Goethes Urphänomen und die platonische Idee [Reprint 2020 ed.] 9783111554662, 9783111184975


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Goethes Urphänomen und die platonische Idee [Reprint 2020 ed.]
 9783111554662, 9783111184975

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Goethes Urpliänomen und d i e p l a t o n i s c h e I d e e von

Elisabeth Rotten Dr. phil.

Gießen 1913 Verlag von Alfred Töpelmann (vormals J. Ricker)

Philosophische

Arbeiten

herausgegeben von

Hermann Cohen in Berlin

und

Paul Natorp in Marburg

VHI. Band 1. Heft

Vorwort. Die vorliegende Arbeit ist aufs tiefste der von meinem hochverehrten Lehrer, Herrn Professor N a t o r p , empfangenen Schulung verpflichtet.

Seiner Ermutigung dankt sie ihre Aus-

gestaltung und seine Einwirkung durfte ich weit darüber hinaus erfahren. Vielleicht ist es nicht ganz unnötig, hier auszusprechen, daß die Ausarbeitung meiner Untersuchung bis zum endgültigen Abschluß in die Zeit vor dem Erscheinen von H. St. Chamberlains Buch:

Goethe, München 1 9 1 2 (im Buchhandel etwa am

6. November 1 9 1 2 erschienen) fällt.

In der Gestalt, in der sie

erst hier veröffentlicht wird, hat die Arbeit der Marburger Philosophischen Fakultät vorgelegen und ist so, nachdem das von mir vorgeschlagene war,

Thema

im Juli 1 9 1 1

genehmigt

worden

im September 1 9 1 2 als Doktorarbeit eingereicht worden.

Zwischen der Annahme am 1. November und dieser endgültigen Drucklegung der ganzen Arbeit sind keinerlei sachliche Änderungen daran vorgenommen worden.

Als Dissertation ist nur

ein kleinerer Teil, die ersten vier Abschnitte umfassend, im Dezember 1 9 1 2 im Druck erschienen. E s ist noch zu sagen, daß Herr Professor H a n s e n mir zu meiner Bemerkung

auf S. 35

freundlichst mitteilt,

er habe

keineswegs eine Vergleichung Goethes mit Plato als an sich unrühmlich abgelehnt, sondern nur die g e d a n k e n l o s e Abweisung Goethischer Forschungsprinzipien als „bloß platonischer

IV

Vorwort.

Ideen" bekämpfen wollen.

Daß

ich ihn selbst nicht

anders

verstanden habe, geht wohl auch aus meiner Bemerkung auf S. 106 hervor. Endlich ist es mir eine ganz besondere Freude,

meinem

unermüdlichen Helfer, Herrn Dr. M a x C h r i s t l i e b

in Berlin,

auch an dieser Stelle

sagen zu

ein W o r t

herzlichen Dankes

können für seinen nie versagenden Beistand mit Rat und T a t .

B e r l i n , im Januar 19x3. Elisabeth

Rotten.

Die I n h a l t s ü b e r s i c h t und einige B e r i c h t i g u n g e n befinden sich am Schlüsse des Buches.

Rotten, G o e t h e s U r p h ä n o m e n und die platonische Idee.

I

U n s ist wohl, s a g t e ein brüderlich gleicher T a n n e n w a l d zur Zeder, w i r sind so viel, und du stehst allein. — Ich habe auch B r ü d e r , s a g t e die Z e d e r , w e n n gleich nicht auf diesem Berge. Goethe. Parabeln, 1774 oder 1775.

I. Goethe hat als Dichter oft und viel unter Stumpfheit und Mißwollen seiner Zeitgenossen gelitten, hat selbst auf der Höhe seines Ruhms die platte Mittelmäßigkeit der Iffland und Kotzebue sich vorgezogen gesehen. Aber immer hat er ein ideales Publikum gehabt, das in tiefem Verständnis seiner Dichtung Resonanz und Ansporn verlieh: in drangvoller Frühzeit in Merck und Herder, später in Charlotte von Stein, Schiller und H u m boldt. Er erlebte es, der „Statthalter der Poesie auf E r d e n " zu werden, und die Summe seiner dichterischen Wirksamkeit ziehend konnte der Zweiundachtzigjährige das stolz gelassene Wort niederschreiben: Meister sei er zwar von niemand gewesen, wenn unser Meister derjenige sei, „unter dessen Anleitung wir uns in einer Kunst fortwährend üben und welcher uns, wie wir nach und nach zur Fertigkeit gelangen, stufenweise die Grundsätze mitteilt, nach welchen handelnd wir das ersehnte Ziel am sichersten erreichen." „Wenn ich aber aussprechen soll, was ich den Deutschen überhaupt, besonders den jungen Dichtern geworden bin, so darf ich mich wohl ihren Befreier nennen; denn sie sind an mir gewahr geworden, daß, wie der Mensch von innen heraus leben, der Künstler von innen heraus wirken müsse, indem er, gebärde er sich, wie er will, immer nur sein Individuum zutage fördern wird." 1 ) Der Schmerz seines Lebens war seine Einsamkeit als Forscher. „Seit länger als einem halben Jahrhundert kennt man mich, im Vaterlande und auch wohl auswärts, als Dichter und läßt mich allenfalls für einen ') N o c h ein W o r t für j u n g e Dichter. W . A . I, 42 *, 106. Ich zitiere G o e t h e s W e r k e (mit A u s n a h m e der M a x i m e n und R e f l e x i o n e n ) stets n a c h der W e i m a r e r A u s g a b e , bezeichne mit der römischen Zahl die A b teilung, mit der ersten deutschen die B a n d n u m m e r , mit der zweiten die Seitenzahl. C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VIII, 1. I

E. Rotten.

2

solchen gelten; daß ich aber mit großer Aufmerksamkeit mich um die Natur in ihren allgemeinen physischen und ihren organischen Phänomenen emsig bemüht und ernstlich angestellte Betrachtungen stetig und leidenschaftlich im Stillen verfolgt, ist nicht so allgemein bekannt, noch weniger mit Aufmerksamkeit bedacht w o r d e n . " 1 ) Die „Sehnsucht nach Mitarbeitenden", die in seinem Sinne, nach deren Sinn er weiter verführe 2 ), zieht sich durch seine ganze Forschertätigkeit. Nicht, daß dieses oder jenes Resultat seiner Bemühungen auf Zweifel oder W i d e r spruch stieß, bekümmerte ihn, sondern daß keiner der Zeitgenossen die Einzigartigkeit seiner Methode würdigte, mit der er an die Naturerscheinungen herantrat. Immer wieder werden sich in den Gang der vorliegenden Untersuchung Aussprüche Goethes verflechten, in denen er stets von neuem hervorhob, es sei in seiner „ A r t , die Naturgegenstände zu behandeln", „die Rede nicht von einer durchzusetzenden Meinung, sondern von einer mitzuteilenden Methode, deren sich ein jeder, als eines Werkzeugs, nach seiner A r t bedienen möge". 3 ) Und fast steht es noch heute so mit der Mehrzahl seiner Beurteiler, ja seiner Bewunderer, obwohl seinen erfolgreichen Untersuchungen auf naturwissenschaftlichem Gebiet reiche Anerkennung gezollt wird; eine ganze Literatur ist erstanden über die F r a g e : „ W a r Goethe ein Darwinianerr", eine Fragestellung, der man die jedem als paradox einleuchtende F r a g e , ob K a n t ein Schopenhauerianer gewesen sei, verglichen hat. Die 13 gewichtigen Bände naturwissenschaftlicher Schriften der Weimarer A u s g a b e muten wie der grandiose Grundriß eines Baues an, den wohl e i n Geist entwerfen, aber weder e i n Mensch noch e i n e Generation ausführen konnte. Schon ein Blättern darin erweist und erzwingt Goethes Recht, nach eigenem Maße gemessen zu werden. Unter den Forschern, die Goethes naturwissenschaftlichen und philosophischen Standpunkt geprüft und gewürdigt haben, billigen vor allem Hermann Siebeck, Rudolf Steiner und H. St. Chamberlain ihm eine selbständige und überragende Stellung, seiner Methode das Wegweisende und Richtunggebende zu. Besonders auf die Untersuchungen der beiden erstgenannten wird diese Arbeit wiederholt zurückzukommen haben. ') Geschichte meines botanischen Studiums. 1831. W. A. II, 6, 126. An d'Alton, 28. Dez. 1820. Ich zitiere Briefe Goethes stets nur nach dem Datum. 3) An Hegel, 7. Okt. 1820. 2)

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

3

Ein anderes ist es, Goethe als Gefolgsmann einer bereits vorhandenen, oder gar in polemischer Absicht als Parteigänger einer erst nach ihm hervorgetretenen Forschergruppe abzustempeln, ein anderes, der Verwandtschaft seiner geistigen Eigenart mit der intellektuellen Besonderheit eines anderen Genies nachzuspüren und aus dieser Verwandtschaft, wenn sie sich untrüglich erweist, das Verständnis für das Gemeinsame wie für das Besondere zu vertiefen. Hat Goethe selbst zeitlebens über Prioritätsstreitigkeiten, über den Vorwurf des Plagiats, kurz über alles kleinliche und äußerliche Haften an Ähnlichkeiten aufs schärfste g e s p o t t e t 1 ) , so ist ihm innere Übereinstimmung mit Gleichstrebenden über räumliche oder zeitliche Trennung hinaus stets von neuem Erlebnis, Antrieb, Offenbarung gewesen, seiner freudigen Anerkennung immer gewiß. In der „Geschichte der Farbenlehre" bezeichnet er es als „das einzig schöne Aperçu, was uns die Geschichte noch ganz allein erfreulich machen kann: daß die echten Menschen aller Zeiten einander voraus verkünden, auf einander hinweisen, einander vorarbeiten" 2 ), und zum Kanzler von Müller nennt er es „erbauen, wenn man zu dem, was man für das Rechte hält", auf seinem W e g e bei anderen „die Bestätigung und die Belege findet".3) Die nachfolgenden Ausführungen möchten zu zeigen versuchen, daß Goethe da, wo er sich in seiner Zeit am einsamsten fühlte, wo er von ihr als ein Fremdling empfunden wurde, nämlich auf seinem „eigenen, stillen W e g e " 4 ), den Erscheinungen beizukommen, der ihm um seiner selbst willen der Verfolgung wert erschien, auch wenn „kein Resultat daraus entspränge" 5 ), kurz in seiner Methode einem der Größten aller Zeiten nahestand. Goethes hinreißende Charakteristik Piatos ist bekannt. E r „verhält sich zur W e l t " , heißt es an der berühmten Stelle der Geschichte der Farbenlehre, „wie ein seliger Geist, dem es beliebt, einige Zeit bei ihr zu herbergen. E s ist ihm nicht sowohl darum zu tun, sie kennen zu lernen, weil er sie schon voraussetzt, als ihr dasjenige, was er mitbringt und was ihr so Zu E c k e r m a n n , 16. Dez. 1828. (Gespräche Goethes zitiere ich ebenfalls nur nach dem Datum, habe aber immer Biedermann 2 verglichen.) V g l . „ V o n w e m auf L e b e n s - und Wissensbahnen", W . A. I, 4, 150; ähnliches häufig. 2 ) Farbenlehre, Hist. Teil, 5. Abteiig., 17. Jahrh. (Johann Kepler) W . A . II, 3, 250. 4 ») 1 1 . Sept. 1827. ) Zur Morphologie 1817, W . A . II, 6, 16. E ) A n die Fürstin Gallizin, 6. F e b r . 1797. 1*

E . Rotten.

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not tut, freundlich mitzuteilen. Er dringt in die Tiefen, mehr, um sie mit seinem Wesen auszufüllen als um sie zu erforschen Er bewegt sich nach der Höhe, mit Sehnsucht, seines Ursprungs wieder teilhaft zu werden. Alles, was er äußert, bezieht sich auf ein ewig Ganzes, Gutes, Wahres, Schönes, dessen Forderungen er in jedem Busen aufzuregen strebt. W a s er sich im einzelnen von irdischem Wissen zueignet, schmilzt, ja man kann sagen verdampft in seiner Methode, seinem Vortrag". 1 ) Er nennt ein andermal jede Annäherung, die uns an Sokrates, Plato und Aristoteles möglich ist, „das Ereignis, was wir am freudigsten empfinden und was unsere Bildung zu befördern sich jederzeit kräftig erweist", und sieht das Mittel, sich „aus der grenzenlosen Vielfachheit, Zerstückelung und Verwickelung der modernen Naturlehre wieder ins Einfache zu retten", in der immer wieder sich vorzulegenden Frage: „ W i e würde sich Plato gegen die Natur, wie sie uns jetzt in ihrer größeren Mannigfaltigkeit, bei aller gründlichen Einheit, erscheinen mag, benommen haben?" 2 ) Mit welcher Genugtuung sich Goethe für seine Farbenlehre auf Plato beruft, wird später zu erwähnen sein. 3 ) Es wird zunächst Wunder nehmen, warum so selten und noch nie eingehend die Berührungspunkte zwischen Plato und Goethe geprüft worden sind, während doch Goethes Verhältnis zu einzelnen Philosophen und philosophischen Systemen so oft unter die kritische Lupe genommen worden ist: das zu Spinoza bis zur schroffsten Einseitigkeit und Übertreibung, das zu Kant nach den verschiedensten Seiten und Gesichtspunkten, das zu Bruno, Schelling, Schopenhauer u. a. in Monographien und Übersichten. Das Erstaunen wächst, wenn man wahrnimmt, wie ähnlich der hier vorgetragenen Auffassung z. B. Boucke, Rudolf Steiner, Moeller van den Bruck Goethe interpretieren und ihn doch ausdrücklich von Plato abrücken. Es löst sich dann durch die Erkenntnis, daß diese Forscher leider noch immer in der platonischen Ideenlehre, um es auf eine knappe Formel zu bringen, ein statisches und kein dynamisches Prinzip sehen. Einzig Hermann Siebeck stellt Plato und Goethe in dem hier ') Zur Farbenlehre. Histor.Teil. 3. Abteiig. Zwischenzeit. W . A . I I , 3,141. Aus Makariens Archiv. 1829. Maximen u. Reflexionen, hsg. v. M. Hecker, Sehr, der Goethe-Gesellschaft, Bd. 21, 1906; Nr. 663 und 664. Ich zitiere Max. u. Refl. stets nach dieser vollständigsten Ausgabe u. zwar nach Nummern. 3) Z. B. zu Eckermann, 16. Dez. 1828, u. sonst oft. 2)

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

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gemeinten Sinne einmal zusammen, doch liegt es in der A n l a g e seines B u c h e s 1 ) , daß darauf nicht näher eingegangen werden konnte. E s wird weiter unten deutlich werden, wieviel Klärung dieser Versuch ihm verdankt. H. St. Chamberlain 2 ) steht meiner Auffassung in vielen Punkten nahe; da er aber nur Kant einerseits mit Plato, andererseits mit Goethe vergleicht, kommen die hier behandelten Punkte nicht zur Sprache. 3 ) Zu der A b h a n d lung von O. Meyerhof 4 ) endlich, der Goethe als Platoniker charakterisiert, um ihm damit die Wissenschaftlichkeit abzusprechen, wird am Schlüsse Stellung zu nehmen sein. Der folgende V e r s u c h beruht, was die Interpretation Piatos betrifft, vollständig auf der von P. N a t o r p in seiner „Ideenlehre" und anderen Schriften niedergelegten Auffassung, deren Studium er seine Entstehung verdankt. Doch konnte ich auch eine Anzahl neuerer Arbeiten über Plato wie die von N. H a r t m a n n , S t e w a r t , T a y l o r , D e u ß e n , W . P a t e r sowie die von mir gründlich durchgearbeiteten Forschungen C. R i t t e r s mit heranziehen, soweit sie von jener Auffassung inspiriert oder ihr jedenfalls nicht zu widersprechen scheinen. Man liest wohl bisweilen in neueren Darstellungen, eine „Ideenlehre" sei bei Plato gar nicht zu finden, und dies gilt ganz gewiß, sofern sie kein Lehrgebäude ist und die Ideen nicht festgenagelt sind als die „alo'&rjrd ätdia", die verewigten Sinnendinge des Aristoteles, als die „zu metaphysischen Realitäten verselbständigten Begriffe" Zellers oder sonst als hypostasierte, zur Substanz erhobene Begriffe. W e d e r ein solches noch ein anderes starres D o g m a noch überhaupt eine fertige L e h r e gibt Plato. E r ist zeitlebens ein W e r d e n d e r , „schafft" ganz buchstäblich erst die Grundlage möglicher Wissenschaft, d. h. baut sie auf, beschreibt sie nicht als ein Gegebenes, Vorhandenes. W i e sie aber so in seinem Geiste und in seinen W e r k e n „geworden" ist, sich in aller echten Wissenschaft als produktivem Goethe als Denker. Frommanns Klassiker der Philos., 2. A. Stuttg. 1905. a) Immanuel Kant, 2. A. 1909. Ich zitiere ihn nach der am Rande angegebenen Paginierung der 1. A. *) Ein flüchtiger Einblick in Chamberlains neuestes W e r k : Goethe, München 1912, das mir erst während der Drucklegung dieser Arbeit zu Gesicht kommt, zeigt, daß seine Auffassung sich mit der hier dargelegten noch näher berührt als die oben genannten Arbeiten. E r nennt Goethe geradezu den deutschen Plato. 4) Über Goethes Methode der Naturforschung. S.-A. aus den Abhandlungen der Friesschen Schule, Göttingen 1910.

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Wissenschaffen bewährt hat, während alle nicht auf ihr b e ruhende Forschung äußerliches Anhäufen von Wissensstoff bleiben m u ß t e , „ i s t " sie nun und durfte wohl von der nachprüfenden, nachschaffenden Forschertätigkeit als ein Ganzes dargestellt, als „Ideenlehre" vor A u g e n geführt werden. Die Tendenz zur Einheit, zum S y s t e m im tiefsten Sinne — nur nicht in dem eines starren D o g m a s — tritt ja unverkennbar im philosophischen Ringen Piatos zutage; ist doch der egw? als künstlerischer, mithin gestaltender, ein Ganzes formender Schaffensdrang avvsgyög des Philosophen. E s soll nun zu zeigen versucht werden, daß Goethes gesamte Forschungsweise bis in die tiefsten Wurzeln in der Struktur seines Intellekts von echt platonischem Geiste genährt war: daß sie nicht „empirisch" war in dem Sinne, als habe sie nur aus von außen zufließenden Erfahrungstatsachen einen in der Natur gegebenen Gegenstand zu rezipieren und im Geiste zu rekonstruieren, sondern von Grund aus idealistisch, indem sie ihren wahren, ihr aufgegebenen Gegenstand erzeugte als „ I d e e " und dank ihr „aller W e s e n unharmonische Menge" zur Einheit und aus der Einheit sich zum Verständnis brachte. A u f die F r a g e : wie ist Erkenntnis möglich ? hatte Plato geantwortet: nur durch die Bindung des Unbegrenzten, Ungestalteten, Vielen durch das Begrenzende, Einheitschaffende, nämlich das Ideenvermögen. E r hatte es als die vornehmste Befugnis des Denkens erkannt, das Chaos des Veränderlichen, W e r d e n d e n zur Gestalt, zur Ruhe, zum bleibenden Sein zu formen, dem Unsteten einen „Halt am Sein" zu verschaffen, damit es nicht versinke in den „unbegrenzten Raum der Ungleichartigkeit". In gleicher W e i s e stellen sich uns Goethes V e r s u c h e , die Natur zu deuten und zu erklären, dar als grandioses Erheben der menschlichen Vernunft aus der „Sündflut der Erfahrung", wie er es einmal n e n n t 1 ) , aus dem verwirrenden W u s t von Einzelerscheinungen, aus der schwankenden Unbestimmtheit der bloßen Erfahrung zur Einheit des Blickpunktes in der Idee, um von ihr aus jenes Unbestimmte, Gleitende zur Bestimmung, zum Stillstand vor der Betrachtung zu bringen. W a s immer an der Erscheinung bestimmbar war, das war es ihm, wie Plato, dank der Idee. Diese, den Gegenstand des wahren Wissens im Gegensatz zur bloßen Meinung, gewann er, wiewohl a n der Sinnenwelt, nicht a u s ihr. W i e Plato im Sophistes die Meinung der ganz Naiven, die mit der Sache „fertig" zu sein und darüber ') Max. u. Refl. 1370.

A u s dem Nachlaß.

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

;

„genau Auskunft" geben zu können wähnen, als unhaltbar zurückweist 1 ), so klagt Goethe darüber, daß „die Überzeugung, daß alles fertig und vorhanden sein müsse . . . das Jahrhundert ganz umnebelt" habe, und bekennt sich zur „ideellen Denkweise", die „das Ewige im Vorübergehen schauen" lasse.2) Er war sich, nachdem er sich einmal über diese, man möchte fast sagen in ihm wirkende Methode klar geworden war, bewußt, sich z. B. dadurch von dem Botaniker Wolf zu unterscheiden, dessen Forschungsergebnisse in vielem einzelnen mit denen Goethes übereinstimmten, der aber die Idee der Pflanze als ein Unsinnliches, nur mit den Augen des Geistes Erschautes, weil vom Geiste mit innerer Notwendigkeit Erzeugtes, nicht kannte. 3 ) Sokrates hatte den Begriff gefunden, nämlich die Einheit, die die charakteristischen Merkmale des Mannigfaltigen zusammenfaßte ; er schied ihn nach Aristoleles noch nicht von den Sinnendingen , d. h. er gewann ihn aus ihnen. Plato vollzog diese Scheidung; das bedeutet aber nicht, wie Aristoteles wähnte, daß er die Ideen nun ihrerseits wieder hypostasiert, sie zu dinglichen Wesenheiten einer anderen, übersinnlichen Art gestempelt hätte. Sondern wenn wirklich die Leistung des Plato von der des Sokrates sich so unterschied, wie Aristoteles angibt, so kann es sich damit nur so verhalten, daß erst Plato es war, der das Moment der selbsttätigen Schöpferkraft der sie erzeugenden menschlichen Vernunft an der zu gewinnenden Einheit erkannte und in den Vordergrund stellte und der damit den Begriff zur Idee erhob. „Man kann die Einheit des Begriffs nicht aus den Dingen schöpfen. Umgekehrt, man muß sie erst hineintragen . . . . Das Eigentümliche der Leistung oder Kraft im Begriff" — der eben durch dies Moment der Spontaneität zur Idee wird — „muß verantwortlich gemacht werden für das, was aus dem Dasein der Einzelheit unverständlich bleiben müßte". 4 ) Elöog war schon der sokratische Begriff, aber wie Plato über diesen hinausging, suchte er auch nach einem weniger abgegriffenen Ausdruck, an dem sich das neue Element besser veranschaulichen ließ; so kam er zur löea. Schon im gewöhnlichen Sprachgebrauch überwiegt für elöog der substantivische Charakter, für lösa der verbale, also der Tätigkeitscharakter. „Daher konnte das eldog auf derjenigen Stufe des Problems ent') P. Natorp, Ideenlehre, Leipzig 1903, S. 280; ähnlich C. Ritter, Neue Untersuchungen über Plato, München 1910, bes. S. 38. 2 3 ) Joachim Jungius, 1 8 3 1 , W . A . II, 7, 120. ) S. unten S. 29. 4 ) N. H a r t m a n n , Piatons L o g i k des Seins. Gießen 1909. S. 176 f.

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springen, wo es sich noch nicht um die Einheit im reinen Sinne des erzeugenden Prinzips handelt, sondern einfach um das Allgemeine, die Regel, die Gattung . . . Die lôéa . . . verläßt zuerst den Charakter des Gegenständlichen und Gegebenen. . . . Dieser Charakter der Tätigkeit wird in der lôéa streng bewahrt, so sehr sie auch mit dem eîôoç den gleichen Inhalt repräsentiert." 1 ) Etàoç bleibt ein abgezogener Begriff, der den Schwerpunkt auf den sachlichen Inhalt legt; lôéa verdichtet ihn zur Gestalt, zum „Gesicht", das vor dem geistigen Auge dessen, der das Erdachte innerlich zu erschauen vermag, mit solcher Leuchtkraft ersteht, daß Licht in Fülle von ihm auf das Einzelne, Viele, die aus sich unbestimmbare Mannigfaltigkeit ausstrahlt. Daher „fängt alle menschliche Erkenntnis mit Anschauungen an, geht von da an zu Begriffen und endet mit Ideen". 2 ) Darum ist der Begriff konstitutiv, er stellt die Arten und Gattungen auf und operiert mit ihnen, um unsere Kenntnisse zu erweitern, wie es Linné tat, ohne jedoch dem Wesen der Pflanzen damit auf den Grund zu kommen; die Idee regulativ, denn sie ist ein Richtpunkt des Denkens, der das Vielgestaltige zu entwirren, aber nicht nur es zu ordnen und einzuteilen, sondern in sein Wesen einzudringen verhilft. Mag auch Plato eine ausgeprägte, bestimmt begriffliche U n t e r s c h e i d u n g des Regulativen vom Konstitutiven noch nicht zum Bewußtsein gekommen sein, so lag doch das Regulative unzweifelhaft und notwendig in der Idee, so wie er ihr Wesen faßte und zu umschreiben suchte, und es m u ß t e sich historisch aus ihrer Unendlichkeit, ihrer ewigen Unerreichbarkeit und ihrer Unentbehrlichkeit als Zielpunkt des Denkens und Forschens ergeben. Kant war es, der als erster diesen ursprünglichen, durch zwei Jahrtausende verdunkelten Sinn bei Plato wieder entdeckte und aussprach: „Plato bediente sich des Ausdrucks Idee so, daß man wohl sieht, er habe darunter etwas verstanden, was nicht allein niemals von den Sinnen entlehnt wird, sondern welches sogar den Begriff des Verstandes . . . weit übersteigt . . . Nach seiner Meinung flössen sie [die Ideen] 3 ) von der höchsten Vernunft aus, von der sie der menschlichen zuteil geworden." 4 ) Ganz so werden wir bei Goethe Begriff und Idee, diese als der Vernunft, jene als dem bloßen summierenden Verstand zugehörig, auseinanderN. Hartmann, a. a. O. S. 186 f. ) Kant, Kr. d. r. V., Kehrbach, S. 542. 3 ) Zusätze, die ich selbst einfüge, setze ich in eckige Klammern. *) A . a. O. S. 274. 2

Goethes Urphänomen und die platonische Idee. g e h a l t e n , d i e s e U n t e r s c h e i d u n g in einer g a n z e n R e i h e v o n B e l e g e n d u r c h g e f ü h r t u n d s e i n e g e s a m t e F o r s c h e r t ä t i g k e i t als „ e i n e l e b e n d i g e H e u r i s t i k " b e z e i c h n e t finden, „ w e l c h e eine u n b e k a n n t e , g e a h n t e R e g e l a n e r k e n n e n d , s o l c h e in d e r A u ß e n w e l t zu finden u n d in d i e A u ß e n w e l t e i n z u f ü h r e n t r a c h t e t " . 1 ) Nicht a n d e r s w o l l t e P l a t o d i e innerlich e r s c h a u t e E i n h e i t in d e r A u ß e n w e l t wiederfinden. „ E s gilt, g e m ä ß der Natur unseres E r k e n n t n i s v e r m ö g e n s f ü r ein j e d e s P r o b l e m d i e E i n h e i t e i n e r I d e e z u s e t z e n u n d a u f sie g e s t ü t z t d i e U n t e r s u c h u n g a n z u s t e l l e n : m a n w i r d sie a l s d a n n darin w i e d e r f i n d e n " 2 ) (òeiv . . . fiiav lòéav negl navxòg éxdaroze d'e/iévov? £rjT£Ìv evQrjoeiv yàg èvovoav P h i l e b o s 16 D ) . Plato weiß „keinen schöneren W e g f ü r die U n t e r s u c h u n g " ; alle E r f i n d u n g e n u n d E n t d e c k u n g e n , die j e gemacht w o r d e n ([oaa ré%vt]g è^ófieva avevQé&t] jioré), seien auf d i e s e m W e g e a n s L i c h t g e k o m m e n . Die Idee ist mit d e r Erfahrung innerlich so notwendig verknüpft wie d e r B e g r i f f ; aber dieser bleibt stets am Endlichen und B e g r e n z t e n h a f t e n , jene strèbt ins Grenzenlose und U n e n d l i c h e , r e i ß t d e n G e i s t unablässig weiter und h ö h e r e m p o r . S i e zu e r f a s s e n , g e n ü g t w e d e r d i e W a h r n e h m u n g allein n o c h d a s b l o ß a b s t r a k t e D e n k e n , s o n d e r n nur ein s e l b s t ä n d i g e r S c h ö p f e r a k t d e s G e i s t e s , d e n P l a t o , e h e e r ihn l o g i s c h als B e s t a n d t e i l u n s e r e s E r k e n n t n i s v e r m ö g e n s h e r a u s a r b e i t e t , als E k s t a s e , G e i s t e s r a u s c h , E r h e b u n g d e s S c h a u e n den über sich selbst hinaus bezeichnet und den G o e t h e meint, w e n n e r e i n m a l s a g t , d a ß „ e i g e n t l i c h das Überschwängliche d i e G r ö ß e m a c h t " . 3 ) D i e Idee ist d e n n o c h von W i l l k ü r noch w e i t e r entfernt als der B e g r i f f , ja sie ist i h r e m W e s e n n a c h v ö l l i g d a v o r geschützt. „Phantasie ist d e r N a t u r viel n ä h e r als d i e S i n n lichkeit; d i e s e ist i n d e r N a t u r , j e n e s c h w e b t ü b e r ihr. Phant a s i e ist d e r N a t u r g e w a c h s e n , S i n n l i c h k e i t w i r d v o n ihr b e h e r r s c h t . " *) M a n k a n n n i c h t s c h ä r f e r , u n d z u g l e i c h n i c h t g e t r e u e r i m S i n n e P i a t o s , als e s G o e t h e g e t a n h a t , d i e E r h a b e n h e i t der Idee über den Begriff erklären aus ihrem unendlichen Char a k t e r , ihrer s p o n t a n e n E r h e b u n g ü b e r die b l o ß e , v e r s t a n d e s m ä ß i g e A b s t r a k t i o n u n d ihrer i n n e r e n N o t w e n d i g k e i t u n d u n l ö s l i c h e n V e r k n ü p f u n g m i t d e m W i r k l i c h e n , d a m a n es in d e r N a t u r „ n i c h t mit a b s t r a k t e n , s o n d e r n m i t k o n k r e t e n K r ä f t e n u n d K ö r p e r n z u t u n h a t u n d es s i c h m i t d e m H ö c h s t e n , d e r ») Max. u. Reil. 328, s. unten S. 35. 2) N. H a r t m a n n , a. a. O. S. 384. Gesch. d. Farbenl. 6. Abtig., 18. Jahrh. W. A. II, 4, 99. 4) Zur Morphologie. Verfolg. Poetische Metamorphosen. Aus dem Nachlaß W. A. II, 6, 361. 3)

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Idee, ebenso verhält, daß man sie keineswegs ins Enge noch ins Gleiche bringen kann". 1 ) Mit nicht geringerer Prägnanz hat Goethe den Unterschied zwischen dem Phantastischen und dem Ideellen, der dem Naturforscher beständig vor Augen stehen müsse 2 ), herausgehoben. In einem leider nicht ausgeführten Bruchstück beabsichtigte er, am „Beispiel vom Aquädukt das Phantastische vom Idealen zu unterscheiden", d. h. er wollte „den Lauf der Idee schildern, die wie das Wasser im Aquädukt hoch über der irdischen Wirklichkeit dahin fließt, aber durch feste Stützen auf ihr aufruht, und sich dadurch von dem Phantastischen scheidet, das die Wirklichkeit verleugnet". 3 ) Auch Kant betont den regulativen Gebrauch der Ideen, „den Verstand zu einem gewissen Ziel zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius) d. i. Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen." 4 ) Wir werden die Idee als einen solchen Richtpunkt des Denkens bei Goethe wiederfinden, so wie sie Plato für alle Zeiten vorgebildet hat, indem er als das Konstante in der Idee als Tätigkeit, Aktivität, Spontaneität den Einheitscharakter dieser Aktivität selbst, den richtunggebenden „Blickpunkt" (0x0716g) hinstellt. 5 ) So hat die Idee für Plato, wiewohl sie ihrem Ursprung nach „ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung" liegt, dennoch nicht, wie Aristoteles meinte, losgelöst — ^CÜJH? — vom Dasein, vielmehr unzweideutig f ü r das Dasein der Erscheinungswelt Wert und Geltung: mit ihrer Hilfe wird es zur Aufgabe aller wissenschaftlichen Untersuchung, das sinnliche Dasein gesetzmäßig zu erdenken, es damit zum wahrhaften, d. h. wissenschaftlich begründeten Sein zu machen. Diese ganze „Setzung des in Einheit, in Identität Beharrenden, des An-sich-Seins im reinen Denken überhaupt" hat „nur Sinn und Wert im Hinblick auf die grenzenlose Vielgestalt, Veränderlichkeit und Relativität des Er') Gesch. der Farbenl. 6. Abtlg. 18. Jahrh. W . A. II, 4, 283. ) Max. u. Reil. 726. Aus Makariens Archiv 1829. 3 ) Vorarb. zu einer Physiologie der Pflanzen. Mitte der 90 er Jahre. W. A. II, 6, 302; Morris, Jub.-Ausg. Bd. 39, Anm. auf S. 370. *) A. a. O., S. 503. 6 ) N. Hartmann, a. a. O., S. 189. 4

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

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scheinenden".1) Diese Einheit, die das V e r g ä n g l i c h e , F l i e ß e n d e , e w i g W e r d e n d e bindet, das Ungestaltete gestaltet und ihm mitten i m E n t s t e h e n u n d V e r g e h e n U n v e r g ä n g l i c h k e i t v e r l e i h t , ist d i e Einheit des Gesetzes. G e s e t z l i c h k e i t ist W e s e n u n d L e i s t u n g d e r Idee. Sie „bewirkt „Gesetz und Ordnung" — oder, wie m a n vö/nov xal rd£tv ( P h i l e b o s 26 B ) v i e l l e i c h t b e s s e r ü b e r s e t z e n dürfte — „die O r d n u n g des G e s e t z e s " " 2 ) . D e n n diese bedeutet, auf das W e r d e n der D i n g e b e z o g e n , das, was wir h e u t e Naturgesetz nennen, mit der E i n s c h r ä n k u n g allerdings, d a ß das Naturg e s e t z , in e i n e r a b s t r a h i e r e n d e n F o r m e l a u s g e s p r o c h e n , k o n s t i t u t i v g e l t e n will, a b e r s e l b s t u n t e r d e r r e g u l a t i v e n I d e e s t e h t ; eine Unterscheidung, die uns bei G o e t h e i m m e r wieder b e g e g n e n w i r d in d e r s c h a r f e n S o n d e r u n g z w i s c h e n „ I d e e " u n d „ M a n i f e s t a t i o n d e r I d e e " . Im N a t u r g e s e t z „ w i r d d a s u n e n d l i c h Mannigf a l t i g e nicht eingeschränkt, das E n t s t e h e n und Vergehen nicht aufgehoben, sondern vielmehr geordnet und geregelt, d e r k l a r e n Übersicht zugänglich gemacht. Aufgehoben w i r d n u r d a s n i c h t Verstandesgemäße, die Unordnung". 3 ) W a s a b e r G o e t h e I d e e , T y p u s , U r p h ä n o m e n n a n n t e , w a s e r d e m G a n g e seiner U n t e r s u c h u n g e n d e s W a n d e l b a r e n als ein innerlich E r s c h a u t e s z u g r u n d e l e g t e , w i r d s i c h u n s a u f s d e u t l i c h s t e o f f e n b a r e n als — i h m s e l b s t voll b e w u ß t — d a s w a l t e n d e u n d e r h a l t e n d e , in seiner W i r k u n g beharrende G e s e t z der b e o b a c h t e t e n E r s c h e i nungen. E r sieht n u r k e i m e n , b l ü h e n u n d w e l k e n ; a b e r „Getrost! das Unvergängliche, E s ist d a s e w i g e G e s e t z , Wonach die R o s ' u n d L i l i e b l ü h t . " 4 ) Dieses G e s e t z und seine „unausweichliche H e r r s c h a f t " wird er nicht m ü d e , z u m G e g e n s t a n d e wissenschaftlicher F o r s c h u n g und sogar zum letzten O b j e k t künstlerischer Darstellung zu machen. D e n n a u c h als K ü n s t l e r b e s e e l t ihn e b e n d e r s e l b e egcog, d e r s e i n e r F o r s c h u n g W e g u n d Z i e l g i b t , u n d d e m F o r s c h e r *) P. Natorp, Plato, in: Große Denker, Leipzig 1911, S. 112. N. Hartmann, a. a. O., S. 399. Der Verf. macht darauf aufmerksam, daß Plato im allgemeinen den Ausdruck „Gesetz" wohl darum selten gebraucht, weil nach dem Sprachgebrauch der Sophisten vöpog die Bedeutung menschlich willkürlicher Satzung bekommen hatte. Wir werden auch bei Goethe diese beiden Bedeutungen des Gesetzes prägnant von einander geschieden und nur die erste für die in Wissenschaft und Kunst zugrunde gelegten Ideen in Anspruch genommen finden; s. später. 3) N. Hartmann, a. a. O., S. 400. *) Chinesisch-deutsche Tag- u. Jahreszeiten, ca 1817. W. A. I, 4, 114; vgl. den Brief an Zelter, 9. Nov. 1829. 2)

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stellt das Auge des künstlerisch Orientierten das jeweils gedanklich erarbeitete Gesetz in der inneren Schau als ein wirkendes Ganzes, als Idee dar. E s mag dann schließlich noch vorausgeschickt werden, daß die Fragen nach einer Beeinflussung Goethes durch Plato, nach dem genauen Stande von Goethes Kenntnis platonischer Schriften, nach dem Umwege, auf dem platonische Gedanken etwa durch Zeitgenossen, durch die kritische Philosophie, durch Shaftesbury und die Neuplatoniker zu ihm gedrungen sein mögen, hier nicht aufgeworfen werden können. E s handelt sich nicht darum, Abhängigkeit, sondern innere Übereinstimmung und Geistesverwandtschaft mit Plato, wahrscheinlich genährt durch eine allgemeine Erinnerung an Eindrücke aus platonischen Schriften, zu erweisen. Erwähnt hat Goethe seine übrigens ernsthaft im Urtext betriebene Platolektüre wiederholt, doch scheint den Stürmer und Dränger dabei vor allem die Persönlichkeit des Sokrates interessiert zu haben 1 ), den er zu einem dramatischen Helden machen wollte. Auch „Dichtung und Wahrheit" legt den Schwerpunkt des Interesses für jene Zeit auf den älteren Meister. 2 ) Erst 1793, also in der Zeit seiner größten Hingebung an naturwissenschaftliche Probleme, gehen ihm die Augen über Plato auf: „Seit einigen Tagen habe ich gleichsam zum ersten Mal im Plato gelesen, und zwar das Gastmahl, Phädrus und die Apologie. Wie wunderbar mir dieser fürtreffliche Mann vorkommt, möcht ich Dir erzählen . . . " 3 ) , und an den Physiker Windischmann schreibt er 1804, kurz vor Abschluß der Farbenlehre: „Die mir früher bekannte Übersetzung des Timaeus habe ich mit ihren Zugaben wiederholt gelesen und mich dabei gleicher und ähnlicher Gesinnungen gefreut. Wie angenehm muß es mir sein, wenn dasjenige, was ich im einzelnen Schauen, im Ahnden und Hoffen länge für wahr gehalten, nun auch im allgemeinen A n - und Überschauen gültig bleibt." 4 ) Vielleicht stammt aus der gleichen Zeit eine undatierte Anfrage an Riemer: „ W a n n sind deutsche Übersetzungen des Plato herausgekommen? Schleyermachers? Stolbergs?" 5 ) Die letztere war in Königsberg 1795, vordatiert auf 1796, die erstere von 1804 an erschienen. ') An Cornelie Goethe, Leipzig, August 1767; an Herder, Wetzlar, 10. Juli 1772. Vgl. Ephemerides, Straßburg, 1770, Der junge Goethe, 2. A. 1910, 2. Bd. S. 41 ff. 6. Buch, W . A. I, 27, 12. ») An F . H. Jacobi, 1. Febr. 1793. 4 5 ) An Windischmann, 23. Nov. 1804. ) W . A. IV, 50, S. 107.

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

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Sucht man den „prägnanten Punkt", von dem aus die Eigenart der Goetheschen Forschungsweise am deutlichsten werden kann, so bietet sich dazu seine Lehre von den Urphänomenen dar — Lehre freilich nur insoweit zu nennen, als bei einem Geiste von so hervorragendem Bedürfnis nach philosophischer Blickrichtung und Grundlage und so auffälligem Mangel .an Begriffssystematik, die ihm als Dogmatismus erschienen wäre, von Lehre gesprochen werden darf. Die Rede vom „unphilosophischen Goethe" hat in der Verwechslung dieser beiden Eigenschaften oder Geistesrichtungen ihren Ursprung; in gelegentlicher Verstimmung verfiel er allerdings auch wohl selbst dieser Verwechslung. So hat Goethe keine eindeutig erschöpfende Definition dieses von ihm geschaffenen, zugleich einheitlichen und elastischen Begriffs gegeben, und nur aus der Art seiner Anwendung werden wir völlig in seine Bedeutung eindringen können. Immerhin mögen ihn auch hier zunächst, noch ohne daß auf eine Ausdeutung im einzelnen eingegangen würde, die Worte einführen, mit denen Goethe seiner — in der Farbenlehre — zum ersten Mal Erwähnung tut: „Wir möchten jene im allgemeinen ausgesprochene Haupterscheinung ein Grund- und Urphänomen nennen, und es sei uns erlaubt, das, was wir darunter verstehen, sogleich beizubringen. Das was wir in der Erscheinung gewahr werden, sind meistens nur Fälle, welche sich mit einiger Aufmerksamkeit unter allgemeine empirische Rubriken bringen lassen. Diese subordinieren sich abermals unter wissenschaftliche Rubriken, welche weiter hinaufdeuten, wobei uns gewisse unerläßliche Bedingungen des Erscheinenden näher bekannt werden. Von nun an fügt sich alles nach und nach unter höhere Regeln und Gesetze, die sich aber nicht durch Worte und Hypothesen dem Verstände, sondern gleichfalls durch Phänomene dem Anschauen offenbaren. Wir nennen sie Urphänomene, weil nichts in der Erscheinung über ihnen liegt, sie aber dagegen völlig geeignet sind, daß man stufenweise, wie wir vorhin hinaufgestiegen, von ihnen herab bis zu dem gemeinsten Falle der täglichen Erfahrung niedersteigen kann". 1 ) Es wird noch von anderen Seiten Licht auf diese Erklärung fallen müssen, damit Wesen und Bedeutung des in ihr umschriebenen Begriffs ganz zutage treten. Goethe selbst war sich bewußt, daß er seine gesamte Forschungsweise „auf Urphänomene gegründet" habe 2 ), und ') Farbenlehre, Didakt. Teil. 2. Abtig., Phys. Farben. W . A . II, 1, 7 2 f . ) A n S. Boisserde, 2. August 1 8 1 5 .

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ebenso, sich damit „in der R e g i o n zu befinden, w o Metaphysik und N a t u r g e s c h i c h t e " — wir w ü r d e n lieber sagen Philosophie und Naturforschung — „ ü b e r e i n a n d e r g r e i f e n , also d a , w o der ernste treue F o r s c h e r a m liebsten verweilt. D e n n hier wird er durch den Z u d r a n g grenzenloser Einzelheiten nicht mehr g e ä n g s t i g t , weil er den hohen E i n f l u ß der einfachsten Idee schätzen lernt, welche auf die v e r s c h i e d e n s t e W e i s e Klarheit und O r d n u n g d e m Vielfältigsten zu verleihen geeignet i s t " . 1 ) „ K a n n der Physiker zur Erkenntnis dessen gelangen, was wir ein Urphänomen genannt h a b e n , so ist er g e b o r g e n , und der Philosoph mit ihm: E r , denn er ü b e r z e u g t sich, d a ß er an die Grenze seiner W i s s e n s c h a f t gelangt sei, d a ß er sich auf der empirischen H ö h e befinde, w o er r ü c k w ä r t s die Erfahrung in allen ihren S t u f e n überschauen und vorwärts in das Reich der T h e o r i e w o nicht eintreten, d o c h einblicken könne. D e r Philosoph ist g e b o r g e n , denn er nimmt aus des P h y s i k e r s Hand ein L e t z t e s , das bei ihm nun ein E r s t e s wird. E r b e k ü m m e r t sich mit R e c h t nicht mehr u m die Erscheinung, wenn man darunter das A b g e l e i t e t e versteht, wie man es e n t w e d e r schon wissenschaftlich zusammengestellt findet oder wie es gar in empirischen F ä l l e n zerstreut und verworren vor die Sinne tritt. W i l l er ja auch diesen W e g durchlaufen und einen Blick ins Einzelne nicht v e r s c h m ä h e n , so tut er es mit B e q u e m l i c h k e i t , anstatt d a ß er bei anderer Behandlung sich entweder zu lange in den Zwischenregionen aufhält oder sie nur flüchtig durchstreift, ohne sie genau kennen zu l e r n e n . " 2 ) T r e f f e n d nennt M a x H e c k e r den Begriff d e s U r p h ä n o m e n s den „ G r u n d - und H a u p t b e g r i f f Goethischer Natur- (und K u n s t - ) b e t r a c h t u n g " und den „ S c h n i t t p u n k t der künstlerisch-anschaulichen und der philosophisch-abstrakten Richtung seiner N a t u r " . 3 ) In der V e r e i n i g u n g , V e r s c h m e l z u n g beider Richtungen zu einer einzigen liegt vielleicht das tiefste Charakteristikum seiner geistigen Individualität. E r sieht in „allen V e r s u c h e n , die Prob l e m e der Natur zu lösen, eigentlich nur K o n f l i k t e der D e n k k r a f t mit d e m A n s c h a u e n " 4 ) , K o n f l i k t e a b e r , die ihrer Natur nach der L ö s u n g zustreben: er g l a u b t , d a ß zwischen „ d e m Praktischen und T h e o r e t i s c h e n " — er hätte auch sagen können, ') Zur Morphologie. Aphoristisches. W. A. II, 6, 348 f. r) Farbenlehre. Didakt.Teil. 5. Abtlg. Nachbarl. Verhältnisse. W. A. II, 1,287. *) Anm. zu Nr. 412 der Max. u. Refl. a. a. O. S. 334. *) Der Kammerberg bei Eger, 1808. W. A. II, 9, 91.

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

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zwischen der Anschauung 1 ) und der Abstraktion — „sobald man sie getrennt ansieht, kein Verbindungsmittel stattfinde, und daß sie nur insofern verbunden sind als sie von Haus aus verbunden wirken, welches bei dem Genie von jeder Art stattfindet. Ich stehe gegenwärtig in eben dem Fall mit den Naturphilosophen, die von oben herunter, und mit den Naturforschern, die von unten hinauf leiten wollen. Ich wenigstens finde mein Heil nur in d e r Anschauung, die in der Mitte steht". 2 ) Daß in diesem Charakter des Urphänomens als eines Grenzbegriffes 3 ) eine Gefahr für die Anwendung liegt, hat Goethe selbst nicht verkannt: „Bei den Urphänomenen zu verweilen und sich an denselben mit verehrender Resignation zu begnügen, ist oft angeraten worden. Allein da tritt uns die neue Schwierigkeit entgegen, wo ruht denn eigentlich das Urphänomen, daß wir unsere Forschung dabei könnten beruhen lassen ? Wir antworten darauf: in der allgemeinen" — also doch wohl theoretischen — „Naturlehre sind die Urphänomene wohl zu finden, in der besonderen" — an einzelnen Fällen oder Beispielen — „sie zu zeigen, möchte schwer werden". 4 ) Es wird sich zeigen, daß für Goethe selbst diese Schwierigkeit in der Naturwissenschaft zu einer ernsten Gefahr, in der Ästhetik zum Quellpunkt einer Auffassung von wunderbarer Tiefe und Fruchtbarkeit wurde. Emerson sagt von Goethe „He sees at every pore". Wie sein Türmer Lynkeus „zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt", gesteht er von sich: „Das Auge war vor allen anderen das Organ, womit ich die Welt faßte" 5 ), „Bei mir ist das Auge vorwaltend" 6) und: „Die Naturbetrachtungen freuen mich sehr . . . • Es wird eigentlich die Welt des Auges . . . denn wenn ich recht acht gebe, so brauche ich die Hilfsmittel anderer Sinne nur sparsam, und alles Räsonnement verwandelt sich in eine Art Darstellung" 7 ); und so war in der Tat bei jeder Betrachtung, die er anstellte, sein Künstlerauge gestaltend mit am Werke. Drängt sich nicht schon hier die Vergleichung mit Plato auf? Plato war „Visualist", er braucht Anschauungen, „um im sinnlichen Symbol, im „Gesicht" (das ') Ich gebrauche Ausdrücke wie „Anschauung" u. ähnl. hier natürlich nicht im strengen Kantischen, sondern in dem läßlicheren Sinne, in dem Goethe selbst sich ihrer bediente. 2) An Schiller, 30. Juni 1798. 3) Vgl. oben Anm. 1. *) Paralipomena zur Besprechg. von C. W . Noses geol. W e r k 1820. W . A. II, 9, 399. 5) Dichtung u. Wahrheit, 6. B. W. A. I, 27, 16. •) An Zelter, 27. März 1830. ') An Schiller, 15. Nov. 1796.

