Tragödie: Idee und Transformation [Reprint 2015 ed.] 9783110959840, 9783598774157


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German Pages 398 [408] Year 1997

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Table of contents :
Einleitung
Wesenszüge der griechischen Tragödie Schicksal, Schuld, Tragik
Die Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie
Die Transformation der griechischen durch die römische Tragödie am Beispiel von Senecas Medea
Tragischer Fall und verborgene Wahrheit Torquato Tassos Re Torrismondo
„Die Wahrheit des weiblichen Urwesens“ Medea in der Oper
Shakespeare und die griechische Tragödie
Die Rezeption des antiken Dramas im 18.Jahrhundert Das Beispiel der Merope (Maffei, Voltaire, Lessing)
Lessing und die griechische Tragödie
Goethes Helena und das Vorbild des Euripides
Schiller und die griechische Tragödie
Die Erneuerung der Tragödie durch Grillparzer
Priesterin künstlicher Kulte. Ekstasen und Lektüren in Hofmannsthals Elektra
Herakles als tragischer Held in und seit der Antike
Postkoloniales Drama und griechische Tragödie
Mythologie und antike Tragödie in der DDR
Regietheater und griechische Tragödie
Epilog
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Tragödie: Idee und Transformation [Reprint 2015 ed.]
 9783110959840, 9783598774157

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Colloquium Rauricum Band 5 Tragödie Idee und Transformation

Colloquia Raurica Die Colloquia Raurica werden alle zwei Jahre vom Collegium Rauricum veranstaltet. Sie finden auf Castelen, dem Landgut der Römer-Stiftung Dr. René Clavel in Äugst (Augusta Raurica) bei Basel, statt. Jedes Colloquium behandelt eine aktuelle geisteswissenschaftliche Frage von allgemeinem Interesse aus der Perspektive verschiedener Disziplinen. Den Schwerpunkt bilden dabei Beiträge aus dem Bereich der Altertumswissenschaft. U m möglichst vielseitig abgestützte Erkenntnisse zu gewinnen, erörtern die eingeladenen Fachvertreter das Tagungsthema im gemeinsamen Gespräch. Die Ergebnisse werden in der Schriftenreihe „Colloquia Raurica" publiziert. Das Collegium Rauricum Joachim Latacz Jürgen von Ungern-Sternberg Hansjörg Reinau Peter Blome

Colloquium Rauricum Band 5

Tragödie Idee und Transformation

Herausgegeben von

Hellmut Flashar

B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig 1997

Gedruckt mit Unterstützung von Herrn und Frau Dr. Dr. h. c. Jakob und Antoinette Frey-Clavel, Basel

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Tragödie : Idee und Transformation / hrsg. von Hellmut Flashar. Stuttgart ; Leipzig : Teubner, 1997 (Colloquium Rauricum ; Bd. 5) ISBN 3 - 5 1 9 - 0 7 4 1 5 - X Gb. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt besonders für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © B . G . Teubner Stuttgart 1997 Printed in Germany Satz: Passavia Druckerei GmbH Passau Druck und Bindung: R ö c k , Weinsberg

Vorwort

Die in diesem Band vereinigten Beiträge geben im wesentlichen die für den Druck ausgearbeiteten Referate des V Colloquium Rauricum wieder, das vom 24. bis zum 26. August 1995 erneut im Landgut Castelen bei Äugst im Kanton Basel-Landschaft stattgefunden hat. Es war das erste Colloquium Rauricum, das Herr Dr. Dr. h. c. Jakob FreyClavel, der Stifter dieser Reihe, nicht mehr selber erleben konnte. Indessen hat er an den bis in das Jahr 1993 zurückreichenden Vorüberlegungen den lebhaftesten Anteil genommen und die Konzeption des Colloquiums kraft seiner profunden Kenntnis der europäischen Literatur und Musik in zum Teil auch harten Gesprächen maßgeblich beeinflußt. Am 24.8.1993, also am Vorabend des IV. Colloquium Rauricum, schrieb er an den Unterzeichneten: „Wir haben zum Thema Musikdrama einen interessanten, wenn auch etwas kontroversen Gedankenaustausch gepflegt". Wenn wir ihn für die Tagung selber auch schmerzlich vermissen mußten, so war es doch eine Freude für alle Teilnehmer, daß seine Gattin, Frau Antoinette Frey-Clavel, nahezu alle Referate mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgt und darüber hinaus immer wieder das Gespräch mit den einzelnen Teilnehmern des Colloquiums gesucht hat. Ihr gilt daher unser besonderer Dank, auch dafür, daß die Fortführung der Colloquia Raurica gesichert ist. Buchstäblich im letzten Augenblick, unmittelbar vor Beginn der Tagung, mußten zwei Referenten, die Herren Wilfried Barner und Jens Malte Fischer, wegen Krankheit absagen. Sie haben uns aber dankenswerterweise die Druckfassungen ihrer Vorträge zur Verfügung gestellt, die nun in diesem Band enthalten sind. Für die Tagung selber ist für die durch Lessing gegebene Thematik ganz kurzfristig Frau Professor Rosmarie Zeller eingesprungen, der dafür unser besonderer Dank gilt. Die Druckfassung ihres Beitrages ist dann mit demjenigen von Herrn Barner so abgestimmt worden, daß es keine Überschneidungen gibt. Es war nach einem ausdrücklichen Wunsch von Herrn Dr. Frey-Clavel ursprünglich geplant, am letzten Nachmittag der Tagung eine Podiumsdiskussion mit Künstlern (Dramatikern, Regisseuren) vorzusehen, um der Thematik eine unmittelbare Aktualität zu verleihen. Dieser Plan ließ sich leider nicht verwirklichen. Statt dessen hat Günther Erken von der Bayerischen Theaterakademie München die griechische Tragödie auf der Bühne unserer Zeit vom Standpunkt des Dramaturgen (als solcher war Erken lange tätig) ,beleuchtet', auch dies eine Transformation der Tragödie. Der herzliche Dank für das Gelingen des Colloquiums und für das Zustandekommen das Bandes gilt allen Mitwirkenden, den Autoren, Joachim Latacz für

VI sein Engagement in der Phase der Vorbereitung, den Helfern auf Castelen, hier vor allem Frau Anne-Marie Gunzinger, Herrn Heinrich Krämer vom B. G. Teubner Verlag für die sorgfältige Herstellung des Bandes und meinen Hilfskräften Sabine Vogt und Bernhard Huß für die Lektorierung der Manuskripte. München, den 15.Juni 1996

Hellmut Flashar

Teilnehmer 1. Referenten Prof. Dr. Wilfried Barner, Seminar für Deutsche Philologie, Universität Göttingen, Humboldtallee 13, D - 3 7 0 7 3 Göttingen Prof. Dr. Ulrich Broich, Institut für Englische Philologie, Universität München, Schellingstr. 3, D - 8 0 7 9 9 München Prof. Dr. Günther Erken, Bayerische Theaterakademie, Prinzregentenplatz 12, D - 8 1 6 7 5 München

Prinzregententheater,

Prof. Dr. Jens Malte Fischer, Institut für Theaterwissenschaft, Universität München, Ludwigstr. 25, D - 8 0 5 3 9 München Prof. Dr. Hellmut Flashar, Institut für Klassische Philologie, Universität München, Geschwister-Scholl-Platz 1, D - 8 0 5 3 9 München Prof. Dr. Dr. h. c. Thomas Geizer, Seminar für Klassische Philologie, Universität Bern, Länggass-Strasse 49, Postfach, C H - 3 0 0 0 Bern 9 Prof. Dr. Andreas Kablitz, Romanisches Seminar, Universität Köln, Albertus-Magnus-Platz, D - 5 0 9 3 1 Köln Prof. Dr. Joachim Latacz, Seminar für Klassische Philologie, Universität Basel, Nadelberg 6, C H - 4 0 5 1 Basel Prof. Dr. Eckard Lefevre, Seminar für Klassische Philologie, Universität Freiburg, Werthmannplatz 3, D - 7 9 0 8 5 Freiburg Prof. Dr. Heinz-Günther Nesselrath, Seminar für Klassische Philologie, Universität Bern, Länggass-Strasse 49, Postfach, C H - 3 0 0 0 Bern 9 Prof. Dr. Gerhard Neumann, Institut für Deutsche Philologie, Universität München, Schellingstr. 3, D - 8 0 7 9 9 München Prof. Dr. Arbogast Schmitt, Seminar für Klassische Philologie, FB 07, Universität Marburg, Wilhelm Röpke Str. 6, D - 3 5 0 3 2 Marburg Prof. Dr. Ernst-Richard Schwinge, Institut für Altertumskunde, Universität Kiel, Olshausenstr. N 50 c, D - 2 4 1 0 6 Kiel Prof. Dr. Christoph Siegrist, Deutsches Seminar, Universität Basel, Engelhof, Nadelberg 4, C H - 4 0 5 1 Basel Prof. Dr. Ulrich Suerbaum, Englisches Seminar, Universität Bochum, Universitätsstr. 150, D - 4 4 8 0 1 Bochum

Vili Dr. Juliane Vogel, Deutsches Seminar, Universität Wien, Hofburg, A-1014 Wien Prof. Dr. Rosmarie Zeller, Deutsches Seminar, Universität Basel, Engelhof, Nadelberg 4, CH-4051 Basel

2. Collegium

Rauricum

Prof. Dr. Peter Blome, a. o. Prof. für Klassische Archäologie, Direktor des Antikenmuseums und der Sammlung Ludwig, St. Alban-Graben 5, CH-4051 Basel Prof. Dr. Joachim Latacz, o. Prof. für Griechische Philologie, Universität Basel, Seminar für Klassische Philologie, Nadelberg 6, CH-4051 Basel Dr. Hansjörg Reinau, Universitätslektor in Klassischer Philologie, Universität Basel, Seminar für Klassische Philologie, Nadelberg 6, CH-4051 Basel Prof. Dr. Jürgen von Ungern-Sternberg, o. Prof. für Alte Geschichte, Universität Basel, Seminar für Alte Geschichte, Heuberg 12, CH-4051 Basel

3.

Gäste

Regierungsrat Peter Schmid, Vorsteher der Erziehungs- und Kulturdirektion des Kantons Basel-Landschaft, Präsident der Römer-Stiftung Dr. René Clavel, C H 4410 Liestal Frau Antoinette Frey-Clavel, Rebenstrasse 48, CH-4125 Riehen Prof. Dr. Peter Blome, a. o. Prof. für Klassische Archäologie, Direktor des Antikenmuseums und der Sammlung Ludwig, Stiftungsrat der Römer-Stiftung Dr. René Clavel, Mitglied des Collegium Rauricum, St. Alban-Graben 5, CH-4051 Basel Prof. Dr. Gottfried Boehm, o. Prof. für Neuere Kunstgeschichte, Kunsthistorisches Seminar, Universität Basel, Mitglied des Direktoriums der Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen', St. Alban-Graben 16, CH-4052 Basel Prof. Dr. Andreas Cesana, a. o. Prof. für Philosophie, Universität Basel, Mitglied des Direktoriums der Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen', Philosophisches Seminar, Nadelberg 6/8, CH-4051 Basel Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Germán Colón, o. Prof. für Ibero-romanische Philologie, Universität Basel, Mitglied des Direktoriums der Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen', Stapfelberg 7, CH-4054 Basel Prof. Dr. Fritz Graf, o. Prof. für Lateinische Philologie, Seminar für Klassische Philologie, Universität Basel, Nadelberg 6, CH-4051 Basel Heinrich Krämer, Geschäftsführer, Verlag B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig, Industriestraße 15, D-70565 Stuttgart

IX Dr. Matthias Stauffacher, Adjunkt des Rektors und Leiter der Zentralen Universitätsverwaltung, Stiftungsrat der Römer-Stiftung Dr. René Clavel und Mitglied des Direktoriums der Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen', Kollegienhaus, Petersplatz 1, CH-4003 Basel

Inhaltsverzeichnis Hellmut Flashar Einleitung

1

Arbogast Schmitt Wesenszüge der griechischen Tragödie Schicksal, Schuld, Tragik

5

Hellmut Flashar Die Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie

50

Eckard Lefevre Die Transformation der griechischen durch die römische Tragödie am Beispiel von Senecas Medea

65

Andreas Kablitz Tragischer Fall und verborgene Wahrheit Torquato Tassos Re Torrismondo

84

Jens Malte Fischer „Die Wahrheit des weiblichen Urwesens" Medea in der Oper

110

Ulrich Suerbaum Shakespeare und die griechische Tragödie

122

Rosmarie Zeller Die Rezeption des antiken Dramas im 18.Jahrhundert Das Beispiel der Merope (MafFei, Voltaire, Lessing)

142

Wilfried Barner Lessing und die griechische Tragödie

161

Thomas Geizer Goethes Helena und das Vorbild des Euripides

199

XII Joachim Latacz Schiller und die griechische Tragödie

235

Gerhard Neumann Das goldene Vließ Die Erneuerung der Tragödie durch Grillparzer

258

Juliana Vogel Priesterin künstlicher Kulte. Ekstasen und Lektüren in Hofmannsthals Elektra

287

Heinz-Günther Nesselrath Herakles als tragischer Held in und seit der Antike

307

Ulrich Broich Postkoloniales Drama und griechische Tragödie

332

Christoph Siegrist Mythologie und antike Tragödie in der D D R

348

Günther Erken Regietheater und griechische Tragödie

368

Ernst-Richard Schwinge Epilog

387

HELLMUT FLASHAR

Einleitung

Mit dem Thema: ,Tragödie — Idee und Transformation' k o m m t zunächst zum Ausdruck, daß auch in d e m V. Colloquium R a u r i c u m — wie in den vorangegangenen Colloquia — der Ausgangs- und Bezugspunkt in der Antike liegt, hier: in der griechischen Tragödie. Die Tragödie ist eine Schöpfung der Griechen; sie hat es im Unterschied zu anderen Literaturgattungen wie Epos und Lyrik in den alten orientalischen Kulturen, deren im übrigen beträchtlichen Einfluß auf das griechische Denken die neuere Forschung herausgestellt hat, nicht gegeben. Sie ist aber zugleich diejenige Literaturgattung, die sich in ihren wesentlichen M e r k malen bis heute erhalten hat, viel stärker als z.B. das Epos. Insbesondere sind es bestimmte Konstanten wie Schuld, Schicksal, mythisches Substrat, Stilhöhe, die sich zu einem großen Teil in der europäischen Tragödie durchgehalten haben und sogar in der außereuropäischen Tragödie auftauchen. Zugleich aber ist die Tragödie in ihrer ursprünglichen Konzeption oder ,Idee' (sofern man diesen Begriff in Verkürzung der Phänomene anwenden darf) naturgemäß den mannigfaltigsten Transformationsprozessen unterworfen gewesen. Diese Prozesse sind aber nicht nur U m f o r m u n g e n im einfachen Sinne z.B. der Struktur der Tragödie, sondern es sind ganz komplexe Vorgänge, in denen aus bestimmten Motiven heraus (Zeitstimmung, geistige Gesamtlage einer Epoche, soziale und ideologische Momente) die antike Tradition der Tragödie teils affirmiert, teils eher negiert wird, teils programmatisch, teils unbewußt aufgenommen u n d weitergeführt wird. Es zeigt sich dabei auch, daß es ganz bestimmte, eigentlich nur wenige Motive und M y then sind (Medea, Ödipus; Antigone im Vordergrund erst seit dem 19.Jahrhundert), die immer wieder verarbeitet werden, wobei der Grad der Auseinandersetzung mit der antiken Tragödie ganz unterschiedlich sein kann. Die Beiträge dieses Bandes können den vielfältigen Komplex dieser Thematik nicht erschöpfend, sondern nur paradigmatisch darstellen. Die vorgegebene Dauer des Colloquiums sowie unvermeidliche Probleme in der Planung haben zu einer auch thematischen Begrenzung gefuhrt, die Lücken entstehen ließen. Dazu g e h ö ren z.B. das spanische Theater, die französische Klassik des 17. und 1 S.Jahrhunderts — diese ist jedoch teilweise behandelt in dem Beitrag von Rosmarie Zeller - und einige Bereiche des 20.Jahrhunderts. Natürlich steht am Anfang ein Referat zur griechischen Tragödie als solcher unter besonderer Berücksichtigung derjenigen Komponenten, die in der R e z e p -

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Hellmut Flashar

tion von Bedeutung sind. Im übrigen ist es eine beabsichtigte Beschränkung, daß die Wege der Transformation gattungsimmanent — also nur innerhalb der Gattung Tragödie — verfolgt werden, allerdings mit zwei Ausnahmen. Einbezogen sind die Oper als eine der Tragödie analoge Gattung in ihrer Eigenart als Gesamtkunstwerk, die in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zur Tragödie steht, und die Tragödientheorie des Aristoteles, nicht aber moderne Theorien und Spekulationen über Tragik und Tragödie. Der Grund für die Berücksichtigung der aristotelischen Poetik ist ersichtlich. Aristoteles hält von seiner Analyse der Tragödie die zeitgebundenen und daher nicht rezipierbaren politischen und kultisch-rituellen Elemente (Einbindung in das Dionysosfest) fern und richtet sein Augenmerk auf die Struktur der Handlung der Tragödie. Er hat damit ein in sich gegliedertes Modell bereitgestellt, das in der Neuzeit als N o r m nicht nur für die Beurteilung, sondern auch für die Produktion von Tragödien angesehen wurde. Die Tragödie der französischen Klassik, aber auch die Auseinandersetzung Lessings mit der Tragödie wären ohne die aristotelische Poetik nicht denkbar. In geradezu paradoxer Weise wird dies an dem hier von Rosmarie Zeller behandelten Merope-StofF sichtbar, den die italienischen Dramatiker des 16.Jahrhunderts wegen seiner prominenten Stellung in der Poetik des Aristoteles aufgegriffen haben, der dann bei Maffei und Voltaire in Dramen bearbeitet wurde. Dies war die Anregung für Lessing, die dem Merope-StofF zugrundeliegende, aber verlorene Tragödie Kresphontes des Euripides zu rekonstruieren, die dann geradezu zu einem Ideal stilisiert wurde. Der Weg geht hier also nicht über die Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie selbst — die in diesem Fall j a auch gar nicht erhalten ist, — sondern über eine wertende Bemerkung in der Poetik des Aristoteles. Aber auch im Falle von Torquato Tassos Re Torrismondo — hier von Andreas Kablitz behandelt - wird exemplarisch deutlich, wie ein bedeutendes Dokument der Renaissance-Dichtung den in der Tragödie geformten griechischen Mythos in den Kategorien der aristotelischen Poetik rezipiert. Daß die Transformation der griechischen durch die römische Tragödie an einem signifikanten Exempel (Medea) behandelt wird, daß ferner die großen Autoren Shakespeare, Lessing, Goethe, Schiller, Grillparzer und Hofmannsthal nach ihrem teils theoretischen, teils praktisch-produktiven Verhältnis zur griechischen Tragödie befragt werden, bedarf einer näheren Begründung nicht. D e m Eindruck der verengenden Isolierung, der durch die schlaglichtartige Herausarbeitung von epochen- oder autorspezifischen Relationen zwischen der antiken Tragödie und einem einzelnen Transformations- oder Rezeptionsvorgang entstehen mag, wird an einer Stelle exemplarisch durch einen Längsschnitt entgegengewirkt, den Heinz-Günther Nesselrath am Beispiel des Herakles vorgelegt hat. Die Begrenzungen von R a u m und Zeit haben es mit sich gebracht, daß die

Einleitung

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mit der Gattung der Tragödie im 20.Jahrhundert verbundenen Probleme nicht erschöpfend behandelt werden konnten. Aber ein ganz wesentlicher, nun schon Geschichte gewordener Komplex betrifft die an der antiken Tragödie bzw. am Mythos orientierte, unter ganz anderen Rahmenbedingungen stehende beachtliche Dramatik, die in der ehemaligen D D R entstanden ist und die hier Christoph Siegrist untersucht. Von besonderem Interesse dürfte es sein, daß die griechische Tragödie in unserer Zeit Ferment einer Transformation auch in einer Kultur sein kann, deren geschichtliche Grundlage nicht die abendländische Antike ist. M i t dem Stück Ute Gods are not to blame des nigerianischen Autors Ola R o t i m i liegt eine einheimische und westliche Traditionen verschmelzende Neuinterpretation der griechischen Tragödie vor, über die hier Ulrich Broich berichtet. D e r abschließende Beitrag von Günther Erken trägt dem Umstand R e c h n u n g , daß heutzutage wohl mehr Menschen Tragödie durch das M e d i u m des Theaters als durch die Lektüre eines Buches rezipieren. Zugleich aber wird deutlich, daß das moderne Regietheater sich nicht (mehr) als Diener des Literaturwerkes versteht, sondern als autonomer Hersteller von Sinnbezügen mittels einer Inszenierung, in der „das genannte Stück . . . eine gewisse R o l l e spielt" (S. 368). D a ß auch dies eine .Transformation' der Tragödie ganz eigener Art ist, wird man nicht leugnen können.

ARBOGAST SCHMITT

Wesenszüge der griechischen Tragödie Schicksal, Schuld, Tragik*

Die griechische Tragödie enthält in so erstaunlichem Maß offenbar immer noch unverbrauchte Einsichten in die Beweggründe menschlichen Handelns, daß es vielen B ü h n e n bis heute leichter fällt, ein volles Haus zu bekommen, wenn sie eine Medea oder einen Ödipus aufführen, als wenn sie ein Stück der Gegenwartsliteratur bringen. Diese Attraktivität der griechischen Tragödie ist u m so erstaunlicher, als sie ja eine ganze R e i h e von Wesenszügen aufweist, die unserem eigenen Menschenverständnis fremd sind, ja geradezu in Gegensatz zu ihm stehen. D e n n wenn es in der komplexen Pluralität der Erscheinungsformen der M o derne etwas Konstantes gibt, dann ist es die Uberzeugung von der Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Subjekts. 1 Von diesem Wissen aber u m die vernünftig freie, moralisch verantwortliche Subjektivität scheint die griechische Tragödie nicht nur weit entfernt, sie scheint in vielem einem dazu gegensätzlichen, noch fremdbestimmten Menschenbild verpflichtet. Diese einem kritisch und mündig gewordenen Denken fremden Züge hat man seit der Aufklärung immer wieder beobachtet. Die daraus abgeleitete Folgerung, daß man diese Tragödie nur noch historisch, nur aus ihren eigenen Produktions- und Rezeptionsbedingungen verstehen könne, bildet seit langem die Basis unseres Zugangs zu ihr. In Shakespeare und kein Ende stellt z. B. auch Goethe fest: „Die alte Tragödie beruht auf einem unausweichlichen Sollen... Das Wollen hingegen ist f r e i . . . Es ist der Gott der neuen Zeit; ihm hingegeben, furchten wir uns vor dem Entgegengesetzten, und hier liegt der Grund, w a r u m unsere Kunst sowie unsere Sinnesart von der antiken

Für kritische Lektüre und hilfreiche Anregungen danke ich J. Adamietz, M. Cludius, A. Heinrichs, J. Latacz, W. Nicolai, Ch. Riedweg, A. Spira, F. Uehlein. 1 Auch wenn die Einlösbarkeit dieser freien Selbstverantwortlichkeit von Anfang an als problematisch und im Laufe der Entwicklung zunehmend sogar als unmöglich empfunden wurde, die Überzeugung, daß der Mensch als Subjekt zumindest dem Anspruch und dem Recht nach frei und selbstverantwortlich ist, ist bis heute eines der zentralen Momente neuzeitlich-modernen Selbstverständnisses.

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Arbogast Schmitt

ewig getrennt bleibt... Eine Notwendigkeit, die mehr oder weniger oder völlig alle Freiheit ausschließt, verträgt sich nicht mehr mit unseren Gesinnungen." 2 In der Tat hat das, was auch Goethe hier feststellt, in den uns überlieferten Texten der griechischen Tragödie den Anschein einer großen Evidenz. Wenn etwa Orest sich entschließt, den Vater durch einen Mord an der Mutter zu rächen, dann tut er das nicht aus sich selbst, sondern auf Befehl Apollons; 3 wenn Agamemnon seine Tochter opfert, dann weil Artemis dies zur Bedingung für die Ausfahrt der Griechen gemacht hat; 4 wenn Aias in übergroßer Wut auf die Atriden und Odysseus wahnsinnig wird, gilt das als Werk Athenes, 5 und wenn, um noch ein letztes Beispiel zu nennen, Phaidra sich in eine unheilbare Liebe zu ihrem Stiefsohn Hippolytos verstrickt, läßt Euripides Aphrodite selbst auftreten mit der Behauptung, das habe sie so arrangiert. 6 Aber nicht nur einzelne Entscheidungen, einzelne Gedanken und Gefühle der Menschen werden von Göttern beeinflußt, es scheinen auch die Schicksalsläufe der Menschen im ganzen durch göttliche Pläne im voraus festgelegt und dirigiert: Am auffälligsten ist hier wohl das Phänomen des sog. Geschlechterfluchs, etwa wenn von Tantalos über Pelops, Atreus und Thyestes, Agamemnon und Klytaimnestra sich bis zu Orestes ein Blutband immer erneuter Morde hinzieht, für das von den Chören 7 und von den handelnden Personen 8 mehrfach ein böser Daimon über dem Haus der Tantaliden verantwortlich gemacht wird. 9 Als göttlich gelenktes Schicksal erscheint es aber z.B. auch, wenn die Brüder Eteokles und Polyneikes am selben Tor einander gegenüber zu stehen kommen; 1 0 wenn Deianeira durch die Ubersendung eines vergifteten Gewandes das dem Herakles gegebene Orakel, er werde R u h e von seinen Mühen finden, in unvermuteter Weise erfüllt; 11 wenn Philoktet sich trotz seines ungebrochenen Starrsinns von Herakles bestimmen läßt, doch nach Troja mitzufahren; 12 oder wenn Iphigenie zusammen mit Orest glücklich das Kultbild der Artemis aus dem Land der Taurer nach Athen bringen kann. 13

2

Siehe Goethe 1962, 187. Siehe Aischylos, Choephoren ( Weihgußträgerinnen} vv 269 ff. 4 Siehe Aischylos, Agamemnon vv 131-155; siehe auch dieselbe Situation bei Euripides, Iphigenie in Aulis w 8 7 - 9 3 . 5 Siehe Sophokles, Aias w 5 1 - 7 0 . 6 Siehe Euripides, Hippolytos w 2 4 - 5 0 . 7 Siehe z.B. Aischylos, Agamemnon vv 1468-1474. 8 Z . B . von Klytaimnestra: Aischylos, Agamemnon vv 1475-1480; 1501; siehe dazu Thiel 1993, v. a. 377-389. 9 Siehe Gantz 1982; weitere Literatur und Stellungnahme dazu bei Thiel 1993. 10 Siehe Aischylos, Sieben gegen Theben vv 631—676. 11 Siehe Sophokles, Die Trachinierinnen w 155-177; 673-723; 1157-1178. 12 Siehe Sophokles, Philoktet vv 1409-1451. 13 Siehe Euripides, Iphigenie im Land der Taurer w 1434-1475. 3

Wesenszüge der griechischen Tragödie

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Das am stärksten irritierende Beispiel eines scheinbar ganz von außen gelenkten Schicksalsverlaufs bietet sicherlich die Geschichte des König Odipus, wie Sophokles sie darstellt. Odipus' Schicksal ist bei Sophokles ja nicht nur durch mehrere Orakel im voraus beschrieben, 1 4 der Verlaufseines Schicksals enthält eine solche Fülle wunderbar aufeinander zukomponierter Zufälle, daß sie gar nicht anders denn als gottgewollte Fügungen verstanden werden können. Nicht nur, daß es ein d u m m e r Zufall ist, daß einem Betrunkenen bei einem Gelage das Wort entfährt, Odipus sei seinem Vater untergeschoben, 1 5 daß es wirklich verhängnisvolle Zufälle sind, daß der M a n n , der Odipus nach seinem Weggang aus Delphi zum Ausweichen an enger Wegstelle auffordert, ausgerechnet sein Vater ist, 16 daß die Königin, die ihm als Dank und Lohn für die R e t t u n g Thebens vor der Sphinx zur Frau gegeben wird, gerade seine Mutter ist, auch die kleinen Nebenfiguren spielen Odipus durch böse Zufälle mit: So ist der Diener, der Odipus in den Kithairon gebracht hat, zugleich der, der als einziger Odipus' M o r d w u t am Dreiweg entkommen ist 17 u n d der ihn am Ende identifizieren kann, identifizieren m u ß , 1 8 weil der Hirte aus Korinth, dem er einst den kleinen Odipus übergeben hatte, zufällig auch der mit der Meldung vom Tod des Polybos beauftragte Bote ist 19 und deshalb den alten Diener des Laios zwingen kann, sich als der, der über Odipus' Herkunft Bescheid weiß, zu erkennen zu geben. 2 0 Gerade die Tragödie des Odipus ist daher nicht nur in klassisch-philologischer Interpretation, sondern auch, ja fast noch häufiger, in Arbeiten zur Rezeptions- u n d Transformationsgeschichte der griechischen Tragödie, etwa wenn es u m die Ermittlung der spezifischen Form des Tragischen bei Shakespeare, Schiller, Brecht geht, als Beispiel g e n o m m e n worden, an dem sich der zentrale Unterschied der antiken von neuzeitlich-modernen Formen von Tragik erkennen lasse. W i e im König Odipus stehe in der antiken Tragödie überhaupt der in sein Schicksal eingebundene u n d u m

14 Es handelt sich 1) u m das Orakel an Laios, es sei i h m bestimmt, durch seinen Sohn zu sterben (Sophokles, König Ödipus w 711-714), 2) u m das Orakel an Odipus, er werde den Vater, der ihn gezeugt habe, töten u n d seine M u t t e r heiraten (Sophokles, König Ödipus w 791-793), 3) u m das Gebot Apollons aus Delphi, die Stadt T h e b e n solle den M ö r d e r des Laios vertreiben oder töten (Sophokles, König Ödipus vv 9 5 - 9 8 ; 100-101). 15 Sophokles, König Ödipus w 7 7 9 - 7 8 0 . 16 Sophokles, König Ödipus vv 800—820 (Odipus fühlt sich auch ausdrücklich von einem feindlichen D a i m o n verfolgt, sollte er der M ö r d e r des Laios sein). 17 Siehe Sophokles, König Ödipus vv 754-764. 18 Siehe Sophokles, König Ödipus vv 1110-1185. 19 Sophokles, König Ödipus w 1026-1046. 20 Z u r These, der Schicksalsverlauf des Odipus sei durch Apollon nicht nur vorhergesagt, es sei vielmehr Apollons planvolles Handeln (purposeful activity, Peradotto 1992, 8), das Odipus' Schicksal steuere, Odipus selbst sei ein „Sohn des Zufalls" (nach Sophokles, König Ödipus v 1080) siehe neuerdings wieder: Peradotto 1992.

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Arbogast Schmitt

diese Eingebundenheit wissende Mensch in dem grundsätzlichen Gegensatz zu den handelnden Personen der neueren Tragödie, daß diese Personen trotz des tragischen Konflikts, in dem sie stehen, um ihre grundsätzliche Freiheit wissen und daher in persönlicher Selbstverantwortung ihr Schicksal auf sich nehmen. Daß diese Art der Abgrenzung der antiken gegen die neuere Tragödie nicht das letzte Wort sein kann, macht allerdings schon ein Blick in die Tragödienforschung wahrscheinlich. Denn es ist das eben skizzierte Bild von der griechischen Tragödie keineswegs das einzig gültige in der klassisch-philologischen Forschung, im Gegenteil, von namhaften Interpreten in erheblicher Zahl wird auch ein dazu gegensätzliches Bild gezeichnet. Für Bruno Snell21 z.B. und die von ihm beeinflußte Forschung steht die Tragödie insgesamt (und bereits in ihrem Beginn bei Aischylos) dadurch in Gegensatz zum homerischen Epos, daß in ihr der Mensch sich selbst als absoluten Anfang seines Handelns wisse. Im tragischen Konflikt zwischen gleichen Ansprüchen habe er den Moment erfahren, in dem er, allein auf sich selbst gestellt, von sich aus handeln müsse. Noch erheblich weiter geht ein großer Teil der Euripides-Interpreten, 22 die in der Euripideischen Tragödie (und auch schon beim späten Sophokles) 23 bereits einen auf sich selbst zurückgeworfenen, einer absurden, irrationalen Welt trotzenden, 24 seine Existenz planenden und wagenden Menschen findet. 25 Dabei verraten allerdings die angeführten Formulierungen, wie weit hier Euripides an die extreme Innerlichkeitsphilosophie der Gegenwart herangerückt, ja beinahe mit deren Menschenbild identifiziert wird. Auch wenn bei dieser letzten Position der Verdacht des Anachronismus naheliegt, und auch wenn insgesamt die Vertreter einer subjektiven Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit in der griechischen Tragödie mit der Frage konfrontiert werden müssen, wie denn die offenkundigen und bei einem mündigen Subjekt nicht mehr denkbaren Abhängigkeiten der Personen der griechischen Tragödie von göttlichen und schicksalhaften Mächten mit der Behauptung, der Mensch sei alleiniger Ursprung seines Handelns, vereinbart werden können, es ist wohl kaum denkbar, daß so viele und oft hochausgewiesene Forscher diese Formen der Selbständigkeit in der griechischen Tragödie gefunden hätten, wenn es dort überhaupt nichts Vergleichbares gäbe. Die Frage stellt sich, ob wir nicht in beidem, in der

21

Siehe Snell 1928; Snell 1980. Maßgebend für die neuere Forschung ist ein Aufsatz von Karl Reinhardt geworden: „Die Sinneskrise bei Euripides" (1957). Reinhardts Bedenken, daß er für Euripides einen Sonderstatus postulieren müsse, den es im 5.Jahrhundert, ja in der Antike insgesamt nicht gegeben haben dürfte, haben leider kaum mehr Beachtung gefunden. 23 Siehe vor allem Schadewaldt 1970a; Diller 1971; Whitman 1951. 24 Siehe vor allem Rohdich 1968. 25 Diese Formulierung gebraucht sogar der im allgemeinen auf ein maßvoll ausgleichendes Urteil bedachte Lesky. Siehe Lesky 1972, 521. 22

Wesenszüge der griechischen Tragödie

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Leugnung wie in der Behauptung der Selbständigkeit der Personen in der griechischen Tragödie zu weit gehen und zu wenig mit der Möglichkeit rechnen, daß es in der griechischen Tragödie zwar eine echte Form der Selbständigkeit gibt, aber eine andere als die, die wir von unseren eigenen VorbegrifFen ausgehend in ihr zu suchen pflegen. Wenn dies überhaupt eine sinnvolle Fragestellung sein soll, dann muß nach einer Selbständigkeit in der Abhängigkeit und im Wissen um diese Abhängigkeit gesucht werden. Denn das Faktum, daß in der griechischen Tragödie viele Handlungen oder Entschlüsse, die wir allein vom Menschen selbst ausgehen lassen, nicht oder zu einem guten Teil nicht in der Hand des Menschen liegen, kann und soll auch im folgenden nicht ignoriert werden (auch nicht für Euripides). Die Frage ist aber, ob die Anerkennung des Faktums, daß der Mensch in vielfältiger Weise abhängig ist, das die griechische Tragödie in vielfältiger und differenzierter Weise demonstriert, zwingend zu dem Glauben an eine völlige Abhängigkeit fuhren muß, oder ob sie nicht Raum läßt, ja ihn vielleicht sogar erst erkennbar macht, für diejenigen (relativen, nicht absoluten) Handlungsanfänge, die dennoch in der Hand des Menschen bleiben. Dieser Problemstellung, ob es überhaupt eine Art der Selbständigkeit in der griechischen Tragödie gibt, und was für eine Selbständigkeit das ist, sollen die ersten beiden Teile der folgenden Überlegungen gelten. Im Anschluß daran möchte ich auch noch die Frage verfolgen, welche Moral diesem, wie ich glaube, nachweisbaren Selbständigkeitsbegriff der griechischen Tragödie entspricht: Was muß oder was kann sich der Mensch überhaupt subjektiv mit Lob oder Tadel anrechnen lassen, wenn er nicht kraft seiner inneren Entscheidungsfreiheit alleiniger Ursprung seiner Taten ist? Doch zunächst zur Frage, ob es überhaupt eine Form der Selbständigkeit in der griechischen Tragödie gibt, und was die spezifischen, unterscheidenden Merkmale dieser Selbständigkeit sind. Da die These, in der griechischen Tragödie gebe es noch keine ,echte' Form der Selbständigkeit, nicht nur aus Einzelinterpretationen abgeleitet ist, sondern auch von prinzipiellen Uberzeugungen über den Unterschied von Antike und Moderne abhängt, müßte eigentlich dieses allgemeine historisch-hermeneutische Problem vor der Detailinterpretation gelöst werden. 26 26 Zur Herkunft des Ausschlusses von Prädikaten wie ,Freiheit', Selbständigkeit', ,Individualität', .Innerlichkeit', .Gewissen', .Autonomie', .Sittlichkeit', .Schuld' und einer ganzen Reihe ähnlicher Prädikate aus der Antike-Moderne-Diskussion der Goethezeit siehe Schmitt 1988a. Wie relevant diese These vom plastischen Menschen der Antike für die gegenwärtige Tragödieninterpretation immer noch ist, zeigt ein neuerer Aufsatz von Bernd Manuwald 1992, der mit viel Zustimmung aufgenommen und rezipiert worden ist. Mit Berufung auf Schiller macht sich Manuwald (1992, 43) die These von Odipus als einer „plastischen Gestalt" ausdrücklich zu eigen und fuhrt seine Untersuchung ganz im Sinne dieses Konzepts durch. Auch wenn Jochen Schmidt z. B. im Sinn einer verbreiteten Uberzeugung schreibt: „Wissen, Erkennen und Denken zielt auf

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Dies ist im Rahmen der Fragestellung dieses Aufsatzes nicht möglich. Man kann aber auch durch eine Beachtung der genauen Art der Handlungsdarstellung in der griechischen Tragödie, d. h. durch eine Analyse der im Sinn dieser Darstellung in einer Handlung zusammenwirkenden Faktoren, vor allem der göttlichen und der menschlichen Faktoren, und der Art dieses Zusammenwirkens ein gutes Stück weiterkommen. Denn bereits eine in dieser Fragerichtung geführte Analyse kann belegen, daß es eine aktive Form der Selbständigkeit gibt, und sie kann eben dabei auch die besondere Kontur dieser Selbständigkeit erkennbar machen.

I. Göttliches Eingreifen in einzelne Handlungen des Menschen Die griechische Tragödie ist bei der Darstellung der Lenkung menschlichen Handelns durch Götter oder durch göttlich beeinflußte Schicksalsläufe durch eine Besonderheit charakterisiert, durch die sie sich nicht nur von neuzeitlich-modernen Handlungskonzepten, sondern auch von göttlicher Schicksalslenkung in späterer antiker Literatur — etwa im hellenistischen oder römischen Epos — unterautonome Welt- und Lebensbewältigung, während die Religion den Menschen als heteronomes Wesen versteht. Deshalb verwirft sie den zur Autonomie fuhrenden Erkenntnisanspruch und den geistigen Selbstbehauptungswillen. Vorzugsweise erklärt sie ihn zu Hybris, zur Superbia, zur Sünde." (Schmidt 1989, 33), dann macht er ein Aufklärungsverständnis, wie es sich aus der Selbstabgrenzung der Neuzeit gegen das Mittelalter entwickelt hat, zu einem „Grundmuster" (Schmidt 1989, 33), von dem her auch die sogenannte Aufklärung des 5.Jahrhunderts v. Chr. erklärt werden soll. Die Gleichsetzung von religiösem Bewußtsein mit unmündigem NichtDenken-Wollen oder -Dürfen ebenso wie die Gleichsetzung von Erkennen und dem Bewußtsein von oder wenigstens dem Streben nach völliger Autonomie beim Denken, Wollen, Handeln haben aber nicht nur in der frühgriechischen Literatur keine Entsprechung ( - nirgends finden wir hier einen Gegensatz von Glauben und Vernunft, der Glaube artikuliert sich vielmehr vernünftig, die Vernunft schließt die Uberzeugung von der Wirkung von Göttern in der Welt nicht aus, sondern fuhrt auf sie hin. Ein bereits völlig hinreichender Beleg ist das Verfahren der Tragödiendichter mit dem Mythos. Die für die kultische Feier am Dionysosfest verfaßten Tragödien überliefern den Mythos nicht in einer kanonisch fixierten Form wie z. B. in einer Offenbarungsreligion, sondern jeder Dichter erzählt den grundsätzlich gleichen Mythos anders, indem er die Motivation, warum jemand gerade so und nicht anders gehandelt hat, neu, plausibler, einleuchtender zu machen, d. h. eben, die Gründe des Handelns rationaler verstehbar zu machen sucht. Verständnisvoll, wenn auch nicht ganz unproblematisch, ist das unterschiedliche Verhältnis von Vernunft und Religion in der antiken und modernen Aufklärung behandelt von Gadamer 1977 - ) , sie haben auch keine Entsprechung in der Philosophie des 5. und 4.Jahrhunderts. Bei Piaton z.B. führt gerade eine rationale, d.h. auf begründete Rechenschaftsablegung dringende Auseinandersetzung mit der Sophistik dazu, zu beweisen, daß der Mensch selbst dort, wo er sich ganz selbständig fühlt, z.B. im eigenen Liebesverlangen, abhängig ist, so daß erst die Erkenntnis dieser Abhängigkeit zu wirklicher Selbsterkenntnis führt. Dies ist die These, deren grundsätzliche Richtigkeit Gerhard Krüger (1973) einsichtig und von vielen Aspekten her dargelegt hat. Beeinträchtigt werden die wichtigen Ergebnisse Krügers aber durch seine rein rezeptive Auslegung des Erkennens bei Piaton. Siehe dagegen Schmitt 1989.

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scheidet. Und es ist diese Besonderheit (die die Tragödie übrigens mit Homer teilt), die einen ganz anderen und weiteren Handlungsspielraum der Menschen sichtbar macht, als es das Vorurteil, wer sich noch in religiöser Abhängigkeit von Göttern fühle, sei fremdbestimmt, erwarten läßt. Wenn man z.B. das Verhältnis von Gott und Mensch in dem Argonautenepos des Apollonios Rhodios überprüft, dann sieht man, daß die Götter hier vor allem für den Gesamtschicksalsverlauf verantwortlich sind. Sie kennen seine Stationen und sein Ziel, wissen, was jedem einzelnen bestimmt ist, und geben den handelnden Menschen durch Vorzeichen, wunderbare Epiphanien und v. a. durch Weissagungen zu wissen, was sie tun und was sie lassen sollen. Die Freiheit der Menschen, die durchaus auch vorausgesetzt wird, besteht darin, auf den Götterwillen zu achten oder nicht zu achten und ihm zu folgen oder nicht zu folgen. Dieses Einstimmen in den Götterwillen, der den Menschen in der Regel nur in Ausschnitten offenbar wird und deshalb äußerlich meist als Fügung des Zufalls 27 erscheint, wird als exioeßEta geachtet und zumindest am Ende belohnt. 28 Von dieser Art göttlichen Wirkens ist das, was die griechische Tragödie darstellt, markant verschieden. Zunächst einmal ist es hier keineswegs ausgemacht, daß der Mensch dem Götterwillen folgen soll: Wenn Athene Aias aufstachelt, im Wahn auf die Atriden einzuschlagen, 29 wenn Dionysos Pentheus beredet, das bacchantische Treiben der Frauen im Kithairongebirge auszukundschaften und zu beobachten, 30 wenn Aphrodite Phaidra in Liebe zu ihrem Stiefsohn verstrickt, 31 wenn Apollon Orest den Auftrag gibt, seine Mutter zu töten, 32 nie, nicht einmal in diesem letzten Fall

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Z u r (auch oft providentiellen) B e d e u t u n g des Zufalls in hellenistischer Literatur siehe die aufschlußreiche Studie von Gregor Vogt-Spira 1992, v. a. 6 0 - 7 4 . 28 Siehe z.B. Lawall 1966. Z u m Verhältnis Gott - Mensch bei Apollonios siehe auch Händel 1963, H u n t e r 1986, Hensel 1908. Ein weiterer wichtiger Unterschied, der im folgenden nicht genauer behandelt werden kann, ist, daß bei Apollonios die Selbständigkeit der Menschen vor allem dadurch gewahrt wird, daß die Götter nur bei Aufgaben eingreifen, die die Möglichkeiten der Menschen übersteigen, z.B. w e n n Jason gegen feuerschnaubende Stiere antreten m u ß . D.h.: ihr Eingreifen hat den Charakter des Übernatürlichen, Wunderbaren. Im H o m e r i s c h e n Epos und in der Tragödie des 5.Jahrhunderts dagegen werden die Götter als mitbeteiligt an menschlichen Handlungen dargestellt, die in unserem Sinne ,normale', .natürliche', d . h . ganz aus subjektiv eigenem Vermögen des Menschen zu leistende Handlungen sind, z.B. wenn Achill sich beherrscht und Athene als ein M o m e n t dieses Vorgangs der Selbstbeherrschung aufgefaßt wird, oder w e n n Orest sich z u m R ä c h e r seines Vaters berufen fühlt und in dieser B e r u f u n g einen von Apollon k o m m e n d e n Imperativ erkennt. Dazu, daß auch, ja gerade dieses innerweltliche, natürliche Wirken der Götter die menschliche Selbständigkeit nicht aufhebt, sondern lediglich u m grenzt, siehe Schmitt 1990. 29 Siehe Sophokles, Aias w 51-70. 30 Siehe Euripides, Bakchen vv 800-861. 31 Siehe Euripides, Hippolytos w 2 4 - 5 0 . 32 Siehe Aischylos, Choephoren w 2 6 9 - 2 9 7 .

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ist klar, ob der Mensch dem Gott überhaupt folgen soll, im Gegenteil, oft ist eindeutig klar, daß er es nicht soll, daß es töricht, äoEßeg, unsittlich ist, wenn er es tut. — Genauso wie es Homer in einem auktorialen Erzählerkommentar als Torheit bezeichnet, wenn Agamemnon dem Traum des Zeus folgt, 33 oder wenn Pandaros sich von Athene zum Eidbruch hat verfuhren lassen.34 Das Nichtbenutzen der eigenen Vernunft und sittlicher Maßstäbe gegenüber einem göttlichen .Eingriff gilt also sogar als ein schweres Fehlverhalten, genauso wie umgekehrt Athene sich darüber freut, daß Odysseus sogar ihr gegenüber vernünftige Umsicht walten läßt. 35

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Siehe H o m e r , Ilias 2 , 3 5 - 4 0 ; siehe dazu Schmitt 1990, 8 5 - 8 9 . Siehe H o m e r , Ilias 4,104; siehe dazu Schmitt 1990, 82—84. D a m i t zu r e c h n e n , daß m a n v o n G ö t t e r n auch versucht w e r d e n kann, gilt auch bei H e r o d o t als kluge B e s o n n e n h e i t . Siehe z.B. die Geschichte v o m T r a u m des Sabakos, H e r o d o t 11,139,2. Siehe dazu z.B. K i r c h b e r g 1966, 47. Kirchbergs D e u t u n g ist allerdings i m allgemeinen in einer a u c h f ü r H e r o d o t u n a n g e m e s s e n e n Weise deterministisch. 35 Siehe H o m e r , Odyssee 1 3 , 3 3 0 - 3 2 ; siehe dazu Schmitt 1990, 89 f. D i e Frage, w a n n ein M e n s c h d e m G ö t t e r w i l l e n folgen soll u n d w a n n nicht, ist zu aspektreich, als daß sie hier geklärt w e r d e n k ö n n t e . I m allgemeinen scheint es m i r so zu sein, daß der, der d e m G o t t ähnlich ist u n d sich i h m ähnlich verhält - w i e es z.B. bei d e m klugen, w e i t - u n d umsichtigen Odysseus in s e i n e m Verhältnis zu A t h e n e der Fall ist - d e m , was i h m v o m G o t t a n g e b o t e n wird, auch folgen darf u n d soll, w ä h r e n d der, der sich der Wesensart eines Gottes verschließt o d e r ihr sogar f e i n d lich g e s o n n e n ist, mit V e r f u h r u n g o d e r List durch den G o t t r e c h n e n m u ß , gegen die er sich vorsehen sollte, z. B. w e n n A g a m e m n o n w e g e n seiner Ü b e r h e b l i c h k e i t v o n d e m T r a u m des Z e u s v e r f u h r t wird, w e n n Ajas in seinem vernunftverlassenen W a h n durch A t h e n e n o c h bestärkt, o d e r w e n n Pentheus v o n Dionysos n o c h aufgereizt wird. Z u p r ü f e n ist i m m e r , w i e der Gesamtplan des Gottes o d e r der G ö t t e r insgesamt, bzw. des Z e u s als des obersten Gottes ist, u n d w i e die G e s a m t h a n d l u n g i m Sinne der Darstellungsintention des Dichters beurteilt w e r d e n soll. N e b e n der Tatsache, daß dieselben G ö t t e r g e g e n ü b e r verschiedenen M e n s c h e n , bzw. a u c h g e g e n e i n zelne M e n s c h e n in verschiedenen Situationen j e nach deren Disposition sich verschieden verhalten, sind natürlich a u c h die U n t e r s c h i e d e der verschiedenen G ö t t e r voneinander, ihre Stellung i m G e s a m t k o s m o s der G ö t t e r zu b e a c h t e n u n d auch die unterschiedlichen W i r k w e i s e n der einzelnen Götter, z. B. o b sie e i n e n eigenen o d e r Z e u s g e m ä ß e n Gesamtplan verfolgen o d e r e i n e n b e g r e n z t e n Einzelzweck. Ein richtiges Verständnis dieser U n t e r s c h i e d e wird in der F o r s c h u n g häufig durch eine zu radikale Auslegung der platonischen Kritik an den traditionellen G ö t t e r n b e h i n d e r t . D e n n die U b e r z e u g u n g Piatons, daß der G o t t n u r gut u n d n u r U r s a c h e v o n G u t e m ist, wird m . E. meist zu schnell als ein radikaler B r u c h mit der olympischen G ö t t e r w e l t ausgelegt. N a t ü r l i c h kritisiert Piaton scharf die zu innerweltliche u n d allzu menschliche Darstell u n g der G ö t t e r u n d setzt d e m den G e d a n k e n entgegen, daß „ d e r G o t t sich nicht mit d e m M e n s c h e n v e r m i s c h t " (Smp. 203a), d . h . daß m a n G o t t n u r in u n d aus sich selbst, unvermischt m i t I m m a n e n t e m u n d in diesem Sinn als eine transzendente Wesenheit verstehen m u ß , die v o n der Welt freilich nicht radikal geschieden ist, s o n d e r n mit ihr ü b e r eine Fülle v o n v e r m i t t e l n d e n Wesen, w i e z.B. Eros u n d anderen . D a i m o n e s ' , v e r b u n d e n ist. G e r a d e dieser letzte Aspekt belegt aber, daß Piaton d e n alten Gottesbegriff nicht einfach e i n e m vorrationalen, n o c h .mythischen' D e n k e n zuweist, s o n d e r n den G o t t e s b e g r i f f des Epos u n d der Tragödie lediglich f ü r seine n o c h f e h l e n d e o d e r u n g e n ü g e n d e D i f f e r e n z i e r u n g zwischen d e m reinen u n d g u t e n Wesen des Göttlic h e n in sich selbst u n d seiner vielfach vermittelten u n d dadurch potentiell entstellten, verweit34

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Wichtiger ist aber noch ein anderer Unterschied: Die Götter wirken in der Tragödie keineswegs in einer einheitlichen, immer gleich determinierenden Weise auf die Menschen ein, sondern machen dabei vielfältige Unterschiede, darunter auch, und das ist der für die Freiheitsproblematik interessanteste Aspekt, große Unterschiede in der Stärke und Intensität der Einflußnahme. Die Skala reicht von einer massiven äußeren oder inneren Gewaltausübung bis zu einer nur noch liebevollen Bitte oder einem freundschaftlichen Rat. Wenigstens ein paar Beispiele: U m eine direkte Gewaltausübung handelt es sich z.B., wenn Hera Herakles durch Lyssa wahnsinnig machen läßt. 36 Ein ungeheueres äußeres Druckmittel ist es, wenn Artemis die griechische Flotte in Aulis durch widrige Winde an der Ausfahrt hindert. 37 Wenn Apoll Orest droht, er werde Hab und Gut, Gesundheit, Macht, Ansehen und Achtung unter den Menschen verlieren, wenn er seinen Vater Agamemnon nicht räche, 38 dann ist das zwar eine sehr massive Drohung Orest hätte die Folgen einer Verweigerung kaum ertragen können —, aber es ist kein mit äußerer Gewalt durchgesetzter Befehl. Einen Befehlscharakter hat Apolls Voraussage gegenüber Laios, wenn er einen Sohn zeuge, dann werde er von diesem getötet werden, überhaupt nicht mehr; 39 diese Vorhersage ist im Grunde nur eine, wenn auch sehr nachdrückliche, Warnung. Daneben gibt es z. B. auch stärkere oder schwächere Formen der Verfuhrung, eine stärkere z. B., wenn Aphrodite mit — wie es von Euripides dargestellt wird — unwiderstehlicher Macht die Königin Phaidra in ihren Stiefsohn Hippolytos verliebt macht, 40 eine schwächere z.B., wenn Dionysos den thebanischen König Pentheus mit dessen eigener lüsterner Neugier verführt, indem er ihm Mittel und Wege anbietet, sie sich zu erfüllen. 41 Die göttliche Einflußnahme kann aber auch nur dadurch geschehen, daß ein Gott einem Menschen Unterstützung zusagt oder verweigert, oder ihm bestimmte Möglichkeiten eröffnet, z.B. wenn Poseidon Theseus drei Wünsche gewährt. 42 Es gibt aber auch die bloß liebevolle Bitte unter beinahe schon Gleichgesinnten und fast Gleichberechtigten, etwa wenn Artemis ihren Liebling Hippolytos bittet,

lichten Wirkweise in der dem Menschen erfahrbaren Wirklichkeit kritisiert. So hat auch der Neuplatonismus Piaton verstanden und konnte so - nicht o h n e G r u n d in der Sache selbst, w e n n auch vielleicht in zu großer Harmonisierungstendenz - Piaton u n d H o m e r in gleicher Weise als gültige Lehrer verstehen. 36 Siehe Euripides, Herakles vv 843-874. 37 Siehe Aischylos, Agamemnon vv 131-155; siehe auch dieselbe Situation bei Euripides, Iphigenie in Aulis vv 8 7 - 9 3 . 38 Siehe Aischylos, Choephoren vv 269—297. 39 Siehe z. B. das im C o d e x Laurentianus 32,9 überlieferte Orakel, das dem Laios gegeben worden sei. 40 Siehe Euripides, Hippolytos w 24—50. 41 Siehe Euripides, Bakchen w 800-961. 42 Siehe Euripides, Hippolytos w 8 9 3 - 9 8 .

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seinem Vater Theseus zu verzeihen. Dazu ist Hippolytos von sich aus schon bereit und tut es doppelt gern, wenn er damit seiner geliebten Göttin ein letztes Mal seine Ergebenheit beweisen kann. 43 Ahnlich steht es zwischen Athene und Odysseus zu Beginn des Sophokleischen Aias. Sie reden miteinander in intimer, auf einer gleichen Situationsbeurteilung basierenden Vertrautheit, und Athenes Ermunterung, Odysseus möge sich nicht wie Aias um seinen besonnenen Verstand bringen lassen, verstärkt Odysseus nur in dem, was er von sich aus ohnehin will. 44 Wenn man die hier offenkundig vorliegende Spannweite zwischen Formen einer sehr starken bis hin zu einer ganz milden, mehr auf Einverständnis als auf Druck beruhenden Form göttlicher Einflußnahme beachtet, wird klar, daß ihr eine analoge Spannweite menschlicher Freiheitsmöglichkeiten entsprechen muß. Denn verschiedene Grade göttlicher Beeinflussung darzustellen, ist nur dann sinnvoll, wenn man auch entsprechende Grade menschlicher Selbstbestimmung annimmt, auf die man in unterschiedlicher Weise — eben z. B. durch Raten, Verfuhren, mit List oder Gewalt usw. — Einfluß ausüben kann. Hielte man die Götter für eine Art Uberinstanz, in der alles menschliche Handeln in gleicher Weise seinen letzten Ursprung hätte, dann wäre es irreführend, ja widersinnig, diese Beeinflussung so darzustellen, daß sie dem Menschen einmal mehr, einmal weniger Raum zum eigenen Entscheiden läßt. Berücksichtigt man aber diese gewiß nicht absolute, wohl aber relative Freiheit des Menschen gegenüber göttlicher Schicksalslenkung, dann erhält die Darstellung göttlichen Wirkens in der Tragödie eine völlig andere als die aus der Aufklärung gewohnte Akzentsetzung, die den Glauben an eine Beeinflussung des Menschen durch Götter von einer noch gänzlichen oder partiellen Unmündigkeit und Heteronomie abhängig glaubt. Es wendet sich sozusagen das Bild: Anstatt Menschen vorzuführen, die sich der Eigenursprünglichkeit ihres Handelns noch nicht bewußt sind, legt diese Darstellung gerade individuell verschiedene, in der subjektiven Verfügungsgewalt des einzelnen liegende Handlungsspielräume offen. Denn wenn die Götter den Menschen zwar beeinflussen, sein Handeln aber nicht festlegen und determinieren, dann dient die Darstellung, mit welcher Macht, welcher Verführung, welchem äußeren oder inneren Imperativ sich jemand auseinandersetzen mußte, gerade dazu, seinen eigenen, ihm allein zuzuschreibenden Anteil am Zustandekommen einer Handlung genauer zu umgrenzen. Durch die Erkenntnis und erst durch die Erkenntnis und Darstellung der Grenzen, die die freien Möglichkeiten des einzelnen einschränken, wird gewissermaßen ein Ausleuchten des Bereichs möglich, in dem der Mensch wirklich von sich aus handeln kann. 45 43

Siehe Euripides, Hippolytos w 1407, 1409, 1411, 1 4 3 4 - 3 6 , 1 4 4 1 - 4 3 . Siehe Sophokles, Aias w 1 - 7 0 , u n d v.a. 1 1 8 - 1 3 3 . 45 Dieses E r k e n n e n u n d A n e r k e n n e n der G r e n z e n , die der subjektiven Verfügungsgewalt des M e n s c h e n gesetzt sind, ist, w i e die F o r s c h u n g s c h o n lange hat zeigen k ö n n e n , der eigentliche 44

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Bevor ich die Entstehung und den Sinn dieser Form der Selbsterkenntnis und des durch sie ermöglichten Freiheitsbewußtseins noch etwas genauer erläutern kann, m u ß ich allerdings darauf hinweisen — für mehr als einen Hinweis bleibt mir leider kein R a u m daß die griechische Tragödie sich keineswegs auf die Darstellung göttlicher Determinanten beschränkt, sondern in einer außergewöhnlich umfassenden Weise — mit gewissen Unterschieden bei den einzelnen Tragikern — auch andere Determinanten mitbedenkt: Herkunft, Vererbung, soziale Verhältnisse, Gewohnheiten der Lebensführung, individualgeschichtliche Traumata u.a. 4 6 Ein in der Akzentuierung der die Handlungsmöglichkeiten des einzelnen einschränkenden Determinanten besonders extremes, in der Grundtendenz aber keineswegs singulares Beispiel für diese umfassende Darstellung aller Handlungsbedingungen, die nicht in der freien Verfügungsgewalt des Menschen liegen, bietet der Euripideische Hippolytos.47 Beide Hauptpersonen dieses Stücks — Phaidra wie Hippolytos — stehen nicht nur unter einem außergewöhnlich starken göttlichen Einfluß, sie sind auch durch Naturanlage, Charakter, soziale Umstände und Lebensführung schon in einer Verfassung, die sie zu beinahe prädestinierten O p f e r n gerade dieser göttlichen Einflüsse macht. 4 8 Phaidra z. B. hat schon von der Mutter u n d anderen Vorfahren her eine erotische Vorbelastung, die, wie sie selbst im Verlauf des Stückes darlegt, durch das müßige, untätige Leben am Königshof mit seinen Zerstreuungen noch verstärkt wurde. So ist es nicht verwunderlich, wenn Aphrodite auf Phaidra eine Macht ausübt, der diese überhaupt nicht widerstehen kann. Das sagt Aphrodite selbst im Prolog, 4 9 u n d Euripides läßt sogar im dramatischen Geschehen auf der Bühne die Vergeblichkeit vorfuhren, in der Phaidra sich abmüht, Herr über diese Liebe zu werden. 5 0 Mit größter psychologischer Raffinesse zeigt Euripides, wie Phaidra gerade durch den Versuch, sich dem Bann Aphrodites zu entziehen, i m mer tiefer, ja bis zum Wahnsinn in ihn hineingezogen wird. 5 1 Aber Euripides hat

Sinn des D e l p h i s c h e n Imperativs: „ E r k e n n e D i c h selbst!". Siehe dazu die i m m e r n o c h w i c h t i g e Studie v o n R u d o l f Pfeiffer 1960. 46 Dieser Aspekt ist in der F o r s c h u n g bisher n u r w e n i g beachtet, für Sophokles ist er j e t z t sehr gut analysiert bei Seidensticker 1994; d o r t auf Seite 276, A n m . 1 weitere wichtige Literatur zu dieser Fragestellung. 47 Siehe z u m f o l g e n d e n Schmitt 1977. 48 H i p p o l y t o s ist S o h n einer A m a z o n e , f u h r t leidenschaftlich ein j u n g m ä n n l i c h kameradschaftliches L e b e n (das i m A u f z u g s c h o r der j u n g e n M ä n n e r eindringlich charakterisiert ist, w 5 8 - 7 2 ) , u n d zugleich ein ganz d e m Artemisischen (Jagd, P f e r d e z u c h t usw.) ergebenes Leben. Phaidra ist T o c h t e r der Pasiphae, Schwester der A r i a d n e (vv 337—340), lebt als K ö n i g i n i m Palast ein m ü ß i ges, in ständigen Konversationen sich erschöpfendes L e b e n (vv 3 7 3 - 3 8 5 ) usw. 49 Siehe Euripides, Hippolytos w 2 4 - 5 0 . 50 Siehe Euripides, Hippolytos w 1 9 8 - 2 4 9 . 51 Siehe Schmitt 1977, 3 1 - 3 5 mit A n m . 71.

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Phaidra auch als eine Person konzipiert, die die Liebe zu ihrem Stiefsohn für etwas sittlich Unschönes, für etwas, wovon öffentliches wie privates Unglück ausgeht, hält, das sie auf keinen Fall will. 52 Deshalb läßt Euripides gerade den Wahnsinn zum Anlaß für Phaidra werden, wieder zu sich selbst zu kommen. Denn im Wahnsinn hatte sie sich zuletzt ganz unverhüllt ihrem Begehren nach Hippolytos überlassen. Dieser direkte Blick auf das sittlich Unschöne ihres Liebesverlangens, den sie aus Scham zuvor streng zu vermeiden versucht hatte, bringt sie wieder zu Bewußtsein und macht ihr klar, daß sie dort angekommen war, wo sie niemals hatte ankommen wollen. So gewinnt sie gerade aus der Wahnsinnssituation einerseits das Wissen, daß sie der Macht Aphrodites nicht gewachsen ist, andererseits aber auch das Wissen, daß diese Macht sie zu etwas treibt, was sie in freier Bewußtheit niemals akzeptieren will. 53 Wenn sie deshalb den Frauen von Troizen berichtet, sie habe nach langer Überlegung den Tod als die in ihrer Situation beste Wahl erkannt, 54 und wenn sie diesen Entschluß — wenn auch mit einer durch die Amme verursachten verhängnisvollen Wendung — auch ausführt, 55 dann legt sie damit eine äußerste, selbst stärksten göttlichen Einflüssen gegenüber mögliche menschliche Selbständigkeit an den Tag und bietet so gerade kein Beispiel, wie Menschen blinde Opfer willkürlicher Götter sind, sondern beweist im Gegenteil, daß nicht einmal Menschen, die wie Phaidra durch vererbte Anlage und Lebensweise prädestinierte Opfer eines bestimmten göttlichen Einflusses sind, durch diese Prädestination auch determiniert sind. Aphrodite ist ein gewaltiger Bestimmungsfaktor in Phaidras Leben, aber sie determiniert dieses Leben nicht, sie bestimmt es nicht vollständig und durchgängig. Ahnlich wie bei Seneca hätte ja auch die Euripideische Phaidra ihrem erotischen Drang nachgeben und Hippolytos einen Antrag machen können. Und sie hätte sich dafür bei Euripides mit Fug und Recht auf die Schwierigkeit, einer göttlichen Macht widerstehen zu müssen, berufen können. Aber sie tut es nicht, sondern weist das Argument der Amme, es sei Hybris, stärker als ein Gott sein zu wollen, sogar als „allzu schöne Worte", als leere, sophistische Rhetorik zurück. 56 Von einer Determinierung menschlichen Handelns kann auch bei Apolls Befehl an Orest nicht gesprochen werden, auch nicht in dem eingeschränkten Sinn, Orest stimme von sich aus dem zu, was durch den Gott ohnehin unabänderlich festgesetzt sei. Daß diese verbreitete stoisierende Interpretation 57 nicht zutrifft, geht allein schon daraus hervor, daß Orest die von ihm in aller Breite und Ausführlich-

52 53 54 55 56 57

Siehe Siehe Siehe Siehe Siehe Siehe

Euripides, A n m . 50. Euripides, Euripides, Euripides, z . B . Lesky

Hippolytos

vv 4 0 5 - 4 3 0 .

Hippolytos Hippolytos Hippolytos 1943.

vv 4 0 0 - 4 0 3 . vv 7 1 5 - 7 2 1 ; 7 2 4 - 7 3 1 . vv 4 4 0 - 4 4 6 ; 4 7 3 - 4 7 5 ; 4 8 6 - 4 8 9 .

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keit dargelegte Schwere und Vielzahl der ihm von Apoll angedrohten schlimmen Folgen als Begründung dafür anführt, warum er gar nicht anders könne, als Apollons Befehl zu erfüllen. 58 Diese Folgen sind so schrecklich, daß Orest volles Verständnis dafür erwarten kann, wenn er sich für Apolls Auftrag entschieden hat. Es war also sehr schwer für Orest, sich Apolls Anliegen zu verweigern, er mußte ihm aber nicht notwendig nachgeben. Außerdem gab es, wie gesagt, grundsätzlich die Möglichkeit für die Menschen, göttliche Befehle oder Warnungen zu mißachten. Zu Beginn der Odyssee beschwert sich Zeus darüber sogar ausdrücklich: 59 die Menschen geben den Göttern die Schuld für ihr Unglück, obwohl sie doch selbst durch ihren eigenen Unverstand ihr Schicksal erst über das ihnen Bestimmte hinaus ins Verhängnis treiben, — so wie Aigisthos, dem Zeus Hermes persönlich geschickt hat mit der Aufforderung, Agamemnon nicht zu töten und Klytaimnestra nicht zu heiraten. Anders als Orest hat sich Aigisthos aber nicht durch die drohende Vorhersage, er werde seinen Frevel mit dem Leben büßen, überzeugen lassen. 60 Besonders wichtig scheint mir zu beachten, daß in dieser Art der Handlungsdarstellung, wie sie am Beispiel Phaidras und Orests belegbar ist, nicht etwa ein kategorisches Freiheitsbewußtsein vorausgesetzt wird, das auf irgendeine grundsätzliche Reflexion gestützt ist — etwa darauf, daß sich der Mensch eines Vermögens „überhaupt" zu freier Entscheidung bewußt wird —, wer eine solche Form der Freiheit sucht, wird sie in der Tat in der griechischen Tragödie nicht finden —, es geht in dieser Handlungsdarstellung vielmehr darum, auszuloten, welche konkreten Handlungsmöglichkeiten diesem bestimmten Menschen in dieser bestimmten Situation noch geblieben sind, und wie er sie genützt oder verspielt hat, und dabei möglichst alle Faktoren zu berücksichtigen, die man kennen muß, um die spezifische und individuelle Reaktion dieses Menschen zu verstehen in seiner Abhängigkeit von Göttern und auch anderen äußeren Faktoren, als dieser besondere Mensch mit dieser Anlage, dieser Charakterbildung, unter diesen generellen und einmaligen Lebensumständen. W i e wenig die Götter den Menschen um seine Mündigkeit bringen, sondern wie im Gegenteil durch die Darstellung ihres Eingreifens der besondere subjektive Anteil eines Menschen an seinen Entscheidungen erst aufgedeckt wird, kann auch eine glücklicherweise erhaltene zweifache Version von Agamemnons Verhalten gegenüber Artemis belegen. Sowohl im Agamemnon des Aischylos 61 wie in der

Siehe Aischylos, Choephoren w 2 6 9 - 2 9 7 . Siehe Homer, Odyssee 1,32—43; siehe dazu die sorgfältigen Analysen von R ü t e r 1969, 62—84. 6 0 Übrigens ist das menschliche Verhalten der göttlichen Aufforderung gegenüber bei Aigisthos wie bei Orest, bei H o m e r (Od. 1,42f.) wie bei Aischylos (Choeph. 297), in derselben Weise beschrieben: Es geht um ein jteidEcrfrcu, um ein Sich-Uberreden oder -Uberzeugen lassen, ein Vorgang, bei dem, wie Wolfgang Kullmann für H o m e r im allgemeinen gezeigt hat, immer ein Akt einsichtsvoll freien Zustimmens mit dazugehört. Siehe Kullmann 1956. 6 1 Siehe Aischylos, Agamemnon w 131-155; 192-204. 58

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Aulischen Iphigenie des Euripides ist ja die gleiche Situation dargestellt: Artemis hält durch widrige W i n d e die Flotte der Griechen in Aulis von der Ausfahrt nach Troja ab u n d fordert als Bedingung einer Beendigung ihrer Behinderung die O p f e r u n g von Agamemnons Tochter Iphigenie. Im Agamemnon des Aischylos hört Agamemnon diese Bedingung aus dem M u n d des Sehers Kalchas, sieht, daß er dadurch vor die schreckliche Wahl zwischen zwei Übeln gestellt ist, entscheidet sich aber nach kurzer Überlegung, in der er sich sagt, daß er auf keinen Fall die Flotte im Stich lassen und sich am gemeinsamen Kampfbündnis versündigen dürfe, dafür, daß das bei weitem größere Übel die Aufgabe des Heerzugs wäre, und glaubt sich im Recht, mit, wie er sagt, leidenschaftlicher Wut das Opfer der Tochter zu begehren. 6 3 In der gleichen Situation verhält sich der Agamemnon der Aulischen Iphigenie des Euripides völlig anders. Seine unmittelbare Reaktion auf den Spruch des Sehers ist, daß er sofort den Kampfverband auflösen will. 64 Mit Vorhaltungen aller Art trotzt ihm dann Menelaos zwar die Zustimmung zur O p f e r u n g der Tochter ab, Agamemnon fühlt sich aber nicht in der Lage, die Last dieser Entscheidung zu tragen, und versucht, sie wieder rückgängig zu machen. 6 5 In erneutem Streit mit dem Bruder verweist er darauf, daß er nicht wider N o m o s und Dike, wider Gesetz und R e c h t an der Tochter handeln könne, u n d überzeugt damit nicht nur den Chor, sondern schließlich sogar Menelaos. 6 6 Daß es dann doch zur O p f e r u n g Iphigenies kommt, genauer zu Iphigenies Selbstopfer, liegt daran, daß die Brüder von den übereilt geschaffenen Fakten überrollt werden. 6 7 Dieses unterschiedliche Verhalten des Aischyleischen u n d Euripideischen Agam e m n o n auf die gleiche, von Artemis ausgehende Bedrängnis belegt zuerst noch einmal, daß für die tragischen Dichter die menschliche Reaktion auf diese Be-

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Siehe Euripides, Iphigenie in Aulis vv 8 7 - 9 3 . Siehe Aischylos, Agamemnon vv 205-217; siehe dazu Thiel 1993, 111-145; siehe v. a. auch Neitzel 1979. 64 Siehe Euripides, Iphigenie in Aulis vv 94—96. Siehe dazu Schmidt 1996. 65 Siehe Euripides, Iphigenie in Aulis vv 97-112; 136-163. 66 Siehe Euripides, Iphigenie in Aulis w 399; 4 0 2 - 3 ; 471-505. 67 Siehe Euripides, Iphigenie in Aulis vv 506-543. Z u R e c h t hat Joachim Latacz (1993, 369) darauf verwiesen, daß es verfehlt ist, in diesem Schwanken der Brüder Zeichen einer unheldischen, rührselig kleinbürgerlichen Labilität zu sehen, wie wir sie bei Euripides nur zu leicht finden, denn Menelaos begründe seine W e n d u n g damit, daß es Z e i c h e n adeliger Gesinnung sei, sich zum Besseren w e n d e n zu lassen. Diese D e u t u n g ist auch die D e u t u n g des Chors: „Adelig sprachst D u , wie es dem Zeussohn Tantalos ansteht; Deine Vorfahren entehrst D u nicht" (vv 504/5). U n d daß das nicht nur die M e i n u n g eines Euripideischen Mädchenchors ist, kann man daran ablesen, daß es eine durchgängige Maxime homerischen Heldentums ist, daß das D e n k e n des Edlen, w e n n es sich als falsch erweist, u m w e n d b a r und heilbar ist; das sei ja auch Eigenart der Götter, sich durch die Bitten der Menschen ggf. umstimmen zu lassen. Siehe z.B. H o m e r , Ilias 9,495-501; 5 1 3 / 4 ; 524-526; siehe dazu Schmitt 1990, 180, mit A n m . 573; 2 0 1 - 2 0 3 . 63

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drängnis durch die Götter nicht festgelegt war. Die griechischen Tragödiendichter haben offenbar die Möglichkeit, dasselbe göttliche Einwirken als Ausgangs- und Entzündungspunkt verschiedener menschlicher Haltungen und Reaktionen zu interpretieren, ja, offenbar liegt nach griechischer Auffassung gerade darin ihre eigentliche Aufgabe. Euripides setzt keinen anderen Mythos voraus als Aischylos, er macht das gleiche mythische Geschehen lediglich auf andere Weise menschlich plausibel. Beide Dichter haben die äußere Bedrängnis Agamemnons aber auch zum Anlaß genommen, schon vor Beginn des Krieges die individuell-emotionale Einstellung des obersten Feldherrn zu diesem Krieg und das Ausmaß an innerer Bereitschaft, sein Streben nach Vergeltung und Macht durchzusetzen, offen zu legen. Gerade der von Artemis auf Agamemnon ausgehende Druck macht also die innere Motivation seines Handelns offenbar, genauso wie ohne Aphrodites gewaltige Machtausübung auf Phaidra die Unbedingtheit ihres sittlichen Wollens niemals in dieser Klarheit zum Vorschein gekommen wäre. Es stockt einem ja beinahe der Atem, wenn man aus dem Mund des Kalchas die schreckliche Bedingung der Artemis hört. Die Frage, die sich in dieser Situation wohl jeder Leser oder Zuschauer stellt: „Wie wird sich Agamemnon jetzt entscheiden?" zeigt, wie die ungeheure Bedrängnis Agamemnons durch Artemis die Aufmerksamkeit gerade auf die selbständigen Handlungsmöglichkeiten Agamemnons lenkt, ja darüber hinaus sogar dazu dient, noch verborgene, unentwickelte innere Tendenzen in Agamemnon zum Vorschein zu bringen. O b Agamemnon bereit oder nicht bereit ist, selbst diese Hürde zu überspringen, sagt eben etwas über die Art und die Intensität seiner Entschlossenheit, diesen Krieg zu wollen, aus. Ähnlich ergeht es einem auch bei Phaidra. Wer mitverfolgt, wie sie sich im Wahn immer mehr auf Hippolytos zubewegt und in dem Augenblick, da sie sich das nicht mehr verbergen kann, zu sich kommt, 6 8 bekommt erstens genau den Punkt in Phaidra zu sehen, an dem selbst Aphrodites Macht über sie endet, und er wird zweitens mit großer Spannung sein Augenmerk daraufrichten, ob Phaidra trotz der Erkenntnis ihrer Unfähigkeit, sich aus Aphrodites Bann zu lösen, ihren Willen, nichts sittlich Unschönes zu tun, aufrechterhalten kann. Auch hier also ist die göttliche Machtausübung etwas, woran sich der Mensch in seinem eigenen Sein und Wollen bewähren muß. In Abgrenzung gegen sie wird daher die menschliche Eigenständigkeit besonders klar erfaßbar, zwar nicht in einer allgemeinen Reflexion, etwa darauf, daß dem Menschen grundsätzlich die Möglichkeit gegeben ist, frei zu wählen, — dies zeigt sich implizit dabei zwar auch, ausdrücklich aber geht es um inhaltlich bestimmte, individuell verschiedene, je besondere Freiheitsräume, die einem bestimmten Menschen zu Gebote stehen. Mit dem Hinweis, daß dieses in literarischer Darstellung dokumentierte Freiheits-

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Siehe Euripides, Hippolytos vv 2 3 9 - 2 4 9 .

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bewußtsein nicht auf ein allgemeines Vermögen des Menschen ,überhaupt' zurückgeführt wird, wie dies z.B. für den FreiheitsbegrifFKants gilt, soll allerdings nicht das Vorurteil wiederholt werden, die ,griechische Freiheit' sei sozusagen noch eine natürliche' Freiheit — ein natürlicher Drang nach freier Entfaltung und ein naives Bewußtsein von der Möglichkeit dazu. Eine solche .natürliche Freiheitsneigung' (Kant) soll ja gerade dadurch ausgezeichnet sein, daß sie kein Wissen von sich selbst und vor allem kein Wissen um den Grund ihrer Möglichkeit hat. Daß Homer und die Dichter der Tragödie aber über ein solches Wissen verfügen, beweist allein die Tatsache, daß sie eine allgemeine Urteilskompetenz über den Unterschied von Freiheit und Abhängigkeit des Menschen demonstrieren. Sie lassen ihre Personen nicht aus einem undifferenzierten Freiheitsgefühl ,drauflos' handeln, sondern sie arbeiten fast immer, oft ist dies sogar ihre zentrale Darstellungsintention, genau die Grenze heraus zwischen eigenem Vermögen und fremder Beeinflussung. Sie wissen also um diese Grenze in vielen verschiedenen, von einander völlig unabhängigen Einzelfällen, d. h. sie wissen von ihr im allgemeinen. Als Beweis für die Allgemeinheit dieses Wissens würde auch allein die Tatsache ausreichen, daß hier der Mensch in einer partiellen Abhängigkeit von Göttern dargestellt wird. Gerade die Uberzeugung von einer Abhängigkeit dieser Art setzt — auch wenn dies paradox klingen mag — zwingend ein allgemeines Bewußtsein von menschlicher Freiheit voraus. Wenn jemand in einer individuell-besonderen Situation einen ihm hier und jetzt gegebenen Rechtsanspruch als einen Anspruch Apollons empfindet oder eine ihn persönlich durchdringende Bezauberung vom Liebreiz der Schönheit einer anderen Person als Wirkung Aphrodites, dann fühlt er sich nicht dumpf in seinem Eigensein beeinträchtigt, sondern weiß etwas Allgemeines über den Grund der Einschränkung seiner eigenen Möglichkeiten. Wenn sich sein Wissen von sich selbst in Abgrenzung gegen dieses Allgemeine bildet, so folgt, daß auch dieses Wissen von allgemeiner Natur sein muß. Exkurs: Uber die Herkunft des Glaubens an die olympischen Götter Wenn man die Bildung des Eigenseins des Menschen aus der erkennenden Unterscheidung dessen, was in der eigenen Verfügungsgewalt liegt und was sich ihr entzieht, konsequent zu Ende denkt, erscheint die traditionelle Erklärung über den Grund des Glaubens an göttliche Wesen mehr als zweifelhaft. Seit der Aufklärung sind wir ja gewohnt, den Glauben an göttliche, dämonische Kräfte oder Wesen in der Welt als Resultat der Unfähigkeit, sich die Welt rational zu erklären, aufzufassen und die zunehmende wissenschaftliche Erklärung der Natur daher als eine .Entzauberung', .Entgöttlichung' der Welt zu begreifen. Diese Herleitung des .mythischen' Götterglaubens ist jedenfalls für die griechische Literatur verfehlt. Es wird ja nicht nur der Glaube an die olympischen Götter schon immer wegen seiner lichtvollen Klarheit gerühmt - und d. h. eben: wegen der klaren Umgrenztheit und deutlichen Konturiertheit dieser Götter, die also offenbar kein diffus empfundenes N u m i nosum sind, sondern ohne die Fähigkeit zu differenzierter Erkenntnis des in der Welt

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erfahrenen göttlichen Wirkens gar nicht in dieser Klarheit hätten unterschieden und in ihren vielfältigen Handlungsweisen hätten beschrieben werden k ö n n e n . - (Dazu wenigstens ein zentraler Beleg: Es ist ein lange schon bekanntes Faktum, daß bei H o m e r die handelnden Personen das göttliche W i r k e n oft nur unbestimmt abstrakt b e n e n n e n k ö n n e n ; sie vermuten z.B., daß irgendetwas nicht o h n e einen ,Daimon' habe geschehen k ö n n e n , während H o m e r als Erzähler in j e d e m Fall genau den Gott und den G r u n d , die Intention seines Eingreifens angibt. Diese U n t e r scheidung kann man noch ergänzen durch die Beobachtung, daß es auch unter den handelnden Personen selbst erhebliche Unterschiede in der Erfahrung des Göttlichen gibt. W ä h r e n d in der Tat die große Masse über das göttliche Wirken meist nur unbestimmte Vermutungen hat oder es sogar überhaupt nicht bemerkt, gibt es bei einzelnen handelnden Personen v o m bloßen Bemerken, daß überhaupt Götter im Spiel sind, über die Vermutung oder das Wissen, welcher Gott gerade Einfluß n i m m t , bis hin zur klaren Erkenntnis des Gottes u n d z u m direkten Austausch mit i h m eine breite Skala von Möglichkeiten. Diese letzteren Personen — z.B. Odysseus, Achill, Diomedes, Helena - sind i m m e r Personen, die in ihrem Charakter u n d in ihrem Handeln eine Affinität z u m jeweiligen Gott haben, während es z.B. eine Person wie Pandaros ist, die noch nicht einmal merkt, daß sie von einem Gott verfuhrt wird. Eine Zwischenstufe ist etwa bei Telemach festzustellen, der zwar z.B. nach der großen A t h e n e - R e d e im ersten Buch der Odyssee (vv 319-323) deutlich bemerkt, daß er es mit einem Gott zu tun gehabt haben m u ß , u n d daraus auch große Kraft schöpft, der aber — anders als sein Vater Odysseus — Athene nicht als sie selbst direkt erkennen kann. Allein diese Differenzierungen zeigen, daß es nicht die Erfahrung einer n o c h nicht aufgeklärten Volksseele war, die überall, w o die Welt dunkel u n d rätselhaft schien, göttliches Wirken annahm, sondern daß es gerade die wenigen zur Erkenntnis Befähigten, und d. h., daß es in der Tat vor allem H o m e r und Hesiod, eben die zur Reflexion u n d Unterscheidung außergewöhnlich Fähigen waren, denen die Griechen ihre Götter, richtiger: die Erkenntnis der verschiedenartigen, aber u m g r e n z - u n d bestimmbaren Wirkungsweisen der Götter verdanken). Es ist aber nicht nur die olympische Klarheit des griechischen Götterglaubens, die der traditionellen Erklärung der Aufklärung über die Entstehung des Glaubens an Götter w i derstreitet, es ist gerade die im vorausgehenden beschriebene Weise der Selbsterkenntnis, die dieses traditionelle Vorurteil nahezu sicher ausschließt. D e n n wenn, wie die besprochenen Beispiele zeigen, u n d wie eine sehr große Zahl weiterer Beispiele noch belegen könnte, Selbsterkenntnis hier meint: aus der Erkenntnis dessen, was nicht in der eigenen Verfügungsgewalt steht, das Wissen zu gewinnen von dem, was in der Tat und was genau in unserer eigenen Macht liegt, dann kann dies kein diffuses A h n e n von irgendwelchen n u m i nosen Beeinflussungen sein, in deren Bann man sich irgendwie fühlt, sondern es m u ß sich dabei u m eine echte, auf Erfahrung und Wissen gegründete Unterscheidungskompetenz handeln. D e n n ein unbestimmtes A h n e n dämonischer Schicksalskräfte m u ß zu einem abstrakt-allgemeinen Abhängigkeitsgefühl oder -bewußtsein fuhren, es kann nicht ein klares und bestimmtes Wissen über die tatsächlich eigenen Möglichkeiten hervorbringen. Da die handelnden Personen des Epos und der Tragödie in unterschiedlichem Grad, die Dichter aber i m m e r in größter Klarheit über genau dieses Wissen verfugen, setzt das voraus, daß sie das Prädikat .göttlich' nur dann vergeben haben, w e n n sie 1. darüber, daß etwas nicht in der Verfügungsgewalt des Menschen liegt, u n d 2. was dieses nicht in der eigenen Verfügung Stehende ist, ein Wissen hatten. Da dieses Wissen auch psychische Komplexe betrifft, die selbst die neuere Psychologie noch weitgehend unterschiedslos der subjektiven Dimension des Menschen zuspricht (oder ihr auch einfach ganz abspricht), während die griechischen Dichter hier eine Differenzie-

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Arbogast Schmitt rung zwischen inneren, eigenen und äußeren, fremden Vermögen für nötig hielten — z. B. schien ihnen ein erotisches Verlangen eben kein rein subjektiver Vorgang, es leiden ja sehr viele Menschen, ja sogar Tiere unter diesem Symptom, sondern ein Vorgang, bei dem man zwischen der aktiv-subjektiven Aufmerksamkeit auf das Liebe-Erweckende, die Fähigkeit, seine Wirkungen zu erfahren und die Neigung, diesen Wirkungen nachzugeben, und dem Liebreiz-Wirkenden selbst, das nicht in der Verfügung des Subjekts steht, unterscheiden müsse*, — da dieses Wissen also selbst innerpsychische Differenzierungen mitbetrifft, kann die Annahme, dem Götterglauben liege ein mangelndes Bewußtsein über die inneren spontanen Vermögen des Menschen zugrunde, kaum Glaubwürdigkeit beanspruchen. Eine wichtige, hier nicht geklärte und in Kürze auch nicht zu klärende Frage ist dagegen, warum diese nicht in der eigenen Verfugung des Menschen liegenden Kräfte als göttliche Wesen und nicht einfach als Naturkräfte, Gesetze ö.ä. aufgefaßt wurden. Eine mögliche Antwort darauf scheint mir zu sein, daß diese Kräfte 1. nicht als chaotisch-unbestimmte und unbestimmbare, sondern als, wenn auch nicht berechenbare, so doch als erkennbare, umgrenzbare, in ihrem Wesensgehalt erfaßbare Kräfte ausgelegt wurden, und 2. als Kräfte, die offenbar durch sich selbst bestimmt sind, d. h. die von sich her sind, was sie sind, von denen man daher mit Grund annehmen konnte, daß sie sich selbst bestimmen können.

