Topologie.: Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften [1. Aufl.] 9783839407103

Das Thema »Raum« ist äußerst populär, die Vielfalt der Methoden und Gegenstandsbereiche wird jedoch zunehmend unüberscha

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German Pages 332 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Raum – Topographie – Topologie
I. Vom Raum zur Topologie
Räume und Geschichte
›Mind the gap‹: Bemerkungen zur gegenwärtigen Raumkonjunktur aus kulturgeographischer Sicht
Topographie der Lebenswelt
Risse und Felder: zur Raumwahrnehmung im Kino
Der Ort des Raums: zur Heterotopie der Einbildungskraft im ›digitalen‹ Zeitalter
Raum – Kunst – Pathos: Topologie bei Heidegger
II Anfänge der Topologie
Über Links und Rechts und Symmetrie im Barock
Als der Raum sich krümmte: die Entstehung topologischer Vorstellung in der Geometrie
Zwischen Gedankenbrücken und Erfindungsufern: Leonhard Eulers Poetologie des Raums
Die Anfänge der Topologie in Mathematik und Naturphilosophie
III Anwendungsgebiete von Topologie
Die Form des Formlosen: @rchi-Topologie in 10 Punkten
Zwischen-Räume: Kybernetik und Strukturalismus
Psychoanalyse und Topologie – in vier Anläufen
Topologie in der Psychologie: die Feldtheorie von Kurt Lewin
Sozialer Raum und Praktiken: Elemente sozialwissenschaftlicher Topologie bei Pierre Bourdieu und Michel de Certeau
Topologie als literaturwissenschaftliche Methode: die Schrift des Raums und der Raum der Schrift
Zur Topologie des Kinos – und darüber hinaus
›In situ‹: von der Philosophie des Raums zur ortsspezifischen Theorie
Autorinnen und Autoren
Nachweise
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Topologie.: Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften [1. Aufl.]
 9783839407103

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Stephan Günzel (Hg.) Topologie.

Stephan Günzel (Hg.) Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kulturund Medienwissenschaften

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Stephan Günzel Korrektorat: Johanna Tönsing, Bochum Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-710-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort RÜDIGER SCHMIDT-GRÉPÁLY

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E i nlei t u n g

Raum – Topographie – Topologie STEPHAN GÜNZEL

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I Vom Raum z ur Topol ogie

Räume und Geschichte KARL SCHLÖGEL ›Mind the gap‹: Bemerkungen zur gegenwärtigen Raumkonjunktur aus kulturgeographischer Sicht JULIA LOSSAU

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Topographie der Lebenswelt BERNHARD WALDENFELS

69

Risse und Felder: zur Raumwahrnehmung im Kino UTE HOLL

85

Der Ort des Raums: zur Heterotopie der Einbildungskraft im ›digitalen‹ Zeitalter GEORG CHRISTOPH THOLEN

99

Raum – Kunst – Pathos: Topologie bei Heidegger KATHRIN BUSCH

115

II Anfänge der Topol ogie

Über Links und Rechts und Symmetrie im Barock KARIN LEONHARD

135

Als der Raum sich krümmte: die Entstehung topologischer Vorstellung in der Geometrie PETER BORNSCHLEGELL

153

Zwischen Gedankenbrücken und Erfindungsufern: Leonhard Eulers Poetologie des Raums WLADIMIR VELMINSKI

171

Die Anfänge der Topologie in Mathematik und Naturphilosophie MARIE-LUISE HEUSER

183

III Anw e ndungsgebi ete von Topol ogie

Die Form des Formlosen: @rchi-Topologie in 10 Punkten JOACHIM HUBER

203

Zwischen-Räume: Kybernetik und Strukturalismus PETER BEXTE

219

Psychoanalyse und Topologie – in vier Anläufen MAI WEGENER

235

Topologie in der Psychologie: die Feldtheorie von Kurt Lewin HELMUT E. LÜCK

251

Sozialer Raum und Praktiken: Elemente sozialwissenschaftlicher Topologie bei Pierre Bourdieu und Michel de Certeau ROLAND LIPPUNER

265

Topologie als literaturwissenschaftliche Methode: die Schrift des Raums und der Raum der Schrift VITTORIA BORSÒ Zur Topologie des Kinos – und darüber hinaus MARC RIES

279

297

›In situ‹: von der Philosophie des Raums zur ortsspezifischen Theorie KNUT EBELING

309

Autorinnen und Autoren

325

Nachweise

329

Vorw ort

Der Anlass für viele der vorliegenden Beiträge waren zwei Veranstaltungen des Kollegs Friedrich Nietzsche der Klassik Stiftung Weimar. Im Rahmen des Schwerpunktthemas ›Weltdenken‹ fand im November 2005 an der Bauhaus-Universität Weimar das Symposium Topologie. WeltRaumDenken zum Stand der gegenwärtigen Raumdebatte statt. Im März 2006 folgte darauf die Arbeitstagung Topologie2, welche sich vertiefend mit einzelnen Aspekten von Topologie befasste. Für die Vorbereitung und Durchführung der Veranstaltungen möchte ich dem Herausgeber des Bands sowie allen Beitragenden für ihre Mitarbeit und den intensiven Austausch vor, während und nach den Veranstaltungen danken.

Rüdiger Schmidt-Grépály Leiter Kolleg Friedrich Nietzsche

Einleitung

Raum – Topog raphie – Topol ogie STEPHAN GÜNZEL

Der vorliegende Band konturiert einen Ansatz innerhalb der gegenwärtigen Raumdebatte, der von einer einfachen Idee ausgeht: Für kultur- und medienwissenschaftliche Fragestellungen relevant ist nicht der Raum als Begriff einer physikalischen Entität, sondern die Möglichkeit einer Beschreibung räumlicher Verhältnisse hinsichtlich kultureller und medialer Aspekte. – Dies bedeutet, dass der Blick gewendet wird von dem, wie Raum bedingt, hin zu dem, wie Räumlichkeit bedingt ist. In der Mathematik wird dieses Vorgehen, welches der räumlichen Struktur oder den Lagebeziehungen einen Vorrang gibt vor der Substanz oder der räumlichen Ausdehnung, ›Topologie‹ genannt. Daher sind unter dem Ansatz der topologischen Beschreibung hier Beiträge versammelt, die ihre Gemeinsamkeit in dieser besonderen Perspektive auf Raum haben. Sie ziehen zugleich die Konsequenz aus dem Reflexivwerden der Raumdebatte, die sich insbesondere aus der generellen Thematisierung des Raumbegriffs (spatial turn) sowie einer Problematisierung der Repräsentationsformen von Raum (topographical turn) ergeben hat: In beiden Fällen wurde eine Herangehensweise bei der Beschreibung kultureller, sozialer und mediengebundener Räumlichkeit gefordert, welche auf die Analyse und Beschreibung raumkonstitutiver Momente abhebt.

1 Raum Unter den Paradigmenwechseln, welche die Ausrichtung der Kulturwissenschaften seit den frühen 1990er Jahren methodisch wie thematisch verändert haben,1 ist einer der prominentesten der spatial turn.2 Wie bereits 1 2

Für eine Übersicht siehe Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006. Siehe dazu ausführlich den Diskussionsband Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, hg. von Jörg Döring und

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bei dem 1967 durch Richard Rorty inaugurierten linguistic turn3 ist bei allen ›Wenden‹ die begriffliche Fixierung von dem Auftauchen der Denkhaltung zu unterscheiden: So wie die Hinwendung zur Sprache als Grenze des propositionalen Wissens auf Ludwig Wittgenstein zurückgeführt werden kann, ist ein ›spatial turn‹ der Sache nach mindestens bis zur ›Kopernikanischen Wende‹ Immanuel Kants rückdatierbar,4 der Raum nicht als eine Eigenschaft von Dingen, sondern als die Weise des Erscheinens und der Beschreibung physikalischer Körper auffasste. Die Raumkehre am Ende des vergangenen Jahrhunderts unterscheidet sich jedoch deutlich von derjenigen Kants: Anders als in der Epoche Newtons war ›Raum‹ im 20. Jahrhundert nicht mehr nur Gegenstand eines epistemologischen Interesses, sondern vor allem eines politischen. Allemal seit Hans Grimms Roman von 1926 das Schlagwort vom »Volk ohne Raum« geliefert hatte und darin das kollektive Selbstverständnis einer zu spät gekommenen Kolonialmacht im Zentrum des europäischen Kontinents kondensiert schien, drückte der Raumbegriff nicht einen Extensions-, sondern nunmehr einen Expansionsgedanken aus:5 die rechtmäßige Inbesitznahme eines kulturell zugehörigen Naturraums. Diese populärpopulistische Variante hatte ihre akademische Entsprechung nicht allein in der zeitgenössischen Politischen Geographie in Deutschland,6 sondern wurde ebenso auf Lehrstühlen in Großbritannien und Skandinavien betrieben.7 Worauf kritische Humangeographen ab den 1980er Jahren von daher

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Tristan Thielmann, Bielefeld: transcript 2007. – Einschlägig wird gemeinhin Edward Sojas Buch Thirdspace von 1996 angesehen. Die Bezeichnung »spatial turn« kursierte schon im Umfeld der Diskussion, die Sojas vorhergehendes Buch Postmodern Geographies von 1989 ausgelöst hatte. Vgl. The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method, hg. von Richard M. Rorty, Chicago: Chicago University Press 21992 [1967]. – Die Begriffsschöpfung geht auf Gustav Bergmann, einen Teilnehmer des Wiener Kreises, zurück, der den Ausdruck »linguistic turn« bereits in den 1950er Jahren verwendete. (Für eine Kritik der Möglichkeit einer anderen als der sprachreflexiven Wende siehe Karlheinz Lüdeking, »Was unterscheidet den pictorial turn vom linguistic turn?«, in: Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung, hg. von Klaus Sachs-Hombach, Köln: Halem 2005, S. 122-131.) Die erst später so bezeichnete Wende wurde von Kant 1787 mit Blick auf die ›Erfindung‹ der Geometrie zunächst eine »Revolution der Denkart« (Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., S. XI) genannt und mit der Umlauflehre des Kopernikus (De revolutionibus orbium coelestium, 1543) in Verbindung gebracht. Vgl. Werner Köster, Die Rede über den ›Raum‹. Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts, Heidelberg: Synchron 2002. Vgl. Klaus Kost, Die Einflüsse der Geopolitik auf Forschung und Theorie der Politischen Geographie von ihren Anfängen bis 1945, Bonn: Dümmlers 1988; sowie Rainer Sprengel, Kritik der Geopolitik. Ein deutscher Diskurs 1914-1944, Berlin: Akademie 1996. Der Terminus ›Geopolitik‹ geht auf den schwedischen Geographen Kjellén zurück. (Vgl. Rudolf Kjellén, »Geopolitische Betrachtungen über Skandina-

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abzielten,8 war nicht etwa die Weiterführung oder gar Wiederaufnahme dieses Denkens, sondern eine Doppelbewegung, die in einer Hinwendung zu Fragen sozialer Räumlichkeit wie auch in der gleichzeitigen Überwindung eines bestimmten Begriffs von Raum bestand: Es galt somit, zunächst den Zusammenhang zwischen einem spezifischen Raumbegriff und dem Expansionsgedanken aufzudecken. Für den Konnex von Raumbegriff und Raumannexion gab es zwei Gründe: einmal den natürlichen Determinationsgedanken, ein anderes Mal die Substanzvorstellung vom Raum. Der Determinationsgedanke betrachtet (den) Raum in erster Linie als ein Naturwesen in Abhängigkeit von natürlichen Faktoren: Dieser Geodeterminismus ist ein Spross des Aufklärungszeitalters und verlängert antike Motive hinein in die natürlichen Staatslehren; am Anfang stehen Bodin und Montesquieu, am Ende Herder und Hegel.9 Dagegen entwickelte sich im Frankreich des 19. Jahrhunderts eine ›possibilistische‹ Auffassung von Geographie: Namentlich der französische Historiker und Geograph Vidal de la Blache wies darauf hin, dass menschliche Handlungen erhebliche Rückwirkungen auf die Natur haben und nicht (nur) die Natur auf den Menschen. Impulse gingen von hier insbesondere für die Arbeiten der Annales-Schule aus: so etwa für Marc Bloch und Ferdinand Braudel. Wenn diese Historiker heute erwähnt werden, dann zumeist hinsichtlich der Einbeziehung einer deterministischen Geographievorstellung in die Geschichtswissenschaft, beispielsweise als Geschichte der ›langen Wellen‹.10 – Weit wichtiger ist jedoch der von ihnen vollzogene Bruch mit der Substanzvorstellung des Raums: ›Raum‹ ist demnach keine eigenständige Entität, sondern Kultur und Natur sind in einer Funktionsbeziehung miteinander verbunden, wodurch Räumlichkeit allererst hervorgebracht wird. Es ist vor allem dieser Gedanke, den die jüngere Raumreflexion aufgegriffen hat.11 vien«, in: Geographische Zeitschrift 12 (1905), S. 657-671, hier S. 658.) – Für England zu nennen ist etwa John Halford Mackinder. 8 Hierzu gehören im angelsächsischen Bereich neben Soja insbesondere David Harvey und Derek Gregory sowie als gemeinsamer Vorläufer der Soziologe Frederic Jameson. 9 Vgl. Verf., »Geographie der Aufklärung. Klimapolitik von Montesquieu zu Kant«, in: Aufklärung und Kritik 22 (2004), S. 66-91, und 23 (2005), S. 122144. 10 Vgl. Fernand Braudel, »Geschichte und Sozialwissenschaften. Die ›longue durée‹«, a.d. Franz. von B. Classen, in: Geschichte und Soziologie, hg. von Hans-Ulrich Wehler, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1976, S. 189-215 [1958]. – Umstritten ist der Begriff der ›langen Dauer‹ insofern er von Braudel auf die Sozialgeschichte bezogen wurde, von nachfolgenden Autoren aber auch auf die Naturgeschichte, welche bei Braudel jedoch als ›Géohistoire‹ firmiert, so dass es zu einer Vermengung kam, in der das Soziale ›unterhalb‹ der Ereignisgeschichte als naturdeterminiert erschien. 11 Für einen handlungstheoretischen Ansatz der sozialgeographischen Raumbeschreibung im Anschluss an Anthony Giddens macht sich vor allem Benno Werlen stark. (Vgl. Benno Werlen, Zur Ontologie von Gesellschaft und

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Eine Konsequenz des spatial turn kann daher der Verzicht auf eine Bestimmung dessen sein, was ›der Raum‹ ist. – Denn auf die Frage »Was?« ist nur eine Antwort möglich, die Raum ein ›Etwas‹ sein lässt. Besonders kulturgeschichtliche Analysen thematisieren dagegen die Auswirkungen des Industriezeitalters auf Infrastruktur und Ökonomie: ›Raum‹ wird hier als Effekt beschrieben, der etwa aus der Verkürzung der Distanzen zwischen den Metropolen resultiert. Beispielhaft kann an Wolfgang Schivelbuschs Geschichte der Eisenbahnreise erinnert werden, worin der weltweite Ausbau des Schienensystems exemplarisch für die räumlichen Veränderungen in der Moderne untersucht wird. Unter vielen Kulturgeschichten nimmt sich die Studie von Schivelbusch aber dahingehend aus, als er eine Warnung ausspricht, die geradezu als Explikation der Bedingung angesehen werden kann, warum in der jüngeren Raumdebatte mitunter ganz gegensätzliche Auffassungen vertreten werden und einerseits die ›Permanenz‹,12 andererseits das ›Verschwinden‹13 von Raum diagnostiziert wird: Denn Schivelbusch warnt vor dem Trugschluss, die verkehrstechnische Verkürzung von Distanzen und die ›Tilgung der Zwischenräume‹ mit der Auslöschung von Räumlichkeit schlechthin gleichzusetzen.14 – Was verschwindet, sind vielmehr die lebensweltlichen Grundlagen für die Annahme, Raum sei eine unwandelbare Substanz. Schivelbuschs Mahnung geht von daher besonders in die Richtung, das Regime des Raums fortan als durch eines der Zeit abgelöst anzusehen.15 Statt ›Zeit‹ gegenüber ›Raum‹ auszuspielen oder die Substanzraumvorstellung zu rehabilitieren, besteht eine Alternative in dem topologischen Verständnis von Räumlichkeit, das sich von einer Vorstellung verabschiedet hat, die Albert Einstein sinnfällig als »Schachtel (container)«16

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Raum, Stuttgart: Steiner 21999 [1995].) – Als Vorläufer dieses Ansatzes sind hierzulande zudem Dietrich Bartels und Gerhard Hard zu nennen. Vgl. etwa Rudolf Maresch/Niels Werber, »Permanenz des Raums«, in: Raum Wissen Macht, hg. von dens., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 7-30. Exemplarisch formuliert von Paul Virilio, »Der kritische Raum«, a.d. Franz. von Marianne Karbe, in: Tumult 7 (1983), S. 16-27. Vgl. Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Fischer 3 2004 [1977], S. 35-45. – Schivelbusch schließt dabei an den in heutigen Raumdebatten nahezu vergessenen Soziologen Pitirim A. Sorokin und dessen Arbeit Sociocultural Causality, Space, and Time von 1943 an. Zwar trifft zu, dass Entfernungen verkehrstechnisch nicht mehr nur als ›Strecke‹, sondern vor allem in Form der ›Dauer‹ des Streckendurchlaufs gemessen werden, doch ist ein solcher Zeitbegriff nicht weniger problematisch als derjenige des Substanzraums; denn auch dieses Denken beerbt noch die Physik Newtons, in der Zeit definiert wird als die Bewegung eines Körpers durch den Raum. – Somit verhält sich Henri Bergsons Konzept von gelebter Zeit als ›Dauer‹ in Absetzung von Zeit als ›Bewegung‹ derivativ zu dieser. Albert Einstein, »Relativität und Raumproblem«, in: ders., Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 231988 [1917], S. 91-109 [1954], hier S. 93.

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bezeichnet hatte. Für die topologische Raumbeschreibung hilfreich sind dabei Relativierungen, welche von Seiten der Mathematik und Physik nach Newton hinsichtlich der Raumauffassung vorgenommen wurden: Raum wird im Zuge dessen nicht mehr als eine dreifach dimensionierte Entität oder formale Einheit gefasst, sondern anhand von Elementen beschrieben, die relational zueinander bestimmt werden. – Mit anderen Worten: An die Stelle des Ausdehnungsaprioris tritt eine Strukturdarstellung von Raum. Wie sich der Perspektivwechsel durch den topologischen Ansatz in der Beschreibung der Phänomene kultureller Räumlichkeit auswirkt, kann anhand einer noch früheren Raumrevolution verdeutlicht werden: Einer gängigen Lesart der ›Kolumbischen Revolution‹ zufolge tritt darin nicht Zeit an die Stelle von Raum, wie dies für das Industriezeitalter diagnostiziert wird, sondern Unendlichkeit an die Stelle der Endlichkeit. Doch auch diese Interpretation bleibt dem Containerdenken oder vielmehr einer Innensicht des Raumes verhaftet: Zwar erfolgte mit der neuzeitlichen Seefahrt eine stetige Horizontverschiebung, aber die damit einhergehenden territorialen Eroberungen zeigen gleichwohl, dass die Erdoberfläche eine Grenze hat. Warum es dennoch zur Illusion der endlosen Weite des irdischen Raums kommt – gegenwärtig etwa noch in Form der Vorstellung unbegrenzter Kommunikationsmöglichkeiten –, rührt nach dem Medienanthropologen Vilém Flusser schlicht daher, dass Menschen »Würmer«17 seien, die nur zwei Dimensionen bewohnen, das heißt in der Ebene leben. Diese Analogie, welche sich bereits in den Gedankenexperimenten der antieuklidischen Geometrie vorgedacht findet,18 bringt den Umstand auf den Punkt, dass die Erdoberfläche zwar endlos ist hinsichtlich der Möglichkeiten, sie auf verschiedenem Wege zu überqueren, begrenzt aber, was deren Ausdehnung angeht. – Anders gesagt: Die Erde ist unendlich nur als Fläche, endlich hingegen als Raum. ›Offen‹ oder unendlich ist Raum daher erst in der vollen Ausschöpfung der Vertikalen – hinein in das All. Es ist dieser Gedanke, den der Phänomenologe Emmanuel Levinas 1961 angesichts Juri Gagarins Raumflug zum Ausdruck bringt, wenn er formuliert: »Eine Stunde lang hat der Mensch außerhalb jedes Horizonts existiert – alles um ihn herum war Himmel, oder genauer, alles war geometrischer Raum.«19 Levinas wendet sich damit nicht nur gegen die lebensphilosophi17 Vilém Flusser, »Räume«, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Jörg Dünne und Verf., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 22007 [2006], S. 274-285, hier S. 274 [1991]. 18 Vgl. Hermann von Helmholtz, »Über den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome«, in: ders., Schriften zur Erkenntnistheorie, Wien/ New York: Springer 1998 [1921], S. 15-39 [1870], hier S. 35f. – Die Popularität dieser Vorstellung zeigt sich etwa in Edwin A. Abbotts Roman Flatland von 1884. 19 Emmanuel Levinas, »Heidegger, Gagarin und wir«, a.d. Franz. von Eva Moldenhauer, in: ders., Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum,

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sche Geringschätzung der euklidischen Raumvorstellung, sondern wechselt vor allem den Blickpunkt und betrachtet Raum ›von außen‹ – mit anderen Worten: topologisch.20 In dieser Sicht ist der Erdraum, wie Flusser in Nähe zu Einsteins Metaphorik schreibt, »eine niedrige Kiste«.21 Der topologische Perspektivwechsel bezüglich Raum impliziert hier aber gerade nicht, weitere Dimensionen über diejenigen der klassischen Geometrie hinausgehend zu veranschlagen, sondern die Lebenswelt als um eine Dimension vermindert anzusehen: Die dritte Dimension werde demnach noch gar nicht bewohnt.22

2 Topographie Innerhalb der Kulturwissenschaft hat sich in Konsequenz zur Kritik am traditionellen Raumdenken ein Ansatz herausgebildet, der 2002 von Sigrid Weigel als »topographical turn« bezeichnet wurde: Hierin interessieren nicht mehr die Debatten um den angemessenen Raumbegriff, sondern vorrangig die technischen und kulturellen Repräsentationsweisen von Räumlichkeit, wie sie insbesondere in Form von Karten vorliegen; es gehe um die »Untersuchung der Bedeutung topographischer und kartographischer Kulturtechniken für die Konstitution von Kulturen«.23 Weigel distanziert im Zuge dessen eine solcherart definierte Kulturwissenschaft von den ›politisierenden‹ Cultural Studies,24 die Karten vordringlich als Unterdrückungsmittel einer Hegemonialmacht ansehen und in der Folge für eine korrekte Repräsentation eintreten würden. Von daher liegt der Unterschied

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Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag 21996 [1963], S. 173-176 [1961], hier S. 176. Nach Sloterdijk verkündet der Globus selbst die »topologische Botschaft der Neuzeit«, welche besagt, »dass die Menschen Lebewesen seien, die am äußersten Rand eines unebenen Rundkörpers im Weltraum existieren müssen« (Peter Sloterdijk, Sphären, Bd. II, Makrosphärologie: Globen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 828). Flusser, »Räume«, S. 278. Rémi Brague hat entsprechend darauf hingewiesen, dass die kopernikanische Wende nicht auf eine ›Demütigung‹ des Menschen hinauslief (wie Sigmund Freud meinte), sondern ganz im Gegenteil darauf, die Erdoberfläche, welche in der mittelalterlichen Kosmologie als zweitschlechtester Platz vor der Hölle im Inneren der Erde galt, dem Rand des Universums anzunähern – wo ehedem der Sitz des Göttlichen vermutet wurde – und den Sitz des Menschen darüber aufzuwerten. (Vgl. Rémi Brague, »Geozentrismus als Demütigung des Menschen«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1 (1994), S. 2-25 [1990].) Sigrid Weigel, »Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«, in: KulturPoetik 2/2 (2002), S. 151-165, hier S. 159. Siehe in diesem Sinne etwa Jeremy Black, Maps and Politics (London: Reaktion Books 1997) oder viele Arbeiten aus dem Bereich der ›Critical Geopolitics‹.

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in den beiden kulturwissenschaftlichen Ansätzen nicht in der Beschäftigung mit dem Kartenmaterial als solchem, sondern in der Analyse respektive der Nichtbeachtung des kartographischen Dispositivs, verstanden als die materiellen und immateriellen Ermöglichungsbedingungen des Repräsentationalismus. Zwei Beispiele können für den topographical turn angeführt werden, die sich beide um die Kontextualisierung von Erkenntnistheorien im Zeitalter des Repräsentationsdenkens bemühen: Wie zum einen Wolfgang Schäffner mit Blick auf René Descartes zu zeigen versucht,25 geht die niederländische Heeresreform nicht nur zeitlich dem Entwurf seiner Subjektphilosophie voraus, insofern der junge Descartes bei dem Feldherrn Moritz von Nassau diente, sondern liegt dem kartesischen Bewusstseinskonzept direkt zu Grunde, da der Dualismus von ausgedehntem Substanzraum (res extensa) und unausgedehntem Denkraum (res cogitans) im Exerzieren militärisch praktiziert wurde. Nach Schäffner korreliert die Zweiweltenlehre mit der Anordnung von Befehlsgeber und Befehlsempfänger: Die Heeresreform zielte nämlich auf die Etablierung von Nachrichtenkanälen, welche die unverfälschte Umsetzung der standardisierten Befehle ermöglichen sollte, die nicht vor einer Schlacht oder nach Gutdünken der einzelnen Soldaten, sondern während des Schlachtverlaufs und immer auf Geheiß des Feldherrn ausgegeben werden. Wie das Cogito nach Descartes im Besitz der gültigen begrifflichen Repräsentationen der Außenwelt ist, so ist der vom Kampfgeschehen ausgenommene Befehlshaber im Besitz einer eineindeutigen Sprache zur Lenkung seiner Truppen im Feld. In gleichem Maße hebt auch eine Untersuchung des Geographen Franco Farinelli auf die Bedingungen von Immanuel Kants Erkenntnislehre ab, in welcher der Instanz der Vernunft die Aufgabe einer Kritik der eigenen Verstandesleistungen zukommt. Anders als im Fall von Descartes ist Rationalität dabei weniger durch die Dualität Innen/Außen charakterisiert, als vielmehr durch das Zulaufen der Welt auf einen Ort in Form der Abhängigkeit aller Maßstäbe vom Konstruktionspunkt der ›reinen Vernunft‹.26 Farinelli vergleicht diese Struktur mit dem kartographischen Darstellungsverfahren, wie es erstmals von Ptolemäus beschrieben wurde: die Bestimmung eines imaginären Betrachters oberhalb des abzubildenden Erdausschnitts, der als Bezugspunkt für die Projektion dient.27 Im Zuge der 25 Vgl. Wolfgang Schäffner, »Operationale Topographie. Repräsentationsräume in den Niederlanden um 1600«, in: Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, hg. von Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner und Bettina Wahrig Schmidt, Berlin: Akademie 1997, S. 63-90. 26 So sieht Kant die Funktion der regulativen Ideen, welche die Vernunft dem Verstand bereitstellt, wörtlich darin, »Richtungslinien aller seiner Regeln« vorzugeben, die »in einen Punkt zusammenlaufen« (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781/1787), S. 644/672). 27 Farinelli bezieht sich hierbei auf das dritte Konstruktionsprinzip nach Ptolemäus, welches in der antiken Kartographie selbst keine Anwendung fand.

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Wiederentdeckung von Ptolemäus’ Geographia in der Renaissance durch florentinische Maler wurde dieser Punkt schließlich zum elementaren Moment der zentralperspektivischen Bildkonstruktion. Die Akzeptanz der Zentralperspektive als neue Ausdrucksform der Kunst wiederum setzte ein verändertes Wirklichkeitsverständnis voraus und brachte dieses zugleich mit hervor: Aus der ›objektiven Realität‹, die nach der scholastischen Lehre in den Dingen war, wurde die Realität für ein Subjekt. Farinelli formuliert von daher, dass Ontologie nicht das Gegenteil von Geographie ist, weil das Sein darin bloß wiedergegeben werde, sondern dass »Geographie echte Ontologie«28 ist, weil erst die Kartographie eine Objektivität im neuzeitlichen Sinne generiere. Folglich sei Kants Vernunftlehre dem kartographischen Dispositiv der Neuzeit zuzurechnen. An den ›topographischen‹ Analysen von Schäffner und Farinelli ist auffällig, dass sie etwas gänzlich anderes leisten, als die Erfassung des Aggregatszustands einer Realtopographie:29 Zwar wird in dem Vergleich mit Schlachtordnung oder Projektionsgrundsatz behauptet, dass etwas, was gemeinhin als unbedingt angesehen wird (wie die Verstandes- oder Vernunfttätigkeit), seinerseits bedingt ist; was aber verglichen wird, sind Relationen oder Strukturen untereinander und nicht etwa philosophische Texte mit geographischen Daten. Für einen solchen Vergleich ist es letztlich unerheblich, ob Descartes tatsächlich über die Details der Heeresreform unterrichtet oder ob Kant näher mit den Projektionsverfahren der Kartographie vertraut war: Eine direkte Kausalität oder biographische Erklärung ist unerheblich, weil der Nachweis der Zugehörigkeit zum Dispositiv auf einer Strukturentsprechung beruht; und obwohl historisch datierbar, folgt diese nicht aus der topographischen, sondern aus einer topologischen Ordnung. – Michel Foucault hat für solche Bezugsmomente die Bezeichnung »Diagramm«30 verwendet: Im Einklang mit dem semiotischen Diagramm(Vgl. Samuel Y. Edgerton, Die Entdeckung der Perspektive, a.d. Engl. von Heinz Jatho, München: Fink 2002 [1975], S. 85-112.) 28 Franco Farinelli, »Von der Natur der Moderne. Eine Kritik der kartographischen Vernunft«, a.d. Ital. von A. Bodisch und Dagmar Reichert, in: Räumliches Denken, hg. von ders., Zürich: vdf 1996, S. 267-300, hier S. 275. 29 Von diesem Ansatz zu unterscheiden sind wissensgeschichtliche Beschreibungen konkreter Settings, insbesondere in Laboren und Schreibstuben, wie sie sich in den Arbeiten von Latour angelegt finden. (Vgl. Bruno Latour/Steven Woolgar, The Social Construction of Scientific Facts, Beverly Hills: Sage 1979.) – Eine solche topographische Beschreibung kehrt damit zunächst zu einer ›deterministischen‹ Raumauffassung zurück, jedoch mit dem Unterschied, dass es nicht um die naturräumliche, sondern um eine laborräumliche Bedingtheit von Kultur geht, in der über feste Konstellationen hinaus das Prozessuale bedeutsam wird. (Vgl. hierzu den einschlägigen Sammelband Kultur im Experiment, hg. von Henning Schmidgen, Peter Geimer und Sven Dierig, Berlin: Kadmos 2004.) 30 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, a.d. Franz. von Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 152004 [1975], S. 264. – Vgl. dazu Gilles Deleuze, »Topologie: ›Anders denken‹«, in: ders.,

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begriff von Charles S. Peirce wird damit eine Ähnlichkeitsbeziehung bezeichnet, die nicht auf einer Identität der Erscheinung (ikonische Ähnlichkeit) beruht, sondern auf struktureller Homologie:31 Eine architektonische Skizze, der Plan einer Schlachtordnung oder auch Karten werden daher nicht als Abbilder der Welt auf ihre Repräsentativität hin befragt, sondern als Ausdruck eines konstitutiven Relationsgefüges angesehen. Im gleichen Maße wie also der spatial turn sich abwendet von substantiellen Raumkonzepten, übersteigt der topographical turn die Topographie des Raums hin zu einer Identifikation strukturierender und konstitutiver Momente von Räumlichkeit.

3 Topologie In der Topologie geht es kurz gesagt darum, die Entsprechungen im Verschiedenen zu beschreiben oder um die Identifikation einander ähnlicher Strukturen.32 Während in einer topographisch-kritischen Hinsicht danach gefragt würde, was sich räumlich verändert, wenn etwa eine Karte vorgibt ›nur zu repräsentieren‹, wird unter topologischen Gesichtspunkten zunächst danach gefragt, was gleich bleibt, wenn ein Betrachter meint, etwas habe sich verändert. Zurückzuführen ist der topologische Ansatz auf die Zeit der Algebraisierung von Geometrie: Also auf jenen Moment, in dem eine anschauliche Repräsentation von Raum und Raumkörpern in einen unanschaulichen, weil gerechneten oder nur errechenbaren Raum überführt wird. Einschlägig hierfür ist die briefliche Auseinandersetzung zwischen Gottfried Wilhelm Leibniz und Samuel Clarke als Verfechter NewFoucault, a.d. Franz. von Hermann Kocyba, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 5 2006 [1986], S. 69-172, hier S. 114ff.; und Petra Gehring, »Paradigmen einer Methode. Der Begriff des Diagramms im Strukturdenken von M. Foucault und M. Serres«, in: Diagrammatik und Philosophie, hg. von ders., Thomas Keutner, Jörg F. Maas und Wolfgang Maria Ueding, Amsterdam/Atlanta: Rodolpi 1992, S. 89-105. 31 Vgl. Steffen Bogen/Felix Thürlemann, »Jenseits der Opposition von Text und Bild. Überlegungen zu einer Theorie des Diagramms und des Diagrammatischen«, in: Die Bildwelten der Diagramme von Joachim von Fiore. Zur Medialität religiös-politischer Programme im Mittelalter, hg. von Alexander Patschovsky, Ostfildern: Thorbecke 2003, S. 1-22. 32 Die mathematische Topologie kann sich dabei entweder auf Probleme in der Ebene beziehen und hat dabei vor allem ›Netze‹ zum Gegenstand; sie kann sich auf Äquivalenzen im dreidimensionalen ›Raum‹ beziehen und vergleicht dann vor allem räumliche Gebilde miteinander; sie kann ferner mengentheoretisch gefasst werden und Gruppen von ›Elementen‹ oder im Sinne der n-dimensionalen Beschreibung ›Mannigfaltigkeiten‹ bestimmen. – In letzter Variante geht es insbesondere um die Aufprägung einer Struktur auf eine Menge von Elementen. (Für einen Überblick siehe Bradford H. Arnold, Elementare Topologie. Anschauliche Probleme und grundlegende Begriffe, a.d. Amerik. von Helmut Freund, Gerhard Holland und Arnold Kirsch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 31974 [1964].)

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tons von 1715/16: Leibniz bezweifelte die Notwendigkeit, für eine Raumbeschreibung von dem Kräftespiel der Materie ausgehen zu müssen; vielmehr reiche die Bestimmung der Relationen von Körpern oder Beziehungspunkten aus.33 Leibniz begründete seinen Ansatz mit einem Argument gegen den Anthropomorphismus der zeitgenössischen Physik: Unter Absehung vom körperlichen Vergleichsmaßstab sind deren Grundbegriffe (wie ›Bewegung‹) letztlich bedeutungslos und deshalb aus mathematischer Sicht unbrauchbar.34 Eine erste Umsetzung erfährt der von Leibniz unfertig zurückgelassene Ansatz der von ihm so bezeichneten ›Analysis situs‹ mit Leonhard Eulers Graphentheorie: Diese erlangte wiederum Bekanntheit durch die Lösung eines zeitgenössischen Rätsels, das zur Aufgabe hatte, alle sieben Brücken der Stadt Königsberg nur einmal zu überschreiten und am Ende wieder am Ausgangspunkt anzugelangen. Ohne vor Ort zu sein, löste Euler das Problem prinzipiell, indem er die Relationen vom physischen Raum abstrahierte: Gleich wie weit der Weg zwischen den Brücken ist, entscheidend sind die Verknüpfungen, das heißt die jeweilige Anzahl von ›Kanten‹, die in einem ›Knoten‹ verbunden sind. Erst Ende des 19. Jahrhunderts etabliert sich die Topologie in der Mathematik unter dem von Johann Benedict Listing 1847 eingeführten Namen als die Lehre »modaler Verhältnisse räumlicher Gebilde«:35 Einfluss auf die neue Algebra haben neben Leibniz’ Lageanalyse auch die Ansätze der später sogenannten ›nichteuklidischen‹ Geometrie, zu deren Vordenkern auch Listings Lehrer Carl Friedrich Gauß gehörte: Darin wurde versucht, unter Verzicht auf die Annahme von sich in der Unendlichkeit einer Ebene nicht schneidenden Linien, zu einer alternativen und allgemeineren Axiomatik als derjenigen der Flächengeometrie zu kommen, so dass diese als deren Spezialfall behandelt werden kann. Ebenso wie hier auf die Annahme einer festen Eigenschaft des Raums verzichtet wird, kann Topologie in der Folge auch im Dreidimensionalen auf eine Anbindung an die Containerraumvorstellung Newtons verzichten, weil sie die Beschreibung der Lagebeziehungen von ihrer physikalischen Existenz oder ihrer Materialität abkoppelt. – Dies bedeutet, dass die Strecken zwischen den Punkten einer Relation jede mögliche Form annehmen können, nur ihre spezifi33 Siehe Gottfried Wilhelm Leibniz, »Briefwechsel mit Samuel Clarke (Auswahl)«, a.d. Engl. von Volkmar Schüller, in: Raumtheorie, S. 58-73 [1717]. 34 Nach Leibniz bedinge erst der »Körper des Beobachters« die räumliche »Ungleichheit«: »Denkt man sich […], dass der Zuschauer gleichsam nur ein geistiges Auge besitzt, dass er sozusagen ganz in einem einzigen Punkte konzentriert ist, und weder in Wirklichkeit noch in seiner sinnlichen Vorstellung über Vergleichsgrößen verfügt, […] so wird gar kein Unterschied zu Tage treten.« (Gottfried Wilhelm Leibniz, »Zur Analysis der Lage (1693)«, a.d. Lat. von Artur Buchenau, in: ders., Philosophische Werke in vier Bänden, Bd. 1, hg. von Ernst Cassirer, Neuausgabe, Meiner: Hamburg 1996 [1904], S. 49-55 [1858], hier S. 52.) 35 Johann Benedict Listing, »Vorstudien zur Topologie«, in: Göttinger Studien 2 (1847), S. 811-875, hier S. 814.

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sche Verbundenheit bleibt bestehen: Raum kann Bernhard Riemann zufolge daher auch gekrümmt, gedehnt oder gestaucht sein;36 wesentlich ist für die jeweilige Topologie, dass es zu keiner Unterbrechung der Verbindungen zwischen den strukturierenden Punkten kommt. Mit dem Wissenstransfer des topologischen Ansatzes in die Kulturund Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert bleibt der mathematische Anspruch erhalten: Eine Raumbeschreibung ist unvollständig oder geht vielleicht gar fehl, wenn sie sich auf die Beschreibung von Erscheinungsräumlichkeit einerseits oder topographischer Kontingenz andererseits beschränkt. Im 20. Jahrhundert wird Topologie solcherart von Vertretern der Phänomenologie wie auch des Strukturalismus aufgegriffen:37 Während der Strukturalismus der ursprünglichen mathematischen Konzeption mithin stärker verpflichtet ist, insofern die topologische Struktur als dem Raum unbedingt vorgängig angesehen wird, ist dem phänomenologischen Ansatz eigen, dass er in der Raumbeschreibung zunächst immer von einer Erfahrungsräumlichkeit auszugehen versucht, um darin jedoch Elemente zu bestimmen, welche den besonderen Modus dieser Erfahrung im Allgemeinen charakterisieren. In der Phänomenologie sind dabei wiederum zwei Richtungen anzutreffen: eine eher auf die ›Logik‹ und eine stärker auf den ›Topos‹ fokussierte Form von Topologie. – Ein Vertreter der ersten Gruppe ist der Verhaltenswissenschaftler Kurt Lewin: Bereits in seinem frühen phänomenologischen Essay über die Kriegslandschaft von 1917 hat er den Versuch unternommen, die Struktur dieses ›Feldes‹ durch eine Bestimmung von Gefahrenzonen und Schwellenbereichen zu beschreiben, welche die leibliche Erfahrung der Kriegssituation auszeichnen.38 Lewin wird mit seinem Ansatz zu einem der führenden Umweltpsychologen avancieren und das Konzept des »hodologischen Raums«39 vertreten: Als einen solchen begreift Lewin den jeweiligen Wegeraum (gr. hodos, Weg), der aus den Bewegungen und Handlungen Einzelner oder von Gruppen resultiert und der

36 Vgl. Bernhard Riemann »Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen (1854)«, in: Bernhard Riemann’s gesammelte mathematische Werke und wissenschaftlicher Nachlass, hg. von Richard Dedekind und Heinrich Weber, Leipzig: Teubner 1876, S. 255-269 [1867]. 37 Eine Schlüsselfigur im Übertrag von Leibniz’ Raumvorstellung auf kulturwissenschaftliche Fragestellungen ist Ernst Cassirer, der sowohl dem phänomenologischen Ansatz nahe stand als auch über Claude Lévi-Strauss auf den Strukturalismus Einfluss ausübte. (Siehe etwa den Text über die Ordnungen des Raums von Ernst Cassirer, »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum«, in: Raumtheorie, S. 485-500 [1931].) 38 Kurt Lewin, »Kriegslandschaft«, in: Raumtheorie, S. 129-140 [1917]. 39 Vgl. Kurt Lewin, »Der Richtungsbegriff in der Psychologie. Der spezielle und allgemeine hodologische Raum«, in: Psychologische Forschung 19 (1934), S. 249-299.

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als ein Kanalsystem beschreibbar ist, in dem Entscheidungsmöglichkeiten raumlogisch wirksam sind.40 Ein Vertreter der zweiten Gruppe ist Martin Heidegger, der »Topologie«41 im Sinne der ›Fundamentalontologie‹ begreift. Diese wird im Frühwerk Heideggers als Bestimmungsdisziplin der Möglichkeitsbedingungen von Existenz als ›Dasein‹ oder ›In-der-Welt-Sein‹ konzipiert. In seinem Spätwerk reflektiert Heidegger sodann auf die räumlich-strukturellen Voraussetzungen dieser Existenzbedingungen und greift dazu auf die aristotelische Toposlehre zurück:42 Nach Aristoteles ist ›Ort‹ eine Art Hohlform der Gegenstände oder das Gegenstück zu deren Oberfläche. Räumlichkeit wird solcherart als Epiphänomen der Dinge oder Effekt exemplarischer ›Ortschaften‹ bestimmt. Heidegger sucht mit diesem von ihm selbst als »Kehre«43 bezeichneten Perspektivwechsel letztlich der kantianischen Raumbestimmung als Formalität der Anschauung ihrerseits ein lebensweltliches Fundament zu geben, wobei die Identifikation dessen, was übergreifend raumbedingend wirke, unter der Chiffre des ›Seyns‹ versammelt oder an anderer Stelle auch als »Erde«44 angesprochen wird. Unter französischen Theoretikern wird der topologische Ansatz in einem direkten Austausch mit der Mathematik weiterentwickelt. Dem Strukturalismus liegt dabei eine Raumauffassung zu Grunde, die Gilles Deleuze auf den Begriff »reines spatium«45 gebracht hat: Im Gegensatz zur 40 Außerhalb der Psychologie greift etwa auch Jean-Paul Sartre diese Sichtweise auf und beschreibt die Intersubjektivität als gegenseitige Anerkennung und Nichtung, wodurch Räumlichkeit strukturiert werde. (Vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, a.d. Franz. von Hans Schöneberg und Traugott König, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 102004 [1943], S. 547.) – Merleau-Ponty gibt dieser Beschreibung schließlich eine ontologische Wendung und spricht vom »topologischen Raum als Modell des Seins« (Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare gefolgt von Arbeitsnotizen, hg. von Claude Lefort, a.d. Franz. von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels, München: Fink 3 2004 [1964], S. 271). 41 Martin Heidegger, »Zur Seinsfrage«, in: ders., Wegmarken, Frankfurt a.M.: Klostermann 31996 [1967], S. 379-419 [1955], hier S. 406. 42 Für einen Versuch, Heidegger direkt auf die mathematisch Topologie zu beziehen vgl. Beatrice Nunold, Her-vor-bringungen. Ästhetische Erfahrungen zwischen Bense und Heidegger, Wiesbaden: DUV 2003, S. 153-161. 43 Vgl. Martin Heidegger, »Die Kehre« [1949], in: ders., Die Technik und die Kehre, Stuttgart: Klett-Cotta 102002 [1962], S. 37-47. 44 Martin Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36)«, in: ders., Holzwege, Frankfurt a.M.: Klostermann 82003 [1950], S. 1-74, hier S. 32. 45 »Was struktural ist, ist der Raum, aber ein unausgedehnter, prä-extensiver Raum, reines spatium, das sich nach und nach als Ordnung der Nachbarschaft herausgebildet hat und in dem der Begriff der Nachbarschaft zunächst einen ordinalen Sinn hat und nicht eine Bedeutung in der Ausdehnung.« (Gilles Deleuze, »Woran erkennt man den Strukturalismus?«, in: ders., Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, hg. von David Lapoujade, a.d. Franz. von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003 [2002], S. 248-281 [1973], hier S. 253.)

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Konnotation des deutschen Terminus »Raum«, welcher ein Volumen oder vielmehr das ›Platzschaffende‹ betont, zielt der romanische Terminus eher auf Erstreckung oder die Relationalität, wie sie etwa noch im hiervon abgeleiteten Wort »Spazieren« enthalten ist.46 Das ›reine Spatium‹ im Sinne von Deleuze ist daher die von dieser Tätigkeit abstrahierte Struktur. Genau dieser Ansatz lässt die strukturalistische Raumauffassung mit dem topologischen Raumverständnis der Phänomenologie vergleichbar werden. Während die Phänomenologie jedoch den Bezug zur Erfahrungsräumlichkeit aufrechterhalten will, spielt dieser für den Strukturalismus kaum noch eine Rolle. Diese Betonung des Relationalen führte schließlich erst zur Aufmerksamkeit auf den mathematischen Ansatz. Zu wichtigen Vertretern von Topologie im Strukturalismus gehören vor allem Michel Serres und Jacques Lacan,47 welche die topologische Strukturanalyse im direkten Austausch mit der Mathematik weiterentwickeln: Dies geschieht einerseits im Kontext der Kybernetik, die sich im Wortsinn mit der Frage der ›Steuerung‹ und daher mit Schaltungen und deren Relationen befasst, andererseits im Kontext der Psychoanalyse, die nach den konstitutiven Strukturen des Psychischen fragt und im Zuge dessen verschiedene Figuren der Veranschaulichung von topologischen Ordnungen zum Einsatz bringt: So setzt Lacan etwa bei Freuds psychischer ›Topik‹ als einer dreipoligen Relation von Ich, Über-Ich und Es an und identifiziert diese als die Instanzen des ›Realen‹, des ›Imaginären‹ und des ›Symbolischen‹. Diese Strukturmomente beschreibt Lacan als (in einem »borromäischen Knoten«) miteinander verflochten, das heißt als drei Schleifen, die ihren Zusammenhalt gegenseitig garantieren. Während von kybernetischer Seite eine Topologie als ›raumeffektiv‹ im Sinne der Erzeugung von Relationalität angesehen wird, dienen topologische Modelle in der Psychoanalyse somit vor allem zur Thematisierung psychischer und gesellschaftlicher Komplexität.48 – Gleichwohl ist der Beitrag zur to-

46 Der Soziologe Michel de Certeau hat von diesem Verständnis ausgehend die topologische Beziehung der ›Orte‹ als ein Resultat ›spatiierender‹ Praktiken beschrieben. (Vgl. Michel de Certeau, »Praktiken im Raum«, a.d. Franz. von Ronald Voullié, in: Raumtheorie, 343-353 [1980].) 47 Auch in der strukturalistischen Semiotik hat sich zeitnah ein topologisches Verständnis in der Analyse von Texten herausgebildet. (Vgl. Jurij M. Lotman, »Zur Metasprache typologischer Kultur-Beschreibung«, a.d. Russ. von Adelheid Schramm, in: ders., Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, hg. von Karl Eimermacher, Kronenberg Ts.: Scriptor 1974, S. 338-377 [1969].) 48 Dies wird deutlich, wenn berücksichtigt wird, was etwa Lacan an der Topologie interessiert: Figuren wie ein in sich verdrehtes und daher nicht mehr in Innen- und Außenseite unterscheidbares ›Möbiusband‹, mit dem Lacan die Unmöglichkeit ›verbildlicht‹ sieht, im Sprechen über die Sprache auf die Referenz hinauszugelangen, sind in erster Linie Veranschaulichungen und interessieren in ihrem analogischen Wert. – Zur Attraktivität topologischer Gestaltgebung vgl. den Band Verkehrte Symmetrien. Zur topologischen Imagi-

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pologischen Beschreibung nicht gering: Dies gilt einmal für die Aufmerksamkeit auf neue Möglichkeiten der Raumgestaltung, wie sie etwa in der mit topologischen Transformationen operierenden Architektur erfolgt,49 zum anderen hat sie den Blick auf das gelenkt, was nicht nur die Identität von Strukturen, sondern auch den Unterschied zwischen verschiedenen Topologien ausmacht oder vielmehr wie ein ›Riss‹ die topologische Struktur zerstören und darüber verändern kann. Aktuelle Beschreibungen in Phänomenologie und Strukturalismus widmen sich vor allem der Topologie politischer und medialer Ordnungen: Auf strukturalistischer Seite setzt etwa Giorgio Agamben bei Foucaults Konzept der ›Lagerung‹50 als signifikanter Raumstruktur des 20. Jahrhunderts an und bestimmt diese mit Hilfe der mengentheoretischen Axiomatik als eine Form der ›einschließenden Ausschließung‹:51 Im Inneren der Nationalstaaten würden mit den Internierungslagern Zonen etabliert, in denen die Gültigkeit des Rechts aufgehoben ist. Für die Lagerinsassen gilt nur noch die Wirklichkeit der Willkür oder ein Gesetz ohne Inhalt. Agamben stützt sich dabei auch auf Hannah Arendt, die jenen Zustand als die Aufhebung der Trennung von privatem Innen- und öffentlichem Außenraum beschrieb:52 Nach Agamben bedeutet dies, dass es zu einer Privatisierung des öffentlichen Raums kommt, insofern eine Machtinstanz ihr Vorgehen nicht mehr legitimieren muss, wenn sie selbst als legitimierende Kraft auftritt.53 Von Seiten der Phänomenologie hat zuletzt Boris Groys eine ortlogische Interpretation des Aurabegriffs nach Walter Benjamin vorgeschlagen: Dessen Bestimmung des Kunstwerks impliziere eine »Topologie der Aura«,54 wenn er mit der (qua technischer Reproduktion erzeugten) Un-

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nation in Kunst und Theorie, hg. von Wolfram Pichler und Ralph Ubl, Wien: Turia+Kant 2007. Vgl. dazu etwa Hajo Berressem, »ArchiteȤkturen. Überlegungen zu einer Topologie der Torison«, in: DisPositionen. Beiträge zur Dekonstruktion von Raum und Zeit, hg. von Michael Scholl und Georg Christoph Tholen, Kassel: Gesamthochschule 1996, S. 51-79. Vgl. Michel Foucault, »Von anderen Räumen (1967)«, a.d. Franz. von Michael Bischoff, in: Raumtheorie, S. 317-329 [1984], hier S. 318. Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, a.d. Ital. von Hubert Thüring, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 62006 [1995], Kap. 1, »Das Paradox der Souveränität«, S. 30-40. Vgl. Hannah Arendt, »Der Raum des Öffentlichen und der Bereich des Privaten«, in: Raumtheorie, S. 420-433 [1958]. Dies ist das Vorgehen eines Souveräns, der Schmitt zufolge definiert wird als derjenige, der »über den Ausnahmezustand entscheidet« (Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin: Duncker & Humblot 82004 [1922], S. 11). – Zu dem von Foucault und Agamben identifizierten Raumschematismus siehe den Band Auszug aus dem Lager. Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas in der politischen Philosophie, hg. von Ludger Schwarte, Bielefeld: transcript 2007. Vgl. Boris Groys, »Die Topologie der Aura«, in: ders., Topologie der Kunst, München/Wien: Hanser 2003, S. 33-46.

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unterscheidbarkeit von Kopie und Original operiert. Nicht die materielle Beschaffenheit entscheidet demnach über den Status eines Artefakts, sondern dessen Ort: Das Readymade ist ein Original, egal wie viele gleichartige Objekte es außerhalb des Museums gibt. Entscheidend ist die von seiner Materialität unabhängige Lokalisierung, die es zum Original macht. Entwickelt Groys seine Interpretation auch entlang von Kunstwerken, so kann sie doch auf Medien im Allgemeinen angewandt werden, deren Leistung darin besteht, Inhalte zu transportieren und derart zu präsentieren, dass sie für den Benutzer von ihrem Träger unterscheidbar sind.55 Anders gewendet: Im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit ist zwar der Träger kein Original mehr, wohl aber der Inhalt, welcher mit Hilfe von Duplikaten verbreitet wird. – Doch dies ist nur ein Zwischenschritt der Medienentwicklung: Im Zuge des digitalen Datenaustausches werden auch Duplikate überflüssig, so dass nicht mehr die Trägerkopie zum Rezipienten kommen muss, sondern dieser den Ort der Information aufsucht. Damit tritt das Womit des Informationstransports zurück, statt dessen relevant wird das Woher der Information: die ›Adresse‹. Wenn vergangene und gegenwärtige Topologien in Strukturalismus, Phänomenologie sowie anderen Gebieten je nach fachlicher Herkunft auch unterschiedlich ansetzen, so ist ihnen doch die veränderte Perspektive auf Räumlichkeit gemeinsam: Die Stärke eines topologischen Vergleichs gegenüber dem Substanz- wie auch dem Kontingenzraumansatz kann durchaus als der Mittelweg begriffen werden, auf dem versucht wird, demjenigen, worum sich Kultur- und Medienwissenschaften bemühen, gerecht zu werden: Dass es eine Berechtigung für diese Perspektive gibt, zeigen die Konsequenzen des spatial turn und des topographical turn für die Raumbeschreibung: In beiden ›Raumkehren‹ hat sich eine Relations- oder Konstitutionsbeschreibung nicht nur als möglich, sondern geradezu als angemessen erwiesen. – Die erste als Rückkehr zur Naturraumbeschreibung misszuverstehen, wäre daher ebenso falsch, wie die zweite als Aufforderung zu begreifen, eine Kartierung des Kulturraums vorzunehmen.

4 Zu den Beiträgen Allen Beiträgen des Bandes ist gemeinsam, dass sie dafür eintreten, die Diskussion, welche in der jüngeren Vergangenheit um Räumlichkeit in den Kultur- und Medienwissenschaften geführt wurde, spezifisch zu fassen und dabei die Möglichkeit der topologischen Beschreibung zu diskutieren. Die Beiträge des ersten Teils (»Vom Raum zur Topologie«) legen dabei jeweils eine Kritik an bestehenden Raumkonzepten und Methoden der 55 Vgl. Lambert Wiesing, »Was sind Medien?«, in: ders., Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 22006 [2005], S. 149-162.

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Raumbeschreibung vor oder treten bereits explizit für einen topologischen Zugang ein: In einem ersten Schritt betont der Historiker Karl Schlögel die Relevanz der historischen Ortsanalyse und führt diese anhand der Stadtbeschreibung von St. Petersburg vor. Vergleichend dazu tritt die Kulturgeographin Julia Lossau für eine Raumbeschreibung ein, welche die Produktion von Räumlichkeit erfasst und zugleich kritisch gegenüber essentialistischen Beschreibungen ist. In einem zweiten Schritt geht der Philosoph Bernhard Waldenfels auf die Voraussetzungen für eine Analyse der Lebenswelt in räumlicher Hinsicht ein und stellt im Zuge dessen die phänomenologische Beschreibung von Heterotopien vor. Die Medienwissenschaftlerin Ute Holl wiederum kontextualisiert die phänomenologische Raumbeschreibung anhand einer Betrachtung der technischen Bedingung des wahrnehmungstheoretischen Zugangs unter besonderer Berücksichtigung des Kinos. Im dritten Schritt legt Georg Christoph Tholen die Notwendigkeit einer Transformation der Konzeption räumlicher Anschauung nach Kant unter medialen Bedingungen dar. Eine entsprechende Umsetzung stellt schließlich Kathrin Busch im Ausgang von Heidegger und mit Blick auf die Beschreibung von Kunstwerken als Erzeugung von Räumlichkeit vor. Der zweite Teil (»Anfänge der Topologie«) stellt die Entstehung der mathematischen Topologie vor: Zunächst geht die Kunsthistorikerin Karin Leonhard auf die neuzeitliche, insbesondere barocke Beschäftigung mit Fragen der Drehrichtung und Symmetrie ein, wofür Darstellungen von Schneckengehäusen einschlägig sind. Peter Bornschlegell thematisiert sodann die Voraussetzungen von Topologie mit Blick auf Gauß und die nichteuklidische Geometrie. Wladimir Velminski wiederum stellt Eulers Lösung des ›Königsberger Brückenproblems‹ im Detail vor und geht dabei auf die Gemeinsamkeiten mathematischen und poetischen Denkens ein. Abschließend vergleicht die Wissenschaftshistorikerin Marie-Luise Heuser die ›Analysis der Lage‹ nach Leibniz mit dem Topologiebegriff von Listing und zeigt, welchen Einfluss dynamistische Naturphilosophien auf die moderne Konzeption von Topologie hatten. Im dritten Teil des Bandes (»Anwendungsgebiete von Topologie«) werden einzelne Bereiche vorgestellt, in welchen sich ein topologischer Beschreibungsansatz außerhalb der Mathematik etabliert hat. Der erste Beitrag enthält ein Zehnpunkteprogramm, mit dem Joachim Huber die in Architektur und Stadtplanung bereits vollzogene Wende zur Topologie rekapituliert und dazu aufruft, diese auf weitere Bereiche der Gestaltung anzuwenden. Der Kultur- und Medienwissenschaftler Peter Bexte stellt ausgehend von Serres und Fragestellungen der Kybernetik das strukturalistische Topologiekonzept vor, welches auf einer Logik der Zwischenräumlichkeit beruht. Daran anschließend zeigt die Psychoanalytikerin Mai Wegener, wie topologische Modelle bei Lacan nicht nur die Funktion einer Oberflächenbeschreibung unbewusster Strukturen innehaben, sondern

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auch eine Rolle in der therapeutischen Praxis spielen. Auf das Werk von Lewin stützt sich die darauf folgende Darstellung des topologischen Ansatzes in der Psychologie durch Helmut Lück, der darüber die Zugehörigkeit der Feldtheorie zum Funktionsdenken und ihre heutigen Anwendungsmöglichkeiten vorstellt. Die topologische Konzeption in den Sozialwissenschaften stellt Roland Lippuner entlang der Soziologie Bourdieus sowie dem Handlungskonzept bei de Certeau dar und thematisiert beide im Hinblick auf eine Beschreibung alltäglicher Raumpraktiken. Die Romanistin Vittoria Borsò entwickelt in ihrem Beitrag ausgehend von einer Analyse der Erzählungen Borges’ den topologischen Ansatz der Literaturwissenschaften und entfaltet in sieben Thesen ein zugehöriges Aufgabenspektrum. Der Kunst- und Medientheoretiker Marc Ries stellt sodann den topologischen Ansatz der Medienästhetik anhand einer Analyse des Kinos und in Abgrenzung von topographischen Beschreibungen vor. Mit Blick auf Blanchot und Benjamin tritt zuletzt Knut Ebeling für eine ästhetische Theorie ein, die ortsspezifisch argumentiert und sich konkreten Konfigurationen widmet.

I Vom Raum zur Topologie

Räume und Geschichte KARL SCHLÖGEL

1 ›Spatial turn‹ als Steigerung v o n Au f m e r k s a m k e i t Ein Historiker, der professionell Geschichte und Geschichten erzählt, kommt ohne die Reflexion seines Handwerks nicht aus; aber diese philosophische Haltung macht ihn noch nicht zum Philosophen. Als Historiker interessieren mich die Möglichkeitsbedingungen von Geschichte und Geschichtsschreibung: Dazu gehört das Nachdenken darüber, dass Geschichte in Raum und Zeit spielt, sich ereignet und »stattfindet«. Soweit ich auf Grund meiner historischen Studien urteilen kann, hat sich eine spontane, »naturwüchsige« Dominanz der Temporalität eingespielt, für die es keine wirklich stichhaltige Begründung gibt. Ich kam zu diesem Schluss jedoch nicht auf Grund einer Grundlagenreflexion geschichtsphilosophischer Art, die durchaus legitim ist, sondern auf Grund einer Reflexion meiner eigenen Forschungspraxis. Das Resultat dieser Reflexion ist nicht die Proklamation eines spatial turn, sondern die Überzeugung, dass die Steigerung der Aufmerksamkeit für die räumliche Dimension geschichtlichen Geschehens unabdingbar für eine Geschichtsschreibung auf der Höhe der Zeit ist. Die Fähigkeit gesteigerte Aufmerksamkeit zu entwickeln ist aber nicht primär die Sache eines methodischen Dezisionismus und einer paradigmatischen Wende, sondern hat mehr zu tun mit Geschichtskultur, mit Erfahrung im Umgang mit Materialien, Dokumenten, mit der Ausbildung der Register transtemporaler, generationsübergreifender, eben: historischer Kommunikation, kurz: mit der Erfahrung des Geschichte Recherchierenden und Geschichte Schreibenden. So etwas muss man lernen – die Einsicht und die Bereitschaft vorausgesetzt. Ich halte eine Geschichtsschreibung, die nun (nach einer langen Zeit einer gewissen Blindheit oder Unaufmerksamkeit) partout zu einer »Geschichte von Räumen« werden will, für einen Irrweg und eine Sackgasse, eine jener grassierenden Moden mit immer kürzerer Verfallszeit: Der »Raum« der Geschichtsschreibung steckt zwischen den Zeilen, in der

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Ausbildung des Blicks, in der Entfaltung der Register der Wahrnehmung und der Geschichtsschreibung. Man sieht – selbst wenn der Terminus Raum nicht vorkommt – einer Geschichtserzählung an, ob sie eine Ahnung davon hat, wovon sie spricht oder nicht. Und was eine für die räumliche Dimension aufmerksam gewordene Geschichtsschreibung leisten kann, entscheidet sich nicht primär in der Begriffsklärung, sondern in der Bewältigung einer Geschichte, das heißt in der Angemessenheit und Stimmigkeit eines Narrativs. – Hier liegen die weithin ungelösten Probleme.

2 Städte als Dokumente ›sui generis‹ Städte sind für Historiker Dokumente sui generis. In ihnen laufen die Lebenslinien von Abertausenden, manchmal von Millionen von Menschen zusammen. Sie sind alt, das Resultat der Arbeit vieler Generationen, aber pulsierende und vibrierende Punkte sind sie nur, weil sie Tag für Tag im gesellschaftlichen Lebensprozess neu erschaffen werden. In ihnen potenzieren sich, wenn die Geschichte es will, Energie und Genie ganzer Bevölkerungen, aber sie sind auch Schauplatz selbstzerstörerischer Rivalität und tödlicher Agonie. Städte stehen für Aufstieg und Niedergang ganzer Kulturen. Wenn wir wissen wollen, wie es um Gesellschaften bestellt ist, blicken wir auf die Städte als die Punkte ihrer maximalen Verdichtung. Sie sind wie ein aufgeschlagenes Buch der Geschichte, in dem wir nur zu lesen verstehen müssen. In ihnen kristallisieren sich Epochen. Epochenbrüche hinterlassen ihre Spuren und ihre Narben. Sie sind als steinerne Chroniken das umfangreichste und massivste Dokument, das sich denken lässt: zusammengefügt aus Straßen, Plätzen, Bauwerken, über Ebenen oder an Flussufern hingestreckt. Aber wenn es darum geht, ihren Geist, ihre Atmosphäre, den genius loci zu fassen, dann reicht häufig nicht einmal die feinste Witterung von Dichtern aus, sie zu fassen: Sie sind Schauplätze historischer Ereignisse, aber auch sie selbst haben eine Geschichte, sind historische Gebilde, sind von Menschen gemacht. Sie geben die Bühne ab für dramatische Vorgänge. Im Stadtraum kommt alles zusammen: die Zeit, der Ort, die dramatis personæ. Der Stadtraum ist alles in einem: öffentlicher und privater Raum, bebauter Ort und imaginäre Welt. – Wir sind sicher: es gibt die eine unverwechselbare Stadt, aber wenn wir uns ein Bild von ihr machen wollen, dann stellen wir fest, es gibt so viele Bilder und so viele Perspektiven von ihr wie Menschen, die darin leben. Städte sind Helden sui generis, Subjekte aus eigener Kraft und Machtvollkommenheit, aber an ihnen lässt jeder Herrscher, der auf sich hält, seinen Willen und seine Machtvollkommenheit aus. So werden sie von ihnen geschmückt und von ihnen gezeichnet. Manche Epochen haben dafür gesorgt, dass ganze historische Schichten aus dem Antlitz der Städte getilgt und zum Verschwinden gebracht worden sind. Man braucht einen Aussichtspunkt,

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um Städte überblicken zu können, aber ihr Geheimnis erschließt sich doch erst, wenn man sich ins »Dickicht der Städte« begibt. Man kann in Städten lesen und »Städte lesen« ist eine schlagende Metapher, aber bei näherem Hinsehen zeigt sich doch, dass es sich um etwas anderes handelt: um Orte, die man begeht und Räume, in denen man herumwandert. Der Modus ihrer Lektüre ist das Umherwandern in praxi und im Kopf. Mit dem Flaneur, den Franz Hessel »Priester des Ortes« genannt hat, teilt der Historiker die Hingabe und Aufmerksamkeit für den Ort, von ihm unterscheidet er sich dadurch, dass all seine Schritte, Wendungen, Entscheidungen begründet, rational nachvollziehbar und »intersubjektiv überprüfbar« sind. Das beginnt schon mit der Benennung der Gründe und Voraussetzungen, warum diese und nicht eine andere Stadt, weshalb jetzt und nicht früher oder später.

3 Al s B e i s p i e l : P e t e r s b u r g – d e r h i s t o r i s c h e O r t d e r e r n e u t e n V e r g e g e nw ä r t i g u n g Jeder Zugang auf einen Gegenstand (hier: die Stadt mit den Namen Sankt Petersburg/Petrograd/Leningrad) hat seine Voraussetzungen und seinen historischen Ort. – Für den Versuch einer Neuerschließung Sankt Petersburgs zu Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es gute, naheliegende Gründe: Man könnte die 300. Wiederkehr der Gründung der Stadt im Jahre 2003 als Anhaltspunkt nehmen. Freilich sind 300 Jahre für eine europäische Stadt keine lange Zeit und nicht gerade ein denkwürdiges Alter. Eher sind es die Umstände dieses Jubiläums im Jahre 2003: Eine Stadt, die einmal die Hauptstadt des Russischen Reiches gewesen war, dann aber für gut achtzig Jahre die Rolle der zweiten Hauptstadt gespielt hat, eine Stadt, die ihre ursprüngliche Bedeutung mit all ihrem Glanz eingebüßt hatte, war mit einem Mal wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt, gab für den kurzen Augenblick der Jubiläumsfestlichkeiten die Bühne für eindrucksvolle internationale Empfänge und Staatsbesuche ab. Die russische Regierung leitete enorme Mittel in die Stadt, um Renovierungen und Restaurierungen im großen Stil und unter Höchstdruck durchzuführen. Es war, als sollte binnen kürzester Zeit an der Stadt wiedergutgemacht werden, was man an ihr jahrzehntelang versäumt hatte. Doch wenn nicht alles täuschte, dann waren die Jubiläumsfeierlichkeiten nur der fällige Anlass, das willkommene Datum für einen Vorgang, der grundlegender Art war und sich nicht allein auf ein Fest beschränken ließ. Zehn Jahre waren schon seit 1991 vergangen, da die Stadt ihren alten Namen wieder angenommen hatte. Sie war wieder präsent mit ihrem lange Zeit verfemten Namen, der in sowjetischen Zeiten für die untergegangene, die überwundene Epoche, für die »Petersburger Epoche der russischen Geschichte« gestanden hatte. Freilich war die Rückbenennung der Stadt, wie

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immer bei Namensänderungen, nicht reine Willkür, sondern nur Indikator für etwas Wesentliches: Die Wiederkehr des alten Namens signalisierte eine Neu- und Umwertung der Geschichte, der Stellung und der Leistung, die mit dem Namen der alten Reichshauptstadt verbunden war wie umgekehrt der Bedeutung der Petrograder und Leningrader Epoche in der 300-jährigen Geschichte der Stadt. Die dramatischen Umstände der Rückbenennung der Stadt – es waren die Augusttage 1991, während des Putschversuchs konservativer Kräfte in Moskau, die den Prozess von Perestrojka und Glasnost aufzuhalten versucht hatten – signalisierten, dass in einer geschichtlichen »Umwertung aller Werte« alles neu verhandelt werden würde. Die Rückbenennung war ein zunächst nur symbolischer Akt für ein neues Selbstbewusstsein der jahrzehntelang zurückgesetzten, an die Peripherie gerutschten und provinzialisierten alten Reichshauptstadt. Es war ein Zeichen, dass die Beziehungen zwischen den beiden Hauptstädten neu ausgehandelt würden. Es war ein Zeichen für die Europäer: Wir, die Stadt an der nordöstlichen Peripherie Europas; wir, die einstige Hauptstadt des Russischen Reiches, das »Palmyra des Nordens« sind auf die geistige Landkarte Europas zurückgekehrt. Die Stadt, die aus dem Horizont der Europäer herausgefallen, und allenfalls noch ein historischer, literarischer oder kunsthistorischer Begriff war, war in den Horizont der Europäer zurückgekehrt. Sie meldete sich zurück als eine Stadt mit einem spezifischen Geschick, ja Schicksal im 20. Jahrhundert. Die Stadt an der Newa war bis 1917 eine Schwesterstadt von Wien und Berlin, Konstantinopel, Paris und London gewesen: vor dem Ersten Weltkrieg ein Zentrum imperialer Machtentfaltung, in den Wirren von Krieg und Revolution Schauplatz jener »10 Tage, die die Welt erschütterten«, an den Rand gedrängt und provinzialisiert nach der Verlegung der Hauptstadt nach Moskau. Und schließlich hat sich in Petersburg wie überall, wo der Staatssozialismus sowjetischer Provenienz zu Ende gekommen war, die Stadt als Ort des Zivilen, Urbanen, der Kräfte der Selbstorganisation, des Lokalen und Regionalen gegenüber dem Etatistischen und Imperialen zu Wort gemeldet. Es sind diese drei Momente – der Wiedereintritt in den europäischen Horizont, die Neuverteilung der Gewichte im postsowjetischen Russland, die Regeneration des Urban-Zivilen in einem Europa, das dabei ist, seine Spaltung zu überwinden und sich wieder als Ganzes zu denken –, die ein neues Interesse und eine neue Perspektive auf die Stadt an der Newa generierten. Wir müssen nur einen kurzen Blick auf die Vergangenheit werfen, um zu sehen, dass dieser Blick nicht immer derselbe war, dass er sich historisch gewandelt hat, dass jeder Blick auch seine Konjunkturen und Einstellungen hat. Für die Generation des Ersten Weltkrieges war Petrograd ein eminenter und wie selbstverständlicher Schauplatz europäischer Geschichte. Aber schon in den 1920er Jahren fuhr man aus dem Westen zuerst und oft ausschließlich nach Moskau, und dann erst nach Leningrad, wie die

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Stadt seit 1924 hieß; man suchte die Stadt gleichsam nur noch als ein Reservat der Vergangenheit, des Abgelebten, als Themenpark der »Welt von gestern« auf. Leningrad war nicht die Stadt, in der die »Entstehung der neuen Welt« besichtigt werden sollte, sondern eher des morbiden Charmes wegen. Leningrad war, je länger desto mehr, Peripherie, Museum, Endpunkt, an dem es nicht weiterging. Und obwohl die Stadt mit ihren technisch-intellektuellen Potentialen in der Zeit der Industrialisierung die ganze Sowjetunion versorgt hatte, war sie vorzugsweise nicht eine Stadt der Gegenwart, sondern der Vergangenheit: ein grandioses Museum und abhängig von Subsidien, über deren Vergabe anderswo, in Moskau, entschieden wurde. Es gibt nur einen Moment, in dem die Stadt wieder ins öffentliche Bewusstsein trat und sich gleichsam ein zweites Mal begründet hat, diesmal als »Heldenstadt«: in den Tagen der Blockade, des Widerstands und des Ausharrens gegen die Umklammerung durch die deutsche Wehrmacht. Das Ende der Sowjetunion mit all ihren Verwerfungen hat die Stadt wieder an die Schnittstelle von Europa und Russland zurückkatapultiert und ein neues Kapitel in ihrer Entwicklung wie in ihren Beziehungen zu Russland wie zu Europa aufgeschlagen. Es ist dieser historische Augenblick, von dem aus ein anderer Blick auf die Stadt generiert wird.

