἐκ Λήμνου Φιλοκτήτην ἀνάγει. ἰαθεὶς δὲ οὗτος ὑπὸ Μαχάονος καὶ μονομαχήσας Ἀλεξάνδρῳ κτείνει· καὶ τὸν νεκρὸν ὑπὸ Μενελάου καταικισθέντα ἀνελόμενοι θάπτουσιν οἱ Τρῶες. μετὰ δὲ ταῦτα Δηΐφοβος Ἑλένην γαμεῖ. καὶ Νεοπτόλεμον Ὀδυσσεὺς ἐκ Σκύρου ἀγαγὼν τὰ ὅπλα δίδωσι τὰ τοῦ πατρός· καὶ Ἀχιλλεὺς αὐτῷ φαντάζεται. (Ilias parva Arg. 1,6–11 PEG I Bernabé) Danach folgt Odysseus dem Seherspruch und nimmt Helenos gefangen. Nach dem dieser eine Weissagung über Einnahme Trojas verkündete, holt Diomedes Philoktet aus Lemnos. Dieser, von Machaon geheilt, tötet Paris im Duell. Die Trojaner bestatten den Leichnam, nachdem sie ihn geschändet von Menelaos wiedererlangt hatten. 856 Für die metapoetische Markierung des plots könnte auch die häufige Verwendung von δεῖ durch Odysseus (50. 54. 77) stehen, die sich freilich auch, wie Pucci (2011) 166f. treffend bemerkt, auf die Helenosprophezeiung bezieht. 857 Vgl. Dions Bemerkung zu Sophokles: ὅ τε Σοφοκλῆς […] ποιήσας τὸν Ὀδυσσέα μετὰ Νεοπτολέμου παραγιγνόμενον […] (Dion Chrys. 52,15). 858 Dion Chrys. 52,2: ἦν γὰρ ἡ τῶν Φιλοκτήτου τόξων εἴτε κλοπὴ εἴτε ἁρπαγὴν δεῖ λέγειν, s.a. Schein (2013) 5. Dion Chrysostomos’ Einschätzung, Philoktets Mitfahrt sei in allen drei Stücken τὸ μὲν πλέον ἑκών, τὸ δε τι καὶ πειθοῖ ἀναγκαίᾳ (Dion Chrys. 52,2) geschehen, darf als zu oberflächlich eingeschätzt werden, da der Auftritt von Herakles ex machina in Sophokles’ Version oder Euripides’ und Aischylos’ Fokus auf Odysseus’ Diebstahlintrige nicht beachtet werden, hierzu s. Schein (2013) 5; Müller (2000) 254f. 859 Aischylos’ Bearbeitung wird auf das erste Drittel des fünften Jahrhunderts datiert, s.a. Schein (2013) 5. 860 Aufführung 431 v. Chr. 861 Vgl. Müller (2000) 73. Die Version mit Diomedes ist auch die einzige, die in ikonographischem Material gezeigt wird; Neoptolemos wird nie dargestellt, s. Müller (1997) 195. 862 Darauf weist Manuwald (2018) 8 hin.

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Danach heiratet Deiphobos Helena. Und Odysseus holt Neoptolemos aus Skyros und gibt ihm die Waffen seines Vaters. Dann erscheint diesem Achill.

Somit darf nach der aktuellen Überlieferungslage Sophokles die mythopoetische Leistung zugeschrieben werden, die Rolle des Neoptolemos an sich in das Drama eingeführt863 sowie eine enge mythische Verknüpfung von Philoktet und Neoptolemos durch die Helenosprophezeiung vorgenommen zu haben.864 Hier soll jedoch gezeigt werden, dass diese Innovation des Sophokles im Drama nicht beiläufig als Tatsache vorgeführt wird, sondern durch die Darstellung eines vorläufig scheiternden Überzeugungsversuchs markiert wird und die vorherigen Versionen kommentiert. Sophokles’ Neuverknüpfung des Philoktetstoffes mit Neoptolemos ist in der Forschung allgemein anerkannt.865 Doch kann genau Odysseus’ Scheitern in dieser Szene eine besondere markierende Funktion zugeschrieben werden, mit welcher Sophokles wohl auf seine Mytheninnovation gegenüber seinen mythologischen Vorbildern hinweisen wollte. Denn indem er Neoptolemos als Charakter darstellt, der sich nicht einfach in das von Odysseus bzw. Sophokles exponierte δόλος-Narrativ einfügt, markiert er seine Neueinführung in Mythos und plot sehr deutlich: Gehorcht Neoptolemos zunächst gefügig den Anweisungen des Odysseus, die Höhle auszuspähen und ihm ekphrastisch Bericht zu erstatten (1–54),866 so weigert er sich, aktiver Teil der Intrige (ψευδῆ λέγειν 100) zu werden. Dieser Bruch im Fluss des Narrativs wurde auch von späteren Kommentatoren gesehen, wie Dion Chrysostomos’ Behandlung des sophokleischen Philoktetdramas zeigt:

863 Vgl. Gantz (1993) 635f; Pucci (2011) xx; Manuwald (2018) 12. 864 Vgl. Müller (2000) 285; Müller (1997) 12f. Anm. 13. Visser (1998) 9–11 betont hierbei auch noch die innovative Einführung der »πείθειν-Klausel«, mit der Sophokles den plot insofern erschwert, als Philoktet laut Prophezeiung eigentlich nicht gezwungen werden darf (so formuliert dies der Späher in V. 612). 865 S. etwa Manuwald (2018) 8. 866 Dieser Gehorsam zeigt sich auch auf der linguistischen Ebene in der Stichomythie, wenn Neoptolemos sich parataktisch oder assonant an Odysseus anpasst (zu syntaktischem und semantischem ›alignment‹ im Dialog, s. Pickering & Garrod (2006)): ΟΔ. ὅρα καθ’ ὕπνον μὴ καταυλισθεὶς κυρῇ. 30 ΝΕ. ὁρῶ κενὴν οἴκησιν ἀνθρώπων δίχα. ΟΔ. οὐδ’ ἔνδον οἰκοποιός ἐστί τις τροφή; ΝΕ. στιπτή γε φυλλὰς ὡς ἐναυλίζοντί τῳ. ΟΔ. τὰ δ’ ἄλλ’ ἐρῆμα, κοὐδέν ἐσθ’ ὑπόστεγον; ΝΕ. αὐτόξυλόν γ’ ἔκπωμα, φλαυρουργοῦ τινος 35 τεχνήματ’ ἀνδρός, καὶ πυρεῖ’ ὁμοῦ τάδε. ΟΔ. κείνου τὸ θησαύρισμα σημαίνεις τόδε. ΝΕ. ἰοὺ ἰού· καὶ ταῦτά γ’ ἄλλα θάλπεται ῥάκη, βαρείας του νοσηλείας πλέα. (30–39)

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τά τε ἤθη θαυμαστῶς σεμνὰ καὶ ἐλευθέρια, τό τε τοῦ Ὀδυσσέως πολὺ πρᾳότερον καὶ ἁπλούστερον ἢ πεποίηκεν ὁ Εὐριπίδης, τό τε τοῦ Νεοπτολέμου ὑπερβάλλον ἁπλότητι καὶ εὐγενείᾳ, πρῶτον μὲν μὴ βουλομένου δόλῳ καὶ ἀπάτῃ περιγενέσθαι τοῦ Φιλοκτήτου, ἀλλὰ ἰσχύϊ καὶ ἐκ τοῦ φανεροῦ· ἔπειτα πεισθεὶς ὑπὸ τοῦ Ὀδυσσέως καὶ ἐξαπατήσας αὐτὸν καὶ τῶν τόξων ἐγκρατὴς γενόμενος, […].  (Dion Chrys. 52,16) Die Charaktere sind bewundernswert ernst und nobel, aber der Charakter des Odysseus ist viel freundlicher und aufrichtiger, als ihn Euripides schuf. Derjenige des Neoptolemos ist aber von übertriebener Aufrichtigkeit und Anstand: Denn zuerst will er Philoktet nicht mit List und Täuschung überwältigen, sondern mit Gewalt und ohne Heimlichkeit. Dann wird er aber von Odysseus überredet, täuscht ihn und bemächtigt sich des Bogens […].

Dion betont nicht nur die zunächst scheiternde Überzeugung des Odysseus (πρῶτον …· ἔπειτα Dion Chrys. 52,16), sondern sieht hierin auch eine Chance für Charakterzeichnung (ὑπερβάλλον ἁπλότητι καὶ εὐγενείᾳ Dion Chrys. 52,16), die Neoptolemos sowohl für Odysseus’ Intrige als auch für Sophokles’ Mythengestaltung als passende Personalwahl darstellt. Durch den vorläufig scheiternden Überzeugungsversuch des Odysseus bietet sich dem Zuschauer kurz die befremdliche Situation, dass ein neuer Charakter in den Mythos und in den plot eingeführt wurde, dessen Teilnahme bereits als gut und sinnvoll begründet wurde – dieser weigert sich aber zunächst, die ihm von Odysseus bzw. Sophokles zugeschriebene Rolle zu übernehmen.867 Während Odysseus und Neoptolemos die Verse 86–120 sprechen, kann die Handlung nicht voranschreiten und der Zuschauer wird aufgrund des von Odysseus exponierten plots verunsichert. Es scheint folglich, als würde Sophokles für einige Verse seine Charaktere verschiedene rhetorisch repräsentierte Mythenversionen – der Philoktetstoff mit oder ohne eine Hauptrolle des Neoptolemos –, die z.T. auch von Vorgängern so gebraucht wurden, verhandeln lassen. Die alten Versionen mit Odysseus bzw. Odysseus und Diomedes des Aischylos und Euripides werden damit als hinfällig dargestellt und im Laufe der Argumentation des Odysseus verworfen: Neoptolemos’ Argumentation und damit sein ursprünglicher Plan, nicht an der Intrige teilzunehmen, unterliegt, sodass die Einführung von Neoptolemos als tragende Figur durch seine Weigerung zwar kurzzeitig in Frage gestellt wird, letztendlich wird aber seine Mitwirkung durch sein Scheitern besiegelt. Hiermit markiert Sophokles dezidiert seine Version des Mythos, bietet also ein counterfactual868 zum bekannten Mythenhintergrund der Zuschauer und lässt diesen Kampf der Narrative rhetorisch auf Charakterebene austragen. 867 Neoptolemos’ Neuartigkeit im Philoktetmythos könnte auch mit Vers 52 »καινόν« metapoetisch markiert sein, der sich eigentlich auf eine für Neoptolemos neue Tätigkeit, nämlich die Intrige bezieht: ἀλλ’ ἤν τι καινόν, ὧν πρὶν οὐκ ἀκήκοας, / κλύῃς, ὑπουργεῖν, ὡς ὑπηρέτης πάρει. (52f.). 868 Für den Begriff bei Euripides, vgl. Wright (2005) 58–60.

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Zusätzlich zu der oben erläuterten informativen Expositionsfunktion der Prologszene kann daher auch als Folge dieses rhetorischen Scheiterns eine Markierung der neuen Mythenversion bzw. des neuen mythischen Personals festgehalten werden. Gleichzeitig problematisiert Sophokles den von Odysseus exponierten σόφισμα-plot, da Neoptolemos, dessen φύσις nicht für eine Intrige gemacht ist, als widerwilligen Intrigenkomplizen einführt.869

Mythenkommentar Doch Sophokles markiert dies nicht nur, sondern kommentiert gleichzeitig seine Wahl des Personals: Denn bereits in seinem ersten Überzeugungsversuch lässt Sophokles Odysseus argumentieren,870 warum Neoptolemos so gut als Ausführender der Intrige geeignet sei (70–85): Von Neoptolemos sei eine ὁμιλία / πρὸς τόνδε πιστὴ καὶ βέβαιος (70f.) mit Philoktet zu erwarten, da er nicht durch einen Eid oder eine andere Notwendigkeit gebunden sei und Philoktet ihn nicht kenne (σὺ μὲν πέπλευκας οὔτ’ ἔνορκος οὐδενὶ / οὔτ’ ἐξ ἀνάγκης οὔτε τοῦ πρώτου στόλου, / ἐμοὶ δὲ τούτων οὐδέν ἐστ’ ἀρνήσιμον. 72–74).871 Odysseus’ Wahl wird zunächst sinnvoll erklärt, denn tatsächlich stammt Neoptolemos nicht aus der griechischen Heeresführergeneration, die Menelaos Treue geschworen hatte, und kann Philoktet aus chronologischen Gründen nicht gekannt haben – er wird zum intrigentauglichsten Charakter der vorhandenen dramatis personae. Gleichzeitig wirkt aber diese Erklärung des Odysseus wie eine des Autors Sophokles, um das unübliche Personal in dieser Tragödie zu begründen: Wenn der Fokus im sophokleischen Philoktet auf einer Intrige (σόφισμα 14) liegt,872 kann sinnvollerweise kein Grieche auftreten, den Philoktet entweder bereits kennt oder den er aus Prinzip hasst. Hierin liegt jedoch nicht nur ein selbstaffirmativer Gebrauch der Personenrede durch den Autor, sondern auch ein meta- und mythopoetischer Kommentar zu Mythenversionen anderer Autoren: So verwandte etwa Aischylos in seinem Philoktetdrama eine allseits als problematisch angesehene Darstellung der Intrige, da er Odysseus unverkleidet zu Philoktet 869 Vgl. Taousiani (2011) 433. 870 Markantonatos (2004) 136 nennt Odysseus im narratologischen Kontext treffend »αρχιτέκτονας της πλοκής«. Jedoch ist nicht zu vergessen, dass diese von Odysseus vorgenommene Architektur des plots dann nicht durchgeführt werden kann, s.o. 871 Schein (2013) 133 sieht Neoptolemos’ Unbekanntheit als wahren Grund für Odysseus’ so angelegte Planung der Intrige an – dies ist als Einschätzung des rhetorischen Argumentes sicherlich nicht falsch; Manuwald (2018) 89 kommentiert jedoch einsichtsvoller und zu Recht, dass die eigentliche Problematik freilich darin liege, dass Odysseus Philoktet ausgesetzt hat und er so persönlich nicht mehr mit Philoktet fruchtbar interagieren kann. Odysseus verdeckt also seine wahren Handlungsgründe, indem er pragmatische Begründungen verwendet. 872 Hier liegt die πείθειν-Klausel aus der Emporosszene bereits zugrunde, wie Visser (1998) 75 et passim zeigt.

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gehen ließ.873 Dies kritisiert auch Dion Chrysostomos in seiner Besprechung der Dramen als implausibel und bietet sogar einen Erklärungsversuch:874 ὥστε τυχὸν ἄν τις ἐγκαλέσαι τῶν οὐ φιλούντων τὸν ἄνδρα, ὅτι οὐδὲν αὐτῷ ἐμέλησεν ὅπως πιθανὸς ἔσται ὁ Ὀδυσσεὺς οὐ γιγνωσκόμενος ὑπὸ τοῦ Φιλοκτήτου. ἔχοι δ’ ἂν ἀπολογίαν, ὡς ἐγᾦμαι, πρὸς τὸ τοιοῦτον· ὁ μὲν γὰρ χρόνος τυχὸν οὐκ ἦν τοσοῦτος, ὥστε μὴ ἀνενεγκεῖν τὸν χαρακτῆρα, δέκα ἐτῶν διαγεγονότων, ἡ δὲ νόσος ἡ τοῦ Φιλοκτήτου καὶ κάκωσις καὶ τὸ ἐν ἐρημίᾳ βεβιωκέναι τὸν μεταξὺ χρόνον οὐκ ἀδύνατον τοῦτο ἐποίει. πολλοὶ γὰρ ἤδη, οἱ μὲν ὑπὸ ἀσθενείας, οἱ δὲ ὑπὸ δυστυχίας, ἔπαθον αὐτό. (Dion Chrys. 52,6) Deshalb könnte wohl jemand, der ihm [sc. Aischylos] nicht freundlich gesinnt ist, vorwerfen, dass es ihn nicht kümmerte, ob es plausibel ist, wenn Odysseus von Philoktet nicht erkannt wird. Er hätte aber eine Verteidigung, wie ich meine, gegenüber einem solchen Vorwurf: Die Zeitspanne war zwar nicht so lang, dass man den Charakter nach zehn Jahren nicht wiedererkennen könnte; Philoktets Krankheit, sein Leid und sein isoliertes Leben sorgten aber in der Zwischenzeit dafür, dass er ihn nicht erkennen konnte. Denn schon viele erlitten genau dies, die einen wegen Krankheit, die anderen wegen Unglück.

Dion Chrysostomos verteidigt die Plausibilität der aischyleischen Version, da einerseits eine lange Zeit zwischen Philoktets Begegnung mit Odysseus liege und andererseits seine Krankheit und seine Einsamkeit ihn vergesslich gemacht haben könnten.875 Bereits eine Art des Umgangs mit diesem Problem finden wir in Euripides’ Philoktet, der Odysseus’ Auftritt wohl folgendermaßen gestaltet haben muss: οὗ ἕνεκεν ἐλήλυθεν εἰς τὴν Λῆμνον φησί τε ὑπὸ τῆς Ἀθηνᾶς ἠλλοιῶσθαι, ὥστε ἐντυχόντα τῷ Φιλοκτήτῃ μὴ γνωσθῆναι ὑπ’ αὐτοῦ, μιμησάμενος κατὰ τοῦτο Ὅμηρον – καὶ γὰρ ἐκεῖνος τοῖς τε ἄλλοις καὶ τῷ Εὐμαίῳ καὶ τῇ Πηνελόπῃ πεποίηκεν ἐντυγχάνοντα τὸν Ὀδυσσέα ἠλλοιωμένον ὑπὸ τῆς Ἀθηνᾶς […]. οὐ μόνον [δὲ] πεποίηκε τὸν Ὀδυσσέα παραγιγνόμενον, ἀλλὰ μετὰ τοῦ Διομήδους, ὁμηρικῶς καὶ τοῦτο, καὶ τὸ ὅλον, ὡς ἔφην, δι’ ὅλου τοῦ δράματος πλείστην μὲν ἐν τοῖς πράγμασι σύνεσιν καὶ πιθανότητα ἐπιδείκνυται, ἀμήχανον δὲ καὶ θαυμαστὴν ἐν τοῖς λόγοις δύναμιν […]. (Dion Chrys. 52,13f.) Deswegen ging er [sc. Odysseus] nach Lemnos und sagt [im Prolog des Stückes, Anm. V.Z.], er sei von Athene verwandelt worden, damit er bei der Begegnung mit Philoktet nicht von ihm erkannt würde (darin imitiert er [sc. Euripides, Anm. V.Z.] Homer: Denn auch dieser lässt Odysseus von Athene verwandelt auf Eumaios und Penelope 873 Die Problematik bemerken u.a. Schein (2013) 132; Manuwald (2018) 10f. 874 Pucci (2011) xix betont Dions Kritik an der Glaubwürdigkeit der aischyleischen ­Version. 875 Damit verteidigt er das innere πιθανόν des Dramas, aber nicht das äußere εἰκός, wie Müller (2000) 262f. bemerkt.

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treffen) […]. Und er lässt Odysseus nicht alleine auftreten, sondern mit Diomedes – auch dies ist nach homerischem Vorbild gestaltet – und zeigt im Ganzen, wie sie sagten, durch die gesamte Handlung hinweg die größte Einheit der Handlung und Plausibilität, eine unwiderstehliche und wundersame Kraft der Worte […].

