Übersetzung und Transformation 9783110896657, 9783110193480

Translations play a decisive role as the basis and trigger for more complex transformations – both in the construction o

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German Pages 565 [568] Year 2007

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Table of contents :
Sektion I – Übersetzung antiker Texte als Transformation
Das Fremde als das Eigene. Übersetzung als Transformation und Selbstsetzung
Transformation der Transformation – Übersetzungen antiker Dramen auf der Bühne
Nach dem Wort, nach dem Sinn. Duale Übersetzungstypologien
Die optimale Transformation (der Antike). Ein Überblicksversuch über die Übersetzungsdiskussion in der Gegenwart
Fifteenth-Century Translators on their Art: Leonardo Bruni and Giannozzo Manet
Sektion II – Übersetzung und Transformation in der Literatur
Übersetzung in der Frühen Neuzeit. Zwischen Perfektionsideal und einzelsprachlicher Differenzierung
Archaische Übertragungen – Rudolf Borchardt und Botho Strauß
Übersetzung in neue Sinnzusammenhänge. Konversion in Pseudoklementinen und Kaiserchronik
Zwischen Muster und Anverwandlung. Übersetzungen des antiken Liebesromans in der Frühen Neuzeit
Sektion III – Übersetzen und Verstehen
Epochaler Bedeutungswandel in Grundbegriffen. Thesen und exemplarische Fallstudien
Wann ist eine Übersetzung besser als die andere?
Sektion IV – Übersetzung und Transformation in der bildenden Kunst
Le sentiment des ruines, de l’Orient ancien aux Lumières: continuités et transformations
Vom römischen Sarkophag zum romanischen Portal. Der Jagdsarkophag von St.-Loudre zu Déols und das Portaltympanon von St.-Ursin zu Bourges
»Antik gelebt, antik begraben«. Hermann Fürst von Pückler-Muskau und seine Erinnerungslandschaften in Muskau und Branitz
Von der Schrift in die Landschaft: Die Isis-Initiation des Apuleius in der Mystischen Partie des Wörlitzer Gartens
Sektion V – Übersetzung und Transformation in den Wissenschaften
Mentale Modelle als kognitive Instrumente der Transformation von technischem Wissen
From Condensation to Compression: How Renaissance Italian Engineers approached Hero’s Pneumatics
Semantic Networks: A Tool for Investigating Conceptual Change and Knowledge Transfer in the History of Science
Deutsche Übersetzungen aristotelischer Schriften im 18. Jahrhundert. Die Rezeption der Praktischen Philosophie
Sektion VI – Transmediale Übersetzungen
Die unmöglichen Bilder des Philostrat: Ein antiker Beitrag zur Paragone-Debatte?
Von der Wahrnehmung zur Beschreibung.
Johann Fichards Italia (1536/1537)
Nymph and corpuscle. Transformations of the Aqua Virgo
Die Götterbilder des Vincenzo Cartari in der Darstellung von Joachim von Sandrart
Autorenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Übersetzung und Transformation
 9783110896657, 9783110193480

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Übersetzung und Transformation

W DE G

Transformationen der Antike

Herausgegeben von Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath, Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler, Ulrich Schmitzer

Wissenschaftlicher Beirat: Frank Fehrenbach, Nikiaus Largier, Martin Mulsow, Wolfgang Proß, Ernst A. Schmidt, Jürgen Paul Schwindt

Band l

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Übersetzung und Transformation Herausgegeben von

Hartmut Böhme, Christof Rapp, Wolfgang Rosier

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Dieser Band ist aus einer Tagung des Berliner Sonderforschungsbereichs 644 „Transformationen der Antike" hervorgegangen und wurde mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft erstellt.

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Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-019348-0 ISSN 1864-5208 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen Logo „Transformationen der Antike": Karsten Asshauer — SEQUENZ

Vorwort HARTMUT BÖHME

I. Die Buchreihe »Transformationen der Antike« Der Sonderforschungsbereich »Transformationen der Antike« (SFB 644) wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum l. Januar 2005 eingerichtet. Der vorliegende Band versammelt die Beiträge, die zu seiner ersten Jahrestagung vom 1. bis 3. Dezember 2005 vorgetragen wurden. Es ist nicht vorgesehen, dass die mit diesem Band eröffnete Buchreihe ausschließlich für Veröffentlichungen von Forschungen und Tagungen des Sonderforschungsbereichs reserviert ist. Zwar trägt die Reihe den Titel des Sonderforschungsbereichs, doch zeigt die Zusammensetzung von Herausgebern und Beirat, dass hier nicht nur eine breite Interdisziplinarität angestrebt wird, wie sie unserer multidisziplinären Zusammensetzung entspricht; vielmehr sind Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen außerhalb des Sonderforschungsbereichs ausdrücklich eingeladen, ihre Forschungsarbeiten, sofern sie ins Feld der Transformationsgeschichte antiker Kulturen gehören, in dieser Reihe zu publizieren. Dabei ist mit dem Verlag de Gruyter ein peer-reviewVerfahren verabredet; dies gilt selbstverständlich auch für die aus dem Sonderforschungsbereich selbst hervorgegangenen Forschungen. Die Einbeziehung des August Boeckh-Antikezentrums der Humboldt-Universität in die Herausgeberschaft der Buchreihe mag als zusätzlicher Hinweis darauf verstanden werden, dass die Reihe auch das Forum für einen breit gefächerten interdisziplinären Dialog bereitstellen möchte, der insbesondere auch mit nationalen und internationalen Fachvertretern geführt werden soll. Zur Eröffnung der Reihe und zur Erklärung ihrer Konzeption taugen gleichwohl die grundsätzlichen Erklärungen, die der SFB 644 zu Leitlinien seiner Arbeit in der ersten Förderphase erklärt hat. Er geht von der Voraussetzung aus, dass sich die europäischen Kulturen, ihre Künste und Wissenschaften in Fortführung und Transformation der antiken Kultur gebildet haben. Die Ausdifferenzierung der Künste und Wissenschaften ist ohne die antiken Grundlagen undenkbar. Ästhetiken, Kulturtechniken und Medien, Mentalitäten und Lebensstile, Wirtschafts-, Staats- und Politikformen, Rechts verfahren, religiöse und ethische, aber auch nationale Leitbilder und Identitäten, wie sie sich bis heute entwickelt haben, wären ohne die dauerhaften Auseinandersetzungen mit den antiken Kulturen nicht

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Vorwort

entstanden. Hier bildeten sich in jahrhundertelangen Prozessen die Voraussetzungen Europas. Antike Kulturen mögen als politische Reiche untergegangen sein: Als Referenzebenen kultureller Selbstkonstruktionen und vermittelt über eine Reihe von Renaissancen und Transformationen sind sie bis heute lebendig. Die Untersuchungsfelder des Sonderforschungsbereichs erstrecken sich von der Spätantike und das Mittelalter über die Frühe Neuzeit, die Aufklärung und das 19. Jahrhundert bis in die Moderne. Diese an der longue duree von kulturellen Evolutionen orientierte Ausrichtung beruht auf zwei Überzeugungen: Zum einen sind die christliche Kultur wie die europäischen Wissenschaften und Künste ohne die antiken Kulturen nicht begreifbar; zum anderen bilden sich die Ideen und Konzepte antiker Kulturen selbst erst im Effekt der Transformationsgeschichte der Antike. So stellen Antike-Forschung, europäische Kultur- und Kunstgeschichte sowie Wissenschaftsgeschichte ein interdisziplinäres Geflecht dar. Das übergreifende Ziel ist es, die Einzelvorhaben zu einem neuen Bild der grundlegenden Rolle zusammenzufügen, welche die antiken Wissenschaften und Künste bei der Herausbildung mittelalterlicher, frühneuzeitlicher und moderner Disziplinen, der Künste und Literaturen, der kulturellen Leitbilder und Praktiken gespielt haben. Vor diesem Hintergrund ergibt sich für die Profilierung der Buchreihe »Transformationen der Antike« ein Feld von Fragestellungen. Ausgegangen wird davon, dass es einen unmittelbaren Zugang zur >Antike selbst< nicht gibt noch je gegeben hat. Stets hatte und hat man es mit vermittelten Überlieferungen und Übersetzungen, Transfers und Transformationen der antiken Gesellschaften zu tun. Zudem sind die Wissenschaften, Kunst-, Kultur- und Lebenstechniken der Antike nur in Bruchstücken einstiger Fachliteratur, als Hintergrund der klassischen Autoren und Künstler bzw. als materiale Hinterlassenschaft greifbar. Daher war es das primäre Ziel des Antike-Studiums seit dem frühen Mittelalter, die Relikte der antiken Literatur und Philosophie, die Bruchstücke einstiger Wissenschafts- und Fachliteratur sowie die erhaltenen Monumente materialer Kultur und Kunst zusammenzutragen und mit der eigenen Erfahrungswelt zu verbinden. Die Resultate dieser Sammlungs- und Deutungsarbeit waren dann wieder geeignet, auf neue Konstruktionen von Antike sowohl wie von Gegenwart einzuwirken. Diese wechselwirkenden Prozesse von Entdeckung und Transformation, von Imagination, Idealisierung und kritischer Überwindung wiederholten sich von Generation zu Generation und dauern bis in unsere Zeit an. Diese Entwicklungen näher darzustellen, ist das vorrangige Ziel dieser Buchreihe. Erwartet werden dabei neue Einsichten in die Entstehung und Ausdifferenzierung der Natur- wie der Humanwissenschaften, der Künste und Medien, aber auch der Selbstkonstruktion der jeweiligen Rezeptionskulturen. Auf der Basis des jeweiligen Wissensstandes prägten die Antike-Bilder die europäischen Kultur- und Kunstperioden, doch ebenso die Entstehung und Entwicklungen der modernen Natur- und Geisteswissenschaften. Transformationsprozesse wurden aber auch für Alltagsformen kultureller Repräsentation wirksam wie z. B. für Sammlungen, Landschaftsgärten, Schlösser, Museen, Theater, Film

Vorwort

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etc. In den wissenschaftlichen, antiquarischen wie künstlerischen Rezeptionen der Antike zeigen sich charakteristische Brüche, Übernahmen oder Transformationen, die auf die reflektierte Wahrnehmung der nicht-reduzierbaren Alterität und Fremdheit der Antike hin dargestellt werden sollen. Obwohl die Antike wie auch ihre Rezeption intensiv erforscht wurden, so geschah dies zumeist in einzelwissenschaftlicher Isolierung. Es fehlt, hierzulande wie international, an einer interdisziplinären und systematischen Erforschung der produktiven Transformationen antiker Wissenschaften und Künste in den europäischen Nachfolge-Gesellschaften. Die neue Buchreihe geht über die gut eingeführten Modelle von Rezeptions-, Wirkungs- und Einflussgeschichte hinaus. Das Leitkonzept »Transformation« bezieht sich auf die strukturellen, funktionalen, formalen, semantischen, zunehmend auch reflexiven Ausdifferenzierungen der europäischen Kulturen sowohl in ihrer zeitlichen Dynamik wie in ihrer räumlichen Lokalisierung und Diffundierung. Transformation meint einen stets dreigliedrigen Prozess: Er heißt zuerst, dass das Objekt »Antike« nicht feststeht oder feststellbar ist, sondern in den Medien der Rezeption stets neu hervorgebracht, ja auch >erfunden< und dabei fortlaufend verändert und differenziert wird; er heißt zweitens, dass der Akt der Rezeption nicht als bloße Auf- oder Übernahme, als Einschreibung, Verzeichnung oder Imitatio, sondern stets auch als ein konstruktives Handeln zu verstehen ist, das eigenen, zeit- und kulturtypischen Regeln und Antrieben folgt; und er heißt drittens, dass die Rezeptionskulturen in ihrem Antikeverständnis stets ein Selbstverhältnis miterzeugen, wodurch kulturelle Identitätsprofile und Reflexivitätspotentiale ausdifferenziert werden. Auf dieser methodischen Grundlage wird untersucht, inwieweit antike Objekte oder Texte als Träger, Medien, Codes, Archive eines charakteristischen Wissens funktionierten, durch das Bilder, Kenntnisse und Diskurse der Antike geprägt wurden und worin sich Wissensdisziplinen und Kunstformen vorbereiteten oder festigten. »Wissen« wird dabei weit gefasst: Als Wissensträger oder Wissensmedien gelten auch Kunstwerke und populäre Medien, Kulturpraktiken, Mentalitäten und Ideologien, Idealisierungen, Experimente und Übersetzungen, aber auch soziale Gruppen (z. B. neue Eliten) und materiale Objekte und Ensembles (Skulpturen, Schlösser, Architekturen, Museen etc.). Wissenschaftsgeschichte wird dabei nicht als Fortschrittsgeschichte verstanden. Vielmehr wird Wissenschaft auch als die Geschichte einer historisch charakteristischen Wissenspraxis rekonstruiert, deren Verfahren vielfältig mit kulturellen, ästhetischen und materiellen Prozessen verbunden sind und auf diese zurückwirken. Antike und spätere Kulturen sind nicht naturhafte Gegebenheiten. Sie bilden innerhalb eines Raums differenzierender Grenzen wiedererkennbare und obligatorische Verhaltensstile, Identitäts- und Sinnmuster, orientierende Leitbilder und normative Überzeugungen, die indes immer umstritten bleiben. Ferner werden Beobachtungen zweiter Ordnung ausdifferenziert, von denen aus Kulturen ein Wissen von sich selbst gewinnen. Leitend sind darum zwei Untersuchungsrichtungen: In den Rezeptionszeugnissen wird zum einen die »Antike« allererst her-

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Vorwort

vorgebracht, wobei die »antike Kultur« zunehmend ausdifferenziert, im Quellenund Monumentenbestand angereichert, in den Interpretationen und Bildern heterogener und vielfältiger wird. In diesen Transformationen der Antike konstruieren sich indes die Rezeptionskulturen selbst: Indem die Antike zum privilegierten oder polemischen Objekt von Wissensprozessen, künstlerischen Adaptionen und ideologischen Aushandlungen wird, funktioniert das dabei entworfene AntikeBild als Selbstartikulation der jeweiligen Rezipientenkultur. Untersucht werden sollen nicht nur Inhalte der Rezeption, deren Wirksamkeit und Geltungsansprüche. Vielmehr werden die Repräsentationen der Antike wie die Rezeptionsprozesse auch unter dem Gesichtspunkt ihrer Medialität analysiert. Transformationen der Antike sind stets an bestimmte Medien und ihre Leistungen gebundene Akte. Vorgänge wie Übersetzen, Transformieren, Diffundieren, Replizieren, Popularisieren, Sammeln, Experimentieren, Differenzieren, Interpretieren, Konstruieren, aber auch Kritisieren, Polemisieren, Zerstören erfolgen stets in einem oder mehreren Medien. Der Aspekt der Medialität schärft das Leitkonzept »Transformation«, insofern Medien nicht bloße Übermittlungskanäle oder Aufzeichnungssysteme sind, sondern durch spezifische Transformationsleistungen gekennzeichnet sind. Selbstverständlich stellt die griechisch-römische Antike keine homogene Kultur dar, die über zwei Jahrtausende hin stabil gehalten worden wäre; sondern sie ist selbst durch eine Vielzahl von inter- und intrakulturellen Transformationen und Transfers gekennzeichnet. Hinzuweisen ist nur auf die konstitutive Bedeutung, die vorder- und mittelasiatische oder ägyptische Kulturen für Griechenland oder später für Rom gewonnen haben. Zu erinnern ist außerdem an die Transformationen, die die Übergänge von der archaischen Zeit zu den Stadtrepubliken, von der Klassik zum Hellenismus oder welche die kulturellen Translationen von Griechenland nach Rom bestimmt haben. Das Transformationskonzept kann also selbstverständlich auch auf die antiken Kulturen selbst ausgedehnt werden. »Transformationen der Antike« konzentriert sich vorerst auf solche Transformationsprozesse, in denen die antiken Kulturen die Referenzkulturen sind für Transformationen in nachantiken Gesellschaften. Wenn das Ziel des Sonderforschungsbereichs und der Buchreihe also nicht primär die altertumswissenschaftliche Erforschung der Antike selbst ist, so sind gleichwohl klassische Archäologen, Altphilologen, Althistoriker, Ur- und Frühgeschichtler, Religionswissenschaftler, Philosophiehistoriker etc. unverzichtbar für das Gesamtunternehmen. Der Sonderforschungsbereich erschöpft sich auch nicht in der Erforschung von Rezeptionsprozessen. Transformation meint mehr. Die genaue Ermittlung von Rezeptionsvorgängen stellt für den Sonderforschungsbereich nicht das Ziel, sondern die Grundlage für weiterführende Fragestellungen dar. So geht es z. B. nicht nur darum zu ermitteln, welche antiken Quellen von welchen englischen Gelehrten und Dichtern der Frühneuzeit gekannt, verwendet und in ihr Werk integriert wurden. Diese basale Ermittlungsarbeit hat eine dienende Funktion für übergreifende Fragestellungen, z. B. dafür, welche Rolle neuplatonische Traditionen in der Gelehrten-, Hof- und Freundschaftskultur inmitten einer politisch und religiös krisenhaf-

Vorwort

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ten Situation im England des 17. Jahrhunderts gespielt haben. Dafür muss selbstredend ein Wissen darüber verfügbar sein, was Neuplatonismus ist und wie und auf welchem Wege er nach England kommt. Das ist die Basisarbeit. Ziel aber ist es zu verstehen, warum der Neuplatonismus für kulturelle Identitäts- und Elitebildungen, für die Entstehung bestimmter Denkhabitus und literarischer Praktiken, aber auch für die Herausbildung der New Sciences eine zwar temporär begrenzte, aber höchst produktive Kraft in den wissenschaftlichen, intellektuellen und künstlerischen Eliten der englischen Gesellschaft erlangt hat. Nicht die Antike selbst wird also untersucht, sondern ihre Funktionen in den kulturellen und künstlerischen, politischen und wissenschaftlichen Selbstpositionierungen von Nachfolgekulturen. Die Antike kommt im Sonderforschungsbereich daher als ein Faktor und Antrieb für Transformationsprozesse viel späterer Gesellschaften ins Spiel. Das ist das eine. Das andere ist: Indem die Antike zum Faktor von Identitäts- und Transformationsprozessen späterer Kulturen wird, wird sie selbst transformiert. Antike ist keine geschlossene Entität. In jenen Prozessen, durch die sich Nachfolgekulturen im Medium der Antike transformieren, wird die Antike fortwährend neu modelliert, werden der materiale Bestand ihrer Relikte und das Archiv ihrer Texte vermehrt (aber auch über die westliche Welt verstreut), modifiziert sich ihre Geltungskraft, differenziert sich das Wissen von ihr fortlaufend aus. Mit diesen Transformationen, die bei näherer Betrachtung ein komplexes Netz von Wechselwirkungen und Vermittlungen darstellen, die ebenso zerstörerisch wie kreativ sein können, sind der Sonderforschungsbereich, das August Boeckh-Antikezentrum und diese Buchreihe befasst.

II. Die Jahrestagung »Übersetzung und Transformation« Die erste Jahrestagung des SFB 644 »Übersetzung und Transformation«, deren Beiträge hier publiziert werden, war auf den Vorgang der Übersetzung konzentriert. Man kann die Übersetzung als den elementaren Mechanismus von Transformation verstehen. Nach unserer und der Überzeugung Jörn Albrechts, dem wir gem folgen, ist Übersetzung zu eng gefasst, wenn man sie nur als Translation eines Textes von einer in eine andere Sprache und nicht auch als Kulturvermittlung versteht. Louis G. Kelly stellt schon 1979 in seinem Buch The true Interpreter lapidar fest: »Western Europe owes its civilization to translators«. Wenn dies richtig ist, dann gehört die Übersetzung, sowohl in ihrem engeren Sinn, als interlingualer Prozess, wie auch im weiteren Sinn, als intermediale Translation, geradezu ins Zentrum der Themenstellung des SFB 644. Denn bei Kellys Diktum ist vorauszusetzen, dass - jedenfalls bei entwickelten Schriftgesellschaften - die kulturelle Evolution abhängt vom Maß der Übersetzung vergangener oder kopräsenter fremdkultureller Schriften, Werke und Artefakte. Die lateinischen Ausdrücke wie imitatio, translatio, versio, conversio, interpretatio oder die Verben für

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Vorwort

den Vorgang des Übersetzens - convertere, imitari, interpretari, mutare, (tradere), transscribere, transferre, transvertere, (vertere) - bezeichnen in der Tat die Transformationen eines Werkes der Ausgangssprache in die Zielsprache, und damit die Implementierung eines fremdkulturellen Artefakts in einen neuen kulturellen Horizont, in dem es gewissermaßen ein verwandeltes Leben gewinnt. Mittellateinisch tritt traducere hinzu, das dem deutschen Übersetzen und der französischen traduction zum Vorbild wird, während das englische translation sich an der translatio orientiert. Übersetzen im Sinne des Dolmetschern ist ein uraltes, schon in vorschriftlichen Kulturen beobachtbares Phänomen. Wir alle kennen die mythischen Figurationen: die babylonische Sprachverwirrung und das typologisch darauf bezogene Pfingstwunder einer alle sprachlichen Heterogenitäten aufhebenden lingua universalis - als bezeichne Sprachvielfalt ein Verhängnis (und nicht etwa einen Reichtum von Kultur) und als sei umgekehrt Spracheinheit die Erlangung des Standes der Erlösung. Wir kennen den ägyptischen Gott Thot, den Sprach- und Schriftgott, der auch der Gott der Übersetzung ist. Ihm entspricht, mit zweifelhafter, aber charmanter etymologischer Rückführung der griechische Gott Hermes, und der christliche Erzengel Michael, der als Mittler des untereinander auch sprachlich zerfallenen Menschengeschlechtes gilt. Spätestens mit Cicero und Horaz beginnt die theoretische Reflexion des Übersetzens, das zum besonders heiklen Fall dort wird, wo es um die Übersetzung heiliger Texte geht. Über diesen aufschlussreichen Sonderfall hat der Kirchenvater und Übersetzungsexperte Hieronymus, dessen lateinische Bibelübersetzung 1546 für den katholischen Raum die Kanonizität erlangt, welche die Lutherübersetzung für die Protestanten einnimmt, höchst luzide Überlegungen hinterlassen. Fast könnte man sagen, dass die Probleme sprachlicher Übersetzung mit den lateinischen Klassikern und Hieronymus abgesteckt sind: Zwischen den Polen der wirkungsäquivalenten Übertragung und der Übersetzung verbum pro verbo bewegen sich auch die neuzeitlichen die Debatten zwischen den belles inßdeles, bei Pierre Daniel Huet und Schleiermacher. »Aliud est enim ornate scribere; aliud accurate interpretari«, dekrediert Huet 1756, durchaus in Nachfolge desßdus interpres von Horaz. Einmal geht es um das Modell des Übersetzens, das dem Ausgangstext den Vorrang einräumt und den Leser dorthin, in den >Geist< der Ausgangssprache, zu bewegen trachtet. Einbürgende Übersetzung, wie Jörn Albrecht sagt, wählt dagegen die entgegengesetzte Bewegung: Sie steht im Dienst des Zielsprachenpublikums, an welches das Original seinen Vorrang abtritt. Nach Schleiermacher sind dies die beiden Grundtypen von Übersetzung überhaupt. Goethe, im Gedenken an den großen Übersetzer Wieland, formuliert im selben Jahr 1813, in dem Schleiermacher seinen maßstabsetzenden Berliner Vortrag »Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens« hielt, diesen fast unlösbaren Konflikt der Positionen: Es gibt zwei Übersetzungsmaximen: die eine verlangt, dass der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde, dergestalt, dass wir ihn als den unsrigen anse-

Vorwort

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hen können; die andere hingegen macht an uns die Forderung, dass wir uns zu dem Fremden hinüber begeben und uns in seine Zustände, seine Sprechwiese, seine Eigenschaften finden sollen. (Zu brüderlichem Andenken Wielands, 1813)

Zu Recht spricht Goethe von Maximen: Es ist sehr die Frage, ob es eine Theorie der Übersetzung überhaupt geben kann oder ob Übersetzung zuletzt nicht immer eine Kunst(praxis) ist. Es scheint kein Zufall zu sein, dass auch die heutigen wissenschaftlichen Abhandlungen zum Problem des Übersetzens angefüllt sind mit Beispielen aus der Übersetzungspraxis, an denen die Probleme demonstriert werden, die beim Übersetzen entstehen und die, als solche, niemals theoretisch gelöst werden können. So scheinen die Theorien der Übersetzung auch eher reflektierende Beobachtungen zweiter Ordnung zu sein, die möglichst nahe an der Praxis bleiben. Maximen, Modelle, vielleicht Prinzipien, aber keine Theorie. Und das ist auch gut so. Goethe ist es auch, der beinahe schon das Prinzip »radikaler Übersetzung« formuliert, wie es gedankenexperimentell Van Orman Quine als Modell für Erkenntnis überhaupt entwickelt. Allerdings mildert Goethe, der sich identifikatorisch in den Orient hineinflüchtet, als sei er selbst ein Orientale, die radikale Verfremdung, auf die es Quine ankommt, sogleich in die beglückte Dankbarkeit den Übersetzern gegenüber ab: Wenn wir uns nun in einen so abgelegenen Zustand, ohne das Lokale zu kennen, ohne die Sprache zu verstehen, unmittelbar versetzen, in eine fremde Literatur, ohne vorläufige historische Untersuchungen bequem hineinblicken, uns den Geschmack einer gewissen Zeit, Sinn und Geist eines Volks an einem Beispiel vergegenwärtigen können, wem sind wir dafür Dank schuldig? Doch wohl dem Übersetzer, der hinlänglich sein Talent, fleißig bemüht, für uns verwendet hat. (Calderons >Tochter der Luftx, in: Über Kunst und Altertum, 1822)

Im Blick auf die sprachtheoretisch heiklen Probleme, die sich bei der Übersetzung heiliger Texte ergeben, erstaunt es, wenn Walter Benjamin im Vorwort zu seiner Baudelaire-Übersetzung von 1923 auch im Bereich der Übersetzung von profanen Dichtungen sprachmetaphysische Überlegungen anstellt, die das Übersetzen zu einem messianischen Vorgang machen (Gesammelte Schriften IV/1, 9-21). Benjamin ist nicht an Fragen der Treue oder Freiheit, der korrekten Wörtlichkeit oder imitierenden Nachdichtung, der Ziel- oder Ausgangssprachenorientierung der Übersetzung interessiert, so wenig wie daran, ob der Übersetzer für den Rezipienten eine Brücke für semantisches Verstehen bauen soll. Für Benjamin »ist die Übersetzung zuletzt zweckmäßig für den Ausdruck des innersten Verhältnisses der Sprachen zueinander.« Das ist die starke und zugleich befremdliche Ausgangsthese. Benjamin nimmt an, dass die Möglichkeit der Übersetzbarkeit eine »Verwandtschaft«, ja eine »eigentümliche Konvergenz« der mannigfaltigen Sprachen anzeigt. Die Aufgabe des Benjaminschen Übersetzers besteht darin, die »überhistorische Verwandtschaft der Sprachen«, ihr Zusammenhängen in der »reinen Sprache« präsent zu machen. Letztere ist der wahre Identitätspunkt aller Spra-

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Vorwort

eben, worin alle Formen und »Arten des Meinens« konvergieren. Übersetzen in Benjamins Sinn ist messianische Arbeit: Wenn aber diese [= Sprachen, H. B.] derart bis ans messianische Ende ihrer Geschichte wachsen, so ist es die Übersetzung, welche am ewigen Fortleben der Werke und am unendlichen Aufleben der Sprachen sich entzündet, immer von neuem die Probe auf jenes heilige Wachstum der Sprachen zu machen: wie weit ihr Verborgenes von der Offenbarung entfernt sei, und wie gegenwärtig es im Wissen um diese Entfernung werden mag.

Dies ist der emphatische Kern des Übersetzens, die messianische Kraft, die in allen Sprachen als Tendenz zur Offenbarung der reinen Sprache liegt. Indem der Übersetzer übersetzt, arbeitet er an der Freilegung dieses wesenhaft Verwandten in allen Sprachen. Darin ist Übersetzung Kunst. Freilich ist dies auch eine grandiose Überforderung des Übersetzers. Nicht zufällig führt Benjamin Hölderlins Sophokles-Übersetzungen als Bezeugung seines Ideals ein. Original und Übersetzung fügten sich hier wie Bruchstücke in einem symbolontischen Curriculum zusammen. Den Übersetzer treibt »die große Sehnsucht nach Sprachergänzung«. Benjamin verteidigt die »Wörtlichkeit« bei Hölderlin, die keine Anähnelung an die Zielsprache, sondern das Erscheinenlassen eines fremden Tons in der eigenen Sprache darstellt, so dass diese um einen neuen Ton erweitert wird. Wo dies gelingt, sei man nahe am »Kern der reinen Sprache«: »jene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien, ist die Aufgabe des Übersetzers.« Dieser in der Zielsprache befremdliche Ton, der den Ton des Anderen aus dessen Sprache befreit und in der eigenen hervortreten lässt: Das ist das Programm des Übersetzers. Man erkennt, dass Benjamin dem Übersetzen eine Präsenzästhetik unterlegt, die das Medium der messianischen Befreiung einer unvordenklichen Sprachlichkeit darstellt. Angesichts der Verpflichtungen zu einer wissenschaftlichen Kontrollierbarkeit des Übersetzens, wie sie einem Sonderforschungsbereich obliegen, stellt die Position Benjamins jenen Gegenpol dar, der aus der Tradition der absoluten Vorrangigkeit einer adamitischen Sprache herstammt und sich der nachbabylonischen Sprachzerstreuung widersetzt, die ihrerseits den Ausgang für George Steiners Studie After Babel. Aspects of Language and Translation (1975) darstellt, worin das Paradoxon von Babel und die Fülle nicht vergleichbarer Sprachen der selbstverständliche Ausgang einer Sprachphilosophie ist, die jedem Übersetzen, das immer ein Interpretieren ist, zugrunde liegt. Das mag als Hinführung zur Tagung genügen. Doch sei am Ende die Bemerkung erlaubt, dass wir den Begriff der Übersetzung nicht deswegen ausgeweitet haben, weil die Philologen unter uns die Minderheit sind und wir den übrigen Projekten auch die Chance zur aktiven Teilnahme an der Tagung bieten wollten. Man erkennt schnell, dass nur die Sektion I und Teile von Sektion II und III dem klassischen Problem der interlingualen Übersetzung gewidmet sind. Im SFB gibt es nur ein Teilprojekt, das ausschließlich mit der Übersetzung befasst ist; es ist das Vorhaben der klassischen Philologen. Dieses Projekt ist ein Eckpfeiler des

Vorwort

XIII

SFB. Hier stellen Übersetzungen einzelner Werke festumrissene Transformationsleistungen dar, die sich als exemplarischer Untersuchungsgegenstand anbieten, um allgemeine Modi und Gesetzmäßigkeiten für die Transformation der Antike zu untersuchen. Doch sind Übersetzungen sowohl die Grundlage als oftmals auch der Auslöser für konkrete Transformationsprozesse, so dass die Analyse der betreffenden Transformationen nur in Abhängigkeit von den relevanten Übersetzungen erfolgen kann. So ist es auch Ziel der Tagung, in vergleichenden Untersuchungen der Frage nachzugehen, was interlinguale Übersetzung mit unserem Konzept der Transformation gemeinsam hat und was ihre Differenzen ausmacht. Darum erweitert sich besonders in den Sektionen 3 bis 6 der Fächer dessen, was noch als Übersetzung gelten oder nicht mehr gelten kann: Welche Rolle spielen Übersetzungen für die philosophische Begriffs- und Theoriebildung? Was bedeutet es, wenn man den Übersetzungsbegriff auf das Verstehen als Übersetzung zwischen Begriffssystemen ausweitet? In welcher Weise werden Übersetzungen relevant für die Transformationen der Wissenschaften seit der Frühneuzeit? Während in diesen Beiträgen die Sprache das Leitmedium bildet, ändert sich dies schlagartig mit dem Hinzutreten der bildenden Künste und Archäologien in den Sektionen IV und VI, die mit materiellen Objekten, Architekturen oder Bildern arbeiten: Damit ist die spannende Frage gestellt, ob und inwieweit das Konzept der Übersetzung auch für die vielfältigen intermedialen Transformationen zwischen Texten, Bildern, Bauwerken, Landschaftsgestaltungen oder materiellen Relikten tauglich ist. Gibt es hier Formen von >ÜbersetzungÜbersetzung< heißen, wenn sie begrifflich auch auf nichtsprachliche Übertragungen angewendet wird? Die Herausgeber danken Lars und Kerstin Kaufmann sowie Georg Toepfer für Ihren großen Einsatz bei der redaktionellen Betreuung dieses Bandes. Dem Verlag de Gruyter, insbesondere Frau Sabine Vogt, danken wir für das spontane Interesse, die Reihe »Transformationen der Antike« in das Verlagsprogramm aufzunehmen und für die hervorragende verlegerische Betreuung der Bände.

Inhalt

Sektion I - Übersetzung antiker Texte als Transformation KLAUS REICHERT Das Fremde als das Eigene. Übersetzung als Transformation und Selbstsetzung

l

HELLMUT FLASHAR Transformation der Transformation - Übersetzungen antiker Dramen auf der Bühne

19

JOSEFINE KITZBICHLER Nach dem Wort, nach dem Sinn. Duale Übersetzungstypologien

31

NINA MINDT Die optimale Transformation (der Antike). Ein Überblicksversuch über die Übersetzungsdiskussion in der Gegenwart

47

PAUL BOTLEY Fifteenth-Century Translators on their Art: Leonardo Bruni and Giannozzo Manet

61

Sektion II - Übersetzung und Transformation in der Literatur JAN-DIRK MÜLLER Übersetzung in der Frühen Neuzeit. Zwischen Perfektionsideal und einzelsprachlicher Differenzierung

81

TlMO GÜNTHER

Archaische Übertragungen - Rudolf Borchardt und Botho Strauß

105

JULIA WEITBRECHT Übersetzung in neue Sinnzusammenhänge. Konversion in Pseudoklementinen und Kaiserchronik

121

Inhalt

XV

SEBASTIAN MÖCKEL Zwischen Muster und Anverwandlung. Übersetzungen des antiken Liebesromans in der Frühen Neuzeit

137

Sektion III - Übersetzen und Verstehen TlLMAN BORSCHE

Epochaler Bedeutungswandel in Grundbegriffen. Thesen und exemplarische Fallstudien

159

KLAUS CORCILIUS Wann ist eine Übersetzung besser als die andere?

173

Sektion IV - Übersetzung und Transformation in der bildenden Kunst

ALAIN SCHNAPP Le sentiment des ruines, de l'Orient ancien aux Lumieres: continuites et transformations

193

PASCAL WEITMANN Vom römischen Sarkophag zum romanischen Portal. Der Jagdsarkophag von St.-Loudre zu Deols und das Portaltympanon von St.-Ursin zu Bourges 217

ANNETTE DORGERLOH »Antik gelebt, antik begraben«. Hermann Fürst von Pückler-Muskau und seine Erinnerungslandschaften in Muskau und Branitz

235

MICHAEL NIEDERMEIER Von der Schrift in die Landschaft: Die Isis-Initiation des Apuleius in der Mystischen Partie des Wörlitzer Gartens

267

Sektion V - Übersetzung und Transformation in den Wissenschaften JÜRGEN RENN/PETER DAMEROW Mentale Modelle als kognitive Instrumente der Transformation von technischem Wissen

311

MATTEO VALLERIANI From Condensation to Compression: How Renaissance Italian Engineers approached Hero's Pneumatics

333

XVI

Inhalt

MALCOM D. HYMAN Semantic Networks: A Tool for Investigating Conceptual Change and Knowledge Transfer in the History of Science

355

ANNE EUSTERSCHULTE Deutsche Übersetzungen aristotelischer Schriften im 18. Jahrhundert. Die Rezeption der Praktischen Philosophie

369

Sektion VI - Transmediale Übersetzungen

LUCA GIULIANI Die unmöglichen Bilder des Philostrat: Ein antiker Beitrag zur Paragone-Debatte?

401

ESTHER SOPHIA SONDERKAUF Von der Wahrnehmung zur Beschreibung. Johann Fichards /w (1536/1537)

425

FRANK FEHRENBACH Nymph and corpuscle. Transformations of the Aqua Virgo

45 5

ANNA SCHREURS Die Götterbilder des Vincenzo Cartari in der Darstellung von Joachim von Sandrart....

475

Autorenverzeichnis

525

Abkürzungsverzeichnis

531

Personenregister

535

Sachregister

543

Sektion I

Übersetzung antiker Texte als Transformation

Das Fremde als das Eigene. Übersetzung als Transformation und Selbstsetzung KLAUS REICHERT

i. Wenn man das Wort >Trivialität< steigern könnte, wäre der Titel meines Vertrags »Übersetzung als Transformation« der Superlativ einer solchen, denn was ist denn Übersetzung anderes als Transformation? Etwas heißt jetzt etwas anderes andere Wörter, anderer Satzbau, andere Laute, manchmal wechselt das Alphabet oder statt einer Bilderschrift erscheint eine Buchstabenfolge -, und doch soll es dasselbe heißen, nur eben in anderer Gestalt. Damit wäre die übersetzende Transformation ein fast äußerlicher, fast mechanischer Vorgang und ließe das zu übersetzende Werk im wesentlichen unbeschadet. Natürlich wissen wir, dass das so nicht funktioniert, nur stehen wir vor der Frage, wie etwas als das Gleiche ausgegeben werden kann, nur in anderem Gewand, als gäbe es etwas Äußerliches, die Literalität, die für das Gemeinte, Sinn und Bedeutung, nicht wesentlich sei. Manchmal kann man von einer gelungenen Übersetzung lesen, so hätte der Autor geschrieben, wenn er in der Sprache des Übersetzers geschrieben hätte. Können Original und Übersetzung die zwei Seiten eines Blattes Papier sein? In einem deutschen Kloster in Jerusalem erzählte mir einmal ein glücklicher Mönch, er beziehe seine Kraft aus der täglichen Lektüre des Wortes Gottes. Auf die Frage, wie sich ihm denn das Wort Gottes offenbare, sagte er »Auf Deutsch. In der Einheitsübersetzung.« Er las also einen Text, der von katholischen und protestantischen Christen unter Rücksichtnahme auf jeweilige theologische Empfindlichkeiten erarbeitet worden war, wissenschaftlich korrekt, doch unbekümmert um die sprachliche Form, oder nur insofern, als dem Leser keine komplizierten Satzkonstruktionen oder nicht auf Anhieb zu verstehende Wörter zugemutet werden sollten. Das Wort Gottes? Ich will meinen glücklichen Mönch nicht lächerlich machen, denn hinter seiner Naivität steht die jahrtausendealte Überzeugung, das Eine und das Andere wären dasselbe. Von Transformation braucht man dann ernsthaft nicht mehr zu sprechen. Vielleicht hat diese Überzeugung ihren Ursprung im Pfmgstwunder: Auf die Köpfe der zwölf Apostel brausten Zungen herab, »zerteilt wie vom Feuer [...]

Klaus Reichert

und sie wurden alle voll des heiligen Geistes und fingen an, zu predigen mit anderen Zungen, nach dem der Geist ihnen gab auszusprechen.« Die Umstehenden verwundern sich, denn die zwölf Männer sind ja alle Galiläer - »wie hören wir denn ein jeglicher seine Sprache, darin wir geboren sind?«1 Dann werden sie aufgezählt, die Völker - Parther, Meder, Elamiter, Mesopotamier, Judäer, Kappadokier, Leute vom Schwarzen Meer und aus Asien, Phryger und Pamphylier, Ägypter, Libyer, Römer, Juden, Kreter und Araber. Sie alle hören das Wort des Heiligen Geistes in ihrer eigenen Sprache. Soll das nicht heißen - und das entspräche ja auch dem Missionsbefehl -, dass der Heilige Geist mit einer Zunge spricht, ganz gleich in welcher Sprache? Das wäre ganz im Sinne der Absicht Jesu, nicht dem Buchstaben des Gesetzes zu folgen, sondern seinen Geist zu erfüllen. Es wäre auch im Sinne der meisten Übersetzer - von Hieronymus über Luther bis zur Einheitsübersetzung -, das, was sie für das Gemeinte halten, zu übertragen und nicht das, was buchstäblich dasteht. Mein glücklicher Mönch hätte also recht. Nur kann man sich dann natürlich fragen, warum die Kirche jahrhundertelang Übersetzungen in Volkssprachen verboten hat. Das Pfmgstwunder steht im Kontext des Neuen Testaments isoliert da, es wird kein Bezug darauf genommen, es ist eine Wundergeschichte unter vielen, aber es steht an einer strategisch wichtigen Stelle, denn es ereignet sich direkt im Anschluss an die Himmelfahrt Christi. Und damit schließt sich der Kreis, der mit der Babelgeschichte begann, die die Sprachenvielfalt, die Sprachverwirrung >bavel< - erklären sollte. Sie steht auch dort erzählerisch unmotiviert da, ist eine Interpolation, die das Geschlechterregister Schems, des ältesten Noah-Sohnes, unterbricht. Die drei Noah-Söhne sind die Stammväter der drei der damaligen Welt bekannten Kontinente, sie haben die Welt gewissermaßen fleischlich bevölkert und jetzt erst, durch Menschwerdung, Opfertod und Himmelfahrt Christi, werden sie vom Irdischen erlöst und in den Zustand einer Transzendenz gebracht: Die verlorengegangene Eine Sprache wird vom Heiligen Geist durch die Vielsprachigkeit hindurch wieder hergestellt. Das alles ist natürlich christlich gedacht im Zusammenhang der Zurichtung der hebräischen Bibel, die >Altes Testament< genannt wurde, in Hinsicht auf das Neue. Das ist in der Tat eine Transformation, eine translatio spiritus. Wie lässt sich die Interpolation der Babelgeschichte verstehen, wenn schon nicht erzähltechnisch? Es ging den Menschen von Babel nicht primär darum, einen Turm zu bauen - der ist bloß ein Zeichen -, sondern vielmehr darum, sich einen Namen zu machen. Der Name ist in der hebräischen Bibel hoch besetzt, er heißt etwas, er setzt Identität. Adam heißt so, weil er von >adamaHawaAbramAbrahamIsraelTetragrammatonHaschemjaradYitzchaq< (>IsaakTsadi< »90« und der letzte Buchstabe, >Qufkyriosdominus< usw. der höchste Name gemeint ist. Niemand kann auch verstehen, dass im Verweisungssystem der Bibel häufig Teile des Namens verwendet sind, etwa in der Endsilbe von >Hallelujahejeh asher ejehsum qui sumeimi ho önejeh< aus drei Buchstaben des Tetragrammatons gebildet, der vierte Buchstabe ist das Aleph, dem insofern besondere Bedeutung zukommt, als die Tora mit dem zweiten Buchstaben, dem Beth, beginnt, das wie eine nach links geöffnete Klammer aussieht. Rechts dagegen, im imaginären ungeschriebenen Raum auf der Rolle, kann nur das Aleph stehen, der göttliche Kehllaut, der selbst nicht lautet, aus dem aber alles - Buch und Schöpfung - folgte. Eine andere Herausforderung des hebräischen Textes liegt darin, dass er von den Wurzeln der Wörter her gedacht und geschrieben ist, von den Wurzeln, die gewissermaßen permutiert werden und zu ganz unterschiedlichen Bedeutungen ausgefaltet werden können. Das sind Transformationen, die die Grammatik ermöglicht, es ist das, was Herder den »Wurzelsinn«, Rosenzweig die »Wurzelsinnlichkeit« genannt hat. Manchmal ist diese Art Autopoiesis offenkundig, manchmal ist sie es nicht und verlangt den Scharfsinn der Talmudisten über die Jahrhunderte, die unter den Vor- und Nachsilben reduzierten oder wegassimilierten Wurzeln zu entdecken. So hat ein Griechischübersetzer des ersten Jahrhunderts im ersten Wort der Bibel, dem Hapax legomenon >bereshitroshenkephalaioEligyne< und >aner< gesprochen. Hieronymus weist ausdrücklich darauf hin und übersetzt »virago, quoniam de viro sumpta est«, um das hebräische Wortspiel >ish - ishah< nachzubilden. Gewiss folgt er den LXX in einigen prinzipiellen Entscheidungen wie der Ersetzung des Gottesnamens durch >kyrios< bzw. >dominus< oder der Herabstufung der Namen zu Attributen, aber im Ganzen versucht er die Konkretheit des Hebräischen zu retten und hütet sich vor Transformationen in philosophische Terminologie. An manchen Stellen fragt man sich freilich, ob nicht bei einer Abweichung vom Original die christliche Theologie ihre Hand im Spiel gehabt habe. So wenn die junge Frau im Hohelied selbstbewusst sagt »Schwarz bin ich und schön«, da heißt es abwertend im Lateinischen »nigra sum sed pulchra«. Hat er es nicht anders gewusst? Doch in seiner Übersetzung des //0/ze//ed-Kommentars von Origines lesen wir »nigra sum et speciosa«. Was in der Vulgata steht, muss also nicht notwendig die originale Übersetzung des Hieronymus sein, sondern kann sich den vielerlei Überarbeitungen unter kirchlicher Aufsicht verdanken. Ein anderes Beispiel: Als Hiob auf dem Misthaufen sitzt und mit einer Scherbe seine Schwären abkratzt, höhnt ihn seine Frau mit den Worten: »Segne Gott und stirb.« Man hat das schon früh als einen Euphemismus verstanden, weil man Gott in der Bibel nicht lästern dürfe, gleichwohl im Hebräischen am Rand vermerkt - wie es üblich war bei Irrtümern oder offensichtlichen Verschreibungen -, was eigentlich gemeint war. Jahrhundertelang wurde das Gesagte - bei Ausschaltung des Gemeinten, das doch sonst immer Priorität hatte - tradiert: »benedic deum et morire«. Noch Luther schreibt im letzten von ihm redigierten Druck von 1545: »Segene Gott und stirb«. Erst die anglikanischen Engländer wagen es, klar und deutlich zu sagen: »Curse God and die«. Dabei hatte Hieronymus das Problem schon erkannt und wenigstens zweideutig wiederzugeben versucht, als er übersetzte: »benedic in deum«, also etwa »sprich Segnungen gegen Gott«. Wieder fiel in der Tradition der Kirche

Das Fremde als das Eigene

dieses kleine, aber vielleicht entscheidende in einer Theologie zum Opfer, die mit der Radikalität des Buches Hiob ohnehin ihre Schwierigkeiten hatte. Als die LXX die Bibel übersetzten, galt sie noch nicht als heilige Schrift. Das Wort >heilig< kommt im Übrigen nur ganz selten vor; das dreifache >heilig< beim Propheten Jesaja (Kap. 6, Vers 3) ist, wenn man so sagen kann, ein Hapax. Die Schriften wurden, sehr verkürzt gesagt, gelesen als Zeugnisse der Rechtsgrundlage für den Bund mit Gott. Insofern war es vertretbar, sie in den ganz anders gearteten Kulturraum des Hellenismus zu übertragen. Für Hieronymus stellte sich die Frage der Übersetzbarkeit neu. Die Schriften galten inzwischen als heilig, waren das offenbarte Wort Gottes, so dass es kaum Spielraum für den Übersetzer gab: Der Aufmerksamkeit durfte das winzigste Detail nicht entgehen. Gleichwohl sagt gerade das Detail etwas aus über das Textverständnis des Übersetzers und es bezeugt Akzentsetzungen, die von der jeweiligen Theologie her geschrieben sind. Ein Beispiel aus dem Buch Daniel: Der Prophet wird angewiesen, alles was er an Offenbarungen, Apokalypsen über das Weltende gehört und gesehen hat, zu verschließen, zu versiegeln, »usque ad tempus statutum«, also etwa: »bis zu gegebener Zeit«, »bis zur festgesetzten, bestimmten Zeit«. Das ist sehr vage, im Grunde nichtssagend ausgedrückt, um die gemeinte Zeit, gut augustinisch, in der Schwebe zu halten. Im Hebräischen stehen hier zwei Wörter unverbunden nebeneinander: »Zeit« und »Ende« ('et qez), die man verbinden kann wie man will. Luther übersetzt »bis auf die letzte Zeit«, das ist fast so vage wie die lateinische Fassung. Die englischen Protestanten übersetzten 1560 in Genf: »till the end of time«; auch das lässt das Ende der Zeit unbestimmt, zur Zukunft hin offen. In der von James I. 1611 autorisierten Bibel heißt es: »even to the time of the end«, und damit ist klar die Endzeit gemeint. Dass Endzeit und Jetztzeit zusammenfallen, werden die folgenden Jahrzehnte in diesem millenarischen Jahrhundert in England zu erweisen suchen.3

II. Die Frage nach der Eigenmächtigkeit einer Übersetzung stellt sich bei heiligen Texten prinzipiell nicht. Sie durften nichts hinzufügen, nichts weglassen und hatten dem Wortlaut des Originals ins kleinste zu folgen, sofern das sprachlich machbar war. Selbst geringfügige Abweichungen wurden von theologischen Sprachwächtern geahndet, unter der richtigen Annahme, dass der liebe Gott im Detail stecke und manchmal eben auch der Teufel. Ganz anders ist die Lage bei profanen Texten. Jahrhunderte-, jahrtausendelang wurden sie behandelt wie Steinbrüche, aus denen sich Material für eigene Gebäude heraushauen ließ. In Deutschland entstand erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein Bewusstsein für 3

Vgl. meinen Aufsatz »In diesem Herbst der Welt. Francis Bacons Begründung der Wissenschaft aus dem Geist der apokalyptischen Verheißung«, in: Reichert (2002), 239-258.

Klaus Reichert

die Sakrosanktheit auch profaner Texte. Noch Wieland machte mit Shakespeare, was er wollte; Schlegel, eine Generation später, folgte ihm Wort für Wort. Im Folgenden möchte ich mich mit der Homer-Übersetzung von George Chapman beschäftigen, die 1598 zum ersten Mal erschien und in den folgenden Jahren erweitert und korrigiert wurde. Sie ist der erste große Auftritt Homers auf der frühneuzeitlichen Bühne in einer Volkssprache, ist eine radikale Transformation des archaischen Textes in einen ganz anderen Kulturraum, darin der Septuaginta vergleichbar, und ist zugleich eine der bedeutendsten Dichtungen der elisabethanischen Literatur. Man fragt sich dabei aber zunächst, warum Homer eigentlich so spät für die Übersetzung in eine Volkssprache entdeckt wurde. Troja war ja einer der beliebtesten Erzählstoffe des Mittelalters und der Renaissance bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts. Dafür gab es zwei Quellen: Dictys Cretensis, der sich als Gefolgsmann des Idomeneus ausgab, und im vierten Jahrhundert ein Tagebuch über den Fall Trojas auf Lateinisch schrieb, das er aus dem Griechischen übersetzt zu haben vorgab, das wiederum auf eine phönizische Quelle zurückgehen sollte. Die andere Quelle ist Dares Phrygius, der sich als einen von Homer erwähnten trojanischen Priester ausgab und ein Buch De excidio Troiae im fünften Jahrhundert schrieb. Beide Quellen waren noch Grundlage für Chaucers und Shakespeares Dichtungen. Dass Homer nicht interessierte, hängt mit der übermächtigen Gestalt Vergils zusammen, des später so genannten >Vaters des Abendlandesaltissimo poetapoeta sovranosiremute< generiert, um dann auf das abschließende >threw< zuzusteuern. Es gäbe zahllose ähnliche Beispiele, die den poetischen Erfindungsreichtum bezeugen. Chapman >weißzur Sache< gehört, zum Beispiel umständliche Vergleiche oder Beschreibungen, wenn sie nicht seinem Ideal der »clearness« entsprechen, die meisten Epitheta und beabsichtigten Stereotypen fallen weg, dunkle Wörter gibt es nicht, weil Homer angeblich auch keine verwendete. Dafür fließt der Text dahin - wenn man bei heroischen Couplets von Fließen sprechen kann -, verständlich, rätsellos, durchsichtig, den Fortgang der Handlung im Blick, aber eben auch ohne die ausschweifenden, in Poesie gesetzten Kommentare Chapmans. Es ist ein nüchterner Homer, obwohl ihn Hobbes - soweit hat das Blatt sich inzwischen immerhin gewendet - für einen größeren Dichter hält als Vergil und das in der Vorrede am Beispiel der Vergleiche auch begründet. Ich gebe Ihnen ein Beispiel für die >perspicuitas< des hobbesschen Stils aus der berühmten Schildbeschreibung im 18. Gesang der Ilias. Hephaistos schmiedete für Achill neue Waffen, darunter einen Schild, auf dessen Rund er die ganze Welt darstellte, die Erde und den Himmel mit den Konstellationen, friedliche und verfeindete Städte, Viehzucht, Weinbau, Festgepränge und Krieg. Einmal wird ein jäh ausbrechender Kampf beschrieben. Das heißt bei Hobbes: Without remorse / They one another slay with sword and spear. / And there disorder plac'd was and debate; / And one borne wounded out, another found, / Another dead was dragg'd away by Fate, / With bloody coat and armour on the ground.26

Das ist geradeheraus erzählt, mit einer einzigen wohl dem Reim geschuldeten Wortumstellung; selbst ein Wort wie »Fate« dürfte für den gewöhnlichen Leser kein Stolperstein gewesen sein. Das liest sich in der annähernd wörtlichen Übersetzung Schadewaldts so: »Und aufgestellt schlugen sie die Schlacht an den Ufern des Flusses / Und warfen gegeneinander mit den erzbeschlagenen Lanzen.« Hier kommt die moralische Kategorie »remorseless« nicht ins Spiel. Weiter: Und unter ihnen machte sich Eris zu schaffen [and there disorder placed was and debate], und unter ihnen Kydoimos [also der Dämon des Schlachtgetümmels] und die verderbliche Ker [das ist eigentlich die Todesgöttin, bei Hobbes >FateOdyssey< of George Chapman, New Haven 1956. Most, Glenn, »The Second Homeric Renaissance: Allegoresis and Genius in Early Modern Poetics«, in: Genius. The History of an Idea, ed. Penelope Murray, Oxford 1989, 54-75. Reichert, Klaus, »Vom Turmbau zu Babel«, in: Vielfacher Schriftsinn. Zu Finnegans Wake, Frankfurt am Main 1989, 198-204. Reichert, Klaus, »In diesem Herbst der Welt. Francis Bacons Begründung der Wissenschaft aus dem Geist der apokalyptischen Verheißung«, in: Wissensideale und Wissenskulturen in der frühen Neuzeit, hg. v. Wolfgang Detel/Claus Zittel, Berlin 2002, 239-258. Schadewaldt, Wolfgang, Die Ilias, 6. Aufl. Frankfurt am Main 1988. Smith, George Gregory (ed.), Elizabethan Critical Essays (1904), Oxford 1964. The English Works of Thomas Hobbes (1844), ed. William Molesworth, vol. X, London, Reprint Aalen 1966. van Tieghem, Paul, Repertoire chronologique des Litteratures modernes, Paris 1935.

Transformation der Transformation Übersetzungen antiker Dramen auf der Bühne HELLMUT FLASHAR

Dass die Übersetzung von einer Sprache in eine andere in vielfacher Hinsicht den Charakter einer Transformation hat, gehört zu den gesicherten Ausgangspositionen des Teilprojektes B 7 »Übersetzung der Antike« im Rahmen des Sonderforschungsbereiches »Transformationen der Antike«. In der Tat bedeutet die Übersetzung die Transformation von Sprachkörper und Sprachseele in einen anderen kulturellen Kontext mit nur partieller Übereinstimmung der Sprachfelder in der Begrifflichkeit, mit unterschiedlichen syntaktischen Strukturen und Konventionen, mit verschiedenen Systemen bei metrisch gebundenen Texten in der Transposition einer quantitierenden in eine akzentuierende Metrik. Es war ein Irrglaube des 19. Jahrhunderts, bei einer Übersetzung »im Versmaß des Originals«, wie sie Johann Jakob Christian Donner durch die Übersetzung sämtlicher erhaltener griechischer Dramen zur Virtuosität gesteigert hatte, könne in der gleichen Abfolge der Silben etwas vom Sprachgeist einer Nation in die andere übergehen, wie es Wilhelm von Humboldt in seiner berühmten Vorrede zur Übersetzung des Agamemnon für möglich gehalten hatte. Auf diese Transformation sozusagen ersten Grades möchte ich heute nicht näher eingehen, sondern auf die Transformation zweiten Grades, auf die Problematik also, die sich ergibt, wenn der übersetzte Text auf die Bühne gelangt und im Theater aufgeführt wird. Dabei möchte ich vor allem auf die allgemeinen methodischen Probleme eingehen und diese dann an einigen wenigen Beispielen illustrieren. Auf die Theaterarbeit als solche, auf die Regie vor allem, werde ich mich nur insoweit einlassen, als diese unmittelbar mit dem Problem der Übersetzung und deren Transformation auf die Bühne verknüpft ist. Auch bleibt die Komödie hier unberücksichtigt, in der sich das Verhältnis von Text und Theater etwas anders darstellt. Zunächst ist auf zwei Beschränkungen aufmerksam zu machen. Der Blick auf die Transposition der Übersetzung einer griechischen Tragödie auf die Bühne isoliert das Gesamtphänomen. Für den Regisseur ist eine solche Übersetzung ein Text wie jeder andere, wie eine Übersetzung eines Shakespeare-Dramas, wie ein muttersprachlicher Text eines heimischen Autors. Gewiss mag es bei der antiken Tragödie für die Theaterarbeit einige Besonderheiten geben, grundsätzlich steht

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der Regisseur aber bei jedem Bühnen text vor der gleichen Aufgabe. Auch kann man heute nicht mehr sagen, dass z. B. die aulische oder taurische Iphigenie des Euripides uns hinsichtlich der Rezipierbarkeit ferner steht als die Iphigenie Goethes. Was also aus der Sicht des Philologen eine Transformation zweiten Grades ist, stellt sich für den Regisseur als eine Transformation ersten Grades dar; er transportiert einen Text auf die Bühne. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es die gleichen Regisseure sind, die gelegentlich ein antikes, meist aber ein modernes Drama inszenieren. Der Anteil des antiken Dramas am gesamten Spielplan der deutschsprachigen öffentlichen Theater liegt bei einem Prozent. Die zweite Beschränkung liegt in der Vielfalt der Sprachen. Wir können den Transport einer Übersetzung auf die Bühne nur beurteilen, wenn wir die Zielsprache kennen, in die ein antikes Drama übersetzt ist. Das trifft (bei mir jedenfalls) zunächst für das Deutsche zu, in eingeschränktem Maße für das Englische und das Französische, bis zu einem gewissen Grad für das Neugriechische. Aber das antike Drama auf der Bühne ist ein internationales Phänomen. Neuerdings nehmen sich das russische und das japanische Theater in starkem Maße der griechischen Tragödie an. Beide stehen in der jeweiligen nationalen Tradition, das russische Theater in derjenigen des berühmten (1940 im Gefängnis gestorbenen) Wsewolod Emiljewtitsch Meyerhold (nach dem ein Moskauer Theater benannt ist), das japanische Theater in der Nö- und Kabuki-Tradition. Beide haben einen stark rituellen Charakter, der jetzt - in der Phase der Wiederentdeckung des antiken Dramas durch diese Nationen - die Aufführungen prägt. Ich habe kürzlich einen russischen Philoktet gesehen, in der die Figur des Neoptolemos und damit der Motor der ganzen Handlung gestrichen war. Übrig blieb eine bloße Studie über das Leiden Philoktets, von einigen Sprachfetzen begleitet. Ganz ähnlich war der Aias des jetzt prominenten griechischen Regisseurs Terzopoulos, in der der stark verkürzte Text von zwei Schauspielern nur rezitiert wurde, während die Darstellung der psychischen Verfassung des Aias durch Gebärden, rhythmische Klagen und Bewegungen im Vordergrund stand. Die Sprache des Textes wird abgelöst durch die Sprache des Körpers. Wir können bei derartigen Inszenierungen zwar den Regiestil erkennen, auch - in Kenntnis der Handlung des Dramas - Weglassungen des Textes (eher als Hinzufugungen), die Bühnenfassung des Textes im Einzelnen können wir nicht beurteilen, auch nicht wie der Tonfall einer Übersetzung in eine uns fremde Sprache auf der Bühne wirkt. Das Japanische schien mir bei einer Aufführung im Jahr 2003 in der Übersetzung grob und abgehackt, wenig geschmeidig zu wirken. Ein weiteres Problem betrifft das Verhältnis von Bühnenfassung des Textes und Regie, einschließlich möglicher Veränderungen der zugrunde liegenden Übersetzung. Das Problem ist nicht neu, denn das Regietheater gibt es mindestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, es gewinnt aber unter den spezifischen Ausprägungen des modernen Regietheaters gegenwärtig an Brisanz. Dabei markiert die Relation von Text und Regie nur einen Teil des Problems, denn das moderne Regietheater verwirklicht sich auch auf anderen Ebenen.