* Diese am Kriterium des in der eigenen und nicht in der eigenen Verfügung Stehenden geführte Differenzierung zwischen einer im Inneren (nur passiv) erfahrenen und deshalb vom subjektiven Ich abzulösenden Wirkung und einer aktiv auswählenden und das Ausgewählte goutierenden Rezeption ist nicht nur nicht identisch, sondern steht geradezu im Gegensatz zu jener von der Aufklärungsphilosophie bis zur Psychoanalyse (und darüber hinaus) favorisierten Pseudomythisierung des menschlichen Inneren, so als ob Triebe, Affekte, Gefühle quasi selbständig agierende Fremdlinge im eigenen Ich seien, die man nur gewähren lassen oder bekämpfen könne, die aber nicht durch erkennende Akte des Menschen Zustandekommen und von ihnen abhängig seien. Diese sich im Vorraum des Bewußten tummelnden Wesen (Freud) sind nicht die Götter des griechischen Mythos. Diese Götter stehen lediglich (und machen dies daher auch der Erkenntnis zugänglich) für den tatsächlich nicht in der eigenen Macht des Menschen stehenden Anteil an Trieben, Gefühlen usw. Auch wenn der Liebreiz der Schönheit nur für ein Subjekt existiert, das ihn zu erkennen in der Lage ist, wird er doch von diesem Subjekt nicht fingiert, sondern lediglich als eine spezifische Potenz des Schönen erfaßt, so wie ja auch Licht und Farbe nur für einen Sehenden, nicht für den Schläfer oder Blinden existieren, vom Sehenden aber nicht erfunden, sondern erkannt werden. Als etwas, was gesehen werden kann, sind Licht und Farbe also wirklich da, so daß das Sehen der Farbe kein rein innerlicher Vorgang ist. Das Innerliche beschränkt sich vielmehr auf das Erkennen der Farbe überhaupt, auf die Genauigkeit des Erkennens und auf die Fähigkeit, die positiven, angenehmen oder negativen, unangenehmen Wirkungen der Farbe auf das wahrnehmende Subjekt zu rezipieren. In gleicher Weise unterscheidet der mythische Götterglauben der Griechen auch bei dem, was wir Gefühl, Emotion etc. zu nennen pflegen. Das Angenehme der Schönheit ist als etwas Erfahrbares eine im Äußeren vorhandene Potenz, die auf den, der sie zu unterscheiden und zu schätzen weiß, in der Stärke wirkt, die ihrer Potenz entspricht, auf den, der sie gar nicht oder nur ungenügend oder nur unter bestimmten (z.B. Nützlichkeits-) Aspekten zu bemerken in der Lage ist, nur mehr oder weniger oder gar nicht, wie für den Schläfer die Sonne nicht scheint. Deshalb ist für das frühgriechische Epos und die griechische Tragödie so etwas wie Liebe, Zorn, Angst usw. keine Pseudo-Gottheit in uns, sondern sie sind Produkt einer subjektiv erkennenden und schmeckenden Auseinandersetzung mit etwas Nicht-Subjektivem. Und nur dieses Objektive ist im Sinn des griechischen Mythos etwas Außeres, und sofern (und nur sofern) es etwas erkennbar Bestimmtes ist, auch etwas Göttliches.

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Diese beiden Ü b e r z e u g u n g e n fuhren in einer rational nachvollziehbaren Weise zu der Überzeugung, es handle sich hier u m grundsätzlich (wennn auch v o m Menschen nicht vollständig) einsehbare, d. h. intelligible Kräfte mit d e m Vermögen, sich selbst zu bestimm e n , u n d d . h . eben u m über dem Menschen und der N a t u r stehende, intelligible, sich selbst bestimmende Wesen, u m göttliche Personen. An den Grundprinzipien dieses Glaubens konnte daher die spätere platonisch-aristotelisch geprägte Philosophie der Antike und des Mittelalters festhalten. 6 9

U b e r die Voraussetzungen u n d Folgen dieser in der griechischen Tragödie g e ü b ten Art, innere Motivationen des Handelns darzustellen, i n d e m durch scharfe K o n t u r i e r u n g des d e m H a n d e l n d e n nicht Verfügbaren in d e m komplexen G e webe, das in einer konkreten H a n d l u n g zusammenläuft, der Handlungsstrang, den der einzelne wirklich selbst in der H a n d hatte, isoliert wird, wäre n o c h viel zur B e g r ü n d u n g u n d Erläuterung zu sagen. Ich m ö c h t e aber n o c h auf die weitergeh e n d e Frage eingehen, wie sich d e n n die behauptete menschliche Selbständigkeit zu d e m P h ä n o m e n verhält, daß in der griechischen Tragödie oft der gesamte Schicksalsweg vieler Personen als P r o d u k t göttlicher Planung erscheint.

II. Göttliche L e n k u n g ganzer Schicksalsläufe D i e im vorigen Abschnitt besprochenen Beispiele k ö n n t e n auch als Beleg einer nur scheinhaften Teil-Freiheit des M e n s c h e n gedeutet werden, die dadurch, daß letztlich alles menschliche Tun, das freiwillige wie das unfreiwillige, e i n e m göttlichen Gesamtplan folgt (was sich meist am E n d e herausstellt), in ihrer Scheinhaftigkeit aufgedeckt wird. W e n n nicht (immer noch) zu viele Zweifel daran vorgebracht w ü r d e n , ob E u r i pides die Götter, die er auftreten läßt, überhaupt n o c h für G ö t t e r im Sinn der traditionellen R e l i g i o n hielt, k ö n n t e m a n Aphrodites Planen im Hippolytos auch als Beispiel für eine solche Gesamtschicksalsplanung anfuhren. D e n n Aphrodite ist hier ja nicht nur die Macht, die Phaidra in Liebe verstrickt (und gegen die sich Phaidra wehrt), sie verfolgt mit dieser ihrer M a c h t einen über die unmittelbare W i r k u n g dieser M a c h t hinausgehenden Handlungsplan: Sie will Hippolytos für seine Arroganz ihr gegenüber strafen. 7 0 In diesem Plan ist Phaidra nur Werkzeug Aphrodites, u n d zwar nicht nur durch das, was Aphrodite in ihr bewirkt, d . h . nicht nur durch ihre Liebe zu Hippolytos, sondern auch durch das, was wir gerade als das Selbständige an Phaidra zu erweisen versucht haben. D e n n es ist erst Phaidras Entschlossenheit, auf keinen Fall zu einem schlimmen Vorbild für die ganze Stadt u n d zur Ursache zu werden, daß M a n n u n d Kinder nicht m e h r in freier

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Siehe dazu Bernard 1990, v.a. 9 5 - 1 6 4 . Siehe Euripides, Hippolytos w 2 1 / 2 ; 4 3 / 4 ; 4 9 / 5 0 .

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R e d e angesehen in der Stadt leben können, 7 1 die dazu fuhrt, daß Phaidra Hippolyte» mit in den Tod zieht, ziehen muß: Er hat ihre Bloßstellung laut und deutlich angekündigt, 72 so daß sie nach der unbedachten und voreiligen .Unterstützung' durch die Amme gar keine andere Wahl hat, als Hippolytos mit ins Verderben zu stürzen. Nur auf diese Weise hat sie noch die begründete Hoffnung, ihr tatsächlich eigenes Handlungsziel zu verwirklichen. 7 3 Die Tatsache, daß sich Aphrodites Plan zu einem guten Teil bzw. nach der Auffassung vieler sogar ausschließlich durch rein menschliches Handeln verwirklicht, hat auf der anderen Seite zu der These geführt, Euripides habe seine Götter nur eingeführt, um ihr dargestelltes Wirken durch das tatsächliche Geschehen auf der Bühne zu destruieren. Da die Diskussion über diese Problematik zu komplex ist, als daß sie in wenigen Worten abgehandelt werden könnte, möchte ich nur feststellen: Wenn die Darstellung, so wie sie von Euripides gegeben ist, beim Wort genommen werden kann, dann hat Euripides in ihr eine Handlung vorgeführt, in der beides nebeneinander für möglich gilt: eine göttliche Gesamtregie und eine selbständige Mitgestaltung des eigenen Schicksals durch den Menschen. Im Grunde steht man bei der Interpretation der Sophokleischen Tragödien, etwa des König Odipus, vor dem gleichen Problem: Auch hier muß das scheinbar widersprüchliche, weil scheinbar miteinander unvereinbare Nebeneinander von göttlicher Gesamtplanung, göttlichen Einzeleingriffen und menschlicher Selbständigkeit erklärt werden. Lediglich die Akzente werden im allgemeinen bei Sophokles anders, gegenläufig gesetzt. Bei Euripides führt die Feststellung des vermeintlichen Widerspruchs im Nebeneinander von göttlicher und menschlicher Aktivität zu einem Zweifel an dem göttlichen Anteil: er sei nur Schein, Illusion, sei nur noch Metapher für etwas rein Innermenschliches 7 4 oder ein bloßes Zugeständnis an den Gottesglauben der Athener, werde für den Gebildeten aber in seiner Irrealität durchschaubar gemacht. 7 5 Bei Sophokles führt eben dieselbe Feststellung zu einem Zweifel an der Realität des dargestellten menschlichen Handlungsanteils: Obwohl die Menschen bei Sophokles (oft) meinen, selbständig zu handeln, werde diese Meinung von Sophokles als Schein und Wahn entlarvt. Zuletzt verwirkliche sich auch durch das vermeintlich eigene Planen und Handeln des Menschen immer der Wille der Götter. 7 6

Siehe Euripides, Hippolytos vv 407-424. Siehe Euripides, Hippolytos v 612. 7 3 Siehe Euripides, Hippolytos vv 6 6 8 - 7 9 ; 7 1 5 - 7 2 1 ; 7 2 4 - 7 3 1 . 7 4 Siehe z.B. Lesky 1960; Winnington-Ingram 1960. 7 5 Siehe z.B. Conacher 1967, 29, 48 u.ö. 7 6 Es ist zwar fast schon zur Selbstverständlichkeit geworden, zu betonen, die griechische Tragödie sei kein Schicksalsdrama (z.B. Schadewaldt 1970b), gemeint ist damit aber nur, daß der tragische ,Held' der Tragödie „nicht nur ein Erduldender, ein sein Schicksal passiv Erwartender" sei, er - insbesondere denkt man hier an Odipus — gehe ihm vielmehr entgegen, reiße es an sich (so Lesky 1971, 328). An eine Mitgestaltung des eigenen Schicksals ist dabei aber keines71

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Diese Position ist besonders oft für den König Ödipus vertreten worden und wurde mit teils neuen, teils lange bekannten Argumenten scharfsinnig vor kurzem von J o h n Peradotto 7 7 neu vorgetragen: Insbesondere die vielen intentionalen Z u fälle' nötigten den Leser oder Zuschauer geradezu zu dem Schluß, Apollon habe die Handlungsziele nicht nur vorhergesagt, sondern auch durchgesetzt. Die Grundthese dieser Interpretation steht wohl wirklich außer Zweifel: Der Verlauf des Schicksals des Ödipus ist von Apollon mitgesteuert, es endet, wie Apollon es vorher gewußt hat und wie es seinem Willen entspricht. Diese richtige Feststellung ist aber keineswegs identisch mit der meist für selbstverständlich gehaltenen, aber undifferenzierten These, Apollon habe das Schicksal des Ödipus über die K ö p f e der handelnden Menschen hinweg in seinem Sinn durchgesetzt. Daß diese von neuzeitlichen Denkgewohnheiten stark geprägte These falsch ist, j a geradezu im Gegensatz zur Religiosität der griechischen Tragödie steht, kann von vielen Aspekten her gezeigt werden. 7 8 Einer der wichtigsten scheint

wegs gedacht, im Gegenteil, das eigene Denken und Wollen des Menschen stehe in der Tragödie immer unter „der furchtbaren Ubermacht des Göttlichen, die über all dies Wollen und Wähnen unerbittlich ihren Weg geht" (Lesky 1971, 328). Erstaunlicherweise wird die Tatsache, daß dieses Freiheitsverständnis, das Freiheit nur als eine Qualität der inneren Haltung begreift, die das vom Schicksal bestimmte - Handeln begleitet, stoisch ist (und also im Blick auf die griechische Tragödie ein Anachronismus), meist nicht einmal bemerkt. (Zum stoischen Freiheitsbegriff siehe z . B . Forschner 1995, 104-113.) 7 7 Siehe Peradotto 1992. 7 8 Im wesentlichen folgen die meisten Interpretationen immer noch einer nominalistischen Denkfigur, deren Aktualität Umberto Eco erfolgreich ausnutzen konnte, um spezifische Themen der Gegenwart in der Kulisse und dem Denkhabitus des späten Mittelalters zu diskutieren. So wie William von Baskerville aus den ihm immer nur isoliert zugänglichen Fragmenten der Realität mit größtem Scharfsinn immer neue Gesamtentwürfe entwickelt, um am Ende durch einen bloßen (.tragischen') Zufall auf die (nur einem göttlichen Geist in intellektueller Anschauung als ganze zugängliche, für den Menschen immer ob ihrer Irrationalität verschlossene) Realität zu treffen, so stellen sich viele Interpreten auch den Verlauf der Odipushandlung vor. Aus den bruchstückhaften Informationen, die Ödipus erhält, könne er mit Hilfe seines außergewöhnlichen Scharfsinns zwar immer neue Vermutungen entwerfen: er denkt an Bestechung aus der Stadt (vv 124/5), an ein Komplott des Kreon (v 387), fürchtet den Hochmut seiner Frau (v 1078) usw., um am Ende eine von ihm überhaupt nicht vorhersehbare Wahrheit zu erfahren, eine Wahrheit, die nur der göttlichen Zusammenschau Apollons gegenwärtig gewesen sei, und in deren Besitz Apollon Ödipus' scheinbar eigenständiges Erkennen und Handeln nach willkürlichem Gutdünken habe steuern können. N u r eine solche Hineinspiegelung nominalistischer Denkweise in das 5. Jh. v.Chr. macht es Jochen Schmidt möglich, im König Ödipus den Versuch zu erkennen „den menschlichen Geist zu einem Unwert zu machen. Im N a m e n des Gottes wertet er (Sophokles) menschliches Wissen rigoros ab. Er versucht es als irrelevant zu erweisen" (s. Schmidt 1989, 51). Diese Deutung wäre nur dann zutreffend, wenn Ödipus genauso wie William von Baskerville trotz Aufbietung aller menschlichen Erkenntnisfáhigkeiten notwendig und grundsätzlich hätte scheitern müssen, weil die völlige Unterlegenheit des menschlichen Wissens gegenüber dem Wissen der Götter, oder auch weil die sich (zumindest für eine neuzeitli-

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mir, daß dabei viel zu wenig auf Gemeinsamkeiten geachtet wird, die die sophokleische Handlungsgestaltung noch immer mit Homer teilt. 79 Auch in der Ilias ist es Zeus' Plan und Wille, daß die Griechen siegen und daß Troja fällt. Aber nicht einmal nach dem Eidbruch des Pandaros, durch den Agamemnon die feste Uberzeugung gewinnt, Zeus werde im Groll über diesen Betrug ganz sicher die finstere Aigis gegen die Trojaner schwingen, 80 glaubt Agamemnon, Zeus werde nun den Sieg für die Griechen von sich aus durchsetzen, sondern er herrscht die noch Zögernden unter seinen Kämpfern an: „Wollt ihr warten, bis die Troer sich den Schiffen nähern..., damit ihr seht, ob Zeus wohl seine Hand über euch hält?" 81 Agamemnon entspricht mit dieser Uberzeugung, daß Gott nur dem hilft, der selbst in der richtigen Weise Hand mit anlegt, einer allgemeinen Uberzeugung der Homerischen Religion, die prägnant in dem Sprichwort „mit Athene rühr' auch die eigene Hand" ausgesprochen ist.82

che Perspektive) völlig irrational u n d kontingent darbietende Realität eine korrekte, der W i r k lichkeit entsprechende Beurteilung unmöglich gemacht hätte. Eine solche Notwendigkeit des Scheiterns läßt sich aber im Sophokleischen König Ödipus nicht belegen, im Gegenteil: Odipus b e k o m m t bei Sophokles im Verlauf der H a n d l u n g nicht nur außergewöhnlich viele, sondern auch außergewöhnlich deutliche Informationen, die ihn, d e m seine Vergangenheit besser als allen anderen bekannt war, eine zutreffende Zusammenschau der isolierten Realitätsfragmente möglich gemacht hätten. (Anders Nickau 1994, der zum Beweis, daß Odipus die in partikuläre Informationen aufgesplitterte Wahrheit — wie ein zweiter Sokrates — erst habe zusammensetzen müssen, u m am E n d e auf sie zu treffen, formuliert: Odipus kenne den Odipusmythos nicht (Nickau 1994, 16). Natürlich, Odipus kennt nicht seine ganze Geschichte, aber er kennt besser als alle anderen seine bisherige Geschichte, die i h m genügend Informationen bereitstellt, u m zu e i n e m korrekten Urteil über seine Gegenwart zu k o m m e n . ) D a ß Ödipus eine solche Z u s a m menschau verfehlt, ist im König Ödipus zwar sehr gut motiviert und dadurch plausibel gemacht, aber es ist eine plausibel gemachte Verfehlung, keine plausibel gemachte Notwendigkeit. S o p h o kles' tatsächliche Kritik an der Aufklärung ist nicht, wie Schmidt formuliert, der Beweis des U n w e r t s menschlicher Erkenntnis überhaupt, sondern der Aufweis des U n w e r t s einer u n g e n ü gend genutzten Erkenntnis, die sich im Vertrauen auf ein schnell zugängliches Wahrscheinliches (sbcóg) zu schnell u n d zu sicher im Besitz der ganzen Wahrheit wähnt — u n d in diesem Sinn sich ihrer Grenze nicht b e w u ß t ist. D a ß Sophokles seinen Odipus gerade nicht als einen William von Baskerville, der alle menschlichen Erkenntnismöglichkeiten optimal ausschöpft, konzipiert hat, sondern als j e m a n d e n , der - w e n n auch aus menschlich sehr begreiflichen G r ü n d e n - gerade die Gelegenheiten, die zur Erkenntnis und Selbsterkenntnis fuhren könnten, nicht nützt, zeigt schlüssig Eckard Lefevre 1987; siehe auch Schmitt 1988. 79 In welchem Ausmaß die Verfolgung der Wurzeln der Tragödie bei H o m e r die Perspektive der Drameninterpretation korrigieren u n d verändern kann, demonstriert überzeugend für E u r í pides Kullmann 1987. 80 Siehe H o m e r , Ilias 4 w 160-168. 81 Siehe H o m e r , Ilias 4 vv 2 4 2 - 2 4 9 . 82 Siehe Eustathii C o m m e n t a r i i ad H o m e r i Iliadem pertinentes, cur. Marchinus van der Valk, 1,742; Siehe ähnliche Aussagen z. B. auch im Scholion zu Ilias 4,249 (Scholia Graeca in H o m e r i Iliadem, rec. H . Erbse 1,495) oder Tragicorum G r a e c o r u m Fragmenta, rec. A. N a u c k , Nr. 432.

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Was für die Griechen im positiven Sinn gilt, gilt für die Trojaner im negativen: Troja wird nicht zerstört, weil Zeus es will, sondern Zeus will Trojas Zerstörung — und die kommt dann auch seinem Willen entsprechend —, weil die Trojaner es verdient haben. Sowohl im Sinn der handelnden Personen der Ilias wie im Sinn des Ilias-Dichters ist diese Erfüllung von Zeus' Wille ein Ausgleich für die ungeheure Verletzung des Gastrechts und des Eids durch die Trojaner, es ist nicht ein göttlicher Willkürwille, der das Tun der Menschen als eine bloße Illusionskulisse benutzt, hinter der Zeus seine ganz anderen Fäden zieht. 83

Mir scheint, daß man zumindest prüfen muß, ob es sich mit der Verwirklichung von Apollons Willen im König Ödipus nicht ähnlich verhält. Diese Prüfung ist um so nötiger, als die Handlungsziele, die Apollon angeblich im König Ödipus durchsetzt, nach allem, was wir über die Religion des 5.Jahrhunderts wissen, gar keine möglichen Handlungsziele des Gottes Apollon sein können. Aphrodite kann jemanden mit dem Liebreiz der Schönheit betören, und es ist ein möglicher Anspruch Apollons, durchzusetzen, daß der Mord an Agamemnon gerächt wird. 84 Aber es hat schon Alexander von Aphrodisias in seiner Auseinandersetzung mit stoisch-deterministischen Odipus-Deutungen darauf hingewiesen, daß der Mord am Vater und die Heirat mit der Mutter und die Zeugung von Kindern, die zugleich Geschwister des Vaters sind, keine mögliche Handlungsintention Apollons sein können. 8 5 Als eine tatsächliche Intention Apollons kann es dagegen gelten, daß er, wie ja oft gesagt wird, mit Hilfe dieser ,Prüfungen' Ödipus eine Katharsis habe gewähren wollen. Diese Auslegung setzt aber voraus, daß Apollon Ödipus nicht in den Vatermord usw. hineingezwungen hat. Dann hätte er die Schuld, von der er Ödipus wieder reinigen will, ja selbst begangen, — ein Widersinn, den Alexander von Aphrodisias zu Recht kritisiert. 86 Eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, daß wir einem für seine Frömmigkeit gerühmten Dichter nicht unterstellen, er habe seinen Athenern einen Apollon vorfuhren wollen, dessen wahre, den handelnden Personen verborgene Absicht es gewesen sei, Ödipus z. B. in die Situation am Dreiweg zu dirigie-

83 Daß der ,Wille des Zeus' in der Ilias insgesamt als eine gerechte Weltlenkung gilt, hat schon Lloyd-Jones 1971 mit vielen schlagenden Belegen erhärtet. Siehe jetzt auch Schäfer 1990 (dort auch weitere Literatur zum Thema). 84 Z u m engen Zusammenhang von göttlicher Person und göttlichem Wirkungsbereich siehe Pötscher 1959. 85 Siehe Alexander von Aphrodisias, Über das Schicksal, übers, und komm, von Andreas Zierl, Berlin 1995, 125; Siehe insgesamt die Kap. 31 und 32, 121-127 (= Supplementum Aristotelicum II, 2 ed. I. Bruns, Berlin 1892, 201,29-204,29). 86 Siehe Anm. 85.

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ren, damit er seinen Vater töte, um dann Ödipus fiir diese von ihm, Apollon selbst „provozierte" 87 Schuld bitter büßen zu lassen.88 Wenn aber eine solche Hineinspiegelung eines nihilistisch-existentialistischen Weltverständnisses in das 5.Jh. v. Chr. sachlich wie historisch inadäquat ist, muß auch die Konsequenz bei der Interpretation gezogen werden, d.h. es muß auch die Voraussetzung dieser Interpretation, die Meinung, Apollon benutze die Menschen, selbst in ihrer vermeintlichen Freiheit, nur fiir die Erfüllung seiner Pläne, in Frage gestellt werden. Das kann man auch, ja es ist ohne diese Voraussetzung, die Sophokles die irrationale Widersprüchlichkeit unterstellen muß, er stelle „noch" zwei „in Wahrheit" nicht vereinbare Handlungsebenen nebeneinander dar, sogar eine erheblich rationalere Interpretation möglich. Der richtigere Weg muß auch hier über eine genauere Prüfung der Art der Schicksalsgestaltung durch Apollon fuhren. Genügt die blanke Tatsache, daß am Ende alles so ausgeht, wie Apollon es vorher gewußt und gewollt hat, zum Beweis der völligen Unmöglichkeit für die Menschen, das eigene Schicksal mitzugestalten, oder ist die Art, wie Apollon das Ende weiß und will, so, daß Wissen und Wollen der Menschen daneben möglich, ja nötig sind? Die zentralen Steuerungseingriffe Apollons in das Schicksal des Ödipus sind bekanntlich ein nur vorhersagendes 89 und ein imperativisches Orakel. 90 Dabei ist erstaunlicherweise das imperativische Orakel diejenige Handlung Apollons, bei der der Freiheitsraum der Menschen leichter, ja ganz deutlich ermit-

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Siehe Manuwald 1992, 11. Diese B e h a u p t u n g setzt keineswegs voraus, die griechische Tragödie habe sich schon an einem platonischen oder gar christlichen GottesbegrifF orientiert: N i c h t nur finden sich z. B. in der griechischen Lyrik, etwa bei Solon (z. B. die sogenannte Eunomie, in: Poetae elegiaci. Testimonia et fragmenta ed. B. Gentiii u. C. Prato, Teil 1, Leipzig 1988 2 , fragm. 3) oder Pindar (z.B. Olympische Ode 1,52—58; Pythische Ode 10,51-58) Beispiele zur Genüge dafür, daß es für falsch u n d u n f r o m m gehalten wurde, menschliche Fehler u n d menschliches Unglück auf die Götter zurückzufuhren, als seien sie die Schuldigen. ( - Natürlich gibt es auch scheinbare oder wirkliche Gegenbeispiele, z.B. Theognis 1,133-146. D e m stehen aber selbst bei Theognis viele andere Gedichte - z.B. 1,319-322 - entgegen, die die Aussage, von den G ö t t e r n allein k o m m e Verlust u n d Vorteil, relativieren: Sie sind die letzte, nicht die einzige Instanz.) Ein solches Verhalten gilt schon bei H o m e r als primitiv. Es ist z. B. der törichte Asios, der gegen den klugen R a t des Polydamas mit seinem Streitwagen in das Lager der Griechen hineinfährt u n d dann Zeus fiir seinen Fall verantwortlich macht (siehe H o m e r , Ilias 12,110f.; 12,113 nennt ihn der Erzähler ausdrücklich vfiJiiog (töricht); 12,164-173 klagt Asios Zeus des Betrugs an). D o r t , w o Götter in der Tat Menschen zu Bösem oder Falschem anstiften, wie z.B. bei Pandaros, der ja das G r u n d exempel für die angeblich unsittliche Willkür der homerischen Götter abgibt, k o m m t nur die Anstiftung zur Tat von Zeus u n d Athene, die Strafe erhält Pandaros aber nicht für die i h m eröffnete Gelegenheit zur Tat, sondern für die verbrecherisch d u m m e Gier, mit der er zugegriffen hat, — u n d die Trojaner insgesamt dafür, daß sie die durch Paris' Flucht und Pandaros' Schuß geschaffene Situation akzeptiert haben. 89 Siehe Sophokles, König Ödipus w 789-793. Siehe oben A n m . 14. 90 Siehe Sophokles, König Ödipus w 9 6 - 9 8 ; 100-101. 88

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telbar ist. Denn Apollon legt die Reaktion auf sein Orakel ja nicht strikt fest, sondern läßt der Stadt ausdrücklich die Möglichkeit, den gesuchten Täter zu töten oder ihn nur außer Landes zu schicken. 91 Außerdem ist das Orakel eine Antwort auf die Anfrage, wie Theben vor der Pest gerettet werden könne. 92 Wie es nicht wenige Theomachoi im Mythos tun, 9 3 oder wie es Phaidra gegenüber Aphrodite tut, 94 und wie es für tyrannische Herrscher ja typisch ist, hätte die Stadt oder ihr König also auch eher den Untergang wählen können, als sich dem Auftrag des Gottes zu unterwerfen. Problematischer im Blick auf den Freiheitsraum der Menschen erscheint Apollons pronuntiatives Orakel. 95 Denn es hat ja zur Voraussetzung, daß Apollon alle Handlungsbedingungen, die zu den Entscheidungen des Odipus führen, bereits kennt, so daß in der Dimension seines Wissens für Odipus' Handeln eine lückenlose Kausalkette besteht. Gegen diese schon von den Stoikern vorgebrachte Argumentation hat Alexander von Aphrodisias eingewendet, daß das Wissen um eine kontingente Ursache die Kontingenz dieser Ursache nicht aufhebt, sondern gerade wenn es ein korrektes Wissen ist, diese Ursache in ihrer kontingenten Qualität erfaßt haben muß. 9 6

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Siehe Sophokles, König Ödipus w 100—101. Siehe Sophokles, König Ödipus w 6 8 - 7 2 . 93 M a n braucht allerdings schon bei H o m e r gar kein T h e o m a c h o s zu sein, u m sich einem Auftrag eines Gottes zu widersetzen, auch w e n n dies ein Auftrag ist, dem man folgen sollte. So verdrängt z.B. Hektor, Ilias 20,419ff., Apollons Gebot, Achill nicht als Promachos (Vorkämpfer) entgegenzutreten (20,376), u m seinen B r u d e r Polydoros zu rächen. Achill trotzt in Ilias 21,234ff. dem Flußgott Skamandros u n d läßt sich nicht in seiner rasenden Mordgier aufhalten. 94 Siehe oben S. 15 f. u n d 19 f. 95 Siehe A n m . 89. 96 Siehe Alexander von Aphrodisias 5 0 - 5 9 Zierl = 174,29-178,8 Bruns; 116-125 Zierl = 200,13-204,6 Bruns. Wäre es nicht so, w ü r d e durch das bloße Vorherwissen der Unterschied von Möglichkeit und Notwendigkeit aufgehoben und Apollons Wissen, daß Odipus eine i h m gegebene Möglichkeit nicht ergreifen wird, wäre identisch mit dem Wissen, Odipus habe überhaupt keine Möglichkeit gehabt. D e n Zufall kann man dann nur im Sinn der Stoa als einen Schein erklären, der aus d e m Mangel an umfassender Ursachenkenntnis des Menschen entsteht. Für Gott (nicht nur in Gott) gäbe es d e m g e m ä ß den Unterschied von Notwendigkeit und Zufall überhaupt nicht (s. Alexander 4 2 - 4 9 Zierl = 172,17-174,18 Bruns; s. dazu Sharples 1983 zur Stelle). Philosophisch gesehen handelt es sich hier u m den Unterschied einer sich auf den Satz v o m Widerspruch u n d einer sich auf den Satz v o m G r u n d stützenden Ursachenanalyse. I m Sinn des Satzes v o m G r u n d ist natürlich eine vernünftig erklärte Kontingenz keine Kontingenz m e h r - da man ja meint, w e n n man alle Ursachen kenne, kenne man auch deren Notwendigkeit, im Sinne des Satzes v o m Widerspruch bleibt eine vernünftig erklärte Kontingenz zwingend eine Kontingenz, da man davon ausgehen m u ß , daß die Kenntnis aller Ursachen nicht die Qualität der Ursachen verändern kann. Auch eine nahtlos aneinandergereihte Kontingenzkette bleibt eben eine Kette von Kontingenzen. Im Sinne der peripatetischen Logik handelt es sich bei der Annahme, eine vernünftig, d. h. vollständig erklärte Kontingenz sei keine Kontingenz mehr, u m eine logisch falsche Lokalisierung des Notwendigkeits-Prädikats. D e n n w e n n es notwendig ist, daß alles eine Ursache hat, dann gilt die Notwendigkeit für diese Aussage und ihren Inhalt, d. h. 92

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Dies ist auch plausibel, und auch wir urteilen, solange wir das Vorherwissen nicht ins Absolute steigern, weithin genauso. Wenn z. B. Kalchas als guter Menschenkenner, schon bevor er sich an Achill um Unterstützung gegenüber Agamemnon wendet, mit Grund hofft, daß er von Achill diese Unterstützung erhalten wird, 97 so leitet daraus niemand ab, Achill sei durch Kalchas' Menschenkenntnis determiniert gewesen. Wir trauen vielmehr Kalchas ein Wissen auch über diejenigen Handlungen Achills zu, bei denen dieser sich zwar anders entscheiden könnte,

für den Sachverhalt, daß alles eine Ursache hat, nicht aber für die Art der Ursache: Es ist nicht notwendig, daß alles eine notwendige Ursache hat, sondern lediglich, daß alles eine Ursache hat. s. Alexander 5 0 - 5 3 Zierl ( = 1 7 4 , 2 9 - 1 7 6 , 1 3 Bruns) u. ähnlich 1 0 0 - 1 0 4 Zierl (= 1 9 4 , 2 5 - 1 9 6 , 1 2 Bruns), s. dazu Sharples 1975a, v. a. 2 4 7 - 2 5 0 . Ein analoger Fehler liegt in der von der Antike bis in die Gegenwart verbreiteten Annahme vor, das göttliche Vorherwissen bringe den Handelnden um die Freiheit seiner Wahl, da er j a gar nicht anders entscheiden könne als so, wie es der Gott schon vorherwisse. Auch hier ist das Prädikat .notwendig' einfach falsch lokalisiert. D e n n wenn der Gott etwas vorher weiß, dann ist, sofern es notwendig ist, daß er ein Wissen von allem hat, notwendig, daß die Wirklichkeit so sein wird, wie er es vorherweiß. Die Notwendigkeit kommt also dem Verhältnis von Vorhersage und Wirklichkeit zu und sagt, daß dieses Verhältnis notwendig das der exakten Adäquation sein werde. Es ist notwendig, daß alles genau so geschieht, wie es der Gott vorhersagt, nicht aber ist die Vorhersage des Gottes notwendig und genausowenig ist der Verlauf der Wirklichkeit notwendig. Wenn z. B. die Griechen aus Freiheit und die Perser der Notwendigkeit gehorchend kämpfen, und der Gott auf die Frage „Wer wird im K a m p f siegen?" die Antwort gibt „die aus Freiheit kämpfenden G r i e c h e n " , dann ist notwendig, daß die Griechen aus Freiheit siegen werden, es werden durch diese Aussage aber die Griechen nicht in Perser verwandelt. Wenn immer wieder und immer noch gesagt wird, das Problem von Freiheit und Determination sei im Grunde bis heute nicht gelöst und also endgültig gar nicht lösbar, so sollte man bedenken, daß es nicht nur H o m e r und die Tragödie sind, bei denen das Nebeneinander von göttlichem Gesamtplan, göttlichem Vorherwissen und menschlicher Freiheit für möglich gilt, sondern daß das - und sogar in begrifflicher Explikation - auch so ist bei Piaton, Aristoteles, den Aristoteleskommentatoren, den Neuplatonikern, im frühen und im hohen Mittelalter, und daß es erst die intensive Rezeption des antiken Stoizismus und Skeptizismus war, die im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit zur Herausbildung einer ähnlich unlösbaren Problemkonstellation geführt hat, wie sie schon für die antike Stoa charakteristisch ist. Eine sehr klare und auch didaktisch geschickte Auseinandersetzung mit der Leugnung der Möglichkeit, göttliches Allwissen und göttliche All- Ursächlichkeit hebe die menschliche Freiheit auf, gibt Augustinus, De civitate dei V,9 und V,10 mit dem wichtigen Hinweis, daß allein die Tatsache, daß neben Gott noch anderes ist als Gott, zur Folge hat, daß dieses Andere nicht im gleichen Sinn notwendig sein kann wie Gott selbst (und in der Tat setzt der Glaube an eine völlige kausale Naturdetermination den Glauben an eine Welt voraus, die nichts anderes als eine Selbstexplikation Gottes ist). Wenn Gott daher die Ursache von allem anderen sei und er so z . B . auch die Ursache unserer Vermögen (z.B. zu sehen, zu erinnern, zu fühlen, zu schließen usw.) sei, dann ist er die Ursache dafür, daß wir diese Vermögen als Vermögen haben und nicht dafür, daß diese Vermögen (da sie ihre letzte Ursache in Gott haben) bloß strikten Gesetzen folgende Mechanismen sind. S. dazu Pang 1994, R o w e 1964. Zu Alexanders Defato s.v.a.: Bondeson 1974, Craig 1988, Frede 1982, Sharples 1975b. Zur stoischen Gegenposition s. z . B . Botros 1955, Duhot 1989, Inwood 1985, Lloyd 1978, Long 1971, R e e s o r 1965, Stough 1978, Zierl 1992. 97

Siehe Homer, Ilias 1 , 7 4 - 9 2 .

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aber diese ihm zu Gebote stehende Möglichkeit auf Grund frei gewollter charakterlicher Intentionen nicht ausnützt. Analog kann ein Menschenkenner oder ein Gott von Phaidra wissen, daß sie dem Druck Aphrodites aus frei gewolltem Streben nach sittlich gutem R u f widerstehen wird, während man etwa bei einer Vorhersage von Hippolytos' Haßtirade gegenüber den Frauen 98 diesen Affektausbruch als etwas vorherweiß, das Hippolytos nicht frei aus sich will, sondern wo er im Bann einer artemisischen Leidenschaft steht. Das Wissen um die Motive einer Handlung ist also indifferent gegenüber der Möglichkeit, daß diese Handlung frei oder unfrei ist. Warum diese Indifferenz verschwinden soll, wenn das Wissen allumfassend ist, dafür gibt es keine rationale Begründung. Im Gegenteil: Der Gott, der seinen Menschen ganz durchschaut, kann noch viel genauer als der gute Menschenkenner wissen, wann jemand von sich aus und frei etwas wollen und tun wird, und wann er gedrängt oder gar gezwungen werden m u ß . " So ist es ja z.B. auch in der Ilias Zeus' Plan, daß die Trojaner den Eid brechen und dadurch ihren Untergang verschulden sollen. 100 Aber Zeus erreicht dieses Ziel nicht durch Zwang, sondern durch eine bloße Versuchung des Pandaros. 101 Er weiß, daß es genügt, wenn ihm Athene hohes Ansehen bei dem Prinzen Alexander und viel Geld in Aussicht stellt, und er braucht deshalb auch nicht mehr zu veranlassen, um Pandaros zur Tat zu bewegen. Im Unterschied zu vielen erheblich massiveren Eingriffen der Götter besteht Athenes Versuchung des Pandaros in nichts als in einem freundschaftlichen Hinweis auf eine sich in der vorhandenen Situation höchst günstig ergebende Gele-

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Siehe Eurípides, Hippolytos w 6 1 6 - 6 6 8 ; siehe dazu Schmitt 1977, 1 7 - 2 2 . A u f eine Frage, die an dieser Stelle geklärt w e r d e n m ü ß t e , die aber d e n gesetzten R a h m e n weit überschreiten w ü r d e , m ö c h t e ich wenigstens hinweisen: Ein zentraler G r u n d , w a r u m die U n t e r s c h i e d e , o b ein G o t t j e m a n d e m rät, i h n anregt, anstiftet, verführt, bedrängt, i h m befiehlt, i h n gewaltsam stößt, usw. v o n m o d e r n e n I n t e r p r e t e n nicht als Indiz dafür gewertet w e r d e n , daß die G ö t t e r a u c h in i h r e m Vorherwissen unterschiedliche F o r m e n menschlicher Freiheit berücksichtigen, ist, daß ein solches Vorherwissen u n d V o r h e r p l a n e n menschlicher Freiheit v o n e i n e m Freiheitsbegriff her, der Freiheit als außerhalb j e d e r Art v o n D e t e r m i n a t i o n s t e h e n d u n d damit als etwas in keiner (und also a u c h keiner göttlichen) Erkenntnis Erfaßbares, letztlich U n e r klärliches versteht, gar nicht m ö g l i c h ist. Einiges G e n a u e r e zu dieser philosophisch k o m p l e x e n Frage h o f f e ich in einer geplanten M o n o g r a p h i e „Subjektivität u n d Innerlichkeit. D e u t u n g der A n t i k e u n d neuzeitliches Selbstverständnis" (vermutlich als B a n d der ,Saecula Spiritalia', hrsg. v o n D i e t e r Wuttke, B a d e n - B a d e n ) sagen zu k ö n n e n . H i e r n u r soviel: W e n n dies die einzige Möglichkeit wäre, menschliche Freiheit zu b e g r ü n d e n , d a n n wäre nicht n u r die griechische Tragödie, d a n n w ä r e die ganze griechische Philosophie o h n e e i n e n e c h t e n Freiheitsbegriff, u n d m a n m ü ß t e in der Tat mit H e g e l u n d vielen anderen auf die „ E r f i n d u n g der Freiheit" (so der Titel eines B u c h e s v o n Jean Starobinski 1964) bis ins 1 8 . J a h r h u n d e r t w a r t e n . 100 Siehe H o m e r , Ilias 4 , 7 - 4 9 . 101 Siehe H o m e r , Ilias 4,66; 71. 99

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Arbogast Schmitt 102

genheit. Daß es diese Gelegenheit gibt, daß er auf sie hingewiesen und zu ihrer Ausnützung angeregt wird, ist natürlich nicht Sache des Pandaros. Daß er diesen Hinweis aber sofort begreift und ergreift, dafür ist allein er selbst zuständig. 103 Es würde alle in der griechischen Literatur so vielfältig und nuancenreich dargestellten Unterschiede im Verhalten der Götter gegenüber den Menschen hinfällig machen, wenn Pandaros durch diese bloße Anstiftung zur Tat genauso sittlich entlastet und von der Verantwortung für sein Tun befreit wäre wie etwa Orest, der durch den ausdrücklichen und ausdrücklich göttlichen Auftrag — Pandaros dagegen weiß nicht einmal, von wem er angestiftet wird 104 — und durch die kaum erträglichen, ihm von Apoll angedrohten Strafen die Verantwortung für den Muttermord mit Recht zum größten Teil, wenn auch nicht ausschließlich, auf Apollon schieben kann. 105 Wenn die Beachtung dieser Unterschiede also offenbar von den Dichtern des Epos und der Tragödie gewollt ist, kann es kaum wahrscheinlich sein, Sophokles habe eine ganze Fülle allein bei Odipus liegender Handlungsmöglichkeiten dargestellt mit der Intention, für diesen besonderen Fall hätten sie keine Bedeutung. Die bei Odipus selbst liegenden Möglichkeiten, in den Verlaufseines Schicksals einzugreifen, sind bei Sophokles sogar außergewöhnlich scharf akzentuiert, und zwar sowohl, was die Vorgeschichte angeht, wie in der Dramenhandlung selbst. In der offenkundig von Sophokles selbst neu konzipierten Vorgeschichte 106 z. B. gibt Sophokles Odipus eine dreifache Versicherung, daß er sich über seine wahren Eltern nicht sicher sein kann, — einmal direkt und positiv durch einen Betrunkenen, 1 0 7 zweimal indirekt und negativ durch die Verweigerung einer Antwort durch die ,Eltern' 108 und durch Apollon 109 . Odipus hat dadurch ein ganz beson-

102

Siehe Homer, Ilias 4,92-103. . . . und H o m e r als Erzähler kommentiert es auch als Dummheit, siehe Homer, Ilias 4,104. 104 Athene hat sich, für ihn unerkennbar, in seinen Kampfgefährten Laodokos verwandelt, siehe Ilias 4,86-87. 105 Siehe oben Anm. 58. 106 Zu diesem zentralen Aspekt jeder Ödipus-Deutung siehe jetzt Flashar 1994. 107 Siehe Sophokles, König Ödipus w 779/80. 108 Siehe Sophokles, König Ödipus w 781-86. Die Eltern nehmen dem Betrunkenen sein Wort zwar sehr übel, geben Ödipus aber keine Antwort auf seine Frage. Da Odipus aber, wie er selbst betont, diese Frage sehr quält, macht er sich heimlich auf nach Delphi. 109 Siehe w 788/89: „und Phoibos schickte mich ungewürdigt (äTi|iov: „als unwert") dessen, u m dessentwillen ich gekommen war, weg, anderes aber . . . sagte er mir vorher". Dies geht aus dem Text mit schon fast zwingender Eindeutigkeit hervor. Eine literarische Aussage ist aber keine apodeiktische und läßt so immer R a u m für abweichende Deutungen. Diese Abweichungen können meiner Meinung nach in diesem Fall aber nicht so weit gehen, daß sie auch die D e u t u n g erlaubten, Odipus habe nach dem Orakel in Delphi nur noch Polybos und Merope für die Eltern halten können, für die er nach der Aussage Apollons eine Gefahr darstelle. Die immer wieder und jetzt wieder neu dafür vorgebrachten Argumente sind vor allem: 1. Odipus habe aus der Weigerung Apollons, ihm eine Antwort auf seine Frage (von der man außerdem 103

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deres Verhältnis zu seinem Orakel: Anders als in allen anderen uns bekannten Fällen weicht Odipus dadurch nämlich nicht einer unbekannten Gefahr aus und gerät gerade dadurch in sie hinein, sondern er weicht einer ihm bekannten Gefahr aus und erliegt ihr trotzdem. 1 1 0

nicht einmal genau wisse, welchen Inhalt sie hatte - das kann sich aber nur auf die Formulierung beziehen; daß Ödipus nach seinen wahren Eltern oder seiner wahren Abstammung gefragt hat, ist eindeutig) zu geben, den Schluß ziehen müssen, die Frage sei eigentlich gegenstandslos (siehe Manuwald 1992, 16) oder „überflüssig" (Nickau 1994, 12.) gewesen. Apollon habe i h m quasi indirekt zu verstehen gegeben, daß er die Frage nach seinen Eltern viel zu ernst g e n o m m e n habe, ernst sei lediglich, daß er eine Gefahr für seine Eltern sei. 2. Odipus habe bei der Vorhersage, er sei eine Gefahr für Väter u n d Mutter, mit ,Vater' u n d ,Mutter' gar nichts anderes verbinden k ö n n e n als Polybos u n d M e r o p e (siehe Manuwald 1992, 16). Zunächst zu 2: Diese B e h a u p t u n g hat ihre Uberzeugungskraft allein aus der sprachlichen Ambivalenz von „etwas mit etwas verbinden k ö n n e n " . In d e m Sinn, in d e m diese Phrase meint, Odipus habe sich keine Vorstellung von seinen wirklichen Eltern machen können, da er ja nur mit Polybos u n d Merope eine konkrete Anschauung habe verbinden k ö n n e n , ist sie natürlich richtig. In d e m Sinn aber, auf den es hier der Sachlogik nach a n k o m m t , nämlich, ob der kluge u n d scharfsinnige Odipus etwas, d. h. einen konkreten Sinn, mit der B e h a u p t u n g des B e t r u n k e nen „du bist d e m Väter nur angedichtet" (siehe Sophokles, König Odipus v 780) verbinden konnte, ist sie offenkundig falsch. Das kann man nicht nur daraus erschließen, daß Odipus die B e h a u p t u n g des Betrunkenen richtig versteht, da er sich durch sie zu intensiven Fragen nach seinen wirklichen Eltern angeregt fühlt (siehe König Ödipus w 781-88), Odipus fragt lange nach dem Orakel Apollons sogar noch Teiresias, den er gerade der völligen Unfähigkeit in seiner Kunst ,überführt' hat, „welcher Mensch hat mich geboren?" (siehe König Odipus v 438). Daran k o m m t man also nicht vorbei: Odipus weiß seit dem W o r t des Betrunkenen u n d auch nach dem Orakel Apollons, daß er in Ungewißheit über seine wahren Eltern lebt (auch w e n n er an diesem Wissen nicht konsequent festhält. Aber die G r ü n d e dafür zu ermitteln, ist eine andere Aufgabe). Dies widerlegt auch die Argumentation (1). Odipus hat aus der Weigerung Apollons, i h m A n t w o r t zu geben, offenkundig nicht den Schluß gezogen, daß deshalb seine Frage irrelevant gewesen sei. Das hat er auch zuvor nicht getan, als die „Eltern" einer klaren Auskunft ausgewichen sind. W i e sollte auch eine Frage dadurch überflüssig werden, daß man auf sie von j e m a n d e m keine Antwort b e k o m m t ? 110 Dies beachtet Manuwald (1992, 1 f.) nicht, w e n n er Odipus' Schicksal aus einem Vergleich mit Kroisos, Atys u n d Adrast erklären will. Auch von Kroisos ist es zwar nicht völlig zutreffend, wenn man sagt, „nicht nur trotz aller menschlichen B e m ü h u n g e n , gerade ihretwegen tritt das Vorhergesagte ein" (Manuwald 1992, 7), denn immerhin war auch der beschützende Freund Adrast mit einer Lanze bewaffnet, u m deren Gefährlichkeit für seinen Sohn Kroisos w u ß t e (der Fehler ist in gewissem Sinn d e m Mißverständnis analog, mit d e m Kroisos das Orakel „wenn du gegen die Perser zu Feld ziehst, wirst du ein großes R e i c h zerstören" — siehe Herodot, 1,53 — aufnimmt. So wie er dort nicht an die Z e r s t ö r u n g des eigenen Reichs denkt, so hier nicht an die Gefahr, die von d e m Freund kommt), aber hier mag es doch, angesichts der U n w a h r s c h e i n lichkeit, daß Atys gerade von seinem Beschützer getötet werden sollte, angehen, von einer „Tragik o h n e subjektive Schuld" (siehe Manuwald 1992, 7) zu sprechen. Bei Odipus geht das aber wirklich nicht mehr. D e n n im Licht des Wissens, daß er unsicher über seine wahren Eltern ist, bedeutet Apollons Vorhersage, „du wirst den Väter töten u n d die M u t t e r heiraten", daß Odipus von j e d e m M a n n , den er tötet, fürchten m u ß , er sei sein Vater. Da auch ein Odipus nicht ständig M ä n n e r erschlägt, heißt das, daß Apollon i h m durch diese Vorhersage, wie Hellmut Flashar gezeigt hat (1994), im G r u n d e die Antwort auf seine Frage gegeben hat. Wenn ich

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Das heißt nicht weniger, als daß Apollon, wenn er denn für die Begegnung am Dreiweg und mit der Sphinx verantwortlich ist, Odipus damit zwei Prüfungen ausgesetzt hat, und daß er ihm durch das Verhalten des Betrunkenen, der ,Eltern' und durch seine eigenen Vorhersagen zugleich eine wirkliche Chance gegeben hat, diese Prüfungen zu bestehen. Auch wenn Apollon wußte, daß Odipus diese Chancen nicht nutzen werde, hat er sie ihm doch als Chancen gegeben. 111 Analog verhält es sich mit dem die eigentliche Dramenhandlung auslösenden imperativischen Orakel. 112 Das Orakel initiiert keine analytische Handlung, in der nur herausgewickelt wird, was schon da war, 113 sondern es stellt Odipus eine noch durch ihn selbst beeinflußbare Aufgabe. Erst die Art ihrer Lösung durch Odipus fuhrt dazu, daß Odipus über das ihm vom Orakel Vorgegebene hinaus in einem wahrhaft tragischen Schicksal endet. Denn das Orakel läßt zu, wie Odipus auch sofort begreift, 114 den Täter „unversehrt", ohne Beeinträchtigung seines bürgerlichen und religiösen Status aus dem Land zu entlassen. Daß Odipus diese Möglichkeit am Ende nicht mehr ergreifen kann und z. B. nicht mehr nach Korinth, wo er zu diesem Zeitpunkt hoch willkommen gewesen wäre, 115 zurückkehren kann, liegt an dem, was Odipus von sich aus zu dem Gebot Apollons hinzugebracht hat: Das sind vor allem 1. die schreckliche Verfluchung des Täters und der Ausschluß jeder Art von sozialem Kontakt mit ihm; 116 2. der Selbstmord Iokastes, für den Odipus die Hauptursache gegeben hat. Denn er hat — ähnlich wie in seinem Verhalten gegenüber Teiresias — auch nicht, ja nicht einmal bei seiner Frau anerkennen wollen, daß sie ihm eine Bitte aus wohlwollender Gesinnung abschlägt,

Flashar richtig verstehe, dann ist gemeint, daß Odipus' subjektiver Eindruck, Apollon habe ihn einer Antwort auf die Frage, wer seine wahren Eltern sind, nicht gewürdigt, aus einer Verkenn u n g der wahren B e d e u t u n g des Orakels resultiert. Das Orakel sagt ja (zumindest in F o r m einer sehr wahrscheinlich eintreffenden Möglichkeit): D e r M a n n , den du erschlagen wirst, ist dein Vater, die Frau, die du heiratest, ist deine Mutter. D u r c h sein Orakel hat Apollon also Odipus die indirekte Aufforderung gegeben, bei einer Heirat zu prüfen, ob er dabei nicht auf seine M u t t e r trifft, u n d analog bei dem Antrieb, j e m a n d e n zu töten, zu bedenken, daß der von i h m Getötete sein Vater sein könnte. Odipus war also die Gefahr außergewöhnlich klar u n d deutlich angezeigt: „wenn du einen (älteren) M a n n tötest, ist das wahrscheinlich dein Vater". Da Odipus das ganze Stück über sich als ein M a n n beweist, der seine Erkenntnis auf das Wahrscheinliche stützt, verfehlt sich Ödipus sogar gegen seine eigenen Erkenntnismaximen. 111 Genau das ist der Sinn der Formulierung Alexanders, daß eine vorhergewußte Kontingenz v o m Gott als Kontingenz vorhergewußt wird. Siehe Alexander von Aphrodisias 52—59 Zierl = 175,28-178,8 Bruns. 112 Siehe Sophokles, König Ödipus vv 9 6 - 9 8 ; 100/101. 113 Siehe Schiller, Brief an Goethe v o m 2. O k t o b e r 1797. 114 Siehe Sophokles, König Ödipus w 2 2 4 - 2 2 9 . 115 D o r t ist j a gerade Polybos gestorben u n d Odipus z u m Nachfolger berufen. Siehe w 936-942. 116 Siehe Sophokles, König Ödipus w 236-251; 2 7 0 - 2 7 3 .

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und das, obwohl ihm an dieser Stelle alle zuvor isolierten Fakten überschaubar geworden waren, die er benötigt hätte, um lokaste zu verstehen; 117 3. die Selbstblendung des Odipus. Diese Blendung ist als eine reine Affekthandlung geschildert, die nicht einmal vom Chor gebilligt wird, der in allem übrigen seinem König trotz der Offenbarung von dessen schrecklichen, aber auch vom Chor als ungewollt beurteilten Vergehen treu bleibt. 118 So wie Odipus in der Vorgeschichte dieses Dramas die Chancen, den Vatermord und den Inzest zu vermeiden, nicht ergriffen hat, so läßt er auch in der Dramenhandlung selbst die ihm gebotene Gelegenheit, den Folgen seiner Unvorsichtigkeit fast schadlos zu entgehen, ungenutzt und bringt sich erst durch die Verfolgung eigener, vom Anliegen Apollons abweichender Interessen ins U n glück. 119 Weit entfernt davon, ein analytisches Drama zu sein, zeigt der König Odipus daher eine wirklich tragische Handlungsentwicklung, in der vorgeführt wird, wie jemand die Möglichkeit, die Folgen früherer Fehler heil und schadlos abzuwenden, schrittweise verspielt und immer tiefer ins schließlich ausweglose Unglück gerät. 120

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Siehe Sophokles, König Ödipus vv 1055, 1075. Siehe Sophokles, König Ödipus w 1268-1418 (mit dem großen Kommos zwischen C h o r und Odipus). 119 Wenn Manuwald (1992, 34) sagt, für Odipus kann es keine eigentliche Entscheidung geben, nur ein „selbstverständliches Ergreifen des für den verantwortungsvollen Herrscher ethisch Gebotenen", so ist daran richtig, daß Ödipus sich in der Tat den Auftrag Apollons, die Stadt durch Auffindung des Laios-Mörders zu retten, zu eigen macht. Er vermischt dieses Interesse für das Wohl der Stadt aber sehr schnell mit eigenen Interessen, die entweder nichts mit dem Wohl der Stadt zu tun haben oder sogar ihm abträglich, ja gefährlich sind. So hat z. B. schon Karl Reinhardt (1933, 113—115) gezeigt, daß Odipus sich gerade deshalb zu der (für ihn so verhängnisvollen) Verfluchung des Täters treiben läßt, weil er sich im Gefühl, der von Apollon beauftragte Verteidiger der Labdakiden zu sein, in das Pathos hineinsteigert, dadurch der eigentlich legitime Erbe dieses großen Herrschergeschlechts zu sein. Ödipus' sinnlose und vorschnelle (so urteilt jedenfalls der Chor: w 616/17) Beschuldigung des Kreon ist sowohl in den Augen des Chors (vv 616-667) wie in den Augen Iokastes ( w 634-38) ein Aufrühren privater Streitigkeiten fiÖLa x a x a ...), durch die die daniederliegende Stadt in schlimme Gefahr gebracht werde. Im ganzen zweiten, auf das zweite Stasimon folgenden Teil des Dramas geht es überhaupt nicht mehr um Apollons Auftrag, sondern nur noch um die Frage, ob Ödipus seinen ihn, nicht die Stadt bedrohenden Orakeln entgangen sei, und von welcher Abstammung Ödipus sei (nicht etwa: ob er der gesuchte Laios-Mörder sei; dieses für die These vom Wahrheitssucher so wichtige Motiv hat Ödipus überhaupt nicht). Ödipus handelt also sehr wohl seinem „Herrscherethos" wie dem Auftrag Apollons entgegen (anders Manuwald 1992, 34). 120 Anders sieht das z.B. jetzt auch wieder Manuwald (1992, 2), der behauptet „durch die Handlung selbst können Art, Tempo usw. der Aufklärung beeinflußt werden, nicht aber das Ergebnis". Das ist nur insofern richtig, als natürlich das Ergebnis der Aufklärung, d.h. daß Ödipus der Sohn und Mörder des Laios ist, nicht beeinflußt werden kann, das Ergebnis der tragischen Handlung dagegen, d. h. die Wirkung, die diese Aufklärung auf das Leben und Glück des Ödipus haben kann, ist von Ödipus sehr wohl beeinflußbar, und Ödipus nimmt darauf sogar einen ganz massiven Einfluß. 118

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Wenn man dieses Ergebnis damit in Zweifel zu ziehen sucht, daß man Apollon auch noch die von Ödipus selbst herbeigeführten Fehlnutzungen seiner Chancen zuschreibt, so ist das nicht nur von der Sache her unsinnig, es wird auch durch eben das Argument widerlegt, das man braucht, um diesen Zweifel vorzubringen. Denn man müßte dann argumentieren, Apollon habe erst durch seine Vorhersagen Ödipus zu dem Fehlschluß „verführt", er dürfe nun nicht mehr nach Korinth zurückkehren. Erst dadurch sei Ödipus in die Situation am Dreiweg geraten usw. Aber die Sprache, in der man dieses von den Stoikern 1 2 1 bis in allerneueste Untersuchungen benutzte Argument vorbringen muß, etwa: Apollon habe Ödipus „suggeriert", Polybos und Merope seien doch seine tatsächlichen Eltern, oder er habe Ödipus „provoziert", 1 2 2 Korinth zu meiden usw., verrät selbst schon, wenn man nicht alle Sachunterscheidung zwischen etwa Suggestion, Provokation und etwa Befehl, Drohung, Gewalt aufheben will, daß Apollon durch eine Vorhersage, sofern eine Vorhersage eben eine Vorhersage und keine Gewaltanwendung ist, Ödipus nicht gezwungen und determiniert hat. So ist die R e d e von „Suggestion, Provokation" 1 2 3 und dergleichen nur eine andere Form zu sagen, Apollon habe Ödipus eine Chance gegeben oder eine Prüfung auferlegt. Daß Apollon dies getan habe, scheint mir wirklich Glaube des Sophokles gewesen zu sein, und auch, daß Apollon damit einen gewaltigen Einfluß auf das Schicksal des Ödipus genommen habe: es würde aber die ganze Weise der Sophokleischen Handlungsdarstellung überflüssig machen, wenn Sophokles zugleich geglaubt hätte, Ödipus sei seinem Schicksal unerbittlich ausgesetzt gewesen, frei gewesen sei er nur in seiner inneren Einstellung diesem Schicksal gegenüber.

III. Schuld und Tragik Wenn die Götter, wie ich zu zeigen versucht habe, durch ihre Einflußnahme die Eigenständigkeit menschlichen Handelns nicht völlig aufheben, dann hat ihr Mitwirken eine ganz andere Folge für die moralische Beurteilung menschlichen Handelns als die, die eine früher allgemein verbreitete, bis heute aber nicht wirklich überwundene Forschungsmeinung behauptet. Gesagt wird j a oft, in der griechischen Tragödie gebe es noch keinen Begriff einer subjektiv zurechenbaren

Siehe Alexander von Aphrodisias 1 2 0 - 1 2 3 Zierl = 2 0 2 , 6 - 2 0 2 , 2 6 Bruns. Siehe Manuwald 1992, 11. 1 2 3 Daß „Suggestion nicht gleichbedeutend mit Determination ist", räumt im Blick auf die offenkundig nur suggestiven Träume des Sabakos (Herodot 11,139) und des Xerxes (Herodot V I I , 1 2 - 1 4 ) auch Huber (1965, 1 5 - 1 7 ) ein, deutet allerdings diesen von ihm bei Herodot immerhin angenommenen Freiheitsspielraum wieder stoisch: Menschen können nur bestimmen, wie sich ihr Schicksal erfüllt, nicht aber verhindern, daß es sich erfüllt. 121

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Schuld. Gewertet werde an einer Tat — wie in einer sog. Erfolgsethik oder 125 Schamkultur — nur das Faktum als solches. Odipus habe den Vater erschlagen, also gelte er als schuldig und fühle sich schuldig, die Frage nach der Absicht, Gesinnung, der inneren Einstellung zur Tat werde moralisch nicht berücksichtigt. In diesem Sinn spricht man von einer sog. objektiven Schuld in der griechischen Tragödie und setzt ihr den Begriff einer subjektiven, an der inneren Gesinnung sich orientierenden Schuld entgegen. 126 Diese vereinfachte Entgegensetzung läßt sich aber auf die griechische Tragödie überhaupt nicht anwenden. Bei einer Gesellschaft, die wie die in der griechischen Tragödie vorausgesetzte Gesellschaft fähig und bereit ist, die nicht in der Verfügungsgewalt des Handelnden stehenden Umstände geltend zu machen, reicht der Hinweis auf die objektive Schuldqualität einer Tat keineswegs zur Beschuldigung eines Handelnden aus. Es macht keinen Sinn, zu Agamemnon einfach zu sagen: „Du hast deine Tochter getötet", zu Medea: „Du hast deine Kinder umgebracht", zu Orestes: „Du hast Deine Mutter ermordet" oder „Du hast eine Unschuldige zur Geisel genommen" 1 2 7 usw., da diese Personen auf die dargestellten Bedrängnisse, für die sie nicht verantwortlich sind, ja in die sie oft sogar zu Unrecht geraten sind — wie etwa der Euripideische Orest, der von einer demagogisch aufgehetzten Volksversammlung um sein Recht betrogen, in seinem Leben bedroht wird 128 — einen guten Teil ihrer objektiven Schuld abwälzen können. In diesem Sinn hat also der Glaube an eine Einflußnahme der Götter auf das menschliche Handeln einen — je nach Intensität und Art der Einflußnahme — größeren oder geringeren Entlastungseffekt für den Handelnden: Er ist für das Objektive an seiner Tat gar nicht umfassend belangbar, sondern braucht sich nur das zurechnen zu lassen, was wirklich in seiner Macht stand.

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Der Begriff Erfolgsethik geht vor allem auf Max Scheler 1913 zurück. Scheler bringt damit und mit der Entgegensetzung dieser sogenannten Erfolgsethik zur Gesinnungsethik eine lange neuzeitliche Diskussion auf den Begriff und schließt sich selbst primär an Kant an, dessen rigorose Innerlichkeit er allerdings bekämpft. In die Interpretation antiker Ethik wurde der Begriff der Erfolgsethik vor allem von Latte 1920 eingeführt. Eine konsequente Anwendung dieses Ethikkonzepts auf die frühgriechische Literatur versucht Stallmach 1968. 125 Der auf dem Gegensatz .Erfolgsethik — Gesinnungsethik' aufbauende Gegensatz ,Schamkultur - Schuldkultur' wurde aus der Ethnologie vor allem durch Dodds 1951 in die Deutung der frühgriechischen Literatur eingeführt. Eine fundierte und gut ausgewiesene Kritik an der Anwendung des Gegensatzes Shame-Culture : Guilt-Culture auf die griechische Literatur übt Cairns 1993, v.a. 1 - 4 7 . 126 Grundlegend für neuere Forschung ist Kurt von Fritz 1962. 127 Siehe Euripides, Orestes w 1183-1208. 128 Siehe Euripides, Orestes w 8 6 6 - 9 5 6 .

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Daraus kann man zu Recht die Folgerung ableiten, daß in der griechischen Tragödie in erster Linie der subjektiv zu verantwortende Anteil an einer Handlung moralisch gewertet wird. Auch Odipus wird auf der Bühne nicht wegen seiner Taten beschuldigt oder als Befleckung der Gesellschaft empfunden. Solange der Chor noch nicht von Odipus' Selbstblendung weiß, fuhrt ihn die Offenbarung von Odipus' schrecklichen Taten nur zu Äußerungen größten Mitgefühls und Bedauerns, und er bleibt sogar mit Nachdruck dabei, daß Odipus der zu Recht hoch geehrte Retter der ganzen Stadt sei. 129 Der Chor erkennt Odipus' Unterscheidung zustimmend an, daß Apollon es gewesen sei, der dessen schlimme Taten vollbracht habe, nur die Blendung sei ganz sein eigenes Werk, 130 und tadelt ausschließlich den „Wahnsinn"131 dieser Tat, von der er sagt, es sei besser, Odipus wäre tot, als lebend blind. 132 Vor Fremden rechtfertig sich Odipus ausdrücklich damit, daß er seine Taten ohne Wissen und Wollen getan habe 133 . Den Mord am Dreiweg rechtfertigt er als qpövog öixaioq, als im Sinn des Rechtsverständnisses des 5.Jh. berechtigte Notwehr: Er habe den Vater unwissentlich getötet und sei dem Gesetz nach rein, ohne Schuld, 134 da er mit Tötungsabsicht angegriffen worden sei und sich habe wehren müssen, ohne prüfen zu können, ob der Angreifende sein Vater sei. 135

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Siehe Sophokles, König Ödipus w 1186-1222; siehe v.a. 1196-1204; 1220-23. Siehe Sophokles, König Ödipus w 1329-1336; 1336: „Es war ganz genau so, wie du sagst". 131 Siehe Sophokles, König Ödipus v 1300. 132 Siehe Sophokles, König Ödipus v 1368. 133 Siehe Sophokles, Ödipus auf Kolonos w 2 3 9 / 4 0 ; 2 6 6 / 6 7 ; 273, 5 3 6 / 3 7 ; 9 6 9 - 9 8 7 . 134 Siehe Sophokles, Ödipus auf Kolonos w 5 4 7 / 4 8 . 135 Siehe w 9 9 2 - 9 8 . D a ß der Odipus des Ödipus auf Kolonos als seine Geschichte genau die Geschichte des Sophokleischen König Ödipus voraussetzt, ist aus vielen Indizien gewiß. Besonders signifikant ist Odipus' Bezugnahme auf seine Selbstblendung u n d seinen Wunsch, möglichst schnell aus der Stadt geworfen zu werden, damit er von n i e m a n d e m m e h r gesehen (König Ödipus w 1410—1415) oder angesprochen (König Ödipus w 1436-37) werden könne. An genau diese Situation erinnert Odipus im Ödipus auf Kolonos (vv 431-440), aber er deutet sein damaliges Verhalten jetzt selbst als eine übertriebene Affekthandlung, durch die er sich weit mehr, als dies seine früheren Verfehlungen nötig gemacht hätten, bestraft habe. Auch bei seiner Darstellung der Notwehrsituation am Dreiweg denkt Odipus natürlich an eben die Situation, die er auch im König Ödipus schildert. Daraus m u ß aber nicht der Schluß gezogen werden, Odipus habe auch im König Ödipus seine Tat als N o t w e h r verstanden wissen wollen. Seine Schilderung des Tathergangs dort spricht von einer heftigen, zornigen Uberreaktion (König Ödipus w 800-813). Ödipus gibt also seiner Frau, der er in bedrängter Situation „die Wahrheit ganz heraussagt" (wie er sich selbst ausdrückt, v 800), eine andere Version als Kreon, Theseus und den Altesten von Kolonos. Da Odipus im Ödipus auf Kolonos in einer Situation ist, in der er sich öffentlich verteidigen und rechtfertigen will, hat die neue Version ein plausibles Motiv, sie braucht nicht zu einem Zweifel an der Richtigkeit der Darstellung im König Ödipus zu fuhren. D a ß diese Schilderung im König Ödipus i m m e r wieder als Schilderung einer Notwehrsituation umgedeutet 130

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Allein die Tatsache, daß Ödipus solche Argumente wählt, um von den Bürgern von Kolonos und von Theseus ehrenvoll und als sittlich unbelastet aufgenommen zu werden, und natürlich mehr noch die Tatsache, daß Ödipus mit diesen Argumenten auch erfolgreich durchsetzt, was er will, belegt zur Genüge, daß in dieser Gesellschaft eine bloß objektive Schuld noch keine Schuld war.136 Wenn dennoch so oft in Interpretationen der griechischen Tragödie von objektiver oder schuldloser Schuld die Rede ist, hat das allerdings auch einen berechtigten Anlaß; denn es wäre ein Fehlurteil, aus der, wie mir scheint, korrekten Beobachtung, daß der sittliche und religiöse Wert einer Handlung allein an dem Anteil gemessen wird, der in der subjektiv freien Verfügungsgewalt des Handelnden lag, den Schluß zu ziehen, die Ethik der griechischen Tragödie sei eine Innerlichkeitsoder Gesinnungsethik im neuzeitlich-modernen Sinn.

wird, hat seinen H a u p t g r u n d allerdings vor allem in der Überzeugung, bei der Beurteilung einer tragischen H a n d l u n g dürfe die Frage nach einer subjektiven Schuld keine Rolle spielen. D a ß die Schuldfrage nicht thematisiert werde, ist für viele allerdings gleichbedeutend damit, daß der tragische Held frei von jeder Schuld, auch einer gemilderten Teilschuld sein müsse. Diesem (sehr w o h l von der , Frage nach der Schuld' geleiteten) Bild eines völlig schuldlosen Helden zuliebe wird nicht selten nicht nur der Textsinn verändert, es werden auch die rechtlichen und ethischen Gegebenheiten des 5.Jahrhunderts nicht beachtet. Wenn etwa gesagt wird, Ödipus habe als Königssohn sich die Aufforderung, dem v o r n e h m e n Wagen auszuweichen, nicht bieten lassen k ö n n e n u n d sei zu seiner .Bestrafung' berechtigt gewesen, so wird d e m 5.Jahrhundert ein adliges Faustrechtdenken unterstellt, das es einfach nicht gegeben hat. Das 5.Jahrhundert hat hochdifferenzierte R e c h t s - u n d Schuldbegriffe gerade bei Tötungsdelikten besessen (Heitsch 1984, 1 2 - 2 0 mit weiterer Literatur), auf die sich Ödipus im Ödipus auf Kolonos ja sogar selbst beruft (s.o.). U n d auch w e n n man für den König Ödipus .mythische' Gesellschaftsverhältnisse voraussetzen will: Achill m u ß t e sich sogar dafür entsühnen, daß er einen Thersites erschlagen hatte. Das Bedürfnis, Ödipus in j e d e r Hinsicht rein zu sehen, führt auch zu m a n c h e m Konflikt mit der Logik. So wird etwa gesagt: Ödipus habe mit der Gewalt nicht begonnen, sondern nur mit Gewalt auf eine schon gegen ihn gerichtete Gewalt reagiert, also sei die Aktion von Laios u n d seinen Leuten ausgegangen, o h n e Ödipus ungleiche R e - A k t i o n hätte die Auseinandersetzung kein E n d e finden k ö n n e n (siehe Manuwald 1992, 18f.). In einer solchen Argumentation wird - im Sinne der Sophistici elenchi des Aristoteles - mit der Gleichheit der Worte die Ungleichheit der Sache verdeckt. Gewiß gingen Gewalt u n d Aktion nicht von Ödipus aus (wenn man davon absieht, daß sein Nichtausweichen bereits eine F o r m von Gewalt war), aber er hat auf die Aktion eben nicht mit einer gleichen R e a k t i o n geantwortet, sondern - und nur dadurch entstand j a die „Eskalation" (Manuwald 1992, 19) - mit einer, wie er selbst ausdrücklich sagt, ungleichen Gegenwehr, und zwar zweimal: Er hat auf den Versuch, ihn zur Seite zu drängen, mit einem zornigen Schlag reagiert, u n d auf den offenkundig in strafender, nicht in angreifender Absicht gegebenen H i e b mit d e m Pferdestachel (durch den Ödipus k a u m verletzt worden sein kann, denn er war danach ja n o c h in der Lage, im Handstreich vier Leute zu erschlagen) mit der blitzschnellen T ö t u n g des Alten u n d seiner Leute. Hier steht also nicht Gewalt gegen Gewalt, sondern eine kleine gegen eine unmäßig große Gewalt. 136 Siehe auch Ödipus auf Kolonos w 9 8 5 - 8 7 : Ödipus klagt Kreon an, weil er freiwillig verleumde, während er, Ödipus, seine M u t t e r unfreiwillig geheiratet habe.

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In einer reinen Gesinnungsethik wird eine Handlung unter dem Aspekt bewertet, unter dem sie Ausdruck und Ausfluß einer bestimmten inneren Gesinnung des Handelnden ist. Gesinnung als das „innere Prinzip der Maximen des Willens" (Kant) ist damit völlig von dem äußeren Resultat und Wert einer Handlung gelöst und steht sogar in unmittelbarem Gegensatz dazu, so daß der Eindruck entstanden ist, wer sein Handeln nicht auf ein derartiges inneres Prinzip gründe und an ihm beurteile, handle überhaupt noch nicht innerlich. In diesem Sinn kann etwa der stoische Weise, der sich in dem Bewußtsein, recht gehandelt zu haben, genießt, ohne bei diesem Bewußtsein auch vom rechten Erfolg seines Handelns abhängig zu sein, oder es kann die angeblich christliche Maxime „Handle recht und stelle den Erfolg Gott anheim" 1 3 7 als Vorläufer einer .echten' Gesinnungsethik gelten. Signum dieser authentischen Innerlichkeit soll das Wissen um ein von allem Äußerlichen, auch etwa von Leidenschaften oder Wertvorstellungen freies inneres Prinzip sein. Die Konzentration auf die Suche nach einem solchen jeder Art von Determination entzogenen inneren Freiheitsprinzip hat aber wesentliche Aspekte subjektiver Freiheitsmöglichkeiten des Menschen aus dem Blick gebracht, die in der Antike Gegenstand intensiver Diskussion und Reflexion gewesen waren. Diese Problematik kann hier nicht erörtert werden, ich möchte nur auf einen schon im Epos und in der Tragödie klar belegbaren und auch für die gegenwärtige Ethikdiskussion hochinteressanten Aspekt hinweisen, der etwas zum Verständnis gerade der Defizienzen beitragen kann, die in der Geschichte der Ethik nach Kant immer wieder an gesinnungsethischen Konzeptionen festgestellt worden sind. Denn die Gründung der Ethik in einem absolut innerlichen Prinzip des Handelns ist sowohl deshalb in Frage gestellt worden, weil die Annahme eines solchen Prinzips die empirische Endlichkeit des Menschen ignoriere und deshalb nur ein .metaphysisches' Postulat sein könne, als auch deshalb, weil die Beschränkung auf eine reine Innerlichkeit die Konzeption einer praktischen Ethik so gut wie unmöglich mache. Ohne die Pflicht, auch die Handlungsfolgen und den objektiven Wert einer Tat zu berücksichtigen, können ethische Maximen nicht intersubjektive Gültigkeit beanspruchen, sondern fuhren in die Gefahr der Isolation, ja des bloß subjektiven Selbstgenusses.138 In diesem Sinn gibt es in neueren Auseinandersetzungen mit der Gesinnungsethik, etwa bei Max Scheler 139 oder Max Weber, eine scharfe Kritik an der Vorstellung, die Gesinnung sei der einzige Kanon sittlicher Werte. Mit Schiller mokiert sich z. B. auch Max Weber über Kants Rigorismus, eine Handlung nur dann wahrhaft

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Siehe Weber 1919, 56. Unter politischem Aspekt fuhrt dies vor allem Weber (1919 passim) vor, die ethisch sozialen Aspekte diskutiert Scheler 1913. 139 Siehe Scheler 1913, 129ff. 138

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gut zu nennen, wenn sie aus Pflichtgefühl etwa gegenüber einem Freund geschehe und an dem wahren Wohl des Freundes gar kein subjektives Interesse nehme. 1 4 0 Das Problem, in das man mit solchen sehr berechtigten Einwänden gerät, ist aber, daß mit der Forderung, objektive Werte, Bedingungen, Folgen zu berücksichtigen, scheinbar die dem Menschen allein kritisch zugängliche Dimension des subjektiven Inneren verlassen wird. Im Blick auf diese Befürchtung bietet allerdings gerade die scheinbar aller kritischen Mündigkeit so weit vorausliegende griechische Tragödie wichtige Einblicke in von der Gesinnungsethik zu wenig beachtete subjektive Voraussetzungen objektiver Handlungsfolgen. Denn die Alternative ,Gesinnungsethik oder Erfolgsethik' (oder analog: Schuldkultur oder Schamkultur) läßt es an einer zentralen Differenzierung unter den möglichen Handlungsfolgen fehlen. Es gibt ja nicht nur solche Handlungsfolgen, die bei der Verwirklichung einer Intention von außen aus der Realität zu dem vom Handelnden subjektiv Gewollten hinzutreten und deren Berücksichtigung einen umfassenden, z.T. sogar die Zukunft einbeziehenden objektiven Einblick in die Realität zur Voraussetzung hätte; es gibt auch objektive Handlungsfolgen, die im Zeitpunkt der Entscheidung im Bereich dessen liegen, was der Handelnde von sich aus wissen und wollen kann. Und genau das sind die Handlungsfolgen, für die sich das homerische Epos und die Tragödie des 5.Jahrhunderts interessieren: Wenn z. B. Hektor in der Situation vor dem Kampf mit Achill die Fehler seines Handelns, das ihn in diese Situation gebracht hat, überdenkt, macht er sich keine Vorwürfe wegen seiner Gesinnung, und er braucht sich solche Vorwürfe auch nicht zu machen. Seine Gesinnung ist gut, er wollte und will Troja retten. Dennoch macht er sich Vorwürfe, und zwar weil er trotz der Warnung des Polydamas in falschem Vertrauen auf seine Stärke die Stadt zugrundegerichtet habe. 141 Das ist nicht der Selbstvorwurf eines Gesinnungsethikers, der darüber klagt, daß er trotz bester Absichten nur Unglück angerichtet habe, sondern von jemandem, der bereit ist, auf die tatsächlich von ihm zu verantwortenden Ursachen des eingetretenen Schadens hinzublicken: Er hat mehr, als es gut war, auf seine Überlegenheit über die Griechen vertraut. Dieses falsche Vertrauen muß sich Hektor nicht nur deshalb subjektiv anrechnen lassen, weil es ein subjektiver Akt ist, auf etwas zu vertrauen oder nicht zu vertrauen, sondern auch, ja vor allem, weil die Gründe, die zu seinem falschen Vertrauen geführt haben, in seiner subjektiven Macht standen. Denn nicht etwa hat Hektor recht gehandelt und eine irrationale Wirklichkeit oder ein mißgünstiger Gott haben ihm den Erfolg verweigert, sondern er wußte zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht nur aus dem Mund des Polydamas, sondern auf Grund eigener zehnjähriger Erfahrung, daß Achill im offenen Kampf nicht zu besiegen war. Diese Erfahrung bildet daher — unabhängig von der für

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Siehe Weber 1932, 467. Siehe Homer, Ilias 22,99-107.

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eine reflexiv-kritische Sittlichkeit angeblich so grundlegenden Frage, ob man einem Subjekt überhaupt etwas moralisch anrechnen dürfe, was von einem Wissen über die Realität an sich abhängt — ein subjektiv implizites Moment der Entscheidung Hektors, über das er im Augenblick der Entscheidung verfügt. Die Folgen, mit denen Hektor später im Kampf mit Achill konfrontiert wird, sind nicht unvermutet aus der äußeren Realität auf Hektor zukommende ,objektive Tatfolgen', sondern es sind Folgen, deren Eintreten oder Nichteintreten im Augenblick der Entscheidung in der subjektiven Macht Hektors gelegen hatte. Hektors Unglück resultiert nicht aus der Kluft zwischen subjektiven Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten und objektivem Geschehensverlauf, sondern es resultiert daraus, daß Hektor aus verständlichen, aber selbst zu verantwortenden Gründen von dem ihm zu Gebote stehenden Wissen und den damit gegebenen Entscheidungsmöglichkeiten keinen Gebrauch gemacht hat. Sein Fehlhandeln ist im Sinne dieser Darstellung daher nicht einfach ein ungenügendes Umsetzen des guten Willens in die Tat, ein Mangel an objektiver Erfüllung einer subjektiven Intention, sondern es ist Resultat eines subjektiven Intentionenkonflikts in Hektor: Hektor hat von zwei in ihm, wenn auch mit unterschiedlich aktualer Stärke, vorhandenen Intentionen einer den Vorzug gegeben und trägt deshalb, d.h. weil und sofern es sich dabei um ein im Bereich seiner individuell-subjektiven Möglichkeiten liegendes Geschehen handelt, auch die Verantwortung für seine Entscheidung, auch wenn das Schuldhafte seiner Entscheidung nicht in einem Mangel an guter Gesinnung, sondern in einem ungenügenden Bedenken der objektiven Tatfolgen lag. Denn diese Tatfolgen haben eben die Besonderheit, daß sie im Augenblick der Entscheidung von Hektor bereits gewußt und gewollt werden konnten. Von der gleichen Struktur sind so gut wie alle tragischen Handlungen der Tragödie: Nirgends gibt es den sog. Gesinnungstäter — Agamemnon hat nicht die aus seinem Inneren kommende Absicht, seine Tochter zu töten, seine Intention ist vielmehr die Bestrafung des Paris. Orest will nicht seine Mutter umbringen, sondern die Ehre des Vaters wiederherstellen, er ist nicht von seiner Gesinnung her ein Muttermörder. Nicht einmal Medea kann eine Kindsmörderin genannt werden, jedenfalls nicht von ihrer Gesinnung her, denn die ist auf die Vergeltung eines ungeheuren Unrechts gerichtet. D.h.: Wir haben hier niemals eine direkte böse oder gar verbrecherische Absicht. Das Schuldhafte oder gar Verbrecherische ergibt sich erst bei der Verwirklichung einer an sich zu billigenden Absicht als mehr oder weniger bewußt in Kauf genommene Folge. Dennoch war es ein substantieller Fehlschluß, aus dem Fehlen von Anzeichen, die eine Handlung als direkten Ausfluß einer bestimmten Gesinnung oder Absicht erscheinen lassen, abzuleiten, das Handeln der tragischen Personen werde noch nicht aus dem subjektiven Inneren motiviert. Das ist schon deshalb falsch, weil die Gesinnung, wie ich zu zeigen versucht habe, ja sehr wohl eine wichtige Rolle bei der Beurteilung einer Handlung spielt. Die Darstellung der Motivationen, die

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zum Scheitern einer Handlung geführt haben, sind in der griechischen Tragödie lediglich erheblich komplexer, denn die Tragödie zieht eine Fülle weiterer Komponenten in Betracht, die für den Erfolg einer Handlung von Relevanz sind. Der Eindruck, diese für den Erfolg einer Handlung relevanten Faktoren seien, da sie die Verwirklichung einer Handlung, nicht die die Handlung bedingende Gesinnung betreffen, äußere, objektivere, schicksalhafte Faktoren, auf die der Mensch keinen subjektiven Einfluß habe, ist oberflächlich: Wenn Agamemnon bei seiner Heimkunft erschlagen wird, 142 wenn Eteokles und Polyneikes am selben Tor aufeinandertreffen, 143 wenn Kreon zusehen muß, wie sein Sohn Haimon sich ins Schwert stürzt, 144 wenn Deianeira Herakles mit dem übersandten Gewand umbringt, 145 wenn Hippolytos von Phaidra verleumdet 146 und von Theseus verflucht wird, 147 wenn Theseus seinen unschuldig zu Tode geschleiften Sohn beklagen muß, 1 4 8 usw., nirgends bricht das schlimme Schicksal einfach von außen auf die Handelnden herein, nirgends gerät der gute Mensch ins Unglück, weil die Götter oder das Schicksal seiner Tat einen anderen Erfolg geben, als er es gewollt hat. Die Handelnden werden nicht mit einer ihnen zuvor unzugänglichen Realität konfrontiert, sondern es tritt ihnen eine innerlich längst vertraute Erfahrungswelt entgegen, der sie lediglich aus bestimmten Gründen keine oder zu wenig Beachtung geschenkt hatten. Immer also lag es an dem Verhältnis verschiedener subjektiver Intentionen zueinander, das der Handelnde nicht genug geprüft hat und somit nicht geklärt hat, welcher Intention er eigentlich wirklich folgen wollte. So bedenkt z. B. Kreon, solange er auf die Bestrafung Antigones fixiert ist, nicht, was der Tod Haimons für ihn bedeuten würde, und merkt deshalb zu spät, daß die Intention, seine Familie zu erhalten, von größerer Bedeutung für ihn war als die Intention, die Unbestechlichkeit seiner Amtsführung zu beweisen. Etwas vereinfacht könnte man daher sagen, daß der Intentionenkonflikt das ist, was an der Stelle des tragischen Konflikts der neuzeitlichen Tragödie steht. Der tragische Konflikt entsteht hier eher aus Faktoren, die die eigentlich tragische Entscheidung nicht berühren. 149 Im Idealfall steht der tragische Held in einem

142

Siehe Aischylos, Agamemnon w 1343 ff. Siehe Aischylos, Sieben gegen Theben w 631—719. 144 Siehe Sophokles, Antigone 1223-1243. Z u Kreons tragischem Scheitern siehe Schmitt 1988c, Lefevre 1992. 145 Siehe Sophokles, Trachinierinnen vv 663 ff. Siehe dazu Lefevre 1990. 146 Siehe Euripides, Hippolytos w 7 2 4 - 3 1 . 147 Siehe Euripides, Hippolytos w 8 9 3 - 9 8 . 148 Siehe Euripides, Hippolytos vv 1296-1341. 149 So verlangt es - konsequenterweise - Schiller (1966, 147) ausdrücklich: „Ein Dichter, der sich auf seinen wahren Vorteil versteht, wird das U n g l ü c k nicht durch einen bösen Willen, . . . noch viel weniger durch einen Mangel des Verstandes, sondern durch den Z w a n g der Umstände herbeifuhren." Siehe zu Schillers Tragikkonzept Schmitt 1992. 143

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Arbogast Schmitt

ausweglosen Konflikt zwischen völlig gleichen Ansprüchen und muß sich daher ohne jeden Anhalt im Äußeren, ohne beeinflußt zu sein von einem höheren Wert, einer stärkeren Lust und dergleichen, allein aus sich selbst — d. h. in einem reinen Freiheits- oder Willkürakt — entscheiden. Da diese Freiheit nur einen von zwei Wegen ins Verhängnis wählen kann, hat sie keinen Einfluß auf die Art des Schicksalsverlaufs, der Handelnde ist für den schlimmen Ausgang nicht eigendich verantwortlich, er hat zwar gewählt, aber ohne subjektive Schuld. Im Intentionenkonflikt des griechischen Epos oder der griechischen Tragödie geht es dagegen meist um einen Konflikt zwischen einer eher allgemeinen Charaktertendenz und einem augenblicklichen Wollen oder Nichtwollen. Hektor z. B. will der umsichtige und effektive Retter der Stadt sein, aber er will jetzt, in der Situation nach den erfolgreichen Siegen über die Griechen, sogar Achill entgegentreten. Beide Tendenzen sind individuell-subjektive Tendenzen in Hektor, für deren Vorhandensein und für deren Konflikt er selbst die maßgebliche Ursache ist. Die eine - allgemeine - Tendenz (und natürlich auch: Kompetenz) in ihm hat ihn im Unterschied zu den anderen Trojanern und auch zu seinen Brüdern zu dem herausragenden Führer der Trojaner gemacht. Aber auch die andere, augenblickliche Tendenz hat ihre Ursache in Hektors Wesensart (worauf der Erzähler Homer ausdrücklich hinweist). 150 Auch Polydamas hat die Siege über die Griechen miterlebt und die aus ihnen sich ergebende große Hoffnung mitempfunden, aber er will in die Stadt zurück, Hektor will bleiben. 151 Der Konflikt entsteht bei Hektor lediglich nicht von außen, sondern von innen, aus der ganz besonderen Art, wie Hektor sich seiner Umwelt gegenüber zu verhalten pflegt. Dieses Verhalten aber ist nicht Ausfluß einer inkommensurablen, unerklärlichen, inneren Freiheit, sondern einer sich mit gegebenen Möglichkeiten an einer gegebenen Wirklichkeit bewährenden Freiheit. Sie kann daher nicht allein aus sich selbst, sondern muß an dem bewertet werden, was ihr an Gelegenheiten geboten oder verweigert war. Eine Handlung, bei der ein Mensch allein aus inneren Maximen handelt, ohne sich auf eine Bewertung und Berücksichtigung der Realität einzulassen, (— das wäre im positiven Fall die Handlung eines Heiligen, im negativen die Handlung eines Verbrechers, der rücksichtslos seine Absichten durchsetzt, —) interessiert die griechische Tragödie, in der es — jedenfalls in den uns überlieferten Stücken — weder Heilige noch Verbrecher gibt, genauso wenig wie eine Handlung, bei der der Mensch ohne jedes eigene Zutun einfach durch die Umstände (durch Götter, Schicksal usw.) um sein Glück gebracht wird. Im Zentrum des Interesses steht vielmehr der endliche Mensch, der in größerer oder geringerer Abhängigkeit von einer Vielzahl von ihm nicht beeinflußbarer Faktoren die für das Erreichen einer gut und glücklich endenden Handlung nötigen Mittel ergreifen oder verfehlen

150 151

Homer, Ilias 18,251 f. Siehe Homer, Ilias 1 8 , 2 5 4 - 2 8 3 ; 2 8 5 - 2 9 9 .

