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German Pages 266 Year 2015
Susanne Stemmler Topografien des Blicks
Susanne Stemmler (Dr. phil.) studierte Romanistik und Germanistik in
Düsseldorf und Montpellier. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Heinrich-Reine- Universität Düsseldorf und lehrt dort Romanistik sowie Medien- und Kulturwis senschaft.
SUSANNE STEMMLER
Topografien des Blicks. Eine Phänomenologie Literarischer Orientalismen des 19. Jahrhunderts in Frankreich
[transcript]
D 61
Dissertationsschrift
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©
2004
transcript Verlag, Bielefeld
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INHALT EINFÜHRUNG
9
II
RÄUME DER ÜRIENTALISMEN
21 Edward Saids Orientatism: a catibanic viewpoint
25
2
Jenseits der Differenz
31
3
Homi K. Bhabha: the disp/acing gaze
35
4
Radikaler Orientalismus
39
111 BLICK 43 Sehen und Subjekt
49
1.1 Identifizieren/Verschwinden
49
Wissen 49 1 Paradigma Fotografie 51
1.2 Sehen und Macht
53
Kontrolle 54 1 Perspektivierung/Einstellung 55 1 gendered gazes 57
1.3 Sehen versus Blick Sich sehen Sehen 59 1 Spaltung von Auge und Blick 60
59
I Bildschirm
und Fleck 62 1 Jenseits des Sehens 64
2
Sehen als Berühren: Blick
2.1 Chiasmen 2.2 Poiesis und Leibgebundenheit 2.3 Fleisch der Welt: Textur 2.4 Sichtbares/Unsichtbares
67 68 70 71 73
Topografien
77
3.1 Blick-Räume
77
3.2 Zwischenräume/Gesten des Blicks
80
4
83
3
Punktierungen
4.1 Blick und Anderer
84
4.2
Punctum
87
5
Blick/Text
89
IV
KONSTELLATIONEN DES BLICKS 93
Schleier
95
1.1 Metapher Schleier Enthüllen und Wissen 98 1 Voyeur-valeur- Blicke in den Harem 101 Zwischenraum/ Materialität/Text 106 1.2 Entschleiern Nerval: »Pourquoi passer si vite?« 107 1 Innehalten: Gautiers Roman de Ia momie 116 1 Maskeraden des nervalsehen Erzählers 118 Kontextualisierte Nacktheit 121 1 Fetischisierung in Flauberts Voyage en Orient 124
98
107 1
1.3 Verhüllen Lotis Aziyade: Verbot und derive 130 1 Zwischenräume bei Gautier und Nerval136 I Erotik des Schleiers: SalammbO 142
130
1.4 Verschwinden Entzug des Anderen: Maupassant und Gautier 145
145
1.5 L'Orient voi/e
150
2
153
Monströses und Melancholie
2.1 Sa/ammbo: Appetit des Auges Herausforderung Stereotyp 158 1 Monster im Zeichen 162
155
2.2 Folie de voir und delire: Salammb8 Beute/Opfer/ Sklave 168 1 Überquellen des Sehens- L'informe 174
167
2.3 Flaubert: Obszönes und Abjektes
178
2.4 Lotis masochistischer Blick
184
2.5 Blick und Melancholie Nerval: »Le soleil noir de la melancolie" 186 1 Flaubert: »Voila le vrai orient.« 187 1 Lotis fotografische Erinnerungsbilder 192
185
3
195
Rausch
3.1 Wahrnehmungsänderung: Gautier und Maupassant
195
3.2 Gautier: »Barbares esthetises··
201
3.3 Maupassant:»Tout est La.••
203
3.4 Maupassant: " (omment l'exprimer?··
207
3.5 Ornamente des Blicks
210
Arabesken: Maupassant und Gautier 211
3.6 Rausch als »Kraft des Blicks··
218
Haschischclub und Opiumpfeife: Blick der Dinge 220 und Maupassant: Berauschte Räume ZZZ
1
1
Gautier
Gautier: Ornamentale
Prosa 226
227
3.7 Desir de /'Orient
V
EPILOG
229
LITERATUR
233
I
EINFÜHRUNG
Amable Matterer, capitaine en second du Ville de Marseille, et ses compagnons demeurent immobiles. La Ville lmprenable leur fait front des ses multiples yeux invisibles. D'ou cet exces meme dans la blancheur de la cite, comme si le panorama aux formes pourtant attendues - ici une coupole de mosquee refletee dans l'eau, la-haut quelque ciselure de donjon ou une pointe de minaret- se figeait dans une proximite troublante. 1
Die französische Kriegsflotte nähert sich am 13. Juni 1830 im Morgengrauen der algerischen Küste. Es ist die erste Begegnung mit dem zu erobernden Land, mit einer anderen Kultur und mit Algier, der »Uneinnehmbaren Stadt«, wie sie genannt wird. Vor dem Angriffhalten Amable Matterer, Zweiter Kapitän der Fregatte Ville de Marseille und seine Besatzung einen Moment lang inne. In der Stille blickt ihnen die Stadt mit unsichtbaren Augen entgegen. Hundertfünfzig Jahre nach der Eroberung Algeriens beschreibt die algerische Autorirr Assia Djebar diese Szene in ihrem Roman L 'Amour, Ia Fantasia wie ein Gemälde. Die erste Annäherung an das Andere vollzieht sich als visuelle - sowohl die Sicht der Kolonisatoren wie auch die der Kolonisierten kommen zur Geltung. Die Stadt einzunehmen bedeutet, sie zu sehen und dabei auf eine scheinbar vertraute >Orientalische< Ansicht zu stoßen: Moscheen, Türme, Minarette. Es sind die Ansichten des unbekannten Lands, die man von den Gemälden oder aus den Reisebeschreibungen zu Hause - in Frankreich - zu kennen glaubt. Doch etwas schiebt sich zwischen diese Bilder und den Blick Amable Matterers und seiner Soldaten, das ihrem Blick die Unmittelbarkeit raubt, Assia Djebar [1985] 1995, L'Amour, Ia Fantasia: 14ff. " Amable Matterer, Zweiter Kapitän auf der Ville de Marseille, und seine Gefährten verharren regungslos. Die Uneinnehmbare Stadt schaut ihnen mit zahllosen un· sichtbaren Augen entgegen. Woher dieses Übermaß selbst im Weiß der Stadt, als ob das Panorama, mit dem man doch gerechnet hatte - hier die Kuppel einer Moschee, die sich im Wasser spiegelt, dort oben der Umriß eines Turmes oder die Spitze eines Minaretts -, schon in beunruhigender Nähe sei." (Djebar 1990, Fantasia: 15) Deutsche Übersetzungen der Primärliteratur, sofern vorhanden, werden in Folgendem in der Fußnote angegeben.