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Die erste Frage ist die nach dem Stellenwert der Übersetzung als eines Bühnentextes im Kontext des Gesamtkunstwerkes einer Theateraufführung. Der Philologe neigt dazu, den Text für die primäre und zentrale Komponente der Aufführung zu halten. Das ist aber keineswegs unumstritten. Helmut Schäfer, Dramaturg im Theater an der Ruhr in Mühlheim bei Roberto Ciulli, hat in einer Podiumsdiskussion die Ansicht vertreten, der Scheinwerfer sei mindestens ebenso wichtig wie der Text. In der Tat gibt es Auffuhrungen antiker Dramen, bei denen der Text (in welcher Form auch immer) eine untergeordnete Rolle spielt und in den Hintergrund tritt. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Pariser Inszenierung der Orestie von Ariane Mnouchkine, die zu Beginn der 90er Jahre auch durch Gastspiele in Deutschland Furore gemacht hat. Die ins Exotische gesteigerte Farbenpracht der Gewänder und die rituellen Gesten der Schauspieler lassen das Visuelle besonders stark in den Vordergrund treten. Entsprechend wird in den meisten Kritiken der Name des Übersetzers überhaupt nicht genannt und die Übersetzung mit keinem Wort charakterisiert. Dem entspricht eine Tendenz, die sich auch sonst beobachten lässt: In Pressekritiken wird heutzutage die Eigenart der Übersetzung (ich beziehe mich immer auf das antike Drama) weit weniger beachtet, als dies früher der Fall war. Im Zeitalter des Regietheaters sind die Einfalle des Regisseurs auch in der öffentlichen Wahrnehmung zumindest der Presse offensichtlich von größerer Bedeutung als die zugrunde liegende Übersetzung. Der Inhalt des Stückes wird indessen in den Kritiken meist ausführlich erzählt, weil dessen Kenntnis nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Die nächste Frage betrifft die Entscheidung des Regisseurs für eine bestimmte Übersetzung. Diese hängt gelegentlich von reinen Zufällen ab, in der Regel aber wird der Regisseur eine Übersetzung wählen, die ihm für sein Regiekonzept die entsprechenden Gestaltungsmöglichkeiten bietet. Diese Voraussetzung erfüllt ihm manchmal keine der vorliegenden Übersetzungen. Die meisten Übersetzer haben ja auch keine praktische Bühnenerfahrung. Dann macht der Regisseur eine eigene Übersetzung. In den seltensten Fällen erarbeitet er diese aus dem griechischen Text unmittelbar, sondern er stellt aus mehreren vorliegenden Übersetzungen eine Fassung zusammen, die er dann als »Übersetzung« ausgibt, was manchmal auch eine Frage der Tantiemen ist. Derartige Fassungen entfernen sich in der Regel relativ stark vom griechischen Text. Das ist jedoch nicht der Fall bei dem herausragendsten Beispiel dieser Art, bei der inzwischen legendären Orestie von Peter Stein, die ich 1980 noch am Halleschen Ufer gesehen habe. Bernd Seidensticker hat die Übersetzung publiziert, so dass die Dinge gut überblickbar sind. Peter Stein hat, wie er in der Vorbemerkung mitteilt, nicht weniger als acht Übersetzungen benutzt und mehrere Kommentare eingesehen; ferner hatte er philologische Beratung. Er nennt seine Fassung »meine Übersetzung«; in einer früheren Veröffentlichung von 1980 (offenbar als Lesetext für die Aufführung) heißt es: »Die Orestie des Aischylos, in Prosa-Übersetzung nacherzählt«. Gleichwohl wirkt die Übersetzung nicht >prosaisch< (wie auch Seidensticker bemerkt), behält die reiche Metaphorik bei, oft

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auch die »Reihenfolge der sinntragenden Worte« (Stein) und enthält den ganzen Text mit geringfügigen Weglassungen und Ergänzungen, so z. B. die refrainartige Wiederholung der Worte: »Tun - Leiden - Lernen« durch den Chor im Agamemnon. Die Übersetzung wirkt gelegentlich redundant, weil Stein manchmal mehrere Übersetzungen hintereinander setzt, so gleich am Anfang: »Die Götter bitte ich um eine Änderung, um ein Ende meiner Mühen, um ein Ende meines jahrelangen Wachdienstes.« Im Original steht nur einmal > ( ) Nichts weglassen, nichts hinzufügen weitgehend befolgt. Heyme bekennt ausdrücklich: »Ich klebe am Text« und auch von Peter Stein ist das Dictum überliefert: »Der Text ist sakrosankt.« Diese konservative Haltung dem Text gegenüber bedingt jedoch keineswegs eine konservative Inszenierung. Namentlich Heyme hat verschiedentlich auf der Grundlage der Übersetzung Schadewaldts kühne und auch umstrittene Regiekonzepte verwirklicht. Es kann aber kein Zweifel sein, dass zumal im Falle der griechischen Tragödie (bei der Komödie mag es anders sein) eine Aufführung des ganzen Textes dazu beiträgt, das Drama adäquat zu rezipieren, d. h. es zu erkennen oder wieder zu erkennen. Ich habe eben diese gleiche Erfahrung mit meiner eigenen Übersetzung der Elektra des Euripides gemacht, die Heyme inszeniert und im Oktober 2005 im Theater im Pfalzbau in Ludwigshafen auf die Bühne gebracht hat. Bei einer Diskussion mit dem Publikum nach der letzten Aufführung fragte eine Dame, ob denn das wirklich alles Euripides sei. Sie rechnete offenbar mit Eingriffen des Regisseurs in den Text und war ganz erstaunt darüber, wie modern Euripides ist. Schadewaldts Übersetzungen sind in den Jahren 1956-1972 entstanden, d. h. vor mehr als einer Generation. Jede Übersetzung ist ihrer Zeit verhaftet. Ob diese Übersetzungen heute noch angemessener Ausdruck in der Verwirklichung der eigenen Maxime sein können, wäre zu fragen. So sind ja auch die Übersetzungen Donners, die im 19. Jahrhundert (und im beginnenden 20. Jahrhundert) auch auf dem Theater gespielt wurden, >dokumentarisch< in der Bewahrung des vollen Wortlauts, ja sogar des Metrums. Und doch würde heute niemand diese Übersetzungen einer Theateraufführung zugrunde legen. Von deutschen Übersetzungen, die nicht als >dokumentarisch< im Sinne Schadewaldts zu bezeichnen sind, werden gelegentlich diejenigen von Walter Jens gespielt (hier lohnt sich eine eingehendere Analyse), auffallend häufig aber die Übersetzungen von Ernst Buschor, während andere nur sporadisch auf der Bühne vertreten sind. Das ist umso bedeutsamer, als ja der 1961 gestorbene große Archäologe seit langem nicht mehr persönlichen Einfluss auf die Welt des Theaters nehmen kann, während umgekehrt nach dem Tode Schadewaldts das Theater nur noch selten zu dessen Übersetzungen greift. Eine Erklärung mag darin liegen, dass die Sprache Buschors zwar wuchtig, gelegentlich archaisch anmutet, aber in ihren zahlreichen Willkürlichkeiten anfälliger für Textänderungen und subjektive Konzeptionen aller Art durch das Theater ist. Buschor, der als Archäologe alter Schule noch sehr gut Griechisch konnte, hat in wenigen Jahren sehr schnell alle erhaltenen 31 Tragödien übersetzt. Wie das vor sich ging, hat mir der vor kurzem

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verstorbene Schüler Buschors Gottfried Gruben, selbst ein bedeutender Archäologe (Die Tempel Griechenlands ist sein bekanntestes Buch), erzählt. Danach hat sich Buschor auf der Insel Samos (wo er gegraben hat) abends an den Strand begeben mit dem griechischen Text, einem Langenscheidt-Lexikon und einer Flasche Retsina. Und in kurzer Zeit war die Übersetzung einer Tragödie fertig. Das mag anekdotisch übertrieben sein, zeigt aber im Kern einerseits das enorme Vermögen Buschors zu künstlerischer Sprachgestaltung und andererseits eine gewisse Sorglosigkeit dem Text gegenüber, wobei gegenläufig zu einer gelegentlich spürbaren feierlichen Archaik das antike Wort in die Anschauungswelt der Gegenwart versetzt wird, etwa wenn >feä< mit »O Himmel« oder die Worte > < mit »Was scheidet die Geister« oder > (El. 1338) mit »Geh mit Gott« übersetzt werden, um nur diese wenigen Beispiele zu nennen. Die Verringerung der Distanz zwischen dem Fremden und dem Eigenen bei gleichzeitiger Verehrung des Klassischen prägt übrigens in ganz analoger Weise das archäologische Credo Buschors. In der 1948 erschienenen Abhandlung Über die Pferde des Phidias findet sich die Bemerkung, die Pferde (auf dem Westfries des Parthenon) seien unseren Anschauungsformen so nahe gestaltet, dass man sie streicheln möchte wie richtige Pferde. Entsprechend will Buschors Übersetzung so sein, als sei es gar keine Übersetzung. Jedenfalls lohnt sich auch im Falle Buschors eine genauere Analyse seiner Übersetzungen. Als eine Gruppe für sich kann man die Übersetzungen griechischer Dramen von Dichtern bezeichnen. Sie sind zu unterscheiden von Nachdichtungen wie der Antigone von Bertolt Brecht, des Philoktet von Heiner Müller oder der Griechendramen von Hugo von Hofmannsthal. Es geht also um reine Übersetzungen, und zwar insofern sie auf die Bühne gelangen. Zwei Besonderheiten sind anzumerken. Einmal handelt es sich hier um Kunstwerke sui generis mit einem gegenüber den philologischen Übersetzungen stärkeren Eigengewicht. Sodann spielt ihr Alter gegenüber den philologischen Übersetzungen eine geringere Rolle. Niemand würde heute auf die Idee kommen, eine philologische Übersetzung aus dem frühen 19. Jahrhundert, z. B. von Solger oder von Donner auf die Bühne zu bringen. Doch die (fast vergessene) Übersetzung der Helena des Euripides von Christoph Martin Wieland aus dem Jahre 1805 hat in Hansgünther Heyme einen kundigen Regisseur gefunden, aufgeführt in Bremen 1991. Der Sog der Übersetzung auf die Inszenierung war so stark, dass Heyme die Aufführung in Szenerie und Kostümen in die Zeit der Übersetzung, also in die Atmosphäre des aufgeklärten Weimar, versetzt hat. Ich füge ein Beispiel einer neueren Dichter-Übersetzung an. Peter Handke, der Autor der Publikumsbeschimpfung, aber auch von Filmen, Hörspielen und Erzählungen, hat im Jahre 2002 den Oedipus in Kolonos übersetzt. Diese Übersetzung ist zur Eröffnung der Wiener Festwochen 2003 im Burgtheater aufgeführt worden in der Regie von Klaus Michael Grüber, der 30 Jahre zuvor mit einer schockierenden Inszenierung der Bakchen hier in Berlin Aufsehen erregt hatte. Handke hat aus dem Original übersetzt. Er kann Griechisch; die Übersetzung ist seinem Griechischlehrer gewidmet. Sie lässt den Atem eines professionellen

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Sprachkünstlers erkennen, insbesondere in der von Musikalität erfüllten Wiedergabe der Chorlieder. Doch finden sich einige, zum Teil vielleicht absichtlich provokativ angebrachte Merkwürdigkeiten. Theseus redet Oedipus mit »Alterchen« (>

< wird teils mit »Fremdmann«, teils mit »Fremdmensch« übersetzt, > < mit »der Anschaffer« (296, gemeint ist Theseus), > < mit »du Dys-dysdys« (804), wie überhaupt gegen Ende des Stückes verstärkt Fetzen des griechischen Originals in die Übersetzung eindringen. Eine Affinität zum Regiekonzept ergibt sich weniger auf der Ebene der Übersetzung als in der Relation zu dem der Übersetzung beigegebenen Essay Handkes, in dem dieser von der Enttäuschung berichtet, bei einem Besuch des Demos Kolonos im Januar 2003 nicht einen lieblichen Hain, sondern eine triste Vorstadtgegend angetroffen zu haben. Entsprechend ist das Bühnenbild eine nur mit einem ausgedörrten Strauch verzierte, schmutzige, von Beton durchrieselte Baustelle. Oedipus, ein mürrischer Alter, versinkt am Schluss einfach in ein Loch, keine Spur von Erlösung oder gar Erhöhung, in seltsamer und offenbar unkoordinierter Koinzidenz mit dem Ergebnis der Untersuchungen des Rostocker Gräzisten Wolfgang Bernard in dessen Buch Das Ende des Oedipus (2001). Das herausragendste Beispiel für die Übersetzung einer griechischen Tragödie durch einen Dichter mit Transposition dieser Übersetzung auf die Bühne ist Hölderlins Übertragung der beiden Tragödien Antigonae und Oedipus, der Tyrann. Hölderlin hatte selber schon an das Theater gedacht, denn in einem Brief an Schelling, der ein Freiexemplar erhielt, bittet er diesen, die Übersetzung der beiden Tragödien »an das Weimarische Theater zu besorgen«. Die Eigenart der Übersetzungen und deren Weg auf die Bühne sind mehrfach ausführlich dargestellt (z. B. in meinem Buch Inszenierung der Antike, 1991), so dass ich mich hier kurz fassen kann. Die Übersetzungen, lange als Produkte eines Wahnsinnigen verlacht, sind erst 120 Jahre nach ihrer Entstehung erstmals auf dem Theater aufgeführt worden, zunächst nur die Antigonae, und zwar sehr zögernd. Auffallend häufig erscheinen die Übersetzungen Hölderlins erst seit dem Einsetzen des so genannten modernen Regietheaters. Das Interessante ist, dass zuvor Hölderlins Texte auf der Bühne die Aura der rituellen Strenge und der archaischen Religiosität evoziert haben. Reinster Ausdruck eines solchen Verständnisses ist die musikalische Gestaltung durch Carl Orff. Seit circa 1968 erscheinen aber die Übersetzungen Hölderlins als Grundlage aller möglichen, auch untereinander widerstreitender Regiekonzepte wie der Betonung des politischen Aspektes (Hölderlins Wort von der »vaterländischen Umkehr« in der Antigonae spielt dabei eine Rolle), aber auch des platten Alltagsniveaus oder einer rein psychologisierenden Deutung. Das ist deshalb so merkwürdig, weil sie von allen Übersetzungen die unverständlichste ist. Und ich kann auch George Steiner nicht zustimmen in seinem Urteil, die Übersetzung Hölderlins sei eines der wenigen Beispiele dafür, dass die Übersetzung eines Werkes besser sei als das Original. Gewiss kann sich niemand der bezwingenden poetischen Sprachkraft entziehen, aber wer versteht Sätze wie: »Hochstädtisch

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kommt, unstädtisch zu nichts er, wo das Schöne mit ihm ist und mit Frechheit.« Das ist nicht Ausdruck eines besonderen Tiefsinns, noch nicht einmal der eingeschränkten Griechischkenntnisse Hölderlins, sondern liegt an der ganz unzureichenden alten Textausgabe, die Hölderlin zur Verfugung stand, der so genannten Brubachiana von 1555 (nicht: luntina, wie man früher glaubte) mit fehlerhafter Textgestaltung. Um das eben zitierte Beispiel anzuführen: Die Brubachiana hat statt des richtigen > < fälschlich >

) einen völlig anderen Sinn. Ein anderes Beispiel: Hölderlin versteht (648) den Akkusativ von Zeus: > < als Präposition > SophienausgabeA Demonico»MaccheroniTradurre< (per la >CruscaübersetztCiceronianus< herausgearbeitet hat, die individuelle Physiognomie des Redners gegen seine zwanghafte Anpassung an ein normatives Modell - ciceronianische Beredsamkeit - propagiert, dann ist mit Physiognomie nicht irgendeine kontingente Besonderheit gemeint, nicht die unterschiedlichen vorgegebenen natürlichen Anlagen, sondern deren Vervollkommnung nach einer in ihrer einzelnen Ausprägung zwar vielfaltigen, jedoch im Kern allen gemeinsamen Norm. So tritt Erasmus für eine proprie verfahrende lateinische Rede ein, die kulturelle Diffe54 Ebd., 324. 55 »Atque haud scio, utrum sit magis reprehendum, si Christianus profana tractet profane Christianum se esse dissimulans, an sie materias Christianus tractet paganice. Siquidem Christi mysteria non solum erudite, verum etiam religiose tractanda sunt.«; Erasmus, Dialogus cui titulus Ciceronianus, 320. 56 Erasmus, Dialogus cui titulus Ciceronianus, 352. Zum Ausdruck kommt das, wenn er auf die Frage, wie er denn Cicero einschätze, zugesteht: »Dicendi artifex optimus atque etiam, ut inter ethnicos vir bonus, quem arbitror, si Christianam philosophiam didicisset, in eorum numerum censendum fuisse, qui nunc ob vitam innocenter pieque transactam pro divis honorantur«; ebd., 346: eine Heiligsprechung unter Vorbehalt. 57 Pigman (1979), 169; Cave (1979), 54-77; Greene (1982), 183.

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renzen nicht unterschlägt, doch vor dem Hintergrund, dass Latein das universelle Kommunikationsmittel jener auf Perfektion ausgerichteten humanistisch-christlichen Welt ist, eine Rede also, in der Übersetzungen keinen Platz haben.

V. Erasmus versucht, auf dem Boden der imitatio lateinischer Muster eine angemessene Auseinandersetzung der christlichen Gegenwart mit der paganen Antike zu bestimmen. Gelingen kann das erst, wo imitatio durch traductio, die (unsinnige) Übersetzung innerhalb einer Sprache und eines Diskurses durch die Übersetzung in eine andere Sprache und einen anderen Diskurs ersetzt wird. Vollzogen wird dieser Schritt zuerst in den romanischen Volkssprachen. In der questione della lingua wird zwar das Übersetzungsproblem nur am Rande diskutiert. Indirekt aber wirkt sich die Frage nach dem Rang der Volkssprache im Verhältnis zu den klassischen Sprachen sehr wohl darauf aus. Indem nämlich dieser Rang an einem für alle Sprachen gültigen Perfektionsideal gemessen wird, muss sich eine angemessene Übertragung von einer Sprache in eine andere gleichfalls an diesem Perfektionsideal messen lassen. Der Text wird also, ganz gleich wie er ursprünglich konzipiert war, in der Zielsprache sich an deren stilistischen Normen zu orientieren haben. Deshalb bewegen sich sprachlich elaborierte Übersetzungen im Horizont dessen, was Goethe >parodistisch< nennt. Der >luthersche< Typus läuft dabei nebenher mit. In Sperone Speroni Dialogo delle lingue5* kommen unterschiedliche Ansichten über das Verhältnis von Latein und Volkssprache zu Wort. Auf der Vorderbühne diskutieren der gelehrte Philologe Lazaro Bonamico, der Kardinal Pietro Bembo und ein anonymer »Cortegiano« vom päpstlichen Hof zu Rom. Ihnen berichtet ein »Scolare« von einem früheren Dialog zum gleichen Thema zwischen Lascari und Peretto. In den beiden ineinander verschachtelten Dialogen streiten drei unterschiedliche Positionen gegeneinander. Lazaro (und im eingeschobenen Dialog Lascari) tritt für die absolute Überlegenheit der klassischen Sprachen Latein und Griechisch als Literatur- und Wissenschaftssprachen ein. Bembo stellt ihnen das Toskanische an die Seite, dem er wenigstens für die Zukunft ähnliche Qualitäten zuschreibt. Peretto dagegen hält alle Varietäten der (italienischen) Volkssprache, auch das Mantuanische oder Lombardische, für gleich brauchbar wie die klassischen Sprachen für die Wiedergabe von Wissen und fordert Übersetzungen in alle Volkssprachen. Der etwas unentschiedene Hofmann bringt im gelehrten Disput die Sprache des Hofes zur Geltung.

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Speroni, Dialogo delle lingue. Im Folgenden kommt allein der Übersetzungsaspekt zur Sprache, wobei es mir hier und bei du Bellay nicht um Darstellung einer Tradition, sondern allein um eine exemplarische Behandlung dieses Aspektes geht.

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Für das Übersetzungsproblem sind die Ansichten Bembos und Perettos von Interesse. Die Anlage des Dialogs suggeriert dabei eine klare Hierarchisierung: Die weitestgehende Meinung Perettos wird von den Dialogpartnern auf der Vorderbühne zurückgewiesen - selbst der Hofmann, der zuerst mit ihr übereinzustimmen glaubte, sieht seinen Irrtum ein -, wodurch sich die Frage auf das Verhältnis von >klassischem< Latein und >klassischem< Toskanisch zuspitzt. Es wird zu zeigen sein, dass die Hierarchisierung im Dialog derjenigen der ersten beiden Übersetzungstypen Goethes entspricht. Im Vordergrund-Dialog geht es nicht bloß um einen instrumenteilen Sprachgebrauch, sondern um die Möglichkeit des vollkommenen Ausdrucks als Resultat vollkommener Bildung. Bembo gesteht hier zwar die derzeitige Überlegenheit des Latein zu, sieht aber im Toskanischen die gleichen Möglichkeiten angelegt, für die er im Übrigen die Werke Petrarcas und Boccaccios anführen kann . Speroni lässt ihn gegen die Verabsolutierung des Latein einwenden, ihr zufolge dürfe es eigentlich nur eine einzige Sprache für alle Menschen geben, was Übersetzungen erübrige, doch sei das bekanntlich nicht der Fall. Das Nebeneinander vieler Sprachen relativiert aber nicht das Vollkommenheitsideal, sondern überträgt es als Maßstab auf alle Einzelsprachen. Auf »perfezione«60 müssen alle Sprachen hinarbeiten; »perfezione« ist ein Ergebnis bewusster Kultivierung61. Sie macht einzelsprachliche Abweichungen nebensächlich. Das muss die Konsequenz haben, dass in Übersetzungen zwischen zur Vollkommenheit ausgebildeten Sprachen immer wieder das gleiche Ideal zutage tritt: »non e forse [...] diversa una lingua dall' altra: ehe se le parole sono diverse, arte del comporle e dell'adunarle e una cosa medesima nella Latina e nella Toscana«62. Es ist gar nicht nötig, Fremdheit zu überbrücken, denn das gute Fremde ist vom Eigenen nicht unterschieden. In den Worten Goethes: Übersetzungen müssen, wenn sie nach diesem Kriterium vollkommen sind, dem Betrachter >parodistisch< scheinen. Im eingeschobenen Dialog geht es demgegenüber um die Eignung der verschiedenen Sprachen für den Ausdruck komplexer Sachverhalte, dargestellt am Beispiel der (aristotelischen) Philosophie. Peretto vertritt den Vorrang der »res« gegenüber den bloßen »verba«. Er polemisiert gegen die Vergeudung von Zeit für altsprachliche Erziehung, die vom Studium der Philosophie abhalte . Unter diesem Aspekt sind alle Sprachen von gleichem Wert »e dai mortali ad un fine con

59 Speroni, Dialogo delle lingue, 84 [177]. 60 Ebd., 98 [l 84]. 61 Ebd., 96 [183]. Bembo stellt das mittels der Metaphorik des Wachsens und Reifens dar. Jede Sprache kann einmal zu ihrer Vollkommenheit gelangen, kann aber auch wieder untergehen. Auch das Lateinische musste einen solchen Reifeprozess durchlaufen. Doch ist dieser Prozess kein rein natürlicher. Er erfordert die sorgfaltige Pflege, die gleichfalls in Bildern der »agricoltori« ausgelegt ist; ebd., 96-100 [183-185]. 62 Speroni, Dialogo delle lingue, 84 [l77]. 63 Ebd., 114-122 [192-196].

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un giudicio formate«64 . Die Philosophie könne »ogni uomo, per ogni luogo, con ogni lingua« ihrem Wert entsprechend behandeln65, ob nun in einer der alten Sprachen oder in einem volkssprachlichen Dialekt. Er fordert deshalb Übersetzungen in die Landessprachen, die Jedem erlauben, am philosophischen Gespräch teilzunehmen. Die Philosophie bleibe dieselbe, »senza mutarsi di costume o di nazione«. Jede Muttersprache (»lingua natia«) kann eine »dottrina« wie die des Aristoteles ausdrücken 6. Seine Gedanken könnten »per mutamento di voce« nicht untergehen67. Auch laut Peretto wäre es besser, wenn es nur eine Sprache gäbe; aber wo dies nicht der Fall ist, orientiere man sich am besten an der Sprache, die man >von Natur< aus spreche (»cosi ora esser meglio ehe l'uomo scriva e ragioni nella maniera, ehe men si scosta dalla natura«68), denn in ihr könne man sich am besten ausdrücken. Das Gespräch im Gespräch empfiehlt einen Typus von Übersetzungen, bei dem es nicht auf die Form ankommt. Peretto vertritt die Position, die Goethe Luther zuschreibt und die dieser in Bezug auf den theologischen Gehalt seiner Übersetzung beansprucht. Für die Diskutanten des Hauptgesprächs, Bembo und Lazaro, ist das zu wenig. Bembo verweist auf die unterschiedlichen Leistungen der einzelnen Sprachen, die von Gelehrten und Literaten ausgebaut werden müssen, so dass das Toskanische eben nicht mit dem Lombardischen oder Mantuanischen auf einer Stufe steht. Wo Peretto auf die überzeitliche Geltung kultureller Inhalte setzt, da unterstellt Bembo einen universalen Verständigungsrahmen der Gebildeten, die demselben Ideal der Eleganz, Exzellenz und Vervollkommnung verpflichtet sind.69 Wenn auf der Vorderbühne die stilistische »perfezione« des sprachlichen Ausdrucks strittig ist, dann auf der Hinterbühne seine Sachadäquatheit. Ohne normative Kriterien kommen beide nicht aus. 64 65 66 67

Ebd., 116 [193]. Ebd., 122 [196]. Ebd., 116, 118 [193 f.]. Ebd., 126 [198]. Ganz selbstverständlich ist vorausgesetzt, dass die aristotelische Philosophie für alle Menschen gleich und gleich wichtig ist. Auch hier gibt es also einen gemeinsamen, jetzt inhaltlich bestimmten kulturellen Raum oberhalb aller einzelsprachlichen und historischen Differenzen. Die Wachstumsmetaphorik ist für Perettos Argumentation allerdings unangemessen. Lascari hält ihm vor, dass man auch einen Oliven- oder Orangenbaum nicht in eine ungeeignete Umgebung verpflanzen könne. Peretto wählt deshalb den Vergleich mit kostbaren Handelsgütern, die von einer Nation zur anderen transportiert werden; ebd., 116, 118 [193 f.]. In Perettos Argumentation geht es um die Vermittlung einer mit sich identischen >SubstanzAlten< und den >Neuen< selbstverständlich unterstellt, gleichwohl aber an einem normativen Kulturkonzept festhält. Voltaire kommt damit zu vier maßgeblichen Epochen: dem Athen des Perikles, dem Rom der späten Republik und frühen Kaiserzeit, dem Florenz der Medici und dem Zeitalter des Sonnenkönigs.

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Speroni, Dialogo delle lingue, 66 [168]; 98 [184]; du Bellay, Deffence et illustration, 156 u. ö. Speroni, Dialogo delle lingue, 84 [ 177]. Der Hofmann bekennt sich aufgrund der Argumente Perettos zu seinem >Römischmoderner< Übersetzungen steht. Das >parodistische< Übersetzungsprinzip kann nur in Grenzen Innovationen anregen. Dies ist weit eher bei dem unvollkommeneren ersten Übersetzungstypus der Fall, dort wo die Übersetzung sich mit der Einbürgerung von Inhalten begnügt. Über die Alternative dieser beiden Übersetzungstypen kommt die Frühe Neuzeit nicht hinaus.

Literatur Apel, Friedmar, Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg 1982 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, 3. Folge, 52). Breuer, Dieter, Oberdeutsche Literatur 1565-1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit, München 1979 (= Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, Beiheft 11). Cave, Terence, The Cornucopian Text. Problems of Writing in the French Renaissance, Oxford 1979. Du Bellay, Joachim, La deffence et illustration de la langue franqoyse (1549), Ed. Critique par Henri Chamard, Paris 1904. Erasmus von Rotterdam, »Dialogue cui titulus Ciceronianus sive de optimo genere dicendi [...]« (1528), Übers., eingel. u. mit Anm. versehen v. Theresia Payr, in: Ausgewählte Schriften, Bd. VII, Darmstadt 1972, 2-355. Gardt, Andreas, »Die Übersetzungstheorie Martin Luthers«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 111 (1992), 87-111. Goethe, Johann Wolfgang von, »Rede zu Wielands Andenken. Gehalten in der Trauerloge des 18ten Februar 1813« (1813), in: Sämtliche Werke, hg. v. Friedmar Apel u.a., Bd. 17, Frankfurt am Main 1994, 426-448. Goethe, Johann Wolfgang von, West-östlicher Divan (1819), 2 Tie., in: Sämtliche Werke, hg. v. Hendrik Birus, Bd. 3/1, Frankfurt am Main 1994. Goethe, Johann Wolfgang von, »Tochter der Luft« (1822), in: Sämtliche Werke, hg. v. Friedmar Apel u. a., Bd. 21, Frankfurt am Main 1998, 270-273. Hänsch, Irene, Heinrich Steinhöwels Übersetzungskommentare in >De claris mulieribus< und >Äsophistoristischer< Infragestellung vorarbeitet.

Übersetzung in der Frühen Neuzeit

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Curtius (l954), 25. So Borchardt in der (seinerzeit ungedruckt gebliebenen) Erwiderung auf Frederigo Heftis Rezension aus dem Jahr 1930; vgl. Borchardt, Erwiderung in Sachen >Dante Deutsch, 80. Vgl. Apel(1989). Hier lässt sich einzig Strauß' 1981 publizierte Übersetzung von Eugene Labiches Das Sparschwein. Komödie anführen.

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sehen und des Fremden, die zahlreiche Anregungen aus Borchardts Schriften empfangen hat. Und ganz wie bei diesem tragen die Implikationen über den engeren Zusammenhang hinaus, wenn, wie im Anschwellenden Bocksgesang, der Anschluss ans Archaische eine existentielle Dimension gewinnt, als ein »Akt der Auflehnung gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgeklärter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und sie ausmerzen will«5. Nicht weniger geht es dabei um die Auflehnung gegen eine eschatologisch getönte Zukunft: Anders als die linke, Heilsgeschichte parodierende Phantasie malt sich die rechte kein künftiges Weltreich aus, bedarf keiner Utopie, sondern sucht den Wiederanschluß an die lange Zeit, die unbewegte, und ist ihrem Wesen nach Tiefenerinnerung und insofern eine religiöse oder protopolitische Initiation.6

Mit der Absage an politische Utopien verbindet sich das Bekenntnis zu einer Vergangenheit, in dessen Formulierung kaum zufällig die Stichworte »Mythos« und »Initiation« fallen. Wenn Borchardt, nach Curtius' Wort, als Myste gelten darf, dann Strauß als sein Initiant, der sich, wie zu zeigen sein wird, von jenem in die Weihen eines eigentümlichen Dionysos-Kults einfuhren lässt. Und wenn Stefan Breuer festgehalten hat, dass bei Botho Strauß »Religion« geschrumpft sei »auf den Glauben an ein Heiliges schlechthin, an ein Tremendum und Faszinosum, das nur wegen seiner Funktion gesucht wird, nicht wegen seines spezifischen Inhalts«7, dann lässt sich das insbesondere auch auf Borchardt übertragen und an dem Stellenwert ablesen, den er dem antiken Gott des Rausches, beiläufig zunächst, in seinen programmatischen Äußerungen zum Problem des Übersetzens einräumt. Unter dem Geleit des Gottes wird bei Borchardt wie bei Strauß ein ekstatisches Verhältnis zur Vergangenheit erkennbar, das man heuristisch eine >dionysische Hermeneutik< der Geschichte nennen könnte.

I. Strauß' Hinwendung zu Borchardt und dessen Idee einer »konservativen Revolution«8 verknüpft sich mit einer schrittweise vollzogenen Absage an seine eher im linken politischen Lager zu suchende Vergangenheit. Noch im Jahr 1980 äußert Strauß in einem Interview, er habe Ernst Blochs Prinzip Hoffnung einst wie seine Bibel gelesen.9 »In meiner intellektuellen Erziehung«, so sagt er,

5 6 7 8 9

Strauß, Anschwellender Bocksgesang, 62. Ebd., 62. Breuer (l995), 3. Zu diesem komplexen Begriff und seiner Stellung bei Borchardt vgl. Breuer (1997). Hage (l987), 195.

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[...] hat halt die dialektische Schule eine große Rolle gespielt [...]. Man las alles von Benjamin und verschaffte sich mit einem Zitat das entsprechende Fluidum. Aus dieser Schulung bin ich nie herausgetreten und werde da wahrscheinlich auch nie herauskommen.10

Nur ein Jahr später allerdings fallt in dem Prosaband Paare, Passanten der inzwischen schon beinahe sprichwörtlich gewordene, in deutlicher Anspielung auf und Abgrenzung gegen Adorno gemünzte Satz: »(Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer; aber es muß sein: ohne sie!)«11 Spätestens von hier aus hat die literarische Öffentlichkeit, haben Literaturkritik und Literaturwissenschaft Strauß' Wandel vom, so scheint es, linksorientierten Zeitdiagnostiker zum rechstkonservativen Kulturkritiker beobachten können. Zum 1993 im Anschwellenden Bocksgesang artikulierten Bekenntnis, dessen Veröffentlichung eine beispiellose Debatte nicht allein in der literarischen Öffentlichkeit entfachte, schien es folgerichtig nur noch ein kurzer Weg: »Rechts zu sein, nicht aus billiger Überzeugung, aus gemeinen Absichten, sondern von ganzem Wesen, das ist, die Übermacht einer Erinnerung zu erleben, die den Menschen ergreift [.. .].«12 Wie erklärt man diese Entwicklung? Die naheliegende Antwort lautet: Sie läuft in einer Linie mit der zahlreicher anderer Linksintellektueller, die seit dem Mauerfall die Seiten gewechselt haben. Die fernerliegende Antwort lautet: Sie hat etwas zu tun mit einer Lektüre, und zwar mit der Lektüre von Rudolf Borchardts Das Gespräch über Formen und Platons Lysis deutsch, zu dessen Neuerscheinung im Jahr 1987 Botho Strauß unter dem Titel Distanz ertragen ein Nachwort beigesteuert hat.13 Unbeschadet der Richtigkeit der ersten, der soziologischen Antwort auf die Frage nach Strauß' >Richtungswechsel< möchte ich mich im Folgenden also allein der zweiten, der ästhetischen Antwort zuwenden. Die Auseinandersetzung mit Rudolf Borchardts Ausführungen zu einer Theorie der Übersetzung haben Botho Strauß' Poetik wichtige Impulse gegeben. Borchardts Übersetzung und Übersetzungstheorie fungieren als Voraussetzung und Auslöser von Transformationen der Antike, indem sie Strauß halfen, sein Konzept des Archaischen zu entwickeln 10 Hage (1987), 199; vgl. 214: »Der Marxismus« - so Hages Paraphrase von Strauß - »und die ihm vorausgehenden eschatologischen Vorstellungen könnten die Prozesse der Gesellschaft nicht mehr erklären. Diese Prozesse seien nicht dialektisch strukturiert, sondern wahrscheinlich vollkommen änderst« Vgl. Wilke (1992), 124: »Die bei Adorno und den Denkern der Frankfurter Schule noch theoretisch reflektierte Dialektik zwischen subjektiver Identitätskonstruktion und gesellschaftlicher Prägung des Ichs verschiebt sich bei Strauß nun [i. e. Ende der siebziger Jahre, T. G.] ganz im Sinne der strukturalistischen Doktrin der Fremdsteuerung des Subjekts durch symbolische Prozesse.« 11 Strauß, Paare, Passanten, 115. 12 Strauß, Anschwellender Bocksgesang, 62. Der Text erschien erstmals in einer leicht gekürzten Fassung in Der Spiegel, 8. Februar 1993, das Postskriptwn m Der Spiegel, 18. April 1994. 13 Borchardt, Gespräch über Formen, 99-118; Strauß' Essay ist wieder abgedruckt unter dem Titel »Die Distanz ertragen. Über Rudolf Borchardt«, in: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, 5-22.

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und zu profilieren. Es wird zu zeigen sein, dass Strauß die Dialektik, wie es nach der soeben zitierten Aussage scheinen könnte, nicht in toto verwirft, sie aber in einen neuen - und d. h. alten - Rahmen stellt, nämlich den, aus dem sie Borchardt mit seiner Übersetzung des Lysis extrahiert hat. Strauß rettet die Dialektik aus ihrer Vereinnahmung durch die Kritische Theorie, wo sie als Stufenleiter des historischen Materialismus zum Gipfel der gesellschaftlichen Utopie fuhren sollte, indem er ihre Richtung umkehrt und in die Tiefen des Archaischen klettert, um schließlich dort die zitierte Übermacht einer den Menschen ergreifenden, dionysisch tingierten Erinnerung zu erleben. Doch zunächst: Worum geht es in Borchardts Gespräch über Formen! In Gestalt eines Dialogs zwischen Harry und Arnold (dieser ein alter ego des Autors) hat Borchardt 1905, im Alter von achtundzwanzig Jahren, in diesem Text seine Überlegungen zu einer Theorie des Übersetzens skizziert. Geschrieben wurde dieser Text bereits 1901, wie Borchardt in einer vorausgeschickten Notiz verlauten lässt.14 Das Gespräch geht seiner Übertragung von Platons Frühdialog Lysis als, wie er scherzhaft sagt, »Epistula critica«15 voraus. Borchardts komplexe Poetik der Form, die er in zahlreichen seiner Schriften und in immer neuen Ansätzen skizzenhaft umreißt, findet in diesem Gespräch einen frühen Niederschlag. Weder hier noch in anderen Texten wird sie jedoch von ihm theoretisch stringent analysiert und entfaltet, aber auch nirgends sonst extensiver dargelegt: »Insofern kann insbesondere dieser frühe Text als ein Nukleus von Borchardts Gesamtwerk angesehen werden.«16 Der Begriff der »Form« erweist sich als äußerst vielschichtig.17 Deutlich wird aber, dass es Borchardt nicht so sehr darum geht, die mehr technische Seite des Übersetzens zu erläutern, sondern eher darum, das Verhältnis zwischen der Ausgangskultur des zu übersetzenden Texts - hier also der griechischen - und der Zielkultur, in deren Sprache er übertragen werden soll (in diesem Fall die des Wilhelminischen Deutschland) zu bestimmen. Im Zentrum steht die Frage nach der Angemessenheit einer Übertragung aus der fremden in die eigene Sprache, wobei Angemessenheit für Borchardt meint, dass die Fremdheit eines Textes und der Kultur, der er entstammt, nicht durch eine glättende Übersetzung an die Verstehensbedingungen der Gegenwart angenähert werden darf. Ein Gegenbeispiel für die so verstandene Angemessenheit liefern die Übertragungen griechischer Tragödien, die Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, seinerzeit der Herold der Klassischen Philologie, angefertigt hat und die explizit für eine Annäherung 14 Borchardt, Gespräch über Formen, 7. 15 Ebd., 12. 16 Burdorf (2001), 500. 17 Burdorf (2001), 457, unterscheidet zehn verschiedene Verwendungsweisen des Begriffs: 1. Innere Form als Einheit von äußerer Form und Gehalt; 2. Form als inkommensurable Erscheinung der Dichtung; 3. Leben als Quelle und Erfahrungsmedium von Form; 4. Form als Inhalt; 5. Form als Raumbild; 6. Experimente als Zeugung von Form; 7. Form als Metrum; 8. Übersetzung als Schaffung neuer Kunstwerke und Formen; 9. Form als Genre (Gedicht, Gespräch, Brief); 10. Erschließung der Form durch gewaltsame Kritik.

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des zu übersetzenden Texts an die Zielsprache plädieren. An einer der zentralen Stellen von Borchardts Dialog heißt es: Mit einem einzigen Wort kann ich sagen, worauf es ankommt: Inkommensurabilität. Unermeßlichkeit und Unmeßbarkeit alles dessen, was Form hat. [...] Man kann sich an einem Menschen nicht schwerer vergehen, als indem man ihn glauben macht, es gäbe leichte Wege zum Schweren oder, das Schwere sei eigentlich leicht, oder: das Inkommensurable lasse sich eigentlich doch irgendwie unter eine Mensura bringen. Und jetzt sagen Sie mir: Was gibt es leichteres als die Wilamowitzsche Übersetzung einer griechischen Tragödie? [...] Nun, man ist schließlich fertig, klappt das Buch zu, gähnt einmal, und sagt zu sich selber: >Ja, die Griechen! Merkwürdig, wie modern sie doch eigentlich waren! < 18

Mit einem an Nietzsches Historie-Kritik gemahnenden Gestus verurteilt Borchardt den Baiast einer um ihre Alterität verkürzten Vergangenheit und spricht noch zwanzig Jahre später im Eranos-Brief von einem »ins Leere wachsenden Materialhaufen philologischer Scheidekunst«19. Mehr noch als gegen die Masse an Vergangenheit richtet sich aber seine Verve gegen die Methode der Übersetzung, die Wilamowitz zugrunde legt und die er mit einem Zitat aus dessen Schriften anzeigt: »Ein halbes Verständnis ist schlimmer als gar keins und schädigt das Echte und Ganze.« Borchardt sieht hierin nichts als eine Anmaßung, die im vermeintlichen Verstehen des Vergangenen auf der scheinbaren Basis >philologischer Fakten< dieses gerade seiner Eigenheit beraubt, die für ihn in der Fremdheit, in der kulturellen Andersheit, eben jener genannten Inkommensurabilität besteht. Wilamowitz gehört für ihn damit zu einer Gattung - wie er es nennt - »blinder Seelen«: [...] wem lohnte es die Mühe, auch nur bitter zu werden um ihretwillen; mögen sie weiter glauben, das Heil bestehe darin, sich diese Dinge nahe bringen zu lassen. Die, an die ich allein denke, sollen dazu erzogen sein, Distanz zu ertragen. Sie sollen auf irgend einem Wege in das Gefüge einbrechen. Jede Sehnsucht nach einem Ding ist schon der Weg zu ihm, der eigentlichste Weg. Sie sollen mit Ahnung, nicht mit Verständnis beginnen, und sich über alle rätselhaften Stufen hin zum Verständnis erst erweitern. [...] Wie sie ihre gesamte innere Welt mit dem letzten Nerv, der sich bietet, ballen, verdichten und halten müssen, um gegen das Gewühl der äußeren Welt ihr Gewicht zu bewahren, so sollen sie mit den tiefsten Erfahrungen, als deren Blume ihre Seele wächst, mit allem Glück und Unglück, das sie geschmeckt haben, mit ihrem Gefühl des Lebens an diesem zweiten Weltbilde, an der schattenhaften Sphäre saugen. Diese Schatten sind nicht durch fremdes Blut zu versöhnen. Hier ist kein Hammel zu schlachten. Nur dein eigenes Blut bringt den uralten Mund zum Sprechen, um den das Schweigen der Jahrtausende den Zug von grauenhafter Unnahbarkeit, die erstarrte Leidenschaft der Maske eingegraben hat. [...] Die, an die ich denke, soll das Gefühl dieser Unzulänglichkeit niemals verlassen; sie sollen das Herrliche ganz emp18 Borchardt, Gespräch über Formen, 27 f. 19 Borchardt, Eranos-Brief, 106. 20 Borchardt, Gespräch über Formen, 28.

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Timo Günther finden, es niedergeworfen verehren, daß es Objekte gibt, für die sie nicht zulangen. Sie sollen Notwendigkeiten fühlen, die über ihnen sind, wenn sie vor Formen treten.21

Das Wissen, das die neuere Philologie auszeichnet, steht für Borchardt denkbar quer zu ihren Gegenständen - hier: den sokratischen Dialogen -, in denen es gerade und essentiell um jene Haltung intensiven, ihrer selbstbewussten Nichtwissens geht, die mit Sehnsucht gepaart erst eigentlich Verstehen zeugt. Sokrates' Macht bestehe [...] in seiner Fähigkeit, die Dinge interessant zu machen, ihnen ihre Isoliertheit zu lassen [...]; in seiner großen Weisheit, die nicht auf Unberührbarkeit, sondern auf Fehlerhaftigkeit beruht, die nichts gelernt und alles erfahren hat.22

Das Nichtwissen wird hier gegenüber dem Bescheidwissen zur Bedingung der Möglichkeit, Welt allererst erfahrbar zu machen und so gegen die Täuschung zu impfen, die sich einstellt, wenn alles bis zur Unkenntlichkeit verstanden scheint. Erfahrung, so ließe sich mit Hans-Georg Gadamer sagen, der sich hier auf das aischyleische »pathei mathos«, »durch Leiden lernen« bezieht, ist »vorzüglich die schmerzliche und unangenehme Erfahrung [...]· Jede Erfahrung, die diesen Namen verdient, durchkreuzt eine Erwartung.« 3 Das Erlebnis der Distanz zu einem Fremden ist schmerzlich, indem es vorzüglich die Erfahrung des eigenen Nichtwissens ihm gegenüber anzeigt und die Vergangenheit gegenüber der Moderne in ihr Recht setzt. Die Annäherung an Vergangenes fordert das Opfer »eigenen Bluts«, die Aufgabe des Eigenen zugunsten des Fremden. Jede Übersetzung, die den Schein des Verstandenen künstlich erzeugt, täuscht für Borchardt über Möglichkeiten und Bedingungen wirklichen Verstehens hinweg, das sich erst im Bewusstsein des unaufhebbaren Abstands zwischen vergangener und gegenwärtiger Kultur einstellt, diesen Abstand aber zugleich im riskanten Sprung zu nehmen versucht. Borchardt bewegt sich mit seiner Lehre der Distanz in einem Kontext, der von Nietzsches Postulat des »Pathos der Distanz«24 vorgezeichnet und unter anderem von Aby Warburg25, Georg Simmel26 oder Helmut Plessner27 als Stichwort aufgenommen und auf unterschiedlichste Weise ausgemessen wurde. Am erstaunlichsten ist jedoch Walter Benjamin in dieser Reihe zu nennen, der von gänzlich anderen Voraussetzungen herkommend eine eigene Theorie der Übersetzung entwickelt hat, die zu der Borchardts nicht nur in Betonung des Moments der Distanz frappierende Parallelen aufweist.28

21 22 23 24 25 26 27 28

Borchardt, Gespräch über Formen, 29-31. Ebd., 42. Gadamer, Wahrheit und Methode, 362. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 259. Vgl. Neumann (1997), 182 ff. Simmel, Schopenhauer und Nietzsche. Vgl. Lethen (1994), 75-95. Vgl. Osterkamp (1981), 228 ff.

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. Ein später Adept des Distanz-Denkens ist Botho Strauß. Er hat mit der Lektüre Borchardts offenbar eine ihn tief aufwühlende Entdeckung gemacht, vergleichbar derjenigen, die dieser an Herder tat und rückblickend 1924 im Eranos-Brief gegenüber Hofmannsthal beschrieb29. Distanz ertragen, so ja der Titel von Strauß' Essay, darin liegt zunächst ein mit Angst besetztes, Angst einflößendes Ansinnen, indem damit gefordert wird, das Fremde in seiner Fremdheit zu belassen, mehr noch: sie zu betonen. Dieses Ansinnen meint jedoch zugleich mehr, indem es voraussetzt, dass das Fremde ebenso Gegenstand eines Begehrens werden kann. Eben hierauf zielt Strauß, wenn er sich das platonische Verständnis von Erotik aus dem Lysis über eine Annäherung an Borchardts Theorie der Übersetzung zu eigen macht: Wie dort Sokrates dem schönen Lysis [...] das Wesen von Freundschaft und Liebe erkundet, so erschließen hier [i. e. im Gespräch über Formen} die beiden Kunstfreunde [...] zuletzt allein den Liebenden, den Enthusiasten als den wahren, den originalen Übersetzer. Es ist derjenige, der sich mit aller Sehnsucht nach seinem Gegenstand verzehrt und doch zugleich in der Lage ist, >Distanz zu ertragenLob der Torheit< zielt nicht so sehr auf die Frömmigkeit des gottesfürchtigen Pietisten, sondern vielmehr auf das Methodenbewusstsein des dialektisch geschulten Eristikers sokratischen Anspruchs. Dass demgegenüber die Klarheit des Gedankens in Strauß' Arbeiten, wie es der Kritik häufig scheinen will, auf der Strecke bleibt, liegt an eben einer der Transformationen, die er an der dialektischen Methode vollzieht, nämlich ihrer Indienstnahme für die Zwecke der Erfahrbarmachung des Fremden. Das kulturelle und zeitliche Fremdverstehen wird eng an die Erfahrung einer Selbstbefremdung gekoppelt, wie es Sokrates im 29 Borchardt, Eranos-Brief, 116 ff. 30

Strauß, Distanz ertragen, 105.

31

Strauß, Fragmente der Undeutlichkeit, 57 f.

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Timo Günther

Zuge seiner Kreuzverhöre am Gegenüber vollzieht und erzeugt. Die Einsicht ins eigene Nichtwissen muss in Abgrenzung gegen eine Gegenwart erworben werden, in der »die Förmlichkeit der Diskurse [...] den Erkenntnismenschen ab[schirmt] gegen ein wilderes Bewußtsein von sich selbst.«32 Gegen das mediale Rauschen, das, wie es 1993 im Anschwellenden Bocksgesang heißt, ein »Verstehensgeräusch« erzeugt, kann die Flucht in eine fremde Kultur schon lange nicht mehr abschirmen: Es gibt unter der einen Schädeldecke so viele Kulturen des Denkens, Empfindens und Wahrnehmens, wie es früher ungleiche Völker und Kulturen über den Erdball verstreut gab. Gleichzeitig ist es so, daß wir auf immer weniger Andersheit stoßen, sobald wir in die Fremde ziehen, wo in jedem beliebigen Winkel alle Muster von Bewußtsein, die wir fliehen wollten, ebenso gelten oder gerade hinbefördert wurden.33

Die Figuren in Strauß' Theaterstücken sind immer wieder auf der Suche nach dieser Andersheit, und immer wieder begegnet sie ihnen in Gestalt des Gottes Dionysos.34 Seit Nietzsche 1872 mit seiner Geburt der Tragödie das ArchaischEkstatische in Gestalt des fremden Gottes ins Spiel gebracht hat, ist es jedoch längst salonfähig und zu einem Teil derjenigen bürgerlichen Kultur geworden, gegen die Nietzsche den Gott doch einst ins Feld führte. Dionysos ist bei Strauß der Distanz aufhebende Gott, der im Vergnügungsrausch alle gleich macht.35 In der Massenunterhaltung hat das Göttliche jedoch keine Chance auf Epiphanie, die den Einzelnen voraussetzt: Im Zeitalter der Trance bewegen sich die Menschen mit den Dingen ausgeglichen. Halb Chip, halb Tiefe, bleibt ihnen kein Zwischenraum, zu >reflektierem. Die Dinge sind ihnen eingegeben wie im ersten Zeitalter der Trance die Götter.36

Wie lässt sich jener Zwischenraum, wie lässt sich jene Distanz, mittels derer zu reflektieren möglich wäre, wiedergewinnen? Die Büchnerpreis-Rede von 1989 versucht darauf im impliziten Anschluss an Borchardts Gespräch über Formen eine Antwort:

32 Strauß, Der Bibliothekar in der weiblichen Hauptrolle, 119. 33 Strauß, Beginnlosigkeit, 51 f. 34 In seinem Theaterstück Die Fremdenßihrerin thematisiert Strauß gleichermaßen die Indifferenz gegenüber Dionysos und dem Dionysischen wie das sehnsüchtige Verlangen nach ihm; vgl. Strauß, Die Fremdenführerin; vgl. außerdem Kalldewey, Farce, das Drama, das in der Titelfigur zentral von dem Gott handelt; Strauß, Kalldewey, Farce. 35 Vgl. Strauß, Das Maß der Wörtlichkeit, 88: »Wir haben glänzende Fortschritte beim Manipulieren unserer Erregbarkeit gemacht. Droge und schnelle Musik beeinflussen den sensitiven, nicht den emotionalen Bereich unserer Empfindungen. Auch das schmächtigste Gemüt läßt sich im Nu in Ekstase versetzen. Extreme Beschleunigung, schwere Langsamkeit, die sehr kurzen und die sehr breiten Metren, die uns erhitzen oder kontemplativ stimmen, machen eher unempfänglich für den Sog und die Steigerung der dramatischen Form.« 36 Strauß, Zeit ohne Vorboten, 95.

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Inmitten der Kommunikation bleibt er [der Dichter] allein zuständig für das Unvermittelte, den Einschlag, den unterbrochenen Kontakt, die Dunkelphase, die Pause. Die Fremdheit. Gegen das grenzenlos Sagbare setzt er die poetische Limitation.37

»Die Unübersetzbarkeit eines poetischen Textes in die Welt der Kommunikation«, so Strauß weiter, »ist bereits zu dessen Voraussetzung geworden.«38 Seit seiner Entdeckung der Schriften Borchardts - das sollten die Textauszüge nachzeichnen - probt Strauß die Inszenierung einer Sprache, die in ihrer Unübersetzbarkeit insbesondere in die Welt der gescholtenen Medien Anstoß erregen und gleichzeitig Reflexion befördern will. Die Befremdung, die seine Stilkapriolen, die Verwendung zahlreicher Archaismen, Manierismen und Neologismen bei heutigen Lesern gezielt verursachen39, sowie seine immer wieder provozierend konservativen Einlassungen zum Stand allgemeindeutscher Befindlichkeiten, dienen dazu, auf einer anderen Ebene jene Ratlosigkeit und Distanz zu erzeugen, die den sokratischen Aporien gegenüber ihren Adressaten einmal eignete. Philosophisch längst durchschaut und als Methode in unsere Kultur eingegangen, taugen diese jedoch nicht mehr, jene Fragwürdigkeit des scheinbar Selbstverständlichen herzustellen, die nötig ist, um die Gegenwart in ihrer ganzen Komplexität, ihrer Alterität, auch ihrer Fragilität zu erfassen.

