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German Pages 468 Year 2018
Martin Ehrler, Marc Weiland (Hg.) Topografische Leerstellen
Rurale Topografien | Band 4
Editorial Rurale Topografien erleben nicht nur gegenwärtig in den medialen, literarischen und künstlerischen Bilderwelten eine neue Konjunktur – sie sind schon seit jeher in verschiedensten Funktionen ganz grundsätzlich am Konstituierungsprozess sowohl kultureller als auch individueller Selbst- und Fremdbilder beteiligt. Imaginäre ländliche und dörfliche Lebenswelten beeinflussen die personale und kollektive Orientierung und Positionierung in bestimmten Räumen und zu bestimmten Räumen. Dabei entwerfen sie Modelle, mit denen individuelle und gesamtgesellschaftliche Frage- und Problemstellungen durchgespielt, reflektiert und analysiert werden können. Auch in ihren literarischen Verdichtungsformen und historischen Entwicklungslinien können sie als narrative und diskursive Reaktions-, Gestaltungs- und Experimentierfelder verstanden werden, die auf zentrale zeitgenössische Transformationsprozesse der Koordinaten Raum, Zeit, Mensch, Natur und Technik antworten. Damit wird auch die Frage berührt, wie eine Gesellschaft ist, war, sein kann und (nicht) sein soll. Die Reihe Rurale Topografien fragt aus verschiedenen disziplinären Perspektiven nach dem Ineinandergreifen von künstlerischer Imagination bzw. Sinnorientierung und konkreter regionaler und überregionaler Raumordnung und -planung, aber auch nach Möglichkeiten der Erfahrung und Gestaltung. Indem sie die Verflechtungen kultureller Imaginations- und Sozialräume fokussiert, leistet sie einen Beitrag zur Analyse der lebensweltlichen Funktionen literarisch-künstlerischer Gestaltungsformen. Ziel der Reihe ist die interdisziplinäre und global-vergleichende Bestandsaufnahme, Ausdifferenzierung und Analyse zeitgenössischer und historischer Raumbilder, Denkformen und Lebenspraktiken, die mit den verschiedenen symbolischen Repräsentationsformen imaginärer und auch erfahrener Ländlichkeit verbunden sind. Die Reihe wird herausgegeben von Werner Nell und Marc Weiland. Wissenschaftlicher Beirat: Friederike Eigler (Washington, D.C.) Dietlind Hüchtker (Leipzig) Sigrun Langner (Weimar) Ernst Langthaler (Linz) Magdalena Marszalek (Potsdam) Claudia Neu (Göttingen) Barbara Piatti (Basel) Marc Redepenning (Bamberg) Bernhard Spies (Mainz) Marcus Twellmann (Konstanz)
Martin Ehrler, Marc Weiland (Hg.)
Topografische Leerstellen Ästhetisierungen verschwindender und verschwundener Dörfer und Landschaften
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Volkswagenstiftung.
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Anke Tornow unter Verwendung eines Kartenausschnitts: © GeoBasis-DE / LVermGeo LSA, 1987, C22-8017004-2016 Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-4051-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4051-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 9 Topografische Leerstellen. Zur ästhetischen Sichtbarmachung verschwindender und verschwundenen Dörfer und Landschaften
Marc Weiland | 11
T HEORETISCHE ANNÄHERUNGEN Von Wüstungen und Lost Villages. Eine historische Einleitung und Einordnung
Karl H. Schneider | 53 Die Kartierung der Gemeinschaft. Der ländliche Strukturwandel in Ortschroniken und Heimatbüchern der Bundesrepublik Deutschland
Dirk Thomaschke | 67 Netzraumtopografie. Architektonische Leerstellen im Landschaftsgeschehen
Maria Frölich-Kulik | 87 Landschaft verschwindet – was bleibt? Landschaft, Landnutzung und Strategien des Umgangs mit räumlichen Veränderungen
Dorothea Hokema | 103 Leere Landschaften. Grenzfälle kultureller Deutung von Landschaften in Literatur und Kunst
Martin Ehrler | 119 Landschaftsästhetik – Landschaftsentwicklung. Historische Aspekte und aktuelle Herausforderungen
Olaf Kühne | 143 Verschwinden und Erscheinen. Zwei Weisen der imaginären Rekonstruktion des Dörflichen
Werner Nell | 161
LITERARISCHE IMAGINATIONEN »Dieses Dorf schwand von der Erde hinweg, ohne daß man zu sagen weiß, wie?« – Verschwundene Dörfer und das Unheimliche
Sabine Gruber | 187 Zurück zur Natur. Erfindung und Verschwinden der »Waldheimat« bei Peter Rosegger
Solvejg Nitzke | 199 »Ich stülpe am Dorfrand die grünen Kelchblätter um, damit sie das Dorf nicht zudecken« Herta Müllers Poetik des Verschwindens
Julia Kölling | 215 Vom utopischen zum memorialen Chronotopos. Verschwundene Dörfer in der DDR- und Post-DDR-Literatur
Michael Ostheimer | 237 Verschwundene dörfliche Lebenswelten im Kinderbuch. Eine Annäherung im Deutschunterricht aus erinnerungskultureller Perspektive: Erwin Strittmatters Tinko, Alfred Wellms Kaule und Astrid Lindgrens Die Kinder aus Bullerbü
Barbara Schubert-Felmy | 251 Demontagen, Umwidmungen, Neu-Inszenierungen. (Post-)Industrielle Landschaften bei Kerstin Hensel, Wolfgang Hilbig und Volker Braun
Inga Probst | 269 »Was wäre gewesen, wenn nichts gewesen wäre?« Die Wende als Verwandlung in Patrick Hofmanns Roman Die letzte Sau
Mario Huber | 291 Der verschwundene Berg. Über Gary Snyder und seinen Zyklus Mount St. Helens
Peter Braun | 309 Wann kommt die Flut? Verschwindende Dörfer in Roman Senčins Überflutungszone
Nina Frieß | 331
KÜNSTLERISCHE REPRÄSENTATIONEN Moderne Zeiten und gallische Dörfer. Die Komik des Verschwindens im frankobelgischen Comic
Janwillem Dubil | 349 Armutszeugnisse für die Erinnerungskultur! Strategien ästhetisch-poetischer Inwertsetzung peripheren Kulturerbes in der Kunst nach 1970
Lutz Hengst | 369 Dem Verschwinden begegnen. Landwirtschaft und ländlicher Raum in der Gegenwartskunst
Anne Kersten | 381 Wogen der Flut. Visualität und Materialität chronotopischer Transformationen in konzeptueller Kriegsfotografie
Sophie-Charlotte Opitz | 395 Filmische Konstruktionen des verschwundenen Dorfs im türkischen Post-Yeşilçam-Kino. Sichtbarmachung, Overexposure und Bilddurchdringung in Yavuz Turguls Eşkıya (1996)
Ömer Alkin | 411 Der Mann mit der DV-Kamera. Wang Bing filmt zerfallende Lebenswelten
Daniel Neumann | 433 Das filmische Off als markierte Leerstelle. Audiovisuelle Inszenierungsstrategien einer anwesenden Abwesenheit in Nachthelle (2015)
Henrik Wehmeier | 443
Autorinnen und Autoren | 461
Vorwort
In einer immer stärker sinnhaft strukturierten und erschlossenen Welt sind es die vermeintlich immer weniger werdenden ›weißen Flecken‹, denen vermehrt Aufmerksamkeit zukommt – und die doch auch kontinuierlich neu entstehen. Topografische Leerstellen, ob in Form verlassener Siedlungen, zerstörter Dörfer oder stark überformter Landschaften, bilden dabei nicht nur Leerstellen in räumlich-materiellen Zusammenhängen, sondern auch im persönlichen und kollektiven Gedächtnis. Sie wirken sich auf aktuelle Lebenswelten aus und verlangen eine Neubestimmung und Neubesetzung. Dieser dem Verschwinden entgegengesetzt verlaufende Prozess, denn die wahrgenommenen Leerstellen erscheinen mitunter als fruchtbarer Boden für theoretische und künstlerische Bezugnahmen, führt zu symbolischen Wiederaneignungen, die in verschiedenen medialen Formen realisiert werden und dabei Eingang in das kulturell Imaginäre finden. Sie lassen das Verschwinden wie auch das Verschwundene erscheinen und belegen dieses Erscheinen mit unterschiedlichen Funktionalisierungen, die auch zu praktischen Neuaneignungen führen. Die hier versammelten Beiträge, die sich dem Phänomen thematisch und disziplinär auf unterschiedliche Weisen nähern, zeigen, inwiefern topografische Leerstellen unter Zuhilfenahme erzählerisch-diskursiver und ästhetischer Mittel zu Resonanzräumen jeweils aktueller künstlerischer, historischer und soziokultureller Auseinandersetzungen werden. Ihre Leere wird nicht nur als problematisch, sondern mitunter auch als animierend und inspirierend in den verschiedenen Debatten wahrgenommen, bietet sie doch das Potential einer möglichen neuen Perspektivierung und Interpretation zeitgenössischer Lebenswelten. Dabei verschränken sich, das führen die Beiträge anhand eines breiten Themenspektrums vor Augen, bisweilen wissenschaftliche und künstlerische Ergründungsversuche miteinander. Für ihre Unterstützung bei der Herstellung des Bandes möchten wir uns ganz herzlich bei Anke Tornow, Anne-Lena Fuchs und Prof. Werner Nell bedanken. Der Volkswagenstiftung danken wir für ihre großzügige finanzielle Unterstützung. Martin Ehrler & Marc Weiland
Topografische Leerstellen Zur ästhetischen Sichtbarmachung verschwindender und verschwundener Dörfer und Landschaften M ARC W EILAND
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Dörfliche und ländliche Räume werden heutzutage in ihren medialen Erscheinungen häufig als Lebenswelten gekennzeichnet, die aus der Erinnerung – sei es die persönliche oder kollektive – heraus entstehen. Sie rufen Orte und Räume ins Gedächtnis, die es so, wie wir sie einstmals kannten (oder zu kennen vermeinten) nun nicht mehr gebe und vermeintlich auch nicht mehr geben werde. Dadurch markieren sie soziale und individuelle, materielle und symbolische, kulturelle und ökonomische, historische und aktuelle Leerstellen in gegenwärtigen Gesellschaften, die zum Thema und Gegenstand verschiedener Formen der Ästhetisierung und Funktionalisierung in u.a. Literatur, Film und Fotografie werden. Diese machen nicht nur das Verschwinden und/oder das Verschwundene sichtbar, sondern zeigen zugleich, dass beide immer auch einer spezifischen Gestaltung und Deutung bedürfen und damit individuelle und kollektive Neubestimmungen und Wiederaneignungen fordern und fördern. Topografische Leerstellen werden so zu Experimentierfeldern ästhetischer Bezugnahmen und Gestaltungsweisen, die zentrale gesellschaftliche Frage- und Problemstellungen aufnehmen und verhandeln. Dabei geht es nicht zuletzt um den Status und Stellenwert, der Dörfern und Landschaften in gegenwärtigen Gesellschaften zugeschrieben wird. Er ergibt sich auch aus der Imagination ihrer Vergangenheit und Zukunft. Die Diversität der jeweiligen Darstellungs- und Ästhetisierungsweisen des Dörflichen und Landschaftlichen ebenso wie das Spektrum der dabei ästhetisch fokussierten und thematisierten verschwindenden oder verschwundenen Gegenstände, Strukturen und auch Menschen führt vor Augen, dass sich dörfliche und ländliche Lebenswelten doch immer wieder eindeutigen Bezugnahmen und Zuschreibungen entziehen.
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Die drei Musiker der dänischen Band Efterklang reisten im Spätsommer 2011 nach Pyramiden, einer seit dem Ende der 1990er Jahre verlassenen russischen Bergarbeitersiedlung auf der Inselgruppe Spitzbergen. Die Idee hinter dieser Reise war, den entvölkerten Ort als überdimensionales Tonstudio für ihr viertes Studioalbum zu nutzen. Die gesamte Stadt wurde dabei zum Raum für ihre Aufnahmen. So nutzten sie unter anderem eine leerstehende Turnhalle und leere Dieseltanks als Resonanzkörper für über 1.000 Field-Recordings und Gesangsaufnahmen, von denen einige unverändert und viele nachbearbeitet den Klangteppich des 2012 erschienenen und nach dem verlassenen Ort benannten Albums PIRAMIDA bilden.1 Diese musikalische Aneignung des Orts mitsamt seiner verschiedenen Räumlichkeiten führt vor Augen, inwiefern topografische Leerstellen zu Möglichkeitsräumen künstlerischer Prozesse werden können, welche sowohl die spezifischen Gegebenheiten des Vorhandenen aufnehmen als auch in je eigensinniger Weise verwandeln. Durch ästhetische und ästhetisierende Verfahren lässt sich Verschwindendes oder Verschwundenes rekonstruieren und neu kontextualisieren. Das Verschwundene wird dadurch als Verschwundenes präsent gemacht. Die verschiedenen Ästhetisierungsweisen initiieren und reflektieren dabei ein Wechselspiel aus Präsenz und Absenz. Die Siedlung mag zunächst als dysfunktional und damit auch als gesellschaftlich absent erscheinen, hat sie doch offensichtlich ihre grundlegenden Funktionen verloren und ist abgekoppelt von sozialen Geschehens- und Handlungszusammenhängen. Demgegenüber erzeugt die künstlerische Aneignung des im Prozess des Verfalls und der Entleerung begriffenen Orts eine Gegenbewegung, die ihn zum Hallraum menschlicher Kreativität macht und selbst zum Protagonisten stilisiert – was schließlich auch zur kulturellen Wiederaneignung des verlassenen und verschwindenden Orts beiträgt. Dabei verweist dieser in seiner ästhetisierten Gestalt als Verobjektivierung des Menschen in vielschichtiger Weise auf diesen selbst in seiner Absenz wie auch Präsenz zurück. Pyramiden steht dabei paradigmatisch für all jene Orte und Räume, denen augenscheinlich ihre Funktionen abhanden gekommen sind und die aufgrund der dadurch entstandenen oder entstehenden Leerstellen oftmals als nutzlos empfunden werden – ja, und schließlich selbst zu Leerstellen werden. Als solche sprechen sie die Imagination in besonderer Weise an, lässt sich doch in und mit ihnen eine gesellschaftliche Ausnahmesituation vorstellen und gestalten: Die Frage, was in welcher Weise und warum mit Orten und Räumen geschieht, die abseits individueller und gesellschaftlicher Bearbeitung und Nutzung liegen bzw. in dieses Abseits geraten. Dabei lässt sich mit ihnen in nahezu komprimierter Weise ein abgeschlossener Prozess aus Aneignung, Nutzung und Aufgabe von Lebenswelten und -orten imaginieren und nachvoll-
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Interessante Einblicke in die Produktion des Albums bietet der zeitgleich über die Website der Band veröffentlichte Dokumentarfilm THE GHOST OF PIRAMIDA, der den Entstehungsprozess der Tonaufnahmen begleitet und der Musik eine visuelle Ebene hinzufügt.
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ziehen. Doch ist das Ende der gesellschaftlichen Nutzung nicht gleichzusetzen mit dem Ende der Zeitlichkeit und der mit ihr einhergehenden Prozessualität des Orts, der nun die Imagination einer erneuten Grenzverschiebung im Verhältnis von Kultur und Natur und der damit verbundenen Überformung von Kulturraum durch Naturraum anspricht. Diese Grenzverschiebung und Überformung initiiert nicht nur ästhetische Produktionen und Betrachtungen, sie ist selbst wiederum immer auch schon symbolisch vermittelt. Ein verschwundener respektive im Verschwinden begriffener Ort und/oder der Prozess seines Verschwindens kann dabei sowohl zum Sinnbild für den Untergang größerer Zusammenhänge – gesellschaftlicher Institutionen (in diesem Fall der Bergbauindustrie), politischer Systeme (in diesem Fall des sozialistischen), historischer Epochen (in diesem Fall des Kalten Kriegs) – werden als auch eine eigene und mitunter typische ästhetische Bildsprache entwickeln. 2 Doch die wahrgenommene oder imaginierte topografische Leerstelle initiiert nicht nur ästhetische Betrachtungsweisen und Produktionsprozesse, sondern mitunter auch individuelle Tätigkeiten und gesellschaftliche Bewegungen. Topografische Leerstellen können durchaus produktiven Einfluss auf gestaltende Prozesse haben, seien sie nun künstlerischer, symbolischer, ökonomischer oder materieller Natur. In Günter de Bruyns Landschaftsbeschreibungen der Mark Brandenburg mit dem sprechenden Titel ABSEITS (2005) wird dies deutlich. Ihm zufolge erzeugt die räumliche Absenz bestimmter Elemente wie auch der Prozess ihres Verschwindens eine Gegenbewegung, die zur Neubesetzung der Leerstellen führt: »Die Vorzüge der hier zu beschreibenden Gegend bestehen vor allem in dem, was ihr fehlt. Sie hat weder eine nennenswerte Industrie noch fruchtbare Äcker, weder allgemein als sehenswert geltende landschaftliche Reize noch berühmte historische Denkmäler oder Denkwürdigkeiten, und auch in Flora und Fauna kommen Besonderheiten nicht häufiger als anderswo vor. Massentourismus findet in ihr also nur wenige lohnende Ziele, was auch das Gastgewerbe am Aufblühen hindert, und da mit der fortschreitenden Technisierung der Landwirtschaft sich die Zahl ihrer Arbeitsplätze immer weiter verringert und in anderen Bereichen keine neuen geschaffen werden, kehren viele junge Leute der Gegend den Rücken, so daß sich die immer schon geringe Bevölkerungsdichte von Jahr zu Jahr weiter vermindert und bald ein Aussterben
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So hat sich beispielsweise gegenwärtig durch unzählige fotografische und filmische Dokumentationen eine gewisse Ästhetik des Verfalls etabliert, die zugleich auch gesellschaftliche Deutungsmuster und Raumsemantiken aufnimmt – unter anderem etwa dadurch, dass sie romantische Bilderwelten und Vorstellungen der Ruine und Ruinenlandschaft aufruft und (neu) gestaltet; so z.B. in der erfolgreichen LOST P LACES-Reihe im Mitteldeutschen Verlag und einigen weiteren Publikationen, die Titel tragen wie STILLGELEGT (2016) oder VERFALLEN & VERGESSEN (2017). Sie zeigen allesamt, dass u.a. verlassene Industriegebiete mittlerweile als ästhetische Objekte wiederentdeckt werden.
14 | MARC W EILAND der Dörfer zu befürchten wäre, gäbe es nicht auch im Zeitalter der Großstädte und der Lust an der Menge einige Leute, die hier ihren Wohnort wählen oder behalten, weil ihnen der Mangel an Menschen, Reizen und Geräuschen behagt.« (de Bruyn 2005: 15)
Dabei zeigt das Zitat auch: Die Leerstelle ist immer als relationale Größe zu verstehen. Sie besteht nur deshalb, weil etwas anderes – sei es etwas real Vorhandenes oder imaginär Mögliches – abwesend erscheint und in seiner Abwesenheit bewusst wahrgenommen wird. Und sie ist immer abhängig von der jeweiligen Perspektive derjenigen, die sie unter dem Einfluss bestimmter Umstände und kultureller Sehgewohnheiten wahrnehmen. Darauf verweist auch Thomas Wrede in seiner Fotoserie REAL LANDSCAPES (seit 2004, siehe Abb. 1). Diese zeigt auf den ersten Blick abgelegene Ortschaften: zumeist vereinzelte Bauwerke (Häuser, Straßen, Brücken, aber auch Bohrtürme, Bunker, Achterbahnen und Ruinen) oder überschaubare Siedlungen inmitten einer leeren und weiten Landschaft, die oftmals romantische Züge trägt. Gezeigt werden panoramaförmig aufgenommene Szenerien in Berg und Tal, an Fluss und See, die nur vereinzelt Spuren der Zivilisation in sich tragen. Dabei ist diese Szenerie mitunter von der Gefahr ihres Verschwindens bedroht, wird sie doch auch von Katastrophen heimgesucht. Sei es in ihrer romantischen oder aber in ihrer desaströsen Gestalt: Die großformatigen Fotografien erscheinen zunächst einmal als mimetische Abbildungen landschaftlicher Geschehenszusammenhänge. Abb. 1: links: die Abgeschiedenheit in den Bergen in FRED & RED’S CAFE (2015) könnte sich so auch in den Weiten des wilden amerikanischen Westens wiederfinden; rechts: die katastrophale Szenerie in NACH DER FLUT 1 (2012) erscheint auch durch mediale Katastrophenberichterstattungen als bekanntes Bild
Fotos: Thomas Wrede, aus der Serie REAL LANDSCAPES
Dabei handelt es sich bei Wredes Landschaften jedoch um komplett konstruierte, die der Fotograf unter anderem mithilfe von Spielzeugautos, Modell-Häusern und weiteren Requisiten an leeren Stellen alltäglicher Orte (auf Sandhügeln oder Müllhaufen, an Pfützen oder Stränden) arrangiert und inszeniert. Das abgebildete Geschehen erscheint auch deshalb als ein realistisches, weil die Fotografien medial produzierte
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und rezipierte Bilderwelten aufrufen und nachstellen – und dabei den Eindruck des Bekannten und Schon-Gesehenen erzeugen. Sie verweisen damit auf die kulturelle Vermitteltheit der Wahrnehmung und Herstellung von Landschaften und stellen diese ganz konkret in ihrer Künstlichkeit aus.3 Angesichts der Verschiedenartigkeit der Größenverhältnisse zwischen der abgebildeten materiellen und der imaginierten kognitiven Landschaft erzeugen sie dabei zugleich auch ein Bewusstsein für die perspektivische Abhängigkeit der Wahrnehmung von Leerstellen in Landschaften. REAL LANDSCAPES erscheinen damit als künstlerisches Projekt des Aufspürens und Aneignens von Leerstellen, das die Relationen zwischen Fülle und Leere hinterfragt und detaillierte Konstruktionen von Landschaften erzeugt. Darüber hinaus führt die dabei bewusst ausgestellte Künstlichkeit aber auch noch etwas anderes vor: Die Leerstelle, die die Voraussetzung der Inszenierung bildet, muss zunächst erst einmal gesucht und gefunden – mitunter auch hergestellt – werden. Die Abwesenheit bzw. Leere ist daher nicht als unveränderbarer Zustand aufzufassen, sondern vielmehr als Folge eines Prozesses: dem des Verschwindens. Betrachtet man diesen Prozess aus einer analytischen Perspektive, so sind mit ihm fünf Charakteristika verbunden, die für literatur- und kulturwissenschaftliche Beobachtungen von Bedeutung sind. Das Verschwinden ist demzufolge als ein spezifischer Prozess zu verstehen, der ein bestimmtes Objekt oder Subjekt betrifft, von mindestens einem Subjekt wahrgenommen wird und sowohl in einem konkreten Raum als auch zu einer konkreten Zeit stattfindet; wobei wiederum die jeweiligen räumlichen und historischen Umstände sowie die spezifischen ›Beschaffenheiten‹ des verschwindenden Objekts/Subjekts und des wahrnehmenden Subjekts stets den Prozess des Verschwindens beeinflussen (vgl. Seiler 2016: 15f.). Wie verhält es sich nun aber, wenn ganze Orte oder Landschaften verschwinden bzw. als verschwindende oder verschwundene wahrgenommen werden? Diese Frage stellt sich aktuell und auch historisch nicht von ungefähr. Dabei werden mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Darstellungsweisen in den gegenwärtigen Diskursen und ästhetischen Bezugnahmen sowohl allgemeingültig-universelle als auch aktuelldrängende Fragestellungen und Problematiken miteinander verbunden und ausgehandelt.
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Dass sich Wrede bereits seit längerer Zeit mit Fragen nach der Wahrnehmung und Künstlichkeit von Landschaften auseinandersetzt, zeigen unter anderem auch seine Werkserien DOMESTIC LANDSCAPES (Innenaufnahmen von Wohnräumen mit Fototapete), WRAPPED LANDSCAPES (Nahaufnahmen von kleinen Kunststoffmodellen landschaftlicher Elemente – Bäume und Sträucher – in ihrer Verpackung) und MAGIC WORLDS (Außenaufnahmen von künstlichen Landschaften in Vergnügungsparks). Siehe dazu den Ausstellungskatalog MODELL LANDSCHAFT (Wrede 2017).
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P ROZESSE DES V ERSCHWINDENS UND IHRE ÄSTHETISIERUNG Gegenwärtig sind insbesondere dörfliche und ländliche Räume mit einem Prozess des Verschwindens konfrontiert, welcher sich in zwei entgegengesetzte Richtungen vollzieht und politisch, medial und auch künstlerisch vielfach aufgenommen und reflektiert wird. Aufgerufen und fortgeschrieben wird dabei einerseits das Narrativ einer zunehmenden Leere des Ländlichen und andererseits das Narrativ seiner zunehmenden Überformung durch das Urbane. Das Verschwinden der Dörfer Auf der einen Seite ist eine zunehmende Entleerung ländlicher Räume zu beobachten, welche sich jüngst auch statistisch niedergeschlagen hat. Aktuell lebt in Deutschland nur noch ein knappes Viertel der Bevölkerung auf dem Land; die Tendenz ist dabei, dem globalen Trend folgend, weiter sinkend. Dörfer haben mittlerweile einige ihrer historischen Funktionen – beispielsweise das Wohnen in der Nähe von ländlichen Arbeitsplätzen – weitgehend verloren (Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2011: 12). Schenkt man den UN-Statistiken Glauben, dann wird im Jahr 2050 das weltweite Verhältnis von städtischer und ländlicher Bevölkerung zwei Drittel zu einem Drittel betragen (United Nations 2014). In verschiedenen ländlichen Räumen sind damit unterschiedliche – häufig jedoch miteinander verschränkte und einander verstärkende (vgl. Reichert-Schick 2013: 33-37) – Problembereiche verbunden: Bevölkerungsrückgang und Arbeitslosigkeit, Überalterung und Abwanderung, Leerstand und der Rückbau von Infrastruktur und Versorgung, wirtschaftliche Stagnation und negative Images bestimmter Regionen. Häufig wird in diesem Zusammenhang dann auch von einer »Peripherisierung ländlicher Räume« (Keim 2006) und einem »Zerfall der ländlichen Gesellschaft« (Hauss/Land/Willisch 2006) gesprochen. Strukturschwache ländliche Regionen können dabei in einen Teufelskreis geraten, der schließlich, so die Soziologin Claudia Neu, zur »Abkopplung ganzer Räume von den ökonomischen, politischen und kulturellen Machtzentren« (Neu 2008: 560) führen kann. In verschiedenen Diskursen hat sich dabei ein beständig reproduzierter Topos der Leere und Entleerung etabliert, der sich in wissenschaftlichen, künstlerischen, popkulturellen und alltagsweltlichen Bezugnahmen finden lässt und mit dem die Vorstellung einer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entfunktionalisierung peripherer Räume zum Ausdruck gebracht wird (Beetz 2008: 572).
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Der damit verbundene Prozess des Verschwindens dörflicher Lebenswelten und Strukturen – der mitunter bis zur »Entleerung ganzer Landstriche« (Keim 2006: 5) führt4 – wird medial vielfach aufgenommen und fortgeschrieben; und dementsprechend auch umfangreich gesellschaftlich rezipiert. 5 So beklagt etwa der niederlän-
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Dabei wird angesichts der derzeitigen Situation häufig auch die Befürchtung geäußert, dass eine neue Wüstungsperiode im ländlichen Raum bevorstünde: »In Anbetracht der umfassenden Problemlagen, mit denen Dörfer im peripheren ländlichen Raum heute konfrontiert sind, stellt sich die Frage, ob dort in drei oder vier Jahrzehnten überhaupt noch eine nennenswerte Anzahl von Menschen leben wird.« (Reichert-Schick 2013: 38) Dabei ist jedoch – trotz der erwartbaren und auch schon wahrgenommenen Prozesse der Regression und des Verfalls sowie der damit einhergehenden Veränderungen der Siedlungsstrukturen – kein Wüstfallen von Dörfern in größerem Umfang (ebd.: 41f.) oder gar Verwildern ganzer Regionen zu erwarten (Neu 2008: 557); wenngleich die mediale Berichterstattung häufig linear und zwangsläufig verlaufende Untergangsszenarien entwirft (Steinführer 2017). Dem Wüstfallen in Deutschland und Europa stehen dabei vor allem der Privatbesitz von Immobilien wie auch die Multifunktionalität des ländlichen Raumes entgegen (Reichert-Schick 2013: 41).
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Dass es sich hierbei auch um die Fortschreibung und -erzählung eines kulturhistorisch bekannten Topos handelt, lässt sich mit Blick auf verschiedene Studien feststellen. So stellt etwa der Literaturwissenschaftler Raymond Williams in seinem 1973 erschienen Klassiker THE COUNTRY AND THE CITY fest, dass die Klage über die Gefahr des Verschwindens ländlicher Lebenswelten Jahrhunderte alt und doch für jede Generation immer wieder neu ist (Williams 2011: 9ff.). Das mag auch damit zusammenhängen, dass die Regression von Siedlungen als ein episodisch wiederkehrender Prozess gesehen werden kann: »Unsere Kulturlandschaft hat Phasen der Expansion, der Landnahme und Kolonisierung erlebt. Aber diese Dynamik vollzog sich ebenso regressiv, verbunden mit Verfall, Substanzverlusten, Kulturlandschaftsabbau und der Kontraktion von Siedlungsgrenzen. In nahezu allen Siedlungsepochen traten neben Neulanderschließungen zugleich auch Substanzverluste und Wüstungsvorgänge, häufig ausgelöst durch gesellschaftliche und wirtschaftliche Transformationsprozesse wie die mittelalterliche Agrarkrise oder die Industrialisierung im 19. Jahrhundert.« (Reichert-Schick 2013: 27) Dabei lassen sich vor allem drei Klassen von Ursachen für das Auftreten von Entvölkerungsprozessen bis hin zum Wüstfallen von Siedlungen angeben: a) Umwelteinflüsse (z.B. ungünstige Lagen), Kalamitäten (z.B. Seuchen) und abrupte Ereignisse (z.B. natürliche oder zivilisatorische Katastrophen), b) konkurrierende Flächennutzungsansprüche (z.B. Rohstoffvorkommen oder militärische Nutzung) sowie c) räumliche Disparitäten und Peripherisierungsprozesse (z.B. Wanderungsbewegungen aufgrund wirtschaftlicher Strukturschwäche) (vgl. Reichert-Schick 2013: 29-33); wobei jedoch festzuhalten ist, dass eine starke Entleerung nicht notwendigerweise auch zum Verschwinden einer Ortschaft führt. In der jüngeren Vergangenheit sind Wüstungen
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dische Journalist Geert Mak in seinem 1996 (dt. 1999) erschienenen Bestseller W IE GOTT VERSCHWAND AUS JORWERD bereits im Untertitel den »Untergang des Dorfes in Europa«. Der Text ist gegenwärtig eine der weitverbreitetsten und einflussreichsten Schilderungen des Verschwindens dörflicher Lebenswelten.6 Am Beispiel einer friesischen Gemeinde veranschaulicht Mak die demografischen, ökonomischen, technischen und soziokulturellen Veränderungen, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts mit sich brachte. Der Umbruch im Dorf vollzieht sich dabei als »ein langwieriger und stiller Prozeß« (Mak 2007: 21) des Schrumpfens und Verschwindens, der die Imagination der Entleerung des Ländlichen anspricht. Nach und nach verschwinden neben den Menschen – »[i]nnerhalb von hundert Jahren war das Dorf fast auf die Hälfte geschrumpft« (ebd.: 18) – auch die Institutionen aus dem Dorf: »Die Leihbücherei verschwand 1953, das Postamt 1956. In diesem Jahr wurde auch der Hafen zugeschüttet, der Schuhmacher gab 1959 nach einem halben Jahrhundert auf, die letzte Bäckerei schloß 1970, im selben Jahr machten Tijssen und seine Frau ihre Wohnzimmerkneipe zu, 1972 wurde die Buslinie stillgelegt. Man brachte Straßenschilder an, und der niederländischreformierte Kirchenvorstand fusionierte mit zwei Nachbardörfern. 1974 stellte der letzte Binnenschiffer den Betrieb ein, der Fleischer schloß seinen Laden etwa 1975, und 1979 starb der letzte Jäger des Dorfes. In diesem Jahr verschwand auch die Zimmerei und die Freiwillige Feuerwehr, 1986 gab der Schmied auf, 1988 machte der letzte Lebensmittelladen zu, und 1994 wurde die Kirche einer Stiftung für Denkmalschutz übergeben.« (Ebd.)
und Wüstungsprozesse vor allem als Folge konkurrierender Flächennutzungsansprüche, und damit letztlich auch als Folge menschlicher/politischer Entscheidungen, aufgetreten (ebd.: 46f.). In den letzten 100 Jahren sind Orte v.a. aufgrund militärischer Nutzung einerseits und Gewinnung fossiler Rohstoffe andererseits wüst gefallen (Steinführer 2017). Auch die Langzeitstudie LÄNDLICHE LEBENSVERHÄLTNISSE IM WANDEL konstatiert, dass die immer wiederkehrenden Befürchtungen um eine Entleerung ländlicher Räume für die untersuchten Dörfer in West- und Ostdeutschland nicht bestätigt werden können: »Alle Untersuchungsdörfer verzeichnen, deutlich beeinflusst auch durch kommunalpolitische Entscheidungen, sowohl Zu- als auch Fortzüge.« (Becker/Tuitjer 2016: 20) 6
Verweisen ließe sich in diesem Kontext auch auf die populären Bücher des Geographen Gerhard Henkel. In einem seiner letzten Werke nimmt dieser ebenfalls den Topos der Leere zur Beschreibung der gegenwärtigen Situation der Dörfer auf: »In unseren Dörfern hat in wenigen Jahrzehnten ein epochaler ökonomischer und sozialer Wandel stattgefunden. In den 1950er-Jahren […] war das Dorf noch ein wirtschaftlich und sozial lebendiger und enger, überwiegend auf sich selbst bezogener Kosmos, und vor allem in mehrfacher Hinsicht voll: an Menschen, an Arbeitsplätzen, an öffentlicher und privater Infrastruktur. Heute werden die Dörfer immer leerer: an Menschen, an Arbeitsplätzen, an Schulen, Gasthöfen und Läden.« (Henkel 2016: 7)
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In den unterschiedlichsten zeitlichen Überkreuzungen und Verschiebungen kann diese Beschreibung sicherlich als paradigmatisch für eine Vielzahl europäischer Dörfer gelten; auch deshalb, weil sie hervorgerufen wird von einer Entwicklung, die auch andernorts grundlegende Veränderungen und Umbrüche erzeugt: der sukzessiven und eklatanten Veränderung des Agrarsektors und dem damit einhergehenden Auseinanderbrechen der ehemaligen Einheit von Dorf, Ländlichkeit und Landwirtschaft (Beetz 2004). Aktuelle Untersuchungen sprechen hierbei mit Blick auf Deutschland auch von einem »massive[n] Strukturwandel in der Landwirtschaft« (Becker/Tuitjer 2016: 18) bzw. einem »historisch einmaligen Entagrarisierungsprozess[]« (Vogelgesang/Kopp/Jacob/Hahn 2016: 35). Dieses Verschwinden – in der von Mak beschriebenen Region stellten zwischen 1975 und 1990 ein Drittel aller Bauernhöfe ihren Betrieb ein (Mak 2007: 23)7 – bildet auch für Mak die fundamentalste Änderung; hat sie doch nicht nur ökomische, sondern vor allem auch soziale Folgen: »Denn als die Landwirtschaft verschwand, die jahrhundertelang Motor und Bindemittel zugleich gewesen war, stellte sich die Frage, was die Dorfgemeinschaft jetzt noch zusammenhalten sollte.« (Ebd.) Ihr Verschwinden erscheint aus einer solchen Perspektive bereits vorgezeichnet und unumgänglich. Dabei bildet der Text von Mak nur ein prominentes Beispiel für eine ganze Reihe von medial und diskursiv erzeugten Untergangsszenarien, welche ›sterbende‹ und ›verschwindende‹ dörfliche Lebenswelten in den Fokus rücken und als Gegenwelten zur Moderne erzählen. Je nach politischer Lage, historischem Kontext und kultureller Sinnorientierung wird diese dann wiederum als Symptom der Krise oder aber als romantischer Gegenentwurf gedeutet. In beiden Fällen scheint den medial erzählten Dörfern jedoch zunächst einmal nur die Funktion und der Status von Restgrößen zuzukommen, die letztlich zu Leerstellen in sozialen und symbolischen Ordnungen werden können oder gar werden müssen – und mitunter einzig im Medium der Erinnerung erhalten bleiben. Auch die neuere Literatur und Fotografie widmet sich dem Themenspektrum der verschwindenden und verschwundenen Dörfer und bezieht sich dabei auf persönliche Erfahrungen und Wahrnehmungen des Verschwindens. So finden sich etwa in Roger Melis’ Fotoband AM RANDE DER ZEIT. FOTOGRAFIEN 1973-1989 Bilder aus dem in der Uckermark gelegenen Dorf
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Weitere beispielhafte Studien bestätigen dies auch für Deutschland: »Der agrarstrukturelle Wandel in dem Untersuchungsort Westrup (557 Einwohner) steht beispielhaft für diese Entwicklung. 1952 hatte der Ort 119 landwirtschaftliche Betriebe. Gegenwärtig sind noch neun landwirtschaftliche Betriebe dort ansässig, davon sind vier Haupterwerbsbetriebe. Als Arbeitsplatz für die Dorfbevölkerung ist die Landwirtschaft in solchen Untersuchungsorten nur noch von untergeordneter Bedeutung.« (Becker/Tuitjer 2016: 21) Für einen kurzen und prägnanten Überblick über den Wandel der Landwirtschaft im 20. Jahrhundert siehe u.a. Plieninger/Bens/Hüttl (2006).
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Hessenhagen, in das der Fotograf im Jahr 1973 gezogen war und das er als teilnehmender Beobachter über die Jahre hinweg fotografisch begleitete (siehe Abb. 2 u. 3). Die Fotografien dokumentieren vor allem das alltägliche Leben der Dorfbewohner; wobei allerdings bereits der Klappentext auf das gegenwärtige Verschwunden-Sein dieser dörflichen Lebenswelt verweist: »Die poetischen Fotografien lassen noch einmal eine archaische, nur am Rande von den Zeitläuften berührte Welt aufscheinen, die erst mit dem Umbruch 1989 untergegangen ist.« (Melis 2010: o.S.) Abb. 2: Portraits aus dem Alltag einer als verschwunden gekennzeichneten dörflichen Lebenswelt
Fotos: Roger Melis, aus dem Band AM RANDE DER ZEIT
Im Bildband stehen Fotografien nahezu idyllisch-unberührter Gegenden und gemeinschaftlichen Beisammenseins neben solchen, die den harten Arbeitsalltag der Dorfgemeinschaft zeigen. Es sind vor allem in schwarzweiß gehaltene Beobachtungen alltäglicher Verrichtungen und jahreszeitlich gestimmter Landschaften ebenso wie detailgetreue Portraitaufnahmen, die dabei von vergangenen Verhältnissen zwischen Mensch und Natur, Mensch und Tier sowie Mensch und Mensch berichten. In seinem Vorwort zu IN EINEM STILLEN LAND. FOTOGRAFIEN 1965-1989 erinnert sich Melis folgendermaßen:
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»1973 kauften wir uns ein kleines Neubauernhaus in der Uckermark und verbrachten dort ziemlich regelmäßig unsere Wochenenden. Hier habe ich viel und intensiv fotografiert. Neben Landschaftsfotos – ein Genre, das ich zuvor peinlich gemieden hatte –, entstanden Ansichten eines unglaublich archaischen, kargen Lebens, das – abgesehen von den paar Traktoren, die die LPG hatte – weitgehend dem am Ende des 19. Jahrhunderts glich. Der mit der Wende einziehende technische Fortschritt, das Angebot der Baumärkte, die Entvölkerung der Gegend und der einheimische Alkoholismus haben davon nichts übriggelassen. Auch diese Welt holt niemand zurück.« (Melis 2007: 7)
Dabei kündigt sich in den Aufnahmen jedoch bereits die zunehmende Technisierung der Landwirtschaft wie auch des Alltags an. Allerdings wird diese in einer besonderen Weise inszeniert: Moderne und Tradition scheinen hier – das veranschaulichen insbesondere auch diejenigen Portraitaufnahmen und Gruppenbilder, die die Abgebildeten auf und mit Maschinen zeigen – nicht notwendigerweise im Spannungsverhältnis zu stehen. Das Dorf und die dörfliche Gemeinschaft erscheinen hier als integrative Kräfte, die sich als Erzeuger wie auch Zeugnisse einer langen Dauer neu auftretende Gegebenheiten schrittweise aneignen und dadurch eine kontinuierliche und langsame Bewegung in Raum und Zeit vollziehen. Abb. 3: Auf der Dorfstraße zeigt sich die Verschränkung von Tradition und Moderne auch in Kleidung und Habitus
Foto: Roger Melis, aus dem Band AM RANDE DER ZEIT
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Vor dem Hintergrund dieses Bildentwurfs einer langen Dauer erscheint dann das Verschwinden, das hier nicht mit eingefangen ist und nachträglich konstatiert wird, umso unvermittelter: als ein plötzlich von außen hereinbrechender Umbruch. Demgegenüber fokussiert beispielsweise Jan Brandt in seinem Adoleszenzroman GEGEN DIE Welt (2011) ungefähr den gleichen Zeitausschnitt im ländlichen Ostfriesland. Ein Vergleich verweist auch auf die ungleichzeitigen Entwicklungen in beiden Teilen Deutschlands. Der Roman schildert das dörfliche Leben in einer ambivalenten Situation: Zum einen gedeihen Wirtschaft, Konsum- und Medienkultur nahezu unaufhörlich und ungehemmt, zum anderen ist der konsumgesteuerte Alltag geprägt von einem ständigen und latenten Gefühl des Krisenhaften und Katastrophischen (Tschernobyl, Waldsterben, Umweltzerstörung). Dabei ist es vor allem die sich zunehmend verbreitende Modernisierung und Globalisierung, die das schleichende Verschwinden des Dörflichen nach sich zieht. So äußert sich der Autor in einem Interview über seinen Text folgendermaßen: »Mir ging es bei dieser Geschichte um den Wahnsinn des Erwachsenwerdens und den gleichzeitigen Untergang eines Dorfes […,] ich [wollte] den dramatischen Wandel sichtbar machen, der sich in den vergangenen 30 Jahren auf dem Land vollzogen hat. Innerhalb einer Generation sind jahrhundertealte Strukturen verschwunden: Bauern haben ihre Höfe aufgegeben, Einzelhändler ihre Geschäfte; die, die einst selbstständig tätig waren, sind jetzt Angestellte; und die Dörfer mit ihren ganzen Neubaugebieten sind zu Vororten verkommen, zu Schlafstätten für Pendler und haben ihre Funktion verloren, Gemeinschaft zu stiften.« (Herrmann 2011)
In detaillierten Auflistungen und Beschreibungen berichtet der Erzähler in GEGEN WELT vom Verschwinden alltäglicher dörflicher Dinge, Institutionen und Praktiken, die angesichts der Ausbreitung des Städtischen neuen sozialen und räumlichen Ordnungen ebenso wie einem Übermaß neuer Dinge Platz machen müssen. Dadurch wird der Imagination der Entleerung des Dörflichen bzw. Ländlichen eine zweite Form gegenüberstellt, die die Vorstellung des Verschwindens dörflicher und ländlicher Lebenswelten hervorruft: die Imagination der Überformung.
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Die Ausbreitung der Städte Denn auf der anderen Seite lässt sich auch ein gegenläufiger Prozess beobachten, der die Imagination des Verschwindens von Dorf und Landschaft anspricht. Die auch weiterhin zunehmenden Urbanisierungs- und Suburbanisierungsprozesse führen zur Auflösung des Stadt-Land-Gegensatzes und erzeugen medien- und disziplinenübergreifend Bilder des Verschwindens ländlicher Lebenswelten. Dies zeigt sich bereits an den Begrifflichkeiten. Im Gegensatz zum vor allem in den Sozialwissenschaften nach wie vor verwendeten Begriff der »ländlichen Gesellschaft« (Beetz/Brauer/Neu
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2005) finden sich in den Raumwissenschaften häufig begriffliche Hybridbildungen wie »urbanes Gewebe« (Lefebvre 1972), »Zwischenstadt« (Sieverts 1997), »Netzstadt« bzw. »urbanes System« (Baccini/Oswald 1998), »Stadtland« (Eisinger/ Schneider 2003), »urbane Landschaften« (Seggern 2010) oder »rurbane Landschaften« (Langner 2014). Diese verweisen allesamt auch auf eine Verschiebung in den Bildbereichen. An die Stelle der klassischen Imaginationen vom Dorf als einer vermeintlich geschlossenen und naturnahen gemeinschaftlichen Lebenswelt einerseits und von Landschaft als räumlichem Ausdruck eines – in diesem Zusammenhang – harmonischen Mensch-Natur-Verhältnisses andererseits treten nunmehr hybride Imaginationen, Konzeptionen und Begriffsbildungen, die die Verbindungen und Verschränkungen ländlicher und städtischer Elemente auf materieller (Siedlungsstrukturen, Infrastruktur, Architektur etc.) wie auch immaterieller (Lebensstile, Konsumverhalten, Interessen) Ebene fassen sollen. Das klassische Landschaftsbild erscheint aus dieser Perspektive als ein unzeitgemäßes Relikt romantischer Weltanschauung: »Die Suche nach Versatzstücken eines idealisierten arkadischen Landbildes mit weidenden Schafherden, Bauerngehöften, Almen, blühenden Obstwiesen und kleinteiligen Feldfluren, die allesamt Weite erleben lassen und doch durch Sölle und Feldgehölze dem Auge Abwechslung bieten, ist die Suche nach dem Verschwindenden. Diese Raumbilder sind mit Wirtschafts - und Lebensweisen verbunden, die es tatsächlich kaum noch gibt und geben kann.« (Langner 2014: 137f.)
Landschaft befindet sich sowohl auf räumlicher als auch imaginärer Ebene im Wandel (Hokema 2013). Dieser Wandel wird künstlerisch vielfach aufgenommen und gedeutet. Die insgesamt sieben Bilder in Jörg Müllers Kinderbuch ALLE JAHRE WIEDER SAUST DER PRESSLUFTHAMMER NIEDER ODER D IE VERÄNDERUNG DER LANDSCHAFT (1973) etwa visualisieren die schrittweisen Veränderungen der materiellen Strukturen ländlicher Räume aus ein und derselben Perspektive über knapp zwanzig Jahre hinweg, von 1953 bis 1972, und, es ist die Zeit kritischer Gesellschaftsanalyse und Umweltschutzbewegung wie auch zunehmender Diskussionen um das Konzept des Stadt-Land-Kontinuums, verbinden sie mit sozialkritischen Impulsen: Aus einer arkadisch angehauchten Landschaft mit Tieren, Bach und Teich im Vordergrund und einem idyllischen Dorf im Hintergrund, das rundherum von einem kultivierten und die Menschen beherbergenden Naturraum umgeben ist – und in dem sich nicht zuletzt auch ein Landschaftsmaler befindet, der eben den klassischen Landschaftscharakter bezeugt und festhält –, wird im Laufe der Zeit eine urbane Landschaft, in der Häuser, Straßen und Autos das naturnahe Dorf und die es umgebende Landschaft verdrängen und überformen (siehe Abb. 4). Die neue räumliche Struktur ermöglicht nicht etwa mehr einen Aufenthalt in ihr (geschweige denn einen Freiraum zur individuellen Entwicklung), sondern ist als Transitzone konzipiert und zur Durchfahrt bestimmt. Der Strukturwandel wird hier im Modus einer Verlusterzählung wiedergegeben.
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Abb. 4: Kontinuierlicher Strukturwandel der Landschaft
Jörg Müller, Sauerländer Verlag
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Dieser auch im weltweiten Maßstab feststellbare Wandel8 erweckt den Eindruck, als würde mit ihm zugleich auch Landschaft – und nicht nur ein bestimmtes (romantisches) Landschaftsbild – verschwinden. Aus sozialkonstruktivistischer Perspektive (vgl. u.a. Kühne 2013, Kühne/Bruns 2015) muss jedoch konstatiert werden, dass das jeweilige Konzept von Landschaft je nach individuellem Blick und gesellschaftlich vermittelter Vorbildung variiert. Lucius Burckhardt (2008c: 301) etwa schreibt: »Landschaft wahrzunehmen muß gelernt sein«. Dieser Lernprozess ist abhängig von den jeweiligen historischen, kulturellen und sozialen Kontexten und Symbolsystemen, auf die der Mensch zugreift. 9 Es sind die gesellschaftlich vermittelten und je individuell aktivierten und angewandten Sehgewohnheiten und Deutungsmuster, anhand derer spezifisch materielle Strukturen zu einer spezifischen Landschaft »zusammengeschaut« (Kühne/Bruns 2015: 17) werden. Auch sie sind einem Wandel unterworfen, der mit den gesellschaftlichen Strukturveränderungen korrespondiert (Burckhardt 2008a: 19). Im Zeitalter der Modernisierung, Industrialisierung und Urbanisierung lässt sich eine nach wie vor zunehmende Verschiebung landschaftlicher Bildbereiche feststellen. 10 Je nach symbolisch vermitteltem Konzept und Deutungsmuster sowie individueller Gewohnheit und Vorliebe kann das letzte Bild Müllers somit als verschwundene Landschaft oder aber als Stadtlandschaft gedeutet und verstanden werden. Ein eher offenes Landschaftskonzept, das ›Stadtlandschaften‹ mit beinhaltet, findet sich beispielsweise bei Seel (1996). Eine eher geschlossene Konzeption, die die Ausbildung von urbanen Landschaften als Bedrohung empfindet,
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Im Zuge auch weiter zunehmender globaler Mobilität und Erschließung ist ein drastischer Anstieg der dafür nötigen Infrastrukturmaßnahmen festzustellen, die nicht zuletzt die Zerstörung und das Verschwinden von Land- und Waldflächen nach sich ziehen. So sei z.B. einer Studie zufolge ebenfalls bis ins Jahr 2050 durch den Bau von Straßen, Schienen und Parkplätzen weltweit mit der Versiegelung von Flächen in einem Ausmaß zwischen 250.000 und 350.000 km2 zu rechnen (Dulac 2013: 6).
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So führt Burckhardt (2008c: 301f.) weiter aus: »Unser Kulturkreis wurde befähigt, Landschaft wahrzunehmen, weil die römischen Dichter, weil die Maler der Spätrenaissance, weil die englischen Landschaftsgärtner Landschaft darzustellen verstanden. Landschaft also ist ein kollektives Bildungsgut.« Dabei sind es jedoch nicht nur Dichtung und Malerei, sondern u.a. auch Urlaubsprospekte und Postkarten, Trivialromane und Öldrucke, Reklamen und Fernsehserien, die spezifische Landschaftsbilder und -interpretationen vermitteln, mittels derer Subjekte bestimmte Räume wahrnehmen und aneignen.
10 Gerade auch postmoderne Räume zeichnen sich, so Olaf Kühne, durch eine hohe zeitliche Dynamik und eine gewisse Fluktuation ihrer Bezeichnungen aus: »was heute noch polyvalent ist, kann morgen in die nutzungsspezifische wie symbolische Bedeutungslosigkeit verschwinden, was gestern nonvalent war, kann durch das Ästhetisierungspotenzial eines legitimen Geschmacks eine Polyvalenz zweiter Ordnung erhalten.« (Kühne 2012: 150)
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findet sich hingegen im bereits erwähnten Text von Geert Mak. Das ehemals gemeinschaftliche Dorfleben erfährt in seinen Augen eine urbane Vergesellschaftung, die als Prozess der Infiltration wahrgenommen wird und den schleichenden Prozess des Verschwindens einleitet: »Auf die verschiedenste Art und Weise hatte die Stadt das Dorf regelrecht infiltriert, mit Pendlern und reichen Ruheständlern, mit Geld, mit Autos und mit Hunderttausenden von Kabelanschlüssen.« (Mak 2007: 48) Die soziale und wirtschaftliche Einheit des Dorfes – eine Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt und jeder jedem hilft – habe sich mittlerweile zu einer lediglich formal erhaltenen Aneinanderreihung von Häusern entwickelt, deren Bewohner »mit einem Bein in der Stadt« (ebd.: 18) lebten. Aus einer Bedarfsgemeinschaft wird in den Augen Maks eine Konsumgesellschaft (ebd.: 23). Deutlich wird dies unter anderem an der Entstehung von Neubauten. Der erzählerische Kniff dabei ist: Es muss sich gar nicht um konkret realisierte Neubaugebiete handeln; allein schon die Imagination und Antizipation erzeugt diffuse Ängste angesichts des drohenden Verschwindens. Dies zeigt das folgende Zitat: »Die Gebäude würden allerdings einem Dutzend anderer Bewohner die Aussicht auf das Weideland versperren, und das war noch nicht alles. Auch das klassische Aussehen des Dorfes mit den Bäumen, dem Kanal, der Warft und den Giebeldachtürmchen – ein Bild, das in den sechziger Jahren sogar in den Kalender von Douwe Egberts-Kaffee aufgenommen worden war – würde ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen werden.« (Ebd.: 34)
Das Zitat verweist aber auch auf eine grundlegende Denkoperation: Das drohende Verschwinden von Dorf und Landschaft erscheint bei Mak – der damit paradigmatisch für eine ganze Reihe von literarischen wie auch wissenschaftlichen Texten steht – vor dem Hintergrund eines bestimmten Bildentwurfs und einer damit einhergehenden Konzeption von Dorf und Landschaft. Beide fußen auf der Imagination einer einstmaligen Ganzheit, Abgeschlossenheit und Totalität des Dorfes11 und eines Landschaftsbildes, das mit gängigen Werbebildern – Mak spricht es ja ganz direkt an – in Einklang gebracht werden kann. Sie bezeugen geradezu die Wirkmächtigkeit dieser Bilderbereiche, die sich trotz aller offensichtlichen Veränderungen mehr oder minder konstant im sozial Imaginären halten und in denen ein universalistischer Anspruch zum Ausdruck gebracht wird. Denn in seiner Rückschau entwirft bzw. imaginiert Mak das Dorf als eine »allumfassende Daseinsform« (ebd.: 31), mit dessen Untergang der Verlust etlicher sinnstiftender Systeme einhergeht; seien sie religiöser, kultureller, wirtschaftlicher und/oder sozialer Art. Es ist gerade die Imagination einer
11 Vgl. dem entgegengesetzt die wissenschaftliche Konzeption des Dorfes als Knotenpunkt in einem Netzwerk übergreifender Strukturen und Beziehungsgeflechte bei Langthaler/ Sieder (2000) und Langthaler (2014).
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vermeintlich einstmaligen Ganzheit, die die Leerstelle umso deutlicher sichtbar machen soll. Sie hat aber noch eine weitere, dem entgegengesetzte Funktion. Gerade vor dem Hintergrund dieser universalistischen Ausrichtung lässt sich dörfliches Leben anhand einer neuen Perspektivierung und Begriffsbildung nahezu überall finden; und zwar eben auch in urbanen Kontexten. So konstatiert schließlich auch Mak trotz der Ausbreitung des Urbanen und dem vermeintlich damit einhergehenden Untergang des Dorfes, dass sich doch »zugleich […] im Unterbewußtsein der Stadt nach wie vor das Dorf [regte]« (ebd.: 48). Denn: »Auch Städter waren, mehr als sie wahrhaben wollten, von bäuerlichen Traditionen geprägt.« (Ebd.) Das drohende Verschwinden setzt so eine imaginäre Gegenbewegung in Gang, die das Absente wieder präsent macht und in einem neuen Kontext – woanders – verortet.
D AS V ERSCHWUNDENE
IMAGINIEREN UND DEUTEN
Die Wahrnehmung des Verschwindens von Dörfern und Landschaften in seinen verschiedenartigen Ausprägungen ist auf die Unterstützung der Imagination angewiesen. Muss doch das Verschwinden – nicht zuletzt deshalb, weil es sich um einen Prozess handelt – immer auch erzählt bzw. anderweitig imaginiert werden, damit es bewusst wahrgenommen werden kann. Damit kommt neben dem Verschwinden konkreter dörflicher und landschaftlicher Strukturen und der damit verbundenen Entstehung von räumlich-materiellen Leerstellen auch eine andere – symbolische und kommunikative – Leerstelle in den Blick. Denn angesichts der vermeintlich unaufhaltsamen Modernisierung und Urbanisierung erscheinen dörfliche Lebenswelten als symbolische Leerstellen in gesellschaftlichen Diskursen. So bemerkt Mak, dass selbst trotz der weiterhin vorhandenen und wohl auch zukünftigen Beständigkeit materieller dörflicher Strukturen doch vielmehr ein imaginäres und symbolisches Verschwinden dörflicher Lebenswelten und Erfahrungen droht – indem sie eben für nachfolgende Generationen unverständlich werden. »Im großen und ganzen hatte sich das Muster der Straßen, Gassen und Bauernhöfe seit den fünfziger Jahren wenig verändert. Aber wenn man mit älteren Dorfbewohnern sprach und alle Geschichten und alle Häuser aneinanderreihte, dann entstand eine bunt gefärbte Perlenkette aus Licht und Dunkelheit, aus Erlebnissen und Fügungen des Schicksals, aus Festen, Liebesgeschichten, Kindern, Plackerei, Stürmen, Todesqualen, aus Menschenleben, die für uns völlig unkenntlich geworden waren – obwohl ihre Welt gerade erst untergegangen war.« (Ebd.: 16)
Das Dorf wird hier trotz seiner materiellen Vorhandenheit (denn schließlich ist es ja noch da) und auch trotz seiner diskursiven Erzählbarkeit und Wiedergabe (denn schließlich wird ja gerade in Buchform von ihm erzählt) als eine kommunikative und
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symbolische Leerstelle imaginiert. Dabei zeigt sich ein wichtiger Punkt: Von Relevanz sind nicht notwendigerweise nur die konkret wahrnehmbaren und sich tatsächlich vollziehenden materiellen Prozesse des Umbruchs oder gar des Verschwindens von dörflichen und/oder landschaftlichen Strukturen, sondern auch die mit ihnen verbundenen und/oder sie imaginierenden – konstatierenden, antizipierenden oder erinnernden – symbolischen Vermittlungen; sei es etwa in Form von literarischen oder filmischen Narrationen, fotografischen oder malerischen Darstellungen, wissenschaftlichen Analysen oder planerischen Entwürfen. Die jeweilige Art der Darstellung erzeugt immer zugleich eine spezifische Deutung und mitunter Wertung der damit verbundenen Prozesse. Dies trifft jedoch nicht nur auf die beiden gegenläufigen Tendenzen des Verschwindens von dörflichen und landschaftlichen Strukturen – Landflucht einerseits, Urbanisierung andererseits – zu, welche von Mak gleichermaßen fokussiert und gedeutet werden. Denn selbstverständlich lassen sich sowohl geografisch als auch historisch durchaus andere Ursachen und Zusammenhänge beobachten. Kriege und Krankheiten, natürliche und anthropogene Katastrophen, politische, soziale und ökonomische Umbrüche und Transformationen waren und sind vielerorts hauptverantwortlich für das Verschwinden von Dörfern und Landschaften. Diese objektiven Ursachen korrespondieren wiederum mit subjektiven Wahrnehmungen und Wahrnehmungsweisen. Über künstlerische Bezugnahmen kommt es zu einer Verbindung dieser beiden Pole. In den Literatur- und Kulturwissenschaften werden (literarische) Darstellungen des Verschwindens oftmals als spezifische Phänomene und Symptome der Moderne (Seiler 2016: 47) verhandelt, die in postmodernen Texten wiederaufgenommen und verstärkt werden (ebd.: 51). Literaturwissenschaftliche Untersuchungen orientieren sich dabei jedoch hauptsächlich am Verschwinden des Subjekts.12 Der oder die Verschwundene wird dabei nahezu zur paradigmatischen Figur (post-)moderner Literatur (ebd.: 62). Demgegenüber ist jedoch das Verschwinden von Orten und Landschaften bisher noch nicht in umfassenderem Maße literatur-, film- oder kunstwissenschaftlich thematisiert worden. Die sozialkonstruktivistische Landschaftsforschung hat sich jedoch unlängst diesem Phänomen angenommen. Hierbei wird das Verschwinden gewissermaßen als Teil postmoderner Raumproduktion aufgefasst; es rückt insbesondere dann in das Zentrum der Wahrnehmung, wenn Räume eine Reduktion ihrer gesellschaftlichen Komplexität erfahren. Olaf Kühne zufolge existieren drei Idealtypen der (angeeigneten physischen) Landschaft, die sich durch
12 Das Verschwinden des Subjekts vollzieht sich dabei in zwei entgegengesetzte Richtungen: Einerseits entzieht das Verschwinden das Individuum dem Zugriff der Massengesellschaft und löst es aus dieser heraus, andererseits kann das Verschwinden aber gerade auch als ein Aufgehen des Individuums in der Massengesellschaft gestaltet werden (Seiler 2016: 50).
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die unterschiedliche Intensität ihrer Aneignungen unterscheiden lassen: polyvalente, monovalente und nonvalente Landschaften (Kühne 2012: 149). Weite Teile gegenwärtiger Kulturlandschaften, sowie ein Großteil städtischer Räume, lassen sich als polyvalente Räume verstehen; was bedeutet, dass ein und dieselbe Fläche »mehreren gesellschaftlichen Nutzungen [unterliegt]« (ebd.) und »sich mindestens zwei Schichten angeeigneter physischer Landschaft von ökonomischer, politischer, sozialgemeinschaftlicher und kultureller Landschaft feststellen« (ebd.) lassen. Ein Beispiel dafür findet sich in der gleichzeitigen Nutzung einer Fläche als Agrarland und zur Energienutzung durch Windkraft. Komplexer kann sich diese Polyvalenz darüber hinaus darstellen, wenn »Landschaft Valenzen aus mindestens zwei gesellschaftlichen Teilsystemen aufweist« (ebd.); was der Fall ist, wenn eine Fläche sowohl als landwirtschaftliche Nutzfläche als auch als Erholungsgebiet genutzt wird. Eine Reduktion der Valenzen hingegen führt zur Auflösung der Polyvalenz, eben dem Entstehen monovalenter (z.B.: große Ackerflächen) oder nonvalenter Räume (z.B.: Brachflächen). Insbesondere nonvalente Räume stellen für Kühne ein drängendes Problem dar, da sie kaum Aneignungsprozesse erfahren. Sie sind größtenteils »gesellschaftssystemisch überflüssig« (ebd.: 150). Diese Räume weisen kaum noch Landschaftscharakter auf, da sie weder physisch angeeignet noch ästhetisch zusammengeschaut werden (ebd.). Sie bilden soziale und ästhetische Leerstellen. Landschaft als Erzählung Bereits Lucius Burckhardt stellt mit den Mitteln der ›Spaziergangswissenschaft‹ fest, dass Landschaft auch eine narrative Logik hat und dementsprechend als narrativ strukturierter Raum mit spezifischen und typischen Elementen und Abfolgen verstanden werden kann. Daher lassen sich Landschaften aus kultur- und literaturwissenschaftlicher Perspektive nicht etwa nur in Erzählungen finden, sondern selbst auch als Erzählungen verstehen: »Die Abfolge der historischen Landschaft hat eine Logik. Wir verlassen die Stadt, wir durchqueren eine Zone von Gärtnereien, von wo das Gemüse und die frischen Blumen in die Stadt geliefert werden, dann kommen Felder, Wiesen für die Milchproduktion und Äcker für das Getreide, schließlich beginnt der Wald, wobei der Waldrand die für den städtischen Spaziergänger vielleicht erholsamste Landschaftssituation ist, sei es wegen ihrer Vielfalt und der reichen Vegetation, sei es dadurch, daß hier weder der Bauer noch der Förster Aufsicht führen. Diese Abfolge hat auch etwas Narratives: Sie bildet die Ernährung der Stadt ab, sie reproduziert die sogenannten Thünen’schen Ringe, eine Theorie der Wirtschaftsgeographie des 19. Jahrhunderts, die die Ernährung der Stadt als Distanzproblem und als Grundlage der Bodenrente ansah. Diese Narration, diese Erzählung durchquert auch der Spaziergänger […] und sie verleiht der Landschaft, die er sieht, eine Bedeutung. Zum lieblichen oder spektakulären Bilde,
30 | MARC W EILAND dem schön gelegenen Bauernhof oder dem Waldrand, kommt nun eine erklärende Aussage hinzu, eine Narration von historischen Prozessen, auf Grund derer eben in dieser Zone um die Stadt eine bestimmte Art der Bewirtschaftung sinnvoll und logisch ist. Die Erzählung handelt auch von Entwicklungen und Prozessen, wenn beispielsweise neben einem Bauernhof, der offensichtlich nur noch Viehzucht und Milchproduktion betreibt, noch ein Getreidespeicher steht oder gar ein Mühlrad zu sehen ist.« (Burckhardt 2008b: 104)
Der Spaziergänger befindet sich dabei üblicherweise, so Burckhardt, in der »Narration der logisch aufgebauten Landschaft« (ebd.), die ihm sowohl die Schönheit als auch das Lokal-Typische des jeweiligen Raumes vermittelt. Dabei verfügen Landschaften immer auch über einen bestimmten Wortschatz und eine bestimmte Grammatik (Burckhardt 2008a: 21), die sie als Narrationen lesbar machen: »Die ›typische‹ Landschaft ist nur verständlich, nicht als Objekt, sondern als Bestandteil einer Sequenz narrativer Art, die auch Prozesse zeigt: Das Dorf wehrt sich gegen den Sand, die Obstbäume dringen in die Düne vor, der Bauer ringt der Heide etwas ab, die Heide kämpft gegen die Birken und Wacholder« (Burckhardt 2008b: 109f.). Die Brache hingegen erzeugt eine Leerstelle in der narrativen Abfolge des räumlichen Zusammenhangs und stört dabei den kulturell vermittelten und biografisch eingeübten Prozess des Verstehens und Aneignens von Landschaft. Sie ist bestimmt durch die Absenz von Funktion und Valenz und bildet insofern eine narrative Leerstelle, als sie die Erwartung an eine kohärent strukturierte und sich mehr oder minder logisch ergebende Abfolge des landschaftlichen Zusammenhangs enttäuscht. Damit erzeugt sie aber zugleich auch ein doppeltes Bedürfnis im wahrnehmenden Subjekt, das einerseits nach einer Erklärung für das Verschwinden des Verschwundenen sucht und andererseits im Akt dieser Suche zugleich auch eine imaginäre Ausfüllung und Neukontextualisierung der Leerstelle vornimmt – wodurch die Leerstelle letztlich doch auch eine Neuaneignung und Neubestimmung fördert. Der Akt des Lesens einer Landschaft ist dabei gewissermaßen vergleichbar mit dem Akt des Lesens eines Textes (Iser 1984). An diesem Punkt lassen sich die Ansätze von Kühne und Burckhardt zusammenführen und mit literarischen, künstlerischen und sonstigen medialen Bezugnahmen auf dörfliche und landschaftliche Strukturen verschränken. Denn Natur als Landschaft kann in verschiedenen Weisen angeeignet und von diesen Aneignungsweisen geprägt werden: in praktischer Weise durch Nutzung, in theoretischer Weise durch Wissenschaft und in ästhetischer Weise durch Kunst (Anders/Fischer 2012a, 2012b). Diese Aneignungsweisen ergänzen und fördern sich gegenseitig (ebd.). Auch am Beispiel imaginärer Dörflichkeit lässt sich zeigen, dass die symbolische Herstellung und Vermittlung von narrativen Raummodellen in eine lebensweltlich-hermeneutische Zirkelbewegung eintritt, die sowohl die kognitive Orientierung als auch die alltägliche Praxis in bestimmten Räumen beeinflusst (vgl. Nell/Weiland 2014a). Gerade die gegenwärtig wahrnehmbare mediale Konjunktur des Dörflichen und
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Ländlichen (vgl. Nell/Weiland 2014) zeugt von neuen Interpretationsweisen und Aneignungsversuchen ruraler Lebenswelten. Dabei versteht auch Kühnes Theorie die durch die medialen Inszenierungen erzeugte symbolische Nutzung als räumliche Funktion und Valenz. Auch durch sie kann eine »gesellschaftlich-landschaftliche Polyvalenz« (Kühne 2012: 149) hergestellt werden. Im Hinblick auf die Ästhetisierungen topografischer Leerstellen ist dies insofern von Bedeutung, da durch künstlerische Bezugnahmen mitunter bereits entfunktionalisierte Räume wieder zu Teilen polyvalenter Landschaften werden können. Deutlich wird dies beispielsweise im preisgekrönten Dokumentarfilm LAND AM WASSER (2015) des Regisseurs Tom Lemke. Der Untertitel – »Von Abschied und Eroberung« – verweist bereits auf die Verschränkung zweier Vorgänge. Der Film begleitet einen Abschied, welcher als Dokumentation des Verschwindens des Dorfes Großgrimma angelegt ist. Fast alle Bewohner dieser Gemeinde wurden bereits vor Jahren umgesiedelt, damit die unter dem Dorf liegende Braunkohle abgebaut werden kann. Gleichzeitig begleitet die Langzeitreportage aber auch den letzten Bewohner des Orts, den Kleinbauern Silvio, der das scheinbar nutzlos gewordene Dorf durch die agrarische Bearbeitung kleiner Flächen und das Verharren im Dorf ›zurückzuerobern‹ scheint. Der Film spricht dabei vier Aspekte des Verschwindens an und bringt sie dadurch zunächst einmal auch wieder zur Erscheinung: die bereits vergangene Gestalt des Orts, den aktuellen Prozess des Verschwindens, die subjektive Wahrnehmung des Vergangenen und Verschwindenden, und schließlich auch die Rolle des Einzelnen in diesem Prozess, der ihn auch mit seinem potenziellen eigenen Verschwinden konfrontiert. Prägnant dargestellt ist dies anhand der gegenseitigen Überlagerung dieser Ebenen bereits auf dem Plakat zum Film (siehe Abb. 5). Der Film konserviert und archiviert dabei nicht nur den Wandel einer polyvalenten Landschaft zu einem nonvalenten Raum und das damit einhergehende Verschwinden von Orten und Menschen, sondern arbeitet über die damit verbundene Erinnerungsfunktion hinaus selbst an einer narrativen Neukontextualisierung und semantischen Neubesetzung des Raumes, die ihm eine andere Bedeutung und möglicherweise auch eine neue Funktionalisierung verleihen. Denn sowohl über die kleinlandwirtschaftliche Nutzung als auch durch die filmische Inszenierung wird, so ließe sich thesenhaft sagen, das Raumpastiche des devastierten Orts zumindest zeitweise verändert. Dabei steht dieser Film auch im Kontext jüngerer Filmproduktionen, die sich im regionalen Rahmen vermehrt dem potenziellen Verschwinden von Orten widmen und den individuellen und kollektiven Umgang mit wahrgenommenen Leerstellen im Landschaftsgeschehen thematisieren und reflektieren. Filme wie SCHULTZE GETS THE BLUES (2003), SCHRÖDERS WUNDERBARE WELT (2006), DIE KÖNIGE DER NUTZHOLZGEWINNUNG (2006) oder NACHTHELLE (2015) inszenieren Bilder kahler und verlassener Landschaften sowie verfallener und funktionslos gewordener Gebäude und Institutionen (siehe Abb. 5). Dabei geht es ihnen immer wieder auch um Versuche der Neuausfüllung und -besetzung der ökonomischen und sozialen
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Leerstellen mit den Mitteln der Imagination sowie der dadurch erzeugten Gemeinschaftsbildung (vgl. Nell/Weiland 2015). Abb. 5: links: auf dem Filmplakat zu LAND AM WASSER überlagern sich Verschwinden und Wiedererscheinen von Dorf und Landschaft; rechts: eine der wahrgenommenen und auszufüllenden Leerstellen in SCHRÖDERS WUNDERBARE WELT
Sunday Filmproduktion
Filmkombinat, Foto: Nadja Klier
Ähnlich den aufwendig produzierten und massenhaft rezipierten Spielfilmen, die ihre Schauplätze im Ländlichen verorten, fügen diese Filme der Funktionalisierung der Landschaft eine neue Ebene hinzu. 13 Sie beeinflussen die regionale und lokale Identität, indem sie Geschichten auf einen Ort oder eine Landschaft projizieren – sei es in dokumentarisch-realistischer oder in fiktional-überhöhender Weise. Gerade über die dabei angesprochene Form der narrativen und/oder ästhetischen Aneignung können vom Verschwinden bedrohte Räume (neue) gesellschaftliche Relevanz gewinnen.
13 Wobei die Neufunktionalisierung dann mitunter auch in einer exzessiven touristischen Nutzung besteht. Dies zeigen die mittlerweile sehr beliebten Ausflüge zu Schauplätzen, an denen international bekannte Filme gedreht wurden, so z.B. in das tunesische Wüstendorf Matmata, das Schauplatz in einigen STAR WARS-Episoden war, das marokkanische Dorf Aït Benhaddou, das als Szenerie für über dreißig Filme und zum Teil auch Blockbuster (u.a. SODOM UND GOMORRHA, GLADIATOR, KUNDUN, BABEL) diente, und nicht zuletzt auch in das neuseeländliche Hobbiton, dem imaginären Wohnort der Hobbits in DER HERR DER
RINGE (vgl. Escher/Zimmermann 2001). Dass das potenzielle Verschwinden von
Dörfern und Landschaften auch hollywoodreife Stoffe bietet, zeigt etwa James Camerons AVATAR (2009), in dem der Rohstoffabbau auf dem Planeten Pandora und die mit ihm verbundenen Konflikte mit den Einheimischen erst den eigentlichen Erzählanlass bilden.
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Leerstellen in der Landschaft Mitunter geht es dabei nicht nur um die Frage nach der spezifischen Ästhetisierung und Funktionalisierung der Leerstelle, sondern auch darum, sie überhaupt erst einmal ausfindig zu machen und aufzuzeigen. So widmet sich beispielsweise der 2017 erschienene Fotoband WÜSTUNGEN von Anne Heinlein und Göran Gnaudschun der Dokumentation verlassener und abgetragener Siedlungen auf der Ostseite der innerdeutschen Grenze, die aus politischen Gründen aufgegeben wurden – »weil sie das freie Schussfeld gestört haben, weil sie nur unter höchstem Aufwand zu bewachen waren oder einfach zu nah an der Grenze standen.« (Heinlein/Gnaudschun 2017: 5) In ihren Recherchen haben die beiden Autoren über einhundert Wüstungen gefunden, deren Überreste und Spuren heutzutage, außer in Archiven, nahezu kaum noch auffindbar sind (siehe Abb. 6). Ortschaften mit mitunter tausendjähriger Ortsgeschichte sind innerhalb weniger Jahre zunächst zu monovalenten Räumen (eben als zu bewachender Grenzübergang) und schließlich zu topografischen Leerstellen geworden, die mittlerweile im Grünen Band der ehemaligen innerdeutschen Grenze verschwunden sind. So heißt es in dem Fotoband etwa über die Suche nach einer der Wüstungen: »Ich finde Jahrsau nicht mehr. Der Asphalt hört plötzlich auf und üppiges Gras fängt an. Ich habe die Geokoordinaten in das Navigationsgerät eingegeben und lande auf einer Wiese. Hier ist keine Wüstung Jahrsau.« (Ebd.: 59) Abb. 6: links: Jahrsau im Landkreis Salzwedel, erstmals urkundlich erwähnt: 1390, gewüstet: 1970; rechts: Bardowiek im Landkreis Nordwestmecklenburg, erstmals urkundlich erwähnt: 1292, gewüstet: 1977-89
Fotos: Anne Heinlein, aus dem Band WÜSTUNGEN
Dabei stellt der Band Fotografie und Text nebeneinander. Es finden sich in ihm historische und aktuelle Aufnahmen der damals belebten und nun verschwundenen Siedlungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und dabei zweierlei vor Augen führen: Einerseits zeigen die historischen Fotografien aus der Perspektive der
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Bewohner deren Sozialleben und die baulichen Dorfstrukturen, andererseits zeigen die aktuellen Fotografien Heinleins die nun am selben Ort vorherrschende Natur, die zunächst keinerlei Hinweise auf eben jene einstmaligen Dorfstrukturen gibt. Erst anhand der fotografischen Gegenüberstellungen der einstigen und jetzigen räumlichen Konfigurationen sowie der eingesetzten narrativen Mittel der Kontextualisierung und Erläuterung wird die Leerstelle als Leerstelle erzeugt. Ohne die entsprechende Gegenüberstellung und Narrativisierung wäre die Leerstelle nicht wahrnehmbar; die Rezipienten der Fotografien würden vermutlich vor allem Wald bzw. Wildnis sehen. Dabei finden sich in dem Band neben der fotografischen Dokumentation sowohl Erfahrungsberichte und Reflexionen der beiden Autoren, die sich auf deren Recherchetätigkeiten wie auch ihren Umgang mit bzw. ihre Suche nach den konkreten Orten beziehen, als auch historische Schriftstücke, vornehmlich Stasi-Unterlagen, die auf Basis von Überwachungsprotokollen und Begründungsschreiben in der binären Logik der Anweisung ›verbleibt / verbleibt nicht‹ über die Umsiedlung der Bewohner entschieden. Diese Umsiedlungen fanden mitunter unter immensem Zwang und unter kontinuierlicher Erschwerung des alltäglichen Lebens statt. Der Fotoband dokumentiert und reflektiert somit den ideologisch gesteuerten und politisch durchgesetzten Prozess des Verschwindens ebenso wie die heutige Suche nach dem Verschwundenen. Er spiegelt dabei einen Ausschnitt deutscher Geschichte. Die gegenwärtig wahrgenommene – ästhetisch hergestellte und hervorgehobene – topografische Leerstelle markiert auf der chronologischen Ebene sowohl den Anfangs- als auch Endpunkt zweier einander entgegengesetzter Bewegungen: Einerseits bildet sie den erzählerischen Ausgangspunkt einer individuellen Suchbewegung, die die Ergründung der jeweils verschwundenen Orte in ihren historischen Entwicklungen und Umbrüchen verfolgt; andererseits bildet sie den Endpunkt der geschichtlichen Entwicklung der jeweiligen Orte, die nunmehr komplett verschwunden sind. Beide Bewegungen bedürfen dabei der Narrativisierung, die die Leerstelle sowohl wahrnehmbar als auch verständlich macht. Explizit zeigt diese Verbindung zwischen Dokumentation und Deutung auch der im Jahr 2006 erschienene Band LAST & LOST, der essayistisches Schreiben mit dokumentarisch-künstlerischer Fotografie verknüpft. Die Herausgeber verweisen bereits im Vorwort darauf, dass es »eine gewisse Topologie des Verschwindens« sei, die das Gesicht Europas präge (Raabe/Sznajderman 2006: 14).14 Sowohl die Texte als auch die Fotografien des Bandes beziehen sich auf mittlerweile entfunktionalisierte und entkontextualisierte Räume, auf ehemalige Grenzregionen, Industriegebiete oder touristisch geprägte Landschaften und die in ihnen auffindbaren Insignien des Verfalls. Diese Topologie wird jedoch nicht nur mimetisch abgebildet und – u.a.
14 Daraus ergibt sich auch der Untertitel des Bandes: »Ein Atlas des verschwindenden Europas«.
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mit Verweis auf die ungleichzeitigen Entwicklungen in Europa, die Auswirkungen von Krieg, Vertreibung und Völkermord, sowie die generelle »Kollaboration von Menschen- und Naturgewalt« (ebd.: 9) – kulturgeschichtlich erklärt, sondern zugleich auch über die konkreten Phänomene hinausgehend gedeutet und interpretiert. So entwickelt beispielsweise der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk in seinen Reisereportagen das Konzept einer »melancholischen Geographie« (Stasiuk 2006: 316-329), die die entlegenen Ecken eines verschwindenden Europas portraitiert und dabei zugleich das Ewigwährende dieser Räume hervorzuheben sucht. Wie auch in den Texten von Jurij Andruchowytsch finden sich hier nahezu überall »Fragmente einer vergangenen Ganzheit« (Andruchowytsch 2006: 112) – und zwar auch und gerade angesichts der spezifischen Situation und Deutung postsozialistischer Landschaften, die immer wieder als »Gefängnis der Zeit« (ebd.: 104) und »Ende der Geographie« (ebd.: 106) stilisiert werden. Der dargestellte und nachvollzogene Prozess des Verschwindens von Dörfern und Landschaften ruft in diesen ästhetisierenden Bezugnahmen romantische Deutungen und mitunter auch metaphysische Spekulationen hervor. So mündet etwa eine der Reportagen Stasiuks im imaginären wie auch realen Wiederaufsuchen seines verlassenen ländlichen Heimatorts. In der Imagination erscheint dieser zunächst einmal als dauerhaft und unvergänglich: »Es ist kaum zu glauben, aber damals war ich mir ganz sicher, daß diese Welt nie vergehen würde, daß sie, in der Zeit wie in der Ewigkeit versunken, von Dauer sein würde. Sie schien beständiger und echter zu sein als die übrige Welt, als mein Leben in der Stadt im Haus der Eltern, beständiger als das, dessen Wesen Entwicklung und Wandel war. Ich fuhr jedes Jahr dorthin, um eine Art elementare Kraft zu schöpfen.« (Stasiuk 2006: 328)
Drei Merkmale sind hierbei charakteristisch für die Imagination der verlassenen heimatlichen Landschaft: Ihre Beständigkeit, ihre Echtheit und ihr direktes Verhältnis zu den Menschen in ihr. Wobei mit allen drei Merkmalen eine bestimmte Funktion verbunden ist: die positive Wirkung auf eben denjenigen, der sich in dieser Landschaft befindet. In der Rückkehr an den verlassenen Ort zeigt sich Stasiuk nun jedoch folgendes: »Erst nach zwanzig Jahren kehrte ich dorthin zurück. Ein Teil des alten Obstgartens war gerodet worden, und jetzt konnte man sehen, wie klein, brüchig und wehrlos das Haus in Wirklichkeit war. Des Vorhangs beraubt, wurde es von dem riesigen Himmel erdrückt. Dem Wind ausgesetzt, konnte es sich kaum auf der Erde halten.« (Ebd.)
Dabei werden die nun wahrnehmbaren und wahrgenommenen Anzeichen und Symptome des nahenden Verschwindens – die Verwitterung und der Verfall – von Stasiuk durchaus im Sinne einer metaphysisch-religiösen Erfahrung gedeutet und aufgeladen; und zwar durch eine bestimmte Form der Ästhetisierung, die auf die
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Herstellung von Ganzheiten abzielt und selbst das Verschwinden und das Nichts in kosmische Abläufe integriert. Das Mittel zur Herstellung dieser Totalität ist die ästhetische Anschauung der Natur als Landschaft – und zwar, so Stasiuk, als »eine andere Landschaft« (ebd.),15 die nunmehr einen Perspektivwechsel hervorruft: »Ich stand inmitten des Bekannten und sah in ein tiefes Geheimnis. Ja, das Nichts in seiner schönsten Gestalt war gekommen, um die Reste zu tilgen, zu zerreiben, zu Staub zu zermahlen und in den eisigen Abgründen des Weltalls zu zerstreuen. Amen.« (Ebd.: 329)
Die verschwindende Landschaft wird dabei, wie es bereits bei Norbert Mecklenburg mit Blick auf die erzählte Provinz heißt, zum »Offenbarungsort des Seins stilisiert« (Mecklenburg 1982: 44).16 In ihr verschmelzen realistische Darstellung und metaphysische Überhöhung. Auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur finden sich mitunter solche metaphysischen Deutungsmuster. In den Romanen BEVOR ALLES VERSCHWINDET (2013) von Annika Scheffel und DER FUCHS (2016) von Nis-Momme Stockmann lassen sich ähnliche Verfahren und Deutungen feststellen. Scheffel beschreibt das allmähliche und schleichende Verschwinden eines Dorfes, welches einem Stausee und Erholungsgebiet zu weichen hat. Stockmann hingegen schildert das Verschwinden eines Dorfes, das einem plötzlichen Deichbruch zum Opfer fällt. Beide nehmen dabei ein Thema auf, das auch in den internationalen Literaturen mehrfach bearbeitet
15 Es lässt sich wohl anmerken, dass sich diese Form der literarischen Ästhetisierung die Denkmodelle ›klassischer‹ Landschaftsanschauung angeeignet und auf den dörflichen Kontext – und dabei eben auch auf das Soziale – übertragen hat. Während jedoch ›klassischerweise‹ die ästhetische Naturanschauung angesichts der zunehmenden Verdinglichung und Zergliederung der Natur durch die theoretisierenden und abstrahierenden Zugriffe eine gegenläufige, eben kompensierende, Bewegung erzeugt, die die dabei verlorengegangene Ganzheit wiederherstellt (Ritter 1975), kompensiert die ästhetisierende Naturanschauung hier nicht mehr die verdinglichte Natur, sondern das real wahrnehmbare Verschwinden von Dorf und Landschaft. 16 Mecklenburg spricht in seiner Untersuchung mit generalisierendem Blick auf die erzählte Provinz auch von einer mit ihr verbundenen »Tendenz, zu ›ontologisieren‹« (Mecklenburg 1982: 44). Dabei zeichneten sich Provinzerzählungen gegenüber anderen literarischen Genres vor allem durch die Möglichkeit der realistischen Darstellbarkeit fantastischer und/oder metaphysischer Elemente aus: »Allein die Provinztopographie vermag die Evokation eines kosmischen Naturraums und die mythisch-archetypische Stilisierung von Figuren und Handlung einigermaßen plausibel in ein ›realistisches‹ Alltagsgeschehen zu integrieren.« (Ebd.: 170) Sie wird somit auch zum »Beglaubigungsraum für phantastische oder metaphysische Motive« (ebd.: 35).
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wurde; so z.B. in Valentin Rasputins ABSCHIED VON MATJORA (russ. 1976, dt. 1977), der auch als Prätext der deutschsprachigen Romane, vor allem Scheffels, verstanden werden kann. Das Verschwinden dörflicher Strukturen erscheint bei allen Texten jedoch nicht nur als etwas, das von außen droht. Vielmehr zeigt sich in ihnen zum einen ein immer schon in sich bröckelndes und sich in Auflösung befindendes Sozialsystem, zum anderen aber auch das Bestreben, dem Prozess des Verschwindens Formen und Figuren einer ›langen Dauer‹ entgegenzusetzen: Mythen, Legenden, Sagen und mitunter auch der Zeit enthobene Figuren, die schließlich auch auf ›andere‹ Zeit- und Erfahrungsräume rückverweisen und sich diese aneignen. Auf der einen Seite fungieren diese als Mittel der Kontrastierung, von der sich Umbrüche und Veränderungen abheben (dadurch aber auch erst in ihrem Ausmaß erkenntlich werden). Auf der anderen Seite fungieren sie jedoch auch als Mittel der Integration, durch die das Verschwinden, ähnlich wie bei Stasiuk, in umfassendere Abläufe eingeflochten und eingeordnet wird. Eine Literatur der verschwindenden und verschwundenen Dörfer und Landschaften Ein Großteil der gegenwärtigen Dorfgeschichten thematisiert und reflektiert das sich gerade vollziehende, zukünftig bevorstehende oder aber bereits vollzogene Verschwinden dörflicher Lebenswelten und landschaftlicher Strukturen aus den Perspektiven unterschiedlicher Wahrnehmungssubjekte und Interessengruppen. Der Prozess oder zumindest die Gefahr des Verschwindens bildet ein wesentliches Element des narrativen Bauplans neuerer Dorfgeschichten. Einerseits werden dabei individuelle Lebensgeschichten erzählt, die von einer gegenwärtigen Wiederaneignung der verlassenen Dorfwelt im Akt der Erinnerung und Neubegegnung berichten, die schließlich auch zur Neuentdeckung einer verblassenden und/oder verdrängten Vergangenheit führen und erinnerungskulturelle Leerstellen ausfüllen. So suchen etwa die Protagonisten in Moritz Rinkes DER MANN, DER DURCH DAS JAHRHUNDERT FIEL (2010), Sabrina Janeschs KATZENBERGE (2010) oder Katharina Hackers EINE DORFGESCHICHTE (2011) allesamt, und manchmal auch in stellvertretender Funktion, die Orte der eigenen Familiengeschichte wieder auf und arbeiten dabei dem Prozess des Vergessens der peripheren Orte und Geschichten entgegen. Im Dörflichen und Ländlichen finden sie, so die Erzählerin in Hackers EINE DORFGESCHICHTE, »Erinnerungsbilder einer längst verschwundenen Physis« (Hacker 2011: 108). Es sind dies die Spuren der Vergangenheit, die mithilfe von Imagination und Fantasie wieder lesbar gemacht und dadurch auch in der Gegenwart konserviert werden. Denn die Orte der Vergangenheit drohen nicht nur aus dem Gedächtnis derjenigen zu verschwinden, die sie verlassen haben. Auch ihre physische Existenz ist zunehmenden Transformationen und Umbrüchen unterworfen.
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Daher werden in den neueren Dorfgeschichten, andererseits, immer wieder auch Geschichten erzählt, in denen die Dorfgemeinschaft mit der Gefahr ihres eigenen Verschwindens konfrontiert wird. Dies steht nach wie vor in der Traditionslinie der Dorfgeschichte als einem Genre, das als gesamteuropäisches Phänomen im 19. Jahrhundert im Kontext der gesellschaftlichen und technischen Umbrüche unter anderem auf die Prozesse der Industrialisierung und Modernisierung, der Urbanisierung und Landflucht, der veränderten Raumerfahrung und zunehmenden Beschleunigung der Lebenswelten, schließlich auch der kulturellen und sozialen Neuordnung reagiert (Wild 2011: 17) – und dabei immer wieder das potenzielle und reale Verschwinden alter Ordnungen in den Blick nimmt: »Die Schwellenerfahrungen, die in den Randzonen der Moderne gemacht werden, sind wie auch die dadurch veranlassten Erzählungen als Nebeneffekte der großen Transformationsprozesse anzusehen. Die fortschreitende Vergesellschaftung kleiner Gemeinschaften hat die Gattung der Dorfgeschichte hervorgebracht. Weil der Gegenstand des Erzählens von einer expandierenden Ordnung eingeholt wird, steht er stets im Horizont seiner Verwandlung oder gar des Verschwindens.« (Neumann/Twellmann 2014b: 484)
Dabei lässt sich auch im globalen Maßstab feststellen, dass Dorfgeschichten seit jeher in verschiedenen Weisen historische und zeitgenössische Umbruchs- und Schwellensituationen aus lokaler Perspektive reflektieren (vgl. Neumann/Twellmann 2014a: 41) und von den individuellen und kollektiven Bewältigungsversuchen eben jener Umbrüche berichten. Drei Formen des Umbruchs und der Krise werden hierbei in den neueren Dorfgeschichten aufgenommen und gestaltet (siehe ausführlicher dazu Weiland 2018). Zum Ersten sind es plötzlich und unerwartet von außen initiierte und über das Dorf hereinbrechende Umbrüche: die politische Wende der Wiedervereinigung (F.C. Delius: DIE BIRNEN VON RIBBECK, 1991), die rapide Zunahme wirtschaftlicher Problemlagen (Robert Menasse: SCHUBUMKEHR, 1995), die sich zuspitzenden Konflikte um Flächennutzungen (Juli Zeh: UNTERLEUTEN, 2016; Annika Scheffel: BEVOR ALLES VERSCHWINDET, 2013) oder aber auch natürliche und/oder übernatürliche Katastrophen (Nis-Momme Stockmann: DER FUCHS, 2016). Zum Zweiten sind es kontinuierliche strukturelle Veränderungen ländlicher Lebenswelten, die in verschiedenen Phasen des 20. Jahrhunderts zu beobachten sind und meist von einer zunehmenden Modernisierung des Dorfes (z.B.: Katharina Hacker: EINE DORFGESCHICHTE, 2011; Robert Seethaler: EIN GANZES LEBEN, 2014) und Verschränkung von Stadt und Land (Peter Kurzeck: VORABEND, 2011; Jan Brandt: GEGEN DIE WELT, 2011; Dörte Hansen: ALTES LAND, 2015) sowie den damit einhergehenden Problemlagen berichten. Zum Dritten schließlich ist es die Beständigkeit des Umbruchs, der sich in konjunkturellen Zügen immer wieder im Dorf abspielt und ein Wechselspiel aus Verschwinden und Wiedererscheinen initiiert (Saša Stanišić: VOR DEM FEST, 2014). Gerade auch die neueren Dorfgeschichten thematisieren dabei nicht nur das
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Verschwinden des Dörflichen und Ländlichen als realen Prozess, sondern deuten diesen immer wieder auch in allegorischer und metaphorischer Weise. 17 Die verschiedenen Texte zeigen allesamt, dass im Mikrokosmos Dorf immer wieder größere gesellschaftliche Bewegungen und Entwicklungen gespiegelt und verständlich gemacht werden.
MEDIALE INSZENIERUNGEN DES V ERSCHWINDENS UND DES V ERSCHWUNDENEN Dabei bringt vor allem Scheffels Roman eine in und mit literarischen Texten thematisierte selbstreflexive Ebene zum Ausdruck – verweist der Text doch auch auf den inszenatorischen Charakter, den das Verschwinden von Dörfern und Landschaften in modernen Gesellschaften mitunter annehmen kann. Denn das Verschwinden wird häufig erst dann zur Kenntnis genommen, wenn es medial vermittelt wird. Dementsprechend sind aber auch die Bilder des Verschwindenden und des Verschwindens bereits mehr oder minder fest im Kopf verankert, bevor sie sich auch in der Wirklichkeit finden lassen. So schildert der Roman nicht etwa nur touristische Führungen in das sich gerade im Abbau befindende Dorf, sondern auch die Art und Weise der Inszenierung des Verschwindens. Eine abgebrühte Fotojournalistin etwa begleitet den Prozess der Devastierung mit gestellten Familienaufnahmen »uneingeschränkter Harmonie« (Scheffel 2013: 228) und erzeugt dadurch einen größtmöglichen Kontrast zwischen privat-innerlicher Beständigkeit und sozial-äußerlicher Zerstörung. Zwar könnte sie, so die Erzählstimme, recht komplexe, undurchsichtige und auch verstörende Figurenkonstellationen ablichten – »[d]ass es hier Geheimnisse gibt, ist offensichtlich« (ebd. 229) –, doch bleibt sie in der einmal vorgegebenen und von den angenommenen Rezipienten erwarteten Darstellungsweise: »Die Fotografin interessiert das nicht. Sie möchte lieber die leeren Häuser fotografieren, die Spiegelung eines Straßenschildes im schlammigen Wasser einer Pfütze, die alte Frau auf dem Motorrad, die mit leuchtenden Augen sagt, sie lebe auf dem Friedhof. Bilder wie diese, von versteinerten Familien, erwartet man von einer sterbenden Ortschaft, und ein neuer Wolkenbruch kommt der Fotografin schließlich zu Hilfe.« (Ebd.)
17 »Es kann tatsächlich sein, dass es hier Zeiten gibt, in denen wir unsichtbar werden«, heißt es etwa in Terézia Moras Erzählband SELTSAME MATERIE (1999), in dem vor allem die Erfahrung und (Nicht-)Verarbeitbarkeit von Gewalt aus kindlicher Perspektive geschildert wird. Das Verschwinden dörflich-gemeinschaftlicher Strukturen wird hier auch zum Sinnbild für den Untergang autoritärer Systeme, die nichtsdestotrotz und nach wie vor das Denken und Handeln der von ihnen geprägten Menschen bestimmen.
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Das Verschwinden wird hier als ein Klischee und Abziehbild alltäglicher Zeitungsberichte ausgestellt; und als ein solches ist es durchaus in einigen aktuellen medialen Berichterstattungen über ›sterbende‹ bzw. ›verschwindende‹ Dörfer gegenwärtig. Das Verschwinden von Dörfern und Landschaften wird in den künstlerischen und medialen Bezugnahmen jedoch nicht nur rückblickend erinnert oder gegenwärtig begleitet, sondern mitunter auch antizipierend entworfen und als mögliches Szenario am Horizont des Geschehens imaginiert: als drohendes zukünftiges VerschwundenSein. So zum Beispiel in Volker Koepps Dokumentarfilm LANDSTÜCK (2016), der nicht etwa eine bereits verschwundene Landschaft zeigt, sondern eine, die – so der Film – aufgrund der Ausbreitung von Monokulturen, Windrädern, Tiermastbetrieben im Speziellen und steigender Grundstückspreise und dem Vordringen der Globalisierung in die Peripherie im Allgemeinen vom Verschwinden bedroht ist. 18 Damit thematisiert er ein soziales und diskursives Konfliktfeld, das auch in gegenwärtigen Dorfgeschichten, so z.B. in Juli Zehs UNTERLEUTEN (2016) oder Alina Herbings NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN (2017), aufgenommen wird.19 Während Zeh die konfliktträchtige Veränderung der Landschaft – auf einem Ackerstück sollen Windkraftanlagen gebaut werden, die, so eine der Figuren, zur Entstehung einer »AntiLandschaft« (Zeh 2016: 571) führen – als Zusammentreffen unterschiedlicher gesellschaftlicher und ökonomischer Ansprüche, Vorstellungen und Positionierungen aus eben den damit verbundenen individuellen Perspektiven (so trifft u.a. der idyllisierende Blick der Zugezogenen ebenso auf die Kolonisierungsbestrebungen der auswärtigen Investoren und die Modernisierungsansprüche wie auch historischen Altlasten der Alteingesessenen) erzählt,20 nimmt Koepp selbst in und mit seinem
18 Dabei hat der Titel eine doppelte Bedeutung: Einerseits verweist er auf ein konkretes Landstück, das in der hier bereits mehrfach thematisierten Uckermark zu verorten ist; andererseits verweist er auf das mit dieser Landschaft verbundene konflikthafte Zusammentreffen unterschiedlicher Akteure und Ansprüche, das in diesem ›Stück‹ potenziell tragischer Natur sein kann. 19 Dass diese literarischen Texte auch im Kontext einer ganzen Reihe von künstlerischen Auseinandersetzungen mit klimatischen Frage- und Problemstellungen stehen, zeigt Uhlig (2018). 20 Dabei zeigt sowohl der Film Volker Koepps als auch der Roman Juli Zehs, dass das Eigentum im Dorf und damit auch das Geschehen im Ländlichen längst eingebunden ist in globale Wirtschaftskreisläufe und Besitzverhältnisse. In UNTERLEUTEN ist es zum Beispiel der Unternehmensberater Konrad Meiler aus Ingolstadt, der kostengünstig größere Flächen Land gekauft hat und dieses als Spekulationsobjekt zur Gewinnmaximierung nutzt: »Mit seinem Stück Ex-DDR musste Meiler nichts wollen. Er konnte es sich leisten zu warten. Auf Bebauungspläne, die neue Flächen als Bauland auswiesen. Auf eine Supermarktkette, die Land brauchte, um in der Nähe von Unterleuten eine Filiale zu eröffnen. Auf die
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dokumentarischen Film eine spezifische Stellung ein; und zwar die des Bewahrers und Verteidigers einer untergehenden Landschaft. Dies geschieht sowohl in explizitkommentierender als auch implizit-formaler Weise. Koepp bezieht sich dabei auf die romantische Landschaftsmalerei, die er als Folie der eigenen Wahrnehmung und filmischen Darstellung bestimmt und nutzt (siehe Abb. 7). Abb. 7: LANDSTÜCK zeigt auch die romantischen Seiten der Uckermark
Edition Salzgeber
Lange Panoramaaufnahmen von ausgedehnten und farbenprächtigen Landschaften mit tiefen Horizonten sowie langsame Schnittfolgen erzeugen dabei, oftmals auch unterlegt mit natürlichen Geräuschen, einer erläuternden und in die Geschehnisse involvierten Erzählstimme oder aber einer melancholisch wirkenden Violinenmusik, eine spezifische Atmosphäre, die das näher rückende Verschwinden des Gezeigten betrauern lässt. Denn auch wenn die landschaftliche Szenerie zunächst als vermeintlich unberührte und natürliche erscheint, so wird doch durch die eingesetzten Mittel des Erzählerkommentars ebenso wie durch Interviews mit Bewohnern, Akteuren und Experten darauf hingewiesen, dass das weitere Bestehen der Landschaft in Gefahr ist. Die romantisierende Darstellungsweise entfaltet hierbei eine kritische Wirkabsicht; führt sie den Betrachtern doch vor Augen, was auf dem Spiel steht und welch positiv besetzter Raum vom Verschwinden bedroht ist.21 Die filmische
Ausdehnung des Berliner Speckgürtels. Auf Umgehungsstraßen, Outlet-Center oder die große Energiekrise, die den Anbau von nachwachsenden Rohstoffen unverzichtbar machen würde.« (Zeh 2016: 57) 21 Je nach Darstellung und Bewertung der Ausgangslage – der spezifischen Situation im Dörflichen bzw. Ländlichen – kann dabei das potenzielle Verschwinden sowohl betrauert (wie etwa bei Koepp oder Mak) als auch herbeigewünscht werden. Ganz im Gegensatz zur gängigen Praxis findet sich eine solche Position z.B. in Juli Zehs Roman wiedergegeben: Hier ist es aus der Perspektive einer der Figuren dann doch »die Ankunft von Menschen ohne Erinnerung« (Zeh 2016: 613), d.h. von auf das Land ziehenden Städtern, die nach einer ganzen Reihe gewalttätiger Zwischenfälle und Konflikte den Untergang »des alten
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Ästhetisierung verbindet und verknüpft dabei Romantisierung (des im Verschwinden begriffenen), Kritik (an den Ursachen des Verschwindens) und Engagement (zur Bewahrung des Verschwindenden) miteinander. Dabei zeigt sich erneut, dass die Art der Darstellung des Verschwindens und des Verschwundenen zugleich auch auf deren spezifische Deutung verweist und inhärente Funktionalisierungen zu erkennen gibt. In diesem Sinne bietet jede Darstellung – sei sie nun retrospektiv, gegenwartsorientiert oder antizipierend – immer auch ein Deutungsangebot, das mit bestimmten lebensweltlichen Funktionalisierungen verbunden ist, die sich zwischen Erinnerung und Engagement, Kritik und Affirmation bewegen. Dass ästhetisierende Bezugnahmen nicht notwendigerweise als kritische Gegendiskurse zu verstehen sind, zeigt ein Internetauftritt der Firma Vattenfall, die auf einer ihrer Webseiten unter dem Titel FILMKULISSE TAGEBAU: INSPIRIERENDE WÜSTENLANDSCHAFT 22 auf Modeshootings (des Modelabels Les D’Arcs), Musikvideos (des Songs DOS BROS der Band The BossHoss) und Verfilmungen (von Wolfgang Herrndorfs Bestseller TSCHICK durch Fatih Akin) verweist, die allesamt im Lausitzer Tagebau gedreht wurden. Der Tagebau, der eigentlich auf verschwundene Landschaften und Dörfer hinweist, wird hier zur positiv besetzten Kulisse umfunktionalisiert.23 Denn die angeführten Bezugnahmen greifen nicht den Verlust auf oder thematisieren das Verschwundene, sondern nutzen die Szenerie als Projektionsfläche für ihre jeweiligen Diskurse und Intentionen und bemühen sich dabei um eine Neuinszenierung und Neusemantisierung einer entstandenen Leerstelle, die einen gesellschaftlich mitunter auch hochemotional besetzten und hart umkämpften Themenkomplex – den Verlust der Heimat – markiert. Gerade aus der Perspektive des Energieunternehmens sollen sie dabei helfen, negativ konnotierten Landschaften
Unterleutens« (ebd.) erhoffen lassen und ein »neues Unterleuten« (ebd.: 614) abseits der alten Konfliktlinien begründen würden. 22 Vgl.: https://blog.vattenfall.de/filmkulisse-tagebau-inspirierende-wuestenlandschaft bzw. https://www.leag.de/de/blog/artikel/filmkulisse-tagebau-inspirierende-wuestenlandschaft (11.12.2017). 23 So heißt es etwa auf der Website: »Es rumpelt und donnert im kargen Tagebaufeld. Doch es sind nicht die schweren Bagger, die hier arbeiten. Nein, es ist ein stahlharter Dodge, der sich mit dumpfem Motorenbrummen übers Gelände kämpft. Aber was will der hier? Ein Musikvideo wird gedreht; ausgerechnet hier in der staubigen Einöde des Tagebaus, die wie eine Mond- oder Wüstenlandschaft anmutet. Und exakt diese Kulisse inspiriert Filmproduzenten.« Daran schließen sich dann auch – neben ästhetisch gehaltenen Fotografien des Tagebaus und weiteren positiven Landschaftsbeschreibungen, die insbesondere den »eigenen ästhetischen Reiz« hervorheben – konkrete Hinweise für Filmteams an, die im Tagebau drehen möchten.
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ein positives Image zu verleihen; beispielsweise dadurch, dass der devastierte und unwirtliche Raum zur »Wüstenlandschaft« umgedeutet wird.24 Auch wenn sich der schwedische Energiekonzern mittlerweile aus dem Lausitzer Revier zurückgezogen hat,25 so verdeutlichen diese durch die Firma geförderten Inszenierungen doch, dass das Bild und die Wahrnehmung dieser Orte auch durch ihre Ästhetisierungen geprägt werden und dabei – ob intentional oder nicht – unterschiedliche Assoziationen und Deutungen hervorbringen. Der imageorientierte Verweis auf mediale Ästhetisierungen kann am Ende einer ganzen Reihe künstlerischer Bezugnahmen auf Dörfer und Landschaften stehen, die durch den Braunkohleabbau verschwinden oder bereits verschwunden sind. Gerade entfunktionalisierte und non-valente postindustrielle Landschaften erscheinen dabei als ›vakante‹ Landschaften (Probst 2017), die nach semantischen wie auch lebensweltlichen und gesellschaftlichen Neubestimmungen verlangen.
ABSCHLUSS UND AUSBLICK : D AS V ORHANDENE ALS L EERSTELLE ? Die angeführten Beispiele stehen paradigmatisch für einen Wandel, in dem sich sowohl die ländlichen Räume als auch die gesellschaftlich produzierten und rezipierten Raumbilder befinden. Neben klassischen idyllischen Landschaftsbildern finden sich aktuell ganz selbstverständlich auch Bilder von Stadt-Land-Hybriden einerseits und von verlassenen und verödeten Landschaften andererseits. Der Kulturgeograph Marc Redepenning unterscheidet in seinen Untersuchungen unter anderem die Figuren des »profillosen und verschwindenden Ländlichen« (Redepenning 2013: 413) und des »leeren, ruhigen und ermöglichenden Ländlichen« (ebd.: 412) voneinander. Während die erste Figur die zunehmende Verschränkung von Stadt und Land fokussiert und dabei häufig auch in kulturkritischer Absicht den Verlust ihrer jeweiligen Charakteristika imaginiert, greift die zweite Figur auf den klassischen Stadt-Land-Gegensatz zurück und deutet die etwa durch zunehmende Landflucht und infrastrukturelle Unterversorgung erzeugten Bilder einer wachsenden Leere positiv um (vgl. ebd.: 413f.). Es sind nun wohl gerade diese Bilder der Entleerung, die mitunter auch zu Tendenzen der Wiederbelebung und Wiederbesiedelung dieser
24 Gerade auch das positive Image der Beteiligten wie auch die Reichweite der Filme (das Video von The BossHoss wurde mittlerweile, Stand Januar 2018, allein auf Youtube über 6 Mio. Mal aufgerufen) sorgen hierbei für eine nachwirkende Deutung. 25 Der Nachfolger Vattenfalls, das Energieunternehmen LEAG, hat den zuerst auf der Vattenfall-Website veröffentlichten Bericht mittlerweile auf seine Internetseite übernommen.
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Leerräume führen – und zwar von Leuten, denen, so Günter de Bruyn (2005: 15), »der Mangel an Menschen, Reizen und Geräuschen behagt.«26 Spricht doch die Leerstelle auch die Vorstellung eines Möglichkeitsraums an, der wiederum handlungsleitend wirkt. Das zeigt auch Julia Rössel (2014) in ihrer Untersuchung UNTERWEGS ZUM GUTEN LEBEN, in der sie die Raumproduktion von Zugezogenen in der Uckermark analysiert und dabei anhand von Interviews deren Motive ergründet.27 Die Pointe dabei ist: Ein Großteil der Zugezogenen konzipiert den von Ihnen eingenommenen Raum als einen leeren Raum, den sie frei ausfüllen und in dem sie dementsprechend ihre Vorstellungen eines ›guten Lebens‹ nahezu unbegrenzt verwirklichen können. Das setzt aber zunächst einmal eine gewisse kognitive Operation voraus: Einen Raum als leer zu imaginieren, in dem doch zweifelsfrei schon etwas vorhanden ist – seien es nun neue Nachbarn, ausgedehnte Wiesenflächen oder verlassene Häuser. Diese Operation verweist schließlich auch auf die gesellschaftliche Wirkmächtigkeit der Imagination der Leere und Entleerung, die gewissermaßen als eine Art ›Masternarrativ‹ bzw. ›große Erzählung‹ mit ländlichen Lebenswelten verbunden ist und mitunter deren materielle Gestalt überlagert. Daher lässt sich die Konstellation wohl auch umdrehen: Kunst und Literatur erscheinen nun nicht mehr nur als Medien, die auf topografische und soziale Leerstellen hinweisen, sie ausfüllen, erinnern, archivieren und beleben, ja vielleicht auch erst entdecken, sondern ebenso als Medien, die sie mitunter erst produzieren – und damit auch bereits Vorhandenes verdecken.
26 Dabei hat de Bruyn nicht zuletzt auch die unter dem Stichwort der ›Raumpioniere‹ bereits vielfach diskutierten Neuaneignungen verlassener ländlicher Räume im Blick (siehe dazu z.B. Lange/Matthiesen 2005, Faber/Oswalt 2013, Hauck 2017). Dass das Auftreten d ieser Bewegung auch im Kontext sich wandelnder Raumbilder zu verorten ist, wird von Neu (2008: 561) angedeutet, lasse doch »der aktuelle Wandel von Raumnutzung und Raumbildern [...] auch Platz für Gegenstrombewegungen, wie zum Beispiel für die in ländliche Schrumpfungsräume zuwandernden Raumpioniere […], die durch ihr kreatives Potential zur Wiederbelebung verwaister ländlicher Räume beitragen.« 27 Offen ist dabei, inwiefern sich diese auch aus den gegenwärtig in vielfältiger Weise anzutreffenden und spezifisch in der Uckermark verorteten Raumbildern in Fotografie, Film und Literatur speisen.
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Theoretische Annäherungen
Von Wüstungen und Lost Villages Eine historische Einleitung und Einordnung K ARL H. S CHNEIDER
V ORBEMERKUNGEN
ODER :
D AS D ORF WAR IMMER
ANDERS
ALS ANGENOMMEN In aktuellen Diskussionen über das Dorf und das Landleben schwingt häufig ein Unterton mit, der nahelegt, das Dorf sei ›früher‹ ein Ort der Stabilität und der Sicherheit gewesen. Aus der Sicht der Geschichtswissenschaft sieht dies allerdings anders aus. Eine historische Perspektive auf Dörfer liefert ein deutlich dynamischeres Bild: Dörfer waren immer wieder tief greifenden Veränderungen unterworfen, die ihre Existenz in Frage stellen konnten oder überhaupt ihre Existenz begründeten. Diese Veränderungen und Prozesse standen in Zusammenhang mit gravierenden gesellschaftlichen Prozessen. Blicken wir auf die letzten 1000 Jahre zurück, so lassen sich zumindest folgende Phasen erkennen.1 Um das Jahr 1000 setzte eine Phase des Bevölkerungsanstiegs und des Siedlungsausbaus ein, der die mitteleuropäische Kulturlandschaft entscheidend veränderte und bis heute prägt. Dabei kam es zu einer deutlichen Zunahme ländlicher Siedlungen in bis dahin weitgehend siedlungsfreien Gebieten, wobei diese Siedlungen häufig planmäßig angelegt wurden und bis heute an ihren regelmäßigen Flurformen zu erkennen sind (Hagen- oder Waldhufenfluren). Diese durchweg systematisch angelegten Siedlungen standen zudem im Kontext planmäßiger Herrschaftsausweitung und begründeten damit auch territoriale Strukturen, die teilweise bis heute wirksam sind (zumindest auf Ebene von historischen Landkreisen).
1
Abel (1967); Born (1974); Henning (1996); Troßbach/Zimmermann (2006); Brakensiek/ Kießling (2016).
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Der Dorfausbau war zudem eng gekoppelt mit einem starken Städtewachstum; Dorfgründungen und Städtegründungen waren eng miteinander verbunden. Bis auf die älteren Städte römischen Ursprungs oder die Bischofsstädte der Zeit vor 1000 sind nahezu alle heutigen Städte in dieser Zeit zwischen etwa 1100 und 1400 entstanden. Wie lässt sich dieser Zusammenhang erklären? Das starke Bevölkerungswachstum der beiden Jahrhunderte zwischen 1100 und 1300 war auch die Folge verbesserter agrarischer Methoden, so dass die Erträge und die Überschüsse stiegen. Sie bildeten die Voraussetzung für eine zunehmend arbeitsteilige Gesellschaft, in der nun auch die Versorgung der Städte durch das Land ermöglicht wurde. Insgesamt herrschte in dieser Phase des Mittelalters eine hohe Dynamik: Einerseits wurden Dörfer ausgebaut bzw. neu gegründet, andererseits verschwanden wiederum vorhandene – etwa, weil sie von neu gebildeten Städten übernommen wurden. Diese Siedlungsentwicklung endete mehr oder weniger abrupt in der allgemeinen Krisenphase des späten Mittelalters. Hierauf wird im Folgenden genauer einzugehen sein. Im 16. Jahrhundert setzte in Europa ein erneutes Bevölkerungswachstum ein, das diesmal jedoch nicht zur massenhaften Neuanlage von Dorfsiedlungen führte (auch wenn es solche gab), sondern eher zur Vergrößerung bestehender Siedlungen, die nun eine zunehmend differenzierte soziale Struktur erhielten, so dass sich auch eine dörfliche Unterschicht herausbildete. Die ältere Forschung spricht in diesem Kontext von einer »Verdorfung« (Abel 1961). Gemeint ist damit, dass sich aus den meist sehr kleinen Siedlungen der früheren Phasen nun Siedlungen nicht nur mit einer größeren Anzahl an Dorfbewohnern entwickelten, sondern auch eine komplexe Sozialstruktur entstand, in der neben Bauern auch Kleinstelleninhaber mit wenig Land oder gar landlose Dorfbewohner existierten. Das 17. Jahrhundert war durch die Katastrophe des 30-jährigen Kriegs geprägt. Viele Menschen verließen ihre Dörfer, andere starben an den direkten oder indirekten Folgen des Krieges, viele Höfe fielen wüst – allerdings gab es keine komplett aufgegebenen Dörfer. In den Jahrzehnten nach dem Krieg wurden nach und nach die Stellen wieder mit Bauern besetzt, so dass um 1750 die Bevölkerungszahl schon wieder höher als vor dem Krieg war. Große soziale Unterschiede prägten danach weiter die Dörfer bis in das 19. Jahrhundert hinein. Dies lag auch daran, dass in vielen ländlichen Gebieten seit dem 18. Jahrhundert das ländliche Heimgewerbe, die sogenannte Protoindustrie, Einzug hielt, die über mehrere Jahrzehnte unterbäuerlicher Bevölkerung eine neue Existenzgrundlage schuf. Erst mit der beginnenden Industrialisierung brach das Gewerbe zusammen und beendete diese Phase dörflicher Geschichte. Nun wurde das Dorf, falls es sich nicht zu den Arbeiterdörfern zählte, wieder hauptsächlich ein Ort der Landwirtschaft; das Dorfbild, welches nach wie vor noch unsere heutigen Vorstellungen prägt, entstand in den Jahrzehnten zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg.
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Die folgenden Überlegungen müssen vor diesem Hintergrund gesehen werden; erst dann wird deutlich, dass ›Dorf‹ keineswegs einen statischen Begriff darstellt, sondern eine höchst dynamische und vielfältige Einheit. Diese Vielfalt wird dadurch verstärkt, dass es zahlreiche regionale Unterschiede gab: Zwischen unterschiedlichen Landschaften (Küste, Geestgebiete, Lößgebiete, Berg- und Hügelland), zwischen verschiedenen agrarrechtlichen Regionen wie solchen mit Grundherrschaft oder solchen mit Gutsherrschaft. Abb. 1: Bevölkerungsentwicklung, Städtegründungen und Agrarpreise von 800 bis 1750
Eigene Darstellung nach Henning (1996)
L EERSTELLEN
AUFSPÜREN
Leerstellen sind nicht immer offen sichtbar und somit auch häufig als solche gar nicht zu erkennen. Daher ist es oftmals mit einem großen Aufwand verbunden, diese Leerstellen überhaupt entdecken zu können. Zunächst jedoch ein paar terminologische Anmerkungen. Historiker und besonders Geographen in Deutschland sprechen, wenn sie ›verschwundene‹ Dörfer meinen, von Wüstungen. Das klingt sowohl drastisch als auch abstrakt. Im Englischen hat sich der von Maurice Beresford geprägte Terminus der ›lost villages‹ allerdings nicht etabliert, stattdessen spricht die neuere Forschung von ›deserted villages‹.2 Die Wissenschaft unterscheidet vier Arten von Wüstungen (vgl. Denecke 1994; Abel 1976; Bergmann 2015; Recker 2006):
2
Vgl. dazu die erstmals 1954 erschienene Publikation THE LOST VILLAGES OF ENGLAND von Beresford. 1971 benutzt Beresford ebenfalls den Begriff der ›deserted villages‹ (vgl. Beresford 1989).
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Ortswüstungen, wenn ganze Dörfer verschwunden sind; Flurwüstungen, wenn nur die Siedlungen aufgegeben wurde, aber nicht die Flurstücke; dauerhafte Wüstungen, wenn die Orte nie wieder besiedelt wurden; temporäre Wüstungen, wenn die Orte nur zeitweise nicht besiedelt waren.
Diese Klassifizierung wirft jedoch auch Fragen auf, wobei aus historischer Perspektive vor allem die zeitliche Verortung und die Suche nach den Gründen eine wichtige Rolle spielen. Ehe ich mich diesen Problemen zuwende, soll aber eine andere, eingangs bereits aufgeworfene Frage beantwortet werden. Denn zunächst einmal stellt sich die Frage danach, wie eine solche verschwundene Siedlung gefunden werden kann, denn nach Aufgabe der Siedlung bleibt meist kaum etwas erhalten, was direkt auf die entstandene ›Leerstelle‹ hinweist. Die Datierung des Verschwindens gestaltet sich mitunter ähnlich kompliziert wie die des Entstehens, denn selbst bei den heute vorhandenen, im Mittelalter aber angelegten Siedlungen wissen wir oft nicht, wann genau sie entstanden sind. In den meisten Fällen geht ihre Datierung auf Erwähnungen in mittelalterlichen Urkunden zurück. In diesen Zeugnissen mittelalterlicher Rechtsgeschäfte, wie beispielsweise einer Schenkung oder einem Verkauf, taucht dann ein Name auf, der sich in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten immer wieder, meist mit wechselnder Schreibweise, erscheint und ggfs. etabliert – oder eben nicht. Verschwindet ein solcher Name nach nur wenigen Erwähnungen, manchmal nur nach einer, dann ist dies ein erster, manchmal der einzige Hinweis auf eine Wüstung, auf einen verschwundenen Ort. Dieser Befund ist zunächst ziemlich dürftig; beruht er doch lediglich auf schriftlichen Verweisen. Bedenkt man, dass unser urkundliches Wissen über die damaligen Dörfer vornehmlich auf den überlieferten urkundlichen Quellen aufbaut, diese jedoch nur eine geringe Auswahl der ursprünglich angefertigten Urkunden darstellen, dann wird die Dürftigkeit unserer heutigen Kenntnisse noch deutlicher (vgl. Esch 1985). Allerdings gelangt man mit Hilfe dieser Informationen zu Indizien, um die Ortsnamen zeitlich und meist auch räumlich genauer einzuordnen. Anhand frühneuzeitlicher Flurkarten lassen sich weitere Erkenntnisse generieren, wobei hier jedoch zu beachten ist, dass die Quellenlage nur bis ins 17./18. Jahrhundert zurückreicht und daher die Frage aufwirft, inwiefern diese Flurkarten überhaupt mittelalterliche Verhältnisse und Strukturen abbilden oder selbst bereits historische Verzerrungen aufweisen. Sie weisen oftmals Flurbezeichnungen und Flurstrukturen auf, die mit den rezenten Siedlungen nicht kongruent sind und geben dadurch Hinweise auf frühere Nutzungen, die nur durch verschwundene Siedlungen zu erklären sind.
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Abb. 2: Zehntkarte der Wüstungsgemarkung Steder im Calenberger Land
Leerhoff (1985), S. 157
Eine weitere Quelle bilden Darstellungen in frühneuzeitlichen Abbildungen. Auch diese können auf frühere Siedlungen hinweisen, wobei insbesondere – auch heute noch – allein in der Feldmark stehende Kirchen bzw. deren Überreste auffällig sind; schließlich wurden Gotteshäuser ebenso wie Friedhöfe auch denn noch gepflegt, wenn die sie umgebenden Siedlungen bereits aufgegeben waren (Küster 2010: 248). Abb. 3: Auf der Mainlaufkarte von 1593 weisen Michaelskirche und Kirschhof bei Freudenberg (Baden-Württemberg) auf Siedlungsreste hin
Staatsarchiv Wertheim R-K Nr. 5950 Bild 1
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Darüber hinaus lassen sich aber auch Spuren anderer Gebäude (Grundmauern) auf einem Wüstungsgelände ebenso finden wie »Reste von Trinkwasser- und Fischteichen, Brunnen, Gräben, dichtes Gestrüpp von Brennesseln und Holunder [...], ja sogar verwilderte Gartenpflanzen, zum Beispiel Schneeglöckchen« (ebd.: 248f.). Schließlich gibt es eine weitere Möglichkeit, frühere Siedlungen zu ermitteln: den Gang ins Gelände. Der Nestor der britischen Wüstungsforschung, Maurice Beresford, begann nach 1945 zunächst damit, deutsche Luftaufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg auszuwerten, um Hinweise auf Siedlungen zu finden, ehe er in einem weiteren Schritt entsprechende schriftliche Quellen analysierte und darüber hinaus an den durch die Luftaufnahmen identifizierten Orten Grabungen durchführte (vgl. Beresford 1998). Diese Methode der (mehrfachen) Begehung wird heute am häufigsten angewandt, wobei archäologische Funde, z.B. in Form mittelalterlicher Keramik, wichtige Indikatoren sein können. »Das sichere Erkennen von Ortsstellen im Gelände erfordert eine inhaltliche Vorbereitung. Eine wesentliche Voraussetzung besteht in der genauen Kenntnis des regionalen Flurnamenbestandes des Urkatasters und seiner wüstungsweisenden Geländebezeichnungen, die zudem eine historische Identifikation nachgewiesener archäologischer Fundstellen ermöglichen.« (Bergmann 2015: 19)
Mehrmalige Begehungen sind notwendig, um eindeutige Ergebnisse zu erzielen. Dabei sind die Befunde in Tallagen meist zerstört durch spätere Bewirtschaftungen, während sie in Wäldern oftmals besser geschützt sind. Das Entdecken verschwundener Orte stellt die Wissenschaft vor große Herausforderungen. Um ihnen auf die Spur zu kommen, bedarf es eines Gespürs für die feinen Unterschiede und einem intensiven Studium gradueller Veränderungen und Diskontinuitäten. An die Entdeckung schließen sich weitergehende Fragen an, etwa nach dem sogenannten Wüstungsquotienten, d.h. der Relation zwischen verschwundenen und verbliebenen Orten bzw. Siedlungen. Die bis heute maßgebliche, immer wieder zitierte Studie dazu stammt von Wilhelm Abel, ist zuerst 1943 erschienen und heißt DIE WÜSTUNGEN DES AUSGEHENDEN MITTELALTERS. Sie enthält auch eine Karte, die die Wüstungen im Gebiet des Deutschen Reiches auflistet. Diese Karte verweist auf die durchaus unterschiedliche regionale Verteilung der Wüstungen in Bezug auf die Gesamtzahl der Siedlungen. Abels Karte zeigt dabei eine regional sehr unterschiedliche Verteilung höherer Wüstungen: besonders betroffen waren Mitteldeutschland und süddeutsche Gebiete, also vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, das Berg- und Hügelland, in dem im Hochmittelalter verstärkt gesiedelt worden war und in dem anschließend viele Siedlungen aufgegeben wurden.
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Abb. 4: Wüstungen im spätmittelalterlichen Deutschland
Abel (1967), S. 110
Eine weitere gesamtdeutsche Studie findet sich bis heute nicht, stattdessen liegen mittlerweile zahlreiche lokale und regionale Studien vor, auf die ich noch etwas näher eingehen werde.
D IE F RAGE
NACH DEN
GRÜNDEN
Die Entdeckung von wüsten Orten schärft den Blick, führt aber zunächst erst einmal zu Ergebnissen, die die Frage nach den Gründen für die Aufgabe von Siedlungen und die Frage nach den Zusammenhängen, in denen sie stattfanden und mitunter noch stattfinden, noch nicht beantwortet. Neben der lokalen Bestimmung der Orte spielt die Frage nach der Zeit, in der die Orte ›wüst‹ gefallen sind, eine entscheidende Rolle. Die durchaus noch gängige Ansicht, Ortswüstungen seien durch die Verwüstungen des 30-jährigen Krieges entstanden, ist, trotz der mitunter großen Zerstörungen des Krieges, nicht haltbar. Allerdings zeigt diese Annahme, wie tief die Vorstellung von den Verwüstungen dieses Krieges in der deutschen Gesellschaft noch verankert ist. Demgegenüber gibt es mittlerweile keine Zweifel mehr daran, dass die Masse der Ortswüstungen dem späten Mittelalter zuzuschreiben sind, also dem 14. und 15. Jahrhundert. Im hohen Mittelalter, also in der Phase des 11. bis 13. Jahrhunderts, nahm die Bevölkerung in Europa stark zu, was erhebliche strukturelle Veränderungen der Gesellschaft zur Folge hatte. Dieses Bevölkerungswachstum ist zu großen Teilen auf
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steigende Erträge der Landwirtschaft zurückzuführen. Dieser Produktivitätszuwachs hatte zur Folge, dass mehr Menschen von der ländlichen Bevölkerung ernährt werden konnten, womit eine entscheidende Voraussetzung für die Urbanisierung geschaffen war. Das Hochmittelalter war eine Phase zahlreicher Städtegründungen, aber auch die Geburtsstunde von zahlreichen neuen Dörfern – sowohl in den westdeutschen »Altsiedelgebieten« als auch, im Zuge der Ostkolonisation, in Ostdeutschland. Diese Aufwärtsbewegung brach ab der Mitte des 14. Jahrhunderts zusammen. Es kam zu einem drastischen Bevölkerungsrückgang. Im Zuge dieses Prozesses nahm auch die Zahl der Siedlungen ab. Aber weshalb? In der Forschung gibt es drei grundlegende Antworten auf diese Frage. Die damit verbundene Debatte ist bis heute nicht abgeschlossen (vgl. North 2007: 360-371). Die im Folgenden genannten Prozesse stellen also nur Annahmen dar. Bevölkerungsrückgang durch Pest und klimatische Bedingungen Der Rückgang der Bevölkerung zwischen etwa 1300 und 1400 ist belegt – genaue Zahlen fehlen allerdings (Weigl 2010: 53-56). Die Bevölkerungsverluste können für diesen Zeitraum allerdings nur geschätzt werden, da keine zuverlässigen Daten vorliegen. Man muss von ca. einem Drittel der Bevölkerung ausgehen, das dieser Krise zum Opfer fiel. Die Forschung hat lange und sehr kontrovers nach den Gründen dafür gesucht. Von Anfang an war die Pest als ein wichtiger Faktor identifiziert worden. Sie erfasste in mehreren Wellen große Teile Europas (Vasold 2008; Brakensiek/Kießling 2016: 9-30). Allerdings ist bis heute nicht eindeutig geklärt, ob allein die Pest für diesen immensen Bevölkerungsrückgang verantwortlich war oder ob womöglich noch eine andere Krankheit dafür sorgte – denn die schnelle Verbreitung über nahezu den gesamten europäischen Kontinent wirft weiterhin Fragen auf. Das zentrale Argument einer tiefgreifenden Agrarkrise in der Folge der Pest wird von manchen Mittelalterhistorikern jedoch auch grundsätzlich in Frage gestellt (vgl. Schubert 1992: 8). Eine weitere These verbindet die Folgen der Pest mit klimatischen Veränderungen. Es spricht vieles dafür, dass sich das hochmittelalterliche Klimaoptimum mit warmen, aber nicht zu trockenen Sommern etwa zu Beginn des 14. Jahrhunderts änderte und es nun deutlich kühler wurde. Ab ca. 1310 lassen sich infolge dieses Wetters erste Hungerkrisen nachweisen, die dann übrigens für die nächsten Jahrhunderte zu der Alltagserfahrung der vormodernen Menschen gehörte. Zusammen mit der Pest wäre damit ein Krisenszenario kreiert, dass das Verschwinden vieler Dörfer erklären könnte.
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Die Fehlsiedlungstheorie Eng verbunden mit dieser Theorie ist die sogenannte Fehlsiedlungstheorie. Sie geht davon aus, dass im Hochmittelalter aufgrund der günstigen klimatischen Bedingungen und des Bevölkerungsdrucks Siedlungen an Stellen angelegt wurden, die kaum Überschüsse erwirtschaften konnten, weil die Ertragfähigkeit des Landes zu gering war. Hier wurden demnach sogenannte Grenzertragsböden unter den Pflug genommen – Böden, die schon bei leicht schlechteren Rahmenbedingungen (wie der Klimaverschlechterung ab 1300) keine Überschüsse mehr abwarfen und so aufgegeben werden mussten. Solche Orte mit Grenzertragsböden lagen meist in waldigen Höhenlagen. Diese Orte bzw. deren Felder verwaldeten wieder und sind teilweise nur noch an den Wölbäckern bzw. deren Resten zu erkennen (Küster 2010: 127-130). Die Agrarkrisentheorie oder noch etwas anderes? In der marxistischen Geschichtswissenschaft stießen diese Thesen auf teilweise heftigen Widerstand. Hier wurde stattdessen die Annahme vertreten, dass die Feudalgesellschaft im hohen Mittelalter die Ausbeutung der Bauern so intensiviert hatte, dass die Bauern sich den Feudalherren durch die Flucht in die Stadt widersetzt hätten (Epperlein 1960; Spieß 1983). Diese Theorie wurde gegen die o.g., unter anderem von Wilhelm Abel vertretenen Argumente massiv verteidigt. Lange Zeit wurde diese These auch von westdeutschen Historikern zurückgewiesen, sie wird aber immer noch diskutiert (North 2007: 366). Neuere Studien verweisen zudem stärker auf das 15. Jahrhundert, in dem viele Siedlungen wüst fielen, also auf eine Zeit, in der die direkten Auswirkungen der Bevölkerungsverluste einigermaßen abgeklungen waren. In diesen Fällen spielte ein Faktor, der bei Wilhelm Abel lediglich sekundär erschien, eine wesentliche Rolle, nämlich regionale Fehden (Gerking 1995: 68-70), d.h. lokale gewalttätige Konflikte des Adels, die zu Lasten der ländlichen Bevölkerung ausgetragen wurden.
R EGIONALSTUDIEN In den letzten Jahren hat es vermehrt Untersuchungen gegeben, die von eher allgemeinen Erklärungsansätzen abgerückt sind und sich in regionalen Bezugnahmen konkreter und differenzierter mit verschiedenen lokalen Aspekten des Verschwindens von Höfen und Siedlungen beschäftigt haben. So kommt eine Studie zum Südsauerland (Becker 1977) zu folgenden Gründen für die Aufgaben von Orten:
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Umsiedlung in benachbarte Städte: »Eine Reihe stadtnaher Höfe wurde aufgelassen, nachdem Bürger oder städtische Institutionen das Eigentum oder Pachtbesitz an ihnen erworben hatten. In solchen Fällen wurde das zugehörige Kulturland von Stadtbewohnern weiter bewirtschaftet.« (Becker 1977: 259) In stadtfernen Gebieten konnte dagegen beobachtet werden, dass Bauern in größere Orte umzogen, weil dort die Bedingungen günstiger waren. Nachweisbar waren aber auch totale oder partielle Ortswüstungen aufgrund des Bevölkerungsrückgangs, also Wüstungen im engeren Sinn.
Zu einer etwaigen Agrarkrise macht diese Studie indes keine Angaben. Musste man nach den vorherigen Bemerkungen noch davon ausgehen, dass die meisten Dörfer in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wüst fielen, so wird in dieser Studie eher davon ausgegangen, dass der Wüstungsprozess erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts stattfand, also in einer Zeit, als die Bevölkerung schon wieder anstieg. Die Studie von Becker verweist auf einen Aspekt, den Wilhelm Abel (1961) schon früh formuliert hatte, als er von einem Prozess der ›Verdorfung‹ sprach. Gemeint ist damit, dass viele Siedlungen im Hochmittelalter nur kleine Siedlungen waren, meist sogar nur Einzelhöfe oder Weiler. Erst mit den strukturellen Veränderungen im späten Mittelalter und der Aufgabe vieler kleiner bestehender Siedlungen setzte ein Verdichtungsprozess ein, in dessen Gefolge erst das heute vertraute Dorf mit einer komplexen Binnenstruktur entstand. Bergmann schreibt dazu: »Das engmaschige hochmittelalterliche Siedlungsnetz mit der Dominanz von Kleinstsiedlungen unterscheidet sich also grundlegend vom neuzeitlichen, erheblich weitständigeren Siedlungssystem mit deutlich größeren Einheiten. Die hochmittelalterliche Besiedlung hat den Raum für eine agrarische Nutzung relativ gleichmäßig erschlossen.« (Bergmann 2015: 524f.)
Würde man diese Argumentation mit aller Vorsicht übernehmen, dann würde die Untersuchung der im Mittelalter durch verschwundene Dörfer entstandenen ›Leerstellen‹ zu einem recht komplexen Ergebnis kommen. Die ab etwa 1300 verschwundenen Dörfern waren vermutlich erst wenige Jahrzehnte vorher entstanden und hatten damit zu einem allgemeinen Wandel der Kulturlandschaft beigetragen. Diese Dorfgründungen bedeuteten auch ein Verschwinden von Landschaft, die noch nicht oder nur gering vom Menschen geprägt war. Küster (2010: 223f.) spricht hier auch von einem Verschwinden der Wildnisse. Der nun eintretende Wüstungsvorgang durch das Verschwinden der Dörfer bedeutete demnach zumindest eine vorübergehende Rückkehr von Wald oder Heide, wurden doch auch viele der im Mittelalter verlassenen Flächen seit dem 16. Jahrhundert wieder besiedelt.
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Darüber hinaus zeigt unser mittelalterliches und frühneuzeitliches Beispiel, wie wenig linear die Entwicklungen verliefen. Einerseits waren Dorfgründungen eng verbunden mit einem Geschehen, das auch zur Städtegründung beitrug, andererseits sogen schon im Mittelalter die neuen Städte die benachbarten Dorfbewohner an. Das Dorf ist schon in dieser Zeit kaum ohne die Stadt denkbar, sie bildeten gleichsam eine Einheit. Zusammen mit dem durchaus vielschichtigen Phänomen der ›Agrarkrise‹ wird die Komplexität des Geschehens deutlich. Fand vielleicht in den Jahrhunderten zwischen 1300 und 1500 ein struktureller Umbau der ländlichen Siedlungslandschaft statt, der nicht mit einem einzelnen ›Krisenphänomen‹ verbunden werden kann?
S CHLUSSFOLGERUNG Leerstellen, besonders wenn es sich um mittelalterliche handelt, auszumachen, ist eine Herausforderung, die Geographen und Historiker gleichermaßen betrifft. Sie zu entdecken ist nicht einfach, sie einem spezifischen historischen Geschehen zuzuordnen, noch schwieriger, aber nicht unmöglich, wenn man sich von monokausalen Argumentationen abwendet. Die meisten bekannten vormodernen Wüstungen, die heute mitunter als Leerstellen wahrnehmbar sind, dürften die Folge bzw. der Ausdruck tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen gewesen sein. Ihnen lag aber nicht ein einheitlicher Prozess zugrunde, sondern ein komplexes Geschehen, in dem sogar gegensätzliche Siedlungsprozesse zur gleichen Zeit ablaufen konnten, wie etwa im Hochmittelalter, als sowohl alte Siedlungen verlassen wurden, weil ihre Bewohner in neugegründete Städte zogen, und zugleich neue Siedlungen an anderer Stelle entstanden. Es waren vermutlich aus der Sicht der Dorfbewohner sinnvolle Schritte. Die Aufgabe der Ortschaften geschah wohl meist freiwillig, weil die Bewohner der Orte woanders bessere Perspektiven für sich sahen. Allerdings können wir das nur vermuten. Leerstellen sind zugleich ambivalente Befunde. Dort, wo etwas verschwunden ist, ist auch meist etwas Anderes neu entstanden.
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L ITERATUR Abel, Wilhelm (1961): »Verdorfung und Gutsbildung in Deutschland zu Beginn der Neuzeit«, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 9, S. 39-48. Abel, Wilhelm (1967): Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Bd. 2, Stuttgart: Ulmer. Abel, Wilhelm (1976 [1943]): Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters. Ein Beitrag zur Siedlungs- und Agrargeschichte Deutschlands (= Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 1), 3., neubearb. Aufl., Stuttgart: Fischer. Becker, Günther (1977): »Das spätmittelalterliche Wüstungsgeschehen im Südsauerland«, in: Geographische Kommission für Westfalen (Hg.), Westfalen und Niederdeutschland. Festschrift 40 Jahre Geographische Kommission für Westfalen, Band 1: Beiträge zur speziellen Landesforschung, Münster, S. 249-266. Beresford, Maurice W. (1989) (Hg.): Deserted medieval villages. Studies [1971], Gloucester: Sutton. Beresford, Maurice W. (1998): The lost villages of England [1954] (= Sutton history handbooks), Stroud/Gloucestershire: Sutton. Bergmann, Rudolf (2015): Die Wüstungen des Hoch- und Ostsauerlandes: Studien zur Kulturlandschaftsentwicklung in Mittelalter und früher Neuzeit (= Bodenaltertümer Westfalens 53), Darmstadt: von Zabern. Born, Martin (1974): Die Entwicklung der deutschen Agrarlandschaft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Brakensiek, Stefan/Kießling, Rolf (2016): Grundzüge der Agrargeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg (1350-1650), Köln: Böhlau. Denecke, Dietrich (1994): »Wüstungsforschung als kulturlandschafts- und siedlungsgenetische Strukturforschung«, in: Siedlungsforschung 12, S. 9-34. Epperlein, Siegfried (1960): Bauernbedrückung und Bauernwiderstand im hohen Mittelalter. zur Erforschung der Ursachen bäuerlicher Abwanderung nach Osten im 12. und 13. Jahrhundert, vorwiegend nach den Urkunden geistlicher Grundherrschaften (= Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 6), Berlin: Akademie. Esch, Arnold (1985): »Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als Erkenntnisproblem des Historikers«, in: Historische Zeitschrift 240, S. 529-570. Gerking, Willy (1995): Die Wüstungen des Kreises Lippe. Eine historisch-archäologische und geographische Studie zum spätmittelalterlichen Wüstungsgeschehen in Lippe, Münster: Aschendorff. Henning, Friedrich-Wilhelm (1996): Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft. Bd. 1: 800 bis 1750. 3., erg. Aufl., Paderborn: Schöningh. Küster, Hansjörg (2010): Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart. 4., vollst. überarb. und aktualisierte Aufl., München: Beck.
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Leerhoff, Heiko (1985): Niedersachsen in alten Karten. Eine Auswahl von Karten des 16. bis 18. Jahrhunderts aus den niedersächsischen Staatsarchiven, Neumünster: Wachholtz. North, Michael (2007): Europa expandiert. 1250 – 1500. 8 Stammtafeln, 4 Tabellen. Stuttgart: Ulmer. Recker, Udo (2006): »Wüstungsbegriff und Wüstungsforschung im Kontext der interdisziplinären Kulturlandschaftsforschung: Mit einem Bericht über das Forschungsprojekt ›Multikausale Erklärungsmuster für mittelalterliche und frühneuzeitliche Be- und Entsiedlungsvorgänge im hessischen Mittelgebirgsraum‹«, in: Siedlungsforschung. Archäologie, Geschichte, Geographie 24, S. 163-194. Rückert, Peter (2014): »Wüstungen (Spätmittelalter)«, in: Historisches Lexikon Bayerns, www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Wüstungen (Spätmittelalter) (12.12.2017). Schubert, Ernst (1992): Einführung in die Grundprobleme der deutschen Geschichte im Spätmittelalter (= Grundprobleme der deutschen Geschichte), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Spieß, Karl-Heinz (1983): »Zur Landflucht im Mittelalter«, Hans Patze (Hg.), Die Grundherrschaft im späten Mittelalter, Bd. 1. Sigmaringen: Thorbecke, S. 157204. Troßbach, Werner/Zimmermann, Clemens (2006): Geschichte des Dorfes, Stuttgart: Ulmer. Vasold, Manfred (2008): Grippe, Pest und Cholera. Eine Geschichte der Seuchen in Europa, Stuttgart: Steiner. Weigl, Andreas (2012): Bevölkerungsgeschichte Europas. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, Wien: Böhlau.
Die Kartierung der Gemeinschaft Der ländliche Strukturwandel in Ortschroniken und Heimatbüchern der Bundesrepublik Deutschland D IRK T HOMASCHKE
Im Jahr 1901 hielt der sächsische Lehrer und Heimatforscher Friedrich Bernhard Störzner einen Vortrag vor der Diözesenversammlung in Radeberg. Sein Thema lautete: »Wie ist in den Gemeinden der Sinn für die Geschichte der Heimat zu wecken und zu pflegen?« (Störzner 1903) Für Störzner war diese Fragestellung von herausragender Bedeutung, hielten doch derzeit weltgeschichtliche Umwälzungen Einzug in die sächsischen Dörfer und drohten deren Eigentümlichkeit und Geschichte weitgehend zu verschütten. Prozesse der Beschleunigung, Globalisierung und Migration im Zuge der Zweiten Industrialisierung würden Leerstellen hinterlassen, wo einst reichhaltige Traditionen das Dorfleben bestimmten. Störzner schrieb über die Heimatgeschichte: »Vereine haben sich gebildet, ich erinnere an den ›Verein für Sächsische Volkskunde‹, welche die lobenswerte Aufgabe sich stellen, noch in letzter Stunde das zu sammeln, was an die alten Zeiten erinnert, was an Sitten und Gebräuchen, Sagen, Überlieferungen und geschichtlichen Erinnerungen in unserem biederen Volke noch fortlebt; denn in wenigen Jahrzehnten dürfte so manches, was an die Vergangenheit unseres Volkes und seine Heimat mehr oder weniger erinnert, ganz in Vergessenheit geraten sein. Unsere schnellebige Zeit, die Zeit des Dampfes und der Elektrizität, die Zeit des Weltverkehrs und der Freizügigkeit, der langsamen, aber sicheren Völkerverschiebung und modernen Völkerwanderung, sorgt in bester Weise dafür, daß vieles aus unserer Väter Tagen, darunter so manches Gute, Schöne, Edle und auch Wissenswerte, schließlich für immer verloren geht.« (Störzner 1903: 6)
Entsprechende Diagnosen stellten »Heimatschützer« seit dem späten 19. Jahrhundert überall im Deutschen Reich; und überall gründeten sie lokale und regionale Verbände
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zur Pflege von Natur, Brauchtum und Heimatgeschichte. Überregional rezipierte Publikationsorgane fanden Verbreitung und 1904 wurde der »Deutsche Bund Heimatschutz« ins Leben gerufen (vgl. Ditt 1989; Ditt 1990: 138; Knaut 1991: 37-42). Die »erste Heimatbewegung« war im Entstehen begriffen, und zwar zu einem Zeitpunkt als die Heimat ihre erste existenzielle Krise erfuhr. Die bürgerlichen Träger der Bewegung assoziierten »Heimat« mit »Dörflichkeit«, »Ländlichkeit« und »Bäuerlichkeit«; alles Bereiche, die durch den Einfluss der modernen Gesellschaft gefährdet waren (vgl. Cremer/Klein 1990: 33; Rollins 1996: 106). Vor allem ab den 1920er Jahren mündete die erste Heimatbewegung in die massenhafte Produktion von »Ortschroniken«, »Dorf«- und »Heimatbüchern«. Diese in aller Regel von Dorfgeistlichen und -lehrern geschriebenen Bücher befassten sich – thematisch kaum begrenzt – mit der Geschichte und Gegenwart einzelner, kleinerer und kleinster Ortschaften.1 In der Zeit des Nationalsozialismus erfuhren Ortschroniken eine abermals gesteigerte öffentliche Aufwertung und Beliebtheit, bis ihre Konjunktur in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg drastisch einbrach.2 Stets ging es darum, dem vermeintlichen Verschwinden dörflicher Lebenswelten entgegenzuwirken und den angeblich ständig wachsenden Lücken im lokalen Gedächtnis durch Dokumentation zu begegnen. In den 1970er und 1980er Jahren konstatierten Volkskundler und Historiker die überraschende Renaissance des Interesses an Heimat in diversen Forschungs- und Praxisfeldern. Das Bewusstsein einer »neuen Heimatbewegung« kam auf (vgl. Hauptmeyer 1987: 81; Moosmann: 1980; Dülmen/Schindler 1984). Trotz aller Differenzen zur ersten Hälfte des Jahrhunderts zeigte sich eine auffällige Wiederholung des Grundmusters: Hermann Bausinger, Volkskundler und einer der zentralen Wortführer der neuen Heimatbewegung, hob selbst hervor, wie die Vertreter beider Bewegungen im Bewusstsein einer faktischen gesellschaftlichen Bedrohung von Heimat handelten (Bausinger 1980: 18). Zwar grenzten sich die Heimatforscher der 1970er und 1980er Jahre vehement von ihren ›reaktionären, romantisierenden, nationalistischen‹ Kollegen aus der ersten Jahrhunderthälfte ab, plädierten für eine ›kritische, emanzipatorische und demokratische‹ Wiederaneignung des Begriffs und weiteten diesen auch auf städtische Lebenswelten aus (vgl. Cremer/Klein 1990: 36; Kinter/Kock/Thiele 1985: 19; Korff 1973). Doch war es abermals vor allem die dörfliche Heimat, die in Auflösung begriffen zu sein schien. Mit neuem Vokabular war vom ›Strukturwandel ländlicher Lebenswelten‹ die Rede, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer deutlichere Züge angenommen hatte. Vielerorts mussten
1
Dabei wurden die Begriffe in der Praxis schon damals weitgehend synonym verwendet. Vgl. zur Begriffsgeschichte Thomaschke (2016: 13-23).