Wesenszüge der griechischen Tragödie

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kann. Dieses Verfehlen nennt Aristoteles eine Hamartia und sieht in ihr das zentrale Darstellungsziel der Tragödie. 1 5 2 Aristoteles liefert damit eine Theorie fiir diejenige besondere Art der Analyse menschlichen Handelns, die eine Mittelstellung einnimmt zwischen den Extremen einer völligen Selbst- und völligen Fremdbestimmung des Menschen. Es geht hier nicht um die Auffindung eines (archimedischen) Punktes, von dem aus der Mensch jeglicher (innerer und äußerer) Determination enthoben von sich aus einen absoluten Anfang des Handelns setzen kann. 1 5 3 Es geht aber auch nicht um die Konstatierung menschlicher Ohnmacht angesichts von außen auf ihn hereinbrechender Schicksalsmächte, die sich über sein eigenes Planen und Handeln hinweg durchsetzen (und denen gegenüber der Mensch höchstens in der Möglichkeit der Zustimmung oder eines innerlichen sich Verweigerns eine subjektive, aber handlungsirrelevante Form der Freiheit wahren kann). Es geht hier vielmehr um die Herauslösung desjenigen Handlungsfadens, den der Mensch in dem komplexen Gewebe von Determinanten, die in einer konkreten Handlung zusammenfließen, selbst in der Hand hält und durch den er selbst eine der handlungsrelevanten Determinanten bildet. Für diesen Anteil an seinem Schicksal ist der Mensch subjektiv zuständig und moralisch verantwortlich. In der Erkenntnis und Anerkenntnis der Determinanten, die die eigenen Möglichkeiten des Menschen begrenzen, ist die Erfassung dieses Anteils zugleich die Voraussetzung für ein zureichendes Verständnis einer (relativ) freien, aber um ihre Endlichkeit wissenden Subjektivität. Wenigstens plausibel zu machen, daß die Auseinandersetzung mit dieser Art der Bildung von Subjektivität nicht die Rückwendung zu einer naiv kindlich natürlichen Vorstufe unseres modernen Subjektivitätsbegriffs bedeutet, sondern daß dabei auf eine rational überprüfbare Weise Möglichkeiten menschlichen Selbstverständnisses sichtbar werden, die ein vielleicht zu rigoroses Streben nach Autonomie aus dem Blick hat geraten lassen, war das Anliegen dieser Untersuchung.

152 153

Zu Aristoteles' Hamartia-Konzeption siehe v. a. Cessi 1987. Siehe Schmitt 1992.

46

Arbogast Schmitt

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HELLMUT FLASHAR

Die P o e t i k des Aristoteles

und die griechische

Tragödie

Das den Beiträgen dieses Bandes zugrundeliegende Colloquium behandelte die Wandlungen der Tragödie im wesentlichen gattungsimmanent, innerhalb der europäischen und auch außereuropäischen Dramatik, allerdings unter Einschluß der O p e r — mit einer Ausnahme, eben der Poetik des Aristoteles. Diese Schrift nimmt im Verhältnis zur griechischen Tragödie eine Sonderstellung ein. Sie steht der Tragödie zeitlich viel näher als alle anderen Tragödiendeutungen, ja sie steht eigentlich noch mitten in einer Phase lebhafter Tragödienproduktion, die uns nur nicht erhalten ist, eben der Tragödie des 4.Jh.s, von der wir uns immerhin eine gewisse Vorstellung machen können. 1 Ferner sind zu Lebzeiten des Aristoteles zahlreiche Tragödien des 5.Jh.s, vor allem diejenigen des Eurípides, aber auch die des Sophokles sowohl im Dionysostheater in Athen als auch außerhalb Athens aufgeführt worden, so daß Aristoteles seine Informationen nicht nur durch einsames Bücherstudium, sondern auch durch die kommunikative Situation des Theaters gewonnen haben kann. Hinzu kommt, daß Aristoteles ja noch den gesamten Bestand der Tragödien des 5.Jh.s zur Verfügung hatte, nicht nur die ca. 8%, die uns - von den Fragmenten abgesehen — erhalten sind. Schließlich sind seine Deutungskategorien noch nicht durch eine spezifisch m o d e r n e Begrifflichkeit geprägt, wodurch die Authentizität der Aussagen in der aristotelischen Poetik einen hohen R a n g einzunehmen scheint. 2 N u n steht seit langem fest, daß gerade diejenigen Ausprägungen neuzeitlicher Dichtungstheorie, die auf dem Boden der Poetik des Aristoteles zu stehen vorgeben, die aristotelische Position ihrerseits erheblich .transformiert' haben. Dies gilt bereits für die Dichtungstheorie der italienischen Renaissance. Daß sie sich in Teilbereichen (wie in der Berücksichtigung des poetischen ingenium, in dem Bezug der imitatio auf stilistische Muster und in manchem anderen) von Aristoteles entfernt, hat man immer gewußt. Aber auch in den reinen Kommentaren zur aristotelischen Poetik werden teilweise dezidiert antiaristotelische Positionen vertreten (so besonders bei Ludovico Castelvetro in dem Kommentar aus dem Jahre

1 2

Vgl. dazu grundlegend: Xanthakis-Karamanos 1980. Vgl. Flashar 1984.

Die Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie

51

1570). 3 Durch die im Erscheinen begriffene monumentale Ausgabe der Poetik des Scaliger — die ersten beiden von 5 Bänden sind 1994 erschienen — sieht man jetzt deutlicher und bequemer als zuvor (es gab bisher keinen modernen Druck), wie aristotelische Distinktionen zugeschüttet sind durch die ungeheure Fülle des Materials, zusammengetragen mit der stupenden Gelehrsamkeit des Scaliger, dessen Poetik diejenige des Aristoteles schon dem Umfang nach um das 30fache übertrifft. Ahnlich ist das Verhältnis der Dichtungstheorie der französischen Klassik des 17.Jahrhunderts zur aristotelischen Poetik zu beurteilen. Auch hier bezieht man sich vielfach auf Aristoteles, deutet ihn aber um, vor allem durch die Einfügung einzelner Äußerungen des Aristoteles in ein Regelwerk der Vernunft (raison), so z.B. in der Systematisierung der drei Einheiten (Handlung, Ort, Zeit), sodann in der Moralisierung der tragischen Affekte einschließlich der Lehre von der Katharsis, während der präskriptive Tenor z.B. in den Trois Discours von Corneille aus dem Jahr 1660 auch der aristotelischen Poetik eigen ist. Beide, Aristoteles und Corneille, stellen Postulate für künftige Dichter auf, mit dem Unterschied freilich, daß Corneille selber Dichter war, dessen Dichtungstheorie, programmatisch an die Spitze der dreibändigen Gesamtausgabe gestellt, zugleich Apologie der eigenen Dichtung darstellt.4 Daß sodann Lessings vielfältige, aber verstreute Auseinandersetzung mit Aristoteles in der Hamburgischen Dramaturgie mit der Bevorzugung des Mitleids unter den Wirkungsaffekten der Tragödie zwar von dem Bemühen getragen ist, die Auffassung des Aristoteles gegen die Verfälschung durch Corneille zur Geltung zu bringen, diese aber dann auch wiederum in die Kategorien der bürgerlichen Aufklärung und des philanthropen Trauerspiels zwängt, haben Max Kommerell und andere gezeigt. Es wäre weiter daran zu erinnern, daß Goethe in seiner Nachlese zu Aristoteles' Poetik aus dem Jahre 1827 die berühmte Tragödiendefinition mit der Lehre von der Katharsis evident unzutreffend werkimmanent als abrundende Versöhnung versteht, — weshalb für ihn die ideale Tragödie nicht (wie für Aristoteles) der König Odipus, sondern der Odipus auf Kolonos ist. Die Reihe ließe sich fortsetzen bis zu Bertolt Brecht hin, dessen Abgrenzung einer nichtaristotelischen Poetik die aristotelische Poetik' weniger als Ausdruck des aristotelischen Werkes als vielmehr dessen Auslegungstradition erscheinen läßt. 5 Demgegenüber hat die Philologie vor allem der fünfziger und sechziger Jahre es als ihre Aufgabe angesehen, den Text des Aristoteles von diesen Uberkrustungen zu befreien und zu einem unverstellten Verständnis vorzudringen, wo-

3 4 5

Vgl. Fuhrmann 1973, 197-211. Vgl. von Fritz 1962, 1-112, bes. 33-52. Vgl. Flashar 1974.

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Hellmut Flashar

bei der Streit u m die Auslegung der Katharsis, der im 19.Jh. die philologische Forschung zur aristotelischen Poetik ganz dominiert hatte, bis heute nicht zu ein e m Konsens fuhren konnte, nicht zuletzt deshalb, weil Aristoteles selber hierfür keine nähere Explikation gegeben hat. 6 Mit der Freilegung der Begriffe und Distinktionen des Aristoteles glaubte man aber unversehens den Schlüssel zum Verständnis der griechischen Tragödie selbst in der Hand zu haben. Gerade die bedeutenden unter den philologischen Interpreten haben in einer Art .wechselseitiger Erhellung' die Ergebnisse der Interpretation des Aristoteles und der griechischen Tragödie gegenseitig aufeinander bezogen. Ich gebe nun zwei Beispiele: Wolfgang Schadewaldt hat in mehreren Publikationen die philologisch-semasiologische D e u t u n g der aristotelischen Begriffe eXeoq, qpoßog u n d xádagoig als „Jammer", „Schauder" und „Reinigung" von diesen Affekten so stark generalisiert, daß Aristoteles mit diesen so verstandenen Begriffen die Wirkungsmacht der griechischen Tragödie nicht nur zutreffend, sondern erschöpfend erfaßt habe. Aristoteles habe „die Dichtung" (also offenbar nicht nur die Tragödie) „als genuine Lebenserscheinung auf das Total-Humane gegründet" u n d gesehen, „daß die Kunst" (jetzt also offenbar nicht nur die Dichtung) „in wunderbarer Weise dasjenige Geistige ist, das, das Elementare mit umfassend u n d in ihm gründend, als eine ungeheure Macht des Lebens das ganze menschliche Gesamtgefüge: Leib-Seele-Geist in einem betrifft u n d angreift". Nach Schadewaldt habe Aristoteles dies alles ausgedrückt mit seiner Lehre von der Katharsis, die damit zugleich den „dionysischen U r g r u n d " , also die kultischreligiöse Dimension der Tragödie, mit umfasse. 7 Auf diese Weise sieht er eine völlige Einheit zwischen griechischer Tragödie, Aristoteles und z.B. Carl Orff u n d so formuliert er: „Hier wie nur j e erweist sich Orffs Musik als eine aus dem G r u n d e kathartische." 8 Das zweite Beispiel betrifft die Diskussion u m die sog. tragische Schuld, die allgemein von dem aristotelischen Begriff der Hamartia ausgeht. Kurt von Fritz hat in einem einflußreichen u n d langatmigen Aufsatz mit dem Titel: Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit9 zunächst die Unvollkommenheit des tragischen Helden (aus der sich eine Schuld ableiten läßt) von dem aristotelischen Begriff der Hamartia völlig getrennt, und zwar als Ergebnis einer Interpretation des aristotelischen Textes. Was aber tragische Schuld und was Hamartia ist oder sein kann, wird in einem undifferenzierten R e k u r s sowohl auf Aristoteles als auch auf eine Vielzahl griechischer Tragödien diskutiert, ohne daß man zu einer wirklichen

6 Die wichtigsten Arbeiten zur Katharsisfrage (insgesamt 19) sind zusammengestellt bei Luserke 1991. 7 Schadewaldt 1955. Die Zitate dort 236. 8 Schadewaldt 1970, 428. 9 von Fritz 1962. Die Zitate dort 7 f. und 11.

Die Poetik des Aristoteles u n d die griechische Tragödie

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Klarheit gelangt. Dazu trägt auch bei, daß Kurt von Fritz dazu neigt, seine Ergebnisse alsbald wieder halb zurückzunehmen. Ein Beispiel: „Wenn damit nun nachgewiesen ist, daß die Unvollkommenheit des Helden der Tragödie und seine ä|iagxia nicht in einem notwendigen Zusammenhang miteinander stehen, so ist damit allerdings nicht gesagt, daß sie nicht in einem Zusammenhang stehen können oder dürfen". Jedenfalls scheint Kurt von Fritz zu meinen, daß die ä|aaotia nicht mit dem Charakter des Helden zusammenhängt, aber auch nicht einen bloßen Irrtum und andererseits auch nicht subjektive Schuld bedeutet. In Übertragung der aristotelischen Kategorien auf die griechische Tragödie sucht er dann das Fehlverhalten des tragischen Helden, das Ausdruck seiner ¿¡laotia in der Tragödie selbst sein kann, möglichst gering zu halten. Bei der Erschlagung des (als Vater unerkannten) Laios durch Odipus am Dreiweg gelte die Regel (ich zitiere Kurt von Fritz): „Wer zuerst schießt, bleibt am Leben. Jeder Mann aus Texas würde das heutzutage noch ohne weiteres verstehen, und es ist anzunehmen, daß die Athener des fünften Jahrhunderts von solchen Zuständen zeitlich und räumlich (von Texas?) noch nicht so weit entfernt waren, daß sie anders empfunden hätten". Die hier offenkundige Konfusion ist zurückzuführen auf eine mangelnde Differenzierung zwischen der aristotelischen Poetik und der griechischen Tragödie und in ihr noch einmal zwischen der fiktiven Vergangenheit und der Gegenwart von Dichter und Zuschauer, also des 5.Jh.s, in dem Totschlag schon ein rechtlich relevantes Delikt darstellt. Diese beiden — beliebig vermehrbaren — Beispiele mögen zeigen, in welche Schwierigkeiten man gerät, wenn man nicht zuvörderst die griechische Tragödie und die aristotelische Poetik methodisch trennt und erst dann das Verhältnis beider Komponenten zueinander bestimmt. Hinsichtlich der Poetik des Aristoteles müssen zunächst sowohl der kulturelle Kontext als auch das Genos der Schrift und die mit ihr verbundene Intention des Autors bedacht werden, bevor die Aussagen auf die griechische Tragödie angewandt werden. Der kulturelle Kontext ist entgegen landläufiger Meinung nicht dadurch gekennzeichnet, daß die produktive Kraft der griechischen Tragödie zur Zeit des Aristoteles erloschen sei und sie keine kultische und politische Funktion mehr gehabt habe. Nietzsches Wort vom Tod oder gar Selbstmord der Tragödie — bei Nietzsche in dem spezifischen Kontext der Auseinandersetzung mit Sokrates und Euripides 10 — findet der Betrachter unserer Zeit nur unter dem Eindruck der Überlieferung bestätigt. Die Überlieferung bricht ab; von den mindestens 600 Tragödien des 4.Jh.s sind uns nur spärliche Fragmente erhalten. Frau XanthakisKaramanos urteilt in ihrem ausgezeichneten Buch über die Tragödie des 4.Jh.s: „Tragedy was never cultivated with more enthusiasm than during the fourth cen-

10

Vgl. dazu Henrichs 1986.

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Hellmut Flashar

tury." 1 1 Daß auch die kultische Einbettung der Tragödie in das Dionysosfest voll erhalten blieb, bezeugen zahlreiche Erwähnungen von Autoren des 4.Jh.s, durch die wir über viele Einzelheiten des sakralen Zeremoniells überhaupt erst unterrichtet sind, und zwar oft in bezug auf Fälle im 4.Jh. Die R e d n e r (Aischines; Demosthenes) erwähnen gelegentlich Fälle von Verstößen und Regelwidrigkeiten im Zeremoniell des Festes, durch die wir die R e g e l n überhaupt erst kennen. Auch sonst gibt es viele Zeugnisse (man denke nur an die Choregendenkmäler) für eine lebendige Aktualität der Dramenagone im öffentlichen Bewußtsein der Athener im 4 . J h . 1 2 Gewandelt hatte sich die Situation gegenüber dem 5.Jh. in zweierlei Hinsicht: 1. Es gab die „alte Tragödie", die wiederaufgeführt wurde und zur zeitgenössischen Tragödie in einem Spannungsverhältnis stand; und es war 2. die Tragödie nicht mehr die hauptsächliche Vermitderin des öffentlich wirksamen Wortes in der Polis (eine attische Prosa kam j a erst im letzten Drittel des 5.Jh.s auf), sondern es traten die Rhetorik und vor allem die Philosophie hinzu. D i e Auseinandersetzung Piatons mit der Dichtung ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Piaton tritt mit dem Anspruch auf, daß seine Philosophie eine Art neue Tragödie sei. 1 3 Es ist deutlich, daß dadurch die Tragödie des 4.Jh.s nicht in der gleichen Weise als Wirkungsmacht in der Polis verstanden werden konnte wie die Tragödie von Aischylos bis Euripides. Damit ist in Kürze der Kontext beschrieben, in dem eben auch Aristoteles stand, als er die Poetik schrieb. Von daher wird wenigstens teilweise verständlich, warum z. B. die politische Dimension der Tragödie keinen Faktor der Beschreibung und der Beurteilung des Aristoteles darstellt. Wichtiger noch für das Verständnis des Verhältnisses der aristotelischen Poetik zur Tragödie ist eine genaue Bestimmung ihres literarischen Charakters. Sie ist eine TE/VT) und steht damit in der Tradition der Fachschrift, wie sie in der Sophistik aufgekommen ist und in den Wissenschaften, besonders in der Medizin, sich ausbreitete. Alle diese Schriften sind nicht ausschließlich Anleitungen zum Ausüben der jeweiligen texvr|, sondern stellen das Fachgebiet und meist auch dessen Entstehung und Geschichte vor. Entsprechend richtet sich die aristotelische Poetik nicht ausschließlich oder vornehmlich an angehende Dichter (obwohl sie auch Anweisungen zum Dichten enthält), sondern an den gebildeten Polisbürger, dem für seinen U m g a n g mit Dichtung Information und Orientierung gegeben wird. D i e Rhetorik des Aristoteles, eben %e%vr\ QT|TOQixr], ist die nächstliegende Parallele. Hinzu kommt aber die spezifisch aristotelische Darstellungsweise. Sie besteht in d e m methodischen Dreischritt: Faktensammlung, Darstellung, Deutung, wobei

11 12 13

Xanthakis-Karamanos 1980, 20. Die Zeugnisse gerade auch der Redner sind ausgewertet bei Pickard-Cambridge 1988. Piaton, Leg. 817 B.

Die Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie

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die Deutungsabsicht sich bereits auf die bloße Auswahl der Fakten auswirkt. 14 Schon die Darstellung der Entstehung der Dichtung generell (aus dem menschlichen Nachahmungstrieb) wie der Tragödie und deren Entwicklung im einzelnen läßt eine Reihe konstitutiver Merkmale (rituelle, kultische, religiöse Wurzeln) unerwähnt. Die im Dithyrambos gegebene Vorstufe 15 wird noch zum Frühstadium der Improvisation gerechnet; Aischylos gilt als Repräsentant einer noch unvollkommenen Entwicklung, die erst in Sophokles und hier namentlich mit dem König Odipus zu einem Abschluß gelangt ist, aristotelisch gesprochen: ihre Entelechie gefunden hat. Dieses biologische Entwicklungsmodell bestimmt Darstellung und Deutung des Aristoteles gleichermaßen. Aristoteles hat nun aber mit der Darstellung und Deutung Postúlate für eine technisch einwandfreie und künstlerisch wertvolle Tragödie verbunden, die in sich noch einmal zweigeteilt sind: Postúlate, die in jeder guten Tragödie erfüllt sein sollten und darüber hinaus Normen für die „schönste Tragödie" (xaXAiorr] TQacp6ia, Poet. 13, 1452b 31). Während Einheitlichkeit und Uberschaubarkeit der Handlung, nach Wahrscheinlichkeit verknüpfte Ereignisfolge, sinnvolle Gestaltung von Peripetie und Anagnorisis sowie Angemessenheit und Gleichmäßigkeit des Charakters zu den allgemeinen Postulaten gehören, ist die ideale Tragödie zusätzlich charakterisiert durch Einsträngigkeit der Handlung in der Konzentration auf eine Hauptperson und durch die Gestaltung der Peripetie in der Weise, daß der tragische Held (bzw. die tragische Zentralfigur) als „mittlerer" (hinsichtlich der moralischen Qualitäten) infolge eines Fehlgriffs (áfxaQÚa) im Zusammenfall von Peripetie und Anagnorisis von Glück in Unglück gerät (Kap. 13). 16 Daß Aristoteles mit diesen Normen ziemlich schematisch die allgemeinen Strukturmerkmale der Tragödie erfaßt hat und dabei die Merkmale der idealen Tragödie eigentlich nur auf den König Odipus des Sophokles zutreffen, hat man längst gesehen. Dies sind also die Eigenarten der Poetik des Aristoteles, die in Rechnung gestellt werden müssen, wenn man mit Hilfe aristotelischer Begriffe die griechische Tragödie interpretieren will. Im folgenden sollen nun unter Berücksichtigung der erwähnten Kautelen anhand der drei thematischen Komplexe: 1. Schuld, 2. Handlung und Charakter, 3. Wirkung der Tragödie Probleme besprochen werden, die sich aus der Anwendung aristotelischer Begriffe und Kategorien auf die griechische Tragödie ergeben.

14

Vgl. dazu Flashar 1983, 422-424. Die D e u t u n g von Leonhardt 1991, 4, wonach Aristoteles (in Poet. 4, 1449 a 9-13) im Vortrag des Phallosliedes ein vorbereitendes Element der Tragödie und im Dithyrambos eine Vorstufe der Komödie sehe, kann nach der ausfuhrlichen Rezension von Patzer 1995 als widerlegt gelten. 16 Vgl. die Einzelnachweise bei Söffing 1981. 15

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1. Schuld. Alle Diskussionen über schuldhaftes oder fehlerhaftes Verhalten von Gestalten der griechischen Tragödie heften sich, sofern ihr Ausgangspunkt die Poetik des Aristoteles ist, an den Begriff der Hamartia. Die jahrhundertelange Diskussion, was Hamartia bei Aristoteles bedeutet, war stark davon belastet, daß man unbedingt die Bestimmung des Aristoteles, der tragische Held gelange durch eine Hamartia von Glück in Unglück, in Einklang mit dem Verhalten der tragischen Hauptfiguren aller Tragödien zu bestimmen suchte. Demzufolge schwankte die Bestimmung der Hamartia zwischen einem sittlich indifferenten, rein intellektuellen Fehler und einer moralisch zurechenbaren Schuld. Durch die Forschungen von Arbogast Schmitt und seiner Schülerin Viviana Cessi über den ganzen Komplex von Wahrnehmen, Erkennen und Handeln bei Aristoteles wissen wir jetzt, daß Hamartia einen charakterbedingten, sittlich relevanten Denkfehler bedeutet, wobei der Ursprung des Falschen in der betreffenden Person selber liegt, die die fehlerhafte Handlung zu verantworten hat, wenn auch kein Vorsatz und keine Böswilligkeit vorliegen. Dies ergibt sich als die Konzeption des Aristoteles. Eine ganz andere Frage ist es aber, ob damit die tragische Situation der griechischen Tragödie zutreffend gekennzeichnet ist. Für den König Ödipus ist dies wohl der Fall, wie gerade die neueren Arbeiten von Eckart Lefevre und Arbogast Schmitt gezeigt haben. Die Analyse des Aristoteles ist hier also zutreffend, wenn auch nicht erschöpfend. Methodisch unzulässig ist es jedoch, unter Berufung auf Aristoteles in jeder Tragödie eine Hamartia des tragischen Helden suchen zu wollen. Denn Aristoteles bezieht ja sein Konzept ausdrücklich nur auf die „schönste Tragödie" (KOAXLOTT] TQacpöia), oder — wenn man diese Differenzierung nicht akzeptiert 17 — auf die Tragödie mit unglücklichem Ausgang. N u n kann man zwar bei allen sophokleischen Tragödien ein von der tragischen Hauptfigur mitzuverantwortendes Fehlverhalten aufspüren, wie es jüngst Eckart Lefevre unter dem Motto: „Die Unfähigkeit, sich zu erkennen" zumindest für 4 Tragödien mit Erfolg getan hat, aber man kann es eben kaum im Sinne der aristotelischen Tragödientheorie tun. Eine Tragödie wie die Antigone z.B., der Aristoteles wenig Beachtung geschenkt hat, fällt von ihrer Struktur her so sehr aus dem Konzept der xa^/iotr| XQawbia heraus, daß die Frage nach der Hamartia gar nicht gestellt werden kann, es müßte denn Kreon die Hauptfigur sein. 18 Jedenfalls gibt es viele Tragödien ohne eine Hamartia im Sinne des Aristoteles. Und es ist klar, daß der ganze Komplex, den wir mit Schuld und Verantwortung bezeichnen, durch die Theorie des Aristoteles nicht erfaßt wird, in der Rezeption wie in der Forschung der Hamartia demnach eine Last aufgebürdet wird, die dieser Begriff nicht tragen kann. Andere Fragen, die mit der Schuldfrage zusammenhängen, wie das Verhält-

17 18

Vgl. dazu Zierl 1994, 53. Vgl. dazu die Diskussion bei Patzer 1978.

D i e Poetik des Aristoteles u n d die griechische Tragödie

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nis von göttlichem Einwirken und menschlichem Handeln kommen bei Aristoteles überhaupt nicht in den Blick. 2. Handlung/Charakter. Es ist hinlänglich bekannt, daß Aristoteles die Handlung als das wichtigste Element der Tragödie ansieht und ihr eindeutig den Vorrang vor den Charakteren einräumt. In den näheren Bestimmungen über die Einheit der Handlung, ihre Uberschaubarkeit, angemessene Länge und logische Kohärenz in der in sich stimmigen Ereignisfolge kommt dies entsprechend zum Ausdruck. Es wäre aber falsch, aus überpointierten Äußerungen in der Poetik, wie: „Ohne Handlung kann es keine Tragödie geben, wohl aber ohne Charaktere" (6, 1450 a 23—26) zu folgern, die Charaktere wären in der aristotelischen Tragödientheorie unwichtig. Vielmehr insistiert Aristoteles darauf, daß Handlungen keine abstrakten Vorgänge sind, sondern von handelnden Menschen mit einem bestimmten Ethos vollzogen werden. Die ganze Dichtungstheorie mit der aristotelischen Mimesis-Konzeption beruht darauf. Programmatisch wird dies am Anfang des 2. Kapitels der Poetik deutlich: „Die Nachahmenden ahmen handelnde Menschen nach. Diese sind notwendigerweise entweder gut oder schlecht; denn die Charaktere (tidr]) fallen fast stets unter eine dieser beiden Kategorien" (1448 a 1—4). Handlung und Charaktere sind also unlösbar miteinander verknüpft, wobei die aristotelische Konzeption von Handlung und Ethos ganz allgemein in die Dichtungstheorie einfließt. 19 Handlung ist für Aristoteles keine punktuelle Tat, sondern ein Verlauf, der im Lebensvollzug auf Gelingen oder Mißlingen angelegt ist. In einer allerdings textkritisch umstrittenen Passage in der Poetik heißt es: „Glück (exiöaifxovia) und Unglück beruhen auf Handlung, und das Lebensziel ist eine Art Handlung" (6, 1450 a 17—20). Die Grundlinien der Handlungstheorie, wie sie Aristoteles in der Ethik entworfen hat - mit der Bindung der Handlung an das Ethos des Handelnden, der sich nach richtiger Planung entscheidet, sofern er nicht im Affekt oder aus Unwissenheit handelt —, gelten auch für die Poetik, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Die Ethik weist den Weg zur Eudaimonie im Vollzug des ganzen Lebens, — die tragische Verlaufskurve dagegen geht umgekehrt von Glück in Unglück und stellt der ethischen Selbstverwirklichung des Polisbürgers komplementär Modelle des Scheiterns an die Seite. Im Kontext dieser Handlungstheorie ist die Interpretation der Tragödie durch Aristoteles, in der Handlung und Ethos sich gegenseitig bedingen, grundsätzlich zutreffend. 20 Im einzelnen kann man natürlich fragen, in wieweit die aristotelischen Bestimmungen über das Ethos auf die Tragödie applizierbar sind. Aristoteles fordert vom Dichter einer Tragödie, er müsse die Charaktere darstellen als „brauchbar" oder „edel" (xe^oxct), als „angemessen" (ctQ^ÖTtovxa), als „ähnlich" (ö^ioia) — gemeint ist: ähnlich dem Zuschauer — und schließlich als „gleichmäßig" (öjiaWt). Hier

19 20

Vgl. zu d e m ganzen Komplex jetzt auch Zierl 1994, 4 1 - 4 9 . Vgl. Flashar 1976.

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fugt Aristoteles hinzu, daß dann, wenn das Charaktermerkmal eines Helden in dem zugrundeliegenden Mythos die Ungleichmäßigkeit ist, er auf „gleichmäßige Weise ungleichmäßig" (ö|j,a)tt&5 dvtijjiaXov, 15, 1454a 27), also konsequent sein müsse. An diese letzte Bestimmung heftet sich die neuere Forschung zur Problematik der Darstellung der Charaktere. Daß das Postulat von der Gleichmäßigkeit der Charaktere mit dem praktischen Verfahren in der Tragödie selbst sich nicht durchweg zur Deckung bringen läßt, hat soeben John C. Gibert in einer umfangreichen Arbeit mit dem Titel: „Change of mind in Greek tragedy" gezeigt. Aber auch Aristoteles selber wußte, daß die Tragödiendichter nicht immer seinen Postulaten gemäß verfahren sind. Für einen ,Verstoß' gegen das erste Postulat, der Charakter müsse XQ'ncrcöv sein, fuhrt Aristoteles als Beispiel die Gestalt des Menelaos im Orest des Euripides an, die unnötig schlecht gezeichnet sei. In der Tat ist es sehr auffallend, wie negativ — überraschend im Vergleich zu dem Bild in der epischen Uberlieferung — Menelaos bei Euripides gestaltet ist als deijenige, der die Kinder seines Bruders, Orest und Elektra, in höchster Not im Stich läßt. Doch kann keine Rede davon sein, daß dies im Plan des Dichters „unnötig" sei. Es ist vielmehr Voraussetzung für den zweiten Teil des Dramas. Nur indem Menelaos nicht das Todesurteil für Orest verhindert, kann dieser in rücksichtsloser Aktion die Tochter des Menelaos, Hermione, als Geisel nehmen. Überdies hat man neuerdings daraufhingewiesen, 21 daß die große Rede des Menelaos vor der Volksversammlung, nach Lesky „ein Meisterwerk der Ethopoiie" (im negativen Sinn), Zeugnis einer Krisenerfahrung des Euripides sei, die dem Aristoteles fehle. Das würde bedeuten, daß ein Fehlurteil des Aristoteles — gewiß in einer Detailfrage — auf ein Absterben der politischen Bezüge zurückzufuhren sei. Als Beispiel für einen ungleichmäßigen Charakter fuhrt Aristoteles — auch hier kritisch gegen Euripides — Iphigenie in der Iphigenie in Aulis an, die zunächst um ihr Leben bettelt, dann aber freudig bereit ist, sich opfern zu lassen. Hier wird man einwenden müssen, daß derartige Schwankungen mit der Vorliebe des späten Euripides für psychische Labilität zusammenhängen, die in die schematische Betrachtungsweise des Aristoteles nicht passen. Überdies ist der schnelle Sinneswandel auch anderer Gestalten ein Kompositionselement des Euripides besonders in d e r Iphigenie in

Aulis.22

Fassen wir zusammen: Handlung ist für Aristoteles nicht eine bloße Aktion im Sinne einer Situationsveränderung, sondern auf handelnde Menschen rückbezogen. Handelnde Menschen haben immer ein bestimmtes Ethos, dessen Gestaltung für die Figuren der Tragödie durch eine Reihe von Postulaten (Gleichmäßigkeit usw.) im einzelnen erläutert wird. Diese Konzeption trifft im wesentlichen auf die Verhältnisse in der griechischen

21 22

Hose 1994. Vgl. das Kapitel: „Meinungswechsel in der Iphigenie in Aulis" bei Neumann 1995.

Die Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie

59

Tragödie zu. Man wird sagen dürfen, daß für den Tragödiendichter und sein Publikum eine Trennung zwischen Handlung und Charakteren allenfalls ein rein theoretisches Problem sein konnte. Bei Gestalten wie Antigone, Kreon, Odipus, Odysseus, Philoktet usw. ist ihr Ethos handlungsbestimmend und auch für die Rezeption durch das Publikum entscheidend. Wer je Griechen bei einer Aufführung einer griechischen Tragödie gesehen hat, ist Zeuge davon geworden, wie das Publikum mit dem Wohl und Wehe der Charaktere mitempfindet. Handlung und Charakter dürfen aber nicht in ein disjunktives Verhältnis zueinander gebracht werden. Weder kann man mit Lessing sagen, „daß die Charaktere dem Dichter weit heiliger sein müssen als die Facta" 23 noch darf man in dem berechtigten Streben nach Uberwindung einer Deutung der Tragödie als eines rein psychologischen Charakterdramas womöglich unter Berufung auf Aristoteles als konstitutives Moment der Tragödie nur die Handlung oder gar die einzelne Szene anerkennen, wie es z. B. in dem bekannten Sophoklesbuch von Tycho von Wilamowitz 24 geschehen ist. Weitere Differenzierungen der in der Tragödie auftretenden Handlungsträger: Hauptperson, Gegenspieler, Rolle, Figur, wie sie der modernen Literaturwissenschaft geläufig und für die griechische Tragödie von Bedeutung sind, lassen sich aus Aristoteles überhaupt nicht herleiten, der in der Analyse der Handlungsmodelle immer nur von einer Gestalt (in der Literatur pauschal und irreführend ,Held' genannt) ausgeht. 3. Die Wirkung der Tragödie. Vorab ist daran zu erinnern, daß Aristoteles die Tragödie im ganzen unter wirkungsästhetischem Aspekt betrachtet. Die Qualität einer. Tragödie wird daran gemessen, ob und in wieweit sie die spezifisch tragische, begrifflich gefaßte Wirkung auslösen kann. Dies ist umso mehr der Fall, je stärker eine Tragödie den von Aristoteles aufgeführten Postulaten an Handlungsführung, tragischer Verlaufskurve und Anlage der Charaktere zu entsprechen vermag. Ein derartiger Beurteilungsmaßstab ist alles andere als selbstverständlich. Man kann darauf hinweisen, daß der Aspekt der Wirkung der Tragödie von den frühesten, noch vortheoretischen Bezeugungen und dann in der Sophistik und in gewissem Sinn auch bei Piaton eine bedeutende Rolle spielt. Ganz allgemein kann man sagen, daß die kunsterwirkten Affekte Kristallisationspunkte sind, an denen der Mensch unter dem Einfluß der Dichtung seinen Affekthaushalt korrigieren kann. Aber die Unterwerfung nahezu aller Qualifikationskriterien unter den Primat der Wirkung ist schon sehr auffallend und weniger erklärbar aus Deutungskategorien im übrigen Werk des Aristoteles als vielleicht durch den Hinweis auf das Zeitalter der Rhetorik mit der besonderen Bedeutung der Wirkung der öffentlichen Rede. Aber das bleibt unsicher. Die Dichtungstheorie des Hellenismus und der ars poetica

23 24

Hamburgische Dramaturgie, 33. Stück. Wilamowitz-Möllendorff 1917.

60

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des Horaz stellen jedenfalls den Aspekt der Wirkung nicht in den Mittelpunkt, und natürlich auch nicht die ältere Inspirationstheorie. Uber die Begriffe, die nach Aristoteles die Wirkung der Tragödie bezeichnen, cpößog, ekeoc, und xädaoaa xai xexvtojxEVT], 4 0 1 - 4 0 2 ) , wird deutlich, daß sie eine Intrigantin beachtlichen Formats verkörpert. Medeia betrachtet Aigeus wie Iason als Bausteine in ihrem Spiel. Die zweite Szene mit dem letzten ist dermaßen von ihrer Intrige bestimmt, daß diese zum Selbstzweck zu werden droht. Die Art, wie Medeia dem Boten genüßlich zuhört — er möge mit dem Bericht nicht eilen (1133)! — oder sich zum Schluß an Iasons Schmerz weidet, demonstriert den Erfolg der Intrige und die Richtigkeit der Kalkulation. Man höre eine ihrer letzten R e d e n : ,Ihr Lieben, ich habe beschlossen, die Kinder so schnell wie möglich zu töten und dieses Land zu verlassen und nicht, zögernd, sie einer feindlichen Hand zu überliefern, daß sie sie ermorde. Es ist auf jeden Fall notwendig, sie zu töten; und da es notwendig ist, werde ich sie töten' (1236—1241): qpiAai, öeöoxxai Toiiüyov ajg xäyiGTa |xoi jtalöag y.Tavoijor] xf|aö' atpoQ^äa&ai /Oovög, xai. nf] oxo/.f|v äyouaav exöoßvai xexva aXXg (poveüaai ÖUO^IEVEOTEQCX XEQL. 1240

navTcog aqf aväyxr) xarfravEiv

EHEI 5E

XQii,

F|HEL5 XTEVOÜHEV.

Das ist eine überraschend zwingende Logik. A. Dihle hat treffend gesagt, aus Medeias „mit größter Geistesgegenwart gewonnenen Einsicht" entspringe „ein Racheplan, dessen unerhörte Präzision von der Verstandesschärfe und der kalten Entschlußkraft seiner Urheberin Zeugnis" gebe. 1 8 Der Racheplan sei „Resultat eines an vorgegebenen Verhaltensregeln orientierten Kalküls, nicht aber, wie bei den Nachfolgern des Euripides, Ausfluß einer übermächtigen Leidenschaft." Damit ist Medeias soziale Bindung gut beschrieben. Doch ist zu R e c h t eingewandt worden, daß auch sie von Leidenschaft bestimmt sei. 19 Die vieldiskutierten Verse 1079—1080 lassen daran keinen Zweifel. 2 0 Bei Medeia steht die Ratio im Dienst

17

Vgl. Lefevre 1 9 7 8 , 4 7 - 4 8 .

18

1 9 7 7 , 16, das folgende Zitat 17.

Vor allem: Szlezäk 1 9 9 0 , 2 9 4 - 2 9 7 ; vgl. zuletzt Schmitt 1 9 9 4 , 5 9 0 - 5 9 1 . 2 0 Z u 1 0 7 9 sei auf Diller ( 1 9 6 6 ) 1971 verwiesen, dessen Auslegung in neuerer Zeit von Stanton 1 9 8 7 , 101 und Schmitt 1 9 9 4 , 5 9 1 - 5 9 3 gestützt wird. Dillers D e u t u n g macht deutlich, daß zwischen R a t i o und Leidenschaft kein Gegensatz zu bestehen braucht. Es ist nicht n o t w e n dig, in Medeias g r o ß e m M o n o l o g Athetesen vorzunehmen, um eine (zu) glatte Aussage zu präparieren. 19

75

Römische Tragödie: Senecas Medea

der Leidenschaft. 21 Diese fhifiö?) steuert jene ( ~ ßoiAeiinata). Jedoch spielt die Ratio im Lauf der Handlung eine so beherrschende Rolle, daß die Leidenschaft nicht immer erkennbar bleibt. Aus dem Dargelegten folgt, daß Medeia im tiefsten Grund irrational handelt. Die Tragödie von Aischylos, Sophokles und Euripides ist in je verschiedener Weise eine Tragödie der Blindheit. In ihr verfehlen die Menschen nahezu durchweg das richtige Tun. K. v. Fritz hat gesagt, daß sowohl Medeias wie Iasons Handeln und Reden aus einem Mangel an Erkenntnis hervorgehe. Beide seien völlig blind in bezug sowohl auf sich selbst wie auf einander wie schließlich auf den Charakter dessen, was sie tun und sagen. 22 Erst diese Blindheit der beiden Hauptcharaktere mache aus dem Stück eine antike Tragödie und speziell eine euripideische Tragödie. 23 So gesehen, ist Medeia ungeachtet ihres überragenden Intellekts 24 und ihrer planenden Rationalität blind, vom •öujxög fehlgeleitet.

Medea: Rationale Leidenschaft Verhalten und Handeln der senecaischen Medea sind durchweg emotional bestimmt. Skrupulöses Planen, Verstellung und Lügen gehören nicht von vornherein zu ihrem Kalkül. In langer Rede (203-251) wirbt sie als clade miseranda obruta, / expulsa

supplex

sola deserta

(207—208) b e i C r e o , als supplex

(482) bei Iason

um

Verständnis für ihre Lage. Erst nachdem sie von diesem zurückgestoßen wird — nach einem auf Versöhnung ausgerichteten Dialog von 120 Versen Länge (431-550) - , sucht sie in der Verstellung Zuflucht. Man spürt: Intrigieren ist unter ihrer Würde. Es ist ein Merkmal ihrer ,Modernität', daß sie sich in ihrem großen Monolog am Ende des Stücks (893—977) weder mit Iason und den Kindern noch mit der Gesellschaft, Freunden oder Feinden, auseinandersetzt noch endlich die Zukunft bedenkt, sondern ihre Leidenschaft zu ergründen versucht. Nacheinander spricht sie in langer Reflexion an: animus (895), dolor (914), ira (916), Juror (930), animus (937), dolor (944), ira (953), animus (976). 25 Achtmal wendet sie sich an diese vier .Partner' in ihrem Inneren und diskutiert mit ihnen die ,Lage'. Der animus bietet den R a u m für die Affekte. Er allein hat in Euripides' Gestaltung eine Entsprechung, dessen Medeia einmal ihren öu^ög (1056), ein andermal ihre xao&ia (1242) — an weit auseinanderliegenden Stellen — apostrophiert:

21

„[...] der ganze Rachekalkül, den Medea mit überlegter Klarheit ausdenkt und durchfuhrt, ist erklärbar als das Werk eines Verstandes, der im Dienst der Leidenschaft steht. Es ist der leidenschaftliche Rachewille, der das Ziel vorgibt, und der Verstand, der die Ziele erfüllt" (Schmitt 1994, 591). 22 (1959) 1962, 354. 23 (1959) 1962, 356. 24 Der Ausdruck bei Dihle 1977, 17. 25 Vgl. 988 (anime).

76

Eckard Lefevre 1056

öfjxa, fru^E, |xr] cw y' SQyacn] tdöe.

1242

a I X ei' öirXl^ou, xapöia. tL ne/.ÄO(iev xä 6siva xavayxaia |ir| itQaoaav xaxä;

An seinen •öu^iög26 und seine XQaöir)27 wandte sich schon der homerische Odysseus. Insofern gestaltet Euripides konventionell. Demgegenüber geht Seneca über alles Dagewesene hinaus — quantitativ und qualitativ. Während es sich bei Euripides um kurze Apostrophen handelt, spricht Medea am Anfang des Monologs ihren animus durch 10 Verse hindurch an (895-904): 895

900

895

900

quid, anime, cessas? sequere felicem impetum. pars ultionis ista, qua gaudes, quota est? amas adhuc, furiose, si satis est tibi caelebs Iason. quaere poenarum genus haut usitatum iamque sie temet para: fas omne cedat, abeat expulsus pudor; vindicta levis est quam ferunt purae manus. ineumbe in iras teque languentem excita penitusque veteres pectore ex imo impetus violentus hauri. Was säumst du noch, mein Herz? Folg deinem seligen Drang! Der Rache Teil, die dich beglückt, was ist das schon? Noch liebst du, rasend Herz, wenn Jason ohne Weib zu sehn dir reicht. Such eine Art von Rache aus, die ungebräuchlich und bereite so dich nun: Recht weiche gänzlich, fort, vertrieben sei die Scheu. Leicht wiegt die Rache, die die reine Hand vollbringt. Gib deinem Zorn dich hin, erwache, schlaffes Herz! Den alten Trieb hol mit Gewalt vom tiefsten Grund der Brust hervor.

Am Schluß wendet sich Medea wieder dem animus zu (976). Dazwischen operiert sie mit den Affekten dolor, ira und Juror. Einmal wird noch der animus als Gefäß für diese genannt, wenn Medea ihr Zerrissensein zwischen den Polen amor und ira beschreibt (937-939): quid, anime, titubas? ora quid lacrimae rigant variamque nunc huc ira, nunc illuc amor diducit?

Daß dolor ein zeitlich frühes Stadium bezeichnet, 28 das aus verletztem amor resultiert, liegt auf der Hand — ebenso, daß ihm ira und Juror (wohl in dieser Reihenfolge) entspringen. Daß Juror sozusagen am Ende steht, geht auch daraus hervor,

26

27 28

E 298, 355, 407, 464. v 18. Uber seine Bedeutung vgl. umsichtig Pötscher 1977.

Römische Tragödie: Senecas Medea

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daß Medeas M o n o l o g in einer Vision der Furien gipfelt (958—968). Es versteht sich von selbst, daß hier eine Passage vorliegt, die o h n e die Erkenntnisse der stoischen Psychologie nicht zu denken ist. furor ist die allgemeine B e z e i c h n u n g f ü r Affektbeherrschtheit. N u r in diesem Zustand ist M e d e a fähig, die furchtbare Tat zu vollbringen, ira u n d dolor sind Vorstufen des furor, w e n n man so genau distinguieren darf; das Ganze geht in d e m R a u m des animus vor sich. 2 9 G e w i ß handelt es sich u m die A n w e n d u n g populärer stoischer Lehre, d o c h ist es möglich, Passagen aus De ira als Parallelen zu vergleichen. So ist 1,7,4 für die B e z i e h u n g von animus u n d ira (bzw. anderen Affekten) bezeichnend: W e n n der animus sich in Z o r n , Liebe oder andere Affekte begebe, sei es i h m nicht m e h r möglich, den Anstoß zu unterdrücken; in die Tiefe rissen ihn n o t w e n d i g sein eigenes G e w i c h t u n d die in den A b g r u n d f ü h r e n d e N a t u r der Laster, animus, si in iram amorem aliosque se proiecit adfectus, non permittitur reprimere impetum; rapiat illum oportet et ad imum agat pondus suum et vitiorum natura proclivis. N a c h Laktanz soll Seneca in dieser Schrift gesagt haben, die ira sei das Verlangen, U n r e c h t zu rächen: ira est cupiditas ulciscendae iniuriae aut, ut ait Posidonius, cupiditas puniendi eius a quo te inique putes laesum (1,2,3 b Reynolds). D a f ü r ist M e d e a ein Musterbeispiel. 3 0 D e r entscheidende Unterschied zwischen der euripideischen u n d der senecaischen H e l d i n liegt darin, daß j e n e die Liebe zu Iason aufgegeben hat, diese sie aber n o c h i m m e r in sich trägt. Medeas Leidenschaft ist qualitativ u n d quantitativ anderer Art als die Medeias. Medeia handelt, so war festzustellen, letztlich blind. Trifft das auch auf M e d e a zu? D e r Stoiker m ü ß t e diese Frage bejahen. N a c h seiner Lehre hat sich der Logos gegen die Affekte zu behaupten, nicht ihnen zuzustimmen oder gar i h n e n zu folgen. I m m e r w e n n sich ein Trieb (ÖQH,T]) im M e n s c h e n regt, 3 1 hat erst der Logos die Z u s t i m m u n g (cnjyxaxddEaig) zu geben, bevor eine H a n d l u n g gestattet ist. Es liegt auf der Hand, daß M e d e a an keiner Stelle versucht, mit Hilfe der R a t i o den Affekten zu steuern. I m Gegenteil: Sie gibt i h n e n nach, e r m u n t e r t sie zu i h r e m Handeln, überläßt sich i h n e n gar. Ihre totale U n t e r w e r f u n g unter sie wertet p o i n tiert die stoische Philosophie u m . Kleanthes bat Zeus, die Inkarnation des Logos, u n d die Vorsehung, ihn dorthin zu führen, w o h i n er gehöre; er werde o h n e Z ö g e r n folgen: 3 2 ayov be p.', 5) ZeO, xai av y f| ji£jiQa>|iEvr|, ÖJioi Kofi' i)[itv £i(n öiaxBxayiXEVos, d>g Eipojiai Y äoxvog.

29 „Of primary importance" sind fur Seneca nach Shelton 1979, 67 „the reasons for the disorder in the soul, and the documentation or dramatization of this disorder." 30 Vgl. Shelton 1979, 67. 31 Vgl. impetus (895). 32 S VF, I, 527.

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Eckard Lefèvre

Medea sagt: ira, qua duds, sequor (953). Im Gegensatz zu Euripides' Medeia unterwirft sich Medea bewußt der Leidenschaft. Sie ist, u m es paradox zu formulieren, sehend blind.

Medeia: Distanz Medeia ist in der ersten Auseinandersetzung mit Iason von kaltem Stolz und entschlossener Rache bestimmt: w JtaYxàxicrte ist ihr erstes (465), der Vorwurf seiner àvavÒQia ihr zweites Wort (466). Er ist für sie der größte Feind, exftiaxog (467), àvaiòeia in ihrer Sicht für ihn bezeichnend (472). Ein Weg zur Versöhnung wird nicht sichtbar. Medeia rechnet Iason ihre Taten für ihn vor, aber nur, u m ihn abzukanzeln. Wenn sie ihn schmäht (ké^aoa xaxcög), erleichtert sie sich (xou(pi(TÜf]ao|aai tyuxr)v, 473-474). Sie schnürt ihn mit ihrer R e d e förmlich ein. Man versteht, daß Iason ihr einen scharfen Verstand (voüg Àejtxóg) vorhält (529). Aber auch Iason ist bemerkenswert kühl. Er ist aktiv und ungebrochen, von ,naivem Egoismus'. 33 Ganz bewußt entscheidet er sich für eine bürgerliche Sicherheit. Weder aus Abscheu vor Medeias kéyoc, noch Verlangen nach der Königstochter oder weiteren Kindern will er wieder heiraten (555—558): Er möchte ganz einfach nicht darben (ajravi'^Ecrdai, 560); das neyiatov ist ihm xcdüjg olxelv (559) — das niedrigste aller Motive. Er ist „an insufferable cad." 3 4 Wie Medeia argumentiert auch er gesellschaftlich, da in seiner Sicht der jtévr|c; von Freunden gemieden wird (561). Medeia und Iason machen es dem Zuschauer schwer, sich für ihre Sache zu entscheiden. Er bleibt zu ihnen lieber auf Distanz.

Medea: Sympathie

Seneca läßt die stoische Lehre nicht in der Konsequenz zum Thema seines Stücks werden, daß er Medeas Handeln an ihr mäße. Es ist daher nicht die Frage zu diskutieren, ob er seine Heldinnen — das gilt auch für viele Helden wie Odipus oder Atreus — aus stoischem Blickwinkel .ablehnt'; es ist nur festzustellen, daß er sie aus stoischem Blickwinkel analysiert. Man darf sogar sagen, daß Medea — auch in Senecas Sicht - .sympathisch' ist, 35 daß ihr Fehlen .menschliche' Züge trägt.

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Maurach (1966) 1972, 305; vgl. auch Heldmann 1974, 175, der von Iasons .arrogantem und aggressivem Egoismus' spricht. 34 Shelton 1979, 64. 35 Vgl. Shelton 1979, 64 und 72.

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Ganz anders als die der euripideischen Vorgängerin ist Medeas erste Rede an Iason. Bei den Kindern und den Taten, die sie für ihn vollbrachte, ja bei Himmel und Wasser, den Zeugen ihrer Hochzeit auf der Insel, 36 bittet sie ihn um Erbarmen, ihn, den Glücklichen, sie, die Hilfeflehende (478—482):

480

per spes tuorum liberum et certum larem, per victa monstra, per manus, pro te quibus numquam peperci, perque praeteritos metus, per caelum et undas, coniugi testes mei, miserere, redde supplici felix vicem.

So spräche Medeia nicht. Es wäre unter ihrer Würde. Medea streckt hingegen die Hand zur Versöhnung aus. An die Stelle der unnahbaren Rächerin ist eine Frau mit .menschlicheren' Zügen getreten. Daß Seneca in stärkerem Maß als Euripides die Frevlerin in Medea betont, steht dazu keineswegs in Widerspruch. Medeia erwähnt ihre Hilfe bei der Gewinnung des Vlieses, den Verrat an dem Vater und Pelias' Tötung (476—487) — vielleicht ist es sogar bezeichnend, daß sie den Mord an Apsyrtos ausläßt 37 —, aber nur, um zu demonstrieren, was sie alles für Iason getan hat. Daß es sich um Untaten handelt, mag impliziert sein, gesagt wird es nicht. Medea spricht dagegen offen von scelera3S — es ist bezeichnend, daß sie den Mord an Absyrtus nicht ausläßt (473) —, aber nur, um das gemeinsame Schuldigwerden der Gatten hervorzuheben. Iason ist bei Seneca ebenfalls .menschlicher' gezeichnet als bei Euripides. Er ist müde und gebrochen, „a weak and timid figure who is frightened of any and every danger." 39 Die ersten Worte sind eine Klage über sein immerfort schweres Schicksal (431-434): O dura fata Semper et sortem asperam, cum saevit et cum parcit ex aequo malam! remedia quotiens invenit nobis deus periculis peiora.

Er will nur seine R u h e haben und läßt sich in die Richtung eines leichteren Schicksals treiben. Seneca hebt bei ihm nachdrücklich den „Abfall von sich selber und die Erschlaffung" hervor. 40 Iason liebt seine Kinder, denen er zu einer besseren Zukunft verhelfen möchte, aber er wird mit den Ansprüchen der fides Medea

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Die Einbindung des Kosmischen ist an dieser Stelle wiederum sehr sinnvoll. Vgl. Page 1938, 108. 38 In ihrer Rede vgl. 474. 39 Shelton 1979, 64. Lawall 1979, 423 nennt ihn „a passive character subject to pressures from outside". 40 Maurach (1966) 1972, 305; vgl. dazu Liebermann 1974, 181 Anm. 100. 37

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Eckard Lefevre

und pietas den Kindern gegenüber (434—438) 41 nicht fertig. 4 2 Im Vergleich zu der egoistischen Aktivität des euripideischen Iason spricht die gebrochene Passivität des senecaischen das moderne Empfinden letztlich mehr an.

Senecas Modernität Medeas Absolutheitsanspruch bestimmt die Modernität ihres Charakters. Jedenfalls steht sie — wie Phaedra — der Neuzeit in ihrer inneren Unbedingtheit näher als die euripideischen Gestalten, die mannigfaltigen äußeren Bedingungen unterworfen sind und Faktor für Faktor eine Rechnung aufmachen, welche für Spontaneität nur begrenzten R a u m läßt. Auch in der Bewußtheit des Handelns zeigt sich ein charakteristischer Unterschied. Nach v. Fritz ist Medeia trotz ihrem B e kenntnis xai [icxv&üvcü |iev ola bgäv ¡IEKAW xaxä (1078) „in ihrer blinden Leidenschaft von der Bewußtheit vieler Shakespearescher Helden weit entfernt." 4 3 D e m gegenüber ist Senecas Medea diesen hierin verwandt. A. Schmitt hat einleuchtend gezeigt, daß sie nicht nur in voller Erkenntnis ihre Leidenschaft bejaht, sondern auch ein bewußtes Verhältnis zu der Bedeutung hat, „die ihre Leidenschaft und ihr leidenschaftliches Tun für sie selbst, für ihre Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung haben." 4 4 Seneca sei in diesem Sinn moderner als Euripides; er stehe der uns seit dem 18.Jahrhundert geläufigen Uberzeugung näher, „daß Gefühl, Wille und Denken seelische Vermögen sind, die einen j e eigenen, voneinander unabhängigen Ursprung haben." 4 5 Formal ist es ein Unterschied, ob ein Philosoph den Menschen psychologisch analysiert oder ob eine literarische Person — wie Medea — das .selbst' tut. Zu leicht entsteht der Eindruck, daß sie ohne Leidenschaft handele, daß sie Rationalist sei. An der rationalen Art des Analysierens ist jedoch bei Medea ebenso wenig Zweifel gestattet wie an der irrationalen Art ihres Tuns. Sie legt sozusagen leidenschaftslos die Leidenschaftlichkeit ihrer Entscheidung dar. Es handelt sich um die rationale Diagnose des Irrationalen: Der stoische Philosoph führt ihre Gedanken. Medeia ist

Vgl. Heldmann 1974, 176. Deswegen darf man aber noch nicht von ,Tragik' bei ihm sprechen wie Zwierlein 1978, 38. Heldmann 1974, 176 betont zu R e c h t , daß es nach Medeas großem Monolog 4 4 7 - 4 8 9 „für Iason keinen wirklichen Konflikt geben darf: die fides bedeutet seine unbedingte Verpflichtung, sich nun ebenso und ohne Einschränkung fiir Medea zu entscheiden, wie sie das unter umgekehrten Vorzeichen fiir ihn getan hat." Medeas Argumentation ist auch Senecas. Zu R e c h t sagt Liebermann 1974, 180—181, Iason gerate Medea gegenüber „völlig in die Defensive" und bestreite Medea das R e c h t „nur in kleinlich-zänkerischer Weise". 4 3 v. Fritz (1959) 1962, 359. 4 4 Schmitt 1994, 582. 4 5 Schmitt 1994, 585. 41

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im Vergleich zu ihr von einer wesentlich ,kälteren' Ratio bestimmt. Sie analysiert genauestens die Umstände ihrer Umgebung im Hinblick auf die eigene Person und leitet daraus ihr Tun in intelligenter Überlegung ab. Demgegenüber liefert sich Medea der Leidenschaft aus; ihre Rationalität beschränkt sich auf die Analyse derselben. Seneca beschreibt Menschentypen, die wie Medea oder Phaedra handeln, in vielleicht gar nicht so lebensfremder Weise. Dieser Typ ist aus allen Bindungen herausgerissen. Für ihn gelten weder die Normen der Polis noch die der Urbs. Es liegt nahe, hierin den Menschen der frühen Kaiserzeit zu sehen, 4 6 für den die politischen und moralischen Traditionen der römischen Vergangenheit keine Geltung mehr haben, der nicht von der res publica, der Allgemeinheit, gehalten wird, sondern auf sich selbst zurückgeworfen ist. So wie Seneca in den Epistulae morales unablässig die Moral des Einzelnen - positiv - bestimmt, beschreibt er in Medea, Iason oder Phaedra den Menschen, der dieser Philosophie nicht folgt. Daß es ihm gut täte, ihr zu folgen, steht nicht zur Debatte. Vielleicht zeigt Seneca sogar Verständnis und bekundet, daß seiner tiefsten Meinung nach viele nicht anders handeln können. Jedenfalls ist nach Maurach Medea „gleichsam das Sinnbild des Menschen überhaupt, der hilflos im Sturme treibt und weiter treibt bis an das Ende, wenn nicht die Philosophie hilfreich herzutritt (ep. 65,16), wenn nicht ein Fortgeschrittener helfend die Hand reicht (ep. 4 8 , 8 f . ) . " 4 7 Man wird sehen müssen, daß die Modernität der Seneca-Tragödie zu einem guten Teil auch aus der Not der Zeit geboren ist. Die stoische Lehre stellt eine extreme Individualphilosophie dar, die in Griechenland nach dem Zusammenbruch der Polis entstand. Sie ist dort offenbar nie so stark in die Dichtung eingedrungen wie im neronischen R o m , wo sie das Epos (Lukan), die Tragödie (Seneca) und die Satire (Persius) bestimmte. Dieser Prozeß wurde durch die politischen Umstände gefördert, die sie zu einer verbreiteten Philosophie werden ließen. Was die Seneca-Tragödie betrifft, hat sie zu einer Verabsolutierung des Individuums gefuhrt, wie sie bis dahin unbekannt war. In dessen Auffächerung exzellierte Seneca wie kein anderer, sie gab er an die Tragödie der Neuzeit weiter. Senecas Gestalten sind durch die Herausnahme aus allen sozialen Bindungen ,offen' im Vergleich zu denen der griechischen Vorbilder, j a ,amorph', 4 8 aber gerade deshalb auch nachahmbarer für spätere Dichter. Es ist konsequent, daß

Vgl. Shelton 1979, 79. Maurach 1972, 314; vgl. auch 3 1 5 - 3 1 6 : „So ist ihre Schuld eine Schwäche, ihre Schwäche aber die des Menschen überhaupt, der gemeinhin wehrlos dem Ansturm der Leidenschaften und des Widrigen ausgesetzt ist." 4 8 Gut bemerkt Shelton 1979, 67, daß sie keine .private lives' haben. 46 47

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Eckard Lefèvre

S e n e c a d u r c h den Verzicht a u f „ r o u n d e d o r realistic c h a r a c t e r s " 4 9 wirkungsvolle M u s t e r bereitstellte. In der hierin liegenden . M o d e r n i t ä t ' 5 0 erlebten die s e n e c a ischen P e r s o n e n eine N a c h w i r k u n g sondergleichen. O h n e sie w ä r e es w o h l nicht zu Schillers Kritik an der T r a g ö d i e des , F r a n z o s e n ' — die zugleich Senecas T r a g ö d i e beschreibt — g e k o m m e n : „Seine M e n s c h e n sind (wo nicht gar H i s t o r i o g r a p h e n u n d H e l d e n d i c h t e r ihres eigenen h o h e n Selbsts) d o c h selten m e h r als eiskalte Z u s c h a u e r ihrer W u t , o d e r altkluge Professore ihrer L e i d e n s c h a f t . " 5 1 E s ist vielleicht keine m ü ß i g e Frage, o b a u c h o h n e Senecas T r a g ö d i e R o b e s pierre in B ü c h n e r s Dantons

Tod ausgerufen hätte: ,Es ist lächerlich, w i e m e i n e

G e d a n k e n einander b e a u f s i c h t i g e n ! ' 5 2

Literaturverzeichnis Costa 1973 Dihle 1977 Diller 1971

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4 9 Shelton 1979, 69, die andererseits die „extremely effective method of exposing the source o f conflict and disorder" hervorhebt. 5 0 Zu dem stilistischen Aspekt vgl. Lefevre 1972, 1 - 9 . 5 1 Unterdrückte Vorrede zu den Räubern (vgl. Lefevre 1978, 57). 52

16.

Römische Tragödie: Senecas Medea Lefèvre 1985b Lefèvre 1986/87 Lefèvre 1990 Liebermann 1974 Maurach 1972

Page 1938 Pötscher 1977 Schmitt 1994

Shelton 1979 Stanton 1987 Szlezàk 1990 Zwierlein 1978

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ANDREAS KABLITZ*

Tragischer Fall und verborgene Wahrheit Torquato Tassos Re Torrismondo

D i e Geschichte v o m K ö n i g Ö d i p u s hat in unserem J a h r h u n d e r t eine w o h l u n e r wartete Aktualität g e w o n n e n . Ihre unverhoffte M o d e r n i t ä t in unseren Tagen ist wesentlich mit d e m N a m e n Sigmund Freuds verbunden, u n d sie bedeutet zugleich den Wechsel des Geschehens von der tragischen B ü h n e des alten Griechenlands z u m Schauplatz der Psyche eines j e d e n . In Freuds D e u t u n g wandelt sich die archaische Erzählung von Vatermord u n d Inzest zur frühkindlichen Gewaltphantasie. O d i p u s ' unwissentlich begangene Verbrechen verschlüsseln n u n eine erwac h e n d e Sexualität, die den andersgeschlechtlichen Elternteil als den potentiellen Partner entdeckt u n d den gleichgeschlechtlichen Elternteil deshalb nur n o c h als Hindernis der W u n s c h b e f r i e d i g u n g w a h r n e h m e n kann. Diesem Hindernis stellt sich ein kompromißloser Behauptungsanspruch entgegen, der den E n t z u g des b e gehrten Objekts u n d die dadurch erfahrene narzißtische K r ä n k u n g mit d e m schieren Vernichtungswillen beantwortet. 1 W e n n es eine verborgene Gemeinsamkeit zwischen d e m archaischen M y t h o s u n d seiner psychoanalytischen Lektüre gibt, dann steckt sie in d e m k a u m weniger mythischen Konzept eines Lebens, das als bedingungsloser Durchsetzungswille in Erscheinung tritt u n d seine N ä h e z u m Prinzip des survival of thefittest nicht verleugnen kann. H i e r wird zweifelsohne ein biologistisches, vitalistisches Stratum in Freuds T h e o r i e erkennbar. D i e u n w i d e r rufliche Verfugung der Götter wird ersetzt durch das Diktat des Lebens, d e m m a n sich genausowenig wie der transzendenten Z u m u t u n g entziehen kann; u n d so

* Der diesem Artikel zugrundeliegende, anläßlich des Augster Symposiums gehaltene Vortrag bildete in einer unwesentlich veränderten Version meine Kölner Antrittsvorlesung vom 6. Dezember 1995. 1 „Und ein solches Moment ist in der Tat in der Geschichte vom König Odipus enthalten. Sein Schicksal ergreift uns darum, weil es das unsrige hätte werden können, weil das Orakel vor unserer Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat, wie über ihn. Uns allen war es vielleicht beschieden, die erste sexuelle Regung auf die Mutter, den ersten Haß und gewalttätigen Wunsch gegen den Väter zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon. König Odipus, der seinen Vater Lai'os erschlagen und seine Mutter Jokaste geheiratet hat, ist nur die Wunscherfullung unserer Kindheit" (Freud 1991, 270).

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tritt folgerichtig an die Stelle einer kollektiven Bestrafung durch die Pest die individuelle, aber ausgesprochen verbreitete Neurose. Indes gibt es eine Facette der Geschichte vom König Odipus, die in Freuds Arbeit an diesem Mythos auffällig profillos bleibt. D e n n die auch von ihm benutzte, Sophokleische Version dieser Erzählung bringt gerade nicht den Frevel u n d seine Vorgeschichte zur Darstellung; vielmehr befördern die auf der B ü h n e in Szene gesetzten Ereignisse erst an ihrem Ende das Unerhörte zutage. Das G e schehen, das der Zuschauer verfolgt, hat eine richterliche, von Odipus selbst geleitete Untersuchung zum Inhalt, die mit der bestechenden Logik eines Prozesses konsequent das Verborgene aufdeckt. 2 So montiert Sophokles im Grunde zwei Geschichten gegeneinander, für die eine j e gegensätzliche Z u o r d n u n g von Vernunft und Zeit charakteristisch ist. D e r Machtlosigkeit des Menschen gegenüber seiner Z u k u n f t korrespondiert seine souveräne Verfügung über die Vergangenheit, und man wird nicht fehlgehen, in diesem Gegensatz das Aufeinanderstoßen zweier kultureller Modelle, einer mythischen u n d einer logischen Wirklichkeitsinterpretation zu vermuten. Es ist übrigens ein sehr ähnlicher Kontrast, den Aristoteles im berühmten neunten Kapitel seiner Poetik als das Kennzeichen der tragischen Handlung beschrieben hat. Zumindest für einen ersten Eindruck ja äußerst verwirrend, verlangt er von ihr, daß sie ebenso wahrscheinlich wie wunderbar zu sein habe. Einsichtiger wird dieses Paradoxon durch die dann folgende Erläuterung: Das wider Erwarten Eintretende solle gleichwohl schlüssig aus dem Vorausgehenden folgen. Dies aber ist in anderer Gestalt noch einmal eine Verbindung von Blindheit gegenüber der Z u k u n f t und Hellsichtigkeit gegenüber der Vergangenheit. Ihre Gegenläufigkeit tritt jedoch nun nicht mehr als ein Konflikt von Mythos u n d Logos in Erscheinung, sondern als Gegenüberstellung zweier h e r m e neutischer Perspektiven, deren zweite die erste korrigiert. In anderen Worten formuliert: Jene mythische Widerständigkeit gegen die Vernunft, welche die O d i pus-Tragödie gerade akzentuiert, ist in der Aristotelischen Theorie dieser Gattung mit den Mitteln derselben Vernunft diszipliniert, u n d wie könnte eine Theorie besser mit ihrem Gegen-Stand umgehen? U m indes zu Freuds Interpretation des Sophokleischen Odipus zurückzukehren: Wenn dessen Gestaltung des Bühnenge-

2

Auf die betreffende Entstellung der Sophokleischen Tragödie durch Freuds Deutung hat Hans Blumenberg hingewiesen: „Aber die Heraushebung dieses Elements trifft weder den Kern des Mythos noch den der Tragödie. Es ist nicht die Art der Schuld, die Odipus im Vatermord und Inzest unwissend auf sich lädt, was diese Konfiguration trägt, sondern die Art ihrer Aufdekkung" (Blumenberg 1990, 100). Freuds Neutralisierung der analytischen Dimension des Dramas scheint mir besonders prägnant in seiner Beschränkung des Mythos auf jene Ereignisse zutage zu treten, welche der Prozeß ans Licht bringt. Die richterliche Untersuchung wird statt dessen auf das Konto „des Dichters" verschoben: „Während der Dichter in jener Untersuchung die Schuld des Odipus ans Licht bringt, nötigt er uns zur Erkenntnis unseres Inneren, in dem jene Impulse, wenn auch unterdrückt, noch immer vorhanden sind" (Freud 1991, 270).

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schehens zur ebenso erfolg- wie folgenreichen Aufdeckung der Vergangenheit in seiner Lektüre merklich farblos bleibt, dann gründet seine mangelnde Aufmerksamkeit für diesen Aspekt der Erzählung möglicherweise auf einem heimlichen Einvernehmen zwischen der Struktur der Tragödie und seiner eigenen therapeutischen Uberzeugung. Hier wie dort gibt es den nachgerade magischen Glauben an die Zugänglichkeit wie die Wirksamkeit der Wahrheit. Ihre Evidenz steht in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Effizienz, nur daß diese Wirkung sich in der Tragödie als Katastrophe, in der Therapie statt dessen als Katharsis, als Heilung zeigt. Aber schon der philosophische Theoretiker der Tragödie, Aristoteles, hatte das Unglück der Akteure in das kathartische Vergnügen der Zuschauer verwandelt. An dieser Stelle also teilt Freud Sophokles' Gläubigkeit gegenüber der Macht der Ratio. Indes ist in der inzwischen jahrtausendelangen Arbeit an diesem Mythos gerade diese Dimension seines Geschehens Anlaß interpretatorischer B e mühungen gewesen, und sie ist im Zuge der hermeneutischen Erschließung dieser Geschichte auch nicht unwidersprochen geblieben. Mit diesem Befund aber kommen wir zum Tragiker Torquato Tasso, der in seiner Adaptation des König Ödipus gerade dem Vertrauen in die Macht wie die Evidenz der zum Vorschein gebrachten Wahrheit eine Absage erteilt hat. Re Torrismondo, König Torrismondo - schon der Titel dieses Stücks zitiert unüberhörbar das Sophokleische Vorbild. In der bezeichneten Hinsicht aber, im Umgang mit dem Konzept der Wahrheit, steht der Analytiker der Jahrhundertwende dem antiken Tragiker näher als der Dramatiker der Renaissance. Diesen fast paradox anmutenden Befund werden wir am Ende zu kommentieren haben, begonnen aber sei mit einem knappen Überblick über j e n e Ereignisse, die Tasso auf die Bühne bringt und die ihrerseits deutlich die Spuren des König Ödipus tragen. 3 Die Handlung spielt weitab von allen mediterranen Gefilden im hohen N o r den, und sie beginnt recht eigentlich damit, daß der Titelheld, König von Got-

3 Tassos erster tragischer Versuch, Galealto re di Norvegia, stammt aus dem Jahr 1 5 7 3 und ist über die erste Szene des zweiten Akts nicht hinausgediehen. II re Torrismondo ist 1586 in Ferrara entstanden. D i e Literaturgeschichte, welche bisweilen von der Literaturkritik nur schwer zu unterscheiden ist, hat Tassos Tragödie nicht eben mit Vorzug behandelt. Dieser weitgehenden Ablehnung steht indes eine durchaus erkennbare Wertschätzung bei den Zeitgenossen gegenüber. Erstmals 1587 erschienen, erlebte der Re Torrismondo bis ins folgende Jahr elf Auflagen (siehe hierzu: Brand 1965, 168). Zustimmung hat die Tragödie vom 16. bis ins 19.Jahrhundert bei vielen Parteigängern des Aristoteles gefunden, welche die Ubereinstimmung des Stücks mit den Prinzipien in dessen Poetik rühmten. Vgl. die Nachweise bei R a m a t 1957, 3 6 5 . Das vorherrschend kritische Bild hat sich unter dem Eindruck wesentlich veränderter ästhetischer Vorstellungen seit dem 19.Jahrhundert herausgebildet. Neuerdings ist eine Tendenz zu einer gewissen Aufwertung zu beobachten. Marzia Pieri etwa hat in Tassos Tragödie eine Korrektur von Fehlentwicklungen der Gattung in der Renaissance entdeckt (vgl. Pieri 1986, 412).

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land, als Brautwerber auftritt. 4 So berichtet es Alvida, die Tochter des Norwegerkönigs, am Beginn des ersten Akts. Torrismondos Freund Germondo, König von Schweden, hat sich in sie verliebt, doch kann er selbst nicht um sie anhalten, weil er einst im Kampf ihren Bruder erschlagen hat und seitdem eine tiefe Feindschaft zwischen beiden Königshäusern besteht. Also hat er sich an Torrismondo gewandt, der den Freundschaftsdienst gern versieht, und natürlich tritt das Erwartete ein. Im irrigen Glauben, daß sie in Torrismondo ihren Zukünftigen vor sich habe, verliebt sich Alvida in ihn. Auch er bleibt für ihre Reize nicht unempfänglich, sie gibt sich ihm hin, und damit nimmt das Unglück seinen Lauf. Zunächst freilich scheint sich ein für alle Betroffenen akzeptabler Ausweg anzubieten. Denn als der verzweifelte Torrismondo von Gewissensbissen um des Treuebruchs gegenüber dem Freund willen geplagt wird und doch von Alvida nicht lassen will, ja es auch nicht mehr könnte, ohne nun ihr die Treue aufzukündigen, da empfiehlt ihm sein Ratgeber eine praktikabel scheinende Lösung. Anstelle von Alvida solle er Germondo seine eigene Schwester Rosmonda zur Frau geben. Sie sei nicht weniger hübsch, ja übertreffe Alvida vielleicht noch an Schönheit, und so werde der Schwedenkönig ebenso rasch wie gewiß in Liebe für sie entflammen. Doch das aussichtsreiche Arrangement scheitert, und dies, weil Rosmonda nicht ist, für wen man sie hält, und ihre wahre Identität bislang verschwiegen hat, um Schlimmeres zu verhindern. Als nämlich die eigentliche Rosmonda auf die Welt kam, da weissagte man dem Vater der Neugeborenen großes Unheil. Sie werde den Tod ihres Bruders verursachen, und um dies zu vereiteln, verfällt der Vater auf einen Kindertausch. Er schiebt seiner Frau ein fremdes Kind unter, während die eigene Tochter in die Fremde geschickt wird. Als Rosmonda ihrem vermeintlichen Bruder das bisher Verborgene nun eröffnet, steht Torrismondo nicht allein vor den Scherben seines Planes, vielmehr beginnt nun eine fieberhafte Suche nach seiner wahren Schwester. Mithilfe einiger Zeugen der damaligen Ereignisse, die schließlich aufgetrieben werden, und nicht zuletzt mithilfe des Zufalls kann sie recht rasch ausfindig gemacht werden: Es ist niemand anderes als Alvida, die vermeintliche leibliche Tochter des Königs von Norwegen, die durch allerlei Verwicklungen dorthin gekommen und an Kindesstatt angenommen worden war. Als Torrismondo sich auf stürmischer See mit ihr einließ, ist es folglich zum Inzest gekommen. Naheliegenderweise sind nun seine Heiratsabsichten dahin, und ihm bleibt nur noch, Alvida Germondo zurückzuerstatten, der ja ohnehin als erster ein Auge auf sie geworfen hatte. Doch als er Alvida, die von ihrer Identität nichts weiß und noch immer in dem Glauben lebt, ihre Hochzeit mit Torrismondo stehe kurz bevor, das

4 Gemeinhin gilt Tassos Plazierung der H a n d l u n g in Skandinavien als Frucht seiner Lektüre der Historia de gentibus septentrionalibus aus der Feder des Bischofs von Uppsala. (Vgl. die Einleitung zum Torrismondo in Tasso 1977, 429.) Die Funktion dieser geographischen .Verfremdung' aber besteht zweifelsohne in einer Steigerung der Wahrscheinlichkeit der dargestellten H a n d l u n g durch räumliche Distanzierung.

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nun offenbar Gewordene eröffnet, schenkt sie ihm keinen Glauben. Sie vermutet dahinter nichts anderes als die Ausflüchte eines ihrer überdrüssig gewordenen Liebhabers, der sie loswerden möchte; und weil sie einen solchen Verrat nicht ertragen kann, nimmt sie sich das Leben. Durch den Selbstmord seiner soeben als solche erst entdeckten Schwester zutiefst getroffen, entleibt sich auch Torrismondo an ihrem Leichnam. Am Ende bleibt es Germondo nur noch, die Mutter der beiden, die Königin der Goten, die ihre Tochter im selben Moment gewinnt und verliert, von einer gleichen Tat abzubringen. Weiß Gott ein schauerliches Geschehen, das jedenfalls an seinem Ende einer Tragödie alle Ehre macht, auch wenn die Händel, von denen der Beginn der Handlung berichtet, zu dieser Gattung nicht recht zu passen scheinen. Spätestens mit dem Auftritt der Rosmonda aber und der Erzählung ihrer wahren Herkunft ist unverkennbar das Vorbild des Ödipus zitiert. Auch in Tassos Torrismondo wird der Neugeborenen die Schuld am Tod eines Angehörigen prophezeit, auch hier kommt es dazu ebenso wie zum gleichfalls stattfindenden Inzest gerade durch die Versuche, dem drohenden Unheil zu entkommen. Neben diesen offenkundigen Gemeinsamkeiten lassen sich freilich auch gewichtige Unterschiede bemerken, indes soll uns zunächst nicht diese Verwandlung des Sophokleischen Ödipus in Tassos Re Torrismondo interessieren, sondern eine andere Folie dieses Textes, näherhin seine Beziehung zur Aristotelischen Poetik. Vor allem diese Frage hat die Forschung beschäftigt, und sie hat — wie üblich — kontroverse Antworten gefunden. Eine weitgehende Ubereinstimmung des Re Torrismondo mit den Präzepten der Poetik liegt an sich nahe bei einem Autor, der gemeinhin als überzeugter Aristoteliker gilt und diesen R u f im besonderen seinem epischen Hauptwerk, der Gerusalemme liberata, verdankt. Mit ihm hat er den verwilderten R o m a n z o der italienischen Renaissance auf das Anspruchsniveau eines regelkonformen antiken Epos gebracht und ist dabei auch den Aristotelischen Vorgaben für diese Gattung recht präzise gefolgt. So ist es nur wahrscheinlich, daß Tasso auch eine Tragödie Aristotelischer Observanz verfaßt hat. 5 U n d doch ist die weitgehende Abhängigkeit der Tragödie von der Poetik des Stagiriten auch bestritten worden. Zumal das Interesse, dem Re Torrismondo eine zeitgenössische Aktualität zu verschaffen, hat in dieser Tragödie einen ganz unaristotelischen Manierismus und in der ihr bescheinigten fundamentalen Ambiguität die Symptome einer Krise entdecken lassen, welche das Stück zugleich zum Ausdruck bringe. 6 Eine entscheidende Wende

5 So bescheinigt auch das Urteil der Zeitgenossen Tasso eine solche Ubereinstimmung mit den Prinzipien der Poetik. Vgl. hierzu Anm. 3. 6 Maßgeblich für eine solche Interpretation ist die Deutung Ramats geworden; siehe im b e sonderen R a m a t 1957, 4 0 9 ff. Dieser Linie folgt auch noch Ariani 1974; vgl. etwa S. 2 3 4 die Einschätzung des Torrismondo als D o k u m e n t eines Ubergangs vom Klassizismus zum Manierismus. Kennzeichnend für Arianis Deutung erscheint mir die Verwandlung des kritischen Befunds eines stilistischen Ablösungsprozesses in ein zeitgenössisches Krisenbewußtsein (vgl. etwa S. 244),

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hat dieser Debatte zu Beginn der achtziger Jahre in einem flir das Verständnis des Texts nach wie vor grundlegenden Aufsatz Gerhard R e g n gegeben. 7 W i e ihm zu zeigen gelungen ist, läßt sich der Aristotelismus des Torrismondo erst dann angemessen beurteilen, wenn man ihn als Antwort auf die umfänglichen Diskussionen versteht, die sich im Cinquecento um das rechte Verständnis wie die Geltung der Poetik im allgemeinen und ihrer Tragödientheorie im besonderen entwickelt haben. Strittig etwa ist das moralische Profil des tragischen Helden, strittig ist vor allem die Katharsis-Lehre, bei der sich sozusagen ein allopathisches und ein h o möopathisches Lager gegenüberstehen. 8 Der Streit entzündet sich bekanntlich an der Funktion eines Genitivs, dessen Bezug über die Qualität der Reinigung entscheidet. Die Allopathen, entschiedene Moralisten, beharren darauf, daß die Katharsis der Tragödie von jenen Affekten befreien soll, die das Unglück der B ü h nenfiguren verursachen. Die — wohl Aristoteles näheren — Homöopathen halten dagegen daran fest, daß die Tragödie von j e n e m Schaudern und jener Betroffenheit befreien soll, die durch das Geschehen ausgelöst werden — gewissermaßen als Schule der Ataraxie. Eine besondere Hartnäckigkeit zeichnete diese Kontroverse nicht zuletzt deshalb aus, weil gleich die beiden ersten großen Poetik-Kommentare der Jahrhundertmitte, die den Aufstieg dieser Schrift zu einer Norminstanz für die Literatur des Cinquecento besiegeln, j e gegensätzliche Positionen beziehen. Während Vincenzo Maggi die Katharsis als eine Reinigung von moralisch schädlichen Affekten deutet, 9 sieht Francesco Robortello in ihr die Befreiung von eben jenen Affekten am Werk, die als Reaktion auf ein schauderhaftes Geschehen erst entstehen. 10 W i e R e g n scharfsichtig demonstriert hat, ergreift Tasso in all diesen Streitfragen Partei, und er ergreift sie stets im Sinne Aristotelischer Orthodoxie. 1 1 Er macht das zeitgenössisch Kontroverse in seinem Re Torrismondo selbst thematisch und entscheidet diese Debatte mithilfe des Bühnengeschehens. 1 2 U m dies an

welche Identifikation freilich die Gefahr einer Verwechslung zweier hermeneutischer Ebenen mit sich bringt. Der Manierismus-These folgt gleichermaßen Scrivano 1980, hier S. 2 4 7 . 7 R e g n 1983. 8 Zu einer Darstellung der Debatte über die Aristotelische Katharsis-Lehre vgl. Hathaway 1962. 9 Maggi/Lombardi 1550, 97 f. 1 0 Robortello 1548, 53. 11 Schon C.P. Brand hatte die poetologischen Kontroversen des 16.Jahrhunderts als einen Horizont von Tassos Tragödie und als Plädoyer für Aristotelische Orthodoxie verstanden (vgl. Brand 1965, 172). Regns Artikel ist es gelungen, im subtilen Aufweis der intertextuellen Struktur des Torrismondo die Präsenz der theoretischen Diskussion im Geschehen dieses Dramas selbst nachzuweisen, seine histoire also als Form poetologischer Auseinandersetzung zu beschreiben. 1 2 W i e R e g n überzeugend nachgewiesen hat, stellt sich der Schluß des Torrismondo sehr weitgehend als ein Plädoyer für Robortellos lectio der Aristotelischen Katharsis-Lehre dar, das zugleich die zwischen beiden Lagern vermittelnde Position Piccolominis einzubeziehen versucht. Vgl. hierzu R e g n 1983, 143 ff. Piccolominis Bemühen um einen Kompromiß zwischen Allopathen und Homöopathen ordnet jeweils der Reinigung von terror und compassio weitere Affekte wie

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einem weiteren Beispiel zu erläutern: Als den Titelhelden nach seiner Nacht mit Alvida existentielle Selbstzweifel überkommen, exponiert ihm sein Ratgeber die Natur seines Vergehens. Zwar habe er unbeherrscht und deshalb fehlerhaft, aber nicht aus Bosheit gehandelt, ein offenkundiges Bemühen, im Namen der Nikomachischen Ethik an der Person des Torrismondo den mittleren Helden zu definieren: weder makellos noch verworfen. 13 In vergleichbarer Weise wird auch andernorts die Debatte um die Poetik in das Bühnengeschehen geholt und stets im Sinne des Stagiriten entschieden. An Tassos Bemühen um Aristotelische Obödienz für seine Tragödie kann nach Regns überzeugender Interpretation kein vernünftiger Zweifel mehr bestehen. Indes scheinen mir gerade die von ihm so hellsichtig herausgearbeiteten Strategien zur Befestigung Aristotelischer Orthodoxie zumindest in einer, gleichwohl in einer entscheidenden Hinsicht die Zielsetzungen der Poetik zu unterlaufen; und hinter dieser Diskrepanz zeichnet sich möglicherweise ein grundsätzliches Dilemma humanistischer Aneignung dieser Schrift ab. Indem Tasso den Text der Poetik zum Thema macht, gerät sie zum Zitat. Diese Verwandlung ihrer Theorie in einen — um es mit einem Begriff unserer Tage zu sagen — Intertext aber bringt für die Struktur des Re Torrismondo erhebliche Konsequenzen mit sich. So gilt es etwa zu klären, ob die auf die Bühnenrede verschobenen und gerade dadurch bekräftigten Präzepte der Poetik gleichermaßen strukturell verbindlich bleiben oder ob jenseits dieser ausdrücklichen Befestigung ihrer Autorität nicht ein Freiraum für anderweitige strukturelle Muster entsteht. Diese Frage ist um so virulenter, als mit dem Begriff der Autorität zugleich eine Bedingung der Geltung der Poetik bezeichnet ist, die ihrer Theorie im Grunde widerspricht. Aristoteles' heimliche Polemik gegen das 10. Buch der Platonischen Politeia rechtfertigt die dort verworfene Tragödie mit der Faktur ihrer Geschichten. Tragische Mimesis wird legitim, weil sie die dargestellte Handlung einer logischen Struktur unterwirft, die ihren philosophischen Vorrang gegenüber der Geschichtsschreibung, gegenüber einer bloßen historia der kontingenten res gestae begründet. Aristoteles' Theorie impliziert so etwas wie einen stillschweigenden Konsens zwischen den Prinzipien seiner Theorie und den Eigenheiten ihres Gegenstands; und was beide zusammenbindet, das ist die ganz unstrittige Geltung des Logos. So entwickelt der Stagirite eine Philosophie der Tragödie, die selbst philosophischer Natur ist, und die Struktur dieser Tragödie repräsentiert zum anderen nun jenen Logos, in dessen Namen Aristoteles der Platonischen Vertreibung der Dichter aus dem idealen Staat eine Absage erteilt. Insofern erscheint das strukturelle Muster,

indolentia, superbia oder ira als Gegenstand der Katharsis zu. Vgl. Piccolomini 1575, lOOff. Z u dieser Position vgl. R e g n 1983, 128. 13 Vgl. I, 3, V. 395 ff. Z u r Unterscheidung von Unbeherrschtheit und Boshaftigkeit als Triebfedern des Lasters vgl. den Beginn des siebten Buches der Nikomachischen Ethik. Z u r betreffenden Interpretation der Szene aus Tassos Torrismondo siehe R e g n 1983, 138—143.