9
TOPOGRAFIEN DES BLICKS
sich ihrem Blick zu entziehen scheint: die Kuppel der Moschee ist nur als Spiegelbild im Wasser, der Turm nur als Umriss und vom Minarett nur die Spitze in einem unbestimmten »dort oben« zu sehen. Das überbordende und blendende Weiß - in Algerien Farbe der Trauer - , welches die Stadt ausstrahlt, suggeriert dem Betrachter eine trügerische und zugleich beunruhigende Nähe. Sie lässt nicht etwas Erwartetes, Sichtbares wahrnehmen, sondern schiebt sich in irritierenden Vexierbildern von Unverfügbarkeit und Widerständigkeit zwischen Betrachter und Betrachtetes. Diese Unterbrechungen des souveränen Sehens, dieser Moment des Innehaltens inmitten der Bewegung, die Geste des Zögerns stellen eine Irritation des Sehens dar: Es ist der zurückgeworfene und wechselseitige Blick, welcher der hier beschriebenen Eroberungsgeste innewohnt. Er kann als visuelle Grundszene der Begegnung mit einer anderen Kultur gelten und lässt ein räumliches und ein am >eigenen Leib erfahrbares< Verhältnis zum Anderen entstehen, das sich in all seiner Ambivalenz in die Geschichte der spannungsreichen W echselbeziehtmg von Kolonisator und Kolonisiertem einschreibt. Die koloniale Eroberung vollzieht sich als dynamisches und theatrales Spiel von Sehen und Gesehen-Werden: Eingenommen zu werden bedeutet, vom Anderen gesehen zu werden und ihn selbst zu sehen; Einzunehmen bedeutet ebenfalls vom Anderen gesehen zu werden und ihn selbst zu sehen. Die erste Annäherung an das Andere vollzieht sich als primär visuelle. Andersheit ist dabei offenbar immer schon durchkreuzt von der Frage ihrer Repräsentation und von der unauflösbaren Ambivalenz des >entstellenden< kolonialen Blicks. Die visuelle Poetik des Texts lässt die sich wechselseitig einander bedingenden Subjekt-Objekt-Beziehungen erkennen. Subjekte sind hier auch Objekte des Sehens, Objekte auch Subjekte des Sehens, Zuschauer zugleich Akteure im Spektakel der kolonialen Unternehmung, die fortan folgenreich für alle Beteiligten die Verhältnisse zum jeweils Anderen prägen wird. Unverfligbarkeit und Uneinnehmbarkeit unterlaufen als Trug- und Spiegelbilder den Prozess der visuellen Annäherung an vermeintlich vertraute Ansichten: spectren, phantomhafte Spiegelbilder und Erscheinungenjener bereits präformierten Bilder des Anderen werden im Wahrnehmungsprozess zurückgeworfen. Den Kategorien des eigenen Bildrepertoires verhaftet, fixieren diese >vertrauten< Bilder den Anderen auf unheimliche und geradezu tödliche Weise. Wo das aktiv Erblickte dem präformierten Bild verhaftet bleibt, wird - wie es bei Djebar heißt - die Stadt unter dem Blick der Franzosen zu einer »in ihrem Geheimnis erstarrten Orientalin«, zu einer ebenso uneinnehmbaren wie auch geheimnisvoll undurchdringbaren Anderen. Es ist diese Erfahrung der Wider-
10
EINFÜHRUNG
ständigkeit im Kontext der kolonialen Unternehmung, die im Verhältnis zum Anderen, zur anderen Kultur zum Motor der »[ ... ] colonizing desires to translate opacity into visibility, to search behind the veil for the secrets ofthe Orient« (Cherry 2003: 46) wird. Dieses Begehren nach unverstellten Ein- und Ansichten und dessen Enttäuschung prägt als visuelle Grundszene den Grientalismus des 19. Jahrhunderts, der sich in der literarischen, aber auch in der gesamten kulturellen Produktion zu einer regelrechten Orientalomania (vgl. Tilcher 1985: 1f.) entwickelt. Sie versammelt Bezugnahmen auf einen imaginären, geografisch unbestimmten Raum, die im Kontext heterogener Strömungen der philosophischen, wissenschaftlichen und ästhetischen Debatten des 19. Jahrhunderts stehen und in Europa, vor allem in Frankreich, im kollektiven Bewusstsein verschiedene Gestalten annehmen. Ihre Formen reichen von literarischen Texten, Fotografien, bildender Kunst über Architektur, Musik und Tanz, bis hin zu Design und dekorativer Kunst. Sie bringen Sichtweisen des Anderen hervor, die bis heute zirkulieren, und formulieren mit ihren Infragestellungen des Sehens und der damit verknüpften Subjekt-Objekt-Beziehung eine wichtige Problematik des ausgehenden 19. Jahrhunderts: die der Visualität. Verstanden als aisthesis, d.h. als Sinnlichkeit allgemein (vgl. Didi-Huberman 1999: 151), provoziert das Sehen des Anderen auch Formen eines >anderen Wahrnehmens< und problematisiert die Frage nach den Subjekten und Objekten der Wahrnehmung sowie nach deren Verhältnissen in neuer, anderer Weise. Dabei steht jedoch nicht die Psychologie der Sinneswahrnehmung im Vordergrund. Vielmehr ist es der Blick - ein Konzept, das zu klären sein wird - in Abgrenzung zum Sehen, in dem sich Verhältnisse von Subjekt und Anderem artikulieren und aktualisieren, dem Aufmerksamkeit zuteil wird.