2
Vgl. zur Konjunktur von Heimatbüchern im 20. Jahrhundert Beer (2010), Faehndrich (2010).
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Landwirte kleinere Güter aufgeben, die nicht mehr rentabel waren; landwirtschaftliche Großbetriebe breiteten sich aus. Zugleich erfuhr die Maschinisierung der Landwirtschaft einen erheblichen Schub; weitere Arbeitsplätze gingen verloren und die Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte stieg weiter an. Zu Beginn der 1970er Jahre schlugen sich diese längerfristigen Prozesse in einer bundesweiten Welle von Eingemeindungen nieder, durch die zahllose Dörfer ihre Identität gefährdet sahen (vgl. Merkl 2012). Parallel dazu hatte die neue soziale Gruppe der Berufspendler Einzug in viele Gemeinden gehalten, wodurch sich Dörfer zunehmend in ›reine Wohngemeinden‹ zu verwandeln drohten. Auch in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht erschienen die assimilierenden Ausgriffe der Städte auf das Land den Zeitgenossen immer bedrohlicher (vgl. Elfner 1990: 362; Lecke 1983: 32-34; Moosmann 1980: 8). Dennoch waren sich die Akademiker und Publizisten der neuen Heimatbewegung einig: Eine Rückkehr in die »dörfliche Idylle« war unmöglich (Elfner 1990: 366). Auch wenn kaum Einigkeit darüber bestand, wie sie beschaffen sein sollten, forderten die Heimatforscher neue Formen der (Wieder-)Aneignung von Heimat. Die Produktion von Heimat war zu einem aktiven Prozess mit offenem Ergebnis geworden. Wissenschaftler kritisierten die eskapistische, nostalgische Rückschau auf eine unwiederbringlich verlorene ›gute, alte Zeit‹ und das Festhalten an überkommenen Heimatbegriffen (vgl. z.B. Ullrich 1984a; Ullrich 1985). Diese Kritik richtete sich vor allem auf Ortschroniken und Heimatbücher. Parallel zum neuen wissenschaftlichen Interesse an Heimat verzeichneten solche lokalgeschichtlichen Monografien seit den 1970er Jahren einen regelrechten Boom (vgl. Faehndrich 2010; Thomaschke 2016: 13-20). Im Unterschied zur ersten Jahrhunderthälfte war die Urheberschaft von Ortschroniken nun allerdings weitgehend in die Hände geschichtswissenschaftlicher Laien ohne akademische Vorbildung übergegangen. An die Seite der ehemaligen Dorfgeistlichen und -lehrer traten immer mehr Einzelautoren und Arbeitsgruppen, die sich beispielsweise aus Landwirten, Hausfrauen oder Vertretern handwerklicher und technischer Berufe zusammensetzten (vgl. Irsigler 2011: 16; Karbach 1983: 160; Thomaschke 2016: 24-35; Voss 2001: 186). Im Unterschied zur kritischen Heimat-, Alltags- oder Regionalgeschichte hielten diese Autoren an bloßen »Ideotopen« ihrer Heimatorte fest, wie die Wissenschaftler des renommierten Ludwig-Uhland-Instituts am Beispiel des südwestdeutschen Orts Hausen demonstrierten. In Wahrheit wirke die sich grundlegend transformierende Lebenswelt der Bewohner in ganz anderer Weise auf diese ein, als ihr beschauliches, beschönigendes Selbstverständnis dies behaupte (vgl. Jeggle 1979: 107-108). Ebenso wie sich die bundesweite Produktion von Laien-Ortschroniken bis heute anhaltender Beliebtheit erfreut, so zieht sich das Grundmuster der Kritik an ihnen im Wesentlichen unverändert durch das akademische Schrifttum der letzten Jahrzehnte (vgl. z.B. Kluge 2000: 2; Kukatzki 2009; Lehmann 1986; Ommler 2009; Ullrich 1984b: 69). Das heißt, sofern Ortschroniken und Heimatbücher überhaupt in den
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Blick der wissenschaftlichen Forschung geraten; denn als eigenständiges Massenphänomen der Geschichtsschreibung sind sie erst vor Kurzem überhaupt wahrgenommen worden (vgl. Beer 2010; Faehndrich 2011; Langthaler 2018; Thomaschke 2009; Thomaschke 2016). Zuvor tauchten Ortschroniken einzig im asymmetrischen Vergleich zur wissenschaftlichen Lokalgeschichte auf, also im Rahmen der Auflistung ihrer handwerklichen Defizite, ihrer geschichtsklitternden Verzerrungen oder ihrem Ausdruck »offizieller«, »politischer« Interessen der Gemeinde.3 Im vorliegenden Beitrag geht es hingegen eingangs darum, Ortschroniken und Heimatbücher – in aller Kürze – als Genre zu beschreiben, das sich nicht nur durch seinen Entstehungskontext deutlich von der Geschichtswissenschaft unterscheidet, sondern auch ganz eigene, sich überregional erstaunlich gleichende Umgangsformen mit Geschichte aufweist. Nur auf diesem Weg lässt sich (im Anschluss) ermessen, wie laiengeschichtliche Autoren in Deutschland mit dem allmählichen ›Verschwinden‹ ihrer Dörfer im Strukturwandel umgehen – jenseits der wissenschaftlichen Defizite ihrer Veröffentlichungen.
O RTSCHRONIKEN UND HISTORIOGRAFISCHES
H EIMATBÜCHER G ENRE
ALS
Der Entstehungskontext Nehmen wir also in einem ersten Schritt in den Blick, welchen Leitprinzipien die Erstellung von Ortschroniken folgt.4 Zunächst ist festzuhalten, dass die Mehrheit der Chronikautoren wissenschaftlichen Lokalhistorikern in puncto Sorgfalt der Quellenrecherche sowie Gewissenhaftigkeit im Umgang mit historischen Fakten nicht nachsteht. Wie wir unten sehen werden, sind es die Wahrnehmungs- bzw. Darstellungsmuster dieser ›Fakten‹, die sich teilweise stark unterscheiden. Chroniken verstehen sich keineswegs als (halb-)fiktive ›Geschichtensammlungen‹, sondern als umfassende und nachprüfbare Dokumentationen der Ortsgeschichte. Allerdings zeichnen sie sich durch ein gänzlich anderes Nahverhältnis zu dieser Geschichte aus als akademische Historiker. Für letztere zählt das Ideal der Distanz gegenüber ihren Quellen und gegenüber ihrem Gegenstand; erst diese Distanz ermöglicht es Geschichtswissenschaftlern, ihre eigentlichen Ziele zu erreichen: das kritische Urteil und die Einordnung des besonderen Falls in allgemeine gesellschaftliche Zusammenhänge. Für Chronikautoren zählt im Gegenteil die existenzielle Nähe und Verwobenheit mit
3 4
Die Formulierung entstammt Kukatzki (2001: 4). Vgl. für die konzeptionellen Grundlagen und die empirische Unterfütterung der folgenden Überlegungen Thomaschke (2016: 13-49).
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ihrem Gegenstand. Das Autorenideal, dem die Ortschronistik anhängt und das in den Vor- und Grußworten von Chroniken deutlich sichtbar ist, sieht das in der Regel lebenslange Miterleben und Mitgestalten der Dorfgeschichte durch die Autoren vor – beispielsweise in Ehrenämtern oder Vereinen (vgl. Bertrang 1990: 46-47). Es ist gerade die vorgebliche Unmöglichkeit der Distanzierung, die zum Chronikautor qualifiziert, die imaginierte Verbindung von Autoren und Lesern in derselben vertrauten Lebenswelt. Im Vorwort der Chronik des nordfriesischen Bramstedtlund heißt es beispielsweise über den Verfasser: »Die Ergebnisse seiner Heimatforschung […] können mit vorliegender Schrift nun wenigstens auszugsweise denjenigen übergeben werden, für welche er dies alles vornehmlich gesammelt und erarbeitet hat: den Mitmenschen im Dorf und aus dem Dorf, also denjenigen, die der Gemeinde Bramstedtlund durch Geburt, Wohnung oder Arbeitsplatz verbunden sind.« (Davidsen 1981: Vorwort ohne Paginierung)
Diese Autorenposition schlägt sich nicht zuletzt in der, gegenüber wissenschaftlichen Studien, anderen Rezeptionserwartung von Chroniken nieder. Während es bei ersteren um die Kritik der Argumente und die Situierung in der Forschungslandschaft geht, steht bei Chroniken die Würdigung der ›Lebensleistung‹ des Heimatforschers im Mittelpunkt. Eng mit dem Autoren-Leser-Verhältnis von Ortschroniken verknüpft ist das zweite zentrale Prinzip der Chronikerstellung: ihr Selbstverständnis als Gemeinschaftsprojekt. Nicht selten gehen Chroniken auf private, sich über mehrere Generationen »vererbende« Quellensammlungen zurück; doch spätestens mit dem Beginn eines Verschriftlichungsvorhabens geht das Projekt in die ›Dorföffentlichkeit‹ über. Eine möglichst große Zahl der Einwohner wird aufgefordert, eigene Dokumente, Fotografien, Erzählungen und Erinnerungen beizusteuern. Die Gemeindeverwaltung engagiert sich in der Herausgabe und Finanzierung des Buches und lokale Unternehmen tragen mit Spenden zur Publikation bei (ohne dass dies als Vereinnahmung durch politische oder wirtschaftliche Interessen aufgefasst werden würde). Dem Ideal nach stattet sich in einem Heimatbuch eine ganze Dorfgemeinschaft selbst mit ihrer Geschichte aus. Die federführenden Autoren oder Herausgeber sehen sich selbst dementsprechend – ganz im Gegensatz zu Wissenschaftler/innen – als Erfüllungsgehilfen eines gemeinschaftlichen Interesses an und nicht als Schriftsteller, die eine stilistisch und perspektivisch individuelle Version der Ortsgeschichte vorlegen, denen sich alternative, widersprechende Versionen hinzufügen ließen.
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Die Dorf-Umwelt-Differenz Diese Leitmotive der Entstehung von Ortschroniken stehen in wechselseitiger Beziehung zu ihrem Inhalt: Das Motiv des engen sozialen Zusammenhangs von Autoren und Lesern spiegelt sich in einer entsprechend scharfen Trennung von ›Dorf- und Umweltgeschichte‹ wider. Diese Differenz bestimmt die Darstellung von Geschichte in Heimatbüchern überall in Deutschland; sie ist eine der zwei wichtigsten – genrebildenden – historiografischen Perspektiven, die Chroniken von anderen Arten der Geschichtsschreibung unterscheiden. Dabei leitet sie die Wahrnehmung, Auswahl und Wiedergabe des Quellenmaterials meist auf einer impliziten, nicht-intentionalen Ebene; dennoch ist die Trennung von Dorf und Umwelt bei nahezu allen historischen Epochen und Themen präsent.5 Auf der ersten Seite dieser Unterscheidung treffen wir auf die Sphäre des Dorfes – geografisch eng begrenzt und deutlich abgetrennt von der eher diffusen Sphäre von Gesellschaft und Nation. Dieser vorgeblich zeitlich stabile Behälterraum umfasst das wesentliche Element der Dorfgeschichte: die Dorfgemeinschaft. Für diese Seite – und allein für diese Seite – der Unterscheidung erklären sich die Ortschronisten für zuständig. Dabei gibt es im Prinzip nichts, was zu gewöhnlich, zu irrelevant – zu klein sozusagen – ist, um in die Chronik aufgenommen zu werden. Es geht jedoch vor allem um eher existenzielle Fragen: des alltäglichen Lebensstandards, eines ungestörten landwirtschaftlichen Betriebs oder Familie und Gemeinschaft. Die andere Seite – die ›Umwelt‹-Seite der Differenz – ist der Ort der Gesellschaft, der Politik, der Ideologie, der überregionalen und nationalen Geschichte. Diese Umwelt ist der Dorfgeschichte gegenüber äußerlich, eher schicksalhaft, in jedem Fall sehr wechsel- und sprunghaft. Aus der Chroniksicht ist für alles, was in die Umwelt des Dorfes fällt, eine nicht weiter spezifizierte ›Forschung‹ zuständig. Wir kommen auf diese Differenz zurück, wenn wir uns der Verarbeitung des Strukturwandels in Chroniken zuwenden. Ein Zwischenfazit sei bereits hier gezogen: Weder die kriegerischen Auseinandersetzungen vergangener Jahrhunderte, weder die Weltkriege des 20. Jahrhunderts, weder die politischen Systemwechsel noch der vergleichsweise allmähliche Strukturwandel stellen dieses historiografische Modell in Chroniken grundsätzlich in Frage. Die vermeintliche Kontinuität einer überzeitlichen Dorfgemeinschaftsgeschichte bildet eine bis dato unhinterfragte Grundvoraussetzung bundesrepublikanischer Ortschroniken.6
5
Vgl. für eine umfassende Analyse Thomaschke (2016: 97-181).
6
Vgl. zur empirischen Unterfütterung dieser These Thomaschke (2016). Die grundsätzliche Trennung von Dorf- und Umweltgeschichte schließt nicht aus, dass Chroniken über ein breites Register von Strategien verfügen, die Interaktionen und Überlagerungen beider Ebenen zu beschreiben. Allerdings fällt die Verknüpfung der Ebenen in aller Regel
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Die Dorfgemeinschaft Kommen wir zur zweiten der beiden zentralen historiografischen Perspektiven: dem Schreiben von Geschichte im Modus der Gemeinschaft. Heimatbücher sind durchdrungen von Gemeinschafts-Topoi. Das Muster eines ›historischen Behälterraums‹ der Dorfgeschichte bedingt sich hierbei wechselseitig mit der Annahme einer überzeitlichen, relativ geschlossenen Gemeinschaft, die dieser Raum enthält bzw. die diesen Raum zusammenhält. Dabei kommt der Dorfgemeinschaft ein ambivalenter Stellenwert zu. Zum einen finden die Chronisten sie als historisches Faktum in der Geschichte vor; zum anderen ist die vergangene Gemeinschaft jedoch auch Vorbild für die Gegenwart. In der Chronik von Spiesen im Saarland heißt es paradigmatisch: »Die Gemeinde erlebt nicht zum ersten Mal schwierige Zeiten. Spiesen hat die totale Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg überstanden, es ist durch die Zeit der Französischen Revolution und der folgenden ersten Franzosenzeit gegangen. Was geschehen mußte, geschah in gemeinsamer Anstrengung. Genauso werden wir uns den Herausforderungen der heutigen Zeit gemeinsam stellen.« (Redaktionskreis Heimatbuch Spiesen-Elversberg 1995: Geleitwort ohne Paginierung)
Und zu diesen Herausforderungen zählt in den meisten Chroniken aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere ab den 1970er Jahren, der Strukturwandel – vorrangig in Form der drohenden Auflösung des überzeitlichen Gemeinschaftslebens. Werfen wird dazu einen Blick in eine weitere saarländische Chronik aus Harlingen. In dem Kapitel »Harlingen, wie es früher einmal war« zeichnet der Autor das Bild einer Epoche der ›funktionierenden Dorfgemeinschaft‹ (Welsch 2010: 159166). Er wählt dafür, gewissermaßen exemplarisch für die gesamte Geschichte, die 1930er bis 1960er Jahre aus. Zu dieser Zeit sei das Dorfleben durch eine quasi-natürliche Arbeitsteilung gekennzeichnet gewesen; durch eine klare Gliederung, die auf dem harmonischen Ineinandergreifen der Gemeinschaftsmitglieder basierte und weniger auf sozialen Statusunterschieden; durch die Leistungs- und Aufopferungsbereitschaft; sowie durch eine hohe Kommunikationsintensität zwischen allen Dorfbewohnern. Der Autor resümiert: »Das dörfliche Gemeinschaftsleben war seinerzeit sehr intensiv und von starkem Zusammenhalt geprägt. Nachbarschaftshilfe, wo sie erforderlich wurde, war eine Selbstverständlichkeit. Jeder kennt jeden, man stand füreinander ein. Dem Schicksal der Mitbürger wurde Teilnahme, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft entgegen gebracht.« (Ebd.: 163)
asymmetrisch aus: als einseitiger ›Druck von außen nach innen‹; vgl. dazu auch Thomaschke (2009).
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Dieses Grundgerüst eines idealtypischen Dorflebens ist repräsentativ für zahllose Ortschroniken überall in Deutschland. Doch folgt man der Harlinger Chronik weiter, drohe dieses Dorfleben ab den 1960er Jahren nach und nach auseinanderzufallen. Im Rahmen der Umwandlung vom einst ›idyllischen Bauerndorf‹ zum ›reinen Wohndorf‹ sei vor allem die kommunikative Integrität der Gemeinschaft erodiert und das soziale Verhalten der Dorfbewohner habe sich geändert: »Durch die einsetzende Technisierung und Motorisierung in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts änderte sich auch das soziale Verhalten der Dorfbewohner. Das Fernsehen hielt Einzug in die Wohnstuben. Das Auto wurde zum Statussymbol und erschloss grenzenlose Freiheiten. Die von alters her gepflegte Konversation der Dorfbewohner auf der Straße, auf dem Kirchweg, im Gasthaus oder am Dorfbrunnen ist selten geworden. Stattdessen flüchtige Begegnungen im vorbeifahrenden Automobil. « (Ebd.: 193-194)
In dieser Auflistung konkreter Befunde, die auf die allgemeine Diagnose – Bedrohung des überkommenen Gemeinschaftslebens – verweisen, verfährt die Harlinger Chronik zwar nicht untypisch. Doch fällt die genaue Erläuterung – oft sogar die Benennung – des ländlichen Strukturwandels in den meisten Chroniken sehr unscharf und knapp aus. Gleiches gilt für die (eher seltenen) Verallgemeinerungen übergreifender, gesellschaftlicher Prozesse, wie zum Beispiel »Technisierung und Motorisierung« im gerade zitierten Fall. Im weiteren Text rekurriert der Harlinger Chronist auf weitere Phänomene wie den Bedeutungsverlust der Landwirtschaft und die Auflösung der »bäuerlichen Siedlungsstruktur« (ebd.: 6). Andere Chroniken heben die Eingemeindung ihrer Dörfer, den Verlust der »Selbstständigkeit« und den Rückbau der Infrastruktur hervor (Cölln 2004: 215; Eckhardt 1980: 34; Sedlmeier 2011: 8); oder sprechen von einer diffusen Zunahme der »Schnellebigkeit« (Overkott 1956: 7) oder des »Individualismus« (Arbeitsgemeinschaft Dorfbuch 2012: 425). In diesem Zusammenhängen zeigt sich jedoch nicht allein eine gewisse ›begriffliche Unbedarftheit‹ bzw. fehlende Systematik der Lokalforscher im Umgang mit dem Strukturwandel. Es zeigt sich vor allem die implizite Delegation des Themas an die ›allgemeingeschichtliche Forschung‹. Bei dem Strukturwandel ländlicher Gesellschaften handelt es sich um einen Themenkomplex, den die Chronikautoren im Grunde aus ihrem Zuständigkeitsbereich auslagern; in den Chroniken findet sich stattdessen die ›Innenperspektive‹: die Auswirkungen auf das Gemeinschaftsleben. Der Strukturwandel erscheint als eine Belastungsprobe der Dorfgemeinschaft, deren Quellen ›im Außen‹ der Dorfgeschichte liegen. Die Harlinger Chronik zeichnet einen starken Kontrast zwischen einer vergangenen Gemeinschafts-Idylle und ihrer gegenwärtigen Auflösung. Es gibt auch andere Beispiele, die zwar eine vergleichbare Krisensituation skizzieren, jedoch zugleich ihre erfolgreiche Überwindung in der Gegenwart oder jüngsten Vergangenheit beschreiben. Die Orte seien weniger zu ›reinen Wohndörfern‹ als vielmehr zu
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›wohnlichen Gemeinden‹ geworden. Die Oberfläche habe sich geändert; doch das grundlegende Prinzip des Dorflebens, die Gemeinschaft, habe auch diesmal überdauert. Blicken wir dazu in das Kapitel »Hommage an die Dorfgemeinschaft Ottersberg«, das eine Ottersbergerin für die Chronik von Pliening bei München aus dem Jahr 2013 verfasst hat (Kneißl et al. 2013: 145-152). Die Autorin schildert eine harmonische, selbstzufriedene Dorfgemeinschaft, die die Geschichte des Ortes allzeit geprägt habe. Die Hauptzüge dieser Gemeinschaft ähneln denen, die die Harlinger Dorfgemeinschaft auszeichneten: Die Autorin nennt die ausgeprägte Heimatverbundenheit, das intakte Kommunikationsnetz, die starke nachbarschaftliche Hilfsbereitschaft, das aktive Kultur- und Vereinsleben und die selbstlose Bereitschaft, Ordnung und Ansehnlichkeit des Dorfes zu erhalten. Dabei erfährt die vermeintlich überdauernde Gemeinschaftsgeschichte eine zusätzliche Naturalisierung, indem die Autorin sie auf die geographische Abgeschiedenheit des Orts zurückführt: Die Dorfgemeinschaft lebe »weitgehend in der Natur, für die Natur und vor allem mit der Natur« (ebd.: 146). Ihre historischen Ursprünge vermutet die Chronik dementsprechend bereits in der Frühgeschichte des Ortes seit der ersten Besiedlung. Seitdem habe sie bis in die Gegenwart hinein zahlreiche Belastungen überstanden, ohne sich hierbei grundsätzlich zu verändern. In der jüngeren Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg habe zuerst die Aufnahme zahlreicher Flüchtlinge eine große Herausforderung dargestellt, die jedoch mit der Zeit nahezu reibungslos in die Gemeinschaft integriert worden seien. Die nächste Herausforderung konkretisierte sich für die Autorin in der Gebietsreform der frühen 1970er Jahre. Sie schreibt: »Hans Loebner, dem klugen und weit vorausschauenden Bürgermeister mit seinen damaligen Ratsherren ist es zu verdanken, dass unser Dörfchen ein Teil der Gemeinde Pliening und damit klein, überschaubar, gemütlich – eben dörflich – geblieben ist.« (Ebd.) Die Ottersberger Dorfgemeinschaft ging aus dieser Episode sogar gestärkt hervor: »Der Zusammenhalt der Ottersberger wurde durch diese Krise erneut gefestigt.« (Ebd.) In die Schilderung der folgenden Jahre finden einige typische Elemente des Strukturwandels Eingang. Die Autorin klagt wiederholt über die fehlende eigene Infrastruktur (Kirche, Schule, Feuerwehr etc.), die den Erhalt des Gemeinschaftslebens nicht leichter gemacht habe. Zudem hatte das einstige Dorfzentrum einen schleichenden Funktionsverlust erlebt, der zum Ende der 1970er Jahre immer deutlicher sichtbar geworden war. Doch habe sich die Gemeinde diesen Problemen unter der Führung des lokalen Heimatforschers Hans Forchhammer engagiert angenommen: »Spricht man von der neuen Dorfgemeinschaft, darf der verdiente Name Hans Forchhammer nicht fehlen. Ihm haben wir es zu verdanken, dass dieser Begriff in unseren Tagen einen neuen Inhalt bekommen hat. In der Zeit, bevor unser Dorf im Jahre 1980 den 1000. Geburtstag feiern konnte, hat er die Ottersberger aufgerüttelt, sie motiviert und sie von seinen Vorstellungen für
76 | D IRK THOMASCHKE ein Dorf wie unseres aussehen sollte [sic], überzeugt. So wurde in eifriger Zusammenarbeit der Dorfplatz erneuert.« (Ebd.: 149)
Die Ottersberger Gemeinschaft habe auch diese Krise letztlich »wieder einmal vorbildlich« (ebd.) überstanden. Das gesamte Kapitel behält diesen ebenso optimistischen wie emphatischen Gestus bei. Trotz aller strukturellen Veränderungen bleibt hier am Fortbestand der Dorfgemeinschaft kein Zweifel offen. In jedem Fall – ob nun ein Szenario drohenden Niedergangs oder eine Erfolgsgeschichte geschrieben wird – bieten Ortschroniken keine neuartigen Alternativen an. Sie gehen von der grundsätzlichen Kontinuität des geografisch und historisch abtrennbaren Behälterraums der Dorfgemeinschaft aus – unterhalb aller oberflächlichen Verschiebungen. Während die neue akademische Heimatbewegung vom unaufhaltbaren Zerfall überkommener Sozialstrukturen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausging und stattdessen nach neuen Formen des Zusammenlebens und der dörflichen Identitätsbildung suchte, erhoben Dorfchroniken überall in Deutschland die historische Dorfgemeinschaft zum unveränderten Vorbild der ›Überwindung‹ gegenwärtiger Probleme, sprich: des Strukturwandels.7 Dieses grundlegende Ziel prägt Ortschroniken bis heute; dabei setzten und setzen Chroniken eine Reihe spezifischer Darstellungsmuster von Geschichte ein, von denen ich in der Folge zwei der wichtigsten vorstellen werde, und zwar zum einen die Erstellung von Häuserchroniken zur Erhaltung bzw. Steigerung der ›sozialen Transparenz‹ und zum anderen das ›Schreiben von Geschichte in den Ort‹ mittels historischer Rundgänge.
G ESCHICHTE INS D ORF S CHREIBEN – T YPISCHE D ARSTELLUNGSMUSTER VON GESCHICHTE IN O RTSCHRONIKEN UND HEIMATBÜCHERN Häuserchroniken Häuserchroniken bilden das Herzstück zahlloser Chroniken aus allen Jahrzehnten und Gegenden der Bundesrepublik. Gelegentlich erscheinen sie auch als eigenständige Bücher ohne weitere Inhalte. Dabei handelt es sich um – dem Anspruch nach – vollständige Listen aller Gebäude (Höfe, Häuser, öffentliche Einrichtungen) des Ortes. Die einzelnen ›Häuserporträts‹ fallen von Chronik zu Chronik unterschiedlich umfangreich aus; sie enthalten vor allem historisch möglichst weit zurückreichende und vollständige Aufzählungen aller Bewohner, ihrer Verwandtschaftsverhältnisse
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Vgl. als weitere Beispiele aus verschiedenen Regionen: Stoffert/Sperlich (2009: 418); Ortsgemeinde Hasselbach (2012: 8-9); Kleineberg (2006: 114-130).
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und Berufe. Dazu kommen eine oder mehrere Fotografien und Abbildungen (zum Beispiel Grundrisse); auch fügen viele Chronikautoren, wenn vorhanden, Auszüge aus Archivalien oder Anekdoten hinzu, die das jeweilige Gebäude betreffen (vgl. zum Beispiel: Domeier et al. 1994: 169-422; Kerkmann/Dobbertin 1964: 61-218; Glindmeier 2002; Sielverband Cecilienkoog 2005: 59-102). Im Idealfall gelingt es der Chronik, alle erhältlichen Informationen zu allen Gebäuden des Ortes und ihrer Bewohner zusammenzutragen; Grenzen setzen hier nicht die inhaltliche Relevanz oder eine einschränkende Leitfrage, sondern bloß die Kapazitäten der Autoren, die zur Verfügung stehenden Finanzmittel oder Zeitbeschränkungen bei der Recherche und Erstellung des Buches. Die Informationsdichte von Häuserchroniken – bei gleichzeitig fehlender Gewichtung dieser Informationen – sprechen im Grunde nur den engen Kreis der Ortsbewohner selbst an. Sie sind es, die sich selbst, ihre Familien, ihre Mitbürger und ihre alltägliche Lebenswelt darin wiederentdecken können. Erscheinen solche Abschnitte für Außenstehende eher wie ein willkürliches Sammelsurium, kommt ihnen in Ortschroniken, so meine These, doch eine besondere Bedeutung zu: Häuserchroniken sind eines der zentralen Instrumente, die räumlichsoziale Transparenz – oder auch: Lesbarkeit – sich wandelnder ländlicher Lebenswelten wiederherzustellen. Die lexikalische Vollständigkeit bzw. Abgeschlossenheit der Häuserchronik konstruiert das Dorf als einen geschlossenen sozialen Kosmos. Chroniken streben danach, diesen Kosmos zugleich als historisch gewachsen erscheinen zu lassen und ihn überschaubar zu halten. Sind Häuserchroniken zusätzlich mit Fotografien und Lageplänen der Häuser ausgestattet, suggerieren sie geradezu eine Handgreiflichkeit und Sichtbarkeit der sozialen Strukturen des Orts – ein Effekt, dem besondere Bedeutung in einer Zeit zukommt, in der die unmittelbare Erfahrbarkeit der Dorfgemeinschaft nicht mehr gegeben ist. In genau diesem Sinn heißt es in der Chronik von Klarenthal im Saarland gleichsam feststellend wie mahnend: »Damit sie jedoch ihre Mission, Heimat und Nährboden für ihre Mitglieder zu sein, erfüllen kann, muß die Dorfgemeinschaft übersichtlich, erfaßbar und durchschaubar bleiben.« (Schönberger/Marx 1962: 77)8 Direkt daran anschließen lässt sich eine Passage aus dem Heimatbuch von Warpe in Niedersachsen, die die für Chroniken beispielhafte Verknüpfung von räumlicher und sozialer Überschaubarkeit formuliert. Das Zitat assoziiert die räumlich-soziale Erfassbarkeit des Gemeinschaftslebens darüber hinaus mit der Erneuerung des (schwindenden) historischen Wissens. Im Vorwort heißt es:
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Nahezu wortgleiche Aussagen finden sich in zahlreichen Chroniken, vgl. zum Beispiel: Arbeitskreis Dorfchronik Westerloy (1994: 5).
78 | D IRK THOMASCHKE »Die Pflege alten Brauchtums, des Gemeinsinns und der heimischen Mundart und Kultur ist in den letzten Jahren mehr und mehr zu einem besonderen Anliegen der Einwohner geworden. Gewachsenes Dorfleben und alte Dorfkultur sind vielerorts verlorengegangen oder drohen verloren zu gehen. Dies gilt nicht allein für das Dorfleben, sondern auch für das Dorfbild, die dörfliche Bausubstanz und die Landschaft.« (Gemeinde Warpe 1992: 5)
Betrachten wir ein anschauliches Beispiel einer Häuserchronik aus dem Heimatbuch von Asweiler im Saarland. Die Chronik verbindet eine Gebäude- und Einwohnerübersicht mit einer Würdigung besonderer Gemeinschaftsleistungen ausgewählter Dorfbewohner (Müller 2011: 23-29). Dadurch entfaltet sich vor dem Leser eine soziale Karte seiner Lebenswelt, die diese einerseits mit historischer Tiefe versorgt und sie andererseits normativ auflädt. Neben Angaben zum Baujahr, zu Erweiterungen und Umbauten sowie Farbfotografien aller Gebäude nennt die Asweiler Chronik die Besitzer inklusive Lebens- und Ehestandsdaten und fügt nach Möglichkeit ausformulierte Familiengeschichten hinzu. In diesen Beschreibungen geht es um den (beruflichen) Status in der Dorfgemeinschaft sowie spezifische Beiträge zu dieser – auf gegenseitiger Hilfsbereitschaft beruhenden – Gemeinschaft. Zu einem der Häuser schreibt die Autorin beispielsweise: »Dieses Haus wurde 1905 von den Eheleuten Julius und Karoline Weber eigenhändig erbaut. Das Ehepaar bekam 8 Kinder und lebte von einer kleinen Landwirtschaft und vom Maurerhandwerk, das Julius erlernt hatte. In Asweiler und den umliegenden Orten ist Julius bekannt und stets behilflich beim Häuserbau. Auch bei seinen Söhnen Julius und Rudolf, die später neben dem Elternhaus eigene Häuser bauten, konnte der Vater mit dem Maurerberuf gute Dienste leisten. Das eigene Haus, anfangs einstöckig gebaut, wurde später, als die Familie größer wurde und mehr Wohnraum brauchte, um ein Stockwerk erhöht. Doch der Unterbau war nicht stabil genug und das obere Stockwerk musste wieder abgetragen werden. Dieses Haus bot 3 Generationen Obdach und Heimat. Die 4. Generation, Christoph und Christine Decker, hat dieses Haus geerbt, hat es jetzt vermietet und hat sich am Birkenweg ein neues Haus gebaut. Julius Weber entstammt der Familie Weber am Hellenberg. Dies war ebenfalls eine kinderreiche Familie, mit außergewöhnlichen handwerklichen Fähigkeiten.« (Ebd.: 23)
Diese Passage verbindet mehrere typische Elemente miteinander: Sie liefert, erstens, eine möglichst umfassende Übersicht über die Familienbiografie der Besitzer, in der kein Detail zu abseitig erscheint. Darüber hinaus können die Leser, zweitens, die Entstehung und den Wandel des Gebäudes bzw. seines äußeren Erscheinungsbildes nachvollziehen und, drittens, Hinweise auf besondere Beiträge der Bewohner für die Gemeinschaft finden (»stets behilflich beim Häuserbau«, »außergewöhnliche handwerkliche Fähigkeiten«). Betrachten wir ein weiteres Beispiel aus der Asweiler Häuserchronik, und zwar das Haus des ehemaligen Dorflehrers Jakob Richert: »In der Zeit um 1900 gab er
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Unterricht in der Schule Asweiler und so kam es, dass er sich am damaligen Kühlweg ein Haus baute. Es wurde ein großes stattliches Bauernhaus mit Stall und Scheune, alles unter einer Dachführung: ein ›Südwestdeutsches Bauernhaus‹.« (Ebd.: 28-29) Soweit die räumliche Verortung (das Haus steht noch heute); es folgt die soziale Verortung in der Dorfgemeinschaft: »Der Lehrer Jakob Richert wäre [sic] ein strenger, gewissenhafter Lehrer gewesen, den nicht alle Kinder gern hatten. Was aber Bildung und Erziehung der Kinder bedeutete, so hat er im Dorf viel Gutes geleistet.« (Ebd.: 29) Auch habe er Kredite an die Dorfbevölkerung vergeben, was ihm »Ansehen seiner Person« (ebd.) eingebracht habe. Über die Nachfahren und heutigen Bewohner des Hauses heißt es im Anschluss: »Sie sind die heutigen, stolzen Besitzer, die mit viel Liebe und Eigenleistung dieses Erbe in seinem Charakter erhalten.« (Ebd.) Diese Aussage verdeutlicht, wie die historische Tiefe, mit der eine ansässige Familie ausgestattet wird, nicht nur eine Würdigung bedeutet, sondern auch verpflichtet (»das Erbe in seinem Charakter zu erhalten«). Das Beispiel veranschaulicht damit neben der räumlich-sozialen Kartierung der ehemaligen/gegenwärtigen Dorfgemeinschaft auch den bereits beschriebenen deskriptiv/normativen Charakter von Ortschroniken. Historische Rundgänge Abschließend wird es um das zweite Darstellungsmuster gehen, das darauf abzielt, die wahrgenommenen Leerstellen zu kompensieren bzw. ›aufzufüllen‹, die der Strukturwandel in ländlichen Gemeinschaften hinterlassen hat: die Anregung zur ›historischen Erkundung‹ der eigenen Lebenswelt. Die saarländische Gemeinde Naßweiler gab zum Dorfjubiläum im Jahr 2009 einen Bildband heraus, der durch ein kurzes Gedicht eingeleitet wird: »Doch machst in einer Mußestunde über Feld und Flur Du eine Runde so frag den Baum, so frag den Stein, was war vor 374 Jahren? was wird morgen sein? Wer ist hier wohl gegangen? wer gestorben? wer hat geliebt, gelacht, wer hatte Sorgen?« (Heimatkundlicher Verein Warndt 2009: 22) Diese Einladung, mithilfe des Buches einen historischen Spaziergang durch den Ort zu unternehmen, ist paradigmatisch für das gesamte Genre Ortschronik. Lässt der Leser sich darauf ein, eröffnet sich ihm, so das Versprechen, eine (zumindest teilweise) verborgene geschichtliche Tiefendimension des Dorfs. Die Chronik leitet dazu an, diese Tiefendimension überhaupt erst sehen zu lernen. Im Vorwort der Chronik von Rieps in Mecklenburg-Vorpommern heißt es über ein Vorgängerwerk: »Als ich die Chronik von Rieps (bis 1945) gelesen hatte, war ich begeistert. Die bäuerlichen Verhältnisse hatten eine Tradition über 500 Jahre. Die 10 Hofstellen bestanden seit 1444 und die meisten waren noch vorhanden. Beim Gang durch den Ort, sah ich alle mit ganz anderen Augen«. (Friedrich 2014: 4)
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Die Chronik des niedersächsischen Wenden enthält das in diesem Kontext einschlägig betitelte Kapitel »Wenden hat kein Gesicht? Wenden entdecken!« (Kleineberg 2006: 114-130). Der Autor konstatiert hier angesichts vieler »ortsuntypischer« (ebd.: 130) Neubebauungen, dass »der Charakter eines gewachsenen Ortes mit einer mindestens 975jährigen Geschichte […] von Jahr zu Jahr mehr verlorenzugehen« (ebd.) drohe. Demgegenüber gilt es, »die verbliebenen Spuren der Geschichte zu erkennen, sie immer wieder neu zu entdecken und zu schützen, um auf diese Weise Wendens Identität zu bewahren« (ebd.). Dabei beschreibt das Kapitel den für zeitgenössische Augen immer schwierigeren Prozess des Sehen-Lernens solcher Spuren anschaulich: »Geht oder fährt man heute durch Wenden und versucht einige Stunden später einmal, sich an das Gesehene im Ortsbild zu erinnern, so wird auch ein gutes Gedächtnis nur wenige Erinnerungsstücke wiedergeben. Liegen die Ursachen in der Person des Betrachters oder gibt es tatsächlich nichts Wahrnehmbares zu sehen? Es stimmt! der Ort prägt sich auf den ersten Blick nicht sonderlich ein. In Erinnerung bleibt den meisten der schöne Eindruck durch die prächtige Lindenallee entlang der südlichen Hauptstraße. Man stößt auf ganz wenige markante Punkte, z.B. das Kirchengebäude St. Johannes Baptista und die alten Bauernhöfe ringsum. Wenden vermittelt zunächst kaum ein historisch geprägtes Milieu, Spuren der Vergangenheit lassen sich weithin nur noch erahnen. Großflächige, schnell entstandene Neubaugebiete und die neuen werbewirksamen Gewerbegebiete überwiegen den räumlich eng begrenzten historischen Ortskern. Zeugen aus der 975-jährigen Geschichte Wendens muß man wohl mit offenen Augen suchen. Aber auf den zweiten Blick lassen sich noch einige wenige historische Merkzeichen mit ihrer Schönheit erkennen: sowohl im dörflichen Kern als auch in Einzelgebäuden entlang von Hauptstraße, Aschenkamp, Heideblick und dem Tollen, aber auch beispielsweise in den Straßenzügen Am Brühl und Brühlkamp. Für den aufmerksamen Betrachter hält Wenden noch Überraschungen bereit!« (Ebd.: 129-130)
In diesem Sinne enthalten manche Chroniken dezidierte Beschreibungen von Rundgängen durch den Ort, die weniger an Reise- und Fremdenführer erinnern als an Anleitungen, die in Vergessenheit geraten(d)e Geschichte der Dorfgemeinschaft zu entbergen. So beginnt die Chronik des niedersächsischen Westerloy beispielsweise mit dem Kapitel »Westerloy 1994«, das einen Erkundungsgang durch den eigenen Ort dokumentiert und zur Nachahmung empfiehlt (Arbeitskreis Dorfchronik Westerloy 1994: 9-13). Das Kapitel enthält alle ›historischen Stätten‹ des Ortes; so unbedeutend sie für auswärtige Leser im Einzelnen auch sein mögen, bieten sie dem ortskundigen Leser Ansatzpunkte, seine Lebenswelt historisch ›aufzuladen‹. Der Text vermittelt vor allem auch eine Vielzahl an Hinweisen, wo verborgene oder kaum noch erkennbare historische Spuren zu finden sind (vgl. Kleineberg 2006: 129-130). Derartige, meist unausgesprochene Einladungen gehen von Chroniken im Allgemeinen aus. Im Grunde dienen auch die bereits besprochenen Häuserchroniken als
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Vorlagen, sich mit der Geschichte des eigenen Ortes bzw. der vermeintlichen Dorfgemeinschaft vertrauter zu machen.9 Werfen wir an dieser Stelle jedoch einen genaueren Blick in das Kapitel »Wegweiser durch Vacha« aus der Chronik des thüringischen Ortes aus dem Jahr 2010 (Lemke 2010: 711-722). Es handelt sich um eine ausführliche Übersicht über alle ehemaligen und gegenwärtigen Bauwerke des Dorfes, die – in Begleitung zur Chroniklektüre – dazu einlädt, sich den Ort selbst ›historisch zu erschließen‹. Dem Leser bereits bekannte Orte lassen sich so auf eine neue Weise erleben. Für jeden Eintrag sind zwei Kategorien vorgesehen: erstens »im Vachaer Heimatbuch erwähnt als« und zweitens »Findort heute«. Die erste Rubrik enthält Verweise auf historische Episoden, die in der Chronik nachzulesen sind, zum Beispiel: »das Haus des Maschinenhändlers Paul Schwarz, vor dem im Frühjahr 1945 der Fabrikant Wilhelm Kellermann niedergestochen wurde« (ebd.: 711). Die zweite Rubrik gibt eine möglichst exakte aktuelle Adresse an. Auch finden sich gegenwärtig nicht mehr existierende Gebäude in der Liste, bei denen die ehemalige Lage angegeben ist. So zum Beispiel im Fall der »Sandmühle«, für die zu lesen ist: »gesprengt im Jahre 1999, stand zwischen südlichen Werra-Brückenkopf, Nordseite der Werrastraßen und Werra« (ebd.: 715). Da der »Wegweiser« in typischer Weise nach Vollständigkeit strebt (und nicht nach Gewichtung oder historischer Kontextualisierung), stehen hier ›brisante‹ Einträge, wie der Hinweis auf die zerstörte Synagoge und Häuser enteigneter jüdischer Mitbürger, neben alltäglichen Versorgungseinrichtungen wie Bäcker und Drogerie. Darüber hinaus enthält das Register Gebäude, die unter den Dorfbewohnern einen sprichwörtlichen Charakter haben wie beispielsweise »das Wohnhaus des jugendlichen Schiebers und Spekulanten Hans Raphael zur ›Amizeit‹ 1945« (ebd.: 711), »das ›Wurstsuppenhäuschen‹ der Familie Güth am Osthang des Lohberges« (ebd.: 716) oder »der Laden der Elise Machetanz mit dem ›Spion‹ vor dem Erdgeschossfenster« (ebd.: 721), der zugleich »das Geburtshaus des Volksarztes Dr. Heinz Machetanz« (ebd.) sei. Sofern der Leser sich darauf einlässt – die Voraussetzung hierfür liegt in der Regel in der engen biografischen Bindung an den Ort –, erfüllen Chronikabschnitte wie der »Wegweiser durch Vacha« die gemeinsame Lebenswelt von Autoren und Lesern mit einer Art ›historischen Aura‹; eine Aura, die im Zuge des Strukturwandels entstandene ›Leerstellen‹ – im Blick auf Zusammenleben, Erscheinungsbild und Funktion des Dorfes – kompensieren soll. Es lässt sich
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In diesem Zusammenhang stehen auch die eklektische Materialfülle, die Vorliebe für Vollständigkeit und Auflistungen und das Fehlen ›roter Fäden‹ oder ›Leitfragen‹ bei der Auswahl und Gestaltung des Inhalts, die Chroniken im Ganzen auszeichnen und ihnen in der Regel eher den Charakter eines ›Heimatlexikons‹ als einer historischen Monografie verleihen. Die ausdrückliche Selbstbeschreibung als »Heimatlexikon« findet sich beispielsweise in Overkott (1956: 8). Vgl. auch Thomaschke (2016: 61-77).
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zuspitzen: Statt die Geschichte des Dorfes zu schreiben, ›schreiben Heimatbücher Geschichte in das Dorf‹.
F AZIT Diese Zuspitzung gibt zugleich Anlass zu einem kurzen Fazit im Blick auf Ortschroniken und Erinnerungskultur. Wir haben eingangs gesehen, dass Ortschroniken und Heimatbücher im Zusammenspiel spezifischer Prinzipien, die ihre Entstehung sowie ihre Wahrnehmung der Geschichte leiten, als eigenständiges Genre der Geschichtsschreibung verstanden werden müssen – ein Genre, das im 20. Jahrhundert gerade dann Konjunktur hatte, als die öffentliche Diskussion um ein vermeintliches ›Verschwinden‹ dörflicher Heimat und Tradition die höchsten Wellen schlug. Chroniken sind in diesem Sinne als Reaktion auf die sozialen und räumlichen ›Leerstellen‹ zu verstehen, die der Strukturwandel der ländlichen Gesellschaft hinterließ. Gemäß ihrer historiografischen Perspektive präparieren Chroniken die Geschichte einer quasi-überzeitlichen Dorfgemeinschaft aus ihren Quellen heraus und erklären sie zum Vorbild der Lösung gegenwärtiger Probleme. In der Kombination des Leitbilds der geschlossenen Dorfgemeinschaft mit einer scharfen Dorf-UmweltDifferenz konstruieren die Chronisten hierbei überall in Deutschland lokalgeschichtliche Behälterräume abseits der ›eigentlichen‹ bzw. ›großen Geschichte‹. Sie schreiben die Dorfgeschichte sozusagen ›aus der allgemeinen Geschichte heraus‹. Im Effekt führt ein Mehr an lokaler Laiengeschichtsschreibung somit nicht zur Erweiterung und Differenzierung der Gesellschaftsgeschichte, sondern vielmehr zu einer Art Verinselung der Erinnerungslandschaft. Wie wir abschließend gesehen haben, streben Ortschroniken in einer gegenläufigen Bewegung zu dieser Externalisierung der ›allgemeinen Geschichte‹ danach, ›Geschichte in die Dörfer hineinzuschreiben‹: Sie sehen es als ihre Aufgabe an, die abgetrennten historischen Behälterräume mit der Geschichte genau der Dorfgemeinschaft zu füllen, die sich gegenwärtig aufzulösen droht.
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Netzraumtopografie Architektonische Leerstellen im Landschaftsgeschehen M ARIA F RÖLICH -K ULIK
Der Mensch konstruiert Landschaften durch Handlungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen (Lefebvre 1991). Dabei entstehen Netzwerke materieller, sozialer und kultureller Natur. Landschaften können dementsprechend auch als Netzräume gelesen und erzählt werden. Die gebaute Umwelt ist die materialisierte Geschichte dieser Netzräume. Sie stiftet Identität und ist Ausgangspunkt für zukünftige Entwicklungen. Daher gilt es auch aus planungspraktischer Perspektive, die damit verbundenen Narrative lesbar und verstehbar zu machen, um sie im Entwurfsprozess weitererzählen und weiterentwickeln zu können. Leerstehende öffentliche Gebäude beispielsweise erzählen von schwindender Bedeutung einer Region, insbesondere wenn es sich um zentrale Knotenpunkte wie Bahnhofsgebäude handelt, die zu ihrer jeweiligen Entstehungszeit oftmals den Auftakt für umfassende Modernisierungsprozesse im ländlichen Raum bildeten und einst als Tor zur Welt galten und zugleich einen Zugang zum Ort schufen. Sie markieren mittlerweile soziale, ökonomische und kulturelle Leerstellen im Landschaftsgeschehen. Durch Urbanisierungs- und Globalisierungsprozesse hat sich ihre Stellung und Relevanz im Netzraum stark gewandelt – die ursprünglich identitätsstiftenden Empfangsbauten stehen häufig entweder leer oder werden durch Umnutzungen in neue Netzzusammenhänge gestellt. Dadurch verändern sich auch die raumstrukturellen Zusammenhänge. An konkreten Fallbeispielen umgenutzter Landbahnhöfe können Muster der Neubelebung und Vernetzung abgelesen werden. Als privatisierte Güter erfüllen sie individuelle Wünsche und Bedürfnisse und spannen je nach Finanzierung, Schlüsselkonzept und Hauptinitiatoren unterschiedliche Netzräume auf. Daraus resultiert die Frage, ob diese Vernetzungsweisen das Potential der einst verbindenden, heute jedoch zergliederten Infrastruktur ausschöpfen können.
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L ANDSCHAFTEN
ALS
N ETZRÄUME
Landschaften beschreiben Räume, die in einem Wechselspiel zwischen Mensch und Natur entstehen. Seinen Bedürfnissen entsprechend verwaltet und konstruiert der Mensch das ihn umgebende Land – es wird gebaut, angefertigt, wiederhergestellt, entwickelt oder erneuert – gemäß den ›Nutzungsbedingungen‹ seiner Zeit. Dabei überschreibt er kontinuierlich sein in Besitz genommenes Land. Wie beim Vorgang des Palimpsestierens, dem Abkratzen und erneuten Beschreiben einer Manuskriptseite, überlagern sich die verschiedenen Schichten in einer Landschaft (Corboz 2001: 143). Jede Generation stellt andere Anforderungen an das in Besitz genommene Land und zeichnet dabei kontinuierlich neue Gebrauchsspuren: »Die Bewohner [...] streichen in dem alten Buch des Bodens immer wieder etwas aus und schreiben es neu.« (Ebd.: 148) Es verbleiben Reminiszenzen vergangener Zeiten – Gebäude, Straßenund Schienennetze, Flurstücke und Gemeindegrenzen sind Zeugnisse vorangegangener kultureller, politischer, sozialer, naturräumlicher und klimatischer Prozesse. Dieses Zusammenspiel von dynamischen und vielschichtigen Prozessen kann in Anlehnung an Hille von Seggern (2010) als Landschaftsgeschehen beschrieben werden. Dieser Begriff dient der Beschreibung des gesamten Geschehens in Landschaften mitsamt der darin auffindbaren räumlich-physischen, kulturellen, sozialen und mentalen Beziehungen. Die gebaute Umwelt ist Teil dieser Beziehungen und speichert »als ein System gebauter Zeichen [...] Erfahrungen und Bedeutungen einer bestimmten Zeit« (Steets 2015: 175) und erzählt so die Geschichte(n) der Landschaft als Geschichte(n) der sich in ihr materialisierenden Geschehenszusammenhänge. Umgenutzte Gebäude berichten durch gewählte Materialien, Konstruktionsweisen, Einbindung und Anordnung vom Wandel gesellschaftlicher Auffassungen und Handlungen. Neue Nutzungen, häufig ablesbar an baulichen Eingriffen, aber auch den damit einhergehenden Veränderungen des sozialen Umfeldes, schreiben die Geschichte der Landschaft fort. Im Prozess der Aneignung und Umnutzung, losgelöst von der ursprünglichen Bestimmung, werden neue Bezüge zwischen Gebäude und naturräumlichen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen gespannt, die das Landschaftsgeschehen gestalten. Durch neue Nutzungen werden Gebäude in einen neuen Kontext gestellt. Als Teil vorgefundener Strukturen nehmen sie selbst wiederum auf diesen Kontext Einfluss. Betrachtet man das Landschaftsgeschehen als eine sich kontinuierlich fortschreibende Erzählung, so können leerstehende Gebäude als deren pars pro toto gelten. Analog zur Leerstelle in literarischen Erzählungen (vgl. Iser 1994) bieten sie auch aus einer (landschafts-)architektonischen Perspektive Raum für Interpretationen und Projektionen. Die ›Transformatoren‹ von Gebäuden sind die Initiatoren und Gestalter der gegebenen baulichen Substanz und zugleich die Erzähler der Geschichte und tragen dabei zur Wahrnehmung und zu den Umgangsweisen im und mit dem
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Landschaftsgeschehen bei. Das zu transformierende Gebäude, verstanden als eine zu interpretierende Leerstelle, bildet (und bildete) einen Knotenpunkt im Landschaftsgeschehen, der die Erzählung der Landschaft strukturieren und lenken kann. Knotenpunkte sind immer Teile eines Netzwerkes, das einen bestimmten Raum strukturiert. Mit dem Fokus auf Gebäuden als Knotenpunkte in einem relationalen und vernetzten Landschaftsgeschehen können Landschaften auch als Netzräume beschrieben werden: Als konkrete Orte sind Gebäude auf unterschiedliche Weise vernetzt und spannen durch den kontinuierlichen Austausch von Lebenspraktiken, Handlungsweisen, Infrastrukturen und Bauweisen einen spezifischen Raum auf. Als Ergebnis und gleichzeitig Ausgangspunkt zukünftiger Gestaltungen bilden Gebäude Knotenpunkte und sind somit Produkt und Produzent in einem – indem einst leerstehende Gebäude in neue Nutzungszusammenhänge gebracht werden, ändert sich ihr Bezug und ihre ›Aufgabe‹ im Netzraum; und damit zugleich auch der Netzraum selbst.
N ETZRAUMPRODUKTION
NACH
H ENRI L EFEBVRE
Auf der Grundlage von Henri Lefebvres Theorie zur Produktion von Raum lassen sich verschiedene Beziehungen zwischen gebauter Umwelt und Netzräumen nachvollziehen und beschreiben. Der französische Philosoph und Soziologe (1901-1991) gilt als ein genauer Beobachter des Alltags (Schmid 2010; Meyer 2007) – mit all seinen zwischenmenschlichen Beziehungen, gesellschaftlichen Entwicklungen, technischen Fortschritten, städtebaulichen Auswirkungen und globalen Finanzströmen. Die 60er und 70er Jahre des 20sten Jahrhunderts waren eine Zeit kritischer Betrachtung von Industrialisierungs- und Globalisierungsprozessen (Schmid 2010: 29). Aus seinen Beobachtungen entwickelte er seine Theorie zur Produktion von Raum (Lefebvre 1991). Darin formulierte er die These, dass jede Gesellschaft ihren eigenen Raum produziert und Raum demnach ein gesellschaftliches Produkt ist, »eine von Menschenhand geschaffene ›zweite Natur‹« (Schmid 2010: 30), womit er den Grundstein zu einer neuen räumlichen Gesellschaftstheorie legte (ebd.: 205). In Bezug auf das Verhältnis von Landschaft und gebauter Umwelt bietet Lefebvre eine »Orientierung« (Lefebvre 1991: 423), die es erlaubt, ein Gebäude als gesellschaftliches Produkt und zugleich Teil und damit (Mit-)Produzenten eines relational dynamischen Netzraumes zu begreifen. Dabei konstituiert sich Raum durch drei dialektisch miteinander verschränkte Produktionsweisen, die zwar aus heuristischen Gründen getrennt betrachtet werden können, letztlich aber sich gegenseitig konstituierende Momente eines Prozesses darstellen und deshalb gleichwertig und gleichzeitig zu betrachten sind (vgl. Schmid 2010: 320). Es handelt sich hierbei um die drei Ebenen der Wissensproduktion, Bedeutungsproduktion und materiellen Produktion,
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die in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Damit können keine statisch und eindimensional zu betrachtenden Räume entstehen. Seine Überlegungen zum Raum gründet Lefebvre auf den Produktionsfähigkeiten des Menschen, bei denen sich physisch wahrnehmbarer, mental konstruierter und sozial gelebter Raum gegenseitig bedingen. Dabei zielt er ab auf eine einheitliche Theorie, die es erlaubt, diese Triade – Materialität, Wissen, Bedeutung – wieder harmonisch zusammenzuführen (Schmid 2010: 206). Mit ihr sollen die sich in den Raum einschreibende »Geschichte und ihre Folgen, die ›Diachronie‹, die Etymologie der Orte, d.h. all das, was dort geschehen ist und dabei Orte und Plätze verändert hat« (Lefebvre 2012: 334) als Raum produzierende Faktoren beschreibbar werden. Denn in der Kontinuität, dem Zusammenspiel von Vergangenheit und Gegenwart, von hinterlassenen Spuren und »gerade wirksamen Verbindungen und Vernetzungen« (ebd.) werden Produktion und Produkt zu »zwei untrennbaren Seiten« (ebd.). Um die Trias aus physischem, mentalem und sozialem Raum als sich gegenseitig bedingende Raumdimensionen zusammenzuführen, nähert sich Lefebvre diesen Feldern sowohl phänomenologisch als auch semiotisch. Er beschreibt Raum als Gesamtheit von drei dialektisch verknüpften und sich gegenseitig implizierenden Produktionsprozessen (Schmid 2010: 207f.). Materialität, Wissen, Bedeutung – Momente der Raumproduktion Lefebvre geht davon aus, dass der Mensch sein Lebensumfeld intuitiv und sinnlich wahrnimmt und dabei seine Alltagswirklichkeit mit der urbanen Wirklichkeit verknüpft. Hiermit wird die Ebene des physisch wahrnehmbaren Raumes angesprochen. Materialisierte Produkte der urbanen Gesellschaft bestimmen den Alltag der Bewohner. Es ist das Material, das sich jeder Nutzer individuell aneignet und dabei entsprechend seiner alltäglichen Bedürfnisse und Vorstellungen formt und gestaltet. Diese kontinuierlichen Re-Produktionsprozesse materieller Räume und Dinge können als räumliche Praxis bezeichnet werden. Praktisch realisierte und damit geformte und verräumlichte Gegenstände, Gebäude oder städtebauliche Ensembles sind faktisch belegbar und damit empirisch nachvollziehbar und beschreibbar (Lefebvre 2012: 335). Die materielle Produktion von Raum wird von raumplanerischen Konzepten beeinflusst. Unabhängig vom Maßstab wird dabei auf ein bestimmtes Wissen aufgebaut und gleichzeitig neues Wissen generiert. Es ist die Ebene des mental konstruierten bzw. des Wissensraumes, auf der sich die Planung als Produktionsmoment sozialen Raumes bewegt. So beeinflussen gesellschaftliche Konzeptionen sowohl die Entwicklung kleinster Produkte als auch die Planung ganzer Stadträume. Englische Gärten, sozialistische Planstädte wie z.B. Halle-Neustadt oder Urbanisierungs-
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projekte wie derzeit in Dubai beruhen auf gesellschaftlichen Vorstellungen, die über raumplanerische Entwürfe realisierbar gemacht werden. Die Konzepte repräsentieren ein bestimmtes Gesellschaftsverständnis und sind Ausdruck ihrer Zeitumstände und individueller Bedürfnisse, die auf sprachliche Konventionen, Darstellungsweisen, gesellschaftliche und ethische Regeln, Normen und politische Richtungen reagieren. Damit schreibt Lefebvre Planern bei der Produktion von Raum eine besondere Rolle zu, denn sie kombinieren zeitspezifische Grundeinstellungen und Werte mit sozial-räumlichem Wissen und technischem Können (Lefebvre 1991: 45). Besonders bezeichnend in diesem Kontext ist für ihn die Entwicklung und Anwendung der linearen Perspektive in raumplanerischen Konzeptionen. Sie repräsentiert »einen festen Beobachter, ein unbewegliches Wahrnehmungsfeld, eine dauerhafte visuelle Welt« (Schmid 2010: 229). Dieser abstrahierte konzeptionelle Raum drängt die »›ursprüngliche‹ Einheit von Erlebtem und Konzipiertem [...] in den ›Untergrund‹« (ebd.: 253). Einen Höhepunkt finden diese Vorgehensweisen in den Planstädten des zwanzigsten Jahrhunderts. Wissenschaftler, Planer und Urbanisten können Systeme »verbaler, also verstandesmäßig geformter Zeichen« (Lefebvre 2012: 336) entwickeln, die von relativem, sich stets änderndem Wissen durchzogen sind, von diesem abhängen und zugleich neues Wissen produzieren (vgl. ebd.: 339). Es ist dann auch Aufgabe von Planern, die lineare Perspektive, die nach Lefebvre Ausgangspunkt einer zunehmend abstrakten, von der Alltagswelt unabhängig konzipierten Architektur ist, weiterzuentwickeln. Vor dem Hintergrund des aktuellen rurbanen Landschaftsgeschehens – verstanden als eine weiter zunehmende lebensweltliche Verschränkung ruraler und urbaner Elemente und Praktiken – müssen Planer den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die räumliche Praxis und die Repräsentationsräume rurbaner Landschaften legen, um produktive und nachhaltige Architekturen entwerfen zu können. Die Triade der Raumproduktion Lefebvres wird vervollständigt durch die sozial gelebten Repräsentationsräume. Es handelt sich dabei um die symbolischen Qualitäten von Räumen. Konzipierte und materialisierte Räume sind stets aufgeladen mit Bedeutung und tendieren zu einem »mehr oder weniger kohärenten nonverbalen Symbol- und Zeichensystem« (ebd.: 336). Dabei produzieren und vermitteln Bilder und Symbole Bedeutung, die Ansichten, Normen und Werte einer bestimmten Zeit implizieren und dementsprechend erlebt und dabei re-produziert werden. Die Räume repräsentieren eine Bedeutung, die ihnen gesellschaftsgeschichtlich zugeschrieben wird. Dies hat auch eine sozial-praktische Dimension: Die Denkmalpflege bspw. hat sich zur Aufgabe gemacht, gebaute Räume, die eine bestimmte Zeit in besonderer Weise repräsentieren, zu bewahren und vor grundlegenden Veränderungen zu schützen. Sie zielt dabei darauf ab, »Erhaltungsinteresse und Veränderungsnotwendigkeit miteinander abzugleichen« (Eidloth/Ongyerth/Walgern 2013: 227). Abseits von dem geplanten und praktischen Alltagsraum kommen auf der Ebene der Bedeutungs-
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produktion aber auch idealistische und utopische Raumvorstellungen zum Vorschein, die mitunter essentiell für den Erhalt und Fortbestand bestehender Bausubstanz sein können. Für den Umgang mit leerstehenden Gebäuden im ländlichen Raum ist diese Triade der Raumproduktion entscheidend – auch wenn Lefebvre die Rekonstruktion und Wiederaneignung von Gebäuden kritisch sieht: Sie verdeutlicht die direkten Abhängigkeiten und Ambivalenzen von Planung und Alltagspraxis vor dem Hintergrund symbolischer Zuschreibungen. Lefebvres Perspektive verdeutlicht, dass bei der Betrachtung leerstehender Gebäude nicht nur Bausubstanz und Umsetzung zählen, sondern dass Gebäude als soziale Produkte auch soziale Räume darstellen, die Bausteine eines sozialen Raumes und damit einer gesellschaftlichen Wirklichkeit sind. Ebenen der gesellschaftlichen Wirklichkeit Die Produktion von Raum findet immer im gesellschaftlichen Kontext statt. Lefebvre geht es dabei weniger um eine Rekonstruktion unterschiedlicher räumlicher Einheiten, als viel mehr um das Verständlich- und Handhabbarmachen des dem zugrunde liegenden Rasters (Lefebvre 1991: 155). Er führt drei Ebenen der gesellschaftlichen Wirklichkeit ein und differenziert, wieder triadisch, in eine nahe Ordnung (P), eine mittlere Ordnung (M) und eine ferne Ordnung (G). Die nahe Ordnung, »the ›private‹ realm P« (ebd.), ist die Ebene der Sicht- und Nachbarschaftsbeziehungen; der praktisch sinnlichen Wirklichkeit des Wohnens, der Gemeinschaft und der Familie sowie der Arbeitsteilung. Diese vertrauten Beziehungen, eng verwoben mit Alltagsabläufen, sind Quellen für (sozial-)räumliche Veränderungen. In direktem Miteinander und ohne institutionellen Einfluss können utopische Vorstellungen geboren werden, die Kraft ihrer Unmittelbarkeit die Raumproduktion von unterster Ebene her beeinflussen können. Auf das Beispiel der Landbahnhöfe angewandt, beschreibt diese Ebene den Bahnhof als alltäglichen Knotenpunkt: Er bietet Raum zum direkten Austausch – so kommen bspw. die Wartenden ins Gespräch und tauschen sich über bereits Erlebtes und noch bevorstehende Erlebnisse aus. Dabei werden Lebensvorstellungen und Wünsche ausgetauscht, die auch gesellschaftliche Ideen transportieren und Lebensweisen transformieren können. Dieser Ebene privater Beziehungen übergeordnet findet sich die mittlere Ordnung, »M [...] for intermediate space« (ebd.). Es ist die Ebene der Stadt, ausgerichtet um Institutionen wie Stadtbehörden mit ihren Dienstleistungen, Versorgungsund Informationsnetzen. In Abgrenzung zur privaten Alltagsebene (P) beschreibt diese mittlere Ebene die urbane Gesellschaft, die sich durch Versorgungs- und Dienstleistungsbeziehungen auszeichnet.
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Der Landbahnhof ist auch auf dieser Ebene stark verankert – er stellt die konkrete bauliche Verbindung zur Stadt dar. Der Anschluss an das Bahnnetz ermöglichte den Ortschaften Anbindung an wirtschaftliche Zentren und damit Teilhabe an zeitgenössischen urbanen Entwicklungen. Neben dem Rathaus und der Kirche wurde der Landbahnhof zu einer zentralen Institution, die das Raumgeschehen mit seinen Alltagspraktiken, aber auch Infrastrukturen, erheblich und nachhaltig beeinflusste. Über diesen beiden Ebenen steht die Ebene der globalen Ordnung (G). Mit ihr beschreibt Lefebvre den »religious or political space [that] has retained its relevance for thousands of years because it was rational from the outset« (ebd.). Auf dieser Ebene finden sich neben religiösen und politischen Auffassungen und Regeln auch ökonomische und juristische Prinzipien im nationalen und internationalen Rahmen (Schmid 2010: 164). Der Bau von Landbahnhöfen ist immer im Zusammenhang mit ökonomischen und juristischen Voraussetzungen und Verhältnissen zu lesen. Finanzielle Möglichkeiten und institutionelle Entscheidungen beförderten und verhinderten den Anschluss von Ortschaften an das Schienennetz. Auch die architektonische Gestaltung der Gebäude hängt mit den übergeordneten ›globalen‹ Auffassungen zusammen: Häufig sind Landbahnhöfe als Typengebäude gebaut. Entlang einer Strecke gleichen sich die Gebäude häufig in Struktur und Materialität. Das liegt nicht nur an verwendeten lokalen Materialen, sondern auch an einem politisch gewollten Wiedererkennungseffekt und damit der möglichen Zuschreibung zu einem juristischen Terrain. Abb. 1: Ebenen der gesellschaftlichen Wirklichkeit am Beispiel des Landbahnhofs
Skizze: M. Frölich-Kulik
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Geografische Muster Wenn Landschaften ein dynamisches, relationales Raumgefüge aus alltäglichen Beziehungen, Verbindungen und Praktiken darstellen (vgl. Massey 2006), stellt sich die »Frage nach der Geografie dieser Beziehungen« (ebd.: 27). Die vorstehend zusammengefassten Grundzüge des Lefebvrischen Raumverständnisses werden deshalb um ein Kriterium erweitert, das die geografischen Muster, die von Gebäuden ausgehen, darstellbar macht. Es beschreibt die Impulsstärke und Reichweite eines konkret (um-)genutzten Gebäudes als Knotenpunkt im Netzraum. Ein Verständnis über geografische Muster im Sinne der Relevanz und Einflussnahme eines Gebäudes im Landschaftsgeschehen kann Planungsprozesse beeinflussen und lenken. Weltumspannende und sozialräumliche Netze werden nach Massey (2006) durch das Lokale als kleinste Einheit der Globalisierungsprozesse und damit zugleich geografisch bestimmbare Konstante konstruiert und vorangetrieben. Nach diesem Verständnis sind Gebäude lokale Knotenpunkte, deren Umnutzungen auch globale Prozesse mitgestalten können. Im Umgang mit architektonischen Leerstellen in sogenannten strukturschwachen Regionen stellt sich dann die Frage, unter welchen Bedingungen welche Relevanz und Strahlkraft von umgenutzten Gebäuden erwartet werden kann. Abhängig von Einflussfaktoren wie Schlüsselakteuren, Initialfinanzierung und Nutzungskonzept sind Gebäude (je nach Perspektive) Teil verschieden dimensionierter sozialer Netzräume. In Anlehnung an das Raumverständnis Lefebvres können zum Zweck der Analyse und Prognosefindung geografische Muster, die von transformierten Gebäuden ausgehen, in lokal (L), regional (R) und (Inter-)national (I) unterschieden werden. Abb. 2: Geografische Muster
Skizze: M. Frölich-Kulik
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Nachfolgend werden revitalisierte Landbahnhöfe exemplarisch unter dem Gesichtspunkt von Raumproduzenten und Raumprodukten im Netzraum betrachtet. Dabei wird besonderes Augenmerk auf den Zusammenhang von konkreter Raumproduktion und geografischem Effekt gelegt.
E FFEKTE
REVITALISIERTER
L ANDBAHNHÖFE
IM
N ETZRAUM
Das aktuelle Landschaftsgeschehen ist geprägt von Urbanisierungs- und Globalisierungssprozessen, die auch eine Vielfalt an Optionen zur individuellen Gestaltung eines guten Lebens (vgl. Rössel 2014) ermöglichen. Das Kreieren von Lebensmittelpunkten in bestehenden Strukturen spielt dabei eine zunehmend größere Rolle – in leerstehenden Gebäuden auf dem Land (wie beispielsweise in ehemaligen Bauernhöfen) entstehen attraktive Wohn- und Arbeitsräume urbaner Alltagswelten. Die Aneignung und Transformation von Gebäuden kann also ein wichtiger Ansatz zur möglichen Wiederbelebung von Netzräumen sogenannter strukturschwacher ländlicher Regionen sein. Im Zuge aktueller Abwanderungen und schwindender Bevölkerung stehen oftmals einst identitätsstiftende, ortsbildprägende Gebäude wie Schulen, Rathäuser, Kirchen oder Bahnhöfe vor allem in ländlichen Räumen leer. Sie sind Produkt und Resultat von Globalisierungsprozessen und werden häufig als »Opfer der Globalisierung« (Massey 2006: 28, Hervorhebung im Original) gelesen. Gleichzeitig sind sie als Erfahrungsspeicher (vgl. Steets 2015: 175) und Erinnerungsfiguren im kulturellen Gedächtnis (vgl. Assmann 1988: 12) verankert. Häufig unter Denkmalschutz gestellt, wird ihr Abriss verhindert und vielerorts nach Lösungsvorschlägen zur Wiederbelebung gesucht. In diesem Sinne sind ungenutzte Gebäude Leerstellen, die eine kreative Tätigkeit und Fähigkeit und so auch einen Wechsel der Landschaftsperspektive benötigen. Durch ihre Wiederbelebung und Umwidmung können die Gebäude wieder Teil neuer Netzstrukturen werden und dabei auch den Netzraum, dessen jeweilige Teile sie sind, ändern und beeinflussen. Diese Prozesse sollen im Folgenden exemplarisch an revitalisierten und öffentlich nutzbaren Bahnhofsgebäuden im ländlichen Raum beschrieben werden. Anhand von Fallbeispielen kann, auch zur Unterstützung zukünftiger Planungen, aufgezeigt werden, ob und inwieweit sich ihre Impulswirkungen in die vorangestellten Reichweiten einordnen lassen. Als soziales Produkt im Sinne Lefebvres ist der Bahnhof auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Wirklichkeit relevant: Er spielte eine entscheidende Rolle im Alltag und war sowohl eine städtische Infrastruktur als auch ebenso eine bedeutende staatliche Institution. Damit sind Landbahnhöfe nicht nur infrastrukturell relevant, sondern auch über mentale und kulturelle Beziehungen Teil des Raumgeschehens.
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Als stillgelegte Reminiszenzen und Erinnerungsfiguren sind sie fest im Landschaftsgeschehen verankert und können nach wie vor ihre ursprünglichen Eigenschaften als Knotenpunkte eines Netzes in lokalen, regionalen und globalen Zusammenhängen vermitteln.1 Diese Beziehungen vermitteln Bahnhöfe ganz besonderes deutlich: Als wohl einziges Gebäude mit zwei öffentlichen Zugängen beschreiben Bahnhofsgebäude sowohl einen lokal bedeutsamen Anlaufpunkt als auch einen Knotenpunkt eines Regionen und Länder verbindenden infrastrukturellen Netzwerkes. Auf der theoretischen Grundlage der zuvor entwickelten Raumtheorie sind unterschiedliche Beziehungsmuster transformierter Landbahnhöfe erkennbar und beschreibbar. Abhängig von den Schlüsselakteuren, der Initialfinanzierung und dem Nutzungskonzept lassen sich unterschiedliche Beziehungstypen für die Umnutzung von Landbahnhöfen zu öffentlich nutzbaren Gebäuden feststellen. Zur Vergleichbarkeit der Transformationsprozesse in den folgenden Fallbeispielen wurden Landbahnhöfe gewählt, die erstens unter Denkmalschutz gestellt sind, zweitens in sogenannten strukturschwachen Regionen liegen und drittens zu Dörfern bzw. Landstädten gehören, deren entsprechende Bahnstrecken noch befahren werden. Internationale Nachbarn – KuBa in Hitzacker Hitzacker mit knapp 5000 Einwohnern liegt im Wendland im Landkreis LüchowDanneberg in Niedersachsen an der Elbe zwischen Berlin und Hamburg. Bekannt geworden ist das Wendland in den 1980er und 1990er Jahren durch die Proteste gegen das Atommülllager Gorleben und das Ausrufen der ›Republik Freies Wendland‹. Über die Anti-Atombewegung definiert sich die Region mitunter noch heute: Man lebt ›alternativ‹ in Wohngemeinschaften unterschiedlicher Generationen, der Landkreis verzeichnet die höchste Biobauerndichte in Deutschland und die Zugehörigkeit zu der Bewegung wird von einem Teil der Bevölkerung öffentlich gemacht und ist überall präsent; das gelbe X-Symbol steht für den ungebrochenen Widerstand im Landkreis und ist auf Strohballen, an Fenstern und Türen, am Bahnhof und sogar im Namen des Regionalzuges eriX zu finden. Die Wiederbelebung des Bahnhofes in Hitzacker ist ganz offensichtlich Teil dieser Bewegung: Das Bahnhofsgebäude, erbaut 1872 im Stil der Hannoverschen Schule in Ziegelrohbauweise, stand nach jahrelangem Leerstand 2014 zum Verkauf. Eine Gruppe aus den Kreisen der Anti-Atombewegung hat sich zu einem Verein zusammengeschlossen, um den Bahnhof zu einem interkulturellen und internationalen
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Das trifft selbstverständlich auch auf andere öffentliche Gebäude zu – Forsthäuser, Postämter oder Rathäuser verweisen auf lokale, regionale und globale Netzzusammenhänge im Landschaftsgeschehen.
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Treffpunkt zu entwickeln. Er soll Raum zum gemeinsamen Arbeiten, Diskutieren und Planen bieten. Die Umnutzung des Bahnhofsgebäudes beruht also auf dem alltäglichen und sozialen Bedürfnis einer bestimmten Gruppe, das vor allem auf der privaten Ebene der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verorten ist: Auf der Ebene der Nachbarschaftsbeziehungen und Sichtbeziehungen werden durch alltägliches und persönliches Miteinander gemeinsame Vorstellungen des Zusammenlebens entwickelt und produktiv gemacht. Das zeigt sich am Beispiel des Kulturbahnhofes Hitzacker – der Bahnhof ist Ausgangspunkt für ein basisdemokratisch organisiertes gemeinschaftliches Dorfprojekt. Aktuell plant eine Gruppe von fünfzig aktiven Vereinsmitgliedern ein ›Dorf der Zukunft‹, das 300 Menschen aller Sozialschichten, Generationen und Herkünfte ein gemeinschaftliches, arbeits- und alltagsteiliges Zusammenleben ermöglichen soll. 2 Abb. 3: Bahnhof Hitzacker
Foto: M. Frölich-Kulik, 2016
Das Beispiel verdeutlicht, dass auf der privaten Ebene der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorrangig ein Raum der Repräsentation produziert wird – der Bahnhof repräsentiert die gelebten und sozialen Beziehungen der Nutzer untereinander und zu ihrer Umwelt. Durch das Weitertragen und Vermitteln der verbindenden und verbreiteten Idee einer internationalen und interkulturellen Lebensgemeinschaft vernetzen sich die Akteure international.
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Für weitere Informationen zu diesem Projekt siehe auch http://hitzacker-dorf.de (30.11.2017).
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Städtische Liebhaber – Bahnhof Klasdorf Klasdorf ist ein typisches brandenburgisches Straßendorf mit knapp 250 Einwohnern, gelegen im sogenannten Berliner Speckgürtel im Landkreis Teltow-Fläming südöstlich von Potsdam. Die Region legt viel Wert auf ihr baukulturelles Erbe.3 Das Bahnhofsgebäude in Klasdorf, erbaut 1907, ist ein Typenbahnhof an der Strecke Dresden-Berlin. Typisch für die preußische Staatsbahn sind die schlichten und solide ausgeführten typisierten Stationsgebäude, für die der Klasdorfer Bahnhof exemplarisch steht. Indem er nicht nur dem Personen-, sondern auch dem Güterverkehr diente, verhalf der Bahnhof als wichtige Verkehrsanbindung der nahegelegenen Glashütte der Gemeinde zu wirtschaftlichem Erfolg. Die Glashütte steht heute als baukulturelles Erbe unter Denkmalschutz. Nach langem Leerstand wurde der Bahnhof von dem Geschäftsführer des Museumsdorfes Glashütte gekauft. Seine Frau, studierte Museumswissenschaftlerin, hat den Bahnhof federführend saniert. Seit Mai 2014 ist er als Ausflugslokal geöffnet, das Interessierte zum Tanzen, Musizieren und Übernachten einlädt. An die private Initialfinanzierung schloss sich eine Förderung durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) sowie die Unterstützung des Landes Brandenburg an. Das Konzept des Bahnhofs orientiert sich an etablierten und althergebrachten regionalen Einrichtungen für Dienstleistungen: Ausflugs-Cafés, Tanzlokale und Ferienorte sind regional relevant. Abb. 4: Bahnhof Klasdorf
Foto: M. Frölich-Kulik, 2016
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Siehe zum Beispiel die zurzeit entstehende Datenbank der Stiftung Baukultur: www. laendliche-baukultur.de (30.11.2017).
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Damit lässt sich der Bahnhof der mittleren, der städtischen, also der von Versorgungsbeziehungen geprägten Ebene zuordnen. Als konzipiertes, geplantes, erdachtes Produkt ist es eine Repräsentation von Raum – aber eben kein aus dem Alltagshandeln notwendig hervorgegangenes oder dafür geschaffenes Produkt. Dieser Bahnhof ist als Ausflugslokal vor allem regional relevant und als Teil des sogenannten Berliner Speckgürtels insbesondere für die Einwohner dieser Region von Bedeutung. Das Projekt fördert zugleich verdienstvoll den Erhalt vorhandener Baukultur. Es ist ein regional relevantes Liebhaberprojekt und Verschönerungsangebot, das ganz offensichtlich dem Verständnis eines sich seines baukulturellen Erbes bewussten Landkreises entspricht. Staatliche Lokalversorger – Generationenbahnhof Erlau Erlau ist ein Waldhufendorf in Mittelsachsen mit ca. 3000 Einwohnern. So wie in den vorangestellten Neunutzungen der beiden Bahnhöfe in den Landkreisen LüchowDanneberg und Teltow-Fläming immer auch ein gewisses regionales Selbstverständnis sowie ein starkes baukulturelles Bewusstsein zum Ausdruck gebracht wurde, findet sich im Landkreis Mittelsachsen ein expliziter Umgang mit dem demografischen Wandel als eines der zentralen Themen und Ansatzpunkte. Die Revitalisierung des 120 Jahre alten Erlauer Bahnhofsgebäudes geht auf eine Bürgerinitiative zum Erhalt des Gebäudes aus dem Jahr 2000 zurück. In Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Dresden wurde eine studentische Studie durchgeführt, um ein Nutzungskonzept für den seit 20 Jahren funktionslosen Bahnhof zu entwickeln. Darauf aufbauend gründete sich ein Verein, um aus dem Bahnhof ein Generationenhaus entstehen zu lassen, in dem hauptsächlich gepflegt und betreut wird, was nach Auskunft einer Mitinitiatorin des Projektes vorrangig Bürger/innen sogenannten mittleren und höheren Alters ansprechen soll. Die notwendigen Initialgelder konnten über das Förderprojekt Neulandgewinner der Robert-Bosch-Stiftung gewonnen werden. Abb. 5: Bahnhof Erlau
Foto: M. Frölich-Kulik, 2016
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Der Grund für die Realisierung dieses Projektes ist die Versorgung der Bevölkerung mit Pflege- und Betreuungsangeboten und gründet, ähnlich dem Projekt in Hitzacker, auf einem zwischenmenschlichen und intergenerativen Miteinander. Im Unterschied zum Projekt in Hitzacker allerdings orientiert sich das Projekt in Erlau an bestehenden und förderbaren Institutionen und Referenzobjekten, auch um eine Realisierung zu ermöglichen. Dabei ist dieses Projekt der sozialen Raumproduktion auf der globalen Ebene der gesellschaftlichen Wirklichkeit verankert: Es orientiert sich stark an bestehenden Institutionen und Einrichtungen und ist, im Gegensatz zum Kulturbahnhof Hitzacker, von Förder- und Gemeindegeldern abhängig. Als institutionell aufgestelltes Projekt bleibt es in den geografischen Dimensionen lokal angesiedelt.
AUSBLICK Was kann aus den vorangestellten Projekten abgeleitet werden, um im Umgang mit einst identitätsstiftenden Bahnhöfen im ländlichen Raum nachhaltige und weitreichende Impulse geben zu können? Die vorangestellten Fallbeispiele zeigen, dass die Revitalisierung von Landbahnhöfen Produkt und Produzent von Netzräumen unterschiedlicher Qualitäten und Reichweiten sein kann. In leerstehenden und zum Landschaftsgeschehen gehörenden Landbahnhöfen können auf Basis von Alltagspraktiken, regionalem (Selbst-)Verständnis und gesellschaftlichen Richtlinien neue Knotenpunkte und damit prägende Teile unterschiedlicher Netzräume entstehen. Dabei soll keine Bewertung der vorgestellten Projekte vorgenommen werden. Jedes Projekt stellt für sich einen wichtigen und impulsgebenden Baustein im Landschaftsgeschehen dar. Dank der Initiatoren können durch die Wiederbelebung dieser stillgelegten Brachen neue Netzverbindungen entstehen, auch losgelöst von der ursprünglichen infrastrukturellen Bedeutung. Die denkmalgerecht revitalisierten Gebäude sind wieder zu Empfangsorten, Aufenthalts- und Treffpunkten für jeweils unterschiedliche Zwecke geworden. Dabei beschreiben die drei vorgestellten Projekte je unterschiedliche geografische Muster von Netzräumen: Ein von Ideen getragenes Projekt kann einen weitreichenden Netzraum aufspannen. Im Gegensatz dazu können Projekte, die auch von staatlichem Interesse sind, lokale Strukturen fördern. Privat ermöglichte Umnutzungen, die Ausflugsangebote bereichern, sind vor allem regional relevant.
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Abb. 6: Ebenen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und geografische Muster am Beispiel der Bahnhöfe Hitzacker, Klasdorf und Erlau
Skizze: M. Frölich-Kulik
Unabhängig von ihrer Umnutzung lassen die Beispiele die Annahme zu, dass durch ihre Abkopplung von der verbindenden Infrastruktur und der daraus folgenden Individualisierung der Gebäude auch deren Funktion als verbindende Knotenpunkte im Netzraum gelöst wird. Das Potential ihres historischen Erbes, Teil einer zusammenhängenden Struktur zu sein, kann häufig trotz der unterschiedlichen Funktionen und Umnutzungen nicht wiederhergestellt werden. Dennoch lassen sich auch einige Beispiele finden, die zeigen, dass es gelingen kann, die leerstehenden Gebäude als soziale Anlaufpunkte zu revitalisieren; wodurch wiederum neue Knoten im Netzwerk entstehen. Es bleibt auch in Zukunft die Frage zu beantworten, wie, unter welchen Bedingungen und durch wen die unzähligen, noch ungenutzten und scheinbar nutzlosen Landbahnhöfe zu Teilen einer verbindenden Infrastruktur und damit wieder zu Räumen aktueller alltäglicher Lebenspraktiken werden können. Es ist davon auszugehen, dass Landbahnhöfe als architektonische Leerstellen im Landschaftsgeschehen die Geschichte(n) und die Fortentwicklung des Netzraumes beeinflussen können. Sie sind materielle Ressourcen, die einer Neukonzeption und Neuaneignung bedürfen und daher auch neue Bedeutungs- und Wissensproduktionen benötigen. Um in strukturschwachen Regionen Impulse für ein nachhaltiges und gemeinschaftlich-soziales Miteinander zu setzen, sollten auch die unzähligen leerstehenden Landbahnhöfe als Möglichkeitsräume dafür in Betracht gezogen werden: Wenn nicht allein die Revitalisierung der baulichen Substanz im Vordergrund steht, sondern die Revitalisierung ihrer Bedeutung als Knotenpunkt im Netzraum, dann können Landbahnhöfe wieder zu Sammelstellen und Verteilerzentralen werden und neue Raumzusammenhänge schaffen. Das Verständnis von Landschaften als sozial und kulturell geprägte Netzräume, die vermittels spezifischer Knotenpunkte aufgespannt sind und verschiedene Orte und Elemente miteinander verbinden, kann dabei helfen, leerstehende Gebäude nicht lediglich als vereinzelte Objekte, sondern als Teile eines sich dynamisch entwickelnden Geflechts von Beziehungen zu verstehen und entsprechend zu planen.
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Landschaft verschwindet – was bleibt? Landschaft, Landnutzung und Strategien des Umgangs mit räumlichen Veränderungen D OROTHEA H OKEMA
E INLEITUNG Der ländliche Raum verändert sich – demographisch, ökonomisch, funktional. Auffällig sind besonders die Veränderungen des Landschaftsbildes: Traditionelle Kulturlandschaften sind immer seltener aufzufinden, romantische Landschaftsidyllen werden zu Ausnahmeerscheinungen. Landschaft scheint demnach zu ›verschwinden‹. Mit der Vorstellung verschwindender Landschaften gehen mehrere Implikationen einher. Dies ist zum ersten die Annahme, Landschaft existiere als Objekt und physischer Raum. Daraus folgt zum zweiten, etwas anderes müsse Landschaft ersetzen. Es stellen sich vor diesem Hintergrund und angesichts der verbreiteten Wertschätzung, die traditionelle Kulturlandschaften erfahren, mehrere Fragen: Was genau ist unter Landschaft zu verstehen? Welche räumlichen Veränderungen bewirken das Gefühl des ›Verlusts‹ von Landschaft? Und welche Strategien ermöglichen einerseits die Akzeptanz der räumlichen Veränderungen und andererseits den kontinuierlichen Bezug auf Landschaft? Die genannten Fragen werden im Folgenden diskutiert. Dabei werden sowohl lebensweltliche als auch wissenschaftliche Landschaftsverständnisse angesprochen. Die Darstellung bezieht sich insbesondere auf die Verhältnisse in Deutschland, denn obgleich vergleichbare Landnutzungsänderungen auch andere europäische Staaten betreffen, können sich die jeweiligen Landschaftsdiskurse doch in wichtigen Details unterscheiden.
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Alltagssprachlich ist der Landschaftsbegriff eindeutig besetzt: Landschaft wird meist außerhalb der Stadt verortet, sie ist mit einer überschaubaren Anzahl verschiedener, vorzugsweise als natürlich verstandener, Elemente ausgestattet, etwa mit Bäumen, Feldern, Wiesen, Wäldern und Gewässern. Landschaften entstehen außerdem als Kombinationen unterschiedlicher Oberflächenformen, etwa aus Bergen, Tälern, Niederungen und Felsen. Auch Siedlungen und technische Infrastruktur sind Teile gängiger Landschaftsvorstellungen, auch wenn sie, im Verhältnis zu den als natürlich eingeschätzten Landschaftselementen, von eher untergeordneter Bedeutung bleiben (Micheel 2013). Landschaft wird insgesamt verstanden als überwiegend natürlich geprägter, meist landwirtschaftlich kultivierter Raum, der ›grün‹, harmonisch, eventuell idyllisch oder romantisch und eher friedlich ist. Diese Charakterisierung eines alltagssprachlichen Landschaftsverständnisses erscheint zwar emotional, ist aber nicht subjektiv und beliebig. Untersuchungen der Bedeutung des Wortes Landschaft in der hochdeutschen Umgangssprache heben die breite Übereinstimmung im Hinblick auf Merkmale und Werte hervor, die dem Wort Landschaft zugeordnet werden (vgl. Hard 1970). Hards empirische Untersuchung des Wortes Landschaft und derjenigen Konnotationen, die ihm regelmäßig anhängen, kommt zum Ergebnis, dass sie sich im Wesentlichen drei Themenkreisen zuordnen lassen. Dies sind erstens ästhetische, poetische und ländlich-idyllische Bezüge, zweitens Motive der konservativen und völkischen Kultur-, Stadt- und Kapitalismuskritik und drittens Metaphern aus der Landschaftsökologie (Hard/ Gliedner 1977). Demnach ist Landschaft sowohl ein ästhetisch wahrnehmbares Phänomen, als sie auch als Ausdruck von Kultur und Tradition sowie von wohlgeordneter Natur begriffen wird. Hards Untersuchungsergebnisse sind, obgleich sie mehrere Jahrzehnte zurückliegen, weiterhin zutreffend. Auch aktuell wird Landschaft von Laien vor allem als Bild wahrgenommen; außerdem gilt sie als Hort überkommener Kultur und Tradition, als Kontrast zu Großstadt, Industrie und Technik. Schließlich wird Landschaft als vorwiegend natürlich – durch Vegetation, Relief und naturnahe Nutzungen – geprägter Raum verstanden (Hokema 2013). Kook (2009) stellt die große Bedeutung von Natur und natürlichen Phänomenen für das Verständnis von Landschaft dar. Die Ergebnisse der Befragung von Tourist/innen und Anwohner/innen am Kaiserstuhl veranschaulichen, dass zum einen zwar Kultur und Landnutzung als wichtige Determinanten in den Landschaftsbegriff eingehen, und dass zum anderen auch positiv besetzte Erlebnisse eine wichtige Rolle beim Verständnis von Landschaft spielen. Die meisten Assoziationen zum Landschaftsbegriff entfallen aber auf die Natürlichkeit von Landschaft im Allgemeinen, sowie auf Flora, Fauna, Relief und Gewässer im Besonderen. Deutlich wird, dass Landschaft auch in jüngerer Zeit als weitgehend natürlich geprägter physischer Raum verstanden
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wird. Sie wird als ein konkretes Gegenüber und objektiv bestehend aufgefasst, ihr wird materieller Charakter zugesprochen. Kooks Untersuchungsergebnis verweist außerdem auf einen Sachverhalt, der auch schon von Hard hervorgehoben wurde: Landschaft gilt im alltäglichen Sprachgebrauch überwiegend als ›schöne‹ Landschaft (Hard 1970: 48ff.). Hard hat die Übereinstimmung zahlreicher Attribute mit den Vorstellungen von ›Landschaft‹ und ›Gegend‹ abgefragt und kommt zum Ergebnis, ›Gegend‹ sei ein wenig profilierter Begriff, der sich maximal durch seine Assoziation zum Verständnis von ›Alltag‹ auszeichne. Anders der Begriff ›Landschaft‹, der in vielen Fragen recht eindeutig besetzt sei. Er wird von Proband/innen mehrheitlich z.B. als ›schön‹ eingeordnet, weitere Beispiele für die positive Besetztheit sind die Einordnung von Landschaft als ›harmonisch‹, ›poetisch‹, ›mannigfaltig‹ oder ›farbig‹ (ebd.). Deshalb erübrigt es sich oft, eine Landschaft als schön zu beschreiben, denn Gebiete, die nicht als schön (oder anderweitig positiv, z.B. harmonisch oder friedlich) konnotiert sind, werden nicht vorrangig als Landschaften bezeichnet, sondern bleiben Gegenden. Was also ist Landschaft? Folgt man dem alltagssprachlichen Verständnis in Deutschland, wie es u.a. von Hard, Micheel oder Kook vorgestellt wird (vgl. u.a. auch Nohl 1998; Ipsen 2002; Kühne 2006; Lupp 2008), ist Landschaft kultivierte Natur von schöner und harmonischer Wirkung, die durch Land- und Forstwirtschaft geprägt ist. Sie kann einzelne Gebäude enthalten oder, falls sie im Hintergrund verbleiben, auch größere Siedlungen und wird als Landschaft insbesondere dann wahrgenommen, wenn, etwa vom erhöhten Standpunkt aus, ein Überblick über einen Raumausschnitt möglich wird. Die wissenschaftliche Bestimmung des Landschaftsbegriffes ist weniger eindeutig. Zwar gilt seit dem Kieler Geographentag von 1969 der Landschaftsbegriff als definitorisch unscharf und wissenschaftlich nicht operationalisierbar (Werlen 1995). In der Folge hatte die Geographie konsequenterweise ihr raumbezogenes Paradigma durch kultur-, handlungs- und kommunikationstheoretische Ansätze ersetzt (Werlen/Lippuner 2007). Allerdings ist mit dem sogenannten spatial turn (Döring/Thielmann 2008) etwa seit Ende der 1980er Jahre der Raumbegriff – und mit ihm der Landschaftsbegriff – in die Geographie zurückgekehrt. Natur und Landschaft wurden als Schlüsselkategorien der Geographie nur teilweise verabschiedet, mit dem Raumbegriff bleiben Probleme, die mit dem Naturbegriff verbunden waren, weiterhin relevant (Flitner 1998). Auch in der Raumplanung, der Landschaftsplanung oder der Landschaftsarchitektur gab es, in Anerkennung der mangelnden wissenschaftlichen Bestimmbarkeit des Landschaftsbegriffes, Bemühungen, den Begriff neu zu besetzen – etwa ihn sozialwissenschaftlich zu fassen (z.B. Fürst et al. 2008), explizit nicht normativ zu definieren (z.B. Jessel 2004) oder ausdrücklich auch baulich geprägte Räume als Landschaft zu verstehen (z.B. Prominski 2004). Trotz dieser Bemühungen um eine differenziertere Definition des Landschaftsbegriffes steht aber in den raum- und planungsbezogenen Wissen-
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schaften in der Regel Landschaft als Objekt, als Handlungsgegenstand, als Ort im Vordergrund. Auch bleiben die Konnotationen von Natürlichkeit, Schönheit und Harmonie dem Landschaftsbegriff weiterhin erhalten (Hokema 2013). Alltagssprachlicher und wissenschaftlicher Diskurs weisen damit wichtige Überschneidungen in ihrem Verständnis von Landschaft auf: Landschaft wird, mehr oder minder explizit, als physische Realität, als ortspezifischer, positiv konnotierter Natur-Kultur-Zusammenhang aufgefasst. Unter dieser Voraussetzung kann tatsächlich ihr räumliches ›Verschwinden‹ konstatiert werden. Denn es gibt immer weniger traditionelle, von distanzierten Betrachter/innen als harmonisch wahrnehmbare ›Kulturlandschaften‹. Demgegenüber wird hier die These vertreten, dass ›Landschaft‹ als Raum nicht ›verschwinden‹ kann, weil sie als physisches Objekt nicht existiert. Damit soll die lebensweltliche Landschaftswahrnehmung, deren Erfahrung beglückend und deren Verlust schmerzhaft sein kann, nicht ignoriert werden. Wenngleich Landschaft in der Wahrnehmung ihrer Betrachter/innen existiert, lässt sie sich aber wissenschaftlich als materielles Objekt nicht bestimmen. Zahlreiche Definitionen bemühen sich zwar um die wissenschaftliche Einordnung des Begriffes. Dabei werden regelmäßig unterschiedliche Kategorien von Landschaftsbestandteilen genannt, die Beschreibung eines als ganzheitlich empfundenen Zusammenwirkens der Teile gelingt jedoch nicht. Bobek und Schmithüsen etwa definieren Ende der 1940er Jahre Landschaft als den gesamten Inhalt eines Teilstücks der Erdoberfläche, soweit er normativer Betrachtung zugänglich sei, als Komposition aus Aspekten einer anorganischen, einer vitalen und einer geistbestimmten Welt (Bobek/Schmithüsen 1949). Buchwald (1978) beschreibt Landschaft als Teilraum der Erdoberfläche, dessen Beschaffenheit auf ein Wirkungsgefüge von Atmosphäre, Hydrosphäre, Litho- und Pedosphäre sowie Bio- und Anthroposphäre zurückgehe. Weder die genannten noch die zahlreichen ähnlichen Definitionen können aber den systematischen Zusammenhang der Landschaftsbestandteile wissenschaftlich erfassen (Trepl 1995). Was lebensweltlich so faszinierend ist, das Erlebnis einer Ganzheit, lässt sich nicht aus den Eigenschaften der Elemente ableiten. Die Unmöglichkeit, Landschaft als materielle Ganzheit wissenschaftlich zu definieren, legt, da Landschaftserfahrung eine unabweisbare Realität ist, die Suche nach alternativen Erklärungsansätzen nahe. Im Gegensatz zu den essentialistischen Ansätzen in Raum- und Planungswissenschaften scheint hier eine konstruktivistische Perspektive erfolgversprechend (Kühne 2008). Demnach wäre Landschaft eine Sichtweise der räumlichen Umgebung, eine Erfahrung oder ein inneres Bild. Mit der Akzeptanz dieses Ansatzes würde in den ›Landschaftswissenschaften‹ nachvollzogen, was seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Relativität (natur-)wissenschaftlicher Beobachtungen thematisiert wird (vgl. Hofmann/ Hirschauer 2012). Nähert man sich dem Landschaftsbegriff aus konstruktivistischer Perspektive, kann er, wie generell das Wissen über die Welt und ihre Wahrnehmung,
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als individuelle und gesellschaftliche Konstruktion verstanden werden. Landschaftliche ›Tatsachen‹ sind vor diesem Hintergrund nicht als solche materiell existent, sondern das Ergebnis von Generalisierung, Formalisierung, Idealisierung und anderen abstrahierenden Prozessen (Schütz 1971). In diesem Sinn ist Landschaft also kein materieller Raumausschnitt und kein physisches Objekt, sondern das Ergebnis kultureller Konventionalisierungen und deren individueller und gruppenspezifischer Interpretation. ›Landschaft‹ beschreibt demnach die (unausgesprochene) Übereinkunft eines Kollektivs über die Auswahl und Anordnung physischer Objekte oder Symbole zu einem Bild. Die Konvention speist sich aus dem gesellschaftlichen Wissensbestand zum Thema und seiner Bewertung und bezieht ganz unterschiedliche Quellen ein. Dies können sowohl lebensweltliche Auffassungen als auch wissenschaftlich begründete oder öffentlich diskutierte Positionen zum Thema Landschaft sein. Kühne (2008) entwirft ein Modell, das die soziale Konstruktion von Landschaft als Kombination mehrerer Prozesse und Faktoren beschreibt und benennt als »gesellschaftliche Landschaft« (ebd.: 33) die »ästhetisierte bewusstseinsinterne, sozial präformierte Zusammenschau räumlich-relational angeordneter Objekte und Symbole« (ebd.). In diesem Sinn ist Landschaft eine gesellschaftliche Übereinkunft über die Anordnung und das Verhältnis und die Bedeutung bestimmter räumlicher Elemente. Zur Konstruktion von Landschaft sind nicht alle Objekte des physischen Raumes gleichermaßen geeignet, vielmehr werden als »angeeignete physische Landschaft« (ebd.: 35) diejenigen natürlichen und anthropogenen Objekte beschrieben, die per gesellschaftlicher Übereinkunft in der Regel für die Konstruktion von Landschaft herangezogen werden. Während sich die gesellschaftliche Landschaft aus dem kollektiven Wissensbestand und der als selbstverständlich angenommenen emotionalen Einigkeit über Landschaft innerhalb gesellschaftlicher Gruppen speist, erfährt dieser common sense auf der individuellen Ebene Modifikationen entlang spezifischer Vorlieben, Gefühle und Kenntnisse (von Kühne (ebd.: 33) als »individuell aktualisierte gesellschaftliche Landschaft« bezeichnet). Die individuelle Einübung in die Konvention des landschaftlichen Blicks erfolgt im Prozess der Sozialisation. Die gesellschaftliche Übereinkunft darüber, was im Allgemeinen unter Landschaft zu verstehen ist, wird u.a. durch Schulunterricht, Bücher, Spielzeug oder Werbung vermittelt (Kühne 2006). Diese und andere Medien und Institutionen verarbeiten die Wahrnehmung der zeitgenössischen physischen und sozialen Umwelt, in die Sozialisation gehen aber auch überlieferte Bilder und deren Konnotationen ein. Ein wiederkehrendes Stereotyp sind die sprichwörtlichen ›Bilderbuchlandschaften‹, die in der Regel nicht zeitgenössische Raumnutzungen beschreiben. Sie werden oftmals als ›romantisch‹ bezeichnet und speisen sich auch aus dem Bilderkanon der Romantik. Als (idealtypische) Landschaften werden überwiegend gerade nicht aktuelle räumliche Konstellationen verstanden; vielmehr werden diese idyllischen Landschaften aus kleinteiligen, natürlichen Elementen – Vorstellungen von kultivierter Natur und bäuerlicher Kultur – zusammengesetzt. Damit
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werden Landschaftsbilder konstruiert, wie sie möglicherweise vor der Industrialisierung existiert haben könnten. Solche Darstellungen vorindustrieller Kulturlandschaften, die als Inbegriff landschaftlicher Harmonie gelten, machen deutlich, dass als Input in die gesellschaftliche Konstruktion von Landschaft auch historisch überholte Raumelemente und Konstruktionen in Frage kommen. Tatsächlich ist im Hinblick auf die soziale Konstruktion von Landschaft die Entstehung der Idee der Landschaft während Aufklärung und Romantik von besonderer Bedeutung. Landschaft wurde zeitgleich und im Zusammenhang mit der Idee vom autonomen Subjekt ›entdeckt‹ und in der Romantik als Kunstreligion herangezogen, um die Lücke, die der Verlust der Religion in der Aufklärung verursacht hatte, zu füllen (Trepl 2012). Wenn als Landschaften nicht vorrangig zeitgenössische Situationen akzeptiert, sondern Vorstellungen von vorindustriellen Raumnutzungen herangezogen werden, ist dies auf den historischen Entstehungszusammenhang der Idee der Landschaft zurückzuführen. Die Wahrnehmung von Landschaft wurde erst durch die gesellschaftlichen Umbrüche der Neuzeit und der Aufklärung, die einen Wandel des Mensch-Natur-Verhältnisses einleiteten, möglich. In der Tradition der aristotelischen Theoria war bis zum ausgehenden Mittelalter Natur als ganze und göttliche wahrgenommen worden; das menschliche Erkenntnisvermögen war als Einheit aus freier Anschauung und begrifflichem wie wissenschaftlichem Erfassen konzipiert worden (Ritter 1963). Mit der Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaften veränderte sich dieser kontemplative Zugang ebenso wie die ganzheitliche Konzeption von Natur. Der wissenschaftliche Blick auf die Natur formierte sich als zerlegende, analytische Herangehensweise; an die Stelle der kontemplativen Betrachtung der ganzen und göttlichen Natur trat die ästhetische Wahrnehmung schöner oder erhabener Landschaft, die erst mit der Konstitution autonomer Subjektivität realisierbar wurde (Piepmeier 1980). Die Romantik reagierte auf die Religionskritik der Aufklärung, indem sie eine neue Mythologie erschuf, mit dem Ziel, das Christentum zu ersetzen. Landschaft erhielt in diesem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung, sie besetzte als Gegenstand der Malerei und Dichtung die durch den Verlust der Religion entstandene Leerstelle neu. Nachdem die christliche Bilderwelt als Ausdruck aufgeklärten Bewusstseins nicht mehr angemessen erschien, wurde Landschaft zum Medium des Göttlichen und Beseelten sowie zum Symbol der Auflösung von Konflikten und Widersprüchen, die mit der Aufklärung und ihren politischen Folgen verbunden waren. Ohne jede religiöse Konnotation kann Landschaft daher Heils- und Erlösungsversprechen symbolisieren und steht, ›säkular‹ interpretiert, für die Denkmöglichkeit von Harmonie im Mensch-Natur-Verhältnis. So verstanden wäre Landschaft eine ästhetisch oder teleologisch konstruierte Ganzheit, die in der Lage ist, die durch Aufklärung, analytische Naturwissenschaften und fortschreitende technische Modernisierung als entfremdend wahrgenommenen Lebensbedingungen punktuell aufzuheben.
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Deshalb ist die Idee der Landschaft – sowohl in ihrer unzeitgemäß wirkenden Ausgestaltung, als auch in aktualisierten Versionen (s.u.) – weiterhin so attraktiv: Die Idee eignet sich als Gegenentwurf zu konflikthaft erfahrenen Lebensbedingungen, als Vorlage zur Konstitution harmonischer Ganzheiten und als Rahmen für politische und religiöse Utopien. Weil die Errungenschaften der Aufklärung auch weiterhin für die Konstitution von Individualität grundlegend sind und weil auch die Skepsis der Romantik gegenüber dem Primat der Vernunft weiterhin als berechtigt erfahren wird, erfüllt auch die Idee der Landschaft weiterhin eine wichtige gesellschaftliche Funktion: Im Prozess der ästhetischen Konstruktion von Landschaft erfahren Individuen ihre Autonomie und Individualität, die teleologische Konstruktion ermöglicht die Erfahrung der Eingebundenheit in eine übergeordnete Ganzheit. Landschaften sind damit aufgrund des Motivs, sie zu konstruieren, und aufgrund des Konstruktionsprozesses so attraktiv. Auf die eingangs gestellte Frage, was Landschaft sei, wird also geantwortet: Landschaft ist eine Idee, eine soziale Konstruktion, die im Verlauf der Sozialisation vermittelt und im Prozess ästhetischer Erfahrung individuell realisiert wird. Auch wenn die jeweils individuelle Erfahrung für die Annahme spricht, Landschaft sei eine physische Ganzheit, handelt es sich bei dieser Vorstellung doch nur um die Verobjektivierung eines Reflexionsvorganges.
2. L ANDNUTZUNG Versteht man Landschaft als individuelle und gesellschaftliche Konstruktion, kann sie kein physisches Objekt sein und folglich nicht räumlich ›verschwinden‹. Dennoch werden Landschaftsveränderungen konstatiert (vgl. ARE/BAFU 2007; BfN/BBSR 2014) und der Verlust schöner Landschaften wird beklagt (vgl. z.B. Wöbse 2002). Tatsächlich haben sich in Deutschland und Europa in den vergangenen Jahrzehnten massive materielle und räumliche Veränderungen ereignet, die die Landnutzung betreffen. Landnutzungsänderungen werden durch politische und ökonomische Faktoren, wie etwa EU-Subventionen für die Landwirtschaft oder die Erschließungs- und Abgabenpolitik der Kommunen, determiniert. Wichtige Einflussfaktoren sind außerdem die Entfernungen zwischen ländlichen Räumen und Ballungsräumen oder die Eignung eines Gebietes für landwirtschaftliche Nutzung. Aus dem Zusammenwirken der genannten und weiterer ortsspezifischer Faktoren ergeben sich mehrere Tendenzen der Landnutzungsänderung. 1. Verbuschung und Bewaldung: Auf schlechten Böden und in kleinteilig strukturierten Gebieten kann Landwirtschaft kaum mit der Produktion unter günstigeren Bedingungen konkurrieren (Nabu 2006). Sogenannte landwirtschaftliche Ungunstlagen liegen oft in Mittelgebirgen, ihre Bewirtschaftung wird durch solche räumlichen
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Elemente erschwert, die vorzugsweise für die Konstruktion schöner Landschaften herangezogen werden. Gehölze, Gräben, magere Wiesen, Hanglagen oder kleine Bewirtschaftungseinheiten waren zwar bis in die 1970er Jahre Bestandteile landwirtschaftlich genutzter Flächen, schränken aber die Effektivität landwirtschaftlicher Produktion ein. In der Vergangenheit wurden die kleinteiligen Flächen oft von kleineren Betrieben bewirtschaftet. Einschneidende Veränderungen ergaben sich mit dem Strukturwandel in der Landwirtschaft: Insbesondere seit den 1990er Jahren kam es zur Aufgabe einer großen Anzahl von kleinen und mittelgroßen Betrieben; die Entwicklung setzt sich weiterhin, wenn auch abgeschwächt, fort (Destatis 2017). Die Konzentration auf eine geringere Anzahl größerer Betriebe und Bewirtschaftungseinheiten ging mit der Nutzungsaufgabe von Ungunstlagen einher. Zwar werden heute solche Flächen gelegentlich durch extensive Beweidung genutzt, dies erfolgt jedoch oft aus Gründen des Artenschutzes und wird von Naturschutzverbänden oder Stiftungen getragen. In der Regel fallen ungeeignete Flächen aber brach und unterliegen der natürlichen Sukzession. Je nach Standortbedingungen entwickeln sich dort in unterschiedlicher Geschwindigkeit Hochstaudenfluren, Pioniergehölze und schließlich Wald. Vormals kleinteilig gegliederte und vielfältige Räume gehen damit verloren. 2. Intensive landwirtschaftliche Nutzung: Der Trend zur Nutzungsaufgabe in Ungunstregionen wird begleitet von der Intensivierung landwirtschaftlicher Nutzung in Gunstregionen. Größere Betriebe bewirtschaften mehr Fläche in größeren Flächeneinheiten und halten umfangreichere Tierbestände. Möglich wird dies u.a. durch effizientere Maschinen und Arbeitsprozesse sowie durch die langjährige Unterstützung der Intensivproduktion aus EU-Mitteln; politisch und ökonomisch motiviert ist die Produktionsintensivierung durch den globalisierten Weltmarkt aber auch durch die Förderung des Energiepflanzenanbaus. Zwar unterstützt die Europäische Union neben Produktion und Vermarktung auch Agrarumweltmaßnahmen, deren Wirkung kann jedoch Effekte der industriellen Landwirtschaft – wie z.B. einen annähernd flächendeckenden Pestizideinsatz und hohe Stickstoffüberschüsse – nicht aufheben. Solch intensive Bewirtschaftung, die gleichzeitig großräumig erfolgt, also die Beseitigung von Hecken, Baumreihen, Baumgruppen, Feldrainen und anderen extensiv genutzten Teilflächen erfordert, führt zu einem Verlust an biologischer und an räumlicher Vielfalt (Haber 2014). Industrielle Landwirtschaft erzeugt große, gleichförmig genutzte Räume, die zwar durchaus als Landschaften wahrgenommen werden können, die aber wenige Anhaltspunkte für die Konstruktion traditioneller Ideallandschaften bieten. 3. Siedlungs- und technische Infrastruktur: Umfangreiche Landnutzungsänderungen ergeben sich durch die Bebauung vormaliger Freiflächen: Seit den 1950er Jahren hat sich die Siedlungs- und Verkehrsfläche in Deutschland mehr als verdoppelt (UBA 2016). Zwar sank das Tempo der täglichen Flächeninanspruchnahme (von knapp 130 ha/Tag Ende der 1990er Jahre auf 77 ha/Tag im Jahr 2010). Das Ziel der Bundes-
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regierung, diese Entwicklung erheblich zu verlangsamen (Reduzierung bis 2020 auf 30 ha/Tag), ist jedoch bei weitem nicht erreicht (BBSR 2012). Selbst im Fall einer weiterhin rückläufigen Bevölkerungsentwicklung wird auch für die kommenden Jahre die Zunahme der Siedlungs- und Verkehrsflächen prognostiziert, wenn dies vermutlich auch räumlich differenziert in Abhängigkeit von der regionalen wirtschaftlichen Lage erfolgen wird. Landnutzungsänderungen entstehen außerdem durch den Ausbau der technischen Infrastruktur, die für die Gewinnung und den Transport regenerativer Energien erforderlich ist. Bedeutend sind hier vor allem Windenergieanlagen und Hochspannungsleitungen, die als technische Elemente in ländlichen Räumen weniger wegen ihres Flächenbedarfes, sondern wegen ihrer Sichtbarkeit über größere Entfernungen bedeutend sind. Der Neubau von Siedlungen und Infrastruktur erfolgt vor allem im Umland der Städte und in ländlichen Gebieten; bebaut werden insbesondere vormals landwirtschaftliche Flächen. Damit gehen Räume verloren, die potenziell für die Konstruktion von Landschaft herangezogen werden könnten. Auch wenn Gebäude und Infrastruktur nicht grundsätzlich dem traditionellen Bild der schönen Landschaft widersprechen, gilt doch als Voraussetzung für die Konstruktion (schöner) Landschaften in der Regel, dass der Anteil baulicher Elemente am wahrgenommenen Bild geringer ist als derjenige der als natürlich eingeschätzten Elemente. 1 Auch die Omnipräsenz von Verkehrsachsen und technischer Infrastruktur ist nur bedingt mit der Konstruktion landschaftlicher Schönheit vereinbar, denn sie werden als technische Fremdkörper und als Störungen des landschaftlichen Ideals der Harmonie und Stille empfunden. Die geschilderten Landnutzungsänderungen betreffen mit Ausnahme der Wälder, der Hochgebirge und der durch besondere Eigenart ausgezeichneten Siedlungsgebiete große Anteile Deutschlands und Europas. Sie haben sich seit den 1970er Jahren annähernd flächendeckend durchgesetzt, so dass die alltäglich erfahrbare räumliche
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Dem widerspricht nicht, dass auch Stadtlandschaften konstruiert und als schön wahrgenommen werden. Dabei handelt es sich in der Regel allerdings gerade nicht um Gewerbegebiete, Einfamilienhaussiedlungen und Autobahnen, die flächenhaft bedeutend und hinsichtlich ihrer formalen Qualitäten überregional eher unterschiedslos sind, sondern um Gebiete, die wegen ihrer lokalen Eigenart, ihrer naturräumlichen Lage, ihres Alters, ihrer ungewöhnlichen Dimensionen oder eines anderweitig als außergewöhnlich bestimmten ›Charakters‹ gewürdigt werden. Darüber hinaus kann der Begriff der Stadtlandschaft auch metaphorisch gebraucht werden. Er bezeichnet dann ein bebautes Gebiet, das – ähnlich einer Landschaft – aus vielen Einzelelementen zusammengesetzt ist und insgesamt als Ganzheit wirkt. Solche Stadtlandschaft ist aber nicht in vergleichbarem Sinn positiv konnotiert.
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Umgebung zunehmend weniger Anhaltspunkte zur Konstruktion von Landschaft bietet. Die physischen Elemente, die regelmäßig im Prozess ästhetischer Wahrnehmung zur Konstruktion von Landschaft herangezogen werden – Feldraine und Feldhecken, markante Einzelbäume oder gewundene Bachläufe –, treten zunehmend seltener auf. Den Siedlungs- und Verkehrsflächen fehlt es an Naturnähe, den Wäldern und Äckern fehlt es an Vielfalt und Strukturreichtum. Das Idealbild vorindustrieller Ländlichkeit, dem die Konstruktion schöner Landschaft nachempfunden ist, existiert als Konstruktion zwar weiterhin, veränderte Landnutzungen haben aber zur Folge, dass sich zunehmend weniger physische Elemente finden, mit deren Hilfe die überlieferte Konstruktion von Landschaft in immer neuen Varianten im ästhetischen Erleben lebendig werden kann.
3. S TRATEGIEN
DES U MGANGS MIT VERÄNDERTEN L ANDNUTZUNGEN : Z EITGENÖSSISCHE L ANDSCHAFTSDISKURSE
Obgleich immer weniger materielle Anhaltspunkte für die Konstruktion idealer Landschaften aufzufinden sind, ›gibt‹ es ›Landschaft‹ weiterhin. Die gesellschaftliche Funktion der Idee der Landschaft und der individuelle Wunsch nach Landschaftserfahrung haben sich nicht erledigt (BMUB/BfN 2014); die Omnipräsenz von Landschaftsdarstellungen in den Medien verweist auf die verbreitete Wertschätzung des Themas (und befördert umgekehrt auch seine positive Bedeutung). Landschaft scheint weiterhin als gesellschaftlicher Ort für die Projektion des Nicht-Alltäglichen und Utopischen sowie für die jeweils individuell zu vollziehende Erfahrung von Autonomie und Subjektivität geeignet zu sein. Wenn aber Landschaft als physische Ganzheit nicht existiert, und wenn auch die räumlichen Elemente, aus denen Landschaft zusammengesetzt wird, zunehmend nicht mehr aufzufinden sind – auf welche Weise ist Landschaftserfahrung dennoch möglich? Es gibt mehrere Strategien im Umgang mit den angedeuteten Landnutzungsveränderungen. Weit verbreitet ist offenbar das Festhalten am traditionellen Bild der Ideallandschaft. Diese Haltung findet sich damit ab, öfter ›Gegenden‹ (im Sinn von Hards Interpretation) und seltener ›Landschaften‹ zu sehen. Die Realisierung von Landschaftserfahrung bleibt aber möglich, beispielsweise an Urlaubsorten fern der Städte, deren Elemente als Material für die Inszenierung von Landschaft geeignet sind. Solche Nicht-Alltäglichkeit von Landschaftserfahrung entspricht der Vorstellung von Landschaft als idealem Ort und als Zustand, der nicht wirklich oder nur im Idealfall erreichbar ist.
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Allerdings sind Reisen in Regionen, die physische Anknüpfungspunkte für die Konstruktion von Landschaft bieten, nicht nötig, um weiterhin traditionell schöne Landschaften zu sehen und zu erleben. Alle Bildmedien bieten permanent eine Fülle von Abbildungen idealer Landschaften an: ›Landschaft‹ ist über Werbung, Filme, Magazine, Computerspiele u.a. omnipräsent (vgl. Knubel/Backhaus 2012, Fontaine 2017). Auch unter denen, die sich professionell mit Landschaft befassen – das zeigt die Analyse von Landschaftsplänen – ist die Konstruktion des historisch überholten Bildes der vorindustriellen Kulturlandschaft weiterhin hochaktuell und beliebt (Wojtkiewicz/Heiland 2013). Dadurch bleiben die ideale Konstruktion von Landschaft und die Versatzstücke, aus denen sie zusammengesetzt wird, im kulturellen Gedächtnis. Auch wenn die individuellen Lebensumstände und die allgemeinen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse längst andere sind als zur Zeit des Aufkommens der Idee der Landschaft, wird Landschaft weiterhin gemäß eines Stereotyps konstruiert, das unzeitgemäß erscheint (und das schon zur Zeit der ersten Landschaftsgemälde weniger äußere Verhältnisse als innere Zustände ausdrückte). Darin liegt auch heute noch die Anziehungskraft der altmodischen Kulturlandschaften: In ihrem utopischen Potenzial, ihrer Offenheit für die Aufladung mit politischen und persönlichen Bedeutungen. Eine zweite Strategie, das ›Verschwinden‹ von ›Landschaften‹, d.h. die umfassenden Landnutzungsänderungen der vergangenen Jahrzehnte, zu bewältigen, besteht darin, die Konstruktion von Landschaft an die veränderten Bedingungen anzupassen. ›Landschaftsfähig‹ sind dann nicht nur solche Räume, die die bewährten natürlichen Elemente aufweisen, vielmehr werden weitere Nutzungen und Elemente als ›landschaftlich‹ akzeptiert. Veränderungen der Einschätzung dessen, was als ›Landschaft‹ eingeordnet wird, sind historisch nichts Neues. Hochgebirge etwa galten noch bis ins 18. Jahrhundert als lebensfeindlich und wüst, die Heide wurde erst im 19. Jahrhundert als Landschaft entdeckt (Dinnebier 2000). Räumliche Konstellationen, die in jüngerer Zeit als Landschaften verstanden wurden, sind brachgefallene Industriegelände oder TagebauRestlöcher (Schwarzer 2014). Die Verschiedenheit der Räume und Nutzungen macht deutlich, dass Landschaftserfahrung nicht unbedingt an die Verwendung des eingeführten Vokabulars gebunden ist – Landschaft kann auch unabhängig von stereotypen Elementen wie Feld, Wald, Wiese usw. konstruiert werden. Erforderlich ist allerdings weiterhin der Verweis auf solche Raumbestandteile, die als ›natürlich‹ wahrgenommen werden. Das können Pflanzen oder Erde sein, auch der Himmel, Wolkenbildungen oder Licht können Atmosphären der Natürlichkeit schaffen. Die Integration von solcher ›Natur‹ in das konstruierte Bild ist deshalb unverzichtbar, weil »Natur als Gegenwelt« (Großklaus/Oldemeyer 1983) zu Alltag, Gesellschaft, Technik, Stadt usw. verstanden und als solche idealisiert werden kann. Natur ist damit der Aufhänger für die utopischen Aspekte zeitgenössischer Auffassungen von Landschaft. Ein weiteres Kriterium für die Einordnung eines Gebietes als Landschaft
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ist dessen Nutzung: Orte werden dann eher als Landschaften wahrgenommen, wenn sie keine aktiven Produktionsstätten sind. Wenn, wie im Fall stillgelegter Industrieoder Tagebaugelände, das Bild von den Betrachter/innen distanziert als zweckfrei konstruiert werden kann (vgl. Höfer 2000), wenn also nicht insbesondere gesellschaftliche oder ökonomische Zwecke assoziiert werden, dann kann die wahrgenommene Szene als ›landschaftlich‹ gesehen, verstanden und eingeordnet werden. Auch bei diesen modernisierten Varianten von Landschaft bleibt es dabei, dass Landschaft als Ganzheit gedacht wird, dass sie nicht nur gesellschaftlichen Einflüssen unterliegt, sondern auch sichtbar natürlich geprägt ist und dass sie normativ besetzt ist, nämlich positiv. Konstruktionen, die solche Kriterien nicht erfüllen, werden in der Regel nicht als ›Landschaft‹ anerkannt. Eine dritte Strategie, veränderte Landnutzungen in Übereinstimmung zu bringen mit der Bedeutung des Landschaftsbegriffes zeigt sich in der wissenschaftlichen Diskussion über Landschaft. In der Geographie, der Raumplanung, der Landschaftsplanung und -architektur wird diskutiert, was Landschaft genau sei. Kritisiert wird der normative und der politische Gehalt des Landschaftsbegriffes sowie die Differenz zwischen dem traditionellen landschaftlichen Ideal und der realen Landnutzung (Prominski 2004). Ziel einer sogenannten ›Erweiterung‹ des Landschaftsbegriffes ist es, ihn über seine historischen und idealen Konnotationen hinaus auch auf zeitgenössisch geprägte Räume anwenden zu können (Sieverts 1999). Angestrebt wird, ›Landschaft‹ als wertfreien wissenschaftlichen Begriff zu etablieren. Der Landschaftsbegriff soll demnach nicht selbstverständlich mit positiven Konnotationen verbunden und auch nicht zumindest implizit als ›schön‹ verstanden werden. Die Konstruktion von Landschaft – so die Diskussion um eine ›Erweiterung‹ des Landschaftsbegriffes – soll nicht notwendig an Erscheinungsformen von Natur gebunden sein, sondern alle denkbaren räumlichen Konstellationen umfassen (Apolinarski et al. 2004). Dieses Ziel, den Landschaftsbegriff für seine wissenschaftliche Verwendung tauglich zu machen, ist aus verschiedenen Gründen nachvollziehbar. Diese gehen auf die Regeln des Wissenschaftsbetriebes zurück: Zum einen müssen ›Landschaftswissenschaften‹ sich als Wissenschaften profilieren und ihren Gegenstand nach den Regeln der Wissenschaft – also u.a. wertfrei – konstituieren. Zum anderen kommt den Disziplinen, die sich mit Landschaft befassen, ihr Gegenstand – falls sie diesen im überlieferten Sinn verstehen – zunehmend abhanden, denn es gibt kaum noch Gegenden, die der Vorstellung der traditionellen Kulturlandschaft gerecht werden. Dagegen gewinnen die landschaftsbezogenen Disziplinen an Zuständigkeit, Relevanz und potenziell an Deutungshoheit, wenn ihr Gegenstand nicht nur die klassische Kulturlandschaftskonstellation ist, sondern alle denkbaren Landnutzungen und räumlichen Konstellationen. Obgleich das Motiv, den Landschaftsbegriff zu erweitern, als politisches Ziel nachvollziehbar ist, erscheint es allerdings fraglich, ob dieses Vorgehen aus wissenschaftlicher Perspektive eine angemessene Problemlösung darstellt. Skepsis ist angebracht im Hinblick auf die Frage, ob und auf welche Weise
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der Landschaftsbegriff gezielt neu besetzt werden kann, ohne dabei die dem Begriff anhaftenden Konnotationen weiterzutragen. Auch erzeugt der Versuch, die räumliche Umwelt insgesamt als Landschaft zu definieren, Abgrenzungsprobleme zu anderen Begriffen und Forschungsfeldern (und vorerst ist eher der Wunsch nach einem solchen Paradigmenwechsel erkennbar, als eine tatsächliche Veränderung). Darüber hinaus erscheint angesichts der sozialen Determiniertheit des Begriffes und den daraus resultierenden Grenzen allgemeingültiger Definitionen der Versuch, Landschaft weiterhin räumlich zu bestimmen, als überholt. Schließlich entstehen mit der ›Erweiterung‹ des Landschaftsbegriffes Verständigungsschwierigkeiten zwischen Wissenschaft und Lebenswelt, denn im alltäglichen Diskurs zeichnet sich eine vergleichbare Tendenz zur Erweiterung nicht ab. Dies ist insofern nicht unerheblich, als die ›Landschaftswissenschaften‹ in Planungsprozessen angewandt werden und auf die Kommunikation mit Planungsbetroffenen angewiesen sind. Dennoch hat diese Strategie der Neuorientierung des Landschaftsbegriffes den Vorteil, Landschaft als zeitgemäßen Gegenstand zu bestimmen.
4. L ANDSCHAFT BLEIBT Zusammenfassend sollen die eingangs gestellten Fragen nach der Bedeutung von Landschaft, dem Charakter der räumlichen Veränderungen im ländlichen Raum und dem Fortbestehen von Landschaft aufgegriffen werden: Landschaft wird nicht als physisches Objekt, sondern als soziale Konstruktion begriffen. Sie kann insofern nicht räumlich verschwinden. Allerdings kann sich, entsprechend der Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, auch die Konstruktion von Landschaft wandeln; dies wird deutlich anhand der sukzessiven Erweiterung des Spektrums der zur Konstruktion von Landschaft herangezogenen Elemente. Wenn demnach auch die Vorstellungen von schöner Landschaft einem gewissen Wandel unterworfen sind, scheinen das Motiv für die Konstruktion und der Typ des konstruierten Bildes – ein Überblick über eine positiv empfundene Szenerie mit natürlichen Bestandteilen – dagegen relativ stabil zu sein. Dies ist der herausragenden Bedeutung der historischen Situation zu verdanken, in der die Idee der Landschaft entstand. Die Konstitution autonomer Subjektivität, die mit der Aufklärung denkbar und im Prozess ästhetischer Wahrnehmung erfahrbar wurde, kann auch heute noch im Verlauf der persönlichen Sozialisation durch Landschaftserfahrung individuell realisiert werden. Auch der romantische Topos, Landschaft als Ersatz für die verlorene Religion und als sinnstiftend zu verstehen, wirkt nach, so dass Landschaft weiterhin als Gegenwelt konstruiert und idealisiert wird. Die anhaltende Attraktivität von Landschaftserfahrung und die Aktualisierung der Vorstellungen von schöner Landschaft zeigen, dass die Sehnsucht nach idealen Landschaften, bzw. den
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damit verbundenen Idealen, auch gegenwärtig virulent ist. Die Auffassungen darüber, was als Landschaft bezeichnet werden kann, fächern sich allerdings in verschiedene Subdiskurse auf – der Begriff verliert an Eindeutigkeit, während die Idee der Landschaft weiterhin fest im kollektiven Bewusstsein verankert ist.
L ITERATUR Apolinarski, Ingrid/Gailing, Ludger/Röhring, Andreas (2004): Institutionelle Aspekte und Pfadabhängigkeiten des regionalen Gemeinschaftsgutes Kulturlandschaft. Working Paper, https://leibniz-irs.de/fileadmin/user_upload/IRS_ Working_Paper/Kulturlandschaft.pdf (22.02.2017). ARE/BAFU Bundesamt für Raumentwicklung/Bundesamt für Umwelt (2007) (Hg.): Landschaft unter Druck. https://www.are.admin.ch/are/de/home/medien-undpublikationen/publikationen/laendliche-raeume-und-berggebiete/landschaft -unter-druck-3-fortschreibung-beobachtungsperiode-1989.html (22.02.2017). BBSR Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (2012) (Hg.): Trends der Siedlungsflächenentwicklung, Bonn: BBR. BfN/BBSR Bundesamt für Naturschutz/Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (2014) (Hg.): Den Landschaftswandel gestalten! www.tu-dresden.de/ bu/architektur/ila/lp/publikationen-und-ortraege/Forschungsberichte (22.02.2017). BMUB/BfN Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit/Bundesamt für Naturschutz (2014) (Hg.): Naturbewusstseinsstudie 2013. Berlin/Bonn: BMUB. Bobek, Hans/Schmithüsen, Josef (1949): »Die Landschaft im logischen System der Geographie«, in: Erdkunde, Jg. 3, Nr. 2, S. 112-120. Buchwald, Konrad (1978): »Landschaft – Begriff, Elemente, System«, in: Konrad Buchwald/Wolfgang Engelhardt (Hg.), Handbuch für Planung, Gestaltung und Schutz der Umwelt, Band 2: Die Belastung der Umwelt, Bonn: Economica. S. 123. Destatis (2017): Agrarstrukturerhebung 2016. www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Wirtschaftsbereiche/LandForstwirtschaft Fischerei/LandwirtschaftlicheBetriebe/ASE_Aktuell.html (22.02.2017). Dinnebier, Antonia (2000): »Zur Zukunft der ästhetischen Landschaft«, Wolkenkuckucksheim. Internationale Zeitschrift für Theorie und Wissenschaft der Architektur. Jg. 4, Nr. 2, www.cloud-cuckoo.net/openarchive/wolke/deu/ Themen/992/Dinnebier/dinnebier.html (22.02.2017). Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (2008): »Was lesen wir im Raume? Der spatial turn und das geheime Wissen der Geographen«, in: Dies. (Hg.), Spatial Turn – Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript, S. 8-45.
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Leere Landschaften Grenzfälle kultureller Deutungen von Landschaften in Literatur und Kunst M ARTIN E HRLER Wenn diese furchtbare Regsamkeit des modernen Denkens anhält, so wird es in wenigen Jahren kein armes Stücklein Heide mehr geben, auf dem die Phantasie träumend ruhen könnte, wie der Reiher gedankenvoll auf einem Bein steht an abendlicher Tränke. BARBEY D’AURÉVILLY / DIE GEBANNTE
Gerade die Symptome einer sich weiter beschleunigenden Moderne haben Landschaft wieder zu einem relevanten Gegenstand individueller und kollektiver Wahrnehmung werden lassen. In Zeiten, in denen Landschaften als stark gefährdet erscheinen oder gar ganz zu verschwinden drohen, rücken sie um so stärker in den Fokus künstlerischer und wissenschaftlicher Untersuchungen. Seit jeher fungieren sie als Symptom und Abbild eines, wenn auch oftmals überzeichneten oder gänzlich imaginierten, spezifischen Mensch-Natur-Verhältnisses; die dem zugrunde liegenden kulturell wirksamen Bilderwelten und Konzeptionen wurden und werden dementsprechend kontinuierlich verändert und im Rahmen politischer, technischer und sozialer Gegebenheiten und Einflüsse erweitert. Sie zeugen dabei in ihren jeweiligen Gegenwartsbezügen zugleich auch von Verschiebungen und Veränderungen konkreter, als landschaftlich wahrgenommener, Geschehenszusammenhänge und loten gewissermaßen immer wieder neu die Grenzfälle räumlicher Konfigurationen aus, die sich am Rande prototypischer Bilderwelten und Konzeptionen des Landschaftlichen befinden. Dabei geben sie Auskunft über die Leistungsfähigkeit und Integrationskraft kultureller Deutungsmuster einerseits und über den theoretischen wie
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praktischen Umgang des Menschen mit vorgefundenen oder selbsterzeugten Leerstellen in diesem System andererseits. Es zeigt sich hierbei, dass die Wahrnehmung und Imagination leerer Landschaften, wie sie sich sowohl geografisch-konkret als auch literarisch-künstlerisch hergestellt finden lassen, häufig auch auf die Grenzen der Erkenntnistätigkeit verweisen, was oftmals den Ausgangspunkt für eine kritische Analyse der menschlichen Naturaneignung bildet.
Z UR B ESTIMMUNG EINES L ANDSCHAFTSBEGRIFFS Wirft man zu Beginn nur einen kurzen Blick auf die Etymologie des Wortes Landschaft, wird schnell deutlich, dass das, was gemeinhin unter Landschaft verstanden wurde, erheblichen historischen Veränderungen unterlag und – das lässt sich daraus schlussfolgern – wohl auch weiterhin unterliegen wird.1 Noch bis ins Mittelhochdeutsche hinein hatte der Begriff keine ästhetische Ausprägung, sondern bezeichnete lediglich ein bestimmtes Territorium oder eine Gegend, welche, das zeigt das aus dem Althochdeutschen abgeleitete Suffix ›-schaft‹ an, eine genuine Ordnung eines Landes betonte. Das Suffix belegt, dass sich das Wort zunächst aus einer Gruppe jener Komposita herausbildete, die eine personelle oder räumliche Zugehörigkeit zu einem Kollektiv ausdrückten, gleichsam etwa wie die Worte ›Burschenschaft‹ oder ›Grafschaft‹. Auch Landschaft ist ein solcher »abstrakter Kollektivbegriff«, welcher zunächst »eine Vielheit einzelner Gebiete (lant) als Einheit begreift.« (Meineke 1991: 56) Bis heute ist diese politisch-topografische Komponente noch geläufig, z.B. dann, wenn der Begriff, wie im GRIMMSCHEN WÖRTERBUCH ausgeführt, für ein »sozial zusammenhängendes Ganzes« gebraucht wird.2
1
Denn auch in der Wortgeschichte finden sich die Spuren dessen wieder, was auch heute noch die Vielschichtigkeit und stete Veränderlichkeit des Begriffes auszumachen scheint. Landschaft erscheint aus sprachgeschichtlicher Perspektive als ein Begriff, in dem sich »ästhetische, territoriale, soziale, politische, ökonomische, geographische, planerische, ethnologische und philosophische Bezüge« (Kühne 2008: 13) mischen. Eine Dechiffrierung des Begriffes, der lediglich einen dieser Aspekte in den Blick nimmt, scheint dabei jedoch nur schwerlich möglich, handelt es sich bei dem Phänomen Landschaft doch um eines, welches »am Kreuzungspunkt von natur- und kulturwissenschaftlicher Erkenntnis, von Geschichte und Geographie, von Individuum und Gesellschaft, von Realem, Imaginärem und Symbolischem« (Collot 2018: 151) angesiedelt ist.
2
Aus diesem Verständnis heraus erklären sich auch viele der mit dem Begriff gebildeten metaphorischen Wendungen. Auch diese verweisen oftmals auf eine gewisse thematischräumliche Zusammengehörigkeit. So beispielsweise in den Wendungen ›Begriffslandschaft‹ oder ›Medienlandschaft‹.
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In der Alltagssprache ist eine gewisse ästhetische Ausprägung des Gegenstandes seit geraumer Zeit im Begriff selbst angelegt. Zunächst, das ist die erste gegebene Wortbedeutung, sei Landschaft zu verstehen als eine »gegend, landcomplex in bezug auf lage und natürliche beschaffenheit […] mit rücksicht auf den eindruck, den eine solche gegend auf das auge macht«.3 Diese Bestimmung dürfte den Kern des landläufigen Verständnisses des Wortes zumindest im deutschen Sprachgebrauch treffen. Dabei findet sich eine beachtenswerte Konkretisierung: Landschaft sei demnach etwas, was sehend wahrgenommen werde und darüber hinaus einen gewissen Eindruck mache. Dieser mit dem Phänomen verknüpfte Eindruck ist sicherlich auch das Movens für die Hervorbringung jener Gegenstände, die die zweite Wortbedeutung beschreibt: »die künstlerische bildliche darstellung einer solchen gegend […] in freierem sinne, vom dichter«. Diese weitergehende Bestimmung umfasst die ästhetisierenden Darstellungen von räumlichen Zusammenhängen als Landschaft; wobei hier lediglich die bildnerischen und poetischen explizit angeführt werden. 4 Ästhetisierte Landschaften adaptieren dabei oftmals das in der ersten Definition dargelegte Übergewicht des optischen Eindrucks,5 wobei diese ausgeprägte Akzentuierung wohl auch
3
Insgesamt sind unter dem Lemma Landschaft im GRIMMSCHEN WÖRTERBUCH sieben Wortbedeutungen aufgeführt. Da vier davon im Kontext der hier angeführten Überlegungen und mitunter gar im modernen Sprachgebrauch keine Rolle mehr spielen und teilweise schon mit Erscheinen des Wörterbuchs veraltet waren, sollen diese hier lediglich der Vollständigkeit halber nur kurz genannt werden. So wurde der Begriff Landschaft vormals auch synonym zu den Wörtern ›Land‹ und ›provincia‹ gebraucht. Darüber hinaus konnte Landschaft auch als personenkollektiver Terminus verstanden werden, der entweder die ansässige Bevölkerung oder die politisch Handlungsfähigen eines Landes oder Territoriums bezeichnete. Auch die im Wörterbuch angeführten preußischen Kreditinstitute und Pfandbriefanstalten, die einstmals als ›Landschaften‹ bezeichnet wurden, haben sich nicht erhalten (siehe unter: www.woerterbuchnetz/DWB).
4
Es ist zunächst wohl wirklich der optische Eindruck, der Eingang in die Kunst findet. Die meisten Ästhetisierungen zeichnen, malen oder beschreiben deswegen wohl auch lediglich das Visuelle der Landschaft. Selbstverständlich ist sie aber als ein Phänomen zu verstehen, welches sich mit allen Sinnen wahrnehmen lässt. Deshalb wird Landschaft in der Forschung (vornehmlich, wenn es um ihren ästhetischen Gehalt geht) zunehmend mit dem Begriff der Atmosphäre in Verbindung gebracht. (Vgl. zur Theorie der Atmosphäre und des Atmosphärischen: Böhme 2001, Kap. III + IV und Böhme 2013; zum Atmosphärenbegriff in der Auseinandersetzung mit ästhetischen Landschaften vgl. z.B. Ulber 2017)
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Was zunächst wie eine unproblematische Selbstverständlichkeit klingen mag, erscheint auf den zweiten Blick doch bedeutsam. Bernhard Waldenfels (1988) macht darauf aufmerksam, dass in der berühmten Schilderung Petrarcas vom Aufstieg zum Mont Ventoux, die
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auf die Landschaftsmalerei zurückzuführen ist, welche die Wahrnehmung und Gestaltung angeeigneter physischer Landschaften entscheidend prägte (vgl. Gruenter 1975: 198ff.). Zunächst ist Landschaft nämlich terminus technicus der Malerei. So trat im 16. und 17. Jahrhundert neben etablierte Gattungen wie Stillleben oder Portrait auch die »bildliche Darstellung unbelebter Natur« (Raymond 1993: 8). Die Begriffsbildung ist stark von dieser Tatsache beeinflusst, weshalb sich daraus auch die Paradoxie ergab, dass man zunächst jene Gemälde Landschaften nannte, »auf denen das dargestellt war, was man erst später eine Landschaft nannte« (Trepl 2012: 32).6 Hierin liegt begründet, dass auch heute gemeinhin noch das als (bemerkenswerte) Landschaft wahrgenommen wird, was an gemalte Landschaften zu erinnern scheint: Die bildhafte Imagination prägt dabei die Wahrnehmungsweise konkreter räumlicher Zusammenhänge. Jedoch ist es nicht allein das Sichtbare, das eine Landschaft charakterisiert. Auch ästhetisierte Landschaften, die zunächst ausschließlich eine visuelle Dimension zu besitzen scheinen, können die sensorische Mehrdimensionalität der Landschaft transportieren – das Atmosphärische der Landschaft ist auch in ihnen angelegt. Dies wird beispielsweise bei der Betrachtung von Claude Monets COQUELICOTS (1873) deutlich. Das Bild scheint beinahe selbstverständlich die olfaktorische Wahrnehmung zu aktivieren, die Landschaft strahlt, selbst abgebildet, einen Geruch aus; und das obwohl Mohn gar keinen starken eigenen Duft hat. Dies verweist auf eine
heute gemeinhin als die Geburtsstunde ästhetischen Landschaftsempfindens gilt, durchaus auch andere Umstände als die optischen Erwähnung hätten finden können, beispielsweise Gerüche oder Geräusche. Dergleichen finden sich allerdings nicht in seinen Aufzeichnungen wieder (Waldenfels 1988: 30). Mittlerweile haben sich auch Techniken etabliert, die Landschaften ganz ohne optische Elemente erfahrbar machen. Durch die phonografische Methode der Field-Recordings etwa können sie über die Isolation von Tönen, Geräuschen und Klängen auch akustisch abgebildet und nachempfunden werden. Deutlich abstrakter finden sich solche Methoden auch schon in klassischer Musik, bspw. in Beethovens 6. Sinfonie (siehe dazu: Waczkat 2012). 6
Auch den Weg in die Literatur fand die Landschaft über die Malerei. Zwar lassen sich sowohl in der Malerei und natürlich auch in der Dichtung schon erheblich früher Abbildungen und Schilderungen von Natur finden, die unter gewissen Umständen auch landschaftliche Züge aufweisen, jedoch stehen diese in beiden Künsten zunächst stets im Dienste des Abgebildeten. So dienen Naturgegenstände in der Malerei lange Zeit lediglich als symbolische Staffage für den dargestellten (Handlungs-)Raum, jene verengende Tradition, welche die Literatur, die die Landschaft noch beständiger in Form des locus abbildete, erst über die »literarische Entdeckung des Landschaftsgemäldes« (Gruenter 1975: 204) abzulegen begann.