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das die Poetik vorschreibt, zugleich als die selbstreferentielle, ja die zirkuläre Selbstbegründung dieses Musters, das seine eigene Legitimität aus dieser Repräsentation des Logos gewinnt. Eine solche Rechtfertigung der gattungstypischen Struktur wie der sie begleitenden Theorie durch ihre wechselseitige Implikation aber m u ß unweigerlich dort ausfallen, wo diese Theorie zum Zitat wird und ihre Geltung sich auf die Autorität ihres Verfassers stützt. N u n tritt an die Stelle der selbstreferentiellen Legitimation des strukturellen Musters die Frage nach den Machtverhältnissen zwischen vorfmdlichen Diskursen. Die Poetik wandelt sich zur intertextuellen Folie; sie steht damit notgedrungen in Konkurrenz mit anderen Intertexten und büßt in dieser Rivalität gegenüber ihren Konkurrenten eine gewissermaßen natürliche Überlegenheit ein. W i e dieser Statuswandel der Theorie der Poetik nun in der Tat auch den Schwund ihrer Autorität mit sich bringt, sei im folgenden für Tassos Re Torrismondo demonstriert, u n d dieser Geltungsverlust wird sich zumal anhand eines Kernstücks der Poetik, anhand des Postulats der Einheit der H a n d lung beobachten lassen. Die latente Negation der Aristotelischen Theorie und ihrer Implikationen aber geht zugleich einher mit einer Absage an die zweite konstitutive Folie dieser Tragödie, einer Absage an den Sophokleischen König Odipus. D e n n Tassos Torrismondo zitiert auch ihn kaum weniger demonstrativ als das Lehrwerk des Stagiriten, u m ungeachtet dessen seine Prämissen recht entschieden in Frage zu stellen. Diese Verwandlung der Odipusgeschichte beginnt bei ihrer Verknüpfung mit Ereignisketten anderweitiger Herkunft und Art, ja ihr mythisches Substrat wird in gewissem Sinne marginalisiert. So ist bezeichnenderweise diesmal nicht das ausgesetzte Kind der Hauptakteur des Geschehens, vielmehr wird Alvida zum bloßen Opfer von Verwicklungen, an denen sie selbst kaum Schuld trägt. Die abgründige Vergangenheit entwickelt denn auch nicht aus sich heraus ihr zerstörerisches Potential, u m etwa in Gestalt einer Pest auf sich aufmerksam zu machen, sondern sie wird erst infolge anderer Machenschaften virulent. Zugleich ist diese Vergangenheit in einer Hinsicht entschieden weniger abgründig als bei Sophokles, verbirgt sie doch nun nicht den Frevel eines Inzests, denn er gehört erst der Gegenwart an. Diese zunächst handlungstechnischen Umstellungen bei Tasso aber werden sich als Symptom einer tiefgreifenden Umbesetzung der semantischen Koordinaten der altgriechischen Tragödie erweisen, und diese Veränderung betrifft vor allem das für sie zentrale Konzept der Wahrheit. Wahrheit ist bei Tasso anders als bei Sophokles nicht mehr wesentlich in einer Opposition von Latenz und Evidenz aufgehoben. Wahrheit wird vielmehr moralisiert u n d in einem G e gensatz von Aufrichtigkeit und Täuschung untergebracht. Konsequent wandelt sich auch die Semantik der Zeit. Vergangenheit ist nun nicht mehr der Abgrund eines Frevels, der unwissentlich als Folge des Widerstands gegen das von den Göttern Verfügte begangen wird. Sie gehört vielmehr einer paradigmatischen Struktur der Verunsicherung von Gewißheit zu, denn sie ist durchsetzt mit den höchst bewußten Täuschungen derer, die sich mit ihrer Hilfe einen Vorteil ver-

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schaffen wollen, und aus den Verkettungen solcher Täuschungsmanöver erwächst schließlich eine Opazität, in der die Wahrheit selbst ihre Evidenz verliert. Was das Geschehen der Tragödie Tassos in Gang setzt und hält, das sind Strategien der Bedürfnisbefriedigung, das ist eine Logistik der Affektregulierung, u n d im besonderen bestimmen zwei Faktoren das Geschehen: Begehren und Gewalt. Bedeutung gewinnen sie in Gestalt ihrer symbolischen Repräsentation: als Liebe u n d Macht. Die Formen ihrer Kodierung hat Tasso nicht aus der antiken Tragödie und auch nicht aus anderer antiker Literatur bezogen, sie sind vielmehr Restbestände jener mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Tradition, in welcher der Lyriker wie der Epiker Tasso sich bestens auskannte. Die Semantik des Eros ist unverkennbar Petrarkischer Prägung, u n d die Gewaltregulation gehorcht d e m Kodex der Ritterethik. Aus ihnen entwickelt nun der Tragiker Tasso das energetische Potential der Handlung des Re Torrismondo, u n d aus ihren Verwerfungen entwikkelt er die finale Katastrophe. Z u r typischen Signatur eines petrarkischen oder petrarkistischen Eros gehört der Zwiespalt des Liebenden zwischen seinem Begehren u n d den Ansprüchen der ethischen N o r m , die dieses Begehren verwehrt. In einem solchen Zwiespalt findet der Zuschauer am Beginn der Handlung gleich zwei der ineinander verliebten Akteure: den Titelhelden Torrismondo und die zunächst für den Freund geworbene Alvida. 14 Ungeachtet dieser nicht zuletzt durch die Fülle petrarkischer Zitate markierten Prägung ihrer Liebe aber ergeben sich zugleich durchaus gewichtige Unterschiede gegenüber dem lyrischen Modell. D e n n dort gerät das abstrakte moralische Gesetz in Konflikt mit dem Begehren, nun sind es individuelle Verpflichtungen, welche die ungestörte Hingabe an die Freuden Amors behindern. Die narrative Konstellation konkretisiert den abstrakten Konflikt mittels einer Vorgeschichte. Torrismondo fühlt sich ebenso zu Alvida hingezogen, wie er durch die Treuepflicht gegenüber d e m Freund an der Erfüllung seiner W ü n s c h e gehindert wird. Aber auch die Geliebte selbst kann ihres neuen Glücks nicht recht froh werden, weil sie mit ihrem Einverständnis zu ihrer Liebe ein Versprechen gegenüber dem Vater gebrochen hat, dem sie einst gelobte, sich nur dem hinzugeben, der zuvor den Tod ihres Bruders gerächt hat. 1 5

14 In unverkennbar petrarkisierenden Wendungen, die an das erste Sonett des Canzoniere anklingen, schildert etwa Alvida ihr Verhalten gegenüber Torrismondo: „Io del piacer di quella prima vista/ cioe presa restai, ch' avria precorso/ il mio pronto voler tardo consiglio,/ se non mi ritenea con duro freno/ rimembranza, vergogna, ira e disdegno" I, 1, V. 82-86; Tasso 1977, 436. Zu entsprechenden Formulierungen Torrismondos vgl. I, 3, V. 32ff. 15 Für die tragische Faktur der Handlung nicht ganz unwesentlich sind die Motive, aus denen Alvidas verhängnisvolle Zuneigung zu dem nur vermeintlich ihr zugedachten Ehemann entsteht. Bezeichnenderweise ist es nicht seine äußere Erscheinung, welche den Affekt erzeugt, sondern es sind sehr markiert ethische Werte, welche die Liebe verursachen: „onde mi piacque/ tanto quel suo magnanimo sembiante/ e quella sua virtü per fama illustre,/ ch' obli'ai quasi le promesse e l'onta", I, 1, V. 6 6 - 6 9 ; Tasso 1977, 435. Zumindest der erste der beiden genannten Beweg-

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Diese Verwandlung des Konflikts zwischen Begehren und abstraktem ethischen Anspruch in die Konkurrenz zwischen individuellen Bindungen verschlüsselt zugleich eine soziale Komplexität von Verhältnissen, welche die sie regulierenden abstrakten Kategorien der Moral auf eine harte Probe stellen und letztlich ihre Defizite bloßlegen. Dies gilt etwa für die Kategorie der Freundschaft. Wahre amicitia verlangt eine vollkommene Gemeinsamkeit, sie fordert kompromißlose wechselseitige Unterstützung, und insofern ist es nur richtig, wenn Torrismondo um seiner Freundschaft zu Germondo willen ihm das gewährt, worum dieser ihn bittet, und er an seiner Statt um Alvida freit. Doch dieses zum einen höchst moralische Verhalten hat eine Kehrseite, und diese Kehrseite besteht in einem glatten Betrug. Denn dem Freund zu Gefallen kann Torrismondo nur sein, wenn er Vater und Tochter hintergeht und ihnen verheimlicht, daß er nicht für sich selbst, sondern für einen anderen, ja für einen Todfeind um die Braut anhält. Nicht allein macht diese Ambivalenz Torrismondos Handeln zu einem Kasus, auffällig sind auch die Verkettungen von Konflikten, die durch den ersten Betrug entstehen. Daß der Titelheld schließlich selbst in die R o l l e schlüpft, die eigentlich für Germondo vorgesehen war, mag als ein Betrug an dem Freund erscheinen, gegenüber Alvida indes korrigiert er damit seine anfängliche Täuschung und verhält sich zu ihr so, wie sie es seinen — lügnerischen — Worten zufolge annehmen mußte. Die Verkettung der Konflikte zeigt sich schließlich auch daran, daß eine einmal durch Täuschung verursachte Situation nicht reversibel ist. Nachdem sich Torrismondo mit Alvida eingelassen hat, kann er sie seinem Freund als Braut nicht schlicht zurückerstatten, denn mit dem Verlust ihrer Jungfräulichkeit hat sie an persönlichem Wert eingebüßt, und so bliebe der einmal begangene Treuebruch als ein fortbestehender Makel dieser Verbindung zurück. 16 Gerade hier wird eine Struktur erkenntlich, die für die Handlungswelt dieser Tragödie entscheidende

gründe flihrt die Wirkung der Erscheinung auf eine klassische Tugend zurück, die magnanimitas, welche die Nikomachische Ethik gar als einen „Schmuck der Tugenden" definiert. Selbst die „virtü per fama illustre" macht eine physische Überlegenheit geltend, die Gegenstand sozialer Anerkennung ist. So bildet zumindest auf Seiten Alvidas nicht etwa bloß körperliche Attraktivität die Ursache eines schon um seines Objekts willen perversen Begehrens, sondern es sind ganz unstrittig moralische Werte, die gleichwohl eine folgenreiche und allein um ihrer verhängnisvollen Konsequenzen willen schon diskreditierte luxuria hervorrufen. Damit negiert der Verlauf der hier auf die Bühne gebrachten Geschichte im Grunde auch jene Strategie der Rationalisierung des Eros, welche dem Versuch selbst zugrundeliegt, das Begehren als Folge der moralischen Perfektion der Person zu beschreiben, auf die es sich richtet. Das ehrbare Motiv der Liebe zeitigt gleiche Folgen wie ein weniger ehrbares, und so nivelliert diese Geschichte alle Differenzen, welche die Semantik des Eros eingeführt hat, um nichts als das zerstörerische Potential einer luxuria zurückzulassen, die unbeschadet der Unterschiede ihrer Entstehung stets nur Unglück erzeugt. Bewirkt aber wird diese Nivellierung durch die .Störung' der abstrakten Systematik durch eine ihr selbst äußerliche Vergangenheit, durch eine Vorgeschichte. Die aus ihr erwachsenden Verwicklungen machen die systematischen Oppositionen zunichte. 1 6 Vgl. I, 3, V. 4 8 0 ff.

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Bedeutung besitzen wird: Komplexität ist wesentlich ein Effekt von Täuschung, aber Täuschung ist auch das Mittel, um der Komplexität Herr zu werden. Im Konflikt zwischen dem Verlangen nach Alvida und der Behinderung seiner Rolle als Bräutigam durch die Todfeindschaft mit dem Königshaus der Norweger hat ein Betrug zu vermitteln, doch zugleich stellt sich die Frage, ob nicht dieser Konflikt seinerseits erst durch eine Täuschung entstehen konnte. Denn in Alvida verliebt hat sich Germondo, als er zu einem Turnier nach Norwegen kam, das er selbstredend als glanzvoller Sieger verließ. 17 Aber weil er nicht erkannt werden durfte, hat er — im wörtlichen Sinne — nicht mit offenem Visier gekämpft. Auch hier also steht das Verbergen der Wahrheit an der Wiege der sich nun entwickelnden Schwierigkeiten. Germondos Auftritt als unerkannter Turnierritter fuhrt zugleich zur zweiten der Kategorien, die das Geschehen dieser Tragödie bestimmen: zur Gewaltregulierung als Demonstration von Macht und Überlegenheit. Es war der Drang, sich als Sieger zu behaupten, der Germondo in feindliches Land geführt hat. Ein sehr ähnlicher Versuch, seine Überlegenheit unter Beweis zu stellen, war aber letztlich auch die Ursache fiir den Tod des norwegischen Königssohnes. Der Vater selbst hat an ihm nicht geringe Schuld. Denn zur Unterstützung der Dänen im Krieg gegen die Schweden, an denen er sich seit langem für erfahrene Schädigung rächen will, schickte er in strahlender Rüstung den noch jungen, unerfahrenen Kämpfer gegen eine feindliche Übermacht ins Feld. 18 Diesen Zusammenhang beleuchtet im übrigen ein scheinbar kontingentes Detail. Der ausgesprochen kalkulierte, weil höchst symbolische Zufall will es, daß der Tag, an dem der Thronfolger geboren wurde, zugleich der Tag der Thronbesteigung des Vaters ist. Just an diesem Tag hat denn auch Alvida alljährlich ihr Gelöbnis zu wiederholen, allein den Rächer ihres Bruders zum Mann zu nehmen. 1 9 Das kalendarische Arrangement aber ist unverkennbar sprechend: Das Zusammentreffen der verschiedenen Ereignisse markiert die schicksalhafte Verknüpfung zwischen dem Leben des Sohnes und der Macht des Vaters, welche dem Erben zum Verhängnis werden sollte. Denn der Besitz dieser Macht erzeugt einen unbändigen Willen zu ihrer Behauptung und Erweiterung, der bedenkenlos über alle Gefährdungen hinwegsieht. Z u mal die Verwandlung der „pompa" des Krönungstages in eine „pompa funèbre" erscheint in dieser Hinsicht signifikant. Das Verlangen nach einer Überlegenheitsdemonstration also verursacht den Leichtsinn des Vaters gegenüber seinem Sohn, den er unbedacht in die absehbare Katastrophe schickt und damit auch die eigene

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Vgl. III, 6, V. 87 ff. Vgl. III, 6, V. 44ff. 19 Zu diesem Zusammenhang vgl. I, 1, V. 75—79: „e '1 confermai nel di solenne e sacro/ in cui già nacque e poi con destro fato/ ei prese la corona e '1 manto adorno,/ e ne rinova ogni anno e festa e pompa,/ che quasi diventò pompa funèbre." Tasso 1977, 435. 18

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Niederlage herbeiführt. Hinter dem H a ß auf G e r m o n d o verbirgt sich letztlich ein Unterlegenheitskomplex. Ein sehr ähnliches Machtbedürfnis zeigt auch der Gotenkönig, als man ihm bei der Geburt seiner Tochter weissagt, sie werde schuldig am Tod ihres Bruders werden. D e n n nicht der Verlust des Sohnes ist es, der den Vater bekümmert, sondern der damit verbundene Verlust der Königsgewalt für sein Haus löst sein eigentliches Erschrecken aus. Diesem Unglück sucht er zu wehren und verfällt deshalb auf den seiner Frau verheimlichten Kindertausch. 2 0 Wieder m u ß ein Betrug herhalten, u m dem Machtbedürfnis Genüge zu tun. So entfaltet Tassos Tragödie auch eine Psychologie der Macht, welche ihren Besitz in eine obsessionelle Sorge u m ihren Erhalt verwandelt, eine Sorge, die schließlich nichts als Unglück u n d Zerstörung hervorbringt. 2 1 Selbstdarstellung und Demonstration der eigenen Überlegenheit als Movens des Geschehens aber verschlüsselt nicht zuletzt die Sprache dieser Tragödie. Kein Kommentar versäumt es, die Fülle der petrarkischen Zitate zu vermerken, die in der R e d e der Personen stecken. Ihr Sprechen n i m m t sich sehr weitgehend wie eine petrarkistische Montage von Versatzstücken des Canzoniere aus, und es fiele nicht schwer, den Katalog der Herausgeber des kritischen Apparats noch u m m a n chen weiteren Fund zu ergänzen. D o c h mit dem Befund dieser Zitatstruktur selbst ist für die D e u t u n g des Stücks wenig gewonnen. 2 2 Ihren eigentlichen Effekt erzielt diese Sprache durch ihr durchaus nicht selbstverständliches, ja im G r u n d e höchst prekäres Verhältnis zur Struktur eines Dialogs. Petrarcas lyrische Sprache ist wesentlich Affektrepräsentation, sie ist damit auch wesentlich monologische R e d e , und diese Eigenart bleibt nicht ohne Folgen für die Struktur des auf der B ü h n e

20 Von Torrismondo nach den Motiven befragt, die seinen Vater z u m Kindertausch bewogen haben, nennt R o s m o n d a ganz ausdrücklich die Angst vor d e m Machtverlust (IV, 3, V. 141-143): „Torrismondo: Qual timore, e di che? R o s m o n d a : D'aspra Ventura,/ che '1 suo regno passasse ad altri regi" Tasso, 1977, 516. 21 Die H e r k u n f t dieser Psychologie der Macht ist unverkennbar Augustinisch. Sie gehört b e i m Kirchenvater selbst zu den Argumenten, mit deren Hilfe er die Existenz irdischer Macht b e g r ü n det. Solche Macht ist für ihn erst als Folge des Sündenfalls in die gefallene u n d ihrer gerechten Strafe zugefiihrten Welt g e k o m m e n . Ursprünglich herrschte der Mensch über seine Seele u n d Gott über den Menschen. Weil aber dieser Mensch sich der natürlichen Hierarchie nicht fugen wollte u n d die überlegene Funktion seines Schöpfers für sich beanspruchte, w u r d e er zur Strafe seinesgleichen unterworfen. Aber auch der solchermaßen mit Macht ausgestattete Fürst durfte seiner Herrlichkeit nicht froh werden, u n d so peinigt ihn unablässig eine perverse Sorge u m den Bestand seiner Macht, welche schlimmer ist als alle Sklaverei (vgl. Augustinus, De civitate Dei, X I X , 13). Diese Augustinische Psychologie der Herrschaft gehört z u m festen Repertoire der frühneuzeitlichen Tragödie. Unverkennbar wird sich etwa der Augustus in Corneilles Cinna in ihren Kategorien seiner prekären Situation b e w u ß t (vgl. II, 1, V. 357ff.). 22 E. Minesi hat eine Verknüpfung dialogischer, narrativer und lyrischer M o m e n t e in der Sprache des Torrismondo festgestellt (Minesi 1980, 81). D o c h dieser rhetorische intreccio ist semantisch relevant.

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geführten Gesprächs. Personenrede ist hier zu erheblichen Teilen Selbstdarstellung, eine gar nicht enden wollende Exposition von Befindlichkeiten, in denen das Geschehen selbst seine Wirkung wie seine Bedeutsamkeit erst zu gewinnen scheint. Selbstdarstellung aber ermöglicht Petrarcas lyrische Rede noch im zweiten Sinne dieses Begriffs: Sie ist das Vehikel einer Selbstinszenierung, der auch die noch so große Schädigung und das noch so große Leid zum Anlaß der Stilisierung eigener Außergewöhnlichkeit dient. Dafür sei wenigstens ein Beispiel angeführt. Am Ende der Tragödie ist Germondo zweifelsohne ein vom Schicksal Gebeutelter. Er hat die erhoffte Frau ebenso wie den Freund durch ihren Freitod verloren, er hat insofern allen Anlaß zur Klage. Aber sein Jammer fällt zum anderen wieder so maßlos aus, daß dahinter kaum anderes als das Bemühen erkennbar wird, nun wenigstens in seinem Unglück ein einzigartiger zu sein: „la speranza d'ogni mia gloria e d'ogni mio diletto" (V, 5, V. 78), Hoffnung auf allen R u h m und alles Vergnügen habe er verloren, und diese beiden Worte bezeichnen mit einer gar nicht zu überbietenden Prägnanz die beiden Faktoren, die das gesamte Geschehen bestimmen. Es sind zweifelsohne recht eigennützige Zielvorstellungen, deren Scheitern der unglückliche König nun beklagt, um so auffälliger muß es sein, daß er für den individuellen Verlust eine geradezu kosmische Reaktion verlangt: Perdere ancora il cielo il sol devrebbe, e '1 sole i raggi, e la sua luce il giorno, e per pietà celar l'oscura notte il fallo altrui co '1 tenebroso manto. 2 3

Der Himmel müsse seine Sterne, die Sonne ihre Strahlen und der Tag sein Licht verlieren, um das Vergehen der Menschen in der Nacht zu verbergen. Petrarcas Leser erkennen hinter diesen Zeilen unschwer den Beginn des dritten Sonetts des Canzoniere, das vom Tag der ersten Begegnung mit Laura berichtet, einem Karfreitag, der mit der Periphrase der sich verdunkelnden Sonne bezeichnet wird. 24 Doch diese Finsternis antwortet in der Tat auf den Gottesmord, und so ist eine kaum versteckte Anmaßung, eine gleiche, die ganze Welt erfassende Wirkung für das eigene Unglück zu reklamieren. Diese Dramatisierung des eigenen Unglücks zur außergewöhnlichen und damit noch immer das Ich auszeichnenden, über die anderen erhöhenden Qual aber setzt zugleich die unablässige Klage jenes petrarkischen Liebenden fort, der sein eigenes Leiden als den Gipfel menschlichen Ungemachs in Szene setzt. Personenrede ist in Tassos Tragödie über weite Strecken eine Selbstdarstellung, und damit bewahrt sie das Erbe einer ihrem Wesen nach monologischen lyrischen Sprache, einer selbstbezüglichen, wo nicht narzißtischen Rede, die per definitionem zum Dialog nicht taugt.

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Tasso 1977: V, 5, V. 80-83., S. 546. Petrarca, Canzoniere, III, V. 1—4: „Era il g i o r n o ch'ai sol si scolorare/ per la pietà del suo factore i rai,/ q u a n d o i' fui preso e n o n m e ne guardai,/ ché i bei vostr' occhi, donna, mi legaro" (Petrarca 1982, 5). 24

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So stoßen wir auch in den Eigenheiten der Sprache dieser Tragödie auf j e n e Struktur, die ihr Geschehen determiniert. H a n d e l n ist wesentlich ichbezogene Bedürfnisregulation. Es dient der Befriedigung der Ansprüche der eigenen Person, die sich vor allem i m Verlangen nach erotischem G e n u ß u n d in der B e h a u p t u n g der eigenen Überlegenheit zur Geltung bringt — u n d hinter beiden Ansprüchen werden die U r s o r g e n der Moraltheologen erkennbar: luxuria u n d gloria.25 Dieses ichsüchtige H a n d e l n aber geht zugleich mit einem kategorialen Verlust der W a h r heit einher, weil T ä u s c h u n g u n d Betrug, weil Verschweigen u n d Verbergen die bevorzugten Mittel zur Durchsetzung der eigenen Ziele sind. 2 6 Diese Strategien der T ä u s c h u n g aber werden notwendig, weil alles H a n d e l n i m m e r schon unter den B e d i n g u n g e n einer höchst komplexen Welt stattfindet, deren Komplexität selbst schon als W i r k u n g der Verkettung von anderweitigen Bedürfnisbefriedigungen u n d mit ihnen v e r b u n d e n e n T ä u s c h u n g e n entstanden ist. Komplexität u n d T ä u s c h u n g also werden in dieser dargestellten Welt interdependent u n d verleihen ihrer Struktur damit als solcher eine moralische Signatur. Es ist diese Z u o r d n u n g von Struktur u n d Moral, die zugleich die entscheidende Diskrepanz zu den beiden

25 Getreu einer christlichen Hierarchie der Sünden folgend, welche die gloria als G r u n d aller Verfehlungen bestimmt, scheint auch in dieser Tragödie das Machtbedürfnis als der ursprünglichere Trieb zu fungieren; denn zu seiner Befriedigung läßt sich auch die Liebe einsetzen. So versucht etwa die Königin M u t t e r ihrer vermeintlichen Tochter, welche die ewige Keuschheit preist, die Vorzüge j e n e r Liebe vor Augen zu stellen, mit deren Waffen die Frau einen Sieg über den M a n n davonzutragen vermag, der all seine Erfolge deklassiert (vgl. 11,4, V. 34ff.). Vgl. in diesem Sinne auch das Chorlied am E n d e des dritten Akts. 26 Dieser prekäre Status der Wahrheit äußert sich nicht zuletzt in einer fortwährenden Problematisierung aller substantialistischen R e d e . Z u m einen entlarvt Tassos Re Torrismondo eine solche Sprache i m m e r wieder als bloße Maske höchst eigennütziger Interessen. Dies gilt etwa für den Dialog zwischen der Königin M u t t e r u n d R o s m o n d a in der vierten Szene des zweiten Akts. Beide beschwören hier hehrste Werte, u m letztlich mit diesen unvereinbare Ziele zu verfolgen. D e n n der R e g i n a madre geht es u m nichts anderes als die Absicht, ihre vermeintliche Tochter zur Willfährigkeit gegenüber den Plänen Torrismondos zu bewegen. R o s m o n d a s Ansinnen ist es statt dessen, hinter einer Feier der Jungfräulichkeit nur ihre Liebe zu Torrismondo zu verbergen. Ein Paradestück solch kasuistischer E n t w e r t u n g substantialistischer Sprache ist die nach allen R e g e l n der rhetorischen Kunst gebaute R e d e , mit welcher der Consigliero am Beginn des vierten Akts G e r m o n d o begrüßt u n d mit der er das h o h e Lied der Freundschaft singt, u m den Schwedenkönig für sein Arrangement und den Verzicht auf Alvida zu gewinnen. Das eigentlich Charakteristische einer solchen Subvertierung der betreffenden Sprache aber entsteht in Tassos Torrismondo daraus, daß sie nicht allein durch ihren Mißbrauch für den eigenen N u t z e n zustandek o m m t . Das Geschehen der Tragödie dementiert sie auch dort, w o sie selbstlos und in vollem Vertrauen in die von ihr repräsentierte W e r t o r d n u n g vorgetragen wird. So bietet etwa am Schluß des vierten Akts der C h o r n o c h einmal seine ganz ungebrochene U b e r z e u g u n g v o m finalen Sieg der Tugend auf, doch seine R e d e ist in der H a n d l u n g dieses Stücks ortlos geworden u n d die finale Katastrophe stellt sie deshalb radikal in Frage. Ihr eigennütziger Mißbrauch und ihr gutgläubiger Gebrauch fuhren im Torrismondo in gleicher Weise zur Erschütterung ihrer Wahrheit. Dies bezeichnet das eigentlich Tragische.

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intertextuellen Folien von Tassos Tragödie begründet, zur Aristotelischen Poetik wie zum Odipus des Sophokles. Aristotelische Wahrscheinlichkeit, die die Einheit der Handlung ebenso bedingt wie voraussetzt, meint lineare Schlüssigkeit. Sie besitzt ihren Gegenpol in episodischer Kontingenz und gründet auf dem Urvertrauen eines Logikers, der davon überzeugt ist, daß sich der Lauf der Dinge auf einen schlüssigen Ablauf bringen läßt. Tassos Tragödienhandlung nimmt sich statt dessen wie eine scheiternde Komplexitätsverwaltung aus. Immer wieder treten für das Handeln Störfaktoren auf, Störfaktoren einer opaken Welt, deren mangelnde Transparenz der Effekt einer nicht mehr zu durchschauenden Verkettung schuldhaften Handelns ist. Die eine Geschichte auf der B ü h n e der Tragödie erweist sich deshalb als so etwas wie ein Knotenpunkt einer Vielzahl von Geschichten, die nach u n d nach zutage treten und nach und nach belegen, welcher Abgrund von Täuschung u n d Betrug, von Verschweigen und Verbergen der Wahrheit die Welt ist. Diese Moralisierung der Wahrheitskategorie wie ihre Verwandlung zu struktureller Ambivalenz ist denn auch die Ursache der Distanz des Torrismondo zu dem gleichwohl ostentativ zitierten Odipus des Sophokles. Bemerkbar wird der dadurch bedingte Abstand etwa schon an folgendem Detail: Als Laios u n d j o k a s t e v o m drohenden Unheil durch den n e u geborenen Sohn erfahren, reagieren sie mit einer außergewöhnlichen Tat, letztlich dem Versuch physischer Vernichtung. Als der Gotenkönig von den Gefahren hört, die von R o s m o n d a ausgehen, reagiert er mit einem Betrug, aber damit reiht sich sein Verhalten nur in das Paradigma der Täuschungen ein, die das Geschehen allerorts bestimmen. Die Abgründigkeit der Vergangenheit ist paradigmatisch aufgehoben in einer ubiquitären Struktur der Wahrheitsverdunkelung, die nicht mehr eine Folge existentieller Blindheit gegenüber der Z u k u n f t u n d Ausdruck der Machtlosigkeit der Menschen gegenüber den Göttern ist, sondern eine W i r k u n g höchst absichtsvoller Versuche, die Wahrheit zum eigenen Vorteil zu verfälschen. D e r vielleicht dramatischste Effekt ihrer nun strukturellen Ambivalenz aber k o m m t am Ende des Re Torrismondo zum Vorschein, der denn auch die markanteste Absage an den Sophokleischen Odipus bedeutet. D o r t löst das Zutagetreten der Wahrheit die Katastrophe aus; bei Tasso stellt sich das finale Unglück statt dessen genau umgekehrt ein, weil die Wahrheit keinen Glauben findet: Deshalb nimmt sich Alvida das Leben. Dies ist die wohl spektakulärste Konsequenz der moralisierenden Verwandlung der Wahrheit in die Ambivalenz von Lüge und Aufrichtigkeit. Sophokles wie Freud teilen einen ganz unbedingten Glauben an eine Macht der Vernunft, deren Erkenntnissicherheit der einmal entdeckten Wahrheit ihre ganz ungebrochene Evidenz verleiht. Das vom Schoß der Zeiten Verborgene bringt gewiß die O h n m a c h t der Menschen zum Vorschein, aber es steht zum anderen auch seiner ganz ungebrochenen Erkenntnis durch diejenigen offen, die am Zustandekommen des später Entdeckten bewußt nicht beteiligt waren. Die Aufdeckung des Verborgenen bleibt hier eine bloße Frage der Erkenntnis. D o c h die Moralisierung der Wahrheit, die nun sehr bewußt verfälscht wird, bringt auch

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die mangelnde retrospektive Evidenz der Wahrheit mit sich, weil die Formen ihrer Aufdeckung nun selbst einem stets unverläßlichen Handeln unterworfen sind. Kurioserweise ist es die auf sich selbst verwiesene und selbsterzeugte Handlungswelt, welche zugleich ihre Durchschaubarkeit verloren hat. Aber der Ausfall dieser Evidenz steht im Zusammenhang mit dem Verlust der Prädetermination des Zukünftigen. Der Frevel, an dem sich das Geschehen des Sophokleischen Ödipus abarbeitet, ist eine Folge eines im Grunde absurden Widerstands gegen eine vorherbestimmte Faktizität. Zukunft ist insofern stets Einlösung schon vergangener Verfügung, und die Handlung des Ödipus ist durchaus folgerichtig Vergangenheitsaufarbeitung. W i e anders das Verhältnis von Vergangenheit und Z u kunft bei Tasso gestaltet ist, geht nicht zuletzt aus der im Grunde sehr vermittelten Einlösung der Weissagung künftigen Unglücks hervor. Bei Sophokles ist das Verhältnis von Prophezeihung und Ereignis eindeutig. Die Weissagung für R o s monda, sie werde am Tod ihres Bruders Schuld haben, aber trifft höchstens einen Faktor in einer verwickelten Konstellation, in der Ursachen und Schuldzuschreibungen nur noch schwer vorzunehmen sind. Denn Torrismondo tötet sich selbst, weil Alvida sich das Leben nahm, als sie nicht glauben mochte, daß sie ist, wer sie war, und weil er selbst dies nicht hinnehmen wollte. Doch daß es zu all dem überhaupt kommen konnte, setzt seinerseits eine Fülle von Verwicklungen voraus, die in keinerlei Zusammenhang mit der einstigen Prophezeihung stehen. Und so ließe sich im Grunde auch die Umkehrung dessen, was die Prophezeihung besagte, für das Geschehen feststellen: Nicht nur wird Alvida schuldig am Tod ihres Bruders, sondern auch er verursacht ihren Tod. Diese Partialisierung der Geltung der Prophezeihung aber beleuchtet nur die Entmachtung einer Vergangenheit, in der die Zukunft immer schon aufgehoben ist, zugunsten einer Welt des Handelns, deren Determinante nicht eine mythische memoria ist, sondern eine Logistik der Bedürfnisbefriedigung, die den Erfolg der Wahrheit vorordnet. 27 Ihr kommt nur noch eine Vergangenheit in die Quere, die selbst das Erbe zahlloser Täuschungen in sich birgt und insofern ein stets auf die Zukunft gerichtetes Handeln behindert. Zeit ist nun nicht mehr die Entfaltung vorheriger Determination, sondern sie ist eine Potenzierung von Verwicklungen, eine Akkumulation von — zumeist unerkannten — Störfaktoren. Sophokles inszeniert die Abgründigkeit einer Vergangenheit, welche aus der Verweigerung des Gegebenen entstanden und deshalb mit der Rekonstruktion des Verleugneten auch zu korrigieren ist. Tasso entfaltet statt dessen eine strukturelle Abgründigkeit, die dem Gesetz des Handelns selbst eingeschrieben ist. Sie ist moralische Abgründigkeit, in der sich die Komplexität der

2 7 D. Chiodo ist die Funktion des Orakels in Tassos Torrismondo Anlaß zur Kritik gewesen, insofern es „esteriore allo sviluppo drammatico della vicenda" bleibe (Chiodo 1989, 40). Angesichts dieses ästhetischen Vorbehalts bleibt folgerichtig kein R a u m für die Einsicht, daß die Veränderung der Stellung des Orakels Teil der Auseinandersetzung mit Sophokles' König Ödipus ist.

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Wirklichkeit und eine ubiquitäre und sich deshalb stets fortzeugende Verleugnung der Wahrheit wechselseitig bedingen. Hier scheitert deshalb konsequent das M o dell des Odipus, ja seine Rezeption wird geradezu zur Perversion seiner Lösung. Was immer die Wahrheit an Schrecklichem auch entbergen mag, hätte Alvida sie nur geglaubt, das finale Unheil wäre wohl ausgeblieben. D e n n nicht etwa das an den Tag Gebrachte löst ihre Verzweiflung aus; das Faktum des Inzests, zu dem es zwischen Bruder u n d Schwester gekommen ist, bleibt — ganz anders als bei Sophokles — in Tassos Re Torrismondo auffällig belanglos. Es ist der Verdacht des Betrugs, der zur Ursache der Katastrophe wird; und glauben kann Alvida nicht, weil eine Liebe sie daran hindert, die von der permanenten Sorge u m die Beschädigung des Ich bestimmt wird. N o c h einmal steht der Affekt der Erkenntnis der Wahrheit im Weg. Hier triumphiert nicht am Schluß die Wahrheit über alle Verdunkelungen, denen sie anheimgefallen war, u m ihr machtvolles Erscheinen mit der Katastrophe zu besiegeln. Es ist vielmehr die Machtlosigkeit der Wahrheit, welche nun das Unglück erzeugt. Weil sie die Wahrheit nicht glauben will, eine Wahrheit, die noch immer im Verdacht der strategischen Täuschung steht, löst Alvida ihr eigenes u n d fremdes Unglück aus. Das Zitat des Sophokleischen Odipus und seines Schlusses entwickelt sich zum Gegenentwurf. Dieser Befund verlangt eine Erklärung. D e n n wie läßt sich diese entscheidende Verwandlung des antiken Modells motivieren? W i e läßt sich im besonderen erklären, daß dort, wo die Gattung der Tragödie selbst sich im Rückgriff auf das antike Vorbild allererst formiert, eine unübersehbare, weil plakative, imitatio eines ihrer Exponenten zu dessen Dementi gerät? M a n mag die Dialektik ins Feld fuhren, die aller Nachahmung innewohnt, weil sie unweigerlich eine Distanzierung von ihrem Modell, seine zumindest partielle Negation mit sich bringt. 2 8 D o c h eine solche Struktur semiotischer Differenz reicht als alleinige Erklärung nicht aus, denn sie vermag die Zielrichtung dieser Distanzierung nicht zu begründen. Indes liefert die Eigenart der Verwandlung selbst schon einen Hinweis auf ihre Voraussetzungen, u n d hier erscheint im besonderen die skizzierte Moralisierung der Wahrheitskategorie signifikant. Die Interdependenz von Opazität u n d Täuschung, die fortwährende und sich potenzierende Verstrickung der Handelnden in einer undurchschaubaren Welt trägt eine unverkennbar christliche Signatur. Die Struktur einer Welt, in der sich Komplexität u n d Täuschung wechselseitig bedingen, repräsentiert den Glauben an j e n e gefallene Welt, die der Erbsünde nicht entk o m m t und sich deshalb heillos in Schuld verstrickt. Zumal jenes Prinzip der

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Diese subversive D i m e n s i o n der N a c h a h m u n g , w e l c h e sich nie auf eine b l o ß e A f f i r m a t i o n ihres Modells beschränken lasse, hat i m b e s o n d e r e n die Analyse der semiotischen Prozesse a k z e n tuiert, welche m a n m i t d e m Begriff ,Intertextualität' b e z e i c h n e t . Vgl. die ,klassische' D e f i n i t i o n dieser Verfahren bei Kristeva 1970, 12. D i e K o n s e q u e n z e n des Intertextualitätskonzepts f ü r die B e s t i m m u n g rinascimentaler imitatio hat G r e e n e 1976 u n t e r s u c h t . Z u einigen kritischen B e m e r k u n g e n vgl. Kablitz 1985, 36 f.

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Verkettung einzelner Geschichten, die Abgründigkeit einer Vergangenheit, die stets aufs neue unerwartete Verwicklungen bereithält, aus denen unverhofftes U n glück droht, die Unabschließbarkeit der Verwicklungen also erscheint als ein handlungsstrukturelles Komplement jenes Mythos der unentrinnbaren und von den Anfängen her perpetuierten Schuld. Diese Struktur der dargestellten Welt setzt einen deutlichen Unterschied gegenüber derjenigen des Sophokleischen Odipus, in welcher das Geschehen letztlich als ein Zyklus organisiert ist. Die analytische Form des Dramas ermöglicht die R ü c k k e h r zu j e n e m Anfang, welcher am Beginn aller Störungen steht; dieser Anfang läßt sich also hier einholen und u m den Preis der Katastrophe transparent machen. Diese Möglichkeit aber erwächst nicht zuletzt aus der Qualität der Ursache aller Störungen. Es ist das Orakel, der kontingente Eingriff von außen, der am Beginn steht und auf den die Betroffenen nur reagieren. Die Handlungswelt des Torrismondo ist statt dessen nicht eine solche, die aus Reaktionen, sondern eine solche, die aus Aktionen entstanden ist, aus Handlungen, die auf eine eigene Initiative zurückgehen, aus Strategien der Bedürfnisbefriedigung; und nur noch Strategien k ö n n e n den Erfolg sichern, weil sie einer immer schon vorfindlichen Komplexität zu begegnen haben, derer allein noch durch ein gegenüber der Wahrheit bedenkenloses Kalkül H e r r zu werden ist. D e r Betrug aber schafft neue Verwicklungen, die ihrerseits neue Täuschungen hervorrufen, u m schließlich die nicht mehr zu behebende Opazität einer durch u n d durch korrumpierten W i r k lichkeit zu erzeugen. Hier läßt sich der Anfang aller Verwicklungen folgerichtig nicht mehr einholen und also auch nicht mehr durchsichtig machen. Der Mythos der gefallenen, eine ursprüngliche Schuld forttragenden Welt ist hier zur strukturellen Figur geronnen, zu einer Figur, in der sich jener Befund bestätigt, den einst der Kirchenvater Augustinus für diese Welt erhoben hatte: In ihr bleibt die Wahrheit aus Strafe für ein nicht wiedergutzumachendes Unrecht stets im Verborgenen. 2 9 Dieser Befund bewahrheitet sich in Tassos Re Torrismondo tragisch, aber

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Das Bewußtsein einer solchen kategorialen Verborgenheit der Wahrheit war im zeitgenössischen U m f e l d Tassos durchaus gegenwärtig. Als Beleg sei die historiographische Schrift De scribendi historia liber von A n t o n i o Viperano aus d e m Jahr 1569 angeführt, deren Überlegungen u m den B e f u n d kreisen: Adeo in occulto est veritas (10. Antonii Viperani, D e scribendi historia liber, Antverpiae, Ex officina Christophori Plantini. M . D . LXIX., abgedruckt bei Keßler 1971, 63). Anlaß für solche Skepsis ist eine eindringliche Analyse der Pragmatik aller R e d e , eine Analyse, die allenthalben unvermeidliche Quellen von I r r t u m u n d Lüge entdeckt. So stehen der Wahrheit der R e d e etwa die animi commotiones oder animi affectus entgegen. D i e Liebe zu sich selbst u n d zu den Seinen bewirkt es, daß man sich den Feinden gegenüber zu Gefühlen des Hasses verleiten läßt und damit die Objektivität der Darstellung behindert (ebda., S. 61). Parteilichkeit als Gefahr für den historischen Bericht erwächst j e d o c h aus der Partialität aller W a h r n e h m u n g (ebda., S. 62). Zweifel an der Verläßlichkeit der Darstellung entstehen durch den H a n g eines j e d e n Sprechers, den W ü n s c h e n seiner Adressaten zu Gefallen zu sein und damit ihren Absichten die Wahrhaftigkeit zu opfern (ebda., S. 63). I n d e m alle R e d e auf ihre pragmatischen

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schon diese Konsequenz, im Verbund mit der Verwandlung erbsündiger Denaturierung in eine strukturelle Figur, zeigt an, daß der Glaube an die gefallene Welt eine wesentliche Veränderung erfahren hat. Bekanntlich ist dem Mittelalter die Tragödie fremd geblieben, und in der Tat mußte sie in einer christlichen Kultur ein Fremdkörper sein. D e n n welches K o n zept des Tragischen man auch immer ansetzen mag, all seinen Varianten gemeinsam ist die Annahme eines Restes an Unordnung, der Widerständigkeit einer nicht mehr auflösbaren Unordnung. Vielleicht tritt dieses Spezifikum aller tragischen Mimesis nirgends deutlicher als dort zutage, wo sich Aristoteles in der Poetik bemüht, an der Gestalt des mittleren Helden solche U n o r d n u n g zu verringern. N u r wenn das Unglück in dessen Charakter eine gewisse Rechtfertigung findet, ist die Handlung für einen Zuschauer akzeptabel. Indes darf das Unheil, das ihm widerfährt, auch nicht völlig gerechtfertigt erscheinen, denn in diesem Fall verlöre die Tragödie ihre Identität. Genau diese Prämisse irreduzibler U n o r d u n g aber ist für eine christliche Wirklichkeitsinterpretation nicht hinnehmbar. Gewiß gibt es auch für sie Unerklärliches, doch dessen Irreduzibilität ist hermeneutischer Natur. Gottes Ratschluß bleibt u m seiner Tiefe willen dem Menschen verschlossen; verfügte dieser Mensch jedoch über vollkommenere Verstandeskräfte, so vermöchte er einzusehen, warum das vermeintlich Widrige in Wahrheit nichts als providentiell ist. Alles Wirken Gottes also, daran m u ß dieses christliche Denken festhalten, läßt sich auf Kategorien rationaler Transparenz zurückführen: auf Gottes Güte, seine Gerechtigkeit, seine Vorsehung; nur bleibt dem Menschen u m seines m a n gelhaften Verstandes willen eine solche Einsicht immer wieder verborgen. 3 0 Diese

Bedingungen hin transparent gemacht ist, verliert sich j e d e Möglichkeit der Wahrheitsfindung; die zitierte Feststellung, daß alle Wahrheit im Verborgenen ist, zieht deshalb nur das ebenso schlüssige wie desaströse Fazit aus der vorangehenden Analyse. D o c h Viperanos Lösung ist von anderer Art als Tassos Tragik; der Historiker stellt der Labilität menschlicher R e d e vielmehr sein humanistisches Selbstverständnis gegenüber, das u m so markanter in Erscheinung tritt, als letztlich auch i h m alle Grundlage entzogen ist: „ N a m a libris t u m fides, n o n ab hominibus petenda est, nihil addendum, nihil d e m e n d u m , ita reddenda omnia, veluti accipiuntur" (ebda.). Im Sprung von der mündlichen R e d e in die schriftliche Uberlieferung scheint vergessen, daß letztlich auch die im Buch sedimentierte R e d e einer Pragmatik zugehört, die ihren Wahrheitsgrund gleichermaßen relativiert. D o c h eben diese Inkonsequenz beleuchtet den quasi mythischen Glauben des Humanisten an das Buch, einen Glauben, der sich gewissermaßen gegen den Verlust seiner Voraussetzungen stemmt. Aus der fundamentalen Skepsis, die Viperano der Wahrheit jeglicher R e d e entgegenbringt, folgt letztlich nichts als das Eingeständnis: Adeo in occulto est veritas. Die Konsequenzen einer solchen, bei d e m Historiker noch einmal überspielten Einsicht entfaltet Tassos Re Torrismondo tragisch. 30 D e r nachgerade klassische Fall einer solchen Verwandlung substantieller U n o r d n u n g in eine Folge unzulänglicher Einsichtsfähigkeit ist Dantes D e u t u n g der Fortuna im siebten Gesang des Inferno seiner Commedia. Fortuna ist nun nicht m e h r eine Allegorie des Zufalls, also die Personifikation einer irreduziblen und in ihrer Willkür unabsehbaren Macht, sie gerät vielmehr zur ministra Dei u n d fuhrt gehorsam Gottes unergründlichen Ratschluß aus. Damit ist einer der für das christliche D e n k e n provozierendsten Restposten paganer Kultur hermeneutisch liquidiert.

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unhintergehbare Gewißheit aber entzieht aller Tragik die Grundlage, und so kann auch der Befund einer zur Strafe über die Welt verhängten Latenz der Wahrheit letztlich kein Tragisches erzeugen — denn diese Dunkelheit, die mangelnde Einsichtsfähigkeit des Menschen also, ist ihrerseits Strafe und als solche selbst gerecht. Harmonisch fügt sich die unverläßliche Sachwalterin irdischen Glücks u n d Unglücks n u n in die Bewegung der Sphären, in die O r d n u n g des Kosmos ein. Mir scheint diese Strategie einer hermeneutischen R e d u k t i o n kategorialer U n o r d n u n g übrigens gerade dann signifikant, w e n n man sie mit den Aristotelischen Versuchen ihrer rationalen Minimisierung kontrastiv vergleicht. Die Poetik setzt nicht auf eine Aufhebung, sie betreibt die M i n d e r u n g der Provokationen, u m den verbliebenen, unhintergehbaren Rest gewinnbringend nutzen zu k ö n n e n . W o die O r d n u n g der Dinge sich nicht einem überlegenen Schöpfer zurechnen läßt und folglich die Möglichkeit einer Skalierung des Erkenntnisvermögens ausfällt, w o sich jenseits der einen, dem Menschen wesenhaft zugehörigen Rationalität keine höhere Instanz des Logos a n n e h m e n läßt, fällt die Belastung dieses Menschen mit einer unhintergehbaren intellektuellen Unzulänglichkeit als Erklärungsgrund aus. Hier verbietet sich folglich die A u f h e b u n g substantieller U n o r d n u n g durch ihre Verschiebung auf das Verschulden dessen, der sie w a h r z u n e h m e n meint. Indes ist es recht bemerkenswert, daß auch die Aristotelische Antwort auf die Provokation j e n e r U n o r d n u n g , mit der die Tragödie ihre Zuschauer konfrontiert, daß auch die Katharsis nicht o h n e einen R ü c k g r i f f auf eine rationale Korrektur solcher U n o r d n u n g auskommt. Diesmal ist es indes nicht eine Differenzierung zwischen kategorial verschiedenen Instanzen der Rationalität, welche eine solche Strategie erlaubt, diesmal gibt die Unterscheidung zwischen dem Erlebenden und dem Betrachter eine solche Möglichkeit an die Hand. Die Mimesis gestattet die Distanz der R e f l e xion, sie wird deshalb der theoria, der klassischen Figur der Erkenntnis, affin. Solche Reflektiertheit aber bedeutet hier eben vor allem Korrektur, Korrektur einer anfänglichen und später als irrig erkannten Annahme. Dies ist, wie oben skizziert, ein wesentlicher Effekt der verwirrenden Z u o r d n u n g des Wahrscheinlichen und des Wunderbaren in der Tragödienpoetik des Aristoteles: Dasjenige, das der Erwartung widerspricht, erweist sich — im Nachhinein - als schlüssig: Das prospektiv Unwahrscheinliche wird retrospektiv wahrscheinlich. So stützt sich die Befreiung von den Affekten, die das Erlebnis großen Unglücks erzeugt, die Katharsis von Schauer und Leid, nicht zuletzt auf die Auflösung einer logischen Provokation. Die Distanz des Zuschauers gegenüber dem Erleben schafft nicht zuletzt einen O r t , an d e m das Geschehen Gegenstand abwägender Betrachtung wird und auch deshalb seinen Schrecken verliert. Auch hier scheint ein U r v e r trauen in den im G r u n d e ordentlichen Lauf der Dinge dieser Welt durch, auch hier verliert die beobachtete U n o r d n u n g zumindest ein Stück von ihrem rationalen Skandalon. D o c h nicht die Deklassierung des menschlichen Verstands zugunsten eines überlegenen göttlichen Intellekts hat hier eine solche, beruhigende Manipulation zu ü b e r n e h m e n , sondern einer Differenzierung von Betrachtungsweisen, der Gegenüberstellung des Beteiligten und des unbeteiligten Beobachters fällt diese Aufgabe zu. Es ist die theoria, die Existenzform des Philosophen also, welche n u n vermeintliche U n o r d n u n g in eigentliche O r d n u n g verwandelt. Anders als der Schöpfer kann der philosophisch disponierte Zuschauer die U n o r d n u n g freilich nicht restlos zum Verschwinden bringen, aber er kann sie folgenlos machen. Die ungebrochene Zuversicht in störungsfreie O r d n u n g bleibt i h m verwehrt, aber diese Gewißheit ist nur u m den - letztlich paradoxen - Preis des Eingeständnisses zu haben, daß man diese O r d n u n g nicht zu erkennen vermag. D e r ideale Zuschauer der Poetik behält bei seinem Arrangement mit einem unhintergehbaren Rest an U n ordnung stattdessen die Fäden in der Hand. So erweisen sich die christliche und Aristotelische Strategie der Rationalisierung von U n o r d n u n g als komplementäre F o r m e n der Kombination zweier Implikationen dieser Rationalität: als komplementäre Z u o r d n u n g e n j e eines Defizits von O r d n u n g und d e m Vermögen ihrer Erkenntnis.

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Wo der betreffende Befund kategorialer Opazität wie in Tassos Torrismondo zum Objekt einer Tragödie wird, deutet sich folgerichtig eine wesentliche Transformation dieser zutiefst christlichen Weltdeutung an. Signifikant in diesem Sinne erscheint auch die Wandlung erbsündiger Determination zu einer handlungsstrukturellen Konfiguration zur Interdependenz von Komplexität u n d Täuschung. D e n n die D e u t u n g erbsündiger Belastung des Menschen in Gestalt einer narrativen Struktur als eine nicht enden wollende Verkettung von unglücksschwangeren G e schichten zu einer nicht m e h r durchschaubaren und deshalb die Katastrophe in sich bergenden Komplexität negiert gerade als eine Struktur entscheidende Voraussetzungen der betreffenden christlichen Lehre, und insbesondere negiert sie ihre mythischen Anteile. Ein unverzichtbares Komplement der unhintergehbaren Schuldhaftigkeit der Menschen ist ein Gott, der diesen Zustand ebenso als Strafe für einen provozierenden Ungehorsam eingerichtet hat, wie er ihn aus — unverdienter — Gnade jederzeit zu korrigieren vermag. N u n aber scheint eine solche Intervention ausgeschlossen, und sie erscheint strukturell ausgeschlossen, weil die Struktur selbst sie negiert. Die Handlungswelt des Re Torrismondo verfestigt die Konsequenzen christlicher Anthropologie zur narrativen Figur, u m sie im gleichen Z u g von ihren mythischen Voraussetzungen zu trennen. Es ist diese Dissoziation, welche auf dem Boden einer noch immer christlichen Weltdeutung die Tragödie möglich macht. Erst jetzt wird diese Welt heillos, erst jetzt läßt sich der kategoriale Verlust der Wahrheit tragisch in Szene setzen. Eine solche Verwandlung eines christlichen Substrats läßt sich auch in anderer Hinsicht für Tassos Tragödie bemerken. Zwei Laster aus dem Katalog der Todsünden konnten wir als Triebfedern hinter den Machenschaften der Akteure erkennen: gloria und luxuria. Daß sie nichts als Elend bewirken, entspricht ihrer überk o m m e n e n moraltheologischen Bedeutung. Ihre Unhintergehbarkeit läßt sich in der Handlungswelt des Torrismondo indessen nicht mehr mit einer ebenso traditionellen D e u t u n g auf die Unentrinnbarkeit der Schuld zurückführen; denn diese Unhintergehbarkeit wird sanktioniert. Dies gilt zum einen für den unbändigen Willen, die eigene Überlegenheit zu demonstrieren, bildet er doch nichts anderes als eine unumgängliche Voraussetzung für das angemessene Verhalten eines nicht nur anerkannten, soridern auch großes Prestige repräsentierenden Sozialtypus: des Ritters. Dessen Geltung als Verhaltensideal ist ebenso unstrittig, wie die Motive ritterlichen Verhaltens sich als verhängnisvoll erweisen. 31 In ähnlicher Weise wer-

31 So w i r d die gloria als selbstverständliche M o t i v a t i o n eines Sozialisationsprozesses b e h a n d e l t , der z u m E r w e r b sozialer A n e r k e n n u n g f u h r t . In diesem Sinne etwa schildert der Titelheld s e i n e m Erzieher seinen W e r d e g a n g (I, 3, V. 9 8 - 1 1 1 ) : „ D e v e t e r a m m e n t a r ch'uscito a p e n a / di fanciullezza, e di quel fren disciolto/ c h e già teneste voi soave e d o l c e , / fui vago di m e r c a r fama ed o n o r e ; / o n d e lasciai la patria e '1 nobil p a d r e , / e gli eccelsi palagi, e vidi e r r a n d o / vari estrani costumi e genti strane;/ e sconosciuto e solo fui s o v e n t e / ove il f e r r o s'adopra e sparge il sangue./ In quelli errori miei, c o m ' a l Ciel p i a c q u e , / m i strinsi d'amicizia in dolce n o d o / co '1 b u o n

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den auch die unverkennbar schädlichen u n d moralisch als durchaus bedenklich begriffenen Folgen der luxuria letztlich sanktioniert. Das Verhalten des Consigliero gegenüber seinem Z ö g l i n g T o r r i s m o n d o ist dafür höchst bezeichnend. Als dieser sich w e g e n des Treuebruchs an seinem Freund G e r m o n d o seiner eigenen Schuld bezichtigt u n d allein im Selbstmord einen Ausweg sieht, erläutert i h m der R a t g e ber - wie o b e n diskutiert — in Kategorien der Aristotelischen Ethik den Charakter seines Vergehens: N i c h t aus Boshaftigkeit habe er falsch gehandelt, sondern, von der Leidenschaft überwältigt, die T u g e n d verfehlt; u n d diese Differenzierung hat sich die christliche Morallehre, zumal ihre scholastische Variante, zu eigen g e m a c h t . 3 2 Indes bietet diese Feststellung eines m i n d e r e n Grades an Verwerflichkeit n u n den Ansatz, u m mithilfe eines geschickten Arrangements im G r u n d e das Ergebnis dieses Fehltritts zu bestätigen. D e n n der Consigliero sinnt auf einen Ausweg, u m d e m Titelhelden die begehrte, i h m j e d o c h nicht zugedachte Frau dauerhaft zu erhalten u n d zugleich den K o n k u r r e n t e n mit einer äquivalenten Alternative zufriedenzustellen. D i e moralphilosophische Klassifikation m ü n d e t in eine Kasuistik, die sich die Kategorien der Ethik als Stratagem der Bedürfnisbefriedigung ziemlich bedenkenlos unterwirft. A u c h diese Kasuistik, in welche die Ethik ü b e r f u h r t wird, k o m m t e i n e m Eingeständnis der Schwäche ihrer Systematik gleich. Ihre Klassifikation von Tugend u n d Laster hat letztlich dort an Substanz entscheidend eingebüßt, w o sie z u m Instrument der E r m ö g l i c h u n g dessen gerät, was sie z u m anderen verwerfen m u ß . D i e A u f h e b u n g der gloria in der sozialen Leitvorstellung des nobil cavaliero33 wie die R e c h t f e r t i g u n g der luxuria in der kasuistischen Bereinigung ihrer Folgen sind zwei F o r m e n der Sanktionierung des U n ausweichlichen. 3 4 D i e tragische Katastrophe bestätigt n o c h einmal die verderbliche N a t u r dieser Triebfedern des Handelns, d o c h tragisch wird sie, weil ihre strukturelle Unausweichlichkeit sie zugleich zu akzeptierten Kriterien des Handelns hat

G e r m o n d o ch'a Süezia impera,/ giovene anch'egli, e pur di gloria ardente,/ e pien d'alto desio d'eterna fama." Tasso 1977, 444. Cavalieri erranti sind bekanntlich fahrende, keine irrenden R i t ter. D o c h das Substantiv errori - nicht o h n e an den „giovanil errore" aus Petrarcas Einleitungssonett zu erinnern — scheint eine moralische Bewertung zu aktualisieren, u m sie sogleich zu neutralisieren. 32 Z u dieser Argumentation des Consigliero vgl. I, 3, V. 409ff. W i e weitgehend sich die christliche Ethik die Opposition von malitia u n d incontinentia einverleibt hat, belegt schon ein Blick auf die O r d n u n g des Danteschen Inferno. D e n n diese Unterscheidung bestimmt die G e o graphie der Hölle der Commedia. 33 Vgl. I, 3, V. 397. 34 Eine in dieser Hinsicht signifikante Relativierung an sich oppositiver Kategorien bietet auch R o s m o n d a s Eröffnung ihrer wahren Identität. Als ihr vermeintlicher Bruder Torrismondo fragt, wie es zu d e m Kindertausch habe k o m m e n k ö n n e n , da antwortet sie i h m wie folgt (IV, 3, V 100—102): „Fe' mia madre l'inganno, anzi t u o padre: / e pietà fu de l'una, e fu de l'altro/ o consiglio, o fortuna, o fato, o forza." Tasso 1977, 515. Moralische R e f l e x i o n u n d äußerer Z w a n g werden ununterscheidbar.

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aufsteigen lassen. Eine Tragödie konnte der Mythos von der gefallenen Welt erst erzeugen, als sich seine anthropologischen Konsequenzen von ihren mythischen Bedingungen lösten; als sich die Erinnerung an den Ursprung erbsündiger Denaturierung des Menschen, an die Strafe für unverzeihliches Unrecht verlor und damit auch die Möglichkeit der Korrektur, der gnadenhaften Intervention des Urhebers der Strafe, aus dem Blick geriet. Erst diese heillose Welt ließ sich als eine tragische denken. 35

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Tassos Re Torrismondo, gegen E n d e des C i n q u e c e n t o entstanden, als die Tragödie sich in der zeitgenössischen Literatur bereits etabliert hatte, setzt einen vorgängigen Prozeß der Integration dieser Gattung voraus. Es scheint mir in dieser Hinsicht bemerkenswert zu sein, daß in den Anfängen der R e z e p t i o n des klassischen, Aristotelischen Tragödienmodells, im besonderen anhand des ersten Beispiels einer regelkonformen Tragödie, in Trissinos Sojonisba, sich der Versuch beobachten läßt, die gattungstypische U n o r d n u n g wesentlich entschiedener mit den mythischen Potenzen der Erbsündenlehre zu vermitteln. Die n o c h unentwickelte Sensibilität für die spezifische Charakteristik tragischer Geschichten zeigt sich nicht zuletzt darin, daß es hier die Instabilität menschlicher Geschicke ist, welche zur Systematisierung des Geschehens herhalten m u ß . Gleich in der ersten Szene werden im Gespräch zwischen der Titelheldin u n d ihrer Vertrauten Erminia die ideologischen Koordinaten der H a n d l u n g abgesteckt, u n d schon hier ist es die Labilität des Besitzes irdischer Macht, welche die Sorgen der Königin Sofonisba auslösen. E r m i nia aber weiß die Ursache für diese Unverläßlichkeit des Glücks anzugeben (V. 150-163): „Questa vita mortale/ n o n si p u ö trappassar senza dolore;/ che cosi piacque a la giustizia eterna./ N e sciolta d'ogni male/ del bei ventre materno usciste fuore,/ che 'n stato b u o n o o reo nessun s'eterna./ Di quel s o m m o fattor, che'l ciel governa,/ appresso ciascun piede un vaso sorge,/ Fun pien di male, e l'altro e pien di b e n e , / e d'indi or gioia, or p e n e / trae mescolando insieme, e a noi le porge./ Poi vi ricordo ancor fra voi pensare,/ che a valoroso spirto s'appertiene/ porsi a le degne imprese, e ben sperare/ e da poi sopportare/ con generoso cuor quel che n ' a w i e n e " Trissino 1977, 17 f. So unverkennbar hier das B e m ü h e n hervortritt, den Verlauf der Ereignisse mit einer orthodoxen christlichen Erklärung zu versehen, so offensichtlich ist z u m anderen die Diskrepanz zwischen den verschiedenen hier b e m ü h t e n Ideologemen. Deutlich ist die Erbsündenlehre zitiert mit Erminias Hinweis, daß auch Sofonisba nicht schuldlos, „sciolta d'ogni male" (V. 153), den Mutterleib verlassen habe. Im Sinne dieser Lehre entspricht es der Gerechtigkeit Gottes, der „giustizia eterna" (V. 152), w e n n dieses Leben nicht o h n e Leid bleiben kann. B e zeichnenderweise ist im Kontext dieser Tragödie nicht wie in Dantes Inferno die Verborgenheit von Gottes Ratschluß als Erklärungsgrund der Fortuna in Anspruch g e n o m m e n ; vielmehr wird eine gar nicht geleugnete Unverläßlichkeit menschlicher Existenz statt durch eine unerkannte Providenz durch j e n e Gerechtigkeit legitimiert, welche dem zur Strafe über die Menschen verhängten Unglück in einer gefallenen Welt i m m e r schon innewohnt. Die Grenzen der Plausibilität dieser christlichen Erklärung aber m a c h e n Erminias abschließende Ratschläge an Sofonisba deutlich, die zu einer ersichtlich stoisch inspirierten Haltung auffordern. Ein „valoroso spirto" (V. 162) ertrage in W ü r d e , „con generoso cuor" (V. 165) alle Widrigkeiten. Eine solche Logistik der W ü r d e , welche das U n g l ü c k in den eigenen N u t z e n , des Beweises der Stärke, zu verwandeln versteht, verträgt sich indes schwerlich mit j e n e r Ergebenheit, die allein als angemessene Antwort auf Gottes gerechte Verfügungen gelten kann. Die Substitution der D e m u t durch eine Ethik der W ü r d e zeigt den Zerfall der Geltung jenes christlichen Mythos an, der in Erminias R e d e zunächst die Rationalität des Geschehens zu besorgen hat. Es ist diese stoische Ethik, welche sich am E n d e der Tragödie in der H o c h a c h t u n g vor einer Sofonisba durchsetzt, die in ihrem Selbstm o r d nicht Tugend verspielt, sondern moralischen Respekt erwirbt. So singt der C h o r auf ihren

Tragischer Fall u n d verborgene Wahrheit

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Die hier versuchte R e k o n s t r u k t i o n der Bedingungen, unter denen sich eine christliche Interpretation der Wirklichkeit zu tragischer Mimesis wandeln konnte, macht zugleich die U m s t ä n d e transparent, unter d e n e n das Sophokleische OdipusD r a m a ebenso attraktiv werden konnte, wie es eine nicht unerhebliche Veränder u n g erfahren mußte. Beides aber gehört zusammen. Tassos Tragödie liest sich w i e eine E n g f u h r u n g der narrativen Welt des R o m a n z o u n d des Ritterepos mit d e m M y t h o s des Ödipus, u n d diese E n g f u h r u n g n i m m t sich wie eine j e perspektivische Lektüre des j e anderen aus. 3 6 Ebenso erzeugt die Projektion der Sophokleischen Geschichte auf die narrative Welt des R i t t e r t u m s dessen verwandelte D e u tung, wie die Entstehung einer tragischen Katastrophe ihrerseits eine veränderte Erklärung gewinnt. Diese Figur wechselseitiger hermeneutischer Perspektivierung aber k a n n auch das Interesse j e n e r rinascimentalen Kultur an der Tragödie plausibel machen, ein Interesse, das über den Versuch einer bloßen W i e d e r b e l e b u n g der versunkenen G a t t u n g weit hinausreicht. B e n e n n t der E p o c h e n n a m e der R e naissance selbst eine solche archäologische Arbeit als ihr zentrales Anliegen, so sind wir es z u m anderen gewohnt, die Literatur dieses Zeitalters in rhetorischen Begriffen zu beschreiben. Die betreffende Klassifikation k n ü p f t zweifellos an das Selbstverständnis der zeitgenössischen Autoren an, die ihre A n e i g n u n g antiker Uberlieferung in entsprechenden Kategorien zu systematisieren, ihre imitatio b e scheiden als aemulatio oder ambitioniert als superatio auszugeben pflegten. Eine solche Begrifflichkeit zielt auf eine Qualitätsdifferenz, u n d w o ein Wettstreit dieser Art zur Debatte steht, ist die fundamentale ideologische Solidarität zwischen d e m Modell u n d seiner N a c h a h m u n g vorausgesetzt. Tassos imitatio des König Ödipus aber geht in einer solchen K o n k u r r e n z u m den ersten Platz nicht auf. Sie läßt sich nicht allein in rhetorischen Verhältnissen beschreiben; diese , N a c h a h m u n g ' ist vielmehr wesentlich hermeneutischer Natur. Sie hat deshalb z u m einen nicht zu leugnende, wiewohl verschwiegene, semantische Diskrepanzen zu ü b e r w i n d e n . D o c h diese hermeneutische Integration des Fremden ist z u m anderen m e h r als eine bloße B e m ü h u n g u m seine Aneignung. Ihre eigentliche Attraktivität gewinnt die so unchristliche Geschichte v o m Schicksal des König Ödipus nicht zuletzt als ein Instrument der D e u t u n g u n d Repräsentation j e n e r Veränderungen, welche

Tod die Verse (V. 1698-1704): „Temp'e d'oscuri p a n n i / vestirse tutte quante,/ per far quel s o m m o o n o r e , / che merita il valore/ e l'opre illustri e sante/ di questa donna eletta,/ sola fra noi perfetta." (Ebda., S. 65). Trissinos Sofinisba liest sich denn auch wie eine heimliche Absage an die Plausibilität jenes Mythos der Erbsünde, der das Geschehen der Tragödie zunächst zu erklären hat. Vom ersten Versuch einer Vermittlung tragischer Mimesis u n d christlicher W i r k lichkeitsdeutung an also gehört das Modell dieser Gattung einer Strategie der Kompensation des Erklärungsdefizits christlicher Weltdeutung zu. Insofern radikalisiert Tassos Re Torrismondo nur eine von Anfang an in der rinascimentalen R e z e p t i o n der klassischen Tragödie zu bemerkende Tendenz. 36 Glenn Pierce scheint diese „ H y b r i d e " , wie er die betreffende Kombination von Elementen unterschiedlicher Gattungen nennt, eher zu stören (Pierce 1991, 113).

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die christliche Interpretation der Wirklichkeit selbst erfahren hat. So gibt die antike Tragödie ein Mittel an die Hand, um mit der Desintegration der eigenen Kultur umzugehen. Vielleicht wird am Fall dieser Gattung, die unter den Genera der paganen Literatur flir eine christliche Rezeption die wohl größten Widerstände entgegensetzen mußte, jene Blindstelle sinnfällig, die dem rinascimentalen Programm von der Rückkehr zu den verlorenen Ursprüngen innewohnt und die doch seine Wirksamkeit allererst zu begründen vermag. Programmatische Wiedergeburt impliziert Verfall, sie lastet der Zeit eine zerstörerische Wirkung an und weist doch zugleich den Weg, auf dem man ihren verderblichen Folgen begegnen kann: durch die Wiedergewinnung des ursprünglichen Zustands. Die Metapher der Wiedergeburt aber erweist sich damit als eine Strategie der Bewältigung eines ungleich radikaleren Verlusts. Sie überspielt den Plausibilitätsverlust einer christlichen Deutung der Welt, indem sie deren Verfall als eine von der Zeit verantwortete Desintegration verharmlost und ihre Reparatur auch schon verspricht. Doch die in Angriff genommene Therapie, der Rückgriff auf die pagan-antike Kultur, bedeutet durchaus anderes als die Restitution einer ursprünglichen und deshalb unbeschädigten Identität. Aus einem zutiefst christlichen Geist geboren, überspielt die Metapher von der Renaissance den Geltungsverlust jener Kultur, der sie ihre Herkunft verdankt. Die vermeintliche Rückkehr zum unverfälschten Anfangszustand bedeutet nicht zuletzt den Rückgriff auf ein Instrumentarium, mit dessen Hilfe sich der bezeichnete Desintegrationsprozeß rationalisieren läßt. So ist in dieser christlichen Welt auch die Tragödie, als Interpretament einer gefallenen Welt, die den Horizont des Heils aus den Augen verloren hat, wieder möglich geworden. Niemand wird dieses neue Potential der Gattung so konsequent fortentwickeln wie Racine.

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JENS MALTE FISCHER

„Die Wahrheit des weiblichen Urwesens" Medea in der Oper Medea, ohne Zweifel, hat Konjunktur. Kaum hatte R o l f Liebermann, der Schweizer Komponist und ehemals Hamburger und Pariser Opernchef, mit seinem letzten Bühnenwerk Freispruch für Medea gefordert (die erste Medea-Oper nach langer Pause), da legt Christa Wolf gerade eben, 1996, ihren neuen R o m a n Medea. Stimmen vor. Zur Erinnerung sei hier der stoffliche Umriß der MedeaGeschichte dargeboten, so wie ihn Manfred Fuhrmann in seiner Rezension des Romans von Christa Wolf zusammengefaßt hat: Jason fordert von seinem Onkel Pelias die ihm von Rechts wegen zustehende Herrschaft über Jolkos. Pelias erklärt sich bereit abzutreten, wenn Jason ihm das Goldene Vlies bringe, das Fell eines Widders, das im fernen Kolchis am Ostufer des Schwarzen Meeres bewahrt wird. So kommt es zur Expedition der Argo, für die Jason fünfzig Helden zu gewinnen vermag. Nach mancherlei Zwischenfällen am Ziel angelangt, bittet er den dortigen König um das Fell — und sieht sich vor weitere Hindernisse gestellt: Er muß mit feuerschnaubenden Stieren pflügen und gegen Männer kämpfen, die aus Drachenzähnen hervorgegangen sind. Hier beginnt der Part der Königstochter M e dea: Sie verliebt sich in Jason und hilft ihm mit ihren Zauberkünsten, die Hindernisse zu überwinden, auch den Drachen, der das Fell bewacht. Die Argonauten fliehen mit Medea und deren Bruder Absyrtos. U m die sie verfolgenden Kolcher aufzuhalten, tötet Medea den Bruder und wirft die Leiche stückweise ins Meer: Die Verfolger verlieren Zeit durch das Einsammeln. Wieder in Jolkos, wird Jason enttäuscht: Pelias denkt nicht daran, vom Throne zu weichen. Jason und Medea finden Zuflucht in Korinth; aus ihrem Bunde gehen zwei Knaben hervor. Dann aber verläßt Jason seine Frau, um Glauke, die Tochter des Königs von Korinth, zu heiraten. Medea, des Landes verwiesen, rächt sich zuvor noch furchtbar: Ein giftiges Gewand vernichtet Glauke, und die Knaben werden von der Mutter mit eigener Hand umgebracht (ein entscheidendes Handlungselement, das Euripides zu verdanken ist). Auf einem von Drachen gezogenen Wagen entschwindet M e dea in den Lüften, einen zusammengebrochenen Jason zurücklassend. Der abziehende Chor beschließt die Tragödie des Euripides (V. 1415—19): „Alles verwaltet / Zeus im Olympos, / Niemals Geahntes / Bereiten die Götter. / Was wir erhofften, / Es ward nicht vollendet - / Wo wir die Hoffnung begruben, / Fanden die Götter den Weg./ So geschah es / Auch hier". 1

,Die Wahrheit des weiblichen Unwesens"

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Die Euripideische Medea wird von Fuhrmann als ein H o r r e n d u m bezeichnet, Karl Kerenyi spricht davon, daß mit ihr das „weibliche Geschlecht als Naturgewalt, als Element, als richtende M a c h t " die B ü h n e betrete, Medea stelle die „Wahrheit des weiblichen Urwesens" dar, in dessen Triumph sich das Göttliche rechtfertige. 2 Von all dem findet sich bei Christa Wolf fast nichts. Medea ist bei ihr nicht in ihrem eigenen Mythos zu Hause, der nichts ist als eine Erfindung einer verblendeten Männergesellschaft. In Wirklichkeit (der von Christa Wolf) ist sie eine rational denkende und handelnde, sich allem männlichen Machtstreben, allem religiösen Wahn entgegenstemmende Frau, deren angebliche Schaudertaten nur erfunden sind, u m eine u n b e q u e m e Widerborstige aus dem Weg zu räumen, und wirklich verstrickt sich Medea, die Hilfreiche, Gute in die Netze der feindlichen Männerwelt, der auch unwissende, kurzsichtige Frauen gegen ihr eigenes Interesse dienen, wie etwa Glauke. Die Rezensenten des R o m a n s waren sich uneins, ob es sinnvoll sei, gerade die Medea-Figur zu benutzen, u m gegen die Verknöcherungen der untergegangenen D D R anzuschreiben (Aietes = Erich H o necker?), es wurde Christa Wolf aber durchaus bestätigt, daß bei aller Verkehrung des Medea-Mythos immer noch genug Kontinuität zu beobachten sei, u m den N a m e n Medeas im Titel zu rechtfertigen. An drei O p e r n des 17. u n d 18.Jahrhunderts soll im folgenden stichprobenartig beleuchtet werden, wie sich Medea als Opernfigur ausnimmt, und welche Kontinuitäten auf einem Felde zu beobachten sind, das sich traditionsgemäß recht wenig u m Strenge des Mythos, u m Treue zu literarisch vorgegebenen Stoffen schert. Daß am Beginn der Operngeschichte u m 1600 zwar der Rückgriff auf und die Auseinandersetzung mit der Antike treibende Kräfte waren, daß aber keineswegs die klassische Tragödie oder auch nur ihre zentralen Stoffe als Vorbild dienten, ist hinlänglich bekannt. 3 Nicht Elektra, Orest oder Odipus waren es, die zuerst ihren monodischen G e sang auf der O p e r n b ü h n e erhoben, schon gar nicht Medea, die es an stoffgeschichtlicher ,Beliebtheit' ja nie mit den Erstgenannten aufnehmen konnte, sondern Daphne und Orpheus, die klagend oder jubilierend ihren Gesang anstimmten — daß Orpheus die Ideal-Imago des singenden Einzelmenschen auf der O p e r n b ü h n e war, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Schon schwerer erklärbar ist, daß die epochemachende Auffuhrung des Oedipo Tiranno 1585 in Vicenza mit den C h ö r e n des Venezianers Andrea Gabrieli nicht ihre unmittelbaren Folgen für die Entstehung der O p e r hatte, aber das Bukolisch-Pastorale war offensichtlich doch das bessere M e d i u m für die neuen Bestrebungen, und ein Sänger, der u m seine verstorbene Frau klagt, die genuinere Opernfigur als ein von eigener Hand

1 2 3

Siehe Fuhrmann 1996. Zitiert wird die Übersetzung von Buschor 1979, 71 f. Kerenyi 1963, 23. Kunze 1984.

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Jens Malte Fischer

geblendeter König (es ist bezeichnend, daß der Ödipus-Stoff bis heute nur, allerdings bedeutende, Außenseiter des Repertoires angeregt hat. Strawinskys/Cocteaus O p e r n - O r a t o r i u m Odipus Rex, 1927, und Georges Enescos Oedipe, 1936, sind an vorderster Stelle zu nennen). Auch nach seinem Orfeo greift Claudio Monteverdi, die dominierende Schöpfergestalt zu Beginn der Operngeschichte, nicht auf die antike Tragödie zurück, sondern auf eine epische Heldenfigur (II ritorno d'Ulisse in patria) und auf eine schillernde Figur der römischen Historie (L'incoronazione di Popped). Im 18.Jahrhundert allerdings (und das wird beim Blick auf das 17. Jahrhundert oft übersehen) ändert sich das Bild, nicht zuletzt durch die R e f o r m o p e r Glucks. Hellmut Flashar korrigiert verfestigte Klischees, wenn er feststellt: "Antike Tragödie, vermittelt durch das M e d i u m der O p e r n b ü h n e , ist also keine Nebensächlichkeit. Die O p e r ist in der Tat im 18.Jahrhundert die wichtigste Uberlieferungsträgerin des antiken Mythos, wozu ja auch zahlreiche O p e r n gehören, die nicht den T h e m e n der antiken Tragödie entsprechen, wohl aber auf antike mythische (gelegentlich historische) Stoffe zurückgehen. Die A n eignung des antiken Tragödienstoffes in der opernhaften F o r m mit den Willkürlichkeiten und Gesetzmäßigkeiten dieses Genos ist ein Vorgang, dem als R e z e p tionshaltung die der Unterhaltung im R a h m e n des höfischen Ambiente entspricht." 4 Von den „Willkürlichkeiten u n d Gesetzmäßigkeiten" des Genos O p e r gibt sogleich unser erstes Fallbeispiel üppige Kunde, die wohl erste erhaltene Oper, in der Medea auftritt, wenn auch ihre reduzierte Bedeutung schon in der Titelwahl zum Ausdruck kommt, Giasone von Francesco Cavalli (Uraufführung 1649). Cavalli (1602-1676), aus der Lombardei gebürtig, war der erfolgreichste italienische Opernkomponist des 17.Jahrhunderts nach dem Tode Monteverdis und ist der Begründer des Typus der venezianischen Oper, in der die Monteverdischen E r rungenschaften zu einem handhabbaren (aber auch klischisierbaren) Instrumentar i u m umgestaltet wurden. In seiner zweiten Opernperiode, der der Giasone angehört, bevorzugt Cavalli Libretti, in denen die favola pastorale zugunsten von entwikkelteren Intrigendramen zurückgedrängt wird. Was damit gemeint ist, wird schnell deutlich, wenn wir uns den Handlungsgang von Giasone in der gebotenen Kürze vor Augen fuhren: In einem Prolog wird die bevorstehende Hochzeit Jasons mit Medea nach der Erringung des Goldenen Vlieses angekündigt, womit Apollo als Ahnherr Medeas sehr zufrieden ist, nicht so Amor, der Jason bereits mit der Königin von Lemnos Hypsipyle verbunden hat. Die Götter treten in einen ihrer häufigen Wettstreite ein. Im ersten Akt wird Weiteres von der Vorgeschichte enthüllt: Jason hat von seinem einstigen Heldentum einiges eingebüßt. Zuerst ist er auf Lemnos durch Hypsipyle zum Vater von Zwillingen gemacht worden, dann hat er von einer unbekannten Geliebten auf Kolchis ebenfalls Zwillinge präsentiert

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Flashar 1991, 47.

