Topisches Erzählen bei Adalbert Stifter: Untersuchungen zur Gestaltung von Bildungsgängen in ausgewählten Werkkomplexen 9783110750782, 9783110750751

Vorstellungsmuster, die von den Mitgliedern einer Kulturgemeinschaft geteilt, rezipiert und tradiert werden, lassen sich

207 115 2MB

German Pages 476 [478] Year 2021

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1 Einleitung
2 Topisches Denken als literarisches Grundprinzip
3 Erzählungen von ‚wilden‘ Mädchen und ihren Erzieherfiguren
4 Positionsbestimmung 1
5 Das ‚Lieblingskind‘ des Autors: Die Mappe meines Urgroßvaters
6 Positionsbestimmung 2
7 Wider die Leidenschaft: Der Nachsommer
8 Positionsbestimmung 3
9 Fazit
10 Anhang
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Topisches Erzählen bei Adalbert Stifter: Untersuchungen zur Gestaltung von Bildungsgängen in ausgewählten Werkkomplexen
 9783110750782, 9783110750751

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Hendrik Achenbach Topisches Erzählen bei Adalbert Stifter

Studien zur deutschen Literatur

Herausgegeben von Georg Braungart, Eva Geulen, Steffen Martus und Martina Wagner-Egelhaaf

Band 226

Hendrik Achenbach

Topisches Erzählen bei Adalbert Stifter Untersuchungen zur Gestaltung von Bildungsgängen in ausgewählten Werkkomplexen

Die vorliegende Untersuchung wurde im Oktober 2020 von der Europa-Universität Flensburg als Dissertation am Institut für Sprache, Literatur und Medien angenommen. Die Disputation fand im Januar 2021 statt.

ISBN 978-3-11-075075-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-075078-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-075083-6 ISSN 0081-7236 Library of Congress Control Number: 2021943663 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Mit der vorliegenden Arbeit habe ich mir einen Traum erfüllt. Viele Menschen haben dazu beigetragen, dass ich sie schreiben und in diesem Rahmen veröffentlichen konnte. Herr Prof. Dr. Carsten Zelle hat mir im Rahmen meines Studiums an der Universität Siegen (1993–1998) dankenswerterweise den Einstieg in die StifterForschung ermöglicht. Mein Doktorvater, Herr Prof. Dr. Günter Helmes, hat fast zwei Jahrzehnte später meiner Bitte um Betreuung dieser Arbeit ohne Zögern entsprochen und sich in den folgenden Jahren viel Zeit für ausführliche Gespräche und Schriftwechsel genommen. Vor allem aber hat er immer dann, wenn Zweifel und Unsicherheit aufkamen, mit aufmunternden Worten und dienlichen Hinweisen für zielführende Perspektiven gesorgt. Für all dies bedanke ich mich von Herzen. Ich danke Herrn Prof. Dr. Hans Krah sehr herzlich für seine Bereitschaft, das Zweitgutachten für diese Arbeit zu übernehmen. Ein herzlicher Dank gilt auch Frau Prof. Dr. Ariane Martin für die Anfertigung einer gutachterlichen Stellungnahme. Darüber hinaus bin ich den Herausgeberinnen und Herausgebern für die Aufnahme meiner Untersuchung in die Reihe Studien zur deutschen Literatur und Herrn Dr. Marcus Böhm für die hervorragende Betreuung im Lektorat sehr dankbar. Meinen Dank für wertvolle Hinweise aus der Fachwissenschaft habe ich an Ort und Stelle im Anmerkungsapparat ausgesprochen. Meine Frau Birte Achenbach hat dieses Projekt von Anfang an mitgetragen und mich liebevoll begleitet. Ihr sei diese Arbeit zugeeignet. Bei allen, die sich immer wieder nach dem Fortgang der Arbeit erkundigt und mich auf vielfältige Weise unterstützt haben, möchte ich mich ebenfalls herzlich bedanken. Genannt seien hier vor allem meine Kinder, Eltern und Schwiegereltern und mein Freundes- und Kollegenkreis. Ich empfinde es als großes Privileg, dass ich mir Zeit für diese Untersuchung nehmen konnte. Sie handelt von Texten des für mich einzigartigen Erzählers Adalbert Stifter, die nicht aufhören werden, mich zu verblüffen und zu begeistern. Angelbachtal, im Juli 2021

https://doi.org/10.1515/9783110750782-202

Hendrik Achenbach

Inhalt 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Einleitung | 1 Von Personen und Figuren | 1 Stifters Figuren | 3 Pädagogisches Erzählen | 6 Topisches Erzählen | 12 Textkorpus: Drei Werkkomplexe | 16

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.5 2.5.1 2.5.2 2.5.3

Topisches Denken als literarisches Grundprinzip | 18 Einführung und Forschungsüberblick | 18 Zurück zu den Anfängen | 27 Beispiel: Initiation als Topos | 29 Eigenschaften von Topoi | 31 Zeichenhaftigkeit | 31 Offenheit | 36 Nachvollziehbarkeit | 42 Anwendung der Topik | 44 Das topische Dreieck | 44 Textproduktion | 49 Interpretation | 51

3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.7 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6

Erzählungen von ‚wilden‘ Mädchen und ihren Erzieherfiguren | 57 Einführung und Forschungsüberblick zum Werkkomplex | 57 Heilsame Schrift: Die Narrenburg | 68 Einführung und Forschungsüberblick zur Narrenburg | 68 Europäer und ‚Naturkinder‘ | 73 Der hypothetische Naturzustand des Menschen | 78 Der scheinbare Gegensatz von Natur und Kultur | 81 Die Rückkehr der Wildnis | 85 Nützlichkeit als langfristiges Ziel | 88 Die heilsame Wirkung der ‚Herzensschrift‘ | 92 Gefährliche Kunst: Turmalin | 98 Einführung und Forschungsüberblick zu Turmalin | 98 Die Kunst im Zentrum des Denkens und Handelns | 108 Eine Wohnung wie eine Burg | 111 Im Zentrum zwischen Stadt und Land | 113 Kunst und Lebenstüchtigkeit | 116 Körperlichkeit und Sprachlosigkeit | 120

VIII | Inhalt

3.3.7 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.4.6 3.4.7 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.5.5 3.5.6 3.5.7

Der Achtungserfolg einer vorbildlichen Erzieherin | 125 Rätselhafte Wunder: Kazensilber | 128 Einführung und Forschungsüberblick zu Kazensilber | 128 Zwischen Mythos und Ratio | 134  Rationalität und Nützlichkeit | 138 Die Risiken eines irrationalen Weltbildes | 141 Sanfte Manipulation | 147 Die gelegentliche Notwendigkeit von Wundern | 149 Am Ende bleibt das Rätsel | 154 Vollendete Schönheit: Der Waldbrunnen | 162 Einführung und Forschungsüberblick zum Waldbrunnen | 162 Die Zähmung einer vermeintlich Wilden | 167 Variationen von unerfüllter Liebe | 171 Die schöne Seele auf dem hohen Stein | 177 Heilung von Liebesmangel | 183 Vorbildliche Selbstlosigkeit | 185 Transformation auf dem Mittelpunkt | 188

4

Positionsbestimmung 1 | 194

5

Das ‚Lieblingskind‘ des Autors: Die Mappe meines Urgroßvaters | 203 Einführung und Forschungsüberblick | 203 Entstehungsgeschichte und Textkorpus | 217 Zeichen der Sanftheit: Die Buchfassung der Mappe | 221 Das Herz und die doppelte Erinnerung | 226 Der Sieg der Schrift über die Dinge | 230 Protagonisten mit parallelen Lebensläufen | 237 Das veränderte Selbst und die Gestaltung der Wirklichkeit | 242 Die Transformation des Doktors | 250 Zwischen Stadt und Wildnis | 262 Die letzte Prüfung | 269 Der ‚Vater der Kranken‘: Die Letztfassung der Mappe | 272 Haus und Familie | 282 Schaudern, Schämen und Schreiben | 289 Vom Bettler zum Bürger | 295 Die Eroberung von Thal ob Pirling | 302 Der Verlust einer zukünftigen Familie | 312 Der idealisierte Mittelpunkt | 316 Ein neuer Familienkreis | 325

5.1 5.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.3.6 5.3.7 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5 5.4.6 5.4.7

Inhalt | IX

6

Positionsbestimmung 2 | 331

7 7.1 7.2 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.3

Wider die Leidenschaft: Der Nachsommer | 337 Einführung und Forschungsüberblick | 337 Ein komplexes Konstrukt | 352 Scheitern und Kompensation | 358 Günstige Voraussetzungen | 360 Eine zerstörerische Kraft | 364 Späte Blüten | 370 Entfaltung und Erfüllung | 376 Ankunft auf dem Mittelpunkt | 378 Liebe ohne Passion | 387 Eine ideale Familie | 405

8

Positionsbestimmung 3 | 421

9 9.1

Fazit | 430 Literaturtheoretische Anschlussmöglichkeiten für die Topik | 430 Einordnung der Untersuchungsergebnisse und Ausblick | 440

9.2

10 Anhang | 447 10.1 Abbildungsverzeichnis | 447 10.2 Tabellenverzeichnis | 447 10.3 Anmerkungen zur Zitierweise | 448 10.4 Siglenverzeichnis | 450 10.5 Primärliteratur | 451 10.5.1 Ausgaben der Werke Stifters | 451 10.5.2 Ausgaben der Werke anderer Autoren | 452 10.5.3 Bibelübersetzungen | 453 10.6 Sekundärliteratur | 453

1 Einleitung 1.1 Von Personen und Figuren Literarische Texte erlauben es uns, die Figuren der erzählten Welt wie real existierende Personen wahrzunehmen. Glauben wir, sie zu kennen, haben wir jedoch lediglich die Textstrukturen verstanden, aus denen sie sich als Artefakte der individuellen Rezeption erheben, und wir haben Vorstellungsmuster nachvollzogen, die sich bei der Verschriftlichung im Text ausgeprägt haben.1 Adalbert Stifter, der Autor, um dessen Texte und Figuren es hier gehen soll,2 war sich des Unterschieds zwischen literarischen Figuren und realen Personen nur allzu bewusst. In einem Brief an seinen Verleger Gustav Heckenast, in dem es um die Entstehung des historischen Romans Witiko geht, äußert er sich dazu wie folgt: Das Entwerfen das Finden das Zusammenrüken das Meinen, man werde nun das Vollendete aufbauen, hat sein Entzüken, es ist, als erschüfe man Menschen; aber wenn der Sak fertig ist, und die Wichte da stehen, erbarmen sie einem, und man muß das Menschenerschaffen doch dem lieben Gott überlassen, dem ein Schuhknecht mehr gelingt als uns ein Held. Er kann gehen stehen liegen laufen saufen und fluchen, während der unsere froh sein muß, wenn er in der irdischen Welt nur ein bischen Athem zu schöpfen vermag und nicht lediglich Papier ist.3

|| 1 Herbert Grabes hat diesen Sachverhalt schon 1978 in großer Klarheit dargestellt (vgl. ders.: Wie aus Sätzen Personen werden ... Über die Erforschung literarischer Figuren. In: Poetica 10 (1978), S. 405–428). Ausführlich beschäftigt sich Fotis Jannidis in einer jüngeren Studie mit diesem Komplex (ders.: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin 2004). 2 Mit Adalbert Stifter und einigen seiner Texte und Figuren habe ich mich bereits in meiner im Jahr 1998 an der Universität Siegen vorgelegten Magisterarbeit beschäftigt (Hendrik Achenbach: Natur versus Kultur? ‚Wilde Mädchen‘ im Erzählwerk Adalbert Stifters. Frankfurt a. M. 2017 (zugl. Magisterarbeit Univ. Siegen, 1998). URN: urn:nbn:de:hebis:30:3-425643. URL: http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/42564 (Abruf: 3.2.2017). Zur Verwendung von Ergebnissen dieser Arbeit in der vorliegenden Untersuchung siehe Kap. 3, Anm. 1. 3 Stifter an Heckenast, 8. Juni 1861. In: Adalbert Stifters sämmtliche Werke. Bd. 19: Briefwechsel. Dritter Band. Hrsg. von Gustav Wilhelm. 2. Auflage. Reichenberg 1929, S. 284. Ich zitiere die Briefe Adalbert Stifters nach der Prag-Reichenberger Ausgabe und verwende dafür im Folgenden die Sigle PRA mit Bandnummer und Seitenzahlen. Vgl. zu dieser Briefstelle Christian Soboth: Die Frau im Einschreibbuch. Schreiben, Ordnen und Heilen in Adalbert Stifters Erzähhttps://doi.org/10.1515/9783110750782-001

2 | Einleitung

Es sei zunächst einmal dahingestellt, ob Stifter hier nun aufgesetzte Bescheidenheit an den Tag legt oder aufrichtige Selbstkritik übt. Grundsätzlich lässt sich aber feststellen, dass die „Illusionsmächtigkeit literarischer Figuren“4 den eingangs beschriebenen Effekt immer wieder zuverlässig auslöst. Dies liegt zunächst einmal daran, dass „Personenvorstellungen, die bei der Rezeption literarischer Werke zustande kommen, [...] psychische Gebilde [sind]“5, die sich nicht grundlegend von den Vorstellungen unterscheiden, die entstehen, wenn man Menschen in der Realität kennenlernt oder durch die Medien wahrnimmt. Bildet man sich eine initiale Vorstellung von einer real existierenden Person – etwa beim ersten Kennenlernen –, so beruht dieser Vorgang auf dem Prinzip der Simultaneität, denn die Wahrnehmung der Person beruht auf ihren „‚gleichzeitig‘ vorhandenen Eigenschaften“6 und speist sich somit zunächst aus Sinneseindrücken, die parallel zueinander entstehen: Man schaut einem Menschen ins Gesicht, während man seinen Händedruck spürt, vielleicht einen Geruch wahrnimmt und seine Stimme hört. Diese Sinneseindrücke werden dann zu einem ersten, vorläufigen Urteil weiterverarbeitet. Auch wenn sich die Vorstellung, die in diesem Moment entsteht, im Laufe der Zeit weiter herausbilden und verändern wird, kann sie doch auf Anhieb als vollständig gelten, denn sie ließe sich für andere nachvollziehbar beschreiben. Literarische Texte dagegen können aufgrund ihrer linearen Struktur nur sequentiell rezipiert werden. Deswegen lässt sich die Wahrnehmung literarischer Figuren als „Transformation von sukzessiven Textstrukturen in Personenvorstellungen“7 beschreiben. Ihre Wahrnehmung folgt paradoxerweise aber trotzdem dem Prinzip der Vollständigkeit und Gleichzeitigkeit.8 Schon nach der Bereitstellung von ersten Informationen konstruieren die Rezipienten eines literarischen Textes eine detaillierte Vorstellung der dargestellten Figur.9 Bei diesem Vorgang ergänzen sie die vom Text bereitgestellten, notwendigerweise

|| lung Der Waldbrunnen. In: Stifter-Jahrbuch 14 (2000), S. 47–74, hier S. 73, Anm. 50 (dort wird das Schreiben wohl irrtümlich auf den 8. Juli 1861 datiert). 4 Grabes: Wie aus Sätzen Personen werden, S. 405. 5 Ebd., S. 413. 6 Ebd., S. 414. 7 Ebd., S. 414. 8 Vgl. Jannidis: Figur und Person, S. 184. Jannidis weist im Zusammenhang mit dem „Aufbau des mentalen Modells“ (ebd.), das bei der Rezeption einer literarischen Figur entsteht, darauf hin, „daß die Informationsverarbeitung von Lesern bei Figuren analog zur Wahrnehmung von Personen abläuft“ (ebd.). Die „kognitionswissenschaftliche Forschung“, so Jannidis, „macht diese Annahme zumindest plausibel“ (ebd.). 9 Vgl. Grabes: Wie aus Sätzen Personen werden, S. 415 ff.

Stifters Figuren | 3

zunächst lückenhaften Informationen vor dem Hintergrund von kulturellen, sozialen und literarischen Wissensbeständen und persönlichen Überzeugungen.10 Diese Faktoren spielen aber auch schon bei der Textproduktion eine Rolle, denn die Wissensbestände und Personenkonzepte des Autors haben sich auf die Gestaltung der Figuren ausgewirkt und im Text ausgeprägt. Um den Prozess der Vorstellungsbildung in Bezug auf literarische Figuren angemessen zu beschreiben, müssen also nicht nur die Vorstellungsmuster berücksichtigt werden, über die ein Leser zum Zeitpunkt der Textrezeption verfügt, sondern auch die „sozialen Stereotypen“11, die für die Entstehungszeit des Textes in Anschlag zu bringen sind. Literarische Figuren lassen sich also als Konstrukte beschreiben, an die sich kulturell determinierte Vorstellungsmuster anlagern. Diese Muster tragen dazu bei, eine bestimmte Personenvorstellung im Bewusstsein des Rezipienten entstehen zu lassen. Bei der Interpretation der Texte, die ich für diese Untersuchung ausgewählt habe, soll es stets darum gehen, die dargestellten Figuren als solche Konstrukte zu begreifen und danach zu fragen, welche Vorstellungsmuster sich bei ihrer Gestaltung ausgeprägt haben. Dabei werde ich der literarischen Darstellung jener Transformationsprozesse, die als Bildungsgänge der Figuren bezeichnet werden können, besondere Aufmerksamkeit schenken. Gegen einen solchen Untersuchungsansatz könnte man allerdings mindestens zwei Einwände ins Feld führen.

1.2 Stifters Figuren Der erste dieser beiden Einwände besteht in der kritischen Frage, warum gerade die Texte Adalbert Stifters einen geeigneten Untersuchungsgegenstand für ein Vorhaben darstellen, das eine eingehende Analyse literarischer Figuren zum Ziel hat. Schließlich haben schon Stifters Zeitgenossen den Vorwurf erhoben, dass es dem Autor bei der Gestaltung seiner erzählten Welt12 um ganz andere

|| 10 Vgl. Jannidis: Figur und Person, S. 181 ff. 11 Grabes: Wie aus Sätzen Personen werden, S. 413. 12 Ich verwende den Begriff der ‚erzählten Welt‘ im Folgenden nicht immer im exakten erzähltheoretischen Sinne, nach dem „[j]eder fiktionale Text […] eine eigene Welt [entwirft]“ (Matias Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 10., überarbeitete und aktualisierte Auflage. München 2016, S. 134), sondern auch im textübergreifenden Sinne für das Konstrukt, dessen topische Beschaffenheit ich im Verlauf dieser Untersuchung herausarbeiten werde.

4 | Einleitung

Dinge ging als um die Figuren, die diese Welt bevölkern.13 Stellvertretend für eine solche Auffassung steht Friedrich Hebbel, der als einer der schärfsten Kritiker Stifters auftrat und in einem 1858 veröffentlichten Aufsatz postulierte, dass in der Nachfolge Karl Immermanns eine perspektivische Verengung der literarischen Darstellungsformen eingesetzt habe, die bei Stifter ihren Höhe- und Endpunkt erreiche: Sie [Immermanns Nachfolger; H. A.] hielten aber doch wenigstens noch den Menschen fest, wenn auch nur auf höchst untergeordneter Stufe, und der hervorragendste von ihnen, Jeremias Gotthelf, knüpfte immer, wenn auch nicht an Ideen, so doch an didaktische Gesichtspunkte an, um der Stagnation vorzubeugen. Erst dem Mann der ewigen Studien, dem behäbigen Adalbert Stifter, war es vorbehalten, den Menschen ganz aus dem Auge zu verlieren [...].14

Eine ähnliche Kritik hatte Hebbel bekanntlich auch schon neun Jahre früher formuliert, als er in einem an Stifter und andere „Naturdichter“15 gerichteten Epigramm fragte: „Wißt ihr, warum euch die Käfer, die Butterblumen so glücken?“16 und im nächsten Vers die Antwort gab: „Weil ihr die Menschen nicht kennt, weil ihr die Sterne nicht seht!“17 Die oben zitierte These jedoch stellte er auf, nachdem er Stifters Nachsommer gelesen hatte, ein Werk, in dem sich, so Hebbel, „die Selbstaufhebung der ganzen Richtung [vollzog]“18, nachdem sie in ihm „entschieden den letzten denkbaren Schritt getan“19 hatte. Bei aller Polemik, die Hebbels Einlassungen zu Stifter immer wieder bestimmt, ist eines sicher nicht von der Hand zu weisen: Gerade der Nachsommer unterläuft konsequent den eingangs beschriebenen Effekt, der es uns erlaubt, literarische Figuren als real existierende Personen zu imaginieren.20 Der auf beinahe 800

|| 13 Vgl. Achenbach: Natur versus Kultur?, S. 3 f. 14 Friedrich Hebbel: Das Komma im Frack. In: Ders.: Werke. Hrsg. von Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher. Bd. 3. München 1965, S. 684–687, hier S. 686; Hervorhebung von mir. Der Aufsatz erschien zuerst anonym (vgl. ebd., S. 967) in: Stimmen der Zeit. Monatsschrift für Politik und Literatur (Oktober 1858). 15 Friedrich Hebbel: Die alten Naturdichter und die neuen. In: Ders.: Werke (siehe Anm. 14 in diesem Kapitel). Bd. 3, S. 122. 16 Ebd. 17 Ebd.; Hervorhebung von mir. 18 Hebbel: Das Komma im Frack, S. 686. 19 Ebd. 20 Zur zeitgenössischen Rezeption der Figurendarstellung im Nachsommer vgl. Cornelia Zumbusch: Der Nachsommer [Art.]. In: Stifter-Handbuch. Hrsg. von Christian Begemann und Davide Giuriato. Stuttgart 2017, S. 98–108, hier S. 99. Artikel aus dem Stifter-Handbuch zitiere ich im Folgenden bei der ersten Nennung mit der Sigle SHB. In einer Rezension aus dem Erschei-

Stifters Figuren | 5

Seiten ausgedehnte autobiografische Bericht des Ich-Erzählers lässt – so viel kann wohl gefahrlos behauptet werden – keine Personenvorstellung von Heinrich Drendorf entstehen, die ihn im Hinblick auf den gerade erwähnten Effekt in eine Reihe mit so unterschiedlichen Figuren wie etwa Effi Briest aus dem gleichnamigen Roman von Theodor Fontane, Sherlock Holmes aus mehreren Romanen und Erzählungen Arthur Conan Doyles, Elizabeth Bennet aus Jane Austens Pride and Prejudice oder Mynheer Peeperkorn aus Thomas Manns Der Zauberberg stellen würde. Stifter hat sicher auch Figuren geschaffen, die Heinrich Drendorf in dieser Hinsicht übertreffen. Um den Kontext dieser Arbeit nicht zu verlassen, seien stellvertretend Jodok von Scharnast aus Die Narrenburg, der Obrist Casimir Uhldohm21 aus Die Mappe meines Urgroßvaters und das ‚wilde‘ Mädchen Juliana aus Der Waldbrunnen genannt. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass Stifters Texte durch ihre prämoderne, den Dingen zugewandte „Deskriptionspoetik“22 immer wieder eine Distanz zwischen Figur und Leser errichten.23 Ein solcher Abstand kann dem Ansatz der vorliegenden Untersuchung aber nur dienlich sein, denn auch ein literaturwissenschaftlicher Leser ist nicht davor gefeit, sich von dem Effekt, der „aus Sätzen Personen werden“24

|| nungsjahr des Nachsommers wird diese Eigenschaft des Textes wie folgt beschrieben: „Diese Personen [gemeint sind die Figuren des Romans; H. A.] haben, mit Ausnahme des ‚Gastfreundes‘, dessen Geschichte jedoch außerhalb des Rahmens der vorliegenden in der Vergangenheit spielt, keinen psychologischen Inhalt. Sie gleichen vielmehr den Figuren, welche von den Fazetten eines geschliffenen Glases zurückgeworfen werden und die zwar mehrere Figuren zu sein scheinen, allein sämtlich nur das Spiegelbild des Einen sind, der hineinsieht“ (H. Lorm: Der Nachsommer. In: Wiener Zeitung. Nr. 294 vom 23. Dezember 1857. Zitiert nach Moriz Enzinger: Adalbert Stifter im Urteil seiner Zeit. Festgabe zum 28. Jänner 1968. Wien 1968, S. 207). Vgl. auch Sabina Becker: Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848–1900. Tübingen/Basel 2003, S. 208 f. Becker verweist auf die Rezeption des Romans durch die „Programmatiker[] der Grenzboten“ (ebd., S. 208), vertreten durch Julian Schmidt, welcher ebenfalls „Stifters Unfähigkeit oder Unwilligkeit“ (ebd.) kritisierte, lebendig wirkende Figuren zu gestalten. 21 Diese Figur trägt in den vier Fassungen des Textes unterschiedliche Namen (siehe dazu Kap. 5, Anm. 114). 22 Heinz Drügh: Mimesis/Beschreibung [Art.]. In: SHB, S. 214–217, hier S. 216. 23 Vgl. Rudolf Wildbolz: Adalbert Stifter. Langeweile und Faszination. Stuttgart u. a. 1976, S. 95 f. Wildbolz beschreibt einen werkgenetischen Prozess, der bereits in den 1840er Jahren beginnt und dazu führt, dass in Stifters Erzähltexten die „personale Fülle der Gestalten“ (ebd., S. 95) sukzessive reduziert und die „Tiefenschicht des Menschen [mehr und mehr] aus dem expliziten Text [verdrängt]“ (ebd.) wird. Diese „gewalttätige anthropologische Reduktion“ (ebd., S. 96) erreiche im Roman Der Nachsommer einen Höhepunkt und werde „fast völlig generalisiert: sie setzt mit dem ersten Kapitel ein und wird im letzten bestätigt“ (ebd.). 24 Grabes: Wie aus Sätzen Personen werden, S. 409.

6 | Einleitung

lässt, vereinnahmen zu lassen. In anderen Worten: Die literarischen Figuren, die Adalbert Stifters erzählte Welt bevölkern, geben sich besonders deutlich als Konstrukte zu erkennen, an die sich, wie eingangs beschrieben, kulturell determinierte Vorstellungsmuster angelagert haben. Deswegen sind seine Texte für das oben beschriebene Vorhaben sogar in besonderer Weise geeignet.

1.3 Pädagogisches Erzählen Ein zweiter Einwand, der sich gegen mein Untersuchungsvorhaben anführen ließe, kann vor dem Hintergrund der Entwicklung der Stifter-Forschung formuliert werden.25 Schließlich scheint es sich angesichts der Tatsache, dass in den vergangenen Jahrzehnten „so gut wie alle Paradigmen der literaturwissenschaftlichen Forschung“26 auf den „vermeintlich so biedere[n], fromme[n] und konservative[n] Dichter“27 abgebildet wurden, bei einer Auseinandersetzung mit der literarischen Gestaltung von Bildungsgängen um ein eher unzeitgemäßes Unterfangen zu handeln. Tatsächlich lassen sich Forschungsbeiträge, die in dem umfassend gebildeten und vielseitig interessierten Autor28 vor allem den Pädagogen gesehen haben, bereits in einer frühen Phase der Stifter-Forschung nachweisen.29 So setzt sich Theodor Rutt schon in seiner 1939 vorgelegten Dissertation mit der Pädagogik Adalbert Stifters auseinander. Ganze 30 Jahre später konnte Rutt diese Untersuchung mit der folgenden Feststellung erneut publizieren: „An den durchgehenden Linien und Hauptergebnissen dieser Untersuchung […] brauch-

|| 25 Um die Lesbarkeit dieser Arbeit für diejenigen sicherzustellen, die vor allem an einem der behandelten Werkkomplexe oder an meinen Ausführungen zu einzelnen Texten interessiert sind, verzichte ich im Rahmen dieser Einleitung auf einen monolithischen Forschungsüberblick und zeige hier nur einige Grundlinien auf. Die Kapitel 3, 5 und 7 enthalten ausführliche Zusammenfassungen der Forschungslage, die sich auf die dort behandelten Primärtexte konzentrieren. Dasselbe gilt für die methodischen Überlegungen zur Topik in Kapitel 2. 26 Christian Begemann und Davide Giuriato: Vorwort. In: SHB, S. VII–VIII, hier S. VII. 27 Ebd. 28 Vgl. dazu den folgenden, interdisziplinär ausgerichteten Sammelband: Adalbert Stifter. Dichter und Maler, Denkmalpfleger und Schulmann. Neue Zugänge zu seinem Werk. Hrsg. von Hartmut Laufhütte und Karl Möseneder. Tübingen 1996. Vgl. auch die Artikel im Abschnitt „Wissenshorizonte“ des Stifter-Handbuchs (in: SHB, S. 241 ff.), die Stifters Auseinandersetzung mit Themenfeldern aus unterschiedlichsten Bereichen (etwa: Geometrie, Botanik, Medizin oder Ökonomie) dokumentieren. 29 Vgl. Achenbach: Natur versus Kultur?, S. 5.

Pädagogisches Erzählen | 7

te nichts Wesentliches geändert zu werden“.30 Rutt beschreibt unter anderem zwei wesentliche Komponenten der Stifterschen Pädagogik, nämlich „Selbstführung“ (S. 104 ff.)31 und „Selbstbildung“ (S. 157), und erkennt die „vorwissenschaftliche und außertheoretische Erziehungsweisheit in den Werken Adalbert Stifters […] sowohl in seiner dichterischen wie in seiner Sachprosa“ (S. 23). Ein ähnlicher Ansatz liegt dem Auftrag zugrunde, mit dem das AdalbertStifter-Institut Ende der 1950er Jahre an Kurt Gerhard Fischer herantrat. Fischer sollte sich in einer groß angelegten Untersuchung32 mit der folgenden Frage beschäftigen: „Ist es möglich, Adalbert Stifters pädagogisches Denken in seinen Dichtungen mit den Amtsschriften und seinem öffentlichen Wirken so zu vereinen, daß daraus ein Beitrag zur systematischen und historischen Pädagogik hervorgeht?“33 Rutts Untersuchung liegt die Auffassung zugrunde, dass eine „Verständigung mit dem dichterischen Werke Stifters […] zugleich Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Denken [ist], wie andererseits ohne so erlangtes Werkverständnis die Frage nach Stifter als einem Pädagogen nicht zulänglich beantwortet werden kann“ (S. XXII). Auch Meike Christina Wiehl konnte in jüngerer Zeit die These formulieren, dass „Stifters Bildungsgedanken [...] weiterhin unterschätzt [werden], sodass sein pädagogisches Denken einer genauen Untersuchung wert ist.“34 Sie betrachtet den Autor in seiner Doppelrolle als Schulrat und Schriftsteller und geht davon aus, dass Stifter seine pädagogischen Vorstellungen „sowohl in den Schulakten als auch in den pädagogischen Schriften und in seiner Dichtung [verwertet]“ (S. 2) habe. Wiehl legt einen Schwerpunkt auf den Zeitraum von 1852 bis 1857, in dem nicht nur der Nachsommer entstand, sondern neben dem Lesebuch zur Förderung humaner Bildung auch die Vorrede zu den Bunten Steinen. Das „Sittengesetz“ (S. 3), das Stifter hier formuliert, lasse sich, so Wiehl, als „Leitfaden seines pädagogischen Handelns“ (ebd.) lesen.

|| 30 Theodor Rutt: Adalbert Stifter. Der Erzieher. Wuppertal u. a. 1970. Der ursprüngliche Titel dieser Untersuchung lautete: „Selbsterziehung und Selbstbildung im Leben und in den Werken Stifters“ (vgl. ebd., S. 6). 31 Um den Anmerkungsapparat zu entlasten, gehe ich in allen Abschnitten dieser Arbeit, in denen Forschungsbeiträge zusammenfassend dargestellt werden, wie folgt vor: Die bibliografische Angabe des jeweiligen Titels findet sich in einer ersten Fußnote. Weitere Zitate weise ich dann mit Seitenzahlen im Haupttext nach. 32 Kurt Gerhard Fischer: Die Pädagogik des Menschenmöglichen. Adalbert Stifter. Linz 1962. 33 Aldemar Schiffkorn: Vorwort des Herausgebers. In: Fischer: Pädagogik des Menschenmöglichen, S. VII. 34 Meike Christina Wiehl: „Ich bin ein Mann des Maßes und der Freiheit“. Adalbert Stifter als Pädagoge. Marburg 2008 (zugl. Diss., Karlsruhe 2007), S. 2.