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bestimmte assoziative Wahrnehmungsweise, die mit einem typischen bildlichen Eindruck verbunden ist: an eine blühende Wiese etwa scheinen doch immer auch bestimmte Gerüche gekoppelt zu sein. Erst diese komplettieren die Sommerlandschaft. Dabei ist es nicht ausschließlich auf die Maltechnik Monets zurückzuführen, der, ganz im impressionistischen Stil, darauf bedacht war, auch nicht-sichtbare Eindrücke zu visualisieren; diese Qualität steckt vielmehr in der Landschaft selbst; und das ganz unabhängig davon, ob sie real oder abgebildet ist.7 Auch hier wird deutlich: Landschaften lassen sich nur schwerlich auf das Visuelle reduzieren, vielmehr sind sie multisensorisch wahrnehmbare Phänomene, die mehr als den Gesichtssinn ansprechen. Sie sind lediglich vordergründig visuell. Die Dominanz des Visuellen lässt die gleichzeitig erfahrbaren Sinnesreize aber oftmals so hintergründig erscheinen, dass sie für den Begriff, das zeigt nicht zuletzt der Eintrag im Wörterbuch, als Unmaßgebliches zu verschwinden drohen. Landschaft kann also direkt (als wahrgenommener Raum) oder vermittelt (als ästhetisiertes Raummodell) empfunden werden, wobei diese Erscheinungsweisen des Phänomens nur schwerlich voneinander getrennt werden können. Sie sind vielmehr zwei Seiten der gleichen Medaille. Diese Bipolarität, die in den Eintragungen des Wörterbuchs vielmehr widergespiegelt als hergestellt wird, offenbart eine generelle Schwierigkeit im Umgang mit dem Phänomen. Landschaft ist in jedem Kontext ein subjektiv konstruiertes, geistiges Artefakt. Die Landschaft, so schreibt Georg Simmel in der PHILOSOPHIE DER LANDSCHAFT, »fordert […] ein vielleicht optisches, vielleicht ästhetisches, vielleicht stimmungsmäßiges Für-sich-sein, eine singuläre, charakterisierende Enthobenheit aus jener unzerteilbaren Einheit der Natur« (Simmel 2010: 471). Dort, so Simmel weiter, wo nicht mehr nur einzelne Naturgegenstände wahrgenommen werden, sondern die Landschaft selbst, habe man ein »Kunstwerk in statu nascendi.« (Ebd.: 477) Landschaft zu sehen sei ein Malen im Geiste8, die Ästhetisierungen reproduzieren und reflektieren diesen Effekt letztlich nur explizit.
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Gernot Böhme merkt in seinen Vorlesungen zur Aisthetik an, dass das Atmosphärische der Natur (oder in diesem Fall: der Landschaft) in der bildenden Kunst nur indirekt durch Insignien erscheinen kann, »durch Anzeichen dafür, daß beispielsweise in einer Landschaft, einem Park, einem Garten die entsprechende Atmosphäre herrscht: der Herbst erscheint durch bunte Blätter, der Mittag durch tiefe, intensive Schatten« (Böhme 2001: 65) oder der Sommer, wie in Monets Bild, durch den blühenden Mohn. Als primäres Sujet der Malerei hingegen tauge, so Böhme, das Atmosphärische nicht recht, es sei in Raumkünsten wie Musik oder Lyrik besser abbildbar (vgl.: ebd.).
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Der Betrachter tue, so führt Simmel aus, »eben das, was der Künstler tut: daß er aus der chaotischen Strömung und Endlosigkeit der unmittelbar gegebenen Welt ein Stück herausgrenzt, es als eine Einheit faßt und formt, die nun ihren Sinn in sich selbst findet und die weltverbindenden Fäden abgeschnitten und in den eigenen Mittelpunkt zurückgeknüpft hat
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Diese bei Simmel angesprochene Zusammenschau führt nicht nur in erstaunlicher Weise auf einen ›abstrakten Kollektivbegriff‹ zurück, sondern offenbart auch die Unmöglichkeit, Landschaft ohne ästhetische bzw. aisthetische Aspekte zu denken, ganz gleich ob in realer Anschauung, imaginiert, abgebildet (Gemälde, Fotografie, Film), in deskriptiver Manier beschrieben (Dichtung) oder entworfen (Gartenbau, Landschaftsarchitektur). Entscheidend ist dabei immer jenes konstituierende Merkmal, welches sich in der ersten Bestimmung im Wörterbuch findet und für Landschaften generell zu gelten scheint: der Eindruck. Landschaften sind stets abhängig von der perspektivischen Betrachtung durch ein schauendes Subjekt und nicht ohne dieses zu denken. Die ästhetischen Zugänge, die heute ganz selbstverständlich mit dem Phänomen verknüpft zu sein scheinen, setzten jedoch zunächst ein verändertes Verhältnis des Menschen zur Natur voraus: Ein interesseloses Wohlgefallen an der Natur war erst möglich, da der Mensch sich ihr »ohne praktischen Zweck in ›freier‹ und genießender Anschauung zuwenden konnte, um als er selbst in der Natur zu sein.« (Ritter 1989: 150)9 Unter anderem die Entdeckung der kontemplativen Qualität von Landschaft ist es, die dem Gegenstand seine ästhetische Dimension verschafft. 10 Bei Ritter wird
– eben dies tun wir in niederem weniger prinzipiellem Maße, in fragmentarischer, grenzunsichrer Art, sobald wir statt einer Wiese und eines Hauses und eines Baches und eines Wolkenzuges nun eine ›Landschaft‹ schauen.« (Simmel 2010: 474) Entscheidend ist hier bei Simmel nicht nur die Hervorhebung des schauenden Subjekts, welches für die Landschaft nötig ist, sondern auch die Tatsache, dass dieses Subjekt (dem Künstler gleich) eine – seinen Vorstellungen entsprechende – Konstruktion der Landschaft vornimmt. Einzelne Elemente (die Wiese, das Haus, der Bach und der Wolkenzug) ›formen‹ erst in ihrer Zusammenschau die Landschaft. 9
Es gilt mittlerweile als ein Gemeinplatz, dass die ästhetische Dimension von Landschaft und die damit verknüpfte ästhetisierende Praxis immer erst in dem Moment eintrat, in welchem die Natur ihr »unmittelbares Bedrohungspotential« für den Menschen verloren hatte (Franzen 2005: 285).
10 Zumindest wenn man der These Joachim Ritters folgt, der es als Sehnsucht des modernen Menschen interpretiert, die vor allem durch die (Natur-)Wissenschaften etablierten partikularisierenden Sichtweisen auf die Natur dahingehend auf- und abzulösen, indem eine verloren geglaubte Ganzheit der Natur im Bild der ästhetischen Landschaft wiederhergestellt werden könne. »Im Element des Empfindens und der ästhetischen Produktion bezeugen Dichtung und Bild, was ohne ihre Vermittlung entgleitet und entschwindet. Was damit ästhetisch geschieht, hat […] in der Notwendigkeit den Grund, ein sonst nicht mehr Gesagtes und Geschehenes zum Scheinen zu bringen, es zu vergegenwärtigen.« (Ritter 1989: 155) Ritters Aufsatz, der nach wie vor im Forschungskanon zur ästhetischen Landschaft fest verankert ist, wurde verschiedentlich vorgeworfen, sein Rückbezug auf die
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Landschaft darüber hinaus zu einem holistisch-metaphysischen Sinnbild, welches der durch die Wissenschaften verlustigen Einheit eine ästhetische Ganzheit entgegensetzt: »Die ästhetische Natur als Landschaft hat so im Gegenspiel gegen die dem metaphysischen Begriff entzogene Objektwelt der Naturwissenschaft die Funktion übernommen, […] das Naturganze […] zu vermitteln und ästhetisch für den Menschen gegenwärtig zu halten.« (Ebd.: 153)11 Martin Seel hat, auch in Abgrenzung zu den Thesen Ritters, in EINE ÄSTHETIK DER NATUR drei (gleichberechtigte) Deutungsmuster zur Beschreibung »des Gefallens an der Natur« (Seel 1996a: 19) vorgestellt. Demnach könne Natur als Landschaft kontemplativ, korresponsiv und imaginativ ästhetisch wahrgenommen werden. Dabei stellt sich jedoch erst im Zusammenspiel dieser drei Deutungsmuster die Attraktion der Landschaft dar; sie sind daher nicht als isoliert voneinander existierende Weisen der ästhetischen Naturbetrachtung zu verstehen, sondern überlagern und ergänzen sich (vgl. ebd.: 192). Die kontemplative Wahrnehmung nach Seel unterscheidet sich insofern von der Ritters, als dass sie zunächst eine rein ästhetische ist und sich gegenüber der letztlich auf Erkenntnis abzielenden theoretischen Kontemplation abzugrenzen versucht. 12 Die ästhetische Kontemplation ist »interesselose sinnliche Wahrnehmung der Welt« (ebd.: 62) und realisiert sich als »Praxis einer Scheidung der Sinne vom Sinn.« (Ebd.: 53) Auf eine Deutung zielt sie dabei nicht ab: »Ihre Begegnung mit dem Phänomen läßt deren Bedeutung außer acht.« (Ebd.: 39) Ist die Kontemplation bei Ritter noch die zentrale Wahrnehmungsform der Landschaft, stellt Seel dieser noch zwei weitere zur Seite. Anders als bei der (ästhetischen) Kontemplation, welche sich gerade durch die Ausblendung einer sinnhaften Gliederung auszeichnet, wird im Korrespondenzverhältnis des Menschen zur Natur deren Auswirkung auf das eigene Leben in den Blick genommen. Das Urteil der korresponsiven Wahrnehmung ist ein exempla-
metaphysische Ganzheit der Natur sei für die moderne Naturerfahrung nicht konstituierend (vgl. z.B. Seel 1996a: 225-230). Seine Beobachtung jedoch, Landschaft gewinne genau dann an Relevanz, wenn sie gefährdet sei oder gar zu verschwinden drohe, ist bis heute mehr oder weniger unwidersprochen und wird stets aktualisiert (vgl. dazu Collot 2018: 151). 11 Auch Georg Simmel beruft sich auf diesen inkludieren Blick, den es benötige, um Landschaft überhaupt zu entdecken und zu erkennen: »Landschaft […] entsteht, indem ein auf dem Erdboden ausgebreitetes Nebeneinander natürlicher Erscheinungen zu einer besonderen Art von Einheit zusammengefaßt wird, einer anderen als zu der der kausal denkende Gelehrte, der religiös empfindende Naturanbeter, der teleologisch gerichtete Ackerbauer oder Stratege eben dieses Blickfeld umgreift.« (Simmel 2010: 478) 12 Ästhetische und theoretische Kontemplation bilden jedoch bei aller Unterscheidbarkeit, so Seel, eine »unauflösliche Einheit« (Seel 1996a: 73).
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risches Urteil, welches die ästhetische Qualität als existentiell wahrnimmt: Der Mensch imaginiert ein wechselseitiges Verhältnis und findet sich in der Natur wieder, wie er auch die Natur in sich wiederfindet. 13 Als schön werde dabei empfunden, was als Ausdruck der Möglichkeit eines guten Lebens (in der Natur) verstanden wird. Deswegen könne die Natur (und die Landschaft) nicht nur als schöne, sondern auch als hässliche oder erhabene dem Menschen gegenübertreten.14 An der korresponsiven Naturwahrnehmung sind Seel zufolge vier Komponenten beteiligt – die physiognomische, klimatische, historische und stimmungshafte Korrespondenz.15
13 Joachim Ritter konstatiert, dass Landschaft den ländlich Wohnenden, den Bauern und Viehzüchtern, immer heimatliche und »in das werkende Dasein einbezogene Natur« (Ritter 1989: 147) sei. Die Natur ist ihnen Nutzfläche, »der Wald ist das Holz, die Erde der Acker und das Wasser der Fischgrund.« (Ebd.) Eine ästhetische Landschaft sei ihnen deswegen fremd. Der Bauer befindet sich jedoch in einem Korrespondenzverhältnis zur Natur und kann sie deswegen auch ästhetisch wahrnehmen, denn, so erwidert Martin Seel implizit auf Ritters Ausführungen, »kein Angehöriger einer entwickelten menschlichen Kultur ist der Natur so eng verbunden, daß er sie nicht wenigstens korresponsiv wahrnehmen könnte, ja müßte. Unkontemplativ kann man leben, unkorresponsiv dagegen nicht.« (Seel 1991: 117) Dadurch sei das korresponsive Verhältnis zur Natur unter allen möglichen auch das naheliegendste (vgl. ebd.). 14 Erscheint in der schönen Natur ein gutes Leben möglich, so erscheint sie eben dann als hässlich, wenn »man ihr schon ansieht, daß in ihr kein gutes Leben ist – oder jedenfalls, daß in ihr alles gute Leben gegen ihre Gewalt ermöglicht, ihr abgerungen ist.« (Ebd.: 94, Hervorhebung im Original) Die erhabene Natur wiederum »steht in Korrespondenz mit einer dem Betrachter inkommensurablen Form des Lebens« (ebd.: 109) und die »NichtÜbereinstimmung des Menschen mit der anschaulichen Natur [wird] zum Grund ihrer ästhetischen Bejahung.« (Ebd.: 108) 15 Während bei der physiognomischen und klimatischen Korrespondenz die Beschaffenheit der Gegend und die vorherrschenden klimatischen Bedingungen in den Blick genommen werden (vgl. ebd.: 92) und sich bei der historischen Korrespondenz persönliche Erfahrungen und die Antwort auf die Frage, »welchen Platz diese Gegend in [der eigenen] Lebensgeschichte hat« (ebd.), bündeln, führen diese Aspekte letztlich auch in ihrem Zusammenspiel zu einer »Evokation der Stimmung« (ebd.). Seel beschreibt dieses Zusammenspiel der vier Korrespondenzen in der stimmungshaften Korrespondenz wie folgt: »Dieser vierte [der stimmungshafte] Aspekt hat einen besonderen Status. Er bezieht sich nicht wie die beiden ersten auf Formen der Umgebung selbst, nicht wie der dritte auf die Spur der eigenen Geschichte in ihr, er bezieht sich auf das emotionale Bewußtsein der Gegenwart dieser Komponenten. […] Wir erfahren die Gegend als eine, die beglückend mit uns korrespondiert, weil alle ihre Komponenten steigernd miteinander korrespondieren.« (Ebd., Hervorhebung im Original)
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Auch die imaginative Wahrnehmung der Natur als Landschaft wird letztlich über ein Korrespondenzverhältnis hergestellt. Der Unterschied ist, dass hierbei nicht die Möglichkeiten eines guten Lebens mit den Gestalten der Natur korrespondieren, sondern »Formen der imaginativen Darstellung menschlichen Lebens.« (Ebd.: 154) Hier erscheint die Natur, ihre Elemente und deren Anordnung – »obwohl sie weder Kunst noch künstlich sind« (ebd.: 136) – wie ein Werk der Kunst.16 Seel definiert Landschaft zunächst als eine von »ästhetischer Natur umformte Lebenswirklichkeit des Menschen« (ebd.: 222), die sich dadurch auszeichne (womit sie sich auch von den holistisch-metaphysischen Modellen wie z.B. von Ritter unterscheidet), dass sie eine »Einheit ohne Ganzes« (ebd.: 223) sei. Diese ist zwar als Einheit im Zeit-Raum zu fassen, jedoch nicht als Sinneinheit. Der landschaftliche Raum zeichne sich vielmehr dadurch aus, so führt es Seel in einer späteren Studie aus, dass er ein Raum ohne Mitte und ohne Grenze sei (vgl. Seel 1996b: 61f.). Dieser Raum konstituiere sich aus »einer Mannigfaltigkeit von Gegenständen« (ebd.: 61). Zentral ist dabei jedoch »nicht das phänomenale Gegenüber einzelner oder mehrerer Gegenstände […], sondern vielmehr die Erfahrung, was es heißt, mitten unter diesen Gegenständen zu sein« (ebd., Hervorhebung im Original). Bei Seel ist die Landschaft eine das Subjekt auch räumlich umschließende, die damit von einer – auch im Wörterbuch verankerten – Begriffsbildung abrückt, die Landschaften als (auf die Malerei verweisende) primär optisch wahrnehmbare (zentralperspektivistische) Frontal-Räume konzipiert. Die Wahrnehmung von Landschaft durch ein betrachtendes Subjekt ist auch stets an dessen – wie auch immer erzeugte oder imaginierte – Verortung innerhalb der Landschaft in all ihren Aus- und Rückwirkungen gebunden. Gerade in Abgrenzung zu den klassischen Konzepten von Landschaft lassen sich anhand der formal offeneren Konzeption Seels auch Verschiebungen in der Landschaftswahrnehmung und -beschreibung untersuchen, die sich auf Grenzbereiche des Landschaftlichen beziehen. Inwiefern gerade auch dieser Bereich als ästhetischer Reflexionsraum fungieren kann, zeigt sich exemplarisch in der künstlerischen Gestaltung leerer Landschaften.
16 Das passendste Beispiel hierfür wäre sicherlich die Landschaft, die dem Betrachter wie ein Landschaftsbild gegenübertritt.
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L EERE L ANDSCHAFTEN – J ULES B ARBEY D ’AUREVILLYS H EIDE VON L ESSAY UND W OLFGANG M ATTHEUERS T AGEBAU Die Heide von Lessay Gleich zu Beginn seines Romans DIE GEBANNTE (L’ENSORCELÉE, 1854) schildert Jules Barbey d’Aurévilly dem Leser einen Schauplatz, die Heide von Lessay, der sich als eine bemerkenswerte Gegend herausstellt. Der beschriebene ebene Landstrich, welcher sich geografisch südlich der namensgebenden Kleinstadt Lessay in der Normandie verorten lässt und nur spärlich von Stechginster, Heidekräutern und Gräsern bewachsen ist, wird im Roman als eine Landschaft gezeichnet, die sich konventionellen Zuschreibungen und Beschreibungen beständig zu entziehen scheint – als eine solche allerdings, das ist dem Autor gleich zu Beginn implizit wichtig, stellvertretend für andere »unbebaute Landstriche« steht, die »inmitten der Fülle Oasen der Unfruchtbarkeit« (Barbey d’Aurevilly 2017: 15) bilden. Denn bemerkenswert ist die Heide gerade auch aufgrund ihrer Abgrenzung zu ihrer Umgebung, die entweder als schöne Landschaft im klassischen Sinne – »fruchtbare Täler« und »fischreiche Wässer« (ebd.) erstrecken sich vor dem Auge des Betrachters – erscheint, oder aber in ihrer Gestalt bereits Ausdruck eines zunehmend modernen Wachstumsstrebens der aufkommenden Industriegesellschaft – »Zivilisation und Fortschritt« (ebd.) greifen auch auf die unberührten Landschaften über – ist. Sie wird somit als eine Sonderform der Landschaft charakterisiert, die weder romantisierend eine vermeintlich einstmalige Ganzheit zu imaginieren erlaubt noch von einer umgreifenden Modernisierung erfasst wird. Dementsprechend schwer scheint es auch aus der Perspektive des Erzählers, und das macht eine weitere Besonderheit der Heide aus, die spezifische Wahrnehmung der Heidelandschaft durch den Betrachter zu fassen; erscheint sie doch als ein Raum mit eigener Logik. Dabei werden die Gegebenheiten zunächst einmal folgendermaßen geschildert: »Sie [Barbey d’Aurevilly spricht hier von den Heiden generell, M.E.] unterbrechen die lachenden, frischen und fruchtbaren Landschaften mit herben Bildern der Traurigkeit und Sorge. […] Zumeist ist der Horizont der Heidegründe wenig weit. Betritt der Wanderer sie, überfliegt sein Blick sie bis an ihre Grenzen. Allseits frieden die Hecken bebauter Felder sie ein. Findet man hier ausnahmsweise Heidegebiete, die sich weitflächig breiten, so ist schwer zu schildern, welchen Eindruck sie in dem Beschauer hervorrufen. Ihr tiefer und seltsamer Zauber fesselt Blick und Herz. Wer kennte nicht den Zauber der Heide? Nur Seelandschaften, Meer und Dünen sind vielleicht von gleich ausdrucksvoller Eigenart und vermögen noch stärker zu bewegen. Sie sind wie letzte Fetzen ursprünglicher und wilder Poesie auf der von des Menschen Hand und Werkzeug verwandelten und verwundeten Erde. Heilige Überreste,
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die schon morgen vom Atem modernen Industrialismus verweht sein können; denn unsere grob materialistische und nutzgierige Epoche müht sich, jegliche Unberührtheiten und Unbezähmtheiten auf dem Erdkreis wie in der Menschenseele zu tilgen. […] Eben diese zweifältige Poesie unberührter Scholle und Unaufgeklärtheit ihrer Bewohner war es, die man vor kurzen Jahren noch in der wilden und unberührten Heide von Lessay finden konnte.« (Ebd.: 15f.)
Anschaulich wird hier eine Gegend beschrieben, die in ihrer Kargheit und Unerforschtheit eine zivilisatorische Leerstelle darstellt. Genau dieser Zustand macht die Heide zu einem zwiegespaltenen Ort, der in seiner Leere nicht nur ›Traurigkeit und Sorge‹ hervorruft, sondern in seiner Unberührtheit gleichzeitig an einen Ur-Zustand eines vermeintlich vergangenen ›goldenen Zeitalters‹ erinnert.17 Die Heide, so stellt es sich dar, ist mit dieser mythischen Ursprünglichkeit nicht nur assoziativ verknüpft, sie ist vielmehr selbst der »heilige Überrest« dieses Zustands und somit auch ein anachronistisches Überbleibsel, dessen Zukunft aufgrund des um sich greifenden »modernen Industrialismus« stark gefährdet scheint. Diese »Kulturlücke« (Serres 1993: 255) scheint sich nicht in eine vom Menschen beherrschte Welt zu integrieren, was letztlich auch darin Ausdruck findet, dass sie sich kaum als Landschaft erfahren oder in landschaftlichen Kategorien beschreiben lässt. Im Text wird angedeutet, dass die Heide die sie umgebenden Landschaften unterbricht, sie fügt sich nicht nahtlos in das Gewebe der normannischen Kulturlandschaft(en) ein, sondern hat einen differenten Status. Sie grenzt sich ab, nicht nur, weil sie sich von ihnen so stark unterscheidet, sondern weil sie selbst womöglich gar keine Landschaft ist. Als leerer Raum, denn der Blick des Beobachters haftet weder an natürlichen noch an zivilisatorischen Elementen, lässt sie sich nicht in einer kombinierenden Zusammenschau erblicken und in keiner elementaren Mannigfaltigkeit erleben. Die Heide ist nur durch ihre Enden bestimmt – durch ihre Leere bleibt sie jedoch unbestimmbar. Natürlich drängt sich der Vergleich der Heide mit einer Wüste auf, auch in ihrer »unermeßlichen Gleichförmigkeit gibt es keine Hierarchisierung der Örtlichkeiten« (Schmitz-Emans 2000: 127); auch sie ist ein leerer Ort, ein Un-Ort und Ur-Ort (vgl. ebd.: 147f.).
17 Hier ist deutlich eine Art der Naturgeschichtsschreibung erkennbar, die das ›goldene Zeitalter‹ in der Vergangenheit, im imaginierten Ur-Zustand erkennt. Die zunehmende und beobachtbare Entfernung von diesem Zustand wird als Verlust begriffen (vgl. dazu Moscovici 1990: 48). Das ist durchaus bemerkenswert, ist die Heide doch kein dem Paradies nachempfundener Ort mythischen Ursprungs, sondern kann als ein lebensfeindlicher und nicht nur unkultivierter, sondern sogar unkultivierbarer Raum verstanden werden.
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Die ›Bewohner‹ der Heide18, vom Autor als unaufgeklärt beschrieben, erinnern an Frühmenschen, denen eine ästhetische Landschaft noch fremd zu sein scheint.19 Und auch der Eindruck, den die Heide bei ihrem »Beschauer« hervorruft, lässt sich nur schwerlich reflektieren. Es bleibt im Unklaren, ob die Heide als schöne, hässliche oder erhabene Landschaft wahrgenommen wird, da eine solche Einschätzung nicht möglich, oder zumindest nicht artikulierbar, ist. Erst die Kultivierung der Natur, was nicht zwangsläufig ihre agrarische oder zivilisatorische Nutzung meint, sondern zumindest ihre geistige Durchdringung, Einschätzung und Beherrschung, ist es, die eine natürliche Gegend zur Landschaft transformiert. 20 Natur wird erst dann beherrschbar, wenn sie ihr unmittelbares Gefahrenpotential für den Menschen verliert. Ein Mittel dazu ist, Landschaften topologisch und topografisch zu erschließen und sie dadurch in den jeweiligen Wissens- und Erfahrungshorizont zu integrieren. Diese Form der Vermessung macht sie, als eine spezifische Weise der Aneignung von Natur, zugleich lesbar und verstehbar – und damit letztlich auch
18 Diese Bewohner gehören bei Barbey d’Aurevilly schon einer Vergangenheit an, denn die Heide selbst ist nicht besiedelt. So beschreibt er die Heide selber als »normannische Wüste […] wo nicht Baum noch Haus, Hecke und irgend Zeichen menschlichen Lebens zu finden waren, außer Spuren des Wanderers oder der Herden vom gleichen Morgen im Staub bei trockenem Wetter, oder im aufgeweichten Lehm der Straße bei Regen.« (Barbey d’Aurevilly 2017: 16) Auch sind diese Spuren nur von kurzer Dauer und wohl schon gegen Ende des Tages wieder verschwunden. Der Ur-Zustand scheint sich somit ständig wiederherzustellen. 19 So ist mittlerweile evolutionsbiologisch und -psychologisch belegt, dass bereits Frühmenschengruppen bei der Suche nach geeigneten Habitaten auf die Beschaffenheit ihrer Umwelt reagiert haben, einen ästhetischen Zugang und Umgang mit der sie umgebenden Natur hatten sie jedoch vermutlich noch nicht. Gordon H. Orians und Judith H. Heerwagen (1992) führen an, dass bspw. das Siedlungsverhalten der ersten Jäger und Sammler bereits auf spezielle Anlagen ihrer Umwelt zurückging. Nach praktischen Kriterien sondierte, lebensfreundliche Gegenden erhielten den Vorzug gegenüber Landstrichen, die als weniger tauglich empfunden wurden. Dabei war es durchaus von Bedeutung, ob die entsprechende Gegend bereits früher schon als positiv empfundene Qualitäten aufwies (vgl. Zajonc nach Franzen 2005: 285). Ein ästhetisches Naturempfinden, das über das »bloße Gutsein« (Seel 1996a: 90) der Gegend hinausging, war jedoch noch nicht herausgebildet. So erfolgte die Einschätzung der Umwelt lediglich nach ihren funktionalen Beschaffenheiten mit Blick auf Lage, Bodenqualität oder Ressourcenreichtum und wurde bei entsprechender Ausprägung auch als gut, womöglich gar als behaglich empfunden. 20 So führt etwa auch Rainer Piepmeier (1980: 16) aus: »Landschaft ist eine Form des Verhältnisses zur Natur, die Beherrschung von Natur nicht nur zur Voraussetzung hat, sondern selber ist.«
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handhabbar. Die Heide von Lessay hingegen lässt eine solche Erschließung und eine entsprechende Lesbarkeit nicht zu: »[G]elangte [man] über die Hochebene hinaus, wo die Straße endete und die Heide von Lessay begann, gewahrte man mehrere parallel laufende Pfade auf der Heide, die immer mehr auseinanderstrebten, je weiter man kam. Sie führten insgesamt zu sehr weit auseinanderliegenden Zielen. Vorerst deutlich am Boden der beginnenden Heide erkennbar, wurden sie, je mehr man in sie eindrang, unsichtbar. Schon nach kurzer Wanderung war, selbst am Tage, nichts mehr von ihnen zu erblicken. Nur Heide ringsum. Kein Pfad mehr kenntlich.« (Barbey d’Aurevilly 2017: 27)
Zunächst, von einem überblickenden Standort aus, lässt sich die Heide zwar in Ansätzen physiognomisch beschreiben, sie entpuppt sich jedoch bei näherer Betrachtung, gerade dann, wenn der Mensch versucht, in ihr zu sein, als unlesbar und unbeschreibbar. Waren die Pfade von einem außermittigen Standpunkt noch wahrnehmbar, beginnen sie nun, aus einer Position inmitten der Landschaft, zu verschwinden bzw. unsichtbar zu werden. Eine theoretische Erfassung und Aneignung der landschaftlichen Gegebenheiten muss daher scheitern, wodurch schließlich auch eine praktische Tätigkeit in ihr verunmöglicht wird. Dabei gibt es in der Heide kein wirkliches räumliches Geschehen; es ist »nur Heide ringsum […] in deren Kahlheit kein wegweisender Baum, Strauch noch Hügel zu finden ist« (ebd.). Die Szenerie erscheint somit zwar zunächst als »wenig überschaubarer Ort« wie es Seel (1996b: 62) als für eine Landschaft konstituierend festlegt, sie ist auch zu ihrem Horizont hin offen, jedoch ist die Offenheit der Heide als Geschlossenheit zu verstehen.21 Ihre Weite ist lediglich Leere. Die nur scheinbar vorhandene Orientierung, die durch die die Heide durchmessenden Pfade zunächst angedeutet wurde, geht verloren, sobald das Individuum versucht, diesen Pfaden zu folgen. Nicht nur dass die parallel verlaufenden Wege paradoxerweise anfangen auseinanderzustreben, sie beginnen, je weiter man ihnen
21 Diese Paradoxie hat Jorge Luis Borges in seiner Erzählung DIE ZWEI KÖNIGE UND DIE ZWEI LABYRINTHE (1949) in Bezug auf die Wüste herausgestellt. Nachdem der König
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Babylon den König der Araber in einem von ihm gebauten Labyrinth aussetzen ließ, dem dieser nur mit der Hilfe Gottes entkommen konnte, schwur der Araber, ihn seinerseits einmal in einem seiner »Labyrinthe« auszusetzen. So sollte es geschehen und es ergab sich, dass der König der Araber den Babylonier in der Wüste aussetzen ließ. Aus dieser jedoch war kein Entkommen, sodass der König der Babylonier schließlich verhungert und verdurstet sein Ende fand. Die Wüste stellt sich hier als das vermeintlich ›bessere‹ – da unentrinnbare – Labyrinth dar. In ihrer grenzenlosen Offenheit ist sie letztlich ein verschlossener Ort.
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folgt, letztlich ganz zu verschwinden, wodurch die Ordnung des Geländes – und damit auch seine Handhabbarkeit – gänzlich verloren geht. Die Heide ist auch hier analog zur Wüste »Inbegriff des Ungestalteten und insofern Projektionsfläche[] für die Vorstellung einer sinnlosen, allen Konstruktions- und Rekonstruktionswünschen gegenüber indifferenten Wirklichkeit.« (Schmitz-Emans 2000: 129) Die Heide, die zunächst sogar ein strukturiertes Wegesystem zu besitzen scheint, wird so zu einem Raum völliger Orientierungslosigkeit. Inmitten der Heide treibt der Wanderer »wie ein steuerloses Schiff […] vor und zurück und im Kreis« (Barbey d’Aurevilly 2017: 27), ehe er schließlich zu einem, seinem ursprünglichen Ziel völlig entgegengesetzten, Ort gelangt. Da diese chaotischen räumlichen Zusammenhänge und Geschehnisse den denkbaren Horizont der Menschen überschreiten bzw. in seiner Unangemessenheit bloßstellen, behelfen sie sich eines Mythos: der Verirrte, so sagt man, sei auf böses Kraut getreten, eine Metaphorisierung, die den Menschen »gerade durch ihre geheimnisvolle Unbestimmtheit genehm« (ebd.) sei. Dem Unbestimmbaren der Landschaft ist letztlich nur mit relativ offenen, nicht restlos bestimmbaren Begrifflichkeiten und Konzeptionen einigermaßen adäquat beizukommen. Wie verhält es sich mit der Zeitlichkeit eines unbewohnten, leeren Raumes, der selbst angelegte Spuren immer wieder tilgt? Die Heide scheint kein Träger individueller oder kollektiver Geschichten zu sein, sie besitzt lediglich eine sich stetig wiederholende Eigenzeit. Verwunderlich ist dies in diesem Zusammenhang kaum, wird sie ja selbst als unhintergehbarer Ur-Zustand charakterisiert – sie ist folglich ahistorisch. Damit ist sie gleichzeitig Ursprungsort des Mythos, der immer am Rande der beschreibbaren Welt, an den »Grenzen der Kultur« (Serres 1993: 255) entsteht. Sie ist ein gefährlicher, unbeherrschter und nahezu undenkbarer Raum, dessen einziger Zugang über den Mythos zu finden ist.22 Dabei ist die Leere der Heide selbst mythisch und nicht als kontingenter Möglichkeitsraum zu verstehen, sondern vielmehr als ein aus dieser Leere sich ergebendes undurchdringbares Chaos (ebd.: 258). Zwar erscheint sie als offener Raum, unbeschrieben durch jedwede Zeichen der Macht, doch lässt sie Einschreibungen nicht zu. Neben ihrer generellen Funktionslosigkeit besitzt die Heide darüber hinaus kaum das Potential zur Lebens- oder Transitzone; sie zu durchmessen oder gar zu ermessen ist nicht möglich, weswegen jedweder Versuch dessen darin mündet, dass sich der
22 »Wollte man den Erzählungen von Fuhrleuten Glauben schenken, die sich dorten verspätet hatten, so war die Heide von Lessay der Schauplatz noch seltsameren Geschehens. Rings im Lande raunte man, es gehe dort um. Für diese muskelstarke, mutige und vorsichtige Bevölkerung, die gegen greifbare und gewisse Gefahr unerschrocken ihre Vorsehung trifft, war dies die wahrhaft bedrohliche und unheimliche Seite der Heide, denn lange noch wird die Phantasie im Leben der Menschen die machtvollste Wirklichkeit sein.« (Barbey d’Aurevilly 2017: 17)
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Mensch in ihr verliert. Dort, wo Parallelen auseinanderdriften, wo Vorhandenes verschwindet, besitzt der Raum weder Geometrie noch Ordnung. Die Heide von Lessay ist deswegen eine Leerstelle innerhalb der kultivierten und sinnhaften Welt und selbstverständlich auch im landschaftlichen Zusammenhang. Als eine solche verweist sie den Menschen auf die Grenzen seiner Erkenntnistätigkeit und damit auch auf die Grenzen seiner praktischen Naturaneignung. Wolfgang Mattheuers Tagebau (OH , C ASPAR D AVID…) Das 1975 entstandene Bild OH, CASPAR DAVID... von Wolfgang Mattheuer hat eine durchaus vergleichbare räumliche Dimension, nur markiert statt der Heide ein ausgekohlter Tagebau die Leerstelle im räumlichen und landschaftlichen Zusammenhang. Abb. 1: Der Ursprung im Ende?
Wolfgang Mattheuer: Oh, Caspar David... (Ausgekohlter Tagebau) 1975, Öl auf Sperrholz, 59 x 83 cm, © VG Bild-Kunst
Kunsthistorisch wird bereits über den Titel deutlich der Rückbezug zum romantischen Landschaftsmaler Friedrich hergestellt. Schon die Komposition des Bildes erinnert an die klassische Landschaftsmalerei. Der etwa in Bildmitte verlaufende Horizont bildet eine klare Trennung in Himmel und Erde, jedoch verschiebt sich die
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Horizontlinie im Vergleich zu den romantischen Vorbildern. Durch diese Veränderung der Relationsverhältnisse schafft Mattheuer mehr Bildraum für die durch die Industrie zerstörte Tagebaulandschaft, deren gigantische Ausmaße so noch deutlicher hervortreten, ohne dabei jedoch eine harmonische Teilung in Vorder-, Mittel- und Hintergrund aufzugeben. Eine auffallende Ähnlichkeit hat das Gemälde dabei sicherlich mit dem MÖNCH AM MEER (1808-1810), was einen nicht uninteressanten Befund darstellt, denn das Meer könne, so führt es auch Barbey d’Aurevilly (2017: 15) in seinem Roman aus, einen ähnlichen Zauber wie die Heide von Lessay hervorrufen. Bei Mattheuer tritt an die Stelle dieses Meeres ein ausgekohlter Tagebau, der beträchtliche Ähnlichkeit mit der Heide von Lessay zu haben scheint. Auch der präsentierte Tagebau ist zunächst nur durch den Horizont begrenzt. Kein natürliches Element, keine Spur findet sich, die dem sehenden Auge Halt bieten könnte; ebenso fehlt auch die Möglichkeit einer Zusammenschau der Elemente. Heide und Meer scheinen dabei vor allem deswegen diesen angesprochenen Zauber auszustrahlen, weil sie in ihrer unermesslichen Weite eine erhabene Wirkung auf den Betrachter haben. Doch im Gegensatz zur ursprünglichen Heide und dem metaphysisch-göttlich konnotierten Raum des Meeres 23 stellt der Tagebau einen sehr profanen Raum dar. Ihm fehlt jede Ursprünglichkeit, vielmehr ist er die radikal umgesetzte, schon von Barbey d’Aurevilly beklagte Verwandlung und Verwundung der Erde durch »des Menschen Hand und Werkzeug« (ebd.). Doch dies birgt noch eine zweite Ebene in sich; stellt sich der Tagebau doch bei genauerem Hinsehen als etwas heraus, was als Rückverwandlung des Raumes in den in der Heide auffindbaren Urzustand beschrieben werden könnte. In ähnlicher Manier wie auch schon die Heide scheint sich auch der ausgekohlte Tagebau zunächst jeglicher Historisierung zu entziehen. War jedoch die Heide von Lessay insofern ahistorisch, da sie als Ursprungsort, quasi als historischer Nullpunkt, gedeutet werden konnte, so ist der Tagebau selbstverständlich historisch. Versteht man eine Landschaft im Sinne eines Palimpsests, als ein »Territorium«, welches »das Ergebnis unterschiedlicher Prozesse« (Corboz 2001: 147) ist und dem über die Zeiten immer neue Bedeutungen, Geschichten und Veränderungen eingeschrieben werden, so stellt sich hier der Tagebau als unwiderruflicher Endpunkt dar. Bildete die Heidelandschaft das leere Pergament, wenn auch mit der Unmöglichkeit es zu beschreiben, so ist der ausgekohlte Tagebau das zerstörte Palimpsest.24 Ist die Heide von Lessay noch das ursprünglich-natürliche Nichts, so ist der Tagebau das kultürliche Nichts. Die Leere
23 Als solcher wird der dargestellte Raum im zitierten Bild DER MÖNCH AM MEER von Caspar David Friedrich in der Regel interpretiert. 24 Beachtet man, dass im Tagebauverfahren die Erde in bis zu mehrere hundert Meter tiefen Schichten abgetragen wird, verfestigt sich dieses Bild umso deutlicher.
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des Tagebaus ist hergestellt und verweist damit direkt auf die Absenz der durch ihn ersetzten (Kultur-)Landschaft. Kaum sichtbar hat Wolfgang Mattheuer einen Menschen in den Tagebau gesetzt. Am linken unteren Bildrand steht dieser verloren in der Weite des Raumes und winkt dem Betrachter. Auch dies kann als Zitat der Bilder Friedrichs gedeutet werden. Nur scheint dessen Rückenfigur hier die Orientierung verloren zu haben. Findet er keinen Halt in den wirren Strukturen des verkippten Abraums? Bemerkenswert ist, wie sich auch im Bild diese ›Wege‹, die sich hier nur aus dem abgesetzten Abraum bilden, gen Horizont verlieren. Ähnlich der Heide von Lessay lässt sich der ausgekohlte Braunkohletagebau bei genauerer Betrachtung kaum mehr als Landschaft bestimmen25, er ist Ursprung im Ende einer ästhetischen Kategorie. Bereits ein Jahr zuvor schuf Mattheuer ein Selbstportrait, welches ihn bei der Bearbeitung eines Felsbrockens in zerstörter Natur zeigt. Dies kann als Sinnbild für sein Schaffen gesehen werden, zeigt es doch das Verfahren des Künstlers: Den hilflosen Ästheten in einer Zeit und Umgebung, die keine Möglichkeiten zur Orientierung zu bieten scheinen. Das Bild trägt den Titel SISYPHOS BEHAUT DEN STEIN (1974). Beide Beispiele – Barbey d’Aurevillys Heide von Lessay und Mattheuers Tagebau – legen eine ähnliche Problematik offen. Zunächst, das zeigen nicht zuletzt die verschiedenen Weisen der Darstellung in Literatur und Malerei, treten hier ganz offensichtlich ästhetische Landschaften vor das Auge ihrer Betrachter. Die Heide und auch der Tagebau erscheinen als erhabene landschaftliche Gebilde. Ist die Heide noch imaginierter Raum des Ursprungs, dessen Leere womöglich nicht als Makel erscheint, wird in Mattheuers Gemälde die Problematik deutlicher. In beiden Darstellungen ergibt sich auf den zweiten Blick ein irritierendes Moment. Mit Martin Seels phänomenologisch orientierten Landschaftsbegriff wird der Raum der Landschaft geöffnet, ohne Grenze und ohne Mitte wird das Subjekt selbst zum Zentrum des es umgebenden landschaftlichen Geschehens. Gerade das Korrespondenzverhältnis des Menschen zu Natur und Landschaft sensibilisiert für die umgebenden Geschehenszusammenhänge. Sobald man durch die Imaginationen dieser Landschaften »hindurchsieht« (Seel 1996a: 144), sie nicht mehr als Orte der Kunst, sondern als Orte des Lebens zu verstehen versucht, wird die Irritation markant. Leere Landschaften, ob als leere Naturlandschaft oder als leere Kulturlandschaft, sind, sobald die zunächst
25 In Bezug auf das Ruhrgebiet warf Rainer Gruenter einst eine Frage auf, die auch zentral für die hier angestellten Überlegungen ist, fragte er doch nach der Zulässigkeit des Begriffes Landschaft für ein vom Menschen in solch hohem Maße veränderten Gebiets: »Landschaft – ist das nicht ein befremdlicher und – innerhalb eines ästhetischen Placements von Räumen – ein unzulässiger Begriff, um den ästhetischen Charakter einer kruden Würfelung von Fabriken, Zechen, Kohlenhalden, Kanälen, Brücken, Siedlungen unter einem chemischen Himmel zu bezeichnen?« (Gruenter 1993: 163)
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erhaben wirkende Weite und Unermesslichkeit als Leere entschlüsselt ist, für ein landschaftlich-räumliches Geschehen nahezu unzugängliche Gebiete, deren landschaftliche Bestimmung problematisch ist. Ob sie zukünftig als Landschaften wahrgenommen und bezeichnet sowie theoretisch und/oder praktisch angeeignet werden können, hängt wohl auch davon ab, als wie störend (vor allem die produzierte) Leere künftig empfunden wird.
AUSBLICK : D AS M ITTELDEUTSCHE R EVIER ALS L ABORATORIUM VERÄNDERTER L ANDSCHAFTSWAHRNEHMUNG Das Gemälde Mattheuers zeigt ein Territorium, dessen bewegte jüngere Geschichte eng mit der teilweise sukzessiven und vor allem auch abrupten Veränderung der Landschaft verbunden ist. Durch die Fokussierung verschiedener Ästhetisierungen tagebaulich geprägter Gebiete lässt sich ein neues (Unter-)Kapitel in der Geschichte der (künstlerischen) Landschaftswahrnehmung schreiben; ja mitunter ließe sich gar die Geschichte einer Region anhand des Verschwindens und Wiederauftauchens ihrer Landschaften und den damit einhergehenden Veränderungen der Landschaftswahrnehmung im Spiegel künstlerischer Bezugnahmen nachzeichnen. Denn gerade in solcher Art beanspruchte Regionen sind häufig auch Rezeptoren für künstlerische Auseinandersetzungen mit denjenigen Dörfern und Landschaften, die verschwunden sind oder zu verschwinden drohen. Diese Bezugnahmen wirken hier nicht nur als wichtige Mittel zur Historisierung, sondern verdeutlichen auch das Problem einer adäquaten Abbildbarkeit dieser problematischen (weil teilweise leeren) Landschaften. Dabei zeigen die verschiedenen Ästhetisierungen mindestens zweierlei: zum einen, in welcher Weise noch materiell vorhandene dörfliche und landschaftliche Strukturen als (potenzielle) Leerstellen imaginiert und konzipiert wurden und werden, und zum anderen, wie mitunter bereits konkret vorhandene Leerstellen wieder neu inszeniert und damit auch neu bestimmt – quasi ästhetisch ›ausgefüllt‹ – werden können. Denn es sind die als leer empfundenen Landschaften, die in der kollektiven wie auch künstlerischen Wahrnehmung häufig als ›vakante‹ Landschaften (Probst 2017) erscheinen und somit das Bedürfnis nach einer theoretischen als auch praktischen Neubestimmung hervorrufen. Beispielhaft zeigt sich dies im Mitteldeutschen Revier, einem Abbaugebiet, das sich einst vom Altenburger Land bis in die Region um Bitterfeld-Wolfen erstreckte und heute zu großen Teilen bereits renaturiert ist. Auch hier wurde die Landschaft vom Tagebau zu nicht unerheblichen Teilen nahezu komplett zerstört, wobei auch über Jahrhunderte gewachsene und etablierte Siedlungsstrukturen der Rohstoffgewinnung weichen mussten und bis heute über 50.000 Menschen umgesiedelt wurden.
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Gerade auch dieses Ausmaß des Verschwindens provoziert ästhetische Bezugnahmen und Auseinandersetzungen. Sie finden sich etwa im Werk des gebürtigen Meuselwitzers Wolfgang Hilbig, der als wichtiger Chronist dieses Landstrichs gilt. Bei ihm wird die Sprache, wenn auch als machtloses Instrument, zum einzig wirksamen Mittel erkoren, das die Brutalität jener zu verschwinden drohenden Gegend darzustellen vermag und die ihr zugefügte Gewalt mit gleicher Vehemenz wieder auszustrahlen scheint. Das hilbigsche Territorium ist instabil, von Schächten und Bunkern unterhöhlt, vom Verfall zerfressen, von Menschenhand geschunden und zerstört; es ist dem Untergang geweiht. Sei es in seinem frühen Gedicht ERINNERUNG AN JENE DÖRFER (1972) oder in Prosaarbeiten wie ALTE ABDECKEREI (1991) oder DIE KUNDE VON DEN BÄUMEN (1992), immer wieder durchmessen seine Werke jene Gebiete, die heute nicht mehr existieren, die aber auch schon zu Hilbigs Zeiten, obwohl physisch noch unversehrt, bereits an Bedeutung verloren hatten und dem Untergang geweiht waren. So heißt es etwa in dem Text mit dem sprechenden Titel DER TRÜGERISCHE GRUND: »Brüchige, unwirtliche Bilder in den Erinnerungen: das Heranwachsen auf dem Boden dieses Landes entbehrte in einem für die Zeit symptomatischen Maß der Gelegenheit, in der Landschaft zu wurzeln. Ein Wort wie Heimat, noch so ironisch empfunden oder fahrlässig nachgesprochen, hört man in der Gegend nicht, und man nannte diese Worte auch nicht, als die Festigkeit des Bodens dort noch weniger trügerisch war.« (Hilbig 1992: 197)
Hier wird deutlich, dass das Verschwinden nicht nur als Prozess oder Ergebnis aus zeitgenössischer oder retrospektiver Position verstanden und betrachtet werden kann. Es ist allein schon die Ahnung und Imagination des zukünftigen VerschwundenSeins, die ihre Schatten in die jeweilige lebensweltliche Gegenwart wirft und den konkreten Umgang mit dem Raum beeinflusst. Ein gutes Leben in dieser Landschaft scheint nicht möglich, weder im Moment der Anschauung noch zukünftig. Dieses bedrohliche und lebensfremdliche Szenario wird bei Hilbig oftmals durch Anthropomorphisierungen verstärkt. Dabei vollzieht sich auch eine Verschiebung der üblichen Wahrnehmung und Deutung: Der spezifische Zustand des im Verschwinden begriffenen Schauplatzes erscheint hierbei nicht mehr lediglich als Folge menschlicher Handlungen, sondern vielmehr als etwas, von dem eine gewisse Gefahr ausgeht und das selbst ein potenzielles Verschwinden auszulösen vermag – und zwar das des Menschen selbst. So findet sich etwa in der ALTEN ABDECKEREI eine unheimlich wirkende Schilderung des Bodens: »Fleisch tickte unter mir, ich glaubte es zu spüren, wenn ich die Erde anrührte mit meinem zu späten Schritt, Säfte verteilten sich unter mir, während ich mich zu ungerührtem Schlenderschritt zwang.« (Hilbig 1991: 40)
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Wolfgang Hilbig ist jedoch nicht der einzige, der diese Gegend zum Ort der Literatur macht. Volker Brauns Erzählung BODENLOSER SATZ (1990) oder Patrick Hofmanns DIE LETZTE SAU (2009) schildern vor allem auch die sich verändernden und verschwindenden Sozialstrukturen. Aufgegebene und devastierte Orte wichen den sich – vor allem zu DDR-Zeiten – rasant ausdehnenden Tagebauen. Die Ausmaße dieser Zerstörung werden unter anderem in den Malereien Wolfgang Mattheuers sichtbar. Neben dem bereits angesprochenen Bild OH, CASPAR DAVID... zeigt sich dies beispielsweise auch in den Werken HINTER DEN SIEBEN BERGEN (1973) und FREUNDLICHER BESUCH IM BRAUNKOHLEREVIER (1974), denen die zerstörte Landschaft als Kulisse oder zumindest als kontrastierendes Bildelement dient. Dabei nimmt Mattheuer jedoch nicht nur die romantische Tradition auf, sondern steht auch in engem Austausch mit den Schriftstellern seiner Zeit, die ebenfalls das Apokalyptische der Industrielandschaft zum Ausdruck bringen und mitunter in ein korresponsives Verhältnis zur Daseinsweise des Menschen in der Gesellschaft setzen.26 Das gleiche Terrain bilden die von 1991 bis 1993 aufgenommenen und in der Reihe WÜSTUNGEN veröffentlichten Fotografien Inge Rambows ab. Abb. 2: Der Tagebau als Landschaft
Inge Rambow: Bilder der Serie WÜSTUNGEN. FOTOGRAFIEN 1991-1993, © VG Bild-Kunst
Auf den ersten Blick zeugen ihre Aufnahmen von einer gewissen Schönheit, bilden sie doch eigentlich Ansichten ab, die der Betrachter idyllischen Landschaftsaufnahmen zuschreiben würde: Ausgeglichenheit in den Formen, intensive Farbigkeit, Weite und scheinbare Naturbelassenheit. Doch der erste Blick täuscht freilich, sind doch bereits bei etwas genauerem Hinsehen die Brechungen zu erkennen. Diese Bilder zeigen Brachland, komplett vom Menschenhand geformt und verformt. Davon zeugt eine verlassene Bauhütte, herumliegender Schrott und Hügel, die sich als Abraumhalden entpuppen; wobei nicht zuletzt auch der sehr hohe Horizont auf die
26 Siehe dazu u.a. Lohse (2010), Straube (2016) und Probst (2017).
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riesigen, alles einnehmenden Ausmaße der Tagebaulandschaft verweist. Spätestens mit den Vertretern des New Topographic Movement sind eben jene, wie es in der ersten Ausstellung der Gruppe 1975 hieß, »man altered landscapes« zum wichtigen Sujet zeitgenössischer (Landschafts-)Fotografie geworden. Rambows Bilder sind mittlerweile auch zu Zeitdokumenten geworden, denn die abgelichteten Tagebaue sind bereits zu großen Teilen renaturiert. Gleichsam fanden auch diese Prozesse unlängst Eingang in die Kunst, beispielsweise beim Leipziger Maler Neo Rauch. Auch beim wohl berühmtesten Vertreter der ›Neuen Leipziger Schule‹ zeigen sich immer wieder Rückbesinnungen an überdimensionale Abraumhalden und die aufgerissene Landschaft, darüber hinaus aber auch an den Sozialistischen Realismus erinnernde Bilder des Aufbaus, womöglich mit SEE (2000) sogar das eines rekultivierten Tagebaus. Abb. 3: Ein disharmonischer Neuanfang?
Neo Rauch: SEE, 2000, Öl auf Leinwand, 200 x 400 cm, © VG Bild-Kunst
In diesem Gemälde präsentiert der Künstler ein wiederum nur vordergründig harmonisches Bildgeschehen, welches auf verschiedenen Ebenen mit Irritationen aufwartet. So erscheint etwa der Baumsetzling in zwei verschiedenen Dimensionen und das Licht der auf einem Rollbrett stehenden und so zum Provisorium deklarierten Lampe scheint den umliegenden Bildraum zu löschen bzw. zum Verschwinden zu bringen. Diese Symbole des Neuanfanges stehen womöglich in einem mittelbaren Zusammenhang mit der Biografie des Malers, endete doch im Jahr 2000 die Flutung des neben Rauchs Wohnort Markkleeberg gelegenen Cospudener Sees, einem ehemaligen Tagebau unmittelbar vor den Stadtgrenzen Leipzigs. Der absurd wirkende, aber von Rauchs Personal wie selbstverständlich ausgeführte Krakenfang verwandelt die eigentlich idyllische Atmosphäre der Szenerie mit in güldenes Licht getauchtem
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Seeufer ins Unheimliche. Auch die leer bleibenden Sprechblasen können keine Erklärung bieten, zeigen aber, dass sich diese Malerei sehr deutlich ihrer selbst bewusst ist und verweisen damit auch auf das Artifizielle der abgebildeten Landschaft. Ebenso wie bei Hilbig, Mattheuer und Rambow werden Rauchs Kunstwerke über das Abbilden dieser Gegend zu allgemeingültigen Parabeln einer (post-)modernen Welt; wobei auch sie sich durch einen »Grundtypus des latent Katastrophischen« (Kunde 2006: 15) auszeichnen. Dabei erhält der nun verschwundene Tagebau über seine Ästhetisierungen mitunter auch eine überzeitliche symbolische Geltung – denn das Ende des Tagebaus bedeutet nicht das Ende der künstlerischen Auseinandersetzungen mit ihm. Es ist gar Gegenteiliges zu beobachten: SEE kann schließlich auch gedeutet und gelesen werden als die Genese einer neuen Landschaft. Es lässt sich daher wohl festhalten, dass künstlerische Darstellungen leerer oder vermeintlich leerer Landschaften, darauf verwies bereits Jules Barbey d’Aurévillys Heide von Lessay, nicht nur die Ausmaße und Auswirkungen der (menschengemachten) Veränderung der Landschaft deuten und dabei auch Verschiebungen ästhetischer und alltagsweltlicher Wahrnehmungen von Natur als Landschaft markieren, sondern in ihren spezifischen Ausgestaltungen auch auf Grenzvermessungen der menschlichen Erkenntnis und Praxis im Umgang mit Natur- und Kulturräumen abzielen. Dabei zeigen die in und mit verschiedenen medialen und symbolischen Formen vorgenommenen Ästhetisierungen – ob die Dichtungen Hilbigs, die Gemälde Mattheuers und Rauchs oder die Fotografien Rambows –, dass der Tagebau als eine besondere Form der Landschaft auch eine besondere Form der Landschaftswahrnehmung und -deutung hervorruft, die dabei immer wieder an die Grenzen des Konzepts Landschaft führen.
L ITERATUR Barbey d’Aurevilly, Jules (2017): Die Gebannte, Berlin: Matthes & Seitz. Böhme, Gernot (2001): Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München: Wilhelm Fink. — (2013): Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Berlin: Suhrkamp. Collot, Michel (2018): »Landschaft«, in: Jörg Dünne/Andreas Mahler (Hg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin: De Gruyter, S. 151-159. Corboz, André (2001): Die Kunst, Stadt und Land zum Sprechen zu bringen, Berlin: Birkhäuser. Franzen, Brigitte (2005): »Provisorische Landschaften«, in: Brigitte Franzen/ Stefanie Krebs (Hg.) Landschaftstheorie. Texte der Cultural Landscape Studies, Köln: Walther König, S. 284-303.
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Landschaftsästhetik – Landschaftsentwicklung Historische Aspekte und aktuelle Herausforderungen O LAF K ÜHNE
1. E INLEITUNG Landschaft kommt in der öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Diskussion eine gesteigerte Aktualität zu: Energiewende, Deindustrialisierung, gewandelte Wohnpräferenzen, Abbauaktivitäten von Rohstoffen etc. haben physisch-räumliche Auswirkungen und fordern gesellschaftliche Seh-Konventionen und Bewertungsmuster heraus. Entsprechend stellt sich für eine sozialwissenschaftliche Landschaftsforschung die Frage, wie in welchem Kontext gesellschaftliche Konventionen gebildet, aktualisiert, vielleicht auch modifiziert werden. Solche Forschungsfragen lassen sich jedoch nur schwer mit dem traditionellen Verständnis von Landschaft als ein ›physischer Gegenstand‹ oder ein ›Wesen‹, gebildet aus einer Jahrhunderte alten wechselseitigen Prägung von Kultur und Natur, verstehen.1 In den Raumwissenschaften hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten entsprechend zunehmend die Perspektive verbreitet, Landschaft nicht mehr als physischen und objektiv gegebenen Gegenstand oder als Wesen zu betrachten, sondern als soziale bzw. individuelle Konstruktion (vgl. unter vielen: Cosgrove 1984; Greider/Garkovich 1994; Duncan 1990; Kühne 2006, 2008b, 2008a, 2013; Gailing/Leibenath 2012, 2015). Die wesentliche Aussage dieses theoretischen Zugangs liegt darin, dass Landschaft auf Grundlage gesellschaftlicher Konventionen durch das Individuum anhand einer Synthese unterschiedlicher physischer Objekte erzeugt und bewertet wird. Damit wird mit dem, insbesondere auf Schütz (2004 [1932]) und Berger/Luckmann (1966) zurückgehenden, Sozialkonstruktivismus eine theoretische Verknüpfung von materieller und
1
Mehr zu diesen Konstruktionsmechanismen findet sich u.a. bei Chilla/Kühne/Weber/ Weber (2015).
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immaterieller Welt theoretisch gerahmt.2 Dabei entstehen bestimmte – insbesondere ästhetische – Erwartungen an den als ›Landschaft‹ gedeuteten Raum. Sowohl die Deutungs- als auch die Bewertungsmechanismen unterliegen einem Entwicklungsund Anpassungsprozess. Dieser wird in Abschnitt 2 thematisiert. Abschnitt 3 umreißt den ästhetischen Zugriff auf Welt aus konstruktivistischer Perspektive. Im Anschluss daran erfolgt in Abschnitt 4 die Betrachtung der gesellschaftlichen Variabilität landschaftsbezogener Deutungen und Bewertungen. In Abschnitt 5 wird auf die gegenwärtigen Herausforderungen landschaftsbezogener Deutungs- und Bewertungsmuster eingegangen, und zwar insbesondere in Bezug auf die Energiewende und die mit ihr einhergehende Veränderung räumlicher Zusammenhänge, die nicht zuletzt die gesellschaftlichen Seh-Konventionen und damit auch das Konzept der Landschaft beeinflussen. Denn es lässt sich aktuell eine Verschiebung der kognitiv-ästhetischen Beurteilung von ›Landschaft‹ wie auch der emotionalen Bezugnahme auf sie beobachten. Ein Fazit des Beitrages wird schließlich in Abschnitt 6 gezogen.
2. D IE E NTWICKLUNG DES B EGRIFFS ›L ANDSCHAFT ‹ DEUTSCHEN S PRACHRAUM
IM
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Wortes ›Landschaft‹ zeigt die bis in die Gegenwart manifesten und bisweilen latenten Bedeutungen und Bedeutungsnuancen, die in seiner Verwendung mitklingen, ohne zwingend explizit zu werden. Da an anderer Stelle die Wortherkunft und -geschichte ausführlicher behandelt wurde, beschränkt sich dieser Abschnitt in knapper Weise auf zentrale Aspekte (siehe Abb. 1).3 Um den Begriff der ›Landschaft‹ hat sich im deutschen Sprachraum in seiner im frühen Mittelalter beginnenden Geschichte ein großer »semantischer Hof« (Hard 1969: 10) aus »Assoziationen, Emotionen, Evokationen« (Hard 2002 [1983]: 178) gebildet. Im frühen Mittelalter wurde das Wort als eine Zusammenschau von sozialen Normen und Gebräuchen verstanden. Seit dem hohen Mittelalter wird mit ihm eine politische und/oder regionale Einheit gefasst; eine Semantik, die bis heute persistiert, wie sich etwa an der Bezeichnung des Schweizer Kantons ›Basel Landschaft‹ zeigt (Müller 1977; Hard 1977). Im späten Mittelalter wiederum wurde unter ›Landschaft‹ ein Raum verstanden, der sich diesseits der Wildnis befand; zur etwa gleichen Zeit erhielt das Wort durch die Malerei eine religiöse Konnotation in Form der Allegorie
2
Zum Bedeutungsgewinn der Untersuchung von Materialitäten in der Geographie siehe Kazig/Weichhart (2009).
3
Genauere Ausführungen finden sich u.a. bei Hard (1977); Müller (1977); Hokema (2013); Kühne (2013); Schenk (2013).
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für das Paradies. Ein bis heute wirkmächtiges Verständnis erfuhr das Wort in der Renaissance. Zum einen wurde ›Landschaft‹ in Anknüpfung an die griechische Antike mit der Idee des erweiterten locus amoenus konnotiert (Böheim 1930; Büttner 2006), zum anderen wurde durch die Entwicklung der Landschaftsmalerei eine ästhetische Betrachtung von Raum mittlerer Maßstäblichkeit erzeugt (vgl. unter vielen: Warnke 1992; Spanier 2008). Die in der Renaissance entwickelte Landschaftsmalerei erzeugte und erzeugt soziale Sehkonventionen (Lehmann 1968), die wiederum die Grundlage der Gestaltung von physischem Raum bilden – der Englische Garten zeugt von diesem Bemühen (Hard 1977; Davies 1988). In der Romantik erfuhr ›Landschaft‹ zu der ästhetischen auch eine moralische Aufladung: In der Ablehnung von Aufklärung, Industrialisierung und Modernisierung wurde die ländliche, ›schöne‹ Landschaft zum Symbol des ›guten‹ Lebens (Spanier 2006). Das Übertragen der in der Landschaftsmalerei entwickelten Sehgewohnheiten auf physische Räume war jedoch in hohem Maße sozial selektiv: Es war gebildeten Städtern vorbehalten, die gelernt hatten, die komplexe Symbolik von Landschaft zu deuten, und blieb jenen vorenthalten, die in dieser ländlichen Landschaft, die nunmehr zur Chiffre von Gemeinschaftlichkeit geworden war und als idealer Einklang von Kultur und Natur gesehen wurde, tagtäglich lebten (und sich nach den Annehmlichkeiten eines städtisch-bürgerlichen Lebens sehnten). Landschaft wurde (und wird) zu einem physischen Substrat der ›heilen Welt‹ der Heimat (Körner 2006). Im Zuge dieser Verbindung von Landschaft und Heimat wird ›Kulturlandschaft‹ in essentialistischer Denktradition ein eigenes ›Wesen‹ zugeschrieben; ein Wesen, das wiederum durch Industrialisierung, Verstädterung und Modernisierung zerstört wird.4 Dem romantisch-heimatschützerischen Verständnis von Landschaft entsprang – in der Denktradition der Aufklärung – eine positivistische Deutung von Landschaft: Landschaft wird hier als von Einzelphänomenen abstrahierbares und empirisch fassbares Mehrebenengefüge verstanden; ein Verständnis, das im frühen 20. Jahrhundert zu einem ökosystemischen Verständnis fortentwickelt wurde (Körner 2005). In der Geographie entwickelte sich die ›Landschaftsgeographie‹ zum beherrschenden Paradigma, wobei das Verständnis des Gegenstands – die Historie des Begriffs repräsentierend – zwischen essentialistischen und positivistischen Deutungen ebenso oszillierte, wie Deskription, Analyse, Geschmacksurteile und normative Aussagen – häufig unreflektiert – synthetisiert wurden. Die Kritik dieses – nicht unbedingt den Standards der modernen Wissenschaft entsprechenden – Paradigmas kulminierte auf dem Kieler Geographentag 1969 und ließ den Begriff insbesondere aus der sozialwissenschaftlichen Geographie weitgehend verschwinden, während er in der naturwissenschaftlichen Geographie (in positivistischer Interpretation) beibehalten
4
Dies stellt ein Deutungsmuster dar, das bis heute in der Landschaftsplanung präsent ist; siehe z.B. Kühne (2008b).
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wurde (vgl. z.B. Schenk 2013; Kühne 2013). Ende des 20. Jahrhunderts erhielt der Begriff der Landschaft dann eine doppelte Aktualisierung, die auch in den sozialwissenschaftlich orientierten Raumwissenschaften ihre Wirkung fand: Im Kontext der Deindustrialisierung wurde einerseits das Konzept der Altindustrielandschaft entwickelt. Die physischen Repräsentanten der Industriegesellschaft wurden – im Zuge postmoderner Wertschätzung des Historischen – positiv symbolisch konnotiert und ästhetisiert (vgl. u.a. Vicenzotti 2011; Kühne 2007). Andererseits knüpft die deutschsprachige Landschaftsforschung gegenwärtig immer stärker an konstruktivistische Denktraditionen an (z.B. Kühne 2008b, 2013; Stotten 2015; Weber 2015). Damit wird sie sowohl gegenüber der internationalen Diskussion (z.B. in der Tradition von Cosgrove 1993, 1984) als auch in Bezug auf die (zumeist konstruktivistisch ausgerichtete) aktuelle kulturgeographische Forschung anschlussfähig (vgl. Kühne 2014b; Antrop 2015). Abb. 1: Die Entwicklung des ›semantischen Hofes‹ von Landschaft in zeitlicher Abfolge. Die Intensität der Graufärbung symbolisiert die Intensität der jeweiligen Ausprägung
Kühne (2013)
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3. ÄSTHETIK –
EINIGE
G RUNDÜBERLEGUNGEN
Ästhetische Erfahrung, ob nun im Sinne von Schönheit, Hässlichkeit, Pittoreskheit oder Erhabenheit, »erscheint als eine Weise, sich in der Welt zu orientieren« (Küpper/Menke 2003: 9). Dabei stellt sich die Frage, ob der ästhetisches Wert Eigenschaft eines Objektes sei oder eine individuelle und soziale Zuschreibung, eine Auffassung, die u.a. Friedrich Theodor von Vischer vertritt, wenn er feststellt: »Schönheit ist kein Ding, sondern ein Akt« (Vischer 1922: 438). Wird Schönheit nicht essentialistisch als Eigenschaft eines Dinges, sondern als soziales Konstrukt (oder in den Worten Vischers als Akt), verstanden, stellt sich die Frage, »welche Gegenstände ein Lustgefühl in uns zu wecken geeignet seien« (Lipps 1907: 350). Wird Schönheit (alternativ: Hässlichkeit, Pittoreskheit, Erhabenheit) nicht als Eigenschaft eines Objektes verstanden, sondern als individuelle und soziale Zuschreibung, ist dies mit einer erheblichen Kontingenzsteigerung verbunden: »Die Geschichte der Ästhetik besteht aus einer ständigen Uminterpretation des Schönheitsbegriffs. Es gibt zur Bestimmung des Schönen nicht einen Orientierungspunkt, der auf allseitige und allzeitliche Akzeptanz hoffen darf und von dem nicht mit gleichem Recht das Gegenteil behauptet werden könnte« (Borgeest 1977: 100).
Eine konstruktivistisch orientierte ästhetische Forschung befasst sich entsprechend nicht mit der Suche nach dem Schönen (alternativ: Hässlichen, Pittoresken, Erhabenen) in dem Wesen eines Objektes, sondern nach der Frage, auf Grundlage welcher gesellschaftlicher Konventionen bestimmten Dingen welche ästhetische Bedeutung zugeschrieben wird (Linke 2017a; Kühne 2013). Geschmack als »Synonym für ästhetische Urteile« (Illing 2006: 8) unterliegt dementsprechend einer sozialen diskursiven Aushandlung. Ein solcher gesellschaftlicher Aushandlungshandlungsprozess vollzieht sich nicht in einem machtfreien Raum, sondern ist geprägt von dem Streben nach Distinktionsgewinnen (Kühne 2008b): In der Terminologie von Pierre Bourdieu ästhetisiert eine ›herrschende Klasse‹ ästhetische Standards, der die Mittelklasse nachstrebt, ohne jedoch über vertiefte Kenntnis von der ästhetisch-symbolischen Aufladung der Objekte zu verfügen. Um den Distinktionsabstand zur Mittelklasse zu erhalten, wechselt die herrschende Klasse dann die ästhetisierten Objekte, wenn die Träger des ›mittleren Geschmacks‹ drohen, sich diese Objekte ebenfalls ästhetisch angeeignet zu haben. Die ›beherrschte Klasse‹ ist als Trägerin des ›populären Geschmacks‹ nicht an dem Ringen um bzw. gegen Distinktion beteiligt, ihr Geschmack unterliegt der Erwartung von Konformität, die insbesondere auf Zweckhaftigkeit basiert (Bourdieu 1987 [1979]; Kühne 2008b). Wird einer solchen Sichtweise gefolgt, wird das Geschmacksurteil zum »Produkt des Subjektes und seiner geistigen Anlagen und Fähigkeiten« (Hartmann 1924: 3),
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wobei diese Anlagen und Fähigkeiten auf Inkorporierung gesellschaftlicher, insbesondere klassen- oder milieuspezifischer Konventionen zurückzuführen sind. Somit wird die Suche nach allgemeinen Gesetzen von Schönheit zu einer »Astrologie der Ästhetik« (Croce 1930: 117).
4. Z UR V ARIABILITÄT LANDSCHAFTLICHER D EUTUNGEN Gesellschaftliche Landschaftsdeutungen eignet sich der Einzelne im Prozess der Sozialisation an. In diesem Prozess entstehen die ›heimatliche Normallandschaft‹ und die ›stereotype Landschaft‹ (Kühne 2006, 2008a, 2008b, 2013). Die heimatliche Normallandschaft wird durch die Konfrontation mit physischen Objekten im Wohnumfeld des Heranwachsenden unter Vermittlung von Eltern, anderen Familienangehörigen und Freunden der Familie unter Aushandlung in der gleichaltrigen Gruppe gebildet. Die stereotype Landschaft entsteht hingegen durch Vermittlung stark idealisierter Vorstellungen von Landschaften insbesondere in Schulbüchern, Bilderbüchern, Bildbänden, Prospekten, Spielfilmen, Fernsehdokumentationen u.a. Damit werden insbesondere stereotype und normative Vorstellungen davon erzeugt, wie eine ›schöne‹ bzw. ›natürliche‹ (denn präferiert werden Elemente, denen das Attribut ›natürlich‹ zugeschrieben werden kann) Landschaft zu erscheinen habe. Eine solche normative ästhetische Deutung ist nicht Teil der heimatlichen Normallandschaft: Heimatliche Normallandschaft muss vertraut, nicht stereotyp schön oder im Sinne der Eignung für präferierte Freizeitaktivitäten funktional sein. Dem Deutungsmuster der heimatlichen Normallandschaft liegt allerdings auch ein normativer Anspruch zugrunde: jener der Stabilität. Veränderungen der physischen Grundlagen von Landschaft wird in diesem Deutungsmodus zunächst kritisch gegenübergestanden. Unter dem Deutungsmodus der stereotypen Landschaft werden diese Veränderungen dann befürwortet, wenn sie der Vorstellung stereotyp ›schöner‹ Landschaft entsprechen, andernfalls werden sie abgelehnt (siehe für Weiteres z.B. Kühne 2013). Während die heimatliche Normallandschaft aufgrund der starken individuellen Prägung hinsichtlich ihrer Komponenten verallgemeinernd fassbar ist (für den Einen sind Almen, für die Andere der Geruch verbrannter Braunkohle Elemente heimatlicher Normallandschaft) und somit insbesondere mit den Methoden qualitativer Sozialforschung zugänglich werden, lassen sich die Elemente stereotyper Landschaft auch quantitativ annähernd erfassen (immer unter dem Bewusstsein, dass diese Herangehensweise nicht die eine ›objektive gesellschaftliche Realität‹ dazustellen imstande ist, sondern ebenfalls eine Komponente der sozialen Konstruktion von Welt liefert). Da das Internet heute die Funktion eines zentralen Expertisemediums einnimmt (Münker 2009), erscheint die Untersuchung von Internetinhalten für das Verständnis sozialer Zusammenhänge von zunehmender Bedeutung. Bei der
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Nutzung der Bildersuche der Internet-Suchmaschine Google auf das Stichwort ›Landschaft‹ (Abb. 2) lassen sich entsprechend wesentliche Komponenten stereotyper Landschaft ermitteln. Gemäß der Untersuchung der als 120 Treffer bei Google präsentierten Bilder haben ›Landflächen‹ und ›Himmel‹ eine besonders große Bedeutung. Diese Kombination lässt sich somit als eine Art ›Mindestausstattung‹ von Landschaft verstehen. Am dritthäufigsten finden sich Wolken in den vorgeschlagenen Bildern. Eine weite Verbreitung finden in den Bildern auch Wiesen/Weiden (interessanterweise nicht das intensiver genutzte Offenlandpendant, die Äcker), aber auch einzelne Bäume und Sträucher, Hügel und Wald. Deutlich weniger häufig dargestellt sind stehende bzw. fließende Gewässer. Abb. 2: In Internetbildern dargestellte landschaftliche Elemente; n = 120
Eigene Darstellung, Tag des Zugriffs: 7.7.2014
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Werden die bisher dargestellten Ergebnisse der Landschaftsforschung einer abstrahierten Synthese unterzogen, lassen sich die gesellschaftlichen Deutung von Landschaft in vier Dimensionen gliedern (Abb. 3): kognitive (Wissen über das, was Landschaft genannt wird, z.B. in der Landeskunde), funktionale (z.B. in Bezug auf die Freizeit- oder landwirtschaftliche Nutzung), ästhetische (insbesondere stereotype Vorstellungen) und emotionale (insbesondere in Bezug auf Heimatgefühl). Abb. 3: Teilaspekte gesellschaftlicher Landschaft und ihre selektive Repräsentation in teilgesellschaftlichen landschaftlichen Deutungen
nach Ipsen (2006); Kühne (2013)
Diese Dimensionen werden bei unterschiedlichen teil-gesellschaftlichen Ansprüchen an Landschaft in unterschiedlicher Weise akzentuiert und kombiniert. Dominiert bei Alteingesessenen der emotional geprägte Zugang der ›heimatlichen Normallandschaft‹, z.T. in Verbindung mit dem funktionalen Interesse das, was Landschaft genannt wird, funktional zu nutzen (als landwirtschaftliche Fläche, für die Brennholzgewinnung), finden sich bei Touristen eher ästhetische Ansprüche an Schönheit, Pittoreskheit und bestenfalls Erhabenheit von Landschaft (unter Ablehnung von Hässlichkeit), aber auch an Funktionalität (als Raum für Wanderungen, Skifahrten, Motorradtouren etc.). Personen mit einem expertenhaften Zugriff auf das, was Landschaft genannt wird, insbesondere also Personen mit landschaftsbezogenem Studium (wie Landschaftsarchitektur und -planung, Geographie, aber auch Forst- oder Agrarwissenschaften u.v.m.), deuten Landschaft eher kognitiv (indem Wissen erzeugt, gesammelt, geordnet und verbreitet wird) oder funktional (indem z.B. die ›Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft‹ gesteigert wird; vgl. Kühne 2006, 2008a, 2008b, 2013, Hunziker 2010). Dieser expertenhafte Zugriff auf Landschaft soll im Folgenden einer genaueren Untersuchung unterzogen werden. Personen mit einer landschaftsbezogenen fachlichen Bildung erlangen während ihres Studiums nicht allein Sachkenntnisse, sondern inkorporieren auch spezifische Deutungs- und Bewertungsmuster (Kühne 2008a, 2015a; Hokema 2013). Bei der
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Sozialisation expertenhafter Deutungs- und Bewertungsmuster gewinnt ein kognitiver Zugriff auf das soziale Konstrukt Landschaft an Bedeutung. Funktion wird weniger als Eignung zur individuellen Bedürfnisbefriedigung und mehr als abstrakte räumliche Funktionszuweisung (z.B. eines Raumes als Frischluftproduzent) verstanden; die Befassung insbesondere mit emotionalen Zuwendungen erfolgt primär aus der Meta-Perspektive (bspw. der Untersuchung, wie sich Menschen emotional an Räume binden). Ein wesentlicher Aspekt der Sozialisation von Experten sind normative Deutungen, sowohl struktureller und funktionaler als auch ästhetischer Art. So gilt beispielsweise vor dem Hintergrund des Leitbilds der ›Europäischen Stadt‹ Suburbanisierung als dysfunktional (weil mit weiten Wegen verbunden), strukturell problembehaftet (da mit Versiegelung verbunden) und ästhetisch ›hässlich‹ (weil etwa gleichförmig gestaltet). Demgegenüber wird Suburbanisierung von Personen ohne landschaftsbezogene Ausbildung häufig nicht negativ konnotiert, schließlich lässt sich aus deren Perspektive feststellen, »dass Verstädterung der Landschaft auch etwas mit ›angenehmem Leben‹ zu tun hat« (Tessin 2008: 136). Die expertenhaften Deutungs- und Bewertungsmuster von Landschaft sind global weitgehend einheitlich, während die Zusammenschau räumlich angeordneter physischer Objekte kulturell sehr stark differenziert und somit global nicht von einem einheitlichen Landschaftsverständnis von Nicht-Experten ausgegangen werden kann (Bruns 2013; Kühne 2015b). So sind die Bedeutungsinhalte als ›Landschaft‹ übersetzter Worte in anderen europäischen Sprachen deutlich vom deutschen ›Landschaft‹ entfernt, das französische paysage und englische landscape sind beispielsweise sehr viel stärker ästhetisch und weniger gegenständlich konnotiert als das deutsche ›Landschaft‹ (Drexler 2013).
5. L ANDSCHAFT , ÄSTHETIK
UND DIE
E NERGIEWENDE
Die Veränderungen der physischen Grundlagen von Landschaft, insbesondere in Zeiten der Energiewende, bedeutet eine Herausforderung traditioneller ästhetischer Deutungs- und Bewertungsmuster (Linke 2017b; Leibenath/Otto 2013; Kühne/ Schönwald 2013). Diese Herausforderungen ergeben sich auch vor dem Hintergrund einer allgemeinen breiten Zustimmung zur Energiewende in Deutschland: In einer Umfrage vom August 2015 bewerteten insgesamt 93 Prozent der Befragten den weiteren Ausbau erneuerbarer Energien als ›wichtig‹ bis ›außerordentlich wichtig‹ (Agentur für Erneuerbare Energien 2015). Der breiten Zustimmung gegenüber stehen Proteste von Bürgern, und zwar insbesondere dann, wenn im eigenen Wohnumfeld technische Anlagen zur Erzeugung und Leitung von Strom aus regenerativen Energieträgern geplant bzw. errichtet werden (v.a. Windkraftanlagen und Hochspannungstrassen; siehe z.B. Kühne/Weber 2016). Bei der Argumentation von
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Bürgerinitiativen gegen Windkraftanlagen (untersucht wurden hier n = 270 aktuelle Internetauftritte) und gegen den Stromnetzausbau (hier n = 90) dominieren landschafts- und heimatbezogene Argumentationsmuster. Die bei Windkraftgegnern noch häufiger zu findenden naturschutz-bezogenen Argumente haben zumeist eine Stellvertreterfunktion, da sich weder Argumente des ›Erhalts landschaftlicher Schönheit‹ noch Argumente des Heimatschutzes als in besonderer Weise gerichtsfest erwiesen haben (obwohl ›der Schutz von Vielfalt, Eigenart und Schönheit‹ im Bundesnaturschutzgesetz verankert ist). Gesundheitliche und ökonomische (insbesondere die Befürchtung der Wertminderung von Immobilien bzw. verringerten Tourismuseinnahmen) Aspekte sind in den Argumentationen der Bürgerinitiativen deutlich weniger präsent. Sowohl die Konstruktion von Landschaft und deren Bewertung im Allgemeinen als auch die Bewertung der physischen Manifestationen der Energiewende zeigt erhebliche Differenzen zwischen den Alterskohorten wie auch hinsichtlich der zeitlichen Entwicklung (genaueres bei Kühne 2014a, 2013; vgl. auch Abb. 4 und Abb. 5). So wurde das identische Foto eines Raumes mit Windkraftanlagen im Jahr 2016 sowohl häufiger als ›hässlich‹ und ›modern‹ bezeichnet als noch im Jahr 2004. Die Beschreibung als ›interessant‹ ging zurück (Abb. 4), schließlich – so lässt sich dieser Rückgang deuten – gehören Windkraftanlagen mittlerweile zum alltäglichen Erleben von Raum. Bemerkenswerte Unterschiede hinsichtlich der Bewertung zeigen sich in Bezug auf soziodemographischer Variablen: So neigen junge, hoch qualifizierte Frauen eher dazu, den auf dem Foto abgebildeten und mit Windkraftanlagen bestandenen Raum als ›modern‹ zu beschreiben, während ältere, konservative Männer die dargestellte Objektkonstellation häufiger als ›hässlich‹ beurteilen als der Durchschnitt der Befragten (sie ausführlicher dazu Kühne 2006). Abb. 4: Antwort auf die Frage: »Wie würden Sie die links abgebildete Landschaft (Landwirtschaftsflächen und Windkraftanlagen) am ehesten charakterisieren?«, Befragung im Saarland (n = 455 im Jahr 2004 bzw. n = 431 im Jahr 2016) 45 40
39,8 40,4 33,4
35
35,1
30 25 Anteil 2004
20 15 5 0
hässlich
schön
6,1
5,9
4,3
0,2 1,3
0,4 0,9 modern
Anteil 2016
9,9
7,0 7,6
10
nichtssagend traditionell
Eigene Erhebung und Darstellung
interessant
anderes
2,9
1,1
weiß nicht
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Noch deutlicher als bei der kognitiv-ästhetischen Beurteilung, dargestellt in Abb. 4, unterlag die emotionale Bezugnahme zwischen 2004 und 2016 einer Veränderung (Abb. 5): Die dem als Landschaft deutbaren Raum entgegengebrachte ›Gleichgültigkeit‹ nahm signifikant ab. Dagegen stieg das Gefühl der ›Zugehörigkeit‹ hochsignifikant an (berechnet jeweils mit Chi-Quadrat-Test). Abb. 5: Antwort auf die Frage: »Welches Gefühl haben Sie am ehesten, wenn Sie das Bild links betrachten?«, Befragung im Saarland (n = 454 im Jahr 2004 bzw. n = 433 im Jahr 2016) 35
32,3
30 24,0
25
20
17,1
5
Anteil 2004 12,3
10,8 10
14,2
13,9
15
2,4 1,6
Anteil 2016
7,9
7,7
7,2 3,7
10,8 11,0
4,8 4,0 3,1
4,2 3,8 0,0 0,0
0
Eigene Erhebung und Darstellung
Entsprechend der in Abschnitt 4 dargestellten Differenzierung der landschaftlichen Deutungs- und Bewertungsmuster der heimatlichen Normallandschaft und der stereotypen Landschaft lässt sich das Phänomenen der geringeren Akzeptanz konkreter Anlagen im Vergleich zur generellen Zustimmung zur Energiewende deuten: Diese Anlagen gelten weder als stereotyp ›schön‹ noch wurde der überwiegende (ältere) Teil der Bevölkerung mit ihrem Anblick sozialisiert (dies gilt insbesondere für die Anlagen zur Erzeugung regenerativen Stroms, weniger für Netze). Doch hier erfolgt ein intergenerationeller Wandel, da für junge Menschen der Anblick der Anlagen zur Erzeugung von Strom aus regenerativen Energieträgern zunehmend zur Normalität gehört. Insofern kann von einer sukzessiven Änderung der ›heimatlichen Normallandschaft‹ ausgegangen werden. Auch die ›stereotype Landschaft‹ unterliegt einem historischen Änderungsprozess (siehe Abschnitt 2). Ob jedoch auch die hier
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besprochenen Anlagen einmal Bestandteil dieser Vorstellung von Landschaft sein werden, ist abhängig von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen; möglicherweise könnte hier eine Änderung der (in der Regel normativen) Betrachtungsmodi von ›Schönheit‹ zu ›Erhabenheit‹ eine neue Perspektive liefern.
6. F AZIT Die physischen Räume und ihre Deutung und Bewertung als ›Landschaft‹ unterliegen einem rekursiven Verhältnis. Physische Räume werden an normative Landschaftsvorstellungen angepasst. Anhand sozialer und individueller Landschaftskonstrukte werden materielle Objekte zusammengeschaut und die so gebildeten Landschaften auf Grundlage stereotyper wie auch heimatlich-normallandschaftlicher Muster einer Bewertung zugeführt. Eine besondere Aktualität erhält dabei das Thema ›Landschaft‹, wenn stereotype und heimatlich-normallandschaftliche Zugänge durch rasche und prägnante Veränderungen des physischen Raumes herausgefordert werden. Die Grundlage der Landschaftsbewertung, dies gilt auch für die expertenhafte, die durchaus von einem hohen Grad an Stereotypizität geprägt sein kann (vgl. Hard 1977; Burckhardt 2004; Kühne 2008a), ist dabei alles andere als eindeutig: Der Begriff und die damit verbundenen Vorstellungen von Landschaft sind weder im Deutschen noch in anderen Sprachräumen eindeutig gefasst. Die mit ihm verbundenen Deutungen und Wertungen differieren stark. Die ›Diffusität‹ deskriptiver, analytischer und normativer Landschaftskonstrukte (vgl. Chilla/Kühne/Weber/Weber 2015) erschwert auch die Verwendung der (insbesondere ästhetischen) Kategorie der Landschaft als Rechtsbegriff: Es zeigt sich eine erhebliche Differenz von Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung in Bezug auf das Ziel des Erhalts der ›landschaftlichen Schönheit‹ im Bundesnaturschutzgesetz, die insbesondere hinsichtlich der physischen Manifestationen der Energiewende offenbar wird: Weder stereotype noch heimatlich-normallandschaftliche Landschaftsnormvorstellungen lassen sich (zuverlässig gerichtsfest) gegen die Errichtung von Anlagen zur Erzeugung und Leitung von Strom aus regenerativen Quellen heranziehen, sodass in Bezug auf Naturschutz die Argumentation von Bürgerinitiativen immer wieder auf den speziellen Artenschutz verlagert wird, obwohl die Grundlage des Engagements in der ›Bewahrung von Heimat und schöner Landschaft‹ liegt. Die Rechtsnorm, die diese schützen soll, erweist sich aber als wirkungslos, was wiederum zu einem Verlust des Vertrauens auf rechtliche Normen führt. Hier zeigen sich die Grenzen der Möglichkeit, einen Begriff der Alltagsästhetik (Kazig 2016) in ein ›objektives‹ Bewertungsschema zu transformieren. Aus der Perspektive der Steigerung der individuellen ›Lebenschancen‹ in Zahl und Umfang (Dahrendorf 1972) zeitigt der Begriff der ›Landschaft‹ in seinen
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Rückbindungen an den physischen Raum durchaus Potenzial zu Erweiterungen: Hierzu müssen alltagsästhetische Zugänge verstärkt ermöglicht werden, auch indem Definitionshoheiten über Landschaft hinterfragt (dies gilt in besonderer Weise für die Planung) und Wissensbestände über landschaftliche Zusammenhänge ergänzt werden (und zwar nicht allein in Beug auf Deskription und Analyse, sondern insbesondere in Bezug auf die Entstehung von Normen und Konflikten). Dies kann dazu beitragen, die physischen Grundlagen von Landschaft einer stärker individuell-wertschätzenden Zuwendung zu unterziehen, anstatt sie zu einem Medium teilweise stark ideologisierter Konflikte zu machen.
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Verschwinden und Erscheinen Zwei Weisen der imaginären Rekonstruktion des Dörflichen W ERNER N ELL
Z UR D IALEKTIK
VON
V ERSCHWINDEN
UND
E RSCHEINEN
So einfach es in Videospielen oder in TV-Animationen um das Herstellen und Finden, das ›Verschwinden‹ und ›Erscheinen‹, von Dörfern gehen kann,1 so komplex stellt sich das bereits mit der Technik der Kamera verbundene Öffnen und Schließen der Linse (des Auges?)2 unter phänomenologischen, soziologischen, medientechnischen3 und nicht zuletzt ästhetischen Perspektiven dar.4 ›Erscheinen‹ und ›Verschwinden‹ lassen sich in diesem Zusammenhang als zwei Modi eines Prozesses auffassen, der auf die Gestaltung einer Fülle und zugleich auch auf ein damit einhergehendes Vergegenwärtigen von Leere zielt. »Im Kontext der Kunst«, schreibt Martin Seel (2000: 10), »kann selbst das Verschwinden eine Quelle des Erscheinens sein.« Zwiespältigkeit und Doppeldeutigkeit dieses Prozesses beruhen gerade darauf, dass es sich beim Vorgang des Verschwindens auch um einen Vorgang des Erscheinens,
1
Siehe zum Beispiel Aufbauspiele wie CIVILIZATION (ab 1991), MINECRAFT (2009) oder BANISHED (2014).
2
Auf die mit einem Augen-Blick gegebene dialektische Beziehung von Nehmen und Geben, Leeren und Füllen, In-Erscheinung-Treten und Verschwinden hat bereits Georg Simmel in seinem viel beachteten Aufsatz zur Soziologie der Sinne von 1907 aufmerksam gemacht: »Man kann nicht durch das Auge nehmen, ohne zugleich zu geben.« (Simmel 1993: 280)
3
Vgl. hierzu die bereits durch die Phänomenologie geprägten Ausführungen Pierre Bourdieus (1981), ebenso Barthes (1985); operativ dazu Dirksmeier (2007).
4
Vgl. dazu die Beiträge unterschiedlicher Disziplinen in Pusse (2008), sowie Seiler (2016, bes. Kap. I,1 und V).
162 | W ERNER NELL
und sei es dem einer Leere, handelt.5 In beiden Fällen können Erscheinen und Verschwinden zugleich als zwei Weisen der Wahrnehmung bzw. auch der Ausgestaltung eines realen oder auch imaginären Bild-Raums bzw. einer -Fläche6 aufgefasst werden. Beide sind dabei jeweils nicht nur ›sinn-‹ und gestalthaft auszuarbeiten, sondern zeigen sich gerade auch von ihrer jeweils ›anderen‹ Seite selbst wieder als Produktionsfelder, Gestaltungsobjekte und Ergebnisse eines Herstellungsprozesses. ›Verschwinden‹ kann so als Grenzfall von ›Erscheinen‹ und dieses wiederum als Grenzfall für jenes erkannt und erkundet werden. ›Leere« lässt sich damit ebenso wie ›Fülle‹ sowohl als Ausgangs- als auch als (ggf. vorläufiger) Endpunkt eines Vorgangs des Gestaltwerdens des jeweils anderen bestimmen. Gelten ›Erscheinen‹ und ›Fülle‹ dabei als Gegebenheiten in einem positiven Sinne, so ist die Positivität der Leere und des Verschwindens erst noch einmal vorzustellen bzw. sinnfällig zu machen. In dem Maße nämlich, in dem ›Leere‹ als Ergebnis eines Prozesses von Ge- und Entstaltung erkennbar wird, bildet sie im Zuge der offensichtlich unabschließbaren Sinn- und Handlungsbegehren des Menschen7 ebenso wie ›Fülle‹ immer wieder erneut auch einen Ausgangspunkt für die lebendige Aneignung und Gestaltung eines Bild-, Vorstellungs- und Erfahrungsraums, der im Zuge seiner Füllung ebenso wie im Zuge seiner auf die Darstellung von Leere hin angelegten Entstaltung bzw. der Gestaltung eines prozesshaft angelegten ›Verschwindens‹ vorgestellt werden kann. Erscheinen und Verschwinden: In beiden Fällen handelt es sich um Vorgänge und zugleich um jeweils nur zeitweilig stillstellbare Ergebnisse kultureller Produktion, deren jeweilige Vergegenwärtigung, bspw. durch Medien der Erinnerung und Fixierung wie etwa des Erzählens oder auch Fotografierens (vgl. hierzu Seiler 2016: 3942), sie in der jeweiligen Prozess- und Ereignishaftigkeit festhält und damit auch in ihren Voraussetzungen, ihrer Kontingenz und Zeitgebundenheit erst ›augenscheinlich‹ werden lässt. Leere und Fülle treten so in ein Komplementär- und Korrelationsverhältnis wechselseitiger Bedingtheit, deren kulturspezifische Gewichtung zunächst sicherlich zugunsten der Fülle ausfällt, in einem zweiten Blick dann aber auch die Bedeutung der Leere in den Blick bringt: »Die Leere ist demnach das Wahrscheinliche und zuerst Gegebene, die Fülle dagegen mag möglicherweise normal, aber
5
So Luzia Niedermeier (2014: 6): »Wenn ich wachse, verschwinde ich damit aus dem Maß der Gegenwart, und wenn ich aus dem alten Maß verschwinde, wachse ich daran.«
6
Im Anschluss an Karin Schmidts GUNNAR-LENNEFSEN -EXPEDITION (1998) wäre hier auch auf das Bild und Modell einer »imaginären Leinwand« hinzuweisen: »Mit Hilfe der imaginären Leinwand gelingt es also, die Visualisierung und damit Externalisierung innerer Bilder literarisch zu inszenieren.« (Eigler 2005: 111)
7
Wilhelm Kamlah (1973: 31) hebt hier in besonderer Weise das »Sehen« hervor, das »dadurch bestimmt ist, daß wir nicht bloß Reize rezipieren, sondern stets hineinsehen in unsere Welt…«
V ERSCHW INDEN UND E RSCHEINEN | 163
unwahrscheinlich und jedenfalls erklärungsbedürftig sein.« (Engell/Siegert 2016: 5) Medien- und kulturgeschichtlich sind es deshalb nicht nur die Erfahrung der Fülle und der Prozess des Erscheinens von ›etwas‹, die Aufmerksamkeit fordern und deren Herstellung und Wahrnehmung Aufwand mit sich bringen. Vielmehr trifft der Ansatzpunkt einer kulturellen Produktion auch auf das Herstellen, Gestalten und Erkunden des ›Verschwindens‹ (von was auch immer) ebenso zu. Dem entsprechend schreiben die beiden Medienwissenschaftler Lorenz Engell und Bernhard Siegert in ihrem Entwurf zu einem Arbeitsfeld ›Erscheinen/Verschwinden‹: »Geht man in Umkehr der Tradition davon aus, dass die Welt genau nicht leer und zu füllen ist, sondern immer schon erfüllt, ja randlos voll, dann zeigt sich, dass die Dinge unablässig verschwinden müssen, allein schon, um in einer restlos überfüllten Welt anderen, neuen Dingen und neuen Erscheinungen Platz machen zu können und deren Eintreten zu ermöglichen. Damit etwas erscheinen kann, muss etwas verschwinden, und weicht es nicht von sich aus oder – wie am Beispiel der Warenzirkulation im Konsumkapitalismus naheliegend ersichtlich – nicht schnell genug, müssen eigene Operationen des Verschwindens eingreifen.« (Ebd.: 6) 8
Zum einen, so zeigt es schon der Verweis auf Warenzirkulation und Marktmechanismen im angeführten Zitat, geht es dabei um das Erscheinen und Verschwinden von Dingen und Sachverhalten in ihrer jeweiligen Gegebenheit, ihrer Materialität und Realität. Zu deren Status als Erscheinung gehört die jeweilige historische und soziale Realität der Umstände ebenso wie diese Rahmenbedingungen in ihrer Dynamik und Historizität auf die Prozesshaftigkeit und Sinnstruktur jedes Vorgangs des Verschwindens hinweisen. Zugleich wird gerade durch den Vorgang des Verschwindens und seine Beobachtung aber auch die Frage aufgeworfen: »wohin es führt, und zwar in einem wörtlichen Sinne: Unterwegs zu welchem Ort in Raum und Zeit bewegen sich die verschwindenden Dinge, wohin verbringt das Verschwinden das, was verschwindet?« (Ebd.: 8)9 Zum anderen, dies hatte schon Marx bemerkt, als er bei
8
Vgl. dazu die Projektbeschreibung »Erscheinen/Verschwinden« des IKKM-Weimar [= Internationales Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie] für das Jahr 2016 unter www.ikkm-weimar.de/forschung/aktuell/operative-ontologien/oeffnen-und-schliessen/2-erscheinen-verschwinden/ (27.05.2017).
9
Hier geht es also in einem realitätsbezogenen und zugleich metaphorischen Sinne auch um Zeitschleifen und Zeiträume, für deren Vergegenwärtigung und Erkundung Marie Luise Kaschnitz offensichtlich, so wie es Kienlechner (1984) erörtert, auf Darstellungs- und Erkundungsverfahren der Geologie und Archäologie zurückgreift. Schließlich zeige sich in ihren Texten, »daß es sich doch um die Technik des Survey, der archäologischen Landesaufnahme handelt. Das Dorf und seine Umgebung werden tomographisch aufgeblättert
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seinen Untersuchungen zum »mystischen Charakter« und »Geheimnis der Ware« zu keinem eindeutigen Ergebnis gelangen konnte (Marx [1867] 1975: 85-87),10 ist mit dem Erscheinen/Verschwinden der Dinge auch (und gleichermaßen) deren imaginativer Status im Sinne ihres Glanzes, ihrer Ausstrahlung und ihrer Funktion und Bedeutung innerhalb der Räume des Imaginären anzusprechen, zumal sich die damit verbundenen, mit den Prozessen des Verschwindens in Erscheinung tretenden Imaginationen im Sinne eines ›sozial Imaginären‹ dann natürlich auch wieder an die ›wirkliche Welt‹ sozialer und historischer Erfahrungsräume und Akteure zurückbinden lassen, ebenso wie deren historische, soziale und kulturelle Inszenierung als ›Erscheinung‹ im Bereich der Wahrnehmung, des Verstehens, Vorstellens und nicht zuletzt des Veränderns.11 Eine literarische Skizze vom Verschwinden: Marie Luise Kaschnitz’ BESCHREIBUNG EINES D ORFES I In diesen Zusammenhängen erweist sich das Wechselspiel von Erscheinen und Verschwinden freilich nicht nur als eine konstitutive Wahrnehmungs-, Gestaltungsund damit auch Erkenntnis- und Reflexionsform aisthetischer und historischer Erfahrung (vgl. Menke 2016; Didi-Huberman 2016). Vielmehr lassen sich beide Vorgänge zugleich auch als Erscheinungs- und Erfahrungsformen eben jenes sozial Imaginären verstehen, das sich angesichts einer durch den Fortschritt der Medien- und Informationstechnologien voranschreitenden Entdinglichung des Sozialen (vgl. Giesen 1991), gerade auch in den Wechselspielen der Wahrnehmung zwischen Erscheinen und Verschwinden, sowohl finden als auch, ggf. nur noch partiell, ›festmachen‹ lässt. Literarisch und auch bildnerisch mag dieses Wechselspiel vielleicht am ehesten in Form einer Skizze oder eines Aufrisses gestaltet werden können, so wie dies Sabine Kienlechner (1984: 46) im Blick auf die Form und Anlage der von Marie Luise Kaschnitz (1901-1974) vorgelegten BESCHREIBUNG EINES DORFES (1966) angesprochen hat: »Die Technik der Skizze hat schließlich keine andere Funktion, als auf einen eigentlichen Text zu verweisen, der niemals geschrieben werden wird.« Im Zuge der Beschreibung ihres Verschwindens wird damit freilich zugleich immer auch noch eine Schwundstufe von Subjektivität/Individualität (zumindest in der Figur und Intentionalität eines wahrnehmenden Beobachters) erkennbar, die sich in
in ihrer zivilisatorischen und historischen Ordnung. Strukturen, meist verschüttet und schon überwachsen, werden sichtbar dank Luftaufnahmen aus großer Höhe« (Kienlechner 1984: 45). 10 Marx spricht hier von der Ware als einem »sinnlich-übersinnlichen Ding« (Marx 1975: 85); zum Erkenntnisgewinn einer solchen Grenze des Erkennens vgl. Quante (2017). 11 Vgl. hierzu die entsprechenden Ausführungen bei Castoriadis (1984: 559-587).
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Kaschnitz’ Schreibprojekt im durchgängigen Gebrauch des Futurs zeigt, um auf »einen eigentlichen, erst noch zu schreibenden Text« zu verweisen. »Es wird aber zugleich klar, daß diesen skizzierten Aufzeichnungen keine Ausarbeitung mehr folgt.« (Ebd.: 46) Den Grabungen in einer Vorzeit entsprechend lässt sich auch in Kaschnitz’ Projekt einer Dorfbeschreibung aus dem Geist der Rekonstruktion eines Vergänglichen das Dorf als Handlungs- und Erlebnisraum nur noch in der Erinnerung an »die großen Zeiten der Wirtsstube« zeigen: »da wurde auch noch gesungen, was nun alles dahin ist, die Lieder vergessen.« (Kaschnitz 1966: 47) Die »Beschreibung« des Dorfes wird so zum Bericht einer Verlustgeschichte (»die damals jungen Leute erwachsen, mit Familien und immer mehr Arbeit«, ebd.) mit durchaus kultur- bzw. modernekritischen Ansätzen: »Die Maschinen haben keine Erleichterung, keinen Zuwachs an Freude, an Muße gebracht.« (Ebd.)12 Unter den Bedingungen einer fortschreitenden Vermarktlichung13 und Medialisierung14 von Menschen, Geschichten und Erinnerungen lassen sich Erfahrungs- und Erinnerungsräume offensichtlich nur noch ansatzweise,15 also weniger von den Gegenständen als vielmehr von den Intentionen her, in der Beschreibung eines Vorhabens und damit Unfertigen, ja im Erscheinen schon wieder im Verschwinden Begriffenen bzw. bereits Verschwundenen fassen und ggf. darstellen. Kaschnitz hat diesen Ablöseprozess von einer historisch-räumlich vorhandenen Wirklichkeit in ihrem Prosatext in verschiedenen Lagerungen beschrieben, wobei sich der Prozess gesellschaftlicher und v.a. auch industrieller Modernisierung in einen Kreislauf der »Veränderung über Veränderung« (ebd.: 54) einbetten lässt. Zunächst ist dabei noch ganz herkömmlich von einem Kreislauf der Jahreszeiten, einem »Rad der Jahreszeiten« (ebd.) die Rede. Dann aber wird die der Zeit der Mythen zugehörige eigene »Kreiszeit« aufgebrochen, indem die Beobachterin/ Erzählerin selbst die Steuerung übernimmt, ohne damit freilich aus dem Bannkreis der Wechselbeziehungen von Imagination und Realisation, Entstehen und Vergehen, Erscheinen und Verschwinden im Zuge der Todesverfallenheit des Menschen/ der Geschichte zu entkommen: »wenn ich das Rad drehe und sehe, wie die Häuser des Dorfes sich auftun und die Kinder wankend unter der Last ihrer Schultüten sich ins Schulhaus begeben, ein neuer Jahrgang gehorsam / und drehe und sehe wie die
12 Vgl. auch: »warum ich das alles angefangen habe, diese Schilderung eines Dorfes, doch nur um Ruhe zu finden, um entlassen zu werden aus der furchtbaren Beschleunigung, aber man wird nicht entlassen, auch hier nicht, gerade hier nicht« (Kaschnitz 1966: 54). 13 Vgl. dazu Taylor (1995: 11-15, 116f.). 14 Vgl. dazu Baudrillard (2012). 15 Zur Unsichtbarkeit als Moment im Zuge eines Prozesses der Entwertung des Subjekts unter markt- und mediengesellschaftlichen Bedingungen vgl. Honneth (2003: 10-27) und Honneth (2010: bes. 72-76).
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Häuser sich auftun und die Sterbenden sich auf den Weg machen und legen sich in die vorbereiteten Gräber gehorsam.« (Kaschnitz 1966: 55) Dinge lassen sich zwar nun in einer Abfolge beobachten, aber nicht erst die Wiederholung des Wortes »gehorsam« verweist schon auf die Unausweichlichkeit des Geschehens. Auch die Parallelisierung der beiden beschriebenen Kreisläufe spricht weniger einen Horizont der Hoffnung an als dass damit eine Zirkulation von Erscheinen und Verschwinden vorgestellt wird. Immer abhängig von der Eingangsrede »Wenn ich das Rad drehe und sehe«, wird zunächst einmal das Verschwinden der jetzigen Welt im Zuge einer Modernisierung vor Augen gestellt: »wie sie mit Hubschraubern aufs Feld fliegen und die Ernten einbringen bei Flutlicht«, in deren weiterem Verlauf aber dann auch Arbeit, Geschichte und Natur, selbst die Erinnerung an diese, verloren gehen: »wie die Äxte im Wald und die letzten Schmetterlinge nur noch von den urältesten Leuten erinnert werden« (ebd.). Schließlich, eingeklemmt zwischen kosmisch utopischen Bildern – »wie der Himmel nachts hell ist von kreisrunden Raumschiffen, eine furchtbare Helligkeit« – und der Vorstellung einer alles wieder überdeckenden vorzeitlichen Mischung von »Schlamm und Wasser« (ebd.: 56), lässt sich nur noch das Verschwinden der bekannten Welt und ihrer Bewohner vorstellen. Obwohl dessen Nichtgeschehen dreimal, also gleichsam magisch, beschworen wird: »wie, was aber nicht geschehen wird, nicht geschehen wird, nicht geschehen wird«, lässt sich der Gedanke nicht abweisen, wie »nach einer möglichen Katastrophe nahezu alles Leben erlischt und über der Einöde des Tales die Wälder wieder zusammenwachsen, neue Urwälder mitten im Tal.« (Ebd.: 55) Nach dem Verschwinden der Kultur wird offensichtlich die Natur wieder erscheinen; was nicht zuletzt auch eine Art Öffnung der Geschichte in Richtung metaphysischer Unendlichkeit initiiert. Freilich werden die »hölzernen Ritter« der historischen Überlieferung (ebd.: 56) ebenso unter Schlamm und Wasser verschwunden sein wie die Überreste christlicher Erinnerung (und ggf. Erlösungshoffnungen), deren Rettung vielleicht darin zu finden ist, dass es sich bei diesem Text lediglich um das Projekt einer Beschreibung handelt, die weder eingelöst noch ausgearbeitet wurde bzw. werden konnte.
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V ERSCHWINDEN UND E RSCHEINEN VON D ORF UND D ÖRFLICHKEIT IN DER FLÜCHTIGEN M ODERNE Denn dass literarischen Texten, also mit Schriftzeichen fixierten Botschaften und Weltentwürfen,16 angesichts der Flüchtigkeit von Erfahrungen und Formen in Prozessen beschleunigter Moderne (vgl. Bauman 2008) eine vielleicht rückwärtsgewandte, vielleicht aber auch stabilisierende Funktion, möglicherweise aber auch (immer) noch diskursive bzw. Diskurse anstoßende Kraft zugesprochen werden kann, lässt sich gerade dort erkunden, wo es – wie in der Konjunktur zeitgenössischer literarischer Texte und Filme zu ländlich-dörflichen Erfahrungsräumen – auch darum geht, Vorstellungen und damit auch die imaginäre Wahrnehmung eines Nicht-Vorhandenen mit ästhetischen Mitteln so zu beglaubigen, dass es sich als eine andere Weise der Erfahrung und zugleich doch als ›wirkliche‹ Erfahrung vertreten und ggf. entsprechend aufnehmen und an die soziale Realität der Lesenden und Handelnden zurückbinden lässt.17 Dem entsprechend spielt das oben angesprochene Wechselspiel von Erscheinen und Verschwinden auch in einer Literatur des dörflichen und ländlichen Raumes eine Rolle, führt die Konjunktur ›erzählter‹ Dörfer18 doch gerade angesichts eines umfassenden sozialen Wandels (vgl. dazu Neu 2016), innerhalb dessen die Siedlungsformen des Dörflichen offensichtlich (zumindest in der kulturellen Wahrnehmung) auf den Weg des Verschwindens geraten sind, zu einer Wiederentdeckung und Wiederbelebung des Dorfes als Imaginationsraum, der schließlich als Verhandlungsort und Impulsgeber nicht nur für gesellschaftliche Diskurse verstanden werden kann.19 Vielmehr zeigen literarisch entworfene Dörfer auch als Bildfolgen und Modellie-
16 Zur Possibilisierung künstlerischer Weltmodelle vgl. Goodman (1984); zur Basisleistung von Schriftlichkeit immer noch Goody (1990). 17 Wie sich dies im Blick auf die Imaginationsformen des Dörflichen in den Medien der Literatur und des Films im Anschluss an Paul Ricœurs Mimesis-Konzept beschreiben lässt, haben wir in unserem Band IMAGINÄRE DÖRFER vorgestellt (vgl. Nell/Weiland 2014). 18 Vgl. dazu bereits die Titelansprache bei Annika Scheffel (2013): »Bevor alles verschwindet«; hier wird bereits das potenziell Verschwunden-Seiende erzählt und damit auch schon zum Wieder-Erscheinenden gemacht. 19 Prominent wird dies in Juli Zehs Bestseller UNTERLEUTEN (2016) und ebenso auch mit Blick auf die Bastelentwürfe und -imaginationen unter den Bedingungen beschleunigten sozialen Wandels (und der darauf bezogenen retardierenden Elemente) in Saša Stanišićs Erfolgsroman VOR DEM FEST (2014) ausgeführt. Für eine Überblicksdarstellung zu neueren Dorfgeschichten siehe Weiland (2018). Für gattungsgeschichtliche Bezüge vgl. Spies (2009), Donovan (2010). Wie die Sozialgeschichte ländlicher Räume Literatur und Literaturgeschichte bestimmen kann, zeigt Williams (1973).
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rungen von Erfahrungen einen Innenraum, dessen Stellenwert zwischen Projektion, Imagination und Erinnerung changiert, wobei das jeweils ›in Rede‹ stehende ›Dorf‹ dann doch immer auch mit dem Anspruch verbunden ist, ›wie wirklich‹ vor unserem ›inneren‹ Auge zu stehen, also in der ›realen Gegenwart‹ eines imaginär, auf die Weise eines fingierten, fiktionalen Entwurfs erzeugten Text-Bildes ›real‹ zu sein (vgl. Iser 1993: 380).20 Lassen sich Dörfer dabei kulturgeschichtlich (also auch siedlungsgeschichtlich) den Erscheinungs- und auch Realisationsformen der ›langen Dauer‹ (longue durée) zuordnen – etwa wenn Fernand Braudel die Welt der Berge mit ihren Bewohnern als Hinterland und Ressource für die dann an Küsten, Buchten und Wegkreuzungen entstehenden Städte schildert (vgl. Braudel [1949] 1990: 60ff.) oder Wolfgang Reinhard (2004: 400f.) »anthropologische Raumerfahrung zunächst einmal als Ortserfahrung im engsten Sinn« versteht, als »Erfahrung von Küche und Hof, Garten und Acker, von Werkstatt und Marktplatz« – so korreliert in der Regel ihre Ortsgebundenheit und Ortsgeprägtheit der Vorstellung ihrer Zeiten übergreifenden Dauer; auch und besonders da, wo in Ideologien des Dörflichen dieses gegen die Dynamik und Flüchtigkeit der Moderne gesetzt bzw. dieser gegenüber in einem positiven Sinn abgehoben wird.21 Noch Johann Peter Hebels (1760-1826) Kalendergeschichte vom »Unverhofften Wiedersehen« lässt die zunächst skizzierte lineare Zeit mit ihren historischen Ereignissen in die mythische Zeit einer kreisförmig, den Jahreszeiten unterworfenen Bewegung übergehen, wie sie herkömmlicherweise ländlichen Gesellschaften und Erfahrungsräumen zugehörig sein soll: »und die Ackerleute säeten und schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmiede hämmerten« (Hebel [1811] 1984: 249), um daran anschließend die »unerhörte Geschichte« einer einmaligen, »unverhofften« Wiederkehr des Jahrzehnte zuvor bereits verstorbenen Bergmanns in eine heilsgeschichtlich ausdeutbare Parabel von seiner Wiederauferstehung in einem christlichen Sinne einzubetten und motivisch abzusichern. Dörfer stehen in dieser Hinsicht also zunächst einmal nicht nur für Dauer, Beständigkeit und ggf. für die Abwehr historischen Wandels. Vielmehr scheinen sie
20 Die Doppel-Struktur des Fiktiven zwischen Spiel und Realitätsbezug erläutert Iser an der Bukolik, also einer spezifisch das Ländliche imaginierenden Form literarischer Erfindung: »Die Bukolik bot sich dafür als das klassische Beispiel. Das eine artifizielle – weil erfundene – Welt mit einer sozio-historischen zusammenschließt und sich in dieser Doppelung als Selbstreflexion literarischer Fiktionalität präsentiert.« (Iser 1993: 381) Literarisch erzeugte Reflexivität lässt sich aber auch wiederum als Impulsgeber und Verhandlungsraum soziohistorischer Erfahrungen und Handlungsoptionen nutzen. 21 Zur geschichtlichen Bestimmung und Ideologisierung, dann auch Narrativierung des Dorfes und des Dörflichen vgl. Troßbach/Zimmermann (2006: 172-205), Baur (1978, Kap. IV, b: 63-80), Donovan (2010, Kap. 1).
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sich einer Perspektive, die sich auf das ›Erscheinen‹ und ›Verschwinden‹ von Orten ausrichtet, geradezu zu wiedersetzen; wobei das ›Verschwinden‹ von Dörfern, man denke an Wüstungen im Mittelalter22 und an das Auslöschen von Dörfern in neuzeitlichen und dann auch modernen historischen Zusammenhängen des 20. Jahrhunderts, noch deutlicher bestimmbar wird als das ›Erscheinen‹. Lässt sich doch ›Verschwinden‹ auf Naturkatastrophen (Erdbeben, Überflutungen) ebenso zurückbeziehen wie auf menschliches Handeln, das in Kriegen, Brandschatzungen, nicht zuletzt in einer Taktik der verbrannten Erde, wie dies zuletzt Timothy Snyder in seiner Studie BLOODLANDS im Blick auf Mittelosteuropa gezeigt hat,23 niederschlägt und in diesem Sinne buchstäblich das ›Verschwinden‹ von Dörfern nicht nur bewerkstelligt, sondern ebenso auch in Szene setzt und dieses Verschwinden/Verschwundensein in Folge dessen als Erfahrung und Erscheinung auch vor Augen zu stellen vermag. Eine Literatur der Leerstelle: Andrzej Stasiuks Galizische Geschichten Es ist dann die Literatur der ›Leerestelle‹, die, wie dies bspw. Andrzej Stasiuk in seinen GALIZISCHEN GESCHICHTEN [OPOWIEŚCI GALICYJSKIE, 1995] unternommen hat, dieses Verschwinden nicht nur anzeigt, sondern auch als eine Stelle im Imaginationsraum beleuchten, ja illuminieren und zugleich in weitergehende Erfahrungen und Entwicklungen einbinden kann: »Sie waren ganz schnell fertig« (Stasiuk 2002: 40), so berichtet der Erzähler vom Abbau einer orthodoxen Holzkirche im Südosten Polens und deren Überstellung in ein volkskundlich ausgerichtetes Freiluftmuseum: »In zwei Monaten. Zurück blieb ein Rechteck aus grauer, lehmiger Erde. In dieser waldigen, menschenleeren Gegend sieht diese Blöße aus wie ein Stück abgerissener Haut. Nächstes Jahr wird hier seit zweihundert Jahren zum ersten Mal wieder Gras wachsen. Oder Brennnesseln – sie erscheinen am schnellsten an Orten, die von den Menschen verlassen wurden.« (Ebd.) Historisch verweist diese Versetzung eines dörflichen Heiligtums ins Museum nicht nur auf Säkularisierung und Moderne bzw. auf den mit dem Verblassen transzendenter Orientierung verbundenen Vorgang einer ›Entbettung‹ von Menschen, sozialen Gruppen und ganzen Gesellschaften aus den bislang ihnen zur Verfügung stehenden umfassenden Wertordnungen, Weltmodellen und auch aus den ihnen vertrauten »ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen« (Giddens 1995: 33). Ebenso zeugt die nunmehr vorhandene Leere auch von der Vertreibung bzw. der dislozierenden Gewalt der zwischen 1945 und 1947 im Grenzland zwischen Polen
22 Vgl. Troßbach/Zimmermann (2006: 48-50). 23 Siehe dazu insbes. Snyder (2011: 326-337; Westverschiebung Polens, Auslöschung der Spuren jüdischer Bevölkerung in der Ukraine 1942-1948).
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und der Ukraine agierenden Freischärler und Partisanen-Gruppen gegenüber den jeweils auf der anderen Seite als feindlich angesehenen Bevölkerungsgruppen und auf die damit verbundene Entmischung vormals multikultureller Gesellschaften, die mit einem Verschwinden der jeweiligen Dörfer einherging. Nicht nur die Kirche fehlt, sondern auch die Menschen, denen sie etwas bedeutete. Wie aber Stasiuks Text schon anspricht, bildet an dieser Stelle das Verschwinden des Einen zugleich die Grundlage für das Erscheinen eines Anderen, diesmal wie bereits oben auch bei Kaschnitz angesprochen, die Rückkehr der Natur an die Stelle des Hauses, die freilich in Form der Brennnesseln oder des Grasbewuchses auch weiterhin zu sehen sein wird. Es handelt sich um das Schildern einer Leerstelle, deren Funktion in der Bestimmung und Bezeichnung einer räumlichen wie auch zeitlichen Unbestimmtheit besteht, die zunächst die literarische Imagination anstößt: »in diesem Fall ist das Datum nicht sicher. Es wurde nirgends notiert, als würden die beiden hier existierenden Kalender, der Gregorianische und der Julianische, sich gegenseitig aufheben und damit die Ereignisse in der adjektivlosen Zeit ansiedeln.« (Stasiuk 2002: 41) Mehr noch, die Leerstelle des verschwundenen Gebäudes nötigt zur Aufnahme des Ortes nicht nur in den Raum der Phantasie, sondern auch zu dessen gleichsam realistischer Ausgestaltung, jener Leistung des Fiktiven (vgl. Iser 1993), die die Macht des Realen zum einen aufhebt und zum anderen das In-Erscheinung-Treten des Imaginären ermöglicht: »Diese adjektivlose Zeit ist verlockend. Das Bedürfnis nach Ordnung, Namen, Wirkung und Ursache gilt auch für die Phantasie. Hier entspringen alle erfundenen Geschichten, an die wir mit der Zeit glauben. Vielleicht können Imagination und Glaube nicht ohne einander existieren, weil sie einen gemeinsamen Kern haben – sie brauchen keinen Beweis.« (Stasiuk 2002: 41)
Gerade solche Leerstellen werden aber auch durch die bildhaften Möglichkeiten der Literatur bewahrt, ggf. als »Kerbung« (vgl. Deleuze/Guattari 1992: 658) bestimmt und weitergegebenen, und somit in die aktuelle Präsenz eines kollektiven oder individuellen Gedächtnisses durch seine mediale Inventarisierung eingespeist: »Er ging auf den ausgetretenen Platz und sah sich um, als suche er Wände und Gewölbe. Dann fand er einen Sonnenfleck, der den Chorraum umfaßte, und knipste mit seiner Praktica. […] Ich hatte den Eindruck, daß der Mann, sicher zufällig, den Raum fotografierte, wo sich früher die Ikonostase befunden hatte. Jetzt war er von allen Formen entleert, aber von Licht erfüllt. Wie immer vor Sonnenuntergang.« (Stasiuk 2002: 40, 43)
In einem Moment des Stillstands der Zeit gehen Licht und Raum ineinander über, sodass die wahrgenommene, ja photografisch fixierte Leerstelle in Stasiuks profaner Epiphanie zu einem Anhaltspunkt wird, den Einbruch der Transzendenz, wenn schon
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nicht zu erfahren, so doch so zu schildern, dass darin die mit den Bildern verbundenen Heilserwartungen der ländlichen Bevölkerung erkenn- und vorstellbar werden und in der Erinnerung daran auch vor Augen treten können: »In diesen paar Minuten gewannen das matte Gold der Schnitzerei und die verblaßten Farben der Ikonen ihren ursprünglichen, übernatürlichen Glanz wieder, der die Vorstellung und Sehnsucht der ländlichen Künstler beflügelt hatte.« (Ebd.: 43) Natürlich handelt es sich hierbei ›nur‹ um eine Vorstellung, einen Eindruck, der im nächsten Moment wieder der realen Leere Platz macht: »Das war wie ein verstohlener Blick auf die andere Seite. Die Wirklichkeit brach auf, und gleich darauf verschloß sie sich wieder, kein Spalt war zu sehen, der Holzwurm nahm seine Arbeit wieder auf, Mäuse und Schimmel taten das ihre.« (Ebd.: 44) Zwischen Erscheinen und Verschwinden gibt es offensichtlich einen Konvergenzpunkt, einen Moment des Übergangs, an dem Erscheinen in Verschwinden und Verschwinden in das Erscheinen einer Leerstelle übergeht, deren Ausstrahlung in ihrem Aufleuchten ebenso wie in ihrem Verblassen das In-Erscheinung-Treten des Raums mit einer zeitlichen Dimension ausstattet, sodass sich das Licht der Erscheinung im Zuge des Geschehens sowohl in seiner Stärke ändern als auch in seinen Farben abtönen und eben auch ganz verblassen kann. Gesehenes oder Erfahrenes geht im Verschwinden über in den Speicherraum des Gedächtnisses, aus dem heraus es in seiner Bild- und Wirkkraft dann wiederum zur Modellierung der Gegenwart und zum Entwurf der Zukunft herausgenommen und genutzt, also zur Erscheinung gebracht werden kann. »Farben und Licht«, so noch einmal Stasiuk, »ändern sich. Die ältesten Ereignisse sind am deutlichsten, dann wird alles blasser.« (Ebd.: 125) Damit lässt sich dann aber auch zugleich ein Unterschied beider Bewegungen feststellen, der zumal im Blick auf das Verschwinden und Erscheinen von Dörfern neben einer im engeren Sinne künstlerisch-ästhetischen und einer im weiteren Sinn wahrnehmungsästhetischen Dimension auch einer historischen Entwicklung und einer sozialen Erfahrung Rechnung tragen kann. Verschwinden geht in diesem Rahmen von einem ›real‹ vorhandenen Objekt aus, das sich noch in seinem Abbau zeigt und im Zustand des verschwunden Seins einer medialen Repräsentation bedarf, so wie dies bspw. in Traumbildern, im Film oder auch in den Bildbeschreibungen und Gedenktafeln untergegangener oder verlorener Dörfer erinnert, inszeniert oder auch rekonstruiert werden kann.
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T OPOGRAFISCHE L EERSTELLEN ALS MEDIEN DES V ERSCHWINDENS UND E RSCHEINENS Topografische Leerstellen verweisen damit einerseits auf das Verschwinden eines Realen und sind doch andererseits auf die Konstitution eines Imaginären angewiesen, das wiederum die Wahrnehmung eines Verschwindens betont und beglaubigt. »Jedes […] Bild«, so zitiert Manfred Smuda Gaston Bachelard, »hat seine eigene Traumtiefe, und auf diesem Hintergrund setzt die persönliche Vergangenheit ihre eigentümlichen Farben.« Smuda fährt dann fort: »Die ›Träumerei‹ als Einbildungskraft ist es also, die dem Bild der Natur als Landschaft ästhetischen Wert verleiht.« (Smuda 1986: 44f.) Dies gilt freilich nicht nur für die Ästhetik im engeren Sinne, sondern auch für die Möglichkeit, sich einen verschwundenen Ort oder auch eine Person in sozialer, historischer oder biografisch-individueller Hinsicht vorstellen zu können. Und auch im Blick auf das Erscheinen spielen die Imagination, die Kraft und das Vermögen zur Einbildung bzw. zur phantastischen Übermalung und Vervollständigung des immer nur partiell in Erscheinung tretenden Realen eine zentrale Rolle. Nur vollzieht sich hier der Prozess umgekehrt: Verschwinden setzt beim Realen an und transformiert dessen Verschwinden in die Leerstelle eines sinnhaft zu rekonstruierenden Ganzen, dessen Gestalt sich lediglich mit Hilfe der Imagination gänzlich fassen (und ggf. erinnern) lässt. Demgegenüber muss das Erscheinen zunächst an einem Nullpunkt, einer Leerstelle ansetzen, die auch nur in einem sinnhaft, also auch imaginär gestalteten Kontext ihren Ausgangspunkt hat, um sich dann im Zuge ihrer Umsetzung in einer Erscheinung zu realisieren (und ggf. auch zu materialisieren) und die so aus der Einbildung in die Anschauung zu wechseln vermag. Verschwindende Dörfer werden damit zu Leerstellen im Gelände, zu Symbolen auf der Karte und zu Geschichten im Buch. In ihrem Verschwinden wird Welt medialisiert und aus der Präsenz in die Archive der Erinnerung verschoben. Erscheinende Dörfer nehmen ihren Ausgang von Leerstellen (der Erinnerung, der Erzählung und ggf. auch des Raums) und entwickeln aus Symbolen oder Platzhaltern Bilder, Objekte der Anschauung und auch neue Lebenszusammenhänge. Im Erscheinen des Dörflichen werden Vorstellungen in Medien und Diskurse überführt bzw. an sie angeschlossen und ggf. dann auch dadurch realisiert, dass die entstandenen Bilder – sei es der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft – in der jeweiligen Gegenwart umgesetzt werden. Sie werden damit zu Projektionen der Zukunftsgestaltung, der Aneignung von Vergangenheit, der ideologischen Mobilisierung oder auch der kulturellen Kompensation. Verschwinden und Erscheinen des Dörflichen lassen sich in dieser Weise als zwei Klammern bzw. Prozesse verstehen, die darauf zielen, Gegenwart einzuhegen, für diese und von dieser aus Perspektiven auszuziehen, die darauf zielen, Impulse und Aspekte eines – wir wissen dies seit Hegel – nicht
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fassbaren, lediglich rekonstruierbaren ›Jetzt‹ festzuhalten bzw. in einem weitergehenden Kontinuum zu fixieren oder wenigstens zu verorten. Diese an sich vertrauten und weit gestreuten Wechselbeziehungen zwischen Dasein und Verschwinden, Erscheinen, Erinnern und Entwerfen stellen nun freilich gerade im Blick auf das Dörfliche in mehrfacher Hinsicht eine besondere Zumutung dar, stehen doch Dörfer gemeinhin für Beständigkeit, langsamen Wandel (wenn überhaupt) und inzwischen gar weitgehend für rückwärtsgewandte Beständigkeit. Dies gilt gerade auch dann, wenn in medialer Hinsicht die Bilder des Dörflichen ›boomen‹, während sich die Dörfer in sozialer, ökonomischer und auch politischer Hinsicht als Schwundstufen dessen zeigen, was in bürgergesellschaftlicher Perspektive als Raum sozialer Partizipation und Interaktion erscheinen sollte und in kultur- und modernekritischer Perspektive noch immer (oder schon wieder) als Gegenwelt zur Zerrissenheit der Moderne und kulturkonservativer Schutz- und Kompensationsraum erscheinen soll. »Dass dies ein fataler Irrtum ist«, so Claudia Neu (2016: 8) in einer neueren Stellungnahme, »zeigt sich gerade an den Entwicklungen in entlegenen ländlichen Räumen.« Denn: »Das Dorf, fantasierter Ort sozialer Gleichheit, entwickelt sich unter Schrumpfungsbedingungen eben nicht zurück zu einem imaginierten sozialen Ganzen, das im Transformationsprozess zur postmodernen Gesellschaft irgendwie verloren gegangen war, doch potenziell wieder herstellbar ist.« (Ebd.) Dörfer unterliegen aber nicht nur – wie alles unter den Bedingungen einer Moderne, deren Imperativ Marshall Berman mit der Marxschen Formel »all that is solid melts into air« (Berman 1988) gefasst hat – einem ständigen Auflösungs- und Veränderungsprozess. Insbesondere in den Zusammenhängen ihrer literarischen oder künstlerischen Repräsentation stellt sich auch die Frage, in welchem Maße und mit welcher Technik die Verschlungenheit von Dauer und Wandel, Flüchtigkeit und Beständigkeit, Absenz und Präsenz in Bildern des Dörflichen so gefasst werden kann, dass Prozesse des Erscheinens und Verschwindens bestimmt und unter Hervorhebung der Flüchtigkeit des Dörflichen gestaltet werden können. Eine literarische Skizze vom Erscheinen: Marie Luise Kaschnitz’ Beschreibung eines Dorfes II Ausgehend von Marie Luise Kaschnitz, die – wie bereits oben angesprochen – mit ihrem Text BESCHREIBUNG EINES DORFES hierzu einen bemerkenswerten Versuch unternommen hat, soll abschließend das Dorf nicht nur als ›topografische Leerstelle‹ skizziert und im Blick auf die weitere Diskussion und Forschung perspektivisch erkundet werden. Vielmehr wird dabei auch noch einmal das besondere Vermögen literarischer Texte erkennbar, in der Schaffung und Erzeugung einer künstlichkünstlerisch gerahmten Leerstelle jenen Erfahrungs- und Imaginationsraum aufzuschließen, der die einander korrelierenden Prozesse des Erscheinens und
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Verschwindens sowohl vor Augen stellen kann als auch ihnen eine zusätzliche Möglichkeit der Beobachtung und Reflexion einzuräumen vermag. »Eines Tages, vielleicht sehr bald schon«, so beginnt Kaschnitz’ Text, »werde ich den Versuch machen, das Dorf zu beschreiben.« (Kaschnitz 1966: 7) Nicht nur, dass es bei der Beschreibung dieses Versuchs bleibt, die damit beginnende Skizze (vgl. Kienlechner 1984: 46) stellt in dieser Hinsicht nicht erst den Versuch, sondern gleich die Beschreibung des Dorfes im Ganzen dar. Der Text behält dabei seinen Charakter als Entwurf, der in 21 durchnummerierten Abschnitten jeweils für einen Arbeitstag einen bestimmten Aspekt benennt, der an diesem Tag zu bearbeiten sein wird; wobei der »Entwurf«, so schreibt es der ebenso wie Kaschnitz in Karlsruhe geborene, heute wohl weitgehend unbekannte Schriftsteller Walter Helmut Fritz (1929-2010) in seinem Nachwort, »nicht Ausdruck eines anfänglichen Stadiums des künstlerischen Willens ist, sondern dessen Resultat.« (Fritz 1966: 60) Es mag dahingestellt bleiben, ob durch die von Kaschnitz gewählte Form der Projektbeschreibung, z.B. »An meinem zehnten Arbeitstag werde ich…« (Kaschnitz 1966: 28), so wie Fritz (1966: 61) dies vorschlägt, Einheitlichkeit und Systematik erzielt bzw. sogar verstärkt werden.24 Sicherlich aber wird durch die Einbettung der zu beschreibenden Erscheinungen und Sachverhalte des Dorfes in die Projektperspektive der Erzählerin die Anschaulichkeit des Geschilderten nicht nur verstärkt, sondern eben entsprechend gerahmt und mit der durchaus explizierten Erzählerintention auch hervorgehoben, nicht zuletzt zur weiteren Reflexion und Imagination angeboten. Viel deutlicher aber noch erscheint das hier entwickelte Verfahren dazu geeignet, die Flüchtigkeit und damit letztlich auch Unbestimmbarkeit des Dörflichen so anzusprechen, dass dessen Schein- und Imaginationscharakter deutlich hervortritt. Anders als es die Ideologie dörflich-ländlicher Dauer verlangt bzw. auch zu versprechen suchte (vgl. Zimmermann 1986: 90f.), befindet sich alles, was das Dorf betrifft, in Bewegung, nicht zuletzt auch das projektemachende Ich, das bereits auf der ersten Seite mit einer Vogelschau beginnen will, »mit dem, was ein Vogel sieht, oder ein Fluggast aus seinem Kabinenfenster« (Kaschnitz 1966: 7). Die nächsten Abschnitte listen dann zunächst landschaftliche Gegebenheiten – wieder aus der Schau des fliegenden, über dem Dorf kreisenden Vogels – auf, dann historische Vorgänge, die durch die Rheinebne – das geschilderte Dorf Bollschweil, Heimatdorf der Erzählerin und auch von Kaschnitz selbst, liegt bei Freiburg – ziehenden Völkerscharen: Kelten, Germanen, Alemannen, Franken, Römer, Schweden und Franzosen, ebenfalls also Menschen in Bewegung, deren Tun wiederum
24 Zu fragen ist, ob Kaschnitz nicht gerade gegen eine solche weitere Systematisierung und Funktionalisierung ihrer Beobachtungen anschreibt; ganz im Sinne etwa der von Charles Taylor vorgetragenen Kritik an der instrumentellen Zurichtung von Menschen und Erfahrungen im Zusammenhang einer »unbehaglichen« Moderne (vgl. Taylor 1991: 105-121).
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Bewegung, vor allem aber Leiden und Verlust mit sich bringt, »Brandschatzung, Flucht in die Wälder, Elend, Tränen und Angst.« (Ebd.: 10) Es folgen die beiden Kriege des 20. Jahrhunderts und anschließend Hinweise auf die Veränderungen der Landschaft durch die Industrialisierung der Landwirtschaft, den Bau von Verkehrswegen, im Hintergrund »Gebirge«, die sich »wie ängstliche Hunde gegen den Boden drücken.« (Ebd.: 11) Auch die folgenden Abschnitte zeigen eine Natur in Bewegung, bspw. das Fließsystem der Gewässer (ebd.: 13) sowie die Unternehmungen der Menschen, sich diese zunutze zu machen, Bewässerungsanlagen; auch Jahres- und Tageszeiten verändern Stimmungen und Tönungen im Blick auf die Landschaft: »Veränderungen über Veränderungen, ich habe die Absicht, darauf noch einmal zurück zu kommen, vielleicht schon am nächsten Tag.« (Ebd.: 15) Aber auch Absichten und Pläne unterliegen, genau wie das beobachtende und erzählende Subjekt und seine Objekte, weitergehender Unbeständigkeit; am nächsten, am »fünften Arbeitstag, wird mir anderes wichtiger erscheinen.« (Ebd.: 16) Das wachsende Gras soll beobachtet und erzählt werden. Es schließen sich auch wieder andere Prozesse an, die der Beobachtung und Beschreibung wert erscheinen: Der sechste Arbeitstag bringt eine Übersicht der Sozialstruktur des Dorfes, u.a. wie viele Personen Landwirtschaft betreiben und »wie viele Einwohner Unterstützung beziehen« (ebd.: 18f.), sowie Aussagen über Generationslagerungen und den Einbruch der Moderne in Form von Mode, Mopeds und der Orientierung an Frisuren von Filmschauspielerinnen (vgl. ebd.: 19). Von zentraler Bedeutung ist dabei die Schilderung des Kalkwerks am 16. Arbeitstag, werden hier doch Aspekte der Produktion und Destruktion, das Herstellen von Räumlichkeit und der Entzug von Landschaft in eben jener Gegenläufigkeit von Verschwinden und Erscheinen und zugleich ineinander verschlungen gezeigt, die weiter oben in den drei Dimensionen des Raums, der Zeit und der Einbildungskraft angesprochen wurden: »diese große Industrieanlage mit ihren bereits abgebauten und neuen Steinbrüchen, den grauen hohen Rundtürmen, den Leitertreppen, den Bürogebäuden und Schuppen, alles mit feinem Kalkstaub bedeckt.« (Ebd.: 44) Im Modus der Ankündigung, also im Sinne eines mit dem »Projekt der Moderne«, wie dies Jürgen Habermas (1985) bestimmt hat, verbundenen Wissens um die Unvollständigkeit, den Konstruktionscharakter und die Unabschließbarkeit einer solchen Dorfbeschreibung unter den Bedingungen einer auf Immanenz hin angelegten Moderne,25 nimmt auch die Erzählerin eine uneindeutige Haltung an und entwirft im Blick auf den Abbau der Landschaft unterschiedliche, ja widersprüchliche
25 Auf den empirischen, also auch zur Welt der Dinge und Umstände hin offenen Charakter einer solchen Dorfbeschreibung in den Anfängen der empirischen Sozialforschung ebenso wie in der damals sogenannten ›Deutschen Volkskunde‹ haben bereits Bonß (1982: 59-64) und Jeggle (1978: 88f.) aufmerksam gemacht.
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Perspektiven. Dies sind dann wohl auch die Möglichkeiten, die gegenwärtigen Gesellschaften tatsächlich im Blick auf den Umbau und Abbau von Landschaften, den Raubbau an der Natur und zugleich hinsichtlich der Erfahrungs- und Entfaltungsmöglichkeiten des Ländlichen bleiben. Zunächst der Einspruch: »Ich werde erzählen, daß die dem Dorf zugewandte Seite des Rebbergs nicht abgebaut werden darf, auch der Kamm nicht mit seinen Haselnußbüschen« (Kaschnitz 1966: 44), dann der Bericht von der Zerstörung: »daß aber im sogenannten Echotal der Tagbau immer weiter talauf rückt, die Wiesen in Steinmulden verwandelt und das Echo wirft das Geräusch der Sprengungen wie endloses Gewitter zurück.« (Ebd.) Schon der letzte Vergleich führt allerdings darauf zurück, dass das Menschenwerk einerseits im Rahmen einer Natur und andererseits als Naturerscheinung verstanden und dadurch relativiert/relationiert werden muss, ja ggf., wie bereits oben angesprochen, wieder untergehen bzw. zugunsten der Erscheinung eines Neuen (Alten) dann eben auch wieder ›verschwinden‹ kann. Dies bietet natürlich auch die Möglichkeit, dass zerstörte Landschaften dann wieder als imaginativ anziehend, ja ›schön‹ empfunden werden und dabei erneut auch wieder Gefühle ansprechen und sogar ethische Positionen berühren können: »Ich werde sagen, daß diese Mulden schön anzusehen sind, bleich wie Mondhalden, davor die ebenfalls bleichen Gebäude, durch Seufzerbrücken miteinander verbunden, mit Räderwerken und Schaltwerken, die stampfen und brausen durch die Nacht.« (Ebd.) Gebremst, vielleicht konterkariert oder gestört wird eine solche ästhetische Betrachtung der verschwundenen Landschaft dann aber in einer nächsten reflektierenden bzw. beschreibenden Wendung noch einmal durch den Rekurs auf soziale Tatsachen und den damit vollzogenen sozialhistorischen Blick auf das Verschwinden des Menschen im Industrieund Maschinenzeitalter: »Danach werde ich erzählen, daß von den vielen Männern, die einmal hier benötigt wurden, kaum noch ein paar Arme beschäftigt sind – vielmehr alles von Maschinen geleistet wird«. (Ebd.: 44f.) Am Ende dieser Schilderung einer durch Industrie, Technik und den Menschen ›entzauberten‹ Landschaft kehrt aber auch der Spuk in die Beobachtung der Landschaft zurück: »Wer am Abend vorübergeht, keinen Menschen sieht und ihm das ganze geräuschvoll arbeitende, aber nur von ein paar im Winde schwankenden Lampen erhellte Werk wie von Geisterhänden bewegt erscheint.« (Ebd.: 45) Nicht nur syntaktisch bleibt dieser Abschnitt unbestimmt; das Unbehagen in der Moderne (vgl. Berger/Berger/Kellner 1987, bes. Kap. 8; Taylor 1995) zeigt sich, wie dies schon Karl Marx beobachtet hatte, auch in der Rückkehr des Gespensterhaften in die technisch-wissenschaftliche Welt, die hier gerade im Schwanken der Lampen spukhaft, bedrohlich und zugleich faszinierend erscheint. Ob und in welcher Weise die Leere einer Landschaft damit zugleich als ein weiterer Erfahrungsraum nicht nur des Abgründigen, sondern eben auch des Erhabenen von der Art der Wüste (vgl. Schmitz-Emans 2000) anzusprechen ist oder ob die durch die Hand des Menschen erzeugte Leere genau das Gegenteil erzeugt, also statt einer Figur der Erhebung, die
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Einführung in eine Niederschlagung, eine Depression darstellen kann, mag im Anschluss an die von Kaschnitz bereits hervorgerufene Endzeitstimmung weiter zu diskutieren sein. Freilich ist dieses Dorf, dessen Beschreibung sich Marie Luise Kaschnitz auch deshalb vorgenommen hat, weil es sich seiner Beschreibung entzieht, bereits in der Moderne angekommen, nicht zuletzt berichten die in den folgenden Abschnitten angesprochenen Geräusche (Kaschnitz 1966: 21ff.) und Gerüche (ebd.: 36f.) davon; ebenso die Betrachtung der Handwerke und der landwirtschaftlichen Arbeiten, zu denen »planmäßige Schädlingsbekämpfung« ebenso zählt wie »fließende Bänder« (ebd.: 27), Lastwagen, Lagerhallen und selbstverständlich neue Obstbezeichnungen. Dreimal greift die Beschreibung auf flächige Fixierungen zurück, die sie gegenüber der verrinnenden, sich linear beschleunigenden Zeit in Stellung zu bringen sucht. So hat die Erzählerin vor, eine Karte des Friedhofs anzulegen (ebd.: 23), ebenso eine Karte des Dorfes, die auch darauf angelegt ist, Bewegungen aus einer Richtung, ein zielgerichtetes Eindringen zu erlauben (und diese auch zu ermöglichen), nicht zuletzt für die Ortserkundung eine Perspektive anzubieten: »wer von Westen […] kommt« (ebd.: 31). Es könnte freilich auch anders sein. Schließlich will die Erzählerin eine Liste dessen anfertigen, was im Tal wächst und verbindet dies mit der Schilderung der Winde, die das Wachstum ermöglichen und die Blumen und Bäume in Bewegung halten (ebd.: 43), während sie den 21., also letzten Arbeitstag dazu nutzen möchte, den eigenen Plan, eben das Projekt der Dorfbeschreibung, zu reflektieren: »werde ich mich besinnen, warum ich das alles angefangen habe, diese Schilderung eines Dorfes, doch nur um Ruhe zu finden, um entlassen zu werden aus der furchtbaren Beschleunigung (ebd.: 54). Diese Notiz benennt sicherlich zutreffend Gehalt und Intention des hier vorliegenden Schreibprojektes. Entgegen herkömmlicher Annahme jedoch haben sich sowohl das Dorf selbst als auch das Projekt seiner Beschreibung nicht als Gegenentwürfe zur Welt der Moderne in ihrer transitorischen Flüchtigkeit finden bzw. zeigen lassen: Vielmehr bleiben das Dorf und seine Bewohner, wie auch die Beobachterin, eingeschlossen in jenes »stahlharte Gehäuse«, von dem Max Weber (1975: 188) im Blick auf die Moderne gesprochen hat; »aber«, so die Erzählerin an dieser Stelle, »man wird nicht entlassen, auch hier nicht, gerade hier nicht, Veränderung über Veränderung« (Kaschnitz 1966: 54). Bewegung, die über alle Fixierungen hinausgeht, treibt das Bemühen um Beharrung in die oben bereits angesprochenen Kreiselbewegungen, bannt sie in den Kreis der Zeiten und Abläufe, auch in die Pendelbewegung zwischen Erscheinen und Verschwinden. Zum einen zeigt dies der sich anschließende Verweis auf den Jahreskreislauf, die Folge der Monate und den Wechsel der Jahreszeiten, zum anderen aber auch die in den letzten Sätzen des Textes erneut aufgenommene Beobachtung und Metaphorik des Wassers: Alles ist in Bewegung. Mit Bezug auf die Schöpfungsgeschichte endet der Kreislauf der Geschichte wiederum im Wasser: »wie von Schlamm
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und Wasser alles bedeckt ist, die hölzernen Jünger ertrunken und in St. Christus der runde Taufstein mit den zwölf Apostel und dem Christus in der Mandel von fremden Fischen umspielt« (ebd.: 56) – ob gerettet oder verdammt, Anfang von etwas Neuem oder endgültiges Ende bleibt in diesen letzten Worten der Erzählung ebenso offen wie der Status und die genaue Übergangsstelle der vorgestellten Bilder und Dinge zwischen Erscheinen und Verschwinden. Es ist gerade das Insistieren auf dieser Zwischenstellung in einem Feld divergierender Übergänge, zwischen erinnerten Vergangenheitsbezügen und imaginativ entworfenen Zukunftsvorstellungen, projektiver Vergegenwärtigung und einem ins Offene weisenden Pendeln zwischen den Fragen nach dem ›Woher‹ und ›Wohin‹, das diesen Text in seiner Zugehörigkeit zur modernen Literatur kennzeichnet und gerade in dem Maße von der Unruhe der Moderne zeugt, in dem es auf der Suche nach Wirklichkeit und Fixierbarkeit besteht. Es handelt sich bei diesem »Versuch einer Dorfbeschreibung« also keineswegs um einen ›reaktionären‹ Gegenentwurf zur Moderne, auch wenn sich Beobachtungen zu einer kulturkritischen Abwehr der Moderne zusammenstellen lassen.26 Vielmehr geht es hier um den Versuch einer Einbettung der Unruhe der Moderne in den Fluss des Lebens. Damit wird an dieser Stelle eine auf die Antike27 zurückgehende Metapher aufgenommen, in der sich die Flüchtigkeit der Moderne mit der Unbeständigkeit und den Bewegungsformen der Tradition verbindet. Insoweit stellen die Auflistung der zu beschreibenden Gegebenheiten ebenso wie die beiden Karten Ansatzpunkte zu einer Sistierung des Erscheinens und Verschwindens als jene Formen eines Lebens in Bewegung dar, die sich genauer und konkreter im dörflichen Kontext beobachten, im Medium des erzählten Dörflichen gestalten und als Erfahrungsform dann auch bebildern lassen. Es gibt freilich dann auch noch einen weiteren Platz der Stabilität, einen festen Ort, ja vielleicht sogar eine Art Nullpunkt und Leerstelle als Ausgangspunkt der Dorfbeschreibung, den die Erzählerin allerdings gar nicht beschreiben und auch nicht betreten will: Das mysteriöse, mystische Haus Nr. 84, das immer wieder im Text erwähnt wird und zugleich im Blick auf die Schilderungen des Dorfes und seiner Umgebung, ebenso aber auch im Blick auf die Innenwelt der Beobachterin die Funktion einer weiteren und diesmal auch zentralen Leerstelle, einer black box annimmt. Wenn dies sowohl der Fluchtpunkt der Darstellung als auch der Ausgangspunkt im Leben der Erzählerin ist (es handelt sich um ihr Elternhaus), so wird mit dieser
26 Für die Ambivalenz kulturkritischer Positionen zwischen Verwerfung der Moderne und ihrer (utopischen) Fortentwicklung vgl. Bollenbeck (2007, Kap. 3); Klinger (1995, Kap. I, V, VII); zu Kaschnitz’ defensivem Humanismus vgl. Schweikert (1984: 65). 27 Für Kaschnitz’ Rückbezüge auf die Welt einer abendländisch gedeuteten Antike und den Versuch einer Grundierung in ihr vgl. Kienlechner (1984: 51-57) und Schweikert (1984: 69f.).