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ist eigentlich oder wird bei ihm die Idee), in der inneren „Schau" (#ea) das Ergebnis der tiefsten gedanklichen Konzentration . . . . . sich bleibend gegenwärtig zu halten". 1 ) Fast Wort für Wort könnte das von Goethes Forschungsweise gesagt sein. Wie mag in seiner Seele, als er den „Phädrus" las, das L o b des hellsten körperlichen Sinnes widergehallt haben ! Daß sein Spruch: „ W ä r nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken . . .", als dessen Gewährsmann Goethe selbst „einen alten Mystiker" nennt — schon von Riemer richtig als Plotin gedeutet — , sich dem Gedanken nach in Piatos „Timaios" und „Staat" findet, darauf ist auch schon hingewiesen worden. 2 ) Auch die „Urphänomene" sind ein sinnliches Symbol, von dem ein Zeitgenosse zu Goethes großer Befriedigung rühmte, „das Sinnliche" fördere dabei „das wahrhaft Übersinnliche". 3 ) Es ist bezeichnend, daß eben dieser Zeitgenosse, W . von Schütz, Goethe mit Plato vergleicht: „Erneuert Winckelmann das Gefühl, mit welchem uns Plato ergreift, daß er sich noch nicht vollkommen ausgesprochen habe, daß er sich auch nie vollkommen aussprechen könne und werde, so ist Goethe der dritte Geist, den dasselbe charakterisiert, als Dichter, als Weltbeobachter und als Naturkundiger", und daß Goethe auch diese Stelle auszieht und in den „Heften zur Morphologie" mitteilt. 4 ) Die treffendste Charakteristik findet sich bei Siebeck: „Das geistige Anschauen, der synthetische Blick und das Aperçu sind . . . . in der Hauptsache nur gradweise verschiedene Bekundungen eines und desselben Vermögens, nämlich der Fähigkeit, in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen das zu fassen, was als Offenbarung des Wesens oder der Idee zu betrachten ist. Man erschaut vermittels ihrer den normalen Zusammenhang des Seins und Werdens, das einheitlich Gesetzmäßige, was als der rote Faden der Entwicklung sich durch die Vielheit der Teile des Gegebenen, der Exemplare einer Gattung, der sukzessiven Stadien eines Geschehens in Natur oder Leben hindurchzieht. Für das Objekt dieser Art des Anschauens bedient sich Goethe mit Vorliebe des Ausdrucks Urphänomen und bezeichnet damit einen Sachverhalt, worin für ihn der eigentliche Schwerpunkt sowohl der Naturbetrachtung als auch der Dichtung gelegen ') P. N a t o r p , in: G r o ß e Denker, S. 108. Ë. v. L i p p m a n n , Goethe-Jahrb. X V , 267—68. 3) Auszug aus W . v. Schütz, Zur Morphol. 1821. W. A. II, 6, 214. *) A. a. O . (s. Anm. 3) S. 211. 2)

G o e t h e s U r p h ä n o m e n und die p l a t o n i s c h e I d e e .

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ist. Rein naturwissenschaftlich bestimmt, kennzeichnet sich das Urphänomen als ein notwendiger Zusammenhang von Elementen der Wahrnehmungswelt, der für ein bestimmtes Gebiet der Wirklichkeit, für eine bestimmte Gattung der Dinge typisch ist und sich dann in der Form eines Gesetzes aussprechen läßt." 1 ) Siebeck nennt nun als das ausgeführteste Beispiel dafür im Gebiet der Pflanzen das Gesetz der Metamorphose, die Urpflanze, die sich als das Wesen, die Idee der Pflanze ergibt, und spricht dann von dem Urphänomen, auf das Goethe für die tierischen Organismen gekommen sei. 2 ) Wer nun freilich daraufhin in Goethes Schriften zur Pflanzenmetamorphose oder „zur Morphologie überhaupt" nach dem Ausdruck „Urphänomen" suchen würde, wäre wohl recht erstaunt, ihn darin kein einziges Mal zu finden. Goethe gebraucht ihn nie vor 1805, wo er ihn für die Farbenlehre geprägt zu haben scheint, und wendet ihn in der „besonderen" Naturlehre nur im Bereich des Anorganischen an, in der „allgemeinen" dagegen bis an sein Lebensende häufig, und fast nie, ohne seine „hohe Bedeutung" als eines wissenschaftlichen Grundbegriffs hervorzuheben. 3 ) Daraus erwächst aber Siebeck kein Vorwurf; vielmehr möchte ich gerade erweisen, was in Siebecks Buch wohl nur der Umfang der Arbeit auszuführen verbot, daß in der T a t Goethes ganze Lehre „auf Urphänomene gegründet" 4 ), daß für ihn wie für Plato die Methode der oberste Gesichtspunkt der Wissenschaft und daß es eben dieselbe Methode war, die Goethe in Botanik, Zoologie, Physik, Witterungskunde leitete und seine Kunstauffassung mit in den Kreis seiner Forschungstätigkeit einreihte, mag nun als terminus technicus „Typus", „Idee" oder „Urphänomen" die führende Rolle haben 5 ); endlich, daß diese Methode durch die wissenschaftliche Tat, wie Piatos Ideenlehre durch logische Begründung, „Grundlagen zur Erforschung der Phänomene" 6 ) schaffen, das Gesetz zum wahren Inhalt der Wissenschaft machen 7 ), Gesichtspunkte geben möchte, unter denen der wissenschaftliche Forscher die empirischen Data betrachtet und die ') A . a. O . S. 50f.

*) A . a . O . S. 51.

*) Zu E c k e r m a n n , 23. F e b r . 1831, 21. D e z . 31 u. ö. 4) S. o. S. 13, A n m . 2. D i e Briefstelle nennt a u s d r ü c k l i c h F a r b e n lehre und P f l a n z e n m e t a m o r p h o s e als „ j e n e L e h r e n " , die er auf U r p h ä n o m e n e g e g r ü n d e t habe. s ) A u c h auf S. 129 spricht S i e b e c k d a v o n , w a s für G o e t h e das U r p h ä n o m e n im O r g a n i s c h e n b e d e u t e t e ; mit R e c h t , w i e w o h l der A u s d r u c k b e i ihm nur für A n o r g a n i s c h e s v o r k o m m t . •) N a t o r p ,

Ideenlehre, S. 215.

') E b e n d a , S. 48.

C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VIII, 1.

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wir auch als Naturgesetze aussprechen können. 1 ) Dabei will ich mich bemühen, die Vergleichung mit Plato so durchzuführen, daß die Verwandtschaft aus der Darstellung der Goethischen Methode hervorleuchtet, auch wo ich sie nicht im einzelnen belege. II. Goethe selbst war, so sorglos und gleichgültig er einer Systematisierung seiner wissenschaftlichen Ausdrucksweise gegenüberstand, von dem Bewußtsein der Einheitlichkeit und Eigenart seiner Methode ganz erfüllt. Nicht, als ob er mit von vornherein ausgeklügelten Forschungsmitteln an die Natur herangegangen wäre, um ihr „mit Hebeln und mit Schrauben" ihr Geheimnis abzuzwingen; sein Bestreben war es immer, als Forscher „sich selbst zu beobachten und zu sorgen, daß, wie er die Organe bildsam sieht, er sich also auch die Art zu sehen bildsam erhalte, damit er nicht überall schroff bei einerlei Erklärungsweise verharre". 2 ) Aber dann darf er jubeln: „Wie lesbar mir das Buch der Natur wird, kann ich Dir gar nicht ausdrücken. Mein langes Buchstabieren hat mir geholfen; jetzt ruckt's auf einmal, und meine stille Freude ist unaussprechlich. So viel Neues ich finde, find ich doch nichts Unerwartetes; es paßt alles und schließt sich an, weil ich kein System habe und nichts will als die Wahrheit um ihrer selbst willen." 3 ) Der Umschwung erfolgte in Italien. „Dies ist der eigentlichste Gewinn auf Reisen", heißt es in bezug hierauf in der Geschichte seines botanischen Studiums, „. . . . das Bekannte wird neu durch unerwartete Bezüge und erregt, mit neuen Gegenständen verknüpft, Aufmerksamkeit, Nachdenken und Urteil". 4 ) In den Weimarer „zehn Jahren" hatte Goethe, wie sein Leben lang ohne System, aber wie später nie mehr, noch ohne Bewußtsein einer Methode, botanisiert und mineralogisiert, anatomisch gearbeitet und osteologische Präparate gesammelt; 1784 war ihm die Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen gelungen. In Italien nun nimmt er in einer Erregung, die in allen Aufzeichnungen darüber durchzittert, an seinem botanischen Studium den großen methodischen Zusammenhang ') J. A. S t e w a r t , Plato's Doctrine of Ideas. Oxford 1909, S. 6. ) Zur Morphologie. Verfolg. Aphoristisches. (Aus dem Nachlaß.) W . A. II, 6, 349. 3 4 ) An Frau v. Stein, 15. Juni 1786. ) W . A. II, 6, 119 f. 2

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wir auch als Naturgesetze aussprechen können. 1 ) Dabei will ich mich bemühen, die Vergleichung mit Plato so durchzuführen, daß die Verwandtschaft aus der Darstellung der Goethischen Methode hervorleuchtet, auch wo ich sie nicht im einzelnen belege. II. Goethe selbst war, so sorglos und gleichgültig er einer Systematisierung seiner wissenschaftlichen Ausdrucksweise gegenüberstand, von dem Bewußtsein der Einheitlichkeit und Eigenart seiner Methode ganz erfüllt. Nicht, als ob er mit von vornherein ausgeklügelten Forschungsmitteln an die Natur herangegangen wäre, um ihr „mit Hebeln und mit Schrauben" ihr Geheimnis abzuzwingen; sein Bestreben war es immer, als Forscher „sich selbst zu beobachten und zu sorgen, daß, wie er die Organe bildsam sieht, er sich also auch die Art zu sehen bildsam erhalte, damit er nicht überall schroff bei einerlei Erklärungsweise verharre". 2 ) Aber dann darf er jubeln: „Wie lesbar mir das Buch der Natur wird, kann ich Dir gar nicht ausdrücken. Mein langes Buchstabieren hat mir geholfen; jetzt ruckt's auf einmal, und meine stille Freude ist unaussprechlich. So viel Neues ich finde, find ich doch nichts Unerwartetes; es paßt alles und schließt sich an, weil ich kein System habe und nichts will als die Wahrheit um ihrer selbst willen." 3 ) Der Umschwung erfolgte in Italien. „Dies ist der eigentlichste Gewinn auf Reisen", heißt es in bezug hierauf in der Geschichte seines botanischen Studiums, „. . . . das Bekannte wird neu durch unerwartete Bezüge und erregt, mit neuen Gegenständen verknüpft, Aufmerksamkeit, Nachdenken und Urteil". 4 ) In den Weimarer „zehn Jahren" hatte Goethe, wie sein Leben lang ohne System, aber wie später nie mehr, noch ohne Bewußtsein einer Methode, botanisiert und mineralogisiert, anatomisch gearbeitet und osteologische Präparate gesammelt; 1784 war ihm die Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen gelungen. In Italien nun nimmt er in einer Erregung, die in allen Aufzeichnungen darüber durchzittert, an seinem botanischen Studium den großen methodischen Zusammenhang ') J. A. S t e w a r t , Plato's Doctrine of Ideas. Oxford 1909, S. 6. ) Zur Morphologie. Verfolg. Aphoristisches. (Aus dem Nachlaß.) W . A. II, 6, 349. 3 4 ) An Frau v. Stein, 15. Juni 1786. ) W . A. II, 6, 119 f. 2

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seiner gesamten Arbeits- und Forschungsweise wahr: „Am meisten freut mich jetzt das Pflanzenwesen, das mich verfolgt, und da ist's recht, wie einem eine Sache zu eigen wird. Es zwingt sich mir alles auf, ich sinne nicht mehr darüber, es kommt mir alles entgegen, und das ungeheure Reich simplifiziert sich mir in der Seele, daß ich bald die schwerste Aufgabe gleich weglesen kann. Wenn ich nur jemanden den Blick und die Freude mitteilen könnte, es ist aber nicht möglich. Und es ist kein Traum, keine Phantasie. E s ist ein Gewahrwerden der wesentlichen Form, mit der die Natur gleichsam immer nur spielt und spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt. Hätt ich Zeit in dem kurzen Lebensraum, ich getraute mich, es auf alle Reiche der Natur — auf ihr ganzes Reich •— auszudehnen."*) Bald nach Abschluß des „Versuchs, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären", schreibt er dann an Jacobi: „In der Art, auf dem Wege, wie Du mein botanisches Werkchen wirst gelesen haben, setze ich meine Betrachtungen über alle Reiche der Natur fort und wende alle Kunstgriffe an, die meinem Geiste verliehen sind, um die allgemeinen Gesetze, wonach die lebendigen Wesen sich organisieren, näher zu erforschen." 2 ) Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt läßt sich zeigen, daß die Erkenntnis, mit der Arbeit über die Pflanzenmetamorphose die Methode für sein Forschen auf allen Gebieten gefunden zu haben, sich nie mehr aus Goethes Bewußtsein verloren hat. Ein hochwichtiges Zeugnis von 1798, das den Zusammenhang seiner Erforschung des Organischen und Anorganischen klarstellt, findet später seine Stelle. Hier mag ein Beleg von 1807 stehen: „Die Gestalt ist ein Bewegliches, ein Werdendes, ein Vergehendes. Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre. Die Lehre von der Metamorphose ist der Schlüssel zu allen Zeichen der Natur". 3 ) Und wieder ein Jahrzehnt später heißt es in einem Bericht „Entstehen des Aufsatzes über Metamorphose der Pflanzen": „Betrachtete ich . . . das Unternehmen Linnes ... . so fühlte ich immer mehr Ehrfurcht für diesen einzigen Mann . . . da konnte mir denn ein ruhiger, bescheidener Blick sogleich die Einsicht gewähren, daß ein ganzes Leben erforderlich sei, um die unendlich freie Lebenstätigkeit eines einzigen Naturreichs zu überschauen und zu ordnen, gesetzt auch, ein angeborenes Talent berechtige, begeistere hierzu. Dafür fühlte ich 2 ') An Frau v.Stein, 10. Juli 1786. ) An Jacobi, 20. März 1791. 3 ) Paralip. zur Morphol. W . A. II, 6, 446. 2*

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aber, daß für mich noch ein anderer Weg sein möchte, analog meinem übrigen Lebensgange . . . Der nächste Band [die italienischen Reise] wird klar machen, wie ich auf eine kindliche Weise den Begriff der Pflanzenmetamorphose gefaßt, wie ich mit Freude, ja mit Entzücken demselben in Neapel und Sizilien liebevoll nachgehangen, ihn überall angewendet und von dem Vorgefallenen an Herder als von einem gefundenen evangelischen Groschen enthusiastisch Nachricht gegeben". 1 ) Das Glücksgefühl, ein „Sesam, öffne dich" für künftige Untersuchungen gefunden zu haben, muß ihn für die Teilnahmlosigkeit der Zeitgenossen entschädigen: „Mein redliches Bemühen, [in der Metamorphose der Pflanzen] blieb . . . ganz ohne Wirkung", und, „vergnügt, den Leitfaden für meinen eigenen stillen Weg gefunden zu haben" !i ), läßt er sich nicht irre machen. Er wird nicht müde, das Methodische der Schrift über ihr wissenschaftliches Ergebnis zu stellen: In den ,.Nacharbeiten und Sammlungen" zur Morphologie (1820) betont er,, daß „die Lehre von der Metamorphose überhaupt nicht in einem selbständigen , abgeschlossenen Werke verfaßt, sondern eigentlich nur als Musterbild aufgestellt werden kann, als Maßstab . . ." 3 ) Als er 1830 bucht, was für eine Aufnahme der Aufsatz über die Pflanzenmetamorphose in der wissenschaftlichen Welt gefunden habe, sind ihm die wenigen Besprechungen die liebsten, die das Methodische daran herausheben: „ E s scheint nichts schwieriger zu sein, als daß eine Idee, die in eine Wissenschaft eintritt, in dem Grade wirksam werde, um sich hier in das Didaktische zu verschlingen und sich dadurch gewissermaßen erst lebendig zu erweisen . . . Es ist jetzt Mode, in jedem Lehrbuch der Botanik, deren bald Legion sein wird, der Metamorphose ein Kapitelchen einzuräumen. So aber läßt sich der Geist, der das Ganze belebend durchdringen sollte, nicht einzwängen". 4 ) Ähnlich sagt Geoffroy de St. Hilaire in seinem Bericht über Goethes Schrift für die französische Akademie: „Fürwahr, trüge sein Buch nicht diesen beschränkenden Titel [Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären] an der ') 1817. W. A. II, 6, 394 f. 2 ) Zur Morphologie. Der Inhalt bevorwortet. 1817. W . A . I I , 6, 16. ') Zur Morphologie. Nacharb. u. Sammlungen. 1820. W . A. II, 6, 169. *) Wirkung meiner Schrift „Die Metamorphose der Pflanzen." W . A. II, 6, 250 u. 261. Der letzte Satz stammt aus einem Brief des Botanikers Ernst Meyer vom 8. April 1829, dessen „einstimmende Teilnamhe" Goethe jahrelang ermuntert hat. (W. A. II, 6, 258).

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Stirne, man würde glauben, die Geschichte der Entwicklung des menschlichen Geistes überhaupt zu lesen, die Geschichte einer stufenweisen Ausbildung zur Betrachtung und zum V e r ständnis der Phänomene des Universums". 1 ) Liebevoll ausführlich schildert Goethe endlich in der „Geschichte meines botanischen Studiums", 1 8 1 7 verfaßt, 1 8 3 1 umgearbeitet und erweitert 8 ), wie er beim Gewahrwerden der Pflanzenmetamorphose in Italien in ihr sein Lebensprogramm geahnt habe. „ W e r an sich erfuhr, was ein reichhaltiger Gedanke, sei er nun aus uns selbst entsprungen, sei er von anderen mitgeteilt oder eingeimpft, zu sagen hat, muß gestehen, welch eine leidenschaftliche Bewegung in unserem Geiste hervorgebracht werde, wie wir uns begeistert fühlen, indem wir alles dasjenige in G e samtheit vorausahnen, was in der Folge sich mehr und mehr entwickeln, wozu das Entwickelte weiterführen solle. Und so wird man mir zugeben, daß ich, von einem solchen Gewahrwerden wie von einer Leidenschaft eingenommen und getrieben, mich, wo nicht ausschließlich, doch durch alles übrige Leben hindurch damit beschäftigen mußte." 3 ) Noch vier Monate vor seinem Tode nennt er die Metamorphose der Pflanzen seine „Lebenskonfession". 4 ) — Ich habe die Belege in solcher Fülle erbracht, weil es mir notwendig erschien, daß das methodisch Ausschlag- und Richtunggebende der Metamorphosenlehre einmal nachdrücklich ins Licht gerückt würde.

III. Welches war nun diese Methode? Ich darf vorwegnehmen, was im einzelnen auszuführen und zu belegen sein wird. E s ist die „Zusammenschau des Zerstreuten" in der „Idee", im „ T y p u s " , im „Gesetz", als „Urpflanze", „Musterbild", „Urphänomen", so zwar, daß Goethe nicht durch Summation der gemeinsamen Züge einer großen Anzahl von Einzelexemplaren oder Einzelfällen zu einem abstrakten Begriff gelangt, sondern dank seiner genetischen Betrachtungsweise ersteht das innere W e s e n , die innere Gesetzmäßigkeit der beobachteten Erscheinungen in bildhafter, greif*) 33. Bd. *) «)

Abgedruckt in der Hempelschen Ausg. von Goethes Werken, Naturwiss. Sehr., eingeleitet von Kalischer, S. C X V . W . A. II, 6, 95ff.; die Fassung von 1817 ebenda 389ff. A. a. O. S. 121 f. *) An W. v. Humboldt, 1. Dez. 1831 (Konzept).

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Stirne, man würde glauben, die Geschichte der Entwicklung des menschlichen Geistes überhaupt zu lesen, die Geschichte einer stufenweisen Ausbildung zur Betrachtung und zum V e r ständnis der Phänomene des Universums". 1 ) Liebevoll ausführlich schildert Goethe endlich in der „Geschichte meines botanischen Studiums", 1 8 1 7 verfaßt, 1 8 3 1 umgearbeitet und erweitert 8 ), wie er beim Gewahrwerden der Pflanzenmetamorphose in Italien in ihr sein Lebensprogramm geahnt habe. „ W e r an sich erfuhr, was ein reichhaltiger Gedanke, sei er nun aus uns selbst entsprungen, sei er von anderen mitgeteilt oder eingeimpft, zu sagen hat, muß gestehen, welch eine leidenschaftliche Bewegung in unserem Geiste hervorgebracht werde, wie wir uns begeistert fühlen, indem wir alles dasjenige in G e samtheit vorausahnen, was in der Folge sich mehr und mehr entwickeln, wozu das Entwickelte weiterführen solle. Und so wird man mir zugeben, daß ich, von einem solchen Gewahrwerden wie von einer Leidenschaft eingenommen und getrieben, mich, wo nicht ausschließlich, doch durch alles übrige Leben hindurch damit beschäftigen mußte." 3 ) Noch vier Monate vor seinem Tode nennt er die Metamorphose der Pflanzen seine „Lebenskonfession". 4 ) — Ich habe die Belege in solcher Fülle erbracht, weil es mir notwendig erschien, daß das methodisch Ausschlag- und Richtunggebende der Metamorphosenlehre einmal nachdrücklich ins Licht gerückt würde.

III. Welches war nun diese Methode? Ich darf vorwegnehmen, was im einzelnen auszuführen und zu belegen sein wird. E s ist die „Zusammenschau des Zerstreuten" in der „Idee", im „ T y p u s " , im „Gesetz", als „Urpflanze", „Musterbild", „Urphänomen", so zwar, daß Goethe nicht durch Summation der gemeinsamen Züge einer großen Anzahl von Einzelexemplaren oder Einzelfällen zu einem abstrakten Begriff gelangt, sondern dank seiner genetischen Betrachtungsweise ersteht das innere W e s e n , die innere Gesetzmäßigkeit der beobachteten Erscheinungen in bildhafter, greif*) 33. Bd. *) «)

Abgedruckt in der Hempelschen Ausg. von Goethes Werken, Naturwiss. Sehr., eingeleitet von Kalischer, S. C X V . W . A. II, 6, 95ff.; die Fassung von 1817 ebenda 389ff. A. a. O. S. 121 f. *) An W. v. Humboldt, 1. Dez. 1831 (Konzept).

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barer Deutlichkeit symbolisch vor seinem geistigen A u g e : am Beispiel der Pflanze, indem er sich in ihr Werden, ihren Entstehungsgang — die gesetzmäßige Umformung der Organe auseinander — hineinlebt, bis er imstande zu sein glaubt, mit diesem Musterbilde vor seinem inneren Auge als Künstler neue Exemplare zu schaffen, die in der Natur noch nicht beobachtet, aber vollkommen gesetzmäßig wären; im Bereich des Anorganischen durch Verdichtung des Gesetzmäßigen eines Vorgangs unter Absehung von allen zufälligen Einflüssen und Mitbedingungen — „Gelegenheitsursachen" — zu einer Urform dieses Vorgangs, dem Urphänomen. „Lassen Sie mich hinzufügen", schreibt Goethe als Achtzigjähriger an Johannes von Müller über die „Metamorphose der Pflanzen", daß es vor 40 Jahren einen Kampf galt, der zwar gewonnen, aber doch noch nicht geendigt ist. Ein Typus sollte anerkannt werden, ein Gesetz, von dem in der Erscheinung nur Ausnahmen aufzuweisen sind: eben dies geheime und unbezwingliche Vorbild, in welchem sich alles Leben bewegen muß, während es die abgeschlossene Grenze immerfort zu durchbrechen strebt". 1 ) Verfolgen wir Goethes Bemühungen während der Reise. Noch ist ihm die „eigene Geisteswendung" nicht völlig gelungen, welche dazu gehört, „das gestaltlose Wirkliche in seiner eigensten Art zu erfassen". 2 ) Er sehnt sich aus dem Wust von Einzelbeobachtungen, Einzelbestimmungen der bisherigen Botanik nach einem vereinheitlichenden Prinzip: „Zur Methode wird nur der getrieben, dem die Empirie lästig wird". 3 ) Aus Padua berichtet er: „Hier in dieser mir entgegentretenden Mannigfaltigkeit wird jener Gedanke immer lebendiger: daß man sich alle Pflanzengestalten vielleicht aus einer entwickeln könne. Hierdurch würde es allein möglich werden, Geschlechter und Arten wahrhaft zu bestimmen, welches wie mich dünkt, bisher willkürlich geschieht. Auf diesem Punkte bin ich mit meiner botanischen Philosophie stecken geblieben, und ich sehe noch nicht, wie ich mich entwirren will, die Tiefe und Breite dieses Geschäfts scheint mir völlig gleich". 4 ) Dann aber fühlt er wie das Chaos sich lichtet: „Eigentlich sollt ich den Rest *) 24. November 1829. A u s Wilhelm Meisters Wanderjahren. (Betrachtungen der Wanderer.) 1829. Max. u. Refl., 592. s) A u s dem Nachlaß. Max. u. Refl. 1214. *) Ital. Reise, 27. Sept. 1786. W . A. I, 30, 89. 2)

im

Sinne

Goethes Urphänömen und die platonische Idee.

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meines Lebens auf Beobachtung wenden; ich würde manches auffinden, was die menschlichen Kenntnisse vermehren dürfte. Herdern bitte zu melden, daß meine botanischen Aufklärungen weiter und weiter gehen; es ist immer dasselbe Prinzip, aber es gehörte ein Leben dazu, um es durchzuführen. Vielleicht bin ich noch imstande, die Hauptlinien zu ziehen". 1 ) Zwölf Tage darauf: „Nach diesem angenehmen Abenteuer spazierte ich am Meere hin und war still und vergnüglich. Da kam mir eine gute Erleuchtung über botanische Gegenstände. Herdern bitte ich zu sagen, daß ich mit der Urpflanze bald zustande bin; nur fürchte ich, daß niemand die übrige Pflanzenwelt darin wird erkennen wollen". 2 ) Besonders wichtig ist ein Zeugnis aus Palermo: „Heute früh ging ich mit dem festen, ruhigen Vorsatz, meine dichterischen Träume fortzusetzen, nach dem öffentlichen Garten; allein ehe ich mich's versah, erhaschte mich ein anderes Gespenst, das mir schon diese Tage nachgeschlichen. Die vielen Pflanzen, die ich sonst nur in Kübeln und Töpfen, ja, die größte Zeit des Jahres nur hinter Glasfenstern zu sehen gewohnt war, stehen hier noch froh und frisch unter freiem Himmel, und indem sie ihre Bestimmung vollkommen erfüllen, werden sie uns deutlicher. Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes fiel mir die alte Grille wieder ein: ob ich nicht unter dieser Schar die Urpflanze entdecken könnte? Eine solche muß es doch geben! Woran sollte ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären?" 3 ) Wieder in Neapel, auf der Rückreise, heißt es: „Ferner muß ich Dir vertrauen, daß ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und Organisation ganz nahe bin, und daß es das Einfachste ist, was nur gedacht werden kann. . Unter diesem Himmel kann man die schönsten Beobachtungen machen. Den Hauptpunkt, wo der Keim steckt, habe ich ganz klar und zweifellos gefunden, alles übrige seh ich auch schon im Ganzen und nur einige Punkte müssen bestimmter werden. Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man dann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, d. h. die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische ') Neapel, 13. März 1787. W . A. I, 31, 48. *) Neapel, 25. März 1787. W . A. I, 3t, 75. ') Palermo, 17. April 1787. W . A. I, 31, i47f.

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oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen". 1 ) Eine zusammenhängende Darlegung aus Rom im Juli, auf den 17. Mai 1787 zurückdatiert, wiederholt die eben angeführte Stelle und fügt hinzu: „Soviel aber sei hier, ferneres Verständnis vorzubereiten, kürzlich ausgesprochen: E s war mir nämlich aufgegangen, daß in demjenigen Organ der Pflanze, welches wir als Blatt gewöhnlich anzusprechen pflegen, der wahre Proteus verborgen liege, der sich in allen Gestaltungen verstecken und offenbaren könne. Vorwärts und rückwärts ist die Pflanze immer nur Blatt, mit dem künftigen Keime so unzertrennlich vereint, daß man eins ohne das andere nicht denken darf". 2 ) Dazu kommt noch ein zusammenfassender Bericht aus der Geschichte seines botanischen Studiums: „Das Wechselhafte der Pflanzengestalten, dem ich längst auf seinem eigentümlichen Gange gefolgt, erweckte nun bei mir immerhin die V o r stellung: die uns umgebenden Pflanzenformen seien nicht ursprünglich determiniert und festgestellt, ihnen sei vielmehr bei einer eigensinnigen, generischen und spezifischen Hartnäckigkeit eine glückliche Mobilität und Biegsamkeit verliehen, um so vielen Bedingungen, die auf dem Erdkreis auf sie einwirken, sich zu fügen und darnach bilden und umbilden zu können . . . Wie sie sich nun unter einen Begriff sammeln lassen, so wurde mir nach und nach klar und klärer, daß die Anschauung noch auf eine höhere Weise belebt werden könne: eine Form, die mir damals unter der sinnlichen Form einer übersinnlichen Urpflanze vorschwebte. Ich ging allen Gestalten, wie sie mir vorkamen, in ihren Veränderungen nach, und so leuchtete mir am letzten Ziel meiner Reise, in Sizilien, die ursprüngliche Identität aller Pflanzenteile vollkommen ein, und ich suchte diese nunmehr überall zu verfolgen und wieder gewahr zu werden". 3 ) Zurückgekehrt, läßt Goethe die botanischen Studien niemals liegen, aber erst ein Jahr nach der Heimkehr beginnt er die Niederschrift des „Versuchs, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären", der 1790 erschien. Goethe will, nach seinen eigenen zusammenfassenden Worten in dem Schlußabsatz „Wieder*) 17. Mai 1787. W . A . I, 3 1 , 239 f. D e r Orig.-Brief ist an F r a u v. Stein gerichtet (8. Juni 1787) und die Stelle darin wörtlich gleichlautend. 2 ) W . A . I, 32, 43. ») W . A . II, 6, 120f.

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holung", auf Grund von Beobachtungen, die „schon einzeln gemacht, gesammelt und gereiht" 1 ) waren, „die verschieden scheinenden Organe der sprossenden und blühenden Pflanze alle aus einem einzigen, nämlich dem Blatte, welches sich gewöhnlich an jedem Knoten entwickelt, zu erklären" suchen, wobei jedoch der Ausdruck „Blatt" nur ein Notbehelf ist, solange wir kein „allgemeines W o r t " haben, „wodurch wir dieses in so verschiedene Gestalten metamorphosierte Organ bezeichnen und alle Erscheinungen damit vergleichen könnten". 2 ) „Die Wirkung, wodurch ein und dasselbe Organ sich uns mannigfaltig verändert sehen läßt" und welcher eine „geheime Verwandtschaft der verschiedenen äußeren Pflanzenteile, als der Blätter, des Kelchs, der K r o n e , der Staubfäden, welche sich nacheinander und gleichsam auseinander entwickeln" 3 ) entspricht, nennt er die Metamorphose der Pflanzen. In lichtvollster Klarheit kündet das gleichzeitige und gleichnamige Gedicht den Gedanken des „Versuchs" und überdies seine Geschichte in Goethes eigenem Geiste, die uns hier angeht: „Dich verwirret, Geliebte, die tausendfältige Mischung Dieses Blumengewühls über den Garten umher; Viele Namen hörest Du an, und immer verdränget Mit barbarischem Klang einer den andern im Ohr. Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern, Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz, Auf ein heiliges Rätsel. O könnt ich dir, liebliche Freundin, Überliefern sogleich glücklich das lösende Wort! Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze, Stufenweise geführt, bildet zu Blüte und Frucht. Wende nun, o Geliebte, den Blick zum bunten Gewimmel, Das verwirrend nicht mehr sich vor dem Geiste bewegt! Jede Pflanze verkündet dir nun die ew'gen Gesetze, Jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir." 4 ) V o n Anfang an hatte Goethe das Wesen der Pflanze in ihrer immanenten Gesetzmäßigkeit zu erfassen gesucht. „Die Vegetation behauptet ihr Recht . . . . man fühlt tief, da ist nichts willkürliches, alles langsam bewegendes, ewiges Gesetz" 5 ) schreibt er schon 1779 an Frau von Stein. Aber zunächst verwirrt ihn ») W . A. II, 6, 89. 4 ) W . A. I, 3, 85 f.

3 ') Ebenda S. 92. ) Ebenda S. 26. ») Münster, 3. Okt. 1779.

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noch die Mannigfaltigkeit, es fehlt ihm noch das geistige Band, der Faden, der ihn aus dem Labyrinth führt. Das Wesensgesetz, dem er nah und näher kommt, verdichtet sich ihm dann in Italien zuerst zu der „sinnlichen Form einer übersinnlichen Urpflanze"; sodann, wie er den „einzelnen Gestalten in ihren Veränderungen" nachgeht, ihr Werden belauscht und erschaut, offenbart es sich ihm als „ursprüngliche Identität aller Pflanzenteile", die er nun tatsächlich in Form eines Gesetzes ausspricht. W a s ihm auf allen Stufen vorschwebt, was in innerer Schau, als „Gesicht" vor ihm ersteht und was er zum Zielpunkt seiner Forschung machen möchte, ist die „Idee" der Pflanze im vollen platonischen Sinne. Denn die Ideen sind „points of view from which the man of science regards his data. They are right points of view, and, as such, have the „permanence" which we nowadays ascribe to „laws of nature" . . . . They are „known" only as dynamically existent —- only as performing their function of making sensibilia intelligible" 1 ); es sind Gesetze im Sinne des „unwandelbaren Bestandes einer Relation". 2 ) Der Streit, ob die „Urpflanze" und ebenso der „ T y p u s " eine „konkreteStammform" gewesen sei, wie Häckel behauptet 3 ), oder nicht, hat eine ganze Literatur hervorgerufen. Die Behauptung ist so widersinnig und oberflächlich, daß sie uns hier nicht kümmern würde, wenn sie nicht fast an die Verdinglichung der Idee durch Aristoteles erinnerte. Sie wird unten noch kurz berührt werden. „In die Botanik", erzählt Goethe später Eckermann, „war ich auf empirischem Wege hereingekommen. Nun weiß ich noch recht gut, daß mir bei der Bildung der Geschlechter die Lehre zu weitläufig wurde, als daß ich den Mut hatte, sie zu fassen. Das trieb mich an, der Sache auf eigenem W e g e nachzuspüren und dasjenige zu finden, was allen Pflanzen ohne Unterschied gemein wäre, und so entdeckte ich das Gesetz der Metamorphose. Der Botanik nun im einzelnen weiter nachzugehen , liegt gar nicht in meinem W e g e , das überlasse ich anderen, die es mir auch darin weit zuvortun. Mir lag bloß daran, die einzelnen Erscheinungen auf ein allgemeines Grundgesetz zurückzuführen." 4 ) Seine zahllosen, intensiven Beobach') S t e w a r t , a. a. O. p. 6. ') N a t o r p , in „Große Denker", S. 135. 3) E. H ä c k e l , Über die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck, Jena 1882. (Vortr. in der 55.Versammlung dtsch. Naturf. u. Ärzte). 4) 1. Febr. 1827.

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

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tungen unter dem freien italienischen Himmel führen ihn so nah an das gesuchte innere Wesen der Pflanze heran, daß es sich ihm, dem Künstler, dem „Visualisten", dem „Augenseligen" wie Richard Wagner ihn einmal nennt, auf Augenblicke sogar in konkreter Form darstellt: in einer Form, die, ihrem Ursprünge nach ein Gedankengebilde, langsam in seinem Innern gereift, so sehr von seiner geistigen Anschauungskraft getränkt ist, daß gleichsam Saft in ihre Gefäße steigt und sie vor seinen Augen zu leben beginnt. „Eine solche muß es doch geben!" So deutlich sieht er ihr Leben, daß er vorübergehend glaubt, er müsse sie entdecken können. „Goethe hat immer das Letzte, Höchste im Auge, die Totalität des Gegenstandes und seine Einordnung in den plan- und gesetzmäßigen Verlauf des Weltwerdens. Eine solche Beziehung läßt sich nicht beweisen, wohl aber symbolisch ausdrücken, und symbolische Ausdrucksformen oder konkretisierte, verdichtete Ideen sind im Grande alle Goetheschen Naturerklärungen." 1 ) Seine Eigenart verlangte es, „die Welt sinnlich-anschaulicher Phänomene" auf „denkanschauliche Ideen in der Form konkreter Entwicklungstypen" zurückzuführen 2 ); die typische Form wurde ihm „denkanschaulich vorstellbar". 3 ) Goethe hat es als die beste Charakteristik seines Denkvermögens angesehen, „daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen" sei 4 ); Willemer gegenüber kennzeichnet er sich: „Meine Tendenz ist die Verkörperung der Ideen, Ihre die Entkörperung derselben". 5 ) Er sieht seine Gedanken so gestaltenhaft deutlich vor sich, daß er noch in dem berühmten Gespräch mit Schiller ein solches Denkgebilde für eine Erfahrung halten kann! 6 ) Es kann aber nicht genug betont werden, daß diese unabsehbar wertvolle Unterredung Goethe keineswegs auf einen neuen Weg brachte, sondern ihn nur über den ihm innerlich vorgezeichneten, mit bewunderungswürdiger Sicherheit, aber noch ohne klare Erkenntnis begangenen aufhellte, wie denn in der Geschichte der Wissenschaft und Philosophie die Anwendung der Methode stets der ') Ew. E. B o u c k e , Goethes Weltanschauung auf hist. Grundlage. Stuttg. 1907. S. 293. 2 8 ) S i e b e c k , a. a. O. S. 31. ) Ebenda, S. 106. 4 ) Bedeutende Fordernis durch ein einziges geistreiches Wort. W. A. II, ii, 58. •) An Willemer, 24. April 1815. 9 ) Glückl. Ereignis, W. A. II, 11, 17; außerd. W. A. I, 36, 251.

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Einsicht in sie vorausgeht. „Nicht ohne L ä c h e l n " meint er später, würde man „bemerken, auf welch seltsamen W e g e n " er „ d e r vegetativen Umwandlung n a c h g e g a n g e n " sei; „ich suchte damals die Urpflanze, bewußtlos, daß ich die Idee, den Begriff suchte, wonach wir sie ausbilden könnten". 1 ) Für Goethe schloß sich „das Gebiet des Denkens unmittelbar an das Feld des Dichtens und Bildens" an; „Sinnlichkeit und Vernunft, Einbildungskraft und V e r s t a n d " waren bei ihm „zu einer entschiedenen Einheit ausgebildet". 2 ) Ganz auf Erfassung des äußeren wie des inneren Weltbildes durch das A u g e gestellt — „. . . so sage ich Dir, ich halte viel aufs S c h a u e n " 3 ) ; „ich habe mich in meiner Qualität als Naturschauer wieder aufs neue bestätigt gefunden" 4 ) — war er sich dennoch seit der A u f k l ä r u n g durch Schiller dauernd b e w u ß t , wie himmelweit dies sein Schauen von jeher von gemeiner Empirie entfernt gewesen war. „ W a s ist Beschauen ohne D e n k e n " heißt es schon zu A n f a n g der italienischen R e i s e 5 ) , als ihm die „ I d e e " der Pflanze nah und näher rückte. Später bringen die „Betrachtungen im Sinne der W a n d e r e r " den Spruch: „Gewöhnliches Anschauen, richtige Ansicht der irdischen Dinge ist ein Erbteil des allgemeinen Menschenverstandes, reines Anschauen des Äußeren und Inneren ist sehr selten". 6 ) W i r werden geradezu an die platonische, so häufig wiederkehrende Unterscheidung zwischen OQ&r) doga und ¿marf/it) erinnert. Auch die dö£a, Meinung, kann richtig sein, aber sie ist nicht stichhaltig, sie dauert nicht, gibt keine Rechenschaft und h a t daher nur geringen objektiven W e r t . Sie liegt mitteninne zwischen wahrem Wissen und Unwissenheit und ist dem platten alltäglichen Menschenverstände zugänglich. V o n der Idee aber, an der die Dinge teilhaben, ohne daß ihrer eines sie ganz in sich befaßte, die der Intellekt bei Gelegenheit der Wahrnehmungen selbsttätig in sich erzeugt, gibt es ¿niar^/yir], wahres Wissen. „Dieses W i s s e n ist eben das, was sonst an der Idee das „ S c h a u e n " heißt, nämlich das Erschauen der Idee in ihrer Reinheit und Unvermischtheit . . ." Dieses Schauen ist „vielmehr ein reines Denken".7) 2) s) 5)

•) 7)

S. 237,

A n N e e s von E s e n b e c k , Mitte A u g u s t 1816? Konzept. Stiedenroths Psychologie, W . A. II, 11, 76 u. 75. A n Fr. H. Jacobi, 5. Mai 1786. *) A n Schiller, 28. Juni 1798. Padua, 27. Sept. 1786. It. Reise W . A . I, 30, 89. Maximen u. Refl., Nr. 533. N. H a r t m a n n , Piatons L o g i k des Seins, S. 197; vgl. auch S. 90ff., 282, 347.

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

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Eine sehr feine Unterscheidung macht Goethes Aufsatz „ K . Fr. W o l f , Über Pflanzenbildung" von 1 8 1 7 : „Weil nämlich die Präformations- und Einschachtelungslehre, die er bekämpft, auf einer bloß außersinnlichen Einbildungskraft beruht, auf einer Annahme, die man zu denken glaubt, aber in der Sinnenwelt niemals darstellen kann, so setzt er als Grundmaxime aller seiner Forschungen, daß man nichts annehmen, zugeben und behaupten könne, als was man mit Augen gesehen und andern jederzeit wieder vorzuzeigen imstande sei . . . . Wie vortrefflich diese Methode auch sei, durch die er so viel geleistet hat . . ., so dachte der treffliche Mann doch nicht, daß ein Unterschied sei zwischen Sehen und Sehen, daß die Geistesaugen mit den Augen des Leibes in stetem lebendigen Bunde zu wirken haben, weil man sonst in Gefahr gerät, zu sehen und doch vorbeizusehen". 1 ) Das „Sehen mit Geistesaugen" heißt ein andermal, befreit „von tausend und abertausend irrtümlichen Paragraphen". 2 ) „ E x a k t e sinnliche Phantasie", wie er es einmal nennt 3 ), gestaltet so vor seinem Geistesauge, was er gedanklich zu erfassen gesucht hatte. Ein Paralipomenon zur Geschichte seines botanischen Studiums führt uns diese ringende Geistesarbeit noch einmal vor: „Italienische Reise . . . Gesteigerte Einsicht in die klimatische Einwirkung . . . Padua. Botanischer Garten. Palme. Umwandlung derselben Gestalt. Erhebung zu der Ahnung, die Pflanzenwelt müsse ein inneres Gesetz haben, worauf sich die Erscheinungen zurückführen ließen. Noch immer konkret genug aufgefaßt unter der Form der Urpflanze". 4 ) Hier ist deutlich genug die Urpflanze die Form, unter der das innere Gesetz der Pflanze ihm „noch immer" erscheint; weit entfernt also, eine „konkrete Stammform" im Darwinistisch-Häckelischen Sinne zu sein, ist sie auch wieder mehr als ein bloßer Begriff: denn der Begriff Pflanze, durch Abstraktion gewonnen, war längst vorhanden, konnte jeden Augenblick gebildet werden, ihn hätte Goethe nicht wie den Fund des evangelischen Groschens jubelnd begrüßt. Zwar nicht die Urpflanze selbst, aber was sie Goethe bedeutete, was er mit ihr suchte, was sich ihm in ihr konkretisieren zu können schien, ist die Idee der Pflanze im platonischen Sinn. Zuerst hatte er sich auch den Begriff Pflanze ») 2 ) 3 ) 4 )

W . A . II, 6, 155 f. A u s Kunst u. Altertum 1821, Max. u. Refl. 120. Stiedenroths Psychologie, W . A . II, 1 1 , 75. Paralipomenon, W . A . II, 13, 4 2 ; vgl. u. S . 32.



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bilden müssen, aber er war nicht dabei stehen geblieben. Vom Begriff aus suchte er zur Idee vorzudringen, sich das Allgemeine statt durch Addition durch Zusammenschau zum Bewußtsein zu bringen. Ihm wurden, wie Plato, „die Begriffe zum Leitfaden, um die in der Natur liegenden Ideen zu finden . . . ." Denn: „Die Begriffe sind nicht Spiegelbilder der empirischen Dinge, sondern beide, die Begriffe (Xóyoì) und die Dinge (è'gya), sind Abbilder der Urbilder, d. h. der Ideen . . . Der Begriff ist . . . das Mittel, die Idee in der Natur aufzufinden". 1 ) Goethe selbst, der Systematisierung seiner Ausdrucksweise sonst so abhold, so sehr geneigt, „Kunstwörter . . . nach unserer Bequemlichkeit zu brauchen, je nachdem eins oder das andere zu unserer Beobachtung am besten zu passen scheint" 2 ), hat diese Unterscheidung zwischen Begriff und Idee, wiewohl nicht ganz streng durchgeführt, doch scharf erkannt und herausgearbeitet: „Begriff ist Summe, Idee Resultat der Erfahrung, jenen zu ziehen, wird Verstand, diese zu erfassen, Vernunft erfordert. Was man Idee nennt : das, was immer zur Erscheinung kommt" — also hinter ihr steht, woran sie aber teil hat — „und daher als Gesetz aller Erscheinungen uns entgegentritt". 3 ) — „Die Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural gebrauchen, ist nicht wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee, Begriffe sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein Begriff." 4 ) — Auch Plato vermeidet den oft naheliegenden Plural von idèa; die Idee als Tätigkeit des Geistes, als Schaffen der Einheit, läßt sich nicht im Plural denken. Das Schauen der Idee ist die „Einheit einer Schau", fila zig idèa. Dieses Schauen „schaut nicht passiv gegebene Gegenstände an, dazu reichte auch das nicht bildliche, sinnliche Sehen aus, sondern es bringt etwas zustande, es „erschaut" etwas, was außerhalb des Schauens selbst nicht ist", gleichwohl aber innere Notwendigkeit hat. „Die Bezogenheit auf das einzelne Problem übersieht Plato dabei keineswegs; er trägt ihr Rechnung durch das zig in ¡xia zig idèa. Darin liegt schon die Vielheit möglicher Beziehungen. W o aber der Plural nicht zu umgehen ist und gerade als solcher hervorgekehrt werden muß, da läßt er die Prägnanz des Tätigkeits*) D e u ß e n , Die Philosophie der Griechen. 1911, S. 255^ 2) Krystallisation u. Vegetat. 1789. Im Januarheft des „Deutschen Merkur". W . A. II, 13, 429. 3) A u s dem Nachl. Max. u. Refl. Hecker, Nr. 1135—36, 4) A u s Kunst u. Altertum. 1826. Max. u. Refl. 375.