8 | Einleitung

Der Ansatz, aus einer Zusammenschau der theoretischen und fiktionalen Texte des Autors eine spezifische Stiftersche Pädagogik zu extrahieren, um deren Kerngedanken wiederum als Interpretament auf die fiktionalen Texte anwenden zu können, lässt sich also nicht nur in der älteren Stifter-Forschung finden.35 Mit ihm ist aber die Gefahr verbunden, Stifter lediglich als erzieherisch zweckgebunden erzählenden Pädagogen wahrzunehmen und damit der Komplexität und Modernität seiner Texte nicht gerecht zu werden. In diesem Zusammenhang ist stellvertretend auf drei einflussreiche monografische Arbeiten hinzuweisen, die seit dem Ende der 1980er Jahre entstanden sind und als Korrektiv einer allzu eindimensionalen Perspektive auf den Autor gewirkt haben.36 An dieser Stelle geht es nicht darum, diese Beiträge ausführlich zu würdigen, zumal ich im weiteren Verlauf der Arbeit an etlichen Stellen auf sie zurückkommen werde. Es soll lediglich das Spannungsfeld aufgezeigt werden, das zwischen zwei völlig unterschiedlichen Lesarten von Stifters literarischen Texten besteht. Auf der einen Seite stehen die genannten Untersuchungen, die aus Stifters Dichtung scheinbar eindeutige pädagogische Prinzipien zu extrahieren wissen. Auf der anderen Seite finden sich dagegen Untersuchungsansätze, die zu dem Schluss kommen, dass in Stifters erzählter Welt kaum etwas für bare Münze genommen werden kann. Ein frühes Beispiel für die zuletzt genannte Forschungsrichtung stellt eine Untersuchung von Eva Geulen dar, in der eine Reihe von Texten Stifters auf die „Konturen einer immanenten Poetik“37 befragt werden, um herauszufinden, inwiefern sich die literarische Sprache Stifters mit der Sprache selbst beschäftigt. Geulen konstatiert eine werkgenetische Radikalisierung der Legitimation des Erzählens, die sich in den Erzählungen des frühen und mittleren Werks noch durch etablierte Muster wie etwa die novellistische Rahmung zeigen, aber im Spätwerk – Geulen nennt beispielhaft die formelhafte Wiederholung der „Inquit-Formel des Epos“ (S. 12) im Roman Witiko – zu einer Ausgliederung des Wortes aus dem Textgewebe führe, was „im Extremfall die Integrität des Erzählzusammenhangs“ (ebd.) sprenge. Gerade anhand von Texten, die „mit Recht als

|| 35 Vgl. Walter Seifert: Pädagogik [Art.]. In: SHB, S. 275–279. 36 Christian Soboth resümierte dazu im Jahr 2000: „Sicherlich hat die jüngste Forschung [...] neue Akzente gesetzt. Die gegenwärtige Stifter-Renaissance verlagert die Gewichtung entschieden vom Erzieher auf den Erzähler, von den Inhalten auf die Formen und Strukturen“ (ders.: Die Frau im Einschreibbuch, S. 50). 37 Eva Geulen: Worthörig wider Willen. Darstellungsproblematik und Sprachreflexion in der Prosa Adalbert Stifters. München 1992 (zugl. Diss., Baltimore 1989).

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Meisterstücke beschreibender Prosa gerühmt[]“ (S. 15) würden,38 lasse sich zeigen, dass es Stifter „in seiner Prosa zuallererst um das Wort“ (S. 16) gehe. Seine Dichtung sei „auf ganz radikale und eigensinnige Weise mit ihrem eigenen, literarischen Sprechen beschäftigt“ (S. 153), was letztendlich in eine „aporetische Unendlichkeit“ (S. 154) führe, in welcher der Text sich verliere. Auf Eva Geulens Untersuchung folgte einige Jahre später ein Beitrag von Christian Begemann, der von der Beobachtung ausgeht, dass die literaturwissenschaftliche Forschung „Undurchdringlichkeit und Resistenz gegenüber der Interpretation“39 als zentrale Merkmale der Stifterschen Prosa zwar erkannt, aber aus dieser Erkenntnis keine „nennenswerte[n] Konsequenzen gezogen“ (S. 1) habe. Begemann führt die Schwierigkeiten, die sich dem StifterInterpreten bei dem Versuch der „(Re)Konstruktion einer Sinneinheit, in die möglichst alle Details integrierbar sind“ (S. 2), in den Weg stellen, darauf zurück, dass Stifters Texte „eine solche Sinneinheit nicht sind“ (ebd.). Anstatt dies als „Manko“ (ebd.) zu begreifen, betrachtet Begemann die „Widersprüche und Paradoxien“ (S. 3), die sich dem Leser bei der Lektüre immer wieder präsentierten, als das Ergebnis eines intensiven literarischen Produktionsprozesses, in dem eine spezifische Wahrnehmung der Wirklichkeit eine zentrale Rolle spiele, die, so Begemann, als „Stifters semiotischer Blick“ (S. 8) beschrieben werden kann. Die Untersuchung analysiert vor allem Texte aus dem frühen und mittleren Werk in chronologischer Reihenfolge, um zu zeigen, dass sich „die Widersprüchlichkeit der Texte gerade im Versuch ihrer Abarbeitung und Beseitigung immer neu reproduziert“ (S. 6). Begemann kehrt im Schlusskapitel seiner Untersuchung zu der schon eingangs aufgestellten These zurück, Stifter habe im Laufe des literarischen Produktionsprozesses „die Probleme und Implikationen seines Gegenstands bis an den Punkt verfolgt, wo alle Eindeutigkeit schwindet“ (S. 3), und er schließt mit der Feststellung, dass Stifters Texten „nicht mehr anzusehen [ist], ob sie über ihre buchstäbliche Bedeutung hinaus etwas bezeichnen und wenn ja, wie dies zu fassen wäre“ (S. 411). Cornelia Blasberg schließlich nahm wiederum wenige Jahre später den Befund, dass „die literaturwissenschaftliche Forschung zu Adalbert Stifters Erzählwerk das Thema ‚Tradition‘ bislang nicht aufgegriffen hat“40, zum Anlass, den modernen literaturtheoretischen Begriff der Intertextualität „an seine histo-

|| 38 Geulen bezieht sich hier auf Die Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842 und Aus dem bairischen Walde (vgl. dies.: Worthörig wider Willen, S. 15 ff.). 39 Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart/Weimar 1995, S. 1. 40 Cornelia Blasberg: Erschriebene Tradition. Adalbert Stifter oder das Erzählen im Zeichen verlorener Geschichten. Freiburg im Breisgau 1998, S. 7.

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rischen Möglichkeiten zurückzubinden“ (S. 20) und zu zeigen, wie er in Adalbert Stifters Texten zur „literarische[n] Traditionsbildung“ (S. 20 f.) beiträgt. Dabei begreift sie Intertextualität als Textprinzip, das „den gewonnenen Sinn immer wieder relativiert, hintertreibt und eskamotiert“ (S. 21), weshalb ihr Stifters Werk letztendlich als „ein komplexes, nach außen unabgeschlossenes Interaktionsgefüge von Texten, Motiven, Handlungs- und Satzmustern“ (S. 22) erscheint. Vor diesem Hintergrund begreift Blasberg etwa Stifters Nachsommer nicht als Bildungsroman, sondern im Sinne einer exemplarischen intertextuellen Lesart als „literarisches Überlieferungsmedium für den mittelalterlichen Rosen-Roman und Gottfrieds ‚Estoire‘ von Tristan und Isolde“ (S. 332). Aber auch hier gelte, so Blasberg, dass „jede Analyse von Stifters Erzählungen zeigt, daß dem Prozeß der Sinnkonstitution ein ihn hintertreibendes, verwirrendes, unentwegt in Frage stellendes Moment mitgegeben ist“ (S. 370). Welches Resümee lässt sich aus den angeführten Aussagen von Geulen, Begemann und Blasberg ziehen? Man könnte den Eindruck gewinnen, dass jeder Versuch, Adalbert Stifters Texte zu deuten, zum Scheitern verurteilt sein muss. Wenn die oben angesprochene, korrigierende Wirkung der genannten Beiträge, die allzu einfachen und eindimensionalen Lesarten der Stifterschen Prosa die Betonung der Brüche, Leerstellen und Widersprüche in seinem Werk entgegensetzt, in einer Überkorrektur endet, ist des Guten aber zu viel getan. Ich bin davon überzeugt, dass sich die Komplexität und Modernität von Stifters Texten in angemessener Weise herausarbeiten lässt, ohne seinem Werk „eine über Signifikations- und textuelle Organisationprozesse hinausreichende Bedeutung [...] abzusprechen“41. In diesem Zusammenhang wird es zunächst einmal hilfreich und auch nicht allzu schwierig sein, die Aussage zu akzeptieren, dass „der Themenkomplex Erziehung und Bildung bei Stifter allgegenwärtig ist“42. Daraus folgt nun aber keinesfalls, dass der Autor als beiläufig erzählender Pädagoge zu betrachten sei. Er kann jedoch sehr wohl als dediziert pädagogischer Erzähler gelten, dem es um seine Figuren und deren Weiterentwicklung zu tun ist. Die entsprechenden biografischen Zusammenhänge, die dazu beigetragen haben, dass die Figuren in Adalbert Stifters Texten nur allzu || 41 Günter Helmes: Bunte Steine als „Supplement der Gesetze“? Eine Relektüre Adalbert Stifters. In: Literatur und Leben. Anthropologische Aspekte in der Kultur der Moderne. Festschrift für Helmut Scheuer zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Günter Helmes, Ariane Martin, Birgit Nübel und Georg-Michael Schulz. Tübingen 2002, S. 55–69, hier S. 56. Helmes nennt neben den oben angeführten Beiträgen von Christian Begemann und Cornelia Blasberg auch Isolde Schiffermüller (vgl. dies.: Buchstäblichkeit und Bildlichkeit bei Adalbert Stifter. Dekonstruktive Lektüren. Innsbruck/Wien 1996), zu deren Beitrag er in ähnlicher Weise kritisch Stellung nimmt. 42 Seifert: Pädagogik, S. 275.

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oft Transformationen im Bereich von Erziehung und Bildung unterworfen sind, können als bekannt gelten und sollen hier nur stichpunktartig angeführt werden.43 Schon als Gymnasiast in Kremsmünster konnte Stifter aufgrund guter Leistungen als Nachhilfelehrer arbeiten,44 bevor er als Student eine Tätigkeit als Privatlehrer aufnahm, die er nach dem ohne Abschluss beendeten Jurastudium für viele Jahre erfolgreich in einflussreichen Wiener Familien fortsetzte.45 Im Jahr 1850 schließlich erfolgte die Ernennung zum Schulrat – eine Tätigkeit, die er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1865 fortsetzte,46 obwohl dem umfassend gebildeten Mann auch ohne formell abgeschlossenes Studium sicher andere Tätigkeitsfelder zugänglich gewesen wären. Dies zeigt allein schon die Tatsache, dass Stifter Anfang der 1830er Jahre als Kandidat für einen Lehrstuhl für Physik an der Universität Prag zugelassen wurde.47 Über diese unmittelbaren biografischen Zusammenhänge hinaus ist aber von Bedeutung, dass sich schon bei dem Gymnasiasten Adalbert Stifter ein Merkmal abzuzeichnen begann, das ihm in späteren Jahren erhalten bleiben sollte: „Immer benötigte Stifter jemanden, der ihn anleitete, immer blieb ihm der überlegene, väterliche Freund ein Idealbild seines Lebens“.48 Figuren, auf die eine solche Beschreibung passt, begegnen dem Leser in Adalbert Stifters erzählter Welt immer wieder. Das passende Gegenstück dazu sind die Zöglingsfiguren, die diese Welt ebenfalls bevölkern. Um beide wird es in dieser Arbeit gehen, und zwar im Spannungsfeld zwischen den genannten Forschungspositionen. Erzieher- und Zöglingsfiguren sollen dabei nicht als literarische Repräsentanten eindeutiger pädagogischer Positionen betrachtet, aber auch nicht vorschnell zu widersprüchlichen Artefakten eines letztlich undeutbaren Textes abgestempelt werden.

|| 43 Vgl. Achenbach: Natur versus Kultur?, S. 4 f. 44 Vgl. Wolfgang Matz: Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge. Göttingen 2016, S. 45. 45 Vgl. ebd., S. 61 ff. 46 Vgl. ebd., S. 266 ff. 47 Voraussetzung für die Zulassung zur mündlichen Prüfung war ein schriftliches Examen, das Stifter mit Erfolg ablegte. Zur mündlichen Prüfung erschien er aber nicht. Vgl. Matz: Adalbert Stifter, S. 86. 48 Matz: Adalbert Stifter, S. 37.

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1.4 Topisches Erzählen Um die Spannung zwischen diesen beiden Sichtweisen auszuhalten und produktiv umzusetzen, begreife ich Stifters Figuren im Sinne meiner einleitenden Ausführungen als Konstrukte, an die sich kulturell determinierte Vorstellungsmuster angelagert haben. Für solche nachvollziehbaren Vorstellungsmuster, die sich in literarischen Texten ausprägen, hält die Literaturwissenschaft bereits einen Fachbegriff bereit, den sie sich mit anderen Disziplinen teilt, nämlich den des Topos (siehe dazu Abschnitt 2.1). Das Konzept, das sich dahinter verbirgt, ist jedoch ebenso mächtig wie problematisch. Nachdem der Romanist Ernst Robert Curtius das Konzept des topischen Denkens in die Literaturwissenschaft eingeführt hatte,49 entstand nämlich ein fachwissenschaftlicher Streit um die Frage, was ein Topos denn nun sei. Dieser Streit dauert nun schon seit über 70 Jahren an und wird auch durch die vorliegende Untersuchung nicht beendet werden können. Trotzdem lässt sich das Modell des topischen Denkens in einer Weise beschreiben, die es ermöglicht, Deutungsansätze für literarische Texte zu entwickeln, die über das bloße Aufzeigen von intertextuellen Referenzen hinausgehen. Eine solche Beschreibung und die anschließende Anwendung des Modells auf ein Korpus literarischer Texte ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Wie meine Ausführungen im zweiten Kapitel dieser Arbeit zeigen werden, kann das topische Denken als literarisches Grundprinzip beschrieben werden, das den Bereich der Autorintention einschließt und gleichzeitig über ihn hinausgeht. Ohne an dieser Stelle schon ein tragfähiges Modell entwickelt zu haben, zeigt bereits ein erster, kursorischer Blick, dass topische Inhalte auch in Stifters Texten immer wieder eine Rolle spielen. Die folgenden Beispiele sollen dies illustrieren, ohne hier schon im Detail diskutiert zu werden. In Stifters einführenden Texten zu seinen Erzählbänden Studien und Bunte Steine prägt sich gleich mehrfach ein Topos aus, der von der Rhetorik in die Literatur übergegangen ist. Ich habe diesen Topos oben schon im Zusammenhang mit Stifters Überlegungen zu literarischen Figuren und real existierenden Personen angeführt, ohne ihn als solchen zu identifizieren – die Rede ist von der ‚affektierten Bescheidenheit‘. Dieser Topos, den Stifter in seinem Schreiben schon „früh kultivierte“50, dient „bei Redebeginn oder im paratextuellen Umfeld des Textbeginns […] dazu, durch die Beteuerung der eigenen Kunstlosigkeit und

|| 49 Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Auflage. Tübingen/Basel 1993 [1948]. Siehe dazu vor allem die Abschnitte 2.1 und 2.2 in der vorliegenden Untersuchung. 50 Gustav Frank: Schriften zu Literatur und Theater [Art.]. In: SHB, S. 157–161, hier S. 160.

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Unbegabtheit das Publikum für sich einzunehmen“51. Ganz im Sinne dieser Definition und sicher angeregt durch Vorbilder, die ihm durch seine eigene Lektüre vor Augen standen, stellt der Autor gleich im zweiten Satz der Vorrede zu den Studien fest: „Es lag eigentlich nie in meiner Absicht, als Schriftsteller aufzutreten“52. Stifter variiert diese Aussage mehrfach, etwa indem er seine Erzählungen als „zerstreute Blätter“53 bezeichnet und sich wünscht, „daß man ihr Erscheinen entschuldige.“54 Und in der Vorrede zu den Bunten Steinen schreibt er: „Die Kunst ist mir ein so Hohes und Erhabenes, [...] daß ich meine Schriften nie für Dichtungen gehalten habe, noch mich je vermessen werde, sie für Dichtungen zu halten“55. Eva Geulen weist in ihrer Analyse der Vorrede zu den Bunten Steinen auf einen weiteren Topos hin, der mit Stifters Beschreibung von „Geschichte als Geschichte der Wissenschaft“56 zu tun hat. Stifter unterscheidet hier zwischen einem Zeitpunkt, „[d]a die Menschen in der Kindheit waren“57, und dem Moment, „da der Blik sich auf den Zusammenhang zu richten begann“58. Geulen führt dazu aus: „Wie seit Herder und Schiller üblich kommt an dieser Stelle der Topos von der ‚Kindheit der Menschheit‘ zum Zuge. Über ihn wird aus der Umwandlung ein Reifungsprozess mit Richtung.“59 Doch nicht nur in Stifters Vorreden zu seinen Erzählbänden lassen sich topische Inhalte nachweisen. Was den topischen Gehalt seiner fiktionalen Texte angeht, finden sich in der Forschung ebenfalls einige Hinweise. So lesen sowohl Christian Begemann als auch Sabine Frost Stifters literarische Gestaltung des autobiografischen Schreibens als Ausprägung eines Topos. Begemann stellt in seinen Ausführungen zur Erzählung Die Narrenburg fest, dass der Kastellan Ruprecht in seinen Bemerkungen zu den autobiografischen Aufzeichnungen der bisherigen Schlossherren aus „der langen Tradition des Topos von der auto|| 51 Marika Müller: Die Ironie: Kulturgeschichte und Textgestalt. Würzburg 1995 (zugl. Diss., Saarbrücken 1994), S. 166. 52 Adalbert Stifter: Vorrede. In: Ders.: Studien. Buchfassungen. Erster Band. Hrsg. von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. Stuttgart u. a. 1980 [HKG 1,4], S. 11–12, hier S. 11. Mit Ausnahme der Briefe (siehe Anm. 3 in diesem Kapitel) zitiere ich die Texte Adalbert Stifters nach der noch unvollständigen historisch-kritischen Gesamtausgabe (HKG). 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Adalbert Stifter: Vorrede. In: Ders.: Bunte Steine. Buchfassungen. Hrsg. von Helmut Bergner. Stuttgart u. a. 1982 [HKG 2,2], S. 9–16, hier S. 9. 56 Eva Geulen: Kinderlos. In: IASL 40 (2015), Heft 2, S. 420–440, hier S. 438. 57 Stifter: Vorrede (HKG 2,2), S. 11. 58 Ebd., S. 12. 59 Geulen: Kinderlos, S. 439.

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biographischen Herzensschrift“60 spreche. Und Frost, die sich wie schon Begemann auf eine einschlägige Untersuchung von Manfred Schneider beruft,61 bemerkt in ihren Ausführungen zur Narrenburg und zur Mappe meines Urgroßvaters: „Der rote Marmor des Saals und der ‚brennend rothe Titel‘ der Mappe in ihrem ‚dunkelroten Leder‘ (M1, S. 25) lassen sich als allegorisch veräußerlichter topos der Herzensschrift deuten.“62 Reinhart Meyer weist am Beispiel Stifters nach, dass sich in der Journalprosa des 19. Jahrhunderts eine „relativ geschlossene Topik [entwickelte], die sich […] nicht mehr aus einem klassischen Kanon von der Antike her ableitete und auf einer noch weitgehend überregional-konformen, humanistischen Ausbildung der Autoren wie ihrer Leser beruhte, sondern sich auf ihre unmittelbare Eingängigkeit verlassen mußte“63. Meyer geht allerdings davon aus, dass gerade bei Stifter mit der Überarbeitung der Texte für die Buchfassungen viele Topoi verschwinden und illustriert dies am Motiv der weißen Frauenkleidung, das nur in den Journalfassungen verschiedener Texte „bedeutsam aufgeladen“ (S. 246) werde. In einer Untersuchung zur Darstellung und Erzählfunktion des Waldes in der Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters geht Herwig Gottwald auf die unterschiedlichen topografischen Bereiche ein, in denen die Figuren des Textes agieren. Er kommt mit Ulrich Dittmann auf einen biografischen Hintergrund zu sprechen, der in dem Unterschied zwischen Stifters ländlicher Heimat und der Hauptstadt Wien besteht, und bezeichnet diesen als „topische[n] (antike[n]) Stadt-Land-Gegensatz“64. Petra Mayer schließlich identifiziert die Art und Weise, wie sich die Hauptfigur Heinrich Drendorf im Roman Der Nachsommer mit geologischen Fragestellungen auseinandersetzt, als eine Erscheinungsform des Topos vom Buch der

|| 60 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 243. 61 Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München 1986. 62 Sabine Frost: Whiteout. Schneefälle und Weißeinbrüche in der Literatur ab 1800. Bielefeld 2011 (zugl. Diss., Erfurt 2011), S. 153; Hervorhebung im Original. Frost verwendet die im Zitat angegebene Sigle M1 für die Journalfassung der Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters. 63 Reinhart Meyer: Novelle und Journal. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 5: Zwischen Restauration und Revolution. 1815– 1848. Hrsg. von Gert Sautermeister und Ulrich Schmid. München/Wien 1998, S. 234–250, hier S. 245. 64 Herwig Gottwald: Natur und Kultur. Wildnis, Wald und Park in Stifters Mappe-Dichtungen. In: Waldbilder. Beiträge zum interdisziplinären Kolloquium „Da ist Wald und Wald und Wald“ (Adalbert Stifter). Hrsg. von Walter Hettche und Hubert Merkel. München 2000, S. 90–106.

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Natur: Heinrich sei davon „überzeugt, dass die Erde gleich ‚wie in einem Schriftengewölbe‘ (HKG 4.2, 32) die für die Rekonstruktion ihrer Geschichte nötigen ‚Quellen‘ (HKG 4.2, 32) in sich berge. Auch wenn Heinrich hier auf den traditionellen Topos des ‚liber naturae‘ zurückgreift, verbindet er ihn doch, indem er für den Entschlüsselungsprozess Empirie und Objektivität anmahnt, mit Prinzipien der modernen Naturwissenschaft.“65 Die Reihe der Beispiele von literaturwissenschaftlichen Forschungsbeiträgen, die auf topische Inhalte in Stifters Texten Bezug nehmen, ließe sich fortsetzen. Eine grundsätzliche Beobachtung kann jedoch schon an dieser Stelle festgehalten werden: Das bloße Aufzeigen von topischen Inhalten – wie ich es selbst in meinen Bemerkungen zu den einführenden Texten demonstriert habe, die Stifter den Studien und den Bunten Steinen vorangestellt hat – trägt wenig zur Deutung eines Textes bei. Es mag einer literaturwissenschaftlichen Veröffentlichung zwar gut zu Gesicht stehen, auf tradierte Vorstellungsmuster hinzuweisen, die sich oft bis in die Antike zurückverfolgen lassen, doch wenn diese Vorstellungsmuster nicht aufgebrochen und neu formuliert werden, um sie in eine produktive Beziehung zu dem Text zu setzen, in dem sie sich ausgeprägt haben, erzeugt ihre Nennung nur geringen interpretatorischen Mehrwert. Dieser Praxis soll in der vorliegenden Untersuchung ein alternatives Konzept entgegengesetzt werden, welches sich so weit von der Tradition löst, dass es ebenfalls methodische Angriffsflächen bietet. Ob darin ein Mehrwert liegt, wird seine Erprobung in der Interpretation ausgewählter Texte zeigen.

|| 65 Petra Mayer: Zwischen unsicherem Wissen und sicherem Unwissen. Erzählte Wissensformationen im realistischen Roman: Stifters „Der Nachsommer“ und Vischers „Auch Einer“. Bielefeld 2014 (zugl. Diss., Bremen 2013), S. 148. Ausprägungen des Topos vom Buch der Natur lassen sich mehrfach auch schon in Stifters Studien nachweisen (etwa in Die Narrenburg, Die Mappe meines Urgroßvaters, Der Hochwald) und als „Anschluß Stifters an Herders Vorrede“ (Ulrich Dittmann: Studien. Kommentar. Stuttgart u. a. 1997 [HKG 1,9], S. 217) zu dessen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) deuten. Herder führt dort aus, dass er im ersten Teil seiner Schrift „im Durchgange der Organisationen, die unter und mit uns das Licht dieser Sonne genießen“ (ders.: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Ders.: Werke in 10 Bänden. Bd. 6. Hrsg. von Martin Bollacher. Frankfurt a. M. 1989, S. 16), das „Schicksal der Menschheit aus dem Buch der Schöpfung“ (ebd.) lesen wolle und bezeichnet an derselben Stelle den „Gang Gottes in der Natur, die Gedanken, die der Ewige uns in der Reihe seiner Werke tätlich dargelegt hat“ (ebd.), als „das heilige Buch“ (ebd.).

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1.5 Textkorpus: Drei Werkkomplexe Für die Umsetzung eines solchen Vorhabens wird ein zwar notgedrungen selektives, aber dennoch repräsentatives Textkorpus benötigt. Nun würde die bereits angesprochene Allgegenwart von Erzieher- und Zöglingsgestalten in Stifters literarischem Werk hier fast völlige Wahlfreiheit erlauben. Um meinem Vorhaben eine sinnvolle und nachvollziehbare Struktur zu verleihen, die eine spätere Ausweitung des hier dargestellten Prinzips auf weitere Texte Stifters ermöglicht, ordne ich die von mir ausgewählten Texte wie folgt in drei Einheiten ein, die ich als ‚Werkkomplexe‘66 bezeichne. Ich gehe an dieser Stelle nur in aller Kürze auf die Einzeltexte ein und ordne sie zu Beginn der jeweiligen Kapitel ausführlicher in den jeweiligen Werkzusammenhang ein. Den ersten Werkkomplex bilden vier Erzählungen, die Stifter in verschiedenen Werkphasen geschrieben hat: Die Narrenburg, Turmalin, Kazensilber und Der Waldbrunnen. Jeder dieser vier Texte entwickelt die Figur einer jungen, weiblichen und undomestizierten Zöglingsgestalt, die von einer Erzieherfigur auf einem Bildungsgang begleitet wird. Im Zuge ihrer Entwicklung sollen diese ‚wilden‘ Mädchen – so könnte zumindest ein erster, kritisch zu hinterfragender Leseeindruck formuliert werden – zu einer besseren Version ihrer selbst transformiert werden.67 Im zweiten Werkkomplex geht es um die vier Fassungen der Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters, die Stifter über einen Zeitraum von etwa 30 Jahren immer wieder beschäftigt hat. Die zentralen Zöglings- und Erzieherfiguren, die bereits in der Journalfassung des Textes auftreten, spielen in allen vier Fassungen eine wichtige Rolle. Es wird zu fragen sein, ob und wie sich diese Figuren im Laufe ihrer Werkgenese entwickeln und welche Veränderungen im topischen Gehalt der Texte mit diesen Entwicklungen in Zusammenhang stehen. In ihrer Gesamtheit bilden allein die vier Fassungen der Mappe allerdings ein Textkorpus von etwa 900 Seiten, so dass ich selektiv vorgehen und den Fokus auf die zweite und die vierte Fassung des Textes legen werde. Den dritten Werkkomplex bildet der Roman Der Nachsommer, der zwar nicht, wie viele andere Texte des Autors, in mehreren Fassungen veröffentlicht

|| 66 Diesen Begriff verwenden ähnlich auch Mathias Mayer (ders.: Gedächtnis-Kunst. Stifters Studien-Mappe. In: JASILO 3 (1996), S. 8–23, hier S. 11) und Sabine Schneider (dies.: Epochenzugehörigkeit und Werkentwicklung [Art.]. In: SHB, S. 198–205, hier S. 199). 67 Zur Auswahl der vier Texte vgl. Achenbach: Natur versus Kultur?, S. 6 ff. Siehe auch Kap. 3, Anm. 1.

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wurde, aber trotzdem textliche Vorstufen aufzuweisen hat.68 Er nimmt im literarischen Werk des Autors ganz unbestritten eine zentrale Stellung ein und „steckt voller Reminiszenzen an Stifters frühere Dichtungen und deren Prätexte“69. Es wird zu prüfen sein, inwieweit sich diese ‚Reminiszenzen‘ als Ausprägungen topischer Inhalte identifizieren lassen, die bereits in den ersten drei Erzählungen des Werkkomplexes der ‚wilden‘ Mädchen und in der zweiten Fassung der Mappe eine Rolle spielen. Darüber hinaus wird die Analyse dieses Textes, der „einen nicht mehr überschreitbaren Endpunkt in Stifters Schreiben dar[stellt] und [...] damit zugleich eine Wende [markiert]“70, in einem Rückgriff auf die bereits erzielten Ergebnisse auch zeigen, wie sich die Ausprägungen von zentralen Vorstellungsmustern in Stifters Texten im Laufe der Zeit verändert haben und nach dem beschriebenen Wendepunkt ins Spätwerk auslaufen.

|| 68 Vgl. Walter Hettche: „Dichten“ oder „Machen“? Adalbert Stifters Arbeit an seinem Roman Der Nachsommer. In: Stifter-Studien. Ein Festgeschenk für Wolfgang Frühwald zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Walter Hettche, Johannes John und Sibylle von Steinsdorff. Tübingen 2000, S. 75–86, hier S. 75–77. Siehe auch Abschnitt 7.2 der vorliegenden Untersuchung. 69 Blasberg: Erschriebene Tradition, S. 329. 70 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 349.