III. Es ist bezeichnend, dass Borchardt einen der frühen Dialoge Platons übersetzt, in dem dieser sich noch als enger Schüler des Sokrates erweist, bevor er in seiner späteren Philosophie die (wie Hans Blumenberg es nennt) »Zurücknahme der sokratischen Wendung« vollzieht, die Ethik wieder der Naturforschung unterordnet und damit einhergehend das sokratische Instrument »Aporie« als Mittel der Selbsterkenntnis aushebelt und zunehmend dogmatische Positionen vertritt. In Strauß' Prädilektion des Nichtverstehens, die er mit Borchardt als ein Ertragen von »Distanz« versteht, liegt eine deutliche Absage ebenso an Nietzsches Abwertung des Sokrates wie dessen Aufwertung des Dionysos als eines Gottes, der Distanz aufhebt und seine Anhänger zu einer großen Gemeinschaft formt40. Die Devotion, von der Strauß immer wieder spricht, hat wenig mit politischer Unter37 Strauß, Die Erde - ein Kopf, 28; vgl. Strauß, Fragmente der Undeutlichkeit, 50: »Es mußte schlechthin alles zurückübersetzt werden in die Undeutlichkeit.« 38 Strauß, Die Erde - ein Kopf, 30. 39 Michael Maar sieht hierin weniger eine gezielte poetologische Volte als vielmehr »Unfähigkeit« zum Stil; vgl. Maar (1993). 40 Nietzsche, Geburt der Tragödie, 132: »Ja, meine Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an die Wiedergeburt der Tragödie. Die Zeit des sokratischen Menschen ist vorüber: kränzt euch mit Epheu, nehmt den Thyrsosstab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tiger und Panther sich schmeichelnd zu euren Knien niederlegen. Jetzt wagt es nur, tragische Menschen zu sein: denn ihr sollt erlöst werden.«

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Unterw rfigkeit zu tun, mehr jedoch mit eben jenem sokratischen Nichtwissen, das ein Wissen um die eigenen Grenzen umschlie t und das auch Borchardt wiederholt als methodische Voraussetzung eines tieferen Verstehens anmahnt. Zum dialektisch-aporetischen tritt jedoch bei beiden ein religi ses Moment. Borchardts am Begriff der bersetzung gewonnenes Verst ndnis von »Inkommensurabilit t« verdankt sich n mlich einem theophanen Motiv. Es wird im Gespr ch ber Formen sichtbar und r hrt zur eingangs so genannten »dionysischen Hermeneutik«, die sich einerseits in eine archaische Stil- und andererseits in eine epiphane Erinnerungskategorie aufgliedern l sst. Dem Gespr ch ber Formen ist ein Motto vorangestellt, das Borchardt dem Gastmahl Platons (212c/d) entnommen hat. Es handelt sich um den Abschnitt, der den Auftritt des Alkibiades einleitet, als dieser zu sp ter Stunde ungeladen und betrunken zum Symposion hinzu st t und schlie lich mit einer Rede auf Sokrates anhebt. Alkibiades vergleicht in seinen Worten Sokrates wiederholt mit einem Satyr bzw. mit Silenos, den Begleitern des Dionysos; Sokrates gleiche einem Fl tenspieler (die Fl te ist ein im Dionysos-Kult h ufig verwendetes Instrument), von dem er sich nur dadurch unterscheide, »da du [i. e. Sokrates] ohne Instrumente mit blo en Worten dasselbe bewirkst«, denn [...] wenn ich ihn h re, dann pocht mir das Herz weit st rker als den Korybantenschw rmern [...]. Wenn ich den Perikles h rte und andere treffliche Redner, so mu te ich zwar ihre Rednergabe anerkennen, aber Eindr cke wie vom Sokrates empfing ich nie; nie geriet meine Seele in solche Erregung [...].41

Auch das sokratische »Nichtwissen« erscheint Alkibiades ganz dem Silen gem .42 Die Philosophie selbst mutet ihm schlie lich als eine Art Wahnsinn (μανία) an, die er mit dionysischer Raserei (βακχεία) identifiziert.43 Im auf das Motto folgenden »Epigramm als Widmung« schlie lich ist nicht ber den Umweg der Anspielung, sondern explizit von Dionysos die Rede: Buch sage mir an, an wessen Grabmal schweigst du? Ich schweige. Zu schweigen aber wer hat dich gehei en und warum? Ich will es dir sagen: des doppelt geborenen Gottes Gnadengabe und die des neuen Dionysos (sehnsuchterweckend ist beiderlei Traube den Menschen) und die jugendliche Locke berge ich, die der All-Einheimser f r sich abgeschoren hat, da er jeglichen Gewinstes unteilhaftig blieb.44 41 Platon, symp. ,66(215c-e). 42 Ebd., 68 (216d); vgl. 75 (221d): »Sokrates Reden [...] sind u erlich in Worte und Ausdr cke geh llt wie in das Fell eines berm tigen Satyrs.« 43 Platon, symp., 70 (218b). 44 Borchardt, Eranos-Brief, 527. Das Epigramm ist von Borchardt selbst verfasst worden. Von wem die hier zitierte bersetzung stammt, die in den Anmerkungen zur Ausgabe abgedruckt wird, ist nicht klar. Der griechische Text lautet: »ΒΙΒΛ ΤΙΝΟΣ ΦΕΡΕ ΔΗ ΣΙΓΑΙΣ ΠΑΡΑ ΣΗΜΑΤΙ; ΣΙΓΩ / ΣΙΓΑΝ ΑΛΛΑ ΣΕ ΤΙΣ ΚΑΙ ΤΙ ΚΕΛΕΥΣ; ΕΡΕΩ / ΔΙΣΓΕΝΕΟΥΣ ΤΟ ΧΑΡΙΣΜΑ ΘΕΟΥ ΤΟ ΤΕ ΚΑΙ ΔΙΟΝΥΣΟΥ / ΤΟΥ ΝΕΟΥ ΙΜΕΡΟΕΝ ΤΟ ΣΤΑΦΟΣ ΑΜΦΟΤΕΡΟΝ / ΑΝΔΡΑΣΙ ΚΑΙ ΧΛΩΡΑΝ ΚΕΥΘΩ ΤΡΙΧΑ TAN ΠΕΡΙΚΕΡΔΗΣ / ΚΕΡΣΑΤ ΕΠΕΙ ΚΕΡΔΟΥΣ ΠΑΝΤΟΣ ΑΜΟΙΡΟΣ ΕΦΥ.«

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Borchardt hat diese Zeilen in Anlehnung an antike Grabinschriften verfasst. Das angesprochene Buch, das am Grab des Dionysos wacht, entzieht sich zunächst der unbestimmt bleibenden Person des Fragers durch Schweigen. Doch sein schließliches Reden potenziert die Irritation gegenüber dem vormaligen Schweigen um ein Vielfaches. Gefragt, spricht es zwar, doch es spricht in Rätseln. Seine Antwort ist vielsagend und lässt den Frager verstummen. Seine Worte deuten eine Kommunion in der Gnadengabe des Gottes an, doch bleibt sie zunächst unerfüllt und das Buch lässt sein Gegenüber allein mit seinen Fragen zurück. Die Sehnsucht des Fragers ist geweckt, doch Erfüllung findet sich allein im gedenkenden Erinnern an das Zeichen des Gottes, die bestattete Locke. Das Buch lässt sich als eine Allegorie des Grabs wie der Erinnerung verstehen; dieses - wie jedes beliebige andere - Buch enthält eine Vergangenheit, deren Erweckung denjenigen, der sie wachruft, mit des Dionysos Gaben segnet. Wachrufen aber tut sie der Leser des Epigramms. Wie alle frühen Grabinschriften ist auch Borchardts in der ersten Person Singular verfasst. Auf einer Bronzestatue des sechsten Jahrhunderts vor Christus etwa steht: »Jedem Menschen, der mich fragt, antworte ich das gleiche.«45 Das aber heißt: wer das Epigramm laut liest (wie in der Antike üblich), der leiht der >toten< Schrift seine >beseelte< Stimme und macht sich damit zum Organ eines anderen, eines Vergangenen. Man kann diesen Vorgang als Metempsychose beschreiben, in der der Leser sein Ich einem Fremden überlässt bzw. dieses für die Dauer der Lektüre von ihm Besitz ergreift.46 Im Fall von Borchardts Epigramm ist es das den Gott Dionysos bergende Buch, das den Leser in der Lektüre in Besitz nimmt und ihn so zum Medium einer Theophanie werden lässt. Wenn es zu Beginn des Gesprächs über Formen heißt, »Tee machen, Tennis spielen und Tanzen sind die drei einzigen Kulthandlungen, die uns in dieser götterlosen Zeit geblieben sind«47, so lässt sich der Dialog als Versuch verstehen, dieser resignativen Haltung ein restauratives Programm der »stilumsetzenden Vorzeitbelebung« entgegenzustellen. Diese Vorzeitbelebung aber vollzieht sich über eine partielle, augenblickhafte Selbstaufgabe (»Nur dein eigenes Blut bringt den uralten Mund zum Sprechen«, wie es in der oben S. 109 zitierten Passage heißt) an das fremde Vergangene, wobei die Arbeit der Übersetzung sich als ein Programm zur Restauration der Götter mittels »Metempsychose« erweist: Jedes Buch, das lotterige wie das größte, trägt seinen Autor und sein Publikum in sich. Die Philologie zwingt es nicht heraus, denn sie sondert. Nur die Geschichte beschwört es, durch das, was Goethe den >schaffenden Spiegel< genannt hat, durch das

45 46 47 48

Svenbro(1988), 35 f. Ebd., 154 ff. Borchardt, Gespräch über Formen, 12 f. Borchardt, Einleitung in das Verständnis der Pindarischen Poesie, 227.

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Timo Günther Gegenteil des Sondems, die schlagartige Anschauung eines Ganzen, die man Intuition oder Phantasie genannt hat, die aber besser heißt, was sie ist, Vision.49

Vergangenheit und historische Erinnerung, so Karl Heinz Bohrer, seien bei Borchardt stets gefährdet, weshalb an die Stelle der Intuition - als eines Konzepts, das Borchardt aus Benedetto Croces Geschichtsphilosophie vertraut war50 - die »Vision« rücke: Er will also den subjektiven Faktor bei der Produktion historischer Erinnerung durch den epiphan-objektiven Faktor verstärken. >Ich bin bacchisch an die Feste meines Rausches gebundem, heißt es in einem Brief vom 22. November 1912 an R. A. Schröder in Abgrenzung von dessen Antikebeziehung. Anders ausgedrückt: was bei Croce als eine Bedingung deutender Kapazität, also eine quasi immer zu Gebote stehende Möglichkeit des Forschens gesagt ist, das wird in Borchardts Wendung zu einer Art hermeneutisch-dionysischem Ausnahmezustand.51 Diese dionysische Hermeneutik der Vergangenheit ist bei Borchardt eng gebunden an einen Archaismus des Stils, der zurückfuhrt auf den Begriff der »Form« aus dem Gespräch und im Brief über den Archaismus an Josef Hofmiller (9. Februar 1911) konkretisiert wird als ein literarisch-künstlerisches Darstellungsmittel, »eine bestimmte Denkform, Sehform, ein Weltbild darzustellen«, das dem Künstler dann unverwehrbar sei, »wenn diese forma mentis oder figuratio mundi noch in einem direkt fortwirkenden und lebendig continuierlichen Verhältnisse zu seiner eigenen steht«52. Zwanzig Jahre später in einem Brief an Martin Buber (10. November 1930) spitzt Borchardt die Einheit von visionärer Ergriffenheit und einem reden in >Zungen< noch einmal zu: Übersetzung ist ein magischer Vorgang für den eben darum die Erfahrungen des menschlichen Geistes keine Parallelen haben. Ein Unsterbliches hat Sie von sich besessen gemacht und ist in Sie gefahren, um durch Ihre Sterblichkeit hindurch einen neuen Cyklus anzutreten, es zwingt Sie in einem lebendigen Leibe zu zeugen, aber Sie können in ihm, es kann in Ihnen in diesem neuen Leibe nicht zeugen, wenn Sie diesen Leib nicht lieben, wenn Ihre erobernden erbitterten Sinne nicht das einzige Ziel

49 Borchardt, Grundriß zu Epilegomena zu Homeros und Homer, 70; vgl. Borchardt, Nachwort zu Joram, 320: »Klassizität heißt diejenige ewige Rüstigkeit und Allbereitschaft, diejenige herakleische oder dionysische Götterkraft zu immer neuen Arbeiten und immer frischer Inkarnation [...].«[Hervorh. T. G.] 50 Vgl. Neumann (l997), 157-164. 51 Bohrer (2000), 56; vgl. Apel (1989), 5: »Von Anbeginn seines Nachdenkens über Dichtung wie Übersetzung wurde Borchardt deutlich, wie wenig das Operieren mit sprachlichen Zeichen vom Operieren mit Vorstellungsbildern getrennt werden kann, und so besteht sein Übersetzungsproblem von vornherein nicht in den überkommenen Fragen nach Treue und Freiheit, Verfremdung und Eindeutschung, sondern in der Frage, in welcher Form denn die Vorstellung vom fremden Werk überhaupt in der eigenen Sprache erscheinen kann.« Eben in Borchardts Konzept der »Vision« liegt die Antwort auf diese Frage. 52 Borchardt, Briefe 1907-1913, 353 f.

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haben, in diesem Leibe zu münden, zu enden, sich in neue Körper zu entfalten. Sie sind ein mystischer Besessener Ihrer Sie bewohnenden Ahnen [...].53 Botho Strauß sieht darin Borchardts »Geschenk eines archaisch-reformierten Altertums«54 an die Nachwelt, das er seinerseits transformiert in Prosa und Drama weiterdenkt. Dem Dichter, so heißt es im Borchardt-Essay, der ein Wahrer des geschichtlichen, künstlerischen Erbes ist, gelinge es, »in Zungen der Frühe gleich mit den Frühen zu sprechen«55. Damit aber wird auch die Grenze des Konzepts der Distanz deutlich, wenn nämlich Inkommensurabilität ins Numinose umschlägt.

Quellen Borchardt, Rudolf, »Eranos-Brief« (1924), in: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa l, hg. v. Marie Luise Borchardt, Stuttgart 1957, 90-130. Borchardt, Rudolf, »Nachwort zu Joram« (1907), in: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa I, hg. v. Marie Luise Borchardt, Stuttgart 1957, 319-327. Borchardt, Rudolf, »Einleitung in das Verständnis der Pindarischen Poesie« (1929/30), in: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa II, hg. v. Marie Luise Borchardt, Stuttgart

1959, 131-234. Borchardt, Rudolf, »Grundriß zu Epilegomena zu Homeros und Homer« (1944), in: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa II, hg. v. Marie Luise Borchardt, Stuttgart 1959,7-108. Borchardt, Rudolf, Das Gespräch über Formen und Platons Lysis deutsch. Mit einem Essay von Botho Strauß, Stuttgart 1987. Borchardt, Rudolf, »Erwiderung in Sachen >Dante Deutschneuen< Protagonisten Faustinianus. Dieser kommt immer wieder auf die »wilsaelde«, bzw. die »übel wilsaelde«45 als Grund für seine Widerfähmisse zurück. Das Verhältnis von Schicksal und Vorsehung ist auch Gegenstand der letzten großen Disputation zwischen Faustinianus und Petrus.46 Hier dient Faustinianus sein eigenes Leben als Argument dafür, dass es keine Vorsehung und somit auch keinen Gott gibt: [...] ih vuor näh wibe und näh kinden. ih nemaht ir nehainez niemer mer vinden. also var ih noh, daz ist war, mer denne vierzehen jär, daz ih den Hüten kochete unde buoch, den wite ih hie veile truoch, die kum ih tägelich zöch: Peter, geloubest du an di wilsaslde noch?47 42

Wieder wird hier ein in den Rekognitionen angelegtes Thema aufgegriffen und modifiziert. Dort heißt es im Zusammenhang mit der Tischgemeinschaft mit Ungetauften: »aloquin etiam si pater aut mater sit aut uxor aut filii aut fratres, non possumus cum eis mensam habere communem.« (»Und überhaupt, selbst wenn es der Vater oder die Mutter wäre oder die Ehefrau oder die Söhne oder Brüder, können wir nicht mit ihnen gemeinsam essen.«; Rekognitionen VII, 29, 4; 211). 43 Vgl. Pezsa(1993), 146 f. 44 Jan Bremmer hat in diesem Zusammenhang die Frage gestellt, ob der hellenistische Roman selbst religiöse Dispositionen für diese Theologisierung zur Verfügung stellt: »Can it be that this religious element had made it easier for the authors of the Apocryphal Acts of the Apostles to model their writings partly on the novel? I find it hard to answer the question, but at least it has to be raised.«; Bremmer (2001), 152. 45 Kaiserchronik, V. 1757. 46 Wie »wilsaelde« hier zu verstehen ist, hängt davon ab, welcher Kontrastbegriff zu »providentia« zugrunde gelegt wird: >fatumfortuna< oder >genesisgenesis< im astrologischen Sinne als Geburtsstem oder Geburtskonstellation, wie sie als Begriff auch in den Rekognitionen vorkommt, und kritisiert Martinez für die Gleichsetzung der »wilsaelde« mit Fortuna bzw. Tyche; vgl. Dunphy (2005), 11. Es geht jedoch bei Martinez, wie auch hier, um den Zusammenhang von Kontingenzerfahrung und Sinnstiftung in unterschiedlichen Erzählwelten, innerhalb dessen Fortuna und Providentia als narrative Phänomene unterschieden werden können. Vgl. hierzu Martinez (1996a) sowie Haug/Wachinger (1995). 47 Kaiserchronik, Vse. 3843-3850.

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Gerade die Aufhebung dieser Widerstände, die von Petrus geschickt inszenierte Wiedervereinigung mit seiner Familie, überzeugt Faustinianus in der Folge von Gottes Existenz und bringt ihn zur Konversion. Durch die Umstellungen in der Erzählstruktur im Faustinian läuft die Handlung geradewegs auf diese Wiedervereinigung zu. Das Ergebnis - alle Figuren treten zum Christentum über - ist das gleiche wie in den Rekognitionen, aber die Ereignisse im Vorfeld sind so angeordnet, dass sie retrospektiv daraus zu erklären sind und sinnvoll erscheinen. Die Faustinian-Geschichte ist somit durch die Konversion des Faustinianus, mit Lugowski gesprochen, »von hinten motiviert«.48 Alle Widrigkeiten stellen sich als Vorlauf, als Prüfung heraus: Das anfänglich disparate Geschehen [...] verwandelt sich im Rückblick in eine übergreifende Handlung, die das Geschehen zu einem sinnvollen Ganzen integriert. Der Lauf der Welt - so stellt es sich heraus - folgt nicht der zufälligen blinden Determinierung durch die Gestirne, sondern ist sinnhaftes Produkt göttlicher Allmacht. 49

Somit erfahrt Faustinianus eben die Providenz, deren Existenz er in Zweifel gezogen hat, am eigenen Leib: Die Evidenz göttlicher Vorsehung ist nach dem unerwarteten Wiedersehen mit seiner Familie nicht mehr zu leugnen. Die Konversion erscheint nicht nur als Ergebnis der Trennungen (im Sinne einer vorbereitenden kausalen Motivierung), sondern ist wie die Wiedervereinigung von vornherein Teil des göttlichen Heilsplans gewesen. Alle Ereignisse, die Faustinian zuvor als willkürliche Schicksalsschläge erscheinen mussten, erweisen sich als göttlicher Ratschluss: Die kausale Motivierung wird retrospektiv ergänzt durch eine finale, eben Sinnstiftung »von hinten«.50 Damit gerät ein weiterer Unterschied zu den Rekognitionen in den Blick: Dort erscheint die Konversion eher noch als Produkt eines Lernprozesses, denn Clemens und Faustinianus werden durch die ausführliche Präsentation und Diskussion philosophischen und theologischen Wissens überzeugt. Das macht der »Stimmwechsel«, die Transvokalisierung in der Übersetzung, deutlich: Die Disputationen dienen auch in den Rekognitionen als Präsentationsraum für philoso48

Vgl. Lugowski (1994), 67-81. Der Gebrauch von Lugowskis Terminologie soll jedoch nicht eine literarhistorische Entwicklung oder gar Individualisierung am Übergang von der Spätantike zum Mittelalter implizieren, sondern lediglich zwei im Faustinian vorhandene Motivierungsstrategien benennen helfen. Vgl. Haferland (2005), 344. 49 Martinez (1996a), 89 f.; siehe auch (1996b), 13-15. 50 Diese retrospektive Einsicht gilt allerdings nur auf der Figurenebene - der Leser wird auf den (Heils-)Plan der Erzählung ja mehrfach aufmerksam gemacht; siehe Martinez (1996a), 90 f. Martinez' Schluss, die beiden Erzählwelten des hellenistischen Romans und der apokryphen Apostelakten - Fortuna- und Providentiawelt - würden in den Motivierungsformen im Faustinian verschmolzen, müsste allerdings an den apokryphen Texten noch überprüft werden. Zumindest die Rekognitionen übernehmen ja die Erzählweise und damit die vermeintliche Kontingenz der Ereignisse aus dem hellenistischen Roman. Es wäre zu überlegen, ob nicht die Leistung der mittelalterlichen Adaptionen des Erzählmusters gerade in der erzählerischen Transformation auf ein providentielles Erzählen hin liegen. Vgl. hierzu auch Haferland (2005), 352.

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Julia Weitbrecht

phisches und theologisches Wissen; da dieses Wissen von Clemens selbst aber gerade erst erworben und vorgeführt wird, verringert sich die Distanz dazu. Damit wird zumindest in Ansätzen eine Form von subjektiver Entscheidung verhandelt, die Konversion als Wahlmöglichkeit denkbar macht. Im Faustinian dagegen erscheint sie als unumgängliche Konsequenz einer teleologisch angelegten Handlung. Der Weg zur Konversion wird zwar auch ausgiebig dargestellt, sie erweist sich aber qua Handlung als unausweichlich und somit letztlich nicht diskussionswürdig.51 In diesem Kontext steht auch eine Szene, die sich nur im Faustinian findet: Kurz nach seiner ersten Begegnung mit Petrus wird Clemens die Antwort auf seine Initialfrage (der Verbleib nach dem Tode) in einer Vision zuteil, die ihm enthüllt, dass gute Menschen in den Himmel, böse aber in die Hölle kommen. Das Letztgültige der christlichen Lehre, in den Rekognitionen bis zuletzt Gegenstand der Disputation, ist im Faustinian bereits nach 800 (von etwa 2800) Versen erschöpfend geklärt worden, der Weg dorthin wird aber noch exemplarisch an allen Figuren vorgeführt. Alle Trennungen werden aufgelöst, Faustinianus' Beharren auf der Kontingenz der Geschehnisse wird ausgeräumt - den Sinnzusammenhang des Faustinian stellt jedoch bereits folgende Stelle her: [...] die himel sähen sie offen stän. der engel sprach zu dem jungen man: >Clemens, lieber friunt min, hie solt du iemer ewiclichen sin, mit marter enphaehest du die cröne, die himelisken haimuot näh dem tödex52

Erzählen von der Konversion, so hat sich gezeigt, funktioniert im Mittelalter anders als in der Spätantike, auch wenn es sich um die gleiche Konversion handelt. Vor allem diese veränderte Poetik erscheint im Zusammenhang mit der Übersetzung und Aneignung fremder Stoffe bedeutsam. Die clementinische Konversion wird appropriierend übersetzt, um ihren Sinn als exemplarische Erzählung im 12. Jahrhundert zu erfüllen. Kann man angesichts dieser radikalen Umgestaltung überhaupt noch von einer Übersetzung sprechen? Sicherlich nicht im engen Verstand der »Wiedergabe eines Textes in einer anderen Sprache« . Fragt man jedoch nach Erzählmustern und damit verbundenen kulturellen und religiösen Deutungen, so handelt es sich beim Faustinian um eine Übersetzung der Rekognitionen in einen neuen Sinnzusammenhang. Sinn aber konstituiert sich im historisch verfassten Verstehen. Übersetzung, um an den Anfang meiner Überlegungen zurückzugehen, ist niemals rein reproduktiv und immer schon hermeneutische Aneignung. In der Einverleibung des Fremden schafft die Appropriation 51 Vgl.Pezsa (1993), 157. 52 Kaiserchronik, Vse. 2048-2053. 53 Schweikle (1990), 478.

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darüber hinaus stets auch ein neues Eigenes; sie ist eine Übersetzungsform, die zugleich eine Transformationsleistung darstellt, indem sie »dasselbe anders sagt«54. Die Transformationsgeschichte der Pseudoklementinen ist damit auch keinesfalls abgeschlossen. Die Geschichte von Clemens und seiner Familie kann auch ganz anders erzählt werden und dabei Sinn ergeben, wie eine spätere Prosafassung der Kaiserchronik zeigt: Do erweiten Römaere einen keiser, der hiez Faustinianus, der het ein biderbe wip, diu hiez Mehthilt. si gewan zwen süne mit ein ander, der hiez einer Faustus, der ander Faustinus. si gewan ouch einen sun, der hiez Clemens. Der keiser Faustinianus und diu keiserin Mehthilt und ir sune alle drie die wurden sit getouft [...]. nü sint sie vor got und lebent da mit vreuden ewiclichen und daz wir nach in körnen, daz helfe uns der vater und der sun und der heilige geist. Amen.55

Quellen Deutsche Kaiserchronik, hg. v. Edward Schröder, unveränd. ND München 2002 (= Monumenta Germaniae historica, Bd. 4; 1,1; OA Hannover 1892). Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift (Studienausgabe), Stuttgart 1984. Massmann, Hans Ferdinand (Hg.), Der keiser und der kunige buoch oder die sogenannte >KaiserchronikKaiserchronikErfindung< der Frühen Neuzeit, sondern lässt sich als Argument bereits auf byzantinische Quellen zurückfuhren.54 Noch bis in das 20. Jahrhundert galt Tatios als Nachahmer des vorbildlichen Heliodors - inzwischen weiß man, dass Heliodor der Spätere gewesen ist.55 Um das Einwirken des poetologischen Modells selbst auf die Übersetzung darstellen zu können, werde ich im folgenden Abschnitt zuerst über den Vergleich mit der kritischen Textfassung die Transformationen im Text darstellen, nachgerade eine >Heliodorisierung< des Tatios-Romans aufspüren können und schließlich den Ausblick auf eine mögliche Interpretation der Befunde anbieten.

III. Für die vergleichende Untersuchung der Artlichen Histori Clitophonis vnnd Leucippe nutze ich das analytische Instrumentarium Genettes, das gerade für die intertextuellen Beziehungen von großer Klarheit und Präzision ist. Ich beginne zunächst mit ganz allgemeinen Modifikationen, die sich für die deutsche TatiosÜbersetzung von 1644 ausmachen lassen. Auffallend ist die ungeheure Amplifikation des Textes - mit Genette als »Translongation« zu bezeichnen. Diese Aus51 52 53 54 55

»An den guenstigen Leser«, in: Anmuthige Histori Endymionis vnd Lunae, 6. Ebd. Artliche Histori Clitophonis vnnd Leucippe, 4. Vorwort von Karl Plepelits in: Leukippe und Kleitophon, 33 f. Auch Huet wägt die Datierung ab, ohne sich jedoch entscheiden zu wollen: »quoy qu'il en soit« - Huet, Tratte de l'origine des romans, 36. Zur Datierung siehe das Vorwort von Plepelits zu Leukippe und Kleitophon (1980), 18 ff. oder auch Holzberg (2001), 120 ff.

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Weitungen sind nicht zuletzt dem Hang zu stilistischen Dehnungen, Ausschmückungen von Details oder Redundanzen geschuldet. Hierzu zählen synonymische Reihungen wie »Forcht / Angst / Schrecken vnnd Grausen«,56 aber ebenso die zahlreiche Beibehaltung französischer Ausdrücke und deren anschließender Übersetzung ä la »nutriment vnd Speiß«57. Die Einwirkung des Gattungsmusters ist nicht zu übersehen. Der Roman von Achilleus Tatios ist der einzige Liebesroman, der über eine Ich-Erzählung verfügt. Mittels einer Rahmenhandlung erzählt Kleitophon seine Geschichte einem weiteren Ich-Erzähler selbst. Die Übersetzung jedoch transformiert diese autodiegetische Erzählung in eine auktoriale Narration, wie sie auch bei Heliodor auftritt. Die Transvokalisation, die gleichzeitig eine Transfokalisation darstellt, ist sicher eine Konsequenz aus dem normativen Gattungskonzept. Nun wird interessant, dass nach Wechsel der Erzählstimme der Text dennoch auf Fokalisierungen nicht verzichtet: Die Narration wird oft auf die Person Kleitophons fokalisiert, allein schon um die Dramaturgie der Scheintode Leukippes, deren er angesichtig wird, nicht zu verletzen. In der ursprünglichen Textgestalt bedient sich Tatios einer komplexen Metanarration, die hier jedoch aufgegeben ist zugunsten einer schlüssigen Er-Erzählung. Darin stellt sich eine narrative Paradoxie ein, denn die transformierte Erzählung wiederholt mit ihrer Fokalisation dieselben Effekte, die in der Ich-Erzählung wesentlich günstiger und wahrscheinlicher hätten dargestellt werden können. Allerdings korrigiert die Übersetzung mit ihrer Transvokalisation auch die Inkohärenzen des Ausgangstextes: Nur durch nachgereichte Dialoge und Verweise auf Informationsaustausch mit beteiligten Personen kann wahrscheinlich gemacht werden, dass Kleitophon etwas erzählt, was er nicht erlebt hat und in seinem begrenzten Fokus folglich nicht wissen konnte. Damit ist nun jedoch die ursprüngliche Rahmenhandlung getilgt. Innerhalb einer ausgedehnten Ekphrasis trifft der nicht namentlich bezeichnete Ich-Erzähler auf Kleitophon, der im Fortgang seine Geschichte darbietet. Alles dies fehlt in der Artlichen Histori Clitophonis vnnd Leucippe, ein Verlust, der nicht schwer zu wiegen scheint, denn somit kann die Anfangssequenz - immerhin wichtiges poetologisches Argument bei der Gattungsbestimmung - in frappierender Weise an das Muster Heliodors angeglichen werden. Es sei zunächst an den Beginn der Aithiopika, hier in der Übersetzung Zschorns, erinnert: »Als eines tages sich die morgen röte erzeigte / vnd die Sonn die spitzen des gebirges vberschein / Da war ein volck by der statt Heraclea«.58 Die Übersetzung des Tatios-Roman folgt nun diesem Schema genau:

56 A rtliche Histori Clitophonis vnnd Leucippe, 241. 57 Ebd., 138. 58 Aethiopica Historia, Bl. j.

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Es hatte nunmehr die Sonn ihres Lauffs helffte vollendet / als der Juenglicng Clitophon, von immerwaehrender Sorgfaeltigkeit abgematte /außgienge von der Statt Tyro, darinnen seiner Eltern wohnung war.59

Wie sehr hier der Aurora-Topos Heliodors stilbildend wirkt, verdeutlicht sich, wenn man die Anfange der anderen Romane des Theatrum Amoris, die ebenfalls dem Gattungsmodell folgen, hinzuzieht: »Die liebliche Morgenröte fieng jetzo an außzubreiten vber vnsern Erdtkreiß / das erste Liecht / deß nun mehr angehenden vnd daherwachsenden Tages«;60 oder auch »Es hatte nunmehr das helle Tagliecht Platz gegeben dem tuncklen Schatten der Nacht [...] als eben ein hauffen SeeRäuber [...] niderliessen an der seilen des Lands Cariae«61. Eine nächste Fokalisierung, die für die Artliche Histori Clitophonis vnnd Leucippe kennzeichnend ist, erbringt den Ausweis weiterer Änderungen. Innerhalb der auktorialen Erzählweise wird der Text oft auf Leukippe ausgerichtet. Mit einer solchen internen Fokalisierung wird weit differenzierter über ihre innere Verfasstheit und ihr Begehren berichtet, als das eine konsequente Narration aus der Sicht Kleitophons es glaubwürdig möglich gemacht hätte. Im Zusammenhang damit steht die Beobachtung, dass die textuellen Erweiterungen gerade maßgeblich auf die Affektdarstellung der Personen bezogen sind. Während die für den antiken Ausgangstext typischen Wissensexkurse geographischer, botanischer oder zoologischer Art - z. B. über die Lage von Tyrus62 oder die Herkunft des Vogels Phönix63 - oft getilgt werden, erscheinen die Dialoge der Protagonisten, ihre Träume, monologischen Reflexionen und Interpretationen über die Zeichen der Liebe und die Affektdarstellung in hohem Maße amplifiziert. So wird z. B. aus dem einen Satz - »Und auch sie begann bereits neugierige Blicke auf mich zu riskieren«64 - der weit umfangreichere Absatz: Leucippe an jhrem theil sehend deß Clitophonis geyle Anblick /ließ allgemach das kalte Eyß / mit welchem ehemahlen ihr Hertz vmbgeben war / schmeltzen vnnd aufgehen / empfieng auch ein sonderbar Plaisir vnd Lüste diesen jungen Herrn anzuschawen: so gar / daß ihre Augenblick von eim vnnd anderem theil abgewechselter

59 Artliche Histori Clitophonis vnnd Leucippe, 5. Zum Vergleich Leukippe und Kleitophon (1980): »Sidon ist eine Stadt am Meer; es ist das Meer der Assyrer. Die Stadt ist die Mutter der Phönizier, der Volksstamm der Vater der Thebaner. [...] Hier landete ich einst nach schwerem Sturm und brachte der Aphrodite der Phönizier - Astarte nennen sie die Sidonier - ein Dankopfer für meine Rettung dar. Als ich so auch durch die übrige Stadt umherschlenderte und die zahlreichen Votivgeschenke betrachtete, fiel mein Blick auf ein Votivgemälde, das Land und Meer gleichzeitig darstellte«; ebd., l, l, 1-2. 60 Schoene Histori Caritea, 11. 61 Anmuthige Histori Endymionis vnd Lunae, 9. 62 Leukippe und Kleitophon, 2, 14, 2 ff. 63 Ebd., 3, 25, l ff. 64 Ebd., 2, 3, 3.

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weiß herschiessend, in dem einen vermehrten die Begierd sich naeher herbey zu machen / in dem ändern die gewisse Hoffnung / der Tagen eines einzusamblen die langerwarttete Fruechten.65

Dergestalt wird die Sprache der Liebe gegenüber dem >Ausgangstext< verbreitert und intensiviert. Dies geht jedoch einher mit einer Verengung, die sich als moralische Säuberung verstehen lässt. Noch Huet verwundert sich, »dass man die Unkeuschheit dieses Romans so leichtlich vergessen kann.«66 Die Übersetzung tilgt allzu offensichtliche Referenzen vor allem an die weibliche Sexualität, so den Exkurs über den weiblichen Orgasmus67 oder die Begründung Leukippes, sie könne mit dem ägyptischen Strategen, der ihr nachstellt, wegen ihrer Menstruation nicht schlafen6 . Zudem fällt die breite Diskussion über Vor- bzw. Nachteile der Liebe zu Knaben oder Frauen69 weg. Mehr noch: In der Übersetzung wird in die Debatte die Ehe eingeführt70 und die allgemeine Auseinandersetzung um sexuelles Begehren mit der gesellschaftlichen Institution als Ziel des Begehrens in Verbindung gesetzt.71 An dieser Stelle kommt es notwendigerweise zu einer Transmotivation: Die misogynen Äußerungen von Kleinias werden nun nicht mehr aus der homosexuellen Liebe zu Knaben begründet, sondern auf den Verlust einer Geliebten zurückgeführt. Letztlich wird darüber die Liebe innerhalb des Romans auf eine heterosexuelle Passion verengt. Die wohl nachhaltigste Transformation bezieht sich auf Kleitophons >Fehltritt/z0«-Übersetzung übertragen lässt, eröffnet den Ausblick auf eine Verortung der Transformationsbewegungen in der zeitgenössischen Ausdifferenzierung der Affektkultur, insbesondere der Codierung der Liebe. Das asketische Modell der Keuschheitsbewahrung, das in der Übersetzung erweitert und intensiviert wird, unterstreicht die Tugendhaftigkeit der Protagonisten. Darin stehen sie in der Tradition einer vormodernen Liebescodierung, die mit Niklas Luhmann als »Code der Idealisierung« bezeichnet werden kann.82 Das Ideal keuscher Treue zum Liebespartner, das für den antiken Roman strukturelles Grundmuster ist, wird in jeder Versuchung durch Dritte bestätigt und in breiter Narration sinnfällig gemacht. Das Askesemodell aktualisiert jedoch in jeder Bedrohung und Versuchung der Keuschheit ein mögliches Scheitern der Bewährung, nicht zuletzt gespiegelt in den Irritationen, Selbstzweifeln und melancholischen Suizidabsichten der Liebenden. Die Sicherheit einer ständischen Bindung idealer Helden erscheint zumindest temporär brüchig. Die wiederholten Bestätigungen der Liebesbindung und Konstanz der Gefühle, ihre performative Einforderung verweisen geradezu auf alternative Möglichkeiten. Die Bewahrung der gegenseitigen Treue wird somit kontingent. Letztlich scheint die Freiheit alternativer Bindungsversprechen hinter dem im Vordergrund stehenden Idealmodell auf. Pierre Daniel Huet macht gerade diese Freiheit der Bindungswahl zu einem poetologischen Argument der Vorzüge der an Heliodor geschulten französischen Liebesromane. Ich glaube / dass wir der Beschaffenheit unserer eigenen Liebesgeschichten diese Vortheils zu dancken haben. Zumahlen wan ich von den Franzosen und unsem Landes leuten rede / alß da das Frauen-Zimmer in mehrer freyheit mit den manns leuten umbgehet / als bey den ändern nationen.83

Diese Freiheit jedoch unterminiert die Orientierung an den idealen Eigenschaften des Partners und wird für Luhmann zum zentralen Moment beim semantischen Umbau der Liebescodierung im 17. Jahrhundert. Nicht mehr das Ideal des Gegenüber wird zum Bezugspunkt der Liebe, sondern die Liebe selbst. Die Ausdifferenzierung von >doppelter Kontingenz< als beiderseitiger Freiheit, sich für oder gegen ein Sicheinlassen auf eine Liebesbeziehung zu entscheiden, stimuliert

80 Artliche Histori Clitophonis vnnd Leucippe, z. B. 283 f. 81 Siehe Eming (l999). 82 Luhmann (1982), 57. 83 Huet, Tratte de lOrigine des romans, 155.

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die Entwicklung einer SpezialSemantik, an die man sich, wenn soziale Beziehungen unsicher werden, statt dessen halten kann.84

Die Ablösung der vormodernen Liebessemantik durch neue Codierungen einer in doppelter Kontingenz paradoxalen Kommunikationssituation vollzieht sich langsam, bei Überlagerung >alter< und >neuer< Semantiken. Die antiken Liebesromane, die in ihrer Struktur genau diese zeitgenössische Ambivalenz des semantischen Umbaus in einer Übergangszeit präfigurieren, finden wahrscheinlich deshalb ihr überaus breites Publikum gerade im 16. und 17. Jahrhundert. Ist diese These noch weiterer Untersuchungen zu unterziehen, bleibt jedoch festzuhalten, dass die Übersetzungen antiker Liebesromane in der Frühen Neuzeit die überlieferten griechischen Liebesgeschichten aneignen und in den eigenen Prozess der Ausdifferenzierung der europäischen Affektkultur einbinden. Mit der Selbstverständlichkeit der Rezeption von antiken Liebesromanen dem good wine - ist es längst vorbei. Obwohl mancher Tropfen durch Lagerung noch an Wert gewinnt, kann die lange Transformationsgeschichte des antiken Romans über sein heutiges Nischendasein nicht hinwegtäuschen - was seiner tatsächlichen Qualität, so hoffe ich vermittelt zu haben, nicht entspricht.

Quellen Anmuthige Histori Endymionis vnd Lunae: Theatri Amoris oder Schawplatz der Liebe Dritter Theil. Darinnen begriffen Die sehr anmuthige Histori von keuscher vnd bestaendiger Liebe Endymionis deß Schaeffers in Carea, vnd der Goettin Lunae, sonst Cynthia geheissen, [...] Franckfurt am Mayn 1644. Artliche Histori Clitophonis vnnd Leucippe: Theatri Amoris oder Schawplatz der Liebe Vierter Theil. Darinnen beschrieben / Die sehr artliche vnd ergetzliche Histori von Keuscher / beständiger / vnd durch Mancherley seltzame Anstoeß trefflich bewehrter Liebe Clitophonis vnnd Leucippe, [...] Franckfurt am Mayn 1644. Clitiphon and Leucippe: The most delectable andpleasaunt History ofClitiphon and Leucippe. Written first in Greeke, by Achilleus Statius, an Alexandrian: an now newly translated into English, By VV. B., London 1597 [ND Amsterdam 1977]. Heliodorus Emesenus, Aethiopica Hisloria. In der deutschen Übersetzung von Johannes Zschorn. Faksimiledruck der Ausgabe von 1559, hg. u. eingel. v. Peter Schäffer, Bern 1984. Ismenius: Ismenivs oder / Ein Vorbild saeter Liebe. Das ist Die Histori von der staeten liebe deß Jünglings Ismenij vnd der Jungfrawen Ismene gegeneinander f...], Straßburg 1573.

84 Luhmann (1982), 60. Die romantische Liebe als Zielpunkt des semantischen Umbaus liegt gleichwohl außerhalb der Liebesdarstellung des antiken Romans.

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Achilleus Tatios, Leukippe und Kleitophon. Eingel., übers, u. erläut. v. Karl Plepelits, Stuttgart 1980. Scaliger, Julius Caesar, Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst (1561), hg., übers., eingel. u. erläut. v. Gregor Vogt-Spira, 5 Bde., Stuttgart/Bad Cannstatt 1998. Schoene Histori Caritea: Theatrum Amoris oder Schawplatz der Liebe. Das ist: Eine schoene vnd vberaus anmuethige Histori von Caritea der verliebten Princessin auß Cypern. Anderschieden in Drey Theil nach den Namen der drey Gratien [...], Franckfurt am Mayn 1644.

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Das von den Sophisten bereits vor Aristoteles traktierte Lehrstück von der lexis (WorWRedeform), das von Aristoteles ebenfalls systematisiert wird, untersucht (a) die Figuren der Rede (scheemata tes lexeoos, wie Befehl, Bitte, Frage etc.), (b) ihre Teile (meree tees lexeoos, die sprachlichen Konstituenten der Rede: Laut, Silbe, >WortartenSprache< im Allgemeinen kennen: logos umfasst mehr als >SpracheBezeichnenden< (perl seemainontoon) bzw. von der >Stimme< (perl phoonees), (b) die Lehre vom bezeichnetem (perl seemainomenoon) bzw. vom >Gesagten/ Sagbarem (perl lektoori). Beide Teile zusammen erörtern alle wesentlichen Aspekte dessen, was wir unter >Sprache< verstehen. Der erste (Über die Stimme) umfasst darüber hinaus Fragen der Stilistik, der zweite (Über das Gesagte/Sagbare) das gesamte Gebiet der Logik und Argumentationslehre. Mit dieser Verortung wird ein Dilemma des Begriffs der Sprache deutlich, das bei Aristoteles angelegt war, aber noch verborgen blieb. Sprache erscheint in der philosophischen Reflexion als ontologisches Zwitterwesen. Zentrum und Ausgangspunkt der stoischen Dialektik ist (wie bei Aristoteles) die Logik als die Lehre vom Urteil (axiooma) und den vielerlei Schlussformen. Die Sprachtheorie im engeren Sinn erörtert die Bedingungen und Möglichkeiten sowie die Angemessenheit des Ausdrucks logischer Formen durch die Stimme. Die Stimme (phoonee) aber ist, wie die Vorstellungskraft (phantasia) und der Trieb (hormee), körperlich und damit der (Tier-)Seele zugehörig. Der Mensch teilt die Stimme - auch das sehen die Stoiker genauso wie Aristoteles - mit vielen anderen Tierarten, mit einigen sogar die artikulierte Stimme (diälektos)\ mit allen diesen ist ihm die Fähigkeit des >Zeichengebens< (des >BedeutensUnsinnswörter< blityri und skindapsos (Namen, die ursprünglich aus der Musik stammen und dort auch bedeutsam waren). In ihrer Verwendung macht sich der Mensch Musikinstrumenten ähnlich, die tönen, aber nicht >bedeuten< können, eben weil ihnen eine (Tier-)Seele fehlt. In dem Standard-Traktat der stoischen Sprachtheorie Über die Stimme wird die Rede zunächst in ihre Elemente analysiert, das ist der erste Teil. Dann werden die Redeteile erörtert, nach stoischer Auffassung sind es genau fünf. Diese Erörterung macht den Hauptteil und Kern der Sprachtheorie aus. Schließlich werden die Vorzüge und Fehler der Rede behandelt. Entscheidend aber ist Folgendes: Die gesamte Erörterung des »Bezeichnenden« oder der »geäußerten Rede« (logos prophorikos) bleibt an dem orientiert, was es zum Ausdruck bringen soll, am »Bezeichneten« oder der »inneren Rede« (logos endiathetos), d. h. näher und enger gefasst: am »Gesagten/Sagbaren« (lekton). Das Lekton ist dem Menschen eigentümlich, es ist das Spezifikum der menschlichen Rede. Nicht alles, was Bedeutung hat (seemainomenon), ist auch ein Lekton." Schon die erste Einteilung der Lekta in vollständige und unvollständige legt eine solche Vermutung nahe, denn Bedeutungen können nicht unvollständig sein. Als vollständige Lekta gelten in erster Linie Aussagen (axioomatd), dann aber auch alle anderen in sich abgeschlossenen illokutionären Sprechakte. Als unvollständige Lekta werden nur Prädikate (kateegoreemata) genannt, Satz11

Vgl. Hülser (l992), 17-34, Abs. 2.2.3, 26-29.

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teile also, die zu ihrer Vervollständigung in der Rede eines referierenden Ausdrucks bedürfen. Auch diese Unterscheidung macht deutlich, dass das Lekton nicht wie das seemainomenon als eine Kategorie der semantischen, sondern der pragmatischen Analyse der Sprache zu verstehen ist: Das Lekton bezeichnet die Intention eines Sprechers oder Hörers, wie sie aller vernünftigen Rede zugrunde liegt; mit anderen Worten: das, was einer gesagt hat oder sagt, sagen will oder kann, bzw. das, was einer versteht, der eine Rede versteht, oder das, was auch mit anderen Worten gesagt und in eine andere Sprache übersetzt werden kann.12 Die stoische Dialektik ist keine Sprachtheorie im heute üblichen Sinn dieses Wortes, sondern eine Theorie der Kommunikation Vernunft- und stimmbegabter Lebewesen. Ich übergehe die alexandrinische Grammatik, die als Gegenposition zur stoischen Grammatik ganz ähnliche Fragen stellt und ähnlich aufgebaut ist.

c. Worte als Zeichen - >Hermeneutik< Sobald ein Text kanonisiert ist, beginnt er alt zu werden; mit der Zeit werden manche Worte unverständlich, mithin interpretationsbedürftig. Wenn die Worte aber nicht nur unverständlich, sondern auch unglaubwürdig werden, beginnt die Texterklärung (exeegeesis). Anfangs versteht diese sich als Apologie des Dichters, ihr Mittel ist die tropische Lesart. Sie formiert sich als eine Suche nach dem wahren, aber verborgenen Sinn (hyponoia) hinter der gewöhnlichen, aber problematisch gewordenen Bedeutung der Worte. Daraus entwickeln die stoischen Philosophen die Methode der allegorischen Deutung, die bald von der Bibelexegese übernommen wird, und zwar sowohl auf jüdischer (Philon von Alexandrien) wie auf christlicher Seite (Origenes und Augustin). Die alexandrinischen Grammatiker betreiben Dichterkritik. Gegenstand der Exegese sind heilige Texte oder solche, deren Autorität nicht in Frage steht. Stets geht es darum, in Zweifelsfällen der Lektüre den ursprünglichen Sinn oder Gedanken (diänoid) in der autoritativen Rede des Autors zu ermitteln, d. h. die intendierte Bedeutung, wie man sie in normaler Rede gewöhnlich problemlos zu verstehen glaubt. Vom Wort (bzw. von der Rede oder dem Text) als Zeichen ist in diesen Zusammenhängen nicht, zumindest wohl nicht terminologisch, die Rede.

12 Das Lekton ist also mehr, jedenfalls etwas anderes als die Bedeutung isolierter Wörter, denn diese werden weder geäußert noch verstanden (sei es mündlich, schriftlich oder auf andere Weise). Diejenigen Grammatiker, antike wie moderne, die signißant und signiße isoliert von wirklichen Sprachakten (d. h. als Elemente der langue) betrachten, können auf diesen für die stoische Dialektik zentralen Begriff verzichten. 13 Vgl. Pfeiffer (1978), 251 ff.

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Auch generell gilt dasselbe: Namen (Wörter) werden zunächst nicht als Zeichen (seemeiä) verstanden.14 Der Begriff des Zeichens wird von Aristoteles terminologisch an anderer Stelle gebraucht und ist damit besetzt: Ein Zeichen ist ein gegenwärtiger (sichtbarer) Sachverhalt, der auf einen nicht gegenwärtigen (unsichtbaren) Sachverhalt schließen lässt; nach der aristotelischen Terminologie gehört dieser Begriff in die Schlusslehre.15 Die Schrift Perl hermeeneias - der Titel stammt nicht von Aristoteles, sondern vermutlich aus hellenistischer Zeit - beschäftigt sich mit den Formen der wahrheitsfahigen Aussage (logos apophantikos) oder mit der Frage, wie einer etwas, das er sich vorstellt bzw. weiß, anderen unmissverständlich mitteilen kann. Das Wort hermeeneia, unterminologisch verwendet, bezeichnet das Äußern und Sagen von etwas zuvor Gedachtem, Vorgestelltem,16 nicht das Verstehen, Deuten oder Auslegen von zuvor Gesagtem oder auf andere Weise Geäußertem. Die Funktion der Wörter im Sprachakt (gleichgültig, ob es sich um Sprechen oder Schreiben handelt) ist deeloün (kundtun) oder seemainein (bezeichnen/ bedeuten, transitiv gebraucht im Sinn von >Zeichen gebenZeichen deutenHermeneutik< vor.17 So hätte die Generalisierung einer philologischen Methode zur Erklärung dunkler Dichterworte dazu geführt, dass man fortan von Wörtern überhaupt als von (deutungsfähigen, bisweilen deutungsbedürftigen) Zeichen sprechen konnte. Dass Wörter Zeichen seien, diese Ansicht wird eher beiläufig bei Sextus Empiricus referiert (3. Jahrhundert n. Chr.), bei Augustin (4. Jahrhundert) allerdings schon als communis opinio vorausgesetzt.18 In dieser noch nicht näher erforschten spätantiken Generalisierung dürfte der Begriff der Sprache als eines > Systems von Zeichen< seinen wirkmächtigen Ursprung haben, von hier aus wird die Ansicht 14 Eine Ausnahme bildet der für den späteren Begriff von Sprache (um-)wegweisende und unzählige Male kommentierte Beginn der aristotelischen Schrift Pen hermeeneias/De interpretatione. Nach diesen berühmten Zeilen sind unsere Vorstellungen den Dingen ähnlich, die Worte aber sind Zeichen (seemeiä/symbola, hier werden beide gleichwertig gebraucht) der Vorstellungen, und die Buchstaben sind Symbole (symbola) der Worte. Doch diese Zeilen stehen im Corpus Aristotelicum isoliert da. 15 Vgl. Aristoteles, an. pr. II 27, 70a3-b6. 16 Vgl. Aristoteles, an, II 8, 420bl9;poet. 6, 1450bl4;part. an. 660a35 ff. 17 Vgl. Cicero, div. 1,18, 34. 18 Sextus Empiricus, Adv. math. VIII 279; vgl. Borsche (1994), 49 f.

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von der Zeichennatur der Sprache auch auf Aristoteles, für den sie kein Thema war, zurückprojiziert. Sprache unter diesem Aspekt, nämlich Sprache verstanden als deutungsbedürftige Zeichenfolge, verschiebt die Perspektive der Betrachtung vom Sprecher (den Sprecher zuvor gefasster Gedanken, Meinungen etc.) auf den Hörer (insbesondere auf den Hörer heiliger oder als wahr angenommener Worte). Diese Perspektive wird zum Ausgangspunkt für die Sprachtheologie Augustins. Nach Augustin sind Wörter Zeichen für die im Laut verborgene Bedeutung (vim verbi, id est significationem quae latet in sono19). Die Bedeutung eines Wortes ist gleich der Erkenntnis der durch es bezeichneten Sache. Die Erkenntnis aber ist, wenn sie vom guten Willen begleitet wird, wahres Bild der Sache als des schöpferischen Wortes Gottes. Denn (menschliche) Worte sind Einkleidungen (im Fall der Lüge: Verkleidungen) des Denkens, und (menschliches) Denken ist Abbild (im Fall des sündigen Willens: irriges Abbild) der Ideen. In dieser Verlagerung des Blickpunktes vom Sprecher/Autor/Sender, der seine Gedanken oder Vorstellungen auszudrücken beabsichtigt, hin zum Hörer/Leser/Empfänger, der die Worte eines anderen (oder auch die eigenen Worte!) zu deuten und zu verstehen trachtet, liegt meines Erachtens der epochale Bedeutungswandel des Sprachbegriffs, der im Lauf von weiteren zwölf bis vierzehn Jahrhunderten das Verständnis von dem, was >Sprache< (unter welchem Namen auch immer) ist und was sie bewirkt, radikal verändert. Der aristotelisch-stoische Begriff lebt weiter - über die grammatica speculativa des Mittelalters bis in die Neuzeit hinein. Besonders prägnant findet sich diese antike Sprachansicht bei Thomas Hobbes ausgedrückt,2 der gleich eingangs Wörter >Zeichen< nennt und diese einteilt in >Merkzeichen< (notae: für das sprachfreie Selbst-Denken) und >Mitteilungszeichen< (signa: für die sekundäre sprachliche Mitteilung der eigenen Gedanken an andere). In der Tradition des im Platonismus angelegten und von Augustin entwickelten hermeneutischen Sprachbegriffs steigert sich die Schwierigkeit des Verstehens fremder Worte zunächst ins Unendliche, wenn Gott jenseits aller bestimmten Gedanken und Worte undenkbar und unsagbar als Nicht-Anderes umschrieben wird, derart dass, wie Cusanus in unüberbietbarer Knappheit formuliert, bei ihm alle Worte »realiter synonymum« sind. In der Rückkehr aus dieser taghellen Finsternis des Denkens hat das Wort seinen äußeren Bezugs- und Orientierungspunkt - die Sache selbst - wissentlich (in docta ignorantiä) aufgegeben. Die Bedeutung wird damit zu einem Moment des Zeichens selbst. Sie artikuliert sich in anderen Zeichen, die in synthetischer Absicht mit dem ersten Zeichen verbunden werden und in diesem Übergang die Sache selbst vermutungsweise, hypothetisch zur Darstellung bringen. Erste Anläufe zu einem solchen Bedeutungsbegriff finden sich in einigen der Reflexionen über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues bei Wil19 Augustin, mag. 10,34; vgl. Borsche (1990), 142-169. 20 Hobbes, De corpore, cap. 2, 12 f.

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heim von Humboldt, in der dialektischen Logik des spekulativen Satzes nach Hegel sowie in der Vernunft- und Sprachkritik Nietzsches und des späten Heidegger. Von hier aus sind sie Allgemeingut der Gegenwartsphilosophie geworden. Obwohl selbstverständlich die Unterscheidung von Name und Sache in ihrer überlieferten aristotelischen Form weiterhin verteidigt wird. 2. Mensch Selbst die einfache Tatsache, dass wir uns zunächst und vor allem als Menschen verstehen, explizieren, auslegen, ist alles andere als selbstverständlich. Ungeheuer vielfältig aber sind die näheren Bestimmungen dieser Auslegung in der Zeit: Von einer unsterblichen Seele, die vorübergehend in einen Körper eintaucht, über das Sinnenwesen mit der Eigenschaft bzw. dem Wesensattribut der Rationalität, der Lachfähigkeit oder des aufrechten Ganges bis zu einem geistigen (d. h. in Zeichen sich orientierenden, einem angesprochenen und sprechenden) Wesen, das ein Ich bildet, indem es eine Welt von sich unterscheidet, die es in Übereinstimmung und Differenz zu anderen Weltansichten denkend entwickelt, ist die Palette der Bedeutungsangebote für den Begriff des Menschen allein schon in unserer Tradition fast unerschöpflich. Tiefer aber als diese Vielfalt greift der Bedeutungswandel im Begriff des Begriffs (nicht nur des Menschen) selbst. Es handelt sich hier vermutlich um den gleichen Übergang von einer antiken zu einer modernen Denkform. Dort, in antiker Sichtweise, waren der Name (>Menschwir< vorab erläutern: >wir, die wir uns denkend und sprechend in unserer Welt orientieren, und zwar zunächst und generell dadurch, dass wir uns als Menschen verstehen^

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3. Wissen (scientia und ars) Als Thema einer weiteren Fallstudie bietet sich das Begriffsfeld von Wissenschaft und Kunst an. Im antiken Verständnis ist >Wissen< (episteemeelscientia) charakterisiert durch die Unveränderlichkeit seiner Gegenstände (Platon, Aristoteles). Erfahrungswissen, das die Veränderungen seiner Gegenstände beobachtet und zugleich in den Prozess ihrer Veränderung einzugreifen lehrt, ist nicht eigentlich Wissen. Es ist >Kunst< (techneelars) und entspricht der Klugheit auf dem Gebiet der Praxis. Empirische Wissenschaft wäre ein hölzernes Eisen gewesen. Doch im Lauf der Zeit verlor die Wissenschaft ihre Gegenstände: Es blieben zunächst nur Metaphysik und Theologie (neben der Mathematik). Heute hat die alte Wissenschaft auch diese verloren: Mathematik wird konstruktiv (nichteuklidische Geometrien, nicht-natürliche Zahlen), und sogar die Sätze von Metaphysik und Theologie unterliegen dem Bedeutungswandel ihrer Grundbegriffe. (>Gott< und >Metaphysik< sind die längsten Artikel des Historischen Wörterbuchs der Philosophie - nach der >Philosophie< selbst.) Inzwischen sind alle Wissenschaften zu Künsten geworden. Dabei ist der Name der Wissenschaft auf ganzer Breite an die vormaligen Künste übergegangen. Der Unterschied von Wissen und Meinung aber, diese große Errungenschaft der antiken Philosophie, die eine konstitutive Rolle für die Entwicklung der europäischen Philosophie gespielt hat, bleibt. Er wird nur anders (nämlich methodisch) begründet. Fazit: (Auch) die Grundbegriffe unseres Denkens, von denen hier nur einer diskutiert und zwei weitere angesprochen werden konnten, sind dem historischen Wandel unterworfen. Sei es mit, sei es ohne Wechsel der Namen. Ein Wandel in der Bedeutung von Grundbegriffen erscheint geeignet, eine neue Epoche des Denkens zu markieren. Die angeführten Beispiele lassen noch nicht hinreichend erkennen, aber doch vermuten, dass sie auch sachlich zusammenhängen und drei Oberflächenerscheinungen eines gemeinsamen tiefer liegenden Perspektivenwechsels darstellen: Die diversen repräsentationslogischen Begriffe von Sprache, die diversen substantialistischen Begriffe des Menschen, die diversen Explikationsversuche einer universalistischen Vorstellung, was wahres, i. e. unveränderliches Wissen sei, wandeln sich in einem sehr langwierigen historischen Prozess hin zu differenztheoretischen Begriffen von Sprache, Mensch und Wissen.

Epochaler Bedeutungswandel in Grundbegriffen

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Wann ist eine Übersetzung besser als die andere? KLAUS CORCILIUS

I. Wie kann es sein, dass mehrere Übersetzungen ein- und desselben Textstücks manchmal so unterschiedlich ausfallen und wie kann ich beurteilen, ob eine Übersetzung besser ist als eine andere?1 Es ist klar, dass es auf diese beiden Fragen keine nicht-triviale Antwort gibt, wenn man sie in so unspezifischer Weise stellt wie hier gerade geschehen. Ich werde meine Fragestellung daher so eingrenzen, dass eine Beantwortung zumindest möglich scheint. Wir werden sehen, dass die Fragen dadurch erheblich an Bedeutsamkeit verlieren werden. Eine befriedigende oder gar vollständige Antwort werde ich hier gleichwohl nicht vorlegen können. Im besten Fall wird eine Art Situationsbeschreibung für das Übersetzen der philosophischen Texte von Aristoteles dabei herauskommen. Texte können sehr heterogen sein und es ist wahrscheinlich, dass, je nachdem, um welchen Typ von Text es sich handelt, auch die Kriterien des Übersetzens variieren. Um hier also weiterzukommen, empfiehlt es sich, zunächst einmal die Textsorte zu spezifizieren, um die es gehen soll. Daneben scheint für die Eingrenzung der Fragestellung auch wichtig, die Hinsicht bzw. die Intention zu spezifizieren, mit Blick auf die die Übersetzungen vorgenommen werden, von denen hier die Rede sein soll. Ich werde es kurz machen und nur angeben, welche Textsorte mit welcher Übersetzungsintention wir hier diskutieren. Es geht hier ausschließlich um philosophische Prosa, und zwar insbesondere nur die des Aristoteles. Ausdrücklich ausschließen möchte ich Texte, bei denen die Form, in der etwas gesagt wird, (vielleicht über Vorstellungen und Assoziationen) noch eine bestimmte, über den theoretischen Gehalt hinausgehende Bedeutung transportieren soll. Es soll hier also um erörternde Texte gehen, bei denen l

Ich möchte dem Auditorium, dem >Übersetzungskolloquium< des Lehrstuhls von Professor Rosier und Philipp Brüllmann für Fragen und Anregungen und vor allem für die Kritik herzlich danken. Besonderer Dank geht an Martin Lenz.