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

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Charakters fallen und b e g n ü g t sich mit d e m eldog oder ysvog, dem fertigen B e g r i f f . " 1 ) S o und nicht anders ist für G o e t h e die Idee das S c h a f f e n und E r s c h a u e n der Einheit, das regulative Prinzip, der Begriff das F e r t i g e , A u s s p r e c h b a r e , und wir erstaunen, mit welcher für seine Zeit fast einzigen Klarheit er dies erkannt hat. D a ß er, u m der B e q u e m l i c h k e i t willen, Idee doch auch für die Einzelmanifestation g e b r a u c h t , verschlägt dabei nichts, denn es wird sich z e i g e n , d a ß er sich dieser G r u n d unterscheidung dennoch immer b e w u ß t blieb. Eine g e l e g e n t liche terminologische Ungenauigkeit b e k ü m m e r t e ihn aber nicht. A u c h Plato fand e s , n a c h d e m er das Eigentümliche der Idee einmal e n t d e c k t und klargestellt hatte, nicht mehr n ö t i g , dies im einzelnen immer wieder hervorzuheben. W o Idee und Begriff bei G o e t h e nebeneinander stehen, geschieht es, u m j e n e als d a s V e r e i n i g e n d e , als das Zusammenschauen selbst, als die avvoxpig, die nicht aus den D i n g e n „ a b z u s e h e n " ist, vielmehr hineingeschaut w e r d e n m u ß , d e m „ b l o ß e n " Begriff überzuordnen. „ D i e zerstreute E r f a h r u n g zieht uns allzu sehr nieder und ist sogar hinderlich, auch nur z u m Begriff zu gelangen". 2 ) — „ W e r sich v o r der Idee scheut, hat zuletzt auch den Begriff nicht m e h r . " 3 ) V o n d ' A l t o n — neben G e o f f r o y de St. Hilaire fast d e m einzigen zeitgenössischen Naturforscher, bei dem G o e t h e eine der seinigen nah v e r w a n d t e Methode, wenn auch nicht zur B e g r ü n d u n g einer G e s a m t w i s s e n s c h a f t ausgebaut, erkennen d u r f t e 4 ) — rühmt e r : „ [ E s ist] nicht etwa ein einzeln aufgegriffener G e d a n k e , eine a b g e s o n d e r t e B e m e r k u n g v o r g e l e g t ; das Dargestellte fließt vielmehr aus der Idee und gibt uns E r f a h r u n g s b e l e g e zu dem, w a s wir mit d e m höchsten Begriff k a u m zu erfassen g e t r a u e n . " 5 ) — „Ich m u ß t e daher bei meiner alten A r t verbleiben, die mich nötigt, alle Naturphänomene in einer gewissen F o l g e der E n t w i c k l u n g zu betrachten und die Ü b e r g ä n g e vor- und rückwärts a u f m e r k s a m zu begleiten. D e n n dadurch gelangte ich ganz allein zur lebendigen Ü b e r s i c h t , aus welcher ein Begriff sich bildet, der sodann in aufsteigender L i n i e der Idee b e g e g n e n w i r d . " 6 ) G o e t h e hat dann selbst an der schon herangezogenen *) N. H a r t m a n n , Piatons L o g i k des Seins. S. 187f. Gesch. der Farbenl. 2. Abtlg. Römer. W . A. II, 3, 119. 3) Aus Kunst u. Altertum 1821. Max. u. Refl. 128. 4) Vgl. den Brief an d'Alton, 28. Dez. 1828. 6) Über d'Altons: Die Faultiere und die Dickhäutigen. 1822. W. A . II, 8, 224. 6) Meteorologie. 1817. W . A . I I , 12, 12. 2)

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Stelle aus der Geschichte seines botanischen Studiums die Urpflanze, oder vielmehr das, was ihm damals unter dieser Form „vorschwebte", als ein Höheres dem bloßen Begriff der Pflanze übergeordnet: „Wie sie (die Pflanzenformen) sich nun unter einen höheren Begriff sammeln lassen, so wurde mir nach und nach klar und klärer, daß die Anschauung noch auf eine höhere Weise belebt werden könne: eine F o r m , die mir damals unter der sinnlichen Form einer übersinnlichen Urpflanze vorschwebte." *) Indem er nun aber den Gestalten „in ihren Veränderungen" nachging, sie „in einer gewissen Folge der Entwicklung betrachtete" — was 1 8 1 7 bereits „seine alte A r t " , jetzt aber ein ganz neuer Schlüssel war — wurde ihm das Gesetz der Metamorphose, der ursprünglichen Identität aller Pflanzenteile, als das innere Wesensgesetz der Pflanze überhaupt und damit als neue „Manifestation der Idee" offenbar. „Die größte Schwierigkeit bei der Auslegung dieses Systems [der Pflanzenmetamorphose] besteht darin, daß man etwas als still und feststehend behandeln soll, was in der Natur immer in Bewegung ist; daß man dasjenige auf ein einfaches und sichtbares und gleichsam greifbares Gesetz reduzieren soll, was in der Natur sich ewig verändert und sich vor unseren Beobachtungen bald unter diese, bald unter jene Gestalt verbirgt; wenn wir nicht gleichsam apriori uns überzeugen könnten, daß solche Gesetze da sein müßten, so würde es eine Verwegenheit sein, solche aufsuchen und entdecken zu wollen.. . . Wenn unzählige, ganz verschiedene, widersprechende Gestalten auch dem Unerfahrensten für Blumen gelten, so kann der Forschende noch weniger abgehalten werden, zu untersuchen, worin denn eigentlich die innige Verwandtschaft dieser Wesen bestehe, welches denn eigentlich das strenge Band sei, welches sie zwinge, bei einer so großen Mannigfaltigkeit sich doch untereinander auf das Genauste ähnlich zu sein." 2 ) Eben dieselbe Frage also, die vorher zur „Urpflanze" geführt hatte — das ist wichtig — wird nun mit dem Gesetz der Metamorphose beantwortet: „Woran sollte ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären?" 3 ) S o hatte j a auch die ebenfalls schon zitierte Briefstelle an Joh. Müller 1829 als Kern *) V g l . oben S. 24 u. 29. ) Zur Morphologie. Verfolg. Einleitg. Wahrscheinlich kurz vor 1890 verfaßt. W . A . II, 18, 3 1 8 . V g l . S. 369. 3 ) S. o. S . 23. J

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der Lehre von der Pflanzenmetamorphose geradezu „Typus", „Gesetz" und das „geheime, unbezwingliche Vorbild" einander gleichgestellt. 1 ) Von der „Urpflanze" spricht Goethe fortan nicht mehr; aber nach dem Bericht über seine erste Begegnung mit Schiller haben wir alle Ursache zu glauben, daß er die „Metamorphose der Pflanzen", die er Schiller vortrug, ebenfalls als ein „sichtbares und greifbares Gesetz" bildhaft vor Augen hatte. Ließ er doch „mit manchen charakteristischen Federstrichen eine symbolische Pflanze vor seinen Augen erstehen". 2 ) Bliedner in seiner Schrift „Goethe und die Urpflanze" 3 ) legt, in seiner Absicht, Häckel zu widerlegen, das Hauptgewicht auf den Nachweis, daß in der „Metamorphose der-Pflanzen" von der „Urpflanze" nicht mehr die Rede sei, verkennt aber völlig das Gemeinsame in beiden. Sehr gut definiert Rudolf Steiner die Urpflanze: „Der Komplex von Bildungsgesetzen, welcher die Pflanze organisiert, sie zu dem macht, was sie ist und wodurch wir bei einem bestimmten Objekte der Natur zu dem Gedanken kommen: dieses ist eine Pflanze, das ist die Urpflanze." 4 ) Bliedner beanstandet dies und weiß nicht, wie er sich „die objektive Wesenheit, das erscheinende Dasein der Urpflanze denken soll".5) Daraus durfte er aber nicht schließen, daß auch Goethe, dessen „Denken ein Anschauen" war, das nicht konnte. Für Bliedner gibt es nur die Alternative: „Entweder die Urpflanze ist eine Abstraktion, und dann hat sie eben keine objektive Wesenheit, . . . . oder sie ist keine Abstraktion, dann muß sie irgendwo wahrnehmbar sein oder gewesen sein." 6 ) Daß sie nirgends wahrnehmbar, aber ebensowenig eine bloße Abstraktion, ein Verstandesbegriff, sondern ein Höheres war, nämlich die „Manifestation der Idee", vor Goethes innerem Auge kraft seiner fast einzigen Gabe der geistigen „Schau" so bildhaft erstanden, daß er auf Augenblicke glaubt, sie finden zu müssen, darauf verfällt Bliedner nicht. 7 ) Genau als das aber,, 1

) S. oben S. 22. ) Erste Bekanntschaft mit Schiller. Biogr. Einzelheiten. W . A. I, 36, 250 f. Außerdem abgedr. in: Glückliches Ereignis, W . A . I I , 11, 17. 3 ) Frankfurt a. M. 1901. 4 ) Goethes Werke. Kürschners Dtsch. Nat.-Lit. Stuttgart o. J. (1884) 33. T . Naturw. Sehr. 1. Bd., eingeleitet v. R. Steiner. S. X X X . 6 6 ) A. a. O., S. 59. ) Ebenda. 7 ) E s wäre hier an das platonische rag . . iSéae voeìo&ai fiév, Sgäo&ac S' ov (Staat, 507 B) zu erinnern, sofern letzteres „sinnliches Sehen" bedeutet. 2

C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VIII, 1.

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was auch Steiner in der Urpflanze sieht, und was Bliedner als eine Unmöglichkeit erscheint, definiert C. Ritter die platonische Idee: als „das, was unseren Vorstellungen von einer einheitlichen, viele Einzelerscheinungen in sich befassenden Gattung als objektiver Gehalt zugrunde liegt". 1 ) Es ist nun sehr interessant, daß Ritter Plato einen ,,der wenigen Geistesheroen der Weltgeschichte, unter seinesgleichen wohl unserem Goethe am nächsten verwandt" nennt 2 ) und am Schlüsse des ersten Bandes seines Werkes über Plato sich zur Abwehr der aristotelischen dinghaften Auffassung der Idee auf Goethes „Urpflanze" beruft, um sie der platonischen Idee in dem Sinne zu vergleichen, daß man jene auch das Formprinzip oder Bildungsgesetz der Pflanze nennen könne, ohne daß sie damit zu einem Dinge gestempelt würde: „Es ist dies „Urphänomen" nirgends auf der Hand, es ist nicht sichtbar und greifbar; nirgends genau und rein, ohne entstellende oder wenigstens verdunkelnde Zusätze verwirklicht: und doch ist es . . . kein willkürlicher Begriff." 3 ) Die „Urpflanze" erscheint so keineswegs als eine heillose Verirrung, wie Bliedner annimmt, von der Goethe auf den rechten W e g zurückgekommen wäre. Irrig, aber von ihm selbst nie ganz ernst genommen, war nur die vorübergehende „Grille", sie entdecken zu wollen. Aber mit so herrlicher Leuchtkraft sie vor seinem inneren Auge gestanden haben mag, übermitteln konnte er dies Symbol anderen nicht, und als es ihm gelang, das Wesensgesetz der Pflanze in der Form der Metamorphose auszusprechen, zog er diese mittelbarere Form vor und brauchte nun die Urpflanze, die ihm als heuristisches Prinzip gedient *) C . R i t t e r , Neue Untersuchungen. S. 276. Ähnlich S. 37, 41, 233, 242, 278 fr., 297, 298 („das objektive einheitliche Wesen"), 315, 319, 325; ferner: Ders., Plato. 1. Bd. München 1910, S. 582. Ich berufe mich hier auf Ritter, obgleich er sich sehr vorsichtig ausdrückt und die endgültige Darlegung seiner Stellung zu der hier zugrunde gelegten Auffassung sich offenbar für den noch nicht erschienenen 2. Bd. seines W e r k e s über Plato vorbehalten hat. Die seinige kommt aber jener in jedem Fall sehr nah, wenn er auch den Gesetzescharakter nicht so betont. D a ß sich diese „objektive Grundlage" in Form von Gesetzen aussprechen läßt, scheint mir kein Widerspruch zu sein. W e n n er wiederholt „Idee" als „innere F o r m " deutet (Neue Unters. S. 232, ähnlich 265, 269 u. ö.), als „Grundbestimmtheit" (ebenda 236, 264, 288, 310), als „unsinnliche Gestalt" (ebenda S. 241), so erfüllt dies alles auch die „Urpflanze" in der oben dargelegten Auffassung, und ebenso das Metamorphosengesetz, das nach vertiefter Erkenntnis für die „Urpflanze" eintrat. 2)

Neue Untersuchungen S. 186.

*) S. 581.

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hatte, nicht weiter zu erwähnen. „Mein ganzes inneres Wirken erwies sich als eine lebendige Heuristik, welche, eine unbekannte, geahnete Regel anerkennend, solche in der Außenwelt zu finden und in die Außenwelt einzuführen trachtet." 1 ) Daß ihm das in der Metamorphose entdeckte Wesensgesetz der Pflanze auch wieder als sichtbares Bild vor dem geistigen Auge stand — das nur eben als ein solches nicht „in die Außenwelt einzuführen", darum als Gesetz vorzutragen war — machte schon oben die erste Unterredung mit Schiller wahrscheinlich. Daß er dann auch in der Metamorphosenlehre gelegentlich nur ein heuristisches Prinzip sah — weil „alles wovon wir reden können" nur „Manifestationen der Idee" sind und ihr niemals völlig adäquat — beweist ein Aphorismus zur Metamorphosenlehre aus dem Nachlaß: „Es kann aber der Fall kommen, daß jenes proteische Organ sich dergestalt verbirgt, daß es nicht wieder zu finden, dergestalt verändert, daß es nicht mehr zu erkennen ist; weil aber das eigentliche botanische Wissen darauf beruht, daß alles gefunden und angezeigt, alles Gebildete durch alle seine Veränderung hindurch als fertiggebildet beschrieben werde, so sieht man wohl daraus, daß jene erste Idee, auf die wir so viel Wert legten, zwar leitend zum Auffinden gar wohl zu betrachten sei, in den einzelnen Fällen aber zur Bestimmung nicht helfen könne." 2 ) Der Botaniker Adolf Hansen, der Goethes Metamorphosenlehre ein großes Werk gewidmet hat 3 ), hebt treffend hervor, daß die „Urpflanze" „einen notwendigen Übergang zum Gedanken der Metamorphose bildete. Sie war der erste notwendige Schritt, von der schwankenden Haltlosigkeit, welche die Beschäftigung mit lauter Einzeldingen verursacht, zur wissenschaftlichen Beurteilung der Erscheinungen, zu gelangen". 4 ) Er betont auch, daß die Urpflanze etwas Höheres als der „allgemeine Begriff Pflanze" gewesen sei — er nennt sie ein Schema — und es berührt schmerzlich, wenn derselbe so einsichtige Forscher dann 5 ) „die Behauptung, Goethes Metamorphosenuntersuchungen seien bloß platonische Ideen gewesen" verächtlich abtut. Goethe jedenfalls war sich bewußt, mit der Metamorphosenlehre, wie vorher mit der Urpflanze, eine „Idee", nicht nur im abgeblaßten Sinne des Worts, zu verfolgen, und zwar in beiden Fällen die ') Kunst u. Altertum, 1826, Max. u. Refl. Nr. 320. Vgl. an Schiller 30. Juni 1798. 2) W. A. II, 6, 357. a) Goethes Metamorphose der Pflanzen. In 2 Teilen. Gießen 1907. * ) S . 275. ») S. 291. 3*

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nämliche. In einem erst in der Weimarer Ausgabe gedruckten,, von deren Herausgeber R. Steiner in die Rubrik „Naturphilosophische Grundlagen und Konsequenzen der Metamorphosenlehre" eingereihten Aphorismus lesen wir: „Hier sei es erlaubt, zu sagen, daß gerade jene wichtige, so ernst empfohlene . . . Wortbeschreibung der Pflanze nach allen ihren Teilen . . . manchen Botaniker abhält, zur Idee zu gelangen. Denn da er, um zu beschreiben, das Organ erfassen muß wie es gegenwärtig ist und dabei eine jede Erscheinung als für sich bestehend anzunehmen und sich einzudrücken hat, so entsteht niemals eigentlich die Frage, woher denn die Differenz der verschiedenen Formen entsprang . . . Dadurch wird alles Wandelbare stationär, das Fließende starr und dagegen das gesetzlich Raschfortschreitende sprunghaft angesehen, und das aus sich selbst gestaltete Leben als etwas Zusammengesetztes betrachtet." Da es Goethe nicht genügen konnte, ein Zusammengesetztes zu sehen, wo er das innere Wesen der Pflanze suchte, und da der menschliche Geist unfähig ist, sich ein Kontinuum vorzustellen, wiewohl er es zu denken vermag, sah sein Künstlerauge ein Ganzes, ein „Gesicht", eine Idee vor sich, während er als Forscher das Gesetz als solches darzustellen suchte. Das Mittel zur Erforschung des „aus sich selbst hervorgestalteten Lebens", des inneren Bildungs- und Wesensgesetzes, ja wir dürfen sagen der zugrunde liegenden Idee der äußeren Erscheinungen war ihm fortan dauernd die genetische Betrachtungsweise, weil das Gesuchte eben, wie die Idee Piatos, das beharrende Gesetz, das „Sein" des ewig Werdenden war. Diese an der Metamorphosenlehre gewonnene Betrachtungsweise müssen wir daher noch etwas ins Auge fassen. In den „Vorarbeiten zu einer Physiologie - der Pflanzen" gibt Goethe selbst unter der Überschrift: „Genetische Behandlung" eine Darstellung seines Verfahrens: „Wenn ich eine entstandene Sache vor mir sehe, nach ihrer Entstehung frage und ') W . A. II, 6, 359. R. Steiner über die Anordnung S. 371. Wenn j e d o c h J o n a s C o h n in seiner schönen Abhandlung „Das Kantische E l e ment in Goethes Weltanschauung", Kant-Studien X , 1905, S. 286—345, sagt, „ G o e t h e eignete sich die Bezeichnung Idee für seine Urpflanze an" im Brief an Schiller, 22. Juni 1798 (a. a. O., S. 292), so geht dies nicht wohl an; G o e t h e schreibt: „Die „ K l a g e der Ceres" hat mich wieder an verschiedene Versuche erinnert, die ich mir vorgenommen hatte, um jene Idee, die Sie so freundlich aufgenommen . . . haben, noch weiter zu begründen." E s ist hier v o m Metamorphosengesetz, nicht von der Urpflanze die Rede, und „Idee" besagt hier wohl nur „Gedanke".

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3;

den Gang zurückmesse, soweit ich ihn verfolgen kann, so werde ich eine Reihe von Stufen gewahr, die ich zwar nicht nebeneinander sehen kann, sondern nur in der Erinnerung zu einem gewissen idealen Ganzen vergegenwärtigen muß. Erst bin ich geneigt, mir gewisse Stufen zu denken, weil aber die Natur keinen Sprung macht, bin ich zuletzt genötigt, mir die Folge «iner ununterbrochenen Tätigkeit als ein Ganzes anzuschauen, indem ich das einzelne aufhebe ohne den Eindruck zu zerstören . . . Wenn man sich die Resultate dieser Versuche denkt, so sieht man, daß zuletzt die Erfahrung aufhören, das Anschauen eines Werdenden eintreten und die Idee zuletzt ausgesprochen werden muß." 1 ) „Ich besaß die entwickelnde, entfaltende Methode, keineswegs die zusammenstellende, ordnende. Mit den Erscheinungen nebeneinander wüßt ich nichts zu machen, hingegen mit ihrer Filiation wüßt ich mich eher zu benehmen." So charakterisiert er sich selbst im Gegensatz zu Schiller.2) Daß Goethe diese aufbauende, das Wesen der beobachteten Erscheinungen gleichsam nacherschaffende Methode nicht von vornherein „besaß", sondern erst erworben oder in Italien durch die Beschäftigung mit den Pflanzen unter freiem Himmel als ein Göttergeschenk empfangen hatte, fühlte Schiller fein heraus. In dem berühmten Brief nach der ersten Unterredung hatte er geschrieben: „In Ihrer richtigen Intuition liegt alles und weit vollständiger, was die Analysis mühsam sucht, und nur weil es als ein Ganzes in Ihnen liegt, ist Ihnen Ihr eigener Reichtum verborgen . . . Sie suchen das Notwendige in der Natur, aber Sie suchen es auf dem schwersten Wege . . . Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das einzelne Licht zu bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf . . ." 3 ) Später aber schreibt er einmal: „Sie müssen eine gewisse, nicht sehr kurze Epoche gehabt haben, die ich Ihre analytische Periode nennen möchte, wo Sie durch Teilung und Trennung zu einem Ganzen strebten, wo Ihre Natur gleichsam mit sich selbst zerfallen war und sich durch Kunst und Wissenschaft wieder herzustellen suchte" 4 ), und Goethes Antwort gesteht, er schleppe von der analytischen Zeit noch vieles mit.5) ') W . A. II, 6, 303.

Aus der Mitte der 90 er Jahre.

*) Ferneres in bezug auf mein Verhältnis zu Schiller. 6 2

I. 3 - 53-

*) 23. August 1794.

') 17. Januar 1797.

B

1825. W. A.

) 18. Januar 1797.

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„ V o i r venir les choses est le meilleur m o y e n de les e x pliquer", dies W o r t T u r p i n s hatte G o e t h e 1817 der G e s c h i c h t e seines botanischen Studiums vorangestellt, und in dem A u f s a t z „ W i r k u n g meiner S c h r i f t " (der M e t a m o r p h o s e der P f l a n z e n ) hatte er es 1830 wiederholt. 1 ) A l s einen ihn besonders b e friedigenden Widerhall hatte er darin die W o r t e ihres französischen Übersetzers G i n g i n s - L a s s a r a z aus d e m V o r w o r t zur französischen A u s g a b e angeführt: „ E s gibt zwei sehr verschiedene A r t e n , die Pflanzen zu betrachten; die eine, die gewöhnlichste, vergleicht alle einzelnen Pflanzen untereinander . . die andere vergleicht die verschiedenen O r g a n e unter sich, welche die Pflanze zunächst bilden, und sucht darin ein eigentümliches S y m p t o m des vegetabilen L e b e n s . . ., sie läßt uns in der Pflanze ein W e s e n sehen, welches g e b o r e n wird, wächst, sich wieder hervorbringt und stirbt. Mit einem W o r t : die eine ist die G e s c h i c h t e der P f l a n z e n , d i e andere die G e schichte der Pflanze." O d e r mit anderen W o r t e n : die eine abstrahiert den Begriff der P f l a n z e , gibt die sokratische Definition, die andere sucht ihr W e s e n s g e s e t z , ihre „ I d e e " zu begreifen. „ D i e s e letzte A r t . . .", fährt j e n e s V o r w o r t fort, „hat man die philosophische genannt . . . eigentlich aber sind diese beiden A r t e n , die lebendigen W e s e n zu studieren, durchaus unzertrennlich . . . D i e s e m Dichter war es vorbehalten, . . . auch auf das Pflanzenreich seinen geistreichen Blick z u w e n d e n , und ohne systematisches Vorurteil uns die Pflanze in der ganzen Einfalt ihrer N a t u r vorzuzeigen, wie sie stillschweigend und geheimnisvoll die ewige F ä h i g k e i t ausübt, aufzuwachsen, zu blühen und sich wieder h e r v o r z u b r i n g e n . " 2 ) D a ß G o e t h e s Metamorphosenlehre als die „geistige H a n d habe zum V e r s t ä n d n i s bekannter V o r g ä n g e im Pflanzenreich" — also genau wie S t e w a r t die „ I d e e " definiert: „points of view b y taking which H u m a n Understanding s u c c e e d s in m a k i n g the facts of the sensible world intelligible" 3 ) — ihren unvergänglichen W e r t besitzt, hat der Botaniker Hansen ausführlich dargelegt. 4 ) ») W. A. II, 6, 265. Wirkung meiner Schrift. 1830. W. A. II, 6, 271 ff. 3) A. a. O., p. 128. *) A. a. O., S. V. (Vorrede) und dann besonders S. 166 ff. in dem Kap. „Rückkehr zu Goethe". 2)

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

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IV. Was wir hier zu verfolgen haben, ist,, wie die in der Metamorphose eingeschlagene Methode, das Wesensgesetz der Erscheinungen in einer „Zusammenschau des Zerstreuten" zu finden, Goethe weiter in und durch das Tierreich führt, ja ihm zum „Schlüssel für alle Erscheinungen der Natur" wird. Im Bereich des Tierischen, von dem aus Goethe die ganze Wissenschaft der Morphologie dem Namen und der Sache nach als erster geschaffen hat, benennt er nun dies Wesens- und Bildungsgesetz, oder vielmehr die F o r m , unter der er seiner habhaft zu werden hoffte — das „Urphänomen", wie wir vorgreifend sagen dürfen — mit Vorliebe „ T y p u s " , „Idee", spricht auch wohl von der „Idee des T y p u s " , auch gelegentlich vom „Urtier", ohne sich terminologisch festzulegen; es kam ihm auf die Sache, nicht auf die Bezeichnung an. In der Abhandlung über den Zwischenknochen, den er bereits 1784 entdeckt hatte, wiewohl er die Entdeckung erst spät in den Kreis seiner übrigen morphologischen Studien einreihte — der Aufsatz wurde erst 1820 veröffentlicht und nicht viel früher verfaßt — heißt es: „Als im Gefolg einer treuen und fleißigen Behandlung der Pflanzenmetamorphose das Jahr 1790 mich mit erfreulichen und neuen Aussichten auch über tierische Organisation beglückte, wandte ich mein ganzes Streben gegen diesen Teil, und ich fuhr unermüdlich fort, zu beobachten, zu denken und zu ordnen, wodurch sich die Gegenstände immer mehr vor mir aufklärten. Dem Seelenkenner wird es ohne weiteren geschichtlichen Beleg einleuchtend sein, daß ich durch eine produktive Leidenschaft in diese schwerste aller Aufgaben getrieben ward." 1 ) Ein anderer rückschauender Bericht sagt: „ L a n g e Zeit wollte sich der Unterschied zwischen Menschen und Tieren nicht finden lassen . . . Ich hatte mich indessen ganz der Knochenlehre gewidmet . . . Hierbei fühlte ich bald die Notwendigkeit, einen Typus aufzustellen, an welchem alle Säugetiere nach Übereinstimmung und Verschiedenheit zu prüfen wären, und wie ich früher die Urpflanze aufgesucht, so trachtete ich nunmehr, das Urtier zu finden, das heißt denn doch zuletzt: den Begriff, die Idee des Tieres." 2 )

W.

») W . A . II, 8, 127. 4 ) Zur Morphologie. A. n, 6, 19 f.

D e r Inhalt beantwortet.

Zwischen 1 8 1 7 u. 24.

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Mitten in die geistige Erarbeitung dieses Typusgedankens hinein führt uns der erst in der Weimarer Ausgabe gedruckte, nach R. Steiners Anmerkung 1790 entstandene „Versuch über die Gestalt der Tiere": „Wie nun gegenwärtig ein allgemeines Fachwerk, worin jede einzelne Beobachtung zum allgemeinen Gebrauch niedergelegt werden könne, aufzubauen wäre, scheint mir der Weg zu sein, wenn ein allgemeiner Typus, ein allgemeines Schema ausgearbeitet und aufgestellt würde, welchem sowohl Menschen als Tiere untergeordnet blieben, mit dem die Klassen, die Geschlechter, die Gattungen verglichen, wonach sie beurteilt würden . . . Denn ich darf wohl schon hier dasjenige behaupten, wovon ich einen jeden, den diese Wissenschaft wirklich interessiert, durch diese Abhandlung völlig überzeugen möchte, daß der Fortschritt der ganzen Wissenschaft bloß auf diesem Wege schnell zu hoffen sei . . . Die Methode, wie die Lehre des menschlichen Knochengebäudes bisher vorgetragen worden, ist bloß empirisch und nicht einmal auf die Betrachtung der Gestalt des Menschen, geschweige in Betrachtung auf die Gestalt der übrigen Tiere rationell. Man hat die Knochen nicht wie sie die Natur sondert, bildet und bestimmt, sondern wie sich solche, ich möchte fast sagen, zufällig in einem gewissen Alter des Menschen untereinander verbinden, angenommen und beschrieben, ein W e g , aus welchem selbst die besten und genausten Bemühungen kaum weiter als bis zu einer empirischen Nomenklatur führen konnten . . . Geben wir genau auf diese Mannigfaltigkeit acht, so werden wir in den Stand gesetzt, nicht allein die Tiere untereinander, sondern sogar das Tier mit sich selbst zu vergleichen . . . Nehmen wir zuerst den Schädel der Tiere vor uns, und hier kann nicht streng genug behauptet, nicht oft genug wiederholt werden, daß die Natur . . diesen Hauptteil des tierischen Gebäudes nach einem Muster bildet . . . Selbst wenn man die Konsequenz der Gestalt nur im allgemeinen ansieht, sollte man schon ohne genauere Erfahrung schließen, daß lebendige, einander höchst ähnliche Geschöpfe aus einerlei Bildungsprinzip hervorgebracht sein müssen." 1 ) Sehen wir nicht deutlich Goethes Ringen, vom Begriff zur Idee aufzusteigen, die „Tierheit im Tiere" in innerer Schau vor dem geistigen Auge erstehen zu sehen? Ein Entwurf, den R. Steiners Anmerkung ohne nähere Datierung und Begründung „nicht nach 1790" ansetzt, der aber ') W. A. II, S. 266 ff.

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in keinem Fall viel früher abgefaßt sein kann, spricht noch von tastendem Suchen: „Große Schwierigkeit, den Typus einer ganzen Klasse im allgemeinen festzusetzen, so daß er auf jedes Geschlecht und jede Spezies passe, da die Natur eben nur dadurch ihre genera und species hervorbringen kann, weil der Typus, welcher ihr von der ewigen Notwendigkeit vorgeschrieben ist, ein solcher Proteus ist, daß er einem schärfsten vergleichenden Sinne entwischt und kaum teilweise oder doch nur immer gleichsam in Widersprüchen gehascht werden kann." 1 ) Klarheit gewonnen hat Goethe 1795, als er den „Ersten Entwurf zu einer Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie" niederschreibt: „Deshalb geschieht hier der Vorschlag zu einem anatomischen Typus, einem allgemeinen Bilde, worin die Gestalten sämtlicher Tiere der Möglichkeit nach enthalten wären und wonach man jedes Tier in einer gewissen Ordnung beschriebe. . . . Schon aus der allgemeinen Idee des Typus folgt, daß kein einzelnes Tier als ein solcher Vergleichskanon aufgestellt werden könne. Kein Einzelnes kann Muster des Ganzen sein. . . . Die Erfahrung muß uns vorerst die Teile lehren, die allen Tieren gemein sind, und worin diese Teile verschieden sind. Die Idee muß über dem Ganzen walten und auf eine genetische Weise das allgegemeine Bild abziehen. Ist ein solcher Typus auch nur zum Versuch aufgestellt, so können wir die bisher gebräuchlichen Vergleichsarten zur Prüfung derselben sehr wohl benutzen." 2 ) Ganz wie zuvor in der Botanik mußte zur Vergleichung die Unterscheidung hinzukommen und mußten beide sich zur aufbauenden, nacherschaffenden, das Gesetzliche suchenden Methode vereinigen, damit die „Idee" des Tieres gewonnen werden könnte. Die Kennzeichnung des Verfahrens in der herangezogenen Stelle ist gegenüber der Unterstellung, Goethes „Typus" sei eine „konkrete Stammform" gewesen, wichtig genug, um noch einmal, wenn auch unter teilweiser Wiederholung, aus den Vorträgen über jenen Entwurf ein Jahr später angeführt zu werden: „Sollte es denn aber unmöglich sein, da wir einmal anerkennen, daß die schaffende Gewalt nach einem allgemeinen Schema die vollkommneren organischen Naturen erzeugt und entwickelt, dies Urbild wo nicht den Sinnen, doch dem Geiste darzustellen und nach ihm als einer Norm unsere Beschreibungen ') W. A. II, 6, 312 f. R. Steiners Anmerkung über die Datierung S. 369. *) Über einen aufzustellenden Typus. W. A. II, 8, 10.

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auszuarbeiten, und indem solche von der Gestalt der verschiedenen Tiere abgezogen wäre, die verschiedensten Gestalten wieder auf sie zurückzuführen? Hat man aber die Idee von diesem Typus erfaßt, so wird man erst recht einsehen, wie unmöglich es sei, eine einzelne Gattung als Kanon aufzustellen. Das Einzelne kann kein Muster vom Ganzen sein, und so dürfen wir das Muster für alle nicht im Einzelnen suchen. Die Klassen, Gattungen, Arten und Individuen verhalten sich wie die Fälle zum Gesetz, sie sind darin enthalten und enthalten es n i c h t . . . Daß wir hierbei [bei Aufstellung des Typus] nicht bloß hypothetisch verfahren, sind wir durch die Natur des Geschäfts versichert. Denn indem wir uns nach Gesetzen umsehen, wonach lebendige, aus sich selbst wirkende, abgesonderte Wesen gebildet werden, so verlieren wir uns nicht ins Weite, sondern belehren uns im Innern. . . Sind wir nun bedächtig und kräftig genug, mit einer einfachen, aber weit umfassenden, mit einer gesetzmäßig freien, lebhaften, aber regulierten Vorstellungsart unserem Gegenstande zu nahen, ihn zu betrachten und zu behandeln, sind wir imstande, mit dem Komplex von Geisteskräften, den man Genie zu nennen pflegt, der aber oft sehr zweideutige Wirkungen hervorbringt, dem gewissen unzweideutigen Genie der hervorbringenden Natur entgegenzudringen; könnten mehrere in einem Sinne auf den ungeheuren Gegenstand loswirken: so müßte denn doch etwas entstehen, dessen wir uns als Menschen zu erfreuen hätten." 1 ) Der entscheidende Schritt ist getan, und Goethe verläßt den eingeschlagenen W e g nicht mehr: was er im Typus „ w o nicht den Sinnen doch dem Geiste" mit „produktiver Leidenschaft" darzustellen sucht, ist das geheime Bildungsgesetz des tierischen Organismus als sein inneres Wesen, seine Idee, „das Innere, nicht etwa Abstrakte, sondern Urlebendige, . . das von innen heraus Bildende". 2 ) Es soll jedoch an den wenigen Stellen nicht vorübergegangen werden, die Kalischer dafür anzuführen hat, daß Goethe den Ausdruck Typus „allermeist im konkreten Sinne einer Stammform" angewandt habe 3), weil man nur einem „reellen Wesen" Veränderlichkeit nachsagen könne. Sachlich ist dazu gleich zu bemerken: Nach dem gegenwärtigen Stande der Deszendenztheorie muß, wer „alle lebenden Tiere ') Vorträge über die drei ersten Kap. des E n t w u r f s einer allg. Einleitung in die vergleichende Anatomie ausgehend von der Osteologie. 1796. W . A. II, 8, 73 ff. 2) Joachim Jungius, 1828, W . A. II, 7, 115. 3) A. a. O., S. L X V .

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von gemeinsamen Urformen ableiten" will, „notwendig annehmen, daß dieselben höchst einfach organisiert, daß sie einzellig waren". 1 ) Es leuchtet ein, daß eine solche Urform mit dem zur A n schauung verdichteten Bildungsgesetz, als das wir Goethes Typus erkannten, nichts zu tun hat. Goethes Gesichtspunkt war eben nicht der Häckels. Sogar ein so begeisterter Anhänger des letzteren wie W . Bölsche hat auf die Tiefe des Entwicklungsgedankens bei Goethe im Vergleich zu anderen Deszendenztheoretikern hingewiesen: „In . . . seinem Allgemeingedenken war Goethe nicht ein Vorläufer Darwins, sondern er ist ein Entwicklungsdenker gewesen wie die ganze Zeit bisher auch nicht annähernd einen mehr hervorgebracht hat. Bis jetzt kann es sich da nur um Nachfolger Goethes handeln, aber um nichts weiter." 2 ) Die von Kalischer herausgehobenen Stellen lauten: „Nun müssen wir . . . auch zugleich mit und neben dem Veränderlichen unsere Ansichten zu verändern und mannigfaltige Beweglichkeit lernen, damit wir den Typus in aller seiner Versatilität zu verfolgen gewandt seien und uns dieser Proteus nirgendhin entschlüpft." 3 ) „Wir wiederholen also, daß . . . aus der Versatilität dieses Typus, in welchem die Natur, o h n e j e d o c h aus d e m H a u p t c h a r a k t e r d e r T e i l e h e r a u s z u g e h e n [diese Einschränkung läßt Kalischer aus], sich mit großer Freiheit bewegen kann, die vielen Geschlechter und Arten der vollkommenen Tiere, die wir kennen, durchgängig abzuleiten sind." 4 ) E s ist dies deutlich der Grundsatz, der in der heutigen Wissenschaft Geltung gewinnt, daß „das Gleichgewicht der Gattung zwar relativ stabil ist, aber im großen Verlauf der „Phylogenese", d. h. der geschichtlichen Artenbildung, sich als labil erweist" 5), und es scheint mir leicht, einzusehen, daß nach ') R. H e r t w i g , Lehrbuch der Zoologie. 8. A. Jena 1903. S. 24. W . B ö l s c h e , Goethe im 20. Jahrh. 4. A . Berlin 1903. S. 39. s ) A n w e n d u n g der allgemeinen Darstellung des T y p u s auf das B e sondere. 1796. W . A. II, 8, 18. 4) Entwurf einer vergl. Anatomie. W . A . I I , 8, 88 f. Die „Einschachtelungs- u. Präformationslehre", die mit der Zurückführung auf eine konkrete Stammform verwandt und durch die heute bekannten Tatsachen des morphogenetischen Prozesses hinfällig geworden ist (N. H a r t m a n n , Philosophische Grundfragen der Biologie, Göttingen 1912, S. 67) hat G o e t h e sogar ausdrücklich b e k ä m p f t : W . A. II, 6, 347 und e b e n d a , S. 16, 322; 7, 73, 288. ») N. H a r t m a n n , a. a. O., S. 118.

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den zuletzt genannten Worten Goethes von der „Versatilität" des Typus, die der Natur im einzelnen so viel Spielraum läßt, dieser, der objektiv vorhanden sein, aber erst gesucht werden muß, entsprechend weit gefaßt werden soll, damit er alle Geschlechter und Arten umfassen kann. Wie weit Goethe den Typus fassen wollte, mit anderen Worten, daß er das Allgemeingesetzliche aller organischen Wesen suchte, zeigt eine Stelle aus den Annalen von 1790: „Ich war völlig überzeugt, ein allgemeiner, durch Metamorphose sich erhebender Typus gehe durch die sämtlichen organischen Geschöpfe durch, lasse sich in allen seinen Teilen auf gewissen mittleren Stufen gar wohl beobachten" — d. h. durch Beobachten erschließen, denn „kein Einzelnes kann Muster vom Ganzen sein" — „und müsse auch noch da erkannt werden, wenn er sich auf der höchsten Stufe der Menschheit ins Verborgene bescheiden zurückzieht". 1 ) Die erste von Kalischer herbeigebrachte Stelle haben die Gegner der Ansicht damit widerlegt, daß Goethe hier deutlich mit „Typus" die verschiedenen „Ausprägungen" 2 ), „Erscheinungsformen" 3 ), „Angehörigen" 4 ) des Typus gemeint habe. Ich möchte es noch etwas anders fassen: Goethe sagt, neben dem vielen Veränderlichen müßten wir unsere Ansichten zu verändern gewandt sein, d. h. doch wohl: glauben wir den Typus wirklich gefunden, erkannt zu haben und erstehen noch neue Arten, die in ihm nicht „der Möglichkeit nach" enthalten waren, dann war eben unsere Vorstellung noch getrübt und muß geändert werden. „Alles, wovon wir reden können", sind eben „nur Manifestationen der Idee". So hieß es ja auch vorher, daß der Typus immer nur „gleichsam in Widersprüchen gehascht" werden könne.5) Damit ist der „Typus" als „Idee" erkannt, als „Funktion", als „aufgegeben", nicht gegeben, nämlich als Setzung des Denkens zur sukzessiven Bestimmung des Sinnlichen, ein „Zumstehenbringen der haltlosen Flucht des Sinnlichen in der stillstehenden Betrachtung", wertvoll nur „im Hinblick auf die grenzenlose Vielgestalt, Veränderlichkeit und *) Annalen, 1790. 24. Absatz. W. A. I, 35, 16. *) S i e b e c k , S. 113. ®) O. H a r n a c k , Goethe in der Epoche seiner Vollendung. 3. A. Leipzig 1905. S. 134. *) W . v. W a s i l i e w s k i , Goethe und die Deszendenztheorie. Frankfurt a. M. 1904. S. 28. S. oben S. 41.

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Relativität des E r s c h e i n e n d e n " . 1 ) Die Versatilität des T y p u s entspricht so durchaus der mvrjaig, der Beweglichkeit der Begriffe b e i Plato im Sinne der Relativierung, die sich aus dem P r o z e ß charakter des vereinheitlichenden, synthetischen D e n k e n s e r g i b t . 2 ) A u c h für P l a t o haben die Ideen in seinen reifsten W e r k e n j e d e Starrheit verloren. „Die B e w e g u n g des D e n k e n s führt aus innerer Notwendigkeit stets wieder hinaus über die j e e r reichten H a l t p u n k t e , die im Grunde nur dienen, die R i c h t u n g der Bewegung festzulegen . . D e r unwidersprechlich klare A u s druck des Reinergebnisses dieser in Plato sich ganz unmerklich vollziehenden W e n d u n g von der S t a t i k zur D y n a m i k ist die Kinesis, die B e w e g u n g , der W a n d e l , gleichsam Marsch der B e griffe, wie sie endlich im „ S o p h i s t e n " so schlicht wie kühn und radikal von P l a t o aufgestellt w i r d . " 3 ) Die B e s t i m m u n g m u ß ins Unendliche gehen, da das zu B e s t i m m e n d e unendlich, grenzenlos ist. D e r fortschreitende C h a r a k t e r des Mannigfaltigen m a c h t e s unmöglich, bei irgendeiner B e s t i m m u n g stehenzubleiben. W o h l ist die Idee zunächst eine (vorläufige, vorbereitende) A n t wort auf die unendlich andrängenden F r a g e n der sinnlichen W e l t ; darum bleibt sie aber nicht weniger, vom S t a n d p u n k t des E r k e n n e n d e n aus, eine ewige F r a g e , nämlich ein unermüdliches W e i t e r f r a g e n . J e schwankender die moderne Naturwissenschaft über die Grenzen der A r t e n wird *), desto glänzender ist G o e t h e g e r e c h t f e r t i g t , wenn er den T y p u s variabel, „nur als V e r s u c h aufgestellt", nur als regulative I d e e zu i m m e r tieferem Eindringen angewandt wissen will, und Plato, wenn er nicht a u f h ö r t e zu lehren, d a ß die Idee nichts G e g e b e n e s , sondern ein von der menschlichen V e r n u n f t i m m e r neu zu E r z e u g e n des sei. Die Unendlichkeit ihrer F u n k t i o n gehört notwendig zum W e s e n der I d e e , die Einsicht in die Unendlichkeit des Prozesses der Begrenzung des U n b e g r e n z t e n , der weder absolute A n f a n g s - noch E n d p u n k t e k e n n t , zum V e r s t ä n d n i s der ') N a t o r p , in „ G r o ß e D e n k e r " , S. 1 1 2 . Dazu w ä r e auch heranzuziehen S t e w a r t , S . 8 3 : „ T h e outcome of the Parmenides is that the Intelligible cannot be severed from the Sensible, that the Ideas whether general logical forms of truth or special concepts — for Ideas are one of these t w o kinds — are meaningless abstractions unless they are regarded as functions necessarily related to the „ O t h e r " , the sensible world." V g l . auch N a t o r p , Ideenl., S. 269. N a t o r p , in „ G r o ß e Denker", S . 99. D e r s . , Die log. Grundlagen der exakt. Wissenschaften. Leipzig 1910, S. 158. 3 ) N a t o r p , in „ G r o ß e D e n k e r " , S. 106. 4 ) V g l . N. H a r t m a n n , Philos. Grundfragen der Biologie, S . 1 1 5 .

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Lehre Piatos. Ja, die ewige Variabilität des Typus bei Goethe kann uns zur Verdeutlichung des gegenseitigen Übertreffens von Werden und Sein im „Staatsmann" dienen. Nicht nur wird die Idee vom Teilhabenden niemals erreicht und was von ihr bestimmt werden soll, bleibt immer hinter ihr zurück: der unendliche Prozeß der Annäherung erscheint im „Staatsmann" gleichzeitig von beiden Seiten. Das Unbestimmte, das die Maßbestimmung, das Gesetz, die Idee zu bestimmen hat, schreitet über diese selbst hinaus, wird aber dann wieder von ihr überschritten. „Man kann sich das wohl nur so denken, daß beide nie ganz zusammenfallen, daß folglich immer bald auf der einen, bald auf der anderen Seite ein Rest nachbleibt, der das neue Übertreffen und Überschreiten nötig macht. Sie tendieren zueinander, decken einander aber niemals ganz, sondern schießen eines über das andere hinaus." l ) So nährt und vertieft sich die Idee — ihre jeweilige Manifestation — an dem Reichtum und der Unerschöpflichkeit der Erscheinungswelt, und der Geist erzeugt sie „anläßlich' neuer Erfahrungen, die erneute Rechenschaft fordern, fortwährend neu, nur in der Einheit des Blickpunktes verharrend. Darum hat die Idee teil an den Erscheinungen so gut wie die Erscheinungen an der Idee. Der Grundgedanke der platonischen Dialektik ist diese ewige Kette von Frage und Antwort, von Problem und Lösung. „Daß es eine logische Notwendigkeit gibt, die jedes Problem über sich selbst hinauszugehen zwingt, ist für Plato eine ausgemachte Sache; er sagt das . . . unzählige Male im Vorübergehen bei Gelegenheit einzelner Probleme, so oft die Untersuchung ihn nötigt, ungewöhnliche Wege einzuschlagen." 2 ) Es wird menschlichen Geisteskräften nie gelingen, den Typus „rein", als adäquate Offenbarung der Idee, restlos zu erkennen; -sie werden ihm aber näher und näher kommen. Goethe wußte recht wohl, „daß man immer mit einem unauflöslichen Problem zu tun" 3) habe; „jedoch liebevolles Annähern an das Unerreichbare zu versuchen, ist nicht untersagt". 4 ) Bei allen Versuchen des menschlichen Geistes „enthüllt das zuletzt aufgelöste Problem immer wieder ein neues aufzulösendes". 5 ) Goethes Ziel ist in der Tat eine „Wissenschaft, die nicht besteht in Festlegung absoluter Existenzen, sondern in unbeschränktem Fort*) ) *) *) 3

s H a r t m a n n , Piatos Logik des Seins, S. 408. ) Ebenda, S. 470. Aus den Heften zur Naturwissensch., 1823. Max. u. Refl. Nr. 420. Glückliches Ereignis. W . A. II, 11, 20. An Graf Reinhard, 9. Sept. 1831. Vgl. an H. Meyer, 20. Juli 1831.

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gange eines Verfahrens, dessen von Stufe zu Stufe gewonnene Ergebnisse allenfalls hypothetische, nie absolute Gegenstände heißen mögen; Lösungen von Problemen, die stets neue Probleme zutage fördern, neue Lösungen verlangen . . . Die Idee sagt das Ziel, den unendlich fernen Punkt, der die Richtung des Weges der Erfahrung bestimmt". 1 ) Nicht aus, aber an den Erscheinungen wollte sich Goethe die Vorstellung des Typus erarbeiten. Wir erinnern uns an seine W o r t e : „Die Klassen, Arten, Gattungen und Individuen verhalten sich [zum Typus] wie die Fälle zum Gesetz; sie sind darin enthalten und enthalten es nicht." 2 ) Dies entspricht völlig der „Immanenz nicht sowohl der Idee in den Erscheinungen als der Erscheinungen in der Idee." 3 ) Als den schlichten Sinn der Metapher der „Teilhabe" erkennt die heutige Forschung das Verhältnis des Falls zum Gesetz. 4 ) Stewart erklärt im gleichen Sinne die Immanenz so: „The immanence of the „separate" etdog in the particular . . . is nothing but the truth of the explanation, the applicability of the explanation to the thing explained." 5 ) Auf das Schwankende, oft Irreführende der Erscheinung, die zum Stillstand nur in der Betrachtung gebracht werden kann, aber auch gebracht werden m u ß , hat Goethe unermüdlich hingewiesen: „Der Deutsche hat für den Komplex des Daseins eines wirklichen Wesens das Wort Gestalt . . . Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke . . . Wollen wir also eine Morphologie einleiten, so dürfen wir nicht von Gestalt sprechen, sondern wenn wir das W o r t brauchen, uns allenfalls dabei nur die Idee, den Begriff oder ein in der Erfahrung für den Augenblick Festgehaltenes denken." 6 ) „Wir teilen mit dem Verfasser (d'Alton) die Überzeugung von einem allgemeinen Typus sowie von den Vorteilen einer sinnigen Nebeneinanderstellung der Bildungen; wir glauben auch an die ewige Mobilität aller Formen in der Erscheinung." 7 ) Aber diese ewige Mobiiitat, die er ein2 ') N a t o r p , Ideenl., S. 215. ) S. oben S. 42. 8 4 ) N a t o r p , in „Große Denker", S. 136. ) N a t o r p , Ideenl., S. 151. 5 ) A. a. 0., S. i25f. Ähnlich: T a y l o r , Plato, London 1908, p. 72. ") Zur Morphologie. Die Absicht eingeleitet. 1807. W. A. II, 6, 9. ') Über d'Altons „Die Faultiere und die Dickhäutigen", Zur Morphologie. 1822. W. A. II, 8, 225.

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mal kennzeichnet als „freie und notwendige Versatilität des organischen W e s e n s " 1 ) , dieses Schwanken der Erscheinung, des Werdens, muß einen „Halt am Sein" an einem Unwandelbaren, dynamisch, nicht statisch Beharrlichen haben, muß einem ewig unerschütterlich Gesetzmäßigen gehorchen. „Das Schwierige bei der Natur ist, das Gesetz auch da zu sehen, wo es sich uns verbirgt, und sich nicht durch Erscheinungen irre machen zu lassen, die unseren Sinnen widersprechen. Denn es widerspricht in der Natur manches den Sinnen und ist doch wahr." 2 ) W a s Goethe am meisten interessierte, war nicht, das offenkundig Gesetzliche aus regelmäßigen Erscheinungen, aus als gleichmäßig einleuchtenden Naturvorgängen abzulesen, sondern die Idee auch in scheinbarer Verborgenheit zu erkennen, das „Sein" im Werden zu erschauen, dem geheimen Gesetz auf die Spur zu kommen, das anscheinend sogar Willkür und Zügellosigkeit gestatten darf und doch immer es selbst bleibt, ewig, unbezwinglich, „dergestalt göttlich, daß die Gottheit selbst daran nichts ändern könnte". 3 ) „Alle Glieder bilden sich aus nach ew'gen Gesetzen, Und die seltenste Form bewahrt im geheimen das Urbild." 4 ) „Das Höchste jedoch, was . . . . dem Gedanken gelingt, ist, gewahr zu werden, was die Natur in sich selbst als Gesetz und Regel trägt, jenem ungezügelten, gesetzlosen Wesen zu imponieren." 5 ) „Überdenk ich nun das N a g e r g e s c h l e c h t . . . . , so erkenn ich, daß es zwar generisch von innen determiniert und festgehalten sei, nach außen aber zügellos sich ergehend durch Um- und Umgestaltung sich spezifizierend auf das allervielfachste verändert werde." 6 ) „ W a s ist auch im Grunde aller Verkehr mit der Natur, wenn wir auf analytischem Wege bloß mit einzelnen materiellen Teilen uns zu schaffen machen und nicht das Atmen des Geistes empfinden, der jedem Teile seine Richtung vorschreibt und jede Ausschweifung durch ein inwohnendes Gesetz bändigt oder sanktioniert?" 7 ) Ein Symbol für diesen Triumph des Gesetzlichen — der zugrunde liegenden Idee — selbst in anscheinend buntestem ') Gesch. der L e h r e der Pflanzenmetamorphose 1807 od. 1816. W . A. II, 6, 322. s ) Zu Eckermann, 24. Febr. 1831. 3) Dichtung u. Wahrheit. 4. T . 16. Buch. W . A. I, 29, 12. 4) Metamorphose der Tiere. 1806. W . A. I, 3, 89. 6) Zur Meteorologie.Versuch einer Witterungslehre. 1825. W . A . I I , 12,103. 6) Über d'Altons „Die Skelette der Nagetiere". 1824. W . A. II, 8, 247.. ') Zu Eckermann, 2. August 1830.