Terminologie Dass die Grientalismen wie alles Kulturelle konstitutive Selbstbeschreibungen sind und zugleich auf einen im kulturellen Imaginären existierenden >Orient< verweisen, macht die Etymologie des Begriffs >Ürient< 2 deutlich: Die Verben orienter und s 'orienter bedeuten, etwas nach gesetzten Punkten auszurichten. Im 18. und 19. Jahrhundert bezeichnen orient (lat. oriens; Partizip Präsens von oriri: >aufstehensich erhebenentspringenAufgangOrient< zwar bereits in der Übersetzung von Pocockes Reisebeschreibung Voyages d'Orient (1772) auf, ist jedoch erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts durch Alphonse de Lamartine (1835) lexikalisiert (vgl. Berchet 1985: 4, 10). Mit der eingangs von Djebar beschriebenen Eroberung Algeriens 1830 wird der >Orient< im Frankreich des 19. Jahrhunderts auch zur >realenOkzidentorientalischen< Anderen in Frankreich in entscheidendem Maß4 und insbesondere Algerien avanciert zur mise-en-scene für »visual pleasures« und »ocular excitements« (Cherry 2003: 41). >Orientalisme< wird seit 1838 zur Beschreibung der Funktion, die der >Orient< im politischen und kulturellen Kollektivbewusstsein Frankreichs einnimmt, benutzt. Zunächst als »systeme, de ceux qui pretendent que les peuples occidentaux doivent a l'Orient leur origine, leurs langues, leurs sciences« von der Academie franc;aise definiert, wird der Begriff erst später (1840) auf die Wissenschaften des >OrientsOrient< lässt sich mit dem >Orientalischen< beschreiben, ohne auf einen >realen< Erfahrungsraum Bezug nehmen zu können. Kein geografischer Ort, sonder eher ein topos, ein Satz verallgemeinerter Referenzen und eine Anhäufung von Charakteristika, die ihren Ursprung im europäischen Wissenssystem und kulturellen Imaginären haben, fungiert der >Orient< als Artikulationsmedium einer wechselreichen Beziehungsgeschichte, deren Bild- w1d Blickproduktion in historischer Varianz die vermeintliche Scheidelinie von >Orient< und >Okzident< demarkiert.
Literarische Orientalismen Dieser mytho-geografische Raum ist Ziel für Reisen- >realOrients< bei und spiegelt besonders ausgeprägt die ästhetische >RückOrients< (vgl. Schwarz 2003: 78ff.). Frankreich ist im 19. Jahrhundert besonders interessant aufgrund seiner- im Vergleich zu anderen europäischen Ländern- frühen wissenschaftlichen Tradition der Orientalistik. Die enzyklopädischen Projekte sind dabei geprägt vom >bien voir< (vgl. Behdad 1990: 167f.) und den kolonialen Aktivitäten im Kontext des nation-building. 7 Die Ägypteninvasion Napoleons 1798 8 bringt einen visuellen Diskurs hervor, der kolonialistische Ambitionen hinter (pseudo-)systematischem Wissenschaftsanspruch in monumentalen Dokumentationen (vgl. Said 1991: 48) verbirgt. In der Zeit des französischen Imperialismus vollzieht sich in neuer Qualität der Eintritt neuer, anderer Räume in die eigene Alltagswelt und zieht entsprechende Kartografierungsversuche nach sich (vgl. Weimann 1997: 10). In ihnen bilden sich auch spezifische visuelle Codes heraus, um diesen Einbruch des Anderen in die eigene Welt zu repräsentieren. Sie reflektieren zugleich die historisch bedingten Änderungen der Sinneswahrnehmung durch den medialen Wandel im 19. Jahrhundert9 , der Diskussionen zur Wahrnehmungsproblematik allgemein und zur Unmöglichkeit einer Perzeption der Präsenz oder eines unvem1ittelten visuellen Zugangs zur Welt im Besonderen auslöst. Die Einsicht, dass ein Zugriff auf eine selbstidentische Wirklichkeit nicht möglich ist, bestimmt die Debatten um den Status von >Realität< und Repräsentation in Literatur und Fotografie. Auch die Weltausstellungen 10 greifen diese visuellen Codes und Re-Präsentationen aufund bringen ab 1855 den >Orient< nach Paris, wo er als de-historisierte Kulisse auch den >okzidentalen< Selbstinszenierungen und französischen Debatten über Modeme, Positivismus und Wahrnehmung dient. 11 1996, Erker-Sonnabend 1987, Günther 1988, Babinger 1979 und Balke 1965. 7 Zum Bild der Kolonialexpansion im französischen Roman vgl. Loutfi 1971; den Zusammenhang von ,Orient' und Nation thematisiert Lowe 1995: 214. 8 Vgl. dazu auch den Überblick bei Leitzke 2001: 12ff. 9 Paradigmatisch von Walter Benjamin in seinem Kunstwerkaufsatz analysiert (vgl. Benjamin 1974). Auf den Zusammenhang von Medienwandel und der Wahrnehmung des Anderen weist Honold (1995: 33) am Beispiel der ethnografischen Beschreibung hin. 10 London 1951, Paris 1855, 1867, 1878, 1889, 1900. 11 Vgl. Günther 1990: 6 und Maag 1986: 91. Zur De-Historisierung des ,Orients, im Geschichtsdenken der europäischen Aufklärung vgl. Wolf 1986 und Hentsch 1988: 196ff., 205ff.