4 Historiographie und Topographie: ein neues Interesse für Schauplätze Es hat sich nicht nur auf der Objektseite – die Stadt Petersburg – etwas getan und geändert, sondern auch auf der Seite der Betrachter, seien sie nun aufgeweckte Zeitgenossen oder Historiker. Das Ende des Kommunismus oder des Sowjetsystems hat ja nicht nur die Analytiker des politischen Systems, die Politologen, die Ökonomen, die Statistiker auf die Probe gestellt, sondern auch die Historiker. Die Zeitdiagnostiker waren bekanntlich überrascht. Man sprach von einem »Zusammenbruch«, von einer »Implosion«, obwohl es sich doch eher um eine kontrollierte Demontage gehandelt hatte, und man hatte übersehen, dass es »im System« selbst herangereifte Kräfte waren, die den Ausweg aus der Krise gesucht und gefunden hatten. Im Erklärungsnotstand waren indes nicht nur die politischen Kommentatoren, von denen die einen meinten, die Stabilität »des Systems« sei überschätzt worden, während andere behaupteten, sie seien schon immer und seit jeher von einer prekären Labilität ausgegangen. Auch in der Geschichtswissenschaft wurde der Streit der Deutungen – schon vor dem formalen Ende der Sowjetunion – offen ausgetragen. Das »totalitäre System« war endlich, wie schon lange »prophezeit«, kollabiert, und doch musste man eine Erklärung dafür finden, wie sich ein »Notstands-Regime« fast 80 Jahre hatte halten können. Es gab genügend Gründe, die Gesamtbilanz des Sowjetkommunismus neu zu verhandeln, und sich über die longue

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durée, über Kontinuität und Diskontinuität, über die Mächtigkeit zivilgesellschaftlicher und städtisch-urbaner Traditionen in einem Agrarland zu verständigen. Endlich bot sich post festum, nach dem Ende des Ost-WestKonfliktes, nach dem Ende des Kalten Krieges, die Chance der Historisierung, die Geschichte jenseits des politischen Systemwettstreits zu ihrem Recht kommen zu lassen, den Bolschewismus/Kommunismus einzuordnen in die Kontinuität russischer Geschichte und damit auch den Stellenwert der Petersburger Periode russischer Geschichte neu zu diskutieren. Viele Wege sind seither, nicht zuletzt durch die Tore der endlich geöffneten russischen Archive, beschritten worden: in den Alltag, in die Nachtmahre der Gewalt, in die soziale Aufstiegsmobilisation, in die Neubegründung im Großen Vaterländischen Krieg, in die Welt der russischen Provinz. Russlands Geschichte wird neu vermessen. Die Akzente verschoben sich: vom Interesse für Kollektivsubjekte zum Interesse für Individuen und Biographien, von der Bearbeitung von Strukturen zur Vertiefung in Lebenswelten, von der Fixierung auf System, Plan und Ökonomie zu einem Interesse für das Chaotische und Eigensinnige der Geschichte, vom Studium von Doktrinen hin zur Erschließung von kulturellen Codes. Einer der neuen Wege in die russische Geschichte war: sich umsehen auf dem historischen Schauplatz. Das bedeutete: sich vor Ort umzusehen (warum gab es kaum eine Geschichte von Städten, Regionen, Provinzen?), sich in Mikromilieus umzusehen (warum gab es kaum Studien über Intellektuellenzirkel, Personenverbände, Patronageverhältnisse, ethnische Netzwerke?), sich zu beschäftigen mit der Produktion von mentalen Verfassungen und Haltungen (warum gab es so wenig Studien über Lebensstile, Wert-Orientierungen?). – Nicht nur die Archive waren plötzlich geöffnet, verändert waren auch der Blick und die Wahrnehmungsweise: Die Möglichkeit zur Recherche vor Ort, zur Besichtigung der Schauplätze, wo alles gespielt und wo sich alle Dramen entfaltet hatten, gehört mit zu den Nebeneffekten des Endes des sowjetischen Kommunismus. »Schauplatz« ist hier nicht nur physischgeographisch gemeint. Den hatte es auch vorher schon gegeben, als das obligatorische Einführungskapitel in Geographie, Klima, Flora und Fauna, wie es seit jeher zu jeder anständigen Geschichte Russlands gehörte. Doch war dieser Schauplatz oft nur als tote Bühne für die geschichtlichen Ereignisse, als »objektive« Bedingung und Umgebung zitiert, der geschichtliche Raum als bloßer Container, in dem etwas sich ereignete, nicht als vielfältig konstituierter und produzierter, eben: historischer Raum. Die Vergewisserung der räumlichen Verhältnisse geschichtlicher Entwicklung und die Rekonstruktion des Geschichtsraumes Russland – von manchen auch als »spatial turn« bezeichnet oder gar proklamiert – ist gewiss eine der Weisen, in denen die Geschichtsschreibung, auch die Geschichtsschreibung Russlands, neu instrumentiert wird. Im vorliegenden Falle richtet sich das Interesse auf Sankt Petersburg, welches für uns Heutigen, die Augenzeugen des postkommunistischen

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Russland und des an der Wiedergewinnung seiner Einheit arbeitenden Europas, erneut wichtig geworden ist. – Aber welches Sankt Petersburg kommt uns dabei in den Blick? Es handelt sich nicht so sehr um die Gründung Peters des Großen, den ans Meer vorgeschobenen Stützpunkt, nicht so sehr um die kaiserliche Residenz- und Reichshauptstadt, sondern um Petersburg als dynamisches Zentrum des russischen Kapitalismus und der ersten Globalisierung, einer rasanten Klassenbildung und sozialen Aufwärtsmobilisation, der Entstehung der modernen Massenkultur und der Zivilgesellschaft, all jener Prozesse, die Petersburg um 1900 zu einem Zentrum des modernen Europa hatten werden lassen und all jener Prozesse, die 1917 so abrupt endeten, dass an deren Ende der Untergang dieses Zentrums der europäischen Moderne stand. Die Fragestellung lautet also: Wie gewinnen wir eine genauere Vorstellung, die uns helfen könnte, das russische Drama besser zu verstehen. Und die Antwort lautet zunächst und vielleicht zu knapp: indem wir uns umsehen auf dem Schauplatz des Geschehens, der Ereignisse. Vielleicht können wir am Ende einer solchen Ortsbesichtigung oder Ortsbeschreibung – Topo-graphie – vermelden, was wir besser und genauer sehen als zuvor. Ortsbeschreibung in einem elementaren Sinne gehört hierzu zuerst. Ortsbeschreibung muss, da sie nie systematisch gelehrt worden ist, wieder gelernt werden. Aber Ortsbeschreibung ist zugleich mehr. Sie ist die Rekonstruktion der Genese und des Verfalls von sozialen, kulturellen, mentalen usf. Räumen. Sie interessiert sich dafür, wie Räume produziert werden und wie sie sich auflösen oder zerstört werden. Historische Topographie ist eben daher historisch, weil sie die Produktion und Destruktion von Räumen gedanklich mitvollzieht, nachvollzieht. Eine historische Topographie Sankt Petersburgs/Petrograds/Leningrads in jenem hoch dynamischen Epochenraum zwischen ca. 1890 und 1930 liefert Elemente für eine Geschichte, in der Ort und Zeit mühelos und organisch miteinander verschmolzen sind: für Petersburg als Chronotop europäischer Geschichte.

5 Mit der Oberfläche beginnen Das Plädoyer, mit der Oberfläche zu beginnen, resultiert nicht aus einer Bevorzugung eines phänomenologischen vor einem wesenslogischen, eines mehr sensualistischen vor einem begrifflich-definitorischen Zugang, und schon gar nicht aus einem bestimmten theoretischen Temperament – obwohl auch das eine große Rolle spielt für unsere intellektuellen Operationen. Das Plädoyer für das Studium der Oberfläche ist Resultat eines reflektierten und reflexiven Umgangs mit dem »geschichtlichen Material«. Die Oberfläche zeigt die Verfassung eines Objektes jetzt, in ihrem JetztZustand, und das bedeutet, in ihrer Zeitlichkeit, also: Geschichtlichkeit. Der Newski-Prospekt, über den wir heute wandern, zeigt in seiner Jetzt-

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Verfassung, wie es um ihn bestellt ist, wie man mit ihm als repräsentativem öffentlichen Raum »umgeht«. An der Art dieses Umgangs – seiner Verwahrlosung oder seiner Gediegenheit, seiner Inszenierung als stilvollkosmopolitane »Flaniermeile« oder als Las-Vegas-Imitat – zeigt sich das Verhältnis der Gegenwart, der jetzt lebenden Generation zur Vergangenheit, wie sie in der gebauten Geschichte sich verkörpert hat. Es ist hier wiederum wie mit Dokumenten und Texten: Man kann ihnen gegenüber – nach Nietzsche – eine kritische, eine antiquarische oder eine monumentalistische Haltung einnehmen. Das Studium der Oberfläche richtet sich daher nicht allein auf die Unendlichkeit und Vielfalt der sinnlichen Erscheinungen, sondern auf die Feststellung ihres Zustands, auf ihre historische Verfasstheit, die analysiert und interpretiert werden. Der zweite Aspekt ist, dass das Studium der Oberfläche schon lehrt, worauf es bei einer gesteigerten Aufmerksamkeit ankommt, nämlich Beziehungen, Bezüge, Zusammenhänge, Kontexte, Konfigurationen wahrzunehmen und ernst zu nehmen. Nur im Abschreiten des Newski-Prospekts erschließt sich die Komplexität des städtischen öffentlichen Raumes, nur in der Blickachse fügen sich die Bauten und Aspekte zusammen, die den Raum NewskiProspekt zu dem machen, was er war, nur in der vollen Drehung um die eigene Achse werden all die Bezüge sichtbar, die isoliert, für sich genommen, keinen Bezug ergeben. Diese Erfahrung hat etwas mit der Dreidimensionalität des Raumes zu tun und ist durch keine andere Erfahrung ablös- oder ersetzbar. Es handelt sich hier um die Anerkennung eines elementaren Sachverhaltes, der freilich gänzlich in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Und schließlich die Sinnlichkeit der konkreten Erscheinungen: Auch die Schulung der Augen, der Sinne im weitesten Sinne, gehört zum Programm von »die Oberfläche studieren«. Die Schulung der Sinne, das Training des Auges, des Gehörs usf. ist nicht weniger wichtig als die Schulung in Akten- und kritischer Quellenkunde. Wie wir mit Quellen umgehen, was wir an ihnen haben, was wir aus ihnen herauslesen, ergibt sich aus dem kritischen Gebrauch geschulter Sinne. Geschult heißt hier auch im ganz konventionellen Sinne: Training des Formensinns, des Gespürs für die kulturellen und künstlerischen Formen, und das heißt: der für deren Schulung zuständigen Disziplinen: Kunstgeschichte, Design, Musik, Architektur, Städtebau und anderen. »Mit der Oberfläche beginnen« bezieht sich auf unendlich viele Gegenstände oder Sachverhalte, und wie immer bei der Auswahl von Gegenständen, ist dies nicht bloß Sache von Intuition und Temperament, sondern Sache rationaler Begründungen und »intersubjektiv nachvollziehbarer Entscheidungen«. »Mit der Oberfläche beginnen« kann demnach Analyse von Stilformen an Fassaden, des Verlaufs von Straßen und Platzfiguren, des Interieurs oder Designs, des Zustands einer Buchhandlung oder eines Archivs, der Naturverhältnisse (Wasserführung, Klimabeobachtungen, Baumbestand in den Parks) sein. Ob wir in der Erscheinungen

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Vielfalt untergehen oder uns an einem starken Erkenntnisinteresse entlang vorarbeiten, gleichsam den Roten Faden knüpfen, diese Frage stellt sich hier nicht anders als auf den übrigen Feldern jeder Wissenschaft auch. Selbstverständlich kann man auch mit der Literatur, mit dem »Petersburger Text« im buchstäblichen Sinne beginnen, also mit jener Existenz der Stadt in den im Laufe ihrer Geschichte verfertigen Texten. Es handelt sich hier gleichsam um die Produktion des imaginären Raumes und Ortes, um das Spiel seiner Metamorphosen und Dekonstruktionen. Es wird alles daran hängen, wie man den literarischen »Petersburger Text« mit dem lebensweltlichen in Beziehung setzt, wie die Balance hergestellt wird und ob die logozentrischen Engführungen, in deren Vollzug die imaginierte Stadt an die Stelle der reellen zu treten droht, vermieden werden.

6 Ar c h ä o l o g i e d e s L e b e n s p r o z e s s e s Es versteht sich von selbst, dass es beim Lesen der Oberflächen nicht bleiben kann. Die »Lektüre« der Oberfläche ist immer schon außerordentlich voraussetzungsreich, basiert auf enormem Vorwissen und impliziert selbst schon ein Verstehen von Zusammenhängen, die in den Zeichen angedeutet oder festgeschrieben sind. Die Zeichen werden gleichsam zu den Anhaltspunkten für weitere Recherchen, der Leser verwandelt sich in einen Spurenleser, ja in einen Archäologen. Die Metapher des Archäologen, des Spurenlesers, der Sonden in den Boden einlässt, Grabungen veranstaltet, Fragmente und Partikel zusammensetzt, um sich ein Bild vom Ganzen machen zu können, passt nicht weniger als das vom Deuter von Zeichen und Hieroglyphen. Historiker sind Archäologen untergegangener Lebensformen, Detektive und Interpreten von vergangenen Lebensaktivitäten – ob Haupt- und Staatsaktion oder belanglose Alltagspraxis – und all ihre Energie geht, wenn sie die in die Vergangenheit zurückgesunkenen Lebenszusammenhänge – Städte, Familien, Staaten usf. – rekonstruieren wollen, darauf, die »unsichtbaren Städte« (Italo Calvino) zu vergegenwärtigen, eine wahre Titanenarbeit. In der Regel wird dies arbeitsteilig und für ein konkretes, überschaubares Segment getan: die Frauen im Hause, die Fabrikarbeiter in einer bestimmen Zeche, das Vereinsleben in einem bestimmten Ort und bestimmten Jahrzehnt. Sich auf die Stadt als social fabric, als »sozialem Reproduktionsprozess im Ganzen« einzulassen, ist eine unerhörte Herausforderung, die uns von vornherein Bescheidenheit, ja Demut lehrt, von der jene Historiker, die »alles im Griffe« oder alles eben »auf den Begriff gebracht« haben, sich nur eine unzureichende Vorstellung machen. Es bedeutet, sich hineinzudenken und hineinzuarbeiten in Lebenskontexte und Lebensläufe, die sich hier in der Stadt dann verdichten und verschlingen wie nirgendwo sonst. Es bedeutet, sich der Schwerkraft der Lebensprozesse auszusetzen und sich eine Vorstellung von den

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Zeitmassen zu verschaffen, von denen wir Heutigen radikal getrennt und in gewissem Sinne ausgeschlossen sind. All diese Studien sind immer auch Übungen in historischem Takt, ohne den es in der Geschichtsschreibung nicht abgeht, wenn sie anders als besserwisserisch sein will. Aber auch hier ist es wiederum nichts anders als was auch sonst für die Profession gefordert wird: Dass der Historiker sich sowohl der Anteilnahme wie der Distanz befleißige, dass er »sich hineindenke« in seine Figuren, seine Zeit, seine Kontexte, dass er es aber auch unterlasse, einer naiven Vorstellung von »Identifikation« anzuhängen, die nur noch als Fiktion, Farce oder sentimentaler Kitsch zu haben ist. Die Rekonstruktion untergegangener Lebensformen, Praktiken, Lebensläufe, noch dazu in ihren Verschlingungen an einem Punkt höchster Konzentration – die Stadt – ist freilich nur als regulative Idee zu haben, als Ermutigung zur Gesamtsicht. Es gibt hier keine abstrakte Regel, wie »man es machen muss«, sondern allein das Empfinden für die richtigen Maßbestimmungen für das, was bei überlegenem Wissen riskiert, aber bei beschränkten Kräften auch verantwortet werden kann.

7 Räumliche Imagination Historische Arbeit ist Arbeit der Vergegenwärtigung, Aufrufen und Rekonstruktion einer Geschichte gewordenen Vergangenheit. Ihr plus ultra lautet, eine Geschichte so zu rekonstruieren und zu erzählen, wie sie – frei nach Leopold von Ranke und gemäß den Regeln des kritischen historischen Handwerks – »hätte gewesen sein können«. Diese Arbeit verläuft nach gewissen, über Generationen von Historikern erprobten, aber nie zu Ende gekommenen kritischen Verfahren, die es erlauben, Geschichte als wissenschaftlichen Beruf zu unterscheiden vom Geschäft des Schriftstellers. Die Trennung von Fakten und Fiktionen ist fundamental, unaufhebbar bei aller Verwandtschaft, die an den Randzonen der Disziplinen zuweilen beobachtet werden können. Der Historiker kommt um die Verantwortung, die ihm zufällt, nicht herum. Und doch ergeben noch so viele gewissenhaft recherchierte Daten und Fakten – res gestae – noch nicht die Geschichte – historia. Es geht ohne den aktiven Anteil, ohne die synthetische und rekonstruktive Arbeit dessen, der die Geschichte erzählt, nicht ab. Zu den Fähigkeiten und Kompetenzen, welche die synthetische und narrative Qualität generieren, gehört vielerlei: eine starke und zugleich kontrollierte Vorstellungskraft, eine Phantasie, welche die Brücke schlägt in die andere Zeit, von welcher der Nachgeborene ausgeschlossen ist, die Empathie, Sich-hinein-Denken, das Zwiegespräche mit den vergangenen Generationen, mit den Toten also, ermöglicht. Geschichtsschreibung gibt es so wenig ohne historisch-kritische Urteilskraft wie ohne starke und disziplinierte Vorstellungskraft. Diese Vorstellungskraft kann sich auf unterschiedliche

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Felder oder Zuständigkeiten konzentrieren. Dies ist vermutlich eine Frage der historischen Bildung, nicht zuletzt aber auch des individuellen Temperaments. Die Vorstellungskraft kann sich auf das Visuelle richten – auf Bilder, Gestalten –, aufs Strukturelle und Soziologische – die Verhältnisse der Subordination, Hierarchie, Klassenverhältnisse, Institutionen. Unterschiedlich entwickelt sein dürfte auch der Sinn für Zeitrhythmen, Zeitverhältnisse, Temporalität. Und erst recht verschieden ausgeprägt ist der Sinn für die räumliche Dimension von geschichtlichen Prozessen, obwohl allenthalben und schon rein sprachlich Zeit und Ort niemals getrennt werden können. Alle Geschichte hat einen Ort, »findet statt«. Alle Geschehnisse und Ereignisse bedürfen eines Schauplatzes so sehr wie des historischen Personals. Vielleicht gerade weil es so selbstverständlich ist, wird keine gesonderte Mühe darauf verwandt, das Geschichtliche an die Orte und an die Räume zu binden, an denen und in denen es sich ereignet. Die Zeit beansprucht im Denken der Historiker eine geradezu natürlich-naturwüchsige Dominanz, für die es, wie Reinhard Koselleck gezeigt hat, keinerlei wirklich begründete Rechtfertigung gibt. So kommt es, dass wir Geschichten und geschichtliche Erzählungen haben, die von Ortsangaben wimmeln – keine Geschichte lässt sich ohne Angabe des Ortes erzählen –, aber sie existieren in der Regel als bloße Namen, sind leer. Sie führen ein stummes, blindes, unentfaltetes Dasein. Die Bildung der räumlichen Imagination, oder auch: die Kultivierung und das Explizitmachen des Bewusstseins von den räumlichen Bezügen aller geschichtlichen Vorgänge, wäre daher ein unschätzbar großer Gewinn. Es gibt zweifellos eine Geschichtsschreibung, in der mehr die soziale als die geographische Imagination zum Zuge kommt, so wie es auch ein philosophisches Denken gibt, in dem die Zeit eine größere Rolle spielt als der Ort. Es geht hier gar nicht darum, eine Tugend durch eine andere zu ersetzen, sondern allein darum, dass alle Register geschichtlicher Wahrnehmung geschärft, geschult, entwickelt werden, nicht zu reden von den Registern der Darstellung, also der Geschichtsschreibung selbst. Das Explizitmachen der räumlichen Bezüge geschichtlicher Ereignisse ist nichts anderes als die Explikation der Komplexität geschichtlicher Vorgänge und Prozesse. Diese Fähigkeit ergibt sich nicht nebenher, sondern sie kann gelernt, geschärft, trainiert werden. Aber sie kann auch verkümmern.

8 Produktion und Rekonstruktion geschichtlicher Räume Wenn klar geworden ist, dass Geschichte einen Ort hat, dann sollte auch ein Gedanke auf die andere Seite verwendet werden: dass auch Örter und Räume eine Geschichte haben. Es könnte nach dem bisher Gesagten das Missverständnis eintreten, mit der Beschreibung der örtlichen, der geogra-

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phischen Verhältnisse sei es getan. Freilich ist es schon ein großer Gewinn, mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut zu sein, zu wissen, wovon die Rede ist, wenn eine Geschichte erzählt wird. Und in der Regel bedienen ortskundige Führer oder Legenden, die der Schilderung der Ereignisse beigegeben sind, auch jenes Mindestmaß an Information. Aber dass Räume eine Geschichte haben, ist eine sehr viel weitergehende Beobachtung und These. Räume sind in einem gewissen Sinne »gemacht«, »produziert«. Nichts anderes meinen wir, wenn wir sagen, dass Räume geschichtlich konstituiert sind. Mit einem willkürlichen Machen, wie es in Zeiten der konstruktivistisch-dekonstruktivistischen Hochkonjunktur zuweilen verstanden worden ist, hat das nichts zu tun. Die geschichtliche Konstitution von Räumen, die Geschichtlichkeit von Räumen bezieht sich auf die vielen Dimensionen und Schichten von Räumen. Naturräume »sind gegeben«, aber sie sind selbstverständlich geworden, haben eine Geschichte, wenn auch eine nach Jahrtausenden bemessene. Stadträume sind »gemacht«, aber doch im Rhythmus von Generationen, über Jahrhunderte hinweg und sind selbst schon wieder eine vorgefundene, »natürliche« Bedingung für die nachfolgenden Generationen. Individuelle Erfahrungs- oder Lebensräume sind ganz und gar an die individuelle Lebenszeit und Lebensperspektive gebunden. Wir können also, grob gesprochen, Räume von unterschiedlicher »Tiefe« und »Kohärenz«, von »Konstitutions- und Verfallsdauer« ausmachen. Man könnte sie vielleicht schematisch als Makroräume (der Natur), als Mesoräume (der geschichtlichen Epochen) und als Mikroräume der individuellen Lebens- und Ereignisabläufe fassen. Hier interessieren insbesondere jene mittleren Räume, in denen das geschichtlichgesellschaftliche Leben in der Regel spielt. Die historische Landschaft und Region wäre ein solcher Mesoraum von langer Dauer, auch eine Stadt in einer bestimmten geschichtlichen Epoche. Die Stadt Sankt Petersburg zwischen 1890 und 1930 wäre im Sinne dieser Definition ein Mesoraum. – Warum? Die Eckdaten sind nicht willkürlich, sondern bezeichnen Anfang und Ende einer dynamischen Entwicklungsphase, in der die Stadt ganz spezifische, nur dieser Epoche eigene Züge angenommen hat, in welcher der Petersburger Raum als ein Raum der europäischen Moderne konstituiert und paralysiert worden ist. Es ist die Zeit der Verwandlung einer höfischen Residenzstadt in eine moderne europäische Metropole. In dieser Zeit löst sich die Stadt von ihrer ursprünglichen Funktion und Gestalt und bewegt sich auf den von ihr selbst hervorgebrachten Bedingungen fort. Schematisch gesprochen, ist es die Verwandlung einer höfischen, statischen Residenz in eine kapitalistische, industriell produzierende Metropole. Beide sind durch tausende von Fäden miteinander verbunden, aber es kann kein Zweifel bestehen, dass der Typus der Vergesellschaftung ein qualitativ anderer ist. Im Schoße der autokratischen, auf Beamte, Armee, Kirche und Zar gestützten Gesellschaft entfaltet sich eine durch Waren- und Geldwirtschaft, Etablierung von Öf-

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fentlichkeit und Institutionen dynamisierte Stadt, die qualitativ anderen »Bewegungsgesetzen«, anderen Formen der Vermittlung von Konflikten, anderen Legitimationsmustern folgt als die Residenzstadt von einst. Die bürgerlich-kapitalistische Form der Vergesellschaftung – über den Markt – setzt sich tendenziell an die Stelle der höfisch-feudalen Form der Vergesellschaftung. Und noch bevor dieser Prozess abgeschlossen ist, noch bevor er Zeit hat, sich voll durchzusetzen und zu etablieren, zu konsolidieren, wird er bereits wieder in Frage gestellt, ja abgesetzt durch die Etablierung der politischen Macht der Bolschewiki, die, wie immer man sie bezeichnet – Diktatur des Proletariats, Ochlokratie, Herrschaft des Pöbels, Modernisierungs- oder Erziehungsdiktatur – den Typus der bürgerlichkapitalistischen Vergesellschaftung zerschlägt und die Formen vermittelter Herrschaft durch die Herrschaft unmittelbaren politischen Zwangs ersetzt. Wir haben es wegen der historischen Umstände – Krieg, Revolutionen, Bürgerkrieg – nicht mit einer »reinen« und »idealtypischen« Transformation oder Ablösung der einen Vergesellschaftungsform durch eine andere zu tun, doch ist dieser »Idealtyp« zunächst eine Hilfskonstruktion, um den Prozess der Desintegration der alten Stadt und der Herausbildung der neuen und deren abermalige Desintegration überhaupt auf eine Reihe bringen zu können. Das Kernstück einer Rekonstruktion des Epochenraumes 18901930 wäre die Darstellung der Zersetzung der traditional-bürokratischen Vergesellschaftung durch die vielfältigen Formen bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung, und deren Zersetzung und Zerstörung im Zuge der antibürgerlichen, antikapitalistischen und politokratischen Gegenrevolution der Bolschewiki nach 1917. Man wird die Entfaltung und das Scheitern dieser verschiedenen Vergesellschaftungsformen in allen Details aufweisen können. Es handelt sich hier um eine äußerste Vereinfachung von Prozessen, die allein dem Zweck dienen soll, deutlich zu machen, dass wir Produktion von Raum nicht primär als physisch-bauliche Raumproduktion auffassen sollen, sondern als Produktion von sozialem Raum, oder mit anderen und altbewährten Worten: als kulturelle Form von Vergesellschaftung. Die besondere Schärfe der Vorgänge in Petersburg/Petrograd ergibt sich daraus, dass mit der Revolution in Petersburg nicht nur die russische, sondern die gesamteuropäische Krise zum Durchbruch kommt. Eben daher ist Petersburg/Petrograd/Leningrad im Zeitalter von Krieg und Revolution europäische Metropole par excellence.

9 N a r r a t i ve d e r S i m u l t a n e i t ä t Eine Geschichtsschreibung, die Ort und Zeit zusammenbringt, stellt sich auch den Problemen, die sich daraus für die Geschichtsschreibung ergeben. Wer sich den geschichtlichen Schauplatz vergegenwärtigt, ihn rekonstruiert, tut dies unweigerlich, indem er ihn abschreitet, vermisst, als Ab-

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folge des Nebeneinanders beschreibt. Seine Hauptvokabel ist nicht jenes »dann«, das die Erzählung, die Geschichte, in Gang hält, sondern das Hier und Dort, das alles nebeneinander bestehen lässt. Seine Domäne ist nicht das Nacheinander, sondern das Nebeneinander, nicht das Verschwinden des Ereignisses im Laufe der Zeit und der Erzählung, sondern die gleichzeitige Anwesenheit, Präsenz, Kopräsenz der Dinge vor Ort. Der Ort bringt alle zum Zusammenspielen, der Raum hält alle zusammen. Die geschichtliche Erzählung legt die verschiedenen Zeitschichten sukzessive frei, nacheinander, Schicht für Schicht. Die Beschreibung des Ortes bringt sie in ihrer Nähe oder Entfernung, in ihrer Koexistenz zur Kenntnis. Beide zusammengenommen ergeben jenen historisch-stereoskopischen Blick, der sich der Komplexität der Wirklichkeit im höchst denkbaren Maße aussetzt. Räumliches Sehen bringt die Dinge zusammen, die sonst unverbunden und jedes für sich stehen lässt. Räumliches sehen stößt auf die Bezüge und Zusammenhänge, die durch das Nebeneinander nahegelegt und offenbar werden. Räumliche Wahrnehmung rettet für die Historiographie jene Komplexität, mit der die lebensweltliche Erfahrung Tag für Tag und unausgesetzt konfrontiert ist. Es handelt sich, wie schon bemerkt worden ist, um eine Steigerung der Aufmerksamkeit für Bezüge, für Beziehungen, für Kontexte, für das Zusammengehörige und für das Fremde. Der Blick in den Raum ist eine gute Schule für eine grundlegende Erfahrung: für die Wahrnehmung der Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit, für das Heterotope und Heterogene. Der Hauptgewinn ist die Rückgewinnung von Komplexitätsbewusstsein und eine darauf basierende »Strategie« der Steigerung von Komplizierungen anstelle einer Strategie der Reduzierung und Simplifizierung. Geschichtliche Wahrnehmung wird reicher und Geschichtsschreibung komplexer und komplizierter. In einer Geschichtsschreibung, die sich primär als Vergegenwärtigung und als transtemporale Kommunikation zwischen den Generationen versteht und nicht als »Lehre« und »Summa«, die weiter vermittelt werden muss, ist Steigerung von Wahrnehmung und Komplexität, die für viele ein defizienter Status von Wissen ist, der eigentliche Zugewinn.

10 Die Produktion von Karten »Eine Karte sagt mehr als tausend Worte«, heißt es. – Und obwohl es so heißt, sind Karten in der Regel doch nie über den Status eines Hilfsmittels hinausgekommen. Man zieht sie zu Rate, wenn man eine Elementarinformation braucht, um nicht ganz ahnungslos zu sein. Aber die Karte ist selbst eine Form der Produktion und Reproduktion von Räumen, eine Repräsentationsform, die eine spezifische Erkenntnis- und Repräsentationsqualität besitzt, und die durch keine andere ersetzt werden kann. Kartenzeichner verfertigen immer schon Weltbilder. Die Geschichte der Karto-

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graphie ist eine Geschichte der Weltvermessung, Weltaneignung und Weltbildproduktion. In einer räumlich bewusst gewordenen Geschichtsschreibung haben Karten demzufolge einen gänzlich anderen Stellenwert. Man kann so sagen: Sie sind nicht ein Hilfsmittel »unter ferner liefen«, sondern sie sind konstitutiv für die Erkenntnis von Gegebenheiten und Bezügen. Sie rücken vom Rand ins Zentrum der Arbeit. Die Vergegenwärtigung einer Epoche beginnt mit der Vergegenwärtigung des Schauplatzes und die Reproduktion beginnt mit dem Zeichnen, Übereinanderlegen, Kombinieren all jener Karten, welche die verschiedenen Zeitschichten miteinander verknüpfen. Karten lehren uns Bezüge, Zusammenhänge, Kontexte. Die Rekonstruktion des Chronotops beginnt mit dem Zeichnen der Karte. Die Karte rückt gleichsam an den Anfang. Sie hilft uns sich zu orientieren, wenn wir uns auf dem Schauplatz umsehen. Wenn wir Räume rekonstruieren wollen, müssen wir die verschiedenen Karten der verschiedenen Epochen übereinander legen. Karten sind nicht Illustrationen, die man auch »weglassen« kann, keine Bildchen zur Auflockerung des Textes, sondern unverzichtbare Formen des Kenntlichmachens, der Erkenntnis, der Konzentration.

11 Sankt Petersburg/Petrograd/Leningrad: die Karte eines europäischen Chronotops neu zeichnen Wenn wir die geschichtlich bewegenden Kräfte jener Epoche uns vor Augen führen, in der die Stadt Sankt Petersburg zur europäischen Metropole wurde und nur wenig später für eine lange Zeit verschwand, dann können wir dies am besten in Gestalt einer Karte und der dazugehörigen Legende tun. Vorausgesetzt ist immer schon jene aus dem souveränen Gründungsakt Peters des Großen, durch den der Ort gleichsam erschaffen worden ist, hervorgegangene Festung und Residenz. Es ist die Verklammerung von Wasser und Stein, von Küste und Meer, von Natur und Artefakt, welche die physische und ästhetische Gestalt der Stadt von allem Anfang an definiert – bis heute. Dieser Gründungsakt hat selber eine mythische Qualität, obwohl es doch ein historisch rekonstruierbarer Vorgang ist. Hier muss sich das menschliche Artefakt »Stadt« Tag für Tag gegen die Natur behaupten, hier wird die Natur in Gestalt der regelmäßig wiederkehrenden Überflutungen als existenzielle Bedrohung empfunden. All dies vorausgesetzt, können wir dann aber zu einer konkreteren, genaueren Bestimmung der Produktion und Transformation von Petersburg als Geschichtsraum kommen. Was sind seine Koordinaten und wie verschieben sie sich im betrachteten Zeitraum? Wenn wir uns für einen Augenblick einen gewissen Schematismus erlauben, dann wären dies folgende:

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Macht, Herrschaft: Wir müssten die Kräfte des Ancien Regime verorten, die Karte, welche die Dynastie und die sie tragenden Schichten seit der Gründung der Stadt produziert haben. Dies ist die Grundkonfiguration der alten Macht, die Stadt des Hofes, die Kristallisation der Reichsministerien, der Domäne, die Palais der Hofgesellschaft usf. Diese Grundkonfiguration ist seit 1703 festgeschrieben und immer wieder erweitert, vertieft, verästelt worden. Es sind im Wesentlichen die Orte der Repräsentation der Macht, des Zeremoniells des Russischen Imperiums, der Verteidigung des status quo, der Ausübung der Herrschaft. Sie werden in den kommenden Jahrzehnten zu den umkämpften Orten par excellence. In der Zeit des revolutionären Umbruchs sind sie die Brückenköpfe, die Frontlinien, die belagerten und eingenommenen Orte. Nach der Etablierung der neuen Macht, die 1918 ihr Hauptquartier in Moskau aufschlägt, werden die Orte einst lebendiger Macht zum Ort der Musealisierung, der Repräsentation vergangener Macht und stillgelegter Rituale. Zahlreiche Orte der Sicherung der Macht – vor allem die Kasernen – werden selber Herde und Zentren revolutionärer Unruhe und Zersetzung. Kommunikation: Am dynamischsten ist freilich nicht die Macht und die Residenz, sondern die Metropole mit allem, was dazu gehört. Das sind die neuen Kommunikationen: der Hafen, der die Hauptverbindung zur Welt und zu Europa ist, die Bahnhöfe vor allem, die Produktion eines neuen Verkehrsraums mit Pferdebahnen, Straßenbahnen, Vorortzügen, die aus der expandierenden Stadt eine verdichtete, dynamische, mobile Metropole werden lassen. Neue Bahnstrecken erzeugen neue Wohngebiete, treiben die Grundstückspreise und die Grundstücksspekulation in die Höhe, Mobilität erzeugt teure Lagen und hängt andere Stadtbezirke ab. Die Petersburger Kopfbahnhöfe sind wie der kleine Dinosaurierkopf am riesenhaften Leib des Imperiums. Über die Bahnhöfe ist die Stadt kurzgeschlossen mit den Weiten des Imperiums, sie sind die Eingangs- und Ausgangstore einer dynamischen und sich beschleunigenden Migration. Über die Bahnhöfe wird Petersburg »Peasant Metropolis« (David L. Hoffmann). Sie werden zu den Achsen der Beschleunigung, der Verbindung zur Welt, über sie breitet sich der Funke der Revolution aus, über sie laufen die Hamsterzüge, ohne welche die Millionenstadt in der Zeit des Bürgerkriegs dem Hungertod ausgesetzt wäre. Über sie wandert das Dorf in die Stadt ein. Sie sind die Achsen der Ruralisierung der Metropole. Was das Abschneiden der Stadt vom Hinterland bedeutet, erfährt Leningrad während der Blockade, da nur noch der »Weg des Lebens« über das Eis des Ladogasees bleibt. Produktion: Im Schoße der Residenz entfaltet sich die industrielle Produktion, die sich neue Räume schafft. Die Bewegungen des fixen und zirkulierenden Kapitals nehmen Gestalt an. Es entstehen neue Typen von Bauten, nicht mehr die alten Manufakturen und Werkstätten, sondern Industriebetriebe großen Zuschnitts, mit abertausenden von Arbeitern, die

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ihren Arbeitsprozess in höchster kollektiver Disziplin absolvieren und der Stadt einen neuen Lebensrhythmus diktieren. Das Petersburg der kapitalistischen industriellen Produktion hat seine bevorzugten Standorte: an der Peripherie, in Hafen- und Bahnhofsnähe, die Schornsteine ragen nun in die Ansichten von der Residenzstadt hinein. Hier entsteht gleichsam ein Gegenort, ein Gegenzentrum. Sie ist die dynamischste, die rücksichtsloseste Sphäre, die einbricht in die Sphäre der Stadt, die bisher um den Hof gekreist war. Kapitalismus ist Beschleunigung, Krise, Stockung, maßlose Expansion. Hier werden nicht nur Reichtümer produziert, sondern auch neue Kompetenzen, Verhaltensweisen, Lebensformen. Hier wird innerhalb einer sehr kurzen Frist auch eine neue soziale Klasse produziert. Der wichtigste Katalysator für die Beschleunigung und Radikalisierung aller Bewegungen ist der Krieg, die totale Mobilmachung zum Krieg. Umgekehrt sind die Übermobilisierungen, die Erschöpfung im Krieg die wichtigste Ursache für die Lähmung, ja den Zusammenbruch der Produktion. Die Orte der Produktion stehen still, die Orte der Produktion werden demontiert, sie zerfallen. Die Industrie stirbt. Der Himmel über der Stadt ist zwischen 1918 und 1921 rein wie nie zuvor in den letzten 200 Jahren. »Petrograd stirbt«, der Stadtkörper zerfällt, schreiben die Dichter. Aber Ende der 1920er Jahre, nach einem Jahrzehnt der Erholung und dem Beginn des ersten Fünfjahrplans wird Leningrad erneut zum Kraftwerk, welches das weite Land mit Ingenieurwissen, Technik und Managern versorgt. Zirkulation: Petersburg ist der Punkt, an dem sich das russische und internationale Kapital, der neue Reichtum, konzentriert. Die Sphäre der Zirkulation schafft sich ihren eigenen Raum, ihre Orte. Dies sind einmal die Banken: die Staatsbank, die Privatbanken, der damit verbundene tertiäre Sektor. In der Stadt entsteht ein financial district. Petersburg um 1900 baut keine Paläste, sondern Banken, Kaufhäuser, Hotels, Passagen. Reproduktion, Rekreation: Die Stadt braucht, um den neuen Bedürfnissen der aufkommenden »Massengesellschaft« nachzukommen, Wohnraum für die verschiedensten Niveaus: Arbeiterwohnungen, vor allem aber für einen zunehmenden bürgerlichen Mittelstand. Der Wohnungsbau und die Ausdehnung der Stadt in modernen Vororten ist die städtebauliche Haupttatsache der drei Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg. Ihm folgt der abrupte Abbruch durch Revolution und Bürgerkrieg, und dann wieder die großmaßstäbliche Wiederaufnahme von Bautätigkeit im Ersten Fünfjahrplan 1929. Es ist das Volumen der bürgerlichen Zivil- und Profanarchitektur der Vorweltkriegszeit, das Petersburg in eine andere Stadt, eigentlich jene, die wir heute kennen, verwandelt hat. Die soziale Umwälzung nach 1917 hat dieses Massiv in Besitz genommen und daraus die Stadt der Kommunalwohnungen gemacht. Das neue Leningrad, jenseits der historischen Stadt, mit seinen Wohngebirgen aus Plattenbauten, in der die Masse der Einwohner lebt, entsteht sehr viel später: in den 60er, 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts.

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Infrastruktur der modernen Großstadt: Der Übergang von Residenzin moderne Großstadt war ohne ein neues System von Dienstleistungen und Infrastruktur nicht denkbar. Sie ermöglichen überhaupt erst den Zusammenhang der großstädtischen Lebensweise. Es handelt sich um wesentliche Einrichtungen von kommunaler Bedeutung. Hierher gehören die Verkehrswege, um gesteigertes und beschleunigtes Aufkommen von Menschen zu gewährleisten, Institutionen der Versorgung und Pflege, der Ausbildung, also jene großen und bis heute sichtbaren und ihren Dienst tuenden Komplexe organisierten städtischen Zusammenlebens: Wasserleitungen, Kanalisation, Straßenbahn, Schulen, Hospitäler, Gefängnisse, Waisenhäuser, Bäder, Volksschulen, Gymnasien, Sportanlagen und Stadien, Universitäten und Institute, Lagerhallen, Schlachthäuser, Friedhöfe. Bei der hier vorgetragenen schematischen Skizze handelt es sich um einen möglichen Systematisierungsversuch – aber es sind auch andere denkbar. Dieser hier ist abgeleitet aus der Dynamik der kapitalistischen Vergesellschaftung, der »Durchsetzung des Kapitalverhältnisses«, der Ersetzung des unmittelbaren Zwangs durch den »stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse«. Welche Systematik, welche »Ableitung« man bevorzugt, ist eine Frage des Zwecks einer Beschreibung. Für eine politische Geschichte wird es stärker auf die Schauplätze, die »Arena des politischen Kampfes«, die Akteure, den Verlauf der Frontlinien des politischen und militärischen Kampfes ankommen, während für eine Entfaltung des Kapitalverhältnisses mehr die Transformation des städtischen Raumes durch die Umwälzung der Produktionsweise, die Entstehung der Institutionen der Kapitalzirkulation ins Zentrum gerückt werden wird. Der Blick auf die Russische Revolution als auf einen »Putsch« wird sich mehr für die »Eroberung der Kommandohöhen« – die strategischen Punkte: Generalstab, Brücken, Telegraph und Post, Bahnhöfe – interessieren, während sich eine Geschichte der sozialen Aufwärtsmobilisation mehr für die Generatoren des Aufstiegs, die Schulungs- und Disziplinierungsmaschinerie, die »Schmieden des Proletariats«, die Fabriken und Werften, aber auch für Universitäten und andere Bildungseinrichtungen interessieren wird. Eine Wahrnehmungsgeschichte dürfte sich mehr für die kulturellen Effekte der Urbanisierung, für die Verarbeitung des »clash of cultures« in den intellektuellen Laboratorien der Stadt interessieren, im Unterschied zu einer sozialgeschichtlichen Perspektive, die sich mehr an die bäuerlichen Immigrantenströme hält. Dies ist ein Vorschlag, der zeigen soll, dass es auch für ein räumlich bezogenes Narrativ, für ein Narrativ des Nebeneinander und der Gleichzeitigkeit rationale Vorgehens- und Verfahrensweisen gibt. Genauso gut könnte man »induktiv« verfahren, vom »Konkreten zum Allgemeinen« aufsteigen, von exemplarischen Orten ausgehen und diese als »konkrete Totalität« rekonstruieren. Das Projekt einer Rekonstruktion der Petersburger Topographie, das in diesem Band vorliegt, versucht beides zusammen-

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zubringen: Systematik und exemplarischen Einzelfall, vor allem aber konkrete Orte, dechiffriert als »konkrete Totalität«.

12 Was heißt und zu welchem Ende studiert man den Raum der Geschichte? Zum Ende kommend bleibt, den Titel von Friedrich Schillers Jenaer Antrittsvorlesung von 1789 variierend, nur noch die Frage nach dem »Mehrwert«, den eine den Schauplatz und die Räumlichkeit von Geschichte mitbedenkende Geschichtsschreibung erbringen soll. Es dürfte klar geworden sein, dass es nach einer Phase eines luftig-allzu-luftigen Konstruktivismus nicht darum gehen kann, sich wieder einen schwerfälligen (geographischen) Determinismus einzuhandeln, den man sich in langer und kraftraubender Auseinandersetzung vom Halse geschafft hat. Wohl aber geht es darum, zu einem Realismus zurückzufinden, der etwas von den Schwerkraftverhältnissen, von den Zug- und Druckverhältnissen der Geschichtsprozesse ahnen lässt. Man kann auf die Hoch-Zeit der erfahrungsarmen Begriffs- und Systemfixierung durchaus eine Weile des Erfahrungssammelns folgen lassen, und auf die Zeit eines abstrakten und gut überschaubaren Universalismus die Unübersichtlichkeit einer fragmentierten und partikularisierten Wirklichkeit folgen lassen. Das ist nicht das Ende der Welt der Wissenschaft, sondern in Vielem ein neuer Anfang. Sich in den Geschichtsräumen und auf den Schauplätzen der Geschichte umzusehen, kann, wenn man daraus nicht wieder eine Ideologie macht, nicht schaden. Es schärft die Wahrnehmung, es erzieht zur Genauigkeit und zu genauem Hinhören. Es macht uns Nachgeborene bescheiden und es macht die Welt so kompliziert wie sie vielleicht gewesen ist bevor sie »auf den Begriff gebracht« worden ist. Für viele ist das wenig, zu wenig. Für die Geschichtsschreibung ist der Zuwachs an Erfahrung, die Erweiterung der Register nur ein Gewinn. Vielleicht werden wir nicht ganz andere Geschichten erzählen können, aber gewiss ein wenig anders. – Das wäre nicht wenig.

›Mind the gap‹: Bemerkungen zur gegenw ärtigen Raumkonjunktur aus kulturgeographischer Sicht JULIA LOSSAU

1 Einleitung Sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist wieder Bewegung in die Diskussion um Raum und Gesellschaft gekommen. Während die Verbindung von Raumdenken und nationalsozialistischer Expansionspolitik dazu geführt hatte, dass der Raumbegriff nach 1945 für Jahrzehnte diskreditiert war, ist gegenwärtig von einer ›Wende zum Raum‹ die Rede.1 Bei aller Popularität wird die Frage, was sich inhaltlich mit dem spatial turn verbindet, in der Literatur unterschiedlich beantwortet. Die Ambivalenzen beziehen sich nicht zuletzt auf den zentralen Begriff der Debatte.2 Insbesondere in poststrukturalistischen, differenz- und machttheoretisch orientierten Strömungen fungiert ›Raum‹ als Chiffre für die Anerkennung unterschiedlicher Stellen, Orte oder Standpunkte, von denen aus Bedeutung in kontextspezifischer Art und Weise produziert wird.3 In diesem 1 2

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Vgl. beispielsweise Doris Bachmann-Medick, »Spatial Turn«, in: dies., Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2006, S. 284-328. Vgl. Alexander C.T. Geppert/Uffa Jensen/Jörn Weinhold, »Verräumlichung. Kommunikative Praktiken in historischer Perspektive, 1840-1930«, in: dies., Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2005, S. 15-49; und Roland Lippuner/Verf., »In der Raumfalle. Eine Kritik des spatial turn in den Sozialwissenschaften«, in: Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien, hg. von Georg Mein und Markus Rieger-Ladich, Bielefeld: transcript 2004, S. 47-63. Vgl. Homi Bhabha, The Location of Culture, London/New York: Routledge 1994; Derek Gregory, Geographical Imaginations, Cambridge: Blackwell 1994; und Doreen Massey, »Imagining Globalisation: Power-geometries of Time-Space«, in: dies., Power-geometries and the Politics of Space-time, hg.

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Sinne bezeichnet der Begriff keinen vorab gegebenen Gegenstand, sondern verweist auf kognitive, relationale Schemata, mit deren Hilfe die gesellschaftliche Wirklichkeit produziert und reproduziert, wahrgenommen und angeeignet wird. Als paradigmatisch kann hier Edward Saids Arbeit zum Orientalismus gelten:4 Als Vorreiter postkolonialer Raumtheorie geht es Said nicht um den Orient als ›Kulturraum‹ an sich. Er interessiert sich vielmehr für die verschiedenen diskursiven Praktiken, durch die der Orient – im Kontext des relationalen Konzeptes ›Orient vs. Okzident‹ – erst produziert wurde.5 Neben diesem abstrakten Raumverständnis findet man den ›Raum‹ in den Arbeiten zum spatial turn auch in einer eher traditionellen, gegenständlichen Variante. Mit anderen Worten: ›Raum‹ kann in der aktuellen Diskussion auch einfach einen Ausschnitt der Erdoberfläche, ein bestimmtes Territorium oder eine Region im Sinne eines erdräumlich verorteten Containers meinen. Das zeigt der kulturtheoretische Diskurs besonders deutlich dort, wo er mit dem Globalisierungsdiskurs zusammengeht. Trotz aller Bemühungen, den »transkulturellen Bedingungen« der globalisierten Welt auch konzeptuell Rechnung zu tragen und entsprechend »postnationale« oder »transnationale« Gesellschaftsbilder zu entwickeln,6 werden Gesellschaften und Kulturen bis heute in der Regel als regional begrenzte Einheiten gedacht, »so dass Brasilien eine andere Gesellschaft ist als Thailand, die USA eine andere als die Russlands, aber dann wohl auch Uruguay eine andere als Paraguay«.7 Die Persistenz des gegenständlichen Raumbegriffs ist nicht überraschend: Raum als konkreter Erdraum ist in der alltäglichen Kommunikation fest verankert, und auch die Kultur- und Sozialwissenschaften können nicht auf die Vorstellung von erdräumlichem ›Hier‹ und ›Dort‹ verzichten. Raumsemantiken, in denen Raum als gegenständlich erscheint bzw. als ›Ding an sich‹ figuriert, sind offenbar notwendig, wenn man sich über die Welt verständigen will.8 Die »magische Attitüde«,9 Raum als konkrete

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von Hans Gebhardt und Peter Meusburger, Heidelberg: Geographisches Institut 1999, S. 9-23. Edward Said, Orientalism, New York: Vintage Books 1978. Vgl. Verf., Die Politik der Verortung. Eine postkoloniale Reise zu einer ANDEREN Geographie der Welt, Bielefeld: transcript 2002, S. 73-82. Vgl. exemplarisch Ulrich Beck, Was ist Globalisierung?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, und Wolfgang Welsch, »Transculturality – the Puzzling Form of Cultures Today«, in: Spaces of Culture: City, Nation, World, hg. von Mike Featherstone und Scott Lash, London: Sage 1999, S. 194-213. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 25. Vgl. Antje Schlottmann, »2-Raum-Deutschland. Alltägliche Grenzziehung im vereinten Deutschland – oder: warum der Kanzler in den Osten fuhr«, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 79/2-3 (2005), S. 179-192. Gerhard Hard, »Über Räume reden. Zum Gebrauch des Wortes ›Raum‹ in sozialwissenschaftlichem Zusammenhang«, in: ders., Aufsätze zur Theorie

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Wirklichkeit zu denken, wäre vielleicht nicht weiter bemerkenswert, wenn es innerhalb der spatial turn-Diskussion nicht die Tendenz gäbe, den gegenständlichen Raum durch affirmative Bezugnahmen auf Physis mit einer gewissen ontischen Würde auszustatten. In diesem Sinne scheint etwa Karl Schlögel die Wiederkehr des Raums mit einer Rückkehr zur Materialität zu verbinden:10 Der 11. September, schreibt er, hat uns daran erinnert, dass es Orte gibt, »Städte, die getroffen werden können, Türme, die zum Einsturz gebracht werden können, Treppen, die […] zu tödlichen Fallen werden«.11 Mit dem spatial turn sei deutlich geworden, dass »nicht alles Zeichen, Symbol, Simulacrum, Text ist, sondern Stoff, Materie, Baumaterial«.12 In der fachwissenschaftlichen Geographie löst die gegenwärtige Konjunktur des physisch-materiellen Raums in den Sozial- und Kulturwissenschaften verbreitet Unbehagen aus. Im Versuch, dieses Unbehagen verständlich zu machen, rekapituliert der vorliegende Beitrag die Diskussionen, die in den letzten Jahren unter kulturtheoretisch interessierten Geographinnen und Geographen geführt wurden. Zentral ist dabei die Unterscheidung zwischen dem anglo-amerikanischen und dem deutschsprachigen Kontext: Die angloamerikanische new cultural geography stellt den Diskussionszusammenhang dar, in dem der abstrakte Raumbegriff, von dem weiter oben die Rede war, seit Ende der 1980er Jahre diskutiert und popularisiert wurde. Seit einigen Jahren ist diese Debatte jedoch durch einen Rückbezug auf die ›konkrete‹ räumliche Wirklichkeit geprägt. Durchaus im Sinne einer Gegenbewegung zur interpretativen Beliebigkeit und (vermeintlichen) ›Blutarmut‹ relationaler Raumkonzepte fordern zentrale Autorinnen und Autoren dazu auf, sich wieder stärker mit unmittelbar relevanten Phänomenen und Prozessen on the ground zu beschäftigen.13 Demgegenüber ist den Arbeiten der deutschsprachigen Sozial- und Kulturgeographie bei allen inhaltlichen Unterschieden gemeinsam, dass sie Versuchen, über ›Raum‹ an die konkreten, physischen-materiellen Wirklichkeitsbereiche – und damit an die Dinge selbst – zu gelangen, kritisch gegenüberstehen.14

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der Geographie, Bd. 1, Landschaft und Raum, Osnabrück: Rasch 2002, S. 235-252 [1993], hier S. 236. Vgl. Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München: Hanser 2003. Karl Schlögel, »Kartenlesen, Augenarbeit«, in: Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, hg. von Heinz-Dieter Kittsteiner, München: Fink 2004, S. 261-283, hier S. 262. Ebd. Vgl. Chris Philo, »More Words, more Worlds. Reflections on the ›Cultural Turn‹ and Human Geography«, in: Cultural Turns/Geographical Turns: Perspectives on Cultural Geography, hg. von Ian Cook, David Crouch, Simon Naylor und James R. Ryan, Harlow: Prentice Hall 2000, S. 26-53. Es liegt auf der Hand, dass die deutschsprachige Sozial- oder Kulturgeographie ebenso wenig existiert wie ihr angloamerikanisches Pendant: Die fach-

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Vor diesem Hintergrund rekapituliert der nun folgende zweite Abschnitt die Konsequenzen, welche die Einführung kulturtheoretischer Ansätze für die geographische Theorieproduktion hatte. Damit ist eine Neuformulierung und vor allem Ent-Essentialisierung des Raumbegriffs angesprochen, der in der deutschsprachigen Geographie aus disziplingeschichtlichen Gründen besondere Bedeutung zukommt. Im dritten Abschnitt wird jene Rückbesinnung auf Materialität und konkrete (Erd-) Räumlichkeit diskutiert, die derzeit (nicht nur) im Rahmen des angloamerikanischen Kontexts gefordert wird. Der vierte Teil des Beitrags schließlich leistet eine Kritik re-essentialisierender Tendenzen. Dabei wird gezeigt, dass ›Raum‹ in der gegenwärtigen kulturtheoretischen Diskussion oft als ›Eigentlichkeitsmaschine‹ fungiert, die in gesellschaftspolitischer Hinsicht problematisch ist und in erkenntnistheoretischer Hinsicht den Prämissen des cultural turn zuwiderläuft.

2 Geographie und Kulturtheorie Obwohl die Geographie zuweilen als Leitdisziplin des spatial turn gehandelt wird, steht das Fach in den entsprechenden Diskussionen eher abseits. Ein Blick in die einschlägigen Veröffentlichungen zeigt, dass die Rede von der ›Wiederkehr des Raumes‹, zumindest im deutschsprachigen Raum, vornehmlich Sache der Literaturwissenschaften, der Sprach- und Medienwissenschaften, der Soziologie oder der Geschichte ist; nicht oder nur selten hingegen der fachwissenschaftlichen Geographie. – Die geringe Präsenz der mutmaßlichen Leitdisziplin mag nicht zuletzt daran liegen, dass die Rede von einer räumlichen Wende aus geographischer Sicht wenig sinnvoll ist: ›Raum‹ ist die zentrale Vokabel geographischen Arbeitens, seit das Landschaftsparadigma der traditionellen Geographie in den 1970er Jahren aufgegeben wurde.15 Auch wenn sich das Fach durch die wissenschaftliche Geographie ist (hier wie dort) durch die Gleichzeitigkeit rivalisierender Paradigmen charakterisiert. – Es gibt jedoch disziplingeschichtlich begründete Unterschiede, die es rechtfertigen, aus heuristischen Gründen von einem deutschsprachigen und einem angloamerikanischen Diskurs zu sprechen. Dies gilt insbesondere bezüglich der hier interessierenden Frage nach der Bedeutung physischer Materialität für die sozial- und kulturwissenschaftliche Theorieproduktion. 15 Das Landschaftsparadigma zielte auf die Beschreibung des »konkreten territorialen Menschen in Harmonie und Kontrast […] mit seinem konkretökologischen, landschaftlich-regionalen Milieu« (Gerhard Hard, »Alltagswissenschaftliche Ansätze in der Geographie«, in: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie 29 (1985), S. 190-200, hier S. 194) ab. – In den 1970er Jahren wurde es durch den sogenannten ›raumwissenschaftlichen‹ Ansatz abgelöst, der den »Weg vom Konkreten zum Allgemeinen, von erdräumlich fixierbaren Sachverhalten zu Anordnungsmustern und von ›anschaulichen Qualitäten‹ […] zu objektiven Gesetzmäßigkeiten (Distanzrelationen) beschreibt« (Roland Lippuner, Raum – Systeme – Praktiken. Zum

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Definition seines Gegenstandsbereichs noch bis vor wenigen Jahren in einer tendenziell peripheren Position befand, widmete es sich der ›räumlichen Dimension‹ gesellschaftlicher Wirklichkeit, lange bevor andere Disziplinen von einem spatial turn zu sprechen begannen. Von größerer Bedeutung für die geographische Theorieproduktion ist denn auch der cultural turn und damit die wohl grundlegendste der Wenden, welche die Sozial- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten durchlaufen haben. Mit dem cultural turn verbindet sich, cum grano salis, ein Perspektivenwechsel hin zur symbolisch-signifikativen Dimension gesellschaftlicher Wirklichkeit, der einen Bruch mit den objektivistischen Verfahren traditioneller Sozialwissenschaft beinhaltet. Im Zuge des cultural turns werden, wie Andreas Reckwitz formuliert, »kollektive Sinnsysteme – Wissensordnungen, symbolische Codes, Deutungsschemata, Semantiken, kulturelle Modelle – nicht mehr nur als Epiphänomene, sondern als notwendige Bedingung aller sozialen Praxis wahrgenommen und somit von der Peripherie ins Zentrum der sozialwissenschaftlichen Perspektive gerückt«.16

Die damit angesprochene Aufwertung von Sinn, Bedeutung und Interpretation wirkt sich auch auf den Raumbegriff aus. So wird der cultural turn aus kulturgeographischer Sicht meist als Begründung für eine explizite Abkehr von substantialistischen Raumvorstellungen interpretiert. In der gegenwärtigen fachgeographischen Debatte geht es nicht länger um die Frage, wie dieser oder jener geographische Raum ist und, daran anschließend, inwieweit er auf gesellschaftliche Zusammenhänge einzuwirken vermag. Untersucht wird vielmehr, wie Räume im Kontext der Produktion von Identität durch Differenzierungen als symbolische Verräumlichungen sprachlich-kommunikativ und/oder alltagspraktisch erst hergestellt werden.17 Ein solcher Paradigmenwechsel ist in der angloamerikanischen Humangeographie im Lauf der 1980er Jahre eingeleitet worden. Im Zuge des cultural turn etablierte sich dort die sogenannte new cultural geography, die zu einer umfassenden Neuorientierung der englischsprachigen HumanVerhältnis von Alltag, Wissenschaft und Geographie, Stuttgart: Steiner 2005, S. 20). 16 Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorie. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist: Velbrück 2000, S. 16f. 17 Siehe die Beiträge in Themenorte, hg. von Michael Flitner und Verf., Münster: LIT 2005. – Vgl. auch Verf., »Zu Besuch in Ere÷li. Kulturelle Grenzen im Schulbuch ›grenzenlos'«, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 79/2-3 (2005), S. 241-251, Judith Miggelbrink, »Konstruktivismus? ›Use with Caution‹… Zum Raum als Medium der Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit«, in: Erdkunde 56/4 (2002), S. 337-350; und Mark Redepenning, Wozu Raum? Systemtheorie, critical geopolitics und raumbezogene Semantiken, Leipzig: Institut für Landeskunde 2006.

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geographie geführt hat und in Großbritannien und Nordamerika seit den frühen 1990er Jahren zum Standardprogramm gehört.18 Grundlage für die Neuorientierung war der Abschied von Kulturbegriffen, in denen Kultur als »superorganische« Realitätsebene mit kausaler Wirkkraft konzeptualisiert wird.19 Dies betraf insbesondere den nordamerikanischen Kontext, wo eine von Carl Sauer beeinflusste Forschungstradition dominierte, die sich für die landschaftsprägenden Wirkungen von ›Kultur‹ interessierte. Aber auch in Großbritannien führte die Auseinandersetzung mit den Cultural Studies dazu, dass holistische Kulturkonzepte im Lauf der 1980er Jahre in die Kritik gerieten.20 Im Anschluss an Raymond Williams und anderen wurde Kultur stattdessen als Zeichensystem konzeptualisiert, das die gesellschaftliche Wirklichkeit konstituiert und gleichzeitig differenziert: »According to Raymond Williams […] culture is ›the signifying system through which necessarily (through among other means) a social order is communicated, reproduced, experienced and explored‹. He insists that cultural practice and cultural production are not ›simply derived from an otherwise constituted social order but are themselves major elements in its constitution‹ […].«21

Etwa zehn Jahre später wurde ein solcher nicht-essentialistischer Kulturbegriff auch in der deutschsprachigen Humangeographie aufgegriffen. Ausschlaggebend für die Entwicklung der ›neuen Kulturgeographie‹ war die Rezeption der Diskussionen, die im angloamerikanischen Kontext geführt worden waren. Obwohl die entsprechenden Autorinnen und Autoren vielfach (post)strukturalistisch beeinflusst sind und tendenziell zeichenund diskurstheoretisch argumentieren, kennt der deutschsprachige Raum auch eine vergleichsweise starke subjekt- und praxisorientierte Tradition kulturtheoretischen Arbeitens: Letztere steht im Zusammenhang mit den Arbeiten Benno Werlens, dem das Verdienst zukommt, die deutschsprachige Humangeographie konsequent von raum- auf sozialwissenschaftliche Füße gestellt zu haben.22 18 Eine Übersicht über die unterschiedlichen Entwicklungslinien der US-amerikanischen und britischen Kulturgeographie gibt Franz-Josef Kemper, »Landschaften, Texte, soziale Praktiken – Wege der angelsächsischen Kulturgeographie«, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 147/2 (2003), S. 6-15. 19 Vgl. James S. Duncan, »The Superorganic in American Cultural Geography«, in: Annals of the Association of American Geographers 70 (1980), S. 181-198. 20 Vgl. etwa Peter Jackson, Maps of Meaning. An Introduction to Cultural Geography, London: Routledge 1989; oder Denis E. Cosgrove/ders., »New Directions in Cultural Geography«, in: Area 19/2 (1987), S. 95-101. 21 James S. Duncan, The City as Text. The Politics of Landscape Interpretation in the Kandyan Kingdom, Cambridge: Cambridge University Press 1990, S. 15. – Vgl. Raymond Williams, The Sociology of Culture, New York: Schocken 1982, S. 12f. 22 Vgl. Benno Werlen, Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, Bd. 1, Zur Ontologie von Gesellschaft und Raum, Stuttgart: Steiner 21999

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Zwar unterscheidet sich die handlungstheoretische Konzeption Werlens in zentralen Punkten von den poststrukturalistischen und sprachphilosophischen Zugängen anderer Autorinnen und Autoren; was die verschiedenen kulturgeographischen Ansätze aber eint, ist die Ansicht, dass ›Raum‹ als gegenständliches, physisch-materielles Konzept nicht als Bestimmungsgröße sozialer und kultureller Phänomene betrachtet werden kann: Im Gegensatz zur traditionellen (Kultur-)Geographie, die ihren zentralen Gegenstand – die Landschaft – als den »Inbegriff der Beschaffenheit eines auf Grund der Totalbetrachtung als Einheit begreifbaren Geosphärenteils von geographisch relevanter Größenordnung«23 definiert und als der Beobachtung vorgängig gesetzt hatte, befasst sich die zeitgenössische Kulturgeographie nicht mit ›Raum‹ als etwas, was schon »als Gegenstand oder Struktur in der physisch-materiellen Welt (zum Beispiel an der Erdoberfläche) herumstünde«.24 Unter dem Stichwort einer ›neuen Kulturgeographie‹ steht vielmehr die symbolisch-signifikative Dimension gesellschaftlicher Wirklichkeit und damit die Frage im Vordergrund, wie Räume im Rahmen sinnkonstituierender Zeichenpraktiken erst bedeutungsvoll produziert und reproduziert werden.

3 Rematerialisierungen Mit zehnjähriger Verspätung ist die ›neue Kulturgeographie‹ auch im deutschsprachigen Raum zu einem bedeutenden, wenn auch umstrittenen Ansatz geworden.25 Die kulturtheoretische Wende fällt hierzulande allerdings in eine Zeit, in der von Seiten der angloamerikanischen Geographie eine Rückbesinnung gefordert wird – eine Rückbesinnung auf die konkreten, materiellen Aspekte der geographischen Gegenstände. Während man also im deutschsprachigen Raum noch den Anschluss an aktuelle kulturund sozialwissenschaftliche Theoriebezüge feiert, formiert sich in Nordamerika und Großbritannien bereits Widerstand gegen jene abstrakte und ›blutarme‹ theoretische Einstellung, welche die Fokussierung auf Sinn und Bedeutungswelten mit sich gebracht habe. Dabei werden Stimmen laut, die sich für eine explizite Rückkehr zur physischen Materie stark machen. [1995], Bd. 2, Globalisierung, Region und Regionalisierung, Stuttgart: Steiner 1997. 23 Josef Schmithüsen, Was ist eine Landschaft?, Wiesbaden: Steiner 1964, S. 13. 24 Gerhard Hard, »Raumfragen«, in: Handlungszentrierte Sozialgeographie. Benno Werlens Entwurf in kritischer Diskussion, hg. von Peter Meusburger, Stuttgart: Steiner 1999, S. 133-162, hier S. 133. 25 Zur Diskussion über die ›neue Kulturgeographie‹ vgl. Hans Heinrich Blotevogel, »›Neue Kulturgeographie‹ – Potenziale und Risiken einer kulturalistischen Humangeographie«, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 77/1 (2003), S. 7-34; und Benno Werlen, »Cultural Turn in Humanwissenschaften und Geographie«, in: ebd., S. 35-52.