Indem Odysseus von Athene verwandelt wurde, konnte er anscheinend unerkannt den Bogen von Philoktet stehlen.876 Dion erwähnt das homerische Motiv der Verwandlung des Odysseus (τὸν Ὀδυσσέα ἠλλοιωμένον ὑπὸ τῆς Ἀθηνᾶς Dion Chrys. 52,13), das Euripides hier verwendet haben muss,877 um dem Plausibilitätsproblem des Aischylos beizukommen – also könnte bereits Euripides’ ›homerische‹ Lösung eine Antwort auf Aischylos’ unplausible Darstellung sein. Können wir zwar bei Sophokles auch ein episches Vorbild beobachten,878 fällt doch vor allem seine Abkehr von den dramatischen Vorgängern auf: Weder lässt er den unveränderten noch den durch göttliche Intervention verwandelten Odysseus auftreten; stattdessen gesteht er Odysseus eine wichtige koordinierende Rolle zu, lässt ihn aber zunächst einen unerwarteten und daher unbedenklichen Charakter zu Philoktet aussenden. Dabei legt Sophokles zusätzlich seinem Odysseus die Worte in den Mund, um seine mythologische und dramatische Wahl zu begründen. Somit innoviert Sophokles den Philoktet-Mythos, erklärt in Odysseus’ Argumentation seine Neuerung und kommentiert gleichzeitig die schlecht plausibilisierten Mythenversionen der Vorgänger. Durch seine Wahl des aufrichtigen Charakters Neoptolemos als Komplizen für Odysseus’ Intrige wirft Sophokles aber gleichzeitig Probleme der Neoptolemosfigur auf: Seine Eignung zur Intrige wird am Ende des Stücks durch Neoptolemos’ Ehrlichkeit konterkariert (897–973) und es wird klar, dass Neoptolemos zwar aufgrund externer Bedingungen wohl gut geeignet war, sich Philoktet anzunähern, aber seine φύσις ihn trotz allem nicht zur erfolgreichen Durchführung der Intrige qualifiziert. Odysseus’ Erfolg, Neoptolemos für die Intrige zu gewinnen, ist also ein oberflächlicher und exponiert den plot um die Wirksamkeit von Rhetorik und Aufrichtigkeit.

Schlussfolgerungen Im erst scheiternden und dann gelingenden kommunikativem Projekt des Odysseus konnten drei dramatische Funktionen festgestellt werden, von denen sich zwei auf den Mythos bezogen: Neben der Exposition des neuen Charakters 876 Auf die Paradoxien dieses Auftrittes des Odysseus im Prolog weist hin Müller (2000) 318f. 877 Für weitere epische Parallelen für die Kampfgemeinschaft von Odysseus und Diomedes neben dem 10. Buch der Ilias, s. Müller (2000) 280. 878 Vgl. die Erwähnung der Figur des Neoptolemos in der Ilias parva Arg. 1,6–11 PEG I Bernabé, allerdings getrennt von der Philoktet-Handlung

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Neoptolemos, die Informationen über seine – für den plot nützliche – φύσις bot, gelang es Sophokles durch die Verhandlung der konkurrierenden Mythenversionen, die alten zu verwerfen und seine neue Mythenversion zu markieren. Zusätzlich ließ er seine Charaktere einen metamythologischen Kommentar formulieren, warum die aktuelle Version plausibler sei als die herkömmlichen. Die aktuelle Bearbeitung wird als kanonisierenswert unterstrichen. Der Diskurs zwischen den Handlungsoptionen der Charaktere ist somit gleichzeitig ein Diskurs der Mythenversionen und bietet so einen Verhandlungsrahmen für Mythopoesie: Im rhetorischen Rahmen der Unterhaltung muss ein Charakter bzw. eine Version unterliegen, sodass der Autor sein literarische Kompetenz sowie sein Bewusstsein für das Publikumswissen einbringen und gleichzeitig eine erfolgversprechende Neuerung vornehmen kann. Dieser Erfolg der Neuerung besteht für Sophokles nicht darin, einen harmonischen, linearen plot-Verlauf zu schaffen, sondern in der Andeutung der Problematisierung der Neoptolemosrolle, die sich im Verlauf des Stückes über den σόφισμα-plot hinwegsetzen wird. Somit nimmt Sophokles eine Verlagerung des plots auf das innere Geschehen vor: Die inneren Zustände und Beziehungen der Charaktere zueinander werden im Vergleich zu den Vorgängerversionen deutlich hervorgehoben.879

4.3.3 Sophokles, Philoktet 1259–1471: Narrative Technik Einführung In Sophokles’ Philoktet dient ein weiteres persuasives Scheitern als metapoetisches Instrument zur plot-Kommentierung: die Exodosszene (1259–1471), in welcher Neoptolemos nun ehrlich und mit wahren Tatsachen versucht, Philoktet trotzdem zur Mitreise und damit zur Rettung der griechischen Sache vor Troja zu bewegen. Philoktet weigert sich Neoptolemos gegenüber, gibt dem deus ex machina Herakles aber nach. Wie bereits in Kapitel 2 erwähnt, finden wir in diesem Stück fünf Versuche der Charaktere,880 Philoktet zur Abreise nach Troja zu bewegen, um die Helenosprophezeiung zu erfüllen.881 Damit wird nicht nur die Prophezeiung zentrales Element des Philoktet,882 sondern auch Persuasion und ihr Scheitern 879 Vgl. Seidensticker (1994) 280. 880 Vgl. Winnington-Ingram (1980) 292–301. 881 S. Visser (1998) passim für die strukturelle Bedeutung der Helenosprophezeiung für den plot des Philoktet. Die Prophezeiung kann jedoch erst nach 612 als Folie für den erwarteten oder exponierten plot des Philoktet benutzt werden, deren Erkenntnis bis dahin (und vielleicht sogar bis zu Herakles’ Auftritt) eine Leistung des Zuschauers darstellt, vgl. Visser (1998) 2–4. 20f; Manuwald (2018) 23–25. 882 »The plot of the Philoctetes depends largely on the misinterpreting of the oracle. […] Yet the oracle’s instructions are not followed closely, and failure follows.« Bowra (1944) 265.

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zum wichtigen Strukturmerkmal:883 So verlagert Sophokles seine Handlung auf das innere Geschehen der Charaktere und regt das Publikum kontinuierlich zur Reflexion über mögliche Handlungsverläufe und Lösungsmöglichkeiten an.884

Narrative Technik: Exponierter plot und mehrere fiktive Handlungsalternativen Gemäß den grundlegenden, bekannten Elementen des Philoktet-Mythos steht für das Publikum fest, dass Philoktet ohne Zweifel die Insel verlassen wird. So lesen wir dies etwa schon bei Pindar,885 in der Ilias parva886 oder auch im vorsophokleischen Drama.887 Dieser Handlungsverlauf wurde auch im Prolog durch Odysseus’ σόφισμα angedeutet, und durch die spätere explizite Formulierung der Helenosprophezeiung des Spähers888 präzisiert: Philoktet muss durch Überzeugung, nicht durch List, zur Mitfahrt nach Troja bewegt werden.889 Nun wird aber in der langgezogenen Exodos-Szene ein dezidiertes und mehrmaliges Scheitern des aufrichtigen Neoptolemos vorgeführt, Philoktet zur Mitfahrt zu überzeugen. Bereits im letzten Teil des Stückes angekommen, unterstreicht Sophokles so seinen eigentlich gewählten plot, der letztendlich im Einklang mit der Helenosprophezeiung steht.890 Philoktet hatte vor der Exodosszene erfahren, dass eine Intrige gegen ihn im Gange sei (915). Als Drohung und aus Mangel an weiteren persuasiven Strategien deuten Neoptolemos und Odysseus an, mit seinem Bogen zu den Schiffen 883 So stellt es eine Neuerung bei Sophokles dar, dass Philoktet mit Worten überzeugt werden soll (vorher bei Aischylos u.a. diente der Raub des Bogens als Plausibisierung), vgl. Schein (2013) 5. Vgl. Dion Chrysostomos’ deziderte Betonung der Überzeugung und ihrer Scheiterns in dieser Szene (τοῦ δὲ Φιλοκτήτου μηδένα τρόπον εἴκοντος μηδὲ πειθομένου, Dion Chrys. 52,16). 884 Dies hat in Ansätzen beobachtet Scodel (1999a) 129f. 885 Pind. P. 1,53f. φαντὶ δὲ Λαμνόθεν ἕλκει / τειρόμενον μεταβάσοντας ἐλθεῖν / ἥρωας ἀντιθέους Ποίαντος υἱὸν τοξόταν. S.a. Schein (2013) 1. 886 Im epischen Zyklus war allerdings die Philoktet- und Neoptolemos-Handlung noch nicht verbunden, s. Ilias parva Argumentum 1, 6–8. 10f. PEG I Bernabé, vgl. hierzu West (2013) 186. 188. Zur Ilias parva und ihrer Verbindung mit Sophokles’ Drama s.a. Schein (2013) 3; Manuwald (2018) 7f. 887 So bei Aischylos, Euripides oder Theodektes (Aischylos TrGF III fr. 249–257 Radt; Euripides TrGF V fr. 787–803 Kannicht; Theodektes TrGF I fr. 5b Snell). Vgl. Schein (2013) 3. 5. 888 ὃς δὴ τά τ’ ἄλλ’ αὐτοῖσι πάντ’ ἐθέσπισεν / καὶ τἀπὶ Τροίᾳ πέργαμ’ ὡς οὐ μή ποτε / πέρσοιεν, εἰ μὴ τόνδε πείσαντες λόγῳ / ἄγοιντο νήσου τῆσδ’ ἐφ’ ἧς ναίει τὰ νῦν. (Soph. Phil. 610–613). 889 Dies hatte Odysseus im Prolog allerdings als Möglichkeit ausgeschlossen: ΟΔ. οὐ μὴ πίθηται· πρὸς βίαν δ’ οὐκ ἂν λάβοις (103). Ob Odysseus’ Einschätzung korrekt ist, ist jedoch unklar. 890 Scodel (1999a) 131f. beobachtet korrekt, dass die schrittweise Entdeckung des Orakels durch Neoptolemos quasi den Erkenntnisprozess des Zuschauers spiegelt.

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zu gehen (1047–1080).891 Auch dies ist freilich mit der Helenos-Prophezeiung nicht vereinbar (539–627), da auch Philoktet mit nach Troja kommen muss,892 und zwar ohne Zwang, also verunsichert bereits diese Entwicklung die Zuschauererwartung auf die Trojafahrt des Philoktet. Diese Handlungsalternative stellt sich jedoch tatsächlich als fiktiv heraus, als Neoptolemos ein zweites Mal in den plot eingreift und sich damit wieder an die Helenosprophezeiung, d.h. an den von Sophokles exponierten plot, annähert:893 Er will Philoktet doch noch überzeugen (1224), und zwar mündlich und durch die Rückgabe des Bogens – also durch Ehrlichkeit sowie Rückgabe des Bogens, nicht mehr rein durch Täuschung oder durch einen Raub des Bogens, wie dies in anderen Dramenversionen der Fall war.894 Somit wird noch eine neue Handlungslinie etabliert, die Neoptolemos’ φύσις expliziert und zudem eine Mytheninnovation darstellt.895 Diese Aufrichtigkeit scheint zunächst die dramatisch inszenierte Lösung der vorher problematischen Prophezeiung zu sein – Neoptolemos muss sich hierfür vor Odysseus rechtfertigen und wird sogar von ihm bedroht (1223–1258). Doch auch diese Entwicklung hin zum intendierten plot, also die Rückgabe des Bogens und Neoptolemos’ aufrichtige Ansprache als Überzeugungsmittel, bleiben ebenso erfolglos: ΝΕ. ἀλλ’ οὔ τι μὴν νῦν· βούλομαι δέ σου κλύειν πότερα δέδοκταί σοι μένοντι καρτερεῖν, ἢ πλεῖν μεθ’ ἡμῶν. ΦΙ. παῦε, μὴ λέξῃς πέρα·

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891 Ich folge hier Visser (1998) 158–161, die überzeugend für Odysseus’ Bluff, nicht für seinen ernstgemeinten Abgang zu den Schiffen aus einem Missverständnis des Orakels heraus, argumentiert: Odysseus’ Rhesis (1047–1062) weist tatsächlich ein hohes Provokationspotential auf, was mir besonders durch die starken Gegensätze zwischen erster und zweiter Person deutlich zu werden scheint (πλὴν ἐς σέ· νῦν δὲ σοί γ᾽ ἑκὼν ἐκστήσομαι 1053. οὐδὲ σοῦ προσχρῃζομεν 1055. τί δῆτα σοῦ δεῖ; […] / ἡμεῖς δ᾽ ἴωμεν 1060f.). Odysseus versucht also, rhetorisch zu überzeugen, nicht etwa seinen Weggang zu unterstreichen. So auch neuerdings Schein (2013) 279; Manuwald (2018) 319. Anders, nämlich als ernsthafte Drohung, interpretieren diese Rede u.a. Knox (1964) 134; Blundell (1989) 208 Anm. 289. S. Visser (1998) 151 Anm. 239–241 für eine erschöpfende Übersicht über die ältere Forschung. 892 So legen es die Verse 45f. 77f. 90f. 101. 112. 839–842. 915f. 997f. (Philoktet als Gegenstand des Orakels) sowie 196f. 982f. 1426f. (Philoktet und sein Bogen als Gegenstand des Orakels) nahe. Zum »Bogen-Mann-Problem«, s. Visser (1998) 22–35; Manuwald (2018) 23f. 893 Zur bewussten Entscheidung des Neoptolemos zur Rückgabe des Bogens, s. Visser (1998) 190f. 894 So geschah dies in Aischylos’ und auch in Euripides’ Dramenversion, vgl. Manuwald (2018) 11. Sophokles hingegen lässt Odysseus’ Intrige scheitern, weil Neoptolemos hierfür nicht gemacht ist, s.a. Manuwald (2018) 27; doch auch zuvor lässt er keinen heimlichen Raub des Bogens geschehen, sondern lässt einen aufrichtigen Neoptolemos handeln, der von ­Odysseus daran gehindert wird, den Bogen zurückzugeben (974–985), vgl. Manuwald (2018) 12. 15. 895 Vgl. Manuwald (2018) 24.

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μάτην γὰρ ἃν εἴπῃς γε πάντ’ εἰρήσεται. ΝΕ. οὕτω δέδοκται; ΦΙ. καὶ πέρα γ’ ἴσθ’ ἢ λέγω. ΝΕ. ἀλλ’ ἤθελον μὲν ἄν σε πεισθῆναι λόγοις ἐμοῖσιν· εἰ δὲ μή τι πρὸς καιρὸν λέγων κυρῶ, πέπαυμαι. ΦΙ. πάντα γὰρ φράσεις μάτην. οὐ γάρ ποτ’ εὔνουν τὴν ἐμὴν κτήσῃ φρένα, Ne. Aber nun nicht mehr. Ich möchte aber von dir hören, ob du hier bleiben möchtest, oder mit uns heimsegeln. Phi. Hör auf, sprich nicht weiter. Denn du sprichst alles vergebens, was auch immer du sagen willst. Ne. So denkst du wirklich? Phi. Und überzeugter, als ich sagen kann! Ne. Ach, wie gerne würde ich dich mit meinen Worten überzeugen. Aber da ich wohl nicht passend reden kann, höre ich auf Phi. Denn du sprichst alles vergeblich, du wirst nämlich nicht meinen Sinn wohlwollend stimmen.

1280 (1273–1281)

1275

1280

Philoktet zeigt hier kategorisch seine Skepsis bezüglich jedweder Rhetorik und unterstreicht seine Ablehnung explizit durch das Wort μάτην (1276. 1280) und weitere metapragmatische Aussagen (s.o.). Insofern können diese Ausdrücke auch als metapoetische Marker gelten, die das Scheitern eines möglichen ­Handlungsstrangs – nämlich Philoktet durch aufrichtige Argumente zu überzeugen – andeuten. Die aufrichtige Überzeugung Philoktets durch Neoptolemos wird, wie zu Beginn des Stücks von Odysseus vermutet,896 als undurchführbar verworfen:897 Sophokles lässt den durch die Prophezeiung exponierten plot scheitern und sein Publikum verunsichert zurück. Im weiteren Verlauf des Dialoges lässt Sophokles seine Charaktere zahlreiche weitere fiktive plot-Verläufe formulieren, aber stückintern verwerfen: Denn dramenextern können sie nur als Fiktion gelten. Auf das erste Scheitern seiner aufrichtigen Überzeugung hin ändert Neoptolemos seine Strategie und benutzt die Helenosprophezeiung898 sowie Philoktets mögliche Heilung als Argument – der neuartige persuasive plot scheint noch weiter verfolgt zu werden: ΝΕ. σὺ γὰρ νοσεῖς τόδ’ ἄλγος ἐκ θείας τύχης, Χρύσης πελασθεὶς φύλακος, ὃς τὸν ἀκαλυφῆ σηκὸν φυλάσσει κρύφιος οἰκουρῶν ὄφις.

(1326–1328)

896 ΟΔ. οὐ μὴ πίθηται· πρὸς βίαν δ’ οὐκ ἂν λάβοις. (103). 897 Ironischerweise lässt Sophokles Neoptolemos in der Feststellung seines Scheiterns den Wortlaut der Helenosprophezeiung zitieren: ἀλλ’ ἤθελον μὲν ἄν σε πεισθῆναι λόγοις / ἐμοῖσιν (1278f.) erinnert an πείσαντες λόγῳ (612) aus der Orakelinterpretation des Spähers, s. Visser (1998) 191f; Pucci (2011) 302f. Neoptolemos wird also gleichsam zur durchsetzenden Kraft der Helenosprophezeiung, die aber auch scheitern muss. 898 Zu den unterschiedlichen Auslegungen der Helenosprophezeiung durch Späher (611– 613) und Neoptolemos (1329–1335), s. Visser (1998) 41–264; Manuwald (2018) 22–31. Die von Neoptolemos geforderte Freiwilligkeit von Philoktets Rückkehr (ἕκων 1332) könnte aber m.E. eher rhetorische Gründe haben als ein persönliches Verständnis des Orakels durch Neoptolemos anzunehmen, wie Visser (1998) 200 es tut.

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Sophokles

Ne. Denn du krankst an diesem Leiden aus göttlicher Ursache, nachdem du dich der Wächterin des Chryses nähertest, der Schlange, die verborgen das unbedeckte Heiligtum bewacht. ΝΕ. ὡς δ’ οἶδα ταῦτα τῇδ’ ἔχοντ’ ἐγὼ φράσω. ἀνὴρ γὰρ ἡμῖν ἔστιν ἐκ Τροίας ἁλούς, Ἕλενος ἀριστόμαντις, ὃς λέγει σαφῶς (1336–1339) ὡς δεῖ γενέσθαι ταῦτα· […]. Ne. Ich werde aber auch sagen, woher ich weiß, dass sich dies so verhält: Denn wir haben einen Mann aus Troja gefangengenommen, den guten Seher Helenos, der genau verkündet, dass dies so geschehen muss […].