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prinzipiellen Unzugänglichkeit/Unerzählbarkeit des Ursprungs auch die Beschreibung des Dorfes auf der Ebene des Projektentwurfs noch einmal ins Unbestimmte, ggf. Mystische und Geheimnisvolle verschoben. Anders als es die im Internet abrufbare »Handreichung« des »Arbeitskreises der Agenda Kultur« des Dorfes Bollschweil anbietet,28 in der das Haus Nr. 84 genau wie alle anderen von Kaschnitz genannten Örtlichkeiten exakt verzeichnet ist und diese im Raum ihren Platz gefunden haben, geht die Erzählung gerade auf die Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit des Dorfes als einer gestalteten, geordneten Landschaft aus. Deren Beschreibung kann vielmehr nur dann gelingen, wenn sie auf die Einbildungskraft bzw. den Modus der Träumerei und (im Futur) der Projektion zurückgreift. Es ist dies dann die Stunde der Poesie und nicht so sehr der Kartografie oder der Sozialberichterstattung. Vielmehr gehört es zu den besonderen Eigenschaften der hier vorliegenden Form einer poetischen Selbstreflexion im Spiegel einer verschwindenden und zugleich in der Beschreibung evozierten Landschaft, durch die Möglichkeiten und Grenzverschiebungen eines solchen sprachlich verfassten poetischen Entwurfs sowohl auf die Faktizität des Gegebenen/Verschwindenden hinzuweisen als auch durch die Unbestimmtheit ihrer Form und Bedeutung auf den Erscheinungscharakter dieser Landschaft unter den Bedingungen einer beschleunigte Zeit (der Moderne) selbst aufmerksam machen zu können. Die damit angesprochene Leerstelle der Beobachterin und ihres Projekts mag in diesem Sinne als Menetekel und Anstoß der Sinnproduktion und zugleich ihrer Grenzen zu sehen sein. Was bleibt, ist die Flüchtigkeit des Bildes sowie die in ihm wahrzunehmenden Dinge und Menschen – und schließlich auch ihr Eingebettetsein in einen nicht fassbaren Strom der Zeit. Die Fixierung des Verschwindenden ist, um ihm gerecht zu werden, nur als Entwurf und lediglich in Ansatzpunkten möglich. Dabei lassen sich schließlich, das zeigt Kaschnitz’ Projekt der Beschreibung eines Dorfes unter den Bedingungen und Zumutungen einer »flüchtigen Moderne«,29 die hier im Rahmen des Dörflichen imaginativ erzeugten und angesprochenen ›Leerstellen‹ als Ausgangs- und Bezugspunkte in verschiedenen Dimensionen bestimmen: ästhetisch, deskriptiv, normativ, historisch und auch soziologisch, letztlich vor allem aber auch als Sprachspiele, die den Bild- und Erfahrungsbereich des Dorfes in hermeneutischen Kreis- und Kreiselbewegungen zwischen Erscheinen und Verschwinden zu erkunden und abzubilden suchen. Sie zielen auch darauf ab, die im Blick auf das Dörfliche ebenfalls anzusprechenden Erfahrungsformen des Gesellschaftlichen in ihrer Historizität, Vergänglichkeit und Persistenz zu erschließen und als unfassbare Bestimmtheiten in ihrer Zeit zu vermitteln.
28 Siehe dazu https://www.bollschweil.de/ceasy/modules/core/resources/main.php?id=506-0 (30.11.2017). 29 Vgl. dazu passend den Exkurs »Kultur und Ewigkeit« in Bauman (2005: 136-189).
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Literarische Imaginationen
»Dieses Dorf schwand von der Erde hinweg,
ohne daß man zu sagen weiß, wie? « Verschwundene Dörfer und das Unheimliche S ABINE G RUBER
G ESPENSTERGESCHICHTEN Im ersten Kapitel von Giorgio Bassanis 1962 veröffentlichtem Roman IL GIARDINO DEI FINZI-CONTINI (dt. DIE GÄRTEN DER FINZI-CONTINI, 1963) fragt ein kleines Mäd-
chen seinen Vater, weshalb die Gräber der Etrusker denn nichts Trauriges seien und ihr Vater gibt ihr folgende Antwort: »Weißt du […], die vor kurzem Verstorbenen sind uns noch näher, und darum haben wir sie lieber. Aber die Etrusker sind doch schon so lange tot [...], daß es ist, als ob sie nie gelebt hätten, als wären sie schon immer tot gewesen.«1 (Bassani 2000: 14) Ähnlich verhält es sich mit versunkenen Dörfern, die oftmals ein beliebtes Thema von Sagen mit topographischen Bezügen sind: Je länger Dörfer bereits verschwunden sind, desto weniger ist noch von ihnen zu sehen. In vielen Fällen ist von den Dörfern nicht einmal mehr ein markantes Gebäude, eine Kirche etwa, übriggeblieben. Es sind Leerstellen entstanden, auch wenn die Orte vielleicht noch als Wüstungen in alten Landkarten verzeichnet sind. Wo früher Dörfer waren, ist jetzt Wald oder Feld. Die Natur hat die verlassenen Orte zurückerobert. Es ist, als hätte es diese Dörfer nie gegeben. Andererseits können Orte, die nicht mehr sichtbar sind, in der Phantasie in erstaunlicher Weise neu belebt werden. Die Leerstellen laden förmlich dazu ein, sie mit Imaginationen neu zu füllen. So stellt auch Alastair Bonnett in seinem Buch OFF THE MAP (dt. DIE SELTSAMSTEN ORTE DER WELT) fest, dass der Anspruch auf eine umfassende und vollständige
1
Im italienischen Original: »›Si capisce […] I morti da poco sono più vicini a noi, e appunto per questo gli vogliamo più bene. Gli etruschi, vedi, è tanto tempo che sono morti […], che è come non siano mai vissuti, come se siano sempre stati morti.‹« (Bassani 1998: 320)
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Vermessung und Verzeichnung der Welt dafür sorge, »dass wir der Möglichkeit der Erkundung nachtrauern und endlos über die Hoffnung auf Neuheit und Entfliehen nachsinnen« (Bonnett 2016: 12f.), denn die umfassende Erkundung und Verzeichnung der Welt erzeugt letztlich das Gegenteil der ihr zugrundeliegenden Intention: ein Gefühl des Verlusts. Dementsprechend geht es für Bonnett in einer vollständig verzeichneten Welt immer wieder auch um die Neuerfindung des Erkundens, und um diese Neuerfindung zu ermöglichen, muss zunächst einmal das Vorhandene verschwinden oder aber als Verschwundenes imaginiert werden. Aus solchen Imaginationen des Verschwundenen speisen sich seit jeher auch die Stoffe und Motive klassischer Sagen. Sie tradieren damit gewissermaßen sowohl das Verschwinden von Dörfern und Landschaften als auch deren Neu- bzw. Wiederentdeckung. Verlassene Orte können zwar – wie im Atlantis-Mythos – mit positiven Gedanken verbunden werden. Sie können für Schönheit und kulturellen Reichtum stehen, die in der Vergangenheit einmal vorhanden waren, aber in der Gegenwart verloren gegangen sind. Häufig ist es allerdings so, dass verlassene Dörfer und Wüstungen als Stätten des Unheimlichen identifiziert werden, die abschrecken, aber zugleich auch eine Faszination des Schreckens ausstrahlen können. Sagen, die mit verschwundenen Orten verknüpft sind, sind deshalb häufig Gespenstergeschichten. Verlassene Dörfer, die keine Heimat mehr für Menschen sind, scheinen es umso mehr für Gespenster zu sein, weil Menschen, die einst an diesen Orten lebten, keine Ruhe gefunden haben und als Geister an diese Orte zurückgekommen sind. Manchmal tauchen verschwundenen Orte auch mitsamt ihren ehemaligen Bewohnern in periodischen Abständen aus der Vergangenheit auf und verschwinden wieder. In dieser Gegend, heißt es dann, sei es nicht geheuer. Solche Sagen über verschwundene Orte sind aus nahezu allen Gegenden Deutschlands überliefert. So erzählen einige Sagen aus Sammlungen des 19. Jahrhunderts etwa nur vom Verschwinden und/oder periodischen Wiederauftauchen von Orten, wie zum Beispiel eine im Altenburgischen angesiedelte Sage aus dem SAGENBUCH DES VOIGTLANDES: »Im Altenburgischen, zwischen Pöppschen und Eichefeld versank einmal ein Dorf und der Teich dort trat an seine Stelle; über dem Wasserspiegel dieses Teiches hat man noch lange die Kirchthurmspitze ragen sehen.« (Eisel 1871: Nr. 516, S. 194) Andere Sagen malen das Verschwinden der Orte literarisch aus, nennen Gründe für das Verschwinden und/oder schildern mehrere Varianten von Begebenheiten, die den Besuchern dieser Orte widerfahren sein sollen. Ein Beispiel hierfür ist eine Sage, die 1857 in der Sammlung MECKLENBURG’S VOLKSSAGEN veröffentlicht wurde.
V ERSCHW UNDENE DÖRFER UND DAS UNHEIMLICHE
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»Die Grafen von Fürstenberg wohnten im Sommer häufig auf einem ihrer vielen Güter, welches nahe bei der Stadt Fürstenberg lag, und wo außer ihren vielen Hintersaßen auch ein Prediger wohnte; denn es stand in dem Dorfe eine gar stattliche Kirche. Wegen des lasterhaften und gottlosen Lebens der Dorfbewohner versank dasselbe jedoch plötzlich, mit sammt seiner Kirche; und es kräuselte dort, wo Dorf und Kirche gestanden, ein kleiner See seine klaren Wellen.« (Niederhöffer 1857: 69)
In den meisten dieser Sagen werden verschwundene Dörfer als unheimlich und grauenerregend beschrieben. Wie in folgendem Beispiel aus dem zuvor genannten SAGENBUCH DES VOIGTLANDES, in dem ein Dorf zwar nicht mehr sichtbar ist, auf Passanten aber doch eine starke emotionale Wirkung ausübt: »Zwischen den Dörfern Plothen und Linda liegt ein Teich, der sogenannte Hollen- und Höllenteich. Unter seinem tiefschwarzen Gewässer ruht ein da versunkenes Dorf und nur mit Grauen geht man da vorüber.« (Eisel 1871: Nr. 517, S. 194f.) Weshalb werden verschwundene Orte mit dem Unheimlichen in Verbindung gebracht und was kann in diesem Kontext überhaupt als das Unheimliche verstanden werden? Sigmund Freud schrieb in seiner Untersuchung über DAS UNHEIMLICHE von 1919, dass das »Unheimliche des Erlebens« zu Stande komme, »wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wiederbelebt werden, oder wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen« (Freud 1966: 263). Das Unheimliche ist demnach ein verdrängtes Vertrautes, etwas, das früher einmal bekannt war, aber in Vergessenheit geraten ist. Freud leitet seine Überlegungen unter anderem aus den zwischen Vertrautem und Unvertrautem changierenden Bedeutungen des Wortes »heimlich« her. Sein Konzept, dass das Unheimliche ein verdrängtes Heimisches sei, könnte insofern zu den wüsten Orten passen als diese einst für Menschen Heimat waren, während dort jetzt Wald, Moor, freies Feld oder auch ein Stausee ist, und dort niemand mehr heimisch werden kann. Die Heimat ist an diesen wüsten Orten zur Fremde, zum Unheimlichen geworden. Der Begriff des Unheimlichen soll hier jedoch nicht allein im Sinne Freuds, sondern – auch den Zeitumständen entsprechend – in einer etwas weiteren Fassung verwendet werden. So finden sich im Grimmschen Wörterbuch unter dem Lemma »unheimlich« folgende Synonyme: »nicht vertraut, fremd, entfremdet, unfreundlich, ungnädig; feindlich, schädigend, beunruhigend, unzuträglich, unbequem; unfriedlich, bösartig, unerfreulich, gefährlich, bedenklich u. ä.« (Grimm 1936: Sp. 1057) Das Unheimliche ist in diesem Verständnis also das, was nicht vertraut ist, was irritiert und erschreckt, und vielleicht auch das, was das alltägliche Verständnis von Wirklichkeit infrage stellt und dadurch Angst und Desorientierung erzeugt.
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Z EIT UND V ERGÄNGLICHKEIT Wichtig ist im Hinblick auf das Unheimliche von verschwundenen Dörfern vor allem eine zeitliche Dimension: Wäre man ein paar Jahrhunderte früher durch diese Gegend gekommen, wäre man nicht auf eine Leerstelle gestoßen, sondern wäre Menschen begegnet, hätte sie bei ihren täglichen Arbeiten gesehen, hätte mit ihnen in Kontakt kommen können, und nichts an den Orten wäre unheimlich gewesen. In der Gegenwart sind die Menschen und damit das Leben aus den Orten jedoch verschwunden. Angeregt durch die Sagen über verschwundene Orte in den Sammlungen ihrer Zeit haben Schriftsteller des 19. Jahrhunderts verlassene Orte in ihrer Imagination mit neuem Leben gefüllt. So siedelte Clemens Brentano in der Ruine des Klosters St. Wolfgang bei Hanau (bei Brentano: Gockelsruh’), die er während eines Besuchs bei seinem Freund Friedrich Carl von Savigny gesehen hatte, Szenen seines Gockelmärchens an.2 Während die menschlich agierenden Tiere, die die Klosterruine neu beleben, in Brentanos Gockelmärchen zwar unvertraut und irritierend, nicht aber Furcht erregend sind, wird in Friedrich Rückerts Gedicht DAS VERSUNKENE DORF wie auch in vielen Sagen eine Wüstung explizit als Grauen erregend beschrieben: Es ist eine Wüstung gelegen, Ist Abermannsdorf genannt; Es heißt noch ein Dorf bis heute, Aber die ältesten Leute Haben das Dorf nicht gekannt. Es ist verschlungen worden, In den Erdboden hinein Ist es worden verschlungen Mit Alten und Jungen, Mit Mann, Maus und Stein. Kein Maalzeichen ist blieben, Kein Trumm und keine Spur; Von den Häusern kein Gebälke, Von den Mauern kein Gekälke: ’S ist ebene Wiesenflur. Als Knab’ hab ich noch gesehen Von der Dorflind’ einen Stumpf; Jetzt ist auch der versunken, Es hat wie mit Armen den Strunken
2
Die Frühfassung des Märchens findet sich in: Brentano (1978: 484-565), die Spätfassung (ebd.: 630-831).
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Gezogen hinab in den Sumpf. Wenn man’s Ohr legt auf den Boden, Höret man’s drunten wohl, Wie die heimlichen Wasser brausen, Wie sie fressen mit Grausen Den Boden unter uns hohl. Wohl hat es auf der Erde Das Böse weit gebracht. Wenn sie wollt’ alle Schande Verschlingen, wer im Lande Wär’ sicher bis Mitternacht? (Rückert 1841, S. 71f.)
In Rückerts Motivik zeigt sich, dass er das Gedicht stark an den zeitgenössischen Sammlungen von Sagen orientiert hat. So betont das lyrische Ich, dass wie in den Sagen in seiner Kindheit noch ein letzter markanter Punkt des Dorfes vorhanden gewesen sei (in den Sagen oft der Kirchturm, hier die Dorflinde), dass jetzt aber selbst dieser verschwunden sei. Das, was für Menschen einmal Heimat bedeutete, ist wie in den Sagen unbewohnbar geworden: »’S ist ebene Wiesenflur«. Anders als in manchen der Sagen über das Verschwinden von Dörfern ist das Verschwinden hier unmotiviert. Das Dorf ist nicht aus klar benennbaren Gründen verlassen worden, sondern der Erdboden hat es plötzlich verschlungen, ob aufgrund einer Schuld seiner Bewohner, was die letzten Zeilen zumindest vermuten lassen, bleibt offen. Der Moorboden agierte beim Verschlingen des Dorfes wie eine Person und zog alles »wie mit Armen« hinab. Das Grauen geht hierbei vor allem von der Vorstellung aus, dass nicht nur das alte Dorf vom Erdboden verschlungen wurde, sondern auch die Betrachter, die in der fünften Strophe in das Geschehen miteinbezogen werden, jederzeit davon bedroht sind, ihrerseits verschlungen zu werden, denn die heimlichen Wasser fressen immer noch »Den Boden unter uns hohl«. Eng mit der Erfahrung verlassener oder verschwundener Orte ist die Erfahrung des Vergänglichen verknüpft, die Erfahrung, dass alle Dinge im Fluss sind, sich nichts festhalten lässt und dass die Zeit nicht nur in der Weise über Menschen hinweggeht, dass keine Spur mehr von ihnen bleibt, sondern mitunter auch über ihre Siedlungen und Dörfer. Dabei kann bei den Betrachtern der Gedanke aufkommen, wie die Überreste der vergangenen Zeiten in der Gegenwart aussehen würden und welche Stimmung vielleicht damit verbunden wäre. Vor allem an Orten, die aufgrund von Kriegen oder Unglücksfällen verlassen werden mussten, können Besucher sich fragen, ob hier vom Unheil der Vergangenheit doch noch etwas spürbar geblieben sein könnte. Diese Gedankenspiele haben sich in einigen der Sagen über verschwundene Orte mit dem Gespensterglauben verbunden, der davon ausgeht, dass Menschen, die nicht christlich bestattet wurden oder während ihres Lebens schwere
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Schuld auf sich geladen haben, nicht sterben können, sondern immer wieder ihre einstigen Wirkungsstätten aufsuchen müssen bis sie endlich Erlösung finden. So bemerkt das HANDWÖRTERBUCH DES DEUTSCHEN ABERGLAUBENS: »Wenn Totengeister wiederkehren müssen, weil Dritte sich eines Eigentumsvergehens […] schuldig machen, um so mehr müssen die Geister der Leute umgehen, die selbst eine ungesühnte Schuld mit hinübergenommen haben. Die Zeit ihrer Buße kann Wochen, Jahre, Jahrhunderte umfassen, ja sich bis zum jüngsten Tag erstrecken, je nach der Größe ihrer Schuld. « (HDA 1930/31: Sp. 481)
In Sagen, die sich auf diese Vorstellung beziehen, geraten daher auch häufig die Zeitebenen durcheinander. Es kann keine klare Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mehr getroffen werden.
D AS
VERSCHWUNDENE
D ORF GERMELSHAUSEN
Ein Beispiel für eine Sage, in der die Zeitebenen verschwimmen, ist die über das verschwundene Dorf Germelshausen. An ihr lässt sich außerdem zeigen, wie Sagenstoffe den Weg in die Literatur und Musik des 19. und 20. Jahrhunderts gefunden haben. Ursprünglich handelt es sich um eine in drei Varianten überlieferte Sage aus Ludwig Bechsteins SAGEN AUS THÜRINGENS VORZEIT (siehe Bechstein 1837: 195197) Friedrich Gerstäcker greift in seiner 1862 erschienenen Erzählung GERMELSHAUSEN. DAS VERWÜNSCHTE D ORF (Gerstäcker 1862: 1-53) eine dieser Varianten auf, erweitert sie und verbindet sie mit Elementen des Gespensterglaubens zu einer novellenartigen Erzählung. Nicht zufällig ist diese erstmals in einer Sammlung erschienen, die den Titel HEIMLICHE UND UNHEIMLICHE GESCHICHTEN trägt. Hier geht es um einen Ort, der schon sehr lange versunken ist. Es sind nicht einmal mehr Spuren der ehemaligen Häuser sichtbar. Außer einer uralten, beschädigten Brücke, die eine Art Überleitung von der Gegenwart in die Vergangenheit darstellt, ist nichts mehr vorhanden. Der junge Maler Arnold ist in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts auf der Suche nach Bildmotiven von Marisfeld nach Wichtelshausen3 unterwegs als er das Mädchen Gertrud kennenlernt, das nahe einer alten Steinbrücke vergeblich auf ihren Geliebten wartet. Sie nimmt ihn mit zu sich nach Hause und lädt ihn zum Essen ein. Anschließend gehen sie gemeinsam zur Dorfkirche, die keiner der Dorfbewohner
3
Dabei handelt es sich um Orte, die auch gegenwärtig noch in Thüringen zu finden sind: Marisfeld gehört heute zum Landkreis Hildburghausen, Wichtshausen ist ein Stadtteil von Suhl. Germelshausen ist als Flurname bei Dillstädt erhalten.
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mehr aufsucht, und auf den Friedhof, wo Gertrud am Grab ihrer Mutter betet. Am Abend findet ein Fest im Dorfkrug statt und Arnold kann gar nicht aufhören, mit Gertrud zu tanzen. Kurz vor Mitternacht führt Gertrud Arnold auf einen Hügel oberhalb des Dorfes und bittet ihn, sich bis zur letzten Minute des Tages nicht von dort wegzubewegen. Ein Gewittersturm nimmt Arnold vorübergehend die Sicht, und auch im Morgengrauen kann er den Ort nicht mehr finden, an dem er sich aufgehalten hat, und irrt schließlich im Wald umher. Ein Jäger, den er nach dem Weg nach Germelshausen fragt, teilt ihm mit, dass dieser Ort schon lange im Moor versunken sei und nur alle hundert Jahre wieder für einen Tag hervorkomme. Ihn zu sehen, sei gefährlich. Arnold erkennt, dass der Abschied von Gertrud, in die er sich verliebt hatte, ein Abschied für immer war. Das Einzige, das ihm von der Begegnung mit ihr geblieben ist, ist die Zeichnung, die er von ihr angefertigt hat. Wie wird in dieser Geschichte das Unheimliche thematisiert? Zunächst fallen dem Protagonisten, aber mehr noch dem Leser, seltsame zeitliche Inkongruenzen auf: die Menschen tragen ungewöhnliche Kleidung, die Kirche und die Häuser wirken sehr altertümlich, die Kirchenglocke ist uralt und zersprungen und eine Musik, ähnlich der auf dem Fest, hat Arnold noch nie gehört. Der Grabstein von Gertruds Mutter zeigt Lebensdaten aus dem 13. Jahrhundert. Der Protagonist ist zwar verliebt in das Mädchen, aber in ihrer Nähe gleichzeitig irritiert und desorientiert. Auch der Raum ist so beschaffen, dass er die Sinne verwirrt und keine sichere Orientierung ermöglicht: die Sonne ist hinter einem dichten Nebelschleier verborgen, obwohl das Wetter in der ganzen Gegend gut ist, die Luft riecht stark nach Erde, die Bäume tragen trotz des Herbstes keine Früchte. Darüber hinaus ist das Verhalten der Dorfbewohner seltsam: sie grüßen nicht, reden kaum und wenn, dann in einer altertümlichen Diktion, sie gehen nicht mehr zur Kirche, und Gertrud deutet an, dass das gesamte Dorf mit dem Papst zerfallen sei. Die Erzählung ist so konstruiert, dass die Merkwürdigkeiten vom Anfang zum Ende der Geschichte hin zunehmen und dass sich die Leser fragen müssen, weshalb der Protagonist diese Merkwürdigkeiten zwar bemerkt, daraus aber keine Schlüsse zieht – vielleicht, weil er so verliebt ist, dass alles andere darüber für ihn an Bedeutung verliert? Die Geschichte kann auch nur funktionieren, weil es in Dörfern über lange Zeiträume hinweg kaum Veränderungen gab. Erst zu Gerstäckers Zeit, im 19. Jahrhundert, drangen technische Neuerungen auch in ländliche Regionen vor. Deshalb erscheint es zumindest nicht ganz abwegig, wenn Arnold Gertrud erzählen muss, »wie es draußen in der Welt aussähe« (Gerstäcker 1862: 28) und sich zwar darüber wundert, dass Gertrud »noch nie eine Eisenbahn gesehen« (ebd.) und auch »von den Telegraphen […] keine Ahnung« (ebd.) hat, daraus aber keine Schlüsse auf eine in Germelshausen wirksame zeitliche Inkongruenz zieht.
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Z EITLÖCHER Die Geschichte speist sich aus zwei abergläubischen Vorstellungen: Einerseits aus dem Gespensterglauben, denn die Dorfbewohner können nicht mehr an der Kommunion teilnehmen und auch nicht mehr beten. Nicht Arnold, aber doch die Leser der Geschichte können daraus schließen, dass das ganze Dorf aus Gespenstern bestehen könnte, die für ihren Abfall vom Glauben büßen müssen und deshalb nicht zur Ruhe kommen können. Andererseits speist sich die Geschichte aus der Vorstellung, dass es Orte gibt, an denen Zeitlöcher wirksam werden und sich Gegenwart und längst vergangene Zeiten auf unerklärliche Weise berühren. Dies sind Vorstellungen, wie sie beispielsweise auch mit dem Untersberg in den Berchtesgadener Alpen in Verbindung gebracht werden. Ernst Bloch nahm unter dem Titel MOTIV DES SCHEIDENS eine etwas veränderte Kurzfassung von Gerstäckers Erzählung in seine Sammlung SPUREN auf und stellte sie in den Kontext von Verlieren und Wiederfinden (siehe Bloch 1969: 72-78). Die Geschichte kann als eine gegenläufige Erzählung zu Hebels Kalendergeschichte UNVERHOFFTES W IEDERSEHEN verstanden werden, in dem die Erde einen verlorenen Partner nicht etwa verschluckt, sondern, im Gegenteil, wieder hergibt. Bloch strafft die Erzählung und modernisiert sie sprachlich, wie schon ein Vergleich der ersten Sätze beider Texte zeigt: »Im Herbst des Jahres 184– wanderte ein junger lebensfrischer Bursch, den Tornister auf dem Rücken, den Stab in der Hand, langsam und behaglich den breiten Fahrweg entlang, der von Marisfeld hinauf nach Wichtelhausen führte.« (Gerstäcker 1862: 1) – »So frisch schritt der junge Bursche dahin. Weit offen lag das klare herbstliche Land.« (Bloch 1969: 72) Der schwere, alles verschwinden lassende Nebel aus Gerstäckers Text ist bei Bloch ein »leichter Nebel« (Bloch 1969: 73). Blochs Adaption kommt ohne das Unheimliche aus, auch wenn er im ersten Satz thematisiert, dass »das gewesene Jetzt« im Scheiden »anders bei uns« (Bloch 1969: 72) bleibe, also spuke. Es geht in seiner Bearbeitung von Gerstäckers Erzählung nicht um eine Aktualisierung des darin thematisierten Unheimlichen, sondern um die Trennung eines Liebenden von seiner Geliebten, die in der »verträumenden Nachreife seiner Bilder« (Bloch 1969: 72) dennoch präsent bleibt. Spuk ist hier nicht im Sinne eines Grauenerregenden zu verstehen, sondern im Sinne eines Präsentbleibens des Vergangenen. Gerstäckers Erzählung wurde Grundlage für mehrere weitere Werke. Im Jahr 1923 wurde in Augsburg die von Hans Grimm komponierte dreiaktige Oper GERMELSHAUSEN uraufgeführt. 1947 wurde das von Alen Jay Lerner und Frederick Loewe geschriebene und komponierte sowie später auch verfilmte Musical BRIGADOON am Broadway uraufgeführt, das die Handlung nach Schottland versetzt und den Protagonisten gemeinsam mit seiner zeitentrückten Geliebten in der Vergangenheit versinken lässt. 1985 schließlich veröffentlichte Hans Bach den phantastischen
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Roman GERMELSHAUSEN, 0.00 UHR. Bach versetzt die Geschichte in den Kontext einer Detektiv- und Fantasy-Erzählung um den Kommissar Gerondet. Dabei werden die unheimlichen Momente der Erzählung Gerstäckers mit neuen Motiven verbunden. Die Motivierung von Gerstäckers Plot – ein Dorf geistert durch die Zeiten, weil es für seinen Abfall vom Glauben büßt und sehnt sich nach Erlösung – wird jedoch nicht übernommen. Dass Gerstäckers »im schummrigen Muff des neunzehnten Jahrhunderts erzählte Geschichte« (Bloch 1969: 72) im 20. Jahrhundert mehrfach adaptiert wurde, zeigt die bleibende Faszination der darin thematisierten Berührung von – scheinbar längst im Vergessen versunkener – Vergangenheit und Gegenwart und von dem darauf beruhenden Eindruck des Unheimlichen. In der Zeit der Neuromantik finden sich auch Geschichten von verschwundenen Orten, die sie nicht mit dem Unheimlichen verbinden, sondern neuen Konzepten folgen, die das Verschwinden der Zivilisation nicht problematisieren, sondern es sogar, wie in der Erzählung DIE STADT von Hermann Hesse, fröhlich bejahen. Dort wird eine Stadt mitten in die Einöde gebaut. Sie erlebt einen kometenhaften Aufstieg, kommt aber im Verlauf der folgenden Jahrzehnte immer mehr herunter und wird schließlich von der Natur, der sie einst mit allen Mitteln abgetrotzt wurde, wieder verschlungen, was ein Specht mit den Worten »Es geht vorwärts!« (Hesse 1973: 11) kommentiert – eben den Worten, die der Ingenieur, der die Stadt plante, ausrief als sie gerade fertiggestellt worden war. »Der Wald aber stieg weiter von den Bergen her in die Ebene, Seen und Flüsse entstanden und vergingen, und der Wald rückte vor und ergriff und verhüllte langsam das ganze Land, die Reste der alten Straßenmauern, der Paläste, Tempel, Museen, und Fuchs und Marder, Wolf und Bär bevölkerten die Einöde. Über einem der gestürzten Paläste, von dem kein Stein mehr am Tage lag, stand eine junge Kiefer, die war vor einem Jahr noch der vorderste Bote und Vorläufer des heranwachsenden Waldes gewesen. Nun aber schaute auch sie schon wieder weit auf jungen Wuchs hinaus. »Es geht vorwärts!« rief ein Specht, der am Stamme hämmerte, und sah den wachsenden Wald und den herrlichen, grünenden Fortschritt auf Erden zufrieden an.« (Hesse 1973: 11)
Worauf beruht das Unheimliche auch noch bei modernen verlassenen Orten? Partizipieren auch moderne Erzählungen über verlassene Orte noch am nicht mehr geglaubten Gespensterglauben der Vergangenheit? Steht hinter den angenehmen Grusel-Effekten letztlich – wie bei den Sagen um verlassene Orte – auch die Angst vor dem Verschwinden alles dessen, was heute von Bedeutung ist und letztlich die Angst vor dem eigenen Verschwinden? Jedenfalls führt bereits eine einfache Internet-Suche zu zahlreichen schon länger oder erst kürzlich verlassenen Orten, zu denen Texte verfasst und die fotografiert wurden, wohl auch mit dem Ziel, in den Lesern und Betrachtern angenehme Gruseleffekte auszulösen. Auch Fotografen haben in den
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vergangenen Jahren in ihren Arbeiten immer wieder auf diese Faszination verlassener Orte Bezug genommen.4 Über die Gründe dafür, dass Ortschaften verlassen werden mussten, wird in touristisch orientierten Beiträgen eher selten berichtet, vielleicht, weil eine Reflexion der Gründe ihres Verschwindens eine Auseinandersetzung mit sozioökonomischen Themen (Braunkohleabbau, Gentrifizierung etc.) nach sich ziehen würde, die den touristisch verwertbaren angenehmen Gruseleffekt infrage stellen würde. Mitleid mit den früheren Bewohnern der Orte kommt kaum vor. Die an den verlassenen Orten wahrnehmbaren Gruseleffekte führen eher zu dem Eindruck, dass das Entstehen und Vergehen von Orten ein Faktum sei, das man unhinterfragt hinnehmen müsse. Leerstellen scheinen per se ästhetisch und gruselig zu sein. Der morbide Charme verlassener Orte kann – so scheint es – jetzt auch ohne jede Kontextualisierung genossen werden. Das kleine Mädchen in Bassanis Roman IL GIARDINO DEI FINZI-CONTINI, dessen Titel auf ein im Ferrara des 19. und 20. Jahrhunderts noch begrüntes Gebiet Bezug nimmt, das heute ebenfalls aus dem Stadtbild verschwunden und mit modernen Häusern überbaut ist, sieht das anders. Auf die Belehrung ihres Vaters, dass die Etruskergräber nicht traurig seien, weil die dort Begrabenen doch schon so lange tot seien, und dass es einem deshalb vorkommen müsse, als hätten sie nie gelebt, antwortet sie: »Aber, so wie du das sagst, glaube ich jetzt, daß die Etrusker doch gelebt haben, und ich habe sie so lieb wie alle anderen.«5 (Bassani 2000: 15)
4
An dieser Stelle seien nur wenige Beispiele genannt: STILLGELEGT. 100 VERLASSENE ORTE IN DEUTSCHLAND UND EUROPA (2015); DIE WELT DER VERLASSENEN ORTE (2014); sowie GEISTERSTÄTTEN. VERGESSENE ORTE IN MECKLENBURG-VORPOMMERN (2016).
5
Im italienischen Original: »›Però, adesso che dici così‹, proferì dolcemente, ›mi fai pensare che anche gli etruschi sono vissuti, invece, e voglio bene anche a loro come a tutti gli altri.‹« (Bassani 1998: 320)
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L ITERATUR Bach, Hans (1985): Germelshausen, 0.00 Uhr. Phantastischer Roman, Berlin: Verlag Neues Leben. Bassani, Giorgio (1998): Opere. Hg. von Roberto Controneo, Milano: Arnoldo Mondadori Editore. Bassani, Giorgio (2000): Die Gärten der Finzi-Contini. Roman. Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter, München/Zürich: Piper. Bechstein, Ludwig (1837): Die Sagen aus Thüringens Vorzeit, von den drei Gleichen, dem Schneekopf und dem thüringischen Henneberg. Nebst einer Abhandlung über den ethischen Werth der deutschen Volkssagen, Meiningen/Hildburghausen: Verlag der Kesselringschen Hofbuchhandlung. Bloch, Ernst (1969): Spuren, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bonnet, Alastair (2016): Die seltsamsten Orte der Welt. Geheime Städte. Wilde Plätze. Verlorene Räume. Vergessene Inseln. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. 4. Aufl., München: C. H. Beck. Brentano, Clemens (1978): Werke. 3. Bd. Hg. von Wolfgang Frühwald und Friedhelm Kemp. 2. Aufl., München: Carl Hanser. Eisel, Robert (1871): Sagenbuch des Voigtlandes. Gera: Griesbach. Freud, Sigmund (1966). »Das Unheimliche«, in: Ders., Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. 12. Bd., Frankfurt a.M.: S. Fischer, S. 230-268. Gerstäcker, Friedrich (1862): Heimliche und Unheimliche Geschichten. Gesammelte Erzählungen. 2. Bd., Leipzig: Arnoldische Buchhandlung. Grimm, Jacob, und Wilhelm (1936): Deutsches Wörterbuch. Bd. XI, III. Leipzig: Hirzel Verlag. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (1930/31). Hg. von Hanns BächtoldStäubli. Bd. III., Berlin/Leipzig: Walter de Gruyter. Hesse, Hermann (1973): Die Erzählungen. Zweiter Band. Hg. von Volker Michels. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Niederhöffer, A. (1857): Mecklenburg’s Volkssagen. Bd. 3. Leipzig: Ambrosius Abel. Rückert, Friedrich (1841). Gedichte von Friedrich Rückert. Frankfurt a.M.: Johann David Sauerländer.
Zurück zur Natur Erfindung und Verschwinden der »Waldheimat« bei Peter Rosegger S OLVEJG N ITZKE
W.G. Sebald war vielleicht der Erste, der eine Lektüre der österreichischen Literatur unter ökokritischen Vorzeichen vornahm. Laut Sebald lasse sich an den »repräsentativen Werken« der neuesten Literatur insbesondere die »Erkenntnis der im weitesten Umraum sich vollziehenden Dissolution und Zerrüttung der natürlichen Heimat des Menschen« (Sebald 1995: 16) ablesen. Die Sorge um diese »natürliche Heimat«, die sich bei Autoren wie Thomas Bernhard, Gerhard Roth, Peter Handke und Christoph Ransmayr in einer »angst- und ahnungsvollen Aufzeichnung der Veränderung des Lichts, der Landschaft und des Wetters« (ebd.) ausdrücke, bindet Sebald jedoch nicht an die in diesem Zeitraum ebenfalls erstarkende Umweltbewegung, sondern sieht sie vielmehr in einer Kontinuitätslinie mit der spezifisch österreichischen Auseinandersetzung mit Heimat (ebd.: 11). Der Begriff einer »natürlichen Heimat« ist jedoch problematisch. Nicht nur könnte man ihn als Pleonasmus verstehen – schließlich suggeriert der Begriff der Heimat bereits einen Raum ›natürlicher‹ Zugehörigkeit –, er lässt sich zudem doppelt kontextualisieren: Einerseits kann er politisch verstanden werden, enthält und verstärkt er doch all jene Assoziationen von Heimat, die ihn der Instrumentalisierung für ein national oder nationalistisch geprägtes exklusives Verständnis von Verwurzelung und Zugehörigkeit zugänglich machen. Andererseits formuliert er ein ökologisches Programm, weil es sich um die natürliche Heimat ›des Menschen‹ handelt. So öffnet sich der Begriff einem Verständnis, das in zwei entgegengesetzte Richtungen geht: Auf der einen Seite wird Natur nicht als bloße Ressource begriffen, sondern als Um-Welt und Habitat des Menschen, auf der anderen Seite wird der Mensch als Teil eines (proto-)ökologisch markierten Systems verstanden, das in den Grenzen eines Nationalstaates ebenso wenig gefasst werden kann wie in denen einer Nationalliteratur.
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Peter Roseggers (1843-1918) Waldfiktionen DIE SCHRIFTEN
WALDSCHUL(1877) teilen diese Ambivalenz des Sebaldschen Begriffs der ›natürlichen Heimat‹. Gleichzeitig bringen sie die Entstehung eines Verständnisses der heimatlichen Umwelt als immer schon gefährdete Natur auf den Punkt. Heimat, insbesondere mit der Betonung ihrer Natürlichkeit, so lässt sich an Roseggers Texten zeigen, entsteht immer schon im Bewusstsein ihrer Prekarität, wenn sie nicht von vornherein im elegischen Gestus einer verlorenen Einheit mit der Natur zur Erscheinung kommt. Das heißt, dass der Fokus auf Rosegger hier auch einen spezifischen Umschlagpunkt zwischen Dorfgeschichte und Heimatliteratur in den Blick nimmt. Ohne den realistischen Erzählgestus der Dorfgeschichte ganz aufzugeben, fügt Rosegger seinen Texten motivisch und strukturell Elemente des Idyllischen hinzu, die die »Waldheimat« als topographische Leerstelle zum Mittelpunkt eines proto-ökologischen Diskurses um die ›natürliche Heimat des Menschen‹ machen. Die Inszenierung topographischer Leerstellen erfüllt hier eine zentrale Funktion: Orte und Gemeinschaften, die eine intakte natürliche Heimat suggerieren sollen, werden hier in einem Zuge mit ihrer Erfindung immer schon als verloren markiert. Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob – und wenn ja: in welcher Weise – der Ort (z.B. ein bestimmtes Dorf) tatsächlich existiert hat. Es geht vielmehr darum, eine bestimmte Lebensweise als gefährdet oder bereits verloren zu markieren. Umso einflussreicher soll sie dadurch in den gesellschaftlichen Diskursen werden: denn die kulturkritische Haltung, die sich ebenso gegen technologische wie gesellschaftliche Neuerungen richtet, wird dadurch gestärkt. Die ›natürliche Heimat‹, so werde ich zeigen, wird also in ihrer Wirksamkeit durch diesen ihr zugeschriebenen prekären Status keinesfalls eingeschränkt. Im Gegenteil: Gerade erst durch ihn wird sie als quasi-mythologische Erzählform bis in die von Sebald benannte Gegenwartsliteratur produktiv wirksam. DES
MEISTERS (1875) und WALDHEIMAT. ERZÄHLUNGEN AUS DER KINDHEIT
W ALD
UND
W ASSER
Roseggers Erzählungen WALDHEIMAT und DIE SCHRIFTEN DES WALDSCHULMEISbestimmen den Wald bzw. den Waldrand programmatisch zum Möglichkeitsraum gelingender Austauschbeziehungen von Mensch und Natur. Damit greift er auf einen Fundus kultureller Imaginationen zurück, die in den Erzählungen auf prägnante Weise affirmiert oder zurückgewiesen werden. Kulturgeschichtlich erfüllt der Wald eine Reihe von Funktionen für die ihm gegenübergestellte Zivilisation, die von der Bereitstellung von Holz bis zur Bewahrung des ›Anderen‹ einer Gesellschaft reichen. Seine Funktion als »Schatten der Zivilisation« (Harrison 1992) reicht bis in die Antike zurück. Als Teil beinahe jedes Gründungsmythos wird der Wald oft als Ursprung des Menschengeschlechts (ebd.: 3ff.) erzählt; und in jedem Fall muss der TERS
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Mensch sich von ihm emanzipieren, ihn durchqueren, bezwingen und in eine zivilisatorische Ordnung überführen. Innerhalb der Entstehungszeit der hier zur Untersuchung stehenden Texte erhält der Wald zwei Bedeutungszuschreibungen, die auch in der Gegenwart wirksam sind: Er ist romantischer Sehnsuchtsort, der Märchenfiguren ebenso wie Vorstellungen vom ganzen Menschen beherbergen kann, und doch zugleich auch Ressource ökonomischer Zusammenhänge und Abläufe, deren Knappheit im für das 19. Jahrhundert zentralen Ausdruck der »Holznot« Teil des kulturellen Imaginären wird. Während also einerseits die Notwendigkeit des Schutzes oder des nachhaltigen Umgangs mit den verfügbaren Waldbeständen zur Debatte steht, wird der Wald andererseits, insbesondere im Kontext nationalstaatlicher Bestrebungen, zum Hort kultureller Identität. Beide Aspekte sind für WALDHEIMAT und DIE SCHRIFTEN DES WALDSCHULMEISTERS zentral, die sich den Transformationen der Zeit aus unterschiedlichen historischen Perspektiven nähern und in den jeweiligen Waldorten (utopische) Alternativen zum linearen Zeitmodell der fortschrittsorientierten Zentren ansiedeln. Die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende entstandenen Texte Roseggers lassen sich dennoch nicht ohne Widerstand unter dem Banner ›grüner‹ Literatur versammeln. Die nationalistischen Tendenzen Roseggers sowie die nationalsozialistische Instrumentalisierung seiner Texte und Person (vgl. hierzu Hölzl 1991) hat bisher eine umfassende ökologisch informierte Lektüre zumindest gebremst. Tatsächlich wird ihm und seinen Texten oft eine Widersprüchlichkeit unterstellt, die ihn, so Uwe Baur (1988: 19), einer »unkontrollierten, eklektizistischen Vereinnahmung« anbiete. So sei auch der »neue[n] Aktualisierungsmöglichkeit für dieses agrare Wunschbild« (ebd.: 18) mit Vorsicht zu begegnen. Einer ›grünen‹ Vereinnahmung steht darüber hinaus eine Vielzahl von Äußerungen des Schriftstellers im Weg, die, wenn sie auch weniger im Widerspruch zu seinen Fiktionen stehen als oft angenommen, eine deutliche Sprache sprechen. An WALD UND WASSER, einem kurzen Text, den Rosegger 1906 in seiner Zeitschrift DER HEIMGARTEN veröffentlichte, lässt sich exemplarisch sowohl die Neigung der Interpreten nachvollziehen, in Rosegger, wenn schon keinen ›Grünen‹, so doch einen Autor zu erkennen, der »in Fragen des Umweltschutzes […] überaus sensibel [ist]« (Schöpfer 1988: 33),1 als auch der Grund – abgesehen vom Anachronismus eines umweltbewegten Schriftstellers des endenden langen 19. Jahrhunderts –, aus dem eine solche Vereinnahmung scheitern muss. Roseggers Plädoyer zum Schutz von Wald und Wasser klingt zunächst ganz so wie gegenwärtige Aufrufe zu Naturschutz und ökologischer Verantwortlichkeit. Die Klage über die Wassernot, von der aus der Text seinen Ausgang nimmt, benennt ein
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Als Beispiel für diese Art der Überblendung ›grüner‹ Politik mit Roseggers Texten vgl. u.a. Farkas (1994).
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Problem der Industrialisierung, das im ausgehenden 19. wie auch im beginnenden 21. Jahrhundert Beobachtern rasant steigender industrieller Produktion große Sorgen bereitet. Die Ursache für den Rückgang der Wasserstände und die dadurch verursachte mangelnde Frischwasserversorgung sowohl der Stadt- als auch der Landbewohner ist schnell gefunden: »Die übergroße, gefräßige Industrie. Sie frißt nicht nur bloß die Bauersleute auf, sondern auch ihre Wälder und sauft ihre Wässer aus. Was sie übrig läßt, das verdirbt sie, daß sogar des Wassers urangestammter Bewohner, der Fisch, darin verenden muß« (Wald und Wasser 457). Die Versuchung, Roseggers Text ganz im Einklang mit ökologischer Konsumkritik des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts zu lesen, ist groß. Nicht nur Fragen der environmental justice und seine Konsumkritik allein sind es, die Roseggers Text den Anschein von Aktualität und Übereinstimmung mit politisch ›grünen‹ Idealen verleihen. Dabei sieht Rosegger Problem, Ursache und Lösung gleichermaßen in einem Netzwerk miteinander verbunden. Nicht nur erkennt er das »Landwasser« als unmittelbare Verbindung von Stadt- und Landbewohnern, er identifiziert Bürger (besser Situierte und Bourgeoisie) und Aristokraten grenzübergreifend als eine Klasse, und zwar insofern sie verantwortlich für Problem und Lösung sind. Ihr Konsum, das sinnlose Bedürfnis immer mehr »überflüssiges Zeug« und »Luxusdinge« (ebd.: 456) anzuhäufen, gibt ihm zufolge der zerstörerischen Industrie überhaupt erst den Anlass und Antrieb, sich immer weiter auszudehnen und in einer Bewegung Wald, Wasser und Menschen zu bloßen Ressourcen zu machen. Auch die beinahe zynische Gegenüberstellung einer proaktiven Lösung – Konsumverzicht – gegenüber einer »kostspieligeren« (ebd.: 548) Variante – es auf die Revolution der Arbeiter und damit auf einen »ungeheuren Bürgerkrieg« (ebd.) ankommen zu lassen – nimmt den apokalyptischen und misanthropischen Ton radikaler Texte der Umweltbewegung des 20. Jahrhunderts vorweg: »[Der Bürgerkrieg] dezimiert die Bevölkerung und die unbewohnten Gegenden werden zur Wildnis. Wilder Wald sammelt Feuchtigkeit und führt sie seiner Scholle zu, es entstehen wieder die sprudelnden Quellen und die reinen Wässer« (ebd.). An diesem Punkt wird jedoch auch deutlich, dass Roseggers ›Umweltbewusstsein‹ weder einer Liebe zur Natur noch einem ausgeprägten Verständnis globaler Risikokultur oder gar einem solidarischen Gedanken entspringt. Roseggers Aufruf bezieht sich nicht auf einen Naturschutz um der Natur willen, sondern entspricht dem Wunsch einer Bewahrung der »natürlichen Heimat«. Diese erschöpft sich jedoch nicht im Schutz bestimmter Naturräume, sondern vor allem im Schutz der als ›natürlich‹ markierten sozialen Ordnung. Einzig in einer Ablehnung von Fortschritt in Form von Industrialisierung, Konsum und Proletarisierung der Bauernschaft sieht Rosegger eine – von ihm in einer utopischen Vergangenheit verankerte – Chance, die Heimat in ihrer natürlichen Form zu bewahren:
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»Die Industrie, die unsere politischen und sozialen Verhältnisse von Grund auf ändert, wird auch unser grünes Heimatland ändern, wird eine Mondlandschaft aus ihm machen. Von gewissen alten Völkern, die heute ruhige und zufriedene Landwirtschaft treiben, träumte mir, daß sie auch einmal eine große Industrie mit allen Vorteilen der Technik gehabt hätten, daß sie aber, die Gefahr derselben erkennend, diese Industrie abgeschafft haben und die Technik absichtlich wieder in Verfall kommen ließen. Sie würden sonst nicht mehr vorhanden sein.« (Ebd.: 547)
Rosegger führt mit den »gewissen alten Völkern« eine historische Leerstelle ein, die funktional äquivalent zu seinem Einsatz der topographischen Leerstelle ist. Die erträumte Alternative zum Fortschritt wird durch seine vage Anspielung gleichzeitig einleuchtend und unangreifbar, in dem sie rhetorisch simplifiziert und von einer einzigen Entscheidung abhängig gemacht wird. Obwohl also in diesem und anderen Texten proto-ökologisches Wissen über die Verbundenheit und wechselseitige Abhängigkeit verschiedener natürlicher und kultürlicher Phänomene sichtbar wird, spricht der monokausale Lösungsvorschlag gegen ein ökologisches Bewusstsein im heutigen Sinne. Der Aufruf zum Schutz der heimatlichen Wälder und Gewässer ist explizit ein Aufruf zum Schutz der althergebrachten Verhältnisse. Die angeblich drohenden Umwälzungen zu Gunsten der Arbeiter werden hier in eins gesetzt mit der Gefährdung der Wälder und Gewässer. Das im Text behauptete Streben der Arbeiter nach politischer Macht erscheint als Symptom einer aus dem Gleichgewicht geratenen Ordnung, die ihre Wurzeln verloren hat und deswegen nicht mehr wachsen kann. Dass ausgerechnet der Industrie eine Verhinderung von Wachstum vorgeworfen wird, klingt aus heutiger Perspektive paradox, leuchtet aber in der Gegenüberstellung von »Rad« und »Scholle« ein. Wachstum betrifft dementsprechend (noch) nicht ökonomische, sondern emphatisch als natürlich verstandene Prozesse. Rosegger versteht die Bindung an die »Scholle« (vgl. Hölzl 1991), also das angestammte Stück Land, als Gegenmodell zur entwurzelten Arbeit der Industrie, die die Arbeiter in den Rhythmus des »Rades« zwingt und damit von wahrer Produktivität entfremdet. »Das Rad macht nur immer die Runde in staubiger Niederung, da erhöht sich nichts, da steigt nichts aufwärts wie der Kornhalm und der Baum« (Wald und Wasser 457). An dieser Stelle lässt sich besonders gut zeigen, inwiefern eine Relektüre (nicht nur) von Roseggers Texten als Teil eines proto-ökologischen Diskurses fruchtbar werden kann. Anders als die von Baur kritisierte umweltbewegte Lesart der 1980er Jahre bietet die ökologisch orientierte Literaturwissenschaft (Ecocriticism) nun Methoden an, die Texte zwar mit Blick auf ihr spezielles Natur- und Umweltverständnis lesen, sie aber nicht darauf reduzieren. Nicht nur lässt sich dadurch einer schlichten Überblendung gegenwärtiger Begriffe und aktuellen Problembewusstseins auf ältere Texte vorbeugen, wichtiger ist, dass sich hier eine Möglichkeit auftut, die – selbst wiederum ökologisch zu verstehende (vgl. Saunders 2008) – Vernetzung literarischer Verfahren und historischer Wissensbestände zu untersuchen und so die Entstehung eines unter Umständen ›neuen‹ Wissens zu beobachten. Auch wenn das
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hier nicht im gebotenen Umfang stattfinden kann, so lohnt es doch, im Zusammenhang mit der zentralen Funktion topographischer Leerstellen für die Markierung dessen, was eine Gesellschaft als beklagenswerten Verlust empfindet, auch auf die Potenziale einer solchen Perspektive zu verweisen (vgl. Bühler 2016). In diesem Sinne wird Rosegger – seine literarischen, publizistischen Texte, aber auch Rosegger selbst als öffentliche Persona – in der Tat als Vertreter eines historischen Umschlagpunkts verstehbar. Damit ist selbstredend keine Rehabilitierung seiner Texte als Literatur im emphatischen Sinne angestrebt. Vielmehr wird so ein historischer Moment sichtbar, in dem das Verhältnis von Mensch und Natur in einer spezifischen Weise reflektiert wird. Der evidente Rückgriff auf literaturgeschichtliche Vorbilder der Landlebendichtung, der Idyllik und Bukolik lässt sich so abseits einer literaturkritischen Haltung gegenüber vermeintlicher ›Idyllisierung‹ als erfolgreiche literarische Strategie lesen. Die schon in WALD UND WASSER anzitierten Elemente idyllischer Landschaften und Zeitkonstruktionen (vgl. Zemanek 2015: 187) ziehen sich wie ein roter Faden durch Roseggers Texte. Stets bleibt das idyllische Potenzial eines einfachen Lebens in und mit der Natur in eine nicht mehr zugängliche Vergangenheit (ein quasi-goldenes Zeitalter) verbannt, ohne dabei jedoch als utopisches Ziel aufgegeben zu werden. Dabei bleiben insbesondere die hier zur Untersuchung stehenden Waldfiktionen jedoch der Tradition der Dorfgeschichte und deren literarischem Realismus verpflichtet. Das Dorf ist ein für die Konstruktion und Analyse der Vorstellung einer ›natürlichen Heimat‹ zentraler Ort. Zwischen der (natürlichen) Wildnis der Natur und der (moralischen) Wildnis (vgl. Kirchhoff/Trepl 2009: 23, 43ff.) der Großstadt scheint das Dorf der Ort der Moderne zu sein, der trotz seiner ständigen Gefährdung von beiden Seiten das Versprechen hält, die althergebrachten Wege zu bewahren. Ein möglicher Grund für den Erfolg der Gattung mag sein, dass sie mit dem Dorf einen Raum schaffen, der, obwohl er der Lebenswirklichkeit der gebildeten städtischen Leser naheliegt, innerhalb der Geschichten zum utopischen Raum wird, in dem Stabilität und Einfachheit des Landlebens der umfassenden Dynamisierung und Komplexität des Stadtlebens entgegengesetzt werden. Damit wird das Dorf zu einem hybriden Raum zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Vormoderne und Moderne und zwischen Natur und Kultur, der als »alternatives Archiv der Modernisierungsgeschichte des 19. Jahrhunderts« (Neumann/Twellmann 2014: 490) zur wichtigen Quelle auch für das proto-ökologische Wissen dieser Zeit wird. »Die Schwellenerfahrungen, die in den Randzonen der Moderne gemacht werden, sind wie auch die dadurch veranlassten Erzählungen als Nebeneffekte der großen Transformationsprozesse anzusehen. Die fortschreitende Vergesellschaftung kleiner Gemeinschaften hat die Gattung der Dorfgeschichte hervorgebracht. Weil der Gegenstand des Erzählens von einer expandierenden Ordnung eingeholt wird, steht er stets im Horizont seiner Verwandlung oder gar des Verschwindens.« (Neumann/Twellmann 2014: 484)
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Dieser Effekt verstärkt sich in Texten wie denen Roseggers, die die nostalgisch markierte Vergangenheit eines verlassenen oder verschwundenen Dorfes schildern. Obwohl die stark idealisierende Folie der Idyllik oft als durch die Dorfgeschichte abgelöst geschildert wird (vgl. Böschenstein 2001), werden sie gerade in dieser Verbindung wirksam. In den Waldheimaten verschwimmen die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation im Ort ebenso wie in den Menschen, die dort leben. Dadurch rückt deren Zugehörigkeit zu einer anderen (vergangenen) Zeit in den Vordergrund, wodurch die Darstellung der erzählten Gegenwart den Charakter einer immer schon gefährdeten bzw. prekären Natürlichkeit gewinnt. Trotz des Beharrens auf der Einfachheit und Unmittelbarkeit der Erfahrung, die seine Geschichten prägt,2 lassen DIE SCHRIFTEN DES WALDSCHULMEISTERS und WALDHEIMAT eine Tendenz erkennen, die gleichermaßen auf die von ihm auch in WALD UND WASSER kritisiert wird: Orte wie Alpel und Winkelsteg und mit ihnen die »urwüchsigen« Menschen scheinen zu verschwinden, oder, um Roseggers Diktion zu folgen, fallen der gefräßigen Industrie zum Opfer. Gleichzeitig greift Rosegger damit sehr wohl auf die von ihm abgelehnten »Stoffe aus der großen Welt« (Schriften 25) zurück, denn er reagiert einerseits auf eine historische Beobachtung – den Erfolg der Industrialisierung, die, vier Jahrzehnte nach Auerbach, bereits den Anschein einer Allgegenwärtigkeit zu haben scheint – und bezieht sich, wenn auch implizit, auf Ideen und Konzepte von Natur, die besonders deutlich auf Topoi der europäischen Idyllik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zurückgreifen. 3
D AS E NDE
DER
W ALDWELT
Während WALDHEIMAT durch seinen Untertitel (»Erzählungen aus der Jugendzeit«) autobiographisch markiert ist, präsentieren sich DIE SCHRIFTEN DES WALDSCHULMEISTERS im Modus des Bildungsromans, dessen Gegenstand Waldschulmeister und Waldmenschen gleichermaßen sind. In diesem Text ist der Wald, bzw. das Örtchen Winkelsteg, Ziel und Zentrum der erzählten Gegenwart des Textes. Hier ist es eher
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So schreibt Rosegger im Vorwort zu den SCHRIFTEN DES WALDSCHULMEISTERS: »Häufig ist mir der Rat erteilt worden, Wald und Dorf zu verlassen, meine Stoffe aus der großen Welt zu holen und durch philosophische Studien zu vertiefen. Ich habe das versucht, habe aus den Studien schöne Vorteile für meine Person gezogen, doch in meinen Bauerngeschichten haben sich die Spuren von Bücherstudien niemals gut ausgenommen.« (Schriften 25)
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»Der Autor schmuggelt Geßners ›Idyllen‹, Rousseaus ›Emile‹ und Goethes ›Hermann‹ nicht nur in der Retrospektive als ›verbotene Bücher‹ durchs Seminar, sondern auch im Text durch die Wahrnehmung der Leser.« (Bubeniček 1988: 146)
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eine räumlich denn eine zeitlich konnotierte Peripherie, die den Eindruck von Fremde erzeugt. Zwar bettet die Rahmenerzählung die Aufzeichnungen des Waldschulmeisters ähnlich den Erzählungen der WALDHEIMAT in eine Erinnerungserzählung ein, jedoch handelt es sich dabei um die unmittelbare Vergangenheit, die letztlich nahtlos an die erzählte Gegenwart anschließt. Dem entlegenen Ort entsprechend gering sind auch die unmittelbaren Konfrontationen mit der modernen Welt. Anders als Alpel ist Winkelsteg aufgrund seiner Entlegenheit zu einem Hort für die Ausgestoßenen der Gesellschaft geworden, zu denen auch der Waldschulmeister Erdmann sich zählt. Die Lebenserzählung des Schulmeisters ist, zum Teil datiert, im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts angesiedelt. Weitgehend unabhängig von der Außenwelt entwickeln sich in dieser Walderzählung Lehrer und Schüler gemeinsam in einem utopischen Vergesellschaftungsexperiment. Insofern unterscheidet sich der Ton der Erzählung deutlich vom sehnsüchtig-nostalgischen Stil der Kindheitserzählungen. Auch der exotische Charakter der Figuren wirkt im Vergleich vermindert, obwohl hier das für WALDHEIMAT verneinte volkskundliche Interesse der Dorfgeschichte deutlicher zu tragen kommt, nicht jedoch, ohne des Öfteren verworfen zu werden.4 Wald wie Waldmenschen formen sich in den SCHRIFTEN gegenseitig und bedürfen gleichermaßen der klugen Verwaltung, um zu einem Gleichgewicht zwischen urwüchsiger Natürlichkeit und Nützlichkeit zu gelangen. Dieses Gleichgewicht ist fragil, denn während Wildnis für den Wald als erstrebenswert gilt, repräsentiert die Wildheit seiner menschlichen Bewohner einen moralisch defizitären Zustand. Im Hinblick auf die Darstellung von prekärer Natur und exotischer Heimat lässt sich DIE SCHRIFTEN DES WALDSCHULMEISTERS als eine Art sanftes Kolonisierungsprojekt lesen, als ›naturnaher‹ Gegenentwurf zur zivilisationskritischen Schreckensvision von WALD UND WASSER. Die autobiographisch angelegten Erzählungen in WALDHEIMAT präsentieren sich dagegen im Modus einer nostalgischen Idylle, deren arkadischer Ort durch die Verlagerung in die eigene Kindheit markiert ist (vgl. Böschenstein 2001: 131). In der Erinnerung an eine unwiederbringlich verlorene Zeit vermeint Rosegger etwas zu erkennen oder sagen zu können, das »den ganzen Menschen zeigt« (Waldheimat 6). Wie an anderer Stelle, bedient sich der Text auch damit einer Anspielung auf die Weimarer Klassik, um den nostalgischen Modus der Erzählung intellektuell aufzuladen, ohne ihn allzu ›schwierig‹ zu machen. Ob dieses ›Etwas‹ die gemeinsame Erinnerung an die schöne (weil idealisierte) Kindheit ist oder die Wahrheit, die in der Einfachheit und Einfalt des Kinderblicks auf seine Umwelt liegt, benennt er nicht. Dass es sich dabei aber nicht um bloße persönliche Erinnerungen handelt, sondern um Beobachtungen, die etwas über den Menschen auszusagen vermögen, betont
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So bezieht sich Erdmann etwa an verschiedenen Stellen auf seine stets schnell wieder aufgegebenen botanischen Ambitionen (vgl. auch Bubeniček 1988: 145).
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Rosegger indem er, wenn auch modifiziert, einen weiteren Topos der Dorfgeschichte aufruft: »Es ist wohl schon mancher Kopf darüber geschüttelt worden, wieso ich in meiner Bauernhütte all die Zustände und Sitten und die vielen wunderlichen Kerle kennen gelernt hätte, ob sie denn gleich so von allen Talgründen, Waldwinkeln und Almmatten herbeigekommen wären, um sich von mir beschreiben zu lassen? Nun, Volksstudien habe ich in der Tat gar keine gemacht, ich habe die Leute nicht studiert, ich habe nur mit ihnen gelebt in guten und bösen Tagen. Und zwar nicht bloß in einer Hütte.« (Waldheimat 6)
Dass er gerade keine »Volksstudien« betrieben habe, markiert, analog zur Verschiebung des Handlungsortes vom Dorf in die äußerste Peripherie des Wald(rand)es, die Exzeptionalität bzw. literaturhistorische Position dieser Texte. Liegt im ethnologischen Blick und im Sammeln regionaler Eigenheiten noch ein zentrales Interesse der früheren Dorfgeschichten (vgl. Baur 1978: 81-103, Neumann/Twellmann 2014a), beansprucht Rosegger hier gar keine wissenschaftlichen Ziele zu verfolgen, sondern stellt das nostalgisch idealisierende Gefühl in den Vordergrund, mit dem er seine Leser unterhalten will. Die Leichtigkeit, die dem Lesen des Textes dadurch zugeschrieben wird, ist mit der geläufigen Assoziation der Erholung gekennzeichnet. WALDHEIMAT, für den Autor auch eine willkommene Gelegenheit in Kindheitserinnerungen zu schwelgen, soll dem Leser »ein wenig kühle Waldluft und schuldlose Kindesfroheit« (ebd.) in die stickige Großstadt bringen. Damit rücken die sozialen Tatsachen des, wie auch Rosegger bemerkt, durchaus beschwerlichen Lebens und Aufwachsens in der tiefsten Provinz5 zunächst in den Hintergrund oder drohen bis zur Niedlichkeit idealisiert zu werden. Dennoch lässt sich schon an dieser Absichtserklärung nicht nur die Funktion der transformierten Dorfgeschichte ablesen. Auch der Platz, den die Natur, hier vor allem der Wald, im sozialen Gefüge der Heimat einnimmt, bleibt nicht Kulisse. Die Funktionsbestimmung, die den Erzählungen der WALDHEIMAT vorausgeht, sowie die in beiden hier untersuchten Texten prominente
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So wird beispielsweise in der Erzählung VOM URGROßVATER, DER AUF DER TANNE SAß nicht nur die Arbeit des Kornschöberns beschrieben, an der der Junge selbstverständlich teilnimmt, sondern auch durch die Hinweise auf den vergangenen Reichtum des Urgroßvaters und die Hoffnung, dass die jüngste Generation ihm durch harte Arbeit wieder näher kommen möge, auf die Armut der Gegenwart verwiesen, die auch in vielen anderen Erzählungen, wenn auch oft idealisiert (im Sinne tugendhafter Bescheidenheit), Erwähnung findet. »Wir sprachen beim Schöbern oft von unserem Hofe, wie er zu meines Großvaters Zeiten gar reich und angesehen gewesen und wie er wieder reich und angesehen werden könne, wenn wir Kinder, einst erwachsen, eifrig und fleißig in der Arbeit sein würden, und wenn wir Glück hätten.« (Waldheimat 37f.)
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historische wie topographische Zurückdrängung der Wildnis schafft narrative Reservate, die den gegenwärtigen Zustand insofern stabilisieren, als sie selbst zum Zeichen der realisierten Moderne werden. Die Erzählung DIE FREMDEN HOLZKNECHTE etwa spielt, wenn auch nicht ganz so plakativ, mit der in der Abgeschiedenheit Alpels begründeten Unerfahrenheit eines Waldbauern und seines Sohnes im Umgang mit den Begleiterscheinungen der Moderne. Bereits in dessen erster Reaktion auf den Holzhändler zeigt sich wiederum die Distanz zu und Skepsis gegenüber den »brokern« (Neumann/Twellmann 2014: 480) der Außenwelt. Vermutend, was dieser von ihm will, erteilt er ihm trotz der zu erwartenden Einkünfte eine Absage: »das Geld hätt’ ich freilich wohl zu brauchen, aber trag’s nur wieder fort, ich weiß, was du dafür haben willst. Du willst die sechs alten Fichten haben, die bei meinem Haus stehen. Es geht mir heute um ein groß’ Trumm schlechter als vor einem Jahr, wo du dich der Bäume wegen hast angefragt, aber ich hab’ dir keine andere Antwort als wie dazumal: die sechs Bäume neben dem Haus, die sind ein Angedenken von alters, und wenn ich Acker und Wiesen verkaufen muß und das Vieh aus dem Stall: die Bäume bleiben stehen, und wenn sie mich ohne Truhen ins Grab legen sollten müssen: die alten Bäume bleiben stehen, bis sie selber fallen.« (Waldheimat 243)
Die Begründung ist bemerkenswert, denn die Bewahrung des alten Fichtenbestandes, weil sie »ein Angedenken von alters« sind, überrascht nicht nur angesichts der finanziellen Lage des Waldbauern. Obwohl er, wie in anderen Erzählungen deutlich wird, zwar nicht der beste Geschäftsmann ist, kann man ihm doch kein romantisches Verhältnis zu seinem Hof vorwerfen. Er ist nicht nur ein fleißiger, sondern auch ein pragmatischer Mann und dennoch, so zeigt sich hier, unterscheidet ihn von den Städtern und ihren Mittlern eine grundsätzliche Eigenschaft: er versteht eben nicht (potenziell) alles, was auf seinem Grund und Boden wächst, als Rohstoff oder Ressource. Im Gegenteil: Hier können so scheinbar unbedeutende Dinge wie sechs alte Fichten eine Bedeutung erlangen, die ihr Fällen zum Frevel von so großem Ausmaß macht, dass der Bauer lieber seine ökonomische und physische Existenz gefährdet als sich von Ihnen zu trennen. Darin kommt kein besonderes Naturschutzstreben zum Ausdruck, sondern ein alternatives, aber bereits im Verschwinden begriffenes (also zum Erzählzeitpunkt vergangenes) Verhältnis zu Naturgegenständen. Die Bäume erfüllen als »Angedenken« eine identitätsstiftende Funktion, die durch keinen der anderen Teile des Hofs ersetzt werden könnte und somit ihrem Verkauf, das heißt ihrer Umwertung zum Baustoff, diametral entgegensteht. Doch der Holzhändler interessiert sich in diesem Fall gar nicht für die Fichten, sondern für die »schlagbaren Lärchen« (ebd.: 244) aus dem Wald des Bauern. Auch wenn der Handel dem Waldbauern zuwider ist, zwingen ihn die wirtschaftlichen
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Umstände zu diesem Schritt. Der Preis, den der Holzhändler zu zahlen bereit ist, nimmt ihm die Entscheidung ab: »Es war ein leibhaftiger Hunderter, den nun der Holzhändler mit den zwei Fingern an der Ecke hielt. – Ob in demselben Augenblicke nicht ein kaltes Schauern durchs Gewipfel der Lärchen gegangen ist, die draußen einzeln zerstreut im Fichtenwalde standen! Ob nicht ein banges Ahnen durch die kleinen Vogelherzen geweht hat, die in jenen Wipfeln ihre Nester gebaut! – Mein Vater streckte die Hand nicht aus nach dem Gelde, aber er verbarg sie auch nicht im Kleide, er beschäftigte sie nicht mit dem Hebel, er ließ sie – wie er von der Arbeit erschöpft, so dasaß – halb offen, wie sie die Natur gebogen, auf seinem Schoße ruhen. Der Klemens senkte das seltsame Papier hinein, da krümmten sich die hageren Finger sachte – und hielten es fest. Die Lärchen waren verkauft.« (Waldheimat 244)
Ebendiese passive Geste, die anstatt den Triumph eines guten Geschäfts zu bekräftigen, eher eine Niederlage anzeigt – und dadurch nahelegt, dass es der Holzhändler ist, der das gute Geschäft gemacht hat – betont noch einmal das Wesen des Waldbauern als Stellvertreter einer vergehenden Welt. Wie die Bäume und die in ihnen nistenden Vögel erfüllt auch den Bauern ein banges Ahnen seines nahenden Endes. Der Hinweis des Händlers, dass einmal der Kaiser über seine Lärchen, die im Eisenbahnbau verwendet werden sollen, fahren werde, kann den Bauern deswegen nicht trösten. Für den Waldbauernbuben, der im Gegensatz zu seinen Eltern gelernt hat zu lesen, ist es hingegen das Hochdeutsche, die »Sprache Schillers und Goethes« (ebd.: 244), die ein untrügliches, aber auch verheißungsvolles Zeichen des kulturellen Fortschritts werden wird. Sie vermag zwar in Form von Mahnungen, Pfändungsbriefen und Eintragungen im »Steuerbüchel« (ebd.: 243, vgl. auch Twellmann 2012: 602) den integren Bauern und mit ihm sein Verhältnis zu der ihn umgebenden Natur zu bezwingen und für obsolet zu erklären. Gleichzeitig zeigt der Bezug auf die Dichter seine Ambitionen an, in eine Welt außerhalb Alpels vorzustoßen. Dass eine solche Szene ausgerechnet Eingang in eine erklärt nostalgische Sammlung von Kindheitserinnerungen findet, ist insofern bezeichnend, als sie einmal mehr belegt, wie selbstverständlich die Natur für den schreibenden Rosegger (im Unterschied zu seinen Figuren) und seine Leser zur Ressource – gleichermaßen als Rohstoff, wie zur Erholung – geworden ist. Diesen Eindruck kann auch seine Kritik an der »gefräßigen Industrie« (Wald und Wasser 457) nicht beiseite räumen. Der eigentliche Anlass dieser Erzählung sind jedoch die Holzknechte, oder Holzer, die als Teil des Handels während der Arbeit Unterkunft beim Waldbauern finden sollen. Das »gottlose« (Waldheimat 250) Verhalten der betrunkenen Männer versetzt den Hof, das heißt den Bauern, seine Frau und auch das Gesinde, in solchen Aufruhr, dass Ersterer sie schließlich vor die Tür setzt. Man befürchtet, dass die in den Wald Vertriebenen dort »Böses gegen uns spinnen mußten« (ebd.) und nicht lange nach dem Rauswurf macht der Junge denn auch die fürchterliche Entdeckung
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»daß sie lange Totentruhen machten« (ebd.). Das verstörende Bild löst sich schnell in Wohlgefallen auf und erweist sich als Phantasieprodukt der ungebildeten Waldleute. Der Sohn des Zimmermanns klärt den Waldbauern und seinen Sohn über »die Form der Eisenbahnschwellen [auf], die, gewöhnlich zu zweien aus dem Block gehauen, bevor sie auseinandergeschnitten wurden, mit ihren sechs Ecken einem Sarge glichen« (ebd.: 251). Das Bild und die damit verbundene Wahrnehmung aber bleibt bestehen: Es ist die weiter fortschreitende und nun bis in die Peripherie vordringende Modernisierung – symbolisiert durch den voranschreitenden und ressourcenverbrauchenden Bau der Eisenbahn –, die über die Waldbewohner hinweggeht und diese letztlich mitsamt ihrer Lebenswelt verschwinden lässt. Am Ende der Erzählung wird Roseggers Strategie der poetischen Verallgemeinerung beinahe überdeutlich. Anstatt die Konfrontation mit den beiden Holzern als vereinzelte Episode abzutun, überhöht er sie als »Kinder der Welt« (ebd.: 252) zu Stellvertretern einer anderen Ordnung, deren katastrophale Wirkung auf die fragile Waldwelt nachhaltig Spuren hinterlässt. Dass diese nicht nur in den gefällten Lärchen, sondern auch im Sehnen der Jungmagd nach dem »jungen Holzknecht« (ebd.) sichtbar werden, ist besonders deswegen von Bedeutung, weil sie das Streben der Landbevölkerung in Richtung der Zentren ebenjener Welt repräsentiert, aus der die Störenfriede stammen. Dass es gerade der ›Waldbauernbub‹ Rosegger ist, der schließlich die Waldwelt hinter sich lässt und sie damit, entgegen der Pläne des Vaters, den Hof wieder zu Wohlstand zu bringen, ihrem Schicksal überlässt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Die Gefährdung, die durch die fremden Holzer für einen Moment sichtbar wird, betrifft demnach das soziale Gefüge des Waldbauernhofes. Der »erste Wellenschlag aus dem hochbewegten Meere des Lebens« (ebd.) offenbart eine Dissonanz zwischen den Sitten und Gebräuchen des Lebens, welches außerhalb von Alpel stattfindet, und einer letzten Enklave der alten Welt. Damit verbunden ist die Darstellung einer Diskrepanz zweier unterschiedlicher Zeitregime sowie der mit ihnen verknüpften Verhältnisse zwischen Mensch und Natur. Wenn Rosegger in seiner Vorbemerkung schreibt, »jene Zeiten sind vorbei, aber das ist nicht vorbeigegangen« (ebd.: 6), dann schärft er damit letztlich auch die Funktionsbestimmung seiner Literatur. Über den Zweck der Unterhaltung hinaus werden seine Texte somit zum Archiv einer untergegangenen Welt, die außerhalb dessen nicht mehr als Lebensraum für (moderne) Menschen denkbar ist: »Das ist geblieben. Wie das uralte Waldbauernhaus noch steht, verlassen und vergessen mitten in junger Waldwildnis, so stehen die alten Gestalten in den wuchernden Erinnerungen« (ebd.). Auch in DIE SCHRIFTEN DES WALDSCHULMEISTERS wird das Eindringen der Holzer zum Gradmesser der Gefährdung des Waldes als Natur- und Sozialraum. Anders als der Waldbauer unterhält der Waldschulmeister ein seinem Bildungsstand gemäß reflektiertes Verhältnis zu seiner Umgebung. Seine Klage über die Zerstörung des Waldes beruht nicht auf einer quasi-genealogischen Verbindung, sondern auf
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seiner romantischen Perspektive.6 Der ständige Umschlag von romantischer Anthropomorphisierung der Waldwelt in die prosaische Logik kapitalistischer Ressourcenpolitik betrifft einen historischen Umbruch. Interessant ist an dieser Stelle, dass die Zerstörung des Waldes die Ähnlichkeit der Menschen mit dem Wald zum Vorschein bringt, die so gleichfalls als Opfer der neuen Zeit markiert werden: »Es geht ewig zu Ende und im Ende keimt ewig der Anfang. Da naht nun der Mensch mit seiner Zerstörungsgier. Da schallt das Schlagen und Pochen, da surrt die Säge, da klingt das Beil auf das Stemmeisen im dunkeln Grunde; – wenn du oben hinblickst über das stille Meer der Wipfel, so ahnst du es nicht, welchen es angeht. Aber das Stemmeisen und der Keil dringen tiefer und tiefer; da schüttelt einer der Hundertjährigen sein hohes Haupt, er weiß doch gar nicht, was die Menschlein wollen da unten, die kleinen, possierlichen Wesen – er kann nicht begreifen und schüttelt wieder das Haupt. Da geht ihm der Stoß ins Herz; – unten knistert es, schnalzt es, und nun wankt der Riese, knickt ein, rauschend und pfeifend in einem weiten Bogen kreist er hin, mit wildem Krachen stürzt er zu Boden. Leer ist es in der Luft, eine Lücke hat der Wald. Hundert Frühlinge haben ihn emporgehoben mit ihrer Liebe und Strenge; jetzt ist er tot, und die Welt ist und bleibt ganz auch ohne ihn – den lebendigen Baum. Still stehen die zwei, drei Menschlein, sie stützen sich auf den Beilstiel und blicken auf ihr Opfer. Sie klagen nicht, sie jauchzen nicht, eine grausame Kaltblütigkeit liegt auf ihren rauhen, sonnverbrannten Zügen; ihr Gesicht und ihre Hände sehen auch aus wie von Fichtenrinden. Sie stopfen sich ein Pfeiflein, schärfen die Hacken und gehen wieder an die Arbeit. Sie hauen die Äste von dem hingestreckten Stamme, sie schürfen ihm mit einem breiten Messer die Rinde ab, sie schneiden ihn vielleicht gar in klafterlange Stücke; – und nun liegt der stolze Baum in nackten Klötzen« (Schriften 92f., Hervorhebung S.N.)
Schon in der alltäglichen Arbeit der Holzer erkennt der Waldschulmeister die Tendenz der Menschen, sich ungeachtet der Endlichkeit des vor ihnen liegenden Waldes, der über Jahrhunderte gewachsenen Bäume zu bemächtigen und sie in Form nackter Klötze zur ›Holzreserve‹ zu degradieren. Dass der Wald, der dabei verletzt oder gar zerstört wird, nur so lange seine Qualität ›ewiger‹ Selbsterneuerung behalten kann, wie ihm nicht durch »Stemmeisen und Keil« ein neues Zeitregime aufgezwungen wird, spielt für die Holzer als Handlanger fremder Interessen keine Rolle. Dem von außen eindringenden neuen Interesse am Wald als Holz etwas entgegenzusetzen
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Der Abschnitt »Urwaldfrieden« (56ff.) ist für diese Form der Naturerfahrung zentral: »Dabei bekümmert es den Autor wenig, wenn sentimental-lyrische Passagen dem nüchtern-prosaischen Interesse seiner Protagonisten weichen und die von ihm dementierte poetische Schwärmerei umschlägt in eine als realistische Daseinsbejahung getarnte Naturwüchsigkeit. Im ›Urwaldfrieden‹ des Waldschulmeisters werden Natur und Kultur, Tierund Menschenwelt austauschbar.« (Bubeniček 1988: 146)
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gleicht dagegen einem Kampf gegen Windmühlen. Die Transformation der lebendigen und potenziell ewigen Waldwelt in eine Ressource für fremde Interessen ist hier, wie schon in der Geschichte von den Holzern in WALDHEIMAT, wohl nicht mehr aufzuhalten. Wie eine entzauberte Märchengestalt wird sie durch Entweihung sterblich und verfällt ohne Hoffnung auf Erneuerung: »Die Gegend altert schnell. Die Berge werden grau und kahl; der Wald wird verbrannt; in allen Tälern rauchen Kohlstätten. Mit Mühe hab’ ich es durchgesetzt, daß sie da oben an der Hebung einen kleinen Schachen stehen lassen. Der soll das letzte und bleibende Stück Urwald sein und unter seinem Schatten sollen die toten Winkelsteger ruhen« (ebd.: 198).
Der ›Urwaldfrieden‹, der den Waldschulmeister zu Beginn des Romans noch umfängt, löst sich in den Bedingungen der neuen Welt auf. Der Friedhof wird als kleines Naturschutzgebiet zum Symbol dessen, was unwiederbringlich verloren ist. Die Erzählungen Roseggers, soviel zeigen die untersuchten Beispiele, behandeln Aspekte einer Transformation von Natur und Naturverhältnis, die den gegenwärtigen Klagen und Problematisierungen über den Verlust der »natürlichen Heimat des Menschen« nicht nur zeitlich vorausgehen, sondern deren Voraussetzungen noch gänzlich andere sind. Beide Erzählerfiguren, Waldbauernbub und Waldschulmeister, können auf eigene Erfahrungen einer anders gewesenen Natur zurückzugreifen und diese mit einem daran gekoppelten Bild von Mensch und Landschaft verknüpfen. Dadurch müssen sie anders behandelt werden als Elegien verlorener Einheit mit der Natur jüngeren Datums. Denn hier geht es nicht allein um den Verlust einer paradiesischen Einheit, sondern um ein Lebens- und Arbeitsverhältnis von und mit Natur und Mensch, welches noch abseits von seiner vollkommenen Ökonomisierung denkbar war. Anders als die unberührte, wilde Natur des amerikanischen Nature Writings ist die hier beklagte, verlorene Natur auch sozial geformt. Hier, so ließe sich schließen, gehört ›Natur‹ zu einem ganzheitlich verstandenen Bild von Vergangenheit, das durch gegenseitige Kultivierung von Mensch und Umwelt gekennzeichnet ist. Der ausgebeuteten Natur der industrialisierten Moderne hingegen muss die WALDEN-eske Wildnis (vgl. Garrard 2012: 54-63) gegenüberstehen, deren Lob auch Rosegger in späteren Texten singt. Die entweder im Wald oder im Stadtleben verschwindenden Dörfer müssen einer doppelten Wildnis weichen. Wald und Dorfgemeinschaft teilen ein prekäres Dasein, dessen Bewahrung – das zeigt auch das aktuelle Interesse an beiden Sphären – die Reaktivierung nostalgischer Narrative zu erfordern scheint, die in der Beschreibung ihres Verschwindens, den Wald überhaupt erst als Heimat des Menschen erfinden. Der Ersatz einer »kollektiven Memoria der Urzeit« durch die »individuelle Memoria der Kindheit« (Böschenstein 2001: 131) bzw. durch die unmittelbare Vergangenheit fällt bei Rosegger seltsam zusammen. Seine eigene Kindheit wird unter anderem durch die (Über-)Betonung der massiven historischen Veränderungen, die seinerzeit das Leben in der Heimat verändert haben, in
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Kontinuität mit einer imaginierten Urzeit des Landlebens gestellt, die praktisch beliebig in die Vergangenheit verlängert werden kann. Was dann also mit dem Dorf verschwindet ist ein ›natürliches‹ Leben insgesamt. Damit bezeichnen die Leerstellen, um die Roseggers Erzählungen kreisen, trotz seiner scheinbar unschuldigen Rahmung keinen harmlosen individuellen Verlust, sondern das Ende einer anthropologischen Konstante.
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»Ich stülpe am Dorfrand die grünen Kelchblätter um, damit sie das Dorf nicht zudecken« Herta Müllers Poetik des Verschwindens J ULIA K ÖLLING
I.
E INE V ERFALLSGESCHICHTE
Herta Müllers Prosaband NIEDERUNGEN (1982/84) berichtet größtenteils von der Erinnerung an eine Kindheit in einem banatschwäbischen Dorf und beschreibt dabei eine im Verschwinden begriffene Lebenswelt. Dies zeigt sich bereits in der titelgebenden Erzählung. Die Kräfte des Alten, die noch den Identitätskern der Bewohner ausmachen, sind in ihr zu leeren Masken und Routinen erstarrt, während an den topografischen Außengrenzen des Dorfes bereits die Natur nagt: »Vom Feld her wuchert Puppengras ins Dorf.« (Müller 2015a: 23). Detailgenau beschreibt Müller hier eine in Auflösung begriffenen Lebenswelt und entfaltet dabei ein Szenario zwischen sozialer Repression und natürlicher Überwucherung. Dabei liegt eine der Besonderheiten der Erzählung in der kindlichen Erzählerfigur begründet. Durch die kindliche Perspektive vermittelt der Text, so die hier zu verfolgende These, die ambivalente Begegnung mit alten Strukturen sowie deren Verabschiedung. Der Kinderblick portraitiert das Dorfleben dabei erbarmungslos. Im Rückgriff auf eine magisch-realistische Schreibweise lässt die Erzählung das Dorf literarisch zugrunde gehen. Den Hintergrund und die lebensweltliche Bezugsgröße der Erzählungen bildet hierbei das Leben der Banater Schwaben in Rumänien. Die in dieser als altertümlichversunken gekennzeichneten Lebenswelt heimische Protagonistin teilt Erinnerungsfetzen und assoziative Bilder ihrer Dorfkindheit mit dem Leser. Müller entwirft dabei jedoch keine »wehmütige Heimatpastorale« (Herbert 1984: 132), vielmehr zeichnet sie, das hat unter anderem auch das Nobelpreiskomitee hervorgehoben, Landschaften der Heimatlosigkeit. Die im Titel NIEDERUNGEN angesprochenen Bedeutungshorizonte – niedere Topografien einerseits, geistige und emotionale Abgründe andererseits − durchziehen die insgesamt 19 Texte des Bandes leitmotivisch. ›Niederungen‹,
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das meint geografisch die Heimat der Banater Schwaben, metaphorisch verweist es auf Orte, an denen menschliche ›Niederungen‹ der Engstirnigkeit, Spießigkeit und des Nationalismus verschmelzen (vgl. Nubert 2011: 100). Das Wort hat zudem eine historische Bedeutung: die sumpfige Landschaft des Banats und die mit der Urbarmachung dieser Region verknüpfte Geschichte der Banater Schwaben. Diese gegen Ende des 17. Jahrhunderts aus verschiedenen Teilen Süddeutschlands und Lothringens eingewanderte Bevölkerungsgruppe schuf ihr Selbstbild vor allem durch die Narrativierung der eigenen Migrationsgeschichte. Ende des 19. Jahrhunderts hat sich das regionale Erzählen der Banater Schwaben als eigenständiges Genre und Teil eines politischen und kulturpolitischen Projekts etabliert, das »das Deutschtum dieser Kolonistengesellschaften« (Spiridon 2014: 69) thematisiert. Insbesondere die Dorferzählungen partizipieren dabei an einer Kulturpolitik, die eine Verbindung zwischen dem Deutschen Reich und den Donauschwaben herzustellen sucht und der Gemeinschaftsbildung in den deutschsprachigen Dörfern dient. Ab 1890 und bis in die 1920er Jahre hinein bemühen sich insbesondere schwäbische intellektuelle Eliten um die Herausbildung einer ›banatdeutschen Identität‹, wie sich anhand populärwissenschaftlicher Texte in Kalendern, Zeitungen und Zeitschriften nachweisen lässt.1 Durch diese Gründungserzählungen vergewissern sich die Banater Schwaben ihrer Identität, legitimieren diese und stabilisieren sie. Die Trockenlegung der Sümpfe steht hier vielfach metaphorisch für die Leistungen der Neuansiedler im Südosten der Donaumonarchie ein.2 Von besonderer Relevanz sind in diesem Kontext die historisch-fiktionalen Romane des Schriftstellers und Publizisten Adam Müller-Guttenbrunn (1852-1923), dessen Texte den Aussiedlern das Bewusstsein von deutscher Herkunft und deutscher Kultur, von Zivilisation und Arbeitsethos vermitteln, wie folgender Ausschnitt aus dem BANATER SCHWABENLIED exemplarisch zeigt: »Von deutscher Erde sind wir abgeglitten / auf diese Insel weit im Völkermeer. / Dort wo des Schwaben Pflug das Land durchschnitten, / ward deutsch die Erde und er weicht nicht mehr. […] Aus einer Wüste ward ein blühend Eden, / aus den Sümpfen hob sich eine neue Welt. /
1
Der an dieser Stelle nur angedeutete Zusammenhang zwischen Einwanderung, Gründungserzählungen und Identität lässt sich unter anderem bei Spiridon (2014) und Marişescu (2010) nachlesen.
2
Die Trockenlegung der Sümpfe spielt in der Einwanderungsgeschichte eine große Rolle. So wird beispielsweise in einem von der Landsmannschaft der Banater Schwaben herausgegebenen Band in stolzem Ton berichtet: »Die Siedler hatten im Banat Ackerland übernommen, das seit Jahrhunderten vernachlässigt und verwildert, mit Gestrüpp überwuchert oder erst kürzlich ausgetrocknetes, ehemaliges – vielleicht Jahrtausende altes – Sumpfland war.« (Valentin 1959: 43).
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Von diesem Land lasst deutsch und treu uns reden, verachten den, der’s nicht in Ehren hält.« (Valentin 1959: 114)
Herta Müllers Erzählungen besitzen in Müller-Gutenbrunns Darstellungen des dörflichen Lebens eines ihrer bekanntesten Referenznarrative: Während dieser seine Texte jedoch als identitätsstiftende Herkunftsnarrative entwirft, verwendet Müller eben jene Topoi von Heimat und Kolonisation, um Gegendarstellungen zu skizzieren, die traditionelle Identitätsentwürfe der Banater Schwaben demontieren (vgl. Spiridon 2014, Marişescu 2010). Sie zerlegt Idealbilder der Heimatromane, zeigt ›modrige‹ Stellen auf und verabschiedet so den banatschwäbischen Gründungsmythos von der Urbarmachung des öden Landes und der Trockenlegung der Sümpfe. Müllers in der Tradition der Anti-Heimatliteratur3 stehende Erzählungen negieren in dieser Hinsicht jede Verwandtschaft mit folkloristischer oder auf Harmonie zielender Dorfprosa. Dennoch verweisen die Erzählungen durch ihr literarisches sujet auf die Gattung der ›Dorfgeschichte‹. Diese entstand im 19. Jahrhundert in »gesamteuropäischer Polygenese« (Neumann/Twellman 2014: 23) und ist mit dem Namen Berthold Auerbach verknüpft. Sie ruft »Bildwelten bäuerlicher Lebensformen« (ebd.: 32) auf, die gerade dann Konjunktur haben, »wenn durch massive Modernisierungsschübe die Frage nach Konzepten langer Dauer virulent wird« (ebd.). Die Dorfgeschichte berichtet demnach von der Einbindung lokaler Gemeinschaften in translokale Netzwerke; sie ist in den ungewissen Randzonen staatlicher Zuständigkeiten und epistemologischer Ordnungen angesiedelt. Dabei verleiht sie denjenigen eine Stimme, »die durch eine übergeordnete Verfügungsgewalt in den Fokus von Klassifikationssystemen, Modernisierungsbemühungen und Verwaltungsroutinen geraten sind« (Neumann/Twellmann 2014a: 485). Somit bilden Dorfgeschichten die politische Realität von expansiven Normen und verschwindenden Ontologien ab. Das Genre konturiert dabei eine folgenreiche Verschiebung, die das Bewusstsein für die Dynamiken zwischen Zentrum und Peripherie verändert: Indem sie die mit Prozessen der Modernisierung einhergehenden, tiefgreifenden Veränderungen aus lokaler Sicht in den Blick nimmt, ermöglicht die Dorfgeschichte andere, nicht-zentristische Perspektiven auf gesellschaftliche Transformationsprozesse. Mit Bachtin lässt sie sich als Chronotopos raumgreifender Modernisierungsschübe verstehen.
3
Zur Gattung der Anti-Heimatliteratur siehe bspw. Rabenstein-Michel (2008). Die literarische Reaktion auf zwei fragwürdige österreichische Nachkriegsstrategien – die Tabuisierung der störenden Vergangenheit und die undistanzierte Übernahme eines überholten und missbrauchen Heimatkonzepts – führte in Österreich zur Ausbildung einer eigenständigen Gattung: der Anti-Heimatliteratur. Eine strukturell ähnliche Entwicklung lässt sich auch für den Autorenkreis um die ›Aktionsgruppe Banat‹, mit der Müller in Verbindung stand, konstatieren.
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Auch Herta Müllers Erzählungen handeln von der Einbindung lokaler Gemeinschaften in translokale Netzwerke und den damit verbundenen Umbruchs- und Schwellensituationen. Das Dorf der NIEDERUNGEN, so machen sowohl die Erzähltexte als auch Müllers poetologische Essays deutlich, ist einerseits abgeschlossen, ausgegrenzt, isoliert; es ist »eine riesengroße Kiste aus Zaun und Mauer« (Müller 2015a: 95), verortet am Ende der Welt: »Gerade damals in der Kindheit dachte ich, wir sind hier im einsamen, windigen Dreck der Felder, an den Fransen der Welt, der Teppich ist aus Asphalt und in der Stadt.« (Müller 2016: 48f.)4 Schnell erweist auch dieses Dorf sich aber andererseits als ein Dorf im Umbruch, als ein verschwindendes. »Weil der Gegenstand des Erzählens von einer expandierenden Ordnung eingeholt wird, steht er stets im Horizont seiner Verwandlung oder gar des Verschwindens.« (Neumann/Twellmann 2014a: 484) Das klingt in NIEDERUNGEN an, wenn es heißt: »Auf den Feldern sieht man das Dorf als Häuserherde zwischen den Hügeln weiden. Alles scheint nahe, und wenn man darauf zugeht, kommt man nicht mehr hin.« (Müller 2015a: 23) Allerdings, darin besteht die Besonderheit der Geschichten Herta Müllers, resultiert die prekäre Lage des Dorfes hier auf den ersten Blick nicht aus einem Veränderungsdruck, der von außen auf es einwirkt. Vielmehr schildert der Text das Szenario eines endogenen Verfalls.
II. ›T OTENMASKENBALL ‹ Den Ausgangspunkt der Erzählung NIEDERUNGEN bilden die negativen Affekte der kindlichen Ich-Erzählerin. In Form parataktischer Reihen werden sie für den Leser protokolliert. Hass, Wut und Ekel sind hier poetogen: Aus solchen Affekten entstehen die NIEDERUNGEN, ein Text, der jede Reminiszenz an eine harmonische Dorfwelt im Erzählen vernichtet. Herta Müller hält die Ursachen und Effekte des Verfalls in Bildern des gesellschaftlichen Absterbens einerseits und solchen einer allzu lebendigen Natur andererseits fest. Vermittels der kindlichen Ich-Erzählerin werden diese
4
Bei Müller heißt es auch: »Die Texte handeln von diesem fingerhutkleinen Dorf am Rand der Welt. Und Rumänien mit seiner irren Diktatur und der finsteren Armut war als Ganzes am Rand der Welt.« (Müller 2016: 46f.). Herta Müllers Biografie lässt sich allgemein kaum von ihrem literarischen Œuvre trennen und so sind auch die NIEDERUNGEN durchzogen von Autobiographemen. Sie stellen den Versuch dar, die eigene Kindheit schreibend aufzuarbeiten und sich davon zu befreien. »Ich begann, meine Kindheit systematisch abzubauen.« (Müller 1984: 124). Obgleich Müller in den offensichtlich autobiografisch geprägten Prosatexten von ihrer Kindheit berichtet, sind die Texte allerdings keine Autobiografien im klassischen Sinne, sondern lassen sich vielmehr mit Begriffen wie ›Autofiktion‹ (vgl. bspw. Müller 2009: 21) oder ›life-writing‹ (vgl. Marven 2013) fassen.
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Vorgänge in den Blick genommen, zur Sprache gebracht und schriftlich festgehalten. Surreale Bilder und groteske Fantasien bringen so das Dorfleben auf eindrucksvolle Weise zur Anschauung. Der kindliche Blick erfasst Verfall und Beschränkung, so beispielsweise wenn der kulturelle Stillstand und die hermetische Abgeschlossenheit der Dorfgemeinschaft sich in einem Naturphänomen wortwörtlich gespiegelt zeigen: »Die Eiszapfen sind verzweigt, sie tragen große Spiegel in sich. In jedem Eiszapfen sieht man ein eingefrorenes Bild – das Dorf.« (Müller 2015a: 44). Aus der Perspektive der IchErzählerin wird deutlich, dass die Dorfgemeinschaft in ihrer Substanz krankt: Der Verfall familiärer und gemeinschaftlicher Beziehungen erfolgt aus inneren Ursachen. Der Titel NIEDERUNGEN ist in dieser Hinsicht nicht nur als topografische Beschreibung zu lesen, sondern auch als »eine hochkomplexe Metapher für ein tiefes Eindringen unter die Oberfläche der dort beobachteten und erlebten Welt« (Opitz 2012: 58f.). Verschiedene wiederkehrende Ereignisse wie Kirchgang, Begräbnisse, Weihnachten oder Kirchweih »rollen in gespenstischer Sinnlosigkeit für die Beteiligten ab« (Götz 1985: 101). Die rituellen Ereignisse stellen hier kein Gemeinschaftserlebnis mehr dar, sondern zeigen sich als gespenstischer Ablauf sinnentleerter Wiederholungen: Das Dorf wird zum ›Totenmaskenball‹ (Thomas Bernhard). Den alltäglich vollzogenen Handlungen der Dorfbewohner ist so eine Form der Wiederholung eingezeichnet, die diese nicht als sinnvolle Routine herausstellt, sondern einen Leerlauf zeigt, dem jede Entwicklungsmöglichkeit abgesprochen wird. Vermummte Männer mit mottenzerfressenen Pelzmützen, mit lilablauen Lippen und Augenlidern werden kindlich fantasievoll mit bedrohlichen Schneemännern verglichen, »die mit ihren dicken Bäuchen, mit denen sie das Dorf umrennen könnten, an den Straßenecken aus dem Nebel treten« (Müller 2015a: 35). Frauen »wehen mager in ihren langen Kitteln über die Straße« (ebd.: 36) und »stricken sich selber mit hinein in ihre Strümpfe aus kratziger Wolle, die immer länger werden und so lang sind wie der Winter selbst« (ebd.). Das Schicksal der Frauen – ein lebenslanges Stricken, bis ihnen Barthaare wachsen, »die immer blasser werden und grauer, und manchmal verirrt sich ein Faden davon in den Strumpf« (ebd.: 37) – zeigt eine Auflösung aller Differenzen. Es dauert an, bis »sie mit dem Altern fertig sind, dann gleichen sie den Männern und entschließen sich zu sterben« (ebd.: 38). Tugenden wie Ordnung, Fleiß, Sauberkeit oder Frömmigkeit offenbaren im Grunde genommen degenerierte Alltagspflichten. Die Personen wirken entindividualisiert, sie erscheinen als namenlose Funktionen bzw. Funktionselemente einzelner Vorgänge. 5 Dabei sind es allerdings gerade auch
5
Gebündelt wird diese Entwicklung in der Figur der Mutter, deren Putzzwang manische Züge annimmt: »Mutter rutscht auf den Knien über die Dielen hin. Ich erkenne sie nicht, weil sie immer mehr sie selber, immer mehr ein Vorgang wird. Die Fußbodenbretter
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die leerlaufenden und inhaltslosen Routinen, die die Existenz der Dorfwelt aufrechterhalten und ein spezifisches Bild von ihr erzeugen sollen. »Mutter hebt die Fensterflügel aus und wäscht sie in einer großen, blechernen Wanne. Sie sind so sauber, dass man das ganze Dorf darin sieht, wie im Spiegel des Wassers. […] Man wird schwindlig, wenn man lange das Dorf in der Scheibe ansieht.« (Ebd.: 80) Die hermetische Abgeschlossenheit des Dorfes zeigt sich hier im Frühjahrsputz der Mutter. Die frisch geputzten Fensterscheiben spiegeln das Dorf metonymisch wider, es zeigt sich gefangen in seiner Reflexion (vgl. Marişescu 2010: 78). Demgegenüber empfindet die Protagonistin diese normierten und normierenden Routinen sowie die in ihnen zum Ausdruck gebrachten traditionellen Wertvorstellungen als Bedrohung, die sie in Bilder von Naturphänomenen kleidet. In ihrer Wahrnehmung sind es beispielsweise die Röcke der schwäbischen Trachten, die das Dorf unter ihrer imaginären Last erdrücken: »Auf dem Pflaster gehen die Mütter in schwäbischen Röcken, die aus ganzen Ballen Stoff genäht sind, deren Falten beim Gehen Baumkronen gleichen, die auf den Hausdächern lümmeln und das Dorf ins Gras drücken, die, wenn Wind geht, aufs Dach schlagen und die Ziegel zerbrechen.« (Ebd.: 66) Diese Dorfwelt ist geprägt von »kollektivem Anpassungsdruck mit gleichmacherischen Tendenzen« (Zierden 2002: 35). Jeder der Dorfbewohner entwickelt seine eigene Form des Umgangs mit diesem Druck: Die Mutter kommt »aus dem Schuften nicht heraus« (Müller 2015a: 75), die Großmutter betäubt sich mit dem selbst angebauten und geernteten Mohn, der Vater ist ein Trinker, der Großvater wird als Einzelgänger beschrieben, der Konflikten aus dem Weg geht. Das Dorf verharrt im ritualisiertem Alltag einer repressiven Normalität, die sich über Ausgrenzung alles Fremden und Andersartigen konstituiert.6 Diese stillgestellte Welt wird nicht nur in der titelgebenden Erzählung als Ort des Verfalls kenntlich, das Dorf entpuppt sich insgesamt als verfallener, zerstörter, als totgesagter Ort. So berichtet die ebenfalls im Band enthaltene Erzählung DER DEUTSCHE SCHEITEL UND DER DEUTSCHE SCHNURRBART von einem Dorf, in dem es nicht mehr hell wird: »Im Dorf dämmert es den
glänzen sauber vor ihr. […] Mutter hätte schöne stille Augen, wenn sie nicht den ganzen Tag ein Vorgang wär.« (Müller 2015a: 75) 6
Zu den konstitutiven Merkmalen dieser Dorfgemeinschaft gehört es, sich gerade über Ausschluss und Abgrenzung am Leben zu erhalten. Das Andersartige wird von der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen und damit der Versuch unternommen, innerhalb der Dorfgemeinschaft ein harmonisches Zusammenleben zu fördern, das auf Gleichmacherei und normiertem Alltag beruht. Dies ist bereits im BANATER SCHWABENLIED angelegt, das zur Verachtung desjenigen auffordert, der die gemeinsamen Leistungen und Werte nicht achte. NIEDERUNGEN führt dies beispielhaft an einer Frau vor, die »ihr Haar anders kämmte, […] andere Kleider trug und andere Feiertage hatte« (Müller 2015a: 42) – sie lebt, topografisch als Außenseiterin markiert, am Dorfrand.
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ganzen Tag […]. Es wird weder Tag noch Nacht. Es gibt weder eine Morgendämmerung noch eine Abenddämmerung. Die Dämmerung ist in den Gesichtern der Leute.« (Müller 2015d: 139) In den beiden Erzählungen DRÜCKENDER TANGO und DIE GRABREDE dient der Friedhof als Hauptschauplatz der Handlung; seine morbide Stimmung wird anschließend auf das Dorf übertragen: »Wir gehen durch das Friedhofstor. Das Dorf sinkt in sich ein und riecht nach Tannengrün und Farn, nach Chrysanthemen und nach wächsernem Gestrüpp. […] Das Dorf ist schwarz. Die Wolken sind aus schwarzem Damast.« (Müller 2015b: 117) Die Erzählungen verbinden eine statische und ›endzeitlichte‹ Zeitdimension mit einer als ›Unort‹ entworfenen Einöde und zeigen das Panorama eines Brachlandes, das keinerlei Entwicklungsmöglichkeiten aufweist und als Anti-Idylle vages Terrain beschreibt. Dabei ermöglicht vor allem der erbarmungslose Kinderblick jene magisch-realistische Schreibweise, die konstitutiv für die Bilder von Gemeinschaft und Außenwelt und deren gemeinsame Verabschiedung ist.7 Dieser Blick zeigt das Dorf als einen aus dem Kräftefeld von Stasis und Dispersion, von allzu lebendiger Natur und bereits eingetretenem Stillstand, entstehenden Schwellenraum, changierend zwischen einem Gerade noch und einem sich abzeichnenden Nicht mehr.
III. N ATURSZENARIEN Die Natur spielt sowohl in Müllers Erzähltexten als auch in ihren Essays, Reden und Vorlesungen eine große Rolle. In der Erzählung NIEDERUNGEN wird sie primär vorgestellt als ›Wildnis‹, als bedrohlich-lebendige Kraft und unberechenbare Größe. Die prekäre Lage des Dorfes ist so zum einen Folge der brachliegenden Dorfgemeinschaft, die in überkommenen Ritualen um eine leere Mitte kreist, zum anderen Resultat eines wild wuchernden Unkrauts, das den Kulturraum allmählich wieder zurückerobert. Es fliegen »Blattschrumpfungen […] durch die Luft wie unsichtbare
7
Da im magisch-realistischen Text das Wunderbare und rational nicht zu Erklärende »nicht als inakzeptabler realitätssystemischer Skandalfall« (Durst 2008: 242) behandelt, sondern als alltägliche Erfahrung betrachtet wird, kommt der Rolle des Erzählers eine besondere Bedeutung zu: Dieser muss die Perspektive einer wundergläubigen Figur einnehmen bzw. innehaben, damit das Irrationale und Wunderbare im Text unhinterfragt bestehen kann. Die Kinderperspektive ist daher eng mit der magisch-realistischen Erzählhaltung verknüpft. Der Sammelband von Eugene L. Arva und Hubert Roland bietet Einblicke in die sehr unterschiedlichen historischen Kontexte der verschiedenen Traditionen magisch-realistischen Schreibens. Darüber hinaus bieten Michael Scheffel, Uwe Durst und Burkhard Schäfer einen Überblick über die Begriffsgeschichte: Vgl. Arva/Roland (2014), Scheffel (1990), Durst (2008), Schäfer (2011).
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Pilze« (Müller 2015a: 24), das ganze Dorf ist erfüllt von »wilde[m] Pflanzengeruch« (ebd.: 70), und manche Pflanzen sind so »dicht und hoch«, dass sie »mit ihren Stengeln das Haus [überragten].« (ebd.: 76) Das Szenarium einer farbintensiven und lebendig-wuchernden Natur ist dabei an die Perspektive des Kindes geknüpft: Die kindlichen Erfahrungen sind in erster Linie Sinneserfahrungen. Die Spannbreite reicht von olfaktorischen und gustatorischen bis hin zu taktilen und visuellen Eindrücken. Der Text berichtet von Pflanzen und Tieren und deren Farben, Gerüchen und geschmacklichen Eigenschaften, woraus sich ein blühendes, wucherndes und lebendiges Bild der Umgebung ergibt, changierend zwischen auf seltsame Weise ästhetisch anziehender und ekelhaft abstoßender Natur. Neben dem »Ringelgras mit seiner grünen Frucht« (ebd.: 17), den Schlehen, »blau und kühl« (ebd.: 23), wächst Salat »dunkelrot und raschelt[] wie Papier« (ebd.: 43) und Meerrettich »schäumend in die Beete« (ebd.). Katzen »lehnen sich an die geräucherten Speckseiten und lecken an den salzigen Rändern« (ebd.: 78), Kühe mit »trunkenen Augen« (ebd.: 25) wanken durch das Dorf, Spinnen binden ihre »weißen Speichelnetze« (ebd.: 24) an kranke Obstbäume, »in der Milch der Butterblumen und im Haar der Disteln, ringeln sich die Schlangen« (ebd.: 40.). Hier leben »[q]uietschende Molche« (ebd.: 29) und Brennnesseln »lassen rotgeschwollene Bisse zurück« (ebd.: 38). Diese grellbunte, synästhetisch erfahrene Natur entwickelt ein Eigenleben: »Manchmal bewegen sich die Blätter und Stengel von selbst. Es ist niemand da. Auch nicht der Wind.« (Ebd.: 40) Müllers Erzählung greift hier auf einen Topos zurück, der auch den Magischen Realismus auszeichnet: Die Natur erhält menschenähnliche Eigenschaften, sie wird anthropomorphisiert. Das Dorf der NIEDERUNGEN scheint inmitten dieser lebendigen Umgebung allerdings dem Untergang geweiht. Überdimensionierte Blätter und wucherndes Unkraut machen sich den Lebensraum der Menschen zu eigen; das Kind vermag kaum, ihn davon freizuhalten: »Vom Feld her wuchert Puppengras ins Dorf. Ich stülpe am Dorfrand die grünen Kelchblätter um, damit sie das Dorf nicht zudecken und überwuchern, wenn die Leute ahnungslos sind.« (Ebd.: 23) Deutlich wird die Rückeroberung durch die Natur auch an den alten Kulturgütern, die die Dorfbewohner am Dorfrand entsorgen: »Am Dorfrand liegt das alte Geschirr. Abgewirtschaftete, verbeulte Töpfe ohne Boden, verrostete Eimer, Sparherde mit zerbrochenen Platten und ohne Füße, durchlöcherte Ofenrohre. Aus einer Waschschüssel ohne Boden wächst Gras mit leuchtendgelben Blüten.« (Ebd.: 38) Der von außen drohenden Überwucherung durch die ›Wildnis‹ strebt eine zentrifugale Kraft aus dem Inneren des Dorfes entgegen. Es tritt förmlich über seine Grenzen hinaus: »Am Dorfrand werden die Häuser so niedrig, so flach, dass man nicht genau sieht, wo sie aufhören. Das Dorf kriecht über die warzigen Kürbisse, die vergessen im Feld liegen, ins Tal.« (Ebd.: 37) Der Titel NIEDERUNGEN ist als tiefliegendes Land eine Ortsmetonymie, die sich auf das Gebiet der Banater Heide bezieht. Zugleich kündigt sich darin auch eben jene Rückkehr des einst trockengelegten Sumpfgebiets an, die die zivilisatorische
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Leistung der Volksgemeinschaft rückgängig macht und ad absurdum führt. Das Kind konstatiert nüchtern: »Ich hatte an diesem Abend das Gefühl, dass der Hügel, auf dem sich das Dorf befindet, tiefer liegt, als das Tal und dass das Grundwasser langsam und kalt in die Straßen steigt.« (Ebd.: 100) Im Bild der im Dorf wachsenden Pappeln, die ihre grünen und gesunden Blätter verlieren, bindet Müller ihre Dorfgeschichten noch einmal an die Herkunftsnarrative Müller-Guttenbrunns zurück. Insbesondere dessen Roman DIE GLOCKEN DER HEIMAT (1911) zeigt die Kirche als topografisches Ortszentrum und hebt ihre Bedeutung als Institution, die die Werte der Banater Gemeinschaft bewahrt, klar hervor. In den NIEDERUNGEN wird der Blätterverlust der Bäume nun an eben jene Institution geknüpft, die seit der Zeit Müller-Guttenbrunns im wahrsten Sinne des Wortes Rost angesetzt hat: »Der Bürgermeister sagt, dass der Blätterfall mitten im Sommer vom Läuten der großen Glocke herrührt, die seit Jahren verstimmt ist, vom Rost, der sich auf ihr abgesetzt hat.« (Ebd.: 54) NIEDERUNGEN verbindet die anthropomorphisierte Natur darüber hinaus mit einer ›Verwilderung‹ der Dorfbewohner. Diese nähern sich in ihrer Gestalt den die Banater Gegend bevölkernden Pflanzen und Tieren an. So weist die Großmutter der Protagonistin beispielsweise bereits pflanzenähnliche Züge auf und verschmilzt mit dem von ihr angebauten Mohn: »Und sie hat hundert Beete voller Mohn im Gedächtnis, und alle weißen Blüten, die es je im Garten gab, welken auf ihrem Gesicht und fallen zur Erde. Und alle schwarzen Mohnkörper rieseln herab aus ihren Röcken, die so schwer sind, dass sie vor lauter Mohn kaum noch gehen kann.«8 (Ebd.: 92) Müllers Erzählung zeigt: Das Dorf befindet sich bereits auf seinem Weg zurück in jenen Sumpf, der ehemals von den frühen Einwanderern trockengelegt wurde. Nicht nur bringen die Kühe die Natur mit ins Dorf, wenn sie »große unförmige Schuhe aus Schlamm durch die Häusertore« (ebd.: 24) tragen. Es wird auch von Männern berichtet, die Planken in die überfluteten Keller legen und »wie große Sumpfvögel zu den Weinfässern stelzen« (ebd.: 36). Die Protagonistin präsentiert zwei Formen des Umgangs mit jenen Annäherungsprozessen zwischen Kultur und Natur. Sie ist einerseits bestrebt, ein Teil der natürlichen und kreatürlichen, der noch lebendigen, Welt zu werden und unterläuft dabei beständig die Grenze zwischen Mensch und Natur: »Ich aß Akazienblüten. Sie hatten innen einen süßen Rüssel. Ich zerbiss ihn und hielt ihn lange im Mund. Wenn ich ihn schluckte, hatte ich schon die
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Müller zitiert mit dieser Formulierung Paul Celans Gedichtband MOHN UND GEDÄCHTNIS (1952). Der Buchtitel entstammt dem Schlussgedicht des ersten Zyklus CORONA und weist unter anderem auf Celans Anspruch hin, aus dem ›Gedächtnis‹ heraus Neues zu erschaffen. Die betreffende Gedichtzeile lautet: »Mein Aug stieg hinab zum Geschlecht der Geliebten: / wir sehen uns an, / wir sagen uns Dunkles, / wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis« (Celan 2004: 53).
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nächste Blüte an den Lippen.« (Ebd.: 17) Die Erzählerin überschreitet durch das Einverleiben der Pflanzen die von den Dorfbewohnern formulierten zivilisatorischen Verbote, die sich an Kriterien der Utilität orientieren, und verdeutlicht in eben jener Transgression die Grenze zwischen Natur und Kultur erst eigentlich.9 Ihren prägnantesten Ausdruck findet dieses Verhalten im Verschmelzen des kindlichen Leibes mit der das Dorf umgebenden sumpfigen Landschaft. Das Mädchen wird selbst zur brachliegenden Fläche, die hier aber als etwas äußerst Schönes imaginiert wird: »Die wilden Grasblumen krochen mir unter die Haut. Ich ging an den Fluss und goss mir Wasser über die Arme. Es wuchsen hohe Stauden aus meiner Haut. Ich war eine schöne sumpfige Landschaft. Ich legte mich ins hohe Gras und lies mich in die Erde rinnen. Ich wartete, dass die großen Weiden zu mir über den Fluss kommen, dass sie ihre Zweige in mich schlagen und ihre Blätter in mich streuen. Ich wartete, dass sie sagen: Du bist der schönste Sumpf der Welt, wir kommen alle zu dir. Wir bringen auch unsere großen schlanken Wasservögel mit, aber die werden in dir und in dich hineinschreien. Und du darfst nicht weinen, denn Sümpfe müssen tapfer sein […].« (Ebd.: 85)
Andererseits nimmt sie aber auch eine bewusste Grenzziehung vor, die es ermöglicht, Dorf und Umgebung (noch) voneinander zu unterscheiden. Es ist schlussendlich ihr Verdienst, dass das Dorf einen Rahmen hat: »Ich gehe zum Dorf hinaus, und irgendwo mitten im Gras sage ich, hier ist der Rand. Das Feld ist nicht das Dorf, es ist etwas Anderes. Der Rand ist keine Linie, aber es gibt ihn, und er ist aus vielen grünen Pflanzen.« (Ebd.: 23) In diese Rahmung des Dorfes durch die grünen Pflanzen lassen sich Bezüge zu einem paradigmatischen Text des deutschen Magischen Realismus der Zwischenkriegszeit erkennen. Elisabeth Langgässers Roman DER GANG DURCH DAS R IED (1936) etwa berichtet ebenfalls von wildem Unkraut, das hier Haus, Garten und Kellergewölbe erfüllt. So heißt es bei Langgässer:
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Die Protagonistin sieht darin eine Möglichkeit, sich der als feindlich empfundenen Umgebung anzupassen, die Überlebenskunst der Pflanzen zu adaptieren. In ihren Essays und Reden bietet Herta Müller diese Lesart der – autobiografisch geprägten – NIEDERUNGEN an: »Ich hoffte, dass die gegessenen Pflanzen meine Haut, mein Fleisch so verändern, dass ich besser zum Tal passe.« (Müller 2016: 10) Dieser rückblickend formulierte Wunsch ist durchaus übertragbar auf die Intentionen des Kindes in den NIEDERUNGEN. In ihrem Essayband DER KÖNIG VERNEIGT SICH UND TÖTET (2003) schreibt sie: »Ich aß Blätter und Blüten, damit sie mit meiner Zunge verwandt sind. Ich wollte, daß wir uns ähneln, denn sie wußten, wie man lebt, und ich nicht.« (Müller 2010a: 11).
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»[…] das Kellergewölbe, die Mauern bis unter das dumpfe verschwiegene Dach waren von ihm durchwurzelt worden […]. […] aber wer wußte, ob nicht gerade seine Unkrautnatur es gewesen war, die das Haus, […] mit ihren Wurzeln zusammengehalten und am Einsturz gehindert hatte?« (Langgässer 1936: 273f.)
Ähnlich den Unkrautwurzeln bilden in Müllers NIEDERUNGEN die grünen Kelchblätter der wuchernden Pflanzen dem banatschwäbischen Dorf die nötige Begrenzung, die es zuletzt noch zusammenhält. Dieses Bild der Natur steht mit der magisch-realistischen Erzählhaltung in einem spezifischen Zusammenhang: Wie die Autorinnen des Magischen Realismus so beschreibt auch Herta Müller hier eine anthropomorphe Natur, die sich ›Kulturgut‹ zurückerobert; ein Vorgang, der im Phänomen der Ruderalfläche10 und deren metaphorischer Verwendung einen prägnanten Ausdruck findet: Die magisch-realistische Literatur der 1930er bis 1950er Jahre berichtet en masse von Pionierpflanzen, die Einzug in ehemals bebaute Flächen halten und so auch die Grenzziehung zwischen Natur und Kultur in Frage stellen. Diese aus den Texten des Magischen Realismus vertrauten Natur-Kultur-Relationen werden in den NIEDERUNGEN allerdings verfremdet. Anders als die Texte der 1930er Jahre handelt NIEDERUNGEN von kontaminierten und korrumpierten Landschaften, die als Ausdruck einer deformierten Kultur selbst lesbar sind: Während im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts jener wieder Besitz von kulturell geprägten Räumen ergreifenden Natur noch ein schöpferisches Potential attestiert werden kann, handelt es sich in Müllers Texten um eine sekundäre Form von Kultur, die sich selber auffrisst. In ihrem Essay WENN WIR SCHWEIGEN, WERDEN WIR UNANGENEHM, WENN WIR REDEN, WERDEN WIR LÄCHERLICH, berichtet Herta Müller von den dunklen Trauben des wilden Weins: »Der wilde Wein heißt im Dialekt ›Tintentrauben‹, weil seine schwarzen Beeren die Hände verfärben mit Flecken, die sich in die Haut fressen für viele Tage.« (Müller 2002: 7) Das In-die-Haut-Fressen des Weins wird durch ein weiteres mit ihm verbundenes Bild verstärkt: »Der Wasserturm war neben dem Bett, seine Tintentrauben schwarz wie der tiefe Schlaf sein soll. Ich wußte, einschlafen heißt, sich in der Tinte ertränken lassen.« (Ebd.) Die Tinte der Trauben ergießt sich in die Nacht: »Auch in der Dorfnacht draußen war Tinte, sie zog den Boden und den Himmel weg.« (Ebd.) Im Bild des wilden Weins, in der von ihm ausgehenden Gefahr, bündelt sich die Bedrohung des Menschen durch die Natur. Zugleich avancieren die
10 »Ruderalflächen sind einst vom Menschen bebaute Flächen, die nach Verlassen von der Natur zurückerobert werden, wie Industrieruinen, Bahndämme, Schutthalden etc.« (Baßler 2015: 352) Burkhard Schäfer (2001) hat die Ruderalfläche, die magische Lesbarkeit eines ›Unlandstückes‹ (Oskar Loerke), als typische Grundfigur für den deutschen Magischen Realismus herausgearbeitet.
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Tintentrauben zum poetologischen Prinzip Müllers: Sie stehen für den Umschlag von ursprünglich positiv konnotierten Naturerscheinungen, von fruchtbarer Natur, in bedrohliche und aggressive, anthropomorphisierte Gegenspieler. Müllers Naturbilder sind dabei überwiegend negativ konnotiert: Ihre Flora und Fauna schwankt zwischen Sterilität und bösartiger Fruchtbarkeit, sie frisst alles Lebendige oder zeigt sich als tote Brachfläche. Die Aprikosenbäume des Dorfes sind krank, »der Gestank von tausend toten kleinen Tieren« (Müller 2015a: 100) liegt in der Luft. »Den Kamillen fallen die feinen weißen Zähne aus.« (Ebd.: 95) Von ihrer Mutter bekommt das Mädchen eine Sonnenblume geschenkt: »Sie hatte innen weißes, schwammiges Mark, das an den Händen juckte.« (Ebd.: 21) Im Traum sieht sie den »Strohschober, mit seinen regenfaulen Halmen wie Schlamm. Lange schwarze Schlangen wühlen sich in ihn hinein.« (Ebd.: 40) Der literarische Entwurf dieses morbiden Mikrokosmos ist Müllers kritische Antwort auf die Abgeschiedenheit der banatschwäbischen deutschsprachigen Minderheit, die empfundene Rückständigkeit und das Gefühl von Überwachung und Repression. Das Dorfleben, das Müller rückblickend als dem diktatorischen Regime ähnlich bezeichnet, habe sie mit Strukturen bekannt gemacht, die ihr im Umgang mit der Diktatur wiederbegegneten. Gerade im Dorf erlebte sie, so Müller in einem Interview, »eine blasse Variante der Überschaubarkeit und des Genormtwerdens« (Haines/Littler 1998: 17), die ihr später geholfen habe, als sie »das richtig Zuschlagende« (ebd.) der Diktatur erfuhr. Ihre frühen Texte, zu denen auch NIEDERUNGEN gehört, berichten daher von repressiver Gemeinschaftlichkeit und deren Rückwirkung auf das Individuum und stellen Auflösungsvorgänge und Fremdheitserfahrungen in den Mittelpunkt. Allerdings bleibt ein dritter Aspekt durch die eingeschränkte Kindersicht unterbelichtet: Während diese den Grund für das Verschwinden des Dorfes in den genannten Szenarien von Stillstand und ›Überwucherung‹ sucht, legt der Text eine weitere Spur, die zu den eingangs angesprochenen Modernisierungsprozessen führt: NIEDERUNGEN stellt der vermodernden Pflanzenwelt ein weiteres Motiv an die Seite. Im Bild des leitmotivisch wiederkehrenden Mais werden implizit die sozialistischen Agrarreformen in Rumänien thematisiert. Indem von Maispuppen, maisvollen Mägen der Schweine, Maiskörnern auf dem Hof oder Maisstengeln im Garten berichtet wird, zeigt NIEDERUNGEN den Eingriff der Kollektivierungsmaßnahmen in das dörfliche Gemeinschaftsleben auf. Müllers Naturentwürfe verlangen daher hier nach einer historischen Kontextualisierung.
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IV. S OZIALISTISCHER M AIS Der Mais, der sich als Bild durch die Erzählung zieht, wird in einer Vielzahl von Essays, Reden und Interviews der Autorin erneut aufgegriffen. Diese zeigen sich dezidiert interessiert an einem Naturverständnis, dem nicht die oben skizzierte wuchernde ›Wildnis‹, sondern die sterile Landschaft der sozialistischen Planwirtschaft zugrunde liegt. Obgleich der Maisanbau schon immer die Hauptnahrungsquelle der Banater Schwaben darstellte, lässt sich in den Erzählungen Müllers eine Bedeutungsverschiebung feststellen. Wie in anderen Staaten des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) wurde der Maisanbau in Rumänien in den 70er Jahren gesteigert; in Müllers Erinnerung »liefen die Maisfelder um die ganze Welt« (Müller 2016: 7). Und so berichtet die Erzählung im leitmotivisch wiederkehrenden Bild des Maises zwischen den Zeilen von einer übergeordneten Verfügungsgewalt, einem Transformationsgeschehen, dessen Einfluss auf Müllers Dorfgeschichten in der Forschung bislang unbeachtet blieb. Die expandierende Ordnung, die hier en passant thematisiert wird, lässt sich genauer fassen: Rumänische Dörfer, so auch die des Banat, wurden in der Mitte des 20. Jahrhunderts im Rahmen sozialistischer Modernisierungsbestrebungen umgestaltet. Die bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfolgte Bodenreform und die daran anschließenden Kollektivierungsmaßnahmen leiten in Rumänien – wie auch in anderen osteuropäischen Staaten – eine tiefgreifende Transformation des ländlichen Raums ein.11 Auch das Banat geriet unter sowjetischen Einfluss. Unter Gheorghe Gheorghiu-Dej, Parteichef der Rumänischen Kommunistischen Partei, wurde 1945 die sogenannte Agrarreform, die Enteignung der deutschen Landwirte, umgesetzt. Alle Angehörigen der deutschen Volksgruppe, gegen die sich das Agrarreformgesetz in seiner nationalpolitischen Ausrichtung richtete, verloren im Zuge der sozialistischen Umgestaltung Rumäniens ihre Häuser und Höfe. Nachdem die Bodenreform, die landwirtschaftliche Großbetriebe zugunsten von Kleinbauern zerschlug, abgeschlossen war, wurden bereits 1949 die ersten Kollektivwirtschaften gegründet, die wiederum die kleinen und mittleren Bauernwirtschaften zerstörten und in neu geschaffene Großbetriebe hineinzwangen. Im Frühjahr 1962 war das Ziel der Kollektivierungskampagne erreicht: Grund und Boden sowie die Ausstattung an landwirtschaftlichen Maschinen und das Großvieh gingen bei der Vergenossenschaftung in Gemeinschaftseigentum über. Mit dieser Zwangsmodernisierung war ein tiefgreifender Wandel verbunden: Die alten ökonomischen und politischen Strukturen und Beziehungen wurden aufgelöst, neue, bislang unerprobte Sozialformen dafür
11 Dieser Transformationsprozess Osteuropas wurde in letzter Zeit v.a. in der Geschichtswissenschaft vergleichend und mit Rücksicht auf transnationale Verflechtungen untersucht. Siehe dazu bspw. Bauerkämper/Iordachi (2014: 15f.).
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eingeführt. War die Sozialordnung des Dorflebens alter Prägung durch Familienwirtschaft und individualistische Produktionsweisen bestimmt, so verloren die Bauern nicht nur das Verfügungsrecht über die Produktionsmittel, sondern sahen sich auch mit einem Wandel der Sozialordnung konfrontiert: »Das Selbstverständnis der Gruppe und das Gefüge ihrer Normen und Werte geriet ins Wanken.« (Schenk 1992: 171) Mit der Zerschlagung der selbstständigen Bauernwirtschaften gerieten gewachsene Strukturen im ländlichen Raum unter Druck; nicht zuletzt veränderte sich auch das Verhältnis der Menschen untereinander und zu ihrer Heimat.12 Im Unterschied zu anderen Dorfgeschichten der sozialistischen Moderne13, setzen Müllers Erzählungen zeitlich nach deren machtvoller Durchsetzung ein. Besser greifbar wird dieser Vorgang einzig in der ebenfalls in dem Band NIEDERUNGEN enthaltenen Erzählung DORFCHRONIK. Der Text berichtet von einer Welt, in der Sprachverwirrung herrscht und erläutert beispielhaft die im Kontext der sozialistischen Reformmaßnahmen vorgenommenen Umbenennungen: Die Naturkundestunde heißt nun Landwirtschaftslehre, das Dorf-Geschäft nun Konsumgenossenschaft. DORFCHRONIK nennt auch die durchgeführten Kollektivierungsmaßnahmen beim Namen: »Manche Bauern sagen, dass es seit der Verstaatlichung, die im Dorf Enteignung genannt wird, keine richtige Ernte mehr gegeben habe. Seit der Enteignung, sagen die Bauern, ist auch der beste Boden nichts wert« (Müller 2015c: 135). Somit wird hier nicht der Moment der Überführung in eine neue Ordnung in den Blick gerückt, sondern der bereits veränderte status quo. Der Erzählband NIEDERUNGEN handelt in dieser Hinsicht vom Alltag einer lokalen Gemeinschaft, die sich im kommunistischen Rumänien des ab 1965 herrschenden, neostalinistischen Diktators Nicolae Ceauşescus mit neuen ländlichen Strukturen auseinandersetzen muss. Aus dieser Perspektive wird letztlich auch in Müllers Dorfgeschichten der Zusammenhang von staatlichen Modernisierungsbemühungen und lokalen Beharrungstendenzen zum Thema, wie Neumann/Twellmann (2014) ihn anderen Texten dieser Gattung abgelesen haben. Doch erweist sich der Rückgriff auf Konzepte langer Dauer hier als unmöglich, entwirft NIEDERUNGEN doch ein Bild, das die dörfliche Gemeinschaft bereits vor der Zwangskollektivierung als äußerst prekäre Entität zeigt.
12 Kligman/Verdery (2011: 3) schreiben diesbezüglich: »For many, however, collectivization was the major trauma of the socialist period. Because 77 percent of the population resided in rural areas as late as 1948, this one traumatic policy was more far reaching and effected more Romanian citizens – twelve million out of sixteen million – than any other single act of the entire communist period.« 13 So zeigt z.B. Twellmann (2016) an Otto Gotsches Roman TIEFE FURCHEN (1949) die Verschränkung von literarischem Schreiben und realsozialistischer Umgestaltung im ländlichen Raum der SBZ/DDR.
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Die Kraftlosigkeit und tödliche Konformität des Dorfes wird in der Metapher des sterilen Maisfeldes gespiegelt und kritisiert. Diese sozialistischen Felder, das verdeutlicht Herta Müller vor allem in ihrem Essay IN JEDER SPRACHE SITZEN ANDERE AUGEN, spiegeln den Tod, sie evozieren den Untergang, beschleunigen beinahe den Verfall: »Ich sah immer, daß das Feld mich nur ernährt, weil es mich später fressen will. Es blieb mir ein Rätsel, wie man sein Leben auf einer Umgebung anvertrauen kann, die einem auf Schritt und Tritt zeigt, daß man ein Kandidat fürs Panoptikum des Sterbens ist.« (Müller 2010a: 13) Die Maisfelder werden zur Personifikation des Todes stilisiert, der sich in den Bildern der erstarrten Dorfgemeinschaft bereits abzeichnet: »Ich haßte das sture Feld, das wilde Pflanzen und Tiere fraß, um gezüchtete Pflanzen und Tiere zu füttern. Jeder Acker war das randlos ausgebreitete Panoptikum der Todesarten, ein blühender Leichenschmaus. Jede Landschaft übte den Tod.« (Ebd.: 12) In den Maisfeldern stellt Herta Müller der ursprünglichen Landschaft der Banater Heide eine kultivierte Naturlandschaft an die Seite. Diese Maisfelder stehen der anthropomorphisierten Pflanzenwelt entgegen, sie bilden das sterile Pendant zu bösartiger Fruchtbarkeit und führen zu einer eigenartigen Doppelung: Geometrisch angeordnete Planwirtschaft steht neben unkontrolliert wuchernden Kelchblättern, reguliertes neben wildem Wachstum. Die Verbindung dieser beiden Sphären rückt eine Konfiguration in den Blickpunkt, die charakteristisch für Müllers frühe Erzählungen ist: Der Wunsch nach einer ideologiefreien Zone – sowohl in der dörflichen als auch in der staatlichen Lebenswelt – ruft Metaphoriken des Ursprünglichen und Vegetativen auf den Plan, die in ihren Konnotationen als alles überwuchernde und überdauernde Natur eine Hoffnung auf Veränderung mit sich bringen. Müller greift damit bekannte Muster auf. Auch die magisch-realistischen Texte der 1920er bis 1950er Jahre schreiben insbesondere dem Unkraut eine schöpferische Kraft zu, die repressiven Kultivierungsmaßnahmen entgegenzuwirken vermag. In Anlehnung an die Traditionslinien magisch-realistischer Texte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreiben die NIEDERUNGEN insofern die Rückeroberung eines ›Unlandstücks‹ (Oskar Loerke) 14 durch die Natur. Wie auch in den bekannten Texten von Oskar Loerke oder Elisabeth Langgässer nimmt sie hier wieder Besitz von einer vom Menschen bebauten Fläche. Sind es in den Texten der magisch-realistischen Autoren der 1930er bis 1950er Jahre vor allem Industrieruinen, Bahndämme, Schutthalden o.Ä., die vom Unkraut überwuchert werden, so wird bei Herta Müller das gesamte banatschwäbische Dorf zur
14 Der Begriff des ›Unlandstückes‹ stammt aus Loerkes Erzählung DIE PUPPE (1917/18) und bezeichnet dort eine Art Zwischen-Raum oder Interim, genauer das »leere[n] Bauland Wilmersdorfs« (Loerke 2015: 273), »draußen abseits der Stadt« (ebd.)«. Er wird hier im Sinne Schäfers (2001) verwendet, der ihn zur Klassifikation jener ruderalen Topografien nutzt.
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Ruderalfläche, in die Brennnesseln, Sauerampfer, Schlehen und Storchkraut Einzug halten und dabei sowohl die Maisfelder der Planwirtschaft als auch die überkommenen Traditionen der Dorfbewohner überwuchern. Dabei lässt sich eine strukturelle Ähnlichkeit beobachten: Die magisch-realistische Grundfigur von Entwertung und Neubesetzung, die in der poetischen Figur der Ruderalfläche ihre bekannteste Ausprägung findet, geht von einem vorgängigen Nullpunkt aus, um diese anschließend mit Bedeutung auszustatten. Im Dorf der NIEDERUNGEN ist für die Ich-Erzählerin ebenso »nichts irgendwie Bedeutendes, Sinntragendes oder auch nur Verwertbares« (Baßler 2015: 352) zu finden. Dieses Dorf »im einsamen, windigen Dreck der Felder, an den Fransen der Welt« (Müller 2016: 48f.), ein ›Unlandstück‹ im Sinne der Verlogenheit seiner Bewohner, ein moralisches ›Wasteland‹, kann erst durch die wuchernde Natur wieder zu neuer Bedeutung gelangen und letzten Endes literarisch bearbeitet werden. Allerdings lässt sich hier eine folgenreiche Verschiebung beobachten. Müllers Erzählung steht für den Umschlag, der im Vergleich mit den magisch-realistischen Texten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich zu Tage tritt. Die wuchernde Natur hat in den NIEDERUNGEN jene Fruchtbarkeit und magische Kraft eingebüßt, durch die sie sich in den Texten Langgässers, Loerkes oder Wilhelm Lehmanns noch auszeichnete. Sie wird nicht mehr als vegetatives Element vorgestellt und gilt kaum noch als zeugende, gebärende und kraftvolle Instanz. Vergleichend ließe sich an dieser Stelle Lehmanns Erzählung DER BILDERSTÜRMER (1917) heranziehen. Diese zeigt eine kraftvolle Natur, personifiziert in der Figur des Windes, die am Ende des Textes den zuvor in einem ideologischen Sinne kultivierten Raum wieder neu befruchtet: »Er [der Wind, J.K.] bestrich die Tür mit den Flächen seiner Hände und langte dann in die bauschigen Taschen seines braunen Mantels. Aus ihnen holte er Schöllkraut und Wucherblumensamen hervor und stopfte ihn in die Ritzen des Bodens. […] Der Boden quoll auf. Wie nach einem Siechtum hob er sich. Die welken Arme der umstehenden Bäume richteten sich in die Höhe […]. Auf dem ganzen Hof wellte sich die Erde mit Sprudeln.« (Lehmann 1984: 113)
Herta Müllers Naturszenarien lassen diese schöpferische Kraft kaum noch erahnen. NIEDERUNGEN endet mit dem Sumpf, mit dem jene Geschichte der Banater Schwaben vor dreihundert Jahren begann: »Draußen stieg das Wasser in den Tümpeln. Es war kein Mond im Dorf, und das Wasser war blind und geronnen.« (Müller 2015a: 102) Vor dem Hintergrund des ansteigenden Wassers verwendet Müller die Metapher des ›deutschen Frosches‹: »Die Frösche quakten aus den schwarzen Lungen meines toten Vaters, aus der starren Luftröhre meines röchelnden Großvaters, aus den verkalkten Adern meiner irren Großmutter. Die Frösche quakten aus allen Lebenden und Toten dieses Dorfes.« (Ebd.: 103) Jeder, so wird berichtet, habe bei seiner Einwanderung einen Frosch mitgebracht. In diesem Bild des Frosches bündelt Müller die immer
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präsente Angst aufzufallen, abzuweichen, auszuscheren sowie das Gefühl ständiger Überwachung, sowohl durch die Dorfgemeinschaft als auch später durch den diktatorischen Herrscher Nicolae Ceauşescu und die Securitate, an die der Frosch in seiner Funktion einer ›alles zusammenschnürenden‹ Macht erinnert: »Der deutsche Frosch war der erste Diktator, den ich kannte.« (Müller 1991: 21)15 Gleichzeitig ruft der Text durch den Frosch jedoch auch erneut das Bild eines modrigen Sumpfes auf, der an die zivilisatorischen Leistungen der Kolonisten in der Banater Heide erinnert. Die Metapher der Frösche macht deutlich, dass der Sumpf sich die Region längst wieder zurückerobert hat. Im (menschlichen) Sumpf der Gemeinschaft findet sich allerdings keine schöpferische Kraft mehr, keine magische Kraft des Bodens. NIEDERUNGEN zeigt ihn als ein kontaminiertes Gebiet.
V. F AZIT NIEDERUNGEN schildert einen abgeschiedenen und erstarrten Mikrokosmos kurz vor seinem Verschwinden. Martin Walsers bekannte Sentenz »Nichts kann deutlicher sein als ein Dorf, das es nicht mehr gibt« (Walser 1999: 121), lässt sich mit Müller modifizieren: Nichts kann deutlicher sein als ein Dorf, dass es gerade noch gibt. Dieses Gerade noch ist für das Erzählen von großer Bedeutung. Analytisch genau werden dörfliche Untergangsszenarien mit gesellschaftlicher Stagnation und Semantiken der Peripherie in Verbindung gesetzt. NIEDERUNGEN rückt ein Untergangsszenario in den Blick, dessen Ursache in einem ›Faulen von innen heraus‹ begründet liegt. Die Brutalität dieser Erzählung zeigt sich allerdings in einem anderen Zusammenhang: Die Beschreibung jenes Faulen in Begriffen des langsamen Zerfalls und der zersetzenden Dynamik resultiert letzten Endes aus einer perspektivischen Verkürzung. Sie weckt allzu leicht falsche, nämlich melancholische Assoziationen – als läge das Dorf im Herbst. Dieses verfallende Dorf ist jedoch bereits in einen Zustand der Erstarrung eingetreten, der ihm eine merkwürdige Form von Ewigkeit verleiht, es zugleich aber auch als toten Raum erscheinen lässt – ein Bild, das durch die nur implizit präsenten, sterilen Maisfelder
15 In ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises 2009 äußert sich Herta Müller beispielsweise folgendermaßen: »Im Dorf waren alle vor dem Staat geduckt, aber untereinander und gegen sich selbst kontrollwütig bis zur Selbstzerstörung. Feigheit und Kontrolle – beides war später auch in der Stadt gegenwärtig. Private Feigheit bis zur Selbstzerstörung, staatliche Kontrolle bis zur Zerrüttung des Individuums.« (Müller 2013a: 22) Die Lesart der deutschen Frösche als Metapher des Festhaltens an der eigenen kulturellen Identität in der Fremde und als Bild einer repressiven Überwachung ist bereits mehrfach ausgeführt worden (u.a. Günther 1991, Zierden 2002).
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noch verstärkt wird: »Das Dorf ist überall zu Ende. Sein wirkliches Ende ist der Friedhof.« (Müller 2015a: 103) Nicht zuletzt durch die an Leichenprozessionen erinnernden Begriffe des ›Sacks‹ oder der ›Kiste‹ ruft der Text Assoziationen einer Beerdigung auf bezeichnenderweise trägt auch die erste Erzählung der Prosasammlung den Namen DIE GRABREDE. Und es ist nicht nur deshalb rettungslos verloren. Das eigentlich Prekäre liegt in der Tatsache, dass der einzig lebendige Rest, der dem Dorf noch so etwas wie Leben einflößen könnte – die wuchernde Natur −, auch den größten Angriff auf das Dorf darstellt. Doch auch diese hat ihre befruchtende und schöpferische Kraft eingebüßt: Sie zeigt sich in bösartigen Wucherungsformen und kalter Sterilität. Wie auch Josef Winkler, eines der literarischen Vorbilder Herta Müllers, lässt sie in den NIEDERUNGEN die verhasste dörfliche Sphäre im Akt des Erzählens zugrunde gehen.16 Das Gebiet wird am Ende wieder zum Sumpf, der sowohl die Kulturlandschaften des Sozialismus als auch die traditionellen Lebensformen der Banater Bauern verschlingt. Und so verweigert sich auch die Literatur, die vielleicht einen Weg darstellen könnte, diesen bereits totgesagten Ort wiederzubeleben, und berichtet von ihm im Modus des ›Überwuchterseins‹, ein Zustand, den Müller schließlich auf das ganze Banat überträgt. So schreibt sie in ihrem autobiografischen Essay DER KÖNIG VERNEIGT SICH UND TÖTET: »Als einer meiner Freunde erhängt in seiner Wohnung gefunden wurde, da war ich bereits hier in Deutschland. […] Seine letzte Karte, ein paar Wochen vor seinem Tod, war ein Schwarzweißfoto – eine Straße, die wir oft entlanggingen. Sie hatte sich sehr verändert seit meinem Weggang, es war eine Straßenbahnschiene gelegt worden. Die neuen Schienen waren schon von hüfthohen wilden Möhren überwuchert. Sie blühten mit filigranen, weißen Schirmen.« (Müller 2010b: 59)
Die wilden Möhren fügen den Zivilisationsmarker ›Straßenbahnschiene‹ sogleich diesem von der Natur regierten Kosmos ein. Aber mehr noch: Während die NIEDERUNGEN aus der zeitlichen und räumlichen Distanz des Aufenthalts in Timişoara entstehen, verfasst Müller diesen Rückblick auf die Straßenbahnschienen nach ihrer Emigration nach Deutschland. Dem Verschwinden des banatschwäbischen Dorfs wird der Verfall der banatschwäbischen Stadt an die Seite gestellt; und auch diese wird wieder auf Textebene in ›Wildnis‹ überführt. Banater Zivilisation, so legt die Textpassage nahe, wird hier nur im Modus des ›Überwuchertseins‹ beschreibbar.
16 Josef Winkler veröffentlichte einige Jahre vor den NIEDERUNGEN die ersten beiden Teile der Trilogie DAS WILDE KÄRNTEN. Die Texte ähneln einander in ihrer surrealen, groteskverzerrten Erzählweise, in ihrer Verwendung übergroßer Details sowie durch die Perspektive eines sich selbst auflösenden Subjekts (vgl. Spiridon 2014: 76).
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Damit verschwindet jene Lebenswelt jedoch nicht. Ganz im Gegenteil: Wird jenes Szenario eines Überwucherns in seiner Metaphorik ernstgenommen, beschreibt es zwar ein langsames – doch nie endendes – Verschwinden. Jene Unmöglichkeit des Verschwindens spiegelt sich letztlich in Müllers Œuvre wider, wie ihre frühen Erzählungen zeigen: Nicht nur die Großmutter trägt in den NIEDERUNGEN die Pflanze ihrer Kindheit, den betäubenden Mohn, im Gedächtnis, auch Herta Müller kann sich von jenen Dorf-Pflanzen nicht lossagen: Maulbeerbäume, grüne Aprikosen und randlose Maisfelder mäandern unaufhörlich durch ihre Texte.