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Wirrsal der Erscheinung waren ihm die Lepaden, über die er 1823 eine ungemein fesselnde kleine Abhandlung- schrieb: „Soviel aber ist auch bei diesem Naturprodukt mit Bewunderung zu bemerken, daß selbst die gewissermaßen aufgelöste Regel doch im Ganzen keine Verwirrung zur Folge hat. Da ich nach meiner Art zu forschen, zu wissen und zu genießen mich nur an Symbole 1 ) halten darf, so gehören diese Geschöpfe zu den Heiligtümern, welche fetischartig immer vor mir stehen und durch ihr seltsames Gebilde die nach dem Regellosen strebende, sich selbst immer regelnde, und so im kleinsten wie im größten durchaus gott- und menschenähnliche Natur sinnlich vergegenwärtigen." 2 ) Die billige Art, scheinbar Unregelmäßiges als „abnorm" beiseite zu schieben, war Goethe von jeher verhaßt:- „Überhaupt finden wir, daß die Mißbildung sich immer wieder zum Gebilde hinneigt, daß die Natur keine Regel hat, von der sie nicht eine Ausnahme machen, keine Ausnahme, die sie nicht wieder zur Regel zurückführen könnte". 3 ) „Im Pflanzenreiche nennt man zwar das Normale in seiner Vollständigkeit mit Recht ein Gesundes, ein physiologisch Reines; aber das Abnorme ist nicht gleich als krank oder pathologisch zu betrachten. Nur allenfalls das Monströse könnte man auf diese Seite zählen . . . Und die Worte Mißbildung, Verkrüppelung, Verkümmerung sollte man mit Vorsicht brauchen, weil in diesem Reiche die Natur, zwar mit höchster Freiheit wirkend, sich doch von ihren Grundgesetzen nicht entfernen kann. Ich wünschte, man durchdränge sich recht von der Wahrheit: daß man keineswegs zur vollständigen Anschauung gelangen kann, wenn man nicht Normales und Abnormes immer zugleich gegeneinander schwankend und wirkend beobachtet." 4 ) Und eine besonders charakteristische Stelle aus einem Aufsatz über den von Goethe so hochgestellten Geoffroy de St. Hilaire, aus den letzten Wochen, vielleicht Tagen Goethes stammend, sagt: „Hier möchte nun der Ort sein, zu bemerken, daß der Naturforscher auf diesem Wege am ersten und leichtesten den Wert, die Würde des Gesetzes, der Regel erkennen lernt. ') Goethes Symbolbegriff wird unten ausführlich besprochen. 2 ) Die Lepaden. W . A. II, 8, 258 f. *) Zur Morphologie. Nacharbeiten und Sammlungen. Zw. 1817 u. 1824. W . A. II, 6, 179. *) Zur Morphologie. Verfolg. Nacharb. u. Samml. Zw. 1817 u. 1824. W. A . n , 6 , 1 7 3 fr. C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VIII, 1.

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Sehen wir immerfort nur das Geregelte, so denken wir, es müsse so sein, von jeher sei es so bestimmt und deswegen stationär. Sehen wir aber die Abweichungen, Mißbildungen, ungeheure Mißgestalten, so erkennen wir, daß die Regel zwar fest und ewig, aber zugleich lebendig sei; daß die Wesen zwar nicht aus derselben heraus, aber doch innerhalb derselben sich ins Unförmliche umbilden können, jederzeit aber, wie mit Zügeln zurückgehalten, die unausweichliche Herrschaft des Gesetzes anerkennen müssen". 1 ) In der Fähigkeit, die geheime Wirksamkeit des Gesetzes auch durch die vermeintliche Ausnahme hindurchschimmern zu sehen, sah Goethe mit Recht geradezu ein Kriterium für echte Wissenschaftlichkeit, wahrhaft ideelle — wir würden vielleicht sagen idealistische — Behandlungsart: „Wenn ein Wissen reif ist, Wissenschaft zu werden, so muß notwendig eine Krise entstehen. Denn es wird die Differenz offenbar zwischen denen, die das Einzelne trennen und getrennt darstellen und solchen, die das Allgemeine im Auge haben und gern das Besondere an- und einfügen möchten. Wie nun aber die wissenschaftliche, ideelle, umgreifendere Behandlung sich mehr und mehr Freunde, Gönner und Mitarbeiter wirbt, so bleibt auf der höheren Stufe jene Trennung zwar nicht so entschieden, aber doch genugsam merklich. Diejenigen, welche ich die Universalisten nennen möchte, sind überzeugt und stellen sich vor, daß alles überall, obgleich mit unendlichen Abweichungen und Mannigfaltigkeiten vorhanden und vielleicht auch zu finden sei; die anderen, die ich Singularisten benennen will, gestehen den Hauptpunkt im allgemeinen zu, ja sie beobachten, bestimmen und lehren hiernach, aber immer wollen sie Ausnahmen finden da, wo der ganze Typus nicht ausgesprochen ist, und darin haben sie Recht. Ihr Fehler ist aber nur, daß sie die Grundgestalt verkennen, wo sie sich verhüllt, leugnen, wo sie sich verbirgt". 2 ) Rudolf Steiner umschreibt Goethes Auffassung vom Verhältnis des Typus zu seinen Erscheinungsformen so: „ W a s Goethe wollte, war nichts anderes als alle dunklen und unklaren Vorstellungen wie Lebenskraft, Bildungstrieb usw. aus der Wissenschaft verbannen und für sie Naturgesetze auffinden . . . Der Typus, das Gesetzliche im Organischen ist . . der Gegenstand seiner Morphologie im weiteren Sinne". Die 4)

que.

Über Geoffroy de St. Hilaires Principes de philosophie zoologiMärz 1832. W. A. II, 7, i8gf. *) Aus den Heften zur Naturwissenschaft 1823, Max. u. Refl. Nr. 419.

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gesuchte Einheit ist „eine Gesetzmäßigkeit, die als solche die Form, in der sie sich für die Sinnenwelt äußert, noch vollständig unbestimmt läßt. Eben weil der eigentliche Kern, der tiefere Gehalt dieser Gesetzmäßigkeit nicht in dem aufgeht, was sinnenfällig wird, kann er sich in verschiedenen sinnlichen Formen äußern und doch immer derselbe bleiben. Es ist vielmehr der organischen Gesetzlichkeit bei ihrem Auftreten als äußere Erscheinung ein unendliches Feld geöffnet, wie das möglich ist . . . damit ist die Möglichkeit der Umwandlung bestehender Formen abgeleitet . . . Die Entwicklungsformen müssen alle ideell aus der Einheit erklärbar sein, wenn sie auch nicht reell aus derselben hervorgehen". 1 ) Wir haben keinen Beleg dafür, daß dieser unsichtbar wirksame Typus, dies geheime unbezwingliche Urbild alles Organischen, vor Goethes Auge mit ganz so bildhafter Deutlichkeit gestanden habe wie zuvor die Idee der Pflanze. Jedenfalls geriet er nie in Versuchung, es entdecken zu wollen. Vielleicht war dazu auch der Einfluß Schillers zu stark, von dem er ja gelernt hatte, Erfahrung und Idee zu scheiden . . „Das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen habe, ohne es zu wissen und sie sogar mit Augen sehe", hatte er damals geantwortet.2) Fortan wußte er, daß er „Ideen" hatte, eine „Idee" zu fassen suchte. Es war ihm klar geworden, „daß eine jede Idee immer als ein fremder Gast in die Erscheinung tritt und wie sie sich zu realisieren beginnt, kaum von der Phantasie" und Phantasterei zu unterscheiden ist". 3 ) Seine anatomischen und osteologischen Studien hatte er überdies auch nicht in genügender Breite betreiben können, um den gesuchten und geahnten Typus wirklich auch nur versuchsweise aufzustellen. Aber ein heuristisches Prinzip von ungeheurer Tragweite hatte er hingestellt; er wußte, daß „der Fortschritt der ganzen Wissenschaft bloß auf diesem Wege schnell zu hoffen sei". 4 ) Ein Einsamer zwischen den nach Einzelheiten suchenden Naturforschern und *) R. S t e i n e r , Über Goethes naturwiss. Arbeiten. Goethe-Jahrb. 12. Bd. 1891, S. 198—205. J ) W . A. I, 36, 2 5 1 : außerdem W . A. II, n , 16. D ü n t z e r s durch viele Beweise gestützte Behauptung (Goethe-Jahrb. B. 2, 1881, S. 168—189, bes. 182), das Gespräch mit Schiller über die Metamorphose müsse schon bei der Begegnung am 31. Okt. 1791 stattgefunden haben, nicht wie die Annalen 1817 berichten, erst 1794, hat viel Bestechendes, muß aber dahingestellt bleiben. Sie scheint wenig beachtet worden zu sein. *) An Ernst Meyer, 26. Juni 1829. Fast wörtlich wiederholt in den 4 Max. u. Refl., Nr. 800. ) S. oben S. 40. 4*

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den im Phantastischen verschwebenden Naturphilosophen seiner Zeit, h&tte er betont, was seit Plato für alle Zeiten die Grundfesten aller wahren Wissenschaftlichkeit bildet. Das „Musterbild", die „Idee" war ihm ein „unwandelbar fester Richtpunkt des Denkens" 1 ): „Die Idee ist in der Erfahrung nicht darzustellen, kaum nachzuweisen, wer sie nicht besitzt, wird sie in der Erscheinung nirgends gewahr; wer sie besitzt, gewöhnt sich leicht über die Erscheinung hinweg, weit darüber hinauszugehen und kehrt freilich nach einer solchen Diastole, um sich nicht zu verlieren, wieder an die Wirklichkeit zurück und verfährt so wechselsweise wohl sein ganzes Leben. Wie schwer es sei, auf diesem Wege für Didaktisches oder gar wohl Dogmatisches zu sorgen, ist dem Einsichtigen gar nicht fremd". 2 ) Es mag hier eingeachaltet werden, daß der platonische Ausdruck Systole und Diastole oder Synkrisis oder Diakrisis ein Lieblingsbild Goethes war, er gebraucht es unendlich oft sowohl für die Farbenlehre als in allgemeinerer Anwendung: „Wer zuerst aus der S y s t o l e und D i a s t o l e , zu der die Retina gebildet ist, aus dieser S y n k r i s i s und D i a k r i s i s , mit Plato zu sprechen, die Farbenlehre entwickelte, der hat die Prinzipien des Kolorits entdeckt". 3 ) Im Anschluß an einen Auszug aus dem „Timaios" heißt es: „Wir mögen statt der griechischen Worte ovyxQiveiv und ôiaxçiveiv in andern Sprachen setzen was wir wollen: zusammenziehen — ausdehnen, sammeln — entbinden, fesseln, lögen, rétrécir und développer etc., so finden wir keinen so geistig-körperlichen Ausdruck für das Pulsieren, in welchem sich Leben und Empfindung ausspricht". 4 ) „Welch eine andere wissenschaftliche Ansicht würde die Welt gewonnen haben, wenn die griechische Sprache lebendig geblieben wäre", ruft er einmal aus, „und sich anstatt der lateinischen verbreitet hätte 1" 5) Allgemeiner gebraucht Goethe das Bild: „. . . Hatte ich doch in meinem ganzen Leben, dichtend und beobachtend, s y n t h e t i s c h und dann wieder a n a l y t i s c h verfahren; die S y s t o l e und D i a s t o l e des menschlichen Geistes war mir wie ein zweites Atemholen niemals getrennt, immer pulsierend". 6 ) „Ein Jahrhundert, das sich bloß auf die A n a l y s e verlegt, und sich ') N a t o r p , Ideenlehre, S. 98. ») Zur Morphologie, Verfolg. Nach 1822. W. A. II, 6, 226. ) Aus dem Nachlaß, Max. u. Refl. 1079. *) Farbenlehre, Hist. T . 2. Abt. Römer. W . A. II, 3, 114. 5 ) Farbenlehre, Hist. T. 4. Abtlg. 16. Jahrh. W . A. II, 3, 201. •) Einwirkung der neueren Philosophie 1820. W. A. II, n , 49. Ähnlich an Jacobi, 23. Nov. 1801. 3

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vor der S y n t h e s e gleichsam fürchtet, ist nicht auf dem rechten W e g e ; denn nur beide zusammen, wie Ein- und Ausatmen, machen das Leben der Wissenschaft." 1 ) Dazu gehört auch folgendes: „Möge doch jeder von uns bei dieser Gelegenheit sagen, daß S o n d e r n und V e r k n ü p f e n zwei unzertrennliche Lebensakte sind. Vielleicht ist es besser gesagt: daß es unerläßlich ist . . . aus dem Ganzen ins Einzelne, aus dem Einzelnen ins Ganze zu gehen, und je lebendiger diese Funktionen des Geistes wie A u s - u n d E i n a t m e n sich zusammen verhalten, desto besser wird für die Wissenschaften und ihre Freunde gesorgt sein". 2 ) „So setzt das Einatmen schon das Ausatmen voraus und umgekehrt; so jede Systole ihre Diastole. Es ist die ewige Formel des Lebens, die sich auch hier äußert. W i e dem Auge das Dunkel geboten wird, so fordert es das Helle; es fordert Dunkel, wenn man ihm Hell entgegenbringt und zeigt eben dadurch seine Lebendigkeit, sein Recht, das Objekt zu erfassen, indem es etwas, was dem Objekt entgegengesetzt ist, aus sich selbst hervorbringt." 3 ) „ W i e Wenige", so klagt er einmal, „fühlen sich von dem begeistert, was eigentlich nur dem Geiste erscheint. Die Sinne, das Gefühl, das Gemüt üben weit größere Macht über uns aus, und zwar mit Recht: denn wir sind aufs Leben und nicht auf die Betrachtung angewiesen. Leider findet man aber auch bei denen, die sich dem Erkennen, dem Wissen ergeben, selten eine wünschenswerte Teilnahme. Dem Verständigen, auf das Besondere Merkenden, Beobachtenden, auseinander Trennenden ist gewissermaßen das zur Last, was aus einer Idee kommt und auf sie zurückführt. Er ist in seinem Labyrinth auf eigene Weise zu Hause, ohne daß er sich um einen Faden bekümmerte, der schneller durch und durch führte." 4 ) Goethe konnte nie zur Last sein, was aus der Idee kam, er gehörte zu den wenigen, die sich von dem begeistert fühlen, „was eigentlich nur dem Geist erscheint", weil sein Denken ein inneres Anschauen, weil er in so überragendem Maße mit der Fähigkeit und Kraft der inneren Schau begabt war, wie wir es vielleicht von keinem anderen menschlichen Geiste seit Plato wissen. ') s) ») ')

Analyse u. Synthese, 1829. W . A. II, 11, 70. Über Geoffroy de St. Hilaire, März 1832. W . A. II, 7, 188. W . A.II, 1,15. V g l . W . A. II, 3, 217 ; W. A . I V , 15, 280; ähnlich noch oft. Zur Morphologie, 1817. W . A. II, 6, 6.

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V. Im Bereich des Organischen hatte Goethe sich die Aufgabe gestellt: „. . . . ein Typus sollte anerkannt werden, ein Gesetz, von dem ih der Erscheinung nur Ausnahmen aufzuweisen sind", und seine Gabe des inneren Schauens hatte dies ideelle Bild vor seinem geistigen Auge mit faßlichen Zügen ausgestattet. Im Gebiet des Anorganischen bediente er sich nun der gleichen Methode: auch hier galt es ihm, das innere Wesen, die Gesetzlichkeit, das dynamisch Beharrende in der Flucht der Erscheinungen durch vereinheitlichendes geistiges Sehen zu erfassen. Wie stark in ihm die Überzeugung war, mit seinem „botanischen Werkchen" den W e g eingeschlagen zu haben, auf dem er seine „Betrachtungen über alle Reiche der Natur" fortzusetzen habe, habe ich oben hervorgehoben. Während seiner Arbeit auf anderen Gebieten ist er sich dessen auch tatsächlich immer bewußt geblieben: „. . . bei Darstellung des Versuchs der Pflanzenmetamorphose mußte sich eine naturgemäße Methode entwickeln, denn als die Vegetation mir Schritt für Schritt ihr Verfahren vorbildete, konnte ich nicht irren, sondern mußte, indem ich sie gewähren ließ, die W e g e und Mittel anerkennen, wie sie den ein gehüllt esten Zustand zur Vollendung nach und nach zu befördern weiß. Bei physischen 1 ) Untersuchungen drängte sich mir die Überzeugung auf, daß bei aller Betrachtung der Gegenstände die höchste Pflicht sei, jede Bedingung, unter der ein Phänomen erscheint, aufzusuchen und nach möglichster Vollständigkeit der Phänomene zu trachten, weil sie doch zuletzt sich aneinander zu reihen oder vielmehr übereinander zu greifen genötigt werden und vor dem Anschauen des Forschers auch eine Art Organisation bilden, ihr inneres Gesamtleben manifestieren müssen." 2 ) Hier stehen wir vor steilern Stufen. Wir sind bei dem angelangt, was Goethe selbst mit Vorliebe „Urphänomen" nennt, was jedoch als Ziel der Forschung für das Anorganische nichts anderes ist als der Typus für das Reich des Organischen. Falk berichtet von einem Gespräch, in dem Goethe ihm darlegte, daß seine „Farbenlehre mit der Metamorphose der Pflanzen auf einem *) G o e t h e sagt nach dem Sprachgebrauch seiner Zeit „physisch" für „physikalisch". *) Einwirkung der neueren Philosophie 1798, W . A. II, 11, 48.

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und demselben Prinzip" beruhe 1 ), und noch im hohen Alter gereut es ihn nicht, „die Mühe eines halben Lebens" in die Farbenlehre gesteckt zu haben, weil Methode darin sei, wie auch die Metamorphose der Pflanzen „auf derselbigen Anschauungsund Ableitungsweise" gegründet sei.2) Die oben wiedergegebene Stelle ist nicht etwa eine Verlegenheitsumschreibung, denn der Aufsatz, dem sie entstammt, gehört einer Zeit an, in der der Ausdruck „Urphänomen" längst und noch immer im Gebrauch war. Sie beweist, daß mit Recht die „Urpflanze", deren Gedankenkern dann in Form des Metamorphosengesetzes ausgesprochen wurde, und der gesuchte „ T y p u s " des Tierischen als „Urphänomene" gefaßt werden durften. 3 ) Ja, es wird sich zeigen, daß sie dem, was Goethe mit oder in den „Urphänomenen" suchte, besser gerecht wurden als das, was Goethe z. B. in der Farbenlehre als ein solche aufstellen zu können glaubte. Wenn die physikalischen Erscheinungen gleichfalls „vor dem Anschauen des Forschers eine Art Organisation bilden, ihr inneres Gesamtleben manifestieren müssen", so heißt das nichts anderes als nach einem Symbol, einem Ausdruck der diesen Erscheinungen zugrunde liegenden, ihnen als Gesetz innewohnenden, in ihnen ewig wirksamen „Idee" im platonischen Sinne suchen. Ist es doch Piatos eigene Meinung, wenn im „Parmenides" die Ausdehnung der Methode der Ideen auf alle Gebiete wissenschaftlicher Probleme gefordert wird; das gesamte Reich der Erfahrung in der ganzen Unendlichkeit ihrer Relativität ist schließlich dieser Methode zu unterwerfen. Goethe kam es in jedem Zweige der Wissenschaft — und wir werden später sehen, auch in der Kunst — an „auf ein Gewahrwerden dessen, was den Erscheinungen zugrunde liegt". 4 ) Wieder glaubt er, mit der genetischen Betrachtungsweise das dynamisch Beharrende im Schwanken und Fliehen der Erscheinungen gewahren zu können. „Mit einer sehr angenehmen Empfindung arbeite ich nunmehr an der Farbenlehre. . . . Dabei kam mir zu statten, daß ich von jeher beim Anschauen der Gegenstände auf dem genetischen W e g mich am besten befand, 2) Eckermann, i . F e b r . 1827. V g l . oben S.13, Anm.4. »)28. Febr. 1809. •) A u c h M. M o r r i s sagt in seiner Einleitung zu G o e t h e s Naturwissenschaftlichen Schriften Cottasche Jub.-Ausg. Bd. 39, S. X X X V I : „Der T y p u s ist ihm ein Urphänomen. . ." E b e n s o spricht K r o n e n b e r g von G o e t h e s „Aufsuchen des Urphänomens in der T i e r - und Pflanzenwelt". (Kronenberg, Gesch. des deutschen Idealismus, 2. Bd. München 1912, S. 410.) *) Zur Farbenlehre. Hist. Teil. 5. Abtlg. W. A. II, 3, 247.

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so daß es mir nicht schwer werden konnte, mich zu der dynamischen Vorstellungsart, welche uns bei der Betrachtung der Natur so herrlich fördert, zu erheben." 1 ) Die genetische und die dynamische Betrachtungsweise stellt auch eine Tagebuchstelle aus der gleichen Zeit zusammen: „Wenn im Theoretischen das Dynamische allein fruchtbar ist, so hat bei empirischen Betrachtungen bloß das Genetische einigen Wert, denn beides koinzidiert." 2 ) Die Beschäftigung mit den optischen Studien begann für Goethe gleichfalls in Italien; die Bewunderung für die Farbenwirkungen der venetianischen Malerei wie für die durch die Reinheit der italienischen Luft erhöhte Intensität der atmosphärischen Farben gab den Anstoß. 3 ) Auch bei diesem Studium trieb ihn der Wunsch, „Ordnung in das vielgestaltige Durcheinander seiner Eindrücke zu bringen und Einsicht in den Zusammenhang dieser Erscheinungen zu gewinnen". 4 ) Hier wie überall sucht er die Zusammenschau, die Einheit in der Vielgestalt. „An der Mannigfaltigkeit der Welterscheinungen freut sich der Lebemensch, an der Einheit dieser Mannigfaltigkeit der höhere Forscher" schreibt er später einmal.5) Auf sein Fragen und Forschen nach den Gesetzen des Kolorits findet er jedoch nur Belehrung über einzelnes, in der wissenschaftlichen Literatur ebenso wie bei den ausübenden Künstlern. 6 ) „Man fand bisher bei den Malern eine Furcht, ja, eipe entschiedene Abneigung gegen alle theoretischen Betrachtungen über die Farbe und was ihr gehört; was ihnen jedoch nicht übel zu deuten war. Denn alles bisher sogenannte Theoretische war grundlos, schwankend und auf Empirie hindeutend." 7 ) So sieht er sich wieder, um der „millionfachen Hydra der Empirie" 8 ) zu entfliehen, auf seinen „eigenen, stillen Weg" gewiesen. 1791 erscheint das erste Stück der „Beiträge zur Optik", im folgenden Jahre das zweite, ohne beachtet zu werden. Dann verzichtet Goethe zunächst auf den Anteil der Öffentlichkeit an ') An F. H. Jacobi, 2. Jan. 1800. 2) Tgb., 6. Dez. 1799. W. A. III, 2,273. ") Beiträge zur Optik. W. A. II, 5, 12. 4 ) W. K ö n i g , G o e t h e s optische Studien. Festrede zur Feier von Goethes 150. Geburtstag. Frankfurt a. M. 1899, S. 7. •) An Ernst Meyer, 23. April 1829. •) Konfession des Verfassers. Farbenlehre, Hist. T e i l , 6. Abtig., 18. Jahrh. W. A. II, 4, 289 u. 393. ') Farbenlehre, Did. T. 6. Abtlg. Sinnl.-sittl. Wirkung der Farben W. A. II, 1, 35'8 ) An Schiller, 17. August 1797.

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dem Problem, mit dem er sich während der „Kampagne in Frankreich" „leidenschaftlich" beschäftigte, „ohne sich durch Kanonenkugeln und Feuerballen im mindesten stören zu lassen". 1 ) Dem Fürsten Reuß XI., den diese Beschäftigung an Goethe verwundert, erklärt er: „Unsere Altväter hätten, begabt mit großer Sinnlichkeit, vortrefflich gesehen, jedoch ihre Beobachtungen nicht fort- noch durchgesetzt, am wenigsten sei ihnen gelungen, die Phänomene wohl zu ordnen und unter die rechten Rubriken zu bringen." 2 ) Dies eben will Goethe nun versuchen; durch Schillers und des römischen Freundes Meyer Teilnahme allein ermutigt, arbeitet er fort, aber erst 1805 — 1810 geht die Farbenlehre, Goethes umfangreichstes Werk, in Druck. Nicht auf das, was Goethe in seiner Farbenlehre zu finden glaubte, vielmehr auf das, was er suchte, kommt es uns hier an. In die Gedankenarbeit, die der Ausführung voranging, führen uns am besten die beiden Aufsätze „Der Versuch als Vermittler zwischen Objekt und Subjekt" von 1792 3 ) und „Erfahrung und Wissenschaft" von 1798 4 ), sowie die Korrespondenz mit Schiller im Januar und Februar 1798 ein. Goethe spricht in dem ersten Aufsatz dem Versuch, der „Erfahrungen vorsätzlich wiederholt und die Phänomene, die teils zufällig, teils künstlich entstanden sind", wieder darstellt, nur insofern Wert zu, als er nicht isoliert ist, sondern aufs Ganze deutet und eine Verbindung der Phänomene, mithin eine Zusammenschau des Zerstreuten (wenn auch nicht mit diesem Ausdruck bezeichnet), eine „Erfahrung höherer Art" herstellt. E r ist vergleichbar der „Formel, unter welcher unzählige Rechnungsexempel ausgedrückt werden", aber eben dargestellt nicht als Formel, sondern als anschauliche Demonstration. Durch isolierte Versuche wird das Urteil öfter nur „erschlichen"; wenn dagegen die Versuche als Elemente jener Erfahrung höherer Art „in Reihen geordnet und niedergelegt werden, so steht alsdann einem jeden frei, sie nach seiner Art zu verbinden und ein Ganzes daraus zu bilden, das der menschlichen Vorstellungsart überhaupt mehr oder weniger bequem und angenehm sei." Seine Absicht bei seinen optischen Bemühungen sei, „alle Erfahrungen in diesem Fache zu sammeln, alle Versuche selbst anzustellen . . . sodann die Sätze, in welchen sich die Erfahrungen der höheren Gattung aussprechen lassen, aufzustellen und abzuwarten, inwiefern sich auch diese unter ein höheres Prinzip rangieren". *) Kampagne in Frankreich. W . A. I, 33, 31. 3 ) W . A. II, i i , 21 ff. *) W . A. II, 11, 38 ff.

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) Ebenda S. 32.

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Goethe versucht also geradezu einen „Gang aufwärts zu immer fundamentaleren Setzungen bis zu einem zulänglichen Fundament", einem Prinzip, von dem aus wieder ein „Gang abwärts zu den Konsequenzen" möglich sein muß, bei dem sich jede „unrechte Voraussetzung schließlich zu erkennen geben" muß „durch Widerspruch in den Konsequenzen" *); er führt ihn jedoch nicht in logischen Setzungen durch, sondern in anschaulichen, wiewohl logisch vereinfachenden und zusammenfassenden Demonstrationen. Der Anfang einer Deduktion aber ist ein Gesetz 2 ), und ein solches letztes Gesetz für das Zustandekommen aller Farbenwahrnehmung sucht Goethe. Daß dies in der Tat der letzte Sinn des „Urphänomens" sein sollte, wird später noch deutlicher werden. 3 ) Am 10. Januar 1798, als Goethe in „färb- und freudlosen Stunden die Farbenlehre wieder vorgenommen", übersendet er Schiller den um sechs — Goethe selbst sagt irrig vier bis fünf — Jahre zurückliegenden Aufsatz, und am 12. Januar antwortet Schiller darauf: „Das ist mir z. B. sehr einleuchtend, wie gefährlich es ist, einen theoretischen Satz unmittelbar durch Versuche beweisen zu wollen. Überhaupt kann eine Erscheinung oder Faktum, die etwas durchgängig vielfach Bestimmtes ist, nie einer Regel, die bloß bestimmend ist, adäquat sein." Von einer allgemeineren Durchführung des von Goethe angedeuteten Verfahrens verspricht sich Schiller „eine strengere und reinere Scheidung des praktischen Verfahrens und des theoretischen Gebrauchs"; ja er glaubt, daß die Wissenschaft nur dadurch erweitert werden kann, daß eine „rationelle Empirie" beiden gleichzeitig gerecht wird. Am folgenden Tage (13. Januar) versichert Goethe, „daß ich Ihren heutigen Brief als mein eigenes Glaubensbekenntnis unterschreiben kann" 4 ); schon am 15. bringt ') N a t o r p , Ideenlehre S. 153. Vgl. dazu desselben Verf. Aufsatz „Piatos Phädrus", Hermes 1900, S. 385—436. 2 ) N a t o r p in „Große Denker" S. 121. 8 ) Besonders für den „Gang aufwärts und abwärts" ist auch die oben S. 13 gegebene Erklärung des „Urphänomens" aus. der Farbenlehre zu vergleichen. 4 ) Goethe eignet sich Schillers Ausdruck „rationelle Empirie" an und gebraucht ihn nun öfter für seine Methode; ähnlich schreibt er an Zelter am 5. Okt. 1828: „ E s gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des geistigen Vermögens aber gehört einer hochgebildeten Zeit an." Der Spruch wurde auch in die Max. u. Reil, aufgenommen, Hecker Nr. 565.

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er den Aufsatz „Erfahrung und Wissenschaft" (s. o. S. 57) zu Papier: „. . . Die Phänomene, die wir anderen auch wohl Fakta nennen, sind gewiß und bestimmt ihrer Natur nach, hingegen oft unbestimmt und schwankend insofern sie erscheinen. Der Naturforscher sucht das Bestimmte" — Goethe hätte auch sagen können: das Bestimmende — „der Erscheinungen zu fassen und festzuhalten, er ist in einzelnen Fällen aufmerksam, nicht allein wie die Phänomene erscheinen, sondern auch wie sie erscheinen sollen. Es gibt . . . viele empirische Brüche, die man wegwerfen muß, um ein reines konstantes Phänomen zu erhalten; allein sobald ich mir das erlaube, so stelle ich schon eine Art Ideal auf". Goethe betont, daß der Beobachter „nie das reine Phänomen vor Augen sieht" und fährt fort: „Wenn ich die Konstanz und Konsequenz der Phänomene bis auf einen gewissen Grad erfahren habe, so ziehe ich daraus ein empirisches Gesetz und schreibe es den künftigen Erscheinungen vor. Passen Gesetz und Erscheinung in der Folge völlig, so habe ich gewonnen; zeigt sich aber manchmal, unter gleichen Umständen, ein Fall, der meinem Gesetze widerspricht, so sehe ich, daß ich mit der ganzen Arbeit vorrücken und mir einen höheren Standpunkt suchen muß." 1 ) Wie im Organischen „kein Einzelnes Muster vom Ganzen" sein konnte, so soll hier kein isolierter Versuch das Wesenhafte der Phänomene darstellen; wie vorher die Immanenz des Typus in den Erscheinungen (oder vielmehr der Erscheinungen im Typus) im Verhältnis der Fälle zum Gesetz, in der Anwendbarkeit der jeweiligen Setzung auf die an ihr teilhabenden Einzelerscheinungen erkannt wurde, so gilt hier das nämliche von dem „reinen Phänomen" als Manifestation des Gesetzlichen der Einzelphänomene. Eben dieses Prinzip gilt noch heute in der mathematisch begründeten Physik. „Naturwissenschaft beobachtet . . . nicht reine Phänomene, sondern nimmt sie an, um die Beobachtung auf Gesetze zu bringen; sie geht nicht von exakten Tatsachen aus, sondern die Konstatierung des wahrhaft Tatsächlichen — immer im absolut strengen Sinne des Worts — ist ihr fernes, nie zu erreichendes Endziel .. . So werden also die reinen Phänomene, die exakten Gesetze immer Ideen bleiben. Natur erklären heißt, sie aus reinen Phänomenen vermittels exakter Gesetze aufbauen, heißt ,den Ganz im Sinne Piatos macht also Goethe das Gelingen der D e duktion zur einzig möglichen, aber auch völlig zureichenden Probe dafür, ob er die rechten Grundbegriffe hat: N a t o r p , Ideenlehre S. 2 3 4 ; ähnl. Die log. Gründl. S. 12.

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großen Gedanken der Schöpfung noch einmal denken' (Klopstock)." 1 ) Für das „reine Phänomen" sagt Goethe später fast immer „Urphänomen", „Grundphänomen" 2 ), auch „Grunderfahrung" 3 ), „Urversuch" 4 ), „das eine Urbedingende". 5 ) Zusammenfassend heißt es dann zum Schluß des Aufsatzes: „Was wir also von unserer Arbeit vorzuweisen hätten, wäre: 1. Das empirische Phänomen, das jeder Mensch in der Natur gewahr wird, und das nachher 2. zum wissenschaftlichen Phänomen durch Versuche erhoben wird . . . 3. Das reine Phänomen steht nun zuletzt als Resultat aller Erfahrungen und Versuche da." [Wir erinnern uns des Spruchs: „Begriff ist Summe, Idee Resultat der Erfahrung."] „Es kann niemals isoliert sein, sondern es zeigt sich in einer stetigen Folge der Erscheinungen; um es darzustellen, bestimmt der menschliche Geist das empirisch Wankende, schließt das Zufällige aus, sondert das Unreine, entwickelt das Verworrene, ja, entdeckt das Unbekannte." 6 ) Am 19. Januar beantwortet Schiller die Übersendung des Aufsatzes: „Zu dem reinen Phänomen, welches nach meinem Urteil eins ist mit dem objektiven Naturgesetz 2 ), kann nur der rationelle Empirism hindurchdringen, aber . . . der rationelle Empirism kann nie unmittelbar von dem Empirism anfangen, sondern der Rationalism wird allemal erst dazwischen liegen." Die „Vorstellung der Erfahrung unter den dreierlei Phänomenen" hält seiner Prüfung nach den Kategorien stand: „Der Quantität nach muß das reine Phänomen die Allheit der Fälle begreifen, denn es ist das Konstante in allen." Um der großen Wichtigkeit willen, die die Gedankenaus') W e l l s t e i n , Elemente der Geom. (in Enzykl.d.Elem.-Math. v.Weber und Wellstein. Bd. II, 2. A. Leipzig 1907) S. 145 f. Den Hinweis auf Wellstein verdanke ich Natorps „ L o g . Gründl, der ex. Wissensch." Ich weiß nicht, ob der Ausdruck „reines Phänomen", den Goethe wohl geprägt hat, auch sonst gebräuchlich ist; Eisler, Wörterbuch der philos. Begriffe, 3. A. 1910, belegt ihn nur für Goethe. ! ) W . A. II, 1, 72. (Grund- u. Urphänomen.) An Schiller, 24. Jan. 1798. 3 ) Aus Makariens Archiv 1829, Max. u. Refl. 768. *) Betrachtungen im Sinne der Wanderer 1829, Max. und Refl. 613. ') Aus Makariens Archiv 1829, Max. u. Refl. 716. s «) W. A. II, 11, 39f. ) Vgl. oben S. 11.

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spräche zu Schiller für die Herausbildung des Begriffs „Urphänomen" hat, sei es gestattet, noch einiges besonders Charakteristische aus Goethes Briefen herauszuheben. Schon am 20. Januar dankt er für die Prüfung des Aufsatzes nach den Kategorien und erbittet Schillers theoretischen Beistand für die „unsägliche" Arbeit, die nun doch schon acht Jahre daure. Er legt einen Entwurf zur Geschichte der Farbenlehre bei und klagt: „Die ganze Geschichte, wie Sie sehen werden, dreht sich um die gemeine, das Phänomen bloß aussprechende Empirie und um den nach Ursachen haschenden Rationalism herum; wenige Versuche einer reinen Zusammenstellung der Phänomene finden sich." Die große Schwierigkeit seines Unterfangens entgeht ihm nicht, kann ihn aber vom Versuch nicht abschrecken: „Ich glaube zwar selbst, daß die empirische Masse von Phänomenen, die, wenn man sie recht absondert und nicht mutwillig verschmilzt, eine sehr große Zahl ausmachen und eine ungeheure Breite einnehmen, sich zu einer Vernunfteinheit schwerlich bequemen werden, aber auch nur die Methode des Vortrags zu verbessern, ist jede Bestrebung der Mühe wert." 1 ) Wie in allen früheren naturwissenschaftlichen Arbeiten maß Goethe auch in der Farbenlehre der Methode größeren Wert bei als den Resultaten. An Schiller schreibt er während der intensivsten Beschäftigung mit der Farbenlehre: „Dieser Tage bin ich . . auf eigene Gedanken gekommen. . . . Sie sollen, hoff ich, besonders regulativ vorteilhaft sein und Gelegenheit. geben, das Feld der Physik auf eine eigene Weise geschwind zu übersehen." 8 ) „Insofern wir hoffen können, daß die Naturgeschichte sich auch nach und nach in eine Ableitung der Naturerscheinungen aus höheren Phänomenen umbilden wird, so glaubt der Verfasser auch hierzu einiges angedeutet und vorbereitet zu haben" 3 ), und seine Angriffe gegen Newton gipfeln immer wieder in dem Vorwurf, dieser habe, „eine tief verborgene Eigenschaft der Natur an den Tag zu bringen" sich „nicht mehr als dreier Versuche" bedient, „durch welche keineswegs Urphänomene, sondern höchst abgeleitete dargestellt wurden". 4 ) Nur die Zuversicht zu seiner Methode gibt ihm den Mut, einem Newton gegenüberzutreten: „Wer wäre stolz genug, sich in einer so verwickelten Sache 2 ') An Schiller, 17. Febr. 1798. ) 30. Juni 1798. ») Farbenlehre, Didakt. T . W . A. II, i, 294. *) Farbenlehre, Hist. T . 6. Abtig. 18. Jahrh. W . A. II, 4, 47 f. Ähnlich in den Anmerkungen zu Diderots „Versuch über die Malerei", 2. Kap., Ideen üher die Farbe. W . A. I, 45, 306 u. oft; vgl. auch Max. u. Refl. Nr. 716.

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[Newtons Theorie von der Brechbarkeit des Lichtes] zum Richter aufzuwerfen? . . . Diese Schwierigkeiten würden mich mutlos gemacht haben, wenn ich nicht bedacht hätte: daß reine Erfahrungen zum Fundament der ganzen Naturwissenschaft liegen sollten, daß man eine Reihe derselben aufstellen könne, ohne auf irgendeinen weiteren Bezug Rücksicht zu n e h m e n . " „ E s freut mich gar sehr", schreibt er an Schlosser, „daß Sie meine Farbenlehre hauptsächlich um der Methode willen studieren." 2 ) Um ihrer Methode, um der Aufgabe willen, die sich Goethe stellte, besitzt die Farbenlehre einzigartige Bedeutung. Der Physiker W. K ö n i g führt aus, daß Newtons Theorie in der Tat für Goethes Zweck, das Suchen „nach einem geistigen Band, nach einer leitenden Idee auf diesem Gebiete", nämlich für die „Erfassung der Gesamtheit der Farbenerscheinungen unter dem Gesichtspunkt eines . . . von einfacher Gesetzmäßigkeit beherrschten Ganzen" absolut nichts leistete. „Sie erklärte eine Seite der Phänomene, sie behandelte eine Seite des Ganzen, die rein physikalische, und sie ließ sich auf die übrigen gar nicht anwenden. Ihm [Goethe] dagegen war die Gleichartigkeit aufgefallen, mit der sich die Farben unter den verschiedensten Verhältnissen in polaren Gegensätzen entwickelten, und sie spiegelte ihm die Ahnung einer großen, das ganze Farbenreich umfassenden Gesetzmäßigkeit vor die Seele." 3 ) Bis in sein Alter hat Goethe an dieser seiner Forderung der Zurückführung auf „reine Phänomene", in welchen die Gleichförmigkeit, die Gesetzmäßigkeit in der scheinbaren Verworrenheit der Erscheinungen zutage treten sollte, festgehalten: „Es ist ein großer Fehler, dessen man sich bei der Naturforschung schuldig macht, wenn wir hoffen, ein kompliziertes Phänomen als ein solches erklären zu können, da schon viel dazu gehört, dasselbe auf seine ersten Elemente zurückzubringen. . . . Wir müssen einsehen lernen, daß wir dasjenige, was wir im Einfachsten geschaut und erkannt, im Zusammengesetzten supponieren und glauben müssen. Denn das Einfache verbirgt sich im Mannigfaltigen . . .", so schreibt er in seinen letzten Lebenswochen.4) Wir greifen nun auf die S. 13 gegebene Erklärung zurück, mit der Goethe den Ausdruck „Urphänomen" in die Farbenlehre einführte. Danach sollten die Einzelerscheinungen unter einzelne ') Beiträge zur Optik. Einleitung. W . A. II, 5, 8 f. ) An Chr. H. Schlosser, 26. Sept. 1813 (Konzept). W . A. IV, 24, 8. 4 *) W . K ö n i g , a. a. O. S. 10 u. 12. ) An S. Boisserie, 25. Febr. 1832.

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empirische Rubriken subordiniert werden und alles sich durch Erkenntnis „gewisser unerläßlicher Bedingungen der Erscheinung" unter höhere Regeln und Gesetze fügen, „die sich aber nicht durch Worte und Hypothesen dem Verstände, sondern gleichfalls durch Phänomene dem Anschauen offenbaren", und stufenweise wie man vorher hinaufgestiegen, müsse man „von ihnen herab bis zu dem gemeinsten Falle der täglichen Erfahrung niedersteigen können". Das Einfachste, vermeintlich Voraussetzungslose, das „eine Urbedingende" 1 ), das die „Totalität der Phänomene" in sich schließen 2 ), ihr Gesetz darstellen sollte, verlangte nun das Anschauungs- und Gestaltungsbedürfnis des Künstlers, des Visualisten Goethe „gleichfalls durch Phänomene dem Anschauen offenbart" vor Augen, und zwar vor den leiblichen Augen zu sehen. Zweifellos ist ihm hier die Gabe der anschauenden Gestaltung des gedanklich Erarbeiteten zu einem sinnfälligen Ganzen, die seine naturwissenschaftliche Forschung bis dahin auf einen so hohen Standpunkt geleitet hatte, zum Fallstrick geworden. Die „lange Reihe von Anschauung und Nachdenken", die er verfolgte, bis endlich „die Idee der Pflanzenmetamorphose in ihm aufging" 3 ), mündet hier, trotz der vielen darauf verwandten Zeit und Mühe, zu schnell in einen einzigen Strom ein. Der so unplatonischen logischen Unbekümmertheit Goethes 4 ) entging es trotz Schillers Einfluß, daß begriffliche und intuitive Erkenntnis, vielleicht bestimmt, in ihrer endgültigen Synthese die letzten Tiefen der Wissenschaft auszumessen, sich hier zu früh vereinigten und einander gefährdeten. Richtig und den Naturforschern seiner Zeit vorauseilend hatte Goethe erkannt, daß unser Vermögen, Farben zu sehen, ein integrierender Bestandteil unseres sinnlichen Wahrnehmungsvermögens ist 5 ); ihm war die Farbe schon ein Teil unseres Empfindungsvermögens und die physikalischen Bedingungen nur der äußere Anlaß. Er glaubte nun, ein allgemeines Gesetz für die Entstehung der Farbe in der Kombination von Licht und Finsternis gefunden zu haben, welche nämlich durch Vermittlung ') Aus Makariens Archiv 1829, Max. u. Refl. Nr. 716. ») W. A. I, 45, 306. 3 ) Bedeutende Fordernis durch ein einziges geistreiches Wort, 1823. W . A. II, i i , 62. 4 ) S. unten S. 116 ff. 6 ) Ich folge hier bis zum Schluß dieses Absatzes im allgemeinen dem Aufsatz des Ophthalmologen J a c o b S t i l l i n g : Über Goethes Farbenlehre, in: Straßburger Goethe-Vorträge. Straßb. 1899, S. 149—173.

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trüber Medien die physikalischen Anlässe zur Farbenempfindung geben. Diese vermeintlich letzte ursächliche physikalische Bedingung, unter deren Einwirkung das Auge in sich die Farbe erzeuge, nannte er das Urphänomen. Seine richtige Absicht, ein einfaches allgemeines Gesetz zu finden für die Bedingungen, unter denen das Auge die Farbenempfindungen erzeugt, machte aber zu früh halt: er machte eine sekundäre Bedingung zur letzten Ursache. H e l m h o l t z 1 ) sah 1892 die theoretische Physik seiner Tage ganz auf dem Wege, auf den Goethe sie führen wollte, und dessen Irrtum in der unrichtigen Interpretation des von ihm gewählten Beispiels. Hätte er, meint Helmholtz, die Undulationstheorie des Lichts schon gekannt, die von Huyghens in jener Zeit bereits aufgestellt war, so würde diese ihm ein viel richtigeres „Urphänomen" an die Hand gegeben haben als der dazu kaum geeignete und sehr verwickelte Vorgang, den er sich in den Farben trüber Medien zu diesem Ende wählte. Jacob Stilling macht darauf aufmerksam, daß der eigentliche Beweis für die Newtonsche Lehre von der verschiedenen Brechbarkeit des Lichtes erst in ganz neuer Zeit durch die Spektralanalyse geliefert worden ist.2) Es muß hier natürlich die physikalische Sejte des Problems als solche völlig dahingestellt bleiben, ebenso wie übergangen werden muß, daß der physiologische Teil der Farbenlehre geradezu die Grundlage für die modernsten Anschauungen vom Gesetz der spezifischen Sinnesenergien enthält und daß der Versuch einer Farbenpsyehologie, von Goethe allererst gewagt, für gegenwärtige und künftige Versuche in dieser Richtung noch immer vorbildlich ist. 3 ) Auch als Ganzes kann die Farbenlehre in diesem Zusammenhang nicht gewürdigt werden. Was uns hier angeht, ist Goethes Begriff „Urphänomen" und der Gebrauch, den er davon macht. Da kann denn kein Zweifel sein: er irrte darin, daß er das Urphänomen zu früh, noch innerhalb des sinnlichen Weltbildes annahm und fixierte.4) Sein *) Goethes Vorahnungen kommender naturwiss. Ideen. Rede in der Generalversammlung der Goethe-Gesellsch., abgedr. Deutsche Rundschau, Bd. L X X I I , 1892, S. 115—132, bes. 125. 2 ) A. a. O. S. 154. ') Außer Stilling vgl. P e l t z e r , „Die ästhetische Bedeutung von Goethes Farbenlehre". Heidelberg 1903. *) Dies betont auch M o r r i s in der Einleitung zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften, Cottasche Jub.-Ausg. Bd. 39, bes. S. XIII.

G o e t h e s U r p h ä n o m e n und die p l a t o n i s c h e

Idee.

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künstlerischer Trieb, sein Anschauungsbedürfnis vergewaltigte hier sein begriffliches Denken anstatt es zu vollenden. „Die Menschen sind durch die unendlichen Bedingungen des Erscheinens dergestalt obruiert, daß sie das eine Urbedingende nicht gewahr werden können" 1 ), klagt einer seiner Sprüche; ein anderer: „Wir leben innerhalb der abgeleiteten Erscheinungen und wissen keineswegs, wie wir zur Urfrage gelangen sollen." 2 ) Er selbst verfällt dem Irrtum, dies eine Urbedingende zu früh fixieren zu wollen. Der Vorgang, den Goethe mit den Worten umschreibt: „Wir sehen auf der einen Seite das Licht, das Helle, auf der anderen die Finsternis, das Dunkle, wir bringen die Trübe zwischen beide, und aus diesen Gegensätzen, mit Hilfe gedachter Vermittlung, entwickeln sich gleichfalls in einem Gegensatz die Farben, deuten aber alsbald durch einen Wechselbezug unmittelbar auf ein Gemeinsames wieder zurück" 3), schließt keineswegs „die Totalität aller Fälle" in sich ein und ist nicht entfernt das „reine Phänomen, welches . . . eins ist mit dem objektiven Naturgesetz" 4 ) aller Farbenwahrnehmung. Wir dürfen uns aber nicht dabei beruhigen, daß Goethes Fehler „entschuldbar" sei „mit Rücksicht auf den damaligen Stand der Experimentalphysik" 5 ), die auf die Frage, wie sie Goethe, seine Zeit und ihre Mittel überflügelnd, aufwarf, noch gar nicht antworten konnte. Daß Helmholtz 1853 die Fehlerquelle darin aufdeckt, daß Goethe der Begrifif des optischen Bildes nicht klar gewesen sei: er „bleibt [bei seinen Versuchen mit dem Prisma] dem sinnlichen Schein getreu und behandelt einen geometrischen Ort als einen körperlichen Gegenstand" 6 ), kann uns darüber aufklären, w i e Goethes Irrtum zustande kam. Das Verhängnisvolle aber war, daß Goethe daran haften blieb, haften bleiben wollte. Überglücklich, im Bereich des Sinnenfälligen in jenem Gegensatz von Licht und Finsternis und ihren Modifikationen durch das Medium des Trüben vermeintlich einen Grundvorgang zu sehen, der das Wesensgesetz der Farbenwahrnehmung zum Ausdruck bringt, verschließt sich Goethe der bei seinem Suchen nach dem Typus nie vergessenen, noch während der gedanklichen Erarbeitung des Prinzips des „reinen ') A u s M a k a r i e n s A r c h i v 1829. M a x . u. Refl. Nr. 716. 2) A u s d e m N a c h l a ß : M a x . u. R e f l . Nr. 1208; ü b e r die L e s a r t A n m . S. 386. 3)

vgl.

4)

F a r b e n l e h r e , D i d a k t . T e i l , 2 . A b t i g . P h y s i o l p g . F a r b e n . W . A . II, 1,72 f. S. o b e n S. 60. ») S t i l l i n g , a. a. O . S. 164.

e)

Helmholtz, V o r t r ä g e u. R e d e n , 5. A . B r a u n s c h w . 1903, B d . I, S. 4 3 f .

C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VIII, 1.