Als Folge dieser Hartnäckigkeit deutet Sophokles hier zunächst ein Umschwenken des Philoktet an, also ein nachträgliches Funktionieren des aufrichtigen Persuasions-plots – Philoktet erscheint für kurze Zeit unschlüssig und unsicher: ΦΙ. οἴμοι, τί δράσω; πῶς ἀπιστήσω λόγοις τοῖς τοῦδ’ ὃς εὔνους ὢν ἐμοὶ παρῄνεσεν; ἀλλ’ εἰκάθω δῆτ’; Phi. Oh weh, was soll ich tun? Wie kann ich den Worten dieses Mannes misstrauen, wenn er mir doch so wohlwollend zuspricht? Soll ich also nachgeben?

1350 (1350–1352) 1350

Obwohl es zuvor schien, als könne Neoptolemos nicht mit Aufrichtigkeit überzeugen, wird hier die Durchführung des Prophezeiungsplots wieder wahrscheinlicher. Einige Verse später jedoch konterkariert Sophokles diesen plot, indem er Philoktet einen Gegenvorschlag machen lässt, der weder dem Grundmuster des Mythos noch der Prophezeiung entspricht und somit äußerst unwahrscheinlich ist. Es wird nämlich ein weiterer fiktiver plot-Verlauf angedeutet, wenn Philoktet von Neoptolemos die gemeinsame Heimreise fordert: ΦΙ. μὴ δῆτα, τέκνον· ἀλλ’, ἅ μοι ξυνώμοσας, πέμψον πρὸς οἴκους, καὐτὸς ἐν Σκύρῳ μένων ἔα κακῶς αὐτοὺς ἀπόλλυσθαι κακούς.

(1367–1369)

Phi. Oh nein, mein Kind: Vielmehr bringe mich, wie du es mir versprochen hast, nach Hause und bleibe selbst in Skyros. Dann sorg dafür, dass die Schlechten selbst auf schlechte Weise zugrunde gehen.

Sophokles konterkariert die Helenosprophezeiung mit einer fiktiven Handlungsoption. Nach einem weiteren gescheiterten Versuch des Neoptolemos, die ursprünglich geplante Fahrt nach Troja zu erreichen, stellt dieser nun auch explizit seine Unfähigkeit fest, eine Haltungs- oder Handlungsänderung in Phi-

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Zwischen Kanonisierung und Fluidität des Mythos

loktet hervorzurufen. Rhetorik wird ad absurdum geführt. Hierbei scheinen metapragmatische Aussagen zum Scheitern, zusätzlich zu ihrer drameninternen Funktion, auch wiederum eine narrative Funktion zu erfüllen, indem sie auf eine Abweichung vom exponierten plot hinweisen:899 ΝΕ. τί δῆτ’ ἂν ἡμεῖς δρῷμεν, εἰ σέ γ’ ἐν λόγοις πείσειν δυνησόμεσθα μηδὲν ὧν λέγω; ὡς ῥᾷστ’ ἐμοὶ μὲν τῶν λόγων λῆξαι, σὲ δὲ ζῆν, ὥσπερ ἤδη ζῇς, ἄνευ σωτηρίας. Ne. Was soll ich also tun, wenn ich dich niemals mit Worten überzeugen kann, egal, was ich sage? Es ist wohl am leichtesten für mich, ich höre zu reden auf; für dich aber, ohne Rettung zu leben, wie du es schon vorher tatst.

1395 (1393–1396)

1395

Als Philoktet erneut die gemeinsame Heimreise fordert (1397–1401), willigt Neoptolemos schließlich ein (εἰ δοκεῖ, στείχωμεν 1402). Ab diesem Punkt könnte nur noch der von Sophokles im Prolog exponierte und durch die vorherigen literarischen Bearbeitungen des Mythos bekannte plot durchgeführt werden, etwa durch einen gewaltsamen Eingriff des Odysseus oder des Neoptolemos. Eine Lösung des plots gemäß Mythos oder Prophezeiung erscheint dagegen schlichtweg unmöglich. Während Neoptolemos intradramatisch freilich einer Heimkehr mit Philoktet zustimmt, um moralischen Gesichtsverlust zu vermeiden,900 scheint es für das Publikum so, als hätten sich beide Charaktere über den von Anfang an etablierten plot, nämlich eine Rückholung des Philoktet nach Troja,901 hinweggesetzt und würden so nach einiger diskursiver Auseinandersetzung Mythos und Handlung aktiv konterkarieren.902 Sophokles tritt hier hinter seinen Figuren zurück, die die narrative Autorität übernommen haben, und lässt sein Publikum im Dunkeln, wie sich das Stück zu einem guten Ende neigen könnte. Weder Odysseus’ σόφισμα-plot noch der von Helenos prophezeite plot können stattfinden, geschweige denn die vorherigen plots des Aischylos oder Euripides.

899 Dies stellt gleichzeitig das Scheitern der Helenosprophezeiung dar, die mit Zwang nicht erfüllt werden kann, vgl. Visser (1998) 206f. 900 Vgl. Visser (1998) 209f. 901 Dies deutet Odysseus schon zu Anfang an: τὴν Φιλοκτήτου σε δεῖ / ψυχὴν ὅπως λόγοισιν ἐκκλέψεις λέγων (54f.). Auch Manuwald (2018) 25 argumentiert für eine »Freiwilligkeit« des Philoktet. 902 Manuwald (2018) 391 stellt hier lediglich fest: »Diese Situation ist vielleicht für die Zuschauer irritierend gewesen […].« S.a. Hoppin (1990) 149, die »two endings« diagnostiziert und hierbei auch auf metrische Überlegungen zurückgreift, da v.a. Trochäen benutzt werden.

Sophokles

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Hier muss nun Herakles als deus ex machina903 – bzw. in moderner Terminologie als plot device – auftreten, um Philoktet an den Beschluss der Götter zu erinnern und die Prophezeiung durchzusetzen:904 ΗΡ. τὰ Διός τε φράσων βουλεύματά σοι κατερητύσων θ’ ὁδὸν ἣν στέλλῃ· Her. Ich komme, um dir Zeus’ Beschlüsse zu verkünden, und um dir den gerade begangenen Weg zu verbieten.

1415 (1415f.) 1415

Hierzu willigt Philoktet ein (οὐκ ἀπιθήσω τοῖς σοῖς μύθοις 1447),905 sodass der Zuschauer, der seit der Exposition von Odysseus’ σόφισμα und der Spezifizierung der Prophezeiung im Unklaren über die Lösung des Philoktetproblems gelassen wurde, nun tatsächlich den ursprünglich angedachten plot vorgeführt bekommt. Insofern kann hier von einem doppelten vorläufigen Scheitern gesprochen werden: Einerseits scheitert mit Neoptolemos’ Plan, mit einer aufrichtigen Überzeugung sein Ziel zu erreichen, die Erfüllung der Prophezeiung und damit der angedeutete plot; andererseits stellt Sophokles es auch so dar, als sei sein auktorialer Einfluss gescheitert, da Charaktere aus ihrem Diskurs heraus neue Handlungsalternativen zu schöpfen und auch zu wählen scheinen. Explizite metadirektive Aussagen zum Scheitern wie μάτην markieren dabei für das Publikum, dass nun kurz vom exponierten plot und auch vom mythischen Ende abgewichen wird.

903 Es wurde diskutiert, ob Herakles nicht eigentlich vom als Herakles verkleideten Odysseus dargestellt werde (Roisman (2005) 109–111, seit Neuestem Paillard (2017) 103). Dies halte ich jedoch aufgrund der omnipräsenten Helenosprohezeiung und der daraus resultierenden Fokussierung auf göttliche Belange für unwahrscheinlich. S.a. Manuwald (2018) 47 Anm. 163. Grundlegend zum deus ex machina in Sophokles’ Philoktet, s. Spira (1960) 12–32. 904 Zum »Spannungsverhältnis« zwischen Philoktets Freiwilligkeit und der Notwendigkeit der Helenosprophezeiung, s. Manuwald (2018) 28. Hoppin (1990) 151 und Pucci (2011) 320 weisen auf den dramatischen Effekt dieser Szene hin, der durch den metrischen Kontrast der Anapäste (1409–1407) zum vorherigen Sprechvers unterstrichen wird. Zur Parallele aus Euripides’ Ion, s. Nesselrath (1992) 152f. 905 Visser (1998) 242–260 argumentiert überzeugend dafür, dass der Grund für Philoktets Zustimmung in diesem Zusammenhang in Herakles’ Darstellung der Prophezeiungsaspekte liegt, da er Philoktets Heilung und Ruhm als Belohnung für seine Leiden in Aussicht stellt (1421–1430) und die Zerstörung Trojas als den Willen des Zeus (1442–1444) darstellt: »Herakles benutzt mithin zwei Mittel der Überzeugung, die Sinngebung […] und die Bekräftigung […]. Beides konnten die anderen Personen des Stücks […] nicht leisten, weil ihnen das göttliche Wissen um Zusammenhänge und um die Zukunft fehlte.« (Visser (1998) 259).

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Zwischen Kanonisierung und Fluidität des Mythos

Schlussfolgerungen In dieser εἰ-μή-Situation wurde vorgeführt, wie der bereits einmal durch den Späher korrigierte plot – Philoktet soll in zweiter Instanz mit Worten statt mit List zur Mitfahrt gebracht werden – durch eine scheiternde Rhetorik ad absurdum geführt wird. Durch das Scheitern und Verwerfen verschiedener diskutierter Handlungsverläufe aktiviert Sophokles sein Publikum, über die Lösung des plot-Problems und die Unterordnung der eigensinnigen Charaktere unter die Helenosprophezeiung bzw. den bekannten plot nachzudenken. Mit jeder neuen Handlungsalternative wird das Publikum zu einer Beurteilung über Plausibilität und Realität in plot und Mythos angeregt. Gleichzeitig wird der von Sophokles gewählte plot als kanonisierenswertes Handlungsmuster verstärkt. Zuletzt trat Sophokles hinter seinen Charakteren zurück, da Neoptolemos und Philoktet drohten, sich über alle mythologischen und narrativen Voraussetzungen hinwegzusetzen, was mit dem deus ex machina Herakles dezidiert gelöst wurde. Die vorgeführten fiktiven Digressionen vom Prophezeiungsplot dienten als Kanonisierungs- und Verstärkungselemente für die Helenosprophezeiung:906 Sie muss zwingend erfüllt werden, und zwar auf Sophokles’ spezifische Weise. Sophokles’ Eingriff in und Spiel mit dem Narrativ blieb jedoch nicht ganz implizit: Denn metapragmatische Aussagen unterstrichen das Scheitern einer Handlungsoption. Somit können diese Aussagen auch auf Zuschauerebene als metapoetischer Kommentar durch den Autor und als Markierung seiner narrativen Technik gelten.

4.4 Euripides 4.4.1 Euripides, Medea 271–409: Narrative Technik Vorbemerkungen: Allgemein zur Mythopoesie in Euripides’ Medea Auch im Werk des Euripides finden sich Metapoetik und Mythopoesie und sind bereits ausführlich von der neuesten Forschung behandelt.907 Bisher wurde jedoch kaum auf Euripides’ mythopoetische Technik speziell in der Medea eingegangen: Denn dass Euripides eine Innovation des Medeamythos vornahm,

906 In dieser Parallelität von Prophezeiung und intendiertem plot besteht eine deutliche Analogie zu den homerischen εἰ μή-Episoden, vgl. de Jong (1987); Nesselrath (1992). 907 Vgl. u.a. Torrance (2010); Torrance (2013); Wright (2005); Wright (2016). Vgl. allgemein Mossman (2011) 10f.: »While Euripides does work with existing mythical raw material, then, he handles it freely, either using its existence to manipulate his audience’s expectations or, indeed, opening up possible mythical avenues which he does not subsequently pursue.«

Euripides

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ist hinreichend bekannt908 – doch weniger, wie er im Rahmen dieser Innovation mit den mythischen Erwartungshaltungen des Publikums spielt. Betrachtet man voreuripideische Mythenversionen, wird der Kontrast zwischen Zuschauervorwissen und Euripides’ plot offenbar: In der bei Eumelos überlieferten Version tötet Medea versehentlich ihre Kinder beim Versuch, sie unsterblich zu machen;909 Kreophylos und Parmeniskos überliefern Versionen, in welchen die Korinther aus Rache an Medea ihre Kinder töten.910 Euripides exponiert aber seinen plot im ersten Teil der Medea (1–764)911 deutlich dahingehend, dass Medea ihre Rache auf Jason, seine Braut und Kreon persönlich richtet: ΜΗ. τοσοῦτον οὖν σου τυγχάνειν βουλήσομαι, ἤν μοι πόρος τις μηχανή τ’ ἐξευρεθῇ 260 πόσιν δίκην τῶνδ’ ἀντιτείσασθαι κακῶν,912 σιγᾶν. (Eur. Med. 259–263) Me. Also erbitte ich von euch Folgendes: Wenn ich irgendeinen Weg oder ein Mittel finde, mit dem ich mich an meinem Mann für diese Übel rächen kann, schweigt. ΜΗ. ὃ δ’ ἐς τοσοῦτον μωρίας ἀφίκετο, ὥστ’ ἐξὸν αὐτῷ τἄμ’ ἑλεῖν βουλεύματα γῆς ἐκβαλόντι, τήνδ’ ἀφῆκεν ἡμέραν μεῖναί μ’, ἐν ᾗ τρεῖς τῶν ἐμῶν ἐχθρῶν νεκροὺς θήσω, πατέρα τε καὶ κόρην πόσιν τ’ ἐμόν. πολλὰς δ’ ἔχουσα θανασίμους αὐτοῖς ὁδούς, οὐκ οἶδ’ ὁποίᾳ πρῶτον ἐγχειρῶ, φίλαι·

260

375 (371–377)

908 Vgl. Mastronarde (2009) 50f; Fritz (1959); Easterling (1977); Burnett (1973); Corti (1998). 909 Μηδείᾳ δὲ παῖδας μὲν γίνεσθαι, τὸ δὲ ἀεὶ τικτόμενον κατακρύπτειν αὐτὸ ἐς τὸ ἱερὸν φέρουσαν τῆς Ἥρας, κατακρύπτειν δὲ ἀθανάτους ἔσεσθαι νομίζουσαν· τέλος δὲ αὐτήν τε μαθεῖν ὡς ἡμαρτήκοι τῆς ἐλπίδος καὶ ἅμα ὑπὸ τοῦ Ἰάσονος φωραθεῖσαν – οὐ γὰρ αὐτὸν ἔχειν δεομένῃ συγγνώμην, ἀποπλέοντα ἐς Ἰωλκὸν οἴχεσθαι – τούτων δὲ ἕνεκα ἀπελθεῖν καὶ Μήδειαν παραδοῦσαν Σισύφῳ τὴν ἀρχήν (Eumelos PEG I fr. 5 Bernabé = Paus. 2,3,11). Eumelos ist auf ca. 700 v. Chr. zu datieren, s.a. Mastronarde (2009) 50f; Latacz (1998). 910 Beide Stellen sind in Schol. B ad. Eur. Med. 264 p. 159 Schwartz überliefert. Ax (2000) datiert Parmeniskos auf das 2./1. Jh. v. Chr.; Brodersen (1999) datiert Kreophylos auf zwischen 431 und 200 v. Chr. Obwohl diese Mythographen nach Euripides datiert werden, zeigt das Andeuten ihrer Versionen in Euripides’ Medea, dass sie ältere Versionen als die des Euripides referieren. Vgl. etwa zum Mord der Korinther an Medeas Kindern 781f. 1060f. 1238–1241. 1301–1305. 1380f. 911 Ich sehe die erste Hälfte der Medea einschließlich der Aigeus-Szene als ersten Teil an, da ab 764 Medeas Rache deutlicher formuliert wird: Sie sieht die Kinder zum ersten Mal selbst als gefährdet (781–783) und kündigt ihren Mord an (791–793). 912 [τὸν δόντα τ’ αὐτῷ θυγατέρ’ ἥ τ’ ἐγήματο] del. Lenting, so auch Mastronarde (2009) 215f. Die Tilgung dieses Verses ergibt Sinn, wenn wir bedenken, dass Medea Kreon und seine Tochter erst nach dem erzürnten Agon mit Kreon in ihren Racheplan aufgenommen haben könnte (vgl. 371–377).

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Me. Dieser ist so dumm gewesen, dass er, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, meine Pläne mit meiner Verbannung zu durchkreuzen, mich noch heute bleiben ließ: Heute werde ich also die Leichen meiner drei Feinde niederlegen, den Vater, das Mädchen und meinen Mann. 375 Obwohl ich viele Todesarten für sie wüsste, bin ich mir nicht sicher, welche ich zuerst versuchen werde, meine Freundinnen.

Die Kinder werden in diesem ersten Teil des Stückes selten von Medea selbst erwähnt und nie als mögliches Racheziel angesehen: Der Zuschauer könnte durch dieses Nicht-Erwähnen vermuten, dass die Kinder womöglich keine Rolle in dieser Version spielen und die euripideische Medea zur Mörderin der neuen thebanischen Königsfamilie werden könne. Anders verhält es sich im ersten Teil dagegen mit den Mitcharakteren Medeas, die Euripides das Thema der Kinder unterschwellig, aber kontinuierlich aufbringen lässt: Im Prolog (1–172) deutet die Amme Medeas Missachtung der Kinder und deren Gefährdung an;913 im Agon mit Kreon (271–409) betont Kreon immer wieder seine Liebe für seine Familie und seine Tochter914 – dies veranlasst Medea wohl auch, in ihrer zweiten Racheerklärung (371–377) auch Kreon und seine Tochter aufzunehmen; Jason rechtfertigt im Agon mit Medea (446–626) die Neuvermählung mit seiner Sorge um die Kinder;915 zuletzt beklagt Aigeus in seiner Unterhaltung mit Medea (663–763) seine Kinderlosigkeit.916 Euripides erreicht mit dieser Technik zwei Ziele: Einerseits motiviert er dramenintern Medeas Entscheidung, den Kindermord zu realisieren – denn alle Charaktere betonen Medea gegenüber ihre Liebe zu ihren bzw. Medeas Kindern, sorgen sich um ihre Sicherheit und legen sie so Medea als ideales Racheziel nahe. Andererseits gelingt es Euripides dramenextern, seine Zuschauer eine Zeit lang im Unklaren zu lassen, inwiefern er den bekannten Mythenversionen folgt: Scheint im ersten Teil eine deutliche Dichotomie zwischen den bekannten Versionen (Tod der Kinder auf verschiedene Weise) und Euripides’ in Medeas Reden exponiertem plot (Rache nur an Jason, seiner Braut und Kreon) zu bestehen, zeigt sich im zweiten Teil, dass Euripides eine Mythopoesie vornimmt, die das plot-Ergebnis der bekannten Versionen beibehält, aber auf völlig andere Weise ausgestaltet. Somit werden die entgegengesetzten Mythenstränge in seiner Innovation verflochten. Diese Mythopoesie markiert Euripides sogar, indem er seine Charaktere den neuen plot mit der Vermeidung einer vorherigen, den Zuschauern bekannten Version begründen lässt: Medea rechtfertigt ihren Kindermord mit ihrer 913 18f. 36f. 82–84. 88–93. 100–104. 116–121. 914 282f. 340–345. 327–329. 915 462–464. 548–550. 557f. 562–567. 619f. 916 669. 671.