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HERTA MÜLLERS P OETIK DES V ERSCHW INDENS
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Neumann, Michael/Twellmann, Marcus (2014): »Dorfgeschichten. Anthropologie und Weltliteratur«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 88/1, S. 22-45. Neumann, Michael/Twellmann, Marcus (2014a): »Marginalität und Fürsprache. Dorfgeschichten zwischen Realismus, Microstoria und historischer Anthropologie«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 39/2, S. 476-492. Nubert, Roxana (2011): »Die banatschwäbische Welt und ihr Niederschlag in der rumäniendeutschen Literatur«, in: Dorothée Merchiers (Hg.), Transmission de la mémoire allemande en Europe centrale et orientale depuis 1945, Bern u.a.: Lang, S. 99-119. Opitz, Antonia (2012): »Man borgt sich dann eben den Blick. Das Dorf als erzählter Raum bei Gabriel García Márquez und Herta Müller«, in: Zoltán Szendi (Hg.), Wechselwirkungen II: deutschsprachige Literatur und Kultur im regionalen und internationalen Kontext, Teil II, Wien: Praesens Verlag, S. 53-63. Rabenstein-Michel, Ingeborg (2008): »Bewältigungsinstrument Anti-Heimatliteratur«, in: Germanica 42, S. 1-11. Schäfer, Burkhard (2001): Unberühmter Ort. Die Ruderalfläche im Magischen Realismus und in der Trümmerliteratur, Frankfurt a.M.: Peter Lang (= Tübinger Studien zur deutschen Literatur 18). Schenk, Annemie (1992): »Die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Volkskultur in Rumänien«, in: Klaus Roth (Hg.), Die Volkskultur Südosteuropas in der Moderne, München: Südosteuropa-Gesellschaft, S. 163-182 (= SüdosteuropaJahrbuch 22). Spiridon, Olivia (2014): »Herta Müllers frühe Erzählungen. Kontexte, literarisches Umfeld und formende Impulse«, in: Dorle Merchiers/Jaques Lajarrige/Steffen Höhne (Hg.), Kann Literatur Zeuge sein?/La littérature peut-elle rendre témoignage? Poetologische und politische Aspekte in Herta Müllers Werk/Aspects poétologiques et politiques dans l'œuvre de Herta Müller, Bern: Peter Lang, S. 61-79 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik 112). Twellmann, Marcus (2016): »Bodenreform und Poesie«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 90, S. 301-330. Valentin, Anton (1959): Die Banater Schwaben. Kurzgefasste Geschichte einer südostdeutschen Volksgruppe mit einem volkskundlichen Anhang, München: Buchdruckerei Oliver Ledermüller. Walser, Martin (1999): Ein springender Brunnen, 6. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Zierden, Josef (2002): »Deutsche Frösche. Zur ›Diktatur des Dorfes‹ bei Herta Müller«, in: Text + Kritik: Herta Müller 155, S. 30-38.
Vom utopischen zum memorialen Chronotopos Verschwundene Dörfer in der DDR- und Post-DDR-Literatur M ICHAEL O STHEIMER
Die Chronotopographie der DDR-Literatur ist in der literaturwissenschaftlichen Forschung lange Zeit unbeachtet geblieben; und mit ihr auch die Frage nach dem ästhetischen und nunmehr auch literaturhistorischen Umgang mit verschwindenden und verschwundenen Dörfern im Kontext (post-)sozialistischer Lebenswelten. Dieser Aufsatz nimmt einige Thesen und Überlegungen auf, die aus meinem unlängst abgeschlossenen DFG-Projekt CHRONOTOPOGRAPHIE DER DDR-LITERATUR heraus entstanden sind. Das Projekt beleuchtet literarische Zeitimaginationen, deren Ausgangspunkte bestimmte geschichtsträchtige Orte und Gegenden der DDR bilden und basiert methodisch auf Michail Bachtins 1937/1938 formuliertem und 1975 erstmals veröffentlichten Konzept des Chronotopos. Angesiedelt an der Schnittstelle von Literatur- und Kulturtheorie bezeichnet Bachtins Chronotopos »eine Form-Inhalt-Kategorie der Literatur« (Bachtin 2008: 7) und behauptet einen Primat der Zeit im Raum-Zeit-Gefüge. Da Zeit grundsätzlich nicht unmittelbar wahrnehmbar ist, müssen Zeitverhältnisse, um wahrnehmbar gemacht zu werden, in Raumverhältnisse transponiert werden. Sprich: Wer von ästhetisch formierter Zeit spricht, darf vom dazugehörigen Raum nicht schweigen. Anders gesagt: Der Raum bildet den Formspender für literarische Eigenzeiten.1 Die im Projekt untersuchten Räume sind reale Orte und Gegenden des Georaums der DDR, die als Schauplätze von DDRLiteratur fungieren. Da der Chronotopos-Begriff aus erzähltheoretischer Perspektive bislang kaum expliziert wurde, haben Ines Detmers und ich einige Präzisierungen und Erweiterungen in Richtung auf eine Narratologie der Raumzeit unternommen. Wir unterscheiden zwischen der Raumzeitlichkeit von Anschauung, Handlung und Vorstellung. Der
1
Vgl. zum Konzept ästhetischer Eigenzeiten Gamper/Hühn (2013).
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einzelne Chronotopos besteht demnach aus einem Ineinander von Anschauungsraum und Anschauungszeit, von Handlungsraum und Handlungszeit und Vorstellungsraum und Vorstellungszeit.2 Die Chronotopographie der DDR-Literatur veranschaulicht einerseits die Verflechtung dieser drei Raumzeit-Formen und macht andererseits die Repräsentationen literarischer Raumzeiterfahrungen literaturgeschichtlich fruchtbar. In literaturgeschichtlichen Modellierungen von Raum-Zeit-Repräsentationen gibt es folgende Extrempositionen: Das eine Extrem bildet die Historisierung einzelner Raumzeiterfahrungen, das andere die Etablierung eines kulturellen Zeitregimes als strukturformender Kraft.3 Zwischen diesen beiden Extremen ist viel Platz für Gruppierungen mittlerer Reichweite, sprich für Aggregationsgrößen, die vergleichbare Textstrukturen zu Raumzeitnarrativen zusammenfassen, die ihrerseits literatur- bzw. kulturgeschichtliche Tendenzen fundieren. Die hier verwendete Aggregationsgröße ist eben die des literarischen Chronotopos. Chronotopoi im hier verstandenen Sinn entstehen dadurch, dass ich Gruppen von konkreten Einzeltexten zusammenfasse, deren raumzeitliche Ordnungsstrukturen sich stark überschneiden. Zielvorstellung ist eine chronotopographische Literaturgeschichte der DDR bzw. der Post-DDR, die ihr Hauptaugenmerk auf die Ko-Präsenz von differenten ästhetischen Raumzeitrepräsentationen richtet. Tabelle 1: Schematische Darstellung des Projekts »Chronotopographie der DDRLiteratur« Chronotopos
Raum
dominante Zeiterfahrung
Der utopische Chronotopos
Buchenwald, Eisenhüttenstadt, Halle-Neustadt, Bad Frankenhausen
Wahrnehmung des Werdenden (Gegenwärtigkeit der Zukunft)
Der idyllische Chronotopos
Hiddensee, Insularität
Aufgehen in der Gegenwart (Gegenwärtigkeit der Gegenwart)
2
Vgl. ausführlich zur Herleitung, Entfaltung und Kontextualisierung des Konzepts der literarischen Raumzeitlichkeit Detmers/Ostheimer (2016).
3
Vgl. etwa Aleida Assmanns (2013: 21) These vom »Zeitregime der Moderne, das seine Ausrichtung radikal von der Vergangenheit auf die Zukunft umstellte«.
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Der liminale Chronotopos
Berliner Mauer, deutsch-deutsche Grenze
Stillstand der Zeit (Stagnation)
Der memoriale Chronotopos
sächsische Tagebaugebiete, Wismut-Gebiet
Erinnerung (Gegenwärtigkeit der Vergangenheit)
Der transforma- Altenburg torische Chronotopos
Wende der Zeit (Wahrnehmung des geschichtlichen Wandels und einer Zeitenwende)
Eigener Entwurf
Im Verlauf meines Projekts bin ich des Öfteren auf verschwundene Dörfer in der DDR- und Post-DDR-Literatur gestoßen. Drei davon möchte ich vorstellen: Erstens Passendorf, das von Halle-Neustadt überbaut wurde (am Beispiel der Kollektivreportage STÄDTE MACHEN LEUTE). Zweitens das »Dörfchen W.« aus Wolfgang Hilbigs Erzählung DIE KUNDE VON DEN BÄUMEN. Drittens das Ende der 1960er Jahre für eine Absetzanlage der SDAG Wismut geopferte Dorf Culmitzsch (am Beispiel des Werks von Lutz Seiler). Sie verweisen auch darauf, dass im Chronotopos des Dörflichen bestimmte Zeitvorstellungen, -erfahrungen und -anschauungen kulminieren und miteinander verbunden werden. Mit den drei Beispielen möchte ich eine bestimmte Bewegung aufzeigen, die ich auch auf einer größeren Textbasis feststellen konnte: nämlich die vom utopischen Chronotopos der DDR-Literatur zum memorialen Chronotopos der Post-DDR-Literatur.
U TOPISCHER C HRONOTOPOS – P ASSENDORF Passendorf wurde, stadtarchitektonisch gesprochen, in einer Mischung aus Spolien und Palimpsestraum in Halle-Neustadt integriert bzw. von Halle-Neustadt überbaut. Nachdem das Zentralkomitee der SED 1958 entschieden hatte, in der Nähe der Chemiestandorte Leuna und Buna-Schkopau Arbeitskräfte anzusiedeln, beschloss das SED-Politbüro 1963 den Bau einer Chemiearbeiterstadt auf dem westlichen Saaleufer neben Halle, und zwar zwischen den vier Dörfern Passendorf, Angersdorf, Zscherben und Nietleben. Zwar war der Großteil des Bebauungsgeländes Ackerland,
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für die Errichtung von Halle-Neustadt musste aber der Ort Passendorf bis auf wenige Reste weichen.4 Zur geographischen Veranschaulichung seien zwei Kartenausschnitte angeführt: einmal aus dem Jahr 1983 und einmal aus dem Jahr 2011. Abb. 1: Kartenausschnitt HalleNeustadt (1983)
Abb. 2: Kartenausschnitt HalleNeustadt (2011)
Stadtplan Halle/Halle-Neustadt, VEB
Stadtplan Halle, Kartoprodukt GmbH,
Tourist Verlag, Berlin/Leipzig 1983
Halle (Saale) 2011
Auf dem ersten Kartenausschnitt erscheint Passendorf gar nicht mehr als Name, das Dorf ist, zumindest kartographisch, ganz im Wohnkomplex II aufgegangen. Auf dem zweiten Ausschnitt hingegen hat sich nicht nur in Bezug auf die Namensgebung der Straßen einiges geändert, auch der Name Passendorf findet sich wieder. In dem repräsentativen Bildband ZWEI AN DER SAALE. HALLE, HALLE-NEUSTADT aus dem Jahr 1979 finden sich zwar keine Bilder mit Überbleibseln von Passendorf mehr, des Dorfes gedenkt aber der für die Texte des Bandes zuständige Schriftsteller Hans-Jürgen Steinmann wie folgt:
4
Vgl. Pasternack (2014: 19f.): »Eine gewisse Bedeutung sollten die verbliebenen Reste Passendorfs dann aber auch für Halle-Neustadt entwickeln: Das frühere Gutshaus wurde zum Neustädter Klubhaus Süd ›Johannes R. Becher‹ und die evangelische Kirche zur Heimat der Neustädter Gemeinde. Eines der alten Häuser nahm den Jugendklub ›Weiße Rose‹ auf. Am Platz Drei Lilien befanden sich in vormaligen Gastwirtschaftsgebäuden, die noch bis zum Ende der 80er Jahre standen, Verkaufsstellen, unweit davon auch die längere Zeit einzige Buchhandlung Halle-Neustadts. Der Südpark mit dem Passendorfer Kirchteich schließlich wurde zum stadtnahen Naherholungsgebiet.« Vgl. ferner zu den Resten Passendorfs in Halle-Neustadt Bader/Herrmann (o. J.: 90-92).
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»Die Männer vom Tiefbau waren die ersten. Im Herbst 1963 brachen sie in die Stille des Dorfes ein, das der Baustelle weichen mußte. Gestern hatten die Passendorfer noch ihre Ernte eingebracht. Heute wühlten sich Bagger in den Ackergrund. Sprengladungen detonierten, Häuser brachen zusammen: Baufreiheit! Morgen steht hier eine neue Stadt!« (Große/Steinmann 1979: 153).
Zehn Jahre zuvor, also im Jahr 1969, hat eben jener Hans-Jürgen Steinmann zusammen mit den Schriftstellern Werner Bräunig, Peter Gosse, Jan Koplowitz und den Fotografen Gerald Große und Sigrid Schmidt in der Kollektivreportage mit dem Titel STÄDTE MACHEN LEUTE. STREIFZÜGE DURCH EINE NEUE STADT Passendorf als Relikt einer obsoleten Geschichtsepoche inszeniert – und zwar in Wort und Bild. In dem Band finden sich zwei bildliche Repräsentationen der Überbleibsel von Passendorf. Abb. 3 und 4: Passendorf/Halle-Neustadt
STÄDTE MACHEN LEUTE, S. 226f. (Ausschnitt) und S. 224
Die Bildsprache der Fotografien ist deutlich. Der von ihnen dargebotenen Anschauungsraum lässt sich verzeitlichen. Entscheidend sind die Gegensätze hell vs. dunkel und die damit auch inszenierte Gegenüberstellung von Privateigentum vs. Kollektiveigentum. Die erste Fotografie bildet metaphorisch von der privatwirtschaftlichen Vereinzelung der aus einer bürgerlichen Epoche stammenden Familienhäuser hin zur lichten Zukunft des kollektiven Wohneigentums im Sozialismus ab. Die Fotografien transportieren damit einen gewissen sozialistischen Fortschrittsoptimismus. Bei der zweiten Fotografie liegt eine temporale Dreistufigkeit vor. Den gegenwärtigen Mitteln der Reinigung – versinnbildlicht in der strahlenden Weißwäsche – werden, so die implizite Botschaft, auch die schmuddeligen Relikte bürgerlichen Wohnens nicht lange widerstehen können, um im kollektiven Wohnen der Zukunft anzukommen. Der Bildsprache sekundiert der Text wie folgt:
242 | M ICHAEL OSTHEIMER »›Bislang‹ ist Dezember 67, also eine hoffentlich sehr vergangene Vergangenheit für dich, Leser. Wie vergangen demnach die Zeit, da sich unlängst der Passendorfer Friedhof unter der Brücke breitmachte. Hier, unter schlammbesohlten Schuhen also, war seinerzeit die Zeit an Friedhofskreuze genagelt.« (Bräunig/Gosse/Große/Koplowitz/Schmidt/Steinmann 1969: 11).
Das Existenzrecht Passendorfs wird auf den abgelaufenen Zeitraum einer christlich dominierten Epoche fixiert. Dabei wird dem Christentum attestiert, offensichtlich wegen seines Jenseitsglaubens, auf eine Vernichtung von Geschichtszeit hinauszulaufen (»Zeit an Friedhofskreuze genagelt«). Gegen diese Negation des Innerweltlichen wird ein Könnensbewusstsein in Anschlag gebracht, das die menschliche Imagination bei den Vorgriffen auf das zu realisierende Großprojekt städteplanerischer Raumneuordnung zu triumphalistischen Höhenflügen treibt: Halle-Neustadt als »ein sozialistisches Gemeinwesen, würdig der gebildeten Nation, die wir doch zu werden uns vorgenommen haben, eine Stadt, die nicht nur lebt, sondern in der das Leben anders ist, neuartig, erregend, Sinne und Musen weckend« (ebd.: 112). Der Komplex ›Christentum und Zeit‹ wird in der Reportage immer wieder aufgenommen: »Das Plattenwerk liegt gut seine zwei Kilometer außerhalb Neustadts, reduzieren wir sie auf eine bannige – bei dieser Hitze – Meile. Über die Felder rechts sieht man Nietleben flirren, wieder wirft es die Frage auf: Woher der Name? Leben – schön, woher aber Nieten? Geld? Oder Nieten als solche oder unsolche? Nieten und nieten lassen, nicht passend zu passen und passen lassen, links drüben Passendorf. Mit einer Kirche, auf deren Turm die rostigen Zeiger auf fünf vor zwölf stehen. Das allen Ernstes.« (Ebd.: 73)
Auf einem Spiel mit Namen eine Argumentation aufzubauen zu wollen, spiegelt dagegen als wohlfeile Denunziation eher selbstdekuvrierend die eigene Gedankenblässe wider. Von diesem fragwürdigen Aspekt abgesehen, unternimmt es diese Stelle abermals, mit symbolischen Mitteln (»die rostigen Zeiger« stehen »auf fünf vor zwölf«) die Obsoleszenz der christlichen Zeitordnung auszustellen. Metaphorisch gesagt: Die Epoche des Christentums ist um fünf vor zwölf stehengeblieben, der Sozialismus hat übernommen. Das hier zum Ausdruck kommende Raum-Zeit-Verhältnis kann als utopischer Chronotopos verstanden werden, da in ihm die räumlichen Gegebenheiten auf der Grundlage eines geschichtsphilosophischen Telos verzeitlicht werden.
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MEMORIALER C HRONOTOPOS I – D AS »D ÖRFCHEN W.« Das zweite Beispiel, das »Dörfchen W.«, entstammt Wolfgang Hilbigs 1991 geschriebener, 1992 in einer ersten Fassung, dann 1994 in einer stark überarbeiteten Version publizierten Erzählung DIE KUNDE VON DEN BÄUMEN. »Es war noch in der Lehrzeit, als ich erkennen mußte, wie sich der Müll immer näher an die Kirschallee heranschob ... sie war freilich nutzlos, die Straße hatte die Stadt mit einem Dorf verbunden, das seit einiger Zeit leer stand. Immer hatte man gewußt, daß es über der Kohle gelegen war, nun rückten die Tagebaue schon bis zu den Vorgärten vor, der Abriß des Fleckens war angeordnet. Ich erinnerte mich an das Glockengeläut, das der Kirchturm des Dörfchens erschallen ließ; mit den Jahren war das Gebimmel immer schwächer geworden, und zuletzt klangen die Töne zerstört, wenn sie, über den Wald hinweg, in der Kirschallee eintrafen. Die Invasion des Mülls eskalierte, der Unrat begann den ganzen Wald zu umzingeln, Vorhuten von toter Materie schickten sich an, den Wald in Parzellen zu zerschneiden, und einer dieser Paßwege des Mülls war auch die Kirschallee: wenn das Tagebauloch ausgekohlt war, das anstelle des Dörfchens übrigbleiben sollte, würde die Kirschallee zu den Verbindungsstraßen des Abfalls gehören, dessen Massen schon bald eine neue Halde brauchten. – Und die Luft über den Müllflächen schien immer undurchlässiger zu werden, die Glockentöne der Kirche d es Dörfchens W. verendeten in den brennenden Dünsten über der Asche und stürzten wie vergiftete Vögel ab.« (Hilbig 2010: 218).
Auch bei Hilbig spielt die Kirche des untergehenden Dorfes eine zentrale Rolle; hier allerdings nicht in denunziatorischer Absicht. Vielmehr deutet der auf einer Synästhesie basierende Vergleich von den über den Feuern der Müllkippe verendeten Glockentönen, die vogelgleich abstürzen, auf einen maßgeblichen Verlust hin. Plakativ gesagt: Industrieller Fortschritt bringt Transzendenz zum Verstummen. Das aber ist nur die Voraussetzung für eine Erinnerungsarbeit, die die Erzählung in der Folge akzentuiert. Das Dorf wird zunächst den Tagebauen geopfert, dann durch eine Müllhalde aufgefüllt, um schließlich in dem die Erzählung strukturierenden Dualismus Stadt vs. Müllhalde aufzugehen. Diese Dualität verweist neben der spatialen Dimension auf einen sozialen und einen temporalen Gegensatz. In der Stadt übernimmt der Einzelne die ihm vom Staat zugewiesene Rolle als Werktätiger am offiziell proklamierten »Fortschritt« (ebd.: 257), der aber tatsächlich die temporalen Dimensionen der Gegenwart und der Zukunft in die Zeitlosigkeit der andauernden Stagnation überführt. »Anpassung« (ebd.: 256) und Einverständnis »mit dem Angebot von Konfektion« (ebd.: 257) kennzeichnen die Leute der Stadt, die »nur das Tote, das Unbrauchbare« (ebd.: 267) hervorbringt.
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Dem schablonierten Alltag in der Stadt mit seiner Zeitform der kreislaufförmigen Selbsterhaltung steht die Müllkippe an der Peripherie als Ort der Einsamkeit außerhalb der immergleichen Alltagszeit gegenüber. Sie figuriert als Speicher dessen, was von der ›leeren Zeit‹ der Stadt übrigblieb: »nichts mehr erinnert an die Bewegung der Zeit ... oh, mit sachtem Lächeln gedachte ich in all den Jahren des Begriffs der Zeit, und mir war, als ob Fahrzeug um Fahrzeug voll ihres toten verbrannten Stoffs an die Ränder der bewohnten Gebiete gefahren worden sei.« (Ebd.: 261) Dort, am Rand der Gesellschaft, agieren die Müllarbeiter als Arbeiter gegen das Vergessen: »Allein die Müllarbeiter, sagte sich Waller, haben nichts vergessen! Sie konnten nicht vergessen, denn ihre Arbeit war der dauernde Umgang mit dem Material der Vergangenheit. Niemand, sagte ich, könne mehr wissen von der Vergangenheit, niemand könne gründlicher Bescheid wissen als die Müllarbeiter.« (Ebd.: 249) Um der auf das räumliche Eingeschlossensein folgenden allseitigen Stagnation zu entgehen, entzieht sich der Ich-Erzähler Waller der urbanen Normalität, indem er sich selbst ausgrenzt: »Ich mußte ein unbrauchbares Stück in der Gesellschaft sein, wenn ich ihre Grenze überschreiten wollte.« (Ebd.: 274) Durch die Überschreitung der Grenze in Richtung Müllkippe solidarisiert er sich mit der Gruppe jener Außenseiter, die nicht nur den Abfall einer Gesellschaft im Stillstand verarbeitet, sondern sich auch dem kollektiven Vergessen widersetzt. Das semantische Potential der Mensch-Abfall-Beziehung nutzt Hilbig, um die Schwierigkeiten des Erinnerns und des Schreibens über das Alltagsleben in einer räumlich abgeschotteten Diktatur metonymisch zu illustrieren. Die Mülldeponie wird vom Nebenschauplatz im sozialen Jenseits der im funktionalen Sinn ökonomisch gefassten Produktion und Konsumtion, außerhalb der Sichtbarkeit und Kontrolle durch die Behörden, zum Hauptschauplatz, der die Erinnerungsprobleme des Erzählers räumlich vergegenständlicht. Stadt und Müllhalde verweisen wie die beiden Dimensionen Zukunft und Vergangenheit reziprok aufeinander. Die Stadt produziert und konsumiert – befeuert von der Fortschrittsideologie (»Denn in der Stadt herrscht der Fortschritt!« [ebd.: 269]) – diejenigen materiellen Dinge, deren funktionslose Überbleibsel sie hinterher abscheidet (Dissoziation) und jenseits der Stadt (Dislozierung) zu einer massenhaften Ansammlung nutzloser Objekte verdichtet (Externalisierung). In einem Gesellschaftssystem, das über eine materialistische Weltanschauung und über ein lineares Fortschrittsdenken fundiert wird, bildet die Müllkippe die räumliche Entsprechung zur systematischen Entwertung der Vergangenheit. Die Geschichtetheit des Mülls repräsentiert die Schwierigkeit, zu einer gesellschaftlichen Wirklichkeit durchzudringen, deren Stagnation in Form einer ununterbrochenen Reproduktion nur in Relikten der Zerstörung, des Konsums und des Abfalls erfahrbar wird. Wenn das räumliche Andere (der Westen) wie im Fall der DDR durch den Mauerbau dezidiert verwehrt und das zeitliche Andere (die Vergangenheit) konsequent abgewertet wird, bleibt in diesem Zustand der doppelten Entfremdung, um sich der Wirklichkeit zu versichern, nur der Rekurs auf das fremde Eigene, also die
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kontemplative Versenkung in die Tiefe der Zeit – sei es als individuelle Erinnerung an nicht mehr Präsentes oder als kollektive Verräumlichung des nicht mehr Brauchbaren. Die Mülldeponie fungiert als Gedächtnismedium für die in der realsozialistischen DDR erfahrene Stagnation. Waller wurde deshalb so obsessiv von ihr und den dort tätigen Müllarbeitern angezogen, weil sie für ihn die Garanten der Erinnerung ausmachen: Stadtbewohner und Müllarbeiter verhalten sich zueinander wie Erinnerungsleere zu Erinnerungsfülle. Zeichnet sich die stillgestellte Gesellschaft durch das Vergessen aus, so vermag als materielles Relikt der Stagnation der Müll zum Erinnerungsträger aufsteigen, mittels dessen allein noch Geschichten über eben diese kollektive Stagnation erzählt werden können. Wolfgang Hilbig bündelt damit die ästhetischen und semantischen Potentiale des Abfalls, der Asche und des Staubs in der Mülldeponie, die er im Gegensatz zur erinnerungslosen Alltagswelt der Stadt als memorialen Chronotopos perspektiviert.
MEMORIALER C HRONOTOPOS II – C ULMITZSCH Bei dem Autor Lutz Seiler machen die Familiengeschichte und die radioaktive Strahlung zwei Zentralmotive aus. Seilers Schreiben, so könnte man pointiert formulieren, kreist bis zu seinem Roman KRUSO (2014) wie um eine leere Mitte um den Uranbergbau, konkret: um die Erfahrung des Ende der 1960er Jahre für eine Absetzanlage der SDAG Wismut geopferten Dorfes Culmitzsch5, dem Heimatdorf des Schriftstellers. So kulminiert die in DER GUTE SOHN erzählte, über Erfolge im Schachspiel sich vollziehende Emanzipationsgeschichte eines Sohnes von seinem aus dem Krieg heimgekehrten Vater in dem letzten Dorffest, das die Culmitzscher feierten: »Ein einziges Mal noch haben wir alle [Schach; M. O.] gespielt – 1967 beim letzten großen Fest von Culmitzsch. Es gab einen Festumzug, zwei Blaskapellen mit Halt vor jedem Haus im Dorf, von denen einige schon leer standen und ein paar schon halb abgerissen waren. Vor der Schule sprachen der Pfarrer und Bäcker Trützschler über Culmitzsch, es war eine Art Verabschiedungsappell, aber ohne Fahne und ohne ›Immer bereit!‹. Von denen, die das Dorf bereits verlassen hatten, waren fast alle noch einmal zurückgekehrt. Die Männer gingen im Anzug und die Frauen im Kostüm. Manche weinten vor ihrem Haus oder vor dem, was davon noch übrig war. Neben dem Schachturnier gab es ein Radrennen rund um das Culmitzscher Wasserschloß, und am Abend spielte das Elgitta-Sextett auf der Freitanzdiele.« (Seiler 2009: 234)
5
Vgl. dazu umfassend Kirchner (2010: 164-198).
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Am Beispiel einer Nachkriegskindheit zwischen Halden, die bis in die Gärten hineinragten, einem »Atomteich« (ebd.: 226) – so nannten die Dörfler den Stausee in den Halden – und »einer Kulturgruppe der Wismut« (ebd.: 220) legt Seiler den Lesern die Perspektive eines Ich-Erzählers nahe, der zum Chronisten eines dem Untergang geweihten Dorfes avanciert. Eine explizite Engführung von montangeschichtlicher Memoria und der Erkundung des Untergrunds leistet Seiler in dem 2010 veröffentlichten Gedicht CULMITZSCH. Hier verweist er auf die geschichtete Tiefe der Zeit und lässt das titelgebende Dorf regelrecht wiederauferstehen. culmitzsch am abend verrosten die schafe über der brache, vögel wie dahingeschneit & nachgedunkelt… nur unter dem schutt sind die höfe noch warm. die löffel liegen bei den löffeln, das fett an den stiefeln & zur stiefelkammer führt jene zwergenhafte tür, die dich zu tränen rührt. mutter der löffel käm ich nach haus, wäre alles gesagt. dein ortsfestes gehen, die krätze, das kleinvieh, das stricken gegen die strömung & ein geruch von auferstehung in der luft; salpetergedanken, salpetergespräche. das feuchte im kissen unter den köpfen, wenn sie noch träumen die pilze der atmung; der lehm der kühl in meine lungen rieselt beim tief schlafen… glück auf, gute nacht mutter der löffel, prinzessin der schürze; du warst nie & warst von nichts beschienen, du strahltest alles selber aus glück auf
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gute nacht ihr betrunkenen mütter. Heimkehr ist einkehr des atems staubige umkehr & leise wie von ferne fällt der lehm zurück, langsam aus der zeit ins stroh & um die unsichtbaren fugen haftet ein gebälk, das sich von selbst errichtet, o auffahrt der höfe ins fachwerk der nacht. der hund gilt als schwierig, der fusel wiegt schwer rollen die schatten der vögel im schutt; das ist die steinzeit der dörfer (Seiler 2010: 28f.)
Schäfchenwolken und Vögel schweben über der Brache, unter der verschüttet die Überreste von Culmitzsch lagern. Begraben unter dem Schutt liegen die Höfe und all die Dinge (wie Löffel, Stiefel usw.), die den Lebensalltag der Dörfler früher bestimmten. Der Ausdruck »Mutter der Löffel« hat wohl zwei Bedeutungsdimensionen: zum einen verweist er auf die Mutter, die über die Küche gebietet, zum andern gleichsam archetypisch auf den ersten Löffel in der Kindheit des lyrischen Ichs. Dinge sind auch Erinnerungsträger. Wenn die physischen Entsprechungen unserer Erinnerungen verschwinden, verliert sich auch die Erinnerung beziehungsweise die Möglichkeit dieser Erinnerung. Das Gedicht beschreibt den Versuch, den drohenden Verlust der frühkindlichen Dingwelt wenn schon nicht aufhalten zu können, so ihn zumindest sprachlich aufzuheben. Und zwar durch einen archäologisierenden Gestus, in dem die Raumtiefe zum Archiv der familiengeschichtlichen Erinnerung avanciert. Der erste Vers der dritten Strophe und der erste Vers der vierten Strophe scheinen mir von besonderem Belang: »käm ich nach haus, wäre alles gesagt. / […] salpetergedanken, salpetergespräche.« In ihnen verbirgt sich die Poetik des Gedichts, die in der Form eines Irrealis zum Ausdruck kommt, der sich folgendermaßen fassen ließe: Nur weil ich nicht mehr nach Hause kommen kann, muss ich schreiben, muss Gespräche mit imaginiertem feuchten Mauerwerk führen, auf dem sich mit den Jahren Salpeterausblühungen gebildet haben. Den Entzug der heimatlichen Sphäre versucht die schriftliche Fixierung mit einer imaginierten Rückkehr in die Überbleibsel des heimatlichen Umfelds zu kompensieren.
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Ab der vierten Strophe kehrt sich die Bewegungsrichtung des Gedichts von einem In-die-Tiefe-Vordringen in ein Aus-der-Tiefe-Aufsteigen um. Es handelt sich nun nicht mehr um das sich gleichsam archäologische Vorarbeiten zu dem verschwundenen Dorf, nicht mehr um Rekonstruktion, sondern um das Rückgängigmachen des Verlusts der Heimat und damit eines Teils der eigenen Geschichte in Gestalt einer Wiederauferstehung von Culmitzsch – paradox formuliert im ersten Vers der letzten Strophe: »auffahrt der höfe ins Fachwerk der nacht«. Am Ende der letzten Strophe bewegen sich dann – im ringkompositorischen Anschluss an den Anfang – die Schatten der Vögel nicht mehr über der Brache, sondern »im Schutt; / das ist die steinzeit der dörfer«. Imaginiert wird damit gleichsam eine Wiederkehr des Vergangenen als Neuanfang. Auf diese Weise transzendiert die Literatur den (Heimat-)Verlust, indem sie im Medium der lyrischen Sprache die Gestalt der alten Heimat nicht nur aufhebt, sondern auch ihr Fortleben in Form einer Auferstehung imaginiert. Nun könnte man sagen, hier komme die späte Rache des Christentums am historischen Materialismus zum Ausdruck. Noch aufschlussreicher erschiene mir dagegen folgende Perspektive: Das Gedicht legt einen memorialen Chronotopos frei, der eine christliche Denkfigur so revitalisiert, dass sie sogar noch imstande ist, Spuren des Realsozialismus aufzuheben. Orten wohnt kein immanentes Gedächtnis inne, aber für die Konstruktion kultureller Erinnerungsräume sind sie von konstitutiver Bedeutung. Das sieht man vor allem dann, wenn im Zuge von Kriegen, Migration oder eben auch Modernisierungen die Erinnerungen von bestimmten Orten durch Überschreibung gelöscht werden (vgl. Assmann 1999: 299 u. 304). Hier zeigt sich dies am Beispiel eines von den WismutUnternehmungen dem Erdboden gleichgemachten Dorfs. Denn nicht mehr existierende Lebenskonstellationen können nur narrativ kompensiert werden, also indem eine Geschichte skizziert oder erzählt wird, die, mit den Worten Aleida Assmanns, »das verlorene Milieu supplementär ersetzt. Erinnerungsorte sind zersprengte Fragmente eines verlorenen oder zerstörten Lebenszusammenhangs. Denn mit der Aufgabe und Zerstörung eines Ortes ist seine Geschichte noch nicht vorbei; er hält materielle Relikte fest, die zu Elementen von Erzählungen und damit wiederum zu Bezugspunkten eines neuen kulturellen Gedächtnisses werden. Diese Orte sind allerdings erklärungsbedürftig; ihre Bedeutung muß zusätzlich durch sprachliche Überlieferungen gesichert werden.« (Assmann 1999: 309)
Diese Überlieferungssicherung übernehmen nicht zuletzt ostdeutsche Schriftsteller, die es für eine vordringliche Aufgabe halten, über den Abgrund des historischen Bruchs hinweg die Vergangenheit fiktionalisiert wiederzugewinnen und gegen das Vergessen und die Delegitimierung einer nicht-nostalgischen individuellen Erinnerung eine erinnerungsliterarische Spurensuche aufzubieten: Eine literarische Trauerarbeit mithin, die das Vergessen und Verdrängen von geschichtlichen Zerstörungserfahrungen und die dadurch hervorgerufenen Traumata durch die Rekonstruktion von
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Erinnerungsräumen und Lebensgeschichten, die verloren zu gehen drohen, poetisch aufhebt und so zu einem Teil des kulturellen Gedächtnisses macht.
S CHLUSS In Bezug auf die von mir exemplarisch aufgezeigte Entwicklung vom utopischen Chronotopos der DDR-Literatur zum memorialen Chronotopos der Post-DDRLiteratur möchte ich zum Schluss auf Joachim Nowotny verweisen. Nowotny ist ein DDR-Schriftsteller, dessen Werk genau den Übergang zwischen diesen beiden Chronotopoi markiert.6 1981 hat er mit dem Jugendbuch ABSCHIEDSDISCO und der Novelle LETZTER AUFTRITT DER KOMPARSEN zwei Bücher verfasst, in denen das Schicksal von Menschen porträtiert wird, deren Heimatdorf kurz davor steht, dem Braunkohleaufschluss geopfert zu werden. Dabei besteht sein poetologischer Kunstgriff darin, dass die menschlichen Schicksale und das Schicksal des dem Untergang geweihten Dorfes bzw. dasjenige der umzugestaltenden Natur wechselseitig metonymisch aufeinander verweisen. Am drastischsten geschieht dies in der Figur des sprachlosen Außenseiters Pongo aus LETZTER AUFTRITT DER KOMPARSEN, eines verzweifelten Jungen, dessen ohnmächtiges Aufbegehren im Selbstmord gipfelt. In seinem Erzähltext VERSUCH ÜBER DIE ROTBAUCHUNKE (1986) schließlich zeigt Nowotny den Schriftsteller N., der von einer wissenschaftlichen Tagung über den Zusammenhang von industrieller Entwicklung und Umweltbelastung berichtet. Angesichts des fortschrittsgläubigen Tenors wird N. zunehmend ungeduldig und ruft schließlich in den Saal: »vielleicht gehen wir in eine falsche Richtung! Doch sie wiesen auf den Horizont und bedeuteten ihm, daß der Schornstein nun mal rauchen müsse.« (Nowotny 2010: 50)
L ITERATUR Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturelen Gedächtnisses, München: C. H. Beck. — (2013): Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München: Carl Hanser. Bachtin, Michail M. (2008): Chronotopos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bader, Markus/Herrmann, Daniel (o. J.) (Hg.): halle-neustadt führer. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag.
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Vgl. zu Nowotnys Leben und Werk Straub (1989).
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Bräunig, Werner/Gosse, Peter/Große, Gerald/Koplowitz, Jan/Schmidt, Sigrid/Steinmann, Hans-Jürgen (1969): Städte machen Leute. Streifzüge durch eine neue Stadt, Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag. Bräunig, Werner/Müller, Manfred/Steinmann, Hans-Jürgen (1969): Halle-Neustadt, Halle (Saale): VEB F. A. Brockhaus. Detmers, Ines/Ostheimer, Michael (2016): Das temporale Imaginäre. Zum Chronotopos als Paradigma literaturästhetischer Eigenzeiten, Hannover: Wehrhahn. Gamper, Michael/Hühn, Helmut (2014): Was sind Ästhetische Eigenzeiten? Hannover: Wehrhahn. Hilbig, Wolfgang (2010): Die Weiber. Alte Abdeckerei. Die Kunde von den Bäumen. Werke, Bd. 3, hg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel, Frankfurt a.M.: Fischer. Kirchner, Annerose (2010): Spurlos verschwunden. Dörfer in Thüringen – Opfer des Uranabbaus, Berlin: Christoph Links. Nowotny, Joachim (1981): Letzter Auftritt der Komparsen, Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag. — (1981): Abschiedsdisco, Berlin: Der Kinderbuchverlag. — (2010): »Vorlesung 2: Joachim Nowotny, 10. Oktober 1989«, in: Christel Hartinger/Antonia Opitz/Roland Opitz (Hg.), ... diese Stunde gehört den Autoren. Leipziger Poetik-Vorlesungen im Herbst 89. Veranstaltet und geleitet von Walfried Hartinger, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, S. 35-54. Pasternack, Peer (2014): »Passendorf: Das überbaute Territorium«, in: Ders. (u.a.): 50 Jahre Streitfall Halle-Neustadt. Idee und Experiment. Lebensort und Provokation, Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag, S. 17-20. Seiler, Lutz (2009): Zeitwaage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (2010): im felderlatein. Gedichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Straub, Martin (1989): Joachim Nowotny. Leben und Werk, Berlin: Volk und Wissen.
Verschwundene dörfliche Lebenswelten im Kinderbuch Eine Annäherung im Deutschunterricht aus erinnerungskultureller Perspektive: Erwin Strittmatters Tinko, Alfred Wellms Kaule und Astrid Lindgrens Die Kinder aus Bullerbü B ARBARA S CHUBERT -F ELMY
1. D IE ERINNERUNGSKULTURELLE P ERSPEKTIVE IM D EUTSCHUNTERRICHT Als Markus Dröge im Jahr 2009 Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz wurde, besuchte er vornehmlich Dörfer; manche von ihnen waren schon fast verfallen. Das Interesse der überwiegend älteren Bewohner am Austausch mit dem neuen Bischof war unerwartet groß, es wurde auch von denen geteilt, die der Kirche fernstanden. Den Dorfbewohnern ging es vor allem um die Erhaltung ihres dörflichen Lebensraumes und dabei insbesondere auch der erinnerungswürdigen Kirchengebäude als Symbole dörflicher Identität. Das, was Gebäude leisten, leistet in unterschiedlicher medialer Präsenz auch Literatur (vgl. Assmann 2011: 181). In der Literatur der DDR nimmt das Dorf als Zentrum politischer Veränderungen einen großen Raum ein: Prozesse und Folgen von Enteignungen, die Förderung landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften und auch die zunehmende Technisierung werden literarisch gestaltet und reflektiert. In Büchern und auch in Filmen1 wird für die Lebensweise der Dorfbewohner vor dem Hintergrund entsprechender parteipolitischer Ziele geworben. Lehrpläne der DDR für den Deutschunterricht berücksichtigten Dorf-Literatur in allen Klassenstufen.
1
Vgl. bspw. Helmut Sakowskis WEGE ÜBERS LAND (1968) und DANIEL DRUSKAT (1976).
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Werke wie TINKO von Erwin Strittmatter und KAULE von Alfred Wellm spiegeln die politische Entwicklung des Dorfes von 1952 bis 1968 aus dem Blickwinkel von Kindern. Sie geben dabei Auskunft über pädagogisch erwünschte Konzeptionen im Umgang mit ländlichen Lebenswelten.2 Erwin Strittmatters TINKO erschien 1954 im Aufbau Verlag, zwei Jahre nach der II. Parteikonferenz der SED, in der es um Maßnahmen für den planmäßigen Aufbau des Sozialismus im Dorf ging. Der Jugendroman galt für die neunte Jahrgangsstufe als Pflichtlektüre. Alfred Wellms KAULE, 1962 im Kinderbuchverlag veröffentlicht, wurde für den Unterricht der 6. Klasse empfohlen. Diese einst parteipolitisch erwünschten Werke sind kaum noch bekannt; in den gegenwärtigen Lehrplänen werden sie nicht mehr erwähnt. Aber heutigen Schülerinnen und Schülern in Ost und West könnten diese Bücher die einstige Bedeutung des Dorfes, die Prozesse der Enteignung und Technisierung, auch die des Abschieds von einer alt vertrauten Lebensweise, verständlich machen. Die Öffnung für diese Literatur sollte thematisch verwandte Bücher aus dem westlichen Raum einbeziehen. Ein Vergleich der beiden Kinderbücher von Strittmatter und Wellm mit Astrid Lindgrens DIE KINDER AUS BULLERBÜ, in denen der ländliche Raum eine Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben bildet und Kindern große Spiel- und Entdeckerfreiheit gewährt, führt verschiedenartige Konzeptionen dörflicher und ländlicher Räume vor Augen. Lindgrens W IR KINDER AUS BULLERBÜ, MEHR VON UNS KINDERN AUS BULLERBÜ und IMMER LUSTIG IN BULLERBÜ liegen in deutschsprachiger Übersetzung seit 1954, 1955 bzw. 1956 vor und wurden über mehrere Generationen hinweg gelesen. Sie werfen die Frage auf, ob die hier gepriesene dörfliche Lebenswelt nur wehmütige Erinnerungen wachruft,
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Spätestens seit den 1980er Jahren verliert das Dorf als überschaubarer Raum des Fortschritts in der Literatur der DDR dann auch an Bedeutung. So vollzieht z.B. Benno Pludra in seinem 1980 veröffentlichten Jugendbuch INSEL DER SCHWÄNE eine sehr deutliche Hinwendung zum Individuum als Ideenträger, das aufgrund gesellschaftlicher Zwänge in der Stadt leben und die naturnahe ländliche Lebensweise aufgeben muss. Der technische Fortschritt zeigt sich in diesem Roman an der städtischen Architektur. Sehnsüchtig erinnert sich der Protagonist an die verlassene dörfliche Lebenswelt und macht sie zum Maßstab der Beurteilung. Auch Christa Wolfs SOMMERSTÜCK (1989) beschreibt das allmähliche Verschwinden der Dörfer: »Ein Wort wie ›Aussterben‹ lag in der Luft.« (Wolf 1989: 93) Die Alten bleiben zurück und die Jugendlichen wandern in die Städte ab. Städter kaufen und renovieren Bauernhäuser, in denen sie ihre Ferien verbringen und sich von den parteipolitischen Zwängen in der Stadt zu befreien versuchen. Das Dorf soll für sie zu einem idyllischen Rückzugsort werden, der ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Dies stellt sich jedoch als Träumerei heraus; schließlich finden sich auch im vermeintlich entfernten Dorf alle grundlegenden gesellschaftlichen Probleme – wie in der Stadt – wieder: »heutzutage findet man in jedem Dorf die Probleme der ganzen Welt.« (Ebd: 61)
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weil sie ja eigentlich verschwunden ist, oder ob sie Anstöße zur gegenwärtigen Veränderung gibt.
2. D AS D ORF UND
DER LÄNDLICHE
R AUM
IM
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2.1 Tinko (1954) Erwin Strittmatter (1912-1991) ist einer der bekanntesten Schriftsteller der DDRLiteratur. Sein umfangreiches Kinder- und Jugendbuch TINKO war nicht nur eine verordnete, sondern auch beliebte Lektüre, die in drastisch-humorvoller Weise die Prozesse der Kollektivierung nachzeichnet. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein etwa zehnjähriger Junge, der seine Mutter bei einem Bombenangriff auf eine Stadt verlor und in die Pflege seiner Großeltern gegeben wurde. Mit der gewählten Personenkonstellation verlässt der Autor den üblichen kindlichen Erfahrungs- und Lebensraum; Tinko entbehrt ein schützendes Elternhaus. Im Dorf Märzbach ist er zunächst ein Fremder. Seine Großmutter ist eine gütige, aber schwache Person. Sie beugt sich den Anordnungen ihres Mannes. Ihre uneingeschränkte Liebe, ihre Hilfsbereitschaft und Frömmigkeit belegen ihre christliche Überzeugung. Aber damit, das wird für den Rezipienten im Verlauf der Handlung klar, verändert sie die politischen Verhältnisse nicht. Die Großmutter gehört auf die Seite derer, die politisch bedeutungslos sind. Der strenge Großvater, der arbeitswütige Neubauer Kraske, bietet seinem Enkel selten familiäre Geborgenheit. Er lässt ihn zwar in seinem Bett schlafen und spielt mit ihm Karten, aber er beutet die Kraft des Kindes aus. Wenn es die Landarbeit erfordert, darf Tinko nicht in die Schule gehen. Er soll nicht lesen, sondern arbeiten, wie es sich für einen zukünftigen Landwirt ziemt. Zusammen mit seiner Großmutter und der Flüchtlingsfrau Clary verrichtet er, angetrieben vom Großvater, Feldarbeiten: »Er knallt zornig mit der Peitsche und schreit: ›Ihr lest hier Kartoffeln und keine Zeitung, ihr Verrecker, ihr! Nehmt, was euch die Erde gibt!‹« (Strittmatter 2004: 6)3 Seinem aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Vater, dem »Heimkehrer«, begegnet Tinko wie einem Fremden, obwohl der Vater sich nach einem Kontakt mit seinem Sohn sehnt. Die Differenzen zwischen Vater und Großvater in den politischen Zielen und der Arbeitsweise verunsichern Tinko. Der Großvater will seinen Besitz mehren. Dass er bei der Landverteilung endlich eigenes Land zugesprochen bekommt, gibt seinem Leben Sinn. Obwohl seine Kräfte erlahmen, lehnt er, im Unterschied zu seinem Sohn, die Kollektivierung und die damit verbundene technische
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Entsprechende Zitate beziehen sich auf die Textausgabe aus dem Jahr 2004. Längere Ausführungen dazu finden sich in Schubert-Felmy (2012 und 2014).
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Hilfe der fortschrittlichen Dorfgemeinschaft ab. Vergeblich geht sein Sohn Streitigkeiten aus dem Wege, vergeblich bemüht er sich, seine Kraft und seine Ideen, und damit auch die der Partei, einzubringen. Je starrköpfiger der alte Kraske gegen jegliche Veränderung angeht, desto mehr distanziert sich Tinko von ihm. Ihm fehlt die Geborgenheit der Familie. Auch bei der Suche nach gleichaltrigen Freunden wird er zunächst enttäuscht. Im Mittelpunkt des Romans steht ein Kind, dem übel mitgespielt wird, seelisch und körperlich; ein Kind, das wie ein Außenseiter am Rande der Gesellschaft lebt und Hilfe braucht. Es findet sie schließlich im Raum der Partei bei den überzeugten Sozialisten, die den Fortschritt vertreten, ihn in die Dorfgemeinschaft eingliedern und ihm den Weg in die Zukunft weisen. Die Erkenntnis seiner Konflikte und die Anteilnahme an seiner Hilflosigkeit öffnen den Blick für die Notwenigkeit politischer Veränderungen, die sein Lehrer, die jungen Pioniere, schließlich auch sein Vater, der Parteigenosse wird und Frau Clary heiratet, sowie ihre Tochter Stefanie vertreten. Das dörfliche Kollektiv wird zum Familienersatz. Strittmatter erzählt aus der Ich-Perspektive Tinkos. Sein Standort ist überwiegend innerhalb des Geschehens. Der jugendliche Leser soll das, was erzählt wird, auf intensive Weise nachempfinden. Dass ein erzählendes Kind als Reflektorfigur agiert, verbürgt die Glaubwürdigkeit des Erzählten und steigert die Empathie des Lesers. Er lebt und leidet mit Tinko, sieht mit seinen Augen die dörfliche Umgebung und nimmt teil an seinem Erkenntnisprozess. Allerdings wird die ›Logik‹ der Ich-Perspektive nicht durchgehalten. Das, was die Erzählerfigur ausbreitet, übersteigt wiederholt den Horizont eines Zehnjährigen. Allein die Schilderung historischer Zusammenhänge setzt sowohl umfassende Kenntnisse als auch Lebenserfahrungen im Umgang mit Menschen voraus. Auch die Gedanken und Albträume des sterbenden Großvaters fügen sich nicht in die gewählte Perspektive. Darauf wird schon in der zeitgenössischen Sekundärliteratur aufmerksam gemacht (vgl. Schubert-Felmy 2012: 27). Für einen kritischen Abstand zum Geschehen ist Tinko zu jung. Die Totalität des Dorflebens kann er nicht erfassen. Aus heutiger Sicht heißt das auch: Er kann nicht ermessen, wie schwer es für den Großvater und andere Neubauern sein musste, die ersehnte und gewonnene Eigenständigkeit zugunsten kollektiver Bestrebungen einzuschränken. Im Verlauf der Handlung wird der starrsinnige Großvater, dessen Bosheit sich in der Auseinandersetzung mit seiner Umgebung steigert, zum Prototyp des Bösen. Er kann mit dem Fortschritt nicht mithalten, unter anderem auch, weil er die von der Partei organisierte Bauernhilfe, die Maschinen zur Verfügung stellt, ablehnt und sich der Verantwortung der Gemeinschaft gegenüber entzieht. Kraske vertraut auf unzuverlässige Gutsbesitzer, reiche Altbauern, die mit üblen Machenschaften gegen die Partei arbeiten, ihn zunächst aufhetzen und dann im Stich lassen. Im Sinne der Parteidoktrin wird in TINKO auf die Verpflichtungen hingewiesen, die die Dörfler gegenüber den hungernden Städtern haben. Sie unterstützen sie mit unterschiedlichen Abgaben (z.B. durch das Getreidesoll, das Kartoffelsoll, die
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Eierabgabe). In die Sammelaktionen werden die jungen Pioniere integriert; singend gehen sie von Hof zu Hof. Tinko schließt sich den Pionieren an und wird von seinem Großvater, der die Abgaben ablehnt, als Verräter bloßgestellt. Kraske schlägt seinen eigenen Enkel zornentbrannt zusammen. Sein Vater nimmt ihn zu sich, sein Lehrer setzt sich ein, die jungen Pioniere halten zu ihm. Tinko findet ein neues Zuhause. Er hat die Seiten gewechselt, obwohl ihn die hilflose Starrköpfigkeit des Großvaters belastet und vor allem das Los der Großmutter, die ihn liebevoll versorgte, quält. Das Dorfkollektiv spendet die Geborgenheit, nach der er sich sehnt, während sein Großvater erfolglos um sein Ansehen kämpft, wie irrsinnig mit seinen Pferden, seiner kranken Frau und sich selbst umgeht und einsam stirbt. Sein qualvolles Ende erscheint wie eine gerechte Strafe für seine politische Verblendung. Im krassen Gegensatz dazu beschreibt Strittmatter den Fortschritt der Dorfbewohner. Sie unterstützen die sozial Schwachen in ihren eigenen Reihen und fördern den Einsatz der jungen Pioniere. Hoffnungsvoll sehen sie einer neuen Zeit entgegen: »Mit Gedonner und Geknatter wie ein schweres Gewitter braust die neue Zeit in die Märzbacher Flur hinein. Das reife Getreide zischt. Die kleinen Bauern haben freudige Augen wie sonst nur an hohen Feiertagen.« (Strittmatter 2004: 366) Die Polarität von Gut und Böse und die Ziele, die der Erzählhaltung zugrunde liegen, muten dem Leser viel zu. Seine Skepsis wird allerdings eingeschränkt. Obwohl die politische Botschaft des Buches eindeutig formuliert und durch Beispiele augenfällig wird, rückt sie im Verlauf der Handlung oft in den Hintergrund. Lange Passagen des Buches gelten dem Spiel der Kinder, ihren belustigenden Streitereien und der mit Mitteln der Komik gewürzten Nachahmung derer, die sich der Produktionsgenossenschaft verweigern. Strittmatter lässt die Spielenden wie die diskutierenden Erwachsenen sprachlich im erfahrungshaften und antagonistischen Modus lebensnah zu Wort kommen. Die Kinder – sowohl die Einheimischen als auch die sogenannten Aussiedler, gemeint sind die Flüchtlinge –, verarbeiten in diesem Spiel das, was sie bei Erwachsenen beobachtet und gehört haben. Lesende werden bei der Rollenverteilung auf humorvolle Weise politisch informiert: »Wir spielen Eierschieber. Fritz verteilt die Rollen. ›Der Schieber, der bin ich‹, sagt er. Der Tschechensepp soll sein Schofför sein. Stefanie und ich solln die Bauern spielen. […] ›Ich bin die Polizei‹, sagt Murmelauge. ›O ja!‹ ›Du bist Schandarm‹, […] ›Schandarm, Schandarm – du redest wie ein Großvater. Ein Polizist, ein Volkspolizist bin ich.‹ […] ›Ein Schandarm hat mit sich reden lassen, sagt unser Vater, aber ein Volkspolizist sieht von hinten besser aus als von vorn.‹ ›Ich lass nicht mit mir reden, wenn ich einen Schieber packe. Ich bin ein Volkspolizist.‹« (Ebd.: 12f.)
Wie in allen Romanen und Erzählungen Erwin Strittmatters nehmen die Naturschilderungen auch in TINKO großen Raum ein. Hinweise auf die Jahreszeiten, das Wetter und das entsprechende Verhalten der Tiere strukturieren die Handlung. Sie schaffen
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Atmosphäre und bilden den Hintergrund für die anstehenden Landarbeiten. Manchen Äußerungen haftet gemäß der Erzählerperspektive etwas gewollt Kindliches an. Tinko erzählt, was er hört und sieht. Er bedient sich dabei nicht nur alltäglicher Begriffe, sondern fasst seine Beobachtungen in seine eigenen, manchmal auch poetischen Worte.4 Klänge und visuelle Eindrücke wirken auf die Figuren ein. Die Handelnden werden als Teil der Natur, eines größeren Zusammenhanges, der bereichert und fordert, konzipiert. Jahreszeiten und Wetter werden personifiziert. Sie »nähern« sich, als kämen sie zu Besuch. Man kann ihre Boten sehen und hören; die Dorfbewohner können ihnen nicht ausweichen, sondern lediglich auf sie reagieren, indem sie die Landarbeiten ausführen oder indem sie sich vor gefährlichen Übergriffen schützen. Die Naturschilderungen erzeugen trotz der manchmal holprigen oder gefühligen Ausdrucksweise nicht nur Atmosphäre, sondern sind Teil der Handlung und bezeugen Strittmatters Weltsicht, sein inniges Verhältnis zur Natur. Strittmatter stellt in seinem Jugendbuch auf unterhaltsame Weise die Gegebenheiten und Veränderungen im ländlichen Raum dar. Den Lesern werden Kenntnisse über Pflanzen, Tiere und landwirtschaftliche Arbeit vermittelt. So wird in kindlicher Weise darüber informiert, wie Kartoffeln gesteckt werden und welche Methoden dabei zu bevorzugen sind. Die Kartoffeln sind in Tinkos Augen Lebewesen. Sie »bauen sich unter der Erde ein Nest. Sie bekommen Junge. […] [Sie] freuen sich, […] dass sie unter der Erde sind.« (Ebd.: 83) Wer als Kind TINKO las – darauf weisen viele Leser-Rezensionen hin –, der erinnert sich gerne an dieses Buch, oft allerdings ohne jeglichen Gedanken an den parteipolitischen Hintergrund. Er wird von der aus kindlicher Perspektive wahrgenommenen Dorfwelt überdeckt. Eine angemessene Gesamtsicht auf das Dorf verlangt allerdings auch eine Fokussierung der damaligen Parteiprogramme – andernfalls würden in der imaginären dörflichen Topografie Leerstellen entstehen, die wiederum zu Leerstellen im kulturellen Gedächtnis werden könnten. 2.2 Kaule (1962) Im Unterschied zu Strittmatter war Alfred Wellm (1927-2001) zeitgenössischen westlichen Lesern durch sein Aufsehen erregendes Buch PAUSE FÜR WANZKA ODER DIE REISE NACH DESCANSAR (1968) bekannt. In dieser Schulgeschichte setzt sich Wellm kritisch mit den Erziehungszielen sozialistischer Pädagogik auseinander.
4
Zum Beispiel: »Der Frost ist eingefallen. Ein scharfer Nachtwind hat ihn mitgebracht. […] Die graue Frosthaut hat sich auf alle Dinge gelegt. […] Das Blut der Erde rinnt zum Herzen zurück. Man hört das Herz der Erde nicht mehr schlagen, aber es ist noch da.« (Strittmatter 2004: 246)
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Seinem Kinderbuch KAULE fehlt diese Kritik. In Anlehnung an TINKO – Wellm war mit Strittmatter befreundet – folgt das Kinderbuch KAULE der typischen sozialistischen Grundkonstellation, nach der ein Außenseiter sich in die sozialistische Gemeinschaft integriert. Allerdings sind die Bedingungen, unter denen der vaterlos aufgewachsene Kaule seinen Standort findet, noch viel belastender. Wie Tinko fehlt Kaule der Schutz der Familie. Seine alleinerziehende Mutter übergibt ihn zwei Jahre der Fürsorge der altjüngferlichen Tante Sophie und dem guten alten, etwas schwerfälligen Bekannten »Vater« Pietsch, der den Bullenstall betreut. Der Mutter wurde zu einer Fortbildung in der Landwirtschaftsschule geraten, um neue Erkenntnisse für die Tierzucht zu erlangen. Kaule muss selbst herausfinden, welchen Weg er gehen soll, wer ihm hilft und wer ihn tröstet. Anders als Strittmatter billigt Wellm seinem Protagonisten sehr viel Eigeninitiative zu. Der elfjährige Kaule, sein eigentlicher Name ist Norbert Penschelein, ist ein begabter kreativer Schlingel, der Orientierung sucht. Er lernt, über sich selbst nachzudenken und dem Wohl des Dorfes zu dienen. Der Schwerpunkt liegt auf der Technisierung der landwirtschaftlichen Arbeit. Kaule verhält sich wie ein Forscher. Er beobachtet Arbeitsprozesse und Streitigkeiten der Dörfler, ersinnt hilfreiche Veränderungen und setzt sie situationsangemessen in die Praxis um. Auf diese Weise erlangt er Anerkennung. Auch der aus der Stadt zugezogene Industriearbeiter Hollnagel, »Fabrikmensch« genannt, soll nach dem Willen der Partei die Entwicklung des Dorfes Hinrichsfelde, in dessen Vorwerk Kaule wohnt, fördern und mit neuen Arbeitsmethoden dem Fortschritt dienen. Hollnagel ist insofern kein fanatischer Anhänger der Partei, als er seine Forderungen an seinem Gegenüber ausrichtet. Er nimmt Rücksicht auf dessen Alter und Fähigkeiten und arbeitet selbst vorbildlich. Ebenso – und dabei wiederum Strittmatter folgend – verhält sich der Lehrer Knittel. Um jeden einzelnen Schüler bemüht, erteilt Knittel Ratschläge, die dessen Lebenssituation und Fähigkeiten entsprechen. Wellm vermeidet die Darstellung eines krassen Gegensatzes zwischen dem vorbildlichen Kollektiv einerseits und dem orientierungslosen Einzelnen andererseits. Auch diejenigen, die das Kollektiv vorbehaltlos bejahen und ihm bereits angehören, machen Fehler. Pietsch zum Beispiel – wie Kraske Angehöriger der Generation der Großväter – tauscht seinen eigenen schwachen Bullen heimlich gegen einen kräftigen aus dem Bullenstall ein. Im Unterschied zu TINKO treffen Gegensätze nicht hart aufeinander. Die Gegner, die Abweichler und die Einsichtigen lernen gemeinsam zu handeln und folgen, wenn auch zögernd, dem Ratschlag des als fortschrittlich gekennzeichneten Städters Hollnagel. Ausdruck der harmonischen Gesinnung der Dörfler ist ein großes Dorffest, an dessen Planung und Durchführung sich alle beteiligen. Kaule ist ein Störenfried, dem jedoch auch eine Sonderstellung eingeräumt wird. Es würde »wohl halb soviel passieren«, wenn sie ihn »nicht im Vorwerk hätten«, stöhnen die Vorwerkbewohner (Wellm 1984: 65). Nach Ansicht Tante Sophies
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gehört dieses widerständige Kind in eine Erziehungsanstalt. Wellm wählt einen auktorialen Erzähler. Mit der Innensicht, auch mit Hilfe von Träumen, werden Beweggründe wie Unternehmungslust, praktische Umsetzung der geplanten Erfindung und das Bedürfnis des Protagonisten nach Anerkennung verdeutlicht. Sie ermöglichen eine Überprüfung der Handlungen: »Er träumt von einer Ziegenherde, die er hüten muss. Wohl mehr als hundert Ziegen sind es […], alle laufen sie durcheinander. ›Hee, ihr! – Ich werd euch helfen! – Hee, verflixte Satansbrut!‹ […] Auf einmal bemerkt er das Mädchen. Karola kommt quer durch die Ginsterkoppel gegangen. Sie lächelt freundlich und zwinkert ihm zu.« (Ebd.: 31f.)
Einen großen Teil seiner freien Zeit verbringt Kaule in den Bullerbergen. Hier trifft er sich mit Karola, der Tochter Hollnagels. In ihren Gesprächen tauschen sie ihr angeeignetes Wissen sowie Erfahrungen über die Schwächen und Stärken der Menschen ihrer Umgebung aus. In der Figurenrede ahmt Wellm die eigenwillige Sprechweise der Dorfbewohner nach. Das verleiht dem Text Authentizität und Leichtigkeit. Als Kaule zum Beispiel Frösche in den Wasser spendenden Brunnen wirft, um damit auf die Notwendigkeit einer Wasserleitung aufmerksam zu machen, erreicht er endlich, dass Vater Pietsch sich für die moderne Technik öffnet: »›Wie sie bloß reingekommen sind, zum Deubel auch?‹ ›Eine Frage! Sieh dir die Ritzen an in den Betonröhren. Ho, mit Leichtigkeit kommen sie durch.‹ Vater Pietsch geht mehrmals um die Pumpe herum, immer wieder einen Blick in das Brunnenwasser werfend. Der Ekel würgt ihm im Hals. Kaule hat die Schaufel aus dem Stall geholt. ›Laß nur, Vater Pietsch. Ich fische sie heraus. Solange sie nicht die Eier abgelegt haben, hat es gar nichts zu bedeuten.‹ ›Für die Bullen‹, sagt Vater Pietsch, ›cho, für die Bullen, da mag es nichts weiter auf sich haben. Es ist nur unsereins… Man kann nicht Froschjauche trinken, bittesehr.‹ ›So, meinst du, Vater Pietsch? Ja, meinst du?‹« (Ebd.: 154f.)
Die Schönheit und die Ruhe spendende Kraft der Natur in den Tages- und Jahreszeiten wird sprachlich sublim gepriesen, nicht wie bei Strittmatter aus der Perspektive der erlebenden Person, die um die angemessene Ausdrucksweise ringt, sondern aus der des auktorialen Erzählers. Kaule ist eingebettet in die Natur: »Die Abenddämmerung breitet sich über die Vorwerksdächer. Die schmalen Weidenblätter wispern leise. Kaule sitzt auf dem schrägen Stamm der Kletterweide und zupft das welke Laub aus seiner Jacke. Ameisen krabbeln aus den Ärmeln.« (Ebd.: 54)
Stärker als bei Strittmatter ist die Wirkung der Natur auf seelische Vorgänge bezogen und zugleich auch auf den Aspekt des Nutzens ausgerichtet:
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»Kaule hat es sich häuslich gemacht an der Kletterweide. Er hat sich eine Birkenbank gezimmert. […] Auch die Quelle gluckst nicht mehr sinnlos unter den Klettenblättern dahin. Kaule hat einen Teich vor der Quelle ausgeschaufelt. […] Am Ende des Teiches befindet sich der Wasserfall. Das überschüssige Wasser gluckert das Stauwerk hinab. Kaule kann das Rinnsal in einen reißenden Gebirgsfluss verwandeln. […] Kaule sitzt auf der Birkenbank und träumt mit offenen Augen.« (Ebd.: 114f.)
Unter der Weide gewinnt Kaule Abstand von alltäglichen Lasten und macht sich Gedanken darüber, wie man die Quelle in den Bergen für die Wasserversorgung des Dorfes nutzen könnte. Der erhöhte Standort in der Natur hat strukturbildende Funktion. Von diesem Ort gehen die Impulse aus, die letztlich das Dorf verändern. Das naturverbundene Kind, das sich der Schönheit der Landschaft hingibt, träumt von der Ausweitung der Zivilisation, vom Sieg der Technik über die Natur. Seine Träume werden schließlich Realität. Er ist auf dem Weg in die Arbeitswelt der Erwachsenen. In Strittmatters TINKO geht es um Streitigkeiten von Kindern und Erwachsenen, aber es herrscht Eindeutigkeit darüber, was als gut und böse gilt. Bei KAULE werden andere Akzente gesetzt. Das elfjährige, sich nach Anerkennung sehnende Kind missachtet, ohne sich immer der Tragweite seines Verhalten bewusst zu sein, wiederholt gesellschaftliche Moralvorstellungen, aber sein Nutzen für die Gesellschaft ist so eklatant, dass sich moralische Belehrungen zu erübrigen scheinen. Wellm macht Kaule mit originellen Beschreibungen von »kleinen« Schandtaten liebenswert. So will Kaule zum Beispiel dem der Tradition verpflichteten Vater Pietsch beistehen, bemerkt aber, dass der Städter Hollnagel ihm überlegen ist und daher auch dessen Arbeitsweise Nachahmung verdient. Den Streit zwischen Hollnagel und Pietsch um die moderne Mörtelschaufel versucht Kaule zu schlichten, indem er die Schaufel stiehlt. Er benutzt sie zum Stau der Weidenquelle in den Bullerbergen. Das wiederum bringt ihn auf die Idee, wie man das Vorwerk mit Wasser versorgen könnte. Wellm hebt dabei den Erfolg hervor, den ein kluger Junge erzielt; und übergeht in diesem Zusammenhang geltende Normen. Er stellt das intelligente Kind – ähnlich wie in dem sechs Jahre später veröffentlichten Jugendbuch PAUSE FÜR WANZKA – in den Vordergrund und lenkt die Aufmerksamkeit auf die individuelle Leistung. Erwin Strittmatters TINKO verdeutlicht, wie sehr ein Dorfkind dieser Zeit der Hilfe und dem Druck des Kollektivs ausgesetzt war. Ohne sie erläge der wissbegierige Junge der Macht der Gestrigen. Auch in Alfred Wellms KAULE ist die Dorfgemeinschaft ohne das Kollektiv nicht zu denken, doch ist sie auf die herausragenden Fähigkeiten des Einzelnen angewiesen und billigt ihm erstaunliche Freiheit zu. In den von Walter Ulbricht 1958 formulierten zehn Geboten, die als Maßstab sozialistischer Gesinnung galten, heißt es im fünften Gebot: »Du sollst beim Aufbau des Sozialismus im Geiste der gegenseitigen Hilfe und der kameradschaftlichen Zusammenarbeit handeln, das Kollektiv achten und seine Kritik beherzigen.« Von gegenseitiger Hilfe kann bei Kaules mühevollem Einsatz zunächst keine Rede sein. Im Gegenteil, er wird
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so lange angefeindet und ausgestoßen, bis mit der Unterstützung Hollnagels der Nutzen der Entdeckungen Kaules klar erkennbar wird. Wellm billigt seinem Protagonisten einen Standort zu, der den strengen Geboten der SED nicht entspricht. Schließlich ist es der durch den technischen Fortschritt erzielte Erfolg, der einen Sinneswandel bei den zunächst skeptischen Dorfbewohnern hervorruft und deren Sympathien für den erfinderischen Jungen erzeugt. 2.3 Die Kinder aus Bullerbü (1954/55/56) Viele Kinder- und Jugendbücher der DDR sind von einem zielgerichteten und politisch orientierten Erziehungsauftrag geprägt. Wie verhält es sich mit Kinder- und Jugendbüchern, die häufig in der Bundesrepublik gelesen wurden? Welche Vorstellungen und Lebensweisen wollen sie den Lesern vermitteln? Astrid Lindgrens weit verbreitete und auch heute noch breit rezipierten Bücher, Filme und Ausstellungen geben hierauf eine Antwort.5 Während sich in der PIPPI LANGSTRUMPF-Trilogie (dt. 1949-1951) ein aufbegehrendes Kind gegen herkömmliche kleinstädtische Erziehungsmuster wehrt, bildet in den BULLERBÜ-Büchern das Landleben den Hintergrund der Handlungen, die die Freiheit des Kindes auf dem Dorf und die Geborgenheit in der Familie spiegeln. Die in der DDR weitgehend unbekannten Bücher entstanden in der Zeit von 1946 bis 1967, zum Teil also zur selben Zeit wie TINKO und KAULE. In dem für Erwachsene geschriebenen Buch DAS ENTSCHWUNDENE LAND erzählt Lindgren von ihrer Kindheit. Sie erinnert an die Ordnungen und die Fürsorge ihres Elternhauses, an die Hausgemeinschaft mit Mägden und Knechten, die in ihrem Elternhaus unter harten Bedingungen arbeiten mussten. Astrid und ihre Geschwister erleben, wie arme Menschen, obdachlose Bettler Hilfe suchten. Von dieser Kindheit ist in den BULLERBÜ-Büchern nicht die Rede. Sie ist verschwunden, aber sie bleibt für die Autorin maßgeblich. Ihr Leben lang sehnt sie sich nach der Natur, nach der Fürsorge der Eltern und mancher Dorfbewohner, nach der Freiheit, die sie als Kind erlebte. Bullerbü – eine Art schwedisches Vorwerk – entspricht dem Dorf Sevedstorp, in dem Astrid Lindgrens Vater gelebt hatte, und besteht aus einer Ansiedlung von drei Häusern, einem Nordhof, einem Mittelhof und einem Südhof mit einem kleinen
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Vom 12.04. bis zum 30.06.2016 lief in der Schwedischen Botschaft in Berlin eine Ausstellung unter dem Motto FRECH, WILD UND WUNDERBAR. Sie wurde folgendermaßen kommentiert: »Astrid Lindgren gab mit Pippi Langstrumpf einst den Startschuss für eine neue, moderne Sicht auf Kinder, ihre Bedürfnisse. « Der Nachbau bekannter Wohnhäuser aus Astrid Lingrens Büchern erfolgte in Südschweden im Park von Vimmerby. Diese Ansiedlung ist für schwedische Kinder und solche aus dem Ausland eine große Attraktion.
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Waldhaus in der Nähe. Das Dorf liegt inmitten von Feldern und Wäldern bei einem See. Die Ansiedlung ist also räumlich überschaubar. Einkäufe werden im entfernten Storbü getätigt, wo sich auch eine einklassige Schule befindet, die die Kinder aus Bullerbü aufsuchen und in der sie von einer engagierten Lehrerin unterrichtet werden. Wie die Kinder in Bullerbü leben, was sie erleben, breitet die zu Beginn des ersten Bandes siebenjährige, am Ende des dritten Bandes neunjährige Lisa aus. Sie berichtet unkommentiert von dem, was sie erlebt, denkt und fühlt. Lisa erzählt das, »was sie mit Kinderaugen gesehen oder mit Kinderohren aufgenommen hat« (Dankert 2013: 122). Sie beschreibt das alltägliche Leben in Bullerbü, die Feste, die Ferien und die sich wandelnde Natur, indem sie dem Rhythmus des Jahres folgt. Die sechs Kinder in Bullerbü helfen zwar bei der Landarbeit, doch müssen sie dazu nicht angetrieben werden, sondern erfüllen ihre Arbeit eher spielerisch, indem sie sich Geschichten erzählen oder in Geheimsprachen reden. Auch wenn es ihnen langweilig wird, halten sie durch, denn sie wissen, dass die Rüben geerntet werden müssen und dass sie mit jeder geernteten Reihe etwas Geld verdienen. Beim Ernten gilt ihr Trachten dem zu erzielenden Gewinn. Sie verkaufen auch Kirschen; dafür nehmen sie die Strapazen am staubigen Straßenrand auf sich, setzen sich den Abgasen aus und begeben sich in Gefahr. Mehrfach beginnen Kapitel oder neue Erzählabschnitte mit der Angabe der Jahreszeit. Auf sie folgen die entsprechenden Tätigkeiten und Spiele: »Oh, es ist eine fröhliche Zeit, wenn der Sommer kommt! Die Tage sind so lang, dass man gar nicht aufhören möchte zu spielen.« (Lindgren 1970: 24) »Im Herbst und Winter ist es dunkel, wenn wir morgens von zu Hause fortgehen, und dunkel, wenn wir nachmittags zurückgehen. Es wäre schrecklich langweilig, den ganzen Weg allein im Dunkeln zu gehen, aber da wir sechs sind, ist es nur lustig.« (Ebd.: 81f.)
Die Kinder arbeiten auf den Feldern und im Garten, doch wird damit keine vordergründige pädagogisch-erzieherische und Wissen vermittelnde Funktion verbunden. Die Kinder bedenken nicht, wie die Pflanzen wachsen oder wie man Äcker bestellen muss, um gute Erträge zu erzielen. Sie fügen sich mit ihren Tätigkeiten in den Prozess des Wachsens und Erntens ein, aber sie fragen nicht nach und bleiben ihrer eigenen kindlichen Welt verhaftet. Wie auch in TINKO bilden die Prozesse der Natur die Voraussetzung des Handelns, werden bei Lindgren jedoch nicht eigens reflektiert. Vielmehr stehen die kindlichen Spiele und Erlebnisse im Vordergrund; von ihnen und nicht von naturkundlichen Zusammenhängen ist in allen Jahreszeiten die Rede. Dennoch gewinnen die Kinder in Bullerbü durch ihren Umgang mit der sie umgebenden Natur neue Einsichten. Lisa erzählt von einer Wanderung durch die felsige Landschaft hinter dem Nordhofsee. Ihr ältester Bruder Lasse kennt die felsige Gegend und ermahnt zur Vorsicht bei Gefahren. Lisa bewundert ihren zwei Jahre
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älteren Bruder. Sie hört auf ihn und begleitet seine Ausführungen in ihren Gedanken, auch wenn sie nicht alles versteht, was er sich selbst als Erklärung ausdenkt: »Lasse sagt, es muss ein Riese gewesen sein, der all die großen Felsblöcke und Steinbrocken im Felsengebirge umhergeschleudert hat. Vor langer Zeit muss das gewesen sein, damals, als es noch keine Menschen gab. Und kein Bullerbü. Ich bin froh, dass ich damals nicht lebte. […] Welch ein Glück, dass jemand den Einfall hatte, Bullerbü zu bauen. Wo hätten wir sonst wohnen sollen? Lasse sagt, dann hätten wir in der Höhle im Felsengebirge wohnen können. Es gibt dort eine wundervolle Höhle unter einigen riesengroßen Felsblöcken.« (Ebd.: 228)
Die Kinder bilden sich selbst weiter, indem sie spielend und wandernd eigene Erfahrungen sammeln und indem sie das, was sie gehört haben, austauschen und verknüpfen. Sie verlassen das Haus ihrer Eltern, beobachten ihre Umgebung und vertrauen der Ordnung ihres eigenen Lebens und der Natur. Sie lernen sich zu behaupten, ohne die ständigen Ratschläge oder Warnungen der Erwachsenen. Das naturnahe Leben auf dem Lande stellt nach Auffassung Lindgrens eine Herausforderung dar, die von Eltern und Kindern ohne Erklärungen im gegenseitigen Vertrauen genutzt wird: »Die ›Bullerbü‹-Welt kennt keinen Bruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, keinen Verrat. Sie fußt auf dem unverbrüchlichen Generationsvertrag von Elternliebe und gutem Willen der Kinder, der auch in ernsten Situationen gilt.« (Dankert 2013: 235)
In DAS ENTSCHWUNDENE LAND schreibt sie: »Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist, Geborgenheit und Freiheit.« (Lindgren 2006: 44f.) Für die Kinderbücher Lindgrens ist diese Erfahrung eine zentrale Voraussetzung. Sie wird zum Programm; nur durch sie können Kinder »ihre Selbständigkeit erproben und ihre Unabhängigkeit vorantreiben […]. Kinder spielen unbeaufsichtigt von Erwachsenen, sie hecken Streiche aus und erkunden gemeinsam ihren unmittelbaren Lebensraum. Die Gemeinschaft mit anderen Kindern spielt oft eine größere Rolle im kindlichen Alltag als die Eltern.« (Josting 1997: 14)
In dem umfassenden Gesamtwerk der Autorin ist das Kind stets Hauptfigur und Handlungsträger, ob als krankes und einsames, selbstbewusstes und aufbegehrendes oder als mit seinen Fantasien und dem Tod konfrontiertes Kind. Lindgren ergreift seine Partei. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Kindheitserfahrungen erzählt sie ihren Kindern und Enkeln und darüber hinaus allen, die ihre Bücher lesen, die Verfilmungen sehen und Hörbücher hören, fantastische Geschichten, um ihre Weltsicht zu erweitern (vgl. Andersen 2015: 333ff.) und ein Umdenken einzuleiten. In den Erzählungen geht die Initiative immer vom Kind aus und nicht von einem politischen Programm, das verpflichtet. Dem Kind soll die Freiheit gelassen werden, die
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umgebende Landschaft selbst zu erfahren. Lindgrens Kinder- und Jugendbücher knüpfen an Erfahrungen der Autorin an, die sie ihr Leben lang begleiteten und den Hintergrund für ihren politischen Einsatz als Erwachsene bildeten. Sie richtet die Aufmerksamkeit auf den überschaubaren dörflich-ländlichen Raum als eine Art Energetikum für sich selbst, indem sie das entschwundene Land ihrer Kindheit für Kinder zur fiktiven Gegenwart macht. Mit ihren Büchern entspricht sie der Forderung, die Ellen Key (1849-1926) in ihrem Werk DAS JAHRHUNDERT DES KINDES (1902) mit Nachdruck erhob: die Erfüllung kindlicher Bedürfnisse. In dem wesentlich später erschienenen Jugendbuch RONJA RÄUBERTOCHTER (1981; dt. 1982) geht Lindgren noch einen Schritt weiter. Sie entwirft einen märchenhaften Raum, in dem zwei Räuberbanden und die Kinder Ronja und Birk ein Leben in fast wegloser, felsiger Waldgegend mit Höhlen und Flüssen führen. Sie müssen sich gegen Waldgeister wehren und zueinander bekennen. Dieses Leben stählt den Charakter, sensibilisiert für den Ablauf der Jahreszeiten und für das Los der Tiere. Es fordert heraus, Ängste zu überwinden und sich als Gegenüber und Teil der Natur zu verstehen, dabei auf ihre »Sprache« zu hören und auf sie zu reagieren. Lindgren erklärt, was sie beim Schreiben bewegte: »Als ich ›Ronja‹ schrieb, hatte ich Sehnsucht nach der Wildnis […]. Hier in der Stadt blieb mir nichts anderes übrig, als von der Wildnis, von einem Wald mit schönen Bäumen zu träumen.« (von Schönborn 1995: 37) Der Traum gilt einem entschwundenen Land, das in der poetischen Fiktion des Räuberwaldes gegenwärtig wird. Ronja und Birk führen ähnlich wie die Frauen in den Höhlen am Rande Trojas eine Art Ur-Landleben am Rande der Zivilisation. Sie behaupten sich und zugleich liefern sie sich aus. Das zeigt Ronjas Jubelschrei als Antwort auf das überwältigende Wirken des Frühlings. Es ist ein Schrei, der in seiner Urtümlichkeit irreal anmutet und den Leser ergreift: »Und hier war sie nun und hatte sich kopfüber in den Frühling gestürzt. So herrlich war er um sie herum, ja, auch sie selber war ganz erfüllt von seiner Herrlichkeit, und sie schrie wie ein Vogel, laut und gellend, bis sie es Birk erklären musste. ›Ich muss einen Frühlingsschrei schreien, sonst zerspringe ich. Hör doch! Du hörst doch wohl den Frühling.‹ Eine Weile standen sie schweigend da und lauschten dem Zwitschern und Rauschen, dem Brausen und Singen und Plätschern in ihrem Wald. Alle Bäume und alle Wasser und alle grünen Büsche waren voller Leben, von überall her erscholl das starke, wilde Lied des Frühlings. ›Hier stehe ich und spüre, wie der Winter aus mir herausrinnt‹, sagte Ronja.« (Lindgren 2013: 106, vgl. auch 147)
Auch Alfred Wellm geht es um eine intensive Naturbegegnung. Er versetzt Kaule in die Bullerberge, ein Umfeld, das der auktoriale Erzähler in poetischer Sprache beschreibt. Doch bleibt es bei ihm nicht dabei; die Naturerfahrung erscheint nur als eine Vorstufe. Erst der technische Nutzen verheißt die Verbesserung des alltäglichen Lebens und die Anerkennung für den, der sie zu erreichen hilft. Der begabte, kreative Einzelne sucht mit Erfolg nach eigenwilligen Lösungen. Letztlich passt er sich an.
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Eine Geschichte der Anpassung wird auch von Strittmatter im Roman TINKO erzählt. Sie findet jedoch vor allem auf der sozialen Ebene statt; es geht darum, wie Tinko sich in die Dorfgesellschaft eingliedert und wie er ihren Forderungen nachkommt, obwohl sie keineswegs seinen eigenen kindlichen Bedürfnissen entsprechen. Er gibt seine bisherige brüchige Geborgenheit bei den Großeltern zugunsten des Kollektivs, dem auch sein Vater angehört, auf.
3. D IE ERINNERUNGSKULTURELLE P ERSPEKTIVE IM V ERGLEICH Beim Vergleich der Texte von Strittmatter, Wellm und Lindgren ergibt sich die Gelegenheit, über Literatur als Erfahrungsspeicher nachzudenken und zu ergründen, was diese Literatur für das kulturelle Gedächtnis leistet. Der Unterschied zwischen einer zielgerichteten Erziehung für den Aufbau des Sozialismus und einer Erziehung, die Kindern große Freiheit gewährt, weil sie darauf vertraut, dass sie zu einer vernünftigen Lebensweise führt, wird augenfällig. In den besprochenen Kinderbüchern treten diese Erziehungskonzepte im ländlich-dörflichen Raum in besonderer Weise hervor. Das in den DDR-Büchern beschriebene Denken und Handeln prägte die Vorstellungen der Leser; es wirkt, so lässt eine Studie vermuten, in seinem weniger auf das Individuum als auf das Kollektiv ausgerichteten Denken und Handeln ansatzweise bis in die Gegenwart hinein. Zu diesem Ergebnis gelangt, wer mit noch zu DDR-Zeiten ausgebildeten Lehrern Fachgespräche führt oder deren Unterricht beobachtet (vgl. Fabel-Lamla 2006: 193ff.). Astrid Lindgrens Welt ist durch häusliche Lektüre und andere Medien über mehrere Generationen bis heute bekannt und beliebt. Die verschwundene Dorfwelt der Verfasserin, von der sie ihr Leben lang träumt, die sie in ihren Erzählungen andeutet, bezeugt ihre persönliche und politische Freiheit. Im Deutschunterricht kann mit Hilfe der hier vorgestellten DDR-Kinderbücher, mit Buchausschnitten oder mit Filmszenen und ergänzenden Texten zum politischen und biografischen Hintergrund die Aufmerksamkeit in der erinnerungskulturellen Perspektive auf die Bedeutung des Einzelnen und des Kollektivs im dörflichen Umfeld gelenkt werden. Das hilft, eine erinnerungskulturelle Leerstelle zu schließen. Die Erwartungen der Partei hinsichtlich des angestrebten sozialistischen Fortschritts, die Entwicklungen der Protagonisten Tinko und Kaule im Prozess der Kollektivierung, das Verhältnis von Dorf und Stadt und nicht zuletzt die Erzählhaltung und sprachliche Gestaltung verdienen dabei Beachtung. Abweichungen oder Bestätigungen auf der Ebene des kommunikativen Gedächtnisses erhellen das Problem der historischen Stimmigkeit und fokussieren das jeweils individuell-subjektive Erleben
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dörflicher Lebenswelten sowie ihrer Veränderungen. 6 Der Vergleich mit den Büchern Astrid Lindgrens regt dazu an, nach möglichen Unterschieden und Ähnlichkeiten in zeitgleich entstandener ›westlicher‹ Literatur zu fragen und ihre Bedeutung für die Gegenwart zu diskutieren. Astrid Lindgrens Kindergeschichten sind mit großem familiärem Schutz verbunden. Grenzen der Freiheit sind den Kindern durch die ländliche Ordnung vorgegeben. Den Hintergrund bilden überwiegend Lindgrens Erinnerungen an ihre eigene Kindheit. Diese Zeit war keineswegs märchenhaft. In den BULLERBÜ-Büchern werden die sozialen Konflikte weitgehend ausgeklammert. Realistische Erinnerungen der Autorin mutieren zu heiteren Geschichten. Bücher wie TINKO und KAULE machen mit einem Dorfalltag bekannt, den es nicht mehr gibt, dessen Spuren man wachen Auges jedoch durchaus noch folgen kann. Vom Dorfalltag der KINDER AUS BULLERBÜ kann man nur im weitesten Sinne behaupten, dass er verschwunden sei. Das, was erzählt wird, ist – wie RONJA RÄUBERTOCHTER – ausgedacht. Aber die Fiktionen Astrid Lindgrens haben den Charakter eines Vermächtnisses, das Rezipienten noch heute bewegen kann. Was sie schrieb, ist selbst erfahren, durch Erinnerungen und Träume beglaubigt, glaubwürdig; es wird allerdings von deutschen Rezipienten häufig verfälscht und als Abbild des modernen schwedischen Landlebens missdeutet. »In der deutschen Öffentlichkeit herrscht […] ein sehr harmonisches Bild: Bullerbü, die ideale Pippi-Langstrumpf-Welt, die ja gar nicht so ideal ist. Große Wälder, leere Straßen, rote Häuser mit weißen Fenstern […]. Diese idealisierende Vorstellung von Skandinavien dominiert.« (Henningsen 2010) Berthold Franke kritisiert das stereotypische Schwedenbild der Deutschen mit dem Begriff »Bullerbü-Syndrom«. »Schweden, der Nachbar im Norden, ist für viele Deutsche […] nichts anderes als eine Art imaginiertes GroßBullerbü« (Franke 2007: 256), was, das legt die Bezeichnung bereits nahe, nicht wenig mit den Geschichten Astrid Lindgrens zu tun habe. Nach Franke könne Bullerbü »als Chiffre für den sehr speziellen deutschen Traum von Schweden stehen, [der] eigentlich der Traum einer verlorenen, dafür umso intensiver ausgemalten Kindheit« (ebd.) sei. Die Rezipienten tragen ihre Sehnsüchte an die Erzählungen Astrid Lindgrens heran und deuten sie als eine Antwort auf eigene zurückliegende Entbehrungen. Bullerbü sei dabei ein »sozialromantisches Utopia«, befreit von den nationalistischkriegerischen und kapitalistischen Verfehlungen deutscher Vergangenheit (vgl. ebd.:
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Auch die Auseinandersetzung mit aktuellen Romanen wie zum Beispiel Regina Scheers MACHANDEL (2014), Saša Stanišićs VOR DEM FEST (2014), Dörte Hansens ALTES LAND (2015) und Juli Zehs UNTERLEUTEN (2016) ist in diesem Kontext förderlich; man versteht diese gegenwärtigen Texte besser, wenn man um die einstigen Verhältnisse auf dem Dorf, um Machtansprüche, Freiheitwünsche und Prozesse der Kollektivierung weiß.
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259).7 Diese Vorstellung hat keinen direkten Anhalt an den BULLERBÜ-Büchern selbst. In ihnen geht es um die Proklamation dessen, was der Autorin Lindgren in ihrer Kindheit wichtig war, was sie vor dem völligen Verschwinden retten möchte. Es geht nicht um die realistische Beschreibung, sondern um eine indirekte Aufforderung zur Vermittlung von Geborgenheit und Freiheit in einer überschaubaren ländlichen Welt. Wenn man das, was in den Augen der Autorin verschwunden ist, als reales Geschehen für ganz Schweden deutet, dann wird aus dem moralischen Impetus eine falsche Behauptung. Angesichts dessen, dass die jeweils in den Kinderbüchern erzählten dörflichen Lebenswelten aus heutiger Perspektive als verschwundene gekennzeichnet sind, verweisen sie auch auf die selbstreflexiv orientierte Frage, aus welcher Perspektive und in welcher Weise sie heutzutage erinnert werden. Zur zielsicheren Beantwortung ist sorgfältige Textarbeit sowie historisches und biografisches Wissen nötig. Die Bücher TINKO und KAULE entsprechen politischen Forderungen. Sie sind vergangen, verschwunden wie die Dörfer, für die sie galten, aber sie bilden in der Erinnerung noch heute einen zu beachtenden Hintergrund, historisch und literarisch. Die Bücher Astrid Lindgrens entsprechen einer persönlichen Weltsicht, in der dem Verschwundenen, dem Leben auf dem Land im Angesicht der Natur und im Schutz der Familie bleibende Bedeutung zugesprochen wird.
L ITERATUR Andersen, Jens (2015): Astrid Lindgren. Ihr Leben, München: DVA. Arthur, Gabriel (2008): »Die Unschuld Schwedens: Das Bullerbü-Syndrom«, in: NORR – Das Skandinavienmagazin 3/2008, S. 20-24, online: www.norrmagazin.de/kultur-lebensstil/unschuld-schwedens/ (15.09.2017). Assmann, Aleida (2011): Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen und Fragestellungen, Berlin: Erich Schmidt. Dankert, Birgit (2013): Astrid Lindgren. Eine lebenslange Kindheit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Fabel-Lamla, Melanie (2006): »Generationszugehörigkeit und Herkunftsmilieus von Lehrern«, in: Annegret Schüle/Thomas Ahbe/Rainer Gries (Hg.), Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, S. 193-216.
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So schreibt auch Gabriel Arthur (2008) mit Blick auf Frankes Begriffsbildung in einem Artikel: »Das Bullerbü-Syndrom ist gleichbedeutend mit der Sehnsucht nach einer verlorenen Kindheit, nach einer unschuldigen Welt, in der Urbanisierung, Industrialisierung und vor allem der Zweite Weltkrieg niemals stattgefunden haben.«
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Franke, Berthold (2007): »Das Bullerbü-Syndrom. Warum die Deutschen Schweden lieben«, in: Merkur 706, S. 256-261. Henningsen, Bernd (2010): »›Es war eine große Chance für die Skandinavistik‹. Über große und kleine Länder, rasselnde Säbel und nordisches Licht – Kulturhus Berlin im Gespräch mit Prof. Dr. Bernd Henningsen«, in: http://www.kulturhusberlin.de /349.html (16.09.2017). Josting, Petra (1997): »Ich will gern sehen, was ich geschrieben habe. Astrid Lindgren zum 90. Geburtstag«, in: Praxis Deutsch 146, S. 11-21. Lindgren, Astrid (1954): Wir Kinder aus Bullerbü, Hamburg: Oetinger. — (1955): Mehr von uns Kindern aus Bullerbü, Hamburg: Oetinger. — (1956): Immer lustig in Bullerbü, Hamburg: Oetinger. — (1970): Die Kinder aus Bullerbü, Hamburg: Oetinger. — (2006): Das entschwundene Land, München: dtv. — (2013): Ronja Räubertochter, Hamburg: Oetinger. Schubert-Felmy, Barbara (2012): Erinnerungsorte. Land- und Dorfleben im Spiegel literarischer Zeugnisse der DDR, Baltmannsweiler: Schneider. — (2014): »Erinnerungsort Dorf. Landleben in der DDR-Literatur«, in: Der Deutschunterricht 66/4, S. 78-82. Schubert-Felmy, Barbara/Schubert, Kristina (2014): Astrid Lindgren. Ronja Räubertochter. EinFach Deutsch Unterrichtsmodelle, Paderborn: Bildungshaus Schulbuchverlage. Strittmatter, Erwin (2004): Tinko, Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag. von Schönborn, Felizitas (1995): Astrid Lindgren. Das Paradies der Kinder, Freiburg u.a.: Herder. Wellm, Alfred (1984): Kaule, Berlin: Der Kinderbuchverlag. Wolf, Christa (1989): Sommerstück, Frankfurt a.M.: Luchterhand.
Demontagen, Umwidmungen, Neu-Inszenierungen (Post-)Industrielle Landschaften bei Kerstin Hensel, Wolfgang Hilbig und Volker Braun I NGA P ROBST
INDUSTRIE
UND
L ANDSCHAFT : W IDERSPRUCH IN
SICH ?
Industrielle Landschaften werden als Gegenpol zu ›richtigen‹, weil ›natürlichen‹ und vor allem: ›schönen‹ Landschaften verstanden und auf Grundlage dieses Verständnisses nicht selten zu Anti-Landschaften stilisiert.1 Diese scheinbar unüberbrückbare Binarität (schön/hässlich; natürlich/unnatürlich) ist darauf zurückzuführen, dass Landschaft zumeist auf ein perfekt gedachtes und konstruiertes Natur-Ideal reduziert wird, wofür zu einem erheblichen Maß der tradierte Landschaftsbegriff der Kunst und Ästhetik verantwortlich gemacht werden kann (vgl. Dinnebier 1996; Küster 2009). Industrie hingegen stand bislang für das Gemachte schlechthin, ihr rein pragmatischen Regeln gehorchender Eingriff in Landschaftsräume als Sinnbild für Technisierung, Reglementierung, ja: für die Zerstörung von Naturräumen. Neben der im Alltagssprachgebrauch durchaus beobachtbaren Festlegung von Landschaft auf das Naturschöne und Erhabene ist der Begriff innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen und je nach Fachrichtung verschieden definiert (vgl. Trepl 2012; Küster 2009; Gröning/Herlyn 1996). Am ehesten noch scheint Konsens darüber zu herrschen, dass sich Landschaft stets über ihr Gegenüber definiert: Alles, was nicht in die
Der vorliegende Artikel ist ein Extrakt der 2017 erschienenen Dissertationsschrift VAKANTE LANDSCHAFT. P OSTINDUSTRIELLE GEOPOETIK BEI KERSTIN HENSEL, WOLFGANG HILBIG UND VOLKER BRAUN
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(Probst 2017).
Eine weitere Dichotomie ist die von Landschaft und Stadt (vgl. Kühne 2013: 44ff.).
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disziplinär festgeschriebenen Rahmungen passt, ist per definitionem nicht Landschaft. Nicht erst seit den Veränderungen der gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Arbeits- und Lebensbedingungen der vergangenen Jahrzehnte im Zuge der postfordistischen und neoliberalen Umstrukturierungen (vgl. Touraine 1969), sondern schon seit ihrem Beginn im 19. Jahrhundert sind die sozialen und die gestalteten Räume der auch als ›Raum-Revolution‹ (vgl. Osterhammel 2009: 909) zu verstehenden Industrialisierung als Teil eines anders definierten Landschaftsverständnisses fassbar. Dieses bringt die vermeintlich unvereinbaren Gegenpole Landschaft und Industrie zusammen, was unter anderem die Debatte darüber zeigt, ob es sich bei (ehemaligen) Industrielandschaften nicht nur überhaupt um Landschaften handelt,2 sondern ob diese als Teil gegenwärtiger kultureller Diskurse so erhaltenswürdig sind, dass sie als Industrie-Kultur-Landschaft anerkannt, konserviert und geschützt werden sollen (vgl. Gołaszewski/Kupczynska 2012; Moewes 1994). Es verwundert nicht, dass diese Diskussion in Westdeutschland in dem Moment begann, als die alten Industrien im Umbruch oder ihrem Verschwinden begriffen waren und man sich fragte, wie ehemalige Zechen, Fabriken und Halden in Zukunft zu nutzen seien. Zu großen Teilen sind bereits neue Nutzungen dieser Flächen realisiert, so z.B. als Gewerbegebiete und Orte der postfordistischen Arbeit (Stichwort: ›Start-Ups‹), als Museal- und Erinnerungsorte (bspw. Zeche Zollverein in Essen), als Einkaufsund Vergnügungsstätten (bspw. das ›Centro‹ in Oberhausen), die nicht immer explizit Auskunft über ihre Vergangenheit geben oder als plan zu machende Brachen bzw. zu Freizeitflächen umgestaltete Landschafts-Parks (bspw. Landschaftspark Duisburg-Nord). Diese Industrie-Kultur-Landschaften gehören heute wie selbstverständlich nicht nur zur touristischen Grundausstattung vieler Regionen in Deutschland, sondern sind auch Bestandteil eines raum-mentalen Selbstverständnisses und ein Identifikationsimpuls für die Bevölkerung. Selbst mit diesem stark verkürzten Problemaufwurf kann deutlich gemacht werden, dass Landschaften – als ästhetische Vorstellung und als konkreter Gegenstand der Raumplanung – einem stetigen Wandel unterliegen. Den Inbegriff ›der‹ Landschaft – gleichwohl er sich alltagsweltlich beharrlich hält – gibt es damit wohl nur auf Leinwand fixiert, als Idealvorstellung oder gar als Stereotyp. Er definiert sich
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Während ihnen einerseits ihre Natürlichkeit abgesprochen wurde, wurden sie andererseits kaum als ›erhaben‹ oder ›ästhetisch‹ angesehen, also gleich doppelt von einem auf diese Attribute hin ausgerichteten Landschaftsbegriff ausgeschlossen. Unter anderem die Arbeiten Olaf Kühnes zeigen, wie Industrielandschaften mit rückläufiger Nutzung bspw. durch museale Umdeutungen sehr wohl ästhetisiert – oder inzwischen sogar idealisiert – werden, womit eine erhebliche Umcodierung von Industrielandschaften endgültig erfolgt sein dürfte (vgl. Kühne 2013: 51).
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dabei stark über ein auszuschließendes Gegenüber. Dabei gab und gibt es vor allem im wissenschaftlichen Bereich Bemühungen, den Landschaftsbegriff durch eine inhaltliche Erweiterung zu modernisieren und ihn als interdisziplinären Begriff verstehbar zu machen. In diesem Sinne plädiert der Landschaftstheoretiker Norbert Fischer für ein Landschaftsverständnis, das »nicht mehr allein […] die klassischen Formen von ästhetisierter Natur [umfasst; I.P.], sondern auch […] Gewerbegebiete und Industriebrachen« (Fischer 2016: o.S.). Die Landschafts- und Umweltplanerin Dorothea Hokema unterscheidet zwischen einem engen und einem erweiterten Landschaftsbegriff: »Landschaft im ›engen‹ Sinn bezeichnet hier die Vorstellung von Naturlandschaften oder kultivierten Naturräumen. […] Als Ideallandschaften gelten vielfach vorindustrielle bäuerliche Kulturlandschaften. Der Landschaftsbegriff ist in diesem Zusammenhang immer positiv besetzt. Landschaft im ›erweiterten‹ Sinne wird demgegenüber sowohl auf unbebaute als auch auf bebaute Räume bezogen. Auch naturferne Räume werden in die verschiedenen Spielarten des erweiterten Landschaftsbegriffs einbezogen.« (Hokema 2009: 239)
Die Öffnung des tradierten Landschaftsbegriffs trägt damit der Erkenntnis Rechnung, dass das Konzept der Landschaft sich nicht allein auf einen vorindustriellen Naturoder minimal bearbeiteten Agrarraum beschränkt, sondern Chiffre eines immer schon gestalteten und damit konstruierten Raumes mit all seinen Gestaltungsarten ist. Landschaft kann damit als Teil eines dynamischen Konstruktionsprozesses verstanden werden, der aus dem wechselseitigen Verhältnis von individueller und gesellschaftlich-kollektiver Landschaftshervorbringung besteht (vgl. Fischer 2010). Zu dieser Landschaftshervorbringung gehört nicht nur die Agrar-Kulturlandschaft mit Wiesen, Bauernhöfen und Alpenblick, sondern auch die Kultur-Landschaft der Technisierung und ihres technisch-ökonomischen Wandlungsprozesses. Landschaft und Industrie, so die Quintessenz, schließen sich nicht aus, sondern sind beide Teil eines immer dynamischen Raumaushandlungs- und Zurichtungsprozesses.
(P OST -) INDUSTRIELLE L ANDSCHAFTEN
IN DER
L ITERATUR
In der Literaturwissenschaft ist bislang kein transdisziplinär ausgerichteter und auf die heterogenen Landschaftsmodelle und -entwürfe bezogener, historisch reflektierter Landschaftsbegriff formuliert worden. Das mag einerseits daran liegen, dass er lange keiner umfassenden Relektüre unterzogen wurde und auch noch landschaftlich orientierte Literaturstudien der Gegenwart einem tradierten Landschaftsverständnis unterliegen, weil sich ihr Untersuchungsgegenstand auf die vorgeprägten Landschaftsvorstellungen von Natürlichkeit und Erhabenheit bezieht. Einschlägige
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Bereiche der literarischen Landschaftskonstruktion und der literaturwissenschaftlichen Landschaftsrezeption sind die (Natur-)Lyrik sowie überwiegend Texte des 17.19. Jahrhunderts. Andererseits ist eine latente Unterrepräsentanz der Landschaft vermutlich der Tatsache zuzuschreiben, dass literarische Landschaftsbearbeitungen vor dem Hintergrund des Spatial Turns von einer Auseinandersetzung mit dem Raumparadigma überdeckt werden und Landschaft stets dem Raum unter- oder beigeordnet bzw. als Synonym zu Raum benutzt wird. Vor allem mit Bezug auf die Gegenwartsliteratur stellt die Frage nach der Landschaft mit Ausnahme der drei behandelten Autor/innen und angesichts einer Dominanz des Raumparadigmas eher ein Randphänomen dar. Dennoch lassen sich zumindest drei größere Bereiche nennen, in denen Landschaft eine Rolle spielt, die über ein reines Hintergrund-Setting und eine Ausstaffierung des literarischen Raums sowie über eine Selbstbespiegelungs(ober)fläche für Befindlichkeiten der literarischen Figuren (vgl. Lobsien 1981: 653) hinausgeht und auf einem weiten, transdisziplinären Landschaftsbegriff basiert, wie er oben definiert wurde. So ist zunächst die auf eine lange Tradition zurückblickende Landschaftsthematisierung in der österreichischen Literatur zu nennen. Sie bezieht sich zum einen auf die öko- und kapitalismuskritische Auseinandersetzung mit der von Freizeit und Tourismus vereinnahmten ›typischen‹ bzw. typisierten Landschaft des Landes und hat zum anderen die ungebrochene nationalistische oder faschistische Vereinnahmung der österreichischen Landschaft oder die Nicht-Thematisierung ihrer Geschichte zum Gegenstand, womit die vermeintliche landschaftliche Idylle des Landes mit einem starken Unbehagen assoziiert wird. Beispiele für diese Landschaftsdekonstruktionen sind u.a. Texte von Franz Innerhofer, Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek. Darüber hinaus wird Landschaft mit der Attribuierung zur ›literarischen‹- oder ›Literaturlandschaft‹ zum Bestandteil eines Regionaldiskurses oder einer touristischen Vermarktungsstrategie gemacht. Das Paradigma ›Landschaft‹ fungiert hier allerdings nur sekundär als literaturwissenschaftlich-analytischer Terminus, sondern wird eher zum Gegenstand einer populärwissenschaftlich ausgerichteten Lesart eines Autors bzw. einer Autorin und seiner/ihrer (Heimat-, Herkunfts-)Landschaft. Dies ist bspw. bei Theodor Fontane oder Uwe Johnson zu beobachten. Eng angelehnt an die Überlegungen der Raumtheorie ist der Landschaftsbegriff ferner im Kompositum ›Erinnerungslandschaft‹ anzutreffen. Primär als Metaphorisierung verstanden, bezieht sie sich zwar oftmals auf konkrete physische Landschaften, ist im weitesten Sinne jedoch Teil des umfassenden Gedächtnisdiskurses, der seit Ende der 1990er Jahre ins Zentrum nicht nur der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und ihrer Analysen gerückt ist. Doch auch in diesem Bereich steht Landschaft nicht als eigenständiges wissenschaftliches Paradigma, sondern wird erneut eher als ein Synonym zu ›Raum‹, für einen Raumausschnitt oder mit Bezug auf eine konkrete (historische) Landschaft gebraucht. Zu einer Art Hybridform, in der Raum-
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Metaphern mit konkreten Georäumen und historischen Landschaften in Verbindung gebracht werden, kommt es erst seit einigen Jahren, u.a. im Zuge der Auseinandersetzung mit den nach dem Zweiten Weltkrieg ›verlorenen Landschaften‹ Ostmitteleuropas und ihrer konkreten und poetologischen Wieder-Erreichbarkeit und Erfahrbarkeit nach den politischen Umbrüchen und der sogenannten EU-›Osterweiterung‹. Diese von Sylvia Sasse und Magdalena Marszałek thematisierte Geopoetik untersucht diverse Wieder-Aneignungsstrategien der genannten Landschaften und hat als Kompositum von Geo(-graphie) und Poetik die Intention, die literarische Hervorbringung von Territorien und Landschaften sowie die »Schreibweisen, Verfahren, Narrative[ ], Symbole[ ] und Motive[ ]« zu erkunden, mit denen »spezifische RaumPoetiken hervorgebracht, semantisch aufgeladen und an bestimmte Orte, Landschaften und Territorien gekoppelt werden« (Marszałek/Sasse 2010: 9). Angesichts der Tatsache, dass Industriekulturen innerhalb der Technik-, Alltagsund Architekturgeschichte, des Denkmalschutzes sowie der Künste (Fotografie, Dokumentarfilm) einen festen Platz haben, verwundert es, dass sich literaturwissenschaftliche Arbeiten bislang eher verhalten mit der Industriekultur bzw. dem Prozess der Postindustrialisierung auseinandersetzen. Literarische Texte der Industrialisierung und der sozialen Frage sowie des Emanzipationsprozesses der Arbeiter/innen sind seit ihrem Entstehen im 19. Jahrhundert in festen Gattungen verankert und inzwischen kanonisiert. Ein literaturwissenschaftliches Interesse für die nicht weniger historische Ära des ausgehenden Industriezeitalters sowie seines postindustriellen Nachlebens scheint indes gering. Das kann nicht daran liegen, dass aus diesen Epochen keine literarischen Zeugnisse existieren: Max von der Grüns und Erasmus Schöfers Romane aus dem westdeutschen Industrierevier beschreiben den Übergang von der industriellen Vollbeschäftigung zu ersten Phasen der Massenarbeitslosigkeit sowie die Umorientierung vom produzierenden auf den tertiären Sektor. Nähern sich andere Autor/innen diesem Thema insbesondere aus einer kindheitserinnernden Perspektive (bspw. Ralf Rothmann), kann mit Florian Neuners RUHRTEXT (2010) ein Beispiel geltend gemacht werden, das auf experimentelle Art die netz- oder rhizomartige Struktur der unkonturierten postindustriellen Region des Ruhrgebiets mit ihren räumlichen und sozialen Facetten, den mentalen und landschaftlichen Neu- und Selbst-Entwürfen in den Mittelpunkt rückt. Während das Ruhrgebiet eine literarische Region darstellt, die intensiv erforscht wird (vgl. Palm/Barbian/Cepl-Kaufmann 2011) und sich aus dem regionalliterarischen Diskurs herausbewegt hat, wurden die ostdeutschen Industrieregionen aus der Perspektive der Literaturwissenschaft bislang noch nicht als Ort der Literatur angesehen und daher auch nur selten zum expliziten Gegenstand literaturwissenschaftlicher Bearbeitung. Das ist u.a. darauf zurückzuführen, dass der postsozialistische Transformationsprozess und der vielzitierte Strukturwandel Ostdeutschlands aus literarischer und analytischer Sicht zumeist in den Kontext der (Nach-)Wende gestellt werden und man bis weit in die 1990er Jahre auf der Suche nach dem ›Wenderoman‹
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war, dabei aber nicht bedachte, die Veränderungen der Sozial- und Arbeitswelt in beiden Teilen Deutschlands auch als literarisches Paradigma anzuerkennen. Denn es gibt sehr wohl Texte, in denen diese Beobachtung nicht nur als (sarkastische, ernüchterte) Randnotiz (oftmals kurzsichtig abgestempelt als ›Ostalgie‹) behandelt wird, sondern geradezu zum Gegenstand einer Poetologie der (post-)industriellen Gesellschaft erhoben wird. Die postindustriellen Landschaften der Texte Kerstin Hensels, Wolfgang Hilbigs und Volker Brauns lassen sich als Beleg dieser Beobachtung nennen. Es handelt sich um Landschaften, die Gegenmodelle zur Landschaft als authentisch konstruierter Idylle darstellen oder einem konservativen Verständnis nach überhaupt keine Landschaft sind. Diese ›Anti-Landschaften‹ sind von der Industrie oder dem BraunkohleTagebau gezeichnet. Es sind zerstörte Landschaften, einstige Kernzonen industrieller Produktion, die nach ihrer ökonomischen Exploitation aufgegeben oder mit großem technischen Aufwand renaturiert wurden, um als sekundäre Naturlandschaften ihre industrielle Vergangenheit zu überdecken bzw. als Freizeit- und Urlaubslandschaften neu definiert zu werden. Die Texte dieser Autor/innen zeigen Landschaft auf einer weiteren Abstraktionsebene als Teil der industriellen und ideologischen Verwertungslogik der DDR, aber auch der vorausgegangenen Industrialisierung und des Nationalsozialismus und verfolgen die landschaftliche Entwicklung über ihre ›Abwicklung‹ in den 1990er Jahren hinaus in den Postindustrialisierungsprozess. Texte wie IM SPINNHAUS (2003) von Kerstin Hensel, DIE ERINNERUNGEN (1996) und ORT DER GEWITTER (2002) von Wolfgang Hilbig oder MACHWERK ODER DAS SCHICHTBUCH DES FLICK VON LAUCHHAMMER (2008) von Volker Braun zeigen die postindustriellen Landschaften als Sinnbilder modifizierter ökonomischer, ökologischer und sozialer Umstände. In einer kulturwissenschaftlich orientierten Auseinandersetzung mit gegenwärtiger Literatur, die aktuelle soziale und gesellschaftliche Probleme verhandelt, wird der Landschaftsbezug dort, wo die Landschaft selbst als Akteur oder Projektionsfläche von Vergangenheit und sozialem Wandel erscheint, besonders fruchtbar und kann als (Zerr-)Spiegel gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse gelesen werden. Landschaft stellt in den Texten der drei Autor/innen damit keine Staffage oder ein bloßes Hintergrundsetting dar, sondern ist konstituierender Bestandteil und poetologischer Kern zugleich. Diese Geopoetik der Landschaft wird bei den Autor/ innen mit unterschiedlichen Schwerpunkten umgesetzt: Erstens der Strukturwandel in peripheren Randregionen, der in Kerstin Hensels IM SPINNHAUS von mehr als nur den Strukturumbrüchen nach 1989 Zeugnis ablegt. Zweitens wird in den Texten Wolfgang Hilbigs der Niedergang der Schwer- und Montanindustrie noch vor ihrem eigentlichen Ende dargestellt. Volker Brauns Auseinandersetzung mit der Thematik lenkt schließlich, drittens, den Blick auf die vollendete postindustrielle Situation der Bergbau-Folgelandschaften der unmittelbaren Gegenwart: Wo zuvor Landschaft vor allem durch den Braunkohle-, Erz-, Uranberg- und Tagebau grundlegend verändert
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wurde, findet seit den 1990er Jahren eine Rekultivierung und Umgestaltung eben dieser Landschaften z.T. zu Naherholungsgebieten statt. Diese, im Vergleich zu ihren Vorläufern nicht minder artifiziellen, Landschaften erweisen sich als ambivalent. Die See- und Naturschutzgebiete, die von den Besucher/innen wieder als ›schön‹ empfunden werden, sind eben auch Projektionsflächen eines Niedergangs. Diese Landschaften bieten kaum eine finanzielle Lebensgrundlage für jene Bevölkerungsschichten, die einst im Bergbau beschäftigt waren. Die Spuren ihrer industriellen Vergangenheit wurden und werden häufig vollständig entfernt, so dass nur wenig an diese Arbeits-Vergangenheit der Landschaft erinnert (vgl. Bayerl 2011; Kil 2004; Lenz 1999). Beide Landschaftstypen – die industrielle wie auch die rekultivierte Landschaft – erscheinen, gleichwohl sie sich optisch voneinander unterscheiden, de facto als ›leer‹, sodass sie schließlich auch ›vakant‹ für Neuzuschreibungen und Imaginationen sind. Diese Vakanz ist es, die im Mittelpunkt der Landschaftskritik der drei Autor/innen steht.
D IE D EMONTAGE DES R EGIONALDISKURSES BEI K ERSTIN H ENSEL In ihren Romanen und Erzählungen, so bspw. im Band NEUNERLEI (1996) oder dem Roman GIPSHUT (1999), stilisiert Kerstin Hensel (geboren 1961) leitmotivisch wiederkehrende Georäume und exakt lokalisierbare Landschaften zu einem komplexen Geflecht literarischer Handlungsräume.3 Als nationale und/oder regionale Grenzräume sind diese Landschaften an den geographischen und/oder als inszenierte soziale Übergangssphären an den gesellschaftlichen Peripherien verortet. Deshalb kann die periphere Positionierung des Handlungsraumes nur auf den ersten Blick ausschließlich auf die Geographie bezogen werden. Dies zeigt sich u.a. auch in Hensels Roman IM SPINNHAUS (2003). Denn die Analyse der Figuren und der gesellschaftlichen Struktur, die im Roman mit der Geschichte der Landschaft über einen erzählten Zeitraum von einhundert Jahren korrespondieren, macht deutlich, dass sich die geographischen Merkmale und Eigenheiten in Bedeutungsvarianten des Randständigen spiegeln, zu denen soziale, ökonomische und geschlechtliche Marginalisierungen zählen. Die Idylle der Hensel’schen Landschaften trügt. Vor allem die Mittelgebirgslandschaft des Erzgebirges, die in IM SPINNHAUS den Mittelpunkt des Narrativs bildet, gilt als Sinnbild einer idealtypischen (Wald-)Landschaft, die als ländlich-agrarisch
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Barbara Piatti legt in ihrer GEOGRAPHIE DER LITERATUR ein eindeutiges Begriffsvokabular fest, dass eine genaue Analyse literarischer Räume und Landschaften ermöglicht (vgl. Piatti 2008). Diese Analysebegriffe finden auch hier Anwendung.
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apostrophiert wird und kulturhistorisch sowie alltagsweltlich einen idyllisierten Assoziationsraum mit Winter- und Wandersport, Weihnachtsschmuck, Bergmännern und Bergparaden eröffnet. Hensels Text zeugt jedoch auch davon, dass das Erzgebirge sich nicht allein im Folkloristischen erschöpft (vgl. Schattkowsky 2010: 7). Parallel zur kulturhistorischen Aufwertung dieser Landschaft durch Kunsthandwerk und Brauchtum existiert eine nicht minder relevante industrielle Nutzung, die über Jahrhunderte die Landschaft geprägt und verändert hat, etwa durch Bergbau, Textilverarbeitung und Automobilbau (ebd.: 8). Aus dem Nebeneinander von Wintersport und Bergbau und den damit verbundenen gegensätzlichen Landschaftseindrücken entstehen Ambivalenzen. Diese Ambivalenzen stehen im Zentrum der Hensel’schen Landschaftskritik. Wie anhand eines Beispiels aus der im Text umfassend realisierten Landschaftsbearbeitung verdeutlicht werden soll, werden in IM SPINNHAUS weitere Gegenblicke inszeniert, mit denen die Geschichte der Erzgebirgslandschaft im Lichte ideologischer Vereinnahmungen erscheint. Zu diesen Instrumentalisierungen, im Zuge dessen die Landschaft verändert, ausgebeutet, umgestaltet und metaphorisch extrapoliert wurde, zählt die Vorform der Industrialisierung im Zuge der Erzfunde des ›Berggeschreys‹ seit dem 12. Jahrhundert, durch die die Region zu großem Reichtum gelangt und im Zuge dessen die periphere Gegend ihren ersten Modernisierungsschub erlebt, die heimattümelnde und (prä-)faschistische Idealisierung der ›Heimat Erzgebirge‹ vor dem Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts bis hin zum Nationalsozialismus, die u.a. durch Heimatdichter und -sänger wie Anton Günther instrumentalisiert und angeheizt wird, die ökonomisch-ideologische Indienstnahme durch die rücksichtslose Förderung der Bodenschätze zur Zeit der DDR durch die SDAG Wismut sowie schließlich der Versuch, den Strukturwandel der Nachwendezeit mit werbewirksamen Tourismusstrategien abzufangen und dabei die Vergangenheit des Erzgebirges für den Fremdenverkehr zu vermarkten, ohne sie dabei kritisch zu hinterfragen oder auf historische Korrektheit zu achten. In zahlreichen Szenen des Textes wird mit z.T. böser Ironie aufgedeckt, dass die negativen Seiten des regionalen Kulturerbes (darunter Arbeitsausbeutung im SpinnhausSystem im 19. Jahrhundert,4 Ideologisierung der Landschaft von der ›Heimat‹ zum
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Die Ironie des Gesamttextes liegt darin, ausgerechnet ein Spinnhaus – beschrieben als »Hort der Ausbeutung, Armut und Krankheit, der größte Elendspunkt des westlichen Erzgebirges« (Hensel 2003: 9) – zum Schauplatz des Geschehens zu machen. Damit wird keine dörfliche Idylle inmitten der pittoresken Waldlandschaft repräsentiert, sondern ein ›Zuchthaus‹, also ein Disziplinierungsort für gesellschaftlich Ausgestoßene und Kriminelle. Der Vergangenheit zum Trotz wird eben dieses Spinnhaus nach seinem Funktionsverlust zur ›Heimatstube‹ und zum Museum umfunktioniert, das über das traditionelle Leben in der Region informieren soll. Als weitere Attraktion wird ein Spinnrad aufgestellt,
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›Lebensraum‹ sowie die systematische Überziehung der Landschaft mit Zwangsarbeiterlagern und KZs) (vgl. Fritz 2007) nicht aufgearbeitet, sondern lediglich seiner sichtbaren ideologischen Bestandteile bereinigt wurden und die dunklen Spuren des Vergangenen damit bloß übertüncht werden, um eine sorgen- und politikfreie Erholungssphäre für die anreisenden Gäste zu schaffen. Dies kommt in IM SPINNHAUS etwa dann zum Zuge, wenn anlässlich eines Bergfestes Theaterstücke von einem dem Nationalsozialismus nahestehenden Autor aufgeführt werden.5 Dies wird von Hensel als karnevaleskes Spektakel inszeniert, bei dem asiatischen und amerikanischen Zuschauer/innen die ursprüngliche mitteleuropäische ›Heimatlandschaft Erzgebirge‹ präsentiert werden soll, nicht aber die ideologischen Vorgeschichten kommuniziert werden: »Zwischen Ökomarkt und Bergbier saßen die amerikanischen Touristen und sahen das Schauspiel: wie der deutsche Mann sein Blut auf dem Boden der Heimat vergießt und sich gegen die Fremden jenseits der Grenze zur Wehr setzt. Und alle spielten mit. Komparsen von Zwickau bis Schwarzenberg. Freue dich, Schneeberg! Spielte das Bergmannsorchester. Die Gäste freuten sich und lachten und klatschten, denn das hatten sie auf ihrer Reise noch nicht gesehen: […] Das Bergkgeschrey.« (Hensel 2003: 88).
Der eine kritische Aufarbeitung der belasteten regionalen Vergangenheit unterlassende Tourismus (konterkariert durch ›und alle spielten mit‹), ökonomischer Heilsbringer der peripheren Region, wird von Hensel als neues ›Berggeschrei‹ inszeniert, das als postindustrieller Silberrausch beschrieben werden kann. Im Zuge dessen wird schließlich die Provinz selbst (post-)industriell verwertet und massenwirksam vermarktet.
an dem eine arbeitslose Dorfbewohnerin für die Museumsbesucher ihrer Spinnkünste vorführen darf. Was den Touristen allerdings nicht mitgeteilt wird, ist die genaue Vergangenheit des Hauses sowie die Tatsache, dass es an diesem Ort nie manuell zu bedienende Spinnräder gab und die Vorführerin ursprünglich an vollautomatischen Ringspinnmaschinen in der sächsischen Tuchherstellung tätig war, bevor die Betriebe nach der Wende geschlossen wurden (vgl. ebd.: 109). 5
Der Passage liegt eine reale ›Provinzposse‹ zugrunde: Das 1935 von Kurt Arnold Findeisen verfasste Volksstück GETREUER HORLEMANN wurde 1996 anlässlich des Deutschen Bergmannstages in Schneeberg wieder aufgeführt. Angesichts der Tatsache, dass Findeisen unverhohlen der ›Volk-ohne-Raum-Ideologie‹ folgte und dessen Stück, von der nationalsozialistischen Presse gefeiert, bis 1938 regelmäßig in Schneeberg aufgeführt wurde, zählt eine beißend-ironische Stellungnahme Kerstin Hensels zu den wenigen Interventionen, die die Inszenierung des Stücks direkt kritisierten (vgl. Hensel 1996; vgl. Braumann 1996).
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Landschaft, so das Fazit von Hensels Landschaftskritik, die hier nur schlaglichtartig anhand eines Beispiels gezeigt werden konnte, wird in ihrem postindustriellen Nachleben ein weiteres Mal umgedeutet und neu konstruiert. Hinter der Demontage idealtypischer Landschaftsvorstellungen steht die Intention, eindimensionale Vorstellungen eines überaus heterogenen Sozial- und Landschaftsraumes infrage zu stellen oder aufzulösen. Hinzu kommt die Absicht, daran zu appellieren, dass Landschaft kaum ideologiefrei sein kann, sondern immer Produkt von Zuschreibungen und Zurichtungen ist – und zu der Landschaft, von der sich eine Vorstellung entwickelt, immer erst gemacht wird. Einfach ›vorhanden‹ kann sie hingegen nicht sein. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive kann unterstrichen werden, dass sich die Landschaften in Hensels Roman damit auch einer traditionalistischen Regionaloder Heimatliteratur mit den Gattungen des Dorf-, Berg-, Bauern- oder Provinzromans entgegenstellen, auch wenn in der feuilletonistischen Rezeption ihrer Texte das Gegenteil behauptet, die Autorin bisweilen zu einer sächsischen Regionalschriftstellerin stilisiert wird. Ganz im Gegenteil: Der Text steht in einem kritischen Austausch mit Landschafts- und Regionaldiskursen, die sich oftmals an vorgeprägten ästhetischen, archetypischen und standardisierten kulturhistorischen Bildern orientieren. Vor diesem Hintergrund kann zusammengefasst werden, dass überlieferte Landschaftsmotive – in IM SPINNHAUS oftmals komprimiert zu »Berge Wälder Dörfer« (Hensel 2003: 234) – in eine ironisierende Gesellschafts- und Ökonomiekritik verkehrt und auf die sozialpolitischen und ländlich-regionalen Entwicklungen der unmittelbaren Gegenwart bezogen werden, ohne dabei die historischen Kontexte aus dem Blick zu verlieren. Aus Perspektive der postindustriellen Gegenwart wird der Ideologie- und Instrumentalisierungsgehalt der Landschaft zur Disposition gestellt und schließlich als dysfunktional verabschiedet. Wie die folgenden Beispiele zeigen, wird mit Hensels Text der Literarisierung des Postindustrialisierungsprozesses der Industrie- und Braunkohlezentren bei Wolfgang Hilbig und Volker Braun der Aspekt der literarisierten Postindustrialisierung des ländlichen Raumes zur Seite gestellt, der ehemals montanindustrielles Zentrum war.
W OLFGANG H ILBIG UND DER INDUSTRIE
DAS AUSGEHENDE
ZEITALTER
Wolfgang Hilbigs (1941-2007) Texte werden vom »eiserne[n] klirrende[n] Lärm [der] monströsen Bagger« (Hilbig 1992: 197) begleitet, die Tag und Nacht Braunkohle fördern und von der Leere der verlassenen Abbaulandschaften widerhallen, die sich nach dem Rückzug der Industrie selbst überlassen wurden. Die Tagebaulandschaften mit ihren Abraumhalden, Restlöchern und Brachen sowie die eng daran angeschlossenen Industriegebiete und ärmlichen Bergarbeiter/innen-Siedlungen
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stehen im spatialen Mittelpunkt der Werke des Autors. Dabei kann sein Gesamtwerk als ein in sich geschlossener Komplex verstanden werden, in dem sich nur gering variierte Themen, Motive, Handlungsstränge und strukturelle Bau- und Sprechweisen beständig wiederholen. Aus diesem Grund sind die Werke des Autors weniger nach zeitlichen oder thematischen Schaffensphasen zu ordnen, sondern in Überschneidungen, Iterationen und Analogien als geschlossener Text- und Themenkosmos zu verstehen. Dabei ist allen für die Untersuchung der (post-)industriellen Landschaft ausgewählten Texte gemein, dass sich wesentliche Handlungsstränge bzw. strukturelle Konstruktionsmerkmale und Erzählhaltungen wiederholen und zwischen den Texten augenfällige Analogien, Wechselbeziehungen und Parallelstellen bestehen (vgl. Steiner 2008: 24). Die Landschaft der Texte Hilbigs ist auf einem durchgängig doppelten Motivstrang situiert: Sie ist erstens ein einziges weggebaggertes, mit Müll und Giftseen übersätes Industriegebiet, das explizit auf den katastrophalen Zustand nicht nur der Umwelt der DDR im Allgemeinen, sondern auch der Lebenssituation derjenigen verweist, die vor Ort auf diesem trügerischen Grund leben müssen, worauf auch der Titel der gleichnamigen Erzählung verweist (Hilbig 1987). Landschaft ist zweitens als figurativer Imaginations- und Symbolraum zu verstehen, durch den Fabriken und Tagebaue zu phantasmagorischen Orten der Lebenskrise der Figuren und einer krisenhaften Industriegesellschaft als Ganzem avancieren. Die vernachlässigten Industriesiedlungen am Rande der Abbaugebiete, die Tagebaue selbst sowie deren Wandel von einstigen industriellen Kernzonen in aufgegebene Brachen und Bauland, die Ruinenfelder und Reste der ober- und unterirdischen Produktions- und Lagerstätten sind Zeichen der Ausbeutung von Mensch und Natur, die ihre Klimax erreicht, wenn die Industrieruinen in der Erzählung ALTE ABDECKEREI (1991) mythologisch zum Ort des Weltuntergangs verdichtet werden. Die Imagination und Statusbeschreibung einer irreparablen Industriegesellschaft wechseln einander beständig ab und kulminieren schließlich in der Darstellung des postindustriellen Umbruchprozesses in Texten wie DER DUNKLE MANN (2005) oder DIE ERINNERUNGEN (1996). Unmittelbar zu Beginn der 1990er Jahre situiert, schildern sie eine gesellschaftspolitische Situation, die einem »sozialpolitische[n] Trümmerhaufen, bestehend aus unbewohnten Häusern, leeren Geschäften mit verstaubten Schaufenstern und ausgestorbenen Fabriken« (Hilbig 2005: 587) gleicht. Die aufgelassenen Tagebaue, die (noch) eine weitestgehend mit Schutt und Industrieabfällen verfüllte, unbegehbare Brachlandschaft bilden und inzwischen von kleinen Birkenwäldchen bewachsen sind, bilden schon jetzt die Kulisse für eine künftig auszudehnende Neubebauung, die für die Protagonisten der Texte erneut unbegehbare Gebiete schafft:
280 | I NGA P ROBST »Aber in den Wald konnte man nicht mehr gehen: er war von den Bauverbrechern aufgekauft worden, die dort hinter hohen Maschendrahtzäunen oder Palisaden ihre Einfamilienhäuser aufbauen ließen, grässliche Imitationen aus Tirol oder Oberbayern, mit Hirschgeweihen über den braungebeizten Holzbalkonen ... erbaut mit dem Geld, das sie an den Bretterbuden-Kiosken erwirtschaftet hatten, die jede Gebäudelücke in der Stadt ausfüllten und wo sich die Arbeitslosen von übelriechenden westdeutschen Brat- und Fettwürsten und von Dosenbier aus Dortmund oder Bremen ernährten.« (Hilbig 2005: 589)
Um an dieser Stelle weg von der nüchternen oder besser: ernüchtert-resignierten Nachwende-Darstellung zu kommen und auf ein weiteres Detail der Landschaftspoetologie Hilbigs einzugehen, soll mit Bezug auf die Erzählung DIE ELFTE THESE ÜBER FEUERBACH (1992) exemplarisch auf die zentrale Bedeutung der Tagebaulandschaft eingegangen werden. Paradigmatisch dafür ist das Durchmessen des Tagebaus mittels einer Autofahrt, in der ein Teil seiner empfundenen Unermesslichkeit durch den Protagonisten buchstäblich ›erfahren‹ wird: »Sie fuhren jetzt durch die unüberschaubaren Tagebaugebiete, die den Landstrich hier ganz beherrschten. Der Straßendamm, am Rand nur noch von immer spärlicher stehenden Gehölzresten befestigt, zog seine abschüssigen Biegungen an Abraumkippen entlang, dann durch bodenloses Terrain, und die Straße war ein schmaler Grat über der Leere; rechts neben ihr stürzte die Welt in die Tiefe, wo ein wogendes und erstarrtes Durcheinander war, links senkte sich das Gelände wie ein Sandstrand schräg und gewellt in ein Meer, das nicht mehr vorhanden war, […] und so schien es sich noch Unendlichkeiten weiter zu erstrecken, und nur einzelne verschwommen schwarze Klippen ragten aus dem Grund.« (Hilbig 1992: 470f.)
Der Protagonist der Erzählung, sein Name ist W., hat die Landschaft der Tagebaue, durch die er mit einem Taxi gefahren wird, lange nicht gesehen. Obwohl diese Landschaft ihm vertraut ist – er wuchs in einer Werkssiedlung inmitten des Reviers auf –, nimmt er sie ebenso distanziert wie mit leisem Schrecken wahr: Der Weg, den das Auto nur haarscharf an den Abbruchkanten entlang befährt, führt auf der einen Seite in die Tiefe der aufgebrochenen Erde und auf der anderen in die unüberschaubaren Weiten eines ›nicht mehr vorhandenen‹ Meeres, dessen wellenförmige Anhäufungen von Sand- und Erdmassen sich schier ins Unendliche ausdehnen – eine Landschaft am Ende der Welt, in der man entweder in eine bodenlose Tiefe stürzt oder in der Unendlichkeit des offenen Raums verloren geht. Vermittels zweier Koordinaten, der Vertikalen des sich plötzlich auftuenden Abgrunds bzw. der abbrechenden Erdkante und der Horizontalen der grenzenlosen Weiträumigkeit der Abbaufelder, ihrer Aufschüttungen und Kippen, werden die Montanlandschaften des Braunkohletagebaus konstruiert. Mit den Verwerfungen, Löchern und Abraumhalden wird nicht nur ein Grund hergestellt, der seiner eigentlichen Funktion – Festigkeit, die Gehen und Stehen ermöglicht – enthoben ist. Obwohl
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die Aussage der elften Feuerbachthese, die lautet, dass die Welt nicht interpretiert, sondern (revolutionär) verändert werden müsse, an keiner Stelle der Erzählung direkt wiedergegeben wird, wird sie dennoch verhandelt, indem sie schlichtweg in Anspielungen ironisch unterlaufen wird. Denn für W., den diese Landschaft nicht mehr loslässt, sind die Ausdehnungen und Untiefen der Tagebaue Sinnbild für das nach der Wende obsolete utopische Tun der sozialistischen Staats- und Arbeitsform, deren Absicht es war, die Welt mit einer industriellen Revolution zu verändern, was jedoch unbeabsichtigte Nebenwirkungen hatte. Denn an keinem anderen Ort wird so unmissverständlich deutlich, wohin der revolutionierende Eingriff tatsächlich geführt hat: »Man hatte in dieser Gegend den Rohstoff aus dem Boden gegraben, welcher der Wirtschaft des Landes den Energiebedarf sichern sollte für den Versuch, die Welt zu verändern. Hier hatten die Reserven im Boden gelegen, die der Utopie zu praktischer Wirklichkeit verhelfen sollten.« (Hilbig 1992: 472) Die ›praktische Wirklichkeit‹ offenbart sich W. nicht in Form einer stabilen sozialistischen Wirtschaft, sondern in deren Niedergang und Abschaffung, die in ihrer Historizität noch am ehesten das Etikett ›revolutionär‹ verdient. Die tatsächliche Utopie, das wird W., als er weiter durch die endlosen Abbaufelder fährt, endgültig bewusst, hinterlässt eine versehrte und langfristig unnutzbar gewordene Kulturlandschaft: »Hier hatte sie einst Fuß gefasst, die Utopie, man sah es der Gegend an, und man würde es noch lange sehen.« (Ebd.) Festzuhalten ist, dass gesellschaftlichökonomische Umbruchs- und Veränderungsprozesse immer auch über sich verändernde Landschaftsbegriffe und -vorstellungen erzählt werden können und diese im Umkehrschluss stets über ihre ideologische Konstruktion bzw. Zurichtung Auskunft geben. Was DIE ELFTE THESE ÜBER FEUERBACH mit Blick auf die Landschaft demonstriert, ist, dass der empirische Georaum und seine literarische Hervorbringung bzw. figurative Umdeutung in ein Wechselverhältnis treten, das Geopoetik im eigentlichen Sinne ist: die Amalgamierung geographischer Entität und poetischer Imagination. Die postindustrielle Thematik wird von Hilbig nicht vom Ende der industriellen Produktion aus betrachtet. Eher zeigen auch die Analysen der übrigen Texte, bspw. DIE KUNDE VON DEN BÄUMEN (1992), dass sich das Ende der industriellen Gesellschaft lange vor ihrem tatsächlichen Niedergang abzeichnete. Das führt zu dem Ergebnis, dass die Postindustrialisierung hier nicht als Bruch erzählt wird, sondern nur eine Fortsetzung der dysfunktionalen modernen Industriegesellschaft darstellt. Auch die sich in Umgestaltung und Neunutzung befindlichen Landschaften, die bei Hilbig etwa im Vergleich zu Volker Braun nur am buchstäblichen Rande behandelt werden (etwa in DIE ERINNERUNGEN, 1996), werden nach dem Rückzug des Tagebaus keiner neuen Bewertung unterzogen. Die Ruinen- und Brachflächen, die mit Neubau- und Gewerbegebieten überzogen werden oder ungenutzt brach liegen, werden mit der gleichen umfassenden Nutzlosigkeit assoziiert, wie die Tagebaue selbst. Hilbigs sprachlose Erzählerfiguren, die sich stets in ihrer Arbeits-
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Vergangenheit aufhalten und auf der Suche nach dieser Vergangenheit ruhelos auf den einstigen Territorien der Fabriken und Gruben umherstreifen, kommen damit auch nicht in der Phase des nachindustriellen Zeitalters an, sondern verharren im sich fortsetzenden Leerlauf des vergangenen Industriezeitalters.
V OLKER B RAUN : D ER S CHELM GEGEN DES NACHINDUSTRIELLEN Z EITALTERS
DIE
W INDMÜHLEN
Seit der Erzählung DER SCHLAMM (1959/1974) verfolgen die Texte Volker Brauns (geboren 1939) die Entwicklung vom Fordismus zum Postfordismus von den 1960er Jahren bis in die unmittelbare Gegenwart. Betrachtet man diese Entwicklung als Kontinuum, wird deutlich, dass die Auseinandersetzung des Autors mit der Arbeitsund Industriegesellschaft nach dem Ende der DDR und der Wiedervereinigung noch nicht abgeschlossen ist. Stattdessen gehen Beleuchtung und Kommentar gesellschaftlicher, ökonomischer sowie sozialräumlicher Entwicklungen über diesen Zeitpunkt hinaus (vgl. Grauert 2004: 139). Der Roman MACHWERK ODER DAS SCHICHTBUCH DES FLICK VON LAUCHHAMMER (2008) rückt den besonders in den ostdeutschen Regionen mit der Postindustrialisierung einhergehenden Strukturwandel mit Massenarbeitslosigkeit, Wegzug und Deindustrialisierung so explizit in den Mittelpunkt, dass dieser Text für diese Thematik Alleinstellungscharakter hat. Der Postindustrialisierungsprozess wird in MACHWERK als optische und ideologische Modifizierung der Landschaft bearbeitet. Themen und Motive, die bereits in den frühen Texten und der Lyrik Brauns angerissen werden, werden qua Selbst-Zitattechnik transferiert und finden dort ein postindustrielles Nachleben. Hier wird die Geschichte der Landschaft, spezifisch: der Landschaften der Niederlausitz und der Bitterfelder Region, über ihre Deindustrialisierung hinaus weitererzählt. Dieses Verfahren ist von Volker Braun so angelegt, dass sich die Arbeiter/innenfiguren aus den Aufbaujahren der DDR in den Texten nach der Jahrtausendwende als Arbeitslose wiederfinden, denen nun zwar eine vermeintlich intakte Kulturlandschaft (re-)generiert wurde, die Tourist/innen anlocken soll, langfristig jedoch keine Perspektiven auf feste Arbeitsplätze bereitstellt. Paradigmatisch für diese Situation steht die Figur des ehemaligen Havarie-Arbeiters Flick. Sie ist in eine Reihe mit all den anderen Arbeitshelden zu stellen, die Brauns Werk bevölkern. Mit Flick wird ihnen ein neuartiger Anti-Held des 21. Jahrhunderts an die Seite gestellt. der sich durch den Entzug und die Abwesenheit von Arbeit definiert, die prägend für den Handlungszeitraum des Textes ist: »Das neue Jahrtausend war noch ganz frisch, minderjährig und unerfahren, als es zu hören bekam, dass es, sosehr es sich strecken und recken würde, nimmer voll beschäftigt werde. Die Arbeit, hieß es, lange nicht mehr hin« (Braun 2008: 11).
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Nach Jahrzehnten erfüllter Arbeit im Tagebau, wo er für die schnellstmögliche Behebung von Betriebsstörungen und Havarien zuständig war, wird Flick im Alter von knapp 60 Jahren entlassen. Noch kurz zuvor »zu jeder Tag- und Nachtzeit zur Stelle gewesen […], wenn eine Katastrophe hereinbrach und ein Bagger verunglückte« (ebd.: 15), ist Flick jetzt zum Nichtstun verurteilt. Er denkt allerdings nicht daran, wegen seiner unverschuldeten Untätigkeit in Depression zu verfallen und realisiert nicht, dass die Entlassung tatsächlich Arbeits-Losigkeit bedeutet, weil sein ehemaliger Tätigkeitsbereich nach der Privatisierung der wenigen verbliebenen Förderbereiche nicht mehr existiert. Stattdessen stürzt sich Flick voller Enthusiasmus noch auf den kleinsten Handgriff, der ihm als kurzzeitiger Aushilfs-Job angeboten wird. Ohne sich mit der gesellschaftspolitischen Realität auseinanderzusetzen, gilt jeder seiner Gedanken der Frage, wo er als nächstes zupacken kann: »Er hatte sein ganzes Leben mit Arbeit zugebracht, sie war sein oberstes Lebensbedürfnis und wurde, jetzt, da sie ihm entzogen wurde, eine wahre Sucht und Besessenheit« (ebd.). Sucht und Besessenheit akzentuieren, dass Flick nicht mit Resignation auf den Verlust seines Lebensinhalts reagiert, sondern sich mit sturem Eifer in einen regelrechten Kampf um sein persönliches Recht auf Arbeit stürzt, mit dem er seine oder ersatzweise irgendeine Arbeit (zurück)erobern will. Was Brauns episodischen ›Schelmenstreich‹, dessen Hauptfigur explizit Züge des Don Quichote trägt, zu einem außergewöhnlichen literarischen Dokument der Postindustrialisierung macht, ist die Tatsache, dass diese in MACHWERK über die Chiffre des gegenwärtigen Landschaftsentwicklungsprozesses erzählt wird. Auffällig ist die Detailtreue, mit der die landschaftsarchitektonischen, gestalterischen und künstlerischen Maßnahmen geschildert werden, zu denen auch zahlreiche Land-ArtKunstprojekte, bspw. am Goitzsche-See bei Bitterfeld, und Projekte der EXPO 2000 und der IBA 2010 gehören (vgl. Schierz 2000). Wie die Analyse zeigt, werden diese explizit oder chiffriert zum Handlungsraum Flicks, der die neugeschaffenen Landschaften indes nicht als das wahrnimmt, was sie sind: museale, künstlerische Inszenierungen oder Rückbauten in einen vorbergbaulichen und vorindustriellen Zustand, sondern als Handlungsraum seiner verzweifelten, selbst organisierten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Mit der lakonischen Erkenntnis, »[d]ie Natur war sich selbst überlassen und arbeitete jetzt allein […] sie holte sich das Land zurück, die Restdörfer, Straßenreste; was aufgegeben war, gemeindete sie ein unter ihr großzügiges grünes verstaubtes Statut. – Aber was war mit dem Menschen?« (Braun 2008: 13) führt MACHWERK vor, dass die bereinigte Landschaft, wie sie in Imagebroschüren und von Touristikunternehmen beworben wird, allein die positiven Seiten des Landschaftsumbaus ausleuchtet. Mit dem Einschub ›aber was war mit dem Menschen?‹ wird hingegen auf die sozialen Probleme verwiesen, die angesichts der vollmundigen Standortsicherungsmaßnahmen unartikuliert bleiben. Es besteht somit eine große Diskrepanz zwischen einem, angesichts der offensichtlichen Attraktivitätssteigerung scheinbar überwun-
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denen, Imageschaden der als unattraktiv geltenden Regionen und einem, trotz dieser Verbesserungen nicht eintreten wollenden, Mentalitätswandel der Bevölkerung. Prekarität, Überalterung und Wegzug erschweren die Identifikation mit der Umgebung. Die Vakanz der in MACHWERK fokussierten Landschaften besteht primär in ihrer Offenheit gegenüber solchen Zuschreibungen, die aus der Industrie- eine Dienstleistungslandschaft erschaffen, die nach Rückbau und Renaturierung als Freizeit-, Gastronomie- und Museumslandschaft auf kaufkräftiges Klientel wartet. Brauns Text sensibilisiert dafür, dass der ideologische Zugriff auf Landschaft in Form der konkreten postindustriellen Umgestaltung nicht minder tiefe Einschnitte und Auswirkungen auf ihr Erscheinungsbild und vor allem auf ihre soziale Funktion hervorbringt, als die Zerstörung durch die Maschinen, wie sie noch im Gedicht DURCHGEARBEITETE LANDSCHAFT (1974) beklagt wird. Eine echte Alternative zur technischen Verarbeitung scheint damit inexistent. MACHWERK markiert einen vorerst abgeschlossenen Wandel. Dieser lässt sich an einer deindustrialisierten Landschaft ablesen, die nach der Sanierung und dem Entfernen der Fabrikruinen zu einer Landschaft für eine Dienstleistungsgesellschaft geformt werden soll. MACHWERK lässt sich weder als Sozialreportage noch als affirmativer Lagebericht der Renaturierungsvorhaben der Niederlausitz und des Bitterfelder Raums lesen. Der Roman ist eher eine zynische Satire, die keinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit beansprucht. Die Effekte des Postindustrialisierungsprozesses werden auf der Ebene der durch diesen Prozess bedingten landschaftlichen Veränderungen sichtbar. Diese neuen Landschaften, die Flick auf seiner Suche nach einer Arbeitsstelle durchreist, sind aber mitnichten durch einen Schelmenstreich erdacht, sie sind den realen nachempfunden. In kaum einem Gegenwartstext geht es so explizit um die postindustriellen Umnutzungen und die Erscheinungsformen der Nachindustrie wie in Brauns MACHWERK. Der Text ist eine Karikatur gesellschaftlicher Umstände, die die ehemals aus- und dann ungenutzte Landschaft zu einer nur bedingt nutzbaren Landschaft umgestalten. Diese neue Landschaft ist zwar frei für eine symbolische Neuaufladung und für eine neue ökonomische Nutzung, die gesellschaftlichen Effekte dieses Landschaftswandels jedoch dislozieren Flick, der in der Landschaft so agiert und sie so wahrnimmt, dass sie sich ihm als permanente Leerstelle entpuppt. Hinsichtlich der umgebauten und der sich noch in der Neugestaltung befindlichen postindustriellen Räume macht der Text deutlich, dass Landschaft als historisch wandelbares Konstrukt definiert werden muss. Die postindustrielle Landschaft, lautet die daraus resultierende Schlussbeobachtung, stellt die Überhöhung eines neuen Fortschrittsglaubens dar – jenes Glaubens, dass der Strukturwandel für alle erfolgreich zu bewältigen sei.