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Interessanterweise gehören diese Stimmen nicht nur Geographinnen und Geographen, die sich noch nie mit der abstrakten, relationalen Raumvorstellung im Sinne des cultural turn anfreunden konnten: Die Rückkehr zum konkreten Raum wird auch von Autorinnen und Autoren propagiert, die selbst maßgeblich zur Etablierung einer ›neuen Kulturgeographie‹ beigetragen haben.26 – Einer von ihnen ist der britische Geograph Chris Philo, der zu den zentralen Chronisten des kulturtheoretischen Ansatzes in der angloamerikanischen Humangeographie gehört. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1991 begrüßt er, dass mit dem cultural turn jene »Angst vor dem Immateriellen«27 überwunden worden sei, die er (zu dieser Zeit noch) für ein Kennzeichen der traditionellen Humangeographie hält. Neun Jahre später hingegen gibt Philo zu bedenken, dass die new cultural geography das Augenmerk zu einseitig auf immaterielle kulturelle Prozesse gelenkt habe. Der cultural turn der Geographie sei insofern zu erfolgreich gewesen, als er zu »dematerialisierten Geographien« (dematerialised geographies) geführt habe: »I am concerned that, in the rush to elevate such [less-than-tangible, oftenfleeting] spaces in our human geographical studies, we have ended up being less attentive to the more ›thingy‹, bump-into-able, stubbornly there-in-the-world kinds of ›matter‹ (the material) with which earlier geographers tended to be more familiar.«28

Vor diesem Hintergrund plädiert Philo dafür, die Geographie als Fach wieder stärker zu »erden« und »materielle Prozesse« wieder in den Blick zu nehmen: »What I mean […] is that we need to keep an eye open to the processes – we might call them more material processes […] – which are the stuff of everyday social practices, relations and struggles, and which underpin social group formation, the constitution of social systems and social structures, and the social dynamics of inclusion and exclusion.«29 26 Vgl. dazu auch Roland Lippuner, »Reflexive Sozialgeographie. Bourdieus Theorie der Praxis als Grundlage für sozial- und kulturgeographisches Arbeiten nach dem cultural turn«, in: Geographische Zeitschrift 93/3 (2005), S. 135-147. 27 Vgl. Chris Philo, »De-Limiting Human Geography: New Social and Cultural Perspectives«, in: New Words, New Worlds: Reconceptualising Social and Cultural Geography, hg. von dems., Lampeter: Department of Geography 1991, S. 14-27, hier S. 9. 28 Philo, »More Words«, S. 33. 29 Ebd., S. 37. – Dass Philos Position von einer ganzen Reihe verschiedener Autorinnen und Autoren der new cultural geography geteilt wird, zeigt nicht zuletzt das Beispiel der im Jahr 2000 gegründeten und mittlerweile etablierten Zeitschrift Social and Cultural Geography: In der ersten Ausgabe findet sich eine Reihe von Aufsätzen, die sich für einen Rückbezug auf klassisch sozial- (und nicht: kultur-)geographische Themen aussprechen. So plädiert

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Unterstützung erhält der Ruf nach der »Rematerialisierung« der Humangeographie aus dem Lager der radical geography. – Hier ist insbesondere Don Mitchell zu nennen, der sich einerseits der polit-ökonomischen, marxistisch-gesellschaftskritischen Geographie zugehörig fühlt und andererseits als zentrale Figur der new cultural geography gilt: Mitchell warnt eindringlich davor, die konkreten, materiellen Bedingungen des Alltagslebens aus dem Blick zu verlieren.30 Er stützt sich dabei auf grundlegende Inhalte aus dem Werk des marxistischen Geographen David Harvey, der die diskursive, semiotische Perspektive gegenwärtiger Kulturtheorien aus materialistischer Sicht kritisiert. Anstatt die soziale Wirklichkeit als Text zu lesen, müsse es darum gehen, kulturelle bzw. sprachlich-signifikative Konstrukte als Effekte der kapitalistischen Warenzirkulation zu begreifen.31 In diesem Sinne führe auch die Vorstellung, Raum sei ein soziales Konstrukt, in die Irre. Die konstruktivistische Auffassung greife insofern zu kurz, als sie übersehe, dass dem vermeintlich konstruierten Raum (wie auch der Zeit) unterschiedliche Formen von materiellem Raum (bzw. materieller Zeit) zu Grunde lägen: »Social constructions of space and time are not wrought out of thin air, but shaped out of the various forms of space and time which human beings encounter in their struggle for material survival«.32 etwa Peter Jackson, ein Vorreiter der new cultural geography dafür, (wieder) eine ›materiellere‹ Perspektive in der Humangeographie einzunehmen: »A material culture perspective – whether in relation to particular things […] or particular places […] – helps explain more abstract social processes […].« (Peter Jackson, »Rematerializing Social and Cultural Geography«, in: Social and Cultural Geography 1/1 (2000), S. 9-14, hier S. 11.) 30 Vgl. Don Mitchell, »There’s no such Thing as Culture: Towards a Reconceptualization of the Idea of Culture in Geography«, in: Transactions of the Institute of British Geographers 20 (1995), S. 102-116; und ders., »The End of Culture? – Culturalism and Cultural Geography in the Anglo-American ›University of Excellence‹«, in: Geographische Revue 2/2 (2000), S. 3-17. 31 Vgl. David Harvey, The Condition of Postmodernity, Oxford: Blackwell 1989; und ders., »Postmodern Morality Plays«, in: Antipode 24 (1992), S. 300-326. 32 David Harvey, Justice, Nature and the Geography of Difference, Oxford: Blackwell 1996, S. 210. – Auch Neil Smith kritisiert die (vermeintliche) Textverliebtheit der new cultural geography aus einer marxistischen Perspektive. Seine Vorliebe für konkrete Materialität zeigt sich etwa in einem Plädoyer für empirische Feldarbeit, in der die »realen Grenzen« der kulturtheoretischen Textarbeit überwunden werden könnten: »To put it bluntly, cultural geography […] has downgraded the importance of fieldwork and has too often come to think of empirical research as a question of pursuing texts […] for representations of this or that. Much of this presumption comes on borrowed authority from some parts of the humanities, especially literary criticism, where most facets of reality are treatable as texts, discourses or narratives, and where the deconstruction of texts and representations, conversely, can come to carry universal authority for explanations of the real. Studying texts is not only legitimate but a fundamental necessity, yet the best textualists are also activists for whom the limits of textuality are viscerally

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Ein weiterer bedeutender Autor, der sich für die Aufwertung der physischen Materialität in der Humangeographie einsetzt, ist Nigel Thrift.33 – Ein Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die vermeintlich theoretizistisch-intellektualistische Grundeinstellung der new cultural geography: Die Kulturgeographie, so kritisiert er, sei auf die Auseinandersetzung mit Repräsentationen, Diskursen, Narrativen und vor allem mit Text fixiert.34 Daher seien die entsprechenden Arbeiten nicht im Stande, sich adäquat mit jenen »multisensuellen« alltäglichen Praktiken zu beschäftigen, durch die die Menschen die Welt auf sich beziehen. Gedanken und Gefühle etwa seien durch Textarbeit nicht abbildbar, da sie mit Worten schlicht nicht adäquat wiedergegeben werden könnten. Vor diesem Hintergrund entwirft Thrift eine Herangehensweise, die er als nicht-repräsentationale Theorie (non-representational theory) bezeichnet und die auf die Beschäftigung mit »mundanen Alltagspraktiken« abzielt: »[non-representational theory is about] practices, mundane everyday practices, that shape the conduct of human beings towards others and themselves in particular places«.35 Eine zentrale Stellung in der nicht-repräsentationalen Theorie nehmen der Körper bzw. die körperlichen Praktiken von »gewöhnlichen Leuten« (ordinary people) ein. Aus diesem Fokus ergibt sich für Thrift die besondere Politik der nicht-repräsentationalen Theorie: Sie besteht darin, der kulturtheoretischen Weltfremdheit zu widerstehen und jenes (ggf. widerständige) Wissen in den Mittelpunkt zu stellen, das mit körperlichen Erfahrungen, Berührungen und Bewegungen zusammenhängt: »[Non-representational theory] is attempting to produce a new kind of politics, one built from the ground up, so to speak, which takes seriously E.P. Thompson’s famous call of many years back to protect ordinary people ›from the enormous condescension of posterity‹ by appreciating, and valorising, the skills and knowledges they get from being embodied beings, skills and knowledges which have been so consistently devalorised by contemplative forms of life, thus under-

real […].« (Neil Smith, »Socializing Culture, Radicalizing the Social«, in: Social & Cultural Geography 1/1 (2000), S. 25-28, hier S. 27.) 33 Vgl. Nigel Thrift, »›Strange Country‹: Meaning, Use and Style in NonRepresentational Theories«, in: ders., Spatial Formations, London: Sage 1996, S. 1-50; und ders., »Steps to an Ecology of Place«, in: Human Geography Today, hg. von Doreen Massey, John Allen und Philip Sarre, Cambridge: Polity Press 1999, S. 295-322. 34 Nigel Thrift, »Non-Representational Theory«, in: The Dictionary of Human Geography, hg. von Ronald J. Johnston, Derek Gregory, Geraldine Pratt und Michael Watts, Oxford: Blackwell 2000, S. 556. – Vgl. Catherine Nash, »Performativity in Practice: Some Recent Work in Cultural Geography«, in: Progress in Human Geography 24/4 (2000), S. 653-664, hier S. 655. 35 Nigel Thrift, »The Still Point. Resistance, Expressive Embodiment and Dance«, in: Geographies of Resistance, hg. von Steve Pile und Michael Keith, London: Routledge 1997, S. 124-151, hier S. 126.

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lining that their stake in the world is just as great as the stake of those who are paid to comment on it«.36

4 Mind the gap! Mit Thrift, Mitchell und Philo sind drei namhafte Autoren genannt, die sich gegen die (vermeintliche) Textverliebtheit und intellektualistische Weltfremdheit der new cultural geography aussprechen. Obwohl sie aus unterschiedlichen theoretischen Blickwinkeln argumentieren, beziehen sich alle drei auf die konkrete, materielle Realität on the ground. – Die deutschsprachige Kulturgeographie hingegen ist vergleichsweise zurückhaltend, wenn es darum geht, Soziales bzw. Gesellschaftliches mit Physisch-Materiellem in Verbindung bringen zu wollen: Diese Zurückhaltung kann zum einen als eine Folge der Verbindungen interpretiert werden, welche die geographische Forschung mit der nationalsozialistischen Weltanschauung eingegangen war.37 Als Inbegriff dieser Verbindungen wird meist die Geopolitik genannt, deren postdarwinistische und vor allem geound umweltdeterministische Einstellung vor und nach 1945 dazu diente, politische Entscheidungen als von den »dauernden Bedingungen der Bodengestalt« (Karl Haushofer) abhängig darzustellen und damit gleichsam ›natürlich‹ wirken zu lassen.38 Zwar wird in der gegenwärtigen Diskussion von Raumfragen nur selten offen deterministisch argumentiert; gleichwohl existiert auch heute noch jener ›naturalistische Fehlschluss‹, der Gesellschaftliches mit physisch-materiellem Raum verknüpft und damit Strukturen der sozialen Welt, die auf symbolischen Praktiken der Sinngebung beruhen, in scheinbar natürliche ›geographische Gegebenheiten‹ (zum Beispiel Deutschlands »Mittellage«) verwandelt. Auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht lösen Bestrebungen, physisch-materielle Wirklichkeitsbereiche als solche in die kultur- und sozialwissenschaftliche Theorieproduktion zu reimportieren, Unbehagen aus: Mit diesem Reimport verbindet sich aus kulturgeographischer Perspektive die Gefahr, die Grundannahme des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus und einen zentralen Gedanken des cultural turn zu verabschie36 Thrift, »Still Point«, S. 26. – Vgl. Edward P. Thompson, The Making of the English Working Class, Harmondsworth: Penguin 1967, S. 13. 37 Vgl. Mechthild Rössler, ›Wissenschaft und Lebensraum‹. Geographische Ostforschung im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Disziplingeschichte der Geographie, Berlin/Hamburg: Reimer 1990; und Michael Fahlbusch/ dies./Dominik Siegrist, Geographie und Nationalsozialismus: 3 Fallbeispiele zur Institution Geographie im Deutschen Reich und der Schweiz, Kassel: Gesamthochschule 1989. 38 Zum Verhältnis von Politischer Geographie und Geopolitik bis 1945 vgl. Klaus Kost, Die Einflüsse der Geopolitik auf Forschung und Theorie der Politischen Geographie von ihren Anfängen bis 1945, Bonn: Dümmlers 1988.

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den.39 Gemeint ist das Verkennen bzw. Vergessen jener epistemologischen Kluft zwischen dem Gegenstand einerseits und seiner wissenschaftlichen Beobachtung von einem bestimmten Standpunkt aus andererseits, welche die Kulturtheorie zur sogenannten Krise der Repräsentation geführt hat und die durch den Reimport des physisch-materiellen Raums tendenziell in Vergessenheit zu geraten droht. – Mit anderen Worten: Die Forderungen nach der Rematerialisierung der Humangeographie verführen dazu, die perspektivische Kluft zwischen Gegenstand und Beobachtung zu vergessen und damit den Gegenstand und seine Repräsentation in eins fallen zu lassen. Zwar verbindet sich dieses Vergessen nur selten mit der ausdrücklichen Aufforderung, die epistemologischen Errungenschaften des cultural turn – das heißt insbesondere die Anerkennung der perspektivischen Kontextabhängigkeit des Forschungsprozesses – aufzugeben.40 Gleichwohl schwingt in der Kritik, die neue Kulturgeographie sei von einer abstrakten Weltfremdheit gekennzeichnet, die (implizite) Vorstellung mit, der Reimport von körperlich-physischer Materie erlaube es, zu den Dingen als solchen vorzudringen. In diesem Sinne zeigt sich auch bei den oben genannten Autoren die Tendenz, mit konkreter Physis ein höheres Maß an Wahrhaftigkeit, Unmittelbarkeit, an Objektivität oder Authentizität zu verbinden. So zielt die Beschäftigung mit körperlichen Praktiken, die Nigel Thrift mit seiner nonrepresentational theory zu popularisieren hofft, auf die materielle oder sinnliche Erfahrung der sozialen Wirklichkeit als dem Anderen der kulturtheoretischen Repräsentationsarbeit. Auch Mitchell wendet sich gegen die »kulturalistische« Einstellung der new cultural geography, wenn er dafür plädiert, die ökonomischen Bedingungen des Alltagslebens zu untersuchen und dabei die Materialität der physischen Welt in Rechnung zu stellen. Die Arbeiten von Chris Philo schließlich können ebenfalls als Anregungen verstanden werden, die materiellen Aspekte der traditionellen geographischen Gegenstände wieder stärker in den Blick zu nehmen und sich entsprechend »geerdeter« Methoden zu bedienen. Sei es also die Auseinandersetzung mit dem Körper (Thrift), mit konkreten materiellen Lebensbedingungen (Mitchell) oder mit »dinglichen« und körperlich widerständigen Geographien (Philo) – in allen drei Fällen erscheint die Beschäfti-

39 Für eine Diskussion der konstruktivistischen Grundlagen der Kulturtheorie in geographischer Perspektive vgl. Lippuner, Raum – Systeme – Praktiken, S. 39-50. 40 In diesem Sinne macht etwa Philo verschiedentlich deutlich, dass er die Gefahren der Rematerialisierung reflektiert und nicht daran denkt, die Errungenschaften des cultural turn preiszugeben: »In this context, I would want to defend the gains of the cultural turn […], and to clarify that my own call for a resocializing of human geography is not meant to sanction any return to an unthinking empiricism obsessed with mappable patterns and devoid of interest in the constitution, contestation and lived meaning of such material geographies.« (Philo, »More Words«, S. 42.)

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gung mit Materie als ein Garant dafür, es (wieder) mit den eigentlich wichtigen bzw. wirklich ›relevanten‹ Dingen on the ground zu tun zu haben. In der deutschsprachigen Kulturgeographie hingegen wird die Tendenz, das Materielle als unmittelbare und authentische Erkenntnisquelle für Soziales und Gesellschaftliches zu begreifen, eher kritisch betrachtet.41 Zwar wird nicht in Abrede gestellt, dass physisch-materielle Objekte körperlich oder sinnlich erfahrbar sind, bezweifelt wird jedoch, dass aus körperlichen Erfahrungen auf die symbolischen Bedeutungen von physischmateriellen Objekten geschlossen werden kann. – Ganz ähnlich verhält es sich in Bezug auf Erkenntnisse, die aus der sinnlichen Wahrnehmung und Erfahrung des geographischen Raums gezogen werden können (also etwa aus einer Reise, die man unternimmt, um ein Gebiet erfahrend zu erforschen): So lehrreich es auch sein mag, eine Exkursion zu machen oder allgemein ›vor Ort‹ zu sein, so selten wird man dort mehr sehen als das, was man im Vorfeld schon gewusst hat. Vor allem aber wird man durch die sinnliche Wahrnehmung eines Ortes nicht unmittelbar etwas über seine symbolischen Bedeutungen erfahren.42 Mit Blick auf den Glauben an solche Evidenzen besteht ein Verdienst der deutschsprachigen Geographie darin, deutlich gemacht zu haben, dass die Bedeutung von Objekten oder Orten »nicht über die Objekt- oder Ortsforschung erschlossen werden [kann]«.43 – Insbesondere Benno Werlen wird nicht müde zu betonen, dass die Bedeutungen, welche materielle Ge41 Diese kritische Haltung ist freilich keine Erfindung der neuen Kulturgeographie. Tatsächlich ist die Entwicklung der deutschsprachigen Geographie seit den späten 1960er Jahren von dem Bemühen gekennzeichnet, den ›ontologischen Bruch‹ zwischen Materie und Sinn, zwischen physischer und sozialer Welt anzuerkennen bzw. auszuhalten und in die geographische Theoriebildung einzubeziehen. (Vgl. Dietrich Bartels, »Einleitung«, in: ders., Wirtschafts- und Sozialgeographie, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 13-45; Gerhard Hard, »Zu Begriff und Geschichte der ›Natur‹ in der Geographie des 19. und 20. Jahrhunderts«, in: Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur, hg. von Götz Großklaus und Ernst Oldemeyer, Karlsruhe: von Loeper 1983, S. 141-167; Helmut Klüter, Raum als Element sozialer Kommunikation, Gießen: Geographisches Institut 1986; und Benno Werlen, Gesellschaft, Handlung und Raum. Grundlagen einer handlungstheoretischen Sozialgeographie, Stuttgart: Steiner 1985.) 42 Eine andere Auffassung wird im deutschsprachigen Raum beispielsweise von Karl Schlögel vertreten: In seinen Texten über das »Lesen von Städten« legt er nahe, dass sich ein zeitgemäßes Verständnis der Geschichte einer Stadt »nicht am Schreibtisch, nicht durch Lektüre« (Schlögel, »Kartenlesen«, S. 277) bilden könne. – Stattdessen müsse man eine Exkursion dorthin machen, sie durchschreiten, flanieren wie Benjamin. Vor diesem Hintergrund bedauert er, dass »die Historiker […] die Erkenntnismöglichkeit der Bewegung, des Reisens, längst ins Private, Touristische und Banale abgedrängt und es als eine avancierte Form des forschenden Sehens und des sehenden Forschens preisgegeben« (Schlögel, Im Raume, S. 503) hätten. 43 Benno Werlen, Sozialgeographie. Eine Einführung, Bern: Haupt 2000, S. 307.

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gebenheiten haben, zugeschrieben und nicht wesensimmanent sind: Aus kulturgeographischer Sicht kann ein Gegenstand in sozialer Hinsicht alles Mögliche oder auch gar nichts bedeuten. Was er konkret bedeutet, ist räumlich und zeitlich alles andere als beliebig, aber es ist nicht von seiner Stofflichkeit determiniert. Auch die Bedeutung eines Ortes ergibt sich nicht aus seiner Materialität: Sie ist vielmehr ein Produkt gesellschaftlicher Leistungen, von kommunikativen Praktiken, Semantiken und Sinnordnungen. Vor diesem Hintergrund interessiert sich die deutschsprachige Kulturgeographie nicht für konkrete Materialitäten oder Räume ›an sich‹, sondern für die Frage, wie Räume bedeutungsvoll konstituiert werden.

5 Fazit Zu den verschiedenen Wenden, welche die Kultur- und Sozialwissenschaften in den letzten Jahrzehnten erfasst haben, gehört (neben dem lingistic turn, dem pictorial turn oder dem cognitive turn) auch der spatial turn: Diese räumliche Wende kann als Ausdruck des Bemühens verstanden werden, die Deutungsschemata und Wissensordnungen in den Blick zu nehmen, auf Grundlage derer die gesellschaftliche Wirklichkeit produziert und reproduziert wird. Entsprechend wird ›Raum‹ in der gegenwärtigen Diskussion vielfach als Referenzrahmen begriffen, der Möglichkeiten der Differenzierung eröffnet und damit als fundamentale Kategorie symbolischer (Zu-)Ordnung fungiert. – Räume können vor diesem Hintergrund nicht mehr, aber auch nicht weniger sein als handlungsbedeutsame Sinnstrukturen oder Bilder, die sich »ein vorwaltender kultureller Konsens von der Welt gemacht hat«.44 Die vermeintlich natürliche geographische Wirklichkeit wird damit nicht länger als vorgängig und voraussetzungslos, sondern im Gegenteil als gesellschaftlich produziert und hoch voraussetzungsvoll begriffen. Neben dieser Vorstellung von Raum als »Bedingung der Möglichkeit von Unterscheidungen«45 kennt die aktuelle kulturtheoretische Debatte aber auch gegenständliche Raumvorstellungen: Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass sie ›Raum‹ als materielles Ding denken – als der Beobachtung vorgängige physische Materialität oder als Container, dessen Inhalte mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet sind. Dieser gegenständliche Raum, so wurde einleitend festgehalten, ist in alltäglicher Kommunikation ebenso gängig wie in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Er verleitet das wissenschaftliche Denken jedoch zu einem epistemologischen Fehl44 Adolf Muschg, »Der Raum als Spiegel«, in: Räumliches Denken, hg. von Dagmar Reichert, Zürich: vdf 1996, S. 47-55, hier S. 50. 45 Wolfgang Zierhofer, »Die fatale Verwechslung. Zum Selbstverständnis der Geographie«, in: Handlungszentrierte Sozialgeographie, S. 163-186, hier S. 181.

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schluss, in dem die symbolischen Einschreibungen von Bedeutung in Materie bzw. in materielle Umwelt so behandelt werden, als seien sie Bestandteile oder Eigenschaften der materiellen Welt und unabhängig von jenen sozialen Prozessen, durch die Sinn und Bedeutungen erst generiert und reproduziert werden. Mit diesem ›Missverständnis‹ verbindet sich eine Form der Verdinglichung, die Gefahr läuft, die Beobachtung mit dem Gegenstand, den Begriff mit dem Ding und semantische Strukturen mit der Realität zu verwechseln.46 In diesem Sinne neigt auch der aktuelle kulturtheoretische Diskurs dazu, Elemente sozialer Kommunikation in ›Raumgestalten‹ zu verwandeln und die Ergebnisse dieser Verwandlung für geographische Tatsachen zu halten. Solche Hypostasierungen führen nicht nur dazu, dass gesellschaftlich Bedingtes aus dem ›Zuständigkeitsbereich‹ der sozialen Welt entfernt, ins Reich der physischen Materialität überführt und damit seines politischen Gehaltes gewissermaßen enthoben wird. Die Kulturtheorie widerspricht auch ihren eigenen, auf Sinn und Bedeutung fokussierenden erkenntnistheoretischen Prämissen, wenn und insofern sie Raumsemantiken unreflektiert naturalisiert. Dies gilt erst recht für all jene Fälle, die durch eine affirmative Bezugnahme auf ›Raum‹ als physische Materie charakterisiert sind; die also dazu aufrufen, die physisch-materiellen Aspekte des Raums wieder stärker in den Mittelpunkt sozial- und kulturwissenschaftlicher Reflexion zu rücken. Wie der Beitrag zu zeigen versuchte, können diese Aufrufe als Ausdruck der Hoffnung interpretiert werden, mit Hilfe der physischmateriellen Welt eine Form von Gegenständlichkeit und Konkretheit wiederzuerlangen, die im Zuge des cultural turn (vermeintlich) verloren gegangen ist. Für die genannten Autoren der angloamerikanischen Kulturgeographie jedenfalls scheint in der direkten, körperlichen Auseinandersetzung mit den konkreten Gegenständen on the ground eine besondere, unmittelbare Erkenntnismöglichkeit zu liegen, die über das hinausgeht, was textlastige, ›weltfremde‹ Schreibtischverfahren zu leisten im Stande sind. Dabei scheinen sie zu vergessen, dass zwischen der wissenschaftlichen Beobachtung und ihren Gegenständen eine Kluft besteht, dass also »auch wissenschaftliche Erkenntnis Konstruktion von Welt in der Welt ist, d.h. eine Repräsentationspraxis involviert, die von einem bestimmten Standpunkt in einer bestimmten Perspektive vollzogen wird«.47

Dass diese Repräsentationspraxis in der deutschsprachigen neuen Kulturgeographie stringenter reflektiert wird als in Teilen der angloamerikanischen scientific community, dürfte nicht zuletzt der besonderen Geschichte 46 Vgl. Wolfgang Zierhofer, »State, Power and Space«, in: Social Geography 1 (2005), S. 29-36, hier S. 31. 47 Lippuner, Raum – Systeme – Praktiken, S. 47.

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der deutschsprachigen Geographie und ihren Verbindungen zur nationalsozialistischen Ideologie geschuldet sein. Für die Unterschiede im Umgang mit Raumfragen mag es aber auch sprachliche Gründe geben. – Was Autoren wie Chris Philo, Nigel Thrift und Don Mitchell neben ihrer Parteinahme für das Konkret-Materielle eint, ist ein spezifisch englischer Schreibstil: Er zeichnet sich durch eine gewisse essayistische Leichtigkeit aus; vergleichsweise spielerisch verläuft der Gang der Argumentation.48 Die Texte handeln nicht von Raum und Räumen, sondern vom mapping of, vom spacing of, vom tracing of, vom siting of. Auch deutschsprachige Autoren bedienen sich gegenwärtig solcher Wendungen: In seinem Text »Kartenlesen, Augenarbeit« schreibt etwa Karl Schlögel, dass der Einsatz von »spacing history« gegenüber »der Verräumlichung der Geschichte«49 viele Vorteile biete. – Einer dieser Vorteile besteht darin, dass im Dunklen bleiben kann, ob von einer gegenständlichen, das heißt physisch-materiell gedachten oder einer abstrakten Verräumlichung die Rede ist. Diese Frage stellt sich auf Englisch kaum; im Deutschen hingegen drängt sie sich auf. Im Bemühen, solche Unterschiede ernst zu nehmen, zeigt sich womöglich eine weitere Dimension des spatial turn.

48 Vgl. Gesa Helms/Verf./Ulrich Oslender, »Einfach Sprachlos but not Simply Speechless: Language(s), Thought and Practice in the Social Sciences«, in: Area 37/3 (2005), S. 242-250. 49 Schlögel, »Kartenlesen«, S. 264.

Topographie der Lebensw elt BERNHARD WALDENFELS

Wenn heute vielfach von einem spatial, topographical oder topological turn die Rede ist, so betrifft dies vor allem Änderungen im Bereich wissenschaftlicher Paradigmen und im öffentlichen Bewusstsein. In der Philosophie ist es so, dass die einen dem Raum und dem Ort schon seit Langem einen besonderen Platz einräumen, dass andere es dagegen bis heute nicht tun. Was die Phänomenologie angeht, der meine eigenen Versuche wichtige Impulse verdanken, so ist die Erkundung, dessen, was sich zeigt, und der Art und Weise, wie es sich zeigt, ohne einen entsprechenden Erscheinungsraum nicht zu denken. Die Frage ist nicht, ob Räumlichkeit und Örtlichkeit eine Rolle spielen, sondern wie sie es tun. Das große Gewicht der Medien und zunehmende Tendenzen zur Globalisierung zwingen uns dazu, manches neu zu durchdenken und vieles schärfer zu fassen.

1 Topologische Varianten Ich schicke eine historische Skizze voraus, um das Terrain zu sondieren. Diese Orientierungsskizze dient uns als Folie für die nachfolgenden aktuellen Überlegungen. Von Anfang an zeigt sich, wie schwierig es ist, eine Begriffssprache zu finden, die den auftretenden Diskontinuitäten Beachtung schenkt, ohne sich in kulturhistorische Idiolekte aufzulösen. Eine ›Wiederkehr des Raumes‹ stellt uns vor die Frage, was da wiederkehrt – und auch nicht wiederkehrt. Für das westliche Denken von Ort und Raum lassen sich, grob betrachtet, drei große Etappen unterscheiden, die allen Binnendifferenzen zum Trotz unter einer jeweils eigenen Leitidee stehen. Das klassische Denken kreist um den Kosmos, der als Gemeinort, als topos koinos oder locus communis fungiert.1 Das kosmische Ortsgefüge

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Ich denke hierbei in erster Linie an den Topos bei Aristoteles. – Die platonische Chora bedarf einer eigenen Würdigung, auf die wir an dieser Stelle ver-

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umfasst alles Seiende, menschliche und tierische Wesen so gut wie Dinge und Elemente. Darin ist jedem Seienden sein eigentümlicher Ort, sein topos idios zugewiesen. Der Mensch zeichnet sich einzig dadurch aus, dass er um seinen Ort weiß und dass er diesen Zielort finden oder verfehlen kann. Im Rahmen dieser Onto-Topologie bilden sich spezifische Lebensorte heraus: nämlich Polis, Oikos, Tempel, Agora oder Forum, Theater, Akademie und so fort. Selbst das Ethos verweist in seiner Grundbedeutung auf einen Aufenthalts- und Wohnort. Die klassische Bestimmung des ordo als compositio rerum aptis et accommodatis locis,2 die ähnlich bei Augustinus wiederkehrt, nimmt geradewegs auf eine räumliche Anordnung Bezug; ähnliches gilt für den griechischen Begriff der taxis, der die Ordnung der Welt mit der Aufstellung des Heeres verbindet. Mit der Entzauberung des Kosmos und seiner Reduktion auf eine berechenbare und beherrschbare Naturwelt tritt an die Stelle des kosmischen und sozialen Topos das leere Raumschema des spatium. Es entsteht ein homogener und isotroper Raum, in dem die Dinge eine bestimmte Ausdehnung haben, bestimmte Abstände einhalten und sich in bestimmte Richtungen bewegen. Doch nichts von dem, was sich in diesem Raumbehälter befindet, hat einen eigenen Ort, an dem es sich wiederfindet, und einen gemeinsamen Ort, den es mit anderen teilt. Qualitative Differenzen wie rechts und links, oben und unten, vorn und hinten verlieren ihren Sinn, wenn bevorzugte Orientierungszentren sich in bloße Raumstellen verwandeln. Selbst die Beschreibung einer messbaren Bewegung als freier Fall stellt einen Anthropomorphismus dar. In Ermangelung von Situationen und Szenerien, in denen man sich befindet, und in Ermangelung von Wegen, auf denen eines sich dem anderen nähert und sich von ihm entfernt, ist der bloße Raum niemandes Raum; er ist buchstäblich unbewohnbar.3 Was sich in einem objektiv gegebenen Raum abspielt und mechanischen Gesetzen folgt, spaltet sich ab von der subjektiven Raumvorstellung eines denkenden, körperlosen Wesens. Der alte Holismus eines umgreifenden Weltalls weicht einem Dualismus von physischer Außenwelt und psychischer oder mentaler Innenwelt, von äußerem Raumsinn und innerem Zeitsinn. Problematisch daran ist nicht die Raumkonstruktion als solche, die erst die mathematische Physik ermöglicht hat, problematisch ist, »dass wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist«.4 Nicht zu leugnen ist,

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zichten werden. Verwiesen sei auf die einschlägigen Überlegungen von Jacques Derrida. Cicero, De officiis, I, 40. Vgl. dazu Verf., »Leibliches Wohnen im Raum«, in: Kulturtheorien der Gegenwart. Ansätze und Positionen, hg. von Gerhart Schröder und Helga Breuninger, Frankfurt a.M./New York: Campus 2001, S. 179-201. So der Vorwurf Husserls gegenüber Galilei, der vorgestellt wird als »zugleich entdeckender und verdeckender Genius« (Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hg. von Walter Biemel, Husserliana, Bd. VI, Den Haag: Nijhoff 21976, S. 52f.).

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dass es neben der Theorie des Raumes, wie sie in der mathematischen Physik entwickelt wurde, eine architektonisch gestützte Praxis und Politik des Raumes gab und dass die Raumwahrnehmung wie vieles anderes in der Ästhetik einen Unterschlupf fand. Dies ändert nichts an der beherrschenden Stellung des euklidischen Raummodells. In der Zeit vor und nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bahnt sich ein Umdenken des Raumes an, an dem die physikalische Feldlehre, die mathematische Topologie und die biologische Umweltlehre ebenso beteiligt sind wie die Verhaltenstheorien der Human- und Sozialwissenschaften und die zu neuem Selbstbewusstsein findende Architektur. Die Phänomenologie des Raumes, die bei all ihren Vertretern von Anfang an eng mit einer Phänomenologie der Zeit verflochten ist, hat an diesem Umdenken einen besonderen Anteil. Sie kehrt zur Raum- und Zeiterfahrung zurück, ohne sich mit Raum- und Zeitkonstrukten zu begnügen. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt von der Lebenswelt, in der jeder von uns leiblich verankert ist und die sich uns durch unsere leiblichen Bewegungen hindurch erschließt.5 Das situative Hier und Jetzt fungiert als Nullpunkt, von dem verschiedene Raumachsen ausgehen mit ihren Skalen von oben und unten, von vorn und hinten, von rechts und links.6 Der Orientierungspunkt findet seinen sprachlichen Ausdruck in der Origo eines Zeigfeldes, das sich zu einem Hier-Jetzt-Ich-System anordnet.7 Der Spielraum der Bewegung, der im Hier und Jetzt entspringt, lässt als »hodologischer Raum« (Kurt Lewin) ein Netz von Wegen entstehen; der wechselnden Reichweite entspricht die Staffelung in Nah- und Fernräume. Die Selbstabgrenzung des Leibes, dem in der Haut eine eigentümliche Grenz- und Berührungsfläche zuwächst, führt zur Scheidung von Binnen- und Außenraum, von Drinnen und Draußen. Auf Grund der wechselnden Zugäng5

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Es sei daran erinnert dass Husserl bereits 1907, unmittelbar nach den später von Heidegger herausgegebenen Zeitvorlesungen, eine Raumvorlesung gehalten hat. (Vgl. Edmund Husserl, Ding und Raum. Vorlesungen 1907, hg. von Ulrich Claesges, Husserliana, Bd. XVI, Den Haag: Nijhoff 1973.) – Was die spätere Konzeption der Lebenswelt angeht, so verweise ich in diesem Zusammenhang auf meine frühen Versuche in dem Band In den Netzen der Lebenswelt (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 32005 [1985]), die im Ausgang von Husserl auch auf spezielle Raumformationen wie Alltag, Landschaft, Heimat und Fremde ausgreifen, sowie auf die Großstadtstudie in Der Stachel des Fremden (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 31998 [1990]). Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Zweites Buch, Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, hg. von Marly Biemel, Husserliana, Bd. IV, Den Haag: Nijhoff 1952, S. 158. Vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart: Lucius & Lucius 31999 [1934], § 7. – Die Verwandtschaft von Ortsadverbien und Pronomen wurde schon von Wilhelm von Humboldt ausdrücklich vermerkt. Nicht nur Bühler, sondern auch Heidegger bezieht sich darauf. (Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 192006 [1927], S. 119.)

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lichkeit der Lebenswelt und der wechselnden Zugehörigkeit zu ihr sondert sich die Lebenswelt in »Heimwelt« und »Fremdwelt«; beide sind gleichursprünglich, da Eigenheit nur im Kontrast zur Fremdheit hervortritt. Von dort her ergeben sich schon bei Husserl Ansatzpunkte für eine ethnologische Erforschung der Lebenswelt.8 Der Lebenswelt entspricht in all ihrer Vielgestaltigkeit ein gelebter Raum und auch eine gelebte Zeit, wie der Psychopathologe Eugène Minkowski sich ausdrückt.9 Die Wiederentdeckung des gelebten Raumes geht Hand in Hand mit einer Aufwertung der Sinne und einer Neubewertung praktischen Verhaltens, die sich in den verschiedensten Lebensbereichen auswirkt. Dazu gehört, dass die Architektur sich, spät genug, als eine Raumkunst sui generis begreift.10 Die Besitznahme, die occupatio, die in den neueren Gesellschaftstheorien eine zentrale Rolle spielt, führt zu einer eigentümlichen Verquickung von Recht und Raum; als Landnahme gerät sie auf die Bahnen einer von Eroberung und Vernichtung durchwirkten Geopolitik. Die Geographie tritt als Raumwissenschaft nicht nur aus dem Schatten der Historiographie, sie hat diese längst mit topologischen Motiven infiziert. Dazu gehört die prononcierte Beachtung und Pflege von Gedächtnisorten; dazu gehört beispielsweise die Anlage architekturhistorischer Pfade, die eine alte Industrielandschaft wie das Ruhrgebiet neu erschließen; dazu gehört schließlich die ›archäologische‹ Beschreibung von Stadtlandschaften, wie sie von Walter Benjamin begonnen wurde und in den Arbeiten von Karl Schlögel fortgesetzt wird. Der »Logos der ästhetischen Welt«, den Husserl eingefordert hat und der im Logos der praktischen Welt seine Ergänzung findet, entpuppt sich eo ipso als ein Logos der topischen Welt. Diese Zusammenhän8

Vgl. dazu Verf., »Verschränkung von Heimwelt und Fremdwelt« in: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 21999 [1997], S. 66-84. Zu der zunächst und zumeist recht zögernden Annäherung von Philosophie und Ethnologie, von Fremdheitsphilosophie und Fremdheitswissenschaft vgl. die große Untersuchung von Iris Därmann, Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Vernunft, München: Fink 2005. – Mit dem Titel spielt die Autorin auf eine Bemerkung von Marcel Mauss an. 9 Vgl. Eugène Minkowski, Die gelebte Zeit, a.d. Franz. von Meinrad Perrez und Lucien Kayser, 2 Bde., Salzburg: Müller 1971/72 [1933]. – In diesen phänomenologisch-psychopathologischen Untersuchungen findet der gelebte Raum eine ebenso gründliche Behandlung wie die gelebte Zeit. Die von Bergson angeregte Wortwahl bietet den Vorteil, dass sie der Reduktion von Raum und Zeit auf ein vorgängiges Raum- bzw. Zeitbewusstsein einen Riegel vorschiebt. 10 Vgl. dazu Verf., »Architektur am Leitfaden des Leibes«, in: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 201-215. – Ich beziehe mich dort auf den Dresdener Kunsthistoriker Schmarsow: Er begreift erstmalig die Architektur als eine »Raumgestalterin« (August Schmarsow, »Das Wesen der architektonischen Schöpfung«, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 470-484 [1894], hier S. 470).

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ge sind aus den phänomenologischen Analysen von Husserl, Heidegger und Merleau-Ponty, aus den mathematisch erweiterten Raumstudien von Oskar Becker, aus den human- und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen von Eugène Minkowski, Erwin Straus und Kurt Lewin, aus Gaston Bachelards Poetik des Raumes sowie aus Karls Bühlers Sprachtheorie seit langem bekannt. Uns geht es im Folgenden um eine Problematisierung und eine spezifische Fortführung dieser Ansätze.

2 Zw e i d e u t i g k e i t e n u n d P a r a d o x i e n des Weltbegriffs Jede Wiederkehr hat etwas Zweideutiges. Sie verführt dazu, sich an Unwiederbringliches zu klammern oder sich auf bloßes Flickwerk einzulassen. Was die Lebenswelt angeht, so kann man sich dazu verleiten lassen, sie kompensatorisch als wiedergefundene Ganzheit zu feiern, in der alles und jedes seinen rechten Ort hat und in der die Fülle des Lebens aufquillt. Die Rehabilitierung der Lebenswelt hat zweifellos einen lebensphilosophischen Überhang, der sich nicht selten mit einem wissenschafts- und technikfeindlichen Affekt verbindet. Doch die Kontingenz des Hier und Jetzt, die auf Grund wechselnder Grenzziehungen und kulturhistorisch divergierender Raumordnungen hinter jeder Wo-Frage lauert und die in Situationen der Verunsicherung immer wieder neu aufbricht, lässt sich nicht in eine feste Ordnung überführen. Husserl, der seine Krisis-Schrift in einer Zeit verfasste, die zur Idyllisierung der Lebenswelt wenig Anlass bot, war sich dessen wohl bewusst.11 Für ihn ist die Lebenswelt zwar mehr als alles, was der Fall ist, doch er begreift sie nicht ontologisch als omnitudo realitatis, er bestimmt sie funktional als Boden, von dem all unsere Erfahrungen, Erwartungen und Entwürfe ausgehen, und als Horizont, auf den sie zugehen, und er bestimmt sie semantisch-semiotisch als einen offenen Bedeutungszusammenhang. Bei Heidegger wird daraus ein Verweisungszusammenhang, in dem sich die Besorgtheit unseres Daseins abzeichnet. Die Welt ist nicht, sie bildet sich. Auf dem Hintergrund dieses beweglichen Weltganzen erhalten alle Sinn- und Selbstbildungen einen topologischen Aspekt. Dies gilt bereits für Nietzsches Lehre von den Lebenshorizonten und von der Perspektivität des Daseins.12 Wie schon bei Nietzsche,

11 Die Krisis der europäischen Wissenschaften, deren Abfassung auf Wiener und Prager Vorträge von 1935 zurückgeht und von der 1936 noch ein Fragment in Belgrad erscheinen konnte, gehört zu den Abgesängen der Weimarer Zeit, und wir tun gut daran, diese zeitgenössischen Zusammenhänge im Blick zu behalten, nachdem die Popularität des Lebensweltbegriffs inzwischen zu seiner unvermeidlichen Verwässerung beigetragen hat. 12 Zu Nietzsche, der wie in vielen anderen Bereichen so auch hier wichtige Einsichten vorweggenommen hat, vgl. die Monographie von Stephan

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so nimmt die Perspektivierung der Erfahrung auch bei Husserl kosmologische Züge an. Ohne die Bodenfunktion, die sie als Erdboden auszeichnet, wäre die Erde nicht unser Planet, sie wäre ein Himmelskörper unter vielen anderen – was sie gewiss auch ist, aber eben nicht nur. In einem Text, in dem die heutigen Abenteuer der Raumfahrt vorweggenommen sind, weist Husserl darauf hin, dass selbst Flugreisen von der Erde als der ›Urstätte‹ all unserer Bewegungen ausgehen. Bei Raumflügen kehren, wenn nicht die Beobachter selbst, so doch die Beobachtungsdaten auf unsere Erde zurück. Darin hat der Raumfahrer dem Vogel, diesem Urwesen allen Fliegens, nichts voraus: »Der Vogel geht von der Erde, auf der er nicht-fliegende Erfahrungen hat wie wir, aus, fliegt auf und kehrt wieder zurück: zurückgekehrt hat er wieder die Erscheinungsweisen der Ruhe und Bewegung wie ich Erdgebundener […].«13

Unter deutlicher Aufwertung des Geographischen oder des Geo-Logischen spricht Merleau-Ponty von einer »transzendentalen Geologie«.14 Dies besagt nicht nur, dass die Raum- und Erdorientierung an der Weltbildung maßgebend beteiligt ist – Zeit- und Raumstiftung greifen vielmehr ineinander. Es gibt eine »gleichzeitige Urstiftung von Zeit und Raum, die bewirkt, dass es eine historische Landschaft und eine quasi-geographische Inschrift der Geschichte gibt«.15 Allerdings ist nicht zu leugnen, dass Husserls Konzeption der Lebenswelt unter einem doppelten Geburtsfehler leidet. Dieser betrifft sowohl das Ich, das sich in der Welt befindet, wie die Welt, in der es sich befindet. Der Ausgang vom Ich – ein Erbe Descartes’ – hat mit den Fesseln eines Egozentrismus zu kämpfen, und der Ausgriff auf eine einzige Vernunftwelt – ein Erbe Hegels – führt immer wieder zurück auf die Bahnen einer Geschichtsteleologie, die der Kontingenz und Günzel, Geophilosophie. Nietzsches philosophische Geographie. Berlin: Akademie 2001. 13 Edmund Husserl, »Grundlegende Untersuchungen zum phänomenologischen Ursprung der Räumlichkeit der Natur«, in: Philosophical Essays in Memory of Edmund Husserl, hg. von Marvin Farber, Cambridge: Harvard University Press 1940, S. 307-325, hier S. 316. – Der Text, der von 1934 stammt und gewöhnlich unter dem Titel »Umsturz der kopernikanischen Lehre« zitiert wird, hat nicht nur bei Merleau-Ponty, sondern auch in Paul Virilios Dromologie und in Jean Laplanches Kopernikanisierung der Psychoanalyse Beachtung gefunden. Zu beachten ist, dass Freuds Topiken ebenfalls zur Neubewertung des Räumlichen beigetragen haben. 14 Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare gefolgt von Arbeitsnotizen, hg. und mit einem Nachwort versehen von Claude Lefort, a.d. Franz. von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels, München: Fink 3 2004 [1964], S. 326. 15 Ebd. – Zur Wirkungsgeschichte von Merleau-Pontys Raumphilosophie vgl. den Literaturbericht von Stephan Günzel, »Zur Rezeption von MerleauPontys Raumbegriff«, in: Phänomenologische Forschungen 9 (2004), S. 253315.

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der Heterogenität jeglicher Ordnung letzten Endes zuwiderläuft und sich in einem Eurozentrismus verfängt. Doch in der Konzeption der Lebenswelt steckt eine Grundparadoxie, die Husserl ausdrücklich benennt, selbst wenn er sie durch den Rückgang auf ein transzendentales Ur-Ich zu entschärfen sucht. In Paragraph 53 der Krisis ist die Rede von einer Paradoxie der menschlichen Subjektivität, die darin besteht, dass das Subjekt für die Welt zugleich Objekt in der Welt ist. Husserl sieht einen Widersinn darin, dass die Menschheit als ein Teilbestand der Welt das Weltganze konstituiert: »Der Subjektbestand der Welt verschlingt sozusagen die gesamte Welt und damit sich selbst.«16 Das Rätsel liegt in dem fraglichen Zugleich von Subjekt und Objekt. In einer Topologie, die sich an den Vorgegebenheiten der Lebenswelt ausrichtet, zeigt sich, dass wir es hier nicht mit einem gedachten oder sprachlich erzeugten, sondern einem gelebten Paradox zu tun haben. Das Paradox steckt in der Sache selbst und nicht in einer unzulänglichen Betrachtungsweise. Der traditionelle Gegensatz von objektivem Raumbestand und subjektiver Raumvorstellung schwindet, wenn wir von einem Hier ausgehen, das weder innerhalb noch außerhalb des Raumes anzusiedeln ist. Der Raumbetrachter, der leiblich in der Welt verankert ist, ist kein »Überschauer der Welt«17, kein Kosmotheoros, wie es später bei Merleau-Ponty heißt, er gehört selbst dem Raum an, den er betrachtet. Würde er ihm jedoch schlechterdings angehören, so wäre das Hier ein bloßer Teilort innerhalb des Gesamtortes; in Ermangelung der nötigen Distanz und einer bestimmenden Differenz wäre das Ganze nicht mehr als Ganzes fassbar und sagbar. Die Rede vom Ganzen wird totalitär, sobald sie sich als Rede vom Ganzen verleugnet. Das logische Paradox der Menge aller Mengen findet also sein topologisches Pendant im Raum aller Räume. Einer Topographie der Lebenswelt stellt sich die Aufgabe zu zeigen, wie Zugehörigkeit und Distanz, Nähe und Ferne sich zueinander fügen, ohne dass eines dem anderen den Boden entzieht. Bevor wir näher auf diese paradoxe Ausgangslage eingehen, sei eine terminologische Zwischenüberlegung eingefügt. Sollen wir lieber von ›Topos‹ bzw. ›Ort‹ oder von ›Raum‹ sprechen? Mir selbst fällt es schwer, diese doppelte Redeweise als eine Alternative zu verstehen. Im Deutschen pflegen wir zu sagen, etwas oder jemand sei ›an (s)einem Ort‹ oder aber ›in einem Raum‹. Der Ort, den wir durch Ortsangaben spezifizieren, gibt im Allgemeinen an, wo sich etwas oder jemand befindet oder wo etwas stattfindet (franz. avoir lieu, engl. to take place), während der Raum das »Umhafte der Umwelt«18 betont. So hält man eine Rede an einem geeigneten Ort, vor Gericht, im Parlament oder auf einem Fest, während die Redeveranstaltung in einem bestimmten Gebäude oder Saal oder auch im 16 Husserl, Krisis, S. 183. 17 Ebd., S. 331. 18 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §§ 22ff.

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Freien stattfindet. Es ist der Raum, den wir als Euklidischen oder Riemannschen Raum qualifizieren, doch offenkundig gehört die Räumlichkeit ebenso sehr zur Alltagswelt. Die mathematische Verwendung des Raumbegriffs könnte uns dazu verleiten, die Zweiheit von Ort und Raum in eine Dichotomie zu verwandeln, so dass der Lebensort vom vermessenen Raum durch eine Kluft getrennt wäre. Doch ähnlich wie Husserl von einem Leibkörper zu sprechen pflegt, wäre es nicht unpassend, von einem Ortsraum zu sprechen, bei dem situative Örtlichkeit und messbare Räumlichkeit sich ineinander schieben wie Leiblichkeit und Körperlichkeit, wie der Leib, der wir sind, und der Körper, den wir haben. Im Übrigen scheint es ratsam, erforderliche Nuancierungen dem jeweiligen Sprachgebrauch zu überlassen, ohne neue terminologische Gräben auszuheben. Was schließlich den Unterschied zwischen Topologie und Topographie angeht, so ziehe ich es vor, von »Topologie« zu sprechen, wenn der allgemeine theoretische Rahmen der Räumlichkeit gefragt ist, von »Topographie« dagegen, wenn die Vielfalt der Raumerfahrung im Vordergrund steht. Wie im Falle von Ethnologie und Ethnographie passt beides gut zueinander, doch die Präferenz gebührt der Topographie, die sich durch eine besondere Nähe zur Beschreibung, auch zur ›dichten Beschreibung‹ im Sinne von Clifford Geertz, auszeichnet.19 Im Folgenden greife ich einige Raum- oder Ortaspekte heraus, die nicht zuletzt auf Grund ihres paradoxalen Charakters für meine Bemühungen um eine genuine Topophänomenologie von besonderer Bedeutung sind. Die Paradoxien entspringen einer Selbstbezüglichkeit, die immer dann hervortritt, wenn die Annahme eines Ersten, eines Letzten oder eines Ganzen fragwürdig wird. Der kartesianische Dualismus schwindet nicht ganz, aber er wandert nach innen, indem er die Form von Rissen und Spal19 Was die mathematische Disziplin der Topologie angeht, die gegenüber reinen Zahlen- und Größenverhältnissen Momente wie ›Lage‹, ›Nachbarschaft‹, ›Umgebung‹, ›Bereich‹ und ›Rand‹ ins Spiel bringt, so kommt sie einem Denken in Orten nahe; doch die Anführungszeichen warnen uns davor, mathematische Formeln und Konstrukte unmittelbar in eine Beschreibung der Erfahrung einfließen zu lassen oder umgekehrt diese durch jene zu ersetzen. Dies schließt nicht aus, dass es neuartige Allianzen und Affinitäten gibt. Michel Serres hebt die Neuorientierung hervor, die von der mathematischen Topologie ausgeht: »Ein durch Faulheit geprägtes Verhältnis zur Mathematik führt zu der Ansicht, in der Geometrie sei der Raum stets mit einer Metrik oder gar einem Maß verbunden. […] Die Topologie erfasst den Raum anders und besser. Dazu benutzt sie Geschlossenes (in), Offenes (außerhalb), Zwischenräume (zwischen), Richtung und Ausrichtung (zu, vor, hinter), Nachbarschaft und Angrenzendes (bei, auf, an unter, über), Eintauchen (inmitten), Dimension usw., sämtlich Realitäten ohne Maß, aber mit Relationen. Die Topologie, die Leibniz einst als Analysis situs bezeichnete, beschreibt die Lage von Dingen und benutzt dazu bestenfalls Präpositionen.« (Michel Serres, Atlas, a.d. Franz. von Michael Bischoff, Berlin: Merve 2005 [1994], S. 67.) – Die erwähnten ›Dinge‹ sollte man allerdings ebenso mit Anführungszeichen versehen wie ihre ›Lage‹.

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ten annimmt. Unsere Erfahrung ist durchzogen von Bruchlinien. Dies gilt auch für die Raumstrukturen und für die Prozesse der Verräumlichung, auf die es uns hier ankommt. Bei der Ausgestaltung dieser Phänomenologie des Raumes sind für mich zwei Grundmotive von durchschlagender Bedeutung, nämlich die Leiberfahrung und die Fremderfahrung, die vereint der Erfahrung eine besondere Radikalität verleihen. Leiblichkeit ist nicht zu denken ohne eine Ferne des Leibes, Fremdheit ist nur zu denken als leibhafte Abwesenheit. Eine Phänomenologie, die sich auf diese Motive einlässt, nimmt die Züge einer Xenologie an; die Sachen selbst sind nie ganz sie selbst, so wie wir selbst nie ganz wir selbst sind.

3 Heterotopien Hier und anderswo Das Hier, das sich in Zeigegesten und Zeigewörtern bekundet, ist keineswegs so schlicht, wie es aussieht oder sich anhört. Schon die Tatsache, dass Menschenaffen sich im Gegensatz zu Kleinkindern schwer damit tun, die Symbolik des Zeigens von der Pragmatik des Greifens und Hantierens abzulösen, zeigt, dass hier mehr verlangt ist als die Ausführung körperlicher Basishandlungen. Das Hier verdankt seine Bestimmtheit einem Bestimmungsfeld, innerhalb dessen es als topologische Differenz auftritt: Ich, der ich ›ich‹ sage, bin hier und nicht dort. Doch Hier und Dort stellen keine pure Differenz dar, wie sie einer rein strukturalen Analyse im Sinne etwa der langue nach Saussure gemäß ist, vielmehr haben wir es mit einer Präferenz in der Differenz zu tun. Das Hier ist markiert als der Ort, an dem die Differenz entspringt und zum Ausdruck kommt. Es bezeichnet den Ort des Sprechers, der sich hier befindet, bevor er diesen Ort näher bestimmt. Die Verkennung des Raumes beginnt damit, dass »dieser Ort«20 einem Gemeinort bzw. in ein formales Ortssystem eingeordnet wird; dabei ist es relativ gleichgültig, ob man dieses Ganze als Gegebenheit oder als Konstrukt behandelt. Schon einfache sprachliche Überlegungen zeigen, dass diese Eingliederung eine unzulässige Vereinfachung darstellt. Das Hier tritt nämlich nicht nur in markierter, sondern auch in verdoppelter Form auf, als Ort des Aussagens (énonciation) und als Ort der Aussage (énoncé). Das bekannte »Hier stehe ich und kann nicht anders« verweist unmittelbar auf den Ort der rebellischen Rede, den Wormser Reichstag, es spricht nicht nur über ihn. Im Falle eines dire vrai im Sinne von Michel Foucault, das mit den Spielregeln spielt und sie nicht nur anwendet, erweist sich dieser Ort zugleich als gefährdeter, umstrittener Ort. Wer von hier aus spricht, spricht zwar implizit oder explizit auch über diesen Ort, aber ohne dass Ort der Rede und beredeter Ort zusammenfallen. Das »Hier« der Aussage lässt 20 Vgl. Aristoteles, Physik, IV, 2, 209a35.

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sich durch singuläre Kennzeichnungen wie »zu Worms am 17. oder 18.4. 1521« ersetzen. Wird die Herkunft dieser Aussage jedoch unterschlagen, so bleiben vom Sprechereignis nur noch Protokollsätze zurück, deren Wahrheitswert jeder Beteiligung von Raum und Zeit entbehrt. Verantwortlich für diese Enträumlichung und Entzeitlichung ist die Fixierung auf die Verständlichkeit und Gültigkeit von Äußerungen und Sätzen. So erklärt sich das auffällige Desinteresse, das die meisten Sprach- und Gesprächstheorien den Fragen von Raum und Zeit entgegenbringen. Die Verdoppelung von Ort und Zeit bleibt nicht auf die Rede beschränkt. Sie prägt ebenso sehr unser Handeln, unser Sehen und Hören, vorausgesetzt, man versteht darunter wirksame Ereignisse, die hier und jetzt stattfinden, und nicht bloße Vehikel eines wiederholbaren Sinns und Träger propositionaler Geltungsansprüche. Die Verdoppelung setzt sich fort, wenn wir die Topographie durch die Orientierungstechniken der Kartographie verstärken, die übrigens nicht erst mit der Anfertigung von Karten und dem ausdrücklichen Kartengebrauch beginnt, sondern in Form von Körperschemata bereits Bestandteil einer genuinen Körpertechnik ist. Die Landkarte liefert ebenso wie der Stadtplan wertlose Raumdaten, wenn der Benutzer sich nicht selbst auf der Karte verorten und die Karte nicht auf die Himmelsrichtungen einstellen kann. Die Markierung des Standortes auf dem Lageplan kommt diesem Orientierungsbedürfnis entgegen. Doch die Korrespondenz zwischen dem Ort des Kartengebrauchs und dessen kartographischem Pendant hebt die Differenz nicht auf. Was drinnen ist, ist draußen, was draußen ist drinnen, aber eben nicht ganz und gar wie im Falle eines reinen Geistes. Die Verwandlung des bevorzugten Hier in eine Raumstelle unter anderen ist zwar die Bedingung dafür, dass jemand sich als leib-räumliches Wesen mit Hilfe der Karte zurechtfindet; die Verdoppelung des Ortes geht Hand in Hand mit einem Re-entry. Doch wenn das Hier als der Ort, an dem das Ortssystem entspringt, in das System eingeht, das sich dem Hier verdankt, so geht es eben nicht restlos darin auf. Es wird nicht von ihm ›verschlungen‹; denn ohne den Rückbezug auf das Hier als Orientierungszentrum würde die Karte sich in ein Ortsbild verwandeln, das man betrachten, aber nicht benutzen kann. Ich gestehe, dass mir als Kind Atlanten, Landkarten und Stadtpläne als eine besondere Art von Kartenbildern willkommen waren, da sie zu Wolkenkuckucksreisen einluden. Inzwischen ist es selbstverständlich, dass wir Karten und Reiseprospekte auch als ästhetische Gebilde würdigen, die unserer Raumphantasie Nahrung geben; dennoch ist die Kartentechnik nicht durch eine Kartenästhetik zu ersetzen. Wie schon angedeutet, ist der Spalt zwischen Ort der Rede und beredetem Ort, zwischen Ort des Blicks und gesehenem Ort genau die Stelle, wo Ortsbilder, Ortschemata und eben auch Ortskarten ihren Platz finden. Dies gilt auch für neuere Errungenschaften wie den Navigator, mit dessen Hilfe

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unsere Mobilität sich automatisiert.21 Doch man sollte dessen Leistungen nicht überbewerten; der Navigator rechnet aus, wie der Benutzer am schnellsten von einem Ort zum anderen gelangt, doch anders als ein leibliches Wissen weiß er nicht, wo er selbst ist. Hier wie auch sonst fällt der Ort der Messung nicht mit dem vermessenen Raum zusammen. Schon Kant weist in seiner singulären Schrift Was heißt sich im Denken orientieren? von 1786 darauf hin, dass unsere geographische ›Orientierung‹, die – wie es das Wort sagt – vom Aufgang der Sonne ausgeht, auf ein Körpergefühl angewiesen ist, das in der rechten und linken Hand lokalisiert ist und sich niemals gänzlich mathematisieren und logifizieren lässt. Rechts und links zu unterscheiden, lernen wir nicht mittels geometrischer Muster, sondern anhand alltäglicher Verhaltensweisen wie dem Geben der Hand, dem Schreiben von links nach rechts oder der Beachtung des Rechtsverkehrs. Es kommt zur Ausbildung von Körperschemata, die als ein innerer Kompass fungieren. Man sollte sich also hüten, die Topographie mit der Kartographie gleichzusetzen und unsere Raumerfahrung mit Raumkonstrukten zu verwechseln. Konstrukte sind künstliche Ordnungsschemata wie die unendliche Zahlenreihe, die farbliche Kennzeichnung von Höhenunterschieden oder die Markierung von Landesgrenzen. Man kann Konstrukte inkorporieren wie eine zweite Natur, doch ohne die primäre Artikulation und Strukturierung der Erfahrung würden alle Konstruktionen leer laufen. Die Raumtechnik ist also Teil einer genuinen Phänomenotechnik und Somatotechnik – und Teile einer Technik der Phänomene, die den Logos der Phänomene durchdringt, ohne ihn ersetzen zu können.22 Das Anderswo, das sich vom Hier abhebt, gewinnt seine volle Bedeutung, wenn wir bedenken, dass die Bestimmung des Wo, das Aristoteles – anders als später Kant – als Kern einer bestimmten Frage- und Aussageweise in seine Kategorientafel aufgenommen hat, von Anfang an zur Bestimmung des Wer und Was beiträgt und diese nicht nur ergänzt. Die Ortsbestimmung ist kein bloßes Akzidens einer Substanz. Dass ich zugleich hier und anderswo bin, bedeutet dann, dass ich zugleich ich und ein anderer bin. Rimbauds berühmter Ausspruch JE est un autre sollte mit dem Satz La vraie vie est absente in einem Atemzug gelesen werden, nicht im Sinne einer romantisierenden Verflüchtigung des Hier, sondern im Sinne einer originären Fremdheit des Hier, die ohne eine bestimmte Form von Alibi nicht zu denken ist.23 21 Vgl. hierzu Manfred Sommer, Suchen und Finden. Lebensweltliche Formen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. – Diese lebensweltlichen Suchgänge befassen sich im dritten Teil mit der »automobilen Navigation« (S. 282-394). 22 Zu dieser Konzeption einer in die Erfahrung eingreifenden Technik vgl. Verf., Bruchlinien der Erfahrung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, Kap. VIII. 23 Zu Beginn von Totalité et Infini zitiert Levinas den zweiten Satz von Rimbaud: »Das wahre Leben ist abwesend«, nicht ohne hinzuzufügen: »Aber wir sind auf der Welt«. (Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Ver-

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Aktuelles und virtuelles Hier Wer sich hier befindet, ist immer im Aufbruch. Der Aufenthalt an einem Ort besagt nicht, dass wir als an einem Ort Befindliche oder als Ortsansässige an eine Raumstelle festgenagelt sind wie ein Ding. Das Hier, das sich nicht von sich selbst unterschiede, wäre nichts weiter als eine beobachtbare Raumstelle. Wer sagt: »Ich bin hier«, ist niemals nur hier, so wie jemand, der sagt: »Ich bin X«, niemals einfach nur X ist. Selbst der Aufenthalt ist also Ausdruck einer verhaltenen Bewegung, selbst wenn man bleibt, wo man ist. Hier und nicht dort sein besagt ferner, dass ich nicht dort bin, wo ich einstmals war, wo ich einst sein werde oder wo ich vielleicht sein könnte. Zeitliche Differenzen geben der Räumlichkeit ihr unersetzliches Gepräge. Wer nur hier ist, wäre nicht einmal hier. Das Hier ist nicht statisch zu denken, sondern mobil als der Ausgangspunkt einer Bewegung wechselnder Annäherung und Entfernung, die einen bestimmten Spielraum nutzt. Dessen Reichweite bemisst sich nach den Techniken der Fortbewegung, die uns zu Gebote stehen. Wichtig ist aber noch etwas anderes. Die Bewegung kann sich polarisieren, je nachdem, ob die Aktualität oder die Virtualität die Oberhand gewinnt. Die Fixierung auf das aktuelle Hier kontrastiert mit der Verflüchtigung des Hier in mögliche Dorts. Eugène Minkowski sieht in dieser Extrembildung den Keim für zwei diametral entgegengesetzte Formen der Raumpathologie. Er stellte zwei Patienten die Frage: »Wo bist du?« – Der eine, ein Paralytiker, beantwortet diese Frage auf sehr rudimentäre Weise, indem er auf die Stelle weist, an der er sich gerade befindet, während der andere, ein Schizophrener, erklärt: »Ich weiß, wo ich bin, fühle mich aber nicht dort.«24 In der Verschmelzung mit dem Hier und der Abspaltung vom Hier begegnen uns Möglichkeiten eines gravierenden Ortsverlustes. Nicht jedes Extrem muss ins Pathologische ausschlagen, doch jedenfalls deuten sich hier zwei Erlebnisformen an, die man im Anschluss an Robert Musil als Hypertrophie entweder eines räumlichen Wirklichkeitssinnes oder eines räumlichen Möglichkeitssinnes charakterisieren kann. Der immer wieder aufflammende Streit zwischen Lokalisten, die sich auf den eigenen, angestammten oder usurpierten Ort versteifen, und Globalisten, die sich ohne lokale Anhänglichkeit im Weltall herumtreiben, hat etwas mit dieser Polarisierung zu tun. Dem stehen mittlere Formen der Regionalität, auch der Interregionalität entgegen, bei denen die jeweilige Wirklichkeit mit Möglichkeiten durchsetzt ist und nicht mit ihnen konkurriert. Das relationale Anderswo der Fremdheit ist nicht mit dem Alles oder Nichts von Nirgendwo und Überall oder mit der Beliebigkeit eines Irgendsuch über die Exteriorität, a.d. Franz. von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München: Alber 1987 [1961], S. 35.) – Das Alibi, um das es hier geht, versetzt uns nicht in eine Hinterwelt. 24 Minkowski, Die gelebte Zeit, Bd. 2, S. 110.

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wo zu verwechseln. Eigenheit und Fremdheit, Nähe und Ferne sind wie zwei Seiten einer Medaille. Mit der Eigenwelt würden wir auch die Fremdwelt abschaffen, mit der Fremdwelt auch die Eigenwelt. Für das Verhältnis von Nahwelt und Fernwelt gilt dasselbe.