14
EINFÜHRUNG
Die Sichtweisen des >Orients< ändern sich entsprechend der jeweiligen religiösen, historischen, politischen, geostrategischen und (geschichts-) philosophischen Situation auch in ihren literarischen Ausformungen. Im 19. Jahrhundert, der Blütezeit des literarischen Orientalismus, findet der >Orient< vor allem in enger Verknüpfung mit dem Reisetopos (vgl. Wolfzettel 1986) Aufmerksamkeit. »Homme qui a beaucoup voyage«, definiert Gustave Flaubert ironisch den »orientaliste« im Dictionnaire des Idees rec;ues ( 1952: 10 19) und spielt auf die zahlreichen literarischen und bildungsbürgerlichen >OrientOrient< neu und verleiht der Voyage en Orient einen fast schon rituellen Charakter. Auf den Spuren seiner Reisevorgänger produziert der »literarische Orienttourismus« (Syndram 1989: 335) nicht nur romantische Bilderbögen der >OrientOrient< und vor allem die >orientalischen< Anderen und gibt sie zur Ausstellung preis. Das »Fotografische« (Krauss 1990) schreibt sich als spezifische Geste 12 Literatur- und rezeptionsgeschichtliche Überblicke zu den Orientalismen bieten Pageaux 1990 und Barthelemy 1992, 1993, Wolfzettel 1986 und El Nouty 1958 sowie die frühe Studie von Schwartz 1927, eine anthologische Zusammenstellung liefert Berchet 1985. Reisebeschreibungen von weiblichen ,OrientOrient< erschafft- ob er >real< existiert oder nicht, ist unwesentlich für die Kraft, die er in Text und Bild entfaltet.
Vorgehen Orientalismen wurden in der Forschung bislang häufig als vereinnahmender Diskurs gedeutet, der einen imaginären >Orient< als Folie produziert, auf die eine Kritik oder Bestätigung des Eigenen projiziert wird. Edward Saids Studie Orientalism stellt 1978 erstmals die Erfindung des >Orients< durch den Westen in einen diskurstheoretischen Zusammenhang und eröffnet damit eine neue Sichtweise auf die koloniale und postkoloniale Situation. 13 Doch unterliegt seiner Kritik an der westlichen »Erfindung« des >Orients< ein unausgeführtes Konzept von Visualität: Sehen als ein Sehen des souveränen Subjekts wird eher unter dem Aspekt der Machtausübung im homogenen Wissensraum des >Okzidents< konzipiert. Die dichotomen Unterbauten seiner macht- und diskurstheoretischen Kritik werden daher der komplexen und ambivalenten kolonialen Situation wie auch der Heterogenität orientalistischer Texte nicht immer ganz gerecht. Auch jene Räume der Subjektivität und Alterität, die in den produktiven und veränderlichen Subjekt-Objekt-Konstellationen kultureller Kontakte entstehen, finden kaum Beachtung. Saids Analysen aber können in ihrer Weiterführung durch Vertreter der postcolonial studies für eine konstellative Analyse der visuellen Dimension literarischer Orientalismen fruchtbar gemacht werden. Sie rücken jene ambivalenten Zwischenräume in den Fokus der Aufmerksamkeit, in denen der kulturelle Kontakt als produktive Bewegung und als Bewegung eines Blicks jenseits der dichotomischen Subjekt-Objekt-Positionen aktualisiert wird. Die post/kolonialen Wechsel- und Blickverhältnisse werden so in ihrer Produktivität und psychodynamischen Ambivalenz dargestellt, die diskursiven und visuellen Dimensionen der Orientalismen können in analytischer Verschränkung als Phänomenologie des Diversen beschreibbar gemacht werden (vgl. Kap. II). Das Sehen des Anderen, wie es sich im kulturellen Kontakt des 19. Jahrhunderts vollzieht, operiert mit visuellen Gesten und in Konstellationen, die Verhältnisse, Zusammenhänge oder auch Perspektiven auf einen Zu13 Analog erfolgen Analysen von ,Afrikanismus' (Miller 1985), >Amerikanismus' (Buch 1991) oder ,ßalkanismus, (Todorova 1999).
16
EINFÜHRUNG
sammenhang bilden. Die suspendierende Geste des Blicks ist es, die die Ambivalenzen eines wissenden Sehen aufscheinen lässt, das im Seh-Akt immer wieder auf die Materialität und Leiblichkeit eines Blicks zurückgeworfen ist. Das zögerliche Innehalten im Moment des Erblickens lässt den Blick als Ausdrucksbewegung, die zwischen den Subjekten und Objekten des Seh-Akts eine Beziehung schafft (vgl. Bal 2002: 48), erkennen und >befreit< das Sehen des Anderen aus seiner passiven Rolle (vgl. Böhm 1994: 17ff.) und vermeintlich abbildliehen Dienstverpflichtung. An diesem Punkt ermöglicht die phänomenologische Herangehensweise einen theoretischen Neuansatz innerhalb eines zentralen Themas der postcolonial studies: Im Blick, dessen leibliche Qualität im topalogischen Sinne der späten Phänomenologie Merleau-Pontys verstanden wird, artikulieren sich Verhältnisse zwischen Subjekt und Anderem: er ist ein »Sehen als Berühren« und schließt immer den Anderen und den Raum des Anderen ein. Die Fokussiemng eines solchermaßen raumproduzierenden Blicks bietet die Möglichkeit, die aisthesis, das >anders< und >neu Wahrnehmen< als prägende visuelle Geste der literarischen Orientalismen zu konturieren (vgl. Kap. III). Aus dieser Verschränkung postkolonialer, medienhistorischer und phänomenologischer Fragestellungen soll so eine neue interdisziplinäre Perspektive auf die - avant la lettre - transkulturellen Phänomene des Orientalismus gewonnen werden. Sie dient als Grundlage, um typische Konstellationen des Blicks als Topografien (vgl. Kap. IV) zu beschreiben, die das Verhältnis zum Anderen in den literarischen Orientalismen des 19. Jahrhunderts in Frankreich modellieren. Dabei kristallisieren sich drei Konstellationen heraus: Die mediale Metapher des Schleiers, das Phantasma des Monströsen und schließlich der Wahrnehmungszustand des Rauschs. Diese Untersuchung wird Orientalismen in Frankreich anband von Texten Gerard de Nervals, Theophile Gautiers, Gustave Flauberts, Guy de Maupassants und Pierre Lotis darstellen. Die Autoren setzen sich in sehr unterschiedlichen Phasen der >großen< literarischen Strömungen des 19. Jahrhunderts- von der >Romantik< über die >PhantastikRealismus< und >Naturalismus< bis hin zur populären >Evasionsliteratur< - mit dem >Orient< auseinander. Trotz aller Unterschiede in narrativer Gattung (Roman, Novelle, Reisebericht, Reisebrief, Autobiografie u.a.) und Entstehungszeitraum zeichnen sich die Beispiele der Literatur aller ausgewählten Autoren durch die Visualität als textuelies Verfahren aus.