2 Topisches Denken als literarisches Grundprinzip 2.1 Einführung und Forschungsüberblick Wenn man sich dafür entscheidet, die Topik als Instrument einzusetzen, um einen interpretatorischen Zugang zum Werk eines Autors zu entwickeln, steht man unweigerlich vor der Aufgabe, sich mit der wechselvollen Geschichte des Toposbegriffs in der Literaturwissenschaft auseinanderzusetzen. Grundsätzlich lässt sich in diesem Zusammenhang feststellen, dass in der literaturwissenschaftlichen Forschung immer wieder Verwendungsweisen des Begriffs ‚Topos‘ auftreten, die methodisch ungenau sind. So wird auf eine Abgrenzung zu anderen Fachtermini wie ‚Motiv‘ oder ‚Stoff‘ verzichtet oder in einer Weise von Topoi gesprochen, die so allgemein bleibt, dass man auch unspezifische Begriffe wie ‚Thema‘ oder ‚Aspekt‘ verwenden könnte. Eine methodische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Toposbegriffs, die angesichts solcher Defizite ratsam erscheint, gerät aufgrund der folgenden Aspekte aber recht schnell zu einem hochkomplexen Unterfangen. Zum einen reicht diese Geschichte bis in die Antike zurück, weshalb theoretische Beiträge zur Topik sich immer wieder vor die Notwendigkeit gestellt sehen, eine Rückversicherung bei den antiken Gewährsleuten des Begriffs, vornehmlich Aristoteles und Cicero, vorzunehmen, um einen ‚korrekten‘ Toposbegriff anhand der ursprünglichen Quellen zu entwickeln. Zum anderen ist die Anwendung der Topik keinesfalls auf literaturwissenschaftliche Themenbereiche beschränkt. Nicht nur die Rhetorik, sondern beispielsweise auch die Logik als philosophische Disziplin, die Theologie oder die Rechtslehre kennen topische Konzepte und interpretieren sie in fachspezifischer Weise.1 Angesichts dieser Komplexität hat die Aussage, die August Obermayer bereits 1969 treffen konnte, unverändert Gültigkeit: Bei „der heutigen Forschungslage [muss] jeder Autor, der den Begriff Topos verwendet – der nun einmal von

|| 1 Vgl. Wilhelm Kühlmann und Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topik [Art.]. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus Weimar u. a. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Berlin/New York 1997 ff. Bd. III, S. 646–649. Für das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft verwende ich im Folgenden die Sigle RLW mit Angabe von Bandnummer und Seitenzahl. https://doi.org/10.1515/9783110750782-002

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Curtius in die literaturwissenschaftliche Terminologie eingeführt wurde –, diesen definieren“.2 Mit Ernst Robert Curtius’ Beitrag zu einer literaturwissenschaftlichen Topik soll der Forschungsüberblick in diesem Abschnitt denn auch beginnen.3 Vorab ist es jedoch notwendig, einige terminologische Entscheidungen vorzunehmen, denn die einschlägige Forschungsliteratur hat nicht nur vielfältige Definitionen des Begriffs ‚Topos‘ anzubieten, sondern leidet auch unter einer unscharfen Verwendung von Begriffen wie ‚Topik‘ oder ‚Toposforschung‘. Ich schlage deshalb die folgenden Definitionen vor, die zumindest für den Kontext dieser Arbeit Gültigkeit haben sollen und sich deshalb auf den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft beschränken. (1) Topos: Ein zeichenhaftes, im Gedächtnis gespeichertes Vorstellungsmuster, welches sich in literarischen Texten ausprägen kann.4 (2) Topik: Die „Anleitung zur Verwendung standardisierter Argumentationsformen bzw. anerkannter Darstellungsmuster, Themen und Wissensbestände“5 und das Ergebnis derselben, also der topische Gehalt eines definierten Textkorpus.6 (3) Topikforschung: Einerseits eine literaturwissenschaftliche Forschungsrichtung, die nach dem topischen Gehalt literarischer Texte fragt, und andererseits die theoretische Auseinandersetzung mit Entwicklung und Anwendung der Topik als Methode.7

|| 2 August Obermayer: Zum Toposbegriff der modernen Literaturwissenschaft. In: Toposforschung. Hrsg. von Max L. Baeumer. Darmstadt 1973, S. 252–267, hier S. 261. 3 Ein vollständiger Forschungsüberblick zur literaturwissenschaftlichen Topikforschung ist an dieser Stelle allerdings weder beabsichtigt noch sinnvoll. Stattdessen werde ich eine Reihe von Forschungsbeiträgen exemplarisch herausheben, die dem literaturwissenschaftlichen Toposmodell, das in den folgenden Abschnitten entwickelt werden soll, als Grundlage dienen. 4 Diese Definition werde ich in den folgenden Abschnitten im Detail entwickeln und begründen. 5 Kühlmann/Schmidt-Biggemann: Topik, S. 646. 6 Vgl. Josef Kopperschmidt: Formale Topik. Anmerkungen zu ihrer heuristischen Funktionalisierung innerhalb einer Argumentationsanalytik. In: Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des „Historischen Wörterbuchs der Rhetorik“. Hrsg. von Gerd Ueding, Tübingen 1991, S. 53–62, hier S. 53 (siehe auch meine Beschreibung dieses Forschungsbeitrags weiter unten). 7 In der älteren Forschungsliteratur wird für diesen Gegenstandsbereich auch der Begriff ‚Toposforschung‘ verwendet; so etwa in zwei einschlägigen, literaturwissenschaftlichen Sammelbänden aus den 1970er Jahren, die den Begriff im Titel tragen (siehe Anm. 11 in diesem Kapitel). Diese Bände versammeln sowohl theoretische Beiträge zur Topik als auch Untersu-

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Obwohl Ernst Robert Curtius bereits in den 1930er Jahren in mehreren Studien damit begann, Überlegungen zur Funktionsweise von Topoi in literarischen Texten anzustellen,8 wird seine Untersuchung zum Verhältnis von europäischer Literatur und lateinischem Mittelalter9 von der Forschung gemeinhin als Ausgangspunkt der literaturwissenschaftlichen Topikforschung betrachtet. Diese Untersuchung löste in den darauffolgenden anderthalb Jahrzehnten eine Reihe von Beiträgen aus, die sich, wie oben schon angedeutet, wieder und wieder an den antiken Beiträgen10 zur Topik und Rhetorik abarbeiteten, um anschließend den Beitrag von Curtius entweder unter dem milden Vorwurf methodischer Mängel in ausgewählten Punkten zu würdigen oder sich von Curtius’ Thesen abzugrenzen versuchten. Diese Phase der Topikforschung kulminierte Anfang der 1970er Jahre in zwei Sammelbänden,11 die sowohl bereits erschienene Aufsätze der vergangenen Jahre als auch eine Reihe von Originalbeiträgen versammelten. Hervorzuheben ist hier zunächst der bereits erwähnte Beitrag von August Obermayer,12 der zu Recht in beide Bände aufgenommen wurde, denn darin wird eine äußerst wichtige methodische Unterscheidung getroffen: Obermayer begreift Topoi nicht als literarische Formen (wie etwa Motive, Metaphern oder Symbole), sondern als Denk- oder Vorstellungsmuster, die sich in solchen und anderen Formen ausprägen können. Diese Unterscheidung klingt zumindest begrifflich schon in der Untersuchung an, die Walter Veit bereits 1961 zum Topos der ‚Goldenen Zeit‘ vorgelegt hat.13 Zu einem Zeitpunkt, als die schärfsten Kritiker von Ernst Robert Curtius ihre Beiträge noch gar nicht formuliert hatten, liefert Veit in den methodischen Vorüberlegungen zu seiner Untersuchung eine ausgewogene Auseinanderset|| chungen zum topischen Gehalt literarischer Texte. In der jüngeren Forschungsliteratur scheint der Begriff ‚Topikforschung‘ (teilweise auch: ‚Topik-Forschung‘) aber gängiger zu sein. Deswegen werde ich den Begriff ‚Toposforschung‘ – von Zitaten und bibliografischen Angaben abgesehen – in der vorliegenden Arbeit nicht verwenden. 8 Vgl. Stefan Goldmann: Zur Herkunft des Topos-Begriffs von Ernst Robert Curtius. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 90 (1996), S. 134–149. 9 Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (siehe Kap. 1, Anm. 49). 10 Dazu gehören vor allem die Schriften Topik und Rhetorik von Aristoteles und De oratore von Cicero. Vgl. Peter Hess: Topos [Art.]. In: RLW, Bd. III, S. 649–652, hier S. 649. 11 Toposforschung. Eine Dokumentation. Hrsg. von Peter Jehn. Frankfurt a. M. 1972; Toposforschung. Hrsg. von Max L. Baeumer. Darmstadt 1973. 12 Obermayer: Zum Toposbegriff der modernen Literaturwissenschaft (siehe Anm. 2 in diesem Kapitel). 13 Walter Veit: Studien zur Geschichte des Topos der Goldenen Zeit von der Antike bis zum 18. Jahrhundert. Diss., Köln 1961.

Einführung und Forschungsüberblick | 21

zung mit Curtius’ Hauptwerk14, die auf den kanonischen Texten zur Topik und Rhetorik basiert.15 Sie führt ihn zu der Schlussfolgerung, dass der Toposbegriff nach Curtius sich nun einmal in der Literaturwissenschaft „eingebürgert“ (S. 13) habe. Da an dessen Ansatz und Methode nichts zu bemängeln sei, bleibe nur, „das einmal Gegebene aufzunehmen“ (ebd.). Dies führt Veit aber weder dazu, zur Toposdefinition von Aristoteles zurückzukehren noch der Begriffsbestimmung durch Curtius vorbehaltlos zuzustimmen. Stattdessen versucht er, „den Topos als Denkform zu fassen“ (S. 14; Hervorhebung von mir). Roland Barthes unterscheidet in seinen Ausführungen zur Rhetorik zwischen drei Definitionen von Topik.16 Die erste Definition geht auf die Topik17 von Aristoteles zurück und ist im Einleitungssatz dieser Schrift schon zusammengefasst: Topik wird hier verstanden als ein Verfahren, „aufgrund dessen wir in der Lage sein werden, über jedes vorgelegte Problem aus anerkannten Meinungen zu deduzieren“18. Während diese Definition in der Geschichte der Rhetorik eine wichtige Rolle gespielt hat, sind die beiden anderen Definitionen, die Barthes anführt, im Hinblick auf eine literaturwissenschaftliche Topik von größerer Bedeutung. Nach der zweiten Definition kann die Topik nämlich als ein System verstanden werden, die es einem Textproduzenten – Barthes spricht auch hier von einem ‚Redner‘ – ermöglicht, einen vorgegebenen Gegenstand mithilfe von standardisierten Fragereihen über ein „Raster von Leerformen“ (S. 68) zu bewegen, um Ideen zu produzieren. Diese Leerformen – so die dritte Definition – hätten aber „sehr rasch die Tendenz aufgewiesen, sich ständig auf dieselbe

|| 14 Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (siehe Kap. 1, Anm. 49). 15 Gemeint sind hier die einschlägigen Schriften von Aristoteles und Cicero (siehe Anm. 10 in diesem Kapitel). 16 Roland Barthes: Die alte Rhetorik. Ein Abriß. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1988, S. 15–101. Bei diesem Beitrag handelt es sich um „die Niederschrift eines Seminars, das 1964/65 an der École pratique des hautes études gehalten wurde“ (ebd., S. 15). Er erschien zuerst unter dem folgenden Titel: L'ancienne rhétorique. Aide-mémoire (in: Communications 16 (1970), S. 172–223). 17 Aristoteles: Topik. Übersetzt und kommentiert von Tim Wagner und Christof Rapp. Stuttgart 2004. 18 Arist. top. I, 1, 100a 18–20. In der deutschsprachigen Übersetzung von Barthes’ Beitrag ist im Zusammenhang mit der oben zitierten Stelle von einer „Methode“ (ders.: Die alte Rhetorik, S. 68) die Rede, nicht von einem ‚Verfahren‘. Aristoteles wird hier ohne Angabe zu einer gegebenenfalls verwendeten Übersetzung wie folgt wiedergegeben: „[...] die uns in die Lage versetzt, zu jedem vorgeschlagenen Gegenstand Konklusionen zu liefern, die aus wahrscheinlichen Gründen gewonnen werden“ (ebd.).

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Weise zu füllen, zunächst zufällige und in der Folge wiederholte, verdinglichte Inhalte zu transportieren“ (S. 69).19 Die oben erwähnte, von August Obermayer vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Topoi als Vorstellungsmustern und den literarischen Formen, in denen diese Muster sich ausprägen können, übernimmt auch Lothar Bornscheuer, der das Phänomen der Topik aber in einem wesentlich breiter gewählten, metawissenschaftlichen Ansatz untersucht, für den er den Begriff der „gesellschaftlichen Einbildungskraft“20 geprägt hat. Sein Beitrag markiert eine deutliche Zensur in der Topikforschung. Sowohl die perspektivische Breite als auch die methodische Genauigkeit dieses Beitrags mögen dazu geführt haben, dass er von der Forschung heute immer noch als maßgeblich angesehen wird. Er liefert zwar ganz eindeutig kein Toposmodell, welches sich ohne weiteres als Instrument für die Analyse des topischen Gehalts von literarischen Texten einsetzen ließe (Bornscheuer selbst hat sich von diesem Anspruch freigesprochen),21 stellt aber unverzichtbare Grundlagen bereit, um eine solche Definition zu entwickeln. Die „breite[] Theoriediskussion“22 der 1970er Jahre bereitete den Boden für eine Topikforschung, die nicht an fachwissenschaftlichen Grenzen haltmachte. Die Beiträge zu einer einschlägigen, interdisziplinären Tagung, die im Novem-

|| 19 Für Barthes stellt diese Definition von Topik als „ausgefüllter Speicher“ (ders.: Die alte Rhetorik, S. 69) keinesfalls eine unhistorische, moderne Erfindung dar (eine solche Position vertritt etwa Conrad Wiedemann, siehe unten und Anm. 25 in diesem Kapitel). Barthes führt sie auf die Zeit der Sophisten zurück und stellt fest, dass sie sich „über Aristoteles hinweg bruchlos bis zu den lateinischen Autoren“ (ders.: Die alte Rhetorik, S. 69) fortgesetzt habe und „im Mittelalter Allgemeingut“ (ebd.) gewesen sei. In diesem Zusammenhang verweist er auch auf Ernst Robert Curtius’ Hauptwerk (siehe Kap. 1, Anm. 49). Auch wenn Barthes’ Ausführungen essayhaften Charakter haben und nur spärlich mit Belegen versehen sind, hätte der Streit um die Topik in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft von einer frühzeitigen Rezeption seiner Thesen profitieren können. Uwe Hebekus hat dies 1995 exemplarisch gezeigt – bezeichnenderweise in einem literaturwissenschaftlichen Einführungswerk (siehe unten und Anm. 29 in diesem Kapitel). 20 Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a. M. 1976. 21 Schon in den Vorbemerkungen zu seiner Untersuchung stellt Bornscheuer fest, dass seine Arbeit zwar „aus dem Interessenhorizont eines Literaturwissenschaftlers“ (ders.: Topik, S. 9) stamme, aber trotzdem auf „sprach-, literatur- oder kommunikationstheoretische Ableitungen“ (ebd.) verzichte. Tatsächlich beschränken sich seine Ausführungen zur Literaturwissenschaft in Abschnitt III.5 im Wesentlichen auf eine Kritik an existierenden fachwissenschaftlichen Ansätzen zur Topik. 22 Dieter Breuer und Helmut Schanze: Topik: Ein interdisziplinäres Problem. In: Dies. (Hrsg.): Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion. München 1981, S. 9–13, hier S. 9.

Einführung und Forschungsüberblick | 23

ber 1978 stattfand, dokumentiert ein Sammelband,23 der von den Literaturwissenschaftlern Dieter Breuer und Helmut Schanze herausgegeben wurde. In bewusster Abgrenzung von den bereits erwähnten, literaturwissenschaftlich ausgerichteten Sammelbänden von Peter Jehn und Max L. Baeumer enthält dieser Band Beiträge von Vertretern der Klassischen Philologie, der Rechtswissenschaften, der Philosophie sowie der Sozial-, Literatur- und Sprachwissenschaften.24 Aus literaturwissenschaftlicher Sicht hervorzuheben sind hier die Beiträge von Conrad Wiedemann, Bernd Spillner und Karl Allgaier. Conrad Wiedemann trennt zwischen einem aus seiner Sicht falschen, weil unhistorischen Toposbegriff, der vornehmlich durch die fachwissenschaftliche Curtius-Rezeption entstanden sei, und einem historisch angemessenen Verständnis, das zwischen den Bereichen der Modaltopik (basierend auf Aristoteles) und der Sachtopik (im Sinne Ciceros und Quintilians) unterscheiden müsse.25 Er plädiert dafür, die Topik nicht nur als Technik der Textproduktion zu verstehen, sondern sie als Hilfsmittel zur Textauslegung zu nutzen. Anhand der Gemeinsamkeiten von sprachlichen Zeichen und Topoi stellt Bernd Spillner überzeugend dar, warum es sinnvoll ist, von einer Zeichenhaftigkeit der Topik auszugehen.26 Es gelingt ihm, die ebenfalls zu konstatierenden Unterschiede zwischen Topoi und einer allgemein anerkannten Definition sprachlicher Zeichen in seinen Vorschlag zu integrieren, indem er Topoi als eine spezifische „Unterklasse symbolischer Zeichen“ (S. 260) begreift. Die Erkenntnis, dass Autoren bei der Textproduktion stets von anderen Texten beeinflusst werden, liegt Karl Allgaiers Ansatz zugrunde, Konzepte wie Originalität oder Genie bei der Bewertung von Literatur in den Hintergrund zu stellen und stattdessen das „Toposbewußtsein“27 (S. 265) des Textproduzenten zu untersuchen. Allgaier stellt Peter Handkes Roman Der Hausierer exemplarisch in die topische Tradition des Detektivromans, die er mit Edgar Allan Poe und Arthur Conan Doyle beginnen lässt, und zeigt so implizit, dass sowohl Topoi als auch ganze Topiken in einem genrespezifischen Kontext jederzeit entstehen können, ohne an intertextuelle Verknüpfungen mit kanonischen Werken oder gar an eine Zurückverfolgbarkeit in die Antike gebunden zu sein. || 23 Breuer/Schanze (Hrsg.): Topik (siehe Anm. 22 in diesem Kapitel). 24 Vgl. Breuer/Schanze: Topik, S. 10. 25 Conrad Wiedemann: Topik als Vorschule der Interpretation. Überlegungen zur Funktion von Toposkatalogen. In: Breuer/Schanze (Hrsg.): Topik, S. 233–255. 26 Bernd Spillner: Thesen zur Zeichenhaftigkeit der Topik. In: Breuer/Schanze (Hrsg.): Topik, S. 256–263. 27 Karl Allgaier: Toposbewußtsein als literaturwissenschaftliche Kategorie. In: Breuer/Schanze (Hrsg.): Topik, S. 264–274, hier S. 265.

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Josef Kopperschmidts bereits erwähnter Aufsatz zur formalen Topik28 zeigt exemplarisch, wie sich ein bestimmtes Argumentationsmuster auf Topoi zurückführen lässt, die in den Rhetoriken von Aristoteles und Quintilian beschrieben sind. In seinem Beitrag geht es zum einen darum, die „Formprinzipien“ (S. 54) zu ermitteln, auf denen Argumente basieren können, und zum anderen um die Frage, worauf die Überzeugungskraft der Argumente beruht, die auf diesen Prinzipien basieren. Kopperschmidt betrachtet den „notorischen Streit über ein angemessenes Topikverständnis“ (S. 53) allerdings als unauflösbar. In diesem Zusammenhang schlägt er vor, nicht nur die oben erwähnten Formprinzipien, sondern auch „die zu Motiven, Denkformen, Themen, Argumenten, Klischees, loci communes, Stereotypen usw. stabilisierten materialen Gehalte“ (ebd.) als Topoi zu begreifen. Uwe Hebekus attestiert der Topik das Potenzial, eine „Orientierung des literaturwissenschaftlichen Geschäfts“29 herbeizuführen. Dafür sei es aber notwendig, sie „aus dem Korsett einer Handbuch-Rhetorik“ (S. 82) zu befreien. Hebekus geht auf die antiken Ursprünge der Topik und deren Rezeption durch Ernst Robert Curtius ein. Anschließend beschreibt er die Topik mit Roland Barthes als Mechanismus, Inhalte aus dem kollektiven Gedächtnis hervorzuholen und zu variieren. Ein topischer Ansatz könne insbesondere für Erzähltexte zu einem differenzierten Interpretationsansatz führen, da sie deren hermeneutischer Vielschichtigkeit gerecht werde. Hebekus regt an, dies etwa auf die literarischen Texte des deutschen literarischen Realismus anzuwenden, die durch ihre Verbindung zum zeitgenössischen Journalismus durch topische Strukturen geprägt seien. Den oben erwähnten Vorschlag Josef Kopperschmidts, zwischen einer formalen und einer materialen Topik zu unterscheiden, diskutiert Ralf Boscher in seiner Magisterarbeit30 und bildet ihn auf die ebenfalls bereits erwähnte Untersuchung von Lothar Bornscheuer31 ab. Boschers Arbeit ist an dieser Stelle vor allem zu erwähnen, weil sie den literaturwissenschaftlichen Streit um ein korrektes Topikverständnis, der als Reaktion auf Ernst Robert Curtius entstand, detailliert nachzeichnet. || 28 Kopperschmidt: Formale Topik (siehe Anm. 6 in diesem Kapitel). 29 Uwe Hebekus: Topik/Inventio. In: Einführung in die Literaturwissenschaft. Hrsg. von Miltos Pechlivanos, Stefan Rieger, Wolfgang Struck und Michael Weitz. Stuttgart und Weimar 1995, S. 82–96, hier S. 82. 30 Ralf Boscher: Formale oder materiale Topik? Kontroversen und Perspektiven der neueren literaturwissenschaftlichen Topik-Forschung. Magisterarbeit, Konstanz 1999. URL: (Abruf: 16.5.2017). 31 Bornscheuer: Topik (siehe Anm. 20 in diesem Kapitel).

Einführung und Forschungsüberblick | 25

Fast zwanzig Jahre nach der ersten, von Dieter Breuer und Helmut Schanze organisierten, interdisziplinär besetzten Topik-Tagung luden Thomas Schirren und Gerd Ueding zu einem ähnlichen Austausch ein. Ausgehend von der Grundannahme, dass sich alle denkbaren Fragestellungen – Themen aus wenigen Spezialbereichen ausgenommen – durch das Vorbringen von Argumenten behandeln lassen, veranstalteten sie ein mit Vertretern der Philologien, Rechtswissenschaft, Philosophie und Sozial- und Kunstwissenschaften besetztes Symposion, das sich mit dem Verhältnis von Topik und Rhetorik beschäftigte. Die Ergebnisse dieser Tagung sind in einem Sammelband dokumentiert.32 Neben der Einleitung von Thomas Schirren,33 die sowohl den Stand der Topikforschung als auch die Kernaussagen der antiken Quellen (Aristoteles, Cicero, Quintilian) auf knappem Raum präzise zusammenfasst, ist aus literaturwissenschaftlicher Sicht besonders der Beitrag von Joachim Knape zu nennen. Knape beschreibt die Rolle der Topik aus zwei Perspektiven, indem er sie sowohl auf die Textproduktion als auch auf die Textanalyse bezieht.34 Für beide Bereiche stellt er jeweils fünf Thesen auf, die teilweise aber nur mit Schwierigkeiten auf literarische Texte angewandt werden können (das Beispiel, mit dem Knape operiert, stammt aus dem Bereich zeitgenössischer Werbeanzeigen). Einzelne Thesen dieses Beitrags werden im Folgenden aber dennoch eine Rolle spielen, wenn es darum geht, die Erscheinungsform topischer Inhalte in literarischen Texten genauer zu beschreiben und zu begründen, warum eine topische Textanalyse ein Korpus von mehreren Texten zum Gegenstand haben sollte. Sascha Löwenstein beobachtet im Jahr 2004 einen Trend, der „in den letzten Jahren zu einer nachhaltigen Beschäftigung mit der Theorie der Argumentation und zum Eingang der Rhetorik in die wissenschaftliche Pädagogik geführt“35 habe. In diesem Zusammenhang setze die Pädagogik sich „auch mit der Topik als einer Teildisziplin der Rhetorik“ (S. 187) auseinander und finde dabei „einen nicht unproblematischen Toposbegriff“ (ebd.) literaturwissenschaftlicher Prägung vor. Die Philologie habe unter Berufung auf den aristotelischen Toposbegriff „eine natürliche Beziehung zwischen Literatur- und Toposbegriff vorgegeben“ (S. 188). Löwenstein dagegen bezeichnet diese Beziehung als „of|| 32 Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposion. Hrsg. von Thomas Schirren und Gerd Ueding. Tübingen 2000. 33 Thomas Schirren: Einleitung. In: Schirren/Ueding: Topik und Rhetorik, S. XIII–XXXI. 34 Joachim Knape: Die zwei texttheoretischen Betrachtungsweisen der Topik und ihre methodologischen Implikaturen. In: Schirren/Ueding: Topik und Rhetorik, S. 747–763. 35 Sascha Löwenstein: Literatur und Topik. Anmerkungen zu einer nicht selbstverständlichen Beziehung. In: Topik und Argumentation. Hrsg. von Andreas Dörpinghaus. Würzburg 2004, S. 187–210, hier S. 187.

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fenkundig nicht selbstverständlich[]“ (ebd.). Er beschreibt Topoi auf der Grundlage von Aristoteles’ Topik als „Argumentationsmöglichkeit[en]“ (ebd., S. 188; Hervorhebung im Original) und führt einen detaillierten Nachweis, dass in der literarischen Produktion des Barock die schöpferische „Phantasie […] ausnahmslos auf das Ausschöpfen der loci topici [reduziert]“ (ebd., S. 192) war. Alle Poetiken dieser Zeit folgten den „Prinzipien und Leitlinien, wie sie die rhetorische Topik für die Inventio bereitgestellt hatte“ (ebd., S. 195). Löwenstein beschreibt eine radikale Abkehr von der Topik im Zuge der Aufklärung und der „Genieästhetik“ (S. 197) des 18. Jahrhunderts, die dazu geführt habe, dass bereits „[z]u Beginn des 19. Jahrhunderts […] eine tiefe Kluft zwischen Literatur und Redekunst“ (S. 198) geherrscht habe. Damit sei aber auch die Zweckorientierung der Literatur im Hinblick auf eine erzieherische Wirkung verlorengegangen. In Folge könne der „antike Toposbegriff nur auf einen sehr begrenzten Textbestand“ (S. 199) Anwendung finden. Dies habe die Literaturwissenschaft aber „geradezu ignoriert“ (ebd.). Löwenstein zeichnet die Entwicklung nach, die seit Ernst Robert Curtius’ Versuch, den Toposbegriff aus seiner rhetorischen Tradition zu lösen, zu „einer schier unbeherrschbaren Bedeutungsvielfalt des Begriffs ‚Topos‘“ (S. 201) geführt habe. Deswegen müsse im Hinblick auf den „literaturwissenschaftlichen Toposbegriff […] wohl von einem untergeordneten Konstrukt der Wissenschaft die Rede sein, das sich mit der rhetorischen Tradition und der aristotelischen Topik nur äußerst eingeschränkt zusammenbringen“ (S. 203) lasse. Im Jahr 2005 konnte Frauke Berndt feststellen, dass die Begriffe ‚Topos‘ und ‚Topik‘ immer noch nicht endgültig bestimmt seien.36 Berndt unterscheidet kategorisch zwischen einer philosophischen und einer literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweise der Topik. Sie stellt die traditionelle Unterscheidung von Rhetorik und Literatur im Hinblick auf topische Verfahrensweisen in Frage und kommt zu dem Urteil, dass die auf der Grundlage bzw. in Opposition zu Ernst Robert Curtius’ Toposbegriff entstandenen, einschlägigen literaturwissenschaftlichen Beiträge dem Charakter der Topik als kollektivem kulturellem Gedächtnis nicht gerecht würden. Eine Ausnahme bilde lediglich der oben erwähnte Beitrag von Lothar Bornscheuer.37 Berndt untersucht auf der Grundlage der kanonischen Texte von Aristoteles, Cicero und Quintilian mehrere Dimensi-

|| 36 Frauke Berndt: Topik-Forschung. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hrsg. von Astrid Erll und Ansgar Nünning. Berlin/New York 2005, S. 32–52. 37 Bornscheuer: Topik (siehe Anm. 20 in diesem Kapitel).

Zurück zu den Anfängen | 27

onen der Topik und zeigt anhand von zwei Beispielen, der Enzyklopädie- und der Autobiografieforschung, konkrete Anwendungsfelder auf. Bereits dieser selektive Überblick zur Forschungslage zeigt deutlich, dass die literaturwissenschaftliche Topikforschung auch sieben Jahrzehnte nach ihrer Begründung weit davon entfernt ist, sich auf eine allgemein akzeptierte und gesicherte Definition ihres Gegenstands berufen zu können. Bevor eine Analyse der topischen Gestaltung von Bildungsgängen in Adalbert Stifters Erzählwerk erfolgen kann, sind also entsprechende Vorarbeiten zu leisten.

2.2 Zurück zu den Anfängen Die fachwissenschaftliche Kritik an Ernst Robert Curtius’ Untersuchung zum Verhältnis von europäischer Literatur und lateinischem Mittelalter hat schon so häufig das Fehlen einer stringenten methodischen Grundlage bemängelt, dass man diesem Aspekt beinahe selbst schon topischen Charakter zuschreiben kann. Tatsächlich widmet sich nur eines von 18 Kapiteln der umfangreichen Monografie explizit der Topik als solcher, und die Ausführungen zu einer „historischen Topik“38 in § 2 dieses Kapitels füllen nicht einmal eine Seite. Curtius beschreibt hier einen wechselseitigen Austausch topischen Materials zwischen Rhetorik und Poesie und nennt mehrere zur „poetischen Topik“39 gehörende „Themen“40, die sich auf „Urverhältnisse des Daseins“41 beziehen. Darüberhinausgehende theoretische Überlegungen finden sich an dieser Stelle nicht. Man darf in diesem Zusammenhang aber nicht übersehen, dass es Curtius nicht um die Entwicklung einer Methode oder Theorie, sondern in erster Linie darum geht, Topoi in der europäischen Literatur zu identifizieren und zu beschreiben. Dagegen ist erst einmal nichts einzuwenden. Richtig ist, dass die Neuartigkeit seines Ansatzes eine ausführlichere methodische Grundlage gefordert hätte. Vor diesem Hintergrund aber von einer „irrtümlichen Neudefinition“42 des Toposbegriffs zu sprechen, die sich auf der Grundlage von Curtius’ Untersuchung in der Forschung etabliert habe, hieße, das Kind mit dem Bade auszuschütten und zu verkennen, dass Curtius die Funktion des topischen Denkens im literarischen Produktionsprozess genau erkannt zu haben scheint. So findet sich im Epilog zu seinen Ausführungen die folgende Auseinandersetzung || 38 Curtius: Europäische Literatur, S. 92. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Wiedemann: Topik als Vorschule, S. 235.

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mit dem Konzept von Bewusstseinsstrukturen, die im Hinblick auf ein literaturwissenschaftliches Toposmodell entscheidende Aspekte anspricht: Formen sind Gestalten und Gestaltsysteme, in denen Geistiges zur Erscheinung gelangt und faßbar wird. [...] Ein Kristall besteht aus einem Raumgitter von Elektronen und Atomkernen. [...] Literarische Formen erfüllen die Funktionen von solchen Gittern. Wie sich diffuses Licht in der Linse sammelt, [...] so kristallisiert sich poetische Substanz an einem Gestaltschema. In der englischen Kritik hat sich der Begriff pattern eingebürgert. Das ist das Web- oder Knüpfmuster eines Teppichs. Wenn ich nicht irre, braucht WILLIAM JAMES das Wort, um Strukturen im „Strom“ des Bewußtseins zu bezeichnen.43

Es lässt sich nicht abstreiten, dass diese Ausführungen eher essayistisch als streng wissenschaftlich gehalten sind. Trotzdem – und obwohl der Begriff ‚Topos‘ in diesem Zusammenhang gar nicht fällt – verweisen sie auf ein Modell, das eine entscheidende Rolle spielt, wenn man das topische Denken als Grundprinzip des literarischen Produktionsprozesses begreift; sie dürfen keinesfalls als ein bloßes Festhalten an einem „idealistischen Begabungsbegriff“44 abgetan werden.45 Ich gebe das Modell, das in diesen Ausführungen in aller Kürze zum Ausdruck kommt, im nächsten Absatz ebenfalls thesenartig wieder, bevor ich es näher beschreibe. Die in Klammern eingeschobenen, nicht noch einmal eigens nachgewiesenen Zitate stammen aus der oben zitierten Textstelle:

|| 43 Curtius: Europäische Literatur, S. 394. Die Kristallmetapher, mit der Curtius an dieser Stelle den Textproduktionsprozess beschreibt, basiert ursprünglich auf der „antiken Annahme, der Bergkristall sei verfestigtes Eis“ (Frost: Whiteout, S. 39) und „veranschaulicht […] bis ins 18. Jahrhundert hinein den Übergang des Materiellen ins Geistige“ (ebd., S. 37). In der deutschen Frühromantik erfolgte im Kontext zeitgenössischer mineralogischer Erkenntnisse eine Umdeutung dieser Metapher (vgl. ebd., S. 39 f. u. S. 117 ff.). Der Kristall wurde zum „romantische[n] Kunstsymbol“ (Henrik Leschonski: Der Kristall als expressionistisches Symbol. Studien zur Symbolik des Kristallinen in Lyrik, Kunst und Architektur des Expressionismus (1910–1925). Frankfurt a. M. u. a. 2008 (zugl. Diss., Berlin 2007), S. 45). Eine wichtige Grundlage bildete hier Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Schrift Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur von 1807 (vgl. ebd., S. 45 ff.), die sich wiederum „eng an Goethes pantheistische Vorstellung einer universalen Geist-Natur an[lehnt]“ (ebd., S. 46). 44 Bornscheuer: Topik, S. 144. 45 Vgl. Hebekus: Topik/Inventio, S. 84 f. Hebekus verteidigt den Toposbegriff, den Ernst Robert Curtius in Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter entwickelt, gegenüber dessen Kritikern. Zwar weise dieser Begriff ein bestimmtes Maß an „Heterogenität“ (ebd., S. 84) auf und die Untersuchung sei als „[k]ryptisch“ (ebd.) zu bewerten. Curtius entwerfe aber nichtsdestotrotz den „Plan der Restitution eines kollektiven Gedächtnisses, das die Diachronie der Literaturgeschichte transformiert in die Kopräsenz ihrer Elemente, eines Gedächtnismodells, das, wie zu zeigen sein wird, konstitutiv war für die topische inventio“ (ebd., S. 84 f.).

Beispiel: Initiation als Topos | 29

(1) Individuen speichern eine Vielzahl von Vorstellungsmustern („pattern[s]“) dauerhaft in ihrem Gedächtnis („Strom des Bewusstseins“). (2) Diese Vorstellungsmuster – oder Topoi – sind nicht nach Art eines Zettelkastens oder Katalogs strikt voneinander getrennt, sondern miteinander verknüpft (wie das „Web- oder Knüpfmuster eines Teppichs“). (3) Wenn ein Individuum einen Text produziert, können sich die gespeicherten Topoi durch Versprachlichung in einer konkreten literarischen Form ausprägen (unterliegen also einem Prozess, in dem „Geistiges zur Erscheinung gelangt“, weil sich „poetische Substanz an einem Gestaltschema [kristallisiert]“). Diese drei Thesen beschreiben das topische Denken als Grundprinzip des literarischen Produktionsprozesses in aller Kürze. Ich werde dieses Prinzip im nächsten Abschnitt anhand eines Beispiels illustrieren und anschließend systematisch entwickeln.