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ein argumentative! Gehalt als solcher thematisch ist und die deswegen durch poetische Nebenwirkungen sogar gestört würden.2 Ferner möchte ich mich hier auf Übersetzungen mit folgender Intention beschränken: Ich spreche nur von Übersetzungen, die versuchen, sprachliche Begriffssysteme von einer Sprache in eine andere so zu übertragen, dass dabei nach Möglichkeit dieselbe Bedeutung transportiert wird. Im Fall des Aristoteles scheint dies mit der Verpflichtung auf ganz bestimmte Rationalitätsstandards einherzugehen.3 Es sind solche, die mit einem tendenziell engen Verständnis von Konsistenz und Folgerichtigkeit arbeiten. Sie streben nach Abwesenheit von Selbstwidersprüchen sowie nach terminologischer Exaktheit, die sich idealiter - und nach Maßgabe des Möglichen - in einer Eins-zu-einsKongruenz der theorierelevanten Termini mit ihren Übersetzungen äußert. Solche Übersetzungen haben deswegen eine philosophische Interpretation des übersetzten Textes zur Voraussetzung. Der Übersetzer muss sich vorher ein Bild gemacht haben, was Aristoteles im Originaltext hat sagen wollen, und dieses Bild sollte zumindest auf dem ernsthaft durchgeführten Versuch basieren, den Originaltext einer systematischen und begrifflich stimmigen Interpretation zu unterziehen. Dabei soll, wie gesagt, zugrunde gelegt sein, dass es dem Übersetzer in seiner Übersetzung um den theoretischen Gehalt als solchen geht. Das heißt, dass er nicht noch weitergehende Kontextualisierungsabsichten hat, sondern den Text nur in seiner unmittelbar theoretischen Bedeutung erfassen und wiederzugeben beabsichtigt.4 Der metaphorische Gehalt eines durch einen Philosophen gewählten Ausdrucks mag in vielerlei Hinsichten aufschlussreich sein, er betrifft aber nicht das, worauf es hier ankommen soll: Der argumentative Gehalt eines philosophischen Arguments, so wie es hier verstanden wird, sollte sich prinzipiell ohne Bedeutungsverlust in einen anderen (gleichsprachigen oder fremdsprachigen) Ausdruck übertragen lassen. Schwieriger wird es bei den grundlegenden Einzelausdrücken (Termen, Wörtern), die im Rahmen eines solchen Arguments Verwendung finden: In den seltensten Fällen sind sie bedeutungsäquivalent in Einzelausdrücke anderer Sprachen zu übertragen, so dass man in einem gewissen Sinn bereits bei der >Wahl< einer Sprache von einer bedeutungstheoretischen Grundsatzentscheidung sprechen könnte. Solche Überlegungen müssen aber nicht in bedeutungstheoretischem Sprachrelativismus oder resignativer Einsicht in die >Unübersetzbarkeit< eines Textes münden; vgl. unten Anm. 8. Es sind die speziell für sie geltenden Rationalitätsstandards, die sie von anders motivierten Übersetzungen unterscheiden, nicht das Gelten von Rationalitätsstandards überhaupt. Als Regel kann man wohl für jeden Typ von Übersetzung sagen, dass, je nachdem, mit welcher Intention eine Übersetzung angefertigt wird, sie immer versuchen wird, dieser Intention möglichst gerecht zu werden. Man kann also unabhängig von ihrer speziellen Intention generell sagen, dass eine Übersetzung ihrer eigenen Intention mehr oder weniger gerecht werden und in diesem Sinne eine mehr oder weniger gute Übersetzung sein kann. Was das für jeden Einzelfall heißt, kann und wird sich aber von Text zu Text (und von Übersetzungsintention zu Übersetzungsintention) unterscheiden. Ein vorwiegend philosophiehistorisch orientiertes Verständnis etwa wäre darüber hinaus an einer zusätzlichen Kontextualisierung des argumentativen Gehalts gelegen. Dabei kann es darum gehen, die Kontinuität oder Diskontinuität zu vorherigen bzw. späteren Philosophen oder zu

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Die philosophischen Fragen und Probleme, die mit dem Begriff der Bedeutung und der Möglichkeit ihrer Kommunikation verbunden sind, werden durch meinen Vortrag übrigens nicht berührt. Es soll hier nur um solche Übersetzungen gehen, die es konkret gibt und die offenbar von den Übersetzern in der Annahme angefertigt wurden, dass es möglich sei, die Bedeutung des zu übersetzenden Textes zu verstehen und sie in die Zielsprache zu transportieren. Die zweite Frage (die Frage danach, wie beurteilt werden kann, welche Übersetzung die bessere ist) soll ebenfalls in einem konkreten Sinne angegangen werden: Ich beabsichtige lediglich einen Blick auf die Argumente zu werfen, von denen Übersetzer und Interpreten tatsächlich Gebrauch machen, wenn sie für oder gegen das Vorliegen von besseren Übersetzungen argumentieren.

II. Ich kann meine Fragen jetzt also neu stellen: Wie kann es sein, dass Übersetzungen aristotelischer Prosatexte, die mit der hier skizzierten Intention angefertigt wurden, zu so unterschiedlichen Ergebnissen kommen (a) und welche Kriterien werden für das Vorliegen einer besseren Übersetzung geltend gemacht (b)?

(a) Drei verschiedene Bedeutungsebenen Generell können Texte, so wie sprachliche Äußerungen überhaupt, mehrdeutig sein. Und sie können es auch dann sein, wenn der Übersetzer über ideale syntaktische und semantische Kenntnisse der Ausgangssprache verfügt. Dies kann mehrere Gründe haben: Zunächst kann es an der einfachen Tatsache liegen, dass Ausdrücke und Sätze tatsächlich syntaktisch und semantisch mehrdeutig sein können. In solchen Fällen braucht der Übersetzer trotz idealer Sprachkenntnis noch weitere Informationen, die ihm verraten, welche der mehreren möglichen Bedeutungen er seiner Übersetzung zugrunde legen soll (solche Informationen wären etwa eine entsprechende Auskunft des Verfassers). Wenn er über diese Informationen verfügt, hat er ein vollständiges Verständnis der sprachlichen Bedeutung< (»linguistic meaning«) des von ihm übersetzten Textes. Strawson, auf dessen Unterscheidungen ich mich hier in loser Weise beziehe,5 identifiziert darüber hinaus noch zwei weitere Typen von Bedeutung. Dies ist einmal die von ihm so genannte eigenen Gedanken des betreffenden Philosophen herauszustellen oder auch darum, die Möglichkeiten oder Beschränkungen darzustellen, die sich aus begrifflichen Voraussetzungen ergeben. Ich erhebe damit keineswegs Anspruch auf korrekte Wiedergabe; vgl. Strawson (1997), 191195. Er entwickelt seine Unterscheidungen dort in Auseinandersetzung mit Searles Sprachakttheorie.

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referentielle Bedeutung< (»referential meaning«). Damit meint Strawson die Bedeutung, die einem >sprachlichen< Verständnis eines Textes dadurch hinzugefügt wird, dass man die in ihm enthaltenen indexikalischen, demonstrativen und deiktischen Ausdrücke auf die konkret damit gemeinten Einzelgegenstände beziehen kann, z. B. wenn man aus eigener Anschauung weiß, wer die genannten Personen, welche Orte angesprochen sind usw. Der letzte Bedeutungstyp umfasst alle diejenigen Bedeutungen, die dem Verständnis der ersten beiden Typen dadurch hinzugefügt werden, dass man über Absicht informiert ist, mit der eine Äußerung gemacht wurde. Dies können entweder soziale Signale, Aufforderungen, Bitten usw. sein, es können aber auch bestimmte Weisen sein, in denen der Urheber einer Äußerung seine Äußerung verstanden wissen will (sofern diese über die ersten beiden Bedeutungstypen hinausgehen, z. B. ironische Äußerungen und manches ähnliche mehr). Diese dritte Art von Bedeutung, zusammengenommen mit den ersten beiden Arten, nennt Strawson »complete meaning«. Für das Verhältnis der drei Ebenen untereinander gilt im Prinzip, dass im Zweifelsfall die höhere über die Bedeutung der jeweils untergeordneten entscheiden kann. Über welche der drei Ebenen verfügen wir im Fall des Aristoteles? Wenn wir in dieser Weise von der strawsonschen Unterscheidung Gebrauch machen wollen, ist klar, dass uns mit Bezug auf die Texte des Aristoteles die letzteren beiden Bedeutungstypen nicht in unmittelbarer Weise zur Verfügung stehen. Wie sollten wir aus eigener Anschauung Kenntnis von den konkreten Gegenständen, Zeiten und Orten haben, die Aristoteles oder irgendein anderer antiker Autor in seinen Texten erwähnt? Für die Absicht, mit der er oder irgendein anderer antiker Autor seine Äußerungen macht, sofern diese von den ersten beiden Bedeutungstypen abweicht, gilt dies in noch viel höherem Maße: Ironie, Witze und im Text versteckte Intentionen sind selbst dann noch schwer zu identifizieren, wenn man bei der Verlautbarung einer sprachlichen Äußerung anwesend ist, wie sollte dies also bei Aristoteles möglich sein? Anders scheint es sich nur mit dem ersten Typ von Bedeutung zu verhalten, die Strawson die >sprachliche< nennt. Diese sollte uns für Aristoteles dadurch prinzipiell zugänglich sein, dass wir über seine Texte und die für ihr Verständnis erforderlichen Sprachkenntnisse verfügen. Es ist übrigens nicht von vornherein ausgemacht, dass der unwiederbringliche Verlust der beiden anderen Bedeutungstypen im Falle der philosophischen Prosatexte des Aristoteles so große Auswirkungen hat, dass, wie man annehmen könnte, Übersetzungsversuche prinzipiell über den Status von bloßen Ratespielen nicht hinauskommen. Die Wichtigkeit, die die verschiedenen Bedeutungsebenen haben, variiert nämlich stark, je nachdem, mit welcher Textsorte wir es zu tun haben. So merkt Strawson etwa an, dass der konkrete Bezug deiktischer Ausdrücke, also ihre referentielle Bedeutung, in z. B. naturwissenschaftlichen oder mathematischen Texten für deren Verständnis (etwa den Beweis eines Theorems) unerheblich sei. Da wir uns hier auf solche Texte beschränken, bei denen es um die Ar-

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gumentation für oder gegen theoretische Gehalte der Philosophie geht, also gleichfalls um generelle und explizite Aussagen, die nicht auf Einzeldinge referieren, sollte der Verlust der konkreten Referenz der deiktischen und demonstrativen Ausdrücke zu verschmerzen sein. Was die Absicht betrifft, mit der die Texte verfasst wurden, so verfügen wir zwar über keine textexternen Informationen, die uns darüber aufklären können, es scheint aber jedenfalls sinnvoll, sich mit der generellen Hypothese zu behelfen, dass diese Texte von Aristoteles in keiner anderen Absicht verfasst worden sind, als der, philosophische Fragen zu erörtern. Da es sich bei ihnen also um solche Texte handelt, deren vollständige Bedeutung recht weitgehend mit ihrer >sprachlichem Bedeutung übereinzustimmen scheint, bzw. wir aus pragmatischen Gründen davon ausgehen, dass sie dies aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Textsorte philosophisch-theoretischer Text< tun, scheint eine die Bedeutung dieser Texte treffende Übersetzung also möglich und nicht einmal unwahrscheinlich zu sein.

Der Nutzen der drei Bedeutungsebenen für unsere Zwecke Ist, so könnte man einwenden, die Einführung der drei strawsonschen Bedeutungstypen nicht unnötig, da die letzteren beiden sich gerade wieder als so gut wie entbehrlich erwiesen haben? Als ein weiteres Problem könnte sich zudem erweisen, dass uns - wie wir gleich sehen werden nicht einmal diese erste (>sprachlichesprachlichem Bedeutungsebene für eine Übersetzung hinreichend ist, und da die referentielle Bedeutung der Texte für uns tatsächlich verloren ist, kommt also der dritten von Strawson unterschiedenen Ebene noch eine wichtige Rolle zu. Den hauptsächlichen Nutzen der Unterscheidung sehe ich für unsere Zwecke aber dadurch gegeben, dass es sich dabei um eine vollständige, d. h. alle möglichen Arten von Bedeutung umgreifende Einteilung handelt.7 Sie kann uns so als Tableau zur Lokalisierung unserer beiden Fragen dienen.

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Strawson (l997), 220-231. Strawson geht es dabei um die von Sprechern intendierte Bedeutung, von der er noch solche kontextabhängigen Bedeutungen unterscheidet, die nicht mehr mit Rekurs auf die Absicht des

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Was bis jetzt gesagt wurde, läuft darauf hinaus, dass für die Übersetzung der philosophischen Prosa des Aristoteles realistischerweise die >sprachliche< Bedeutung plus einer generellen Hypothese mit Hinblick auf die Intention, mit der der Text geschrieben wurde, hinreichend sind. Hieran bleibt richtig, dass wir auf die für den zweiten und dritten Typ von Bedeutung erforderlichen Informationen nicht hoffen dürfen und die >sprachliche< Bedeutung plus genereller Hypothese über die Intention daher in der Tat so etwas wie die bedeutungstheoretisch minimale Ausgangssituation für uns als die Übersetzer solcher Texte markieren. Daraus allein lässt sich jedoch noch keine Übersetzung fertigen, zumindest keine, die in philosophischer Hinsicht interessant wäre. Die Einsicht, dass Aristoteles ein Philosoph war und als solcher die ernsthafte Intention hatte, philosophische Fragen zu erörtern, versetzt uns auch bei hinreichenden semantisch-syntaktischen Sprachkenntnissen noch nicht in die Lage, seine Texte adäquat zu übersetzen. Hierfür erfordert es außerdem noch eine Reihe weiterreichender, speziellerer Hypothesen auf der dritten von Strawson unterschiedenen Bedeutungsebene (der Intention, mit der ein Text verfasst wurde). Diese weiterreichenden Hypothesen, die es für die Herstellung einer Übersetzung erfordert und deren Erarbeitung m. E. eine Hauptschwierigkeit für die Übersetzung darstellt, möchte ich im Folgenden unter dem Titel >Schwierigkeiten des Kontexts< diskutieren (2). Bevor ich dazu komme, möchte ich noch kurz auf die spezielle Situation für den AristotelesÜbersetzer im Hinblick auf die erste (>sprachlichesprachliche< Verständnis erforderliche Information darüber, welche der möglichen Bedeutungen zu wählen ist, steht also nicht mehr zur Verfügung. Auf der Seite der Ausgangssprache stellt sich dies konkret folgendermaßen dar: Erstens können die verwendeten Terme, Ausdrücke und sprachlichen Wendungen semantisch unterschiedlich besetzt werden und zweitens lassen sich die Sätze und Perioden, aus denen die aristotelischen Texte bestehen, häufig grammatisch auf verschiedene, ihre Bedeutung zuweilen stark verändernde, Weisen konstruieren. Die aus diesen Sprechers, sondern von einer allgemeinen Theorie der Kommunikation zu erklären wären; vgl. ebd., 224. Diese seien hier ebenfalls ausgeklammert.

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beiden Formen der Ambiguität resultierenden Schwierigkeiten bestehen natürlich nicht nur für den Aristoteles-Übersetzer. Es scheint ganz generell so zu sein, dass die verschiedenen Bedeutungen, die Wörter, Wendungen und Ausdrücke jeweils haben können, von Sprache zu Sprache verschieden sind, sodass es dem Übersetzer nicht immer möglich ist, die gleichen Mehrdeutigkeiten, die die Ausdrücke seines Ausgangstexts aufweisen, in die Zielsprache zu übertragen; er ist also gezwungen, sich für eine ganz bestimmte Bedeutung zu entscheiden und damit gleichsam Farbe zu bekennen. Nun liegt hierin bekanntermaßen nicht nur die Schwierigkeit, sondern zugleich wohl auch der spezifische Reiz dieser Tätigkeit: Durch Ausschluss anderer Lesarten kann der Übersetzer bei solchen Gelegenheiten besonders deutlich zum Ausdruck bringen, wie er den Text verstanden hat. Die Mehrdeutigkeit von Worten, Ausdrücken und Wendungen führt uns auf das Problem der philosophischen Terminologie. Aristoteles scheint keine allgemeingültige Terminologie in dem Sinne zu haben, dass er es angestrebt hätte, über die Grenzen verschiedener Wissensgebiete hinweg dieselben Terme in immer derselben Bedeutung zu verwenden. Zuweilen verwendet er innerhalb eines Traktats und sogar innerhalb eines kurzen Textabschnitts denselben Term in einer engeren, terminologischen, und einer weiteren, dem natürlichen Sprachgebrauch entsprechenden Bedeutung. Dies stellt deswegen für den Übersetzer eine besondere Schwierigkeit dar, weil er durch die verschiedenen Übersetzungen ein- und desselben griechischen Ausdrucks, zu denen er durch die Bedeutungsnuancierungen gezwungen ist, den (eventuell wichtigen) verbalen Zusammenhang auflöst, der im Griechischen durch die Verwendung desselben Wortes noch gewahrt bleibt. Ein Hilfsmittel dagegen ist das Einsetzen des griechischen Ausdrucks hinter den entsprechenden Ausdruck in der Übersetzung. Generell kann man wohl sagen, dass hier die Hypothese über das übergeordnete Argumentationsziel den Ausschlag über die im Einzelfall zu wählende Übersetzung gibt. Ferner scheint Aristoteles für den spezifischen Gedankengang unnötige Unterscheidungen tendenziell zu vermeiden und nur dort auf die exakte Bedeutung von termini technici zu beharren, wo der durch sie bezeichnete Unterschied tatsächlich thematisch ist. Dies bringt uns zu einer Gewichtung zweier in I erwähnten Charakteristika der Aristoteles-Übersetzung: Die Wahrung der zu übersetzenden Bedeutung steht über dem in I erwähnten Ideal einer Eins-zu-eins-Kongruenz der theorierelevanten Termini mit ihren Entsprechungen. Die hohe Systematizität der zu übersetzenden Texte erfordert so zwar auch eine hohe Systematizität der durch die Q

Der Versuch, systematisch die gleichen Mehrdeutigkeiten in die Zielsprache zu übertragen, führt ebenso wie das bloß >mechanische< Übersetzen, das strikt nach lexikalischer Grundbedeutung vorgeht, schnell zu Sinnentstellungen. Die Behauptung, ein Stück griechischen Texts sei >unübersetzbar< scheint sich mir in diesem Sinne nicht auf ganze Texte, sondern nur auf einzelne Wörter und Wendungen zu beziehen. Sie würde sonst bedeuten, dass durch die semantischen Felder der im Text verwendeten Wörter und Wendungen der einen Sprache ein Bedeutungszusammenhang gestiftet würde, der durch beliebige Kombinationen aller in der Zielsprache zur Verfügung stehenden Wörter und Wendungen nicht eingefangen werden könnte.

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Übersetzung transportierten Bedeutung, Systematizität ist in diesem Fall jedoch nicht mit terminologischer Invarianz zu verwechseln. Welche Übersetzung im Einzelfall gewählt wird, entscheidet sich anhand des übergeordneten Textverständnisses.9 Was die grammatische Mehrdeutigkeit von Sätzen und Perioden betrifft, so bezeichne ich damit eine Sammelgruppe: Pronomen können unterschiedlich bezogen, Sätze und Perioden unterschiedlich identifiziert und interpungiert werden usw., ohne mit den grammatischen Regeln der Sprache in Konflikt zu kommen. Welche unter den grammatisch möglichen Konstruktionen der Übersetzer wählt und was er als eine Periode identifiziert, ist wiederum abhängig von seinem übergeordneten Textverständnis.10 Die relativ freie Wortfolge des Griechischen trägt hier zur zusätzlichen Mehrdeutigkeit bei. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass die von Strawson genannten Voraussetzungen für das Erfassen der > sprachlichem Bedeutung in unserem Fall nicht gegeben sind: Von einer perfekten Sprachbeherrschung kann seitens der Übersetzer nicht wirklich die Rede sein. Dies hat seinen Grund nicht nur in der Abwesenheit einer kontinuierlichen oralen Kultur des Altgriechischen, sondern sie bliebe auch dann bestehen, wenn jemand über perfekte lexikalische Kenntnis des Griechischen zur Zeit des Aristoteles verfügte, wie sie uns für unsere Sprache in Wörterbüchern und Lexika zur Verfügung steht. Der Grund dafür liegt in den Eigenheiten der Textsorte. Philosophische Texte befassen sich häufig mit Fragen, die sich an der Grenze dessen befinden, was durch einfachen verbalen Ausdruck noch problemlos zu erfassen ist. Sie gelten deshalb häufig als >schwierigbenutztprohairesis< (hierzu vgl. Sorabji [1980], 201-205). Aristoteles prägt auch neue Terminologie, die er gelegentlich auch als Neueinführungen kennzeichnet (>onomatopoieinenergeia< und >entelecheia< etwa) gilt dies jedoch nicht.

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syntaktischen Bedeutungsmöglichkeiten vorliegt; welche Bedeutungsmöglichkeit man wählt, ist dann abhängig von dem eigenen, übergeordneten Verständnis der Bedeutung des Textes. Dieses möchte ich im Folgenden aus der Perspektive des Übersetzers diskutieren.

IV.

2. Kontextschwierigkeiten Wie gelangen wir zu einer Übersetzung eines philosophischen Textes, der auf die oben beschriebene Weise syntaktisch und semantisch mehrdeutig ist? In solchen Fällen müssen wir offenbar zusätzlich noch solche Kriterien in Anschlag bringen, die nicht selbst wieder der syntaktisch-semantischen Bedeutungsebene entstammen. Gemäß unserer Vollständigkeits-Annahme gehe ich davon aus, dass diese, soweit sie nicht der referentiellen Bedeutungsebene zuzurechnen sind, zur dritten Ebene der Intention, mit der ein Text verfasst wurde, gehören. Ich möchte mich hier, wie gesagt, nicht zu dieser Bedeutungsebene als solcher äußern, sondern mich darauf beschränken, die Situation so zu beschreiben, wie sie sich für den Übersetzer praktisch darstellt. Insbesondere sehe ich ab von den komplizierten Fragen der Genese des Textverständnisses. Welche zusätzlichen Annahmen über die Intention, mit der ein aristotelischer Text verfasst wurde, brauchen wir also, um syntaktisch-semantische Mehrdeutigkeiten klären zu können? Oben in Abschnitt Zwei wurde schon angemerkt, dass man davon ausgehen kann, dass es sich bei diesen Texten um solche Texte handelt, in denen philosophische Probleme auf erörternde Weise diskutiert werden. Damit wissen wir, mit welcher Art von Text wir es zu tun haben. Eine solche Annahme, so zutreffend sie sein mag, ist für die Übersetzung eines konkreten Textes aber nicht hinreichend. Sie hat höchstens den Status einer generellen Vorentscheidung. Um die oben beschriebenen semantisch-syntaktischen Ambiguitäten, so wie sie in einem konkreten Text auftauchen, beseitigen zu können, scheinen mir zusätzlich in Bezug auf mindestens folgende Fragen des philosophischen Kontextes noch spezifischere Annahmen erforderlich zu sein: (i)

Annahmen darüber, was in dem Text erklärt werden soll (Argumentationsziel);

(ii) um welche Art von Erklärung es sich handelt.

Übersetzungen, die es auf den philosophischen Gehalt des übersetzten Textes absehen, sind m. E. auf spezifische Annahmen in mindestens diesen Punkten angewiesen. Ein Übersetzer wird dann vermutlich über Kriterien verfügen, die es ihm erlauben, semantisch-syntaktische Mehrdeutigkeiten zu meistern. Dabei handelt es sich um Kriterien, die sich deswegen unter der Rubrik >Absicht, mit der ein Text verfasst wurdesprachlicher< Ebene unterschiedlich konstruierbar als auch auf der Ebene ihres theoretischen Kontextes zwar unterschiedlich, aber jeweils konsistent interpretierbar sind. Anders gesagt handelt es sich bei den Texten des Aristoteles um Monumente, die offen für verschiedene

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und jeweils in sich gerechtfertigte Deutungen zu sein scheinen. Verschiedene Übersetzungen derselben Texte sind dementsprechend nicht nur möglich, sondern es kann sich dabei grundsätzlich auch jeweils um gute Übersetzungen handeln. Wie also kann beurteilt werden, ob eine Übersetzung besser ist als die andere?

V. (b) Die Frage wollen wir hier, wie gesagt, auf pragmatische Weise angehen. Wir fragen also nicht direkt nach dem Metakriterium, sondern wir fragen uns, welche Kriterien für das Vorliegen einer besseren Übersetzung von den Kritikern anderer Übersetzungen tatsächlich geltend gemacht werden. Hierbei sollen solche Kritiken ausgeschlossen sein, die auf semantisch-syntaktischer Ebene argumentieren. Zwar kommen solche, auf den Vorwurf der mangelnden Sprachbeherrschung hinauslaufenden Argumente in der philosophischen Diskussion antiker Texte gelegentlich vor, doch sind dies nicht die Fälle, die uns hier weiterhelfen können. Auf der Suche nach dem Metakriterium für das Vorliegen einer besseren Übersetzung wollen wir der Einfachheit halber von der zugespitzten Situation ausgehen, dass es mehrere semantisch-syntaktisch tadellose Übersetzungen ein- und desselben Textes gibt, die jeweils für sich betrachtet zwar konsistent, aber untereinander nicht vereinbar sind. Dabei habe ich, wie gesagt, nicht die Absicht, Neuheiten zu präsentieren. Ich möchte nur kurz und in fünf m. E. besonders wichtigen Punkten zusammenfassen, was ich jenseits der >sprachlichen< Ebene implizit und teilweise auch explizit in Übersetzungen, Interpretationen und Kommentaren von Aristoteles-Forschem an Kriterien für das Vorliegen von besseren Übersetzungen vorgefunden habe. Ich beanspruche damit keineswegs, solche Kriterien zu kreieren, sondern lediglich zu sammeln, was seit langem praktiziert wird. Und auch dies ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Kriterium eins: Den in der einschlägigen Literatur wahrscheinlich am häufigsten zu findenden übersetzungskritischen (Sammel-)Typus kann man als das Kriterium textinterner Konsistenz bezeichnen. Es fordert basale Rationalitätsstandards von der Art ein, dass der übersetzte Text sich intern nicht selbst widerspricht, generell nachvollziehbar ist und möglichst unwahrscheinliche oder unmögliche Konsequenzen, die sich aus einer Übersetzung ergeben könnten, vermieden werden. Hierzu gehören viele Fälle von Dekontexrualisierungen und Missverständnissen einzelner Textteile, ob produktiv oder unproduktiv. Solche Fälle gibt es, wie gesagt, häufig, ich werde aber nicht weiter darauf eingehen. Stattdessen möchte ich das Konsistenzproblem in einer zugespitzten Form diskutieren, um die zugrunde gelegten Bewertungskriterien mit Blick auf das gesuchte Metakriterium möglichst deutlich werden zu lassen. Ich frage daher im Folgenden nach den Kriterien, die für das Vorliegen einer besseren Übersetzung in Anschlag

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gebracht werden, wenn beide Übersetzungen die basalen Rationalitätskriterien erfüllen (also textintern konsistent sind) und keine semantisch-syntaktischen Fehler aufweisen. Kriterium zwei: Intertextuelle Konsistenz innerhalb des Autors. Auch wenn die Interpretation und Übersetzung einer Schrift als konsistent eingestuft wird, wird angeführt, dass diese nicht mit dem zusammenpasse, was Aristoteles an anderer Stelle sagt. Hier scheint Analoges zu gelten wie bei der textinternen Konsistenz: Vorzuziehen ist demnach eine solche Interpretation, die nicht nur eine Schrift, sondern entweder das gesamte überlieferte Werk des Autors oder einen möglichst großen Teil davon auf konsistente Weise zu verstehen erlaubt. Ein Beispiel in der Aristoteles-Interpretation ist die Diskussion von Metaphysik Buch IX, wo Aristoteles den Möglichkeits- und Wirklichkeitsbegriff diskutiert. Hier scheint es ohne weiteres möglich, den Text intern konsistent im Sinne eines kausalen Determinismus zu interpretieren, was entsprechende Konsequenzen für die Übersetzung hat. Ein häufiger Einwand gegen eine solche kausaldeterministische Interpretation ist nun der Verweis auf andere Texte des Aristoteles, die eine solche Lesart auch für den Text in Metaphysik IX unwahrscheinlich erscheinen lassen. Kriterium drei: Minimierung der Anzahl textextemer Annahmen. Dieses Kriterium läuft daraus hinaus, dass der Text möglichst aus sich selbst verständlich sein sollte, d. h. dass nach Möglichkeit keine besonderen Hilfsthesen erforderlich sind, um die Interpretation zu ermöglichen. Beispiele für solche Hilfsthesen wären etwa bestimmte Thesen über das Wesen des griechischen Menschen oder geistesgeschichtliche Thesen wie z. B. diejenige von der Abwesenheit eines mit unserem Begriff des freien menschlichen Willens vergleichbaren Konzepts in klassisch griechischer Zeit. Das Kriterium verschmäht solche Hilfsthesen nicht in genereller Weise, lässt sie jedoch nur als ultima ratio zu: Dann, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind, einen Text ohne Zuhilfenahme derartiger Thesen zu verstehen, ist eine entsprechende Interpretation zu bevorzugen. Dieses Kriterium scheint mir von besonderer Relevanz für philosophische Interpretationen und Übersetzungen zu sein. Dies deswegen, weil, für den Fall, dass man ohne derartige Hilfsthesen auskommt, ein Text insofern tendenziell seiner historischen Kontingenz enthoben und direkt auch auf die gegenwärtigen Belange des Interpreten bezogen werden kann. Dadurch erfährt der Text eine philosophische Aufwertung. Kriterium vier: Hiermit hängt ein weiteres Kriterium zusammen, das mir ebenfalls von besonderer Relevanz für die philosophische Textinterpretation zu sein scheint. Man könnte es als >Kriterium methodischer Reflexivität< bezeichnen. Damit meine ich Folgendes: Wenn man einem Term eine bestimmte Funktion innerhalb eines argumentativen Gefüges nachweisen kann, so ist seine Übersetzung im Sinne dieser Funktion zu bevorzugen, d. h. dem Autor ist in solchen Fällen auch das methodische Bewusstsein um die argumentative Funktion des verwendeten Terms zuzusprechen. Prinzipiell ist dem übersetzten Philosophen zuzutrauen, dass er auch solchen Ausdrücken, für die sich eine bestimmte unoder vorphilosophische lexikalische Bedeutung in den Wörterbüchern finden

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lässt, eine speziell philosophische Funktion zugedenkt. Diese sollte sich dann, sofern sich eine solche Funktion tatsächlich nachweisen lässt, auch in der Übersetzung widerspiegeln. Eine Übersetzung, die die Verwendung eines Ausdrucks in diesem Sinne als Glied in einem systematischen Argumentationszusammenhang ausweist, ist gegenüber solchen zu bevorzugen, die diesen argument- bzw. theoriestrukturierenden Aspekt nicht berücksichtigen und sich nur an der lexikalischen Bedeutung des Ausdrucks orientieren. Ein banales Beispiel wäre die Übersetzung des griechischen Terms >kinesis< nicht mit >BewegungVeränderungmesoteslogosorthos logos< usw. Gelegentlich sehen Übersetzer bei solchen Termen sogar von einer Übersetzung ganz ab und bringen den transkribierten griechischen Ausdruck, um der argumentstrukturierenden Funktion des Terms nicht durch eine Übersetzung vorzugreifen. So wie etwa Frede/Patzig es in ihrer Metaphysik Z-Übersetzung mit dem üblicherweise mit >Substanz< oder auch >Wesen< übersetzten Term >ousia< gemacht haben, weil sie der Meinung waren, dass es in diesem Text gerade um die Erklärung dieses Ausdrucks gehe. Ausschlaggebend scheint zu sein, ob eine argumentstrukturierende Verwendungsweise nachgewiesen werden kann oder nicht. Falls ja, ist eine ihr entsprechende Übersetzung zu bevorzugen. Kriterium fönf. Als letztes möchte ein Kriterium anführen, dass man als >Kriterium der Argumentidentifikation< bezeichnen könnte. Es bezieht sich auf den unmittelbaren Kontext einer Stelle. In den Kritiken, die Interpreten anderen Übersetzungen angedeihen lassen, findet sich häufig Argumente etwa folgenden Typs: »Hätte der Interpret/Übersetzer X das in dem Textabschnitt vorgebrachte Problem oder Theorem gesehen, so hätte er hier nicht so, sondern so übersetzt.« Dies scheint zunächst ein vergleichsweise einfacher Fall zu sein. Es geht darum, dass der kritisierte Interpret etwas nicht erkannt hat. Es geht nicht darum, ihm eine falsche Sicht eines als solchen identifizierten Arguments zuzuschreiben, sondern darum, dass er nicht wirklich erkannt hat, wovon an dieser Stelle überhaupt die Rede ist. Ihm wird dabei vorgeworfen, ein Argument als solches ignoriert bzw. nicht erkannt zu haben. In Wirklichkeit handelt es sich hierbei jedoch um einen basalen Kritikpunkt, der mir von herausragender Bedeutung für die philosophische Interpretation und Übersetzung zu sein scheint. Ein Beispiel für viele wäre die Übersetzung von Aristoteles' Schrift Über die Seele. Hier hat man schon vorher, aber speziell in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Seiten der Aristoteles-Interpreten teilweise terminologische Inkonsistenzen und - was schlimmer ist - schwere philosophische handwerkliche Fehler feststellen zu können geglaubt. Ähnliches gilt für die thematisch verwandte Schrift De Motu Animalium. So war man z. B. der Ansicht, Aristoteles habe seinerzeit methodisch noch nicht gehörig zwischen Begriffsana-

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lyse einerseits und empirischen Aussagen andererseits unterschieden.12 Dies läuft auf den Vorwurf hinaus, er habe sachlich keine saubere Grenze zwischen Physiologie der Körperbewegungen und der Erklärung intentionaler Handlungen gezogen und sei so zu entweder falschen oder vagen und sogar einfältigen Resultaten gelangt. Diese verheerende Einschätzung der aristotelischen Position kann man auch den Übersetzungen ansehen, die diese Interpreten vorgelegt haben: Sie sind aufgrund ihrer Einschätzung in den entsprechenden Passagen einer konsistenten Begriffsverwendung im Sinne einer kohärenten Theorie nicht mehr verpflichtet. Was diese Interpreten aber nicht wussten und zu diesem Zeitpunkt auch gar nicht wissen konnten, war, dass im Zuge der funktionalistischen Neudiskussion des aristotelischen Hylemorphismus und den Entwicklungen in der modernen Philosophie des Geistes und der Handlungstheorie auch die Texte zur Seelenlehre und Selbstbewegung der Lebewesen einer Neuinterpretation zugänglich wurden, die stark auf dem Gedanken einer methodischen Parallele zwischen den modernen Ansätzen und dem Vorgehen des Aristoteles basierte.13 Vor einer Kritik, die sich aus diesem Kriterium speist, kann sich wohl keine Interpretation oder Übersetzung endgültig absichern. Um dies zu können, müsste ein Interpret/Übersetzer in der Lage sein, alle möglichen Lesarten und argumentativen Schritte zu antizipieren, die spätere Interpreten und Übersetzer vielleicht einmal in demselben Text oder Textabschnitt zu finden meinen. Dies scheint nicht gut möglich zu sein. Welche Kontextualisierungen im Sinne der Hypothesen (i) und (ii) aus Abschnitt IV mit einem Text vorgenommen werden, ist abhängig vom Stand der philosophischen Diskussion und dem Problembewusstsein auf Seiten des Übersetzers. Beide sind starken Variationen unterworfen. Dies mag einerseits als Beschränkung aufgefasst werden. Andererseits sorgt dieser Umstand, zusammen mit der oben angesprochenen grundsätzlichen Mehrdeutigkeit semantisch-syntaktischer Art jedoch dafür, dass von Zeit zu Zeit neue philosophische Auseinandersetzungen mit den Texten des Aristoteles stattfinden können.

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Vgl. etwa zur Lehre von der Selbstbewegung der Lebewesen die Kritiken von Skemp (1979), Hamlyn(1968), 151 und 153 und Milo(1966), 14. 13 Vgl. dazu den Sammelband zu De Anima von Nussbaum/Rorty (1992). Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Ich versuche hier in keiner Weise, die erwähnten Aristoteles-Interpreten der sechziger Jahre in ein ungünstiges Licht zu setzen. Das Gegenteil ist der Fall. Aus dem Bisherigen ergibt sich, dass es sich bei diesen Interpreten um Übersetzer handelt, die auf die oben genannte Weise dem philosophischen Anspruch, den Aristoteles' Texte zweifellos erheben, in höherem Maße gerecht werden und in diesem Sinn >bessere< Übersetzungen bieten als es diejenigen tun, die sich bei ihren Übersetzungen auf semantisch-syntaktische Fehlerlosigkeit beschränken. Diese haben es zwar vermieden, durch eine neue Strömung in der Philosophie abrupt ins philosophische Abseits befördert zu werden, sie haben sich dies aber durch den Verzicht auf eine die Übersetzung anleitende Hypothese über das spezifische Argumentationsziel teuer erkauft. Wenn der Transport derselben Bedeutung von der Original- in die Zielsprache Hauptmotivation der Übersetzung ist, dann ist im Falle philosophischer Texte der Verzicht auf eine solche Hypothese gleichbedeutend mit dem Verzicht auf das Hauptmotiv der Übersetzung.

Wann ist eine Übersetzung besser als die andere?

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Wie lässt sich hieraus nun ein Kriterium für eine bessere Übersetzung gewinnen? Oder konkret gefragt: Warum glauben wir heute, dass die funktionalistische Neudeutung der aristotelischen Seelenlehre >bessere< Interpretationen liefert als die der genannten Interpreten aus den sechziger Jahren? Die kurze Antwort darauf ist die, dass sie wahrscheinlich deswegen bevorzugt werden, weil sie es uns unserer Auffassung nach erlauben, mehr >Sinn< in den aristotelischen Text zu bringen. Man könnte dies, wenn man wollte, in die Maxime kleiden, dass, je gehaltvoller ein philosophischer Text dadurch gemacht werden kann, dass ihm eine größere Erklärungsleistung nachgewiesen wird, die daraus resultierende Übersetzung umso >besser< ist. Eine solche Maxime muss natürlich mit den Konzeptionen von >Sinn< und >Erklärungprinciple of charity< ins Spiel: Es ist methodisch dubios, einem Argument in einem Text weniger Erklärungsleistung zuzusprechen als ihm konsistenterweise und in Übereinstimmung mit den genannten Kriterien zugesprochen werden kann. Vor allem aber möchte ich darauf hinweisen, dass die Kriterien immer nur solche Kriterien sind, die Interpreten an solchen Stellen, wo sie etwas an anderen Übersetzungen auszusetzen haben, in Anschlag bringen. Hierbei handelt es sich um eine punktuelle Anwendung, die sich zudem immer auf ganz konkrete Übersetzungsversuche richtet und zwar nur an solchen Stellen, wo der Kritiker glaubt, über die bessere 14 Eine zusätzliche Schwierigkeit, die den Vorrang des Kriteriums textinterner Konsistenz untergraben kann, und auf die ich hier der Einfachheit halber nicht eingegangen bin, sind die (bei Aristoteles überlieferungsgeschichtlich besonders komplizierten) Fragen der Textkonstitution. 15 Textexterne Konsistenz scheint demgegenüber ein relativ schwaches Kriterium, das etwa für textinteme Konsistenz durchaus geopfert werden kann. Ein besonders bekanntes Beispiel einer komplizierten Konstellation mehrerer Kriterien zuungunsten von textextemer Konsistenz scheint mir die Hypothese einer inneren Entwicklung des Denkens des Aristoteles zu sein. In ihr wird eine unmittelbare Form textextemer Konsistenz zugunsten einer (angenommenen) textinternen Konsistenz aufgelöst und unter Zuhilfenahme einer textextemen historischen These über die innere Entwicklung des Philosophen eine an den Stationen dieser Entwicklung orientierte, neu gefasste textexteme Konsistenz hergestellt: Wenn man die innere Entwicklung des Philosophen zugrunde legt, ist die Inkonsistenz des philosophischen Gehalts eines Textes gegenüber einem anderen Text nämlich gerade das, was diese Texte im Sinne dieser Entwicklungsthese konsistent macht. Allerdings sollte man, wie gesagt, zu solchen textexternen Annahmen nur als ultima ratio greifen.

Wann ist eine Übersetzung besser als die andere?

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Übersetzung zu verfugen. Dies ist keineswegs mit der Behauptung der Gültigkeit sinn- und konsistenzmaximierender Prinzipien in Bezug auf diese Texte insgesamt zu verwechseln. Letzteres zu behaupten, lag nicht in meiner Absicht. Mit der Aufzählung dieser Kriterien habe ich nur versucht, auf einige Regeln unseres Interpretations- und Übersetzungsspiels für gegebene Texte aufmerksam zu machen. Das heißt jedoch noch lange nicht, dass die Texte auch immer in der Weise mitspielen, dass sie sich optimal zu den Regeln unseres Interpretations- und Übersetzungsspiels verhalten. Bei diesen noch unfertigen Überlegungen zur Aristoteles-Übersetzung und zu dem darin herrschenden Zusammenhang von Übersetzung und Interpretation muss ich es hier bewenden lassen.

Literatur Aristotle, De Anima. Books II and III, transl. with Introduction and Notes by David W. Hamlyn, Oxford 1968. Milo, Ronald D., Aristotle on practical Knowledge and Weakness of the Will, The Hague/ Paris 1966. Nussbaum, Martha Craven/Rorty, Amelie Oksenberg (ed.), Essays on Aristotle 's De Anima, Oxford 1992. Skemp, Joseph B., »orexis in De anima III 10«, in: Aristotle on the Mind and the Senses. Proceedings of the 7. Symposium Aristotelicum, ed. Geoffrey E. R. Lloyd/G. E. L. Owen, Cambridge 1979, 181-189. Sorabji, Richard, »Aristotle on the role of intellect in virtue«, in: Essays on Aristotle's Ethics, ed. Amelie Oksenberg Rorry, Berkeley/London 1980, 201-205. Strawson, Peter Frederick, Entity and Identity, Oxford 1997.

Sektion IV

Übersetzung und Transformation in der bildenden Kunst

Le sentiment des mines, de Orient ancien aux Lumieres: continuites et transformations ALAIN SCHNAPP

Nous avons l'habitude de considerer le passe comme le terrain d'exploration privilegie de notre conception occidentale de l'histoire. Meme si Momigliano, en un essai fameux, a attire notre attention sur les »sagesses barbares« nous n'accordons qu'une distraite attention aux antiquaires qui n'appartiennent pas ä l'Europe et il est bien rare que nous nous interrogions sur les differents types de pratiques antiquaires d'une civilisation ä 1'autre. Pour repondre ä cette question, il nous faut tout d'abord nous interroger sur l'essence meme des pratiques antiquaires. Dans sa definition canonique Momigliano oppose l'antiquaire ä 1'historien1. Certes, tous deux collectent des informations et tentent d'interpreter les temps anciens, mais l'exercice de leur curiosite differe. Car nous dit-il, 1'historien explore l'histoire par problemes en privilegiant l'ordre du temps. L'antiquaire au contraire s'interesse ä tous type de documents pourvu qu'ils soient anciens: leur forme, leur type, leur precede de fabrication constituent en eux-memes un probleme qui sollicite la curiosite de l'antiquaire. Paul Petau, un des precurseurs de la curiosite antiquaire au XVII6 siecle affirmera avec orgueil: »nihil pelo sine antiqua, je ne veux rien s 'U n 'est antique«. En interrogeant cette curiosite pour le passe dans sa composante materielle - objets et monuments -je suis bien conscient que le concept meme de monuments varie d'une culture ä l'autre et que mon questionnaire m'amene ä privilegier les societes lettrees. Cette enquete cependant me parait repondre ä la necessite d'une approche comparative et d'explorer les precedes par lesquels differentes traditions - orientales et occidentales - donnent chacune une place singuliere au dialogue et ä la concurrence entre texte et monument. Reste ä definir ce qu'il faut entendre par tradition occidentale: les Egyptiens et les Mesopotamiens ont apporte leur contribution ä une vaste experience des procedures de la memoire dont les Grecs, les Romains et les precurseurs de la Renaissance ont pu ou su s'inspirer. Car, si nous acceptons que la science occidentale des antiquites, qui precede Parcheologie au sens moderne du mot, est un pole d'un large 1

Momigliano (1975), traduction franfaise, Sagesse barbare, Paris 1979 »The Antiquarian and the historian« (1950), 285-315.

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Alain Schnapp

spectre de techniques d'exploration du passe dont la tradition chinoise incarne le pole oppose, cela laisse de la place pour definir les moyens dont les anciens Egyptiens, les anciens Mesopotamiens et bien d'autres encore, se servaient pour explorer le passe. II faut bien sür nous rappeler que les hommes de la Prehistoire avaient quelque conscience du passe et qu'ils tentaient parfois d'en garder les traces. Andre Leroi-Gourhan a attire notre attention sur une »collection de curiosites« - fossiles etranges, pierres rares ou exotiques - deposes dans les couches post-mousteriennes de la grotte du Renne ä Arcy-sur-Cure. Quel que soit le Statut exact de ces objets precis, de telles »collections« ont ete decouvertes par d'autres prehistoriens dans des contextes differents. Cela nous conduit done ä penser que la curiosite pour ce qui n'est pas habituel, ce qui est distant ou erränge, est profondement enracinee dans la conscience humaine. Si nous acceptons cette hypothese, toute societe - des chasseurs-cueilleurs aux plus grands des Empires - connait une curiosite pour le passe et developpe des techniques diverses pour l'explorer. Collingwood, qui a ete Tun des plus fertiles penseurs de la methode historique, n'hesitait pas ä parier de »theocratic history« voire de »quasi history« pour decrire la fa?on d'ecrire l'histoire chez les anciens Mesopotamiens2. En tentant de definir l'approche egyptienne et mesopotamienne je m'emploierai ä identifier les elements de base qui determinent la relation entre l'homme et le passe. Ce faisant, je suis bien conscient que le passe n'est pas l'histoire - au sens grec de Yhistorie - mais je suis convaincu que la collecte, le degagement, la restauration d'objets et monuments defmis comme anciens est une partie d'un processus qui peut conduire ä l'histoire en suivant le chemin materiel autant qu'immateriel de la memoire. La definition donnee par Momigliano souligne ce que nous pourrions appeler la grandeur et la servitude de l'antiquaire: sä passion va aux objets avant d'aller aux faits. La collection, l'extraction, l'excavation, la restauration d'objets du passe, qu'ils soient lointains ou proches, contribue ä creer un lien entre passe et present qui est lui-meme le reflet d'une attitude particuliere. Cette singularity a ete exprimee avec une clarte sans pareille par Meric Casaubon, le fils de Fillustre Isaac Casaubon: That Antiquaries are so taken with the sight of old things, not as doting upon the bare form or matter (though both oftentimes be very notable in old things) but because these visible superviving evidences of Antiquity represent unto their minds former times, with as strong an impression, as if they were actually present, and in sight, as it were3.

Le travail de l'antiquaire n'est pas seulement une ceuvre de raison, il reclame un engagement personnel, une capacite ä faire »revivre le passe« qui releve de la passion. La force de l'imagination, le desir de collection sont les ingredients d'une attitude mentale autant que du savoir-faire de l'antiquaire. L'antiquaire est 2 3

Collingwood 1980 (1946), 14-15. Casaubon, Treatise on Use and Custom, 1638.

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un collectionneur d'ceuvres, d'images, voire, et surtout, de ce que nous appelons aujourd'hui des »fiches«, des notations diverses et precises qui permettent de tirer de l'objet des traits, ders caracteristiques qui sont la substance meme de Pobjet. Ces traits singuliers - taille, forme, matiere - sont tous interessants certes, mais pour autant qu'ils soient »comme reellement presents«. L'antiquaire ordonne des objets pour en extraire du sens et cette quete s'apparente ä une chasse. Le Comte de Caylus, le plus acheve des antiquaires des Lumieres disait de lui-meme »canis venaticus sum«, »je suis un chien de chasse«. L'antiquaire est habile par la fievre de connaissance, cela peut tourner ä l'exces et devenir un travers mais c'est une part constitutive de son etre. Get aspect de la condition antiquaire transcende les epoques, les classes et meme les sexes. Li Quing Zhao, poetesse, erudite et collectionneuse modele de la Chine des Songs ecrit que lorsque la collection de livres, reunie par son mari et eile, fut complete, apres des annees de quete et de privation, la passion etait toujours aussi imperieuse: Je commencais ä m'organiser pour qu'il n'y ait qu'un plat de viande ä nos repas et ä me debarrasser de tout raffinement dans mes habits. Je ne portais plus de perles brillantes ou de plumes chatoyantes dans mes cheveux4.

Cette passion devorante partagee par Li et son epoux Zao Ming Zheng est aussi tragique et aussi exclusive que celle qui assaille 1'illustre sinologue Kien dans Auto-da-fe d'Elias Canetti5. Cette fievre-la est attestee dans des cultures et des contextes bien differents les uns des autres.

La pierre et le temps (»Stein und Zeit«)6: experience egyptienne du passe L'un des textes les plus anciens qui nous permettent de nous faire une idee des conceptions antiquaires de l'Egypte ancienne est une inscription gravee sur la statue en basalte du grand pretre Kaouab, fils du pharaon Kheops (2700 av. J-C). Cette inscription est due au pretre Khaemois conservateur de la cite et du domaine royal de Memphis, fils du Pharaon Ramses II (1290-1224): Par le grand maitre des chefs d'ateliers artisanaux, le pretre Sem, le fils royal Kha'mouasset (Khaemois), dont le cceur [...] a cause de la presente statue du fils royal Kaouab, qu'il a saisi alors qu'elle etait au rebut dans [...] aime de son pere le roi de Basse et Haute Egypte Kheops, en bon etat [...] pour lui donner une place dans la faveur des dieux, en compagnie des esprits excellents qui president au chateau de Ka a 4 5 6

Li Quing Zhao's epilogue to Records on Metal and Stone (1996), 593. Canetti, Die Blendung, Vienne 1935 (premiere edition). Je m'inspire ici du livre de Jan Assmann dont le litre meme me parait de nature ä expliciter la relation des anciens Egyptiens au passe: Stein und Zeit, Mensch und Gesellschaft im alten Ägypten, München 1995. Voir aussi la synthese de Sydney Aufrere: les anciens Egyptiens et leur notion de l 'antiquite, une quete archeologique et historiographique du passe (ä paraitre).

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Alain Schnapp Ro-Setaou, tant il aime les nobles ancetres qui vivaient auparavant et dont toutes les actions furent remarquables, veritablement utiles un million de fois; que cela dure, selon toute vie, stabilite, puissance, le pretre Sem, le fils royal Kha'mouasset, apres qu'il eut retabli tous les rites de ce temple qui etaient tombes dans l'oubli de la memoire des hommes, tandis qu'il faisait creuser un bassin en face d'un sanctuaire venerable, un travail qu'il avait souhaite, lors d'allees et venues pour assainir et apporter de l'eau du khenet de Khepren, pour qu'il soit doue de vie7.

Toutes les conditions enoncees par Meric Casaubon apparaissent dans ce texte. II est clair que le contexte de la decouverte, la lecture, de l'inscription precedente, attribution de la statue ä un personnage bien determine et ä une periode bien identifiee sont des composantes »very notable« de l'attention de Khaemois. Mais ce qui importe c'est bien l'idee d'une continuite, le desir d'etablir entre le present et le passe une relation qui est la condition meme de la restauration du culte. Contre la fragilite de la memoire, erosion du monument, l'observation du sol est un instrument d'auto identification, un moyen d'etablir le contact avec les personnages illustres du passe. Ici la recherche d'objets rares et precieux, si courante dans une societe qui reservait aux tombes une bonne part des plus elegants produits de Fartisanat et de l'art, ne constitue pas le mobile de la decouverte. Rechercher, redecouvrir et retablir les traces du passe enfouies dans le sol, sont des signes de piete, une forme de respect et d'emotion. Ce souci du passe n'est pas isole, le meme personnage Khaemois est bien connu pour son interet pour les monuments anciens et les nombreuses restaurations qu'il a fait entreprendre. Voici comment Farouk Gomaa commente la decouverte de la statue de Khaemois: Nach alten Aufzeichnungen, aber auch auf Grund von Nachgrabungen [...], die er in den jetzt zerstörten und verschütteten Grabanlagen veranstalten ließ, stellte er die Namen der ursprünglichen Inhaber dieser Grabdenkmäler fest und ließ ihren Kult erneuern [...].

L'exhumation du passe est une pratique courante dans la tradition egyptienne, mesopotamienne et chinoise et cette experience emotionnelle de la continuite, qui passe par l'enfouissement, l'oubli et la redecouverte d'objets et de monuments, constitue une part non negligeable de experience antiquaire des Grecs et des Romains9. Dans le contexte de l'inscription de Khaemois, le savoir, la conscience de la tradition et le respect cultuel contribuent ä ce qui est explicitement defini comme une oeuvre pieuse. Un autre document egyptien cependant illustre une curiosite differente de caractere prive et presque intime. II s'agit d'un fossile decouvert ä Heliopolis en contexte archeologique. Cet oursin fossile (echinolam-

Inscription sur la statue de Ka Wab editee par Farouk Gomaä (1973), 68. Gomaa (l973), 61. Voir l'excellent article d'A. J. Wace (1949), 21-33, et le travail de P. G. Guzzo (1993), qui a recense dans la litterature greco-romaine l'ensemble des passages qui ont trait ä la decouverte d'antiquites.

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pas africanus) porte une inscription hieroglyphique qu'on peut traduire ainsi: »Trouve au Sud de la carriere de Spdw par le pere divin, le pretre Tcha Nefer«10. Cette inscription du Nouvel Empire nous renvoie ä quelque chose de nouveau. Rien ici n'est officiel, rituel ou meme religieux, tout indique que nous avons affaire ä l'expression personnelle de la curiosite d'un lettre dont 1'attention a ete captee par la decouverte d'un objet singulier. En le ramassant, en l'extrayant de son environnement, le pretre Tcha Nefer se comporte comme un antiquaire, voire comme un naturaliste. II ajoute cependant, ä son desir de savoir, quelque chose de plus que la satisfaction d'une passion. En inscrivant sur 1'objet lui-meme le lieu de la decouverte et le nom de l'inventeur il prend en quelque sorte date dans la longue liste des erudits qui communiquent entre eux par-delä le temps et l'espace. Cette petite inscription nous rappelle qu'il etait normal pour les scribes et les erudits d'exercer leur curiosite personnelle en collectant des inscriptions, en les dechiffrant et parfois meme en les traduisant. Ce type de savoir faisait partie de la culture des scribes, il etait necessaire ä l'exercice de leur activite, il contribuait ä favoriser les relations entre leur metier et ce qu'on peut appeler une curiosite erudite. Les scribes mesopotamiens ont excelle dans ce genre d'exercice - nous en verrons plus bas quelques exemples. Les erudits de l'Egypte ancienne ont ete obsedes comme leurs maitres les pharaons par ce qu'il faut bien appeler le »culte des monuments«. II s'agissait de bätir des »monuments d'eternite« susceptible de resister ä erosion pendant des millenaires et de temoigner de la grandeur des souverains. Jan Assmann a donne la definition canonique de cette attitude: Den Stein als das Medium ägyptischer Erinnerung und Selbstverewigung, und die Zeit als Dimension, in der und gegen die diese Kultur des Steinernen aufgestellt ist".

Les grands et les lettres etaient capables de trouver et de collecter des inscriptions anciennes. Collecter des inscriptions, restaurer des monuments, cela fait partie des devoirs du lettre. Le savoir, l'erudition philologique sont des outils necessaires ä l'exercice des missions religieuses et politiques qui lui sont confiees par le Pharaon. Mais, ä la decouverte des monuments et des inscriptions, le scribe decouvre des secrets que nul avant lui n'avait imagine. La relation entre savoir et pouvoir se fait explicite. Les scribes antiquaires voient ce que les autres ne peuvent entrevoir des messages venus du passe qui fönt d'eux des mediateurs privilegies. Collecter de tels documents n'est pas seulement faire oeuvre d'erudition, c'est affronter une experience poetique qui mele la vie et la mort. Les Grecs disaient de l'Egypte qu'elle etait une demeure d'eternite, une civilisation qui affirmait la superiorite de l'au-delä face ä la brievete de la condition humaine. La maitrise du passe, rantiquarianisme est done un outil necessaire ä la conservation de la memoire: les macons, les sculpteurs et les poetes en sont bien conscients qui combattent tous pour la gloire et l'eternite: 10 Scamuzzi(1947), 11-14. 11 Assmann (l995), 11.

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Alain Schnapp Ces ecrivains, hommes de savoir, Qui remontent aux temps posterieurs ä l'arrivee des dieux, Ces vrais devins du futur, ils sont devenus tels Que leurs noms s'inscrivent dans l'eternite Bien qu'ils soient partis lä-bas, quand leur temps de vie s'est acheve, Quand leurs contemporains sont tous oublies. Us ne se sont pas bäti des pyramides d'airain, Pas plus que des steles de fer; Us n'ont pas cherche ä laisser des heritiers sous la forme d'enfants, Pour conserver leurs noms vivants, Mais ils ont cree des livres pour heritiers Et des Ie9ons qu'ils ont composees. [...] Plus precieux qu'une pierre funeraire inscrite est un livre. Plus precieux qu'une chambre funeraire bien construite, Ces livres fönt fonction de tombe et de pyramide Pour maintenir leurs noms vivants. Dans Pau-delä c'est certain cela a de l'importance Qu'un nom dans la bouche des hommes. L'homme s'en est alle, son corps est poussiere. Tous ses contemporains ont ete portes en terre. L'ecriture cependant fait qu'on se souvient de lui Et qu'une bouche le dise ä l'autre. Plus precieux est un livre qu'une maison aux murs dresses, Plus precieux qu'une chambre funeraire tournee vers l'Ouest Plus precieux qu'un chateau bien plante sur ses fondations Plus precieux qu'une pierre votive dans le temple12.

Les »monuments d'eternite« doivent apprivoiser les arts de la memoire et face aux artisans qui taillent, qui moulent ou qui peignent, les poetes s'insurgent, ils sont la pour dire que la memoire transmise d'une generation ä l'autre peut se reveler plus solide que toute construction ou que tout mineral. Le passe est peuple de dieux, de grands et de poetes. Certes les monuments sont faits de pierres, mais les mots de leurs constructeurs qui sont inscrits dans les cartouches disent bien des choses que les pierres muettes ne sauraient evoquer. Et quand les plus elevees et les plus massives des constructions viendraient ä disparaitre »une bouche le dira ä l'autre«. Le sens du temps qui passe et la melancolie de la condition humaine sont les ingredients de ce type de poesie qui tire son sens de la contemplation et de la comprehension du passe. II n'est done pas douteux que 1'Egypte ait ete une terre d'election pour le developpement de pratiques antiquaires et qu'elle ait contribue ä favoriser un type de relation entre passe et present qui donne aux antiquaires une place particuliere dans la societe. Pour les Egyptiens le culte du passe est plus qu'une necessite, il 12 Assmann (1995), 173-174 (texte d'epoque ramesside).

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est le moyen de fonder la societe sur des bases solides. Ceux des lettres qui sont capables de lire les ecritures anciennes ou d'interpreter les images des tombes ou des monuments anciens acquierent un prestige sans rival. La pierre est ä la fois monument et inscription, d'oü la tension entre les formes monumentales et les formes verbales qui s'exprime dans un genre qui constitue sans doute la plus ancienne des poesies des mines.