Ortsverschiebung Die bloße Auffächerung des Wirklichkeitsbereichs in Möglichkeitsfelder unterliegt nach wie vor den Gesetzen der Zentrierung. Im Mittelpunkt steht weiterhin ein »Ich kann«,25 wie Husserl die praktische Vermöglichkeit nennt. Es ändert sich nicht viel, wenn sich dieses »ich kann« zu einem »wir können« ausweitet oder wenn es die anonyme Form eines »man kann« annimmt. Es kommt ebenso wenig zu einer entscheidenden Änderung, wenn das Können lediglich gegen seine eigenen Grenzen anrennt, wenn Vergangenheitsorte sich als bloße Erinnerungsorte, Zukunftsorte sich als bloße Planungs- oder Wunschorte erweisen. Die Ausrichtung auf die Gegenwart des Hier und Jetzt bleibt beherrschend, selbst wenn die Gegenwartshorizonte sich im Dunklen verlieren. Die Zentrierung wird erst dann radikal durchbrochen, wenn Hiersein für mich zugleich bedeutet, dort zu sein, wo ich nicht sein kann, nämlich dort, wo der Andere ist oder auch ich selbst als ein Anderer. Wir kennen alle die Zeitverschiebung, den time lag, der sich einstellt, wenn wir in Windeseile von einer Zeitzone in die andere überwechseln und die Sonne überlisten. Diese Zeitverschiebung hat nichts Rätselhaftes an sich, solange wir uns an einer einheitlichen Zeitordnung orientieren, die es gestattet, die verschiedenen Ortszeiten gegeneinander zu verrechnen und die Heterochronie auf diese Weise zu synchronisieren. Durch das Vor- oder Zurückstellen der Uhr passen wir uns an die zeitlichen Folgen des Ortswechsels an, wie wenn wir eine Geldwährung gegen eine andere eintauschen. Dieser Wechselkurs verträgt sich durchaus mit Leitzeiten, die den Leitwährungen gleichen.26 Doch sobald wir vom Berechnen der Ortszeit zu den entsprechenden zeit-räumlichen Erfahrungen überwechseln, entpuppt sich besagte Gleichzeitigkeit als eine Gleichzeitigkeit in der Ungleichzeitigkeit. Nietzsches Einsicht, dass wir im Gleichsetzen des Nichtgleichen gleichsetzen, was nicht bereits gleich ist,27 25 Husserl, Ideen II, § 60, S. 257-275, hier S. 257. 26 Aus Transkarpatien, das im Mittelalter terra nullius genannt wurde, das lange Zeit Teil von Österreich-Ungarn war, das nach dem Ersten Weltkrieg der Tschechoslowakei zugeschlagen und nach dem Zweiten Weltkrieg der Sowjetunion einverleibt wurde und das inzwischen zur Ukraine und damit zur osteuropäischen Zeitzone gehört, wird berichtet, dass deutschsprachige Bewohner inmitten des östlichen Umfeldes an der mitteleuropäischen Zeit festhalten und auf diese Weise gleichsam zweizeitig leben. 27 Vgl. Friedrich Nietzsche, »Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn (1873)«, in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und

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bewährt sich auch hier. Wer mit einem Anderen telephonischen Kontakt aufnimmt oder auch nur an den Entfernten oder die Entfernte denkt, ist zugleich woanders, an einem Ort, wo er oder sie nicht sein kann. Dieser Zeitsprung macht auch mir selbst zu schaffen, wenn ich bei raschem Ortswechsel in einer Form von Geistesabwesenheit oder besser von Leibesabwesenheit ›noch nicht ganz da bin‹. Die Zeitverschiebung verliert ihre verstörende, aber auch belebende Kraft, je mehr die Reise durch die Welt sich einem bloßen Ortswechsel angleicht, einer ijȠȡȐ, wörtlich einer ›Tragung‹, die den Reisenden, wenn alles gut geht, so selbstverständlich ans Ziel bringt wie seinen Koffer. Die Zeit- und Ortsverschiebung beschränkt sich jedoch nicht auf Fernreisen, bei denen wir geographische Zeit- und Raumzonen durchmessen. Im Gegenteil, eine besonders radikale Form erreicht sie gerade dann, wenn die Reise ins ›innere Ausland‹ führt und die Fremde in der nächsten Nähe aufbricht. Jede Erfahrung, die den Radius des Gewohnten und Normalen überschreitet, nimmt Züge einer Fremderfahrung an, die anderswo beginnt; sie beginnt mit Widerfahrnissen, die unser Erstaunen, unser Erschrecken, unsere Verlegenheit oder unsere Neugier wachrufen. Der Vorgängigkeit des Pathos, das immer schon zu früh kommt, entspricht die Nachträglichkeit der Antwort, die immerzu zu spät kommt. Diese Diastase, in der auseinander tritt, was durch keine Synthese zu vereinheitlichen ist, äußert sich nicht nur als eine Form der Diachronie, sondern auch als eine Form der Diatopie. Dem Eigenort (topos oikeios) tritt ein Fremdort (topos xenos) gegenüber, der in keinen Gemeinort (topos koinos) einzugemeinden ist, ohne seine Fremdheit einzubüßen. Eben deshalb ist in der klassischen Topoontologie von einem Fremdort nirgends die Rede.28 Brüche und Einschnitte, ohne die es keine Fremderfahrung, aber auch keine Selbsterfahrung gäbe, sind alles andere als Wellen in einem Zeitfluss, der alles mit allem verbindet, sie bilden ein Auseinander im Ineinander gemeinsamer Erfahrungen. Das Fremde als das Außer-Ordentliche, das sich den bestehenden Ordnungen entzieht, erfordert – mit Michel Foucault zu reden – ein penser du dehors, das weder bei sich selbst beginnt, noch bei sich selbst endet. Das originäre Anderswo, dem unsere Erfahrung entspringt, gleicht den weißen Flecken auf der Weltkarte, nur dass diese Flecken sich nicht durch Entdeckungen tilgen lassen. Es verleiht dem Ort der Erfahrung Züge eines Nicht-Ortes.29 Niemand – nicht nur der Andere, sondern auch das eigene Selbst – ist jemals gänzlich an seinem Ort. In dieMazzino Montinari, München/Berlin/New York: dtv/de Gruyter 21988, Bd. 1, S. 871-890 [1896], hier S. 880. 28 Vgl. ausführlicher dazu vom Verf., Topographie des Fremden, Kap. 9: »Fremdorte«. 29 »Die Nähe ist nicht ein Zustand, nicht eine Ruhe, sondern gerade Unruhe, Nicht-Ort, außerhalb des Ruheortes […].« (Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, a.d. Franz. von Thomas Wiemer, Freiburg/München: Alber 1992 [1974], S. 184.)

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sem Sinne gilt Sokrates für Platon als der Atopos, als der Ortlose, der Seltsame, der als Bürger Athens zu seiner Heimatstadt gehört, aber eben nicht schlechterdings. In seiner Verteidigungsrede vor Gericht bekennt Sokrates: »Ganz ordentlich also bin ich ein Fremdling in der hier üblichen Art zu reden.«30 Die Fremdheit beginnt nicht nur im eigenen Haus, sie beginnt auch im eigenen Land.

Kreuzungen und Schwellen Wo trifft sich das, was auf mich zukommt, mit dem, was von mir selbst ausgeht? Vor diese Frage stellt uns das Geschehen der Aufmerksamkeit, das auf besondere Weise raumbildend ist. Schon die einfachste Form der Aufmerksamkeit beginnt damit, dass mir etwas auffällt, und dass ich umgekehrt aufmerke. Das Auffallen ist ein Ereignis, das mir widerfährt, kein Akt den ich vollziehe. Eine Phänomenologie der Aufmerksamkeit, so wie sie mir vorschwebt, muss mit Überraschungen rechnen; sie kann nicht bei der Analyse von Aufmerksamkeitsakten und Aufmerksamkeitseinstellungen stehen bleiben, sie erfordert eine szenische Topik. Die gegenläufige Bewegung aus Auffallen und Aufmerken lässt sich nicht vereinheitlichen, als handle sie sich um eine gegebene Mannigfaltigkeit, die Gegenläufigkeit gehört zum Kommen und Gehen, zur Gebung und Entgegennahme der Sache selbst. Sie verstärkt sich, wenn ein fremder Anspruch mich trifft und meine Antwort hervorruft. Dies kann in der stummen Form eines Blickkontaktes geschehen, in dem Widerspiel von Aufforderung und Erwiderung oder im erotisch-sexuellen Begehren eines fremden Begehrens. Paul Valéry charakterisiert das Überkreuz zweier Blicke als ein Chiasma, das dem Überkreuz der Sehnerven gleicht, und Maurice Merleau-Ponty hat diesen Gedanken in seine späte Ontologie aufgenommen.31 Bewegungen, die sich kreuzen, ohne auf einen Zielpunkt hin zu konvergieren, vereinen sich nicht, sie zerteilen den Ort, an dem sie sich treffen. Sie lassen sich auch nicht kommunikativ vernetzen, sie sind antwortfähig, nicht aber anschlussfähig. Abgenutzte Wörter wie Treffpunkt, Begegnungsstätte oder Kampfplatz wären von daher neu zu bedenken und aus ihrer Statik zu befreien. Sie verweisen auf Bewegungen, die eine Schwelle überqueren, auf Formen eines entretien infini im Sinne von Maurice Blan-

30 Platon, Des Sokrates Apologie, 17d (Übersetzung Schleiermacher). – Vgl. dazu auch den Essay Non-Lieux, in dem der französische Ethnologe Marc Augé seine Theorie des vielfältigen Anderen topologisch oder besser gesagt: ›atopologisch‹ ausrichtet. (Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, a.d. Franz. von Michael Bischoff, Frankfurt a.M.: Fischer 1994 [1992].) 31 Vgl. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, passim, und speziell zur Anknüpfung an Valéry die Anmerkung des Übersetzers auf S. 274.

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chot, das von Unterbrechungen lebt, das den Stromkreis des Sinnes, die Kontinuität von Erinnerungen und Erwartungen durchbricht. Ohne ein solches Zwischen gäbe es schließlich auch keine Hospitalität, keine Gastfreundschaft, die zu den ältesten kulturellen Gepflogenheiten gehört und die bei Levinas und Derrida in der Aufnahme des Anderen ihre höchste Steigerung erfährt. Der Gast, der niemals ganz dazugehört, der – allen Gepflogenheiten zuwider – ›heute kommt, und morgen bleibt‹, wohnt auf der Schwelle. Die Fremdheit, die uns daraus entgegenschlägt, hat etwas Beunruhigendes, sie kann jederzeit in Feindschaft umschlagen. Als ›Rivale‹ lebt der Feind buchstäblich am anderen Ufer. Der Wortwechsel, den uns Pascal in den Pensées vor Augen führt, überquert den trennenden Fluss, aber er überbrückt ihn nicht: »Weshalb töten Sie mich? – Weshalb? Wohnen Sie nicht jenseits des Wassers? Mein Lieber, würden Sie diesseits wohnen, wäre ich ein Mörder und es wäre ein Verbrechen, Sie solcherart zu töten; da Sie aber am anderen Ufer wohnen, bin ich ein Held, und was ich tue, ist recht.«32

Auch die Gewalt hinterlässt ihre Spuren in der Lebenswelt. Eine Topographie der Lebenswelt umfasst nicht nur Topographien des Erstaunlichen, sondern auch Topographien des Schreckens. Feindschaft, so können wir sagen, ist verdrängte Gastlichkeit. Wenn Ich und Wir ihre Andersheit verleugnen und das Hier die Schatten des Anderswo einbüßt, verwandelt sich der Nicht-Ort des Anderen in den Unort des Feindes.

32 Blaise Pascal, Gedanken, Lafuma 51/Brunschvicg 293 (Übersetzung Wasmuth).

Risse und Felder: zur Raumw ahrnehmung im Kino UTE HOLL

1 » … vo n d e n M o v i e s g e l e r n t « : das Technische und der Raum Nichts ist anachronistischer als Texte zum Raum. – 1944 lässt Erwin Panofsky Siegfried Kracauer, den Leser seines eben erschienen DürerBuches, wissen, dass nur ihm bisher »die innere Beziehung zwischen Technik und Inhalt« aufgefallen sei, die Panofsky in Dürers Werk entdeckt, und die das gesamte 19. Jahrhundert »in seiner sonderbaren Blindheit sowohl für das angeblich außer-›künstlerisch‹ Technische als für das angeblich ebenfalls außer-›künstlerisch‹ Gegenständliche übersehen hatte«. – Und er fügt hinzu: »Das kommt daher, weil wir beide etwas von den Movies gelernt haben.«1 Doch nicht nur das intrinsische Verhältnis von Technischem, Gegenständlichem und dem Raum ist die Lektion des Movies, sondern auch, dass der Blick darauf selbst ein historischer ist: Bei Panofsky nimmt das Kino Dürers Raum in den Blick. In Dürers Werk entdeckt Panofsky für motivische Probleme »rein optische Lösungen«2, die sich einem technischen Verfahren, aber auch dessen Subversion verdanken, wie Dürers Modifikation der »costruzione legittima«, der Renaissance-Perspektive. – Zu einem Ecce Homo-Holzschnitt bemerkt Panofsky: »Anstatt ›zuerst den Raum festzulegen und dann die Figuren einzusetzen‹, wie ein italienischer Theoretiker vorschreibt, erfand Dürer […] zuerst die Figuren und fügte anschließend die raumbestimmenden Züge hinzu.«3 1 2 3

Siegfried Kracauer – Erwin Panofsky. Briefwechsel 1941-1966, hg. von Volker Breidecker, Berlin: Akademie 1996, S. 27. Erwin Panofsky, Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers, München: Rogner & Bernhard 1977, S. 80. Ebd., S. 81.

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So entfalten sich zwei Räume in Dürers Bild: ein Raum der agitierten Menschenmasse, und einer, der die heidnischen Herrscher (anachronistisch als türkisch-arabische dargestellt) mit ihrem Gefangenen zeigt. Dürer missbraucht das legitimierte Konstruktionssystem, ein ›optischer Riss‹ geht durch das Bild, zwei optische Räume kollidieren und setzen eine politische Kollision ins Werk. Durch die Korrespondenz mit Panofsky wurde Kracauer, der im Dezember 1943 noch am ersten Teil seines »Caligari-Hitler«-Buches schrieb, nicht nur auf politisch-soziologische Aspekte der Raumformen in den Filmen, die er untersuchte, aufmerksam, sondern das Kino und seine komplexen Techniken der Raumbildung hatten andersherum den Blick beider Autoren auf technisch-künstlerische Bedingungen kultureller Raumvorstellungen gerichtet. Über die Analyse der Perspektivik im historischen Prozess hinaus, hatte Panofsky bei Dürer die Bedeutung der Materialität der Verfahren für die Abbildung entdeckt, den Unterschied, den die Differenz von Holz, Kupfer und Blei, von Schnitten, Rissen und Stichen machte, als Lektion der Movies, an deren Schnitte, Risse und polymorphen Raumerfindungen er seinen Blick geschult und geschärft hatte. Damit wirft das Dürer-Buch Licht auf historische Schichtungen in jeder Raumvorstellung: Panofsky hatte bereits gezeigt, dass der homogene zentralperspektivische Systemraum der Renaissance die planperspektivische Modulation eines winkelperspektivisch organisierten Sehens und »Weltgefühls«4 klassischer Antike war. Der Blick eines physischen Einzelnen, wie ihn der Winkel im griechisch-sphärischen Abbildungsmodus simuliert hatte, wurde ersetzt durch den idealen Blick in einen Raum vermeintlich exakt zu berechnender Entfernungen einer kalkulierbaren Welt. Mit Cassirers Begriff der »symbolischen Form«, durch die »ein geistiger Bedeutungsinhalt, an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird«5, wird »Weltgefühl« in Perspektivtypen sichtbar. Wenn Panofsky, mit Cassirer, die fundamentale Inkompatibilität eines »unendlichen, stetigen und homogenen, kurz rein mathematischen Raumes« mit dem »psychophysiologischen«6 Wahrnehmungsraum feststellt, zeigt sich, dass mit dieser Differenzierung phänomenologischer Krisenerkenntnis erst ein schlafendes Weltgefühl der Griechen geweckt werden konnte, für welches das 19. Jahrhundert so sonderbar blind gewesen sei.7

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Erwin Panofsky, »Die Perspektive als symbolische Form«, in: ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin: Spiess 1998, S. 99-167 [1927], hier S. 104. Ernst Cassirer zit.n. ebd., S. 108. Ebd., S. 101. Dass in anderer Genealogie der kosmologische Raum Griechenland basierend auf dem Logos des Tetraktys nicht Aggregat, sondern umfassend ›Sein‹ macht, zeigt mit ebenfalls anachronistischen Schichtungen aus dem Turing-

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In der Beschreibung schichten sich die Zeichenregime, die Räume machen: Jedes Jahrhundert in Panofskys Beispielen transponiert mit seinen Kulturtechniken und seinen optische Verfahren der Raumorganisationen zugleich Blickregime auf fremde Zeiten. Die Zeitenwende des Ecce Homo, Dürers Holzschnitt und Panofskys Kinoblick überlagern sich in der Analyse. Einen Transfer von kulturtechnischem Wissen als Übertragung von kulturellem Wesen hat Kracauer auch für die Kinogeschichte konstatiert: Mit den Fertigkeiten, dem Fachwissen und den produktionstechnischen Verfahren aus der Weimarer Filmproduktion zog, wie Kracauer anmerkt, eine frühe deutsche Kinokunst 1924 nach Amerika aus, um dort »den wahren Ausdruck des zeitgenössischen deutschen Lebens«8 auf amerikanische Movies zu übertragen. Die Schichtungen der Seelen auf der Silberschicht bleibt Anlass für die Exilierten, in den Bildern des Kinos auch einen Imund Export kultureller Räume und widergängerischer Seelen zu erforschen. Das hieße – in Abwandlung von Benjamins berühmtem Begriff – ein politisch Unbewusstes im Raum des Kinos zu begreifen. Die Lektionen der Movies, die Kracauer und Panofsky teilen, formen beider Methoden: Zuerst die konkreten der Raumbeschreibung. Kracauer wird in der Einleitung zu seinem Caligari-Buch – wiederum anachronistisch, wenn er filmisches Abtasten der Welt mit einem »Elektronenstrahl«9 vergleicht – aus Panofskys Essay Style and Medium in the Moving Pictures zitieren, der 1937 in der Zeitschrift transition in Paris erschienen war. Panofsky unterscheidet darin den Vorstellungs-Raum des Theaters und den des Kinos, und zeigt, dass sowohl die räumliche Beziehung zwischen Betrachter und Schauspieler im Theater eine andere ist, als auch das Verhältnis zwischen dem physisch anwesenden Zuschauer und dem Raum: »Im Kino […] hat der Zuschauer einen festen Sitzplatz, aber nur physisch. […] Ästhetisch gesehen ist er in permanenter Bewegung, so wie sein Auge sich mit den Linsen der Kamera identifiziert, die permanent in Hinsicht auf Abstand und Richtung die Stellung ändert. Und der dem Zuschauer präsentierte Raum ist so beweglich wie der Zuschauer selbst. Nicht nur bewegen feste Körper sich im Raum, sondern der Raum selbst bewegt, ändert, dreht, löst und rekristallisiert sich.«10

Diese Beschreibung Panofskys, die im Kino permanent sich transformierende polymorphe Raumformen in Termen der Optik, der Bewegung, aber Weltraum Friedrich Kittler, Musik und Mathematik, Bd. 1, Hellas, Teil 1, Aphrodite, München: Fink 2006. 8 Siegfried Kracauer, Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, a.d. Amerik. von Ruth Baumgarten und Karsten Witte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 10. 9 Ebd., S. 12. 10 Erwin Panofsky zit.n. ebd.

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auch der instabilen Konsistenz der Räume entdeckt, überlässt sich radikaler dem Wildwuchs der Raumformen, als Kracauer es in seiner psychologischen Kinogeschichte der 1920er Jahre je unternehmen wird. Im Caligari-Buch klassifiziert Kracauer die Räume zunächst nach kunsthistorischen Kategorien, unterscheidet expressionistische Raumformen von sachlichen. Kracauers bemerkenswerter Transfer jedoch ist, an den (mit Cassirer gesprochen) »konkreten sinnlichen« Raum eines Films einen zwar nicht »geistigen«, jedoch spezifisch »seelischen Bedeutungsinhalt« zu knüpfen. Jahre bevor räumlich-topologische Wahrnehmung und ihre Störungen in der Phänomenologie und in Jacques Lacans Revision der Psychoanalyse als Symptomatisches für die Organisation psychischer Felder und Register im Prozess der Subjektivierung ver- und behandelt werden,11 unternimmt Kracauer einen ähnlichen Versuch für die Analyse der Räume im Weimarer Kino und in den frühen »Nazifilmen«, wie es bei ihm heißt. Die Lektion der Movies hieße also zunächst, dass Zeichenregime und technische Verfahren an den historischen Räumen beteiligt sind, quer zu historischer Chronologie: Dürers Raum wird am Anfang des 20. Jahrhunderts mit einem Blick aus dem Kino entziffert worden sein, während Kino auf Grund seiner strahlenoptischen Funktionen in Kamera und Projektion im Hinblick auf den Renaissance-Raum analysiert wurde,12 obwohl seine variablen Optiken, Filter oder Kamerabewegungen einen griechischen Aggregatraum viel leichter simulieren lassen. Erst als in den personal-computerisierten 1980er Jahren Netzwerkmodelle die Vorstellungen vom Raum reformulieren, wurde in der Filmwissenschaft eine Raumorganisation des sehr frühen Kinos wiederentdeckt, die bei Georges Méliès etwa auf Tiefenillusion verzichtet und eine Logik flächiger Größenverhältnisse in ihren narrativen Formen nutzt. Wiederholungen dieses dezentralen und nicht durch Überschaubarkeit zu kontrollierenden Raums ließen sich dann quer zur Filmgeschichte – im Avantgardefilm – aufspüren und markierten die Genealogie eines subversiven Raumtypus, der endlich politische Aspekte der Räumlichkeit in der Kunst freilegte.13 Wenn Panofsky

11 Zu Lacans Lektüre von Merleau-Ponty und zur Rückkehr der psychischen Topologie in der Kunstgeschichte Blickfalle und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, hg. von Claudia Blümle und Anne von der Heiden, Zürich/Berlin: Diaphanes 2005. 12 Vgl. The Cinematic Apparatus, hg. von Teresa de Lauretis und Stephen Heath, London: Macmillan 1980, sowie die Kritik von Hartmut Winkler, Der filmische Raum und der Zuschauer. ›Apparatus‹ – Semantik – ›Ideology‹, Heidelberg: Winter 1992. 13 Vgl. dazu Noël Burch, »Building a Haptic Space«, in: ders.: Life to Those Shadows, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1990, S. 162-185; und Tom Gunning, »An Unseen Energy Swallows Space: The Space in Early Films and its Relation to American Avantgarde Film«, in: Film Before Griffith, hg. von John L. Fell, Berkeley/Los Angeles: University

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den Moment markiert, in dem hellenistische Kunst zum ersten Mal nicht nur die Dinge, sondern auch »Räumlichkeit als darstellungswürdig zu empfinden beginnt«, ist das ebenso ein »Tigersprung ins Vergangene«,14 unternommen mit Hilfe der phänomenologischen Fragen seiner Zeit, der 1920er Jahren in Freiburg, München und Berlin, wenn er konstatiert, dass in der Antike der Raum »nicht als etwas empfunden wird, was den Gegensatz zwischen Körpern und Nichtkörper übergreifen und aufheben würde, sondern gewissermaßen nur als das, was zwischen den Körpern übrigbleibt«.15 Die Form, wie eine künstlerische Technik – die ›Scenographia‹, der Holzschnitt oder der Apparat des Kinematographen – die ›Ligation‹ von Betrachter und Raum, oder, genauer, von Leib, Raum und Dingen historisch je herstellt, bleibt eine offene Frage. Panofskys Unterscheidung von Aggregatraum und Systemraum wäre eine Antwort, eine weitere die Aufhebung von Raum und Zuschauerkörper im Kinosehen, die er in einer Zeitschrift beschrieb, die »transition« heißt. Im Anschluss an die kunst- und filmhistorischen Studien von Panofsky und Kracauer ließen sich Filme nicht nur über ikonologische und narrative Strukturen hinaus in ihrer räumlichen Komposition beschreiben, sondern auch über die implizierten historischen und politischen Aspekte filmischer Raumvorstellung: Offenbar jedoch aktualisiert sich am Kinosehen und seinen technischen Aspekten das von Cassirer, aber vor allem von Husserl mit der Phänomenologie konstatierte Problem der Inkompatibilität von mathematischen Räumen und psychophysiologischen.16

2 »…der Spuk des Sichtbaren«: Risse, Diskontinuitäten »Blitzartig« schreibt Siegfried Kracauer – in jener Wendung, die profane Erleuchtung ins Bild setzt, »wurden mir die vielen Parallelen klar, die zwischen Geschichte und den photographischen Medien, historischer Realität und Kamera-Realität bestanden«.17 In Verlängerung seiner methodischen Bemerkung zur fehlenden Geschichtlichkeit der Phänomenologie erklärt

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15 16

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of California Press 1983, S. 355-366. – Vgl. auch Early Cinema: Space, Frame Narrative, hg. von Thomas Elsaesser, London: BFI 1990. Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte (1940)«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, Band I/2, S. 691-704 [1950], hier S.701. Panofsky, »Perspektive«, S. 109; kursiv, Verf. Zu Husserls Auseinandersetzung mit der Mathematik und der Wahrnehmungsphysiologie des 19. Jahrhunderts vgl. Daniel Tyradellis, Untiefen. Husserls Begriffsebene zwischen Formalismus und Lebenswelt, Würzburg, Königshausen & Neumann 2006. Siegfried Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, a.d. Amerik. von Karsten Witte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971 [1969], S. 15.

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Kracauer in seinem letzten Buch Geschichte – Vor den letzten Dingen die Historiographie und das Kino zu Wissensformen, die ein Denken der Kontingenz möglich machen und sich der Erforschung sinnlicher, empirischer Einzelheiten widmen. Die im doppelten Sinne ›mediale Historiographie‹ des Kinos stellt ein Äquivalent zur literarischen Form des Fragments dar, vermutet Kracauer in einem Brief an Adorno, ersetze Überblick durch Nahsicht, »›long-shot‹ Perspektive« durch ›close-up‹«.18 – Diskontinuität weist Kracauer den Weg zu den Dingen. Damit hat er eine Richtung der Filmwissenschaft inspiriert – gegen ein von allen Störungen und Unberechenbarkeiten gereinigtes akademisches Denken –, die ›physical reality‹ (Kracauer) im Einzelnen und Endlichen eines lebensweltlichen Kontextes zu erretten.19 Kinowissenschaft in diesem Sinne bezieht sich auf zwei Wissenschaften, die sich um die letzte Jahrhundertwende ebenfalls gegen etablierte akademische Disziplinen durchsetzten: »Phänomenologie und Psychoanalyse enthalten ein Skandalon, das sie oberflächlich verbergen: sie schauen und hören auf das, was sich der verwissenschaftlichten Welt entzieht […].«20 – Im Rekurs auf einen Zugang zur Welt als »vorwissenschaftlicher«21 Erfahrung will Kinodenken zur konkreten Sinnlichkeit der Anschauung zurückkehren, die in der Philosophie nur in Zäsuren und Dekonstruktionen (des Begriffes der »Chora« beispielsweise) vor allem durch feministische Theorie gewonnen wurde. Luce Irigaray unter anderen hat das explizit an der Untersuchung räumlicher Ordnungen in der Philosophie durchgeführt.22 Kinowissenschaft bezieht sich auf das psychophysische Band, das dort geknüpft wird, auf die Erfahrung, dass im Raum des Kinos »für kurze Zeit der Körper für uns antwortet und so auch uns als Person rettet«23 und lässt im kulturellen Raum Kino das gesellschaftlich Ausgeschlossene wirklich werden: »Der wieder und wieder bloß empfundene Raum des Kinos, Höhle, Vergnügungshölle, Grab der Kultur, wird allererst vorstellbar und im Rahmen wissenschaftlicher Forschungen sichtbar als der einer inoffiziellen und vom physischen Leben nicht abgehobenen Kultur.«24 18 Kracauer, Brief an Adorno vom 12. Februar 1949, zit.n. Briefwechsel, S. 49. 19 Im Versuch, ein Konfrontation von Medien- und Kinowissenschaft zum Kinoraum zu skizzieren, beziehe ich mich hier auf das kürzlich erschienene Manifest von Heide Schlüpmann, »Celluloid & Co. Filmwissenschaft als Kinowissenschaft«, in: Frauen und Film 65 (2006), S. 39-79. 20 Ebd., S. 65. 21 Ebd., S. 39. 22 Vgl. dazu Luce Irigaray, »Der Ort, der Zwischenraum. Eine Lektüre von Aristoteles Physik IV, 2-5«, in: dies.: Ethik der sexuellen Differenz, a.d. Franz. von Xenia Rajewski, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991 [1984], S. 4670. – Zur semiotischen Chora vgl. Julia Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, a.d. Franz. von Reinold Werner, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978 [1974]. 23 Schlüpmann, »Celluloid & Co«, S. 61. 24 Ebd.

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Am Anfang strikten Kinodenkens in Kracauers Tradition steht das radikale Sich-Einlassen auf die Dinge in ihrer konkreten Heterogenität: Nicht von diskursivem Staub, der durch die Netze symbolischer Ordnungen geht, ist die Rede, sondern von sichtbarem, widerständigem »Schmutz«,25 wie ihn das Kino mit seinem Zugang zu konkreten Räumen des Verbotenen einsieht. In einem Abschnitt über »Abfälle« schreibt Kracauer: »Die meisten Menschen vermeiden den Anblick von Mülleimern, von Schmutz zu ihren Füßen, von all dem Abfall, den sie hinter sich lassen. Filme kennen dergleichen Hemmungen nicht.«26 – Das ist explizit mit einer warnenden Absage an Wissenschaftlichkeit verbunden, wie Maurice Merleau-Ponty sie 1960 seinem Essay Das Auge und der Geist voranstellte: »Die Wissenschaft geht mit den Dingen um, ohne sich auf sie einzulassen. Sie macht ihre eigenen Modelle von ihnen, nimmt nach diesen Indizes oder Variablen die durch ihre Definition ermöglichten Umformungen vor und dringt dabei nur hin und wieder zur wirklichen Welt durch.«27

Bemerkenswert ist, dass Merleau-Ponty, wie Kracauer, die Möglichkeit zur Erneuerung des Denkens jenseits etablierter Philosophie in radikaler Geschichtlichkeit sieht. – Im Unterschied zu Kracauer jedoch, der die Photographie als regelrechte Kontingenzmaschine historischer Erfahrung zur Seite stellt, bezieht Merleau-Ponty solche Erfahrung als »Schicht unverarbeiteter Sinneserfahrung«, als Relationen unter menschlichen Körpern in einem »einzigen gegenwärtigen Sein«28 auf ein explizit leibliches Wahrnehmen. Die Herausforderung wäre mithin, Wirklichkeit auch im Kino als korrelierende in einem Sein unter den Dingen zu erfahren, dabei jedoch die spezifische Wahrnehmungsform Kino nicht selbst als Modell oder Dispositiv des Sehens in Anschlag bringen zu müssen. Aus medienwissenschaftlicher Sicht wiederum erlaubt das Kino eine Einlassung auf oder in die Dinge gerade nicht: Es ist in seinen technischen Transformationen die mediale Aufführung eines »Sachverhaltes, der gerade nicht der Sachverhalt der wirklichen Dinge ist«.29 Kino unterläuft, wie alle technischen Medien, bewusste Wahrnehmung, um Bilder oder Bewegungen als täuschende Imaginationen herstellen zu können. Es produziert Phänomene – ganz im Sinne Johann Heinrich Lamberts, der diesen Begriff zuerst für eine »Lehre des Scheins« prägte – als Täuschungen der Sinne, 25 Ebd., S. 59. 26 Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, a.d. Amerik. von Friedrich Walther und Ruth Zellschan, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 31996 [1960], S. 87. 27 Maurice Merleau-Ponty, »Das Auge und der Geist«, in ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, hg. und a.d. Franz. von Hans Werner Arndt, Hamburg: Meiner 1984, S. 13-43 [1964], hier S. 13. 28 Ebd., S. 14. 29 Friedrich Kittler, »Phänomenologie versus Medienwissenschaft (1998)«, http://hydra.umn.edu/kittler/Istambul.html.

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die jedoch, wie die Zeichen eines sprachliches Systems, Vorstellungen und damit Vermittlungen zu den Dingen herstellen könnten: Anders als Illusionen, wie Diderot oder Lessing sie bereits als Täuschungen ästhetisch berücksichtigt hatten, entwickelt Lambert seine Lehre vom sinnlichen Schein um gerade eine Mathematisierung der unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen möglich zu machen. Doch wo Lambert im 18. Jahrhundert noch eine transzendentale Perspektive als »Sprache des Scheins«30 in Anschlag bringen kann, wird die Wissenschaft der Sinnlichkeit im 19. Jahrhundert von Diskontinuitäten zerrissen, die in keiner Transzendenz mehr aufgehoben sind und eigene Phantome produzieren. Unter ihnen sind jene, die den kinematographischen Raum bewohnen. Entscheidender Einschnitt für die Kinogeschichte ist der Ursprung des Kinoraumes im Feld des stroboskopischen Sehens: Die Übertragung des Interferenzphänomens vom elektromagnetischen auf das Feld des Sehens, wie Michael Faraday es in seinen Optical Deceptions beschrieben hat,31 begründet auch optische Täuschungen des Kinosehens. Hierzu gehören alle Phänomene intermittierender Projektion und variierender Bildfrequenzen.32 Alle frühen stroboskopischen Apparate zerlegen Realität in kleinste Teil, die sie im Imaginären zu phantasmatischer und überraschend unvordenklicher Kontinuität zusammensetzen.33 Kino enthält mit dem stroboskopischen Sehen einen digitalen Kern, oder wenigstens das Herz eines Malteserkreuzes, das regelmäßig Kontinuierliches in Diskontinuierliches umwandelt, damit Bewegung in die Bilder kommt. Neben allen analogen photographischen Verfahren und Optiken, die zu seiner Geschichte gehören, hat das Kino damit auch einen Signalverarbeitungsprozess implementiert. Und aus diesem leitet sich eine Reihe von weiterem Kinospuk ab: Unbewegtes bewegt sich und intermittierend abgebildete Bewegungen verstellen sich gegenseitig, so dass alle Räder im Film, wenn sie Speichen haben, in voller Fahrt plötzlich stillstehen. In diesem ent-täuschenden Sinne zeigt sich Kino als künstliche Welt und Simulation, produziert technisch generierten Schein als dichte Sinneswahrnehmung, bevor es in ei-

30 Astrid Deuber-Mankowsky, »Eine Aussicht auf die Zukunft, so wie in einem optischen Kasten. Transzendentale Perspektive, optische Illusion und beständiger Schein bei Immanuel Kant und Johann Heinrich Lambert«, in: Apparaturen bewegter Bilder, hg. von Daniel Gethmann und Christoph B. Schulz, Münster: LIT 2006, S. 19-35, hier S. 25. 31 Vgl. Michael Faraday, »On a Peculiar Case of Optical Deceptions«, in: ders., Experimental Researches in Chemistry and Physics, Reprint der Ausgabe London 1859, London/New York/Philadelphia: Taylor & Francis 1991, S. 296. 32 Vgl. dazu Verf., »Trance-Formationen. Tony Conrads Flickerfilm von 1966«, in: Auflösung, Berlin: NGBK 2006, S. 29-37. 33 Zur Anschaulichkeit dieser Geschichte vgl. Werner Nekes, Eyes, Lies and Illusions: The Art of Deception, London: Humphries 2004.

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nem Wahrnehmen unter den Dingen »den Gegensatz zwischen Körper und Nichtkörper übergreifen und aufheben würde«.34 Problematisch sind jedoch nicht die grotesken Phänomene, in denen das Medium als Medium in Erscheinung tritt, sondern, dass sich das Kino meistens nicht als Täuschung zeigt, dass seine Diskretionen, Risse und Schnitte unbemerkt bleiben. Problematisch für einen Vergleich des Kinosehens mit dem phänomenologischen Sehen ist vor allem, dass der Blick des Kinos auf die Welt nicht mehr zurückzuführen ist auf einen menschlichen, einzelnen Blick, von dem her alle Verstellungen, Verzerrungen oder Abschattungen der Bilder als gerichteter Subjektivität Einlass unter die Dinge vor jeder medialen Intervention gestatten. Exponentiell gilt das für den Raum, der im Kino einerseits durch optische, mechanische und chemische Prozessierung des Lichts in der Aufnahme in all seinen Aspekten transformiert wird, jedoch auch dadurch, dass mit Faradays Entdeckung Interferenzen wahr- und ernstgenommen werden müssen, die sich ebenfalls als Farbeffekte und Krümmungen wie aus dem Nichts einstellen, als genuine Kinoräume, die nichts Vorgängiges abbilden. Der größte Spuk des Kinos besteht jedoch vielleicht darin, dass Aspekte eines Feldcharakters, den das Kino durch seine Interferenzphänomene aufweist, am dichtesten eine Realität trifft, welche die Mathematik des 19. Jahrhunderts bestürzte: dass die natürliche Welt und ihre Phänomene nur dank des kartesianischen Repräsentationsbegriffs und seiner mathematisch und zeichenpraktisch hergestellten Kontinuität als stetig angenommen werden kann: »Am Begriff einer stetigen, repräsentierbaren Funktion hängt der Begriff des kartesianischen Subjekts, die Instanz des transzendenten Augpunktes in der Zentralperspektive, als dessen Projektionen die Phänomene garantiert sind.«35

Das als cogito aufgefasste Subjekt wurde damit selbst zum Phantom eines Zeichenregimes: Die Arithmetisierung der Mathematik, deren »monströs« oszillierende Funktionen alles Vorstellbare unterwanderten, sprengte erst die Raumanschauung des 19. Jahrhunderts, dann aber auch jede dem Zweifel entwachsene Vorstellung vom Subjekt. Dieses monströse Reale und seine unvorstellbaren Räume waren eben nicht nur Sache der Mathematiker, sondern ihre Logik ließ sich wiederfinden in allen elektromagnetischen Geräten, ging Physiker und Physiologen an, trieb seinen Unfug schon in der Vor- und Frühgeschichte des Kinos, das dann seine eigenen Geschichten mit den Sprüngen zwischen reeller Diskontinuität und phantasmatischer Realität macht. Die Überführung der Welt in einen Oszillationsraum durchdringt das Kino von Anfang an. Der Raum des Kinos ist 34 Vgl. Panofsky, »Perspektive«, S. 109. 35 Bernhard Siegert, Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500-1900, Berlin: Brinkmann & Bose 2003, S. 316.

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auf diese Weise einer, der nicht mehr anthropomorph, sondern, wie in Panofskys Beschreibung, polymorph wird: Er »bewegt, ändert, dreht, löst und rekristallisiert« sich, aber nicht nach menschlichem Maß und Ermessen. Nicht nur Bewegung und Form, auch Perspektive und Raumstrukturen sind Effekte und Funktionen medialer technischer Verfahren, die der Diskontinuität verpflichtet sind und die Zusammenhänge der Welt nur als Fusion von Daten hergeben, die sie in ihren Variablen und Kombinatoriken verändert, wenn sie sie menschlichen Sinnen übertragen. Damit wird Wahrnehmung selbst modifiziert, so dass jedes Weltbild ihren Strukturen unterstellt bleibt, wie bereits Panofsky fürchtete: Wo Krümmungen wären, nimmt der kulturell konditionierte oder medial erfahrene Blick Geraden wahr: »[W]enn von den heute lebenden Menschen die wenigsten jemals diese Krümmungen gesehen haben, so ist das sicher z.T. ebenfalls in dieser (durch die Betrachtung von Photographien noch verstärkten) Gewöhnung an die planperspektivische Konstruktion begründet – die freilich ihrerseits nur aus einem ganz bestimmten und eben spezifisch neuzeitlichen Raum- oder, wenn man so will, Weltgefühl verständlich ist.«36

Phänomene, die sich zeigen, relativieren das Ganze eines Gefüges, das Körper, Technik und Gegenstände verschränkt, um Wirklichkeit in den Bildern und Räumen des Kino erscheinen zu lassen.

3 »quer zu dem, was ich sehe, verhalte ich mich«: Feld Während Medienwissenschaft, um im Kinoraum den Sachverhalt der wirklichen Dinge hinter den Erscheinungen zu entdecken, die eigenen Sinne überführen, die Apparaturen künstlerisch-technisch erkunden und die Bildlichkeit der Bilder bestimmen muss, fordert phänomenologisch begründete Kinowissenschaft andersherum, das Sehen des immer schon in die Welt eingelassenen Körpers auch im Raum des Kinos unvermittelten Erfahrungen zu überlassen und dessen Anschauung nicht durch theoretische Modelle zu korrumpieren. Im Vortrag Das Kino und die neue Psychologie, den Maurice Merleau-Ponty 1945 an der Pariser Filmhochschule IDHEC gehalten hat37, entwickelt er vielleicht nicht zufällig am Beispiel des Kinose36 Panofsky, »Perspektive«, S. 104. 37 Maurice Merleau-Ponty, »Das Kino und die neue Psychologie (1945)«, in: ders., Sinn und Nicht-Sinn, a.d. Franz. von Hans Dieter Gondek, München: Fink 2000 [1948], S. 65-82 [1947], hier S. 67f. – Dieser Text wurde übrigens (anders als in der Fink-Ausgabe vermerkt) zuerst von Frieda Grafe übersetzt, in: Filmkritik 11 (1969), S. 695-702.

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hens prinzipielle Überlegungen zum Sehen im Hinblick auf den Raum und der Dazwischenkunft eines Anderen, die er später als Spaltung von Auge und Blick präzisieren wird. Der kartesischen Psychologie, die Welt und Dinge einzig durch den Verstand, »mentis inspectio« oder »solo intellectu percipi«,38 zusammengesetzt findet, stellt Merleau-Ponty ein Sehen entgegen, das eins wird mit der Welt und keinen Unterschied zwischen Sehen und Denken, Zeichen und Bedeutung, zwischen Empfindung und Wahrnehmung mehr annehmen muss im Bild einer Selbstorganisation der Welt vor dem Auge. – Wo rationales Sehen Elemente im Gesichtsfeld entzifferte, um es darauf zu einem Ganzen zu synthetisieren, organisiert phänomenologisches Sehen das Gesichtsfeld spontan: »Wenn ich wahrnehme, denke ich nicht die Welt, sie organisiert sich vor mir.«39 So wäre die erkenntnistheoretische Klüftung aufgehoben: Kein projektives Verhältnis distanziert das denkende Ich von berechenbarer res extensa, sondern der Leib reagiert immer schon auf die Welt. Er bewegt sich und existiert immer schon im Hinblick auf die Dinge im Raum, auf einen Würfel etwa, favorisiertes Beispiel der Wahrnehmungstheoretiker: »Weit davon entfernt, sie zu korrigieren, bemerke ich nicht einmal die perspektivischen Deformationen: quer zu dem, was ich sehe, verhalte ich mich zu dem Würfel selbst in seiner Evidenz.«40 Wahrnehmung organisiert sich unter den Dingen und im Raum stets so – hier stimmt die neue Psychologie, die Merleau-Ponty auch als Kinotheorie ausweisen wird, mit den Erkenntnissen der Gestalttheorie überein –, dass sie »die Homogenität des Feldes wiederher[]stell[t]«.41 Wie vage diese Theorie zunächst auch mit dem Problem des Feldes liiert sein mag, das in der Physik des 19. Jahrhunderts bereits zum Grundproblem des Raumes im Verhältnis zur Wahrnehmung geworden war, so wird sie dessen grundsätzlicher Annahme zu folgen haben, im Feld Wirkungsverhältnisse jenseits jeder materiellen Basis am Werk zu sehen, und damit also die Wirkungen einer Ganzheit, Struktur oder Gestalt, die sich qualitativ anders als die Summe ihrer einzelnen Elementen zur Wahrnehmung und damit zu den Beobachtenden verhält. Zum Zweiten zeigt die neue Psychologie, dass jedes wahrgenommene Phänomen mit einem Begehren verbunden ist. Spontan, aber nicht zufällig bildet sich die Welt im Bezug auf das Subjekt, je nachdem, wo es sich situiert, wo es »Anker wirft«.42 Drittens schließlich begreift die neue Psychologie den Bezug zum Anderen als ein spontanes Reagieren auf evidentes Verhalten, wie es aus den Oberflächen des Seins immer schon gegeben ist: Der Andere wird im eigenen Verhalten erfahren. 38 39 40 41 42

René Descartes, Meditationes de prima philosophia (1641), S. 57f. Merleau-Ponty, »Kino«, S. 70. Ebd. Ebd., S. 65. Ebd., S. 71: »Der Gegenstand, den ich betrachte und bei dem ich Anker werfe, erscheint mir stets fixiert und ich kann ihm die Bedeutung nur nehmen, in dem ich anderswohin schaue.

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Nicht das sehende Auge, nicht Introspektion, Übertragung oder empathisches Verstehen, auch keine Differenz zwischen Außenansicht und Introspektion lässt Beziehungen denken, sondern der Andere ist wahrnehmbar im spontanen Erfassen seines Oberflächenseins. Mit solchem Blick ist ein Band als »Durchdringung von Bewusstsein und Welt«43 geknüpft, das ein im Sartreschen Sinne »magisches«44 intersubjektives Verhalten ermöglicht. – Unter der Bedingung jedoch, das der Raum der Kinos, in den der Andere einbricht, nicht mehr anthropomorph ist, sondern sich den Oszillationen von (Um-)Schaltungen verdankt, ist die Zuversicht in die »magischen« Transitionen nicht immer berechtigt: Es könnten auch mediale sein, deren Ende keiner kennt. So genau Merleau-Ponty im Kontext phänomenologischen Sehens die Bedeutung von Einstellungen, Rhythmen und auch dem Schweigen im Film deutlich macht, um zu zeigen, wie gerade diese Elemente die Zuschauer in einen Raum des Kinos integrieren, so sehr wird er, wenn er etwa das Band zwischen Ton- und Bildgestalt aufweist, auf ein undefiniertes ursprüngliches Wissen jenseits des Films zurückgehen: auf ein ursprünglich nicht-zerlegbares Ganzes – beispielsweise von »Stimme, Silhouette und Charakter«.45 In der Tat jedoch hat das Kino schon im Stummfilm das Band zwischen Ton und Bild künstlich geknüpft, und die prinzipielle Ablösbarkeit einer Stimme vom Körper gehört zum grundlegenden dramaturgischen Repertoire des Kinos. Gerade auf Grund der prinzipiellen Feldund Gestaltwahrnehmung, die ihr zu Grunde liegt, ist das halluzinatorische Synthetisieren des Kinos, so polymorph und unmenschlich es wird, unhintergehbar.46 Für Merleau-Ponty ist Descartes’ Konzept des Sehens, wie dieser es in der Dioptrik entwickelt, ein Selbst-Entzug aus dem Sichtbaren und damit eine enorme Anstrengung, sich das nicht Kontrollierbare am Sein- und Sehen-in-der-Welt vom Leib zu halten; es sei ein Denken, das »sich dem Spuk des Sichtbaren entziehen will und entschlossen daran geht, es nach dem Modell zu rekonstruieren, das es sich davon macht«.47 Phänomenologie stellt das zerrissene psychophysische Band mit dem Hinweis auf die Erfahrung wieder her, dass der menschliche Körper stets zugleich sehen kann und sichtbar ist, Teil der physischen Welt und Teil der psychischen und damit Kette und Schuss im Gewebe der Wirklichkeit – oder, um einem zeitgemäßeren topologischen Modell den Vorzug zu geben: wie ein Möbiusband ist, das die zwei Seiten kartesianischen Dualität ineinander 43 44 45 46

Ebd., S. 81. Ebd., S. 72. Ebd., S. 76. Entsprechende Filme wären Fritz Langs Das Testament des Dr. Mabuse (1933), Stanley Donens Singin’ in the Rain (1952) oder Hitchcocks Psycho (1960). – Vgl. dazu Michel Chion, La voix au cinéma, Paris: Cahiers du Cinéma/Ed. de l’Etoile 1993 [1982]. 47 Merleau-Ponty, »Auge und Geist«, S. 23.

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überführt. Diese »Doppelnatur des Empfindens«,48 die bei den Dingen zugleich eine »ursprüngliche Einheit des Empfindens mit dem Empfundenen«49 wiederholt, erscheint genau in der Bildlichkeit des Bildes als Ausdruck eines Sehens unter den Dingen, nicht mehr wie bei Platon als sekundäre Position in der Seinshierarchie, sondern als Eintritt ins Gewebe der Welt. Nicht nur Wissen, Körper und Subjekt fusionieren aufs Neue, sondern auch Wissen und Sehen, und die Dinge mit ihrer Räumlichkeit. Drei Aspekte des phänomenologischen Sehens jedoch scheinen dem Sehen im Kinoraum entgegenzustehen: erstens die Verschränkung von Sehen und Sichtbarkeit, von der im Kino notorisch nur das Sehen bleibt, das lediglich als Sichtbarkeit vorgeführt, aber nicht im Kino selbst wahrgenommen werden kann; zweitens das Engagement des ganzen Körpers und seiner Bewegungen ins Sehen, wie sie von den Weisungen der Welt hervorgerufen werden: »Die sichtbare Welt und die meiner motorischen Absichten sind erschöpfende Teile desselben Seins.«50 Nicht nur ist im Kino das Sehen reduziert auf ein unbewegtes Schauen: Es sind nie anthropomorphe Bewegungen, in die das Kino Wahrnehmung verstricken wird, und die Erfahrung des Sehens muss immer »transition« in einen anderen Raum bleiben. – Möglicherweise wird es auch keinen »Nullpunkt der Räumlichkeit«51 mehr geben, wie er im phänomenologischen Sehraum vorausgesetzt wäre. Und drittens gibt es keinen Grund, jenseits des kartesianischen Raums Kontinuität anzunehmen. – Merleau-Pontys Überlegungen zum Raum sind mit Sicherheit unbestechlich in ihrer Absage an dimensionales Wahrnehmen, etwa wenn er feststellt, »dass die Dimensionen durch die verschiedenen Maßsysteme einer Dimensionalität, einem polymorphen Sein entnommen sind, das sie alle rechtfertigt, ohne durch eine von ihnen vollständig ausgedrückt zu werden«.52 Allerdings läuft seine wunderbare Hoffnung, man möge »nicht mehr […] vom Raum oder vom Licht sprechen, sondern den Raum und das Licht, die da sind, sprechen [...] lassen«,53 im Raum der Interferenzen nicht nur Gefahr, dass die Rede von Sachverhalten wäre, die nicht den wirklichen Sachverhalten entsprächen, sondern vielmehr auch, dass im Raum der Oszillationen und Diskontinuitäten das Ich selbst, das da war, zum Zittern gebracht wird. Nicht zuletzt muss dies der Grund sein, warum Mathematik, Physik und ihre Grundlagenkrisen, aber auch Störung, die auf konkrete mediale Interventionen in den Sehraum zurückgehen, ausgeblendet werden müssen, damit der phänomenologische Königsweg zu den Dingen freigeräumt ist.

48 49 50 51 52 53

Ebd., S. 18. Ebd., S. 17. Ebd., S. 16. Ebd., S. 31. Ebd., S. 27. Ebd., S. 31.

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Verführerisch wäre es, ganz im Gegenteil, den großen kulturellen Raumformen54 mathematische Modelle zuzuordnen: dem kosmologischen Raum der Griechen die diskrete Arithmetik, die immer eine Anzahl von etwas war, und mithin Sein und Orte identifizieren musste; dem Raum der Neuzeit ließe sich das Stellenwertsystem zuordnen, das die indischarabischen Ziffern in Europa einführten, und das die Verschriftlichung und Berechnung von Abwesenheiten erlaubte. Eine symbolische Ordnung erschien damit ganz unabhängig vom Realen. Und schließlich ließe sich die phänomenologische Raumerfahrung als Antwort auf eine neue Mathematik bezeichnen, die in dem Verzicht auf Vorstellbarkeit die formale Darstellbarkeit des Reellen anstrebt, eine »Arithmetisierung der Mathematik (Analysis)«,55 wie es im 19. Jahrhundert hieß, die dem Oszillieren der Funktionen Rechnung trägt. Eine Diskretion und Digitalisierung des Reellen organisiert zwar auf der einen Seite eine räumliche Orientierung im Unsteten, Stochastischen, dafür aber lässt sie, als Störungen des Raumes und der Wahrnehmung, ständig durchblicken, dass es etwas anderes gibt, das den Raum organisiert, und das sich immer auch als Phantom und Monster, als Schwindel und Rauschen oder sogar als magische Beziehung zum anderen bemerkbar machen kann. Störung und Staunen ist die letzte Orientierung. Das Subjekt ist mit Haut und Haar dem Raum verhaftet, der auf so komplexe Weise berechenbar schien. Panofsky jedoch hat an die Lektionen des Kinos erinnert, die verlangen, es sowohl als Technik als auch als gegenständlich zu begreifen und sowohl seine realen als auch seine imaginären Räume in seiner Materialität zu berücksichtigen. Der Weg zu den Dingen führt an dem Ding Kino nicht vorbei. Der Rekurs auf mathematische Modelle löst weder das Problem des Raumes im Kino, noch erlässt es die Anstrengung, nach Positivitäten zu suchen, die einerseits die Relationen räumlich oder topologisch bilden, andererseits diese Relationen auch immer wieder stören und transformieren, von Dürers erstem Ecce Homo-Holzschnitt an. Das gilt auch für das Kino, das eben nicht nur Technik ist, nicht nur Ding, sondern auch Medium.

54 Siehe dazu den Beitrag von Bernhard Waldenfels in diesem Band. 55 Vgl. Siegert, Passage, S. 305-383.

Der Ort des Raums: zur Heterotopie der Einbildungskraft im ›digitalen‹ Zeitalter GEORG CHRISTOPH THOLEN

1 Zur Topologie des offenen Raums Die Heterotopie des Räumlichen zu erkunden, heißt zunächst und vor allem, den in der Geschichte des Denkens langlebigen Primat des Raums als parametrisierbaren und mithin messbaren Zeit-Raum zu dekonstruieren. Heterotopie als Bestimmung der Raum-Zeiten oder genauer: des differentiellen Geflechts raumzeitlicher Relationen, verschiebt den (präsenzmetaphysischen) Begriff des Raums ebenso wie den der Zeit. Topologische Ver-Ortung ist also eine Dezentrierung der Kategorien von Zeit und Raum:1 Ohne diese im strikten Sinne ver-ortende, topologische Bestimmung2 des auch in temporaler Hinsicht unverfügbaren Zwischenraums wäre nicht die Gastlichkeit und Alterität der offenen Räume situiert, von denen ausgehend im spatial oder topographical turn der Kulturwissenschaften allererst die historisch variierenden Räume des Wissens und der Macht beschreibbar sind. Vom ›Ort des Raums‹ zu sprechen, unterstellt, es gäbe etwas Räumliches, das dem Raum, so wie wir ihn seit Kant in seiner Vorgegebenheit zu denken gewohnt sind, seinerseits vorausgeht; mithin dem klassisch genannten Raum also erst einen Platz zuweist. Und in der Tat geht es um Unterschiede im Bestimmen von Raum und Räumlichkeit, um Differenzen im räumlichen Denken: Es wird zu handeln sein von einem offenen Raum, der dem uns scheinbar vertrauten Raum, den wir den homogenen, lückenlosen, immer schon ›da‹ seienden nennen, oder den leeren und wegen seiner Leere und Gleichgültigkeit stets erfüllbaren, entgegengesetzt ist. Dieser ›offene Raum‹ jedoch ist nicht als Widerpart oder immanenter 1 2

Vgl. hierzu unter anderem Hans-Dieter Bahr, Die Sprache des Gastes. Eine Metaethik, Leipzig: Reclam 1994; und Hans-Joachim Lenger, Vom Abschied. Ein Essay zur Differenz, Bielefeld: transcript 2001. Siehe hierzu den Beitrag von Kathrin Busch in diesem Band.

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Gegensatz zum vorgegebenen Raum zu verorten, sondern entzieht sich als uneinholbare, unbesetzbare Differenz der durchgängigen Schematisierung des Raums im Sinne eines sich selbst präsenten, eines omnipräsenten Schemas. Der ›offene Raum‹ ist nicht als Besitz oder Freiheit des Willens situierbar, sondern bekundet sich als vor-gängiger Einschnitt in den räumlichen Bestimmungen und Vorstellungen. Bei Kant ist die erörterte Fragwürdigkeit oder Grenze der Raum-Zeit-Schematisierung unter dem Titel der ›Unbegrenztheit‹, des ›Apeiron‹, des ›Erhabenen‹ und des ›sensus communis‹ als des Unschematisierbaren bekannt. – Doch wurde, wie von Heidegger und anderen auf ihn Bezug nehmenden Philosophen wie HansDieter Bahr, Jacques Derrida, Jean-Luc Nancy und anderen zu erfahren ist, die Topologie dieses Ab-Ortes oder Ab-Grundes als eine von der Kritik der reinen Vernunft abgelöste und bloß als für die Erkenntnis sekundär angesiedelte Sphäre des Ästhetischen – als vermeintliche Tiefe einer empfindsamen Innerlichkeit3 räumlich missverstanden worden. Nüchterner und nicht nur im Feld eines zu eng gefassten Begriffs des Ästhetischen angesiedelt, zeigt sich der offene Raum als zum gängigen Raumverständnis hinzukommende Bestimmung, als Zusatz oder Bei-Werk;4 und bietet die Möglichkeit, raumzeitliche Veränderungen, Überlagerungen und Verschiebungen in wissenschaftlichen Diskursen ebenso wie in Denkmustern und Umgangsstilen kultureller Selbstverständnisse und Krisendefinitionen zu begreifen.5 – Mit Heidegger gesagt: es geht um die Struktur der Eröffnung eines ›offenen Bezirks‹ als Signum neuzeitlicher Wissenschaft und ihrer

3

4 5

Siehe hierzu meine Rekonstruktion der Re-Lektüre des Erhabenen bei Kant wie sie insbesondere Jean-Francois Lyotard in seinem Spätwerk unternommen hat. (Vgl. Verf., »Jean-Francois Lyotard (1924-1998)«, in: Klassiker der Kunstphilosophie. Von Platon bis Lyotard, hg. von Stefan Majetschak, München Beck 2005, S. 307-327.) Vgl. hierzu die Untersuchung von Ulrike Dünkelsbühler, Kritik der RahmenVernunft. Parergon-Versionen nach Kant und Derrida, München: Fink 1991. »Prekäre Zwischenräume« lautet der hierfür heuristisch wertvolle Begriff, den man, in gleichschwebender Aufmerksamkeit destilliert, folgenden Arbeiten entnehmen kann: Räumliches Denken, hg. von Dagmar Reichert, Zürich: vdf 1996; Herbert Mehrtens, Moderne – Sprache – Mathematik. Eine Geschichte des Streits um die Grundlagen der Disziplin und des Subjekts formaler Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990; Karin Wenz, Raum, Raumsprache und Sprachräume. Zur Textsemiotik der Raumbeschreibung, Tübingen: Narr 1997; und Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, hg. von Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner und Bettina WahrigSchmidt, Berlin: Akademie 1997. – Allen diesen Büchern gemeinsam ist die Sensibilität für das Hergestelltsein und die Historizität kultureller Symbolräume und Bedeutungssysteme, die sich nicht im ›abstrakten‹ Raum einer linearen Begriffs- und Ideengeschichte thematisieren lassen, sondern auf Brüche und Einschnitte in der Wissenschaftsentwicklung hinweisen.

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Modernität.6 Ohne dass die Wissenschaft freilich, wie Heidegger nachzuweisen versucht, diese Verschränkung von Raum, Zeit und Zeichen als solche reflektiert. Denn die Suche (oder Sucht) nach geschlossener Operationalität in den Wissenschaften gerät stets in die Gefahr, die Kluft zwischen Referenzialität und Realität, das heißt die mit der sprachkritischen Wende des Denkens um 1900 einhergehende ontisch-ontologische Differenz wieder zu schließen. Eine Bestimmung des philosophischen Fragens, welche die Vielfalt zeitgenössischer Strömungen – von der Hermeneutik über die analytische Philosophie bis hin zur Kritischen Theorie und dem, was mit und seit dem Strukturalismus hinzugekommen ist – berücksichtigt, lautet: »Philosophie ist die denkende Auffassung der Ausübungsbedingungen des Denkens in dessen verschiedenen Registern.«7 Diese Aufgabe, ›das Denken‹ zu bedenken, heißt auch: Dekonstruktion hergebrachter Evidenzen unserer Moderne, Explizitmachen sich selbst verborgener Denkfiguren und Aussagemuster, gerade auch im Feld kulturkritischer Diagnosen der Gegenwart.

2 Raum-Orte Der Raum hat Konjunktur: Es kursiert wohl kaum eine Schrift zu den neuen Medien, die nicht von ihm handelt, genauer: von seinem Verlust oder gar seiner ›Vernichtung‹. – Geschuldet der weltweiten Vernetzung der Teletechnologien8 und dem ubiquitären Siegeszug der digitalen Weltvernetzung zöge sich der Raum zusammen und verschwände; und mit ihm sogar der Mensch als ohnmächtiger Zeuge dieses apokalyptischen Prozesses.9 Solche verzweifelte Vermutung über den Verlust des Raums, die sich vor allem, aber nicht nur in den Spätschriften Paul Virilios findet, also jenes anfangs phänomenologisch, das heißt detailgetreu und feinsinnig registrierenden ›philosophischen Architekten‹ des Informationszeitalters, verwechselt nicht nur die transzendentalphilosophische Reflexion von Raum und 6 7 8

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Siehe dazu Martin Heidegger, »Die Zeit des Weltbildes (1938)«, in: ders., Holzwege, Frankfurt a.M.: Klostermann 82003 [1950], S. 75-113. Alain Badiou, »Philosophie und Politik«, a.d. Franz. von Rado Riha, in: ders./Jacques Rancière/Rhado Riha/Jelica Sumic-Riha, Politik der Wahrheit, Wien: Turia + Kant 1997, S. 31-45 [1992], hier S. 37. Vgl. etwa Paul Virilio, Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie, a.d. Franz. von Ronald Voullié, Berlin: Merve 1980 [1977]; und Peter Weibel, »Vom Verschwinden der Ferne. Telekommunikation und Kunst«, in: Vom Verschwinden der Ferne. Telekommunikation und Kunst, hg. von dems. und Edith Decker, Köln: DuMont 1990, S. 19-77. Zur Aporetik des apokalyptischen Schemas, dem seine eigene Unmöglichkeit unbemerkt innewohnt siehe grundlegend Jacques Derrida, »Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie«, in: ders., Apokalypse, a.d. Franz. von Michael Wetzel, Wien: Passagen 22000, S. 9-90 [1981].

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Zeit mit einer anthropologisch vor-entschiedenen Annahme über den Verlust real ›erlebter‹ Räume. Vielmehr übersieht solche Kulturkritik dank ihres des bipolaren Schemas von Realem und Irrealem10 den kategorialen Zirkelschluss ihrer Verfalls- und Verlustrhetorik: Reales und Imaginäres ist in dem vermittlungslosen, prä-symbolischen Bild oder Phantasma einer frei von artifizieller Technik und künstlichen Ersatzwelten vorgegebenen ›unmittelbaren‹ Sinnlichkeit oder Natürlichkeit des Menschen immer schon verschmolzen, das heißt ›implodiert‹. Virilios Annahme, dass die künstliche Macht der Sehmaschinen dank ihrer menschenfernen Logistik und Geschwindigkeit die menschliche Wahrnehmung überholen oder auflösen würde,11 beruht ihrerseits auf der unbefragten Annahme einer natürlichen Wahrnehmung, die im Zeitalter der Telematik ihren Angelpunkt (Sehpunkt) verloren hätte. – Gewiss: der dromologische Befund, dass die »verlichtende Tendenz«, das »Schnellerwerden als Waffe«12 uns einen bilderflutenden Krieg des Sichtbaren gegen das Unsichtbare – innerhalb des Registers des Sichtbaren – beschert, ist offensichtlich. Problematisch allein ist in dieser dromoskopischen Denkfigur die ontologisch vorentschiedene Treue einer bi-univoken Entsprechung von Wirklichkeit und Blick, von Realem und Imaginären. Denn die Klage über die technische Substitution des menschlichen Auges übersieht in ihrem gleichsam naturalistischen Argument, dass der Blick nicht bzw. nie im geometralen Sehstrahl des Auges fixiert, also in dessen technischem Ersatz auch nicht ersetzt werden kann. Keine Tele-Vision oder MondoVision kann das Reale des Raums ›ablösen‹ oder ›auflösen‹. Denn das Reale entzieht sich per Definition den Bildern, die wir uns von ihm machen. Es bleibt unterschieden von seinem Platz, und alle Bilder oder Vorstellungen des Raums sind stets verschiebbare Aus-Schnitte, und das heißt: mit-teilende, unvollständige Rahmen-Setzungen. Gibt es diesen vielfach beschworenen konkreten, unmittelbaren Nahraum des Menschen als festen Ort überhaupt? Ist er nicht vielmehr einer historisch bedingten Perspektive (in jedem Wortsinne) verdankt? – Im kaum bemerkten Widerspruch zur Vision der telematischen Entfernung des Raums wird in einer Vielzahl der den Neuen Medien gewidmeten Trendanalysen auf der Basis desselben Raumverständnisses unter dem Zauberwort »Cyberspace« ein neuer Raum angekündigt und platziert, der den alten, einst angeblich unmittelbaren Raum ablöse. Unter dem seit William Gibsons Neuromancer eingeführten Wort und dem noch plakativeren der ›Cybermoderne‹ lässt sich sachlich gewiss viel versammeln von den 10 Paradigmatisch hierfür ist Jean Baudrillards endlose Iteration von Realem und Hyperrealem, das ›realer‹ sei als das Reale selbst usw. 11 Siehe Paul Virilio, Die Sehmaschine, a.d. Franz. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin: Merve 1989 [1988]. 12 Dietmar Kamper, »Unter dem Schatten des Körpers«, in: Ethik der Ästhetik, hg. von Christoph Wulf, Dietmar Kamper und Hans-Ulrich Gumbrecht, Berlin: Akademie 1994, S. 225-232, hier S. 230.

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neurokulturellen und zugleich ersatzreligiösen Kurzschlüssen zwischen Gehirn und Kultur bei KI-Propheten wie Marvin Minsky, Hans Moravec oder dem McLuhan-Schüler Derrick de Kerckhove. Auch Szenarien des globalen Dorfs und andere Gemeinschaftsutopien eines Howard Rheingold und anderer werden so vorgestellt. Wie nun der Ortungsraum solch utopisch ausgerichteter Krisendiskurse selbst wiederum als blinder Fleck und Spiegeleffekt imaginärer Konstruktionen verortet werden kann, hat Michel Foucault in seiner vielbeachteten Studie, aber in einer weniger beachteten Facette derselben dargelegt: Nach Foucault imaginieren die an Epochenschwellen orientierten Krisendiskurse stets eine Leere des Utopischen, die sich im Sinne Kants als die klassische Leere des homogenen Raums erweist, eine Leere also, die der utopische Diskurs geradezu aufzufüllen sich berufen glaubt: nicht selten mit Phantasmen absoluter, totalitärer Gemeinschaft – kurzum: mit einer zumeist rousseauistisch gefärbten Lebens-Philosophie: »Utopien sind Orte ohne realen Ort. Es sind Orte, die in einem allgemeinen, direkten oder entgegengesetzten Analogieverhältnis zum realen Raum der Gesellschaft stehen. Sie sind entweder das vervollkommnete Bild oder das Gegenbild der Gesellschaft […].«13

Abweichend von diesem Modell endloser Spiegelungen wären Krisen als »Krisenheterotopien«14 zu beschreiben, das heißt als sich überschneidende und miteinander inkompatible Orte mit Öffnungen und Schließungen. Seriöser und nüchterner argumentiert natürlich die kultursoziologisch orientierte Literatur zur Cybermoderne: Cyberspace oder ›Künstliche Welten‹ meint hier: Verknüpfung von Computertechnologie und Telekommunikation, allgemeiner: die Welt elektronischer Daten und Bilder ohne ›konkrete‹ Gegenständlichkeit. – Gewiss gibt es mit den KI- und VR-Systemen eine veränderte Benutzeroberfläche: Nicht mehr nur die alphanumerische Tastatur oder die den zeigenden Finger substituierende Maus (Benutzeroberfläche der zweiten Generation) finden wir vor, sondern eine den Körper insgesamt umgebende Oberfläche von Haut und Maschine. Aber diese Art der Kopplung wird in physiologischer Metaphorik vorschnell als topologische Unentscheidbarkeit von ›Innen‹ und ›Außen‹, als Metapher für grenzenlose Oberflächen schlechthin verallgemeinert. Und doch ist in solcher Metaphorik des ›virtuellen Raums‹ das Moment einer nomadisierenden Abgründigkeit umschrieben, das als raumeröffnendes Verhältnis von Technik und Ästhetik noch zu bestimmen ist. In der Soziologie also spricht man vom »Abstandsgefüge« der modernen Medientechnologien als 13 Michel Foucault, »Von anderen Räumen (1967)«, a.d. Franz. von Michael Bischoff, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. von Daniel Defert, Bd. 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 931-942 [1984], hier S. 935. 14 Ebd., S. 936.

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eines von »Schwellen- oder Initiationsräumen«.15 Das ist zwar erhellender, jedoch wird auch hier der Raum des Medialen auf die Dimension des dimensionalen Raums reduziert, das heißt auf einen ›sozio-geographischen‹ Maßstab der Entfernung von der »tradierten symbolischen Qualität der Nahräumlichkeit«16 für die dann vormalige soziale Beziehungen wie Nachbarschaft, Grußgemeinschaften oder gar Familientreffen stehen mögen. Lässt sich der Ort der Einbildungskraft in seiner Medialität so vermessen? Wo finden wir Spuren eines anderen Raumdenkens, das den unleugbaren Befund der telematischen Veränderungen des Raum-Zeit-Gefüges ernstnimmt, ohne diese der Melancholie eines als vollständig gewähnten Verlustes zu überlassen? Verweisen nicht gerade die dekonstruktivironischen Baustile der jüngsten Zeit ebenso wie die ›gespenstischen‹ Effekte medialer Simulakren auf eine Räumlichkeit, die als solche definitionsgemäß eben nicht den ontologischen Status einer beharrlichen Substanz reklamiert? Gerade die vorhin erwähnte Prothetik des ›virtuellen Raums‹, der den angeblich ›realen‹ nunmehr ersetze, spricht ja von der prinzipiellen Verschiebbarkeit einer dehnbaren Räumlichkeit, die aber als gespenstisch-bedrohliche, als schlechter Schein von der ›Kritik‹ ausgeräumt werden soll. Es gilt also im Gegenzug hierzu,17 die ›Gespenstigkeit‹ oder Un-Heimlichkeit des Räumlichen als einen offenen Ort zu situieren, der noch die Raumwerdung unseres sogenannten ›öffentlichen Raums‹ oder Raums der Öffentlichkeit gewährleistet und nicht ohne Dramatik verändert. Eine solche Untersuchung kann gelingen, wenn das von Kant reflektierte ›Schema der Räumlichkeit‹, seine Vorgängigkeit und Effekte in den Blick genommen werden.

3 ›Raum‹ nach Kant und Heidegger Dass die Frage nach dem Raum über seine vermeintlich unhintergehbare Omnipräsenz hinausgehen muss, ist nicht von ungefähr die schon im Frühwerk artikulierte Frage der Philosophie Martin Heideggers,18 dort nämlich, wo sie in der Wiederaufnahme und Verschiebung der kantischen Bestimmungen von Raum und Zeit die entscheidende Voraussetzung fin15 Manfred Faßler/Wulf R. Halbach, »Vorwort«, in: dies. (Hg.), Cyberspace. Gemeinschaften, Virtuelle Kolonien, Öffentlichkeiten, München: Fink 1994, S. 7-20, hier S. 8. 16 Ebd., S. 11. 17 Siehe Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, a.d. Franz. von Susanne Lüdemann, Frankfurt a.M.: Fischer 1995 [1993]. 18 Vgl. hierzu auch ausführlicher vom Verf., »Einschnitte. Zur Topologie des offenen Raumes bei Heidegger«, in: DisPositionen. Beiträge zur Dekonstruktion von Raum und Zeit, hg. von dems. und Michael Scholl, Kassel: Gesamthochschule 1996, S. 23-35.