5

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Phänomens" in ihm lebendigen Erkenntnis, daß er sich eine zugleich notwendige und unlösbare Aufgabe gestellt hatte. 1 ) Schon in der eigentümlichen Wortbildung „Urphänomen" scheint eine Gefahr zu liegen. Goethe wußte aber und hielt daran fest, daß das Gesetz sich nur aus Tausenden von Fällen erschließen, nie exakt beobachten läßt. Wenn sein Anschauungsbedürfnis die „Sätze, in welchen sich die Erfahrungen höherer Art aussprechen lassen", wieder zu Phänomenen verdichtet zu sehen verlangte, so war ihm doch klar, daß er in diesen nicht sie selbst, sondern die darin verdeutlichte „Vernunfteinheit" geistig erblickte, wie der Mathematiker in der wirklichen Kugel, die der stereometrischen Definition niemals Genüge tut, das Urbild, die Idee der Kugel sieht, die ihre Gesetzlichkeit erfüllt. Das wird später noch deutlicher werden. In diesem Sinne hätte Goethe, wenn er in Sizilien wirklich eine Pflanze entdeckt hätte, die seinem inneren Bilde von der Urpflanze auffallend nah gekommen wäre, sie als ein Symbol des Bildungsgesetzes der Pflanze, als „Urphänomen" in symbolischer Bedeutung ansprechen können, ohne sie für eine konkrete Stammform zu halten. Nur durfte er solche Symbole nie für abschließend halten, sie nicht in dem Frohgefühl über die glückliche Versinnlichung dem Fortgang der Erkenntnis als Riegel vorschieben. Nicht also, daß er das dank der zusammenschauenden Vernunft erschlossene Gesetz nun auch in Phänomenen, die als annähernde Spiegelbilder eines solchen Gesetzes dienen konnten, versinnlicht sehen wollte; auch nicht, daß er an unrechter Stelle Halt machte, Fuß faßte: nein, daß er eine feste, ein für allemal bestimmbare Grenzlinie zwischen Erforschlichem und Unerforschlichem in diesem Einen Falle für möglich und vollziehbar hielt, das war sein Verhängnis. „Wäre denn aber auch ein solches Urphänomen gefunden, so bleibt immer noch das Übel, daß man es nicht als solches anerkennen will, daß wir hinter ihm und über ihm noch etwas Weiteres aufsuchen, da wir doch hier die Grenze des Schauens eingestehen sollten." 2 ) Ja, seiner eigenen Forderung, „daß es dem Menschen gar wohl gezieme, ein Unerforschliches anzunehmen, daß er aber dagegen seinem Forschen keine Grenze zu setzen habe", widerspricht er noch ') Vgl. oben S. 61: Er sah ein, daß sich „die empirische Masse der Phänomene . . . zu einer Vernunfteinheit schwerlich bequemen" würde, aber, um der Methode willen, sollte das Unternehmen doch gewagt werden. *) Farbenlehre, Didakt. Teil, 2. Abtig., Physiolog. Farben. W. A. II, 1, 73-

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im selben Paragraphen: „Wir sind aber schon weit genug gegen sie [die Natur] vorgedrungen, wenn wir zu den Urphänomenen gelangen, welche wir in ihrer unerforschlichen Herrlichkeit von Angesicht zu Angesicht anschauen und uns sodann wieder rückwärts in die Welt der Erscheinungen wenden, wo das in seiner Einfalt Unbegreifliche sich in tausend und abertausend mannigfaltigen Erscheinungen bei aller Veränderlichkeit unveränderlich offenbart." 1 ) Besonders die letzten Worte wären herrlich, wenn es sich um eine nur des Anfangs willen zunächst einmal angenommene Fassung des „Urphänomens", der „voraussetzungslosen Voraussetzung" handelte, von der aus mit der Vertiefung der Erkenntnis zu immer präziseren, aber niemals abschließenden Fassungen vorgeschritten werden sollte, in dem Sinne, in dem Goethe selbst von der Variabilität des Typus als einer niemals adäquaten Manifestation der Idee sprach. Aber sie sind unselig, wenn sie einen festen Grenzpfahl zwischen die Gebiete des Erforschlichen und des Unerforschlichen einschlagen sollten, wie Goethe es mit dem Urphänomen des trüben Mittels in der T a t wollte. „Wenn ich mich beim Urphänomen zuletzt beruhige, so ist es doch auch nur Resignation; aber es bleibt ein großer Unterschied, ob ich mich an den Grenzen der Menschheit resigniere oder innerhalb einer hypothetischen Beschränktheit meines bornierten Individuums." 2 ) „Schon bei Gelegenheit der Farbenlehre habe ich bemerkt, daß es Urphänomene gibt, die wir in ihrer göttlichen Einfalt durch unnütze Versuche nicht stören und beeinträchtigen, sondern der Vernunft und dem Glauben übergeben sollen." 3 ) Bis in sein Alter hat Goethe zäh daran festgehalten, einen dauernden Grenzpfahl errichtet zu haben: „Wir sprachen über die Farbenlehre", erzählt Eckermann, „unter anderm über Trinkgläser, deren trübe Figuren gegen das Licht gelb und gegen das Dunkel blau erscheinen und die also die Betrachtung eines Urphänomens gewähren. „Das höchste, wozu der Mensch gelangen kann", sagte Goethe bei dieser Gelegenheit, „ist das Erstaunen, und wenn ihn das Urphänomen in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden, ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen: hier ist die Grenze". 4 ) Das Erstaunen ist aber, wie Goethe

') Zur Naturwissenschaft im Allg. 1820. W . A. II, 9, 195. 2) Zur Naturwissenschaft im Allg. A u s dem Nachlaß. W . A. II, 1 1 , 1 3 1 . s)

Zu Falk, 25. Jan. 1813.

*) Zu Eckermann, 18. Febr. 1829.

Ganz ähnlich 23. Febr. 1831. 5*

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selbst auch wohl wußte 1 ), im platonischen Sinne der Anfang und nicht das Ende! Eine besondere Ironie scheint nun darin zu liegen, daß Goethe sich gerade in dem einen Punkte, in dem die vorliegende Arbeit ihn von Plato — nämlich von der durch Plato begründeten Methode — weiter entfernt sieht als sonst, sachlich auf Plato berufen kann und es immer wieder mit großer Befriedigung tut: „Meine Farbenlehre ist auch durchaus nicht neu. Plato, Leonardo da Vinci und viele andere Treffliche haben im einzelnen vor mir dasselbige gefunden und gesagt." 2 ) Die Zurückführung der Farbenmannigfaltigkeit auf den Gegensatz von Licht und Finsternis und das Hindurchscheinen des Trüben durch das Helle und umgekehrt fand Goethe in der Tat im XXX. Kapitel des Timäus vorgebildet. Hier kann natürlich diesem Zusammenhang nicht nachgegangen werden, doch möchte ich wenigstens auf den stark platonisch gefärbten Eingang der Farbenlehre hinweisen. So sahen wir Goethe auf Piatos Wege, wo er nach einem Urphänomen der Farbenerscheinung sucht; nur nicht, wo er es zu finden glaubt. Aber sogar dieser Irrtum erinnert an einen Fall, in dem Plato selbst in der Anwendung seiner Methode auf ein bestimmtes Forschungsgebiet dieser nicht ganz treu war und von der sinnlich-anschaulichen Vorstellungsweise verraten wurde, die anstatt das unwandelbare Gesetz nur zu denken, es überdies in einem sichtbaren Gegenstande oder Vorgang anschauen wollte. Den Aufgaben, wie sie Goethe sich stellt, kommt es sehr nah, wenn Plato im „Staat" es als Aufgabe der Astronomie ausspricht, die scheinbaren Gestirnbewegungen auf eine reine Grundgestalt derselben zurückzuführen, deren wahre Gleichförmigkeit auf rationellem Wege zu ermitteln sei. Wenn diese Grundform dann in festbleibender, geometrisch regulärer Gestalt gedacht gewesen zu sein scheint und die Forschung fast ') Zu Voß, 13. Febr. 1804. Vgl.: „Wer nicht mit Erstaunen und Bewunderung anfangen will, der findet nicht den Zugang in das innere Heiligtum". Zum brüderlichen Andenken Wielands. 1813. W . A. I, 36, 228. 2 ) Zu Eckermann, 16. Dez. 1828. E r nennt es „das wichtige, von Plato anerkannte Fundament von allem: die Synkrisis durchs Schwarze, die Diakrisis durchs Weiße bewirkt", Farbenl. Hist. Teil, 6. Abtlg. 18. Jahrh. W . A. II, 4, 89. Vgl. W . A. II, 3, » 3 f - ; n, 3, 8ff.; II, 3, 295i H, 3, 267; II, 5 4 , 238. — Als die drei wichtigsten Hauptmassen der Überlieferung stellt er häufig die Bibel, Plato und Aristoteles zusammen: W . A. II, 3, 1 3 8 ; II, 3, 143; II, 4, 399; II, 5 S , 247; II, 5 2 , 257; zu Riemer, 5. April 1808, u. oft. Wichtig dafür ist auch: Eckermann, 26. Febr. 1824. Vgl. oben S. 52.

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

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zwei Jahrtausende auf diesem Fehlwege verblieb, so lag die Schuld an einem Rest von Realismus, den selbst Plato nicht völlig überwand, so „daß man das reine Gesetz zwar suchte, aber es immer noch irgendwie in den Phänomenen außer uns glaubte antreffen und nicht lediglich im Gedanken, in der Hypothesis der Wissenschaft ansetzen zu müssen". 1 ) VI. Glücklicher in der Anwendung des Prinzips werden wir Goethe nennen können, wenn er im Magneten ein Urphänomen sieht: „Der Magnet ist ein Urphänomen, das man nur aussprechen darf, um es erklärt zu haben; dadurch wird er denn auch ein Symbol für alles übrige, wofür wir keine Worte noch Namen zu suchen brauchen." 2 ) „Das Eisen kennen wir als einen besondern von andern unterschiedenen Körper; aber es ist ein gleichgültiges, uns nur in manchem Bezug und zu manchem Gebrauch merkwürdiges Wesen. Wie wenig aber bedarf es, und die Gleichgültigkeit dieses Körpers ist aufgehoben. Eine Entzweiung geht vor, die, indem sie sich wieder zu vereinigen strebt, und sich selber aufsucht, einen gleichsam magischen Bezug auf ihresgleichen gewinnt und diese Entzweiung, die doch nur eine Vereinigung ist, durch ihr ganzes Geschlecht fortsetzt. Hier kennen wir das gleichgültige Wesen, das Eisen; wir sehen die Entzweiung an ihm entstehen, sich fortpflanzen und verschwinden und sich leicht wieder aufs neue erregen: nach unserer Meinung ein Urphänomen, das unmittelbar an der Idee steht und nichts Irdisches über sich erkennt." 3 ) Wohl ist auch der Magnet kein Urphänomen im Sinne einer Erscheinung, die der Naturforscher nicht noch weiter zurückzuführen versuchte. 4 ) Aber doch bringen uns die beiden Stellen wieder dicht an das heran, was vorher als methodischer Sinn des „Urphänomens" erschien und das Suchen danach mit dem Suchen nach der platonischen Idee gleichsetzte. Solange der Vorgang noch nicht weiter aufgeklärt, noch nicht auf ein allgemeineres Prinzip zurückgeführt ist, kann er da, wo er relativ *) N a t o r p , Ideenlehre, S. 157; dazu S. 194 u. 205, ferner in „Große Denker", S. 122. *) Zur Naturwissensch, im Allg. W . A. II, 11, 148. 3 ) Farbenlehre, Didakt. Teil, 5. Abtlg. Nachbarl. Verhältnisse. W . A. II, 1, 296 f. 4 ) Vgl. M. M o r r i s , Goethes Werke, Jub.-Ausg. Bd. 39, Anm. auf S. 361.

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zwei Jahrtausende auf diesem Fehlwege verblieb, so lag die Schuld an einem Rest von Realismus, den selbst Plato nicht völlig überwand, so „daß man das reine Gesetz zwar suchte, aber es immer noch irgendwie in den Phänomenen außer uns glaubte antreffen und nicht lediglich im Gedanken, in der Hypothesis der Wissenschaft ansetzen zu müssen". 1 ) VI. Glücklicher in der Anwendung des Prinzips werden wir Goethe nennen können, wenn er im Magneten ein Urphänomen sieht: „Der Magnet ist ein Urphänomen, das man nur aussprechen darf, um es erklärt zu haben; dadurch wird er denn auch ein Symbol für alles übrige, wofür wir keine Worte noch Namen zu suchen brauchen." 2 ) „Das Eisen kennen wir als einen besondern von andern unterschiedenen Körper; aber es ist ein gleichgültiges, uns nur in manchem Bezug und zu manchem Gebrauch merkwürdiges Wesen. Wie wenig aber bedarf es, und die Gleichgültigkeit dieses Körpers ist aufgehoben. Eine Entzweiung geht vor, die, indem sie sich wieder zu vereinigen strebt, und sich selber aufsucht, einen gleichsam magischen Bezug auf ihresgleichen gewinnt und diese Entzweiung, die doch nur eine Vereinigung ist, durch ihr ganzes Geschlecht fortsetzt. Hier kennen wir das gleichgültige Wesen, das Eisen; wir sehen die Entzweiung an ihm entstehen, sich fortpflanzen und verschwinden und sich leicht wieder aufs neue erregen: nach unserer Meinung ein Urphänomen, das unmittelbar an der Idee steht und nichts Irdisches über sich erkennt." 3 ) Wohl ist auch der Magnet kein Urphänomen im Sinne einer Erscheinung, die der Naturforscher nicht noch weiter zurückzuführen versuchte. 4 ) Aber doch bringen uns die beiden Stellen wieder dicht an das heran, was vorher als methodischer Sinn des „Urphänomens" erschien und das Suchen danach mit dem Suchen nach der platonischen Idee gleichsetzte. Solange der Vorgang noch nicht weiter aufgeklärt, noch nicht auf ein allgemeineres Prinzip zurückgeführt ist, kann er da, wo er relativ *) N a t o r p , Ideenlehre, S. 157; dazu S. 194 u. 205, ferner in „Große Denker", S. 122. *) Zur Naturwissensch, im Allg. W . A. II, 11, 148. 3 ) Farbenlehre, Didakt. Teil, 5. Abtlg. Nachbarl. Verhältnisse. W . A. II, 1, 296 f. 4 ) Vgl. M. M o r r i s , Goethes Werke, Jub.-Ausg. Bd. 39, Anm. auf S. 361.

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am deutlichsten und reinsten zur Erscheinung kommt, gleichnisweise als annähernde Offenbarung der Idee, als symbolische Urform der „Entzweiung, die doch nur eine Vereinigung ist", mithin der Polarität gelten: als Symbol, in dem die durch Vernunft erfaßte Idee sich uns kundgibt als ein geistig darin Erschautes. Wir müssen auch hier wieder der Unterscheidung eingedenk sein, an die wir uns so oft erinnern mußten: „Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee." Der Gedankenkern des „Urphänomens" wird nicht verändert, wenn wir es bald als unendliches Ziel — als was es besonders im Gedankenaustausch mit Schiller erschien — bald als sinnenfälliges Symbol — was der Name mehr auszudrücken scheint — auffassen. Besteht Chamberlains Bild zu Recht, wonach bei Plato und Kant manches Wort „einen gleichsam dehnbaren Begriffskreis mit unverrückbarem Mittelpunkt" 1 ) hat, so gilt dies auch von Goethe, dem es ebenfalls auf die Sache, nicht auf den Namen ankam und der an den Griechen rühmt, es werde bei ihnen durch das Wort „nichts bestimmt, bepfählt und festgesetzt, es ist nur eine Andeutung, um den Gegenstand in der Einbildungskraft hervorzurufen". 2 ) Daß Goethe für den Magneten als Urphänomen diese bildliche Bedeutung im Sinne hatte, beweist noch eine dritte Stelle darüber: „Alle unsere Erkenntnis ist symbolisch. Eins ist das Symbol vom andern. Die magnetische Erscheinung Symbol der elektrischen, zugleich dasselbe und ein Symbol der anderen . . . und so ist Wissenschaft ein künstliches Leben, aus Tatsache, Symbol, Gleichnis wunderbar zusammengeflossen." 3 ) Goethes Symbolbegriff wird uns noch in dem Kapitel über das Urphänomen als Idee des Schönen ausführlich beschäftigen, muß aber schon hier beleuchtet werden. Im Gespräch über die Wanderjahre sagt er zum Kanzler von Müller: „Alles ist ja nur symbolisch zu nehmen, und überall steckt noch etwas anderes dahinter. Jede Lösung des Problems ist ein neues Problem." 4 ) ') C h a m b e r i a i n , K a n t , S. 605. Über die „Idee" bei Goethe im platonischen Sinne der awaycoyr/ vgl. ebenda, S. 47; über Goethe und Plato S. 532 f. 2 ) Farbenlehre, Hist. Teil. 4. Abtlg. Julius Cäsar Scaliger. W . A . II, 3, 202. ') Zu Riemer, 21. Okt. 1805. Riemer, Mitteilungen über Goethe, Berlin 1841, 2. Bd. S. 696 f. Ich w e i ß nicht, warum die Stelle bei Biedermann fehlt. *) 8. Juni 1821.

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Die Erkenntnis von der Entwicklung auch der Wissenschaft in Problem und Lösung, dieses Stirb und Werde aller lebendigen Forschung, lag tief in Goethes Bewußtsein eingebettet, konnte wohl zeitweise verschüttet, aber nie erstickt werden. „Man sagt, zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen liege die Wahrheit mitten inne. Keineswegs! Das Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewigtätige Leben, in Ruhe gedacht." In dem kleinen Aufsatz „Symbolik" — einem Schema für die physikalischen Vorträge von 1805 bis 1806 — sagt Goethe: „Durch Worte sprechen wir weder die Gegenstände noch uns selbst völlig aus. . . . Im gemeinen Leben kommen wir mit der Sprache notdürftig fort, weil wir nur oberflächliche Verhältnisse bezeichnen. Sobald von tieferen Verhältnissen die Rede ist, tritt sogleich eine andere Sprache ein, die poetische. Indem wir von inneren Verhältnissen der Natur sprechen wollen, bedürfen wir mancherlei Bezeichnungsweisen." Unter den vier Arten von Symbolen nennt er als erste: „Symbole, die mit dem Gegenstand physisch-real-identisch sind, wie wir die magnetischen Erscheinungen erst ausgesprochen und dann als Terminologie bei den verwandten gebraucht haben." 2 ) Die „magnetischen Erscheinungen" sollen also, ohne ihres Charakters als realer Vorgänge beraubt zu werden, als Symbol für „innere Verhältnisse der Natur", d. h. für das den betreffenden Erscheinungen zugrunde liegende Wesenhafte derselben, ihre ewig unaussprechliche Idee gelten. In diesem Sinne erklärt ein anderes Schema das Urphänomen als „ideal-real-symbolisch-identisch: ideal, als das [jeweils] letzte Erkennbare; real, als erkannt; symbolisch, weil es alle Fälle begreift; identisch, mit allen Fällen." 3 ) Ganz ähnlich erklärt Goethe ein andermal seinen Symbolbegriff: „Ein Symbol . . . ist die Sache, ohne die Sache zu sein, und doch die Sache, ein im geistigen Spiegel zusammengezogenes Bild, und doch mit dem Gegenstande identisch. Wie weit steht nicht dagegen Allegorie zurück; sie ist vielleicht geistreich witzig, aber doch meist rhetorisch und konventionell und immer besser, je mehr sie sich demjenigen nähert, was wir Symbol nennen. Man erlaube uns diesen Sprachgebrauch und jeder bilde sich den seinigen, nur J ) Betrachtungen im Sinne der Wanderer. 1829. Niedergeschr. 1825. Max. u. Refl. Nr. 616. Goethe flocht den Spruch außerdem noch in den Roman selbst ein: W . A. I, 25 29. >) W . A. II, ii, 167 f. 3 ) Zur Naturwissenschaft im Allg. W . A.II, 1 1 , 1 6 1 . Aus dem Nachlaß.

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mache er sich verständlich, da ohnehin das, worauf es ankommt, mit Worten gar nicht auszusprechen ist." 1 ) Besonders aus den letzten Worten jenes Schemas leuchtet wieder hervor, daß der Einzelfall als geistiger Spiegel der in ihm symbolisierten Idee betrachtet werden soll: Wer sie einmal geistig erschaut hat, der sieht sie in den einzelnen Fällen ewig wirksam, nie restlos verwirklicht; einige davon aber sind geeignet, sie in so bedeutsamer Weise zum Ausdruck zu bringen, daß sie „unmittelbar an der Idee" stehen. „Daß es dem Menschen so selten gegeben ist, in dem einzelnen Falle das Gesetz zu erkennen. Und doch, wenn er es immer in tausenden erkennt" — wenn er es zuvor aus der Zusammenschau von tausenden erkannt hat — „muß er es ja wieder in jedem einzelnen finden".2) Die Erscheinungen, die Goethe als symbolische Repräsentanten von „inneren Verhältnissen der Natur" herausgriff, weil sie diese in besonderer Prägnanz zum Ausdruck brachten, waren aber, als aus der Erfahrung gegriffene, wiewohl ausgewählte und besonders bedeutsame Fälle, nicht in d e m Sinne konkretisierte, verdichtete Ideen, wie wir dies von dem gesuchten Typus des Organischen, von der Urpflanze erkannten, die allein als „Gesichte" vor seinem schöpferischen geistigen Auge standen und darum der „Idee" noch näher waren. Goethes Forschungsweise bedurfte nun einmal der sinnlichen Symbole, um sich das Übersinnliche gegenwärtig zu halten, und wir finden ihn glücklicher, wo er, wie Plato, diese nur „denkanschaulich", wie Siebeck es nennt, in seinem Geiste erschuf, als wo er Fälle aus der Erfahrung auswählte, um sie gleichnisweise zu Trägern der Idee zu machen. Für die morphologische Forschung empfahl Goethe selbst die Betrachtung solcher Teile, „an welchen sich die Grundgestalt am wunderbarsten aufschließt", indem sie „dem Auge ganz verschwindet und nur vom Geiste verfolgt werden kann". 3 ) Er macht sich das Wort Campanellas zu eigen: „Natura infinita est, sed qui symbola animadverterit, omnia intelliget, licet non omnino." 4 ) W a s er suchte, der wahre, von der Vernunft zu erzeugende Gegenstand seiner Forschung, war und blieb die „Idee", und, ') Philostrats Gemälde, 1818. W . A. I, 49, 142. ') A u s dem Nachlaß. Max. u. Refl. Nr. 1374 (nach H e c k e r Febr. 1831). 3) A n Fr. S. Voigt, 20. Dez. 1806. *) Zwischenrede. 1819. W . A . II, 11, 46. N a c h der Anm. von M o r r i s , Jub.-Ausg. 39, S. 354, hat Goethe dabei das „scientia" des Originals in „natura" geändert.

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wo ihn nicht die vermeintliche Feststellung jenes Urphänomens der Farbenwahrnehmung verblendete, verkannte er auch die Unerreichbarkeit seines Zieles nicht. Es wurde schon jene Stelle herangezogen, in der er die Schwierigkeit der Frage „wo ruht denn eigentlich das Urphänomen?" hervorhebt und sie in der allgemeinen Naturlehre leicht, in der besonderen schwer zu finden nennt. 1 ) An Grüner schreibt er eine Woche vor seinem Tode: „Die Natur wird allein verständlich, wenn man die verschiedensten, isoliert scheinenden Phänomene in methodischer Folge darzustellen bemüht ist; da man denn wohl begreifen lernt, daß es kein Erstes und Letztes gibt." 2 ) Auch eine Stelle aus der Farbenlehre selbst — aus dem historischen Teil, der ihn so viel besonnener zeigt, als der polemische und der didaktische — läßt ihn ganz auf dem Wege erscheinen, auf dem ihn Schillers theoretischer Beistand sicher gemacht hatte: „Die Versuche" — nicht der einzelne Versuch, sondern eine methodisch verbundene Reihe — „sind Vermittler zwischen Natur und Begriff, zwischen Natur und Idee, zwischen Begriff und Idee. Die zerstreute Erfahrung zieht uns allzusehr nieder und ist sogar hinderlich, auch nur zum Begriff zu gelangen." 3 ) Ja, ein andermal spricht er die Unendlichkeit der Aufgabe geradezu auch für die Farbenlehre aus: „Mit der Farbenlehre ist es wie mit dem Whistspiel; man lernt nie aus; muß es aber beständig spielen, um weiterzukommen. Es läßt sich nur darin tun, nicht überliefern, nicht lehren." 4 ) Wäre nur auch im didaktischen Teil der Farbenlehre eine Andeutung ausgesprochen, daß der Urversuch des trüben Mittels im besten Falle „Sprungbrett und Anlauf", wie Schleiermacher so treffend übersetzt, d. h. die vorläufig angemessenste Symbolisierung des gesuchten Gesetzes sein könnte, bis eine Erweiterung des Erfahrungskreises oder vertiefte Beobachtung eine bessere, nie aber abschließende an die Hand geben würde, anstatt daß geradezu eine Grenze des Schauens und Forschens festgesetzt wird! Auch die Gesetzesbedeutung des Urphänomens, die im Briefwechsel mit Schiller deutlich geworden war, hat sich später nicht aus Goethes Bewußtsein verloren. Zu Eckermann sagt er über den ihm bekannten Naturforscher von Martius: „Sein Aperçu von der Spiraltendenz ist von der höchsten Bedeutung. Hätte ich bei ihm noch etwas zu wünschen, so wäre 2 ') S. oben S. 15. ) An Grüner, 15. März 1832. ) Farbenlehre, Hist. T . 2. Abtig. Römer. W . A. II, 3, 118 f. *) Zum Kanzler von Müller, 23. Sept. 1827. Vgl. Eck., 21. Dez. 1831. 8

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es, daß er sein entdecktes Urphänomen mit entschiedener Kühnheit durchführte und daß er die Courage hätte, ein Faktum als Gesetz auszusprechen" 1 ), und Eckermann spricht Goethes Auffassung aus, wenn er einmal später zu diesem sagt: „Das Schwierige aber ist, nun mit dem Gesetz zu operieren und ein Urphänomen in tausendfältig bedingten und verhüllten Erscheinungen immer wieder zu erkennen." 2 ) Wie zum Aufsuchen des Typus des Organischen der „Komplex von Geisteskräften, den man Genie zu nennen pflegt", gefordert wurde, um „dem Genie der hervorbringenden Natur entgegenzudringen", so fordert Goethe bis ins Alter eine produktive Geistesrichtung, um zum Urphänomen zu gelangen, weil kein empirischer Fall als solcher es darbietet: „Der Verstand reicht nicht hinauf; der Mensch muß fähig sein, sich zur höchsten Vernunft erheben zu können, um an die Gottheit zu rühren, die sich in Urphänomenen, physischen wie sittlichen, offenbart, hinter denen sie sich hält und die von ihr ausgehen." 3 ) „Ein einfaches Urphänomen aufzunehmen, es in seiner hohen Bedeutung zu erkennen und damit zu wirken, erfordert einen produktiven Geist, der vieles zu übersehen vermag, und ist eine seltene Gabe, die sich nur bei ganz vorzüglichen Naturen findet."4) Diese produktive Geistestat der zusammenschauenden Vernunft gehörte dazu, um den Magneten als Symbol, d. h. um aus dem — besonders prägnanten — Phänomen das Gesetz hervorleuchten zu sehen: „Zwei Forderungen entstehen in uns bei Betrachtung der Naturerscheinungen: die Erscheinungen selbst vollständig kennen zu lernen und uns dieselben durch Nachdenken anzueignen. Zur Vollständigkeit führt die Ordnung, die Ordnung fordert Methode und die Methode erleichtert die Vorstellungen. Wenn wir einen Gegenstand in allen seinen Teilen recht übersehen, recht fassen und ihn im Geiste wieder hervorbringen können, so dürfen wir sagen, daß wir ihn im eigentlichen und höheren Sinne anschauen, und so führt uns das Besondere immer zum Allgemeinen, das Allgemeine zum Besonderen." 5 ) Denn, wie er ein andermal sagt, erst „das Gewahrwerden der Ideen hilft das Bedeutende beobachten" 6 ), und: „Die Objekte in ihrer s ) Eckermann, 20. Febr. 1831. ') Eckermann, 27. Jan. 1830. Eckermann, 13. F e b r . 1829. 4 ) Eckermann, 21. Dez. 1831. Ähnlich ebenda, 16. Dez. 1828. 5 ) Zur Naturwissenschaft. 1805. Schema für physikal. Vorträge. W.A. II, 11, 164. •) Paralipomenon. W . A. II, 13, 18. s)

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Tiefe auffassen, heißt erfinden." 1 ) Wie er an Galilei, dessen Dialoge er „zur Stärkung und Kräftigung" las 2 ), rühmt, er habe schon in früher Jugend gezeigt, „daß dem Genie ein Fall für tausend gelte" 3 ), so ist besonders charakteristisch sein Spruch: „Was ist das Allgemeine? — Der einzelne Fall. — Was ist das Besondere? — Millionen Fälle" 4 ), der für sein naturwissenschaftliches Denken und in gleicher Weise für seine künstlerische Auffassung gilt und uns bei Betrachtung der letzteren wieder begegnen wird. Ich möchte die Belege nicht häufen und hoffe deutlich genug gemacht zu haben, daß Goethe das Allgemeine im Besonderen gespiegelt nur „ w i e d e r e r k a n n t e , nachdem es die schöpferische Vernunft geistig erschaut hatte, und daß er es hinter und über, nicht in dem Besonderen, Einzelnen als solchen sah. Wenn Hecker in seiner Anmerkung zu dem Spruch: „Was ist das Allgemeine?" sagt: „In jedem einzelnen Phänomen offenbart sich das ihm zugrunde liegende Naturgesetz ganz und rückhaltlos", so darf dies in keinem anderen Sinne verstanden werden, als in dem, der auch in der heutigen philosophisch begründeten Naturwissenschaft seine Geltung behauptet: unter der Voraussetzung, daß „was einmal in spezifischer Weise geschieht, auch jedesmal unter den gleichen Bedingungen wieder geschehen muß", ist „jeder Einzelfall — wo und wie man ihn auch herausgreift — unmittelbar Repräsentant einer Allgemeinheit". 5 ) Es wird nicht der einzelne Fall verallgemeinert, sondern die Allgemeinheit liegt bereits antezipiert in der Fragestellung, mit der der Forscher an den Einzelfall herantritt. „Das Singulare, unter dem Prinzip befaßt, bedeutet unmittelbar ein Allgemeines. Die logische Leistung der Induktion ist somit die Subsumption eines Einzelfalles unter eine a priori gewisse Allgemeinheit. Ihr Resultat ist allemal die Fixierung eines .besonderen Gesetzes', welches eben darin seine Mittelstellung zeigt, daß es den Charakter des Singulären in seiner ,Besonderheit', den des Allgemeinen in seiner Gesetzlichkeit' bewahrt und somit beide vereinigt." 6 ) Aber eben nur für den Forscher, ') Max. u. Refl. Nr. 1 1 4 1 . ) An den Grafen Sternberg, 30. Juni 1831. ») Farbenlehre, Hist. Teil, 5. Abtlg. 17. Jahrh. W . A. II, 3, 246; ähnlich ebenda, 236 f. Die heutige Platoforschung spricht auch Galilei die platonische Methode zu. N a t o r p , in „Große Denker", S. 122. 4 ) Betrachtungen im Sinne der Wanderer. 1829. Max. u. Refl. Nr. 558. *) N. H a r t m a n n , Philosophische Grundfragen der Biologie. S. 38f. Vgl. Goethes Ausspruch über die apriorische Gewißheit des Gesetzlichen, oben S. 32. •) Ebenda. 2

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dessen Fragestellung diese Allgemeinheit bereits einschließt, sie hinzubringt, offenbart das Einzelne das Allgemeine rückhaltlos, nicht aber wirkt sich in ihm an und für sich das Gesetz restlos aus. So hatte Goethe die „Idee" der Pflanze aus der denkenden Betrachtung des Werdens des einzelnen Gewächses gewonnen, ohne sie darum in einem einzelnen völlig und erschöpfend dargestellt zu sehen. Auch er forderte, „daß niemand eine Frage an die Natur tue, die er nicht beantworten könne: denn in der Frage liegt die Antwort". 1 ) V o r l ä n d e r 2 ) betont ebenfalls für Goethe den „idealistischen Grundgedanken von der Spontaneität, d. i. der Zeugungskraft des menschlichen Geistes", der für Goethe in der oben ausgeführten Bedeutung noch viel öfter bezeugt ist als hier angeführt werden kann. Das Bisherige zusammenfassend, dürfen wir vielleicht sagen: Goethes „reines Phänomen" oder „Urphänomen" als das „eine Urbedingende" gleicht der Idee Piatos 3 ), wo es als fernes Ziel der Forschung, als Richtpunkt des Denkens bei der Beobachtung von Einzelerscheinungen aufgestellt wird, um das Flüchtige zum Stehen zu bringen, um die Einheit im Verworrenen zu schauen; wo Goethe es zu finden meint, ist es im besten Fall eine vorläufige „Manifestation" der Idee, ein Symbol für sie, wiewohl nicht das letztmögliche.

VII. Noch muß uns ein Fall beschäftigen, in dem Goethe ein „Urphänomen" aufstellt, das lediglich ein Gesetz ist und sich in keinem sinnlichen Phänomen symbolisiert: in der Meteorologie. Zugleich gehören diese Wolkenstudien zu den vielen Fäden, die Goethes naturwissenschaftliche Forschungen und seine künstlerischen Forderungen verbinden; beide treffen darin vielleicht am unmittelbarsten zusammen. ') Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen. W. A. II, 6, 302. Kant, Schiller, Goethe. Leipzig 1907, S. 250. 3) Besser noch: der Entfaltung in die besonderen Ideen, wie sie z. B. S t e w a r t (a. a. O., S. 124) definiert als „the method of discovering special eidrj or L a w s of Nature, discovered always by means of the application, to the phenomena presented, of certain general eidrj, Categories, or Schemata, in which Human Understanding, by its very structure, must envisage experience". 2)

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dessen Fragestellung diese Allgemeinheit bereits einschließt, sie hinzubringt, offenbart das Einzelne das Allgemeine rückhaltlos, nicht aber wirkt sich in ihm an und für sich das Gesetz restlos aus. So hatte Goethe die „Idee" der Pflanze aus der denkenden Betrachtung des Werdens des einzelnen Gewächses gewonnen, ohne sie darum in einem einzelnen völlig und erschöpfend dargestellt zu sehen. Auch er forderte, „daß niemand eine Frage an die Natur tue, die er nicht beantworten könne: denn in der Frage liegt die Antwort". 1 ) V o r l ä n d e r 2 ) betont ebenfalls für Goethe den „idealistischen Grundgedanken von der Spontaneität, d. i. der Zeugungskraft des menschlichen Geistes", der für Goethe in der oben ausgeführten Bedeutung noch viel öfter bezeugt ist als hier angeführt werden kann. Das Bisherige zusammenfassend, dürfen wir vielleicht sagen: Goethes „reines Phänomen" oder „Urphänomen" als das „eine Urbedingende" gleicht der Idee Piatos 3 ), wo es als fernes Ziel der Forschung, als Richtpunkt des Denkens bei der Beobachtung von Einzelerscheinungen aufgestellt wird, um das Flüchtige zum Stehen zu bringen, um die Einheit im Verworrenen zu schauen; wo Goethe es zu finden meint, ist es im besten Fall eine vorläufige „Manifestation" der Idee, ein Symbol für sie, wiewohl nicht das letztmögliche.

VII. Noch muß uns ein Fall beschäftigen, in dem Goethe ein „Urphänomen" aufstellt, das lediglich ein Gesetz ist und sich in keinem sinnlichen Phänomen symbolisiert: in der Meteorologie. Zugleich gehören diese Wolkenstudien zu den vielen Fäden, die Goethes naturwissenschaftliche Forschungen und seine künstlerischen Forderungen verbinden; beide treffen darin vielleicht am unmittelbarsten zusammen. ') Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen. W. A. II, 6, 302. Kant, Schiller, Goethe. Leipzig 1907, S. 250. 3) Besser noch: der Entfaltung in die besonderen Ideen, wie sie z. B. S t e w a r t (a. a. O., S. 124) definiert als „the method of discovering special eidrj or L a w s of Nature, discovered always by means of the application, to the phenomena presented, of certain general eidrj, Categories, or Schemata, in which Human Understanding, by its very structure, must envisage experience". 2)

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Es darf dabei freilich an dieser Stelle nicht von der hohen künstlerischen Vollendung seiner Schilderungen atmosphärischer Zustände und Vorgänge gesprochen werden; Methode und Ziel seiner Forschung auch auf diesem Gebiet fallen aber hier ins Gewicht. Schon auf der Schweizerreise von 1779 hatten Goethe die Lufterscheinungen als erhabene Naturschauspiele entzückt; noch aber fehlte ihm der Gesichtspunkt, um diese Erfahrungen nach seiner Art synthetisch zusammenzustellen. Selbständig und dauernd beschäftigten ihn meteorologische Studien, seit der Großherzog 1815 eine meteorologische Station errichten ließ und Goethe im gleichen Jahre die Wolkenlehre Luke Howards kennen lernte. 1 ) Wasiliewski 2 ) macht darauf aufmerksam, daß Goethe „den auf die Benennung und Erklärung folgenden theoretischen Ausführungen Howards, in denen die Elektrizität eine wichtige Rolle spielt, keine weitere Aufmerksamkeit gewidmet zu haben scheint. E r nahm sich nur das heraus, was für seine eigene Absicht brauchbar war": es war der von Howard gelieferte Schlüssel, der es ihm ermöglichte, sich in der Formenwelt der Wolken zurechtzufinden. Nur schauend und im Denken gestaltend vermochte Goethe die Natur zu begreifen. „Den ganzen Komplex der Witterungskunde, wie er tabellarisch durch Zahlen und Zeichen aufgestellt wird, zu erfassen oder daran auf irgend eine Weise teilzunehmen, war meiner Natur unmöglich." 3 ) „ E r aber, Howard, gibt mit reinem Sinn Uns neuer Lehre herrlichsten Gewinn. Was sich nicht halten, nicht erreichen läßt, E r faßt es an, er hält zuerst es fest; Bestimmt das Unbestimmte, schränkt es ein, Benennt es treffend! — Sei die Ehre dein!" 4 ) Hier wie überall geht sein Streben dahin, durch zusammenschauende Vernunft die gesetzmäßige Einheit zu erkennen und mit dieser Erkenntnis die schwankende Vielgestalt der Erscheinung vor seinem geistigen Auge zum Stillstand zu bringen. 5 ) „Die Wolkenerscheinungen werden studiert und Musterbilder der verschiedenen Fälle aufgesucht." 6 ) Seine Absicht Vorwort zur Wolkengestalt nach Howard. 1817. W . A. II, 12, 6. ) W . v. W a s i l i e w s k i , Goethes meteorologische Studien, Leipzig 1910, S. 11. 4 ') Wie Anm. 1, S. 7. ) Howards Ehrengedächtnis. W . A. I, 3, 98. 5 ) Vgl. Vorwort zur Wolkengestalt nach Howard, W . A. II, 12, 7. •) An Karl August, 17. Jan. 1816. 2



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war es, angesichts der „überhäuften Empirie" „versuchsweise auf einen Fadenknaul hinzudeuten, woran man sich aus dem sinneverwirrenden Labyrinth unserer üblichen meteorologischen Tabellen herauswinden möge". 1 ) Er mußte auch hier bei seiner „alten Art verbleiben", die ihn nötigte, „alle Naturphänomene in einer gewissen Folge der Entwicklung zu betrachten und die Übergänge vor- und rückwärts aufmerksam zu begleiten. Denn dadurch gelangte ich ganz allein zur lebendigen Übersicht, aus welcher ein Begriff sich bildet, der sodann in aufsteigender Linie der Idee begegnen wird" 2 ), d. h. der Erkenntnis der immanenten Gesetzmäßigkeit, der Bestimmung des Unbestimmten, der Begrenzung des Unbegrenzten: „Wie sehr mich die Howardsche Wolkenbestimmung angezogen, wie sehr mir die Formung des Formlosen, ein gesetzlicher Gestaltenwechsel des Unbegrenzten erwünscht sein mußte, folgt aus meinem ganzen Bestreben in Wissenschaft und Kunst." 3) Er sucht auch hier den Triumph des Gesetzlichen, der da am herrlichsten zutage tritt, wo er auch das ärgste Wirrsal „bändigt oder sanktioniert", „Bei dieser, wie man sieht, höchst komplizierten Sache glauben wir ganz richtig zu verfahren, daß wir uns erst am Gewissesten halten; dies ist nun dasjenige, welches in der Erscheinung in gleichmäßigem Bezug sich öfters wiederholt und auf eine ewige Regel hindeutet. . . Wir nehmen zwar ein Witterungsgrundgesetz an, achten aber desto genauer auf die unendlichen physischen, geologischen, topographischen Verschiedenheiten, um uns die Abweichungen der Erscheinungen womöglich deuten zu können. Hält man fest an der Regel, so findet man sich auch immer in der Erfahrung zu derselben zurückgeführt; wer das Gesetz verkennt, verzweifelt an der Erfahrung, denn im allerhöchsten Sinne ist jede Ausnahme schon in der Regel begriffen." 4 ) In dem zitierten Gedicht „Howards Ehrengedächtnis" hat Goethe „die Funktion der menschlichen Einbildungskraft vorgetragen, welche nach eingeborenem Trieb allem Ungebildeten^ Zufälligen jederzeit irgendeine notwendige Bildung zu geben trachtet". 5 ) ') Über die Ursachen der Barometerschwankungen. 1822. W. A. II, 12, 68. s ) Wolkengestalt nach Howard. W. A. II, 12, 12. ") Zur Meteorologie. Luke Howard. Aus dem Nachlaß. W. A. II, 12, 43, *) Versuch einer Witterungslehre 1825. Anerkennung des Gesetzlichen. W. A. II, 12, 106 f. 6 ) An Joh. Chr. Hüttner, 29. April 1821. Beilage (W. A. IV, 50, Nachträge, S. 47)-

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Zusammenfassend dargestellt hat Goethe seine Ansichten über Meteorologie, wie er sie in einzelne Aufsätzen und Tagebüchern verstreut und durch Beobachtungen anderer vertieft hatte, 1825 irl seinem „Versuch einer Witterungslehre". Als das Urphänomen, das gesuchte Witterungsgrundgesetz, welches auch die Wolkenbildung regelt, erscheint ihm das an verschiedenen Orten gleichmäßige Steigen und Fallen des Luftdrucks *), an sich unsichtbar und unmittelbar sinnlich nicht wahrzunehmen, aber — der Symbole bedurfte Goethe nun einmal — versinnlicht am Auf- und Niedersteigen der Quecksilbersäule in der luftleeren Röhre des Barometers. 2 ) Auch hier will Goethe das „eine Urbedingende" von den Gelegenheitsursachen sondern: „Hohes Barometer: Trockenheit, Ostwind; tiefes Barometer: Nässe, Westwind. Dies ist das herrschende Gesetz, woran ich mich halte. Weht aber einmal bei hohem Barometer und Ostwind ein nasser Nebel her oder haben wir blauen Himmel bei Westwind, so kümmert mich dieses nicht und macht meinen Glauben an das herrschende Gesetz nicht irre, sondern ich sehe daraus bloß, daß auch manches Mitwirkende existiert, dem man nicht sogleich beikommen kann." 3 ) Die Hypothese Goethes, die diese Schwankungen des Luftdrucks dann mit der Anziehungskraft der Erde in Zusammenhang bringt, kümmert uns hier nicht weiter.4) Für uns ist an dieser Stelle aber von hoher Bedeutung, daß Goethe auch hier auf echt platonische Weise „durch umspannenden Blick das vielfach Zerstreute in eine Form zusammenfassen" 5 ) wollte, daß er das Gesetzliche in ') Über die Ursachen der Barometerschwankungen. 1822. W . A. II, 12,60. Ferner ebenda S. 69, Versuch einer Witterungslehre ebenda, S. 78,98, 99 u. ö., auch in zahlreichen Paralip. des 13. Bd. 2 ) Über die Ursachen der Barometerschwankungen, w. oben, Anm. 1, S. 59ff., bes. 61 f. Versuch einer Witterungslehre, ebenda, S. 77, 83, 1 1 9 ; Howards Terminologie, Bd. 12 (der alle meteorologischen Arbeiten Goethes enthält) S. 8 wiederholt auch in Gesprächen. *) Zu Eckermann, 11. April 1827. 4 ) W a s i l i e w s k i bespricht sie ausführlich a . a . O . S. 29 u. S. 45f., bes. S. 49. E s war danach an Goethes Ansicht richtig und von bleibender Bedeutung, daß er die Witterungserscheinungen tellurischen Einflüssen zuschrieb. Seine Hypothese selbst war unhaltbar, weil die zugrunde gelegte Beobachtung, der von Goethe als allgemein ausgesprochene parallele Gang des Barometers an verschiedenen Orten, unrichtig w a r : es trifft dies bei beträchtlichen Entfernungen nicht mehr zu, und das Goethe zulängliche Material erstreckte sich nur von der Ostküste E n g lands bis nach Böhmen und Wien. ®) R i t t e r , Neue Untersuchungen, S. 302 (nach Phaidros, 265 C ff.).

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Gestalt eines geistig Erschauten, eines Urphänomens suchte, mit dem die Einzelerscheinung, das „nahe Phänomen", als mit dem „fernen" nur insofern zusammenhängt, „als sich alles auf wenige große Gesetze bezieht, die sich überall manifestieren" 1 ), wenn auch nie exakt: „Das Phänomen, das reinste, widerspricht sich nie in seiner ewigen Einfalt; das abgeleitete erduldet Stockungen, Friktionen, und überliefert uns nur Undeutlichkeiten." 2 ) Von größter Wichtigkeit aber ist uns, daß Goethe wußte und betonte, nicht mit dem Aussprechen des bestimmten Urphänomens, das er nur versuchsweise aufgestellt hatte, um irgendwo Fuß zu fassen, sondern einzig mit seiner Methode, die der W e g für künftiges Fortschreiten sein sollte, etwas geleistet zu haben. In dem Aufsatz über die Ursachen der Barometerschwankungen sagt er. „Auf dieser Hypothese verharren wir, bis uns ein anderes Licht aufgeht" 3 ), und in dem Schlußabschnitt der Witterungslehre, „Selbstprüfung" überschrieben, lesen wir: „Denn obgleich ich mir nicht einbilde, daß hiermit alles gefunden und abgetan sei, so bin ich doch überzeugt: wenn man auf diesem Wege die Forschungen fortsetzt und die sich hervortuenden näheren Bedingungen genau beachtet, so wird man auf etwas kommen, was ich selbst weder denke noch denken kann, was aber sowohl die Auflösung dieses Problems als mehrerer verwandten mit sich führen wird." 4 ) Er stand zuversichtlich seiner Methode gegenüber, selbst wo wie hier ihre Anwendung im besonderen ihm nur zur Skepsis Anlaß gab „Die Gegenstände der Meteorologie sind zwar etwas Lebendiges, das wir täglich wirken utid schaffen sehen, sie setzen eine Synthese voraus; allein der Mitwirkungen sind so mannigfaltige, daß der Mensch dieser Synthese nicht gewachsen ist. . . Wir steuern dabei auf Hypothesen los, auf imaginäre Inseln, aber die eigentliche Synthese wird wahrscheinlich ein unentdecktes Land bleiben. Und mich wundert es nicht, wenn ich bedenke, wie schwer es gehalten, selbst in so einfachen Dingen wie die Pflanze und die Farbe zu einiger Synthese zu gelangen." 5) *) Betrachtungen im Sinne der Wanderer. *) Witterungslehre.

1829.

M a x . u. Refl. 557.

W . A. II, 12, 84.

s)

Ursachen der Barometerschwankungen.

4)

W . A . II, 12, 109.

W . A. II, 12, 61.

*) Zu E c k e r m a n n , 13. Febr. 1829. W a s i l i e w s k i (a. a. O. S. 4 2 Q •weist darauf hin, daß Goethes Aufstellung von Urphänomenen der F o r m u -

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

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„Der Mensch muß bei dem Glauben verharren, daß das Unbegreifliche begreiflich sei; er würde sonst nicht forschen" 1 ), heißt es im gleichen Jahre. In dieser Gesinnung hat Goethe bis zuletzt Genuß und Befriedigung an atmosphärischen Studien gefunden. Sie haben ihren künstlerischen Niederschlag in den an Howard gerichteten und manchen anderen Gedichten gefunden und vor allem in Fausts Eingangsmonolog zum IV. Akt von Faust II. Ein moderner Kunsthistoriker führt die neuartige künstlerische Naturdarstellung Runges und Friedrichs — von denen besonders der erstere Goethe persönlich nahestand und seine Farbenlehre würdigte — mit auf Goethes Wolkenstudien zurück : die Naturgesetzlichkeiten, die dieser zu erforschen strebte, habe die neue Landschaftskunst unter Goethes direktem Einfluß immer entschiedener zu bildhaftem Ausdruck bringen wollen.8) VIII. So ist die Brücke zwischen dem, was Goethe als Naturforscher und dem, was der Künstler Goethe wollte und leistete, in der Wesensart des Dichter-Forschers selbst zu finden. Kunst und Wissenschaft bedeuteten für ihn nur je eine „Manifestation des Urwesens"; beide waren ihm Offenbarungen geheimer, im letzten Grunde unaussprechlicher Gesetze; beider Ziel war es, mit menschlichen Geisteskräften in das Wesen der Erscheinungen soweit als möglich einzudringen, es in Symbolen zu vergegenwärtigen. Seine Klage blieb, daß seine Zeit einen kontradiktorischen Gegensatz erblickte, wo er Korrelate sah, deren eines notwendig das andere hervorrief, des anderen bedurfte. „So entschieden wurde damals verkannt, was man wollte und wünschte", lesen wir in der Geschichte seines botanischen Studiums 3 ), „denn es lag ganz außer dem Gesichtskreise der Zeit. Vereinzelt behandelte man sämtliche Tätigkeiten; Wissenschaften und Künste . . . bewegten sich im abgeschlossenen Kreise . . . Kunst und Poesie berührten einander lierung von Hypothesen mit der Tendenz zur Zusammenfassung und Vereinfachung verwandt ist, wie sie neuerdings M a c h und P o i n c a r é sowie andere Forscher als Grundsatz entschieden und klar ausgesprochen und ins einzelne verfolgt haben. Vgl. Stewart S. 124. ') Betrachtungen im Sinne der Wanderer. 1829. Max. u. Refl. 563. 2 ) M. S a u e r l a n d t , Der stille Garten. Düsseldorf u. Leipzig 1908, S. X . Vgl. auch Schlesinger, Geschichte des Symbols. Berlin 1912, S. 375. ') W . A. II, 6, 167 ; in einem Anhang zur Geschichte seines botanischen Studiums „Andere Freundlichkeiten". C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VIII, 1.