17
TOPOGRAFIEN DES BLICKS
Gerard de Nerval vermischt im Text über die dreimonatige Voyage en Orient (1852) nach Kairo, Istanbul sowie durch die Türkei, Ägypten und den Libanon von 1839 bis 1843 die Gattungsformen von Reisebericht, Tagebuch, Reportage, Märchen und Brief. 14 Theophile Gautier bereist 1845 Algerien zur Hochzeit der französischen Kolonisierung. 15 1852 besucht er für zweieinhalb Monate KonstantinopeL16 Der Roman de Ia momie (1857) nimmt wie die Novelle Le Pied de Ia momie (1852) und der Text über die ägyptische Abteilung der Weltausstellung in London 1851 das Motiv der Entdeckung einer weiblichen Mumie auf, während die Erzählungen La Pipe d'opium (1838), Le Club des hachichins (1846) und La Mille et deuxieme nuit (1889) an die phantastische Erzähltradition der Romantik anknüpfen. Gustave Flaubert unternimmt von November 1849 bis Juni 1851 gemeinsam mit dem Freund Maxime Du Camp eine Reise in den >Orientgeografischen< und >historischen Orient< und konterkariert das Genre des historischen Romans. Guy de Maupassants Beschäftigung mit dem >Orient< vollzieht sich im Kontext seiner journalistischen Aktivitäten und als »reporter engage« (Delaisement 1995: 19) bezieht er auch Stellung zur französischen Kolonialpolitik. Seine Novelle L 'Orient ( 1883) beschreibt die Erfahrungen des Drogenrauschs. 18 In einer Mischung aus Autobiografie und Briefroman stellt Pierre Lotis Aziyade ( 1879) die fiktiven Aufzeichnungen einer Reise nach Istanbul dar. Der Roman inszeniert den >Orient< als melancholische Rückschau. 19
14 Die zeitlich nicht beieinander liegenden Eindrücke seiner Reise erscheinen ab 1844 zunächst in Auszügen in Pariser Zeitschriften-Feuilletons. 15 Aufzeichnungen dieser Reise erscheinen zwischen April und Juni 1853 als Feuilleton-Beiträge in der Revue de Paris, als Buch Loin de Paris 1865 und unter dem Titel Voyage pittoresque en Algerie dann erneut 1973. Gautier reiste zuvor (1840) nach Spanien und es ist insbesondere die arabisch-muslimische Geschichte Granadas und Andalusiens, die das Zentrum seines Transits zum >Orient' darstellt (vgl. Brahimi 1990: 23). 16 Die Aufzeichnungen erscheinen ebenfalls als Feuilleton-Beiträge 1852 in der Zeitschrift La Presse, als Buch Constantinople 1853. 17 Während der Reise nach Ägypten fertigt Flaubert Notizen an, auf deren Grundlage er nach seiner Rückkehr den Text Voyages et Carnets de Voyages verfasst, der unter dem Titel Voyage en Orient (1849-1851) nachträglich in das Werk Flauberts aufgenommen wird. Zur Fotografie und Maxime du Camp vgl. Bustaret 1993. 18 Die kurzen Texte erscheinen von 1883 bis 1889 in verschiedenen Zeitungen (Le Gaulois, La Revue de Deux Mondes und La Revue Bleue), gesammelt dann 1890 in La vie errante, 1993 in Auszügen unter dem Titel Oe Tunis Kairouan. 19 Lotis Schreiben ist eng mit dem Kolonialismus Frankreichs nach der Niederlage von 1870 verknüpft (vgl. Gernie 2000: 153 ).
a
18
EINFÜHRUNG
Sehen als ein Sehen des >Anderen< wird in den literarischen Orientalismen auf facettenreiche Weise thematisiert: Es reicht vom flüchtigen Augenblick, vom Beobachten, vom Überwachen über das Sehen als Begehren oder Lust bis hin zum Blick mit leiblicher Qualität. Wie vollziehen sich in diesen Texten visuelle Annäherungen an den Anderen? In welchen Gesten des Blicks äußert sich eine visuelle Poetik? Wie finden fotografische Gesten Eingang in den Text? Welche Phantasmen spielen dabei eine Rolle? Auf welche Diskurse, auf welche visuellen Codes wird dabei zurückgegriffen? Inwieweit greifen Diskursives und Visuelles ineinander, worin unterscheiden sie sich? Wie artikuliert sich im Blick das Verhältnis von Subjekt und Anderem? In welchen Konstellationen taucht der Blick dabei auf? Der Schleier (vgl. Kap. IV.l), verstanden als mediale Metapher, gehört als wesentliche Blick-Konstellation zum grundlegenden aisthetischen Modus des Orientalismus. Der Schleier ist für das aufklärerisch wissenwollende Sehen und dessen Bemühen um Entschleierung ein Hindernis, er unterbricht den Blick und macht zugleich den Blick und sich selbst als Bedingung der Wahrnehmung sichtbar. Die Vorstellung eines Schleiers, der uns von der >Wirklichkeit< oder >Wahrheit< trenne, so dass man ihn nur wegzureißen bräuchte, um das dahinter Verborgene zu betrachten, ist Triebfeder im Spiel des Ver- und Enthüllens, das den Schleier im Zwischenbereich des Sicht- und Unsichtbaren ansiedelt. Was >hinter< dem Schleier zu liegen scheint, provoziert Neugier, Phantasmen des Begehrens wie auch Momente der Ent-Täuschung. Der Schleier entzieht Körperlichkeit, macht sie der Darstellbarkeil unzugänglich und verweist dabei stetig auf sein fließendes Gewebe, das Innen und Außen zugleich ist. Damit ist er Muster für den Text, der durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet. Der Schleier als Textmetapher verkörpert weniger die Verschleierung der Realität als die Materialität, die Textur selbst. Das Phantasma des Monströsen (vgl. Kap. IV.2), welches die visuelle Lust am Grotesken und Obszönen umfasst, steht für eine Konstellation, in der die Irritation durch den Anderen in die Beschreibung von überbordender Fülle und Obszönität mündet. Als begehrenswertes Phantasma wird Kontrollverlust inszeniert und das normierte und stereotypisierte Sehen durchbrachen. Fast schon paradigmatisch steht hier Flauberts grausamer, gigantesker und