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det, den offenen Raum als Selbstentzug bzw. als Ereignis bzw. noch genauer: als »Ent-Eignis«19 zu denken. Ohne die Befragung des weithin unbemerkt gebliebenen zeitlichen Status des Apriori von Raum und Zeit als vor-gegebenen Formen der sinnlichen Anschauung bliebe nämlich gerade jene – von Heidegger als das »Gegenwendige von Lichtung und Verbergung«20 beschriebene – Offenheit, die Heidegger in seiner der Kant-Lektüre von 1929 nachfolgenden Schrift zur Kunst analysiert, unterbestimmt. Das rätselhafte Moment des Gebens oder Schenkens, welches Heidegger zufolge den zweckentbundenen, ästhetischen Dingen als Inbegriff der eröffnenden Leere ›eigen‹ sei, bliebe ohne diesen Zwischenschritt der Reflexion über die Struktur der Einbildungskraft der traditionellen Vorstellung eines ob seiner Leere immer schon dimensionierten, nur noch auf- oder erfüllbaren Raums verpflichtet. Kommen wir daher, mit Heidegger und Derrida, zunächst zu Kant zurück. Es gibt, so Immanuel Kants in der Kritik der reinen Vernunft entfaltete und die bisherige Vorstellungsart umwälzende Fragestellung, zwei reine Formen sinnlicher Anschauung, die als apriorische Erkenntnisquellen unserer Erfahrung vorausgehen bzw. der Erkenntnis von Gegenständen überhaupt zu Grunde liegen: ›Raum‹ und ›Zeit‹. Sie liegen als reine, das heißt als frei von Empfindungen und vor ihrer Erfahrbarkeit vorauszusetzende, stets schon im Gemüt bereit: als eine ›beständige‹ Form der Rezeptivität, als ein konstitutiver Rahmen beliebig vielfältiger räumlicher und zeitlicher Vorstellungen oder empirischer Anschauungen. Mit Sinnlichkeit bzw. Anschauung ist hierbei, wie Kant zur Vermeidung von Missverständnissen mehrfach anmerkt, kein empirisch-psychologischer Sachverhalt im Sinne eines anthropologischen Vermögens, sondern das allererst ein solches Vermögen eröffnende transzendentale ›Schema‹ gemeint. Dass dieser Unterschied in der populären Kant-Rezeption bisweilen verwischt oder gar nivelliert wird, mag auch der von Kant der Abkürzung halber verwendeten Terminologie geschuldet sein, die er in der Bestimmung der transzendentalen Ästhetik wie folgt kommentiert: »Diese reine Form der Sinnlichkeit wird auch selber reine Anschauung heißen.«21 Die von Kant gesetzte und einander unmittelbar entgegengesetzte Dualität eines äußeren (Raum) und eines inneren Sinnes (Zeit) wird gleichwohl von einer der beiden Formen, nämlich der Zeit, dominiert und eingerahmt, genauer: von einer bestimmten Gestalt der Zeit, nämlich der nicht in die Zeit fallenden Präsenz der Zeit selbst, als einem gleichsam zeitlosen Gesetz, das seine ›eigenen‹ sukzessiven Gestalten (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) zusammenhält. – Wie aber ist zunächst nach Kant der 19 Martin Heidegger, »Zeit und Sein (1962)«, in: ders., Zur Sache des Denkens, Tübingen: Niemeyer 42000 [1969], S. 1-26, hier S. 23. 20 Martin Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36)«, in: Holzwege, S. 1-74 [1960], hier S. 47. 21 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781/1787), S. 20/35f.

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Raum und in welchem Sinne gegeben? Was heißt, konstitutionstheoretisch, ›gegeben‹? Dass der Raum kein empirischer Begriff und mithin aus keiner Erfahrung sich ableiten lässt, erhellt, wie Kants Beispiele unmittelbar für jeden Leser nachvollziehbar machen, der dimensionale Charakter unserer gewohnten Raumvorstellung: Jeder räumlichen Vorstellung als einer, die Dinge aus- und nebeneinander (und folglich an verschiedenen Orten versammelt) vorstellt, liegt die Vorstellung des Raums selbst, das heißt, eben jenes Nebeneinander und Auseinander, bereits zu Grunde: »Der Raum ist nichts anderes, als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d.i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist.«22 – Der Raum ist also keine beliebig variierbare und attribuierbare Form, die den Dingen und ihren Relationen eigen sein könnte, sondern eine apriori notwendige Vorstellung, die den Anschauungen extensionaler Räumlichkeit vorausgeht: Wir können uns nicht vorstellen, dass kein Raum sei, präzisiert Kant, sehr wohl jedoch ist der gegenstandslose, das heißt ›leere Raum‹ vorstellbar, und zwar als eine unendliche gegebene Größe, die – situiert als apriorische Bedingung der Existenz der Dinge als Erscheinungen – eine Mannigfaltigkeit von teilbaren Räumen und Raumvorstellungen zulässt bzw. enthält: »Daher enthält reine Anschauung lediglich die Form, unter welcher etwas angeschaut wird, und reiner Begriff allein die Form des Denkens eines Gegenstandes überhaupt. Nur allein reine Anschauungen oder Begriffe sind a priori möglich, empirische nur a posteriori.«23

Dieser leere Raum – als der vorausgesetzte apriorische Rahmen einer in sich beständigen und beharrlichen Form der Rezeptivität24 –, dieser einrahmende Raum verweist an sich selbst, das heißt in der in der Annahme der Beständigkeit bereits vorausgesetzten Form der Zeitlichkeit, auf die ›Zeit‹ als regulative und maßgebende Vorstellung des Zugleichseins (Synchronizität) und des Aufeinanderfolgens (Sukzession). Deshalb, so schlussfolgert Kant, ist die Zeit eine dem Raum gegenüber vorrangige Gegebenheit. Ein Apriori des räumlichen Apriori gleichsam, das dennoch seine autonome Quellfunktion für die Anschauung wahrt. Denn obschon der Unterschied von Raum und Zeit vorderhand darin besteht, dass verschiedene Räume nicht nacheinander, sondern zugleich sind, verschiedene Zeiten hingegen nicht zugleich, sondern nacheinander sind, kann man der Zeit ob ihrer transzendentalen Idealität bescheinigen, dem apriorischen Charakter der Form jedweder Sinnlichkeit näher zu stehen; denn sie enthält zugleich die Verhältnisbestimmungen des Nacheinanderseins und des 22 Ebd., S. 26/42. 23 Ebd., S. 50f./74f. 24 »Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen, durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit.« (Ebd., S. 19/33.)

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Zugleichseins, das heißt dasjenige, was stets oder immer schon mit dem Nacheinander, um es zu platzieren, mitanwesend sein muss: Sie ist die beständige Vorgegebenheit der Zeit als Form der sinnlichen Anschauung. Daraus folgt, dass die Zeit als un-mittelbare Bedingung der inneren und dadurch zugleich mittelbaren äußeren Erscheinungen definiert wird: »Die Zeit ist die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt. Der Raum, als die reine Form aller äußeren Erscheinungen ist als Bedingung a priori bloß auf äußere Erscheinungen eingeschränkt.«25

4 Raum-Zeit Hans-Dieter Bahr ist in seinem Hauptwerk Die Sprache des Gastes der Aporetik des klassischen Zeit-Raum-Denkens, seiner Sinnrichtung und der begrifflich wie metaphorisch gleichwohl von den philosophischen Raumtheorien eines Berkeley, Locke, Bergson und Merleau-Ponty stets mitverzeichneten Undurchdringlichkeit des Raums in den jeweiligen Raumbestimmungen nachgegangen: Im Anschluss an Heidegger hat Bahr anhand einer minutiösen, zunächst strikt phänomenologisch bzw. etymologisch verfahrenden Analyse von verschiedenen – in der üblichen Grenzziehung von ›Innen‹ und ›Außen‹ nicht aufgehenden und für die alltägliche Raumerfahrung bereits gültigen – Raumadverbien (da-bei, um-her, da-her etc.) und ›unscharfen‹ Beschreibungen dessen, was man »Gegend« nennt, einen in jedem Sinne unzeitigen Raum beschrieben, der die Effekte der uns vertraut scheinenden Schematisierung räumlicher Vorstellungen allererst zu situieren erlaubt: »Die neuzeitliche Verwerfung des offenen als nur ›leeren‹ Raumes hat […] zu jener folgenreichen Indifferenzierung geführt, worin das Problem des Raumes auf eines des Räumlichen – als res extensa, ens imaginarium oder symbolische Dimension – reduziert wurde. Damit wurde nicht nur das Problem einer Endlichkeit offener Orte und Richtungen mit dem einer stets schon überschreitbaren Begrenztheit von Plätzen und Wegen gleichgesetzt; im Vorrang einer Zeitlichkeit räumlicher Erschließungen und Orientierungen blieb vielmehr das Phantasma eines omnipräsenten Zeitraums, ›worin‹ alles geschehe, der unbefragte Horizont, der immer auch schon in die Nichtigkeit seiner Leere umschlug. In der ›Überfüllung‹ eines verräumlichten Raumes ist dann in der tat kein Platz mehr frei, und jede Bewegung – ob wirkliche, imaginäre oder symbolische – vollzieht sich nur noch als ›Ein-räumen des Eigenen durch Aus-räumen des Anderen‹.«26

Die ›Leerstelle‹ nun, wenn man so will, in dieser Bestimmung des leeren, omnipräsenten Zeitraums, den Kant wie Hegel ähnlich platziert haben, findet sich, wie Heidegger nun minutiös nachweist, im Schema des Apriori 25 Ebd., S. 34/50. 26 Bahr, Sprache des Gastes, S. 370.

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selbst, genauer: im unbemerkten Übersprungenhaben eben seines zeitlichen Charakters, der dem Schematismus des Vorgegebenen, Beharrlichen und Zugrundeliegenden nicht inne- sondern bei-wohnt: Der Vorgängigkeit geht etwas voraus, genauer: ihr muss etwas hinzukommen, das die Beständigkeit des Apriori und mithin die des vorstellenden ›Ich denke‹ allererst zu bilden, zu positionieren erlaubt, ohne doch seinerseits als ein weiteres Apriori – als ein gleichsam noch ursprünglicherer Ursprung – gegeben zu sein. Was gibt, so Heideggers eröffnende Frage, die Vorgegebenheit des Raums, in dem, wie in einem Behälter, »Vorhandenes allererst begegnen kann«27? – Ist das vorgängige Schema der Gleichzeitigkeit des einen, einigenden und alleinigen Raums, der nach Kant als Schema der extensionalen Ko-Existenz in der Erkenntnis bereitliegen und doch ihr vorhergehen soll, vielleicht das Gegebene im Sinne einer Gabe oder eines Geschenks, das die Einbildungskraft von sich gibt, das heißt freigibt? Wenn ja, dann wäre der Ort der Einbildungskraft selbst not-wendigerweise nicht derjenige, den sie erst als den des omnipräsenten Zeitraums setzt oder, wie Heideggers bewusst in seiner Mehrdeutigkeit gewähltes Wort lautet, »verstattet«.28 Heideggers in seiner minutiösen Kant-Lektüre entfaltete Rehabilitierung der transzendentalen Ästhetik ist nicht die schlichte Konservierung, sondern die Verschärfung ihrer Problematik: Das Gegebene als ›Dargebot‹ einer sich selbst entzogenen Affizierbarkeit zu erkunden, ist nach Heidegger das, was nach und mit Kant zu denken bleibt. Die Ästhetik ist also nicht – wie von manchen neukantianischen Erben Kants unterstellt wurde – der Suprematie des Verstandes, das heißt seiner erkenntnistheoretisch zu isolierenden oder kognitionstheoretisch engzuführenden Vorrangigkeit unterzuordnen:29 Vielmehr ist die Einbildungskraft als ›Mittlerin‹ zwischen den synthetisierenden Quellen der Erkenntnis zu situieren: Ihre mediale – und das heißt hier im Sinne Walter Benjamins auch ›schockhaft‹ dazwischenkommende Eigenart – verbindet nicht nur die reine Synthesis von Anschauung und Denken, über die sie hinausgeht, sondern ist an sich selbst dieses »Hinausgehen zum ›ganz anderen‹«.30 Diesen Hinausgang gilt es als ursprungslosen oder »heimatlosen«31 Ort zu begreifen, an dem sich die aporetische oder meinethalben paradoxale Figur der vor-gängigen Zeitlichkeit des Apriori verkreuzt.

27 Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a.M.: Klostermann 61998 [1929], S. 45. 28 Martin Heidegger, »Bauen Wohnen Denken«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Stuttgart: Neske 81997 [1954], S. 139-156 [1952], S. 148. 29 Vgl. »Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger (1929)«, in: Kant, S. 271-296 [1973]. 30 Heidegger, Kant, S. 115. 31 Ebd., S. 136.

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5 Spiel-Raum Wie zeigt sich zunächst bei Kant selbst der Chiasmus der Einbildungskraft, welcher die schematisierenden bzw. schematisierten Fugen des Zeitraums öffnet und verschließt? – ›Raum‹, so lautete ja Kants Bestimmung, ist jenes im Vorhinein rein Vorgestellte, worin Vorhandenes, das heißt in räumlichen Verhältnissen Liegendes, gegeben wird. Die reine Vorstellung des Räumlichen jedoch muss, wie Heidegger resümiert, schon »offenbar«32 sein. Ohne diesen reinen Vor-Blick gäbe es keine Anschauung: »Das in der reinen Anschauung Angeschaute steht ungegenständlich und überdies unthematisch in einem Vorblick.«33 Das Vorhafte dieser ihre eigene Präsenz aufschiebenden reinen Anschauung trägt einen von Kant nicht eigens bedachten zeitlichen Index: Denn der Vorblick oder Horizont der Anschauung setzt als antizipierende Zuwendung zu irgendeiner Gegenständlichkeit, die so erst entgegenstehen kann, seine eigene Vorwegnahme voraus. Der Horizont hat als solcher keine apriorische Einheit, sondern er wird als Horizont vorgehalten, bleibt also als gleichsam axiomatische Setzung in der Schwebe, der er sich seinerseits verdankt: »Das Dawider, das das Gegenstehen ermöglicht, ist Vorweghalten von Einheit.«34 Der Vorenthalt oder Vorbehalt gibt – so Heideggers weitere mikrologische Analyse – das vorgängige Gewendetsein zum Objekt frei: Er eröffnet die synthetisierenden Vermögen von Sinnlichkeit und Verstand, deren ontologisch vermeintliche Priorität er zugleich aufschiebt. In der Dekonstruktion der kantischen Architektonik eines gesuchten ›unvergleichlichen‹ Vorrangs der Logik vor der Ästhetik zeigt sich die Nähe (nicht die Identität) von Heideggers Fragestellung mit derjenigen Jacques Derridas. Ein markantes Beispiel hierfür ist die folgende, von Heidegger seinem Text später zugefügte Randbemerkung: »weil der ganze Ansatz der Seinsfrage seit der Antike vom ȜȩȖȠȢ her (ȤĮIJȘȖȠȡȓĮȚ!); Seinsfrage – als Onto-logie; wobei ›logie‹ nicht nur den Disziplincharakter meint, sondern Ontologo-logie!«35 Die mediale Dazwischenkunft der Einbildungskraft lässt nicht 32 Ebd., S. 45. 33 Ebd., S. 47. 34 Ebd., S. 78. – Diese Epoché, die jedwedem Horizont im Sinne Husserlscher Idealität vorausgeht, genauer: diesem sich entzieht, damit er als solcher denkbar wird, markiert auch den Distanzpunkt zwischen Heidegger und der Dekonstruktion gegenüber der Systemtheorie Luhmanns, die immerhin auch zugibt, dass sie stets den Horizont (ihrer Unterscheidungen) als gegeben hinnimmt: »Die These des operativen Konstruktivismus führt also nicht zum ›Weltverlust‹, sie bestreitet nicht, dass es Realität gibt. Aber sie setzt Welt nicht als Gegenstand, sondern im Sinne der Phänomenologie als Horizont voraus.« (Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen: VS 3 2004 [1995], S. 18.) 35 Heidegger, Kant, S. 67. – Randbemerkung zum Satz: »Am Ende besteht der Vorrang der transzendentalen Logik im Ganzen der Grundlegung der Metaphysica generalis in gewisser Weise zu Recht.« (Ebd.)

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nur den Horizont von Gegenständlichkeit erst offenbar werden, sondern gibt das Schema von Raum und Zeit als sich selbst entzogener Vorblick eines möglichen Anblicks frei. Insofern ist das Schema oder Schema-Bild – entgegen der Annahmen einer Dualität von fiktivem vs. realem Raum – nicht im Sinne eines Abbildes des Wirklichen zu verstehen, sondern als eine axiomatische, das heißt herausspringende ›Darstellungsregel‹;36 oder in diskursanalytische Terminologie übersetzt: die stets von einem nicht positivierbaren Rand umgebende Vorgabe der Regel einer möglichen ›Anblickbeschaffung‹ in der Weise ihrer Regelung. – Das scheinbar einfache Beispiel, das Kant in jenem Zuge erwähnt, lautet: »Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben, die drei Abmessungen des Raums gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkte drei Linien senkrecht aufeinander zu setzen, und selbst die Zeit nicht, ohne, indem wir im Ziehen einer geraden Linie (die die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit sein soll) bloß auf die Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen, dadurch wir den inneren Sinn sukzessiv bestimmen, und dadurch auf die Sukzession dieser Bestimmung in demselben, achthaben.«37

Die Achtung oder Aufmerksamkeit, die den Zug, das heißt die Zeit zieht, kann nur aus einer anderen Dimension als der Form der Vorstellung kommen. – »Bewegung«, so fährt Kant kurz darauf fort, »als Handlung des Subjekts […] folglich die Synthesis des Mannigfaltigen im Raume, wenn wir von diesem abstrahieren und bloß auf die Handlung Acht haben […] bringt sogar den Begriff der Sukzession zuerst hervor«.38 Das Ziehen der Zeitlinie – sieht man von der figürlichen Vorstellung ab, da es ja hier um die figürliche Synthesis und also um die Erzeugung der Figur möglicher Anschauung überhaupt geht – ist nur dann möglich, wenn eine Bewegung, die nicht nach der Weise der Vorstellung zeitlich oder räumlich ist, aber doch einen Raum, einen anderen Raum als den der Vorstellung durchzieht: Dieser sich selbst gegenüber un-zeitige Zug der Zeit ist lesbar als gewährender, distanznehmender Respekt für das Vor-Stellen jedweder Folge von Vorstellungsakten, anders gesagt: Er geschieht als unzeitgemäße Eröffnung desjenigen Feldes, auf dem etwas in Form einer Thesis vor-gestellt

36 Siehe hierzu auch Rodolphe Gasché über die Rhetorizität der Einbildungskraft in Kants Kritik der Urteilskraft, deren Bildbegriff eher das Tableau als die Imago im Sinne des Abbildes vorstellig werden lässt. (Vgl. Rodolphe Gasché, »Überlegungen zum Begriff der Hypotypose (Entwurf, Umriss) bei Kant«, in: Was heißt Darstellen?, hg. von Christiaan L. Haart Nibbrig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 152-174.). – Gasché weist die Irritation Kants gegenüber der rhetorischen Ab-Gründigkeit nach, ohne die jedoch keine Bild- oder genauer: Schemamöglichkeit sich herausbilden könnte. 37 Kant, Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl.), S. 154. 38 Ebd., S. 154f.

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werden und die Gestalt eines Gegenstandes oder Subjekts annehmen kann.39 Von dieser vor-gängigen und sich selbst gegenüber unzeitigen Einbildungskraft ausgehend, lässt sich nach Heidegger sehr wohl von einem Vorrang der Zeit sprechen, und zwar dann, wenn das reine Schema von Raum und Zeit als ens imaginarium in seiner beschränkten Gültigkeit an-genommen wird. Dies besagt, dass das schematisierende Vorbild etwa der beharrlichen Substanz in eben seinem einheitstiftenden imaginären Status sich als dem Vor-Bilden der Einbildungskraft entsprungen weiß. In diesem Sinne ist dann auch die Sinnrichtung der transzendentalen Zeitauffassung als reiner Anschauung des Nacheinanders – als ›Rückblick auf ein Soeben‹ oder als ›Vorblick auf ein Sogleich‹ – in transzendentaler Perspektive zugelassen und gestattet. Dann ihr Einbilden selbst ist das, was zu dieser Schematisierung hinzukommt, aber mit ihr nicht in eins fällt. So unterscheidet demgemäß Heidegger auch seine Wiederaufnahme des Begriffs der reproduktiven Einbildungskraft von der geläufigen Auffassung der Reproduktion als einer bloßen Nachahmung des Originals: Re-Produktion (wie auch Re-Kognition) bedeutet das Geschehen des ›Wiederbei-bringens‹ von Identität und Beständigkeit im Sinne eines Erkundens des »Horizonts von Vorhaltbarkeit«40 überhaupt. Indem also im temporalen Gefüge der Horizont des Früher in den Blick genommen und dieser offen gehalten wird, ist die Re-produktion dieses Horizonts diesem selbst vorhergehend, mithin nicht in einem zu Grunde liegenden, unveränderlichen ›Ich denke‹ zu verankern: »Das ›stehende‹ Ich heißt so, weil es als ›ich denke‹, d.h. ›ich stelle vor‹, dergleichen wie Stand und Bestand sich vor-hält. Als Ich bildet es das Korrelatum von Beständigkeit überhaupt.«41 Die Zeit der Einbildungskraft ist lesbar als Eröffnung eines SpielRaums, der exzentrisch zu sich selbst nur zu verorten ist. Während der leere Raum bei sich selbst verharrt, muss die Ekstasis des offenen Raums erst noch ›vernommen‹ werden. In der modernen Architektur bei Bernard Tschumi, Peter Eisenman und Daniel Libeskind gibt es Anzeichen genug für diesen Spielraum. Doch die Tektonik ironischer, sinnverschiebender (oder auch nur historistisch verspielter) Kombinatoriken ist nicht vorschnell gleichzusetzen mit der Heimatlosigkeit des offenen Raums. Unmittelbar lässt er sich nicht bauen. Doch der Zuspruch, den die topologischen Verschlingungen (Möbiusband, De-Montagen sowie die paradoxale Gestaltung einer sich selbst zäsurierenden ›Leere‹ in der jüngeren Architekturdebatte) erfahren haben, bestätigen die Aktualität und die Schwierigkeit des zeitgenössischen Denkens, den offenen Raum ›umschreiben‹ zu müs39 Vgl. ausführlich dazu Werner Hamacher, »Contre-Temps oder Des Contrees (Gegenden) des Temps«, in: Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, hg. von Michael Scholl und Verf., Weinheim: VCH 1990, S. 29-36. 40 Heidegger, Kant, S. 186. 41 Ebd., S. 193.

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sen. – Abschließend sollen einige Spuren dieses ›anderen‹ Raums zunächst in einigen Schriften Heideggers ›gesichert‹ werden. Zudem wird die Frage gestellt, ob und wie die Offenheit des Raums der kantischen Kategorisierung entzogen bleibt.

6 Riss und Leere Der in der Kant-Lektüre Heideggers aufgewiesene, paradoxale Zeitcharakter des offenen Raums zeigt sich auch an dem nun schon ›klassisch‹ zu nennenden Beispiel, das Heidegger zur Bestimmung des Dinglichen in der Kunst heranzog: So sehr eine Brücke etwa als nützlicher Übergang über einen Fluss nach Maßgabe des gewohnten instrumentellen Zweck-MittelSchemas betrachtet werden kann, so wenig geht nach Heidegger in solcher Bestimmung ihre dingliche Besonderheit auf. Indem nämlich die Brücke zugleich die Ufer als Ufer hervortreten und einen bestimmten Anblick der Gegend hervortreten lässt, übersteigt sie den Bedeutungshorizont ihrer Zweck-Mittel-Relation, das heißt sie wird ein Ort, der seinerseits den Raum erst freigibt: »Aber nur ein solches, was selber ein Ort ist, kann eine Stätte einräumen.«42 Der Raum als durchmessbare Dimension ist also vom Ort des Dings her erst zugelassen. Das Verhältnis von Ort und Raum ist folglich kein symmetrisches: »Das Eingeräumte wird jeweils gestattet und so gefügt, d.h. versammelt durch einen Ort, d.h. durch ein Ding von der Art der Brücke. Demnach empfangen die Räume ihr Wesen aus Orten und nicht aus ›dem‹ Raum.«43 – Vielmehr ist der topologische Status des Ortes, den Heidegger das Bauen bzw. das Dingen nennt, ein parergonaler Zusatz, in einer eigentümlichen Nachträglichkeit sich und dem Raum gegenüber: »Das Bauen bringt nämlich das Geviert her in ein Ding, die Brücke, und bringt das Ding als einen Ort vor in das schon Anwesende, das jetzt erst durch diesen Ort eingeräumt ist.«44 Das »Dinghafte des Dings«,45 das heißt: seine Bestimmung als axiomatischer Auf-Riss oder Grund-Riss, verweist auf keine Gegenständlichkeit, vielmehr auf die ihm inhärente »unfassliche Leere«,46 die – wie das von Heidegger durchbuchstabierte Beispiel eines über seine als Wasseroder Weinbehältnis beschreibbare praktische Funktion hinausgehenden Kruges gezeigt hat – nicht mit der klassischen Leere des Raums übereinstimmt. Die Geräumigkeit dieser Leere ist die eines offenen Raums, der »das Offene der Welt offen«47 hält. Der Spielraum dieser Offenheit nun 42 43 44 45

Heidegger, »Bauen Wohnen Denken«, S. 148. Ebd., S. 149. Ebd., S. 154. Martin Heidegger, »Das Ding«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, S. 157-180 [1951], hier S. 159. 46 Ebd., S. 161. 47 Heidegger, »Ursprung des Kunstwerkes«, S. 31.

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muss das Offene, das er besetzt, zugleich aushalten, das heißt sich immer auch ›vorenthalten‹. Auch hier begegnen wir dem Zwiespalt einer unzeitigen Zeit: »Die Hervorbringung stellt dieses Seiende dergestalt ins Offene, dass das zu Bringende erst die Offenheit des Offenen entbirgt, in das es hervorkommt.«48 Die chiastische Verschlingung dieses ursprungslosen Raums nennt Heidegger auch den ›Riss‹ des Gegenwendigen, das heißt einen undarstellbaren Widerstreit, der den »Riss« in »die Gestalt«49 bringt. Diese aufklaffende Differenz, die den Spielraum markiert, situiert Heidegger bisweilen jedoch als einen vergessenen und verhüllten Ursprung, womit freilich der Ab-Ort des Offenen seine Wendigkeit verlieren würde. »Der ›echte Anfang‹ ist als Sprung immer ein Vorsprung, in dem alles Kommende schon übersprungen ist, wenngleich als ein verhülltes.«50 An dieser Stelle ›distanziert‹ Derrida sein Denken der différance nicht ungefähr von dem der Heideggerschen Differenz: »Da die Spur kein Anwesen ist, sondern das Simulakrum eines Anwesens, das sich auflöst, verschiebt, verweist, eigentlich nicht stattfindet, gehört das Erlöschen zu ihrer Struktur. Nicht nur jenes Erlöschen, dem sie stets muss unterliegen können, sonst wäre sie nicht Spur, sondern unzerstörbare und monumentale Substanz, vielmehr jenes Erlöschen, welches sie von Anfang an als Spur konstituiert, als Ortsveränderung einführt und in ihrem Erscheinen verschwinden, in ihrer Position aus sich hinausgehen lässt.«51

Doch Heidegger betont gerade in Der Ursprung des Kunstwerkes eben diese Nicht-Ursprünglichkeit: Die nicht nichts seiende ›Jeweiligkeit‹ des sich als Offenheit einrichtenden ›Gefüges‹ sei nämlich als heimatloser Ort der Einbildungskraft »je anderswo«.52 Die Absenz nun des offenen Raums 48 Ebd., S. 48. 49 Ebd., S. 52. – Die Nähe dieser Formulierung zur Bestimmung des Unbewussten bei Lacan ist unübersehbar: Und doch ist die Topologie des Dings bei Lacan in ihrer axiomatisch gesetzten Haltlosigkeit ohne Rekurs auf eine, bei Heidegger bisweilen hinter die Ur-Sprünglichkeit zurückgehen wollende, Ursprünglichkeit denkmöglich geworden: als nicht genealogisch abzweigendes, sondern dazwischenkommendes Gesetz der Sprache, als topologische Verschlingung (real–symbolisch–imaginär) ohne Ursprungspseudos, das heißt ohne Herkunft und Ankunft im ontotheologischen Sinne. Dieses Gesetz der Sprache und des Begehrens und seine Interventionen an bedeutenden Stepppunkten der Geschichte der philosophischen Ethik (Aristoteles, Bentham, Kant) ebenso wie an den Gesetzeskonstruktionen der Naturwissenschaft und der Politischen Ökonomie nachgezeichnet zu haben, ist Gegenstand der nunmehr ins Deutsche übersetzten ›Ethik‹. (Siehe Jacques Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse, Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, a.d. Franz. von Norbert Haas, Weinheim/Berlin: Quadriga 1996 [1986].) 50 Ebd., S. 62. 51 Jacques Derrida, »Ousia und gramme«, in : ders, Randgänge der Philosophie, Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein 1976, S. 38-87, hier S. 49. 52 Ebd., S. 20.

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muss einer komplementär auf einer bipolaren Achse situierten oder imaginierten Relation von Absenz und Präsenz entzogen bleiben, da sonst die Bestimmung seiner unverfügbaren Gastlichkeit dem Schema der immer schon platzierten Vor-Gegebenheit des Raums (und erst recht der romantischen Suche nach Unmittelbarkeit) verhaftet bliebe: »Denn wie könnten sich ohne Einschnitt in diesem universellen ›Raum‹ überhaupt verschiedene Orte und Richtungen artikulieren? Was sich als Differenz und Einschnitt räumlicher Verhältnisse von vornherein wiederholen muss, um diese überhaupt bezeichnen zu können, ist stets angesprochen, aber nicht stets mitbezeichnet durch den Ausdruck JE oder JÄH.«53

Dass der offene Raum, gerade in Gestalt der Sprache und des Sprechens, nicht aufhört, nicht zur Bedeutung zu kommen,54 mag nun eine architekturale Umsetzung dessen anklingen lassen, was man mit dem Theologen Johann Baptist Metz als eine – noch zu findende – »anamnetische Kultur« im Raum der aporetischen Erinnerung und des sich unterbrechenden historischen Erzählens traumatischer Wunden nennen könnte: Denn jedes, in welcher angemessenen Form auch immer, zu gestaltende Erinnern daran, das wir nicht nur vergessen, sondern vergessen, dass wir vergessen, hat mit der Topologie der Einschnitte, das heißt der Unzugänglichkeit des offenen Raums zu tun. Daniel Libeskind bezeichnet seinen zickzacklinienartig konstruierten Bau des Jüdischen Museums in Berlin nicht von ungefähr mit »voided voids«: entleerte Leeren. Die Architektur dieser ›gebauten Leere‹, deren Entwurf »Between the Lines« hieß, markiert im Gebauten eine Textur, die das unverfugbare wie auch unverfügbare Gedächtnis der Auslöschung bewahren soll; nämlich so, dass Daniel Libeskind – im Feld der gebauten Sichtbarkeit – Scheidelinien in die Darstellbarkeit und Repräsentierbarkeit des Erinnerungsraums einzieht. Im Gespräch mit Jacques Derrida zur prekär bleibenden Gestaltung eines solchen ›Museums‹ sagte er treffend und knapp: »Was man als Architekt in diesem Fall zu tun hat, ist, zu verhindern, dass die Leere sich auffüllt.«55

53 Bahr, Sprache des Gastes, S. 396. 54 Vgl. ebd., S. 445. 55 Daniel Libeskind, Radix-Matrix. Architekturen und Schriften, hg. von Alois Martin Müller, München/New York: Prestel 1994, S. 119.

Raum – Kunst – Pathos: Topologie bei Heidegger KATHRIN BUSCH

Heideggers Raumtheorie, die im Verlauf seines Denkens einen zunehmend gewichtigeren Stellenwert erlangt, gipfelt in der Rede von der »Ortschaft des Seins«. Mit diesem Bedenken des Ortes oder der Verortung des Seins erhält Heideggers Ontologie eine topologische Wendung. Steht in Heideggers Seinsdenken zunächst mit seinen Ausführungen zur Zeit als Horizont des Seinsverständnisses die Zeitlichkeit im Vordergrund, so verteilt sich spätestens mit der Rede von der »Topologie des Seins« die denkerische Aufmerksamkeit auf Zeit und Raum in gleichen Maßen. Von Bedeutung ist Heideggers topologischer Ansatz, weil er erlaubt, epochale Umbrüche im Raumdenken nachzuvollziehen und für die Geschichtlichkeit von Räumen sowie Raumordnungen zu argumentieren. Die Raumkünste nehmen in diesen Erörterungen einen besonderen Stellenwert ein. In Kunst und Architektur werden nach Heidegger ausgezeichnete Orte geschaffen, in die sich das Sein gibt, so dass sich aus seinem topologischen Ansatz auch Konsequenzen für die Kunsttheorie ziehen lassen. Der Topologie des Seins korrespondiert auf Seiten des Menschen die Offenheit für das Sein. Diese Ansprechbarkeit belegt Heidegger mit dem Begriff pathos. Verschiebt er damit zum einen das, was traditionell in der Affektenlehre unter Gefühl verstanden wird, so lässt sich zum anderen eine bisher übersehene Verbindung zwischen topos und pathos herstellen. Mit der Topologie des Seins erhält Heideggers Raumtheorie eine zunehmend pathische Akzentuierung, welche für die gegenwärtige Diskussion um Raum und Atmosphäre fruchtbar gemacht werden kann.

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1 Topologie des Seins Heidegger spricht mehrfach von einer »Topologie des Seins«. Zuerst in Aus der Erfahrung des Denkens, einer 1947 geschriebenen Sammlung von Aphorismen. Dort heißt es: »Aber das denkende Dichten ist in der Wahrheit die Topologie des Seyns. Sie sagt diesem die Ortschaft seines Wesens.«1 Topologie ist – ganz wörtlich verstanden – das Sagen des Ortes des Seins. Die Wahrheit des Seins wird also in einem räumlichen Sinn als Verortung des Seins gedacht. Ein zweites Mal erwähnt Heidegger den Begriff der Topologie in Zur Seinsfrage, wo er sein eigenes Vorhaben von demjenigen Ernst Jüngers in der Gegenüberstellung von ›Topographie‹ und ›Topologie‹ abgrenzt.2 Die topologische – im Unterschied zur topographischen – Betrachtung zeichne sich dadurch aus, nach dem »Wesensort« bzw. der »Ortschaft des Wesens«3 zu fragen. Mit dieser Hinwendung zur Topologie wird die bislang vorherrschende zeitliche Auszeichnung des Seins als Geschick und Ereignis durch das Moment der Verräumlichung ergänzt. Entsprechend formuliert Heidegger etwa in Der Satz vom Grund, ›Seinsgeschick‹ besage »Sichzuschicken der lichtenden Einräumung des Bereiches für ein Erscheinen des Seienden in je einer Prägung bei gleichzeitigem Entzug der Wesensherkunft des Seins als solchen«.4 So wie die Verortung des Seins geschichtlich ist, so muss sich das Seinsgeschick auch notwendigerweise verräumlichen. Heideggers Begriff des »Zeit-Raumes«5, den er in seiner Spätphilosophie verwendet, bezeugt diese Verklammerung von Geschichtlichkeit und Verortung. Als letzte Belegstelle sei auf Heideggers eigene Erläuterungen zu der Wendung »Topologie des Seins« in den Seminaren im Jahr 1969 in Le Thor verwiesen: Während in Sein und Zeit von »Sinn des Seins« die Rede war, habe er, weil das Seinsverständnis nicht als menschliche Leistung gedacht werden dürfe, nach der ›Kehre‹ von »Wahrheit des Seins« gesprochen. Aber auch diese Formulierung habe (auf Grund der Verwech1 2

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Martin Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens, Stuttgart: Neske 71996 [1954], S. 23. – »Seyn« meint bei Heidegger die Wahrheit oder den ›Sinn‹ von Sein. Während Jünger eine Topographie im Sinne einer Ortsbeschreibung des Nihilismus zeichne, gelte es, eine Topologie zu erarbeiten, um eine Erörterung desjenigen Ortes vorzulegen, »der Sein und Nichts in ihr Wesen versammelt« (Martin Heidegger, »Zur Seinsfrage«, in: ders., Wegmarken, Frankfurt a.M.: Klostermann 31996 [1967], S. 379-419 [1955], hier S. 406). Daran solle schließlich das Wesen des Nihilismus ersichtlich werden. Ebd., S. 408. Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen: Neske 71992 [1957], S. 150; kursiv, Verf. Vgl. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Gesamtausgabe, Bd. 65, Frankfurt a.M.: Klostermann 32003 [1989], S. 371ff. – Vgl. auch Paola-Ludovica Coriando, Der letzte Gott als Anfang. Zur ab-gründigen Zeit-Räumlichkeit des Übergangs in Heideggers ›Beiträgen zur Philosophie‹, München: Fink 1998.

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selung von ›Wahrheit‹ mit ›Richtigkeit‹) zu Missverständnissen geführt, die er mit dem Begriff der ›Topologie‹ habe beseitigen wollen, indem er nun von »Wahrheit als Örtlichkeit des Seins« spreche.6 – Und er ergänzt: »Das setzt allerdings schon ein Verständnis des Ortseins des Ortes voraus.«7 Wenn in diesen Formulierungen die zeitliche Bestimmung scheinbar ganz zurücktritt, dann, weil sowohl Zeit- als auch Raumauffassung ihrerseits im topologisch verstandenen Seinsgeschehen gründen. Obgleich Heidegger den Ausdruck »Topologie« vergleichsweise selten benutzt, lässt sich seine Spätphilosophie doch berechtigterweise in einer ›Topologie des Seins‹ bündeln.8 Denn auch das, was Heidegger »Lichtung« nennt, wird von ihm topologisch gedacht, insofern dieser Begriff bekanntlich nicht das Licht, sondern einen offenen Bereich und damit einen Ort bezeichnen will. Die Lichtung sei »das Offene für alles An- und Abwesende […], worin der reine Raum und die ekstatische Zeit […] den alles bergenden Ort«9 habe. Heideggers seinsgeschichtliches Denken gewinnt also in dem Maße die Gestalt einer Topologie, wie es nach der Ortschaft fragt, aus der das jeweils geschichtliche Seinsverständnis seine Bestimmung erhält bzw. das Einräumen eines geschichtlichen Seinsverständnisses bedacht wird. Die Rede von der Einräumung des Seins ist insofern als ›Topologie‹ zu bezeichnen, als die Ortschaft als Wesen des Seins das Dasein des Menschen, sein Bauen und Wohnen durchwirkt.10 Die Topologie bestimmt, wie sich der Mensch verortet oder besser – und darin liegt die Verknüpfung zu neueren topologischen Ansätzen – seinsgeschichtlich verortet wird. Die ereignishafte Lichtung des Seins vollzieht sich als Einräumung und prägt ihrerseits das Raumverständnis und die Räumlichkeit des Menschen. Im Unterschied zu anderen topologischen Ansätzen, wie sie derzeit im Rückgriff auf Leibniz an Aktualität gewinnen, ist allerdings hervorzuheben, dass es Heidegger nicht um eine Bestimmung von »Lagebeziehungen« geht, die unabhängig von ihrer »Materialität«11 wären. – Wie noch zu zeigen sein wird, eröffnet sich der Raum nach Heidegger gerade ausgehend von den jeweiligen Orten und Dingen, Kunst- oder Bau6

Die Verschiebung von der menschlichen Erschließung des Seins zum ereignishaften, das heißt unverfügbaren und geschichtlichen Seinsgeschick, welche die sogenannte ›Kehre‹ im Denken Heideggers ausmacht, ließe sich berechtigterweise auch als ›topological turn‹ bezeichnen. 7 Martin Heidegger, »Seminar in Le Thor 1969«, in: Seminare, hg. von Curd Ochwadt, Gesamtausgabe, Bd. 15, Frankfurt a.M.: Klostermann 22003 [1986], S. 326-371, hier S. 335. 8 Otto Pöggeler hat die These vertreten, das Spätdenken Heideggers lasse sich »zu einer Topologie des Seins« (Otto Pöggeler, »Heideggers Topologie des Seins«, in: ders., Philosophie und Politik bei Heidegger, Freiburg/München: Alber 21974 [1972], S. 71-104 [1969], hier S. 71) zusammenfassen. 9 Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen: Niemeyer 31988 [1969], S. 72f.; kursiv, Verf. 10 Vgl. Heidegger, »Zur Seinsfrage«, S. 416f. 11 Siehe Stephan Günzel in der Einleitung zu diesem Band, S. 22.

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werken. Eine gewisse Nähe zu den Ansätzen des topological turn lässt sich allerdings hinsichtlich der Bestimmung von Topologie als der Aufprägung einer Struktur auf eine Menge von Elementen geltend machen. Denn obwohl Heidegger den Begriff der Struktur nicht verwendet, ist doch die Verortung des Seins prägend für die geschichtlichen Raumordnungen und das jeweilige Raumdenken. Die Verortung des Seins aus dem Ereignis eröffnet Räumlichkeit in einem jeweils geschichtlichen Verständnis. Folgt man den Textstellen, an denen Heidegger von Topologie spricht, dann wird außerdem augenfällig, dass die Interpretation von Otto Pöggeler, dem das Verdienst zukommt, als erster auf Heideggers Rede von ›Topologie‹ hingewiesen zu haben, die Implikationen des Begriffs nicht ausgeschöpft hat. Pöggeler hat Topologie als »Ortsbestimmung« der Wahrheit des Seins verstanden, die sich »anhand einer Stellenlese, einer Sammlung der Leitworte und Leitsätze abendländischen Denkens«12 vollziehe. Heidegger selbst hat diese Auslegung in Briefen an Pöggeler zurückgewiesen. Aus dem bisher noch unveröffentlichten Briefwechsel geht hervor, dass die Verknüpfung von Topologie mit Topik und Toposforschung, die Pöggeler in verschiedenen Texten herstellt, nicht im Sinne Heideggers gewesen ist, der – sich vielmehr gegen diese Interpretation wendend – geantwortet hat, er habe den Titel »Topologie« wörtlich gebraucht: als das Sagen des Ortes der Wahrheit des Seins.13 Nicht nur aus Heideggers Skepsis, auch der Sache nach darf man schließen, dass Pöggelers Auslegung von Topologie, weil er ihre raumtheoretische Bedeutung vernachlässigt, zu kurz greift.14 Es geht Heidegger hier nicht um eine Lektüre der Topoi und Grundgedanken der Metaphysik, auch nicht um die ›Topik‹ als einer dialektischen Methode. Mit der Topologie als Frage nach der Ortschaft des Seins nimmt Heidegger vielmehr den Vorrang der Zeit vor dem Raum zurück, um stattdessen ihre Gleichursprünglichkeit als »Zeit-Spiel-Raum«15 zu unterstreichen. Diese Position bleibt für das Spätwerk bestimmend und wird von ihm vor allem in den Texten zur Raumkunst ausgeführt.

2 Raum Die Entwicklung von Heideggers Raumdenken ist durch mehrere Verlagerungen, wenn nicht gar Umbrüche gekennzeichnet: In Sein und Zeit analysiert er die Räumlichkeit ausgehend vom In-der-Welt-Sein des Daseins. 12 Otto Pöggeler, »Sein als Ereignis. Martin Heidegger zum 26. September 1959«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 13 (1959), S. 597-632, hier S. 630. 13 Martin Heidegger an Otto Pöggeler am 12. Dezember 1958. 14 So auch die Einschätzung von Emil Kettering, Nähe. Das Denken Martin Heideggers, Pfullingen: Neske 1987, S. 222. 15 Heidegger, Der Satz vom Grund, S. 129.

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Schon hier wendet sich Heidegger vom Konzept des unabhängig bestehenden Behältnisraumes zu Gunsten eines lebensweltlich erschlossenen Raumes ab. Die Analyse zielt auf den Raum, wie er dem Dasein zugänglich ist, und ist darin der phänomenologischen Raumtheorie verwandt. Sie unterscheidet sich von Letzterer aber insofern, als sie den Ausgangspunkt nicht bei der Leiblichkeit des Menschen oder seinem Raumerleben nimmt. Vielmehr erschließt sich aus der Weltbezogenheit des menschlichen Daseins dessen Räumlichkeit sowie die des zuhandenen Zeugs, wobei ›Welt‹ bei Heidegger bekanntlich den Bedeutungshorizont meint, innerhalb dessen Seiendes zugänglich ist. Durch Bewandtniszusammenhänge und Handlungsvollzüge ist Welt räumlich erschlossen. Entfernungen und Richtungen ergeben sich aus den jeweiligen praktischen Bezügen. Weil das innerweltlich begegnende Seiende, das Heidegger als Zeug bezeichnet, zunächst in Gebrauchszusammenhängen erscheint, ist es durch sein ›Zuhandensein‹ an Plätzen in Entsprechung zum praktischen Umgang mit ihm bestimmt. Dass die Dinge ›zur Hand sind‹, bedeutet im räumlichen Sinne ›Nähe‹: Sie sind nicht irgendwo vorhanden, sondern haben im Grunde ihren »Platz«,16 an den sie gehören und von dem her sie erscheinen. – »[A]lle Wo sind durch die Gänge und Wege des alltäglichen Umgangs entdeckt […].«17 Diese durch praktische Bezüge räumlich strukturierte Lebenswelt verortet sich nun aber nicht im Raum, so als würde sich eine Anordnung von praktischer Bedeutsamkeit in einem zuvor vorhandenen Raum abzeichnen, sondern sie richtet selbst gemäß ihrer spezifischen Weltlichkeit den Raum ein: »Die jeweilige Welt entdeckt je die Räumlichkeit des ihr zugehörigen Raumes.«18 Raum wird also durch die geschichtliche Lebenswelt artikuliert. Bemerkenswert ist demnach, dass »die spezifische Räumlichkeit des in der Umwelt begegnenden Seienden selbst durch die Weltlichkeit der Welt fundiert«19 ist. Zur jeweiligen Welt gehört eine je spezifische Räumlichkeit. Neben der Räumlichkeit des Zuhandenen wendet sich Heidegger auch der Räumlichkeit des menschlichen Daseins zu: »Nur weil Dasein in der Weise von Ent-fernung und Ausrichtung räumlich ist, kann das umweltlich Zuhandene in seiner Räumlichkeit begegnen.«20 Das Dasein gibt dem innerweltlich Seienden im Umgang mit ihm Raum, dieses Einräumen gehört zum Dasein: »Der Raum ist weder im Subjekt, noch ist die Welt im Raum. Der Raum ist vielmehr ›in‹ der Welt, sofern das für das Dasein konstitutive In-der-Welt-Sein Raum erschlossen hat.«21 Raum lässt sich nur innerhalb einer Welt, also in einem Sinnzusammenhang, entdecken und ist nur dank der Erschlossenheit des Daseins zugänglich. 16 17 18 19 20 21

Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 161986 [1927], S. 102. Ebd., S. 103. Ebd., S. 104. Ebd., S. 101f. Ebd., S. 110. Ebd., S. 111.

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Für die Wendung von der daseinsanalytischen Ausarbeitung der Seinsfrage in Sein und Zeit hin zum topologischen Ereignisdenken ist entscheidend, dass das Sein nach der Kehre nicht mehr als ›Horizont‹ aufgefasst wird, in dem Seiendes erscheint.22 Vielmehr kann nun die »zeiträumliche Gleichzeitigkeit für das Seyn und das Seiende«23 behauptet werden. Die geschichtliche Wahrheit des Seins wird durch das Seiende selbst eingerichtet und bestimmt nicht ihrerseits apriorisch deren Erscheinen. Und eben aus diesem Grunde, weil die Dinge, in denen das Sein sich gibt, ihrerseits verortet sind, ist der denkerische Ansatz von Heidegger in der Spätphilosophie als topologischer zu bezeichnen.

3 Ort Das mit »Topologie des Seins« Gemeinte findet sich, ohne als solches benannt zu werden, der Sache nach in Bauen Wohnen Denken dargelegt. ›Topologisch‹ ist das hier ausgeführte Raumdenken, weil Heidegger dem als Topos gedachten Ort die Kraft zuschreibt, dem »Geviert«,24 also dem, was man eine geschichtlich-kulturelle Lebenswelt nennen kann, eine »Stätte«25 einzuräumen. Lässt sich grob vereinfachend sagen, im »Geviert« werde Welt sinnhaft aufgeschlossen, dann ist für die Fruchtbarkeit des Heideggerschen Denkens hinsichtlich der topologischen Raumtheorie von Bedeutung, dass vermittels von Dingen, Bau- oder Kunstwerken Orte ausgezeichneter Welterschließung eingerichtet werden. Argumentiert bereits Sein und Zeit, dass nicht die Welt im Raum sei, sondern umgekehrt der Raum nur in einer bereits erschlossenen Welt zugänglich wird,26 so heißt es nun in analoger Weise, das Geviert räume allererst den Raum ein.27 Damit ist zum einen die These von der Geschichtlichkeit des Raumes verbunden, denn die jeweilige Raumauffassung bildet sich in Entsprechung zum jeweiligen Seinsverständnis aus. Hinzu kommt nun aber zum anderen, dass in den späteren Texten die sogenannte »Stätte des Gevierts« 22 Vgl. diesbezüglich grundlegend Pöggeler, »Sein als Ereignis«; und Günther Neumann, Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Raumauffassung bei Husserl und Heidegger, Berlin: Duncker & Humblot 1999, S. 252ff. 23 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, S. 13. 24 Heidegger prägt den Begriff »Geviert«, um das Zusammengehören von ›Erde‹, ›Himmel‹, ›Göttlichen‹ und ›Sterblichen‹ zu benennen. Aus ihrem Zusammenspiel heraus erschließe sich Welt. 25 Martin Heidegger, »Bauen Wohnen Denken«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Stuttgart: Neske 81997 [1954], S. 139-156 [1952], S. 148. – Heidegger hielt diesen Vortrag 1951 beim zweiten ›Darmstädter Gespräch‹ auf Einladung von Architekten. Der Text lässt sich als eine genaue Umschrift der Raumtheorie von Sein und Zeit nach Maßgabe der ›Kehre‹ lesen. 26 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 111. 27 Vgl. Heidegger, »Bauen Wohnen Denken«, S. 148.

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ihrerseits durch einen Ort »verstattet«28 ist. Hatte man die Raumtheorie aus Sein und Zeit noch für phänomenologisch halten können, da sie ihren Ausgangspunkt bei der alltäglich erfahrenen Räumlichkeit nimmt, so zeichnet sich in Bauen Wohnen Denken eine im strengen Sinne topologische Bestimmung ab, weil nun Orte welterschließende und raumgebende Funktion erhalten. Wenn die vereinfachende Übersetzung von »Schonen des Weltgevierts«29 in Freigabe einer geschichtlichen Lebenswelt erlaubt ist, dann ist das Entscheidende nun, dass diese Freigabe des geschichtlichen Seins einer verwahrenden Bergung in den raumzeitlichen Dingen bedarf, die ihrerseits Orte ausbilden.30 Die Gabe des Seins, der Zeit wie des Raumes ist also nicht vorgängig gegenüber dem Seienden, sondern geschieht nur in und vermittels hervorgebrachter und verorteter Dinge, Bau- oder Kunstwerke. Diese Einfaltung des Seins in das Seiende hatte Heidegger zwar bereits in seinem Aufsatz zum Ursprung des Kunstwerkes31 nahe gelegt, sie wird nun aber auf die Dingwelt32 sowie vor allem auf Bauwerke übertragen und in ihrem topologischen Sinn expliziert. Damit geht die These einher, dass sich Raum geschichtlich jeweils anders verräumlicht.

4 G e s c h i c h t l i c h k e i t vo n R ä u m e n – K r a f t d e r O r t e Bereits in seinem frühen Buch über Kant33 hat Heidegger einen Ansatz geliefert, um die Geschichtlichkeit des Raumes zu begründen. In Kritik an Kant formuliert er, der Raum als »die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne«34 dürfe nicht als gegeben vorausgesetzt werden. Anders als die Phänomenologie setzt Heidegger jedoch nicht bei der Leiblichkeit des Wahrnehmungssubjektes an, um die Konstitution der Raumerfahrung aufzuweisen. Vielmehr geht es Heidegger um den Nachweis, dass der Raum als reine Form aller äußeren Erscheinungen selbst noch durch die Einbildungskraft bestimmt ist. Der Raum als rein Vorgestelltes, worin Vorhandenes gegeben wird, müsse dagegen selbst schon ›offenbar‹ sein. Dieses »Offenbarmachen« oder »vorstellende Bilden«35 des reinen Raumes obliegt gemäß Heideggers Kantauslegung der zeitbezogenen reinen Einbildungskraft. Dies heißt zum einen, dass das Schema des Raumes als homo28 Ebd. 29 »Im Retten der Erde, im Empfangen des Himmels, im Erwarten der Göttlichen, im Geleiten der Sterblichen ereignet sich das Wohnen als das vierfältige Schonen des Gevierts.« (Heidegger, »Bauen Wohnen Denken«, S. 145.) 30 Vgl. ebd. 31 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart: Reclam 1960. 32 Vgl. Martin Heidegger, »Das Ding«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, S. 157-180 [1951]. 33 Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a.M.: Klostermann 51991 [1929]. 34 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781/1787), S. 26/42. 35 Heidegger, Kant, S. 200.

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gener Container selbst noch dem »vorgängigen Bilden«36 der Einbildungskraft geschuldet ist. Es besteht damit zum anderen die Möglichkeit, differenten Vorbildungen des Raumes stattzugeben. Der homogene Raum erscheint demnach als ein historisches Apriori, das auf Grund geschichtlicher Umbrüche der Veränderbarkeit unterliegt. In der Spätphilosophie verschiebt sich die Argumentation, insofern Heidegger die Vorgegebenheit des homogenen Raumes nun nicht mehr ausgehend vom Vermögen des Subjekts, sondern vom räumlich Gegebenen befragt.37 Der Raum sei nicht ein bloßer Behälter, sondern sei »an die ›in‹ [ihm] erscheinenden Phänomene gebunden«.38 Heidegger hat dieses Vermögen der Raumkonstitution insbesondere den Raumkünsten wie Architektur und Plastik zugeschrieben. Raumgebend ist demzufolge nicht mehr die Einbildungskraft, sondern Werke, Gebäude oder Dinge. Ihnen kommt es zu, Orte auszubilden, die ihrerseits Raum freigeben. Raum, so die Grundeinsicht Heideggers, muss durch Orte eingeräumt werden.39 Damit wird allerdings die Ebene der transzendentalphilosophischen Begründung verschoben, denn es ist weder die Einbildungskraft noch sind es die reinen Formen der Anschauung, welche hier raumgebend und raumformierend sind, sondern die Dinge und ihre Orte, denen dadurch eine transzendental-empirische Zwischenstellung zukommt. In einer bemerkenswerten Einfaltungsbewegung wird das ›Ding‹ als Orte ausbildend in das schon Anwesende gebracht, welches jedoch allererst durch diesen Ort eingeräumt und offenbar wird. Ausgehend von Orten wird die Umgebung räumlich erschlossen und bedeutungsmäßig zugänglich.40 Heidegger will damit die Geschichtlichkeit des Seinsverständnisses und die Veränderbarkeit unseres Weltverhältnisses mit seinen jeweiligen Raumvorstellungen zum Ausdruck bringen. Mit der beschriebenen Einfaltung, wonach sich die Eröffnung des Raumes durch die künstlerische oder architektonische Einrichtung von Orten vollzieht, wird für die Ereignishaftigkeit und Veränderbarkeit des Raumes argumentiert.41 36 Ebd., S. 145. 37 Heidegger schreibt ausdrücklich: »der Raum ist […] keine nur subjektive Weise des Anschauens; er ist aber auch nichts Objektives wie ein Gegenstand.« (Martin Heidegger, Bemerkungen zu Kunst – Plastik – Raum, hg. von Hermann Heidegger, St. Gallen: Erker 1996, S. 15.) 38 Michael Scholl/Georg Christoph Tholen, »Einleitung«, in: DisPositionen. Beiträge zur Dekonstruktion von Raum und Zeit, hg. von dens., Kassel: Gesamthochschule 1996, S. 7-21, hier S. 16. 39 Vgl. Georg Christoph Tholen, »Der Ort des Raums. Heideggers KantLektüre und ihre Aktualität«, in: Bauen und Wohnen. Martin Heideggers Grundlegung einer Phänomenologie der Architektur, hg. von Eduard Führ, Münster/New York/München/Berlin: Waxmann 2000, S. 79-98, bes. S. 93. 40 In analoger Weise hat Heidegger die raumerschließende Wirksamkeit im Kunstwerk-Aufsatz am Beispiel des griechischen Tempels beschrieben. (Vgl. Heidegger, Ursprung des Kunstwerkes, S. 37ff.) 41 Zu den Bezügen zwischen »Bauen, Wohnen, Denken« und Heideggers Ereignis-Denken vgl. Günther Neumann, »Die Ursprungsordnung von Orten und mathematischen Räumen in Heideggers Vortrag ›Bauen Wohnen Den-

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Als ein durch Orte gegliederter Raum unterliegt dieser historischen Umbrüchen und soll nach Heidegger selbst als das Geschehnis der Verräumlichung gedacht werden. – Damit tritt die Geschichtlichkeit von Raum und Raumordnungen hervor und es kann einsichtig werden, dass sich durch Kunst und Architektur Raumformen transformieren und sich Räume verschiedener Verortungen ausbilden.42 Für diese Argumentation ist die Unterscheidung von ›Raum‹ und ›Ort‹, wie Heidegger sie im Rückgriff auf Aristoteles entwickelt hat, maßgeblich.43 Orte sind in diesem Sinne verstanden vorrangig keine lokalisierbaren Stellen im Raum, vielmehr bilden Dinge Orte aus und »verstatten« als solche »jeweils erst Räume«.44 Im Sinne der heideggerschen Topologie kann daher formuliert werden, das Sein, aber auch Zeitlichkeit und Räumlichkeit erleiden von den (Orte ausbildenden) Dingen her ihr Gefüge. – Den Orten eignet hier also ganz im Sinne von Aristoteles eine Wirksamkeit,45 die man als ›raumgebende Kraft‹ bezeichnen kann. Heidegger bezweifelt nicht, dass es bereits vor der dinglichen Einrichtung von Orten besetzbare Stellen gegeben habe, aber ein räumliches Gefüge – und hier kommt eine phänomenologische Betrachtungsweise zum Zuge –, ein gelebter, orientierter und durch Bedeutsamkeiten strukturierter Raum entsteht erst durch die Dinge und die durch sie eröffneten Relationen. Von dieser umsichtig orientierten »Platzganzheit«46 mit ihren Nähen und Fernen kann selbstverständlich abstrahiert werden. Mit solcher »Entweltlichung«47 tritt der Raum als Zwischenraum oder Abstand zu Tage, will sagen: der homogene, messbare Raum, der – wird er einer weiteren Abstraktion unterzogen – als dreidimensionaler Behältnisraum und schließlich als mathematisch-mehrdimensionaler Raum erscheinen kann. Mit dem topologischen Ansatz können die verschiedenen Raumverständnisse in ihrer Genese erläutert und daraufhin befragt werden, was etwa das

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ken‹«, in: Heidegger Studies 11 (2005), S. 35-56. – Zur Rezeption von Heidegger in der Architekturtheorie vgl. den Sammelband Bauen und Wohnen. Martin Heideggers Grundlegung einer Phänomenologie der Architektur, hg. von Eduard Führ, Münster/New York/München/Berlin: Waxmann 2000, darin bes. den Aufsatz von Ullrich Schwarz, »Dis-location. Aspekte der architekturtheoretischen Rezeption Heideggers zwischen ›Ort‹ und ›Ereignis‹«, S. 121-138; sowie Bauen, Wohnen, Denken. Martin Heidegger inspiriert Künstler, hg. von Hans Wielens, Münster: Coppenrath 1994. Von hier aus lassen sich Bezüge herstellen zu Michel Foucaults Überlegungen in Von anderen Räumen von 1967. – In diesem Sinne argumentiert auch Georg Christoph Tholen im Beitrag zu diesem Band. Vgl. Heidegger, Bemerkungen zu Kunst, S. 10f. Heidegger, »Bauen Wohnen Denken«, S. 156. Vgl. Martin Heidegger, Platon: Sophistes (Marburger Vorlesung Wintersemester 1924/25), hg. von Ingeborg Schüßler, Gesamtausgabe, Bd. 19, Frankfurt a.M.: Klostermann 1992, S. 105f. – Heidegger entwickelt hier eine detaillierte Lektüre vom 5. Buch der Aristotelischen Physik. Heidegger, Sein und Zeit, S. 112. Ebd.

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Raumerleben, den Handlungsraum, aber auch den messbaren und mathematischen Raum bedingt. Heidegger geht nun allerdings nicht nur davon aus, dass das Geviert durch die Dinge und ihre Orte eingeräumt wird. Er meint, dass das Geviert seinerseits für das Bauen, also für die ›Einrichtung‹ von raumgebenden Orten, bestimmend ist.48 Die geschichtlichen Veränderungen in der Architektur werden gleichsam aus dem »Zuspruch des Gevierts«49 begründet, dem das Bauen zu ›entsprechen‹ habe. Zum einen sind Räume stets schon ›eingeräumt‹ – man findet sich bereits in einer räumlich strukturierten Welt vor –, zum anderen können Kunst und Architektur andere Räume stiften und damit Veränderungen und Umbrüchen stattgeben. Würde man hier weiterfragen, was die Einrichtung neuer Orte bedingt, geriete man in einen infiniten Regress. Heidegger hat mit dem Begriff des »Ab-grunds«50 verschiedentlich darauf hingewiesen: Das, von dem her sich die Umbrüche im Sein ergeben, hat selbst nicht den Charakter eines Grundes und ist nicht durch eine neue Ortsangabe zu beantworten.51

5 Wohnen: Befinden im Raum Während zum einen die Verortung des Seins und die Freigabe des Raumes durch Dinge und Bauwerke thematisiert wird, so widmet sich Heidegger zum anderen dem Verhältnis von Mensch und Raum, das er als »Wohnen« bezeichnet. Der Begriff wird von Heidegger in einem ausgesprochen weiten Sinne gebraucht und bezeichnet die spezifische Räumlichkeit des Menschen. Schon in Sein und Zeit findet sich diese Verwendung, wenn das ›Inder-Welt-Sein‹ des Daseins als ›Wohnen‹ bezeichnet wird, wobei sich sowohl Bezüge zwischen Wohnen und Gewohnheit ergeben, als auch das stimmungshafte Eingelassensein in die räumlich erschlossene Welt, das Befinden, relevant wird.52 Bereits ›In-der-Welt-Sein‹ hat einen räumlichen Sinn: So wie man richtiggehend darauf verweisen muss, dass das In-Sein des Menschen in der Welt nicht bedeuten kann, dieser befinde sich im Raum wie das »Wasser ›im‹ Glas«,53 dass vielmehr ein durch den alltäglichen Umgang ausgebildetes Vertrautsein mit dem innerweltlich Seienden

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Heidegger, »Bauen Wohnen Denken«, S. 153. Ebd., S. 154. Heidegger, Der Satz vom Grund, S. 185. In diesem Sinne ist auch der Begriff »Heimatlosigkeit« am Ende von Bauen Wohnen Denken zu verstehen. – Dort heißt es: Heimatlosigkeit sei »der einzige Zuspruch, der die Sterblichen in das Wohnen ruft« (Heidegger, »Bauen Wohnen Denken«, S. 156). 52 Zum Zusammenhang von Wohnen und Gestimmtheit bei Heidegger vgl. auch Neumann, »Ursprungsordnung von Orten«, S. 41. 53 Heidegger, Sein und Zeit, S. 54.

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das In-der-Welt-Sein strukturiert,54 so schließt dies gleichwohl einen Verweis auf die Räumlichkeit des Daseins mit ein. Denn ›In-Sein‹ heißt auch, dass sich die Existenz in ihren Vollzügen verräumlicht und raumbezogen ist. Das ›In-der-Welt-Sein‹, insofern es die Vertrautheit mit der Welt als ein Gefüge von Bedeutsamkeiten meint, kann jenseits einer bedeutungshaft erschlossenen und gegliederten Räumlichkeit nicht gedacht werden. Diese Verschränkung von gewohnter Vertrautheit mit der Welt und Raumbezogenheit des Daseins soll im Begriff des ›Wohnens‹ zum Ausdruck kommen. Übertragen auf die topologische Wendung der Spätphilosophie heißt dies, dass die ereignishafte Verortung des Seins den Menschen bis in sein räumlich-leibliches Dasein bestimmt. Weil Heidegger Mensch und Raum auf das Engste verbindet – der Raum sei kein Gegenüber, es gebe nicht den Menschen und zusätzlich noch den Raum –, deshalb prägt der Raum das Wohnen und damit das Dasein in seinem Weltbezug.55 Dass Architekturen und Raumordnungen wirksamer als alles andere Gewohnheiten etablieren, ist nun aber nicht nur hinsichtlich eingefleischter Handlungsvollzüge und Praktiken bezeugt, sondern lässt sich ebenso für Stimmungen und Atmosphären zeigen: In Sein und Zeit hat Heidegger entwickelt, dass für das In-der-Welt-Sein des Menschen die befindliche Gestimmtheit unhintergehbar ist. Der ›gestimmte Raum‹ ist demnach nicht eine Raumform neben dem Handlungs- oder Anschauungsraum,56 vielmehr ist die befindliche Gestimmtheit grundlegend für alle Raumformen. Um zu erläutern, in welchem Sinne dies zu verstehen ist, soll zunächst an die Analyse der Befindlichkeit in Sein und Zeit erinnert werden, um sodann auf den Stellenwert des pathos in der Spätphilosophie einzugehen.

6 P a t h o s : vo n d e r S t i m m u n g z u m › Au ß e r - s i c h - S e i n ‹ In Sein und Zeit ist Befindlichkeit neben dem Verstehen eine der beiden Seinsweisen des Daseins, durch welche die Welt aufgeschlossen ist. Befindlichkeit meint die Gestimmtheit des Bezugs zur Welt, zu anderen und zu sich selbst.57 Man kann daher mit Recht sagen, dass die gesamte Zu54 Zum räumlichen Sinn der Befindlichkeit vgl. Rainer Thurnher, »Vom Befinden des Menschen im Raum«, in: Daseinsanalyse. Jahrbuch für phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie 12 (1995), S. 95-109. 55 Vgl. Heidegger, »Bauen Wohnen Denken«, S. 153. 56 Dies vertritt beispielsweise Ludwig Binswanger, »Das Raumproblem in der Psychopathologie«, in: Zeitschrift für Neurologie 145 (1933), S. 598-647; und daran anschließend Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer 102004 [1963]. 57 Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Subjekt und Dasein. Interpretationen zu ›Sein und Zeit‹, Frankfurt a.M.: Klostermann 21985 [1974], S. 176. – Zu Heideggers Theorie der Stimmung vgl. außerdem Klaus Held, »Grundstimmung und Zeitkritik bei Heidegger«, in: Zur philosophischen Aktualität Hei-

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gänglichkeit zum Seienden gestimmt ist: »Gestimmtheit und Bezogensein sind in sich eines.«58 Sobald man in der Welt ist, befindet man sich in einer Stimmung. Daher muss »ontologisch grundsätzlich die primäre Entdeckung der Welt der ›bloßen Stimmung‹ überlassen«59 werden. Steht zwar in Sein und Zeit eine alltägliche, an praktischen Lebensvollzügen orientierte Welterschließung im Vordergrund, so ist doch angesichts des Stellenwerts der Befindlichkeit evident, dass auch das umsichtig-besorgende Begegnenlassen des innerweltlich Seienden ein gestimmtes ist. Demnach wird mit dem Begriff der Stimmung die philosophische Affektenlehre grundlegend verschoben. Stimmung meint nicht eine gesonderte Gefühlswelt, die neben Handeln und Denken eine eigene Sphäre ausbildet, sondern sie umfasst die Art und Weise des In-der-Welt-Seins als Ganzes und schließt damit auch die Räumlichkeit des Daseins mit ein.60 Befindlichkeit bezeichnet die Möglichkeit, dass sich das Dasein von den Dingen angehen und in seinem Gefühl affizieren lässt und konstituiert daher »existential die Weltoffenheit des Daseins«.61 Die Reichweite der Befindlichkeit ist bei Heidegger deckungsgleich mit derjenigen der Offenständigkeit und Bestimmbarkeit: »Der Mensch hält sich bei dem auf, was ihn angeht.«62 Insofern die Befindlichkeit eine der Weisen der Erschlossenheit darstellt, vollzieht sich zudem eine prinzipielle Umwertung des Gefühls. Der Befindlichkeit, nicht der Erkenntnis, wird die primäre Funktion bei der Erschließung von Welt zugetraut, wobei im Gestimmtsein die Geworfenheit des menschlichen Daseins in eine geschichtliche Welt und ein konkretes Hier und Jetzt zugänglich wird. Das Dasein ist als Geworfenes in eine jeweilige geschichtliche, kulturelle und soziale Welt mit ihren jeweiligen Bedingt- und Begrenztheiten hineingeboren und diese ist dem Dasein zunächst qua Befindlichkeit aufgeschlossen, bevor sie zum Gegenstand der Erkenntnis wird. Stimmungshaft begegnet all dasjenige, dem das Dasein ohne sein Zutun ausgesetzt ist, das es nicht entworfen hat und das es zunächst erleidet. In diesem Sinne knüpft Heidegger mit dem Begriff der Stimmung an die beiden Grundbedeutungen von pathos in der Doppelgestalt von Passivität und Gefühl an. Sich in einer Stimmung zu befinden, meint passiv bestimmt worden zu sein und in dieser gestimmten Zuständlichkeit Seiendes zu entdecken.