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„Der Mensch muß bei dem Glauben verharren, daß das Unbegreifliche begreiflich sei; er würde sonst nicht forschen" 1 ), heißt es im gleichen Jahre. In dieser Gesinnung hat Goethe bis zuletzt Genuß und Befriedigung an atmosphärischen Studien gefunden. Sie haben ihren künstlerischen Niederschlag in den an Howard gerichteten und manchen anderen Gedichten gefunden und vor allem in Fausts Eingangsmonolog zum IV. Akt von Faust II. Ein moderner Kunsthistoriker führt die neuartige künstlerische Naturdarstellung Runges und Friedrichs — von denen besonders der erstere Goethe persönlich nahestand und seine Farbenlehre würdigte — mit auf Goethes Wolkenstudien zurück : die Naturgesetzlichkeiten, die dieser zu erforschen strebte, habe die neue Landschaftskunst unter Goethes direktem Einfluß immer entschiedener zu bildhaftem Ausdruck bringen wollen.8) VIII. So ist die Brücke zwischen dem, was Goethe als Naturforscher und dem, was der Künstler Goethe wollte und leistete, in der Wesensart des Dichter-Forschers selbst zu finden. Kunst und Wissenschaft bedeuteten für ihn nur je eine „Manifestation des Urwesens"; beide waren ihm Offenbarungen geheimer, im letzten Grunde unaussprechlicher Gesetze; beider Ziel war es, mit menschlichen Geisteskräften in das Wesen der Erscheinungen soweit als möglich einzudringen, es in Symbolen zu vergegenwärtigen. Seine Klage blieb, daß seine Zeit einen kontradiktorischen Gegensatz erblickte, wo er Korrelate sah, deren eines notwendig das andere hervorrief, des anderen bedurfte. „So entschieden wurde damals verkannt, was man wollte und wünschte", lesen wir in der Geschichte seines botanischen Studiums 3 ), „denn es lag ganz außer dem Gesichtskreise der Zeit. Vereinzelt behandelte man sämtliche Tätigkeiten; Wissenschaften und Künste . . . bewegten sich im abgeschlossenen Kreise . . . Kunst und Poesie berührten einander lierung von Hypothesen mit der Tendenz zur Zusammenfassung und Vereinfachung verwandt ist, wie sie neuerdings M a c h und P o i n c a r é sowie andere Forscher als Grundsatz entschieden und klar ausgesprochen und ins einzelne verfolgt haben. Vgl. Stewart S. 124. ') Betrachtungen im Sinne der Wanderer. 1829. Max. u. Refl. 563. 2 ) M. S a u e r l a n d t , Der stille Garten. Düsseldorf u. Leipzig 1908, S. X . Vgl. auch Schlesinger, Geschichte des Symbols. Berlin 1912, S. 375. ') W . A. II, 6, 167 ; in einem Anhang zur Geschichte seines botanischen Studiums „Andere Freundlichkeiten". C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VIII, 1.

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k a u m , an lebendige W e c h s e l w i r k u n g war gar nicht zu d e n k e n ; Poesie und W i s s e n s c h a f t erschienen als die g r ö ß t e n W i d e r sacher. Indem sich nun j e d e r einzelne Bildungskreis absonderte, so vereinzelte, zersplitterte sich auch in j e d e m K r e i s die Behandlung. Nur ein H a u c h von T h e o r i e erregte schon F u r c h t . . . N i e m a n d wollte gestehen, d a ß eine Idee, ein Begriff der B e o b achtung z u m G r u n d e liegen, die E r f a h r u n g befördern, j a das F i n d e n und Erfinden b e g ü n s t i g e n k ö n n e . " W i e der K ü n s t l e r G o e t h e stets d e m Naturforscher über die Schulter blickte, w a r der Naturbetrachter bei G o e t h e s künstlerischer B e t ä t i g u n g im G e s t a l t e n wie im G e n i e ß e n und in der A u f s t e l l u n g v o n F o r d e rungen mit a m W e r k e . „ I c h d e n k e , W i s s e n s c h a f t k ö n n t e m a n die K e n n t n i s des A l l g e m e i n e n nennen, das a b g e z o g e n e W i s s e n ; K u n s t d a g e g e n wäre W i s s e n s c h a f t zur T a t v e r w e n d e t . " 1 ) D e r selbe tiefe W a h r h e i t s d r a n g war e s , der ihn zu beiden trieb. „ D a s E r s t e und L e t z t e , was v o m Genie g e f o r d e r t wird, ist Wahrheitsliebe."2) In der letzten T i e f e lag nun die V e r w a n d t s c h a f t von K u n s t und W i s s e n s c h a f t , so wie G o e t h e beide a u f f a ß t e und beiden diente, darin, d a ß sie für ihn, wie im f o l g e n d e n gezeigt w e r d e n soll, einen und denselben idealen G e g e n s t a n d hatten: die I d e e im (platonischen) Sinne der inneren, konstituierenden Gesetzlichkeit der Erscheinungen, v o n der zusammenschauenden V e r n u n f t hinter und über der Verworrenheit der Einzelwesen geistig erblickt. G o e t h e und Schiller setzen g e r n , besonders in ihrem B r i e f w e c h s e l , diesen eigentlichen, man m ö c h t e sagen inneren G e g e n s t a n d der K u n s t in G e g e n s a t z zum jeweiligen ä u ß e r e n O b j e k t , d e m nur sekundäre B e d e u t u n g z u k o m m t . Stets wird dabei diesem äußeren G e g e n s t a n d , als d e m bloßen S t o f f , geringe B e a c h t u n g beigemessen. In der „ R e i s e in die S c h w e i z " v o n 1797 lesen wir in einem Briefe an Schiller: „ W i r k ö n n e n einen j e d e n G e g e n s t a n d der Erfahrung als einen S t o f f ansehen, dessen sich die K u n s t b e m ä c h t i g e n k a n n , und da es bei derselben hauptsächlich auf die Behandlung a n k o m m t , so k ö n n e n wir die S t o f f e beinahe als gleichgültig ansehen . . . Ä u ß e r s t m e r k w ü r d i g ist es mir bei dieser Gelegenheit, d a ß auch hier alles auf die E r ö r t e r u n g der F r a g e a n k ä m e , w e l c h e d i e Philosophen so sehr b e s c h ä f t i g t : inwiefern wir nämlich einen ') Aus Makariens Archiv 1829. Max. u. Refl. 758. *) Aus Kunst u. Altertum 1827. Max. u. Refl. 382.

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Gegenstand, der uns durch die Erfahrung gegeben wird, als einen G e g e n s t a n d an s i c h ansehen dürfen oder ihn als u n s e r W e r k und E i g e n t u m ansehen müssen. Denn wenn man der Sache recht genau nachgeht, so sieht man, daß nicht allein die Gegenstände der K u n s t , sondern schon die Gegenstände zur K u n s t eine gewisse Idealität an sich haben; denn indem sie bezüglich auf Kunst betrachtet werden, so werden sie durch den menschlichen Geist schon auf der Stelle verändert. Wenn ich nicht irre, so behauptet der kritische Idealismus so etwas von aller Empirie, und es wird nur die Frage sein, wie wir ihn in unserm Falle, in welchem wir, wo nicht eine Erschaffung, doch eine Metamorphose der Gegenstände annehmen, uns so deutlich ausdrücken, daß wir allgemein verständlich sein können und daß wir auf eine geschickte Weise den Unterschied zwischen Gegenstand und Behandlung, welche beide so sehr zusammenfließen, schicklich bezeichnen können." 1 ) Auf der gleichen Reise hatte Goethe notiert: „Phänomene der Natur unerschöpflich. Empirie Sammlung von Phänomenen. Erklärung der Phänomene eigentlich Behandlung der Phänomene nach menschlicher Art." 2 ) So erhellen sich bei ihm Natur- und Kunstbetrachtung wechselseitig. Je tiefer Goethes theoretische Besinnung über die zu Anfang ihm unbewußt in ihm waltende Schaffensweise geht, desto mehr festigt sich die Überzeugung von der selbsttätigen Hervorbringung des ästhetischen Objekts durch den menschlichen Geist, wiewohl „anläßlich" der Erfahrung und in innerlich notwendiger Verbundenheit mit ihr sich vollziehend. „Sie begreifen nicht", schreibt er an Schiller über die französischen Ästhetiker, „daß etwas im Menschen sei, wenn es nicht von außen in ihn hineingebracht worden". Ein solcher habe ihn kürzlich versichert, „das Ideal sei etwas aus verschiedenen schönen Teilen Zusammengesetztes!", und er habe ihm die Fragen entgegengehalten, „woher denn der Begriff von den schönen Teilen käme ? und wie denn der Mensch dazu käme, ein schönes Ganze zu fordern? und ob nicht für die Operation des Genies, indem es sich der Erfahrungselemente bedient, der Ausdruck zusammensetzen zu niedrig sei?" 3 ) Immer deutlicher wird der Erfahrung als dem Rohstoff die bloße Rolle der Veranlassung zugeschoben. Die „alten Tragödien" sind nur dem ') W . A. I, 34 1 , S. 437 ff. Mit den Sperrungen folge ich der W . A. ) Reise in die Schweiz. 1797. Lesarten. 3. Faszikel. W . A. I, 34 2 , 124. 8 ) An Schiller, 28. Febr. 1798. 6*

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schrecklich und abscheulich, der „in der Poesie nur den Stoff erblickt, der dem Gedichteten zum Grund liegt, wenn man vom Kunstwerke spricht, als hätte man, an seiner Statt, die Begebenheiten in der Natur erfahren". 1 ) Das Kunstwerk „soll dem Genie entspringen, der Künstler soll Gehalt und Form aus der Tiefe seines eigenen Wesens hervorrufen, sich gegen den Stoff beherrschend verhalten und sich der äußeren Einflüsse nur zu seiner eigenen Ausbildung bedienen". 2 ) Nur der „Laie" halte den Gegenstand für gegeben; „aber gerade das, was ungebildeten Menschen am Kunstwerk als Natur auffällt, das ist nicht Natur (von außen), sondern der Mensch (Natur von innen)". 3 ) Prägnant bringt die programmatische Einleitung in die Propyläen diese Auffassung zum Ausdruck: „Indem der Künstler irgendeinen Gegenstand der Natur ergreift, so gehört dieser schon nicht mehr der Natur an, ja man kann sagen, daß der Künstler ihn in diesem Augenblick erschaffe." 4 ) Keimhaft vorgebildet lag diese Auffassung schon 1775 in Goethe, als er im Banne des Neuplatonikers Shaftesbury sich Begriff und Ausdruck der „inneren Form" schuf, die sich von der äußeren „unterscheidet wie der innere Sinn vom äußern, die nicht mit Händen gegriffen, die gefühlt sein will" und die „ein für allemal das Glas" ist, „wodurch wir die heiligen Strahlen der verbreiteten Natur an das Herz der Menschen zum Feuerblick sammeln". 5 ) Es soll diesem, noch ganz unklaren und tastenden Begriff keine Gewalt angetan werden. Aber doch werden wir unwillkürlich an den focus imaginarius denken, als den Kant die Idee definiert, und uns erinnern dürfen, daß Constantin Ritter die „Idee" Piatos an manchen Stellen geradezu als „innere Form" interpretiert, nämlich als ein „Verhältnis, das in der Beziehung der betreffenden Sache zu unserer Seele besteht und in einer Wirkung zu beschreiben ist, die unser Gefühl oder Verstand von jener erfährt" und „wodurch die Form der Sache für ein mit künstlerischer Freiheit gestaltendes oder handelndes Wesen zum leitenden Zweckgedanken wird". 6 ) Leider kann *) Der Sammler und die Seinigen. 1798/99. W . A. I, 47, 168. ) Farbenlehre. Didakt. Teil. Schlußwort. W . A. II, 1, 373. Vgl. zu Eckermann, 5. Juli 1827; Noten und Abhandlungen zum Diwan, W. A. I, 7, 100; Dauer im Wechsel W . A. I, 3, 80. Max. u. Refl. 289, 486, 1083, 1344. Philostrats Gemälde, W . A. I, 49 1 , 152; ähnlich noch häufig. 3 4 ) Max. u. Rtffl. 1074—76. ) W . A. I, 47, 17. s ) Aus Goethes Brieftasche. W . A. I, 37, 313. •) C. Ritter, Neue Untersuchungen, S. 244. Nach Timaios, 46 C und 59 C. 2

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hier Goethes Stellung zur Teleologie im Vergleich zu Plato nicht präzisiert werden. Es würde dies eine Untersuchung darüber mit sich bringen, ob und wie sich Goethes vielbesprochener „Spinozismus" mit seiner Geistesart und -richtung, wie sie hier geschildert wird, vereinigen läßt; eine Aufgabe, die ich mir hier nicht stellen konnte. Insofern es nun einen wahren, allgemeinen Gegenstand der Kunst als solcher gibt, ein ästhetisches Objekt, das am gegebenen Material gestaltet werden soll, differenziert erst durch die besonderen Ausdrucksformen und -mittel der einzelnen Künste, dürfen wir von Goethes Auffassung der Kunst überhaupt sprechen, gleichviel, welcher besonderen Kunst er gelegentlich die Beispiele entnahm. Es liegt nahe, daß er sich theoretisch mehr über die bildende Kunst ausgesprochen hat, die er genießend aufnahm, als über die dichtende, in der er gestaltete anstatt zu reden. Seine „teilnehmende Betrachtung" an den bildenden Künsten sei dadurch erst „rein geworden", heißt es in der Selbstschilderung von 1797 , daß er der Ausübung entsagte. Über den Zusammenhang seiner Anschauungen über Poesie, bildende Kunst und Natur hat er Rechenschaft gegeben in der Konfession des Verfassers zum Schluß des historischen Teils der Farbenlehre: „. . . so hatte ich selbst gegen die Dichtkunst ein eigenes, wundersames Verhältnis, das bloß praktisch war . . . Da mir aber, sowohl in Absicht auf die Konzeption eines würdigen Gegenstandes als auf die Komposition und Ausbildung der einzelnen Teile . . . nichts Brauchbares weder von den Lehrstühlen noch aus den Büchern entgegenkam . . . so suchte ich mir außerhalb der Dichtkunst eine Stelle, auf welcher ich zu irgendeiner Vergleichung gelangen und dasjenige, was mich in der Nähe verwirrte, aus einer gewissen Entfernung übersehen und beurteilen könnte. Diesen Zweck zu erreichen, konnte ich mich nirgend besser hinwenden als zur bildenden K u n s t . . . Alsich endlich nach manchem Zaudern über die Alpen gelangt war, so empfand ich gar bald, bei dem Zudrang so vieler unendlichen Gegenstände, daß ich nicht gekommen sei, um Lücken auszufüllen und mich zu bereichern, sondern, daß ich von Grund aus anfangen müsse, alles bisher Gewöhnte wegzuwerfen und das Wahre in seinen einfachen Elementen aufzusuchen. Zum Glück konnte ich mich an einigen von der Poesie herübergebrachten, mir durch inneres Gefühl und langen Gebrauch be») Goethe-Jahrbuch Bd. 16 (1895) S. 2 0 f r .

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währten Maximen festhalten, so daß es mir zwar schwer aber nicht unmöglich ward, durch ununterbrochenes Anschauen von Natur und Kunst . . . nach und nach mir überhaupt die Kunst einzuteilen ohne sie zu zerstückeln . . ." 1 ) Goethe hat sie nie zerstückelt. Das Primäre war ihm immer die Einheitlichkeit aller Kunst: „Und doch gibt es einen allgemeinen Punkt, in welchem die Wirkungen aller Kunst, redender sowohl als bildender, sich sammeln, aus welchem alle ihre Gesetze ausfließen . .: das menschliche Gemüt . . . Der Mensch ist . . . ein Ganzes, eine Einheit vielfacher, wenig verstandener Kräfte; und zu diesem Ganzen des Menschen muß das Kunstwerk reden, es muß dieser reichen Einheit, dieser einigen Mannigfaltigkeit in ihm entsprechen." 2 ) „Man soll . . . dahin trachten, daß verwandte Manifestationen der großen Idee" — es ist in diesem Fall von Malerei, Plastik und Mimik die Rede — „insofern sie durch Menschen zur Erscheinung kommen sollen, auf eine gehörige Weise ineinander wirken"; ihr „unzertrennlicher Bezug" soll beachtet werden. 3 ) Wie seine botanischen Studien in Italien ihn über Methode, Gegenstand und Ziel seiner gesamten Naturforschung aufklärten, so erleuchteten sie ihn auch über das Wesen der Kunst. „Mein Prinzip, die Kunstwerke zu erklären und das auf einmal aufzuschließen, woran Künstler und Kenner sich schon seit der Wiederherstellung der Kunst zersuchen und zerstudieren, find ich bei jeder Anwendung richtiger. Ohne zu sagen, daß ich einen solchen Kapitalschlüssel [die Metamorphose der Pflanzen] besitze, sprech ich nun die Teile zweckmäßig mit den Künstlern durch und sehe wie weit sie gekommen sind." 4 ) Fortan fließen ihm Analogien zur Kunst aus allen Gebieten seiner Naturforschung zu und von jener zu dieser zurück: „Die vergleichende Anatomie hat einen allgemeinen Begriff über organische Naturen vorbereitet; sie führt uns von Gestalt zu Gestalten, und indem wir nah oder fern verwandte Naturen betrachten, erheben wir uns über sie alle, um ihre Eigenschaften in einem idealen Bilde zu erblicken. Halten wir dasselbe fest, so finden wir erst, daß unsere Aufmerksamkeit bei der Beobachtung der Gegenstände eine bestimmte Richtung nimmt, daß ') W. A. II, 4, 285 fr. Diese charakteristische Stelle habe ich nirgends beachtet gefunden. l ) Der Sammler und die Seinigen. 1798—99. 6. Brief. W. A. I, 47, 168. *) Kunst u. Altertum 1826. Max. u. Refl. 380. 4) Italienische Reise. Rom, 6. Sept. 1787. W. A. I, 32, 77.

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abgesonderte Kenntnisse durch Vergleichung leichter gewonnen und festgehalten werden und daß wir zuletzt beim Kunstgebrauch nur dann mit der Natur wetteifern können, wenn wir die Art, wie sie bei der Bildung ihrer Werke verfährt, ihr wenigstens einigermaßen abgelernt haben." 1 ) In derselben Zeit schreibt Goethe an Schiller: „Meine Betrachtungen über organische Naturen sowie über die Farbenlehre arbeiten jenen Kunstbetrachtungen entgegen." 2 ) Am nachdrücklichsten hat Goethe auf diesen ihm so wichtigen inneren Zusammenhang seiner neu gewonnenen und dann für immer beibehaltenen Richtung in Naturwissenschaft und Kunst hingewiesen in einem rückschauenden Bericht von 1 8 1 7 : „Ich schrieb zu gleicher Zeit einen Aufsatz über Kunst, Manier, Stil, einen andern, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären, und das Römische Karneval. Sie zeigen sämtlich, was damals in meinem Innern vorging und welche Stellung ich gegen jene drei großen Weltgegenden [Kunst, Natur, Sitten der Völker] genommen hatte." 3 ) Auch in Kunstdingen zeigte sich jetzt eine genetische Betrachtungsweise als die einzig fruchtbare. Wie er sich gewöhnte, bei Betrachtung von Naturerscheinungen sich „eine Einsicht in den Zusammenhang ihres Wesens und Wirkens zu verschaffen" nicht durch „Trennung der Teile", sondern durch den Trieb, „die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äußern sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhang zu erfassen, sie als Andeutungen des Innern aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen" 4 ), so blieb fortan seine Maxime: „Natur- und Kunstwerke lernt man nicht kennen, wenn sie fertig sind, man muß sie im Entstehen aufhaschen, um sie einigermaßen zu begreifen." 5 ) Es war dies für die Dichtung wie für die bildende Kunst gemeint. An den Freund der römischen Tage, J. H. Meyer, schreibt er: „Auf alle Fälle können wir uns künftig vereinigen, teils dieses Kunstwerk [Laokoon], teils andere in einer gewissen Folge derart zu behandeln, daß wir nach unserm ältesten Schema eine vollständige ') Einleitung in die Propyläen, 1798. W . A. I, 47, 14 f. ) An Schiller, 3. März 1798; „ e n t g e g e n " natürlich nicht im Sinne von entgegengesetzt, sondern entgegenkommend; vgl.an Schiller 14. Febr. 1798: „ S o werden Sie doch meine Absicht löblich finden, Ihnen entgegen zu arbeiten und Sie für die Sache noch mehr zu interessieren"; und oft so. •) Zur Morphologie. Schicksal der Handschrift. Zw. 1817 u. 24. W.A.II, 6,132. *) Zur Morphologie. Die Absicht eingeleitet. 1817. W . A. II, 6, 8f. s ) An Zelter, 4. August 1803. 2

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Entwicklung von der ersten poetischen Konzeption des Werks bis auf die letzte mechanische Ausführung zu liefern suchen." Die neue Erkenntnis lehrte ihn, daß die Natur „gesetzlich zu Werke gehe, um lebendiges Gebild als Muster alles künstlichen hervorzubringen". 2 ) Er sucht an der antiken Plastik „zu erforschen, wie jene unvergleichlichen Künstler verfuhren, um aus der menschlichen Gestalt den Kreis göttlicher Bildung zu entwickeln, welcher vollkommen abgeschlossen ist und worin kein Hauptcharakter sowenig als die Übergänge und Vermittlungen fehlen. Ich habe eine Vermutung, daß sie nach eben den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur verfährt und denen ich auf der Spur bin". 3 ) „Diese hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen." 4 ) Jetzt triumphiert er, „daß mich nun mein hartnäckig Studium der Natur, meine Sorgfalt, mit der ich in der komparierenden Anatomie zu Werke gegangen bin, nunmehr in den Stand setzen, in der Natur und in den Antiken manches im Ganzen zu sehen, was den Künstlern im einzelnen aufzusuchen schwer wird". 5 ) Wie der Metamorphosengedanke Goethe von der „schwankenden Haltlosigkeit, welche die Beschäftigung mit lauter Einzeldingen verursacht", dahin geführt hatte, zu erforschen, was die Pflanze zur Pflanze macht, so erwuchs ihm nun eine gleiche Erkenntnis für das, worin das Wesen des Kunstwerks liegt. „Gelangt die Kunst", sagt jener von Goethe erwähnte, aufschlußreiche Aufsatz „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil" von 1789, „durch Nachahmung der Natur, durch Bemühung, sich eine allgemeine Sprache zu machen, durch genaues und tiefes Studium der Gegenstände selbst endlich dahin, daß sie die Eigenschaften der Dinge und die Art wie sie bestehen, genau und immer genauer kennen lernt, daß sie die Reihe der Gestalten übersieht und die verschiedenen und charakteristischen Formen nebeneinander zu stellen und nachzuahmen weiß, dann wird der Stil der höchste Grad, wohin sie gelangen kann; der Grad, wo sie sich den höchsten menschlichen Bemühungen An J. H. Meyer, 14. Juli 1797. Metamorphose der Pflanzen. Schicksal der Handschr. II, 6, 132. Zw. 1817 u. 1824. 3 ) Ital. Reise, Rom, 28. Jan. 1787. W . A. I, 30, 264^ 4 ) Ital. Reise, 6. Sept. 1787. W . A. I, 32, 77. 6 ) Ital. Reise, Rom, 23, Aug. 1787. W. A. I, 32, 62.

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gleichstellen darf. Wie die einfache Nachahmung auf dem ruhigen Dasein und einer liebevollen Gegenwart beruht, die Manier eine Erscheinung mit einem leichten, fähigen Gemüt ergreift, so ruht der Stil auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern es uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greifliehen Gestalten zu erkennen". 1 ) „Die Ausführung des oben Gesagten", fügt Goethe hinzu, „würde ganze Bände einnehmen"; ebenso seine Interpretation. Ich muß mich bemühen, mich nur an das Allerwichtigste zu halten. Der Stil erreicht „den höchsten Grad, . . . welchen die Kunst je erreicht hat und je erreichen kann" 2 ), er ruht „auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge", d. h. sein wahrer, ideeller Gegenstand, das ästhetische Objekt, ist nicht wie für Nachahmung und Manier die gegebene gegenwärtige Erscheinung, sondern die Idee, die ihnen zugrunde liegt, das Gesetz, das sie zu dem macht, was sie wahrhaft sind, wie auch äußerlich zufällige Einflüsse sie modifizieren mögen; auf dem Wesen der Dinge nämlich, „insofern es uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greifbaren Gestalten zu erkennen", d. h. insofern wir das Urbild durch die tausendfältigen Abbilder hindurchschimmern sehen und es in besonders prägnanten Erscheinungen zu symbolisieren versuchen. Mit dem Wesen der Dinge meinte Goethe das Gesetz, das sie konstituiert, aber nicht als Dinge an und für sich, sondern eben als Erscheinungen für uns. Das spricht er einmal ganz unzweideutig aus: „Nicht weniger unbegründet ist die . . . Meinung, daß die Dinge nicht nachzubilden seien wie sie erscheinen, sondern wie sie an sich sind. Es ist schwer zu begreifen, was unter dieser Forderung nur verstanden werden soll . . . W a s die Dinge außer ihrer Erscheinung an sich sind, kann nicht wohl Gegenstand der bildlichen Darstellung sein." 3 ) Zu Eckermann sagt Goethe einmal: „Ich muß über die Ästhetiker lachen, welche sich abquälen, dasjenige Unaussprechliche, wofür wir den Ausdruck „schön" gebrauchen, durch abstrakte Worte in einen Begriff zu bringen. Das Schöne ist ein Urphänomen, das zwar nie selber zur Erscheinung kommt, dessen Abglanz aber in tausend verschiedenen Äußerungen des schaffenden Geistes sichtbar wird und so mannigfaltig und ver2) Ebenda. ') W . A. I, 47, 79 f. Zur Naturwissenschaft. Über Anforderungen an naturwissenschaftliche Abbildungen. Nach d' Alton. W. A. II, 12, 143. (Aus dem Nachlaß.) 3)



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schieden ist als die Natur selber." *) Wir könnten hier geradezu für „Urphänomen" die „Idee" im vollen platonischen Sinne einsetzen. „Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben" 2 ), so umschreibt es Goethe ein andermal im gleichen Sinne. „Zum Schönen wird gefordert ein Gesetz, das in die Erscheinung tritt." 3 ) Diderots „Die Natur macht nichts Inkorrektes" verbessert und vertieft Goethe: „Die Natur macht nichts Inkonsequentes . . . Die Natur ist niemals korrekt . . . Korrektion setzt Regeln voraus, und zwar Regeln, die der Mensch selbst bestimmt nach Gefühl, Erfahrung, Überzeugung und Wohlgefallen und darnach mehr den äußeren Schein als das innere Dasein eines Geschöpfes beurteilt; die Gesetze hingegen, nach denen die Natur wirkt, fordern den strengsten innern organischen Zusammenhang . . . Das Geschöpf wird [durch zufällige Einwirkungen, Mitursachen im Sinne Piatos] nicht, was es sein sollte, sondern was es sein kann." 4 ) Das Kunstwerk aber soll, im Gegensatz zur schwankenden Erscheinung, zum Ausdruck bringen, was das Geschöpf seinem innern Gesetz nach sein sollte; es ruht „auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis", derselben Erkenntnis nämlich, die in der Wissenschaft theoretisch zeigen wollte, nicht wie die Phänomene erscheinen, auch nicht, was sie an sich sind, sondern wie sie erscheinen sollten. 5 ) Die Kunst offenbart Seiten der Erscheinung, die durch die bloße Erfahrung nicht wahrgenommen werden. So baut sich das Kunstwerk auf aus dem realen Gegenstand sowohl als aus der Idee, die dahinter steckt, in ihm aber besser zum Ausdruck kommen soll als in der Naturerscheinung. „Natur und Idee läßt sich nicht trennen, ohne daß die Kunst sowie das Leben zerstört werde. Wenn Künstler von Natur sprechen, subintelligieren sie immer die Idee, ohne sich's deutlich bewußt zu sein." 6 ) „Die echte Kunst hat einen idealen Ursprung und eine ideale Richtung; sie hat ein reales Fundament, aber sie ist nicht realistisch."') Sätze wie Schillers Ant') 18. April 1827. Kunst u. Altertum 1823. Max. u. Refl. 183. ') A u s dem Nachlaß. Max. u. Refl. 1345. *) Anmerkungen zu Diderots Versuch über die Malerei 1. Kap. G e danken über die Zeichnung. 1798—99. W . A. I, 45, 251. 6) S. oben S. 59. 6) Aus dem Nachlaß. Max. u. Refl. 1070 u. 71. ') Neue Unterhaltungen über verschiedene Gegenstände der Kunst. 1808. W . A. I, 48, 136.

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•wort in jenem bedeutungsvollen Gespräch: „. . . Darin besteht ja eben das Eigentümliche der letzteren [der Idee], daß ihr niemals eine Erfahrung kongruieren könne" 1 ), machten Goethe, wie wir gesehen haben, hinfort nicht mehr unglücklich. Wie es schon damals in ihm aufdämmerte: „Wenn er das für eine Idee hielt, was ich als Erfahrung aussprach, so mußte doch zwischen beiden irgend etwas Vermittelndes, Bezügliches obwalten", so hat er später die durch Schiller gewonnene Einsicht nie mehr aufgegeben, einmal sogar fast überscharf so formuliert: „Die Erfahrung ist fast immej eine Parodie auf die Idee." 2 ) Ganz seine innerste Auffassung aber spricht er aus, wenn er schreibt: „Erfahrung und Idee werden in der Mitte nie zusammentreffen, zu vereinigen sind sie nur durch Kunst und Tat." 3 ) Seiner Natur widerstrebte es, Erfahrung und Idee als schroffe Gegensätze zu fassen; ihr entsprach am besten die Ansicht, „daß keine Idee der Erfahrung völlig kongruiere", daß aber „Idee und Erfahrung analog sein können, ja müssen". 4 ) „Die Idee ist in der Erfahrung nicht darzustellen, kaum nachzuweisen; wer sie nicht besitzt, wird sie in der Erscheinung nirgends gewahr" 5 ), das hatten wir schon früher gehört; wer sie aber besitzt, in sich erzeugt, erschaut hat und der künstlerischen Gestaltung fähig ist, dem wird sie zum wahren Gehalt der Kunst, zum ästhetischen Objekt. „Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst" 6 ), und ein andermal: „Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen." 7 ) Das geistige Erschauen der Idee erregt in dem schöpferisch begabten Menschen den unausweichlichen Drang, sie darzustellen: „Ich aber mußte sagen, das Schöne sei, wenn wir das gesetzmäßig Lebendige in seiner größten Tätigkeit und Vollkommenheit schauen, wodurch wir, zur Reproduktion gereizt, uns gleichfalls lebendig und in höchste Tätigkeit versetzt fühlen." 8 ) Der Künstler, in dem die Idee *) Biographische Einzelheiten. W . A. I, 36, 251. Außerdem Glückliches Ereignis, W . A. II, 11, 18. 2 ) Reise in die Schweiz, Lesarten, 3. Faszikel. W . A. I, 3 4 1 2 4 . 3 ) An Schopenhauer, 28. Jan. 1816. *) Bedenken und Ergebung. 1820. W . A . I I , 11, 57. 5 ) W . A. II, 6, 226. «) Kunst u. Altertum 1823. Max. u. Refl. 201. ') Kunst u. Altertum 1827. Max. u. Refl. 384. Vgl. Zur Morphologie. Verfolg. Aphoristisches. 1822. W . A. II, 6, 221, Z. 19. Dasselbe Max. u. Refl. 412 u. 413. 8 ) Kampagne in Frankreich. W . A. I, 33, 234.

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lebendig ist, gibt dem Kunstwerk weit mehr als er dem realen Gegenstand, der Einzelerscheinung, dem konkreten Modell dafür entnimmt. „Die Erfahrung bringt Zweifel, was schön sei. F ü r den Künstler ist nichts schön. Die Erfahrung mag nicht Recht schaffen. Und die Erfahrung keinen Künstler. Die Kunst ist konstitutiv. Der Künstler bestimmt die Schönheit, er nimmt sie nicht a n . " 1 ) Ja, Goethe stellt sogar geradezu die „ F o r d e rung an das K u n s t w e r k , daß die Idee herrschend sei". 2 ) D a ß er damit nicht etwa „die magere Schnur einer Idee" im populären Sinne eines abstrakten, auf eine Formel zu bringenden Grundgedankens gemeint hat, bezeugt sein Gespräch mit E c k e r mann am 6. Mai 1827. Das Schöne blieb ihm ein Urphänomen, das sich in seiner letzten Einheit und T i e f e nicht aussprechen läßt, das nur der künstlerisch Begabte besitzt und intuitiv erfaßt. „Im Ästhetischen tut man nicht wohl, zu sagen: ,Die Idee des Schönen', dadurch vereinzelt man das Schöne, das doch einzeln nicht gedacht werden kann. V o m Schönen kann man einen Begriff haben, und dieser Begriff kann überliefert werden." A u c h hier ist also wieder die Idee als das Unaussprechliche, nur im Geiste Erschaubare, in ihm schöpferisch Erzeugte, dem aus der A u ß e n welt abzulesenden, mitteilbaren Begriff übergeordnet. „Die Manifestation der Idee als des Schönen ist ebenso flüchtig als die Manifestation des Erhabenen, des Geistreichen, des Lustigen, des Lächerlichen. Dies ist die Ursache, warum so schwer darüber zu reden ist." 3 ) Und dennoch muß der Künstler es i m m e r von neuem ins A u g e fassen: „ W e r sich vor der Idee scheut, hat auch zuletzt den Begriff nicht mehr." 4 ) Goethe wußte auch, daß in den geheimnisvollen Prozeß des künstlerischen Schaffens hineinzublicken letzterdings ebenso unmöglich ist wie dem „Genie der schaffenden Natur" sein Gesetz restlos abzulauschen. E r hat es gleichwohl versucht, hier wie dort die T i e f e n abzuleuchten, soweit der menschliche Geist es vermag. „ D a s G e s e t z , das in die Erscheinung tritt, in der größten Freiheit, nach seinen eigenen Bedingungen" — nicht, wie bei den Erscheinungen der Natur durch das Zufällig-Wirkliche abgelenkt — „bringt das objektiv Schöne hervor. . . Die Unmög*) 2) 3) 4)

Paralipomenon zu den Propyläen zw. 1798 u. 1800. W . A. I, 47, 292. Reise in die Schweiz. 1797. Lesarten. 3. Faszikel. W . A. I, 34®, 125. Kunst u. Altertum. 1826. Max. u. Refl. 376 u. 77. Kunst u. Altertum. 1821. Max. u. Refl. 128.

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lichkeit, Rechenschaft zu geben von dem Natur- und Kunstschönen, denn ad i. müßten wir die Gesetze kennen, nach welchen die allgemeine Natur handeln will und handelt, wenn sie kann; und ad 2. die Gesetze kennen, nach denen die allgemeine Natur unter der besonderen Form der menschlichen Natur" — im Künstler — „produktiv handeln will und handelt, wenn sie kann". 1 ) Das Gesetz des künstlerischen Schaffens — soweit es sich in einer Formel aussprechen läßt — stellte sich ihm etwa so dar. Durch gründliches Studium der Natur in ihrer Breite und Tiefe gelingt es dem Künstler, dem Wesen der Erscheinungen, ihrem immanenten Gesetz nahezukommen; von der ersten Stufe, der „ruhigen nachahmenden Betrachtung des simplen Daseins" 2 ) erhebt er sich zur Zusammenschau des in der Erscheinung Verworrenen, Zerstreuten und Abgelenkten. Er hat nun die „Idee" als ein Urbild vor Augen, um welches ihn „die Natur selber beneiden" könnte, und mit diesem Schlüssel kann er, am Beispiel der Pflanze, „noch Pflanzen bis ins Unendliche erfinden, die . . . wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten". 3 ) Von diesem geistig Erfaßten, innerlich Erschauten vermag er dann dem einzelnen, konkreten Gegenstande der Erfahrung, den er darstellen will, so viel höheres Leben einzuflößen, daß er zur „Manifestation der Idee" wird, zu ihrem Symbol, „übernatürlich, aber nicht außernatürlich" 4 ), „natürlich zugleich und übernatürlich" 5 ), von der „höchsten Wahrheit" ohne eine „Spur von Wirklichkeit" 8 ), nicht im Allgemeinen verschwebend, sondern zu einem individuellen, aber völlig neuen Ganzen verdichtet, in dem sich „zum All das Eine, Zum Ewigen das Gegenwärtige, Das Flüchtige zum Dauernden erhebt." 7 )

') Aus dem Nachlaß. Max. u. Refl. 1346 u. 47. s ) Nachahmung, Manier, Stil. W . A. I, 47, 81. а ) S. oben S. 23. Das Beispiel der Pflanze und ihres inneren Bildungsgesetzes braucht auch der Aufsatz Nachahmung, Manier, Stil. 4 ) Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke. W . A. I, 47, 265. б ) Einleitung in die Propyläen. W . A. I, 47, S. 12. 6 ) Zu Eckermann, 10. April 1829. 7 ) Die natürliche Tochter, 5. Aufz. 7. Auftritt. W . A. I, 10, 374.

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„Den Punkt der Vereinigung im Mannigfaltigen zu finden, bleibt ein Geheimnis", schreibt Goethe 1779 in sein Tagebuch. 1 ) Das bloße Naturstudium in empirischer Breite, wie Goethe selbst es vor der italienischen Reise getrieben hatte, genügte nicht, um zum Anschauen, Erschauen der Einheit zu gelangen. „Man sagt: Studiere, Künstler, die Natur! Es ist aber keine Kleinigkeit, aus dem Gemeinen das Edle, aus der Unform das Schöne zu entwickeln." 2 ) Das „Gemeine" erklärt ein anderer Spruch als „das Zufällig-Wirkliche, an dem wir weder ein Gesetz der Natur noch der Freiheit für den Augenblick entdecken". 3 ) Italien lehrt ihn die Methode, das Auffinden des Gesetzlichen, der Einheit in der Mannigfaltigkeit und die Verwandtschaft von Naturwissenschaft und Kunstbetrachtung, von Schöpferkraft der Natur und Schaffenstrieb des Künstlers. „Wodurch unterscheidet sich denn also der Künstler, der auf dem rechten Wege geht, von demjenigen, der den falschen eingeschlagen hat? Dadurch, daß er einer Methode bedächtig folgt, anstatt daß jener leichtsinnig einer Manier nachläuft. Der Künstler, der immer anschaut, empfindet, denkt, wird die Gegenstände in ihrer höchsten Würde, in ihrer lebhaftesten Wirkung, in ihren reinsten Verhältnissen erblicken . . . Das Resultat einer echten Methode nennt man Stil im Gegensatz der Manier. Der Stil erhebt das Individuum zum höchsten Punkt, den die Gattung zu erreichen fähig ist, deswegen nähern sich alle großen Künstler einander in ihren besten Werken."*) Dasselbe ist gemeint, wenn wir lesen, Kunst sei der „Ausdruck des reinen Daseins"*), oder an anderer Stelle: „Ideal. Um hierher zu gelangen, bedarf der Künstler eines tiefen, gründlichen, ausdauernden Sinnes, zu dem aber noch ein hoher Sinn sich gesellen muß, um den Gegenstand in seinem ganzen Umfange zu übersehen, den höchsten darzustellenden Moment zu finden und ihn also aus seiner beschränkten Wirklichkeit herauszuheben." 6 ) Ganz ähnlich ein andermal: „Die Kunst übernimmt nicht, mit der Natur in ihrer Breite und Tiefe zu wetteifern . . . sie hat ihre eigene Tiefe, ihre eigene Gewalt; sie fixiert die höchsten Momente ») W . A. III, i, 89. *) Kunst u. Altertum. 1823. Max. u. Refl. 191. *) Kunst u. Altertum. 1821. Max. u. Refl. 103. *) Anmerkungen zu Diderots Versuch über die Malerei. II. Kap. Ideen über die Farbe. W . A. I, 45, 309 f. 5 ) Reise in die Schweiz. 1797. Lesarten. 3. Faszikel. W . A. I, 3 4 1 2 5 . "J Über Laokoon. W . A. I, 47, 102 f.

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dieser oberflächlichen Erscheinungen, indem sie das Gesetzliche darin anerkennt." 1 ) Dagegen tadelt er scharf die „Anarchie, die einen schwankenden Empirismus jeder geprüften und anerkannten Gesetzlichkeit vorzieht, sich mit Originalität schmeichelt und hofft, aus fortgesetztem Spielen und Pfuschen soll zuletzt ein Kunstresultat hervorgehen . . . eine Welt soll sich zufällig aus schwirrenden Elementen zusammensetzen!" 2 ) Vielleicht am deutlichsten heben folgende Worte die in der empirischen Erscheinung nur sehr getrübt zum Ausdruck kommende „Idee" als den wahren Gegenstand der Darstellung hervor: „Wahrscheinlichkeit ist die Bedingung der Kunst, aber innerhalb des Reiches der Wahrscheinlichkeit muß das Höchste geliefert werden, was sonst nicht zur Erscheinung kommt. Das Richtige ist nicht sechs Pfennige wert, wenn es weiter nichts zu bringen h a t . " 3 ) Oder, wie es in der köstlichen Kunstnovelle „Der Sammler und die Seinigen" drastisch heißt: „Lassen Sie aber auch seine Nachahmung recht gut geraten, so werden wir doch nicht sehr gefördert sein; denn wir haben nun allenfalls nur zweiBellos für einen." 4 ) Dagegen rühmt Goethe von einem Pferdekopf der „Elginischen-Marmore", „einem der herrlichsten Reste der höchsten Kunstzeit": „Es sieht so übermächtig und geisterartig aus, als wenn es gegen die Natur gebildet wäre, und doch . . . hat der Künstler eigentlich ein Urpferd geschaffen, mag er solches mit Augen gesehen oder im Geiste erfaßt haben; uns wenigstens scheint es im Sinne der höchsten Poesie und Wirklichkeit dargestellt zu sein . . . Daß uns dadurch ein neuer Natur- und Kunstbegriff mitgeteilt werde, möchte unter Einsichtigen wohl keine Frage sein." 5 ) So nah verwandt zeigen sich auch hier Goethes Natur- und Kunstbetrachtung; von hier aus führt der Weg zu Justis feiner Bemerkung, daß der „rechte Naturalismus" eigentlich direkt zum Idealismus führe. 6 ) „Bedenke man doch, daß Natur und Ideal nicht miteinander im Streit liegen, daß sie vielmehr beide in der großen lebendigen Einheit innig verbunden sind, nach der wir so wunderbar streben,, indem wir sie vielleicht schon besitzen" 7 ): in der Idee, die wir ') Wie S. 94, Anm. 4, I. Kap. Gedanken über die Zeichnung. W . A. I, 45, 260. ») An S. Boisserde, 27. Mai 1817. 3 ) Relief von Phigalia. 1818. W . A. I, 49 2 , 18. 4 ) Der Sammler und die Seinigen. W . A. I, 47, 170. *) Naturwissenschaftliche Einzelheiten. Aus dem Nachlaß. W . A. 8 II, 12, 147. ) C. Justi, Winckelmann. II, 2, S. 147. Nach E . Spranger, W . von Humboldt und die Humanitätsidee. Berlin 1909, S. 164. ') Weimarische Kunstausstellung vom Jahre 1801. W. A. I, 48, 56.

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in uns tragen und die der Schaffende nach außen darzustellen getrieben ist. In diesem Sinne nennt Goethe die „Elginischen Marmore" an anderer Stelle „die Meisterbilder des Höchsten in der plastischen Kunst". 1 ) Ein Aufsatz „Über die Gegenstände der bildenden Kunst" von 1797 nennt als erste Gattung von Gegenständen die „natürlichen". „Die zweite Gattung ist die idealische selbst; man ergreift nicht den Gegenstand wie er in der Natur erscheint, sondern man faßt ihn auf der Höhe, wo er von allem Gemeinen und Individuellen entkleidet nicht durch Bearbeitung erst ein Kunstwerk wird, sondern der Bearbeitung schon als ein vollkommen gebildeter Gegenstand entgegengeht . . .", also nicht, wie ihn die „gemeine" Erfahrung, sondern wie ihn der Künstler •erblickt, der in das Wesen, das Gesetz der Erscheinungen eingedrungen ist. Die Wahrheitsliebe, die als Erstes und Letztes vom Genie gefordert wird, ist der tiefste Erkenntnisdrang. „Jene [die natürlichen Gegenstände] erzeugt die Natur, diese [die idealischen, das was hier das eigentliche „ästhetische Objekt" genannt worden ist] der Geist des Menschen in der innigsten Verbindung mit der Natur; jene erhebt der Künstler durch mechanische Bearbeitung zu einer gewissen Würde, bei dieser ist alle mechanische Behandlung kaum fähig, ihre Würde auszudrücken . ." (S. 92). „Die auf diese Weise dargestellten Gegenstände scheinen bloß für sich zu stehen und sind doch wieder im tiefsten bedeutend, und das wegen des Idealen, das immer eine Allgemeinheit mit sich führt. Wenn das Symbolische außer der Darstellung noch etwas bezeugt, so wird es immer auf indirekte Weise geschehen." 2 ) „Bedeutend" braucht Goethe hier wie oft gleich symbolisch. 3 ) Stets von neuem hat er es ausgesprochen, daß die Symbolik, so wie er sie meinte, sich nicht in Allgemeinheit verflüchtige, sondern die ganze Fülle lebenswahren, mit Wirklichkeit gesättigten und doch überwirklichen Gebildes atme: „Das ist die wahre Symbolik, wo -das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum oder Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung ') Verein der deutschen Bildhauer. 1817, erst W . A. gedruckt, I, 4 9 6 0 . s ) W . A. I, 47, 91 f., erst hier gedruckt. 3 ) R . M . M e y e r , Studien zu Goethes Wortgebrauch, Herrigs Archiv Bd. 96 S. 28 erklärt „bedeutend" bei Goethe als „alles, was auf ein tieferes, tiefstes Sein deutet"; vgl. E . A. B o u c k e , Wort und Bedeutung in Goethes Sprache, Berlin 1901, S. 130.

G o e t h e s Urphänomen und die platonische Idee.

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des U n e r f o r s c h l i c h e n . " D a s echte Kunstwerk spricht in gleicher Weise zu den Sinnen wie zur Vernunft im höchsten Sinne: „Es gibt nur ein Licht, uns hier zu leuchten . . . die Vernunft" heißt es in dem Kunstgespräch „Der Sammler und die Seinigen". 2 ) „Der Künstler hat bewunderungswürdig geistreich . . . dem Beschauer ein Kunstwerk überliefert, welches, dem Auge an und für sich erfreulich, den inneren Sinn aufruft, das Nachdenken aufregt und zuletzt einen Begriff ausspricht, ohne sich darin aufzulösen oder zu verkühlen." 3 ) Wir müssen bedauern, daß Goethes läßlicher Sprachgebrauch ihn hier vom Begriff reden läßt, wo er so deutlich die „Idee" im Sinne hat.4) Schiller versteht ihn richtig, wenn er ihm schreibt: „Und was Sie in der Einleitung zum Laokoon sagen, daß in einem einzelnen Kunstwerk die Kunst ganz liege 5 ), so glaube ich, muß man alles Allgemeine in der Kunst wieder in den besonderen Fall verwandeln, wenn die Realität der Idee sich bewähren soll." 6 ) Im Kunstwerk kommt das in der Idee nur Geforderte zu individueller und damit konkreter Anschauung und so zu annähernder Erfüllung. Dies aber war „im Worte Idee eigentlich von Anfang an angelegt; es entstammt selbst der ästhetischen Richtung des Erkennens, die gerade hierin sich als die in Plato wirklich vorwaltende bestätigt. . . . Die Idee vertrat zwar auch schon bei Plato zugleich das höchst Allgemeine, nämlich nicht bloß das Gesetz, sondern das Gesetz des Gesetzes, die Methode; aber dies Allgemeine wurde in ihr dennoch zugleich d a r g e s t e l l t gedacht in einem Individuellen; gerade das aber ist das Eigene der künstlerischen Objektsetzung". 7 ) Mir scheint auch Stewart diese annähernde und doch nie völlig adäquate Verkörperung des Überindividuellen ») Kunst u. Altertum. 1826. Max. u. Refl. 314. *) W . A. I, 47, 171 f. ») R u y s d a e l als Dichter. 1813. W . A. I, 48, 162. 4) In „Der Sammler und die Seinigen" entwickelt der Philosoph die Stufenleiter des Kunstwerks: D i e „Nachahmung" wird als wertlos verworfen, aber auch die Darstellung des „Begriffs" befriedigt nicht; der menschliche Geist will weiter, wohin die „Vernunft" ihn führt, und von der H ö h e des „Stils", des „Idealen" senkt sich der W e g wieder zum Individuellen. „ E i n schönes Kunstwerk hat den ganzen Kreis durchlaufen; es ist nun wieder eine Art Individuum, das wir mit Neigung umfassen . . . können." W . A. I, 47, bes. S. 173 ff. 5) Die Stelle lautet: „ W e n n man von einem trefflichen K u n s t w e r k e sprechen will, so ist es fast nötig, von der ganzen Kunst zu reden denn es enthält sie ganz." W . A . I, 47, 101. •) Schiller an Goethe, 21. Juli 1797.