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Z USAMMENFASSUNG Die Lektüre der Texte Kerstin Hensels, Wolfgang Hilbigs und Volker Brauns zeigt: Was landschaftstheoretisch bislang vor allem im Bereich der Soziologie und Humangeographie untersucht wird, kann auch auf ausgewählte literarische Texte angewendet werden. Zwar arbeitet sich die Literatur der Gegenwart konstant an den deutschen Vergangenheiten ab, realisiert diese aber nur zögernd als sozial-ökonomische Veränderungen. Bei einer genaueren Berücksichtigung dieser Parameter wird jedoch deutlich, dass bereits vor der Zäsur von 1989 ein weitaus langfristigerer und über die Wiedervereinigung hinaus wirksamer gesellschaftlicher Strukturwandel zu beobachten ist, der ökonomische und ökologische Ursachen hat. Der Fokussierung von postindustrieller Landschaft kommt vor diesem Hintergrund nicht nur die Aufgabe zu, die sozialen Veränderungen der Gegenwart sichtbar zu machen, sondern auch Begriffe zur Verfügung zu stellen, die jenseits der deutsch-deutschen Spezifika auf übergreifende Problematiken und damit auch auf den landschaftlichen Ausdruck dieser Veränderungen eingehen. Kerstin Hensel, Wolfgang Hilbig und Volker Braun entwerfen eine Landschaftsgeschichte, in der sich mehrere ideologische Zugriffe, Neu- und Umdeutungen manifestieren. Die bei allen dreien, wenngleich mit unterschiedlichen Erzählstrategien, stilistisch verschieden umgesetzten Indienstnahmen von Landschaft betreffen Industrialisierung, Nationalsozialismus, Kriegs- und DDR-Ökonomie und den postindustriellen Umstrukturierungsprozess. Letzterer wird entweder als definitiver Endpunkt einer langen Entwicklung erzählt (Wolfgang Hilbig, Volker Braun) oder fügt sich in den zyklischen Prozess einer ökonomischen Auf- und Ab-Bewegung ein (Kerstin Hensel). Landschaft ist in den behandelten literarischen Texten viel mehr als bloße Kulisse, heimaträumliche Staffage und Metaphernfeld des Empfindungsund Charakterhaushalts der literarischen Figuren. Landschaft, so das übergreifende Ergebnis, wird mit den unterschiedlichsten literarischen Mitteln und Erzählstrategien in Szene gesetzt, die von naturalistisch exakten Detailbeschreibungen über satirische Verzerrungen bis hin zu surrealen Phantasmagorien reichen. In keinem der behandelten Texte wird die Vorstellung einer idealen Landschaft kolportiert, die Empfindungs- und Kontemplationsraum eines Subjekts ist, das Landschaft immer wieder neu erschaut und sich an ihr erfreut. Landschaft, das ist bei Wolfgang Hilbig und Volker Braun die Nicht-Landschaft der technischen Verwertung, die im Falle des Braunkohleabbaus mitunter so weit betrieben wird, dass die Landschaft gänzlich zu verschwinden droht. Beide Autoren haben in ihrer Landschaftsliterarisierung große Überschneidungen, was die Bildlichkeit der Tagebaue und die Überführung geologischer und ökonomischer Arbeitsweisen in poetische Sprache und poetologische Überlegungen angeht. Denn beide stellen die Tagebaue als einen alles verschlingenden Organismus dar, der nur ausgehöhlte und aufge-
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worfene Erde hinterlässt. Bei Kerstin Hensel hingegen ist die Ideallandschaft mit ihren idyllischen Klischeevorstellungen ein Gegenbild, das systematisch demontiert wird. Schicht für Schicht zeigt sich deutlicher, dass die schöne Erzgebirgslandschaft eine Kulisse ist, hinter der sich Argwohn, Abgrenzungswille und der Versuch verbergen, aus dem schönen Schein der prototypischen Landschaft Profit zu schlagen, da es keinen alternativen ökonomischen Spielraum (mehr) gibt. Stehen Hilbig und Braun in technik- und ökokritischer Tradition, ist Hensels IM SPINNHAUS eine Kritik an Landschafts- und Regionaldiskursen, die sich am Bild der traditionellen, ästhetisch und ideologisch aufgeladenen Landschaft orientieren. Diese Diskurse werden in eine Ökonomiesatire verkehrt, die offenlegt, dass diese überkommenen Bilder bestenfalls als Touristenattraktion benutzt werden, nicht aber mit der Realität der z.T. ›abgekoppelten‹ ländlichen Regionen korrespondieren. Ein weiterer Bezugspunkt, zugleich ein Leitmotiv aller untersuchten Texte, ist die ideologische Aufladung der Landschaft. Sie wird in IM SPINNHAUS als Sinngeberin eines intakten sozialen und naturräumlichen, dabei weit von den städtischen Zentren entfernten Gefüges gezeichnet, im Verlauf der Handlung jedoch als hohles, nur mühsam aufrechterhaltenes Konstrukt decouvriert. Auch bei Wolfgang Hilbig zeigt sich beim Blick in die Vergangenheit, dass die symbolische wie konkrete Zurichtung von Landschaft immer ein gewalttätiger Zugriff ist. Sei es durch den industriellen Erstaufschluss der Abbaugebiete, sei es durch die nationalsozialistische Aufladung des Siedlungsraumes und durch die Korrumpierung des Raumes durch Rüstungsfabriken und Vernichtungs- und Arbeitslager oder sei es durch die Fortführung technisierter Ausbeutung und den Verschleiß von Ressourcen in der DDR und in der postindustriellen Nachwendezeit: Landschaft ist niemals ein betrachterunabhängiger Gegenstand, ist nicht natürlich gewachsen, nichts Vorhandenes, sondern unterliegt ausnahmslos der menschlichen Formung. Die drei Varianten der postindustriellen Landschaft sind als vakante Landschaften beschrieben worden. Sie sind Teil eines Aushandlungsprozesses, der noch nicht abgeschlossen ist. Endgültige Nutzungsstrategien, die einerseits den demografischen und andererseits den ökonomischen Wandel berücksichtigen, haben sich noch nicht vollständig bewährt. Somit sind die Landschaft des Erzgebirges, des Leipziger Südraums und der Niederlausitz stellvertretend für alle anderen postindustriellen Landschaften weiterhin offen für Neuaushandlungen. Wenn diese Entwicklung aus der doppelten Perspektive des Räumlich-Landschaftlichen und des Sozialen verfolgt wird, tritt ihre zum Teil scharf konturierte Ambivalenz zutage. Sie besteht darin, nach der Wiedervereinigung scheinbar ökologisch intakte Landschaften kreiert zu haben, die aber deshalb als künstlich und steril angesehen werden, weil sie durch diese Gemachtheit nicht als Ergebnis eines als natürlich empfundenen Entwicklungsprozesses verstanden werden können. Wo zuvor Landschaft vor allem durch den Braunkohletagebau grundlegend umgestaltet wurde, wird sie es seit den 1990er Jahren vielerorts durch Dekontaminierung und Rekultivierung. Dies ändert aus der
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Perspektive eines betrachtenden und involvierten Subjekts jedoch nichts an der Wahrnehmung und Erfahrung einer grundlegenden Leere und Vakanz dieser Landschaften, die weitere Neubeschreibungen fördern und fordern. Denn sie warten nach wie vor auf eine gelingende individuelle wie gesellschaftliche Aneignung.
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»Was wäre gewesen, wenn nichts gewesen wäre?« Die Wende als Verwandlung in Patrick Hofmanns Roman Die letzte Sau M ARIO H UBER
Das Dorf Muckau im 2009 erschienenen Roman DIE LETZTE SAU des in Borna geborenen Patrick Hofmann verschwindet, entgegen aller Erwartung, letztlich doch nicht. Es ist im Mitteldeutschen Braunkohlerevier gelegen und zur Zeit der Erzählung im Jahr 1992 fast ausgestorben. Der Braunkohletagebau rückt seit Jahren näher und der Großteil der Bewohner ist bereits umgesiedelt. Auf dem Hof der Familie Schlegel bereitet man sich ebenfalls auf das Wegziehen vor; die letzte Sau im Stall muss davor noch geschlachtet werden. Die ganze Familie reist an, drei Töchter nebst Ehemännern und Kindern besuchen für ein Wochenende Albrecht und Hertha Schlegel. Eine Enkeltochter bringt ihren westdeutschen Freund mit, die Schlachterin Diana übernimmt die handwerkliche Regie. Der Roman beschreibt das Wegbrechen von gewohnten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten – hervorgerufen insbesondere auch durch das Verschwinden der DDR – und die damit verbundene Neuordnung von Identität. DIE LETZTE SAU zeigt, so die These, den Moment der Ablösung der ostdeutschen von der westdeutschen Metaerzählung und verhandelt dabei die verschiedenen Strategien der Abwehr, des Aufschubs und der Überblendung, d.h. auch die Instrumentalisierung dieser Situation. Grundlegend für diese Deutung sind die konstruktivistischen Implikationen des kulturellen Gedächtnisses sowie Aleida Assmanns Konzeption von »Kulturen der Verwandlung«. Diese Aspekte korrespondieren insofern, als dadurch ein räumlicher, zeitlicher sowie sozialer Schwebezustand erfassbar wird, der ein Ausverhandeln der möglichen Vergangenheiten in Krisensituationen bedeutet, was sich im Roman widerspiegelt. Die letzten Mitglieder einer seit langem vom eigenen, wortwörtlichen Untergang überzeugten und dadurch sehr zurückgezogenen Dorf-
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gemeinschaft stehen für das Verblassen eines Teils des kulturellen Gedächtnisses der DDR. Der (Erinnerungs-)Raum in DIE LETZTE SAU ist aus Praktiken hergestellt: Identität – und damit eine Auswahl an Erinnerungen – wird nicht fixiert, sondern im Wiederholen von sozial kodierten Ritualen immer wieder neu tradiert bzw. konstruiert, wobei Änderungen in den Abläufen auf der Tagesordnung stehen. Das Verschwinden oder vielmehr das Aussterben des Dorfs zeigt, dass sich dieses vor allem aus sozialen Interaktionen zusammensetzt.
ALLEGORISCHE
UND FIKTIVE
D ORF -W ELT
Der Roman kann, ob der ›überschaubaren‹ Handlung, lässt man die unterschiedlichen Erinnerungsmomente vorerst beiseite, inhaltlich sehr schnell zusammengefasst werden. Wesentlich schwieriger ist es, die formalen Besonderheiten aufzulisten. Eine erste Näherung an die Spezifik der literarischen Darstellung der im Roman präsentierten Dorf-Welt bietet der Analysevorschlag einer heuristischen Dreiteilung in Dörfer des »Realen«, »Allegorischen« und »Fiktiven« von Nell/Weiland (2014: 32). Man kann Muckau in DIE LETZTE SAU in diesem Sinn als allegorisch verstehen; wobei die allegorische Darstellung des Dörflichen unterschiedliche Richtungen begründet: »Einerseits kann es den Ausgangspunkt kultureller psychosozialer Phänomene bilden und als Erinnerungsort bzw. ›topographischer Wissensspeicher‹ […] das (Wieder)Erinnern an vergangene, im Untergang begriffene oder aber auch noch nicht gegenwärtige Lebenswelten erzeugen. […] Andererseits kann es sowohl in realistischem Anstrich als auch in fiktionalisierter Überhöhung bestimmte Sinngebungsprozesse initiieren bzw. Sinnmodelle transportieren und vermitteln.« (Ebd.: 38)
Bezieht sich der erste Aspekt dieser allegorischen Darstellung demnach auf das kollektive/kulturelle Gedächtnis, vermittelt der zweite spezifische Deutungen des Dargestellten, bspw. als (Anti-)Idylle oder als Nicht-Ort (vgl. ebd.: 37f.). Die Wende, das Verschwinden der DDR und des damit verbundenen Werterahmens erhält im Roman eine private, inoffizielle Dimension, indem die Familienmitglieder unterschiedliche Aspekte oder Diskurse der DDR verknüpfen. Offenkundig wird dabei, dass Politik und Wirtschaft auch abseits einer ›großen‹ Erzählung eine wesentliche Rolle spielen bzw. zu spielen beginnen. Muckau lässt sich südlich von Leipzig, in der Umgebung von Borna, verorten. 1 Der Braunkohletagebau ist im
1
Dabei könnte es sich bei Muckau um eine fiktionalisierte Version des realen DreiskauMuckern handeln. Diese grundsätzliche Referenzialisierbarkeit wird jedoch mit der vom
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Begriff, eingestellt zu werden; das Umland des fast verlassenen Dorfs besteht aus Baggerarbeiten, Chemiewerken und einer Brikettfabrik sowie ununterbrochenem Lärm, der erst in seiner plötzlichen Abwesenheit am Ende des Romans beschrieben und damit auch für den Leser Teil der dargestellten Welt wird. In dieser nachträglichen Offenlegung, die Wahrnehmung mit der Fähigkeit zur Differenzierung verbindet, den Raum und den wahrnehmenden Menschen, ist ein durchgehendes Moment der ästhetischen Darstellung des Verschwindens bzw. der Verwandlung im Roman zu finden – und auch die Konstruktion eines gemeinschaftlichen Gedächtnisses bezeichnet. Dies betrifft – mehrfach konnotiert – sowohl die intersubjektiv erfahrbaren sozioökonomischen Verhältnisse als auch die subjektiven Erfahrungswelten der Figuren. Neben dieser möglichen Deutung als allegorisches Dorf ist in eben dieser Deutung auch eine weitere angelegt. Denn neben dem Aspekt der Erinnerung kann auch die »fiktionalisierte Überhöhung bestimmter Sinngebungsprozesse« aufgegriffen werden. Dies bedeutet nicht nur einen Bezug zum (realen) Nicht-Ort, sondern auch die Möglichkeit, die Dorf-Welt als »fiktives« Dorf zu lesen, welches – in metareferenziellen Formen – auf seine eigene Gemachtheit verweist. Diese Tendenz lässt sich im Roman anhand bestimmter, als Peritexte (vgl. Genette 1993: 11) zu beschreibender, Passagen nachverfolgen. Diese bestehen vor allem aus technischen Anleitungen kultureller Praktiken. Im Roman finden sich Tabellen zur Schlachtung, Skizzen von Schweinehälften, Kochrezepte sowie Liedtexte und Notationen, die immer wieder den Lesefluss unterbrechen und durch die Fülle der Details nicht mehr, sondern weniger Realismus bedeuten und auf eine »Unkontrollierbarkeit des Erzählens« (Miyazaki 2013: 187) zulaufen. Die wichtigsten Paratexte stehen dabei zu Beginn und am Ende des Romans. Die Erzählung wird mit einer Auflistung der auftretenden Figuren, deren Alter, Familienverhältnissen sowie Berufsstand eingeleitet. Ebenfalls zeigt sich, damit korrespondierend, im Verlauf der Erzählung eine an klassische Dramenverhältnisse und theatrale Praktiken angelehnte Begrenzung von Raum, Zeit und Handlung. Das letzte Schwein wird geschlachtet: dies betrifft Haus und Hof der Familie Schlegel, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, am 5. Dezember 1992. Diese Verengung bedeutet auch eine Abkehr von einer umfassenden Darstellung, Beschreibung oder sogar Erklärung der politischen und sozialen Verhältnisse. Abgeschlossen wird das Buch mit einem Nachweis unterschiedlicher Zitate, 2 die in den Text verwoben sind. Autor verwendeten, für den Landkreis Leipzig typischen Endung »-au« relativiert, was auch auf der Ebene der Interpretation mit der Deutung als »allegorisches« oder »fiktives« Dorf korrespondiert. 2
Der Aufsatz befasst sich im Folgenden speziell mit zwei dieser Referenzen, nämlich jenen auf Jana Hensels Jugenderinnerungen ZONENKINDER und auf das in der DDR weitver-
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Die intertextuelle Dimension, die einerseits die Authentizität der Darstellung erhöht, weil sie – vor allem durch die zitierten Sachtexte – diese zusätzlich beglaubigt, unterminiert andererseits die Autorität der Figuren und auch des Erzählers, da das Wissen angelesen erscheint. Gerade die unterschiedlichen, sich ergänzenden Tendenzen – wenn man der vorgeschlagenen Kategorisierung von Nell/Weiland folgt – sind im Roman interessant. Einerseits verweist der Roman beständig auf seine eigene Künstlichkeit und zeigt damit seine Gemachtheit. Allein die am Ende des Buches ausgewiesenen Zitate sowie die eingeschobenen Notationen und Tabellen offenbaren die Konstruiertheit des Werks und zeigen sozusagen den arbeitenden Autor. Dabei deutet bereits der Romantitel den abschließenden Charakter der Geschichte an, der durch seine am klassischen Drama orientierte Struktur eine (Ab-)Geschlossenheit suggeriert und insofern auch formal eine allegorische Ausrichtung unterstützt, die den Abschluss bzw. das Ende einer Epoche reflektiert. Diese allegorische Ausrichtung kann, andererseits, auf inhaltlicher Ebene an den zwischen den Figuren diskutierten Veränderungen von Privatheit und Öffentlichkeit, z.B. mit Bezug auf die Stasi-Vergangenheit von Familienmitgliedern (Hofmann 2009: 113), der Darstellung des Innenlebens dieser Figuren und an der Frage nach möglichen Formen des (kollektiven) Gedächtnisses festgemacht werden. Was hier bereits durchscheint, ist vielleicht als Manko des Romans zu werten: Die konstruktivistischen Elemente, die grotesken Szenen rund um die Weiterverarbeitung des getöteten Schweins sowie die manchmal etwas flachen Figuren lassen die Darstellung mitunter zur Komödie werden, in der aus der DDR Wurst gemacht wird, sich alle um die besten Stücke streiten und beim Spiel »Reise nach Jerusalem« der einzige Westdeutsche gewinnt. Was aber die unterschiedlichen Perspektiven – auf Figurenebene und auf jener der literaturwissenschaftlichen Analyse – zeigen, ist, dass das Dorf in DIE LETZTE SAU sich bereits fragmentiert hat. Es gibt also keine einfache oder idyllische Provinz, keinen Zusammenhalt, sondern im Angesicht der persönlichen Probleme, die die politischen und damit (volks-)wirtschaftlichen mit sich bringen, verschwindet die Gemeinschaft auf dem Weg zum Nicht-Ort.
breitete Sachbuch WELTALL ERDE MENSCH. Die gesamte Bandbreite der intertextuellen Verweise – es werden u.a. Texte von Luther, Hegel, Marx, Himmler, Stalin, Kafka und auch ein Song der Band Die Ärzte zitiert – muss hier außen vor bleiben. Die unterschiedlichen (Text-)Schichten der Erinnerung bzw. des kulturellen Gedächtnisses stehen für eine Verschränkung von räumlichen, zeitlichen und sozialen Ebenen, wobei jeder intertextuelle Verweis mit unterschiedlichem semantischen Gehalt zum Gesamtbild der Darstellung der gesellschaftlichen Veränderungen beiträgt.
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T OPOGRAPHIE Die Schlachterin, die einzige Ich-Erzählinstanz im Roman, fragt an einer Stelle, was sie nun aus dem getöteten Tier machen soll – nur lebendig ginge nicht mehr. Folgt man Michel de Certeau (1988: 187), begründet etwas Totes einen Ort; so wie auch Handlungen Räume, eben als Aktionsräume von historischen Subjekten, erschließen. Interessant sind dabei vor allem die Übergänge. Ständig werden Orte in Räume umgewandelt und umgekehrt: »Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht«. (Ebd.: 186, Hervorhebung im Original) Im Roman bleibt Muckau dazwischen, zwischen Raum und Ort; die Zukunft ist im Moment der Erzählung ungewiss. Das Dorf findet in der Erzählung deshalb seine Form eher in der Reflexion über die Abwesenheit von den Figuren aus Erinnerungen bekannten Gegebenheiten als durch konkrete geografische Angaben. Politisch betrachtet scheint die Transformation von DDR zu BRD nur eine unter vielen: Vom Zweiten Weltkrieg über die DDR bis zur Wende lösten sich Gesellschaftssysteme ab. Was sich nicht änderte, ist die Marginalität des Dorfs und der Provinz und das Bewusstsein seiner Bewohner davon. Wie Hartmut Böhme schreibt, sind Kulturen nur als stabilisierte Raumordnungen denkbar – ohne diese ist kein Gedächtnis und keine Tradition möglich (vgl. Böhme 2005: XIV). Kultur bedeutet demnach zunächst die Entwicklung von Topographien, was in Böhmes – in phänomenologischer Tradition stehender – zirkulärer These mündet, dass Räume gebildet werden müssen, damit Bewegung und Beständigkeit erfahren werden können und dass sich gleichzeitig dem Auge ohne kulturelles Wissen überhaupt keine Räumlichkeit erschließt (vgl. ebd.: XVIIf.). Räume müssen zudem, Certeau zufolge, als handlungsrelevant markiert werden, wodurch sie Aktionen präfigurieren und in diesem Sinne als Aufzeichnungs- und Darstellungssysteme fungieren (vgl. ebd.: XIX). Das Dorf ist ein in dieser Weise markierter Raum und damit ein Erfahrungsraum, der der subjektiven Lebenswelt eines Großteils der Bewohner entspricht, was damit einhergehend einen individuell zugänglichen, mit Traditionen bevölkerten Imaginationsraum bedeutet (vgl. Nell/Weiland 2014: 18). Die Gemeinschaft wirkt ›raumbestimmend‹: Die Regeln für das Zusammenleben sind dabei zum Teil rekursiv gesetzt. Traditionsbezüge werden generiert, weil eine Abweichung vom Status quo nicht mehr vorstellbar ist. Durch diese Traditionskorrektur fließt ›neu‹ Generiertes in die ›alte‹ Wirklichkeit zurück. Kulturelle Topographien – als reales oder erfundenes Dorf – sind demnach in der Regel mit Routine verbunden: Sie sind physisch und symbolisch »enttäuschungssicher« und perpetuieren Selbstverständlichkeit und Vertrautheit (vgl. Böhme 2005: XXIf.). Im Gegenzug bedeuten »Brechungen« dieser Topographien Fremdheiten, Orientierungsstörungen, Anomien und Identitätskrisen (vgl. ebd.: XXI). Trotz der quasi ›enttäuschungssicheren‹ Marginalität des Dorfs im Bewusstsein seiner Bewohner finden diese Brechungen sehr plastisch durch den sich
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nähernden Tagebau, abstrakter durch die Wende ihre Entsprechung. Die Vorstellung von konstruierten Dorf-Welten basiert also – vereinfacht dargestellt – auf der elementaren Wahrnehmung von Ähnlichkeit und Verschiedenheit, die symbolische Zuordnungen an Erlerntes bindet (vgl. Kuhn 1978: 409). Daraus lässt sich auch ableiten, dass es immer zu einer solchen Konstruktion kommt bzw. kommen muss und dass die Ausverhandlungsprozesse über die Vergangenheit und die eigene Geschichte immerwährend sind. So betrachtet ist es auch nicht verwunderlich, dass in der aktuellen Entwicklung des Dorfs (bzw. in der neueren Forschung zu diesem Gebiet) jenes die Bedeutung als »dauerhaft«, »geschlossen« und »prägend« weitgehend verloren hat (vgl. Langthaler 2014: 64). Das Dorf im Roman ist, wie bereits erwähnt, in diesem Sinn nicht mehr vorhanden. Als Folge der Abwanderung wegen der physischen Gefährdung des Raums lässt sich der Erfahrungsraum nicht mehr als kulturelle Topographie verstehen und unterbindet die Möglichkeit der (imaginativen) Traditionsbildung auf gemeinschaftlicher Ebene. Die unterschiedlichen Figuren in der Geschichte erfahren diese Brechung der Topographie, die die Ablösung der DDR durch die BRD im Gegensatz zu den vorherigen gesellschaftlichen Umbrüchen anders akzentuiert. Was sich durch den Verlust der kulturellen Rahmung zeigt, sind Identitätskrisen, die durch den Versuch einer Konstruktion von kohärenter, gemeinsamer Vergangenheit überwunden werden sollen.
K ULTURELLES GEDÄCHTNIS UND GEMEINSAME E RINNERUNG Gegen Ende des Romans beschaut Familienpatriarch Albrecht seinen Hof und erkennt, dass der Tagebau ihm verwehrt, »die Orte von früher selbst im Traum aufzusuchen« (Hofmann 2009: 199). Er kommt zum Schluss, »dass die Bagger nicht nur im Tagebau, sondern auch in seinem Kopf arbeiteten, dass sie nach und nach die Erinnerung an das, was der Tagebau geschluckt hat, die Bilder und Namen von Plätzen, Wegen, Menschen, von Bächen, Wiesen und Wäldern auslöschten, diesen Teil der Vergangenheit, um die Gegenwart erträglich zu machen.« (Ebd.)
Folgt man den Gedanken der Figur und versteht sie weitreichender, verweisen die räumlichen Bedingungen und die Abwesenheit von bekannten Orten im Roman auf die Fragilität von Sinn und Gemeinschaft. Elementar für eine Gemeinschaft ist die Stabilisierung der Gegenwart bzw. die Konstruktion eines gemeinsamen Vergangenheitsbezugs – die Gruppe erschafft sich gewissermaßen aus sich selbst heraus (vgl.
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Neumann 2005: 160).3 Durch das Ende der DDR und das zerstörte Umland sind diese Bezüge jedoch ohne konkrete Anknüpfungspunkte in der Gegenwart, was auch den Blick auf das Gemachtsein der Gegenwart durch Erzählungen, durch etwas Gespeichertes (vgl. Assmann 2010: 327), ermöglicht. Gespeicherte Erinnerungen, im einfachen Sinn als materielle Gegebenheiten wie z.B. Texte, Bilder oder Tonaufnahmen zu verstehen, benötigen einen Anlass zur Sammlung. Die Wandelbarkeit von Zeitkonzepten, von Vorstellungen über Epochenschwellen und -brüchen spielt hier eine Rolle, hängt doch die Ausrichtung auf eine – wie auch immer geartete – Gegenwart (und implizit damit einhergehend eine entworfene Zukunft) mit einer Vorstellung der eigenen Geschichte zusammen: »Der Fortschritt braucht das Heimatmuseum wie das Konvex das Konkav« (Assmann 2011: 282). Gerade diese Einrichtungen – oder Äquivalente – fehlen im Roman bzw. ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgemacht, was eine legitime Form der Erinnerung an die DDR bedeutet. Weil das Sprechen erst passiert oder noch folgt, fehlt im Roman eine communal voice, z.B., als eine mögliche Variante, eine von einer unbeschwerten, traumafreien Kindheit und Jugend berichtende Erzählung, die ohne Einschnitte und Aussparungen eine generationstypische kollektive Erinnerung ermöglicht (vgl. Gansel 2010: 32). Da diese Aushandlungsprozesse wie erwähnt immerwährend sind, formiert sich gleichzeitig bereits eine mögliche kollektive Erinnerung, was an der Erzählung und den eingeflochtenen Intertexten ablesbar ist. Die durch Literatur ermöglichte mediale Erweiterung der Erinnerungskultur lässt literarische Bedeutungsstiftung in das kollektive Gedächtnis einfließen (vgl. Erll 2005: 258). Literatur wird so – als Intertext – zu einem Medium des kollektiven Gedächtnisses (vgl. ebd.: 260). In diesem Sinn ist z.B. ein Zitat aus Jana Hensels ZONENKINDER im Text zu verstehen. Hensels Buch wurde 2002 veröffentlicht, also zehn Jahre nach den im Roman erzählten Geschehnissen. Das Zitat, das ohne die Angaben am Ende des Texts nicht als solches erkennbar wäre, ist dabei denkbar kurz: »Was wäre gewesen, wenn nichts gewesen wäre?« (Hofmann 2009: 215; Hensel 2002: 76) Man kann diesen Verweis auf Hensels Buch 3
Dabei ist das Gedächtnis von der Erinnerung zu trennen: Erinnerung ist keine Funktion, sondern bereits eine kognitiv-psychische Konstruktion, die mit dem Gedächtnis verbunden ist und die mit Gegenwartsbezug die Vergangenheit modelliert. Die Erinnerung ist dabei beeinflusst von der Erzählbarkeit ihres Inhalts: Kohärente Zusammenhänge müssen konstruiert werden, die es ermöglichen, das Leben des Einzelnen bzw. die Gesellschaft als Ganzes in einen erzählbaren und erzählenswerten Sinnverbund zu stellen (vgl. Sutton 2016: s.p.), wie es im Roman z.B. durch die Verweise auf Literatur passiert. Das Gedächtnis besitzt demnach eine gruppenstiftende Funktion (vgl. Neumann 2005: 160); stellt man die Frage nach einer kollektiven Identität, muss man nach gruppenspezifischen Kulturformen Ausschau halten.
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durchaus als Form der Authentifizierung des Dargestellten verstehen. Die communal voice, die Hensels Jugenderinnerungen an die DDR darstellt, bestätigt das im Entstehen Begriffene als teilbare Wahrheit. Auch trifft der Satz an sich die Idee der Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses. Durch die Wiederholung wird einerseits die Kohärenz des Kollektivs (über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg) sichergestellt und andererseits eine verlässliche Zukunftsperspektive gestiftet (vgl. Pethes 2008: 84f.). Den Fluchtpunkt macht hier eben dieser Wunsch nach Kontinuität aus, der unerfüllbar bleibt. Jedoch bildet eine gemeinsame, prädominant aus westdeutscher Sicht interpretierte Geschichte dessen unweigerliche Kehrseite. Diesem Geschichtsbruch wird, so die vorgeschlagene Deutung der Anlage des Romans, mit unterschiedlichen narrativen Strategien, von der Abwehr bis zur kalkulierenden, auf imaginäre Ängste rekurrierende Instrumentalisierung, entgegengetreten. Dabei ist kein konkretes, trennscharfes, auf soziale Merkmale und ihre Klassifikation verweisendes System der Differenzierung zwischen Ost und West bei den Figuren vorhanden. Vielmehr wird die Narration, typisch für solche Konfliktsituationen (vgl. Koschorke 2012: 236ff.), von verallgemeinernden Bildern getragen. Abseits dieser Strategien bieten performative Rituale ebenfalls die Möglichkeit der Erinnerung und der Ausbildung eines kulturellen Gedächtnisses. Feste bilden in diesem Zusammenhang eine wichtige Form: Sie bieten die Möglichkeit des selbstversichernden, stabilisierenden Wiedererzählens (vgl. Pethes 2008: 84). Das Familientreffen und die gemeinsame Schlachtung und folgende Aufarbeitung des geschlachteten Fleisches ist in diesem Sinn als gemeinsamer Festakt zu verstehen. An dieser Stelle wird das Defizit in der Kommunikation sichtbar, denn das Wiedererzählen setzt vor allem das Wissen um die Historie voraus, inklusive eines »selbstverständlichen Dazugehörens« als Basis für Integration und Identitätsstiftung (vgl. Baum 2014: 125). Vordergründig werden im Roman (von einzelnen Figuren) verbindende Lieder gesungen, es wird gemeinsam gekocht und getrunken. Da jedoch die sozialistischen Mythen ihre Autorität verloren haben, ist ein Anknüpfen daran nicht möglich. Die Figur der Schlachterin, durchaus mit dem Provinzliteraturmotiv des »plötzlich auftretenden Fremden« (vgl. Mecklenburg 1982: 46) in Verbindung zu bringen, bietet durch ihre Außenseiterrolle eine Projektionsfläche. So wird die Geschichte erzählt, dass ihr Vater in den 1960er Jahren durch sexuelle Interventionen das DDR-Regime unterstützt haben soll. Er habe durch das Abspenstigmachen der Bäuerinnen die Bauern auf eigentümliche Weise ›überzeugt‹, sich der LPG anzuschließen (vgl. Hofmann 2009: 75ff.). Da aber 1992 diese sozialkommunikativen Exklusions- als Inklusionsmechanismen nicht mehr wirken, führt das Misstrauen gegenüber der Außenstehenden zu keinem Zusammenhalt. Auch wird das Buch
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WELTALL ERDE MENSCH, ein Jugendweihegeschenk bis in die frühen 1970er Jahre, 4 in diesem Sinn gelesen, um die Verfehlungen der DDR und ihrer Geschichtsfiktionen vorzuführen. Die unterschiedlichen Erzählungen, Narrative und Diskurse führen dabei zu einer Polyphonie ohne Integrationsmacht. Als Ergebnis ist im Roman eine Plausibilisierung der Welt durch einen bündelnden Erzähler nur noch eingeschränkt möglich, wie z.B. auch die zitierte Literatur zeigt. Die unterschiedlichen Lücken – in der Landschaft, in der Erinnerung, in der Geschichtsschreibung – werden gewissermaßen vom Rand und von einer negierenden Gegenhaltung her abgearbeitet. »[W]enn das Loch so groß is, dass nichts mehr drüberwachsen kann, muss man die Geschichte aufschreiben« (Hofmann 2009: 32), heißt es im Roman mehrdeutig. Die Zeitvorstellung – retrospektiv und prospektiv – bleibt im Roman, wie diese Beispiele zeigen, diffus. Durch die unterschiedlichen Erinnerungen, die Intertexte und die Identitätskrise infolge des »Bruchs« herrscht eine ausufernde Gleichzeitigkeit. Lediglich die stabilisierende Funktion des (Familien-)Festes mit der Rezitation der verschiedenen Traditionen, Liedern etc. in der Erzählung ist es, die die Zeit und deren Bewegung in unterschiedliche Richtungen für einen Moment anzuhalten versucht – und letztlich scheitert. Eine Stabilisierung der Situation, um einen Transit der im Umsiedeln Begriffenen zu erleichtern, da »Heimat« und ähnliche Konzepte nicht (mehr) ortsgebunden verstanden werden (können), ist nicht (mehr) möglich.
G ENERATIONEN Geht man mit Ulla Karstein (2009: 57f.) davon aus, dass in der familiären Kommunikation gesellschaftliche Veränderungen verarbeitet werden müssen und durch das unterschiedliche Alter der Familienmitglieder unterschiedliche Perspektiven nicht nur vorhanden sind, sondern auch koordiniert werden (sollten), dann zeigt die Welt im Roman hier ein defizitäres Bild. Ein wichtiger diesbezüglicher Handlungsstrang ist die Intrige von Albrechts Tochter Annegret, die darauf hinauslaufen soll, den Hof, da die Zukunft des Tagebaus unsicher ist, zurückzukaufen. Sie und ihr Mann Wolfgang spielen dabei unterschiedliche Narrative aus. Zuerst: Das böse DDR-Regime war ein Unterdrücker, jetzt kann man sich zurücknehmen, was einem zusteht. Dann:
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Interessant ist hier, dass auch dieser »Erinnerungsort«, d.h. WELTALL ERDE MENSCH zum Zeitpunkt der Erzählung keine offizielle Komponente der DDR-Erinnerung mehr darstellt. Im Roman selbst wird darauf hingewiesen (Hofmann 2009: 158ff.), dass das Buch unter Erich Honecker circa ab 1974 aus dem Verkehr gezogen wurde, da es zu sehr von Walter Ulbricht geprägt war und nicht mehr mit den Wertvorstellungen der SED-Spitze konformging.
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Vielleicht kommt ein findiger, uns nur Schaden wollender Westdeutscher auf die Idee, den Grund und das Haus zu kaufen. Schließlich schafft sie es mit der einfachsten Erzählung, ihrer ›eigenen‹: »Das ist mein Elternhaus. Hier bin ich aufgewachsen.« (Hofmann 2009: 281) Ihrer Familie gegenüber verkauft sie sich als Opfer, indem sie obendrein noch einen Streit mit ihrem Mann vorspielt. Die Kommunikation ist demnach weit entfernt von einer »Repräsentation familiärer Geschlossenheit«, in der die Familie jenseits der Gesellschaft begriffen werden kann (vgl. Karstein 2009: 59f.); und ebenso auch entfernt von möglichen Bearbeitungen der Differenzen, die Karstein in ihrem Ansatz beschreibt (vgl. ebd.: 61ff.): Die von ihr ausgemachten Strategien der Überblendung oder tatsächlichen Problematisierung der Konflikte sind im Roman kaum auszumachen. Das bedeutet natürlich nicht, dass sie nicht vorhanden sind. Das Schweigen zu bestimmten Themen oder die beschriebenen Täuschungsmanöver kann man als (meta-)sprachliche Strategie verstehen, die als eine Suche nach der eigenen Identität gesehen werden kann (vgl. Bohnenkamp/Manning/Silies 2009: 28). Was bereits angedeutet wurde und im Text tatsächlich ausgemacht werden kann, ist, dass ein Gegenentwurf instrumentalisiert wird, d.h. eine Externalisierung stattfindet, damit ein Kontrast zur eigenen Identität vorhanden ist. So wie die Schlachterin als Repräsentation des Bekannten – der DDR – abgelehnt wird, wird auch der Westdeutsche und damit die Gegenerzählung der letzten vierzig Jahre oberflächlich abgelehnt. Der Roman illustriert, dass Differenz und Abweichung immer die Kehrseite der durch kulturelle Erinnerungsprozesse gestarteten Identitätsstiftung sind (vgl. Pethes 2008: 92). Auch in diesem Sinn gibt es keine gelebte Territorialität, die die Provinz bzw. das Dorf als Heimat semantisiert, sondern nur diese gruppenstiftende Funktion der In- und Exklusion, die jedoch nicht greift und letztlich wirkungslos bleibt. Auf der Figurenebene herrscht das Empfinden des Wandels vor und keine konstante Metanarration ermöglicht im Moment die Integration einzelner Persönlichkeitsanteile. Das Familienfest mit der gemeinsamen Schlachtung verfehlt seine Funktion, weil die Identität der Familie bereits infrage gestellt ist, und bietet nur noch einen punktuellen Zusammenhalt ohne weitreichende Folgen. Es werden Erinnerungen beschworen, um eine erzählbare Vergangenheit zu destillieren. Für (mehr oder weniger institutionalisierte) Ostalgie (vgl. Ahbe 2013: 44) ist es – 1992 – noch zu früh, laienhafte Versuche der Kompensation des Wertrahmens finden sich vor allem im Lesen im erwähnten WELTALL ERDE MENSCH. Trotzdem ist eine Bewegung in den möglichen Vorstellungen der Figuren erkennbar, wie sich in weiterer Folge an Albrechts Kriegserinnerungen zeigen lässt. Entsubstanzialisierung und Reaktualisierung des Vergangenen sowie die Auseinandersetzung mit den »dunklen, beschämenden und traumatischen Kapiteln der eigenen Geschichte« (vgl. Assmann 2011: 283ff.) sind für Aleida Assmann die drei wesent-
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lichen Aspekte der Hinwendung zum kulturellen Gedächtnis. Aber dies setzt natürlich voraus, dass Vergangenheit vorhanden ist: »Um mich an etwas erinnern zu können, brauche ich eine Gedächtnisspur. […] An blinde Flecken kann man sich nicht erinnern.« (Assmann 2006a: 47) An die Stelle der DDR-Geschichtsschreibung, die im Buch vor allem durch das Zitieren aus WELTALL ERDE MENSCH markiert ist, tritt eine Vielzahl von unterschiedlichen Deutungsvarianten. Im Roman versuchen die Figuren unterschiedliche ›Vergangenheiten‹ zu beschwören: Tochter Elke erzählt Sagen aus der Gegend (Hofmann 2009: 226), ihre Schwester Sonja erfährt, wie ihre Mitarbeit bei der Staatssicherheit reaktualisiert wird (ebd.: 130) und der Großvater Albrecht erinnert sich – durch Nachfragen der Enkel – an seine Kriegserlebnisse (ebd.: 230ff.). Diese Kriegsvergangenheit, die im Sinne der von Assmann erwähnten historischen Traumata wieder Relevanz bekommt, bietet trotz (oder wegen) ihrer Distanz eine gemeinsame Ebene jenseits der unterschiedlichen Brüche. Lukas, der westdeutsche Freund von Kathrin, liest in WELTALL ERDE MENSCH und findet nichts zur Shoah. Die Vernichtung der Juden wird nur im Zusammenhang mit der – aus der propagandistischen Sicht des DDRRegimes – nachlässigen Entnazifizierungspolitik der Bundesrepublik erwähnt bzw. instrumentalisiert (ebd.: 163f.). Ebenfalls erfährt man im Roman, dass der Bruder von Albrechts Frau Mitglied der SS war – und sie Anhängerin Hitlers. So, wie es im Selbstverständnis der DDR theoretisch keine Arbeitslosigkeit geben durfte oder konnte, durfte oder konnte es theoretisch auch keinen Rassismus geben. Praktisch war beides weiterhin vorhanden – umgangssprachliche »Arbeitslosigkeit am Arbeitsplatz« als Begleiterscheinung der Planwirtschaft (vgl. Richter 2009: 38f.) sowie ein Fortbestand des Rassismus (vgl. Ransiek 2013: 83). Demgemäß äußert sich Hertha, Albrechts Frau, zu tagesaktuellen Ausschreitungen in Connewitz mit rassistischen und antisemitischen Sprüchen (vgl. Hofmann 2009: 223f.). Die verklausulierte Sprache, die sie dabei benutzt, bestätigt, worauf Anna Ransiek im Zusammenhang mit Rassismus aufmerksam gemacht hat und was über diesen Bereich hinaus als eine generalisierbare Feststellung verstanden werden kann: Tabuthemen ermöglichen die Reflexion über die Grenzen des Sagbaren zu einer bestimmten Zeit (vgl. Ransiek 2013: 92). So wie die nachträgliche Offenlegung, als Moment der Differenzierung, eingesetzt wird, passiert dies ebenfalls durch das Schweigen bzw. uneigentliche Sprechen über Unaussprechbares. Durch die Aneignung der Mitschuld an der Judenvernichtung bietet sich ein gesamtdeutscher Knotenpunkt für die Konstruktion einer kulturellen Identität an. Für spätere Ereignisse, aus der Zeit nach 1945, fehlt Entsprechendes. So ist z.B. auch die Gegenwart, das Umland im Roman, für die Figuren nicht eindeutig benennbar: Erinnert die Landschaft um das Dorf die jüngste Generation an utopische Romane und Mondlandschaften, ist es für die um 1950 geborene Eltern-
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generation die Abwesenheit der »schönsten Dörfer«, die damit in Verbindung gebracht wird (Hofmann 2009: 32).5
K ULTUREN
DER
V ERWANDLUNG UND V ERSTELLUNG
Der im Roman erzählte Zustand lässt sich anhand einer heuristischen Dichotomie von Aleida Assmann als kulturelle Verwandlung oder, besser gesagt, als funktionale Verstellung beschreiben und verstehen. Assmann bezeichnet »Identität« und »Verwandlung« als Alternativen, die ein unterschiedliches Verständnis von Kultur markieren. Dabei unterscheidet sie innerhalb der unterschiedlichen Kulturen der Verwandlung und der Identität nochmals funktional zwischen »Wandel«, der mit allem Lebendigen assoziiert ist, und »Verwandlung«, die z.B. in der dauerhaften Grenze zwischen Leben und Tod angesiedelt werden kann: »Der Tod ist die existenzielle Grenze, wo Verwandlung an die Stelle von Wandel tritt.« (Assmann 2006b: 25) In Kulturen der Verwandlung, so führt Assmann aus, ist die Verwandlung als Steigerung von Erkenntnis und Erfahrung zu verstehen, im Gegensatz zu Kulturen der Identität, in denen die Verwandlung eher ein »Verstellen« darstellt, das eine Minderung des Seins bedeutet (vgl. ebd.: 41). Verstellung im Umkreis einer Kultur der Identität ist als Abweichung von der Norm der Identität vor allem negativ konnotiert (vgl. ebd.: 29). In unterschiedlichen Ausprägungen kann Verstellung, welche auf eine Differenz zwischen Sein und Schein rekurriert, zudem z.B. als strategisches Mittel oder Selbstschutz verstanden werden (vgl. ebd.: 26f.).6 Da sich die sozialen und auch topografischen Veränderungen im Roman nicht in einer tradierten Form in eine gemeinsame Gegenwartsdeutung integrierten lassen und man durch das »Geschichtsbewusstsein eines Endes« (Miyazaki 2013: 20) – siehe Romantitel – von einer Spaltung, Heterogenisierung und Individualisierung von kultureller Identität (vgl. ebd.) ausgehen kann, ist es nicht verwunderlich, dass Elemente der Verwandlung und Verstellung diese Situation markieren. In DIE LETZTE SAU tritt durch die Schlachterin eine Figur auf, die eine Verwandlung durchführt. Jedoch nicht nur das Schwein gerät in ihre Fänge, auch die Figuren der Geschichte befinden sich in ihrem Einflusskreis. Die Schlachterin lässt sich auch mit Assmanns
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Für den hier vorliegenden Text konnte leider Susanne Bachs mittlerweile erschienene Dissertation WENDE -GENERATIONEN /GENERATIONEN -WENDE (2017), in der sie sich mit literarischen Figurengenerationen, auch und ausgiebig am Beispiel von DIE LETZTE SAU , auseinandersetzt, nicht mehr berücksichtig werden.
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Verstellung steht dabei im Gegensatz zu protestantisch-bürgerlichen Werten wie Aufrichtigkeit, »Reinheit« und unbedingter Wahrheit.
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Deutung der Maskenverwendung in Kulturen der Verwandlung in Verbindung bringen: »Der Schamane, der in einem Ritual die Maske eines Gottes trägt, wird zu diesem Gott; er verkörpert ihn für die Dauer der rituellen Handlung.« (Assmann 2006b: 43) Vergleichbar damit sind die Worte, die die Schlachterin spricht, nachdem sie ihre Arbeit getan hat: »Anfangs sackte ich ein jedes Mal zusammen, wenn ich die Menschen verließ […]. Mit einem Mal schlug die ganze Anstrengung durch: Stechend schmolz die Aura. Später ersparte ich den Leuten hinter den Fenstern das Entsetzen nicht, zu sehen, wie ich mich von ihren Höfen schleppte, wie ich mich zurückverwandelte in die krumme Kreatur.« (Hofmann 2009: 205)
Die Logik der Verwandlung schließt Paradoxes und Widersprüchliches mit ein, ein »Sowohl-Als-auch« (Assmann 2006b: 43), was durch die gestalterischen Möglichkeiten des Romans in dieser magisch-mythischen Figur der Schlachterin zum Ausdruck kommt. Betrachtet man die Vorkommnisse im Roman mit Thomas Luckmanns »Amnesieverbot«, welches er in Zusammenhang mit der religiösen Konversion formuliert (vgl. ebd.: 39), scheitert trotz der Rituale der biografische Zusammenhalt vor und nach der lebensverändernden Wende. Einerseits ist kein Anknüpfen an etwaige Erinnerungen und Traditionen mehr möglich, andererseits ist auch ein Transit in eine mögliche Gesellschaftsform jenseits der Vorstellungen von Identität nur eine Erscheinung der Krise und keine wirkliche Alternative. In diesem Sinn schafft die Schlachterin, trotz der vielen Handlungen rund um die Schlachtung, nicht, was Certeau fordert: einen Ort in einen Raum umzuwandeln. Schließlich, jenseits der scheiternden, von ›außen‹ zugeführten Verwandlung, lässt sich im letzten Absatz des Romans trotz allem eine Veränderung der Wahrnehmung (und damit der Reflexion) feststellen. Das Buch beginnt mit einer Traumsequenz, der Träumer ist Albrecht, der 83-jährige Familienpatriarch. Obwohl von »Soldaten«, »Sternen« und »sterben im Stehen« die Rede ist (Hofmann 2009: 9), ist nicht unbedingt eine eindeutige Interpretation des Textes möglich, vor allem auch deshalb, weil sich der Leserin oder dem Leser erst später erschließt, wer hier geträumt hat. Am Ende des Romans, nachdem Albrecht von seinem Enkel über seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg ausgefragt und der Braunkohleabbau gestoppt wurde, wird eine Erinnerung, eine Auseinandersetzung möglich:
304 | MARIO H UBER »Das Lied der Braunkohle war verstummt, ein halbes Jahrhundert Tagebau zu Ende gegangen. Als ob er sich aus den Ohren Stöpsel gezogen hätte, rauschte in seinem Kopf die Stille, ratterte die Straßenbahn vom Wehrmachtskino zurück ins Lazarett mitten durchs Ghetto von Litzmannstadt, 1942, Łódź.« (Ebd.: 286)7
Wie der – nun mögliche – Streit um den Rückkauf von Haus und Hof und der – nun ebenfalls mögliche – relativ offene Rassismus zeigen, etablieren sich bereits, zumindest unbewusst, unterschiedliche Muster, die in der Zeit vor 1989 nur eingeschränkt oder gar nicht möglich waren. Albrechts Trauminhalt, verstanden als ein wiederkehrendes, unaufgearbeitetes Trauma, verdeckt durch den Tagebau (pars pro toto die DDR), hat nun konkrete räumliche und zeitliche Bezüge, die die bis zu diesem Zeitpunkt unmögliche Frage nach seiner Verantwortung für die Taten während des Zweiten Weltkriegs stellen lassen bzw. dies zumindest vorbereiten. Seine eigene Vorstellung, dass der Lärm des Tagebaus Erinnerungen an die DDR verdeckt, erwies sich als nicht richtig. Zutage tritt vielmehr das bislang Unthematisierbare. Die westdeutsche Metanarration inklusive der eigenen Schuld an der Shoah und den neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten ist (fast) im Bewusstsein angekommen.
F AZIT Holger Helbig beschreibt die wichtigsten Bestandteile des Bauplans eines (fiktiven) Wenderomans wie folgt: Die Veränderungen im Osten müssten thematisiert werden, die Abschaffung des Landes und die Ankunft im neuen – und zwar auf individueller und gesellschaftlicher Ebene (vgl. Helbig 2007: 75). Den Großteil davon scheint DIE
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Im Sinne von Asako Miyazaki kann man hier zu Beginn von einer »Halb-bewussten Erzählung« sprechen, jedoch passiert am Ende des Romans doch eine Integration der Erinnerungen ins Jetzt (vgl. Miyazaki 2013: 179f.). Insofern möchte die hier dargestellte Interpretation von Hofmanns Roman als Erweiterung bzw. als Gegenentwurf zur Charakterisierung eines Teils der (Post-)DDR-Literatur als »Halb-bewusstes Erzählen« von Miyazaki verstanden werden. In ihrer Ausarbeitung steht weniger der Aspekt einer möglichen Ablöse der alten und der (unfreiwilligen) Annahme einer neuen gemeinschaftlichen Erzählung im Zentrum, als dass sie die These einer Abwendung des Individuums von kollektiven Vorstellungen vertritt. Zwar trifft ihre Analyse zu, dass diese Literatur von Diskontinuität und der Befreiung der DDR-Teleologie geprägt ist, jedoch werden dabei Tendenzen der (versuchten) Integration und Neuordnung nicht ausreichend gewürdigt und vor allem scheint gerade der Moment des Übergangs, der Verwandlung, der in Hofmanns Roman zu Tage tritt, nicht erfasst.
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LETZTE SAU zu erfüllen. Was aber gerade die Spezifik des
Romans ausmacht – neben den formalen Besonderheiten –, ist die Momentaufnahme der zeitlichen und räumlichen Konfiguration. Die topographische Gefährdung und die gerade wirksam werdenden gesellschaftlichen Veränderungen erfahren in der im Roman dargestellten Szenerie eine Bündelung, die Elemente eines anderen kulturellen Selbstverständnisses, im Sinne von Assmanns »Verwandlung« und »Verstellung«, als Krisenerscheinung in sich birgt. Gerade durch dieses In-der-Schwebe-Halten und das kurzzeitige Kippen in unterschiedliche Richtungen, unterschiedliche Vergangenheiten und Deutungen (inklusive der intertextuellen Bezüge), findet sich im Roman etwas realisiert, was Carsten Gansel als paradigmatisch für die Post-DDR-Literatur beschreibt: Diese Literatur ist eine Herkunftsliteratur, die nicht danach fragt, wie es war, sondern wie es gewesen sein könnte, die also Mutmaßungen, Rekonstruktionen, Projektionen und Inszenierungen vornimmt, ohne unbedingt in die Opposition von nostalgischer Verklärung oder falscher Erinnerung eingeklemmt zu werden (vgl. Gansel 2010: 35). Der Roman bietet in dieser Hinsicht tatsächlich viel Interpretationsraum und zeigt zugleich, dass erst die zeitliche Distanz eine Annäherung an historische Ereignisse ermöglicht und deren Ästhetisierung zulässt. Die um 1990 initiierten (fiktionalisiert überhöht dargestellten) Sinngebungsprozesse, die Umarbeitungen des Selbstverständnisses und der Zugehörigkeit lassen sich erst rund zwanzig Jahre später im 2009 veröffentlichten Roman in eine geeignete, nicht verengende Form bringen, die wahrnehmbare Differenzierungen benennbar macht. Möchte man sich nicht, wie es auch hier zum großen Teil vermieden wurde, auf die Groteske der Schlachtung als Schlüssel zum Verständnis des Romans einlassen und versteht man diese eher als Symptom denn Allegorie für umfassendere Zusammenhänge, liegen die Ansätze zur Deutung im Detail. »Was wäre gewesen, wenn nichts gewesen wäre?«, das lässt sich nicht eindeutig sagen, beschreiben, imaginieren oder auffüllen – aber »Stuhltanz« heißt jetzt »Reise nach Jerusalem«.
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Der verschwundene Berg Über Gary Snyder und seinen Zyklus Mount St. Helens P ETER BRAUN The blue mountains are constantly walking. If you doubt mountains walking you do not know your own walking. A mountain always practices in every place. DŌGEN, IN DER ABHANDLUNG SANSUI-KYŌ AUS DEM JAHR 1240, INS ENGLISCHE ÜBERSETZT VON GARY SNYDER
1. E INLEITUNG Im Jahr 1980, am 18. Mai um 8.32 Uhr Ortszeit brach an der Nordwestküste der USA, im Bundesstaat Washington, der Vulkan Mount St. Helens aus. Bis zu diesem Zeitpunkt bildete er einen der ca. 30 ganzjährig mit Schnee und Eis bedeckten Vulkane, alle um die 3000 Meter hoch, die zusammen mit vielen kleineren vulkanischen Erhebungen den Gebirgszug der Cascades prägen. Er zieht sich in nordsüdlicher Richtung von British Columbia in Kanada bis in den Norden Kaliforniens. Bei dem Ausbruch wurden fast 500 Höhenmeter Berg weggesprengt. Die Steinmassen rutschten teils in das tiefe Becken des am Fuße gelegenen Spirit Lake ab, teils wurden sie von einer enormen Druckwelle weggeschleudert und fielen zusammen mit der heißen Lava aus dem Erdinneren auf eine Fläche von 60 km2 nieder. Mehr als 500 km2 Wald wurden durch die Explosion versengt und vernichtet; und über alles legte sich zudem eine dicke Ascheschicht. Für die amerikanische Nordwestküste, für Kanada und die USA, stellte der Vulkanausbruch des Mount St. Helens eine der größten Naturkatastrophen des 20. Jahrhunderts dar.
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Ein Ereignis wie dieses fordert nach Geschichten, mit deren Hilfe es wahrgenommen, erklärt, mit Sinn besetzt und erinnert werden kann. Das gilt für eine Natur-Katastrophe in den USA umso mehr, da die Natur in ihrem kulturellen symbolischen Haushalt einen besonderen Rang einnimmt. Sie markiert einen wichtigen Unterschied zwischen der ›alten Welt‹ Europa und ›neuen Welt‹ Amerika. Denn sie ist das, was sich diesseits des Atlantiks verbraucht hatte, was aber in den Kolonien auf der anderen Seite des Atlantiks im Übermaß vorhanden war. So jedenfalls stellten es Autoren wie Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau gegen Mitte des 19. Jahrhunderts dar, um sich in ihren Schriften von Europa zu emanzipieren. Sie entwickelten dabei eine Art von Literatur, in der sich Naturbeobachtung und empirische Naturforschung, romantische Naturphilosophie, die ethische Frage nach dem ›richtigen Leben‹ und die Aufforderung zum aktiven Umweltschutz miteinander verbanden und die sich zwischen Predigt und philosophischem Essay, zwischen autofiktionaler Erzählung und Reisebericht bewegte – ein genuin amerikanisches Genre, für das es in der europäischen Literatur weder Vorbilder noch Aneignungen gibt (vgl. Schulz 2017). In dieser Tradition steht auch der amerikanische Lyriker, Essayist und Umweltaktivist Gary Snyder. In seinem 2004 erschienenen Buch DANGER ON PEAKS findet sich ein Zyklus, der mit Mount St. Helens überschrieben ist und Prosastücke mit lyrischen Teilen verbindet. Dieser Text steht im Mittelpunkt des Beitrags und soll einer eingehenden Analyse unterzogen werden, die danach fragt, wie Gary Snyder den verschwundenen Berg und die Leerstelle, die er hinterlassen hat, in seinem Zyklus ästhetisiert und im Rahmen seiner Naturauffassung und Poetik deutet. Allerdings ist seine Poetik voraussetzungsreich und speist sich nicht allein aus der amerikanischen Tradition des Nature Writings. Deshalb gilt es zunächst, alle Linien und Stränge freizulegen, die in seine Konzeption des Schreibens eingegangen sind. Da sich der Beitrag vor allem an eine deutschsprachige Leserschaft wendet und Gary Snyder hierzulande noch wenig bekannt ist, werde ich diese verschiedenen Einflüsse und Traditionen etwas ausführlicher vorstellen. Zudem knüpfe ich dabei an die bisherige, wenn auch erst im geringen Maß erfolgte Rezeption Snyders im deutschsprachigen Raum an, die jeweils in eine spezifische Zeitströmung eingebettet ist.
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2. E THNOPOESIE , N ATURE W RITING
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B UDDHISMUS
Gary Snyder kommt aus der amerikanischen counter-culture. Seine Anfänge liegen in den späten 1950er Jahren im Kreis der beat generation, und er tritt bis heute als radikaler Kritiker des american way of life und der ihm zugrunde liegenden Wachstumsideologie auf. Gleichwohl gehört er in den USA, wie auch Allen Ginsberg oder Jack Kerouac, zu den anerkannten Autoren. Vor allem für sein lyrisches Werk ist er vielfach ausgezeichnet und mit verschiedenen Ehrungen und Mitgliedschaften bedacht worden.1 In Deutschland hingegen ist Gary Snyder bis heute ein ›Nischenautor‹ geblieben. Sieht man von einer frühen Ausgabe ausgewählter Gedichte im Hanser Verlag ab (Snyder 1972), hat sich kein großer deutscher Verlag seines literarischen Werks angenommen. Die Bücher von Snyder, die in deutscher Übersetzung vorliegen, sind von idealistischen Kleinverlagen besorgt worden. Etwa die Hälfte seines Werks ist nicht übersetzt – darunter auch sein opus magnum, das Langgedicht MOUNTAINS AND RIVERS WITHOUT END, das 1996 erschienen ist und an dem er 40 Jahre gearbeitet hat. Eine erste Rezeptionsphase lässt sich für die späten 1970er und die frühen 1980er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland ausmachen. Damals war die Ethnologie zu einem Modefach an den Universitäten avanciert und band einen Großteil des jugendlichen gesellschaftskritischen Potentials an sich. Diese Generation suchte nicht länger in der politischen Theorie, sondern in praktischen Experimenten nach alternativen Wirtschafts- und Lebensformen. Zu einer wichtigen Inspirationsquelle für die soziale Phantasie avancierten dabei all die Kulturen, die noch nicht von der als selbstzerstörerisch wahrgenommenen Industriegesellschaft, ihrem kalten Rationalismus und ihrem blinden Fortschrittsglauben ergriffen worden waren. So hoffte man im Blick zurück, im Blick auf die vormoderne Tradition der Bauern oder auf das Leben kleiner, autonomer, außereuropäischen Kulturen, Modelle eines anderen, menschlicheren Lebens zu finden. Besonders attraktiv dafür waren Ansätze, die sich zwischen Ethnologie und Kunst bewegten und mithin nach anderen, stärker ästhetischen Darstellungsweisen suchten, anstatt in der Form das wiederum als ›kalt‹ empfundene positivistische Wissenschaftsideal zu wiederholen.
1
Für seinen Lyrikband TURTLE ISLAND erhielt er 1975 den Pulitzer Preis und für MOUNTAINS AND RIVERS WITHOUT END 1996 u.a. den Bollingen Poetry Prize und den Robert Kirsch Lifetime Achievement Award der Los Angeles Times. 1986 wurde er zudem Professor im Writing Program der University of California in Davis. 1987 folgte dann die Aufnahme in die American Academy of Arts and Letters und 1993 in die American Academy of Arts and Sciences.
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Gary Snyder als ›Ethno-Poet‹ Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre veröffentlichte die Zeitschrift TRICKSTER eine Reihe von Snyders Essays und Gedichten und brachte 1984 in ihrem eigenen Verlag ein Buch mit Interviews unter dem Titel LANDSCHAFTEN DES BEWUßTSEINS heraus – eine Übersetzung des amerikanischen Buchs THE REAL WORK von 1980 (Snyder 1984). TRICKSTER wurde von einer Gruppe von Münchner Ethnologen um Werner Petermann herausgegeben und entwickelte sich schnell zu einem wichtigen Organ für die ethnoalternative Szene. Für diesen Kontext verkörperte Gary Snyder einen idealen Autor, hatte er doch selbst für einige Jahre Cultural Anthropology am Reed College in Portland und an der University of Indiana studiert, sich intensiv mit den indianischen Kulturen, vorrangig der Nordwestküste der USA und Kanadas, auseinandergesetzt und seinem wohl bekanntesten Buch – TURTLE ISLAND – den indianischen Namen für den nordamerikanischen Kontinent als Titel gegeben. In TRICKSTER erschien Gary Snyder deshalb vor allem als ›Ethno-Poet‹, eine leicht missverständliche Eindeutschung des amerikanischen Begriffs ethnopoetics. Dieser stammt von dem amerikanischen Schriftsteller Jerome Rothenberg, der 1969 die grundlegende Anthologie TECHNICIANS OF THE SACRED: A RANGE OF POETRIES FROM AFRICA, AMERICA, ASIA, EUROPE AND OCEANIA herausgegeben hat – eine Sammlung indigener Literatur aus der ganzen Welt. Alle darin enthaltenen Beispiele sind ethnologisch kommentiert. Dennoch liegt der Schwerpunkt darauf, im Akt des Übersetzens die Literarizität der ausgewählten Texte angemessen herauszustellen. Vorausgegangen waren dieser Arbeit bereits in den 1950er Jahren unternommene Versuche von Charles Olson und Robert Creely, die amerikanische Philosophie und Literatur nicht nur auf den schmalen Kanon einiger weißer Schriftsteller zu beschränken, sondern ihn um das reiche Erbe der indigenen indianischen Literatur zu erweitern. Sie reichte in ihrem Verständnis von den Erzählungen der Inuit bis zu jenen der Inka und Maya. So lebte beispielsweise Charles Olson im Jahr 1950 für ein halbes Jahr in Mexiko, um dort die Schriftzeichen der Maya zu studieren. 1953 veröffentlichte er dann seine MAYAN LETTERS – eine Auswahl der Briefe, die er in dieser Zeit an Robert Creely geschrieben hatte. Sie umfassen – in eher spekulativer Weise – mythologische, kulturhistorische, ethnologische und linguistische Aspekte und stellen einen frühen Versuch dar, das westlich-europäische Denken zu erweitern und zu relativieren. Im Jahr 1970 riefen schließlich Jerome Rothenberg und der Ethnologe und Literaturwissenschaftler Dennis Tedlock die Zeitschrift ALCHERINGA ins Leben. Konzipiert als ein Magazin für indigene Literatur, veröffentlichte es eine Vielzahl an Texten, verstand sich aber auch als ein Forum, Probleme der Transkription und
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Übersetzung oraler Literatur zu diskutieren und dafür experimentelle Formen zu entwickeln.2 Gary Snyder veröffentlichte mehrere Beiträge in der Zeitschrift und fühlte sich der Gruppe zugehörig. In seinem Essay THE POLITICS OF ETHNOPOETICS, erstmals 1977 publiziert, führt er eindrücklich vor, in welch ungewohnt langen Zeiträumen er denkt und welche Bedeutung indigener Literatur darin zukommt. Die folgende Passage sei etwas ausführlicher zitiert, um nicht nur die Ideen wiederzugeben, sondern auch den Duktus des essayistischen Schreibens von Gary Snyder vorzuführen: »Now I would like to think of the possibility of a new humanities. […] But I can’t think about our situation in anything less than a fourty-thousand-year timescale. That’s not very long. If we wanted to talk about hominid evolution we’d have to work with something like four million years. Forty thousand years is a useful working timescale because we can be sure that through the whole of that period humans have been in the same body and in the same mind that they are now. All the evidence we have indicates that imagination, intuition, intellect, wit, decision, speed, and skill were fully developed forty thousand years ago. […] The major part of the human being’s interesting career has been spent as a hunter and gatherer, in ›primary‹ cultures. About twelve thousand years ago, agriculture began to play a small part in some corners of the world. It’s only in the last three millennia that agriculture really penetrated widely. Civilization represents a very small part of human experience – literacy representing an even tinier part, since it’s only been in the last two centuries that any sizable proportion of any civilized country has been much literacy. Thus oral literature – the ballad, the folktale, myth, the songs (the subject matter of ›ethnopoetics‹) – has been the major literary experience of humanity. When we understand that, it becomes more poignant that this richness is being swept away.« (Snyder 1995: 127ff.)
An anderer Stelle, in dem kurzen Essay THE W ILDERNESS, der sich am Ende von TURTLE ISLAND findet, fordert Snyder pointiert dazu auf, die Weltsicht der indigenen Kulturen als Reservoir für ein notwendiges anderes Denken zu nutzen – eine Passage, die den Kern der Sehnsucht einer ganzen Generation gesellschaftskritischer Jugendlicher in den USA und in der BRD in den späten 1970er Jahren zum Ausdruck gebracht hat. Dort heißt es: »A line is drawn between primitive peoples and civilized peoples. I think there is a wisdom in the worldview of primitive peoples that we have to refer ourselves to, and learn from. If we are on the verge of postcivilization, then our next step must take account of the primitive worldview which has traditionally and intelligently tried to open and keep open lines of communication
2
Die Zeitschrift ALCHERINGA ist einzusehen unter: https://jacket2.org/reissues/alcheringa (29.11.2017).
314 | P ETER B RAUN with the forces of nature. You cannot communicate with the forces of nature in the laboratory.« (Snyder 1974: 107)
Darin klingt zugleich eine zweite, wichtige Traditionslinie an, die für Gary Snyder eng mit jener der ethnopoetics verknüpft ist und bereits zu Beginn des Beitrags angesprochen worden ist: das Nature Writing. Für Snyder ist es jedoch mehr als ein Schreiben über Natur. Es umfasst eine neue Weise, das Verhältnis von Natur und Kultur zu denken – so wie er es bei den indigenen Kulturen umgesetzt sieht. Gary Snyder und das Nature Writing In Deutschland gibt es erst in jüngster Zeit Versuche, das amerikanische Nature Writing für ein hiesiges Publikum zu erschließen. Diese sind eingebettet in eine recht bunte Zeitströmung, in der sich politische und kulturelle Aspekte überlagern. Politisch daran ist, dass es im ausgerufenen, wenn auch noch nicht verabschiedeten Zeitalter des Anthropozäns eine von vielen empfundene Notwendigkeit gibt, neue Anstrengungen für den Erhalt des Planeten Erde zu unternehmen. Dafür reichen die alten Konzepte von Umweltschutz und Nachhaltigkeit nicht aus. Kulturell hingegen wird diese Zeitströmung von einem Gegenentwurf zu unserer zunehmend digitalisierten Arbeitswelt getragen, der in einer Wiederentdeckung handwerklicher Arbeit und nahegelegener Naturräume besteht.3 Einer jener Versuche wird von dem Berliner Verlag Matthes & Seitz unternommen, der seit Jahren dem Genre des Nature Writings einen festen Ort in seinem Programm gibt – u.a. mit der von Judith Schalansky betreuten Reihe NATURKUNDEN, aber auch mit der vor zwei Jahren begonnenen Edition der Tagebücher von Henry David Thoreau, einem der ›Gründerväter‹ des Genres.4 In diesem Verlag erschien 2011 auch Gary Snyders wohl wichtigstes essayistisches Werk THE PRACTICE OF THE WILD, in den USA bereits 1990 veröffentlicht, unter dem Titel LEKTIONEN DER WILDNIS in der Übersetzung von Hanfried Blume. 5
3
Ausdruck findet dies beispielsweise im Erfolg der Zeitschriften LANDLUST (sowie ihrer verschiedenen Nachahmer) und WALDEN.
4
2017 hat der Verlag – zusammen mit dem Bundesamt für Naturschutz – zudem zum ersten Mal einen Preis für Nature Writing ausgelobt. Er ist mit 10.000 Euro dotiert. Die erste Preisträgerin ist Marion Poschmann. Vgl.: www.matthes-seitz-berlin.de/deutscher-preisfuer-nature-writing.html (29.11.2017).
5
Hanfried Blume verstarb 2009, was die Veröffentlichung verzögerte. Blume selbst war von Hause aus Jurist und engagierte sich vor allem für Umweltrecht und Umweltethik. Dabei war er nach eigenem Bekunden, so schreiben es Frieda Knapp und Michael W. Schröter in
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Wie bereits in der Einleitung bemerkt, gibt es in den europäischen Literaturen kein Genre, das dem Nature Writing entspricht. Denn der Zugang zur Natur ist darin weniger ästhetisch. Auch fungiert Natur hier nicht als Spiegelbild oder Metapher des Selbst oder der Gesellschaft. Nature Writer kommen häufig aus der Praxis, sind Wissenschaftler, Förster oder Ranger, die auf Formen der Creative Nonfiction zurückgreifen, um über ihre Erfahrungen zu schreiben und sie nicht selten mit einer Anklage gegen die industrielle Ausbeutung der Natur zu verbinden.6 Seit den Schriften von John Muir A THOUSAND-MILE WALK TO THE GULF (1916) und Aldo Leopold A SAND COUNTY ALAMAC (1949) ist das Nature Writing zudem von dem Bewusstsein getragen, dass der Mensch nicht über der Natur steht, sondern ein Teil von ihr ist. Es propagiert einen Biozentrismus, in den menschliches Leben eingebunden ist. Das hat zu politisch radikalen Positionen geführt, wie etwa in den Büchern von Edward Abbey, beispielsweise in THE MONKEY WRENCH GANG (1975), in dem vier skurrile Weltverbesserer die industrielle Nutzung der Natur mit viel Dynamit sabotieren und schließlich den Plan fassen, einen Staudamm im Grand Canyon zu sprengen.7 Nature Writing lässt jedoch auch Schreibweisen zu, die auf dem Muster einer Reise oder eines temporären Rückzugs beruhen und persönliche Erfahrungen, Naturbeschreibungen, historische Rekonstruktionen und selbstreflexive Passagen einbinden. So reist etwa N. Scott Momaday in THE WAY TO RAINY MOUNTAIN (1969) der historischen Wanderung seiner Kiowa-Vorfahren nach und bezieht dabei orale Traditionen seiner Kultur ein, die er auf diese Weise für sich selbst entdeckt. Annie Dillard hingegen folgt in PILGRIM AT TINKER CREEK (1974) ihrem Vorbild Henry David Thoreau, über den sie zuvor ihre Doktorarbeit geschrieben hat, und hält sich für ein Jahr in den Blue Ridge Mountains in Virginia auf, um sich intensiv auf die Natur einzulassen und sie neu sehen zu lernen.8
dem den LEKTIONEN DER WILDNIS angehängten Nachruf, sehr stark von Snyders LANDSCHAFTEN DES BEWUßTSEINS beeinflusst. Später lernte er Gary Snyder auch persönlich kennen. 6
Auch in diesem Genre finden sich, quasi parallel zur erfolgreichen ›Wiederentdeckung‹ des Ländlichen in den Landmagazinen, aktuell einige sehr erfolgreiche Werke auf dem deutschen Buchmarkt, so z.B. die Bestseller des Försters Peter Wohlleben: DAS GEHEIME LEBEN DER BÄUME (2015) oder DAS GEHEIME NETZWERK DER NATUR (2017).
7
Das Buch ist 2010 erstmals vollständig in deutscher Sprache erschienen: DIE MONKEY WRENCH GANG, übersetzt von Sabine Hedinger und mit Illustrationen von Robert Crumb.
8
Vgl. zu den Schreibweisen des Nature Writings die grundlegende Studie von Don Scheese (1996). Das Buch von Annie Dillard ist 2016 in der Übersetzung von Karen Nölle unter dem Titel PILGER AM TINKER CREEK in der Reihe NATURKUNDEN im Verlag Matthes & Seitz erschienen.
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Auch in diesen Kontext fügt sich Gary Snyder als Autor ein. In vielen seiner Essays verweist er auf seine Kindheit in Washington, dem nördlichsten der amerikanischen Bundesstaaten an der Westküste, die er in einer ländlichen Gegend unweit von Seattle verbracht hat. Intensiv erkundete er bereits damals auf immer längeren Spaziergängen, Wanderungen und Bergbesteigungen die Natur. Dadurch hat er sich nicht nur eine intime und genaue Kenntnis der Natur erworben; er habe, so sagt er, angesichts der massiven Abholzung, die er als Kind miterlebte, auch schon früh die Verantwortung empfunden, für den Schutz der Natur einzutreten. Nach seinen Studienjahren und mehreren längeren Aufenthalten in Japan kehrte er 1970 in die USA zurück, um im Norden Kaliforniens eine dörfliche und ökologisch ausgerichtete Gemeinschaft aufzubauen. Dahinter stand die bewusste Entscheidung, sich an einem Ort niederzulassen und sich auf Dauer an ihn zu binden – mit allen Konsequenzen, die sich daraus für ihn ergaben: sich alle naturwissenschaftlichen und kulturgeographischen Erkenntnisse über den Ort und die Region anzueignen, sie immer wieder ergehen und erwandern und so unmittelbare Einblicke in ihre Ökologie zu gewinnen und schließlich sich auf dieser Grundlage lokalpolitisch zu engagieren, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen. Man müsse, davon ist Gary Snyder überzeugt, einen Ort richtig kennen, um auch größere, globale ökologische Zusammenhänge zu begreifen. Damit hat Snyder selbst vorgelebt, was er in vielen Essays und Vorträgen theoretisch unter dem Begriff bio-regionalism gefasst hat. Sein Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass die abendländische Kultur, besonders seit ihrer Industrialisierung, die Menschen ihren Orten entfremdet hat. Menschen haben heute, so Snyder, keine Bindung mehr zu dem Ort, an dem sie leben, sie nehmen ihn nicht einmal in seinen Erscheinungsformen wahr. »There are tens of millions of people in North America«, schreibt er im zweiten Essay von THE PRACTICE OF THE W ILD, »who were physically born here but who are not actually living here intellectually, imaginatively, or morally […] For the non-native American to become home on this continent, he or she must be born again in this hemisphere, on this continent, properly called Turtle Island.« (Snyder 2010b: 43) Ein erster Schritt, sich wieder mit einem Ort zu verbinden, bestehe darin, dessen Zugehörigkeit zu einer von geologischen Formationen, Vegetations- und Klimazonen vorgegebenen, ›natürlichen Region‹ zu entdecken und diese an die Stelle der abstrakten, politisch gezogenen Verwaltungsgrenzen zu setzen, nach denen wir heute Räume einteilen und wahrnehmen. »The lines between natural regions are never simple or clear, but vary according to such criteria as biota, watersheds, landforms, elevation« (ebd.: 30), heißt es in dem Essay weiter. Und ein zweiter, sich anschließender Schritt bestehe darin, die älteren, vorangegangenen Namen zu recherchieren und zu benutzen, in den USA beispielsweise die indianischen Namen. Denn solange Menschen einen Ort bewohnt haben – und in den USA betrifft dies immerhin einen
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Zeitraum von ca. 15.000 bis 20.000 Jahren – wurden er und die umliegende Landschaft mit Namen und Geschichten besetzt. Und diese wiederum enthielten viele aufschlussreiche und oftmals für die Ökologie wichtige Informationen. Diesen ersten Schritten folgend entwirft Snyder die Vision einer weltweiten Erneuerung des Geistes und der Haltung gegenüber der Natur unter bio-regionalen Perspektiven. Diese schließt nicht nur eine Verantwortung für alles Leben ein, sondern das Bewusstsein, gemeinsam mit anderen nicht-menschlichen Lebewesen einen Ort zu bewohnen. Snyder geht es darum, ein anthropozentrisches Weltbild zu überwinden, um zu einer deep ecology zu gelangen, nach der der Mensch sich als Teil einer sehr viel umfassenderen, von vielen bewohnten und wahrhaft zu teilenden Lebenswelt begreift. In einer, nochmals etwas längeren Passage aus dem erwähnten Essay bringt er dies pointiert zum Ausdruck: »That is to say; we must consciously fully accept and recognize that this is where we live and grasp the fact that our descendants will be here for millennia to come. Then we must honor this land’s great antiquity – its wildness – learn it – defend it – and work to hand it on to the children (of all beings) of the future with its biodiversity and health intact. […] But this work is not just for the newcomers of the Western Hemisphere, Australia, Africa, or Siberia. A worldwide purification of mind is called for: the exercise of seeing the surface of the planet for what is – by nature. With this kind of consciousness people turn up at hearings and in front of trucks and bulldozers to defend the land and trees. Showing solidarity with a region! What an odd idea at first. Bioregionalism is the entry of place into the dialectic of history. Also we might say that there are ›classes‹ which have so far been overlooked – the animals, rivers, rocks, and grasses – now entering history.« (Ebd.: 44)
Diese für die Diskussion um das Anthropozän hochaktuellen Gedanken sind bei Gary Snyder durch sein langes und intensives Studium des Buddhismus vorbereitet. Darauf ist nun noch einzugehen, um das intellektuelle Porträt Snyders abzurunden und alle Einflusslinien zu überblicken, die in den Zyklus MOUNT ST. HELENS eingegangen sind. Gary Snyder als buddhistischer Schriftsteller Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, stärker jedoch noch in seiner zweiten Hälfte hat der Buddhismus viele Anhänger in den USA gefunden – vor allem an der Westküste. Gary Snyder zählt zu ihnen und er gehört sicherlich zu jenen, die sich intensiv sowohl intellektuell als auch in ihrer eigenen Lebenspraxis darauf eingelassen haben. Den Buddhismus nicht nur als kulturelles Phänomen zu sehen, sondern tatsächlich als sinngebende Lebenshaltung zu nehmen, ist im christlich geprägten Europa sicherlich schwer nachzuvollziehen und steht sofort unter
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Esoterikverdacht. Das stellt eine nicht als gering einzuschätzende Hürde für die Rezeption Snyders in Deutschland dar.9 Nach seinem Studium der Cultural Anthropology wechselte Gary Snyder nach Berkeley und belegte dort für weitere drei Jahre Seminare und Vorlesungen zur japanischen Sprache und Literatur. 1956/57 hielt er sich zum ersten Mal mit einem Stipendium in Japan auf; damals beteiligte er sich an einem Übersetzungsprojekt klassischer Zen-Schriften. Von 1959 bis 1965 lebte Snyder erneut überwiegend in Japan und wurde dort der erste westliche Laien-Schüler (Koji) des Zen-Meisters Oda Sessō Rōshi. Nebenbei arbeitete er als Lehrer und beteiligte sich weiterhin an Übersetzungen, u.a. der Schriften des Linchi Lu aus der T’ang Dynastie, auf den die Rinzai Schule des japanischen Zen zurückgeht. Eben dieser Schule gehörte auch Oda Sessō an, in dessen Kloster Daitoku-ji Snyder fast täglich verkehrte. In diesen Jahren eignete er sich nicht nur ein profundes Wissen über die japanische und chinesische Literatur und Kunst an, sondern übte sich auch in verschiedenen buddhistischen Praktiken der Meditation und der Tuschezeichnung. Diese Lebensweise hat er bis heute beibehalten.10 Der Einfluss des Buddhismus ist an vielen Stellen im Werk von Gary Snyder zu beobachten, so auch in seiner Auffassung der Natur. Sein Denken ist weniger von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen geprägt als vielmehr von den naturphilosophischen Konzepten wilderness und wildness. Die Wildnis (wilderness) ist ein Ort, an dem alles Lebendige sich nach seiner eigenen Dynamik entfalten kann. Heute sind dies nur noch unbewohnte und unwirtliche Landschaften in den äußersten Peripherien. Bis vor wenigen Tausend Jahren jedoch war der gesamte Planet im Zustand der wilderness. In dem einleitenden Essay zu seinem Buch THE PRACTICE OF THE W ILD bemüht sich Snyder um eine Klärung der Begriffe nature – wild – wilderness und wildness. Dort heißt es:
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In der deutschen Rezeption wird dieser Aspekt kaum betont. Einzig die sorgfältigen, zweisprachigen Ausgaben des Kleinverlags Stadtlichter Presse bilden hierbei eine Ausnahme. In den jeweiligen Nachworten wird regelmäßig auf die Bedeutung des Buddhismus für Snyders Biographie und Poetik hingewiesen. Bisher sind dort RIPRAP (1999), GEFAHR AUF DEN
GIPFELN (2004), SCHILDKRÖTENINSEL (2005) und MYTHEN UND TEXTE (2010)
erschienen. 10 Vgl. das ausführliche Porträt Gary Snyders von Dana Goodyear (2008), das im Oktober 2008 im NEW YORKER erschienen ist. Es trägt den bezeichnenden Titel ZEN MASTER – GARY SNYDER AND THE ART OF LIFE.
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»Wilderness is a place where the wild potential is fully expressed, a diversity of living and nonliving beings flourishing according to their own sorts of order. In ecology we speak of ›wild systems‹. When an ecosystem is fully functioning, all the members are present at the assembly. To speak of wilderness is to speak of wholeness. Human beings came out of that wholeness, and consider the possibility of reactivating membership in the Assembly of All Beings is in no way regressive.« (Snyder 2010c: 12, Hervorhebung im Original)
Wildheit (wildness) hingegen – Synder benutzt auch synonym das Substantiv the wild – meint die Grundbewegung des Lebens, die hervortreibende Kraft, die in allem Lebendigen wirkt, das schöpferische Vermögen, das einmal Neues hervorbringt und ein anderes Mal Altes bewahrt und zu einer eigenen Ordnung fügt. Für Snyder ist Wildheit oder das Wilde als Bewegung, Dynamik, Energie, Kraft zwar in der Natur erfahrbar, sie lässt sich aber nicht zum Forschungsgenstand der Wissenschaften machen. »The wild«, schreibt Snyder, »is not to be made subject or object in this manner; to be approached it must be admitted from within, as a quality intrinsic to who we are. […] The wild is indestructible, but we might not see the wild.« (Snyder 2010d: 194, Hervorhebung im Original) Die Wildheit oder das Wilde ist demnach für Snyder keine Kategorie, die allein der Außenwelt zukommt, sondern vor allem mit dem Inneren, als innerste Qualität dessen, was wir selbst sind, verbunden ist – und damit in buddhistischer Tradition mit dem Geist. Dieser umfasst jedoch sehr viel mehr als nur den Intellekt. Um das zu veranschaulichen, modelliert Snyder den Geist in Analogie zur Natur. So wie es darin kultivierte, bewohnte Gebiete und unbehauste, wilde Gebiete gibt, so deckt auch unser bewusstes Denken nur einen kleinen Teil der gesamten ›Landschaft‹ des Geistes ab. Snyder schreibt: »Sensation and perception do not exactly come from outside, and the unremitting thought and image-flow are not exactly inside. The world is our consciousness, and it surrounds us. There are more things in mind, in the imagination, than ›you‹ can keep track of – thoughts, memories, images, angers, delights, rise unbidden. The depths of mind, the unconscious, are our inner wilderness areas […]. The conscious agenda-planning ego occupies a very tiny territory, a little cubicle somewhere near the gate, keeping track of some of what goes in and out (and sometimes making expansionistic plots), and the rest takes care of itself. The body is, so to speak, in the mind. They are both wild.« (Snyder 2010c: 17f.)
Snyder verortet schließlich auch die Sprache im wilden Areal des Geistes. Im Sprechen und Schreiben aktualisieren wir jeweils nur einen kleinen Teil davon. Der Sprache kommt damit eine Art Brückenfunktion zu, die zumindest ein Stück weit in die geistigen Wildnisgebiete führen kann. Vor allem die künstlerisch eingesetzte Sprache – und das ist für Snyder allen voran die lyrische – kann in diese Zone
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eindringen und einzelne Bruchstücke der stillen Präsenz des wilden Geistes hinüberretten. »Art, or creative play«, schreibt er in dem Essay TAWNY GRAMMAR, »sometimes does this by going directly to the freshness and uniqueness of the moment, and to direct unmediated experience.« (Snyder 2010e: 76) So sehr Sprache helfen kann, Erahntes und noch nicht Begriffenes zu klären, so sehr bleibt sie letztlich doch nur ein begrenztes Mittel, den Geist zu erkunden; dieser ist sehr viel umfassender und weite Gebiete sind mit Worten oder Bildern nicht einzuholen. Gerade das macht seine Wildheit aus.
3. D ER Z YKLUS M OUNT S T . H ELENS Die vorgestellten Denkhorizonte Gary Snyders – die ethnopoetics, der bio-regionalism und das buddhistische Denken – sind, wie in einem Modellversuch, in den Zyklus MOUNT ST. HELENS eingegangen und bilden sich dort in dessen thematischen Schichten und in der formalen Gestaltung ab. Eine erste Umsetzung findet sich bereits auf dem Titelblatt. Unter dem englischen Namen des Vulkans Mount St. Helens steht, typographisch ein wenig kleiner gesetzt, der Name der ansässigen indianischen Kultur Loowit – mit der angefügten Erklärung: »from Sahaptin / lawilaytLá / Smoker, Smoky« (Snyder 2014: 3).11 Auch im weiteren Verlauf des Zyklus tauchen beide Namen gleichberechtigt auf und an den wenigen Stellen, an denen ein Pronomen für den Berg steht, findet sich die weibliche Form. Snyder eignet sich den indianischen Namen auf diese Weise nicht einfach an; vielmehr entwirft er ein doppeltes Namens- und Sprachgefüge, mit dem er auf den älteren, zugrundeliegenden Namen aufmerksam macht. Mag die Natur, gerade an der Nordwestküste Amerikas, an vielen Orten noch ›wild‹ erscheinen, so ist sie doch seit 15.000 bis 20.000 Jahren bewohnt. Damit ist sie auch eine beschriebene Natur, die Namen trägt, und die mithin mit Bedeutungen besetzt und in kulturelle Erzählungen eingebunden ist. Auf den Titel folgen nun neun aufeinander abgestimmte kurze Prosastücke und Gedichte, die sich über neunzehn Seiten erstrecken. Sie sind streng symmetrisch angeordnet – bis in die Seitenzahl. Die Mittelachse bildet der fünfte Textteil. Er schildert unter dem Titel 1980: LETTING GO den Ausbruch des Vulkans im Mai 1980.
11 Im weiteren Verlauf wird aus der 2014 im Verlag Counterpoint erschienenen ›Deluxe Audio Edition‹ zitiert. Der den Band eröffnende Zyklus MOUNT ST. HELENS erstreckt sich über die Seiten 3-22.
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1980: LETTING GO Centuries, years and months of – let off a little steam cloud up and sizzle growl
stamp dance
quiver
swell, glow
glare
bulge
swarms of earthquakes, tremors, rumbles she goes 8.32 AM
18 May 1980
superheated steams and gasses white-hot crumbling boulders lift and fly in a burning sky-river-wind of searing lava droplet hail, […] a photographer’ s burnt camera full of half melted pictures, three fallers and their trucks chainsaws in back, tumbled gray and still, two horses swept off struggling in hot mud a motionless child laid back in a stranded ashy pickup roiling earth-gut-trash cloud tephra twelve miles high ash falls like snow on wheatfields and orchards to the east five hundred Hiroshima bombs in Yakima, darkness at noon (Snyder 2014: 11f.)
An diesem Ausschnitt fällt auf Anhieb das fein differenzierte Spiel der Typographie mit Leerräumen, Einrückungen und Kursivierungen ins Auge. Optisch rhythmisieren sie den Text, der langsam mit kürzer werdenden Zeitintervallen anhebt, dann bildstark den Ausbruch des Vulkans beschreibt und schließlich die Auswirkungen vor Augen führt. An orthographischen Zeichen finden sich nur das Komma und der Geviertstrich. Die Grundlage des Gedichts bildet eine einfache, sinnliche, dem Alltag
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nahe Sprache, die sich auch für ein ironisches Wortspiel – »let off a little steam« – nicht zu schade ist. Sie eröffnet einen leichten Zugang zum Verstehen und findet doch ihr Widerlager in einem deutlich spürbaren Gestus des Verknappens, bis die Worte den gewünschten Rhythmus und die gewünschte Semantik gewonnen haben. Zudem korrespondiert die alltagsnahe Sprache mit dem Stilmittel des räumlichen Aussparens und des kalkulierten Umgangs mit dem leeren Raum der Seite. Einen Vers mit einem Leerraum zu beginnen oder ihn in die Mitte der Zeile zu platzieren, hat zunächst einmal ebenfalls rhythmische Auswirkungen. Leerräume zeigen eine Pause oder eine Zäsur an – wirkungsvoller als ein Punkt oder ein Semikolon. Weiße Flächen bieten jedoch auch immer Einfallstore für die Leser, aktivieren und stimulieren deren Imagination. Und nicht zuletzt verweist der leere Raum auf jene ›wilden‹ Areale des Geistes, die für die Sprache unzugänglich sind – und mithin auf das, was nicht gesagt werden kann und doch das lyrische Sprechen erst hervorbringt. Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass Snyder die wichtigsten Impulse zu dieser Auffassung von Lyrik durch seine intensive Lektüre chinesischer und japanischer Literatur erhalten hat – nicht zuletzt durch seine vielen Übersetzungen in den 1950er Jahren.12 Entscheidend für sein eigenes Schreiben war dabei die Übersetzung des HANSHAN SHI – eine Sammlung von chinesischen Gedichten eines unkonventionellen Laien, der sich im sechsten oder siebten Jahrhundert ins Tiantai-Gebirge zurückgezogen hat, um dort den Weg des Buddha zu gehen. Dieser nahm den Namen Hanshan an, nach dem Ort, an dem er lebte: Kalter Berg. 13 Snyder veröffentlichte seine Übersetzungen, zusammen mit seinem ersten Lyrikband RIPRAP unter dem Titel COLD MOUNTAIN POEMS. An ihnen konnte er nicht nur eine knappe Diktion einüben, sondern auch das Arbeiten mit Freiräumen und Leerstellen. Die ersten vier Textteile Der Zyklus MOUNT ST. HELENS besitzt eine zeitliche Chronologie, die sich mit Ausnahme des Datums, das der Vulkanausbruch markiert, durch autobiographische Momente ergibt. So bewegen sich die ersten vier Textteile zeitlich zwischen den Jahren 1943 und 1949. Sie beschreiben die ersten Touren, die Snyder im Alter von 13 Jahren im Rahmen eines Jungendcamps in der Landschaft um Mount St. Helens unternommen hat. Zwei Jahre später besteigt er dann den Berg zum ersten Mal, begleitet von einem alten und erfahrenen Bergführer. In den folgenden Jahren wiederholt er diesen Gang noch einige Male, einmal zusammen mit seiner Schwester Thea, ein anderes Mal mit Robin, einer guten Freundin.
12 Eine Auswahl der Übertragungen bietet Snyder (1999). 13 Vgl. die deutsche Übersetzung: Hanshan (2001).
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Diese Stücke sind weitgehend in Prosa abgefasst. Auch sie benutzen eine einfache, alltägliche und mithin leicht zugängliche Sprache. An einer Stelle in jenem Stück, in dem die erste Besteigung beschrieben wird, ist als Zitat ein Haiku von Issa, einem Schüler von Matsuo Bashô eingefügt. Es handelt sich um die letzte Etappe des Aufstiegs durch die Eisfelder unterhalb des Gipfels: Threading around crevasses [dt. Gletscherspalten, P.B.], climbing slow, we made our way to the summit just like Issa’s »Inch by inch litte snail creep up Mount Fuji« ISSA
(Snyder 2014: 7)
Damit zitiert Snyder nicht nur die auch in der westlichen Welt populär gewordene Tradition des Haiku und erweist einem großen Haiku-Dichter seine Referenz. Darüber hinaus verwandelt er seinen Text auch selbst in ein Haibun. Diese weniger bekannte Form lässt sich als prosaisches Gegenstück zum Haiku beschreiben. Sie besteht aus kurzen Prosastücken, die in einem Haiku kulminieren. Es können aber auch ein oder mehrere Haikai in den Prosatext eingeschoben werden. Haiku und Haibun gehen beide maßgeblich auf den japanischen Dichter Matsuo Bashô zurück und folgen denselben ästhetischen Prinzipien. Aufgrund der Kürze der Prosatexte – nur wenige der Haibuns Bashôs sind länger als eine Seite – ergibt sich eine hohe Spannung zwischen den lyrischen und den in Prosa gehaltenen Elementen. 14 Über das konkrete Zitat hinaus ist das Haibun jene traditionelle Form, die sich Snyder in diesem Zyklus experimentell aneignet und die mithin konstitutiv für dessen Form ist – auch wenn seine eigene Lyrik nicht streng dem klassischen Haiku-Schema folgt. Inhaltlich indes sticht in den ersten vier Textteilen heraus, dass die Gipfelerfahrungen als spirituelle Erlebnisse gestaltet werden. Dabei überlagern sich Elemente, die aus der Anschauung gewonnen sind, mit indianischen und buddhistischen Motiven, ohne dass diese immer eindeutig auseinander zu halten sind. Die spirituelle Besetzung des Berges beginnt in der Weise, wie er beschrieben wird. Ebenfalls in dem Textteil, der dem ersten Aufstieg gewidmet ist, heißt es:
14 Vgl. dazu die deutsche Übertragung: Bashô (2014).
324 | P ETER B RAUN »West coast snowpeaks are too much! They are too far above the surrounding lands. There is a break between. They are in a different world. […] Snowpeaks pierce the realm of clouds and cranes, rest in the zone of five-colored banners and writhing crackling dragons in veils of ragged mist and frost-crystals, into a pure transparency of blue.« (Ebd.: 7f.)
Die hohen Gipfel der Cascades werden also als ›andere‹ und als ›heilige Orte‹ ausgezeichnet – am deutlichsten durch das Motiv der fünffarbigen Gebetsfahnen, die im Buddhismus für die fünf Elemente stehen und häufig auf Berggipfeln oder Bergpässen aufgehängt werden. Diese Fahnen drücken einen allgemeinen Wunsch aus, der mit dem Wind in die Welt getragen werden soll: alle fühlenden Wesen mögen glücklich sein. Eine ganz ähnliche Bitte richtet das lyrische Ich – offensichtlich intuitiv, noch ohne Wissen um den Buddhismus – an den Berg, als der Gipfel erklommen ist; vielleicht auch in schriftlicher Form in das Gipfelbuch, das später erwähnt wird: »St. Helens summit is smooth and broad, a place to nod, to sit and write, to watch, what’s higher in the sky and do a little dance. […] I made my petition to the shapely mountain, ›Please help this life‹. When I tried to look over and down to the world below – there was nothing there.« (Ebd.: 8, Hervorhebung im Original)
Dem Bittgesuch folgt, dadurch vorbereitet, am Tag darauf ein Gelübde, ein Schwur. Denn zurück im Zeltlager erhält das lyrische Ich am nächsten Tag Kunde von den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki. Eine Zeitung hängt auf einem Wandbrett aus. Im Angesicht der Fotos und des Textes heißt es: »I swore a vow to myself, something like, ›By the purity and beauty and permanence of Mt. St. Helens, I will fight against this cruel destructive power and those who would seek to use it, for all my life.‹« (Ebd.: 9)
Der andere Charakter des Gipfels, als heterotoper und transzendenter Raum kommt auch im vierten Textteil zum Ausdruck. Hier greift Snyder wieder auf die lyrische Form zurück. This wide Pacific land
blue haze edges
mists and far gleams
broad Columbia river
eastern Pacific somewhere west us at a still place
in the wheel of the day
right at home at
the gateway to nothing
can only keep going. (Ebd.: 10)
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Diese Zeilen wirken wie zwei parallel geführte Haikus und arbeiten mit dem leeren Raum, als Pause – aber auch als Fläche, die die Schrift zur Erscheinung bringt. Diese Praxis ist in der chinesischen Literatur sehr geläufig. Und auch die Motive spielen wiederum auf buddhistische Vorstellungen an, so an das ewige Rad Sansara oder die Leere. Diese Passage zeigt zudem ein häufig eingesetztes Stilmittel – gerade in der Lyrik. Snyder vermeidet oftmals Personalpronomina, vor allem das ›I‹. Er stellt kein Subjekt ins Zentrum, das als Kulminationspunkt der geschilderten Erfahrungen fungiert. Stattdessen unterläuft er eine strikte Trennung zwischen Subjekt und Objekt. »I am a poet who has preferred not to distinguish in poetry between nature and humanity«, zitiert ihn Dana Goodyear (2008: 20) in ihrem umfangreichen Porträt für den NEW YORKER. Und in einem Interview mit der südamerikanischen Literaturwissenschaftlerin Julia Martin findet sich folgende Passage: »Snyder: Yes, I’m not interested in being a consistent poet speaking voice, speaking for my own sentiments and sensibilities. Martin: Because? Snyder: Because it’s not interesting. It’s like talking about yourself. Martin: And what is interesting? Snyder: Talking about your nonself! When a bird flies from one tree to another tree, you can be the bird flying across from one tree to another tree. You don’t have to think about the bird, how you feel about the bird. No differences between self and universe. So just shortcut that illusion.« (Snyder/Martin 2013: 44)
Deshalb spart Snyder häufig das ›I‹ aus. Statt einer konjugierten, finiten Form des Verbs, die ein eingesetztes Subjekt verlangen würde, nutzt er gerne die infinite Form, oder er weicht auf das im Englischen häufig gebrauchte Partizip Präsens aus. Für die Leser bedeutet dies, dass sie selbst ein Subjekt entwerfen oder imaginieren müssen – und in diesem Akt sind die Grenzen fließender, als wenn im Text ein ›I‹ gesetzt würde. Die zweiten vier Textteile Die Textteile 6, 7, 8 und 9 sind alle mit »Late August 2000« zeitlich markiert (Snyder 2014: 13) und erzählen von der ersten Wiederbegegnung mit dem Vulkan nach dessen Ausbruch. Das lyrische Ich – dieses Mal auch in den Prosapassagen oftmals ausgespart – hält sich zusammen mit dem Geologen Fred Swanson für einige Tage in der Region auf und erkundet die durch den Ausbruch veränderte, in Teilen völlig zerstörte Landschaft. Geprägt ist das Erleben dabei von einer markanten Leerstelle: die ganzjährig mit Schnee bedeckte, wohlgeformte Spitze des Berges, die er früher
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mehrmals erklommen hat, fehlt nun – fast 500 Höhenmeter Berg haben sich in Nichts aufgelöst. Mehr als jene ersten Textteile gehören diese zusammen und wirken wie fortlaufende Reisenotizen jener Tage im späten August. Die neu gebauten Highways, Brücken und Besucherzentren werden ebenso registriert wie die Pässe, Aussichtspunkte und Bergzüge, die angefahren oder erwandert werden. Auf einer Karte könnte man jede Bewegung mitvollziehen. Der Begleiter, Fred Swanson, der sich schon lange mit dem Mount St. Helens beschäftigt, erklärt, welche Maßnahmen zum Schutz und zur Renaturierung von welcher Behörde mittlerweile unternommen worden sind – meist ohne Absprache und in Konkurrenz zueinander. Swanson lenkt, in dem Textstück TO GHOST LAKE, den Blick dabei auf zwei unterschiedliche Wiederaufforstungsprojekte: eingreifend das eine, indem es die verkohlten und beschädigten Bäume gefällt und neue gepflanzt hat, die Natur sich selbst überlassend das andere. Das letztere, das ökologische Projekt, zeigt weniger Fortschritte als die gezielte Aufforstung. »Well«, heißt es dazu im Text, »no surprise. Wild natural process takes time, and allows for the odd and unexpected. We still know far too little about it. This natural regeneration project has special values of its own, aesthetic, spiritual, scientific. Both the wild and the managed sides will be instructive to watch for centuries to come.« (Ebd.: 18) Man merkt an der Formulierung, bei welchem Projekt Snyders Sympathien liegen. Das Vertrauen auf die Regenerationskraft der Natur leitet dann auch jene Passagen, die von dem verlorenen Gipfel des Mount St. Helens handeln und die dadurch entstandene Leere religiös gestimmt ästhetisieren. Dies erfolgt in zwei Variationen. Zunächst in dem Textstück BLAST ZONE: The end of the road. Suddenly there’s all of Loowit and a bit of the lake basin! In a new shape, with smoking scattered vents in this violet-gray light. The white dome peak whacked away lower down, open-sided crater on the northside, fumarol wisps a long gray fan of all that slid and fell angles down clear to the beach dark old-growth forest gone
no shadows
the lake afloat with white bone blowdown logs scoured ridges round the rim, bare outcrop rocks squint in the bright ridgetop plaza packed with puzzled visitor gaze no more White Goddess but,
under the feiry sign of Pele,
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and Fudo – Lord of the Heat who sits on glowing lava with his noose lassoing hardcore types from hell against their will, Luwit, lawilayt-lá – Smoky is her name (Ebd.: 15f., Hervorhebung im Original)
Der Berg wird zunächst in seiner veränderten Gestalt wahrgenommen. Die Gewalt, die dazu geführt hat, ist in den Worten spürbar: dem Berg fehlt nun seine weiße Spitze, eine offene Flanke klafft an der Nordseite, blanke Felsen ergießen sich bis zum See und die umgerissenen Bäume bedecken das Ufer als weiße Knochen – ein Blinzeln in die Helle, in die Zerstörung. Doch dann erfolgt ein Umschwung. Nach einem »but« und einem auffälligen Leerraum treten zwei mythische, buddhistische Gestalten auf – Pele, die Göttin der Lava, und Fudo, ein sog. Mantra-König, der bezeichnenderweise ›der Standfeste‹, bzw. ›der Unbewegliche‹ genannt wird (vgl. Scheid o.J.). Beide Gestalten füllen die Leere, die durch die fehlende Bergspitze entstanden ist, und sie spielen mit eben jenem Element der Lava, das zu der Eruption geführt hat. Sie spielen aber auch mit der Kategorie der Unbeweglichkeit, die durch das Ereignis erschüttert worden ist. Die Wahrnehmung und das Schreiben beruhigen sich darüber. Und am Ende steht der indianische Name, der all das in sich zu tragen scheint. Doch damit ist der Zyklus noch nicht an sein Ende gekommen. In einem weiteren Textstück mit dem Titel PEARLY EVERLASTING variiert Snyder die gerade beschriebene Bewegung. Das lyrische Ich, das nur ein einziges Mal mit ›I‹ repräsentiert ist, wandert zum Spirit Lake. Wieder fallen zunächst die Zerstörungen und Verwüstungen ins Auge, vor allem die vielen verwitterten Bäume, die überall zerstreut herumliegen. Doch allmählich schleichen sich leichtere Töne in die Beschreibung: The pristine mountain just a little battered now the smooth dome gone ragged crown (Ebd.: 20)
Und plötzlich lagert sich ein ganz anderes Bild über den See, wieder nach einem offensichtlichen Leerraum. Es scheint zunächst eine Erinnerung an eine entscheidende Episode aus dem Leben Siddharthas zu sein – gewinnt aber schnell den Charakter eines kleinen Lehrstücks. Die toten Bäume verwandeln sich in jene Götter
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– »angelic boys and girls« – die nach einem rauschhaften Fest im Palast bewusstlos auf dem Boden liegen. The trees all lying flat like,
after that big party
Siddhartha went to on the night he left the house for good, crowd of young friends whipped from sexy dancing dozens crashed out on the floor angelic boys and girls, sleeping it off. A palace orgy of the gods but what »we« see is »Blast Zone« sprinkled with clustered white flowers »Do not be tricked by human-centered views,« says Dogen, And Siddhartha looks it over, slips away – for another forest – – to really get right down on life and death. (Ebd.: 21)
Was wir – Menschen – sehen, ist nicht identisch mit dem, was ist. Die Gefühle, die unsere Beobachtungen in uns wecken, und unsere intellektuelle Haltung, die dadurch aufgerufen wird, mögen daran ins Leere vorbeigleiten. Das ist die Lehre des Gedichts. Sie ermuntert zu einer Gelassenheit, die hellwach ist, und zu Dankbarkeit: If you ask for help it comes. But not in any way you’d ever know – thank you Loowit, lawilayt-lá, Smoky Mâ Gracias
xiexie
grace
(Ebd., Hervorhebungen im Original)
4. N OBODY HOME –
DER
P OET ALS S CHAMANE
In dem Zyklus MOUNT ST. HELENS überlagern sich, wie wir gesehen haben, verschiedene Schichten: autobiographische Erinnerungen, unmittelbare Erkundungen, z.T. in Begleitung von Naturwissenschaftlern, eine sowohl an der amerikanischen Moderne als auch an der chinesischen und japanischen Klassik geschulte literarische Gestaltung und religiös-spirituelle Motive mit indianischer, vor allem aber buddhistischer Prägung. Sie alle gehen in die Sicht des Mount St. Helens sowohl vor dem Ausbruch im Jahr 1980 als auch danach ein. Jede Besteigung vor dem Ausbruch ist immer auch eine religiös-spirituelle Erfahrung und der Gipfel immer auch ein ›heiliger Ort‹. Das
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Ausmaß der Zerstörung nach dem Ausbruch ist nicht so sehr Anlass der Verzweiflung und Trauer, sondern erscheint vielmehr – in leicht ver-rückter Sicht – auch als ein Gaukelspiel der Sinne. Weiß man je, was man vor sich hat? Gerade diese letzte, stark vom Buddhismus beeinflusste Wendung, ist für viele westliche Leser sicherlich schwer nachzuvollziehen. So mag sich denn auch der Eindruck verfestigen, bei Snyders Zyklus handle es sich um ein Stück ›Bastelreligion‹ – in einer Zeit, in der nicht nur Waren, sondern auch religiöse Ideen global zirkulieren. Dem ist entgegen zu halten, dass für Gary Snyder die buddhistischen Motive keine beliebigen Spielelemente in einem popreligiösen Potpourri darstellen. Vielmehr ergeben sie sich streng aus der Landschaft der Nordwestküste Nordamerikas, die viele Ähnlichkeiten mit derjenigen Japans aufweist. Beide sind von Bergen geprägt, die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen liegen in den Tälern, so dass für die heterotopen und religiös besetzen Orte die Höhen der Berge verbleiben. Snyder hängt damit der Vorstellung eines alten pazifischen Kulturraums an, der Asien mit Amerika verbindet, kamen doch die indianischen Ureinwohner über die Beringstraße auf den nord- und südamerikanischen Kontinent und teilen sie doch eine noch ältere religiöse, nämlich schamanistisch geprägte Vorstellungswelt, mag sie sich denn später auch unterschiedlich weiterentwickelt haben. So ist es letztlich nur konsequent, wenn sich Snyder als Lyriker und als Essayist in der langen Tradition der Schamanen sieht. In NOBODY HOME. WRITING, BUDDHISM AND LIVING IN PLACES erklärt Snyder: »I enjoy reading my own and other’s poems aloud. […] I feel the primary mode of existence of poetry is in speech and performance, and that writing is a secondary mode of existence. That’s where it’s been put down, where it’s been kept. Just like a play: you know when you read a play that its full mode of existence would be in performance. Still, you know that you get something out of it by reading the script. […] By thinking that way and practicing that way I do make a connection in my own poetics with a very broad tradition of poems, the preliterate and oral traditions.« (Snyder/Martin 2013: 45f.)
L ITERATUR Abbey, Edward (2010): Die Monkey Wrench Gang [1975], übersetzt von Sabine Hedinger und mit Illustrationen von Robert Crumb, Berlin: Metrolit Verlag. Bashô, Matsuo (2014): Haibun. Herausgegeben und übersetzt von Ekkehard May, Frankfurt a.M.: Diederische Verlagsbuchhandlung. Dillard, Annie (2016): Pilger am Tinker Creek [1974], Berlin: Matthes & Seitz (= Naturkunden, Band 28).
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Goodyear, Dana (2008): »Zen Master – Gary Snyder and the art of life«, in: The New Yorker vom 20. Oktober 2008, S. 1-25, online unter: www.newyorker.com/ magazine/2008/10/20/zen-master (29.11.2017). Hanshan (2001): Gedichte vom Kalten Berg. Übersetzt und kommentiert von Stephan Schuhmacher, Freiburg: Arbor. Scheese, Don (1996): Nature Writing. The Pastoral Impulse in America, New York: Simon and Schuster. Scheid, Bernhard (o.J.): Religion in Japan. Ein Web-Handbuch, Universität Wien, online unter: www.univie.ac.at/rel_jap/an/Religion-in-Japan (29.11.2017). Schulz, Dieter (2017): Henry David Thoreau – Wege eines amerikanischen Schriftstellers, Heidelberg: Matthes. Snyder, Gary (1972): Maya. Gedichte. Aus dem Amerikanischen von Alexander Schmitz, München: Hanser. — (1974): Turtle Island, New York: New Directions. — (1984): Landschaften des Bewußtseins. Gespräche und Reden 1964-1979. Aus dem Amerikanischen von Christine Kapfer, München: Trickster. — (1995): »The Politics of Ethnopoetics«, in: Ders., A Place in Space. Ethics, Aesthetics and Watersheds, Washington D.C.: Counterpoint, S. 126-147. — (1999): The Gary Snyder Reader. Prose, Poetry and Translations. 1952-1998, Berkeley: Counterpoint. — (2010a): The Practice of the Wild, Berkeley: Counterpoint. — (2010b): »The Place, the Region, and the Commons«, in: Ders., The Practice of the Wild, Berkeley: Counterpoint, S. 27-51. — (2010c): »The Etiquette of Freedom«, in: Ders., The Practice of the Wild, Berkeley: Counterpoint, S. 3-26. — (2010d): »Survival and Sacrament«, in: Ders., The Practice of the Wild, Berkeley: Counterpoint, S. 187-198. — (2010e): »Tawny Grammar«, in: Ders., The Practice of the Wild, Berkeley: Counterpoint. S. 52-83. — (2014): Danger on Peaks. Poems, Berkeley: Counterpoint. Snyder, Gary/Martin, Julia (2013): Nobody Home. Writing, Buddhism and Living in Places. Gary Snyder in conversation with Julia Martin, San Antonio: Trinity University Press.
Wann kommt die Flut? Verschwindende Dörfer in Roman Senčins Überflutungszone N INA F RIESS »›Der Fluss ist dahi-in‹, heulte es in seinem Kopf im Ton des Motors, ›Alle-es ist dahi-in.‹«1 SENČIN 2015: 228
D AS V ERSCHWINDEN DES D ORFES RUSSISCHEN D ORFPROSA
IN DER SOWJET -
Die sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche in der Sowjetunion gingen zwar von den großen Städten aus, erreichten aber mit der Zeit auch die hintersten Winkel der sowjetischen Provinz. Reformen wie die Einführung der Kolchoswirtschaft, die Umwandlung von Einzel- in Kollektivlandwirtschaft bei gleichzeitiger Verstaatlichung der Böden und die zunehmende Industrialisierung hatten drastische Auswirkungen auf das Leben im ländlichen Raum. Sie gingen einher mit Repressionen gegen die Bauernschaft, Landflucht und letztlich dem Verschwinden jahrhundertelang gewachsener dörflicher Gesellschaftsstrukturen und in vielen Fällen der Dörfer selbst.2
1
»›Пропа-ала река, – выло в голове в тон мотору. – Пропа-ало всё-о‹.« [Sofern nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen aus dem Russischen von mir, N.F.; russische Titel, Personen- und Ortsnamen werden im Folgenden gemäß der wissenschaftlichen Transliteration wiedergegeben; ausgenommen davon sind Städte oder Flüsse, für die gängige deutsche Bezeichnungen vorliegen.]
2
Den Wandel des ländlichen Raums im Laufe der russischen Geschichte hat der Historiker Carsten Goehrke (2016) am Beispiel des Jenissei-Stromlands in Sibirien beschrieben. Siehe zu den Repressionen gegen die russische Bauernschaft, insbesondere im Rahmen der Dekulakisierung in den 1930er Jahren, Fitzpatrick (1996).
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Für die (sowjet-)russische Dorfprosa3 war dieses Verschwinden des russischen Dorfes geradezu konstituierend: Es lieferte den sogenannten Dörflern (russ.: pisateliderevenščiki) das Sujet für ihre Skizzen, Erzählungen und Romane, den vorherrschenden Textsorten des Genres, das die offizielle sowjetische Literaturlandschaft von den 1960ern bis in die 1970er Jahre hinein dominierte. 4 Entgegen dem offiziell propagierten unbedingten Glauben an den Fortschritt, der sich in den klassischen sowjetischen Produktions- oder Kolchosromanen widerspiegelt, hinterfragten die Dörfler die Entwicklung des ländlichen Raums kritisch. Die meist selbst aus der russischen Peripherie stammenden Autoren thematisierten die Folgen der rücksichtslosen Modernisierung für die Landbevölkerung und – vermehrt ab den 1970er Jahren – für die Umwelt. Typische Konfliktlinien der sowjet-russischen Dorfprosa entspannen sich zwischen Stadt und Land, Jung und Alt, Tradition und Moderne. Gemein ist den meisten Texten der sowjet-russischen Dorfprosa, dass das russische Dorf stark idealisiert und romantisiert wird. Es erscheint als ein Ort, an dem die Menschen im Einklang mit der Natur ein hartes und entbehrungsreiches, aber letztlich erfülltes Leben führen können bzw. konnten, denn das russische Dorf in seiner ursprünglichen Form existiert in der Sowjetunion nicht mehr.5 Auch das bekannteste Werk der sowjet-russischen Dorfprosa thematisiert das Verschwinden eines Dorfes: In der 1976 in der Zeitschrift NAŠ SOVREMENNIK erstveröffentlichten Powest ABSCHIED VON MATJORA (russ.: PROŠČANIE S MATËROJ) erzählt Valentin Rasputin vom letzten Sommer des Dorfes Matëra und seiner Bewohner.6 Das auf der gleichnamigen Insel im sibirischen Fluss Angara gelegene Matëra soll der Aufstauung des Flusses für den Betrieb eines Wasserkraftwerks weichen, die
3 4
Eine kompakte Einführung in die sowjetische Dorfprosa bietet Parthé (1992). Bereits in den 1950er Jahren findet das Dorfthema Eingang in die sowjetische Literatur, allerdings handelt es sich bei diesen Texten meist eher um Kolchos- als um Dorfprosa. Zur Entwicklung des Genres in den 1950er und 1960er Jahren siehe Witte (1983).
5
Ob es in dieser idealisierten Variante jemals existierte, ist fraglich. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts thematisiert Ivan Bunin das Sterben der russischen Dörfer. In seiner 1910 erschienenen Powest DAS DORF (russ.: DEREVNJA) beschreibt er das von Armut, Perspektivlosigkeit und Unterdrückung geprägte Dorfleben nach der gescheiterten russischen Revolution von 1905. Anders als in der sowjet-russischen Dorfprosa ist das Dorfleben bei Bunin nicht von Idylle, sondern vielmehr von Agonie geprägt.
6
Der Text gilt als Höhe- und gleichzeitig Endpunkt der Popularität der sowjet-russischen Dorfprosa. Zu seiner Bekanntheit hat auch seine Verfilmung durch Larisa Šepitʼko bzw. Ėlem Klimov beigetragen (Klimov übernahm die Regie nach dem Unfalltod seiner Frau während der Dreharbeiten). Der Film kam 1981 unter dem Titel ABSCHIED VON MATJORA (russ.: PROŠČANIE) in die sowjetischen Kinos.
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Bewohner umgesiedelt werden. Während die wenigen noch auf der Insel lebenden jungen Leute die Chance ergreifen, Matëra so schnell wie möglich zu verlassen, tun sich die Alten rund um die charismatische – und für den sozialistischen Realismus eher untypische7 – Heldin Darʼja schwer mit der Vorstellung, ihr Dorf aufzugeben. Die Kompensationsangebote des Staates haben für sie keinen Wert, denn stärker als der mit der Umsiedelung einhergehende materielle Verlust wiegt für sie der Verlust der Heimat, der dem Verlust der eigenen Identität gleichkommt. Die Versuche der Alten, sich ihrer Umsiedelung zu widersetzen, sind zwar unbeholfen und zum Scheitern verurteilt, dennoch liegt in ihrem Widerstand etwas Ungeheuerliches, ist ihr Gegner doch letztlich der allmächtige sowjetische Staat. Das Festhalten an bewährten Traditionen, das sich in ihrem Protest zeigt – der Versuch, die Umbettung des Friedhofs zu verhindern; die an eine rituelle Waschung erinnernde Herrichtung von Darʼjas Haus, bevor die Sanitärbrigade, die die Insel räumen soll, es abbrennt – stellt den offiziell propagierten Fortschrittsglauben der Sowjetunion in Frage, und damit letztlich das Regime selbst.
D IE R ÜCKKEHR
DER RUSSISCHEN
D ORFPROSA
Seit den frühen 2000er Jahren ist in der russischen Literatur – und ebenso im Film – ein Wiedererstarken des Dorf- bzw. Provinzthemas zu beobachten. Zeitgenössische Autoren entdecken Russlands ländlichen Raum neu, also die Gebiete Russlands, die die Soziologin Natalʼja Zubarevič als ›Russland 3‹ bezeichnet. Etwa ein Drittel der russischen Bevölkerung lebt gegenwärtig in den über das ganze Land verteilten Kleinstädten und Dörfern des peripheren Russlands, die stark von der Abwanderung vor allem junger Menschen betroffen sind (vgl. Zubarevich 2012).8 Das thematische und ästhetische Spektrum der neuen russischen Dorfprosaiker ist breiter als das ihrer Vorgänger. Doch auch bei ihnen bleibt das Verschwinden ein relevanter Topos: In Aleksandr Ikonnikovs makabren Kurzgeschichten, die in
7
Der sozialistische Realismus war bis zu ihrem Ende die »ideologisch-propagandistische Kunstdoktrin« der Sowjetunion (Günther 2002: 423). Zum Typischen im sozialistischen Realismus siehe ebd.: 424.
8
Zubarevič (2012) unterscheidet vier Russlands: Unter ›Russland 1‹ fallen die russischen Millionenstädte, also Städte mit einer Million Einwohner und mehr. Als ›Russland 2‹ bezeichnet sie mittelgroße industrielle Monostädte, als ›Russland 4‹ die nationalen Teilrepubliken im Nordkaukasus und Südsibirien. Zubarevič untersucht u.a. das Protestpotenzial dieser unterschiedlichen Russlands. Für ›Russland 3‹ stellt sie fest, dass es sich weitgehend gleichgültig gegenüber dem verhalte, was im Rest des Landes passiere.
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Deutschland 2002 unter dem Titel TAIGA BLUES erschienen und in Russland bislang nicht veröffentlicht wurden, sind es Heuballen, Gliedmaßen und Ehemänner, die – teilweise auch nur temporär – verschwinden. Mit diesem meist ironisch überspitzt dargestellten Verschwinden von Objekten und Personen zeigt Ikonnikov die zunehmende Auflösung der Gemeinschaften in der russischen Peripherie, die Tristesse und Perspektivlosigkeit, in der die Menschen außerhalb des ›ersten‹ und ›zweiten‹ Russlands leben. In Natalʼja Ključarëvas 2010 veröffentlichtem Roman DUMMENDORF (russ.: DEREVNJA DURAKOV) glaubt der naive städtische Held Mitja zunächst, in dem Dorf Mitino, in das er als Lehrer geschickt wird, ein lang ersehntes, ihm bislang nur aus der Literatur bekanntes Idyll gefunden zu haben. Doch hinter der friedlichen Fassade zersetzen Alkoholismus, Denunziantentum und Anti-Liberalismus die Dorfgemeinschaft. Der Held des Romans muss am Ende feststellen, dass die dörfliche Idylle außerhalb der aus vergangenen Zeiten stammenden literarischen Fiktion nicht mehr existiert. Auch Zachar Prilepin, einer der populärsten und gleichzeitig umstrittensten zeitgenössischen Autoren Russlands, thematisiert das Verschwinden des Dorfes in seiner Prosa. So taucht Sankʼja, der titelgebende Held seines 2006 erschienenen BestsellerRomans SANKYA (russ.: SANKʼJA), im abgelegenen Dorf seiner Großeltern unter, als er in Konflikt mit der russischen Staatsmacht gerät. Doch auch dieses Dorf – und damit der Schutzraum des Protagonisten – befindet sich in Auflösung, die im Roman durch das Sterben seiner letzten ständigen Bewohner, darunter der Großvater Sankʼjas, dargestellt wird. Außerhalb seiner Prosa stilisiert sich Prilepin ebenfalls als Anhänger des dörflichen Russlands. In Essays und Interviews bezeichnete er sich mehrfach als »den letzten Schriftsteller des Dorfes«9 (z.B. in Prilepin 2012a: 430). Diese Aussage ist angesichts der Vielzahl von Autoren, die sich dem Dorfthema gegenwärtig widmen und – wie Prilepin – größtenteils selbst in der sowjetischen bzw. russischen Peripherie aufwuchsen und dort teilweise heute (wieder) leben, nicht haltbar. Allerdings steht der einstige Nationalbolschewist10 Prilepin den national-konservativen sowjet-russischen Dorfprosaikern ideologisch näher als liberal eingestellte Autorinnen wie Ključarëva (siehe dazu z.B. Ključarëva in Pankratz 2015). In einem auf 2003 datierten Essay schreibt Prilepin noch, in jedem russischen Schriftsteller stecke etwas von
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»последний писатель деревни«.
10 Bei der Nationalbolschewistischen Partei handelt es sich um eine 1993 von dem Schriftsteller Ėduard Limonov gegründete politisch-gesellschaftliche Bewegung, deren Ideologie sich aus einer kruden Mischung nationalistischer wie sozialistischer Elemente speiste. Ihre offizielle Registrierung scheiterte mehrfach, 2007 wurde die Bewegung verboten.
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einem Dorfprosaiker, »wenn er Russe ist.« Ganz Russland sei ein Dorf, hinzukämen ein paar Provinzstädte, das »einsame Sankt Petersburg« und das »von Nichtrussen besiedelte Moskau. Und wieder – Dörfer.«11 (Prilepin 2009: 245) Für Prilepin sind es das Dorf und das Dörfliche, die das – nicht näher beschriebene, angesichts der nationalistischen Rhetorik des Autors wohl am ehesten ethnisch definierte – Wesen Russlands ausmachen. In späteren Interviews weist er darauf hin, dass es das Dorf, wie er es noch in seiner Kindheit gekannt habe, heute nicht mehr gebe (vgl. Prilepin in Šargunov 2009). Verknüpft man diese Aussagen, ist ein Sterben der Dörfer für Prilepin gleichbedeutend mit einem Identitätsverlust Russlands. Den Grund für das Verschwinden der Dörfer sieht Prilepin im Versagen des Staates: Aus Mangel an Perspektiven bleibe den Menschen nichts anderes übrig als das Dorf zu verlassen (vgl. Prilepin in Valjaeva/Trunov 2013). Allerdings sieht er unter Städtern einen gewissen Trend, sich aus der Stadt auf ihre Datschen auf dem Land zurückzuziehen. Auch er selbst besitzt einen solchen Rückzugsort, an dem er gemeinsam mit seiner Familie – zumindest bis zu seinem Engagement für die pro-russischen Separatisten in der Ost-Ukraine12 – einen Großteil des Jahres verbrachte. 13 Im Oktober 2016 wurde zudem bekannt, dass Prilepin im Moskauer Gebiet ein Künstlerdorf aufbauen will, das seinen Namen trägt. Auf der Facebookseite des Projekts heißt es, es entstehe »ein kreativer Raum, der es ermöglicht, Forscher und Schaffende der russischen Kultur zu treffen und auch, sich einfach zu erholen, Bücher zu lesen, den Geschmack der wahrhaftigen russischen Küche zu kosten, um nachzudenken und zu träumen […] – alleine, zu zweit oder mit der ganzen Familie.«14 (Chutor Zachara Prilepina o. J.)
11 »если он – русский. Вся Россия – деревня, и чуть-чуть рассыпано провинциальных городов. И одинокий Санкт-Петербург. И заселённая нерусскими Москва. И опять – деревни.« 12 Seit 2014 engagiert sich der einstige Elitesoldat Prilepin auf Seiten der pro-russischen Separatisten in der sogenannten Donezker Volksrepublik. Zunächst war er dort als Kriegsberichterstatter und Aktivist unterwegs, Anfang 2017 wurde bekannt, dass er einem Freiwilligenbataillon als Major vorsteht. Siehe zu dieser schillernden Autorenpersönlichkeit prägnant Frieß/Kaminskij (o. J.) 13 Davon berichtet Prilepin bei seinen öffentlichen Auftritten, zudem lädt er immer wieder Journalisten auf seine Datscha ein. 14 »Творческое
пространство,
которое
даст
возможность
встретиться
с
исследователями и творцами русской культуры, а также просто отдохнуть, почитать книги, попробовать вкус настоящей русской кухни, подумать и помечтать – одному, вдвоем или всей семьей.«
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Wenn es in Russland schon keine echten Dörfer mehr gibt, so können sich die Stadtbewohner in Prilepins Potemkinschen Dorf der Gegenwart zumindest der Illusion des Landlebens hingeben.
»R ÜCKKEHR NACH M ATJORA« Roman Senčin war vor der Veröffentlichung seines Romans DIE ÜBERFLUTUNGSZONE 15 (russ.: ZONA ZATOPLENIJA) nicht durch politisch engagierte Literatur aufgefallen; vielmehr war er als Autor bekannt, der, wie es der Slavist Ulrich Schmid pointiert ausdrückt, »sein eigenes Leben hemmungslos aus[schlachtete], um es in die literarische Welt seiner Romane zu überführen.«16 (Schmid 2015: 285) Die Provinz spielte für das Werk des im sibirischen Kyzyl geborenen und aufgewachsenen Senčin indes schon immer eine wichtige Rolle, ist sie doch der die Handlungen der Protagonisten bestimmende (oder auch behindernde) Schauplatz von Texten wie der frühen Powest MINUS (russ.: MINUS) von 2002 oder dem vielfach für russische Buchpreise gelisteten Familienepos ELTYŠEVY17 von 2009. Als Erbe der sowjet-russischen Dörfler positionierte sich Senčin allerdings erst durch seinen 2015 erschienenen Roman DIE ÜBERFLUTUNGSZONE, der das Sujet von Valentin Rasputins Powest ABSCHIED VON MATJORA aufgreift und in die Gegenwart verlagert. Die russische Literaturkritik sprach in diesem Zusammenhang – durchaus positiv – von einem »Remake«18 von Rasputins Klassiker und einer »Rückkehr nach Matjora«19 (u.a. Sekisov 2015). Der Autor Rasputin und sein Werk sind für Senčins Roman sowohl auf paratextueller wie auf textueller Ebene relevant: Der Roman ist Valentin Rasputin gewidmet (vgl. Senčin 2015: 5), so dass der Leser noch vor dem Beginn der eigentlichen Lektüre einen Bezug zu Russlands bekanntestem Dorfprosaiker herstellen kann. Zudem berichtete Senčin in einem Interview, dass Rasputin ihm persönlich gestattet, ihn sogar ermutigt habe, das Sujet zu übernehmen und dieses weiterhin aktuelle Thema zu bearbeiten (vgl. Senčin in Balueva 2015). Darüber hinaus taucht Rasputin in DIE ÜBERFLUTUNGSZONE als – allerdings ambivalente – literarische Figur auf (vgl. Senčin 2015: 203ff.).
15 Der Roman wurde bislang nichts ins Deutsche übersetzt. Für eine bessere Lesbarkeit des Beitrags wird im Folgenden der wörtlich übersetzte Titel des Buchs verwendet. 16 In MINUS und dessen Fortsetzungen trägt der Protagonist sogar den Namen Roman Senčin. 17 Eltyšev ist ein Familienname. Der Roman wurde bislang nicht ins Deutsche übersetzt. 18 »ремейк«. 19 »Возвращение к Матёре«.
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In zehn Kapiteln erzählt Senčin in DIE ÜBERFLUTUNGSZONE, wie die beiden am Fluss Jenissei liegenden sibirischen Dörfer Pylëva und Bolʼšakov der Aufstauung des Flusses für ein Wasserkraftwerk weichen müssen.20 Anders als Rasputin vollzieht Senčin in seinem in der Zeit von 2008 bis 2012 spielenden Roman den kompletten Prozess des Verschwindens der jahrhundertealten Dörfer nach: Von der politischen Entscheidung, den bereits vor Jahrzehnten begonnenen Bau eines Wasserkraftwerks im Gebiet Krasnojarsk abzuschließen im ersten Kapitel über die Reaktionen der Dorfbewohner auf diese Entwicklung und die langsame Aufstauung des Flusses bis hin zum apokalyptischen Finale im zehnten und letzten Kapitel, in dem der Fluss unkontrolliert über seine Ufer tritt. Im Folgenden werden einige Aspekte der literarischen Umsetzung des Verschwindens der Dörfer in Senčins Roman genauer betrachtet. Prolog des Verschwindens Das erste Kapitel der ÜBERFLUTUNGSZONE nimmt eine Sonderstellung im Text ein: Es kann als Prolog gelesen werden, in dem der Rahmen für die Entwicklung der weiteren Handlung gesetzt wird. Im Gegensatz zu den Folgekapiteln wird es nicht von einem wechselnde Figurenperspektiven einnehmenden personalen Erzähler erzählt, der mitunter auch auktoriale Züge aufweist, sondern ist durchgehend in direkter Rede verfasst, was – trotz der profanen Kapitelüberschrift TELEFONGESPRÄCH (russ.: ТЕЛЕФОННЫЙ РАЗГОВОР ) – an den Auftakt eines klassischen Dramas denken lässt. Dass die Romanfiguren ihrem Schicksal – der Flutung ihrer Dörfer – nicht entrinnen können, wird klar, wenn man der überzeugenden Interpretation des russischen Rezensenten Vladislav Tolstov (2015) folgt, wonach sich hinter den Sprechern Volodʼ und Tolja21 zwei reale politische Figuren verbergen, nämlich Vladimir Putin, zur Handlungszeit des Romans russischer Ministerpräsident, und Anatolij Čubajs, der in den 1990er Jahren als russischer Vize-Ministerpräsident und Finanzminister für zahlreiche Wirtschaftsreformen verantwortlich war und später als Unternehmer bekannt wurde. Unter anderem leitete er bis 2008 den halbstaatlichen Energiekonzern EĖS Rossii. Wenn in Russland auf höchster politischer Ebene eine Entscheidung getroffen wird, kann diese von einfachen Bürgern kaum noch angefochten werden. Der Prolog nimmt damit bereits vorweg, dass die Proteste der Dorfbewohner gegen die Räumung ihrer Dörfer zum Scheitern verurteilt sind. 20 Wie schon ABSCHIED VON MATJORA liegt auch der ÜBERFLUTUNGSZONE ein reales Ereignis zu Grunde, in diesem Fall der Bau des Wasserkraftwerks Bogučansk, das allerdings anders als in Senčins Roman nicht am Jenissei, sondern an der Angara liegt. Auch die meisten Handlungsorte des Romans tragen fiktive Namen. 21 Bei den Namen handelt es sich um die Kurz- bzw. Koseformen der männlichen russischen Vornamen Vladimir und Anatolij.
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Friedhöfe als Orte der Auflösung Ist der Schauplatz des ersten Kapitels nicht näher definiert, aber sehr wahrscheinlich Moskau, verlagert sich die Handlung ab dem zweiten Kapitel nach Sibirien. Für die Kapitel 2, 3, 4 und 5 ist das Dorf noch der hauptsächliche Handlungsort, der sich allerdings bereits in Auflösung befindet. Besonders deutlich wird diese im zweiten Kapitel, in dem der Tod der Dorfbewohnerin Natalʼja Sergeevna und die sich daran anschließenden Beerdigungsvorbereitungen erzählt werden. Obwohl im Verschwinden begriffen, ist der Tod im Dorf ein seltenes Ereignis geworden: »Im Dorf war lange niemand mehr gestorben. Die Alten brachte man in die Stadt ins Krankenhaus, und sie starben dort; die Jugend, die sich früher [tot]geprügelt hatte, ertrunken war, sich mit Spiritus vergiftet oder auf Motorrädern zu Tode gefahren hatte, war fortgezogen.«22 (Senčin 2015: 16)
Der Tod der alten Frau gibt der verbliebenen Dorfgemeinschaft die Gelegenheit, sich ihrer Traditionen und damit letztlich ihrer selbst zu vergewissern. Die Beerdigungsvorbereitungen werden zu einem gemeinschaftsstiftenden Großereignis. Als jedoch die in der Stadt lebende Tochter der Verstorbenen eintrifft, zeigt sich, dass alle Bemühungen der Dorfbewohner vergeblich waren: Die Tochter lässt den Leichnam der Mutter in die Stadt überführen, wo sie »in fremder Erde«23 (ebd.: 12), so der Titel des Kapitels, bestattet wird. Nicht einmal die Toten dürfen in dem durch seine geplante Flutung buchstäblich dem Untergang geweihten Dorf bleiben. Die Friedhofszene des zweiten Kapitels, in der die Männer des Dorfes auf dem örtlichen Friedhof ein Grab für Natalʼja Sergeevna ausheben und der Verstorbenen bei einem Glas Wodka gedenken, ist eine Schlüsselszene des Romans und hat mehrere Funktionen: Zunächst einmal ist sie eine Reminiszenz an ABSCHIED VON MATJORA, dessen eigentliche Handlung zum Ende des zweiten Kapitels mit einer Friedhofszene eröffnet wird (vgl. Rasputin 1989: 23ff.). Zugleich bildet sie gemeinsam mit der ebenfalls auf einem Friedhof – allerdings dem städtischen – spielenden Abschlussszene des Romans einen Rahmen für die Handlung von DIE ÜBERFLUTUNGSZONE und hat damit eine den Text strukturierende Aufgabe; eine Funktion, die sich so bereits für ABSCHIED VON MATJORA diagnostizieren lässt. Auf inhaltlicher Ebene zeigt die Friedhofszene ein letztes Mal eine funktionierende dörfliche
22 »В деревне давно никто не умирал. Стариков увозили в город в больницу, и они умирали там; молодежь, что раньше дралась, тонула, травилась спиртом или билась на мотоциклах, разъехалась.« 23 »В чужую землю«.
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Gemeinschaft, in der alles und jeder seinen festen Platz hat, auch auf dem Friedhof, wo die Frauen üblicherweise auf der rechten Seite ihrer Männer bestattet werden (vgl. Senčin 2015: 23). Anhand der Darstellung des dörflichen Friedhofs werden – und das ist die wichtigste Funktion der Friedhofszene – zudem gleich zu Beginn des Romans die Kontraste zwischen Dorf und Stadt aufgezeigt: Der Dorffriedhof ist ein natürlich gewachsener (Erinnerungs-)Ort, anhand dessen sich die Geschichte des Dorfes erzählen lässt. Er wird als ein in der Natur gelegenes Idyll beschrieben, umgeben von Ebereschen, Fichten und Tannen, an dem es gut nach geschnittenem Gras riecht und ein leichter Wind weht. Insgesamt hat der Friedhof etwas gemeinschaftsstiftendes und friedliches: »Wie ein sehr großes Gemeinschafszimmer, […]. Still ist es in diesem Zimmer, nur ein Specht klopft irgendwo, aber dieses harte Geräusch unterstreicht nur die große, feierliche Ruhe.«24 (Ebd.: 21) Jede Familie hat auf dem Friedhof ihren angestammten Platz, die Gräber sind kreisförmig – und damit gewissermaßen natürlich – um ein Ausgangsgrab herum gewachsen (vgl. ebd.: 378).25 Dem gegenüber steht die Darstellung des städtischen Friedhofs, auf dem die finale Szene des Romans spielt. Während der Dorffriedhof ein Ort der Erinnerung ist, ist der städtische Friedhof ein Ort des Vergessens. So berichtet der Erzähler über die ersten Bewohner der Stadt, die dort bestattet sind: »Oft waren das einsame Menschen, von weit her, und niemand bewahrte ihr Andenken. Der Sockel mit dem damals üblichen Sternchen war verfault und umgefallen, das Täfelchen mit dem Vor-, Familien- und Vatersnamen verrostet, und das war’s dann – als ob es den Menschen nie gegeben hätte.«26 (Ebd.: 376)
Die Toten liegen anders als auf dem Dorffriedhof in Reih und Glied. Den Protagonisten des letzten Kapitels, einen ehemaligen Dorfbewohner, lässt das an Gräberfelder für deutsche Soldaten denken, auf denen «[g]enauso eine seelenlose Ordnung«27 (ebd.: 378) herrsche. Untermauert wird diese Deutung durch das apokalyptische Finale des Romans: Der künstlich aufgestaute Fluss tritt unkontrolliert über seine 24 »Как огромная общая комната […]. Тихо в этой комнате, лишь бьет где-то дерево дятел, но этот острый звук только подчеркивает великую, торжественную тишину.« 25 Der Auflösung des Dorfes fällt im siebten Kapitel auch der Friedhof zum Opfer: Aus Gründen des Seuchenschutzes werden die Toten umgebettet. Die Störung des Idylls bleibt nicht ungestraft: Der für die Umbettung verantwortliche Dorfvorsteher stirbt auf der Rückfahrt in die Stadt (vgl. ebd.: 264). 26 »Часто были они люди одинокими, из дальних мест, и некому сохранять о них память. Тумбочка с традиционной тогда звездочкой подгнила и упала, табличка, где имя-фамилия-отчество, изржавела, и всё – словно не было человека на свете…« 27 »Такой же бездушный порядок«.
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Ufer und überflutet den städtischen Friedhof. Damit erreicht die Gegenüberstellung von dörflicher Idylle und städtischer Anti-Idylle ihren abschließenden Höhepunkt. Das Natürliche, das im Dorf vernichtet wurde, gewinnt am Ende des Romans die Oberhand und zerstört den Friedhof als symbolisch aufgeladenen Teil der Stadt. Perspektiven der Auflösung Die negative Grundhaltung gegenüber dem Leben in der Stadt zieht sich durch den gesamten Roman. Anders als bei Rasputin, der zwar klare Sympathien für das Dorf erkennen, aber auch starke Fürsprecher der Umsiedelung auftreten lässt, gibt es in Senčins Roman keine überzeugten oder überzeugenden Befürworter der Auflösung der Dörfer. Der Autor sagte dazu in einem Interview, ihm wäre bei seinen Recherchen für den Roman in den von der Überflutung betroffenen Dörfern schlicht niemand begegnet, der dem Bau des Wasserkraftwerks positiv gegenübergestanden habe (vgl. Senčin in Sekisov 2015). Das schlägt sich auch in der Erzählperspektive nieder: Sieben von zehn Kapiteln werden aus der Perspektive einzelner Bewohner von Pylëva und Bolʼšakov erzählt, die die Räumung ihrer Dörfer ablehnen. Diese Ablehnung zieht sich durch alle Altersklassen. Alte, Subsistenzwirtschaft betreibende Menschen (Kapitel 4, 10), die nicht wissen, wovon sie in der Stadt leben und womit sie sich beschäftigen sollen, werden ebenso zu Protagonisten wie Unternehmer, die sich in der Provinz einen funktionierenden Betrieb aufgebaut haben, den sie mangels Kompensationszahlungen in der Stadt nicht weiterbetreiben können (Kapitel 8). Damit entfällt der für die klassische sowjet-russische Dorfprosa typische Konflikt zwischen Jung und Alt in DIE ÜBERFLUTUNGSZONE. Die einzige nicht aus dem Dorf stammende Figur, aus deren Perspektive gleich zwei Kapitel erzählt werden, ist die für eine Lokalzeitung arbeitende Journalistin Olʼga, die den Auftrag bekommt, eine Reportage über den Bau des Wasserkraftwerks und die Räumung der Dörfer zu schreiben. Sie tritt im fünften Kapitel – und damit in der Mitte des Romans – in Erscheinung. Mit der Einführung der Städterin Olʼga verlagert sich auch die Handlung zunehmend vom dörflichen in den urbanen Raum, wobei Olʼga bis zum Ende des Romans eine zwischen diesen beiden Welten pendelnde Figur bleibt. Diese Pendelbewegung spiegelt sich auch in ihrer Einstellung zur Auflösung der Dörfer wider: Zunächst ist sie von der Richtigkeit des Projekts überzeugt, da sie in ihm die Möglichkeit einer wirtschaftlichen Entwicklung des ländlichen Raums sieht, dem sie anfänglich kritisch gegenübersteht: »Sie hatte sich immer gewundert, dass Leute in abgelegenen Dörfern wohnen konnten und vor allem wollten, in Holzhütten, in denen, wenn man im Winter nicht den Ofen heizte, sich das Wasser im Eimer innerhalb weniger Stunden in Eis verwandelte.
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Wozu dieser freiwillige tagtägliche Kampf um die Existenz? Natürlich, vor 200 Jahre war das die Ordnung der Dinge gewesen, aber die Menschheit hatte doch vor langer Zeit gelernt, […] Hochhäuser zu bauen, Wasserleitungen und Zentralheizung zu legen […]. Die Menschheit strebte nach Optimierung, nach Ökonomie, und diese Dörflein mit ihren paar Hundert starrköpfigen Einwohnern bremsten den Fortschritt.«28 (Senčin 2015: 151f.)