Les tablettes face au temps Les souverains des grands empires ont tous cherche a apprivoiser le temps soit qu'ils tentent de laisser a la posterite des traces inexpugnables de leur regne soit (et souvent pour les memes raisons) qu'ils cherchent ä demontier qu'un lien particulier les unit aux plus glorieux de leurs predecesseurs. De ce point de vue les anciens Egyptiens, les anciens Mesopotamiens et les anciens Chinois ont partie liee: le »despotisme oriental« apparait bien comme vaste laboratoire qui s'emploie ä domestiquer les arts de la memoire. Neanmoins il y a la quelques evidentes differences de comportement et de technique. Les Pharaons s'employaient ä resister ä 1'erosion en s'appuyant sur la masse indestructible d'immenses edifices de pierre. Les souverains mesopotamiens imaginerent de recourir ä une autre solution: celle de disposer dans les fondations de leurs palais ou temples des briques inscrites respectueusement enfouies. Ces briques portaient des inscriptions ä la gloire du souverain, elles attestaient de sä piete autant que de sä munificence. Elles constituaient un message que chaque souverain envoyait ä ses descendants en meme temps qu'un temoignage de sä connaissance des realisations de ses predecesseurs. Ce savoir-faire cependant est un peu ironique: ce n'est pas la solidite des murs, la somptuosite des decors sculptes ou peints qui temoigne de la grandeur du souverain, mais des briques de terre crue sechees au soleil soigneusement inscrites par des scribes vigilants. Face aux pierres majestueuses des Pharaons, les souverains mesopotamiens savent la fragilite de leurs constructions de briques crues mais proclament tres haut et tres fort leur grandeur en ayant recours ä ce modeste moyen de communication avec le futur. Cette subtile strategic repose sur un savoir partage qui unit les scribes par dela les millenaries. Elle suppose une capacite philologique, une aptitude ä maitriser les graphics archa'iques, les traditions diplomatiques qui est la marque originale des scribes mesopotamiens dont nous savons qu'ils etaient des collectionneurs d'inscriptions autant que d'habiles traducteurs. Egyptiens et Mesopotamiens demontrent la meme foi et le meme interet pour le passe mais les moyens qu'ils deploient pour 1'explorer sont differents. Conscients de la fragilite de leur construction de briques, les Mesopotamiens s'acharnent ä combattre l'erosion par le savoir: leurs palais si vite detruits quand ils ne sont plus entretenus recelent des briques de fondations qui sont protegees par les ruines. Pour communiquer avec le passe, il ne suffit pas d'inscrire des messages pieusement

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deposes dans le sol, il faut s'assurer que dans la continuite des generations rois et scribes iront fouiller ce meme sol pour y retrouver ces traces indestructibles. Cette avidite ä explorer le sol, a degager les substructions precedentes, ä dater et interpreter les murs, objets et inscriptions qui apparaissent, presente quelque chose de troublant pour l'archeologue moderne qui a parfois l'impression de rencontrer lä des predecesseurs aussi passionnes que lui-meme. G. Goossens a cependant nuance cette image des rois neo-babyloniens en insistant sur la dimension religieuse et politique de cette attitude ä un moment oü la tradition mesopotamienne, se sentant menacee, allait chercher dans un lointain passe un renfort et une consolation. Car les souverains et leurs scribes cherchent dans le sol des temples quelque chose de bien precis: Un mot revient sans cesse lorsqu'il est question de ces fouilles, un mot qui caracterise ce qu'on recherche et qu'on trouve, le mot temenu [...]. Le temenu est l'ancien texte de fondation qui authentique (sic) la construction d'un temple. Son antiquite peut etre toute relative, il suffit que le texte ait ete depose par les predecesseurs du roi, mais eile est indispensable, car d'autre part pour designer son propre texte de fondation, un roi ne parle pas de temenu mais de sitrun.

La nature meme du temenu Importe peu, il peut s'agir d'un cöne ou d'un cylindre en terre cuite, d'une tablette, voire d'un depot de fondation avec tablettes d'or et de lapis-lazuli, parfois meme d'une statue portant une inscription. Ce qui constitue le temenu, c'est done la preuve d'une tradition, meme s'il apparait par la suite que cette tradition est fausse du fait qu'un document plus ancien la contredit. La preuve ne resulte pas necessairement d'un document ecrit, quoique ce soil preferable, mais ä defaut de texte on peut admettre comme temenu toute piece d'antiquite certaine trouvee au cours des recherches14.

La recherche du passe est done un exercice de piete qui reclame des savoirs complexes. Le roi et ses scribes doivent etre capables de dechiffrer les ecritures anciennes pour valider leurs decouvertes, mais ils doivent aussi reconnaitre les traces de temples anciens, de lieux de cultes, tirer parti de la topographic et du climat pour deceler des constructions anciennes. En somme le savoir antiquaire est Tun des outils de la function royale, un moyen d'affirmer autant la grandeur que l'election par les dieux du souverain. Les assyriologues se sont employes ä moderer une vision trop antiquaire des societes mesopotamiennes en instant sur les specificites de la periode neobabylonienne qui voit fleurir recherche des cultes anciens, collections d'inscriptions et excavations. Reste cependant que nous pouvons observer des le Hie millenaire chez les Sumeriens apparition d'inscriptions dedicatoires qui identifient les temples selon un schema bien determine: »II comprend le nom de la divinite ä

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Goossens (l948), 149-160. Goossens (l948), 151.

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laquelle le bailment est dedie, le nom du souverain, le verbe exprimant l'action et l'objet de la construction«15. Ce protocole sumerien est largement repete par les souverains posterieurs qui tentent de s'identifier aux grands du passe. S. Lackenbacher a demontre la singularite de cette pratique epigraphique et architecturale qui fait du recit de construction un adjuvant presque necessaire de l'entreprise de renovation ou de creation d'un palais ou d'un sanctuaire. Pour les Mesopotamiens, Perection d'un palais ou d'un temple se place dans la continuite de l'action des souverains. L'inscription sur la tablette ou la brique de fondation est comme le colophon d'un livre. Elle suppose un savoir, une precision philologique et historique qui sont deconcertantes. Ainsi Assarhaddon evoque-t-il l'histoire du temple d'Assur: Le temple primitif d'Assur, qu'Uspia, mon ancetre, pretre d'Assur, avait bäti jadis etait tombe en ruine. Erisum, fils d'lllusumma, mon ancetre, pretre d'Assur, 1'avait reconstruit. 120 annees s'etant ecoulees, il etait retombe en ruine et Shamshi-Adad, fils d'llukapkapi, mon ancetre, pretre d'Assur, 1'avait reconstruit. 434 ans s'etant ecoules, ce temple fut detruit par un incendie. Salmanasar (ler)fils d'Adad Nirari, mon ancetre, pretre d'Assur le reconstruisit. 580 ans s'etant ecoules, la cella Interieure, ou demeure Assur, mon seigneur, le bit sahuri, le sanctuaire de Kubu, celui de Dibar et celui d'Ea etaient ruines, decrepits et vetustes16.

Pour obtenir l'agrement des dieux, il n'est pas seulement necessaire de restaurer les sanctuaires, il faut retrouver les lieux de leur fondation et tenter de reconstruire leur histoire. Bien sür ce genre de Chronologie est sujet ä caution, mais ce qui importe c'est 1'historicite dans laquelle le souverain inscrit son action. Entre la tradition egyptienne et la tradition mesopotamienne il y a de nombreux points communs mais le sentiment de erosion, de la destruction ineluctable qui menace les constructions humaines est encore plus fort chez les souverains du Croissant fertile. L'exercice du pouvoir est un combat centre la decrepitude, contre le »ternpus edax« que le souverain doit apprivoiser. Ici les textes n'ont pas la monumentalite des inscriptions lapidaires egyptiennes mais leur discretion meme, leur repetition est un gage d'endurance et de resistance. Ce qui fascine chez les Mesopotamiens c'est le lien intime et structural entre la fondation et le recit qui l'accompagne. Au fil du temps, ce recit gagne en precision et en importance. II ne decrit pas seulement l'acte de construction mais la splendeur de architecture et des decors qui l'accompagnent. L'emulation, la concurrence entre les rois du passe et ceux du present est le moteur de ce type de pratique: Sennacherib portera le defit encore plus loin qui voudra construire le »palais sans rival«17. Le palais sans rival doit toucher I'imagination: apparait alors le theme de la concurrence des arts, les bas-reliefs, les peintures, les architectures elles-memes deviennent des enjeux charges d'assurer le prestige et la reputation 15 Sollberger/Kupper (1971), 25. 16 Lackenbacher (1990), 32. 17 Lackenbacher (1990), 55.

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du roi. Reste qu'au bout du compte les rois et les scribes ont plus confiance dans les inscriptions que dans les monuments: Aucune civilisation, probablement, n'a eu ä la fois autant de defiance dans l'avenir de ses constructions et de foi en son ecriture, mais en meme temps n'a lie ä ce point l'une aux autres pour repondre ä son besoin d'eternite18.

Les Mesopotamiens sont done alles plus loin que les Egyptiens dans leur passion pour les vestiges du passe. Leurs scribes ont collectionne les ecritures anciennes, ils en ont parfois execute des moulages et en ont donne la traduction et l'origine. Ainsi E. Sollberger attire-t-il l'attention sur une tablette du British Museum en provenance de Sippar19. II s'agit d'une inscription presargonique sur une tablette recopiee par un scribe neo-babylonien. L'inscription presargonique, la plus ancienne jamais copiee, signifie: »L'homme de Mari, le marchand, fils d'Iddi-il, le scribe, fils d'Arsi-aha, le Samareen, a dedie cette statue ä Samas«. Elle est suivie d'un commentaire explicite qui indique la provenance et le Heu de decouverte: »De l'epaule droite d'une statue de pierre qui [...] dans les debris de l'Ebabbbar«. Savoir et minutie sont le propre des scribes qui par-delä les millenaries sont capables d'entendre et d'expliquer les ecritures anciennes. Ä la meme epoque Nabonide apparait comme un souverain antiquaire qui organise des fouilles pour redecouvrir des temples anciens et qui demontre son savoir et sä piete en mettant au jour des inscriptions que ses predecesseurs n'avaient pas ete capables de decouvrir20. Ce goüt antiquaire s'exprime dans la revendication royale d'une competence epigraphique et linguistique. Ainsi ce passage d'une tablette d'Assurbanipal: Moi (Assurbanipal) j'ai etudie le savoir secret, toute la puissance des scribes: les travaux du sage Adapa. Je suis capable de discuter les presages du ciel et de la terre avec competence dans les assemblees des erudits. Je possede le savoir necessaire pour discuter les series d'oracles >si le foie est en accord avec le ciel< avec les devins les plus experts [...]. J'ai lu les textes ecrits avec art dont la version sumerienne est abstruse, et l'Akkadien difficile a entendre. J'ai examine les inscriptions de pierre d'avant le deluge, ces compositions aussi esoteriques que difficiles21.

Le souverain exprime ici sa passion pour les inscriptions anciennes, sä capacite ä dechiffrer les messages les plus caches, sa connaissance des premieres ecritures d'avant le deluge que les dieux ont donnees aux hommes. Ä l'epoque neobabylonienne, rantiquarianisme devient une des composantes de la politique des souverains, collecter des inscriptions, fouiller des temples, collectionner des objets venant des epoques les plus anciennes et des villes les plus eloignees du royaume sont des activites royales. Des collections d'antiquites (certaines consti18 19 20 21

Lackenbacher (1990), 192. Sollberger (1967), 103-107. Beaulieu(1994), 37-42. Cite et traduit par Beaulieu (1994), 38.

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tuees de plusieurs dizaines d'objets, statues, inscriptions), qui s'etalent sur deux millenaries, ont etc retrouvees ä Babylone, ä Ur, mais aussi ä Sippar et Nippur22. Get antiquarianisme est au coeur des conceptions religieuses et politiques des souverains neo-babyloniens. Une tablette de Nabonide traduite par Erica Reiner exprime de facon extraordinaire les dimensions, pratiques, religieuses et politiques de cette recherche des traces du passe: Par ce que pour un tres long temps, la charge de la grande pretresse avait ete oubliee, Et que ses traits singuliers n'etaient indiques nulle part, j'y songeais jour apres jour. Le temps prevu etant arrive, les portes s'ouvrirent ä moi, Et je portais done les yeux sur une ancienne stele de Nabuchodonosor, Fils de Ninurta-nadin-sumi, un ancien roi du passe, Sur laquelle etait figuree l'image de la grande pretresse. De plus ils (nos predecesseurs) avaient enregistre et depose dans PEgipar, Ses biens, ses vetements et ses joyaux. J'examinai avec attention les tablettes anciennes d'argile et de bois, Et je fis tout exactement comme dans les temps anciens. Une stele, ses biens, le necessaire de sä maison, Je les fis executer a nouveau, et apres avoir porte sur chacun une inscription, Je les deposai devant mon maitre et ma dame, Sine et Ningal23.

L'antiquarianisme n'est pas seulement une pratique sociale qui a pour but d'exalter le pouvoir, il s'agit la d'une technique autant religieuse que politique qui permet le developpement ou la restauration du culte. Un savoir concret qui reclame autant une connaissance philologique qu'une sensibilite artistique, une capacite ä reproduire (et done a observer) les monuments et les objets du passe. En entreprenant ses recherches antiquaires, en utilisant des noms et des tournures sumeriennes du Hie millenaire le roi s'inscrit dans la continuite. Aussi menacee que puisse paraitre sä souverainete, l'appel ä la tradition apparait comme une arme au service de la stabilite et de la fermete du royaume. On ne retrouve pas en Mesopotamie les accents melancoliques des poetes de 1'Egypte ancienne. La contemplation des ruines n'est pas un exercice qui porte ä des reflexions sur la brievete de la vie humaine: les souverains voient les ruines comme une menace, le signe d'un effondrement qu'il faut ä tout prix prevenir par 1'inlassable reconstruction et restauration de ce qui est encore visible. Les Mesopotamiens ne se placent pas dans la perspective d'un »memento mori«. Pour eux, les traces du passe sont des signes que les dieux adressent aux hommes, et plus particulierement aux souverains. II importe de les decouvrir, de les dechiffrer, de les restaurer, mais ces imperatifs religieux ne paraissent pas deboucher sur un debat sur la brievete de la vie des hommes, des rois et des dynasties. Pour les Mesopotamiens, le passe est devant eux: »pananu«, un mot dont la racine est »face«; au contraire le futur, 1'avenir se dit »warkatu«, ce qui se trouve derriere le 22 Beaulieu(1994), 40. 23 Reiner (1985), 3.

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dos24. Ä force de contempler le passe les Mesopotamiens semblent ne plus pouvoir en detacher leurs yeux.

Poesie, vases de bronze et pouvoir en Chine ancienne La curiosite pour le passe des anciens chinois est un phenomene bien connu. La recente decouverte d'une tombe du Xlle siecle ä Anyang en porte un evident temoignage. La definite Fu Hao etait enterree avec une collection de jades dont certains remontaient aux lointaines cultures de Hongshan et de Liangzhu. Les fouilleurs ont pu etablir que ces depots funeraires etaient le resultat d'un rituel ceremoniel qui utilisait avec sophistication des references au passe comme au present. Que ce type de curiosite soit au cceur de la culture chinoise est une evidence [...]. Quand nous lisons sous la plume de Mo Tzu25 au Veme siecle avant J.C. que: »Les sources de notre savoir reposent sur ce qui est ecrit sur le bambou et la soie, ce qui est grave sur le metal et la pierre, et ce qui est inscrit sur les vases pour etre transmis ä la posterite«, nous decouvrons une definition exacte de ce que Momigliano appelait, au sens precis du terme, »antiquarianisme«. Mo Tzu etait un contemporain de Thucydide et nous savons que, dans la cour royale de la dynastie Shang, scribes et archivistes enregistraient la trace des evenements politiques et militaires. Pour »Ce qui est grave sur le metal et sur la pierre« nous disposons chez les Shang et les Chou de l'Est d'un grand nombre d'inscriptions qui ornent les vases rituels de bronze. K. C. Chang a meme fait remarquer que l'idee attribuee ä la philosophic ionienne de la succession pierre, bronze, fer a etc exprime par un philosophe des Chou de l'Est, Feng Hu Tzu: A l'äge de Xuanyuan, Shennong et Hexu, les armes etaient faites de pierre, pour couper les arbres et construire les maisons et elles etaient ensevelies avec les morts [...]. Ä l'äge de Huangdi, les armes etaient faites de Jade pour couper les arbres, pour construire les maisons et fouiller le sol [...] et etaient ensevelies avec les morts. Ä l'äge de Yu, les armes etaient faites de bronze pour construire des canaux et des maisons. Au temps present les armes sont faites de fer [.. .].26

II ne fait done aucun doute que les philosophies et les antiquaires chinois se sont pose, en des termes differents mais parfaitement coherents, les memes questions qu'Herodote, Thucydide ou Hippias. Les Chinois se sont Interesses tres tot aux sources de leur histoire. Leurs scribes ont compile les evenements et les ont croises avec toutes les sources imaginables. Ils se sont affrontes ä la question de la comparaison entre les sources ecrites et les sources non ecrites.

24 Cassin (1969), 241-257. 25 Chang (l986), 296. 26 Chang (l986), 4-5.

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Les monuments qui captivent avant tout les antiquaires chinois ne sont pas des statues, des pierres soigneusement equarries ou des briques, mais des vases de bronze. Comment expliquer cette passion chinoise qui commence au second millenaire? K. C. Chang a suggere que tout aspirant au pouvoir en Chine devait contröler un certain nombre de ressources fundamentales parmi lesquelles - et par-dessus tout - les vases de bronze traditionnels. Cette attirance devorante s'incame dans la legende des »chiu ting«, les neufs trepieds de bronze primordiaux qui furent coules par les rois fondateurs de la premiere dynastie Hsia: Dans le passe quand la dynastie de Hsia etait distinguee pour ses vertus, les regions eloignees elaborerent des images des wu qui les identifiaient, et les neuf pasteurs envoyerent le metal de leurs provinces. Les trepieds ting rurent coules avec des images d'eux sur ces wu [ . . . ] . Une harmonic fut ainsi etablie entre le haut et le has, et tous beneficierent des graces du ciel. Quand les vertus de Chieh en vinrent ä se ternir completement, les trepieds furent transferes chez les Shang pour six cents ans. Les Chou de Chang se revelerent cruels et intolerants et ils furent transferes chez les Chou. Quand la vertu est digne de louange et brillante, les trepieds quoique petits deviennent tres lourds, quand c'est le contraire, noirceur et desordre, meme s'ils sont tres grands, ils deviennent tres legers. Le ciel accorde ses graces a la vertu intelligente et ses faveurs demeurent. Le roi C'heng retint les trepieds ä Chi-ju, et il predit que la dynastie durerait trente regnes sur 700 ans. Quoique la vertu de Chou ait decline, les decrets du ciel ne sont pas encore changes. On ne doit pas poser de question sur le poids des trepieds27.

L'acquisition et la possession de vases de bronzes antiques est un moyen de tenir son rang, d'exprimer son pouvoir et sä vertu. Aussi la recherche de vases de bronze est-elle un topos de la tradition historique chinoise. Pour se procurer des vases il faut les obtenir d'un collectionneur ou les decouvrir par le moyen d'excavations. Les spolia au sens latin du terme sont done un outil de distinction et de reconnaissance. Stephen Owen a consacre un petit livre aux usages de la memoire dans la Chine ancienne et il a mis en valeur les qualites archeologiques et poetiques d'un recit qui nous a etc transmis par Hsieh Hui Lien, un poete du Verne siecle ap. J-C. II s'agit de extraordinaire description de la decouverte d'une tombe antique ä Chin Ling. Apres avoir decrit minutieusement le contexte de la decouverte en utilisant un vocabulaire rationnel qui est tres proche du style d'un rapport archeologique le narrateur adresse une priere aux esprits des defimts: Pendant que je fouillais un fosse au Nord du mur de la fortification de l'Est, nous etions descendus ä une profondeur de plusieurs verges quand nous trouvämes une tombe ancienne. Aucune marque n'indiquait au-dessus la presence d'une sepulture, et aucune tuile n'avait ete utilisee pour le sarcophage, seulement du bois. Dans le sarcophage, il y avait deux cercueils tres precisement carres, sans armures. Pour les vases destines aux defunts, nous trouvämes ä peu pres vingt types differents de vases de bronze et de laque; la plupart d'entre eux de forme insolite, et nous ne fumes pas capables de les identifier tous. II y avait aussi plus de vingt personnages de bois, chacun 27 Chang (1988), 95-96.

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Alain Schnapp de trois pieds de long. Au moment meme oü la tombe füt ouverte, nous pümes voir qu'il s'agissait de figurines humaines, mais quand nous les touchions ou les effleurions avec quelque chose, elles se desintegraient en poussiere dans nos mains. Sur le haut du cercueil il y avait plus de cent pieces >wu shu< des Hans. Dans l'eau, il y avait des tiges de canne ä sucre, en meme temps que des noyaux de prune et des grains de melon qui flottaient sans etre le moins du monde pourris. L'inscription funeraire n'avait pas survecu, aussi fumes-nous incapables de fixer la date et l'äge de la tombe. Mon Seigneur me commanda que ceux qui travaillaient sur la fortification les enfouissent ä nouveau sous la colline de l'Est. Et lä, avec du porc et du vin nous procedämes ä une ceremonie pour les morts. Sans connaitre leurs noms, sans savoir s'ils etaient proches de nous ou lointains, nous leur donnämes le nom provisoire de >Maitre et Maitresse obscursspätantikisierenden< Stil nicht täuschen: Jener antikische Blattmäander auf Umrahmung und Türsturz mit fächerförmig sich einrollenden Blät-

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Porte Bourbonnoux gegründete Kirche wurde 1 78 1 abgebrochen, das Steinmaterial für Häuser verwendet; gegen 1810 kam das hier interessierende Tympanon auf Betreiben des Präfekten des Cher, de Barral, in die heutige Rue du 95e deLigne l O.23 Bemerkenswert ist schon, dass dieses Relief unterhalb des Bildfeldes sehr selbstbewusst in großen, antikisierenden Lettern signiert ist: »GIRAVLDVS/ FECiT IST AS PoRTAS«.24 Alles überragend, thront in der Spitze des Bogens die alte Rankengottheit, welche Ludwig Curtius als eine lebensspendende Naturgottheit durch die Jahrtausende hindurch verfolgt und für die Antike als Artemis, auch Herrin über die Toten und letztlich kleinasiatische Muttergöttin gedeutet hat.25 Veit hat auf sagenhafte Blumenmädchen bei Lukian und, davon abzuleiten, für die französische Romanik auf den Alexanderroman des Alberic von verwiesen, wo ein mit den Blumen entstehender und vergehender Wald verführerischer Mädchen erwähnt worden sein könnte.26 Wir mögen sie hier als Dea Natern, deren äußerstes knopfartig verdickt, weil nochmals in sich selbst eingerollt zu denken, ist, lässt sich vergleichen mit Blattformen der Westfassade von St.-Pierre in Angouleme (Rupprecht [1975], 89 mit Taf. 72, datiert um 1115) und der differenzierteren Form im Tympanon von St.Michel-d'Entraygues (Rupprecht [1975], 90 mit Taf. 75, unter Angoulemer Einfluss um 1140 in die seit 1137 gebaute Kirche gefügt). Bei letzterer finden wir auch die in die Ranken eingestreuten Früchte wieder. Es sei daher eine Datierung in die Zwanziger Jahre des zwölften Jahrhunderts vorgeschlagen, bei mäßiger bildhauerischer Qualität. 23 Deshoulieres (1932), 48 f.; Rupprecht (1975), 118 mit Taf. 202. Crozet (1932), 298 Abb. 135 (ganzes Portal). Von den Normannen zerstört, wurde die Kirche, die nahe des heutigen Place Montaigne lag, im zwölften Jahrhundert wieder aufgebaut und erhielt zwei Portale, das hier zu besprechende und ein weiteres, das wahrscheinlich ein Lamm Gottes zeigte: Roffignac (1913), 47. 24 Insofern die Kartusche auf demselben Block sitzt wie der Schlussstein des Türsturzes, kann man gegen Rupprecht (1975), 118 und Christe (1996), 100 sicher sein, dass die Signatur am rechten Platz und original ist. 25 Curtius (1957), 196 f., 207 mit Abb. 32, verweisend auf den Mittelakroter des Tempels der Artemis Leukophryene zu Magnesia (ca. 205-130 v. Chr.) in Berlin (Kohte [1904], 67 Abb. 57; 69 Abb. 60) sowie das Giebelfeld eines griechischen Holzsarkophages aus der Nähe der Tamanhalbinsel (Sarkophagfragment St. Petersburg, Eremitage T 1868.26; 96,5 19 2,3cm; zweite Hälfte des vierten Jahrhunderts v.Chr.; Vaulina/Wa^sowicz [1974], 68-71 Kat. 4. 72 Abb. 22 [Rekonstruktionszeichnung von F. Gross] mit Taf. 41a) und das Berliner Grabrelief des Philippos aus Pallene (Berlin, SMPK Sk 763; pentelischer Marmor 55 17 6cm; viertes Jahrhundert v. Chr.; Blümel [1928], 54 f. Kat. 77 mit Abb. 17; Clairmont [1993], vol. III, 518 f. Kat. 3. 935 [v.]): »Wer sich im Tode ihr anvertraut, der geht wieder ein in den Bereich ihres immer neu aus ihr geborenen Lebens, in die Unsterblichkeit.« Jucker (1961), 164-208 untersuchte sie auf Anregung von Curtius näher für die Antike, auch mit dem männlichen Gegenpart, ohne sich freilich zu einer durchgängigen, einheitlichen Benennung dieser »Beschützerin und Spenderin des Lebens« (Jucker, ebd., 197) entschließen zu können. Für den Hellenismus benannte sie De Luca (1990), 161 ähnlich allgemein als »Naturgöttin«. Der Auffassung von Christe (1996), 99, es handele sich an dem Portal »apparemment« um eine männliche Gestalt, vermögen wir nicht zu folgen. 26 Veit (1990), 12 f., mit wiederum Lukian, ver. hist. I, 8 f. als antiker Quelle. Er verfolgt das nahöstliche Motiv jedoch auch in den indischen, schon vorbuddhistischen Bereich, als

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tura deuten, wie sie etwa eine Generation später von Bernardus Silvestris27 und Alanus ab Insulis/de Lilie28 antikisierend zum Sprechen gebracht wurde. Ihre Ranken, von Früchten (Äpfeln?) durchsetzt, rahmen halbkreisförmig das in drei Register geteilte Bildfeld ein.29 Diesem die Fruchtbarkeit der Natur betonenden und damit auf den Schöpfergott verweisenden Blattwerk entspricht das unterste Register, welches eine Darstellung der Monate bringt und einen Akzent der Komposition auch dadurch bildet, dass es in antikische Pfeilerarkaden, für die Säulensarkophage30 zum Vorbild gedient haben dürften, über einer Schriftleiste gegliedert ist. Die Monatsnamen sind abgekürzt auf die besagte Leiste geschrieben, beginnend links mit dem Februar. Die Monate werden durch die jeweiligen Arbeiten des Landmanns symbolisiert.31 Auch dafür gibt es römische Vorläufer.32 Diese kleinen Szenen sollen nicht so sehr lebensechte Darstellungen sein, sondern vielmehr Symbole für die Vergegenwärtigung der kosmischen Einheit des Jahres. Wir haben demnach als

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urtümliche Vegetations- und Erdgottheiten, hinein (14-21): »Der Topos der Rankengöttin verweist auf den Archetyp der religiösen Verehrung der Erdkräfte, der Vegetation und Fruchtbarkeit. Daß darüber hinaus seine Argumentation zu den Vorstellungen über Tod und Unsterblichkeit erweitert wurde, wird besonderen Umständen verdankt, hat aber nur die Bedeutung unseres Topos gehoben.« (25). Der Alexanderroman in der Fassung des Alberic von Besanfon ist freilich nur in einem kleinen Fragment erhalten: Foerster, Koschwitz/Hilka (1921), Sp. 237-244, 323 f., darunter nicht die Geschichte der Blumenmädchen. »De mundi universitate«, 1145-1148. »De planctu naturae«, »natura« als Stellvertreterin Gottes; vor 1176. Zu diesen literarischen Parallelen vgl. Curtius (1984), 118-128; Modersohn (1997), \-40, beide freilich ohne Bezugnahme auf das Relief. Auch für diese Ranken hat Crozet (1932), 196 f. lokale gallorömische Vorbilder behauptet. Etwa der Sarkophag >des hl. Honorat< aus St.-Honorat des Aliscamps in Arles, St.-Trophime; 1,11 * 2,22 1,18m; stadtrömisch drittes Viertel viertes Jahrhundert; Christem-Briesenick (2003), 72-74 Kat. 118 mit Taf. 34, 1-3. Februar - ein vermummter Mann wärmt sich am Feuer; März - der Bauer schneidet seinen Weinstock; April - ein Mönch versinnbildlicht Karwoche und Ende der Fastenzeit; Mai - ein Hirte mit seinem Hirtenstab; Juni - ein Schnitter wetzt seine Sense; Juli, über zwei Arkaden gehend - der Schnitter bei der Arbeit; August - der Bauer drischt; September - Weinlese; Oktober - Einfüllung des frisch gekelterten Traubensaftes in ein Faß; November - der Bauer schlachtet sein Schwein; Dezember - der Bauer pökelt das Fleisch ein oder macht Wurst daraus, wie er, mit der Hand auf die vorhergehende Szene zeigend, verdeutlicht; Januar - der Bauer backt Brot. Die Deutung der Jahreszeitendarstellung entspricht Hardy/Gandhilon (1912), 13. Die Deutung Roffignac (1913), 62 f. für das Dezemberbild auf Christus mit Fischen und Verweis auf die Vermehrung von Brot und Fisch in der Wüste, somit die Eucharistie, fügt sich weder in das paradigmatische Monatsprogramm insgesamt, noch passt es zu Dezember. Man denke an das verlorene Mosaik aus Karthago, einst Paris, Trocaderomus. (zweite Hälfte fünftes Jahrhundert?): LIMC (1992), Bd. VI, 484 f. mit Abb. s. v. »Menses II C« Kat. 15 (David Parrish), wo dem Monat entsprechende Opfernde oder Feiernde Tellus umgeben, übrigens umrahmt von Ranken, wilden Tieren und den Personifikationen der Jahreszeiten - bzw. die Freskenreste in Rom unter S. Maria Maggiore (ebd., 488 f. mit Abb. s. v. »Menses IV B« Kat. 33; Magi [1972]; wohl späteres drittes Jahrhundert, mit systematischer Verbindung von Festkalender, Arbeiten des Bauern und Zodiakus).

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Rahmen eine Darstellung der sich immer wieder erneuernden, lebensspendenden Natur vor uns, der das Gerahmte unter den zeitlichen Aspekt des Kosmos stellt. Im Register oben sind drei Tierfabeln zu erkennen, der Esel als Schulmeister vor zwei Wölfen,33 der Kranich, welcher dem Wolf unbedankt einen verschluckten Knochen aus dem Rachen holt34 und schließlich der Fuchs, welcher sich tot gestellt hat, von Hahn und Henne zum Friedhof gefahren wird - und die Gelegenheit nutzen will, die beiden Zugtiere zu fressen 5. Voraus als Wegweiser trottet unbeirrt der eigentlich nicht zur Geschichte gehörende Bär - sicher eine Anspielung auf den Namen des Kirchenpatrons (ursus - Ursinus) und insofern hier positiv zu interpretieren,36 was bestätigt wird durch die Bären, die auch, an Weinreben naschend, auf den Säulen des Gewändes auftauchen. Je eine weitere Frucht (Apfel?) in den Ecken und ein Baum mit säulenartigem Stamm in der Mitte runden die Komposition ab. Im mittleren Register endlich eine Jagddarstellung. Die linke Hälfte ist deutlich als Kopie des Sarkophages des hl. Lusor erkennbar, der genau jenen eigenartig geformten Eber mit völlig disproportioniertem Hals und Schnauze zeigt, wie ihn Girauldus getreulich übernahm. Er übernahm auch den Jäger links und umgestellt den Hund unter dem Eber. Dann aber beginnen die Abänderungen: Der vordere Bär halblinks wurde zu einem weiteren Eber,37 den ein Jäger niedersticht, der auf einem Pferd sitzt, das aus dem hinteren Bären des Sarkophages gebildet wurde. Wie gesagt, musste ein Bär die Assoziation mit dem Kirchenpatron hervorrufen, und schon deswegen musste unter diesem Vorzeichen ein Bär als Jagd33 Offenbar angelehnt an ein Sprichwort, das bereits am 14. April 1096 in einer für ein Kloster zu Poitiers erlassenen Bulle Papst Urbans II. zitiert wird: »quoddam prouerbium [...] de lupo ad discendas litteras posito, cui cum magister diceret A, ipse agnellum et cum magister B, ipse dicebat porcellum« (Voigt [1878], 21). Vgl. Panzer (1906), 15-19 mit 32 f. Anm. 57-82 zu zahlreichen weiteren Beispielen in Literatur und bildender Kunst bis hin zu Tausendundeine Nacht. Den Hinweis auf diesen wichtigen Aufsatz verdanken wir Thomas Noll, Göttingen. Das Motiv findet sich um 1130/1140 auch an einem Kapitell der nördlichen Langhausempore des Doms zu Parma, mit Belehrung zweier Wölfe in Mönchskutte, also einer christlichen Variation des Wolfes im Schafspelz nach Mt. 7, 15 (Poeschke [1998], 66 f. mit Taf. 15 unten), und mit nur einem Wolf etwa gleichzeitig als Carcophas und Ysengrim im Ysengrimus III, 685-719. 34 Nach Phaedrus: Latein. A'sop, 32 f. (Fabel XI); Hervieux (1894), 198 f. (Romuli vulgaris fabularum über I, 8). 35 Vgl. Isidor von Sevilla, Etymologiae XII 2, 29: »Vulpes [...] fraudulentum animal insidiisque decipiens. Nam dum non habuerit escam, fmgit mortem, sicque descendentes quasi ad cadauer aues rapit et deuorat.« Ähnlich Physiologus latinus 15, 1-8. Die Szene findet sich nach Roffignac (1913), 49 f. auch an einem Bogen von S. Zeno in Verona, die den Fuchs gefesselt und insofern unfähig zeigt, seine üblichen Opfer zu fressen, es stelle umgekehrt dessen Transport zum königlichen Gericht dar. 36 Zum Bär als üblicherweise Tier der bösen Mächte vgl. LCI (1968), Bd. I, Sp. 242-244 s. v. »Bär« (L. Werhahn-Stauch). 37 Adhemar (1996), 165 deutet ihn als Wildesel. Dieser steht nach Physiologus (1983), 10 f. zwar lediglich als moralisches Exempel, ebd., 43 und Ps.-Hugo von St. Viktor, De bestis et aliis rebus II, 11 (Hugo von St. Victor [1879], Sp. 62 C) jedoch für den Teufel.

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beute den inhaltlichen Intentionen dieses Portals widersprechen und daher eliminiert werden. Der hinter dem Eber aufgestützte Jäger des Sarkophags ist ganz in die Front gewendet, sein winkender Kumpan fortgelassen. Fortgelassen auch jenes symbolträchtige Häschen und das Netz, in das auf dem Sarkophag die Bären getrieben wurden. Der Baum, an dem beim Vorbild das Netz für die Bären befestigt war, tritt wesentlich deutlicher in Erscheinung. Es folgt am rechten Rand wieder der knieende cucullatus, hinter seinem zu einer Palisade verwandelten Baum, an dem ein nur noch in großen Rauten den Bildhintergrund gliederndes Netz befestigt ist. Girauldus wollte offensichtlich die über das Bildfeld hinflimmernde Figurenmasse des Vorbildes gliedern. Es sind die gleichen Säulenbäume, wie wir einen in der Mitte des oberen Registers stehen sehen; die Arkadengliederung des untersten Registers, wie auch die strikte waagerechte Abteilung der Register voneinander, entstammen dem gleichen, zunächst formalen, Konzept und fuhren zu einer recht genauen Teilung in drei oder gar fünf Abschnitte. Die Löwenjagdszene aber findet sich nicht, ebensowenig die Hirsche, die beim Sarkophag des hl. Lusor ins Netz getrieben werden. Stattdessen zwei Reiter, die auf zwei fliehende Hirsche einstechen, welche zugleich von Jagdhunden in das Hinterteil gebissen werden. Zwischen den reitenden Jägern ein frontal stehender Mann mit erhobener mappa, also einem aus dem spätantiken Bereich der Circusspiele und der Konsulsinsignien vertrauten Requisit. Girauldus dürfte also auch etwa ein Consulardiptychon gekannt und damit einen vielleicht abgebrochenen und deshalb als solchen nicht mehr identifizierbaren Speer des zum Vorbild genommenen Sarkophages umrekonstruiert haben. Girauldus hat nämlich die ganze rechte Frieshälfte kaum frei erfunden, worauf schon die alicula hinweist, die diese Jäger dort alleine tragen, während sie bei den vom Sarkophag in Deols kopierten Jägern völlig entfernt wurde. Die alicula, eine Pelerine, Kleidung von Hirten und Bauern,39 ist aber nach Andreae ein typisches Merkmal der römischen Treibjagdsarkophage.40 Girauldus kannte demnach noch einen anderen Treibjagdsarkophag, der uns nicht mehr bekannt ist. Vielleicht war es derjenige, der uns durch Gregor von Tours als Grablege des Bischofs Felix von Bourges (565-584), »marmore scalptum Phario«,41 überliefert ist. Oder derjenige, welcher als Grab •JO

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38 Das Durchblättern der Tafeln bei Delbrueck (l 929) belegt, dass der Konsul auf diesen Denkmälern sich lange Zeit, bis zur Aufgabe der heidnischen Zirkusthematik, grundsätzlich mit der mappa zeigt und auch vielfach im unteren Drittel der Reliefs Zirkusszenen zu finden sind. Allerdings ist unter den erhaltenen Denkmälern kein solches mit berittenen Gladiatoren, dass man etwa ein Consulardiptychon als Vorbild der rechten Frieshälfte des Tympanons von Bourges annehmen könnte. 39 Kleidung und Rüstung (1992), 5 s. v. »Alicula« (Erwin Pochmarski). 40 Andreae (l980), 111. 41 Gregor von Tours, Liber in gloria confessorum, 100.

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des Ursinus selber galt, am Altar der Kirche, zu der das Portal gehörte.42 Recht nah muss dem Vorbild jedenfalls der bei Trinquetaille, heute ein Stadtteil von Arles, gefundene kommen.43 (Abb. 3) Dort finden wir Reiter, die in vergleichbarer Weise die alicula tragen, deren einer in der gleichen weit ausholenden Bewegung auf ein - nicht sichtbares - Ziel einsticht, 4 dort finden wir den zusammenbrechenden Hirsch und die dicht am Boden hinjagenden Hunde, dort auch die parataktische Dreigliederung der berittenen Jäger. Selbst der die beiden Jagdszenen trennende Baum ist, dem späteren konstantinischen Stil dieser Sarkophage entsprechend,45 in vergleichbarer Weise prononciert herausgestellt.

Abb. 3: Sarkophag mit Treibjagd; Arles, Musee de l'Arles et de la Provence antiques.

Offensichtlich war Girauldus durch zwei Assoziationen zu seinem Tympanon gelangt - einerseits sprachlich, über den an ein Tier erinnernden Namen des Kirchenpatrons, andererseits bildlich, über den bekannten Sarkophag von dessen Enkelschüler, der passenderweise ebenfalls Szenen mit Tieren trug und so nochmals in besonderem Maße es nahelegte, auch des Patrons mit einem auf Tiere bezogenen Relief zu gedenken. Der Fall ist unseres Wissens einzigartig: das Portal einer christlichen Kirche, welches ausschließlich mit paganen, antiken oder jedenfalls nicht auf den ersten Blick christlichen Motiven verziert ist. Wesentliche Motive - kosmischer Zeitbezug durch die Monatsbilder, die Einbindung der Tier42 43

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45

So Christe (1996), 103 f. und Brugger, Christe/Sauvageot (2000), 39 mit Verweis auf Gregor von Tours, Liber in gloria confessorum, 79. St.-Ursin hieß vormals St.-Symphorien. Sarkophag Arles C (Arles, Musee de l'Arles et de la Provence antiques PAP.74.00.03; Kasten 2,35 0,51 0,70 m; 329-352, eher 330-340 n. Chr.); Andreae (1980), 121 f. Anm. 562; 143 Kat. 3 mit Taf. 94, 4. 108 f. So neuerdings auch Christe (1996), 101 f., die uns erst nach Abschluss des Manuskriptes zur Kenntnis kam, die aber fälschlich in diesem Sarkophag bzw. genauer gesagt: einem verlorenen dieser Art das einzige Vorbild des Frieses erkennen möchte. Es liegt eben unseres Erachtens die Verwendung eines zweiten Vorbildes vor, nicht eine gezielte Abwandlung der rechten Hälfte des Sarkophages von Deols mit einer iterativ-topischen Plazierung der Reiter wie dies Settis (1994), 361 behauptete. Andreae (l980), 124.

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fabel, auch die stolze lateinische Künstlersignatur - sind in Zeit und Region nicht unbekannt: Das Westportal von St.-Lazare zu Autun (Abb. 4) zeigt im Rahmen, und zentriert um die Personifikation des Jahres, die Monatsarbeiten samt Zodiakus, sowie am Kapitell darunter die Fabel von Wolf und Kranich46 (Abb. 5). Das Thema dieses Portals ist aber das Weltgericht!

Abb. 4: Autun, St.-Lazare, Westportal.

46 Ca. 1130-1145; Rupprecht (1975), 111 f. mit Taf. 169 f. Das Jahr beginnt hier allerdings mit dem Januar/Wassermann, unter Voranstellung der Personifikationen der vier Jahreszeiten.

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Abb. 5: Kapitell mit Fabel von Wolf und Kranich; Autun, St.-Lazare, Westportal.

Girauldus kannte also seine Antike. Verstand er sie auch? Bei der symbolischen Fülle in der Umgebung der Jagdszene darf man davon ausgehen, dass er nicht eine rein weltliche Geschichte aufsein Kirchenportal zu bringen gedachte. Das symbolträchtige Häschen hat er entfernt - aber der Telesphoros rechts ist verblieben, und zwar deutlich erkennbar. Er erwartet noch immer die Jagdgesellschaft im Verborgenen. Im Mittelalter blieb der cucullatus lebendig, nun in Beziehung gesetzt zu Heidentum, Magie und damit Teufel. Gregor von Tours schrieb von einem Nekromanten, also eigentlich »Totenbeschwörer«, dann aber in verballhornender Etymologie »schwarzer Magier«, in Tours: »Nam de hoc animadversum est, [...], errore nigromantiae artis fuisse inbutum, [...]. Habebat

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Egger (1962), 171: »Mittler sind die letzten Heiden gewesen, die Leute an der Peripherie in Berg und Wald, die Pechklauber, Almhirten, Holzknechte und nicht zuletzt die Bergmänner. Sie alle tragen den cucullus weiter wie seit Urzeiten und nach ihrer tatsächlichen Erscheinung formte man das Bild der Fabelwesen. Bekannt ist ja das Geheimnisvolle und der Fluch des Unchristlichen, der diese rückständige, aber zähe Schicht umgibt. Der Übergang vom Heiden zum Waldteufel oder gemütlichen Kobold ist an sich gegeben, aber er wird noch leichter, wenn im Glauben der Pagani auch ein heiliger Kapuzenmann vorhanden war.«

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autem cucullam ac tonicam de pilis caprarum.« Der Genius sitzt also bewusst in seiner angestammten Ecke. Ein solcher Nekromant mit grobem Kapuzenmantel ist auch Bileam auf seiner sprechenden Eselin (sie!), in Autun dem Kapitell mit der Wolfsfabel gegenüber.49 Das Schwein steht in der christlichen Ikonographie allgemein für den Teufel, sind doch nach Mk. 5, 12 f./Mt. 8, 31 f./Lk. 8, 32 f. die unreinen Geister auf Befehl Jesu in eine Schweineherde gefahren und haben die wilden Schweine nach 80, 14 den Weinstock, Symbol von Gottesvolk wie Christus, zerstört.50 Aber der Hirsch ist, im Anschluss an 42, 2, ein Symbol für die gottsuchende Seele, welcher entsprechend Christus nach dem Physiologus, 74, 13 verarbeitend, durch das himmlische Wasser der göttlichen Heilslehren den Teufel getötet haben soll.51 Seine Verfolgung kann dann also nur durch Ungläubige oder Unwissende erfolgen - vielleicht tragen seine Jäger deshalb auf dem Relief die römisch-heidnische alicula, welche die Eberjäger, also hier Teufelsjäger, nicht tragen. Mit einem Halali auf ihren erhofften oder vermeintlichen Jagderfolg reiten diese Jäger jedenfalls ihrem Verderben in Gestalt des lauernden, teuflischen Genius entgegen. Trifft diese Deutung zu, hätten wir es bei dem mittleren Register also gleichsam mit einer in antiker Bildersprache verpackten christlichen Darstellung des Gegensatzes von Tugend und Laster zu tun, die den Sieg über den Teufel denen gegenüberstellt, die in Verkennung Christi als scheinbare Sieger in Wahrheit direkt ihrem sicheren und dann auch geistlichen Tod entgegen eilen.52 Formal hat Girauldus dazu die schon in den Vorbildern angelegte Trennfuge zwischen den beiden Szenen genutzt. Möglicherweise hat er den Sinn der >heidnischen< Darstellung verstanden -jedenfalls hat er auf sie geantwortet: Eigene Leistung im Leben führt nicht per se zur Unsterblichkeit, sondern verkehrt sich, ist man verblendet, kann Gut und Böse nicht unterscheiden und jagt somit dem Falschen nach, direkt in ihr Gegenteil. Die Auswahl des Sarkophages des hl. Lusor hatte natürlich zunächst mit dessen regionaler Bekanntheit, vor allem aber der Beziehung des Sarkophaginhabers

48 49

Gregor von Tours, hist. IX, 6. Butzemann, Heinzelmännchen, Klabautermann, Knecht Ruprecht, Kobold, Sandmännchen, Zwerg u. a. sind etwa im deutschen Sprachraum die Erben des Telesphoros geworden: Deonna (1955), 155 mit Anm. 2. - Die Tracht, als eine solche der Armen wie auch aus praktischen Gründen, hat Eingang in das Mönchshabit gefunden: Egger (1962), 160; Deonna (1955), 27 f. Sie lebte auch als Tracht der im Freien Arbeitenden wie bei Bileam auf (Num. 22, 21-35), rechts im Gewände des Westportals von St.-Lazare zu Autun (oben Anm. 46, [Abb. 4]). 50 Vgl. LCI (1972), Bd. IV, Sp. 134-136 s. v. »Schwein« (S. Braunfels). 51 Physiologus latinus 29, 1-5; Physiologus, 26 f. Zur Ikonographie allgemein: Domagalski (1990). 52 Ähnlich zum Jagdfries der Stiftskirche von Königslutter, um 1137: Appuhn (1964), 14 f.; Legner (1982), 23 Abb. 6. Taf. 27 r. 89.

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zum Patron der zu schmückenden Kirche zu tun.53 Aber es zeigt sich, dass sie auch ein adaptierbares Grundgerüst an deutbaren Bildformen zu bieten hatte. Die Fabeln passen dazu, sind doch Fuchs und Wolf in der christlichen Ikonographie traditionell negativ besetzt54, ja stehen in jener Zeit im auf Hugo von Folieto zurückgehenden Bestiarium des PS.-Hugo von St. Viktor direkt für den Teufel wie der Esel für Dummheit55, der Kranich dagegen für den guten Christen56 sowie die Henne für die Kirche57, und heißt es in der recensio gallicana des so genannten Romulus von Phaedrus' Fabel über Wolf und Kranich einleitend: »quicunque malo vult benefacere, satis peccat.«58 Sieht man im oberen Register moralisch belehrende Fabeln, so bringt das mittlere Register ein Gleichnis über die Bedeutsamkeit des rechten Lebensziels. Von der Schulszene als Verweis auf die Kindheit bis zu der, wenn auch fälschlichen, Beerdigung vermag man dazu die Fabeln auch im Sinne von Lebensstationen zu lesen. In dem Tympanon ist aber auch noch eine Leserichtung von unten nach oben möglich, von den Arbeiten des Bauern unter den Arkaden über die des mutmaßlich adligen Jägers zwischen den Bäumen hinauf zu den Tieren seitlich des zentralen Baumes, den man gewiss als einen besonderen, als den uralten Lebensbaum, verstehen darf, welcher, zwölf Mal des Jahres fruchtbringend, im Paradies stehe59 - und der angemessen über ihm aufragenden Dea natura. Von profanen Sinnbildern der Monate, deren ungewöhnliche Anordnung gewiss nicht zufällig die Zeit der Ernte in den Mittelpunkt rückt, über die Tugendallegorie des Jagdstreifens zu den moralisch deutbaren Fabeln und dem den Monaten antwortenden Lebensbaum - die Stufen des Lebendigen und der Gesellschaft, alles gerahmt von der üppigen Natur in Rankengestalt, deren kosmisch umfassender Dimension wiederum der Monatszyklus entspricht, womit sich auch inhaltlich der Kreis schließt. Dieser mittelalterliche Künstler sieht sein Werk, wie schon die ganze Themenzusammenstellung beweist, noch stärker als selbst der römische Sarkophagschöpfer, als ein Mittel des Verweises auf höhere Wahrheiten als sie eine bloß 53 Es dürfte hier nur ganz am Rande die »miglior rappresentazione del soggetto« (Settis [1986], 409) eine Rolle gespielt haben. 54 Vgl. die entsprechenden Artikel im LCI (1970), Bd. II, Sp. 63-65 s. v. »Fuchs« (P. Gerlach); LCI (1972), Bd. IV, Sp. 536-539 s. v. »Wolf« (S. Braunfels). 55 LCI (1968), Bd. I, Sp. 681-684 s. v. »Esel, Wildesel« (L. Werhahn-Stauch); Vgl. Isidor von Sevilla, Etymologiae XII, l, 38. 56 Ps.-Hugo von St. Viktor, De bestis et aliis rebus I, 39 (Hugo von St. Victor [1879], Sp. 41 B/C, Kranich). II, 5 (ebd., Sp. 59 A, Fuchs). II, 20 (ebd., Sp. 67 D, Wolf). III, 22 (ebd., Sp. 91 A/B, Esel); Hinweis von Panofsky (1972), 91 Anm. 2. Die Verbindung von Fuchs und Teufel auch schon \mPhysiologus: Physiologus latinus 15, 1-15; Physiologus, 16. 57 Vgl. LCI (1970), Bd. II, Sp. 240 f. s. v. »Henne« (P. Gerlach). 58 Latein. Äsop, 32 (Fabel XI); Hervieux (1894), 198 (Romuli vulgaris fabularum liber I, 8). 59 Apk. 22, 2, dort in der Mehrzahl.

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protokollierende Darstellung geben könnte. Aus den antiken Selbstdarstellungen der Oberschicht mit ihren ergänzenden sepulkralen Symbolen, aus antikischen irdisch-belehrenden Fabeln schuf er in christianisierender Übersetzung exempla christlicher Belehrung, zentriert um das zitierte Reliquienbehältnis des vorbildlichen hl. Lusor und kosmisch gerahmt unter der über Jahrtausende tradierten Rankengottheit, insgesamt als Sinnbild des ewig gültigen Aufrufs zu wachsamchristlichem Lebenswandel all derer, die unter diesem Relief hindurchschreiten. Daher ist auch der Hinweis von Schoenebeck wichtig, der Reliefgrund des Sarkophages habe eine (vergleichsweise) räumliche Funktion, während der des Tympanons die Funktion einer Wand habe, vor der die Handlung abrolle.60 Man kann es noch stärker und über das mittlere Register hinausgehend fassen: Wie auf einer Schultafel werden die Exempla ausgebreitet zur Belehrung des Betrachters. Ausschließlich mit Vokabeln antik-paganer oder auf antik-paganem Gedankengut basierender Bildersprache, hat er ein Bildfeld gestaltet, das mit Sicherheit für eine christlich-eschatologische Lesung bestimmt war und als solche bei der Kirche des Missionars und Patrons der Stadt auch verständlich gewesen sein muss. Unser mittelalterlicher Kenner des Altertums ist wahrlich mehr als nur ein verstehender und getreuer Kopist - man begreift das seinerseits schon antikisch zu nennende Selbstbewusstsein, mit dem er in großen Lettern sein Werk signiert hat, obwohl er dennoch ansonsten völlig der Vergessenheit anheimgefallen zu sein scheint. Es spricht aus dem Portal von St.-Ursin derselbe Geist wie aus der etwas jüngeren und Alanus ab Insulis zugeschriebenen Sequenz der Rose: Omnis mundi creatura, Quasi über, et pictura Nobis est, et speculum. Nostras vitae, nostrae mortis, Nostri status, nostras sortis Fidele signaculum.62

60 Schoenebeck (1935), 25. Eine Durchschneidung des Sarkophaggrundes durch die Figurenschichtung, wie von ihm behauptet, findet freilich nicht statt. 61 Die in Thieme/Becker (1921), 176 f. s.v. »Giraudus« angebotenen Verbindungen sind leider nicht haltbar, da man das Tympanonrelief nicht weit in das zwölfte Jahrhundert hinaufdatieren können wird. 62 Sequenz der Rose v. 1-6, Alanus ab Insulis zugeschrieben: Alanus ab Insulis, Opera omnia, Sp. 579 A/B.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1:

Esperandieu, Emile, Recueil general des bas-reliefs de la Gaule romaine, Bd. II, Paris 1908, 372 Kat. 1560. Abb. 2-5: © P. Weitmann 2005.

»Antik gelebt, antik begraben«. Hermann Fürst von Pückler-Muskau und seine Erinnerungslandschaften in Muskau und Branitz ANNETTE DORGERLOH

Mnemotope sind nach Jan Assmann Erinnerungslandschaften, die weniger durch Denkmäler als Zeichen akzentuiert denn als Ganzes in den Rang eines Zeichens erhoben werden.1 Im Unterschied zur Gedächtniskunst, die mit imaginierten Räumen arbeitet, realisiert sich die Erinnerungskultur über das Medium gestalteter natürlichen Räume. Als eine solche semiotisierte Landschaft lassen sich die Parkanlagen des Fürsten Hermann von Pückler-Muskau (1785-1871) fassen, mit denen er zunächst weite Teile seiner Standesherrschaft in Muskau und nach deren Verkauf im Jahre 1845 in kleinerem Maßstab seinen Majoratssitz in Branitz bei Cottbus überformte und transformierte. Mit seinen Schöpfungen stellte sich Fürst Pückler in die Tradition der frühen Landschaftsgärten, die seit ihren Anfängen im frühen 18. Jahrhundert in England und später auch auf dem Kontinent dezidiert als Erinnerungslandschaften gestaltet worden waren.2 Im Zentrum der Untersuchung stehen die Inszenierungen der Erinnerungslandschaften, der Muskauer Memorialorte und der Branitzer »Pyramidenebene« mit ihren vielfältigen historischen Bezugnahmen. Als späte Nachblüte der Gartengräber des frühen Landschaftsgartens bündeln sich hier noch einmal deren Aufgaben und Leistungen. Die gewählten Formen verweisen jedoch darüber hinaus auf eine signifikant erweiterte Funktionsbestimmung, die sich als eine eigenständige Positionierung im Prozess der Transformation von Antike erkennen lässt. Wie gezeigt werden soll, zielte Pückler darauf, mehrere Stränge der >Antike< konstruktiv miteinander zu verbinden, indem er ägyptische, griechisch-römische und vaterländisch-regionale Artefakte und Traditionen in singulärer Weise zusammenbrachte. Bevor er sich den Anlagen in Branitz zuwandte, hatte sich Pückler bereits mit dem Projekt seines Muskauer Parkes einen Namen gemacht. Dazu trug vor allem 1 2

Assmann (l992), 59 f. Vgl. dazu grundlegend u. a.: Hammerschmidt/Wilke (1990), Gerndt (1981), Buttlar (1989), Hajos (1989), Niedermeier (2001), Oesterle/Tausch (2001), Niedermeier (2003).

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Annette Dorgerloh

die Veröffentlichung der 1834 in Stuttgart erschienenen Andeutungen über Landschaftsgärtnerei bei, in denen er die landschaftliche Kultivierung seiner Standesherrschaft als ein durchgängig konzipiertes Projekt dargestellt hatte. Nach einer kurzen Phase des Zögerns wagte der Fürst nach dem Verkauf der verschuldeten Standesherrschaft Muskau 1846 in Branitz einen nicht minder anspruchsvollen Neuanfang. Seine Gattin Lucie, unter deren Aufsicht viele Muskauer Partien in Pücklers Abwesenheit realisiert worden waren, trennte sich nur schwer von Muskau, hatte sie hier doch das Hermannsbad, ein gewinnbringendes Kurbad mit einer Mineralquelle, geführt. In seiner Pückler-Biographie mutmaßte Karl Koch, dass es nicht die Schulden allein waren, die den Fürsten zum Verkauf bewogen, vielmehr habe ihn sein unruhiger Geist nach der Rückkehr aus dem Orient zu neuen Gestaltungsaufgaben getrieben, die in dem durchgeplanten Muskau nicht mehr möglich waren.3 Das Wegenetz folgte zwar weitgehend dem 1834 angelegten Konzept, doch war der Park zum Zeitpunkt des Verkaufs, wie der 1852 aus Weimar nach Muskau berufene Gärtner Eduard Petzold feststellte, kaum zur Hälfte fertig.4 Nach Leopold Schefer ließ Pückler den Muskauer Park als »grüne Ruine« zurück.5 Vieles wurde erst von den nachfolgenden Besitzern der Standesherrschaft, Prinz Friedrich der Niederlande (1846-1881) und den Grafen von Arnim-Muskau (1883-1945) vollendet.6 Gleichwohl basieren die späteren, teilweise grundlegend anderen Lösungen für die Branitzer Landschaft doch auf den Muskauer Plänen und Vorstellungen und interpretieren diese partiell neu.

Die Pyramidenebene - Branitz als semiotisierte Landschaft Im Jahre 1855 begann Hermann Fürst von Pückler-Muskau in seinem Branitzer Park nach dem Pleasureground mit der Anlage der »Pyramidenebene«, einer umfangreichen Begräbnisstätte, die von einer Pferderennbahn umgeben war.

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Koch (l871), 20. Zitiert nach Helmut Rippl (1995), 56. Von den geplanten etwa 750 ha Park waren 257 gestaltet worden; insgesamt wurden mehrere Millionen Bäume gepflanzt. Nur die schlossnahen Teile waren beendet, als der Verkauf dazwischenkam. Von den geplanten Gebäuden kamen lediglich das Hermannsbad und das Englische Haus sowie ein Gewächshaus und ein Stallgebäude zur Ausführung, außerdem zwei Parkarbeiterhäuser im Bergpark. Nicht realisiert wurden die Fasanerie im türkischen Stil, das Mausoleum, der Viadukt, die Burgruine, das Observatorium, der Tempel der Beharrlichkeit, die Orangerie und die Parkarbeiterkolonie Gobelin. Vollendet wurden vier Flussbrücken über die Neiße und elf über die Hermannsneiße. Schefer (1849), 89; zitiert nach Jacob (1998), 73. Vgl. Panning/Roscher (2006), 31-166; siehe auch Amim (1981), 165-194.

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Abb. 1: Pyramidenflur mit nächster Umgebung vom Park. Parkplan Branitz um 1866/1867.