1911.

*) Natorp, Philosophie. S. 114.

Ihr Problem und ihre Probleme.

C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VIII, 1.

Göttingen 7

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in einem neuen Individuum, dem Kunstwerk, im Auge zu haben, wenn er mit Bezug auf den „Staat" VI, 501 B sagt: „In Plato's language the artist is always looking away from . . . the actual picture to the „ideal pattern" and then again back from the pattern to the picture." 1 ) Der Künstler soll „das prosaisch Reelle" zum „künstlerisch Symbolischen erheben" 2 ), ja die höchste Stufe der Kunst ist Symbolik, solange diese nicht zur frostigen Allegorie wird, die nur das Allgemeine verkörpern will und der der Eigenwert des Individuellen fehlt. Daß man Allegorien anstatt Symbolik darin suchte, hat jahrzehntelang den Zugang zum II. Teil des Faust versperrt. 3 ) A m klarsten und dem Sinne Piatos am nächsten kommend umschreibt Goethe das Verhältnis von Erscheinung, Idee und Symbol so: „Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und selbst in allen Sprachen ausgesprochen doch unaussprechlich bliebe." 4 ) Ganz so sollte der Magnet als Urphänomen ein Symbol sein, nämlich „die Sache ohne die Sache zu sein und doch die Sache". 5 ) „Alles ist ja nur symbolisch zu nehmen, und überall steckt ja noch etwas anderes dahinter. Jede Lösung des Problems ist ja nur ein neues Problem.'") W i e in der Naturforschung „dem Genie ein Fall

für tausend" gelten sollte, nennt Goethe in einem Brief die

Handlung, die der Künstler herausgreift und darstellt, einen Fall für tausend 7 ), und diesen Symbolbegriff wandte er auf die Dichtung so gut an wie auf die bildende Kunst. Fast wörtlich so, wie die Korrespondenz mit Schiller und besonders der Aufsatz: „ E r fahrung und Wissenschaft" das „reine Phänomen" als „Resultat aller Erfahrung", als Synthese der den Erscheinungen zugrunde liegenden Gesetzlichkeit unter Ausschluß des empirisch Wankenden zum Ziel und Gegenstand der Forschung gemacht hatten, nennt Goethe „des tragischen Dichters Aufgabe und Tun . . . nichts anderes als ein psychisch-sittliches Phänomen, in einem faßlichen Experiment dargestellt". 8 ) „Symbolisch" . .., schreibt ') Stewart, a. a. O. S. 146. Über den Maler Hartmann, an Schiller, 18. März 1801. 3) Vgl. O. Pniower, Faust II, in: Dichtungen und Dichter, Berlin 1912, 6) Oben S. 71. bes. S. 82. *) Aus dem Nachlaß, Max. u. Reil. 1113. «) Oben S. 70. ') An Staatsrat Schultz, 18. Sept. 1831. •) Aus dem Nachlaß Max. u. Refl. 1050. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß diese Auffassung von Zolas „experimentierender" Kunst so weit entfernt ist wie in der Wissenschaft das Suchen nach dem „reinen Phänomen" vom Haften am isolierten Versuch. 2)

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Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

er an Schiller, „sind eminente Fälle, die in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit als Repräsentanten von vielen anderen dastehen, eine gewisse Totalität in sich schließen, eine gewisse Reihe fordern, Ähnliches und Fremdes in meinem Geiste aufregen und so von außen wie von innen an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen". 1 ) „Findet in Einem die Vielen, empfindet die Viele, wie Einen, Und ihr habt den Beginn, habet das Ende der Kunst." 2 ) Es kann hier natürlich nicht gezeigt, kaum angedeutet werden, wie Goethes Dichtung sich von einer vor der italienischen Reise aufs bloß Charakteristische gerichteten Kunstweise zur typisierenden und von dieser zur symbolisch stilisierenden erhob, ohne sich im Allgemeinen „aufzulösen oder zu verkühlen" s ); noch weniger, wie stark das platonische Element im II. Teil des Faust — nicht nur in der mythenartigen Verkörperung der „Ideen" in den „Müttern" 4 ) — hervortritt in dem Verlangen, das Goethes ganzes Schaffen durchzieht: „Und was in schwankender Erscheinung schwebt — Befestiget mit dauernden Gedanken." „Pandora" hat Wilamowitz wundervoll als platonischen Mythos gedeutet. 5 ) Er findet es zu eng, Pandora für die Schönheit erklären zu wollen, „wie es sich philosophisch auch nicht durchführen ließe. Denn die Erscheinung, in der Epimenides Pandora gesehen hat und die freilich die Schönheit war, ist nur eine von tausenden, in denen die Form sich offenbart, nach heiligen Maßen überall . . . Die Form also soll sie sein . . Das werden wir selbst nicht kürzer erklären können als wenn wir für das lateinische W o r t das griechische Idee setzen". 6 ) Ich möchte noch kurz hinzufügen, daß ich wohl weiß: Goethes Ästhetik ist nicht Piatos Ästhetik. Ohne auf diese einzugehen, will ich nur noch das sagen. W a s Plato an der Kunst tadeln zu müssen glaubt, weshalb er die Dichtung verfehmt, das läßt auch Goethe nicht als Kunst gelten. Er verwirft sie, sofern sie „Nachahmung" ist und sein will, wie die Ästhetiker bis zu seiner Zeit es haben wollten, und insofern ihr eine auflockernde, verweichlichende Wirkung innewohnt. Goethe war es, der mit der Lehre von der Kunst als Nachahmung der Natur oder des 2 ) Weissagungen des Bakis. *) 16. August 1797. W . A. I, 1, 342. 3) Vgl. B r a ß , Goethes Anschauung der Natur die Grundlage seiner

sittlichen und ästhetischen Anschauungen, Leipzig 1910. *) Vgl. zu Eckermann, 10. Jan. 1830. ") Goethe-Jahrbuch X I X , 1898, S. 1 * — 2 2 * . «) A . a. O. S. 19*.

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Schönen in der Natur und der Theorie vom gegebenen, nur zu reproduzierenden Kunstobjekt aufräumte. Und wenn er das Kunstwerk „dem Gesetz der geistigen Schönheit unterworfen" wünscht, „die durch das Maß entsteht" 1 ), so ist er darin eins mit Plato, für den das Sein der Künste bedingt ist durch die Entstehung der Maßbestimmung. „Das was den Künsten entgegensteht, ist ein Hinausschießen über das Maß und ein Zurückbleiben hinter ihm, die vneQßoXrj und die E/Ueti/Jt?".2) — Ebenso hat Goethe die Tendenz der Kunst „alles ins Schwache und Jämmerliche herunterzuziehen" 3 ), die er im höheren Alter in seiner Zeit bemerken wollte, aufs tiefste beklagt und bekämpft. 4 ) Sofern aber das, was Plato gern fördern möchte, „eine Kunst, eine Literatur" ist, „von der man neben anderem das aussagen kann, daß sie eine gewisse Anstrengung des Lesers, des Zuschauers fordert" 5 ), so ist das völlig in Goethes Sinn, der von seinen Lesern verlangt: „Suchen sie doch die physischsittlich-ästhetischen Rätsel, die in meinen Werken mit freigebigen Händen ausgestreut sind, sich anzueignen und sich in ihren Lebensrätseln dadurch aufzuklären." 6 ) Er wünscht nichts mehr als Leser, die zu „supplieren" verstehen 7 ), die „eine Welt zur W e l t " mitbringen. 8 ) Und wenn Plato die Ästhetik auf Ethik zurückführt, das Kriterium des Guten zu dem des Schönen macht, so ist ihm Goethe auch darin nicht so fern wie man glauben möchte. Wohl ist er lebenslang ein Feind aller Didaktik der Poesie, alles Hineintragens fremder Zwecke in die Kunst gewesen: „Wir kämpfen um die Vollkommenheit des Kunstwerks in und an sich selbst ; jene denken an dessen Wirkung nach außen, um welche sich der wahre Künstler gar nicht bekümmert." 9 ) Aber in dieser Vollkommenheit des autonomen Kunstwerks an und für sich sah auch Goethe ein sittliches Moment eingeschlossen. Er war bis in die Wurzel seines Seins pädagogisch gesonnen und gerichtet und hat als Dichter je älter er wurde desto mehr seine Mission als Erzieher seines Volkes gefühlt, wie Walter von ') Ü b e r Laokoon. W . A . I, 47, 103. H a r t m a n n , Piatos L o g i k des Seins. S. 406. 3 ) A n Zelter, 12. Febr. 182g. *) V g l . den Brief an Melchior Meyer, 22. Jan. 1832 (Beilage); zu Eckermann, 24. Sept. 1827; so noch oft. 8) W . P a t e r , Plato und der Piatonismus. A u s dem Englischen über6) A n Zelter, 4. Dez. 1827. tragen von H. Hecht. Jena 1904. S. 332. ') A n Riemer, 29. Dez. 1827; vgl. Riemer, Mitteilungen über Goethe, 8 2, 568 fr. ) Maskenzug 1818; W . A. I, 16, 280. B) An Zelter, 29. Jan. 1830, u. oft ähnlich. s)

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

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der Vogelweide, Gottfried Keller, Ibsen empfunden haben. „Alle Poesie soll belehrend sein, aber unmerklich . . . er [der Leser] muß die Lehre selbst daraus ziehen wie aus dem Leben." 1 ) A m deutlichsten tritt uns Goethes Ansicht entgegen in einer Bemerkung über Herder: „. . . Und so schnurrt auch wieder durch das Ganze die alte halbwahre Philisterleier, daß die Künste das Sittengesetz anerkennen und sich ihm unterordnen sollen. Das erste haben sie immer getan und müssen es tun, weil ihre Gesetze so gut als das Sittengesetz aus der Vernunft entspringen; täten sie aber das zweite, so wären sie verloren", weil sie dann zum „Nützlich-Platten" herabsänken. 2 ) Er nennt es die „unerläßliche Forderung des gebildeten Menschen, Schönheit und Sittlichkeit im Einklänge zu sehen" 3 ), und ein andermal sagt er „Eine Ahnung des Sittlich-Höchsten will sich durch die Kunst ausdrücken und man bedenkt nicht, daß nur das Sinnlich-Höchste das Element ist, worin jenes sich verkörpern kann." 4 ) Ich habe mir absichtlich die Beschränkung auferlegt, Kant und die Einwirkung seiner Philosophie auf Goethe nicht zu erwähnen. Hier aber kann ich mir den Hinweis darauf nicht versagen, wie gern Goethe mit Kant und wie sehr er damit mit Plato ging, als er in der Kritik der Urteilskraft Schönheit als Symbol der Sittlichkeit ausgesprochen und das Gemeinsame in der Form der unbedingten Gesetzlichkeit anerkannt sah. 4 ) Die Einheit von Schönheit und Sittlichkeit und ebenso die von Natur und Geist, die er in früheren Jahren naiv als einfach vorhanden angenommen haben mochte, war Goethe zur unendlichen Aufgabe geworden und blieb es bis an sein Lebensende: „Wir leben in einer Zeit, da wir uns täglich mehr angeregt fühlen, die beiden Welten, denen wir angehören, die obere und die untere, als verbunden zu betrachten, das Ideelle im Reellen anzuerkennen und unser jeweiliges Mißbehagen mit dem Endlichen durch Erhebung ins Unendliche zu beschwichtigen." 6 ) Goethes Dichterwelt spiegelt, wie er von seinen Divangedichten sagt „ . . . Liebe, Neigung zwischen zwei Welten schwebend, alles ') An Zelter, 26.-29. Nov. 1825 (Beilage). 2) An H. Meyer, 20. Juni 1796. 3) Polygnots Gemälde. 1804. W. A. I, 48, 110. *) Biographische Einzelheiten. Letzte Kunstausstellung. 1805. W. A. I, 36, 267. *) Einwirkung der neueren Philosophie. 1820. W. A. II, 11, 50 f. ') Zur Morphologie. Verfolg. Aphoristisches. 1831. W. A. II, 6, 347 f.

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Reale geläutert, sich symbolisch auflösend" 1 ), in jenem Sinne, in dem uns das Symbol als „Manifestation der Idee" erschien. Mir lag daran, so die „Idee" im platonischen Sinne als das „Urphänomen" des Schönen, das ästhetische Objekt des Kunstwerks in Goethes Auffassung zu erweisen, wie sie sich als der letzte Gegenstand seiner Naturforschung enthüllte. 2 )

IX. Unausgesprochen scheint eine ähnliche Auffassung vorzuliegen, wenn Harnack den „prägnanten Moment" als Vorwurf des Kunstwerks in Goethes Auffassung und die Vereinigung von Typischem und Singulärem darin hervorhebt 3 ) und wenn E. A. Boucke zeigt, daß das Kunstwerk für Goethe „das gesetzmäßig Lebendige in seiner größten Tätigkeit und Vollkommenheit" verewigt. 4 ) Siebeck spricht es fast aus wenn er sagt: „Die Kunst verhilft der Natur letzten Endes erst zu ihrem wirklichen Verständnis, indem sie die in ihr liegende Vollkommenheit unmittelbar zur Anschauung bringt." 5 ) O. Walzel in seiner tiefgreifenden Einleitung zu Goethes Schriften zur Literatur 6 ) geht auf Diltheys Spuren sehr glücklich den Zusammenhängen Goethischer Kunstauffassung mit Shaftesbury nach, stellt den Begriff der „inneren Form" und den Organismusgedanken in den Mittelpunkt der Goetheschen Kunstlehre und glaubt dann, damit dargetan zu haben, „wie weit der Weg von Piaton zu Goethe ist". 1 ) Ich glaube nicht, ') An Zelter, ti. Mai 1820. *) Der mir nach Abschluß dieses Kapitels bekannt gewordene Aufsatz „Das ästhetische Urphänomen" von Broder Christiansen, Logos, Bd. 2, 1911—12, Heft 3, Tübingen 1912, nimmt von Goethe nur den Ausgangspunkt, um als ästhetisches Urphänomen die Spannung nachzuweisen. Auch er unterscheidet das ästhetische Objekt vom äußeren Kunstgegenstand. *) Die klassische Ästhetik der Deutschen. Leipzig 1892, bes. S. 157 bis 188, ganz bes. S. 165 u. 168. Ders., Goethe in der Epoche seiner Vollendung. 3. A. 1905. S. 146fr. *) Goethes Weltanschauung, S. 431. ») A. a. O. S. 85. *) Cottasche Jubil.-Ausgabe, Bd. 36. ') A. a. O. Anm. S. 302. Die Stelle bei G o m p e r z , Griech. Denker, 2. Bd. 2. Aufl. 1903, S. 574, auf die Walzel zur Vergleichung von Goethe und Plato hinweist, nennt Piatos Forderung im Phädrus, die Form der Rede müsse eine organische Einheit besitzen, die erste Vergleichung eines literarischen Kunstwerks mit einem Organismus, wie sie sich dann bei Goethe wiederfindet.

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Reale geläutert, sich symbolisch auflösend" 1 ), in jenem Sinne, in dem uns das Symbol als „Manifestation der Idee" erschien. Mir lag daran, so die „Idee" im platonischen Sinne als das „Urphänomen" des Schönen, das ästhetische Objekt des Kunstwerks in Goethes Auffassung zu erweisen, wie sie sich als der letzte Gegenstand seiner Naturforschung enthüllte. 2 )

IX. Unausgesprochen scheint eine ähnliche Auffassung vorzuliegen, wenn Harnack den „prägnanten Moment" als Vorwurf des Kunstwerks in Goethes Auffassung und die Vereinigung von Typischem und Singulärem darin hervorhebt 3 ) und wenn E. A. Boucke zeigt, daß das Kunstwerk für Goethe „das gesetzmäßig Lebendige in seiner größten Tätigkeit und Vollkommenheit" verewigt. 4 ) Siebeck spricht es fast aus wenn er sagt: „Die Kunst verhilft der Natur letzten Endes erst zu ihrem wirklichen Verständnis, indem sie die in ihr liegende Vollkommenheit unmittelbar zur Anschauung bringt." 5 ) O. Walzel in seiner tiefgreifenden Einleitung zu Goethes Schriften zur Literatur 6 ) geht auf Diltheys Spuren sehr glücklich den Zusammenhängen Goethischer Kunstauffassung mit Shaftesbury nach, stellt den Begriff der „inneren Form" und den Organismusgedanken in den Mittelpunkt der Goetheschen Kunstlehre und glaubt dann, damit dargetan zu haben, „wie weit der Weg von Piaton zu Goethe ist". 1 ) Ich glaube nicht, ') An Zelter, ti. Mai 1820. *) Der mir nach Abschluß dieses Kapitels bekannt gewordene Aufsatz „Das ästhetische Urphänomen" von Broder Christiansen, Logos, Bd. 2, 1911—12, Heft 3, Tübingen 1912, nimmt von Goethe nur den Ausgangspunkt, um als ästhetisches Urphänomen die Spannung nachzuweisen. Auch er unterscheidet das ästhetische Objekt vom äußeren Kunstgegenstand. *) Die klassische Ästhetik der Deutschen. Leipzig 1892, bes. S. 157 bis 188, ganz bes. S. 165 u. 168. Ders., Goethe in der Epoche seiner Vollendung. 3. A. 1905. S. 146fr. *) Goethes Weltanschauung, S. 431. ») A. a. O. S. 85. *) Cottasche Jubil.-Ausgabe, Bd. 36. ') A. a. O. Anm. S. 302. Die Stelle bei G o m p e r z , Griech. Denker, 2. Bd. 2. Aufl. 1903, S. 574, auf die Walzel zur Vergleichung von Goethe und Plato hinweist, nennt Piatos Forderung im Phädrus, die Form der Rede müsse eine organische Einheit besitzen, die erste Vergleichung eines literarischen Kunstwerks mit einem Organismus, wie sie sich dann bei Goethe wiederfindet.

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

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daß dies aus seinen Darlegungen erhellt, ohne daß mein bescheidener Versuch den ebenso weitsichtigen wie feinfühligen Studien dieses Forschers in bezug auf Goethe widersprechen wollte. Nur scheint mir, daß er Plato nicht genugtut. Er stützt sich hauptsächlich auf ein Wort Goethes, das ich absichtlich noch nicht herangezogen habe, um es in diesem Zusammenhange zu besprechen. Ich bringe es ausführlicher als Walzel: „Man kann den Idealisten alter und neuer Zeit nicht verargen, wenn sie so lebhaft auf Beherzigung des Einen dringen, woher alles entspringt und worauf alles wieder zurückzuführen wäre. Denn freilich ist das belebende und ordnende Prinzip dergestalt bedrängt, daß es sich kaum zu retten weiß. Allein wir verkürzen uns an der andern Seite wieder, wenn wir das Formende und die höhere Form selbst in eine vor unserm äußern und innern Sinn verschwindende Einheit zurückdrängen. Wir Menschen sind auf Ausdehnung und Bewegung angewiesen; diese beiden Formen sind es, in welchen sich alle übrigen

Formen, besonders die sinnlichen, offenbaren. Eine geistige Form aber wird keineswegs verkürzt, wenn sie in der Erscheinung hervortritt, vorausgesetzt, daß ihr Hervortreten eine wahre Zeugung, eine wahre Fortpflanzung sei." 1 ) Goethe habe damit „den Idealisten alter und neuer Zeit" vorgeworfen, daß sie „der Erscheinung durch eine Überschätzung der geistigen Form nicht gerecht würden", meint Walzel, und indem Goethe dies tat, „traf er die feine Grenzlinie, die ihn dauernd von einseitigem erkenntnis-theoretischen Idealismus geschieden hat. Sein Künstlerauge konnte die Schönheit der Erscheinung niemals dem ganz aufopfern, was hinter ihr verborgen lag: der Idee". 2 ) Aber weder ist Piatos „Idee" in eine „vor unserm äußern und innern Sinn verschwindende Einheit" zurückgedrängt, noch brauchte ihr oder ihrer Anerkennung die Schönheit der Erscheinung ganz aufgeopfert zu werden. Hätte selbst Plotin ein so abstraktes und abgelöstes Schönheitsideal gehabt, an Plato kennen wir ein anderes. Und wie Plato weiß Goethe genau: „Wahrheit selbst ist für das sinnliche Auge nicht erschaubar, sondern nur die Schönheit der Wahrheit . . . Diese stellt . . . sich dem *) A u s Makariens A r c h i v , veröffentlicht 1829, Max. u. Refl. 642 u. 643, geschrieben 1805 im Anschluß an die Verdeutschung einer lateinischen Übersetzung von Plotins Enneaden. V g l . Goethes Briefe an Zelter vom 1. Sept. und v o m 12. O k t . 1805 über sein Studium des „wunderbaren alten Mystikers". 5) A . a. O . S. L X X V .

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hellsten körperlichen Sinne dar, und unter der bildhaften Gestalt birgt sich nicht, sondern offenbart sich gerade die Wahrheit selbst — so wie sie überhaupt nur sich offenbaren kann". 1 ) „Das Wahre ist gottähnlich; es erscheint nicht unmittelbar, wir müssen es aus seinen Manifestationen erraten." 2 ) „ E s ist nicht immer nötig, daß das Wahre sich verkörpere, schon genug, wenn es geistig umherschwebt und Übereinstimmung bewirkt; wenn es wie Glockenton ernst - freundlich durch die Lüfte wogt." 3 ) „Und Deines Geistes höchster Feuerflug Hat schon am Gleichnis, hat am Bild genug." 4 ) Plato hat die Erfahrung gewürdigt als die eigentlich uns angehende Erkenntnisart 5 ); die innerweltliche Richtung festigte sich mehr und mehr in ihm, und die Immanenz der Idee in der Erscheinung war seine siegende Auffassung 6 ); in der Erzeugung des Schönen — dem Ziel des Eros — „sucht die sterbliche Natur nach Möglichkeit unsterblich zu sein, sich zu verewigen" 7 ), ohne daß die „Idee" als „geistige Form" dadurch verkürzt würde. Goethes ganzes Leben und Lehren aber hat, wenn je das eines Genius, die platonische Lehre verkündet: das Streben ist unser Teil, das Ziel ist nur in der Idee.8) „Daß du nicht ') N a t o r p in: Große Denker, S. 108, nach Phädrus 250 D. 2 ) Aus Makariens Archiv 1829. Max. u. Refl. 619. •) An Zelter, n . Sept. 1828. 4 ) Prooemion. Gott und Welt. W. A. I, 1, 73. ®) N a t o r p , Ideenlehre, S. 235; in: Große Denker, S. 124. ') N a t o r p , Ideenlehre, S. 163. ') Ebenda, S. 165. 8 ) So auch im Sittlichen, dem hier kein besonderes Kapitel mehr eingeräumt werden durfte. „In der Idee leben heißt, das Unmögliche behandeln als wenn es möglich wäre." Max. u. Refl. 262. „Fast alle Gesetze seien Synthesen des Unmöglichen." Zum Kanzler von Müller, 19. Okt. 1823. „Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen." — „Im Weiterschreiten find er Qual und Glück, Er, unbefriedigt jeden Augenblick." Nur noch eins sei erwähnt Auch im Sittlichen war ihm die Anerkennung des ewig Gesetzlichen selbst da, wo es sich zu verbergen scheint, der höchste Triumph: „Nur wenige Menschen", heißt es in Dichtung und Wahrheit — die wenigen nämlich, die den Spruch, daß alles eitel sei, als „gotteslästerlich" empfinden — ...„überzeugen sich von dem ewig Notwendigen, Gesetzlichen und suchen sich" — im Sittlichen — „solche Begriffe zu bilden, welche unverwüstlich sind, ja, durch die Betrachtung des Vergänglichen nie aufgehoben, sondern vielmehr bestätigt werden". Goethe nennt die Fähigkeit dazu etwas „Übermenschliches". W. A. I, 29, 10.

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

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enden kannst, das macht dich g r o ß ! " 1 ) Immer wieder hörten wir ihn ja sagen: „Die Idee ist ewig und einzig . . . alles was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee"; in der Symbolik ist „die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar". „So im Kleinen ewig wie im Großen Wirkt Natur und Menschengeist, und beide Sind ein Abglanz jenes Urlichts droben Das unsichtbar alle Welt erleuchtet." 2 ) Wohl hat Goethe der Künstler das Allgemeine im Besonderen sehen wollen, „nicht als Traum oder Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen"; aber der Glut, mit der er die sinnliche Offenbarung liebte, drohte keine Abkühlung durch die Erkenntnis, daß alles Vergängliche nur ein Gleichnis sei, daß er in der Schönheit des Sichtbaren, im farbigen Abglanz, an dem allein wir das Leben haben, ein Unsichtbares fromm verehrte. „ W i e Natur im Vielgebilde Einen Gott nur offenbart, So im weiten Kunstgefilde Webt ein Sinn der ew'gen A r t : Dieses ist der Sinn der Wahrheit, Der sich nur mit Schönem schmückt Und getrost der höchsten Klarheit Hellsten Tags entgegenblickt. Wie beherzt in Reim und Prose Redner, Dichter sich ergehn, Soll des Lebens heitre Rose Frisch auf Malertafel stehn; Mit Geschwistern reich umgeben, Mit des Herbstes Frucht umlegt, Daß sie von geheimem Leben Offenbaren Sinn erregt." 3 ) Ein „offenbar Geheimnis" — eins der immer wiederkehrenden Lieblingsworte Goethes 4 ) — das ist, glaube ich, der beste ») 2) 3) *) „Heilig

Divan, Buch Hafis. W . A . I, 6,39. Theatervorspiel 1807. W . A. I, 13 l , 30. Wanderjahre. W . A . I, 251, 18. „Geheimnisvoll offenbar", Harzreise im Winter. W . A. I, 2, 64. öffentlich Geheimnis", Epirrhema. W . A. I, 3, 88. „Offenbar G e -

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Ausdruck für die wundersame Vereinigung von Sichtbarem und Unsichtbarem, die Goethe in der Schönheit der Erscheinungen gewahrte und liebte. Vielleicht kann man, ohne die Worte zu pressen, W . Paters Ausspruch, Plato sei ein Seher, der gleichsam mit sinnlicher Liebe am Unsichtbaren hafte 1 ), auf Goethe so anwenden: seine Liebe zum Sichtbaren sei so stark und reich gewesen, daß er auch das Unsichtbare darin mit ihr umkleidete, wärmte und trug. Ich glaube, daß die allerdings scharfe Grenzlinie, die Goethe von Plato trennt, in einem ganz anderen liegt. Bevor ich darauf eingehe, muß ich noch einige Worte sagen über die Autoren, die Goethes Urphänomen oder seinen Typusbegriff mit der platonischen Idee vergleichen, bzw. die Vergleichung ablehnen. Wenn R. Steiner „die Behauptung, daß Goethe bei seinem Typus nur an einen abstrakten Begriff im platonischen Sinne gedacht habe" 2 ), abweist, ebenso Kalischer die Auffassung, „Goethes Typus bedeute . . . nur eine Abstraktion, eine Idee, ein Urbild, das keine Realität hat" 3 ); wenn Hansen hofft, „diesen Wegen Goethes gegenüber wird die Behauptung, seine Metamorphosenuntersuchungen seien bloß platonische Ideen gewesen, wohl endlich schwinden" 4 ), so erledigt sich diese Ansicht jedesmal damit, daß die platonische Idee eben von der heutigen Forschung als etwas anderes erkannt ist denn als eine „bloße Abstraktion", die „keine Realität hat". Zu den Arbeiten, die Goethes Urphänomen, seinen Typus als Idee im Sinne der innewohnenden Gesetzlichkeit interpretieren ohne einen Bezug auf Plato, rechne ich vor allem R. Steiners eigene Abhandlungen; ebenso Moeller van den Bruck, wenn er sagt — gegenüber dem Streit um den Typus als „konkrete Stammform" — : „Eine andere Bedeutung als die einer Idee kann für uns ,Typus' . . . gar nicht haben . . . Gerade heimnis", D i v a n , Buch Hafis. W . A. I, 6, 41. „Das offenbare Geheimnis", Wanderjahre, 3. B u c h , 13. Kap., W . A. 251, 241; ebenso Belagerung von Mainz, W . A. I, 33, 285; ähnlich Max. u. Refl. 201, 551, 617; Zur Morphol. Verfolg. W . A. II, 6, 188; o f t in Briefen; auch noch: Mathematik und Mathematiker. W . A . II, 11, ioo, u. oft. ') Plato u. der Platonismus', S. 165. 2) Über G o e t h e s naturwiss. Arbeiten. Goethe-Jahrb. 12. Bd. 1891, S. 91. Steiner macht offenbar keinen Unterschied zwischen Begriff und Idee bei Plato; eine andere S t e l l e , w o er von der „platonischen I d e e " im Sinne einer blassen Abstraktion spricht, kann ich nicht mehr feststellen. ') A . a. O. L X I V .

4)

A. a. O. S. 291.

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

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diejenigen Biologen, die sich unter ihrer .Stammform' eine bestimmte Form vorstellen und aus ihr womöglich die ganze Welt erklären, bleiben im Endlichen befangen . . . Goethe faßte das Werden nicht als das Sein selbst auf und damit die Welt nicht als zeitlich und räumlich begrenzt . . . sondern als ewig und unbegrenzt und das Werden nur als eine Form des Seins . . ." x ) Eben diesem Sein des Werdens gilt echt platonisch sein Forschen: „Wohl ist alles in der Natur Wechsel, aber hinter dem Wechselnden ruht ein Ewiges" 2 ); ein Ewiges, das zugleich für uns ein Unendliches ist. E. A . Boucke, dessen tiefdringendes Buch „Goethes Weltanschauung auf historischer Grundlage" Goethes ganze Anschauungs- und Forschungsweise als dynamisch-organisch im Gegensatz zu mechanisch - atomistisch erweisen und an die Geistesart ähnlich Gerichteter anschließen möchte, findet „Piatos Philosophie im allgemeinen für eine Geschichte dynamischer Theorien wenig ergiebig" 3 ) und nimmt auf folgende Weise zu dem Verhältnis von Piatos Ideenlehre zu Goethes Forschungsmethode Stellung. Goethe beantworte die Frage nach der Möglichkeit der Vereinigung von Sein und Werden, „indem er unter Verzicht auf metaphysische Bestimmungen an Stelle des Seins den Begriff des Typus setzt und das Werdende als die Erscheinungsform des Typus erklärt. Es gibt ein Bleibendes, ein Sein, aber dieses besteht weder in der platonischen weltfernen Idee noch in Kants unerkennbarem Ding an sich, sondern es ist die im Spiel des Werdens an der Erscheinung sich offenbarende Gattungsidee oder Urform. Indem das Seiende wird, erscheint es; oder umgekehrt, die Erscheinung ist die sichtbare Form des werdenden Seins". 4 ) Mir scheint er damit in der Tat Goethes Typus als eben das anzusprechen, als was die „Idee" uns heute gilt: nicht als „weltfern", sondern in der Tat als im Werden sich offenbarend, sich verwirklichend. Im platonischen Philebos hat das Werden den positiven Sinn der yivEoig «V ovoiav, es besagt das Werden zum Sein, „das Hervorgehen, das Entstehen des bestimmten Seins, bestimmt nach Maßgabe eines Gesetzes der Bestimmung" 5 ), und zwar allemal eines speziellen Gesetzes. „Die Idee verwirklicht sich und bewirkt damit das Werden und konkrete M o e l l e r v a n d e n B r u c k , Die Deutschen. Unsere Menschheitsgeschichte. 6. Bd. Goethe. Minden i. W . 1904. S. 125 f. 2) Zum Kanzler von Müller, 15. Mai 1822. 3) A. a. O. S. 26. 4) A. a. O . S. 251. 5) N a t o r p , Ideenlehre, S. 308f.

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Sein nach M a ß g a b e d e r I d e e n , d. i. der besonderen G e s e t z e , w e l c h e in einem längst b e k a n n t e n , sinnfälligen, der anschaulichen V o r f ü h r u n g der S c h ö p f u n g daher besonders a n g e m e s s e n e n Gleichnis als die Musterbilder bezeichnet w e r d e n , nach denen das G e s c h e h e n in der W e l t sich g e s t a l t e . " *) D a s eben scheidet Plato von seinem L e h r e r P a r m e n i d e s : das Sein der E l e a t e n war nicht f ü r das W e r d e n d a , sondern im G e g e n s a t z dazu. Im platonischen „ P a r m e n i d e s " wird die irrige A u f f a s s u n g der Ideenlehre zurückgewiesen, die xivrjoig und azaaiQ, B e w e g u n g und Stillstand, und damit W e r d e n und Sein isoliert und so w e d e r das eine noch das andere als wahrhaft seiend zu erfassen vermag. D a s P r o b l e m lag für den reifen Plato in der F r a g e , wie beide zu vereinigen seien, und die L ö s u n g war angebahnt mit der Erkenntnis, „ d a ß man wohl die xivrjatg als oxdoifiov bezeichnen dürfte, d. h. als etwas, w a s ,zum S t e h e n k o m m e n kann' ". 2 ) „ D i e Idee m u ß n o t w e n d i g beide E l e m e n t e in sich vereinigen; sie m u ß ozäaig sein, weil sie Identität, logische Beharrung sein muß. A b e r sie m u ß auch xivrjaig sein, weil sie eine unendliche Mannigfaltigkeit von B e ziehungen eingehen m u ß — mit allem, was seiner N a t u r nach nur irgend Idee w e r d e n kann."« 3 ) Sein und W e r d e n sind für P l a t o zur untrennbaren Korrelation g e w o r d e n : das A l l ist „ u n b e w e g t u n d b e w e g t " (Soph. 249 D.) d. h., e s ist und wird. „ W a s die Idee ,vollkommen i s t ' , das sollen die D i n g e annähernd s e i n . " 4 ) Ja, das g e s a m t e W e r d e n „ w i r d " nur u m d e s g e s a m t e n Seins willen (Phil. 54B), und das Sein ist, v o m S t a n d p u n k t des W e r d e n s , nur zu verstehen als das „ n o t w e n d i g e S e i n des W e r d e n s " . D i e F r a g e , welches von beiden Z w e c k und w e l c h e s Mittel sei, hieße fragen, ob die Schiffsbaukunst w e g e n der Schiffe oder u m g e k e h r t diese um jener willen da seien. 5 ) D i e Idee offenbart sich bei Plato immer mehr als Prinzip f ü r die D i n g e , nur e b e n als F o r d e r u n g , als Schaffen, als V o l l z u g der Einheit, als das zu E r d e n k e n d e , nicht als G e g e b e n h e i t . A u ß e r h a l b der K o r r e l a t i o n mit d e m Erscheinenden verlöre die Idee j e d e n W e r t , ja ihr Sein. „ S i e war v o n vornherein darauf a n g e l e g t und hatte darin und nur darin ihre Berechtigung, d a ß sie d e m Bereich der Daseinserkenntnis zur G r u n d l a g e d i e n e . " 8 ) D a s ist auch der Sinn der Metapher von der Idee als „ V a t e r " ') -) 4) 6)

N a t o r p , Ideenlehre, S. 341. Hartmann, a. a. O. S. 129. *) Hartmann, a. a. O. S. 357. Hartmann, a. a. O. S. 220, vgl. S. 225. Vgl. Hartmann, a. a. O. S. 394. *) Hartmann, a. a. O. S. 323.

G o e t h e s U r p h ä n o m e n und die p l a t o n i s c h e

Idee.

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im Timaios. Die Begründung einer konkreten Wissenschaft vom Werdenden auf der Grundlage der Ideen ist das Problem der platonischen Schriften auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Plato konnte freilich nur ihren Begriff antezipieren, aber sie mit den Mitteln seiner Zeit noch nicht ins Werk setzen, so sehr er auch nach dem Exakten strebte. Boucke lehnt denn auch die Vergleichung Goethes mit Plato nicht wie die andern a limine ab, sondern zieht sie selbst mit folgender Einschränkung: „Auch Piatos Ideen sind Urbilder der Erfahrungswelt und nur dem geistigen Schauen zugänglich. Aber Plato legt alles Gewicht auf die logische Wahrheit und strahlende Reinheit dieser Gattungsbegriffe, die in unwandelbarem Sein beharren und deren trübe Abbilder unsere Sinnenwelt ausmachen. Goethe denkt vielmehr an ein schöpferisches Prinzip, das sich in der unendlichen Fülle der empirischen Formen auswirkt und doch jedem einzelnen Wesen eine abgeschlossene Individualität verleiht. Es ist gleichsam eine biologische Umdeutung der platonischen Ideenlehre." 1 ) Es ist aber durch und durch platonisch, wenn Goethe „die Wirklichwerdung der Ideen Gottes" „die wahre Wirklichkeit" nennt. 2 ) Es ist auch platonisch, wenn Goethe hier so häufig „Gott" mit der „Natur" als Schöpferin, Künstlerin, Mutter alles Lebens gleichwertig gebraucht. 3 ) Vielleicht hat Goethe die Auffassung des Alls als eines „lebendigen und vernunftbegabten Wesens", eines vor)xbv QCOOV aus dem platonischen Timaios, im Sinn — Philebos und Staatsmann, wo die Auffassung auch anklingt, kannte er wohl nicht — wenn er am 17. Juli 1828, nach dem Tode Karl Augusts, an Beulwitz schreibt . . So war es vor, so wird es nach uns sein, damit das hohe Wort eines Weisen erfüllt werde, welcher sagt: Die vernünftige Welt ist als ein großes, unsterbliches Individuum zu betrachten, das unaufhaltsam das Notwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das Zufällige zum Herrn macht." 4 ) Wenn Boucke an jener Stelle aber fortfährt. „Die Erscheinung ist so vollkommen wie die Idee", so vergewaltigt er Goethe damit ganz gewiß. Dies kann für Goethe weder von den ein2) Zu R i e m e r , 11. D e z . 1811. ') A . a. O . S . 254. *) V g l . bes. d e n a p h o r i s t i s c h e n H y m n u s G o e t h e - T o b l e r s „ D i e N a t u r " ,

W . A . II, i i , S. 5 f. 4) D e r A u s s p r u c h ist a u c h in die „ B e t r a c h t u n g e n im S i n n e der W a n d e r e r " a u f g e n o m m e n , M a x . u. Refl. 444. In der A n m e r k u n g zitiert H e c k e r auch die Briefstelle, aber ohne E r k l ä r u n g .

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zelnen individuellen Erscheinungen noch auch von ihrer G e samtheit gelten. „Kein organisiertes Wesen ist ganz der Idee, die zugrunde liegt, entsprechend, hinter jedem steckt die höhere Idee" 1 ), und, noch allgemeinerund eindringlicher: „Das Wahre, mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen. Dieses gilt von allen Phänomenen der faßlichen W e l t . " 2 ) Uns ist einzig vergönnt, „ E r leuchtetes zu sehen, nicht das L i c h t " , wie es in der Pandora heißt 3 ), geradezu an das warnende Gleichnis Piatos von den durch das Schauen in die Sonne Geblendeten erinnernd. 4 ) Die Idee war für Goethe „ewig wirksam und unerreichbar". Genug Zeugnisse sind dafür erbracht worden. Merkwürdigerweise findet sich eine völlig durchgeführte Vergleichung des Goetheschen Gesetzes der Pflanzenmetamorphose als eines „Urphänomens" mit Piatos Idee in dem Werkchen eines Goethe persönlich nahestehenden Zeitgenossen. Johannes F a l k s , des Satirikers und Menschenfreundes „Osterbüchlein" s ) will einen „Schlüssel zu dem platonischen Märchenbüchlein" geben und nennt sein 3. Kapitel „ V o n den göttlichen Urbildern und deren Bezug auf die Metamorphose der Pflanzen". Die Ausführungen sind zu lang, auch wohl zu kraus und überschwänglich, als daß ich hier selbst nur das Wesentlichste herausschälen dürfte; doch sei es gestattet, wenigstens einen Satz daraus anzuführen, in dem Falk ausspricht, was er mit überraschendem Tiefblick als das Gemeinsame in Piatos und Goethes Auffassung erkennt: „Die Idee ist nicht in der Natur, sie ist das Erschaffende selbst . . . nicht das Wesen des Scheins, sondern das Urwesen ewiger Vollkommenheit und daher auch weit makelloser als das Erschaffene, dem Zeit und Raum von allen Seiten beengende Fesseln anlegen". 6 ) Harnack in seinem Werk „Goethe in der Epoche seiner Vollendung" berührt das Verhältnis zu Plato gar nicht; ebensowenig Kronenberg, der in seiner „Geschichte des deutschen *) Zum Kanzler von Müller, 7. Mai 1830. ) Versuch einer Witterungslehre, 1825. W . A . I I , 12, 74. 4 ») W . A. I, 40, 340. ) Phädon 99 E . ®) J o h a n n e s F a l k s auserlesene Werke. 2. Teil oder Osterbüchlein. Leipzig 1819. S. 267fr. •) A. a. O. S. 271. 2

Goethes Urphänömen und die platonische Idee.

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Idealismus" Goethe in die Gruppe „Der neue Spinozismus" einreiht, obgleich seine Auffassung von der Idee bei Plato deutlich die hier zugrunde g e l e g t e u n d ein Kapitel seines Werkes dem „Neuen Piatonismus" Kants, Fichtes usw. gewidmet ist. Siebeck aber, dem diese Arbeit so manche Bestätigung verdankt, sagt wenigstens in dem Kapitel „Einheitspunkt der Erkenntnis", als er über die Darstellung der „Urphänomene des Lebens" in Goethes Dichtung spricht: „Es liegt ein Stück Piatonismus in dieser Seite der Goetheschen Weltbetrachtung. Wer wie der Dichter die natürlich-objektiven Lebensformen in ihrer plastischen Reinheit und Verklärtheit aufzufassen versteht, schaut damit die Ideen der Wirklichkeit und damit auch das, worin der Wert des Lebens beschlossen liegt." 2 ) In der Schlußbetrachtung über die Farbenlehre gesellt er Goethe in seinem Bestreben, eine Gesamtanschauung der Natur herauszubilden, unter wenigen anderen Plato zur Seite. 3 ) Es bleibt noch übrig, kurz Stellung zu nehmen zu O. Meyerhofs Vortrag „Über Goethes Methode der Naturforschung". 4 ) Goethe wird darin zwar als wahrer „Platoniker" aufgefaßt, der „der echt aristotelischen Klassifikation der Tier- und Pflanzenformen durch Linné" „die echt platonische Aufstellung des Tiertypus" und die „Idee einer Metamorphose der Pflanzen" entgegengestellt habe 5 ), der aber als solcher „kein wissenschaftlicher Arbeiter im strengen Sinn" 6 ) gewesen sei. Der Verfasser stellt nämlich im Anschluß an Fries einen Gegensatz der Geistesartung philosophischer Köpfe auf, der die Geschichte der Menschheit durchziehe und den er den Gegensatz der Platoniker und Aristoteliker nennt und so kennzeichnet: „Der Platoniker verachtet die Reflexion als die leere Form des Wiederbewußtseins der Erkenntnis, der er die unmittelbare Erfassung der Wirklichkeit, das Schauen, wie Goethe sagt, gegenüberstellt. Im Bewußtsein der schöpferischen Kraft des Genies . . . sieht er das mittelbare logische Denken als eine armselige Bemühung talentloser Köpfe an, dessen er selbst zu seinem Werke nicht benötigt, ja, das die Ursprünglichkeit der künstlerischen Produktion verdirbt, vernichtet. . . . Aber wenn der Platoniker die Formen der Logik verschmäht oder verachtet, so will er doch auch die Wahrheit. Und wenn er sie nicht in, ') i.Bd. München 1909, bes. S. 31 f. ) A. a. O. S. 133. *) S. oben S. 5. A. a. O. S. 22.

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*) A. a. O. S. 62. 5 ) A. a. O. S. 39.

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S y m b o l e n verkünden, sondern geradezu aussprechen will, so bedarf er mit Notwendigkeit des Urteils. Hier tritt ihm der Aristoteliker entgegen. E r zeigt, wie alles Erkennen und Mitteilen des Denkens b e d a r f . . . " 1 ) „Aristoteles sah, daß die Gestalten, in denen sich dem W e i s e n " — Plato im Gleichnis von der Höhle — „die Ewigkeit anzukünden schien, nur die leeren F o r m e n abstrakter Begriffe waren; so verschloß er sein A u g e gegen das himmlische Licht und fand in der Erfahrung die einzige Quelle der Erkenntnis". 2 ) „Die Platoniker . . . müssen d a s Gebiet des wissenschaftlichen Erkennens, sie müssen die Reflexion meiden, wenn sie sich nicht in Widerspruch verstricken wollen. Sie wollen Ahnungen ihres Gefühls schildern und sie kleiden sie in die F o r m wissenschaftlichen Räsonnements, sie meinen die ewige Wahrheit, aber sie rätseln über die endliche. Sie begreifen nicht den Gegensatz von Gesetz und Idee, von Erscheinung und Sein, jenen Dualismus, den die Reflexion in das Welterkennen hineinwirft." 3 ) Dieser ungeheuerlichen V e r k e n n u n g Piatos gegenüber — denn was von den Piatonikern gesagt ist, soll doch wohl zuerst von Plato selbst gelten — möchte ich nach allem schon V o r gebrachten über die logische Begründung aller wahren Wissenschaft durch Plato nur weniges hinzufügen und für Meyerhofs Beispiel von der echt platonischen, aber darum für ihn unwissenschaftlichen Idee einer Metamorphose der Pflanzen gegenüber der „echt aristotelischen Klassifikation Linnes" auf das von einem modernen Fachgelehrten wie Hansen über Goethes T a t für die gesamte Wissenschaft der Botanik Gesagte zurückweisen. Der Botaniker Julius Sachs sagt, daß die Pflanzenk u n d e zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert, solange der Einfluß des Aristoteles vorwaltete, nicht einen Schritt weiter zu bringen gewesen sei. W e r gelehrt genug war, um Aristoteles zu verstehen, „richtete in der Naturgeschichte der Pflanzen nur Unheil an". 4 ) Aristoteles hat, bei aller Fülle der Empirie, auf die Wissenschaft nur hemmend gewirkt, ja „mehr Irrtum in die W e l t gesät als jemals ein Mann vor ihm oder nach ihm". 5 ) Die Autorität des „Empirikers" Aristoteles stand der von einem „Platoniker" — nämlich, wenn nicht von Plato selbst, so von seinem unmittelbaren Schüler Heraklides — aufgestellten H y p o 2) A . a. O. S. 36. s ) A. a. O. S. 46. ') A. a. O. S. 34. Julius Sachs, Geschichte der Botanik, München 1875, S. 18. 5) Chamberlain, Grundlagen des 19. Jahrhunderts 1. Aufl. S. 83. 4)

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

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these von der Bewegung der Erde 1 ) durch die Jahrhunderte hindurch wie ein Fels entgegen, weil er, Aristoteles, nicht b e greifen konnte, daß vieles „den Sinnen widerspricht und doch wahr ist", wie Goethe zu Eckermann sagte. Schopenhauer kennzeichnet den Grundcharakter des Aristoteles durch den „allergrößten Scharfsinn, verbunden mit Umsicht, Beobachtungsgabe, Vielseitigkeit und Mangel an Tiefsinn", seine Weltansicht als flach2): trotz aller Schärfe seiner Beobachtung und seines Verstandes beruhen „die aristotelischen Grundvorstellungen auf Erfahrungsschlüssen, wie sie nicht sein sollen: nämlich auf vorschnellen Verallgemeinerungen aus der nächsten rohesten Erfahrung". 3 ) Seine Naturwissenschaft setzt sich zusammen aus solchen rohen Erfahrungen und völlig abstrakten Verstandesakten, weil er nicht mit den Augen des Geistes zu schauen, nicht eine Idee zur Grundlage seiner Untersuchung zw machen und die Natur nicht zu fragen vermochte in der Qualität eines „bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt". Chamberlain gibt dafür ein charakteristisches Beispiel: „So hatte Aristoteles bemerkt, daß in einem dichten Walde der Sonnenschein runde Lichtflecken wirft; anstatt aber sich durch kindlich einfache Beobachtung zu überzeugen, daß diese Flecken Sonnenbilder und daher rund seien, konstruierte er sofort eine haarsträubend komplizierte, tadellos logische und absurd falsche Theorie, die bis auf Kepler für unanfechtbare Wahrheit galt." 4 ) Goethe hat auch dies scharf gesehen und das Verfahren des Aristoteles so charakterisiert: „Zerstreute Fälle sind aus der gemeinen Empirie aufgegriffen, mit gehörigem und geistreichem Räsonnement begleitet, auch wohl schicklich genug zusammengestellt, aber nun tritt der Begriff ohne Vermittlung hinzu, das Räsonnement geht ins Subtile und Spitzfindige, das Begriffene wird wieder durch Begriffe verarbeitet, anstatt daß man es nun deutlich auf sich beruhen ließe, einzeln vermehrte, massenweise zusammenstellte und erwartete, ob eine Idee daraus entspringen wolle, wenn sie sich nicht gleich von Anfang an dazu gesellte." 5 ) ') Natorp, Ideenlehre, S. 157; vgl. S. 363. ) Parerga und Paralipomena, Leipzig 1874, 1. Bd., S. 51. s ) Natorp, Die kosmologische Reform des Kopernikus in ihrer Bedeutung für die Philosophie. Preuß. Jahrb. 49, 1882. *) Chamberlain, Grundlagen des 19. Jahrh., 1. Aufl. S. 996 Anm. 6 ) Geschichte der Farbenlehre. 2. Abtlg. Betrachtungen über Farbenlehre und Farbenbehandlung der Alten. W . A. II, 3, 119. 2

C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VIII, 1.