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deggers, hg. von Dietrich Papenfuss und Otto Pöggeler, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Klostermann 1991, S. 31-56; Hinrich Fink-Eitel, »Die Philosophie der Stimmungen in Heideggers ›Sein und Zeit‹«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 17 (1992), S. 27-44; und Paola-Ludovika Coriando, Affektenlehre und Phänomenologie der Stimmungen. Wege einer Ontologie und Ethik des Emotionalen, Frankfurt a.M.: Klostermann 2002. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare. Protokolle – Zwiegespräche – Briefe, hg. von Medard Boss, Frankfurt a.M.: Klostermann 32006 [1987], S. 251. Heidegger, Sein und Zeit, S. 138. Vgl. ebd., S. 136. Ebd., S. 137. Heidegger, Zollikoner Seminare, S. 273.

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Anders als in der philosophischen Affektenlehre erhält die Stimmung bei Heidegger also zum einen welt-erschließenden Charakter – sie »macht ein Sichrichten auf […] allererst möglich«63 und wird der betrachtendtheoretischen Bezugnahme auf Seiendes vorgeordnet. Zum anderen wird aber nicht nur der philosophiegeschichtlich verankerte Vorrang der Vernunft vor der Sinnlichkeit zurückgenommen, es wird überhaupt der Gegensatz von Ratio und Affekt fragwürdig,64 also die Aufspannung des Menschenwesens zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, Körper und Geist.65 Ein weiterer Unterschied zur Tradition lässt sich darin erkennen, dass die Verortung des Gefühls im Innen- oder Seelenleben, die für die neuzeitlichen Affekttheorien maßgeblich ist, nicht mitvollzogen wird.66 Heidegger unterstreicht vielmehr, dass durch die Offenheit, welche sich in der Befindlichkeit einstellt, das Dasein ›außer sich‹ gerät im Sinne der Transzendenz oder ›Ek-stase‹. – Dies freilich in einem ganz unpathetischen Sinne verstanden, nämlich als das stimmungsmäßige Draußensein in einer erschlossenen Welt: »[D]as Gefühl ist jene Grundart unseres Daseins, kraft deren und gemäß der wir immer schon über uns weggehoben sind in das so und so uns angehende und nicht angehende Seiende im Ganzen. Stimmung ist nie ein bloßes Gestimmtsein in einem Innern für sich, sondern ist zuerst ein so und so sich Be-stimmen- und Stimmenlassen in der Stimmung. Die Stimmung ist gerade die Grundart, wie wir außerhalb unserer selbst sind. So aber sind wir wesenhaft und stets.«67

Das wäre nun freilich ohne eine leibliche Verräumlichung schlechterdings nicht möglich: Die Befindlichkeit ist als gestimmte zugleich auch notwendigerweise räumlich. – Wenn nun mit der sogenannten Kehre die Transzendenz des Daseins zu Gunsten der Transzendenz des Seins zurücktritt, dann verstärkt sich mit dieser Wendung einmal mehr die passivische Dimension des Bestimmtwerdens. Bereits in Sein und Zeit heißt es: »Die Stimmung überfällt.«68 Denn in der Stimmung zeigt sich die Welt als an-

63 Heidegger, Sein und Zeit, S. 137. 64 Dies wird vor allem in den Texten ab 1930 deutlich: Grundbefindlichkeiten sind nun nicht mehr – wie noch in Sein und Zeit – Angst und Langeweile, in den Vordergrund rücken eher denkerische Stimmungen wie Erstaunen oder Scheu. (Vgl. Romano Pocai, Heideggers Theorie der Befindlichkeit. Sein Denken zwischen 1927 und 1933, Freiburg/München: Alber 1996, S. 20.) 65 Das damit einhergehende Umdenken des Leibes findet sich in Ansätzen in den Zollikoner Seminaren skizziert. (Vgl. Cathrin Nielsen, »Pathos und Leiblichkeit. Heidegger in den Zollikoner Seminaren«, in: Phänomenologische Forschungen 8 (2003), S. 149-169.) 66 Die Lokalisierung von Gefühl und Empfindung im Inneren des Menschen legt stattdessen schon eine bestimmte Raumvorstellung zugrunde: dass der Körper den Behälter für die Seele bilde. 67 Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, Stuttgart: Neske 61998 [1961], S. 100. 68 Heidegger, Sein und Zeit, S. 136.

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gehende und nicht als entworfene.69 Im Verlauf der Spätphilosophie zeichnet sich zunehmend ab, dass das In-Anspruch-genommen-Sein durch das Sein den Charakter der »Betroffenheit«70 hat. Ihr korrespondiert auf Seiten des Menschen eine Ansprechbarkeit, die weder gewählt noch willentlich gemacht ist und deshalb den Charakter der Passivität trägt: »Wir übersetzen pathos gewöhnlich durch Passion, Leidenschaft, Gefühlswallung. Aber pathos hängt zusammen mit paschein, leiden, erdulden, ertragen, austragen, sich tragen lassen von, sich be-stimmen lassen durch.«71

Heidegger erläutert pathos als Stimmung am Beispiel des Erstaunens und des Zweifels, also den philosophischen Widerfahrnissen schlechthin, und unterstreicht damit die pathische Fundierung des Denkens.72 Zugleich wird mit dem nun verwendeten Begriff der ›Grundstimmung‹ eine geschichtliche Dimension eingeführt.73 Es gibt epochal verschiedene Einstimmungen in die jeweils verschiedenen geschichtlichen Grundstellungen. Es kann also festgehalten werden, dass ›Stimmung‹ Heideggers Übersetzung von pathos ist, wobei er zum einen das Moment des Erleidens in der ›Be-stimmtheit‹ unterstreicht und mit dieser zum anderen die Einstimmung in eine geschichtliche Welt verbindet. Diese vermittelt sich nicht nur im Denken, sie wird auch in den Werken der Kunst transportiert. In den Künsten ist diese Gestimmtheit eigens thematisch – insofern sich hier explizit ein »Erschließen durch Befindlichkeit«74 vollzieht.

7 Gestimmter Raum: Kunst und Pathos Heideggers Kunstphilosophie ist bekanntlich von der Absicht getragen, die philosophische Ästhetik in ihrer Zugehörigkeit zur Metaphysik und der für sie grundlegenden Subjekt-Objekt-Relation als unzureichend zurückzuweisen. Damit scheint auch das Gefühl und sinnliche Erleben für Heideggers am Wahrheitsbegriff ausgerichtete Überlegungen zur Kunst unbedeutend zu sein. Interessanterweise kommt Heidegger dennoch in dem der 69 Daher kann man zu Recht behaupten, die Stimmungsanalyse aus Sein und Zeit habe die Wende zum Seinsdenken der Spätphilosophie vorbereitet. (Vgl. Held, »Grundstimmung«, S. 36.) 70 Heidegger, Zollikoner Seminare, S. 230. 71 Martin Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, Stuttgart: Klett-Cotta 11 2003 [1956], S. 26. 72 Mit dem Begriff des Pathischen soll an die beiden genannten Grundbedeutungen von pathos angeknüpft werden. (Vgl. zu diesem Begriff grundsätzlich Bernhard Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002.) 73 Vgl. Heideggers Ausführungen zu den verschiedenen Grundstimmungen in der Geschichte der Philosophie in Was ist das – die Philosophie?, S. 24-28. 74 Herrmann, Subjekt und Dasein, S. 188.

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Raumkunst gewidmeten Text der Spätphilosophie Bemerkungen zu Kunst – Plastik – Raum an exponierter Stelle auf die Frage der Stimmung zu sprechen: Die Kunst sei weder Darstellung dessen, was ist, noch Ausdruck seelischer Zustände, sondern sie bestimme den Menschen und stimme ihn in eine Grundstimmung ein.75 Berücksichtigt man die erwähnten Ausführungen zu Befindlichkeit und pathos, dann dürfte deutlich sein, dass Heidegger hier nicht ein ästhetisches Erleben angesichts eines Kunstwerks meint, sondern eine Stimmung, in der das Seiende und eine geschichtlichkulturelle Welt zugänglich werden. Kunst vollzieht nach der späten Kunstlehre die besagte Einlassung in eine geschichtliche Grundstimmung. – Oder anders gesagt: die Wahrheit im Sinne der Weltoffenheit ereignet sich durch eine solche Bestimmung vermittels der Künste. Vergleicht man diese Formulierung mit den Ausführungen in Der Ursprung des Kunstwerkes, dann fällt ins Auge, dass mit der Ergänzung des Begriffs der Wahrheit – der freilich schon hier gegen eine intellektualistische Verengung verteidigt werden muss – durch den der Stimmung die Dimension des Pathischen für die Kunst geltend gemacht wird. Heidegger verbannt also keineswegs das ›Gefühl‹ aus den Künsten, es gewinnt vielmehr einen zentralen Stellenwert: Die geschichtsstiftende Dimension, die Heidegger der Kunst zuschreibt, geschieht durch ›Stimmung‹, indem die Kunst in eine neue geschichtliche Grundstimmung zu versetzen vermag. Das Moment des Pathischen erhält in den Raumkünsten eine zusätzliche Verstärkung dadurch, dass Heidegger die ereignishafte Dimension des Raumes herausstellt, indem er formuliert: »Der Raum ist Raum, insofern er räumt.«76 Wenn er zugleich unterstreicht, dass der Mensch den Raum nicht macht, zeigt sich auch hier der Charakter der Passivität. Die pathische Dimension der Stimmung verbindet Heidegger bekanntlich seit Sein und Zeit mit dem Unheimlichen. Kraft der Stimmung wird der Ab-grund des Seins offenbar,77 da durch die Befindlichkeit »die unerbittliche Rätselhaftigkeit«78 der Geworfenheit des Daseins – sein Dass es ist –79 zugänglich wird. In diesem Sinne sind auch die geschichtlichen Grundstimmungen in ihrem pathischen Charakter unheimlich oder in dem bereits erwähnten Sinne ›ab-gründig‹, da sie sich einem seinerseits nicht verfügbaren Zuspruch verdanken. Hier nun besteht eine bedenkenswerte Analogie zur Wirksamkeit der Kunst.80 Auch das Werk versetze vor das 75 So habe die antike Tragödie den griechischen Menschen in die Stimmung der Scheu vor dem was ist versetzt. (Vgl. Heidegger, Bemerkungen zu Kunst, S. 6.) 76 Ebd., S. 14. 77 Vgl. Coriando, Affektenlehre, S. 133. 78 Heidegger, Sein und Zeit, S. 135. 79 Vgl. ebd., S. 134. 80 Zum Verhältnis von Befindlichkeit und Kunst vgl. Martin Weiß, »Der Stoß der Kunst und die Stimmung der Angst. Einige Bemerkungen zur Rolle der Befindlichkeit in Heideggers Kunstauffassung«, in: Orte des Schönen. Phä-

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›Dass es ist‹. Die Kunst stoße das »Ungeheure« auf und »das bislang geheuer Scheinende«81 um. Durch sie sind wir »jäh anderswo […] als wir gewöhnlich zu sein pflegen«.82 Die damit einhergehende Unheimlichkeit der Kunst rückt uns aus den alltäglichen Bezügen des besorgenden Umgangs mit dem Seienden heraus und in eine neue Bedeutsamkeit ein. Für die Raumkünste kommt nun hinzu, dass durch die Eröffnung anderer räumlicher Bezüge nicht nur das jeweils Vertraute außer Kraft gesetzt und eine neue Räumlichkeit gestiftet wird, sondern zugleich die raumgebende Kraft der Orte sowie der Verortungen des Seins in ihrer Unverfügbarkeit als unheimlich aufscheint. Dass der Mensch nicht über den Raum verfügt, vielmehr den Orten eine Wirksamkeit bezüglich des Menschen zuzuerkennen ist, wird im Kunstwerk offenbar. Die Kunst rückt die Tatsache in die Wahrnehmbarkeit, dass der Raum in seiner jeweiligen geschichtlichen Fügung das menschliche Dasein bestimmt. Die Kunst erschließt daher das Unheimliche als eine Dimension der Topologie des Seins. Heideggers in Sein und Zeit entwickelte Theorie der Stimmung ist für seine kunstphilosophischen Texte der Spätphilosophie grundlegend, zumal der Zusammenhang von Befindlichkeit und Verräumlichung für die Raumkünste von außerordentlicher Bedeutung ist. Wenn die Raumkünste außerdem die Verortungen des Seins im Sinne der Topologie einrichten, dann liegt nur nahe, dass sich das jeweilige geschichtliche Seinsverständnis kraft Einstimmung vollzieht. Die Raumkünste sind in besonderem Maße geeignet, die Einlassung in eine geschichtliche Grundstimmung zu leisten, weil sich über die mit dem Begriff des ›Wohnens‹ explizierte Verknüpfung von Befindlichkeit und Gewohnheit die Raumbezogenheit des Menschen mit der Topologie des Seins verschränkt. Die Topologie des Seins ist daher von der Theorie der Stimmung im Sinne von pathos nicht zu trennen. Wird mit der topologischen Perspektive auf das Sein erhellt, wie die Geschichtlichkeit von Räumen zu denken ist, so wird über die Theorie der Stimmung begründet, wie die Menschen in diese geschichtlichen Verortungen des Seins eingelassen sind. Als Kritik an Heideggers Entwurf kann man allerdings geltend machen, dass mit der ›Topologie des Seins‹ als räumlich-verortetes Seinsgeschick die Möglichkeit eigensinniger Orte, die gegenüber einer geschichtlichen Grundstimmung heterogen verbleiben, vernachlässigt wird: Gegen die von Heidegger seit dem Aufsatz über den Ursprung des Kunstwerkes vertretene These, dass die Bedeutung großer Kunst geschichtsbildend sei, ist einzuwenden, dass gerade in der Einrichtung singulärer, abweichlerischer Raumentwürfe die Bedeutung der zeitgenössischen Kunstwerke besteht. – In Bezug auf die derzeitigen Diskussionen um Raumkunst und nomenologische Annäherungen, hg. von Reinhold Esterbauer, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 327-351. 81 Heidegger, Ursprung des Kunstwerkes, S. 66f. 82 Ebd., S. 29.

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Atmosphäre hat die pathisch verstandene Topologie jedoch den Vorteil, die unhintergehbare Eingelassenheit des Menschen in den Raum theoretisch zu begründen.83 Für die Raumbezogenheit des Menschen gilt prinzipiell das, was unter dem Begriff der ›Atmosphäre‹ verhandelt wird, wenn damit das ›Eintauchen‹ in die Räume der Kunst – seien es raumgreifende Installationen, seien es architektonische Werke – gemeint ist. Mit Heideggers topologischem Ansatz lässt sich diese sowohl pathische als auch geschichtliche Einlassung in den Raum als grundlegend für den Raumbezug des Menschen darstellen, der Vorteil seiner Überlegungen besteht allerdings darin, die räumliche Atmosphäre nicht nur in ihrer stimmungshaften, sondern auch notwendig unheimlichen Dimension zu bedenken.

83 Zur Diskussion um ›Raum‹ und ›Atmosphäre‹ vgl. die Themenhefte »Konstruktion von Atmosphären«, Daidalos 68 (1998) und »Die Produktion von Präsenz«, archplus 178 (2006), sowie Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre, München: Fink 2006.

II Anfänge der Topologie

Über Links und Rechts und S ymmetrie im Barock KARIN LEONHARD

1 M i t S c hw u n g ! Die gekrümmten Räume und geschwungenen Treppen der barocken Architektur, die kartesisch motivierte Wirbeltheorie, die Entdeckung der planetarischen Rotation auf elliptischen Bahnen, die mathematische Vorliebe des 17. Jahrhunderts für Kegelschnitte und Kurvenberechnungen – sie alle beruhen auf einer hochgradig paradoxen Topologie. Bei ihnen handelt es sich um kontinuierliche Verlaufsformen um einen zentralen Punkt oder eine Mittelachse, doch schlingernd, das heißt mit Tendenz zum Ungleichgewicht, zum Ausbruch, genauer, Symmetriebruch. Meist äußert sich diese Paradoxie in einer offengelegten Spannung zwischen zentripetalem Gehorsam und Fliehkraft, zwischen Anziehung und Eigendynamik, und das Resultat ist eine Kreiselbewegung, sein symbolischer Körper ein Kegel mit infinitesimal zu- oder abnehmender Geschwindigkeit. Die rotierende Bewegung kann zu Taumel und Schwindelgefühl führen, weil sie kontinuierlich in eine Richtung verläuft: entweder im oder gegen den Uhrzeigersinn; eine Links- oder Rechtskurve beschreibend. Im 17. Jahrhundert entwickelte sich die Definition solcher Bewegungsrichtungen zum Problem. Mit ihm verwandt ist ein anderes Problem und eine andere barocke Diskussion um das Verhältnis von Räumlichkeit und Temporalität: Die noch junge Kategorie ›Raum‹ wird dynamisiert, ihr wird ein Zeitpfeil eingepflanzt. Das mechanische Weltenuhrwerk wird aufgezogen, nimmt seinen Lauf und entfaltet Weltgeschichte. Dabei ist die Verschwisterung von Raum und Zeit eine nicht ganz einfache Allianz mit weitreichenden Folgen für die Rekonstruktion menschlicher Geschichts-, Wahrnehmungs- und Kognitionsprozesse. Nicht zuletzt bereitete sie die evolutionären Modelle der historischen Wissenschaften, der Geistes- und Naturwissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts vor; als Allianz zwischen ungleichen Geschwistern verstanden legte sie dagegen ein neues

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Fundament für die Unterscheidung zwischen einer geometrisierbaren Außen- und einer subjektiven Erfahrungswelt. Abbildung 1: Rembrandt Harmenszoon van Rijn: Conus marmoreus, Radierung, 1650. Im Mittelpunkt der folgenden Seiten wird eine Radierung Rembrandts stehen – die Darstellung einer Muschelschnecke (conus marmoreus), mit 1650 datiert (Abb. 1). Es ist eine ungewöhnliche Darstellung, allein der Präsentation einer bislang kaum beachteten zoologischen Spezies gewidmet. Der Conus bildet sich plastisch aus der Fläche heraus; dazu verhilft ihm das feine Gespinst der Kreuzschraffur, das dem netzartigen Muster der Schale ähnelt, geradezu elastisch dehnund streckbar scheint und als Ergebnis dieser Dehnung und Streckung die Form eines spiralförmig gewundenen Kegels annehmen kann. Raum- wie dinglogisch überzeugt Rembrandts Conus außerordentlich; auf den Gedanken des gleichmaschigen Netzes, das über Oberflächen geworfen, gedehnt, gestreckt oder gezogen werden kann, komme ich später noch einmal zurück. Was mich vorerst interessiert, ist die schlichte Tatsache, dass durch den drucktechnischen Vorgang nicht nur die Vorzeichnung spiegelverkehrt abgebildet wurde, sondern sich dabei auch die Drehung des Gehäuses umkehrte: War sie eigentlich dextral ausgerichtet, erscheint sie auf dem Blatt sinistral, also linksgewunden. Biologisch ist diese Ausrichtung äußerst unwahrscheinlich, wenngleich nicht unmöglich. Abbildung 2: Martin und Anna Lister: Skizzenbuch zur Muschelklassifikation, mit der eingeklebten Radierung Rembrandts, 2. Hälfte d. 17. Jhs. Rembrandt scheint die Verkehrung nicht aufgefallen zu sein oder zumindest nicht gestört zu haben. Ganz anders Martin Lister, den englischen Mediziner, Geophysiker und bekennenden Muschelsammler, der in sein privates Skizzenbuch auch die besagte Rembrandt-Radierung einklebte (Abb. 2). Lister hatte zusammen mit seiner Tochter Anna über Jahrzehnte Muscheln der englischen Küste zusammen-

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getragen, abgezeichnet und systematisiert. Seine Bemühungen mündeten in der mehrbändigen Historia conchyliorum – einem mit über 1.000 Abbildungen versehenen, barocken Monumentalwerk der Muschelklassifikation, dem frühesten seiner Art (Abb. 3). Darin befindet sich dann auch eine Adaption von Rembrandts conus marmoreus, der nun korrekterweise dextral abgebildet ist: Lister hat die Spiegelverkehrung also aufgehoben und die Orientierung der Schnecke bewusst berichtigt. Wir können das behaupten, weil sich Lister in seinen Schriften schon früh und mehrmals zur Drehung der Schnecken geäußert hat:1 Schnecken winden sich bis auf seltene Ausnahmen von links nach rechts. Abbildung 3: Martin Lister: Conus marmoreus, in: Historia Conchyliorum, London 16851692.

2 D i e M u s c h e l a l s › s ym b o l i s c h e F o r m ‹ Spiralen und Kegelkörper besitzen eine formlogische Faszinationskraft, beispielsweise, wenn ihnen logarithmische Verlaufsformen eingeschrieben sind.2 Schon um 1500 beschäftigten sich Leonardo da Vinci und Albrecht 1

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Lister beschäftigt sich bereits in einem frühen Text mit der Gerichtetheit von Muschelschnecken und Spiralen. (Vgl. Martin Lister, »Some Observations Concerning the Odd Turn of Some Shell-snailes, and the Darting of Spiders«, in: Philosophical Transactions der Royal Society, No. 50, London 1669 [noch einmal erschienen in: Martin Lister, Letters and Divers other Mixt Discourses in Natural Philosophy, York 1683, S. 1-6]). – Weitere Erwähnungen der Spiralorientierung finden sich in Listers Historiae animalium Angliae tres tractatus von 1678, wo sie Filippo Buonannis Interesse erweckten. (Siehe Anm. 13.) Zwischen 1685 und 1692 erschien Martin Listers vorbildliches, großformatiges Muschelbuch Historia conchyliorum, 1696 folgte die Edition Conchyliorum bivalvium. Der klassische Referenztext hierfür ist D’Arcy Wentworth Thompson, On Growth and Form, 2 Bde., Cambridge: University Press 1917 (vor allem Kap. IV über die gleichwinklige Spirale), der sich zu Teilen auf Theodore A. Cooks Bücher zur Spiralbewegung bezieht: Spirals in Nature and Art: A Study of Spiral Formations Based on the Manuscripts of Leonardo da Vinci,

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Dürer ausgiebig mit Wirbel- und Spiralformen. Leonardo war in seinen hydrologischen Studien von vektoriellen, geradlinigen Verläufen ausgegangen, doch als er im Laufe seiner Untersuchungen mit der wirbelförmigen Ausbreitung des Wassers konfrontiert wurde, bezog er sie zögernd, dann vehement in seine naturphilosophischen Überlegungen ein.3 Dürers Beschäftigung mit der modularen Mannigfaltigkeit der Spiralform ist teilweise von Friedrich Teja Bach bearbeitet worden,4 teilweise harrt sie noch ihrer Entdeckung. In seiner aus vier Büchern bestehenden Underweysung der messung mit dem zirckel un richtscheyt von 1525 gibt Albrecht Dürer im ersten Teil verschiedene Konstruktionen für ›Schneckenlinien‹ – gemeint sind Spiralen – an. Die Konstruktionen sind hochinteressant; beispielsweise beschreibt Dürer die exakte Konstruktion von einzelnen Punkten einer Archimedischen Spirale, die anschließend mit freier Hand verbunden werden; er konstruiert Spiralen, deren Windungen zum Zentrum hin enger verlaufen als außen, verstärkt diesen Effekt noch, bedenkt auch den Umlaufsinn der Spirale, gibt eine frühe Beschreibung der logarithmischen Spirale, die er ›ewige lini‹ nennt und die später durch Descartes mathematisch definiert werden sollte.5

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London: Constable 1903; und ders., The Curves of Life, Being an Account of Spiral Formations and Their Application to Growth in Nature, to Science and to Art, with Special Reference to the Manuscripts of Leonardo da Vinci, London: Constable 1914, bes. S. 151-169 über »Right and Left Spirals in Shells«. (Vgl. auch Martin Kemp, »Spirals of Life: D’Arcy Thompson and Theodore Cook, with Leonardo and Dürer in Retrospect«, in: Physis 32/1 (1995), S. 37-54; sowie ders., Seen/Unseen. Art, Science, and Intuition from Leonardo to the Hubble Telescope, Oxford/New York: Oxford University Press 2006, S. 165-238.) – Zum mathematischen Beweis der logarithmischen Wachstumsform des Nautilus vgl. Karl Friedrich Naumann, »Über die logarithmische Spirale von Nautilus pompilius und Ammonites galeaus«, in: Berichte über Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Bd. II (1848/49), S. 26-34. (Weitere Literatur: Hans-Ulrich Mette, Der Nautiluspokal: Wie Kunst und Natur miteinander spielen, München: Klinkhardt & Biermann 1995; Clifford A. Pickover, »Mathematics and Beauty. A Sampling of Spirals and ›Strange‹ Spirals in Science, Nature and Art«, in: Leonardo 21/2 (1988), S. 173-181; Rory Fonseca, »Shape and order in Organic Nature. The Nautilus Pompilius«, in: Leonardo 26/3 (1993), S. 201-204; Hans Holländer, »Nautilus mirabilis«, in: Aachener Kunstblätter 1998, S. 461-464; und Die Spirale im menschlichen Leben und in der Natur. Eine interdisziplinäre Schau, hg. von Hans Hartmann und Hans Mislin, Basel: Edition MG 1985.) Vgl. Frank Fehrenbach, Licht und Wasser. Zur Dynamik naturphilosophischer Leitbilder im Werk Leonardo da Vincis, Tübingen/Berlin: Wasmuth 1997. Friedrich Teja Bach, Struktur und Erscheinung: Untersuchungen zu Dürers graphischer Kunst, Berlin: Mann 1996. – Zur Spiralbewegung bei Dürer und Leonardo vgl. auch Kemp, »Spirals of Life«; zu Dürers Beschäftigung mit der Schneckenform (›muschellini‹) vgl. Martin Beech, »Albrecht Dürer and his conchoid«, in: Bull. Inst. Math. Appl. 26/3 (1990), S. 38-40. Die logarithmische Spirale wird von Descartes in seinen Briefen an Marin Mersenne diskutiert (vgl. René Descartes, Oeuvres, hg. von Charles Adam

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Abbildung 4: Albrecht Dürer: Konstruktion der archimedischen Spirale, in: Underweysung der messung […], Nürnberg 1525.

Abbildung 5: Albrecht Dürer: Konstruktion einer konischen Spirale, in: ebd.

Auffallend ist, dass die bevorzugte Spiralform bei Dürer zwar vom Mittelpunkt aus konzipiert ist, sich aber hinein- wie hinausschraubt, der Umgebung öffnet und erneut zum Kreis schließt (Abb. 4 und 5).6 Das hat mit

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und Paul T. Tannery, Bd. 2, Paris: Cerf 1898, S. 360); die Bezeichnung ›logarithmische Spirale‹ dann bei Jakob Bernoulli, Acta Eruditorum, Leipzig: Grosse & Gleditsch 1691, S. 282. – Zum engen Zusammenspiel von Mathematik, Architektur und früher Conchologie vgl. die Beschreibung von Sir Christopher Wrens Entdeckung der logarithmischen Spirale in der Architektur eines Schneckenhauses von John Wallis, Tractatus duo, de Cycloide, Oxford: Lichfeldiani 1659, S. 107f.: »Wallis berichtet nämlich, nachdem er diese Kurve sehr sorgfältig und klar definiert und beschrieben hatte, dass Wren das spiralige Gehäuse nicht nur als eine Art Kegel oder um eine senkrechte Achse gedrehte Pyramide betrachtete, sondern auch die Abhängigkeit der Schalenform von der Größe des Winkels der Spirale erkannte« (zit.n. Thompson, Growth and Form, S. 276). (Vgl. dazu auch Edwin A. Whitman, »Some Historical Notes on the Cycloid«, in: The American Mathematical Monthly 50/5 (1943), S. 309-315.) – Neben Descartes, Wallis, Wren und Bernoulli, der sich als Auferstehungssymbol eine logarithmische Spirale auf seinen Grabstein meißeln ließ, weitere Beschäftigung mit der ›spira mirabilis‹ von John Collins (1675), Pascal, Torricelli und Nicolas (1693), Halley (1696), Huygens und Newton (1687) sowie Guido Grandi (1701). (Zur Konstruktion einer Zeichenmaschine logarithmischer Spiralen vgl. den Brief von John Collins an Tschirnhaus vom 30. September 1675 in: Correspondence of Scientific Men of the Seventeenth Century, Bd. I, Oxford: University Press 1841; und weiterführend Peter Frieß, Kunst und Maschine. 500 Jahre Maschinenlinien in Bild und Skulptur, München: Deutscher Kunstverlag 1993.) Eine Archimedische Spirale beginnt im Nullpunkt und beschreibt um ihre Mitte eine immer weiter werdende Kurve mit drei Umläufen. Der Abstand der Spiraläste bleibt gleich, genauer: die Entfernungen benachbarter Kurvenpunkte auf einer Nullpunktsgeraden sind konstant. Im Gegensatz dazu nehmen die Windungen der logarithmischen Spirale (zum Beispiel der Nautilus- oder Schneckenschale) in einem gleichmäßigen Verhältnis an Breite zu. Die gleichmäßige (Archimedische) und die gleichwinklige (logarithmische) Spirale sind die am häufigsten thematisierten organischen Spiralfor-

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der Konstruktion zu tun, die zuerst von einem Kreis ausgeht, der wie eine Uhr in zwölf gleiche Segmente geteilt wird, sich in einem zweiten Schritt aber vom Zentrum aus zum Kreisumfang vorarbeitet. Dabei ist ihm klar, dass er den Umlaufsinn durch die Verkehrung der Nummerierung ändern kann. Dennoch, die Favorisierung einer Richtung kommt ihm nicht in den Sinn, seine Konstruktionen befinden sich in einem homogenen Zeichenfeld, das aus geometrischen Punkten besteht, die durch Berührung mit dem Zirkel oder mit dem Stift aktiviert werden. Seine Spiralen sind noch Gedankenformen und Punkt-zu-Punkt-Konstruktionen, schrittweise abgeklopft, und doch auch schon Vorahnungen zu den kontinuierlich steigenden Wachstumskurven des 17. Jahrhunderts. Richtungen gibt es ebenso von innen nach außen wie von außen nach innen, von links nach rechts oder von rechts nach links. Alle Möglichkeiten sind gleichermaßen vorhanden, die Wahrscheinlichkeiten sind gleich groß; Dürer befindet sich mit seinen Schneckenlinien in einem geometrischen Raum, nicht in einem biologischen und wahrscheinlich auch nicht in einem temporalisierten. Um 1600 aber wird klar, dass sich die wirklichen Schneckenhäuser zu Wasser und zu Land bevorzugt nach rechts ausrichten. Auch die meisten rankenden Pflanzen entscheiden sich für diese Richtung, Kant hat später noch Haarwirbel danach untersucht: »Die Haare auf dem Wirbel aller Menschen sind von der Linken gegen die Rechte gewandt. Aller Hopfen windet sich von der Linken gegen die Rechte um seine Stange; die Bohnen aber nehmen eine entgegengesetzte Wendung. Fast alle Schnecken, nur etwas drei Gattungen ausgenommen, haben ihre Drehung, wenn man von oben herab, d.i. von der Spitze zur Mündung geht, von der Linken gegen die Rechte«.7

Was vor ihm bereits das 17. Jahrhundert entdeckte, war die empirische – und keineswegs logische – Tatsache, dass die biologische Natur gerne dextrale Gewinde hervorbrachte und sich damit zuweilen ›geneigt‹, also parteiisch zeigte. Heute muss man diese Entdeckung etwas relativeren, im 17. Jahrhundert dagegen sorgte sie für Diskussionen, und Kant wird noch 1768 genau auf Grund dieser Entdeckung seine Abhandlung Vom ersten Grund des Unterschiedes der Gegenden im Raum verfassen. Eigentlich müsste die Natur, so das Diktum der Physik, nach reversiblen Gesetzen

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men. – Zur Differenzierung zwischen Spirale und einfacher Schrauben- oder Schneckenlinie vgl. zum Beispiel Thompson, Growth and Form, S. 255. Immanuel Kant, Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume, hg. von Klaus Reich, Hamburg: Meiner 1975 [1768], S. 83. – »Sogar besteht ein sehr namhaftes Kennzeichen der Naturerzeugungen, welches gelegentlich selbst zum Unterschiede der Arten Anlass geben kann, in der bestimmten Gegend, wonach die Ordnung ihrer Teile gekehrt ist, und wodurch zwei Geschöpfe können unterschieden werden, obgleich sie sowohl in Ansehung der Größe als auch der Proportion und selbst der Lage der Teile untereinander völlig übereinkommen möchten.« (Ebd.)

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operieren und sich symmetrisch neutral verhalten. Sie tut das ja auch insofern, als die gleiche rotierende Bewegung um eine Achse Symmetrie impliziert; das physikalische Gesetz dafür ist simpel und dehnt das räumliche Gebilde nach dem Prinzip der Selbstähnlichkeit aus, egal ob im Uhrzeigersinn oder entgegen. Die empirische Entdeckung der ›geneigten Natur‹ in der Biologie stellte eine solche Neutralität jedoch in Frage, weil es die natürlichen Erscheinungsformen dynamisierte, die nun Ergebnis von Wachstumsphasen und genetischen Programmen wurden. Sammelt man Textpassagen, in denen die Gerichtetheit der Helix thematisiert wird, stößt man unweigerlich auf Muschelbücher, die nicht zufälligerweise im 17. Jahrhundert in Mode kamen. Das barocke Zeitalter entdeckte die Gerichtetheit dynamischer Bewegungen, und die Muschel avancierte zum epochalen Symbol.

3 Gleich und doch nicht gleich: inkongruente Gegenstücke Wir können diese Entdeckung sogar mit einem Datum versehen: 1616 stellte Fabio Colonna, der als Mitglied der Accademia dei Lincei die Nachfolge von Federico Cesi übernehmen sollte, in seinem viel gelesenen Werk über die Farbgewinnung des Purpurrots fest, dass sich nur in seltensten Fällen Muschelschnecken von links nach rechts eindrehen.8 Interessanterweise erklärte Colonna die Spiraldrehung zentripetal – er verfolgte die Windung von außen nach innen; darüber wird noch ein Wort zu sagen sein. Für den Moment ist nur wichtig, dass er die Gerichtetheit natürlicher Formgebungen erkannte und wiederholt thematisierte; in seiner Nachfolge werden sich nahezu alle barocken Conchologen danach richten. Überhaupt stellte Colonnas Traktat hohe Ansprüche; es bestach durch vorzügliche Abbildungen und war das erste Werk, das Muschelschnecken (Gastropoden) nicht spiegelverkehrt darstellte.9 In Martin Listers Skizzenbuch taucht 8

9

»Rarior hic, & praeter morem à Naturâ elaboratus, atque à nemine abservatus: cujus Orbes non in sinistram partem convolvuntur, ut in omnibus Testaceis marinis ac terrestribus; sed contrario modo ex sinsitrâ in dexteream Orbes in amplum os, juxta orbis proportionem, desinunt.« (Fabio Colonna, De purpura, Rom: Mascardus 1616, S. 26.) Die zoologische Taxonomie und Nomenklatur von Muscheln basierte ursprünglich auf rein visuellen Analogien und wurde in den fulminanten Sammlungen barocker Wunderkabinette vorbereitet. (Frühe Illustrationen zu Meerestieren und Muscheln finden sich in Adam Lonitzer, Historia naturalis opus novum etc., 2 Bde., Frankfurt: Egenolff 1551-55; Conrad Gesner, Icones animalium, Tiguri: Froschover 1553; ders., Historia animalium (Liber 4 qui est de piscium & aquatilium animantium natura), Tiguri: Froschover 1558; Pierre Belon, De aquatilibus, 2 Bde., Paris: Estienne 1553; Guillaume Rondelet, Libri de piscibus marinis, in quibus verae piscium effigies expressa sunt, 2 Bde., Lugduni: Bonhomme 1554-55; Ulisse Aldrovandis De reliquis animalibus (exanguibus libri quatuor … de mollibus,

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Colonnas Name vielfach auf; und Lister wird sich in dessen Tradition stellen. Pater Filippo Buonanni wiederum, in Rom tätig und Freund des ebenso geistreichen wie umtriebigen Athanasius Kircher, schuf 1681 das früheste eigenständige Muschelbuch: Seine Ricreatione dell’occhio10 bezieht sich an mehreren Stellen auf die Gerichtetheit der Spiralform in Muschelschnecken und versucht sogar, sie topologisch zu erklären. Mehr dazu ebenfalls später, denn Buonanni wird hier ein fragwürdiges Modell ausarbeiten. Ich komme zurück auf die Frage, wie sich damals die Gerichtetheit von Schnecken oder Spiralformen erklären ließ, welche kultur- und naturphilosophischen Implikationen damit verbunden waren und welche topologischen Relationsgefüge sich ausmachen lassen. – Der kosmologische Zusammenhang ist zu dieser Zeit hochaktuell: Zwar vermutete man, dass sich die Erde um ihre eigene Achse drehte, aber es gab noch immer keinen wirklichen Beweis. Huygens und Cassini lieferten Argumente. Newton entwickelte seine Theorie der Materieanziehung durch Gravitation gerade erst zu diesem Zeitpunkt: 1687 erhielt er unter der Voraussetzung eines homogenen, flüssigen und rotierenden Erdkörpers mit dem Schwerpunkt

crustaceis, testaceis, et zoophytis), Bologna, Bellagamba 1606; Fabio Colonna, Lyncei purpura etc., aquatilium et terrestrium aliquot animalium etc., Rom: Mascardus 1616; oder Jan Jonston, Historia naturalis, Amsterdam: Schipper 1657.) – In England errichtete John Tradescant, königlicher Hofgärtner Karls I. und passionierter Muschelsammler, ein frühes naturhistorisches Museum, dessen Sammlungskatalog von seinem Sohn 1656 publiziert und Lord Elias Ashmole gewidmet wurde. (Vgl. John Tradescant, Musaeum Tradescantianum: or a Collection of Rarities, Preserved at South Lambeth, near London, London: Grismond/Brooke 1656.) Das Ashmolean Museum wurde der Öffentlichkeit bereits im 17. Jahrhundert zugänglich gemacht und gilt als das erste öffentliche Museum Großbritanniens. Weitere wichtige Muschelillustrationen dann in den Sammlungskatalogen barocker Wunderkammern. (So bei Giovan Battista Olivi, De reconditis et praecipuis collectaneis in Museo Calceolaris asservatis, Venice: Ceruti 1584; Benedetto Ceruti/Andrea Chiocco, Musaeum F. Calceolarii, Verona: Tamo 1622; Basil Besler, Fasciculus rariorum et aspectu dignorum varii generis quae collegit, Nürnberg: Iselburg 1616; Michael Rupert Besler, Gazophylacium rerum naturalium e regno vegetabili, animali et minerali, Leipzig: Wittigau 1642; Ole Worm, Museum Wormianum. Seu historia rerum rariorum … quae … in aedibus authoris servantur, Leiden: Elzevir 1655; Ludovico Moscardo, Note overo Memorie del Museo di L. Moscardo, Padua: Frambotto 1656; oder Adam Olearius, Die Gottorfische Kunstkammer, worinnen allerhand ungemeine sachen, Schleswig: Holwein 1666.) 10 Es war das erste Traktat, das sich ausschließlich Muscheln widmete. Kurz darauf erschienen Martin Listers monumentale Historia conchyliorum (London 1685-92) sowie Georg Eberhard Rumphius’ D’Amboinsche Rariteitkamer (Amsterdam 1705). In Buonannis Werk waren jedoch – anders als bei Lister und Rumphius – noch alle Schneckengehäuse spiegelverkehrt abgebildet, eine Inkorrektheit, die in keinem späteren conchologischen Werk auftaucht, da sie zu klassifikatorischen Unsicherheiten führen kann.

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als Mittelpunkt einen Rotationsellipsoiden als Gestalt der Erde.11 Buonanni ist also auf der Höhe seiner Zeit, wenn er feststellt, dass es bei der Erde – ebenso wie bei der Schneckenmuschel, mit der er sie indirekt vergleicht – eine determinierte Drehrichtung zu beobachten gab: Auch die Erde nämlich bewegt sich in gleich bleibendem Umlaufsinn von Westen nach Osten, die Erde entpuppt sich also als Rotationskörper, und ihre Drehrichtung ist determiniert.12 Ähnlich determiniert verhält es sich nach Buonanni mit der Spiraldrehung bei Gastropoden, mit dem relativierenden Vermerk, dass jene sich zwar bevorzugt »in eine Richtung«, aber zuweilen »auch entgegengesetzt winden«13 können. Das alles wird im 17. Jahrhundert entdeckt, ebenso wie man nun zunehmend die Archimedische Spirale und ihre Schraubbewegungen diskutiert, neuartige Spiralformen entdeckt und mathematisiert und grundsätzlich keine Muschelschnecke mehr spiegelverkehrt abbilden wird. Wir haben es also mit dem seltsamen Umstand zu tun, dass man vor 1600 keine Probleme mit spiegelverkehrten Abbildungen hatte, und nach 1600 hat man sie zunehmend. 11 Für den Zusammenhang des barocken Interesses an Ellipsen- und Spiralbewegungen mit dem Verhältnis von Masseanziehung und Zentripetalkraft vgl. Thompson, Growth and Form, S. 262f: »Wir mögen uns auch an Newtons erstaunlichen Beweis [Principia I 9, II 15] erinnern: Wenn die Schwerkraft sich umgekehrt proportional zur Kubikzahl statt zum Quadrat der Entfernung geändert hätte, dann wären die Planeten, statt an ihre Ellipsen gebunden zu sein, in spiraligen Bahnen von der Sonne abgeschossen worden und die gleichwinklige ›logarithmische‹ Spirale wäre ein solcher Fall gewesen.« 12 »Non è però questa legge invariabile nelle Chiocciole, come nel Sole, che muovendosi con il moto diurno attorno ambedue gli Emisferi del Mondo, ogn’uno, che l’osserva nell’Emisfero Boreale, il vede sempre nascere dalla parte sinistra, e tramontar nela destra.« (Filippo Buonanni, Ricreatione dell’occhio e della mente nell’osservation‹ delle Chiocciole, hg. von Sergio Angeletti, Reprint der Ausgabe Rom: Cesaretti 1681, 1984, S. 287.) – Die Sonnenbewegung von West nach Ost wird als kontinuierliche Linksdrehung begriffen und mit der Chiralität der Muschelschnecken in Verbindung gebracht. (Vgl. dazu Cook, Curves of Life, S. 165f.) Cook zieht die Achsenneigung – »an alteration in the socket« – als Erklärung heran und beschreibt eine entsprechende Versuchsanordnung im Labor: »As soon as the spiral begins to come out, e.g. of the egg of ›Pharaoh’s serpents‹, it will exhibit a dextral helix if the tube is dented slightly on the left, and a sinistral helix when the orifice of the tube has a dent upon the right.« (Ebd., S. 157). – Zuvor hatte Kant die vermeintliche Parallele zwischen Planetenrotation und Windungsrichtung der Muscheln aufgehoben und für letztere eine genetische Ursache vorgeschlagen: »Diese bestimmte Eigenschaft wohnt eben derselben Gattung von Geschöpfen unveränderlich bei ohne einiges Verhältnis auf die Halbkugel, woselbst sie sich befinden, und auf die Richtung der täglichen Sonnen- und Mondbewegung, die uns von der Linken gegen die Rechte unseren Antipoden aber diesem entgegenläuft; weil bei den angeführten Naturprodukten die Ursache der Windung in den Samen selbst liegt.« (Kant, Grunde des Unterschiedes, S. 83.) 13 »[I]l vede sempre nascere dalla parte sinistra, e tramontar nella destra; poiche alcune ve ne sono, che in sito contrario si attorcigliano.« (Buonanni, Ricreatione, S. 287.)

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Wie aber definierte man zu dieser Zeit räumliche Orientierung, Gerichtetheit? – Die Frage ist eine topologische, denn es ist die Frage der Chiralität oder handedness, nach links und rechts in einem spiegelsymmetrisch gedachten Weltengebäude.14 Wie also definiert man Gerichtetheit? Buonanni gibt dazu tatsächlich zwei Erklärungen. Zu Beginn seines Kapitels über »Muschelschnecken, deren Öffnung nach rechts zeigt« fordert er den Leser auf, die Schnecke aufrecht zu stellen, also senkrecht zur Erde und mit der Spitze nach oben.15 Die Öffnung sitzt dann auf der rechten Seite des Gehäuses. Buonanni kann dies behaupten, weil er die Orientierung auf äußere Fixpunkte (nämlich auf den Erdboden) bezieht und sie dann noch auf seinen eigenen Körper übertragt: ›Rechts‹ ist dieser Anweisung zufolge schlicht und ergreifend, wo ›nicht links‹ ist. Rembrandts conus marmoreus würde sich, könnte man ihn aus dem Bild holen und senkrecht stellen, dann tatsächlich verkehrt herum winden – er wäre das inkongruente, spiegelbildliche Gegenstück zu seinem natürlichen Vorbild. Abbildung 6: Filippo Buonanni, Nautilus, Manuskriptseite zu: Ricreatione dell’occhio. Was aber, wenn man die Schnecke nicht senkrecht zur Erde stellen kann? Das Gehäuse des Nautilus beispielsweise kann man beliebig drehen und wenden, man wird dennoch nicht wissen, in welchem Moment es geerdet ist. Oder anders gesagt: Seine Öffnung zeigt in beliebig viele Richtungen, weil das Gehäuse in der Fläche rotieren kann; die Windung verhält sich letztlich wie eine Spirallinie, die sich in der Fläche ausdehnt, vergleichbar der Rille einer Schallplatte (Abb. 6). 14 Eine gute Zusammenfassung des Links-Rechts-Problems und einen Überblick über die Grundpositionen geben die Beiträge in The Philosophy of Right and Left. Incongruent Counterparts and the Nature of Space, hg. von James van Cleve und Robert E. Frederick, Dordrecht/Boston/London: Kluwer 1991. 15 »Perche i Turbinati quasi tutti habbiano la bocca del guscio voltata alla parte destra«: »Si raggirano i Turbinati can tal regola, che posti in atto di strisciarsi sul terreno, la bocca del guscio sempre riguardo la parte destra.« (Buonanni, Ricreatione, S. 287.)

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Abbildung 7: Filippo Buonanni, Topologisches Modell zur Feststellung der Drehrichtung, in: Ricreatione dell’occhio, Rom 1681. Buonanni hat daran noch nicht gedacht, als er einen zweiten Kategorisierungsversuch vorschlug und auch im Querschnitt der Muschelschnecke eine Rechtswindung feststellen wollte. Der erste Vorschlag war – wie gesagt – gewesen, das Gehäuse senkrecht zur Erde zu halten und mit dem menschlichen Körper zu analogisieren. Dabei war eine äußere Bezugnahme nötig gewesen. Der zweite nun geht dahin, eine intrinsische Relation festzustellen. Dazu gibt Buonanni dem Leser eine Zeichnung in die Hand mit der Anweisung: »Zum besseren Verständnis zeige ich eine Abbildung, wobei die Spirallinie ABC die Windung des Gehäuses verkörpern soll. Die Spirale beginnt im Mittelpunkt O und dehnt sich im weiteren nicht nur nach A, sondern auch nach C aus. Die Drehung erfolgt mehr oder weniger, aber immer in Ausrichtung nach D, niemals nach A. Wenn man eine Linie waagrecht durch den Mittelpunkt zieht, schneidet die Gerade CA die Spirale im Abschnitt CO nicht so oft wie im Abschnitt OA, wie man leicht sehen kann [Abb. 7]. Dennoch ist dieses Gesetz bei den Muschelschnecken nicht invariabel […], weil jene sich nicht nur in eine Richtung, sondern auch entgegengesetzt winden kann«.16

Buonanni nimmt also die Anzahl der Schnittpunkte der Spirallinie mit der Horizontalen als Maßstab, um die Gerichtetheit des Gehäuses festzustellen. Die Spirale der rechtsgedrehten Schnecke schneidet die rechts von der Achse liegende Strecke OA einmal mehr als die Gegenstrecke CO, es herrscht also ein materielles Ungleichgewicht auf einer der beiden Seiten der Mittelachse; die beiden Hälften sind nicht kongruent. Eine materielle Ungleichgewichtigkeit wird damit natürlich indiziert – eine Spirale ist weder punkt- noch achsensymmetrisch. Die Anzahl der Schnittpunkte ist jedoch nicht der Beweis für die dextrale Ausrichtung der Spirale, denn diese bleibt auch erhalten, wenn man die Spirale um 180 Grad weiterschraubt. 16 Buonanni bezieht sich konkret auf Martin Listers Beobachtung der Gerichtetheit der Spiralbewegung: »L’osservò fra‹ Moderni Martino Lister, ove disse: i gusci motum solis observando, a sinistra dextram versus torqueri. Per meglio ciò intendere si osservi la figura, ove la linea Spirale A, B, C suppone la voluta della Chiocciola. Comincia la detta voluta dal centro O, né si stende a raggirarsi verso A, ma verso C, e dopo essersi raggirata in chi più, in chi meno, sempre termina con la bocca verso C, né mai verso piano orizzontale, e sia C, A sopra di essa farà la linea Spirale le intersecationi in minor numero nella parte da O a C, che da O ad A come ogn’uno può facilmente osservare.« (Ebd.)

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Obwohl sie nun die Horizontale häufiger auf der linken Strecke schneidet, haben wir es weiterhin mit einer rechtsgewundenen Schnecke zu tun – zumindest wenn wir das Ergebnis wieder auf die Raumform des natürlichen Gehäuses zurückblenden. Ob wir es auch mit einer rechtsgedrehten Spirallinie zu tun haben, ist eine andere, die nächste Frage, die sich stellen muss, und sie kann mit Buonannis Versuch nicht geklärt werden. Buonanni steht vor demselben Problem, das sich später Huygens, Leibniz, Newton oder Kant stellen wird: Eine Determination der Bewegungsrichtung ohne Referenz auf einen Außenraum scheint es nicht zu geben.

4 S ym m e t r i e b r u c h u n d I r r e ve r s i b i l i t ä t Um die Problematik historisch zu vertiefen, bedarf es eines Worts zu den entscheidenden Veränderungen in den Raumtheorien vor und nach 1600: Generell kann gesagt werden, dass bei Aristoteles und in scholastischen Theorien Materie immer von einem Anderen – der Form – bestimmt wurde, und die geformten Substanzen konkrete Einzeldinge mit ganz konkreten Eigenschaften blieben. Deshalb konnte Aristoteles auch nicht von den Körpern abstrahieren; der Aufbau einer stringenten Physik wurde dadurch verhindert. Auch machte es sein Ortsbegriff unmöglich, die Substanz mit dem Raum zu vermitteln und räumliche Bewegung zu denken. Frühe Feldtheorien nun brechen den unbiegsamen aristotelischen Orts- und Materiebegriff jedoch auf, was vor allem bedeutet, dass die immanenten Modifikationen der Materie zu größerer Relevanz gelangen. Man denkt nun an graduelle Abstufungen einer Substanz, nicht mehr an isolierte Einzelsubstanzen. Für kartesische Scholastiker dann sind Formen lediglich Akzidenzien der Materie, für Descartes sind sie sogar nur mehr ein Denkmittel der Veränderung der Substanz – ein riesiger Schritt in ein gleichermaßen materialistisches wie idealistisches Zeitalter. Ausdehnung und Materie werden bei Descartes gleichgesetzt, wodurch ein selbstregulierendes System materieller Modifikationen entsteht, das darauf hinausläuft, dass jeder Körper, jeder kleinste Partikel, Teil eines immanent funktionierenden Systems ist und damit abhängig von den Aktionen der anderen. Wenn sich nun also seit ca. 1600 eine grundsätzliche Dynamisierung feststellen lässt, in dem Sinne, dass sich logarithmische und Exponentialfunktionen durchsetzen, dass die Fibonacci-Reihe, die von Zeitgenossen auf die Extension der Spiralform angewendet wurde, eben auf Grund ihrer Verwandtschaft zur Exponentialkurve aktuell wurde, dass also Wachstums- und Formverläufe innerhalb der korpuskularen Welt thematisiert wurden, dann muss zugleich nach der historischen Relevanz der im 17. Jahrhundert einsetzenden Links-Rechts-Diskussion gefragt werden. Zwei Charakteristika der Zeit lassen sich feststellen: Erstens, dass man seit 1600 betonte, dass sich Muschelschnecken, Pflanzenranken, Haarwirbel, allge-

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mein Spiralbewegungen in der Natur in den einzelnen Gattungen nicht gleichermaßen ausrichten, sondern bestimmte Neigungen haben – im 17. Jahrhundert wird vor allem die Rechtsdrehung thematisiert, und zweitens, dass man Spiralbildungen hauptsächlich als Extension das heißt als Wachstumsform von einem Punkt oder Keim zu einer umfassenderen räumlichen Größe und nicht als konzentrisches Gebilde verstand. Spiralen und Muscheln sind also Räume oder Größen, die sich ausdehnen und nicht einziehen. Colonnas Deskription der Muschelgehäuse von außen nach innen war hier die Ausnahme gewesen, und sie steht zu Anfang des Jahrhunderts. Physikalische Spiralen erscheinen jetzt für einige Zeit nahezu ausschließlich als Quelle, nicht als Sog, der Materie zu sich holt oder verschlingt. Ebenso verändert sich das Verständnis des Zeitbegriffs im 17. Jahrhunderts, der jetzt vor allem als extensive Größe, und nicht mehr als zirkuläres, sich immer wieder aufhebendes und damit symmetrisches Verfahren verstanden wird. Aus diesem Grund kann die Muschelschnecke zur symbolischen Form werden – weil sie die zyklische Bewegung um eine Achse nun räumlich ausweitet und ihr eine Richtung gibt, sie also aus der Symmetrie entlässt. Damit verbunden ist die barocke Vorstellung, dass die immanente Oberfläche der Körperwelt in ständiger Bewegung und damit in ständigem Ungleichgewicht ist. Diese Vorstellung kollidiert mit einem anderen, einem älteren Modell der achsensymmetrischen Stringenz und Kongruenz, das im Barock ja ebenfalls exzessiv durchgespielt wird. Doch der Weg heraus aus der Spiegelsymmetrie ist für das 17. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht das entscheidende Erlebnis. Das Kreisen um einen absoluten Mittelpunkt gerät zum verrückten Schlingern, es indiziert ein uneinholbares Ungleichgewicht, das nur anfangs, am ruhenden Ausgangspunkt aufgehoben gewesen war. Es ist deshalb kein Zufall, wenn gegen Ende so mancher frühen Muschelbücher eine spezielle Wachstumsform aufgeführt wird: Die Windungen von Vermicularia spirata laufen nach einem gleichmäßig spiraligen Anfang mehr und mehr auseinander und werden unregelmäßig, erratisch; der Bauplan schein zerstört, und stattdessen tritt das intrinsische Ungleichgewicht der Spirale deutlich zutage (Abb. 8). Dem barocken Okkasionalismus zufolge entsprach ihre Gestalt dem verlangsamten und aus der Bahn geworfenen Verlauf einer Pendeluhr, die einen Anfangsimpuls erhalten, aber dann nicht mehr aufgezogen worden war, oder einem Kreisel, dessen Drehmoment sich erschöpft hatte. Der Symmetriebruch, phylogenetisch festgelegt, sobald sich die dritte Zelle gebildet und einer Seite zugeordnet hat, ist ebenso für eine expansive Bewegung verantwortlich wie für Aberration, und Newton hatte zeitgleich auf ganz andere Weise die Gefahr des dynamischen Impetus erkannt, der die peripheren Körper vom Zentrum entfernte.

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Abbildung 8: Antoine-Joseph Dézallier d’Argenville: Vermicularia spirata (rechts), in: La Lithologie et la Conchyliologie, Paris 1742. Räumliche Bewegung ist das Schlüsselwort, wenn es darum geht, die eigentliche Veränderung der gedanklichen Disposition des Barock zu benennen; jede barocke Form bewegt sich in den neuen Kategorien von Raum und Zeit. Das Problem dabei ist, dass man den Richtungssinn nicht erklären kann. Wie erklärt man den Unterschied zwischen Rechts und Links, wenn man sich ›in‹ einem beweglichen Materiefeld bewegt, also ohne sich auf etwas Äußeres zu beziehen, das dem Materiefeld vorangeht oder ausgelagert ist? Im Barock beginnt man zu ahnen, dass Natura zwar ein pulsierendes Herz – und damit einen Kreislauf – hat, dass es aber auf einer Seite sitzt und schlägt. Das war ja nebenbei auch eine von Kants Schlussfolgerungen in der Diskussion um Chiralität gewesen – wir sind zwar bilaterale Wesen, aber unser Herz sitzt eben nur auf einer Seite, wir müssen uns auf ein apriorisches Ungleichgewicht beziehen, um links und rechts voneinander unterscheiden zu können.17 Ein solcher Bezugspunkt fehlt in Leibniz’ Lageraum, der als System beweglicher Körper nicht orientiert ist und keine Determinanten gelten lässt, die nicht im Feld selbst erzeugt werden. Noch der Speziellen Relativitätstheorie ist es unmöglich, den zeitgerichteten und irreversiblen Evolutions- und Alterungsprozess zu erklären: Sie operiert zeitinvariant, zeitsymmetrisch. Das Problem ist also zum einen ein zeittopologisches: Entweder wir haben es mit einer reversiblen Welt zu tun, die gegenüber zeitlicher Entwicklung unveränderlich – also invariant – ist, oder aber es gibt die Möglichkeit mehrerer zukünftiger Entwicklungszweige. Dann hätten wir es mit einem Zeitbaum zu tun, in dem auch nicht realisierte Entwicklungsmöglichkeiten eingezeichnet sind, und auch die Zukunft wäre weit verzweigt bzw. ›offen‹. Zum anderen ergibt sich daraus das Problem der Zeitsymmetrie. Irreversible Prozesse können durch die Mechanik nicht erklärt werden.18 In der Krümmung der Muschelschnecke wiederholt sich 17 »Und so sind die beiden Seiten des menschlichen Körpers, ungeachtet ihrer großen äußeren Ähnlichkeit, durch eine klare Empfindung genugsam unterschieden, wenn man gleich die verschiedene Lage der inwendigen Teile und das merkliche Klopfen des Herzens beiseite setzt, indem dieser Muskel bei seinem jedesmaligen Zusammenziehen mit seiner Spitze in schiefer Bewegung an die linke Seite der Brust anstößt.« (Kant, Grunde des Unterschiedes, S. 83.) 18 Vgl. Klaus Mainzer, Zeit, München: Beck 2002, S. 24f. und S. 48.

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dasselbe Problem.19 Offensichtlich kann nicht nur die gekrümmte Oberfläche einer Muschelschnecke, sondern auch die Zeit, in der sie sich gebildet hat, nicht mehr zurückgebogen werden. Die Evolution des Lebens erweist sich als irreversible Zeitentwicklung, deren Wurzel in einem Nichtgleichgewicht liegt, das heißt deren Wurzel die Symmetriebrechung ist.

5 E x t e n s i ve W a c h s t u m s f o r m e n Die Frage, die sich im 17. Jahrhunderts zu stellen beginnt, ist also folgende: Was geschieht, wenn man ein neutrales Feld, einen Lageraum, in einen gerichteten Zeitstrom stellt? Was passiert, wenn man das Problem des Zeitpfeils bzw. der Symmetriebrechung der Zeit ernst nimmt und sich fragt, warum sich ein Prozess in diese und nicht in eine andere mögliche Richtung entwickelt? – Der gedrehte Kegel von Rembrandts conus marmoreus scheint mir ein solcher Zeitpfeil zu sein, der sich in die homogene Netz- oder Feldstruktur schraubt und sie dynamisiert, temporalisiert. Die Radiernadel des Künstlers hatte die Kupferplatte mit einer egalisierenden Kreuzschraffur überzogen, vergleichbar einem Koordinatensystem möglicher Positionen, Figuren oder Bewegungen, die im Bildraum eingenommen und realisiert werden können. Die Schraffur erscheint nun wie ein über den Körper gestreiftes feinmaschiges Netz, das durch die Wölbung gedehnt und gestaucht wird und sich dem Muschelkörper derart nahtlos anschmiegt, dass es ihn mit einer zweiten, künstlich gestalteten Oberfläche ebenso nachformt wie bedeckt. In der Gitterstruktur des Gehäuses selbst aber sind die Grenzen verwischt zwischen Muster und Masche, zwischen künstlichem und natürlichem Zeichen. Und auch als Gesamtzeichenfeld ist die Schraffur kontinuierlich und homogen geblieben, das heißt, es gibt keinen Riss in diesem gleichmäßig gewebten Netz, und keine Masche ist fallengelassen worden. Das Objekt schraubt sich allenfalls in die Struktur und verändert die Abstände und Lagen der Kreuzungspunkte ähnlich seiner Form, nichts weiter. Das führt zu einer anderen Überlegung. Folgen wir Leibniz, so ist formale Ähnlichkeit lediglich eine Frage der Verhältnisse, das heißt, es tritt »gar kein Unterschied zutage«, solange sich »die Zahlen, die Verhältnisse, die Winkel«20 der Körper gleichen. Das wiederum würde bedeuten, dass,

19 »Bei mechanischen Strukturen ist Krümmung im wesentlichen ein mechanisches Phänomen. Man findet sie bei biegsamen Strukturen als Ergebnis von Biegung. […] Aber weder Gehäuse noch Zahn oder Klaue sind biegsame Gebilde; sie sind nicht in ihre eigenartige Krümmung gebogen worden, sondern in sie hineingewachsen.« (Thompson, Growth and Form, S. 263; kursiv, Verf.) 20 Gottfried Wilhelm Leibniz, »Zur Analysis der Lage (1693)«, a.d. Latein. von Artur Buchenau, in: ders., Philosophische Werke in vier Bänden, Bd. 1, hg.

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raum- und formlogisch betrachtet, Rembrandts Conus mit seinem natürlichen Vorbild vollkommen übereinstimmt, er wäre ihm ›ähnlich‹. Die Muschelschnecke wäre für diesen Leibnizschen Gedanken sogar ein ideales Anschauungsobjekt, denn sie ist selbst nach dem Prinzip der kontinuierlichen Ähnlichkeit gewachsen, das heißt die der Schalenoberfläche inhärente Kurve ist sich geometrisch gleich geblieben und hat nur in ihren Dimensionen zugenommen. Das Wachstumsgesetz der Selbstähnlichkeit reguliert den Formverlauf bei scheibenförmigen Gehäusen (zum Beispiel des Nautilus) ebenso wie bei kegelförmigen Schalen, wo die Kurve einen konstanten Winkel zur Achse des Umhüllungskegels bildet.21 Jeder Teil ist dem Ganzen ähnlich, ein Bezugssystem, das sich in steter Eigenreferenz um eine Achse dreht. Es gibt gewisse Dinge, sagt Aristoteles, die während ihres Wachstums keine Veränderung außer ihrer Größe erleiden,22 und diese interne Relationalität einer Figur jenseits ihrer Quantifizierung stand Leibniz im Sinn, wenn er in Konsequenz Links und Rechts als externe Kategorien aus dem System seiner Raumdefinition entließ. Es ist aber auch dasselbe Beispiel der Muschelschnecke, das, barocken Zeugen zufolge, vom Gegenteil kündet. Die Krümmung ihrer Oberfläche ist gerichtet, und mehr noch, sie ist einer zoologischen Wahrscheinlichkeit nach fast immer dextral gepolt. In mathematischen Gleichungen zur Spiralbildung entscheidet darüber lediglich ein Vorzeichen; in Buonannis Anordnung wird die Orientierung durch die natürliche Chiralität seines Körpers erkannt. Denken wir hier, gegen Ende, noch einmal an seine Anfangssetzung, die ja auch Kant beschäftigt hatte. Wie noch heute in conchologischen Bestimmungsbüchern, hatte er die Windungsrichtung des Muschelgehäuses in Bezug auf einen außerhalb des Systems stehenden Beobachter bestimmt; während sein intrinsischer Lösungsversuch fehlgeschlagen war. Leibniz’ Antwort dagegen war gewesen, eben diese Position des externen Beobachters zu streichen, die eine absolute Position darstellte, um eine andere, nicht minder absolute Instanz einzuführen – einen Zuschauer, »der gleichsam nur ein geistiges Auge besitzt«.23 Es ist ein Zuvon Ernst Cassirer, Neuausgabe, Meiner: Hamburg 1996 [1904], S. 49-55 [1858], hier S. 52. 21 »Wir können dieses seltsame Phänomen ohne weiteres darstellen, indem wir den Umriss einer kleinen Nautilusschale innerhalb einer großen zeichnen. Wir wissen oder können sofort erkennen, dass beide von genau gleicher Gestalt sind; wenn wir also das kleine Gehäuse durch ein Vergrößerungsglas betrachten, wird es identisch mit dem großen. Aber wir wissen andererseits auch, dass die kleine Nautilusschale zur großen heranwächst nicht durch Wachstum oder Vergrößerung in allen Teilen und nach allen Richtungen […], sondern durch Wachstum an nur einem Ende«. (Thompson, Growth and Form, S. 265; kursiv, Verf.) 22 »Es gibt auch Dinge, die größer werden, ohne sich zu verändern. Zum Beispiel hat sich das Viereck, hat man einen Maßstab angewendet, vergrößert, ist aber nichts Andersartiges geworden.« (Aristoteles, Kategorien, 14, 15a30.) 23 Leibniz, »Analysis der Lage«, S. 52.

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schauer, der nicht mit der Disposition seines Körpers interveniert, also keine Biologie, keine Zeitlichkeit und keine ›Neigung‹ in die Versuchsanordnung hineinträgt, vor allem jedoch nicht jenen simplen Beweis der faktischen Kongruenz anzuführen vermag, der darin besteht, reale und künstliche Form übereinander zu blenden. Denn würde man eine Muschelschnecke über Rembrandts Conus legen, so widerspräche sich deren inhärente Bewegungslogik, wenngleich nicht, wie Leibniz richtig feststellte, deren interne Relationalität.24 Eine temporale Wachstumsform mit räumlicher Orientierung wird damit nicht erklärt, und die Beschreibung und Definition einer lebenswissenschaftlichen Methode entwickelt sich zum Problem der nachfolgenden Generationen.25 Auch in der Druckgraphik wird die Richtungsumkehrung zwischen Vor- und Abbild, zunächst einmal rein technisch bedingt, seit dem 17. Jahrhundert zunehmend thematisiert und rückgängig gemacht. In Rembrandts exzeptioneller Radierung läuft die Spirale noch spiegelbildlich verkehrt, sie erscheint als inkongruente Zwillingsschwester aller innerhalb der geschichtlichen Evolution in Rechtsdrehung versetzten Muschelhörner – als Beispiel, wie es hätte gehen können, aber nicht gegangen ist.

24 Vgl. noch einmal Kants Einwand gegen die Existenz eines Leibnizschen Lageraums: »[Körper] können völlig gleich und ähnlich, jedoch an sich selbst so verschieden sein, dass die Grenzen der einen nicht zugleich die Grenzen der anderen sein können. Ein Schraubengewinde, welches um seine Spille von der Linken gegen die Rechte geführt ist, wird in eine solche Mutter niemals passen, deren Gänge von der Rechten gegen die Linke laufen.« (Kant, Grunde des Unterschiedes, S. 84.) – Kant prägt in diesem Zusammenhang auch den Begriff ›inkongruentes Gegenstück‹: »Ich nenne einen Körper, der einem anderen völlig gleich und ähnlich ist, ob er gleich nicht in ebendenselben Grenzen kann beschlossen werden, sein inkongruentes Gegenstück.« (Ebd.). 25 »In fact, though recent investigations seem to indicate that Pasteur was incorrect in stating that compounds exhibiting optical activity (and therefore molecular asymmetry) were invariably organic, yet it remains true that the only way in which a difference of property can actually be distinguished, or defined, between such right- and left-hand spirals is when they are brought in contact with the vital principle.« (Cook, Curves of Life, S. 168.) – Vgl. das aufgefrischte Interesse an der Chiralität von Muschelschnecken und Spiralformen in den Lebenswissenschaften um 1900 etwa bei Ernst Haeckel, Kunstformen der Natur, Leipzig/Wien: Bibliographisches Institut 1904. (Vgl. dazu auch Wilhelm Worringers Betonung der ›Lebenskraft‹ der dynamisierten Spirale und ihres inhärenten Symmetriebruchs in Formprobleme der Gotik, München: Piper 71920, S. 38. – Als Prinzip der temporalisierten, ›nomadischen Linie‹ aufgegriffen von Gilles Deleuze/Félix Guattari, »1440 – Das Glatte und das Gekerbte«, in: dies., Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, a.d. Franz. von Gabriel Ricke und Ronald Voullié, Berlin: Merve 62005 [1992], S. 657-693, hier S. 687ff.)