inkommensurabler >OrientOrient< als etwas im Verschwinden Begriffenes einher - wie es etwa bei Flaubert oder Loti zum Ausdruck kommt. Die französischen Eroberer in Djebars Roman erfahren nicht nur eine Irritation, sondern auch eine Trübung ihrer Sinneswahrnehmung bei der Annäherung an Algier: Was man zu sehen meint sind >nur< Spiegel- oder Trugbilder. Die Wahrnehmung des Anderen ist auch ein >anderer Zustand< des Subjekts. Feste Zuordnungen verflüchtigen sich, die Gleichzeitigkeit und Sprunghaftigkeit der Sinneswahrnehmung wird mittels des Anderen thematisiert: Man befindet sich im Rausch (vgl. Kap. IV.3) und stellt - wie u.a. Walter Benjamin - fest, dass es so viele Räume wie Raumerfahrungen gibt. Nicht zuletzt befördert durch die Weltausstellungen kann auch die Fülle der Waren rauschhaft sein. Das >barbarische Auge< fungiert dabei als Konzept eines >ästhetisierten< Blicks. Im Rausch als Aufhebung des Raum-Zeit-Kontinuums werden gewohnte Ordnungen des Sichtbaren in Frage gestellt. Das Omamentale macht dabei als Mittler zwischen Innen und Außen den Blick sichtbar: Er bewirkt den Schwindel einer sich im Anderen verlierenden Subjektivität - eine bewusst gesuchte Des-Orientierung. Mit diesen drei Konstellationen können am Beispiel ausgewählter, >kanonisierter< literarischer Texte aus der Bandbreite des 19. Jahrhunderts aisthetische Prozesse beschrieben werden, die durch den kulturellen Kontakt mit dem >Orient< ausgelöst werden. Als diskontinuierliche Phänomene durchziehen sie in den Konstellationen Schleier, Monströses und Rausch die ausgewählten Texte. Sie sind als Grundgesten einer visuellen Poetik in allen Texten auszumachen, wenn auch bei jedem Autor mit je unterschiedlichen Akzentsetzungen. Die Bezugnahmen auf den >Orient< sind damit nicht nur Topoi, also >Ürte< im Text, sondern selbst Topografien, also Beschreibungen von Orten. Sie zeigen die Ambivalenzen eines wissenden Sehens, das immer wieder auf die Materialität eines Blicks verwiesen wird. Diese Texte konstituieren Räume, die das Oszillieren, das Changieren der Subjektpositionen, das Ändern des Standpunkts realisieren. Die Texte sind dabei als jeweils konkrete Praktiken des Blicks zu verstehen, nicht als >Illustrationen< einer Theorie- werfen sie doch selbst >theoretische< Fragestellungen auf. Sie sind nicht nur Anschauungsobjekte, »Gegenstände«, sondern auch Subjekte einer Kulturanalyse, die so »die Möglichkeit erhalten, die Stoßkraft einer Interpretation zu bremsen, abzulenken und zu komplizieren« (Bal2002: 18).
20
II RÄUME DER ÜRIENTALISMEN
RÄUME DER GRIENTALISMEN
Die Etymologie und Terminologie des Begriffs >Orient< verdeutlichen dessen Konstrnktionscharakter. Ist der >Orient< ein Konstrukt, so beinhaltet er auch eine produktive, dynamische Tätigkeit, die abhängig von ästhetischen Kontexten und intertextuellen Bezügen in Gang gesetzt wird. Literatische Orientalismen basieren zudem auf historisch variablen Konzeptionen kultureller >Differenzanders< ist, wird jeweils ganz unterschiedlich bestimmt und stellt innerhalb der Geschichte - imaginärer oder tatsächlicher - kultureller Kontakte fest gefügte binäre Konzepte von Ich und Anderem in Frage. Differenz nicht als Ausschluss zu verstehen heißt auch, den produktiven Charakter der Orientalismen anzuerkennen: »L'Orient et l'Occident ne sont pas n!duits a une n!partition geographique, ni aune quelconque difference culturelle.« (Khatibi 1983: 142f.) Was aber tritt dann an die Stelle geografischer oder kultureller Dichotomien in der kolonialen Situation, aus der der Orientalismus geboren wird? Fokussiert man weniger die >Seiten< in diesem Prozess als das, was sich im - in der kolonialen Situation entstehenden - Dazwischen abspielt, so lässt sich behaupten, dass mit den Orientalismen neue Räume entstehen. Der Kolonialismus schafft einen Machtdiskurs, dem keiner der Beteiligten entkommt: die imperiale Hegemonie kennt kein Außen, die Widersprüchlichkeit, die sie hervorbringt, betrifft alle Seiten, denn sie liegt in der Sache selbst. In diesem Sinne lässt sich der Raum der kolonialen Konfrontation als eine Kontaktzone bezeichnen (vgl. Pratt 1992: 6f. und 1991). Der aus der Linguistik entnommene Begriff des >Kontakts< bezeichnet einen Raum, in dem die Kolonisierten antworten und sich widersetzen, sich anpassen, kommunizieren, imitieren usw. (vgl. Barker u.a. (Hg.) 1994: 7). Er zeichnet sich aus durch transkulturelle Prozesse der De- und erneuten Rekontextualisierung von Materialien, die durch eine dominante Kultur übermittelt wurden. 1 Im Gegensatz zur Grenze beschreibt die Kontaktzone die räumliche und zeitliche Zusammenkunft von zuvor (geografisch oder historisch) getrennten Räumen als Kopräsenz. Zu betonen ist, das der Begriff der Zone den Akzent auf die Produktivität der kolonialen Begegnung - sei es auch die konfrontative oder gewaltvolle-setzt und auf den wechselseitigen Prozess, der etwas Neues entstehen lässt (vgl. ebd.: 6). Kontaktzonen zeichnen sich durch die »heterotopicality« (Lowe 1995: 236) ihres diskursiven Terrains aus: Diskurse erfahren unterDer Begriff Transku/turation wurde 1940 geprägt durch den cubanischen Soziologen Fernando Ortiz, der damit reduktionistische Modelle von Akkulturation und kulturellem Verlust im Kolonialismus erweiterte und neu bestimmte. Zu Transku/turation als Phänomen von Kontaktzonen vgl. Pratt 1994:31.