2.3 Beispiel: Initiation als Topos Die Literaturwissenschaft unterscheidet sich von Disziplinen wie etwa der Philosophie, der Soziologie oder der Rechtswissenschaft darin, dass ihr ursprünglicher Untersuchungsgegenstand – literarische Texte – in der Regel nicht für ein Fachpublikum gemacht ist. Dies mag wie eine Binsenweisheit klingen, ist im Kontext der vorliegenden Untersuchung aber wichtig, weil es dazu führt, dass problemlos eine Fülle von Beispielen zur Verfügung steht, anhand derer sich nachvollziehbar demonstrieren lässt, wie sich Topoi in literarischen Texten ausprägen. Es ist nicht notwendig, den Mechanismus der Ausprägung genau zu verstehen, um ihn nachvollziehen zu können. Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass auffällig viele Forschungsbeiträge, die sich mit den literarischen und literaturwissenschaftlichen Dimensionen der Topik beschäftigen, auf Abstand zu ihrem Untersuchungsgegenstand bleiben und nicht ein einziges Beispiel für einen Topos bringen, der sich in einem literarischen Text ausprägt. Ich stelle deswegen meinen weiteren systematischen Überlegungen eine beispielhafte Beschreibung des Topos der Initiation voran, die illustriert, was ein Topos überhaupt ist und wie er sich in einem Text ausprägen kann. Die literarische Gestaltung von Initiationsprozessen kennt verschiedene Spielarten. Im Folgenden beziehe ich mich auf eine Variante, die sich dadurch auszeichnet, dass „die Darstellung auf eine jugendliche, in der Regel männliche Hauptfigur fokalisiert ist und daß die erzählte Geschichte eine dreiphasige Organisation aufweist. Der Held tritt aus einer etablierten sozialen Ordnung in den

30 | Topisches Denken als literarisches Grundprinzip

außersozialen Raum aus, wobei die Transitionsphase durch eine Reise markiert wird, um am Ende in eine neue, mit der ersten nicht identische soziale Ordnung einzutreten“46. Diese Beschreibung lässt sich unter anderem auf ein Beispiel aus dem Gegenstandsbereich der vorliegenden Untersuchung anwenden, nämlich Adalbert Stifters Roman Der Nachsommer und dessen Hauptfigur Heinrich Drendorf.47 Der Gehalt der Beschreibung, welche, wie ich später noch zeigen werde, auch für andere Texte Gültigkeit beanspruchen kann, hat sich im Text des Nachsommers ausgeprägt. Aus dem bisher Gesagten lassen sich bereits drei Aspekte ableiten, die zu berücksichtigen sind, wenn es darum geht, zu verstehen, welche Rolle Topoi bei der Produktion von literarischen Texten spielen. Zum ersten wird deutlich, dass Topoi aus zwei Elementen bestehen. Sie haben eine Bezeichnung (‚Initiation‘) und repräsentieren ein allgemeinsprachlich beschreibbares Vorstellungmuster (etwa: ‚ein Außenstehender wird von einer Gemeinschaft einem Transformationsprozess unterzogen und erhält auf diese Weise Zugang zu ihr‘), lassen sich also im semiotischen Sinne als Zeichen beschreiben.48 Zum zweiten sind Topoi im Unterschied zu literarischen Formen wie Metaphern oder Allegorien nicht Teil von literarischen Texten, sondern offen dafür, sich in beliebig vielen Texten zu manifestieren. Sobald dies geschieht, wird ein Topos in eine geschlossene literarische Form transformiert. Das gewählte Beispiel zeigt, dass es sich dabei nicht immer um überschaubare und klar umrissene Textabschnitte handeln muss. Topoi können in Erzähltexten durchaus auch auf der Ebene des Stoffs Gestalt annehmen. Und zum dritten können literarische Ausprägungen von

|| 46 Michael Titzmann: Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770–1830). Mit dem Beispiel der optischen Kodierung von Erkenntnisprozessen. In: Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Link und Wulf Wülfing. Stuttgart 1984, S. 100–120, hier S. 101. 47 Zur Anwendung des Begriffs der ‚Initiation‘ auf Heinrichs Werdegang vgl. Blasberg: Erschriebene Tradition, S. 356–358. Auch Katharina Grätz spricht in Bezug auf Heinrich Drendorfs Eintritt in die Welt des Asperhofes vom Beginn einer „Initiation“ (dies.: Evidenz des Musealen. Die ästhetische Wiederkehr der Antike in Stifters Nachsommer. In: Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Hrsg. von Ernst Osterkamp und Thorsten Valk. Berlin/Boston 2011, S. 217–235, hier S. 221) in die dort herrschende „Lebensordnung“ (ebd.). In dem oben dargestellten Zusammenhang führe ich den Nachsommer aber lediglich als Beispiel für einen Text an, in dem sich unter anderem der Topos von der Initiation ausgeprägt hat. In Kapitel 7 der vorliegenden Untersuchung wird es im Hinblick auf die literarische Gestaltung von Heinrich Drendorfs Bildungsgang um andere Topoi gehen. 48 Zur Begründung dieser These siehe Abschnitt 2.4.1.

Eigenschaften von Topoi | 31

Topoi von den Mitgliedern eines Kulturkreises49 ohne Schwierigkeiten verstanden werden. Sie sind also nachvollziehbar. Jede dieser drei Eigenschaften spielt eine bestimmte Rolle im Prozess der Produktion und Rezeption von Texten. Die Eigenschaft der Zeichenhaftigkeit beschreibt, in welcher Form Topoi im Gedächtnis eines potenziellen Textproduzenten gespeichert sind. Die Offenheit von Topoi führt dazu, dass sie sich in unterschiedlichen literarischen Formen und in unterschiedlichen Texten ausprägen können. Das Merkmal der Nachvollziehbarkeit schließlich beschreibt, wie die Rezipienten eines Textes mit darin ausgeprägten Topoi umgehen. Diese drei Eigenschaften werde ich in den folgenden Abschnitten im Detail beschreiben, um ein Toposmodell zu entwickeln, das sich dazu verwenden lässt, Interpretationszugänge zu literarischen Texten bereitzustellen.

2.4 Eigenschaften von Topoi 2.4.1 Zeichenhaftigkeit Die systematische Grundlage für ein literaturwissenschaftliches Toposmodell findet sich in der antiken Rhetorik, die für den Prozess der Textherstellung bekanntlich drei Schritte definiert.50 Im ersten Schritt, der inventio, stellt der Textproduzent in einem Suchprozess die Argumente oder Gedanken zusammen, die für die Darstellung eines Themas geeignet sind. Anschließend folgt der zweite Schritt, die dispositio, in der die aufgefundenen Gedanken in einer Struktur angeordnet werden. Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, um in einem

|| 49 Ausprägungen von Topoi können oft über die Grenzen von Epochen und Sprachen hinweg verstanden und nachvollzogen werden. Deswegen erscheint es mir sinnvoll, nicht von einer ‚Kulturgemeinschaft‘ oder gar der ‚Gesellschaft‘ zu sprechen, sondern eine möglichst allgemeine Bezeichnung zu wählen. Der Begriff ‚Kulturkreis‘ in der Definition von Michael Bösch bietet sich hier an: „Weit verbreitet ist ein ethnologischer Kulturbegriff, mit dem die tradierten Mentalitätsformen und Lebensgewohnheiten eines Volkes bezeichnet werden. Mit dem Begriff ‚Kulturkreis‘ fassen wir solche Traditionen zu größeren Einheiten zusammen, die historisch, religiös und sprachlich eng verbunden sind“ (ders.: Kultur [Art.]. In: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Hrsg. von Petra Kolmer und Armin G. Wildfeuer. Bd. 2. Freiburg im Breisgau 2011, S. 1357 f.). Vgl. Ernst Robert Curtius, dessen Untersuchungsansatz sich auf die Annahme stützt, dass Europa ein Gebilde sei, „das an zwei Kulturkörpern teilhat, dem antikmittelmeerischen und dem modern-abendländischen“ (ders.: Europäische Literatur, S. 17). 50 Vgl. Schanze u. a.: Rhetorik, S. 41 f.

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dritten Schritt, der elocutio, eine Versprachlichung der vorstrukturierten Gedanken vorzunehmen.51 Da die Versprachlichung der zu beschreibenden Inhalte im zweiten Schritt, der dispositio, allenfalls vorbereitet und erst in der elocutio fixiert wird, stellt sich die Frage, in welcher Form diese Inhalte vor ihrer Versprachlichung vorliegen und in welchem Medium – wenn nicht im Text – die inventio stattfindet. Es ist nun ein allgemein akzeptierter Sachverhalt, dass literarische Texte niemals allein stehen, sondern auf Material basieren, das anderen Texten entstammt.52 In gleicher Weise stehen sie selbst wieder als Eingangsmaterial für die Produktion neuer Texte zur Verfügung. Während der Literaturwissenschaft lange ein Begriff gefehlt hat, um diese Eigenschaft von literarischen Texten – ihre Intertextualität – zu beschreiben, wurden intertextuelle Bezüge in der literarischen Praxis schon in der Antike bewusst hergestellt.53 Auch die Schüler des frühneuzeitlichen Rhetorikunterrichts wurden dazu angehalten, intertextuelle Verbindungen zu schaffen und legten sich das Material für ihre Textproduktion in Kollektaneen, also handschriftlich geführten Heften, zurecht, die mit Phrasen, Formulierungen, Sprüchen und anderen Lektüreergebnissen gefüllt wurden. Über ein alphabetisches Register konnten diese Inhalte erschlossen und für die eigene Textproduktion nutzbar gemacht werden. Diese Praxis erlaubte es, Bezüge zu Werken mit ähnlichen Inhalten und Themen herzustellen, denn das Verfassen von Texten wurde nicht als subjektive, kreative Leistung begriffen, sondern als Nachahmung von mustergültigen Vorbildern. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass sich die inventio als Suchprozess in erster Linie auf andere Texte bzw. verschriftlichte Lektüreergebnisse bezieht. Ihr ursprüngliches und eigentliches Medium ist das Gedächtnis. In der Tradition der Topik lässt sich nämlich „schon früh die Vorstellung vom Gedächtnis als einem topographisch-distinktem Raum“54 ausmachen – ein Konzept, das sich nicht nur in Aristoteles’ Begriff ‚Topos‘ (das griechische Wort bedeutet so viel

|| 51 Zu den officia oratoris, also den Aufgaben des Redners, gehören in der antiken Rhetorik neben den drei genannten auch das Auswendiglernen des Textes (memoria) und der eigentliche Vortrag (actio oder pronuntiatio). Vgl. Georg Baumgart und Dietmar Till: Rhetorik [Art.]. In: RLW, Bd. III, S. 290–295, hier S. 290. 52 Vgl. Ulrich Broich: Intertextualität [Art.]. In: RLW, Bd. II, S. 176. Vgl. auch Oliver Scheiding: Intertextualität. In: Erll/Nünning: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft, S. 53–72. 53 Vgl. Heinz Entner: Imitatio [Art.]. In: RLW, Bd. II, S. 132–135. 54 Vgl. Wiedemann: Topik als Vorschule, S. 245. Diese Auffassung vom Gedächtnis, so Wiedemann weiter, habe „die medizinische Hirnforschung ja bekanntlich bestätigt“ (ebd.). Allerdings führt er keinen Beleg für diese Aussage an.

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wie ‚Ort‘ oder ‚Platz‘)55, sondern auch in der lateinischen Entsprechung bei Cicero (locus) niederschlägt. Wenn Cicero die Funktionsweise von Topoi also anhand einer „geographischen Metaphorik“56 beschreibt, definiert er die topischen Fundstellen noch als gedankliche Orte, die dem Redner „vollkommen vertraut“57 und „jederzeit präsent“58 sein sollen. Die Humanisten gelangten dann aber zu der Erkenntnis, dass das Gedächtnis des Menschen ein unzuverlässiger und flüchtiger Speicher ist. Nachdem man den Buchdruck erfunden und den Lesekanon des ausgehenden Mittelalters um Titel aus der Antike erweitert hatte, war die „Wissensverwaltung mit den Mitteln der alten Mnemonik nicht mehr zu leisten“59. Das Anlegen von Kollektaneen und anderen Verzeichnissen diente deswegen noch einem weiteren Zweck. Es ermöglichte die dauerhafte und geordnete Speicherung von Inhalten, die vom Verlust durch Vergessen bedroht waren.60 Auf diese Weise wurde die Topik, der als „Kern der inventio“61 die ursprüngliche Aufgabe zukam, die Suche nach Argumenten zu systematisieren, in der frühen Neuzeit funktional ergänzt. Sie avancierte zum „Einteilungsschema für den gesammelten geistigen Vorrat“62.

|| 55 Vgl. Hess: Topos, S. 649. 56 Joachim Dyck: Topik [Art.]. In: Das Fischer Lexikon Literatur. Bd. 3. Neuausgabe. Hrsg. von Ulfert Ricklefs. Frankfurt a. M. 2002, S. 1844–1856, hier S. 1844. Vgl. auch Hebekus: Topik/Inventio, S. 86. 57 Dyck: Topik, S. 1844. 58 Ebd. 59 Kühlmann/Schmidt-Biggemann: Topik, S. 647. 60 Vgl. Helmut Schanze, Dietmar Till und Anne Ulrich: Rhetorik. In: Handbuch Medien der Literatur. Hrsg. von Natalie Binczek, Till Dembeck und Jörgen Schäfer. Berlin 2013, S. 41–68, hier S. 47 f. 61 Dyck: Topik, S. 1844. 62 Ebd., S. 1850. Sascha Löwenstein dagegen erkennt in Ernst Robert Curtius’ historischer Topik und den darauf aufbauenden Theorien eine „Verwechslung der loci topoi mit den loci communes [...], wie sie in Florilegien und Kollektaneen zu finden sind“ (ders.: Literatur und Topik, S. 200). Aristoteles habe „sehr genau zwischen dem Topos und seiner Anwendung im konkreten Einzelfall“ (ebd.) getrennt. Vor diesem Hintergrund sieht Löwenstein einen „entscheidende[n] Gegensatz“ (ebd.) zwischen Topoi und den Informationen, die in „Kollektaneen und anderen Materialkataloge[n]“ (ebd.) aufgezeichnet wurden. Durch Letztere würden „Inhalte von außen an ein Thema herangetragen“ (ebd.; Hervorhebung im Original), während es sich bei der Topik um eine „Such- und Auffindungsmethode“ (ebd.) handele. Mein Toposmodell unterscheidet ebenfalls zwischen Topoi und ihren konkreten Ausprägungen im Text. Allerdings werde ich vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Entwicklung, die zu einer funktionalen Ergänzung der Topik führte, nicht kategorisch zwischen Topoi als gedanklichen Orten und den dort auffindlichen Inhalten unterscheiden. Im Gegenteil: Wenn es darum geht, das

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Die Verwendung eines externen Mediums als Zusatzspeicher führt aber nicht dazu, dass die Funktionsweise des ursprünglichen Speichers außer Kraft gesetzt wird. Dieser ursprüngliche Speicher ist das Gedächtnis. Dessen Funktionsweise im Textproduktionsprozess lässt sich am besten erfassen, wenn man es in Anlehnung an die oben angesprochenen Konzepte als ein räumlich strukturiertes Medium begreift, in dem allgemeinsprachlich beschreibbare Vorstellungsmuster an adressierbaren Speicherorten abgelegt sind. Diese Speicherorte sucht der Textproduzent in der Phase der inventio auf und prüft die dort abgelegten Inhalte auf ihre Verwendbarkeit für ein gegebenes Thema. Topoi scheinen also stets aus zwei Komponenten zu bestehen. Sie besitzen eine Speicheradresse und einen Inhalt, der unter dieser Adresse auffindbar ist. Diese dichotome Struktur legt es nahe, Topoi als Zeichen zu begreifen und die beiden Komponenten auf die hinlänglich bekannte Einheit von Zeichenausdruck (Signifikant) und Zeicheninhalt (Signifikat) abzubilden.63 An die Stelle des Signifikanten tritt das Schlagwort, mit dem ein Topos bezeichnet wird. Ich verwende dafür im Folgenden den Begriff Deskriptor. Dem Signifikat wiederum entspricht die allgemeinsprachliche, gehaltliche Beschreibung des Topos, die ich als Deskription bezeichne. Die folgenden Beispiele illustrieren die dichotome Struktur von Topoi und die Funktionsweise von Deskriptor und Deskription: Tab. 1: Illustration der dichotomen Struktur von Topoi

Deskriptor

Deskription

Initiation

Ein Außenstehender wird von einer Gemeinschaft einem Transformationsprozess unterzogen und erhält auf diese Weise Zugang zu ihr.

Buch der Natur

Die mit den Sinnen erfahrbare, äußere Welt besteht aus einem System von Zeichen und kann wie ein Text gelesen und interpretiert werden.64

|| topische Denken als literarisches Grundprinzip zu beschreiben, müssen Ort und Inhalt als Einheit betrachtet werden. 63 Vgl. Spillner: Zeichenhaftigkeit der Topik, S. 259. Spillner sieht die „fruchtbarste Anregung der Zeichentheorie für die Toposforschung“ (ebd.) in der „semiotischen Unterscheidung von Denotation und Konnotation der Zeichen“ (ebd., S. 259 f.; Hervorhebung im Original). 64 Vgl. Heribert Maria Nobis: Buch der Natur [Art.]. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel 1971 ff. Bd. 1, Sp. 957–959. Für das Historische Wörterbuch der Philosophie verwende ich im Folgenden die Sigle HWPh mit Angabe von Bandnummer und Spaltenzahlen.

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Deskriptor

Deskription

Goldenes Zeitalter

Die Menschheit befindet sich in einem historischen Zeitabschnitt, der durch das Fehlen negativer Elemente wie etwa Krieg oder Kriminalität gekennzeichnet ist und Frieden und Wohlstand für alle ermöglicht.65

Diese beispielhafte Auflistung von Topoi stellt schon ein Minimalbeispiel für einen Toposkatalog dar. Wenn man davon ausgeht, dass solche Kataloge lediglich eine externe, vereinfachende und schematische Repräsentation des Gedächtnisses als topischem Speicher darstellen, lassen sich Topoi als zeichenhafte Vorstellungsmuster begreifen, die im Gedächtnis gespeichert sind. Damit wird die Topik – genauer gesagt: die inventio – zu einer Denkfunktion, die den Speicherzugriff regelt.66 Die Frage, auf welche Art und Weise das menschliche Gedächtnis Informationen speichert, ist mittlerweile Forschungsgegenstand unterschiedlichster Disziplinen. Dabei findet der Begriff der Memoria (nicht zu verwechseln mit der verengten Bedeutung von memoria im Sinne einer Aufgabe des Redners), dessen Wortbedeutung „im Kern von der Antike bis zur Gegenwart stabil“67 geblieben ist, fächerübergreifende Verwendung und berührt kulturwissenschaftliche Fragestellungen ebenso wie soziologische und medizinische Kontexte.68 Entscheidend für die Entwicklung eines literaturwissenschaftlichen Toposmodells ist die Tatsache, dass die Memoria als „[p]ersonaler und kollektiv-kultureller Erinnerungsspeicher“69 zunächst einmal ein nichtsprachliches Medium ist. Bei der historischen Auslagerung von topischen Inhalten in Toposkataloge – also in externe, textuelle Speicher – musste man diese Inhalte notgedrungen in eine Beschreibungssprache übersetzen, weil sie sich sonst nicht hätten festhalten lassen. In ähnlicher Weise müssen auch wissenschaftliche Beiträge zur Topik vorgehen, um ihren Gegenstand behandeln zu können und greifbar zu machen. Solche Beschreibungs- und Übersetzungsvorgänge dürfen aber nicht mit den

|| 65 Der Topos vom ‚Goldenen Zeitalter‘ hat in der Kulturgeschichte eine Reihe unterschiedlicher Verwendungen erfahren (vgl. Veit: Topos der Goldenen Zeit). Er stellt ein gutes Beispiel für eine weitere Eigenschaft von Topoi dar, die noch genauer zu betrachten sein wird, nämlich ihre Offenheit für verschiedene Ausprägungsformen (siehe dazu Abschnitt 2.4.2). 66 Vgl. Berndt: Topik-Forschung, S. 35 ff. 67 Wolfgang Neuber: Memoria [Art.]. In: RLW, Bd. II, S. 562–566, hier S. 562. 68 Vgl. ebd., S. 565. 69 Ebd., S. 562.

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Ausprägungen von Topoi in literarischen Texten verwechselt werden, um die es im nächsten Abschnitt gehen wird.

2.4.2 Offenheit Die sprachliche Ausformung von Inhalten, die elocutio, ist nach dem Textherstellungsmodell der antiken Rhetorik in vier Abschnitte unterteilt, die sich in aller Kürze wie folgt beschreiben lassen.70 Zunächst hat der Textproduzent sicherzustellen, dass sein Text sprachlich korrekt ist (latinitas). Anschließend kümmert er sich um die intellektuelle Verständlichkeit des Geschriebenen (perspicuitas), bevor es an die Ausschmückung durch Tropen und andere rhetorische Figuren geht (ornatus). Abschließend wird noch Sorge dafür getragen, dass der Text sowohl seinem Gegenstand als auch seinen Rezipienten angemessen ist (aptum). In der Geschichte der Rhetorik hat der dritte Teilschritt (ornatus) immer eine zentrale Rolle gespielt.71 Dabei wurde zwischen Ausdrucksfiguren, die fest mit einer bestimmten sprachlichen Ausprägung verknüpft sind, und Gedankenfiguren, die für verschiedene Formulierungsmöglichkeiten offen sind, unterschieden. Dieser Aspekt zeigt, wie wichtig es ist, methodisch zwischen Topoi als offenen, zeichenhaften Vorstellungsmustern und ihrer konkreten Ausprägung in einem Text zu unterscheiden, denn Topoi werden sich nicht immer einer überschaubaren und klar abzugrenzenden Textstelle zuordnen lassen. Gerade in umfangreicheren Erzähltexten können topische Strukturen verdeckt auftreten. Sie müssen daher durch eine genaue Analyse erst sichtbar gemacht werden. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, hinsichtlich der Ausprägung von Topoi in literarischen Texten zwischen vier verschiedenen Varianten zu unterscheiden.72 Zunächst einmal kann sich ein bestimmter „Denkinhalt eines Vorstellungsmodelles“73 in einer sprachlichen Form ausprägen, die sich mit dem Gebrauch verfestigt hat und in dieser Form tradiert wird. Das Auftreten dieser ersten Variante ist vermutlich auch der Grund dafür, dass Topoi häufig mit ihrer sprachlichen Ausprägung gleichgesetzt und verwechselt werden. Die sprachliche Form ist jedoch nicht zwingend auf einen bestimmten Denkinhalt

|| 70 Vgl. Schanze u. a.: Rhetorik, S. 57 ff. 71 Vgl. ebd., S. 58 f. 72 Vgl. Obermayer: Toposbegriff, S. 264 f. 73 Ebd., S. 264.

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festgelegt, was dazu führt, dass sie auch andere Bedeutungen annehmen kann. Daraus ergibt sich die zweite Variante, bei der eine gleichbleibende sprachliche Form einen anderen bzw. modifizierten Denkinhalt transportiert. Diese ersten beiden Varianten lassen sich am Topos vom Goldenen Zeitalter illustrieren, der sich über weite Strecken der Literaturgeschichte in einer vergleichsweise konstanten sprachlichen Form ausprägt. Hier wird ein Zeitabschnitt oder eine Epoche mit dem Adjektiv ‚golden‘ beschrieben und das Substantiv, das den Zeitabschnitt repräsentiert, steht in syntaktischer Nähe zu diesem Adjektiv. Auf der Bedeutungsebene zeigt sich aber, wie variabel einsetzbar das zugrundeliegende Vorstellungsmuster ist. In literarischen Texten der Antike verweisen die einschlägigen Ausprägungen stets auf die Vergangenheit, welche positiver als die Gegenwart bewertet wird. In der Renaissance dagegen verlagert sich die Bedeutung auf die Gegenwart, um sich noch später auf die Zukunft zu richten.74 Innerhalb der jeweiligen Epochen scheint der Topos vom Goldenen Zeitalter also zur Ausprägung in einer sprachlichen Form und zu einer festen Bedeutung zu tendieren (Variante 1). Im historischen Vergleich jedoch zeigen sich unterschiedliche Denkinhalte, die über dieselbe bzw. eine ähnliche sprachliche Form transportiert werden (Variante 2). Zwei weitere Ausprägungsvarianten von Topoi lassen sich ebenfalls an einem Beispiel illustrieren, das ich bereits angeführt habe. Es handelt sich um den Topos von der Initiation. Wie in Abschnitt 2.3 beispielhaft gezeigt, lässt sich die literarische Gestaltung von Heinrich Drendorfs Entwicklung in Stifters Roman Der Nachsommer auf der Grundlage der oben vorgenommenen Deskription als Ausprägung dieses Topos beschreiben. Auf derselben Grundlage lassen sich aber mühelos weitere literarische Ausprägungen dieses Topos finden; so etwa in Johann Wolfgang von Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre. Der Entwicklungsprozess des Protagonisten Wilhelm Meister weist bei aller Unterschiedlichkeit der beiden Romane im Hinblick auf die Deskription des Topos vergleichbare Merkmale auf. Wenn man also davon ausgeht, dass sich in der literarischen Gestaltung beider Figuren dasselbe Vorstellungsmuster ausgeprägt hat, fällt eines auf: Dieser Vorgang vollzieht sich über weite Strecken der jeweiligen Erzähltexte und ist damit ganz offensichtlich nicht an eine bestimmte sprachliche Form gebunden. Während die dritte Manifestationsvariante also einen gleichbleibenden Denkinhalt ausprägt, ohne an eine sprachliche Form gebunden zu sein, geht die vierte Variante noch einen Schritt weiter und stellt einen veränderten, aber immer noch zu identifizierenden Denkinhalt in einer nicht festgelegten sprach|| 74 Vgl. ebd.

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lichen Form dar. In Bezug auf den beispielhaft gewählten Topos der Initiation könnte man hier etwa an die besonders in der anglo-amerikanischen Literatur verbreiteten Initiationserzählungen denken (etwa: J. D. Salingers Roman The Catcher in the Rye oder Ernest Hemingways Kurzgeschichte Indian Camp). Diese Texte beschreiben ebenfalls Initiationsprozesse, aber ihr Fokus ist im Unterschied zu den genannten Beispielen von Goethe und Stifter anders gelagert. Die Texte beschreiben den plötzlichen Eintritt der Protagonisten in das Erwachsenenalter, der häufig durch ein singuläres Ereignis ausgelöst oder befördert wird. Während der Deskriptor (‚Initiation‘) also durchaus verwendet werden kann, um das Vorstellungsmuster zu adressieren, das sich bei Salinger und Hemingway ausprägt, scheint die oben gewählte Deskription den Kern dieser Texte nicht mehr zu treffen. Hier prägt sich also ein Denkinhalt in veränderter Form aus, ohne an eine sprachliche Form gebunden zu sein. Damit ergibt sich aber eine 1:n-Beziehung zwischen Deskriptor und möglichen Deskriptionen, die miteinander verwandt, aber nicht identisch sind. Um solche Mehrfachbeziehungen zu vermeiden, könnte man die Deskription sicher verallgemeinern, damit sie ein breiteres Spektrum abdeckt. Ein derartiges Vorgehen würde den komplexen Strukturen von Gedächtnis und Einbildungskraft aber nicht gerecht. Tatsächlich scheint der eingangs zitierte Vergleich vom „Web- oder Knüpfmuster eines Teppichs“75 dem Aufbau des Gedächtnisses als topischem Speicher viel näher zu kommen als ein Bild, das sich an der schematischen Speicherung von Topoi in Katalogen orientiert. Topoi existieren in Varianten, teilen inhaltliche Aspekte miteinander, überlagern sich und können sich zu neuen Vorstellungsmustern zusammenschließen, um „unter müheloser Überwindung der (kunst-)historisch vorgegebenen Grenzen in unbegrenzter Kombinatorik ihrer Elemente Synkretismen zu generieren.“76 Sie sind nicht auf bestimmte Kontexte beschränkt, sondern offen dafür, je nach Anwendungsfall und in Abhängigkeit von der kreativen Leistung des Verwenders mit verschiedenartigen Funktionen und Bedeutungsinhalten aufgeladen zu werden und sich, wie oben gezeigt, in verschiedenen Varianten und literari-

|| 75 Curtius: Europäische Literatur, S. 394. 76 Berndt: Anamnesis, S. 44 f. Vgl. Bornscheuer: Topik, S. 20. Bornscheuer begreift die Gesamtheit dessen, was „in der europäischen Literatur an Formen und Inhalten tradiert und mehr oder weniger kompilatorisch-kombinatorisch miteinander verbunden und zu neuen Ausdrucksformen integriert worden ist“ (ebd.), als die „topische Substanz des soziokulturellen Bewußtseins“ (ebd.). Vgl. auch noch einmal die in Abschnitt 2.2 zitierten Ausführungen von Ernst Robert Curtius zur Kristallisation der „poetische[n] Substanz an einem Gestaltschema“ (Curtius: Europäische Literatur, S. 394).