Al s der Raum sich krümmte: die Entstehung topologischer Vorstellung in der Geometrie PETER BORNSCHLEGELL

Die Wandlungen des mathematischen Denkens indizieren zugleich Wandlungen des Denkens über die Dinge und die Welt überhaupt: Gedanklich andere Wege zu beschreiten, das legen nicht nur die Versuche nahe, Problemlösungen zu finden – etwas neu zu denken, neu zu betrachten entspinnt sich aus der Übernahme der Perspektiven, den Theorien, also wortwörtlich: Sichtweisen, die als geistige Artefakte in das intellektuelle Erbgut einer jeden Generation eingehen. Mut und Ignoranz, vielleicht schlichte Sturheit, braucht es jedoch gleichermaßen, um sich daraus in neue Bereiche zu hebeln. Das Werk beruht dabei nie allein auf den Leistungen einzelner; viele stützen ab, viele besorgen die solide Masse auf der sich der Hebel neu ansetzen lässt. Intelligenz ist hier nicht unbedingtes, zumindest kein ausschließliches Erfordernis: »[N]icht deswegen, weil der Mensch nicht denken mag, sondern weil es ihm schwer fällt, anders zu denken, als man ihn denken gelehrt hat«,1 erkennt der junge Jean Paul, denken so wenige. So sind es dann diejenigen, die ›anders denken‹, die Newton, Gauß, Bolyai, Lobatschewskij, Riemann, die ihre Skrupel überwinden, jene Befangenheit im Gewohnten der euklidischen Schulgeometrie, der sich die Wallis, Saccheri und auch Lambert – die ja fähige und begeisterte Denker sind – nicht zu entziehen vermögen. Das schmälert keineswegs Verdienste, die Letzteren uneingeschränkt zuzugestehen sind: Wallis gibt für Newton entscheidende Impulse und verdeutlicht die Relevanz der blinden Flecken, der Stetigkeit und Unendlichkeit, im euklidischen System für das darin virulent werdende Parallelenproblem. Newtons Überlegungen zum Infinitesimalen bilden in den Arbeiten Saccheris genau jene Textur des Hinter1

Jean Paul, »Rhapsodien«, in: ders., Sämtliche Werke, Abt. II, Bd. 1, hg. von Norbert Miller, München/Wien: Hanser 1974, S. 255-307, S. 300.

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grunds einer Beweiskonstruktion, in der die bedeutenden und entscheidenden Arbeiten János Bolyais und Lobatschewskijs ihr Grundmodell finden werden. Lamberts Verdienst besteht weniger in der Fortentwicklung der Konstruktion Saccheris, vielmehr in der ernstzunehmenden Ahnung der tatsächlich möglichen Existenz nicht-euklidischer Geometrien und deren engem Zusammenhang mit räumlicher Größe, ohne dass er diese Überlegunen zu einem konsequenten Ende zu bringen vermag. Diesem Ende wird sich Bernhard Riemann erst 100 Jahre später nähern: in seiner Geometrie, welche die sinnliche Anschauung ablöst, den Blick aus dem Innen des Intellekts hinaus in die Zukunft einer Physik jenseits des Intervalls eines menschlichen Maßstabs wirft. Die ›kopernikanische Wende‹ – Metapher für ein ›Etwas-anders-Denken‹ schlechthin – lässt sich ja vorderhand wiederholen als die Erörterung der Bedingungen der Möglichkeit, Topologie zu betreiben. Es bedarf ja der Nicht-Euklidizität, um diese Möglichkeit erst in ihr Recht einzusetzen; der Einsicht, dass Geometrie, ganz kantisch gesprochen, nicht allein durch Anschauung gefestigtes Verstehen, sondern gleichermaßen abstrahierendes, formalisierendes Begreifen mit in den Blick nimmt. Topologie als Möglichkeit, Bolyai und Lobatschewskij verdeutlichen dies, resultiert dann aus dem anders gedachten Korpus einer Geometrie, der in keiner vollkommenen Ausschließlichkeit mehr euklidischer Natur ist. Der Weg zu einer nicht-euklidischen Geometrie, der Vorstellung einer Welt, die nicht mehr erfahrene Alltagswelt ist, bricht sich bis hin zur Topologie Bahn. Dieser etwas bizarr erscheinende Zweig der Mathematik ist in seiner Konsequenz des Nachtrabs von Kants ›Kopernikanischer Wende‹ wohl einer der merkwürdigsten und gegen Kant scheint sie zunächst selbst gewendet. Doch sind es Verkrustungen eines kantianischen Dogmatismus, den die neue Geometrie aufbricht, um am Ende wieder bei jener Position anzulangen, an der Kant die Philosophie hat aufgestellt wissen wollen. Wenn Carl Friedrich Gauß (1777-1855) hier als ein entscheidendes Mittelglied gelten muss, dann einerseits, weil er mit seiner Lebenszeit den Umbruch einer Mathematik von einer in der Philosophie beheimateten Hilfswissenschaft zur eigenständigen Disziplin abdeckt; zum anderen zeichnen sich einzelne Personen, die zu Gauß in Beziehung stehen und die aus seiner Schule, seinem Bekanntenkreis hervorgehen, als Wegbereiter zu den neuen Bereichen der Mathematik aus.

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1 Erste Überlegungen 1.1 Die Verführung kluger Köpfe Die große Suggestivkraft der euklidischen Geometrie rührt, wie Hans Reichardt bemerkt, von ihrem Ursprung in einer Idealisierung der Anschauung und Erfahrung her.2 Der Umstand, dieses aus dem umgebenden Makrokosmos ablesen zu können, legitimiert das euklidische Axiomensystem in einer Weise, die es in die Position einer conditio sine qua non rückt. Es tut dabei nichts, hier psychologistische Deutungen der Geometrie wittern zu wollen: Allein der Befund, dass es von vielen in der Verbindung von Anschauung und Beschaffenheit der Welt bzw. der Art und Weise, diese zu denken, gesehen wurde, verdeutlicht genügend die Hemmung, die jenen befiel, der sich anschickte, über die Grenzen zu treten. Es ist zu sehen, wie der euklidische Raum logische Strukturen illustriert und ihnen zu greifbarer Anschaulichkeit verhilft. Einerseits klingt dies nach Psychologismus, anderseits ist es für die Hemmungen, die Mathematiker befielen, unerheblich, ob die logische Struktur, in der die Welt sich darbietet, ihrer Beschaffenheit an sich wesensgemäß ist oder nur der Form menschlicher Anschauung entspringt. Was einer euklidischen Raumvorstellung ihre Attraktivität verleiht, ist, dass sie die abstrakten Formulierungen der Logik ›begehbar‹ macht. – Der Schnitt der Wohnung gibt die Wege vor, auf denen man in ein Zimmer gelangt. Sind die Zimmer unverrückbare, festbegrenzte Raumeinheiten, birgt dies eine Vorstellung statischer Substantialität, die nur unter der Eindringlichkeit einer Abrissbirne zur Veränderung neigt.

1.2 Kants Kopernikanische ›Wände‹ Kants Lehre stärkt gerade den Verfechtern der Einzigstellung des euklidischen Raumes den Rücken. Ginge es nur um die geometrische Beschaffenheit der Welt, vertrüge diese wohl zur Not den Gedanken an eine Geometrie nicht-euklidischer Art. Kants ›Kopernikanische Wende‹ erklärt aber die Form, unter der diese Welt angeschaut werden kann, zu des Menschen ureigenster Sache. Der euklidische Raum ist keine Frage eines Erkennens in der Welt – was seine Erkenntnis der Willkür empirischen Irrtums aussetzte –, vielmehr wird er in die Zuständigkeit des menschlichen Intellekts zurückverwiesen: Eine Geometrie jenseits derjenigen Euklids entzieht sich nicht allein der Anschauung, sondern auch jeder Möglichkeit, sie zu denken.

2

Vgl. Hans Reichardt, Gauß und die Anfänge der nicht-euklidischen Geometrie, Leipzig: Teubner 1985 [1976], S. 15.

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Ihre Wirkung entfaltet eine solche Lehre in einer Zeit, in der Mathematiker ihre Disziplin innerhalb der Philosophie beheimatet studieren – ein Faktum, das zu Gauß’ Lebzeiten noch Bestand hat. – Neudeutsch gesagt: Der studierte Mathematiker besitzt in jenen Tagen einen philosophischen Background. Der Schritt heraus aus einem Denken des euklidischen Selbstverständnisses fällt dem Mathematiker nicht nur in innerdisziplinärer Hinsicht schwer, philosophisch gerät ihm ein Lehrgebäude in einen neuen Legitimationszwang. Das Durchbrechen dieser scheinbar durch Kant fest zementierten Gebäudewände stellt, mehr als die Überwindung fachlicher Skrupel, vielfach die größere Herausforderung dar. Verständlich, wenn Gauß, was Publikationen betrifft, eine starke Zurückhaltung übt und philosophische Diskussionen meidet.

2 Das Problem der Parallele 2.1 Das Parallelenaxiom Die Initiierung dieses Auflösungsprozesses einer euklidisch verfassten Welt verdankt sich in starkem Maße der Diskussion des Parallelenproblems. Gewissermaßen entpuppt sich eine Fehlstelle in der euklidischen Welt als Selbstauslöser zerstörender Explosionen. Die Problematik, die über die Jahrhunderte für reichlich Diskussionsstoff sorgt, findet sich im fünften Postulat der Elemente des Euklid, dessen umstrittene Qualität – ob also hier, anstatt des Postulatbegriffs, möglicherweise gar die Rede vom Axiom eher angezeigt sei – schon in einer bloß rhetorischen Hinsicht die Vielfalt der Problematik bezeugt: »Und dass, wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, dass innen auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte werden, dann die zwei geraden Linien bei Verlängerung ins unendliche sich treffen auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind.«3

Die bereits erwähnte Suggestivkraft der euklidischen Geometrie stellt von vornherein jeden Versuch eines Beweises des Parallelenaxioms unter Vorbehalt: Nur aus den übrigen Axiomen abgeleitet kann ein Beweis zu erbringen sein. Das offenbare Funktionieren des Systems legt einen Ausschluss der Falschheit des Parallelenaxioms nahe; sein Widerstreben gegenüber jedem Beweisversuch seiner Richtigkeit brachte es jedoch in eine problematische Sonderstellung.

3

Euklid, Die Elemente. Bücher I-XIII, a.d. Griech. und hg. von Clemens Thaer, Reprint, Thun/Frankfurt a.M.: Deutsch ³1997, Buch I, Postulat 5 (Axiom 11).

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Der isolierte Status des Parallelenaxioms den übrigen euklidischen Axiomen gegenüber, also die stets unbefriedigend beantwortete Frage nach der berechtigten Zugehörigkeit zur geometrischen Axiomatik, begründet sicherlich die bis in das 19. Jahrhundert andauernde Beunruhigung der Gelehrten. Es begründet jedoch weniger ihr heftiges, sogar eigene Einsichten ignorierendes Sträuben, Antworten außerhalb euklidischer Axiomatik zu suchen. Eindringlicher wirken mag in dieser Hinsicht die offenkundig werdende Nötigung in die Konsequenz einer auf das Parallelenaxiom verzichtenden, dennoch gültigen Geometrie, deren Akzeptanz die für selbstverständlich gehaltene Denknotwendigkeit euklidischer Raumvorstellung sowie die Anschaulichkeit der Geometrie suspendiert.

2.2 Das Unendliche, die Bewegung und die Grenze Die Versuche zur Lösung des Parallelenproblems lassen sich in zweierlei Arten unterteilen: in eine direkte und in eine indirekte. Bei den Versuchen eines direkten Beweises scheitern jedoch selbst große Mathematiker, so Hans Reichardt, gerade an ihrer gründlichen Kenntnis des Euklid und verwenden »gesicherte Schlussweisen […] mit bestem Gewissen und in ganz unauffälliger Form«.4 Die Selbstverständlichkeit, mit der hier vorgegangen wird, lässt Prämissen in die Beweise einfließen, die das Parallelenaxiom in versteckter Form beinhalten. Es wird vorausgesetzt, was eigentlich erst zu beweisen sein soll. Problematischerweise finden auch Schlussweisen Verwendung, die so weder in den Axiomen, noch in der Logik enthalten sind. Die Anschaulichkeit der Axiome, so die Annahme Reichardts, verführt hier zu einer gewissen Bedenkenlosigkeit im Umgang.5 Hierein zählt er vor allem Stetigkeitsbetrachtungen sowie die Begriffe der ›Bewegung‹ und der ›Kongruenz‹.

2.3 Am Unendlichen gescheitert John Wallis (1616-1703) etwa gründet seine Beweisführung auf dem Ersatz des Parallelenpostulats durch die Forderung der Existenz ähnlicher Figuren.6 So formuliert er 1663 in einem öffentlichen Vortrag: »Zu jeder beliebigen Figur gebe es stets eine andere ihr ähnliche von beliebiger Größe.«7 Mit jedem Graphik-Programm lässt sich dies anschaulich darstellen: Man muss nur einen Kreis aufziehen, diesen kopieren und diese Kopie 4 5 6 7

Reichardt, Gauß, S. 17. Ebd., S. 16. Vgl. Oskar Becker, Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 41990 [1954], S. 170. Wallis, zit.n. ebd., S. 170.

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nach Belieben vergrößern oder verkleinern. Beide Figuren sind ›ähnlich‹, insofern sie sich quantitativ durch ihre Größe, nicht aber etwa durch veränderte Winkel und Seitenverhältnisse unterscheiden. Wallis’ Argumentation zielt nun darauf ab, dass es unter diesem Gesichtspunkt möglich sei, nicht nur Kreise, sondern jede beliebige Figur stetig und unbegrenzt zu vergrößern – also eigentlich bis ins Unendliche, womit Wallis vermeint, nun auch das euklidische Parallelenpostulat beweisen zu können.8 Letztendlich scheitert Wallis mit seinem Beweis an der Endlichkeit des topographischen Charakters der Figur, den er hier ins Feld führt: Ein Pfad, der logos, der die Orte diskreter Größen verbindet, ist die untergründige Annahme, gleichwohl eine hypothetische und ungeprüfte. – Eine Topologie steht dann genau hierfür ein: Ihr Interesse gilt den Beziehungspfaden der Orte untereinander, nicht dem Maß der Entfernung; notwendigerweise der Bewegung von Ort zu Ort als der einbegreifenden Funktion, womit eben einbezogen wird, was Wallis übergeht: die Unendlichkeit. Hundert Jahre nach Wallis spricht Lambert dazu eine Art Schlusswort, wenn er der dem Parallelenpostulat äquivalenten Forderung, jede Figur in jeder beliebigen Größe zeichnen zu können, eine Absage erteilt.

2.4 Unendlichkeit und Grenze »Jeder Körper verharrt in seinem Zustand des Ruhens oder des Sichgeradlinig-gleichförmig-Bewegens […].«9 – Entfernt ruft Isaac Newtons (1643-1727) erstes Bewegungsgesetz Erinnerungen an Euklid wach: Bewegt sich ein Körper, ohne dass eine Kraft auf ihn einwirkt, fort, wohin, in welche Unendlichkeit bewegt er sich dann? Das Endliche findet sein Genügen am Ort selbst. – Unendlichkeit kann nicht erreicht werden; auf sie geht man allenfalls zu wie auf die Wände des Horizonts und in dieser Bewegung entsteht so zwischen Horizont und einem konkreten Ort eine Relation. Newton kennt die Werke von John Wallis und sie mögen bei seiner Entwicklung des Infinitesimalkalküls inspirierend gewesen sein. Das Kalkül zeigt eine gewisse Ignoranz gegenüber den Objekten: Nicht diese, die Relation selbst ist das eigentliche Bezugsobjekt, das ›Zwischen-ihnenVerhältnis‹, die Bewegung von Ort zu Ort, von Zustand zu Zustand, dargestellt in der Differenz des einen vom anderen. Newtons Begriff des Punktes ist nurmehr der eines momentanen Zuwachses einer Linie, wie die Linie der einer Fläche und so fort. Der Gegenstand schrumpft ein zum ultimativen Schnappschuss einer Grenzpassage. Die Momentaufnahme bildet eine Wachstumsbewegung ab, nicht den präzise beschreibbaren Ge8 9

Vgl. ebd., S. 171. Isaac Newton, Die mathematischen Prinzipien der Physik, a.d. Lat. und hg. von Volkmar Schüller, Berlin/New York: de Gruyter 1999 [1687], S. 33.

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genstand. Geradezu präventiv erläutert Newton im abschließenden Scholium zum ersten Abschnitt des ersten Buches der Principia weiter: »Ein Einwand ist, dass die dahinschwindenden Größen überhaupt kein letztes Verhältnis besäßen […]. Doch die Antwort darauf ist leicht: […] [Man darf] unter dem letzten Verhältnis dahinschwindender Größen nicht das Verhältnis der Größen verstehen, bevor sie dahinschwinden, auch nicht das danach, sondern das, mit welchem sie dahinschwinden.«10

Ein Phänomen gleicht hier mehr einem vorbeihuschenden Phantom, dessen man nur im Verhältnis zweier Zustände situiert habhaft wird. Dabei bleibt jeder Gedanke an Substantialität außen vor: Das Interesse fokussiert sich auf den funktionellen Zusammenhang, dem es in einem Netz logischer Verbindungslinien nachzuspüren gilt. Mit Newton kommen die Gedanken ins Spiel, welche die Dinge in einer völlig anderen Weise erscheinen lassen. Gleichzeitig nehmen sie der Vorstellungswelt der Topologie etwas von ihrer Bizarrerie: Wo Grenzflächen als eingeschränkte Bereiche der Bewegung gekennzeichnet werden, kann folgerichtig auch der mit ihnen verbundene Gegenstand nicht in immobiler Starre verbleiben. Newtons Begriff des ›Punktes‹ ist eben keiner eines finalen Zustandes, sondern derjenige der aufsummierten Bewegungen, in denen jeweils der eine Momentanzustand um den anderen anwächst. Linien lassen sich so mit Zuwächsen eines Punktes um einen weiteren gleichsetzen, Flächen mit denen einer Linie um eine weitere, Körper mit denen der Fläche. Die Bewegung selbst ist die Aufsummierung ineinander verschachtelter Bewegung und in dieser Gleichsetzung als Fluktuation werden Linien, Flächen und Körper austauschbar. Der Gedanke, in der Wachstumsbewegung aus der einen Dimension in die andere, aus jedem Körper selbst wieder die Begrenzung eines anderen werden zu lassen, hat einerseits die darin verborgene Konsequenz der Denkbarkeit der Flächen als Körper, wie andererseits der Möglichkeit jener mehrdimensionalen Gebilde mit aus Körpern gebildeten Begrenzungsflächen. Denn die Reihe lässt sich über beliebig viele Dimensionen fortsetzen, wobei hier augenfällig wird, wie in Bezug auf das n-dimensionale die Rede von so etwas wie ›Fläche‹ oder ›Körper‹ zur Unsinnigkeit geraten muss.

2.5 Grenzen, Mengen, Klassen Rückgreifend auf diese Grundvorstellung eines Momentums des Verschwindens, das, gewissermaßen als Grenzlinie, zwei Länder – das des Existierenden und das des nicht mehr Existierenden – voneinander trennt, 10 Ebd., S. 57f.

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wird es mit dem Jesuiten Gerolamo Saccheri (1667-1733) in der Parallelendiskussion möglich, einen anderen Strang der Argumentation aufzunehmen. Gedanklich rückt er hier an Lobatschewskij heran, der in seiner auf ähnlichen Vorstellungen aufbauenden Argumentation der nichteuklidischen Geometrie mit zu ihrem Durchbruch verhalf: Saccheri arbeitet mit einer dem Parallelenaxiom äquivalenten Aussage, dass nämlich die Summe der Innenwinkel eines Dreiecks gleich zweier rechter Winkel sei. Dass Saccheri hier ein Beweismodell einführt, welches auf die Dreiecksfigur abstellt, rührt einerseits wohl von der Frage her, wie es um diese Figur – vor dem Hintergrund des Endlichen wie auch des Unendlichen – bestellt ist. Andererseits schwingt hier auch eine durch das Triangulationsverfahren gerechtfertigte Auffassung mit, jede Theorie finde in der Messbarkeit geodätischer Dreiecke ihre wirkliche Bestätigung. Zunächst beginnt Saccheri auf einer Geraden in den Punkten A und B zwei gleichlange Senkrechte zu errichten, wobei er deren Endpunkte C und D durch eine Gerade verbindet. Diese würde man gewöhnlich (euklidisch) als Parallele ansprechen. Gauß’ Studienfreund Farkas Bolyai (17751856) glaubt ein dreiviertel Jahrhundert später in ähnlicher Weise einen Beweis präsentieren zu können, indem er ebenfalls auf einer Geraden in gleichen Abständen Senkrechte errichtet und die Endpunkte verbindet. Gauß weist jedoch seinen Freund auf das Irrige seines Gedankenganges hin, wenn dieser ungerechtfertigerweise eine durch das Parallelenaxiom erforderliche unendliche Konstruktion durch eine endliche ersetzt.11 – Die Frage lautet ja, was passiert tatsächlich auf dem Weg gegen ›unendlich‹? Die Idee Saccheris ist es nun, sein jetzt konstruiertes Rechteck so zu betrachten, als gelte das Parallelenaxiom nicht; es also indirekt zu beweisen, indem er zeigt, wie eine solche Annahme zu Widersprüchen führt. – Es ergeben sich ohne die Voraussetzung des Parallelenaxioms drei mögliche Hypothesen: a) Im Falle der euklidischen Geometrie ist die Winkelsumme im Dreieck gleich zweier rechter Winkel; b) die Winkelsumme ist größer als zwei rechte und c) sie ist kleiner. Am Rechteck betrifft dies die Frage der Winkel an den Punkten C und D. Die Hypothese des stumpfen Winkels zu widerlegen, bereitet Saccheri keine Schwierigkeiten – bei der dritten Hypothese des spitzen Winkels gelingt es ihm dagegen nicht, Widersprüche abzuleiten, welche die Annahme der Ungültigkeit des Parallelenaxioms eigentlich hervorbringen müsste. Bei seinem Gegenbeweis bedient sich Saccheri eines Ansatzes, der wieder an die obigen Ausführungen zu Newton heranführt: Den Ausgangspunkt bildet eine etwas andere Formulierung des euklidischen Axioms, nach der durch einen Punkt P, der außerhalb einer Geraden AB liegt, es nur eine Gerade zu ziehen möglich sei, die zu AB parallel verläuft. Saccheri betrachtet dies nun vor dem Hintergrund einer nicht mehr endli11 Vgl. Walter K. Bühler, Gauß, Berlin/Heidelberg: Springer 1987 [1981], S. 96.

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chen Konstruktion hinsichtlich ihrer Grenze. Im Bündel all der Geraden die durch den Punkt P verlaufen, gibt es zwei – p und q – welche die übrigen Geraden in zwei Gruppen trennen: solche, die AB schneiden, und solche innerhalb des durch p und q gebildeten Winkels Į, die ein mit AB gemeinsames Lot irgendwo auf AB haben. Die Grenzwertigkeit von p und q ist der springende Punkt: Beide sieht Saccheri als asymptotisch zu AB, und dies, so schließlich sein Fazit, wiederlege die Hypothese des spitzen Winkels, da »sie nämlich zwei gerade Linien zulassen müsste, die in einem und demselben Punkte in derselben Ebene ein gemeinsames Lot hätten«.12 Überzeugen kann Saccheris Argumentation nicht: Den Beweis für die Hypothese des spitzen Winkels nennt der Philosoph und Mathematiker Oskar Becker schlicht »missglückt«.13 – Dennoch bedeutet Saccheris Ansatz eine Neuerung, indem er einen Raum betrachtet, der unterschiedliche ›Mengen‹ beinhaltet. In dieser Form werden weniger substantialistisch geartete Verortungen einzelner Geraden, als vielmehr Mengen an Geraden bzw. Möglichkeiten innerhalb eines Spielraums insgesamt beurteilt. Die Parallele schlüpft aus dem Grenzübergang in ihre Objekthaftigkeit als ein makrokosmischer Normalfall, der jedoch nur ein sichtbares Extrem der Menge des Möglichen darstellt. Johann Heinrich Lambert (1728-1777), der Saccheris Konstruktion übernimmt und ausbaut, kommt in Gegensatz dazu zu dem Schluss, dass sich nicht einmal aus der Hypothese des stumpfen Winkels ein Widerspruch ableiten lasse. Lambert zieht vielmehr die wegweisende Konsequenz, es müssten sämtliche Hypothesen zu jeweils in sich konsistenten Geometrien führen, legte man statt ebener sphärische bzw. hyperbolische Flächen zu Grunde. Lambert spricht der zweiten Hypothese bei Dreiecken auf einer Kugeloberfläche ihre Gültigkeit zu; auch sieht er für die dritte keine Inkonsistenz, handelt es sich dabei um Dreiecke auf einer imaginären Kugel. Für die Zukunft beginnt sich hier die Erkenntnis einer NichtBeweisbarkeit des Parallelenaxioms abzuzeichnen und es taucht damit die Ahnung auf, der man zunächst mit großem Widerwillen begegnet: Dass nämlich die euklidische Geometrie nicht mehr die allein mögliche sein muss.

12 Saccheri zit.n. Becker, Grundlagen, S. 172. 13 Ebd., S. 173.

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2.6 Jenseits euklidischer Grenzen Nicolaj Iwanowitsch Lobatschewskij (1792-1856), der neben János Bolyai (1802-1860), dem Sohn des Studienfreundes von Gauß, als der eigentliche Begründer der nicht-euklidischen Geometrie gilt, lehrt Mathematik an der Universität von Kasan, wo er Schüler von Johann M.C. Bartels (17691836) gewesen ist, dem einstigen ›Mathematiknachhilfelehrer‹ des zehnjährigen Gauß. – Lobatschewskij übernimmt den Ansatz Saccheris: Wieder teilen sich die bezüglich einer Geraden AB durch einen Punkt P gehenden Geraden in zwei Klassen auf: solche, die AB schneiden, und solche, die es nicht tun. Auch die beiden, ›parallel‹ genannten, Geraden p und q erscheinen erneut als Markierung der Grenze zwischen beiden Klassen und einem ›Parallelwinkel‹ ʌ(a). Das a verweist auf die Abhängigkeit des Winkels vom Abstand a des Punktes P zur Geraden AB und dies führt zu folgenden Konsequenzen: Fällt man das Lot von P auf AB, dann schneiden alle Geraden durch P AB, die mit dem genannten Lot einen Winkel kleiner als ʌ(a) einschließen. Die Geraden des entgegengesetzten Falls, deren Winkel also größer ʌ(a) ist, heißen ›nicht-schneidend‹ oder ›überparallel‹ und man stellt fest: Es gibt derer unendlich viele.14 Bilden die Geraden p und q, wie bereits erwähnt, den Grenzfall der Parallele im euklidischen Sinn, bedeutet dies zum einen, der Winkel ʌ(a) = 90°, zum andern, so Lobatschewskij, alle übrigen Fälle bewegen sich innerhalb der beiden Extreme 90° bzw. 0°. Dies folgt aus der Abhängigkeit zu Abstand a, denn der Parallelwinkel strebt dann gegen 90°: Wenn sich der Punkt P der Geraden AB nähert und gegen 0°, bewegt sich P gegen unendlich von AB weg. Entsprechend kommt man zu einer Einsicht, die bereits bei Lambert anzutreffen ist: Bei einer Winkelsumme kleiner als 180° im Dreieck, was der Annahme des spitzen Winkels entspricht, finden sich unendlich viele Parallelen auf einer hyperbolischen Ebene, einer Fläche mit konstanter negativer Krümmung. Ist die Winkelsumme größer, finden sich keine Parallelen. Dies gilt für eine elliptische Geometrie bzw. auf der Kugeloberfläche.15 Eigentümlicherweise scheint ausgerechnet der Grenzfall den Normalfall darzustellen: Das Extrem tritt hier anschaulich hervor, während der durch den theoretischen Kontext gegebene Normalfall sich einer solchen Anschaulichkeit entzieht. Insgeheim einen Nachweis der Nicht-Euklidizität der Natur erhoffend, unternimmt Gauß die Vermessung eines sehr großen Dreiecks: Von 1821 bis 1823 zieht seine geodätische Raupe ihre Schneise gefällter Bäume und errichteter Türme durch das Königreich Hannover hindurch bis hin in das damals dänische Altona. Geodäsie unter 14 Vgl. Jeanne Peiffer/Amy Dahan-Dalmedico, Wege und Irrwege. Eine Geschichte der Mathematik, a.d. Franz. von Klaus Volkert, mit einem Vorwort von Klaus Volkert, Basel/Berlin/Boston: Birkhäuser 1994 [1986], S. 159. 15 Vgl. ebd. S. 160.

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zeitweilig widrigsten natürlichen und infrastrukturellen Bedingungen, denen zum Trotz Gauß es zwischen dem Hohen Hagen, dem Inselsberg und Brocken gelingt, ein außergewöhnlich großes Dreieck zu vermessen. Ein Gelingen des Nachweises der Nicht-Euklidizität bleibt Gauß dagegen versagt: So muss er denn in einem Brief vom 1. März 1827 an Olbers die Unmöglichkeit eines solchen eingestehen, »weil in der That bei den größten Dreiecken, die sich auf der Erde messen lassen, diese Ungleichheit in der Vertheilung unmerklich wird«.16

2.7 Über alle Größen hinaus, in neue Geometrien hinein Den nicht-euklidischen Charakter der Natur zeigen zu können, mag Lobatschewskij wohl auch zu dem Vorschlag bewogen haben, Dreiecke aus Sternen zu vermessen.17 Die Dimensionen und Größenordnungen, in denen gedacht wird, beginnen sich offensichtlich fast beiläufig zu verändern. – Lobatschewskij stellt bei seiner Untersuchung zum Parallelenaxiom in Bezug auf die Fläche des Dreiecks fest: Sie wachse, so wie die Winkelsumme kleiner als 180° zu werden beginne, und gehe gegen Null, nähere sich die Winkelsumme 180° an. Die Flächeninhalte haben demnach keine beliebige Größe, sondern bleiben innerhalb fester Grenzen. Ein Zusammenhang auf den bereits Lambert hinweist: »Bey der zwoten Hypothese kommen ganz ähnliche Sätze vor, nur daß dabey in jedem Triangel die Summe der drei Winkel größer als 180 Gr. wird. Der Ueberschuß proportionirt sich ebenfalls nach dem Flächenraume des Triangels.«18

Die Größe der Dreiecksfläche ist also nicht in einem unabhängigen Verhältnis zur Summe seiner Winkel zu sehen. Aus der Winkelsumme erschließt sich der Krümmungscharakter der Fläche. Nurmehr für eine euklidische Ebene bzw. für ein in der menschlichen Lebenswelt erfahrbares Stück Oberfläche, dessen Krümmung zu gering ist für den experimentellen Nachweis einer von der euklidischen abweichenden Geometrie, bliebe die Größe oder Kleinheit dieses Stückes unerheblich und ließe sich aus dem menschlichen Größenmaßstab heraus als die gleiche Figur beliebig verkleinert und vergrößert denken. Unter den Bedingungen extremer Größen hat man es jedoch mit Geometrien zu tun, welche die Flächen biegen. Das Ende eines mechanistischen Weltmodells umkehrbarer Prozesse zeigt sich in ersten Andeutungen. Mit welcher Geometrie man es nun zu tun hat, erkennt man, wie János Bolyai bemerkt, an einer Konstante: Ist diese Konstante hinreichend klein, 16 Gauß, zit.n. Bühler, Gauß, S. 103. 17 Vgl. ebd., S. 97. 18 Lambert, zit.n. Reichardt, Gauß, S. 22.

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ist man beliebig nahe dem Bereich der euklidischen Geometrie.19 Dieser Umstand, die euklidische Geometrie nurmehr als einen Extremfall unter unendlich vielen Möglichkeiten innerhalb eines integralen Kontextes zu sehen, rückt die Diskussion auf eine neue Ebene. – Um ins Bild des Newtonschen Kalküls zurückzukehren: Die euklidische Geometrie geht als differenzierbarer örtlicher Moment im Graphen ihrer Kurve auf. Mithin gilt es den Weg in anderer Richtung zu beschreiten, das heißt aus der topographischen Beschränkung heraus in einem integralen Kontext die bestimmende Konstante aufzusuchen. Das in den Ort Hineinbeschreiben aus distanzierter Position wird in ein Hinausbeschreiben aus dem gegebenen Ort gewendet. Gauß befasst sich mit der fraglichen Konstante als die der Krümmung einer Fläche, die an ihrem Nullpunkt wie die sichtbare Spitze des Eisbergs aus dem Meer ragt. – Und Gauß behandelt die Fläche in einer eisberglichen Gegenständlichkeit, die sich der Anschaulichkeit weitgehend entzieht.

3 Flächen, Körper und neue Welten 3.1 Die neue Unanschaulichkeit In Lamberts Schrift zur Theorie der Parallellinien von 1766 finden sich über das eigentliche Thema hinaus noch einige weitere interessante Bemerkungen: Was er dort im elften Paragraphen seiner Abhandlung fordert, ist nichts weniger, als die Abkehr von jeder Anschaulichkeit, die Abstraktion von »der Vorstellung der Sache«.20 – Erlaubt sein solle die Zeichnung nur noch als »Leitfaden«: »[S]o kann und soll gefordert werden, dass man sich in dem Beweise nirgends auf die Sache selbst berufe, sondern den Beweis durchaus symbolisch vortrage […]. In dieser Absicht sind ›Euklids Postulata‹ gleichsam wie eben so viele algebraische Gleichungen […] aus welchen ›x, y, z‹ etc. herausgebracht werden soll, ohne dass man auf die Sache selbst zurücke sehe.«21

Lambert fordert, um zu zweckdienlichen Lösungen zu kommen, die Freilegung der logischen Struktur der Dinge. – Im Vorgriff benennt dies den Weg, den Gauß, Bolyai, Lobatschewskij und Riemann im 19. Jahrhundert beschreiten werden: Logischer Kohärenz zu genügen, anstatt der Anschaulichkeit, beraubt den alleinigen Gültigkeitsanspruch der euklidischen Geometrie seiner Grundlagen, stellt gleichzeitig aber die Frage nach dem

19 Vgl. Christoph J. Scriba/Peter Schreiber, 5000 Jahre Geometrie, Berlin: Springer 2000, S. 395f. 20 Lambert zit.n. Becker, Grundlagen, S. 174. 21 Lambert, zit.n. ebd., S. 175.

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Realitätsbezug der Mathematik neu.22 Wie bedeutungsvoll Lamberts Forderung ist, wird deutlich, wenn man bei topologischen Gegenständen sich bewusst macht, dass diese allein über mathematisch-logische Strukturen zu erschließen sind. Angesichts der Eigenart topologischer Objekte verweigert sich eine zeichnerische Darstellung in ihrer andeutenden Skizzenhaftigkeit einer über die eines bloßen Leitfadens hinausgehenden Rolle.

3.2 Die Vermessenheit des Unanschaulichen Die Arbeiten, in denen Gauß das Thema gekrümmter Flächen behandelt, entstehen in der Nachfolge seiner Vermessungsarbeiten als deren theoretische Aufarbeitung. Dass dies so gesehen werden kann, bestätigt Gauß selbst in einem Brief an Bessel: »Alle Messungen der Welt wiegen nicht ein ›Theorem‹ auf […]. Aber sie sollten nicht über den absoluten sondern über den relativen Werth urtheilen. Einen ›solchen‹ haben ohne Zweifel die Messungen […].«23 Bereits die Anfangsüberlegungen zur Allgemeinen Flächentheorie sind mit geodätischen Überlegungen verwandt: »Was wir im geometrischen Sinn Oberfläche der Erde nennen, ist nichts anderes als diejenige Fläche, welche überall die Richtung der Schwere senkrecht schneidet […].«24 – Abstrakt formuliert heißt dies: Eine solche SchwereLinie, eine Normale, kann auf einem beliebigen Punkt einer gekrümmten Fläche errichtet und parallel dazu der Radius einer Hilfskugel gezogen werden. Der Endpunkt der Linie des Radius markiert auf der Kugeloberfläche die Entsprechung des Punktes auf der krummen Fläche. Auf diese Weise entspricht auch jede Linie auf der Kugeloberfläche einer Linie auf der krummen Fläche und jedes Flächenstück auf jener dem Flächenstück auf dieser. Vergleicht man die Größe zweier solcher Flächen, stellt man fest, dass das Flächenstück auf der Kugel umso kleiner wird, je weniger sein entsprechendes Flächenelement von der Ebene abweicht. Die Totaloder Gesamtkrümmung einer Fläche ergibt sich aus der Messung des Flächeninhalts ihrer Abbildung auf der Kugel. – Von dieser unterscheidet Gauß die »specifische Krümmung, die wir das ›Krümmungsmaass‹ nennen wollen. Dieses letztere bezieht sich auf einen ›Punkt‹ einer Fläche und soll den Quotienten bezeichnen, der entsteht, wenn die Gesamtkrümmung des an dem Punkte liegenden Oberflächenelements durch den Flächeninhalt des Elements selbst dividirt wird;

22 Vgl. Peiffer/Dalhan-Dalmedico, Wege und Irrwege, S. 162. 23 Gauß zit.n. Gerd Biegel/Karin Reich, Carl Friedrich Gauß, Braunschweig: Meyer 2005, S. 178. 24 Gauß zit.n. ebd., S. 175.

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dasselbe giebt also das Verhältnis unendlich kleiner Flächen, die einander auf der krummen Fläche und der Hülfskugel entsprechen.«25

Neben der Größenbetrachtung gibt es noch einen zweiten Gesichtspunkt: den der Lage: Laufen zwei Linien in unterschiedliche, nicht jedoch entgegengesetzte Richtungen, findet sich auf der Hilfskugel ihr Bild auf derselben Seite. Im Fall, dass beide Linien entgegengesetzt verlaufen, liegen auch auf der Hilfskugel ihre Bilder auf entgegengesetzten Seiten. Ein negatives bzw. positives Vorzeichen des Krümmungsmaßes macht diesen Gegensatz kenntlich.26 Das Gaußsche Krümmungsmaß beschreibt demnach das Verhältnis zweier Figuren zueinander, »deren eine gleichsam ein Bild der andern ist […].«27 Diese selbstbezügliche Relation impliziert die Ausschließlichkeit des Abzubildenden, in dessen projiziertem Bild seine Eigenschaften – auf die wesentlichen reduziert – zum Ausdruck kommen sollen. Die Hilfskugel als Projektionsfläche bildet dabei den Rahmen eines systematischen in der Theorie unterstellten Ganzen. Insofern findet hier die von Gauß stets zu ignorieren gesuchte philosophische Deutung doch ihren Niederschlag: Denn Kants Wende hin zum ›Ich‹ hat hier eine Entsprechung in der Verlagerung einer der Welt gegenüber positionierten Geometrie in die Welt hinein. Die Vergewisserung über den Gegenstand, die diese Geometrie dem Menschen abverlangt, ist die aus einer auf dem Gegenstand selbst situierten Position: Ob Kugel oder Zylinder, was immer sie unterscheidet, bestimmen Eigenschaften, die nicht im sie umgebenden Raum zu finden sind. Das topologische Bemühen gleicht dem allgemein menschlichen, wenn es zu bestimmen gilt, welcher Art der Körper, auf dem der Mensch umherwandert, ist, aber den er auf Grund seiner Größe nie sich zu diesem Zweck vor Augen stellen kann: Säße jemand in einem Zug, woher wüsste er, ob dieser Zug über eine Kugel oder etwa ein riesiges Möbiusband führe? Eine Eigenschaft, die das Band von der Kugel unterscheidet, ist seine Nichtorientierbarkeit: Auf der Kugel führe ein Zug, einmal aufs Gleis gesetzt, in die eine Richtung, Rangiervorrichtungen seien ausgeklammert, mit der Lokomotive immer an der selben Position. Bei einem Möbiusband kehrte sich der Zuglauf um – ganz ohne Rangierbahnhof. Lamberts Ahnung, dass diese Eigenschaften aus logischen Strukturen und nicht aus der Anschaulichkeit zu erschließen sind, wird hier konkretisiert. Die Abstraktheit des ›Krümmungsmaßes‹ kennzeichnet das Bestimmungsinstrumentarium desjenigen, dem der Blick vom Himmel herunter verwehrt ist und dem nur aus seinem Ort heraus zu agieren übrig bleibt. 25 Carl Friedrich Gauß, »Allgemeine Flächentheorie«, a.d. Lateinischen von Albert Wangerin, in: Gaußsche Flächentheorie, Riemannsche Räume und Minkowski-Welt, hg. von Johannes Böhm und Hans Reichardt, Leipzig: Teubner 1984, S. 15-65 [1827], hier S. 25. 26 Vgl. ebd., S. 26. 27 Ebd., S. 25.

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3.3 Neue Räume, neues Maß Es sind zwei weitere Gedanken in der Flächentheorie von Gauß, die in ein breites Feld der Zukunft hineinführen: Dazu gehört einmal die Erkenntnis, jede Fläche auf eine andere abwickeln zu können, wie zum Beispiel die Oberflächen von Kegeln, Zylindern usw. in eine Ebene. – Vorausgesetzt, das Krümmungsmaß bleibt in jedem Punkt unverändert. Ohne Probleme lassen sich Flächen auf anderen ähnlichen Flächen bewegen; so beispielsweise auf einer euklidischen Ebene, deren Krümmungsmaß Null ist, alle Flächen mit dem Krümmungsmaß Null. – Was aber, so die weitere Überlegung von Gauß, »[f]alls man […] die Flächen nicht als Grenzen von Körpern, sondern als Körper, deren eine Dimension verschwindend klein ist, und zugleich als biegsam, aber nicht als dehnbar betrachtet, [dann] hängen die Eigenschaften einer Fläche theils von der Form ab, welche dieselbe gerade angenommen hat, theils aber sind sie absolute und bleiben ungeändert, in welche Form jene auch gebogen wird«.28

Die Eigenwilligkeit dieser Überlegung übersieht man erst in ihren Konsequenzen, die in einer Geometrie zutage treten, die es mit Körpern zu tun hat, deren Formen keinen festen Zustand mehr innehaben, vielmehr durch die stets mögliche Verformbarkeit, den Wechsel ihrer Zustände gekennzeichnet sind. Körper, die also nie im bloßen Augenschein, in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen, sondern allein über ihnen unverwechselbar eigene Strukturen als identisch erkenntlich sind. Bernhard Riemann (1826-1866) treibt in seiner Abhandlung Ueber die Hypothesen, welche der Mathematik zu Grunde liegen die Gedanken von Gauß weiter voran: Riemann ist es um eine allgemeinere Form zu tun, weshalb er den Begriff der ›Mannigfaltigkeiten‹ einführt, denn erkenntlich ist bei diesen, »dass sich die Verhältnisse der zweifach ausgedehnten geometrisch durch Flächen darstellen und die der mehrfach ausgedehnten auf die der in ihnen enthaltenen Flächen zurückführen lassen«.29 Von Gauß übernimmt Riemann dabei den Grundsatz der Abstraktion von den äußeren Verhältnissen: Flächen kann man unter Beibehaltung ihrer inneren Maßverhältnisse biegen und »alle so auseinander entstehenden Flächen als gleichartig betracht[en]«.30 Riemanns Ziel ist es jedoch, dieses auf ndimensionale Mannigfaltigkeiten auszuweiten, was den Raum nunmehr selbst als eine ebenso biegbare dreidimensionale Mannigfaltigkeit einbegreift. An dieser Stelle beginnt der Kreis sich zu schließen: Mit seinen Überlegungen zum Unmessbargroßen und -kleinen rührt Riemann wieder an 28 Ebd., S. 39. 29 Bernhard Riemann, »Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen«, in: Gaußsche Flächentheorie, S. 66-83 [1876], hier S. 76. 30 Ebd.

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die Frage nach der Zulänglichkeit menschlicher Erfahrung, die sich bei Lamberts Erkenntnis eines Zusammenhangs von Flächengröße und Winkelsumme im Dreieck bereits angedeutet hat; so besitzt die Unbegrenztheit des Raumes ein hohes Maß an empirischer Gewissheit, da der in der Wirklichkeit wahrgenommene Bereich fortwährend ergänzbar ist. – Eine solche Gewissheit hinsichtlich der Unendlichkeit ist jedoch keineswegs zwingend: Der Raum, so Riemann, sei vielmehr, ein konstantes Krümmungsmaß vorausgesetzt, »nothwendig endlich […], so bald dieses Krümmungsmaß einen noch so kleinen positiven Werth hätte«.31 Die Fläche des Raums krümmte sich dann zu der Gestalt einer endlichen Kugelfläche. Eigentliche Bedeutung besitzt, zumindest für Riemann, die Frage nach dem Unmessbarkleinen, da auf der Genauigkeit der Erforschung des Unendlichkleinen »wesentlich die Erkenntnis« der Kausalzusammenhänge beruht.32 Die Möglichkeit liegt aber nicht so fern, dass »man aus den Maßverhältnissen im Grossen nicht auf die im Unendlichkleinen schließen« kann:33 »[D]ie empirischen Begriffe, in welchen die räumlichen Maßbestimmungen gegründet sind, [fester Körper, der Lichtstrahl] im Unendlichkleinen ihre Gültigkeit verlieren; es ist also sehr wohl denkbar, dass die Maßverhältnisse des Raumes im Unendlichkleinen den Voraussetzungen der Geometrie nicht gemäß sind […].«34

Die Problematik der Vereinbarkeit von Makro- und Mikrokosmos, von Relativitäts- und Quantentheorie, davon gibt Riemann hier eine erste Vorstellung. Eine quantenphysikalische Welt wird dem 20. Jahrhundert so befremdlich erscheinen wie die nicht-euklidische dem Jahrhundert davor.

4 Am E n d e : d i e n e u e n P o s t u l a t e Am Anfang steht, man erinnert sich, die Beunruhigung des Parallelenproblems. Der Versuch, diese Fehlstelle im sonst scheinbar wohlgeordneten Weltgefüge zu schließen, endet in der Sprengung des alten euklidischen Gebäudes. Der Funkenflug geht nieder und trifft so manches Pulverfass und löst neue Explosionen aus, neue Brände, die mühsam erneuerte wie bisher unversehrte Mauerwerke zerbersten lassen. Die neue nicht-euklidische Geometrie setzt sich durch und der alte Widerwillen schwindet langsam angesichts zukünftiger Chancen. Körper neu denken bedeutet, das bewegte Objekt, nicht die statische, festgefügte Form denken. Das von Lambert skizzierte Skelett logischer Struktur ist dann der Körper, den Gauß im Fortgang seiner sich ändernden Formen, 31 32 33 34

Ebd., S. 80. Ebd., S. 81. Ebd. Ebd.

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anhand seiner spezifischen unverwechselbaren Eigenschaften heraus zu kennen sucht, weil er gegenüber dem umgebenden Raum autonom bleibt und sich so durch jeden Raum bewegen lässt. Einem großen Teil der Menschheit wird dieser Körper einst bekannt, wenn er als computeranimierter Saurier durch den Jurassic Park Spielbergs stapft. Werden die Flächen elastisch, wachsen sie in abstrakter Mannigfaltigkeit durch die Dimensionen, entstehen Körper in Gestaltungen, die für das menschliche Auge allenfalls skizzierbar, ansonsten nur in einer abstrakt mathematischen Sprache beschreibbar sind. Man wundert sich wenig, im Vorhof dieser Geometrie des Elastischen, dieser gerade sich zu formieren beginnenden Topologie, Gauß-Schüler wie Möbius oder gar Listing zu treffen. Wo die Topologie Befremden hervorruft, öffnen sich bei Riemann die Herausforderungen neuer Abgründe: Das unermesslich Kleine, das unermesslich Große bezeichnen Welten – freilich, man ahnt es: Welten, die gegenüber der dem Menschen alltäglich vertrauten Welt so irritierend fremd erscheinen, ja außerhalb der Möglichkeiten des Erkennens liegen. Das Große betreffend, hat Einsteins Relativitätstheorie ein gewisses Gewöhnen an die Vorstellung gekrümmter Räume hergestellt. Im andern Fall trägt die Befürchtung Riemanns, die Geometrie könne hier aus den Fugen geraten, in die Quantentheorie hinein, deren durch sie ausgelöste Irritationen neuen Wissenschaftlergenerationen ›Parallelenpostulate‹ der Gegenwart bescheren.

Zw ischen Gedankenbrücken und Erfindungsufern: Leonhard Eulers Poetologie des Ra ums WLADIMIR VELMINSKI

An Friedrich Kittler

a Das-ist-das-Haus-vom-Ni-ko-laus Kinderreim

Das Unterwegssein von Sendungen und Menschen ist mit der technischen Anordnung des Raums verwebt. Bevor ein Postbote Briefe austrägt, ein Passant via Rolltreppe in den Metroschacht hinabrauscht oder der Nikolaus durch den Schornstein rutscht, müssen die Kennzeichen aller Nachrichten und aller Stationen nach ihren Lagen studiert sein. Denn ganz gleich, wie lange ein Weg per Post oder U-Bahnfahrt auch sein mag, er muss so geplant werden, dass jeder Aufenthaltsort, Knotenpunkt, jede Schaltstelle möglichst nur einmal passiert wird. Eine Aufgabe, vor der jeder Besucher einer Großstadt steht, bevor er auf Sightseeing-Tour geht. Eine Aufgabe, die indes auch die Müllabfuhr gelöst haben muss, bevor sie die Straßen einer Stadt abfährt und die Mülltonnen leert. Eine Aufgabe, mit der sich auch Penelopeia über den Zeitraum von vier Jahren beschäftigt, während sie auf den seit 20 Jahren verschollenen Odysseus wartet und für dessen Vater ein Leichentuch webt, um ihre Freier auf Distanz zu halten: Trüglich zettelt’ ich mir in meiner Kammer ein feines, übergroßes Geweb und sprach zu der Freier Versammlung: Jünglinge, die ihr mich liebt nach dem Tode des edlen Odysseus,

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dringt auf meine Vermählung nicht eher, bis ich den Mantel fertig gewirkt (damit nicht umsonst das Garn mir verderbe!) welcher dem Helden Laɺrtes zum Leichengewande bestimmt ist wann ihn die finsteren Stunden mit Todesschlummer umschatten.1

Jeden Tag webt sie an dem Mantel für Odysseus Vater, »aber des Nachts, dann trennte sie’s auf beim Scheine der Fackeln.«2 Abbildung 1: Penelopeias listige Textilarbeit. So wie Penelopeias listige Textilarbeit mit Odysseus’ Irrfahrten und somit auch Homers Gesang verwebt ist, webt sich die Mathematik in Mäntel und Räume ein, kreiert Muster und löst diese wieder auf. Ein Muster dieser Art stellte im 18. Jahrhundert die Einwohner von Königsberg vor ein Rätsel: Wie konnte man alle sieben Brücken über den Fluss Pregel – die zwei Inseln miteinander und mit den beiden Ufern verbanden – überqueren und dabei jede Brücke nur einmal betreten? Die Lösung dieser Aufgabe durch den Schweizer Mathematiker Leonhard Euler bildet die Grundlage der Graphentheorie und ihr Ausbau sollte neue topologische Muster kreieren.

b ɉɨɞɴɟɯɚɥ ɫɨ ɡɜɨɧɤɚɦɢ ɩɨɱɬɨɜɵɣ ɬɚɪɚɧɬɚɫ. Ɇɨɤɪɵɣ ɩɨɱɬɚɥɶɨɧ ɜɨɲɟɥ ɜ ɤɚɛɚɤ, ɜɵɩɢɥ ɫɬɚɤɚɧ ɜɨɞɤɢ ɢ ɜɵɲɟɥ. ɉɨɱɬɚ ɩɨɟɯɚɥɚ ɞɚɥɶɲɟ. Anton ýechov

Ein Postbote trägt den Brief mitsamt Brücken-Rätsel im März des Jahres 1736 zu Leonhard Euler nach St. Petersburg. Der Bürgermeister der zu Königsberg benachbarten Stadt Danzig, Carl Leonhard Gottlieb Ehler, und der dortige Mathematiklehrer Heinrich Kühn schildern in dem Schreiben ihr Anliegen:

1 2

Homer, Odyssee, XIX, Vers 145. Ebd.

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»Ihr werdet mir und unserem Herrn Kühn Freude bereiten und unsere große Dankbarkeit erlangen, wenn Ihr gelehrter Herr erwünscht die Lösung einer Euch wohl sehr bekannten Aufgabe über die Verteilung der sieben Königsberger Brücken mit einem Beweis an uns zu schicken. Es wird eine Arbeit sein, die Euch für zahlreiche Berechnungen Möglichkeiten bietet und welche die Aufmerksamkeit Eures Genies verdient. Eine Skizze lege ich bei.«3

Abbildung 2: Skizze der Königsberger Brücken von Carl Leonhard Gottlieb Ehler. In der beiliegenden Skizze (Abb. 2) sind alle nötigen Details verzeichnet: die Stadtteile, die Inseln und ihre Namen, der Fluss und seine Stromrichtung und natürlich alle sieben Brücken: Grüne-, Köttel-, Hönig-, Schmiede-, Krämer-, Hohe- und die Holzbrücke. Im Brief vermutet Ehler, dass diese Aufgabe in den Bereich der Geometrie der Lage (Geometria situs) gehören könnte, so wie sie Gottfried Wilhelm Leibniz und seit kurzem auch Christian Wolff propagierten. Euler scheint der Brief zunächst zu verwirren, sind ihm doch die Aufgaben, die Leibniz bzw. Wolff behandelt haben sollen, nicht bekannt. Zum anderen verwundert ihn, dass bislang niemand die Aufgabe der Königsberger Brücken gelöst haben soll, denn das Problem sei sehr überschaubar und »die Lösung basiert nur auf reiner Argumentation, die keiner Notwendigkeit bedarf, irgendwelche Mathematik angehörigen Gesetze heranzuziehen«.4 Indes widmet sich Euler der Aufgabe und am 13. März 1736 macht er den italienischen Mathematiker Giovanni Jacobo Marinoni, seinen neuen Brieffreund, mit dem Problem und dessen Lösung vertraut, ist dieser doch zu der Zeit auf einem verwandten Forschungsfeld tätig: Marinoni setzt sich in Wien mit Fragen der Kartographie und Astronomie auseinander, während Euler in St. Petersburg Stadt- und Landkarten des Russischen Reiches erstellt. Die Erklärung des Königsberger Brückenproblems hält Euler für »banal«, doch da der Lösungsweg, wie er schreibt, »weder Geometrie, weder Algebra, weder der Kunst der Kombinatorik« angehöre,

3 4

Brief Carl Leonhard Gottlieb Ehlers an Leonhard Euler vom 9. März 1736, St. Petersburger Archiv der Akademie der Wissenschaften, f. 1, op. 3, Nr. 21, Blatt 33-36. Ebd., Blatt 37.

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verdiene die Aufgabe seine Aufmerksamkeit und »könne der Geometrie der Lage angehören von der Leibniz sprach«.5 Abbildung 3: Skizze der Königsberger Brücken von Leonhard Euler. Eulers Aufschreibexperiment beginnt mit einer Codierung der Königsberger Brücken. Alle Brücken werden operationalisiert, indem sie mit den Kleinbuchstaben a, b, c, d, e, f und g gekennzeichnet werden. Die Insel Kneiphof versieht Euler mit dem Großbuchstaben A, die übrigen Ufer des Flusses bezeichnet er mit B, C und D (Abb. 3). Die Länge der Brücken und die Fließrichtung des Flusses spielen in Eulers Betrachtung keine Rolle, genauso wie er nicht zwischen Insel und Festland unterscheidet. Nicht Größen oder Längen charakterisieren das Problem, sondern allein die Buchstaben als algebraische Codierung. – Nun fängt Euler zu zählen an: »Als allererstes müssen wir feststellen, wie viele Gebiete durch das Wasser getrennt sind – solche die keinen Übergang von einem zum anderen haben als mittels der Brücke. In unserem Beispiel sind es vier Gebiete, ABCD. Weiter müssen wir feststellen, ob die Anzahl der Brücken, die zu diesen Gebieten führt, grad oder ungrad ist.«6

Die Königsberger Brücken sind so verteilt, das zum Gebiet A fünf Brücken und zu allen anderen Gebieten drei Brücken führen, was Euler ausreicht, um folgendes zahlentheoretisches Postulat aufzustellen: »Wenn die Anzahl der Brücken, die zu jedem einzelnen Gebiet führt, grad wäre, dann wäre ein Spaziergang von dem die Rede ist möglich und gleichzeitig könnte man den Spaziergang in jedem beliebigen Gebiet beginnen. Wenn allerdings zwei von diesen Zahlen ungrad wären, da ja nur dies nicht sein kann, auch dann wäre ein beschriebener Spaziergang möglich, beginnen sollte man allerdings in einem der beiden Gebieten mit ungrader Anzahl der Brücken. Wenn es nun mehr als zwei Gebiete sind, zu denen eine ungrade Anzahl von Brücken führt, dann ist so ein Spaziergang nicht möglich.«7

5 6 7

Brief Eulers an Giovanni Jacobo Marinoni vom 13. März 1736, St. Petersburger Archiv der Akademie der Wissenschaften, f. 1, op. 3, Nr. 22, Blatt 17-18(r), hier Blatt 18. Ebd. Ebd.

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Diese in sich schlüssige und bezeichnende Lösung, die auch die Startpunkte zur ›Konstruktion‹ des Kinderreims das Haus vom Nikolaus kennzeichnet, wirft nur eine Frage auf: Wozu musste Euler Stadtgebiete und Brücken mit Buchstaben kennzeichnen, wenn er diese nur abzählt und nicht mit den algebraischen Codes operiert?

c Über sieben Brücken musst du geh’n, sieben dunkle Jahre übersteh’n. Helmut Richter

So wie uns Homer ›verwebte‹ Geschichten vorsingt, ranken sich um die sieben Brücken von Königsberg Legenden. Bei Spaziergängen über die sieben Brücken sollen Verliebte zum Beispiel oft stehengeblieben sein, um von der Holzbrücke aus gemeinsam je eine Münze in den Fluss zu werfen. Wenn diese gleichzeitig auf den Boden des Pregels sänken, würden sich die Verliebten niemals trennen; und falls es doch dazu käme, so würden sie sich eben hier wieder treffen, auf der Holzbrücke in Königsberg (Abb. 4). Abbildung 4: Königsberger Holzbrücke, zeitgenössische Postkarte (1905). Ob Euler diese Legende bekannt war, als er die Holzbrücke mit g kennzeichnete, bleibt im Verborgenen. Eine Erklärung der indexikalischen Zeichensetzung Eulers liefert allerdings ein eher didaktisch angelegter Aufsatz, der 1736 im achten Band der Commentarii Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae erscheint. Euler scheint der Idee der Rätselsteller, denen er im selben Jahr antwortet,8 zu folgen, denn der Aufsatz mit dem Titel Lösung eines Problems zur Geometrie der Lage nimmt explizit Bezug auf Leibniz:

8

Brief Eulers an Ehler vom 3. April 1736, St. Petersburger Archiv der Akademie der Wissenschaften: f. 1, op. 3, Nr. 22, Blatt 33-41(r).

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»Neben jenem Teil der Geometrie, der von den Größen handelt und zu allen Zeiten eifrig studiert wurde, gibt es noch einen anderen, bis jetzt beinahe unbekannten, den Leibniz zuerst erwähnt und Geometrie der Lage (Geometriam situs) genannt hat. Dieser Teil beschäftigt sich mit dem, was allein durch die Lage bestimmt werden kann und mit der Ergründung der Eigenschaften der Lage; hierbei sollen die Größen außer acht gelassen und das Rechnen mit Größen nicht angewendet werden.«9

Euler schildert das an ihn herangetragene Problem und berichtet, dass er »nicht daran zweifelte, es der Geometrie der Lage beizuzählen, um so mehr als zu seiner Lösung nur die Lage in Betracht gezogen wird, während die Rechnung keinen Nutzen gewährt«.10 Da seine Lösung nun »auf einem recht überzeugenden Beweis gründet, mit dessen Hilfe man in allen ähnlichen Aufgaben sofort herausfindet, ob ein Weg über so viele Brücken wie möglich, unabhängig von ihrer Anordnung möglich ist oder nicht«.11 Die Methode, die Euler zur Lösung derartiger Probleme erfunden hat, führt er als »Muster der Geometrie der Lage«12 aus. Seine »ganze Methode«, so der Mathematiker, beruhe darauf, dass er »das Überschreiten der Brücken in geeigneter Weise« anführt und die Großbuchstaben A, B, C, D »zur Bezeichnung der einzelnen Gebiete, welche durch den Fluss voneinander getrennt sind«13 gebraucht habe. Nach diesen Zeichenpraktiken, die er bereits an Marinoni geschickt hat, beginnt Eulers graphematische Wanderschaft: »Wenn also einer vom Gebiet A in das Gebiet B gelangt über die Brücke a oder b, so bezeichne ich diesen Übergang mit den Buchstaben AB, deren erster das Gebiet angibt, aus welchem der Wanderer kommt, während der zweite das Gebiet angibt, in das er nach Überschreitung der Brücke gelangt. Wenn der Wanderer darauf aus dem Gebiet B über die Brücke f in das Gebiet D geht, so wird dieser Übergang mit den Buchstaben BD bezeichnet; diese beiden hintereinander ausgeführten Übergänge AB und BD bezeichne ich nun bloß mit den drei Buchstaben ABD, weil der mittlere B ebenso wohl das Gebiet angibt, in das der erste Übergang hineinführte, als das Gebiet, aus welchem der zweite Übergang herausführt.«14

9

10 11 12 13 14

Leonhard Euler, »Solution problematis ad geometriam situs pertinentis«, in: Commentarii Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae 8 (1736), S. 128-140, hier S. 128; Übers. hier und im Folgenden durch Verf. – Dass Euler an dieser Stelle immer noch von ›Geometriam situs‹ in Bezug auf Leibniz’ ›Analysis situs‹ spricht, ist ein Zeichen dafür, dass der Mathematiker und seine Kollegen in St. Petersburg nichts von Leibniz’ Theorie gewusst haben. Ebd. Brief Eulers an Ehler vom 3. April 1736, Blatt 37. Euler, »Solution problematis«, S. 130. Ebd. Ebd.

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Die Aneinanderkettung der indexikalischen Zeichen hat zur Folge, dass ein Spaziergang über zwei Brücken durch drei Buchstaben gekennzeichnet wird, über drei Brücken durch vier, über vier durch fünf und »wenn der Wanderer über eine beliebige Anzahl von Brücken geht, so wird seine Wanderung durch eine um eins größere Anzahl von Buchstaben, als die Zahl der Brücken beträgt, bezeichnet werden«.15 Aus der topographischen Beschreibung der Stadt ist nun buchstäblich eine Medienlandschaft geworden,16 die sich nicht für Längen und Krümmungen interessiert, sondern nur für die Verkettung von Buchstaben. Die Poetologie des Raums beim vorgeschriebenen Spaziergang über die Königsberger sieben Brücken muss folglich eine Zeichenkette aus acht Buchstaben generieren. – Die Glieder dieser Kette müssten »so aufeinander folgen, dass die Folge AB zweimal auftritt, weil die zwei Brücken a und b die Gebiete A und B verbinden; ebenso muss auch die Folge AC in der Reihe der acht Buchstaben zweimal auftreten; ferner muss die Folge AD und ebenso BD und CD je einmal auftreten«.17

Aus dem Blickwinkel der Kryptographie geht es Euler darum, die absolute Buchstaben-Frequenz innerhalb der Serie zu bestimmen, die eine mögliche Buchstabenkette bildet und den Wanderer Euler über die Brücken ›buchstabiert‹. Die ganze Fragestellung reduziert sich darauf, »ob aus den vier Buchstaben A, B, C und D eine Reihe von acht Buchstaben gebildet werden kann, in der alle diese Folgen in der vorgeschriebenen Anzahl auftreten«.18 Genau an dieser Stelle verlässt Euler den poetischen Code. Denn bevor er eine gewünschte Buchstabenreihe sucht, möchte Euler zunächst wissen, ob eine solche überhaupt vorhanden ist oder nicht. Es geht also darum, »eine Regel aufzustellen, welche gestattet, in diesen und allen ähnlichen Fragen ohne Mühe zu entscheiden, ob eine solche Anordnung der Buchstaben möglich ist«.19

d Um das zahlentheoretische Spiel anschaulich zu machen, lässt Euler die Brückenkonstellation in Königsberg ruhen und begibt sich auf neue imaginäre Spaziergänge. Deren Bestandteile sind ein weiterer Fluss, eine beliebige Anzahl von Brücken und das Gebiet A (Abb. 5). 15 Ebd., S. 131. 16 Vgl. Friedrich Kittler, »Die Stadt ist ein Medium«, in: Mythos Metropole, hg. von Gotthard Fuchs, Bernhard Moltmann und Walter Prigge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 228-244. 17 Euler, »Solution problematis«, S. 130. 18 Ebd. 19 Ebd.

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Abbildung 5: Euler, Solution problematis, S. 130. »Wenn der Wanderer die Brücke a überschreitet, so muss er sich vor dem Übergang entweder in A befunden haben oder er gelangt nach dem Übergang nach A; in der obigen Bezeichnungsweise wird also der Buchstabe A gerade einmal auftreten. Falls drei Brücken a, b, c nach A führen und der Wanderer alle drei überschreitet, wird in der Wegbezeichnung der Buchstabe A zweimal vorkommen, gleichgültig ob der Weg in A begonnen hat oder nicht. Und wenn fünf Brücken nach A führen, tritt der Buchstabe A dreimal in der Bezeichnung eines Weges auf.«20

Durch diese grundlegende Betrachtung will Euler anschaulich machen, dass die Häufigkeit eines Großbuchstabens davon abhängt, wie viele Brücken zu ihm führen. Und wie Euler schnell feststellt, hängt die Häufigkeit eines Großbuchstabens davon ab, ob in dem Gebiet eine gerade oder ungerade Anzahl von Brücken liegt. Im Falle einer ungeraden Anzahl von Brücken schreibt Euler vor, die Zahl um eins zu vergrößern und dann zu halbieren. Nach diesem Baustein der Graphentheorie erhält Euler die Zahl, die angibt, wie oft der Buchstabe A in seiner imaginären Stadt vorkommt und wendet den Blick zurück nach Königsberg: »In der Reihe der acht Buchstaben, welche den Übergang über die sieben Brücken kennzeichnet, muss A dreimal, B, C und D dagegen je zweimal auftreten; das geht aber in einer Reihe von acht Buchstaben auf keine Weise. Daraus ist ersichtlich, dass der gesuchte Übergang über die sieben Königsberger Brücken nicht ausgeführt werden kann.«21

e Aus der Unmöglichkeit des poetischen Flanierens über die sieben Brücken von Königsberg entsteht ein Programm – denn Leonhard Euler hat weben gelernt. Um in einer beliebigen Konfiguration von Flüssen und Brücken sofort zu wissen, ob man über jede Brücke genau einmal gehen kann, stellt Euler folgende Regel auf: »Zunächst bezeichne ich die einzelnen Gebiete, die durch Wasser voneinander getrennt sind, mit Buchstaben A, B, C usw. Zweitens nehme ich die Zahl aller 20 Ebd., S. 132. 21 Ebd., S. 132f.

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Brücken, vermehre sie um eins und schreibe die so entstehende Zahl zuoberst auf. Drittens schreibe ich darunter die Buchstaben A, B, C usw. und neben jeden derselben die Zahl der Brücken, welche zu seinem Gebiet führen. Viertens versehe ich diejenigen Buchstaben, denen gerade Zahlen zugeschrieben sind, mit einem Stern. Fünftens schreibe ich neben diese geraden Zahlen ihre Hälfte auf, neben die ungeraden aber schreibe ich die Hälfte der um eins größeren Zahl. Sechstens addiere ich diese zuletzt erhaltenen Zahlen. Wenn diese Summe um eins kleiner oder gleich der zuoberst aufgeschriebenen Zahl ist, dann schließe ich, dass der gewünschte Übergang ausgeführt werden kann. Aber darauf muss man sehen: wenn die Summe um eins kleiner ist als die obenstehende Zahl, dann muss man den Spaziergang in einer Gegend beginnen, die mit einem Stern versehen ist. Im anderen Fall, wenn die beiden Zahlen gleich sind, muss man in einem Gebiet ohne Stern beginnen.«22

Buchstaben, Zahlen, Symbole sind die Zeichenpraktiken der eulerschen Poetologie des Raums, den der Mathematiker spinnenartig weiterwebt. Nun sind »zwei Inseln vom Wasser umgeben und mit diesem Wasser mögen vier Flüsse kommunizieren«.23 Das Korrelat zu Eulers imaginärer Stadt sind wiederum nicht die Straßen, sondern fünfzehn imaginäre Brücken, die über imaginäres Wasser führen, das imaginäre Inseln umgibt. In dieser imaginär vernetzten Stadt stellt Euler die bekannte Frage: »ob man den Weg so einrichten könne, dass er über alle Brücken führt, über keine aber mehr als nur einmal«.24 Eulers Poetologie des Raums formiert sich aus sieben Verwebungen: 1. alle Gebiete, die durch das Wasser getrennt sind, werden mit den Großbuchstaben A, B, C, D, E und F bezeichnet – »es gibt deren sechs«; 2. die Zahl der Brücken wird um eins vermehrt, »nämlich 15, um eins und schreibe diese Zahl 16 zuoberst auf«;25

Abbildung 6: Euler, Solution problematis, S. 130 und 138.

22 23 24 25

Ebd., S. 135. Ebd., S. 136. Ebd. Ebd., S. 137.