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RÄUME DER ORIENTALISMEN
schiedliche Aneignungen und interferieren. Die heterotopische Qualität ist die Eigenschaft eines Raums, selbst übergänglicher Raum zu sein und damit >andere Räume< zu eröffnen (vgl. Foucault [1967] 1994). Mit dem Einzug eines solchen >topografischen< Denkens als Konzept einer interkulturellen Literaturwissenschaft (vgl. Görling 1997) lässt sich die Vorstellung von dominanten und überlagerten Diskursen hinterfragen. Als Paarbegriff zu »spatialite« ist »alterite« (Badasu 1998: 9) also nicht nur visuell, sondern auch räumlich konzipiert. Mit den im Text entworfenen Begegnungen zwischen Subjekten und Objekten entstehen neue Räume. Innen und Außen, Eigenes und Anderes sind dabei metaphorisch verwendete Raum-Beziehungen, die die Ordnungen der Texte durchqueren (vgl. Gehring 1994: 13). Die Forschungen zum Thema Orientalismus in der europäischen Literatur haben sich seit Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts rege entwickelt. Erfolgte in den 70er Jahren mit dem Erscheinen von Edward Saids Studie Orientalism eine Aufnahme im Bereich des englischen Sprachraums und im Kontext postkolonialer Fragestellungen, so ist in den 90er Jahren der Eingang eines solchen kritischen Ansatzes in die Frankoromanistik (vgl. u.a. Detrie 1993; Haddad 2002) zu verzeichnen. Häufig wurden Orientalismen in Bezug auf eine Region oder eine Epoche, als Motiv oder innerhalb des Werkes eines Autors analysiert. Ohne die kritische Auseinandersetzung mit der Vor-Geschichte der Orientalismus-Forschung und den damit verwandten interdisziplinären Forschungsgebieten wäre die hier entwickelte Darstellung der Bedeutung von Visualität im Grientalismus nicht möglich. Ihre Beschreibung basiert auf zentralen, im Laufe der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Orientalismus problematisierten Konzepten. Vor allem die Infragestellung der Subjekt-Objekt-Verhältnisse in den kolonialen Räumen ist durch das erweiterte Blickfeld der postcolonial studies zu einem zentralen Gegenstand der Forschung geworden. Die damit verbundenen theoretischen Implikationen sollen im folgenden Problemaufriss der Profilierung des methodischen Vorgehens im Rahmen einer Analyse der Orientalismen als Blick-Konstellationen dienen.
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EDWARD SAIDS 0RIENTALISM: A CALIBANIC VIEWPOINT 2
Die Bezugnahmen auf den imaginären >Orient< treten im Zuge der Etablierung der postcolonial studies als komplexer Untersuchungsgegenstand in den Fokus kulturwissenschaftlicher Analyse. Postcolonial bezeichnet dabei den Kontext der kolonialen europäischen Expansion und ihre Nachwirkungen; cultural und postcolonial studies hinterfragen als vergleichende Literaturwissenschaft mit einem kulturkritischen Bestreben eurozentrische Werte und Kanonbildungen (vgl. Ashcroft u.a. 2003: 2; Gugelberger 1994: 582ff.; Breckenridge!Veer 1993). Sie sind im Kontext der Beschreibungen des Kolonialdiskurses seit den 50er Jahren durch Frantz Fanon, Aime Cesaire und Albert Memmi zu situieren und erfahren in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Intensivierung. Nicht mehr die Perspektive des Kolonisators, sondern die des Kolonisierten wird eingenommen, um neue Einsichten zu gewinnen. Eine solche Perspektivenumkehrung, die eine neue Epistemologie des Anderen einführt (vgl. Clifford 1988: 256ff.), wurde von Edward Saids wegweisender und das Feld der postcolonial studies begründenden Studie Orientalism (1978) vorbereitet. Saids Studie lieferte den zentralen Impuls für eine verstärkte Beschäftigung mit der >Orientanderen< Kulturraum auseinandersetzen. Zum ersten Mal findet mit Said eine systematisch angelegte Beschreibung der Auseinandersetzung Europas mit >anderen< Kulturräumen statt. Für die europäischen >Orient-Sehnsüchte< - von ihm im Kontext des kolonialen Machtstrebens des imperialen Europas seit dem Ende des 18. Jahrhunderts resituiert- prägt er den Begriff >OrientalismusOrient< in fortgesetzter Asymmetrie diskursiv reproduziert und gefestigt werden. The relationship between Occident and Orient is a relationship of power, of domination, of varying degrees of a complex hegemony [ ...]. The Orient was Orientalized not only because it was discovered to be ,Oriental' in all those ways considered commonplace by an average nineteenth-century European, but also because it cou/d be - that is submitted to being - made Oriental (Said 1991: 5f.).