Durch ihre Recherchen in den Dörfern, für die sie mit zahlreichen Dorfbewohnern spricht, wandelt sich diese Einstellung jedoch. Sie wird zu einer Chronistin des Verschwindens, aus deren Perspektive in Kapitel 5 und 9 »dutzende zerbrechender oder bereits zerbrochener Schicksale«29 (ebd.: 157) von Dorfbewohnern erzählt werden: »Zum Beispiel Aleksandr Bekker aus Kutaj. […] Oder diese Geschichte. In eben diesem Kutaj lebte Nikolaj Bessonov. […] Und noch eine. Die alten Trjascovs aus dem Dorf Proklovo«30 (ebd.: 156f.). Einige von Olʼgas »Artikelhelden«31 (ebd.: 156) sind dem Leser bereits aus den vorangegangenen Kapiteln bekannt, etwa die Familie Masljakov, die Protagonisten der Kapitel 3 und 8 sind. Der Erzähler erzählt hier aus der Perspektive Olʼgas die Geschichte einer dritten Figur. Dieser Perspektivwechsel ermöglicht es nicht nur, die weitere Entwicklung der Figuren zu verfolgen, er unterstreicht auch noch einmal den Wahrheitsgehalt ihrer Geschichten, werden diese doch nun von einer weiteren Instanz bestätigt. Die Perspektive Olʼgas ist zudem eine Außenperspektive, als von den Ereignissen nicht unmittelbar betroffene Person wird sie zu einer unabhängigen Berichtsinstanz. Dadurch gelingt es ihr, die Bedeutung des Verschwindens der Dörfer in einem anderen als dem rein individuellen Kontext zu sehen. So wird Olʼga in Bolʼšakov bewusst, dass es Dörfer wie dieses waren, die Sibirien zu russischem Gebiet werden ließen, »nicht nur auf dem Papier, sondern durch Blutsbande.«32 (Ebd.: 154) Die Geschichte des russischen Imperiums ist eng verbunden mit der Geschichte der einstigen Vorposten der Ausdehnung des
28 »Ее […] всегда удивляло, что люди могут, а главное, хотят жить в глухих деревнях, в ибушках, где, если не потопить зимой печку, через несколько часов вода в ведре превратится в лед. / Зачем эта добровольная ежедневная борьба за существование? Конечно, двести лет назад это было в порядке вещей, но ведь человечество давно научилась […] строить высотные здания, проводить водопровод, централизованное отопление […]. Человечество стремится к оптимизации, экономии, а вот эти деревушки с сотней-другой упорных жителей тормозят прогресс.« 29 »десятки ломающихся или уже сломавшихся судеб«. 30 »На пример, Александр Беккер из Кутая. […] Или такая история. В том же Кутае жил Николай Бессонов. […] А вот еще. Старики Трясцовы из деревни Проклово«. 31 »герои статей«. 32 »не только формально, но и кровно.«
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russischen Reichs in Richtung Osten ab dem 16. Jahrhundert.33 Die russischen Dörfer fungieren in diesem Verständnis als eine Art Noraʼscher Erinnerungsort. Verschwinden sie, verschwindet auch die Erinnerung an diesen Teil der russischen Geschichte. Wann kommt die Flut? Das im Roman beschriebene Verschwinden der Dörfer ist ein langsames. Die erste Hälfte des Romans steht unter der Frage, wann und ob die Dörfer überhaupt geflutet werden. Noch im fünften Kapitel stellt Olʼga bei ihrer Ankunft in Bolʼšakov fest, dass viele Menschen nicht daran glauben, ihre Dörfer wirklich verlassen zu müssen. Zu oft hat es entsprechende Ankündigungen gegeben, die dann nicht umgesetzt wurden, wie ein Dorfbewohner der Journalistin erklärt: »Vor dreißig Jahren haben sie uns auch erschreckt: jetzt wird geflutet […]. Reist ab, hieß es. Die Farm wurde zerstört, die Sowchose aufgelöst. Und dann passierte nichts. […] Also schauen wir mal, wie sich die Sache entwickelt. Warum vor der Zeit … Damals sind auch viele aufgesprungen, fortgezogen, und dann mussten sie zurückkommen …« 34 (Ebd.: 153)
Ein kurz nach dieser Szene platzierter Zeitsprung von dreieinhalb Jahren ins Jahr 2011 beschleunigt die Handlung (vgl. ebd.: 155, 157). Die Räumung der Dörfer erfolgt dieses Mal konsequenter, aber anders als in den Jahren zuvor geschieht das nicht lautlos: »[S]ie leerten sich geräuschvoll – unter Tränen, Skandalen, Schlägereien und Gerichtsverhandlungen.«35 (Ebd.: 155) Mit den Einwohnern verschwindet auch die Infrastruktur: Die Dörfer sind nicht mehr an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossen, Telefon und Strom abgeschaltet, Schulen und Läden geschlossen. Die bereits verlassenen Häuser werden von den Sanitärbrigaden angezündet, die das Gebiet auf seine Überflutung vorbereiten sollen. Olʼga erinnert der in der Luft hängende Brandgeruch an das sowjetische Kriegsdrama KOMM UND SIEH (russ.: IDI I SMOTRI36) von 1985, in dem deutsche Faschisten sowjetische Dörfer niederbrennen.
33 Zur Geschichte der Eroberung Sibiriens siehe Dahlmann (2009). 34 »Тридцать лет назад тоже пугали: вот-вот затопит […]. Уезжайте, мол. Ферму разрушили, совхоз распустили. А – ничего. […] Ну, поглядим, как до дела дойдет. Чего раньше времени… Тогда тоже многие подхватились, поехали, а потом обратно возвращаться пришлось…« 35 »[П]устели они шумно – со слезами, скандалами, драками и судами.« 36 Der Film wurde von Ėlem Klimov gedreht, dem Regisseur, der auch ABSCHIED VON MATJORA verfilmte. Eventuell handelt es sich bei dem Verweis um einen weiteren intertextuellen bzw. -medialen Bezug.
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Die Assoziation mit einem Szenario, das in der sowjetischen Agitation stets von der Losung »Das darf sich nicht wiederholen!« 37 (ebd.: 159) begleitet war, gibt die Einordnung der Ereignisse vor. Die einst stolzen Dörfer mit ihren teilweise jahrhundertealten, fast anthropomorphen Häusern (vgl. z.B. ebd.: 271), die das ursprüngliche und stolze Russland symbolisieren, werden nun von den eigenen Leuten vernichtet. Sind es in den Kapiteln 2 bis 6 sowie 8 bis 10 vor allem Schicksale von Einzelpersonen, die erzählt werden, bietet Kapitel 7 einen Einblick in das gesamte Ausmaß der Veränderungen in der Region. In dem Kapitel reist Aleksej Brjuchanov, dem Leser bereits als Protagonist des vorangegangenen Kapitels bekannt, auf seinem Motorboot von der Kreisstadt Kolpinsk, wohin er mit seiner Familie umgesiedelt wurde, in sein Heimatdorf Pylëva, um dort der Auflösung des Friedhofs beizuwohnen. Die Art der Fortbewegung bestimmt die Darstellung der Umgebung, die erstmals in dem Roman nicht vom Land, sondern vom Wasser aus beschrieben wird. Die Aleksej einst vertraute Gegend zieht an ihm vorbei, die Gedanken des Protagonisten strömen mit dem Fluss dahin, erfassen die ihn umgebenen Veränderungen an Land und auch am Fluss selbst, der breiter, langsamer und schmutziger geworden ist. Es sind die Veränderungen des Flusses, die ihm die Ausweglosigkeit der Lage vor Augen führen: »›Der Fluss ist dahi-in‹, heulte es in seinem Kopf im Ton des Motors, ›Alle-es ist dahi-in.‹«38 (Ebd. 228) Das, was dahin ist, zieht an Aleksej in Form von verlassenen, teilweise schon halb versunkenen Dörfern und überfluteten Inseln vorbei, einstige Landmarken, nunmehr nur noch mühsam in seiner Erinnerung zu rekonstruieren: »Aleksej drosselte die Geschwindigkeit so weit wie möglich und bemühte sich, die Überreste der Siedlung besser zu sehen, zu erraten, was sich wo befunden hatte…«39 (Ebd.: 229) Das Warten auf die Flutung der Dörfer nimmt wesentlich mehr Raum ein als die Flutung selbst; die letzten Dorfbewohner verlassen ihre Häuser erst im achten Kapitel. Am Ende des Romans sind es allerdings nicht die Dörfer, deren Überflutung detailliert beschrieben wird. Vielmehr ist es die Stadt, oder ein Teil der Stadt, den sich das einem lebenden Organismus gleichende Wasser erobert. Den Menschen bleibt ob der entfesselten Naturgewalt nur die Flucht: »Zwischen den Grabhügeln kroch das Wasser, das an Fühler erinnerte. Langsam, schwer, Kraft und Zeit darauf verwendend, den trockenen Grund zu durchnässen, zu durchtränken. Die Enden dieser Fühler verschwanden gewissermaßen in der Erde, färbten sie […] fast schwarz, aber nach einigen Sekunden bewegte ein neuer Stoß des gewaltigen Organismus die Fühler voran.
37 »Это не должно повториться!« 38 »›Пропа-ала река, – выло в голове в тон мотору. – Пропа-ало всё-о‹.« 39 »Алексей до предела сбавил скорость, стараясь лучше рассмотреть оставшееся от села, угадать, где что находилось…«
344 | N INA FRIESS Und ein neuer Streifen Erde schwärzte sich, das Wasser verschwand, und es folgte ein neuer Stoß. Diese Fühler wurden immer mehr, sie bewegten sich über die Weglein, ergriffen den Friedhof… Zwischen den Kreuzen rannten Menschen […].«40 (Ebd.: 378f.)
V ERSCHWINDENDE D ÖRFER L ITERATUR UND P OLITIK
ZWISCHEN
In einem Interview von 2007 hatte sich Roman Senčin noch ablehnend gegenüber dem gesellschaftlichen Engagement von Schriftstellern geäußert, ja sogar davor gewarnt, Schriftstellern Gehör zu schenken: »Die Politiker sollten auf keinen Fall auf die Schriftsteller hören. Wenn man auf die Schriftsteller hört, dann kracht alles zusammen, zurück bleibt dann nur noch der nackte Mensch auf einer nackten Erde.« (Senčin, zitiert nach Schmid 2015: 287) Mit DIE ÜBERFLUTUNGSZONE legte Senčin 2015 allerdings einen Roman vor, der sich durchaus als engagierte Literatur verstehen lässt. Die Frage, ob sich Schriftsteller in die Politik einmischen sollten, beantwortete er nun dahingehend, dass das für einen Literaten zwar schädlich sei, es aber Zeiten gebe, in denen man seinen Schreibtisch verlassen und politisch aktiv werden müsse (vgl. Senčin in Grichačeva 2016). Senčin tut dies insofern, als er in seinem Roman Missstände benennt: Die Flutung einer gesamten Region aufgrund der Interessen weniger Einzelpersonen; die Ignoranz der Politik und der Behörden gegenüber den Einwänden und Belangen der Bürger; der fehlende Gemeinschaftssinn der Betroffenen, die, anstatt sich zu einer Interessengemeinschaft zusammenzuschließen, auf sich selbst gestellt einen aussichtlosen Kampf gegen die bürokratische Windmühlen führen und dabei auf die Hilfe des guten Zaren Putin41 hoffen etc. Textuell wie paratextuell diagnostiziert er der russischen Politik eine schizophrene Haltung, weil sie einerseits einen Autor wie Valentin Rasputin mit Staatspreisen überhäufe, andererseits aber an überdimensionierten, umweltschädigenden
40 »Меж холмиков, как какие-то щупальца, ползла вода. Медленно, тяжело, тратя силы и время на то, чтобы промочить, напитать, сухую почву. Концы этих щупальцев словно проваливались в землю, делая ее […] почти черной, но через несколько секунд новый толчок огромного организма двигал щупальце дальше. И новая полоска земли чернела, вода исчезала, а следом уже шел новый толчок. Этих щупальцев становилось все больше, они двигались по дорожкам, охватывали кладбище… Меж крестов бежали […] люди.« 41 Vgl. z.B.: »Wenn das alles zu Putin durchdränge, er würde sie [die örtlichen Verantwortlichen; NF] … er würde sie auf jeden Fall alle liquidieren.« (Ebd.: 170) – »Вот дошло бы до Путина это всё, он бы их… он бы их точно всех ликвидировал.«
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Großprojekten festhalte und aus der Geschichte nichts gelernt habe (vgl. z.B. ebd.: 204; Senčin in Sekisov 2015). Lösungsstrategien sucht man in DIE ÜBERFLUTUNGSZONE allerdings vergeblich. Die ewige russische Frage ›Was tun?‹42 bleibt damit auch bei Senčin unbeantwortet.
L ITERATUR Balueva, Anna: »Roman Senčin ›Zona zatoplenija‹«, in: Komsomolʼskaja Pravda vom 15.04.2015, https://www.kp.ru/daily/26368.3/3248214/ (10.10.2017). Bunin, Ivan (2015): Das Dorf, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch. Chutor Zachara Prilepina (o. J.): https://ru-ru.facebook.com/pg/zaharahutor/about/ ?ref=page_internal (10.10.2017). Dahlmann, Dittmar (2009): Sibirien. Vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Paderborn u.a.: Schöningh. Fitzpatrick, Sheila (1996): Stalin’s Peasants. Resistance and Survival in the Russian Village After Collectivization, New York/Oxford: Oxford University Press. Frieß, Nina/Kaminskij, Konstantin (o. J.): »Sachar Prilepin«, in: Dekoder: http://www.dekoder.org/de/gnose/sachar-prilepin (10.10.2017). Goehrke, Carsten (2016): Lebenswelten Sibiriens. Aus Natur und Geschichte des Jenissei-Stromlandes, Zürich: Chronos. Grichačeva, Nadežda (2016): »Roman Senčin: «Ja ne pišu v pustotu»«, in: Litovskij Kurʼerʼ: http://www.kurier.lt/роман-сенчин-я-не-пишу-в-пустоту/. Günther, Hans (2002): »Sozialistischer Realismus«, in: Norbert Franz (Hg.), Lexikon der russischen Literatur, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 423427. Ikonnikov, Alexander (2002): Taiga Blues, Berlin: Alexander Fest Verlag. Kljutscharjowa, Natalja (2012): Dummendorf, Berlin: edition suhrkamp. Pankratz, Andreas: »Vom Kämpfen«, in: Fluter 54, S. 24-27. Parthé, Kathleen (1992): Russian village prose: The radiant past, Princeton, New Jersey: Princeton University Press. Prilepin, Zachar (2009): »Ja prišël iz Rossii«, in: Ders., Ja prišël iz Rossii. Ėsse, Sankt Petersburg, Moskau: Limbus Press, S. 241-246. — (2012a): Moskau: »Vaše imperatorskoe veličestvo«, in: Ders., K nam edet peresvet, Moskau: Astrelʼ, S. 428-431. — (2012b): Sankya, Berlin: Matthes & Seitz. Rasputin, Valentin (1989): Abschied von Matjora, München: C. Bertelsmann.
42 ›Что делать?‹
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Künstlerische Repräsentationen
Moderne Zeiten und gallische Dörfer Die Komik des Verschwindens im frankobelgischen Comic J ANWILLEM D UBIL »Miraculix, unser Druide, glaubst du wirklich, dass wir den Lauf der Zeit immer so aufhalten können, wie wir es getan haben?« »Natürlich nicht, Asterix. Aber wir haben ja noch Zeit, so viel Zeit.« »Zeit? Aber nein, wir haben keine Zeit mehr! Die Wildschweine sind fertig. Man wartet nur noch auf euch!« RENÉ GOSCINNY & ALBERT UDERZO/ASTERIX : DIE TRABANTENSTADT
E INE
KURZGEFASSTE
G ESCHICHTE
DER
Z EIT IM C OMIC
In seinem Comic A SHORT HISTORY OF AMERICA (1979) [dt.: EINE KURZGEFASSTE GESCHICHTE AMERIKAS] benötigt Robert Crumb lediglich zwölf Bilder, um die Entwicklung des Landes paradigmatisch anhand der Verwandlung von einer ursprünglichen und unbesiedelten Landschaft zu einer modernen Stadt abzubilden (siehe Abb. 1). Die Zeitsprünge zwischen den einzelnen Panels umfassen dabei Jahre, mitunter gar Dekaden und erzeugen folglich ein extremes Ungleichgewicht zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit. Parallel gewährleisten aber die synchrone Anordnung der Bilder sowie die Einheit der Perspektive eine sukzessive Lesbarkeit der Sequenz.
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Abb. 1: Die kurzgefasste Geschichte Amerikas ist auch eine Geschichte des allmählichen Verschwindens
A SHORT HISTORY OF AMERICA, © Robert Crumb, 2018 A SHORT HISTORY OF AMERICA rekurriert damit auf das Prinzip des Comics, Zeitabläufe zu verräumlichen (vgl. Knigge 2004: 15), was die Diskontinuität als eine »Ästhetik der Unterbrechung« (Richter 2015: 164) zu einem seiner konstitutiven Strukturmerkmale erhebt. Die Ellipse zwischen zwei Panels markiert dabei stets eine temporale Auslassung, die erst in der Induktionsleistung der Rezeption gefüllt wird (vgl. Grünewald 2012: 36). Diese Erzählweise suggeriert somit kein realistisches Verstreichen der Zeit, wie es synchron auch die abstrakte Form der Strichzeichnung unterminiert (vgl. Knorr 2009: 76), weshalb die starke Kompression von Abläufen dem Rezipienten akzeptabel erscheint. Die Zeitdarstellung des Comics verfügt folglich gerade in Bezug auf Verkürzung und Pointierung über spezifische Möglichkeiten in der Visualisierung von Verschwinden und Entstehen, die deutlich werden, wenn man Buchstabenliteratur und Film als verwandte Erzählformen (vgl. Ahrens 2011: 78) zum Vergleich heranzieht: In Form konventioneller Literatur wäre Crumbs Comic im Grunde nicht realisierbar, da diese die Entwicklung von Panel zu Panel zwar in Form von Bildbeschreibungen detailliert wiedergeben (vgl. Richter 2015: 166) oder pointiert zusammenfassen kann, beides gleichzeitig aber nicht zu leisten vermag. Eine dem Comic
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entsprechende Anschaulichkeit bedarf in der Buchstabenliteratur einer Streckung der Erzählzeit, die Pointe hingegen ihrer Reduktion. Dem Film hingegen ist es möglich, zwölf Einstellungen mit entsprechenden Inhalten zu montieren, durch Auf- und Abblenden zu verbinden oder in eine im Zeitraffer ablaufende Sequenz zu übersetzen. Allerdings bricht die temporale Stauchung hier mit seinem Prinzip, »eine zweidimensionale Abbildung von Realität als unmittelbare Wirklichkeit erscheinen zu lassen« (Müller/Hetebrügge 2007: 11), da dieses einer Handlung bedarf, die »ähnlich wie ein reales Ereignis vor den Augen des Betrachters abläuft« (Knigge 2004: 15). Auch der produktionsspezifische Kontext des Films determiniert die Darstellung, denn was im Comic »ein einzelner Zeichner auf Papier gebracht hat« (Platthaus 2011: 28) muss für die Kamera aufwendig simuliert werden, so dass er auf »eine ganze Armee von Mitwirkenden« (ebd.) angewiesen ist. Gerade kurze Montagesequenzen, die aus einer Reihung stark divergierender, aber aufwändig zu konstruierender, Einstellungen bestehen, lassen sich in diesem Zusammenhang ökonomisch kaum rechtfertigen. Dass sich der Comic nun zwischen den Polen Literatur und Film positioniert (vgl. Ahrens 2011: 78) – mit der einen teilt er das Publikationsmedium, mit dem anderen das Erzählen in Bildern – verleiht ihm eine grundlegende Offenheit und ermöglicht eine Darstellung, in der sich Zeit nahezu beliebig stauchen oder dehnen lässt (vgl. Grünewald 2012: 48f.). Dadurch ist er, wie das Beispiel A SHORT HISTORY OF AMERICA zeigt, zur Visualisierung von Verschwinden und Entstehen besonders prädestiniert. Prägnante Darstellungen, die in Anlehnung an die astronomische Terminologie im Folgenden als Eklipse bezeichnet werden, finden sich dabei aber vornehmlich dort, wo die erzählte Zeit die Erzählzeit extrem übersteigt. Bei der Suche nach entsprechenden temporalen Gestaltungen ist eine Binnendifferenzierung, wie sie etwa Andreas C. Knigge vorgenommen hat, hilfreich: Knigge unterteilt den Comic in drei »geografisch kulturelle Sphären mit divergenten Traditionen des visuellen Erzählens« (Knigge 2009: 24): die USA, Japan, sowie den französischsprachigen Raum Europas; wobei gerade die Gewichtung von Erzählzeit und erzählter Zeit als Distinktionsmerkmal zwischen den jeweiligen Ausprägungen begriffen werden kann (vgl. ebd.). Der nordamerikanische Comic, der sich um 1896 in New York ausbildete, arrangierte seine Bilder in Reaktion auf die zunehmende Beschleunigung des großstädtischen Lebens als »filmartige Abfolge von Einzelmomenten« (Schikowski 2014: 34) und strebte damit ein fließendes, zeitdeckendes Erzählen an (vgl. Grünewald 2012: 38). Japanische Zeichner griffen diesen Ansatz in den 1920er Jahren auf und entwickelten daraus ab 1947 eine genuine Variante (vgl. Knigge 2004: 240f.), die eine dekomprimierte temporale Darstellung forcierte, deren starke Dehnung sich als »Anlehnung an extreme Zeitlupen« (Dittmar 2011: 165) rezipieren lässt. In Europa bestand zunächst »keine Notwendigkeit für den Comic« (Knigge 2004: 168),
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da bereits seit dem 19. Jahrhundert »in den nationalen Kulturen verankerte Traditionen der Bilderzählung« (ebd.) existierten. Diese leiteten die Narration noch durch fortlaufende Textpassagen unterhalb der Zeichnungen (vgl. Fuchs/Reitberger 1982: 175), wobei dieser Verbalcode ein »Ineinandergreifen der Einzelbilder« (Platthaus 1998: 161) verhinderte. In den Illustrationen wurden stattdessen ausschließlich die Höhepunkte der Texterzählung »in Schlüsselszenen aufgebrochen« (ebd.), wodurch die Rezeption »zuviel fehlende Momente« (ebd.) rekonstruieren musste und die Erzählzeit hinter der erzählten Zeit zurücktrat. Als sich der europäische Comic Mitte der 1920er Jahre in Frankreich und Belgien auszubilden begann, strebte er weniger eine Kopie der amerikanischen Vorlage als vielmehr die sukzessive Integration ihrer Stilmittel in die Bilderzählung an. Serien wie Hergés LES EXTRAORDINAIRES AVENTURES DE TOTOR (1926-29) verwendeten bereits Sprechblasen und hatten vergleichbare thematische Tendenzen (vgl. Knigge 2004: 174), positionierten zwischen den Panels aber noch erhebliche Auslassungen, da jede Zeichnung den Inhalt eines mehrzeiligen Erzähltexts komprimieren musste. Auch als sich die Integration des Verbalcodes in die visuelle Darstellung durchsetzte, blieb die Dominanz der erzählten Zeit unvermindert. Nicht einzig das Erbe der Bilderzählung war hier konstitutiv, sondern auch die Rahmenbedingungen der Publikation: Die ersten franko-belgischen Interpretationen erschienen in klerikalen Magazinen oder Kinderbeilagen der Tageszeitungen (vgl. Fuchs/Reitberger 1982: 175). Im Gegensatz zum amerikanischen Comic, der »Subversion und satirische Doppelbödigkeit« (Knigge 2004: 19) fokussierte, sollte das europäische Pendant daher »vor allem die Werte des Bildungsbürgertums vermitteln und lehrreich sein« (ebd.). Die Konsequenz war die Ausbildung einer »aus dieser Intention resultierenden extremen Zeitverdichtung« (ebd.), die auf einem spezifischen Prinzip basierte: »Je mehr Informationen ein Bild enthielt, je ›unbewegter‹ es war, desto ›sinnvoller‹ schien es zu sein« (ebd.).
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E INE NOCH ETWAS KÜRZER GEFASSTE G ESCHICHTE AMERIKAS : T INTIN EN A MÉRIQUE Dieses Phänomen ließ sich bereits in der Serie LES AVENTURES DE TINTIN (1929-76) [dt.: TIM UND STRUPPI]1 identifizieren, die für sich beanspruchen konnte, die »Grundlagen des frankobelgischen Comics« (Schikowski 2014: 107) geschaffen zu haben, indem sie als »ästhetische Rebellion gegenüber der Übermacht der amerikanischen Comic-Produktionen« (Seeßlen 2011: 28) den ersten »Ausweis europäischer Eigenständigkeit« (ebd.) erbrachte. Dies inkludierte bereits früh in der Publikationshistorie, der Episode TINTIN EN AMÉRIQUE (1932) [dt.: TIM IN AMERIKA],2 eine spezifische Eklipse. In der Erzählung reist der belgische Journalist Tintin für eine Reportage nach Chicago und wird dort in Auseinandersetzungen mit dem organisierten Verbrechen verstrickt, die darin münden, dass er die Verfolgung eines flüchtigen Bandenchefs quer durch die Vereinigten Staaten aufnimmt. In einem Indianerreservat muss sich Tintin schließlich mit einer Sprengung aus einem Hinterhalt befreien, wodurch er eine Ölquelle freilegt. Plötzlich auftauchende Investoren versuchen daraufhin, ihm die Förderrechte abzukaufen, der Journalist verweist jedoch auf die amerikanischen Ureinwohner als Eigentümer des Landes. Darauf folgt eine Sequenz (siehe Abb. 2), die »in fünf Panels die Geschichte der USA von der Vertreibung der Indianer bis zum Verkehrschaos in den modernen Metropolen wie im Zeitraffer schildert« (Knigge 2004: 18): Die Nativen werden ausgebootet und eine Stunde später aus dem Reservat vertrieben, nach zwei Stunden beginnen Konstruktionsarbeiten, bei Anbruch der dritten Stunde stehen schon rudimentäre Gebäude und am nächsten Morgen hat eine geschäftige Großstadt das ursprüngliche Land bereits vollständig ersetzt.
1
Der Titel der Serie signalisiert bereits, dass es sich bei ihr um einen Nachfolger von LES EXTRAORDINAIRES AVENTURES DE TOTOR handelt.
2
TINTIN EN AMÉRIQUE existiert in zwei unterschiedlichen Versionen: Die schwarz-weiße Erstveröffentlichung erfolgte 1931/32 im Kindersupplement der belgischen Tageszeitung LE VINGTIÈME SIÈCLE ; kanonisiert ist hingegen die kolorierte und grundlegend überarbeitete Fassung von 1946. In dieser hat die Eklipse durch die starke Kürzung des Originals an Prägnanz gewonnen, weshalb sie hier als Grundlage dient. Eine zweite Überarbeitung, die 1973 vorgenommen wurde, modifizierte hingegen nur Details und kann angesichts der hier behandelten Fragestellung außer Acht gelassen werden.
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Abb. 2: TINTIN EN AMÉRIQUE praktiziert die Eklipse als Superlativ der Beschleunigung
TINTIN EN AMÉRIQUE (Hergé 1946: 29) Bereits im Vorfeld der Eklipse komprimiert TINTIN EN AMÉRIQUE intensiv die erzählte Zeit, indem jedes Einzelbild »gerade so groß, wie es sein muss, um alle notwendigen Informationen zu liefern« (Seeßlen 2011: 143) gehalten ist und die Ausmaße der Figurenrede nicht selten den Eindruck evozieren, sie würden »die Figuren geradezu erschlagen« (ebd.). Mit der zusätzlichen Forcierung des Tempos wird diese Raffung ins Extrem übersteigert und die Eklipse als Superlativ der Beschleunigung praktiziert. Damit wird ihr parallel eine komische Funktion eingeschrieben, die primär auf dem Konzept der Übertreibung fußt.3
3
Dazu passend überzeichnet TINTIN EN AMÉRIQUE in den urbanen Szenen eine direkte Vorlage: die Amerika-Reportage SCÉNES DE LA VIE (Georges Duhamel, 1930) [dt.: SPIEGEL DER ZUKUNFT].
Diese zeigt sich verblüfft angesichts des Umstands, dass Gebäude in
amerikanischen Großstädten wöchentlich um bis zu drei Stockwerke erweitert werden (vgl. Seeßlen 2011: 84); die binnen eines Tages aus dem Boden gestampfte Stadt erscheint demgegenüber als konsequente, wenn auch das Fantastische tangierende Steigerung.
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Gleichsam existiert in einer Kompression dieser Intensität keine fließende Narration mehr, die Einzelbilder fungieren nur noch als »szenische Zeitstationen eines Gesamtprozesses« (Grünewald 2012: 36), deren Ellipsen die Herausforderung formulieren, anhand gegebener Indizien »den zeitlichen Handlungsverlauf zu konstruieren« (ebd.). Dazu müssen die Sprünge zwischen den Panels jedoch »genügsamer angelegt« (Knigge 2004: 18) sein, weshalb TINTIN EN AMÉRIQUE »ohne die Kenntnis der amerikanischen Geschichte […] kaum verständlich oder wenigstens mehrdeutig« (ebd.: 17f.) bleibt. Um Auslassungen zu präzisieren, die sich eben nicht mehr aus dem Kontext schließen lassen, fügt der Comic in der Regel knappe Zeitangaben in der linken, oberen Ecke eines Einzelbildes ein, ein Prinzip, das im vorliegenden Beispiel jedoch ad absurdum geführt wird. TINTIN EN AMÉRIQUE beschränkt sich, anders als A SHORT HISTORY OF AMERICA, nicht mehr darauf, eine zügige temporale Abfolge mittels visueller Signale zu suggerieren, sondern schreibt diese konkret fest. Der Verbalcode setzt sich damit in doppelter Hinsicht gegen die Empirie durch: Die Zeitangaben konkretisieren, dass zwischen den letzten vier Panels der Sequenz nur Stunden vergehen, widersprechen damit aber sowohl den historischen Fakten als auch dem Weltwissen der Rezipienten darüber, wie viel Zeit die dargestellten Vorgänge üblicherweise in Anspruch nehmen. Verbaler und visueller Code treten hier in Opposition zueinander, die kurze Spanne der erzählten Zeit im Text differiert von der langen, im Bild dargestellte Spanne. Der Comic verweist dabei mit seinen spezifischen Mitteln auf eine »starke Gegensätzlichkeit« (Jaki 2015: 66), die ihrerseits »für einen humorauslösenden Überraschungseffekt […], die Inkongruenz« (ebd.) verantwortlich ist. Eine solche Diskrepanz verläuft auch zwischen der rationalen europäischen Perspektive des Protagonisten und einer absurd verzerrten Innensicht der amerikanischen Figuren: Während sich Tintin angesichts des beschleunigten Wachstums ungläubig bis verstört zeigt, registrieren Investoren, Bauarbeiter und Städter die Übertreibung durchweg ungerührt, wodurch auch ihr stereotypes Verhalten ins Komische verkehrt wird: Der Concierge bewacht bereits mit stoischem Ernst und in kompletter Dienstmontur die Pforten einer Bank, obgleich diese bisher lediglich aus dem Eingang und zwei Dutzend Backsteinen besteht. Und der Polizist, eigentlich ein Repräsentant von Ordnung und Ratio, herrscht den Protagonisten aufgrund seiner Kleidung an, dass er sich hier nicht im Wilden Westen befände. Sein Irrtum ist dabei allgegenwärtig: Innerhalb der Narration mag das wilde Land inzwischen verschwunden sein, visuell ist es im statischen Bildmedium Comic auf der Seite jedoch weiterhin präsent.
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D ER EWIGE K REISLAUF : L UCKY LUKE – RUÉE SUR L‘O KLAHOMA Mitte der 1930er Jahre beförderte die Papierknappheit im Zuge des Zweiten Weltkriegs eine Stagnation des frankobelgischen Comics, die bis 1946 anhalten sollte (vgl. Fuchs/Reitberger 1982: 177). Von dieser Einschränkung befreit, entstand in kurzer Zeit eine ganze Reihe neuer Serien, die nun auch Themengebiete erschlossen, die zuvor vernachlässigt worden waren. Zu exponieren ist diesbezüglich LUCKY LUKE (1946ff., Morris), da dieser erste – obgleich noch primär parodistisch angelegte – populäre europäische Westerncomic bereits die Bedeutung des Genres für die Eklipse exemplifizierte: Vorrangig angesiedelt zur Zeit der amerikanischen Landerschließung ab 1848 (vgl. Wilpert 1989: 906), wird die Wild-West-Erzählung explizit durch den »Mythos der Frontier« (Kiefer 2011: 773), als einer »Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation im Zuge der Eroberung eines Kontinents« (ebd.), strukturiert. Verschwinden und Entstehen sind der Gattung somit eingeschrieben; gleichzeitig bedingt ihr simplifizierter Aufbau, dem der Rekurs auf stereotype Situationen immanent ist (vgl. Wilpert 1989: 906), eine Pointierung. Unter den LUCKY LUKE-Episoden ist dabei besonders RUÉE SUR L’OKLAHOMA (1958, René Goscinny/Morris) [dt.: AUF NACH OKLAHOMA!] hervorzuheben, da sie anstelle der linearen Abfolge von Besiedelung und Wachstum ein Scheitern der Landerschließung setzt, aus dem die Rückführung in den Ausgangszustand resultiert.4 Sukzessive Progression wird in diesem Fall durch eine zyklische Struktur substituiert, die sich konträr zu TINTIN EN AMÉRIQUE nicht mehr auf eine isolierte Sequenz beschränkt, sondern die Narration in toto konstituiert: Frei nach dem historisch verbürgten »Oklahoma Land Run« von 1889 wird der Erwerb der letzten noch im Besitz amerikanischer Ureinwohner befindlichen Gebiete und die anschließenden Freigabe zur Besiedelung überzeichnet, wobei der Protagonist und Revolverheld Lucky Luke als Organisator dieses Wettlaufs um Grund und Boden fungiert. In dieser Funktion wird er Zeuge, wie Städte in kürzester Zeit errichtet und ebenso schnell wieder verlassen werden, als sich die Unfruchtbarkeit des Landes herausstellt. Am Ende bleibt nur noch die Rückgabe Oklahomas an seine ursprünglichen Besitzer.
4
In Bezug auf die Eklipse ebenfalls hervorzuheben ist die Episode LA VILLE FANTÔME (1963, René Goscinny/Morris) [dt.: LUCKY LUKE UND DIE GEISTERSTADT], die Lucky Luke in den Ort »Gold Hill« führt, der aufgrund eines fingierten Goldfundes impulsiv entstand und übereilt wieder verlassen wurde, als sich die Ertragslosigkeit der Minen offenbarte. Entstehen und Vergehen liegen hier bereits fünfzig Jahre in der Vergangenheit und werden durch die Erzählung eines Saloon-Wirtes zeitraffend in einer kurzen Sequenz rekapituliert.
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Die Beschleunigung der Handlung indiziert auch hier eine spezifische Gestaltung der Erzählzeit: Auf die kurzgefassten Verhandlungen um den Landerwerb (Seite 1) und die zügige Rekrutierung Lucky Lukes (2) folgt ein langer Abschnitt, der die Organisation des Startschusses zur Besiedelung ausbreitet (3-16). Das anschließende Abstecken der Gebiete (17-20) ist ebenso verkürzt wie die Darstellung von Entstehen und Wachstum der Ortschaften (21-25), wohingegen anekdotische Ausführungen über das Aufkommen des organisierten Verbrechens (26-31) und erste Bürgermeisterwahlen (32-39) gedehnt werden. Das finale Verschwinden ist erneut forciert, die Erzählzeit nimmt von Dürre und Hungersnot (40-43) über die Dekonstruktion der Siedlungen (44-45) hin zur Rückgabe des Landes (46) konstant ab. RUÉE SUR L’OKLAHOMA praktiziert somit eine diametral zur Konvention verlaufende Gewichtung, die einem Ereignis umso weniger Erzählzeit zugesteht, je relevanter dieses für die eigentliche Handlung ist. Indem die zeitraffende Darstellung des »Land Runs« zusätzlich von Exkursen fragmentiert wird, die insgesamt 28 der 46 Seiten einnehmen, den Plot aber stagnieren lassen, findet die temporale Reduktion eine zusätzliche Betonung. Die Zeitgestaltung verfolgt dementsprechend eine Stilisierungsstrategie, die den Ansturm auf das Land als absurden Wettlauf karikiert, der längst nicht mehr auf ein Ziel ausgerichtet ist, sondern sich kopflos im Selbstzweck erschöpft. Die Verkürzung kulminiert schließlich in einem einzelnen Panel, das gleichzeitig paradigmatisch für den dargestellten Zyklus ist: Auf die finale Rückgabe des Landes folgt das Bild zweier Bohrtürme, vor denen sich ein Ureinwohner seine Pfeife mit einem 100-Dollar-Schein anzündet. Ein Texteinschub informiert darüber, dass Oklahoma seine Besitzer wenig später zu Multimillionären machen sollte, da man dort auf ein reiches Erdölvorkommen stieß. Die Prolepse suggeriert bereits einen erneuten Ansturm auf das Land und unterstreicht den periodischen Charakter der Episode, die zum Ende wieder an ihrem Ausgangszustand ankommt, nur um dann eine Repetition der dargestellten Vorgänge in Aussicht zu stellen. RUÉE SUR L’OKLAHOMA bedient sich hier der »episodischen Zerstückelung« (Dolle-Weinkauff 1990: 201f.), eines Konzepts, das für die Serialität des frankobelgischen Comics charakteristisch ist. Dabei handelt es sich um eine fragmentierte Form der Narration, die »nicht am Handlungsendpunkt der zuvor erzählten beginnt und deren Ende ebenso wenig den Beginn der darauf folgenden Handlung bildet« (ebd.: 202). Der Zusammenhang der Episoden wird in der Folge gerade nicht durch eine Kontinuität des innerhalb der Serie Erzählten gestiftet, sondern resultiert »ausschließlich aus dem gleichen Erscheinungsbild […] des Helden sowie dessen […] Milieu« (ebd.). LUCKY LUKE pointiert diesen Umstand durch den Rekurs auf eine »klassische Schlussszene« (Feige 2005: 488), ein finales Panel jeder Episode, das stets von identischem Inhalt ist: Dem Cowboy, der einsam in den Sonnenuntergang reitet, denn
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»nur ungebunden sind diese Abenteurer vorstellbar, die frei streifen wollen, am Horizont auftauchen und am Ende dort auch wieder verschwinden« (Kiefer 2011: 774). Es ist eine Wanderschaft, die weder Anfang noch Ende kennt und am Beginn einer Episode lediglich zeitweise durch ein austauschbares Ereignis, das ein Einschreiten erfordert, unterbrochen wird. Was sich innerhalb dieses Rahmens ereignet, ist auf Ebene der übergeordneten Serie von keinerlei Relevanz; im Gegenteil fungiert gerade die »Unveränderlichkeit« (Dolle-Weinkauff 1990: 201) als Existenzgrundlage dieser »Serie unbegrenzter Fortsetzungen« (ebd.). Es kann hier als höchste Konsequenz der Rahmenbedingungen aufgefasst werden, wenn das innerhalb einer Episode Entstandene an ihrem Ende bereits wieder verschwunden und somit eine Ereignistilgung überflüssig geworden ist. Vom strukturellen Aspekt abgesehen, imitiert die Komik noch die in TINTIN EN AMÉRIQUE etablierten Muster: In beiden Fällen sind es die Protagonisten des Wandels, die in ihrem übersteigerten Bestreben eine ignorante Haltung offenbaren, deren zunehmend absurdere Blüten den fassungslosen Blick der Titelfiguren auf die Entwicklungen provozieren.5 Obgleich in der Wild-West-Szenerie heimisch, ist auch Lucky Luke als Außenstehender exponiert; von dem uramerikanisch konnotierten Hintergrund hebt ihn bereits seine Kleidung in den belgischen Nationalfarben Schwarz, Gelb und Rot ab (vgl. Feige 2005: 489).
D ER B LICK NACH INNEN : A STÉRIX – L E D OMAINE DES D IEUX Auch in der Serie ASTÉRIX (1959ff., René Goscinny/Albert Uderzo) ist die Einbindung der Eklipse in den narrativen Status Quo signifikant, abseits davon zeichnet sie sich aber gerade durch die Inversion der in TINTIN EN AMÉRIQUE und RUÉE SUR L’OKLAHOMA repräsentierten thematischen Konventionen aus. Während sich diese in Zeiten eines Wandels positionierten, den sie in der Fremde registrierten, ist ASTÉRIX in einer historischen Phase datiert, in der sich tiefgreifende landschaftliche
5
So findet etwa die zitierte Szene aus TINTIN EN AMÉRIQUE hier ihre Variation, als Lucky Luke sein Pferd auf einer Wiese angeleint zurücklässt, um einen Kontrollgang durch di e gerade entstehende Siedlung zu absolvieren (Seite 21). Als er zurückkehrt ist es noch immer heller Tag, doch auf dem zuvor freien Gelände steht inzwischen bereits ein zweistöckiges Gasthaus, dessen Besitzer Lucky Luke zurechtweist, dass er sein Pferd nicht einfach auf seinem Hotelzimmer zurücklassen könne. Dass er sein Gebäude offensichtlich um ein angebundenes Pferd herum hochgezogen hat, erscheint dem Siedler hingegen nicht weiter erwähnenswert.
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Veränderungen bereits vollzogen haben. Der Blick richtet sich hier nach innen, zurück in die eigene Vergangenheit, namentlich das Jahr 50 vor Christus, in dem die gallischen Siedlungen der Bretagne zugunsten von Feldlagern der römischen Besatzung unter Julius Cäsar verschwunden sind.6 Die Serie basiert nun gerade auf der Supposition einer Ausnahme, der Existenz eines Dorfes, das sich aufgrund eines magischen Elixiers ihres Druiden den Okkupanten mühelos zu erwehren vermag (vgl. Fuchs/Reitberger 1982: 190). Dass mit der thematischen Variation auch eine formale Innovation der Eklipse einhergeht, exemplifiziert bereits die erste Episode ASTÉRIX LE GAULOIS (1959, René Goscinny/Albert Uderzo) [dt.: ASTERIX DER GALLIER], die von einer den historischen Kontext stiftenden Montagesequenz eingeleitet wird (Abb. 3).7 Abb. 3: Erst die Verdichtung ermöglicht die Verschränkung von Geschichtsschreibung und Parodie, die für die Serie ASTÉRIX charakteristisch ist
ASTÉRIX LE GAULOIS (Goscinny/Uderzo 1959: 1)
6
ASTÉRIX stellte den konkreten Versuch dar, den amerikanischen Comics einen genuin französischen Topos entgegenzustellen. Bei der Konkretisierung dieses Vorhabens rekurrierten die Autoren auf die Beobachtung, dass ihre Landsleute, wenn sie über die Geschichte ihres Landes sprechen, grundsätzlich mit den Galliern beginnen. Die Serie lässt sich folglich auch als Geschichte vom Ursprung einer Nation lesen (vgl. Knigge 2004: 278).
7
Deutlich wird an dieser Stelle erneut, dass die Eklipse häufig im Zusammenhang mit der Rekapitulation historischer Fakten steht. Dies ist sicherlich als Spezifikum des frankobelgischen Comics zu begreifen, da diese Form der Wissensvermittlung auf seine ursprünglich bildungsbürgerliche Intention zurückgeführt werden kann.
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Diese Sequenz steht oberflächlich betrachtet in der Traditionslinie der Bilderzählung, da die Narration von einem fortlaufenden Erzähltext geführt wird und die Zeichnungen den Inhalt des Verbalcodes illustrativ in Schlüsselszenen aufbrechen. Gleichsam beschränken sich die Bilder aber nicht auf diese Funktion, sondern ironisieren synchron den historisch-seriösen Tonfall des Textes. Verdeutlicht wird dies besonders im zweiten Bild der Sequenz, dessen Verbalcode eine erniedrigende Geste der Kapitulation des Vercingetorix beschreibt, bei der der unterlegene Fürst der Kelten gezwungen ist, Cäsar seine Waffen zu Füßen zu legen. Die Visualisierung wählt hingegen eine »parodistische Art und Weise, historische Begebenheiten zu schildern« (Schikowski 2014: 124), wie sie für ASTÉRIX charakteristisch ist: Der Stammesführer erscheint als aufrechter Hüne, der dem römischen Feldherren einen formidablen Haufen Schwerter, Speere und Rüstungen derart schwungvoll vor die Füße wirft, dass Cäsar mit einem lauten Aufschrei zurückzuckt und auf diese Weise zur schreckhaften Witzfigur degradiert wird. Bemerkenswert ist hier also weniger die Form, in der die erzählte Zeit komprimiert wird, sondern vielmehr das Verhältnis von verbalem und visuellem Code, das auf eine Synchronisation der Kontraste abhebt, die erst durch die von der temporalen Stauchung der Eklipse herbeigeführte Unbewegtheit der Bildfolge ermöglicht wird. Auch das Prinzip der episodischen Zerstückelung gewinnt in ASTÉRIX eine neue Qualität, da die »regelmäßige Wiederholung bestimmter Handlungselemente« (Klein/Endres 2016: 203) nicht nur als charakteristisch, sondern vielmehr als »besonderes Erfolgsrezept der Reihe« (ebd.) gilt, deren Episoden folglich »immer nach demselben Schema verlaufen« (Fuchs/Reitberger 1982: 191): Auf die introduzierende verbale Paraphrase der zitierten Sequenz – vom Jahr 50 vor Christus als Zeitpunkt der Handlung wird dabei niemals abgewichen – folgen Anekdoten aus dem dörflichen Alltag, der im Anschluss durch die Ankunft eines Hilfesuchenden oder externer Aggressoren gestört wird. Im Rahmen einer »Abenteuerfahrt« (Klein/ Endres 2016: 203) oder lokalen Konfrontation wird die Bedrohung des Dorfes respektive seiner Verbündeten abgewehrt, als Conclusio fungiert das episodenübergreifend konvergente »obligatorische Schlussbankett« (Schikowski 2014: 124), mit dem die erfolgreiche Verteidigung zelebriert wird. ASTÉRIX greift somit die fixierte Struktur, der sich schon LUCKY LUKE bediente, auf und übersetzt sie in eine Form, in der Ausgangs- und Endzustand als unverrückbar festgeschrieben erscheinen. Auch das Verschwinden fungiert abermals als persistenter Subtext, der okkasionell auch zur eigentlichen Handlung avanciert: So beabsichtigt Cäsar etwa in der Episode LE DOMAINE DES DIEUX (1971, René Goscinny/Albert Uderzo) [dt.: DIE TRABANTENSTADT], das gallische Dorf durch die Einfassung in eine Stadt nach römischen Exempel zu zivilisieren. Bereits der Rodung der umliegenden Waldgebiete treten die Gallier jedoch mit einem naturmythischen Zaubermittel entgegen, das die Bäume innerhalb von Sekunden wieder nachwachsen lässt. Der römische
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Baumeister forciert daraufhin die Geschwindigkeit, in der die natürliche Vegetation beseitigt wird, nur um jeden Morgen aufs Neue festzustellen, dass sich der Wald über Nacht komplett regeneriert hat. Aus Rücksicht auf die Sklaven der Römer, die körperlich unter der vergeblichen Arbeit leiden, tolerieren die Gallier schließlich die Errichtung eines einzelnen Wohnblocks. Der folgende Einzug römischer Mieter vermag es, den dörflichen Frieden zu erschüttern – vornehmlich, da die Kaufkraft der Zugezogenen die Preise für Fisch, Schmiedewaren und Hinkelsteine in die Höhe treibt. Als Gegenmaßnahme quartiert Asterix, der tapferste Krieger des Dorfes, den gallischen Barden in dem Neubau ein, dessen kakophonisches Musizieren den überstürzten Auszug sämtlicher Mieter initiiert. Die Gallier zerstören den Wohnblock, woraufhin der Baumeister kapituliert und von weiteren Konstruktionsvorhaben Abstand nimmt. Anders als in den bisherigen Beispielen – ASTÉRIX LE GAULOIS eingeschlossen – harmonieren Erzählzeit und erzählte Zeit in LE DOMAINE DES DIEUX: Die langwierige, nahezu ergebnislose Rodung vollzieht sich folgerichtig über 16 der insgesamt 44 Seiten und visualisiert die Bemühungen der Baumannschaft in extenso, während die Gallier im komischen Kontrast lediglich pointierte Einschübe benötigen, um das römische Tagewerk zu annullieren.8 Auch die innerhalb von Minuten absolvierte Stürmung des Wohnblocks bedarf lediglich eines einzelnen, obgleich eine ganze Seite einnehmenden Panels, die zweite Präsentation des Gebäudes zeigt es nur noch in Trümmern, in der Dritten ist es bereits wieder von Bäumen überwuchert (Abb. 4).
8
Das erste wundersame Nachwachsen der Bäume wird noch explizit ins Bild gesetzt, bei der Wiederholung reicht eine Suggestion durch Lautmalereien, danach beschränkt sich die Darstellung darauf, Bauherren und Sklaven stets aufs Neue in einen Wald zurück zu führen, der keine Spuren ihrer vorherigen Rodung mehr aufweist.
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Abb. 4: ASTÉRIX ist auch eine ökologische Utopie, in der Wälder schneller entstehen, als sie verschwinden können
LE DOMAINE DES DIEUX (Goscinny/Uderzo 1971: 44) LE DOMAINE DES DIEUX betont hier die Korrespondenz zwischen Eklipse und paradigmatischer Erzählstruktur: Die stets identische Datierung der Episoden verbietet jeglichen bleibenden Eingriff in die serielle Diegese, die obligatorische Siegesfeier als fixes Schlussbild lässt keinen Zweifel am Ausgang der Handlung zu. Unter diesen Vorzeichen steht die Veränderung von Anfang an auf verlorenem Posten, es existiert keinerlei Zweifel daran, dass Cäsars Vorhaben von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist. Dass für die Destruktion des Wohnblocks nur geringe Erzählzeit aufgewendet wird, ist angesichts des Umstandes, dass der gallische Triumph niemals ernsthaft gefährdet sein kann, narrativ konsequent – die finale Zerstörung des imperialistischen Symbols ist lediglich eine Formalität. In der Inkongruenz zwischen der sich endlos hinziehenden Urbarmachung des Raums und dessen beschleunigter Rückeroberung liegt freilich das komische Potential dieser Konstruktion, die sich voller Schadenfreude an einem hegemonialen Bauvorhaben ergötzt, dessen vergebliche Ausführung Sisyphos zur Ehre gereicht hätte. Die Verkehrung des Blicks nach innen hat dabei aber auch zur Folge, dass es in LE DOMAINE DES DIEUX die Gallier selbst sind, die den phantastischen Charakter der Eklipse analog zu den TINTIN EN AMÉRIQUE-Großstädtern und den RUÉE SUR
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L’OKLAHOMA-Siedlern nonchalant kontrapunktieren: Die »ironische Demonstration der eigenen Überlegenheit« (Knigge 2004: 279) seitens der Dorfbewohner spiegelt sich in der unaufgeregten Haltung des Druiden, der Bedrohungen abwendende Wundermittel aus seinem Bestand selektiert wie ein Apotheker Kopfschmerztabletten und Fieberzäpfchen. Die in Sekunden sprießenden Bäume evozieren dann zumindest bei Asterix ein kurzes Erstaunen, während sein Freund Obelix den Wald bereits mit demselben Stoizismus nachwachsen lässt, mit dem er in seinem Hauptberuf Hinkelsteine aus dem Fels klopft.
S UPERLATIV
DER
K ONSTRUKTION : S PIROU
À
M OSCOU
Neben LES AVENTURES DE TINTIN, LUCKY LUKE und ASTÉRIX zählt auch SPIROU (1938ff., Rob-Vel) [dt.: SPIROU UND FANTASIO]9 zu den »legendären Höhepunkten der frankobelgischen Comicgeschichte« (Hamann 2014: 10). Die Serie um den ehemaligen Hotelpagen Spirou und den Reporter Fantasio, die Episode für Episode »rätselhafte Geschehnisse aufzudecken hatten, exotische Ländern bereisten und es mit finsteren Gegenspielern zu tun bekamen« (Knigge 2004: 230), nahm darin aber insofern eine Ausnahmestellung ein, als dass sie ein tendenziell zeitdeckendes, an amerikanischen Vorbildern und Trickfilmen orientiertes Erzählen praktizierte (vgl. Hamann 2014: 8). Erst nachdem SPIROU 1982 von den Autoren Tome und Janry übernommen wurde, die darum bemüht waren, der Interaktion zwischen Verbalcode, Zeichnung und Zeitgestaltung neue Facetten abzugewinnen, begann die Serie zunehmend auf eine temporale Kompression des Erzählten zu rekurrieren. In der Folge kam zunächst der verschwundenen Landschaft selbst eine exponierte Stellung in diversen Episoden zu: So schildert etwa ANGOISSE À TOUBOUTT-CHAN (1988) [dt.: DIE ANGST IM NACKEN] die Spurensuche nach einer Expedition, die 1938 im nepalesischen Grenzland verschollen war, nachdem sie angeblich den Weg in ein als Mythos geltendes Tal fand, in das die Mongolen im 13. Jahrhundert diejenigen verbannten, die aufgrund ihrer Schwäche verachtet wurden. Die Recherche vor Ort mündet in das Verschwinden der Reporter selbst, die von Stromschnellen mitgerissen und im letzten Panel der Erzählung als vermisst gemeldet werden. In LA VALLÉE DES BANNIS (1989) [dt.: DAS TAL DER VERBANNTEN] tauchen sie – dem Diktat des Seriellen folgend – wieder auf und stellen fest, dass es sie an den gesuchten Ort verschlagen hat. Von den Siedlungen der Verbannten zeugen aber nur noch Ruinen,
9
Der eigentliche Aufschwung der Serie zum frankobelgischen Klassiker vollzog sich in den 1950er Jahren während der Autorschaft André Franquins (vgl. Knigge 2004: 231), sie firmiert seitdem auch unter dem erweiterten Titel LES AVENTURES DE SPIROU ET FANTASIO.
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wobei sich der Grund für die Auflösung der Zivilisation in der genuinen Fauna der abgelegenen Landschaft offenbart: Dort lebte einst ein Insekt, dessen Stich die Einwohner in eine dauerhafte Raserei versetzte und sie einander umbringen ließ. Die signifikante Eklipse der Serie findet sich aber in SPIROU À MOSCOU (1990) [dt.: ABENTEUER IN MOSKAU], einer Episode, die das Verschwinden der Landschaft zugunsten der Großstadt eher implizit thematisiert. Erzählt wird hier, wie Spirou und Fantasio von Mitarbeitern des französischen Geheimdienstes zwangsrekrutiert werden, um dem KGB im Austausch gegen zwei Geiseln in seinem Kampf gegen das organisierte Verbrechen beizustehen. Vor Antritt ihrer Mission erhalten sie eine komprimierte Einführung in Geschichte (Seite 2), nationale Gebräuche (Seite 3) und die Kriminalitätsbekämpfung des Landes (Seite 4), die als karikierende »Verarbeitung bekannter Russland-Klischees« (Sick 2007: 5) konzipiert ist. Diese Sequenz, die sich über 23 Einzelbilder erstreckt, geht nicht nur im Umfang über die bisherigen Beispiele hinaus, sondern auch in der semiotischen Komplexität ihrer Konstruktion. Beginnend auf den Schlachtfeldern des 13. Jahrhunderts10 und im kontemporären Moskau endend wird hier das Ersetzen des ursprünglichen Landes durch die moderne Metropole mit der Ablösung eines souveränen Russlands, das sich Angriffen ausländischer Aggressoren zu erwehren vermochte, von einem modernen Staat, der angesichts bisher ungekannter Formen des Verbrechens auf ausländische Hilfe angewiesen ist, synchronisiert (Abb. 5).11
10 Die zeitliche Kompression nimmt dabei bisher ungekannte Ausmaße an: Während der Erzähltext die Kämpfe aufzählt, die Russland in seiner Geschichte austragen musste, um die Grenzen zu verteidigen, werden diese visuell in einer Zeichnung zusammengefasst, in der die russische Armee mongolische, französische und preußische Soldaten gleichzeitig bekämpft. Ein einziges Panel verdichtet somit einen Zeitraum, der vom Mongolensturm ab 1206 über Napoleons Feldzug von 1812 bis zum Ersten Weltkrieg reicht. 11 SPIROU À MOSCOU nimmt hier explizit das Bild eines im Wandel befindlichen Russlands auf, das nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 in der Weltöffentlichkeit etabliert wurde. Der aktuelle, in der Gegenwart verortete Bezug verleiht der Erzählung im hier thematisierten Rahmen erneut eine Ausnahmestellung und hebt sie von Beispielen wie RUÉE SUR L’OKLAHOMA ab, die Phasen des Umbruchs aus der Retrospektive betrachten. Der Gegenwartsbezug schlägt sich auch in einer modernen, weil ambivalenteren Verteilung von Gut und Böse nieder. Waren es in TINTIN EN AMÉRIQUE und ASTÉRIX stets die ausländischen Figuren, die als negativ besetzte Gegenspieler der frankobelgischen Protagonisten agierten, operiert hier insgeheim ein Landsmann Spirous als Kopf der russischen Verbrechensorganisation. Mehr noch, der ominöse Graf Tanaziof entpuppt sich als Zantafio, ein krimineller Cousin Fantasios, der in vorangegangenen Episoden bereits mehrfach als Antagonist fungierte.
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Abb. 5: Wird die Geschichte Russlands in 23 Bildern komprimiert, deckt eines schon mal neun Jahrhunderte ab
SPIROU À MOSCOU (Tome/Janry 1990: 2) Während die Komik in der Eklipse bisher primär eine Begleiterscheinung war, die aus der extremen zeitlichen Kompression resultierte und sich folglich erst in der Gesamtheit der Sequenz erschloss, verfolgt SPIROU À MOSCOU einen diametralen Ansatz: Die Einzelbilder des Abschnitts verbinden sich zu 13 in sich geschlossenen Szenen mit einem Umfang von ein bis vier Panels, wobei jede dieser Szenen auf eine Pointe beziehungsweise ein Wortspiel hinausläuft oder als Karikatur (vgl. das finale Panel der Abbildung) fungiert. Die Geschichte Russland wird folglich weniger ironisiert, sondern aus einer Reihung einzeln rezipierbarer Gag-Bildfolgen überhaupt erst konstruiert.
AUSKLANG UND
IMMERWÄHRENDE
E KLIPSE
Rückblickend lässt sich SPIROU À MOSCOU als Repräsentant einer Schlussphase der frankobelgischen Tradition verstehen, da die in den 1990ern einsetzende Globalisierung des japanischen Comics einen zunehmenden Wandel der Sehgewohnheiten jugendlicher Rezipienten initiierte (vgl. Knigge 2004: 359). Serien, die diese als
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Zielgruppe adressieren, tragen den modifizierten Präferenzen ihres Publikums in der Folge durch Aktualisierungen Rechnung, unter denen die Dekomprimierung der Erzählzeit eine zentrale Stellung einnimmt.12 Oppositiv dazu positionieren sich Serien, die auf ein erwachsenes Publikum ausgerichtet sind und daher eine Rückbesinnung auf »die vermeintlich besseren Tage« (Schikowski 2014: 227) des frankobelgischen Stils proklamieren. Nachdem etwa die modernisierte ASTÉRIX-Interpretation LE CIEL LUI TOMBE SUR LA TÊTE (2005, Albert Uderzo) [dt.: GALLIEN IN GEFAHR] auf heftige Ablehnung der Leserschaft stieß (vgl. Schikowski 2014: 225), verfolgen die Fortsetzungen seit ASTÉRIX CHEZ LES PICTES (2013, Jean-Yves Ferri/Didier Conrad) [dt.: ASTERIX BEI DEN PIKTEN] wieder einen Ansatz, der sich inhaltlich wie formal an der Diktion klassischer Episoden der 1960er und 70er orientiert. Folglich stehen sich gegenwärtig zwei Varianten des frankobelgischen Comics gegenüber, in denen die Eklipse zwar weiterhin ihren festen Platz hat, in ihrer Entwicklung aber abgeschlossen erscheint. Die moderne Tendenz verzichtet in weiten Teilen auf die Spezifik, die in den 1920ern erst die Distinktion zum amerikanischen Vorbild ermöglichte. Die traditionelle Ausrichtung hingegen reproduziert kanonisierte Muster, ohne diese zu erweitern. Obgleich dieser klassizistische Ansatz aufgrund seiner Wertkonservativität wiederholt in die Kritik geraten ist (vgl. Knigge 2004: 360; Schikowski 2014: 226), muss ihm doch zugestanden werden, dass er dem Verschwinden auf diesem Wege paradoxerweise eine Beständigkeit verleiht, wie sie in den Künsten wohl beispiellos ist.
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12 Beispielhaft lässt sich dies an der Gestaltung der SPIROU -Episoden MACHINE QUI REVE (1998, Tome/Janry) [dt.: JAGD AUF SPIROU] (vgl. Sick 2007: 5) und PARIS-SOUS-SEINE (2005, Jean-David Morvan/José-Louis Munuera) [dt.: FLUT ÜBER P ARIS] ablesen (vgl. Hamann 2014: 16).
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Armutszeugnisse für die Erinnerungskultur! Strategien ästhetisch-poetischer Inwertsetzung peripheren Kulturerbes in der Kunst nach 1970 L UTZ H ENGST
Spurensicherung ist heute, besonders aufgrund der Verbreitung im Kriminalgenre, ein geläufiger Begriff – mit dieser Beobachtung eröffnete ich eine 2015/16 veröffentlichte Forschungsarbeit, um dann auf eine weniger bekannte Begriffsverwendung hinzuweisen: Seit den 1970er Jahren wurde (und wird) mit Spurensicherung eine Tendenz konzeptueller Kunst bezeichnet, die sich wesentlich anhand eines methodischen Merkmals charakterisieren lässt. Ihre Vertreterinnen und Vertreter greifen auf das methodische Repertoire verschiedener historisch-klassifizierender Disziplinen zurück, darunter neben der Kriminalistik auch Archäologie, Denkmalpflege oder Völkerkunde. Bevor ich etwas spezifischer skizziere, um welche Art Kunst es sich dabei handelt (vgl. Hengst 2016), will ich zunächst auf den semantischen Hof des Leitworts ›Spur‹ hinweisen: Spurbegriffe sind über Jahrhunderte, von spätantiken Denkern wie Augustinus bis hin zu Sigmund Freud, berührt oder geprägt worden. Bekannte Definitionen finden sich in Werken von Walter Benjamin bis Jacques Derrida, wobei der letztgenannte, mit seiner Betonung der archimedialen Qualität der Spur, also ihrem reflexiven wie transgressiven Verweisen auf die ihr eigene, fortwährende Differenzproduktion,1 einen Aspekt akzentuiert, der wesentlich
1
So zielt ein Ansatz der Arbeit Derridas am bzw. mit dem Spurbegriff darauf, die für alle Differenzierung im sprachlichen Diskurs generative Qualität einer Ur-Spur zu entfalten. Diese fungiert nach Derrida gleichsam als ein Archezeichen per se, das, mit Mitteln der Empirie allzumal, uneinholbar ist und/aber aus sich fortwährend allein auf eines hinweist: die fundamentale Differenzierungsleistung, die sie selbst erbringt. Wörtlich heißt es etwa: »Ohne in der minimalen Einheit der zeitlichen Erfahrung festgehalten zu werden, ohne eine Spur, die das Andere als Anderes im Gleichen festhält, könnte keine Differenz ihre Arbeit
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in den Erörterungszusammenhang der Frage nach dem Verschwinden und Verschwundensein von Lebenswelten sowie den dabei entstehenden Leerstellen zu gehören scheint: Denn Spuren sind ihrer Verfasstheit gemäß dadurch gekennzeichnet, dass sie in sich unvollständig sind und einen Rest historischer Fülle gegen das Fehlen, anders gesagt: die inhärente Leerstelle halten. Die Spur existiert bzw. co-existiert erst mit der Leere. Wo es keine Leere gibt, grundsätzlich schwer vorstellbar, wäre wohl von geschlossener Überlieferung zu sprechen. Und gewissermaßen an diesem Punkt setzte auch eine Auswahl von Werken, die Günter Metken und Uwe Schneede 1974 im Hamburger Kunstverein unter der Überschrift ›Spurensicherung‹ versammelt hatten, ein institutionenkritisches Gegengewicht: Indem Künstler wie Christian Boltanski oder Claudio Costa Privates und Marginales als museumswürdig deklarieren, desavouieren sie einen traditionellen Museumstypus als Ort der geschlossenen Überlieferung, als eine Institution, die Herrschafts- und Repräsentationsgeschichte dicht und als möglichst bruchlos inszeniert. Seither bemühen sich Museen vielfach um eine Popularisierung ihrer Bestände, was sich einem Wandel in der Geschichtswissenschaft verdankt, der Ansätze wie jene der spurensichernden Künstler parallel mitinspirierte und häufig unter dem – nicht unheiklen – Begriff der ›Geschichte von unten‹ gefasst worden ist. Dass eine solche Geschichtsschreibung ›von unten‹ im Sinn spurensichernder Künstler oftmals im Ruralen angesiedelt ist, möchte ich nachfolgend anhand von Beispielen zeigen. Ein Teil eines alten Bauernhofes, den Nikolaus Lang mit viel Energie wiederherrichtet, fängt 2003 Feuer und vernichtet sein dortiges Atelier. Der private Unglücksfall ereilt den Künstler an einem Ort, der untrennbar mit einem seiner Hauptwerke verbunden ist. Denn das Gehöft, das Lang Anfang der 1980er Jahre mit seiner Familie bezieht, liegt inmitten eines Landstrichs, den er selbst immer wieder intensiv und in einer für sein Vorgehen charakteristischen Weise künstlerisch erforscht hat. Wieder und wieder beging er diesen Ort und sammelte dabei selbst kleinste Bruchstücke, die auf die Geschichte des Untersuchungsgebiets und vor allem seiner früheren Bewohnerschaft hindeuten konnten. Vor der Erschließung durch den Künstler war das Gelände für Dekaden karger Sitz von Kleinstbauern – namentlich Lebensgrund der Geschwister Götte. Der Kurator und Kunstkritiker Günter Metken schreibt 1977:
verrichten und kein Sinn in Erscheinung treten. Es geht hier nicht um eine bereits konstituierte Differenz, sondern, vor aller inhaltlichen Bestimmung, um eine reine Bewegung, welche die Differenz hervorbringt.« (Derrida 1983: 109)
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»Der Ethnologe hat es mit Gruppen zu tun, deren Restbestände gerade noch in unsere Zeit hineinragen. Nikolaus Lang befindet sich in ähnlicher Lage, wenn er die Geschwister Götte zu situieren sucht. Es handelt sich um die Kinder eines schweizer Einwanderers, der im Jahr 1909 einen Einödhof bei Bayersoien erwirbt. Die Geschwister des Bauern, von der eingesessenen Dorfgemeinschaft nicht akzeptiert, bauen sich Hütten auf den abgelegenen Grundbauerwiesen; sie blieben unverheiratet und ohne Nachkommen. Alle diese Außenseiter sind inzwischen gestorben. Gleichzeitig löst sich aber auch durch Landflucht, Tourismus und Mechanisierung der Dorfzusammenhang auf. Die klare soziale Trennung in Zentrum und Peripherie, welche die marginale, junggesellige Lebensweise der Göttes als Kleinstbauern, Schuster und Gelegenheitsarbeiter bestimmte, beginnt zu verschwimmen und dürfte rasch unkenntlich werden. Das Vorkommnis gewährt Einsicht in eine soziale Struktur auf dem Lande. Probleme der kurzen Ereignis- und der langen Auswirkungszeit, wie sie die heutige Geschichtsforschung beschäftigen, werden erkennbar.« (Metken 1977: 106ff.)
Günter Metken beschreibt hier Hintergründe von Nikolaus Langs sogenanntem GÖTTE-ZYKLUS und eröffnet dabei Bezüge zu wissenschaftlichen Ansätzen. In den dann folgenden Zeilen jedoch grenzt er Langs Kunst zunächst knapp gegen Fachmethodik ab, hebt aber vor allem das umfassende Sammelengagement und die Vielfältigkeit der Verfahren in der konkreten Künstler-Feldforschung heraus. Schließlich, nachdem er ein (durchaus charakteristisches) Präsentations- und Aufbewahrungsobjekt für diverse Fundstücke – die KISTE FÜR DIE GESCHWISTER GÖTTE (1973/74) – beschreibt, kommt er auf einen »persönlichen Kern« (ebd.: 108) der Arbeit zu sprechen: darauf, dass Lang einem Mitglied der Götte-Familie als Heranwachsender selbst noch begegnet war und sich in der Geländearbeit somit auf die Spur seiner eigenen Geschichte begäbe (vgl. ebd.). Und tatsächlich nimmt die Verflechtung mit eigener Lebensgeschichte, gerade in der Jahre umspannenden Arbeit auf den GötteGeländen, die dann sogar privater Künstlerwohnraum werden, weiter zu. Die Beispiele, die im Folgenden Erwähnung finden, weisen Bezüge zu dieser lebensgeschichtlichen Basis auf. Davon ausgehend, umgreift Langs Ansatz aber die Auseinandersetzung mit ganzen Ökotopen, in denen Lebensformen unterschiedlicher Art die konstitutive Vergänglichkeit alles Lebendigen widerspiegeln. Ein – womöglich dunkel-romantisches – Gespür für derartige Zusammenhänge leitet Lang von Beginn an, und das nicht nur in der oberbayerischen Heimat. Einer der frühen Ausstellungskataloge zu Nikolaus Langs Arbeiten (Städtische Galerie im Lenbachhaus 1973) setzt mit einem Stück japanischer Lyrik ein, das Armin Zweite seinem Katalogvorwort vorausschickt. Die Dichtung stammt von Fujiwara Yoshitsune und umfasst – in schmal gesetztem Druck – vier kurze Zeilen folgenden Wortlauts: »Niemand wohnt am Schlagbaum / von Fuha / das hölzerne Schutzdach ist herabgefallen / Was bleibt ist der Herbstwind.« Zweite, der diesen für gemeine Europäer ohne spezifische Ortskenntnisse im insularen Ostasien schon räumlich
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verrätselten Vierzeiler auswählt, stellt uns Lang mit Hilfe des Poems als einen landschaftsfaszinierten Wanderer im fernen, schwermütig eingetönten Japan vor. Dorthin hatte ihn ein frühes Künstlerstipendium geführt. In den ersten eigenen Zeilen kommt der Katalogautor sodann auf Spuren (konkret: Tierspuren) zu sprechen. Um nichts weniger scheint der Fall klar: Ein deutscher Künstler flieht nach dem Höhepunkt des kämpferisch-utopischen Aufbruchs der Studentenbewegungen von 1968 die gleichsam ausgefochtenen Stätten in Europa und wird übermannt von der melancholischen Größe einer ruinenhaft-entrückten Inselwelt im Pazifik. Doch, trotz einer Faszination für Fernen und Randzonen,2 gestalten sich die Dinge weder im Fall der Spurensicherung noch bei Zweite so einförmig. In Zweites Vorwort taucht nämlich in derselben Aufzählung, in der die gerade erwähnten Tierspuren genannt sind, auch der Begriff »Industrieabfälle« auf. In den darauffolgenden Zeilen geht es um »vergiftete« oder »überfahrene Tiere« sowie einen »Plastikbehälter«. Auf Fundobjekte unterschiedlichster Klassen, das wird durch diese Reihung klar, richtet Nikolaus Lang von Beginn der künstlerischen Tätigkeit an seinen Blick. Zu seinen frühen Arbeiten zählt ein transparenter Kasten, in dem er ein verlassenes Wespennest zeigt, das regelrecht mit dem heterogenen Inhalt einer Munitionskiste aus dem Zweiten Weltkrieg verklumpt ist, die im Staub eines Oberammergauer Dachbodens lagerte. 3 Das gleichermaßen heterogene Material, das er während seines Japan-Aufenthaltes sammelt, archiviert er in sechs fein gegliederten »Schleiflack-Kästen« (Städtische Galerie im Lenbachhaus 1973: 3). Klischeevorstellungen, die Landschaft schwärmerisch entrücken, indem sie diese auf ›Nur-Natürliches‹ oder erhaben Verwittertes hin selektieren, bedient Lang nicht – trotz seines Rückgriffs auf ›romantische Erfindungen‹ wie dem Wandern fern der Städte, dem Sammeln und Bewahren(-Wollen).
2
Günter Metken (1977: 18) hatte zwar bewusst nicht von Eskapismus, Zivilisationsferne oder ›unerforschtem Gebiet‹, wohl aber von »vernachlässigten Randstreifen« als Zonen spurkünstlerischer Erkundung gesprochen. – Eine Faszination für randliche Räume überhaupt, also auch für Peripherien und besonders Wüsteneien am Rand des eigenen Kulturraums kennzeichnet um 1970 nicht nur die Spurensicherung, sondern besonders auch die Land Art bzw. Earth works v.a. amerikanischer, teils auch britischer Künstler dieser Richtung wie Michael Heizer, Nancy Holt, Dennis Oppenheim, Robert Smithson. Vgl. kursorisch: Lailach (2007: 15f.).
3
Zu der Arbeit, die Lang übrigens einer im Jahre 1969 erstochenen Frau widmet, vgl. Kestner-Gesellschaft (1975: 15).
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Auf die Anfänge Langscher Arbeit in heimischen Gefilden kommt Anselm Crämer in seiner bündigen Einführung zu sprechen, 4 die auf Zweites Vorwort zum Katalog JAPANISCHE LANDSCHAFTEN (1973) folgt. Crämer beschreibt in einem heute wieder seltsam modisch klingenden Deutsch, wie seit 1968, spätestens aber mit Langs sogenannten SAD STORIES5 (1969f.) über systematische Sammlung und »krasse Isolierung durchweg unsympathischer ehemaliger Lebewesen wie Schnecken, Schlangen, Ratten, Frösche, verklumpte[r] Insekten« schließlich das »schon penetrant Stoffliche der leblosen Körper […] in Aquarien und Herbarien zu fast quälender Anschaulichkeit gebracht« (Städtische Galerie im Lenbachhaus 1973: 5) wurde. »Zwei im Liebestod eng verschlungene Frösche« (ebd.) hebt der Kritiker dabei besonders hervor. Tatsächlich schreckt der Künstler nicht vor solchen Fundklassen zurück; das allerdings mit dem Ziel, über auch abseitige Hervorhebungen weitreichende kontextuelle Aufschlüsse zu einer vergessenen Geschichte der Randzonen zu gewinnen – und dann, von Fall zu Fall, wie das folgende Beispiel belegt, Geschichte regelrecht (wieder)herzustellen: Als spezielle Form von Begräbnissen inszeniert Nikolaus Lang artifizielle Wiederauferstehungen. Im Sommer 1973 findet er zunächst an einem Fuchsbau im Hochmoor bei Murnau, also nahe seines eigenen bayerischen Geburtsortes (und damit zugleich in der Lebensregion der werkzentralen Geschwister Götte), einen toten Greif, einen »verluderten Bussard« (ebd.: 79). Um den Vogel spannt Lang am Fundplatz ein kleines Fadenrechteck, überzieht das verstorbene Tier mit Leim und sticht das Gefüge schließlich aus. Die damit entstandene Hohlform wird unter Steinen begraben. Später dient das Formgeviert als Ausgangspunkt für Markierungen von re-konstruierten Flugpunkten im Gelände. Im Sommer 1974 findet Lang in der Gegend erneut zwei tote Bussarde, den einen unter Nadelbäumen, den anderen als Wasserleiche in einem Bach. Er bringt Letzteren in einen Heuschober und holt ihn als Mumie Wochen später wieder hervor. Den zwischenzeitlich daheim getrockneten ersten und besser erhaltenen Raubvogel
4
Vor seinen spurensichernden Arbeiten entstehen, an der Camberwell School of Arts and Crafts, »Glasfiberobjekte« (Haenlein 1975: 11.). Als Meisterschüler Josef Henselmanns hatte Lang in seiner Münchner Akademiezeit neben Gilbert (Teil des Künstlerduos Gilbert & George) unter anderem an Basaltskulpturen für den Münchner Rindermarktbrunnen mitgewirkt und als »letzte gegenständliche Arbeit […] eine ›Liegende‹ […] aus einem Stein in einer Höhle bei Oberammergau« mit der »Kehrseite« zum Dorf gehauen (KestnerGesellschaft 1975: 90). Allerdings erscheint die Formulierung von der letzten gegenständlichen Arbeit heute insgesamt überpointiert.
5
Lang hatte die von Crämer isolierte Überschrift ›sad stories‹ Werken in der englischen Landschaft zugeordnet (vgl. Kestner-Gesellschaft 1975: 13, 16ff.).
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schnürt er ein. Als vorläufigen 6 Höhepunkt der Bussardaktionen formt er mit den Greifvogelpräparaten, die zwischen einem Dutzend Betulaceae7-Ästchen befestigt werden, fotografisch festgehaltene »Flugbilder« (ebd.: 80). Die Arbeit mündet außerdem in eine Installation, die mit der Bodenabnahme in einem Kasten, einem zusätzlichen Wanddisplay (mit Federn, Kleinfunden, Foto-Dokumenten) und dem eigentümlich schwebenden Vogelpräparat zwischen naturkundlichem Museumsdiorama und künstlerischer Grazilität changiert. Abb. 1: Nikolaus Lang: BUSSARDREVIER / KASTEN I UND II, 1973/74
Kestner-Gesellschaft (1975: 85)
6
Lang lagert den im Bach gefundenen Bussard später noch in der Hütte Joseph Göttes (eines der oben erwähnten Grundbauerngeschwister) zwischen, um ihn später nahe eines weiteren Wasserlaufs auf Blech, gesammelt im Umfeld der Götte-Behausungen, und zwischen Stein fixiert aus künstlichen Kanälen zu bewässern. Auch zum Steinrechteck der Abdeckung des ersten Bussardfundplatzes kehrt er zurück, ergänzt die anfänglichen Vermessungen, richtet fast ein Dutzend »Konstruktionspunkte« ein, lässt dort fotografisch festgehaltene »Flu gbilder« auf der Basis unterschiedlicher Materialien entstehen und überträgt die (eine Vogelsilhouette ergebenden) Bildpunkte in eine topographische Karte, die er als Rasterhilfe benutzt hatte. Vgl. Kestner-Gesellschaft (1975: 80f.).
7
D.h. Birkengewächse, im konkreten Fall einmal tatsächlich Birkenstöcke und zum anderen Haselnussstöcke, »abgestorbene«, wie Lang bemerkt (Kestner-Gesellschaft 1975: 80).
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Doch das Werk, in dem sich ein Vogel mit Künstlerhilfe posthum aufschwingt, gerät nicht etwa zu einer installativen Adaption von Eichendorff-Lyrik (»Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus / Flog durch die stillen Lande, / Als flöge sie nach Haus«). Es gestaltet sich stattdessen erdverbunden, wie die oben skizzierte, werkkonstitutive Abnahme einer eingeleimten und steinbeschwerten ›Bussard-Schicht‹ in ihrer Verwiesenheit auf einen konkreten, tatsächlich erdigen Hebungspunkt ermessen lässt. Zwar setzt Lang seinen jeweiligen Arbeitsort als Teil eines historisch gewachsenen Zusammenhangs in Szene und diesen entsprechend nicht isoliert als Grabungsgrund voraus.8 Die (fotografische) Darstellung nimmt aber nicht die Szenerien um die jeweiligen Grabfelder und Begräbnisplätze in den Fokus, sondern bleibt überwiegend auffällig unpanoramatisch, sozusagen diesseits einer atmosphärischen Landschaftsauffassung. Mit derartigen ›sad stories‹ entsteht, trotz romantischer Anklänge, keine Nachfolge von Künstlern wie Caspar David Friedrich, die landschaftliche Blicke inszenieren und von der Kleinteiligkeit der Umwelt abstrahieren; kein christlich-naturreligiös inspirierter Adorant vermittelt hier zu einem Höheren hin, oder könnte, in Stellvertretung eines Betrachters, über eine weite Szenerie Blicke schweifen lassen.9 Langs Blick – und mit ihm auch der des Betrachters – geht buchstäblich auf den Boden und erfasst unmittelbar, wie oft ebenjenes, das wir als Spur ansprechen, einer Tragödie im Kleinen, einem jähen Ende entspringt. Abb. 2: Nikolaus Lang: KISTE FÜR DIE GESCHWISTER GÖTTE, 1973/74
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Sogar mit eher untypischem Blick für eine traditionelle malerisch (z.B. als Paysage intime) aufgefasste Landschaft geht Lang bspw. z.T. in Japan vor: Von Inseln, Kratern oder Küstenstreifen entstehen mitunter Formen von Landschaftsfotografie, wenn der Künstler etwa Feuerstellen dokumentiert, in denen er tote Insekten, eine Fahne oder bloß Stöcke verbrennt, und über die Feuerstellen hinweg weite Raumblicke freigibt.
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Zur entsprechenden Tradition bei Friedrich vgl. kompakt: Schneider (2009: 192).
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Ein Rahmenwerk nun, das Lang für seine Götte-Präsentation im Lenbach-Haus 1974 baut, findet sogar Eingang in einen Werktitel: die KISTE FÜR DIE GESCHWISTER GÖTTE. Die Zueignungspräposition ›für‹ akzentuiert hier den Zweck: einer fast vergessenen kleinstbäuerlichen Geschichte memoriale Räume zu schaffen und zu sichern. Die Rustikalität der aus Holzlatten gefügten Hauptkiste, einer alten »Korntruhe« (Kestner-Gesellschaft 1975: 51), verweist in einem doppelten Sinn auf rurale Kontexte. Im hochgeklappten Deckel der Kiste sind diverse land- und holzwirtschaftliche Geräte verankert. Damit wird auf ein Leben hingewiesen, das von körperlicher Arbeit geprägt war, erleichtert nur von einer überschaubaren Zahl ebenso intensiv genutzter wie vergleichsweise einfacher Hilfsmittel. Verweissysteme auf Basis bäuerlichen Geräts finden bis in die Gegenwart Platz in volks- und heimatkundlichen Präsentationen. Auf Schlüssel- und Symbolgerätschaften richtet sich in derartigen Schauinstallationen eine wichtige, mit einer Fachtradition10 verknüpfte Blickführung aus. Langs Götte-Kiste gibt dagegen ein eigenes Betrachtungsschema vor: Die davor auszubreitenden Fundstücke werden mitsamt zugehöriger Setzkästen aus dieser zum Zwecke einer »Auslegung« hervorgeräumt. Der in Ausstellungssituationen auf dem Boden vor der Kiste zu einem Rechteck gefasste Inhalt fluchtet in frontaler fotografischer Perspektive regelrecht auf das gezimmerte Sammelbehältnis zu. In diese lockere Rechteckstruktur – bestehend aus zwölf Einlegekästen sowie der Hauptkiste, flachen Displays und Auslagen loser Teile sowie einem länglicheren und einem fast doppelt so großen Setzkasten – flicht Lang auch Beschreibungs- und Dokumentationsmedien der eigenen Fundortbegehung ein. Er mischt damit Mittel des Erschließungsvorgangs unter die Elemente, die in einem solchen Aufbau für gewöhnlich von dem begleitenden Material streng separiert werden. Er reiht das – der musealen Präsentationslogik nach – Sekundäre unter das Primäre, macht den von Individuen getragenen Forschungsgang transparent und zum Teil des Ganzen. In der Durchlässigkeit, im Durchmischungsprinzip auf der Ausstellungsebene spiegelt sich ein Entgrenzungsstreben, das bei Spurensicherern wie Nikolaus Lang zwischen den gesellschaftlich unterschiedenen Systemen Kunst und Wissenschaft vermittelt. Die Mischform der Spurkunst erlangt paradigmatische Qualität dadurch, dass sie technisch-rationale Aspekte ebenso wie empathisch-bildnerische in sich vereint. Der Aufbau orientiert sich äußerlich, wie zuvor angeklungen, auch an überkommenen Standards etwa naturkundlicher Lehrsammlungen. Typologische
10 Zu Tradition und Gegenwart der sogenannten Geräteforschung vgl. Siuts (2001: 155-170, hier besonders 155ff.).
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Connaisseure sollten dort durch Blickschulung vor Präparaten heranreifen. 11 Die Kunst-Spurensicherung versieht nun eine derartige Merkmalkunde mit einem Akzent, der in positivistischen Systemen in der Regel subsummiert werden soll: 12 Sie bekennt sich zur Offenheit, zur Potentialität der Spur,13 ohne auf solche Erkenntnispotentiale zu verzichten, die dem Fundmaterial durch den Rekurs auf konkrete, fixierbare historische Zusammenhänge abgewonnen werden können. Durchaus wie Archäologen14 gehen Spurensicherungskünstler vom historischen Befund aus und archivieren Zustände in sogenannten Reliktgebieten (wie bspw. auch Langs Kollege Claudio Costa in seiner MONTEGHIRFO-Arbeit). Sie belassen es dann aber nicht bei der Einordnung in eine objektivierte Metaerzählung über einen Abschnitt der Mikrogeschichte einer Region (Liguriens, Oberbayerns etc.). Auch halten sie die größeren Zeugnisse (bspw. bereits beschädigte Bauernhütten) nicht zwangsläufig fest. Stattdessen können sie zu teilnehmenden Chronisten einer unabgeschlossenen Verfallsgeschichte werden, indem sie den Wegfall von Relikten kleinstbäuerlicher Kultur nicht nur nicht notwendig mit letzter Konsequenz verhindern, sondern sogar persönlich-kreativ intervenieren. So, wie Nikolaus Lang es im Rahmen seiner Götte-Arbeiten unternimmt, wenn er mit – bewusst dezenten – Mitteln, etwa dünnen Ästen, Lagemarkierungen an ehemaligen Siedlungsstandorten vornimmt. In Abgrenzung von bzw. in Auseinandersetzung mit einer ›drohenden Vollverwissenschaftlichung‹ 11 Der Gedanke, dass in biologischen Sammlungen ein spezifisches, medizinisches Indizienparadigma weiterwirkt, lässt sich mit Carlo Ginzburgs Passagen zum ›connoisseurship‹ fundieren. Vgl. Ginzburg (2002: S. 34f.). Mit Hilfe von Mustern müssen immer auch konkrete Anschauungsobjekte am ›klassifikatorischen Ende‹ betrachtet werden, da die quantifizierbare Type durch die individuelle Form des jeweiligen Präparats in eine unauflösliche Spannung zu geraten droht. 12 In der Wissenschaftstheorie findet mittlerweile verstärkt eine Reflexion der Unterschlagungen in Forschungsprozessen statt. Jörg Huber hat solche Ansätze von Derrida bis Rheinberger im Dienst einer umfassenderen ästhetischen Fundierung der Verfahrenstheoriebildung zusammengefasst, wobei gerade Rheinbergers Begriff der »Erfahrenheit« als einer Aktivform der Umwelterschließung auch in dieser Erörterung heraussticht und gerade mit Blick auf die betont sinnliche, involvierte Durchmessung eines befragten Raums bei Lang anschlussfähig wäre. Vgl. zum Diskurs um die »von der instrumentellen Vernunft vernachlässigten Bereiche des stummen Wissens«: Huber (2009: 207-215, hier besonders 209f.) 13 Einen vergleichbaren Spurbegriff verficht Sybille Krämer (2007: 17) unter der Überschrift der »Polysemie«. 14 Diese Beziehung der Spurensicherungskunst zur Archäologie sowie zu weiteren Fund- und Feldwissenschaften ist seit Metkens Kommentierung wiederholt aufgegriffen worden, in jüngerer Zeit z.B. bei Friese (2007: 17).
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selbst der Ränder von Lebensvollzügen wird so ein eigenes – und zum Teil transdisziplinär, mit neu-innerlichen Autoren wie Nicolas Born geteiltes 15 – Anliegen erkennbar: die Rückgewinnung einer subjektiven Umwelterfahrung, die durch eine Dominanz klassifikatorischer Ordnungsmuster, darunter mustergültig jenes des (traditionellen) Museums, erst verdrängt und dann dienstbar gemacht zu werden droht. Armutszeugnisse sollen also in die Erinnerungskultur im doppelten Sinn eingehen: Einmal, um Meistererzählungen mit mikrogeschichtlicher Disparität zu konfrontieren, und, zum anderen, um ebendiese Mikrogeschichte mit ihren Leerstellen, im Kontrast zu einem neuerlichen Total-Schließungsanspruch, erfahrbar werden zu lassen. Lang ruft durch einen Blick für das Unabgeschlossene und den Nebenbefund ins Bewusstsein, dass Orte primär durch Einzelereignisse und von Subjekten konstituiert werden; erst ihr spezifisches, d.h. vor allem temporäres Sich-Einschreiben bringt konkret nachvollziehbaren Lebensraum hervor. Fundklassen und Kulturmuster abstrahieren – unter Verlusten – von dieser Ebene. Dabei ist auch demjenigen, der mustergültig Funde exploriert, kein Heraustreten aus der Kontinuität des Spurenhinterlassens möglich. Sich-im-Feld-Orientierende setzen aktiv bei dem konstitutiven Freiraum einer Spur an, deren Geschichte sie dabei fortschreiben. Stets lassen sich so komplexe Spurlagen und -schichtungen als palimpsesthaft bzw. das Palimpsesthafte16 als eigentliche Normalität von Kultur erfahren – und das ausdrücklich auch dort, wo der ortgeschichtsunkundige oder ein bloß typologisierender Betrachter zunächst Leere vermuten möchte.
15 Nach 1968 bildet sich gattungsübergreifend gewissermaßen eine kulturelle Praxis ab, die Hermann Glaser (1999: 372) so beschreibt: »Alternatives Leben verhieß eine Existenz jenseits des Leistungsdrucks. Die ›Alternative‹ […] war zwar als umfassende Utopie entschwunden, aber ›irgendwie‹ auch zurückgekehrt: im Kleinen und Konkreten sich ausprägend.« In diesem Kleinen liegt und erstarkt zugleich das Interesse für persönliche Geschichte und individuelle Perspektiven in einer Gesellschaft, die weiter durch einen ausgreifenden Umbau traditioneller Lebensformen gekennzeichnet, zudem durchmaterialisiert und überverwaltet scheint. In Nicolas Borns Gedicht GESCHICHTE heißt es: »Ich sitze auf dem Bettrand und betrachte die Spuren der Geschichte zwischen den Zehen / […] / und langsam weiß ich wozu es Büroklammern gibt / […] / Hemd Handtuch Socken / ich brauche meinen Namen nicht zu sagen / denn ich kenne ihn ohne ihn zu sagen / ich weiß meine Adresse in der Weltgeschichte. / Die S-förmige Türklinke der grüne Bodenbelag / alles erinnert an mich und ohne Unsicherheit / ziehe ich mich an und bin angezogen / kämme mich wie gestern mit dem selbstverständlichen Kamm / werde langsam wieder DER EINZELNE« (Born 1981: 121). 16 Zu solchem Spurvorkommen vgl. auch Schaub (2007: 129f.)
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L ITERATUR Born, Nicolas (1981): Gedichte. 1967-1978, Reinbek: Rowohlt. Derrida, Jacques (1983): Grammatologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Friese, Peter (2007): »Im Laboratorium des Zweifels. Sechs Kapitel zum Thema Kunst und Wissenschaft«, in: Peter Friese/Elke Bippius (Hg.), Say it isn’t so. Naturwissenschaften im Visier der Kunst, Heidelberg: Kehrer, S. 11-41. Glaser, Hermann (1999): Deutsche Kultur 1945-2000, Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg Ginzburg, Carlo (2002): Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin: Wagenbach. Haenlein, Carl Albrecht (1975): »Nikolaus Lang. Nachgezogene Spuren«, in: Kestner-Gesellschaft (Hg.), Nikolaus Lang. 31. Oktober – 30. November 1975, Hannover, S. 8-11. Hengst, Lutz (2016): Forschungsadaptionen für ein Individualmuseum? Zu Genese und Positionen spurensichernder Kunst im 20. Jahrhundert, Kassel: Kassel University Press. Huber, Jörg (2009): »Inszenierungen und Verrückungen. Forschungsverfahren einer Theorie des Ästhetischen«, in: Elke Bippus (Hg.), Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens (= Schriftenreihe des Instituts für Gegenwartskunst, Zürcher Hochschule der Künste; 4), Zürich/Berlin: Diaphanes, S. 207-215. Kestner-Gesellschaft (1975) (Hg.): Nikolaus Lang. 31. Oktober – 30. November 1975, Hannover. Krämer, Sybille (2007): »Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme«, in: Sybille Krämer/Werner Kogge/ Gernot Grube (Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 11-36. Lailach, Michael/Grosenick, Uta (2007): Land Art, Köln: Taschen. Metken, Günter (1977): Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung. Fiktive Wissenschaften in der heutigen Kunst, Köln: DuMont. Schneider, Norbert (2009): Geschichte der Landschaftsmalerei. Vom Spätmittelalter bis zur Romantik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Siuts, Hinrich (2001): »Geräteforschung«, in: Rolf Wilhelm Brednich (Hg.), Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie, Berlin: Reimer, S. 155-170. Städtische Galerie im Lenbachhaus (1973) (Hg.): Nikolaus Lang. Japanische Landschaften, München. Schaub, Mirjam (2007): »Die Kunst des Spurenlegens und -verfolgens. Sophie Calles, Francis Alys‘ und Janet Cardiffs Beitrag zu einem philosophischen Spurenbegriff«, in: Sybille Krämer/Werner Kogge/Gernot Grube (Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 121-141.
Dem Verschwinden begegnen Landwirtschaft und ländlicher Raum in der Gegenwartskunst A NNE K ERSTEN
Der ländliche Raum erfährt seit Beginn dieses Jahrtausends eine verstärkte Aufmerksamkeit in der bildenden Kunst. Ländliche Kultur wird in thematisch ausgerichteten Künstlerresidencies behandelt, im Programm ländlicher Kunstvereine und Festivals 1 oder ganz generell in Kunst, die sich mit regionalen Themen beschäftigt. Landwirtschaft spielt dabei als ökonomische Grundlage des ländlichen Lebens eine wiederkehrende Rolle. Die tiefgreifenden Veränderungen der letzten Jahrzehnte im Ländlichen motivieren eine wachsende Beschäftigung der Kunst mit einem ihr sowohl inhaltlich als auch räumlich zunächst eher fernliegenden Themengebiet. Sichtbar werden die Veränderungen insbesondere im Verschwinden einer bäuerlichen Landwirtschaft und damit verbundenen ländlichen Kultur, wie sie etwa in Deutschland noch aus der Eltern- und Großelterngeneration bekannt und in Erlebnissen, Erzählungen und Abbildungen festgehalten ist.2 Jenseits dieser heute veralteten und
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Künstlerresidencies befinden sich seit jeher vermehrt auf dem Land (z.B. in Worpswede, Schöppingen, Bleckede, etc.), sie werden dort jedoch seit einigen Jahren zugunsten von städtischen Orten abgebaut. Parallel dazu sind neue auf dem Land verortete Residencies entstanden, die sich ganz explizit mit dem ländlichen Raum beschäftigen und sich z.B. dem Anbau und der Verarbeitung von Lebensmitteln widmen, wie etwa der Verein LIBKEN in Nordbrandenburg, der ein Stipendium für Kulinarik vergibt. Darüber hinaus sind in den letzten 20 Jahren auch explizit ländliche Kunstvereine entstanden, die sich ebenfalls thematisch ihrer Verortung widmen. In Brandenburg z.B. der KUNST- UND KULTURVEREIN ALTE SCHULE BARUTH und LAND KUNST LEBEN in Steinhöfel.
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Während der letzten 60 Jahre hat sich der Anteil der Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten, aufgrund der zunehmenden Industrialisierung von 24 Prozent in den 1950er Jahren auf 2 Prozent im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts verringert. Dementsprechend
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dennoch prägenden Vorstellungen vom Land, lässt sich neuerdings ein Interesse an aktuellen Bildern und Aktivitäten des Ländlichen ausmachen. Die seit 2005 stetig steigende Auflage von Zeitschriften wie LANDLUST kann dafür als Indiz betrachtet werden. Die Themen der LANDLUST sind Handarbeit und Handwerk, Gärtnern, Tierhaltung, Kochen, Konservieren und Backen – ganz ohne die Schwierigkeiten, die ein bäuerliches Leben mit sich bringt.3 Künstlerische Arbeiten zum Thema Landleben nähern sich zwar auch diesen Bereichen an, setzen sich darüber hinaus aber auch mit der kulturellen ländlichen Identität, räumlichen und demografischen Zuständen, der Tierethik und der Gemeinschaft auseinander. Obwohl es bei den meisten der Künstler/innen ihre eigene ländliche Biografie ist 4, die zum inhaltlichen Interesse geführt hat, so bedienen sie in ihren Werken nicht die Sehnsucht nach der ›guten alten Zeit‹, sondern stellen eine gegenwärtige Wahrnehmung des Ländlichen und seiner kulturellen Bedeutung durch ihren jeweiligen Zugang zum Thema her. Drei Beispiele sollen dies verdeutlichen. Der Fokus meiner Untersuchungen liegt dabei auf die dem Verschwinden entgegengehaltenen Positionierungen der Kunstwerke. Anhand der unterschiedlichen Annäherungen an die Wirklichkeit (in einer fotografischen Serie, in einer Installation, sowie in einem Kunstprojekt mit partizipativem Hintergrund) wird deutlich, inwiefern bestimmte Inhalte und Formen miteinander korrelieren und wie dadurch bedingt auch eine Zeitlichkeit im Sinne des Begriffs Gegenwartskunst durch das Werk bestimmt wird. Den drei Beispielen ist gemein, dass sie alle über einen längeren, mitunter noch nicht beendeten Zeitraum stattfinden und stattgefunden haben. Sie sind damit kaum als Momentaufnahmen zu bezeichnen, sondern ermöglichen den Einblick in einen längeren Abschnitt, der nicht selten auch zu einem Dokument eines Umbruchs wird. In dieser Entsprechung der künstlerischen Annäherung an die Vorgänge in der
war die familiäre Verbindung durch die landwirtschaftlichen Berufe eine andere als heute. Vgl. dazu http://www.bauernverband.de/12-jahrhundertvergleich (05.04.2017). 3
LANDLUST steht für eine idyllisierte ländliche Welt, die einerseits frei ist von modernen Problemen und andererseits geprägt wird von einer Lebenslust im Einklang mit der Natur. Die Auflage erreicht in Spitzenmonaten mehr als eine Million Käufer. Diese leben vornehmlich in Kleinstädten, weniger in Großstädten mit mehr als 500.000 Bewohner/innen: »Die Käuferschaft lässt sich grob umreißen ›als Paare mittleren Alters‹, wohnhaft in einem ›grünen Vorort‹. Dort [...] sei die ›Landlust‹ definitiv ›angekommen‹.« (Kerschbaumer 2016).
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Tatsächlich weisen nahezu alle Künstler/innen, die in dem Bereich arbeiten, einen persönlichen Bezug auf, der in ihrer Herkunft vom Land bzw. dem Land als Lebensort liegt. Aktuell leben sie jedoch vermehrt in Städten.
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Realität, die ebenfalls als prozesshaft zu bezeichnen sind5, sehe ich das Interesse der Künstler/innen deutlich motiviert durch die Veränderungen im Ländlichen. In den ganz unterschiedlichen dokumentarischen Zugängen spiegeln sich Tendenzen des Festhaltens, Bewahrens, kritischen Hinterfragens und des Beeinflussens von Wirklichkeiten. Drei Modi werden anhand der Beispiele deutlich, die zwar einerseits alle in jedem Kunstwerk vorkommen, andererseits jedoch anhand einzelner Werke in ihrer Unterschiedlichkeit hervortreten. In Anlehnung an die von Johannes Lang anlässlich der Konferenz KUNST UND W IRKLICHKEIT HEUTE vorgenommenen Differenzierungen lassen sich affirmative, kritische und transformierende Charaktereigenschaften der Werke ausmachen, die jeweils werkästhetische, rezeptionsästhetische und produktionsästhetische Schwerpunkte setzen (vgl. Lang 2015: 7-15).
AGRARLANDSCHAFTEN Heinrich Riebesehls Serie AGRARLANDSCHAFTEN (1976-1979), eine im heutigen Sinne klassische schwarz/weiß Serie mit 79 Fotografien, ist als Prototyp einer Bestandsaufnahme zu bezeichnen, in deren Tradition viele Werke fotografischen und filmischen Charakters seit den 1970er Jahren entstanden sind. Die für heutige Maßstäbe kleinformatigen Abzüge (22,5 x 36 cm) sind das Porträt der agrarisch geprägten norddeutschen Provinz der späten 1970er Jahre. Die Fotografien verschaffen einen Eindruck der charakteristischen Landschaften und ihrer Prägung durch die Landwirtschaft. Deren Infrastruktur offenbart sich direkt in Form von Silos, Landstraßen, Höfen in Fachwerk und Stein, jeweils nach Art der Region gebaut. Sie zeichnet sich indirekt in der Landschaft ab durch die Aufteilung in Flurstücke, sie begrenzende und durchziehende Zäune, Entwässerungsgräben und Alleen. Unsortiert versammeln die Fotografien die Tätigkeiten der Bauern in den verschiedenen Jahreszeiten. Wir sehen die Gemüse- und Getreidefelder in allen Zuständen: überschwemmt, in vollem Bewuchs, das Getreide vom Regen niedergedrückt, die Felder abgeerntet und beackert, die Wiesen beweidet von Kühen, Schafen und Schweinen. Die Dörfer leer und die Höfe ebenso. Die wenigen Menschen die man sieht arbeiten: sie fahren die Traktoren und Mähdrescher, hüten die Schafe und schichten die Rübenblätter. Manche der Fotografien bündeln unsere Aufmerksamkeit durch die Betonung einzelner Motive in dieser Landschaft. Solitäre Dinge werden in ihrer Skulpturalität hervorgehoben und erscheinen im Bild dominierend im Vordergrund
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Das sich hierin eine Verbindung findet, bestätigt auch die Auffassung Wolfgang Welschs (2015: 198), der im Prozess, der dem vollendeten Werk gegenübersteht, die einzige Möglichkeit einer Verstrickung der Kunst mit der Wirklichkeit sieht.
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– während die Landschaft dahinter verschwindet. Mit diesen Hervorhebungen schafft Riebesehl eine abwechslungsreiche Lesemöglichkeit der Serie als Reihung, die in nahe und ferne Blicke unterscheidet und uns so im wahrsten Sinn beim Betrachten bewegt.6 Abb. 1: BALGE (NIENBURG), NOVEMBER 1978
Abb. 2: RONNENBERG (HANNOVER), NOVEMBER 1978
aus der Serie AGRARLANDSCHAFTEN,
aus der Serie AGRARLANDSCHAFTEN,
© VG Bild-Kunst
© VG Bild-Kunst
Man blickt durch die Fotografien auf die Agrarlandschaft, ganz so, als würde man sich selbst durch die Landschaft hindurch bewegen. Riebesehls Versuch der Annäherung an die Landschaft durch die Kamera gleicht dem menschlichen Sehen, da er die technischen Einstellungen sowie den Standpunkt des Fotografen ähnlich dem menschlichen Blick in die Weite arrangiert und einstellt.7 Trotz des Bemühens um eine möglichst neutrale Darstellung – unterstützt durch das schwarz/weiß Material, die jeweiligen Einstellungen und auch die Auswahl von Aufnahmen, bevorzugt bei bewölktem Himmel – bleibt der Fotograf für die Betrachter/innen präsent. Der durch den amerikanischen Fotografen Walker Evans geprägte Begriff eines ›dokumentarischen Stils‹ kann hier als Vorbild verstanden werden. Was Riebesehl zeigt, ist nicht die norddeutsche Agrarlandschaft. Vielmehr erzeugt er einen zwischen seiner und einer Agrarlandschaft oszillierenden Überblick. Das erreicht er, indem alle Anteile –
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Auch wenn das Werk Riebesehls im Weiteren vornehmlich werkästhetisch betrachtet wird, zeigt diese Beobachtung doch auch eine gewisse rezeptionsästhetische Orientierung der Fotografien.
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Peter Sager fast es prägnant zusammen, auch wenn nicht alle Fotografien von einem derart festen Standpunkt (technisch wie körperlich) aus gemacht sind: »Riebesehls Weitwinkelobjektiv entspricht annähernd dem Erlebniswinkel des menschlichen Auges. Auch die Wahl des Kamerastandpunkts geht vom normalen Seherlebnis aus. Nahezu alle Aufnahmen entstanden aus Augenhöhe. Keine Vogel-, keine Froschperspektiven. Es ist die normale Sicht des Spaziergängers.« (Sager 2002: 8)
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das heißt: neben der Technik auch die Involviertheit des Fotografen – an der Produktion der Bilder eine Sichtbarkeit bekommen: das persönliche Sujet (seines Lebensorts) wird durch eine systematische Annäherung mit der Kamera einerseits neutralisiert (um zu einer verallgemeinernden Aussage zu kommen) und zeigt dennoch andererseits die Haltung des Fotografen. Die dargestellte Subjektivität des fotografischen Blicks arbeitet Wirklichkeit heraus und verweist zugleich darauf, dass es sich hierbei um eine spezielle Wirklichkeit, nämlich die des Fotografen, handelt. Klaus Honnef bringt das besondere fotografische Verhältnis zur Wirklichkeit aus der Perspektive der sozialdokumentarisch arbeitenden Fotografen auf den Punkt: »Durch die subjektive Sehweise erhält die Wirklichkeit Konturen; ihre Abbilder verlieren sich nicht in völliger Standpunktlosigkeit wie die Bilder der ersten Auftragsfotografen, die mal diese Sicht der Wirklichkeit reproduzieren, mal die entgegen gesetzte, vielmehr enthüllen sie im insgesamt betrachtet eine klare Stellungsnahme zur Wirklichkeit und manchmal, wie bei Atget oder Sander, eine nachhaltige Wirklichkeitsvision.« (Honnef 1979: 24)
In ihrer Vielzahl beschreiben die AGRARLANDSCHAFTEN einen Bruch mit der Tradition von Landschaftsdarstellung in der Kunst. Das unterstreichen auch die gewählten und betont distanzierten Titel der Fotografien, der Ort und das Entstehungsjahr, in denen auch das Dagewesensein des Fotografen und seine Anteilnahme an der Fotografie mitschwingen. Die Darstellungen stehen daher stellvertretend für ihre Zeit, konservieren diese und machen sie für die Betrachter/innen erlebbar. Doch gleichzeitig scheinen sie dieser Konkretisierung immer wieder entfliehen zu wollen. Der Kurator Thomas Weski verweist mit Blick auf Riebesehls Serie BAHNLANDSCHAFTEN auf eine spezifische Eigenart ihrer zeitlichen Wirkung: »Obwohl sie viele Merkmale ihres Zeitalters zeigen, ist das Verständnis dieser Art von Fotografien nicht von der Kenntnis der Epoche ihrer Herstellung abhängig, sondern sie bieten jeder nachwachsenden Generation von Betrachtern einen individuellen Zugang. Sie gewinnen also immer neue Aktualität als Erkenntnisträger.« (Weski 1997: 5)
Im Abgleich zwischen dargestellter Zeit und aktueller Zeit liegen demnach nicht allein die Erkenntnisse, die sich den Betrachter/innen hier eröffnen. Vielmehr offenbart sich im formalen Zugang eine generelle Besonderheit der Gegenwartskunst: Sie kann über Zustände berichten, die für ihre Zeit gültig waren – bei den Fotografien Riebesehls etwa von einer Landwirtschaft, die aus heutiger Sicht kurz vor ihrem Umbruch von einer bäuerlich geprägten zu einer industriell ausgerichteten Landwirtschaft stand. Und doch hört die Erkenntnis hier nicht auf; vielmehr wäre eine Reduzierung auf eine solche Funktion für die Kunst sogar problematisch, bliebe doch unberücksichtigt, was ihr jenseits des kaum habhaft werdenden Moments von
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Gegenwart innewohnt – nämlich sich in der Art der künstlerischen Annäherung selbst zu verorten, ganz im Sinne von »kritischen Auseinandersetzungen mit den Deutungsmustern, die für die Beschreibung der eigenen Zeit bereitstehen« (Rebentisch 2013: 13). Die Annäherung Riebesehls findet in der Reflexion des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt innerhalb des Werks statt. Aus diesem Umgang des Künstlers mit dem Motiv ergibt sich eine Wirklichkeitserfahrung für die Betrachter/innen.
ICH
BIN GERNE B AUER UND MÖCHTE ES AUCH GERNE BLEIBEN
Deutlich erhöht wird die Sichtbarkeit einer solchen kritischen Auseinandersetzung im folgenden Beispiel mit dem sprechenden Titel ICH BIN GERNE BAUER UND MÖCHTE ES AUCH GERNE BLEIBEN (seit 2000) von Antje Schiffers und Thomas Sprenger. Anders als bei Riebesehl findet sie hier jedoch nicht innerhalb des Werks statt, sondern wird dezidiert in der Ansprache an die Rezipient/innen, das heißt im Verhältnis zwischen Werk und Betrachter/innen, deutlich. Bereits im Jahr 2000 haben Schiffers und Sprenger begonnen, mit Landwirten aus ihrer Heimat Tauschhandel zu betreiben: ein Gemälde vom Hof gegen ein Videoporträt der Bauern von ihrer Arbeit. Bis heute haben über 30 solcher Tauschgeschäfte in vielen europäischen Ländern stattgefunden.8 Aktuell wird in jedem Jahr etwa ein Tausch durchgeführt, häufig sind Einladungen zu Ausstellungen der Anlass dafür. Für die Tauschgeschäfte reist Antje Schiffers zusammen mit ihrem Projektpartner Thomas Sprenger zu den ausgewählten Bauernfamilien und verbringt dort zwischen einer und zwei Wochen. In dieser Zeit werden die Tauschprodukte hergestellt: Die Künstlerin malt ein Gemälde vom Hof während die Bauern ihre Arbeit filmisch dokumentieren. Die Darstellungen in den Gemälden werden nach Absprache mit den Bauernfamilien ausgewählt und reichen von klassischen Hofansichten bis zu Detailausschnitten. Bezeichnet sind die Gemälde mit nüchternen Formulierungen – weniger konkreten als allgemeinen Charakters wie zum Beispiel: AUF DER W IESE, VOR DEM WALD oder HAUS UND GARTEN oder auch IN DER MASCHINENHALLE. Die Größe der Gemälde ist unterschiedlich, jedoch sind sie nicht größer als 40 x 70 cm und für eine Staffelei kompatibel. Sie entstehen meist en plein air. Gemalt wird mit Öl auf Holz. Den Blick auf das Objekt gerichtet – ein Bild auf der Internetseite des Projekts zeigt Schiffers mit der Staffelei auf einer Wiese – hält die Künstlerin die Situation auf einem Gemälde fest. Ihre Wahrnehmung und weniger
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Ein Großteil der Tauschgeschäfte wurde zwischen 2007 und 2009 im Rahmen des Projektes ARBEIT IN ZUKUNFT der Kulturstiftung des Bundes realisiert.
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die Erinnerung an die Situation im Atelier beeinflussen die Entstehung des Gemäldes, hier als Verweis an die naturalistische Malerei im 19. Jahrhundert. Abb. 3: o.T. (Hinojosa del Valle), 2014, Öl auf Holz, 42 x 70 cm
Abb. 4: Produktionsansicht, Hinojosa del Valle, Extremadura (ES), 2014
aus dem Projekt ICH BIN GERNE BAUER UND
aus dem Projekt ICH BIN GERNE BAUER
MÖCHTE ES AUCH GERNE BLEIBEN
UND MÖCHTE ES AUCH GERNE BLEIBEN
Zeitgleich überlegen sich die Bauern und ihre Familien, welche Momente ihrer Arbeit ihnen am wichtigsten sind, um sie filmisch aufzunehmen. Je nach Spezialisierung der Betriebe und Intention der Bauern dominieren hier die Produktionsprozesse von Fleisch, Milch, Getreide, etc. oder darüber hinausgehende Tätigkeiten, die über den Tag hinweg verrichtet werden. Mit Unterstützung von Thomas Sprenger werden die Aufnahmen weiterverarbeitet und zu ca. zehnminütigen Filmen geschnitten, die mit Untertiteln und Musik versehen schlussendlich einen von den Bauern ausgewählten Einblick in ihre Arbeit geben. Während die Gemälde bei den Bauern verbleiben, werden die Filme Teil eines Archivs, das sich im Besitz der Künstler befindet und bei verschiedenen Gelegenheiten öffentlich in Ausstellungen und im Rahmen des Formats DIE LANGE NACHT DES BAUERNFILMS gezeigt wird.
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Abb. 5: Filmstills, Hinojosa del Valle, Extremadura (ES), 2014
aus dem Projekt ICH BIN GERNE BAUER UND MÖCHTE ES AUCH GERNE BLEIBEN
In Ausstellungen wird das Projekt in wechselnden Konstellationen gezeigt. Zur Ausstellung HUNGRY CITY im Kunstraum Kreuzberg in Berlin 2012 wurden die Filme in Form eines Archivs präsentiert. Sie standen den Besucher/innen zur freien Auswahl an zwei Tischen mit Monitoren und DVD-Playern zur Verfügung. Für die Präsentation weiterer Bestandteile der Arbeit wurden die Gegebenheiten des Raumes genutzt. Auf den Wänden rechts und links der Tische befand sich eine Auswahl von insgesamt sieben bei den Bauern entliehenen Gemälden. Diese waren ergänzt um Papierblätter in DIN A3-Format mit textlichen Kommentaren zu den verschiedenen Aufenthalten bei den Bauern, die ganz subjektiv, ein wenig an Tagebuch- oder Logbucheintragungen erinnernd, die Erlebnisse der Künstlerin wiedergaben. Verbunden wurde die Anordnung durch stilisierte schwarz/weiß Wandgemälde, die ebenfalls Szenen der Beobachtung Schiffers’ auf den Höfen wiedergaben. Abb. 6: Ausstellungsansichten ICH BIN GERNE BAUER UND MÖCHTE ES AUCH GERNE BLEIBEN, Hungry City, Kunstraum Kreuzberg 2012
Fotos: Thomas Bruns
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Im Gegensatz zu Riebesehls Serie, die den Rezipienten eine Erfahrung der norddeutschen Agrarlandschaften verschafft, öffnet sich das Projekt von Schiffers und Sprenger im Hinblick auf die Frage, wie und ob solch eine Vermittlung durch Kunst möglich ist. Dafür verweisen sie ganz dezidiert auf die verschiedenen SubjektObjekt-Konstellationen bei der Produktion und Betrachtung von Kunst: Einerseits, indem sie die Bauern darum bitten, selbst die Filme über ihre Arbeit zu drehen. Andererseits, indem die Präsentation insgesamt aus Dokumenten ganz unterschiedlicher Verfahren und Herangehensweisen besteht, woraus sich Fragen nach der Möglichkeit einer wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe durch dokumentarische Verfahren ganz generell ergeben. Denn bei den hier versammelten Wirklichkeitsannäherungen verhält es sich gerade nicht wie beim sogenannten ›dokumentarischen Stil‹, der vorgibt ein empirisches Dokument zu erzeugen, welches bei genauer Betrachtung jedoch keines ist. Im Gegenteil: Es werden explizit subjektiv Eindrücke und Wahrnehmungen aufgezeichnet, die Wirklichkeit ganz ohne eine scheinbar wissenschaftliche oder zumindest distanzierte Annäherung dokumentieren. Dazu gehört der Verweis auf das Herstellungsverfahren der Künstlerin bei den Gemälden wie auch die Gemälde ergänzende Texte; beispielsweise folgender: »In Österreich haben wir einen langen und heißen Sommer verbracht. Die Hitze hat früh angefangen und bis zum letzten Tag nicht nachgelassen. Schon um halb neun am Morgen war es heiß auf schattenlosen Wiesen oder unter dem Blechdach der Maschinenhalle in Großmugl. Die Dorfjugend hat im Feuerwehrteich gebadet. Das Baden in Feuerwehrteichen war verboten, aber die Feuerwehr hat den Badenden am Beckenrand Eis verkauft.« (Schiffers/Sprenger 2010: 20)
Der kurze, anekdotische Text gibt einen Einblick in die Situation, die den Moment auf ganz besondere, nämlich ausschließlich subjektive Weise vermittelt. Der persönliche Zugang der Künstler wird offenbar. Darüber hinaus wird hier hervorgehoben, dass auf dem Land eine eigene Logik des Zusammenlebens herrscht, in der die üblichen Verhältnisse und Ordnungen nicht immer Gültigkeit haben oder auch zeitweise und spontan außer Kraft gesetzt werden können. Vielmehr zeigt sich eine eigene Gesetzmäßigkeit, die mitunter anarchische Züge trägt. Diese Besonderheit des Ländlichen, sozusagen das Prinzip des Ländlichen, wird hier hervorgehoben. Die installative Anordnung ist eine in verschiedenen Varianten wiederkehrende Form der Präsentation bei Schiffers und Sprenger. In ihr verdeutlicht sich neben den gebotenen Inhalten die Frage nach den Möglichkeiten ihrer Vermittlung durch Bilder und Texte. Im Zusammenspiel der verschiedenen Perspektiven lässt sich sowohl der Wirklichkeitsgehalt der einzelnen Dokumente als auch ihre Wirkung im Zusammenspiel ausloten. In der multiperspektivischen Annäherung an das Thema wird Wirklichkeit konstruiert und gleichzeitig als Konstrukt in Frage gestellt, denn die Künstler
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verstecken sich nicht hinter den dokumentarischen Aufzeichnungen, sondern offenbaren anhand der Vielgestaltigkeit ihres Werks Möglichkeiten und Schwächen der Darstellbarkeit von Wirklichkeit. Das Wirklichkeitsverhältnis der Kunst wird hier im Verhältnis der Rezipient/innen zum Kunstwerk bestimmt. Für die Betrachter/innen eröffnet sich somit eine kritische Reflexionsebene von Repräsentations- und Rezeptionsmöglichkeiten der Kunst. Das Spiel mit den verschiedenen dokumentarischen Medien beinhaltet auch ein Spiel mit der zeitlichen Wirkung der Kunst. Denn das Duo Schiffers/Sprenger schafft mit seinem Archiv, und das bestätigt bereits diese gewählte Form, eine Möglichkeit des Sammelns und Konservierens. Ihre Arbeiten repräsentieren beispielhaft die Landwirtschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Während einige Filme durch das Andauern des Projekts noch der Gegenwart entspringen, ist ihre Vergangenheit und ihre Zukünftigkeit bereits in den Dokumenten und ganz besonders im bewahrenden und auch bereitstellenden Charakter des Archivs angelegt. Die Filmwissenschaftlerin Elizabeth Cowie schreibt über die Eigenart von Dokument und Zeitlichkeit: »Während sich nämlich die gegenwärtige Zeit der Wirklichkeit als aufgezeichnete unmittelbar in Vergangenheit verwandelt, wird sie auch zur Vorbotin einer Zukunft, in der sie a ls Wiederaufführung vergangener Ereignisse und Handlungen zu sehen sein wird, die sich dann jedoch im Gegenwärtigen zuzutragen scheinen.« (Cowie 2003: 17)
Diese Aussage trifft sowohl auf Riebesehls Fotografien als auf die Arbeiten Schiffers und Sprengers zu. Jedoch wird in Bezug auf letztere einmal mehr deutlich, womit die Künstler in ihren Installationen spielen: mit der Offenlegung und dem gleichzeitigen Infragestellen der Möglichkeiten dokumentarischer Kunst auch im Hinblick auf ihre zeitliche Wirkung. Während Riebesehls Arbeit die Aussage bestätigt, wird sie bei Schiffers und Sprenger Teil ihres Systems einer Repräsentationskritik.
INTERNATIONALER D ORFLADEN Diese Kritik an der Repräsentation findet im Projekt INTERNATIONAL VILLAGE SHOP der Künstlerinnengruppe Myvillages (deren Mitglied Schiffers neben Kathrin Böhm und Wapke Feenstra ebenfalls ist) einen noch radikaleren Niederschlag. Sie führt hier zu einer Kunst, die sich aus ihren kollektiven Produktionsprozessen ergibt und sich formal einer verschwindenden ländlichen Institution annähert: dem Dorfladen. In Anlehnung an die Produktivkräfte des ländlichen Raumes, die seit jeher von Regionalität geprägt sind, entstehen für das Projekt INTERNATIONAL VILLAGE SHOP seit 2007 ortsbezogene Produkte, die neben weiteren selbst erzeugten und anderen ins Sortiment aufgenommenen Produkten aus regionalen Zusammenhängen in
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sogenannten temporären Dorfläden angeboten werden. Je nach Kontext öffnen die internationalen Dorfläden eine Stunde, einen Tag oder mehrere Wochen, häufig im Zusammenhang mit und in den einladenden (Kunst-)Institutionen. Die neuen Produkte entstehen in kollaborativer Praxis, das heißt in Zusammenarbeit mit ausgewählten Gruppen und Expert/innen, wie zum Beispiel: Landfrauen, Designer/innen, Töpfer/innen, Stofffabrikant/innen, Schüler/innen und Vertreter/innen der Politik. Hinter diesen temporären und lokalen Gemeinschaften vor Ort steht darüber hinaus ein ganzes Netzwerk von anderen Organisationen, die ein Interesse an ländlicher Kultur haben und mit denen Myvillages in Austausch steht.9 Der Prozess der Entwicklung nimmt mitunter mehrere Jahre in Anspruch und ist nicht nur der Weg zum Produkt, sondern wesentlicher Teil des künstlerischen Werks. Wissen, ob privater oder beruflicher Natur, wird bei der Erarbeitung unhierarchisch eingebracht. Traditionelle Verfahren in der Lebensmittelproduktion und im Handwerk, regionale Besonderheiten geografischer und ökonomischer Art sowie kulturelle und historische Phänomene, verbreitet etwa in Form von oral history, bilden die materielle und symbolische Grundlage der Produkte. Die Objekte entsprechen in Nutzbarkeit und Aussehen nicht immer marktwirtschaftlichen Ansprüchen. Vielmehr repräsentieren sie die Orte bzw. die Regionen – und zwar indem sie in sich Geschichten und Fakten, zusammengetragen von diversen Stimmen, versammeln. So ist beispielsweise im Jahr 2009 bei einem Projekt in der Oberlausitz10 in Zusammenarbeit mit den Landfrauen, dem Heimatverein, Schüler/innen und Politiker/innen der LEINÖLKÜHLTURM entstanden: ein Gefäß aus dunklem Glas, dessen Form angelehnt ist an die Kühltürme der Braunkohleregion. Das Material verweist auf die Bedeutung der Glasherstellung für die Gegend, die ebenfalls für ihre Leinölherstellung und -nutzung bekannt ist.
9
Gegründet hat sich der INTERNATIONAL VILLAGE SHOP als kollaboratives Netzwerk u.a. mit den Organisationen Publicworks und Grizedale Arts.
10 Die hier vorgestellte Arbeit entstand im Rahmen des Projekts: ÜBER TAGE 09. KUNSTPROJEKTE FÜR DIE LAUSITZER SEENLANDSCHAFT.
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Abb. 7: Ladenansicht, INTERNATIONAL VILLAGE SHOP, Myvillages
Abb. 8: LEINÖLKÜHLTURM, Myvillages
Fotos: Myvillages
Ortsbezogenheit in der Kunst im öffentlichen Raum wird seit den 1960er Jahren als site-specificity bezeichnet und stellt eine wesentliche Entwicklung in der Hinwendung der Kunst zur Realität dar. Bei Myvillages wird diese Ortsbezogenheit plötzlich beweglich, d.h. das Produkt bezieht sich zwar auf einen Ort, wird jedoch im INTERNATIONAL V ILLAGE SHOP weltweit angeboten und somit auch weltweit lesbar. Entsprechend finden sich seit 2010 alle Waren auch auf der Internetseite des Projekts, gleich einem Onlineshop (jedoch ohne Bestellmöglichkeit). Von der Geschichte ausgehend und aus der Gegenwart der Bewohner/innen eines Ortes richtet sich der Blick durch das Produkt damit ganz offensichtlich auch in die Zukunft – als Produkt des globalen Marktes, in den es durch die Künstlerinnen formal eingespeist wird. Der global immer gegenwärtigen Öffentlichkeit von Städten und urbanen Zentren, werden mit den Produkten die überall existierenden ländlichen Gemeinden gegenübergestellt, dem Welthandel die ländlich produzierten Waren. Hinterwäldlerische Regionalität wird zum internationalen Handelsprodukt. Einerseits zeigt sich hier die Andersartigkeit ländlicher Kultur und andererseits wird die Einebnung von Stadt und Land vor dem Hintergrund einer globalen Ökonomie deutlich. Die Reflexion des in ökonomischer Sicht aktuellen Verhältnisses von lokal und global steht dabei im Vordergrund.11 Hier gilt auch für die Institution Dorfladen, dass sie nur als temporäres Konstrukt funktionieren kann, das sich je nach Bedarf der Situation beziehungsweise dem Markt anpasst12 oder eben durch das Internet unabhängig zugänglich ist.
11 Vgl. dazu auch die Jubiläumsschrift zum 10jährigen Bestehen von Myvillages (Steiner 2013). 12 So wie heute in den ländlichen Regionen Daseinvorsorge häufig nur noch nach Bedarf organisiert wird, z.B. mit Rufbussen, Bäckereiwagen und mobilen medizinischen Vorsorgeeinrichtungen.
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Während bei Schiffers und Sprengers Arbeit verhandelt wird, ob und wie Wirklichkeit über dokumentarische Verfahren rezipiert werden kann, steht bei Myvillages die Frage nach repräsentationswürdigen Inhalten und möglichen Herstellungsverfahren und Formen repräsentativer Werke im Vordergrund. Das lässt sich insbesondere an der im jeweiligen Werk eingebauten Partizipationsebene festmachen, auf der sich die für die Arbeit wesentlichen Entwicklungen manifestieren. Hier geht es nicht mehr um Fragen einer bildlichen Repräsentation, sondern über die partizipative Herangehensweise und wirklichkeitsnahe Form verschränkt sich das Kunstwerk selbst mit der Wirklichkeit, von welcher wiederum die Produkte in ihrer Nutzbarkeit Teil werden können. Vergangenheit ist hier nur noch ein Aspekt im gestalteten Produkt, sie existiert nur noch als spezielles Wissen und in (teils obskuren) Geschichten, die transformiert im Produkt an die Oberfläche kommen. Auf eindrückliche Weise verdeutlichen die Produkte des INTERNATIONAL VILLAGE SHOP auch in ihrer Existenz als Waren, »dass der normative Sinn von Gegenwartskunst darin besteht, ihre historische Gegenwart gegenwärtig zu machen« (Rebentisch 2013: 13). Bei aller Anpassung des ländlichen Raums an die globale Ökonomie bleibt dabei die Differenz zwischen Stadt und Land im nicht-marktkonformen Produkt ebenso sichtbar wie der Charakter des Produkts als Kunst. Als Eigenart der ländlichen Kultur wird ein ländliches Prinzip hervorgehoben, das trotz gravierender Veränderungen, womöglich sogar unabhängig von räumlichen und zeitlichen Zuschreibungen, aktuelle Relevanz beweist.13 Diesem nähern sich alle hier besprochenen Arbeiten auch in der Auseinandersetzung mit der Geschichtlichkeit der jeweiligen Räume, die sich sowohl in Bezug auf den gesellschaftlichen als auch künstlerischen Umgang mit Landwirtschaft, Ländlichkeit und ländlichem Raum feststellen lässt.
13 So heißt es auch in der Tagungsankündigung RURBANE LANDSCHAFTEN: PERSPEKTIVEN DES
RURALEN IN EINER URBANISIERTEN WELT (Bauhaus-Universität Weimar, 29.-
30.06.2017): »Doch selbst in einer urbanisierten Welt ist die Perspektive des Ruralen nicht irrelevant. Sie bietet vielmehr die Möglichkeit, auch ihr vermeintliches Gegenstück – das Urbane – neu zu perspektivieren, zu verstehen und zu gestalten. Ohnehin bleibt das Rurale neben dem Urbanen eine distinkte soziale Formation mit spezifischen Denkmustern und Lebensweisen. So lassen sich aus der Perspektive des Ländlichen heraus zukunftsfähige, nachhaltige und lebenswerte Räume und Landschaften in Stadt und Land denken und gestalten.«
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L ITERATUR Cowie, Elizabeth (2003): »Dokumentarische Kunst: Das Reale begehren, der Wirklichkeit eine Stimme geben«, in: Karin Gludovath, Auf den Spuren des Realen. Kunst und Wirklichkeit, Wien: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, S. 17. Honnef, Klaus (1979): »Es kommt der Autorenfotograf. Materialien und Gedanken zu einer neuen Ansicht über die Fotografie«, in: Wilhelm Schürmann (Hg.), In Deutschland. Aspekte gegenwärtiger Dokumentarfotografie, Köln: Rheinlandverlag, S. 24. Kerschbaumer, Tatjana (2016): »Pure Idylle«, in: Tagesspiegel online, 21.06.2016 (30.06.2017). Lang, Johannes (2015): »Drei Wirklichkeitsbezüge künstlerischer Praxis. Eine Einleitung«, in: Lotte Everts/Johannes Lang/Michael Lüthy/Bernhard Schieder (Hg.), Kunst und Wirklichkeit heute. Affirmation – Kritik – Transformation, Bielefeld: transcript, S. 7-15. Mettmer, Martina (1987): Die Autonomisierung der Fotografie. Fotografie als Mittel des Ausdrucks und der Realitätserfassung am Beispiel ausgewählter Fotografenkarrieren, Marburg: Jonas. Schiffers, Antje/Sprenger, Thomas (2010): »Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben«, in: Veronika Olbrich/Städtische Galerie Nordhorn (Hg.): Ausstellungs-Kat. Ich bin gerne Bauer und möchte es auch gerne bleiben, Berlin: argobooks. Rebentisch, Juliane (2013): Theorien der Gegenwartskunst, Hamburg: Junius. Riebesehl, Heinrich (2002): Agrarlandschaften, Köln: Schaden. Sager, Peter (2002): »o.T.«, in: Heinrich Riebesehl: Agrarlandschaften, Köln: Schaden, S. 5-15. Steiner, Barbara (2013): »Closeness and Distance«, in: Myvillages Anniversary Newsletter. Im Netz unter: http://www.myvillages.org/uploads/myvillages_ poster_final3.pdf (12.05.2017). Welsch, Wolfgang (2015): »Wie kann Kunst der Wirklichkeit nicht gegenüber stehen, sondern in sie verwickelt sein?«, in: Lotte Everts/Johannes Lang/Michael Lüthy/Bernhard Schieder (Hg.), Kunst und Wirklichkeit heute. Affirmation – Kritik – Transformation, Bielefeld: transcript, S. 197 – 200. Weski, Thomas (1997): »Kleine Sensationen«, in: Sprengel Museum Hannover: Ausstellungs-Kat. Heinrich Riebesehl / Bahnlandschaften, Hannover, S. 5-10.
Wogen der Flut Visualität und Materialität chronotopischer Transformationen in konzeptueller Kriegsfotografie S OPHIE -C HARLOTTE O PITZ Die Zeit ist ein Fluß, ein ungestümer Strom, der alles fortreißt. Jegliches Ding, nachdem es kaum zum Vorschein gekommen, ist auch schon wieder fortgerissen, ein anderes herbeigetragen, aber auch das wird bald verschwinden. MARC AUREL/SELBSTBETRACHTUNGEN
Z EIT R ÄUME Fotografien bilden Chronotopoi (vgl. Bachtin 2008), Zeit-Räume, in denen verschiedene zeitliche und örtliche Ebenen ineinanderfließen. Der hierdurch kreierte »Denkraum« (Bronfen 2009: 8) fungiert als Plattform zum Austausch von individuellen und kollektiven Erinnerungsfragmenten. Solche chronotopischen Strukturen finden sich dabei nicht nur in Fotografien, sondern auch in Land- und Ortschaften und prägen ebenso Erinnerungskulturen, wie sie von diesen geprägt werden. Verschwindende, verschwundene und wieder in Erscheinung tretende Dörfer offenbaren Leerstellen, die es zu reflektieren gilt. Entgegen eines linearen Zeitverständnisses können Chronotopoi Vergangenes und Verschwundenes aufdecken, re-imaginieren und diskursiv etablieren. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, aus der Untersuchung von Visualität wie auch Materialität kriegsbedingter Phänomene und den damit verbundenen Transformationen von Land- und Ortschaften Rückschlüsse auf den erinnerungskulturellen Diskurs des betroffenen Landes zu ziehen. Die diesbezügliche Analyse künstlerischer Kriegsfotografien von argentinischen Orten bzw. Un-Orten
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(vgl. Gaßner/Roettig 2012) legt Analogien zur Geschichte des Guerra Sucia1 offen und versucht, die zeiträumlichen Transformationen der nationalen Aufarbeitung in der chronotopischen Struktur von Fotografie sichtbar zu machen. Hierfür werden die Werkserien LIGNUM MORTUUM und ENTREVERO der argentinischen Fotografin Paula Luttringer herangezogen, die die multidirektionalen Dynamiken zwischen dem fotografischen Medium, dem Un-Ort und der argentinischen Erinnerungskultur aufzudecken vermögen.
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Während des Guerra Sucia zwischen 1976 und 1983 wurde Argentinien von einer Militärjunta regiert. Infolge des 1976 vollzogenen Putsches durch Jorge Rafael Videla, eines Oberkommandierenden des argentinischen Militärs, wurden 520 geheime Gefangenenlager errichtet, in die Menschen, die als politische Gegnerinnen und Gegner angesehen wurden, verschleppt wurden. Diese Centros Clandestinos de Detención2 formierten neben dem öffentlichen ein separates und geheimes Justizsystem. Hinter den Mauern der geheimen Gefangenenlager wurden entführte Männer und Frauen verwahrt, gefoltert und ermordet. Dabei wussten die Hinterbliebenen oftmals nicht, was mit ihren Angehörigen geschehen war, geschweige denn, wo sie gefangen gehalten wurden. Die Desaparecidas und Desaparecidos3 hinterließen durch ihr plötzliches Verschwinden Leerstellen in der argentinischen Gesellschaft. Die Prozesse des Verschwindens fanden jedoch nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene statt. Fehlende finanzielle Unterstützung für Kommunen, Armut und Misswirtschaft schafften darüber hinaus Leerstellen in Ort- und Landschaften. Diese produzierten Leerstellen hatten gleichsam materielle wie auch immaterielle Ausformungen: Materiell, da Orte verlassen werden mussten und die visuellen und physischen Entitäten verwahrlosten, sich auflösten. Immateriell, da der damit verbundene Raum, aufgeladen mit kultureller und historischer Bedeutung und verstanden als Raum gesellschaftlicher Interaktion, dieser Bedeutungen entledigt wurde. Villa Epecuén, am Rande des gleichnamigen Sees in der Provinz Buenos Aires gelegen, kann dabei paradigmatisch für die Zerstörung und das Verschwinden des kulturellen Lebens und der sie umgebenden Flora und Fauna durch Entscheidungen der Militärjunta während des Guerra Sucia gelten.
1
Dt.: Schmutziger Krieg.
2
Dt.: Geheime Gefangenenlager.
3
Dt.: Die Verschwundenen.
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Abb. 1: Ansicht Landkarte Argentinien mit Markierung Villa Epecuén
OpenStreetMap; Zugriff: 03.03.2017
Abb. 2: Vergrößerte Ansicht Landkarte Argentinien mit Markierung Villa Epecuén (die graue Unterlegung zeigt die geflutete Fläche)
OpenStreetMap; Zugriff: 03.03.2017
Lago Epecuén war einst einer der salzhaltigsten Seen der Welt. Die heilende Wirkung des Wassers wurde schon Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt und genutzt (vgl. Gunkel 2012). 1921 wurde deshalb Villa Epecuén als erster Kurort am Lago Epecuén gegründet (vgl. Bell 2015). Infolge eines mangelnden Zuflusses in Dürreperioden kam es in den 1960er Jahren zu starken Austrocknungsphasen des Sees, sodass die argentinische Regierung 1975 den Ameghino-Kanal bauen ließ, der Wasser aus anderen Seen in den Lago Epecuén zuführte. Der Kanal sollte somit der Gefahr einer Austrocknung präventiv entgegenwirken (vgl. RT 2015). Mit der Inkrafttretung der Militärjunta 1976 wurde die Überwachung des Kanalsystems jedoch eingestellt und die nötigen weiteren Arbeiten am See und dem Kanalsystem nicht weiterverfolgt (vgl. Iaconangelo 2013). So war der See zwar vor Dürreperioden geschützt, jedoch wurde keine notwendige Ablaufmöglichkeit gebaut, die in Regenperioden einer
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Überschwemmung hätte vorbeugen können. Der Salzgehalt im Wasser veränderte sich und sank durch den Zulauf von Wasser aus Süßwasserseen rapide (vgl. Gunkel 2012). Dies hatte wiederum Folgen für den Tourismus, der auf Wellness und SalzKuren spezialisiert war. Neben den ökologischen Veränderungen, die die Vernachlässigung des Kanals durch die Militärjunta mit sich brachte, waren es kriminelle Handlungen, die eine wirtschaftlichen Katastrophe erzeugten und zu der ökologischen beitrugen: einzelne Mitglieder der Militärjunta extrahierten Sulfat aus dem Wasser, um den Rohstoff weiterzuverkaufen. So wurden schon 1979 Stimmen in der Bevölkerung laut, die neben den 1978 gebauten marginalen Schutzwällen (vgl. Bell 2015) auch die PrivatExtraktionen kritisierten, da diese die heilenden Kräfte des Salzwassers minderten und somit den Kur-Tourismus nachhaltig bedrohten (vgl. Licitra 2014). Die Proteste hatten keinen Erfolg. Ab 1980 stieg das Wasser kontinuierlich um 50 bis 60 Zentimeter pro Jahr (vgl. Iaconangelo 2013). Doch auch nach der Militärdiktatur wurde der Gefahr keine Beachtung geschenkt und die Region nur symbolisch betreut (vgl. Bell 2015). So kam es dazu, dass am 10. November 1985 der Schutzwall brach und Villa Epecuén innerhalb von zwei Wochen überschwemmt wurde. Der Wasserstand stieg bis 1993 kontinuierlich und erreichte letztlich eine Höhe von 10 Metern. Das Dorf verschwand folglich sowohl physisch wie auch visuell.
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Walter Benjamin stellt in seinem PASSAGEN-WERK fest: »Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten.« (Benjamin 1982: 596) Aufbauend auf Benjamins Gedanken kann die wechselseitige Beziehung zwischen der Ontologie des Visuellen und der Anerkennung von Ort- und Landschaften verdeutlicht werden: Einerseits zeugt die Beschaffenheit des Visuellen vom Vorhandensein spezifisch räumlicher Gegebenheiten und vermittelt diese im gesellschaftlichen Diskurs, andererseits wirken die in gesellschaftlich-diskursiven Aushandlungsprozessen erzeugten Bilder und Aussagen über spezifische räumliche Gegebenheiten auch auf deren Materialitäten und Strukturen zurück und verändern diese. Dieses Wechselverhältnis kann auf Erinnerungsdiskurse übertragen werden. Im Sinne Judith Butlers wird kulturelles Erinnern durch visuelles Material stabilisiert (vgl. Butler 2009: 54). Mit der Überflutung und dem damit verknüpften visuellen Verschwinden Villa Epecuéns wurde somit simultan ein Vergessens-Prozess initiiert und protegiert, der Auswirkungen auf das kollektive Gedächtnis und die lokale Erinnerungskultur hatte und hat. Da das kollektive Gedächtnis Vorgänge organischer, medialer und institutioneller Art im soziokulturellen Kontext fasst, können erst durch die Betrachtung des
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Zusammenhangs der einzelnen Phänomene von Erinnerungskultur Rückschlüsse auf diese gezogen werden (vgl. Erll 2011: 6). Hierin erschließt sich auch der Forschungsgegenstand künstlerischer Kriegsfotografie: Kriegsfotografie als spezifisches Genre verdichtet, neben der evidenten chronotopischen Qualität von Fotografie im Allgemeinen, die zeiträumlichen Strukturen hinsichtlich des Sujets und bietet somit eine geeignete Grundlage für die Erforschung von intertextuellen und -medialen Phänomenen. Das künstlerische und konzeptuelle Moment wiederum bestimmt den fotografischen Akt durch eine mediale Reflexivität, die sich nicht an Einteilungen wie objektiv/subjektiv, richtig/falsch, wahr/unwahr orientiert. Die inhärenten Strukturen des Mediums und seine Einbettung in den soziokulturellen Kontext sind dem Bild-Produzenten dabei in seinem Einsatz bewusst. Des Weiteren sind eben diese reflexiven Prozesse gleichzeitig Grundlage und Ergebnis künstlerischer Konfliktund Kriegsfotografien. Im Hinblick auf erinnerungskulturelle Prozesse schreibt Astrid Erll: »Generell wird Kunst heute als ›Technologie‹ und ›Performance‹ des Gedächtnisses verstanden« (ebd.: 73). Die Fotografin Paula Luttringer musste die von Aleida Assmann beschriebene »repressive Form des Vergessens« erfahren (Assmann 2014: o.S.). Diese Form des Vergessens besagt, dass Einzelpersonen bzw. einzelne Bevölkerungsgruppen durch repressive Machtstrukturen ihrer Identität und ihres individuellen Lebens innerhalb einer Gesellschaft entledigt werden. Die Desaparecidas und Desaparecidos erlitten eine doppelt gewaltsame Repression, da neben Gefangenschaft, Folter und Tod zeitgleich das gesellschaftliche Vergessen forciert wurde (vgl. ebd.). Am 31. März 1977 wurde Luttringer – mit Anfang 20 – entführt und in ein geheimes Gefangenenlager deportiert. Nach fünf Monaten konnte sie das Gefangenenlager wieder verlassen, musste jedoch aus Argentinien fliehen, um eine weitere Inhaftierung zu vermeiden, denn sie galt weiterhin als Regierungsgegnerin. Repressive Vorgänge wie diese wirkten sich auf das kollektive Gedächtnis Argentiniens aus und erzeugten gesellschaftliche Leerstellen, die auch im Falle Paula Luttringers nach ihrer Entlassung auf Grund der politischen Lage von ihr nicht erneut besetzt werden konnten: Sowohl die Option, im Land zu bleiben, als auch die Option, das Land zu verlassen, führten in ihrer Konsequenz als Teil des gesamten Guerra Sucia zu der von der Militärjunta gewünschten kollektiven Leerstelle. In Anlehnung an den von Assmann (2014) geprägten Begriff des Mnemozids, als einer konzeptuellen Verbindung von Mnemosyne und Suizid, sollte im Fall der Desaparecidas und Desaparecidos von Mnemosyne-Mord oder Mnemomord gesprochen werden, da hier eine fremdbestimmte Auslöschung aus dem kollektiven Gedächtnis vollzogen wurde. So berichtet Luttringer:
400 | S OPHIE -CHARLOTTE OPITZ »Everything was secret, everything was hidden. The government destroyed the bodies of the people they murdered, removed children born in custody and adopted them into families that cooperated with their regime, and buried evidence of the lives of my generation.« (Luttringer undatiert)
15 Jahre nach ihrer Entlassung aus dem geheimen Gefangenenlager kehrte Luttringer nach Argentinien zurück, wo sie für die nächsten sechs Jahre lebte. Infolge eines Workshops mit der Künstlerin Adriana Lestido fand Luttringer zur Fotografie als ihrem Artikulationsmedium (vgl. Fortuny 2014). In ihrer ersten Serie EL MATADERO fotografierte sie in einem argentinischen Schlachthaus. Durch ihre eigenen Erfahrungen geprägt, nahm sie Analogien zwischen dem Umgang mit den Tieren in der Fleischindustrie und dem mit den Desaparecidas und Desaparecidos in den geheimen Gefangenenlagern wahr und visualisierte sie fotografisch (Abb. 3). Seitdem untersucht sie mit Hilfe von Fotografie die Phänomene, Folgen und Transformationen des Guerra Sucia. Luttringer ist mit ihren Projekten Teil einer Bewegung, die diese in der argentinischen Gesellschaft lange Zeit verdrängte und dennoch stets anwesende historische Erfahrung mit verschiedenen künstlerisch-medialen Gegenstrategien – bspw. auch in der Literatur (siehe dazu Viseneber 2014, Seiler 2016) – aufarbeitet und reflektiert. Abb. 3: Paula Luttringer: Ohne Titel #8. Aus der Serie: EL MATADERO (1995)
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Luttringers Ansatz ist multimedial. So führt sie beispielsweise seit 2000 Interviews mit anderen ehemaligen Desaparecidas. Luttringer: »I began to discover that all the women who had been kidnapped were in the same situation. And for me it was kind of ›Then we can share this‹« (Luttringer/Opitz 2015). Auf Grundlage dieser kollektiven Erinnerungen sucht Luttringer seit 2000 in LAMENTO DE LOS MUROS Überreste der geheimen Gefangenenlager auf. Die Fotografien kombiniert sie mit Zitaten aus den Interviews. Durch die Kombination der oral übermittelten Erinnerungen mit den Fotografien der verlassenen und verwahrlosten Gefangenenlagern kreiert Luttringer einen Bedeutungsraum, in dem die Leerstelle, die sowohl in der Gesellschaft als auch in den Überlebenden durch die Politik des Guerra Sucia geschaffen wurde, materialisiert wird (Abb. 4). Abb. 4: Paula Luttringer: Ohne Titel. Aus der Serie: LAMENTO DE LOS MUROS (seit 2000)
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Der mit der Fotografie verbundene Text lautet folgendermaßen: »I went down about twenty or thirty steps and I heard big iron doors being shut. I imagined that the place was underground, that it was big, because you could hear people’s voices echoing and the airplanes taxiing overhead or nearby. The noise drove you mad. One of the men said to me: so you’re a psychologist? Well bitch, like all the psychologists, here you’re really going to find out what’s good. And he began to punch me in the stomach. Marta Candeloro was abducted on June 7, 1977 in Neuquen. She was then taken to the Secret Detention Center ›La Cueva‹.«
LAMENTO DE LOS MUROS, wie auch die in diesem Artikel näher betrachteten Werkserien LIGNUM MORTUUM und ENTREVERO fungieren als materielle Konservierungen, durch die kollektive Erinnerungen zugänglich gemacht werden. So schreibt auch Assmann: »Material preservation of what was once thought or done makes possible its reentry into cultural memory.« (Assmann 2014: o.S.)