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3. die Buchstaben A, B und C werden untereinander geschrieben und zu jedem die Zahl der Brücken, die zu seinem Gebiet führen, zum Beispiel acht Brücken nach A; 4. diejenigen Buchstaben, denen eine gerade Zahl zugeschrieben ist, werden mit einem Stern versehen; 5. die dritte Kolonne verzeichnet die Hälfte der geraden Zahlen; die ungeraden werden um eins vergrößert und dann erst halbiert; 6. die Zahlen der dritten Kolonne werden addiert und die Summe 16 stimmt mit der oben angeschriebenen Zahl überein; 7. so folgt, »dass der Gang ausgeführt werden kann, falls man im Gebiet D oder E beginnt, die nicht mit einem Stern versehen sind«.26 Nach diesen sieben Gedankengängen hat Euler einen poetischen Weg durch seine imaginäre Stadt verlegt: »EaFbBcFdAeFfCgAhCiDkAmEn ApBoEiD«.27

f Um die Ästhetik des Flanierens in Königsberg zu ermöglichen, hat Euler bereits in dem Brief an Marinoni (Abb. 7) vorgeschlagen, an der mit h gekennzeichneten Stelle eine weitere Brücke zu errichten. Damit bekämen die Gebiete B und D Sternchen und »die Gebiete A und C wären mit der ungraden Anzahl von Brücken versehen«.28 Nach Eulers sieben Regeln wären es die Gebiete A und C, in denen der Spaziergang starten sollte. Der Vorschlag, die achte Brücke an der angegeben Stelle zu errichten, um das Problem des Rundganges zu lösen, ist zugleich das erste Beispiel für die Anordnung des Raums, deren spezifische Facetten parallel zu der topologischen Wissensformation vom Raum verlaufen.

Abbildung 7: Skizze der Königsberger Brücken von Leonhard Euler. 1905 haben die Stadtväter von Königsberg Eulers Vorschlag umgesetzt und eine achte Steinbrücke gebaut. Zwar hat man die ›Kaiserbrücke‹ nicht 26 Ebd. 27 Ebd. – Zwischen die Großbuchstaben notiert Euler die Kleinbuchstaben der überschrittenen Brücken. 28 Brief Eulers an Marinoni vom 13. März 1736, Blatt 18.

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an der Stelle errichtet, die Euler vorgeschlagen hatte, doch auch am jetzigen Ort ermöglichte sie den gewünschten Spaziergang. Diesen ›in Gedanken‹ und nicht auf Papier zu erstellen, hat Leonhard Euler im letzten Satz seiner Lösung eines Problems zur Geometrie der Lage vorgeschlagen: »Man lasse in Gedanken, so oft das geht, zwei Brücken, die dieselben zwei Gebiete verbinden, weg, wodurch die Zahl der Brücken meistens außerordentlich vermindert wird. Dann suche man, was leicht ist, einen gewünschten Weg über die übrig bleibenden. Hat man ihn gefunden, so werden die Brücken, die man in Gedanken weggelassen hat, den Weg nicht mehr wesentlich stören, wie man nach kurzem Überlegen leicht sieht.«29

Die Möglichkeit eines Spaziergangs über die Königsberger Brücken blieb allerdings nicht über den Zweiten Weltkrieg hinaus bestehen. In den letzten Augustnächten des Jahres 1944 lösten britische Luftangriffe das neu angelegte Muster der Stadt auf: Nur drei der acht Brücken blieben bestehen und die Stadt verlor ihren Namen. Im Juli 1946 wurde die Stadt nach dem Kommandeur der 34. Division der Roten Armee, die Ostpreußen einkesselte, nach dem Staats- und Parteifunktionär Michail Kalinin benannt: Kaliningrad. Abbildung 8: Eine nicht zu Ende gebaute Kaliningrader Brücke geht direkt in ein Haus über. Heute erstickt Kaliningrad im Verkehrschaos. Nicht weil die Stadt nach dem Zerfall der Sowjetmacht von den Baltischen Staaten umgeben zu einer russischen Insel wurde, sondern weil die Brücken der Stadt nicht an ihren poetisch verwebten Lagen stehen (Abb. 8).

29 Euler, »Solution problematis«, S. 140.

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g Als sie den großen Mantel gewirkt und sauber gewaschen und er hell wie die Sonn und der Mond entgegen uns glänzte: Siehe, da führte mit einmal ein böser Dämon Odysseus, draußen zum Meierhof, den der Schweine Hüter bewohnte. Homer

Penelopeias vollendetes Leichentuch lässt Odysseus heimkehren. Verkehrsnetze oder Bahnnetze von Computerchips, Versorgungsnetze oder das World Wide Web, Telefonleitungen oder Postnetze – sie alle verweben den Raum mit Penelopeias Listigkeit und Eulers Gedanken. Aus dem poetischen Ver-Zeichnen eines ästhetischen Spaziergangs bzw. Abenteuers sind strategische Bewegungen geworden, die Daten, Müllwagen und Postboten an die vorbestimmten Lagen lenken. – Die Beamten der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik schienen diese Verwebung begriffen zu haben, denn sie ehrten den Theoretiker der Graphen doch auf die wohl angemessenste Weise, auf einer Briefmarke. Abbildung 9: Leonhard Euler auf einer Briefmarke der DDR.

Die Anfänge der Topologie in Mathematik und Naturphilosophie MARIE-LUISE HEUSER

1 » An a l ys i s s i t u s « u n d » T o p o l o g i e « Der Begriff »Topologie« hat sich erst relativ spät, im frühen 20. Jahrhundert als Disziplinbezeichnung durchgesetzt. Henri Poincaré, der meist als Begründer dieser Disziplin angesehen wird, verwendete noch den Ausdruck »Analysis situs«. In der zeitgenössischen Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften finden sich »Analysis situs« und »Topologie« gleichwertig nebeneinander.1 In Paul Alexandroffs und Heinz Hopfs Standardwerk zur Topologie aus dem Jahre 1935 wird schließlich nur noch der Begriff »Topologie« verwendet.2 Beide Begriffe haben eine unterschiedliche Entstehungsgeschichte und implizieren verschiedene Konzepte, die im Folgenden untersucht werden sollen.3 Die Bezeichnung »Analysis situs« wurde von Gottried W. Leibniz im 17. Jahrhundert, die Bezeichnung »Topologie« von Johann B. Listing im 19. Jahrhundert geprägt. Leibniz verwendete für die von ihm anvisierte neue Mathematik der reinen Lagebeziehungen des Raumes auch andere Bezeichnungen wie »Geometria situs«, »Calculus situs«, »nouvelle characteristique« oder »analyse géométrique«. – Zwei wesentliche Texte von Leibniz zur »Analysis situs« sind überliefert: 1. In einem Brief an Christiaan Huygens vom 8. September 1679 versuchte er, seinen Kollegen für die neue Geometrie zu gewinnen, allerdings vergeblich. Diesem Brief fügte er einen Anhang bei, in dem er seine Ideen zur »nouvelle characteristique«, wie er sie hier nannte, erstmals konkreter 1

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Vgl. Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluss ihrer Anwendungen, 6 Bde., Bd. 3, Geometrie, 3 Teile, Leipzig: Teubner, 1. Teil/1. Hälfte [1907-1910], S. 154-220, und 2. Hälfte [1914-1931], S. 140237. Vgl. Paul Alexandroff/Heinz Hopf, Topologie, Berlin: Springer 1935. Vgl. dazu bereits auch Verf., »Geschichtliche Betrachtungen zum Begriff ›Topologie‹«, in: Topologie. Ein Ansatz zur Entwicklung alternativer Strukturen, hg. vom SFB 230, Stuttgart: Sprint 1994, S. 1-13.

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ausführte. Heute wird dieser Anhang in Anlehnung an Artur Buchenaus Übersetzung aus dem Französischen »Entwurf der geometrischen Charakteristik von 1679« genannt. Dieser Entwurf wurde 1752 in Auszügen publiziert. Dennoch berief sich Leonhard Euler schon 1736 auf Leibniz, als er seine eigene »Geometria situs« publizierte, die sich mit dem Königsberger Brückenproblem beschäftigte, das mit Leibniz’ Vorstellungen einer »Analysis situs« jedoch wenig gemein hatte.4 1771 folgte Alexandre T. Vandermonde mit seinem Calcul de situation.5 Vollständig publiziert wurde der im Nachlass Huygens gefundene Brief Leibniz’ vom 8. September 1679 inklusive der entscheidenden Beilage erst im Jahre 1833 von Pieter J. Uylenbroek, womit die ›Analysis situs‹ einen kräftigen Auftrieb erfuhr. Insbesondere der Stettiner Mathematiker Hermann Graßmann griff Leibniz’ Anregungen auf und führte sie in dessen Sinne weiter.6 Die Göttinger Mathematiker Carl F. Gauß, Bernhard Riemann und Listing waren zu dieser Zeit mit eigenen topologischen Überlegungen beschäftigt, die sich von Leibniz’ Ansatz wesentlich unterschieden. Sie bezogen sich aber gerne auf Leibniz als großes intellektuelles Vorbild und sahen sich durch ihn in ihren eigenen Ansätzen bestätigt. 2. Ein weiterer wichtiger Text von Leibniz De analysi situs wurde im Jahre 1858 erstmals aus dem Nachlass von Leibniz in der Königlichen Bibliothek zu Hannover von Carl I. Gerhardt herausgegeben.7 Listing konnte ihn daher in seinen Vorstudien zur Topologie von 1847 noch nicht heranziehen. In seiner Schrift Der Census räumlicher Complexe oder Verallgemeinerung des Euler’schen Satzes von den Polyedern von 1861 war Listing in der Ausarbeitung seiner eigenen Topologie schon so weit fortgeschritten, dass er einen Bezug auf Leibniz nicht mehr nötig hatte. (Da es hier in erster Linie um einen Vergleich von Leibniz und Listing geht, werde ich mich auf den ersten Text, das heißt auf den Brief an Huygens inklusive Beilage beschränken.) Listing verwendete den Ausdruck »Topologie« wohl erstmals in einem Brief, den er 1836 an seinen ehemaligen Lehrer Johann H. Müller schrieb.8 4 5

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Vgl. Hans Freudenthal, »Leibniz und die Analysis situs«, in: Studia Leibnitiana 4 (1972), S. 61-69. Vgl. Alexandre Théophile Vandermonde, »Remarques sur les problèmes de situation«, in: Mémoires de l’Académie Royale des Sciences 1771, S. 566574. – Vgl. auch Moritz Epple, Die Entstehung der Knotentheorie, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1999. Vgl. Hermann Graßmann, Geometrische Analyse geknüpft an die von Leibniz erfundene geometrische Charakteristik, Leipzig: Weidmann 1847. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, »De analysi situs (1693)«, in: ders., Mathematische Schriften, hg. von Carl Immanuel Gerhardt, Hildesheim: Olms 1971 [1849-1863], Bd. V [1858], S. 178-183 (dt.: »Zur Analysis der Lage«, in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, übersetzt von Artur Buchenau, hg. von Ernst Cassirer, Leipzig: Dürr 1904, Bd. 1, S. 69-76). Vgl. Ernst Breitenberger, »Gauß und Listing: Topologie und Freundschaft«, in: Mitteilungen, Gauß-Gesellschaft e.V. Göttingen 30 (1993), S. 3-58.

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Wahrscheinlich angeregt durch Gauß, bei dem Listing studiert hatte, publizierte er sein Konzept erstmals 1847 in den Göttinger Studien.9 Listing führte diesen Begriff ein, um sich von der »Analysis situs« im Sinne von Leibniz und Graßmann abzugrenzen. Ob diese Abgrenzung berechtigt war oder nicht, möchte ich weiter unten zu beantworten suchen. Die Terminologie Listings hat sich schließlich durchgesetzt – möglicherweise nicht ohne Grund.

2 » An a l ys i s s i t u s « b e i L e i b n i z In seinem Brief an Huygens deutet Leibniz mit wenigen Worten an, dass es ihm um eine neue Wissenschaft geht, die sich nicht wie die Algebra auf Zahlen oder Größen gründen solle, sondern auf eine neue Form der Analyse rein räumlicher Lage- bzw. Ortsbeziehungen. Obwohl die Algebra große Fortschritte gemacht habe, sei er unzufrieden mit ihr, da sie keine schönen Konstruktionen in der Geometrie (»belles constructions de Geometrie«10) erlaube. Daher glaube er, dass eine neue Analysis nötig sei, die geometrisch bzw. linear sei und die Lage so unmittelbar ausdrücken solle, wie die Algebra die Größe ausdrückt. Er habe einen Weg gefunden, um Figuren und sogar Maschinen und Bewegungen durch Charaktere (»caracteres«11) zu bestimmen, so wie die Algebra Zahlen und Größen darstelle. Seinen Essay, den er seinem Brief beifügte, beginnt Leibniz folgendermaßen: »Ich habe die Elemente einer neuen Charakteristik gefunden, die von der Algebra vollkommen verschieden ist, und die vorzüglich dazu geeignet sein wird, dem Geiste die Objekte der sinnlichen Anschauung genau und ihrer Natur gemäß, wenngleich ohne Figuren, darzustellen. Die Algebra ist lediglich die Charakteristik der unbestimmten Zahlen oder der Größen, sie drückt jedoch nicht unmittelbar die Lage, die Winkel und die Bewegung aus. Daher ist es häufig schwierig, die Eigenschaften der Figur auf einen Ausdruck der Rechnung zu bringen und noch schwieriger, selbst nach vollständiger Beendigung des algebraischen Kalküls, bequeme geometrische Beweise und Konstruktionen zu finden. Diese neue Charakteristik hingegen, die sich der anschaulichen Figur genau anpasst, enthält notwendig zugleich die Lösung wie die Konstruktion und den geometrischen Beweis, und zwar alles nach einer naturgemäßen Methode und

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Vgl. Johann Benedict Listing, »Vorstudien zur Topologie«, in: Göttinger Studien 2 (1847), S. 811-875. 10 »Leibniz a Huygens. A Hanover ce 8 de Sept. 1679«, in: Christiani Hugenii aliorumque seculi XVII virorum celebrium exercitationes mathematicae et philosophicae, hg. von Pieter Johannes Uylenbroek, Fasciculus I: Chr. Hugenii, Leibnitii et Hospitalii epistolas mutuas, Hagae Comitum: ex typographia regia 1833, S. 7-11, hier S. 9. – Die Beilage zum Brief in Fasciculus II, S. 6-12. 11 »Leibniz a Huygens«, S. 9.

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vermittels einer Analyse, d.h. also durch ein genau vorgeschriebenes Verfahren.«12

Den Nutzen seiner neuen Methode umschreibt er so: »Der wesentliche Nutzen aber besteht in den Folgerungen und Schlüssen, die sich aus den Operationen mit den Charakteren gewinnen lassen, und die sich durch Figuren – geschweige durch Modelle – nicht ausdrücken lassen, ohne deren Zahl sehr zu häufen und sie durch ein Übermaß von Punkten und Linien zu verwirren, zumal man eine Unzahl unnützer Versuche machen müsste, während die neue Methode sicher und mühelos zum Ziele führen würde. Ich glaube, man könnte mit ihrer Hülfe die Mechanik fast wie die Geometrie behandeln und selbst bis zur Prüfung der Qualität der Materialien vordringen, da diese für gewöhnlich von einer bestimmten Gestalt ihrer sinnlichen Teile abhängt. Schließlich habe ich keine Hoffnung, dass man es in der Physik sehr weit bringen kann, bevor man nicht ein derartiges Mittel zur Entlastung der Einbildungskraft besitzt.«13

Leibniz intendierte eine Mathematik der Gestalt, um die qualitativen Wahrnehmungsgehalte, das heißt die rein räumlichen Eigenschaften von Figuren, ihren Lagebeziehungen, Winkeln und ihren mechanischen Bewegungen zur Darstellung bringen zu können. Seine »neue Analysis« sollte eine Methode zur adäquateren Formalisierung von Figuren, Maschinen und Bewegungsabläufen liefern. Zudem war Leibniz daran interessiert, »Verfahren auch zu genauen Beschreibungen der Naturkörper, z.B. der Pflanzen und des Baues der Tiere«14 zu entwickeln. Selbst Materialeigenschaften hoffte Leibniz besser erfassen zu können, da sich die Qualität der Materialien über ihr Gewebe bzw. durch die bestimmte »Gestalt ihrer sinnlichen Teile«15 definieren lässt. – Dieser Ansatz wurde von Vandermonde wieter ausgebaut. Abbildung 1: Vandermonde, Remarques sur les problèmes de situation 1771, S. 574.

12 Gottfried Wilhelm Leibniz, »Entwurf der geometrischen Charakteristik (1679)«, in: ders., Hauptschriften, Bd. 1, S. 77-83, hier S. 77. 13 Ebd., S. 78. 14 Ebd. 15 Ebd.

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Das neuartige System von Leibniz basiert auf der zentralen Idee der Kongruenz von Punktmengen als Charakterisierung von spezifischen geometrischen Gebilden wie der Geraden, des Kreises, der Ebene etc. Die besonderen Gebilde werden als »geometrische Orte« im Sinne von Inbegriffen der Punkte, die einer bestimmten Kongruenzbeziehung genügen, konstruiert. Dazu führt Leibniz als Symbole für feste Punkte die Anfangszeichen des lateinischen Alphabets ein: also A, B, C, D usw.; als Symbol für ihrer Lage nach veränderliche Punkte die letzten Zeichen des Alphabets, also X, Y, Z. Hinzu kommt ein Zeichen für Kongruenz: 8. So bedeutet: ABC 8 DEF, dass eine Menge von drei Ortspunkten, die jeweils in festen Relationen zueinander stehen, mit einer anderen Menge von drei Ortspunkten, die in gleicher fixer Position zueinander stehen, zur Deckung gebracht werden kann, das heißt hierdurch wird die Kongruenz von zwei Dreiecken ausgedrückt. Die Ortspunkte, die zu einem einzigen fixen Punkt kongruent sind, ergeben den unendlichen Raum in allen seinen Richtungen Abbildung 2: Die Kongruenzbeziehung von AB 8 AY ergibt eine Kugel mit dem festen Mittelpunkt A und dem Radius AB, wobei der variable Endpunkt Y des Radius alle Punkte »durchläuft«, die den gleichen Abstand AB vom Mittelpunkt haben. Abbildung 3: Mit der Formel AX 8 BX ist ein geometrisches Gebilde gegeben, in welchem eine Variable X jeweils den gleichen Abstand zu A und B besitzt. Dies ergibt eine Ebene, wenn alle möglichen Raumpunkte durchlaufen werden.

Abbildung 4: Die Beziehung ABC 8 ABY determiniert einen Kreis.

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Abbildung 5: Die Beziehung AY 8 BY 8 CY ergibt eine Gerade.

Abbildung 6: Die Beziehung AY 8 BY 8 CY 8 DY legt einen Punkt fest.

Die wenigen Beispiele der Leibnizschen »Analysis situs« zeigen, dass der entscheidende Punkt seines Verfahrens die koordinatenfreie Darstellung geometrischer Gebilde ist. Der Raum wird zunächst aufgelöst in eine Menge von Örtern, deren Kongruenzbeziehungen zu einem fixen Punkt den unendlichen Raum ergeben. Die einzelnen geometrischen Figuren entstehen dadurch, dass bestimmte Punkte festgehalten werden, die zueinander eine konstante Abstandsbeziehung innehaben, während andere (variable) Punkte innerhalb dieser Konstellation als beweglich gedacht werden. Man kann sich dieses Verfahren leicht verdeutlichen, wenn man beispielsweise bezüglich Abbildung 4 ein Seil zu Hilfe nimmt: Die Endpunkte des Seils wären A und B, die durch die Länge des Seils eine feste Abstandsbeziehung zueinander haben; greift man nun genau in der Mitte des Seils den Punkt C und zieht dort das Seil etwas heraus, so hat nun dieser Punkt C eine feste Abstandsbeziehung zu A und B. Versucht man nun, diesen Punkt C zu bewegen (während A und B fixiert bleiben), so wird man feststellen, dass dieser nur in Form eines Kreises bewegbar ist (wenn die Abstände AC und BC konstant bleiben). Der Punkt C kann sich in dieser Konstellation nur kreisförmig bewegen; er ist durch die Lagebeziehungen, in die er eingespannt ist, in seinen Bewegungsmöglichkeiten beschränkt. Er ist determiniert – und zwar nicht durch eine bloß externe, mechanistisch zu verstehende Ursache (zum Beispiel einen Stoß), sondern durch die Gesamtkonfiguration. In Abbildung 5 kann sich der Punkt Y nur auf einer Geraden bewegen, da er durch drei andere Punkte in seinen Abstandsbeziehungen festgelegt ist. Ein Punkt, der durch vier andere Punkte festgehalten wird (wie in Abbildung 6), hat keinerlei Bewegungsmöglichkeiten mehr. Entscheidend an Leibniz’ Konzept ist also, dass die Lagebeziehungen von Punkten zueinander intrinsisch eine bestimmte Geometrie der Bewegung determinieren. Diese Geometrie sagt etwas über das Möglichkeitsspektrum oder das Feld der Möglichkeiten aus, das unter gewissen Be-

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schränkungen realisiert werden kann. Allgemeiner könnte man formulieren, dass es die Gesetzmäßigkeiten des Raumes selbst sind, die bestimmte Möglichkeitsspielräume für Bewegungen festlegen. Leibniz’ Verfahren symbolisiert insbesondere mechanische Handlungsabläufe, die durch interne Beziehungen beschränkt und geregelt sind. Diese internen Bewegungsbeschränkungen scheinen es zu sein, die Leibniz interessiert haben. Mit seiner »Analysis situs« versuchte er gewissermaßen, ein holistisches Moment in die Mechanik einzubringen, welches über die linearen Ursache-WirkungsKetten hinausgeht und die Gesamtkonstellation miteinbezieht. In seiner Schrift Mathesis universalis integriert er diesen Ansatz in das allgemeine Konzept einer Wissenschaft der Qualität (scientia generalis de qualitate) in Abhebung von einer Wissenschaft der Quantität (scientia generalis de quantitate) und macht unmissverständlich deutlich, dass er die Erstere für übergeordnet hält.16 Das Resultat ist eine Unterordnung der Algebra, das heißt der Wissenschaft, die von Größenbeziehungen handelt, unter die Wissenschaft der Kombinatorik, das heißt unter eine solche, die von allen Ausdrücken, welche die Ordnung, die Ähnlichkeit, die Relation betreffen, ganz allgemein handelt. Leibniz betont immer wieder in seinen mathematischen Schriften, dass für ihn weder die Algebra noch die Geometrie die Grundwissenschaft der Mathematik sei, sondern die Kombinatorik. Diese hat es nicht mit Zahlen oder mit Größen, sondern mit der Form der Verknüpfung selbst zu tun. Letztlich geht es ihm um die Konstruktion der qualitativen Verschiedenheit der Materie, die sich den Sinnen in einer Fülle von Formen, Gestalten und unterschiedlichen Bewegungsarten zeigt. Leibniz setzt sich damit von René Descartes Analytischer Geometrie ab. Für Descartes sind die geometrischen Figuren und Gesetzmäßigkeiten durch ein extrinsisch vorgegebenes Koordinatensystem bestimmbar, das heißt durch ein relativ willkürlich von uns Menschen eingeführtes Maßsystem, durch welches dann auch die Natur von außen berechenbar wird. Leibniz dagegen sucht nach einer intrinsischen Darstellung geometrischer Ordnungsrelationen, die sich koordinatenfrei wiedergeben lassen und damit auch nach einem intrinsischen Verständnis der Gestalten der Natur und der Technik. Der Unterschied zwischen der Methode von Descartes und derjenigen von Leibniz wird greifbar, wenn man beispielsweise den KreisAlgorithmus vergleicht. Bei Descartes heißt die Kreisgleichung: x² + y² = r², wobei er den Satz des Pythagoras verwendet und die Abstandsbeziehungen über das Koordinatensystem regelt. Bei Leibniz heißt die Kreisgleichung: ABC 8 ABY, das heißt die Abstandsbeziehungen werden intrinsisch über die Punkte (bzw. Lagen) selbst determiniert und zwar durch die Kongruenzbeziehung von festen und variablen Punkten – ohne dass von außen ein Koordinatensystem hinzukäme.

16 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, »Mathesis universalis«, in: ders., Mathematische Schriften, Bd. VII [1863], S. 49-76, hier S. 61.

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3 »Topologie« bei Listing Während Leibniz Algorithmen zur Darstellung einzelner geometrischer Figuren anstrebte, die, so ein Urteil Hans Freudenthals von 1972, heute nach wie vor aktuell sind und weiter ausgebaut werden müssten, ging es Listing, wie er selbst schreibt, um die »modale Seite der Geometrie«. – Was ist damit gemeint? Listing beginnt seine Vorstudien zur Topologie mit folgender Einteilung: »Bei der Betrachtung räumlicher Gebilde können zwei Gesichtspunkte oder Kategorien unterschieden werden, nämlich die Quantität und die Modalität. Die Untersuchungen der Geometrie in ihrer heutigen Ausbildung, so verschieden sie auch ihrem Gegenstande wie ihrer Methode nach sein mögen, haben der ersteren dieser Kategorien immer den Vorrang gelassen und dem gemäß ist die Geometrie von jeher als ein Theil der Größenwissenschaft oder der Mathematik betrachtet worden, wie sich denn auch ihr Name mit Recht auf den Begriff des Messens beruft.«17

Listing geht es also um ein Programm, in welchem nicht die Quantität und das Messen die Grundlage bilden (dies betonte auch Leibniz) – wie in der Analytischen Geometrie oder der traditionellen Algebra, sondern die Modalität. Das lateinische Wort »modus« drückt »die Art und Weise«, wie etwas ist oder gedacht wird, aus, der »modus vivendi« beispielsweise die Art und Weise zu leben, der »modus procedendi« die Art und Weise des Vorgehens. Der modale Aspekt der Mathematik betrifft ihre auf die Qualität räumlicher Gebilde gehende Perspektive, das heißt, so Listing: »die Berücksichtigung aller auf Lage und Aufeinanderfolge bezüglichen Fragen«.18 Listing ging es um eine morphologische (teilweise auch morphogenetische) Mathematik. – Er definiert seine neue Wissenschaft folgendermaßen: »Unter der Topologie soll also die Lehre von den modalen Verhältnissen räumlicher Gebilde verstanden werden, oder von den Gesetzen des Zusammenhangs, der gegenseitigen Lage und der Aufeinanderfolge von Punkten, Linien, Flächen, 17 Listing, »Vorstudien«, S. 811. – Mit dieser Bemerkung hat Listing allerdings nur von seinem historischen Blickwinkel aus recht, da zu seiner Zeit die Mathematik im Wesentlichen als quantitative Wissenschaft und als Quantifizierungsinstrument für Naturabläufe (insbesondere der Ortsveränderungen) verstanden wurde. Listing konnte nicht wissen, dass bereits Kepler eine andere Auffassung von Mathematik hatte: die nämlich, dass die Mathematik sich wesentlich mit den Organisationsprinzipien der Natur zu beschäftigten habe. – Hier sei nur auf Keplers Aufsatz zum »sechseckigen Schnee« verwiesen, der zur Zeit Listings offenbar nicht bekannt war. (Vgl. Verf., »Keplers Theorie der Selbststrukturierung von Schneeflocken vor dem Hintergrund neuplatonischer Philosophie der Mathematik«, in: Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften 3 (1992), S. 237-258.) 18 Listing, »Vorstudien«, S. 811.

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Körpern und ihren Teilen oder ihren Aggregaten im Raume, abgesehen von den Maß- und Größenverhältnissen.«19

Bis hierher könnte man meinen, dass Listings Konzept mit demjenigen von Leibniz identisch ist. Listing selbst grenzt sich jedoch von Leibniz »Analysis situs« mit folgenden Worten ab: »Die erste Idee einer wissenschaftlichen und gleichsam calculatorischen Bearbeitung der modalen Seite der Geometrie dürfte in gelegentlichen Aeußerungen von Leibniz gefunden werden, in welchen von einer Art Algorithmus die Rede ist, womit man die Lage räumlicher Gebilde ebenso der Analyse unterwerfen müßte, wie es hinsichtlich der Größe mittelst der Algebra geschieht. [Listing verweist hier auf den Brief von Leibniz an Huygens, Verf.] Doch ist eine später bekannt gewordene, von Leibniz selbst herrührende Probe seiner neuen geometrischen Characterisik, die zunächst auf den Begriff der Congruenz gegründet ist, nicht eigentlich modalen Inhalts. Auch kann die an dies Leibnizsche Specimen angeknüpfte neue geometrische Analyse von Graßmann nur, wie der baryzentrische Calcul von Möbius, als eine Bereicherung der eigentlichen Geometrie angesehen werden.«20

Dasselbe gelte für Lazare Carnots »géométrie de position« und von Gaspard Monges »géométrie descriptive«. – Entscheidend an Listings Leibniz-Kritik ist sein Verweis auf die Kongruenz-Begründung des Leibniz’schen Ansatzes. Listing dagegen lässt das Konzept der Kongruenz und insbesondere den ihr zu Grunde liegenden Abstandsbegriff, der quantitativer Natur ist, fallen, um eine rein qualitative Betrachtung der Ortsverhältnisse zu ermöglichen. Listing geht es ausschließlich um die modale Seite der Beziehungen von Örtern (topos, griech. »Ort«) zueinander, ohne dass eine feste Metrik (Abstände) des Raumes nötig wäre. Listing interessiert weniger die Frage von Leibniz, welche Bewegungsmöglichkeiten variable Punkte in einer Konstellation von festgehaltenen Punkten besitzen, sondern ihn interessiert die Komplexität, der Ordnungs- und Zusammenhangsgrad des Raumes aller »Complexionen«, wie er sie nennt. Es ist zu vermuten, dass sich Listings Begriff der »Topologie« daher später auch gegen den Begriff der »Analysis situs« von Leibniz durchgesetzt hat.21 Mehr noch als in den Vorstudien zur Topologie wird in Listings Der Census räumlicher Complexe22 deutlich, dass sich sein Konzept bereits im 19 Ebd., S. 814. 20 Ebd., S. 812f. 21 Heute rechnet man Listings Topologie zur kombinatorischen Topologie, zur der im 19. und 20. Jahrhundert die mengentheoretische von Georg Cantor und Felix Hausdorff hinzukam. – Beide Traditionsstränge wurden 1935 von Alexandroff zusammengeführt. 22 Johann Benedict Listing, »Der Census räumlicher Complexe oder Verallgemeinerung des Euler’schen Satzes von den Polyedern«, in: Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 10 (1861),

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Ansatz von demjenigen Leibniz’ unterscheidet. Listing löst den Raum nicht wie dieser gleichmäßig in Raumpunkte (oder in eine stetig differenzierbare Mannigfaltigkeit) auf, sondern er unterscheidet bereits in den Grunddefinitionen zwischen »virtuellen« und »effektiven« Punkten, Linien, Flächen und Räumen. Virtuelle Punkte sind diejenigen, in die ein beliebiges Raumgebilde als Aggregat unendlich vieler Raumpunkte aufgelöst werden kann, so wie man eine Linie »als das Aggregat unendlich vieler Punkte betrachten kann«.23 (Dies sind die Variablen in Leibniz’ »Analysis situs«.) Diese virtuellen Punkte werden von Listing bei der Konstruktion der Komplexe jedoch ausdrücklich ausgeschlossen und für Operationen »nur vorübergehend zu Hülfe«24 genommen. Die effektiven Punkte dagegen sind Begrenzungspunkte, zum Beispiel die Ecken eines Polyeders oder eines Polygons, die Spitze eines Kegels oder der Mittelpunkt eines Kreises. Analog definiert er virtuelle Linien als solche, die beliebig auf Figuren aufgezeichnet werden können, während effektive Linien tatsächliche Begrenzungslinien, zum Beispiel die Kanten eines Polygons oder die Seiten eines Dreiecks sind. Das gleiche gilt für Flächen und Räume.25 Effektive Punkte, Linien, Flächen und Räume bilden die, wie Listing sie nennt, »Constituenten« der Raumkomplexe. Obwohl er zunächst nur endliche Constituenten behandelt, geht seine Analyse schließlich zu unendlichen Komplexionen mit unendlichen Begrenzungslinien und -flächen über. – Listing definiert: »Unter einem räumlichen Complex verstehen wir vorerst jede beliebige Configuration von [effektiven] Punkten, Linien und Flächen im Raume, die Linien und Flächen mögen gerade oder krumm, offen oder geschlossen, begrenzt oder unbeS. 97-182. – Im gleichen Jahr wurde Listing als ordentliches Mitglied in die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen aufgenommen. Ein Jahr später erschien obiger Aufsatz auch als Buch. 23 Johann Benedict Listing, Der Census räumlicher Complexe oder Verallgemeinerung des Euler’schen Satzes von den Polyedern, Göttingen: Dieterich 1862, S. 5. 24 Ebd., S. 6f. 25 Charles Sanders Peirce war einer der wenigen, der die philosophische und mathematische Bedeutung Listings erkannte: Er beschäftigte sich intensiv mit den topologischen Studien von Gauß, Riemann, Listing und Graßmann. Peirce war überzeugt, dass die topologischen Singularitäten (bei Listing sind es insbesondere Überkreuzungsstellen oder Verknotungen) die einzigen sind, die Identität und Individualität haben, so wie sich die Wirbel einer Flüssigkeit von der laminaren Strömung abheben, während die Punkte eines Kontinuums (bei Listing die »virtuellen« Punkte) keine individuelle Identität besitzen. – Siehe dazu das 159. Manuskript von Peirce, welches von der Herausgeberin wie folgt zusammengefasst wird: »He studied these new ideas in great detail and came to believe that topically singular points were the only ones having identity while, in general, a point on a continuous line has no individual identity at all.« (Carolyn Eisele, »Introduction«, in: Charles S. Peirce, The New Elements of Mathematics, hg. von ders., Vol. II, Algebra and Geometry, Den Haag/Paris: Mouton 1976, S. V-XXVII, hier S. XIII.)

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grenzt sein, nur dass alle diese Elemente [Constituenten] unter sich zusammenhängen müssen, um zu Einem Complex gerechnet zu werden. Bei fehlendem Zusammenhang der Elemente haben wir es mit so vielen Complexen zu thun, als getrennte Configurationen im Raume vorhanden sind, gleichviel ob sie in einander oder neben einander bestehen.«26

Listing war nicht wie Leibniz an intrinsischen Algorithmen für einzelne geometrische Figuren interessiert, sondern ihn interessierte der Zusammenhangsgrad der »räumlichen Complexe«. Dies war für ihn die genuin topologische Eigenschaft. Es gibt ihm zufolge einfach zusammenhängende und mehrfach zusammenhängende »Complexe«: Eine einfach zusammenhängende Fläche wird zum Beispiel durch eine beliebig geschlossene Linie gebildet dadurch, dass dieser »Cyklus« in stetiger Weise »contrahiert« werden kann, bis er in einem »(nicht effektiven) Punkte verschwindet«.27 Die zyklische Linie beschreibt bei dieser stetigen Formänderung eine Fläche im Raum, die von der Ringlinie in ihrer anfänglichen Gestalt vollständig und einfach begrenzt wird. »Der Zusammenhang ihrer Theile«, so Listing, »sie mochte in Folge ihrer Entstehungsweise eben oder irgend wie und mannigfach gekrümmt ausfallen, ist so einfach, wie der einer Kreisfläche, ohne Durchgänge oder Löcher, vollständig von einem cyklischen Rand begrenzt, der, wenn man von einem Orte auf einer ihrer beiden Seiten nach dem antipodisch gegenüberliegenden Orte der andern Seite, ohne die Fläche zu durchbohren, gelangen will, nothwendig irgendwo überschritten werden muss, so dass der Rand zugleich die alleinige Scheidelinie ist zwischen den zwei vollständig von einander getrennten (gleich großen) Arealgebieten ihrer zwei Seiten.«28 Listing nennt diese einfach zusammenhängende Fläche »Zwerchfläche« oder »Diaphragma« desjenigen »Cyklus«, der ihren Rand darstellt. Mehrfach zusammenhängende Gebilde sind beispielsweise mehrere in sich verschlungene Kreise. Listing verweist für die Anwendung auf die Biologie: das Blutgefäßsystem der Wirbeltiere sei eine mehrfach zusammenhängende Mannigfaltigkeit, da in diesem verschiedene Kreisläufe ineinander verschlungen sind. Dagegen sei die äußere Gestalt eines Baumes ein einfach zusammenhängendes Gebilde, da es über eine stetige Kontraktion auf einen Punkt zusammengezogen werden könnte. Zur Bestimmung des Zusammenhangsgrades entwickelt Listing ein Verfahren, das er »Dialyse« nennt und das im Wesentlichen mit Schnitten arbeitet. Der Grad des Zu26 Listing, Census, S. 4f. 27 Ebd., S. 13. 28 Ebd. – Listing macht in diesem Zusammenhang auf seine Entdeckung aufmerksam, die heute nach ihrem zweiten Erfinder »Möbius-Band« genannt wird, aber von Listing vor Möbius bereits 1858 entdeckt wurde. (Vgl. Klaus Mainzer, Geschichte der Geometrie, Stuttgart: Klett 1980, S. 186, Anm. 84.) Das Möbius-Band hat die gegenteilige Eigenschaft zu der eben beschriebenen, denn es erlaubt, auf die andere Seite zu gelangen, ohne den Rand als Scheidelinie überschreiten zu müssen.

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sammenhangs oder seine »Ordnungszahl« bestimmt sich dadurch, wie viele Schnitte nötig sind, um aus einem mehrfach zusammenhängenden Gebilde ein einfaches zu machen. So ist beispielsweise der Torus mittels eines Schnittes senkrecht zum Ring in einen Schlauch zu verwandeln, der bei geeigneter Kontraktion in einen Punkt zusammengezogen werden kann und daher einfach ist. Ausgehend von seinen Überlegungen zum Zusammenhangsgrad von Strecken- und Flächenkomplexen nimmt Listing schließlich in seiner Census-Schrift eine Erweiterung des Eulerschen Polyedersatzes vor, der bekanntlich folgende Beziehung zwischen den Anzahlen der Eckpunkte (E), der Kanten (K) und der Flächenstücke (F) von Polyedern ausdrückt: E – K + F = 2. Listing zeigte, dass die merkwürdige Konstante 2 ein Resultat der Zerlegung des Raumes in ein Innen und Außen darstellt, die durch die Polyeder gesetzt werden. Der von Descartes 1752 gefundene, aber erst von Euler bewiesene Polyedersatz gilt als das erste wichtige Ereignis in der Topologie. – Alexandroff bemerkt hierzu: »Der Polyedersatz bezieht sich auf alle Flächen, welche mit der Kugel homöomorph sind; er hat nichts mit dem Raum zu tun, in dem die Fläche liegt; er handelt – um dieselbe Tatsache noch anders auszudrücken – von einer ›inneren‹ Eigenschaft oder einer Eigenschaft der ›Gestalt‹ der Fläche. Betrachtet man eine Fläche von anderer ›Gestalt‹, so hat die entsprechend definierte Zahl E – K plus F nicht mehr den Wert 2; im Falle einer geschlossenen Ringfläche, eines ›Torus‹, ist sie – um nur ein Beispiel zu nennen – gleich null. Dagegen gibt die Verschlingungszahl nicht eine ›innere‹ Eigenschaft der Figur an, auf die sie sich bezieht – diese Figur besteht aus einem Paar zueinander fremder geschlossener Kurven, und je zwei solche Paare sind einander homöomorph; erst die Art, wie diese Kurven im Raume liegen, bestimmt den Wert der Verschlingungszahl. Diese drückt daher eine Eigenschaft der ›Lage‹ einer Figur aus. Es gibt somit topologische Eigenschaften der Gestalt und topologische Eigenschaften der Lage; die einen bleiben erhalten, wenn man die Figur selbst, ohne den umgebenden Raum, topologisch abbildet, die anderen im allgemeinen nur dann, wenn man den ganzen Raum, welcher die Figur enthält, einer topologischen Abbildung unterwirft.«29

Listing hat sich nicht nur mit topologischen Eigenschaften von Polyedern befasst, sondern – ausgehend von Gauß – auch mit Verschlingungen. Hierzu sei nur folgende Abbildung aus der Census-Schrift gezeigt:

29 Alexandroff/Hopf, Topologie, S. 2.

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Abbildung 7: Listing, Census, 1862, S. 87, Fig. 15. Insbesondere die Anwendungsbeispiele, die Listing zur Erläuterung seines topologischen Konzeptes anführt, zeigen, dass Listing über die allgemeinen Möglichkeitsbedingungen von Gestaltungen und Bewegungen nachdachte. Gibt es auch ›unmögliche Figuren und Bewegungen‹? Was würde beispielsweise geschehen, wenn ein gespiegelter biologischer Körper tatsächlich herumlaufen würde? – Auffallend viele Beispiele aus dem belebten Bereich werden angeführt: die »Rechts- und Linkswindung in den Spiralgefäßwänden einer Pflanze, die Wimpernbewegung der Räderthiere«, die »Morphologie der Schnecken«, die »Schnecken des inneren Ohres der höheren Thierclassen, die gewundenen Hörner und Zähne«, die »Stängel der Schlingpflanzen« und die »Ranken«.30 – Er hat dazu insbesondere botanische Forschungsergebnisse rezipiert, so die Bücher Ueber die Ordnung der Schuppen an den Tannenzapfen oder Ueber den Bau und das Winden der Ranken und Schlingpflanzen.31 Auch technische Beispiele werden von Listing genannt, so aus Johann J. Prechtls Technologische Encyklopädie links- und rechtsdrehende Schrauben, Schnecken in den Uhrwerken, Windmühlenflügel, Schraubenruder, Siralpumpen, die Archimedische Schraube, Wendeltreppen, gewundene Säulen und andere schraubenförmige Ornamente in der Architektur, sowie Springfedern, Spiralfedern in Chronometern und Litze oder Drähte in Seilen, Stricken, Schnüren und Gimpen.32 Er setzt dabei biologische und technische Formen miteinander in Beziehung und schreibt: »Die Linné’sche Nomenclatur stimmt in diesem Punkte mit der vorhin angeführten technologischen und conchyliologischen Terminologie überein, wiewohl dieselbe hier gewissermaßen als naturwidrig angesehen werden dürfte.«33

Ein weiteres zentrales Anwendungsgebiet der Topologie war für Listing die damals aufstrebende Kristallographie, die auch für viele andere Mathematiker die Grundlage für neue Konzepte schuf. So war der Begründer der Vektoralgebra, Justus Graßmann, ebenfalls maßgeblich durch die Kristalltheorie zu seinen neuartigen Überlegungen angeregt worden.34 Listing schrieb 1836 30 Listing, »Vorstudien«, S. 832 und 844f. 31 Vgl. ebd., S. 846 und 848. – Ausführlich zitiert er Matthias J. Schleidens Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik von 1842. (Vgl. ebd., S. 848f.) 32 Ebd., S. 844. 33 Ebd., S. 845. 34 Vgl. dazu Verf., »Geometrical Product – Exponentiation – Evolution. Justus Günther Grassmann and dynamist Naturphilosophie«, in: Hermann Günther

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an Müller, dass er seine Methode auf »die Crystallographie, in welcher die Topologie, wie ich denke, einst von Bedeutung werden wird«, angewandt habe, und dass »die Hemiedrie, welche oft ziemlich komplicirten Gesetzen folgt, rein topologischer Natur«35 sei. Auch in seiner Census-Schrift führt er Beispiele aus der Kristallkunde an.36 Listing war der Auffassung, dass Symmetrieeigenschaften allgemein topologischer Natur seien und daher einen wesentlichen Zweig dieser Wissenschaft ausmachen würden. Er beschließt seine Vorstudien zur Topologie mit den Worten: »Die Symmetrie des Raumes und der Bewegung bildet endlich einen ergiebigen Stoff für künftige topologische Untersuchungen, die sich theilweise schon an das bereits über die Position Vorgetragene anknüpfen lassen. Wenn auch die Begriffe der Größe, des Maßes, der geometrischen Aehnlichkeit oder Congruenz hierbei nicht außer Acht bleiben dürfen, so treten sie doch bei der Vorstellung des räumlichen Eben- und Gleichmaßes jederzeit hinter den Begriff der modalen Raumverhältnisse zurück, wodurch die Symmetrie nicht sowohl dem Gebiete der Geometrie, als vielmehr dem der Topologie anheim fällt. Theils in der Morphologie der organisirten Wesen, theils und ganz besonders in der Kristallographie spielen die Symmetriegesetze eine wesentliche Rolle.«37

Die Topologie als die Lehre von den qualitativen Gesetzen der Ortsverhältnisse ist bei Listing durch den Organisations- und Komplexitätsgrad der Natur und ihrer »organisirten Wesen« motiviert gewesen. Seine mathematischen Bemühungen standen dabei in einem größeren Forschungsfeld, das durch den Zeitgeist der sogenannten ›romantischen Wissenschaft‹ (unter anderem in der Kristallographie) mitgeprägt wurde. Wie diese konzeptionelle und motivationale Beeinflussung der spezifischen Entwicklung der mathematischen Wissenschaften in Deutschland im 19. Jahrhundert vonstatten ging, verdient eine genauere Untersuchung, die zur Zeit von mir vorgenommen wird.

4 D yn a m i s i e r u n g d e s R a u m s a l s K o n s e q u e n z der Naturphilosophie Im 19. Jahrhundert fand eine zunehmende Dynamisierung der Raumvorstellung statt, die in Deutschland, aber auch in Schottland, mit naturtheoretischen Vorstellungen einherging, welche die Entwicklungsdynamik der Natur in den Vordergrund rückten. In Deutschland ist diese Dynamisierung mit Graßmann (1809-1877): Visionary Mathematician, Scientist and Neohumanist Scholar, hg. von Gert Schubring, Dordrecht/Boston/London: Kluwer 1996, S. 47-58. 35 Breitenberger »Gauß und Listing«, S. 38. 36 Listing, »Census«, S. 79f. 37 Listing, »Vorstudien«, S. 875. – Mit Bezug auf die Kristallographie nennt er Millers Schrift A Treatise on Crystallography von 1839.

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der romantischen Naturphilosophie verbunden gewesen. Die Kontroverse ›Dynamismus vs. Atomismus‹ wurde in verschiedenen Disziplinen ausgetragen: Noch Gustav T. Fechner versuchte sich an einer Synthese dieser beiden Konzepte, indem er Friedrich W.J. Schellings Konzept einer dynamischen Atomistik aufnahm und weiterführte. Die Suche nach einer Integration des kontinuumstheoretischen Raumkonzepts mit der atomistischen Partikelkonzeption und damit die Suche nach einer grundlegenden Einheit der Natur war ein wesentliches Motiv für die verstärkte Beschäftigung mit topologischen Fragen. Bernhard Riemann, Hermann von Helmholtz, die schottische Schule um Peter G. Tait und James C. Maxwell, sowie der Brite William Thomson stehen für diesen naturphilosophischen Kontext der Topologie. Helmholtz beispielsweise verband die topologischen Modelle von Riemann mit einer hydrodynamischen Wirbeltheorie. Aber auch Riemann selbst dachte in hydrodynamischen Kontexten.38 Beispielsweise beschäftigte er sich mit der Entstehung von Schockwellen. Der entscheidende Punkt hierbei ist, dass unter Zugrundelegung einer kontinuumstheoretischen Sichtweise die Materiepartikel als Wirbel einer quasi-flüssigen Grundsubstanz angesehen werden können. In diese Richtung gingen auch die Feldtheorien. Albert Einsteins Suche nach einer Allgemeinen Feldtheorie war ein Abschluss dieser Entwicklung. Mit der Überwindung der Äthertheorie wurde als quasi-flüssiges Medium nun der leere Raum selbst angesehen. Diese Entwicklung geht auch schon auf Riemann zurück, der erkannte, dass Metriken keine notwendige Eigenschaft von Räumen sind, dass Räume vielmehr verschiedener Metriken fähig sind und dass das Raumhafte selbst so etwas wie ein ›topologisches Substratum‹ ist. Eine weitere wichtige Idee Riemanns war, dass das ›organisierende Prinzip‹ der Natur die Metrik der Natur selbst erschafft. Eine kartesische Herangehensweise, die von außen durch Koordinaten Maßsysteme einführt, ist vor diesem naturphilosophischen Hintergrund keine adäquate Methode. Ein weiterer Meilenstein in der Dynamisierung der Raumvorstellungen war das »Erlanger Programm« von Felix Klein aus dem Jahre 1872. Klein verwandte die Gruppentheorie dazu, um die verschiedenen Geometrien nicht mehr nach ihren Gegenständen zu klassifizieren, sondern nach grundlegenden Handlungsweisen, bzw. Transformationen. Die geometrischen Gegenstände sind demnach als Invarianten bestimmter Transformationen gegeben. Sie werden erst durch die Transformationen erzeugt. Damit einherging, dass sich die Geometrie nicht mehr nur mit einzelnen Figuren wie 38 Zu Riemann und Schelling vgl. Verf., »Subjektivität als Selbstorganisation. Schellings Transformation des Subjektbegriffs und sein Einfluss auf erste mathematische Ansätze einer Theorie der Selbstorganisation im 19. Jahrhundert«, in: Philosophie der Subjektivität? Zur Bestimmung des neuzeitlichen Philosophierens. Akten des 1. Kongresses der Internationalen Schelling-Gesellschaft 1989, hg. von Hans Michael Baumgartner und Wilhelm G. Jacobs, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1993, Bd. 2, S. 431-440.

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Dreiecken, Kreisen etc. beschäftigte, sondern mit der Gesamtheit von Gegenständen, die durch eine Transformationsart erzeugt werden. Prominentes Beispiel sind die Kegelschnitte. In der euklidischen und kartesischen Geometrie sind Kreise und Ellipsen unterschiedliche, einzelne Figuren, die isoliert voneinander untersucht werden. In der affinen Geometrie werden Kreise und Ellipsen als eine Figur angesehen, da Kreise und Ellipsen mittels affiner Transformationen auseinander hervorgehen. Die Hervorhebung von Transformationen, Transformationsinvarianten und den ihr zugehörigen Gruppen wurde ergänzt durch eine Stufung der Geometrien, die die starre euklidische Metrik als letztes Resultat einer stufenweisen Einschränkung grundlegenderer Geometrien erkennbar werden ließ. Abbildung 8: von der euklidischen Geometrie zur Topologie. Die euklidische Geometrie postuliert die stärksten Grundannahmen: Sie setzt einen mit festen Maßstäben messbaren, quantifizierbaren Raum voraus. Zwei Figuren sind von diesem Standpunkt aus äquivalent, wenn sie kongruent sind, das heißt, wenn die eine aus der anderen durch eine starre Bewegung hervorgeht, wobei sich nur die Lage, aber keine Größe ändert. Die Sätze dieser Geometrie betreffen Längen, Winkel und Flächen. Das Netzwerk, bzw. die Metrik, bleibt starr und unverändert. Bei der Ähnlichkeitsabbildung, die auch innerhalb der euklidischen Geometrie formulierbar ist und auf die Leibniz seine »Analysis situs« gründen wollte, kann das Netzwerk vergrößert und verkleinert werden. Größen bleiben nicht erhalten, aber die Form. Bei affinen Abbildungen können sich die Winkel ändern, Parallelen bleiben aber erhalten. Dies ändert sich in der projektiven Geometrie. Invariant bleiben hier noch die geraden Linien und Schnittpunkte. Es bleibt gewissermaßen ein Netzwerk des Raumes mit geraden Linien erhalten, auch wenn die Größen, Abstände und Winkel dieses Netzes nicht mehr bestimmbar sind. Um eine Linie als Gerade zu erkennen, ist aber doch wieder eine Messung nötig und zwar ein festes Lineal, aber ohne Maßeinheiten.

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In der topologischen Geometrie wird auch dieser letzte quantitative Rest noch fallen gelassen. Der topologische Raum wurde schon von Riemann als amorpher, beweglicher Raum verstanden, der als topologische Invariante den Zusammenhangsgrad unverändert lässt. Ein immer wieder bemühtes Beispiel ist der Gummiraum, der sich in alle möglichen Formen dehnen und stauchen lässt. Die Topologie wurde daher auch als Theorie der stetigen Deformationen definiert. Die Topologie kann nur stetige, morphogenetische Strukturierungen beschreiben, das heißt Gestaltänderungen auf der Basis eines permanenten stationären Gleichgewichts, nicht jedoch spontane Selbstorganisationsvorgänge im kritischen Nichtgleichgewicht. Dies war auch das Problem von René Thom, der in den 1970er Jahren eine wunderbare topologische Biomathematik schuf, die jedoch über stationäre morphogenetische Prozesse nicht hinauskam. Die Topologie als mathematische Disziplin hat einen weiteren Hemmschuh, der es ihr nicht erlaubt, die Genesis von Raum-Zeit-Mannigfaltigkeiten, oder auch nur die Raumerzeugung, adäquat zu thematisieren. Eine wichtige topologische Invariante ist die Dimensionszahl. Mittels topologischer Abbildungen kann die Dimensionalität nicht verändert werden. Dies bedeutet, dass die Topologie den dimensionierten Raum voraussetzen muss. Eine Raumerzeugung kann in diesem Rahmen nicht gedacht werden. Dies ändert sich jedoch, wenn diskontinuierliche Transformationen zugelassen werden. Georg Cantor hat gezeigt, dass bei Zulassung von nichtstetigen Transformationen aus einer eindimensionalen Strecke n-dimensionale Räume bijektiv erzeugt werden können, das heißt ohne dass ein Punkt verloren geht oder einer hinzukommen müsste. Dieser Tatbestand hatte auch bereits den Mathematiker Felix Hausdorff in seinem philosophischen Buch Das Chaos in kosmischer Auslese von 1898 fasziniert. Hiermit verlässt man jedoch die klassische Topologie und nähert sich der fraktalen Geometrie, die mit dem sogenannten »Cantor-Staub« ein erstes Beispiel erhielt und von Hausdorff weiterentwickelt wurde. Der Weg von der starren Metrik hin zu einem metrikfreien, dynamisch wabernden Raum und schließlich zu möglicherweise noch etwas Fundamentalerem, das die Physiker »Raumschaum« getauft haben, kann jedoch auch umgekehrt gelesen werden: Der Raum mit den geringsten Grundannahmen könnte auch der ursprünglichste sein, aus dem sich durch zunehmende Stabilisierungen überlebensfähige Mannigfaltigkeiten herausbilden. Der Raum mit den geringsten Grundannahmen ist nicht der topologische, sondern das Diskontinuum, welches durch die nulldimensionale Cantormenge, den »Cantorstaub«, repräsentiert wird. Die Cantormenge ist eine Urmenge, aus der sich jedes nichtleere Kompaktum erzeugen lässt. Durch Metrisierungen, wenn sie möglich sind, können dann weitere Einschränkungen erfolgen.

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Es war der Entwicklungspsychologe Jean Piaget, der gezeigt hat, dass dieser Entwicklungspfeil auch für die Entwicklung der Raumvorstellung von Kindern gilt. Kinder prägen erst sehr spät metrische Vorstellungen aus, topologische werden eher ausgebildet. Folgt man der Erkenntnistheorie Schellings der mittleren Phase, dann ist das Chaos nicht nur für den physikalischen Raum, sondern auch für die Kognition des Menschen das Ursprüngliche.39

39 Der Zusammenhang von mathematischen Räumen mit naturphilosophischen und psychologischen Entwicklungstheorien kann an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. – Eine Monographie der Verf. zu diesem Thema wird demnächst fertiggestellt.

III Anwendungsgebiete von Topologie

Die Form des Formlosen: @rchi-Topologie in 10 Punkten JOACHIM HUBER

Entmaterialisierung, Hybridisierung, und transmaßstäbliche Herausforderungen (hier an Stelle des überstrapazierten Begriffes der ›Globalisierung‹ stehend) sind Treiber für das Design, die Architektur und den Kontextraum der urbanen Welt des 21. Jahrhunderts. Vor diesem Hintergrund soll mit dem Signum @rchi-Topologie in zehn Thesen eine Topologie der Architektur angesichts gegenwärtiger Herausforderungen entfaltet werden. Dies mit der Intention, theoretische und empirische Diskurse in der Tradition der Architektur als ›Raumforschung‹ zu behandeln. Durch neue Darstellungsmöglichkeiten von architektonischem Entwurf in 3D oder animiert in 4D, gewinnen Raumkomponenten gegenüber einer traditionell ›flachen‹ Planimetrie an Bedeutung. @rchi-Topologie versucht in diesem Sinne einen Bogen zu schlagen hin zu abstrakten Raumdarstellungen in der Mathematik.1 Es wird dabei keine mathematisch-formale Sprache gebraucht. Vielmehr hat die Topologie durch diese Thesen eine Rolle als heuristische Metapher,2 um ein Repertoire an Argumenten für eine vergleichende raumorientierte Interpretationsforschung der Architekturpraxis aufzubauen.3 Im gleichen Zuge lassen sich dabei auch Werkzeuge für eine 1

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Vgl. Jeffrey R. Weeks, The Shape of Space. How to Visualize Surfaces and Three-Dimensional Manifolds, New York/Basel: Dekker 22002 [1985]; Jan J. Koenderink, Solid Shape, Cambridge: MIT Press 31993 [1990]; George K. Francis, A Topological Picturebook, New York: Springer 21988 [1987]; Vladimir G. Boltjanskij/Vadim H. Efremoviþ, Anschauliche kombinatorische Topologie, a.d. Russ. von Detlef Seese und Walter Weese, Braunschweig: Vieweg 1986 [1982]; und J. Scott Carter, How Surfaces Intersect In Space. An Introduction To Topology, Singapore/New Jersey/London/ Hong Kong: World Scientific 21995 [1993]. Vgl. Theorie der Metapher, hg. von Anselm Haverkamp, Darmstadt: WBG 2 1996 [1983]; und Die paradoxe Metapher, hg. von dems., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. Vgl. Gianni Vattimo, »Metropolis and Hermeneutics. An Interview«, in: World Cities and the Future of the Metropolis, Beyond the City, the Me-

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dynamische Zukunftsforschung in Berufsbild und kritischer Praxis entwickeln.

1 Der Kontext der Formlosigkeit Konvergenz und Miniaturisierung durch Mikroprozessoren und NanoTechnologie führen dazu, dass Produkte entmaterialisiert werden, oft zu klein sind, um überhaupt noch ergonomisch benutzt zu werden. Wie gibt man ihnen dann sinnvolle ›Form‹ – eine ›Form‹ als sinnstiftendem Attribut von Architektur? Transmaßstäbliche Einflussgrößen sind dabei kontextuelle Schlüsselfaktoren. ›Entmaterialisierung‹ bedeutet mehr als nur Miniaturisierung: Falls sich Europa weiter konsequent zu einer Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft entwickelt, wird nicht das Design von Produkten, sondern verstärkt das Design von Dienstleistung und Service zur ›formlosen‹ Innovation werden; etwa als strukturelle Kopplung zwischen Produkten oder Objekten und einer Dienstleistung, wie es von Apple mit dem Duo iPod/iTunes vorgemacht wurde. Die künftige Aufgabe besteht daher im Design von Schnittstellen. Nano-Technologie wird dabei die möglichen intelligenten Oberflächeneigenschaften von zukünftigen Produkten radikal verändern. Um trotzdem Einflussfaktoren für eine, im abstraktesten Sinne, mögliche ›Form‹ zu definieren, eine Form des Formlosen,4 braucht es daher einen radikalen Umgang mit Kontext-Ansammlung und räumlicher Äußerung aller übermaßstäblichen Einflussfaktoren auf das behandelnde Artefakt. In der Literaturtheorie sind ›Kontext‹ und ›Topos‹ bereits grundlegend für Analyse und Interpretation: ›Kontext‹ ist darin eine pragmatische Umgebung jenseits der eigentlichen Sprache, in welche Äußerungen eingebettet sind. Der Kontextualismus ist die relativistische Konsequenz eines radikalen Kontextualismus, welcher durch den flux von Akteur, Auditorium und Kontext bestimmt ist: die dynamische Entwicklung eines Interaktionsgefüges und Übereinstimmungsprozesses des jeweiligen Auditoriums. ›Kontext‹ ist dynamisch und entwickelt sich mit seinen Akteuren, seiner Zeit und Kultur: Kontextverbindende Umweltfaktoren treten analytisch und operativ in den Vordergrund, um überhaupt Handlungsfähigkeit zu ermöglichen. Sie führen dazu, dass @rchi-Topologie soziokulturell besetzt und angereichert werden muss. Die Konsequenzen von Globalisierung, Verstädterung und Virtualisierung tangieren einerseits Fragen nach

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tropolis, Katalog Triennale di ilina 1988, Bd. I/2, hg. von Georges Teyssot, Milano: Elektra 1988. Vgl. Rosalind F. Krauss/Yves-Alain Bois, Formless. A User’s Guide, New York: Zone 1997 [1996].

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einer Autonomie der Architektur,5 andererseits deren Einbettung in ein komplexes Geflecht von Mikro-Makro-Phänomenen, Polykontextualität und Dezentralisierung, die insgesamt nicht mehr quantitativ überschaubar sind. @rchi-Topologie als qualitative Theorie und Methodologie von Räumen versucht an dieser Stelle vermittelnd einzugreifen: Die Rolle der einzelnen Komponenten – Kontext, Stadt, Architektur – steht außerhalb ihrer klassischen Einordnung. Sie können sich nicht mehr über ihre Materialisierung und Hierarchisierung als Produkte oder klassische Orte definieren. Das Produkt wird durch einen Transformationsprozess ersetzt.6

2 Der Kontext als Urbane Topologie ›Randlose Stadt‹ als Quellenmaterial für @rchi-Topologie, reagiert einerseits auf die unausweichliche zweite Natur des Urbanen, andererseits formuliert sie eine Gegenposition zur Nostalgie einer zentrierten Stadt ›intra muros‹.

Der Normalbegriff von Stadt wird auf die Quasi-Stadt der topologischen Stadt projiziert: Aus architektonischer Sicht ist dieser Normalbegriff durch Modelle geprägt, die alle mehr oder weniger der Auseinandersetzung mit der Moderne im 20. Jahrhundert entspringen. – Einen frühen Fixpunkt bildet die Charta von Athen mit ihrer infrastrukturorientierten Funktionentrennung der Stadt. Aus ihr heraus kann man grob zwei Entwicklungsstränge festmachen: Einerseits, aus dem CIAM und Post-CIAM heraus, eine – wie ich es nenne – ›Anthropologisierung‹ der Charta von Athen durch Team X (frühe 1960er Jahre) und den niederländischen Strukturalismus (frühe 1970er Jahre), der weiter in eine urbane Semiotik (1970er/ 1980er Jahre) und die poststrukturalistische Stadt als Text (1980er/1990er Jahre) führt. Andererseits finden wir die Typologie/Morphologie-Schule des italienischen Rationalismus der Aldo Rossi-Schule (1960er Jahre)7 und die damit verwandte Figur/Grund-Analyse der Cornell-Schule um Colin Rowe (1960er/1970er Jahre). Als Summe mit all ihren Nuancen, Mischformen und Gegenprojekten bildet sich daraus das, was man für die Architekturdebatte einen ›Normalbegriff‹ von Stadt nennen könnte. Die heutige 5 6

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Vgl. Aldo Rossi, »An Analogical Architecture«, a.d. Ital. von David Stewart, in: Architecture and Urbanism 65/5 (1976), S. 74-76. »Approached topologically the architects raw material is no longer form, but deformation. The brackets swing open. Form falls to one side, still standing only at the end. Far from directing it, form emerges from the process, derivative of a movement that exceeds it. The formal origin is swept into transition.« (Brian Massumi, »Sensing the Virtual, Building the Insensible«, in: Architectural Design 68/5-6 (1998), S. 16-24, hier S. 16.) Aldo Rossi, Die Architektur der Stadt. Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen, a.d. Ital. von Arianna Giachi, Düsseldorf: Bertelsmann 1973 [1966], S. 10.

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Stadt hat diese Modelle vor allem bezüglich Großmaßstäblichkeit, Heterogenität und des Elements der neuen Kommunikationstechnologien jedoch weit hinter sich gelassen: Die sogenannte ›fordistische Stadt‹ der Moderne ist erst zur postfordistischen Dienstleistungsstadt und nun weiter zur Informationsstadt mutiert. Hier greift die idealisierende Monofunktionalität der meisten genannten Modelle nicht mehr: Sie erfassen oft nur einen spezifischen Aspekt von Stadt und sie bieten kaum flexible Handhabe für den Umgang mit Urbanität jenseits der klassischen Stadt mit historischem Zentrum. Es geht also bei der oben angesprochenen Projektion des Normalbegriffs von Stadt auf die ›topologische Stadt‹ um eine Aktualisierung und eine Weiterentwicklung, aber auch eine Vermittlung von dem in den verschiedenen Sichtweisen vorhandenen Know-how. Die ›randlose Stadt‹ ist differenziert, kritisch. – Sie ist die zweite Natur der menschlichen Lebenswelt.8 Ein Umgang mit Zersiedlung der Landschaft muss Unübersichtlichkeit als Fakt, als Konstatierung, aber auch als Chance anerkennen. Im Konzept der randlosen Stadt werden die gängigen Begriffe für die verschiedenen Formen der Stadtausbreitung subsumiert (Mega-City,9 Megalopolis,10 Exurbia, Exopolis, Peripherisierung, Zwischenstadt,11 Randstadt/Edge City,12 Bandstadt, Netzstadt,13 Polynuclear City, Exchanger City, Global City etc.), um mit den Werkzeugen einer @rchi-Topologie auch den jeweiligen, einzelnen Spezifikationen gerecht werden zu können. Die randlose Stadt der @rchi-Topologie ist heterogen, komplex, vielschichtig, unvorhersehbar, dynamisch und ›schwierig‹.

3 Der Kontext als Topologie Das Interface zwischen randloser Stadt und Architektur bildet Topologie. Topologie als nicht-metrische Lehre der räumlichen Konfiguration und als qualitative Theorie sucht maßstabsunabhängige, relationale, räumliche

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Vgl. dazu Verf., Urbane Topologie. Architektur der randlosen Stadt, Weimar. Bauhaus 2002. Vgl. Saskia Sassen, Metropolen des Weltmarktes, Die neue Rolle der Global Cities, a.d. Engl. von Bodo Schulze, Frankfurt a.M./New York: Campus 1996 [1994], S. 26. Vgl. Jean Gottmann, »Megalopolis or the urbanization of the northeastern Seabord«, in: Economic Geography 33/3 (1957), S. 189-200, hier S. 196; und Lewis Mumford, Megalopolis. Gesicht und Seele der Grosstadt, a.d. Amerik. von Veronica Ensslen, Wiesbaden: Bauverlag 1951 [1938]. Vgl. Thomas Sieverts, Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land, Braunschweig: Vieweg 1997. Vgl. Joel Garreau, Edge City. Life on the New Frontier, New York: Doubleday 1991. Vgl. Netzstadt. Transdisziplinäre Methoden zum Umbau urbaner Systeme, hg. von Peter Baccini und Franz Oswald, Zürich: vdf 1998.

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Invarianten und untersucht deren lokales und globales Verhalten unter Transformationen. Topologie ist in erster Linie Werkzeug und stilles Wissen – tacit knowledge:14 Topologie betritt die heutige architektonische Bühne als abstrakter Relationierungsraum, welcher lokal und global besetzt sein will. Der topologische Raum ist medienübergreifend – ein Raum, der die Einbindung des Diskurses über Architektur und Urbanität in das Tätigkeitsfeld des Architekten hinsichtlich Transfer und Interaktion zwischen realen und virtuellen Kontexten ermöglicht. Dadurch weist er über den konventionellen kartesianischen Raumbegriff hinaus: Topologie untersucht Räume durch Vergleich, das heißt es wird versucht, einen Raum in einen anderen zu überführen, ohne dass seine Struktur durch diese Transformation verletzt würde. So lösen Transformationsprinzipien die gewohnten Ordnungsprinzipien als Kontextrelationen ab. Da für den topologischen Vergleich keine Metrik vorausgesetzt wird, entscheiden andere Invarianten über das Gelingen dieses Vergleiches. Architektur ist in ihrer Tradition und Praxis in gewissem Sinne schon eine Form von ›naiver Topologie‹:15 Behandlung von Typen, Körpern, Oberflächen, Lage, Konfiguration und Gestalt, intrinsische und extrinsische Betrachtung sind charakteristische topologische aber auch architektonische Attribute. Die hier vertretene These ist, dass unser heutiger urbaner Kontext nicht mehr durch ein konventionelles Vermessen erfassbar ist. Es zeigt sich darin ein Schon-vorhanden-Sein und Schon-angedacht-Sein von Topologie und Nicht-Metrik der randlosen Stadt oder allgemeiner: der Kultur. @rchi-Topologie profitiert, vor allem bezüglich der Deutung abstrakter topologischer Termini, von einer Interaktion zwischen Disziplinen. @rchi-Topologie wirkt deshalb nicht separierend, sondern integrierend. Verschiedene konzeptuelle und kontextuelle, kulturelle Paradigmen, im Sinne von Denkmodellen und Lesarten, können darin nicht nur koexistieren, sondern auch kommensurabel kommunizieren: »Architektonische Topologie ist eine Mutation von Form, Struktur, Kontext und Programm in ein verwobenes Muster von komplexer Dynamik«,16 meint Stephen Perrella. – Was ist Topologie, wenn sie einerseits eine Geometrie ohne Ausdehnung ist, andererseits aber keine klassische Topos-Theorie? In der absoluten Abstraktion des mathematischen Formalismus ist Topologie reines Konstrukt und ganz objektiv 14 Vgl. Anselm Haverkamp, »Paradigma Metapher/Metapher Paradigma«, in: Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, hg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck, München: Fink 1987, S. 547-560 [1985], hier S. 552. 15 Vgl. Ernest W. Adams, »The Naive Conception of the Topology of the Surface of a Body«, in: Space, Time and Geometry, hg. von Patrick Suppes, Dordrecht: Reidel 1973, S. 402-424; und Margaret M. Fleck, »The Topology of Boundaries«, in: Artificial Intelligence 80 (1996), S. 1-27. 16 Stephen Perrella, »Hypersurface Theory: Architecture>