,Die Wahrheit des weiblichen Urwesens"

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bekommen. Diese geheimnisvolle Unbekannte ist (natürlich?) Medea, die ihrerseits Schwierigkeiten hat, einen ehemaligen Liebhaber, den König Aigeus von Athen loszuwerden. Bevor Jason das Ungeheuer bekämpft, welches das Goldene Vlies bewacht, will Medea ihn heiraten, um die beiden Kinder ehelich zu machen, und gibt sich ihm zu erkennen. Jason willigt gerne ein, die Lage wird allerdings durch Hypsipyle kompliziert, die als Flüchtling aus Lemnos kommt. Medea gibt Jason den Auftrag, die Rivalin zu ermorden; durch einen Zufall wird sie jedoch das Ziel der Attacke und wird ins Meer geworfen. König Aigeus rettet Medea vorm Ertrinken und sie wird, dankbar wie sie ist, seine Frau. Der verzweifelte Jason wird durch die Klage der ebenso verzweifelten Hypsipyle gerührt und so kann die Oper mit einer Doppelhochzeit enden. Daß Cavalli und sein Librettist Giacinto Andrea Cicognini alles andere im Sinn hatten, als den Geist der Euripideischen Medea zu beschwören, dürfte bereits jetzt klar sein. Das turbulente Textbuch basiert denn auch auf den Argonautika des Apollonios von Rhodos, aber auch dies nur in einem sehr vagen Bezug. Giasone, während des venezianischen Karnevals 1649 im Teatro Cassiano uraufgeführt und bald die häufigst aufgeführte italienische Oper des 17.Jahrhunderts, ist ein gutes Beispiel für den völlig hemmungslosen Umgang der Opernlibrettistik der Zeit mit stofflichen Anregungen aus der Antike (die Hemmungslosigkeit zeigt sich schon in einem nebensächlichen Detail: eine Dienerfigur wird schlicht „Orest" benamt, im Vertrauen darauf, daß das Publikum diesen Namen vielleicht schon einmal gehört hat, aber ohne sich daran zu erinnern, in welchem Zusammenhang, ihn nur als .griechisch' identifizierend). Von literaturkritischer Sicht her hat schon 1698 Giovanni Mario Crescembeni die Vermischung des Hohen und Niederen, der sozialen Sphären, des Tragischen mit dem Komischen in Giasone streng getadelt, aber genau dies muß ein wesentlicher Grund für den Erfolg beim Opernpublikum gewesen sein, denn aus den einzelnen Figuren heraus läßt sich die Attraktivität des Werkes nicht erklären. Der Titelheld ist ein genußsüchtiger Weichling, ein sehr ehemaliger Held nur, Hypsipyle eine ewig klagende Jammergestalt. Medea immerhin hat am Ende des 1. Aktes eine Zauberszene, in der sie den Höllengeist Volano heraufruft, der Jason mittels eines Ringes seine alte Kraft verleihen soll. Die Oper des 17.Jahrhunderts besitzt noch wenig von der uns spätestens seit Mozart vertrauten Seelenerkundung der singenden Figuren, aber hier ist bei Cavalli bereits einer der wenigen Momente, wo Tieferes anklingt; bezeichnend ist wiederum, daß es den Komponisten nicht zu interessieren scheint, diese Tiefendimension seiner Figur weiter zu erkunden — es bleibt bei dem einmaligen Aufblitzen, und Medea wird genauso wieder zur Gestalt mit komischen Zügen, wie sie tragische aufzuweisen hat — an diesem bunten Wechsel war offensichtlich Autoren wie Publikum am meisten gelegen. Von der Wahrheit des weiblichen Urwesens ist eine Medea, die tropfnaß aus dem Meer gezogen wird und dann ohne Umschweife ihren Lebensretter heiratet, den sie kurz zuvor noch dringend loswerden wollte, sehr weit entfernt. Cavalli

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und sein Librettist waren an der Figur der Medea offensichtlich nur soweit interessiert, als sie ihnen Gelegenheit bot, die Kräfte einer Magierin bühnenwirksam zu gestalten. U m einiges näher kommt dem, was unsere, von Euripides geprägte Sicht der Medea von einer Theatralisierung des Stoffes fordert, die rund vierzig Jahre nach Cavalli in Paris uraufgeführte Médée des Marc-Antoine Charpentier, eine „tragédie en musique" in einem Prolog und fünf Akten, Text von Thomas Corneille, dem jüngeren Bruder des großen Pierre. Charpentiers Gesamtwerk (die Médée blieb seine einzige „tragédie en musique") blieb zu seinen Lebzeiten (um 1640—1704) im Schatten seines übermächtigen Konkurrenten Lully, dessen Parteigänger ihm unfranzösisches Komponieren vorwarfen, während Lully als das Vorbild für die genuine französische Kunst galt (was einer gewissen Kuriosität nicht entbehrte, denn Lully war geborener Italiener, Charpentier ein Sohn der französischen Hauptstadt). Charpentier reüssierte vor allem als Komponist geistlicher Werke, als Opernkomponist blieb er Außenseiter; auch daraus erklärt sich, daß der Medea-Stoff für eine „tragédie en musique" keineswegs ein typischer oder nur erwartbarer war. Er war es auch nicht für die klassische französische Tragödie, an die sich die „tragédie en musique" sorgsam anlehnte. Natürlich lehnte sich auch Thomas Corneille in seinem Libretto (wieder einmal) an den älteren und stärkeren Bruder an, dessen Médee 1635 in Paris uraufgeführt worden war. In der Corneille-Literatur wird dieser Tragödie traditionsgemäß relativ wenig Beachtung geschenkt. Sie gilt, sicher zu recht, als „pré-cornélien", denn sie ist Pierre Corneilles überhaupt erster Versuch im Genre der Tragödie, noch vor dem Cid. Wirklich macht es Schwierigkeiten, die Corneilleschen Leitbegriffe der „honnêteté", „bienséance" und „vraisemblance" (die mit „Ehrbarkeit", „Schicklichkeit" und „Wahrscheinlichkeit" nur unzulänglich übersetzt werden können) ausgerechnet im Medea-Stoff wiederzuerkennen. In der Widmung, die er dem Stück voranstellte, macht Corneille deutlich, daß er sich der Problematik durchaus bewußt war, solche Ereignisse, wie sie die Medea-Geschichte bot, auf die Bühne zu bringen, auch wenn sein Tugendsystem zu diesem Zeitpunkt noch nicht voll entwickelt war. Die Befriedigung individuellen Glücksverlangens in Ubereinstimmung mit gesellschaftlichem Harmoniestreben, wie sie den so erfolgreichen Cid kennzeichnet, konnte mit dem Medea-Stoff nicht dargestellt werden. Corneille fühlt sich aufjeden Fall verpflichtet, daraufhinzuweisen, daß die häßlichen Handlungen, die im Stück zu sehen sind, keineswegs zur Nachahmung gedacht sind, ihre Häßlichkeit soll natürlich nur abschrecken. Was ihre Wahrscheinlichkeit betrifft, so verweist der Autor nonchalant darauf, daß diese durch die antike Tradition ja schon beglaubigt sei. Deutlich macht er an anderer Stelle auch, daß er Euripides fast gar nichts, Seneca fast alles verdanke. Der Corneille-Herausgeber Georges Couton hat denn auch in dem Versuch des jungen Corneille, mit dem hoch angesehenen Seneca zu wetteifern, den Hauptgrund für die nicht leicht erklärbare Stoffwahl gesehen und außerdem darauf verwiesen, daß die magische Anziehungskraft des Diabolischen im 17.Jahrhundert, die Attraktivität von Hexe-

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rei und Magie, auch auf Corneille ihre Wirkung nicht verfehlt habe. 5 Im Gegensatz zu den späteren Stücken Corneilles gibt es hier keine einzige positive Figur, alle Personen scheinen nur ihren blinden ehrgeizigen oder racheschnaubenden Trieben zu folgen. Medea entflieht, nachdem sie ihre Kinder getötet hat, auf einem Drachenwagen; die einzige Änderung gegenüber Seneca ist der Selbstmord Jasons, dem das letzte Wort auf der leeren Bühne bleibt. Auf ihn verzichten der jüngere Corneille und Charpentier, die sich ansonsten relativ eng an Pierre Corneille und über ihn an Seneca halten, ohne dabei die Erfordernisse der „tragédie en musique" in irgendeinem Punkt zu vernachlässigen. Die Handlung ist ganz auf den Schauplatz Korinth konzentriert. Gegenüber den Vorlagen ist ein Eheversprechen zwischen Kreusa, wie hier die Rivalin Medeas heißt, und Orontes, dem Herrscher von Argos, hinzugefugt. Ein Selbstmord Jasons, zum Schluß allein auf der Bühne, wäre für die Oper nicht spektakulär genug gewesen. Die letzte Bühnenanweisung lautet vielmehr: „Medea spaltet die Luft auf ihrem Drachen [sie fährt also nicht auf einem von Drachen gezogenen Wagen, sondern sitzt, ungleich kühner, auf einem Drachen wie auf einem Pferd] und gleichzeitig zerfallen die Statuen und andere Verzierungen des Palastes. Dämonen erscheinen aus allen Richtungen und mit ihren Fackeln zünden sie auch diesen Palast an. Die Dämonen verschwinden, die Szene verdunkelt sich, und das Gebäude scheint nur noch aus Ruinen und Ungeheuern zu bestehen, schließlich fällt ein Feuerregen." 6 Daß Dämonen und Furien zum Grundbestand noch der Oper des 18.Jahrhunderts gehören, wissen wir aus Glucks Orpheus und aus M o zarts Don Giovanni (man denke an Giovannis Höllenfahrt). Für die französische Oper der Zeit sind solche nur tanzenden Figuren unerläßlich. Die Lullysche Form der „tragédie en musique", wie sie in den 70er und 80er Jahren des 17.Jahrhunderts entwickelt wurde, beruht auf einer ingeniösen Weiterentwicklung des italienischen Modells der Oper und seiner Anpassung an den französischen Hofgeschmack. Wohl wissend, daß der differenzierte „goût" des Hofes sich mit allein auf der Bühne stehenden klagenden oder jubilierenden Gestalten nicht zufrieden geben würde, integrierte Lully (damit ein Modell der französischen Oper umreißend, daß bis in unser Jahrhundert seine Spuren hinterließ) das „Ballet de cour", das äußerst beliebte Hofballett und die „Comédie ballet", die Ballettkomödie, die Lully selbst zusammen mit Molière kurz zuvor entwickelt hatte (berühmtestes Beispiel: Le bourgeois gentilhomme, 1670, mit seiner Mischung aus gesprochener „comédie" und farbenprächtigen, mit Exotismusreizen spielenden getanzten Divertissements). Von der klassischen Tragödie wird gelegentlich die Sitte eines Prologs übernommen: auch in Médée feiert ein solcher die Herrschaft Ludwigs XIV.,

5

Couton 1971, 557 ff. Die Widmung Corneilles dort 563. Text nach dem Beiheft zur Schallplatteneinspielung, Harmonia mundi France 90113941, 1984, S. 117. 6

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außerdem die Alexandriner-Versform. Wenn wir noch bedenken, daß zum französischen Ballett immer der Gesang dazugehörte, chorisch oder solistisch, so haben wir in der Médée von Thomas Corneille und Marc-Antoine Charpentier ein hochentwickeltes Beispiel für die französische Oper am Ende des 17.Jahrhunderts vor uns, in der aus vier theatralischen Genres (italienisch-monodische Oper, Tragédie classique, Comédie-ballett und Ballet de cour) ein fünftes, hochkompliziertes Mischwesen entsteht, die französische Oper in Gestalt der „tragédie en musique". Das Einzige, was bei Charpentiers Werk aus dem Rahmen fallt, ist eben die Wahl der Titelheldin. Wären er und sein Librettist so unbedenklich und wahllos wie Cavalli vorgegangen, so hätte es weiter kein Aufsehen gemacht. D a am Ende des 17.Jahrhunderts sich aber die „doctrine classique" vollkommen durchgesetzt hatte, wäre eigentlich ein kritischer Einspruch gegen eine Opernheldin zu erwarten gewesen, die ihre Nebenbuhlerin mit einem vergifteten Gewand tötet, ihre eigenen Kinder umbringt und dafür noch nicht einmal bestraft wird, sondern sich davonmachen kann. Merkwürdigerweise wird von solcher Kritik nicht berichtet. Die Lully-Partei, die gegen Charpentier eingestellt war, schmähte zwar das Werk, aber mit rein musikalischen Argumenten, und die Pariser Presse lobte vor allem die bewegende Darstellung der Titelrolle durch die berühmte Sängerin Marthe Le Rochois. Es kann nur vermutet werden, daß das aufwendig Pittoreske dieser Oper, die Zauber- und Hexenelemente stärker wirkten als das ,horrendum' des Stoffes, das uns Heutigen beim Anhören des Werkes sich doch erschließt. Charpentiers Médée ist die erste Medea-Oper der Operngeschichte, die es vermag, die Abgründe der Titelfigur erahnen zu lassen, auch wenn sie darin noch nicht so weit geht, wie Luigi Cherubini ziemlich genau 100 Jahre später. In seinem Gespür für dramatische Nuancen und seiner Fähigkeit, die Emotionen der handelnden Personen musikalisch nachzuzeichnen, wird man Charpentier über Lully und neben den „divino Claudio" Monteverdi stellen dürfen. In diesem Sinne ist dann Medea wohl doch die richtige Wahl für seine einzige Oper gewesen, denn immer dann, wenn sie auftritt, verblaßt das (auf immer hohem handwerklichen Niveau) Konventionelle und Traditionsgebundene seiner Orchestersprache. Schon bei M e deas erstem „récit" „S'il me vole son coeur" wird die Blässe des Prologs aufgerissen und durch eine wütend hämmernde Begleitung und wild gezackte Streicherpassagen eine neue Dimension geöffnet. Von nun an ist jeder neue Auftritt M e deas (meistens sind es Monologe) ein Höhepunkt der jeweiligen Szene, des jeweiligen Aktes, ganz so, als ob es gerade Medea gewesen sei, die den Komponisten über sich hinaus wachsen ließ (einen Komponisten, der j a seinen R u h m vor allem aus seinen geistlichen Werken bezog). Sie wird erfüllt von mütterlicher Liebe gezeigt (11,2), als Klagende (111,3), als Rächerin (111,4 und IV,5) und schließlich als von Schrecken über die eigenen Taten Uberwältigte (V,l). Mit Marc-Antoine Charpentier beginnt die wahre Medea ihren Opern-Drachenflug, der allerdings über 100 Jahre ohne wirkliche Fortsetzung bleiben sollte. Luigi Cherubinis (1760—1842) Médée, 1797 im Théâtre Feydeau in Paris urauf-

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geführt, ist eine „opéra comique", ein zunächst befremdender Genretitel. Er besagt aber nichts anderes, als daß es sich um eine Oper mit gesprochenen Dialogen handelt, was über den komischen oder tragischen Charakter des Stückes noch nichts aussagt. Berühmte Beispiele für die „opéra comique" sind in Frankreich Bizets Carmen und Offenbachs Les contes d'Hoffmann. Beethovens Fidelio wäre in Frankreich auch als „opéra comique" eingeordnet worden. Solche Festlegungen haben in der französischen Operngeschichte oft ganz äußerliche Gründe. François-Benoît Hoffman, der Librettist Cherubinis bei Médée, später wichtigster Mitarbeiter Méhuls, hatte sein Médée-Libretto schon 1790 der Pariser „Opéra" eingereicht, dem .großen' Opernhaus der Stadt also, wo gesprochene Dialoge nicht geduldet wurden. Dort hätte das Werk, wenn es nicht abgelehnt worden wäre, also komponierte Rezitative haben müssen — die wies es dann seit 1855 auf, als Médée mit komponierten Rezitativen des Münchner Dirigenten und Komponisten Franz Lachner von Frankfurt aus seinen Erfolgskurs über deutsche Bühnen antrat. In dieser Form, allerdings dann in italienischer Sprache, trat die Oper in den 50er Jahren unseres Jahrhunderts neu belebt auf den Plan. Die französische Originalfassung ist erst vor wenigen Jahren (1985 in Lyon) wiederbelebt worden. Hoffman, als Kritiker, Schauspielautor und Librettist eine der bemerkenswerten intellektuellen Figuren des Paris um 1800, ging in seinem Libretto auf Pierre Corneille, und, stärker als alle bisherigen Medea-Opern, auf Euripides zurück. Auch wenn nicht alle seine Verse von hohem dichterischen Schwung getragen sind, wird man ihm bescheinigen können, daß ihm eine außerordentlich wirksame Konzentrierung und Verknappung des Stoffes, sogar im Vergleich mit Euripides, gelungen ist. Die Figur des Aigeus ist gekappt, dafür ist die Rivalin Medeas (die bei Euripides ja nicht auftritt) Dircé eingeführt (in der italienischen Fassung Glauce, in der deutschen Krëusa), die der beherrschenden Rächerin-Figur das weichere Element gegenüberstellt. Stärker als alle Vorläufer beschränkt sich Médée auf die Darstellung der mit monumentaler Wucht eintretenden Katastrophe. Alles Beiwerk, alle Vorgeschichte ist fast zum Verschwinden gebracht, so als wollten die Autoren uns bedeuten, wie unwesentlich das alles ist. Cherubini, wieder wie Lully ein Italiener, der es schon nicht mehr für nötig befindet, seinen Namen zu französieren (Lulli-Lully), kommt, aus Florenz gebürtig, unmittelbar vor der Französischen Revolution 1788 nach Paris, unmittelbar nach der Revolution debütiert er mit seiner Oper Lodoïska. Alexander L. Ringer hat in einer glänzenden Analyse der Médée Cherubini als nachrevolutionären Komponisten par excellence dargestellt: Cherubini habe sich entschlossen „am Scheideweg der europäischen Geschichte, diese entsetzliche Tragödie als kathartisches Lehrstück zu behandeln über die bittere Wahrheit, daß unschuldig erlittenes Leid und unverdiente Enttäuschung das Allerböseste in der Tiefe der menschlichen Seele aufzurühren vermögen. (...) Die Medea, von einem griechischen Königssohn gedemütigt, der von Jugend an gewohnt war, Versprechungen gegenüber Barbaren nicht einzuhalten, wurde so zum erschreckenden Symbol des rasenden sans-culotte, der grausame und sinnlose

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R a c h e an allen — seien sie auch noch so geliebt — übt und alles zum Objekt seines maßlosen Hasses nimmt." 7 Im 2. Akt gelingt Cherubini die Vergegenwärtigung einer bisher unerhörten und ungesehenen Bühnensituation. Hinter der Bühne erklingt der Hochzeitsmarsch für Jason und Dirce, vorne auf der Bühne wirft Medea gesprochene, j a geschriene Worte der Verzweiflung ein, als melodramatische Passagen (die W i r kung dieser Szene verpufft natürlich, wenn die Fassung mit den komponierten Rezitativen gewählt wird, wenn also Medea singt statt spricht), bevor sie sich in eine Gesangslinie einfugt, der Chor schließlich, in einer mittleren Stellung zwischen Medea und dem sie so verstörenden Geschehen, kommentiert und agiert für sich. Arien im herkömmlichen Stil gibt es in Medee nur noch fünf an der Zahl, alle anderen solistischen Passagen münden in Duette oder Ensembles, stehen also im Sog eines ununterbrochenen dramatischen Flusses. Gänzlich mit dem Herkömmlichen bricht das Finale des dritten Aktes, in dem die Kette der Schrecken als ununterbrochene geknüpft wird, in dem die „terreur" der revolutionären Schreckens- und Rettungsoper, die ja normalerweise, wie der Begriff verrät, mit einer glücklichen Rettung gekrönt wird (wiederum sei der Fidelio als fulminantestes Beispiel genannt) in das antike ,horrendum' verwandelt wird, in einen Schrekken ohne Ausweg. Cherubini geht hier weiter als der j a nur wenig ältere Mozart, der nach der Höllenfahrt seines Giovanni nicht umhin konnte, ein „lieto fme" ein glückliches Ende für die Uberlebenden seines „dramma giocoso" anzuhängen (den man im 19.Jahrhundert meist einfach wegließ, in Verfälschung der Mozart/ Da Ponteschen Absichten). Dieser Schluß, in d-moll, der klassischen Tonart der Rache, schlägt den Bogen zum f-moll der Ouvertüre und bietet gleichzeitig die einzig wesentliche, aber auch entscheidende Änderung der Stoffgeschichte gegenüber Euripides und Corneille: Medea zieht nicht auf einem Drachenwagen (oder einem einzelnen Drachen) durch die Lüfte davon, sondern stirbt in den Flammen des von ihr selbst angezündeten Palasts, nachdem sie Jason angekündigt hat, daß sie ihn und ihre Kinder am Styx wiedertreffen wird. Die Ausweglosigkeit dieses Frauenschicksals wird durch einen solchen Schluß natürlich ins Gräßliche gesteigert, gleichzeitig werden alle unbefriedigten Strafgelüste des Publikums, die es bei der ,Normalversion' des Medea-Stoffes gegeben haben mag, gesättigt. Kurios und gleichzeitig bezeichnend ist es, daß die beiden international führenden OpernEnzyklopädien unserer Zeit in ihren Inhaltsangaben des Werkes gerade diesen entscheidenden Schluß verfälschen und behaupten, daß Medea sich „wie immer" in die Lüfte erhebe und davonfliege. 8 Hellmut Flashar hat völlig zu recht festgestellt, daß Cherubinis Medee „in der Annäherung an das tragische Kolorit der antiken Tragödie noch über die Reformbestrebungen Glucks hinausgeht. ( . . . ) es

7 8

Ringer 1993, 79. Vgl. auch Kunze 1974, sowie Schreiber 1988. Grove 1992, 298 und Piper Enz. 1986, 559.

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kann kein Zweifel sein, daß die antike Medea hier relativ unverfälscht auf der Bühne stand." 9 Dem wird jeder zustimmen, der das Werk näher kennengelernt hat, sei es in einer adäquaten Schallplatteneinspielung oder gar in einer der ganz selten gewordenen Aufführungen. Wer das Werk kennt, wird allerdings auch zugeben müssen, daß Medee eine Oper ist, die einzig und allein auf den Schultern einer großen Tragödin ruhen muß. Wenn keine exzeptionelle Interpretin der Titelrolle zur Verfügung steht, wird das Unternehmen einer Aufführung gnadenlos scheitern. Gerade die Wirkungsgeschichte in unserem Jahrhundert hat die Wahrheit dieser Behauptung belegt: Medee war in den Archiven verschwunden bis zu jenem Tag, als Maria Callas sich der Rolle und des Werks annahm. Die griechische Sopranistin tat dies zuerst, wohl auf Anregung des Dirigenten Tullio Serafin, 1952 in Florenz und dann an verschiedenen europäischen und amerikanischen Bühnen. Wer sich einmal einen der erhaltenen Mitschnitte einer solchen Aufführung angehört hat — am eindrucksvollsten ist wohl der der Aufführung an der Mailänder Scala aus dem Jahr 1953 mit Leonard Bernstein als Dirigent wer sich die erhaltenen Bühnenphotos ansieht und als Illustration noch den Medea-Film Pier Paolo Pasolinis mit einer fast stumm agierenden und nicht singenden Maria Callas hinzunimmt, der kann sich ein Bild davon machen, daß die hymnischen Berichte über diese Medea-Interpretation keineswegs übertrieben sind, er versteht aber auch, warum alle späteren Versuche durchaus fähiger Sängerinnen mit dieser Rolle im Schatten der Callas standen, deren Medea so viel von der unfreiwillig kinderlosen, im Hassen wie im Lieben überdimensionalen Maria Callas transportierte, daß man als Zuhörer das beklemmende Gefühl hat, einem fast unerlaubten exhibitionistischen Akt beizuwohnen. Wenn Medea-Callas das bereitete Schlachtfeld des 3. Aktes betritt („Numi venite a me, inferni dei") wird jede leiseste Wendung zwischen Mutterliebe und blindwütigem Haß, der sich durch die Kinder hindurch auf Jason richtet, nachgezeichnet, besser gesagt mit dem Meißel in monumentale Steinquader gehauen, und daraus entsteht eine Laokoon-Gruppe, die nur aus einer Person besteht: Callas-Medea. Wenn sie die Kinder, die sie eben noch zärtlich „cari figli" genannt hat, mit „lontan, lontan serpenti" als giftige Schlangen von sich stößt, wenn sie die Nachricht von dem geglückten Racheplan gegen die Rivalin Glauce mit einem entfesselten Schrei kommentiert, dann erstarrt nicht nur der getreuen Neris das Blut. Das Gift, das Medea Glauce mit Diadem und Gewand eingibt, es zerfrißt gleichzeitig die Stimmbänder der Interpretin. Maria Callas hat solche interpretatorische Selbstvergessenheit, solches völlige Sichausliefern an eine Rolle, die man nur ganz, nicht halb singen kann, mit dem frühen Verlust ihrer stimmlichen Fähigkeiten bezahlt, aber Medea ist eben keine ,normale' Opernrolle. Mit Maria Callas trat Cherubinis Medee einen Siegeszug über die europäischen Bühnen an, nach ihr verschwand es wieder, und bis

9

Flashar 1991, 46.

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heute ist es nicht gelungen, trotz mancher Versuche, das weibliche Urwesen in der Version Cherubinis wieder auf der Opernbühne heimisch zu machen, ungeachtet der Tatsache, daß der allem äußerlichen Opernwesen abholde Johannes Brahms sie für das „Höchste an dramatischer Musik" hielt und ein anderesmal hinzufugte: „Uber Tristan werden wir mit dem Schwatzen nicht fertig, und dies herrliche Werk nehmen wir so stillschweigend, so ganz selbstverständlich h i n . " 1 0 Mit diesem leider fast vergessenen und vernachlässigten Meisterwerk Luigi Cherubinis wurde ein kaum überholbares Muster für die Adaption der wohl unmäßigsten Gestalt der griechischen Tragödie aufgestellt. Es wird schwer nachzuweisen sein, ob die Beschwernis eines solchen Opernmonuments es war, die eine weitere intensive Beschäftigung der Opernbühne mit dieser Gestalt verhindert hat, oder ob es die Ausnahmeerscheinung Medea war, die sie als im Grunde unbekömmlich für das musikalische Theater erscheinen ließ. Jedenfalls sind die späteren Versuche spärlich geblieben: weder Simon Mayrs Medea in Corinto (1813) noch Giovanni Pacinis Medea (1843) sind mehr als Nischen im Opernmuseum geworden. Auch die zu Anfang erwähnte Freispruch für Medea-Oper R o l f Liebermanns, die im September 1995 an der Hamburgischen Staatsoper Premiere hatte, scheint nicht das Zeug zu haben, eine neue Auseinandersetzung mit Medea auf der Bühne des Musiktheaters zu provozieren. Liebermann stellt sich in seiner Oper, die auf einem gleichnamigen R o m a n von Ursula Haas basiert, den die Autorin zum Libretto umformte, auf einen keineswegs gegen den ,main stream' schwimmenden feministischen Standpunkt — insofern ist die zeitliche Koinzidenz mit Christa Wolfs R o m a n kein Zufall. Fünf Jahre zuvor hatte Liebermann den Stoff bereits zu einer Merfea-Kantate verarbeitet. Bei ihm und Ursula Haas ist Medea Königin und Oberpriesterin eines matriarchalen Reiches in Kolchis. D e m dort gefeierten Fruchtbarkeitskultus soll der Bruder Medeas geopfert werden, der zugleich ihr Gatte werden und nach der Vereinigung kastriert werden soll. Jason und die Argonauten erobern Kolchis, und Medea folgt Jason nach Korinth. Dort muß sie erleben, daß Jason ihr nicht eine Frau, sondern den Königssohn und Priester Kreon als Liebhaber vorzieht. Die schwangere Medea treibt ihr Kind ab, läßt Kreon in seinem Hochzeitskleid verbrennen und mit ihm ganz Korinth; M e dea bleibt allein zurück. Die Kritik hat durchweg erhebliche Zweifel angemeldet, ob Liebermanns Freispruch für Medea der Stoffgeschichte einen neuen Aspekt abgewonnen hat, ob überhaupt damit eine neue Medea-Oper für das Repertoire gewonnen wurde. Andererseits: solange das Meisterwerk Cherubinis vernachlässigt wird, ist es vielleicht auch nicht von gesteigerter Notwendigkeit, eine neue, andere Medea auf der Opernbühne anzusiedeln.

10

Brahms 1910a, 367 und Brahms 1910b, 83.

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Literaturverzeichnis Brahms 1910a Brahms 1910b Buschor 1979 Couton 1971 Flashar 1991 Fuhrmann 1996 Grove 1992 Kerényi 1963 Kunze 1974 Kunze 1984 Piper Enz. 1986 Ringer 1993 Schreiber 1988

M. Kalbeck (Hrsg.), Johannes Brahms, Bd. II, 2, Berlin 1910. J. Brahms, Briefwechsel, Bd. VII, Berlin 1910. Euripides, Medea, übers, von E. Buschor, Zürich/München 1979. G. Couton, Notice zu „Médée" in: Corneille, Théâtre complet, Tome Premier, Classiques Garnier, Paris 1971. H. Flashar, Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne der Neuzeit 1585-1990, München 1991. M. Fuhrmann, Rezension zu Christa Wolfs „Medea. Stimmen", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr.53, 2. März 1996. The New Grove Dictionary of Opera, hrsg. von S. Sadie, London 1992, Vol. 3. K. Kerényi, Einleitung zu: Medea, hrsg. von Joachim Schondorff, München/Wien 1963. S. Kunze, Cherubini und der musikalische Klassizismus, in: F. Lippmann (Hrsg.), Studien zur italienisch-deutschen Musikgeschichte, Köln 1974, 301-323. S. Kunze, Die europäische Musik und die Griechen, in: M. Svilar/S. Kunze (Hrsg.), Antike und europäische Welt. Aspekte der Auseinandersetzung, Bern/Frankfurt/New York 1984, 281-314. Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 1, München/Zürich 1986. A. L. Ringer, Cherubinis „Médée" und der Geist der französischen R e volutionsoper, in: A. L.R., Musik als Geschichte, Laaber 1993, 75-89. U. Schreiber, Die Kunst der Oper. Geschichte des Musiktheaters, Bd. 1, Frankfurt/Main 1988, 524-531.

ULRICH SUERBAUM

Shakespeare und die griechische Tragödie Shakespeare hat die griechische Tragödie nicht gekannt; sie hat auch indirekt kaum auf seine Werke eingewirkt. Der Einfluß Senecas, der für viele Zeitgenossen Shakespeares die antike Tragödie schlechthin verkörperte und der als Vermittler der Konzepte, Gestaltungsweisen und Stoffe der attischen Tragiker fungierte, ist bei ihm so gering und so unspezifisch, daß man ihn schwer nachweisen und noch schwerer als wesentlich ansehen kann. Vom 18.Jahrhundert bis in die jüngere Vergangenheit hat man diesen Tatbestand nicht hinnehmen wollen. Daß Shakespeares Tragödien, die wirkungsmächtigste, meistdiskutierte, meistaufgeflihrte, jedermanns Vorstellung von der Tragödie prägende Dramengruppe, nicht fest in der Tradition der griechischen Tragödie stehen und auf ihr aufbauen sollte, erschien nicht akzeptabel. Man hat daher immer wieder versucht, Verbindungen und Einflüsse nachzuweisen oder plausibel zu machen. 1 Ich will mich nicht den Spurensuchern anschließen, sondern das Fehlen jeglicher spezifischen, über das generelle Vorhandensein antiken Erbes in allen literarischen Werken der Neuzeit hinausgehenden Einwirkung der griechischen Tragödie auf die Genese der Tragödien Shakespeares als Faktum akzeptieren und als Ausgangspunkt setzen. Statt dessen will ich versuchen zu zeigen, in welcher Weise und mit welcher Wirkung die attische Tragödie auf die Tragödien Shakespeares Einfluß nahm, als diese bereits existierten und ihren Weg durch die Rezeptionsgeschichte nahmen.

1 Umfassender Überblick über die Literatur zum Thema ,Shakespeare und die Antike' bei J.W. Velz, Shakespeare and the Classical Tradition. A Critical Guide to Commentary, 1660-1960, Minneapolis 1968; Velz erfaßt und bespricht 2487 Publikationen. Z u m Schulwesen der elisabethanischen Zeit, zur verschwindend geringen Bedeutung des Griechischen im Unterricht und zu Shakespeares (möglicher oder wahrscheinlicher) Kenntnis der Antike und der Alten Sprachen s. T . W Baldwin, Shakespere's Small Latine and Less Greeke, 2 vols., Urbana, III. 1944. Zur Nachwirkung Senecas bei den elisabethanischen Dramatikern s. R . Borgmeier, „Die englische Literatur", in: E. Lefevre (Hrsg.), Der Einfluß Senecas auf das europäische Drama, Darmstadt 1978, 276-323, (mit umfangreicher Bibliographie), und R.S. Miola, Shakespeare and Classical Tragedy. The Influence of Seneca, Oxford 1992. Sammelbesprechung neuerer Arbeiten: W. Erzgräber, „Shakespeare und die Antike", Shakespeare-Jahrbuch 1994, 229-236.

Shakespeare und die griechische Tragödie

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Ich möchte dabei versuchen, die Rezeption, deren Bedeutung wir alle seit Jahrzehnten aufrichtige Lippenbekenntnisse zollen, wirklich ernstzunehmen und ihr die gleiche formende und bestimmende Kraft zuzubilligen wie den Einflußgrößen, die bei der Genese eines Werks mitspielen. Shakespeares Tragödien sind dafür ein geeignetes Objekt, denn gerade diese Texte haben ihre spätere Bedeutung als Höhepunkte im Werk des Autors und in der Geschichte der tragischen Literatur, als größte Herausforderung für das Theater und als Texte von einzigartiger Komplexität und Bedeutungsfülle erst im Verlauf eines langen Prozesses der Aufwertung und Umdeutung erhalten. Dabei ist es nicht etwa so — wie wir uns das als Vertreter einer historischen Wissenschaft gern vorstellen —, als ob es einen ursprünglichen und perfekten, bei der Kommunikation mit dem zeitgenössischen Publikum auch funktionierenden Satz von Bedeutungen gäbe, der später überlagert, verstellt und verkannt wurde und durch historische Forschung rekonstruiert werden muß. Die Stücke haben vielmehr in späteren Epochen Bedeutungen hinzugewonnen, die ursprünglich gar nicht vorhanden waren, die aber dann mit den Stücken tradiert wurden und auf Dauer zu ihrem Bedeutungspotential gehörten. Ich konzentriere mich auf vier Beispiele, die jeweils Stufen eines Prozesses illustrieren.

I. Das erste Zeugnis, in dem Shakespeares Werke mit denen der attischen Tragiker in Zusammenhang gebracht werden, stammt aus dem Jahre 1598, etwa in der Mitte der Schaffenszeit des Autors. Ein gelehrter Kenner und Liebhaber der Poesie namens Francis Meres stellte unter dem Titel Palladis Tamia eine Blütenlese aus der Literatur der verschiedensten Epochen zusammen, die nur aus Vergleichen besteht — witzigen, ausgefallenen, treffenden, albernen. In diesem Rahmen gibt er auch eine vergleichende Darstellung der klassischen und der modernen Literatur, nach Gattungen und in Namenslisten geordnet. 2 Shakespeare, der bei Meres meistgenannte Moderne, wird in den meist stereotypen Bestenlisten zweimal mit den attischen Tragikern parallelisiert. Einmal unter dem Stichwort „Reichtum und Eloquenz der Sprache" — für die elisabethanische Literaturauffassung ein zentraler Aspekt —, wo es heißt: „So wie die griechische Sprache berühmt und beredt gemacht wird durch" — unter anderen — „Euripides, Aeschylus und Sophokles," und das Lateinische durch Sprachkünstler von Vergil bis Ausonius und Claudianus, „so wird die englische Sprache gewaltig bereichert

2

Ich zitiere nach D. C. Allen, Francis Meres's Treatise „Poetrie". A Critical Edition, Urbana, III. 1933.

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Ulrich Suerbaum

und prächtig ausgestattet mit kostbaren Zieraten und glänzenden Gewändern durch" - unter sieben anderen — „Shakespeare": As the Greeke tongue is made famous and eloquent by Homer, Hesiod, Euripedes, Aeschilus, Sophocles, Pindarus,

Phocylides

Silius Italicus, Lucanus,

and Aristophanes;

Lucretius,

Ausonius

a n d t h e L a t i n e t o n g u e b y Virgill, Ouid,

a n d Claudianus:

Horace,

s o t h e E n g l i s h t o n g u e is m i g h t i l y

enriched, and gorgeouslie inuested in rare ornaments and resplendent abiliments by Sir Philip Sidney,

Spencer, Daniel,

Drayton,

Warner, Shakespeare,

Marlow

a n d Chapman.

(73)

D e r Abschnitt über die Tragödie ist ähnlich aufgebaut, aber länger und weniger selektiv. Auf die Liste der griechischen Tragiker, die von dem attischen Dreigestirn angeführt werden, u n d der Lateiner folgen „unsere besten bei der Tragödie", 12 an der Zahl, darunter Marlowe, Shakespeare u n d Ben Jonson: As these Tragicke Poets flourished in Greece, Aeschylus, Euripedes, Sophocles, Alexander Aetolus, Achaeus

Erithriaeus,

spis Atticus,

a n d Timon Apolloniates;

Astydamas

Atheniensis,

Apollodorus

Tarsensis, Nicomachus

Phrygius,

a n d t h e s e a m o n g t h e L a t i n e s , Accius, M. Attilius,

ThePompo-

nius Secundus and Seneca: so these are our best for Tragedie, the Lorde Buckhurst, Doctor Leg of Cambridge, Doctor Edes of Oxforde, maister Edward Ferris, the Authour of the Mirrorfor

Magistrates,

Beniamin

Iohnson.

Marlow,

Peele,

Watson,

Kid,

Shakespeare,

Drayton,

Chapman,

Decker,

and

(78)

Bei einer Betrachtung von zeitgenössischen Texten als Literatur ist es u m 1600 noch unerläßlich, daß man auf die Alten Bezug nimmt. Literaturhaftigkeit heißt Vergleichbarkeit mit den antiken Autoren, Einordnung in das etablierte System und in die historische Reihe. Das geschieht hier recht schematisch. Die Poeten werden vorwiegend chronologisch gereiht und selten durch wertende oder charakterisierende Attribute individualisiert. Die griechischen Tragiker sind ferne u n d fast unbekannte Größen, bedeutende N a m e n — die Meres im übrigen aus einem gängigen Handbuch, Textors Officina, e n t n o m m e n hat — sonst nichts. 3 Es gibt noch keinen Streit u m den Vorrang der alten und der neuen Literatur. Für die m o d e r n e englische Literatur wird aber implizit der Anspruch auf Gleichrangigkeit erhoben: Sie füllt das gesamte Gattungssystem aus und hat in jeder Sparte soviele N a m e n vorzuweisen wie die Griechen oder R ö m e r . D e r einzelne m o d e r n e Autor wird doppelt eingeordnet. Er wird primär zu den antiken Autoren seiner Gattung in Beziehung gesetzt — und zwar o h n e Implikation der Kenntnis u n d Benutzung ihrer Werke — und er wird sekundär durch die Zugehörigkeit zu einer R e i h e von Zeitgenossen auch in der modernen englischen Literatur plaziert. Eine Hierarchisierung innerhalb der Gruppe erfolgt nicht. Meres bewerkstelligt aber auf verschiedene Weisen, daß Shakespeare, den er offenbar besonders schätzt, gebührend hervorgehoben wird: Durch häufige Nennung, durch lobende Epi-

3 Uber die Officina des J. Ravisius Textor, ein weitverbreitetes, 1520 erstmals erschienenes Handbuch, s. Allen 1933, 22f.; zum Verhältnis Meres' zu seiner Quelle an dieser Stelle s. Allen 1933, 125.

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theta und dadurch, daß er zu seinen Ehren neben den Listen der Komödien- und Tragödiendichter noch einen eigenen Anlauf macht, um ihn als „the most excellent in both kinds [= Comedy and Tragedy] for the stage" herauszuheben und — gegen seine Gepflogenheit - die bisher vollendeten Werke des Autors einzeln zu nennen, wobei er als antike Widerlager nur Plautus und Seneca, „the best for Comedy and Tragedy among the Latines", aufführt: As Plautus and Seneca are accounted the best for Comedy and Tragedy among the Latines: so Shakespeare among the English is the most excellent in both kinds for the stage; for C o m e d y , w i t n e s his Gentlemen of Verona, his Errors, his Loue labors lost, his Loue labours wonne, his Midsummers night dreame, Sc his Merchant of Venice: for T r a g e d y his Richard the 2. Richard the 3. Henry the 4. King John, Titus Andronicus a n d his Romeo a n d Juliet. (76)

II. Ben Jonsons Gedicht „To the memory of my beloved, the author Mr. William Shakespeare, and what he hath left us", 25 Jahre nach Meres' Traktat erschienen, ist komplexer, berühmter und vor allem folgenreicher: Wohl kein anderer Text in der ganzen englischen Lyrik hat so große Auswirkungen gehabt. Geschrieben wurde es für die erste Gesamtausgabe der Dramen Shakespeares, die First Folio, die 1623, 7 Jahre nach dem Tode des Autors, von zwei Freunden und Kollegen aus der Theaterbranche, John Heminge und Henry Condell, veranstaltet wurde. Die Publikation als Gesamtausgabe und Foliant ging mutmaßlich auf das Vorbild Jonsons zurück, der einige Jahre zuvor die Kühnheit — manche Zeitgenossen meinten: die Unverfrorenheit — gehabt hatte, seine gesammelten poetischen und dramatischen Werke in der für profane Texte verpönten Form des Foliobuches zu veröffentlichen und sich so ein Denkmal zu setzen. Heminge und Condell sind nicht ganz so verwegen. Sie präsentieren ihr Buch nicht nur als Werkausgabe, sondern auch als memorial, als Grabmal in Buchform, „to keep the memory of so worthy a Friend & Fellow alive, as was our Shakespeare", wie die Herausgeber in einem Vorwort sagen.4 U m den Charakter des Gedenkbuchs zu betonen, stellen sie dem Buch eine Reihe von Nachrufgedichten voran, deren erstes und längstes das von Ben Jonson, dem damals angesehensten lebenden Dichter und Dramatiker, ist.5 Wenn man den Text aus heutiger Sicht betrachtet, fallen zunächst einzelne formelhafte Stellen auf, die sich wie immerwährende Echos durch vier Jahrhunderte Shakespearerezeption ziehen. Da sind die geflügelten Lobpreisungen: der

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The Riverside Shakespeare, ed. G. Blakemore Evans, Boston 1974, 62. Zitierte Ausgabe: Ben Jonson, ed. C . H . Herford, P. and E. Simpson, Vol. VIII, Oxford 1947 (corr. 1954), 390-392. 5

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süße Schwan vom Avon (Z. 72) 6 und der „star of poets" (Z. 77). 7 Da ist schließlich, eingebettet in einen Vergleich zwischen Shakespeare und den antiken Tragödiendichtern, die Aussage „thou hadst small Latine, and lesse Greeke" (Z. 31), eine Behauptung, die im Einklang mit dem steht, was andere Zeitgenossen über Shakespeares relativ geringe formale Bildung sagten, die aber in Jonsons zugespitzter Formulierung Hundertschaften von Forschern zum Versuch der Widerlegung animiert hat. Mit dem Gesamtzusammenhang hat der heutige Leser — und auch die Literaturkritik — Probleme, weil der Gang der Argumentation unter dem sprachlich-ornamentalen Rankenwerk schwer auszumachen ist und weil das Gedicht mit seinem Pathos und seinen hyperbolischen Preisungen dem Verdacht unterliegt, unaufrichtig und nicht wirklich ernst gemeint zu sein, obwohl ja der Modus der Vergrößerung, dem j e d e Form der Laudatio unterliegt, nicht bedeuten muß, daß die Aussage unseriös ist. Ben Jonson war es mit seinem Gedicht auf Shakespeare sicherlich ernst genug; die Bahnen, in die er den Nachruf seines Freundes, Konkurrenten u n d Antipoden lenkte, mußten ja notwendig auch den zukünftigen Verlauf seines eigenen R u h m s beeinflussen. D e m Gedicht liegt eine Denkfigur zugrunde, die wir schon von Francis Meres kennen. Jonson unternimmt den Versuch, Shakespeares Position durch die Einordnung in Gruppen von antiken u n d modernen Autoren zu bestimmen. Drei Zuordnungen werden nacheinander erwogen. Jedesmal werden zwar Aspekte der Zugehörigkeit u n d Vergleichbarkeit deutlich, aber Shakespeares Eingliederung in die Gruppe wird als nicht adäquat abgelehnt, so daß er eine singulare Figur bleibt u n d in der Schlußapotheose als einzelner Stern an das Firmament versetzt wird. Z u Anfang heißt es, daß die Großen der nationalen Dichtung, Chaucer, Spenser, u n d — überraschenderweise — der erst vor kurzem verstorbene Francis Beaumont, nicht zusammenzurücken brauchten, u m Platz für Shakespeares Grab zu machen, weil der sein eigenes M o n u m e n t sei u n d in diesem Buch n o c h lebe: I, therefore will begin. Soule of the Age! T h e applause! delight! the w o n d e r of our Stage! M y Shakespeare, rise; I will not lodge thee by Chaucer, or Spenser, or bid Beaumont lye A little further, to make thee a roome: T h o u art a M o n i m e n t , w i t h o u t a tombe, A n d art aliue still, while thy B o o k e doth liue, A n d w e haue wits to read, and praise to giue. (Z. 17-24)

Diese Einordnung — so eine nachgereichte weitere Erklärung — wäre auch deshalb nicht angebracht, weil ihr Werk zwar bedeutend, aber doch anders geartet ist. Die

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„Sweet Swan of Auon! W h a t a sight it w e r e / T o see the in our waters yet appeare", Z . 71 f. „Shine forth, thou Starre of Poets, and w i t h r a g e , / O r influence, chide, or cheere the drooping Stage",,Z. 7 7 f . 7

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Frage der Aufnahme in den nationalen Olymp bleibt damit offen. Eher, so der zweite Anlauf, ließe er sich bei seinen peers, den anderen Dramatikern, bei Lyly, Kyd oder Marlowe einreihen, aber die stellt er alle in den Schatten: That I not mixe thee so, my brain excuses; I mean with great, but disproportion'd Muses: For, if I thought my iudgment were ofyeeres, I should commit thee surely with thy peeres, And tell, h o w farre thou didst our Lily out-shine, O r sporting Kid, or Marlowes mighty line. (Z. 25-30)

Die Konstellation mit den Dramatikern der Antike ist der dritte und krönende Versuch der Einordnung. Jonson argumentiert: „Und obwohl Du wenig Latein und noch weniger Griechisch konntest, müßte ich, wenn ich Dich von daher (von der griechischen und römischen Literatur her) ehren wollte, nicht lange nach Namen suchen, sondern ich riefe zu uns und wieder ins Leben den donnernden Aischylos, Euripides und Sophocles, Pacuvius, Accius und den toten Cordovaner (Seneca), damit sie den Schritt deines Kothurns vernähmen und dich die Bühne erschüttern hörten": And though thou hadst small Latine and lesse Greeke, From thence to honor thee, I would not seeke For names; but call forth thund'ring Aeschilus, Euripides, and Sophocles to vs, Paccuuius, Accius, him of Cordoua dead, To life again, to heare thy Buskin tread And shake a Stage (Z. 31-37)

Auf das Bild eines auf seiner Bühne agierenden Shakespeare folgt die Erhöhung zu einem Dichter, dem alle Bühnen Europas huldigen und der allen Epochen angehört: Triumph, my Britaine, thou hast one to showe, To w h o m all Scenes of Europe homage owe. H e was not of an age, but for all time! (Z. 41-43)

Für die weitere Rezeptionsgeschichte erhalten drei Teilstrukturen dieses Denkmalgebäudes tragende Bedeutung. Die erste und wichtigste ist das, was wir Dehistorisierung nennnen können. Shakespeare wird aus seinem Zeit- und Bedingungskontext herausgenommen; und zwar nicht nur durch die Zeitlosigkeitsformel, sondern auch durch die literaturgeschichtliche Betrachtung: Er läßt sich weder in die große historische Reihe, die mit Chaucer beginnt, noch in die Reihe der frühen elisabethanischen Dramatiker eingruppieren. Diese Distanzierung von der eigenen Epoche ist im Augenblick, 1623, noch nicht relevant; sie wird es aber in dem Moment, der schon eine Generation später eintritt, in dem man sich von der elisabethanischen und jakobäischen Kultur schaudernd abwendet und sie als rückständig, ungeschlacht und nicht mehr tolerierbar in Bausch und Bogen ablehnt.

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Das zweite Element, dem Bedeutung zuwachsen wird, ist die Inthronisierung Shakespeares als geschichtsfreies Analogem zu den antiken Tragikern. Er ist ihnen ebenbürtig, aber er ist nicht von ihnen hergeleitet. Die in einer Eloge ganz ungewöhnliche Betonung der Mängel seiner klassischen Bildung soll j a vor allem demonstrieren, daß seine Werke nicht durch schöpferische Imitation antiker Vorbilder entstanden sind, sondern ganz aus Eigenem. Shakespeare ist sozusagen anima naturaliter classica. (Daß Jonson durch die Erwähnung der Bildungsmängel seines Freundes und Rivalen an seine eigene Überlegenheit in dieser Hinsicht erinnert, steht auf einem anderen Blatt.) Schließlich legt Jonson, wenn er darlegt, daß Shakespeare der Natur mehr verdankt als seiner Kunst, den Grund für die spätere Einschätzung als Stimme der Natur und Impersonation des natural genius. Rezeptionsgeschichte wird durch solche Konstrukte nicht gemacht, wohl aber kanalisiert. Nach 1623 wuchs die Bedeutung der Lektüre als Rezeptionsform, während die Theater zunächst einen Niedergang und dann — von 1642 bis 1660 — Schließung und Verbot erlebten. 8 Das neue Theater nach der Restauration der Monarchie hatte ein neues, vom Geschmack des Hofes und der Aristokratie beherrschtes Publikum und veränderte Spielbedingungen. Es hatte auch neue Autoren und neue dramatische Gattungen, aber nicht genügend neue Stücke, um den Spielplan zu füllen. Man mußte notgedrungen auch auf ältere Stücke zurückgreifen, und Shakespeare stellte sich im Laufe der Zeit als der zugkräftigste unter den alten Dramatikern heraus. Seine Dramen entsprachen aber in vieler Hinsicht weder dem verfeinerten Geschmack der Zeit noch den erweiterten Möglichkeiten des Kulissen- und Maschinentheaters. Man sah in ihnen einen Haufen schöner Blumen, die man erst noch zu Kränzen binden mußte. Die Dramen wurden daher von Theaterpraktikern wie William Davenant und Nahum Täte, aber auch von Autoren ersten Ranges wie John Dryden umgeschrieben oder gründlich überarbeitet. Die als schwülstig und inkorrekt empfundene Sprache wurde vereinfacht und gereinigt, Szenen wurden gestrichen oder hinzugefugt, Charaktere umgedeutet, Handlungen verändert — Romeo and Juliet endete glücklich, König Lear überlebte. 9 B e n Jonson, das ganze Jahrhundert hindurch immer wieder mit Shakespeare verglichen, verlor an Präsenz im Theater und bei der Leserschaft, so daß schließ-

8 Grundlegend zur Rezeptionsgeschichte A. Ralli, A History o f Shakesperian Criticism, 2 vols., Oxford 1932, u n d J . R . Brown, Shakespeare's Plays in Performance, London 1966. Kurzer Abriß bei K.J. Holzknecht, The Backgrounds o f Shakespeares Plays, New York 1950, 374-438. Literaturübersicht bei S. Wells (Hrsg.), Shakespeare. A Bibliographical Guide, Oxford 1990. Vgl. zum folgenden auch das Kapitel „Rezeption: Text und Theater, Englisch und Deutsch" in U. Suerbaum, Shakespeares Dramen, Tübingen 1996, 280-301. 9 Zu den Adaptationen der Restaurationszeit s. H. Spencer, Shakespeare Improved. The R e storation Versions in Quarto and on the Stage, Cambridge, Mass. 1927.

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lieh die Gegenüberstellung zu seinen Ungunsten ausfiel. Dryden, der literarische pontifex maximus des Restaurationszeitalters, urteilte — wieder mit einem Antikenvergleich: „Shakespeare was the Homer, or Father of our Dramatick Poets; Johnson was the Virgil, the pattern of elaborate writing; I admire him, but I love Shakespeare« . 11

III.

Z u Beginn des 18.Jahrhunderts hat dann eine Epoche, die sich selbst Augustan Age nennt und die sich als Fortsetzerin und Vollenderin der antiken Klassik - u n d zwar vor allem der römischen — betrachtet, mit Shakespeare einen lebendigen und wirkenden Hauptautor der nationalen Literatur, der überhaupt nicht den Konzepten und Postulaten ihrer eigenen Poetik entspricht: Er vermischt die dramatischen Gattungen; sowohl sein Stil als auch das Pathos seiner Figuren lasssen Maß und D e k o r u m vermissen; seine Bühne schwimmt von Blut u n d Greuel; er verstößt gegen alle Regeln, an die man in England zwar nicht so streng glaubt wie auf dem Kontinent, denen man aber doch große Bedeutung zumißt. Das Phänomen Shakespeare kann nicht einfach hingenommen werden; es b e darf der Rechtfertigung, und ein großer Teil der Energien der Literartheoretiker u n d -kritiker der Zeit wird darauf verwandt, diese Rechtfertigung zu liefern, wobei die in Jonsons Nachrufgedicht vorgeprägten Deutungsstrategien benutzt und ausgebaut werden. Bei einer R e i h e von Kritikern verbindet sich die Apologie, die zunächst nur darauf abzielt, für Shakespeare einen Sonderstatus und Ausnahmerechte zu beanspruchen, mit dem Widerstand gegen die Diktatur der poetisch-dramatischen R e geln, die Aristoteles zugeschrieben werden und unter denen die drei Einheiten (von denen man durchaus weiß, daß sie so nicht von Aristoteles stammen) die wichtigsten u n d umstrittensten sind. Die griechische Tragödie, inzwischen so bekannt, daß die Vertrautheit mit ihren Handlungen und Personenkonstellationen auch in Schriften für ein breiteres Publikum vorausgesetzt wird, 1 2 ist für die engli-

10 Dokumente und Auswertung bei G. E. Bentley, Shakespeare and Jonson. Their Reputations in the Seventeenth Century Compared, 2 vols., Chicago 1945. 11 Zusammenfasssung des Vergleichs der beiden Dramatiker in seinem Essay of Dramatick Poesie (1668), mit dem die detaillierte und diskursive Shakespearekritik beginnt. The Works of John Dryden, vol. XVII, ed. S.H. Monk, Berkeley 1971, 58. 12 Aufschlußreich für den Bekanntheitsgrad der griechischen Tragödie und für die Einstellung zu ihr sind die beiden Essays von Joseph Addison über die antike und moderne Tragödienliteratur im Spectator, Nr. 39 und Nr. 40 (14. und 16. April 1711); The Spectator, ed. G.A. Aitken, London o.J., 1,163-168. - Bis in die Mitte des 19.Jahrhunderts stammt die Kenntnis der attischen Tragödie bei fast allen Gebildeten nicht aus Originalausgaben oder Ubersetzungen, sondern aus freien Bearbeitungen für die englische Bühne.

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sehen Kritiker des 18. Jahrhunderts jenes Textkorpus, aus dem die aristotelischen Regeln gewonnen sein sollen und das man kritisch befragen muß, ob sie dort tatsächlich Anwendung und Bestätigung finden. Unversehens fuhrt dann der Vergleich der griechischen und der Shakespeareschen Tragödie über die Apologie eines Sonderfalles, eines Geniestreichs der Literaturgeschichte, hinaus; man beginnt sich zu fragen, ob man nicht die beiden Korpora als unterschiedliche, aber gleichrangige Arten von Tragödie begreifen kann. Vielleicht hat j a das, was als Regellosigkeit oder Verletzung von Regeln erscheint, doch seine eigene Regularität und braucht gar nicht entschuldigt zu werden, weil es selbst Anspruch auf Wertgeltung beanspruchen kann. Nicholas Rowe, Jurist und Dramatiker, veröffentlichte 1709 die erste Ausgabe der Dramen Shakespeares nach den vier Editionen der Folio. Er gibt seiner Ausgabe als Vorspann eine Abhandlung unter dem Titel „Some Account o f the Life, & c. o f Mr. William Shakespeare" bei. 1 3 Sie besteht aus einer Biographie Shakespeares — der ersten auf dem gesamten verfügbaren Material fußenden — und aus einer Besprechung der Dramen, in der es ihm vor allem darum geht, Shakespeare vor dem Vorwurf der Primitivität und Regellosigkeit zu verteidigen. R o w e wendet die gleiche Taktik an wie alle Shakespeareapologeten der E p o che. Er geht davon aus, daß das Werk große Schönheiten und ebensogroße M ä n gel aufweise. Die Mängel werden, soweit es nur geht, der barbarischen Zeit, in der der Autor wirkte, in die Schuhe geschoben. Die Schönheiten werden ausgelesen und zu Girlanden zusammengestellt. R o w e lenkt das Augenmerk auf einen Charakter hier und eine Szene dort; er zitiert eine R e i h e bemerkenswerter Stellen. Der Leser merkt kaum, daß hinter der Buntheit seiner Blütenlese ein straffer Argumentationsplan steht: Er vergleicht seinen Autor mit den Alten und macht, zunächst vorwiegend implizit, deutlich, daß Shakespeare die antiken Dramatiker nicht nur erreicht, sondern in einem Teil seiner Werke sogar hinter sich läßt. 1 4 Bei den Komödien hat R o w e leichtes Spiel, denn hier gibt es schon seit B e n Jonsons Zeiten die Gepflogenheit, die englischen Produktionen über die der Antike zu stellen.

1 3 Faksimileausgabe (mit einem Vorwort von S. H. Monk) in der Extra Series der Augustan Reprint Society, vol. X V I I , Ann Arbor, Mich. 1947 (repr. New York 1967). Nach dieser Ausgabe wird zitiert. Zum rezeptionsgeschichtlichen Kontext s. S. Schoenbaum. Shakespeare's Lives. New Edition, Oxford 1993, 8 6 - 9 0 . 1 4 Rowes Ausgangsposition lautet: Shakespeare hat die Werke der Alten nicht gekannt; was jedoch bei anderen ein Nachteil gewesen wäre, war im Falle dieses Genies eher ein Vorteil. „It is without Controversie, that he had no knowledge o f the Writings of the Antient Poets [...] Whether his Ignorance of the Antients were a disadvantage to him or no, may admit o f a Dispute: For tho' the knowledge of 'em might have made him more Correct, yet it is not improbable but that the Regularity and Deference for them [...] might have restrain'd some o f that Fire, Impetuosity, and even beautiful Extravagance which we admire in Shakespear [ . . . ] " , iii.

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Die Erörterung der Tragödien beginnt R o w e mit einer Grundsatzerklärung zur Frage der Regeln und des Bezugs zur Antike. Der erste Schritt ist eine Konzession: Wollte man die Tragödien Shakespeares nach den Maßstäben der Regeln untersuchen, die Aristoteles aufgestellt u n d aus dem Modell der griechischen Tragödie abgeleitet hat, dann könnte man mit leichter M ü h e eine Fülle von Fehlern feststellen: If one u n d e r t o o k to examine the greatest part of these [= the Tragedies of Mr. Shakespear] by those Rules w h i c h are establish'd by Aristotle, and taken from the M o d e l of the Grecian Stage, it would be no very hard Task to find a great many Faults, (xxvi)

Aber diese Regeln k ö n n e n nicht für Shakespeares Dramen gelten, weil er ausschließlich vom Licht der Natur angeleitet wurde, weil er die Vorschriften gar nicht kannte, und weil es nicht angehen würde, jemanden nach einem Gesetz zu verurteilen, von dem er nichts wußte: But as Shakespear liv'd under a kind of mere Light of Nature, and had never been made acquainted with the Regularity of those written Precepts, so it would be hard to j u d g e h i m by a Law he k n e w nothing of. (xxvi)

Zusätzlich — ,hilfsweise' — plädiert er auf mildernde Umstände: Shakespeare lebte in einem Zeitalter universeller Willkür und Ignoranz; es gab noch keine Kunstrichter; jeder schrieb, wie es ihm gerade in den Kopf kam: We are to consider h i m as a M a n that liv'd in a State of almost universal Licence and Ignorance: T h e r e was no establish'd Judge, but every one took the liberty to W r i t e according to the Dictates of his own Fancy, (ibid.)

Mit dem Verdikt der Nichtanwendbarkeit der Regeln ist die Verteidigungsargumentation eigentlich abgeschlossen. R o w e setzt aber noch einmal an, u m die Verschiedenheit der Shakespearetragödien von den griechischen im R a h m e n eines systematischen und einheitlichen Zugriffs zu erfassen. Bei einem tragischen oder epischen Poem gibt es zwei konstituierende Teile, die Handlung (fable) u n d die Charaktere. Die Handlung wird in der traditionellen Poetik in der Regel an erster Stelle genannt, und zwar nicht, weil sie am schwierigsten oder schönsten wäre, sondern weil ihre Konstruktion bei der Genese des Werks zuerst kommt. Diese Konstituente ist nicht Shakespeares Stärke. Er übernimmt die Handlungen meist aus Quellen und läßt sie, wie er sie vorfindet, samt den regelwidrigen Ortswechseln und überlangen Handlungszeiten. Die andere Komponente, die Zeichnung der Charaktere und die Ubereinstimm u n g zwischen den Charakteren u n d ihrer Handlungs- und Sprechweise („The Manners of his Characters, in Acting or Speaking what is proper for them", xxvii), das ist sein Metier. An einer R e i h e von Beispielen aus Historien u n d Tragödien zeigt er, wie präzis und differenziert die Darstellung der Figuren ist. Shakespeare hatte gar nicht das (aristotelische) Ziel, so faßt R o w e zusammen, eine einzige und einheitliche H a n d -

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lung darzustellen, sondern er wollte das Leben großer Personen mit allen Wechselfällen gestalten. 1 5 Unvermittelt stellt er z u m Schluß Shakespeares Hamlet u n d die Elektra des S o phokles gegenüber, beides D r a m e n , in d e n e n ein j u n g e r Prinz den Tod seines Vaters rächen m u ß u n d in d e n e n die M u t t e r Mitschuld trägt u n d den M ö r d e r geheiratet hat. D i e A u s f u h r u n g bei Sophokles ist schockierend u n d tadelnswert: Orest befleckt seine H ä n d e mit d e m Blut seiner Mutter, zwar nicht direkt auf der B ü h n e , aber so nahe, daß das P u b l i k u m Klytemnestras Hilferufe u n d ihr Flehen u m G n a d e hört. Ein klarer Verstoß bei Orest u n d Elektra gegen die R e g e l , daß Tragödienfiguren sich ihren Manners, ihrer Wesensart u n d ihrer sozialen Rolle, angemessen verhalten müssen. Shakespeare dagegen vermeidet es, „ w i t h wonderful Art and Justness o f j u d g m e n t " (xxxiii), seinen Prinzen Gewalt gegen seine schuldige M u t t e r a n w e n d e n zu lassen. Diese Attacke gegen eine griechische Tragödie zeigt vordergründig nur mit spitzem Finger auf einen Verstoß gegen eine R e g e l , Verbot des Blutvergießens auf offener B ü h n e , die Shakespeare, für den sie ja gar nicht gelten soll, in e i n e m Falle einhält, sonst aber natürlich nicht, d e n n allein in der Schlußszene des Hamlet sterben ja nicht weniger als vier Personen vor den A u g e n des Publikums eines gewaltsamen Todes. R o w e geht es aber nicht nur darum, e i n e m der griechischen Tragiker etwas am Z e u g e zu flicken. Er will auch zeigen, daß das Kunstgebot der U b e r e i n s t i m m u n g zwischen der Anlage einer Figur u n d deren Verhaltensweisen im D r a m a bei Shakespeare, d e m Charakterdramatiker, besser eingehalten wird u n d daß seine Tragödien daher eine andere, h ö h e r e W i r k u n g auszulösen v e r m ö g e n : nicht horror, bloßes Gruseln u n d Bangemachen, sondern terror, Schrecken, der erschüttert. Z u Anfang des 18.Jahrhunderts kostete es noch, wie m a n bei R o w e spürt, Anstrengung u n d U b e r w i n d u n g , gegen das Diktat der R e g e l n anzugehen u n d Shakespeare allen Ernstes den antiken Klassikern an die Seite zu stellen. I m Laufe des Jahrhunderts schreitet aber dann der Prozeß der Kanonisierung Shakespeares stetig fort; seine Einzigartigkeit u n d Unvergleichlichkeit wird z u m D o g m a . O h n e hin ist von den R e g e l n i m m e r weniger gebieterisch die R e d e , u n d natural genius wird zur n o r m a l e n Voraussetzung für j e d e n wahren Dichter, d e m Gelehrsamkeit n u n eher schadet. 1 6

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„[•••] his Design seems to be most commonly rather to describe those great Men in the several Fortunes and Accidents of their Lives, than to take any Single great Action, and form his Work simply upon that", xxxi. 16 Zur Entwicklung der Shakespearerezeption im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts s. D. N. Smith, Shakespeare in the Eighteenth Century, Oxford 1928, und H. S. Robinson, Shakesperian Criticism in the Eighteenth Century, New York 1932.

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Für Dr. Samuel Johnson, die dominierende Figur im literarischen Leben der Jahrhundertmitte, ist Shakespeare im Begriff, selbst zu einem der ancients, der alten Klassiker, zu werden: „[He] may now begin to assume the dignity o f an ancient, and claim the privilege o f established fame and prescriptive veneration". 1 7 Klassizität, so argumentiert Johnson, beruht auf Fortdauer der Wirkung und Geltung nach dem Abfallen oder Unkenntlichwerden aller Anspielungen auf E n t stehungszeit und Ursprungspublikum. Die Frage, ob er zu den Großen gehört, ist entschieden. Seine Fehler, von denen auch Johnson in seiner kommentierten Gesamtausgabe häufig spricht, werden nicht mehr durch Abweichungen von einem Regelkanon der Antike definiert, sondern als Verstöße gegen j e n e Poetik der Vernünftigkeit und des common sense, an die Johnson glaubt. Bis zu diesem Zeitpunkt sind die attischen Tragödien in den Prozessen der Shakespearerezeption immer nur instrumentalisiert worden. Sie wurden als Figuren in einem Spiel benutzt, in dem es um Positionen und Relationen ging, aber nicht um die Figuren selbst. Wer sich vergleichend äußerte, war Partei und wollte Shakespeare durch seinen Vergleich erhöhen oder herabsetzen. Nirgendwo zeigte sich ein Bestreben, beiden Phänomenen wirklich gerecht zu werden. Da es um Rangzuweisungen ging, vollzog sich die Diskussion vorwiegend auf der Ebene von Generalisierungen. Uberlieferte Axiome, Theoreme und Präzepte spielten eine große Rolle, aber es gab keinen Versuch, die Auseinandersetzungen über die griechische und heimische Tragödie auf die Basis einer eigenen und zusammenhängenden Theorie zu stellen. Der Anstoß zur Behebung dieser Defizite kam von außen, aus einer Weltregion, mit der die englische Literatur bis dahin so gut wie nichts zu tun gehabt hatte, aus Deutschland.

IV. In Deutschland war Shakespeare 150 Jahre lang fast unbekannt geblieben. (Noch um 1730 konnte man bestenfalls aus einem Nachschlagewerk wie Jöchers C o m pendiösen Gelehrten-Lexicon erfahren, „Shakespear (Wilh.)" sei „ein englischer Dramaticus" gewesen, der es „in der Poesie sehr h o c h " gebracht hätte, „kein Latein verstund", „ein schertzhafftes Gemüthe" hatte, „aber doch auch sehr ernsthafft seyn" konnte. 1 8 ) Von 1760 an kam es dann in einem Triumphzug der R e z e p tionsgeschichte innerhalb von zwei Generationen dahin, daß Shakespeare in

1 7 Johnson in der Vorrede zu seiner Shakespeareausgabe. D. N. Smith (Hrsg.), Shakespeare Criticism. A Selection 1623-1840, London 1916 (repr. 1963), 7 8 f . 1 8 Zitiert bei H. Wolffheim, Die Entdeckung Shakespeares. Deutsche Zeugnisse des 18. Jahrhunderts, Hamburg 1959, 91.

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Deutschland fest eingebürgert war und neben Goethe und Schiller als ,dritter deutscher Klassiker' betrachtet wurde. 1 9 Shakespeares frühe Verfechter in Deutschland, Wieland und Goethe vor allem, propagierten ein Shakespearebild, das sie von den englischen Kritikern ü b e r n o m men hatten, und zwar nicht von den zeitgenössischen, sondern von denen der vorhergehenden E p o c h e von Dryden bis Pope. Für sie ist Shakespeare ein Primitiver, ein edler Wilder, ein schönes Monster. Er hat — so Wieland nach Pope — „alle Schönheiten und Mängel der wilden N a t u r " . 2 0 Auch seine Bewunderer gingen mit seinen Verächtern darin überein, daß seine Dramen allen R e g e l n der Kunst spotteten und sein Ausdruck „roh und incorrect" sei. 2 1 Man sah ihn also als einen höchst unzeitgemäßen, j a nahezu außerliterarischen und außergeschichtlichen Dichter. D e r R ü c k g r i f f auf ein in England bereits überwundenes Stadium hängt mit der Stoßrichtung der deutschen Shakespeareenthusiasten zusammen. Auch sie wollen, wie englische Kritiker eine Generation zuvor, Shakespeare zu ihrem Vorkämpfer und Kronzeugen gegen die Herrschaft der R e g e l n machen, die sie allerdings nicht als die des Aristoteles und der griechischen Tragödie, sondern als die der Franzosen auffaßten. „Die erste Seite, die ich in ihm las," heißt es in Goethes Rede zum Shakespeares-Tag (1771), „machte mich auf zeitlebens ihm eigen. [ . . . ] Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unserer Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, daß ich Hände und Füße hatte." 2 2 D i e deutsche Shakespearerezeption holte in der Folge ihren fruchtbaren R ü c k stand schnell auf. Sie hatte gegen Ende des 18.Jahrhunderts den Stand der englischen Shakespeareforschung und -kritik erreicht und setzte an, deren R e f l e -

1 9 Einen Uberblick über die Literatur bietet H. Blinn, Der deutsche Shakespeare — The German Shakespeare. Eine annotierte Bibliographie zur Shakespeare-Rezeption des deutschsprachigen Kulturraums, Berlin 1993. Wichtig sind noch immer ältere Gesamtdarstellungen, zur Theatergeschichte R . Genee, Geschichte der Shakespeareschen Dramen in Deutschland, Leipzig 1870 (Neudruck Hildesheim 1967) und E. L. Stahl, Shakespeare und das deutsche Theater, Stuttgart 1947; zur Deutungsgeschichte F. Gundolf, Shakespeare und der deutsche Geist, Berlin 1911. Zur Ubersetzungsgeschichte s. A. Brandl, „Die Aufnahme Shakespeares in Deutschland und die Schlegel-Tiecksche Ubersetzung", Shakespeares Dramatische Werke, ed. A. Brandl, Bd. 1, Leipzig 1897; vgl. U. Suerbaum, „Der deutsche Shakespeare. Ubersetzungsgeschichte und Übersetzungstheorie", in: E. Kolb und J. Hasler (Hrsg.), Festschrift Rudolf Stamm, Bern 1969, 61-80. 2 0 Wieland an W.D. Sulzer (1758); E. Stadler, Wielands Shakespeare, Straßburg 1910, 9. 2 1 Wieland im Nachwort zu seiner Shakespeareübersetzung, Gesammelte Schriften, 2. Abt.: Übersetzungen, ed. E. Stadler, Berlin 1909-1911, 111,566. 2 2 Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 12, ed. H.J. Schrimpf, Hamburg 1953, 225. Der junge Goethe ruft neben Shakespeare auch die Griechen - „Homer und Sophokles und Theokrit", 225 — als Kronzeugen gegen die Regeln der Franzosen an.

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xionsniveau zu übersteigen. August W i l h e l m Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur w u r d e n 1808 in W i e n gehalten, 1809—11 in Deutschland publiziert u n d in den folgenden Jahren in alle wichtigen Sprachen übersetzt, 1815 ins Englische. 2 3 Schlegel will sich, wie er in seiner Vorrede sagt, in seinen Vorlesungen „ b e m ü hen, die T h e o r i e der dramatischen Kunst mit ihrer Geschichte zu verbinden [ . . . ] " (V, 17). Sein Vorhaben ist die Erfüllung der zentralen Aufgabe der Kunstkritik: „Die Geschichte der schönen Künste lehrt uns, was geleistet w o r d e n , die T h e o r i e , was geleistet werden soll. O h n e ein verbindendes Mittelglied w ü r d e n beide abgesondert u n d unzulänglich bleiben" (ibid.). Die Kritik leistet ihren vermittelnden Dienst durch „Vergleichung u n d Beurteilung der vorhandenen H e r v o r b r i n g u n g e n des menschlichen Geistes" (ibid.). Ziel seines Vermittlungs- u n d Vergleichungsvorhabens ist es vor allem, „ z u gleich die Alten nach G e b ü h r zu ehren u n d d e n n o c h die davon gänzlich abweichende Eigentümlichkeit der N e u e r e n a n z u e r k e n n e n " (V, 21). W i e wir gelernt haben, die Bauwerke sowohl der griechischen als auch der gotischen Architektur zu b e w u n d e r n u n d in ihrer tiefen B e d e u t u n g zu verstehen, so m ü ß t e n wir es auch mit den Werken der Literatur versuchen: Das Pantheon ist nicht verschiedener von der Westminsterabtei oder der St. Stephanskirche in Wien als der Bau einer Tragödie von Sophokles von dem eines Schauspiels von Shakespeare. Die Vergleichung zwischen diesen Wunderwerken der Poesie und Architektur ließe sich gar wohl noch weiter durchfuhren. Aber nötigt uns denn wirklich die Bewunderung der einen zur Geringschätzung der andern? Können wir nicht zugeben, daß jedes in seiner Art groß und wunderwürdig, wiewohl dieses ganz etwas anders ist und sein soll als jenes? Es gälte den Versuch. (V, 22)

Schlegel bewerkstelligt sein U n t e r f a n g e n , die gesamte abendländische dramatische Literatur von den G r i e c h e n bis z u m gegenwärtigen Deutschland in systematischem Z u g r i f f zu erfassen u n d vergleichend einzuordnen, durch eine theoretischhistorische Konstruktion, die an die Lösung des gordischen Knotens erinnert. Die gesamte D y n a m i k der N a t u r wie der menschlichen Geschichte b e r u h t danach auf d e m Wechsel u n d Widerspiel von „ E i n s t i m m u n g " (= H a r m o n i e ) u n d Gegensatz. In der Geschichte der Musik, der bildenden Künste u n d der Poesie zeigt sich dieses Prinzip darin, „daß derselbe Gegensatz zwischen d e m Streben der Alten u n d N e u e r e n symmetrisch, ja ich m ö c h t e sagen systematisch, durch alle Ä u ß e r u n g e n des künstlerischen Vermögens [...] h i n d u r c h g e h t " (V, 21). In diesem Gegensatz zwischen der antiken oder klassischen u n d der neueren oder romantischen Kunst v e r k ö r p e r n die G r i e c h e n den Pol der Einstimmung, die N e u e r e n den der N i c h t - H a r m o n i e :

23 Zur Entstehungs- und Druckgeschichte der Vorlesungen s. E. Lohner im Vorwort seiner Ausgabe, nach der im folgenden zitiert wird: August Wilhelm Schlegel, Kritische Schriften und Briefe, ed. E. Lohner, Bd. V-VI, Stuttgart 1966, hier V, 5-8.

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Ulrich Suerbaum Das griechische Ideal der Menschheit war vollkommene Eintracht und Ebenmaß aller Kräfte, natürliche Harmonie. Die Neueren hingegen sind zum Bewußtsein der inneren Entzweiung gekommen, welche ein solches Ideal unmöglich macht; daher ist das Streben ihrer Poesie, diese beiden Welten, zwischen denen wir uns geteilt fühlen, die geistige und sinnliche, miteinander auszusöhnen und unauflöslich zu verschmelzen. (V, 26)

Man kann diesen Gegensatz zwischen den Alten und den Neueren am deutlichsten in den darstellenden Künsten sehen. Alte und neue Kultur verhalten sich wie Plastik — abstrahierend, sich nur auf Wesentliches konzentrierend — und Malerei — ausfuhrlicher, auch Hintergründe, Nebensächliches und Gegensätzliches einbeziehend. „Der Geist der gesamten antiken Kunst und Poesie ist plastisch, so wie der modernen pittoresk", heißt Schlegels Formel (V, 22). Diese Reduzierung der Geschichte der Kulturen auf ein einmaliges Umschlagen eines allgemeinen Strebens in sein Gegenteil reduziert auch den geplanten Vergleich der verschiedenen dramatischen Nationalliteraturen auf eine schlichte Antinomie. Mit Ausnahme des deutschen Dramas, dessen Eigentümlichkeit noch nicht festgelegt ist, werden alle nationalen Literaturen dem einen oder dem anderen Pol zugeschlagen: Die Römer, die Italiener und die Franzosen sind Nachahmer der Griechen, die englischen und spanischen Dramatiker haben das romantische Schauspiel geschaffen, und zwar ganz unabhängig voneinander. Im Grunde geht die Reduktion noch eine Stufe weiter und läuft auf eine Entgegensetzung der Tragödien des Aeschylus und Sophokles - Euripides ist für Schlegel schon eine Figur des Abstiegs — und Shakespeares hinaus, des einzigen englischen Dramatikers, der das romantische Prinzip auf vollkommene Weise verwirklicht. Die nähere Bestimmung des romantischen Schauspiels, die Schlegel an den Anfang der sieben Vorlesungen über Shakespeare stellt, ist ganz auf dessen Werke abgestellt und definiert all das, was früher als irregulär angesehen und mühsam gerechtfertigt werden mußte, als Wesensbestandteile und damit als Erfordernisse des romantischen Dramas. Das moderne Drama, das nicht mehr — wie das antike — „auf strenge Sonderung des Ungleichartigen" (VI, 111) hinausgeht, sondern sich in „unauflöslichen Mischungen" gefällt (VI, l l l f . ) , entspricht nicht mehr „der Gruppe in der Skulptur", sondern einem großen Gemälde, „wo außer der Gestalt und Bewegung in reicheren Gruppen auch noch die Umgebung der Personen mitabgebildet ist, nicht bloß die nächste, sondern ein bedeutender Ausblick in die Ferne" (VI, 112). Das romantische Schauspiel „sondert nicht strenge, wie die alte Tragödie, den Ernst und die Handlung unter den Bestandteilen des Lebens aus; es faßt das ganze bunte Schauspiel desselben mit allen Umgebungen zusammen" (VI, 113). Weil es dieses Ziel hat, sind der „Wechsel der Zeiten und Orter", der „Kontrast von Scherz und Ernst" im gleichen Stück und die „Mischung der dialogischen und lyrischen Bestandteile" für Schlegel im romantischen Drama „nicht etwa bloße Lizenzen, sondern wahre Schönheiten" (ibid.).

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Schlegel, der jedes Shakespearestück bespricht, bringt die Interpretation ein großes Stück voran. Die Dramen sind nie vorher so differenziert und umsichtig und unter so vielen Aspekten charakterisiert und analysiert worden. Er knüpft in vielen Details an die Tradition der englischen Kritik an, aber es gibt weite Bereiche, in denen er ganz Neues zu sagen hat — über Ironie, sprachliche Eigentümlichkeiten, Charakteranlage und Figurenkonstellation zum Beispiel. In diesen Interpretationen ist vom Klassischen oder Romantischen gar nicht die Rede, so daß man meinen könnte, die komplizierte Antithesenkonstruktion sei nur eine Fassade. Das ist aber nicht der Fall. Die Entgegensetzung klassisches Drama — romantisches Schauspiel ist die Bedingung der Möglichkeit für das, was Schlegel in den Stücken neu zu sehen vermag. Sie beseitigt den Rechtfertigungszwang und ermöglicht den Ubergang von einer Verteidigung oder Abwägung von Fehlern und Vorzügen zur freien Deutung. Wenn das Prinzip des romantischen Dramas totaliter aliter heißt, dann gelten für sie weder die aus der Antike hergeleiteten Regeln noch auch alle Gattungsbegriffe und Gattungsgrenzen. Formlos, darauf besteht Schlegel, sind Shakespeares romantische Schauspiele durchaus nicht, aber sie haben keine äußere, mechanische, sondern eine organische Form; diese „bildet von innen heraus und erreicht ihre Bestimmtheit zugleich mit der vollständigen Entwicklung des Keimes" (VI, 109). Schlegel hat keine Probleme damit, die innere Form jedes Stückes und das Zusammenspiel der aus einem Keim hervorgegangenen Komponenten darzulegen. Er wird zum Begründer einer bis heute vorherrschenden Grundtendenz der Shakespeareinterpretation, die wir als totale Optimierung bezeichnen können: An Shakespeare ist kein Fehl; jedes Detail ist unübertrefflich; alles, aber auch alles, fugt sich zu einem organischen Ganzen zusammen. Auf die griechische Tragödie geht Schlegel in seinen Shakespearevorlesungen im einzelnen kaum ein. Nur gelegentlich betont er scheinbar beiläufig die Gleichrangigkeit der beiden Komplexe. „Seit den Furien des Aeschylus war etwas so Großes und Furchtbares nicht wieder gedichtet worden" (VI, 172), sagt er beispielsweise zum Macbeth, und in der Le^r-Interpretation heißt es, Kordelia in ihrer ,himmlischen Seelenschönheit' dürfe „nur mit Antigone zusammen genannt werden" (VI, 178). Trotz des Fortfalls der expliziten Vergleiche kann man sagen, daß er die Shakespearetragödien den griechischen ähnlicher macht, als sie je zuvor gewesen sind, denn sein Ansatz geht von einer strengen Symmetrie in der Gegensätzlichkeit und Andersartigkeit aus. Er unterwirft beide Komplexe der gleichen Betrachtungsweise, weist ihnen den gleichen Grad an Komplexität zu, die gleiche Bedeutungsfülle, die gleiche Geschlossenheit und Stimmigkeit, die gleiche Perfektion als ,Wunderwerke' der Poesie. Schlegels Konstruktion hat, so fruchtbar sie ist, doch ihren Preis, und den muß vor allem die griechische Tragödie bezahlen. Zwar sind die Interpretationen der einzelnen attischen Tragödien denen der Shakespearedramen adäquat, auch wenn

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Ulrich Suerbaum

sie weniger innovativ sind und des Einklangs mit dem antithetischen Ansatz wegen sehr stark auf H a r m o n i e und „Poetik der Freude" ausgerichtet sein müssen. Er m u ß aber, damit das romantische Schauspiel sein Lebensrecht als die Dram e n f o r m der Neuzeit behaupten kann, der griechischen Tragödie die lebendige und legitime Nachwirkung bei den Dramatikern der nachfolgenden Epochen versagen. Die griechische Tragödie hatte schon bei den Alexandrinern, „als Griechen Griechen nachahmten", „eine Endschaft erreicht". Alles später in der klassischen Tradition Geschaffene, die Tragödie der R ö m e r , Italiener und Franzosen, wird als Irrweg eingestuft. Auch in Gegenwart und Z u k u n f t räumt er dem klassischen Typus wenig R a u m ein. Goethes Iphigenie ist für ihn ein einzelner Versuch, über den er sich in einem Satz mit höflicher Distanz äußert. Generell wird das „den Griechen [...] nachgebildete Trauerspiel" nach seiner Ansicht „immer ein gelehrter Kunstgenuß für wenige Gebildete bleiben" (VI, 289). Für die Z u k u n f t wünscht er dem heimischen Drama einen deutschen Shakespeare, aber keinen deutschen Sophokles. Schlegels Vorlesungen wurden — teils durch die englische Ubersetzung, teils durch die Vermittlung des einflußreichsten Shakespeareinterpreten der Zeit, Samuel Taylor Coleridge 24 — schnell in England heimisch u n d als Orthodoxie etabliert. Mit Schlegel endet die obligatorische Kopplung zwischen Shakespearerezeption und Antikenrezeption. Bis dahin hatte jeder, der Shakespeare als Autor und seine Tragödien als Werke der Literatur positionieren wollte, sich mit der Frage der Relation zur griechischen Tragödie auseinandersetzen müssen. N u n hatten die attischen Tragiker, was die Shakespearerezeption anging, endgültig ihre Schuldigkeit getan. Wer sich von jetzt an mit Shakespeares Tragödien auseinandersetzt, der kann die Analogien und Differenzen zwischen griechischer und Shakespearescher Tragödie ins Auge fassen — u n d Schlegel hat ja gezeigt, wie ergiebig dieser Ansatz sein kann - , aber er m u ß es nicht tun. Es ist höchst erstaunlich, wie wenig Gebrauch die Shakespeareinterpretation des 19. u n d 20.Jahrhunderts von dieser Möglichkeit gemacht hat. Es gibt eine R e i h e von Beiträgen aus neuerer Zeit; sie stammen meist von Außenseitern der Shakespeareforschung und -kritik, z u m Beispiel von Altphilologen wie H. D. F. Kitto 2 5 und Wolfgang Schadewaldt 26 oder von Vertretern psychoanalytischer Deutungsan-

24

T. Hawkes (Hrsg.), Coleridge on Shakespeare, London 1969, besonders 46-60. H. D. F. Kitto, Form and Meaning in Drama. A Study of Six Greek Plays and of Hamlet, London 1956. 26 W Schadewaldt, „Shakespeare und die griechische Tragödie. Sophokles' ,Elektra' und ,Hamlet'" und „Shakespeares ,König Lear' und Sophokles' ,König Odipus'", in Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur teueren Literatur in zwei Bänden, Erweiterte Neuausgabe Zürich 1970 ( 1 1960), 11,7-27 und 28-36. 25

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sätze w i e M a u d B o d k i n . Aber diese Aufsätze u n d Buchkapitel sind d o c h nur ein Rinnsal gegenüber den Fluten von Arbeiten über j e d e Frage, die als Problem akzeptiert ist, u n d auch die besten unter ihnen sind eher respektvoll in den Bibliographien abgelagert als in die aktive Diskussion einbezogen w o r d e n . Shakespeare u n d die griechische Tragödie ist, so kann m a n sagen, für die Z u n f t der Shakespeareans kein T h e m a . M a n m ö c h t e wissen, w a r u m d e m so ist. H ä n g t es nur mit der Separierung der einzelnen Philologien u n d der Scheu vor Übergriffen in den P r o b l e m - u n d M e t h o d e n k o s m o s eines anderen Faches zusammen? Spielt die in dieser Zeit eingetretene Disparität der R e z e p t i o n e n — Shakespeare überall, auf d e m Theater, in der Schule, an der Universität; die griechische Tragödie nicht m e h r überall — eine Rolle? O d e r liegt der H a u p t g r u n d — u n d das w ü r d e ich v e r m u t e n — in der Historisierung der Shakespeareerklärung, die mit der Verwissenschaftlichung der B e schäftigung mit d e m A u t o r einhergegangen ist? Für uns h e u t e ist Shakespeare ja nicht m e h r ein Dramatiker sui generis, dessen Position m a n am ehesten durch den Vergleich mit fernen, jenseits der historischen Kontinuität liegenden G r ö ß e n erfassen kann. W i r erklären vielmehr das, was wir bei i h m finden, aus den B e d i n g u n g e n des unmittelbaren historischen Kontexts u n d aus den zu seiner Zeit wirksamen Traditionen u n d E n t w i c k l u n g e n der Literatur-, I d e e n - u n d Sozialgeschichte. W i r w ü r d e n sicher unsere Ansätze u n d Verfahrensweisen nicht gegen die der alten Shakespearekritiker von Meres bis Schlegel tauschen, aber wir sollten uns doch gelegentlich fragen, ob wir mit unseren M e t h o d e n u n d mit unseren Bildern von Shakespeare d e m Elisabethaner die durch die Rezeptionsgeschichte ausgewiesene Besonderheit u n d Außerordentlichkeit dieses Autors besser greifen k ö n n e n als sie, u n d wir sollten uns daran e r i n n e r n , daß sie es waren, nicht wir, die Shakespeare zu d e m gemacht haben, was er ist.

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M. Bodkin, Archetypal Patterns in Poetry. Psychological Studies of Imagination, London

1934.

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Shakespeare und die griechische Tragödie

Schlegel 1966 Schoenbaum 1993 Smith 1916 Smith 1928 Spencer 1927 Stadler 1910 Stahl 1947 Suerbaum 1969

Suerbaum 1996 Velz 1968 Wells 1990 Wieland 1909 Wolffheim 1959

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ROSMARIE ZELLER

Die

Rezeption des antiken Dramas im

18.Jahrhundert

Das Beispiel der Merope (MafFei, Voltaire, Lessing)

1. Der Merope-Stoff und seine dramatischen Bearbeitungen Die Geschichte des lange Jahre versteckt gehaltenen Königssohnes, der nach Messene kommt, um seinen vom Tyrannen Polyphontes ermordeten Vater Kresphontes zu rächen, dabei von seiner Mutter Merope für den Mörder ihres Sohnes gehalten und beinahe erschlagen wird, hat die Dramatiker des 16. bis 1 S.Jahrhunderts mehr beschäftigt als der Oedipus-Stoff. Zahlreich sind die Bearbeitungen durch italienische Autoren des sechzehnten 1 und französische des siebzehnten Jahrhunderts. 2 Schließlich hat der Stoff in der Version von MafFei und Voltaire im 18.Jahrhundert ganz Europa erobert. 3 Man weinte und klatschte in Modena, Venedig und Paris. 4 Nach Maffeis eigenem Bericht wurde die Vorstellung in Venedig

1 Antonio Cavalierino: Telefonte 1 5 8 2 , Giambattista Liviera: Cresfonte 1588, Pomponio Torelli: Merope 1587 (vgl. Lit.-Verz.: Torelli 1977). D i e Merope des Torelli hat MafFei beeinflußt. 2 Richelieu (unter Mitarbeit anderer Autoren) Téléphonie 1 6 4 1 , Gilbert: Téléphonie gespielt 1642, gedruckt 1 6 4 3 , Jean de la Chapelle: Merope 1683. Voltaire zählt diese Autoren im B r i e f an MafFei (Voltaire 1877a) auf und sagt, die Stücke seien alle unbekannt. Z u diesen früheren Bearbeitungen siehe Hartmann 1892. 3 MafFeis Merope wurde sofort ins Französische, Englische (von Pope) und Deutsche übersetzt. 1751 erschien in W i e n die deutsche Ubersetzung von Friedrich Molter. Bereits 1724 wurde die Tragödie am W i e n e r H o f aufgeführt. Siehe dazu Gubler 1955, 56. Voltaires Mérope wurde ebenfalls sofort in andere Sprachen übersetzt. 1774 erschien die Bearbeitung Gotters der Voltaireschen Mérope (vgl. Lit.-Verz. Maffei 1928, MafFei 1 7 5 1 , Voltaire 1972). 4 „Si è recitata ieri sera la Merope, con applausi, che non vi posso descrivere. Si è pianto, si è riso, si è gridato da matti, e per altro il Teatro pareva di statue" [Gestern abend wurde die Merope mit einem Beifall, den ich Ihnen nicht beschreiben kann, aufgeführt. Man weinte, man lachte, man schrie wie verrückt und dann wieder schien das Theater erstarrt zu sein], schreibt MafFei am Tag nach der Uraufführung am 13.Juni 1 7 1 3 an seinen Cousin Bertoldo Pellegrini (zit. nach Ringger, 43). Luigi R i c c o b o n i schreibt 1730: , J e donnai la Mérope du même Marquis Maffei; on ne sçauroit exprimer le bruit qu'elle fit & les applaudissemens qu'elle reçut; il s'en fit quatre Editions dans la m ê m e année." ( R i c c o b o n i 1730, 82). Voltaire schreibt in seiner R é p o n s e à M . de la Lindelle: „ O n a pleuré à Vérone et à Paris: voilà une grande réponse aux critiques." (Voltaire 1877c, 197).

Die R e z e p t i o n des antiken Dramas im 18.Jahrhundert

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mehr als zwanzigmal durch Beifall und Rufe unterbrochen. 5 Lessing berichtet, daß Voltaire bei der Erstaufführung auf die Bühne gerufen wurde. 6 Der außergewöhnliche Erfolg des Merope-Stoffes ist neben seinen dramatischen Qualitäten, denen der vorliegende Aufsatz hauptsächlich gewidmet ist, vor allem auch der Erwähnung an prominenter Stelle in der Poetik des Aristoteles zu verdanken. Es ist wohl kein Zufall, daß in Italien, wo die Rezeption der Poetik im 16.Jahrhundert besonders intensiv war, 7 im Wettstreit mit der Antike auch der Merope-Stoff mehrfach bearbeitet wurde. Als die Franzosen zu Beginn des 17.Jahrhunderts unter der Führung von Richelieu ebenfalls mit dem antiken Drama zu wetteifern begannen, versuchten auch sie sich mehrfach an diesem Stoff. Alle diese Dramen scheinen auf der Bühne, falls sie überhaupt dafür vorgesehen waren — einige italienische Dramen sind als Lesedramen konzipiert 8 , — wenig erfolgreich gewesen zu sein. Erst mit MafFeis und Voltaires Bearbeitung des Stoffes erfolgte der Durchbruch auf der Bühne. Zugleich entbrannte durch eine Kontroverse zwischen Maffei und Voltaire, die später von Lessing anläßlich der Aufführung der Voltaireschen Merope im Hamburg (7.Juli 1767) in der Hamburgischen Dramaturgie referiert und weitergeführt wurde, eine Art Literaturstreit über zentrale Punkte der Aristoteles-Auslegung und der Tragödienkonzeption des 18.Jahrhunderts. Lessing rekonstruiert auch teilweise die Tragödie Kresphontes des Euripides, welche Aristoteles im 14. Kapitel der Poetik erwähnt. Er übernimmt dabei Maffeis Auffassung, der Plot der euripideischen Tragödie finde sich in der 184. Fabel des Hyginus. 9 Lessings Ausführungen haben ihrerseits auf Gotters Be-

5

„l'applauso, che a avuto è arrivato al furore, e alla pazzia. Ieri sera si è recitata per la 5 a volta, gli scanni, il pe' pian e la soffitta sono stati pieni di gente nobile. Più di 20 volte è stata interrotta la recita dall' applauso, dalle esclamazioni, e da scimitoni stranissimi" [Der Applaus, den ich gehabt habe, hat sich zur Begeisterung u n d zur Verrücktheit gesteigert. Gestern abend w u r d e sie [Merope] zum fünften Mal aufgeführt. Die Bänke, die Galerie u n d das Parterre waren voller Adliger. Die Vorstellung w u r d e m e h r als zwanzigmal v o m Beifall, von den Ausrufen und von seltsamem Lärm unterbrochen], schreibt Maffei am 24.Januar 1714 (zit. nach R i n g ger 1977, 42). 6 Lessing 1893, 335 (36. Stück). N a c h d e m K o m m e n t a r von Julius Petersen galt allerdings der Beifall der Schauspielerin der Titelrolle, welche auf die B ü h n e gelaufen war, u m ihren Sohn zu retten. (Petersen, 474.) 7 Siehe dazu Weinberg 1961. 8 So z.B. die Merope von Torelli. Siehe Marco Ariani in der Einleitung (Torelli 1977, 555). 9 Lessing druckt die Fabel des Hyginus in den A n m e r k u n g e n ab. Sie ist in der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags übersetzt nachzulesen (Lessing 1985, 1002f.). Es scheinen Italiener gewesen zu sein, die auf diese Quelle hingewiesen haben. N a c h Ariani (s. A n m . 8) hat bereits Torelli auf Hyginus hingewiesen, während Dacier noch schreibt, es sei schwierig, das T h e m a des Stücks zu kennen u n d dabei auf Apollodor verweist (Dacier 1792, 237). Curtius schreibt in seinem Aristoteles-Kommentar: „ M a n weiß auch von der Fabel selbst nichts weiter, als daß sie ihn für einen Feind gehalten, und geglaubet, er habe ihren Sohn getötet." (Curtius 1753, 213).

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arbeitung der Voltaireschen Merope insofern eingewirkt, als Gotter die Kritik Lessings teilweise berücksichtigte. 10 Obwohl dieser Literaturstreit gerade aus dem Blickwinkel der Rezeption der antiken Tragödie und der Poetik des Aristoteles besonders interessant ist, weil zentrale Punkte der Diskussions-Tradition angesprochen werden, hat er bei den Germanisten wenig Aufmerksamkeit gefunden. 11 Die Italianisten, welche Lessings Position als eine Art Ehrenrettung Maffeis interpretieren, haben ihm mehr Beachtung geschenkt.

2. Zur Aristoteles-Rezeption im 18.Jahrhundert Wenn im folgenden von der aristotelischen Tragödienkonzeption die Rede ist, so ist nicht jene gemeint, welche sich aus der Poetik des Aristoteles nach heutigem wissenschaftlichem Verständnis rekonstruieren läßt, sondern jene, die seit dem 16.Jahrhundert durch die Kommentierung der Poetik in Italien entstanden ist, in Frankreich vor allem von Corneille und Dacier vermittelt und fortgeführt wurde 1 2 und schließlich in Deutschland durch die erste deutsche Ubersetzung der Poetik durch Michael Conrad Curtius 1753 und Lessings Hamburgische Dramaturgie breitere Resonanz fand. Die Geschichte der Aristoteles-Rezeption — gemeint ist im folgenden immer diejenige der Poetik — ist gekennzeichnet durch die Diskussion gewisser immer wiederkehrender Fragen wie z. B. der Frage der tragischen Konstellationen, der Wahl antiker oder moderner Stoffe, des Ausgangs der Tragödie und deren Wirkung, der drei Einheiten, der Szenenverknüpfung und der Definition und Abgrenzung der Gattungen Tragödie, Komödie und Epos. 13 Sich mit diesen Fragen beschäftigen, bedeutet immer auch, an einem Streit teilzunehmen, den man gegen Ende des 17.Jahrhunderts unter dem Titel „La Querelle des anciens et des modernes" zusammenfaßte und in dem es darum ging, sich selbst in Bezug auf die Antike zu positionieren. In dieser Querelle des anciens et des modernes scheinen die Franzosen und Italiener eine andere Position einzunehmen als Lessing. Die italienische Aristoteles-Auslegung des 16.Jahrhunderts hatte teil-

10 So hat Gotter z.B. als Erkennungszeichen den R i n g statt der Rüstung wieder eingeführt. (Vgl. die völlig veraltete Dissertation von Schlösser 1890.) 11 Die aus älterer komparatistischer Sicht verfaßte Arbeit von Gubler 1955 geht unhistorisch vor und ist veraltet. 12 Dazu: Bray 1931, Scherer 1959. 13 Dies hat Fuhrmann 1980 nicht gesehen, sonst könnte er nicht Opitz mehrere Seiten widm e n und die Jesuiten-Poetik, die die italienischen Kommentare rezipiert hat, unberücksichtigt lassen. Z u erwähnen wäre sodann unbedingt Rappolt 1678 sowie R o t t h 1688. Curtius' K o m mentar wäre für die Aristoteles-Rezeption wichtiger als Gottscheds Dichtkunst. In einer historischen Perspektive ist auch die Abhandlung von Kommereil 1940 überholt, da sie Lessing aus einer unhistorischen Perspektive betrachtet.