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schen Formen zu manifestieren.77 Ein Toposmodell, das sich notgedrungen des Hilfsmittels der Deskription bedienen muss, um Topoi greifbar zu machen, kann deswegen immer nur eine Annäherung an die Komplexität des topischen Denkens darstellen.78 Um solch ein Modell dennoch als Instrument für die Interpretation von literarischen Texten einsetzen zu können, scheint mir die Annahme einer 1:n-Beziehung zwischen Deskriptor und Deskription aber flexibel genug zu sein. Während im Fall der beiden zuletzt dargestellten Ausprägungsvarianten eine relative Unabhängigkeit zwischen dem jeweiligen Topos und seiner Ausprägung im literarischen Text besteht, prägen sich die ersten beiden Varianten oft in kurzen, merkfähigen Elementen wie Metaphern, Motiven oder Allegorien aus. In solchen Fällen laufen literaturwissenschaftliche Darstellungen Gefahr, nicht genau genug zwischen Topos und literarischer Ausprägung zu unterscheiden oder beide schlicht gleichzusetzen. Ein möglicher Grund dafür wurde oben schon genannt: Topoi können nur dann als Hilfsmittel für die Textproduktion katalogisiert und für eine wissenschaftliche Behandlung greifbar gemacht werden, wenn man sie mithilfe eines Deskriptors und einer Deskription beschreibungssprachlich erfasst. Der Deskriptor tritt in vielen Fällen aber schon in Gestalt einer rhetorischen Figur auf. So sind etwa die Deskriptoren der Topoi vom Buch der Natur und vom Goldenen Zeitalter selbst nichts anderes als Metaphern, wie sie auch in einem literarischen Text zum Einsatz kommen könnten. Ich gebe ein Beispiel, um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen: Auf den ersten Blick besteht kein qualitativer Unterschied zwischen der Benennung (also dem Deskriptor) des Topos vom ‚Buch der Natur‘ und den folgenden GoetheVersen: „Sieh, so ist Natur ein Buch lebendig, / Unverstanden, doch nicht unverständlich“79. In diesen Versen stehen die Substantive ‚Natur‘ und ‚Buch‘ in || 77 Lothar Bornscheuer beschreibt diese zentrale Eigenschaft von Topoi, die ich als Offenheit bezeichne, mit dem Begriff der Potentialität. Sie stellt in seinem metawissenschaftlichen Toposmodell neben der Habitualität (siehe meine Ausführungen zur Nachvollziehbarkeit von Topoi in Abschnitt 2.4.3), der Intentionalität und der Symbolizität eine der vier konstituierenden Eigenschaften von Topoi dar. Vgl. ders.: Topik, S. 96–107. 78 Eine Möglichkeit, sich dieser Komplexität weiter anzunähern, könnte darin liegen, Gedächtnisstrukturen mit Frauke Berndt als textuelle Strukturen zu begreifen: „μνήμη [das Gedächtnis, H. A.] avanciert in seiner literaturtheoretischen Bestimmung zum räumlichen Modell eines Textes, der als ein generatives System Bilder produziert und die Rolle eines sich selbst tradierenden und bearbeitenden kulturellen Speichers übernimmt“ (dies.: Anamnesis, S. 49.) Vgl. auch dies.: Topik-Forschung, S. 44 f. 79 Johann Wolfgang Goethe: Sendschreiben. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. I,2: Gedichte 1800–1832. Hrsg. v. Karl Eibl. Frankfurt a. M. 1988, S. 365 f. Ernst Robert Curtius führt diese Verse als eines von zahlreichen Beispielen für den Topos vom Buch der Natur an (vgl. ders.:

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der gleichen syntaktischen Nähe zueinander wie im Deskriptor des zugrundeliegenden Topos. Um methodisch nachvollziehbar arbeiten zu können, ist die Beschreibung eines Topos aber auch hier kategorisch von seinen konkreten Ausprägungen in literarischen Texten zu trennen. Auch wenn die dispositio, also die Gliederung und Anordnung der Gedanken, die durch die inventio zusammengestellt wurden, „selber einen Prätext hervor[bringt]“80, der ab einer gewissen Komplexität und Länge des zu produzierenden Textes sinnvollerweise ebenfalls schriftlich fixiert werden sollte, hat nicht nur die antike Rhetorik, sondern auch „die ihr verpflichtete Tradition“81 die elocutio von den anderen Arbeitsschritten der Textproduktion getrennt: inventio und dispositio beschäftigen sich nach dieser Auffassung mit den ‚Sachen‘ (res), während die elocutio die ‚Wörter‘ (verba) zum Gegenstand hat. Wenn sich auch in der „Praxis [...] eine solche scharfe Trennlinie zwischen inventio und elocutio kaum ziehen“82 lässt, ist es umso wichtiger, dies in der Theorie zu tun. Die Universalität des topischen Denkens scheint nämlich gerade darauf zu beruhen, dass es in zeichenhaften Vorstellungsmustern stattfindet und damit von einer gegebenen Disziplin oder Kunstform unabhängig ist. Konzeptionell muss es also auf einer anderen Ebene angesiedelt werden als die eigentliche Ausprägung von Topoi in einem Medium, bei dem es sich nicht nur um einen literarischen Text, sondern – um nur einige Beispiele zu nennen – auch um ein Gemälde, eine Skulptur oder gar ein Musikstück handeln kann. Während es also unerlässlich scheint, zwischen Topoi auf der einen Seite und ihren inhaltlichen Ausprägungen in Motiven, Allegorien, Symbolen, Metaphern oder Stoffen zu unterscheiden, ist es wichtig zu betonen, dass sich diese Unterscheidung auf die konkrete sprachliche Ausführung etwa eines Motivs oder einer Metapher bezieht, die ein Autor in einem gegebenen Text vornimmt und nicht auf die theoretische Definition dieser literarischen Formen. Der Begriff des Motivs eignet sich am besten, um diesen Sachverhalt zu illustrieren. Es scheint sich hier zwar auf den ersten Blick um einen durchaus greifbaren und etablierten literaturwissenschaftlichen Term zu handeln, der auf den zweiten

|| Europäische Literatur, S. 328) und bemerkt einleitend: „Es ist ein beliebtes Klischee der populären Geschichtsschreibung, die Renaissance habe den Staub vergilbter Pergamente abgeschüttelt, um im Buch der Natur oder der Welt zu lesen. Allein auch diese Metapher entstammt dem lateinischen Mittelalter“ (ebd., S. 322). Die Vorstellung vom Buch der Natur hat in der Tat im Mittelalter topischen Charakter angenommen, nachdem sie wohl zuerst im GenesisKommentar von Aurelius Augustinus Erwähnung fand. Vgl. Nobis: Buch der Natur, S. 957. 80 Schanze u. a.: Rhetorik, S. 53. 81 Wiedemann: Topik als Vorschule, S. 242. 82 Schanze u. a.: Rhetorik, S. 42.

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Blick aber ähnlichen Definitionsschwierigkeiten ausgesetzt ist wie der ToposBegriff.83 Geht man beispielsweise davon aus, dass das Motiv der Geschwisterliebe sowohl in Theodor Fontanes gleichnamigem Erzähltext als auch in Stifters Novelle Der Hochwald eine wichtige Rolle spielt,84 lässt sich von der sprachlichen Ausgestaltung des Motivs in beiden Werken abstrahieren, indem man es mit dem naheliegenden Deskriptor ‚Geschwisterliebe‘ belegt und eine Deskription formuliert, die nicht nur dabei helfen kann, die Verwandtschaft der beiden genannten Texte zu untersuchen, sondern auch den Blick auf weitere Texte schärfen kann, in denen das Motiv Anwendung findet. Einem solchen Vorgehen läge also ein Verständnis von Motiven als sprachlichen Zeichen zugrunde und es würde sich nicht in grundsätzlicher Weise von der Methode unterscheiden, die ich in der vorliegenden Untersuchung für die Definition und Beschreibung von Topoi anwende.85 Die Tatsache, dass sich literarische Formen offenbar auf dieselbe Weise theoretisch beschreiben lassen, wie dies auch für Topoi möglich ist, stellt die Gültigkeit des hier entwickelten Toposmodells aber nicht in Frage. Dieser Sachverhalt könnte vielmehr als Anregung dazu dienen, die verschiedenen „Kategorien des Inhalts“86, mit denen ein literarischer Text sich erfassen lässt – neben dem Motiv sind dies vor allem der Stoff, aber auch das Thema im Sinne einer || 83 Vgl. Rudolf Drux: Motiv [Art.]. In: RLW, Bd. II, S. 638–641, hier S. 639. Drux veranschlagt für den Begriff des Motivs einen „hohe[n] Grad an Unbestimmbarkeit“ (ebd.) und stellt fest, dass sich „[e]ine konsensfähige Definition [...] bis heute nicht durchsetzen [konnte]“ (ebd.). 84 Vgl. Wolfgang Lukas: Der Hochwald [Art.]. In: SHB, S. 26–31, hier S. 27. 85 Allerdings ließe sich aus einer Sichtweise, die das Motiv als „[k]leinste selbständige InhaltsEinheit oder tradierbares intertextuelles Element eines literarischen Werks“ (Drux: Motiv, S. 638; Hervorhebung von mir) beschreibt, ein qualitativer Unterschied zwischen Topoi und Motiven ableiten. Als selbständige inhaltliche Einheiten sind Motive oft unmittelbar wiedererkennbar – man vergleiche die Definition des Begriffs in der Musik, wo er sich auf „die kleinste melodische Einheit“ (ebd., S. 639) im Sinne einer wiedererkennbaren Tonfolge bezieht –, während für Topoi ein höherer Abstraktionsgrad gilt, der mit dem Begriff des Vorstellungsmusters angemessen beschrieben scheint. In diese Richtung geht auch eine frühe theoretische Anwendung des Motiv-Begriffs auf den künstlerischen Schaffensprozess, die sich bei Goethe findet (vgl. ebd, S. 639 f.). In der Einleitung in die Propyläen (in: Sämtliche Werke. Bd. I,18: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt a. M. 1998, S. 457–475) beschreibt Goethe, wie vom Künstler zunächst ein „Gegenstand glücklich gefunden, oder erfunden“ (ebd., S. 466) werden muss, bevor dessen Behandlung beginnt, die sich in drei Teile (geistig, sinnlich und mechanisch) gliedert. Die geistige Behandlung „arbeitet den Gegenstand in seinem innern Zusammenhange aus, sie findet die untergeordneten Motive“ (ebd.; Hervorhebung von mir). 86 Drux: Motiv, S. 638.

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dem „Text zugrundeliegende[n] Problem- oder Gedankenkonstellation“87 – auf eine einheitliche theoretische Beschreibungsgrundlage zu stellen. Hier scheint ein Desiderat der Forschung vorzuliegen, das durch die vorliegende Untersuchung aber lediglich aufgezeigt werden kann.88

2.4.3 Nachvollziehbarkeit Nicht jeder Gedanke, der in einem literarischen Text ausgeführt wird, stellt schon die Ausprägung eines Topos dar. In diesem Zusammenhang ist die Beobachtung von Bedeutung, dass literaturwissenschaftliche Beiträge die Topik häufig nicht als „Denk- und Darstellungsverfahren“89 würdigen, sondern ‚Topik‘ in beliebiger Weise als „konzept- und theoriefreie[n] Wechselbegriff für eine beliebige inhaltliche Fragestellung“90 verwenden, ohne sich der Begriffsgeschichte zu vergewissern und damit auch den Begriff des Topos in ausreichender Weise von allgemeinsprachlich verwendeten Termini wie ‚Thema‘ oder ‚Aspekt‘ abzugrenzen. Vor diesem Hintergrund stellen die bisher beschriebenen Eigenschaften der Zeichenhaftigkeit und Offenheit lediglich notwendige, aber noch keine hinreichenden Bestandteile eines Toposmodells dar. Eine dritte und letzte Eigenschaft von Topoi ist ihre Nachvollziehbarkeit, die über eine unmittelbare Wiedererkennbarkeit, wie ich sie oben für musikalische oder literarische Motive in Anschlag gebracht habe (siehe Anm. 85 in diesem Kapitel), hinausgeht. Sie spielt sowohl für die unmittelbare Rezeption von literarischen Texten durch die ursprünglichen Adressaten, also den Kreis der Leser, als auch für die literaturwissenschaftliche Interpretation eine wichtige Rolle und lässt sich wie folgt beschreiben.

|| 87 Armin Schulz: Thema [Art.]. In: RLW, Bd. III, S. 634–635, hier S. 634. 88 Vgl. Löwenstein: Literatur und Topik, S. 202 f., Anm. 40. Löwenstein weist auf die bereits im Jahr 1963 von Walter Veit erhobene „Forderung“ (ebd.) hin, dass eine „genaue Abgrenzung und Begriffsbestimmung von Topos gegenüber Bild, Metapher, Symbol, Allegorie, Motiv, Formel, Klischee und dergleichen“ (Veit: Toposforschung. Ein Forschungsbericht. In: DVjs 37 (1963), S. 120–163, hier S. 163) vorzunehmen sei. Dieser Forderung sei „die Literaturwissenschaft [...] leider bis heute nicht nachgekommen“ (Löwenstein: Literatur und Topik, S. 202 f., Anm. 40). Löwenstein schlägt in diesem Zusammenhang vor, Motive als „bildliche Konkretisierungen eines Topos“ (ebd.) zu betrachten, „welche innerhalb der topischen Argumentation in Erscheinung treten“ (ebd.). 89 Berndt: Topik-Forschung, S. 40. 90 Ebd.

Eigenschaften von Topoi | 43

Die Mitglieder eines Kulturkreises verbindet die gemeinsame Teilhabe an institutionell vermittelten Bildungsangeboten (z. B. durch Schule oder Universität) und Medien (etwa Literatur, bildende Kunst, Musik und Presse). Über diese Bildungsangebote wird ein Grundbestand von Denk- oder Vorstellungsmustern vermittelt, die den Mitgliedern des Kulturkreises anschließend sowohl individuell als auch kollektiv zur Verfügung stehen. Sie können sich in verschiedenen Formen ausprägen, wenn innerhalb des Kulturkreises mediale Artefakte entstehen – zum Beispiel, indem ein literarischer Text geschrieben wird – und von den anderen Mitgliedern des Kulturkreises, die über ähnliche Denkmuster verfügen, erkannt und damit nachvollzogen werden. Diese Eigenschaft der gewohnheitsmäßigen Vermittlung von Denkmustern oder Topoi ist auch als ‚Habitualität‘ beschrieben worden.91 Ich übernehme sie in mein Toposmodell, verwende aber den Begriff der Nachvollziehbarkeit. Er erscheint mir geeigneter, weil sich die Nachvollziehbarkeit von Topoi nicht auf die ursprünglichen Rezipienten von literarischen Texten beschränkt, die in unmittelbarer Weise Mitglieder des Kulturkreises sind, zu dem auch der Textproduzent gehört. Gesellschaftliche und kulturelle Kontexte können ohne Zweifel die konkrete Art und Weise determinieren, wie sich Topoi in einer gegebenen Situation ausprägen, aber ich sehe keinen Grund dafür, sie als konstitutiven Teil eines abstrakten Modells zu betrachten.92 Vorstellungsmuster, die sich in literarischen Formen ausgeprägt haben, können nämlich nicht nur auf der Grundlage gesellschaftlich tradierten Wissens nachvollzogen werden, sondern auch, nachdem sie durch eine historische Betrachtungsweise ermittelt wurden.93

|| 91 So Lothar Bornscheuer, der das Merkmal der Habitualität von Topoi im Anschluss an Erwin Panofsky und Pierre Bourdieu definiert und als ihren „strukturelle[n] Wesenskern“ (ders.: Topik, S. 107) begreift. Für Bornscheuer werden Topoi aber erst durch drei zusätzliche Eigenschaften (siehe Anm. 77 in diesem Kapitel) vom erlernten Klischee zum Mittel der inventorischen Leistung. 92 Lothar Bornscheuer dagegen leitet aus der Tatsache, dass der Produzent eines Kunstwerks innerhalb seines gesellschaftlichen Kontexts agiert, die Schlussfolgerung ab, dass dieser „das Moment einer kritischen Intentionalität“ (ders.: Topik, S. 22) einbringen müsse, damit das Kunstwerk nicht bei der künstlerischen Machbarkeit stehenbleibe, sondern auch als „historisch-gesellschaftlich fortschrittlich“ (ebd., S. 23) gelten könne. 93 Vgl. Obermayer: Toposbegriff, S. 265 f. Vgl. auch Berndt: Topik-Forschung, S. 43. Berndt fügt den vier Eigenschaften, die Bornscheuer für sein metawissenschaftliches Toposmodell postuliert, sogar noch ein fünftes Merkmal hinzu, nämlich das der „Institutionalität“ (ebd.; im Original kursiv). Dieses Merkmal bezieht sich auf die „Machtverhältnisse[] [...], die für die Setzung und (Allgemein-)Gültigkeit eines Topos zuständig sind“ (ebd.); Berndt nennt als Beispiele „Kanon und Zensur“ (ebd.).

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Die Nachvollziehbarkeit von Vorstellungsmustern wird durch die einmalige Verwendung in pädagogischen oder medialen Kontexten aber noch nicht garantiert. Erst ihre wiederholte Anwendung macht sie zu einem kollektiven Vorstellungsmuster, also einem Topos. Wenn sich ein Topos in einem literarischen Text oder einem anderen Medium ausprägt, werden jedoch nicht einfach nur vorgegebene Inhalte wiedergegeben, die im Vorgang der inventio aufgefunden wurden. Durch die individuelle Anwendung der aufgefundenen Vorstellungsmuster kann der Textproduzent ihnen neue Eigenschaften hinzufügen. Auf diese Weise vergrößert sich das „topische Arsenal“94 des Kulturkreises nach dem Prinzip einer evolutionären Weiterentwicklung. In diesem Sinne können Topoi als grundlegende Elemente der gesellschaftlichen Kommunikation verstanden werden, deren Funktionsweise einem „Rückkopplungsprinzip“95 folgt.

2.5 Anwendung der Topik Topoi lassen sich also als zeichenhafte Vorstellungsmuster beschreiben, die im Gedächtnis gespeichert sind, sich in höchst unterschiedlichen Textstrukturen ausprägen können und von den Mitgliedern eines Kulturkreises geteilt werden. Wenn man die literaturwissenschaftliche Behandlung von Topoi aber nicht auf ein enzyklopädisches Nachweisspiel reduzieren will, muss die Frage gestellt werden, wie sich eine derart verstandene Topik als Werkzeug für die Interpretation von literarischen Texten einsetzen lässt. Um sie zu beantworten, ist es hilfreich, sich zunächst einmal die folgenden Aspekte vor Augen zu führen, die den Stellenwert von Topoi als Mittel für die Textproduktion betreffen.

2.5.1 Das topische Dreieck In Abschnitt 2.4.1 habe ich Topoi als zeichenhafte Vorstellungsmuster beschrieben und dabei einen dichotomen Zeichenbegriff zugrunde gelegt, bei dem der Deskriptor eines Topos an die Stelle des Signifikanten tritt und seine Deskription an die Stelle des Signifikats. Anschließend hat sich herausgestellt, dass Topoi keine literarischen Formen sind, sondern sich bei der Textproduktion in solchen Formen ausprägen. Der Gehalt eines Topos, der für verschiedene textli-

|| 94 Berndt: Topik-Forschung, S. 43. 95 Bornscheuer: Topik, S. 108.

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che Ausprägungen offen ist, wird dabei in eine geschlossene, für den jeweiligen Text festgeschriebene Form überführt. Um das Ergebnis dieses Ausprägungsprozesses beschreiben zu können, bietet es sich deswegen an, einem literaturwissenschaftlichen Toposmodell einen veränderten Zeichenbegriff zugrunde zu legen, der nicht nur, wie in Abschnitt 2.4.1 beschrieben, aus zwei, sondern aus drei Komponenten besteht. Ein solcher Zeichenbegriff lässt sich aus einer grundsätzlichen Unterscheidung ableiten, die bereits „in der Blütezeit des griechischen Denkens, bei Platon und Aristoteles“96 nachweisbar ist, aber erst später systematisiert wurde. Dieser Unterscheidung zufolge „sind bei jedem Zeichenprozeß zu unterscheiden: das eigentliche Zeichen als physische Entität; [...] das, was vom Zeichen ausgesagt wird [...]; [und] der Gegenstand, auf den das Zeichen sich bezieht“97. Triadische Zeichenbeziehungen dieser Art sind zu einem charakteristischen Merkmal der modernen Semiotik geworden, weil sie „die Einfachheit der Zuordnung zwischen Zeichen und Wirklichkeit in Frage“98 gestellt hat. Während aber zwischen den Vertretern dieser modernen Semiotik ein „Konsensus des gesunden Menschenverstandes […] über die Dreiteilung“99 von Zeichenprozessen zu herrschen scheint, variieren die Begriffe für die drei Komponenten, die in diesen Prozessen miteinander in Beziehung treten. Diese Begriffe sind nicht „strikt ineinander übersetzbar“100 und stellenweise sogar inkompatibel, denn in ihnen „verbergen sich unter den terminologischen Divergenzen tiefgehende Unterschiede im Denken.“101 Im Rahmen dieser Untersuchung ist es aber weder zielführend, diesen Unterschieden nachzugehen, noch sich auf eine bestimmte semiotische Schule festzulegen.102 Um Topoi im Hinblick auf den literarischen Produktionsprozess || 96 Umberto Eco: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt a. M. 1977, S. 27 f. 97 Ebd., S. 28. 98 Dieter Mersch: Einleitung. In: Zeichen über Zeichen. Texte zur Semiotik von Charles Sanders Peirce bis zu Umberto Eco und Jacques Derrida. Hrsg. von Dieter Mersch. München 1998, S. 9–36, hier S. 15. 99 Eco: Zeichen, S. 30. 100 Mersch: Einleitung, S. 15. 101 Eco: Zeichen, S. 30. 102 Im Hinblick auf triadische Zeichenmodelle wären hier zunächst einmal Charles S. Peirce und in dessen Nachfolge Charles W. Morris zu nennen. Vgl. Helmut Pape: Charles S. Peirce zur Einführung. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hamburg 2015, S. 117–142 und Karl-Otto Apel: Charles W. Morris und das Programm einer pragmatisch integrierten Semiotik. In: Charles William Morris: Zeichen, Sprache und Verhalten. Mit einer Einführung von Karl-Otto Apel. Düsseldorf 1973, S. 9–66.

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sinnvoll als Zeichen beschreiben zu können, beschränke ich mich deswegen bewusst auf die folgende, grundlegende Version des semiotischen Dreiecks, die Umberto Eco seinen weitergehenden Überlegungen zum Begriff des Zeichens voranstellt:

Signifikat

Signifikant

Referent

Abb. 1: Das semiotische Dreieck (nach Eco)103

Die dritte Komponente, die mit Signifikant und Signifikat in eine Beziehung tritt, heißt hier ‚Referent‘. Der Referent steht für die Entität, auf die sich ein Zeichen im Rahmen eines Kommunikationsprozesses bezieht. Setzt man auf der linken Seite des Dreiecks das Lexem ‚Pferd‘ – so das von Eco gewählte Beispiel – ein, dann entspricht dem Referenten das „gegenwärtige Pferd oder alle Pferde, die es in der Welt je gab, gibt oder geben wird“104. An diesem Befund würde sich aber nichts ändern, wenn man an der Stelle des Signifikanten das Wort für ‚Pferd‘ in einer anderen Sprache einsetzen würde. Deswegen sind Signifikant und Referent in dem obigen Schaubild durch eine gestrichelte Linie verbunden, um anzudeuten, dass die Beziehung zwischen diesen beiden Komponenten willkürlich und lose ist.105 || 103 Vgl. Eco: Zeichen, S. 28. 104 Ebd., S. 29. 105 Eco verdeutlicht diesen Sachverhalt anhand eines weiteren Beispiels: Der Signifikant ‚Einhorn‘ verweist „für den, der mit Mythologie, Heraldik und den mittelalterlichen Legenden vertraut ist“ (ebd.), in eindeutiger Weise auf das Signifikat ‚Einhorn‘. Den entsprechenden Referenten hat es aber „nie gegeben“ (ebd., S. 30). Es fällt auf, dass Eco die Beziehung von Signifikant und Signifikat nicht mit einer gestrichelten Linie verbindet, obwohl auch hier, von Ausnahmen abgesehen, eine willkürliche Beziehung vorliegt (vgl. Horst Schwinn: Arbitrarität [Art.]. In: Metzler Lexikon Sprache. 5., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Stuttgart 2016,

Anwendung der Topik | 47

Das Signifikat repräsentiert in Ecos Zeichenmodell „eine ‚Idee‘ oder ein[en] ‚Begriff‘“106, also eine allgemeine Vorstellung, die durch die Nennung des Signifikanten aufgerufen werden kann. Der Referent dagegen steht, wie oben beschrieben, für die konkrete Ausprägung eines Zeichens. Handelt es sich bei diesem Zeichen aber um einen Topos, dann entspricht dem Referenten die literarische Form, in dem das zeichenhafte Vorstellungsmuster des Topos eine konkrete sprachliche Ausprägung gefunden hat. Diese Ausprägung werde ich im Folgenden als Manifestation107 bezeichnen. Die folgende Abbildung verdeutlicht, wie sich das hier entwickelte Toposmodell nach dieser Ergänzung um eine dritte Komponente darstellt und fasst gleichzeitig das bisher Gesagte zusammen:

Medium:

Text

Gedächtnis

Deskription (Signifikat)

Manifestation (Referent)

Deskriptor (Signifikant) Gegenstand:

res

verba

Vorgang:

inventio/dispositio

elocutio

Abb. 2: Das topische Dreieck

|| S. 55). Dafür spricht aus meiner Sicht, dass die Willkürlichkeit dieser Beziehung innerhalb einer Sprachgemeinschaft „durch Konventionen […] eingeschränkt“ (ebd.) ist. 106 Eco: Zeichen, S. 29; Hervorhebung im Original. 107 Vgl. Knape: Die zwei texttheoretischen Betrachtungsweisen der Topik, S. 748. Knapes erste von fünf Thesen zur topischen Textproduktion lautet wie folgt: „Topoi materialisieren sich vorrangig sprachlich, werden in Texten manifest“ (ebd., im Original kursiv).

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Die Abbildung zeigt, dass Topoi stets ihren Charakter als im Gedächtnis gespeicherte, zeichenhafte Vorstellungsmuster bewahren – sie verlassen sozusagen die linke Hälfte des topischen Dreiecks nicht, sondern werden dort durch den Vorgang der inventio aktiviert oder aufgerufen. Wenn also davon die Rede ist, dass ein literarischer Text einen Topos enthält, dann ist diese Aussage nicht genau genug formuliert, weil sie sich eigentlich auf die konkrete sprachliche Manifestation des Topos bezieht, die sich auf der rechten Seite des Dreiecks befindet, also zum Beispiel auf ein Motiv oder eine Metapher. Die Manifestation kann aber unterschiedliche Gestalten annehmen, die nicht unbedingt auf den ersten Blick als sprachliche Form erkennbar sind. Deswegen geht die Formulierung, dass „jedes inhaltliche und formale literarische Strukturelement […] als Topos betrachtet werden kann“,108 zwar in die richtige Richtung, muss aber weiter präzisiert werden, weil sie eine klare Trennung zwischen dem Gedächtnis als topischem Speicher und dem Text als Ausprägungsort von Vorstellungsmustern vermissen lässt. Es ist sinnvoller, in „Motiven, Symbolen, sprachlichen Bildern, Metaphern, Allegorien usw., soferne es sich um Vorstellungsmodelle mit literarischer Wirksamkeit handelt, sprachliche Ausdrucksformen eines Topos“109 zu sehen. Die Semiotik bezeichnet den Prozess, der sich zwischen den Komponenten eines Zeichens abspielt, bekanntlich als Semiose und geht von der Grundannahme aus, dass dieser Prozess nicht linear, sondern iterativ verläuft. Das Ergebnis dieses Prozesses – also der Referent in Ecos semiotischem Dreieck – wird dabei selbst wieder zum Zeichen und löst eine theoretisch unendliche Kette von Deutungsvorgängen aus.110 Analog dazu können sich Topoi, wie oben beschrieben, über die wiederholte Rezeption ihrer literarischen Ausprägungen verändern und in unterschiedlichen Formen auftreten. Der Vorgang der Manifestation ist außerdem sowohl von der konkreten gesellschaftlichen Situation als auch von sprachsoziologischen Faktoren abhängig und muss dem Textproduzenten nicht immer bewusst sein.111 In diesem Sinne wurde die Topik treffend als „Ge-

|| 108 Bornscheuer: Topik, S. 158. 109 Obermayer: Toposbegriff, S. 265. 110 Vgl. Mersch: Einleitung, S. 18 f. 111 Die Manifestation von Topoi gehört als wesentlicher Bestandteil zu dem hier entwickelten literaturwissenschaftlichen Toposmodell. Da ich eine strikte Trennung von Beschreibungs- und Ausprägungsebene aber für methodisch unumgänglich halte, begreife ich die Manifestation nicht als Eigenschaft, sondern als Vorgang. In Lothar Bornscheuers metawissenschaftlichem Ansatz dagegen gehört dieser Aspekt – bezeichnet mit dem Begriff der „Symbolizität“ (ders.: Topik, S. 103 ff.) – ebenfalls zu den vier Eigenschaften von Topoi. Vgl. Spillner: Zeichenhaftigkeit der Topik, S. 257. Spillner zitiert Bornscheuers Definition von ‚Symbolizität‘ und stellt

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burtshelferin des Latenten“112 beschrieben. Sie ist dafür verantwortlich, dass Topoi sich literarischen Werken im Zuge der Textproduktion einschreiben und nachvollziehbare Spuren hinterlassen.

2.5.2 Textproduktion Während die Poetiken des Barock die Topik noch bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein als Quelle der dichterischen Einbildungskraft empfahlen,113 regte sich schon bei den Frühaufklärern Widerstand gegen ein Dichtungsverständnis, das aus dem „Denkprinzip der Inventio das Stichwort für das Gedächtnis“114 gemacht hatte.115 Schon 1713 stellt Christian Thomasius im Hinblick auf topische Materialsammlungen fest: „Wer aber ein Naturell zur Poesie hat, braucht dergleichen armseligen Vorrat nicht.“116 In den folgenden Jahrzehnten war der Topos-Begriff zwar nominell noch in Gebrauch, verlor aber rasch an Bedeutung,117 bis schließlich mit dem Sturm und Drang eine literarische Bewegung auf den Plan trat, die das Entstehen von literarischen Texten endgültig nicht mehr auf die Grundlage einer präskriptiven Rhetorik gestellt sehen wollte, sondern den Künstler als Genie verstand.118 Damit verbunden war ein Originalitäts- und Autonomieanspruch, der mit der Vorstellung, die „inventorische Leistung“119 des Textproduzenten auf tradierten Vorstellungsmustern oder gar vorgefertig-

|| dann fest, dass „eine derart verstandene ‚Symbolizität‘ nicht Merkmal des Topos selbst, sondern einer möglichen Form seiner sprachlichen Realisierung [ist]“ (ebd.). 112 Barthes: Die alte Rhetorik, S. 69; Hervorhebung im Original. 113 Vgl. Lothar Bornscheuer: Topik [Art.]. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 4. Hrsg. von Klaus Kanzog und Achim Masser. Berlin/New York 1984, S. 454–475, hier S. 459. Ich zitiere diesen Beitrag auch im Folgenden als ‚Topik [Art.]‘, um Verwechslungen mit der gleichnamigen Untersuchung Bornscheuers von 1976 auszuschließen. 114 Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. 3., ergänzte Auflage. Mit einer Bibliographie zur Forschung 1966 – 1986. Tübingen 1991, S. 64. 115 Vgl. genauer ebd., S. 63 ff. 116 Christian Thomasius: Von dem Studio der Poesie. Achtes Kapitel der „Höchstnötigen Cautelen für einen Studiosus juris“ aus dem Jahre 1713. In: Aus der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Christian Thomasius und Christian Weise. Hrsg. v. Fritz Brüggemann. Weimar 1928, S. 122–133, hier S. 124. 117 Vgl. Bornscheuer: Topik [Art.], S. 460. Vgl. auch Löwenstein: Literatur und Topik, S. 196 ff. 118 Vgl. Wilhelm Kühlmann und Friedrich Vollhardt: Sturm und Drang [Art.]. In: RLW, Bd. III, S. 541–544. Vgl. auch Klaus Weimar: Genie [Art.]. In: RLW, Bd. I, S. 701–703. 119 Bornscheuer: Topik, S. 105.

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ten Materialsammlungen beruhen zu lassen, schlicht nicht mehr vereinbar war. Die philosophische Rückendeckung für dieses veränderte Verständnis des literarischen Produktionsprozesses steuerte Immanuel Kant bei. In seinem Hauptwerk wird die aristotelische Topik zu einem Hilfsmittel degradiert,120 dessen sich „Schullehrer und Redner bedienen konnten, um unter gewissen Titeln des Denkens nachzusehen, was sich am besten für seine vorliegende Materie schickte, und darüber, mit einem Schein von Gründlichkeit, zu vernünfteln, oder wortreich zu schwatzen.“121 Vor diesem Hintergrund lässt sich also mit einiger Berechtigung von einem Ende der topischen Tradition im literarischen Produktionsprozess sprechen.122 Von einem Ende der Topik kann dagegen keine Rede sein. Wenn man sich auch im Laufe des 18. Jahrhunderts von der Topik als einer im künstlerischen Schaffensprozess bewusst eingesetzten Methode verabschiedet hat, so ist damit nichts über den „Umfang ihres unbewußten und theoretisch unkontrollierten Weitergebrauchs“123 ausgesagt. In diesem Zusammenhang muss ein weiterer Aspekt berücksichtigt werden. Auch wenn die Sammlung und Beschreibung von Topoi in Kollektaneen und Toposkatalogen zu einem Grundbestand topischen Materials geführt hat, deren Ausprägungen sich über Jahrhunderte hinweg in literarischen Texten identifizieren und zurückverfolgen lassen, ist diese Zurückverfolgbarkeit kein notwendiges Kriterium, um von Topoi sprechen zu können. Auch etablierte Topoi – einschlägige Beispiele habe ich schon mehrfach genannt –, die häufig sogar mit

|| 120 Vgl. Hebekus: Topik/Inventio, S. 93 f. 121 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Bd. II. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Wiesbaden 1956, S. 291. Die zitierte Aussage findet sich in einem Abschnitt mit dem Titel „Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ (ebd., S. 291– 307). Kant entwickelt hier in Abgrenzung von der „l o g i s c h e [ n ] T o p i k des Aristoteles“ (ebd., S. 291; Hervorhebung im Original) eine „t r a n s z e n d e n t a l e T o p i k “ (ebd., S. 291; Hervorhebung im Original). 122 In diesem Zusammenhang ist allerdings zu berücksichtigen, dass auch „nach der Fundamentalkritik an der Topik um 1700 […] topische Kategorien die Arbeitsweise von Schriftstellern und Autoren [strukturieren]. Hinzuweisen sei an dieser Stelle nur auf Winckelmanns Exzerpthefte, Goethes Ephemerides, Lichtenbergs Sudelbücher, Jean Pauls Exzerptsammlung und schließlich Novalis’ Allgemeines Brouillon“ (Schanze u. a.: Rhetorik, S. 48). Darüber hinausgehend wäre zu fragen, wann sich der Umgang mit kollektivem Wissen und Erfahrung von der vorliterarischen Organisation in Toposkatalogen in die von Schanze genannten literarischen ‚Endprodukte‘ verlagert hat. Da es mir in der vorliegenden Untersuchung aber um das topische Denken als Grundprinzip des literarischen Produktionsprozesses geht, werde ich diesen Aspekt nicht weiterverfolgen. 123 Wiedemann: Topik als Vorschule, S. 246.