Euripides

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­Befürchtung, ›Feinde‹ könnten ihre Kinder töten.917 Da Euripides’ kontinuierliche Andeutungen auf die Gefährdung und die Wichtigkeit der Kinder wirkungslos und unmotiviert bleiben, wenn sie sich nicht auf vorherige Versionen beziehen, kann geschlussfolgert werden, dass Euripides mit hoher Wahrscheinlichkeit mythisch innoviert.

Einführung in die narrative Technik: Eine εἰ μή-Situation in Euripides’ Medea Aber nicht nur auf der mythopoetischen, sondern auch auf der narrativen Ebene spielt Euripides mit den Erwartungen seiner Zuschauer. Als konkretes Beispiel einer εἰ μή-Situation im Rahmen einer vorläufig scheiternden Rede soll eine Szene im ersten Epeisodion der Medea interpretiert werden. Damit befinden wir uns im ersten Teil des Stückes, in dem für den Zuschauer noch Unklarheit herrscht, ob Euripides den exponierten Racheplot an Jason oder den Tod der Kinder aus vorherigen Versionen verfolgen wird. Nach Medeas Rachemonolog (213–270), in welchem sie zunächst nur ihre Rache an Kreon verkündet, tritt Kreon auf (271), den Medea im Folgenden zu überzeugen versucht, ihr einen längeren Aufenthalt in Korinth zu gewähren. Im Laufe dieser dialogischen Auseinandersetzung werden wieder verschiedene fiktive plot-Verläufe diskutiert, die Euripides’ exponierten plot konterkarieren; zuletzt setzen sich die Figuren sogar über den erwarteten plot hinweg und finden eine Kompromisslösung. Medeas rhetorische Argumentationsfähigkeit bewirkt die Rettung des plots: Denn zuerst scheitert sie in ihrem Anliegen, in Korinth bleiben zu dürfen, und erreicht bei Kreon den Kompromiss, wenigstens einen Tag länger bleiben zu dürfen. Durch die Anpassung ihres Redeziels nach Kreons vorläufiger Ablehnung kann sie sich mit einem Kompromiss Zeit für ihre Rache heraushandeln.

Narrative Technik: Exponierter plot Euripides stellt seinem Publikum den Racheplot der Medea von Anfang an klar918 vor Augen: Dies gelingt ihm einerseits durch die Bekanntheit vorheriger Mythenbearbeitungen,919 andererseits aber durch Medeas Äußerungen in 917 οὐχ ὡς λιποῦσ’ ἂν πολεμίας ἐπὶ χθονὸς / ἐχθροῖσι παῖδας τοὺς ἐμοὺς καθυβρίσαι (781f.). οὔτοι ποτ’ ἔσται τοῦθ’ ὅπως ἐχθροῖς ἐγὼ / παῖδας παρήσω τοὺς ἐμοὺς καθυβρίσαι (1060f.). 918 S. Mastronarde (2009) 8–15. S.a. Burnett (1973); Burnett (1998). 919 Es ist in voreuripideischen Versionen überliefert, dass Medea Kreon tötete. Vgl. Kreophylos’ Version (Schol. B ad. Eur. Med. 264 p. 159 Schwartz): τὰ Κρεωφύλου ἔχοντα οὕτως· ‘τὴν γὰρ Μήδειαν λέγεται διατρίβουσαν ἐν Κορίνθῳ τὸν ἄρχοντα τότε τῆς πόλεως Κρέοντα ἀποκτεῖναι φαρμάκοις. δείσασαν δὲ τοὺς φίλους καὶ τοὺς συγγενεῖς αὐτοῦ φυγεῖν εἰς Ἀθήνας, τοὺς δὲ υἱοὺς, ἐπεὶ νεώτεροι ὄντες οὐκ ἠδύναντο ἀκολουθεῖν, ἐπὶ τὸν βωμὸν τῆς Ἀκραίας Ἥρας καθίσαι νομίσασαν τὸν πατέρα αὐτῶν φροντιεῖν τῆς σωτηρίας αὐτῶν. τοὺς δὲ Κρέοντος

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ihrem Rachemonolog (213–270).920 Denn in diesem kündigt sie ihre Strafe für Jason an und spezifiziert so das Ziel ihrer Rache:921 ΜΗ. ἤν μοι πόρος τις μηχανή τ᾽ ἐξευρεθῇ πόσιν δίκην τῶνδ᾽ ἀντιτείσασθαι κακῶν […]. Me. Wenn ich irgendeinen Weg oder ein Mittel finde, mit dem ich mich an meinem Mann für diese Übel rächen kann […].

260 (260f.) 260

ΜΗ. ὅταν δ᾽ ἐς εὐνὴν ἠδικημένη κυρῇ, οὐκ ἔστιν ἄλλη φρὴν μιαιφονωτέρα. Me. Doch erleidet sie Unrecht an ihrem Ehebett, dann gibt es kein Herz, das unerbittlicher ist.

265 (265f.) 265

Die Unterstützung des Chores, der Medeas Sache für gerecht922 hält und Schweigen verspricht, betont ebenso diese plot-Version923 für den Zuschauer: ΧΟ. δράσω τάδ᾽· ἐνδίκως γὰρ ἐκτείσῃ πόσιν, Μήδεια. πενθεῖν δ᾽ οὔ σε θαυμάζω τύχας. Cho. Dies werde ich tun: Denn zu Recht rächst du dich an deinem Mann, Medea. Ich wundere mich nicht, dass du dein Schicksal beklagst.

(267f.)

Der von Euripides exponierte und vom Zuschauer erwartete plot ist eine Rache an Jason,924 zu deren Zweck Medea allerdings in Korinth verbleiben müsste.

οἰκείους ἀποκτείναντας αὐτοὺς διαδοῦναι λόγον ὅτι ἡ Μήδεια οὐ μόνον τὸν Κρέοντα, ἀλλὰ καὶ τοὺς ἑαυτῆς παῖδας ἀπέκτεινε’. S.a. Mastronarde (2009) 50–57. 920 Eine Interpretation des Rachemonologs als weibliche Gegenperspektive für die (nicht nur) männlichen Zuschauer bietet Pelling (2000) 198–203, indem er drei mögliche Zuschauerperspektiven konstruiert. 921 Ich stimme hier Mossman (2011) 233 zu, die an dieser Stelle im Stück noch keinen deutlichen Hinweis auf den Kindermord sehen möchte. Denn die Anspielungen der Amme im Prolog sind bis zu diesem Punkt im Stück reine Vermutungen und werden nicht weiter aufgegriffen. 922 Dies ist kohärent mit der ablehnenden Haltung gegenüber Jasons Sache (157. 208), s. Mastronarde (2009) 217. 923 Vgl. Mastronarde (2009) 12. 924 Mossman (2011) 233 plädiert zu Recht, dass die Erwartung des Publikums in dieser Szene nicht weiter gelenkt werde: Es gibt zu diesem Zeitpunkt noch nicht genügend Hinweise auf einen drohenden Infantizid.

Euripides

249

Narrative Technik: Fiktive Handlungsalternativen und die Rettung des plots Mit seinem Auftritt bestätigt Kreon das vom Pädagogen geäußerte Gerücht:925 Er wolle Medea tatsächlich verbannen. Er bekräftigt deutlich926 den Zweck seiner Ankunft: ΚΡ. σὲ τὴν σκυθρωπὸν καὶ πόσει θυμουμένην, Μήδει᾽, ἀνεῖπον τῆσδε γῆς ἔξω περᾶν φυγάδα, λαβοῦσαν δισσὰ σὺν σαυτῇ τέκνα […].

(271–273)

Kr. Ich verbanne dich, Medea, die so zornig blickt und dem Mann zürnt, aus diesem Land, als Verstoßene, mit deinen beiden Kindern […].

Kreon betont die Gefahr, die von Medea ausgeht (271) und spricht daher eine Verbannung für sie und ihre Kinder aus (272f.).927 Somit stehen nun zwei gegensätzliche plots im Raum: Medea muss aufgrund ihres Planes, der nur dem Zuschauer und dem Chor bekannt ist, versuchen, in Korinth zu bleiben; Kreon fordert aber aus Angst vor möglichen gefährlichen Konsequenzen, dass sie Korinth verlässt.928 Dem Zuschauer ist daher zwar Medeas Rache bewusst, jedoch kann er nur mutmaßen, wie diese vonstatten gehen soll: Das von Kreon angeordnete Exil stellt den bislang exponierten Racheplot massiv in Frage. Eine drameninterne Diskussion und damit eine metapoetische Markierung dieser Varianten lässt sich im Verlauf des Gesprächs zwischen Medea und Kreon beobachten. Kreon thematisiert sogar Medeas potentielle Rache, da diese der Grund für Medeas Verbannung ist: ΚΡ. δέδοικά σ᾽(οὐδὲν δεῖ παραμπίσχειν λόγους) μή μοί τι δράσῃς παῖδ᾽ ἀνήκεστον κακόν.

(282f.)

Kr. Ich fürchte (ich will meine Worte nicht verwässern), dass du mir an meinem Kind unerträgliches Übel zufügen willst.

Neben einer stückinternen Begründung für seinen Auftritt lässt Euripides Kreon damit auch den plot-Verlauf erwähnen, den er verhindern und verwerfen will – 925 70–73. 926 Vgl. Mossman (2011) 242. 927 In 274–276 verstärkt er seinen Sprechakt mit einem Pleonasmus. Burnett (1973) 15 Anm. 27 beobachtet, dass Kreon mit seiner vorsorglichen Verbannung gängige attische ­Praxis missachte. 928 Von Mastronarde (2009) 10 als zweites Hindernis für Medeas Racheplan beschrieben, nach ihrer psychosomatischen Erkrankung im ersten Teil des Stückes.

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der verneinte Finalsatz deutet die hypothetische Möglichkeit an und erinnert an das irreale Geschehen im homerischen εἰ μή-Modell. Der Zuschauer muss sich fragen, wie der exponierte Racheplot doch noch umgesetzt werden kann. Dies lässt Euripides Medea übernehmen, indem er sie gegenüber Kreon gegen die Möglichkeit des Racheplots argumentieren lässt.929 Sie stilisiert sich deutlich als ungefährlich:930 ΜΗ. σὺ δ᾽ αὖ φοβῇ με μὴ τί πλημμελὲς πάθῃς; οὐχ ὧδ᾽ ἔχει μοι,931 μὴ τρέσῃς ἡμᾶς, Κρέον, ὥστ᾽ ἐς τυράννους ἄνδρας ἐξαμαρτάνειν.

(306–308)

Me. Du aber fürchtest, dass du von mir Unheil erleidest? Ich habe nicht vor, fürchte dich nicht, Kreon, mich gegen die Herrscher zu verfehlen.

Kreon hingegen besteht auf seiner Version: ΚΡ. ἀλλ᾽ ἔξιθ᾽ ὡς τάχιστα, μὴ λόγους λέγε· ὡς ταῦτ᾽ ἄραρε, κοὐκ ἔχεις τέχνην ὅπως μενεῖς παρ᾽ ἡμῖν οὖσα δυσμενὴς ἐμοί.

(321–323)

Kr. Doch verlasse das Land sofort, schwing keine Reden! Dies wurde so beschlossen, und du hast keine Möglichkeit, irgendwie hier zu bleiben, wenn du mir feindlich gesinnt bist.

Hierbei spricht er Medea auch die Möglichkeit ab, über seinen Plan des Geschehens zu diskutieren (ἀλλ’ ἔξιθ’ ὡς τάχιστα, μὴ λόγους λέγε 321) – er verneint jed 929 Mossman (2011) 244 weist zu Recht auf die Wichtigkeit von Medeas Hikesie an Kreon (324) hin, die eigentlich ausschlaggebend für Medeas Erfolg sei. Diese Rhesis dient Euripides also eher als Verhandlungsraum für Figurencharakterisierung und plot-Verläufe. 930 Medeas gesamtes Auftreten in dieser Szene kann als emotionalisierend und weiblich eingestuft werden: Sie beginnt mit einem emotionalen Ausruf (αἰαῖ· πανώλης ἡ τάλαιν’ ἀπόλλυμαι 277) und verwendet parallel ein emotionalisierendes Argument, nämlich die Ausweglosigkeit ihrer Lage: κοὐκ ἔστιν ἄτης εὐπρόσοιστος ἔκβασις (279), verstärkt durch eine Wortneuschöpfung εὐπρόσοιστος, ›kein Ausweg mit gutem Ende‹, (vgl. Mastronarde (2009) 219), die durch das κοὐκ am Anfang des Verses verstärkt wird. Diese Vorwegnahme der Machtlosigkeit umgeht Medea aber nun, indem sie erneut ihre verzweifelte Lage betont (κακῶς πάσχουσ’ 280) und mit ὅμως (280) ihren starken Willen zum Ausdruck bringt, trotzdem ein Anliegen vorzubringen (ἐρήσομαι (280) als überzeugter de se-Ausdruck im Futur; zu diesem Begriff vgl. etwa Lewis (1979)). Ihr Anliegen formuliert sie in einer scheinbar verzweifelten Frage: τίνος μ’ ἕκατι γῆς ἀποστέλλεις, Κρέον; (281); diese Frage ist jedoch bereits Teil ihrer Argumentation, da sie sich im Zuge ihrer verzweifelten Darstellung als ahnungslos stilisiert (τίνος 281). 931 Mastronarde (2009) 223 interpretiert diesen Ausdruck korrekt so: »›the situation is not such in my judgement that I would do wrong against a king‹ (implying that Creon is not to blame and that she has no desire to hurt him).«

Euripides

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weden Diskurs über das weitere Vorgehen. Als Medea ihn erneut anfleht, wird er noch deutlicher und negiert die Möglichkeit seiner Umstimmung: ΚΡ. λόγους ἀναλοῖς· οὐ γὰρ ἂν πείσαις ποτέ. Kr. Spare dir die Reden: Denn du wirst mich niemals überzeugen.

(325) 325

Die scheinbare Unmöglichkeit des von Euripides exponierten plots wird explizit betont, indem metapragmatische Aussagen deklarativ verwendet werden: Weder eine stückinterne Diskussion über Meinungen noch eine stückexterne Änderung des Dramenverlaufs scheint nun möglich. Nach Medeas Scheitern muss sich der Zuschauer erneut fragen, wie für den Racheplot Raum geschaffen werden kann. Euripides lässt hierauf Medea einlenken und somit den plot aktiv bestimmen: Sie gesteht Kreon kurzerhand seine erste Forderung zu, nämlich dass sie Korinth verlassen müsse;932 gleichzeitig verwendet sie aber geschickt eine neue Strategie, indem sie ihr Anliegen ändert933 und andeutet, um etwas Anderes zu bitten: οὐ τοῦθ’ ἱκέτευσα σοῦ τυχεῖν (338).934 Hierdurch führt Euripides in Medeas Rede noch ein neues Handlungsmuster ein, sodass mit Medeas nächstem Überzeugungsversuch der Racheplot wieder realistisch scheint: ΜΗ. μίαν με μεῖναι τήνδ᾽ ἔασον ἡμέραν καὶ ξυμπερᾶναι φροντίδ᾽ ᾗ φευξούμεθα, παισίν τ᾽ ἀφορμὴν τοῖς ἐμοῖς, ἐπεὶ πατὴρ οὐδὲν προτιμᾷ, μηχανήσασθαί τινα. Me. Lass mich nur noch einen Tag bleiben, damit ich sorgfältig vorbereiten kann, wie wir fliehen, und meinen Kindern eine Abreise zu ermöglichen, nachdem ihr Vater sie hintenanstellt.

340 (340–343) 340

Plötzlich wird eine dritte Variante in den Raum gestellt, die Medea zugutekommt. Da Medea mit dem Wohl ihrer Kinder argumentiert,935 stimmt Kreon zu, wenn auch widerwillig: 932 Sie unterstreicht dies mit einer starken de-se-Aussage im Futur φευξούμεθ’ (338). 933 Vgl. τήνδε δὲ χθόνα / ἐᾶτέ μ’ οἰκεῖν (313f.). 934 Mit dieser Strategie hat Medea nun zum ersten Mal Erfolg, da Kreon ihre Aussage nicht einfach ablehnt, sondern Kontakt herstellt und nachfragt: τί δαὶ βιάζῃ κοὐκ ἀπαλλάσσῃ χερός; (339); auch im wörtlichen Sinne stellt Medea Kontakt her, wie Kreons Antwort b ­ ezeugt, und somit ist es für ihn fast unmöglich, abzulehnen, s. Mastronarde (2009) 228. 935 Ihre Argumente dafür, dass ihr noch ein Tag in der Stadt gewährt werden solle, sind die Folgenden: Sie müsse praktische Vorbereitungen treffen (καὶ ξυμπερᾶναι φροντίδ’ ᾗ φευξούμεθα 341), nämlich ihre Kinder auf die Reise vorbereiten (παισίν τ’ ἀφορμὴν τοῖς ἐμοῖς, ἐπεὶ πατὴρ / οὐδὲν προτιμᾷ, μηχανήσασθαι τέκνοις 342f.). Ich verstehe ἀφορμὴν als explikativ für φροντίδ’, für ein paralleles Verständnis s. aber Mastronarde (2009) 229. Freilich bewahren beide Varianten die Ambiguität der Worte φροντίδ’ und ἀφορμὴν.

252

Zwischen Kanonisierung und Fluidität des Mythos

ΚΡ. καὶ νῦν ὁρῶ μὲν ἐξαμαρτάνων, γύναι, ὅμως δὲ τεύξῃ τοῦδε. προυννέπω δέ σοι, εἴ σ᾽ ἡ ’πιοῦσα λαμπὰς ὄψεται θεοῦ καὶ παῖδας ἐντὸς τῆσδε τερμόνων χθονός, θανῇ· λέλεκται μῦθος ἀψευδὴς ὅδε. Kr. Obwohl ich sehe, Weib, dass ich einen Fehler begehe, erlangst du dies doch. Ich sage dir, wenn dich und deine Kinder das morgige Licht des Sonnengottes noch innerhalb der Mauern dieser Stadt erblickt, stirbst du: Diese Worte sind nicht gelogen.

350

(350–354) 350

Indem Kreon zustimmt, beschließt er unwissentlich sein Schicksal, obwohl er sein Misstrauen nicht verhehlt (350). Gleichzeitig trifft er mit seinem Eventualis, er werde sie töten, falls sie länger bleibe (εἴ σ’ […], θανῇ 351–353), eine weitere Aussage über den möglichen Geschehensverlauf, der zugleich als Drohung auf Figurenebene fungiert und, da fiktiv, tragische Ironie für den Zuschauer erzeugt. Der ursprünglich von Euripides exponierte plot konnte dank Medeas rhetorischer Strategie mit leichten Modifikationen durchgesetzt werden.