G EGENBILDER : D IE V ISUALISIERUNG DER L EERSTELLE In der Serie LIGNUM MORTUUM fotografierte Paula Luttringer Villa Epecuén. 30 Jahre nach der Flutung des Dorfes führten stetig ansteigende Temperaturen und eine erneute Dürre-Periode im Jahr 2009 zum Rückgang der Wassermengen im Lago Epecuén (vgl. Bell 2015). Die Überreste des Gebietes treten seitdem wieder in Erscheinung. Luttringer fotografiert explizit die freigelegten Relikte der Natur (vgl. Luttringer/Opitz 2015: 7). So finden sich mit einer dicken, weißen Salzkruste überzogene Baumstümpfe am Rande des Sees, inmitten einer kargen, flora- und faunaarmen Landschaft. Die trostlos anmutende Ästhetik wird durch Luttringers Wahl analoger Schwarzweiß-Fotografie vorangetrieben, in der sich die vom dunklen Hintergrund absetzenden Objekte zu verlieren scheinen. Gleichzeitig agieren diese weiß-leuchtenden Salzkrusten-Hülsen jedoch als Aufmerksamkeitsfänger, an denen der Blick hängenbleibt. Hier eröffnet sich die erste Analogie zu den kulturellen Phänomenen und Transformationen des Guerra Sucia: Ein erzwungenes Vergessen avanciert immer auch eine diametrale Entwicklung. So beschreibt Assmann: »You cannot erase something without at the same time highlighting it and directing attention to what is being rendered invisible.« (Assmann 2014: o.S., vgl. dazu auch Eco 1988) Die dicke Salzkruste, unter der die Überreste der Natur begraben liegen, unterstreicht durch das Verdecken visueller Entitäten das Geschehene. Durch das Fotografieren wiederum werden chronotopische Ebenen materialisiert, die »Denkräume« (Bronfen 2009: 8) eröffnen, in denen Raum und Zeit, Un-Ort und nicht mehr vorhandene und an diesem
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Ort auch nicht praktizierbare Kultur einem »fließenden Netzwerk« (Löw 2001: 266) gleichen und durch ihr Nicht-Sein auf ihre (einstmalige) Existenz hinweisen. Die Baumstümpfe in dieser vermeintlichen Einöde erinnern an das Skelett eines verwesten Kadavers (Abb. 5). Abb. 5: Luttringer: Ohne Titel. Aus der Serie: LIGNUM MORTUUM (2015)
Privatbestand der Künstlerin
Luttringer schildert den Eindruck, den das erste Betrachten der Kontaktbögen ihrer Fotografien erzeugte, folgendermaßen: »When I saw the contacts for these photographs, I realized what I was seeing: a forest of trees that seemed to be walking forward while dead.« (Luttringer 2015c). Sie unterstreicht dabei die Relevanz des fotografischen Aktes für die Präsenz des Sujets und seiner Zeitlichkeit: Die Materialisierung des Baumstumpfes in der Fotografie fixiert durch seine Visualisierung die kulturelle Leerstelle, die der Guerra Sucia in der argentinischen Erinnerungskultur zu implementieren versucht hat. Darüber hinaus weist die Dokumentation der räumlichen Transformationen auf eine spezifische Zeitlichkeit hin: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden in den visuellen Strukturen des Bildes vereint. So referenziert das Bild ebenso auf das Geschehene, wie es auch den prozessualen Charakter und die Dynamiken des Raumes und des kollektiven Gedächtnisses visualisiert. In einer Fotografie offenbaren etwa abgeschlagenen Äste die Stumpfenden des Baumes (Abb. 6).
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Abb. 6: Luttringer: Ohne Titel. Aus der Serie: LIGNUM MORTUUM (2015)
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Salz bildet schorfige Krusten an ihren Schnittstellen. Die ›Wunden‹ der Bäume sind nicht nur mit Wunden an menschlichen Körpern gleichzusetzen. Sie bilden Analoga zu Körperlichkeit, Identität und Biografie der Desaparecidas und Desaparecidos. Luttringer schreibt: »The trees speak to me of the way people who have suffered trauma stride forward in their lives, embodying movement while some part of them has died.« (Ebd.) Die verstümmelten, toten Bäume weisen ebenso Narben und Wunden auf, wie es die überlebenden Gefangenen an ihren Körpern tun. Die Leerstellen, die die nicht vorhandenen, abgeschlagenen Äste bilden, stehen wiederum für die psychischen Leerstellen und Traumata, die Folter und Repression bei den Überlebenden produziert haben. Der fotografierte Baumstumpf erweist sich dabei als ein doppeltes Sinnbild: Einerseits deutet er auf eine gewisse verletzte und exponierte Körperlichkeit und hierdurch auf das körperliche Leid der Desaparecidas und Desaparecidos hin, andererseits verweist er aber auch, indem er die abgeschlagenen Äste mitsamt der dadurch entstandenen Schnittstellen vor Augen führt, auf die Schwierigkeit, diese Leerstellen der traumatisierten Desaparecidas und Desaparecidos in der argentinischen Gesellschaft durch sie selbst erneut zu besetzen. Die Fotografien aus der Serie LIGNUM MORTUUM visualisieren die multidirektionalen Dynamiken zwischen den einzelnen involvierten Entitäten, durch die chronotopische Transformationen im Raum wie auch in der Fotografie ausgelöst werden. Die Fotografien gestalten somit den Raum und die Kultur mit, denn Medien
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beeinflussen ebenso das Gedächtnis, wie das Gedächtnis die Medien beeinflusst (vgl. Rothberg 2009). So argumentiert Andrew Hoskins in seiner Theorie des New Memory, dass Fotografien nicht nur einzelne Momente abbilden, sondern nicht-visuelle Dimensionen des individuellen, medialen und kulturellen Gedächtnisses wiedergeben und formen (vgl. Hoskins 2010). Somit verweist der Akt der Visualisierung und Materialisierung des Villa Epecuén in Luttringers Fotografien auch auf die Leerstelle innerhalb des erinnerungskulturellen Diskurses Argentiniens. Daran schließt auch Luttringers Serie ENTREVERO an. Sie entstand durch einen Zufall: Die Künstlerin benutzte versehentlich schon für LIGNUM MORTUUM genutzte Filmrollen und fotografierte diese über. »At first I was furious with myself, and I put that film aside. Later I returned to the film, curious about those tangled images of dead trees. I made a contact sheet, and I saw different worlds superimposed on each other, haunted landscapes of broken trunks and unearthed roots layered texturally on each other as memory is layered.« (Luttringer 2015a)
Die chronotopischen Ebenen LIGNUM MORTUUMS werden nun auf die visuellen Strukturen des Bildes ausgeweitet. Die verschiedenen übereinander gelagerten Fotografien des Ortes, der die zeitlichen, räumlichen und kulturellen Leerstellen infolge des Guerra Sucia offenbart, wirken in erster Instanz chaotisch und dissonant (Abb. 7 u. 8). Abb. 7: Luttringer: Ohne Titel #1. Aus der Serie: ENTREVERO VI (2015)
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Abb. 8: Luttringer: Ohne Titel #2. Aus der Serie: ENTREVERO II (2015)
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Die Perspektiven changieren, die einzelnen Ebenen sind kaum auseinanderzuhalten. Die Fotografien sind surreal, befremdlich, verworren. Und eben hierin eröffnet sich das Potenzial der Arbeit: Die visuellen Strukturen agieren als Transmitter innerhalb der Leerstellen und formieren eine Plattform zur Materialisierung individueller und kollektiver Erinnerungsfragmente, die wie die fotografischen Ebenen ebenso gegeneinander arbeitende wie auch ergänzende Tendenzen aufweisen. Wenn Heidegger (2000: 156) anmerkt: »Dinge, die in solcher Art Orte sind, verstatten jeweils erst Räume«, so verweist er auf die Verdichtung von Bedeutung, die Raum kreiert. Nach Heidegger können dabei Objekte – wie Fotografien – die wechselseitigen Beziehungen sowohl fassbar machen als auch kreieren, denn: »Im Wesen dieser Dinge als Orte liegt der Bezug von Ort und Raum, liegt aber auch die Beziehung des Ortes zum Menschen, der sich bei ihm aufhält.« (Ebd: 157) Die Werkserie ENTREVERO und sein materialisierter Denkraum schaffen ein weiteres Analogon zwischen dem Guerra Sucia und Luttringers konzeptueller Fotografie. Die Zufälligkeit des ästhetischen Produktes verweist auf das Signum des Guerra Sucia: Willkür. Luttringer erwähnt in Interviews, dass der Guerra Sucia durch eine mehrere Ebenen durchziehende Sinn-Leerstelle gekennzeichnet ist. So wussten weder die Desaparecidas und Desaparecidos noch ihre Angehörigen, warum jemand verschwand und gefoltert bzw. ermordet wurde, ebensowenig auch, warum jemand wieder auftauchte (vgl. Luttringer 2016). Die Zufälligkeit, die an den fotografischen Akt gekoppelt ist, führt zu visuellen Hürden, die eine Eindeutigkeit des zu Sehenden verhindern. Durch diese Verschie-
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bungen des Visuellen kann der Rezipient keine Rückschlüsse auf einen exakten Ort und Zeitpunkt tätigen. Die Strukturen arbeiten gegeneinander, reiben sich, formieren sich neu. Dieses optische Obstakel verweist ebenso auf die forcierten, lückenhaften Erinnerungsfragmente der Desaparecidas und Desaparecidos, wie auch auf den erinnerungskulturellen Diskurs Argentiniens im Allgemeinen, der sowohl durch die Kriegsverbrechen wie auch die schleppende Aufarbeitung dieser geformt ist.
Z USAMMENFASSUNG Die Analyse Luttringers Werkserien LIGNUM MORTUUM und ENTREVERO haben gezeigt, dass das Sichtbarmachen der chronotopischen Transformationen innerhalb Luttringers Fotografien des Villa Epecuén auf die transformierenden Unsichtbarkeiten und Leerstellen im erinnerungskulturellen Diskurs Argentiniens hinweist. Die Transformationen der Ort- und Landschaften Argentiniens, die Erzeugnis des Guerra Sucia sind, werden zum Zeugnis der erinnerungskulturellen Auswüchse dessen. In den heutigen Umbruchzeiten dieses Diskurses leisten LIGNUM MORTUUM und ENTREVERO einen Beitrag zur Aufarbeitung der politischen, sozialen und chronotopischen Auswüchse des Guerra Sucia. Luttringer kreiert in ihren Fotografien von Un-Orten im Sinne Michel de Certeaus Räume, die im Verhältnis zum Ort »als Akt einer Präsenz (oder einer Zeit) gesetzt und durch die Transformationen verändert [werden], die sich aus den aufeinanderfolgenden Kontexten ergeben« (de Certeau 1988: 217f.). Die Fotografien des Villa Epecuén sind ebenso interchangierend und dynamisch wie Erinnerungskulturen selbst. Die in den chronotopischen Strukturen der Fotografien stattfindende Verdichtung offenbart eine Vielzahl von Dimensionen – zeitlich, räumlich, generationell, kulturell, politisch –, die durch die Periode des Guerra Sucia beeinflusst wurden und deren Spuren nach wie vor zu finden sind. Die multidirektionalen Dynamiken zwischen Medium und Un-Ort gestalten ebenso die Fotografien, wie auch die Fotografien den erinnerungskulturellen Diskurs mitgestalten. So wie Luttringers Fotografien als Gegenbilder agieren, führen die Transformationen des Villa Epecuén zu einer Verschiebung: Der ehemalige Un-Ort wandelt sich zu einem Gegen-Ort, der eine soziale Heterotopie entwickelt; ein Platz, an dem sich Praktiken des Erinnerns ansiedeln können (vgl. Dünne 2012: 20). Die fotografischen Materialisationen der transformativen Leerstellen innerhalb der Landschaft bilden das Analogon zu den immateriellen Leerstellen des kollektiven Gedächtnisses. Luttringers Betrachtungen von Ort- und Landschaft spiegeln somit soziale Transformationen erinnerungskultureller Praktiken wider. In ihren Fotografien konserviert sie die beschriebenen Prozesse und schafft Raumbilder, die dazu beitragen, Unsichtbarkeit sichtbar zu machen.
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W ERKSERIEN El Matadero (1995) (Argentinien, Paula Luttringer) Lamento de los Muros (seit 2000) (Argentinien, Paula Luttringer) Lignum Mortuum (2015) (Argentinien, Paula Luttringer) Entrevero (2015) (Argentinien, Paula Luttringer)
Filmische Konstruktionen des verschwundenen Dorfs im türkischen Post-Yeşilçam-Kino Sichtbarmachung, Overexposure und Bilddurchdringung in Yavuz Turguls Eşkıya (1996) Ö MER A LKIN
1. E INLEITUNG Während der aus der Haft entlassene und nun gealterte Bandit Baran über die südostanatolischen Hügel Richtung Heimatdorf geht, zeichnet sich hinter ihm ein Gewässer ab, an dessen Ufer schließlich nur noch steinerne Umrisse Indizes jenes Dorfs abgeben, in dem er zuvor lebte und das im entstandenen See nun untergegangen ist. Ein Gespräch mit der einzig verbliebenen Dorfältesten Ceren Ana klärt Baran schließlich über die Überflutung des Dorfes durch den Euphrat auf. Wenn sie davon spricht, dass nicht »der Wolf und der Geier« die Feinde sind, sondern vielmehr die Menschen, die das Dorf verlassen haben, dann bleibt in dieser Ansicht eine Spannung zwischen Natur und Mensch erhalten, die sich auch in der poetischen Bildsprache des Films findet. Zugleich ist es dieser Beginn in Yavuz Turguls EŞKIYA (dt. »Bandit«) (1996), der den Handlungsraum von den anatolischen Bergen ins Städtische verlagert. Dort will der Ex-Bandit Baran den Verrat an ihm, der vor fünfunddreißig Jahren zu seiner Haft führte, rächen. Vor allen Dingen aber will er seine damalige Geliebte Keje finden. Baran ahnt noch nicht, dass ihn einst ausgerechnet sein bester Freund Berfo an die Gendarmerie verraten hatte, weil dieser ebenfalls in Keje verliebt war und ihm die Frau seines Herzens nicht überlassen wollte. Die Suche nach Widersacher und Geliebter führt ihn in die Metropole Istanbul, wo sich schnell eine tiefe Freundschaft zum Kleinkriminellen Cumali entwickelt. Durch einen Zufall kann Baran Keje und seinen Widersacher Berfo, der inzwischen ein wohlhabender, aber gesundheitlich angeschlagener Unternehmer geworden ist, in der Metropole auffinden. Doch die Umstände führen dazu, dass auch Cumali in Barans Konflikt mit Berfo
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verwickelt und schließlich ermordet wird. Am Ende kann Baran den Verräter Berfo zwar töten und damit seinen Freund Cumali rächen, doch eine Wiedervereinigung mit seiner Geliebten wird ihm nicht gelingen, da er auf den Dächern Istanbuls, die zu seinen Bergen von früher geworden sind, auf der Flucht vor der Polizei umkommt. Das poetische Drama avanciert im Jahr 1996 in der Türkei zum millionenfach besuchten Blockbuster1 und beendet damit eine mehr als zwanzigjährige Krise des türkischen Films – so zumindest das filmhistorisch oft reproduzierte Narrativ (vgl. Behlil 2010, Dorsay 2004, Ellinger 2013: 191). Zwar wurde im kommerziellen Yeşilçam-Kino, das in den 1960er bis 1980er Jahren tausende Filme verantwortete, der Stadt-Land Konflikt und dabei auch der Gegensatz von Moderne und Tradition unzählige Male Gegenstand einer Filmhandlung, doch erst Ende der 1980er und Anfang der 1990er kündigte sich das Motiv des Dorfverschwindens an, von dem EŞKIYA zwar nicht als erster, aber doch als paradigmatischer Film erzählt. Diesen Sonderstatus des Films in der türkischen Filmhistoriographie zum Anlass nehmend, möchte ich eine filmästhetische Untersuchung des verschwundenen Dorfs im Film leisten, die sich dabei auf die eingangs beschriebene Szene von der Entdeckung des verschwundenen Dorfs durch den Protagonisten konzentriert. Für ein Verständnis des türkischen Films, gerade vor dem Hintergrund der noch umfassenden Forschungsdesiderate zu dieser nationalen Kinematographie im deutschsprachigen Raum, wird ein kurzer historischer Durchgang durch dessen produktivste Phase, dem Yeşilçam-Kino, vorgenommen (Kap. 2). Die Relation des Dorfmotivs zum Genre des Dorffilms, das für den türkischen Film konstitutiv ist, soll über einen kurzen genrehistorischen Überblick herausgestellt werden (Kap. 3). Daran anschließend wird auf drei paradigmatische Filme verwiesen, die in besonderer Weise in einer liminalen Phase des türkischen Films2 vom Verschwinden und Verschwundensein des Dorfs und damit den Veränderungen im Verhältnis zwischen Dorfmotiv und der türkischen Kinofilmkultur künden (Kap. 4). Im Hauptteil werden zwei Analysen präsentiert. Das fünfte Kapitel untersucht diejenige Einstellung, die das Verschwinden des Dorfes fokussiert, hinsichtlich ihrer Empfindungen generierenden Dimension und stellt die filmischen Verfahren als Gesten heraus, die die Einstellung in der Gesamterzählung hervorheben. Die filmästhetische Analyse wird die Sichtbarmachung des Verschwundenseins des Dorfs besonders in der eingangs rekapitulierten Szene aus EŞKIYA herausarbeiten (Kap. 6). Ziel ist es, das Wie der Sichtbarmachung an diesem konkreten Fall nachzuvollziehen, um so auf ästhetische Eigenheiten in der Relation zwischen Film, Dorf und dem Verschwinden/Verschwundensein zurückzukommen. Hierfür wird sich die Untersuchung insbesondere auf die überbelichtete Aufnahme des Sees in einer der
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Ca. 2,5 Millionen verkaufte Kinotickets (vgl. Behlil 2010: 3).
2
Zwischen Late- und Post-Yeşilçam (vgl. Arslan 2011).
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Einstellungen konzentrieren und den aus der Überbelichtung resultierenden materiellen Entzug als besondere Leerstelle auffassen. Eingeleitet wird diese Analyse durch theoretische Überlegungen zum Verhältnis von Film und Ästhetik, die den ontologischen Status von Film ernst zu nehmen versuchen. In der zweiten Analyse, die schließlich rezeptionsästhetisch argumentiert, wird aufgezeigt, wie der Film das verschwundene Dorf in den Stadtaufnahmen bzw. im weiteren Plot sichtbar hält: nämlich durch implizite Aufforderungen an die Zuschauer/innen, gestaltähnliche Elemente der Stadt als Dorfelemente zu imaginieren (Kap. 7). Das verschwundene Dorf, so wird sich zeigen, ist auch in der Stadt noch anwesend.
2. D ER
TÜRKISCHE
F ILM :
DAS
Y EŞİLÇAM -K INO
Das türkische Kino hat eine eigenwillige Geschichte. In den 1980er Jahren macht sich dabei eine Krise deutlich. In dieser Zeit sank die Zahl produzierter Kinofilme rapide, bis in den 1990er Jahren mit dem Aufkommen des Privatfernsehens schließlich ein nahezu gänzlicher Rückgang der Kinofilmproduktionen zu verzeichnen war.3 1996 wagte der Regisseur Yavuz Turgul mit seinem Drama EŞKIYA die Realisierung einer relativ teuren Filmproduktion, die schließlich zum ersten Mal seit den 1970er Jahren wieder mehrere Millionen Zuschauer/innen in einen türkischen Kinofilm locken konnte. Sein Hoch hatte der türkische Film dabei schon in den 1960er Jahren, als eine Steuervergünstigung aus dem Jahre 1948 den türkischen Filmemacher/innen erhebliche Erleichterungen und erhöhte Gewinne durch Filmproduktionen ermöglichte und den Grundbaustein für den Boom legte. So wurden durchschnittlich mehr als 200 nationale Filme pro Jahr hergestellt. Gegen Ende der 1960er wurden in der Türkei zeitweise mehr als 50 Millionen Kinotickets allein in Istanbul verkauft (Tunç 2012: 112). Damit entstand ein erheblicher Markt, der zugleich integraler Bestandteil der türkischen Alltagskultur jener Jahre wurde (vgl. Ellinger 2013: 75-79). Produziert wurden kommerzielle Genrefilme wie Melodramen, Actionfilme oder Komödien, die später um weitere populäre Genres wie Historienfilme oder Comicverfilmungen ergänzt wurden. Für die Filme wurden dabei häufig Storys amerikanischer Hollywoodfilme in ein türkisches Setting transformiert, sodass es den Interessen bzw. den soziokulturellen Bedingungen der türkischen Zuschauer/innen
3
1995 und 1996 entstanden insgesamt lediglich 37 nationale Filmproduktionen (vgl. Behlil 2010: 3).
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entsprach.4 Die Gründe für die Entstehung einer solchen »Kopierkultur«5 waren vielfältig: Erstens führte der Mangel einer Urheberrechtsregelung dazu, dass aus Kostengründen Musikmaterial ausländischer Produktionen (vor allem aus Hollywood) in die Filme integriert wurde. Die Produktionsumstände waren aufgrund fehlender staatlicher Förderung und der Etablierung einer rigiden staatlichen Filmzensur sowie durch Einfuhrverbote von Zelluloidfilm ökonomisch, gestalterisch, erzählerisch und technisch ganz besonders erschwert. So musste z.B. unter der Einhaltung enger Drehverhältnisse gefilmt werden. Außerdem erzielten die Produzenten ihre Einnahmen lediglich aus dem Verkauf der Filme an regionale Zwischenhändler, die den Gewinn gemäß der Ticketverkäufe bemessen mussten. So blieben nahezu alle Beteiligten von hohen Zuschauer/innenzahlen und vom kommerziellen Erfolg abhängig und konnten sich auf keine staatliche finanzielle Unterstützung berufen. Gerade deswegen war eine schnelle und flexible Produktionskultur vonnöten, die sich eng an den Bedürfnissen der potentiellen Zuschauer/innen orientierte. Zu dieser Produktionskultur gehörte aufgrund des Mangels an Storys und Drehbuchautor/innen auch der Rückgriff auf altbekannte Erzählmuster, die sich permanent wiederholten. Da zu dieser Zeit die meisten Produzent/innen in der Yeşilçam Straße im ältesten Istanbuler Distrikt Beyoğlu ihren Sitz hatten, setzte sich der Name Yeşilçam als Synonym für die am Kino als Traummaschine (vgl. Arslan 2011) interessierte Filmkultur durch. Aufgrund der immensen Produktionskultur rangierte die Türkei zeitweise auf Platz vier der Länder mit den meisten produzierten Filmen (nach Japan, Indien und den USA). Dieser Erfolg setzte sich noch bis Ende der 1970er Jahre fort, doch seit 1974 entwickelte sich eine Sexfilmwelle (seks furyası), die den Markt schließlich ›überschwemmte‹ und viele etablierte Filmemacher/innen und Schauspieler/innen entweder zum Ausstieg aus der Branche oder zur Produktion von eben jenen Sexstreifen zwang.6 Die Herstellung dieser Filme kam ab 1978 und schließlich mit dem militärischen Coup d'État 1980 zum Erliegen, der zur Auflösung des RechtsLinks-Konflikts in der Türkei einen Entpolitisierungsversuch der gesamten gesellschaftlichen Sphäre mit sich zog. Mit Gesetzesänderungen im Jahre 1987, die fast
4
Als eindrücklichstes Beispiel gilt sicherlich die Transformation von William Friedkins Horrorthriller DER EXORZIST (2003) in Metin Erksans ŞEYTAN (1974). In diesem Film wird das christliche Setting in einen islamischen Kontext übertragen (vgl. Arslan 2011: 162-167).
5
Für einen Überblick insbesondere der Film-Kopierkultur jener Jahre siehe den Dokumentarfilm REMIX, REMAKE, RIP-OFF (Kaya 2014).
6
Ich halte diese wie viele andere filmhistorische Evaluierungen zur türkischen Filmgeschichte für verkürzend. Sie hilft jedoch die Heterogenität und historische Komplexität der Filmkultur für eine Darstellung handhabbar zu machen.
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ausschließlich den ausländischen Film auf dem türkischen Kinomarkt stärkten, wurde die Situation für den türkischen Film schließlich so verheerend, dass die Produktion von Kinofilmen stark zurückging (vgl. Esen 2011).
3. D ER
TÜRKISCHE
D ORFFILM
Inmitten der kommerziellen Filmkultur des Yeşilçam-Kinos der 1950er bis 1970er Jahre waren jedoch auch Filmemacher aktiv, die einen eher künstlerischen Zugang zum Film wählten: Ertem Göreç, Halit Refiğ, Duygu Sağıroğlu, Lütfi Ömer Akad, Metin Erksan u.a. hatten sich besonders in den 1960ern noch einer sozialrealistischen Perspektive verschrieben, die ihre Verwandtschaft zum italienischen Neorealismus offen aufzeigte (vgl. Daldal 2003). Insbesondere die beiden zuletzt genannten Regisseure gehörten einer ersten Riege von türkischen Filmemachern an, die den Aufschwung des Kinos in der Türkei in den 1950ern mit ihren filmkünstlerischen Werken maßgeblich mitverantworteten, vor allen Dingen aber zunächst pro-westlich geprägt waren. In dieser Periode, die in der türkischen Filmgeschichte als »Filmemacher-Phase« (türkisch: sinemacılar dönemi) verhandelt wird (Ellinger 2013: 56f.), setzte so z.B. Lütfi Ömer Akad einen Roman des wohl bekanntesten Schriftstellers der Dorfliteraturbewegung, Yaşar Kemal, um: BEYAZ MENDIL (1955) erzählt die Liebesgeschichte eines jungen Paares, deren Liebe aufgrund der Rivalität zweier benachbarter Dörfer zu tragischen Ereignissen führt. Metin Erksan debütierte einige Jahre früher mit einem Biopic über die blinde türkische Barden-Ikone Aşık Veysel mit dem Titel KARANLIK DÜNYA (1952). Beide Filme zeichneten sich durch ihr filmästhetisch hohes Engagement und ihre technische Versiertheit aus. Auf erzählerischer Ebene versuchten sie einen sozialrealistischen Blick auf das Dorf zu werfen. Dabei hatte Muhsin Ertuğrul, einer der wenigen türkischen Filmregisseure der 1920er Jahre, mit AYSEL BATAKLI DAMIN KIZI (1934) schon früh einen Dorffilm realisiert. Ertuğrul, ein Theaterregisseur, der sich seine Kenntnisse zum Film durch Aufenthalte im europäischen Ausland erarbeitete, orientierte sich als offenkundig kemalistischer Künstler entsprechend an europäischer Theater- und Filmkunst. Erksans und Akads Versuche führten über das Kino Ertuğruls im Hinblick auf eine spezifische Sichtbarmachung einer filmisch unsichtbar gebliebenen ›Wirklichkeit‹ hinaus und versuchten bislang unerzählte Geschichten aus den anatolischen Dorfkulturen zu erzählen, die im Kemalismus als zu modernisierender und erneuernder Teil der türkischen Gesellschaft durch die Regierung bevormundet und als kulturell rückständig herabgewürdigt wurden. Diese künstlerisch ambitionierten und relativ frühen filmischen Auseinandersetzungen mit dem Dorf atmeten noch wenig vom Kommerz des Yeşilçam-Kinos und avisierten einen Sozialrealismus, der sich entlang der Möglichkeiten der filmischen
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Artikulation bewegte, aber noch stark der Filmzensur unterlag. Mit dem kommerziellen Erfolg einiger früher Filme des auf Melodramen spezialisierten Muharrem Gürses avancierte das Dorf schon in den 1950ern zum immer öfter reproduzierten Sujet (vgl. Scognamillo 1973), so dass es im Yeşilçam-Kino den Hintergrund für eine Form des Körpergenres 7 abgab. Der Ehrenkodex oder der Konflikt im Feudalsystem auf den Dörfern boten narratives Material für die Melodramatisierung der filmischen Plots: Habgierige Großgrundbesitzer, schöne Dorffrauen, emigrierende Dörfler, die wohlhabend zurückkehren, sowie starke Mütter, die ihre Söhne vor dem Großgrundbesitzer wahren, gehören zu den immerwährenden Figuren in den Filmen. Nicht nur die genre-affektive Leistung des Melodramatischen war dabei Erfolg versprechendes Charakteristikum dieser Filme: Das Dorf sprach als Sujet auch die Nostalgie einer städtischen und von Emigration betroffenen Bevölkerungsschicht an – eine Form der nostalgischen Ansprache also, die im Hinblick auf ihre Funktionalität dem deutschen Heimatfilm ähnelt. Die Qualitäten des Kinos als Maschine der Verfügbarmachung heterotopischer, abwesender oder unverfügbarer Orte sorgt für die Bedienung von Bedürfnissen migrantischer Zuschauer/innen, die fern ihrer Heimat jene Orte durch Filme wieder heranholen konnten – und dadurch quasi eigene emotionale und lebensgeschichtliche Leerstellen zu kompensieren suchten. Das als archetypischer, intakter Ort fungierende Dorf entwickelt sich mit Ende der Yeşilçam-Ära, d.h. ab den späten 1970ern, jedoch zu einem labileren Setting. Es wird dabei zum Objekt einer vielgestaltigen Auseinandersetzung, in dem auch das Motiv seines eigenen Verschwindens auftaucht. Drei Filme von den 1980ern bis in die 2000er hinein zeugen paradigmatisch davon.
4. V ON VERSCHWINDENDEN UND VERSCHWUNDENEN D ÖRFERN IM P OST -Y EŞILÇAM -K INO Şener Şen, Hauptdarsteller aus EŞKIYA, spielte zehn Jahre zuvor den Feudalherren Züğürt Ağa im gleichnamigen Film von Nesli Çölgeçen (1985). Dieser erzählt vom Statusverlust eines Großgrundbesitzers (ağa) eines südostanatolischen Dorfs. Durch den Wegzug der Dorfbewohner/innen nach Istanbul, die dort auf bessere Lebensbedingungen hoffen, steht der soziohierarchisch über das gesamte Dorf verfügende und
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Linda Williams (2009) versteht Melodrama, Porno und Horror als Körpergenre, also als solche Genre, die auf Seiten der Zuschauer/innen zu körperphysiologischen Vorgängen führen (Angstschweiß im Horror, Sperma im Porno und Tränen im Melodrama). Insofern der Dorffilm sich als Sujetgenre versteht, koppelt er sich also mit dem Körpergenre des Melodramas – das als das nationale Genre der Türkei zu werten ist (vgl. Akbulut 2008).
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über es bestimmende Souverän Züğürt Aga ohne Arbeiter/innen und Landbesteller/innen da. Sein gesamtes Hab und Gut – einschließlich des Dorfes – muss er nach Ausbleiben des Regens und aufgrund fälliger Kredite für eine Staudammflutung weit unter Wert verkaufen und das Dorf letztlich selbst für seine Migration nach Istanbul zurücklassen. Die Handlung, die den gerechten, gutmütigen Mann vom angesehenen Dorfherrscher zum Straßenverkäufer in der Großstadt (Abb. 1) werden lässt, besiegelt filmisch das Verschwinden des Dorfs. Am Ende steht Züğürt Ağa als tragischer Held einer Welt da, in der das Modell der Stadt samt ihrer moderne(re)n Gesellschaftsordnung die alte Ordnung des Feudalismus ablöst. Das Dorf wird also durch eine Staudammflutung begraben: ein Motiv, das in späteren Filmen noch häufiger als Ursache für das Verschwinden südostanatolischer Dörfer herangezogen wird, hier im Film aber selbst nicht zu sehen ist. Abb. 1: Vom Großgrundbesitzer zum Straßenverkäufer in Istanbul
Film-Stills aus ZÜĞÜRT AĞA (1985), Original in Farbe
Dass das Dorf im türkischen Kino oft nur als Verschwundenes, denn als zu Verschwindendes zu denken ist, darauf verweisen zwei Filme, die jeweils Ende der 1980er und 1990er im Kino erscheinen. Während EŞKIYA mit dem verschwundenen Dorf einsetzt, sind es im Migrationsroadmovie MERCEDES MON AMOUR (1987) von Tunç Okan und dem Außenseiterdrama GÜNEŞE YOLCULUK (1999) von Yeşim Ustaoğlu die Film-Enden, die davon erzählen. In GÜNEŞE YOLCULUK reist der in Istanbul lebende Mehmet mit dem Sarg seines kurdischen Kollegen Berzan in dessen Heimatdorf Zorduç an der syrischen Grenze. Der verstorbene Berzan, ein ehemaliger kurdischer Widerstandskämpfer, hatte dem jungen Mehmet geholfen, als dieser zu Unrecht wegen vermeintlichen Waffenbesitzes von der Polizei gefoltert wurde und seine Anstellung verlor. Als Mehmet nach langer Anreise mit dem Auto schließlich auf einer Kutsche mit dem Sarg an Berzans Dorf ankommt, liegt vor ihm jener erwartete Anblick, von dem sein verstorbener Freund zuvor erzählte: Zorduç ist geflutet und nur die Minarette sowie einige
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Gebäudeteile zeigen an, dass an der Stelle des Gewässers Berzans Dorf existiert haben muss (Abb. 2). Langsam lässt der junge Freund den Sarg des Verstorbenen in das Wasser gleiten. Die leichte Strömung trägt den Sarg hinfort. Aufnahmen von dicht über dem Wasser fliegenden Vögeln deuten an, dass es ein menschenverlassener, aber zumindest für Tiere lebenswürdiger Ort ist. Die romantisch anmutenden Bilder zeigen die Szenerie gar als einen hoffnungsvolleren Ort als die Stadt. Abb. 2: Mehmet beerdigt seinen kurdischen Freund Berzan in den Wassern, die dessen Heimatdorf Zorduç geflutet haben
Film-Stills aus GÜNEŞE YOLCULUK (1999)
MERCEDES MON AMOUR8 erzählt von der Heimkehr eines Migranten aus Deutschland, der mit seinem gelben Mercedes sein Heimatdorf in der Türkei besuchen möchte. Der in seiner Kindheit im Dorf gehänselte und nun in Deutschland als Müllmann arbeitende Bayram erhofft sich mit der Präsentation des Gefährts die Anerkennung der Dörfler – zumal das teure Auto seinen erheblichen sozioökonomischen Aufstieg markieren und ganz besonders seiner Kindheitsliebe Kezban imponieren soll, der er einen Heiratsantrag machen möchte. Als er nach etlichen Strapazen auf dem Weg quer durch die Türkei vor Ort ankommt, muss er feststellen, dass sein Dorf
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Der Film basiert auf dem Roman FIKRIMIN İNCE GÜLÜ von Adalet Ağaoğlu (2008).
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Poyrazköy in Pessinus umbenannt wurde und einer archäologischen Ausgrabungsstätte gewichen ist. Es ist fast nichts mehr davon übrig. Die Dorfbewohner/innen samt Kezban mussten auf staatliches Drängen hin wegziehen. Kezban ist zudem schon verheiratet und erwartet ein Kind. Von diesen Ereignissen erfährt Bayram an einem Brunnen am Wegesrand kurz vor seiner Ankunft, als ihn ein Hirtenjunge aufklärt. Trotzdem fährt Bayram mit seinem fast gänzlich zerstörten Wagen – kurz zuvor übersteht er einen schweren Autounfall – weiter in Richtung Dorf. An einer Landstraße, die am Dorfeingang entlangführt, bleibt er stehen und blickt durch das Seitenfenster auf halb abgerissene Mauern. Es ist eine unpersonalisierte, sehr wenig Konkretes kommunizierende Einstellung. Hier deuten insbesondere die Unlesbarkeit der Schilder und die Durchlässigkeit der Mauer in der Mitte, die nur den Blick in den leeren Himmel freigibt, auf die Unverfügbarkeit und Absenz des Dorfes. Abb. 3: An die Stelle des Heimatdorfs des Migranten Bayram ist eine archäologische Ausgrabungsstätte getreten
Film-Stills aus MERCEDES MON AMOUR (1987)
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5. D IE S ICHTBARMACHUNG DES VERSCHWUNDENEN D ORFS Doch zurück zu EŞKIYA: Die Halbnahe, mit der die Sequenz vom Gang Barans zu seinem Heimatdorf im Film beginnt, eröffnet uns über seinen Rücken hinweg einen Blick auf das Cudi Gebirge.9 Erst mit dem einsetzenden Lied vom Euphrat, also retrospektiv, lässt sich der Fluss als solcher erahnen. Die extremen Totalen zeigen Landschaftsaufnahmen, in denen Baran kaum mehr sichtbar ist. Die einsetzenden Zoom-Outs verstärken diese mindere Sichtbarkeit. Erst die Umkehrung des Zooms scheint den Banditen wieder ins Bild zu setzen. Mensch und Natur wechseln sich in diesen Einstellungen in ihrer Vorherrschaft um Sichtbarkeit ab. Neben diesem Dominanzwechsel zwischen Mensch und Natur im Bildfeld deuten die Aufnahmen auch auf einer weiteren visuellen Ebene eine starke Trennung an. Auf Bilder, die eine in der Hitze gedeihende und grüne Natur zeigen, folgen die an eine Wüste erinnernden Bilder des Dorfs, das einer trockenen und öden Steinlandschaft zu gleichen scheint. Nach zwei tendenziell überbelichtet (overexposure) gefilmten Halbtotalen, die den Ex-Banditen beim Entlangschlendern an einigen Ruinen von Steinhäusern zeigen, wird auf einen Gegenschuss geschnitten. Dieser überschreitet die Handlungsachse so, dass eine halbnahe Rückenaufnahme Barans eingenommen wird, aus der heraus sich ein Blick auf das geflutete Dorf eröffnet (Abb. 4). Mit dem Einsetzen des Klagelieds vom Euphrat setzt ein senkrechter Kranschwenk nach oben ein, der nun einen umfassenden Blick auf das Gewässer vor Baran ermöglicht. Nur noch drei, vier Mauerteile, die am Gewässerrand herausragen, sind im ansonsten völlig bewegungslos erscheinenden, überbelichtet und daher fast weiß gefilmten See zu sehen. In den nächsten Einstellungen sehen wir, wie Baran auf das Gewässer zuläuft und am Wasserrand mit seinem Koffer hysterisch hin- und herläuft, aufgelöst über das Verschwinden seines Dorfes. Nachdem eine der Dorfältesten, Ceren Ana, zur Szenerie hinzutritt, erfahren die Zuschauer/innen von der Überflutung des Dorfs durch den Euphrat. Alle im Dorf seien geflohen, obwohl Ceren Ana sie gebeten habe zu bleiben. Alles sei gestorben mit dem Wasser. Während des Gesprächs, das mit over the shoulder shots zwischen Baran und Ceren Ana aufgenommen ist, bleibt das Gewässer in gesättigtem Türkis im Hintergrund sichtbar.
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Das Cudi Gebirge ist insofern bekannt, da es gemeinhin als der Ankunftsort von Noahs Arche gilt.
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Abb. 4: Sequenz vom Besuch des Dorfes
Film-Stills aus EŞKIYA (1996)
Die Sichtbarkeit des Dorfs gibt sich überhaupt erst über jene Mauerteile, die am Wasserrand zu sehen sind. Als Ruinenteile verweisen sie indexikalisch auf die verschwundenen Gebäude des Dorfs. Der architektonische Raum ist unter dem Wasser begraben und bleibt Blicken von oberhalb des Wassers verborgen. Bis sich im Dialog mit Ceren Ana überhaupt das Verschwinden des Dorfs offenbart, zeigen schon der apathische Gang Barans am Wasserrand und seine suchenden Blicke an, dass etwas, was er am Wasser zu erwarten hoffte, verschwunden ist. Barans Bewegungen und Gesten sind daher als Deiktika zu verstehen, die auf etwas NichtAnwesendes verweisen. Damit sind zwei Aspekte der Sichtbarmachung deutlich geworden: Zum einen fungieren die Gebäudeteile als architektonische Indizes, zum anderen weisen die deiktischen Aktivitäten des Protagonisten auf den Mangel eines Objekts hin. Dass die erste Einstellung auf das überflutete Dorf mit dem Einsatz des Klagelieds vom Euphrat eine auditive Absetzung erfährt, verstärkt den zentralen Charakter, die dieser Einstellung zukommt. Weil den Zuschauer/innen das Dorf zunächst unbekannt ist, muss der Film sowohl das Dorf als auch das Ereignis seiner Überschwemmung erst herstellen. Diese Produktionen avisieren eben jene Verfahren des Kameraschwenks, des Liedeinsatzes und der schauspielerischen Gesten samt ihres deiktischen Charakters. Die Leerstelle wird mit diesen visuell, auditiv und narrativ indizierenden Verfahren lesbar. So, wie die Mauerteile dabei als indexikalisches Zeichen auf das Dorf verweisen, so weist der See zugleich auf die Flutung hin. Dabei fungiert die flache Oberfläche des Sees als ambivalentes Mittel der visuellen Bedeckung einerseits und der
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Sichtbarmachung der einstmaligen Existenz des Dorfs andererseits. Mit der Trennung, die die Oberfläche des Wassers zwischen der Welt unter ihr und der Welt über ihr erzeugt, sind die Dichotomien von Leben und Tod, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Erscheinen und Verschwinden angesprochen; Dichotomien, die die mediale Besonderheit des filmischen Mediums auszeichnen. Mit jedem Ende des Films hört das »Leben des Films«, wie es Deleuze (2005: 63) nennt, auf; mit allem, was der Film zeigt, ist ein Feld potentieller Noch-Nicht-Sichtbarkeiten innerhalb und außerhalb des Bildrahmens impliziert; mit jedem Auftreten eines Objekts im Film ist sein Verschwinden in mindestens visueller Hinsicht besiegelte Sache. Die im Film betonte Ambivalenz des Sees kommt bei genauerer Betrachtung auch dem Wasser selbst zu, dessen symbolische und konnotative Bedeutungen narrativ geschickt eingesetzt werden. Erscheint Wasser generell eher als Symbol des Lebens, so wird es hier vornehmlich mit der eher hintergründigen Konnotation des Todes assoziiert. Wenn die Figur Ceren Ana sagt, dass das »Wasser gekommen« und damit »alles gestorben« sei, dann wird dem Wasser auch eine lebensfeindliche Seite eingeräumt. Das Wasser als belebende Substanz tritt dabei als tötende und zerstörende Kraft auf. Für eine nach Sichtbarkeit des Dorfs dürstende Optik bietet der überbelichtet gefilmte See somit lediglich Leere. Mit den Ruinen ist die Dorfarchitektur eigentlich nicht gänzlich verschwunden und mit der einzigen Bewohnerin Ceren Ana lebt das Dorf mit ihr in den Überbleibseln des Ortes fort. Doch als eine spezifische Entität, als Zusammenschluss von Menschen, die innerhalb eines begrenzten Lebensraums leben, existiert das Dorf für die Figuren in der Diegese nicht mehr. Die nahezu stillstehende Oberfläche des Sees steht im Kontrast zu den Bewegungen des Protagonisten. Aus der Bewegung der Figur und der Unbewegtheit des Sees resultiert so eine Spannung, die den Eindruck der Irreversibilität des Verschwindens verstärkt: Die Zeit steht nicht still, sie schreitet voran. Wir sehen es an der Figur. Doch die Unbeweglichkeit des Wassers impliziert, dass es das Dorf als architektonische Einheit nicht mehr freigeben wird. Dabei mischt sich die Hoffnungslosigkeit und Statik mit einer spezifisch filmischen Ästhetik. Bei aller Trauer bleibt der Anblick mit Qualitäten einer Erhabenheit versehen. Der Film knüpft dabei visuell und narrativ an romantische Traditionen an. Ähnlich der romantischen Erhabenheitsästhetik, die eine ihrer prominentesten Formen in Caspar David Friedrichs Landschaften mit Rückenfiguren findet, wird diese Empfindung in den Einstellungen durch Charakteristika der Offenheit erzeugt. Es handelt sich hierbei also um Einstellungen, die nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch Empfindungen erzeugen. So wird das Verschwinden mit einer emotionalen Ebene verknüpft. Die entsprechende Szene (Abb. 4) wird dabei in der Sequenz besonders markiert: Der Kranschwenk der Kamera nach oben über den Kopf Barans hinweg, das Einsetzen des Gesangs, der die kurzzeitig aussetzende instrumentale Musik
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ablöst, und der Achsensprung10 auf Baran von der Einstellung zuvor (dort wird Baran gezeigt, wie er an den Ruinen den Hügel herunterrennt) setzen die Einstellung vom Rest der Szene ab und erheben sie als exklusives Moment. Dieser Charakter der Exklusivität enthebt die Einstellung aber nicht nur im Hinblick auf die Orchestrierung der Gesamtszene, so dass die Erkenntnis vom Untergang des Dorfs mit Bedeutsamkeit aufgeladen wird. Was in Friedrichs bekannten Gemälden mit Rückenfigur eine schier unendliche Offenheit der Landschaft ist, die der Figur vorausliegt, wird in EŞKIYA durch eine Offenheit auf drei szenischen Ebenen erzeugt: Das mit einem Hall-Effekt versehene, mindestens im Duett gesungene und in der türkischen Alltagskultur überaus bekannte pathetische Lied, das vom Ertrinken der geliebten Person in den »kühlen Gewässern« des Euphrat und vom Schmerz des lyrischen Ichs berichtet, produziert aufgrund des hallenden Toneffekts den Raumeindruck einer unermesslichen Offenheit. Der Kranschwenk führt in einen tendenziell offenen und unbegrenzten Raum, der durch nichts weiter eingegrenzt ist als durch den Bildrahmen. Der Anschnitt Barans in der zentralen Einstellung mit der Kranfahrt eröffnet zugleich einen umfassenden panoramaartigen Blick, der den Blick des Protagonisten dabei indirekt doppelt, also nicht als subjektive, sondern als seinen Blick antizipierende und nachverfolgende Geste zu verstehen ist. Der Entzug des Gesichts in der Rückenaufnahme ermöglicht es den Zuschauer/innen dabei, der Figur eine Empfindung zuzuschreiben und erzeugt somit zugleich eine emotionale Offenheit. Die Überbelichtung erzeugt mit der weißen, texturlosen Fläche, die sich über den See bis in den Himmel erstreckt, den Eindruck einer Unerfassbarkeit: die weiße Fläche bietet keinen Halt und entzieht dem Raum die Farbe, Tiefe und Bewegung. Erst beim Gewässerrand in der Nähe der Ruinenteile lässt sich eine Bewegung des Wassers ausmachen, als Baran nämlich in der nächsten Einstellung ans Ufer tritt. Erst dann setzen die Geräusche des Wasserplätscherns ein. Der blanken Weißheit der Überbelichtung tritt also eine Stille der Geräusche aus der diegetischen Ebene hinzu. Was die Textur der Überbelichtung betrifft, so ist sie, um der Szene umfassender gerecht werden zu können, allerdings nicht nur rezeptionsästhetisch oder im Hinblick auf ihre Mechanismen der Sichtbarmachung zu untersuchen, sondern ihr ist zugleich auch eine noch genauer zu bestimmende Eigenqualität einzuräumen.
10 Achsensprünge gelten als Diskontinuitäten innerhalb des Kontinuitätssystems, das sich für den erzählerischen Film als vornehmlicher Modus etabliert hat und auf die Produktion von Sinn-, Raum und Zeitkohärenzen aus ist (vgl. Elsaesser/Hagener 2011: 114ff.). Als künstlerisches Gestaltungsmittel eingesetzt können sie, wie in diesem Fall, Szenen besonders herausheben.
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6. O VEREXPOSURE ALS L EERSTELLE MATERIELLE S PEZIFITÄT
UND
Für den türkischen Filmkritiker Atilla Dorsay ist die hier im Untersuchungsfokus stehende Einstellung vom See (Abb. 4) von unbeabsichtigter Überbelichtung (overexposure) gekennzeichnet. Doch statt sie als ästhetische Gegebenheit mit spezifischer Funktion aufzufassen, wertet er sie normativ: Sie bildet für ihn einen technischen Makel (Dorsay 2014: 201f.). Für eine ästhetische Untersuchung, die sich nicht im Hermeneutischen erschöpft wissen will, ist eine solche Einschätzung irrelevant, da es dem Film ein Herstellungsbewusstsein zumisst, das den Film stets nur als Produkt (meist Erzählung) eines oder mehrerer Subjekte mit Bewusstsein und Intentionen verstanden wissen will. So sehr dies zutreffen mag (der Film entsteht ja nur als intentionales Produkt von Akteuren), reduziert eine solche Perspektive die ästhetischen Eigenqualitäten des Films auf Hilfseigenschaften für eine Erzählung. Doch die filmische Ästhetik ist mehr, sie lässt sich nicht nur auf Kommunikations- und Produktionszusammenhänge reduzieren: Das Weiß des Sees aus der Anfangseinstellung und das Türkis des Sees in den Dialogeinstellungen bilden das, was Deleuze »faux accords« nennt, also falsche Anschlüsse (Deleuze 2005: 48). Der See kann nicht in solch kurz aufeinanderfolgenden Zeitabschnitten zunächst weiß und dann türkis sein. Er erscheint so, weil der See in den entsprechenden Einstellungen in jener visuellen Verfasstheit im Film enthalten ist. Die Kontinuität der beiden Seen, die in der Erzählung nahegelegt ist, ist dementsprechend eine Fiktion, die aufrechterhalten bleibt, solange daran geglaubt wird, dass es dieselben Seen sind. Im Wahrheitsregime des Films ist die Kontinuität zwischen zwei Einstellungen also keineswegs als selbstevident hinzunehmen. Das bedeutet, dass der Montage zweier Einstellungen anscheinend eine Destabilität inhärent ist, wenn die Elemente aus beiden Einstellungen nicht mehr eindeutig aufeinander verweisen. Eine eindeutige Aufeinanderverwiesenheit wird im erzählerischen Film generell durch das Kontinuitätssystem suggeriert und stabilisiert. Oder andersherum formuliert: Die Destabilität wird häufig im Hinblick auf die Kontinuitätserzeugung zwischen zwei Einstellungen zu tilgen versucht (vgl. Elsaesser/Hagener 2011: 111-117). Doch dies ist argumentationslogisch nur vor dem Hintergrund eines grundsätzlichen Kontinuitätsglaubens möglich (vgl. Zechner 2003: 44-48): »In der Projektion eines Filmes wird die Illusion einer Zusammensetzung eines bewegten aus unbewegten Bildern bereits unterhalb der Wahrnehmungsschwelle korrigiert. Es ist die Macht des Falschen, durch die sich die Wahrnehmung im Kino konstituiert: als Perzeption eines Wahren, das vom Falschen niemals streng zu trennen ist. Während die verschiedenen Künste auf verschiedene Weise das Falsche zu erreichen vermögen, ist das Kino die einzige Kunstform, die es niemals verlässt. Doch statt ein Mangel zu sein, ist das die Bedingung seiner
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besonderen Macht. Was man im Kino einen falschen Anschluss zu nennen pflegt, ist nur ein besonderer Fall jenes Falschen, das auch die richtigen Anschlüsse erzeugt« (Zechner 2003: 45).
Ich möchte hier nicht aus den falschen Anschlüssen auf eine Theorie von Bewegungs- und Zeit-Bild zurückkommen, wie sie Deleuze in seinen beiden Kinobüchern verbürgt, sondern mit Deleuze allenthalben die Konstitutivität des Falschen für den Film hervorheben.11 Es gilt also dem Falschen oder dem Akzidentiellen, wie z.B. der Überbelichtung für eine Untersuchung analytische Berücksichtigung zu geben, die sich nicht in hermeneutischen oder normativen Ansichten erschöpft. Eine solche Perspektive, die eher der Eigenlogik des filmischen Materials einen Raum zu ermöglichen sucht, versteht Filme nicht als Forschungsgegenstand, der einen Charakter als Inhaltsmedium für spezifische Diskurse und deren Effekte auf die Rezipienten trägt. Eine solche Perspektive versteht ihn als komplexes ästhetisches Medium, an dem zu untersuchen ist, wie sich darin/daraus/dadurch Sichtbarmachungen ereignen. Statt Potentialität und Akzidentialität also auszuschließen, sind sie eher als ureigene Charakteristika des Films analytisch ernst zu nehmen. Beide Qualitäten sind nicht der Ausnahmefall des Films, sondern seine Regel. Es gibt keine sinnhafte Ordnung im Film, die nicht durch eine Oktroyierung erst konstruiert wäre: Zufälliges und Mögliches (Virtuelles) sind dem Film konstitutiv. Oder anders gewendet: Wenn es eine vermeintlich sinnhafte Ordnung des Filmischen gibt, dann liegt sie – ganz im Sinne medienphilosophischer Prämissen – eher noch im Denken des Films selbst (vgl. Krtilova 2010): »Ein bei weitem und prinzipiell nicht abgeschlossenes Medien-Denken reicht von der Bewegung des Begriffs als Zugangs zum (absolutem) Wissen, der sich in der Reflexion der Medien und der Medialität wiederfindet […] bis zum bewegten Bild – als Film-Bild und Bewegung im Denken.« (Krtilova 2010: 12, Hervorhebung Ö.A.)
Im Film gelten überbelichtete Stellen als Informationsverlust. In der digitalen Bildbearbeitung ist ein überbelichteter Pixel eine zerstörte Farbinformation, die durch kaum eine digitale Operation in eine solche umgewandelt werden kann, die derjenigen entspräche, die es ohne oder mit weniger Überbelichtung hätte. Beim analogen Film können überbelichtete Stellen nur um den Preis einer Verdunkelung der restlichen Bildanteile (Zelluloid) wieder annähernd normalisiert werden. Die Qualität der 11 Das Falsche als Qualität kann übrigens nur in Abgrenzung zu einem Richtigen als solches bestehen, das im Falle des Films also jenes Kontinuitätsprinzip zu verbürgen scheint. Mit Enthebung dieses Prinzips aus seiner normativen Stellung verlieren die Kategorien von ›richtig‹ und ›falsch‹ ihre Bezugskraft, verfallen die Bilder des Films in andere als Wahrheitsqualitäten.
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Negativität der Überbelichtung wird also mit der Differenz zu einer anderen Vorhandenheit erst als solche hervorgebracht. Dabei ist das Weiße jener Stellen also durchaus nicht leer, sondern leer in Relation zu jenem Visuellen, das an der Stelle existiert hätte, wäre nicht überbelichtet gefilmt worden. Aus einer Perspektive heraus formuliert, die die Überbelichtung nur als defizitäre Qualität versteht, ließe sich sagen, dass sie, die Überbelichtung, in der Szene dem Wasser seine Farbigkeit und generell aller differentiellen Visualität ihr Vorhandensein entzieht. Blendet man diese negative Qualität der Überbelichtung aus, so erkennt man jedoch, dass sie selbst über eine spezifische ästhetische Materialität verfügt. Sie ist eine gegenstandslose, abstrakte, weiße, aber darum nicht leere Fläche, die sich zudem sehr differenziert über das Bild verteilt: Sie strahlt aus der rechten oberen Ecke heraus und verwischt die Grenzen von See und Himmel. Oder eben positiv formuliert: Sie verbindet See und Himmel zu einem weißen Feld, das gar bis ins Gesicht Barans hineinstrahlt und es in die Indifferenz der Fläche einsaugt. Die Überbelichtung, die das gesamte Bildfeld in jener Einstellung durchzieht, wird aufgrund der darin enthaltenen Helligkeit zu einem sprachlosen, aber verheißungsvollen Versprechen über ein unverfügbares Ereignis, nämlich: das Dorfverschwinden. Damit gehört auch die Überbelichtung zur filmischen Konstruktion des Gewässers, die das Verschwundensein des Dorfs einerseits indexikalisch markiert und andererseits an eine romantische Erhabenheitsästhetik anknüpft, die nicht minder von der Grenzenlosigkeit des weißen Feldes profitiert, deren Quelle im unverfügbaren Off des rechten oberen Bildrands verbleibt.
7. F ILM , F IKTION UND B ILDDURCHDRINGUNG : D AS N ACHLEBEN DES D ORFS Wie wird in den Post-Yeşilçam-Filmen das Dorfverschwinden sichtbar? Der eigentlich sukzessive Prozess des Verschwindens impliziert komplexe philosophische Variablen: Zeit, Bewegung, Materialität. Der Film kann solche Prozesse, die über spezifische Zeitlichkeiten verfügen, sichtbar machen: durch Morphing oder durch Überblenden. Auch Zeitraffer, Zeitlupe oder Montage gehören im Sinne aisthetischer Verfügbarmachungen zum sichtbarmachenden Repertoire des Films. Erst im Zeitraffer eröffnet sich für die Wahrnehmung z.B. das lang andauernde Verwelken einer Blume. Der Film ist damit besonders befähigt, eben jene menschlich schwer wahrzunehmenden Vorgänge wie die des kontinuierlichen und langsamen Verschwindens in
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komprimiert Fass- und Verstehbares zu überführen. 12 Walter Benjamin fasst dieses hier thematisierte Feld des Nicht-Wissens in seinem berühmten Kunstwerk-Aufsatz als das »Optisch-Unbewußte«. Er schreibt: »Ist es schon üblich, daß einer vom Gang der Leute, sei es auch nur im Groben, sich Rechenschaft ablegt, so weiß er bestimmt nichts von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des Ausschreitens. Ist uns schon im Groben der Griff geläufig, den wir nach dem Feuerzeug oder dem Löffel tun, so wissen wir doch kaum von dem, was sich zwischen Hand und Metall dabei eigentlich abspielt, geschweige wie das mit den verschiedenen Verfassungen schwankt, in denen wir uns befinden. Hier greift die Kamera mit ihren Hilfsmitteln, ihrem Stürzen und Steigen, ihrem Unterbrechen und Isolieren, ihrem Dehnen und Raffen des Ablaufs, ihrem Vergrößern und ihrem Verkleinern ein. Vom Optisch-Unbewußten erfahren wir erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.« (Benjamin 2003: 36)
Es wäre entsprechend zu einfach, z.B. das Bild des Sees aus EŞKIYA samt den Indizes von Gebäuden, die daraus herausragen (Abb. 4) als Repräsentation eines verschwundenen Dorfs hinzunehmen; so, wie es auch zu einfach wäre, von der Abwesenheit des Dorfs in den Bildern auf dessen Nicht-Existenz im weiteren Verlaufe des Films zu schließen. Das Dorf taucht wieder auf, z.B. in Anspielungen, im Verhältnis von inneren und äußeren Bildern: Als Baran in der Großstadt ankommt, wird er von Cumali in einem Hotel untergebracht, das auch für Cumali und unzählige andere aus der Unterschicht als Unterkunft dient (z.B. einer Prostituierten samt ihrem Kind und einem arbeitslosen, älteren Schauspieler). Als Baran und Cumali vor Gangstern auf das begehbare Flachdach des Hotels fliehen, ist der Ex-Bandit Baran, der zuvor noch nie in Istanbul war, von der Aussicht auf die lebendige Metropole überwältigt. Baran spricht davon, dass er sich auf dem Dach wie auf den Spitzen des Cudi Gebirges aus seiner Heimat fühle, es erinnere ihn an die Täler und Dörfer (Abb. 5). Als einige Zeit später Baran erneut auf dem Dach des Hotels ist, diesmal mit dem Sohn der Prostituierten, erzählt er dem kleinen Jungen indirekt von sich und seinem Schicksal und davon, dass »dieser Bandit« auf einen Berg geflohen sei, der so »mächtig« sei wie »wie dieser hier«. Auf das deiktische »wie dieser hier« verlässt die Kamera die Aufnahme der beiden Figuren und bewegt sich seinem Handzeig folgend in einer Kamerafahrt über den Kopf Barans hinweg auf das Gebäude zu, das sich hinter ihnen befindet. Das mehrgeschossige, große Haus wird zum Berg. Die Imagination schwankt nur gering zwischen Berg und Haus, doch können »innere« Bilder entstehen, die mit den »äußeren« Bildern des Hauses zusammenfallen: Das imaginierte 12 Die kulturelle Konstruiertheit des Sehens sollte dabei stets bedacht werden. Es geht nicht um eine durch den Film vermittelte Evidenz. Zur kulturellen Konstruiertheit des Visuellen siehe z.B. Nohr (2004: 8-19).
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Bild kann vor dem Haus durchscheinen oder in der Vorstellung aus der Gestalt des Hauses entstehen. Abb. 5: Baran fühlt sich auf den Dächern Istanbuls wie in den heimischen Cudi Gebirgen
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Der intradiegetische Handzeig Barans wird dabei zugleich ein performativer Akt. Der Kameraschwenk in Verbindung mit dem Deiktikon wird zu einem Zeigekonnex verbunden, der die Aufforderung zur Imagination impliziert. Istanbul und die städtischen Elemente können von nun an in inneren Bildern als dörfliche Elemente imaginiert werden: Es offenbart sich hier ein Rezeptionsangebot des Films, der die Durchdringlichkeit des Einen im Anderen als mögliche und durchgehende Wahrnehmungsweise zulässt. Mit der Szene sind die Zuschauer/innen auch für den Rest des Films dazu eingeladen, die Architektur und die Welt der Stadt – dem Vorbild der Figuren folgend – als Naturraum zu sehen. Getrud Koch hat die Dimension der Durchdringung von »empirischem Objekt« und »Fiktion« als eine besondere Leistung des Films herausgestellt: »An diesem Beispiel [Charlie Chaplins berüchtigte Brötchenszene aus GOLDRAUSCH, in der die Gabeln samt Brötchen zu tanzenden Beinen werden, Ö.A.] lässt sich zeigen, dass Filme auf besondere Weise Objekte mediatisieren können. Chaplin führt uns vor, was der Film mit uns macht, er lässt uns Gegenstände der empirischen Welt in Fiktionen überführen« (Koch 2010: 237).
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Während Chaplin in der Szene den Tanz für die Tanzgäste vorführt, gibt es in EŞKIYA eine umso stärkere deiktische Dimension in der Szene. Das Ortsdeiktikon durch den Handzeig koppelt sich mit dem verbalen Deiktikon, da Baran von einem Berg »wie diesem hier (!)« spricht und die Kamera als Enunziator 13 mit dem Schwenk auf das Haus eben einen blickdeiktischen Vorgang vollführt. Diese dreifach-deiktischen Operationen weisen nicht nur auf die generelle Leistung des Films zur ›Mediatisierung der Objekte‹ hin, sondern fungieren zugleich als kommunikativer und performativer Akt. Die perlokutiven Anteile dieses Aktes bestehen eben in jenem Effekt auf die Zuschauer/innen, sich das Haus als Berg vorzustellen. Mit der These, dass der Film diese Durchdringung von Stadt und Dorf in der beschriebenen Szene nicht nur einmalig vorführt, sondern von da an generell zur gegenseitigen Durchdringung einlädt, soll über dieses filmmediale Spezifikum hinaus auf den Systemcharakter des dreifachen Deixis-Komplexes verwiesen sein. Dabei ist die besagte Durchdringung der »empirischen Welt« mit »Fiktionen« und so auch das Oszillieren von inneren und äußeren Bildern nicht willkürlich, sondern durchaus von einer »Gestaltähnlichkeit« abhängig, wie Koch analysiert (ebd.: 235f., 238). Das Gebäude kann nur deswegen als Berg entstehen, weil es in seiner großen, hohen Gestalt, in seiner visuellen Konstruktion und Konstruiertheit einem Berg gleicht. Wenn Baran gegen Ende des Films auf der Flucht vor der Polizei über die Dächer Istanbuls hinwegschleicht und seine aus den Fenstern gestohlene Mahlzeit zu sich nimmt, oszillieren die sichtbaren Elemente zwischen dem konkreten Visuellen und den inneren Bildern (»Fiktionen«): Istanbuls Dächer sind zu Barans Bergen und Höhlen geworden, die Polizisten zu Gendarmen der Berge, die Metropole zum Dorf, das den Bergen und Tälern vorausliegt. Im Feld der zugleich intra- wie extradiegetischen Suggestionen besteht der konkrete Fall hier dann darin, etwas, das gestaltähnlich zu einer anderen Sache ist, darin zu imaginieren. So können sich Bildsysteme wie die des Dorfs und der Stadt auf der Ebene des konkret Filmischen und des Imaginativen durchdringen. Das Verschwundene lässt sich so im Vorhandenen wiederfinden.
13 Für einen Durchgang durch die Enunziationstheorie und ihre Schwierigkeiten siehe Teil I in Lie (2012). Für die Schwierigkeit über das Sprechen von Erzählinstanzen im Film aus narratologischer Sicht siehe Kuhn (2011: 81-194).
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Der Mann mit der DV-Kamera Wang Bing filmt zerfallende Lebenswelten D ANIEL N EUMANN
IM T IE -X I D ISTRIKT Wang Bing gehört zur sogenannten sechsten Generation chinesischer Filmemacher, die seit Anfang des neuen Jahrtausends, nach den propagandistischen Produktionen früherer Jahre, neue Wege beschreitet. Ohne die Ankunft günstiger Digitalkameras wären seine vielstündigen Beobachtungen nicht denkbar. Meist nur von einem Tonmann begleitet verbrachte er für seinen neunstündigen Dokumentarfilm Tie-Xi Qu: WEST OF THE TRACKS mehrere Monate in Industriebezirk Shenyang, einem der letzten staatlichen Standorte für Schwerindustrie. Meine Lesart des Films wird insbesondere die Ästhetik und Ethik dieses solitären Dokumentierens betrachten, sowie das kritische Potential, das in der Praxis Wang Bings durchscheint. Diese verstehend als eine ›embodied observation‹, geht es mir um die Art von Distanz, die Filmemacher und damit Zuschauer zu dem politisch brisanten Schauplatz und seinen Protagonisten einnehmen, in welcher Relation die Gefilmten zu ihrem Gefilmtwerden stehen, wer die Handelnden des Bildes sind und was dabei artikuliert wird. Erste Einstellung des Films: Die Kamera gibt den Blick auf ein verschneites Fabrikgelände frei. Von einer erhöhten Position sieht man hinunter auf ein paar dunkel gekleidete Figuren, die sich vom Schnee unterscheiden. Am Horizont könnten sich die großen Hallen scheinbar endlos unter dem schweren grauen Himmel fortsetzen. Zweite Einstellung: Eine Zugfahrt entlang der Kupferschmelzwerke und Bleigießereien. Noch ist nicht klar, welche Strecke die Eisenbahnschienen beschreiben, während rechts und links hinter den Mauern in grau-braunen Farben Gebäude sichtbar werden und die Fahrt ab und zu von einer Straßenkreuzung unterbrochen wird,
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auf der ein paar deplatziert wirkende Menschen im Schneetreiben ihren Geschäften nachgehen. Abb. 1: Die Eröffnungseinstellung führt den Industriebezirk über die Eisenbahnfahrt ein, mit der auch die Arbeiter das Gelände erreichen
WEST OF THE TRACKS
Diese Bilder erzeugen vom ersten Moment an den Eindruck der Unmittelbarkeit. Vom Wehen des Windes und vom Schütteln der Zugfahrt wird die Kamera unversehens bewegt, ein sanfter Druck ist zu spüren vonseiten desjenigen, der sie hält und – aus irgend einem Grund – die Entscheidung getroffen hat, genau dieses Bild zu filmen und darauf zu insistieren. Bei dem Kameramann handelt es sich um Wang Bing, der, nur begleitet von einem Tonassistenten, am Anfang der 2000er Jahre 18 Monate im Tie-Xi Distrikt in Shenyang zugebracht hat, einem Industrie-Zentrum im Nordosten Chinas. Die Fabrikhallen, ein unübersehbares Areal, waren einst unter japanischer Besatzung für die Herstellung von Kriegsgerät errichtet worden, im Anschluss unter sowjetischer Führung weiterbetrieben und sind schließlich zum Stolz des chinesischen Sozialismus geworden. Als Wang Bing eintrifft, liegen die Betriebe bereits im Sterben. Die meisten Festangestellten wurden entlassen, nachdem die unter staatlicher Führung betriebenen
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Werke seit Jahren nur noch rote Zahlen geschrieben hatten. Lediglich kleine Gruppen von Zeitarbeitern sind hier tätig. Auch ihre Präsenz in den Hallen, in denen Kupfer geschmolzen und gegossen wird, kann deren Verlassenheit nicht überdecken. Denn gerade die damit vor Augen geführte Relation zwischen den wenigen verbliebenen Individuen und der Massen fassenden Halle macht das Ausmaß des Verschwundenen deutlich. Wang Bing begleitet diese letzten Zeugen einer Wirtschaftsordnung, die im Begriff der Umwandlung steht, bei ihren Routinen, die durch ungewisse Aussicht auf Bezahlung und fehlende Sicherheitsvorkehrungen gekennzeichnet sind. Die meiste Zeit verbringen wir mit den Arbeitern in Pausenräumen und Umkleidekabinen, wo sich reichlich Gelegenheit bietet, Missstände zu artikulieren, sie aber ebenso in einen sozialen Rhythmus einzubetten. WEST OF THE TRACKS lässt sich viel Zeit, diese alltäglichen Szenen aus nächster Nähe zu beobachten. Die halbdunklen, engen und verschmutzten Räume werden in einer totalen Einstellung gezeigt, ohne dass Details privilegiert werden oder das Geschehen durch Kameraschwenks dramaturgisch informiert wird. Die Unvermitteltheit, mit der man dem Geschehen beiwohnt, begründet sich aus dem impliziten Wissen darum, dass nicht nur die Kamera, sondern mit ihr auch der Filmemacher anwesend ist.
S EMI-D ISTANZ Die Grenze zwischen verschiedenen normativen Ordnungen des Dokumentarfilms wie ›Direct Cinema‹ oder ›Cinéma Verité‹ werden verwischt, wenn unversehens einer der Arbeiter zur Kamera spricht und die Aufzeichnung nutzt, um seinen Unmut auszudrücken. Wang Bing hat in Interviews betont, dass er sich nicht viel aus den formalen Gesichtspunkten und Demarkierungen dokumentarischer Methoden macht: was aus stilistischer Sicht wie eine Inkonsistenz aussieht, artikuliert sich im Verlauf des neunstündigen Films als eine kompromisslose Zeugenschaft, die der Mann mit der DV-Kamera ablegt. Trotz dieser Kompromisslosigkeit gibt es eine formale Struktur, mit welcher die letzten Monate der staatlichen Schwerindustrie in Shenyang dokumentiert wird: Eingeblendete Texttafeln informieren darüber, in welcher Fabrik wir uns gerade befinden. Von Kupfer über Blei zu Elektrokabeln und zurück zu Kupfer wechseln die Schauplätze, ohne dass die Werkstätten eine Orientierung erlauben würden. Dieser Rhythmus wird immer dann unterbrochen, wenn eine weitere Fabrik schließt und Wang Bing schließlich die verbliebenen Kupferschmelzer bei ihrem letzten Duschgang begleitet.
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Die ersten vier Stunden des Films verbringt man in dunklen, halb verlassenen, von Dampf und giftigen Gasen durchströmten Fabrikhallen. Der Film schreitet an der Seite seiner Protagonisten: Ihren Wegen folgt Wang Bing, nur in seltenen Momenten macht er sich mit der Kamera auf, um von ausgezeichneten Positionen das zu filmen, was man üblicherweise einen ›Establishing Shot‹ nennt. Die Inszenierung entwickelt zu keinem der Protagonisten eine Nähe, immer bleiben Begegnungen scheinbar akzidentiell. Trotzdem wird nie der Eindruck vermittelt, bei den beobachteten Arbeitern handle es sich um eine austauschbare Masse: Jedem Gefilmten kommt eine individuierende Präsenz zu, die dem geschuldet ist, was ich als ›Semi-Distanz‹ bezeichnen möchte. Abb. 2: In den schwefelerfüllten Hallen der Schmelzfabrik
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Diese Semi-Distanzierte Haltung betrifft zwei Ebenen. Diegetisch bedeutet sie, dass sich die Anwesenheit des Filmemachers stets bemerkbar macht und jederzeit eine Interaktion mit den Gefilmten ermöglicht. Man spürt, dass dort jemand mit der Kamera steht, durch die wir sehen und in dessen Bild wir als Zuschauer impliziert sind. Gleichzeitig bemerken wir, dass die Gefilmten um diese Anwesenheit wissen, die nicht wie eine Fliege an der Wand klebt, um unbemerkte und vermeintlich authentische Aufnahmen zu machen. Es sind die Gefilmten, die auf den Filmemacher
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zukommen, dessen Angebot nutzen, sich zum Dokumentiertwerden zu verhalten und deren Gastfreundschaft es Wang Bing erlaubt, sie zum Sujet zu machen. Diese Hospitalität wird daher selbst zum Gegenstand der Inszenierung – keine gesonderte Aufmerksamkeit auf eine Person, aber auch keine neutrale Überschau. Die Stellung Wang Bings bildet eine Art Grenze, eine sehr flexible vierte Wand, die jederzeit durchbrochen werden kann und deren Rückseite halb durchlässig ist. Dies beschreibt die ultimative Bedingung eines semi-distanzierten Dokumentarismus, in dem die Koexistenz des künstlichen Auges der Kamera, des menschlichen Auges des Filmemachers und der potentiellen Augen der Zuschauer zugleich impliziert sind. Die Mehrschichtigkeit nicht nur dessen, was man sieht, sondern auch, wie man sieht, dokumentiert das Dokumentieren selbst. Wang Bing ist nicht nur auf Semi-Distanz zu seinen Protagonisten, sondern auch zu der Form seines Films. Die formale Ebene der Semi-Distanz lässt sich über die Medialität der DVKamera fassen. Aufgrund ihres digitalen, elektronischen Verzerrungen unterworfenen Bildes erhebt sie zunächst nicht den Anspruch auf Indexikalität, auf die fotographisch getreue Abbildung einer Filmkamera. Trotzdem entwickelt das Gespann Kamera-Filmemacher eine verkörperte Präsenz: Als tragbares und über eine Stunde kontinuierlich aufzeichnendes Gerät wird die DV-Kamera zu einem intimen Teil des Filmenden. So, wie die Anwesenden die Präsenz der Kamera bald vergessen, glaubt man, vergisst auch Wang Bing, dass er filmt, wenn das Bild den Bewegungen seines Körpers zu folgen scheint. Die Fabrikhallen werden in die eigentümliche Ästhetik des DV-Bildes getaucht: In dem niedrig aufgelösten Bild changiert das Licht zwischen verschiedenen Farbtönen, aufsteigender Dampf nimmt eine diffuse Festigkeit an, während das weitwinklige Bild bis in die Tiefe scharf ist, ohne dem Gesehenen endgültige Plastizität zu verleihen. In den selteneren Momenten, da Wang Bing schwenken und die Bildeinstellungen dem Geschehen folgend neu adjustieren muss, implodiert das digitale Bild, um aus der falschen Blendengröße und Schärfeebene zögernd wieder aufzutauchen. Wang Bing vermeidet mit dem Schnitt, welcher die Filmbilder parataktisch ordnet, ganz bewusst, eine Urteilsstruktur einzuführen. Die primäre narrative Funktion des Schnitts liegt darin, das Mäandern mit der DV-Kamera nachvollziehbar zu machen. Jede thematische und topische Komponente, wie der Inhalt der Gespräche der Arbeiter, wird im Verlauf stets zurückgeführt auf ihr ›Gefilmt-Worden-Sein‹ als dem Schlüsselelement der semi-distanzierten Haltung. Worin besteht also die Semi-Distanz? In der scheinbaren Unvermitteltheit ihrer Bilder. Aber der Prozess des Filmens, in dem Wang Bing auf so intime und naturalistische Weise den Fabrikarbeitern beiwohnt und den Zuschauern das Gefühl gibt, hier etwas zu sehen, was nicht durch die Anwesenheit der Kamera provoziert wurde, ist geleitet von einer sorgsamen Inszenierung, die einerseits stets die Indiskretion der Kamera und damit eines Publikums im Auge hat, und andererseits darauf bedacht ist,
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die Arbeiter an ihrem Gefilmtwerden teilhaben zu lassen. Das Geschehen in der Fabrik soll Teil des Films, der Film aber auch ein Teil des Geschehens sein. Dazu ist eben nicht nur die DV-Kamera als impliziter Verweis auf die Mobilität des Filmemachers und seine ständige Verortung in den Hallen der Schwerindustrie nötig, sondern auch seine Integration in den Prozess der alltäglichen Arbeitsabläufe. Wang Bing reiht sich gewissermaßen in den Kreis der Anwesenden ein, in dem er seine eigene Aufgabe ausführt, die darin besteht, deren Arbeit zu begleiten. Diese Vertrautheit kann wiederum durch Distanznahme aufgebrochen werden, die zwar schon dem Akt des Dokumentierens zugrunde liegt, sich aber durch die langen Plansequenzen, den abwägenden Gebrauch von Schnitt und der diegetischen Teilnahme Wang Bings erst artikuliert. In der geduldigen Beobachtung stellt sich schließlich die Reziprozität zwischen Filmen und Gefilmtwerden auf Augenhöhe her. Eingeführt in diese Intimität, werden die Zuschauer ihrerseits zu beobachtenden Teilnehmern, die sich mit der Aufgabe konfrontiert sehen, ihre eigene Distanz zum Gesehenen zu finden. Der Anspruch von Wang Bings Film an den Zuschauer lautet demnach, sich einerseits zur Vermitteltheit der Darstellung, andererseits zu derjenigen des Themas und seiner sozioökonomischen Implikationen zu verhalten. Diese werden Gegenstand des nächsten Kapitels sein. Wang Bings Film wurde von Qi Wang als »subjektive Kartographie« (Wang 2014: 152) bezeichnet, voll von Emotionen und epistemischen Absichten. Die Vermitteltheit dieser Subjektivität, die ein so unmittelbar wirkendes Bild zeitigt, habe ich als ›Semi-Distanz‹ zu beschreiben versucht. Im Folgenden möchte ich ein paar Überlegungen zu dieser Vermittlung anstellen und damit auf den Werkcharakter zu sprechen kommen, der als ›ruinös‹ bezeichnet werden könnte.
R UINÖSER R EALISMUS Nach Georg Simmel ist der ästhetische Reiz der Ruine gekennzeichnet durch ein Streben der Natur, die sich die zweckentfremdete Materie in einem abgesteckten Rahmen zurückerobert. Die Ruine fällt aus dem Fluss der Kontinuität von Nutzen und Bewohnbarkeit. Damit erhält sie eine eigentümliche Umgrenzung, die bis an den Rand dessen reicht, was vor uns verfällt, sich verwandelt, überwuchert wird und seinen Dingcharakter verliert. In Simmels rezeptionsästhetischer Überlegung korreliert diesem Prozess von gleichzeitigem Entstehen und Vergehen eine doppelstrebige Empfindung der Seele, die, vom Anblick ergriffen, gleichsam den Lebens- und Todestrieb in sich ringen fühlt (vgl. Simmel 2008: 34-41). Solche ruinösen Kontemplationen sind ein Luxus, den sich die Protagonisten von WEST OF THE TRACKS nicht leisten können. Sie bewohnen die Ruine, verdienen dort
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ihren prekären Lebensunterhalt und müssen nicht nur mit den klimatischen Umständen, sondern auch mit dem ökonomischen Strukturwandel zurechtkommen. Ein totales Bild dieser zerbrechenden Industrielandschaft würde deshalb, ohne die Einzelperspektiven in Betracht zu ziehen, unweigerlich den Charakter des Kitschs annehmen, eine Art gothic industrial chique aus rostigen Stahlträgern und zersplittertem Beton. Abb. 3: Eindrücke aus einer verlassenen Schmelzfabrik
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Als zeitliches Medium hat der Film den Vorteil, ein Verschwinden und Auflösen seines Sujets in diskreten Etappen zeigen zu können. Immer wieder fahren wir mit der Bahn durch den Tie-Xi Distrikt, jedes Mal insistieren Texteinblendungen darauf, dass es sich bei den Gebilden, die mehr und mehr zerfallen, um diese und jene Fabriken handelt. Es gibt in WEST OF THE TRACKS also nicht ein Bild des Verschwindens, sondern sehr viele Bilder, die gleich Monaden auf die unvereinbare Gleichzeitigkeit der staatlichen Wirtschaftsordnung hinweisen, die in Gestalt des industriellen Bezirks aufgegeben wurde. Die Bilder wollen, mit anderen Worten, nicht exemplarisch verstanden werden und es liegt allein an den Zuschauern, dem Geschehen verallgemeinernde Vorstellungen hinzuzufügen.
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E INE
DOKUMENTIERENDE
E THIK
Man könnte WEST OF THE TRACKS also als Fallbeispiel des ökonomischen und sozialen Strukturwandels von staatlich-sozialistischer zu liberaler Marktwirtschaft analysieren (vgl. Xudong 2010: 1-18), marxistisch auf die Dialektik von Ästhetik und Inhalt, Filmemacher und Arbeiter hinweisen (vgl. Bing 2013: 115-134) oder filmhistorische Parallelen zu berühmten Eisenbahnfahrten ziehen (vgl. Xinyu 2005: 125136); für mich bleibt aber die reizvollste und größte Herausforderung des Films, die Indexikalität (vgl. Krauss 2002: 140-157) des Dokumentarischen, das filmische Geschehen als ›Diesheit‹ zu verstehen. Nicht nur durch die Kamera am Leben der Protagonisten zu partizipieren, sondern darüber hinaus nicht zu vergessen, dass der größte Teil desselben notwendig im Verborgenen bleiben muss, egal wie intim, aufschlussreich, beispielhaft oder unmittelbar das Gezeigte scheint. Wenn man das Filmbild, wie es die Filmsemiotik vorschlägt, als Aussage verstehen will, in der sich sprachliche Partikel oder grammatische Formen mit filmischen Mittel ausdrücken (Metz 1974: 101), dann wäre hier jeder Aussage die Tatsache ihres Ausgesagt-Werdens hinzuzufügen. Der Film geht nicht in einem Text auf, dessen Lektüre auf die Autorität des Autors Verzicht leisten könnte. Ebensowenig möchte ich in Wang Bings semi-distanzierter Haltung einen Autor sehen, dessen stilistische Handschrift das Bild informiert. WEST OF THE TRACKS beschreibt nach meiner Interpretation eine Verkettung von individuierten audiovisuellen Mitteilungen, deren Inkongruenz durch den Schnitt markiert wird. Wie ein undatierter Eintrag im Notizbuch erinnert jede neue Einstellung daran, dass sich der Sinn trotz der zeitlichen Kontinuierlichkeit des Mediums in diskreten, immer wieder neu ansetzenden Versuchen vollzieht. Semi-distanziert ist Wang Bing, indem die Orte und Menschen den Text sprechen, den er verfilmt, semi-distanziert sind wir Zuschauer, die als Angesprochene nicht nur den diegetischen, sondern auch den ästhetischen Status dieser Äußerungen bedenken. WEST OF THE TRACKS evoziert das außerhalb des Bildes befindliche dieser Äußerungen unmittelbar, bannt es aber gleichzeitig als Abwesendes. Durch den Querschnitt der erzählten Zeit werden die Orte immer menschenleerer, bis Wang Bing mit seiner Kamera allein steht; das empathisch berichtende Bild dieser Kamera verweist dabei zuletzt immer auf den Dokumentierenden, dessen Geduld und Gewissenhaftigkeit jede vorschnelle Überdetermination des Gezeigten in Zweifel zieht. Während der neunstündigen Filmdauer wird das Verschwinden der Arbeiter und das damit entstehende Vakuum nicht etwa mit einer Moral oder einem Fazit gefüllt. Die weniger werdenden Anwesenden behalten ihre Dringlichkeit und der Ort, der sie umgibt, so topisch und kontrovers er auch im wirtschaftlichen und politischen Kontext sein mag, erhält nie die interpretative Oberhand. Indem sich Wang Bing selbst auf halbem Abstand zu seinen Protagonisten hält, hält er seine Dokumentation auf vollem
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Abstand zu jeder Form von präskriptiver oder urteilender Aussage. Jede absolute Position wird vermieden, da es keinen Aspekt des Films gibt, keine Person und keine Handlung, die nicht innerhalb desselben Films infrage gestellt werden könnte. Das betrifft genauso die Arbeiter und die von ihnen ventilierten Meinungen wie die mäandernde Ästhetik des Filmemachers, der sein Tun damit im Geschehen verortet, das sich in Gestalt jedes einzelnen Protagonisten individualisiert. So bewahrt Wang Bing das Verschwinden einer industriellen Lebenswelt davor, selbst hinter einer verallgemeinernden Anklage zu verschwinden.
L ITERATUR Bing, Wang (2013): »Filming a Land in Flux«, in: New Left Review 82, S. 115-134. Krauss, Rosalind (2002): »Anmerkungen zum Index: Teil 1«, in: Herta Wolf (Hg.), Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 140-157. Metz, Christian (1974), Film Language. A Semiotics of Cinema, Chicago: University of Chicago Press. Simmel, Georg (2008): »Die Ruine«, in: Ders., Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 34-41. Wang, Qi (2014): Memory, Subjectivity, and Independent Chinese Cinema, Edinburgh: Edinburgh University Press. Xinyu, Lu (2005): »Ruins of the Future. Class History in Wang Bing’s Tiexi District«, in: New Left Review 31, S. 125-135. Xudong, Zhang (2010): »Poetics of Vanishing. The Films of Jia Zhangke«, in: New Left Review 63, S. 1-18.
F ILM Tie Xi Qu: West of the Tracks (2003) (CN, R: Wang Bing)
Das filmische Off als markierte Leerstelle Audiovisuelle Inszenierungsstrategien einer anwesenden Abwesenheit in Nachthelle (2015) H ENRIK W EHMEIER »zeig deine Wunde« JOSEPH BEUYS
1. E INLEITUNG 1956 machte der Heimatfilm 36,3 Prozent der deutschsprachigen Ur- und Erstaufführungen im Kino aus (vgl. Korsch 1997: 74). In satten Farben präsentiert er eine idealisierte Landschaft, die sich prototypisch etwa in GRÜN IST DIE HEIDE aus dem Jahr 1951 zeigt. Dieser Heimatfilm handelt von einer intakten, harmonischen Dorfgemeinschaft, welche – hier und da nach leichtem Zögern und leichten Widerständen – in den Folgejahren des Zweiten Weltkriegs die eintreffenden Vertriebenen in der neuen, gemeinsamen Heimat aufnimmt. Andere Bilder zeigen sich in der Gegenwart. Am 03. Februar 2016 berichtet die FAZ von 400 Flüchtlingen, die nach Manheim bei Köln ziehen. Bei Manheim handelt es sich um ein Dorf, das bald dem Tagebau weichen wird. Seine alten Bewohner wurden längst umgesiedelt. Doch bevor die verlassenen, überwucherten Bungalows bundesrepublikanischer Prägung abgerissen werden, sollen sie übergangsweise Flüchtlinge beherbergen. Bebildert wird der Artikel von Fotographien der Künstlerin Valerie Sadoun,1 die das Dorf zwischen verfallenen Gebäuden und neuankommenden Flüchtlingen zeigen. Satte Agfacolor Farben von aufblühenden Landschaften vor
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Die gesamte Bilderreihe ist abrufbar unter http://www.valeriesadoun.com/work/manheim (30.12.2017).
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blauen Himmel in GRÜN IST DIE HEIDE auf der einen, blass-wolkenverhangene Fotographien von braun-grauen Klinkerbauten auf der anderen Seite. Trotz der Medien- und Zeitdifferenz vereint beide Beispiele nicht nur das Dorfund Flüchtlingsmotiv; die beiden Beispiele verweisen vielmehr auch auf Momente der Anwesenheit und der Abwesenheit. Bezogen auf den Heimatfilm könnte man von einer abwesenden Anwesenheit sprechen. Konstruiert wird ein idyllisches Phantasma; mitunter auch eine, wie Erich Rentschler formuliert, weichgezeichnete Sentimentalität (Rentschler 2012: 141). Abwesend sind kritische Töne und realistische Charakterisierungen der damaligen gesellschaftlichen Zustände.2 Dies offenbart sich im gemeinsamen Schützenfest am Ende des Filmes, in dem alte und neue Einwohner harmonisch vereint sind, während der Schauspieler Kurt Reimann vor traumhaftem Panorama das RIESENGEBIRGLERS HEIMATLIED singt. Im anderen Fall zeigt sich hingegen eine anwesende Abwesenheit. Das Dorf Manheim ist eine anwesende Leerstelle, die Bungalows sind verfallene Materialansammlungen und die Landschaft ist zum Tagebauvakuum geworden. Die zweifellos anwesenden Flüchtlinge werden in das Vakuum dieses Geisterorts jenseits der Wahrnehmung verschoben. In kühlen Farben präsentieren die Fotographien des Artikels in Frontalansichten geschlossene Fensterläden, die den Blick verweigern. Diese komplexen Relationen zwischen An- und Abwesenheit, zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen sollen dabei als Orientierungspunkte für die folgende Auseinandersetzung mit dem Film NACHTHELLE von Florian Gottschick und seiner audiovisuellen Verhandlung eines verschwindenden Dorfes dienen. Zunächst wird dafür auf drei Inszenierungsstrategien eingegangen, durch die NACHTHELLE den Moment der Abwesenheit mit der Darstellung des Tagebaus verbindet (2.). Es folgt die Analyse der verschiedenen Konnotationen dieser Abwesenheit, wobei als zentrale Aspekte die nostalgische Rückkehr sowie das Entbergen vergangener Traumata unter Einbezug weiterer filmischer Dorfdarstellungen herausgearbeitet wird (3.). Diese Analysen münden in die Charakterisierung der Inszenierung des verschwindenden Dorfes in NACHTHELLE als anwesende Abwesenheit, die abschließend durch die Metapher der gezeigten Wunde näher konturiert wird (4.).
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Diese Charakterisierung ist selbstredend zuspitzend und pauschalisierend. Manuela Fiedler führt bspw. aus, dass auch in den Heimatfilmen der 1950er und 60er Jahre ein verdecktes Konfliktpotential vorherrsche. GRÜN IST DIE HEIDE verfüge folglich über ein brüchiges Happy End und eine eigentliche Versöhnung der Generationen finde nicht statt (vgl. Fiedler 1997: 37).
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2. ABWESENHEIT UND T AGEBAU NACHTHELLE handelt von einem Dorf im Osten Deutschlands, dessen tagebaubedingter Abriss unmittelbar bevorsteht. Anna (Anna Grisebach), die Protagonistin des Filmes, stammt aus diesem Dorf, hat es aber bereits vor langer Zeit verlassen. Der nahende Abriss ist dabei der Grund für einen letzten Besuch ihres Elternhauses, wobei ihre Eltern mutmaßlich vor längerer Zeit verstorben sind. Begleitet wird sie von ihrem Freund Stefan (Vladimir Burlakov). In dem Dorf treffen sie auf das Paar Bernd (Benno Fürmann) und Mark (Kai Ivo Baulitz); Bernd versuchte als Anwalt den Abriss des Dorfes zu verhindern. Alle zusammen kommen im Elternhaus unter, wo sich bald eine kammerspielartige Spannung zwischen den Figuren entwickelt, da unter anderem Anna und Bernd zu Schulzeiten ein Paar waren. Die Darstellung des verschwindenden Dorfes erinnert an die Ästhetik von Sadouns Fotographien. In der einleitenden Szene sind es zunächst noch Bilder in leichter Zeitlupe, die Impressionen der leerstehenden Gebäude geben. Im Verlauf des Filmes werden sie dann zu regelrechten Stillleben. So bewegen sich zwar noch einzelne Bildinhalte, etwa flatternde Plakate, doch die Kamera wird statisch. Sie fängt wohl komponierte Perspektiven ein, ohne direkte räumliche und zeitliche Bindung an die Diegesis (siehe Abb. 1). Wie dokumentarische Fotos archiviert sie die verlassenden Häuser, bevor sie durch den Tagebau verschwinden. Betont wird die Materialität, die Spuren des Verfalls an den funktionslos gewordenen Bauten. Abb. 1: Screenshot eines der »Stillleben« in NACHTHELLE
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Die Darstellung des Braunkohletagesbaus wiederum kann heuristisch drei verschiedenen Inszenierungsstrategien zugeordnet werden. Erstens setzt der Film wie angedeutet eine Art von Stillleben ein, zweitens gibt er das Dröhnen der Maschinen des Tagebaus wieder und drittens bildet er kurze Beben ab, die von den Maschinen des Tagebaus ausgelöst werden. Allen drei Inszenierungsstrategien gemeinsam ist das in Szene setzen einer anwesenden Abwesenheit. Die Stillleben stellen eine Verbindung zum Heimatfilm der 1950er und 60er Jahre dar; so schreibt etwa Bettina Korsch (1997: 75): »Ein weiteres wichtiges Element für den Heimatfilm sind die schon erwähnten weiten Landschafts- und Naturaufnahmen, die unabhängig von der Handlung zwischengeschnitten sind.« Zeigen sich dramaturgisch also Überschneidungen, variiert hingegen die Inszenierungsweise. Statt Kameraschwenks und Totalen verwendet NACHTHELLE statische Kamerapositionen und oft formstreng gerahmte, nähere Aufnahmen. Noch deutlicher differiert die Funktionalisierung, in Heimatfilmen sollen diese Zwischenszenen die Natur als »unberührte Landschaftsidylle« idealisieren (vgl. ebd.: 74). Nach Korsch verwandeln die Postkartenansichten die Umgebung in eine bloße Kulisse für melodramatische Liebesgeschichten (ebd.: 74); Vorbild hierfür ist die romantische Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts (Fiedler 1997: 12). In NACHTHELLE hingegen hat das Dorf seine Idylle verloren, isoliert ragen verfallene Fassaden in das Bild. Die einsamen Plakate zeugen von einer Dorfgemeinschaft, die den Kampf verloren hat und fortgezogen ist. Ausgestellt wird eine stumpfe Materialität, die sich nicht mehr in eine Erzählung einfügt.3 Vor dieser kommt das filmische Medium selbst zum Stillstand. Wie Manuel Zahn ausführt, kann die Medialität des Filmes generell als »anwesende Abwesenheit« charakterisiert werden (vgl. Zahn 2012: 11). Das filmische Bild zeichnet sich durch die Doppelbewegung von Erscheinen und Entziehen aus: Das einzelne Filmbild erscheint zumeist für eine vierundzwanzigstel Sekunde, um gleich durch das nächste ersetzt zu werden.4 Es eröffnet eine Wahrnehmung und wird zugleich durch
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Die Bezeichnung als »stumpfe Materialität« verweist auf Roland Barthes Begriff des stumpfen Sinns, der, wie Thomas Morsch mit Verweis auf Francesco Casetti ausführt, einen Exzess gegenüber dem Narrativen, dem Symbolischen, der Repräsentation und der Signifikation charakterisiert (vgl. Morsch 2008: 25). Umrissen werde mit dem Exzessbegriff ein Eigensinn des Asignifikanten und Nicht-Repräsentationalen, wobei er für Morsch zugleich als theoretisches Konzept fragwürdig bleibt, »weil er logisch stets auf eine vorausgehende Norm bezogen bleibt, die er transgrediert, aber noch im Akt der Überschreitung implizit bestätigt.« (Ebd.: 27)
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Der Begriff des Entzugs verweist dabei auf den Umstand, dass sich die spezifische Medialität eines Mediums im störungsfreien Gebrauch entzieht (vgl. Zahn 2012: 11). Dieter Mersch reagiert darauf mit dem Entwurf einer sog. »negativen Medientheorie«, nach
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eine neue ausgestrichen, der Film changiert somit zwischen Präsenz und Absenz.5 Im Gegensatz zum Heimatfilm kommt es also nicht nur zum dramaturgischen Stillstand, sondern die Stillleben inszenieren einen medialen Stillstand, der sich entziehende Bilder ausstellt. Die zweite Inszenierungsstrategie würde ich als Dröhnen bezeichnen. In NACHTHELLE ist der Tagebau nur in sehr wenigen Aufnahmen direkt zu sehen; und in diesen oftmals nur im Hintergrund. Er zeigt sich jedoch nicht nur als Spur an den Häusern des Dorfes, sondern dringt auf der auditiven Ebene als Dröhnen in den Film ein. Als Quelle dieses Lärms können die riesigen Bagger des Tagebaus bestimmt werden. Durch ihr seltenes direktes Erscheinen können sie in meinen Augen im filmischen Off verortet werden, also im Außerhalb des Bildes. Die Wahl des Bildausschnittes, die sog. Kadrierung, ist immer schon eine Begrenzung des filmischen Bildes (vgl. Deleuze 1989: 28). Das durch die Kadrierung entstehende Außerhalb des Bildes, welches auch als Off oder als hors-champ bezeichnet wird, charakterisiert nach Kayo Adachi-Rabe (2005: 7) den nicht sichtbaren Raum innerhalb der filmischen Fiktion. Das Off wird dabei als, wie Ulrike Hanstein betont, unaufhebbarer Bezug des Bildes auf ein spezifisches Ungesehenes gedacht (vgl. Hanstein 2009: 116, 123); das Off ist also nicht allein die Negation des Sichtbaren, sondern bietet einen strukturell vielschichtigen Raum (vgl. Frahm 2010: 131). Gilles Deleuze unterscheidet dabei zwischen dem relativen und dem absoluten Off (vgl. ebd.: 133), wobei das relative Off die imaginäre Fortsetzung der diegetischen Welt meint (vgl. Adachi-Rabe 2011: 4). Die Verortung der Bagger des Tagebaus im Off ist durchaus diskussionswürdig. So verweist für Deleuze (1989: 32) das Off auf das, »was man weder hört noch sieht und was trotzdem völlig gegenwärtig ist.« Ich halte es dennoch für sinnvoll, den Tagebau im filmischen Off zu verorten, da das Dröhnen eine besondere Form des Tons darstellt. Mit Martin Seels Ausführungen zum Rauschen kann das Dröhnen als »ein Geschehen ohne Geschehendes« (Seel 2003: 230, Hervorhebung im Original) der die Medialität in denjenigen Augenblicken zum Erscheinen komme, in denen das Medium versage oder nicht mehr funktioniere (vgl. Mersch 2004: 83); seine Verweisfunktion wird in diesem Fall also selbstreferentiell. Dieser selbstreferentielle Verweis auf die eigene Materialität und Medialität eines Mediums zeichnet dabei auch die inszenierte Form des (vermeintlichen) Stillstands in NACHTHELLE aus. 5
Die besondere Zeitlichkeit des filmischen Mediums wird u.a. von Garrett Stewart (2007: 3) näher umrissen: »[I]t isn’t that filmic cinema, liked lived time, is memory in the making. Under the rule of cinematographic speed, of retentive evanescence, or in other words under the optical lure of movement’s own virtuality in projection, it is rather that the memory trace is time in the making: time coming forth as image, where what you see is what you lose.«
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charakterisiert werden. Es ist ein Wahrnehmungsprozess, in dem nichts Bestimmtes geschieht (vgl. ebd.: 232f.).6 Die Quelle des Dröhnens kann nur diffus im Off verortet werden. Wie bei den Stillleben wird eine Materialität ausgestellt, die körperlich präsent ist, deren Bedeutung sich aber als Absenz entzieht. Dies korreliert mit einer tendenziell körperlichen Wahrnehmung. Es handelt sich hierbei um einen nicht differenzierbaren Lärm, weswegen ich dies ebenfalls als anwesende Abwesenheit bestimmen würde. Der Tagebau dringt auf der Tonebene in die Darstellung des geschlossenen und ruhigen Dorfes ein. NACHTHELLE greift damit ein weiteres Motiv des Heimatfilmes auf: die Dichotomie von Natur und Kultur. Das Dorf steht für die Nähe zur Natur (die dennoch zumeist kultivierte Landschaft meint), die Stadt für das durch die Technik entfremdete Leben, betont wird also der für den Heimatfilm typische Stadt-LandGegensatz.7 Der Tagebaubagger wird zur Verkörperung dieser Kritik, zur monströsen, unmenschlichen Maschine, deren unnatürliches Eindringen in den ländlichen Raum zum Symbol einer enthemmten Industrialisierung wird. Deutlich wird diese im Dröhnen des Baggers, das der ländlichen Stille opponiert und dessen technische Verfasstheit, dessen schierer Lärm, dessen »Geschehen ohne Geschehendes« zum Gegensatz zu den natürlichen Geräuschen wird. Die dritte und letzte Inszenierungsstrategie ist hiermit eng verbunden; geht doch das Dröhnen oftmals mit einem Beben des Bildes einher. Als visuelles Korrelat drückt das Beben aus, dass die monströsen Bagger immer näher kommen und die physische Integrität und Existenz des Dorfes ins Wanken gerät. Auch das Beben kann nur diffus im filmischen Off verortet werden, als eindringendes Außen. Die Maschinen stören das Gleichgewicht des Dorfes, bringen hochindustrielles Chaos und Unruhe in die Idylle.
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Seel (2003: 233) führt konkret aus: »Dadurch ereignet sich für die Wahrnehmenden eine Begegnung mit Grenzen der Gestaltbarkeit, Verständlichkeit und Zuhandenheit der Welt, man kann auch sagen: mit den Grenzen der eigenen, je historischen, je kulturellen Welt. Wirklichkeit tritt in einer nicht faßlichen Version in Erscheinung.«
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»So wird das Dorf und die damit verbundene einfache, natürliche und traditionsgebundene Lebensform idealisiert, sentimental und emotional aufgeladen und in Kontrast zur urbanen Lebensart gesetzt. Aus diesem Gegensatz erfährt die vermeintlich schlichte Lebensform schließlich auch ihre positive Wertigkeit, da Großstadt mit Entfremdung und Wurzellosigkeit der Menschen negativ gezeichnet wird.« (Korsch 1997: 76)
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3. K ONNOTATIONEN
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ABWESENHEIT
Zu fragen ist nun, mit welchen inhaltlichen Konnotationen diese drei Inszenierungsstrategien einer anwesenden Abwesenheit verbunden werden. NACHTHELLE rekurriert dabei auf eine ganze Fülle von inhaltlichen Verweisen, von denen ich an dieser Stelle nur einzelne thematisieren und mit anderen zeitgenössischen Thematisierungen des Dorfes in Verbindung bringen möchte. Übergreifend lassen sich die beiden Motive der nostalgischen Rückkehr und des Entbergens vergangener Traumata ausmachen, wodurch das (verschwindende) Dorf als Speicher verschiedener Arten von Erinnerung charakterisiert wird. Wie schon angedeutet ist der baldige Abriss des Dorfes Anlass für Anna, dem Elternhaus einen letzten Besuch abzustatten. Neben der formalen Abwicklung des Hauses herrscht somit ein nostalgisches Moment vor; das Elternhaus dient dabei als Anker für die Kindheitserinnerungen, die auch physisch als Box mit Fotos im Haus lagern. Sie will sich dabei nicht nur selbst an die Vergangenheit erinnern, sondern ihre Erinnerung vermitteln. Aus diesem Grund begleitet sie ihr Freund, dem sie ihre Heimat zeigen möchte. Sie begreift das Heimatdorf also als Teil ihrer Persönlichkeit, welcher nur direkt erlebt, d.h. im körperlichen Durchwandern erfahren werden kann. Im Film finden sich dabei verschiedene Szenen, in denen die Figuren durch das Dorf spazieren (siehe Abb. 2). Die Figuren wirken dabei wie Fremdkörper in dem ansonsten quasi menschlosen Ort, weiterhin steht ihr moderner Kleidungsstil in Kontrast zur in der Zeit stehengebliebenen Architektur. Abb. 2: Die Protagonisten erkunden das Dorf in NACHTHELLE
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Das Motiv der nostalgischen Rückkehr, klassisch inszeniert als Reise des Helden, taucht auch in anderen gegenwärtigen deutschsprachigen Spielfilmen auf, die das Dorf thematisieren. In dem 2003 erschienen HIERANKL sowie dem 2015 erschienen DAS DORF DES SCHWEIGENS, beide inszeniert von Hans Steinbichler, finden sich ähnliche Motive. In beiden Filmen kehrt die jeweilige Protagonistin, Lene (Johanna Wokalek) bzw. Eva (Petra Schmidt-Schaller), nach langer Abwesenheit in das heimische Dorf zurück. Beide Filme, deren Handlungen sehr ähnlich sind, verweisen dabei auf einen weiteren Topos des Dorfes: seine Verschwiegenheit und Enge. Angesiedelt am Rande der Alpen dienen die Berge nicht wie im Bergfilm als Ausdruck einer faszinierenden Naturwelt (vgl. Fiedler 1997: 17) oder als idealisierte Postkartenkulisse, sondern als Gefängnis und Einschränkung. Inhaltlich erinnern sie an den kritischen Heimatfilm, d.h. an die Neuinterpretation des Heimatfilms im Zuge des Neuen Deutschen Filmes. Die kritischen Heimatfilme dekonstruierten die Stereotype des Heimatfilm-Genres (vgl. Rentschler 2012: 138). Korsch (1997: 77) führt dazu aus: »Dorf wurde nun als ein Ort gesellschaftlicher Enge mit hierarchischen Machtstrukturen und autoritären Zwängen geschildert.« In HIERANKL und DAS DORF DES SCHWEIGENS ist es die Verschwiegenheit der Eltern, durch die die Figuren in ein Inzestdrama geraten, angelehnt und ewig verheerend wie der Ödipus Mythos. Diese Verschwiegenheit des Dörflichen ist auch Thema von Christian Schwochows NOVEMBERKIND aus dem Jahr 2008. Die Protagonistin Inga (Anna Maria Mühe) reist dabei jedoch nicht zurück in die heimatliche Kleinstadt, sondern von ihr fort, um der von ihren Großeltern verschwiegenen Lebensgeschichte ihrer Mutter nachzuspüren. Wie Mariana Ivanova ausführt, ist diese Reise »als eine Erkundungsreise zurück in die unerlebte und unerinnerte Vergangenheit der Mutter realisiert.« (Ivanova 2011: 278) Interessant ist NOVEMBERKIND in diesem Zusammenhang, weil es erstens wie NACHTHELLE die Tristesse der ost- und westdeutschen Provinz ausstellt.8 Diese dargestellte Tristesse geht mit einer neuen Peripherraumproblematik insbesondere in den wiedervereinigten Bundesländern MecklenburgVorpommern und Brandenburg einher, die sich in ökonomischen, demographischen und baulichen Verödungstendenzen niederschlage (vgl. Henkel 1997: 14). Ästhetisch realisiert wird diese Tristesse maßgeblich durch die Farbgestaltung. Zeichnete sich der Heimatfilm der 1950er und 60er Jahre, wie bereits geschildert, durch seine satten Farben aus, so reagierte der kritische Heimatfilm darauf mit einer ästhetischen Gegenbewegung. So stellt etwa Eric Rentschler in Bezug auf die Arbeit des Kameramanns in DER PLÖTZLICHE REICHTUM DER ARMEN LEUTE VON KOMBACH (1971)
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»Sicherlich sind die Motive Nebel und Verklärung, Novemberzeit (als historisches Moment der Wende) und ostdeutscher Tristesse auch deswegen präsent, um Ingas Geschichte in einem weiteren deutschen Kontext zu setzen.« (Ivanova 2011: 280)
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fest: »Franz Raths krasse Schwarzweiß-Aufnahmen ergeben einen weiteren, höchst lebhaften Kontrast zu den satten Farben und der weichgezeichneten Sentimentalität früherer Heimatfilme.« (Rentschler 2012: 141) Die blass-graue Farbgestaltung ist prägend für NOVEMBERKIND, HIERANKL und DAS DORF DES SCHWEIGENS sind tendenziell farbenfroher, aber dennoch zurückhaltend. NACHTHELLE weicht von dieser Farbgestaltung deutlich ab, starkes Sonnenlicht taucht die Bilder in einen künstlich wirkenden gelb-goldenen Ton. Diese überzeichnete Farbgestaltung inszeniert einen Prozess des Verschwindens: In den blass-goldenen Farben verschwimmen die Konturen, insbesondere hebt sich die Abgrenzung zu den endlosen Sandlandschaften des Tagebaus auf. Die Figuren verschwimmen so vor einem gold-sandenen Hintergrund, wodurch eine weitere Form der Abwesenheit präsent wird, die schließlich auch auf einen zukünftigen Zustand – die vollständige Devastierung des Orts – verweist. Der Vergleich mit NOVEMBERKIND ist zweitens produktiv, weil in ihm das Motiv des engen und verschwiegenen Dorfes mit der Lebenswirklichkeit in der DDR verbunden wird. In Kontrast zu den Ostalgiekomödien9 der frühen und mittleren neunziger Jahre, die nach Lüdecker (2015: 64) durch humoristische Überzeichnung die Divergenzen der ost- und westdeutschen Mentalitäten abzubauen versuchen, 10 zeichnet der Film ein düsteres, durch Enge und Trostlosigkeit gekennzeichnetes Bild der DDR. NOVEMBERKIND, NACHTHELLE und der noch zu thematisierende Film YELLA können somit unter anderem einer neuen Strömung zugerechnet werden, die Lüdecker (ebd.: 65f.) als dritte Welle nach der Abrechnung mit der DDR durch die letzte Generation der DEFA-Regisseure und den Ostkomödien erfasst: »An der Schwelle zum 21. Jahrhundert entstanden schließlich die ersten Spielfilme, in denen der Ostalgie-Welle und anderen, eher politisch motiviert verklärenden Erinnerungsformen die unmenschlichen Seiten des DDR-Systems entgegenhalten werden«. Sie grenzen sich in ihrer Art jedoch von dem ab, was Lüdecker als »DDR-Eventfernsehfilme« bezeichnet. So nehmen sie zwar in Teilen Aspekte wie die triste Farbwahl und die Darstellung von Mangel auf, inszenieren in meinen Augen jedoch keinen 9
Nach Dominik Orth (2015: 93) umschließt der Begriff der Ostalgie zwei Dimensionen: »Je nachdem, wie der Begriff Ostalgie ausgelegt wird, sind damit unterschiedliche Implikationen verbunden: Positiv verstanden, ermöglicht die Ostalgie die Erinnerung an ein Leben in einem Land, das nicht mehr existiert. Negativ verstanden gilt Ostalgie als Ausdruck dafür, dass die Nostalgiker gerne die Mauer wieder aufbauen oder die DDR und das Leben in ihr verharmlosen möchten.«
10 Den Ostkomödien gelinge nach Lüdecker (2015: 64) dieser Mentalitätsabbau dabei nicht: »Letztlich verfehlen diese Filme es jedoch, die Mauer in den Köpfen einzureißen, weil sie die realen Stereotype mit dem Einsatz von fiktionalen Stereotypen karikieren, statt diese zu überwinden.«
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einseitigen Kampf von Gut gegen Böse (vgl. ebd.: 70),11 wodurch die von Lüdecker ausgemachte Abwicklung ausbleibt (vgl. ebd.: 76) und stattdessen, wie z.B. in YELLA, ein diffuses Nachwendedeutschland aufscheint. In NACHTHELLE wird das trostlose Dorf zum Spiegelbild der ehemaligen DDR, wodurch die Frage aufgeworfen wird, was von dem Staat eigentlich bleibt bzw. wie man sich daran erinnert. Stellvertretend repräsentiert wird die DDR in NACHTHELLE anhand der Institution der Schule. Auch hier wird die verfallene Materialität des nunmehr leerstehenden Gebäudes ausgestellt. Dabei kommt erneut die erkundende Bewegung als Ausdruck des Erinnerungsprozesses, also die physische Rückbindung an den Ort der Vergangenheit, zum Tragen. So spazieren die Figuren durch ihr ehemaliges Schulgebäude und erinnern sich in Form von Anekdoten an die damaligen Lebensumstände, wobei es auf dem Schuldach zum Disput über abweichende Deutungen kommt (siehe Abb. 3). Für Michael Krause und Peter Drexler bietet das Medium Film in diesem Zusammenhang ein besonderes Potential, da es die physiologisch-psychische Dimension von Wahrnehmungserfahrungen in ihrem Vollzug nachbilden könne (vgl. Krause/ Drexler 2016: 11). Besonders relevant sei dieses Potential für die Darstellung persönlichen Erinnerns sowie dessen Fehlschlagens etwa aufgrund von erlittenen Traumata (ebd.). Der Begriff des Traumas verweist damit auf die Kehrseite des Erinnerns und der nostalgischen Rückkehr, d.h. auf das Entbergen vergangener Begebenheiten und Erlebnisse, die von solcher Intensität waren oder sind, dass sie »die psychischen Verarbeitungsmöglichkeiten des Betreffenden überschreite[n]« (Wollnik/Ziob 2010: 13). In den genannten Filmen sollen durch die Reisebewegung Erinnerungen hervorgebracht werden, die vom dörflichen Schweigen verborgen werden. Dieses Entbergen wird dabei in NACHTHELLE metaphorisch in Szene gesetzt: Der näher rückende Tagebau bringt die tiefsten Schichten der Erde hervor, und in einer gleichen Bewegung bringt auch die Protagonistin Anna ihre Traumata hervor. 12 Filmisch realisiert wird diese gleiche Bewegung durch die Synchronisation der
11 Torsten Wenzel (2016: 226) begreift dabei Christian Schwochow als Autorenfilmer, dem es gelinge, mit NOVEMBERKIND dem DDR-Erinnerungsfilm neue Facetten abzugewinnen: »Statt schematischer Schwarz-Weiß-Konstruktionen rückten nun die Grautöne und Ambivalenzen der DDR-Vergangenheit stärker in den Mittelpunkt.« 12 Dieses Entbergen der Vergangenheit wird in NACHTHELLE konkret, wenn im Zuge der Umsiedlung des Dorfes auch die Gräber auf dem Friedhof ausgehoben werden müssen, metaphorisch gesprochen also die Leichen der Vergangenheit in die Gegenwart eindringen. NACHTHELLE verweist dabei auf eine Reihe von psychoanalytischen Motiven wie das Entbergen des Unbewussten, die Horrorelemente gegen Ende des Filmes deuten auf Sigmund Freuds Konzept des Unheimlichen, fast schon überspitzt handelt es sich bei Mark schließlich auch noch um einen Psychoanalytiker.
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genannten Inszenierungsstrategien einer anwesenden Abwesenheit mit der inhaltlichen Traumathematisierung. Die Erde bebt kurz vor dem Moment, als Anna ihrem Freund erzählt, dass sie und Bernd mal ein Paar waren. Die verwüstete Landschaft des Tagebaus stellt den Hintergrund dar, wenn Anna auf dem Dach ihrer alten Schule mit ihrem Trauma konfrontiert wird. Am Ende der Szene steigert sich die Lautstärke des Dröhnens. Abb. 3: Konfrontation mit Traumata auf dem Schuldach
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Das Trauma von Anna wird dabei im kammerspielartigen Setting insbesondere von Bernds Freund Mark immer wieder thematisiert. Zu Schulzeiten waren Anna und Bernd ein Paar. Ein Mitschüler von beiden, Heiko, verliebte sich jedoch in Bernd. Aus Eifersucht outete Anna Heiko, was mutmaßlich in dessen Selbstmord mündet. Neben dem Druck des Dorfes wird dabei indirekt auch der DDR die Schuld zugeschoben, da sie Homosexualität unterdrückt hätte. Anna selbst schien diese Begebenheiten verdrängt zu haben, erst durch die Rückkehr ins Dorf kommen sie, parallel zum Entbergen des Tagebaus, wieder empor. Die Verarbeitung dieses Traumas spitzt sich im Film immer weiter zu und driftet schließlich in Richtung Mystery ab. Im Zuge dieser spaltet sich das Trauma Annas auf übernatürliche Weise als Doppelgänger ab, wobei der Doppelgänger mit verschiedenen Suspense-Techniken im Stile eines Monsters inszeniert wird. Dieser Rückgriff auf Inszenierungstechniken des Mysteryund des Horrorfilms reformuliert, das sei nur am Rande erwähnt, auch ein klassisches emotionales und verstörendes Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, das mit dem Verschwinden von Dörfern verbunden ist: das Unheimliche. Es ist hier die Entbergung der Traumata, die erst eigentlich die Unheimlichkeit der Heimat (wieder neu) entdeckt.
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Die Art der Inszenierung von NACHTHELLE erinnert jedoch auch an einen weiteren zeitgenössischen Film, der sich mit den Schwierigkeiten der Nachwendezeit auseinandersetzt: Christian Petzolds YELLA. Wie Ivanova (2011: 276) ausführt, setzt sich in YELLA die Topografie der DDR aus leeren Straßen, grauen Fassaden, Wäscheleinen und in die Ferne führenden Bahnschienen zusammen. Auch hier präsentieren sich Dörfer und Kleinstädte als trostlose, beinahe unbewohnte Orte. Formal auffällig ist jedoch vor allem die Inszenierung von Traumata. Yella (Nina Hoss), die Protagonistin des gleichnamigen Films, trägt eine belastete Vergangenheit mit sich, die immer wieder in ihr Leben einbricht. Fungieren bei NACHTHELLE das Dröhnen und Wackeln des Tagebaus als Markierungen, so werden Yellas Erinnerungen durch lautes Rabengeschrei und das Wehen des Windes filmisch markiert (vgl. ebd.). YELLA und NACHTHELLE ähneln sich damit in ihrer Suche nach explorativen filmsprachlichen und erzählerischen Verfahren zur Darstellung und Reflexion von Erinnerungsprozessen. Sie bilden damit Beispiele für das von Krause/Drexler (2016: 10) so bezeichnete Gedächtnis- und Erinnerungskino. Als übergreifende Kontinuität der dritten Welle der filmischen Verhandlung der DDR-Vergangenheit und ihrer Gegenwärtigkeit kann somit zusammenfassend die Einnahme einer individuellen Perspektive angesehen werden, die Ivanova (2011: 281) wie folgt charakterisiert: »Es werden Landschaften und keine Staatsstrukturen repräsentiert, private Beziehungen und Konflikte von Menschen und keine hierarchischen Verhältnisse zwischen dem Individuum und einem anonymen politischen Regime.« In der Rolle und Ästhetisierung der Landschaften und der dörflichen Umgebungen laufen die verschiedenen Tendenzen zusammen. Das (verschwindende) Dorf wird hierbei zum Erinnerungsspeicher und Aushandlungsort. In NACHTHELLE ästhetisiert es verschiedenste Inhalte: Es wird zum Speicher nostalgischer Kindheitserinnerungen, zum sich öffnenden Behälter von Traumata, zum Spiegel des verschwundenen Staates der DDR. Diese Inhalte sind verbunden mit dem Schicksal der jeweiligen Figuren, sind physische Rückkopplungen der Erinnerung. Dieses macht auch die von Ivanova beschriebene individuelle Perspektive der Filme aus. Gleichzeitig ist hinzuzufügen, dass es nicht allein individuelle Geschichten sind.13 Die Erinnerungen sind diskursive Einschreibungen des politischen Systems der DDR. Das staatliche System wird in den Filmen kurzgeschlossen mit der sozialen Situation des Dorfes, d.h. mit den Motiven des kollektiven Verschweigens und der Enge.
13 Krause/Drexler (2016: 12) verweisen in diesem Zusammenhang auf die enge Verbindung von persönlichen und kollektiven Gedächtnis: »Das Individuum ist aufgrund seiner Einbindung in gesellschaftlich-kulturelle Diskurse stets nicht nur Träger seines persönlichen, sondern auch des kollektiven Gedächtnisses.«
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4. ANWESENDE ABWESENHEIT Dem inszenierten Stillstand des filmischen Mediums und dem Verweis auf ein diffuses Off stehen folglich verschiedene Konnotationen gegenüber. In NACHTHELLE treffen die Diskurse um nostalgische Kindheitserinnerungen, das verschwiegene Trauma der Jugend und das Leben in der DDR auf eine präsentische Materialität. Die Verbindung zwischen diesen Dimensionen ist jedoch lose. Das verschwindende Dorf entzieht sich, die Materialität bringt in ihrer oberflächlichen Ausstellung eine Abwesenheit mit sich.14 Es entsteht eine Leerstelle zwischen der Physis des verschwindenden Dorfes und der Erinnerungsebene. Deutlich wird dieses Auseinanderfallen, wenn man die aktuellen filmischen Darstellungen mit älteren Dorfdarstellungen vergleicht. Die Postkartenansichten des Heimatfilms fielen mit der Konstruktion der ländlichen Idylle zusammen. Im kritischen Heimatfilm trafen sich trostlose Bilder und explizite politische Kritik an der dörflichen Enge. NACHTHELLE produziert zwar Reminiszenzen an diese inszenatorischen Strategien, im Mittelpunkt steht jedoch die anwesende Abwesenheit, die Leerstelle zwischen beiden. Prägnant offenbart sich dies auch in der Schlussszene des Filmes. Nachdem der Film Mystery- bzw. Horrorelemente integrierte und ähnlich den gegenwärtig populären sog. ›Mindfuck‹Filmen (vgl. Tieber 2012) eine dramaturgische Schleife inklusive Zeitreise und Doppelgängermotiv in Szene setzte, hat sich der Konflikt eigentlich aufgelöst, und Anna scheint ihr Trauma zunächst verarbeitet zu haben. Die Schlussszene nimmt dieses Happy End zunächst auf: Anna und ihr Freund verlassen glücklich das Dorf, progressive Musik läuft und der versöhnliche Abschied vom Dorf scheint geglückt. Das Bild kippt jedoch, die Mimik erschlafft, die Musik wird leiser, das Dröhnen lauter, und die Sequenz endet in einem plötzlichen Einfrieren des Bildes (siehe Abb. 4).15
14 Adachi-Rabe (2005: 8) spricht von einer sinnlichen Wirkungsintensität des filmischen Offs. Die Blickwendung auf das filmische Off geht oftmals mit einer erhöhten Zuschaueraktivität einher, da der Zuschauer das Nichtgesehene auffüllen kann bzw. muss. 15 Das Einfrieren des Bildes erinnert dabei an die Techniken des Neuen Deutschen Filmes. Dieser setzt verschiedene Verfremdungstechniken ein, etwa wenn die Kamera einige Momente auf Szenen verweilt, obwohl die Handlung der Szene abgeschlossen ist und die Figuren sie verlassen haben. Gestört wird so das gerade im klassischen Hollywoodfilm angewandte continuity system, welches einen sauberen Fluss der Szenen garantieren sollte. Die Techniken des Verlängerns der Szene oder auch des Einfrierens brechen mit diesem Fluss, lassen in einem störenden Moment das filmische Medium hervortreten und erzeugen Momente von Abwesenheit. Im Unterschied zum ästhetischen Stil des Neuen Deutschen Filmes haben die in NACHTHELLE präsentierten Abwesenheiten nur in Teilen eine
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Abb. 4: Letztes Bild in NACHTHELLE.
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Der Film verweigert so in der letzten Sekunde das Happy End, seinen genügsamen Abschluss. Stillstand des Mediums und Off fallen dabei in das Bild ein. Diese Szene erinnert an den Stil der Filme der sog. Berliner Schule, der sich, oberflächlich gesagt, durch Langsamkeit und statische Bilder auszeichnet. Diese langsamen, formstreng gerahmten Bilder verweisen mit Deleuze auf eine andere Form des Offs. Deleuze differenziert zwischen dem relativen und dem absoluten Off. Während das relative Off die imaginäre Fortsetzung der diegetischen Welt meint, meint das absolute Off den Bezug auf ein radikales Anderswo (Deleuze 1989: 34).16 Dieses radikale Anderswo verfüge über eine beunruhigende Präsenz, die nicht schlicht existiere, sondern vielmehr insistiere (vgl. ebd.). Der Moment des Insistierens verweist auf die Doppelbewegung zwischen Präsenz und Absenz, auf die implizit anwesend gemachte Abwesenheit der Leerstelle (vgl. Dablé 2012: 13), die gleichzeitig erscheint und sich entzieht.
verfremdende Wirkung, sind sie doch weniger explizit gemeint und lenken den Fokus vielmehr auf eine körperlich wahrgenommene Materialität. 16 Hanstein (2009: 123) spricht in Bezug auf Carl Theodor Dreyers GERTRUD (DK 1964) von einem »unaufhebbaren Bezug«, da das absolute Off nicht mehr den möglichen Anschluss an das sichtbar Gegebene meine, also keine Umgebung bezeichne, die in kurzer, zu überwindender Entfernung sei. Dabei kann die Frage aufgeworfen werden, inwiefern der Tagebau in NACHTHELLE nicht doch einen konkreten Bezugspunkt darstellt, wie geschildet würde ich die Bezüge jedoch als diffus und sich entziehend charakterisieren, als ein en Bezug, der letztlich nicht eingelöst werden kann.
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Der Tagebau verwandelt das Land in eine wüstenartige Grube. Das verschwindende Dorf erscheint dabei als eine Leerstelle, die nicht mental geschlossen werden kann. In NACHTHELLE bleibt es vielmehr eine insistierende Wunde, die gezeigt, aber nicht gedeutet werden kann. Dieser Moment des Zeigens wurde bereits im Heimatfilm realisiert, wenn GRÜN IST DIE HEIDE oberflächlich harmonisch erscheint, zugleich aber durch das Zeigen der Vertriebenen einen Anknüpfungspunkt für Diskurse über gesellschaftliche Problematiken bietet. Dieser einleitend als abwesende Anwesenheit beschriebene Zeigeprozess wird umgekehrt von der anwesenden Abwesenheit in Sadouns Fotographien, die u.a. in Frontalansichten geschlossene Rollladen ins Bild setzen. Gemeinsam ist beiden Beispielen ein Nicht-Zeigen, welches jedoch paradox vorhanden ist, weswegen ich auch hier das (Nicht-)Zeigen als insistierende Wunde bezeichnen würde. Die Wunde verwende ich dabei in Zusammenhang mit NACHTHELLE als Metapher auf verschiedenen Ebenen. Für die weitreichenden Folgen komplexer gesellschaftlicher Prozesse wie bspw. der Abwicklung der DDR, der Umsiedlung von Dörfern und der Umgestaltung der Landschaft im Zuge des Braunkohletagebaus. Für die individuellen Manifestationen dieser Prozesse, kreisten doch alle besprochenen Filme um die Suchbewegung einer Protagonistin, die damit einer Leerstelle begegnet, entstanden durch so verschiedene Vorgänge wie die Abwicklung von Staaten, die Auflösung von Dörfern, aber auch die Verschwiegenheit der Dorfgemeinschaft oder der eigenen Familie. Primär verhandelt wurde in diesem Aufsatz dabei die ästhetische Ebene dieser Metapher; denn in ihren medialen Erscheinungsformen werden diese Prozesse u.a. mit der anwesenden Abwesenheit ihrer Orte beschreibbar gemacht. Diese anwesende Abwesenheit reibt sich dabei am Dorf als Erinnerungsspeicher, wie anhand von NACHTHELLE deutlich wurde. So werden zwar Deutungsangebote gemacht, diese verweisen aber auf eine stumpfe Materialität und ein diffuses Off und sind damit oftmals, wie das Dröhnen der Bagger des Tagebaus, als Geschehendes ohne Geschehen nicht restlos erklärbar, werden gleichzeitig jedoch diskursivierbar. NACHTHELLE wird so zur insistierenden Leerstelle zwischen nostalgischen und kritischen Heimatfilmen, zwischen Ostalgiekomödien und DDR-Abrechnung, zwischen ökonomischem Zwang zum Tagebau und einem oft verklärend verstandenen Heimatbegriff; zum Requiem für verschwindende Dörfer.
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F ILM DAS DORF DES SCHWEIGENS (2015) (D, R: Hans Steinbichler) DER PLÖTZLICHE REICHTUM DER ARMEN LEUTE VON KOMBACH (1971) (BRD, R: Volker Schlöndorff) GRÜN IST DIE HEIDE (1951) (BRD, R: Hans Deppe) HIERANKL (2003) (D, R: Hans Steinbichler) NACHTHELLE (2015) (D, R: Florian Gottschick) NOVEMBERKIND (2008) (D, R: Christian Schwochow) YELLA (2007) (D, R: Christian Petzold)
Autorinnen und Autoren
Alkın, Ömer, ist Medien- und Kulturwissenschaftler und derzeit Stipendiat des Avicenna Studienwerks e. V. mit einem Promotionsvorhaben zum türkischen Emigrationsfilm am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Praktische Erfahrungen in der Filmproduktion als Drehbuchautor, Script Consultant, Regieassistent. Engagement in interkulturellen Organisationen. Forschungsschwerpunkte und -interessen: Visual Culture, Transnational Cinema, türkische Filmhistoriographie, deutsch-türkisches Kino, Cultural Studies im deutschen Schulkontext, Rassismus und Film. Letzte Publikationen: Als Herausgeber: DEUTSCH-TÜRKISCHE FILMKULTUR IM MIGRATIONSKONTEXT, Wiesbaden: VS 2017; Aufsätze: »Filmic Realization of a Third Space in Vatanyolu (1987)«, in: Media Fields Journal 12 (2016); »Making Cultural Values Visible in Early Turkish-German Cinema«, in: Veronika Bernard (Hg.), IMAGES (V) - Images of (Cultural) Values, Frankfurt am Main: Peter Lang 2016, S. 65-76. Braun, Peter, ist Germanist und Medienwissenschaftler und leitet das Schreibzentrum an der Friedrich-Schiller-Universität, Jena. Neben einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Schreibforschung liegen seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte auf den Verbindungen zwischen Literatur und Ethnologie sowie den Beziehungen der Literatur zu anderen Medien, vor allem zur Malerei und zur Fotografie. In diesem Zusammenhang beschäftigt er sich intensiv mit den Arbeiten von Leonore Mau und Hubert Fichte und mit jenen von Ilse Schneider-Lengyel, zu der er eine Buchpublikation mit dem Titel PORTRÄT EINER UNBEKANNTEN vorbereitet. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den Formen dokumentarischen Erzählens und der Creative Nonfiction. In den letzten Jahren edierte er die Briefe von Hubert Fichte an Leonore Mau unter dem Titel ICH BEIßE DICH ZUM ABSCHIED GANZ ZART (Frankfurt/M. 2016), gab Bücher zu Wolfang Hilbig und Franz Fühmann heraus – HILBIGS BILDER (mit Stephan Pabst, Göttingen 2013) und INS INNERE (mit Martin Straub, Göttingen 2016) und legte das Arbeitsbuch OBJEKTBIOGRAPHIE (Weimar 2015) vor.
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Dubil, Janwillem, Studium der Neueren deutschen Literatur- und Medienwissenschaft, der Älteren deutschen Literatur- und Sprachwissenschaft und der Pädagogik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Doktorand der Neueren deutschen Literatur- und Medienwissenschaft bei Prof. Dr. Hans-Edwin Friedrich mit dem Promotionsvorhaben »Theorie und Praxis der Comicverfilmung«. Ehrler, Martin, Studium der Germanistik, Skandinavistik und Komparatistik in Greifswald und Leipzig. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt Experimentierfeld Dorf an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit einem Promotionsprojekt zu Ästhetisierungen von Tagebaulandschaften in Literatur, Malerei und Fotografie. Frieß, Nina, Dr. phil., studierte Slavistik und Politikwissenschaft in Heidelberg, St. Petersburg und Potsdam. Von 2009 bis 2016 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Slavistik der Universität Potsdam. 2015 wurde sie mit einer Dissertation zur Erinnerung an den stalinistischen Gulag in der Gegenwart promoviert. Die Arbeit wurde mit dem Klaus-Mehnert-Preis der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde ausgezeichnet. Derzeit ist sie als PostDoc am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) Berlin tätig. Frölich-Kulik, Maria, Dipl.-Ing., Studium der Architektur an der Bauhaus-Universität Weimar, der Tongji-Universität Shanghai und der Esquela Técnica Superior de Arquitectura de Madrid. Mitarbeit in verschiedenen Architekturbüros und seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin (Promotion) innerhalb des Forschungsprojektes Experimentierfeld Dorf am Lehrstuhl für Landschaftsarchitektur und -planung an der Bauhaus-Universität Weimar; aktuelles Promotionsprojekt zu Perspektiven von Landbahnhöfen als Ressourcen im Netzraum. Gruber, Sabine, Dr. phil., Studium der Deutschen Philologie, Geschichte und Publizistik in Mainz; wissenschaftliche Mitarbeiterin u.a. in der Frankfurter Brentano-Ausgabe am Frankfurter Goethe-Haus/Freien Deutschen Hochstift und im Projekt »August Wilhelm Schlegel. Kritische Ausgabe der Vorlesungen«, Universität Tübingen; seit Januar 2018 wissenschaftliche Angestellte im Projekt »Religion – Wissen – Literatur«, Lehrstuhl Braungart, Universität Tübingen. Hokema, Dorothea, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Landschaftsplanung und Landschaftsentwicklung der TU Berlin, Promotion zu zeitgenössischen Landschaftsdiskursen. Forschungsinteressen: Bedeutung und Wandel des Landschaftsbegriffes, gesellschaftliche Funktion und soziale Dimension städtischer Freiräume.
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Hengst, Lutz, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Kunst- und Kulturgeschichte an der Universität der Künste Berlin. Zuvor studierte er Volkskunde, Kunstgeschichte und Historische Geographie in Bonn. Danach war er Stipendiat am Gießener Exzellenzzentrum GCSC, dann Assistent für Kunst- und Designgeschichte an der Universität Wuppertal; zudem Redakteur bei kunsttexte.de und Kurator. Forschungsschwerpunkte z.Zt. sind postminimalistische Kunst und Landschaftlichkeit. Auswahlbibliographie: FORSCHUNGSADAPTIONEN FÜR EIN INDIVIDUALMUSEUM? ZU GENESE UND POSITIONEN SPURENSICHERNDER KUNST IM 20. JAHRHUNDERT, Kassel 2016; »Skulpturale Spielarten der Spur. Relativierungen moderner Zeitauffassungen in plastischen Künsten nach 1960«, in: Guido Reuter/Ursula Ströbele (2017) (Hg.), Skulptur und Zeit im 20. und 21. Jahrhundert, Köln: Böhlau, S. 123-141. Huber, Mario ist Doktorand an der Karl-Franzen-Universität Graz. Seit 2016 Teilnehmer am Doktoratsprogramm »Kultur – Text – Handlung« mit Einbindung in das European PhDnet »Literary and Cultural Studies«, 2017 Stipendiat des FSP »Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte« der Universität Innsbruck. Kersten, Anne ist Kuratorin für Gegenwartskunst. Seit 2004 hat sie zahlreiche Ausstellungen mit dem Interesse am Verhältnis von Mensch und Natur realisiert (u.a. ANIMAL C ITY (2006), VILLAGE PEOPLE (2008), Kunstverein Wolfsburg). Aktuell promoviert sie an der HFG Offenbach zu Kunst und Landwirtschaft. Kölling, Julia, geboren in Berlin, Studium der Germanistik, Anglistik, Sprach- und Erziehungswissenschaften in Konstanz und Barcelona. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im VW-Projekt Experimentierfeld Dorf an der Universität Konstanz. Aktuelles Promotionsprojekt zu Schreibweisen des Magischen Realismus in sozialistischen und postsozialistischen Dorfgeschichten. Kühne, Olaf, Prof. Dr. Dr., Studium der Geographie, Neueren Geschichte, Volkswirtschaftslehre und Geologie an der Universität des Saarlandes. 1999 Promotion in Geographie, 2002 Habilitation im Fach Geographie, 2006 Promotion in Soziologie. Nach Professuren an der Universität des Saarlandes und der Hochschule Weihenstephan seit 2016 Inhaber der Professur für Stadt- und Regionalentwicklung an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Zahlreiche Veröffentlichungen zur sozialkonstruktivistischen Landschaftsforschung und zur Stadt- und Regionalentwicklung. Veröffentlichungen u.a.: LANDSCHAFT UND WANDEL – ZUR VERÄNDERLICHKEIT VON WAHRNEHMUNGEN (2018), ZUR AKTUALITÄT VON RALF DAHRENDORF. EINFÜHRUNG IN SEIN WERK (2017), LANDSCHAFTSTHEORIE UND LANDSCHAFTSPRAXIS (2013). Olaf Kühne ist Mitglied und Vorsitzender der Deutschen Akademie für Landeskunde.
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Nell, Werner, Prof. Dr., geboren in St. Goar am Rhein, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg; Adjunct Associate Professor an der Queen’s University in Kingston (Ontario), Kanada; Vorstand des Instituts für sozialpädagogische Forschung Mainz (ism). Forschungsgebiete: Literatur in transnationalen Prozessen, europäischüberseeische Literaturbeziehungen, vergleichende Regionalitätsstudien, Literatur und Gesellschaft. Neuere Publikationen: IMAGINÄRE DÖRFER. ZUR WIEDERKEHR DES DÖRFLICHEN IN LITERATUR, FILM UND LEBENSWELT (2014, gem. mit M. Weiland); VOM KRITISCHEN DENKER ZUR MEDIENPROMINENZ ? ZUR ROLLE VON INTELLEKTUELLEN IN LITERATUR UND GESELLSCHAFT VOR UND NACH 1989 (2015, gem. mit C. Gansel); ÜBER LAND. AKTUELLE LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN AUF DORF UND LÄNDLICHKEIT (2017, gem. mit M. Marszałek u. M. Weiland). Neumann, Daniel, geb. 1988 in Stralsund, 2010 bis 2015 Studium der Kunstwissenschaft und Philosophie an der Hochschule für Gestaltung, Karlsruhe, MA. Seit 2016 Promotionsprojekt über automatisches und zwanghaftes Denken bei Spinoza und Schreber am Institut der Kulturwissenschaft der HU Berlin. Nitzke, Solvejg, Dr. phil., studierte Germanistik und Komparatistik an der RuhrUniversität Bochum, in Växjö (Schweden) und der University of Virginia, Charlottesville (USA). Ihre Promotion mit dem Titel DIE PRODUKTION DER KATASTROPHE. DAS TUNGUSKA-EREIGNIS UND DIE PROGRAMME DER MODERNE ist unlängst erschienen. Sie war bis 2017 Mitarbeiterin im DFG-Projekt ZEIT DES KLIMAS an der Universität Wien und forscht nun im Rahmen einer Open Topic Postdoc Position an der TU Dresden. Aktuelle Publikationen: Mit Nicolas Pethes (Hg.): IMAGINING EARTH. CONCEPTS OF WHOLENESS IN CULTURAL CONSTRUCTIONS OF ›OUR HOME PLANET‹. Bielefeld: transcript 2017; »Creating ›Klima‹ in a Changing World: Weather and Environment in Peter Rosegger’s Forest Fictions«, in: Sarah Fekadu/Tobias Döring/ Hanna Straß-Senol (Hg.): »Meteorologies of Modernity: Weather and Climate Discourses in the Anthropocene« Yearbook of Research in English and American Literature (REAL) 33, 2017. 121-140. Opitz, Sophie-Charlotte, (*1987) promoviert in den fachwissenschaftlichen Bereichen der Visuellen Kultur und Memory Studies und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstpädagogik der Goethe-Universität, Frankfurt am Main. Neben ihrer universitären Tätigkeit arbeitet sie als Lehrerin an den Hessischen Schülerakademien (hsaka.de). Ihr Studium der Kunstpädagogik und Philosophie an der Goethe-Universität schloss sie mit einer Arbeit zur Ästhetik künstlerischer Kriegsfotografie ab. In ihrem transdisziplinären Promotionsprojekt weitet sie dieses Thema auf die intertextuellen und -medialen Dynamiken und Bezüge zwischen konzeptuellen Kriegsfotografien aus. Sie ist Mitglied verschiedener Forschungsgruppen, u.a. der
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Frankfurt Memory Studies Platform (memorystudies-frankfurt.com) und des Forschungszentrums historische Geisteswissenschaften (fzhg.org). Ihr Forschungsinteresse umfasst Bildtheorie, Zeit- und Zeitlichkeitskonzepte, Strategien der Visualisierung, die Verbindung von Sichtbarem und Sichtbarkeiten sowie visuelle Erinnerungskultur. Ostheimer, Michael, PD Dr. phil., Oktober 2013 bis September 2016 eigene Stelle mit dem DFG-Projekt »Chronotopographie der DDR-Literatur« im Rahmen des Schwerpunktprogramms »Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne«; November 2012 Habilitation (UNGEBETENE HINTERLASSENSCHAFTEN. STUDIEN ZUR LITERARISCHEN IMAGINATION ÜBER DAS FAMILIÄRE NACHLEBEN DES NATIONALSOZIALISMUS ), von WS 2005 bis SS 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur NDVL der TU Chemnitz; 2002-2005 DAAD-Lektor an der Peking-Universität; Promotion 2001 an der FU Berlin mit der Dissertation: ›MYTHOLOGISCHE GENAUIGKEIT ‹. HEINER MÜLLERS POETIK UND GESCHICHTSPHILOSOPHIE DER TRAGÖDIE; Forschungsschwerpunkte: Antike-Rezeption, Literaturtheorie, DDR-Literatur, Film und Literatur, China-Rezeption, Gegenwartsliteratur. Probst, Inga, Dr. phil., studierte Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft in Bielefeld. Von 2011 bis 2013 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig. Stipendiatin der Landesgraduiertenförderung des Freistaates Sachsen. 2016 wurde sie mit einer Dissertation zur postindustriellen Landschaft in Texten Kerstin Hensels, Wolfgang Hilbigs und Volker Brauns an der Universität Leipzig promoviert. Derzeit ist sie DAAD-Lektorin an der Abteilung für Germanistik der Latvijas Universitāte, Riga, Lettland. Sie unterrichtet im Bereich DaF und germanistische Literaturwissenschaft/Kulturwissenschaft und forscht im Bereich der DDR-Literatur, literarische Räume/Landschaften und dem Paradigma der ›Arbeit‹ in der Literatur nach 1989. Schneider, Karl-Heinz, Prof. Dr., Studium der Geschichte und Germanistik in Hannover. Promotion 1981, Habilitation 1997, seit 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter für Angewandte Regionalgeschichte an der Leibniz Universität Hannover und dort seit 2001 außerplanmäßiger Professor am Historischen Seminar. Veröffentlichungen zur Agrargeschichte und zur Geschichte des ländlichen Raumes. Darüber hinaus Forschungsschwerpunkte in der Unternehmens- und Geschlechtergeschichte.
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Schubert-Felmy, Barbara, Dr. phil., Studium der Germanistik und Ev. Theologie in Münster, Heidelberg und Bielefeld. Promotion zum Thema: WEGE DER IMAGINATION – LESEWEGE. Ehemalige Fachleiterin und Fachdezernentin für Deutsch. Lehrbeauftragte für Deutschdidaktik an mehreren Universitäten. Veröffentlichungen zur DDR-Literatur, u.a.: ERINNERUNGSORTE. LAND- UND DORFLEBEN IM SPIEGEL LITERARISCHER ZEUGNISSE DER DDR (2012). Thomaschke, Dirk, Dr. phil., Studium der Geschichte, Philosophie und Medienkultur in Hamburg, Oldenburg, Osnabrück und Aarhus; 2009-2012 DFG-Projekt »Die Bevölkerungsfrage und die soziale Ordnung der Gesellschaft«; 2014 Promotion (IN DER GESELLSCHAFT DER GENE. RÄUME UND SUBJEKTE DER HUMANGENETIK IN DEUTSCHLAND UND DÄNEMARK 1950-1990); 2013-2015 PRO*Niedersachsen-projekt »Geschichte im Dorf lassen: Der Nationalsozialismus in deutschen Ortschroniken« (ABSEITS DER GESCHICHTE. NATIONALSOZIALISMUS UND ZWEITER WELTKRIEG IN ORTSCHRONIKEN, V&R UNIPRESS 2016); 2013-2017 Freier Historiker im DFGProjekt »Imaginary Landscapes«, dem Wissenschaftlichen Zentrum Genealogie der Gegenwart und der Arbeitsstelle Regionale Geschichtskulturen der Universität Oldenburg. Forschungsschwerpunkte: Wissensgeschichte Nordwesteuropas, Erinnerungskultur und Wissenschaftstheorie. Wehmeier, Henrik, studierte Germanistik und Philosophie mit Schwerpunkt Theater und Medien an der TU Dortmund sowie der Universität Hamburg. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien und Kommunikation der Universität Hamburg und ist aktuell Stipendiat des dortigen Doktorandenkollegs Geisteswissenschaft, an dem er zur filmischen Inszenierung von Rausch und deren medientheoretischer Dimension promoviert. Weiland, Marc, Dr. phil., geboren in Lutherstadt Eisleben. Wissenschaftlicher Koordinator des Forschungsprojekts Experimentierfeld Dorf an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg; Studium der Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft und Philosophie in Halle, Veszprém und Kingston/Ontario. Forschungsschwerpunkte in den Bereichen der philosophischen und literarischen Anthropologie, der Literatur des 20. Jhs. und der Gegenwart sowie der literarischen Dörflichkeit und Ländlichkeit. Herausgeberschaft: IMAGINÄRE DÖRFER. ZUR WIEDERKEHR DES DÖRFLICHEN IN LITERATUR, FILM UND LEBENSWELT (2014, mit. W. Nell), ÜBER LAND. AKTUELLE LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN AUF DORF UND LÄNDLICHKEIT (2017, gem. mit M. Marszałek u. W. Nell).
Literaturwissenschaft Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)
Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart Mai 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4
Solvejg Nitzke
Die Produktion der Katastrophe Das Tunguska-Ereignis und die Programme der Moderne Mai 2017, 358 S., kart. 36,99 € (DE), 978-3-8376-3657-4 E-Book: 36,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3657-8
Stephanie Bung, Jenny Schrödl (Hg.)
Phänomen Hörbuch Interdisziplinäre Perspektiven und medialer Wandel 2016, 228 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3438-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3438-3
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Literaturwissenschaft Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.)
Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt 2016, 318 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3266-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3266-2
Stefan Hajduk
Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit 2016, 516 S., kart. 44,99 € (DE), 978-3-8376-3433-4 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3433-8
Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 1 August 2017, 208 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3817-2 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3817-6
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