Abb. 2: Blick auf den Tumulussee mit Erdpyramide. Fotografie.

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Den Mittelpunkt bildete der »Tumulussee«, aus dem eine 12,60 m hohe Erdpyramide erwuchs. Dieser als künftige Grabstätte des Fürsten konzipierte Bau wurde 1856 in nur wenigen Wochen aufgeschüttet und mit Erdplatten befestigt. Bereits vier Jahre zuvor hatte der Fürst eine mit Sandsteinplatten verkleidete Gruft am Boden der künftigen Pyramide aufmauern lassen. Die abschließende Bepflanzung mit Rasen und wildem Wein verlieh dem Monument die nötige Festigkeit der Oberfläche. Ihr Erbauer beabsichtigte, hier nach seinem Tode »mindestens zweitausend Jahre« zu überdauern. Der Bau diente zugleich als Bellevue, wenngleich die ursprünglich geplante Bekrönung der Pyramidenspitze mit einem Pavillon und einer Wetterfahne zugunsten eines gusseisernen Geländers verändert wurde. Eine steinerne Treppe führte an ihrer Rückseite auf diese kleine Plattform. Die Idee, den Tumulus im Wasser zu situieren, resultiert wohl aus der Erfahrung der Spiegelungen der Cheopspyramide während der Nilüberschwemmung im Wasser. Ein zweiter Pyramidenbau, die so genannte Landpyramide folgte im Jahre 1862. Als zwölfstufige Erdpyramide angelegt, sollte sie die Gebeine seiner Gattin Lucie (1776-1854), einer Tochter des Staatskanzlers Fürst Hardenberg, aufnehmen.

Abb. 3: Landpyramide im Park Branitz. Fotografie.

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Auf eigenen Wunsch war sie nach ihrem Tod im Jahr 1854 auf dem alten, inzwischen aufgegebenen Friedhof zur Ruhe gebettet worden. Auch die Landpyramide erhielt eine gusseiserne Bekrönung mit einer von Sternen umgebenen Inschrift: »Pyramiden sind die Bergspitzen einer fernen neuen Welt«.7 So wie die ägyptischen Pyramiden auf den Sonnenlauf orientiert waren, so platzierte auch Pückler seine Pyramiden so kunstvoll in die Gartenlandschaft, dass sie die zentralen Koordinaten für den Lauf der Sonne am 30. Oktober, seinem Geburtstag bildeten: Wie Jan Pieper errechnet hat, geht genau um den Verdrehungswinkel der Landpyramide an diesem Tag die Sonne im Südosten auf und um den Verdrehungswinkel der Seepyramide im Westen versetzt wieder unter.8 Die Idee für eine Pyramide als Grablege hatte Pückler bereits seit längerem umgetrieben.9 Seine sechsjährige Orientreise, während der er die ägyptischen Pyramiden vor Ort besichtigt hatte, wird den Wunsch nach dieser bewährten Ewigkeitsform wenn nicht geweckt, so doch bekräftigt haben.10 Er selbst erklärte, für den Tumulus habe die Pyramide von Meroe Pate gestanden. Dennoch zeigen seine Reiseerinnerungen, dass die ägyptischen Pyramiden den Fürsten vor Ort keineswegs überwältigten. Die Sphinx von Gizeh in ihrem jetzigen Zustande erschien ihm einem Pilz ähnlicher als einem Kopf, und die Pyramiden machten auf ihn »auch keinen viel günstigeren Eindruck«.11 Aus der Nähe wirkten sie »fast nur wie roh aufgetürmte, konische Steinhaufen«, das sei dem »Grandiosen, das ihr Totaleindruck haben sollte, äußerst hinderlich«; der Eindruck täusche »selbst eine mäßige Erwartung.«12 Gleichwohl versah er eine der Pyramidenspitzen mit einer Widmung an seine Frau Lucie. Nach dem Bau der Branitzer Pyramiden plante der Fürst noch einige weitere ägyptisierende Bauten. Die »Ägyptische Treppe« mit zwei geplanten, aber nicht realisierten Sphingen in Frauengestalt13 auf den Treppenwangen diente als Ablegestelle für die Bootsüberfahrt zum Tumulus. Ein »Ägyptisches Haus« nach dem Vorbild des Schönen Tempels von Edfu sollte der Treppe vorgelagert werden. Die im Jahr 1865 von dem Baumeister Pawelt erstellten Entwürfe wurden wohl aus Kostengründen nicht realisiert. Alternativ plante Pückler eine »einfach gehaltene Arbeiter- und Aufseher-Wohnung«, die im Gebüsch versteckt errichtet wer-

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Es handelt sich dabei um ein Zitat aus dem Koran. Vgl. Pieper (l990), 77. Erstmals äußerte Pückler diesen Gedanken in einem Brief an Lucie vom 22. April 1850: Er wünsche eine gemeinsame Grabstätte in Pyramidenform inmitten eines Sees. Mit 80 Fuß Höhe wäre diese aber deutlich größer ausgefallen als die realisierte. Vgl. Neumann (1999), 9. Vgl. Pückler-Muskau, Aus MehmedAlis Reich, 148 f., 252 ff. Ebd., 248. Ebd., 254. Eine Sphinx nach dem Bildnis der Ada von Treskow (1840-1918) existierte bereits als Tonmodell. Vgl. Ettrich (2004), 73.

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den sollte und »eine Art Tempel, offene Halle, Ruhesitz oder wie man es sonst nennen will«.14 Da beides nicht realisiert wurde, dominierten die Pyramiden weiterhin diesen Gartenbereich. Mit dem Bau einer Gartenpyramide als Grabmal nahm Pückler eine große Traditionslinie des frühen Landschaftsgartens wieder auf: Es waren vor allem protestantische Fürsten und Standesherren, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in ihren Anlagen derartige Monumente errichten ließen. Grabpyramiden in Gartenanlagen entstanden u. a. in Frankreich (Desert de Retz, Monceau) oder England (Stowe), aber auch in deutschen Gärten wie in Gotha (Hans Adam von Studnitz, 1774), Baum bei Bückeburg (Wilhelm Graf von Schaumburg-Lippe, 1776), Garzau (Friedrich Wilhelm Carl Graf von Schmettau, um 1780), Dessau (Fürst Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau für Prinz Eugen, 1780), Hanau-Wilhelmsbad (1784), Machern (Carl Graf von Lindenau, 1792) oder Rheinsberg (Prinz Heinrich von Preußen, 1802).15 Infolge der napoleonischen Besetzung und der Befreiungskriege ebbte die Welle der Pyramidenbauten ab, und die an der Antike orientierte Begräbnisform wich tendenziell einer Rückkehr zu christlichen Bestattungsformen. In den Landschaftsgärten wurden nun anstelle von Monumenten in Cippus- oder Pyramidenform Grabkapellen oder Grabkreuze errichtet. Auch Pückler plante für sein großes Gestaltungsprojekt, die 1815 begonnenen Muskauer Anlagen, eine Kapelle als Familienmausoleum. Erst nach einer deutlichen zeitlichen Zäsur wurden seit dem Ende der 1830er Jahren erneut einige Grabpyramiden in Landschaftsgärten gebaut.16 Noch nach Lucies Tod ließ Pückler zunächst ein Marmorkreuz auf einem Feldsteinsockel errichten, ehe er die Pyramidenplanungen realisierte. Dieses Kreuz wurde später auf eine Insel im Tumulussee versetzt und mit den Lebensdaten der Fürstin versehen. Trotz seiner Zugeständnisse an die christliche Kirche - auf der Rückfahrt von seiner Orientreise konvertierte er 1840 sogar zum Katholizismus, obschon dies für seinen Lebenswandel folgenlos blieb17 - blieb Pückler jedoch zeitlebens ein eigenständiger Denker, der sich stärker einer paganen, sinnenfrohen Antike verpflichtet fühlte. So verteidigte er in den Andeutungen Karl Friedrich Schinkels geplantes Freskenprogramm in der Vorhalle des 1830 eröffneten Museums im Berliner Lustgarten, dessen zügige Umsetzung er anmahnte. Sein Appell richtete sich gegen die Kritiker der Nacktheit auf diesen Bildern, die ihrerseits mit dem 14 Vgl. Briefwechsel zwischen dem Fürsten Pückler und dem Bildhauer Lehr, 16. November 1862, in: Baugeschichtliche Problemstudie. Korrespondenzen mit Baumeistern«, Konvolut 151, in: Laudel (2000), 30 ff., Nachlass Varnhagen von Ense in: Ettrich (2004), 73. 15 Vgl. Dorgerloh/Niedermeier (2005), 133-161. 16 Z. B. in Derneburg (Ernst Graf zu Münster, 1839) und in Hämelschenburg (Leopold von Klenke, 1854-1856), vgl. Tietze (1999). 17 Als Grund benannte er die schöne Idee der Gottesmutter, »dieses süßesten und mildesten aller Embleme der Christusreligion« (Pückler-Muskau, Andeutungen, 225), die dem Protestantismus fehle.

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Argument der räumlichen Nähe zum Berliner Dom argumentierten. Einige Frömmler, »die gern jedem Amor ein Paar Hosen und jeder Venus einen Unterrock anschaffen möchten« hätten sich, so Pückler, »Friedrichs des Großen Hauptstadt zum Tummelplatz ausersehen«.18 Mit dem Verweis darauf, dass dann das ganze Museum mit seiner Paarung von christlichen Bildern und alter klassischer Kunst zu verdammen sei, fragte er, warum der christliche Dom nicht Schinkels »urweltliche und welthistorische, in der schönen Menschengestalt personifizierte Ideen« in seiner Nähe vertragen könne, so wie es im katholischen Rom schließlich auch der Fall sei.19

Zwischen »rohem« und »veredeltstem Heidenthum«: Pücklers Kapellenplanung Derselben Haltung entsprach auch Pücklers aufschlussreiches Muskauer Projekt einer Kapelle als Familienmausoleum. Das nicht realisierte Gebäude, das bildlich als Entwurf Schinkels in der Umsetzung durch Wilhelm Schirmer gefasst wurde, erfuhr in den Andeutungen eine ausführliche Darstellung und Begründung. In fiktiven Spazierfahrten beschreibt Pückler darin die Abfolge der einzelnen Landschaftsbilder und Stationen. Vom Pleasureground aus sollte der Parkbesucher über eine Brücke das jenseitige Ufer der Neisse besichtigen. Vom Schloss und dem so genannten Alten Schloss, vor dem eine Reiterstatue des »Nibelungenhelden« Rüdiger von Bechlam, den sich Pückler als legendären Vorfahren aneignete, aufgestellt werden sollte, ging der Weg an einem Wasserfall mit kolossalen Granitsteinen aus der hiesigen Gegend entlang über den Wiesengrund an der Schleuse vorbei. An einem Fasaneriegebäude in türkischem Stil und einer Meierei wurde der Weg weitergeführt bis zum Tempel der Beharrlichkeit, einem König Friedrich Wilhelm III. gewidmeten Bauprojekt, in dem dessen Büste Aufstellung finden sollte. Über das Englische Haus und mehrere weitere Stationen ging es schließlich auf die Höhe, wo sich auf einer Terrasse die Kapelle erheben sollte.

18 Pückler-Muskau, Andeutungen, 240. 19 Ebd. 20 Ebd., 172 und 225-238.

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Abb. 4: August Wilhelm Schirmer: Begräbniskapelle im Muskauer Park.

Es handelte sich dabei um ein ungewöhnliches Konglomerat aus christlichen und antiken Bezugnahmen, vereint in einer historisierenden Kapelle, die mit Spolien acht mittelalterlichen Glasfenstern der alten Stadtkirche zu Boppard am Rhein21 versehen werden sollten. Das mit der Burgruine als historisch zeitgleich zu denkende Bauwerk sollte im »byzantinischen, besser romanischen Baustile« errichtet werden.22 Sein Hauptzweck bestand darin, [...] der Familie der Besitzer von Muskau zum Begräbnisort zu dienen, ein Memento mori, dessen täglicher Anblick in der Hauptansicht vom Schlosse, wenn gleich in angenehmer und erleichternder Ferne (wie uns der Tod ja auch im Leben nur zu erscheinen pflegt) gern gewählt wurde, da es bei dem Denkenden nie entmutigende Gefühle erwecken kann, oder wenigstens sollte.23

Zu dem Ensemble gehörte ein Küsterhaus mit einem Gärtchen und zwei zu Berceaux' verschnittene Lindengänge, die nach Freunden Pücklers benannt wurden, dem Philosophen Maximilian Karl Friedrich Grävell (1781-1860) und dem eben21 22

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Pückler versicherte, diese rührten »wie gute Kenner glauben, von denselben Künstlern her, welchen wir die Malereien des Kölner Doms verdanken«; Pückler-Muskau, Andeutungen, 225. »Diese Kapelle oder Kirche, deren Bau unsere frommen Vorfahren immer allen anderen vorausgehen ließen, wird daher aus einer gleichalten Zeit angenommen«; Pückler-Muskau, Andeutungen, 172. Eine »kühne Brücke in Spitzbogen« sollte zu diesem Bauwerk fuhren. Zur Zeit Pücklers wurde lediglich die Terrasse für die Kapelle angelegt. Erst 1888 ließen die späteren Besitzer an dieser Stelle eine eigene Gruftkapelle errichten, die allerdings nicht den Entwürfen Schinkels folgte. Dieser Bau wurde 1945 zerstört. Pückler-Muskau, Andeutungen, 225 und 236.

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falls aus Muskau stammenden Jugendfreund Pücklers, dem Dichter Leopold Schefer (1784-1862). Zwei Statuen sollten den Lindengang in seiner Bedeutung auszeichnen: Es wird also nur ein passender Schmuck sein, wenn ich diese den Kirchhof umschließenden Gänge, welche ich meinen Freunden gewidmet, auch mit den Statuen jener zwei Himmelschwestem, der Poesie und der Philosophie zu zieren beabsichtige, während der Tempel selbst dem Resultat der Vereinigung beider sein Dasein verdankt.24

Den Vorhof betretend, bemerkt man, so Pückler, »an die Mauer gelehnt, einen uralten hier gefundenen Altar, von den Emblemen Zeutibers und Svantewits Rossen umgeben, die hier gleichsam die Stelle des Drachen vertreten, den zu der Menschheit Heil der christliche Engel besiegte.«25 Das Innere der Kapelle prägte »am Ende der in Holz geschnitzte, bunt gemalte und vergoldete Hochaltar«, von einem alten Meister gearbeitet, geschmückt mit einer »Kreuzigung von Hemskerk«. Seitwärts schlössen sich zwei kleinere Kapellen an, die zu dem Familienbegräbnis bestimmt waren. Ursprünglich beabsichtigte Pückler, hier zusammen mit seinem Gärtner Jakob Heinrich Render (17901852) bestattet zu werden. Zu Render, der am Anfang der Muskauer Gärtnerschule stand, besaß der Fürst ein enges, vertrauensvolles Verhältnis. Die Kanzel »in Nachahmung einer alten Kirche in Schlesien« sollte die Mitte der Kapelle prägen. Den Kanzelfuß wünschte sich Pückler als durchbrochenen Stamm einen mit einer Wendeltreppe, der sich oben als kolossale Lilie entfaltet, aus deren Blättern die drei Genien Glaube, Liebe, Hoffnung hervorschauen. Den Baldachin sollte der Engel des Gerichts mit der Waage krönen. Am Fuß der Kanzel sollten lebensgroße Figuren des Mose mit den Gesetzestafeln und des jüdischen Hohepriesters mit dem zum Opfer geschmückten Sündenbock »als Wurzel unserer Religion« angebracht werden. Der Kanzel gegenüber sollte ein Pfeiler mit einem Relief des Tanzes um das Goldene Kalb stehen, als Warnung davor, sich der »größten Versuchung des Menschengeschlechts, dem Mammon,« hinzugeben.27 Die historischen Bezüge und die Ikonographie der Kapelle zeigen, dass es sich hierbei um eine sehr persönliche Deutung der christlichen Überlieferung handelt. Da die Kapelle jedoch nicht nur für den Standesherrn und seine Familie gedacht war, sondern auch von der katholischen Gemeinde genutzt werden sollte, die keine eigene Kirche in Muskau besaß, verband sich mit der Ausstattung eine Botschaft an die Öffentlichkeit. Dazu passte auch die >alte< Madonnenstatue, die ein Wegzeichen zur Kapelle hin bilden sollte. 24 Ebd., 236. 25 Ebd., 237. 26 Hierfür spricht, dass Pückler in seinem Mausoleum allein zusammen mit seinem treuen, geschickten Gärtner beigesetzt werden wollte. Er soll gesagt haben: »Wenn die Leute hier vorübergehen, werden sie sagen: >Hier liegt der Fürst und der alte Render.Männerstadtdas heilige Licht, das heilige Feuer< verehrt. Die Orakel des ihm geweihten Pferdes wurden dem Volke durch Priester verkündigt, und noch sind die Opferplätze - der eine ganz in der Nähe des Bades (!) - deutlich erkennbar. Ein auf der ändern Seite der Stadt gelegener großer Totenacker voll Urnen, deren man täglich noch ausgräbt, deutet auf einen von vielen Menschen oder doch sehr früh und lange bewohnten Ort. Bei der Bekehrung der Sorben durch Ludewig den Frommen bis zu Hildewardt des III. Bischofs von Meissen Zeit - 1060 - rettete sich der Dienst der alten Götter in diese früher fast undurchdringlichen Wälder, und erhielt sich in denselben verborgen und heimlich mehrere Jahrhunderte lang. Die Bildsäule des Gottes Zeutibar soll, zwar beschädigt, hier noch in späterer Zeit vorhanden gewesen sein.33

Der Slavengott Swantewit erschien nun als Rekreation in Pücklers Kapellenkonzept. Indem Pückler den christlichen Kultraum zwischen die wendischen Kultbilder am Eingang und die Statue des Apoll von Belvedere im vorgelagerten >Allerheiligsten< rahmend einspannte - überdies flankiert von Poesie und Philosophie entwarf er einen Tempel mit universellem Anspruch. Der weitgereiste Pückler stellte folgerichtig Vergleiche zwischen der heimatlichen Lausitz und der griechischen Kulturlandschaft an und brachte beide in eine Traditionslinie: Ganz ähnlich den Grabmälern in der Troas und auf der europäischen Landzunge den ganzen Hellespont hinauf bis bei Ganochoro und Heraclea, wo die letzten sind, stehen in dem hiesigen Neißetale hinauf und namentlich bei Buchwalde und Werdeck hohe grüne, mit uralten Eichen bewachsene Hügel, welche die Sorben noch heutzutage >Kraalsroo< oder Königsgräber nennen.34

Spätere Untersuchungen bestätigten ebenfalls, dass das Gebiet der Oberlausitz bereits frühgeschichtlich besiedelt worden ist. Die Tatsache, dass schon im Jahre 1595 Urnenfunde aus der Muskauer Gegend an die Kunstkammer Kaiser Rudolfs II. nach Prag geschickt worden sind, belegt die frühe Würdigung der historischen Bedeutung dieser Region.35 Ludmilla Assing erwähnt in ihrer Pückler-Biographie, dass dieser als junger Mann mehrfach selbst an der Bergung von Urnenrunden beteiligt war. Er suchte die Opferplätze auf, von denen man einen in der Nähe des jetzigen Hermannsbades deutlich erkennen will, wo die Priester das Orakel verkündigten; er be-

33 34 35

Pückler-Muskau, Andeutungen, 168 f. Ebd., 169. Weitere Umenfimde sind für die Nachbarorte Buchwalde, Podrosche und Werdeck belegt. Vgl. Moschkau (1884), 110 ff. und Boelcke (1978), 20 und 493. Boelcke benennt als Adressaten der 1595 an den Kaiser gesandten Muskauer Urnen - wohl irrtümlich - Kaiser Matthias, der Rudolf II. aber erst im Jahr 1612 auf den Thron folgte.

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Annette Dorgerloh trachtete die Urnen, deren auf dem Muskauer Kirchhof beständig aufs neue ausgegraben wurden.36

Für Pücklers anhaltendes Interesse an den regionalen Altertümern spricht auch, dass der Historiker Friedrich Förster, der im Sommer 1832 eine Dienstreise nach Schlesien unternahm, um Nachforschungen über die Begräbnisplätze aus vorchristlicher Zeit in der Ober- und Niederlausitz anzustellen, Pückler in Muskau aufsuchte. Sein Bericht an den Kultusminister, Freiherrn von Altenstein, enthält auch eine Beschreibung des Muskauer Parks. Er verglich darin Pücklers Leistung als Gestalter von Landschaftsszenen mit den Kompositionen von Lorrain, Poussin, Ruisdael und Schinkel als Maler.37 Sehr wahrscheinlich bildeten diese Interessen an der heimischen Vor- und Frühgeschichte die Anregung für Pückler, jene Fundorte in seine Parkerweiterungen im Sinne des >Style heroique< einzubeziehen. In den Andeutungen berichtet er über die Anlage von mehreren Wegen zwischen dem südöstlich von Muskau gelegenen Tierpark für Rehwild und einem zwei Meilen entfernten weiteren Park für Hoch- und Schwarzwild. Ein weiterer, fünfter Weg »auf der entgegengesetzten Seite der Herrschaft«, sei »projektiert«. Dieser sollte, so Pückler, [...] mehrere Meilen ununterbrochen durch die Hauptwaldungen derselben geführt werden, wo er auch die in der Chronik erwähnten Königsgräber und Swantewits Opferberge berührt, von denen ich einige beim Graben gefundene groteske Steinbildungen, als Opferaltäre wieder herzustellen gesucht habe.38

Pückler bedauerte, bei den Erdarbeiten für die Muskauer Anlagen nicht mehr als einen kleinen Münzfund getätigt zu haben - bezeichnenderweise unter einer Eiche -; wahrscheinlich aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges.39 Gleichwohl war ihm die in den Andeutungen ausgeführte historische Einführung in die Vor- und Frühgeschichte des Ortes Muskau als heidnisches Zentrum außerordentlich wichtig. Sie wurde bereits in einer 1825 herausgegebenen Werbeschrift des Hermannsbades abgedruckt und später von Ludmilla Assing in die Pückler-Biographie übernommen.40 36 Assing (l 874), Bd. 1,17. 37 Ohne Quellennachweis bei Arnim (1981), 77. 38 Pückler-Muskau, Andeutungen, 287. Ähnliche frühgeschichtliche Altäre mochte Pückler im mecklenburgischen Landschaftsgarten in Burgschlitz gesehen haben, angelegt in den Jahren von 1806-1823 durch Hans Labes, Graf von Schlitz. 39 »Dies ist indes auch der einzige Schatz, welchen ich bei so vielen Erdumwühlungen gefunden zu haben mich rühmen darf, dagegen aber ist mir derjenige nicht ganz entgangen, den der Vater seinen Söhnen verhieß, als er ihnen auftrug, den Weinberg darnach umzugraben, und ich empfehle deshalb auch jedem Grundbesitzer dasselbe Experiment«; Pückler-Muskau, Andeutungen, 285. Die Bodenkultivierung galt ihm also als noch folgenreichere Leistung. 40 »Das Hermannsbad bei Muskau in der Königlich Preußischen Oberlausitz dargestellt in Hinsicht auf seine Umgebung, so wie seiner bewiesenen Heilkräfte, nebst einer ausfuhrlichen Analyse seiner Quellen, des Moor- und Badeschlammes und einer vergleichenden Uebersicht des Gehalts mehrerer Bäder, letztere beide von Herrn Geheimen Ober=Medizinal=Rath und Professor

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Auch die ihm offenbar bedeutsame - fiktive - genealogische Rückführung seiner Familie auf den Nibelungen Rüdiger von Bechelare oder Bechlarn, aus dessen Name durch eine Lautverschiebung später »Pückler« geworden sein soll, erscheint mehrfach in den von ihm autorisierten biographischen Schriften. Tatsächlich ist aber das Geschlecht der Pücklers schlesischen Ursprungs; der älteste nachweisbare Ahne Nicolaus Pokeler starb 1334 in Tirpitz im damaligen Fürstentum Brieg.42 Angesichts des großen Interesses an der Familiengenealogie überrascht die Kinderlosigkeit des Fürsten. Pücklers Ehefrau, die fast zehn Jahre ältere, verwitwete Reichsgräfin Lucie von Pappenheim, besaß eine bereits erwachsene Tochter, die sie zusammen mit einer Stieftochter erzogen hatte. Die Pückler-Literatur nennt nahezu einstimmig Pücklers finanzielle Verschuldung als Grund für die 1826 erfolgte Scheidung von Lucie, mit der er dennoch lebenslang eng verbunden blieb, vor allem, nachdem die England-Reise nicht die erhoffte solvente Braut aristokratischer Herkunft gebracht hatte. Andere Zeitgenossen wie der Botanikprofessor Karl Koch sahen in der Kinderlosigkeit der Ehe den wahren Grund für die Scheidung.43 Dieser Umstand mag Pücklers Entscheidung für die Gestaltung der Branitzer Pyramidenebene wesentlich beeinflusst haben. Wie kein anderer Bautyp vermochte die Pyramide Überdauern und Beständigkeit zu signalisieren. Auch die Pyramidenbauer des späten 18. Jahrhunderts waren überwiegend kinderlos und als letzte ihrer Linie an einem Überdauern im Gedächtnis der Nachwelt besonders interessiert.44

Erdpyramiden »[...] unvergänglicher als die stolzen Pyramiden am Nil« Dass zu jener Zeit eine Grabpyramide bereits zu einem Synonym für eine aussterbende Linie werden konnte, zeigt Johann Nepomuk Hoechles um 1835 für Kaiser Franz II. (I.) geschaffene »Allegorie auf die Häuser Habsburg und Lothringen«. Das Gemälde wurde für die Vorhalle des Lothringersaales in der Franzensburg in Laxenburg bei Wien geschaffen und ist Teil einer Serie zur Verherrlichung der Ahnen des Hauses. Das Bild zeigt die Weiterfuhrung der HabsburgerDr. Hermbstädt in Berlin. Sorau 1825.« ND edition branitz, Bd. l, 54, identisch mit der Passage in Pückler-Muskau, Andeutungen, 168. 41 Jäger (1843), 20-21, wohl identisch mit der Passage in den Andeutungen von Pückler-Muskau, 173. 42 Vgl. Koch (l871), 30. 43 Koch (1871), 16. Pückler war, wie eine Vaterschaftsklage erbrachte, zeugungsunfähig (freundlicher Hinweis von Jana Kittelmann, Berlin). 44 Vgl. Dorgerloh/Niedermeier (2005).

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monarchic durch die Verbindung mit dem Haus Lothringen: Neben einem aufgereckten Löwen mit dem Wappenschild Lothringens liegt ein regloser >schlafender< Löwe vor einer sandsteinverkleideten Pyramide.45

Abb. 5: Johann Nepomuk Hoechle: Allegorie auf die Häuser Habsburg und Lothringen, Öl auf Leinwand, vor 1835.

Angesichts der Überzahl an steinernen Pyramidenbauten in der Malerei wie in den Landschaftsgärten überrascht die Tatsache, dass Pückler für den Branitzer Totenhain mit Gras bewachsene Erdpyramiden wählte. Die zwiespältigen Ägyptenerfahrungen allein vermögen diese Entscheidung nicht überzeugend zu begründen. Die Ursache dafür ist vielmehr in den ausgeprägten genealogischen Interessen des Fürsten und den damit verbundenen wendischen Ansippungsmustem zu suchen, die bereits in den Muskauer Planungen zum Tragen kamen.

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Vgl. Franzensburg (1998), 80-87.

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Als Pückler die Branitzer Pyramidenebene plante, setzte er sich dezidiert von den frühen Grabpyramiden in den Landschaftsgärten ab, indem er sie als mangelhaft kritisierte. Unbefriedigend erschien ihm vor allem die Lage einzelner Gebäude: Z. B. eine Ritterburg mitten im flachen Kornfelde, wie in Machern bei Leipzig, ist fast etwas Komisches, ebenso wie die dortige ägyptische Pyramide in einem heitern Birkenwäldchen und idyllisch gehaltener Gegend, oder eine Strohhütte umgeben von französischem parterre. Alles das sind schlechte, die Harmonie störende Kontraste.46

Er warnte zudem vor einem unüberlegten Umgang mit Tempeln und Monumenten, bei denen die Gefahr bestehe, statt einen tief erregenden Eindruck den des Läppischen zu hinterlassen.47 Stattdessen plädierte er für den Erhalt wirklich alter, historisch gewachsener Bauten. »Gotische Spielereien sind nie anzuraten, denn sie wirken ohngefähr wie: kindisches Alter.«4 In Muskau sind nur sehr wenige der konzipierten Parkgebäude realisiert worden, wichtiger waren ihm immer die Landschaftskulissen und -effekte. Die landschaftlichen Bedingungen bildeten Pücklers Meinung nach die Vorgabe für eine spätere Gestaltung und Nutzung. Folgerichtig fand er in der Bodenfiguration Ägyptens und der norddeutschen Landschaft Ähnlichkeiten: Die Pyramiden würden sicherlich in keinem gebirgigen, selbst nicht einmal in einem hügeligen Lande entstanden sein; in den grossen, meist wüsten Ebenen Aegyptens sind sie aber naturwüchsig; sie entsprechen nach der Ansicht des Fürsten auch dem Charakter der norddeutschen Ebene.49

Mit der Gleichsetzung der landschaftlichen Voraussetzungen gelang es Pückler, die exotische Anmutung der Pyramiden argumentativ zu entkräften. Hinzu kam als ein wichtiger Punkt die Materialwahl. Auch er hätte, wie eigentlich alle Pyramidenbauer des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, seine Bauten aus Stein oder Ziegeln errichten lassen können. Die Entscheidung für Erdpyramiden erfolgte offenbar keineswegs aus monetären Erwägungen, sondern aus konzeptuellen Gründen, ähnlich wie dies auch für die Art der Bestattung galt. Karl Koch bezeichnete diese Differenz unmittelbar nach der Bestattung Pücklers als eine »wesentliche Abweichung«, die er auf Pücklers Freigeistigkeit, aber auch auf einen Hang zur Mystik zurückführte. Der Fürst, der an eine Seelenwanderung nach dem Tode glaubte, suchte Koch zufolge seinen Körper schnellstmöglich aufzulösen, »damit der Geist um so eher wieder eine Wohnung finde.«51

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Pückler-Muskau, A ndeutungen ,40. Ebd., 41 f. Ebd., 46 [Hervorh. H. v. Pückler]. Koch (l871), 29. Ebd. Ebd.; »Dazu müsse sein Körper möglichst rasch zerstört und aufgelöst werden, am besten durch Verbrennen, wo dann der Geist, die Seele, gleich einem Phoenix, in voller Reinheit und in erhöhtem Glanz erstehen könne.«

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Pückler hatte testamentarisch verfugt, dass »die übrigbleibende Asche in eine kupferne, demnächst zu verlöthende Urne gethan, und diese in den Tumulus des Branitzer Parkes, einige Fuß über den höchsten Wasserstand des ihn umgebenden Sees, sechs Fuß in horizontaler Tiefe in den Tumulus eingesetzt werden« soll. Die Beisetzung wünschte er sich »ohne allen Prunk und Verbittung jeder Leichenrede sowie anderen unnützen Ceremonien«.52 Die Urne sollte in die Mitte des Stollens zu stehen kommen. Anschließend sei der Stollen sofort wieder mit Erde zu füllen und sorgfältig mit Rasen zuzudecken. Sein Wunsch war es von jeher gewesen, dass er nach seinem Tode verbrannt würde.53 Da dies die Gesetze nicht erlaubten, wurde die Leiche mit ungelöschtem Kalk und Salzsäure bedeckt eingesargt, das Herz aber in einem Glasgefäß in Schwefelsäure aufgelöst. Dieses Gefäß wurde später in einer kupfernen Kapsel auf den Metallsarg in einen eigens gegrabenen und mit Eichenbohlen befestigten Stollen in der Pyramide gestellt.54 Koch berichtete, dass der Grablegung eine Trauerfeier im Schloss vorausging, an der »die ganze Geistlichkeit von Kottbus« einschließlich des Superintendenten beteiligt war. »Die Geistlichkeit begleitete auch den Trauerzug bis zur Pyramide; [...] und wiederum der Superintendent war es, der der Pyramide als Begräbnisplatz die christliche Weihe gab.«55 Bedenkt man, dass es sich bei dem Bericht Kochs offenbar um eine Rechtfertigung der ungewöhnlichen Bestattung des Fürsten und ihrer Veränderung im Sinne der Amtskirche handelte, dann wird klar, dass die Prozedur eine Notlösung war, die nicht im Sinne Pücklers erfolgte.56 Trotz der Rückholung des verstorbenen Fürsten in den Schoß der Kirche kann kein Zweifel daran bestehen, dass Pückler selbst ausdrücklich auf einer Feuerbestattung im Sinne der antiken bzw. germanischen Kultüberlieferungen bestanden hatte. Während die Aufklärer des 18. Jahrhunderts und besonders die Avantgarde des Landschaftsgartens stets die Rede von der Asche kultivierte, ohne dass ihr eine Praxis entsprochen hätte, war es Pückler ernst mit ihrer Umsetzung. Das 52 Zitiert nach Neumann (1999), 15. 53 Koch (l871), 29. 54 Diese Situation fanden die Beteiligten der postumen Bestattung der Gebeine von Frau Lucie in demselben Stollen noch 1884 vor. Pücklers Hoffnung auf eine völlige Auflösung seiner sterblichen Überreste einschließlich des Sarges hatte sich nicht erfüllt. Die im Fuß der Pyramide gemauerte Gruft wurde aus Sorge vor Hochwasser nicht in Anspruch genommen; Pückler hatte eine höhergelegene Bestattung seiner Urne verfugt. Vgl. Neumann (1999), 8 und 16. 55 Koch (l871), 29. 56 Es passt zu dieser Haltung, dass Pückler mit dem Freigeist Heinrich Heine bekannt war, der seine Werke schätzte und zu ihrer Verbreitung in Frankreich beitrug. So begrüßte Pückler die Julirevolution in Frankreich auch vor allem deshalb, weil sie die Trennung von Staat und Kirche besiegelte. Damit werde sich Frankreich wieder an die Spitze der Nationen setzen. Siehe Assing (1874), Bd. 2, 8: »Die Staats-Religion hat aufgehört - nun ist kein Hinderniß mehr in Frankreich, welches das Rad der Aufklärung aufhalten könnte, und schnell werden die Franzosen die erste Nation der Erde werden. Die erste Revolution hatte mit Blut gedüngt, die zweite trägt die Frucht.«

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bedeutete aber nicht, dass er ein Freund jener Krematoriumsbefürworter gewesen wäre, die allein aus dem Nützlichkeitsdenken heraus argumentierten.57 Bereits in seinem 1834 herausgegebenem Werk Tuttifrutti präsentierte er eine Negativutopie seiner Muskauer Standesherrschaft hundert Jahre später. In dieser Horrorvision finden die Reisenden eine völlig veränderte Situation vor: Das Schloss beherbergt inzwischen eine Spinnerei, und auch der Park ist den Verwertungszwängen und einem puren Nützlichkeitsdenken geopfert worden. An seiner Stelle befinden sich hier nun Felder, Plantagen und Industrienanlagen. Auf die Frage nach einem Erinnerungsort für den Nachfahren und Erben kam die Antwort, dass es hier keinen solchen Memorialort gäbe: »Ach lieber Leser, welch ein Begräbniß! Du fragst, wohin es mit der Leiche ging? - Nun natürlich, wo sie am nützlichsten ist: - aufs Feld als Dünger«.58 Die Passage verdeutlicht, dass Pücklers Entscheidung für die Pyramidenebene und für eine Urnenbeisetzung sehr bewusst gegen die Zeittendenzen gerichtet war. Nicht der Nützlichkeitsaspekt war für ihn entscheidend, sondern die Art der Memoria. Es hatte bereits im frühen Landschaftsgarten programmatisch einfache Begräbnisse von Fürsten gegeben, wie im Fall des Gothaer Herzogs Ernst II., der sich ohne Sarg und ohne Monument auf einer Insel im Gothaer Schlossgarten beerdigen ließ. Er wünschte allenfalls die Pflanzung eines Baumes, weil dieser der gewünschten gänzlichen Auflösung des Körpers im Sinne einer vermehrten Vegetation förderlich sein würde.59 Pückler hingegen orientierte sich mit dem Wunsch nach einer Urnenbestattung in einem Tumulus an den Bestattungsformen früher Kulturen. Bereits früh schon galten Pyramiden als Signum eines bedeutenden, vorvergangenen Zeitalters. Der Gartentheoretiker C. C. L. Hirschfeld erwähnt in seiner Theorie der Gartenkunst (1780), dass es auch im Norden Europas, besonders in Schottland, üblich gewesen sei, die Helden mittels roher, pyramidal aufgeschichteter Steinhaufen zu ehren.60 Die römische Gattung der Tumuli, die seit der Mitte des ersten Jahrhunderts v. Chr. an der Via Appia zu finden sind, z. B. bei den Horatiergräbern, führte sich überwiegend auf griechische Quellen zurück. Bereits bei Homer finden sich mehrfach beschreibende Erwähnungen61, darüber hinaus spielten aber auch etruskische und altitalische Überlieferungen mit hinein. Es gab zudem eine eigene legitimierende mythische Tradition der Römer, in der darauf verwiesen wurde, dass Vergil die Gräber der Trojaner stets als Tumuli charakterisiert hatte. Insofern liegt es nahe, dass die römischen Erben der Trojaner die Nachfolge auch über eine 57 Vgl. Fischer (2001), besonders Kapitel III »Die Industrialisierung des Todes: Feuerbestattung und Krematoriumsbau«, 51-68. 58 Pückler-Muskau, Tuttifrutti, Bd. 5, 136. 59 Vgl. Dorgerloh (2005), 209 f. 60 Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, Bd. 3, 140. 61 Homer, Bd. I, 123,202, 430-452,476.

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solche Formwahl sichtbar machten. Martina Schwarz verwies darauf, dass das Material Erde - »terra mater« - auch symbolisch aufgeladen war: In der Vereinigung mit der Erdgottheit konnte die Unsterblichkeit beschworen werden.62 Mit dem zyklischen Naturkreislauf von Werden und Vergehen verband sich darüber die Vorstellung einer permanenten Erneuerung.63 Es ist anzunehmen, dass dem philologisch gebildeten Pückler diese Zusammenhänge zumindest ansatzweise bekannt waren. Wie Koch berichtet, beschäftigte er sich in seiner letzten Lebensphase verstärkt mit Fragen der Metamorphosen und der Seelenwanderung.64 Erdpyramiden gab es aber nicht nur in Rom, sondern auch in seiner Lausitzer Heimatlandschaft. Sie wurden von den Zeitgenossen Pücklers als den ägyptischen Pyramiden gleichwertig erachtet, wie es das 1828 in Leipzig erschienene Buch Die Tempel und Pyramiden der Urbewohner auf dem rechten Eibufer, unweit dem Ausfluß der Schwarzen Elster von Friedrich August Wagner belegt. In seinem Vorwort schrieb der Autor: Wir finden hier an dem schwarzen Elsterstrome Denkmale, die dem hohen Alter derer in entfernten Ländern vielleicht wenig nachgeben, ja solches wohl mitunter übertreffen, und unvergänglicher sind, als die stolzen Pyramiden am Nil, auch mitunter nicht viel geringere Mühe und Kraft zum Aufbau gekostet haben, und bei alle dem weit interessanter für uns seyn müssen, als fremdes Kunst- und Fleiss-Eigenthum. Indess nicht himmelstürmend und prahlend stehen diese Denkmale bei uns da, sondern versteckt, verzichtend und bescheiden sind sie der Nachwelt aufbewahrt.65

Diese Pyramiden seien zwar von bescheidener Gestalt, sie bergen aber einen unsichtbaren, wertvollen Kern. Durch Enthüllung dieser Gegenstände bekommen wir eine ganz andere Ansicht von unseren Altvorderen als bisher, und erlangen die Ueberzeugung, dass im hohen Alter auch hier schon Künste galten, und der Ackerbau und Viehzucht blüheten, also nicht allein nomadisirt und vom Raube und Jagd gelebt wurde, wie römische Schriftsteller, z. B. Cäsar (Bell. Gall. IV), behaupten 66

62 Schwarz (2001), 193-195. 63 Dieser Vorstellungskreis fand sich auch in den Bestimmungen/Gesetzen Ciceros wieder: Erst, wenn über die Knochen eines verbrannten Leichnams Erde gedeckt wird, erhalte ein (Bestattungs-)Ort seinen sakralen Charakter und werde als Grab verstanden. Vgl. Salvadore (1996), 129 ff. 64 Koch (l871), 29. 65 Wagner (l 828), IV. 66 Ebd.

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Tfempel und Pyramiden d 0 T

Urbewoliner auf dem rechten Elbufer, u e w e i < iem A a e f l n » « «lot schwarten Elsler, o

Dr. Friedrich August W-agner, s dM ftchweuiiuer Äirit« «ad p^ctiicUwr Al*t i Residenz eines Purstem, die er um 1835 als eine Art Fürstenspiegel für sein architektonisches Lehrbuch entworfen hatte, nicht nur an eine »Halle für die öffent-

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liehen Denkmale zugleich für National-Feste. Große Plätze für Volksfeste«88 und an Bibliotheken und Galerien gedacht. Er plante auch ein »Gymnastisches Theater« und eine »Fürstliche Begräbnisstätte. - Gymnastische Plätze für Pferderennen, Militär=Übungen, Schwimmen, Rennen, Fechten, Wagenfuhren, Schießen nach dem Ziel, Klettern, Ringen pppp.« Diese Teile des Projektes sind in der Reinzeichnung von Grund- und Aufriss unausgeführt geblieben, offenbar aus Rücksicht auf den König, dem die Tumerbewegung mit ihren liberalen Zielen damals noch ein Dorn im Auge war. Die Trojalabyrinthe aber wurden bei der Anlage der vielen Turnplätze in ganz Europa immer wieder übernommen, bis der Zusammenhang zwischen Sportspiel und Totenagon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Vergessenheit geriet. Indem Pückler an diese Tradition anknüpfte, setzte er der kirchlich bestimmten Memorialkultur seiner Zeit ein verlebendigtes antikes Erbe gegenüber, das er als Errungenschaft jener Aufbruchszeit nach 1800 verteidigte, die viele seiner Generation geprägt hatte. Pücklers Antikentransformierung diente letztlich einer retrospektiven Memorierung altadeliger und altständischer Größe und Herrlichkeit, die sich an prähistorischen und antiken Vorbildern orientierte. Bereits in den Andeutungen hatte er dieses Konzept erläutert, indem er die neue Herrscherschicht als Leser und Adressat ansprach: »Euer ist jetzt das Geld und die Macht - Laßt dem armen ausgedienten Adel seine Poesie, das einzige, was ihm übrig bleibt. Ehrt das schwache Alter, Spartaner!«91 So kulminierten in Pücklers Pyramiden drei große Traditionslinien: die ägyptische, die trojanisch-römische der Tumuli und eine regionale, der als Pyramiden gedeuteten frühgeschichtlichen Grabstätten. Genau diese Hochkulturen hatte auch Wagner in seinem Pyramiden-Buch als gleichwertig zusammengebracht. Eine überraschende Wendung kurz vor dem Ableben des Fürsten bestätigt ex negativo dieses Konzept: In einem Brief an Ludmilla Assing berichtete Pückler wenige Monate vor seinem Tod über den Herrmannsberg, den höchsten Erdhügel im Branitzer Park, der im Jahr 1868 mit dem Aushub des Pyramidensees angelegt worden war. Ursprünglich sollte der 15 m hohe Hügel einen Wasserbehälter für eine Fontäne im Schlangensee aufnehmen, später plante Pückler auf seiner Spitze eine künstliche Ruine: OQ

Die Aussicht von dort ist ein großes Panorama, was sich bis zum Bautzener Gebirge, den Bäumen des Spreewaldes und den Muskauer Anhöhen erstreckt, ein Umfang von

88 89 90 91

Schinkel/Peschken (2001), 152. Ebd., 152 und 255 f. Vgl. auch Haus (2001), 35 8 f. Pückler-Muskau, Andeutungen, 167.

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einer Menge deutscher Meilen. Unter der erwähnten Ruine liegt dann wahrscheinlich schon die Asche des verbrannten Körpers Ihres treuen Verehrers auf dieser Erde [.-l·92

Abb. 9: Moritz Dafflinger: Bildnis des Fürsten Hermann von Pückler-Muskau, 1840.

Da die heutige Bepflanzung mit Nadelgehölzen erst nach dem Tod Pücklers erfolgte, wird der Hügel ebenfalls die Form einer Erdpyramide - genauer gesagt, eines Rundtumulus - besessen haben, der wohl auch mit Gras bewachsen war. Die Tatsache, dass Pückler trotz seiner bestehenden Pyramidenbauten kurzfristig diesen Hügel zur künftigen Grabstätte erklärte, zeigt, dass für ihn die eigentliche Pyramidenform offenbar von nachgeordneter Bedeutung war. Die größere Höhe des Hermannsberges mochte ihm - abgesehen von der Namensgleichheit mit 92

Zitiert nach Ludmilla Assing, Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 4, 182.

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Hermann dem Cherusker, dessen Denkmal im Teutoburger Wald gerade fertiggestellt wurde - ein überzeugenderes Kriterium gewesen sein. Nicht der Ort allein war das entscheidende, sondern die »Asche«, also die Form der Bestattung in einem Hügel, der - mit oder ohne künstliche Ruine - als >prähistorischer< Ort im Sinne einer transformierten Antike gelesen werden konnte und sollte. Als Pückler diesen Brief schrieb, lag sein im August 1870 abgefasstes Testament mit den genauen Anweisungen für die Seepyramide bereits beim Kreisgericht Cottbus. Der Vorgang ist dennoch typisch für ihn als letzten Spross einer fürstlichen Familie, den die Sorge um einen gesicherten Nachruhm lebenslang umtrieb. Die Rezeptionsgeschichte hat gezeigt, dass das Medium Landschaftsgarten noch immer geeignet war, diesen Anspruch mit den Möglichkeiten transformierter Antike umzusetzen.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Pyramidenflur mit nächster Umgebung vom Park. Parkplan Branitz um 1866/ 1867. In: Ettrich (2004), 62. Abb. 2: Blick auf den Tumulussee mit Erdpyramide. Fotografie Axel Klausmeier. Abb. 3: Blick von der ägyptischen Brücke auf die Landpyramide im Park Branitz, Fotografie Annette Dorgerloh. Abb. 4: August Wilhelm Schirmer: Begräbniskapelle im Muskauer Park. Aus: Andeutungen (1834), Taf. XXVIII. Aus: Stiftung Fürst-Pückler-Park Bad Muskau (2006), 45. Abb. 5: Johann Nepomuk Hoechle: Allegorie auf die Häuser Habsburg und Lothringen, Öl auf Leinwand, vor 1835. In: Die Franzensburg in Laxenburg (1998), 85. Abb. 6: Frontispiz Wagner (1828). Abb. 7: Rennbahn Muskau. Ausschnitt der Karte. Aus: Andeutungen (1834). In: Ettrich (2004), 63. Abb. 8: Wunderkreis mit Friesen-Hügel am Eingang des Turnplatzes. Der erste Turnplatz Deutschlands -jetzt Karlsgarten in der Hasenheide bei Berlin im Jahre 1818. Gedenkblatt zur 50-Jahrfeier des deutschen Turnens, Berlin 1861. In: Niedermeier (2004), 51. Abb. 9: Moritz Dafflinger: Bildnis des Fürsten Hermann von Pückler-Muskau, 1840. In: Rippl(1995),9.

Von der Schrift in die Landschaft: Die Isis-Initiation des Apuleius in der Mystischen Partie des Wörlitzer Gartens MICHAEL NIEDERMEIER

Die Transformation bzw. die »Übersetzung«, welche hier untersucht werden soll, ist durch ihre Komplexität gekennzeichnet. Es handelt sich bei dem ausgewählten Beispiel sowohl um den Vorgang des Übersetzens antiker literarischer Texte aus dem Latein als Ausgangssprache ins Deutsche, als gleichzeitig auch um die Übertragung ganzer Textpassagen aus den deutschen Übersetzungen heraus in die Beschreibung einer bewusst gestalteten Kunst- und Denkmallandschaft. Das Besondere der Verknüpfung von sprachlicher Übersetzung eines literarischen Textes einerseits mit nachträglicher »Über-Setzung« dieses übertragenen Textes in die Partie einer Gartenlandschaft andererseits besteht in diesem Falle darin, dass der Übersetzer und der Autor des offiziellen Gartenführers ein und dieselbe Person sind. Dabei kommt allerdings noch hinzu, dass die Tatsache, einen eigenen Übersetzungstext für die Beschreibung der Gartenpartie zitiert zu haben, vom Autor offenbar mit voller Absicht verheimlicht wurde. Im Gartenführer, der als offizieller Leitfaden für das Verständnis der Gartenanlagen geschrieben war, vermied es der Autor bewusst, für die Beschreibung verwendete Passagen aus eigenen Übersetzungen antiker Texte als solche kenntlich zu machen. Genau genommen wurden sie von ihm gezielt versteckt. Sehr wahrscheinlich war die Entschlüsselung dieses Übertragungsvorganges nur Eingeweihten vorbehalten. Dieser Sachverhalt ist jedenfalls zweihundert Jahre lang öffentlich nie erwähnt worden.1 Die Übertragung von Textpassagen aus Übersetzungen antiker Literatur in eine Gartenbeschreibung ist jedoch ein wichtiger Deutungshinweis dafür, wie eine zentrale Partie des wohl berühmtesten frühen deutschen Landschaftsgartens zu entschlüsseln ist, und zwar über ein allgemein zugängliches Verständnis hinaus. Gleichzeitig wird hierdurch im Ansatz deutlich, wie ein Text im zeitgenössischen Kontext wahrgenommen wurde. Anhand der Analyse des mehrfachen Übertragungsvorganges soll gezeigt werden, dass eine weit verbreitete Interpretation der l

Den Übertragungsvorgang deckte der Verfasser 1995 auf in: Niedermeier (1995), 212 ff.

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Mystischen Partie als freimaurerisch-esoterisch2 - eine Annahme aufgrund nicht identifizierter Textpassagen - so nicht haltbar ist, sondern als spezifisch erotischmystisch im Sinne antiker Mysterien zu sehen ist, wie sie im Umfeld des Erbauers verstanden wurden.

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Abb. l: Karl Kuntz: Der Venustempel zu Wörlitz, 1797. Aquatinta nach radierten Umrissen.

Ziel der Untersuchung ist es, den Kontext von Übersetzung und Beschreibung zu umreißen. Dadurch sollen Hintergründe beleuchtet werden, die den Transformationsprozess bestimmen. I.

Bei der Person des Übersetzers und Autors handelt es sich um August Rode (1751-1837). Besagte Übersetzungen aus dem Lateinischen sind die Metamorphosen (Der Goldene Esel) des Apuleius sowie der Hymnus an Venus des Lukrez.

2

Vgl. etwa: Buttlar (1989), 146; Reinhardt (1988), 116, Curl (1991), 181; Trauzettel (2005), 194.

Von der Schrift in die Landschaft

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Als Kunstlandschaft werden die Mystische Partie des Wörlitzer Gartens sowie der Ägyptische Keller im angrenzenden so genannten Pantheon der näheren Betrachtung unterzogen. Zwar dienten Motive aus dem satirisch-mystischen Roman vom Goldenen Esel auch für andere Gärten als Anregung, so bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts für den Heiligen Wald von Bomarzo des Vicino Orsini,3 den Garten der Villa d'Este in Tivoli4, im späten 18. Jahrhundert für den Park des Herzogs von Sachsen-Meiningen in Meiningen5 oder dann den Neuen Garten des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm II. in Potsdam,6 doch ist die unmittelbare sprachliche Übersetzung und direkte motivische Übertragung des Textes in die Landschaft bei keinem anderen Garten so präzise nachzuvollziehen wie im Wörlitzer Garten, denn Tatsache ist: Der Übersetzer einerseits und der Verfasser des offiziellen Gartenführers andererseits sind ein und dieselbe Person.

Abb. 2: Franz Woltreck: Büste von August v. Rode. Gips. 1831. Kulturstiftung Dessau-Wörlitz.

3 4 5 6

Bredekamp (1991), 102 f., 138, 153 ff. Vgl. Dernie(1996), 17 ff. Vgl. Niedermeier (1999), 61 und 73. Vgl. Wimmer (1993), 164-171. Vgl. zusammenfassend Assmann (2005), 116 ff.

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Der Wörlitzer Garten war durch seine verschiedenen zeitgenössischen Beschreibungen, Abbildungen und Stiche in mannigfaltiger Hinsicht anregend und initiierend - er war es für den Klassizismus, die Neugotik, die landschaftliche Gartenkunst in Deutschland und darüber hinaus des Kontinents. Beispielsweise fanden Klassizismus und Neugotik nicht zuletzt auch in Berlin und Potsdam durch einen Freund und Mentor des Fürsten Franz, Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff, ihren Anfang, als dieser den Umbau des Sterbezimmers Friedrichs II. in Sanssouci leitete. Entstanden ist die Mystische Partie im Wesentlichen nach 1788. In der ersten Fassung von August Rodes Beschreibung des Fürstlich Anhaltischen Landhauses und Englischen Gartens zu Wörlitz (Dessau/Leipzig 1788) ist die Mystische Partie noch nicht verzeichnet, wohl aber der Venus-Tempel, die Hängebrücke, der Betplatz des Eremiten sowie der Bereich mit der Lavater-Inschrift, der später in die Mystische Partie integriert wurde.7 Die Mystische Partie selbst entstand also hauptsächlich im nachfolgenden Jahrzehnt, d. h. während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms II. im benachbarten Preußen (1786-1797). Nach des Königs Tod scheint auch nicht mehr an der Mystischen Partie weitergearbeitet worden zu sein, denn noch heute präsentieren sich die im Jahre 1798 noch unfertigen Innenausstattungen in den Felsengrotten des Vulkans, Neptuns und Aeolus im gleichen unvollendeten Zustand. Der engere Bereich der Mystischen Partie wurde 1798 von August Rode so beschrieben:

7

Rode, Beschreibung, II. Theil, 170 ff.

Von der Schrift in die Landschaft

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Abb. 3: August Rode: Beschreibung (1798), Titel.

27 1

272

Michael Niedermeier

160

II. W*· IV. Äootttl.

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Ihres unsterblichen Leibs holdes Verborgne gegönnt. Da war Kreta beglückt! das Hochzeitbette der Göttin Schwoll von Ähren, und reich drückte den Acker die Saat. Aber die übrige Welt verschmachtete; denn es versäumte Über der Liebe Genuß Ceres den schönen Beruf.117

Dass die Sichtweise der eleusinisch-isischen Mysterien des Apuleius auch die Sichtweisen in Wörlitz prägte, wird an weiteren Details deutlich. In der Bibliothek im Wörlitzer Schloss, das von der Büste einer antiken Cybel lÄ le, der »großen Mutter der Götter« , dominiert wird, befand sich auch eine von Cavaceppi gefertigte Canephora, eine Korbträgerin, von der Rode mitteilt: »Bei den Eleusinien, Panathenäen und anderen Feierlichkeiten zu Athen pflegten Jungfrauen gewisse Heiligtümer in geflochtenen Körben auf dem Haupte zu tragen.«119 Um welche »gewissen Heiligtümer« es sich in den Körben gehandelt hatte, wussten die Dessauer ja nicht zuletzt durch William Hamiltons und Richard Payne Knights Priapus-Arbeit.120 Auch August Böttiger erkannte, als er von August Rode durch den Wörlitzer Garten geführt wurde, vor dem Flora-Tempel die Blumenphalli, ganz in der Nähe der Mystischen Partie, als [...] Symbol der allerzeugenden Natur [...] und da gehörten denn auch jene hochverehrten Werkzeuge der Fruchtbarkeit hin, die im Phallus die alten Mysterien verehrten und im Lingam die friedlichen Hindus noch anbeten. Freilich verhüllte man sie in jenen Mysterien doch wenigstens mit einem mystischen Körbchen. Allein der wohlbegabte Gott der Gärten [Priapus] trug sie doch auch sehr öffentlich zu Schau.121

Dass jene mystischen Körbchen auch bei der Prozession zur Ehren der »Allmutter Natur« Isis, in der sich synkretistisch auch die anderen Fruchtbarkeitsmuttergottheiten spiegelten, eine Rolle spielten, war den Dessauern ja aus August Rodes Apuleius-Übersetzung geläufig.1 3 Die Übertragung von Teilen der eigenen Übersetzung in die Beschreibung der Mystischen Partie, die als Initiation in die ägyptischen bzw. eleusinischen Mysterien beschrieben wird, erfolgte mit dem Ziel einer Sinnstiftung. So nannte Rode die Zelle des Eremiten wörtlich die Zelle des »Mystagogen«, als des »Einfuh-

117 Goethe, Werke, Weimarer Ausgabe, I. Abt., Bd. l, 247 ff. 118 Rode, Beschreibung, II. Theil, 60. Paul (1977), 13 hält sie wegen der Mondsichel eher für eine Tyche von Alexandria. 119 Rode, Der Goldne Esel, II. Theil, 61. 120 Knight, An Account of the Remains of the Worship of Priapus, London 1787. 121 Böttiger, Reise nach Wörlitz, 37 [Hervorh. M. N.]. 122 Lucius betet die »Königin Isis« als »Allmutter Natur« mit den verschiedenen Namen an: »kekropische Minerva«, »paphische Venus«, »dictynische Diana«, »stygische Proserpina«, »eleusische Altgöttin Ceres«, »Juno«, »Bellona«, »Hekate«, »Rhamnusia«.; Rode, Der Goldne Esel, II. Theil, 119. 123 »Von einem ändern wurde der mystische Korb getragen, welcher die Geheimnisse der wunderthätigen Religion in seinem Innern verwahret.«; ebd., 208.