Schlussfolgerungen In diesem Abschnitt haben wir – neben der Würdigung von Euripides’ allgemeiner mythopoetischer Technik in der Medea – exemplarisch beobachtet, wie auch Euripides seine Charaktere zunächst einen erwarteten plot-Verlauf konterkarieren und ihn dann im Dialog gemeinsam modifizieren lässt. Diese plotVerläufe werden von erfolgreichen und erfolglosen Redezielen der Charaktere repräsentiert. Dass die Figuren sich über den exponierten plot hinwegsetzen, muss auf die Zuschauer verunsichernd wirken: Doch die Kompromisslösung der Charaktere schafft Raum für den ursprünglich angedachten plot, ohne ihn determiniert und undramatisch wirken zu lassen. Metapragmatische Aussagen und Metadirektive, v.a. von Kreon, unterstrichen diese Schritte in der plot-Entwicklung und erlauben so eine metapoetische und -narratologische Rezeption bzw. Lektüre dieser Szenen. Durch die zeitweilige Konterkarierung des Racheplots verstärkt Euripides zudem die seine Kanonisierung: Andere plot-Varianten haben in dem von Euripides exponierten plot keinen Platz. Zu bemerken bleibt freilich, dass Euripides mit seinem exponierten plot die Zuschauer ein weiteres Mal in die Irre führt: Dies weitet sie aus mit einer expliziten Aufforderung zum Mitleid (οἴκτιρε δ’ αὐτούς· 344) und betont, dass auch er Vater sei (καὶ σύ τοι παίδων πατὴρ / πέφυκας· 344f.); sie zieht sogar ihre passende Schlussfolgerung hieraus, nämlich, dass er ihr deshalb doch gewogen sein müsse (εἰκὸς δ’ ἐστὶν εὔνοιάν σ’ ἔχειν. 345).

Zwischenfazit: Tragische εἰ μή-Situationen und Mytheninnovation

253

Denn im Endeffekt geht Medea noch weiter als, wie von Kreon befürchtet, sich durch den Mord an Jason oder seiner neuen Frau zu rächen. Medeas Kindermord, der unterschwellig seit Beginn des Stückes angekündigt wurde, ist die ultimative Wendung in Euripides’ Spiel mit dem Racheplot der Medea.936

4.5 Zwischenfazit: Tragische εἰ μή-Situationen und Mytheninnovation Die hier vorgeschlagene Lesart lässt den Akt des vorläufigen Scheiterns eines Redeziels zu mehr als nur einem Retardierungselement werden. Vielmehr erfüllen die oben behandelten Szenen auch eine narrative Funktion, indem sie immer einem dreischrittigen narrativen Muster folgten: Steht die Klarheit des zuvor exponierten plots fest, folgt dann eine durch scheiternde Rhetorik erzeugte dramatische Unsicherheit – etwa die Frage nach der genauen Durchführung des Mordes an Agamemnon. Mit der psychologisch nachvollziehbaren Umkehr des Scheiterns, also einer vorgeführten Überzeugung, findet dann eine Rückkehr zum angedeuteten plot statt. Somit wird, statt ›undramatischer‹ narrativer Stringenz, der plot genau durch dieses Konterkarieren in seiner Autorität und Relevanz betont. Ein wichtiges literarisches Mittel des Autors sind hierbei die metapragmatischen Aussagen zum Scheitern, da diese als Demonstrativa für mögliche und gescheiterte Handlungsalternativen fungieren. In der exemplarisch erfolgten Analyse fallen Unterschiede zwischen den Autoren auf: Während bei Aischylos das lineare, einfache Schema der εἰ μήSituation angewandt werden kann, sind die Szenen des Sophokles und des Euripides von komplexeren plot-Verhandlungen geprägt und verlangen dem Publikum mehr Reflexionsarbeit ab. Doch ist, wie gezeigt, bei allen Autoren ein narratives Spiel mit dem plot als plausibel anzunehmen, der das Publikum anhalten kann, plot-Verläufe im Geiste mitzuverfolgen und selbst zu konstruieren. Durch das Zusammenspiel einer vorläufigen Digression von und einer endlichen Regression hin zum intendierten plot wird dem idealen Publikum eine geistige Involvierung abverlangt, die nicht alle plot-Alternativen für realisierbar hält – also nicht im Sinne eines naiven Rezipienten –, sondern aufgrund rezeptiver Vorerfahrungen aufmerksam plot-Entwicklungen verfolgt.937

936 Zur Kanonisierung des Kindermords in der Rezeption nach Euripides’ Medea, s. Corti (1998). 937 Dieses Postulat gilt freilich für ein ideales, intellektuell aufmerksames Publikum, und gilt damit nur als mögliches Angebot an den Rezipienten, vgl. Wright (2005) 157, der Euripides’ Spiel mit dem Mythos als »essentially an ironical, ludic activity« beschreibt. S.a. Goward (1999) 144. Theorien, die ein Lesepublikum für solche Anspielungen postulieren (wie etwa Eisner (1979)), sind m. E. zu verwerfen: Sonst könnten aristophanische Anspielungen auf die

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Zwischen Kanonisierung und Fluidität des Mythos

Endgültig scheiternden Redeszenen kann dieser Effekt938 weniger zugeschrieben werden: Bei ihnen gilt wohl die einfache Hypothese, dass durch eine scheiternde Persuasion mehr Spannung und dramatische Abwechslung erzeugt werden kann als durch eine erfolgreiche. Der Befund, dass bei Aischylos nur einmal eine Mytheninnovation zu finden ist (Agamemnon), während Sophokles und Euripides ihre Mythenbearbeitung sogar markieren und kommentieren, mag neben möglichen autorenspezifischen Eigenschaften auch zwei externe Ursachen haben: Einerseits fehlen uns bei Aischylos sichere, flächendeckende Quellen für vorherige Bearbeitungen; andererseits steht Aischylos eher zu Beginn einer Tragödientradition, die wohl erst in ihrem Verlauf rege Mytheninnovationen vorweisen kann. Weiterhin wird die spezifische Dialogizität der Tragödie auch in der plot- und Mythenbearbeitung ihrer Dichter deutlich: Indem verschiedene Handlungsverläufe angedeutet oder sogar diskutiert werden, sich aber immer eine oder mehrere Varianten als fiktiv im Vergleich zur exponierten Version herausstellt, kann auf extradramatischer Ebene gleichsam eine εἰκός-Argumentation des Dichters gesehen werden, der einen plot-Verlauf von Anfang an plausibler macht.939 Durch das Nebeneinander verschiedener und den gleichzeitigen Vorrang einer plot-Version erscheinen der antike Mythos und seine Bearbeitung paradoxerweise fluide und kanonisiert zugleich.940 Dieses Spiel mit plot und Mythos lässt den Autor hinter der Tragödie sichtbar werden.

Tragödie vom zeitgenössischen Publikum potentiell auch nicht verstanden werden und verfehlten ihre Wirkung völlig. 938 Im Prometheus fungiert das Scheitern des Hermes weniger als Anregung für eine εἰ μή-Situation: Wenn Prometheus nachgeben würde, Hermes also Erfolg hätte, würde der plot konterkariert werden. Prometheus’ heldenhafte Standhaftigkeit würde bröckeln, verriete er das Geheimnis zu Zeus’ Macht. Zusätzlich zu dieser Ahnung des Zuschauers benutzt Hermes sogar unwissend ein die Katastrophe vorausschattendes Argument, wenn er drohend die ihm unliebsame Handlungsalternative aufwirft (Ps.-Aischyl. Prom. 1014–1019). Somit wird Pseudo-Aischylos’ plot-Version sogar noch verstärkt und Zweifel über den Ausgang der Situation können so gut wie nicht aufkommen. 939 Kennedy (1963) 60f. lässt die rhetorische εἰκός-Argumentation mit Korax beginnen, was dann ungefähr mit der Aufführung der Septem zusammenfiele; zur unsicheren Quellenlage um Korax und Teisias vgl. aber Hessler (2019) 29f. Für die Diskussion zur εἰκόςArgumentation danke ich Martin Wehner. 940 Zu diesem Schluss für den antiken Mythos kommen auch Wright (2005) 156 (für Euripides); Bär (2018) 19 (für Homer), während de Jong (1987) und Nesselrath (1992) auf plot-Ebene freilich für die narrative Autorität plädieren. Für die Verbindung aus Mythos und plot ist also eine paradox scheinende, aber für das antike Publikum akzeptable Synthese dieser beiden Postulate nötig. Vgl. hierzu allgemein Bär (2018) 18–22.

5. Schlussfolgerungen

5.1 Textanalyse: Auktoriale Rezeptionslenkung im Hinblick auf Rhetorik und Kommunikation (Kapitel 2–3) 5.1.1 Beurteilung von scheiternder Rhetorik: Rhetorische Adaptation oder externe Gründe? Die vorliegende rhetorisch-pragmatische Analyse sollte feststellen, woran tragische Autoren die Reden ihrer Charaktere scheitern lassen und zu welcher Beurteilung von Rhetorik sie ihr Publikum anleiten. Dabei ging es um Berührungspunkte zwischen praktischer Rhetorik und dem Anfang einer zugrundeliegenden Rhetoriktheorie. Deutlich zeigte sich, dass Aischylos’ Rezipientenlenkung dahingehend impliziter geschieht als in den metapragmatisch geprägten Rhetorikszenen des Sophokles und Euripides941 und den Zuschauer zu unterschiedlichen Beurteilungen anregt. Rhetorische Adaptation ist der integrale Dreh- und Angelpunkt aischyleischer Rhetorik: Allein durch redeinterne Faktoren stellt Aischylos seine Redner als unzulänglich dar. Er lenkt den Blick des Zuschauers auf die unvereinbaren Ansichten der Gesprächspartner und zeigt, dass Rhetorik nur wirksam sein kann, wenn sie die Gedankenwelt des Adressaten berücksichtigt. Dieser Fokus auf redeinterne Merkmale angepasster Rhetorik wird in drei Aspekten offenbar: Erstens führen die beiden Beispiele vorläufigen Scheiterns praktische rhetorische Adaptation vor, denn sowohl Eteokles als auch Klytaimestra passen sich nach der Ablehnung durch ihre Gesprächspartner argumentativ und sprachlich an diese an.942 Zudem zeigen alle endgültig scheiternden Szenen einen Mangel an Anpassung auf argumentativer und sprachlicher Ebene.943 Zweitens kann das Phänomen der rhetorischen Prolepse, ein expliziter Indikator für rhetorische Adaptation,944 in den analysierten aischyleischen Szenen

941 Vgl. Tabelle 1. 942 S. Kapitel 2.1.1.3 und 2.1.4.3. 943 S. Kapitel 2.1.2.3, 2.1.3.3. 944 Zum Nutzen der rhetorischen Prolepse vgl. Quint. inst. 4,149: non inutilis etiam est ratio occupandi quae videntur obstare, ut Cicero dicit ›scire se mirari quosdam, quod is, qui per tot annos defenderit multos, laeserit neminem, ad accusandum Verrem descenderit‹: deinde ostendit, hanc ipsam esse sociorum defensionem, quod schema πρόλημψις [sic!] dicitur. Zur Prolepse in der Gerichtsrhetorik, s. Torzi (1995).

256

Schlussfolgerungen

nur einmal beobachtet werden:945 Die Charaktere zeigen kaum Vorwegnahme der Disposition des Gesprächspartners. Drittens weist Aischylos auch mit metapragmatischen Aussagen auf angepasste Rhetorik hin: Eteokles und Klytaimestra formulieren die Bedeutsamkeit von τὰ καίρια λέγειν;946 Agamemnon kritisiert Klytaimestra für ihre unpassende Rede.947 Ex negativo ist rhetorische Adaptation an den Adressaten Aischylos’ Kriterium für erfolgreiche Persuasion und möglicherweise Lehrinhalt zeitgenössischer Instruktion.948 Damit verlagert sich der Fokus des dramenexternen Rezipienten auf den Sprecher und seine Rede, deren zugrundeliegende Beweggründe vom Zuschauer konstruiert werden müssen.949 In den bei Sophokles und Euripides betrachteten Szenen erweist sich rhetorische Adaptation, obwohl deutlicher und expliziter zu beobachten, als weniger erfolgreich. Das Scheitern von Redeintentionen wird anders plausibilisiert: Obwohl die Argumente zwar passend und zumeist aus Sicht des Sprechers nicht besser wählbar sind, verbietet sein diskreditiertes ἦθος, d.h. etwa seine vorherigen Taten, die ernsthafte Rezeption durch seinen Adressaten.950 Indem die beiden Autoren die Adressaten ihrer rhetorischen Szenen die Sprecherintention deutlich verwerfen und als Grund für die Ablehnung explizit externe, d.h. nichtsprachliche, Faktoren nennen lassen, lenken sie den Blick auf die Unerreichbarkeit und den unerreichbaren Charakter des Adressaten,951 im Agon gleichermaßen wie in informellen dialogischen Konstellationen.952 945 Um die einzige Ausnahme handelt es sich bei Klytaimestra in Aischyl. Ag. 877, die Orests Abwesenheit in der Teppichszene vorwegnimmt und generell hohes Bewusstsein für die Gedanken Anderer hat, wie ihre Täuschung und Manipulation beweisen. 946 Aischyl. Sept. 1: λέγειν τὰ καίρια; Aischyl. Ag. 1372f.: πολλῶν πάροιθεν καιρίως εἰρημένων / τἀναντί’ εἰπεῖν οὐκ ἐπαισχυνθήσομαι. 947 Aischyl. Ag. 916: μάκραν γὰρ ἐξέτεινας; 918f.: καὶ τἄλλα μὴ γυναικὸς ἐν τρόποις ἐμὲ / ἅβρυνε. 948 Vgl. Kapitel 1.3.1.1 Anm. 118. 949 Dieses Konstruieren von rhetorischen Beweggründen und Redeintentionen als intellektuelle Anforderung an den Zuschauer ist eine parallele Beobachtung zu derjenigen der neuesten Charakterforschung, die davon ausgeht, dass der ›Charakter‹ der Figuren anhand ihrer Äußerungen vom Publikum konstruiert werden muss, vgl. Easterling (1990); Budelmann (2000) 61–65 mit Hinweis auf die zu konstruierende, aber nur schwer fassbare wahre Natur von sophokleischen Charakteren anhand ihrer doppeldeutigen Äußerungen. 950 Während dieses Szenenelement zwar auch mit dem ἀδίκημα (vgl. Dubischar (2001) 85) des euripideischen Agons zusammenfallen kann, bietet die Ablösung von starren Strukturformen und die Hinwendung zu individuellen Charakterintentionen den Vorteil, dass sämtliche solche Dialogkonstellationen im sophokleischen und euripideischen Werk ungeachtet ihres formalen Aufbaus in ihrer rhetorisch-dramatischen Dynamik gewürdigt werden können. 951 Immer wieder um Nachgeben angesucht werden Ödipus im Oedipus Tyrannus, Kreon in der Antigone, Philoktet im Philoktet, sie lehnen aber immer wieder stur ab. 952 Für Euripides deutet Scodel (1999b) 134 die Unerreichbarkeit des Empfängers an: »As often, however, Euripides then contrasts the weakness of even the best verbal performance as

Textanalyse: Auktoriale Rezeptionslenkung

257

Dieser Kontrast macht in Verbindung mit den bereits in der Forschung erbrachten Argumenten953 auch die Unechtheit des pseudo-aischyleischen Prometheus wahrscheinlich: In der analysierten Szene finden wir – unüblich für Aischylos – im Rahmen eines erhöhten Anteils an metapragmatischen Aussagen eine explizite Begründung für das Ablehnen des Redeziels mit einem redeexternen Merkmal, nämlich dem Charakter des Sprechers.954 Der Fokus auf rhetorische Adaptation einerseits und auf den unerreichbaren Empfänger andererseits kann daher als essentieller Unterschied in der rhetorischen Gestaltung zwischen Aischylos und seinen beiden späteren Zeitgenossen festgehalten werden. Diese Vorführung praktischer Rhetorik konstituiert dabei eine implizite Rhetoriktheorie.

5.1.2 Theory of Mind in der Tragödie? In der bisherigen Forschung wurde tragischen Charakteren eine Theory of Mind, also die Fähigkeit, sich in einen anderen Charakter hineinzuversetzen, zumeist abgesprochen.955 In dieser Analyse wird aber deutlich, dass es falsch wäre, von einem rhetorischen Nichtgebrauch der Theory of Mind durch die tragischen Charaktere zu sprechen:956 Auch der fehlende Einsatz adressaten­bezogener Elemente kann als Zeichen einer komplexen Theory of Mind gewertet werden. Es a weapon in the face of an enemy immune to persuasion and capable of force.« 953 Hierzu vgl. Kapitel 2.1.5.1. 954 Vgl. Ps.-Aischyl. Prom. 1040f.: εἰδότι τοί μοι τάσδ’ ἀγγελίας ὅδ’ ἐθώϋξεν· / πάσχειν δὲ κακῶς ἐχθρὸν ὑπ’ ἐχθρῶν οὐδὲν ἀεικές. Eur. Hipp. 944: κάκιστος ὤν. 955: σωφρονέστερος γεγώς. Eur. Med. 467: ἔχθιστος γεγώς. Soph. Phil. 1284: ἔχθιστος γεγώς (wobei hier die Diskreditierung des Charakters durch fehlgeleitete, intrigante Kommunikation zustande kam). Im aischyleischen Kontext kann zudem eine deutliche – meines Wissens noch unbeachtete – Parallele zum Herold in den Hiketiden gezogen werden. In beiden Szenen wurde die unflexible Argumentationsweise, gepaart mit der grundlegenden gegenseitigen Ablehnung der Charaktere, zum Problem, sodass Konflikte eskalierten: In den Hiketiden bedeutete dies Krieg mit den Aigyptossöhnen, im Prometheus die Explosion des Felsens. Meines Erachtens kann in beiden Fällen die Heroldrolle als weiteres Plausibilisierungselement gesehen werden: Indem Autorität stellvertretend erzeugt bzw. erhalten und ein persuasives Ziel konsequent verfolgt werden muss, verliert der Herold persuasive Flexibilität und zeigt außerordentlich hohes Eskalationspotential. Denn die Tatsache seiner Entsendung darf bereits als letzter Ausweg gelten, um einen Konflikt zu lösen. Diese Parallelität könnte also eine strukturelle Imitation durch den Prometheus-Dichter bedeuten, der aber durch den hohen Anteil an Metapragmatik und die ἦθος-Erklärung des Prometheus spät zu datieren ist. Zudem wirkt Prometheus als Charakter eher sophokleisch, da er konsistent ablehnt. 955 So allgemein Scodel (2017). 956 Daher ist die Einschätzung von Scodel (2017) 41, tragische Charaktere könnten ihre Theory of Mind nicht gut anwenden (»Tragic characters are constantly thinking about the mental states of others, but that does not allow them to communicate effectively.«) als falsch zu bewerten.