Orientalismus ist nach Said ein Denken, das auf der ontologischen und epistemologischen Differenzierung in >Osten< und >Westen< beruht und sich in einem Feld von unreflektierten Transferbewegungen zwischen akademisch-wissenschaftlichen Traditionen und imaginativen Entwürfen entfaltet. Mit Said gesprochen ist Orientalismus ein politisch instrumentalisierter und in den Wissenssystemen institutionalisierter Diskurs, der Ansichten über den >Orient< autorisiert, ihn zum Gegenstand analytischer Beschäftigung macht, restrukturiert und zugleich Autorität über ihn ausübt und weniger findet als erfindet. Der Westen, so Said, habe in der Phase der Post-Aufklärung den >Orient< ideologisch, politisch, soziologisch und militärisch produziert (Said 1991: 3). Dieses Netz von Interessen aufzudecken sowie die identitätsstärkende Funktion des Orientalismus für die europäische Kultur durch die Abgrenzung zum >Orient< nachzuweisen, ist das erklärte Ziel seiner Studie. Nach Said existiert der >Orient< folgerichtig nicht realiter, sondern ist vor allem als (Gegen-) Entwurf der Europäer im späten 18. und im 19. Jahrhundert zu sehen, der zumeist imaginär bleibe und dadurch entsteht, dass man ihn beschreibt, über ihn berichtet, Urteile abgibt, Ansichten autorisiert und Regeln aus diesen Beobachtungen ableitet. In dieser Form trägt der >Orient< auch zur europäischen Selbstdefinition bei (Said 1991: 1). Die Pionierleistung Saids besteht darin, den Zusammenhang von Wissen und Repräsentations-Macht im kolonialen Diskurs über den >Orient< zu thematisieren und ihn methodisch mit dem diskurstheoretischen Ansatz Foucaults zu beschreiben. 3 Damit liefert er auch einen Beitrag zur Situierung von Literatur und Impetialismus4 und zu einer um das Diskursive erweiterten Kulturanalyse des Anderen (vgl. Clifford 1988: 264f.). Schon Said betont die dynamische und produktive Konnotation der Hegemonie. 5 Macht ist dabei keine Relation zwischen zwei Größen oder 3 4 5
Zum saidschen Rückgriff auf und Gebrauch von Foucault vgl. Porter 1983. Später thematisiert in Said 1993. Im Sinne Antonio Gramscis (vgl. Said 1991: 7, 14).
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SAIDS ORIENTAL/SM
Subjekten, sondern die Wirkungsweise von Handlungen; eine »Situation einer Situation« (Gehring 1994: 66), eine fortwährende Provokation (vgl. Waldenfels 1995; Gehring 1994: 63ff.). Als ein dynamisches »Feld« (Said 1991: 12), in dem sich auch die wissenschaftliche Disziplin der Orientalistik herausbildet, umfasst Orientalismus ein Bündel heterogener Interessen und Aspekte, das die Erfindung des >Orients< sowie seine Orientalisierung begründet. Said macht den Orientalismus zudem als Repräsentationssystem beschreibbar, als ein Gefüge von Prätexten, Texten und Paratexten (vgl. Sosnoski 1994: 643). Sind Texte eine intertextuelle Produktivität, so gilt das in verstärktem Maße für die Orientalismen. Sie sind in ihrem Verhältnis zu anderen Texten zu verstehen - das »Mitverstandene« schwingt immer mit. 6 Das Zitat ist dabei intermediaL in und mit ihren visuellen Konstellationen interferieren Texte, Gemälde, Fotografien usw. Nach Said existiert ein »genre of orientalistic writing«, das sich u.a. in den Werken Hugos, Goethes, Nervals, Flauberts, Fitzgeraids exemplifiziert (vgl. Said 1991: 53). Er begreift Kulturen als Intertextualitäten, wobei das >Orientalischereal< konzipierten Gegenstands mit den Äußerungen über ihn, sondern das Äußerungssystem des Orientalismus selbst rückt dabei ins Blickfeld. 7 Der Orientalismus-Diskurs ist mehr durch den westlichen Diskurs geprägt als durch den Gegenstand, über den geschrieben wird (Said 1991: 22), was auch den Abschied vom hermeneutischen >Fremdvoirapercevoir< und >regarder< sowie von >regard< zum Andruck kommen, wird damit für Texte Lamartines, du Camps und Frorneutins belegt (vgl. Magri 1995: 150f., 404f.). Auch Milner ( 1991) und Wolfzettel (1986) thematisieren das Verhältnis von Sehen und Literatur, letzterer insbesondere im französischen Reisebericht. 13 Begreift man Kulturen als permeabel und beschreibt deren wechselseitigen Austausch als wandelbar, so gelangen Heterogenität und Vielstimmigkeit des imperialen Diskurses in den Blick. 14 Orientalismus kann in dieser Hinsicht gelten als »uneven matrix of orientalist situations across different cultural and historical sites in which each Oriental is intemally complex and unstable« (Lowe 1991: 4f.). Das macht es möglich, innerhalb dieser Matrix eben auch »counterhegemonic voices« (ebd.: 191) zu beschreiben, die als Widerlager, als Nicht-Identisches die Machtbeziehungen eines hegemonialen Diskurses unterlaufen. Und mit diesem von Said erstmals beschriebenen Feld wurde auch eine Öffnung für jenes von Khatibi geforderte Denken, ein Denken jenseits der Differenz vorbereitet. Wie formieren sich vor diesem Hintergrund nun Subjekte und Objekte in kolonialen Räumen?
13 Für den französischsprachigen Bereich sei noch Constable (1995) erwähnt, die den Orientalismus als Konstruktionen des Selbst und der Nation im Frankreich der .,Dekadenz" am Beispiel von Autoren wie Balzac, Flaubert und Barres liest. Zum visuellen Gedächtnis der Literatur vgl. Schmeling/Schmitz-Emans (Hg.) 1999. 14 Said entwickelt erst später einen explizit dynamischen Begriff von Kultur: .,lf we no longer think of the relationship between cultures and their adherents as perfectly contiguous, totally synchronous, wholly correspondent and if we think of cultures as permeable [ ...)" (Said 1989: 225). Zum KulturbegriffSaids vgl. Clifford 1988: 263, 273; zu seinem Kosmopolitismus-Konzept vgl. Parry 1992.
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JENSEITS DER DIFFERENZ
Grientalismen arbeiten in besonderem Maße mit stereotypisierten Feststellungen und Zuweisungen von Differenz, die im diskursiven Kontext als Zuschreibungen naturalisiert werden. Die Entwürfe des Anderen sind Folien für die Konstruktion des Eigenen, zugleich begegnen sie der >Fremdheit< des Anderen mit dem Ziel, diesen zu normalisieren, das Inkommensurable zu reduzieren. Die Linien der >ÜrientÜkzidentsOrientsverfügbarin-between