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gewichtig klingenden lateinischen Deskriptoren versehen werden, sind zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden und haben sich durch wiederholte Ausprägung und Rezeption des zugrundeliegenden Vorstellungsmusters etabliert. Topoi können aber zu jeder Zeit entstehen,124 und das Auftreten von topischen Strukturen in literarischen Texten ist ein universelles Phänomen, an dem sich durch eine bewusste Kritik an der Topik als Produktionsprinzip nichts ändert.

2.5.3 Interpretation Am Anfang der literaturwissenschaftlichen Topik steht der Gedanke von Ernst Robert Curtius, dass eine „vergleichende[] Durchmusterung der Literaturen“125 auf ihren topischen Bestand hin zu einer Durchdringung, also einem vertieften Verständnis der Einzeltexte führen kann. Dieser Gedanke lässt sich aber durchaus auch auf das Werk eines einzelnen Autors anwenden126 und gegen vereinfachende hermeneutische Ansätze ins Feld führen. Die Interpretation von literarischen Werken – dies gilt in besonderem Maße für Erzähltexte – gelangt nämlich häufig in verfälschender Eindeutigkeit zu genau einer Auslegung, die der Vieldeutigkeit des Primärtextes nicht gerecht wird.127 Begreift man dagegen das topische Denken als Grundprinzip des literarischen Produktionsprozesses und den Autor „als einen in autonomen und heteronomen Wahlakten begriffenen“128 Textproduzenten, bietet es sich an, die Topik nicht nur als Produktions-, sondern auch als „Verstehenshilfe“129 zu nutzen. Sie erlaubt es, die Wahlakte, die der Textproduzent getroffen hat, zu rekonstruieren. Da diese aber auch heteronom ablaufen können – denn kein „Dichter und wohl auch kein Interpret durchläuft bei seiner Arbeit eine planmäßig angeordnete Reihe von Fragebö-

|| 124 Vgl. Obermayer: Toposbegriff, S. 263. 125 Curtius: Europäische Literatur, S. 25. 126 Vgl. Knape: Die zwei texttheoretischen Betrachtungsweisen der Topik, S. 759. Knape begreift die Untersuchung von topischen Strukturen in zu definierenden Textkorpora als Supertext-Analyse: „Erst die vergleichende Untersuchung von Text-Serien, d. h. Supertexten oder Supertext-Gruppen, erlaubt uns die Isolierung von Topiken. [...] Wie das Korpus konkret konstituiert wird, hängt von im Einzelfall festzulegenden Repräsentativitätskriterien, pragmatischen Überlegungen, Zweck- und Zielsetzungen ab“ (ebd.). 127 Vgl. Hebekus: Topik/Inventio, S. 92. 128 Wiedemann: Topik als Vorschule, S. 244. 129 Ebd.

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gen“130 –, ist es gar nicht notwendig, die Vieldeutigkeit von Erzähltexten in eine scheinbare Eindeutigkeit zu übersetzen. Sie zeigen häufig „eine Vielzahl von Gesichtspunkten, die exegetisch auf einen Nenner bringen zu wollen, sehr schnell auf hermeneutische Überanstrengung hinausliefe.“131 Damit soll aber keinesfalls einer hermeneutischen Beliebigkeit das Wort geredet werden. Meine These lautet, dass die – um noch einmal die oben zitierte Formulierung von Curtius zu gebrauchen – ‚vergleichende Durchmusterung‘ eines repräsentativen Korpus von Texten, die von einem Textproduzenten stammen, genau dann zu einer Durchdringung der Einzeltexte und ihrer werkgenetischen Bedeutung führt, wenn man ihren topischen Gehalt analysiert und offenlegt.132 Dies wird zu „Einsichten in vom Textproduzenten (mehr oder weniger kalkuliert) eingearbeitete Gedanken“133 führen, denn in ihnen spiegeln sich „kollektive Bewusstseinsformen, Wissensaspekte und Wertvorstellungen“.134 In diesem Zusammenhang ist die Beobachtung von Bedeutung, dass die literarische Landschaft des 19. Jahrhunderts, in der Stifters Erzählwerk entstanden ist, von Texten geprägt ist, die „zwischen Hermeneutik und Rhetorik, zwischen individueller Erinnerung und kulturellem Gedächtnis“135 operieren und sich damit in besonderer Weise für eine topische Analyse eignen. Dabei stehen Textsorten im Fokus, die auch in dieser Untersuchung eine zentrale Rolle spielen werden, nämlich sowohl biografische und autobiografische Texte als auch Bildungsund Entwicklungsromane.136 || 130 Ebd., S. 247. Ähnlich auch Allgaier: Toposbewußtsein, S. 270 f. Allgaier geht davon aus, dass Autoren tradiertes Material „nur im Bewußtsein als Leseerfahrung“ (ebd., S. 270) tragen, anstatt sich an explizite Anleitungen oder Regeln zu halten. Aber: „Eine Speicherung der Topik im Unter-Bewußtsein [sic] ändert nichts an der normierten Situation der Autoren“ (ebd., S. 271). 131 Hebekus: Topik/Inventio, S. 92. Vgl. Lothar Bornscheuers Auseinandersetzung mit den Beiträgen, die Hans-Georg Gadamer und Jürgen Habermas zu einer Theorie des hermeneutischen Verstehens entwickelt haben. Bornscheuer beschreibt Topoi hier als „Relevanzkriterien“ (ders.: Topik, S. 195), die dafür sorgen, dass jeder Rezeptionsvorgang als „Konstitutionsmoment“ (ebd., S. 196) auf den Text zurückwirkt. Dabei gehe es nicht um eine „unabhängige Seinswahrheit“ (ebd.), sondern um das Zusammenspiel von „gesellschaftlich produziertem und produzierenden Bewusstsein“ (ebd.). 132 Vgl. Allgaier: Toposbewußtsein, S. 266. Allgaier empfiehlt dem an topischen Strukturen interessierten Interpreten literarischer Texte, die folgende „topische Frage“ (ders.: Toposbewußtsein, S. 266) zu stellen: „Innerhalb welcher Bahnen wird geschaffen? Welche Schablonen bietet die Tradition an, und wie weit werden sie durchbrochen?“ (ebd.). 133 Knape: Die zwei texttheoretischen Betrachtungsweisen der Topik, S. 758. 134 Ebd. 135 Berndt: Anamnesis, S. 5; Hervorhebungen im Original. 136 Vgl. ebd.

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Um diesen Zusammenhang weiter zu beleuchten, lohnt es sich, noch einmal die antike Rhetorik als theoretischen Ursprung der Topik in den Blick zu nehmen. Während der Textproduktionsprozess auf den ersten Blick mit dem Abschluss der elocutio zu enden scheint,137 spielt die daran anschließende Phase der memoria zumindest für die Produktion von Redetexten eine Rolle, weil sie die „Stelle dar[stellt], an der das rhetorische System selbstreflexiv wird“138. Man könnte „ihre Funktion [...] als Selbstkorrektur des Systems bestimmen. Die Korrekturen betreffen den Stellenwert des Gedächtnisses, der in der memoria zum Ermöglichungsgrund von inventio, dispositio und elocutio aufgewertet wird“139. Dieser Gedanke lässt sich auf die Produktion von literarischen Texten übertragen. Umfangreichere Erzähltexte, wie sie im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen, werden von ihren Produzenten zwar in den meisten Fällen nicht für einen Vortrag auswendig gelernt, doch ein ähnliches Selbstkorrektiv, wie es im rhetorischen System der memoria zukommt, könnte im lesenden Überarbeiten des bereits Geschriebenen liegen. Hier handelt es sich um einen Vorgang, der sowohl medial als auch kognitiv Ähnlichkeiten mit dem lesenden Auswendiglernen eines Textes aufweisen dürfte. Vor diesem Hintergrund stelle ich die im Fortgang dieser Untersuchung exemplarisch zu belegende Hypothese auf, dass die Deutlichkeit, mit der sich topische Strukturen in das Werk eines Autors einschreiben, auch von dessen Neigung abhängt, bereits Formuliertes immer wieder zu überarbeiten. In diesem Zusammenhang wurde die Beobachtung angestellt, dass gerade die Erzähltexte Adalbert Stifters nicht unbedingt als streng voneinander abgeschlossene Einheiten zu betrachten sind, sondern in ihrer Gesamtheit einen „Megatext“140 bilden, der „nur in der Zusammenschau seine Pointen preisgibt“141. Die Einzeltexte Stifters sind nämlich häufig Produkte eines komplexen und iterativen Überarbeitungsprozesses, in dem der Autor parallel mit der „Niederschrift neuer und mit der Neuformulierung alter Erzählungen“142 beschäftigt war. Er kehrte also selbst nach Abschluss und Veröffentlichung der vermeintlich endgültigen sprachlichen Ausformung zu seinen Texten zurück, um ihre Form ein weiteres Mal zu verändern. Als Ergebnis dieses Produktionsprozesses tragen Adalbert Stifters Texte in der Tat „enigmatische Züge“143 – „[i]n ihnen treten Figuren auf, die in unerfind|| 137 Vgl. Schanze u. a.: Rhetorik, S. 42 138 Berndt: Topik-Forschung, S. 34. 139 Ebd. 140 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 254. 141 Ebd. 142 Matz: Adalbert Stifter, S. 187. 143 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 411.

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licher Weise handeln, es werden Dinge beschrieben, deren Seins- und Funktionsweisen undeutlich bleiben, es wird von Ereignissen berichtet, die auf unerklärliche Weise geschehen, und die Handlungsführung und der sprachliche Ausdruck umkreisen dieses Geheimnisvolle in immer neuen Windungen und Wendungen“144. Deswegen ist es weder ratsam noch realistisch, Stifters Texte vollständig enträtseln zu wollen. Auf der anderen Seite eignen sie sich vielleicht gerade aufgrund der Produktionsbedingungen, unter denen sie entstanden sind, in besonderer Weise für einen Untersuchungsansatz, der topische Strukturen und Gehalte in den Blick nimmt, um Interpretationsansätze zu formulieren. Im Folgenden wird es daher darum gehen, die „topischen Strukturen der Wirklichkeit“145 offenzulegen, die sich in Stifters Erzählwerk eingeschrieben haben, und zu prüfen, ob und wie eine Interpretation der Einzeltexte von einer Kenntnis dieser Strukturen profitieren kann. Aber ist es überhaupt legitim, literarische Texte auf diese Weise als Mittel zu ihrer eigenen Deutung zu gebrauchen? Schließlich könnte man daraus ableiten, dass sie den Schlüssel zu ihrer Interpretation gleich mitliefern – eine These, die meinen Untersuchungsansatz zumindest auf den ersten Blick in die Nähe werkimmanenter Interpretationsverfahren rücken würde, deren Eignung von der Forschung zu Recht in Frage gestellt wurde.146 Diese Frage soll abschließend beantwortet werden, bevor es darum gehen wird, ein topisches Interpretationsverfahren an den einleitend genannten Texten Stifters zu erproben. Vor dem Hintergrund der in Abschnitt 2.4.3 beschriebenen Eigenschaft der Nachvollziehbarkeit von Topoi kann ein Interpretationsansatz durchaus auf der Benennung und Beschreibung der Topoi beruhen, die sich in den zu interpretierenden Texten ausgeprägt haben. Die folgende Abbildung soll diesen Sachverhalt verdeutlichen.

|| 144 Michael Gamper: Wetterrätsel. Zu Adalbert Stifters Kazensilber. In: Literatur und NichtWissen. Historische Konstellationen 1730–1930. Hrsg. von Michael Bies und Michael Gamper. Zürich 2012, S. 325–338, hier S. 325. 145 Wiedemann: Topik als Vorschule, S. 248. 146 Vgl. Axel Spree: Werkimmanente Interpretation [Art.]. In: RLW, Bd. III, S. 834–837, hier S. 836.

Anwendung der Topik | 55

Bildung, Medien, Kunst Topischer Bestand Rückkopplung

Ausprägung von Topoi

Autor

Nachvollzug von Topoi

Leser 1

Text Kulturkreis

Leser 2 Ermöglichungszusammenhänge Intertexte

Abb. 3: Topoi in der Textproduktion und -rezeption

Die Abbildung verdeutlicht zunächst einmal die Rolle, die Topoi in der Produktion und Rezeption von Texten spielen, wenn Autor und Leser (hier: Leser 1) durch ihre Zugehörigkeit zu einem eng gesteckten Kulturkreis147 am selben Bestand von Topoi partizipieren. In einer solchen Konstellation bildet die gemeinsame Teilhabe an diesem topischen Bestand die primäre Grundlage für das Textverständnis. Wird der Text jedoch von einem Leser (hier: Leser 2) rezipiert, der – etwa durch zeitlichen Abstand zwischen Textproduktion und -rezeption – nicht oder nicht im selben Umfang wie die ursprünglichen Leser zum selben Kulturkreis wie der Autor gehört, müssen weitere Informationen herangezogen werden, um die im Text ausgeprägten Topoi zu entschlüsseln. Dabei handelt es sich zum einen um geistesgeschichtliche148 Ermöglichungszusammenhänge, in

|| 147 Zur Definition dieses Begriffs siehe Anm. 49 in diesem Kapitel. 148 Ich verwende den Begriff ‚geistesgeschichtlich‘ nicht in strenger Übereinstimmung mit der literaturwissenschaftlichen Schule der Geistesgeschichte, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts „die fachinterne Diskussion beherrscht hat“ (Klaus Weimar: Geistesgeschichte [Art.]. In: RLW, Bd. 1, S. 678–681, hier S. 678), sondern in seiner allgemeinsprachlichen Bedeutung (vgl. ebd.,

56 | Topisches Denken als literarisches Grundprinzip

denen ein Vorstellungsmuster erfolgreich rezipiert und tradiert werden konnte. Zum anderen sind Intertexte zu berücksichtigen, deren motivischer und stofflicher Gehalt die Gestaltung des zu untersuchenden Textes in entscheidender Weise beeinflusst haben könnte. Wenn diese beiden Faktoren – Ermöglichungszusammenhänge und Intertexte – in Beziehung zu den topischen Strukturen eines Textes gesetzt werden, ergibt sich, so meine These, ein nachvollziehbares Interpretament. Die Frage, ob es legitim ist, den Schlüssel zur Deutung literarischer Texte aus diesen Texten selbst abzuleiten, berührt aber noch einen weiteren Aspekt. Ein solcher Ansatz wird nämlich nur dann zu einem überzeugenden Ergebnis führen, wenn man ihn nicht nur auf einen Einzeltext, sondern auf ein Textkorpus – in diesem Fall die drei eingangs beschriebenen Werkkomplexe – anwendet. Ein solcher Vorgang muss zwar notgedrungen bei einem Text beginnen, doch sind die topischen Strukturen des ersten Textes auf diese Weise freigelegt und sichtbar gemacht, können sie den Blick für die Analyse aller weiteren Texte schärfen. In der vorliegenden Untersuchung werde ich mich dabei nicht auf etablierte Beschreibungen von Topoi berufen und beschränken, sondern die Topoi, die sich in drei zu untersuchenden Werkkomplexen ausgeprägt haben, mit eigenen Deskriptoren und Deskriptionen belegen und ihre unterschiedlichen Manifestationen beschreiben. Am Ende dieses Prozesses wird ein Bild der topischen Strukturen von Adalbert Stifters erzählter Welt entstanden sein, das zu einem modifizierten Verständnis seiner Texte beitragen kann.

|| S. 678), um die Grenzen für denkbare Ermöglichungszusammenhänge möglichst weit und jenseits der Gegenstandsbereiche von Philosophie oder Ideengeschichte zu stecken.

3 Erzählungen von ‚wilden‘ Mädchen und ihren Erzieherfiguren 3.1 Einführung und Forschungsüberblick zum Werkkomplex Adalbert Stifter hat in vier Erzählungen, die unabhängig voneinander in verschiedenen Werkphasen entstanden sind, Figuren entwickelt, zwischen denen eine auffällige Ähnlichkeit besteht.1 Bei diesen Figuren handelt es sich erstens um Pia, die Enkelin des Kastellans Ruprecht in Die Narrenburg, zweitens um das namenlose Mädchen mit dem großen Kopf in Turmalin, drittens um das ebenfalls namenlose ‚braune Mädchen‘2 in Kazensilber3 und viertens um Juliana in Der Waldbrunnen. Bei allen vier Figuren handelt es sich um Mädchen oder junge Frauen, die als wild, verwildert oder zumindest fremdartig dargestellt werden, bevor eine gesellschaftlich etablierte Erzieherfigur sie auf einem Bildungsgang begleitet, der sie von Außenseiterinnen in nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft verwandeln soll. Diese Gemeinsamkeit zwischen den Erzählungen hat sich in einander ähnlichen und miteinander vergleichbaren Figurenkonstellationen ausgeprägt und kann im Sinne der in Abschnitt 2.4.2

|| 1 Die folgenden Ausführungen zum Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen nehmen Bezug auf meine im Jahr 1998 an der Universität Siegen vorgelegte Magisterarbeit (Achenbach: Natur versus Kultur? (siehe Kap. 1, Anm. 2)). Diese Studie fragte nach der werkgenetischen Entwicklung des „Paradigma[s] des ‚wilden Mädchens‘“ (ebd., S. 6; zum Begriff des ‚Paradigmas‘ siehe Anm. 5 in diesem Kapitel). Soweit sich Ergebnisse aus dieser Studie bestätigten, sind diese in die vorliegende Untersuchung eingeflossen. Die vier oben genannten Texte stellen hier erneut einen Untersuchungsgegenstand dar, nunmehr allerdings auf der Grundlage des hier entwickelten, die Fragestellung und die Methode betreffenden Neuansatzes und im Kontext mit zwei weiteren Werkkomplexen, der Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters und dem Roman Der Nachsommer. Ich verweise zu Beginn der Abschnitte 3.2, 3.3, 3.4, 3.5 und zu Beginn von Kapitel 4 sowie an weiteren, ausgewählten Stellen auf entsprechende Abschnitte meiner früheren Studie, verzichte aber zugunsten einer detaillierten Auseinandersetzung mit anderen Forschungspositionen und im Interesse der Lesbarkeit auf einen engmaschigeren Nachweis von inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen meinen ursprünglichen Ergebnissen und den hier vorgelegten Interpretationen. 2 Stifter verwendet die Bezeichnung ‚braunes Mädchen‘ für das namenlos bleibende Kind in Kazensilber regelmäßig und ersetzt die Bezeichnung nur gelegentlich durch ‚das Mädchen‘ oder ‚das fremde Mädchen‘. Deswegen übernehme ich diese Bezeichnung und verzichte im Folgenden auf modalisierende oder ein Zitat anzeigende Anführungszeichen. 3 Ich übernehme Stifters Schreibweise des Titels mit einem einfachen ‚z‘, die auch in der HKG Anwendung findet. https://doi.org/10.1515/9783110750782-003

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vorgenommen Abgrenzung zwischen Topoi und Motiven als Motiv4 des ‚wilden‘ Mädchens beschrieben werden.5 Von Stifters Frühwerk abgesehen deckt die Entstehungs- und Publikationsgeschichte der vier genannten Erzählungen einen nahezu werkumspannenden Zeitraum ab. Der erste Text im Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen, Die Narrenburg, erschien 1844 in überarbeiteter Form im zweiten Band der Studien, Stifters erstem Buchprojekt. Der zweite Text, Turmalin, wurde ebenfalls in einer überarbeiteten Fassung im ersten Band der Bunten Steine (1853) publiziert. Die Erstfassungen dieser beiden Texte – ich verwende im Folgenden den in der Forschung gebräuchlichen Begriff ‚Journalfassung‘ – sind in Zeitschriften oder Jahrbüchern erschienen, weshalb Stifter sie an deren spezielle Anforderungen anpassen musste. Die jeweiligen Buchfassungen sind dagegen „von Zugeständnissen an das Publikationsorgan freier“6 und bilden deswegen die primäre Grundlage meiner folgenden Ausführungen. In Einzelfällen wird ein Blick in die Journalfassungen aber aufschlussreich sein.7 Im Unterschied zu den Erzählungen Die Narrenburg und Turmalin existiert von Kazensilber keine Journalfassung. Der Text erschien ebenfalls 1853 im zweiten

|| 4 Bei allen Definitionsschwierigkeiten, die für den Begriff des Motivs noch zu bewältigen sind (siehe Abschnitt 2.4.2), lassen sich literarische Motive in drei Kategorien einteilen, nämlich „Typen“ (Drux: Motiv, S. 639), „Lokalitäten“ (ebd.) und „Konstellationen von Personen bzw. Gruppen“ (ebd.). Das Motiv des ‚wilden‘ Mädchens würde demnach in die dritte Kategorie fallen. 5 Vgl. dagegen Achenbach: Natur versus Kultur?, S. 10: Aufgrund des Einflusses „unterschiedlichste[r] literarische[r] Stoffe und philosophische[r] Konzepte“ auf die Darstellung der ‚wilden‘ Mädchen sei von einem „Paradigma“ (ebd., im Original kursiv) zu sprechen. Der Begriff des ‚Paradigmas‘ wird dort „im allgemeinen Sinne von ‚Denkmuster‘“ (ebd., S. 6) verwendet. Indem die Texte von weiblichen, undomestizierten Zöglingsgestalten erzählen, die von Erzieherfiguren auf ihren Bildungsgängen begleitet werden, aktualisieren sie aber ein Motiv und kein Denkmuster bzw. Paradigma. Auf der Grundlage des methodischen Ansatzes, den ich in Kapitel 2 der vorliegenden Untersuchung entwickelt habe, ist kategorisch zwischen nichtsprachlichen Denk- oder Vorstellungsmustern einerseits und deren Ausprägungen im Text (zum Beispiel als Motiv, Metapher oder Allegorie) andererseits zu unterscheiden. In den folgenden Abschnitten wird es darum gehen, diese Vorstellungsmuster oder Topoi zu identifizieren und zu beschreiben, wie sie sich bei der Gestaltung der Figuren – der ‚wilden‘ Mädchen und ihrer Erzieherfiguren – im Text ausgeprägt haben. 6 Christian Begemann: Adalbert Stifter und die Ordnung des Wirklichen. In: Realismus. Epoche – Autoren – Werke. Hrsg. von Christian Begemann. Darmstadt 2007, S. 63–84, hier S. 72. 7 Die Frage, ob dem topischen Denken, so wie ich es in Abschnitt 2.5 im Hinblick auf den Textproduktionsprozess beschrieben habe, bei der Erstellung einer Neufassung eines Textes eine veränderte Rolle zukommt, soll an dieser Stelle zunächst ausgeklammert werden. Ich werde in der Einleitung zu Abschnitt 5.4 darauf zurückkommen.

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Band der Bunten Steine. Der vierte Text im Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen, die Erzählung Der Waldbrunnen, erschien 1866, also nur zwei Jahre vor dem Tod des Autors, als Zeitschriftenveröffentlichung.8 Die Stifter-Forschung hat die Verwandtschaft dieser vier Texte schon früh erkannt. Leo Langer weist bereits in einem Beitrag von 1905 darauf hin, dass „die Erzählungen ‚Turmalin‘, ‚Katzensilber‘ und ‚Waldbrunnen‘ [...] uns schwachsinnige, verwilderte, in der Menschengesellschaft sich fremd fühlende Kindesseelen vor[führen], die erzogen werden für den Kampf und die Freuden einer geordneten Lebensführung“9. Langer geht an dieser Stelle nicht auf den Waldbrunnen ein, erwähnt diese Erzählung aber später, wenn er Belege dafür aufzählt, dass es ein „Grundsatz Stifters“ (ebd., S. 489) sei, „der jugendlichen Glut des Kindes den ‚Nachsommer‘, die geläuterte Erfahrung des gereiften Mannes oder der freundlichen Greisin an die Seite zu stellen“ (ebd.). Auch die Narrenburg und Kazensilber finden an dieser Stelle Erwähnung. Im weiteren Verlauf des Beitrags beschreibt Langer den Waldbrunnen im Hinblick auf das ‚wilde‘ Mädchen Juliana als „Seelengemälde“ (S. 492), das die Eingliederung des Kindes in die Gesellschaft illustriere. Kazensilber erzähle davon, so Langer weiter, wie „das schöne Kind der Wildnis an Menschen gewöhnt“ (ebd.) werde; auch hier werde „das Erwachen seines Seelenlebens belauscht“ (ebd.). Turmalin dagegen zeichne „ein Bild der armen, unglücklichen Kindesseele“ (S. 493). Langers Hinweise aufgreifend beschreibt Kurt Gerhard Fischer die genannten Figuren als „verwahrloste, wilde und Wunderkinder“10. Er attestiert Stifter „psychologischen Scharfblick“ (S. 94) und ergänzt, es dürfe „vermutet werden, daß für diesen Bereich seines Dichtungsschaffens nicht nur Beeinflussung durch die Romantik reklamiert werden kann, sondern eine realistische, auf eigener Beobachtung und gründlicher Analyse beruhende Darstellung vorliegt“ (ebd.). In Bezug auf den Waldbrunnen weist Fritz Martini darauf hin, dass die „Nähe zu ‚Katzensilber‘, auch zu ‚Turmalin‘ [...] deutlich“11 werde. Er sieht in der späten Erzählung die „Spannung zwischen dem Mythisch-Elementaren, der im Unbewußten erwachenden Kinderseele mit ihrer Sehnsucht nach Schönheit || 8 Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte der vier Texte siehe auch die einleitenden Bemerkungen in den Abschnitten 3.2, 3.3, 3.4 und 3.5. 9 Leo Langer: Adalbert Stifter und die Kindesseele. Ein Gedenkblatt zur Jahrhundertfeier seiner Geburt. In: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 56 (1905), VI. Heft, S. 481–503, hier S. 488. 10 Fischer: Die Pädagogik des Menschenmöglichen (siehe Kap. 1, Anm. 32), S. 94. 11 Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus. 1848–1898. Vierte, mit neuem Vorwort und erweitertem Nachwort versehene Auflage. Stuttgart 1981 [1962], hier S. 550.

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und Liebe einerseits und dem Formelhaften der spröd-gegenständlichen, im Bildhaften viel verhüllenden Erzählweise andererseits [...] noch verstärkt“ (S. 550). Die Figuren aller vier Texte setzt Rudolf Wildbolz miteinander in Beziehung, indem er in seinen Bemerkungen zu Kazensilber feststellt, das braune Mädchen aus dieser Erzählung sei „nicht exotisch wie Chelion in der ‚Narrenburg‘ oder abnorm wie das Mädchen aus ‚Turmalin‘“ (S. 81), und in seinen Überlegungen zum Waldbrunnen davon ausgeht, dass „das ‚wilde Mädchen‘ Juliana […] gewissermaßen der Erzählung ‚Katzensilber‘ entnommen ist“ (S. 131).12 Ich habe einleitend bereits darauf hingewiesen, dass zwei Erzählungen aus dem Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen in der Erzählsammlung Bunte Steine erschienen sind: Turmalin und Kazensilber. Diese beiden Texte untersucht Eve Mason im Rahmen einer „Bestandsaufnahme“13 zu den Bunten Steinen. Aus ihrer Sicht neigen Deutungen der Einzeltexte aus dieser Sammlung zu Verallgemeinerungen. Dies sei darauf zurückzuführen, dass man versucht habe, alle Erzählungen der Sammlung vor dem Hintergrund des ‚sanften Gesetzes‘ zu interpretieren, das Stifter in der Vorrede zu den Bunten Steinen entwirft. Mason schlägt dagegen vor, bestimmte Formulierungen Stifters, die als „Worte von auffallender Prägnanz“ (S. 76) im Vergleich mit dessen eindrücklichen Schilderungen von Naturkatastrophen „nüchtern, ja lakonisch wirken“ (ebd.) und sich häufig „auf jene Kräfte beziehen, die die Daseinsbedingungen eines Menschen gefährden oder zerstören“ (ebd.), als Mittel zur Deutung der Erzählungen einzusetzen. In diesem Zusammenhang erscheine Turmalin „von vornherein als Beispiel der zerstörerischen Kräfte konzipiert“ (S. 77), während Kazensilber „[d]ie durch ihre Endgültigkeit nachhallendsten Worte“ (S. 77) finde, um Stifters Kritik an der zeitgenössischen Wirklichkeit zu formulieren. Mason weist Stifters prägnanten Formulierungen, die sich mit Ausnahme von Bergmilch in allen Erzählungen der Bunten Steine finden ließen und erst mit der Überarbeitung der Journalfassungen entstanden seien, eine didaktische Funktion zu, die dazu diene, „im Leser eine für moralische Bezüge empfängliche Stimmung zu schaffen und ihn auf die Kausalität der Dinge hinzuweisen“ (S. 78). Abschließend stellt Mason eine Verbindung zwischen Stifters zunehmend zeitkritischer, pessimisti-

|| 12 Rudolf Wildbolz: Adalbert Stifter. Langeweile und Faszination. Stuttgart u. a. 1976. 13 Eve Mason: Stifters Bunte Steine: Versuch einer Bestandsaufnahme. In: Adalbert Stifter heute. Londoner Symposium 1983. Hrsg. von Johann Lachinger, Alexander Stillmark und Martin Swales (= Schriftenreihe des Adalbert-Stifter-Institutes, Folge 35). Linz 1985, S. 75–85.

Einführung und Forschungsüberblick zum Werkkomplex | 61

scher Grundhaltung und der Reihenfolge der Erzählungen in den zwei Bänden der Bunten Steine her. Das braune Mädchen aus Kazensilber, Juliana aus dem Waldbrunnen sowie Chelion und Pia aus der Narrenburg werden in Gunter H. Hertlings Beitrag zu „Mignons Schwestern“14 in Stifters Erzählwerk auf einen gemeinsamen intertextuellen Ursprung, nämlich Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, zurückgeführt. Hertling konstatiert „eindeutige Verwandtschaftsbezüge“ (S. 194) zwischen Mignon und den genannten Figuren, die alle Stifters „Überzeugung [vermittelten], daß das Exotisch-Fremde, das Mythisch-Poetische [...] in der bürgerlichen Wirklichkeit beheimatet werden kann“ (S. 195), und stellt die Gestaltung der Figuren in den autobiografischen Kontext von Stifters Verhältnis zu seiner Ziehtochter Juliane Mohaupt. Dem Komplex der „Kindersprache“15 ist ein eigenes Kapitel in Eva Geulens Monografie zur Darstellungsproblematik und Sprachreflexion in Stifters Prosa gewidmet. Geulen arbeitet hier die besondere Bedeutung heraus, die Kindern im Erzählwerk des Autors zukommt. Figuren wie Pia (Die Narrenburg), Juliana (Der Waldbrunnen) oder das namenlose Kind in Turmalin trügen „gelegentlich Züge der wilden Kinder [...], wie man sie von Rousseau, Condillac und anderen kennt“ (S. 128), seien aber „bewußt als ein Typus konzipiert“ (ebd.) und in der Hauptsache auf zwei andere Einflussfaktoren zurückzuführen. Zum einen habe Mignon aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre „als Vorlage gedient“ (ebd.), zum anderen erinnerten die genannten Kinderfiguren an die Geschichte des Nürnberger Findlings Kaspar Hauser. Geulen untersucht vor diesem Hintergrund die folgenden Texte: Der Waldgänger, Turmalin und Der Waldbrunnen. Sie analysiert die mündlichen und schriftlichen Äußerungen des namenlosen Mädchens in Turmalin im Hinblick auf die „eminent poetologische Dimension“ (S. 139) des Textes und liest die Erzählung als Kritik an einer Kunst, in der die „Differenz zwischen Sprache und Wirklichkeit“ (S. 141) unterschlagen werde. Als „Gegenteil“ (S. 143) zu Turmalin erscheine der Waldbrunnen, der sich als die Erzählung von der „Transformation eines Kaspar Hauser-Kindes in eine Mignon“ (ebd.) lesen lasse. Geulen deutet den Text als Auseinandersetzung mit der Schönheit des menschlichen Körpers, der „keine sprachliche Darstellung je gerecht zu werden vermag“ (S. 145), und beschreibt den Transformationspro-

|| 14 Gunter H. Hertling: Mignons Schwestern im Erzählwerk Adalbert Stifters: Katzensilber, Der Waldbrunnen, Die Narrenburg. In: Goethes Mignon und ihre Schwestern. Interpretationen und Rezeption. Hrsg. von Gerhard Hoffmeister. New York/San Francisco/Bern u. a. 1993, S. 165–195, hier S. 165. 15 Geulen: Worthörig wider Willen, S. 123.