258

Schlussfolgerungen

geht um die Art des Theory of Mind-Einsatzes. In Aischylos’ Szenen fiel der mangelnde praktische Einsatz der Fähigkeit auf: Der Chor der Septem scheiterte an einer korrekten Affektzuschreibung; Klytaimestra und Eteokles957 zeigen spätestens bei ihrem zweiten Versuch eine erfolgreiche Einschätzung ihrer Gesprächspartner; Pelasgos und der Herold sowie Prometheus und Hermes dagegen zeigen den komplexesten Einsatz von Theory of Mind, indem sie ihrem Gesprächspartner mit Absicht falsche Ansichten oder Intentionen unterstellen. In den besprochenen aischyleischen Szenen scheint Theory of Mind immer eher kognitiv-rhetorisch ausgeprägt, eine affektive Anwendung ist kaum auszumachen. Explizite Bezüge auf den Gesprächspartner, wie bei Sophokles und Euripides häufig beobachtet, sind selten. Die Plausibilisierung eines Scheiterns findet nicht aufgrund eines Mangels an grundsätzlicher Theory of Mind statt, sondern aufgrund des unkooperativen bzw. eskalierenden Einsatzes derselben. Werden die Annahmen der Theory of Mind benutzt, verspricht dies den Charakteren Erfolg (Klytaimestra und Eteokles). Es finden sich wenig explizite Hinweise auf eine Theory of Mind. Mit dieser Darstellung kann dem Autor – trotz eines wohl geringeren Bewusstseins – auch eine Aktivierung der Theory of Mind des Publikums gelingen: Indem weniger explizit über mentale Zustände in der Kommunikation geredet wird, bleibt dem Zuschauer mehr Raum zur selbständigen Interpretation.958 In den besprochenen Szenen von Sophokles und Euripides fällt jedoch auf, dass hier sowohl Empfänger als auch Sender eine hohe kognitiv-rhetorische bzw. affektive Theory of Mind zugeschrieben werden kann. Denn besonders die Charaktere, die ein kommunikatives Projekt verfolgen, verwenden ausdrückliche Hinweise und Bezüge auf den geistigen Zustand des anderen; Jason verwendet dies beispielsweise eskalierend. Bei den Adressaten der kommunikativen Projekte zeigte sich durchweg ein Verbergen der affektiven Theory of Mind bei gleichzeitiger Demonstration der kognitiven Theory of Mind durch Prolepsen und deutlicher Erkenntnis der Persönlichkeit des Gesprächspartners.959 Auch ihnen kann eine Theory of Mind bestätigt werden. Der Zuschauer wird von Sophokles und Euripides explizit zum mentalising über die vorgeführten Charaktere angeleitet und in seiner Rezeptionshaltung entschiedener geführt.

957 Ein besonders gutes Beispiel für erfolgreiche Rezipientenanpassung und Theory of Mind sind darüber hinaus auch die Danaiden in Aischyl. Suppl. 234–489, die sich explizit an den Gesprächspartner anpassen und seine Standards erfragen. 958 Vgl. die Frage »Why does Agamemnon yield?« (vgl. Fraenkel (1950b) 441f; Simpson (1971)), die genau durch diesen Mangel an Informationen bedingt ist. Budelmann & Easterling (2010) 292 stellen etwa die aktivierende Wirkung solcher Explikationslücken fest und zeigen dies an der Kassandra-Szene in Aischylos’ Agamemnon. 959 Scodel (2012) 323 kann einen ähnlichen Gebrauch der Theory of Mind in den homerischen Epen feststellen.

Textanalyse: Auktoriale Rezeptionslenkung

259

Was eine diachrone Entwicklung im Bereich der Theory of Mind-Verwendung angeht, lässt sich von Aischylos zu Sophokles/Euripides eine deutlich explizitere Formulierung von Theory of Mind durch die Charaktere beobachten: Wir beobachten u.a. metarhetorische Hinweise auf den Gesprächspartner sowie Metadiskurse über mögliche Meinungsänderungen, was auf ein reflektiertes Bewusstsein darüber hinweist, dass das Gegenüber ein individuelles Innenleben besitzt, das es zu verstehen gilt. Die explizite Reflexion rhetorischer Strategien im dramatischen Kontext der späteren Tragiker kann mit der weiteren Verbreitung rhetorischer Unterweisung in einen Zusammenhang gestellt werden,960 woraus womöglich intensivere Reflexionen über das jeweilige Publikum bzw. den jeweiligen Gesprächspartner resultierten.961

5.1.3 Sprachverhalten und politeness Über alle analysierten Szenen hinweg zeigt sich, dass Charaktere, die markierte politeness-Strategien (d.h. auffällige, vom normalen Sprachgebrauch abweichende Strategien zur Abschwächung ihrer differierenden Meinungen oder potentiell gesichtsbedrohenden Anliegen) oder generell adaptives Sprachverhalten aufweisen, keinen Erfolg haben (Chor an Eteokles, Haimon, Hippolytos, Neoptolemos). Im Falle von Klytaimestra wird over-politeness sogar als problematisch evaluiert. Als Ausnahme darf Eteokles (Aischyl. Sept. 182–286) gelten, der im Zuge seiner argumentativen Adaptation auch erfolgreich politeness-Strategien einsetzt. Markierte impoliteness (d.h. intendierte Direktheit und Missachtung von politeness-Strategien) dient hingegen stets der Eskalation (Eteokles, Herold/Pelasgos, Hermes/Prometheus, Kreon, Theseus, Medea, Philoktet), die v.a. von den Rezipienten als Eskalationsstrategie benutzt wird und so den Misserfolg der Sprecherintention vorhersagt.962 Besonders gegen Ende der Szene eskaliert der Dialog, oft in einer Stichomythie: Hier werden bald on record-Aussagen als markierte impoliteness-Strategien verwendet (vgl. Haimon und Hippolytos).963

960 Vgl. Enos (2012) 61–79. 961 Diese Beobachtung deckt sich auch mit denen von Gill (1996) 204–225, da er das Konzept des mit sich selbst interagierenden ›divided self‹ nur bei Sophokles und Euripides feststellt. In diesem Sinne könnte also auch hier vermutet werden, dass den sophokleischen und euripideischen Charaktere durch diesen Austausch mit sich selbst insgesamt eine höhere Theory of Mind zugeschrieben werden kann. Somit würden Sophokles und Euripides den Fokus der Zuschauer mehr auf das Innenleben der Charaktere als Aischylos lenken. 962 Vgl. aber die Tonänderung bei Haimon und Neoptolemos. 963 Vgl. Culpeper (2011) 228, der »coercive impoliteness« v.a. in asymmetrischen Machtsituationen auch in der modernen Sprache beobachtet.

260

Schlussfolgerungen

Doch nicht immer bedeuten direkte bald on record-Aussagen (Aischyl. Sept. 262. 714. Ag. 943. Soph. Ant. 735. 737. 741. 753. Eur. Hipp. 902–915)964 nach negativer (d.h. indirekter) politeness (Aischyl. Sept. 260. 712. Ag. 941) einen Wechsel zu markierten impoliteness-Strategien, d.h. einen Wechsel in ein rohes Sprachregister: Im stichomythischen Kontext werden bald-on-record-Aussagen für kommunikative Ökonomie eingesetzt,965 die nicht zwingend impoliteness bedeuten muss. Die Kritik an Brown & Levinson bestätigt sich auch anhand des hier analysierten tragischen Materials.966 Politeness und adaptives Sprachverhalten allein sind keine ausreichenden sprachlichen Mittel, um rhetorischen Erfolg zu erlangen. Sprachliche Konfliktstrategien werden von den tragischen Autoren als einflussreicher dargestellt.

5.1.4 Metapragmatik: Häufigkeit, Gebrauch und explizite Plausibilisierung Wie erwartet, zeigt sich ein diachroner Anstieg der metapragmatischen Ausdrücke von Aischylos bis zu Sophokles und Euripides.967 Hierbei ist aber deutlich festzuhalten, dass in den Tragödien des Aischylos durchaus auch strukturiertes Reden, Redestandards, Reflexion über Rhetorik und Redner sowie rhetorisch rahmende Ausdrücke zu finden sind:968 Auch wenn keine Beweise für Lehr­ bücher in der ersten Hälfte des 5. Jh.s v. Chr. existieren, darf dieser Zeit nicht das natürliche Bewusstsein für Rhetorik als τέχνη abgesprochen werden. Aus dieser diachronen Verteilung kann allerdings ein weiteres Argument für Unechtheit des pseudo-aischyleischen Prometheus Vinctus gewonnen werden: Die Anzahl der metapragmatischen Ausdrücke steigt hier deutlich über den aischyleischen Durchschnitt an, sodass das Stück eher im letzten Drittel des 5. Jh.s v. Chr. zu verorten ist. In aller Regel weist diejenige Figur mehr metapragmatische Ausdrücke und damit eine deklarativere Sprechweise auf, die ein kommunikatives Projekt ­verfolgt969 oder sich in einer offiziell-formellen Rolle wiederfindet und daher um deklaratives Reden bemüht ist: So ist die Verteilung etwa in Heroldszenen 964 Mit dieser Feststellung des nicht inhärent impoliten Charakters von bald on recordAussagen bestätigt sich die Kritik von Watts (2003) xx. 5–8. 965 Die politeness-Aussagen dürfen daher als pre-expansion zu den bald on record-Formulierungen gelten. 966 So auch Watts (2003) 8; Locher (2006) 252. 967 Vgl. Tabelle 1. 968 Damit ist das implizite Urteil von Gondos (1996) bes. 4f. m. Anm. 21 zu revidieren, aischyleische Tragödien enthielten kaum Reflexionen zur rhetorischen Theorie. 969 Vgl. Haimon in Soph. Ant. 631–780; Hippolytos in Eur. Hipp. 902–1101; Jason in Eur. Med. 446–626.

Textanalyse: Auktoriale Rezeptionslenkung

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b ­ esonders ausgewogen,970 dem Chor stehen aber geringe Ausdrucksmöglich­ keiten auf der Metaebene zur Verfügung.971 Es können drei Funktionen von Metapragmatik in der attischen Tragödie festgehalten werden:972 1) Deklarative Verdeutlichung des Gesprächsstandes für Beteiligte und Publikum für maximale kommunikative Ökonomie.973 2) Die Selbstpositionierung der Figuren auf der Beziehungsebene durch Kooperation bzw. Eskalation. 3) Die explikative und plausibilisierende Definition eines externen Kriteriums für die Beurteilung von Rhetorik. Bei Aischylos sind der Metapragmatik v.a. die ersten beiden Funktionen zu bescheinigen, eine deklarative Zusammenfassung für die drameninterne und -externe Rezeption sowie eine Rangverhandlung, die sich hier v.a. eskalierend gestaltet. Nur in zwei Fällen benutzt Aischylos Metapragmatik auch explikativ: Eteokles und Agamemnon beurteilen redeinterne Merkmale ihrer Gesprächspartner als argumentativ oder sprachlich unangemessen.974 Die Beurteilung von Rhetorik und ihrem Erfolg kommt den drameninternen Figuren als intellektuelle Leistung und den dramenexternen Zuschauern als Interpretationsaufgabe zu.

970 Vgl. Aischyl. Suppl. 882–965; Ps.-Aischyl. Prom. 937–1079. 971 Vgl. Aischyl. Sept. 677–719. 972 Hierin weiche ich von Scodel (1999b) ab. Sie beobachtet zwar korrekt das bewusste »framing« euripideischer Redner, das damit m. E. einen Teil des metapragmatischen Repertoires ausmacht: »Rhetorical/performance framing devices, in my definition, are the following: 1. Opening hesitations that indicate the speaker’s awareness that the speech is open to Beurteilung […]. 2. References to a competitive context for the speech in the hearing of the speakers. 3. Comments by the speaker or others about how to listen and evaluate. 4. Moral evaluations that compare or contrast the ethos of the speaker with the speech. These include the “good speech, bad cause” topos and its near-opposite, the claim that a good speaker can always find argument.« (Scodel (1999b) 138f.). Jedoch schreibt sie diesen Ausdrücken eine rein performative, nicht persuasive oder kommunikationsorganisierende Funktion zu: »One strong tendency in Euripides’ treatment of rhetorical occasions, then, is this drift towards the epideictic. Euripidean characters regularly enter the performance register in order to perform, not in order to accomplish anything beyond the performance itself.« (Scodel (1999) 132). Dies widerspricht dem o.g. Befund (Anm. 101) und wird in diesem Buch für alle drei Tragiker widerlegt: Denn tatsächlich wird in antiken wie modernen Redehandbüchern eine explizite und deklarative Ausdrucksweise empfohlen, vgl. Hermogenes, περὶ ἰδέων p. 238 Rabe: τοιαῦτα δὲ σχήματα καὶ ὁ μερισμὸς καὶ ἡ ἀπαρίθμησις· τὸ μὲν γὰρ ἐφέλκεσθαι ἄλλα νοήματα περιβάλλει τὸν λόγον, τῷ δ’ εὐθὺς ἀρχομένου τοῦ λέγοντος ἐμφαίνεσθαι τοῖς ἀκούουσιν, ὅτι ἕπεται καὶ ἄλλο τι νόημα, προδιηυκρίνηται τὸ πᾶν·; s.a. Roehreke (2010) 90f.; Franken & Franken (2011) 143f. 174–177. 973 Caffi (2006) 86 sieht den Zweck der metapragmatischen Aussagen generell im »dialogue management in terms of communicative effectiveness.« 974 Aischyl. Sept. 717: οὐκ ἄνδρ’ ὁπλίτην τοῦτο χρὴ στέργειν ἔπος; Aischyl. Ag. 916: μάκραν γὰρ ἐξέτεινας. 918f.: καὶ τἄλλα μὴ γυναικὸς ἐν τρόποις ἐμὲ / ἅβρυνε.

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Schlussfolgerungen

Bei Sophokles und Euripides treffen alle drei Funktionen zu, wobei v.a. die dritte, explikative Funktion deutlich zunimmt: Metapragmatische Ausdrücke wie ἔχθιστος γεγώς (Eur. Med. 467. Soph. Phil. 1284) oder κάκιστος ὤν (Eur. Hipp. 944) werden zu quasi formelhaften Ausdrücken der Beurteilung und Ablehnung des Gesprächspartners.975 So wird hier die Plausibilisierung einer vergeblichen Rede explizit dargestellt. Dem Zuschauer bleiben keinerlei Zweifel über die mentale und kommunikative Situation zwischen den Sprechern. Generell werden auf dieser Ebene reale Macht- und Autoritätskämpfe sichtbar, die sich auf die kommunikative Ebene verlagern. Metapragmatik ist immer auch ein Dienst der Autoren am dramenexternen Publikum. Aus diesen Überlegungen zur metapragmatischen Kompetenz der tragischen Figuren können auch Rückschlüsse über das Reflexionsniveau der Autoren selbst gezogen werden: Indem Aischylos kaum explizite Beurteilungen von Rhetorik bietet, spielt er mit dem rhetorischen Potential des Publikums und vertraut auf dessen aktive Teilnahme am Rezeptionsprozess. Seine Konstruktion scheiternder Redeszenen mit einer Plausibilisierung durch mangelnde Rezipientenanpassung beweist seine eigene rhetorische Kompetenz,976 Sprache reflektiert und als Stellvertreter für soziale Macht zu verwenden. Sophokles und Euripides zeigen – explizit fassbar – höheres metapragmatisches Bewusstsein und somit die Fähigkeit, die Darstellung von Kommunikation sowie die Rezeption durch ihr Publikum stringenter zu führen und anzuleiten. Aufgrund dieser Anspielungen auf rhetorische Konzepte und Aspekte ist nicht nur eine höhere Rhetorisierung der Autoren, sondern auch des Publikums vorauszusetzen,977 dem aber weniger Interpretationsspielraum gelassen wird. Diese Beobachtung folgt der gängigen Tragödienforschung, in der zumindest Euripides eine höhere Rhetorisierung zugeschrieben wird.978 Angesichts der hohen Rhetorisierung des sophokleischen Philoktet und der plot-Fokussierung auf πειθώ darf dieses Urteil m. E. durchaus auf Sophokles übertragen werden.

975 Kreons Bemerkung in Soph. Ant. 632f. (ὦ παῖ, τελείαν ψῆφον ἆρα μὴ κλυὼν / τῆς μελλονύμφου πατρὶ λυσσαίνων πάρει;) ist nicht Teil dieser Formulierung. 976 Vgl. dazu auch die Redestandards im aischyleischen Werk: Αischyl. Suppl. 194–204. 247–275. Aischyl. Sept. 1: λέγειν τὰ καίρια bzw. Aischyl. Ag. 1372f.: πολλῶν πάροιθεν καιρίως εἰρημένων / τἀναντί’ εἰπεῖν οὐκ ἐπαισχυνθήσομαι·. S.a. Tabelle 1 und Kap. 8.3. 977 Vgl. Fuhrmann (2011) 16–30; Müller (2011) 13f. 978 Vgl. etwa Battezzato (2017) 164; Egli (2003) 191–197; Riedweg (2000).

Textanalyse: Auktoriale Rezeptionslenkung

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5.1.5 ἦθος des Sprechers; Autoritätsverhältnis Sprecher – Interlokutor Aischylos begründet scheiternde Rhetorik nicht mit szenenübergreifenden Charakteraspekten, sondern mit redeinternen Merkmalen;979 Sophokles und Euripides unterstreichen dagegen die Diskreditierung der Sprechercharakters aus Sicht des Adressaten und erklären damit explizit die Unnachgiebigkeit seines Adressaten.980 Redeexterne Merkmale werden in späterer Zeit relevanter, wobei im spätesten hier betrachteten Stück, dem sophokleischen Philoktet, die charakterliche Disqualifizierung, die zur Unüberzeugbarkeit des Adressaten führte, genau durch die Trugreden des Neoptolemos an Philoktet erzeugt wurde – also eine doppelte Absage an die positive, verbindende Kraft von Rhetorik. Bei Aischylos wird das Potential von Rhetorik und Kommunikation durch Rangunterschiede begrenzt (Aischyl. Sept. 677–719), doch auch die plötz­liche Umkehrung oder Infragestellung dieser Rangunterschiede (Aischyl. Sept. 182– 286. Suppl. 882–965. Ag. 810–974. Ps.-Aischyl. Prom. 937–1079) trägt zur Dramatik bei, da dies oftmals mit Gewaltandrohungen quittiert wird. Bei Aischylos erscheinen Herolde – aufgrund ihrer Stellvertreterrolle – sowie Frauen – insofern sie nicht manipulieren wie Klytaimestra – argumentativ unflexibel. Dem Chor gelingt kein einziger rhetorischer Erfolg.981 Bei Sophokles und Euripides treten Autoritätsaspekte dagegen zurück, da die Charaktere ihre sozialen Ränge nicht überschreiten wollen. Sprecher verbleiben stets innerhalb ihrer sozialen Rolle und nehmen vielmehr Anstoß an den individuellen982 Taten ihres Gesprächspartners. Statische Autoritätsverhältnisse bedingen Erfolg und Scheitern aischyleischer Rhetorik,983 während eher spezifische Charaktereigenschaften des einzelnen Sprechers in den betrachteten sophokleischen und euripideischen Szenen problematisiert werden. 979 Das negativ charakterisierte ἦθος des ägyptischen Herolds in den Hiketiden (Aischyl. Suppl. 882–965) erscheint nicht zentral bei der Unterredung mit Pelasgos, sondern vielmehr seine Rede, die ihn so charakterisiert. 980 Vgl. die quasi formelhafte Wendung ἔχθιστος γεγώς (Eur. Med. 467. Soph. Phil. 1284) bzw. κάκιστος ὤν (Eur. Hipp. 944) und σωφρονέστερος γεγώς (Eur. Hipp. 955). S.a. Ps.-Aischyl. Prom. 1040f.: εἰδότι τοί μοι τάσδ’ ἀγγελίας ὅδ’ ἐθώϋξεν· / πάσχειν δὲ κακῶς ἐχθρὸν ὑπ’ ἐχθρῶν οὐδὲν ἀεικές. Diese Wortwahl erinnert auch an die Thersites-Szene in Hom. Od. 2,222–269, dessen Zuhörer ihn bereits vor seiner Ansprache als ἔχθιστος bezeichnen, vgl. Hessler (2019) 7f. 981 Vgl. auch die Hikesie in Aischylos’ Hiketiden. 982 Im Gegensatz dazu sorgte die reine Autoritätsbedrohung durch Herold bzw. Hermes in Aischyl. Suppl. bzw. Ps.-Aischyl. Prom. für einen Konflikt, der unabhängig von der konkreten Heroldspersönlichkeit war. 983 Diese Relevanz von Autoritätsverhältnissen, deren Anfechtung oft durch Gewaltdrohungen zurückgedrängt wird, erinnert an die archaische Autoritätsordnung, die wir etwa in Hom. Od. 2,222–269 im Kontext von Odysseus’ autoritärem Umgang mit dem Redner Thersites finden, vgl. Hessler (2019) 7f.