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rer[s] in die heiligen Geheimnisse«, eine Wortwahl, die er auch bei Wielands Aristipp hatte finden können.124 Bei Rode heißt es: Aus Huld täuschte mich die mächtige Göttin nicht; noch ließ sie mich lange nach meinem Heile schmachten. Im Dunkel der Nacht offenbarte sie mir durch nichts weniger als dunkle Worte: Er sei gekommen der Tag, der mir ewigwünschenswerthe Tag, an dem ich des allerhöchsten Glükes sollte theilhaftig werden! Zugleich bestimmte sie den Aufwand, den ich bei der Einweihung zu machen, und ernannte gar ihren Hohenpriester Mithras selbst, zu meinem Mystagogen (Einfiihrer in die heiligen Geheimnisse); weil er, wie sie sagte, durch eine gewisse Uebereinkunft der Gestirne mit mir verwandt sei.125

Der Höhepunkt der zweiten Isis-Initiation des Lucius im Apuleius findet entsprechend statt: [...] der Hohepriester führte mich bei der Hand, in das innerste Heiligthum des Tempels ein. [...] Ich gieng bis zur Grenzscheide zwischen Leben und Tod. Ich betrat Proserpinens Schwelle und nachdem ich durch alle Elemente gefahren, kehrt' ich wiederum zurük. Zur Zeit der tiefsten Mitternacht sah ich die Sonne in ihrem hellsten Lichte leuchten. Ich schauete die Unteren^ und Obern=Götter von Angesicht zu Angesicht, und betete sie in der Nähe an.126

In August Rodes Beschreibung der Mystischen Partie durch die Vier Elemente hin zum Venus-Tempel heißt es dann z. T. wortgleich: »Auf diesen Wanderungen glaubt man - die Sprache der Mysterien zu reden - Proserpinens Schwelle zu betreten, und auf der Grenzscheide zwischen Leben und Tod sich zu befinden.«127 Von hier aus ergibt sich eine herrliche Aussicht auf den Venus-Tempel. Vor dem Höhepunkt der Mystischen Partie, dem Eintritt des Besuchers in den Monopteros mit der Kopie einer Mediceischen Venus, verweist August Rode in seiner Beschreibung - wiederum versteckt - auf den Apuleius-Text seiner Übersetzung. Neben dem als Platoniker wahrgenommenen Apuleius bezieht er sich auf noch einen Schlüsselautor - nämlich auf Lukrez, dessen Hymnus an Venus programmatischer Beginn des epikureischen Grundlagentextes »De rerum narura« ist. Den Hymnus hatte August Rode wiederum selbst übersetzt. Er beginnt in Rodes Übersetzung mit dem Vers: »Mutter der ^Eneaden, Lust der Götter und

124 Wieland, Sämmtliche Werke, Bd. 23, 82; 274, 346. Bei Georges (1913-1919), Bd. 2, 1082-1083 heißt es: »mystagögus, , m. ( ), ) der in die Mysterien Einföhrende, der Geheimnislehrer, Mystagoge, übtr., amicitiae meae, te mystagogo usus, accessit, Symm. epist. 5, 64. - II) der an mystisch heiligen Orten umherfuhrt, um da alles Merkwürdige zu zeigen, der Mystagoge, Führer, Cic. Verr. 4, 132.« 125 Rode, Der Goldne Esel, II. Theil, 222 f. [Hervorh. M. N.]. 126 Ebd., II. Theil, 225 f. [Hervorh. M. N.]. 127 Rode, Beschreibung, II. Theil, 161.

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Menschen, | Hehre Venusl« Im Apuleius betete Lucius - dem entsprechend die »hehre Isis«U9 an. In Rodes Gartenbeschreibung heißt es Jahre später: Man bilde sich ein, dass hier, unter Anstimmung der Hymne, mit welcher des Lukrez' Gedicht über das Wesen der Dinge beginnt, der Mystagoge uns bei der Hand den Aufgang zum Tempel hinauf, in das innere Heiligtum der hehren Venus einführt; wo denn, indem wir der ganzen Natur unumschränkte Beherrschung von Angesicht zu Angesicht schauen, die Einweihung vollbracht wird [.. .].130

Wir haben gesehen, wie einer der wichtigsten antiken Mysterientexte die ideelle Grundlage für die Mystische Partie bildete. Durch seine Verquickung mit dem Venus-Hymnus, d. h. mit Lukrez' epikureischem Grundlagentext, wurde die Einweihung in die Geheimnisse der Venus/Isis durch die Gleichsetzung der beiden Göttinnen unterlegt. Das Wesen mystischer Initiation erscheint somit - wie das der Naturgeheimnisse überhaupt - in der Anziehung der Geschlechter, in der kreatürlichen Fortpflanzung, im erotisch-kosmologischen Wirken einer göttlichen Venus. Damit wird klar, dass die Einweihung nicht als freimaurerische Initiation gemeint war, wohl aber als Sinnbild antiker erotisch-mystischer Initiationen der Ceres, der Isis und der Venus - allesamt gedacht als Sinnbilder für die Urkräfte der Natur überhaupt. August Rodes Übersetzungen des Apuleius sowie des Lukrez waren für den an den antiken Mysterien interessierten »Weltmann«131 gedacht und nicht für den freimaurerischen Esoteriker. Es wäre Zeit, sich dieser Interpretation zu stellen. Was zunächst wie ein Abschied von Vertrautem scheinen mag, sollte nicht als Verlust verstanden werden. Damit wird der Nimbus des aufgeklärten Fürsten und seinem Gartenreich nicht in Frage gestellt, sondern an der verbürgten Übernahme der antiken Quellen und der wirklich eigenständigen Transformationsleistung ihrer Übertragung festgemacht.

Zitierte Archivalien Acta des Herzogl. Geheimen Cabinetts zu Dessau, Abteilung Dessau, A 13 c Nr. 11. Acta die auf höchsten Befehl, nach Absterben des Herrn Cammerrathes Carl Rode geschehenen Versiegelungen, Entsiegelung, Aufzeichnung und Extradition der unter dessen Nachlasse vorhandenen Herrschaftl. Papiere betreffend. 1795. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Dessau, Abteilung Dessau, A 12 c Nr. 10, fol. 3 ff.

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Rode, Philosophische und andere Gedichte, 6. Rode, Der Goldne Esel, II. Theil, 223 [Hervorh. M. N.]. Rode, Beschreibimg, II. Theil, 165. Rode, Der Goldne Esel, Av.

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Acta, enth. mehrfache Corrrespondenz des Fürsten Leopold Friedrich Franz aus des Cabinettsraths von Rode. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Dessau, Abteilung Dessau, A 10 Nr. 249 ff. Acten die Empfangnahme und Ablieferung derjenigen Acten, Papiere und Sachen in Herrschaftlichen Angelegenheiten, welche der verstorbene Herr Geheimrath von Rode in Verwahrung gehabt, betr. 1837. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Dessau, Abteilung Dessau, A 12 c Nr. 19, Supplikat vom 18.11.1795, fol. 29. Briefwechsel der Fürstin Luise von Anhalt-Dessau mit K. von Rode (1793-1794). Dieser Briefwechsel wurde erst 1932 im Tresor aufgefunden, der dritte Teil 1933 von auswärts, von Herrn Staatsminister a. D. Müller, an das Archiv übergeben. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Dessau, Abteilung Dessau, A 10 n. 294 a. Rode, Johann August: Von meinem Hierseyn in Dessau 1737-1772. mit Beyträgen betr. Diplomata etc. vom Anh. Staatsrecht. Dessauer Rathsprotokoll v. 3. Dec. 1714; Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Dessau, Abteilung Dessau, A 9 e 19.

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schaulichkeit (enargeiä) sein, dass der Hörer/Leser den beschriebenen Gegenstand tatsächlich vor Augen zu haben meint: »Enargeiä ist die Kraft des Textes, visuelle Bilder zu schaffen, den Hörer [...] zum Zuschauer zu machen«8. Dieser illusorische Effekt kann allerdings nur dann ins Spiel kommen, wenn der geschilderte Gegenstand abwesend ist; stünde er vor Augen, gäbe es gar keinen Grund, ihn ekphrastisch zu beschreiben. Die Ekphrasis will sich ihrem Gegenstand nicht an die Seite stellen, sondern ihn ersetzen; sie will dem Gegenstand nicht dienen, sondern eine eigene Wirkung entfalten. Und genau in diesem Sinn sind auch die philostratischen Eikones zu verstehen: als ein Text, der aus eigener Kraft Bilder vor Augen führen will, und der insofern keiner realen Bilder bedarf, genauer: bei dem die Abwesenheit der Bilder eine notwendige Bedingung des ästhetischen Spiels darstellt. Aber allein mit dem Faktum der Abwesenheit der Bilder ist über deren ontologischen Status noch nichts ausgesagt. Es gibt dafür drei (und nur drei) Möglichkeiten. Erstens: Philostrat könnte aus der Erinnerung Bilder beschreiben, die er selbst gesehen oder von deren Existenz er durch andere erfahren hat: nicht gegenwärtige, aber dennoch reale Bilder. Zweitens: Er könnte Elemente bekannter Bilder variieren, neu kombinieren und auf diesem Weg Bilder beschreiben, die weder er noch irgend ein anderer tatsächlich gesehen hat, wohl aber gesehen haben könnte: zwar nicht reale, aber mögliche Bilder. Und schließlich, drittens, könnte Philostrat, selbstverständlich immer noch unter Rückgriff auf das, was er im Lauf seines Lebens gesehen und gehört hat, Bilder beschreiben, die grundsätzlich über die Möglichkeiten eines Malers und der Malerei überhaupt hinausgehen: unmögliche Bilder, also - falls es so etwas überhaupt gibt. Genau das gilt es zu prüfen. Philostrats Bildbeschreibungen sind kaum zu verstehen, wenn man sie nicht im Kontext des uralten Wettbewerbes zwischen Literatur und Malerei sieht: eines Wettbewerbes, der in der Neuzeit wieder aufgegriffen und als paragone bezeichnet wurde. In der Antike lag der Vergleich von Literatur und Malerei umso näher, als die Tätigkeit des Literaten und des Malers auf Griechisch durch ein und dasselbe Verb bezeichnet wird: graphein kann ebenso gut schreiben wie malen bedeuten. Es ist kein Zufall, wenn Philostrat seine Eikones genau mit diesem zweideutigen Wort enden lässt: ehre sün hora graphein - man muss mit Anmut malen bzw. schreiben. Das doppelsinnige graphein (malen? schreiben?) ist Zielpunkt und Fokus des ganzen Textes. Man könnte auch sagen: Maler und Literat tun letzten Endes das Gleiche, denn ob sie malen oder schreiben, auf Griechisch wird es einfach heißen: graphousin. Wenn aber beide das Gleiche tun, dann drängt sich die Frage geradezu auf: Wer kann es besser? Genau um diese Frage geht es auch bei Philostrat. Er lobt die Malerei. Aber im Rahmen des paragone zielt sein Lob der Bildkunst gleichzeitig darauf, die Überlegenheit der Wortkunst unter Beweis zu stellen. Er fordert die Malerei auf ihrem eigenen Terrain heraus: auf dem der 8

Ebd., 145.

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Bildproduktion. Sollte es möglich sein, die Malerei gerade auf diesem Terrain zu schlagen? Kein Sieg könnte glanzvoller sein. Philostrat unterscheidet in der Malerei zwei Ebenen: mimesis und sophia. Mimesis ist nichts anderes als die Nachahmung des Gegebenen; sie zielt auf Naturwahrheit (aletheia) und auf Illusion (apate). Der Wert, den Philostrat ihr zuschreibt, ist gering: Bunte Blumen mit den entsprechenden Farben wiederzugeben: was soll das schon für eine Kunst sein?9 Wenn Du den Maler für die Ziegen lobst, weil er sie lustig springend malte, oder für die Schafe, weil ihr Gang so schwerfällig ist, als sei ihnen das Vließ zur Last, oder wenn wir die Hirtenflöten oder ihre Bläser beschreiben wollten, wie sie mit zusammengepressten Lippen blasen, so rühmen wir nur einen kleinen Vorzug der Malerei.10

Sophia hingegen ist die sinnreiche Erfindung: Sie will den Betrachter nicht täuschen, sondern seine Einbildungskraft anregen, in ihm Gedanken und Gefühle hervorrufen. Im Licht dieser Unterscheidung wird klar, dass alle Vorzüge der Malerei auf der (minderen) Ebene der Mimesis angesiedelt sind; auf der höheren Ebene der Sophia ist das Primat der Rhetorik evident und unbestreitbar. Der Gegensatz zwischen Mimesis und Sophia zieht sich durch alle Bildbeschreibungen hindurch: Implizit wird der Leser stets dazu aufgefordert, beider Anteil zu unterscheiden und gegeneinander abzuwägen. Die Funktionalisierung dieser Unterscheidung im Rahmen eines Wettbewerbs zwischen Bild- und Wortkunst ist keineswegs selbstverständlich. Man könnte Mimesis und Sophia ja auch ganz anders, nämlich als komplementäre Funktionen verstehen: Dann wäre Mimesis eine Kategorie der Nachahmungsästhetik, die das Verhältnis der Darstellung zu deren Gegenstand bezeichnet; Sophia hingegen wäre eine Kategorie der Wirkungsästhetik, die auf die Reaktion des Betrachters zielt. Beide Ästhetiken setzen einander voraus und verhalten sich komplementär zueinander, es sind die sprichwörtlichen Seiten ein und derselben Medaille; von daher hat es wenig Sinn, sie gegeneinander in Anschlag zu bringen. Aber darüber mit Philostrat streiten zu wollen, wäre ein müßiges Unterfangen: sein Spiel folgt ganz anderen Regeln. Hören wir uns also lieber eine seiner Beschreibungen an. Um den Blick auf den Text zu schärfen, nehme ich dabei ein Bild zu Hilfe (Abb. 1):

9 Philostrat, imag. I, 2, 4. 10 Ebd., I, 9, 5.

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I HI

Abb. l: Philostrate, Les Images ou tableaux de platte-peinture. Traduction et commentaire de Blaise de Vigenere, Paris 1578, illustrierte Ausgabe von 1614, Kupferstich zum Abschnitt I, 10.

Es ist ein Kupferstich aus dem Jahr 1614 und stammt aus der reich illustrierten Ausgabe der französischen Übersetzung der Eikones. Die Übersetzung selbst (es war die erste Übersetzung in eine moderne Sprache; bis dahin hatte es nur eine lateinische Übersetzung aus dem Jahr 1521 gegeben) stammte von Blaise de Vigenere (1523-1596), einem der großen humanistischen Gelehrten der Zeit, und

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war zum ersten Mal 1578 erschienen". Vigenere hatte dem Text eine Einleitung vorausgeschickt, worin die Frage nach der Realität der beschriebenen Bilder mit vornehmer Kürze abgetan wurde: Si les tableaux au reste descripts icy par Philostrate ont este ä la verite pents tous tels autrefois [...] ou bien que ce soient quelques nouveaux subjects dressez par luy ä l'imitation des antiques (comme il est beaucoup plus vraysemblable) il ne nous ein doibt pas beaucoup chaloir [...]12.

Das war sehr vernünftig - aber es sollte nicht das letzte Wort bleiben. Vigeneres Übersetzung hatte - buchhändlerisch gesehen - einen mäßigen Erfolg, bis der Verleger 1614 eine prächtig ausgestattete Neuauflage in aufwendigem FolioFormat herausbrachte: Diese war bald ausverkauft und wurde danach in schneller Folge mehrfach neu aufgelegt13. Die Unterschiede zur Erstauflage sind bezeichnend: Die Einleitung war verschwunden, womit auch das skeptische Urteil über das Realitätsproblem unter den Tisch gefallen war. Umso deutlicher hatte sich das Interesse vom Text selbst auf die Bilder verschoben: Die Beschreibungen Philostrats sollten als ein Medium genutzt werden, um Werke der (verlorenen) antiken Malerei wieder zu entdecken. Der Verleger hatte keine Kosten gescheut, um das Werk angemessen zu illustrieren, hatte unterschiedliche Zeichner und Kupferstecher bemüht: So war es schließlich gelungen, jeder einzelnen Bildbeschreibung gewissermaßen im Sinn eines Rekonstruktionsversuches - einen Stich an die Seite zu stellen14. Aber was sollte hier genau rekonstruiert werden? Spricht der Text von realen, bloß von möglichen oder geradezu von unmöglichen Bildern? Je nachdem kann sich die Rekonstruktion leicht als ein tückisches Geschäft erweisen. In diesem Sinn liefern die Kupferstiche, gewissermaßen unwillkürlich, einen ausgezeichneten Einstieg in die Problematik des Textes. Der Stich wendet sich selbstverständlich an den Leser, er setzt den Text voraus. In unserem Zusammenhang aber ist die umgekehrte Vorgehensweise reizvoller: Wir beginnen also mit dem Bild, ohne den entsprechenden Text vorerst zur Kenntnis zu nehmen. Was sehen wir? Zunächst einen Musikanten in antikisierender Tracht: Er sitzt auf einer Mauer und streicht mit dem Bogen über die Seiten eines geigenartigen Instruments. Die Mauer, die links eine treppenartige Gestalt aufweist, ist in ruinösem Zustand: Quadersteine liegen am Boden, teilweise direkt neben der Mauer, teilweise weit verstreut; einige der Quader sind schräg übereinander getürmt und an die abgetreppte Mauer gelehnt. Im Hintergrund sieht man einen zinnenbekrönten Palast, einen Rundtempel und andere Gebäude einer Stadt; deren spärliche Bewohner nehmen vom Geiger, der ganz mit sich und seiner Mu11

Vigenere, Philostrate, dort XXXVI1I-LX zur Person und zu den übrigen Werken Vigeneres (F. Graziani); vgl. auch Crescenzo (1999), 81-101. 12 Vigenere, Philostrate, 11. 13 Vigenere, Les Images. 14 McAllister Johnson (1969), 277-304; vgl. auch F. Graziani in: Vigenere, Philostrate, LXX f.; wenig ergiebig ist Crescenzo (1999), 167.

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sik beschäftigt zu sein scheint, keine Notiz. Ist die Musik vielleicht der Vergänglichkeit menschlicher Bauwerke gewidmet? Die Frage wird hinfällig, sobald wir den philostratischen Text zur Hand nehmen:

I, 10: Amphion (1) Die kunstvolle Vorrichtung der Leier, sagt man, hat Hermes erfunden, sie aus zwei Hörnern, einem Joch und einem Schildkrötenpanzer zusammengefügt und als Geschenk zuerst dem Apollon und den Musen, dann aber dem Thebaner Amphion gegeben.15 Da dieser in Theben wohnte, als es noch ohne Mauer war, sandte er Lieder über die Steine hin; das hören die Steine und laufen zusammen: dies nämlich stellt das Gemälde dar. (2) Zuerst nun sieh dir die Leier genau an, ob sie so gemalt ist, wie sie wirklich ist. Das Hörn nämlich, sagen die Dichter, stammt von der kletterfreudigen Ziege;16 der Musiker verwendet es für die Leier, der Bogenschütze für sein Werkzeug. Schwarz und gezackt siehst du die Hörner und schrecklich im Stoß; die Holzteile aber, die man zur Leier braucht, sind alle aus festem Buchsholz ohne Astknoten; Elfenbein ist nirgends an der Leier, weil die Menschen damals weder das Tier selbst (den Elephanten) schon kannten noch wussten, wozu ihnen seine Stoßzähne dienen sollten. Schwarz ist auch der Panzer der Schildkröte, sorgfältig nach der Natur gemalt, an der ganzen Oberfläche bedeckt mit aneinander stoßenden, unregelmäßigen Kreisen mit gelben Augen; die Saiten sind an einem Ende über den Steg geführt und an Buckeln befestigt; zwischen dem Steg und dem Querjoch sieht es aus, als ob sie frei gespannt wären und sich hinter ihnen leerer Raum befände. Diese Anordnung mag am besten geeignet sein, um sie an der Leier straff zu halten. (3) Was aber sagt Amphion? Was sonst, als dass er die Saiten zupft und seine ganze Aufmerksamkeit auf das Instrument richtet und seine Zähne so weit sehen lässt, wie es für einen Singenden nötig ist. Er besingt, vermute ich mal, die Erde, weil sie, die Schöpferin und Mutter aller Dinge, nun auch eine sich selbst erbauende Mauer beschert. Sein Haar ist an sich schon lieblich und natürlich gemalt, wie es locker auf die Stirn herabfällt, neben dem Ohr in Flaum übergeht und dabei golden schimmert, noch anmutiger aber mit dem Kopfputz, den, wie die Dichter der geheimen Lieder singen, die Chariten schufen als die schönste und zur Leier passendste Zier. Ich glaube, dass Hermes, von Liebe ergriffen, Amphion beide Gaben schenkte. Auch der Mantel, den er trägt, ist vielleicht von Hermes; denn er bleibt nicht bei einer einzigen Farbe, sondern verändert sich und spielt durch das ganze Spektrum des Regenbogens. (4) Er aber sitzt auf einem Hügel, schlägt mit dem Fuß den Takt und rührt dazu mit seiner Rechten die Saiten. Auch die andere Hand zupft, und die Finger scheinen sich uns gerade entgegen zu strecken: ein Motiv, von dem ich gemeint hätte, es könne nur in der Plastik dargestellt werden. Sei's drum! (5) Was aber ist mit den Steinen? Alle laufen zum Klang des Liedes zusammen, sie lauschen, und so entsteht die Mauer, und ein Teil von ihr ist schon vollendet, ein Teil wächst empor, und einen dritten haben die Steine eben erst eingenom-

15 Vgl. Pausanius, Beschreibung Griechenlands, 9, 5, 8. 16 Homer,//., 4, 105.

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men. Voll Eifer und guten Willens sind die Steine und sie arbeiten für den Lohn der Musik; die Mauer aber ist siebentorig, und sieben Saiten hat die Leier.

Die Lektüre des Textes verändert auch den Kupferstich. Nun sehen wir plötzlich keine Ruine mehr, sondern eine Baustelle; die Mauer wächst, ganz von alleine. Das Bild bezieht sich auf einen bekannten Mythos: Amphion und Zethes sind Zwillingsbrüder, Söhne des Zeus und der Antiope; während Zethes sich als heldenhafter Krieger bewährt, widmet Amphion seine ganze Leidenschaft der Musik; als beide Brüder es unternehmen, ihre Vaterstadt Theben mit Mauern zu versehen, erweist sich überraschenderweise die Überlegenheit des Amphion: Er vollbringt das Wunder, allein durch die Macht seines Gesanges die Steine zu bewegen und sie zur Mauer zusammenzufügen. Antike Darstellungen dieser Episode sind nicht bekannt - vielleicht aus gutem Grund, wie wir noch sehen werden. Die einzige Parallele zum Amphion-Gemälde Philostrats ist wiederum literarischer Natur; sie findet sich im hellenistischen Argonauten-Epos des Apollonios Rhodios, wo der reich verzierte Mantel des Jason beschrieben wird: Auf ihm sei dargestellt, wie Amphion singt und die Steine seinem Ruf folgen (l, 735 f.). Aber lassen wir den Kem der Handlung einstweilen noch auf sich beruhen und beginnen mit drei Einzelheiten. Ein wahres Musterstück ist Philostrats Ekphrasis des Instruments. »Sieh dir die Leier genau an, ob sie so gemalt ist, wie sie wirklich ist!« In Bezug auf den Stich von 1614 wird man die Frage umstandslos verneinen; dort ist gar keine Leier, sondern eine zeitgenössische viola da braccio zu sehen: ein Instrument, das dafür bekannt war, einen professionellen Musiker zu erfordern; das Bild verweist damit auf Amphions musikalische Virtuosität, lässt aber Philostrats liebevolldetaillierte Beschreibung des Instruments unberücksichtigt und macht sie gewissermaßen gegenstandslos - obwohl in der selben Ausgabe der Kommentar ausführlich auf die Konstruktion der Leier zu sprechen kommt und dazu sogar eine (vergleichsweise korrekte) Abbildung vorlegt.17 Der Kommentar ist keineswegs überflüssig: Um Philostrats Beschreibung zu goutieren, sollte man mit der Bauweise einer Leier vertraut sein. Deren Resonanzkasten wird bekanntlich aus dem Panzer einer Schildkröte gefertigt, der an der Bauchseite mit Leder bespannt wird. Wunderbar ist Philostrats plastische Beschreibung vom Rücken des Panzers mit seiner dichten Schar aneinander stoßender, schwarzgelber Augen. Ein Satz weiter ist dann vom Steg die Rede, über den die Seiten gespannt sind; dieser erfüllt eine doppelte Funktion: Er dient als Abstandhalter zwischen Resonanzkasten und Saiten, so dass diese frei schwingen können; und er leitet deren Schwingungen an den Kasten weiter; daher befindet er sich selbstverständlich an der Bauchseite.18 17 Vigenere, Les Images, 83 f. 18 Maas/Snyder (1989), 94-98, v. a. 96; anders Schönberger (1968), 309 f.: »Unten ist die hohle Schildkrötenschale mit dem Rücken zum Betrachter zu denken [...] Die 7 Saiten sind etwa auf dem höchsten Rücken der Schale [...] befestigt und laufen von dort zu dem (etwa 10 cm entfernten?) Steg [...] Dann sind sie frei gespannt zwischen dem Steg und dem Querjoch oben.«

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Beschrieben wird also zunächst die Rücken- und dann, in unvermutetem Wechsel, die Bauchseite des Instruments. Das liest sich unauffällig und selbstverständlich: Es ergäbe sich daraus auch gar kein Problem, wenn sich die Beschreibung auf eine reale Leier als dreidimensionales Gebilde bezöge. Aber da es sich um die Beschreibung eines zweidimensionalen Bildes handelt, sollte der Leser stutzen: Auf einem Bild können unmöglich beide Seiten einer Leier dargestellt sein. Ein Maler, der Außen- und Innenseite vor Augen führen wollte, müsste notgedrungen zwei Instrumente malen (Abb. 2) . Wenn es aber nur eine Leier gibt, muss er sich entscheiden: Entweder er zeigt sie von außen oder von innen; entweder er malt den Rücken des Schildkrötenpanzers oder aber die Bauchseite mit dem Steg und den Saiten. Genau das gilt für den Redner natürlich nicht: warum sollte er sich an die Grenzen der Malerei halten? Also nimmt er sich die Freiheit und kombiniert zwei Ansichten, die in einem realen Bild nicht kompatibel wären. Man könnte darin zunächst eine bloße Sorglosigkeit vermuten; wir werden sehen, dass es vielmehr als ein bewusstes, virtuoses Spiel zu verstehen ist. »Was aber sagt Amphion?« Die Frage klingt, in Bezug auf eine gemalte Gestalt, die als solche notorisch sprachlos ist, irritierend: was soll er schon sagen? Also haben manche Übersetzer verbessernd eingegriffen und die Frage umformuliert: »Was aber tut Amphion?« Das geht dem Leser glatt über die Lippen, widerspricht aber dem Wortlaut des Textes (o de Amphion ti phesi) und verkennt vor allem die Pointe. Man muss Frage und Antwort in einem Zug lesen: betont die Antwort doch gerade, dass der gemalte Amphion gar nichts sagt. Das Bild führt lediglich vor Augen, was er tut - und nicht einmal das. Amphion nämlich musiziert. Aber gerade Amphions Musik, durch die sogar Steine in Bewegung versetzt werden, kann der Maler unmöglich vermitteln, weil ihm die Dimension der Töne versagt bleibt. Amphion singt - aber der Betrachter bekommt von dem ganzen Wenn ich das richtig verstehe, nimmt Schönberger hier an, der Steg sei nicht an der Bauchseite des Panzers, sondern oberhalb von dessen Rand an den Seitenarmen befestigt: was aus ikonographischen ebenso wie aus funktionalen Gründen mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. 19 Außenseite einer attischen Schale aus dem frühen fünften Jahrhundert: Berlin, Antikensammlung; Buitron-Oliver (1995), 78, Nr. 89; links sitzt der bärtige Lehrer, rechts der Schüler; an der Leier des Lehrers ist die Innenseite mit dem Steg, an der des Schülers die Außenseite der Schildkröte sichtbar; zwischen beiden hängt eine dritte Leier an der Wand, auf der ebenfalls deutlich der Steg zu sehen ist. Der Bildtypus lässt sich auch sonst belegen: Buitron-Oliver (1995), 78, Nr. 92 mit Taf. 60; vgl. auch Maas/Snyder (1989), 100-112, Abb. 17, 26, 28. Zwar kann eine Leier gelegentlich (selten) auch im Profil dargestellt werden, wobei dann sowohl ein Teil des Rückenpanzers wie auch die - verkürzte - Innenseite sichtbar werden: Maas/Snyder (1989), 110, Abb. 23; 138, Abb. 22. Auf dem von Philostrat beschriebenen Bild freilich kann das Instrument kaum im Profil dargestellt gewesen sein: sonst könnte nicht von der »ganzen Oberfläche« des Rückenpanzers die Rede sein; und man hätte auch nicht den Eindruck, die Finger der linken Hand, die sich hinter den Saiten befindet, würden sich dem Betrachter entgegenstrecken: die extreme Verkürzung der Finger impliziert eine unverkürzte Darstellung des Instruments, parallel zur Bildebene; vgl. etwa Maas/Snyder (1989), 76, Abb. 14.

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Gesang nur die Zähne im geöffneten Mund zu sehen (was Gelegenheit gibt zu einem reizenden Gleichklang zwischen odonton, der Zähne, und adonti, dem Singenden); alles andere muss er sich dazu denken: »Er besingt, vermute ich mal, die Erde«. Gebleckte Zähne und nichts als das? Ein bescheidener Kunstgenuss.

Abb. 2: Außenseite einer attischen Schale, um 480 v. Chr. Berlin, Antikensammlung F 2285.

Umso erstaunlicher ist dann Amphions Mantel. Der Stoff verharrt nicht in monotoner Einfarbigkeit, sondern spielt durch das ganze Spektrum des Regenbogens hindurch. Gemeint ist offenkundig nicht, dass der Mantel in verschiedenen Partien verschiedene Farbtöne aufweise, sondern dass er sich insgesamt verändert und von einer Farbe zur nächsten changiert. Kein Wunder, denn Amphion scheint diesen wunderbaren Mantel - ebenso wie die Leier und den Kopfputz - von Hermes geschenkt bekommen zu haben. Aber wie soll der Maler einen irisierenden Mantel vor Augen führen, der in jedem Augenblick in einer neuen Farbe erstrahlt? In allen drei Details verfolgt Philostrat dieselbe Strategie: Er gibt seiner Beschreibung eine Wendung, bei der kein Maler ihm zu folgen vermag. Dasselbe gilt auch und vor allem für das eigentliche Thema des Bildes. Gleich am Anfang ist die Rede von den Steinen, die Amphions Gesang hören (das Lied, das der Betrachter des Bildes gerne hören würde, aber eben nicht zu hören bekommt!) und zusammen laufen: das sei im Bild zu sehen. Am Ende des Textes wird das Motiv noch einmal ausgeführt: Indem die Steine zusammenlaufen und der Musik

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lauschen, entsteht aus ihnen die Mauer. Aber ist ein solches Motiv überhaupt in einem Gemälde darstellbar? Es liegt nahe, Bilder von Orpheus zu vergleichen, der mit seinem Leierspiel die Tiere der Wildnis anlockt: Es handelt sich um eine Ikonographie, die gerade in der römischen Kaiserzeit überaus beliebt war.20 Sie ist von erfreulicher Transparenz. Die wilden Tiere, die normalerweise die Gegenwart des Menschen meiden, sind scharenweise gekommen; sie können durch nichts anderes angelockt worden sein als durch das, was im Fokus ihrer (und des Betrachters) Aufmerksamkeit steht: den musizierenden Orpheus. Die von ihm ausgehende Wirkung ist von solcher Gewalt, dass sie alle tierischen Instinkte außer Kraft setzt: Durch die Klänge verzaubert lagern Raub- und Beutetiere in unnatürlicher Friedfertigkeit nebeneinander. Die musikalische Leistung des Orpheus wird durch die des Amphion noch einmal überboten: werden hier doch nicht wilde Tiere, sondern leblose Steine angelockt - um den Preis freilich, dass diese Steigerung durch ein Bild kaum noch zu vermitteln ist. Man stelle sich Amphion vor, der inmitten einer steinigen Landschaft einsam vor sich hin spielt: Welcher Betrachter wird auf den Gedanken kommen, dass die Steine nicht immer schon dagelegen, sonder sich eben erst eingefunden haben und nun andächtig zuhören? Die Aporie, die Philostrat dem Maler beschert, liegt auf der Hand. Der Maler soll ganz gewöhnliche Steine malen: Steine wie die, aus denen eben eine Mauer gefügt ist; gleichzeitig aber muss er dem Betrachter zu verstehen geben, dass diese Steine einem Gesang lauschen und herbei laufen (suntheousi). Laufen aber könnte ein Stein nur dann, wenn er Gliedmaßen hätte; als reiner Quader wird er unweigerlich den Eindruck einer unbewegten Masse machen, schwer und lastend. Dem Maler ist es kaum möglich, Bewegung in die Steine zu bringen. Vom Zauber, den Amphions Musik bewirkt, kann er nicht die geringste Spur vor Augen führen. Der Kupferstecher von 1614 hat das Problem deutlich gesehen und einige der Steine in Schiefläge versetzt, als ob sie im Begriff wären, die Mauer hinauf zu kriechen: Aber das wird nur derjenige verstehen, der den Text gelesen hat. Ohne den Text käme keiner auf die Idee, dass diese Steine sich von selbst bewegen; wenn man die instabile Lage überhaupt mit einer Bewegung in Zusammenhang bringt, dann sieht man sie selbstverständlich eher herabgleiten als empor klettern: man denkt an Verfall, nicht an Aufbau. Philostrat hat mit sicherem, hämischen Griff ein Thema ausgesucht, das für die Malerei eine kaum lösbare Herausforderung darstellt. Zwar wird in der erweiterten Neuauflage der Iconologia des Cesare Ripa (1603) das Thema ausdrücklich empfohlen, wenn man die Macht der Beredsamkeit vor Augen führen wolle: Per la figura d'eloquenza dipingeremo Anfione, il quäle con il suono della cittara & con il canto si veda ehe tiro a se molti sassi, ehe saranno sparsi in diversi luoghi. Cio 20 Lexicon Iconographicum Mylhologiae Classicae (1994), Bd. 7, 90^96 s. v. Orpheus Nr. 89-163. Vgl. Schönberger (1968), 312: »Orpheus, die Tiere bezaubernd, ist ein häufiger Gegenstand der Kunst; so wird auch Amphion, die Steine bezwingend, einmal gemalt worden sein«; das Problem, das Schönberger überhaupt nicht sieht, verbirgt sich genau im Wörtchen »so«.

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significa, ehe la dolce armonia del parlare dell'Eloquenza persuade, & tira ä se gl'ignoranti, rozzi, & duri huomini, ehe quä e la sparsi dimorino, & ehe insieme convengono, & civilmente vivino [...].21

Ripa hat sich an dieser Stelle direkt von Philostrats Amphion-Text anregen lassen: Von sich aus hinzugefugt hat er die allegorische Deutung, die in nuce eine Kulturentstehungslehre aus dem Geist der Beredsamkeit andeutet. Ripa war ein schnell schreibender Universalgelehrter, der unbegrenzte Materialmengen durch seinen ikonologischen Fleischwolf zu drehen verstand; von den Bildern erwartete er nicht mehr als eine Veranschaulichung sprachlich vorgegebener Bedeutungen; die mediale Eigengesetzlichkeit von Bildern lag völlig außerhalb seines Horizontes. So hat er das spezifische Darstellungsproblem des Amphion-Motivs gar nicht erkannt: Den Steinen, die - wie er schreibt an verschiedenen Orten herumliegen, kann man unmöglich ansehen, dass Amphion sie durch die Macht seiner Musik herbeigelockt hat. Die Bild-Ferne von Ripas Traktat hat dessen Wirksamkeit bekanntlich in keiner Weise beeinträchtigt. In Bezug auf die AmphionEpisode ist die Reaktion der Maler allerdings äußerst zurückhaltend gewesen: Unter Ripas zahllosen Anregungen ist gerade diese ungehört verhallt - nicht von ungefähr. Allerdings gibt es eine sehr prominente Ausnahme. 1724 erhielt der junge Giovan Battista Tiepolo den Auftrag für ein Deckengemälde im Haus eines venezianischen Anwalts, Tommaso Sandi (Abb. 3).22 Beim Beruf des Auftraggebers lag es nahe, an ein Lob der Beredsamkeit zu denken; der Auftraggeber selbst dürfte maßgeblich an der Wahl der Themen beteiligt gewesen sein. Für die Decke entschied man sich für vier mythologische Episoden und griff bei einer davon auf Ripas alten Vorschlag zurück: Amphion beim Bau der thebanischen Mauer. Die damit verbundene Darstellungsaporie löste Tiepolo auf Anhieb mit einem Geniestreich. An einer Längsseite der Decke sieht der Betrachter in extremer Unteransicht eine riesige Quadermauer, die sich über die ganze Länge des Raumes erstreckt; in ihrem strahlenden Weiß ist sie als Neubau, und nicht als Ruine charakterisiert; in der Mitte ist sie von Zinnen bekrönt, zu den Seiten hin aber fehlen die obersten Steinschichten. Die Quader liegen, anders als auf dem Stich von 1614, nicht am Boden, sondern fliegen scharenweise durch die Luft. Vor der Mauer steht Amphion in dominierender Stellung, wie auf einer Kommandobrücke; er greift in die Saiten, hält aber den Blick fest auf die fliegenden Steine gerichtet, als ob er deren Laufbahn zu lenken hätte. Der Betrachter könnte sich allenfalls fragen, in welche Richtung die Steine fliegen: auf die Mauer zu oder - explosionsartig - von ihr weg? Geht der Bau seiner Vollendung entgegen oder löst er sich umgekehrt gerade wieder auf? Für die erste Alternative spricht die Reaktion der Zuschauer: Sie blicken staunend, aber ohne Schrecken, und machen sich gegenseitig auf das Schauspiel aufmerksam. Von diesen Steinen, die sich ganz von alleine und gegen alle Gesetze der Schwerkraft durch die Luft 21 Ripa, Iconologia, 129. 22 Pigler(1956), Bd. 2, 22, 283; Knox (1993), 135-142; Pilo (1997), 98-101, Abb. 99-104.

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bewegen, geht offensichtlich keine Bedrohung aus: Es ist ein freundlicher, kein zerstörerischer Zauber hier im Spiel, und dessen Ursache kann nur in Amphions Leierspiel liegen. Die Aufhebung der Schwerkraft ist eine Idee von geradezu bestürzender malerischer Intelligenz: Tiepolo macht das musikalische Wunder sichtbar, indem er die Steine fliegen lässt. Ob er den Philostrat-Text gekannt hat, ist ungewiss23. Jedenfalls ist er mit seiner Bildlösung ganz eigene Wege gegangen. So hat er eine Wette gewonnen, von deren Existenz er vermutlich gar nichts wusste. Immerhin: Anderthalb Jahrtausende lang hatte Philostrat recht behalten mit seiner These, dass die Szene, die er beschrieben hatte, nicht zu malen sei. Philostrats Amphion-Bild gehört also zur dritten Kategorie: Es ist insofern ein unmögliches Bild, als es sich zwar beschreiben, aber eben nicht malen lässt - bis zum Beweis des Gegenteils, wie er jedoch erst von Tiepolo geführt worden ist. Das gilt keineswegs für alle philostratischen Bildbeschreibungen. In vielen Fällen malt der Text genüsslich Bilder aus, die durchaus im Rahmen dessen liegen, was auch gemalt werden könnte: Hier wird der Wettbewerb zwischen Rhetorik und Malerei, zwischen Text und Bild (Philostrat würde beides als graphe bezeichnen) so geführt, dass der Text nach einem ähnlichen Ausmaß an Anschaulichkeit strebt wie das gemalte Bild, ohne das Bild damit aber auch gleich übertreffen zu wollen. Oft genug jedoch scheint es Philostrat darum zu gehen, mit einer Bildbeschreibung nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch und vor allem die Grenzen der Malerei aufzuzeigen: Das geschieht mit hinterlistiger Virtuosität und mitunter hinreißendem Witz - wenn man sich Sinn und Strategie der Argumentation einmal klar gemacht hat. Ein besonders schönes Beispiel ist das Bild, das die Kindheit Pindars zum Thema hat.

23 Dafür plädiert Knox (1993), 135, 140.

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Giovanni Battista Tiepolo, Triumph der Beredsamkeit; Venedig, Palazzo Sandi, 1624, Deckenfresko.

II, 12: Pindar (1) Du wunderst dich, denke ich, über die Bienen, die mit so peinlicher Genauigkeit gemalt sind: der Maler hat sie ganz deutlich und bunt wiedergegeben, mit ihren Rüsselchen, ihren Beinchen und Flügeln und der Farbe des Pelzchens, alles so wie es in der Natur ist. Warum nun sind die klugen Tierchen nicht in ihren Bienenstöcken? Was suchen sie in der Stadt? Sie schwärmen zur Tür vom Haus des Da'iphantos, denn Pindar ist, wie du siehst, schon geboren; zur Bildung des Kindleins möchten die Bienen beitragen, auf dass es ganz von Harmonie und Musik erfüllt sei: daran arbeiten sie. (2) Das Bübchen nämlich liegt auf Lorbeer und Myrtenzweigen, weil sein Vater ahnte, es sei ihm ein heiliges Kind geboren: denn bei der Geburt dröhnten Zimbeln durch das ganze Haus, und man hörte die Trommeln der Rhea. Man sagt, dass auch die Nymphen ihm zu Ehren einen Reigen veranstaltet hätten, und Pan soll hoch gesprungen sein; auch sagt man, er habe später, als Pindar begonnen habe zu dichten, das Springen wieder gelassen und sich auf das Singen von Pindars Liedern verlegt. (3) Eine Statue der Rhea aber, kunstvoll gefertigt, ist hier vor der Haustür aufgestellt: ich glaube wirklich eine Statue aus Marmor zu sehen, denn die Malerei ist hier ganz ausgehärtet und poliert. Ins Bild gebracht sind auch die Nymphen, feucht von Tau und wie aus Quellen gestiegen, und Pan tanzt nach irgendeinem Takt; seine Erscheinung ist heiter, selbst an der Nase zeigt er keine Spur von Zorn. (4) Drinnen sind die Bienen eifrig um das Kind beschäftigt, sie beträufeln es mit Honig und ziehen ihre Stacheln ein, aus Sorge, sie könnten es stechen. Wahrscheinlich kommen sie vom Hymettos und von jener >schimmernden, viel besungenem Stadt: denn auch diese Worte haben sie, glaube ich, dem Pindar eingegeben.

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Die Beschreibung setzt einiges an Wissen voraus. Da'iphantos ist als Name von Pindars Vater überliefert24, und die Szene spielt in bzw. vor dessen Haus, in Theben. Pausanias hat, als er die Stadt besuchte, in der Nähe eines alten Gebäudes, in dem einst Pindar gewohnt haben sollte, ein Heiligtum der Rhea gesehen: Pindar selbst, so hieß es, hätte hier einst eine Statue der Göttin geweiht.25 Dass Pan höchstpersönlich einen Paian von Pindar gesungen haben soll, wird von Plutarch und Aelius Aristides berichtet.26 Und schließlich ist auch das auf Athen bezogene Wort von der »schimmernden, viel besungenen Stadt« ein treues Pindar-Zitat.27 Man sieht, was für entlegene Gelehrsamkeitssplitter Philostrat in seinen Text eingebaut hat. Aus der Tradition bezogen hat er indessen auch das zentrale Motiv der engen Verbindung Pindars zu den Bienen. So berichtet etwa Aelian, dass Pindar einst als Säugling von Bienen genährt worden sei, die ihn statt mit Milch /S mit Honig fütterten. Die Geschichte ist eine von vielen Variationen über ein einfaches Thema: die klangliche Ähnlichkeit zwischen meli (Honig) und melissa (Biene) einerseits und melos (Lied) und melizo (singen) andererseits; Lieder sind, nach diesem alten Wortspiel, ebenso süß wie Honig; und indem die Bienen Pindars Lippen mit Honig beträufeln, begründen sie seine Begabung als Sänger. Auf die Bienen werden wir gleich noch zu sprechen kommen. Aber beginnen wir mit einer Einzelheit, die unmittelbar an die vorhergehende Bildbeschreibung anschließt. Wieder geht es um Musik aber die Schraube wird noch eine Windung weiter gedreht. In diesem zweiten Bild ist die Musik nicht mehr gegenwärtig, sondern vergangen; und sie war, auch schon im Augenblick, wo sie erklang (nämlich bei der Geburt des Kindes) auf rätselhafte Weise auf ihren bloßen Klang reduziert. Damals »dröhnten Zimbeln durch das ganze Haus, und man hörte die Trommeln der Rhea«; man hörte, aber man sah nichts; ein Zeichen der Götter, also: und der fromme Da'iphantos hatte daraus auch ganz richtig geschlossen, dass ihm ein sehr ungewöhnliches, von den Göttern geliebtes Kind geboren worden war. Das alles ist mit großer Sophia erdacht - und sprengt selbstverständlich alle Möglichkeiten malerischer Mimesis; der Maler wird gar nicht anders können, als sein Unvermögen einzugestehen. Auf eine zweite Aporie der Mimesis verweist die Statue der Rhea draußen vor der Tür. Der Betrachter preist ihren täuschenden Charakter: Er meint, kein Werk der Malerei, sondern wirklich eine Statue aus Marmor zu sehen. Wie hat der Maler diesen Effekt erreicht? Nun, Marmor ist hart und poliert; und so hat der Maler an dieser Stelle die Farben ausgetrocknet, verhärtet und poliert. Indem Philostrat das Material des Malers und das Material des dargestellten Gegenstandes gleichschaltet, treibt er das Gebot der Ähnlichkeit, wie es jeder Form von 24 25 26 27 28

Paulys Realencyklopädie (1950), Bd. 20, 1609 (Schwenn). Pausanias, Beschreibung Griechenlands, 9, 25, 3. Plutarch, mor. 1103a; Plutarch, Numa 4, 6; Aelius Aristides, or. 42, 12. Fr. 76 (Maehler). Aelianus, var. hist. 12, 45.

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Mimesis zugrunde liegt, mit einem Zug auf die Spitze und ad absurdum. Eine Mimesis, die sich nur auf die Wiedergabe der Farbe beschränkt, ist armselig und kunstlos. Eine anspruchsvollere Mimesis müsste viel weiter gehen: sie sollte im Stande sein, eben auch die Härte des Materials und dessen glatte Oberfläche wiederzugeben. Der Leser kann es sich kaum verwehren, den Gedanken weiter zu spinnen: die höchste Form der Mimesis müsste sämtliche sinnliche Qualitäten wiederzugeben vermögen - auch Klänge, Düfte und Geschmacksnuancen sollten zu ihrem Repertoire gehören. Aber vielleicht ist das doch zu viel verlangt. Vielleicht kann man die Ansprüche etwas herunterschrauben und dem Maler eine ganz einfache Aufgabe stellen: eine Biene zu malen, zum Beispiel, nur eine Biene: freilich aber dann eine Biene, mit allem was dazu gehört. Und genau das beschreibt Philostrat: Liebevoll zählt er Rüsselchen, Beinchen und Pelzchen auf; die winzigen Honigtröpfchen werden ebenso angeführt wie die eingezogenen Stachel - obwohl man diese im eingezogenen Zustand naturgemäß ja kaum sehen kann. Aber schenken wir uns den eingezogenen Stachel und beschränken uns auf den Rest: Lässt sich in der antiken Ikonographie eine solche Bienendarstellungen belegen? Die Beispiele sind spärlich und stammen alle aus kleinformatigen Gattungen wie Schmuck, Münzprägung und Glyptik. Anführen ließen sich etwa ein goldener Schmuckanhänger in Bienenform aus dem fünften Jahrhundert v. Chr., eine Biene als Münzbild ephesischer Drachmen, ebenfalls aus dem fünften Jahrhundert, sowie Bienen auf Gemmen der frühen römischen Kaiserzeit29. In allen Fällen sind die Bienen ungefähr in Lebensgröße wiedergegeben: Schon aus technischen Gründen beschränken sich die Bilder auf Merkmale, die die Bienen als solche erkennbar machen, ohne darüber hinaus auf miniaturistische Details wie Rüssel und Pelz einzugehen. Für die antike Malerei ist das Motiv hingegen nicht bezeugt30. Wenn das zutrifft, hätte Philostrat auch in diesem Fall ein unbekanntes Sujet eingeführt und den Malern als Herausforderung vorgelegt. Erst in der frühen Neuzeit, etwa seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, avancieren Insekten - unter ihnen vor allem die allegorisch dankbare Fliege - zu einem wichtigen Motiv der Malerei31. So findet man am Fuß des Kreuzes Christi gelegentlich einen menschlichen Schädel, auf dem eine Fliege sitzt. Um 1480 hat 29 Die Biene taucht als Motiv gelegentlich als Anhänger für Goldschmuck, als Münzbild und in der Glyptik auf: vgl. Zürich (1974), Nr. 376 (Goldanhänger, Fünftes Jahrhundert) und Nr. 414 (Drachme Ephesos, Mitte Fünftes Jahrhundert); Zwierlein-Diehl (1986), Nr. 679 (Gemme, frühe Kaiserzeit). 30 Die einzige Parallele liefert Philostrat selbst: Eikones I, 23, 2: »Weil das Bild die Natur wahrheitsgetreu wiederzugeben sucht, läßt es auch etwas Tau von den Blumen tropfen, auf die sich sogar eine Biene setzt - ich weiß nicht, ob sie sich von der Malerei hat täuschen lassen oder ob wir getäuscht sind, indem wir sie für echt halten«. Philostrat greift hier die berühmte Anekdote auf, wonach Zeuxis Trauben malt; Sperlinge fliegen herbei und versuchen, an den Trauben zu picken: Plinius, nat. 35, 65. 31 Panofsky (1953), 310,488 f.; Pigler(1964), 47-64; Arasse (1992), 79-85.

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Giovanni Santi ein Andachtsbild des Auferstandenen gemalt32: Christus, von zwei Engeln gestützt, sitzt auf dem Rand des Sarkophages, in dem er bestattet worden war, und präsentiert dem Betrachter seine Wunden; über seine Brust krabbelt eine Fliege: ein denkbar drastisches Zeichen dafür, dass der Auferstehung ein wirklicher Tod vorausgegangen ist, und dass auch dem göttlichen Leib gerade noch ein Hauch menschlicher Verwesung anhaftet.33 Gelegentlich gesellt sich eine Fliege sogar der Muttergottes mit dem Kind bei: wiederum wohl als Verweis auf dessen zukünftigen Tod. Aber bei aller Detailtreue scheinen diese christlichen Fliegen an die virtuellen Bienen des Philostrat doch nicht ganz heranzureichen. Die früheste Darstellung, die damit wirklich konkurrieren kann, datiert aus dem Jahr 1625. Es handelt sich um einen Kupferstich von ungewöhnlich großem Format, den die Mitglieder der Accademia dei Lincei aus Anlass des Heiligen Jahres dem zwei Jahre zuvor gewählten Papst Urban VIII Barberini gewidmet haben.34 Das Geschenk war passend ausgedacht, denn die Barberini führten drei heraldisch stilisierte Bienen in ihrem Wappen, und drei Bienen zeigt auch der als melissographia betitelte Stich. Hier erscheinen die Bienen allerdings in ungefähr zwanzigfacher Vergrößerung, in Aufsicht, Unteransicht und Profil, bis in die winzigsten Einzelheiten perfekt wiedergegeben. Beides - Vergrößerung und Genauigkeit - kommt nicht von ungefähr. Auf dem Stich selbst wird stolz festgehalten, dass die Darstellung auf Beobachtungen mit dem Mikroskop zurückgeht: »Franciscus Stellutius Lynceus microscopio observabat«. Das Gerät war kurz zuvor entwickelt worden, gleichzeitig mit dem Fernrohr: Galileo Galilei, seit 1611 selbst Mitglied der Accademia dei Lincei, hatte es in Rom mit großem Erfolg bekannt gemacht. Indem das neu erfundene Instrument - so heißt es auf der ornamentalen Papierrolle im unteren Teil des Stiches - im Kleinsten die größten Wunder der Schöpfung offenbart, vertieft es durch das Auge den Glauben: »maxima dum tereti surgunt miracula vitro, maioremque oculus discit habere fidem«. Der Einklang zwischen Frömmigkeit und moderner Wissenschaft klingt perfekt: Wenige Jahre später sollte er sich als prekär erweisen; die kirchlichen Behörden klagten Galileo der Ketzerei an, und die Lincei stellten ihre Aktivitäten ein. Aus der melissographia von 1625 sollte man keine falschen Folgerungen ziehen. Vor allem wird man nicht behaupten wollen, dass eine genaue Beschreibung einer Biene nicht auch schon vor der Erfindung des Mikroskops möglich gewesen wäre: Der Philostrat-Text selbst ist ja ein evidenter Beweis des Gegenteils. Dennoch dürfte es kein Zufall sein, dass die erste vollkommen exakte Darstellung 32

Budapest, Szepmüveszeti Muzeum: Pigler (1964), 50, Nr. 14, Abb. 45; Arasse (1992), 80, Abb. 75. 33 Man sollte das Motiv für unmissverständlich halten; vgl. aber Pigler (1964), 56 f.: »Sur la >Pietä< de Giovanni Santi le Christ apparait dans la beaute parfaite de la vie, assis par sa seule force, les yeux ouverts«; daraus schließt Pigler, dass »dans ces representations la mouche est presente non en rapport avec le theme, non en cherchant la nourriture et non comme cortege de la pourriture et de la decomposition«. 34 Freedberg (1998), 272-296; Freedberg (2002), 151-163.

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einer Biene, die sogar Philostrats Beschreibung in den Schatten stellt, erst nach der Erfindung des Mikroskops erfolgt ist. Vorher war dieses Ausmaß an nahsichtiger Genauigkeit einfach kein Thema, und es gab keinen Grund, weshalb ein Maler oder Zeichner sich darum hätte bemühen sollen. Selbst das Interesse des Philostrat zielt ja an sich nicht direkt auf Rüsselchen, Beinchen und Pelzchen der Biene: Was ihn an dem Motiv reizt, ist lediglich der Umstand, dass er damit in einen Bereich vorstößt, wohin kein Maler ihm (wie er meint) zu folgen vermag. Aber der Vergleich mit der neuzeitlichen Fliegen- und Bienenikonographie ist noch in einem weiteren Punkt aufschlussreich. Nicht erst die Barberini-Bienen als Wunder der Natur, sondern auch schon die Fliegen als christliches memento mori werden dem Betrachter aus unmittelbarer Nähe vorgeführt: Sie befinden sich immer im Vordergrund der Darstellung. Das könnte man für selbstverständlich halten - wenn bei dem von Philostrat beschriebenen Bild nicht genau das Gegenteil der Fall wäre. Im Text wird einerseits gesagt, dass die Bienen zur Tür des Hauses schwärmen (das der Betrachter demnach von außen sieht), andererseits, dass sie drinnen (eiso) eifrig um das Kind beschäftigt sind, es mit Honig beträufeln und dabei ihren Stachel einziehen. Um das Darstellungsproblem zu konkretisieren lohnt sich ein Blick auf neuzeitliche Darstellungen einer Episode aus der Kindheit des heiligen Ambrosius35. Diesem, so berichtet die Sage, sei ähnliches wie dem kleinen Pindar widerfahren - freilich unter leicht veränderten Vorzeichen. Der kleine Ambrosius schlief einst in seiner Wiege, als plötzlich ein Bienenschwarm erschien und sich auf ihm niederließ, so dass die Bienen in seinem Mund ein- und ausflogen; als der Schwärm wieder davon flog, war das Kindlein unverletzt; das göttliche Omen wies voraus auf die späteren, wunderbaren Reden und Schriften des Ambrosius, die sich als die reinsten Honigwaben zur Erbauung aller Gläubigen erweisen sollten. Gegenüber der Pindar-Episode hat das Bienenwunder des Ambrosius den Vorteil, dass es von Malern auch wirklich dargestellt worden ist: So etwa in den späten 1420er Jahren von Masolino und Masaccio in einem Freskenzyklus für eine Kapelle in San Clemente in Rom36 sowie, etwa zwanzig Jahre später, von Filippo Lippi in einem Predellabild in Berlin37. Allerdings sind weder auf dem Fresko noch auf der Predella heute irgendwelche Bienen mehr zu sehen. Bei dem Fresko liegt das am schlechten Erhaltungszustand; bei der Predella hingegen wurden die Bienen anscheinend durch den gezielten Eingriff eines Restaurators entfernt, der sie wohl für winzige Flecken gehalten hatte. Das Missverständnis ist nachvollziehbar. Wenn ein Maler mehrere Figuren um die Wiege des Ambrosius-Kindes herum gruppiert in einem Raum, der in seiner architektonischen Gestalt als Ganzes vor 35 Paulinus von Mailand, Vita Ambrosii, 3. Dazu Opelt (1968), 38^44; die Episode findet sich auch in der Legenda aurea des Jacobus da Voragine. 36 Joannides (1993), 202-204, Taf. 147 f.; 399-413, Cat. 22. 37 Gemäldegalerie der Staatlichen Museen, Berlin, Inv. 95 B. Dazu Schottmüller (1907), 34-38; Ruda (1993), 174-177, Taf. 99; 427, Kat. 37.

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Augen geführt wird, dann werden die Bienen unvermeidlicherweise sehr klein ausfallen; und je kleiner sie geraten, desto eher kann es geschehen, dass sie als solche gar nicht mehr erkannt werden. Mit diesem Problem hat auch der Autor der Pindar-Illustration aus der Eikones-Ausgabe von 1614 zu kämpfen gehabt (Abb. 4). Im Vordergrund sehen wir rechts zwei weibliche Gestalten mit einem Triangel und einer Handtrommel: ein gutgemeinter, aber natürlich hoffnungsloser Versuch, die geisterhaften Klänge zu veranschaulichen, die bei Pindars Geburt zu hören gewesen waren. Links davon, vom Betrachter etwas weiter entfernt, tanzen Pan und die Nymphen. Genau in der Mitte des Bildes steht das runde Haus des Da'iphantos, vor dessen Tür (und nicht »drinnen«) das Büblein Pindar liegt. Im Raum zwischen Kind und Tür befinden sich vier winzige Tierchen: Die symmetrische, wappenartige Komposition der mittleren Bildpartie hebt sie - ihrer Kleinheit zum Trotz - deutlich hervor und macht sie unübersehbar. Folienartig hinterfangen werden sie von der senkrechten Wand einer kleinen Treppe; dadurch wird dem Eindruck entgegengewirkt, die vier Tierchen könnten am Boden liegen: Sie sind also schwebend zu denken, und bei näherem Zusehen erkennt man auch Flügel. Über ihre Artzugehörigkeit allerdings erlaubt das Bild keine sinnvolle Aussage - geschweige denn, dass Rüsselchen oder Pelzchen zu sehen wären. Wieder nimmt Philostrats Text sich Freiheiten, die dem Bild verwehrt sind. Das statische Bild kann nicht zwischen Fern- und Nahsicht wechseln: Es ist auf eine Einstellung festgelegt, Vordergrund bleibt Vordergrund und Hintergrund Hintergrund. Das gilt für den Text natürlich nicht. Die Bienen schwärmen einerseits zur Tür des Hauses, andererseits befinden sie sich drinnen; handelt es sich um verschiedene Momente, oder um verschiedene Teile des Schwarmes? Jedenfalls führt Philostrat in beiden Fällen das imaginäre Auge des Lesers beliebig nahe an die Bienen heran: am Anfang des Textes und dann noch einmal am Schluss. Dazwischen weitet sich die Perspektive: Wir betrachten Rheas Statue, den Reigen der Nymphen und Pan (wobei bei Pan der Blick plötzlich wieder auf dessen Nase bzw., noch spezifischer, auf die Nasenflügel gerichtet wird: deren Blähung galt in der Antike als ein mimisches Zeichen von Wut; aber wie nah muss der Blick an Pans Gesicht herangeführt werden, um feststellen zu können, ob die Nasenflügel gebläht oder entspannt sind?). Dieser Wechsel von der Detaileinstellung zur Totalen und dann wieder zurück zum Detail findet eine unmittelbare Entsprechung in der Filmtechnik. Mit der Annäherung an den gefilmten Gegenstand durch wechselnde Einstellungen hat man bereits im frühen 20. Jahrhundert experimentiert; bald hat man dann die Kamera auf einen fahrbaren Untersatz montiert und dadurch die Möglichkeit gewonnen, die Entfernung zum Objekt fließend zu verändern; ähnliche Effekte wurden schließlich - seit Erfindung des Objektivs mit variabler Brennweite in den 50er Jahren - durch den Zoom er-

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Abb. 4: Philostrate, Les images ou tableaux de platte-peinture. Traduction et commentaire de Blaise de Vigenere, Paris 1578, illustrierte Ausgabe von 1614, Kupferstich zu Abschnitt II, 12.