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zess des ‚wilden‘ Mädchens Juliana als das Resultat einer „Liebesgeschichte“ (S. 146). In einem anschließend publizierten Aufsatz über Adalbert Stifters „KinderKunst“16 führt Geulen alle vier Erzählungen des Werkkomplexes an, analysiert in drei Fallstudien aber nur die entsprechenden Figuren in Turmalin und Der Waldbrunnen (sowie Abdias). Sie führt die Figuren auch hier auf das literarisch rezipierte Schicksal des Nürnberger Findlings Kaspar Hauser zurück und stellt eine Verbindung zu Goethes Mignon her. Ihre Kernthese zielt nicht auf die Erziehungsprozesse ab, die in den Erzählungen geschildert werden, sondern richtet sich auf die „poetologische Bedeutung“ (S. 652) der Zöglingsgestalten. Deren Betrachtung könne zu einem modifizierten Verständnis führen, was den „Status der Sprache in Stifters Prosa“ (ebd.) angehe. Ein dritter Beitrag Geulens unterzieht dann alle vier Texte des Werkkomplexes, sowie weitere Erzählungen Stifters (Kalkstein, Bergkristall, Granit) einer „kursorische[n]“17 Lektüre, um die These zu illustrieren, dass es in Stifters Texten keine Kinder im eigentlichen Sinne gebe, weil sie „mehr mit Tieren, Dingen, Wahnsinnigen und Greisen“ (ebd.) zu tun hätten und ihnen das Erwachsenwerden versagt bleibe. Diese These begründet Geulen anschließend mit einer Deutung der Vorrede zu den Bunten Steinen. In „Gegenrede“18 zu Forschungsbeiträgen, denen die Analyse von Textstrukturen in Stifters Erzählwerk „zu einem Sinn und Funktion unterlaufenden Gegensatz“ (S. 57) gerät,19 wendet Günter Helmes den Grundgedanken vom Schauspiel als ‚Supplement der Gesetze‘ aus Lessings Hamburgischer Dramaturgie auf Stifters Erzählsammlung Bunte Steine an. Helmes fragt nach den Möglichkeiten von Erzähltexten, in ähnlicher Weise „zum Wohle des Einzelnen wie dem der Gesellschaft“ (S. 55) beizutragen und geht mit unterschiedlicher Gewichtung auf alle vier Texte des Werkkomplexes der ‚wilden‘ Mädchen ein. Die Darstellung von weiblichen Figuren in Turmalin stellt Helmes in den Kontext von „Unterdrückung, Entmündigung, Ignoranz und radikale[r] rechtliche[r] Ungleichheit“ (S. 59), die den „Geschlechterdiskurs und die gesellschaftliche Praxis“ (ebd.) in der Mitte des 19. Jahrhunderts immer noch bestimmt hätten. Er || 16 Eva Geulen: Adalbert Stifters Kinder-Kunst. Drei Fallstudien. In: DVjs 67 (1993), S. 648–668. Geulen nennt die folgenden Figuren: „das körperlich und seelisch entstellte Kind aus Turmalin, aber auch die scheue Pia aus der Narrenburg, das auf Goethe zurückgehende ‚braune Mädchen‘ aus Katzensilber, die wilde Juliana des Waldbrunnen“ (ebd., S. 652). 17 Geulen: Kinderlos (siehe Kap. 1, Anm. 56), S. 420. 18 Helmes: Bunte Steine als „Supplement der Gesetze?“ (siehe Kap. 1, Anm. 41), S. 57. 19 Zu einigen dieser Beiträge siehe meine einleitenden Ausführungen zur Forschungslage in Abschnitt 1.3 der vorliegenden Untersuchung.

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untersucht die gegenbildliche Darstellung der beiden Ehepaare, von denen Turmalin erzählt, und beschreibt die Ich-Erzählerin als erfolgreiche Erzieherin. Der Erzählung Kazensilber kommt nach Helmes im Hinblick auf erzieherische Fragestellungen ein „besonderer Erkenntniswert“ (S. 62) zu, weil der Text – im Unterschied zu Narrenburg, Turmalin und Waldbrunnen – von dem Scheitern der Erziehung eines ‚wilden‘ Mädchens handele. Helmes untersucht die Figuren der Hofbewohner in ihrem Verhältnis zur Figur des braunen Mädchens, wobei er zwar sowohl dem Vater als auch der Mutter eine „utilitaristische Perspektive“ (S. 63) zuschreibt, letzterer aber zumindest Anpassungsfähigkeit im Hinblick auf ihre „erzieherischen Strategien“ (ebd.) attestiert. Beide Figuren müssten jedoch letztendlich ihren Kindern das Feld räumen, denen alleine es nicht nur gelinge, sich dem ‚wilden‘ Mädchen ungezwungen zu nähern, sondern einen gemeinschaftlichen Lernprozess in Gang zu setzen. Helmes sieht in den Texten der Bunten Steine sowohl Ausprägungen des Konzeptes vom ‚sanften Gesez‘ aus deren Vorrede – vor allem, wenn es um die „Darstellung konkreter Reformen beziehungsweise Alltagsrevolutionen“ (S. 65) geht –, als auch dessen theoretische Vermittlung als „in Szene gesetzte Geschichtsphilosophie“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund kommt Helmes, der medialen und konzeptionellen Unterschiede zwischen Lessings dramaturgischem Ansatz und Stifters Erzählstrategie eingedenk, zu dem Schluss, dass die Texte der Bunten Steine nicht nur „der Disposition der LeserInnen überantwortete Prolegomena der Wissenschaft als praktischer Vernunft“ (S. 68) und auch „nicht allein ‚Supplement der Gesetze‘“ (S. 69) seien, sondern „approximative Ausdrucksform des über allem waltenden ‚sanften Gesezes‘“ (ebd.). In einem Beitrag zum Waldbrunnen stellt Christian Soboth fest, dass diese Erzählung in der Forschung „als glückliche Fortsetzung der im [sic] Turmalin und im [sic] Katzensilber […] begonnenen Erziehungsgeschichten betrachtet“20 worden sei. Deshalb scheine es, als ob Stifter „zeitlebens nur eine Geschichte geschrieben“ (S. 49) habe, in der er es auf die „Harmonisierung von Natur und Kultur im Brennspiegel wilder Kinder, meist Mädchen“ (ebd.) abgesehen habe. Für Soboths Untersuchungsansatz, auf den ich im Forschungsüberblick zum Waldbrunnen (siehe Abschnitt 3.5) näher eingehen werde, spielt die „Nähe zu Turmalin und Katzensilber“ (S. 51) aber keine entscheidende Rolle: sie, so Soboth, „interessier[t] hier nicht oder nur am Rande“ (ebd.). Gerhard Neumann beschreibt Adalbert Stifters Geschichtsverständnis als Resultat eines „Entsetzen[s] über die Koinzidenz von zerstörerischem Sinnzer-

|| 20 Soboth: Die Frau im Einschreibbuch (siehe Kap. 1, Anm. 3), S. 48.

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fall und grundloser, aber unabweisbarer Zuversicht“21, aus dem ein zyklischer, heilsgeschichtlicher Ansatz resultiere. Neumann entwickelt diese These über weite Strecken seines Beitrags anhand einer Analyse von Stifters autobiografischem Fragment Mein Leben und der „Schicksalsanekdote“ (S. 92) Zuversicht, kommt später aber auch auf alle vier Erzählungen aus dem Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen (und weitere Erzähltexte Stifters) zu sprechen.22 Er analysiert die unterschiedlichen „Schicksalsmuster“ (S. 113), die von den Figuren in Kazensilber vertreten werden, sieht die „‚Zuversicht‘-Strategie“ (S. 114) in Turmalin in ihr Gegenteil verkehrt und interpretiert auch den Waldbrunnen als Auseinandersetzung mit der „Konstellation von zerstörerischem Sinnverfall und Zuversicht“ (S. 116). Die Narrenburg bewertet Neumann gar als Stifters „bedeutendsten Versuch, das ihm und seinem Schreiben eigene Schicksalsmuster nachträglicher, in Erinnerungsschleifen errichteter Sinnstiftung […] zu entwickeln“ (S. 115). Sowohl Kazensilber als auch der Waldbrunnen lassen sich, so Stefani Kugler, in den Kontext eines „wirkungsmächtigen Diskurs[es]“23 der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts stellen, in dem die Figur der „naturnahen jungen Zigeunerin“ (S. 121, Anm. 1) eine zentrale Rolle spiele. In Stifters Werk sei diese Figur durch „sogenannte ‚braune‘ bzw. ‚wilde Mädchen‘ vertreten“ (ebd.). Kuglers Beitrag beschränkt sich auf eine Interpretation von Kazensilber und geht im weiteren Verlauf weder auf den Waldbrunnen noch auf andere Texte aus dem Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen ein. Albrecht Koschorke wagt ein „Gedankenexperiment“24, in dem er den Suizid von Stifters Adoptivtochter Juliane Mohaupt in einen werkbiografischen Zu-

|| 21 Gerhard Neumann: Das Schreibprojekt des ästhetischen Historismus. Autobiographie, Restauration und Heilsgeschichte in Adalbert Stifters Erzählwerk. In: ZfdPh 123 (2004), Sonderheft, S. 89–118, hier S. 90. 22 Neumann führt allerdings nicht alle Figuren, die in meiner Darstellung als ‚wilde‘ Mädchen erscheinen, als verbindendes Element zwischen den vier Texten an. Zum Waldbrunnen führt er aus, dass „[i]m Hintergrund der hier erzählten Geschichte […] das ‚braune Mädchen‘ aus Stifters ‚Katzensilber‘ [steht], das seinerseits auf die Mignon-Gestalt in Goethes ‚Wilhelm Meister‘ verweist“ (ders.: Das Schreibprojekt, S. 116, Anm. 52). Auf die Verbindung zwischen Stifters ‚wilden‘ Mädchen und Goethes Mignon werde ich später weiter eingehen. 23 Stefani Kugler: Katastrophale Ordnung. Natur und Kultur in Adalbert Stifters Erzählung Kazensilber. In: Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismus. Hrsg. von Ulrich Kittstein und Stefani Kugler. Würzburg 2007, S. 121–141, hier S. 121. 24 Albrecht Koschorke: Erziehung zum Freitod. Adalbert Stifters pädagogischer Realismus. In: Die Dinge und die Zeichen: Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Für Helmut Pfotenhauer. Hrsg. von Sabine Schneider und Barbara Hunfeld. Würzburg 2008, S. 319–332.

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sammenhang mit Kazensilber und dem Waldbrunnen stellt. Koschorke beschreibt, wie Stifter dem Kind ein Exemplar seiner Erzählsammlung Bunte Steine zum 12. Geburtstag geschenkt und mit einer Widmung versehen hat, in der er es aufforderte, sich das Verhalten der Kinder in seinen Erzählungen zum Vorbild zu nehmen. Die von Zeitzeugen bestätigte Ähnlichkeit zwischen Juliane und dem braunen Mädchen in Kazensilber könne dazu geführt haben, dass das lebhafte und schwer zu bändigende Kind sich in dieser Erzählung wiedererkannt und die Konsequenz gezogen habe, die Familie zu verlassen, um sich in einen „unmarkierten Raum jenseits all der Disziplinierungen“ (S. 326) zurückzuziehen. Vor diesem Hintergrund deutet Koschorke den Waldbrunnen als Versuch Stifters, die „Erschütterung“ (S. 332) über den Suizid seiner Tochter „in der Form einer korrigierenden Wunschphantasie“ (S. 332) aufzuarbeiten. Er liest die Entwicklung des ‚wilden‘ Mädchens Juliana in der Erzählung, die zwar zur erfolgreichen Integration in die Familie führe, aber in einem Zustand der Sprachlosigkeit ende, als „zweiten, symbolischen Tod“ (ebd.). Während „[i]maginäre ‚Zigeuner‘“25 in der deutschen Kultur- und Literaturgeschichte eine wichtige Rolle für „deutsche Selbstentwürfe“ (S. 8) spielten, sahen sich die zu ‚Zigeunern‘ abgestempelten Personen immer wieder gesellschaftlichen Exklusionsprozessen ausgesetzt. Iulia-Karin Patrut untersucht das Verhältnis zwischen diesen beiden Aspekten anhand literarischer Texte, um zu ermitteln, wie diese an „internen und externen Grenzziehungen“ (ebd.) mitgewirkt haben. In Kapitel 5 ihrer Untersuchung, in dem es um die „Konstruktion und Dekonstruktion des ‚Zigeunerischen‘ im 19. Jahrhundert“ (S. 275) geht, untersucht Patrut neben Texten von Wilhelm Raabe auch zwei Erzählungen aus dem Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen: Kazensilber und Der Waldbrunnen. Patrut bemerkt in ihrer Analyse von Kazensilber einleitend, dass in diesem Text das „Scheitern der Erziehung“ (S. 310) des ‚wilden‘ Mädchens „im Mittelpunkt“ (ebd.) stehe und stellt den Text anschließend in einen breiten Zusammenhang von „Aspekte[n] und Veränderungen des ‚Zigeuner‘-Diskurses“ (S. 311) im 19. Jahrhundert, der „neue Perspektiven“ (ebd.) auf den Text erlaube. Hier geht es etwa um eine Zunahme von polizeilichen Überwachungsvorgängen und einer damit verbundenen Ausweisung von „als ‚Zigeuner‘ Bezeichneten“ (ebd.), die keine Papiere vorweisen konnten, mit denen sich ihr Geburtsort nachweisen ließ. In diesem Zusammenhang lasse sich die Entfaltung einer „exkludierende[n] Semantik [...] im ‚Zigeuner‘-Diskurs“ (S. 313) der bürgerlichen Gesellschaft nachweisen, die als Grundlage für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen || 25 Iulia-Karin Patrut: Phantasma Nation. ,Zigeuner‘ und Juden als Grenzfiguren des ,Deutschen‘ (1770–1920). Würzburg 2014, S. 8.

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„bürgerliche[m] Selbstentwurf und ‚Zigeuner‘-Repräsentation“ (S. 320) in Kazensilber dienen könne. Patrut untersucht die Binnenerzählungen der Großmutter in diesem Text ausführlich und deutet sie als „Chiffren der deutschen Selbstverortung“ (S. 320). Sie geht ebenfalls auf die unterschiedlichen Weltbilder ein, die von den Hauptfiguren des Textes vertreten werden, weist semantische Verbindungen zwischen dem Erzähltext und dem zeitgenössischen ‚Zigeuner‘-Diskurs nach und deutet die Schlusspassage der Erzählung als „Reflexion des gesellschaftlichen Exklusionsbereichs“ (S. 334), in dem die ‚Zigeuner‘ im 19. Jahrhundert verortet wurden. Das ‚wilde‘ Mädchen im Waldbrunnen, die Figur Juliana, wurde von der Forschung, so Patrut, „nicht immer mit ‚Zigeuner‘Semantiken in Verbindung gebracht“ (S. 341, Anm. 207). Für Patrut dagegen bildet dieser Text ein „Novum [...], weil er ein ‚Zigeuner‘-Mädchen den Weg aus dem Grenzbereich ins Zentrum der Gesellschaft finden lässt“ (S. 341). Sie untersucht das Verhältnis von Erzieher- und Zöglingsfigur im Waldbrunnen, geht auf die Rolle der ‚Zigeuner‘-Figuren im ersten Teil der Rahmenerzählung ein und bindet die von Juliana deklamierten Fragmente kanonischer Literatur in ihre Interpretation des Textes ein. Im Hinblick auf den ‚Zigeuner‘-Diskurs des 19. Jahrhunderts lasse sich der Waldbrunnen, so Patrut, als ein „Versuch“ (S. 355) betrachten, „ein angemessenes Kunstwerk zu schaffen, das weder im kriminologischen noch im exotisierendem Blickregime befangen ist“ (ebd.). In ihrem Beitrag zu „Adalbert Stifters wilde[n] Mädchen und ihre[n] Erzieher[n]“26 geht Eva Blome von der Beobachtung aus, dass Erziehung und Bildung in Stifters literarischen Texten weniger durch „pädagogische Institutionen“ (S. 211) vermittelt werden, sondern eher durch „Selbstbildung“ (ebd.) und „informelle[] Erzieherfiguren“ (ebd.). Hier verschränkten sich „Humanitätsideal und Kontrolldispositiv“ (S. 212) dergestalt, dass „Bildung […] nicht ohne Erziehung auskommt“ (ebd.). In diesem Zusammenhang weist Blome auf eine Reihe von Texten hin,27 in denen es um die „Rettung“ (S. 213) von „wilde[n] oder verwilderte[n] Kinder[n]“ (ebd.) gehe, die „Prozessen der Bildung und damit einem zivilisierten, bürgerlichen Leben zugeführt werden“ (ebd.). Sie untersucht exemplarisch die Erzählungen Die Narrenburg, Kazensilber und Der Waldbrunnen, in denen sie die Rettung der ‚wilden‘ Mädchen in „ein spezifisches gaben-

|| 26 Eva Blome: Bildung als Rettung und Gabe? Adalbert Stifters wilde Mädchen und ihre Erzieher. In: Institutionen der Pädagogik. Studien zur Kultur- und Mediengeschichte ihrer ästhetischen Formierungen. Hrsg. von Metin Genç und Christof Hamann. Würzburg 2016, S. 211–230, hier S. 211. 27 Blome nennt die folgenden Texte: Turmalin, Kazensilber, Der Waldgänger, Die Narrenburg und Der Waldbrunnen (vgl. ebd., S. 213).

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ökonomisches Tauschprinzip“ (ebd.) eingebettet sieht. In den „späteren Texten“ (S. 215) sei „die Frage nach den Institutionen der Erziehung verstärkt mit jener nach der Institution ‚Dichtung‘ verbunden“ (ebd.). Im Hinblick auf die Narrenburg arbeitet Blome die Gegensätzlichkeit der Erziehungsvorgänge heraus, die für die Figuren Chelion und Pia geschildert werden. Der „Erziehungserfolg“ (S. 218), der Heinrich beschieden werde, sei aber nicht durch die „Differenz seiner Methode“ (ebd.) zu begründen, sondern darin, dass Pia zwar „qua Adoptionsakt sozial integriert“ (ebd.) werde, ihre Identität als „wilde[s] Kind“ (ebd.) aber nicht aufgebe. Den „ungleichen Tauschhandel“ (S. 219) zwischen den Hofbewohnern und dem ‚wilden‘ Mädchen in Kazensilber bindet Blome an das Prinzip der „doppelten Kontingenz“ (S. 219) Niklas Luhmanns zurück; die Geschenke, die dem Mädchen überreicht werden, seien im Gegensatz zu dessen „unbedingte[n] Gaben“ (ebd.) als „Kulturationsofferten“ (ebd.) zu deuten. In diesem Zusammenhang liest Blome eine Textstelle, die beschreibt, wie das Mädchen seinen Spielgefährten „bunte Steine“ (K, S. 283)28 überreicht, als Verweis auf den Titel der Erzählsammlung Bunte Steine; das ‚wilde‘ Mädchen werde damit zur „Überbringerin“ (S. 220) der darin enthaltenen Texte, die auch nach seinem Verschwinden als ihre „poetischen Gaben“ (S. 221) weiterlebten. Im Waldbrunnen erkennt Blome eine Ablösung des „institutionalisierten Lehrer[s]“ (S. 224) durch den „informelle[n] Erzieher“ (ebd.) Stephan von Heilkun, der sich Juliana als Gegenstand eines „pädagogischen Experiment[s]“ (ebd.) zuwende. In den Geschenken, die Stephan und Juliana einander überreichen, zeige sich eine „deutlich komplexer[e]“ (S. 225) Ausgestaltung des „System[s] der Gabe“ (ebd.) als in den anderen beiden Texten. Julianas „poetische[s] Verstummen“ (S. 228) als Erwachsene dagegen verweise darauf, dass „[bei Stifter] Bildung und Erziehung in ihrer vertrackten Verwicklung“ (S. 227) trotz aller Notwendigkeit der Dichtung „abträglich“ (S. 228) seien. Es zeigt sich also, dass die Forschung die vier Texte des Werkkomplexes der ‚wilden‘ Mädchen schon mehrfach und in unterschiedlichen Konstellationen miteinander in Beziehung gesetzt hat. Ausführliche Interpretationen dieser Texte sollen in den folgenden Abschnitten bereitgestellt werden. Bei genauerer Betrachtung der Bildungsgänge, die in diesen Texten dargestellt werden, zeigt sich, dass man den Erzählungen nicht gerecht wird, wenn man die ‚wilden‘ Mädchen auf nur einen gemeinsamen Ursprung zurückzuführen versucht. Schon bei einer Analyse der Narrenburg, deren Figuren zunächst betrachtet werden sollen, wird sich nämlich herausstellen, dass Stifter sich bei der Gestal|| 28 Die Sigle K verweist auf Kazensilber als Primärtext. Zu der von mir verwendeten Ausgabe siehe Anm. 199 in diesem Kapitel.

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tung des Textes mit „ziemlich bedenkenlosem ‚intertextuellen‘ Zugriff aus der Tradition bedient“29 hat. Die topischen Strukturen seiner erzählten Welt können also nur angemessen nachvollzogen werden, wenn man diverse Ermöglichungszusammenhänge und Intertexte in den Blick nimmt.

3.2 Heilsame Schrift: Die Narrenburg 3.2.1 Einführung und Forschungsüberblick zur Narrenburg Mit der Journalfassung seiner dritten Erzählung Die Narrenburg30 trug Stifter wesentlich zum Erfolg des Periodikums bei, in dem der Text im Oktober 1842 erschien.31 Ungeachtet dieses Erfolges unterzog er den Text für die Veröffentlichung im zweiten Band der Studien (1844) aber einer umfassenden Überarbeitung. Doch auch hier zeigt sich ein Muster, das sich in den drei Jahrzehnten seiner schriftstellerischen Arbeit noch oft wiederholen sollte: Der Autor war auch nach der Überarbeitung schon bald nicht mehr zufrieden mit dem Text, den er veröffentlicht hatte.32 Sowohl die zeitgenössische Literaturkritik als auch die ältere literaturwissenschaftliche Forschung haben die künstlerische Qualität des Textes für lange Zeit ebenfalls nicht immer günstig beurteilt.33 Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich im Hinblick auf die Narrenburg ein intensiveres Forschungsinteresse entwickelt.34 || 29 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 210. 30 Die hier vorgelegte Interpretation dieses Textes nimmt auf Ergebnisse meiner Magisterarbeit Bezug (vgl. Achenbach: Natur versus Kultur?, S. 12–40). Siehe dazu auch Anm. 1 in diesem Kapitel. 31 Die Journalfassung der Narrenburg erschien zuerst in: Iris. Taschenbuch für das Jahr 1843. Vgl. Ulrich Dittmann: Kommentar. In: Adalbert Stifter. Studien. Hrsg. von Ulrich Dittmann. Stuttgart 2007, S. 1308–1358, hier S. 1326. 32 Stifter nimmt in einem Schreiben vom 1. April 1845 an seinen Verleger Gustav Heckenast einen Vergleich zwischen der Narrenburg und der Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters vor, der wenig günstig für die Narrenburg ausfällt, weil ihm der Text bei einer Lesung für die „Fürstin Schwarzenberg […] gar nicht gefiel“ (PRA 17, S. 143). Vgl. Dittmann: Studien. Kommentar (HKG 1,9), S. 204. 33 Vgl. Hans-Georg von Arburg: Die Narrenburg [Art.]. In: SHB, S. 32–35. Vgl. auch Michael Titzmann: Text und Kryptotext. Zur Interpretation von Stifters Erzählung ‚Die Narrenburg‘. In: Laufhütte/Möseneder (Hrsg.): Adalbert Stifter, S. 335–373, hier S. 335, Anm. 2. 34 Ich verwende die folgenden Ausgaben der beiden Fassungen des Textes: Adalbert Stifter: Die Narrenburg. In: Ders.: Studien. Journalfassungen. Erster Band. Hrsg. von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. Stuttgart u. a. 1978 [HKG 1,1], S. 301–403 und Adalbert Stifter: Die Narrenburg. In: Ders.: Studien. Buchfassungen. Erster Band. Hrsg. von Helmut Bergner und Ulrich

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Erika Tunner erkennt in der Narrenburg als einer frühen Erzählung bereits deutliche Züge des „Stifters Spätwerk manchmal geradezu aufdringlich beherrschende[n] Versuch[s], offenbar unüberwindliche Gegensätze zu vereinigen“35, der sich darin zeige, wie der Autor Farben, Klänge und Räume als Gestaltungsmittel nutze. Vor diesem Hintergrund beschreibt Tunner anhand zahlreicher Textbelege die Farbgestaltung der topografischen Bereiche, die in der Erzählung dargestellt werden, und begreift die unterschiedlichen Farben als „Symbole[] für Grundhaltungen des menschlichen Daseins“ (S. 127). Die Bewohner der Fichtau erschienen in diesem Zusammenhang als Repräsentanten für „moralische und sittliche Reinheit“ (S. 118), während sich die „Schwermut“ (S. 121) als „schicksalhafte Veranlagung“ (ebd.) der Grafen von Scharnast in der antithetischen Farbsymbolik von Grau und Rot zeige. Tunner verbindet die Narrenburg über diese Farbsymbolik unter anderem auch mit der Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters und zieht Parallelen zwischen den Figuren beider Texte. Die Narrenburg könne als „eine[r] der erstaunlichsten Texte Stifters“36 gelten, so Christian Begemann, der in zwei Kapiteln seiner Monografie über Stifters ‚Welt der Zeichen‘ ausführlich auf diese „wenig beachtete, unterschätzte und ihrer ‚Unförmigkeit‘ wegen getadelte Erzählung“ (S. 210) eingeht. Begemann analysiert zunächst die Binnenhandlung von Jodok und Chelion, die für Jodok auf eine „endgültige Abkehr von der familialen Narrheit“ (S. 215) hinauslaufe. Dessen Kritik an den überkommenen Prinzipien seiner Vorfahren setze sich in Heinrich fort, der einerseits als Gegenfigur zu einer „familialen Erneuerung“ (S. 218) beitrage, andererseits aber Gefahr laufe, zum „narzißtischen Individualismus“ (S. 223) seiner Vorfahren zurückzukehren. Begemann sieht in den Schauplätzen der Erzählung – Burg Rothenstein und Fichtau – eine Opposition von Kultur und Natur, untermauert diesen Befund mit einem Seitenblick auf die thematisch verwandte Erzählung Prokopus und zieht schließlich die StudienFassung der Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters heran, um zu zeigen, dass Natur und Kultur in der Narrenburg einer „ständigen Rückführung [...] aufeinander“ (S. 233) unterliegen, die in einer „logischen Schleife“ (ebd.) erfolgt. Neben dem Verhältnis von Natur und Kultur bildet das biografische Aufschreibemodell, dem die Grafen von Scharnast unterliegen, einen zweiten

|| Dittmann. Stuttgart u. a. 1980 [HKG 1,4], S. 319–436. Zitate aus diesen Texten weise ich im Folgenden mit den Siglen Nb1 (Journalfassung) und Nb2 (Buchfassung) im Text nach. 35 Erika Tunner: Farb-, Klang- und Raumsymbolik in Stifters Narrenburg. In: Recherches Germaniques 7 (1977), S. 113–127, hier S. 115. 36 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 210 (zur Narrenburg vgl. ebd., S. 210–241 und S. 242– 259).

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Hauptaspekt, mit dem Begemann sich auseinandersetzt. In diesem Zusammenhang stehe die Narrenburg „in einem eigentümlichen Verhältnis der Nähe und des Kontrastes“ (S. 242) zur Mappe meines Urgroßvaters, denn in beiden Erzählungen werde von den biografischen Aufzeichnungssystemen eine therapeutische Wirkung erwartet. Begemann sieht den Erfolg dieser Systeme von beiden Texten in völlig unterschiedlicher Weise beurteilt – die Schrift wirke „einmal wohltätig und einmal verheerend“ (ebd.) – und analysiert deren Funktionsprinzipien im Detail. Das Scheitern des Systems, das in der Narrenburg verhandelt und am Beispiel Jodoks dargestellt wird, führt Begemann nicht auf einen systemimmanenten Fehler zurück, sondern auf den „rezeptiven Umgang“ (S. 250; im Original kursiv) Jodoks mit den Aufzeichnungen seiner Vorfahren, der ihn nicht erkennen lasse, „was Narrheit selbst ist“ (S. 251). Im Nachwort zu der von ihm herausgegebenen Ausgabe der Journalfassung der Narrenburg ordnet Begemann die Erzählung in eine „Übergangszeit“37 ein, die Stifter auf dem Weg vom „Biedermeier-Autor“ (ebd.) zu einem Erzähler des Realismus sah. Er stellt das „Verhältnis von Schrift und Familie“ (S. 123) als zentrales Thema der Erzählung dar und geht anschließend auf die topografische Gestaltung des Textes ein. Letztere lasse sich zwar auf Schauplätze zurückführen, die Stifter gekannt habe, sei aber trotzdem „aufs strengste der Ordnung und dem Kalkül des Textes unterworfen“ (S. 127). Vor diesem Hintergrund beschreibt Begemann auch in diesem Beitrag Burg Rothenstein als „Raum der Kultur und Geschichte“ (S. 130), dem die Fichtau als ein „idyllischer Naturraum“ (S. 131) entgegengesetzt werde. Die somit formulierte rousseauistische „Kulturkritik“ (ebd.) der Erzählung stehe „im Dienst eines konservativen, ja rückschrittlichen Programms“ (ebd.). Abschließend untersucht Begemann die zentrale Rolle, die das autobiografische Schreiben für die Erzählung spielt und stellt es auch hier als ein in der Katastrophe endendes Mittel der Selbsttherapie dar. Michael Titzmann stellt zunächst die genealogischen Zusammenhänge zwischen den Figuren der Narrenburg, der Mappe meines Urgroßvaters und der Erzählung Prokopus im Detail dar und analysiert die unterschiedliche Bewertung von Gegenwart und Vergangenheit durch die Erzählinstanz. Titzmann untersucht die topografischen und architektonischen Informationen, die der Text liefert und beschreibt die Sozialstrukturen der erzählten Welt.38 In der zweiten Hälfte seines umfangreichen Beitrags postuliert er ein „interpretations-

|| 37 Christian Begemann: Das Verhängnis der Schrift. In: Adalbert Stifter: Die Narrenburg. Hrsg. und mit einem Nachwort von Christian Begemann. Salzburg/Wien 1996, S. 121–141, hier S. 121. 38 Titzmann: Text und Kryptotext (siehe Anm. 33 in diesem Kapitel).

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theoretisches Konstrukt“ (S. 358), das er als „Kryptotext“ (ebd.) bezeichnet. Anschließend demonstriert er anhand der Binnenerzählung der Narrenburg, wie sich aus Inkohärenzen des literarischen Textes ein solcher Kryptotext rekonstruieren lasse, mit dessen Hilfe Widersprüche interpretatorisch aufgelöst werden könnten. Die nicht im Einklang mit kulturellen Normen stehende Reaktion Jodoks auf den Ehebruch Chelions mit seinem Bruder Sixtus etwa lasse sich, so Titzmann, erklären, wenn man Sixtus auf der Ebene des Kryptotexts nicht als eigenständige Figur, sondern als abgespaltenen Teil der Persönlichkeit Jodoks deute. Im Kryptotext erscheine die Binnenerzählung somit als „psychosexuelles Drama vom Fremden im Selbst“ (S. 368). Einem Hinweis Christian Begemanns folgend, der die komplexe Architektur von Burg Rothenstein als „ein überdimensionales Aufzeichnungssystem, eine Schrift der Steine“39 bezeichnet, will Katharina Grätz „die kultur- und zeitgeschichtliche Signifikanz von Stifters phantastischer Trümmerlandschaft“40 transparent machen. Sie ordnet die diversen Gebäude, aus denen sich der Burgkomplex zusammensetzt, unterschiedlichen Perioden der Kunstgeschichte zu und beschreibt deren Verfall als Zeugnis von Vergänglichkeit und Untergang. Grätz führt die Geschichtsbetrachtungen, die in den als Binnentext eingeschobenen autobiografischen Aufzeichnungen Jodoks angestellt werden, präzise auf Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit zurück und beschreibt Heinrich als Restaurator, der es sich zur Aufgabe gemacht habe, die Spuren des Verfalls – und damit die Spuren der Zeit – zu tilgen. Auf diese Weise versuche Stifter, „historisches Bewußtsein wieder als […] oberste ordnungsstiftende Instanz zu etablieren“ (S. 629). In Übereinstimmung mit Forschungspositionen, die Stifter als „frühe[n] Vertreter einer nicht mehr auf Sinntotalität ausgerichteten Dichtungspraxis“41 einordnen, analysiert Jutta Müller-Tamm die allegorische Erzählstrategie der Journalfassung der Narrenburg. Müller-Tamm vergleicht die einander auf den ersten Blick entgegengesetzten biografischen Aufschreibemodelle der Narrenburg und der zeitgleich entstandenen Journalfassung der Mappe meines Urgroßvaters und zeigt anhand von Textbelegen, wie der „Text, der dem Leser vorliegt, als literarische Autobiographie Heinrichs“ (S. 567) gelesen werden kann. Dichtung erscheine hier als Medium, „in dem sich gelingendes Leben vollzieht und

|| 39 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 224. 40 Katharina Grätz: Traditionsschwund und Rekonstruktion von Vergangenheit im Zeichen des Historismus. Zu Adalbert Stifters Narrenburg. In: DVjs 71 (1997), S. 607–634, hier S. 610. 41 Jutta Müller-Tamm: „Alles nicht zu Ende, alles falsch …“. Allegorie und Erzählstruktur in Stifters „Narrenburg“. In: ZfGerm N. F. XVII (2007), Heft 3, S. 561–574, hier S. 561.