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Schlussfolgerungen

5.1.6 Charakterisierung durch Rhetorik: Der Blick hinter die Maske Die in diesem Buch beobachteten rhetorischen Verhaltensweisen können zuletzt einen Beitrag zur tragischen Charakterforschung leisten: Seit Neuestem wird darauf hingewiesen, das Tragödienpublikum müsse, um hinter die Maske der tragischen Charaktere zu sehen, den zugrundeliegenden statischen Charakter einer Figur aus ihren diversen Äußerungen und Handlungen konstruieren.984 Hieraus entspringt auch das Konzept des mind style, also der typischen Sprechweise eines Charakters als Ausdruck seiner Gedankenwelt.985 Ziehen wir entsprechende Schlüsse aus den Äußerungen und kommunikativen Verhaltensweisen der hier analysierten Charaktere, ergibt sich ein differenziertes Bild bezüglich autorenspezifischer Charakterzeichnung: Aischylos’ Charaktere verhalten sich in nur zwei Fällen adaptiv (Aischyl. Sept. 182–286. Ag. 810–974), ansonsten fällt der mangelnde praktische Einsatz von Theory of Mind auf beiden Seiten auf. Damit verbleiben sie tendenziell innerhalb der Grenzen ihrer eigenen Gedankenwelt und rücken kaum von ihrem ursprünglichen Standpunkt ab. So wie oben schon die Starrheit von Rangunterschieden in aischyleischen rhetorischen Konstellation verdeutlicht wurde (s. Kapitel 5.1.5),986 zeigt sich auch hier ein Mangel an rhetorischer Flexibilität: Aischylos’ Darstellung kommunikativer Kompetenz plausibilisiert scheiternde Rhetorik und zeichnet gleichzeitig aischyleische Charaktere als tendenziell starr.987 Diese charakterliche und kognitive Diskrepanz zwischen den Charakteren erzeugt Tragik und lässt den Zuschauern Spielraum bei der Interpretation, was hinter der Maske des Charakters vor sich geht. Die analysierten sophokleischen und euripideischen Charaktere lassen sich dagegen in zwei kontrastierende Typen unterteilen: Auf der einen Seite begegnen uns höchst adaptive Charaktere, die auch mit expliziten metapragmatischen

984 Easterling (1990); Budelmann (2000) 61–65. 87–91 weist aber darauf hin, dass speziell sophokleische Charaktere aufgrund ihrer charakterlichen Tiefe nie gänzlich erfasst werden können. Zum stärker werdenden Fokus auf das Innenleben der Charaktere, vgl. schon Segal (1986) 99; Goldhill (1986) 179–180. Vom Blick hinter die Maske rät dagegen ab Griffith (1999b) 37f.: »[…] we are not encouraged by the text to ponder the inner workings of their minds. The meaning of the play lies for the most part elsewhere.« 985 So beobachtet Emde Boas (2020) 114 die zahlreichen Fragen des Ödipus in Soph. Oid. T. als Ausdruck seiner unruhigen Gedankenwelt – da Ödipus die Antworten auf seine Fragen nicht richtig versteht, wird er als isoliert gezeichnet. S.a. Emde Boas (2017b) 80–164 zur Charakterisierung von Euripides’ Elektra durch Sprache. Vgl. auch Budelmann & Easterling (2010) mit ihrem Beitrag zur Anwendung der Theory of Mind auf die attische Tragödie zur Erkenntnis des Innenlebens der Charaktere durch den Zuschauer. 986 Vgl. auch Jones (1962) 114. 122. 987 Zu diesem Schluss kommt auch Knox (1966) 213: »Aeschylean drama is linear; its principal figures, their decision once made, pursue their chosen course to the bitter end.«

Textanalyse: Auktoriale Rezeptionslenkung

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Aussagen immer wieder Anschluss an ihren Gesprächspartner suchen,988 aber erfolglos bleiben. Als ihr Gegenüber treten andererseits unverrückbare Charaktere auf, die jedwede Meinungsänderung ihrerseits aufgrund eines individuellen Fehltrittes des Sprechers kategorisch ablehnen, wiederum mit metapragmatischen Ausdrücken zur Verdeutlichung ihrer Position.989 Interpretieren wir diese Tendenzen als mind style, ergeben sich quasi kommunikative Kategorien für den jeweiligen Charaktertypen bei Sophokles und Euripides: Expliziter Bezug auf den Gesprächspartner und markierte politeness bzw. deutliche Ablehnung und markierte impoliteness. Diese Beobachtung harmoniert mit der bisherigen Forschung zum sophokleischen Helden, der gedanklich unerreichbar, kompromisslos und nicht kooperativ ist.990 Solche Eigenschaften werden durch den Einsatz von erfolgloser πειθώ verdeutlicht, wie etwa Sophokles’ Philoktet beweist.991 Doch gehen die Ergebnisse des vorliegenden Buches über diese Forschungsmeinung hinaus: Einerseits gilt diese Unerreichbarkeit des sophokleischen Helden auch für andere Charaktere, denn auch Kreon992 in der sophokleischen Antigone sowie Euripides’ Medea und Theseus kommunizieren unkooperativ; andererseits steht diesen Charakteren jeweils zwingend ein adaptiv gezeichneter Gesprächspartner gegenüber. Tragisch erschwerend kommt in Sophokles’ Philoktet hinzu, dass die im Nachhinein so adaptive Figur des Neoptolemos seinen schlechten Ruf bei Philoktet erst durch seine gezwungene Mitwirkung an Odysseus’ Intrige und daher durch täuschende Rhetorik erzeugte. Solche Dichotomien zwischen ablehnendem Gesprächspartner und adaptiv bemühtem Redner unterstreichen die dilemmatische Tragik der Figuren in ihrer gesamten Tragweite. Fehlende kommunikative Kooperation, d.h. aktive und passive Unfähigkeit zur πειθώ ist zentrales Charakterisierungselement der Figuren aller drei Tragiker.

988 Vgl. Haimon in Soph. Ant. 631–780; Hippolytos in Eur. Hipp. 902–1101; Neoptolemos in Soph. Phil. 1261–1471. S. Kapitel 3.1.1.4; 3.1.2.4; 3.1.4.4. 989 Vgl. Kreon in Soph. Ant. 631–780; Theseus in Eur. Hipp. 902–1101; Medea in Eur. Med. 446–626; Philoktet in Soph. Phil. 1261–1471. S. Kapitel 3.1.1.4; 3.1.2.4. 3.1.3.4. 3.1.4.4. 990 Vgl. Knox (1964) 8: »The hero decides against compromise, and that decision is then assailed, by friendly advice, by threat, by actual force. But he refuses to yield […].« S.a. Lefèvre (2001) passim. 991 Auch in Soph. Ai. 592 (Tekmessa an Aias) und Soph. El. 402. 429 (Chrysothemis an Elektra) wird die Unverrückbarkeit des sophokleischen Heldens durch scheiternde Rhetorik verdeutlicht. 992 Kamerbeek (1978) 29 stellt zwar Kreons Unerreichbarkeit fest, verweigert ihm aber den Heldenstatus: »In Sophocles, the tragic hero never yields and never do his principles prove a sham – as they do in Creon’s case.« Denn Kreon ändert im Nachhinein seine Meinung, während Antigone dies nie getan hätte. Dieser Begriff der Helden ist aber auch infrage zu stellen, da etwa dem sophokleischen Philoktet somit kein Heldentum zugeschrieben werden könnte.

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Schlussfolgerungen

5.2 Zwischen Kanonisierung und Fluidität des Mythos: Vorläufiges Scheitern als narratives Instrument und Reflexionsrahmen für literarische Mythenbearbeitung (Kapitel 4) Die narrative und mythologische Analyse ausgewählter vorläufig scheiternder Rhetorik zeigt, dass diese Szenen durchaus als narrative εἰ μή-Situationen oder markierte Mytheninnovationen gelesen werden können: Damit kommt den vorläufig scheiternden Redeszenen eine noch wichtigere Funktion zu als die der Retardierung oder der Rednercharakterisierung. Die narrative Technik der εἰ μή-Situation nimmt in Aischylos’ Szenen weniger komplexe Formen an (Aischyl. Sept. 182–286. Suppl. 234–467): Der exponierte plot wird durch eine plot-Alternative infrage gestellt, die aber rhetorisch wieder verworfen wird. Bei Sophokles und Euripides (Soph. Phil. 1259–1471. Eur. Med. 271–409) verhält sich diese ursprünglich dreischrittige Entwicklung von Exposition des plots, Digression von und Regression hin zu diesem exponierten plot komplexer und wurde mit vielfältigen plot-Alternativen konterkariert. Diese narrative Technik aktiviert in beiden Fällen ein ideales Publikum zur selbstständigen Konstruktion möglicher alternativer plot-Verläufe, betont aber auch den gewählten plot als kanonisierenswert.993 Eine ähnliche Technik finden wir auf intertextueller bzw. mythologischer Ebene in den beobachteten Mytheninnovationen (Aischyl. Ag. 810–974. Soph. Oid. T. 300–462. Phil. 50–135). Hier wird mit dem Mechanismus einer alternativen plot- und Mythenversion, die fast eintritt, auf die bereits vom Autor gewählte und innovierte Version hingewiesen. Durch die Notwendigkeit der Argumentation, um die alternative Mythenversion zu verwerfen, verlagert sich der plot auf die innere Welt der Charaktere: Ödipus muss sich selbst erkennen, statt von Teiresias direkt die Wahrheit zu erfahren; Neoptolemos muss Odysseus’ Intrigenplan folgen und so Philoktet rhetorisch manipulieren. Vorläufig scheiternde plot-Alternativen werden hier als Markierung der Mytheninnovation des Autors benutzt. Im Falle von Sophokles’ Philoktet (Soph. Phil. 50–135) ist sogar ein Kommentar des Autors zu den Mythenversionen seiner Vorgänger zu beobachten: Indem er Odysseus für die Eignung der Figur des Neoptolemos für die Intrige argumentieren lässt, wendet sich Sophokles implizit gegen seine Vorgänger, die Odysseus unverkleidet (Aischylos) bzw. von Athene verwandelt (Euripides) auftreten ließen. Die vorläufige Weigerung des Charakters Neoptolemos, sich in den plot einzufügen, markiert seine Neueinführung durch Sophokles. Gleichzeitig exponiert Sophokles damit einen komplexen plot: Denn Neoptolemos’ 993 Dies entspricht also der von de Jong (1987) 68 vorgeschlagenen Funktion der εἰ μήSituation für Homer.

Schlusswort

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im Prolog aufgedeckte φύσις wird sich im Endeffekt nur schwerlich in den σόφισμα-plot einfügen lassen.994 Gemeinsam haben die beobachteten Techniken, dass sie ihren Autoren erlauben, die Besonderheit ihres plots bzw. Mythenversion zu betonen: sei es der alleinige Mord durch die Ehefrau (Aischyl. Ag.), die besondere Tragik eines verfluchten Krieges (Aischyl. Sept.), die Unfähigkeit zur Selbsterkenntnis (Soph. Oid. T.) oder ein dramatisch problematischer Charakter (Soph. Phil.). Durch die Anwendung dieser narrativen und mythopoetischen Techniken wird der Autor hinter dem Text greifbar, der mit den als historisch angesehenen995 Grundgegebenheiten der Mythen spielt.

5.3 Schlusswort Diese rhetorische und dramatische Analyse scheiternder Redeszenen im tragischen Genre zeigt, dass die eingangs besprochenen aischyleischen Hiketiden996 kein Einzelfall sind: Vielmehr wird in zahlreichen Szenen aller drei attischen Tragiker klar, dass das tragische Genre zwar per se dialogisch ist, gleichzeitig aber kontinuierlich die Grenzen zwischenmenschlicher Verständigung aufzeigt. Die Dramatisierung dieser selten reibungslosen Kommunikation gelingt weniger durch formale Strukturen wie dem euripideischen Agon, der qua Form einen designierten Verlierer impliziert, sondern beruht eher auf individuellen Charakterintentionen und deren dramatischen Implikationen. Besonders bedeutsam ist es hierbei, erstmals auch die frühe Tragödie in ihrer Protorhetorik zu würdigen997 und einen diachronen Vergleich der drei Tragiker anzuregen. Doch erachten die drei Tragiker auch jedwede Beschäftigung mit Rhetorik als vergeblich, wenn sie ihre Charaktere fortwährend scheitern lassen? Aischylos fokussiert vor allem auf konkrete Handlungen als Treiber des plots und lässt die Rhetorik seiner Charaktere scheitern, weil sie nicht in die äußeren Rahmenbedingungen passt und die Gedankenwelten ihrer Adressaten nicht ­berücksichtigen kann; er thematisiert das Innenleben seiner Charaktere kaum. Rhetorik ist daher, wenn sie sich über die äußeren Gegebenheiten hinwegsetzen kann, durchaus ein potentes Handlungsmittel (vgl. Eteokles und Klytaimestra). Sophokles und Euripides dagegen, die mehr Wert auf das Innenleben ihrer Charaktere legen, stellen selbst angepasste Rhetorik sehr wohl als wirkungslos dar. Diese Rhetorikskepsis wird nicht nur durch die bereits erforschten rheto 994 Obwohl in der Helenosprophezeiung (vgl. die πείθειν-Klausel) gefordert, wird also aufrichtige Überzeugung im Philoktet als unmöglich verworfen, da Philoktet als Resultat der gescheiterten Überzeugungsversuche Rhetorikskepsis zeigt. 995 Vgl. Neumann (1995) 9–15. 996 Vgl. Kapitel 1.1.3. 997 Damit ergänzt dieses Buch die rhetorikreflexiven Beobachtungen von Gondos (1996).

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Schlussfolgerungen

rikkritischen Bemerkungen von Charakteren offenbar,998 sondern ist zentrales Strukturelement sophokleischer und euripideischer Überzeugungsszenen, wie besonders der wiederholte Misserfolg von Rhetorik im sophokleischen Philoktet zeigte.999 Es darf als besonders ironische literarische Strategie der drei Tragiker gelten, wenn sie im Rahmen des Tragödienagons in ihren mündlich aufgeführten, hoch rhetorisierten Dramen das gesprochene Wort – insofern es nicht genau dem Publikum angepasst ist – als irrelevant darstellen und damit auch eine Zurückhaltung gegenüber rhetorischem Könnensbewusstsein nahelegen. Denn trotz der Allgegenwärtigkeit von intradramatischer scheiternder Rhetorik verfehlen sie selbst, was extradramatisches Rezipientenbewusstsein angeht, nie ihre Wirkung auf frühere und heutige Zuschauer. Daher zeugt ihr Umgang mit intradramatischem rhetorischem Erfolg und Scheitern von ihrer eigenen rhetorisch-literarischen Kompetenz.1000

998 Vgl. Jouan (1984); Scodel (1999b) 7; Battezzato (2017) 164f. 999 Vgl. aber auch Soph. Oid. T.; Ant.; Eur. Med., Hipp., Hec. u.a. Allgemein zu Ineffektivität von Sprache, s. Martin (im Erscheinen). 1000 Scheiternde Reden sind im ausgehenden 5. Jh.s auch in der zeitgenössischen Historiographie zu verzeichnen (vgl. etwa den Melierdialog in Thuk. 5,84–115), sodass weitere einschlägige Forschungen eine deutliche Verbindung zur dichterischen und rhetorischen Praxis der drei Tragiker ans Licht bringen dürften.

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Abkürzungsverzeichnis antiker Werke und Autoren

rhet. Alex.

rhetorica ad Alexandrum

Aischylos Aischyl. Ag. Agamemnon Choeph. Choephoroi Eum. Eumenides Septem adversus Thebas Sept. Suppl. Supplices Ps.-Aischyl. Pseudo-Aischylos Prom. Prometheus Antiph. Antiphon Apoll. Rhod.

Apollonios Rhodios

Aristoph. Aristophanes Av. Aves Pax Pax Ran. Ranae Thesm. Thesmophoriazusae Aristot. Aristoteles poet. poetica rhet. rhetorica top. topica Cic. Cicero de inventione inv. Demosth. Demosthenes or. orationes Diog. Laert.

Diogenes Laertios

Dion Chrys.

Dion Chrysostomos

Dion. Hal. Lys.

Dionysios Halicarnasseus de Lysia

Eur. Euripides Alc. Alcestis Andr. Andromacha Bacch. Bacchae

282

Abkürzungsverzeichnis antiker Werke und Autoren

Hec. Hecuba Hel. Helena Heraclid. Heraclidae Hipp. Hippolytus Iph. T. Iphigenia Taurica Med. Medea Or. Orestes Phoen. Phoenissae Suppl. Supplices Tro. Troades Gorg. Gorgias Hel. Helena Hdt. Herodotos Hom. Homeros Il. Ilias Od. Odyssee Isokr. Isokrates Lykophr. Lykophron Lys. Lysias Paus. Pausanias Pind. Pindar I. Isthmien O. Olympien P. Pythien Plat. Platon Gorg. Gorgias leg. leges Phaidr. Phaidros Prot. Protagoras Plut. Plutarch Per. Pericles Quint. Quintilianus institutio oratoria inst. Soph. Sophokles Ai. Aias Ant. Antigone El. Electra Oid. K. Oedipus Coloneus Oedipus Rex Oid. T.

Sekundärliteratur Phil. Philoctetes Stesich. Stesichoros Stob. Stobaios Thuk. Thukydides Xen. Xenophon mem. memorabilia

283

Tabellen und Verzeichnis der metapragmatischen Aussagen

Anteil Ch. 3

15

2

13

Et.

Chor

______

14,15%

4,35%

21,67%

80,00%

20,00%

4

0

4

Et.

Chor

9,30%

0,00%

9,30%

75,00%

25,00%

29

9

20

Pe.

Chor

11,33%

8,91%

12,90%

72,41%

27,59%

15

4

11

He.

Pe.

Chor

16,13%

11,11%

19,30%

60,00%

40,00%

0,00%

22

17

5

Kl.

Ag.

______

13,33%

11,18%

38,46%

54,55%

45,45%

35

9

26

Her.

Pr.

Chor

24,31%

18,37%

26,80%

45,71%

40,00%

14,29%

Gesamtverszahl der Szene

Anteil Ch. 2

Verteilung m. V. auf Charaktere

Anteil Ch. 1

Anteil m. V. in stichomythischer Form

Anteil m. V. in Rhesisform

Anteil metapragmatischer Verse

Tabelle 1: Metapragmatikanteil der analysierten Szenen

Aischylos Aischyl. Sept. 182–286 Aischyl. Sept. 677–719 Aischyl. Suppl. 234–489 Aischyl. Suppl. 882–965 Aischyl. Ag. 810–974 Ps.–Aischyl. PV 937–1080

______ ______

106 43 256 93 165 144

Sophokles & Euripides (chronologisch) Soph. Ant. 631–780 Eur. Hipp. 902–1101 Eur. Med. 446–626 Soph. Phil. 1259–1471

27

13

14

Hai.