Die R e z e p t i o n des antiken Dramas im 18.Jahrhundert

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weise zur Auffassung geführt, daß es Aristoteles oft an der nötigen Klarheit fehlen lasse, so zitiert Maffei den weit verbreiteten Castelvetro, der gesagt habe, bei der Poetik handle es sich um eine unordentliche erste Zusammenstellung, die Aristoteles im Hinblick auf die Ausarbeitung einer perfekten Poetik gemacht habe. 14 Aufgrund dieser Interpretation verliert Aristoteles den Charakter einer unbedingten Autorität. Lessing dagegen will nicht annehmen, daß sich „ein Aristoteles eines offenbaren Widerspruchs [...] schuldig" mache, „wo ich dergleichen bey so einem Manne zu finden glaube, setze ich das größere Mißtrauen lieber in meinen, als in seinen Verstand." 15 Auch in bezug auf das antike Drama nimmt Lessing die Position der Alten ein, so schreibt er etwa im Zusammenhang der Diskussion um den Prolog einer antiken Tragödie: „wo die Tadler des Euripides nichts als den Dichter zu sehen glauben, der sich aus Unvermögen, oder aus Gemächlichkeit, oder aus beiden Ursachen, seine Arbeit so leicht machte, als möglich; wo sie die dramatische Kunst in ihrer Wiege zu finden vermeinen: da glaube ich diese in ihrer Vollkommenheit zu sehen, und bewundere in jenem den Meister, der im Grunde ebenso regelmäßig ist, als sie ihn zu seyn verlangen". 16 Demgegenüber ist es für Corneille, MafFei und Voltaire, um nur die im vorliegenden Zusammenhang wichtigsten Autoren zu nennen, klar, daß die modernen Tragödien die antiken übertreffen. Im Grunde genommen übernimmt die französische Tragödie als verbesserte antike Tragödie die Vorbildfunktion, die es nachzuahmen bzw. zu übertreffen gilt. So stellt Maffei nach der ersten Aufführung der Merope befriedigt fest: „Credo d'aver in gran parte gettato a terra i Francesi con un colpo solo." [Ich glaube, ich habe die Franzosen mit einem einzigen Schlag zu Boden geworfen.] 17 Im Grunde ging es auch Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie trotz allen gegenteiligen Behauptungen darum, das regelmäßige Drama nach französischem Vorbild auf dem deutschen Theater einzuführen. Es wird noch zu zeigen sein, daß Lessing das französische Theater weit besser kannte als die antiken Tragödien.

3. Der Merope-Stoff in der

Poetik

des Aristoteles

Der Merope-Stoff wird von Aristoteles an einer zentralen Stelle im 14. Kapitel der Poetik erwähnt, dort, wo es darum geht, welche Situationen am geeignetsten seien, um die für die Tragödie spezifischen Wirkungen des „Schreckens und des Mitleids", wie Curtius übersetzt, zu erwecken. 18 Aristoteles führt zwei Kategorien

14

MafFei 1988, 77. Lessing 1893, 342 (38. Stück). 16 Lessing 1893, 390 (49. Stück). 17 Zit. von R i n g g e r 1977, 43. 18 Ich werde im folgenden die Poetik nach der Übersetzung von Curtius 1753 zitieren, die auch Lessing verwendet hat. 15

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R o s m a r i e Zeller

ein: „die Handlung muß entweder geschehen oder nicht, und zwar wissentlich, oder unwissentlich." 19 Aus der Kombination dieser Möglichkeiten ergeben sich vier Grade der tragischen Handlungen. Als die beste bezeichnet Aristoteles jene, „da man unwissend ein Verbrechen begehen will, es aber vorher erkennt." Als Beispiel nennt er „Merope, in dem Kresphon des Euripides, die im Begriffe steht, ihren Sohn zu tödten, ihn aber vor Ausfuhrung ihres Vorsatzes erkennt." Den Aristoteles-Kommentatoren ist natürlich nicht entgangen, daß durch diese Klassifizierung ein Widerspruch entsteht zur Klassifizierung im 13. Kapitel der Poetik, wo Aristoteles jene Tragödie für die beste hält, die unglücklich endet. Die Kommentatoren haben denn auch versucht, diesen Widerspruch zu erklären. Dacier hilft sich damit, daß er meint, Aristoteles rede hier nur von den verschiedenen Arten, wie man einen bekannten Stoff behandeln kann, um Schrecken und Mitleid zu erregen, aber nicht von der Tragödie überhaupt. Curtius findet diese Argumentation nicht einleuchtend, weiß aber keine bessere und kommt zum Schluß, „daß unser Philosoph dieses Capitel nicht mit seiner gewöhnlichen Vorsicht durchgedacht habe." 20 Lessing, der seinen Curtius gleichfalls gelesen hat, beteiligt sich im 37. und 38. Stück der Hamburgischen Dramaturgie an dieser Diskussion, ohne zu einer grundlegend neuen Einsicht zu kommen. Wie Dacier, gegen den er zwar polemisiert, nimmt er an, daß Aristoteles hier nicht von der Tragödie überhaupt spreche, sondern nur davon, „welches die beste Behandlung des Leidens" sei. In Bezug auf diese Frage komme er zum Schluß, „daß diejenige Behandlung des Leidens die beste (...) sey, wenn die Personen, unter welchen das Leiden bevorstehet, einander nicht kennen, aber in eben dem Augenblicke, da dieses Leiden zur Wirklichkeit gelangen soll, einander kennen lernen, so daß es dadurch unterbleibt." 21 Die Erklärung, warum dies die wirkungsvollste Darstellung des Leidens sein soll, bleibt uns Lessing ebenso wie seine Vorgänger schuldig. Abgesehen von diesem scheinbaren oder wirklichen Widerspruch gibt auch die Klassifikation selbst Anlaß zu Interpretationen. So ist z.B. nicht recht verständlich, warum die unwissentliche, aber letztlich nicht ausgeführte abscheuliche Handlung mehr Schrecken und Mitleid erregen soll als die unwissend vollbrachte abscheuliche Handlung. Die Kommentatoren haben sich denn auch ausführlich mit dieser Klassifikation befaßt. Corneille hat, wie Curtius referiert, argumentiert: „Eine Mutter, die ihren Sohn (...) tödten will, als Merope den Kresphon (...), betrachte denselben als Feind oder gleichgültige Person." Diese Konstellation erwecke aber nach Aristoteles weder Mitleid noch Schrecken. 22 Dacier antwortet darauf, daß zwar Merope ihren Sohn als Feind ansehe, daß aber der Zuschauer, dem ja der

19 20 21 22

Curtius Curtius Lessing Curtius

1753, 1753, 1893, 1753,

30. Alle f o l g e n d e n Zitate a u c h auf dieser Seite. 214. 344 (38. Stück). 214. Corneille diskutiert diese Fragen in seinen Discours sur la tragédie.

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Stoff bekannt sei, auch die wahre Identität des Opfers kenne u n d daher Schrecken und Mitleid empfinde. Als Beleg für die W i r k u n g dieser Konstellation zitiert D a cier Plutarch, der berichte, „que lorsque Merope alloit tuer son fils, il s'elevoit parmy les spectateurs un frémissement qui marquoit, & leur attention & l'intérêt qu'ils prenoient au malheur d'une mere qui alloit tuer son fils, & à celuy d'un fils qui alloit mourir par les mains de sa mere." U n d er fugt bei: „ O n ne peut s'imaginer ensuite tout le plaisir que fait une reconnoissance qui vient si à propos." 2 3 Curtius k o m m t seinerseits zum Schluß, daß abscheuliche Handlungen, welche unwissentlich begangen werden, den abscheulichen Handlungen, welche nicht vollführt werden, vorzuziehen sind. In seiner Klassifikation ist deshalb der Oedipus die vollkommenste tragische Handlung, während die Handlung vom Typ der Merope erst an dritter Stelle kommt. 2 4 Lessing ist offensichtlich auch der Meinung, ausgeführte abscheuliche Handlungen seien den nicht ausgeführten vorzuziehen, denn er entwirft versuchsweise einen tragischen Schluß der Merope, der nach dem Schema des Oedipus darin bestände, daß Merope, „nachdem sie ihren Sohn unter dem Dolche erkannt, durch ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den Polyphont zu schützen, entweder ihr eigenes oder dieses geliebten Sohnes Verderben beförderte". 2 5 Ganz in diesem Sinn des Fehlens eines unglücklichen Ausgangs hält Lessing die Fabel der Merope trotz der Klassifikation des Aristoteles nicht für „eine vollkommene tragische Fabel". 2 6 Auch wenn die italienischen Dramatiker des 16.Jahrhunderts den Stoff wegen seiner prominenten Stellung in der Poetik aufgegriffen haben, so dürfte sein Erfolg nicht allein der Pathos-Trächtigkeit zu verdanken sein, sondern weiteren strukturellen Eigenheiten, die der gewiegte Dramatiker Lessing erkannt hat, wenn er schreibt: „Es wäre zu verwundern, wenn eine solche Geschichte, die so besondere Glückswechsel und Erkennungen hat, nicht schon von den alten Tragicis wäre genutzt worden." 2 7 In der Tat gibt es in der Merope mehrere Glückswechsel u n d Erkennungen. Die erste Peripetie ist Meropes Täuschung, ihr geretteter Sohn sei ermordet worden, die zweite ist die R e t t u n g des Mörders vor der R a c h e der Merope und die dritte schließlich der Tod des Tyrannen Poliphontes u n d die Einsetzung von Meropes Sohn in seine legitimen Rechte. Trotz dieser dramaturgischen Vorzüge haben die Merope-Tragödien bis zu Maffei keinen Erfolg auf der Bühne gehabt.

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Dacier 1792, 235. Curtius übersetzt den letzten Satz wörtlich: „Zugeschweigen, daß die nachmalige Erkennung ein unglaubliches Vergnügen machet" (1753, 215). 24 Curtius setzt an die zweite Stelle traurige Handlungen, die wirklich ausgeübt werden. Im Gegensatz zu den „innerlich abscheulichen" Handlungen finden die traurigen nicht zwischen Verwandten statt. 25 Lessing 1893, 345 (38. Stück). 26 Lessing 1893, 346 (39. Stück). 27 Lessing 1893, 338 (37. Stück).

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4. Die Merope von Maffei u n d Voltaire D e r Erfolg der Maffeischen u n d der auf dieser f u ß e n d e n Voltaireschen Merope ist sicher zu e i n e m guten Teil j e n e n Szenen zu verdanken, die statt einer kalten Staatsaktion die Mutterliebe darstellen. In seiner Vorrede, die er 32 Jahre nach der Erstaufführung seiner Merope geschrieben hat, b e g r ü n d e t Maffei die Wahl des Stoffes. Die Tatsache, daß eine M u t t e r den Sohn töten wolle, sei eine äußerst theatralische Szene, sie genüge aber nicht f ü r eine Tragödie. Er selbst habe i m m e r wieder festgestellt, daß j e n e Tragödie am besten gefalle, die eine Leidenschaft male u n d lebhaft ausdrücke. Dies sei ein Aspekt, den Aristoteles nicht beachtet habe. 2 8 Seine Wahl sei deshalb auf die Mutterliebe gefallen, weil die Mutterliebe „la più tenera, la più ferace di sentimenti veri e la più atta a c o m m u o v e r tutti" sei [das zärtlichste, das fruchtbarste der wahrhaften G e f ü h l e u n d das am besten geeignete, u m j e d e r m a n n zu rühren]. 2 9 A u c h k ö n n e sie j e d e r verstehen, d e n n j e d e r habe eine M u t t e r . 3 0 Mit der A k z e n t u i e r u n g der Leidenschaft als Gegenstand der Tragödie ü b e r n i m m t Maffei die Auffassung der Franzosen, daß die Leidenschaft der eigentliche Gegenstand der m o d e r n e n Tragödie sei im Gegensatz zur antiken Tragödie, w o äußere Ursachen das U n g l ü c k h e r b e i f ü h r t e n . 3 1 A u c h war m a n sich darin einig, daß der Liebe eine hervorragende Stelle z u k o m m t . M a r m o n t e l n e n n t sie „la plus théâtrale de toutes les passions, la plus terrible & la plus t o u c h a n t e " . 3 2 Maffeis N e u e r u n g war, daß er von allen möglichen Varianten dieses Affektes j e n e n der Mutterliebe wählte. Dies erlaubte ihm, auf die für das französische T h e a t e r so charakteristischen Liebesszenen zu verzichten u n d so der wahren Tragödie, die durch diese Z u t a t e n entstellt w o r d e n war, näher zu k o m m e n . 3 3 D i e Mutterliebe z u m alleinigen Affekt einer Tragödie zu m a c h e n , wäre w o h l i m 17.Jahrhundert u n d e n k b a r gewesen. Dies setzt einen n e u e n Geschmack voraus, der im bürgerlichen Trauerspiel auf seinen H ö h e p u n k t k o m m e n wird. Es ist sicher nicht zufällig, daß Diderot im ersten Entretien sur le fils naturel ausfuhrlich

28 Maffei 1988, 77. 79. D i e kritische H a l t u n g v o n Maffei g e g e n ü b e r Aristoteles findet sich a u c h sonst im Proemio. 29 Maffei 1988, 79. 30 „ M a dell' a m o r di m a d r e a b b i a m o idea tutti, essendo il più i n t i m o della natura, e atteso c h e chi n o n è m a d r e o padre, è p e r ò o f u figlio." [Aber die M u t t e r l i e b e k ö n n e n w i r uns alle vorstellen, sie ist die tiefste der N a t u r in A n b e t r a c h t dessen, daß w e r nicht M u t t e r o d e r Vater ist, d o c h S o h n ist o d e r war.] (Maffei 1988, 79). 31 So schreibt etwa M a r m o n t e l 1787: „Sur le théâtre ancien, le m a l h e u r du p e r s o n n a g e intéressant étoit presque t o u j o u r s l'effet d ' u n e cause étrangère. (...) Les m o d e r n e s (...) o n t fait de la tragédie, n o n pas le tableau des calamités de l ' h o m m e esclave de la destinée, mais le tableau des m a l h e u r s & des crimes de l ' h o m m e esclave de ses passions." (288 u n d 291). Als „ E r f i n d e r " dieses n e u e n Systems gilt Corneille. Siehe dazu Zeller 1988. 32 M a r m o n t e l 1763, 187. 33 Maffei 1988, 84.

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beschreibt, wie heftig die R e a k t i o n e n einer Mutter sind, welcher man das Kind tötet wie im Fall der Klytämnestra: „Si la mère d'Iphigénie se montrait un m o ment reine d'Argos et femme du général des Grecs, elle ne m e paraîtrait que la dernière des créatures. La véritable dignité, celle qui me frappe, qui me renverse; c'est le tableau de l'amour maternel dans toute sa vérité." 3 4 Es ist sicher nicht zufällig, daß Nicolai in seiner Abhandlung vom Trauerspiele die Merope unter die „rührenden Trauerspiele" rechnet, in denen wie in den bürgerlichen Trauerspielen „ein bloß bürgerliches Interesse herrschet". 3 5 Maffeis B e schreibung der Mutterliebe als „la passione la più tenera", sein Hinweis, daß j e d e r mann die Mutterliebe selbst kenne, daß folglich eine Art identifizierende Anteilnahme beim Zuschauer stattfindet, deuten ebenfalls auf die Wirkungspoetik des bürgerlichen Trauerspiels. M a n darf aber nicht übersehen, daß diese Wirkung keineswegs durch Handlungen aus dem bürgerlichen Bereich, sondern wie in Lessings bürgerlichen Trauerspielen durch Affekthandlungen hervorgebracht wird, wie sie in der heroischen Tragödie vorkommen, nämlich durch „crudelissime azioni" und „funesti e orrendi spettacoli", wie Maffei schreibt. 3 6 D e r beispiellose Erfolg der Maffeischen Merope, die Tränen, die bei den Aufführungen vergossen wurden, belegen, daß Maffei den Geschmack des Publikums getroffen hat. Maffei hat gegenüber seinen Vorgängern eine entscheidende Veränderung der Fabel vorgenommen: während in der Fabel des Hyginus und in den dramatischen Bearbeitungen des 16. und 17.Jahrhunderts Meropes Sohn seine Identität kennt und nach Messene kommt, um seinen Vater zu rächen und damit die legitime Herrschaft wieder herzustellen, läßt Maffei Egisto 3 7 im Unwissen u m seine Identität. Damit glaubt Maffei, Euripides übertroffen zu haben und eine Art von Agnorisis gefunden zu haben, die selbst Aristoteles, der nur die gegenseitige E r kennung von Bruder und Schwester bzw. von Mutter und Sohn, nicht aber diejenige der eigenen Identität, erwähne, unbekannt gewesen sei: „Ora parea però ( . . . ) che restasse luogo, tenendo via diversa di tutti, a tentar nel nodo qualche cosa di più d'Euripide; perche facendo il giovane ignoto a se stesso ( . . . ) si veniva a introdurre un nuovo genere di riconoscimento, di cui no parlò Aristotele, ma atto con tutto ciò a far sul Teatro niente minor effetto d'ogn'altro. Dove si tratta nella

Diderot 1980, 93. Nicolai 1757, 1 7 - 6 8 . Wieder gedruckt in: Lessings Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai über das Trauerspiel. Hrsg. und erläutert von R o b e r t Petsch. Vgl. Senardi 1982, der in der Merope des Maffei die Anfänge des bürgerlichen Dramas, aber eher unter soziologischem Aspekt sieht. 3 6 Maffei 1988, 80. 3 7 Bei Maffei tritt der Sohn unter dem Namen Egisto auf, sein wirklicher Name ist Cresfonte, Voltaire verwendet ebenfalls die Namen Egisthe und Cresphonte, bei Hyginus heißt der Sohn Telephontes. Ich werde im folgenden den Namen Aegisth brauchen, wenn ich die Figur in ihrer Funktion meine, die italienische bzw. französische Form, wenn ich die Figur im jeweiligen Stück meine. 34 35

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Poetica delle agnizioni, si assegnano per l'ottime e più atte a generar maraviglia, quelle di fratello o sorella, di madre e figliuolo; ma c'è qualche cosa di più intimo ancora, cioè quando altri riconosca se stesso; il che tanto maggiormente dilettar potrà, quando tal notizia debba in un subito far cangiar sentimenti e pensieri, e tramutare in Eroe." [Nun schien es, daß es noch eine von allen verschiedene Möglichkeit gab, bezüglich des Knotens etwas mehr als Euripides zu versuchen; denn wenn man den Jüngling sich selbst unbekannt sein läßt, kann man eine neue Art von Erkennung einfuhren, von der Aristoteles nicht sprach, welche aber geeignet ist, auf dem Theater keine geringere W i r k u n g hervorzubringen als die andern. Wo in der Poetik die Erkennungen behandelt werden, werden diejenigen zwischen Bruder und Schwester, Mutter u n d Sohn als die besten bezeichnet, welche am geeignetsten sind, Verwunderung hervorzubringen; es gibt aber noch etwas Tieferes, nämlich, wenn jemand sich selbst erkennt; dies erzeugt umso mehr Vergnügen, wenn diese Nachricht plötzlich Gefühle u n d Gedanken verändert u n d den Betreffenden in einen Helden verwandelt.] 3 8 Voltaire hat dieses theaterwirksame Element, welches eine doppelte Agnorisis und damit die Verwandlung des Landbewohners in einen Königssohn erlaubt, übernommen. Die Tatsache, daß Aegisth sich für einen andern hält, hat eine R e i h e von K o n sequenzen für die Gestaltung der Fabel: während bei Hyginus Telephontes sich als Mörder des Königssohnes ausgibt und so die R a c h e Meropes auf sich zieht, ist diese Lösung für Aegisth, der keinerlei Ambitionen hat, nicht möglich. Maffei u n d Voltaire lassen Aegisth in N o t w e h r einen M o r d begehen. Dieser gibt der wegen des Verschwindens ihres Sohnes bereits beunruhigten Merope Anlaß anzunehmen, beim Ermordeten handle es sich u m ihren Sohn. Dies umso mehr, als beim Mörder ein Erkennungszeichen, ein R i n g bzw. eine R ü s t u n g gefunden werden. 3 9 Die aufgebrachte Merope will sich nun am vermeintlichen Mörder ihres Sohnes rächen, wobei Maffei Merope gleich zweimal ihren Sohn angreifen läßt. Auch Maffei ist nicht entgangen, daß es schwierig ist, zu motivieren, w a r u m eine Frau, die er ganz als Mutter darstellen will, einen j u n g e n Mann, der ihr Sohn sein könnte, umbringen will. Ganz im Sinne des heroischen Dramas begründet M e rope ihren Mordanschlag mit der Rache, indem sie zugleich betont, daß die G ö t ter noch nie etwas dergleichen von einer Mutter verlangt haben, obwohl ihr Euriso das Beispiel der Iphigenie nennt:

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Maffei 1988, 82. Wenn Aristoteles diese Art der Agnorisis auch nicht erwähnt, so kann Maffei nicht entgangen sein, daß sie deijenigen des Oedipus entspricht, den er zwei Seiten später in anderem Zusammenhang erwähnt. 39 Voltaire schreibt, er habe den Ring nicht verwenden können, weil Boileau ihn als Erkennungszeichen in seinen Satiren verspottet habe, weswegen er zu dem etwas unwahrscheinlichen Zeichen der Rüstung gegriffen habe (1877a, 197).

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O Euriso, non avrian già mai gli dèi ciò comandato ad una madre. U n uomo intendere non può, non può sentire qual divario ci corra; (II6) [Daß sie von Müttern nicht solche Opfer fordern sollten! Kein Mann fühlt den Verlust, der mir zu Herzen geht.] 40

Sie bemerkt dann, Iphigenie sei für das allgemeine Wohl (per la salute universale) geopfert worden, während ihr Sohn von einem gewöhnlichen Räuber umgebracht worden sei. Dieses Motiv thematisiert die Verschiebung von der heroischen Tragödie, wo man für das allgemeine Wohl stirbt, zur bürgerlichen Tragödie, wo es um Privates geht. Die Außerordentlichkeit des Verbrechens an ihrem Sohn hat Merope jeden Lebenszweck genommen, sie will sich umbringen, aber zuvor will sie noch R a che nehmen: Or, odi, Euriso, io in vita non vo più rimaner; da questi affanni ben so la via d'uscir, ma convien prima sbramar l'avido cor con la vendetta: (...) io voglio poi con una scure spalancargli il petto, voglio strappargli il cor, voglio co' denti lacerarlo e sbranarlo. (II6) [Ich kann nicht länger leben: = = Nein, mein befreiter Geist soll sich die Freyheit geben. Allein der Rachbegier muß erst genug geschehn. (•••) Mit einem Dolch will ich sodann die wilde Brust Ihm öffnen, und entflammt von blutbegierger Lust, Daraus das Herze ziehn, mit Zähnen es zerreißen.]

Als sie den Anschlag ausführen will, ruft Egisto: „ O cara madre, se in questo punto mi vedessi!" [O Mutter, sähest du mich diesen Augenblick, wie blutete dein Herze!], was Merope zum Einhalten bringt. Die Erwähnung des alten Vaters im darauffolgenden Ausruf bringt sie zum Nachdenken. Polifontes Erscheinen verhindert dann diesen ersten Mordanschlag endgültig. Maffei motiviert also sowohl den Mordanschlag wie dessen Scheitern mit den Muttergefühlen. Schon als Merope Egisto zum ersten Mal gesehen hat, sind in ihr mütterliche Gefühle aufgekommen, weil sie eine gewisse Ähnlichkeit in seiner Physiognomie mit Cresfonte bemerkte. 41 Der zweite Mordanschlag wird dadurch motiviert, daß Merope 40

Hier und bei den folgenden Zitaten von Maffei wird die Übersetzung von Friedrich Molter (1751) beigefügt (siehe Maffei 1751). 41 „ O Ismene, nell'aprir la bocca ai detti / fece costui col labbro un cotal atto, / che '1 mio consorte ritornommi a mente, / e me '1 ritrasse si com'io '1 vedessi." [Ismene, mein Gemahl fiel itzt mir in den Sinn, / Da dieser, als er sprach, die Lippen so verwandte, / Als wär es selbst Kresphont.] (I3)

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glaubt, Egisto habe auf Befehl von Polifonte den Mord an ihrem Sohn ausgeführt. Sie wird zorniger als das erste Mal, was sich daran zeigt, daß sie nicht einmal Polidoro, dem sie seinerzeit ihren Sohn anvertraut hat, erkennt. 42 MafFei, der auf die doppelte Agnorisis so viel Wert legt, widmet eine ganze Szene der Aufdekkung der wahren Identität Egistos durch seinen Pflegevater Polidoro. Diese Agnorisis fuhrt zugleich zum Entschluß, den Tyrannen umzubringen: „In questo suolo adunque fu di mio padre il sangue sparso? In questo gli innocenti fratelli ... (...) A fia per poco; io corro a procacciarmi un ferro." (Vj) [Den Boden hat also des Vaters Blut benetzt? Ich lauf, ich will den Mord selbst zu beschleunigen ein tödtlich Eisen holen.] So kann Maffei die Egisto-Merope-Handlung mit der Merope-Polifonte-Handlung verknüpfen. Dadurch daß Aegisth seine Identität nicht kennt, er also nicht wie in der Quelle nach Messene kommt, um sich an Poliphontes zu rächen, ergibt sich der Tyrannenmord nicht automatisch aus der vorhergehenden Handlung. Die Verknüpfung muß durch die Agnorisis selbst erst hergestellt werden. Auf den Tyrannenmord wollen weder MafFei noch Voltaire verzichten, er gehört nicht nur zum Merope-Stoff, sondern er gibt der Handlung auch erst jenen heroischen Aspekt, den die im Privaten verbleibende MutterSohn-Handlung nicht hätte. Dieser heroische Aspekt gehört aber in den Augen Maffeis und Voltaires zu einem Drama, das in der Nachfolge der Antike steht und diese zugleich übertreffen soll. Auch erlaubt ja erst der Tyrannenmord jenen doppelten Ausgang, der die Lasterhaften bestraft und die Tugendhaften belohnt, welcher dem Streben der aufklärerischen Poetik nach poetischer Gerechtigkeit entgegenkommt. Voltaire konnte den zweifachen Mordanschlag Méropes gemäß dem französischen Geschmack nicht brauchen, 4 3 hingegen gelingt es ihm, die tragische Situation mit anderen Mitteln zu verstärken. So wird Egisthe nach der Errettung vor dem Dolch der Mutter durch Polyphonte bedroht, wobei Mérope selbst noch zu seiner Bedrohung beiträgt, indem sie, um ihn zu retten, Polyphonte gesteht, daß er ihr Sohn ist. 44 Voltaire hat also auf der Motivation der Mutterliebe eine äußerst tragische Situation konstruiert, indem das Verhalten der Mutter, das den Sohn retten sollte, sein Verderben befördert. Es ist die oben erwähnte Situation, die Lessing, vielleicht nicht unabhängig von Voltaire, für einen schlechten Ausgang des Merope-Stoffes erwägt. In Voltaires Stück findet die Erkennung bereits im dritten Akt statt, wobei der Akzent ganz auf Mérope liegt. Zugleich mit der Identifizierung ihres Sohnes er-

Zur Interpretation dieser Szene Ringger 1977, 52ff. „Notre théâtre français ne souffrirait pas non plus que Merope fit lier son fils sur la scène à une colonne, ni qu'elle courût sur lui deux fois", schreibt er in seinem Brief an Maffei (Voltaire 1877a, 185). 4 4 „C'est moi qui l'ai perdu. (...) J'ai tout révélé. Mais, Narbas, quelle mère, Prête à perdre son fils, peut le voir et se taire?" (IV 4 ). 42

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fährt Mérope, daß Polyphonte, von dem sie glaubt, er könne ihren ermordeten M a n n rächen, in Wirklichkeit dessen Mörder ist. Es findet hier also auch eine zweite Erkennung statt, die zugleich den Schluß motiviert. Da Polyphonte die Identität des Egisthe kennt, hat er im Gegensatz zum Maffeischen Polyphonte kein Interesse, ihn zu schonen; das heißt, Egisthe kann nur mit Bewilligung Polyphontes an der Hochzeit teilnehmen, an der der M o r d geschehen soll. Voltaire m u ß also gegenüber Maffei eine neue Motivation einfuhren, er tut dies, indem er einen klassischen Konflikt konstruiert: Polyphonte stellt Egisthe vor die Alternative, zu sterben, oder ihm an der Hochzeit Treue zu schwören, womit sich der Tyrann legitimieren will. Gegenüber MafFei streicht Voltaire die Grausamkeit und Überheblichkeit des Tyrannen stärker heraus, so daß seine E r m o r d u n g am Ende als gerechte Strafe erscheint. Es stellt sich nun noch die Frage, welches das Verhältnis der beiden Stücke zur Antike ist. Maffei wollte mit seinem Stück nicht nur seine Vorgänger u n d die Franzosen, sondern mit der Erfindung der doppelten Agnorisis auch Euripides übertreffen. Auch Voltaire attestiert in seinem Brief an Maffei, daß Merope „une tragédie digne des beaux jours d'Athènes" sei, in welcher „l'amour d'une mère fait toute l'intrigue, et où le plus tendre intérêt naît de la vertu la plus pure." 4 5 Sie sei das Beispiel „ d ' u n e tragédie simple et intéressante", wobei sie nicht in die Fehler der griechischen Tragödie verfalle, „qui sont le vide d'action et la déclamation." 4 6 Der Jesuitenpater Tournemine schreibt an Brumoy, der den Franzosen die Tragödien der Griechen zugänglich gemacht hat, über die Mérope: „eile passera jusqu'à la postérité c o m m e une de nos tragédies les plus parfaites, c o m m e un modèle de tragédie. (...) Vous, m o n père, (...) avez reconnu, dans la Mérope de notre illustre ami, la simplicité, le naturel, le pathétique d'Euripide. M . de Voltaire a conservé la simplicité du sujet (...). Le péril d'Egisthe occupe seul le théâtre." 4 7 Die N a c h a h m u n g der antiken Simplizität hat allerdings dort ihre Grenzen, wo sie gegen den französischen Geschmack verstößt. So kritisiert Voltaire Egistos M o n o l o g in IV 3 , wo er das Angenehme des ländlichen Lebens ausmalt: „ N o t r e délicatesse est devenue excessive: nous (...) ne pouvons supporter cet air naïf et rustique, ces détails de la vie champêtre, que vous avez imité du théâtre grec." 4 8 Er zählt dann weitere Züge von Naivität und Familiarität auf, von denen er glaubt, sie hätten in Athen, aber nicht in Paris gefallen. Lessing, sonst kein Freund Voltaires, stimmt in diese Kritik ein, wenn er schreibt: „Als Litterator hat er [MafFei] zu viel Achtung für die Simplicität der alten griechischen Sitten, und für das

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Voltaire 1877a, 180. Voltaire 1877a, 185. 184. Tournemine 1877, 177. Voltaire 1877a, 185.

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Costume bezeigt, mit welchem wir sie bey dem Homer und Euripides geschildert finden, das aber allerdings um etwas, ich will nicht sagen veredelt, sondern unserm Costume näher gebracht werden muß, wenn es der Rührung im Trauerspiele nicht mehr schädlich, als zuträglich seyn soll." 49 Der Verstoß gegen den Geschmack und die Erwartungen des Publikums schwächt die Wirkung, dies ist der eigentliche Grund, um in der Nachahmung der Antike nicht zu weit zu gehen. Diese Auffassung hielt bis gegen Ende des 18.Jahrhunderts an; ein Beleg für eine gegenteilige, vielleicht neue Position findet sich in einer Kritik von Gotters Bearbeitung der Voltaireschen Merope in der Neuen Bibliothek 1792, wo der Kritiker beklagt, daß Gotter sich nicht weiter vom Original entfernt habe, „um ganz zu der Simplizität der euripideischen Ökonomie zurückzukehren". 50

5. Lessings Kritik und seine Rekonstruktion des euripideischen Dramas In seiner ausfuhrlichen Auseinandersetzung mit Maffeis und Voltaires Merope entwirft Lessing immer wieder Konstellationen und Handlungsstränge der verlorenen euripideischen Tragödie. Zwar sieht Lessing zu Beginn seiner Ausfuhrungen die methodische Problematik dieses Verfahrens durchaus ein, wenn er bemerkt: „Die größte Schwierigkeit aber macht mir der Titel selbst. Wenn diese Erkennung, wenn diese Rache des jüngsten Sohnes der vornehmste Inhalt gewesen: wie konnte das Stück „Kresphontes" heißen? Kresphontes war der Name des Vaters; der Sohn aber hieß nach einigen Aepytus, und nach andern Telephontes; (...) Hat man jemals gehört, daß ein Trauerspiel nach einer Person benennet worden, die gar nicht darin vorkömmt?" 51 Nach dieser durchaus richtigen Einsicht und einem polemischen Ausfall gegen Corneille und Dacier, die einfach angenommen hätten, der Sohn habe Kresphontes geheißen, nimmt Lessing stillschweigend an, daß die 184. Fabel des Hyginus den Inhalt der euripideischen Tragödie wiedergebe, ohne bei seiner Rekonstruktion je vom geringsten Zweifel ergriffen zu werden. Lessing hält generell die Gestaltung des Stoffes durch Euripides für überlegen. Dies gilt insbesondere auch für die von Maffei gegenüber seinen Vorgängern und der Hyginschen Version vorgenommenen Änderung, daß Meropes Sohn seine Identität nicht kennt. Lessing findet, dies schwäche das Mitleid, da der Zuschauer die Figur für einen Fremden halten müsse und folglich Merope im Begriff steht, einen Fremden und nicht ihren Sohn umzubringen. So hält er denn die Lösung

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Lessing 1893, 362 (42. Stück). Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften undfreyen Künste. Bd. 46, 1. Stück, 1792, S. 39. Lessing 1893, 349 (39. Stück).

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des Euripides für überlegen: „Bey dem Euripides wußte es der Zuschauer von dem Aegisth selbst, daß er Aegisth sey, und je gewisser er es wußte, daß Merope ihren eignen Sohn umzubringen kommt, desto größer mußte nothwendig das Schrecken seyn, das ihn darüber befiel, desto quälender das Mitleid, welches er voraus sähe, falls Merope an der Vollziehung nicht zu rechter Zeit verhindert würde. Bey dem Maffei und Voltaire vermuthen wir es nur, daß der vermeinte Mörder des Sohnes der Sohn wohl selbst sein könne, und unser größtes Schrecken ist auf den einzigen Augenblick versparet, in welchem es Schrecken zu seyn aufhöret." 52 Lessings Kritik an dieser Konstellation liegt eine von Maffei verschiedene poetologische Vorstellung zugrunde. Während Maffei die Wirkung in der Plötzlichkeit und Heftigkeit der Änderung sieht, also in einem Überraschungsmoment, vertritt Lessing gestützt auf Diderot 53 die Auffassung, die Wirkung sei umso größer, je besser informiert der Zuschauer sei. Euripides habe „fast immer den Z u schauern das Ziel voraus [gezeigt], zu welchem er sie fuhren wollte." Aus diesem Gesichtspunkt möchte er sogar die von den Theoretikern des 17.Jahrhunderts angegriffenen Prologe verteidigen: „Er ließ seine Zuhörer also, ohne Bedenken, von der bevorstehenden Handlung ebensoviel wissen, als nur immer ein Gott davon wissen konnte; und versprach sich die Rührung, die er hervorbringen wollte, nicht sowohl von dem, was geschehen sollte, als von der Art, wie es geschehen sollte." 54 Dies sei auch der Hauptgrund, weshalb Aristoteles Euripides „den tragischsten von allen tragischen Dichtern" nennt, denn dadurch, daß Euripides dem Zuschauer das Unglück lange vorher zeigt, hätten die Zuschauer auch dann schon Mitleid mit den Figuren, wenn diese „sich selbst noch weit davon entfernt glaubten, Mitleid zu verdienen." 55 Für Lessing ist klar, daß es das Ziel des Euripides war, „Rührung" und „Mitleid" hervorzubringen, denn für ihn ist „die Tragödie, mit einem Worte, ein Gedicht (...), welches Mitleid erreget. Ihrem Geschlecht nach ist sie die Nachahmung einer Handlung; so wie die Epopee und die Komödie; ihrer Gattung nach, die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung." 5 6 Diese Einsicht hindert allerdings Lessing nicht, in seinen beiden bürgerlichen Trauerspielen Miss Sara Sampson und Emilia Galotti mit Uberraschungseffekten zu arbeiten und im Nathan die Identität der Figuren auch erst am Schluß aufzudecken und im Grunde genau jene „romanhafte" Konstellation zu verwenden, die er Maffei und Voltaire vorwirft. Erst Schiller wird in seiner

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Lessing 1893, 386 (40. Stück). Es handelt sich u m Diderots Discours sur la poesie dramatique, den Lessing übersetzt hat in Das Theater des Herrn Diderot. 54 Lessing 1893, 389 (48. Stück). 55 Lessing 1893, 393 (49. Stück). 56 Lessing 1894, 111 (77. Stück). Die Lessing-Forschung hat sich ausfuhrlich mit dieser Auffassung der Tragödien auseinandergesetzt. Siehe etwa Schings 1980. 53

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Maria Stuart mit B e r u f u n g auf den Oedipus das Lessingsche Ideal einer Tragödie realisieren, w o der unglückliche Schluß schon am A n f a n g feststeht u n d alle Bestreb u n g e n , das U n g l ü c k zu verhindern, dieses erst recht herbeifuhren, ja beschleunigen. 5 7 Entgegen der H a n d l u n g s f u h r u n g in seinen eigenen D r a m e n lobt Lessing i m m e r w i e d e r die Simplizität des griechischen Dramas. Schon von der Hyginschen Fabel behauptet er, sie k o m m e „der alten Simplicität weit näher (...), als alle neueren M e r o p e n . " 5 8 D i e durch die Anwesenheit des C h o r s nötige Beschränkung der H a n d l u n g auf einen Tag f ü h r t nach Lessing zur Vereinfachung: „ D e n n sie ließen sich diesen Z w a n g einen Anlaß seyn, die H a n d l u n g selbst so zu simplifiiren, alles Uberflüßige so sorgfältig von ihr abzusondern, daß sie, auf ihre wesentlichsten Bestandtheile gebracht, nichts als ein Ideal von dieser H a n d l u n g w a r d . " 5 9 D e m g e g e n ü b e r sei der Geschmack der Franzosen durch die wilden Intrigen der Spanier schon verdorben gewesen, ehe sie die „griechische Simplizität" k e n n e n lernten. „Simpel u n d natürlich" findet Lessing auch die Art, wie nach seiner Auffassung Euripides den Mordanschlag der M e r o p e arrangiert hat: „ D e r Stoff erfordert zwar, daß M e r o p e den Aegisth mit eigner H a n d e r m o r d e n will, allein er erfordert nicht, daß sie es mit aller U e b e r l e g u n g t h u n m u ß . U n d so scheinet sie es auch bey d e m Euripides nicht gethan zu haben, w e n n wir anders der Fabel des Hyginus für den Auszug seines Stückes a n n e h m e n d ü r f e n . " 6 0 U n d er erklärt, daß M e r o p e auf die N a c h r i c h t hin, daß d e m Alten, d e m sie den Sohn zur B e t r e u u n g anvertraut habe, dieser abhanden g e k o m m e n sei u n d daß zugleich ein Fremder am H o f eingetroffen sei, der behaupte, ihren S o h n umgebracht zu haben, das erste ergreife, was ihr in die H a n d k o m m e u n d hineile, u m den M ö r d e r ihres Sohnes zu e r m o r den, wobei sie ihn i m letzten Augenblick erkenne: „Das war sehr simpel u n d natürlich, sehr r ü h r e n d u n d menschlich! (...) D i e Athenienser zitterten f ü r den Aegisth, o h n e M e r o p e n verabscheuen zu dürfen. Sie zitterten für M e r o p e n selbst, die durch die gutartigste U e b e r e i l u n g Gefahr lief, die M ö r d e r i n n ihres Sohnes zu w e r d e n . " 6 1 Es gibt keinen andern Stoff bzw. kein anderes Stück, d e m Lessing in der Ham-

57 Schiller schreibt an Goethe (18.Juni 1799), die eigentlich tragische Qualität des MariaStuart-Stoffes bestehe darin, „daß man die Catastrophe gleich in den ersten Scenen sieht und, indem die Handlung des Stücks sich davon wegzubewegen scheint, ihr immer näher und näher gefuhrt wird. An der Furcht des Aristoteles fehlt es also nicht, und das Mitleiden wird sich auch schon finden." (in: Lecke 1970, 377). Schon früher bemerkt er, der Stoff sei geeignet für die „Euripidische Methode, welche in der vollständigsten Darstellung des Zustandes besteht" (An Goethe, 16. April 1799, in: Lecke 1970, 374). 58 Lessing 1893, 351 (40. Stück). 59 Lessing 1893, 378 (46. Stück). 60 Lessing 1893, 382f. (47. Stück). 61 Lessing 1893, 382f. (47. Stück).

Die Rezeption des antiken Dramas im 18.Jahrhundert

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burgischen Dramaturgie so viel R a u m widmet wie der Merope. Die Tatsache, daß dies eines der erfolgreichsten Theaterstücke überhaupt war, ist allein wohl kaum eine ausreichende Erklärung bzw. verlangt ihrerseits nach einer Erklärung. Lessings Rekonstruktion des euripideischen Kresphontes als einer Merope-Tragödie, deren Hauptzweck nicht die Wiederherstellung der legitimen Thronfolge, sondern die mitleidswürdige Handlung einer Mutter, welche beinahe ihren Sohn ermordet, ist, zeigt, daß er aus der euripideischen Tragödie im G r u n d e ein bürgerliches Trauerspiel macht. Dies ist schon in Maffeis Stück angelegt, der ja sehr betont, daß wir alle die Mutterliebe kennen u n d sie daher verstehen können. Damit setzt MafFei schon eine für das bürgerliche Trauerspiel typische Wirkungsabsicht, die auf Identifikation beruht, voraus. W i r müssen nach Lessing das Übel für uns selbst fürchten, damit wir Mitleid empfinden, weshalb der Held „mit uns von gleichem Schrot u n d K o r n " sein muß, 6 2 bzw. so handeln muß, wie wir in seiner Situation handeln würden. So sieht Lessing Merope, wenn er sagt, ihr Mordanschlag sei „natürlich", „menschlich" u n d „rührend". MafFei betont im selben Sinn, wie groß unser Mitleid mit Egisto sei. Dieses sei umso größer, als der Mordanschlag auf Egisto in keinem Verhältnis stehe zu seinem Fehler, nämlich seinen vermeintlichen Eltern ungehorsam gewesen zu sein und sie verlassen zu haben. 6 3 Daß der Fehler in einem Verstoß gegen die Regeln innerhalb der Familie besteht, deutet wie die Akzentuierung des Mitleids auf Kosten von Schrecken oder Furcht auf die Verschiebung des an sich heroischen Stoffes in R i c h t u n g bürgerliches Trauerspiel. Lessing hat übrigens in Miss Sara Sampson kindlichen Ungehorsam ebenfalls als Motivierung verwendet. Man kann sich fragen, w a r u m Lessing sein Ideal einer griechischen Tragödie ausgerechnet an einer nicht erhaltenen Tragödie darlegt, und als Beleg für seine Thesen der Simplizität u n d der Affekthandlung sowie der dadurch erzeugten W i r kung vor allem des Mitleids nicht Beispiele aus erhaltenen Tragödien anfuhrt. Man kann nur vermuten, daß die erhaltenen Tragödien seiner Uminterpretation zu große Widerstände entgegengesetzt hätten. Lessing hält zwar in seiner Polemik gegen MafFei und vor allem Voltaire das Ideal der griechischen Tragödie hoch, er kann aber in seiner Argumentation in der Hamburgischen Dramaturgie u n d vor allem

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Lessing 1894, 104 (75. Stück). „ecco il suo errore nel disubbidire i creduti genitori e nel grandissimo affanno lor dato col trafugarsi senza far motto; ed ecco la pena nell'estremo pericolo d'esser due volte ucciso; di che tanto maggior compassione si genera, quanto che l'errore fu condonabile, e non rende chi lo commise abborrito ne scelerato, ond'e appunto di quelle spezie d'errori che per la Tragedia richieggonsi." [Sein Fehler ist, daß er seinen vermeintlichen Eltern gegenüber ungehorsam war und daß er ihnen großen Kummer bereitete, weil er weglief, ohne etwas zu sagen; die Strafe besteht in der zweimaligen äußersten Gefahr, getötet zu werden. Daraus erwächst umso größeres Mitleid, als der Fehler verzeihlich ist und denjenigen, der ihn begangen hat, weder verabscheuenswürdig noch frevelhaft erschienen läßt. Es ist genau diese Art von Fehler, die die Tragödie verlangt.] (MafFei 1988, 83). 63

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Rosmarie Zeller

in seiner poetischen Praxis nicht verleugnen, daß sein Verständnis des Dramas in Wirklichkeit an der klassischen französischen Tragödie geschult ist, von der Voltaires Merope noch einmal ein höchst virtuoses Beispiel ist. Voltaire kommt ohne Bösewicht und ohne Intrige aus, Bestandteile, auf die Lessing weder in Miss Sara Sampson noch in Emilia Galotti verzichten konnte. Lessing verrät vielmehr in der Gestaltung dieser beiden Tragödien, daß er in seiner poetischen Praxis keineswegs den tragischsten aller tragischen Dichter nachahmt, sondern, wie Barner bereits 1973 gezeigt hat, Seneca. 64 Daß die griechische Tragödie Lessing nicht sehr präsent war, zeigt sich auch daran, daß er, im Gegensatz etwa zu Maffei, in der Hamburgischen Dramaturgie nie spontan Beispiele aus griechischen Tragikern bringt. Mit einer Ausnahme, wo vom Kostüm in den Persern des Aischylos die Rede ist, stammen alle Erwähnungen griechischer Autoren in der Hamburgischen Dramaturgie aus Zitaten anderer Autoren. 65 So stellte Olga Franke bereits 1929 fest, daß Lessing der griechischen Tragödie „im Grunde ziemlich fremd gegenüberstand, daß seine Urteile alle etwas Zufälliges an sich haben, und daß sich in seinen eigenen Dramen keine wesentlichen Spuren ihres Einflusses auffinden lassen." 66

6. Schluß Der große Erfolg der Merope im 18.Jahrhundert .illustriert, unter welchen Bedingungen die antike Tragödie wieder belebt, ja, wie es Maffei versteht, übertroffen werden kann: der Stoff muß eine Uminterpretation in die Richtung einer modernen Tragödienkonzeption zulassen. Die Akzentuierung der Wirkung des Mitleids als letztem Zweck der Tragödie bereits bei Maffei deutet den Beginn der bürgerlichen Mitleidsdramatik an, ebenso wie die Verschiebung des Interesses von einer politischen Handlung auf die Darstellung der privaten Mutterliebe. Zwar wird noch ein Tyrann ermordet, aber verglichen mit der auf Merope konzentrierten Haupthandlung rückt dieser politische Aspekt in den Hintergrund. Die Bestrafung des Bösen und die Belohnung des Guten mag in den Augen des 18.Jahrhunderts ein weiterer „ungriechischer" Vorteil des Stoffes gewesen sein. Lessings eigenartige Rekonstruktion der euripideischen Tragödie zeigt mit besonderer Deutlichkeit die Umdeutung der antiken Tragödie in ein bürgerliches Trauerspiel, in dem die Figuren wie in Lessings eigenen Stücken dieser Gattung — und hierin noch durchaus dem heroischen Drama verwandt — aus dem Exzeß der Leidenschaft

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Barner 1973. Neustens hat Ter-Nedden 1986 zu beweisen versucht, daß sich Lessing doch am griechischen Drama orientiert. Seine These ist meiner Ansicht nach unhaltbar; er bringt kaum Textbelege und setzt sich von jenen Philologen ab, die ihre Untersuchungen auf feststellbare philologische Tatsachen gründen (1986, 20). 66 Franke 1929, 22. 65

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handeln. Lessings Rekonstruktion des Kresphontes sagt sehr viel über die dramatischen Theorien des 18.Jahrhunderts u n d sehr wenig über das griechische Drama aus.

Abgekürzt zitierte Literatur Barner 1973 Bray 1931 Curtius 1753

Dacier 1792 Diderot 1980

Franke 1929 Fuhrmann 1980

Gubler 1955 Hartmann 1892 Lecke 1970 Lessing 1893

Lessing 1985 Maffei 1751 Maffei 1928 Maffei 1988

Marmontel 1763 Marmontel 1787 Nicolai 1757

W. Barner, Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas, München 1973. R . Bray, La formation de la doctrine classique en France, Lausanne 1931. Aristoteles' Dichtkunst ins Deutsche übersetzt, mit Anmerkungen und besonderen Abhandlungen versehen von M. C. Curtius, Hannover 1753, N D Hildesheim 1973. La Poetique d'Aristote [...] Traduite en françois avec Des Remarques critiques sur tout l'ouvrage, par M. Dacier, Paris 1792. D. Diderot, Entretiens sur le Fils Naturel, in: D.D., Oeuvres complètes, Bd. 10: Le drame bourgeois, Ed. critique et annotée présentée par J. Chouillet et A.-M. Chouillet. Paris 1980. O. Franke, Euripides bei den deutschen Dramatikern des 18.Jahrhunderts, Diss. Berlin 1929. M. Fuhrmann, Die Rezeption der aristotelischen Tragödienpoetik in Deutschland, in: W. Hinck (Hrsg.), Handbuch des deutschen Dramas, Düsseldorf 1980, 93-105. M. Gubler, Merope. Maffei - Voltaire - Lessing. Zu einem Literaturstreit des 18.Jahrhunderts, Diss. Zürich 1955. G. Hartmann, Merope im Italienischen und Französischen Drama, Erlangen 1892. B. Lecke (Hrsg.), Dichter über ihre Dichtungen: Friedrich Schiller. Von 1795-1805, München 1970. G. E. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, in: G. E. Lessing, Sämtliche Schriften, hrsg. von K. Lachmann und F. Munker, Bd. 9, Stuttgart 1893, Bd. 10, Stuttgart 1894. G. E. Lessing, Werke, hrsg. von K. Bohnen, Frankfurt a. M. 1985. Sc. Maffei, Merope. Ein Trauerspiel, übersetzt von Fr. Molter, Wien 1751. Sc. Maffei, Opere drammatiche e poesie varie, a cura di A. Avena, Bari 1928. Se. Maffei, Proemio alla Merope, in: Sc. M., De' teatri antichi e m o derni e altri scritti teatrali, a cura di Laura Sannia Nowé, Modena 1988, 76-86. J.-Fr. Marmontel, Poétique françoise, Bd. 2, Paris 1763. J.-Fr. Marmontel, Elements de littérature, Bd. 10, Paris 1787. Artikel „Tragédie". Fr. Nicolai, Abhandlung vom Trauerspiele, in: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Bd. 1 , 1 . Stück, 1757. N D in: Lessings Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai über das Trauer-

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Petersen Rappolt 1678 Riccoboni 1730 Ringger 1977 R o t t h 1688 Schérer 1959 Schings 1980 Schlösser 1890 Senardi 1982

Ter-Nedden 1986 Torelli 1977 Tournemine 1877

Voltaire 1877a

Voltaire 1877b

Voltaire 1877c Voltaire 1972

Weinberg 1961 Zeller 1988

Rosmarie Zeller spiel, hrsg. und erläutert von R o b e r t Petsch, Leipzig 1910. N D Darmstadt 1967. Lessings Hamburgische Dramaturgie, hrsg. und erläutert von J. Petersen, Berlin o.J. Fr. Rappolt, Poetica Aristotelica sive veteris tragoediae expositio [•••], Lipsiae 1678. L. Riccoboni, Histoire du Théâtre Italien, depuis la décadence de la Comédie Latine, Paris 1730. K . Ringger, La Merope e il „furor d'affetto": la tragedia di Scipione Maffei rivista, in: M L N 92, 1977, N . ° 1, 3 8 - 6 2 . A . C h r . Rotth, Vollständige Deutsche Poesie in drey Theilen [...], Halle 1688. J. Schérer, La dramaturgie classique en France, Paris 1959. H.-J. Schings, Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner, München 1980. R . Schlösser, Zur Geschichte und Kritik von Friedrich Wilhelm Gottels Merope, Diss. Leipzig 1890. F. Senardi, Alle origini del dramma borghese: Merope di S. Maffei, in: F. S., Tre Studie sul teatro tragico tra manierismo ed età dell'Arcadia, R o m a 1982, 81-117. G. Ter-Nedden, Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik, Stuttgart 1986. P. Torelli, Merope, in: Il teatro italiano II. La tragedia del Cinquecento. Tomo secondo, a cura di M. Ariani, Turin 1977, 522-637. Lettre du P. de Tournemine, Jésuite au P. Brumoy sur la tragèdie de la Mérope, in: (Œuvres complètes de Voltaire, nouvelle édition, Bd. 4, Paris 1877, 177-178). Fr.-M. Arouet de Voltaire, [Brief] A M . Scipion Maffei, auteur de la Mérope italienne et de beaucoup d'autres ouvrages célèbres, in: Œuvres complètes de Voltaire, nouvelle édition, Bd. 4, Paris 1877, 179-191. Fr.-M. Arouet de Voltaire, Lettre de M . de la Lindelle a M . de Voltaire, in: Œuvres complètes de Voltaire, nouvelle édition, Bd. 4, Paris 1877, 192-196. Fr.-M. Arouet de Voltaire, Réponse a M. de la Lindelle, in: Œuvres complètes de Voltaire, nouvelle édition, Bd. 4, Paris 1877, 196-197. Fr.-M. Arouet de Voltaire, Mérope, in: Théâtre du X V I I I e siècle. Textes choisis, établis, présentés et annotés par J. Truchet, Bd. 1, Paris 1972, 813-869. B. Weinberg, A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance, 2 Bde., Chicago 1961. R . Zeller, Struktur und Wirkung. Z u Konstanz und Wandel im Drama zwischen 1750 und 1810, Bern 1988.

WILFRIED BARNER

Lessing und die griechische Tragödie Wer die Dimensionen des „ u n d " im vorgegebenen Titel durchdenkt u n d das T h e m a in geschichtsperspektivische Betrachtung wendet, ist versucht, sogleich in Gedanken hinzuzusetzen: „und Aristoteles". Während von der unmittelbaren Beschäftigung Lessings mit Aischylos, Sophokles und Euripides in den Uberblickswerken und einschlägigen Untersuchungen scheinbar wenig Substantielles verzeichnet wird, 1 evoziert das Stichwort „Aristoteles" sofort einen vieldiskutierten Problemhorizont. 2 In eng am Text geführter Auseinandersetzung mit der aristotelischen Poetik entwickelt bekanntlich Lessing gegen Ende der Hamburgischen Dramaturgie seine pointiert eigenständige Konzeption eines modernen „bürgerlichen" Dramas, an die in Anregung u n d Kritik die nachfolgenden Generationen anzuknüpfen vermochten, von den Repräsentanten des Sturm und Drang u n d des deutschen Idealismus bis noch zum „sozialen Drama" der Naturalisten. 3 Wer von Lessings Verwendung der Begriffe „katharsis", „Furcht" u n d „Mitleid" im Hinblick auf die antike Tragödie — auch diejenige Senecas — sprach, dachte das Aristotelische daran immer zugleich mit. Dieser grundsätzlichen Kategorienklärung für die M o d e r n e scheint genau zu korrespondieren, daß erst mit Lessing — in der charakteristischen, schon von H e r der 4 beklagten, deutschen ,Verspätung' — die noch heute ,lebendige' deutschsprachige Theatertradition einsetzt, mit den großen Exempla Minna von Barnhelm, Emilia Galotti und Nathan der Weise.5 Der N a m e Aristoteles jedoch signalisiert in diesem Kontext eine Problemspannung, die durch Lessings einzigartige Pionierposition in Deutschland noch herausgetrieben wird und die spätere anti-aristoteli-

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So etwa bei Kont 1894/1899; N o r d e n 1929; Riedel 1984; Jens 1983; vgl. auch Sichtermann 1968. 2 Dies spätestens seit Kommerell 1957; vgl. den neuesten Überblick im Kapitel „Aristoteles' Poetik, der Tragödiensatz u n d das 18.Jahrhundert" bei Alt 1994, 14-22; auch Gelfert 1995, 88-91. 3 D e r Bogen ist oft gezogen worden, vgl. den Uberblick von Lessing bis zu Gerhart H a u p t m a n n bei Gelfert 1995, 8 4 - 1 4 3 . 4 So vor allem in den Humanitätsbriefen, Ausgabe Suphan 18, S. 111 („wir kamen zu spät"). 5 Daß mindestens eines der drei Stücke noch Abend für Abend auf deutschen T h e a t e r n gespielt wird, zeigt ausschnittsweise Stadelmaier 1980.

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Wilfried Barner

sehe Polemik zugleich auf ihn zentriert. Mit Lessing, so lautet Brechts in unserem Jahrhundert vielbeachtete (seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten von ihm mehr und mehr zugespitzte) 6 These, setze eine Neukanonisierung des „aristotelischen" Theaters ein. Das „Mitleiden" des Publikums mit den Leiden der dramatischen Helden verhindere letztlich die erkenntnis- und handlungsfÖrdernde Distanznahme zum theatralischen Geschehen und leiste der verhängnisvollen „Einfühlung" Vorschub. 7 Trotz aller historisch-materialistischen Würdigung des humanistischen „Kämpfers" Lessing u n d auch des emanzipatorischen Theatermannes, seit Franz M e h r i n g (1893), ist der „Rationalist" Lessing gerade in der marxistischen Theatertradition wiederholt auch als problematische Figur erschienen. 8 N o c h der Brecht-Schüler Heiner Müller stilisiert ihn zum „traumlosen" Aufklärer. 9 D o c h die Fixierung Lessings an die Theorie-Autorität Aristoteles ist im 20.Jahrhundert keine Brechtsche Besonderheit. Auch Max Kommerell lenkt mit Lessing und Aristoteles (1940) 10 die Auseinandersetzung fast ganz auf die Ebene der Theoriediskussion, bei der die griechischen Tragiker ebenso marginal bleiben wie insbesondere die T h e a ter- u n d Institutionengeschichte des 18.Jahrhunderts. 1 1 Wolfgang Schadewaldts Kritik an Lessings angeblicher, christlich-philanthropischer „Abschwächung" des aristotelischen „Schreckens"-BegrifFs 12 w i e d e r u m ist gerade von intimer Vertrautheit mit den spezifisch antiken Voraussetzungen geprägt u n d k ü m m e r t sich freilich u m Lessings eigene Dramen so wenig wie u m dessen konkrete Beschäftigung mit Aischylos, Sophokles, Euripides. Sie zielt fast ausschließlich auf die Hamburgische Dramaturgie — und so der weitaus größte Teil der seitherigen Forschung. 1 3 N o c h ein anderes, grundsätzliches Bedenken hat seit langem verhindert, dem T h e m a „Lessing und die griechische Tragödie" nähere Aufmerksamkeit zu widmen. Konnte Lessing überhaupt, als einer der führenden Köpfe der „Aufklärung",

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Gute Zusammenfassung bei Knopf 1980, 439-443. Z u m größeren Kontext der Argumentation Schrimpf 1965; Grimm 1974. 8 Vgl. das Kapitel „Die Lessing-Rezeption als Paradigma ideologischer Vereinnahmungen" (G.E. Grimm) in: Barner 1987, 386-427; ebenso Göpfert 1981. 9 So in Müller 1975. 10 Kommereil 1957, Vorwort S. 7: „Was hier versucht wird, ist zunächst der Nachweis, wie Lessing, als Theoretiker der Tragödie, zur Poetik des Aristoteles stand". 11 Wie unabdingbar dieser Kontext gerade auch für die neue Theorie der „Schauspielkunst" im 18.Jahrhundert ist, zeigt schon der knappe Abriß bei Fischer-Lichte 1993, 81-141. 12 Schadewaldt 1955. Die bis in die letzten Jahre fortgeführte Diskussion kann hier nicht weiter verfolgt werden (knappe Hinweise bei Latacz 1993, 65 f.; Literaturhinweise zur Wirkungsgeschichte dort S.408). 13 Unter den frühen Arbeiten ist die einzige Ausnahme: Kont 1894/1899. 7

Lessing und die griechische Tragödie

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je ein tieferes Verhältnis zur echten „Tragödie" finden, 14 noch gar zu deqenigen griechisch-attischen Zuschnitts? Gottscheds verständnisloses Pflichtlob des bereits kanonisierten Sophokles 15 — mit der eigentümlichen Weise, eine „Lehre" aus dem König Ödipus herauszukonstruieren 16 — schien nur offenkundiger, ehrlicher die Barriere zu verdeutlichen. Und die (auch in der Schule) vielgelesene Lessingsche Verteidigung des sophokleischen Philoktet im Laokoon (Abschnitt 4) betrifft mit dem Problem des „Schreiens" in der Tat nur einen Partialaspekt. Der lateinische Geist' Lessings konnte überdies allenfalls dem Durchbruch zur wahren GriechenErkenntnis in der Goethezeit präludiert haben, als einer der ,Vorklassiker'.17 Und schließlich: Von produktiver imitatio der griechischen Tragiker scheint bei Lessing keine Rede zu sein. Lessing hat kein Drama Troilus and Cressida verfaßt wie Shakespeare, keine Médée wie Corneille und keine Phèdre wie Racine, keine Hekuba (1736) oder Geschwister in Taurien (1739) wie Johann Elias Schlegel, keinen Codrus (1757) wie Johann Friedrich von Cronegk und keinen Atreus und Thyest (1767) wie sein Studienfreund Christian Felix Weiße, keine Iphigenie auf Tauris wie Goethe, kein Tragödienchor-Projekt wie Schillers Braut von Messina, keine Argonauten-Trilogie wie Grillparzer usf. Es fehlen, wie es scheint, auch verdeckte' Adaptationen wie O'Neills Mourning becomes Electra oder Sartres Les Mouches. Das einzige antikisierende Stück, das er fertiggestellt und veröffentlicht hat, der Einakter Philotas (1759), mit Anklängen an Sophokles und Seneca, aber mit einer eigentümlichen Synthetisierung griechischer und römischer Elemente, 18 steht als Heroendrama höchst irritierend 19 zwischen dem modernen, tränenreichen Durchbruchs-Trauerspiel Miß Sara Sampson (1755) und dem zweiten „bürgerlichen" Trauerspiel Emilia Galotti (1772). Hier sind zwar in der Gestalt der Orsina — wie schon bei Marwood in der Sara20 — ferne Spiegelungen der Medeagestalt beobachtbar, doch in der Handlung des Stücks scheint gerade eine römische „fabula" modellhaft durch (die der Virginia nach Livius).21

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Hierbei von großem Einfluß über lange Jahre: von Wiese 1948. Dabei muß vorausgesetzt werden, daß von einer Lektüre der griechischen Originale selbst bei Gottsched kaum die Rede sein kann. Der Weg fuhrt, wie zunächst auch noch bei Lessing, hauptsächlich über französische Übersetzungen; dazu weiter unten. 16 Gottsched 1751, 606 f. 17 Zu dieser eigentümlichen Klassifikations-Mechanik Barner 1988. 18 Die Namen sind überwiegend griechisch (mit z.T. latinisierender Schreibung), aber der Schauplatz ist geographisch nicht näher festgelegt („ein Zelt in dem Lager des Aridäus"), es tauchen Bezeichungen auf wie „die männliche Toga" (Lessing 1968, Bd. 2, 357), und anderes. 19 Selbst der enge Freund Gleim hat das (zunächst anonym erschienene) Stück mißverstanden; vgl. des weiteren unten S. 177. 20 Die „neue Medea", als die sich Marwood selbst drohend bezeichnet (Lessing 1968, Bd. 2, 295), deutet freilich 1755 noch mehr auf Seneca (und Corneille) als auf Euripides. 21 Livius III 44—48. Für die angedeutete Reihe der Adaptationen griechischer Mythen kommt das Stück also nicht in Frage. 15

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Angesichts solcher, wenig ,starker' Befunde verlangt etwas ganz anderes zusätzliche Aufmerksamkeit, das als Faktum im Prinzip bekannt ist und doch zumeist als elementar beiseite geschoben wird. W i e wenige andere Theaterautoren seiner Zeit steht Lessing als humanistisch geschulter Philologe 2 2 auffallend professionell in der antiken, auch griechischen Literaturüberlieferung. Und etwas Zweites sei gleich hinzugesetzt, das nicht nur für seine Argumentation in der Hamburgischen Dramaturgie bedeutsam wird. Lessing bewegt sich, gerade im Gegenzug zum bloß p h i l o logischen', zugleich von früh an im Kontext des Theaters, seiner Gesetze und vor allem des „Wirkungs"-Aspekts. 2 3 Er hat in Meißen das protestantisch-humanistische Schultheater und spätestens seit der Leipziger Studienzeit auch das gehobene Wanderbühnen-Spiel — bei der Truppe der Neuberin auch mitarbeitend — kennengelernt. Im Gegensatz zu vielen Philologen in der langen Auslegungstradition des Aristoteles wie des attischen Dramas kennt er die Gesetze des Theaters von der Pike auf. 2 4 Theater ist schon für den frühen Lessing nicht lediglich .Apparat' mit verschiedenen Sparten und Traditionen, sondern prinzipielle Form öffentlicher Äußerung mit klarer Wirkungsintention. Viele der frühen Fabeln, Lieder, Oden und Epigramme sind auf charakteristische Weise .inszeniert'. 2 5 Auch die Kritiken, die der Poet Lessing schreibt, zeigen nicht lediglich .rhetorischen', sondern theatralischen' Duktus. 2 6 In welchem umfassenden Theaterzusammenhang Lessings früher Zugang auch zum attischen Drama steht, ist ebenso unübersehbar wie bezeichnend. Und es reduziert, j a verzerrt die Verhältnisse, wenn man — wie zumeist üblich — gleich in die Phase der Hamburgischen Dramaturgie einzusteigen versucht. Es ist wiederholt hervorgehoben worden, daß auch in den ersten Jahrzehnten des 18.Jahrhunderts noch die griechische Tragödie wesentlich über die Oper auf der Bühne präsent ist. 2 7 Da sich Lessing der Oper gegenüber — hierin Gottsched durchaus ähnlich — in großer Distanz befindet, 2 8 wird die Klassikerlektüre des humanistisch-protestantischen Gymnasiums samt dem Schultheater von desto größerer Bedeutung. Die

Hierzu Norden 1929, Barner 1973, Riedel 1984, Jens 1983, vgl. auch Raabe 1977. Das zeigt unübersehbar die frühe, zugleich gelehrt und theaterpraktisch angelegte PlautusAbhandlung (1749). 2 4 Trotz seiner vergleichsweise intensiven .historischen' Beschäftigung mit dem antiken Bühnenwesen (einschließlich Mimik, Skenographie, Kostümierung usw.) ist „das Theater" flir Lessing eine zugleich überzeitliche Größe. 2 5 An 1991. 2 6 Schröder 1972, 13ff., Barner 1980a. 2 7 Flashar 1991, 3 5 - 4 8 („Die mittelbare Präsenz des Dramas"), bes. 47. 2 8 Charakteristisch, daß er in der frühen Seneca-Abhandlung für eine „Modernisierung" des Hercules Furens zwar sogleich an eine Oper denkt, jedoch dann auf das musikalische „Fach" verweist (Lessing 1968, Bd. 6, 193f.; Barner 1973, 126f.). 22

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Elite-Erziehung der Meißener Fürstenschule St. Afra 29 wählte selbstverständlich, was das griechische Drama anging, die lateinische Brücke', und dieser Zugang ist Lessing auch später vertraut geblieben. Plautus und Terenz, ergänzt durch die Charakterologie des Theophrast, 30 sind — wie er selbst noch 1754 formuliert 31 — auf der Fürstenschule seine „Welt". Die Komödie ist die jugendgemäße Gattung, sie hat das ganze 16./17.Jahrhundert hindurch schon den Vorrang, auch auf der Schulbühne. 32 Und bezeichnenderweise dem Plautus, zugleich demjenigen, dem Gottscheds besonderes Verdikt gilt, ist Lessings erste größere Abhandlung (1749) gewidmet. Wir wissen nicht genau, wann erste Lektüre von Seneca-Tragödien hinzutritt (spätestens ab 1754 ist sie manifest). Sie kann ansatzweise bis in die Meißener Zeit zurückreichen. 33 Das Griechische, so muß man selbst für St. Afra voraussetzen, war auch an guten protestantischen Gymnasien primär auf die nachvollziehende Lektüre einzelner Bücher des Neuen Testaments ausgerichtet. 34 Noch in der Zeit des intensiven Sophokles-Studiums gegen Ende der 50er Jahre benutzt Lessing ersichtlich immer noch auch die lateinischen Versionen etwa in der Ausgabe des Vitus Wins(h)emius (zuerst 1546, dann wiederholt). 35 Doch die lateinische Orientierung besitzt noch einen anderen bezeichnenden Aspekt. Sie entspricht auf ihre Weise dem dominierenden kulturellen Theater-Paradigma, das sich — nicht nur bei Gottsched — bekanntlich an der klassischen französischen Literaturnormierung orientierte. Auf dem Weg zu den griechischen Tragikern stehen auch für den eigensinnig zielstrebigen jungen Theaterfan Lessing zunächst Corneille, Racine, Boileau, Voltaire - und für das Lustspiel natürlich Molière (der bereits in diesem Genre sich versuchende junge Lessing wollte nicht weniger als ein „deutscher Molière" werden, 36 nicht etwa ein deutscher Terenz oder Menander). Doch als der eben Zwanzigjährige, nun schon von Berlin aus, mit Lustspielen, Journalismus und anderen Gelegenheitsarbeiten seine schriftstellerische Karriere

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Peter 1881; s. auch Flathe 1879. Wahrscheinlich nicht i m griechischen O r i g i n a l , s o n d e r n in einer französischen U b e r s e t zung; darauf k ö n n t e a u c h eine R e z e n s i o n Lessings v o m 22. J u n i 1754 d e u t e n (Lessing 1968, Bd. 5, 4 1 2 £ ) , vgl. Lessing 1970, Bd. 3, 729. 31 So in der Vorrede z u m d r i t t e n Teil der Schrifften (1754), aus Anlaß seiner eigenen LustspielP r o d u k t i o n (Lessing 1968, B d . 5, 268). 32 Das d e m o n s t r i e r e n die Lektürepläne w i e die Schultheaterpläne der protestantischen G y m nasien v o m 16. bis z u m 1 8 . J a h r h u n d e r t : V o r m b a u m 1860. 33 B a r n e r 1973, 1 6 f . 34 A u c h dieses zeigen die S c h u l o r d n u n g e n , f ü r St. Afra speziell vgl. Flathe 1879. In M e i ß e n entsprachen 15 W o c h e n s t u n d e n Latein 4 G r i e c h i s c h - S t u n d e n (immerhin!). 35 N ä h e r e s zu dieser u n d anderen Ausgaben in Lessing 1985, Bd. 5 / 1 , 6 8 3 - 6 8 6 . 708. Ein Briefzeugnis: Lessing 1985, Bd. 1 1 / 1 , 344. 36 „ W e n n m a n m i r mit R e c h t d e n Tittel eines deutschen M o l i e r e beylegen k ö n n t e , so k ö n n t e ich g e w i ß eines e w i g e n N a h m e n s versichert seyn" (an den Vater, 28. April 1749; Lessing 1968, B d . 17, 16; Lessing 1985, B d . 1 1 / 1 , 24). 30

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aufzubauen begann, da waren sein erstes größeres Projekt, mit dem Freund u n d entfernt Verwandten Christlob Mylius auf die Beine gestellt, die Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, eine „periodische Schrift" (1. Band 1750). 37 Es wurde die erste deutsche Theaterzeitschrift, zugleich mit dem Blick in die G e schichte und auf die gegenwärtige Bühne. Das Programm aber lautete: Gegen Gottscheds einseitige Bevorzugung der (übersetzten) Franzosen in dessen Deutscher Schaubühne (1740-1745) n u n m e h r Erschließung, Ubersetzung, Kommentierung der Vernachlässigten, der griechischen u n d lateinischen, italienischen, englischen, spanischen u n d holländischen Theaterautoren, auch ihrer theoretischen Schriften. Auf die erstem zwey wollen wir unseren Fleiß besonders w e n d e n . W i r wollen zuweilen aus dem Sophokles, Euripides u n d Aeschylus ein Stück übersetzen; wozu wir allezeit ein solches wählen wollen, das von n e u e r n Poeten ist nachgeahmet worden, oder von dessen Inhalte wenigstens ein ähnliches neueres Stück zu finden ist. Dieses wollen wir auch mit d e m Aristophanes, Plautus, Terenz und d e m tragischen Seneca thun. W i r wollen sie dabey selbst untereinander vergleichen, u n d zu bestimmen suchen, was Sophokles vor dem E u r i pides, dieser vor j e n e m , beyde vor dem Aeschylus, u n d dieser vor beyden eignes habe. Auf gleiche Art wollen wir mit dem Terenz u n d Plautus verfahren. Es soll uns nicht genug seyn, ein Stück von ihnen zu übersetzen, wir wollen auch zeigen, w o r i n n e u n d wie Terenz den Plautus, u n d Plautus den Aristophanes nachahme. W i r wollen dabey mit allem Fleisse diejenigen Stücke u n d Stellen aufsuchen, welche die n e u e r n Dichter von diesen geborgt haben. W i r werden daraus nothwendig einsehen lernen, welches die wahre u n d falsche Art, nachzuahmen sey, u n d den Vorzug der Alten vor den N e u e r n , oder, in gewissen Stücken, dieser vor j e n e n , daraus feste setzen können. Hierzu sollen besondre A b h a n d l u n gen gewidmet werden. 3 8

Außer dem weltliterarisch' Megalomanischen des Unternehmens, das durch Gottscheds Deutsche Schaubühne herausgefordert war u n d sich so niemals einlösen ließ, sind insbesondere fünf Intentionen charakteristisch, die künftig auch Lessings allmählichen Zugang zur attischen Tragödie bestimmen werden. Das bekannteste: Es geht, nicht nur auf dem Felde der Tragödie, u m die Durchbrechung der kulturellen Hegemonie Frankreichs, u m ein „Muster" für das deutsche Theater. Dabei soll — wie die weitere Programmatik noch deutlicher zeigt — den als nicht „regelmäßig" geltenden 3 9 Theaterliteraturen ein besonderes „Augenmerk" gewidmet sein, vor allem der spanischen u n d der englischen (es fallen u. a. die N a m e n Lope de Vega und Shakespeare). Der Erkenntnisdifferenzierung dient das komparative Verfahren, die „Vergleichung" vor allem sujetgleicher Dramen, d. h. gerade auch der „Nachahmungen". Zielpunkt ist die Gewinnung von Stücken für die gegenwärtige Bühne, aber dabei spezieller auch das, was Lessing später das umarbeitende

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Lessing 1968, Bd. 4, 49; Lessing 1985, Bd. 1, 725. Lessing 1968, Bd. 4, 52; Lessing 1985, Bd. 1, 728. 39 Bei der deutschen kritischen Verwendung dieses Begriffs spielen bereits Vorstellungen v o m jeweiligen nationalen „Naturell" auf d e m Theater eine Rolle (Lessing 1968, Bd. 4, 53; Lessing 1985, Bd. 1, 729), wie sie deutlicher Johann Elias Schlegel in seinen Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters formuliert (1747; gedruckt erst 1764). 38

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„Modernisieren" eines antiken Dramentextes nennen wird. 4 0 Es bleibt unentschieden, ob im Sinne der immer noch nicht beendeten 4 1 Querelle des Anciens et des Modernes die „Alten" oder die „Neuern" den Vorzug erhalten. Entscheidend ist die „Wirkung" der Stücke auf eigenständige, zum „Urtheil" fähige Leser und Zuschauer — was zugleich die Notwendigkeit einer neuen Reflexion auf „das Schöne" des Theaters einschließt. 42 (Nicht unerwähnt bleibe — mit dem Blick auf den eigenen Vater — die Verteidigung des Theatermetiers gegen geistliche „Vorurteile", auch die provokante Vermutung, der „Pöbel" werde eines gar nicht fernen Tages „klüger" als die Herren „Gottesgelehrten" sein.) In dem so skizzierten Horizont ist prinzipiell alle weitere Beschäftigung Lessings auch mit der griechischen Tragödie zu sehen, wobei etwa das vergleichende Verfahren durchaus nicht .originell' ist, sondern auch schon in dem weitverbreiteten, noch von Schiller benutzten, Théâtre des Grecs (zuerst 1730) 4 3 des französischen Jesuiten Père Brumoy praktiziert wird. Von philologischem Handwerkszeug ist in der Vorrede vom Oktober 1749 nur andeutungsweise die Rede. Aber gleich die das Unternehmen eröffnende Plautus-Abhandlung demonstriert unübersehbar, daß hier nicht nur ein versierter und ehrgeiziger Theaterpraktiker redet, sondern einer, der in der gleichen Schrift auch Textkritik treibt (mit eigenen E m e n dationen), 44 Grammatik, Wortsemantik, Quellenanalyse - und alles im Dienst der Wiedergewinnung eines Autors, dessen Captivi „eines von den schönsten Stücken sind, die jemals auf den Schauplatz gekommen sind". 4 5 Auf dem Weg zur griechischen Tragödie ist das genaue Sicheinlassen auf diesen römischen Theatertext eine entscheidende ,Anbahnungsphase'. Daß Lessing nach dem Plautus als ersten antiken Tragiker den Seneca wählt (1754 im zweiten „Stück" der „periodischen" Fortsetzung der Beyträge unter dem Titel Theatralische Bibliothek),46 scheint keiner näheren Begründung bedürftig. Immer noch ist, auch im Hinblick auf die griechische Tragödie, die lateinische Brücke' dominant. Aber zwei Zielbestimmungen sind doch zu erwähnen. Seneca ist gerade einer der exemplarischen „Spanier", die von Gottsched in der Critischen Dichtkunst (1730) neben Martial, Graciân und anderen, und neben dem ominösen ,deutschen Spanier' Lohenstein, unter das radikale „Schwulst"-Verdikt gebannt

4 0 So, auf seinen Herkules-Plan von 1754 zurückblickend, in einem Brief an den Bruder Karl Gotthelf, der einen Masaniello plant (14.Juli 1773; Lessing 1968, Bd. 18, 86; Lessing 1985, Bd. 1 1 / 2 , 566). 4 1 Kapitza 1981. Lessing thematisiert die Querelle schon früh (1748) in Versen für den Naturforscher. Lessing 1985, Bd. 1, 1 1 5 - 1 2 0 . 4 2 Lessing 1968, Bd. 4, 51; Lessing 1985, Bd. 1, 727. 4 3 Brumoy bietet Ubersetzungen, Kommentare und auf dieser Basis auch „comparaisons"; vgl. Flashar 1991, 38. 4 4 Dazu J. Stenzel in Lessing 1985, Bd. 1, 1 3 5 1 - 1 3 5 3 ; auch Riedel 1976, 4 6 - 4 9 . 4 5 Lessing 1968, Bd. 4, 83; Lessing 1985, Bd. 1, 766. 4 6 Nun, nach der Trennung von Mylius, in alleiniger Verantwortung.