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reicht . Auf der sprachlichen Ebene erfordert der Wechsel von Fern- zu Nahsicht freilich keine technischen Erfindungen: Er entspricht den selbstverständlichen und immer schon praktizierten Möglichkeiten sprachlicher Beschreibung. Ästhetisch auffällig wird dieser Wechsel bei Philostrat lediglich dadurch, dass er ihn auf das - angeblich reale, gemalte - Bild überträgt und als eine Möglichkeit der Malerei ausgibt: um e contrario zu betonen, dass die Malerei eben dazu gerade nicht im Stande ist. Wenn Philostrat die Malerei immer wieder mit Aufgaben konfrontiert, die sie - seiner Meinung nach - nicht zu lösen vermag, so setzt das eine bestimmte Theorie voraus. Der Redner weiß - oder zumindest: er glaubt zu wissen - was die Malerei vermag, und vor allem: was sie nicht vermag. Seinen Bildbeschreibungen ist auch und nicht zuletzt eine Theorie über die mediale Bedingtheit und Begrenztheit der Malerei eingeschrieben. Das Feld, in dem der Maler seine Kunst entfalten kann, ist einigermaßen eng. Von der ganzen sinnlichen Vielfalt, die uns umgibt und die der Redner immerhin durch Worte zu beschwören vermag, kann die Malerei lediglich das Sichtbare wiedergeben und auch davon immer nur eine einzige Ansicht festhalten; selbst den banalsten Gegenstand kann sie nicht in seiner Gesamtheit erfassen. Jede Darstellung einer Handlung als einer zeitlichen Folge liegt ebenfalls außerhalb ihrer Möglichkeiten: Sie kann keine Bewegung vor Augen führen, geschweige denn, dass sie eine Geschichte zu erzählen vermöchte. Das allzu Kleine entgeht ihr (ebenso wie übrigens das allzu Große). Und schließlich bleibt sie auf die Einstellung festgelegt, die sie einmal gewählt hat, kann sich ihrem Gegenstand weder annähern, noch sich von ihm entfernen. Lassen wir die Sophia ganz aus dem Spiel und beschränken uns einzig und allein auf den Aspekt der Mimesis: Die Mittel, die der Malerei zu Gebote stehen, erlauben nicht mehr als eine mangelhafte, begrenzte und starre Nachahmung der Welt, die allzu oft gerade auf das Entscheidende verzichten muss. Man könnte diese und andere Thesen aus dem Text heraus präparieren und sie in Form eines Traktates bringen: Das Resultat wäre eine Art Proto-Laokoon - ein lehrreiches Werk, in dem allerdings vom eigentlichen Reiz der Eikones nichts mehr zu finden wäre. Ganz im Gegensatz zu Lessing ist Philostrat alles andere als ein Verächter der bildenden Kunst gewesen: In den Eikones erweist er sich als ein hervorragender Kenner und hochgradig sensibler Genießer von Bildwerken, der sich manche Details geradezu feinschmeckerisch auf der Zunge zergehen lässt. Wenn man einen kompetenten Kunstkenner der späten Kaiserzeit kennen lernen will: hier ist er zu greifen. Es gibt keinen zweiten Text aus der antiken Literatur, der mit solcher Unmittelbarkeit Kennerschaft und Kunstgenuss verkörpert. Das ändert freilich nichts daran, dass Philostrat zwischen der Malerei, die er kennt und genießt, und der Rhetorik, die er selbst praktiziert, einen Abgrund sieht: Die haushohe Überlegenheit seiner eigenen Kunst steht für ihn völlig außer Frage. Aber sollte

38 Macgowan (1965), 400-403, 432-442; Salt (1983), 63, 78, 86 f., 153 f., 166 f., 227 f., 314, 334.

Die unmöglichen Bilder des Philostrat

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für ein Überlegenheitsbewusstsein, dem ein solcher Text entsprungen ist, am jüngsten Tag nicht doch ein gutes Wort eingelegt werden?

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1,4: Abb. 2: Abb. 3:

Filostrato el Viejo: Imägenes etc., ed. Luis Alberto de Cuenca/Miguel Angel Elvira, Madrid 1993, Taf. I 10; II 12. SMBPK, Antikensammlung, F 2285, Photo Ute Jung. © Cameraphoto Arte.

Von der Wahrnehmung zur Beschreibung. Johann Fichards Italia (1536/1537)1 ESTHER SOPHIA SÜNDERHAUF

Abb. 1: Medaille mit dem Porträt von Johann Fichard von Hans Bolsterer, 1547, Bronze, Durchmesser 4,9 cm, Frankfurt am Main, Münzsammlung des Historischen Museums, Inv.-Nr. JF 220.

Johann Fichard gehörte zu den herausragenden deutschen Juristen des 16. Jahrhunderts (Abb. 1). Als Stadtadvokat und Gesandter von Frankfurt am Main prägte er über vierzig Jahre nicht nur das politische Leben seiner Heimatstadt, sondern stand auch in deren geistig-kulturellem Mittelpunkt. Fichards schulische und universitäre Ausbildung vollzog sich in einem außergewöhnlichen Klima humanistischer Kultur. Der Grundstein seines antiquarischen Interesses wurde in der Lateinschule von Jacob Micyllus (1503-1558) gelegt, einem Schüler Philipp Melanchthons.2 Das Studium der Rechte absolvierte er an den Universitäten von Heidelberg, Freiburg und Basel. Seine Lehrer und

1 2

Für die Übersetzung der lateinischen Zitate danke ich vielmals Doris Esch. Zu Micyllus siehe Classen (1859) und Kühlmann (1997).

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Förderer waren die damals namhaftesten Vertreter des südwestdeutschen und baslerischen Humanismus: Ulrich Zasius, Simon Gryneus, Bonifacius Amerbach und Erasmus von Rotterdam.3 1536, im Alter von 24 Jahren, unternahm Fichard eine Italienreise, die ihn in acht Monaten in mehr als einhundert Orte zwischen dem Brenner und Neapel führte. Weitere acht Monate hörte er, obwohl bereits promoviert, Vorlesungen über Recht und Rhetorik in Padua, wiederum bei damals berühmten italienischen Gelehrten. Teils während, teils nach seinem Aufenthalt schrieb er auf Latein einen Bericht über die gesehenen Orte und deren Kunstwerke, den er Italia nannte. Der Umfang des erstmals 1815 gedruckten Werkes beträgt 130 Seiten.4 In seiner Autobiographie nannte Fichard zwei Motive für die Reise. Zum einen sollte sie dazu dienen, dem angehenden Syndikus vor seinem Eintritt ins Berufsleben eine ihm noch fehlende Weitläufigkeit zu verschaffen. Zum anderen sagte er - und das ist das in diesem Zusammenhang wesentliche Motiv -, dass nichts »in dieser Weise« seinen »Geist umgetrieben« habe, als das ihn »von früher Jugend an« erfüllende »seltsame Verlangen, Italien und die Stadt Rom selbst zu durchstreifen und zu sehen.«5 Das humanistische Studium hatte seine Neugierde und seinen Entdeckerdrang geweckt; er wollte sich mit eigener Anschauung die antiken Orte und Monumente erschließen, mit denen er seit seiner Kindheit vertraut war. Lange bevor sich der >Grand Tour< nordeuropäischer Reisender im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts zu etablieren begann, ist hier ein neues Reise- und Wissensparadigma »gleichsam zum Bewußtsein seiner selbst« gekommen,6 bei dem der »kognitive Zugang zu den Dingen« im Zentrum stand. Tatsächlich ist die Italia nach den zwei Reisen Albrecht Dürers (1494/95 und 1505/06) das früheste bekannte Zeugnis der >Bildungsreise< eines Nordeuropäers nach Italien, denn ihr ausschließliches Ziel war die Erkundung des Landes und seiner Sehenswürdigkeiten. Fichards Reise zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass sie, wie Ludwig Schudt als exzellenter Kenner der europäischen Reiseliteratur bemerkte, »die erste wirklich zusammenhängende Italienfahrt« war.8 Nach Flavio Biondos Italia Illustrata (editio princeps 1474),9 3

4 5

6 7 8 9

Siehe zu diesem Aspekt meinen Aufsatz »Wissenstransfer zwischen Deutschland und Italien am Beispiel des Frankfurter Italienreisenden Johann Fichard (1536/1537)«; Sünderhauf (2006). Quelle der biographischen Informationen ist Fichards Autobiographie Descriptio brevis cursus vitae meae et patris mei. Fichard, Italia. Fichard, Descriptio brevis cursus vitae meae et patris mei, 26: »Nihil autem perinde animum meum vexabat, ac quod nee aulam ullam antea vidissem, nee exteras gentes adiissem unquam, cum praesertim Italiae ipsiusque urbis Romae perlustrandae ac videndae miro quodam desiderio iam inde a puero semper affectus fuissem.« Paravicini (2005), 12. Brilli(1997),35. Schudt (1959), 44 [Hervorh. E. S. S.]. Biondo, Italia Illustrata.

Von der Wahrnehmung zur Beschreibung

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der Fichard möglicherweise den Titel »Italia« entlieh, handelt es sich zudem um die erste umfassende nachantike Landesbeschreibung. Das Thema der Transformation von der Wahrnehmung zur Beschreibung wirft die Frage auf, warum es für Fichard überhaupt wichtig war, das Gesehene und Erlebte schriftlich festzuhalten. Sieht man einmal von seiner Behauptung ab, er hätte alles nur zu seiner eigenen Erinnerung aufgeschrieben, und stellt seinen Bericht in einen weiteren sozialgeschichtlichen Kontext, so wird eine Parallele zu den Adelsreisen offenbar. Adlige pflegten auf ihren Reisen Stammbücher anzulegen, in welche sie die Wappen der besuchten Höfe eintrugen, um ihre Präsenz an diesen Orten zu dokumentieren.10 Es handelte sich um ein reputationssteigemdes Ausweissystem, das adlige Reisende und Fürsten miteinander verband.1 Erst die humanistische Gelehrsamkeit und insbesondere der Buchdruck schufen einen internationalen Verbund unter den Gelehrten, der es nun auch einem bürgerlichen Reisenden wie Fichard erlaubte, an einem - wenn auch anders gearteten - »Kreislauf der Ehre« teilzuhaben, wie ihn Werner Paravicini für die Adelswelt beschrieb. Anstelle der Fürsten wird nun Kontakt zu bedeutenden Gelehrten aufgenommen, die ihm teilweise durch seine Lehrer empfohlen worden waren. Der Besuch der Inschriftensammlung von Andrea Alciato in Pavia oder des Antikenmuseums des Humanisten Giovanni Filoteo Achillini in Bologna werden mit Stolz in der Italia und auch in seiner Autobiographie vermerkt, ebenso die Bekanntschaft mit dem in Ferrara lehrenden Gräzisten Marcus Antonius Antimachus (circa 1473-1551), mit dem er sich über die Ruinen der Phlegräischen Felder unterhielt.13 Das geteilte Interesse für die Antike schloss die Gesprächsteilnehmer zu einer Interessengemeinschaft zusammen, und die Aufzeichnungen sollten diese Begegnungen bezeugen. Noch wichtiger war es allerdings, mit einem eigenständigen und möglichst anspruchsvollen Bericht über die Altertümer hervorzutreten. Dabei konnte der Autor zeigen, dass er eine Kenntnis der aktuellsten antiquarischen Literatur besaß und dass er in der Lage war, dieser durch eigene kritische Bemerkungen oder gänzlich neue Beobachtungen etwas hinzuzufügen. Das Schreiben ermöglichte, sich in die humanistische Wissenstradition einzureihen und Zugehörigkeit zur schon damals so genannten »internationalen Gelehrtenrepublik« (Johannes Aventinus, 1518) zu demonstrieren. Hier ist also eine neue Form der >Ehre< zu beobachten, die sich allein auf Bildung bezog. Im Umkreis dieser Problematik taucht die allgemeinere Frage nach der Rolle des Sehens und Betrachtens für die antiquarische Forschung des Humanismus 10 Paravicini (2005), 16 und Kurras (2005). 11 Paravicini (2005), 15. 12 Ebd. 13 Siehe dazu Sünderhauf (2006). Vgl. Fichard, Descriptio brevis cursus vitae meae et patris mei, 32. 14 Aventinus, Brief an Leonhard von Eck, 67.

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auf, die hier nur in den Raum gestellt werden kann. Die Tatsache vorausgesetzt, »daß Sehen eine erlernte Fähigkeit ist«,15 soll im Folgenden danach gefragt werden, wie das humanistische Bildungsmuster Fichards Wahrnehmung der antiken Monumente präfigurierte und wie sich diese neue Sichtweise in der Art des Aufzeichnens niederschlug. Die Italia beschreibt 30 der 104 in einem Itinerar aufgelisteten Städte,16 deren Abfolge im Text allerdings nicht exakt mit dem Reiseverlauf übereinstimmt. An erster Stelle stehen die Orte, in denen sich die meisten Überreste der römischen Antike befinden: Zuerst das Kapitel über Rom, das fast die Hälfte des Textes einnimmt, dann Neapel und die Phlegräischen Felder, danach Florenz, Siena, Bologna, Mailand, Genua usf. Fichards Hauptaugenmerk galt der antiken Architektur, die mit 173 verschiedenen Objekten die größte Gruppe unter den besprochenen bzw. genannten antiken Monumenten darstellt. Daran schließen sich mit 113 Nennungen die antiken Skulpturen, Sarkophage, Grabmäler und Inschriften an, wovon allein 57 Erwähnungen Statuen in Rom betreffen. Am wenigsten interessierten ihn historisch oder mythisch besetzte Orte wie etwa die Höhle des Cacus, das Lupercal oder die Gemonische Treppe in Rom. Fast nirgends gibt er abschweifige historische Erklärungen zur antiken Topographie oder Geschichte, vielmehr ging es ihm um die noch sichtbaren architektonischen und künstlerischen Zeugnisse. Die Beschreibungen basieren primär auf eigenen Beobachtungen und mündlichen Informationen von Kontaktpersonen vor Ort. Das Romkapitel ist hinsichtlich seiner Struktur hingegen Produkt der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen antiquarischen Literatur. Gleich zu Beginn listet Fichard die hier von ihm verwendeten Autoren auf: Pomponio Leto, Francesco Albertini, Antonius Pontus,17 ferner Andrea Fulvio, Fabio Calvo (= Calvus Ravennas), Flavio Biondo und 1K schließlich Bartolomeo Marliani. Passagenweise wurden, wohl aus Zeitmangel, Informationen dieser Autoren im Romkapitel in modifizierter Form übernommen, insbesondere von Marliani und Fulvio. Auch mit dieser Auflistung der konsultierten Autoren, die mit seinem darauf folgenden Bericht durch seine eigene Autorschaft ergänzt wird, reihte sich Fichard selbst in eine >Genealogie< von Gelehrten 15 16 17

18

Brevern, von (2005), 2. Itinierar: siehe Fichard, Italia, 3-8. Fichard bezeichnet ihn nur mit »Antonius N. etc.«, weshalb die Identifizierung mit dem andalusischen Humanisten Antonius Nebrissensis (1441-1522), der von 1460 bis 1470 in Italien weilte und archäologische Schriften publizierte, nicht gesichert ist (siehe den Eintrag in: Biographischbibliographisches Kirchenlexikon, Bd. I, Hamm 1990, Sp. 45). In der bei Fichard genannten Reihenfolge: Pomponio Laeto, De Romanae Urbis vetustate, Rom 1515; Francesco Albertini, Opusculum de mirabilibus Novae & veteris Urbis Romae, Rom 1510; Antonius Pontus, Rhomitypion, Rom 1524; Andrea Fulvio, Antiquitates urbis, Rom 1527; Marcus Fabius Calvus, Antiquae urbis Romae cum regionibus simulachrum, Roma 1532; Flavio Biondo, De Roma Triumphante Libri Decem und Romae instauratae Libri III, beide Basel 1531 und Bartolomeo Marliani, Topographia antiquae Romae, Rom 1534.

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ein, die entsprechend der eingangs erwähnten Genealogie der Adligen gleichsam ein >Adelsprädikat< der Gelehrsamkeit ist.19 Obwohl Fichard in einer Captatio benevolentiae, einer üblichen rhetorischen Devotionsformel, die Unwürdigkeit seiner Schrift beteuert - er habe sie allein für sich selbst verfasst, um die verschiedenen Orte erinnern zu können -,20 so formulierte er doch zu Beginn des Romberichtes das Ziel seiner Italia mit einem Anspruch, der nicht anders als wissenschaftlich zu nennen ist: Da »die Topographie des antiken Rom in den vergangenen Jahren mehrere Verfasser behandelt« hätten, insbesondere Marliani, habe er sich »hinsichtlich des antiken Zustandes mit den Werken jener Autoren begnügt«. Er selbst hingegen wolle »hauptsächlich die gegenwärtige Form und den Zustand der Stadt - zumal jene Plätze, die von den alten Gebäuden oder Tempeln oder überhaupt Ruinen heute noch übrig« seien, »betrachten und auf Grund bestimmter Überlegungen [...] identifizieren« und »zur Erinnerung aufzeichnen«.21 Mit dem Anspruch, den gegenwärtigen Zustand der antiken Monumente »zur Erinnerung« (memoriae) zu beschreiben, und damit etwas in den Blick zu nehmen, was die Guidenliteratur seiner Ansicht nach bisher vernachlässigte, erfährt die Augenzeugenschaft eine geradezu sprunghafte Aufwertung. Allein diese Passage konterkariert die auch in Bezug auf Fichard geäußerte Meinung, die frühen Reisenden hätten nicht mit eigenen Augen wahrgenommen, sondern nur das referiert, was sie bereits gelesen hätten.22 Signifikant ist allein schon die Tatsache, dass der Autor den eigenen Wahrnehmungsprozess thematisierte, was ein Vergleich zu dem niederländischen Künstler Marten van Heemskerck (1498-1574) verdeutlichen soll, der im selben Jahr wie Fichard in Rom weilte. Beide teilten nicht nur ein für Nordeuropäer damals beachtliches antiquarisches Interesse, sondern nahmen auch häufig fast 19 Vgl. hier Anm. 12 und den dazugehörigen Passus auf Seite 425. 20 Fichard, Italia, 3: »Haec quicunque leges alius mea itinera, (nugas) / Quae mihi sunt celeri tota notata manu. / Da veniam: nee enim (Du norunt) ipse relegi. / (Tempora plus satis est his periisse semel) / Sed diversorum volo dum meminisse locorum, / Haec utcunque uni scripta fuere mihi.« (»Fremder Freund, der Du liest meine lockeren Reisenotizen, / hingeworfen von mir jedesmal rasch mit der Hand: / Nachsicht! Hab ich sie doch, weiß Gott, nicht wiedergelesen / Mehr als genug - diese Zeit ist nun für immer vorbei. / Doch mich erinnern zu können an all die verschiedenen Orte, darum, allein für mich selbst sind sie geschrieben von mir.« 21 Fichard, Italia, 15: »Quandoquidem Topographiam antiquae Romae complures retroactis annis, omnium vero novissime et diligentissime Joan. Bartholomaeus Marlianus patricius Mediolanensis conscripsit, opera illorum, quantum vetustatem ipsam attinet, contentus, presentem solum urbis formam statumque, turn ea loca quae ex veteribus vel aedificiis vel templis vel universis denique minis hodie supersunt, visuntur et cognoscuntur coniecturis certis, hie obiter memoriae ergo annotare volui. Quibus tarnen ea etiam interdum inserui, quae licet minime extant, tarnen circa ipsa loca quondam fuisse, certis quibusdam coniecturis approbatur.« 22 In Bezug auf Fichard siehe Jung (1889), 229: »Fichard, der humanistisch gebildete Gelehrte, der die klassischen Schriftsteller wie vertraute Freunde kannte, hat die ewige Stadt sich nicht angesehen, er hat sie an der Hand der damaligen archäologischen Literatur studiert.«

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identische Betrachterstandpunkte ein. Heemskercks Römische Skizzenbücher23 wirken beinahe wie Illustrationen zu Fichards Beschreibungen und umgekehrt scheint sein Text die antiquarischen und topographischen Fakten zu den Bildern zu liefern.

Der auch in Heemskercks Zeichnungen implizite Anspruch, den gegenwärtigen Zustand der Stadt festzuhalten, bedingt den Modus der Wahrnehmung. Fichard beschreibt die Art seines Sehens und Erkundens in einer Weise, wie sie von den Figuren in Heemskercks Ruinenlandschaften vorgeführt wird: Diese Figuren, die nicht nur dem Größenvergleich dienen, sondern auch den kontemplierenden Betrachter ins Bild setzen, durchstreifen auf der Suche nach antiken Überresten die Stadt bis in abgelegene Bezirke, klettern über Strauchwerk auf die Ruinen, kriechen in deren unterirdische Wölbungen, befinden sich im gelehrten Gespräch oder genießen den Ausblick (Abb. 2-4).

Abb. 2: Marten van Heemskerck, Figuren in den Ruinen des Circus Maximus (»Circus Maximus und Septizonium«), zwischen 1532 und 1537, Federzeichnung, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 79 D 2 a. 23 Hülsen/Egger (l913-1916).

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Abb. 3: Marten van Heemskerck, Figur in einer Wölbung des Palatin. Ausschnitt aus: »Blick von der Südecke des Palatins auf das Collosseum«, zwischen 1532 und 1537, Federzeichnung, 27,8 * 23,2 cm, Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 79 D 2 a.

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Abb. 4: Marten van Heemskerck, Figur, die vom Palatin aus das Colosseum betrachtet. Ausschnitt aus: »Blick von der Südecke des Palatins auf das Collosseum«, zwischen 1532 und 1537, Federzeichnung, 27,8 23,2 cm, Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 79 D 2 a.

Analog wird das Sehen von Fichard als aktiver Prozess beschrieben. Das mehrfach genannte »oculis perlustrare« beinhaltet, etwas mit den Augen zu durchmustern - z. B. die Stadt von einem Aussichtspunkt aus. Eine ebenso koordinierte Art des Sehens beschreibt das Verb »inquirere« - bezogen auf die genaue Untersuchung eines Monumentes. Und schließlich »perreptare«, das für zielloses Herumstreifen steht. Es begegnet zumeist bei der Erkundung größerer Ruinenkomplexe wie auf dem Palatin, zu dem Fichard schreibt: »Ich bin hinaufgestiegen und überall herumgekrochen.«24 Die für Heemskerck als Zeichner grundlegende Autopsie ist auch bei Fichard ins Zentrum der Auseinandersetzung mit der Antike gerückt. So betont er stets, etwas »selbst gesehen« oder etwas »wirklich nicht gesehen« zu haben. In Bezug auf das Amphitheater Castrense (Abb. 5), das in die Stadtmauer eingeschlossen ist, sagt er: Die Kirche S. Croce in Gerusalemme liegt weiter entfernt; dort soll [schreibt Marliani] ein großer Teil des Amphitheaters des Statilius Taurus heute noch erhalten sein.

24

Fichard, Italia, 37: »Ascendi et perreptavi omnia.«

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Ich bin aber nicht dorthin gekommen, eine Unterlassung, die ich heute bedaure und so kenne ich es nicht.25

Abb. 5: Amphitheater Castrense bei S. Croce in Gerusalemme.

Einen Gegenstand zu kennen bedeutet also, ihn mit eigenen Augen wahrgenommen zu haben. Folglich bespricht er nur das, was er tatsächlich gesehen hat.26 Die Authentizität der Beobachtung wird somit zum Maßstab für den Erkenntniswert der eigenen Aussagen erhoben.27 Zudem wird die Autopsie, wie das folgende Zitat zeigt, zu einem Mittel der kritischen Überprüfung der benutzten antiquarischen Literatur. Am Beispiel der auf dem Colle Oppio gelegenen Seite Säle, einer unterirdischen Zisterne, welche die Trajansthermen mit Wasser speiste (Abb. 6), wird Bartolomeo Marlianis Antiquae Romae Topographia (1534), der damals aktuellste und anspruchsvollste Romführer, hinterfragt: Die Seite Säle2* befinden sich unweit der Kirche S. Martino ai Monti zur Rechten. Marliani schreibt, es seien Zisternen, Überreste von den Thermen des Kaisers Titus; diese Thermen hätten nämlich eine große Ausdehnung gehabt, so daß einige von den zugehörigen Gewölben auch im Garten [der Kirche] S. Pietro in Vincoli zu sehen seien, was ich aber dann nicht untersuchte. Diese Säle sind wie eine Kirche in 7 gleich große und gleichartige Schiffe durch gleich verlaufende Zwischenmauern unterteilt. Die einzelnen Mauern haben drei oder vier Durchgänge, die einander so gegenüber 25 26 27 28

Ebd., 63: »Ego tarnen (cuius negligentiae nunc piget) eo non veni. Itaque hoc nescio.« Vgl. Esch (2005), 119. Vgl. ebd. Sette Säle: »Sieben Säle«.

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Esther Sophia Sünderhauf liegen, daß man von jeder Öffnung aus, wo man gerade steht, durch alle sieben hindurchschauen kann, und wenn man im innersten Saal sitzt, den ersten besten, der eintritt, sofort erkennen kann was sehr angenehm ist. Während nun die Säle so durch diese Mauern [von vier oder fünf Fuß Dicke] unterteilt werden, werden sie von ihnen ohne eine einzige Säule gestützt. Die Säle sind 140 Fuß lang, 20 Fuß breit; diese Zahl läßt sich übrigens genau durch sieben teilen. Warum Marliani sie Zisternen nennt, begreife ich nicht; denn wenn es auch drinnen ziemlich feucht ist, hat das doch einen ändern Grund. Sie liegen schon unter dem Erdboden, von oben mit Weinbergen bedeckt. Daraus kann man erfassen, wie sehr die Stadt Rom in ihrem Verfall doch unverändert ist.29

Die Systematik der Wahrnehmung schlägt sich auch im Modus der Beschreibung nieder und bestimmt gewissermaßen die Textstruktur. Das einleitende Kapitel zu Rom beginnt mit den Worten: Wer Form und Lage der ganzen Stadt überschauen will, kann das vom Pantheon aus, dem Nabel des gegenwärtigen Rom, bequem tun.30 Ebenso von der Engelsburg und vom Kapitolshügel aus [vgl. Abb. 7]. Ich konnte allerdings eine bestimmte Form mit den Augen oder dem Verstand nicht erfassen, so sehr werden die Gebäude ringsum von den Hügeln selbst, den Gärten und den bebauten Feldern in der Stadt unterbrochen.31

29 Fichard, Italia, 58/59: »Septetn Salae non longe ab ecclesia S. Martini in montibus ad dextram sunt. Marlianus dicit, esse cisternas ex thermis Titi Imper. superstites, eas enim thermas magnum ambitum amplexas fuisse, ita quod quidam, ex illis, fomices, in hortis etiam D. Petri in vinculis videantur, de quo ego turn non inquisivi. Istae salae sunt instar ecclesiae, in VII aequales similesque partes, interpositis muris directis distinctae. Singuli muri tria vel quatuor habent ostia, caeteris ita opposita, ut in quocunque omnino stes ostio, per septem directe videas ostia, et in intima sala sedens, primum ingredientem statim perspiceas, id quod visu est gratissimum. Dum igitur ita muris (quatuor pedum crassitudinis aut quinque) distinguuntur, iisdem sine ulla columna sustinentur. Longae sunt pedes CXL, latae XX, qui numerus alioquin per septenarios exactissime dividitur. Quare cisternas vocet Marlianus non intelligo, nam licet subhumidum intus sit, tarnen eius alia est ratio. lam infra terrain existunt, obductae etiam superius vineis; unde colligere licet, quantum minis urbs immutata sit.« 30 Das Dach des Pantheon war begehbar. Auch Kaiser Karl V. habe bei seinem Romaufenthalt im April 1536 das Dach erstiegen: »Caesar Carolus V hoc anno, quum Romae esset, in huius fastigium conscendit, quod eum tarn ipsius maxime miri et stupendi opens gratia, quam ut inde totam urbem commodissime oculis perlustrare posset, fecisse crediderim. Est enim Pantheon huius presentis urbis umbilicus.«; Fichard, Italia, 56. 31 Fichard, Italia, 24: »Qui totius urbis formam situmque videre cupit ex Pantheo, quod umbilicus est praesentis Romae, id commodissime polest. Item et ex Burgo S. Angeli, monteque Capitolino. Ego tarnen certam aliquam concipere vel oculis vel mente non potui, ita montibus ipsis, hortis, et locis in urbe cultis aedificia passim dividuntur.«

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Abb. 6: Innenansicht der so genannten >Sette Sale< (Traiansthermen).

Abb. 7: Marten van Heemskerck, Blick auf Rom vom Kapital aus (Ausschnitt), zwischen 1532 und 1537, Federzeichnung, laviert, 17,2 69,6 cm, Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett, Inv.Nr. 79 D 2 a.

Es werden also nicht nur Daten aus der Guidenliteratur repetiert, sondern im Zentrum von Fichards Selbstverständnis steht, wie gerade die Beschreibung der Seite Säle besonders plastisch zeigte, der Versuch, das antiquarische Wissen aus der Anschauung heraus rational zu begreifen. Auch die Meilenangaben zum Umfang der Stadt werden nicht bloß aus der Literatur abgeschrieben, sondern es wird

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versucht, die Größe ebenso visuell zu erfassen: »Wenn man die lange Strecke der Stadtmauern entlangschaut, kann man einigermaßen die Ausdehnung der antiken Stadt erfassen.«32 Ein Romplan von 1561 zeigt den Verlauf der antiken Mauern, die damals nur mehr Felder und Weinberge umschlossen, in denen die Ruinen standen (Abb. 8).

Abb. 8: Sebastiano del Re (nach Giovanni Antonio Dosio), Plan der Stadt Rom, 1561, Strichgravour, 41,5 55,4 cm, Rom, Gabinetto Nazionale delle Stampe, inv. F. C. 36643.

Wie Heemskerck als Zeichner stellt sich auch Fichard als sehendes Individuum in den Mittelpunkt, indem er die Wahrnehmungsgegenstände von seinem Betrachterstandpunkt aus perspektiviert. Auf diese Weise löste er sich von dem Vorbild der anderen Autoren, selbst wenn sein Rombericht zu wesentlichen Teilen nach Marlianis Topographia strukturiert ist. Er benutzt sie zwar zur Orientierung und zur Identifizierung der Monumente, beschreibt jedoch nur, was er selbst sieht. Sich-Fortbewegen, Sehen und Beschreiben verschmelzen im Text zu einer Handlungseinheit: Wenn wir dann neben dem Senatorenpalast vom Kapitol herabsteigen, werden wir linkerhand zum Tullianum geleitet [...]. [...] Von da nach rechts zurückgehend, werden wir zum Bogen des Septimius Severus geleitet [...]. [...] Von da könnte man zu

32 Fichard, Italia, 24: »Si moenia ipsa longissime distantia circumspicis, turn considerate aliquo modo veteris urbis amplitudinem potes.«

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den Bögen des Vespasian33 und des Konstantin gelangen. Aber über die werde ich in der Reihenfolge berichten, in der ich sie gesehen habe.34

Obwohl sich auch bei Fichard zu Beginn des Romkapitels eine einleitende, teils tabellarische Übersicht über die Sieben Hügel, die antiken Tore und Brücken befindet, überwindet er dennoch das die Stadt in ihre einzelnen Elemente zergliedernde Mirabilienschema (Tempel, Thermen, Obelisken, Zirkusse etc.) und organisiert stattdessen seinen Bericht entsprechend der von ihm abgelaufenen Regionen. Es ist Fichards Wahrnehmungssystematik, die zugleich die Systematik seines Textes bedingt. Ein anschauliches Beispiel für diesen Transformationsprozess ist die Beschreibung des Cortile del Belvedere im Vatikan. Da es sich hierbei um die erste nahezu vollständige und geordnete Auflistung der Statuen handelt,35 wird sie als verlässliche Quelle häufig in der Literatur zitiert.36 Von einem am Eingang fixierten Betrachterstandpunkt aus teilt Fichard den Raum in eine linke und eine rechte Hälfte. Auf der linken Seite (»in latere sinistro«) sieht er zuerst (»primum«) die Statue des Apoll, dann (»deinde«) die Laokoon-Gruppe, darauf (»inde«) die Venus Felix. Auf derselben Seite (»in eodem latere«) steht die Statue des Merkur.37 Sich zur anderen Wand hinwendend (»in altero latere transverso«), sieht er die Venus ex balneo, darauf, in der oberen Ecke der rechten Seite (»in superiori angulo dextri lateris«), den Flussgott Tig33 Gemeint ist der Titusbogen. 34 Fichard, Italia, 31 f.: »Porro, si iuxta Palatium Senatoris Capitolino descendamus, ad sinsitram ad Tullianum perducimur [...]. [...] Inde ad dextram redeundo, perducimur ad arcum Seven Septimii [...]. [...] Inde iri ad Vespasiani et Constantini arcus poterat, sed de illis eo ordine annotabo, quo vidi.« 35 Die Statuen werden, vom Apoll ausgehend, im Uhrzeigersinn beschrieben. Die mittlere Nische der rechten Wand, gegenüber dem Laocoon, bleibt in seiner Beschreibung leer. Dort wurde vermutlich erst nach 1540 die Statue des neu aufgefundenen Antinous platziert (Brummer [1970], 212). Fichard springt vom Flussgott Tigris/Arno (nordwestliche Nische) gleich in die übernächste, nordöstliche Nische zur Cleopatra/Ariadne; vgl. die Rekonstruktion der Aufstellung der Statuen bei Ackerman (1954), zwischen Seite 16 und 17 und bei Brummer (1970), 22. 36 Fichard, Italia, 49 f. Siehe dazu Michaelis (1890), 33: »[...] der erste vollständige und wohlgeordnete [Bericht] über das Belvedere«. Eine andere zeitgenössische, allerdings unvollständige Beschreibung ist die einer Venezianischen Gesandtschaft, die den Cortile zur Zeit Hadrians VI. am 28. April 1523 besichtigte; siehe Ackerman (1954), 145 f. Grundlegend zum Statuenhof Brummer (1970) und Hochrenaissance im Vatikan (1998), darin besonders: Paolo Liverani: »Antikensammlung und Antikenergänzung«, 227-235. 37 Florenz, Uffizien, inv. 250. Der unter Paul III. erworbene Merkur, den Fichard auf der Seite von Apoll, Laokoon und Venus Felix positioniert, stand laut Sylvie Deswarte-Rosa allerdings in einem Geheimkabinett, was von ihr nicht näher durch Quellen verifiziert wird: »Cette statue e'etait pas a proprement parier dans le Cortile delle Statue, mats se trouvait dans la loggia secreta du pape sur le cöte est du Cortile.«; Deswarte-Rosa (1998), 406. Die zwischen 1538 und 1540 von Francisco de Holanda gezeichnete Statue (Antigualhas, fol. 29 r., Bibliothek des Eskorial) gelangte unter Julius III. zwischen 1550 und 1553 in den Palazzo Pitti nach Florenz; DeswarteRosa (l 998), 406.

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ris/Amo und schließlich, in der anderen unteren Ecke derselben Seite (»in altero inferiori angulo«) die schlafende Cleopatra/Ariadne. Nachdem er die ersten sieben Statuen erwähnt hat, richtet er sein Augenmerk auf die dreizehn Masken im oberen Teil der Wände (»superius circumquaque posita«), welche er als Wasserspender von antiken Brunnen identifiziert (»ora siphunculorum«).38 Vollendet wird die Auflistung mit Hercules-Commodus rechts vom Eingang, der, von Fichards Perspektive aus, auf der letzten Seite steht (»in latere ultimo«). Abschließend wendet der Autor seine Aufmerksamkeit den Statuen in der Mitte des Hofes zu (»in medio areae«), wo er die zwei Flussgötter sieht, links den Nil, rechts den Tiber. Zudem lägen hier einige Torsi, von denen einer von den Künstlern besonders empfohlen würde. Sehr wahrscheinlich ist hier der schon damals berühmte Torso del Belvedere gemeint, den auch Heemskerck am Boden liegend darstellte (Abb. 9).39

Abb. 9: Marten van Heemskerck, Liegender Torso del Belvedere, zwischen 1532 und 1537, Federzeichnung, 13,2 * 20,7 cm, Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 79 D 2.

Ein weiterer Aspekt, um den Übergang von der Wahrnehmung zur Versprachlichung nachzuvollziehen, sind die Adjektive, mit denen Fichard sein ästhetisches Empfinden veranschaulichte. Die Vielfalt der weit über einhundert Ausdrucksweisen zeigt, dass die Mehrheit seiner Einschätzungen nicht nur auf einem genauen, sondern ebenso auf einem >sicheren< Auge beruhte. 38 Fichard, Italia, 49. Zu den Masken siehe Gasparri (1998). 39 Fichard, Italia, 50: »lacent in eadem area, et trunci aliquot statuarum quorum alter praecipue ab artificibus commendatur.«

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Fichards Adjektive zur Beschreibung von Architektur, Kunst und Landschaft: amoenus ( a n g e n e h m , l i e b l i c h ) artificiosus ( k u n s t v o l l g e f e r t i g t ) elegans ( g e s c h m a c k v o l l , s t i l v o l l ) egregius ( a u s e r l e s e n , v o r z ü g l i c h ) excellens ( v o r z ü g l i c h , v o r t r e f f l i c h ) exquisitus ( a u s e r l e s e n ) faber ( k u n s t f e r t i g ) gratus ( a n g e n e h m , l i e b l i c h , a n m u t i g ) lascivus ( e r o t i s c h , l ü s t e r n ) lectus ( a u s e r l e s e n , a u s g e z e i c h n e t ) magnificus ( g r o ß a r t i g , p r a c h t v o l l ) mirus ( w u n d e r b a r ) ornatus ( g e s c h m a c k v o l l ) perfectus ( v o l l k o m m e n ) potissimus ( h ö c h s t v o r z ü g l i c h ) praestans ( v o r z ü g l i c h , v o r t r e f f l i c h ) pulcher ( s c h ö n )

splendidus ( a u s g e z e i c h n e t , edel) superbus ( h e r a u s r a g e n d , p r ä c h t i g ) incomparabilis ( u n v e r g l e i c h l i c h ) incredibilis ( u n g l a u b l i c h ) stupendus ( e r s t a u n l i c h ) humilis ( s c h m u c k l o s ) informis ( f o r m l o s ) mediocris ( m i t t e l m ä ß i g ) vilis ( w e r t l o s , g e m e i n ) vulgaris ( g e m e i n , g e w ö h n l i c h ) devastatus ( v e r w ü s t e t ) squalidus ( s c h m u t z i g ) tristis ( t r a u r i g ) horridus ( g r a u s i g )

Die Fähigkeit des eigenständigen Urteilens beweist sich besonders dann, wenn für die gesehenen Monumente noch keine durch die Literatur vorgeprägten Werturteile existierten - zu diesem Zeitpunkt nämlich in fast allen Städten jenseits von Rom. Besonders hervorzuheben sind Fichards detaillierte Beschreibungen der Ruinen der antiken Städte Pozzuoli, Baia, Miseno und Cumae in den Phlegräischen Feldern.40 So zeigt beispielsweise seine Beschreibung des Amphitheaters von Pozzuoli (Abb. 10), dass in diesem Fall allein die eigene Wahrnehmung vorgab, welche Dinge beschrieben, welche Details herausgehoben und welche Vergleiche herangezogen wurden. Nur das eigene Sehen bedingte die Qualität seiner Werturteile und seinen individuellen Stil: Vom Kloster [der Franziskaner] den anderen Weg herabsteigend, gelangt man zum >ColosseumPurismusKlarheitModernere< Autoren lassen diese »Lücke der Erkenntnis offen, wie sie nun einmal ist: lieber nichts sagen als Phantastisches sagen.«53 Doch nicht nur das Unvermögen wird benannt, sondern auch für sein Staunen hat Fichard bemerkenswerte Worte gefunden. So schreibt er etwa über die Diocletians-Thermen (Abb. 14): »Die Gestalt von Thermen in dieser Dimension konnte ich freilich nicht mit meinem Geist ganz fassen. Orte dieser Art muß man eher bestaunen als begreifen.«54 Und auch vom Colosseum sagt er, es sei »von solcher Großartigkeit, daß niemand durch die Kontemplation desselben hinlänglich befriedigt werden« könne (Abb. 15).55 Auch Kaiser Karl V. habe bei seiner Fahrt über die Via Triumphalis,56 als er »den Konstantinsbogen durchschritten habe und zu seiner Rechten das Amphitheater erblickte, [...] innegehalten [...] und, gleichsam betäubt, lange die Majestät dieses Bauwerks betrachtet.«57

53 54

Esch (2005), 122. Fichard, / , 40: »[...] ego tarnen formam Thermarum in tanta amplitudine animo concipere non potui. Mirari magis eiusmodi loca licet quam congnoscere.« 55 Fichard, Italia, 35: »Eius est magnificentiae, ut nemo satis eius contemplatione exsatiari possit [...].« 56 Nach der die Rückeroberung des Flottenstützpunktes La Goleta und der Befreiung von Tunis im Juni/Juli 1535 zog Kaiser Karl V. von Süden nach Norden durch Italien. In vielen Städten wurden ihm feierliche Empfänge bereitet; in Rom wurde der >Türkensieger< am 5. April 1536 mit einem Triumphzug über die Via Triumphalis geehrt, auf der schon die römischen Kaiser nach ihren Siegen einzogen. 57 Fichard, Italia, 36: »Ferunt etiam, cum arcum Constantini transgressus, amphitheatrum ad dextram vidisset, constitisse et operis maiestatem, stupefactum quasi, diu respexisse.«

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Abb. 14: Marten van Heemskerck, Ansicht der Diocletians-Thermen, Federzeichnung, 13,4 χ 20,5 cm, Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 79 D 2.

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Abb. 15: Etienne Duperac, Ansicht des Colosseums, 1575, Kupferstich, 21,4 χ 37,9 cm.

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Trotz dieser Wirkung, die das Colosseum für Fichard gerade als Ruine besaß, ist es das einzige antike Monument, von dem er sich wünscht: »Hätten wir es doch einst gesehen! Als in den einzelnen Bögen noch Marmorstatuen standen, als es noch mehr inkrustiert war! Als es noch ganz war!«58 Allein in diesem Fall hintergeht er seinen eigenen methodischen Ansatz, nur den gegenwärtigen Zustand der Ruinen beschreiben zu wollen. Francisco de Holanda zeichnete nur wenig später, 1538, das Colosseum in einem intakten Zustand, wie Fichard ihn imaginiert haben könnte (Abb. 16). A M* H1TE* B.VM.· B. O M A.TS V

E5PA.MNO

A v G . C O M D I T V M . N L V N C V O C I T A T V M .COL VM . A C O t l - O S S O . 3 5 B l > O M O A V K . I A . . H £ S t o N , s , .

Abb. 16: Francisco de Holanda, Intakte Ansicht des Colosseums in Rom, 1538, Zeichnung, Biblioteca del Escorial, cod. 28-1-20, fol. 5 v.

Für die Faszination beim Anblick der Ruinen findet Fichard schließlich eine Wendung, der geradezu protoromantische Züge eignen: Als er mit dem Schiff an der Küste von Baia vorbeifuhr und die gigantischen Ruinen der einstigen Thermen an ihm vorüber zogen (vgl. Abb. 17), notiert er: »Man sieht dort die höchst 58 Fichard, Italia, 35: »Quid si olim vidissemus! cum in singulis arcubus marmoreae statuae erant, cum incrustatior! cum integrum erat!«

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ausdrucksvolle Gestalt einer verwüsteten und zusammengestürzten Stadt, die schon mit Gebüsch und Dorasträuchern begrünt ist.«59

Abb. 17: Schiffe vor der Küste von Baia.

Fichards Ruinenfaszination erweist sich als komplementäres Element des historisehen Bewusstseins, ja sie ist ohne historische Distanz nicht denkbar.60 Und umgekehrt ist das »staunende Sehen«6l die Grundlage eines »gesteigerten Empfmdens für die eigentümlichen Verletzungen« der Monumente,62 Grundlage für die im Humanismus entwickelte Überzeugung, das Vergängliche durch Aufzeichnen bewahren zu müssen, um dessen Fortexistenz wenigstens in der Erinnerung zu gewährleisten.

Literatur Ackerman, James S., The Cortile del Belvedere, Vatikanstadt 1954. Aventinus, Johannes, »Brief an Leonhard von Eck über Ungebildete und seine eigene Bildung« (ca. 1518), in: Die Kultur des Humanismus. Reden, Briefe, Traktate. Gespräche von Petrarca bis Kepler, hg. v. Nicolette Mout, München 1998, 67-69.

59 Fichard, Italia, 93 f.: »Vides autem istic expressissimam figuram devastatae collapsaeque urbis iamque arbustis et vepribus frondescentis.« 60 Vgl. Esch(1987), 386. 61 Ebd. 62 Esch(1984), 307.

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Babel, Rainer/Paravicini Werner (Hg.), Grand Tour. Adliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Akten der internationalen Kolloquien in der Villa Vigoni 1999 und im Deutschen Historischen Institut Paris 2000, Ostfildern 2005 (Beihefte der Francia, hg. v. Deutschen Historischen Institut Paris, Bd. 60). Brevern, Jan von, Rezension zu Olaf Breidbach, Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung, München 2005, in: http://www.arthist.net/ download/book/2005/051011 Bevern.pdf. Brilli, Attilio, Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus. Die >Grand TourVita Peregrination Bildungsreise und Stammbuch«, in: Grand Tour. Adliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Akten der internationalen Kolloquien in der Villa Vigoni 1999 und im Deutschen Historischen Institut Paris 2000, hg. v. Rainer Babel/Werner Paravicini, Ostfildern 2005 (= Beihefte der Francia, hg. v. Deutschen Historischen Institut Paris, Bd. 60), 485-495. Megiser, Hieronymus, Delitiae Neapolitanae. Das ist: Außführliche Beschreibung Des mechtigen, und inn Europa hoch unnd weitberühmbten Königsreichs, Auch der darinnen gelegenen Königlichen Hauptstadt Neapolis [...], Leipzig 1605. Michaelis, Adolf, »Geschichte des Statuenhofes im vatikanischen Belvedere«, in: Jahrbuch des kaiserlichen deutschen archäologischen Instituts 5 (1890), 5-72. Paravicini, Werner, »Vom Erkenntniswert der Adelsreise«, in: Grand Tour. Adliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Akten der internationalen Kolloquien in der Villa Vigoni 1999 und im Deutschen Historischen Institut Paris 2000, hg. v. Rainer Babel/Werner Paravicini, Ostfildern 2005 (= Beihefte der Francia, hg. v. Deutschen Historischen Institut Paris, Bd. 60), 11-22. Schudt, Ludwig, Italienreisen im 17. und 18. Jahrhundert, Wien/München 1959. Sünderhauf, Esther Sophia, »Wissenstransfer zwischen Deutschland und Italien am Beispiel des Frankfurter Italienreisenden Johann Fichard (1536/1537)«, in: Zentren und Wirkungsräume der Antikenrezeption, hg. v. Kathrin Schade/Detlef Rößler/Alfred Schäfer, Münster 2006, 99-109. Winner, Matthias/Andreae Bernard (Hg.), // Cortile delle Statue. Der Statuenhof des Belvedere im Vatikan, Akten des internationalen Kongresses zu Ehren von Richard Krautheimer, Rom, 21-23. Oktober 1992, Mainz 1998.

Abbildungsverzeichnis Abb. Abb. Abb. Abb. Abb.

l: 2: 3, 4: 5: 6:

Frankfurt am Main, Münzsammlung des Historischen Museums. Hülsen/Egger (1913-1916), Bd. II, S. 16, Fol. 14 r. Hülsen/Egger (1913-1916), Bd. II, S. 74, Fol. 55 r. Blaeu, Jean, Nouveau Theatre d'Italie, Bd. IV, Amsterdam 1704, Taf. 9. Venuti, Ridolfino, Descrizione topografica d. antichita di Roma, Roma 1824, Taf. zwischen S. 198/199. Abb. 7: Hülsen/Egger (1913-1916), Bd. II, S. 121, Fol. 91 v. Abb. 8: Frutaz, Amato Pietro, Lepiante di Roma, Roma 1962, Bd. II, Taf. 117. Abb. 9: Hülsen/Egger (1913-1916), Bd. I, S. 65, Fol. 63 r. Abb. 10: Paoli, Paolo Antonio, Avanzi delle antichita ehe esistono a Pozzuoli, Neapel 1768, Taf. XXI. Abb. 11: Fotografie Esther Sophia Sünderhauf. Abb. 12a~d: Fotografie Esther Sophia Sünderhauf. Abb. 13: Fotografie Esther Sophia Sünderhauf.

Von der Wahrnehmung zur Beschreibung Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17:

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Hülsen/Egger (1913-1916), Bd. I, S. 8, Fol. 7 r. Duperac, Et\erme,IvestigideU'antichitä di Roma, Rom 1575, Taf. 16. Os desenhos das antigualhas que vio Francisco d'Ollanda, pintor portugues (1539-1540), ed. E. Tormo, Madrid 1940, S. 5 v. Blaeu, Jean, Nouveau Theatre d'Italie, Bd. III, Amsterdam 1704, Taf. 16.

Nymph and corpuscle. Transformations of the Aqua Virgo FRANK FEHRENBACH

In a letter dated July 26, 1543, published in 1550, Claudio Tolomei laments the condition of an antique Roman aqueduct: She [the Aqua Virgo] is the only one of all the aqueducts which is still alive [e rimasa anchor viva], and she comes to Rome, and fulfills many needs, and she ennobles those gardens that are close to her, although she feels the wounds of age and time; and a large part of her is already lost which could [however] easily be recuperated by the industry and diligence of men.1

The humanist Tolomei, a protagonist of the passionate movement to build urban gardens and grottoes after the destructions of the Sacco in 1527, evokes the characteristic combination of nostalgia and technological appeal, of »the lure of antiquity and the cult of the machine« which has been reconstructed so impressively by Horst Bredekamp (1995). The object of desire is an antique hi-tech product that had lost most of its liveliness (viz. function) in Tolomei's day. But not completely, and thus the unrestricted lamentation of ruins turns into a demand. It is the surprising robustness of the rill which keeps the memories of the conduit's former grandeur alive. And it is the historical continuum, ensured by the aqueduct's continuous flow, that marks the core of the cultural transformation to which I dedicate the following pages. Aqua Virgo survived the decline of the Western Roman Empire and remained to a large extent undestroyed, in contrast to the other ten classical Roman aque-

»[...] la qual sola di tutte Paltre acque e rimasa anchor viva, e viene a Roma, e soviene a molti bisogni, e fa nobili que'giardini ehe le son d'appresso; benche anchora ella sente i morsi de la vecchiezza, e del tempo; e buona parte se n'e giä perduta, la qual potrebbe con 1'industria, e diligenza de gli huomini agevolmente riguardarsi.« Cited after Davis (1976/1977), 141, n. 37. Cf. MacDougall (1978). The groundbreaking monograph on the Fontana di Trevi and its conduit remains Pinto 1986. - The argument of this rapid sketch is extensively developed in my forthcoming Compendia Mundi. Gianlorenzo Berninis Fontana del Quattro Fiumi und Nicola Salvis Fontana di Trevi. Kunst, Naturphilosophie, Topographie, Munich etc. 2007 (Deutscher Kunstverlag). I wish to thank Beatrice Kitzinger for her assistance.

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ducts. As the shortest of these aqueducts, Aqua Virgo runs mainly in underground channels (fig. 1), a fact that saved it from the >surgical< war actions of the Ostrogoths and, later on, the Langobards, during their sieges of the urbs.

Fig. l: Underground channel of Aqua Virgo.

Nevertheless, the conduit fell into ruin, because aqueducts require an effective public administration and a credible police power. As everybody knows, even today the state of public water supply is an exact indicator for the corruption of public government. Built in 19 BCE by Agrippa, the son-in-law of Augustus, the >Virgin conduit< originally fed the first monumental public baths on the Campus For the history of the Roman aqueducts and water supply see Taylor (2000). Especially for the Aqua Virgo cf. Pinto (1986), 5 ff.

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Martius, the flat area between the hills and the Tiber. It was here that the shrinking population began to build medieval Rome, half a millenium later. The urban organism reflects in its movement one of the most important metabolic fundamentals of society - the accessibility of water. After the decline of the artificial streams - the aqueducts -, the natural course of the Tiber became again Rome's main artery, as in the city's legendary first four hundred years, providing abundant, but low quality, water, while continuously threatening the population with floods and epidemics.3 As though from the open wound of historic humiliation, though, water still trickled from the lymph of the Aqua Virgo. Meanwhile, the area to the Northeast of Rome where the aqueduct's sources were collected became increasingly marshy, and its antique end point in the Pantheon area fell into ruin. But the truncated conduit, now ending close to the Trevi fountain, still offered its (decidedly distasteful) waters. However, antique literature recalled the original, singular purity of the conduit. Besides the vaunting descriptions of its therapeutic effects by classical Roman authors, the legends of the aqueduct's foundation also make this point explicit. Right at the beginning of his standard reference book, De aquis urbis Romae, Sextus Julius Frontinus, chief administrator of the roman water supply under Traianus, describes the finding of the source at Salone by thirsty soldiers of Agrippa, aided by a local girl (virgo) who indicated the site to the cohort (fig. 2). Virgo appellata est, quod quaerentibus aquam militibus puella virguncula venas quasdam mostravit, quas secuti qui foderant, ingentem aquae modum invenerunt. [...] signino circumiecto continendarum scaturiginum causa.5

Obviously, the connection of military virtus and a maiden's castimonia contributed to the popularity of the Roman legend. Following Frontinus and Cassiodorus, Agrippa inaugurated his work, significantly, on June 9th, the feast day of the Vestals, women who, as virginal priestesses, took care not only of the fire in the hearth, but also of the holiness and purity of water.6

3 4 5 6

Cf. Krautheimer (1981), 86 ff. andpassim; furthermore DOnofrio (1986), 33 ff. Cf. the survey by Lombardi (2003). De aquis urbis Romae I, 10. - Cf. Pace (1986); Bruun/Saastamoinen (2003). On Frontinus' work in the perspective of the history of technology, Landels (1979), 257-262. Simon (1990), 229 f.

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Fig. 2: Legend of the Aqua Virgo (after Graeve, Thesaurus 1732).

This hydraulic sacrality - sit venia verbo - of the Aqua Virgo continued in the Middle Ages, a continuity mirrored in an event that took place just a few steps from the fountain - the miracle of S. Maria in Via.7 In the night between 26th and 27th September 1256, an adjacent well suddenly overflowed and flooded a stable. The terrified eyewitnesses soon noticed that an image of the Madonna swam on the undulating waters (fig. 3). Painted on stone, the image could only be grabbed, however, after the owner of the palace, Cardinal Pietro Capocci, approached and prayed in front of the well. According to local legend, S. Maria in Via, a relatively unimportant church before, was lavishly rebuilt after the miracle. More probably, only a new chapel was commissioned that incorporated the holy well. Pope Alexander IV. Conti inserted the (ducentesque) painting into the corpus of Roman icons and allowed its public veneration. Cardinal Capocci donated the

Until now, literature on S. Maria in Via and the miracle of the well is virtually inexistent. For some outlines see the few pages of Cecchelli (n. d.).

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altar relics - among them, most prominently, a stone from Jacob's well, where Christ proselytized the Samaritan woman.

Fig. 3: Madonna del Pozzo (Santa Maria in Via, Rome).

Soon, the chapel of the new icon became very popular, due to the fact that the faithful were (and still are) invited to drink from the sacred waters of the well (fig. 4). This should be contrasted to the remarkably bad sanitary conditions of the urbs in the 13th century, already emphasized by a shuddering Ferdinand Gregorovius.8 One of the main reasons for this was, of course, the chronic problem of water supply. Indeed, the Tiber still provided drinking water for the city, but general hygiene was severely damaged by the neglect of wells and cisterns. Viewed in this context, it is highly significant that the miracle of the well occurred very close to Aqua Virgo, but in an area >before< the waters of the conduit arrived at Piazza di Trevi, thus claiming almost literal priority over the mouthpiece of the aqueduct. The water of the holy well is actually probably provided by

8

Cf. Gregorovius (1892), Bd. 5, 628. On medieval Roman water supply Coates-Stephens (2003).

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the pipes of the Aqua Virgo, as recent archival findings by Eva Helfenstein implicate.9 Therefore, the nocturnal event at S. Maria in Via seems to respond to an urgent administrative and technological need - the renovation of the antique conduit - by means of a miracle, demonstrating how God Himself forces potable water to rise abundantly, thus substituting the virgo of the aqueduct by the Virgo, Mother of God. The event sheds some bright light on the implicit provocation by the Aqua Virgo as a venerated reminder of the inimitable miracles of antique ars mechanica.

Fig. 4: Chapel of the Madonna del Pozzo (Santa Maria in Via, Rome).

Among other relevant documents, the Archivio del Convento di S. Maria in Via conserves a Concessio aquae Virginispro ecclesla S. Maria in Via from 1639 (inv. IV 14 a).

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Strangely enough, none of the periodic efforts to renovate the aqueduct included the time-honored fountain in the Rione Trevi, de jure administered by the Roman comune at least since the High Middle Ages. Nicolaus V. provided the fountain with a rather modest, old-fashioned, crennelated facade (fig. 5), but his successors, Renaissance popes like Julius II., Leo X., Paul III., or Sixtus V., who radically transformed Rome, did not dare to lay their hands on the provocatively simple building, not even after August 16, 1570, one day after Assunta (!), when the antique abundance of water became finally available again, thanks to restaurations under Pius V.10 Only towards the end of Urban VIII. Barberini's pontificate, was the time finally ripe to demolish the mouthpiece of the Aqua Virgo. Gianlorenzo Bernini was commissioned to move the fountain by ninety degrees in order to make it visible from the Quirinal palace, the papal summer residence (fig. 6).

CN1BVS -MOHVM · VRBKM DVCTV-AQVA-VIRCmi »VET-CWU-TWEST ' 14- 5 3 ·

FONTAHA-DE *TREVE> Fig. 5: The Trevi Fountain of Nicholas V (after Franzini, Descrittione, 1643).

10 Cf. DOnofrio(1986),62.

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»:. Τ..ί^Μ^'13Γ7Γ -•~"":-~*?!*SP!TSW V.j;1·1.·^' '^'"'Nsiffi^^l^^ii*^™*^··1'·.,..",

Fig. 6: Lieven Cruyl, Piazza di Trevi, 1667.

However, even this project got stuck, causing continuous efforts for the next ninety years to dynastically appropriate the Virgin's waters. This process is reflected in the transformation of a common, though erroneous, etymology that identified the ancient conduit with the chthonian powers of life and death. In 1728, during the pontificate of Benedict XIII., plans were approved to adorn Bernini's architectural torso by an ambitious figure program, with a presiding Madonna and the prominent presence of the maiden >Trivia