Kr.

Chor

18,00%

13,00%

28,00%

55,56%

29,63%

14,81%

46

31

15

Hip.

The.

Chor

23,00%

21,38%

27,27%

56,52%

39,13%

4,35%

43

26

17

Ja.

Me.

Chor

23,76%

19,55%

35,42%

58,14%

37,21%

4,65%

53

17

34

Ne.

Phi

He.

24,88%

17,89%

28,81%

43,40%

45,28%

11,32%

150 200 181 213

285

Tabelle 2

Anteil metapr. Verse

Anzahl metapr. Verse vs. gesamt

Tabelle 2: Signifikanztest – Metapragmatikanteil der behandelten Tragödien

Aischylos Septem

5,84%

63 1004

Supplices

10,07%

108 1073

Agamemnon

9,62%

161 1673

Choephoren

11,80%

127 1076

Eumeniden

10,98%

115 1047

Prometheus Vinctus

18,57%

203 1093

Ø Aischylos mit PV

11,0%

Ø Aischylos ohne PV

9,6%

Sophokles Antigone

11,60%

157 1353

Philoktet

13,32%

196 1471

Ø Sophokles

12,5%

Euripides Hippolytos

13,71%

201 1466

Medea

12,33%

175 1419

Ø Euripides

13,0%

Versverzeichnis der metapragmatischen Aussagen

Aischylos Septem 1, 7, 24, 41, 42, 68, 76, 100, 142, 143, 181, 202, 223, 232, 243, 250, 252, 258, 259, 260, 261, 262, 263, 264, 279, 375, 451, 457, 458, 480, 481, 486, 489, 501, 526, 553, 562, 563, 568, 596, 631, 632, 658, 712, 713, 715, 717, 742, 806, 807, 810, 873, 874, 1005, 1012, 1025, 1026, 1042, 1043, 1049, 1053, 1054, 1065. Supplices1001 113, 114, 115, 116, 117, 129, 136, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 232, 233, 236, 245, 246, 247, 248, 249, 271, 272, 273, 274, 277, 289, 293, 295, 310, 320, 322, 333, 336, 342, 353, 398, 446, 455, 456, 460, 464, 466, 467, 500, 502, 504, 507, 512, 515, 517, 518, 519, 521, 522, 523, 527, 536, 580, 588, 590, 591, 602, 625, 626, 710, 711, 712, 774, 775, 873, 882, 910, 919, 921, 923, 926, 928, 930, 931, 932, 933, 938, 948, 949, 973, 974, 975, 976, 991, 992, 993, 994, 995, 996, 1012, 1022, 1040, 1059, 1060, 1070, 1072. Agamemnon 1, 18, 26, 27, 31, 36, 37, 38, 39, 84, 85, 97, 146, 159, 162, 248, 251, 252, 261, 262, 263, 264, 266, 268, 269, 272, 276, 315, 316, 317, 319, 323, 348, 351, 352, 353, 385, 477, 478, 498, 512, 514, 543, 545, 582, 583, 593, 598, 615, 616, 617, 620, 622, 625, 629, 634, 635, 636, 648, 680, 738, 785, 805, 810, 811, 829, 830, 838, 844, 851, 855, 856, 857, 859, 886, 895, 896, 903, 915, 916, 931, 940, 941, 943, 955, 998, 1047, 1049, 1050, 1051, 1052, 1053, 1054, 1060, 1061, 1074, 1089, 1095, 1112, 1120, 1131, 1132, 1173, 1187, 1195, 1196, 1197, 1201, 1203, 1213, 1216, 1223, 1232, 1233, 1246, 1247, 1248, 1286, 1291, 1292, 1295, 1296, 1312, 1325, 1338, 1344, 1348, 1358, 1372, 1394, 1399, 1400, 1402, 1403, 1412, 1421, 1427, 1475, 1476, 1477, 1481, 1482, 1491, 1496, 1515, 1577, 1584, 1613, 1615, 1616, 1619, 1620, 1628, 1629, 1630, 1631, 1632, 1654, 1662, 1663, 1664. Choephoren 87, 88, 89, 90, 91, 94, 98, 99, 105, 107, 108, 109, 110, 112, 113, 116, 118, 120, 121, 122, 129, 130, 149, 150, 151, 175, 181,192, 193, 195, 196, 224, 239, 240, 252, 265, 266, 267, 309, 310, 315, 316, 372, 373, 374, 398, 411, 418, 419, 434, 444, 456, 457, 480, 500, 526, 527, 528, 540, 554, 559, 581, 582, 583, 584, 655, 657, 659, 666, 667, 668, 679, 688, 689, 690, 725, 734, 735, 736, 737, 767, 770, 771, 772, 773, 774, 778, 779, 781, 783, 788, 838, 839, 840, 844, 845, 846, 847, 848, 850, 851, 852, 853, 854, 855, 856, 857, 858, 882, 883, 885, 886, 887, 917, 926, 931, 997, 1014, 1015, 1026, 1027, 1029, 1030, 1040, 1044, 1045, 1073, 1074.

1001 NB Wests Umstellung der Verse 873–884 in die Reihenfolge 882–884, 876–881, ­872–875. Diese ist in diesem Verzeichnis nicht berücksichtigt.

Versverzeichnis der metapragmatischen Aussagen

287

Eumeniden 1, 2, 3, 4, 18, 20, 21, 22, 24, 33, 45, 47, 64, 98, 114, 115, 116, 118, 124, 131, 142, 179, 190, 198, 201, 202, 203, 206, 215, 221, 227, 276, 277, 278, 279, 303, 304, 306, 408, 415, 419, 420, 428, 431, 433, 436, 437, 442, 443,444, 447, 448, 453, 454, 463, 531, 538, 566, 571, 574, 575, 576, 582, 583, 585, 586, 590, 591, 592, 609, 611, 612, 613, 614, 615, 622, 638, 640, 642, 643, 657, 662, 674, 675, 679, 707, 710, 713, 714, 719, 737, 788, 794, 804, 818, 826, 829, 830, 836, 847, 852, 866, 881, 885, 886, 892, 899, 900, 938, 948, 957, 970, 971, 979, 1014, 1021. Pseudo-Aischylos Prometheus Vinctus 36, 44, 47, 51, 66, 67, 68, 72, 73, 78, 79, 90, 91, 98, 99, 101, 106, 107, 115, 172, 173, 174, 175, 180, 184, 185, 186, 193, 196, 197, 198, 203, 204, 214, 215, 226, 227, 266, 272, 273, 274, 277, 293, 294, 295, 307, 308, 311, 312, 317, 325, 326, 327, 328, 329, 333, 336, 340, 377, 378, 382, 387, 393, 397, 436, 437, 441, 442, 443, 445, 446, 476, 477, 500, 505, 520, 522, 534, 546, 564, 588, 589, 593, 594, 605, 607, 608, 609, 610, 611, 617, 618, 621, 622, 623, 624, 625, 626, 627, 628, 630, 631, 632, 633, 634, 640, 641, 642, 643, 647, 661, 662, 683, 684, 685, 686, 689, 690, 696, 697, 698, 701, 705, 706, 707, 740, 741, 743, 744, 745, 763, 765, 766, 773, 777, 778, 779, 780, 781, 782, 783, 784, 785, 788, 789, 801, 802, 816, 817, 819, 820, 821, 822, 823, 824, 825, 826, 827, 828, 842, 843, 844, 845, 870, 875, 876, 914, 928, 929, 945, 946, 950, 953, 954, 962, 963, 967, 973, 975, 977, 980, 983, 984, 986, 988, 989, 995, 1001, 1007, 1008, 1014, 1032, 1033, 1036, 1037, 1038, 1039, 1063, 1064, 1065, 1066, 1071, 1080. Sophokles Antigone 18, 19, 20, 31, 32, 37, 38, 42, 58, 61, 65, 66, 67, 69, 86, 87, 93, 164, 165, 185, 192, 193, 198, 218, 223, 224, 234, 238, 242, 244, 245, 248, 277, 280, 281, 282, 304, 305, 315, 316, 377, 402, 403, 405, 441, 443, 446, 447, 462, 490, 499, 500, 501, 505, 509, 534, 542, 543, 556, 561, 567, 681, 682, 685, 686, 691, 705, 706, 707, 708, 709, 718, 722, 723, 724, 725, 726, 727, 735, 740, 748, 749, 752, 753, 756, 757, 759, 771, 883, 884, 902, 903, 908, 916, 935, 991, 992, 993, 995, 997, 998, 1031, 1032, 1033, 1034, 1045, 1046, 1047, 1049, 1053, 1054, 1055, 1056, 1057, 1059, 1060, 1061, 1077, 1078, 1084, 1085, 1086, 1089, 1090, 1091, 1092, 1093, 1094, 1096, 1097, 1099, 1101, 1108, 1155, 1156, 1157, 1172, 1174, 1178, 1183, 1185, 1186, 1190, 1191, 1192, 1193, 1194, 1195, 1244, 1245, 1251, 1252, 1255, 1259, 1289, 1336, 1337. Philoktet 11, 12, 13, 14, 24, 25, 26, 27, 49, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 64, 79, 80, 86, , 97, 98, 99, 100, 101, 103, 107, 108, 109, 121, 130, 131, 136, 142, 150, 152, 153, 201, 209, 225, 230, 234, 241, 246, 300, 310, 319, 329, 332, 333, 338, 341, 389, 407, 408, 409, 414, 426, 433, 435, 436, 438, 441,461, 470, 485, 500, 507, 521, 557, 559, 560, 562,573, 574, 576, 579, 578, 580, 590, 591, 603, 604, 620, 624, 629, 630, 662, 729, 730, 736, 740, 741, 751, 752, 753, 804, 805, 804, 845, 852, 862, 863, 865, 897, 898, 904, 905, 909, 914, 915, 917, 938, 939, 951, 964, 980, 991, 994, 992, 1034, 1045, 1046, 1047, 1048, 1065, 1066, 1067, 1140, 1141, 1142, 1174, 1185, 1191, 1192, 1196, 1204, 1225, 1235, 1236, 1237, 1240, 1242, 1245, 1258, 1261, 1263, 1264, 1266, 1268, 1269, 1270, 1271, 1272, 1273, 1275, 1276, 1277, 1278, 1280, 1288, 1290, 1295, 1296, 1314, 1315, 1316, 1317, 1324, 1325, 1336, 1342, 1343, 1350, 1351, 1353, 1367, 1373, 1374, 1375, 1380, 1382, 1385, 1384, 1388, 1393, 1394, 1401, 1402, 1407, 1411, 1412, 1415, 1417, 1418, 1424, 1439, 1448.

288

Versverzeichnis der metapragmatischen Aussagen

Euripides Hippolytos 5, 9, 42, 60, 85, 86, 88, 89, 92, 95, 99, 100, 101, 113, 115, 116, 117, 118, 119, 181, 197, 213, 214, 223, 232, 244, 261, 262, 263, 264, 265, 266, 270, 271, 273, 278, 282, 283, 288, 289, 290, 291, 292, 296, 297, 298, 299, 300, 302, 303, 311, 312, 327, 330, 336, 338, 342, 343, 345, 346, 347, 350, 352, 353, 362, 363, 391, 393, 394, 395, 396, 397, 398, 413, 414, 482, 483, 484, 485, 486, 487, 488, 489, 490, 491, 498, 499, 502, 503, 508, 565, 568, 571, 576, 580, 585, 589, 590, 602, 603, 604, 608, 610, 625, 654, 655, 660, 665, 687, 688, 695, 696, 697, 703, 704, 706, 707, 712, 713, 714, 715, 724, 826, 827, 876, 881, 882, 883, 884, 891, 892, 904, 910, 911, 924, 928, 929, 930, 934, 950, 960, 961, 962, 964, 971, 972, 984, 985, 986, 987, 988, 989, 990, 991, 992, 993, 1007, 1008, 1021, 1025, 1026, 1033, 1036, 1037, 1038, 1039, 1045, 1055, 1056, 1057, 1058, 1060, 1061, 1084, 1085, 1088, 1091, 1111, 1142, 1143, 1144, 1157, 1158, 1159, 1162, 1171,1283, 1284, 1285, 1288, 1289, 1296, 1298, 1299, 1300, 1313, 1314, 1412, 1443, 1449, 1450, 1451. Medea 49, 50, 51, 61, 63, 64, 65, 66, 67, 72, 73, 81, 82, 113, 125, 126, 127, 128, 131, 132, 134, 141, 148, 149, 150, 168, 173, 174, 175, 176, 181, 184, 185, 205, 214, 215, 259, 270, 271, 272, 274, 282, 306, 312, 314, 315, 316, 321, 325, 326, 333, 336, 337, 338, 350, 351, 354, 364, 368, 369, 370, 450, 451, 452, 453, 465, 466, 473, 474, 475, 492, 496, 497, 520, 521, 523, 524, 525, 526, 532, 535, 536, 545, 546, 547, 548, 576, 577, 580, 581, 582, 583, 584, 585, 586, 587, 588, 589, 609, 610, 611, 612, 619, 620, 663, 664, 665, 674, 678, 691, 693, 699, 701, 705, 707, 709, 731, 733, 734, 741, 748, 752, 772, 773, 775, 776, 780, 790, 811, 813, 814, 819, 854, 866, 867, 868, 869, 884, 889, 892, 908, 927, 929, 932, 933, 964, 965, 1009, 1010, 1011, 1069, 1081, 1082, 1090, 1120, 1127, 1129, 1132, 1133, 1134, 1222, 1225, 1273, 1307, 1310, 1319, 1320, 1336, 1351, 1352, 1358, 1359, 1404, 1405, 1410.

Stellenregister antiker Textstellen

Aischyl. Ag. 385 170 538 73 810–974 35, 36, 81, 156, 266 810f. 82 877 114, 256 905–907 208 916ff. 114, 117, 256, 261 917–920 113 918f. 117 930–943 109 933–935 119 935 114 937 119 939 119 943 31, 133 1372 44, 114 1372f. 117, 256, 262 Aischyl. Choeph. 885–930 34 1002 47 1028 47 Aischyl. Eum. 73 47 707 87 Aischyl. Sept. 182–286 34, 41, 81, 98, 113, 114, 118, 201, 259, 263, 264, 266, 284 202 72, 201 245–263 109 677–719 17, 60, 99, 113, 115, 116, 118, 137, 202, 261, 263, 284 712 108 1045 71 Aischyl. Suppl. 194–203 14 234–467 214

882–965 69, 112, 118, 261, 263, 284 882f. 71 911–965 114, 115 Apoll. Rhod. 3,948–1145 159 4,109–211 159 Aristoph. Av. 1547 100 Aristoph. Pax 1270 202 Aristoph. Ran. 771–778 12 971–978 24 1010–1012 196 1491–1499 24 Aristoph. Thesm. 786–791 43 Aristot. poet. 1449a14–19 100 1451b15–19 196 1453b22–26 200, 219 1454a15–26 38 1454a15–b 38 Aristot. rhet. 1355b26f. 18, 21 1355b37–39 21 1356a1–4 21 1356a19f. 21 1356b30–32 21 1358a10–14 21 1358b22–24 227 1375a22–1371b11 16 1377b 37 1388b–1391b 22 1408a10–b20 14 1416a 37

290

Stellenregister antiker Textstellen

Aristot. top. 100b21–23 21 Cic. inv. 1,20–26 38 Demosth. or. 27,2 144 55,7 144 Diog. Laert. 3,56 100 Dion Chrys. 52,2 231 52,6 235 52,13 236 52,13f. 235 52,15 231 172, 233, 238 52,16 52,16f. 171 52,17 172 Dion. Hal. Lys. 44 17 Eur. Alc. 337 156 386 156 463 156 1061 156

192, 260 902–915 34, 139, 260, 265, 284 902–1101 904 139 915–935 165 944 113, 192, 193, 257, 262, 263 113, 188, 193, 263 955 960–970 191 983–1035 157 986f. 31 Eur. Med. 259–263 245 271–409 266 245, 246 371–377 446–626 34, 153, 260, 265, 284 457–459 153 467 113, 144, 188, 192, 193, 257, 262, 263 1351 88 1358–1360 71 Eur. Or. 875 199 Eur. Phaidr. 261a 22 Eur. Phoen. 88–102 51 526f. 24

Eur. Andr. 537 109

Eur. Suppl. 399–402 72 399–405 76

Eur. Bacch. 266–269 24

Eur. Tro. 940–950 159

Eur. Hec. 218–443 39 814–819 36 1187–1191 12

Gorg. Hel. 15 20

Eur. Heraclid. 130–137 72 238f. 216 270–273 73 Eur. Hipp. 486–489 24, 162 656 156

159 170

Hdt. 2,35 70 8,111 170 Hom. Il. 4,370–410 202 5,800–808 202 8,90f. 197 10,285–290 202

291

Stellenregister antiker Textstellen 14,114 202 18,165–167 197 18,503–508 146 23,289–301 209 Hom. Od. 1,35f. 211 2,222–269 263 3,266 211 3,303f. 211 11,326–327 202 11,421–426 212 11,429f. 88, 211 11,429f. 452f. 88 11,444–446 212 11,452f. 212 15,244–248 202 23,97–103 88 23,104 88 24,96f. 212 Isokr. 8,5 144 10,1 144 17,14 74 Lykophr. 1452 109 Lys. 12,3 144 Paus. 2,3,11 245 Pind. I. 8,27–40 99 Pind. O. 2,35–42 203 Pind. P. 1,53f. 238 4 160 4,249 157 4,250f. 157 11 213 Plat. Gorg. 453a 22 453a2ff. 21 501e–502d 12

Plat. leg. 813e3–814a5 43 Plat. Phaidr. 261a 22 266e–267b 181 271c 22 271de 22 Plat. Prot. 338a–e 22 Plut. Per. 9,1

11

Ps.-Aischyl. Prom. 937–1079 34, 36, 99, 115, 118, 261, 263 1040f. 101, 144, 157, 192, 193, 257, 263 Quint. inst. 1,1,9–16 18 2,14,5 27 2,17, 7f. 13 2,17,25 18 rhet. Alex. 1421b7–9 19 1428a23f. 21 1428b8–20 175 1430b14–22 143 Soph. Ai. 430–595

35, 81

Soph. Aj. 1228 104 Soph. Ant. 631–634 141 631–780 34, 112, 121, 123, 260, 265, 284 632–634 188 632f. 192, 262 1037–1039 71 Soph. El. 289 47 Soph. Oid. K. 644f. 145

292

Stellenregister antiker Textstellen

Soph. Oid. T. 426–28 71 580 145 Soph. Phil. 226, 266 50–135 79–85 229 610–613 238 1224 172 237, 266, 284 1259–1471 34, 170, 265 1261–1471 1284 113, 144, 157, 192, 193, 257, 262, 263 1367–1372 191 Stesich. PMGF fr. 210–219 213

PMGF fr. 222b,211–217 PMGF fr. 222b,212–217 PMGF fr. 222b,216 PMGF fr. 222b,232f.

205 208 202 205

Stob. 4,22,7 43 Thuk. 2,71,2 76 5,84–115 268 Xen. mem. 4,6,15 22 Αischyl. Suppl. 247–275 15