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w o r d e n waren. 4 7 Hier ist ein antiker Tragiker 4 8 mit seinen „ S c h ö n h e i t e n " zu „retten", n o c h dazu einer, dessen Hercules Furens sich für eine die .innere' Psychologie des Wahnsinns herauspräparierende „ M o d e r n i s i e r u n g " besonders eignet. U n d das andere: Es gilt für die gesamte weitere Beschäftigung Lessings mit d e m antiken D r a m a — w i e schon für den Plautus —, daß er selbstverständlich die Texte als Theatertexte liest, als f ü r die A u f f ü h r u n g bestimmte (was für den „tragischen Seneca" schon unter seinen Zeitgenossen u n d n o c h von der nachfolgenden Klassischen Philologie durchaus auch bezweifelt w u r d e ) . 4 9 Bis in die Leipziger Zeit zurück, angeregt durch das dortige Auftreten der Nicolinischen Ballett-Truppe (1749), reicht Lessings Beschäftigung mit der „ P a n t o m i m e der Alten", über die er eine philologische A b h a n d l u n g dieses Titels b e g o n n e n hat (sie blieb Fragm e n t ) 5 0 u n d die zahlreiche Details auch der griechischen Bühnenpraxis (Körpersprache, „Tanz", Szenisches usw.) einschloß. D e n sichtbarsten Schritt von d e m Repräsentanten des römischen Schauspiels zur attischen Tragödie greifen wir indes gleich im ersten Kapitel der SenecaSchrift, bei d e m zuerst behandelten Hercules Furens,51 dessen „Beurtheilung" sich ein umfangreicher Abschnitt anschließt mit der Uberschrift „Vergleichung mit des Euripides rasendem Herkules". 5 2 Euripides wird — für die Tendenzen des 18.Jahrhunderts nicht untypisch 5 3 — derjenige der attischen Tragiker sein, der Lessings Aufmerksamkeit auch in den k o m m e n d e n Jahrzehnten am meisten fesselt. Demonstrationsziel der „Vergleichung" ist zunächst, nachzuweisen, daß Seneca „nicht als ein Sklave, sondern als ein Kopf, welcher selbst denkt, nachgeahmt, u n d verschiedne Fehler, welche in d e m Vorbilde sind, glücklich verbessert" habe. Z u diesen „Fehlern" zählt der j u n g e Lessing, daß „Euripides die H a n d l u n g offenbar verdoppelt hat", i n d e m er der E r ö f f n u n g durch A m p h i t r y o n (mit Bericht „von den nöthigsten historischen U m s t ä n d e n " ) später den vieldiskutierten zweiten P r o log (V. 821 ff.) folgen läßt. D e r „römische D i c h t e r " hingegen habe, so Lessing, höchst „geschickt" durch Schaffung des Juno-Prologs „ein zusammenhangendes

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Gottsched 1751, 619. 621. 623 u . ö . Lessing läßt die Autorschaft offen, redet schon im Titel nur von „den lateinischen Trauerspielen welche unter dem N a m e n des Seneca bekannt sind". D e r Text: Lessing 1968, Bd. 6, 167—242; auch in Barner 1973, 105-166 (nach d e m Erstdruck, o h n e die Eingriffe von Lessing 1968). Z u r Seneca-Beschäftigung s. auch Riedel 1976, 8 6 - 1 0 6 (eine R e i h e neuerer Aufsätze zum T h e m a „Lessing u n d Seneca" gelten hauptsächlich Miß Sara Sampson\ weiterreichende B e obachtungen bei T e r - N e d d e n 1986; dazu unten). 49 Vgl. Barner 1973, 1 4 f „ 2 2 - 2 4 . 50 Lessing 1968, Bd. 6, 144-153; Lessing 1985, Bd. 1, 7 1 1 - 7 2 1 (nicht bei Lessing 1970). 51 In Lessings Ausgabe sind Hercules Furens und Thyestes die beiden ersten Stücke (nach der Uberlieferung der sog. A-Klasse), später sind es - der sog. E-Klasse folgend - meist Hercules Furens u n d Troades. 52 Lessing 1968, Bd. 6, 189f. 53 Franke 1929, passim. Zweifellos liegen die Anfänge dieser Bewegung in Frankreich. 48

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Stück daraus gemacht", dadurch zwar den Ausgang „ein wenig zu sehr" verratend; aber das habe Euripides i m dritten „ A u f z u g e " ebenfalls getan. 5 4 Hier ist nicht nur das besondere Lessingsche Interesse an der antiken, vor allem euripideischen Prologtechnik schon manifest, das sich n o c h Jahre später in der Hamburgischen Dramaturgie detailliert artikulieren wird. Die kleine „Vergleichung" ist auch außerordentlich aussagekräftig f ü r die Weise, wie Lessing sich gerade d e m griechischen A u t o r zuwendet. Angetreten mit d e m Ziel einer „ R e t t u n g " des zu U n r e c h t kritisierten 5 5 Tragikers Seneca, arbeitet er insistent die „ S c h ö n h e i t e n " u n d das „Selberdenken" dieses R ö m e r s heraus. Aber er verschweigt nicht dessen gelegentliche Tendenz z u m — die „ H a n d l u n g " (!) aufhaltenden — „ M a h l e n " , 5 6 z u m „Schwulst" 5 7 u n d z u m „ G e z w u n g n e n " . U n d so entdeckt er im Vergleichen bei Euripides d o c h auch (bei Seneca weitgehend fehlende) „eigenthümliche Schönheiten": „ D e r Affect drückt sich bey i h m allezeit in der Sprache der N a t u r aus; er übertreibt nichts, u n d weis nicht was es heißt, den Mangel der E m p f i n d u n g mit W i t z ersetzen. Aber glücklich sind die, welche ihn n o c h so ersetzen k ö n n e n ! Sie entgehen d o c h wenigstens der Gefahr, platt, eckel u n d wäßrigt zu w e r d e n " . 5 8 Lessings B e m ü h e n u m , Gerechtigkeit' gegenüber Seneca, gelegentlich sogar mit .historisierenden' Akzenten (etwa bei der „ M o r a l " u n d b e i m Götterglauben), ist offenkundig. Aber mit „ N a t u r " u n d „ E m p f i n d u n g " sind R e i z w o r t e der E p o c h e benannt, die doch klar für den G r i e c h e n — der ja nur vergleichend herangezogen wird — zu B u c h e schlagen. Die R e c h n u n g wird n o c h weiter gefuhrt. Gegen Vorw ü r f e des Père Brumoy, Seneca habe in seinem Hercules eine üble Freundschafts„ M o r a l " verkündet, setzt Lessing nicht nur seine generelle Auffassung, aus der Fabel eines Trauerspiels müsse keineswegs — u n d das richtet sich natürlich zugleich gegen Gottsched — „eine gute Lehre fliessen".59 Er n i m m t unter diesem Vorzeichen gleich den R ö m e r und den G r i e c h e n in Schutz: „Alles, was m a n also zur Entschuldigung dieser beyden alten Muster anführen kann, ist dieses, daß sie es für ganz u n n ö t h i g gehalten haben, an die Moral des Ganzen zu denken, u n d daß sie ihre Tragödien nicht so gemacht haben, wie sie uns eine sogenannte critische Dichtkunst zu m a c h e n lehret". 6 0 Die hier erkennbare argumentative Grundfigur, von d e m Fünfundzwanzig] ährigen n o c h explizit gegen Gottscheds Autorität gewendet, bestimmt zu e i n e m w e -

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Lessing 1968, Bd. 6, 189 f. Nicht nur von Gottsched, sondern in diesem Fall auch von dem europaweit einflußreichen Père Brumoy. 56 Zu den hier einschlägigen — zugleich auf den Laokoon vorausweisenden — Stellen Barner 1973, 26 f. 57 Lessing verwendet zumeist noch die ältere, feminine Form „die Schwulst". 58 Lessing 1968, Bd. 6, 190. 59 Lessing 1968, Bd. 6, 196. 60 Lessing 1968, Bd. 6, 197. 55

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sentlichen Teil Lessings Sicht auf die attische Tragödie bis in die letzten ,Stücke' der Hamburgischen Dramaturgie hinein, dort grundiert durch die Autorität des Aristoteles: Die „Meisterstücke" der Alten sind „Meisterstücke" nicht weil sie gewissen Regeln genügen, und mögen sich diese Regeln noch so sehr wiederum auf die „Alten" berufen (wie Gottscheds Critische Dichtkunst auf die vorweg gedruckte horazische Poetik). Sie sind „Meisterstücke", weil sie „Leidenschaften erregen" 6 1 (das ist gewiß auch wieder von Gottsched abgesetzt) und darin keine „ M o n o t o nie" walten lassen. Dies gilt für das Seneca-Stück, aus dem sich, unter anderem wegen der Vielfalt der Affekte, sogar „eine vollkommene O p e r " machen ließe (was Lessing jedoch wegen des „musicalischen Fachs" nach kurzer Überlegung verwirft), und es gilt im Hinblick auf „einen heutigen Dichter" noch mehr für das euripideische „Muster". Verglichen mit dem Hercules Furens „sind in dem Griechischen der Herkules weit menschlicher, die Megara weit zärtlicher, und Theseus weit freundschaftlicher gebildet". 6 2 Da klingt ein neuer Ton an. „Menschlich", „zärtlich", „freundschaftlich" — das geht über die bloßen Empfindsamkeits-Diskurse dieser Jahre sehr wohl hinaus, auf eine neue humane Qualität gerade der Tragödienhelden. U n d es betrifft, höchst bezeichnend, nun den produktiven Griff nach einem Stück für das gegenwärtige Theater: die „Modernisierung". Indem Lessing einen „Vorschlag für einen heutigen Dichter" formuliert, geht es ihm entscheidend u m eine ,Vermenschlichung' des Herkules. D e r neuere Dichter „müßte den Charakter desselben aus Zärtlichkeit u n d Unschuld zusammen setzen, u m unser Mitleiden desto schmerzlicher zu machen, wenn wir es [sc. das Kind] von den blinden Händen seines geliebten Vaters sterben sehen". 6 3 Der Ansatz j e d o c h findet, wie sich zeigt, „in dem Griechischen" des Euripides seinen weit deutlicheren Halt als bei dem R ö m e r , so „selbstdenkend" und verteidigungswürdig er auch sein mag. Diese Konstellation ist für den Lessingschen U m g a n g mit der griechischen Tragödie - nicht nur in seiner Frühzeit — außerordentlich charakteristisch. Von Aristoteles, der das Thema in den üblichen Darstellungen meist völlig überschattet, ist hier nirgends die R e d e . Aber vom Theater, vom gegenwärtigen wie von dem der „Alten", von der „Wirkung" der Stücke, von der „Menschlichkeit" der Helden und von „unserem Mitleiden". U n d der Blick ist auf die Produktion gerichtet, auf ein jetzt zu schreibendes oder zu bearbeitendes Stück für die heutige Bühne. Lessing hat den auf Seneca und Euripides basierenden Plan einen „modernisierten" Hercules (der auch eine sorgfältigere Ausarbeitung der Wahnsinns-„Stafeln",

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Lessing 1968, Bd. 6, 194. Lessing 1968, Bd. 6, 195; zu den aktuellen Tendenzen vgl. Barner 1973, 32-34; zu dem Vergleich insgesamt: Franke 1929, 91-93. 63 Lessing 1968, Bd. 6, 195. 62

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sozusagen von innen nach außen, vorsah) selbst nicht ausgeführt. Aber er hat ihn noch Jahre später dem Bruder Karl Gotthelf gegenüber in Erinnerung gerufen (Briefvom 14.Juli 1773 aus Wolfenbüttel), 64 als dieser ein Stück über den neapolitanischen Fischerknecht Masaniello plante, der als Anfuhrer einer Rebellion schließlich dem Wahnsinn verfiel und von den eigenen Leuten erschossen wurde (Lessing weist auch darauf hin, daß der sächsische ,Landsmann' Christian Weise bereits ein solches Drama [1683] verfaßt habe). 65 Es ist kaum Zufall, daß Lessings eigener früher Trauerspielentwurf Samuel Henzi (1749), 6 6 die Alexandrinertragödie (!) von dem zeitgenössischen Journalisten und Berner Patrioten, ebenfalls einen Rebellionsstoff zum Gegenstand hat. Daß Lessing mit diesem ersten Trauerspielversuch scheiterte (ihn gleichwohl in seinen Schrifften von 1753 selbstbewußt publizierte), mag man, wenn man will, mit einer aristotelischen Maxime begründen: Dieser Held ist kein ,mittlerer Mann', er ist zu „tugendhaft", zu patriotisch, als daß er ein ganzes Trauerspiel zu tragen imstande wäre. Aber mit Miß Sara Sampson (1755) gelang Lessing bekanntermaßen das moderne Trauerspiel, das dem „Menschlichen", „Zärtlichen" zum überwältigenden Tränendurchbruch verhalf 67 und das Muster eines „originalen" deutschen, „bürgerlichen" Trauerspiels setzte. Lessing war, so scheint es auf den ersten Blick, von der griechischen Tragödie nie so weit entfernt wie mit diesem Stück. Der Blick täuscht. Ebenso, wie er vor allem in den Schlußteil der Sara das Grundmuster der von ihm später so prinzipiell verurteilten Märtyrertragödie einarbeitete 68 — in seinem oft verkannten dialektisch-integrativen Verfahren 69 —, so scheint in Marwood (wie später noch in Orsina) das Modell der Medea durch: „Sieh in mir eine neue Medea!" schleudert sie in II, 7 dem ungetreuen Mellefont entgegen. Analog zu Wilamowitzens gern zitiertem Diktum zu Senecas Medea („Medea fiam", V. 171; „Medea nunc sum", V. 910): „Diese Medea hat offenbar die Medea des Euripides gelesen", 7 0 könnte man formulieren: Diese Marwood hat offenbar die Medea des Seneca gelesen. 71

Siehe Anm. 40. Hierzu Barner 1973, 69 f. 6 6 Die Quellen bietet J . Stenzel in Lessing 1985, Bd. 1, 1 1 6 6 - 1 1 9 7 ; dort auch zur Datierung (1198-1203). 6 7 Dies gilt sowohl für die Uraufführung am 10.Juli 1755 in Frankfurt an der Oder (in Anwesenheit Lessings) wie auch - zeittypisch - für die Dramenlektüre; zur Abgrenzung gegenüber Emilia Galotti s. Barner 1983. 6 8 Besonders von V 9 an, mit den Markierungen „Engel", „Heilige", „Vergebung", „bewährte Tugend" u. a. 6 9 Barner 1973, 3 5 - 5 2 (zur Sara) und 7 3 - 8 2 (zur Emilia); stärker die Verstehensprobleme und das Traditionskritische thematisierend Ter-Nedden 1986, 13—113 (zur Sara) und 164—237 (zur Emilia). 7 0 Wilamowitz 1906, 162. 71 Barner 1973, 42. 64 65

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Auch die des Euripides? Es sprechen nur Indizien dafür. 72 Jedenfalls greifen wir hier beim noch Jungen' Lessing (er ist sechsundzwanzig) zum wiederholten Male jenen Umgang mit antiker Tragödie, den er selbst „Modernisieren" nennt. Freilich ist der Rückgriff nicht diffus, sondern bestimmt. Im Zitieren des „Alten" präzisiert, differenziert sich das „bürgerliche" Neue des Trauerspieltypus. Und MedeaMarwood trägt, wie der euripideische Herkules in Lessings Augen, „menschliche" Züge als die zutiefst Verletzte, ja sie wird explizit Gegenstand des „Mitleidens" (zentrale Szene: IV, 5). Auch für Miß Sara Sampson ist im Hinblick auf die griechische Tragödie die argumentative, ästhetisch-poetische Frontenbildung zu bedenken. Trotz mancher Auflockerung und Typen-Bereicherung, die Autoren wie Johann Elias Schlegel und vor allem Geliert in die deutsche Dramenproduktion gebracht haben, ist für Lessing die Hegemonie der französischen Stücke und Doktrinen, verkörpert durch die — sinkende — Autorität Gottscheds, immer noch überstark. Daß der Leipziger in der Critischen Dichtkunst einen Vergleich zwischen den OdipusStücken des Sophokles und des Seneca zugunsten des Griechen ausgehen läßt (Sophokles habe seinen Helden „nichts schwülstiges" sagen lassen, bei Seneca und Lohenstein redeten die Personen „lauter Phöbus"), 73 beeindruckt den jungen Lessing wenig. Ihn beschäftigen zunehmend die neuen Beispiele „menschlicher", „zärtlicher" Figuren und ihrer „Wirkung", die aus England herüberkommen, in der Romangattung (vor allem Richardson) wie im Drama. Auch wenn Lillos The London Merchant (1731) nicht als unmittelbares „Muster" für Miß Sara Sampson gelten kann, wie man lange hat annehmen wollen, 74 so ist doch der ungeheure, tiefgreifende Erfolg dieses Stücks in London — und darüber hinaus — für Lessing ein Signal. Hier haben nicht irgendwelche „Regeln" und vorformulierte „Lehren" die Zuschauer zum „Mitleiden" und zur „Rührung" gebracht, sondern „Menschlichkeit", „Empfindung". Schon wenn Lessing in der Programmvorrede zu den Beyträgen vom Oktober 1749, in der Plautus- und schließlich in der Seneca-Abhandlung (1754) immer wieder auf „Empfindungen", „Zärtlichkeit", „Rühren" und insgesamt auf der „Erregung der Leidenschaften" als dem Hauptziel der Tragödie insistiert, so muß hier gewiß auch mit Anregungen der „Gefühls"-Ästhetik des Abbé du Bos ger e c h n e t w e r d e n (aus dessen Réflexions

critiques sur la poésie et sur la peinture

von

1719 er gerade die „Abschweifung von den theatralischen Vorstellungen der Alten" 1755 in der Theatralischen Bibliothek als Ubersetzung bringt). 75 Aber mehr fasziniert ihn offenkundig, was er vom englischen Drama liest und hört, eben

72

Ter-Nedden 1986, 87-98. Gottsched 1751, 621; hier dominiert klassizistische französische Terminologie („phébus" usw.). 74 Vgl. den Überblick in Barner 1987, 162-178 (mit der älteren Literatur). 75 „Vorbericht" des Übersetzers: Lessing 1968, Bd. 6, 247 f. 73

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jenem, das schon 1749 neben dem spanischen Theater das größte „Augenmerk" finden sollte: weil es sich an das „Regelmäßige" nicht fessele. Als Lessing 1756 eine Ubersetzung der Sämtlichen Trauerspiele von Jacob T h o m son mit einer ausführlichen Vorrede versieht, da sind ihm die Bezugspunkte Lillo und — die „Griechen" auf höchst bezeichnende Weise gleichzeitig präsent. Als er ansetzt, seine „wahre Meinung von den Regeln zu erklären", formuliert er fast bekenntnishaft: so wollte ich auch unendlich lieber der Urheber des Kaufmanns von London, als des sterbenden Cato seyn, gesetzt auch, daß dieser alle die mechanischen Richtigkeiten hat, derentwegen man ihn zum Muster für die Deutschen hat machen wollen. D e n n warum? B e y einer einzigen Vorstellung des erstem sind, auch von den Unempfindlichsten, mehr Thränen vergossen worden, als bey allen möglichen Vorstellungen des andern, auch von den E m p findlichsten, nicht können vergossen werden. U n d nur diese Thränen des Mitleids, und der sich fühlenden Menschlichkeit, sind die Absicht des Trauerspiels, oder es kann gar keine haben. 7 6

Konzentrierter lassen sich die Resultate der theaterhistorischen, auf die gegenwärtige Bühne gerichteten Studien (die griechische Tragödie und Seneca einschließend), der Erfahrungen mit der begeisterten Resonanz auf die eigene Miß Sara Sampson und der Suche nach befördernden Mustern bei den europäischen Nachbarn kaum zusammenfassen. Thomson ist kein neuer Shakespeare (von dem Lessing um 1756, ebenso wie 1749, noch kaum mehr als den Namen kennt). Er selbst ist auch durchaus nicht — Lessing weist eine entsprechende Vermutung zurück — ein Verächter der „ R e g e l n " . Er ist vielmehr „so regelmäßig, als stark". 77 Das zeige sich etwa an seiner Sophonisbe, die immerhin den Vergleich mit den Stücken von Trissino, Mairet und Corneille herausfordere (Lessing nennt alle drei). Thomsons Sophonisbe sei „von einer Simplicität, mit der sich selten, oder nie, ein französischer Dichter begnügt hat". Und nun wieder auf die „ R e g e l n " bezogen: „Und gleichwohl ist es gewiß, daß auch Thomson nicht allein, wie ich es nennen möchte, französisch, sondern griechisch regelmäßig ist". 7 8 „Griechisch regelmäßig" — damit ist ein Schlüsselpunkt benannt, auf den ein Großteil von Lessings Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie hinausläuft und der im Grunde noch für seine eigene Emilia Galotti (1772) kennzeichnend ist. „Griechisch regelmäßig" hat einstweilen wenig mit Aristoteles zu tun (auch wenn wichtige Begriffe und Theoreme der aristotelischen Tradition Lessing wohl früh bekannt werden), 79 sondern ist primär aus der sukzessiven Erweiterung seiner Kenntnis griechischer Tragödien erwachsen (die immer noch sporadisch

Lessing 1968, Bd. Lessing 1968, Bd. 7 8 Lessing 1968, B d . 7 9 Naturgemäß über vgl. den Überblick bei 76 77

7, 68; kurzer Kommentar zur Vorrede: Lessing 1970, Bd. 4, 8 2 5 f. 7, 69. 7, 69. den Kanon des Schulunterrichts. Die Hauptpunkte bei Fuhrmann 1980; Alt 1994, 1 4 - 3 5 .

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und rudimentär bleibt und beispielsweise Aischylos noch nicht einschließt). Und diese Sichtweise ist, wie die Partie aus der Thomson-Vorrede schlagend bestätigt, von Anfang an komparativ ausgerichtet und — wie immer wieder betont werden muß — theaterpraktisch und am „Wirkungs"-Prinzip orientiert. Mit dieser R e f e renzstruktur kann sich Lessing die Freiheit gestatten, auch einmal von „griechisch regelmäßig" in einem fast provokatorischen Sinne zu sprechen. W i e Lessing seine wachsende Vertrautheit mit einzelnen griechischen Tragödien einsetzt, um im Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai vom Jahre 1 7 5 6 / 57 über das Trauerspiel seine Position zu begründen, ist schon hin und wieder charakterisiert worden. 8 0 Der Berliner Freund und Verleger Nicolai, der mit seiner Abhandlung vom Trauerspiele (1757 erschienen) die Debatte wesentlich anstößt, vertritt mit der „Erregung der Leidenschaften" durchaus eine Zentralthese, der Lessing — wie sich gezeigt hat — seit Jahren schon folgte (immer zugleich gegen Gottsched gewendet). Nicolai favorisiert freilich, hierin über Lessing hinausgehend, die möglichst „heftigen" Leidenschaften, die geeignet sind, eben j e n e Leidenschaften „zu reinigen". 8 1 Und diese Affekte sind für ihn nicht in moralischer Absicht von Belang, sondern um ihrer selbst willen. Hier setzt bekanntlich Lessing, auch mit Hilfe der neuen, kommentierten Ubersetzung der aristotelischen Poetik durch Michael Conrad Curtius (1753, die ebenso Nicolai verwendet), mit seiner Argumentation neu an: Nicht die Affekte selbst seien das Wirkungsziel, sondern das „Mitleiden" als das die „Menschlichkeit" des Menschen Auszeichnende {„Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste"). 82 Von dieser Sichtweise aus tritt, das ist im Briefwechsel beobachtbar, der „tragische Seneca" deutlich zurück, natürlich auch wegen der neu ins Gespräch gebrachten Autorität des Aristoteles. 83 Indem Lessing sozusagen als Gegenfront zum „Mitleiden" die „Bewunderung" und den „Heroismus" herauspräpariert, stellt sich neu die Konfrontation zur ,tragédie classique' her, hinter der auch ein wenig Seneca mit verschwindet. Das Argumentationsmuster, in dem Lessing „die Alten" gegen die französische Doktrin ausspielt, bleibt im Prinzip erhalten. Aber „die Alten" — das sind in der disputatorischen Zuspitzung jetzt wesentlich die Griechen, hier die griechischen Tragiker. Die entscheidende Stelle:

Gute Zusammenfassung des Gesamtkomplexes in: Schulte-Sasse 1972, 168-232. Abdruck seiner Abhandlung bei Schulte-Sasse 1972, 11-44 („heftige" Leidenschaften: S. 12; „Reinigung": S. 14). 8 2 So die berühmte Formulierung Lessings im Brief an Nicolai vom November 1756 (SchulteSasse 1972, 55; Lessing 1968, Bd. 17, 66; Lessing 1985, Bd. 11/1, 120). Zusammenhänge mit Rousseau hat Schings 1980, 3 4 - 4 5 , herausgearbeitet. 8 3 Nicolais Abhandlung stellt sich von der ersten Seite an in den Traditionshorizont des Aristoteles. 80 81

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Lassen Sie uns hier bey den Alten in die Schule gehen. Was können wir nach der Natur für bessere Lehrer wählen? U m das Mitleid desto gewisser zu erwecken, ward Oedipus und Alceste von allem Heroismus entkleidet. Jener klagt weibisch, und diese jammert mehr als weibisch; sie wollten sie lieber zu empfindlich, als unempfindlich machen; sie ließen sie lieber zu viel Klagen ausschütten, zu viel Thränen vergießen, als gar keine. 8 4

Während Nicolai auf möglichst erschütternde Emotionen hinauswill, um den Prozeß der „Selbstreinigung" der evozierten Affekte zu befördern, während M e n delssohns Interesse vor allem bei den „gemischten Empfindungen" liegt, 8 5 konzentriert sich Lessing auf die den Helden selbst inhärente Kraft, durch .unheroisches' Klagen das Mitleid der Zuschauer zu „erwecken". Sein Referenzmodell scheint, was die Antike angeht, dabei ganz konventionell zu sein: die „Alten", die „Schule", die „Lehrer" — aber dahinter steht die absolute Ordnungskategorie der „Natur", und daß in den Meisterstücken der „Alten" Natur sich aktualisiert, beweist das Weinenkönnen der von allem Heroismus entkleideten Helden. Diese Kernpartie des Trauerspiel-Briefwechsels mit Mendelssohn und Nicolai bestimmen nun in auffälliger Weise Beispiele aus der griechischen Uberlieferung. Odipus mag dabei durch die Poetik-Tradition (bis hin zu Gottsched, auch zu Nicolai) sozusagen kanonisiert sein. Ein im gleichen Monat (November 1756) vorausgehender B r i e f an Nicolai exemplifiziert, auf dessen Abhandlung vom Trauerspiele Bezug nehmend, des näheren die „Staffeln" von „Schrecken", „Mitleid" und „Bewunderung" an Odipus, ihn generell gegen Gottscheds Cato und Cäsar absetzend. 86 Hier liegt offenkundig eigenes Textstudium vor. Für die Alkestis des Euripides mag dies nicht so evident sein. Immerhin, es ist in der Ausgaben-Uberlieferung, auch zu Lessings Zeit, das erste Stück; und Lessing beginnt j a seine Seneca-Studien ebenfalls mit dem voranstehenden Hercules Furens, desgleichen seine Ubersetzungsversuche bei Sophokles mit dem Aias.s7 Zu bedenken ist überdies, daß Alkestis gerade in der Opernproduktion des 17./18.Jahrhunderts sich herausragender Beliebtheit erfreute 88 und daß es Lessing reizen konnte, die ,unheldische' griechische Gestalt als „empfindliche", „klagende", „Thränen" vergießende und so „Mitleid" erregende exemplarisch hervorzuheben. Im verschlungenen Prozeß der Lessingschen Annäherung an die griechische Tragödie ist mit dem Trauerspiel-Briefwechsel der Jahre 1 7 5 6 / 5 7 eine Phase erreicht, die auch im Vergleich mit den schriftstellernden Zeitgenossen bereits ein

8 4 An Mendelssohn, 28. November 1756; Schulte-Sasse 1972, 65; Lessing 1968, Bd. 17, 73; Lessing 1985, B d . 1 1 / 1 , 131. 8 5 So schon in seinen Briefen über die Empfindungen (1755), die neben Nicolais Abhandlung zu den Prätexten des Trauerspielbriefwechsels gehören. 8 6 Schulte-Sasse 1972, 5 4 f . ; Lessing 1968, Bd. 17, 6 5 f . ; Lessing 1985, B d . 1 1 / 1 , S. 1 1 9 f . 8 7 Z u m späteren, bewußten ,Wiederlesen' des euripideischen Ion s. unten S. 186 f. 8 8 Vgl. Franke 1929, 10—17 (zum „Bekanntwerden" des Euripides und zur Mittlerfunktion der Oper; auch Flashar 1991, 41 f.).

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bemerkenswertes Profil offenbart. Das Tastende, mit großen Namen zum Teil nur Operierende der Vorrede zu den Beyträgen vom Oktober 1749 ist der Kenntnis jedenfalls einzelner Texte des Euripides und des Sophokles gewichen, wobei die lateinischen Hilfsmittel (Argumenta, Ubersetzungen, Handbücher) 89 nicht vergessen werden dürfen. Fast uneingeschränkt durchgehalten hat sich das weltliterarisch' Ausgreifende, nicht ohne polemische Seitenblicke auf die einseitig .französierende' Tendenz der Gottschedschen Theater-Erschließungsunternehmungen. Das charakteristische komparative Verfahren, das Lessing bereits vorfindet (vor allem zu sujetgleichen Stücken: „Vergleichung" der „Alten" untereinander und mit den „Neuern"), wendet er von vornherein in die Praxis der gegenwärtigen Bühne, für aktuelle Aufführungen und vor allem: ins eigene Schreiben. An dieses Lessingsche Charakteristikum ist immer wieder zu erinnern. Der unausgeführte Entwurf eines „modernisierten" Hercules Furens wird sozusagen .überholt' durch ein „modernes" Muster selbst, in dem das eingearbeitete Medea-Modell (Euripides und Seneca zugleich umspannend) die neugewonnene „bürgerliche" Qualität der Miß Sara Sampson e contrario beglaubigt. Die Neuentdeckung des „Weinens", der „Zärtlichkeit" als des „Menschlichen" der Helden, in Ansätzen auch Seneca zuerkannt, hat sich mehr und mehr auf Beispiele der griechischen Tragödie konzentriert, unübersehbar im Briefwechsel mit den beiden Berliner Freunden (während Lessing in Leipzig weilt). Scheinbar ist hier der Weg für die große Aristoteles-Auseinandersetzung in der Hamburgischen Dramaturgie schon bereitet. Aber es schiebt sich ein Doppelkomplex dazwischen, bei dem Irritation und pure Zufälligkeiten mitspielen: der Trauerspiel-Einakter Philotas, der im März 1759 (kurz nach dem berühmten 17. Literaturbriej) in Berlin anonym erscheint, und die unvollendete, 1760 mit sechs Bogen ausgedruckte (aber nicht veröffentlichte) Sophokles-Schrift. Die letztere ist in ihrer weitgehend biographischen Orientierung 9 0 für hohe Erwartungen zunächst eher enttäuschend. Und noch dazu ist es der von Lessing selbst genannte Hauptgrund für das Unternehmen, daß in Pierre Bayles berühmten Dictionnaire historique et critique (1695—1697; von Gottsched 1741-1744 deutsch herausgebracht) zwar ein Aischylos- und ein Euripides-Artikel zu finden war, jedoch keiner zu Sophokles. Sollte hier also bloß eine ,Lücke' geschlossen werden? Und Philotas stellt sich, nach dem „bürgerlichen Trauerspiel" Miß Sara Sampson, höchst befremdlich als ein in antikisierendem Kontext spielendes prosaisches Heldenstück dar. Ein R ü c k fall ins eigentlich Überwundene? Immerhin hat noch im gleichen Jahr ausgerechnet einer der engsten Freunde Lessings, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, ein pa-

89

Dazu Kont 1894/1899, passim. Dies noch ausgeprägter als schon bei den frühen Plautus- und Horaz-Studien (bei Seneca entfiel dieser .Einstieg' schon wegen der unsicheren Autorschaft). Entscheidend ist im Fall des Sophokles natürlich das Bayle'sche Artikelschema. 90

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triotisches Versdrama daraus gefertigt. Die aufgeheizte Atmosphäre des Siebenjährigen Krieges hat das Mißverständnis zweifellos begünstigt. Aber war Lessings Stück nicht doch auch Frucht seiner Beschäftigung mit Sophokles, freilich eines in der gerade abgelehnten „Heroismus"-Linie? Wir können heute nicht mehr präzise bestimmen, in welchem zeitlichen Verhältnis die Arbeit am Philotas und die an der Sophokles-Schrift zueinander stehen. Die Verschlungenheit der Motive ist, wie bei der Seneca-Abhandlung, charakteristisch. Jedenfalls steht ein durch den Trauerspiel-Briefwechsel neu belebtes Interesse an Sophokles voran. Der Philotas wurde begonnen, als eine erweiterte Sophokles-Lektüre, zumindest die des Aias91, schon vorlag. Und wie andererseits Briefe beweisen 92 , hat Lessing noch bis ins Frühjahr 1760 hinein, als Philotas bereits publiziert war, die Studien zum Sophokles fortgeführt. Der Einakter von dem „heldisch" erzogenen und fanatisierten jungen Königssohn, der die Schmach der Gefangenschaft im gegnerischen Lager durch das eigene Schwert beendet, ist nicht etwa Lessings Beitrag zu den Adaptationen attischer Dramen, wie sie die lange Reihe des Typs Medea, Orest, Iphigenie, Odipus repräsentiert. Nicht einmal der Geschehensraum ist eindeutig; es dominiert Griechisch-Spartanisches, aber mit Allusionen an Römisches. Motive des Heerlagers, der Verblendung, des Wahnsinns, der Selbsttötung erinnern an den Aias des Sophokles. Eigentümlich ist der Kontrast, den der „Menschlichkeit" vorlebende König Aridäus, in dessen Gefangenschaft sich Philotas befindet, während der knappen Dialoge entfaltet. Der Titelheld verkörpert in seiner Jugendlichkeit („Kind" fällt als Stichwort gleich im ersten, monologischen Auftritt) nicht nur einen übersteigerten „Heroismus". Gegenüber Aridäus, der von „Menschenliebe" und „glücklichen Unterthanen" spricht (7. Auftritt), ist er zugleich eine anachronistische Gestalt. 93 Die These, „daß Philotas ein modernisierter Aias" sei, 94 trifft einen wichtigen Aspekt, vernachlässigt jedoch gerade das Moment des Spielerischen, ja Irritierenden. Lessing hat im Umkreis des Philotas noch eine Reihe weiterer „heroisch-dramatischer Experimente" 9 5 unternommen, durchaus im Sinne seines an Seneca exemplifizierten Konzepts der „Modernisierung". Er steht dabei unter seinen schriftstellernden Zeitgenossen nicht allein, ja es zeichnet sich sogar ein gewisser Wettbewerb ab. Nicht nur hatte Gottsched mit dem Sterbenden Cato (1730) sein planmäßig propagiertes stoizistisches Trauerspiel aus der römischen Geschichte als

91 92 93 94 95

Ter-Nedden 1986, 114-163 setzt dies sozusagen .systematisch' voraus. Vgl. die Zeugnisse bei Lessing 1985, Bd. 5/1, 680-686. Wiedemann 1967; Barner 1973, 53-57. Ter-Nedden 1986, 115. Barner 1973, 53-57.

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Muster gesetzt und der Freiherr von Creutz seinen Sterbenden Seneca (1754) dagegen gestellt (der von Lessing hochverehrte Christian Ewald von Kleist arbeitete ebenfalls an einem Seneca-Stück) 97 Auch Sujets aus der griechischen Sagenüberlieferung reizten in diesem Agon. Das Hin und Her, bei dem man das Griechische nicht isolieren darf, ist charakteristisch. Als Lessing im Sommer 1757 von Nicolai (der Zusammenhang mit dem Trauerspielbriefwechsel ist wiederum zu beachten) im Rahmen eines Preisausschreibens fiir die beste Tragödie ein CodrusManuskript zur Begutachtung erhält (anonym; der Verfasser ist der Freiherr von Cronegk), denkt er sogleich an einen Plan für „einen besseren Codrus" (an Mendelssohn, 22. Oktober 1757), wobei der Anschluß an die athenische Königsgeschichte gereizt haben dürfte. Selbst der „Modernisierungs"-Typus, den er schon 1754 am Beispiel des Hercules Furens durchgespielt hat, beschäftigt ihn weiter, und zwar bemerkenswerterweise in einem Doppelbezug auf Seneca und Sophokles. Der Horoscop (wohl 1757), zu dem uns ein Szenar für fünf Akte und ein Entwurf der ersten Szene erhalten sind, führt in die polnisch-russische Geschichte des 16.Jahrhunderts und setzt den Text eines Horoskops in der Funktion des Orakels ein, das wiederholt — mit charakteristischen Verkürzungen — zitiert wird (ein Sohn wird zum Mörder seines Vaters werden). Lessing behält in der Handlungsstruktur das antikisch Schicksalhafte bei, ist jedoch spürbar interessiert, ähnlich wie beim Hercules-Modell die Stufen der psychischen Prozesse zu differenzieren. Der wohl bemerkenswerteste uns erhaltene Entwurf aus dem Umkreis dieser Lessingschen Experimente ist Kleonnis vom Jahre 1758 (übrigens zugleich sein erster Versuch im Blankvers) 98 mit einem Stoff aus der spartanischen Geschichte. Die erhaltenen beiden ersten Auftritte, am dorischen Königshof die Exposition leistend, zeigen den Herakliden Euphaes „murrend", auch gegen die Götter sich auflehnend. Der Spätling, ein „schlechter Enkel", ermöglicht Mitleiden. Aber dieses rebellische Potential, das sich andeutet, ist moralisch rückgebunden. Der Held fühlt das „Recht" nicht nur durch die Feinde, sondern auch durch die Götter verletzt. „Raserey" blitzt im Bewußtsein auf und wird gezügelt. Was im einzelnen diese Versuche (und manche hier nicht erwähnten) mit Ausnahme des Philotas ohne Fortsetzung bleiben ließ, läßt sich nur vermuten: allzu strikte Tugend-Orientierung (wie möglicherweise schon beim Samuel Henzt), Gefahr des heldischen Stoizismus (wie bei manchen von Lessings .Mitbewerbern', etwa Kleist), Schwierigkeiten bei der Integration der antiken Götterwelt (das thematisiert er schon in der Seneca-Abhandlung), und anderes. Doch nicht weniger

96

Der „Muster"-Charakter wurde durch die (eingestandene) Tatsache, daß weitaus der größte Teil des Textes auf Ubersetzungen aus Stücken von Addison und Deschamps beruhte, eher noch verstärkt. 97 Zu diesem Seneca-Nero-Komplex (auch Lessing scheint zeitweise ein Se«eca-Stück geplant zu haben) vgl. Barner 1973, 57 f. 98 Lessing 1968, 3, S. 364-371.

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von Belang sind die Motive, die Lessing zu solchen Experimenten treiben, wobei in der zweiten Hälfte der 1750er Jahre die Annäherung an griechische Stoffe und insbesondere an Sophokles auffällt. Nicht Göttergeschichten ziehen ihn an, sondern die ,Zwischenwelt', etwa die der Herakliden und - nicht zufälligerweise im Siebenjährigen Krieg — viel ,Kriegerisches' (die /lias-Handlung, Kleonnis u.a.). Alle diese Entwürfe und Versuche bewegen sich, wohlgemerkt, bereits diesseits der theatergeschichtlichen Grenzlinie der Miß Sara Sampson. Nicht wie ein spezifisch modernes, „Mitleiden" und „Thränen" erregendes Trauerspiel auszusehen habe, ist die Frage. Sie hat er schon beantwortet. Bei allem Stolz auf die Anerkennung dieses „deutschen Originals", auf den ungeheuren Erfolg beim Publikum — das Weiterschreiben, das Serielle, das Ausschlachten überläßt er anderen." Wie er von der frühen Plautus-Abhandlung an bestrebt ist, modernisierbare antike Komödienüberlieferung durch Ubersetzung und Bearbeitung für eine aktuelle, nichtgottschedianische deutsche Bühne zu nutzen (von Die Gefangnen über Der Schatz

bis h i n zu Die Matrone

von Ephesus

im unmittelbaren U m f e l d der

Minna

von Barnhelm), so ist er in der Konsequenz des Programms der Bey träge von 1749 um vergessene oder verkannte Stücke besonders auch aus der spanischen und der englischen Uberlieferung bemüht. U n d für den Bereich des Trauerspiels wächst offenkundig, wie die prinzipiell-theoretischen Äußerungen der Thomson-Vorrede von 1756 und die Diskussion mit Mendelssohn und Nicolai von 1756/57 illustrieren, das Interesse für die (auch sprachlich) schwerer zugängliche attische Tragödie. 100 Wo „Mitleidens"-Fähigkeit, „Menschlichkeit", „Simplicität" und „Natur" gesucht werden — und dies in zunehmender Distanz gegenüber dem nach wie vor hochgeschätzten Seneca —, gewinnt die griechische Uberlieferung an Attraktivität. U n d es sei ebenso erwähnt, daß natürlich auch Lessing von der durch Winckelmanns Nachahmungs-Schrift (1755) markierten neuen Hochschätzung der Griechen nicht unberührt bleibt. 101 So charakteristisch eng in Lessings Beschäftigung mit dem antiken Drama und Theater die Verschlungenheit von aktueller Bühnenperspektive, weltliterarischer Blickweite, historischer Rekonstruktion, Griechischem und Römischem, Ubersetzung und „Modernisierung" und schließlich humanistischer Philologie auch ist — der Sophokles mit den ersten sechs Druckbögen von 1759 mutet doch zunächst recht fremd an. Sophokles als der unerreichte, selbst von Gottsched anerkannte Gipfel eines „griechisch regelmäßigen" Musters attischer Tragödie, der mit König

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Zu diesem bezeichnenden Befund s. Barner 1983; für das Serielle vgl. Glaser 1969. Für den humanistisch geschulten Lessing und seinen philologischen Ehrgeiz kommt es selbstverständlich nicht in Frage, sich mit älteren lateinischen (Winsemius, Naogeorgus) oder auch neueren französischen Ubersetzungen (Pére Brumoy) zu begnügen. 101 Die auch im Hinblick auf den Laokooti wichtige Frage, wann Lessing die Winckelmannsche Schrift näher kennengelernt hat (Mendelssohn weist ihn in einem Brief vom Dezember 1756 daraufhin, aber wir kennen keine Reaktion), ist offen. 100

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Ödipus u n d Aias zu ehrgeizigster eigener T h e a t e r p r o d u k t i o n anspornt — u n d dann: zwei antike Sophokles-Viten (die er in seiner Ausgabe vorweggedruckt findet), 1 0 2 mit Hilfe vor allem der Bibliotheca Graeca (1705—1728) des J o h a n n Albert Fabricius u n d anderer Gewährsleute 1 0 3 in kleine biographische Einheiten aufgeteilt, mit lemmatisierendem Verfahren P u n k t für P u n k t erläutert, eingeordnet, bewertet, mit gelegentlichen eigenen V e r m u t u n g e n (von denen einige wenige später sehr w o h l A n e r k e n n u n g in der Sophokles-Forschung g e f u n d e n haben); 1 0 4 schließlich n o c h der Versuch, den Eingang des Aias zu übersetzen. Stoßen hier zwei Traditionslinien der Beschäftigung mit der attischen Tragödie, die sich längst auseinanderentwickelt haben, bloß zufällig — u n d gewiß respektgebietend — in der Person Lessings zusammen? D e n Z u s a m m e n h a n g als sekundär zu betrachten, hieße den Charakter des Lessingschen Engagements von vornherein verkennen. Worterklärung, Quellenanalyse, Textkritik (bis hin zu eigenen Konjekturen), Realisierung des Theaterpraktischen, Ubersetzung, Weiterdenken des Textes bis hin zu einer möglichen „ M o d e r n i s i e r u n g " begegnen ja als Elemente nicht erst jetzt, sondern schon 1749 in der Plautus- u n d 1754 in der Seneca-Abhandlung. Vielleicht ist es angemessen, dieses Vorgehen, diesen Impetus als im umfassenden Sinn ,theaterphilologisch' zu kennzeichnen. D a ß die Franzosen in der Sophokles-Ausgabe der M a d a m e Dacier (1693, mit Ubersetzung) ein resonanzreiches Exempel ihrer lebendigen Beschäftigung mit d e m großen Attiker haben, aber ausgerechnet dieser in Bayle's Dictionnaire critique u n d somit auch in Gottscheds U b e r s e t z u n g s u n t e r n e h m e n fehlt (in der Vorrede m o n i e r t Lessing das mit kritischen V e r m u t u n g e n ausdrücklich), 1 0 5 m a g seinen Ehrgeiz zusätzlich angestachelt haben. W i e .weltliterarisch' mit besonderem literaturstrategischem Blick nach Frankreich auch hier seine Konzeption ausgerichtet ist, demonstriert vielleicht am treffendsten die Tatsache, daß Lessing fast gleichzeitig (wohl schon 1758 beginnend) sein großes Diderot-Ubersetzungsprojekt verfolgt: mit der A b h a n d l u n g Von der dramatischen Poesie u n d d e m Natürlichen Sohn u n d d e m Hausvater (erschienen 1760). Es ist Lessings w o h l wirkungsreichstes Ubersetzungswerk überhaupt, mit d e m Hausvater als Jahrzehnte n o c h gespieltem Text. 1 0 6 D i e B e m ü h u n g u m das m o d e r n e „bürgerliche" Schauspiel u n d u m die „natürliche", auch „ T h r ä n e n " wagende griechische Tragödie, hier die des S o p h o kles, sind rückbezogen auf den gleichen literaturpolitischen Kern. U n d die eigentliche Lessingsche Pointe: M i t t e n i m Siebenjährigen Krieg, u n d angesichts der

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Hierzu die Angaben in Lessing 1985, Bd. 5/1, 685. Lessing 1985, Bd. 5/1, 685 f. 104 Zusammenfassung bei Norden 1929, 631 f. 105 Lessing 1968, Bd. 8, 293; Lessing 1985, Bd. 5/1, 233. Lessing erwähnt, daß bei Aischylos Stanley und bei Euripides Barnes „vorgearbeitet" hätten, während dergleichen bei Sophokles fehlte: Also blieb er „weg". 106 Näheres hierzu in Lessing 1985, Bd. 5/1, 573-610. 103

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heftig kritisierten Bevorzugung der Franzosen durch Gottsched präsentiert Lessing den Deutschen (und Österreichern) 1 0 7 ausgerechnet einen Franzosen — den für ihr Theater ,Richtigen'. Daß der in den ausgehenden 1750er Jahren rastlos, fast fieberhaft produzierende Lessing (hinzu kommen neben den Literaturbriefen die drei Bücher Fabeln und die Fabelabhandlungen, die Logau-Ausgabe und der Philotas und manches andere) schließlich Diderot den Vorzug vor dem begonnenen Sophokles gegeben hat — Lessing verschwindet im November 1760 plötzlich aus Berlin, ohne sich von den Freunden zu verabschieden - , mag im nachhinein nicht nur mit der greifbaren Aktualität des Franzosen zu erklären sein. Hätte Lessing das trockene Durchgehen der sophokleischen Vita, mit einzelnen Anmerkungen zu den Stücken (nach dem Muster der Artikel Bayle's), wohl auch mit Ubersetzungsversuchen, tatsächlich durchgehalten? So manches erschließende Großprojekt, von den Beyträgen des Jahres 1749 an, hat er abgebrochen, wenn er die praktischen Probleme und die Ausmaße abschätzen konnte. So schematisch sich der Grundriß der sieben ersten, ausgedruckten Bogen auch darstellt und so sehr sich Lessing darin — wie in den Paralipomena zum Sophokles — im Wortsinn zu verzetteln droht, 1 0 8 so bricht doch wiederholt nicht nur der eigenständig kombinierende Philologe, sondern vor allem auch der Theaterpraktiker durch. Was er etwa früh an (auch griechischen) concreta anläßlich der Abhandlung von den Pantomimen der Alten (vor 1750) sich erarbeitet hat, wird jetzt bei Gestik und Mimik und Kostümen mobilisiert, bei Fragen auch des Tanzes in Sophokles-Stücken. 1 0 9 Und Lessing hat sich wiederholt auch mit Daten und Thesen zur Entwicklung des attischen Dramas zu befassen (Aischylos als „Lehrer" des Sophokles, Einführung des dritten Schauspielers, Siege im Agon usw.), 110 die ja zu einem wesentlichen Teil Uberlieferung des Aristoteles und seiner Schule darstellen. Aber die Poetik rückt noch nicht in den Vordergrund des Interesses. Bei den „Entwicklungen" der attischen Tragödie, auf die in den Zeugnissen referiert wird, ist der Topos vom angeblichen 07x05 des Aischylos besonders reizvoll. Zu ihm als dem frühesten unter den drei ,Großen' hat Lessing offenkundig bisher am wenigsten Zugang gefunden. Und beim überlieferten Stichwort 07x05

Der Hausvater machte vor allem in W i e n Karriere; vgl. Lessing 1985, Bd. 5 / 1 , 5 7 9 f . Dies zeigt sich in den zahlreichen philologischen, quellenkritischen Details und Exkursen, langen Zitaten und nicht zuletzt im Rohmaterial des Nachlasses. 1 0 9 Etwa zum Auftritt des Sophokles als Tänzer in der Nausikaai Lessing 1968, Bd. 8, 3 4 7 f . ; Lessing 1985, B d . 5 / 1 , 2 9 3 f . Zu Lessings Vorstellung vom antiken Bühnenwesen insgesamt vgl. den Überblick bei Kont 1894, Bd. 1, 182 ff. 1 1 0 Lessing findet diese antike, vor allem durch den Peripatos aufbewahrte Überlieferung in seinen Ausgaben (Winsemius u.a.), aber besonders auch bei Fabricius. 107

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ist sofort das Äquivalent „Schwulst" präsent, 1 1 1 das ja durch Gottsched und die Gottschedianer in der Domestikation vor allem Lohensteins und der „Spanier" (Graciän, Martial, Seneca) eingesetzt worden war und das für Lessing schon 1754 in der Seneca-Abhandlung ein Problem bietet. Er will den kritisierten R ö m e r verteidigen und kann doch die Tendenz der corruptio, die im „Schwulst" liegt, nicht unbesehen akzeptieren. Lessing hat sich in diesem Zusammenhang auch mit antiken Zeugnissen über das „Dicke" und das „Hochtrabende" bei Aischylos auseinanderzusetzen, alles Prädikationen, die in der klassizistischen französischen Poetik (dort oft zugleich mit Bezug auf Horaz) fest verankert sind u n d von Gottsched gezielt stilkritisch aufgenommen wurden. 1 1 2 Lessing, dessen AischylosKenntnis vermutlich nicht ausreicht, hakt hier keineswegs differenzierend ein. Sein Interesse ist auf den „meisterhaften" Sophokles gerichtet. Ins Z e n t r u m rückt für ihn die Plutarch-Stelle, 1 1 3 wonach Sophokles nach eigener Aussage den öyxog des Aischylos nur „spielerisch" ü b e r n o m m e n habe (SiaJTEJtouxwg), dann erst das „Harte und das Mechanische seines Aufbaus" (xo mxpov xca xaxaxexvov xr]5 auxou xaxaoxei)r|5); erst als drittes habe er die „Stilform" geändert, was das C h a rakteristischste und Wichtigste ist (xo xr]g Ae^eojg [...] eiöog). 114 Es folgt dann noch — bei Plutarch — eine Analogie aus der Praxis der R h e t o r i k . Die Vorstellung einer positiv bewerteten Entwicklung der attischen Tragödie von Aischylos zu Sophokles hin, verbunden mit dem Reizwort „Schwulst", scheint Lessing eingeleuchtet zu haben. 1 1 5 Aber daß Aischylos gerade „Lehrer" des Sophokles gewesen sein soll, provoziert ihn zu einer charakteristischen Relativierung, bei der mit einem Mal sehr persönlich argumentierend („Ich [...] werde daran zweifeln dürfen" usw.) von „Talent", „Intuition eines Musters" u n d von einem „gewaltigen, und gleichsam unwillkürlichen Trieb seines Genies" die R e d e ist. 116 Die unmittelbare Zeitnähe des berühmten 17.Literaturbriefs (16. Februar 1759) ist evident. 1 1 7 W i e imaginativ sich der Dramenautor und Theaterpraktiker Lessing auch noch in karge Fragmente hineindenkt, die ihm bei der Sichtung der antiken Viten begegnen, läßt sich wiederholt beobachten. Gerne greift er dabei auch zu Exklamationen: „Welch ein Gemälde!", heißt es, 118 als er sich die Szenen einer Nausi-

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Lessing 1968, Bd. 8, 319; Lessing 1985, Bd. 5 / 1 , 263 u n d danach mehrfach. Vgl. oben S. 167-169. 113 Plutarch, De prof. in virt. 7 p. 79 b (auf die auch textkritischen Probleme dieser Partie kann hier nicht eingegangen werden; Lessing versucht sich z.T. selbst an Konjekturen). 114 Die deutsche Wiedergabe folgt hier dem Lessingschen Verständnis. 115 D a f ü r spricht, daß er von sich aus einzelne dieser Stichworte später in der Abhandlung wieder aufnimmt. 116 Lessing 1968, Bd. 8, 317; Lessing 1985, Bd. 5 / 1 , 262. 117 Ostentativ gegen Gottsched mit d e m „ G e n i e " Shakespeares operierend. 118 Lessing 1968, Bd. 8, 349; Lessing 1985, Bd. 5 / 1 , 295. Kurz danach bricht Lessings ausgedruckter Text ab. 112

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kaa vor Augen stellt, in der Sophokles selbst als Tänzer aufgetreten sein soll. Und unter den Paralipomena findet sich eine ausfuhrlichere Notiz zum Thyestes des Sophokles, der offenbar Lessings besonderes Interesse erregt (das gleichnamige Stück des Seneca war eines der beiden in der Abhandlung von 1754 vorgestellten) und zu empathischem Nachvollziehen aus der Sicht der „geschändeten Princessin" verleitet, mit dem Schluß: „Welche Situationen! welche Scenen!" 119 Der konkrete Versuch freilich, aus dem ersten Theaterstück der Sophokles-Ausgabe, dem Aias, die erste Szene in deutsche Prosa zu übertragen, offenbart — auch in den erhaltenen Nachlaßnotizen 120 - , wie der dreißigjährige Lessing immer noch mit den Wortbedeutungen kämpft, bei den poetischen Ausdrücken zumal, und wie ihm auch die Syntax zu schaffen macht. Was ihn an diesem Stück fasziniert, die sophokleische Einsamkeit des Helden (gleich zu Beginn), die Verblendung, der Wahnsinn, die Isolation, die Unbedingtheit des Kriegerischen, die Todgeweihtheit — das zeigt sich außerhalb der Sophokles-Abhandlung in dem schon erörterten Einakter Philotas (1759). 121 Vielleicht ist eben dieser Text das wichtigste Resultat der ganzen Unternehmung. Fast unverhofft fuhrt jedoch noch eine andere Brücke aus dieser eigentümlichen Dramatiker- und Philologenwerkstatt von 1759/60 heraus: zu Euripides. Auf ihn wird das Interesse schon 1754 in der Seneca-Abhandlung gelenkt, zunächst äußerlich veranlaßt durch die sich anbietende „Vergleichung" des Hercules Furens mit dem Herakles des Euripides (nicht etwa den Trachinierinnen des Sophokles). 122 Aber in der Hervorhebung von „empfindsamen", „zärtlichen", „menschlichen" Zügen im Helden des „Griechen" bereitet sich schon mehr vor. So wie Lessing den Sophokles auf der Basis der antiken Zeugnisse deutlich gegen den ,älteren' Aischylos abzugrenzen sucht, so nimmt er im gleichen Zusammenhang nachgerade begierig den Namen Euripides auf und beginnt ihn, über den Anlaß Sophokles hinaus, sogleich zu verteidigen: „es ist [...] ein sehr gemeiner Vorwurf, den ihm die Alten machen, daß er den theatralischen Putz zu sehr vernachläßiget habe". 1 2 3 Und er setzt, unter Zuhilfenahme weiterer antiker Zeugnisse, zu einer recht umständlichen und detaillierten Argumentation an. Zu ihren spekulativen Resultaten gehört kein geringeres, als daß nicht dem Sophokles, sondern dem Euripides „die Abschaffung des Schwulsts" (der mit Aischylos personifiziert ist) gelungen

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Lessing 1968, Bd. 8, 363; Lessing 1985, Bd. 5/1, 314. Lessing 1968, Bd. 14, 265-267 (vgl. auch die sich anschließenden Notizen zur Nausikad)\ Lessing 1985, Bd. 5/1, 350-352 (und sich Anschließendes). 121 Oben S. 177. 122 Da es Lessing um das primäre .Vorbild' zu tun ist, läßt er das sophokleische Stück (von dessen Handlung er möglicherweise Kenntnis hat) beiseite. 123 Lessing 1968, Bd. 8, 323; Lessing 1985, Bd. 5/1, 267. 124 Lessing 1968, Bd. 8, 325; Lessing 1985, Bd. 5/1, 268. 120

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Es kann hier nicht u m die Details, sondern nur u m die Tendenz gehen. Z u ihr gehört, daß sich Lessing offenkundig — durchaus einer Bewegung seines Jahrhunderts folgend 1 2 5 — zu Euripides als dem „Schüler des Sokrates", zu dem „philosophischen" Euripides hingezogen fühlt. Zwar repetiert er das bei Aristeides überlieferte „allgemeine Urtheil der Alten", wonach Euripides in seinen Stücken „nicht selten gemein und schwatzhaft" geworden sei. 126 Aber er spürt dem nicht näher nach. Zwar steht auch Lessing erkennbar unter dem Eindruck der Gegenüberstellung von Aischylos und Euripides in den Fröschen des Aristophanes (mehrere sogar griechische Zitate daraus). 127 Aber das, w o r u m es ihm dabei in erster Linie geht, ist die These, nicht Sophokles, sondern Euripides habe „die Schwulst" des Aischylos „abgeschafft". Es ist ihm ohne Zweifel eine aufklärerische Tat, die er in der Terminologie seiner Zeit — u n d in der Verlängerung des aristotelischen Entwicklungsdenkens — als „Verbesserung" der griechischen Tragödie, des attischen T h e a ters versteht. Welcher Stellenwert k o m m t dieser abgebrochenen, durch den plötzlichen Weggang aus Berlin liegengebliebenen Sophokles-Unternehmung zu? Sie ist als Erschließungs-Versuch unter den deutschsprachigen Autoren seiner Epoche einzigartig. Gottsched setzt in seiner Critischen Dichtkunst u n d anderen Schriften die griechischen exempla wesentlich voraus, 1 2 8 ebenso die Schweizer B o d m e r und Breitinger. Johann Elias Schlegel und auch etwa Wieland lassen sich durch eigene Lektüre einzelner Stücke in ihren dramatischen Produktionen anregen. 1 2 9 In der erschließenden Absicht ist allenfalls das schon erwähnte ältere Théâtre des Grecs des Père Brumoy vergleichbar. U b e r die Artikel von Bayle's Dictionnaire wiederum, das erklärtermaßen schematisches Vorbild ist, wächst die Abhandlung schon von ihrem Anspruch her deutlich hinaus. Vielleicht das Wichtigste ist, daß hier Lessing zum ersten Mal in einem Kernbereich der griechischen Poesie festeren Boden gewinnt. Die lexikalischen u n d grammatischen Schwierigkeiten sind, wie die Nachlaßnotizen u n d der Übersetzungsversuch zum Aias ausweisen, noch b e trächtlich. D o c h erstmals erarbeitet sich Lessing einen Eindruck von der Breite und Vielfalt des sophokleischen Œuvres, von einzelnen rekonstruierten Stücken (bis in „Scenen" hinein), von Details der attischen Tragodien-ié/vr), von „Lehrern" und „Schülern", von der Weitergabe des Wissens und der Muster — mit dem Versuch, die wesentlich aristotelische Uberlieferung eigenständig zu bewerten und zu ergänzen —, von der Einbettung der attischen Tragiker (nicht nur des Sophokles) in griechische Religionspraxis und attische Politik. U n d noch das beiläufigste

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Franke 1929, 10-12. 21. Lessing 1968, Bd. 8, 323; Lessing 1985, Bd. 5/1, 266. 127 Lessing 1968, Bd. 8, 322f., Lessing 1985, Bd. 5/1, 266f. 128 Dabei sind oft die französischen Vermittlungen (Madame Dacier, Père Brumoy u.a.) noch deutlich erkennbar. 129 Kurze Hinweise bei Franke 1929, 17 f. 43 u.ö. 126

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Detail wird mitunter durch Lessings unmittelbar theaterpraktisches Interesse belebt. Als er im Laokoon, mehr als ein halbes Jahrzehnt später, einen beträchtlichen Fundus an griechischer, auch poetischer Uberlieferung zu bearbeiten hat, als er gar auf den Vergleich zwischen dem vergilischen Laocoon und dem sophokleischen Philoktet zu sprechen kommt, spürt man sofort die gewonnene größere Sicherheit auf diesem Feld. Es ist das gleiche Fundament, das ihn schließlich ermuntert, in der Hamburgischen Dramaturgie die eigene Sicht auf die großen Muster der attischen Tragödie couragiert dem Kanon der Aristoteles-Auslegungstradition entgegenzusetzen, und vice versa. Zwischen der Hamburgischen Dramaturgie und dem Sophokles müssen freilich ein paar Beobachtungen zu wenig Bekanntem erwähnt werden, die auf Neues hinfuhren. Es ist bezeichnend für Lessings Geistesart, daß er sich in seiner neuen Breslauer Existenz als Sekretär des preußischen Generals von Tauentzien, in die er sich geflüchtet hat, Erholung von der Administration nicht nur durch Theaterbesuche und Spiel mit den Offizieren sucht, sondern mehr noch durch intensive Studien in der berühmten, reichhaltigen Rehdigerschen Bibliothek. 130 Da fallen ihm unter manchem anderen zwei Codices mit Seneca-Tragödien auf, und sogleich macht er sich, seine 1753/54 erworbene einschlägige Kompetenz mobilisierend, auch an Fragen der Textkritik. Vermutlich in die gleiche Periode fallen einige der später im Nachlaß vorgefundenen und so benannten Anmerkungen über alte Schriftsteller,131 Fast tagebuchartig heißt es da zu Beginn einer Notiz recht nüchtern unter dem (vermutlich von Lessing selbst stammenden) Stichwort „Aeschylus": 132 „Ich habe den Agamemnon des Aeschylus gelesen, und folgende Anmerkungen darüber gemacht" (Lessing wählt also, wie seinerzeit bei Seneca und offenbar auch bei Sophokles, wieder das erste beim Aufschlagen vorgefundene Stück für die Lektüre). Es sind drei Anmerkungen. Nach Lessings Eindruck „sündigt" das Stück „sehr gröblich wider die Einheit der Dauer", weil Agamemnon viel zu „geschwind" nach Eintreffen der Siegesnachricht aus Troja zurück ist. Aber Lessing hilft sich charakteristischerweise mit der Überlegung, das eigentliche Stück beginne mit dem Chor, und die erste R e d e des Wächters sei „ein bloßer Prologus" (das Prolog-Thema wird dann ein Lieblingsthema der Hamburgischen Dramaturgie werden). Zweitens: „So einförmig der Ausdruck des Aeschylus ist", so sei doch die Redeweise der Personen auch durch „kleine Unterschiede und Nuancen" gekennzeichnet (er bringt kurze Beispiele). Schließlich: Der „Charakter der Klytemnestra" sei darin „vortrefflich gezeichnet", daß in ihren R e d e n „ihre Falschheit durchscheinet". „Das Gesuchte,

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Barner 1973, 83-86. Die Handschriften sind verloren, unsere Kenntnis stützt sich auf die Abdrucke Georg Gustav Fülleborns im Rahmen der Lessing-Biographie, die der Bruder Karl Lessing verfaßt hat (dazu Lessing 1985, Bd. 5/1, 857f.). 132 Lessing 1968, Bd. 15, 426; Lessing 1985, Bd. 5/1, 452. 131

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das Übertriebne, das Schwatzhafte" zeige, „daß sie nicht aus dem Herzen spricht". Er setzt hinzu: „Er läßt sie bis ins Komische fallen". Der kritische Unterton, den Vorwurf des „Schwulstes" betreffend, auch die Kritik der dramatischen Form, ist noch hörbar. Aber gegenüber dem Sophokles haben die eigenen Aischylos-Lektüreversuche schon Differenzierungen hervorgetrieben. D o c h ist es kaum Zufall, daß an dieser Stelle der Beleg für das „Komische" von ihm in einer lateinischen Version gegeben wird. „Ich habe den Ion des Euripides wieder gelesen", heißt es unter dem Stichwort „Euripides". 1 3 3 Das „wieder" ist bereits charakteristisch. Lessing hat offenbar bew u ß t gewählt, nicht einfach vorne in der Ausgabe begonnen. Die Notizen erreichen den fast vierfachen U m f a n g deijenigen zu Aischylos. Aus den sehr unterschiedlichen, bis in die Textkritik hineinreichenden Beobachtungen seien vier hervorgehoben. Der junge Ion, die Schwellen des Tempels fegend u n d ausgerechnet damit die „tragische B ü h n e " eröffnend — der eigentümliche Einfall hat es Lessing angetan: „so ist der Geschmack des Euripides: er liebt die Aussichten in das niedere gemeine Leben, u n d nähert seine Personen sehr gern dem Stande des größten Theils seiner Zuschauer". Hier reizt der ,moderne' Dichter, der mit einer überraschenden Genreszene das Stück eröffnet, u n d den Satz über „Personen" und „Zuschauer" mag man als Präludium zur berühmten Formulierung der Hamburgischen Dramaturgie lesen, der wahre Held des Bürgerlichen Trauerspiels sei mit den Zuschauern „von gleichem Schroth u n d Korne". Weiter: An die frühe Seneca-Abhandlung erinnert die Kritik, daß Euripides bisweilen „zur Unzeit mahlt", dadurch die Zuschauer ablenkt u n d die Handlung aufhält — so bei der Beschreibung von Kreusas Zelt: „die Zuschauer zittern: u n d du mahlst uns das Gewirke der Tapeten, den ganzen gestirnten H i m m e l von Seide!" Ganz anders, so wendet Lessing hier plötzlich ein, stehe es mit den angeblichen „Fehlern" Shakespeares (!); sie hätten „fast immer einen G r u n d " , vor allem u m die Z u schauer desto lebhafter zu rühren". Die Direktheit, mit der hier das neu entdeckte Genie Shakespeare zu Euripides in Beziehung gesetzt wird, ist ebenso sprechend wie die Nähe zur Ablehnung der .malenden Poesie' im Laokoon. Z u einem dritten Beobachtungskomplex 1 3 4 läßt sich zusammenfassen, daß im Ion die „Sitten" oft „anstößig" seien (eine Frau, die kläglich schreit, weil sie keine Kinder b e k o m m e n soll, ein Alter, der Kreusa zu schändlichen Taten anstiftet) und daß die Götter samt der Religion „mißhandelt" würden (z.B. die „klägliche R o l l e " Apollons). Lessing setzt ein „ N B . " hinzu: „Sollten nicht dergleichen Stellen auf die R e c h n u n g des Sokrates sein geschrieben worden?" Das Erklärungs-

133

Lessing 1968, Bd. 15, 427; Lessing 1985, Bd. 5/1, 453. Zu diesem Komplex auch Franke 1929, 21 und 50. 134 Die im folgenden zitierten Stellen: Lessing 1968, Bd. 15, 429f.; Lessing 1985, Bd. 5/1, 455 f.

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modell ist alt, aber das Interesse gerade an solchen ,anstößigen' Zügen erscheint als ungemein epochentypisch. Ahnliches gilt auch noch einmal für den Prolog, der als im modernen Sinne ,epischer' Zug schon den Lessing der Seneca-Abhandlung von 1754 beschäftigt. Doch weniger das Dramentechnische daran interessiert hier, sondern bezeichnenderweise das Wirkungsästhetische. U n d das Generalisierende der Diagnose fällt auf: „Dem Euripides war es also weit wichtiger, und das mit Recht, das Herz des Zuschauers zu beschäftigen, als seine Neugierde". Der das „Herz" beschäftigende Euripides ist der am ehesten zeitgenössische' — auch darin repräsentiert Lessing durchaus eine Epochentendenz. Sophokles behält den R a n g des „Meisters", des Repräsentanten der „Menschlichkeit", die „Mitleiden" ermöglicht. Aischylos ist aus der bloßen Funktion der Frühstufe und der zu überwindenden „Schwulst"-Tendenz ein wenig herausgetreten. In der produktiven Anregung aber hat Euripides den Sophokles, der noch hinter dem Philotas als Modell steht, abgelöst. Das wird vielleicht am eindrücklichsten in den beiden bisher wenig beachteten Entwürfen zu einem Alcibiades wohl aus der Zeit u m 1763/64, also noch während des Breslauer Aufenthalts. 135 Alcibiades — Lessings Hauptquellen sind Plutarch und eine wohl schon für den Sophokles benutzte Ubersetzung einer englischen Welthistorie136 —, der „Schüler des Socrates", hat sich nach dem Scheitern seiner Machtpolitik an den persischen Hof geflüchtet (eines der erhaltenen Szenare heißt auch Alcibiades in Persien). Eine „zärtliche Freundschaft" 1 3 7 verbindet ihn mit dem Sohn des gastgebenden Satrapen Pharnabazos. Auf einem „anmuthigen Hügel" erwartet Alcibiades „unter den Palmen" (eine Vorahnung des Nathan) den Freund. Ein Gebet „vor der aufgehenden Sonne" ist Teil einer naturreligiösen Praxis im Zeichen Zoroasters, von dem schon Sokrates gesprochen habe, wie es ausdrücklich heißt. Jene Religion aber sei „keine abergläubische Zauberkunst, sondern eine Sammlung von den erhabensten Lehrern der Gottheit". 1 3 8 Das „barbarische" Persien wird gegenüber dem „weisen" Griechenland, wo Machtgier und „Ohnegötterey" herrschten, zum Land, in dem „Wahrheit und Tugend den alten Thron besitzen". Die fremde Religion, die hinter dem Gestrüpp der Vorurteile als die „weise" erscheint — das ist als aufklärerische Provokation schon unverkennbar. Der „Schüler des Socrates", durch die Erfahrungen der eigenen Schaukelpolitik desillusioniert, der ,vaterlandslos' Gewordene, der im Exil endlich „sich selbst" und seiner „zärtlichen Freundschaft" leben Wollende — diese Motive sind, noch dazu gegen Ende des Siebenjährigen Kriegs (in dem der Autor manchem als .vaterlandsloser

135

Die Paralipomena: Lessing 1968, Bd. 3, 399-406 (Nachträge Lessing 1968, Bd. 22, 78); Lessing 1985, Bd. 5/1, 385-394. Zur Datierung s. Lessing 1985, Bd. 5/1, 777-779. Vgl. im übrigen Barner 1989. 136 Hierzu Lessing 1985, Bd. 5/1, 779. 137 Lessing 1968, Bd. 3, 399; Lessing 1985, Bd. 5/1, 385. 138 Lessing 1968, Bd. 3, 406; Lessing 1985, Bd. 5/1, 394.

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Geselle' erschien), 1 3 9 tief in Lessings Erfahrungen und Werkphantasie verankert (manches weist auch auf Minna von Barnhelm).'140 Auch wenn Alcibiades-Stücke von Thomas Otway und von Jean Gilbert de Campistron 1 4 1 mit zum Feld der Anregungen zu diesem Versuch gehören, so ist doch die Nähe zu dem ,SokratesSchüler' Euripides evident, besonders zum Ion und dem, was ihn gerade an diesem Stück (das er „wieder" gelesen hat) aufgefallen ist: morgendliche Genreszene, Kult, Religiosität, inszenierte Gewalt, das „Herz der Zuschauer". Lessings, wie sich zeigt, an Intensität und Differenziertheit zunehmendes Sichbeschäftigen mit der griechischen Tragödie, jetzt offenkundig mehr mit einzelnen Stücken des Euripides, 1 4 2 ist ohne dieses spezifische Hin und Her zwischen den eigenen Dramenplänen und der Originallektüre nicht zu denken. Was in den Entwürfen an modernisierenden' Interessen erkennbar wird (von den „zärtlicheren", „Mitleiden" erregenden Zügen des Herakles an, wie er sie in der SenecaSchrift 1754 herausarbeitet), bestimmt den Blick namentlich auf die Texte des Euripides. Aber Sophokles ist nicht verabschiedet. Hätte Lessing das AlcibiadesProjekt zuende gebracht (von athenischen Schergen schließlich auch im Exil aufgestöbert und tödlich verletzt, bittet der Titelheld den „zärtlichen Freund" um den Todesstoß, doch dieser stürzt sich selbst ins Schwert), 1 4 3 wäre die produktive Auseinandersetzung mit dem Aias wie mit dem eigenen Philotas unumgänglich gewesen. Von den zahllosen Studien, die sich lediglich auf die Hamburgische Dramaturgie, auf Aristoteles und die griechische Tragödie konzentrieren, wird neben dem Trauerspielbriefwechsel von 1 7 5 6 / 5 7 meist allenfalls noch die Erörterung zum schreienden sophokleischen Philoktet im 4. Abschnitt des vielgelesenen Laokoon (erster und einziger erschienener Teil 1766) einbezogen. 1 4 4 Hervorgehoben wird dabei in aller Regel — und zu R e c h t —, daß dieser griechische Held, im Medium des „Dramas" von „Handlung" bestimmt, durch die „Schmerz"-Außerung „Menschlichkeit" zeige und so auch „Mitleiden" zu erregen vermöge. Des weiteren: Indem Lessing gegen die „Größe" und die „Standhaftigkeit" des griechischen 1 4 5 Philoktet seine prinzipielle Ablehnung der stoizistischen Härte und „Abrichtung" setze (er identifiziert sie hier mit der „Philosophie des Cicero"), indem

1 3 9 Zugespitzt in der Formel: den Preußen als Sachse und den Sachsen als Preußenfreund erscheinend. 1 4 0 Barner 1989, 24 und 28. 1 4 1 Otway: Alcibiades (1675); de Campistron: Alcibiade (1686). 1 4 2 Dies wird in der wichtigsten einschlägigen Arbeit (Franke 1929) überhaupt nicht erkennbar. 1 4 3 An dessen Stelle vollzieht Pharnabazos den Wunsch des Alcibiades: Lessing 1968, Bd. 3, 405; Lessing 1985, Bd. 5 / 1 , 392 (so im Gesamtüberblick des Entwurfs Alcibiades). 1 4 4 Lessing 1968, Bd. 9, 30f.; Lessing 1985, Bd. 5 / 2 , 44f. 1 4 5 Die Generalisierung ist hier deutlich („bey den Griechen", später dann: „die Römer").

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er schließlich „alle Personen" der Seneca-Tragödien als „Klopfechter im Cothurne" etikettiere, die „unser Herz kalt" lassen — mit dieser kategorischen Festlegung an exponierter Stelle signalisiere er für sich selbst die definitive Verabschiedung der römischen Tragödie zugunsten der Griechen. Der Eindruck der W i n c k e l m a n n s c h e n P r o g r a m m s c h r i f t v o n 1755 (Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke) ist j a auch v o m ersten Abschnitt des Laokoon an u n -

übersehbar. Die Zuspitzung der Lessingschen Äußerungen zu Seneca und generell zur korrumpierenden Wirkung der „Gladiatorischen Spiele" auf die „tragische Bühne" der Römer ist nicht zu bestreiten. Sie verdeckt freilich vieles von dem, was hier an Lessings differenzierter Beschäftigung mit der Tragödie der „Alten" entwickelt wurde. Lessing generalisiert in apologetischer Absicht, um das „Schreien" des sophokleischen Philoktet gegen Ciceros Kritik in den Tusculanae Disputationes146 als „menschlich" und als „Mitleiden" erregend zu legitimieren. Damit steht weder Sophokles allein für griechische Humanität im Drama, noch ist die wiederholte, detaillierte Bemühung um Seneca abgetan. 147 Die ,lateinische Brücke' zur griechischen Tragödie ist noch in den Studien der Breslauer Jahre um 1763/64 erkennbar — eher fällt jetzt das neue Zauberstichwort „Shakespeare" ins Auge. Aber es begegnet bezeichnenderweise mehr im Zusammenhang des „Regeln" verletzenden, „anstößigen" Euripides. ,Lateinische Brücke': Das bedeutet von Anfang an nicht nur den Weg über Plautus, Terenz und Seneca und über die lateinsprachige Philologie (z. B. Verständigung über Semantisches, noch in der Sophokles-Abhandlung und in den Breslauer Studien), sondern ,nationalliterarisch' vor allem die als übermächtig empfundene Präsenz des Typus Corneille. Sowie den jungen Lessing die Gestalt Medeas fesselt (und das gilt noch für den Schöpfer der Marwood und der Orsina), stehen dafür nicht nur Seneca und Euripides, sondern als ,moderne' Herausforderung Corneille (1635), von dem etwa der Baron de Longepierre (1694) nicht weniger abhängig ist als noch der Engländer Glover (1761). Kaum ein Dramenautor ist, neben Voltaire, Shakespeare und Molière, mit so vielen Stücken in der Hamburgischen Dramaturgie vertreten wie Corneille, nicht in erster Linie weil sie alle in Ubersetzung auf dem Hamburger Spielplan gestanden hätten, 148 sondern weil es Lessing reizte, sie zum kritischen Vergleich heranzuziehen. Und hinter Corneille steht, wie allen unterrichteten Zeitgenossen bewußt war, Seneca. Aber nicht er taugt, nach Lessings Einschätzung, in vorderster Linie zum ,Hebel' gegen Corneille, sondern bekanntermaßen die Engländer und die Spanier und — im Verbund

146 Die Stelle: II 7, 19 (Cicero stützt sich hier auf griechische Beispiele, doch auch auf den Philoctetes des Accius); hierzu auch Kont 1894, Bd. 1, 119 f. 147 So die lange herrschende Auffassung; dagegen Barner 1973, 8 3 - 9 2 . 148 Vgl. die von K. B o h n e n zusammengestellten Materialien in Lessing 1985, Bd. 6, 9 0 6 - 9 2 9 .

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mit einem neu interpretierten Aristoteles — dem Ansatz nach auch die griechische Tragödie. Von der vielverhandelten Instrumentalisierung des Aristoteles als solcher und von Lessings leitendem Interesse an einem neuen „bürgerlichen Trauerspiel" kann hier nicht näher die Rede sein. Wem es bei der Lektüre der Hamburgischen Dramaturgie lediglich um das Thema „Lessing und Aristoteles" zu tun war — und das gilt für viele —, hat mitunter uneingestanden oder auch eingestanden vier Grundzüge dieses Textcorpus aus 104 „Stücken" als lästig empfunden und dabei oft ,auszubuchen' versucht: daß Lessing gar kein „dramatisches System" bieten will (was er am Schluß des 95. Stücks auch sagt); daß sich die Aristoteles-Auseinandersetzung erst allmählich aus der sukzessiven Begleitung der Hamburgischen Entreprise (mit manchen aus dem Kommentar erst zu erschließenden Theater-Texten) 149 herauspräpariert; daß Lessing ständig „vergleichend" zwischen antiken und neueren Stücken (auch Theoretikern und Kritikern) hin und her wechselt; schließlich daß es ihm immer wieder um die deutsche Bühne, das gegenwärtige Theater geht. In Lessings Beschäftigung mit der griechischen Tragödie sind diese Züge — zu denen man die gelegentliche Versenkung in philologische Details noch hinzusetzen kann — von den Beyträgen des Jahres 1749 an selbstverständlich, ja charakteristisch. Trotz aller schriftstellerischen Vorbilder in Frankreich und auch in England — dieses öffentliche Reden über Plautus, Seneca, Euripides, Sophokles im weltliterarischen Zusammenhang, noch dazu (anders als etwa bei dem Göttinger Freund Heyne) mit Selbstverständlichkeit in der Muttersprache, ist für sich selbst genommen bereits eine Pionierleistung, von den Einzelresultaten zunächst abgesehen. 150 Ein Autor wie Schiller konnte dies in seinem Schreiben über antikes Drama schon voraussetzen. So eigenständig und so umfassend (auch die antike Bühne, die Mimik, die Skenographie usw. einbeziehend) Lessings stufenweises Eindringen in die antike Überlieferung auch angelegt ist, zweifellos rückt mit dem neuen Interesse an der „Autorität" Aristoteles das attische Drama enschieden in den Vordergrund. Was an Seneca gerade im Widerspruch gegen Gottsched angezogen hatte (und früh auch zu Euripides führte), wird jetzt überragend durch den Typus Corneille repräsentiert. Auf ihn beginnt er sich argumentativ ,einzuschießen', zumal der mächtige Franzose ja auch durch seine kritisch-theoretischen Schriften die „doctrine classique" mitbegründet hatte. Und nun ein entscheidender Kniff, mit dem Lessing seine mittlerweile erworbene Detailkenntnis der griechischen Tragiker gegen die dominierende Aristoteles-Auslegungstradition vor allem der Franzosen einsetzt: Nicht allein eine angeb-

149 Daß viele von ihnen den heutigen Lesern nicht mehr präsent sind, hat mit zu der zunehmenden Konzentration auf das Theoretische' und hierbei vor allem auf Aristoteles beigetragen. 150 Dazu Norden 1929; auch Jens 1983, bes. S. 57-59.

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liehe aristotelische Doktrin stehe zur Deutung, sondern die „Meisterwerke" selbst, die dem „Stagiriten" bei der Formulierung seiner Poetik vor Augen gewesen seien. Im 74./75. Stück, wo Lessing immer wieder die „falsch übersetzte", durch Corneille dogmatisch gewordene Formel „Schrecken und Mitleiden" attakkiert, vertritt er mit Entschiedenheit „Furcht" als Äquivalent für qpößog. Und zum „Mitleiden" zieht er die differenzierenden Einsichten seines Freundes Mendelssohn in die „vermischten Empfindungen" heran; deren Exemplifikation aber wird gleich durch Hinweise auf drei sophokleische Stücke eingeleitet (Elektra, Philoktet, 151 König Odipus). Selbst der so stark in den Hintergrund getretene Aischylos wird bemüht, wenn gegen die neuere Tendenz, den „tragischen Dichtern so ängstlich" die Beachtung des „Costumes" zu empfehlen, die Beobachtung gesetzt wird, daß in den Persem durchaus die „eigenen griechischen Sitten" dominierten. 152 Vor allem aber ist es immer wieder Euripides, der gegen eine scheinbar Aristotelesgerechtere Doktrin — etwa im Fall der Prologe — als „Meister" ins Feld geführt wird. 153 Hier wird zugleich der zweite argumentative ,Hebel' erkennbar, mit dessen Hilfe Lessing seine Kenntnis der attischen Tragiker gegen die neueren Doktrinen und Aristoteles-Ausleger zu nutzen sucht: Sie verstünden zu wenig von der Bühne der Alten und generell vom „Theater". Beide Zentralvorwürfe gegen die Aristoteles-,, Scholastiker" faßt er bündig so zusammen, neben dem Mangel an Kenntnis anderer aristotelischer Schriften: „sie kannten das Theater und die Meisterstücke desselben nicht". 1 5 4 Hier spricht natürlich der erfolgreiche Theaterpraktiker, der sich als Student schon bei der Neuberschen Truppe die ersten Sporen verdient hat und gerade das Hamburgische Unternehmen begleitet, aber vor allem derj enige, der von früh an, schon in der Plautus- und der Seneca-Schrift (1749, 1754) und in der Vorrede zur Thomson-Ubersetzung (1756), gegen alles „Regelwerk" die Dominanz des Wirkungsprinzips vertreten hat („Erregung der Leidenschaften", „Mitleiden", „Rührung", die „starke" Wirkung), mit einem Wort: das — im Hinblick auf Thomson — „griechisch Regelmäßige". Keiner der attischen Tragiker wird von ihm (das ist für die Hamburgische Drama155 turgie wiederholt beobachtet worden) so einläßlich und so vehement gegen die „Regel"-Kritiker verteidigt und als der eigentlich Moderne gefeiert wie Euripides. Die seit der Seneca-Abhandlung, bis hin zu den Breslauer Studien, erkennbaren Interessenpunkte begegnen jetzt gebündelt: die auch „rührenden", ja „zärtli-

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So im Zitat aus Mendelssohns Briefen über die Empfindungen: Lessing 1968, Bd. 10, 100f.; Lessing 1985, Bd. 6, 555. 152 Lessing 1968, Bd. 10, 193; Lessing 1985, Bd. 6, 661 (der Titel „Perserinnen" ist Verschreibung in der Handschrift, s. Lessing 1968 zur Stelle). 153 Etwa Lessing 1968, Bd. 9, 390f.; Lessing 1985, Bd. 6, 423f. Vgl. auch Franke 1929, 50. 154 Lessing 1968, Bd. 10, 102; Lessing 1985, Bd. 6, 557. 155 Kont 1894, Bd. 1, 124-134; Franke 1929, 20f. 50-55.; Jens 1983, 50-54; u.a.

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chen" Töne einzelner Helden, das Einmischen von „Comischem", die gelegentlich „niedere", „schwatzhafte" Redeweise von Figuren, die philosphischen „Maximen", das ihn beeindruckende Genrehafte des Eingangs zum /o«. 156 Und wiederholt klingt nicht nur die Formel vom .Schüler des Sokrates' an, sondern mit offenkundigem Genuß zitiert er gleich mehrmals, daß ausgerechnet dieser attische Dramatiker von Aristoteles als der „tragischste" bezeichnet worden ist. 157 Nicht der .dunkelste', Aischylos, sondern der .klarste', Euripides, ist es, der die Gattung am meisterhaftesten erfüllt hat. Und wenn man sich der Bemühung der Sophokles-Schrift erinnert, Euripides als den eigentlichen „Verbesserer" der attischen Bühne zu erweisen, 158 so ist zugleich ein Moment der Selbst-Identifikation des Hamburgischen Dramaturgen unverkennbar. Hier geht Lessing über die generelle zeitgenössische Hochschätzung des Euripides entschieden hinaus. Lessing steht jetzt — um eine eigene prägnante Formulierung zu verwenden — „neben seinem Alten". 159 Im weltliterarischen „Vergleichungs"-Spiel der Hamburgischen Dramaturgie, dessen argumentativ-polemischen Zuschnitt man nicht vergessen darf, erreicht die Hoch-Wertung vielleicht ihre Spitze mit der Heranrückung an Shakespeare. Die Verfasser verschiedener französischer Tragödien, so heißt es gegen Ende des 81. Stücks, „konnten nicht anders, als sehr gute Köpfe seyn; sie verdienen, zum Theil, unter den Dichtern keinen geringen Rang: nur daß sie keine tragische Dichter sind; nur daß ihr Corneille und Racine, ihr Crebillon und Voltaire von dem wenig oder gar nichts haben, was den Sophokles zum Sophokles, den Euripides zum Euripides, den Shakespear zum Shakespear macht. Diese sind selten mit den wesentlichen Foderungen des Aristoteles im Widerspruch: aber jene desto öfterer". 160 Noch ist erst ansatzweise gefaßt, was nun eigentlich Shakespeare zu Shakespeare „macht", über die Benennung des „Genies" und die große „Wirkung" hinaus, die alles „Unregelmäßige" relativiert — hier werden dann Herder und Wieland und Goethe tiefer dringen. 161 In der Bestimmung des Euripideischen 156 Hier einschlägige „Stücke": 2, 39/40, 48/49, 59, 94. Das Beispiel Merope wird hier ausgeklammert, da es dankenswerterweise einläßlich durch Frau Rosmarie Zeller behandelt wird. 157 Z . B . Lessing 1968, Bd. 9, 389; Lessing 1985, Bd. 6, 422; oder Lessing 1968, Bd. 9, 392; Lessing 1985, Bd. 6, 426. 158 O b e n S. 181 f. 159 Brief an Christian Gottlob Heyne, 28.Juli 1764 (Lessing 1968, Bd. 17, 211; Lessing 1985, Bd. 11/1, 415); dazu Barner 1973, 93. 160 Lessing 1968, Bd. 10, 131; Lessing 1985, Bd. 6, 589f. 161 Es ist freilich bemerkenswert, daß schon Friedrich Gundolf in seiner Habilitationsschrift Shakespeare und der deutsche Geist (1914) das Zweite Buch, „Shakespeare als Form" (Erstes Buch: „Shakespeare als Stoff') mit einem sehr umfangreichen (55 Seiten) Lessing-Teil beginnt, dem ein nur kurzer zu Wieland folgt, bevor Herder das Dritte Buch, „Shakespeare als Gehalt" eröffnet); das Lessingkapitel: Gundolf 1914, 105—159. Für Lessing und die griechischen Tragiker wäre strikt Analoges nicht sinnvoll; aber eine Diskussion über sie als „ F o r m " im 18.Jahrhundert wäre erwägenswert. Die Aristoteles-Theorie-Debatte hat zu vieles überlagert.

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scheint Lessing durchaus einen Schritt weiter zu sein, nicht zuletzt wegen der jetzt für ihn differenzierter greifbaren Folie Aristoteles. Uber aller angeblichen ,Spannungs'-Dramaturgie Lessings hat man lange vernachlässigt, mit welcher exemplarischen Insistenz die Prologtechnik des Euripides verteidigt wird. Das Interesse klingt j a schon ganz früh in der „Vergleichung" innerhalb der Seneca-Schrift an, dann wiederholt, etwa in den wichtigen Studien zum Ion.162 W i e exemplarisch der Problempunkt — die von manchen 1 6 3 getadelte Vorweg-Information der Zuschauer über die Handlung — für Lessing ist, zeigt sich schon daran, daß er auch hier die aristotelische Formulierung vom „tragischsten" aller tragischen Dichter bemüht. Eben nicht „die Ergötzung einer kindischen Neugier" sei die Absicht des Euripides gewesen, besonders bei den GötterPrologen (wie etwa im Ion). Sondern: „Er ließ seine Zuhörer [...], ohne Bedenken, von der bevorstehenden Handlung eben so viel wissen, als nur immer ein Gott davon wissen konnte; und versprach sich die Rührung, die er hervorbringen wollte, nicht sowohl von dem, was geschehen sollte, als von der Art, wie es geschehen sollte." 1 6 4 Nicht das Was, sondern das W i e im Zentrum des Interesses, durchaus ohne Fehler der „Kunst": Hier ist ohne Zweifel ein zentrales Moment dessen benannt, was Brecht später als das Projekt des .epischen' Theaters entwerfen wird. 1 6 5 Die Parallelen, die sich erweitern ließen, sollen hier nicht ausgezogen werden. Es gibt auch genügend ,Querstehendes', wie das ,nicht-epische' Identifikationskonzept des Lessingschen „Mitleidens". Andere Brücken führen von Lessings Interesse besonders für Euripides deutlich erkennbar in seine eigene dramatische Produktion: das .Modernitäts'-Bewußtsein, die .Verbesserung' der deutschen Schaubühne, das sokratische Infragestellen, das ,Einmischen' von Komischem ins Tragische, die Abschattierung der Figurenrede, die Offenheit der Dramenschlüsse (auch Minna von Barnhelm mit ihrem klappernden deus-ex-machina-Schema am Ende wäre hier zu beachten). Es führt kein geradliniger Weg von der Hamburgischen Dramaturgie zu Emilia Galotti,166 so wie der Weg vom bürgerlichen Trauerspiel Miß Sara Sampson zum an Sophokles geschulten Heldenstück Philotas eher lessingisch irritierend als gleich

O b e n S. 186 f. Lessing bezieht sich hier vor allem auf die Kritik von François Hédelin, Abbé d'Aubignac in seinem fast kanonischen Handbuch Pratique du Théâtre (1657); so besonders im 48./49 „Stück". 1 6 4 Lessing 1968, Bd. 9, 3 8 9 ; Lessing 1985, Bd. 6, 4 2 2 . 1 6 5 Vgl. die Anmerkungen 6 und 7. 1 6 6 Die früher gerne vertretene Annahme, Emilia Galotti sei sozusagen die .Einlösung' des Trauerspielkonzepts der Hamburgischen Dramaturgie, ist fragwürdig geworden. Das zeigt sich schon bei dem Versuch einer klaren Antwort auf die Frage, wer eigentlich in diesem Stück der Held „von gleichem Schroth und K o r n e " sei. Aktuelle Übersicht über die Probleme bei Alt 1994, 235-270. 162

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auf den ersten Blick konsequent ist. Die erneute Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie, namentlich der des Euripides, ist innerhalb der Hamburgischen Dramaturgie nur Teilkomplex eines Größeren, zu dem Shakespeare und Banks, Lope de Vega und Calderón gleichermaßen gehören. Aber dem Griechen Aristoteles ist hier an Gewicht nichts an die Seite zu stellen, und die griechischen Tragiker wiederum sind als „Muster" mit dem Blick auf Aristoteles unauswechselbar. Gerade durch den Lessingschen Widerspruch gegen die Auslegungstradition ist der Poetiker, der Theatertheoretiker Aristoteles in seiner Autorität eher gestärkt. Das zeigt sich spätestens an dem Ingrimm, mit dem Lenz in den Anmerkungen über's Theater (1774) eben diese Autorität — auch mit einer spezifischen Wendung gegen Frankreich - zu destruieren sucht. Insofern identifiziert Brecht nicht ohne Grund den Autor Lessing mit einer Neuetablierung des aristotelischen' Theaters. D o c h was Lessing an ,epischen' Zügen im attischen Drama, nicht nur bei Euripides, 1 6 7 hatte aufschließen helfen, konnte ihn bei seinen argumentativen Hauptzielen nicht ernstlich interessieren. Mit Emilia Galotti (1772) hat Lessing im Gegensatz zu Johann Elias Schlegel und Christian Felix Weiße und manchem anderen Zeitgenossen (wie Johann Friedrich von Cronegk oder auch Wieland) die Mythen der attischen Tragiker entschlossen in Distanz gelassen. Auch wenn die glänzendste, die scharfsichtigste und zugleich leidenschaftlichste Figur des Stücks, Orsina, ohne die — über Marwood führende — Medea-Genealogie nicht zu denken ist (mit dem Kulminationspunkt in IV, 7 ) , 1 6 8 so liegt doch der genetische nucleus nicht in einem griechischen Mythos, sondern in einer wesentlich durch Livius überlieferten römischen „fabula". 1 6 9 Aber gerade indem Lessing seinen eigenen, nicht mythenadaptativen Weg geht, indem er das Heterogene zu einem neuen Dritten integriert, indem er als „Shakespeare-Lessing" (wie ihn der Freund Ebert begeistert tituliert) 1 7 0 das Erschütternde und das Lächerliche verschränkt, 171 indem er Heroisches (auch A n tikes) zitiert und für die aktuell kritische Intention funktionalisiert, schafft er das unverwechselbar ,moderne' Muster. Es kann kein Zweifel sein, daß ihm bei diesem Text, der das „Traurige" wiederholt ins Komische kippen läßt, der mit Orsina eine „Philosophinn" exponiert 1 7 2 , der einzelne Figuren auch „schwatzhaft" auf-

Hierzu Jens 1983, passim. Barner 1973, 7 6 - 8 2 . Anders akzentuierend Ter-Nedden 1986, 2 1 5 - 2 2 8 (Alternative „Claudia oder Orsina"). 1 6 9 In dieser Form war die Virginia-Legende im 18. Jahrhundert Gymnasiallektüre (unabhängig davon, daß sie auch bei Dionysios von Halikarnass zu finden ist). 1 7 0 Johann Arnold Ebert am 14. März 1772 an Lessing über die Uraufführung in Braunschweig (an der Lessing wegen angeblicher Zahnschmerzen nicht teilgenommen hatte): Lessing 1968, Bd. 20, 151; Lessing 1985, Bd. 11/2, 377. 1 7 1 Müller 1972; Barner 1983, 9 4 - 1 0 0 . 1 7 2 So Marinelli spöttisch in IV 3S: Lessing 1968, Bd. 2, 428. 167

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treten läßt, der endlich mit e i n e m k o m p l i z i e r t , o f f e n e n ' Schluß irritiert — daß i h m hier unter den attischen Tragikern Euripides der eigentlich Wahlverwandte ist. N i c h t ,Einflüsse' sind dabei von Belang, sondern die E r f a h r u n g einer Möglichkeit von Tragödie, das Modellhafte an Euripides, d e m er sich von der f r ü h e n SenecaA b h a n d l u n g über E x p e r i m e n t e wie den Alcibiades bis zur Hamburgischen Dramaturgie in i m m e r n e u e n Schüben näherte: bald philologisch-gelehrt, bald die Texte in die m o d e r n e B ü h n e hineindenkend, bald dramenproduktiv das eigene Andere i m „Alten" spiegelnd. R e c h n e t m a n das T h e m a „Lessing u n d die griechische Tragödie" sozusagen nach d e m Q u a n t u m der Wirkungsmächtigkeit durch, so m a g die Hamburgische Dramaturgie mit ihrer R e i z - A u t o r i t ä t Aristoteles klar im Vordergrund stehen. Aber nicht nur sind dort die Sicherheit u n d die Ingeniosität des Lessingschen A r g u m e n tierens mit seiner Tragiker-Erfahrung o h n e die (bisher meist wenig beachteten) verschlungenen Voraus-Wege k a u m zu denken. Diese Wege selbst, u n d was dabei an N o t i z e n w i e an zuende gebrachten Texten herausgekommen ist, sind nicht selten verwirrend; sie sind jedenfalls in der Geschichte der deutschen Literatur von e i n e m einzigartigen, produktiven Perspektivenreichtum. Lessing hätte vielleicht zugestimmt, w e n n m a n die These vertreten hätte, daß er mit seinem ,modernsten' Drama, seinem zweiten bürgerlichen Trauerspiel, schließlich den ,Alten' am nächsten gewesen ist: mit d e m in seinem Sinne „griechisch regelmäßig e n " Stück.