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Die gewaltige Entdeckung des Kopernikus beruht nicht auf „Erfahrung", nämlich keineswegs auf neuen Beobachtungen an den Phänomenen, welche früheren Beobachtern entgangen wären. Was er radikal änderte, war die Theorie im Sinne einer „maßgebenden Betrachtung der Dinge, woraus sich alle Besonderheit der Erscheinungen ableiten und damit verstehen läßt" 1 ); was er zugrunde legte, war demnach eine Idee, wie sie nicht mit den Sinnen abzulesen, nur in der Vernunft zu erzeugen ist. Goethe hat selbst seine Entdeckung des Metamorphosengesetzes in diesem Sinn der Geistestat des Kopernikus verglichen. „Das kopernikanische System beruht auf einer Idee, die schwer zu fassen war und noch täglich unseren Sinnen widerspricht . . . Die Metamorphose der Pflanzen widerspricht gleichfalls unseren Sinnen." 2 ) So erging es Kepler, so Galilei, dessen „erstes und unbestreitbarstes philosophisches Verdienst" die „Vernichtung der aristotelischen Autorität in der Naturphilosophie" ist 3 ); so steht es mit jeder großen wissenschaftlichen Entdeckung. Empedokles von Agrigent stellte im 5. Jahrhundert v. Chr. vor aller Tatsachenerkenntnis das Selektionsprinzip als These auf, das uns heute als Darwins Entdeckung bekannt ist. 4 ) Goethe erkannte mit Recht, daß es bloß empirische Forschung, die zu bedeutenden Resultaten kommen könnte, gar nicht gibt. „Alles, was wir Erfinden, Entdecken in höherem Sinne nennen, ist die bedeutende Ausübung, Betätigung eines originalen Wahrheitsgefühls, das, im Stillen längst ausgebildet, unversehens, mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis führt. Es ist eine aus dem Innern am Äußern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen läßt. Es ist eine Synthese von Welt und Geist, welche von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Versicherung gibt." 5 ) Darum heißt, den Aristoteliker zum wahrhaft wissenschaftlichen Forscher, den Platoniker zum schwärmenden Phantasten machen, alle historische wie logische Wahrheit auf den Kopf stellen. ') N a t o r p , Die kosmologische R e f o r m etc. 2 ) Paralipomenon. W . A . II, 13, 443. 3 ) N a t o r p , Galilei als Philosoph. Phil. Mon. H e f t e 1882, S . 197, vgl. den ganzen Aufsatz. ' ) H a r t m a n n , Grundfragen S. 132. V o r l ä n d e r , Geschichte d e r Philosophie, 1. Bd. Leipzig 1908, S . 45. 5 ) A u s Wilhelm Meisters Wanderjahren. 1829. Max. u. Reil. 562.

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

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Piatos reifste Werke atmen „von der ersten bis zur letzten Zeile den Geist nüchternster Wissenschaft" und vertreten in voller Reinheit „die autonome Begründung der reinen Erkenntnis einzig in der Gesetzlichkeit des Logischen" 1 ); die Entfaltung ins Empirische als konkret-logische, empirische Gesetzesforschung wurde schon in Piatos Schule in Angriff genommen. 2 ) Auch Plotin war kein „schwärmender Idealist", der sich in leerer Spekulation ergangen wäre und die Erfahrung verächtlich zurückgelassen hätte 3 ), sondern wenn er sich die „Überschau über die großen Zusammenhänge" zur Lehraufgabe machte und die exakte wissenschaftliche Ausführung seinen Schülern überließ, so geschah es, weil er „inmitten der übergroßen Verwirrung aller philosophischen Betrachtung seiner Zeit", die „für die Erfassung des Ausgangs- und Zielpunktes der platonischen Philosophie versagte", diesen großen Zusammenhang aufrechterhalten wollte. 4 ) Die Auffassung Meyerhofs leitet aber dennoch über zu dem, was Goethe von Plato entfernt, nicht, wie dort gemeint war, mit ihm verbindet. Zwar wollte Goethe nicht „Ahnungen seines Gefühls schildern"; ihm, dem oft und ungerecht genug der einseitigste, verhärtetste Realismus nachgerühmt oder vorgeworfen worden ist, galt vielmehr immer und immer wieder als einziges Kriterium für die annähernde Richtigkeit dessen, was er gedanklich als jeweiligen Ausdruck einer Idee erarbeitet hatte und zum Versuch aufstellte, die Anwendbarkeit in der Tat der Wissenschaft. Niemand kann schärfer, als er es getan hat, jeden „traurigen Mystizismus, der das Labyrinth verwirrt" 5 ), verurteilen. Er nennt die wissenschaftliche Praxis den „Prüfstein des vom Geist Empfangenen, des von dem innern Sinne für wahr Gehaltenen".") Ein andermal will er als seine Überzeugung wiederholen, daß man auf den höheren Stufen der Wissenschaft „nicht wissen kann, sondern tun muß". 7 ) Es ist derselbe kleine Aufsatz, der zu bedenken gibt, „daß man es immer mit einem unauflöslichen Problem zu tun habe". Sein eigentliches Feld 2 ') Natorp, Ideenlehre, S. 36. ) Natorp, Ideenlehre, S. 302. ) Vgl. G . F a l t e r , Beitrag zur Geschichte der Idee. T. 1. Philon u. Plotin. Gießen 1906, bes. S. 30. 4 ) C. Horst, Plotins Ästhetik. Gotha 1905, S. 21. ®) An Ernst Meyer, 10. Sept. 1S22. *) Zur Naturwissenschaft. Besprechung von d'Alemberts Einleitung zur Enzyklopädie. 1826. W . A. II, 11, 264. 7 ) Zur Naturwissenschaft im Allgemeinen. Aus dem Nachlaß. W . A. II, 11, 143. J

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war „das fruchtbare Bathos der Erfahrung". „Durch die Pendelschläge wird die Zeit, durch die Wechselwirkung von Idee und Erfahrung die sittliche und wissenschaftliche Welt regiert." Daß die Bildung von Ideen ein Akt der schöpferischen Vernunft, der Spontaneität des Geistes war, blieb ihm, seit es ihm einmal klar geworden war, dabei immer gegenwärtig. An d'Alembert zählt er es zu den Irrtümern, die dieser im Sinne seiner Zeit an die Spitze seines Werkes gestellt habe, daß die „Ideen . . . von außen empfangen" und „die Künste . . . als Nachahmung der Natur betrachtet" würden2); ein andermal erklärt er: „Ein großes Übel in den Wissenschaften, ja überall, entsteht daher, daß Menschen, die kein Ideenvermögen haben, zu theoretisieren sich vermessen, weil sie nicht begreifen, daß noch so vieles Wissen hierzu nicht berechtigt. Sie gehen im Anfange wohl mit einem löblichen Menschenverstand zu Werke, dieser aber hat seine Grenzen, und wenn er sie überschreitet, kommt er in Gefahr, absurd zu werden. . . . Das höhere Denken, Schließen, Urteilen . . . ist nicht seine Sache". 3 ) Die Genialität von Goethes Methode liegt nicht zuletzt darin, daß er weder in der endlichen Tatsachenforschung befangen blieb noch sie im höchsten Gedankenfluge verächtlich hinter sich zurückließ. „Die Hauptsache bei allen Wissenschaften ist, daß man die Erscheinungen klar und reichlich vor sich habe und daß der Geist frei und wohlgemut darüber walte."*) Auch Goethe nahm die Urbegriffe seines Erkennens nicht auf das bloße Zeugnis der „inneren Schau" hin. Die Rechenschaft jedoch, die er für seine Methode forderte und abzulegen suchte, war nicht ihre logische Begründung, der Plato seine Lebensarbeit gewidmet hat, sondern ihre Erprobung an dem lebendigen Tun des Forschers. „Wenn man also fragt: Wie ist Idee und Erfahrung am besten zu verbinden? so würde ich antworten: praktisch! Der Naturforscher vom Handwerk hat die Pflicht, Rechenschaft zu geben, und man fordert von ihm, daß er die Pflanzen sowohl als ihre einzelnen Teile zu nennen wisse; kommt er darüber mit sich selbst oder anderen in Streit, ') A u s dem Nachlaß. Max. u. Refl. 354. W . A. II, 6,354. 2) Paralipomenon zu „ E n t w i c k l u n g der Wissenschaft". Erst in der W. A . gedruckt. W . A . II, 11, 370. ') Nov. 1828. Max. u. Refl. 614, vgl. ebenda Nr. 533, 1199, 1201. D a s Ideenvermögen schrieb Goethe gleich der F ä h i g k e i t , Urphänomene zu gewahren, der „Vernunft" zu. 4) Paralipomenon zur Farbenlehre. W. A. II, 5 2 , 298.

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so ist das Allgemein-Gesetzliche" — hier also deutlich der „Idee" gleichgesetzt — „dasjenige, was hier nicht sowohl entscheiden als versöhnen soll". 1 ) In der Wissenschaft wie sonst im Leben war ihm die T a t , wenn nicht alles — denn auch er hat der Selbstbesinnung das Wort geredet — so doch Anfang und Ende. „Auch in den Wissenschaften kann man eigentlich nichts wissen, es will immer getan sein." 2 ) Dies wissenschaftliche Tun nahm seiner Einsicht, daß Erkenntnis stets nur relativ, nur ein Fortschreiten ins Unendliche sei, jede Macht, ihn als Forschenden zu entmutigen, „. . . wie denn jeder neue Standpunkt auch zu neuen Gesichtspunkten befähigt und auf der Peripherie eines jeden Kreises unendliche zu denken sind, die in gar manchen Beziehungen untereinander stehen. Alles, was hier gewissermaßen gelobt und getadelt, gewünscht und abgelehnt worden, deutet doch auf das unaufhaltsam fortschreitende Wirken und Leben des menschlichen Geistes, der sich aber vorzüglich an der Tat prüfen sollte, wodurch sich denn erst alles Schwankende und Zweifelhafte zur löblichsten Wirklichkeit konsolidiert". 3 ) Damit ist keineswegs ausgesprochen, daß Goethe die philosophische Erwägung von der Naturforschung fernhalten wollte. Er meint, er habe „immer mit Lächeln zugesehen", wenn sie ihn „in metaphysischen Gesprächen nicht für voll ansahen". 4 ) „Man kann in den Naturwissenschaften über manche Probleme nicht gehörig sprechen, wenn man die Metaphysik nicht zu Hilfe ruft, aber nicht jene Schul- und Wortweisheit: es ist dasjenige, was vor, mit und nach der Physik war, ist und sein wird." 5 ) Jeder „Erfahrungsmann" ist ihm, „wenn etwas Tüchtiges aus ihm wird, ein philosophe sans le savoir", und er will ihm wohl „eine Art Apprehension gegen die Philosophie" durchgehen lassen, „die aber nicht in Abneigung ausarten, sondern sich in stille vorsichtige Neigung auflösen" müsse; denn „geschieht das nicht, so ist, ehe man sich's versieht, der W e g zur Philisterei betreten . . ,". 6 ) Es war ihm lieb und „von großem Nutzen", daß er „bei der Zusammenstellung seiner physikalischen Erfahrungen", wie ') Zur Morphologie. Verfolg. Aphoristisches. 1829. W . A. II, 6, 358 f. A u s Kunst und Altertum. 1827. Max. u. Refl. 415. 3) Mathematik und deren Mißbrauch. 1826. W . A. II, 11, 89. *) Italienische Reise, Rom, 12. Okt. 1787. б ) Betrachtungen im Sinne der Wanderer. 1829. Max. u. Refl. 546. •) An Jacobi. 23. Nov. 1801. а)

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er an Schiller schreibt, „etwas mehr als sonst in den philosophischen Kampfplatz hinuntersah". 1 ) Wenn er gleichwohl auf logische Erörterung verzichtete, so geschah es nicht, weil er nach Meyerhofs Worten als „Platoniker" „das logische Denken als eine armselige Bemühung talentloser Köpfe" verachtet hätte, sondern weil er die Schranke seiner Individualität weise erkannte und achtete. Das Logisch-Mathematische im engeren Sinn war ihr verschlossen, und diese Schranke ist es, die ihn von Plato trennt. Er hat sich diesem selbst einmal, halb scherzweise, nach dieser Seite hin gegenübergestellt: „Plato wollte keinen äyea>fi.exQr]xov in seiner Schule leiden; wäre ich imstande, eine zu machen, ich litte keinen, der sich nicht irgendein Naturstudium ernst und eigentlich gewählt." 2 ) „Trennen und Zählen lag nicht in meiner Natur." 3 ) Nur diese Seite der Philosophie hat er, und nur für seine eigene Person, deren Natur sie nicht gemäß war, abgelehnt: „Wenn sie sich vorzüglich aufs Trennen legt, so kann ich mit ihr nicht zurechte kommen, und ich kann wohl sagen, sie hat mir mitunter geschadet, indem sie mich in meinem natürlichen Gang störte. Wenn sie aber vereint, oder vielmehr, wenn sie unsere ursprüngliche Empfindung, als seien wir mit der Natur eins, erhöht, sichert und in ein tiefes, ruhiges Anschauen verwandelt, in dessen immerwährender avyxgiaig und dtdxgiaic wir ein göttliches Leben fühlen, wenn uns ein solches auch nicht zu führen erlaubt ist, dann ist sie mir willkommen."*) Nicht aber hielt ihn, wie ihm fast immer vorgeworfen wird, Verkennung ihres hohen Wertes von der Mathematik fern. „Ungern aber habe ich zu bemerken gehabt, daß man meinen Bestrebungen einen falschen Sinn unterschoben hat. Ich hörte mich anklagen, als sei ich ein Widersacher, ein Feind der Mathematik überhaupt, die doch niemand höher schätzen kann als ich, da sie gerade das leistet, was mir zu bewirken völlig versagt worden." 5 ) „Hier.. . . stehe ich an der Grenze, welche Gott und Natur meiner Individualität bezeichnen wollen. Ich bin auf Wort, Sprache und Bild im eigentlichsten Sinne angewiesen und völlig unfähig, durch Zeichen und Zahlen, mit welchen sich höchst begabte Geister leicht verständigen, auf l) *) 8) *) *)

25. Nov. 1795. Ital. Reise. Zweiter röm. Aufenthalt. 5. Okt. 1787. W . A. I, 32, 106. Geschichte meines botanischen Studiums. W . A. II, 6, 107. A n Jacobi, 23. Nov. 1801. Über Mathematik und deren Mißbrauch. 1826. W . A . I I , 11, 78f.

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irgendeine Weise zu operieren." 1 ) So mußte er sich „das Recht, die Natur in ihren einfachsten, geheimsten Ursprüngen sowie in ihren offenbarsten, am höchsten auffallenden Schöpfungen auch ohne Mitwirkung der Mathematik zu betrachten, zu erforschen, zu erfassen . . . gar früh schon anmaßen". „Was ich dabei geleistet, liegt vor Augen", fügt er hinzu; „wie es andern frommt, wird sich ergeben". 2 ) Allerdings hatte er selbst das „reine Phänomen", die „Erfahrung höherer Art", die er als Ziel der physikalischen Forschung aufgestellt hatte, einer „Formel" verglichen, „unter welcher unzählige einzelne Rechnungsexempel ausgedrückt werden". „Die Bedächtigkeit, nur das Nächste ans Nächste zu reihen oder vielmehr nur das Nächste aus dem Nächsten zu folgern, haben wir von den Mathematikern zu lernen, und selbst da, wo wir uns keiner Rechnung bedienen, müssen wir immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft zu geben schuldig wären." 3 ) Er stellt dann die mathematische Demonstration als untrüglich dem Beweise gegenüber, den ein kluger Redner aus Argumenten führen könnte. Aber sein Verfahren sollte nur eine Analogie des mathematischen, mit dem gleichen Ideal von Sicherheit und Genauigkeit, nicht das mathematische selbst sein, dessen einseitige Anwendung in dem Teil der Physik, der ihn allein beschäftigte, er Newton zum Vorwurf machte. „Man kann von dem Physiker, welcher die Naturlehre in ihrem ganzen Umfange behandeln will, verlangen, daß er Mathematiker sei. . . . Der Verfasser kann sich keiner Kultur von dieser Seite rühmen und verweilt auch deshalb nur in den von der Meßkunst unabhängigen Regionen, die sich in der neueren Zeit weit und breit aufgetan haben. Wer bekennt nicht, daß die Mathematik, als eins der herrlichsten menschlichen Organe, der Physik von einer Seite sehr viel genützt; daß sie aber durch falsche Anwendung ihrer Behandlungsweise dieser Wissenschaft gar manches geschadet, läßt sich auch nicht wohl leugnen.. .. Die Farbenlehre besonders hat sehr viel gelitten . . ., daß man sie mit der übrigen Optik, welche der Meßkunst nicht entbehren kann, vermengte, da sie doch eigentlich von jener ganz abgesondert betrachtet werden kann." 4 ) •) A n R . F r . Naumann, 24. Jan. 1826. (Briefkonzept.) 2 ) Über Mathematik und deren Mißbrauch. 1826. W . A . II, 1 1 , 78 f. ) D e r Versuch als Vermittler. W . A . I I , 1 1 , 3 3 . *) Farbenlehre, Did. Teil 5. Abtlg. Nachbarliche Verhältnisse. V e r hältnis zur Mathematik. W . A . II, 1, 288f. V g l . W . A . II, 4, 98 und II, 5 \ 376. 3

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Er klagt die „grenzenlosen Zauberformeln" an, „womit der Grundsatz von Polarisation des Lichts dünenartig zugedeckt wurde, so daß niemand mehr unterscheiden konnte, ob Körper oder ein Wrack darunter begraben lag". 1 ) Goethe irrte. Die heutige Forschung scheint jedoch auch Newton nicht auf der ganzen Linie recht zu geben. Wenigstens sieht sie einen Fehler Newtons oder der auf ihm fußenden Physik darin, daß diese einen „direkten Einklang" zwischen der reinen Mathematik und der physikalischen Empirie „erzwingen" wollte, wie er nicht möglich ist.2) So nennt Goethe es „eine unbestrittene Wahrheit, daß, so rein und sicher die Mathematik selbst behandelt werden kann, sie doch auf dem Erfahrungsboden sogleich bei jedem Schritte periklitiert und, ebensogut wie jede andere ausgeübte Maxime, zum Irrtum verleiten . . . kann". 3 ) Goethe hat darum die Mathematik nicht von seinem Pfad entfernen, sie von der Arbeit an dem Weltbilde, wie seine Methode es zu gestalten trachtete, nicht ausschließen wollen. Er hat bedauert, daß „die vorurteilsfreien Mathematiker, mit denen er umzugehen das Glück hatte, . . . durch andere Geschäfte abgehalten gewesen, um mit ihm gemeinsame Sache machen zu können", und er hofft, daß es „nunmehr des geistreichen Mathematikers Geschäft werden kann, selbst aufzusuchen, wo denn die Farbenlehre seiner Hilfe bedarf und wie er zur Vollendung dieses Teils der Naturwissenschaft das Seinige beitragen kann". „Überhaupt wäre es zu wünschen", setzt er hinzu, „daß die Deutschen . . . sich nach und nach gewöhnten, in Gesellschaft zu arbeiten", da es „für den Einzelnen und für die Welt viel vorteilhafter wäre, wenn mehrere zu gemeinsamer Arbeit gerufen würden". 4 ) Oft hat er, so oder ähnlich, ausgesprochen, „daß nur das Interesse mehrerer, auf einen Punkt gerichtet, etwas Vorzügliches hervorzubringen imstande sei" 5 ) und daß man „zwar von einer Seite, aber nicht einseitig" 6 ) arbeiten solle. Die Seite, von der er an die Physik heranging ') Mathematik und deren Mißbrauch. W . A. II, ir, 85. V g l . Mathematik und Mathematiker. W . A . I I , u , 101. 2) Natorp, Die logischen Grundlagen. S. 401. 3) Farbenlehre, Historischer Teil. 6. Abtlg. 18. Jahrb. W. A. II, 4, 98. 4) Farbenlehre, Didaktischer Teil, 5. Abtlg. Nachbarl. Verhältnisse. W . A. II, 1, 289 f. Vgl. oben S.42. 6) Der Versuch als Vermittler. W . A . I I , 11,25. ') Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen. Mitte der 90 er Jahre. W . A. II, 6, 298.

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und seinen Fähigkeiten nach herangehen mußte, war, „das Problem, besonders wenn es gar keiner Auflösung fähig scheint", dahin zu versetzen, „wo das Beschauen erleichtert wird". 1 ) W o aber Goethe im Endlichen befangen blieb, wo er glaubte, seinen Gegenstand abschließend, nicht nur in unendlicher Annäherung erkennen zu können, gerade da rückt er von Plato hinweg zu Aristoteles hinüber. 2 ) Man hat Goethes Abwehr „Ich habe nie über das Denken gedacht" 3 ), sehr zu Unrecht anstatt allein als einen Verzicht auf erkenntnistheoretische Erörterung dahin ausgelegt, als habe er nur den Sinnen vertraut und das Denken aus der Naturbetrachtung verbannen wollen. 4 ) Goethe hat als Forscher gedacht mit einem unerhörten Scharfsinn, der der Tiefe seiner Intuition durchaus gleichkam. Er nannte es „das Höchste, zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist" 5 ), d . h . daß das, was wir aus den Phänomenen als wissenschaftliches Faktum erkennen, eine produktive T a t der Vernunft, decogia, ein geistig Erschautes ist. Seit dem unschätzbaren Dienst, den ihm Schillers Aufklärung erwiesen hatte, fühlte er sich „nicht mehr in dem Falle, bei Behandlung der Naturwissenschaften die Erfahrung der Idee entgegenzusetzen", sondern hatte sich vielmehr gewöhnt, „die Idee in der Erfahrung aufzusuchen, überzeugt, daß die Natur nach Ideen verfahre". 6 ) Ja, er wußte, daß der menschliche Geist sich der Natur gegenüber ohne Willkür gesetzgebend verhält. „Die Erfahrung nötigt uns gewisse Ideen ab. Wir finden uns genötigt, der Erfahrung gewisse Ideen aufzudringen." 7 ) Unter den vier Arten wissenschaftlicher Forscher, die er zählt: den „Nutzenden, Wissenden, Anschauenden und Umfassenden", durfte er sich zu denen rechnen, die sich in den letzten beiden „Regionen" bewegten. „Die Umfassenden, die man in einem stolzen Sinn die Erschaffenden nennen könnte, verhalten sich im höchsten Grade produktiv; indem sie nämlich von Ideen ausgehen, sprechen sie die Einheit des Ganzen schon ') Witterungslehre. W . A . II, 12, 108. Vgl. N a t o r p , Ideenlehre, S . 374. 3 ) Zahme Xenien, Nachlaß. 7-Abtlg. W . A. I, 5, 92. *) Z . B . v. d. H e l l e n in einer Anm. in der Cottaschen Jub.-Ausg., Bd. 4, S . 300; und so häufig. Betrachtungen im Sinne der Wanderer. 1829. Max. u. Reil. 575. V g l . Chamberlain, Kant, 1. Aufl. S. 548. 6 ) Zur Morphologie. Verfolg. Aphoristisches. 1 8 3 1 . W . A . II, 6, 348. *) T a g e b u c h . Juli 1799. W . A . III, 2, 255.

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aus, und es ist gewissermaßen nachher die Sache der Natur, sich in diese Idee zu fügen." Auch „die Anschauenden verhalten sich schon produktiv, und das Wissen, indem es sich selbst steigert, fordert, ohne es zu bemerken, das Anschauen und geht dahin über, und so sehr sich auch die Wissenden vor der Imagination kreuzigen und segnen, so müssen sie doch, ehe sie sichs versehen, die produktive Einbildungskraft zu Hilfe rufen". 1 ) Denn „eine Idee über Gegenstände der Erfahrung ist gleichsam ein Organ, dessen ich mich bediene, um sie mir zu eigen zu machen". 2 ) „Man kann von dem Physiker nicht fordern, daß er Philosoph sei; aber man kann von ihm erwarten, daß er so viel philosophische Bildung habe, um sich gründlich von der Welt zu unterscheiden und mit ihr wieder in höherem Sinn zusammenzutreten . . . er soll von den Bemühungen des Philosophen Kenntnis haben, um die Phänomene bis an die philosophische Region hinanzuführen." 3 ) Nur mußte Goethe nach seiner Eigenart — denn Individualität ist Begrenzung — die Bemühungen des Philosophen, die er ehrte und nutzte, andern überlassen; seiner besonderen Geistesartung entsprach es einzig, das Denken am Tun zu messen. „Denken und Tun, Tun und Denken, das ist die Summe aller Weisheit, von jeher anerkannt, von jeher geübt, nicht eingesehen von einem jeden. Beides muß wie Ausund Einatmen sich im Leben ewig fort hin und wieder bewegen; wie Frage und Antwort sollte eins ohne das andere nicht stattfinden." 4 ) Halb schalkhaft, und doch ernsthaft genug, schreibt Goethe den Verstand, „der, weil er nicht wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom Synthetisch-Allgemeinen, der Anschauung eines Ganzen als eines solchen, zum Besonderen geht, d. i. von dem Ganzen zu den Teilen", den Kant als intellectus archetypus als möglich andeutet 5 ), sich selbst zu als „anschauende Urteilskraft". Hatte ihn doch Schiller, als er „mit freundschaftlicher Hand die Summe" von Goethes „Existenz" zog®), ') Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen. W . A. II, 6, 302. 2 ) An Sömmering, 28. August 1796. 3 ) Farbenlehre, Didaktischer Teil. Nachbarliche Verhältnisse. Verhältnis zur Philosophie. W . A . II, 1, 285. *) Wanderjahre, 1829, 2. T., 2. Buch, 9. Kap. W . A. I, 25 \ 30. '•) Kritik der Urteilskraft, Kehrbach S. 295; ich zitiere jedoch nach Goethe, der die Klammern fortläßt. Goethes kleiner Aufsatz, „Anschauende Urteilskraft" überschrieben, steht W. A. II, 11, S. 54f. •) Goethe an Schiller, 27. August 1794.

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völlig so charakterisiert: „Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu b e k o m m e n " 1 ) ; „Ihr Geist wirkt in einem außerordentlichen Grade intuitiv, und alle Ihre denkenden K r ä f t e scheinen auf die Imagination . . . gleichsam kompromittiert zu haben". 2 ) E s ist keine „ R e t t u n g " , wenn Siebeck sagt, es liege „in den positiven Resultaten der Goetheschen Naturforschung im Gebiete des Organischen wieder einmal der wertvolle Beweis für die T a t s a c h e , daß für die Errungenschaften der wissenschaftlichen Forschung neben dem beobachtenden Verstände auch das künstlerische V e r m ö g e n , die Phantasie maßgebende Bedeutung b e s i t z t " 3 ) ; wenn Boucke zusammenfaßt: „ W e n n man seine [Goethes] Naturlehren mit der spekulativen Physik und Medizin seiner T a g e vergleicht, so gewahrt man, wie hell sich sein strenger Wirklichkeitssinn und die Klarheit seiner Ziele von jener trüben Mystik abhebt. A b e r auch abgesehen davon darf seine Methode der Naturbetrachtung Anspruch auf bleibende Bedeutung erheben. Die A u f f a s s u n g der Wissenschaft als einer begrifflichen Analyse hat sich heute so verschärft, daß V e r stand und Phantasie fast als feindliche Geschwister gelten. Um so erhebender wirkt das seltene Schauspiel, diese beiden Funktionen, deren ursprüngliche Verwandtschaft unbestreitbar ist, in einem universellen Geiste zur lebendigen Wechselwirkung und gegenseitiger Befruchtung vereinigt zu sehen." 4 ) Goethes Methode ist nicht zu erlernen, nicht zu überliefern und nicht nachzuahmen; er konnte für sie „weder Meister noch Gesellen" finden5); aber von ihm ausgeübt, auf dem Grunde seines Wahrheits- und Wirklichkeitsdranges ruhend, ist sie echte, tiefe Wissenschaft, der es „ u m die zwingende Darlegung der wirklichen Gesetzlichkeiten zu tun ist. D a ß diese Gesetzlichkeiten in dem Übereinandergreifen der Phänomene anschaulich zur Selbst darstellung kommen, ist, wissenschaftlich angesehen, eine höchst vollkommene A r t des Beweises. . . . Es ist die Natur selber als Beweis des wissenschaftlichen Gedankens auseinandergelegt". 6 ) Diese Methode war echte, tiefe Wissenschaft und zeichnete ') 3) 3) 5) •) H e f t 3,

Schiller an Goethe, 23. August 1794. Schiller an Goethe, 31. A u g u s t 1794. 4) Goethes Weltanschauung. A. a. O. S. 121. S. 322. Kampagne in Frankreich. W . A. I, 33, 189. E u g e n K ü h n e m a n n , Herder, Kant, Goethe. Logos, II. Jahrg. 1912, S. 267 f.

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künftigem Forschen die Richtlinien vor, denn sie hatte, anfangs unbewußt, dann aber mit vollem Bewußtsein, zum Gegenstande, was das wahre Objekt und das letzte, ferne Ziel aller echten Wissenschaft ist: die Idee. „ H a t t e ich doch, erst unbewußt und aus innerm Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen . . . " l ) „Goethe geht von den Erfahrungen aus, statt aber, wie die Naturforscher, vorzugsweise in die entferntesten und subtilsten Verhältnisse der Erscheinungen einzudringen, wo diese durch die mannigfaltigsten Verbindungen mit andern vielfach getrübt und entstellt werden, ergreift er das Phänomen in seiner reinsten, einfachsten, ursprünglichsten Gestalt, analysiert diese unmittelbaren D a t e n der Erfahrung, und, ohne sie in eine vorgefaßte Terminologie einzuzwängen, beschreibt er nur die Sache wie sie ist, d. h. den in seine ursprünglichsten Seiten auseinandergelegten Begriff der Erscheinung oder den Gedanken dieses Verhältnisses. W i r können also sagen, Goethes U r p h ä n o m e n e sind die unmittelbar in der E r f a h r u n g angeschauten Ideen, die aber nur derjenige so ohne weiteres aus der E r f a h rung herauszulesen imstande ist, den eine Genialität des Vernunftinstinktes sicher leitet. So hat Goethes großer Natursinn das Urphänomen in den Farben, den Pflanzen, den Knochen usw. a u f g e d e c k t . " 2) „Goethe hat Großes geleistet", sagt Helmholtz 1853, „ind e m er ahnte, d a ß ein Gesetz [der organischen Bildung] vorhanden sei und die Spuren desselben scharfsinnig verfolgte, aber welches Gesetz da sei, erkannte er nicht und suchte auch nicht danach . . . und darüber ist selbst bei dem jetzigen Zustande der Wissenschaft noch keine feststehende Ansicht m ö g lich." 3 ) Der Vortrag wurde sechs Jahre vor d e m Erscheinen von Darwins Hauptwerk gehalten. Helmholtz sah vierzig Jahre später in Goethes Auflehnung gegen die „Abstraktionen anschauungsleerer Begriffe" der damaligen theoretischen Physik eine Hind e u t u n g auf den W e g , den diese Wissenschaft später eingeschlagen hat und einschlagen mußte. 4 ) Der Botaniker Hansen nennt „Goethes Metamorphose eine wissenschaftliche T a t ersten R a n g e s , die, ihrer Zeit weit voraufeilend, erst heute im Zusammenhang mit unserer Wissenschaft richtig gewürdigt werden '•) Anschauende Urteilskraft. W . A . II, 11, 55. 2 ) C. L . M i c h e l e t , V o r r e d e zu Hegels Vorlesungen über Naturphilosophie, Hegels W e r k e , vollst. Ausg. Berlin 1842. 7. Bd. 1. Abtlg. S . X I I f. V g l . Hegels Brief an Goethe vom 20. F e b r . 1 8 2 1 . 3 ) V o r t r ä g e und Reden, S. 37. «) Dt. Rundschau, L X X I I , S. 125.

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kann. Sie war die erste umfassende Hypothese, die die Botanik zu einer planvollen Wissenschaft gestaltete und sie von bloßem Herumtasten, von falschen Vergleichen und andern logischen Kinderschuhen befreite". 1 ) „Durch sein Ziel, die einzelnen Erscheinungen auf ein allgemeines Grundgesetz zurückzuführen, tritt Goethe in die Reihe der großen Naturforscher ein." 2 ) Die Zeit und Mühe, die er der Naturforschung gewidmet, den Gewinn, den er aus diesem hingebenden Studium gezogen, zählte er zu dem Besten seines inneren Lebens. Er war „dadurch zu einer Kultur gelangt", die er sich „von einer anderen Seite her schwerlich verschafft hätte". 3 ) Seine Praxis war empirische Forschungsweise auf der Grundlage des wissenschaftlichen Idealismus. Als er diesen „für ihn einzig möglichen Weg, die Natur zu studieren, einschlug", fand er sich „in der weiten Welt ganz allein"; denn „daß uns die Betrachtung der Natur zum Denken auffordert, daß uns ihre Fülle mancherlei Methoden abnötigt, um sie nur einigermaßen handhaben zu können, darüber ist man überhaupt wohl einig; daß aber beim Anschauen der Natur Ideen geweckt werden, denen wir eine gleiche Gewißheit als ihr selbst, ja eine größere zuschreiben, von denen wir uns dürfen leiten lassen, sowohl wenn wir suchen als wenn wir das Gefundene ordnen, darüber scheint man nur in einem kleinen Zirkel sich zu verstehen". 4 ) Das Ideal aber, das Goethe vor Augen hatte für den, der in die letzten Tiefen der Wissenschaft hinabzutauchen berufen wäre und das die mathematische Begabung und das „Denken über das Denken" einschloß, erfüllte nicht seine eigene, sondern allseitig weit eher Piatos Geistesartung: „Da im Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht werden kann, weil jenem das Innere, dieser das Äußere fehlt; so müssen wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgendeine Art Ganzheit erwarten. Und zwar haben wir diese nicht im Allgemeinen, Überschwänglichen zu suchen, sondern wie die Kunst sich immer ganz in jedem einzelnen Kunstwerk darstellt, so sollte die Wissenschaft sich auch jedesmal ganz in jedem einzelnen Behandelten erweisen. Um aber einer solchen Forderung sich zu nähern, so müßte man keine der menschlichen Kräfte bei wissenschaftlicher Tätigkeit ») A. a. O., Vorrede S. V l l f . Ebenda, S. 298. Vgl. Goethes Gespräch mit Eckermann, i.Febr. 1827. 4) An Heinr. Steffens, 25. Mai 1801. *) An Frau v. Stein, 11. Mai 1810. J)

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ausschließen. Die Abgründe der Ahndung, ein sicheres Anschauen in der Gegenwart, mathematische Tiefe, physische Genauigkeit, Höhe der Vernunft, Schärfe des Verstandes, bewegliche sehnsuchtsvolle Phantasie, liebevolle Freude am Sinnlichen, nichts kann entbehrt werden zum lebhaften, fruchtbaren Eingreifen des Augenblicks, wodurch ganz allein ein Kunstwerk, von welchem Gehalt es auch sei" — hier eben ein wissenschaftliches Kunstwerk — „entstehen kann". 1 ) * * *

Nein, Goethe war kein „Platoniker". Goethe war Goethe, wie Kant ganz Kant gewesen ist. Aber wie dennoch Plato, der ringende Logiker, Plato, der Begründer aller wahren Wissenschaft, Plato, der ewig Zielweisende in Königsberg auferstand, so lebte Geist vom Geiste Piatos des Schauenden, Piatos, des Sehers und Künstlers im Denken auch in dem Großen, der in Weimar seine Heimat fand. Goethe stand unter den Naturforschern seiner T a g e , ein Denker und Schauer zugleich, auf seinem Gipfel allein: aber er hatte einen Bruder auf einem andern Berge. ') Farbenlehre.

Historischer Teil. 2. Abtig, Römer.

W . A. II, 3, 121.

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Verzeichnis der Namen und Hauptbegriffe. Dieses Register soll die Inhaltsübersicht ergänzen, erstrebt aber keine Vollständigkeit. V o n Werken und Aufsätzen Goethes ist hier nur angegeben, wo sie besprochen, nicht wo sie im Text zitiert sind. Die Ziffern bedeuten die Seitenzahlen.

d'Alembert 115, 116 Allegorie 71, 98 Allgemeine, das, und das Besondere 74, 97 d'Alton 2, 31, 47, 48, 89 Aristoteles 4, 5, 7, 10, 26, 68, 1 1 2 ff. Ästhetisches Objekt 85 f., 91, 102 Auge des Geistes, das 28 f. vgl. 42, 53

Eckermann 3, 4, 26, 48, 55, 67, 68, 73. 74, 79- 80, 8 4, 89, 93, 99, 100, 125 Einheitlichkeit aller Kunst 86 Elginischen Marmore, die 95, 96 Eisler, R. 60 Emerson 15 Empedokles 114 Empirie 6, 22, 26, 40, 56, 60, 61, 78, 94, 95. 96> 1 1 2 Erfahrung s. Idee und E . Erscheinung s. Idee und E. Esenbeck, N. von 28

Begriff s. Idee u. B. Beulwitz, Major von 109 Bibel, die 68 Bliedner, A. 33 f. Falk, Joh. 54, 67, 110 Boisserde, S. 13, 62, 95 Falter, G. 1 1 5 Bölsche, W. 43 Boucke, E . A. 4, 27, 96, 102, 107, Friedrich, K. D. 81 109, 123 Galilei 75, 1 1 4 Braß 99 Gallizin, Fürstin 3 Geheimnisvoll offenbar 105 f. Bruno, Giordano 4 Genetische Betrachtungsweise 36, 55 f-, 87 Campanella 72 Chamberlain, H. St. III. 2, 5, 70, 112, Geoffroy St. Hilaire 20, 31, 49, 53 113, 121 Gesetz (und Gesetzlichkeit) ir, 22, Christiansen, Br. 102 25, 48 fr., 7 2 , 75, 78, 8o, 88f., 91 f., Christlieb, M. IV. 100, 104, 115, vgl. Naturgesetz Cohn, J. 36 Gesetz des künstlerischenSchaffens93 Gingins-Lassaraz 38 Darwin 26, 29, 43, 114 Goethe, Cornelie 112 Darwinianer 2 G o e t h e : Sein Auge 15, 27, 28, 36 Deußen, P. 5, 30 Besonderheit seiner Methode 2, Diderot 61, 90, 94 18, 20, 123 Dilthey, W. 102 Seine Einsamkeit als Forscher 1 f., Düntzer 51 51, 125

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E. Rotten.

G o e t h e : E r s t e s G e s p r ä c h mitSchiller I H e r d e r 1, 12, 23 27, 33, 35» 5 ' . 9o H e r t w i g , R. 43 S e i n e M e i n u n g ü b e r K u n s t w ö r t e r H o r s t , C. 1 1 5 30, vgl. S. 70 H o w a r d , L u k e 7 7 f. S e i n e S t e l l u n g z u r M a t h e m a t i k 1 i8ff. H ü t t n e r , J. Chr. 78 Seine Stellung zur P h i l o s o p h i e 13, H u m b o l d t , W . v o n 1,21 14, 117, 122 H u y g h e n s 64 S e i n e P l a t o l e k t ü r e 12 Z u s a m m e n h a n g seiner N a t u r f o r - H y p o t h e s e n 80 s c h u n g mit seinem k ü n s t l e r i s c h e n S c h a f f e n 81 ff., 85, 86, 98 (Neuer Ibsen 100 N a t u r - u n d Kunstbegriff 95) Idealistische (ideelle) A u f f a s s u n g 7, Z u s a m m e n h a n g seiner e t h i s c h e n 50, 76, 82fr., 96, io3f., 116, 121 f., und ästhetischen Anschauungen 125, vgl. E m p i r i e 100 (f. F ü r d a s E t h i s c h e vgl. a u c h I d e e als Gesetz 11, 17 f., 21 f., 26, 33, 104, Anm. 8 38, 42, 46, 48, 59, 6°, 66, 78, 82, 97 I d e e als Schaffen d e r E i n h e i t 30,108, W e r k e u. A u f s ä t z e G o e t h e s : vgl. P l a t o B e i t r ä g e zur O p t i k 56 I d e e als h e u r i s t i s c h e s Prinzip 9, 35, 5 1 ; vgl. R e g u l a t i v e r G e b r a u c h d e r E n t w u r f zu e i n e r E i n l e i t u n g in die Idee. vergleichende Anatomie 41 E r f a h r u n g u n d W i s s e n s c h a f t 57, I d e e als M a ß b e s t i m m u n g 46, ioof. I d e e als Sein d e s W e r d e n s 6 , 3 6 , 1 0 7 ff. 59, 98 I d e e u n d Begriff 8 f., 29 fr., 38, 92, 97 L e p a d e n , d i e 49 I d e e u n d E r f a h r u n g 27, 46, 51, 82, 91, F a u s t 81, 98, 99 106 F a r b e n l e h r e 55 fr., 61, 63 fr., 73 u. o f t I d e e u n d E r s c h e i n u n g 46 f., 50, 59 N a c h a h m u n g , Manier u. Stil 87,88 f. 94, 103, i ° 9 f P a n d o r a 99 I d e e u n d N a t u r 9 f., 84, 90, 95 f. V e r s u c h ü b e r die G e s t a l t d e r T i e r e I d e e , M a n i f e s t a t i o n e n d e r 30, 32, 35, 40 44, 46, 67, 70, 76, 92, 93, 105 V e r s u c h , die M e t a m o r p h o s e d e r Idee, S c h a u e n d e r 1 5 ^ , 2 7 , 2 8 , 3 0 , 3 3 , Pflanzen zu e r k l ä r e n 24; vgl. 53, >03 Metamorphosenlehre Idee, U n e n d l i c h k e i t i h r e r F u n k t i o n 9, 45 f. Versuch, der, als V e r m i t t l e r zwischen O b j e k t u n d S u b j e k t 57 f. Iffland 1 V e r s u c h einer W i t t e r u n g s l e h r e 79 I n n e r e F o r m 34, 84, 1 1 2 G o m p e r z , T h . 102 G r ü n e r , Jos. Seb. 73 Jacobi, F r . H . 19, 28, 52, 56, 117, 1 1 8 Jungius, J o a c h . 7, 42 H ä c k e l 26, 29, 33, 43 Justi, C. 95 H a n s e n , A. III. 35, 38, 106, 112, 124 f. H a r n a c k , O. 44, 102, 1 1 0 Kant 4, 5, 70, 76, 101, 122, 125 ü b e r d i e I d e e 8, 10 H a r t m a n n , N. 5, 7, 8, 9, 10, 11, 28, Kalischer 21, 42 fr., 102, 106 3 ' , 43, 45, 46, 75, »°o, 108, 1 1 4 Karl August 77, 109 H e c k e r , M. 4, 14, 75, 109 Keller, G o t t f r . 100 H e g e l 2, 124 Hellen, v o n d e r 121 K e p l e r 114 H e l m h o l t z 64, 65, 124 Kinesis d e r I d e e n 45 H e r a k l i d e s 112 König, W . 56, 62

Goethes Urphänomen und die platonische Idee. Kopernikus 113, 1 1 4 Kotzebue 1 Kronenberg 55, n o f . Kühnemann, Eug. 123 Lamarck 26 Leonardo da Vinci 68 Linné 8, 19, 1 1 2 Lippmann, E . von 16 Mach, E . 81 Magnet, der 69 fr., 74 Martius, von 73 Medien, trübe 63, 65, 68, 73 Merck 1 Metamorphosenlehre 17, 19 ff., 24 f., 32, 35, 6 3, 86, 87, 88, 110, 112, 114 u. oft Meyer, Ernst 20, 51, 56, 115 Meyer, J. H. 46, 57, 87, 88, 101 Meyer, Melchior 100 Meyer, R. M. 96 Meyerhof, O. 5, i u f f . , 115 Michelet, C. L. 124 Mißbildungen 49 Mobilität s. Variabilität Moeller van den Bruck 4, 107 f. Morphologie 39 fr. Morris, M. 55, 64, 69, 73 Müller, Kanzler Fr. von 3, 70, 73, 104, 107, 1 1 0 Müller, Joh. von 22, 32

Plato: Goethe über PI. 3f. Ideenlehre 5 ff., 108 Hinweise auf Werke Pl's. : Parmenides 55 Phädon 110 Phaidros 58, 79 Philebos 9, it, 107, 109 Sophistes 6, 45, 108 Staat 16, 33, 68 Staatsmann 46, 109 Timaios 16, 52, 68, 84, 109. Plotin 103, 105 Pniower, O. 98 Poincaré 81 Regulativer Gebrauch der Idee 8 ff, 41, 4 5 ; vgl. 61, 73, 80 Reinhard, Graf 46 Riemer 70, 100, 109 Ritter, Const. 5, 7, 34, 79, 84 Runge, Ph. O. 81

Sachs, Jul. 1 1 2 Sauerlandt, M. 81 Schelling 4 Schlesinger, M. 81 Schiller i, 15, 28, 35, 36, 37, 51, 56, 57 ff, 7o, 73, 8 2 . 83, 87, 90, 97, 98, 118, 121, 122, 123, s. auch Goethes erstes Gespräch mit Schiller Schleiermacher 12, 73 Schlosser, Chr. H. 62 Schopenhauer 4, 91, 113 Natorp, P. III. 5, 7, 11, 16, 17, 26, Schultz, Staatsrat 98 45. 47. 52, 58, 59, 60, 69, 75, 97, Schütz, Chr. W. von, 16 104, io7f., 113, 114, 115, 120, 121 Sein und Werden 46, 48, 108; vgl. Natur s. Idee und N. Idee Naturgesetz 11, 60, vgl. Gesetz Shaftesbury 12, 84, 102 Naumann, R. Fr. 119 Siebeck, H. 2, 4f., 17 f., 27, 44, 72, Neuplatoniker 12, 84 102, i n , 123 Newton 61, 64, 120 Sokrates 7, 12 Nose, K. W. 15 Sömmering, S. Th. von 122 Spinoza 4, (Goethes Spinozismus 85) Pannenides 108 Spontaneität 7, 10, 76; vgl. ideaPater, W. 5, 100, 106 listische Auffassung Peltzer, A. 64 Stammform, konkrete 26, 29, 41 ff. Phantasie 9 f. (exakte sinnliche Ph Steffens, Heinr 125 29). 123. vgl. 114 Stein, Charl. von i, 18, 24, 25-, 125 C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbc ìten Vili, 1 9

130

E. R

Steiner, R . 2, 4, 33, 36, 40, 41, 50, 51, 106 Starnberg, Graf 75 Stewart, J . A. 8, 26, 38, 76, 97 Stiedenroth, E . 28, 29 Stil 94, s. auch Goethes Aufsatz: Nachahmung, Manier, Stil Stilling, J, 63, 65 Stoff des K u n s t w e r k s 82 fr. Stolberg, F r . L e o p . Graf zu 1 2 Symbol, Symbolik 49, 69 fr, 96, 98 Synkrisis und Diakrisis (Systole und Diastole) 52 Tat, die, als R e c h e n s c h a f t im G e g e n satz zur logischen Begründung 17, 1 1 6 , 122 Taylor, A . E . 5, 47 Teilhabe, Metapher der 47 T h e o r i e 82, 1 1 4 , 1 2 1 Turpin, P. J . F . 38 T y p u s 1 1 , 17, 26, 39 ff., 107 u. o f t

Variabilität, Versatilität, Mobilität 43 ff-, 46. 47, 48, 67 Voigt, F r . S. 72 Vorländer, K . 76 Voß, Joh. F r . 68

Wagner, Rieh. 27 Walter von d e r V o g e l w e i d e 100 Walzel, O. 102 f. Wasiliewski, W . von 44, 77 Wellstein 60 Werden s. Sein und W . Wilamowitz, Ulr. von 99 Willemer 27 Winckelmann 16 Windischmann, C. J . H . 12 Wolf (Wolff), K . F r . 7, 29

Zeller 5 Zelter 1 1 , 15, 58, 87, 100, 101, i< 103, 104 Urbild 30, 4 1 , 51, 89, 106, 109, 124 (geheimes Vorbild 22) Zola 98 U r p f e r d 95 Z w e c k g e d a n k e 84 Urpflanze 23 ff., 29, 32fr., 55, 66, 72 Zwischenknochen 18, 39. Urtier 39

Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

131

Inhaltsübersicht. Seite

I. Goethes Stellung als Naturforscher.

Einleitendes über „Idee"

und „Urphänomen"

1

II. Die Methode der Pflanzenmetamorphose als Schlüssel zur gesamten auf Urphänomene gegründeten Forschungsweise Goethes

18

III. Durchführung der Methode in der Botanik; genetische Betrachtungsweise

21

IV. Anwendung der Methode in der Zoologie. des Organischen.

Typus oder Idee

Das Gesetz als „Sein" des Werdens

V. Übertragung auf das Anorganische.

. . .

Das Urphänomen in der

Farbenlehre VI. Der Magnet als Urphänomen.

39 54

Symbolischer

Gebrauch

und

Gesetzesbedeutung des Urphänomens

69

VII. Das Urphänomen in der Meteorologie

76

VIII. Das Urphänomen des Schönen; die Idee als ästhetisches Objekt

81

IX. Die bisherige Auffassung von Goethes Verhältnis zu Plato. Goethes Stellung zu Mathematik und Erkenntnistheorie. Idee als wahrer Gegenstand seiner Methode

Die 102

132

E- Rotten, Goethes Urphänomen und die platonische Idee.

Berichtigungen. S. 7, Z. 5 lies: im Vorübergehenden statt: im Vorübergehen. S. i i , Anm. i fehlt nach Große Denker:

herausg. v. E. von Aster.

S. 1 1 , am Schluß der Anm. 2 lies anstatt „s. später": s. unten S. 90. S. 54, Anm. 2 lies:

1820 anstatt: 1798.

S. 55, am Schluß von Anm. 2 fehlt: vgl. oben S. 17, Anm. 4.

Weimar. — Hof-Buchdruckerei.