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Barner 1983

Barner 1987 Barner 1988 Barner 1989

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THOMAS GELZER

Goethes Helena und das Vorbild des Euripides Bewundert viel und viel gescholten Helena . . .

Die Helena, der Kern u n d das Z e n t r u m , von dem aus Goethe den ganzen zweiten Teil des Faust entwickelt hat, ist eines der Musterbeispiele der Aneignung u n d zugleich der Transformation der griechischen Tragödie in der deutschen Literatur. Hier wollen wir die Helena unter d e m Gesichtspunkt der zwei von H e r r n Flashar für dieses Colloquium formulierten Fragestellungen betrachten: Idee u n d Transformation der Tragödie, in diesem Fall in erster Linie im Hinblick auf die Transformation anhand einiger ausgewählter Beispiele, und erst an zweiter Stelle auf die Idee der Tragödie. Was die Tragödie betrifft, n i m m t in der Helena von den drei Großen Euripides eindeutig den ersten Platz ein. Die Verwendung der tragischen Vorbilder in der Helena läßt sich an seinem Beipiel am besten beobachten. Wir können uns deshalb im wesentlichen auf diesen einen Tragiker konzentrieren. Die Transformation dagegen ist ein viel umfassenderes Phänomen. Sie betrifft durchaus nicht nur die Tragödie. Ihr Sinn und ihre Bedeutung hängen ab von den unterschiedlichen Bedingungen und Zielsetzungen ihrer A n w e n d u n g im Kontext jedes Werks. Im Hinblick auf die Helena haben sich diese Bedingungen im Verlauf einer langen Zeit in mehreren Etappen grundlegend gewandelt. 1 Auch von den früheren Stufen sind in der endgültigen Fassung Spuren geblieben. Die spezifischen Voraussetzungen für die Transformation in der Helena sind also nur zu verstehen, wenn man berücksichtigt, unter welchen Umständen sie entstanden ist, und welche Entwicklungen dahin geführt haben. Goethe war sich dessen bewußt. „Naturu n d Kunstwerke lernt man nicht kennen, wenn sie fertig sind; man m u ß sie im Entstehen aufhaschen, u m sie einigermaßen zu begreifen." 2 Bevor wir an die Beobachtung der Transformation in der endgültigen Fassung der Helena gehen, wollen wir deshalb einigen der davor stehenden Veränderungen nachgehen, die für unsere Fragestellung von Bedeutung sind.

1 Zu den Etappen der Entstehungsgeschichte des Helena-Aktes s. Bohnenkamp 532-537. 2 Zitiert nach Lebede 1912, „Einleitung".

1994,

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T h o m a s Geizer

Goethe hat sich dazu mehrfach geäußert. In dem unmittelbar nach ihrem Abschluß formulierten Entwurf zu einer Ankündigung erklärt er zum Anlaß und zur Vorgeschichte der Vollendung der Helena (10.6. 1826): 3 „Dieses Zwischenspiel war gleich bei der ersten Conception des Ganzen o h n e Weiteres bestimmt u n d von Zeit zu Zeit an die Entwicklung u n d Ausfuhrung gedacht, worüber ich j e doch kaum Rechenschaft geben könnte. 4 N u r bemerke ich, daß in der Schillerschen Correspondenz vom Jahr 1800 dieser Arbeit als einer ernstlich vorgenomm e n e n Erwähnung geschieht; wobei ich mich denn gar wohl erinnere, daß von Zeit zu Zeit, auf des Freundes Betrieb, wieder Hand daran gelegt wurde, auch die lange Zeit her wie gar manches Andere, was ich früher u n t e r n o m m e n , wieder in's Gedächtnis gerufen ward. Bei der U n t e r n e h m u n g der vollständigen Ausgabe meiner Werke 5 ward auch dieses wohlverwahrte Manuskript 6 wieder vorgenomm e n u n d mit neu belebtem M u t e dieses Zwischenspiel zu Ende geführt." Als er 1825 die Helena wieder hervorholte, erinnerte er sich nicht mehr genau daran, was er damals vor 25 Jahren damit gewollt hatte. Das fand er dann nach u n d nach wieder im Briefwechsel mit Schiller, auf den er nun immer wieder verweist. In der Rückschau wurde er auch der Transformationen gewahr, welche die Helena in den Metamorphosen der langen Zeit ihrer Genese durchgemacht hatte, bis sie zuletzt zu einem lebendigen Ganzen besonderer Art wurde (an Nees von Esenbeck, 25.2. 1827): „Wie ich im Stillen langmütig einhergehe, werden Sie an der dreitausendjährigen Helena sehen, der ich nun auch schon sechzig Jahre nachschleiche, u m ihr einigermaßen etwas abzugewinnen . . . Es liegen so manche Dinge, die ich selbst wert achten muß, weil sie sich aus einer Zeit herschreiben, die nicht wiederkommt, lange Jahre vor mir da u n d bedürfen eigentlich nur einer gewissen genialen Redaktion. Vollständige Plane, schematisch aufgestellt, Einzelnes aufgearbeitet: und es k o m m t nur auf einen reinen genialen Entschluß an, so ist es als eine Art von Ganzem brauchbar u n d gewiß manchem angenehm. So habe ich voriges Jahr mit einem gewaltsamen Anlauf die Helena endlich zum

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Vgl. an Zelter, 3 . 6 . 1826: „daß . . . ich die Vorarbeiten eines b e d e u t e n d e n Werks (sc. der Helena), nicht in der Ausdehnung, sondern in der Eindichtung, wieder v o r g e n o m m e n habe, das seit Schillers Tod nicht wieder angesehen worden, auch wohl o h n e den jetzigen Anlaß in limbo patrum geblieben wäre." 4 Vgl. dazu unten A n m . 11. 5 B e q u e m e r Uberblick über diese von langer H a n d vorbereitete U n t e r n e h m u n g in der Zeittafel von H . Nicolai, H A 14, 3 6 8 - 5 3 4 , dort 503 ff. Pro memoria: 1822 (nach früheren Vorarbeiten) Beginn der Planung zur Ausgabe letzter H a n d sowie der Sammlung, O r d u n g u n d Katalogisier u n g sämtlicher gedruckten u n d ungedruckten Werke, Handschriften, Tagebücher, Briefe etc., W i e d e r a u f n a h m e der Tag- und Jahreshefte. R e d a k t i o n des Briefwechsels mit Schiller energisch vorangetrieben 1824 (Arbeiten für einen geplanten Kommentar) u n d 1825. 1825 Beginn der R e d a k t i o n der Gedichtbände mit Göttlings Hilfe (darunter des Divatt mit neuen Gedichten von 1826), u n d fortan weiterer Bände für die Ausgabe letzter Hand. 6 S. unten A n m . 23.

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übereinstimmenden Leben gebracht. W i e vielfach hatte sich diese in langen, kaum übersehbaren Jahren gestaltet und umgestaltet. Nun mag sie im Zeitmoment solidesziert endlich verharren." Die Erinnerung an j e n e Zeit 7 ruft er in Humboldt wach, den er zugleich auf den Ursprung hinweist, von dem die Transformationen ihren Ausgang nahmen (22.10. 1826): 8 „Erinnern Sie sich wohl noch, mein Teuerster, einer dramatischen Helena, die im zweiten Teile von Faust erscheinen sollte? Aus Schillers Briefen vom Anfang des Jahrhunderts sehe ich, daß ich ihm den Anfang vorzeigte, auch daß er mich zur Fortsetzung treulich ermahnte. Es ist eine meiner ältesten Konzeptionen, sie ruht auf der Puppenspiel-Uberlieferung, daß Faust den Mephistopheles genötigt, ihm die Helena zum Beilager heranzuschaffen." „Ein solches bedeutendes Motiv in unserer Ausführung nicht zu versäumen war uns Pflicht." 9 Es war j a auch nicht selbstverständlich, daß er den ganzen Faust II mit diesem Zwischenspiel begann. Gerade damit aber erhielt Euripides seine hervorragende Stellung im Ganzen. Goethe hatte wohl von Anfang an vorgehabt, die Geschichte des Faust bis zu dessen Ende darzustellen. 10 Schon früh hatte er auch verschiedene Pläne gemacht zur Darstellung seiner Begegnung mit Helena. 1 1 Der Entwurf zur Helena von 1800, über den auch wir das meiste aus dem Briefwechsel mit Schiller erfahren, 1 2 geht von einer in mehrfacher Hinsicht ganz neuen Konzeption aus. Er fällt in die Zeit des Weimarer Hochklassizismus und gehört in den Zusammenhang der praktischen Versuche mit dem antiken Theater. 1 3 Damit ist auch ein entscheidender Unterschied der Konzeption gegenüber der endgültigen Fassung von 1826 gegeben. Die Helena von 1800 war nicht als Lese-Drama, sondern im Hinblick auf die Auffuhrung auf der Bühne konzipiert. Mit ihr setzte Goethe den zweiten Teil des Faust ab von dem „Hexenprodukt" des ersten. 14 Hier kommt Euripides

7 „Die Anfänge gehen noch bis zu Schillers Zeiten zurück, und Goethe rühmte noch spät, daß ihm das Glück zu Teil geworden, eine große Stelle der Helena Schillern noch vorlesen zu können." Eckermann, 12.3. 1826. Zur Wirkung der Vorlesung auf Schiller s. unten Anm. 27. 8 Vgl. auch an Boisseree, 2 2 . 1 0 . 1826. 9 Antecedentien, 15.-17.12. 1826, Bohnenkamp 1994, 4 3 3 - 4 5 4 (= Graf 1904, Nr. 1434). 1 0 S. dazu Bohnenkamp 1994, 91 ff. 11 Zu dem alten Plan, den Goethe erst 1816 aus der Erinnerung zur (dann aber doch unterbliebenen) Verwendung in Dichtung und Wahrheit notierte, und zu den Problemen, die sich daraus ergeben, s. Bohnenkamp 1994, 274 ff. 1 2 Am 2 . 9 . 1800 besprach er das Projekt mit Schiller in Weimar; 12.9. erster Bericht an Schiller; am 21.9. las er Schiller und Meyer den Prolog in Jena vor; 26.9. Abschluß der Arbeit an der Helena mit Abschrift dessen, was bis dahin ausgearbeitet war; 18.11. letzte Erwähnung der Helena. 1 3 S. dazu Flashar 1991, 4 9 - 5 9 ; Petersen 1974, 91 ff. Zu den praktischen' Folgen, die sich an den nicht zu Ende geführten Versuch mit der Helena anschlössen, s. unten Anm. 27, zum LeseDrama von 1826 unten Anm. 40. 43. 1 4 An Cotta, 2. 1. 1799: „Mein Faust ist zwar im vorigen Jahr ziemlich vorgerückt, doch wüßte ich bei dem Hexenprodukt die Zeit der Reife nicht voraus zu sagen." S. Bohnenkamp 1994, 533.

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z u m ersten Mal ins Spiel. G o e t h e u n d Schiller hatten sich vorher schon mehrmals eingehend mit i h m beschäftigt. 1 5 Er verleiht der Helena die erhabene Schönheit der griechischen Tragödie. 1 6 Das Problem war, diese Schönheit in den Faust einzubringen. D a r ü b e r berichtet G o e t h e an Schiller (12.9. 1800): „Glücklicherweise k o n n t e ich diese acht Tage die Situationen festhalten, von denen Sie wissen, u n d m e i n e Helena ist wirklich aufgetreten. N u n zieht m i c h aber das Schöne in der Lage m e i n e r Heldin so sehr an, daß es m i c h betrübt, w e n n ich es zunächst in eine Fratze verwandeln soll. Wirklich fühle ich nicht geringe Lust eine ernsthafte Tragödie auf das Angefangene zu g r ü n d e n ; 1 7 allein ich werde m i c h h ü t e n die Obliegenheiten zu v e r m e h r e n , deren k ü m m e r l i c h e Erfüllung o h n e h i n schon die Freude des Lebens w e g z e h r t . " Helena, die schönste der G r i e c h i n n e n , die schon in der alten Faustlegende vorgegeben war, erscheint hier transformiert in eine Euripideische Heroine, mit den iambischen T r i m e t e r n u n d mit einem Chorlied in antiken F o r m e n , die G o e t h e damit z u m ersten Mal ausprobierte. 1 8 K ü h n e r u n d schwieriger war indes die Transformation, die es i h m ermöglichte, Mephisto mit Helena z u s a m m e n z u b r i n g e n zur A u s f ü h r u n g von Fausts Auftrag, i h m die griechische Schönheit heranzuschaffen im R a h m e n eines Dramas in antiken F o r m e n : die Verwandlung des Mephisto in die Phorkyas. G o e t h e hatte die Konfrontation der Phorkyas mit Helena nicht als Tragödie, sondern als Satyrisches D r a m a konzipiert, 1 9 nach d e m Muster von Euripides' Kyklops.20 M i t d e m Eintritt der Phorkyas in die H a n d l u n g wechselt der Ton erstmals ins Satyrspielhafte. D i e Gestalt des

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S. Petersen 1974, 71 ff. S. dazu Schiller unten A n m . 27. 17 D. h. auf den angefangenen Prolog; zur erwogenen, aber nicht ausgeführten Tragödie s. unten A n m . 125. 18 G o e t h e war dazu offenbar angeregt durch Gottfried H e r m a n n , den führenden Metriker j e n e r Zeit, dessen H a n d b ü c h e r er besaß (De metris poetarum Graecorum et Romanorum, 1796; R u p p e r t 1958, 676; Handbuch der Metrik, 1799; R u p p e r t 1958, 675). Er hatte H e r m a n n am 7. Mai 1800 in Leipzig besucht u n d mit i h m die später b e r ü h m t gewordene Unterhaltung über Prosodie u n d R h y t h m i k geführt. Er forderte H e r m a n n auf, auch eine deutsche Metrik zu schreiben, was dieser ablehnte mit d e m Bedenken, es sei Goethes Aufgabe, die deutsche Metrik zu schaffen. Bei derselben Gelegenheit pries Goethe lebhaft Euripides, während H e r m a n n Aeschylus u n d Sophokles vorzog. Daran erinnerte ihn H . später noch zweimal: in d e m Brief, mit d e m er i h m für den Phaethon dankte (10.4. 1823) u n d öffentlich in der praefatio der G o e t h e gewidm e t e n Iphigenia in Aulide (1831); s. dazu Geizer 1995. 19 Vgl. Schillers Antwort, v o m 13.9. 1800, u n d Goethes R ü c k a n w o r t : „ D e r Trost, den Sie mir in ihrem Briefe geben, daß durch die Verbindung des R e i n e n u n d Abenteuerlichen ein nicht ganz verwerfliches poetisches U n g e h e u e r entstehen könnte (sc. ein Satyrisches Drama), hat sich durch die Erfahrung schon an mir bestätigt, indem aus dieser Amalgamation seltsame Erscheinungen, an denen ich selbst einiges Gefallen habe, hervortreten. M i c h verlangt zu erfahren, wie es in vierzehn Tagen aussehen wird. Leider haben diese Erscheinungen eine so große Breite als Tiefe, u n d sie w ü r d e n mich eigentlich glücklich machen, w e n n ich ein ruhiges halbes Jahr vor mir sehen k ö n n t e . " 20 S. dazu Petersen 1974, 9 3 f f ; B o h n e n k a m p 1994, 568ff. 16

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Mephisto ist damit so stark transformiert, daß Goethe, um sicherzustellen, daß der Leser versteht, wen die Phorkyas darstellt, sich noch in der endgültigen Fassung genötigt fühlte 21 zu einer nach dem Schluß angehängten außerszenischen Erklärung: 22 „Der Vorhang fällt. Phorkyas im Proszenium richtet sich riesenhaft auf, tritt aber von den Kothurnen herunter, lehnt Maske und Schleier zurück und zeigt sich als Mephistopheles, um, insofern es nötig wäre, im Epilog das Stück zu kommentieren." Der Entwurf wurde abgelegt unter dem Titel Helena im Mittelalter. Satyrisches Drama. Episode zu Faust. Concept.23 Das heißt: Helena glaubt nur vor dem Palast des Menelas in Sparta aufzutreten; in Wirklichkeit ist sie aber zu Faust nach Deutschland im Mittelalter versetzt. Faust ist in dem Entwurf noch gar nicht erwähnt. Goethe war mit der Bearbeitung dieser Episode in Probleme der Fortsetzung des Faust vorgestoßen, für die er damals nach Lösungen suchte, die er aber noch nicht gefunden hatte. In den Faustbüchern und im Puppenspiel führt die Vereinigung mit Helena zu Fausts Untergang und zur ewigen Verdammnis in der Hölle. 24 Goethe hatte aber mit seinem Faust ganz anderes im Sinne. 25 Es ist also auch kaum anzunehmen, daß er mit der Helena Fausts Ende in der Hölle vorzubereiten gedachte. Zu dieser Zeit war er noch nicht einmal sicher, ob und wie er den Faust / vollenden könne. Wenig später schrieb er an Cotta (17.11. 1800): 26 „Was den Faust betrifft, so ergeht es mir damit wie es uns oft bei Reisen geht, daß sich die Gegenstände weiter zu entfernen scheinen, je weiter man vorrückt. Es ist zwar dieses halbe Jahr über manches und nicht unbedeutendes geschehen; ich sehe aber noch nicht, daß sich eine erfreuliche Vollendung so bald hoffen läßt." Im Hinblick auf den Faust blieb die Episode damals sozusagen im leeren Raum hängen, und Goethe ließ sie 25 Jahre unbenützt liegen. Aber dieser erste exploratorische Versuch, das Vorbild des Euripides und die Verse des griechischen

21 Z u Goethes Abneigung dagegen, in den Text des Faust II solche prosaischen Erklärungen einzufügen, s. an R i e m e r , 2 9 . 1 2 . 1827. 22 Szenenbemerkung nach 10038 (s. unten A n m . 132. 136); der Epilog wurde nicht ausgeführt, B o h n e n k a m p 1994, 625 ff. Der zweite Akt mit der Erklärung der H e r k u n f t der Maske (7967-8033) stand bei der ersten gesonderten Publikation der Helena dem Leser noch nicht zur Verfugung. 23 Die Hs. III H l v o m 26.9. 1800, bei B o h n e n k a m p 1994, 5 5 4 - 5 6 9 , mit Kommentar. D e r Titel sagt m e h r aus über Goethes Konzeption als, was aus d e m erhaltenen E n t w u r f selber hervorgeht. Es wäre interessant zu wissen, was er darüber Schiller, der ihn ja ständig zur Fortsetzung des Faust drängte, im mündlichen Gespräch mitteilte. W i r haben nur noch die Briefe, aus denen immerhin hervorgeht, daß Schiller von Anfang an in Goethes Absichten eingeweiht war. 24 S. die Texte bei Schöne 1994, 181 ff. 384. 578 f. 25 Vermutlich u m 1800 entstand der Prolog im Himmel; s. dazu Schöne 1994, 1 6 2 f f ; die Sphärenharmonie im Kosmos (243-258) nach Plato, Rep. 6 1 6 b - 6 1 7 b ; zu Plato und Bibel s. G r u m a c h 1949, 786 f. 26 S. dazu B o h n e n k a m p 1994, 99 ff. D e n Faust I zu vollenden gelang i h m erst sechs Jahre später. 13.4. 1806: „Schluß von Fausts 1. Teil"; gedruckt 1808.

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Dramas über die dichtungstheoretische Diskussion hinaus flir die Praxis der Neuschöpfung fruchtbar zu machen, war zugleich eine Pioniertat, die Goethe und Schiller unabsehbare neue Bereiche erschloß. 27 Im Verlauf des nächsten Jahrzehnts wandelte sich Goethes Verständnis der Griechen und ihrer Literatur im lebhaften Kontakt mit den fuhrenden Vertretern der kritisch-historischen Philologie und deren Schülern, die er in seine Umgebung nach Weimar und Jena zog. 28 Er beanspruchte ihre Kenntnis der griechischen Sprache und Verse und der Philologie als Wissenschaft für seine Zwecke. 29 Von größter Bedeutung für seine erneute Zuwendung zur griechischen Tragödie, zumal zur intensiven Auseinandersetzung mit Euripides, wurden die Arbeiten, die er seit 1820 von Gottfried Hermann erhielt. 30 Hermanns Programme und Ausgaben regten Goethe zu einem produktiven Verhalten an, 31 dessen Ergebnisse er in zahlreichen Aufsätzen publizierte, darunter den mit der Hilfe der Philologen Friedrich Wilhelm Riemer und Karl Göttling rekonstruierten Phaethon und die Ubersetzung aus den Bacchae, die ihn bis in die Zeit, als er die Helena ausarbeitete, zu wiederholter Weiterarbeit an den Texten des bewunderten Dichters begeisterten. 32 Man sieht, wie jetzt die Linien zusammenlaufen und sich etwas Neues vorbereitet. Durch einen neuen „Commentar über den Faust" wurde er am 24. Februar 1825 wieder auf den Faust hingewiesen. 33 Als er in den folgenden Tagen die alten

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G o e t h e war jetzt so vertraut im U m g a n g mit diesen Versen u n d mit Euripides, daß er für eine wirkliche A u f f u h r u n g (vgl. oben A n m . 13) im O k t o b e r das inhaltlich u n d formal pogrammatische Festspiel Paläophron und Neoterpe in zwei Tagen aus dem Stegreif improvisieren konnte (mit iambischen Trimetern, Stichomythie, Masken und Euripideischen Handlungsmotiven); s. dazu E. Trunz, H A 5, 504ff.; Petersen 1974, 143. Die Vorlesung des Prologs am 21.9. 1800 hatte Schiller „mit einem großen u n d v o r n e h m e n Eindruck hinterlassen, der h o h e edle Geist der alten Tragödie w e h t einem aus d e m M o n o l o g entgegen." Er w u r d e dadurch auf den iambischen Trimeter aufmerksam u n d bat Goethe u m philologische Beratung (Goethe ließ i h m u.a. H e r m a n n s De metris geben, s. oben A n m . 18), später dann angeregt zur D i c h t u n g der Braut von Messina; s. dazu Petersen 1974, 116 ff. 128 ff. 28 S. dazu Petersen 1974, 160 ff. 29 Z . B . R i e m e r s Hilfe bei der Revision von Hermann und Dorothea, Paläophron und Neoterpe etc. für die erste Cotta-Ausgabe von 1806-1808, u n d nicht nur flir die Dichtung, sondern z.B. auch für die Geschichte der Farbenlehre. 30 G o e t h e hatte H e r m a n n einmal am 7.5. 1800 in Leipzig besucht (s. dazu oben A n m . 18, dort auch die H a n d b ü c h e r der Metrik), dann erst im Mai 1820 wieder in Karlsbad getroffen. H e r m a n n s zahlreiche Programmschriften von 1820—1830 sind teilweise in Sammelbänden in Goethes Bibliothek ( R u p p e r t 673. 674. 687. 1230. 1231. 1251. 1253. 1258), Euripides Bacchae (1823; R u p p e r t 1260), Iph. Aul. G o e t h e gewidmet (1831; R u p p e r t 1261). 31 S. dazu Petersen 1974, 166ff. 173ff. 1 9 6 f f , zu Goethes eigener philologischer Arbeit mit dem griechischen Text des Phaethon u n d zu seinen Korrekturen von Göttlings Ubersetzung 185 f. 32 S. G r u m a c h 1949, 274-298; Petersen 1974, 173ff. 196ff. 33 „Abends . . . Prof. Hinrichs zu Halle C o m m e n t a r über Faust" (Hinrichs 1825).

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Papiere zum Faust II wieder ansah, wußte er noch nicht, was daraus werden sollte. Zunächst beschäftigte ihn Fausts Ende. Erst nach mehr als zwei Wochen zog er auch die wohlverwahrte Helena wieder hervor und fand das Fragment des Anfangs, das er mit Schillers Beratung und Ermutigung ausgearbeitet hatte. Daran nahm er die Arbeit wieder auf, wo er sie 1800 hatte liegen lassen. Er führte die Konfrontation mit der Phorkyas nach dem alten Plan weiter bis kurz vor den Eintritt des Faust in die Handlung. Zugleich begann aber auch das Neue, das er sich inzwischen angeeignet hatte, seine Wirkung zu entfalten. Sichtbar treten sogleich die mit der neuen belebenden Anregung durch Euripides verbundenen Ansprüche philologischer Kennerschaft in Erscheinung. Vom Beginn der neuen Arbeit an verwendete er größte Energie und Sorgfalt darauf, mit Riemers Hilfe die Sprechverse und die Chorlieder musterhaft dem „Sylbenmaß" der griechischen Vorbilder nachzuformen. 34 Die erneute Begegnung mit der Helena faszinierte ihn derartig, daß er nun dabei blieb und vor den übrigen Teilen der Geschichte des Faust in erster Linie ihre Vollendung betrieb. Das Ziel konnte er in diesem ersten Anlauf noch nicht erreichen. Schon am 5. April brach er die Arbeit wieder ab. Er diktierte eine schematische Skizze der Fortsetzung, in der er zusammenfaßte, was er bis jetzt dafür bereitgestellt hatte. Aber für das Hauptproblem hatte er noch keine Lösung gefunden. Er sah noch nicht klar, wie er die Vereinigung Fausts mit Helena und ihre Folgen darstellen wollte, und welche Bedeutung der erste Teil mit dem Auftritt der Helena und der Phorkyas in der Verbindung mit den neuen Teilen erhalten sollte. Dazu brauchte er noch ein weiteres Jahr. Im Sommer und Herbst dokumentierte er sich anhand einer größeren Anzahl von Werken aus der Weimarer Bibliothek zur Geschichte, zur Topographie, zur Landschaft und zu den Kunstwerken Griechenlands. In der letzten Phase der Vorbereitung, von Januar bis Anfang April 1826, scheint er die leitenden Ideen gefunden zu haben, die zur entscheidenden Klärung der Konzeption für die endgültige Ausführung führten. In unglaublich konzentrierter Arbeit gelang es ihm dann in jenem gewaltsamen Anlauf, in kaum mehr als drei Monaten das Ganze zu vollenden. Ein grundlegender Wandel der Konzeption zeigt sich damit an, daß jetzt Faust zu Helena in Griechenland versetzt wird, nicht mehr, wie nach dem alten Plan, Helena zu Faust in Deutschland: „Gegenwärtig ist genug, wenn man zugibt, daß die wahre Helena auf antik-tragischem Kothurn vor ihrer Urwohnung zu Sparta auftreten

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Die Zusammenarbeit kann gut beobachtet werden anhand der erhaltenen Arbeitspapiere. Riemer notierte z. B. zu den Chorliedern prosodische Zeichen und metrische Analysen wie ,versus aeolici', ,versus logaoedici'; s. dazu Fischer-Lambert 1955, 83 ff. Goethe ließ die fertige Helena dann auch noch durch Göttling auf „das eigentlich Fehlerhafte der reimlos rhythmischen Stellen" hin kontrollieren, die er mit R i e m e r durchgegangen hatte, „bis wir müde wurden", an Göttling, 30.9. 1826.

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könne." Zu ihnen versetzt er noch eine zweite transformierte Gestalt, den in ihren gemeinsamen Sohn Euphorion transformierten „Repräsentanten der neuesten poetischen Zeit" Byron. 3 6 So stellt er dem Altertum das Mittelalter und die Neuzeit bis in die Gegenwart an die Seite. Alle drei Zeitalter sind untereinander verbunden durch die Gestalt der Helena in einer Handlung, die in drei sehr verschiedenartigen ,Akten' verläuft: 37 im ersten die Konfrontation mit der Phorkyas „Vor dem Palaste des Menelas zu Sparta", im zweiten, „Innerer B u r g h o f , die Vereinigung mit Faust vor der Fassade der mittelalterlichen Burg zu Mistra, im dritten das Leben des E u p h o r i o n von der Geburt bis zur Katastrophe seines Todes in „Arkadien". Dabei stellt er im zweiten u n d im dritten Akt den nach antikem Muster gebildeten Formen nicht-antike Vers- und Strophenformen gegenüber. In einer besonderen Weise weicht von allem Übrigen der „moderne, romantische Teil" der „ O p e r " 3 8 ab (9679-9938), in dem die Katastrophe des Repräsentanten der neuesten poetischen Zeit dargestellt ist. Gedacht ist dieser Teil nicht etwa als ein ,Singspiel' mit gesprochenen Dialogen u n d eingelegten Gesangsnummern, sondern als eine ,große Oper' o h n e gesprochenen Dialog. 3 9 Da stellt sich denn die Frage, wie wir als Leser diese O p e r in unsere Betrachtung einbeziehen können. In den zahlreichen Lese-Anweisungen zur Aneignung der Helena, die Goethe seinen Freunden gibt, ist nirgends von Gesang die R e d e , und er ließ auch zu, daß sie v o m Rezitator Holtei vorgelesen wurde. 4 0 Das heißt: Als O p e r „auf dem Theater gedacht" 4 1 gehört sie zur Textsorte ,Opern-Libretto'. Als solches soll der Leser den „opernartigen" Teil verstehen. 4 2

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Ankündigung, publiziert in: Kunst und Altertum VI, 1 (1827). E c k e r m a n n 5.7. 1827. 37 S. dazu Goethe, Euripides' Phaethon (GA 14, 681): „ . . . am E n d e des vorletzten Akts, u m nach unserer Theatersprache zu sprechen . . . " . 38 Eckermann, 25.1. 1827, dort auch zur W i r k u n g , die sich G o e t h e davon verspricht; vgl. auch 16.4. 1827. Z u r Idee, eine O p e r in das Drama aufzunehmen, k ö n n t e er durch eine ästhetische Erwägung Schillers angeregt worden sein, s. Schiller an Goethe, 29.12. 1797, u n d Goethes Antwort, 30.12. 1797. 39 ,Grand opéra' mit Ensembles, Terzetten, Duetten, Soli, C h o r - , Orchester-, u n d TanzN u m m e r n , W i r k u n g durch „ M e l o d i e " u n d „Bewegung" 9747f., während der Ouverture (9679-9694) zieht Mephisto, der nicht mitsingt, sich zurück. Goethe denkt an Meyerbeer (Ekkermann, 25.1. 1827). Seine Vorstellung von einer m o d e r n e n O p e r mit antikem Sujet legt er ausführlich dar in d e m sehr lobenden Gutachten v o m 2 0 . 2 . 1832 zum Libretto fur Die Athenerinnen. Große Oper, Poesie von Jouy, Musik von Spontini (GA 14, 143-150). Die B e m e r k u n g e n zur Eignung u n d speziellen Verwendung des Mythos für diese O p e r geben manche Hinweise darauf, wie er sich wohl auch die O p e r in der Helena gedacht hat. 40 A m 29.2. 1828. M a n w ü ß t e gerne, wie Holtei sich aus der Affäre gezogen hat bei den Versen 9 7 3 7 - 9 7 4 2 . 9785-9789, w o Helena u n d Faust, u n d 9819 f. 9891 f., w o dazu noch der C h o r miteinander .singen'. G o e t h e hat der Vorlesung nicht beigewohnt, wie auch keiner der A u f f ü h r u n g e n seines Faust I in Braunschweig, Berlin und Weimar. Vgl. auch unten A n m . 133 zu Shakespeare. 41 Eckermann, 25.1. 1827. 42 Eckermann, 18.4. 1827. 36

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Die Transformation des Euripides hat in der endgültigen Fassung der Helena gegenüber dem Entwurf zu einem klassizistischen Drama von 1800, das auch nicht als Lese-Drama konzipiert war, eine weitgehend veränderte Funktion erhalten. Sie ist eingebunden in Bezüge, die ihr eine neue Bedeutung geben. Ihr Sinn im Zusammenhang des Ganzen kann nur auf einer höheren Ebene verstanden werden. U m dahin zu gelangen erwartet Goethe eine aktive Mitarbeit des Lesers, der selber den hinter der Oberfläche der Darstellung verborgenen geheimeren Sinn herausfinden soll. Anleitung dazu gibt er in seinen Lese-Anweisungen. 43 Was er beim Leser an Bildung und Wissen voraussetzt, teilt er mit in seiner Zeitschrift Kunst und Altertum. Im ersten Heft des sechsten Bandes (Anfang Mai 1827) publizierte er zugleich mit der Ankündigung der Helena neunzehn einander gegenseitig ergänzende Aufsätze, die in sorgfältig vorbereiteter Zusammenstellung sein Bildungsprogramm der „Weltliteratur" repräsentieren. 44 Oft läßt sich auch erkennen, wie Goethe zu den neuen Lösungen in der Helena kam, wann und in welchem Zusammenhang gewisse Probleme auftauchten, wenn man berücksichtigt, womit er sich jeweils zur gleichen Zeit beschäftigte, 45 wobei dann der Funken vom einen zum anderen übersprang.

I. Zur Transformation Betrachten wir nun die Helena im Hinblick auf die Transformation des Euripides. Anhand einiger praktischer Beispiele möchte ich die Technik und den Sinn verschiedener Arten der Transformation zu veranschaulichen versuchen. Wir wollen sehen, was sich dabei zum Verständnis dieses Verfahrens auf den verschiedenen Ebenen der Darstellung ergibt. Goethe sagt nirgends direkt, weder von Euripides noch von einem anderen, welche Muster er in seine Darstellung einbezogen hat; aber er gibt deutliche Hinweise, die das erkennen lassen, so „wird dem Philologen nichts Geheimes bleiben, er wird sich vielmehr an dem wiederbelebten Altertum, das er schon kennt, ergötzen." 46 Unüberhörbare Hinweise gibt er mit den antiken Formen. Mit der ostentativen Annäherung an die antiken Vorbilder, denen sie nachgeformt sind, geben sie be-

43 S. besonders an Iken, 27.9. 1827; an Knebel, 14.11. 1827. D e r Sinn der Darstellung kann nur durch wiederholtes Lesen erkannt werden, bei d e m der Leser die Teile, ihre Bezüge u n d die verschiedenen Hinweise vorwärts und rückwärts miteinander vergleicht und daraus Folgen zieht, nicht bei einer A u f f ü h r u n g auf dem Theater, bei der der Zuschauer alles nur einmal hintereinander hört u n d sieht. 44 An Cotta, 26.1. 1827; s. dazu Strich 1950, 1027 ff. Z u r Idee der Weltliteratur seit dem 18.Jh. s. Tgahrt 1989, dort zu Goethe 3 4 3 - 4 4 0 und passim. 45 Das kann man jetzt b e q u e m verfolgen von Tag zu Tag bei R e i m a n n 1995; s. auch oben A n m . 5. 46 An Iken, 2 7 . 9 . 1 8 2 7 ; vgl. Eckermann, 2 5 . 1 . 1 8 2 7 : „die Philologen werden daran zu tun finden".

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sonders deutlich ihre Herkunft aus dem griechischen Drama zu erkennen, allen voran der iambische Trimeter, mit dem gleich der Prolog einsetzt, und die C h o r lieder. Darüber hinaus stellen nicht nur die Formen als solche den Bezug zu den antiken Mustern her, sondern sie evozieren mit ihrer entsprechenden Verwendung im Verlauf der Handlung zugleich die ihnen als Ausdrucksmittel für spezifische Inhalte zugehörigen Wirkungen, etwa in Kompositionen wie Stichomythien, oder im Wechsel von iambischen Trimetern und trochäischen Tetrametern. In Verbindung mit der in verschiedenen Situationen an verschiedene Arten dramatischer Vorbilder 47 angelehnten Gestaltung der Sprache präsentieren sie sich als fein differenzierte „Form-Zitate". 4 8 Im Gebrauch der antiken Formen wahrt sich Goethe aber auch eine beträchtliche Freiheit gegenüber der griechischen Tragödie. Das betrifft vor allem die Chorlieder sowie den dramatischen Einsatz des Chors. Es beginnt schon im Prolog. Ihn hat er ganz zuletzt noch durch drei Chorlieder unterbrochen. 4 9 Dann singt der Chor kein ,Einzugslied', sondern ein Lied vom Glück der heimgekehrten Helena (8610—8537) und gleich darauf als unmittelbares Gegenstück dazu eine abweisende Begrüßung der soeben aus dem Palast auftretenden Phorkyas (8697—8753). Mit dem nächsten Lied greift er schützend für die dahingesunkene Helena in den Dialog ein (8882—8908). Die Chorlieder, die an der Stelle von ,Stasima' zwischen den drei Akten stehen ( 9 0 7 8 - 9 1 2 1 . 9 6 2 9 - 9 6 7 8 ) , sind ebenfalls in die Handlung einbezogen. Im Gegensatz gerade zu Euripides, an dem er die Vernachlässigung des Chors kritisiert, 50 läßt Goethe den Chor selber mit einer wichtigen Entscheidung in seinem eigenen Interesse in die Handlung eingreifen. Er nötigt Helena zum Entschluß, der Phorkyas in die Burg des Faust zu folgen (9044ff. 9067ff.). Dazu gibt er ihm eine mit Namen benannte Chorführerin bei, 5 1 die nicht an seiner Stelle, sondern als .Vertraute' der Helena 5 2

4 7 Tragödie, Satyrspiel, Komödie; s. Petersen 1974, 9 4 f f . ; zur Herkunft des Vokabulars aus der Tradition der Tragikerübersetzung Petersen 1974, 4 4 ff. 4 8 S. dazu Schöne 1994, 5 8 0 ff. 4 9 8 5 1 6 - 8 5 2 3 . 8 5 6 0 - 8 5 6 7 . 8 5 9 1 - 8 6 0 3 , erst nach dem ersten „völligen Abschluß" der Helena (am 8. 6 . 1 8 2 6 ) zugedichtet. Sie bilden zusammen formal eine ,Triade'; aber Goethe braucht sie weniger aus ästhetischen Gründen als, um darin schon gleich am Anfang dem Leser Hinweise zu geben, worauf er zu achten hat (vgl. unten Anm. 109. 111). 5 0 An Zelter, 2 8 . 7 . 1803: D e r C h o r wird in der vierten Epoche der Tragödie „unnötig und also, in einem lebendigen poetischen Ganzen, gleich unnütz, lästig und zerstörend, z . B . wenn er Geheimnisse bewahren soll, an denen er kein Interesse hat. Mehrere Beispiele finden sich in den Stücken des Euripides, wovon ich Helena und Iphigenie auf Tauris nenne." Das war wohl einer der Hauptgründe, warum er die Helena dramatisch als schlechtes Stück beurteilte; s. dazu das Gespräch mit Göttling vom 3 . 3 . 1832.

„ P A N T H A L I S als Chorfiihrerin"; der N a m e nach Polygnot; s. unten Anm. 61. 8 6 3 8 ff. 9 1 4 1 ff. 9 9 6 2 ff. Als treue alte Dienerin ( 8 7 8 4 - 8 7 9 5 ) ist sie eine Kontrastfigur zur ,Schaffnerin' Phorkyas (8551. 8 6 7 2 . 8 6 7 9 . 8 8 6 4 f . ) . 51

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gelegentlich auch gegen ihn spricht. Das kommt in der antiken Tragödie so nicht vor. Eine Reihe deutlicher Hinweise auf Euripides findet sich dazu auf einer anderen Ebene der Gestaltung: die Euripideischen Handlungsmotive. Ich greife einige der auffälligsten Beispiele heraus. Nach langer Irrfahrt von Troja nach Hause zurückgekehrt, wird Helena von Menelaos zum Palast vorausgeschickt (8524 ff.) wie im Orestes.54 Mit ihr kommt ein Chor von gefangenen trojanischen Mädchen. Vor solchen tritt sie in den Troades auf. Dazu ist sie wie die Helena in den Troades55 schon gleich bei der Ankunft zu Hause von Menelaos mit dem Tode bedroht (8528ff. 8579 ff. 8920 ff.). Ihrer Bedrohung drinnen als Herrin des Palastes durch die Phorkyas (8664 ff. 8687 ff.) entspricht im Orestes ihre Bedrohung im Palast durch Orest und Pylades. 56 Dort wird sie gerettet, unsichtbar gemacht und entrückt durch Apollon. 57 Hier wird sie, unsichtbar im Nebel, entrückt in die Burg des Faust (9088 ff.). Hinter der Gestalt des Euphorion, seinem Aufstieg und Fall (9735 ff.), steht der Euripideische Phaethon.58 Nur auf ein Stück des Euripides wird aber der Leser direkt hingewiesen, auf die Helena (8872f.): D o c h sagt man, du erschienst ein doppelhaft Gebild, In Ilios gesehen und in Ägypten auch.

In der Helena findet er das Vorbild zur Frage nach Helenas Identität, das Phantommotiv und das Spiel mit dem „Idol" (8874-8881). 59 Der Euripideischen Helena entnimmt Goethe mit teilweise fast wörtlichem Zitat eine Reihe von Formulierungen zum Thema der mit der Schönheit schicksalshaft verbundenen ambivalenten Wirkungen und Gefährdungen, die er in seinem Sinne umbiegt. 60 Dafür eignet sich gerade dieses Stück aufgrund von Goethes Interpretation. Er versteht die Helena als grundsätzliche Rechtfertigung der umstrittenen Gestalt:61 „Außerordentliche Menschen als große Naturerscheinungen bleiben dem Patriotismus jedes Volkes immer heilig (vgl. 9522—9525). O b solche Phänomene genutzt oder geschadet, kommt nicht in Betracht. . . . So scheint auch den Griechen das Andenken seiner Helena entzückt zu haben. Und wenn gleich hie und da ein billiger

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8946-8953. 9127-9134. 9981-9984. Eur., Or. 53 ff. 55 Eur., Tro. 876 ff. 1036 ff. 56 Eur., Or. 1105 ff. 1400ff. 1437ff. 57 Eur., Or. 1496 ff. 1629ff. 58 Z u m Phaethon s. unten Anm. 73. 59 Auch Achill als früherer Freier der Helena (8878) stammt aus Eur., Hei. 9 7 f . 60 S. dazu Petersen 1974, 101 ff. 105 ff. 61 Bemerkung zu Polygnots Gemälde in der Lesche zu Delphi (1804) (GA 13, 364-390, dort 382f.). Aus dem Gemälde des Polygnot übernimmt er den N a m e n der Panthalis (dort S. 367. 369; noch nicht im Entwurf von 1800; auch der Vers 8488 ist erst 1826 hinzugesetzt). 54

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Unwille über das Unsittliche ihres Wandels entgegengesetzte Fabeln erdichtete (vgl. 8775 ff. 8839 f.), sie von ihrem Gemahle übel behandeln, sogar den Tod verworfner Verbrecher erleiden ließ (vgl. 9052f.), so finden wir sie doch schon im H o m e r als behagliche Hausfrau wieder; ein Dichter, Stesichorus, wird mit Blindheit gestraft, weil er sie unwürdig dargestellt; 62 u n d so verdient nach vieljähriger Controvers Eurípides gewiß den Dank aller Griechen, wenn er sie als gerechtfertigt, ja sogar als völlig unschuldig darstellte (vgl. 8850 ff.) u n d so die unerläßliche Forderung des gebildeten Menschen, Schönheit u n d Sittlichkeit im Einklänge zu sehen (vgl. 8754-8763) befriedigte." Darauf zielt der direkte Hinweis (8872ff.). In der Gestaltung der Handlung tritt Euripides' Helena aber weniger sichtbar hervor als j e n e anderen genannten Tragödien, jedenfalls deshalb, weil Goethe trotz dieser hohen Schätzung ihres Gehalts die Helena dramatisch als ein schlechtes Stück beurteilt. 6 3 So deutlich auch diese Hinweise sind, so ist natürlich in diesem Bereich die Freiheit gegenüber dem Vorbild des Euripides wesentlich größer als in dem der Formen. Goethe kombiniert Handlungsmotive aus mehreren Stücken u n d modifiziert sie, u m sie den Bedürfnissen der von ihm neu geschaffenen Handlung einzupassen. So etwa tritt als Gegenspieler der Helena nicht wie in den Troades Menelaos selber auf. Argumente, die Helena dort zu ihrer Verteidigung gegen ihn u n d Hekabe vorbringt, 6 4 fuhrt sie in Goethes Helena gegen die Phorkyas an ( 8 8 5 0 f f ) , die dann — wie dort Hekabe ihre Vereinigung mit Menelaos — ihre Vereinigung mit Faust zu hintertreiben versucht ( 9 4 1 9 f f ) . Menelas ist aber auch in Goethes Helena ihr Gegner, zweimal von der Phorkyas unsichtbar eingeführt (9063ff. 9 4 2 4 f f ) , und gegen beide schützt sie Faust (9435ff. 9 4 4 2 f f ) . D e n C h o r der feindlichen gefangenen Trojanerinnen der Troades transformiert Goethe in treue Dienerinnen der Helena (8788 ff.).65 Im U m g a n g mit dem Vorbild des Euripides treten gleichzeitig zwei divergierende Tendenzen hervor. Z u m einen macht Goethe mit der Genauigkeit der Form-Zitate u n d mit der Ü b e r n a h m e für den Verlauf der Handlung wichtiger Motive den Bezug auf Euripides so deutlich sichtbar, daß das anvisierte Vorbild leicht zu identifizieren ist. Z u m andern aber imitiert er das Vorbild doch nicht einfach. Er transformiert es vielmehr in mehrfacher Weise. Hier stellt sich also die Frage nach dem Sinn und Zweck der Transformationen, die bei der Verwendung des Euripides in der Helena zu beobachten sind. Die wesentliche Voraussetzung dafür, daß der ganze Prozeß der Ü b e r n a h m e u n d der Transformation in Gang gesetzt wurde, bildete Goethes Schätzung des Euripides. In ihrem

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N a c h Plato, Phaedr. 243 a = Stesichorus Fr. 192 Davies. Vgl. dazu oben A n m . 50. Eur., Tro. 880 ff. 919 ff. Gegen Eur., Tro. 1101 ff. (zum Schiff u n d der H e i m f a h r t der Helena).

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Lichte wird manches besser verständlich. Goethe hat sich auch dazu wiederholt geäußert. Bemerkenswert ist schon, daß er überhaupt von den drei Großen gerade Euripides zum leitenden Muster nimmt, wie er den Leser der Helena auf Schritt u n d Tritt erkennen läßt. Nicht etwa, daß er die anderen nicht auch kannte und schätzte. Auch sie verwendet er in der Helena. Aber Euripides war er, wenn auch durchaus nicht unkritisch, so doch mit besonderer Liebe zugetan. Damit stellte er sich in bewußten Gegensatz zu seiner Abwertung durch die Literaturkritik der Romantik, allen voran August Wilhelm Schlegel, die auf lange Zeit das Urteil über Euripides prägte, 6 6 aber auch zu dem von ihm außerordentlich hoch geschätzten Philologen Gottfried H e r m a n n . 6 7 „Sie wissen", sagte er zu Göttling, 6 8 „daß mir H e r m a n n seine Ausgabe der Iphigenia dediciert hat. Es hat mich gefreut, auch darum, weil ihr Philologen in euren Urteilen konstant bleibt. . . . Weil Euripides ein paar schlechte Stücke wie Elektra u n d Helena geschrieben 6 9 u n d weil ihn Aristophanes gehudelt hat, so stellt ihr ihn tiefer als andere. Aber nach seinen besten Produkten m u ß man einen Dichter beurteilen, nicht nach seinen schlechtesten." Mit dem Blick des erfahrenen Theaterpraktikers 7 0 suchte u n d fand er bei Euripides: 71 „das so gränzenlose als kräftige Element worauf er sich bewegt. Auf den griechischen Localitäten u n d auf deren uralter mythologischer Legenden-Masse schifft und schwimmt er wie eine Stückkugel auf einer Quecksilber-See u n d kann nicht untertauchen wenn er auch wollte. Alles ist ihm zur Hand: Stoff, Gehalt, Bezüge, Verhältnisse; er darf nur zugreifen, u m seine Gegenstände und Personen in dem einfachsten Decurs vorzufuhren oder die verwickeltsten Verschränkungen noch m e h r zu verwirren, dann zuletzt, nach Maßgabe, aber doch durchaus zu unserer Befriedigung, den Knoten entweder aufzulösen oder zu zerhauen." Es ist leicht herauszuhören, was er sich davon zum Muster für seine eigene schöpferische Freiheit im U m g a n g mit den griechischen Localitäten und deren uralter Legenden-Masse in der Helena nehmen konnte. In jahrzehntelanger Beschäftigung, immer wieder erneut zur produktiven A n eignung des Dichters angeregt, hatte er sich eine intime Kenntnis des Euripides erworben. Als er die Dichtung der Helena wieder aufnahm u n d zu Ende führte, arbeitete er gleichzeitig auch weiter an seiner Ubersetzung der Bacchantinnen, am

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Petersen 1974, 151 ff. 156 ff. S. oben A n m . 18. 68 Gespräch mit Göttling, 3 . 3 . 1832. 69 Z u den G r ü n d e n , w a r u m er die Helena dramatisch für ein schlechtes Stück hielt s. oben A n m . 50. 70 S. oben A n m . 13. 71 An Zelter, 2 3 . 1 1 . 1831. Angeregt durch H e r m a n n s Iph. Aul. studierte er nochmals viele Stücke des Euripides; s. G r u m a c h 1949, 2 9 5 - 2 9 7 . 67

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Phaethon, an den Aufsätzen zum Kyklops und zum Vergleich der drei Philoktete, an der Nachlese zu Aristoteles u n d an anderem zur griechischen Tragödie. 7 2 A m Beispiel des Phaethon, den Goethe nicht ohne G r u n d so sehr in den Vordergrund stellte, läßt sich die produktive Aneignung des Eurípides und die Transformation ihrer Ergebnisse in die Helena besonders gut beobachten. 7 3 Goethe spricht auch deutlich aus, was er davon erwartet. Die Begegnung mit dem Phaethon hatte eine außerordentlich belebende W i r k u n g (1821): „Die Fragmente Phaethons, von Ritter H e r m a n n mitgeteilt, erregten meine Produktivität. Ich studierte eilig m a n ches Stück des Euripides, u m mir den Sinn dieses außerordentlichen Mannes wieder zu vergegenwärtigen." (1823): Diese Fragmente „wirkten . . . auf mein Inneres kräftig und entschieden; ich glaubte hier eine der herrlichsten Produktionen des großen Tragikers vor mir zu sehen; ohne mein Wissen und Wollen schien das Zerstückte sich im innern Sinn zu restaurieren." An die erste Rekonstruktion schlössen sich weitere Entdeckungen (1826): „Wo einmal ein Lebenspunkt aufgegangen ist, fugt sich manches Lebendige daran. Dies bemerken wir bei jener versuchten Restauration des Euripideischen Phaethon." Bis kurz vor seinem Tode ließ ihn die Sache nicht mehr los. 74 Seine „Restaurations- und Wiederbelebungsversuche" führten ihn zum Weiterdenken und Weiterdichten im Sinne des Euripides. 7 5 Er beobachtet, welche dramatischen Möglichkeiten u n d Effekte Euripides im Vergleich mit Ovid und N o n nos dem Stoff des Phaethonmythos abgewinnt, 7 6 verfolgt genau, wie er sie in dem

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Was er davon z u m D r u c k fertig machen konnte, teilte er in j e n e m oben genannten (s. A n m . 44) H e f t Kunst u n d Altertum VI, 1 (1827) mit. Vom Nachtrag zu Eurípides' Phaethon aus verweist er den Leser ausdrücklich auf „Kunst u n d Alterthum IV. 2. Seite 26". 73 Die Zeugnisse dazu bei G r u m a c h 1949, 274—287; zur R e k o n s t r u k t i o n u n d ihrer B e d e u t u n g Petersen 1974, 173—196; H e r m a n n s Programm: Euripidis fragmenta duo Phaethontis e cod. Claromontano edita (Leipzig 1821); Goethes Publikationen: 1. Phaethon, Tragödie des Euripides. Versuch einer Wiederherstellung, dazu 2. Erläuterungen Zu Phaethon des Euripides (beide in: Kunst u n d Altertum IV, 2, 1823) u n d 3. der Nachtrag Eurípides' Phaethon (Kunst u n d Altertum VI, 1, 1827); hier zitiert nach G A 14, 6 6 6 - 6 8 3 , die Verse des Phaethon nach Goethes Vorgang (s. 1. am Schluß) durchgezählt von 1 - 2 2 8 (Konkordanz bei Petersen 1974, 216). 74 S. das Gespräch mit Göttling v o m 3. März 1832. 75 A n Zelter, 11.10. 1826; vgl. an Zelter, 20.5. 1826: Er bedauert, daß er zwei verlorene „Hauptszenen damals nicht niederschrieb. W ä r e es auch nicht zulänglich gewesen, so war es doch i m m e r etwas, von d e m sich jetzt niemand einen Begriff m a c h e n kann." 76 Ovid u n d N o n n o s entnimmt G o e t h e dagegen Motive, die bei Euripides nicht behandelt sind: die M e t a m o r p h o s e von M ä d c h e n in B ä u m e nach d e m Sturz des Phaethon bei Ovid, Met. 2, 3 4 4 - 3 6 6 (die Heliaden) u n d bei N o n n o s , Dion. 38, 9 4 f . 4 3 2 - 4 3 4 (vgl. unten A n m . 85); Dion. 38, 4 2 4 - 4 2 8 wird Phaethon verstirnt (vgl. die Szenenbemerkung zu 9902: „das Körperliche verschwindet sogleich, die Aureole steigt wie ein K o m e t zum H i m m e l auf."); 38, 155-166 läßt sich der kleine Phaethon gleich nach seiner Geburt von Okeanos im Spiel in die Luft h o c h schleudern bis er ins Wasser fällt, w o r i n Okeanos ein Vorzeichen seines Todes erkennt (vgl. die Sprünge „zu der luft'gen H ö h e " 9603-9616; wie dort Okeanos, so schweigt hier die Phorkyas: „Achselzuckend steh' ich ängstlich.").

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wiederhergestellten Text benützt, und versucht zu ergänzen, welchen „Inhalt" der Dichter „nach seiner Art" in den verlorenen Szenen zur Sprache gebracht haben könnte und welche „Motive" sich aus den Situationen für seine künstlerische Gestaltung ergaben. In den folgenden Gegenüberstellungen sollen anhand einiger Beispiele die verschiedenen Arten der Übernahme und der Transformation gezeigt werden, zu denen ihn der Phaethon angeregt hat. Goethe stellt bewundernd fest, wie frei Euripides im Phaethon mit den .Einheiten' von Zeit und Ort umgeht: „Hier ist zu bemerken, daß das Stück sehr früh angeht, man muß es vor Sonnenaufgang denken und dem Dichter zugeben, daß er in einen kurzen Zeitraum sehr viel zusammenpreßt. Es ließen sich hievon ältere und neuere Beispiele wohl anführen, wo das Dargestellte in einer gewissen Zeit unmöglich geschehen kann, und doch geschieht. Auf diese Fiktion des Dichters und der Zustimmung des Hörers und Schauers ruht die oft angefochtene und immer wiederkehrende dramatische Zeit- und Ortseinheit der Alten und der Neuern." Für die Helena beansprucht er diese Fiktion mit einer überaus langen Zeit: „Abgerundet konnte das Stück nicht werden, als in der Fülle der Zeiten, da es denn jetzt seine volle 3000 Jahre spielt, von Trojas Untergang bis zur Einnahme von Missolunghi. Dies kann man also für eine Zeiteinheit nehmen, im höheren Sinne; die Einheit des Orts und der Handlung sind aber auch im gewöhnlichen Sinne auf's genauste beobachtet." 77 Aber auch für die Einheit des Ortes in der Helena gilt das nur bei einer recht freien, extensiven Interpretation, für die er auch ein Beispiel im Phaethon findet. Dort konstatiert er einen zweimaligen Wechsel des Schauplatzes: vom Palast des Merops zum Ufer des Ozeans, wo Phaethon seinen Vater Helios aufsucht, und wieder zurück zum Palast des Merops. Aber Goethe deutet an, wie das trotzdem als Einheit empfunden werden kann. Er beginnt die Beschreibung: „Wir beschränken uns in einer engen, zusammengezogenen Lokalität, wie sie der griechischen Bühne wohl angemessen sein mochte." Phaethons „Weg ist nicht weit, er darf nur die steilen Felsen hinabsteigen, an welchen die Sonnenpferde täglich hinaufstürmen, ganz nah da unten ist ihre Ruhestätte; wir finden kein Hindernis, uns unmittelbar vor den Marstall des Phöbus zu versetzen." Was diese Orte als Einheit erscheinen läßt, ist ihre gemeinsame Lage „im letzten Osten . . . an der Welt Grenze, wo der Ozean das feste Land umkreisend sich anschließt." Merops ist „Herrscher jener äußersten Erde", und Helios ist „als nächster Nachbar zu betrachten." — Die gemeinsame Lage der Orte der Helena in der Peloponnes ist analog, mit einer hörbaren Anspielung auf die des Phaethon, beschrieben, an der äußersten Grenze von Europa: „Ringsum von Wellen angehüpft/ Nichtinsel . . . mit leichter Hügelkette, /Europens letztem Bergast angeknüpft" (9511—9513). Hier sind auch alle Nachbarn. Die Burg des Faust in Mistra ist dem Palast in

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An Humboldt, 22.10. 1826; vgl. an Boisseree, 22.10. 1826.

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Sparta benachbart, und von da gelangen sie zum ausdrücklich so bezeichneten „Arkadien in Spartas Nachbarschaft" (9569). Dort erkennt Euphorion, wo er ist: „Mitten in der Insel drin,/ Mitten in Pelops' Land". Es ist wie das Land des Phaethon „Erde- wie seeverwandt" (9824—9826). Dazu überträgt er eine Reihe von Handlungsmotiven in alle drei Akte der Helena, oft verbunden mit Kunstgriffen der dramatischen Gestaltung, die er bei Euripides findet. Die Verhältnisse unter den Personen sind ähnlich. Im Phaethon ist Klymene, die „herrliche Tochter" des Okeanos, die Trägerin der Schönheit, welche dem folgenden Unglück zugrundeliegt. „Helios, als nächster Nachbar zu betrachten, entbrennt für sie in Liebe" - wie hier der benachbarte Faust für Helena. Die Frucht ihrer Liebe ist der Sohn Phaethon — abgewandelt im Euphorion. Klymene ist einem anderen Manne angetraut, Merops, dem Herrscher jenes Landes, — wie Helena dem Menelas. Merops, Phaethon und ein Herold treten zusammen auf, und der Herold wünscht „Frucht und Segen dem heitern Vereine,/ Welchem ihre Nähe gilt" (V. 118 f.); aber aus dem Verein wird nichts, Phaethon entzieht sich ihm. — In der Helena treten Euphorion, Helena und Faust zusammen auf, die Liebe bildet „ein köstlich Drei" und der Chor preist: „Wohlgefallen vieler Jahre/ In des Knaben mildem Schein/ Sammelt sich auf diesem Paare./ O, wie rührt mich der Verein!" (9707—9710). — Hier entzieht sich Euphorion der Verbindung, und „Bald löst, ich fürchte,/ Sich der Verein!" (9735f.). Phaethon verlangt, den Sonnenwagen zu lenken, und damit „Das Übermässige, seine Kräfte weit Ubersteigende". Sein Vater Helios versucht vergeblich, ihn davon abzuhalten — wie Faust den Euphorion (9717ff. 9752ff.). Phaethon ist getrieben vom „ewig inneren Flammenruf..., der zum Allerhöchsten treibt" (V. 47 f.) — wie Euphorion (9808ff.). Bei Euphorions Sturz zieht „ein Lichtschweif' nach (9900) wie bei einem Meteor — wie „ein Meteorstein" stürzt Phaethon. Durch seine Katastrophe ist seine Mutter „vernichtet" (V. 153). Phaethon schleicht, „indes Auge und Ohr des Zuschauers" durch den Chor „freudig und feierlich beschäftigt sind weg, seinen göttlichen . . . Vater aufzusuchen. Der Weg ist nicht weit . . . " — So schleicht sich die Phorkyas, während der Chor das Lied zu seiner Entrückung im Nebel singt (9079—9121), unbemerkt weg zur nahen Burg des Faust (9077. 9135ff.). Im Lied hört man ein Echo des Phaethon. Die verängstigten Mädchen furchten im Nebel ihren und ihrer Königin Untergang (9103—9108): „Weh uns, weh, weh! . . . Was geschieht? gehen wir?/ Schweben wir nur/ Trippelnden Schritts am Boden hin?/ Siehst du nichts?/ Schwebt nicht etwa gar/ Hermes voran? . . . Zu dem . . . grautagenden . . . Hades?" (9109—9121) — wie dort die Dienerinnen der Klymene vor dem rauchqualmenden Palast (V. 192ff.): „ O wehe, mir Armen! Wohin eilt/ Mein beflügelter Fuß? Wohin?/ Z u m Äther auf? Soll ich in dunkelem Schacht/ Der Erde mich bergen?/ O weh mir! Entdeckt wird die Königin,/ Die verlorene!" (V 208—213). Die Landschaft wird im Phaethon vorgestellt durch eine idyllische Beschreibung im ersten Chorlied in einem Hochzeitsgesang. „Das . . . Chor spricht von der

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Gegend und was darin vorgeht" in absteigender Folge, oben beginnend mit: „Syrinxton hallt im Gebirg,/ Felsanklimmender Hirten Musik" bis hinunter zum Meere (V. 78—90). — Eine analog gebaute idyllische Schilderung gibt Faust als Vorschau auf die Vereinigung in Arkadien (9526—9561). Sein Blick gleitet von der „Berge Rücken" und dem Fels, stufenweise hinunter über Schluchten, Quellen, Bäche, Hügel mit Herden, „Pan . . . und Lebensnymphen", Wälder, Matten, bis in die fruchtbaren Ebenen. Im Phaethon wird man in einer späteren Szene „erinnert an den ersten Gesang des Chors". Goethe wertet die Schilderung später dramatisch aus. Euphorion steigt in umgekehrter Richtung stufenweise auf vom „Boden", „über die Erde", „durch die Haine", „immer höher felsenauf', bevor er abstürzt (9723-9902). Die Attribute der Landschaft, in der am Schluß die Mädchen des Chors in Naturgeister verwandelt werden (9985—10010), weisen mit „des Lebens Quellen" (9993) und „Pans . . . Stimme" (10002) wieder zurück auf die Beschreibung Arkadiens am Anfang. Im von Goethe rekonstruierten Prolog des ,Phaethon' (V. 1—31) erwartet und beobachtet ein „Wächter" (V. 17) vom Palast des Merops aus nach Osten blickend (V. 9 ff.) den Aufgang der Sonne, in der Gestalt des Helios: „Und harre gern, doch ungeduldig seiner Glut" (V. 20), und begrüßt dann „Des Tages Anglanz" (V. 23), — hier erwartet der „Turmwärter" Lynkeus von der Burg des Faust aus den Sonnenaufgang, und: „Harrend auf des Morgens Wonne,/ Ostlich spähend ihren Lauf,/ Ging auf einmal mir die Sonne/ Wunderbar im Süden auf./ Zog den Blick nach jener Seite, . . . Sie, die Einzige, zu spähn." (9222—9229). Das verbindet Goethe mit dem Motiv des Wächters auf dem Dach des Palastes des Agamemnon, dem der Flammenschein die Ankunft der Heimkehrer aus Troia anzeigt. 78 Mit dem Motiv des Sonnenaufgangs koordiniert er zugleich dramatisch den zweiten und den ersten Akt. Lynkeus, der darüber seine Pflicht versäumt hatte, schildert, wie Helena ihm erschienen war: „Nebel schwanken, Nebel schwinden,/ Solche Göttin tritt hervor . . . Diese Schönheit, wie sie blendet,/ Blendete mich Armen ganz" (9236—9241). Das war im selben Moment geschehen, in dem die Phorkyas beim Wiedererwachen der Helena ausrief: „Tritt hervor aus flüchtigen Wolken, hohe Sonne dieses Tags,/ Die verschleiert schon entzückte, blendend nun im Glänze herrscht." (8909f.). Am Phaethon zeigt sich klar, unter welchen Gesichtspunkten Goethe seine M u ster im Hinblick auf die produktive Aneignung untersuchte. Die Transformationen, mit denen er das, was er aus dem Phaethon übernahm, für die Gestaltung der Helena verwendbar machte, erscheinen als Fortsetzung der produktiven Aneignung in der eigenen Produktion. Was nach seiner Beurteilung Euripides mit dem Phaethon gelungen ist, entspricht auf einfache Weise dem, was er mit seiner Helena zu

78 Aesch., Ag. 22ff.: „ O sei gegrüßt, du Leuchte in der Nacht; du weckst/ Ein taghell Licht und vieler Chöre Reigentanz." (Übersetzung Droysen/Stoessl).

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erreichen strebt: „Wie viel ließe sich nicht über die Einfalt und Größe 7 9 auch dieses Stückes r ü h m e n und sagen, da es ohne labyrinthische Exposition uns gleich zum Höchsten und Würdigsten fuhrt und mit bedeutenden Gegensätzen auf die naturgemäßeste Weise ergötzt und belehrt." Was er über den Vorgang seines W i e derbelebungsversuchs des Phaethon mitteilt, trifft, mindestens teilweise, auch für den analogen Vorgang der Wiederbelebung des Altertums in der Helena zu. Das inspirierende Muster des Euripides lebte in seinem Sinn u n d erweckte Assoziationen. Es wirkte auf sein Inneres kräftig und entschieden, und ohne sein Wissen u n d Wollen fügte sich, was ihm von dort entgegentrat, zu einer neuen Einheit zusammen in dem gewaltsamen Anlauf, in dem er die Helena zum übereinstimm e n d e n Leben brachte. Aber das trifft nur die eine Seite der Aneignung des Euripides als Muster fiir die Helena. Die Transformationen zeigen anderseits auch, daß er Euripides nicht einfach absichtslos nachfolgt. Er beobachtet sehr bewußt seine dramatische Kunst und ü b e r n i m m t davon, was er brauchen kann für die dramatische Gestaltung seiner eigenen Handlung. Mit größter Freiheit transformiert er Motive, die in der Vorlage nicht dramatisch in Erscheinung treten, in Handlung, kombiniert sie mit Motiven anderer, nicht-Euripideischer Herkunft, und stellt sie in den Dienst dessen, was er darstellen will, so etwa die Beschreibung einer Landschaft aus einem Chorlied, oder den Höhenflug des Phaethon, der dort erst hinterher in einem Botenbericht geschildert wird, den er aber in den Aufstieg und Fall des Euphorion im Z e n t r u m der Handlung auf der Bühne transformiert. Das gilt für den Phaethon so gut wie für die anderen Stücke, aus denen er Motive übernimmt u n d transformiert. Vor allem aber: Er beschränkt die Verwendung Euripideischer Motive durchaus nicht auf die in den antiken Formen gedichteten Teile. Im zweiten Akt u n d vermehrt noch im Teile der O p e r macht er davon sogar sehr sichtbaren Gebrauch. Was bedeutet das? Die griechische Tragödie hat in der Helena nicht nur eine, sondern eine M e h r zahl von Aufgaben zu erfüllen, mit unterschiedlicher Bestimmung entsprechend den verschiedenen Ebenen der Gestaltung und des Sinns. Durch die verschiedenen Arten der Transformation stellt Goethe sie in den Dienst jeweils einer b e stimmten Aufgabe. Im R a h m e n des Ganzen ist sie nur ein, allerdings ein wesentlicher Bestandteil. Das Ziel ist, sie mit den andern, nicht-antiken Elementen in eine bestimmte für beide Teile sinnvolle Verbindung zu bringen. Damit fassen wir eine der verschiedenen Zielsetzungen für die Transformation der Tragödie. Der Leser soll den Sinn dieser Verbindung erkennen. Goethe wies ihn gleich zu Beginn darauf hin mit dem Titel Helena/ klassisch-romantische Phantasmagorie. Zwischenspiel zu Faust, unter dem er sie seinen Freunden vorstellte, dem Publikum

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Z u Winckelmanns Verständnis der Schönheit in der Helena s. Schöne 1994, 589f.; s. auch zu Ficino unten A n m . 110. 116.

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ankündigte und ertstmals publizierte. Dazu erklärt er Iken: 80 „Ich zweifelte niemals, daß die Leser, für die ich eigentlich schrieb, den Hauptsinn dieser Darstellung sogleich fassen würden. Es ist Zeit, daß der leidenschaftliche Streit zwischen Klassikern und Romantikern sich endlich versöhne. Daß wir uns bilden ist die Hauptforderung; woher wir uns bilden wäre gleichgültig, wenn wir uns nicht an falschen Mustern zu verbilden furchten müßten. Ist es doch eine weitere und reinere Umsicht in und über griechische und römische Literatur, der wir die Befreiung von mönchischer Barbarei zwischen dem 15. und 16.Jahrhundert verdanken! Lernen wir nicht auf dieser hohen Stelle alles in seinem wahren, ethischästhetischen Werte schätzen, das Alteste wie das Neuste!" Es geht also um Muster der Bildung, und dabei kommt es nicht auf ihre Herkunft, auf Altertum oder Neuzeit an, sondern auf ihre Qualität. Unter diesem Gesichtspunkt nimmt allerdings die griechische und römische, das heißt die ,klassische' Literatur eine besondere, historisch begründete Stellung ein. Sie hat zu einer bestimmten Zeit der Befreiung von falschen Mustern gedient, und sie hat auch heute noch eine bildende Funktion. Was Goethe damit umschreibt, sind also Kriterien, die einen Maßstab abgeben zur Beurteilung des wahren, ethisch-ästhetischen Wertes aller Literatur, von der ältesten bis zur neusten. 81 Als Repräsentant dieses Maßstabs ist Euripides qualifiziert entsprechend Goethes Beurteilung seiner besten Stücke. Dichtung, die diesen Kriterien standhält, sucht und findet er in allen Zeiten und bei allen Völkern, 82 besonders auch im Orient. Darauf beruht das Bildungsprogramm der „Weltliteratur". In diesen Zusammenhang gehört auch die Forderung nach der Versöhnung des Streits zwischen Klassikern und Romantikern, der Goethe in dieser Zeit erneut beschäftigte in der Diskussion mit den französischen Romantikern der Zeitschrift Le Globe.83 Die anderen Muster können nach dieser Konzeption ihren eigenen Bildungswert haben unter der Bedingung, daß es keine .falschen' M u ster sind. In der Gegenüberstellung mit jenen anderen — und zwar durchaus nicht nur romantischen — Mustern erhält die griechische Tragödie in der Helena ihre Funktion auf der Ebene der vergleichenden Kritik. Sie dient als ständig präsent gehaltener Maßstab, an dem auch die anderen gemessen werden, und vor dem, wie gerade in der Helena gezeigt werden soll, sie sich auch bewähren können. Das betrifft nicht speziell die romantische, sondern alle Dichtung. 80

27.9. 1827. S. z.B. Neueste deutsche Poesie, 1827 (GA14, 375-378); zu Goethe als Literaturkritiker und zu den Maßstäben seiner Kritik s. Strich 1950, 981 ff. 82 Vgl. z.B. zur griechischen Volksdichtung unten Anm. 101. 83 Goethe hat vom 23.1. 1826 an wiederholt „ D e n Streit der Klassiker und Romantiker überdacht"; s. dazu Aus dem Französischen des Globe, (VI), publiziert in: Kunst und Altertum VI, 1 (1827) (GA 14, 886-891, dort 889): „Die Freiheit, ja Unbändigkeit unserer Literatur ist j e n e n lebhaft tätigen Männern eben willkommen, welche gegen den Klassizismus noch im Streit liegen, da wir uns schon so ziemlich in dem Stande der Ausgleichung befinden und meistens wissen, was wir von allen Dichtarten aller Zeiten und Völker zu halten haben." 81

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In der Helena hat aber Goethe mit der generellen Zielsetzung die speziell auf dieses Problem ausgerichtete Demonstration verbunden, daß eben das Klassische und das Romantische versöhnt werden müssen und können. Das erklärt er sogar zum Hauptsinn seiner Darstellung. Aus der Darstellung soll der Leser der Helena die Erfüllung dieser Forderung fassen können. Sehen wir also zu, wie Goethe im Hinblick darauf die Darstellung gestaltet, und welche Bedeutung das für die Transformation der Tragödie hat. Uberblickt man das Ganze u n d setzt dazu die Teile in Beziehung, wie es Goethe von seinem Leser erwartet, 8 4 so stellt man fest, daß er der Helena eine durchsichtige, leicht überschaubare Struktur gegeben hat, welche die Entsprechungen der Teile und ihren Bezug zum Ganzen deutlich hervortreten läßt. Das Ganze ist gegliedert in fünf Teile: den Prolog, der die Handlung des Ganzen vorbereitet (8488-8637), die drei Akte der Handlung vor d e m Palast des Menelas (8638-9126), im inneren Burghof (9127-9573) u n d in Arkadien (9574-9961), u n d das Nachspiel des Chors, das mit der Helena-Handlung direkt nichts mehr zu tun hat (9962-10038). 8 5 Die Akte sind ihrerseits alle drei gleich aufgebaut u n d so gegliedert, daß ihre Teile miteinander vergleichbar sind. In j e d e m Akt wird eine für die Entwicklung der Handlung u n d ihren Gehalt wesentliche Gestalt eingeführt und Helena gegenübergestellt: im ersten die Phorkyas, im zweiten Faust, im dritten Euphorion. 8 6 Diese Personen werden im Vorspiel zu ihrem Akt vorgestellt und kommentiert. 8 7 Der Hauptteil jedes Akts 8 8 ist durch einen markierten Einschnitt zweigeteilt. Im ersten Abschnitt wird die Bedeutung der neu eingeführten Person in ihrem Verhältnis zu Helena definiert. Eine Unterbrechung leitet zur Wende über, 8 9 und im zweiten Abschnitt handelt diese Person ihrer Art entsprechend — Mephisto-Phorkyas, Faust, Euphorion-Byron - gegen oder mit Helena, bis sie ihr Ziel erreicht,

84 „Die Hauptintention des Ganzen ist klar und das Ganze deutlich; auch das Einzelne wird es sein und werden, wenn man die Teile nicht an sich betrachten und erklären, sondern in Beziehung auf das Ganze sich verdeutlichen mag." an Knebel, 14.11. 1827. 85 „Auf den Gedanken, daß der Chor nicht wieder in die Unterwelt hinab will, sondern auf der heiteren Oberfläche der Erde sich den Elementen zuwirft, tue ich mir wirklich etwas zu gute." Eckermann, 25.1. 1827. Naturgeister: Bäume 9992-9998, s. ,Dryas' 7979ff.; Felswände 9999-10004, s. ,Oreas' 7811 ff.; Wassernymphen 10005-10010, s. .Nymphen' 7260ff.; zu 10011 ff. s. unten Anm. 121; oben Anm. 76. 86 In jedem Akt dazu eine Nebenfigur: im ersten Panthalis (8638ff.), im zweiten Lynkeus (9192 ff.), im dritten ein junges Mädchen (9794 ff.). 87 1.) 8638-8753; 2.) 9182-9191; 3.) 9596-9678. 88 1.) 8754-9070; 2.) 9192-9525; 3.) 9679-9938. 89 1.) 8882-8908 (Chor gegen Phorkyas nach der Ohnmacht der Helena); 2.) 9419-9441 (Intervention der Phorkyas und Abwehr des Faust); 3.) „Pause" nach 9766 (die Phorkyas lauscht aus dem Hintergrund und kommt erst nachher wieder hervor, s. Szenenbemerkungen nach 9686 und 10038. 9945-9961).

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das für das ganze Drama konstituierend ist. In einem Nachspiel wird die Folge des Handelns dieser Person gezeigt, und es fuhrt hinüber zum Ort, wo die Handlung fortgesetzt wird. 91 Hinweise auf den Sinn der Darstellung gibt die Distribution der nach antiken Mustern gebildeten und der nicht-antiken Formen auf die einander in dieser Struktur gegenübergestellten Teile der Handlung. Die nicht-antiken Formen sind beschränkt auf die Hauptteile und die Nachspiele des Faust- und des EuphorionAktes. Ausschließlich aus antiken Formen sind gebildet der Prolog, der ganze erste Akt, das Nachspiel des Chors sowie auch die Vorspiele zum zweiten und zum dritten Akt. Dazu erscheinen antike in Verbindung mit nicht-antiken Formen im Hauptteil des zweiten und im Nachspiel des dritten Akts. Ausschließlich aus nicht-antiken Formen bestehen das Nachspiel des zweiten und der Hauptteil des dritten Akts. Jeweils am Anfang der Teile und gewisser Abschnitte erhält der Leser einen signifikanten Hinweis. Alle fünf Teile beginnen mit iambischen Trimetern, 92 einmal mit einer feinen ironischen Pointe: Nur die Phorkyas, am Anfang des dritten, spricht in komischen Trimetern, in denen sie in aristophanischer Manier aus dem Stück heraus das Publikum anredet (9574-9581). Der iambische Trimeter der Tragödie ist als ,Signalvers' der Helena zugeordnet. Mit ihm beginnt „die wahre Helena auf antik-tragischem Kothurn vor ihrer Urwohnung in Sparta" 93 den Prolog, zu ihm kehrt sie zurück am Schluß des Hauptteils des ersten Akts (9071-9077) sowie am Ende im Nachspiel zum dritten Akt (9939-9944), ihn benützt Faust, wie er zu ihrer Verteidigung die Intervention der Phorkyas abwehrt im zweiten Akt (9435—9441), und noch einmal die treue Panthalis, die ihrer Herrin in den Hades folgt im Nachspiel des Chors (9962-9969. 9981-9984). 94 Ebenfalls jeweils am Anfang wird mit einer Anrede der neu eingeführten Person an Helena der Ton gesetzt für die Hauptteile der drei Akte, die einander mit Formen unterschiedlicher Herkunft gegenübergestellt sind: Im ersten redet die Phorkyas sie an im iambischen Trimeter, 95 im zweiten Faust im Blankvers, 96 in dem dann auch Helena spricht, im dritten Euphorion in der Gesangsstrophe eines

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1.) 8909-9070; 2.) 9442-9525; 3.) 9767-9938. 1.) 9071-9126; 2.) 9 5 2 6 - 9 5 7 3 (abgehoben v o m Hauptteil durch den Wechsel des Versmasses); 3.) 9 9 3 9 - 9 9 6 1 . 92 Prolog 8488ff. (Helena), 1. Akt 8638ff. (Panthalis), 2. Akt 9127ff. (Panthalis), 3. Akt 9574ff. (Phorkyas), A n h a n g 9962ff. (Panthalis). 93 A n k ü n d i g u n g in: Kunst u n d Altertum VI, 1 (1827). 94 Iamb. Trim. außerhalb der Helena: in den Prologen der Klassischen Walpurgisnacht (7005-7039) u n d des vierten Akts des Faust II ( 1 0 0 3 9 - 1 0 0 6 6 ) , die auf die Helena voraus- bzw. zurückweisen. 95 8754ff., hier im h o h e n Pathos der Tragödie, s. Petersen 1974, 95. 96 D e r .fünffüßige Jambus' Shakespeares ist kein antiker u n d kein romantischer Vers. Goethes Iphigenie spricht im Blankvers „das Land der Griechen mit der Seele suchend". 91

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Terzetts, die dann auch Helena, Faust und der Chor aufnehmen. Damit beginnt Euphorion den romantischen Teil der Oper. 9 8 Es zeigt sich ein mit Bedacht konzipiertes und sorgfältig befolgtes produktives Verfahren. Mit dem Aufbau des Ganzen folgt Goethe nicht dem Plan einer antiken Tragödie. Er hat eine neue eigene Struktur entworfen, die es ihm erlaubt darin einzubauen, was er zum Ausdruck des intendierten Sinnes verwenden will. 99 Auf dieses Ziel hin transformiert er in unterschiedlicher Weise, was er dazu braucht, doch immer so, daß er den Bezug auf den Herkunftsbereich der transformierten Muster durch deutliche Hinweise flir den Leser erkennbar macht. Dazu dienen im Hinblick auf das griechische Drama insbesondere die Form-Zitate, die von dorther übernommenen Motive sowie teilweise fast wörtliche Anspielungen. Dem Muster der griechischen Tragödie kommen am nächsten der Prolog und der erste Akt. Aber davon entfernt er sich schon im Prolog mit der Einfügung von Chorliedern, im ersten mit dem Spiel zwischen Tragischem und Satyrischem, 100 mit der Verwendung des Chors in der Handlung und anderem, was wir schon festgestellt haben. Und so fährt er weiter in den nach ,klassischen' Mustern gestalteten Partien der folgenden Akte. Der Anhang mit dem verwandelten Chor hat kein Vorbild in der antiken Tragödie. Im Hinblick auf den Sinn der Verbindung der nach nicht-antiken Mustern gestalteten Teile mit den antiken ergibt sich einiges schon aus diesem Uberblick. Die antiken Teile überwiegen bei weitem. Sie bilden gewissermaßen die Basis, auf der das ganze Gebäude errichtet ist. Darin sind die nicht-antiken Partien in Teilen des Faust- und des Euphorion-Akts eingefügt, nicht in additiver Reihung, sondern eingerahmt und miteinander verbunden durch antike Teile. Als formales .Leitmotiv', in seiner hohen .tragischen' Verwendung an die Gestalt der Helena gebunden, erscheint in allen fünf Teilen der iambische Trimeter. Im Hauptteil des Faust-Akts braucht ihn ein einziges Mal Faust (9435—9441), daneben stehen dort auch zwei Chorlieder (9385 ff. 9482 ff.) Die große Ausnahme ist das Opern-Libretto im Hauptteil des dritten Akts. Euphorion ist die einzige der Hauptfiguren, die keine antiken Formen, nicht eimal ein Lied in antiken Versen erhält. 101 Nur

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9695-9710; s. oben Anm. 39. In gleicher Weise setzt Lynkeus bei seiner ersten Anrede an Helena mit den gereimten Strophen ein (9218ff.), in denen dann, nach der Erklärung zu den Reimen (9367 ff.), auch Faust zu Helena spricht (9442ff.). 99 Vgl. z.B. oben Anm. 85, unten Anm. 101. 102. 100 Dabei ist ebenfalls der Anfang deutlich markiert mit dem Eintritt der Phorkyas in die Handlung, s. Petersen 1974, 94 f. 101 Dagegen ein Hinweis auf die neu erwachende griechische Volksdichtung: „Doch erfrischet neue Lieder,/ Steht nicht länger tief gebeugt:/ Denn der Boden zeugt sie wieder,/ Wie von je er sie gezeugt." (9935-9938). Davon hat Goethe selber einiges übersetzt (GA 15,137-145) und vieles angezeigt in: Kunst und Altertum V, 3 (1826) und VI, 2 (1828) (GA 14, 553. 558-566. 569). 98

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hier singt auch der C h o r in nicht-antiken Formen. Aber der Hinweis auf die antiken Muster fehlt doch nicht. Die Euripideischen Motive aus dem Phaethon sind deutlich sichtbar gemacht. So sieht der Leser, wie das antike Muster als Vergleichsmaßstab am Anfang präsentiert u n d dann auf unterschiedliche Weise in allen, auch in den nicht-antiken Teilen, in die Gestaltung miteinbezogen wird, und dazu die besondere Rolle, die dabei Helena, das Inbild der Schönheit, spielt. Wo und wie ist aber in dieser in drei Akte gegliederten Handlung die Versöhnung des Klassischen mit dem Romantischen dargestellt? — Dafür k o m m t der erste, formal rein antike, .klassische' Akt nicht in Betracht, zumal ja auch die Handlung mit der Phorkyas nicht auf eine Versöhnung hin angelegt ist, auch nicht der dritte, romantische mit der Katastrophe des Euphorion. Im zweiten Akt ist die Vereinigung der Helena mit Faust dargestellt. Allerdings ist auch da nicht auf den ersten Blick zu sehen, wie das mit der Versöhnung des Klassischen u n d des Romantischen zusammengebracht werden kann. Faust ist ja kein Romantiker. Tatsächlich zeigt es Goethe auch nicht so direkt. Er fuhrt, wie er das öfters tut, an einem zentralen Punkt, hier in der Szene der Vereinigung (9356—9418), m e h rere zentrale Probleme zusammen u n d bringt sie vereint in einer konzentrierten Darstellung zur Schau, die ihren inneren Zusammenhang erkennen läßt. Für die Transformation ist dieses Vorgehen von besonderem Interesse. Die konzentrierte Darstellung hat gleichzeitig mehrere Bedeutungen auf den verschiedenen Ebenen der verschiedenen Probleme. Diese Szene im Z e n t r u m des Ganzen ist „die Axe, auf der das ganze Stück dreht". 1 0 3 Sie stellt sichtbar vor Augen, wie Faust „aus der bisherigen kummervollen Sphäre" des ersten Teils erhoben u n d „in höheren R e g i o n e n , durch würdigere Verhältnisse" durchgeführt wird. 1 0 4 Darin bringt Goethe das in der Helena „dargestellte Verhältnis von Faust und Helena . . . , das in freierer Kunst-Region hervortritt und auf höhere Ansichten hindeutet," 1 0 5 zur Schau. In dieser freieren Kunstregion stellt er das Bildungs-Erfordernis, das Klassische mit dem Romantischen zu versöhnen, nicht isoliert, sondern in dem g r u n d sätzlichen Zusammenhang dar, in den es gehört. Dafür verwendet er ein Muster aus der „Weltliteratur". U b e r den ethisch-ästhetischen Wert der Darstellung hinaus deutet er zugleich auf einen höheren, geheimeren Sinn hin. W i e im Teile der O p e r ist auch hier „alles sinnlich u n d wird, auf dem Theater gedacht, j e d e m gut

102 S. z u m Schlußchor (9907-9938): „ D a n n brachte mir die Zeit dieses mit Lord Byron u n d Missolunghi . . . haben Sie bemerkt, der C h o r fällt bei d e m Trauergesang ganz aus der Rolle; er ist früher u n d durchgehends antik gehalten oder verläugnet doch nie seine Mädchennatur, hier aber wird er mit einemmal ernst u n d h o c h reflektierend u n d spricht Dinge aus, woran er nie gedacht hat u n d auch nie hat denken k ö n n e n . " Eckermann, 5.7. 1827. 103 An Boisseree, 19.1. 1827. 104 Antecedentien zur Helena. 105 E n t w u r f zu einer Buchbesprechung, März/April 1827. Was für Faust damit erreicht wird, s. 9 5 6 2 - 9 5 6 5 .

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in die Augen fallen. . . . Wenn es nur so ist, daß die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen." 1 0 6 Auf die Bedeutung dieser Szene wird der Leser schon in der Ankündigung hingewiesen. 1 0 7 D o r t wird er ausdrücklich gebeten, „die Art und Weise zu b e o b achten, wie Faust es unternehmen dürfe, sich u m die Gunst der weltberühmten königlichen Schönheit zu bewerben." D e n „geheimeren Sinn" offenbart ihm Goethe in den berühmten Spiegelungen. 1 0 8 Z u dessen Verständnis darf er sich also nicht auf die Beobachtung dieser einen Szene beschränken. Klare Hinweise findet er zunächst in den unmittelbar vorangehenden Szenen. Ihnen müssen wir uns also zuerst zuwenden. Fausts Bewerbung u m die königliche Schönheit und seine Vereinigung mit ihr ist vorbereitet durch die Vision des Lynkeus, der vom milden Glanz dieser Schönheit geblendet ganz außer sich gerät u n d seine Pflicht als Wächter vergißt (9218—9245). Ihre Bedeutung wird hervorgehoben durch die Verbindung mit dem Motiv des Wächters aus den Prologen des Phaethon u n d des Agamemnon. D o c h Helena, deren Schönheit überall die Welt, „Halbgötter, Helden, Götter, ja D ä m o n e n " verwirrt, begnadigt „den Gottbetörten" (9246—9257). Faust sieht erstaunt „die sicher Treffende" sowie „den Bogen, der den Pfeil entsandt" u n d wird selber von den Pfeilen getroffen (9258—9263). Er erkennt ihre alle beherrschende Macht, anerkennt sie als H e r r i n u n d gibt sich und das Seine ihr anheim (9264—9272). D e m Eingeweihten werden die Hinweise auf den höheren Sinn nicht entgehen, der in diesen Bildern ausgedrückt ist. Dargestellt ist die Wirkung der Liebe, des EQCüg, die ausgeht von der Schau der Idee des Schönen, des tiäXkoc,, deren irdisches Abbild in „der einzigen Gestalt" (9324; vgl. 7439. 9564f.) der Helena vor Augen gefuhrt wird. Sie bewirkt den evöouoiao|.i6