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in dem sich das Leben seiner selbst versichert“ (S. 568). Müller-Tamm untermauert diesen Befund unter anderem mit einem Hinweis auf die Episode von den zwei Bettlern in der Journalfassung der Mappe. In einer Untersuchung zu „Konzeptionen paternaler Souveränität“42 in Texten von Lessing bis Kafka widmet Claudia Nitschke der Narrenburg einen eigenen Abschnitt im sechsten Kapitel, in dem es um „Majoratserzählungen“ (S. 235) geht. Nitschke konzentriert sich auf die Buchfassung der Erzählung und sieht in ihr eine „genuine[] Wiederbelebung des Fideikommisses“ (S. 260), dessen Bestimmungen und Auswirkungen sie in Abgrenzung von Texten E. T. A. Hoffmanns (Das Majorat), Ludwig Achim von Arnims (Die Majoratsherren) und Ludwig Tiecks (Die Ahnenburg) im Detail untersucht. Sie deutet die Binnenerzählung von Jodok und Chelion als „kunstvolle Verblendung der Themen Natur, Kulturalisierung und massiver Kulturkritik“ (S. 265). Nitschke beschreibt das ‚wilde‘ Mädchen Pia als eine „der Handlung seltsam unverbundene Nebenfigur“ (S. 268), zieht aber die Parallele zwischen dem Zustand der Vollendung, den der Erzähler Pia am Ende der Erzählung attestiert, und Heinrichs genetischer Erneuerung durch die Eheschließung seines Vorfahren Julius mit einer ‚Bauerstochter‘, die es ihm erlaubt, das Fideikommiss zu reaktivieren und einen „Kontrast zur Tragik der Binnenerzählung“ (S. 267) herzustellen. Wie schon Jutta Müller-Tamm untersucht auch Hans-Georg von Arburg das „Verhältnis von Architektur und Schrift“43 in der Narrenburg. Von Arburg schlägt allerdings eine Gegenlektüre zu Müller-Tamms allegorischer Auslegung dieses Verhältnisses vor. Ohne Müller-Tamms Interpretation grundsätzlich in Frage stellen zu wollen, entwickelt von Arburg eine alternative Lesart, die auf der aus dem Mittelalter stammenden Methode der Figuraldeutung basiert. Er konzentriert sich dabei hauptsächlich auf die Journalfassung. Von Arburg zeigt Lücken und Inkonsistenzen in den architektonischen Beschreibungen auf, die der literarische Text liefert, bildet sie auf das Verhältnis von Vergangenheitsbezug und moderner Ästhetik im Historismus ab und liest die Narrenburg vor diesem Hintergrund als gescheiterte „Restaurationsphantasie“ (S. 83) des Autors. Bereits dieser selektive Forschungsüberblick zur Narrenburg zeigt, dass die Literaturwissenschaft vielfältige Deutungsansätze an den Text herangetragen

|| 42 Claudia Nitschke: Der öffentliche Vater. Konzeptionen paternaler Souveränität in der deutschen Literatur (1755–1921). Berlin/Boston 2012. 43 Hans-Georg von Arburg: Wie Figura zeigt. Zur Kritik allegorischer Literaturinterpretationen am Beispiel von Adalbert Stifters Erzählung Die Narrenburg. In: Text-Architekturen. Die Baukunst der Literatur. Hrsg. von Robert Krause und Evi Zemanek. Berlin/Boston 2014, S. 65–83, hier S. 65.

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hat. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass die Erzählung „eine ganze Reihe von Themen und Motiven ein[führt], die Stifter bis an sein Lebensende beschäftigen werden: die Auseinandersetzung mit dem Ich und der Geschichte, das Verhältnis von Natur und Kultur, die doppeldeutige Rolle der Schrift und nicht zuletzt die Problematik von Familie, Ehe und Genealogie“44. Damit sind bereits zwei wesentliche Aspekte genannt, die im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen werden: das Verhältnis von Natur und Kultur und die Rolle der Schrift. Um sich diesen Aspekten annähern und sie in Beziehung zum Leitgedanken der vorliegenden Untersuchung, der topischen Gestaltung von Bildungsgängen, setzen zu können, ist es hilfreich, zunächst einen Blick auf die Binnenerzählung des Textes zu werfen, die sich im dritten Kapitel („Der rothe Stein“) findet.

3.2.2 Europäer und ‚Naturkinder‘ In dieser Binnenerzählung, die von Graf Jodok von Scharnast und seiner aus Indien stammenden Ehefrau Chelion berichtet, geht es um einen spektakulär scheiternden Erziehungsprozess, der als Gegenbild zur Geschichte von Heinrich, der Wirtstochter Anna und dem ‚wilden‘ Mädchen Pia eine wichtige Erzählfunktion einnimmt.45 Der Text greift hier das Thema auf, mit dem auch die Rahmenerzählung beginnt: die testamentarische Verfügung des ursprünglichen Inhabers der Burg Rothenstein, Hanns von Scharnast, die das Ziel hat, die künftigen Burgherren „von Laster und Unsitte fern“ (Nb2, S. 322) zu halten. Jedes Mitglied dieses Geschlechts ist durch einen Doppelschwur zum Schreiben und zum Lesen von autobiografischem Material verpflichtet. So will es das Testament des Ahnherrn: Jeder nämlich, dem die Burg als Erbschaft zufiel, mußte, ehe sie ihm ausgeantwortet würde, zweierlei Dinge leisten: e r s t e n s mußte er schwören, daß er getreu und ohne geringsten Abbruch der Wahrheit seine Lebensgeschichte aufschreiben wolle […]. […] – z w e i t e n s mußte er schwören, daß er sämmtliche bereits in dem rothen Steine befindlichen Lebensbeschreibungen lesen wolle […]. (Nb2, S. 321; Hervorhebungen im Original)

In der Nachfolge Hanns von Scharnasts, der zwar „ein sehr frommer und tugendhafter Mann war“ (Nb2, S. 322), aber trotzdem „viele Narrheiten und Überei-

|| 44 Begemann: Das Verhängnis der Schrift, S. 122. 45 Vgl. Katharina Grätz: Traditionsschwund, S. 617. Grätz beschreibt Jodok als „Spiegel- und Kontrastfigur“ (ebd.) zu Heinrich.

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lungen“ (ebd.) zu verantworten hatte, entsteht trotz dieser Verfügung ein Geschlecht von Burgherren, die nicht nur einen „Ansatz zur Narrheit“ (Nb2, S. 322) zeigen: „[D]ie Sache wurde immer ärger, je mehr Besitzer bereits gewesen waren, und mit je mehr Wust sich der neue den Kopf anfüllen musste“ (Nb2, S. 323). Auch Graf Jodok steht in einer langen genealogischen Reihe von Vorfahren, die einem immer wieder scheiternden Prinzip des Umgangs mit autobiografischem Material unterworfen ist. Trotzdem präsentiert die Narrenburg mit dessen Autobiografie nur ein einziges Beispiel für die Schriften, die in der Anwendung dieses Prinzips entstanden sind. Der Protagonist Heinrich liest diesen Text, der in Teilen wörtlich wiedergegeben wird. Die Lebensbeschreibungen von Jodoks Vorgängern werden zwar erwähnt, aber nicht in den Text integriert.46 Dass deren Lektüre ihre Leser zum Negativen verändert hat, macht der Text jedoch, wie oben beschrieben, unmissverständlich klar. Warum meine Überlegungen zur Narrenburg dennoch im Zeichen einer ‚heilsamen Schrift‘ stehen, wird deshalb im Folgenden zu begründen sein. Während der Rahmenerzähler der Narrenburg Hinweise darauf liefert, dass Heinrich die Lebensbeschreibung Jodoks vollständig liest, präsentiert er dem Leser nur Teile davon: Zu Beginn des dritten Abschnitts betritt Heinrich den Felsensaal des Julianschlosses, in dem er auch seine eigenen Aufzeichnungen hinterlegt (siehe dazu Abschnitt 3.2.7), bevor er die Schriften Jodoks bei einem „eingelegten Zeichen“ (Nb2, S. 410) aufschlägt und dort weiterliest. An dieser Stelle beginnt die Binnenhandlung, in der Jodok als Ich-Erzähler auftritt. Jodok hadert mit der Verfügung seines Urahns Hanns von Scharnast und warnt seine Nachfolger vor der Lektüre der folgenden Seiten (vgl. Nb2, S. 410–412). Heinrich setzt seine Lektüre jedoch fort und erfährt, dass Jodok zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt in seinem Leben beschließt, nach Indien zu reisen, wo er auf seine spätere Frau Chelion trifft. Jodok begründet diese Entscheidung wie folgt:

|| 46 Zwischen Hanns von Scharnast und Jodok liegen in Stifters Scharnast-Genealogie mehrere Generationen (vgl. Begemann: Das Verhängnis der Schrift, S. 124). Das Archiv auf dem Rothenstein muss also auch Lebensbeschreibungen enthalten, die vor Jodoks Autobiografie entstanden sind. Heinrich beginnt die Lektüre, zu der er testamentarisch verpflichtet ist, aber mit dessen Aufzeichnungen, wie die folgende Bemerkung des Rahmenerzählers am Ende der Binnenerzählung zeigt: „Heinrich stand auf, und wischte sich mit der Hand über die Stirne. E i n e Schrift hat [sic] er nun gelesen“ (Nb2, S. 427; Hervorhebung im Original).

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Den Kriegsruhm hatte ich schon genossen, dieß ekle, blutige Getränke; die Kunst hatte ich gefragt, aber sie sagt nichts, wenn das Herz nichts sagt; die Wissenschaften waren Rechenpfennige, und die Liebe Sinnlichkeit, und die Freundschaft Eigennutz. (Nb2, S. 412 f.)

Der Text zeichnet hier das Bild eines Mannes, der nicht nur an seinen bisherigen Beziehungen, sondern vor allem auch an der europäischen Kultur müde geworden ist. Nach Jodoks erfolglosem Versuch, sich auf die Kunst einzulassen und den ernüchternden Erfahrungen, die er mit den Wissenschaften gemacht hat, erscheint Chelion ihm nicht nur aufgrund ihrer Attraktivität – sie ist „schön über jeden Ausdruck, den eine Sprache ersinnen kann“ (Nb2, S. 412) – sondern auch durch die Umgebung, in der sie lebt, als Gegenbild zu dem, was er bisher kennengelernt hat. Chelion kennt „kein anderes Glück, als im Walde zu leben, Früchte zu genießen, Blumen zu pflücken, und die Pflanzenspeisen zu bereiten, die ihr sanfter reinlicher Glaube vorschrieb“ (Nb2, S. 414), und ihre einzige Aufgabe besteht darin, ihren Vater zu versorgen, der unter Feigenbäumen sitzt und „blöde und leer gegen die Welt“ (Nb2, S. 413) sieht. Als sie nach dessen Tod Jodoks Frau wird und ihm „willig und gerne“ (Nb2, S. 414) nach Europa folgt, zeigt sich schon bald, dass Jodok ihr gegenüber eine Erzieherrolle eingenommen hat:47 Ich that ihrer Meinung und ihrem Willen nie Gewalt an, sondern ließ sie vor mir spielen, und sah zu, wenn sie mein Herz und ihr Herz, meinen Unterricht und ihren Hinduglauben kindisch durcheinandermischte, und in Bethörung lächelte. (Nb2, S. 414 f.)

Durch die zeitraffende Darstellung der Binnenerzählung entsteht ein Effekt, der den Kontrast zwischen Chelions alter und neuer Heimat unterstreicht. Sie wird scheinbar von einem Moment zum anderen aus ihrer Naturidylle in eine Umgebung versetzt, die zwar versucht, ihre Heimat zu imitieren, aber dennoch den größtmöglichen Gegensatz dazu bietet. Jodok lässt „schwarze Mauern und Terassen“ (Nb2, S. 415) errichten und „ganze Gassen von gläsernen Häusern“ (ebd.) bauen. Das Innere der Wohnung soll „von jeder Pracht und Herrlichkeit strotzen“ (ebd.) und obwohl Blumen und Tiere angeschafft werden, die Chelion aus ihrem Herkunftsland „theuer und vertraut“ (ebd.) sein sollten, erkennt Jodok, dass sein Imitationsprojekt scheitern muss: „[…] den dunkelblauen Himmel und die weißen Häupter des Himalaia konnte ich nicht kommen lassen,

|| 47 Vgl. Blome: Bildung als Rettung und Gabe?, S. 215 f. Chelion sei im Text zwar „lediglich als eine unbelebte Erinnerungsspur präsent[]“ (ebd.), erscheine aber nichtsdestotrotz als „Produkt der konkreten Bildungsbemühungen Jodoks“ (ebd., S. 217).

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und der Glanz meiner Wohnung war nicht der Glanz ihrer indischen Sonne“ (ebd.). Die Episode von Jodok und Chelion steht in mehreren Zusammenhängen. Zunächst einmal ist ein historisches Ereignis zu nennen: Der Reiseschriftsteller Hermann von Pückler-Muskau war Ende der 1830er Jahre auch in der Wiener Gesellschaft in aller Munde, als er eine junge Abessinierin namens Machbubah von einer Indienreise mit nach Hause brachte, nachdem er sie auf einem Sklavenmarkt gekauft hatte.48 Pückler-Muskau nahm Machbubah mit auf Reisen, erteilte ihr Sprachunterricht, ließ sich im Krankheitsfall von ihr pflegen und machte sie zu seiner Geliebten. Er berichtete sowohl in Zeitungsartikeln als auch in seinen Reiseerinnerungen von seinem Leben mit ihr und schuf damit nicht nur eine biografische Vorlage, sondern auch Textmaterial, das Eingang in die Binnenerzählung von Jodok und Chelion gefunden zu haben scheint. Es ist nämlich davon auszugehen, dass „Stifter […] die Zeitungsartikel gekannt [hat], in denen Pückler-Muskau von seiner Erwerbung berichtete; bis hin zu den vegetarischen Essgewohnheiten und zur Ehebruchszene ist Chelions Geschichte bei Machbuah [sic] vorgezeichnet.“49 Darüber hinaus verkehrten sowohl Stifter als auch Pückler-Muskau im Haus des Fürsten von Metternich,50 wo Stifter „sicher so manche Nachrichten über Machbubah und ihren Herrn empfangen [hat], die nicht gerade in die breite Öffentlichkeit drangen“.51 Sowohl der Sensationscharakter der Machbubah-Episode als auch die Popularität52 Pückler-Muskaus werden ihren Teil zu einer breiten Rezeption der

|| 48 Vgl. Dittmann: Studien. Kommentar (HKG 1,9), S. 208 und Matz: Adalbert Stifter, S. 156. 49 Matz: Adalbert Stifter, S. 156. 50 Vgl. Rudolf Frieb: Die Narrenburg. In: Adalbert Stifters sämmtliche Werke. Bd. 2: Studien. Zweiter Band. Hrsg. von Rudolf Frieb, Hans Hartmann und Josef Taubmann. Prag 1908, S. VII– XLVI, hier S. XXIX. 51 Ebd. Frieb beschreibt die Machbubah-Episode ausführlich (vgl. ebd., S. XXII–XXXI) und erkennt nicht nur in Machbubah eine Vorlage für Chelion, sondern zieht auch Parallelen zwischen Pückler-Muskau und Jodok. Außerdem weist er darauf hin, dass der Machbubah-Stoff auch in Eugenie Marlitts Roman Die zweite Frau aufgegriffen werde; sowohl Marlitt als auch Stifter hätten „am gegebenen Stoffe ähnliche Umwandlungen“ (ebd., S. XXXI) vorgenommen. 52 Zum Zeitpunkt von Pückler-Muskaus oben erwähnter Reise nach Indien hatte er sich bereits als Reiseschriftsteller etabliert. Seine diesbezügliche Popularität geht vornehmlich auf ein „ungeheures Konvolut von Reisebriefen“ (Michael Maurer: Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten. Deutsche Englandreiseberichte des 19. Jahrhunderts. In: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Hrsg. von Peter J. Brenner. Frankfurt a. M. 1989, S. 406–433, hier S. 415) zurück, die Pückler-Muskau während einer ausgedehnten Englandreise in der zweiten Hälfte der 1820er Jahre an seine ehemalige

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entsprechenden Berichte beigetragen haben.53 Ebenso wichtig für ihren Erfolg und bei der Interpretation der Narrenburg zu berücksichtigen ist aber die Tatsache, dass diese Berichte sich – unabhängig davon, zu welchem Grad sie von tatsächlichen Begebenheiten berichten – eines Motivs bedienen, das nicht wenigen Zeitgenossen geläufig gewesen sein dürfte. Die Rede ist vom Motiv des bzw. der ‚edlen Wilden‘, das in einer seiner zahlreichen Ausprägungen, nämlich der „Begegnung zwischen dem europamüden Weißen und dem ‚Naturkind‘“54 besondere Verbreitung erfahren hat. Die Rahmenbedingungen für die erfolgreiche Verbreitung einer solchen Motivik bildet die beginnende Moderne. Auch wenn ihre Auswirkungen – man denke etwa an den Ausbau des Eisenbahnnetzes oder die Ausbreitung von Fabriken – noch in Stifters Nachsommer konsequent ignoriert werden,55 waren sie schon zur Entstehungszeit der Studien allgemein erfahrbar. Eine Kulturgemeinschaft, die solchen Erfahrungen ausgesetzt war, muss für das Motiv des ‚edlen Wilden‘ besonders empfänglich gewesen sein, denn sein Ursprung ist „das mit einer Art Schuldgefühl durchsetzte Unbehagen an der Zivilisation, das den naturnahen, von den Errungenschaften und Schäden des Fortschritts noch nicht berührten Menschen eine glücklichere und auch moralisch bessere Lebensführung andichtet.“56 Aus diesem Schuldgefühl entsteht also ein hypothetisches Menschenbild, das „in scharfem Gegensatz zum Wesen des an negativen Auswirkungen der Zivilisation erkrankten Europäers“57 steht. Um dieses hypothetische Menschenbild genauer zu verstehen, muss eine prominente philoso-

|| Gattin schrieb. Eine Auswahl dieser Briefe, getroffen von Varnhagen von Ense, der mit PücklerMuskau und seiner Frau befreundet war, wurde in vier Bänden veröffentlicht (vgl. ebd.). 53 Von Pückler-Muskaus Bekanntheitsgrad abgesehen stellten Reiseberichte zur Entstehungszeit der Narrenburg eine höchst populäre Textsorte dar. Neben Veröffentlichungen mit wissenschaftlichem Anspruch bildete sich hier „ein anderes Genre mit populäreren Zügen“ (Stefan Fisch: Forschungsreisen im 19. Jahrhundert. In: Brenner: Der Reisebericht (siehe Anm. 52 in diesem Kapitel), S. 383–405, hier S. 394) heraus, das nicht die „Erfahrungen des Autors“ (ebd., S. 396), sondern die „Leseerwartungen des Publikums in den Vordergrund“ (ebd.) stellte. 54 Elisabeth Frenzel: Wilde, Der edle [Art.]. In: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 4., überarbeitete und ergänzte Auflage. Stuttgart 1992, S. 830–844, hier S. 843. Frenzel verweist hier auf die Narrenburg und nennt „ein indisches Pariamädchen“ (ebd.), also Chelion, als Beispiel. 55 Vgl. Rolf Selbmann: Der deutsche Bildungsroman. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar 1994 [1984], S. 133 f. 56 Frenzel: Wilde, Der edle, S. 830. 57 Horst S. Daemmrich und Ingrid G. Daemmrich: Edler Wilder [Art.]. In: Dies.: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen/Basel 1995, S. 110–115, hier S. 110.

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phische Tradition in den Blick genommen werden, die nach dem Naturzustand des Menschen fragt und diesen dann dem gesellschaftlichen Status Quo gegenüberstellt.

3.2.3 Der hypothetische Naturzustand des Menschen In diesem Zusammenhang ist Rousseaus Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen von besonderer Bedeutung. Rousseau reichte diesen Text im Jahr 1754 als Antwort auf die folgende Preisfrage der Académie de Dijon ein: „Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und ist sie durch das natürliche Gesetz gerechtfertigt?“58 Auch wenn er damit – im Unterschied zu seiner ersten Abhandlung für die Académie59 – nicht den ausgelobten Preis gewinnen konnte, hat seine Schrift ihre Wirkung bis weit ins 19. Jahrhundert hinein entfaltet und die „mit der Existenzform des Edlen Wilden verbundenen Eigenschaften […] in der Romantik zum Inbegriff des natürlichen Lebens“60 gemacht. Die zentrale These über den Ursprung der Ungleichheit, die Rousseau im zweiten Teil der Abhandlung über die Ungleichheit entfaltet, besteht aus zwei Elementen, wie die folgende Textstelle zeigt: Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen „Dies ist mein“ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Begründer der zivilen Gesellschaft.61

Das erste Element, der „Akt der Landnahme“62, der in der Einzäunung eines Stücks Land und Deklamation des Eigentumsverhältnisses besteht, ist also nur dann legitim, wenn er – dies ist das zweite Element – von anderen Mitgliedern gebilligt wird. Um diese These im Detail auszuführen, entwickelt Rousseau ein

|| 58 Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Philipp Rippel. Stuttgart 1998. Im Folgenden bezeichnet und zitiert als Abhandlung über die Ungleichheit. 59 In dieser ersten Abhandlung ging es um die Fortschritte in den Wissenschaften und Künsten und deren positive oder negative Auswirkungen (vgl. Philipp Rippel: Nachwort. In: Rousseau: Abhandlung über die Ungleichheit, S. 174–214, hier S. 190 ff.). 60 Daemmrich/Daemmrich: Edler Wilder, S. 114. 61 Rousseau: Abhandlung über die Ungleichheit, S. 74. 62 Johannes Berger: „Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“. Zur Vergangenheit und Gegenwart einer soziologischen Schlüsselfrage. In: Zeitschrift für Soziologie 33 (2004), Heft 5, S. 354–374, hier S. 355.

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anthropologisches Modell, das von drei Menschentypen ausgeht. Nach diesem Modell ist zwischen dem wilden, dem natürlichen und dem bürgerlichen Menschen zu unterscheiden (homme sauvage, homme naturel, und homme civil). Bei der Entwicklung dieser drei Typen zieht Rousseau ganz unterschiedliche Quellen und Methoden heran, nämlich bestimmte Texte, seine eigenen Beobachtungen und hypothetische Überlegungen. So basiert die Beschreibung des homme sauvage auf der Auswertung von Reiseberichten und ähnlichen Textsorten, in denen die Angehörigen von außereuropäischen Gesellschaften beschrieben werden, während die Eigenschaften des homme civil darauf zurückzuführen sind, dass Rousseau seine eigene gesellschaftliche Wirklichkeit und die darin agierenden Menschen beobachtet hat.63 Auf den ersten Blick ist nicht ersichtlich, wie Rousseau aus den Konzepten von Wildheit und Zivilisiertheit auf den Naturzustand des Menschen, vertreten durch den homme naturel, schließen will, denn diese beiden Vorstellungen scheinen auf den ersten Blick eine Antithese zu bilden. Betrachtet man aber genauer, wie Rousseau sein Erkenntnisinteresse formuliert, wird deutlich, dass es ihm darum geht, eine Leerstelle zu füllen. Die Zielsetzung besteht nämlich darin, auseinanderzuhalten, was in der heutigen Natur des Menschen ursprünglich und was künstlich ist, sowie einen Zustand richtig zu erkennen, der nicht mehr besteht, der vielleicht nie bestanden hat und der wahrscheinlich niemals bestehen wird, und von dem angemessene Begriffe zu haben gleichwohl nötig ist, will man richtig über unseren gegenwärtigen Zustand urteilen.64

Das Konzept eines natürlichen Menschen wird hier also durch den Vergleich von homme sauvage und homme civil gebildet, sodass der homme naturel als „abstrakter Inbegriff der natürlichen, vorgesellschaftlichen wie vorgeschichtlichen Eigenschaften des Menschen“65 erscheint. Aus Rousseaus Abhandlung über die Ungleichheit lässt sich also eine hypothetische Vorstellung von Natürlichkeit ableiten, mit der die Leerstelle zwischen Ursprünglichkeit und Künstlichkeit gefüllt werden soll. Statt von ‚Ursprünglichkeit‘ zu sprechen, ließe sich auch der Begriff der ‚Wildheit‘ verwenden, und ‚Künstlichkeit‘ kann als Synonym für ‚Hochkultur‘ gelesen werden. Ein abstrak-

|| 63 Vgl. Karl-Heinz Kohl: Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation. Frankfurt a. M. 1986, S. 173 ff., hier S. 176. 64 Rousseau: Abhandlung über die Ungleichheit, S. 23 f.; Hervorhebungen von mir. 65 Kohl: Entzauberter Blick, S. 177.

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ter, hypothetischer Zustand von Natürlichkeit kann damit als Mittelpunkt auf einer Skala dargestellt werden:

Ursprünglichkeit/Wildheit −−



Natürlichkeit +

Künstlichkeit/Hochkultur −

−−

Abb. 4: Die Natur-Kultur-Skala66

Die Forschung hat die Frage, ob Rousseau in seiner Abhandlung eine Rückkehr zu diesem Mittelpunkt postuliert, kontrovers diskutiert und ist zu völlig gegensätzlichen Auffassungen gelangt.67 Eine mögliche Lesart geht davon aus, dass es Rousseau nicht darum ging, „in den Naturzustand zurückzugehen, vielmehr sollte sich der Mensch in den Naturzustand zurücksehnen“68. Fragt man nun danach, welche Rolle der oben dargestellte Mittelpunkt auf der Natürlichkeitsskala in Stifters unmittelbarer oder mittelbarer Rezeption der Thesen aus der Abhandlung über die Ungleichheit spielt, zeigt sich, dass das Zurücksehnen in den Naturstand tatsächlich ein zentraler Beweggrund von Stifters Schreiben zu sein scheint, und dies sowohl in der Narrenburg als auch weit darüber hinaus: „Der Versuch – den Stifter zeitlebens neu anstellen wird –, alles Gute und Richtige auf die als Ursprung gedachte Natur zurückzuführen, alle Verfehlungen, Laster und Katastrophen hingegen auf eine naturferne und naturwidrige Kultur, mißlingt in einer Weise, die an Rousseau denken läßt.“69

|| 66 Ich übernehme den Begriff und das Prinzip einer ‚Natur-Kultur-Skala‘ von Marianne Wünsch (vgl. dies.: Normenkonflikt zwischen „Natur“ und „Kultur“. Zur Interpretation von Stifters Erzählung ‚Der Hochwald‘. In: Laufhütte/Möseneder (Hrsg.): Adalbert Stifter, S. 311– 334, hier S. 330, Schema 6). Siehe dazu auch die Anm. 83 und 90 in diesem Kapitel. Die Markierung von fünf Punkten auf dieser Skala mit unterschiedlichen Bewertungszeichen – Plus für den Mittelpunkt, ein einfaches Minus für die Bereiche links und rechts davon und ein doppeltes Minus für die äußeren Begrenzungspunkte – erhebt nicht den Anspruch auf mathematische Präzision. Sie unterstützt jedoch meine im Folgenden zu belegende Hypothese, dass Stifters Rezeption von Rousseaus anthropologischem Modell, in dem der natürliche Mensch im Mittelpunkt steht, durchaus Übergänge zwischen den Zuständen von Ursprünglichkeit, Natürlichkeit und Künstlichkeit kennt und diese mit unterschiedlichen Bewertungen belegt. 67 Vgl. dazu ausführlicher Achenbach: Natur versus Kultur?, S. 37 f. 68 Klaus H. Fischer: Jean-Jacques Rousseau. Die soziologischen und rechtsphilosophischen Grundlagen seines Denkens. Schutterwald 1991, S. 23; Hervorhebung von mir. 69 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 240 f. Vgl. auch Titzmann: Text und Kryptotext, S. 348: Jodok sei „[r]ousseauistisch enttäuscht von der Zivilisation in allen Formen“ (ebd.).

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Von einem Misslingen dieses Versuchs lässt sich allerdings nur sprechen, wenn man davon ausgeht, dass sich die Dichotomie von Natur und Kultur als „strikte Gegenüberstellung von schlechter Kultur und utopischer Natur“70 in Stifters Texte eingeschrieben hat. Gerade die Narrenburg zeigt aber, dass es nicht um den Gegensatz zwischen diesen beiden Polen geht, sondern darum, den Mittelpunkt zwischen ihnen als immer wieder neu zu füllende Leerstelle zu begreifen. Dies kann – wie in der Episode von Jodok und Chelion – spektakulär misslingen. Stifter zeichnet aber, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, selbst in der Beschreibung von Verfehlungen und Scheitern letztendlich nur ein Gegenbild, in dem das Zurücksehnen zum Urzustand der Natürlichkeit noch stärker erkennbar wird.

3.2.4 Der scheinbare Gegensatz von Natur und Kultur Ich habe das Begriffspaar ‚Natur und Kultur‘ oben als Dichotomie bezeichnet, um zunächst einmal einen möglichst wertfreien Begriff zu verwenden, der nicht mehr aussagt, als dass es sich um zwei Entitäten handelt, die in einem näher zu beschreibenden Verhältnis zueinander stehen. Auch wenn in der StifterForschung ein Konsens darüber zu bestehen scheint, dass sich diese Dichotomie „mehrdeutig, ambivalent und einander gegenseitig bedingend beziehungsweise relativierend“71 in Stifters Texte eingeschrieben hat, findet man immer wieder Formulierungen, die von einer „Antithese“72 oder einem „Gegensatz“73 ausgehen und damit vorschnell eine bestimmte Lesart determinieren. Die Erzählung Die Narrenburg ist durch ihre prägnante Topografie und die konsequente Platzierung ihres Personals in Teilbereichen der dargestellten Schauplätze in besonderer Weise geeignet, zu einem besseren Verständnis des Topos zu gelangen, der Stifters Interpretation des Begriffspaars ‚Natur und Kultur‘ zugrunde liegt. Auch hier kann ein Blick auf die Binnenerzählung von Jodok und Chelion den Blick auf den größeren Textzusammenhang schärfen. Nachdem Chelion erkannt hat, dass Jodok sie wegen des Ehebruchs mit seinem Bruder Sixtus umbringen will, willigt sie ohne zu zögern in ihre Bestrafung || 70 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 241. 71 Gottwald: Natur und Kultur, S. 90. 72 Ebd. 73 Christian Begemann: Natur und Kultur. Überlegungen zu einem durchkreuzten Gegensatz im Werk Adalbert Stifters. In: Adalbert Stifters schrecklich schöne Welt. Beiträge des internationalen Kolloquiums zur A. Stifter-Ausstellung. Hrsg. von Roland Duhamel. JASILO 1 (1994), S. 41–52, hier S. 41.

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ein: „[…] tödte mich sanft, daß ich nicht leide, und dir etwa zürne“ (Nb2, S. 422). Durch diese überraschende Reaktion bringt sie Jodok von seinem Plan ab, doch die Beziehung hat einen nicht zu wieder gut zu machenden Schaden erlitten und zerbricht trotz aller Anstrengungen des betrogenen Ehemannes, Chelion „die Qual dieser Nacht durch lebenslange Liebe vergessen zu machen“ (Nb2, S. 424). Als Chelion nach einigen Jahren stirbt und Sixtus „sich mit einer Kugel das Hirn zerschmettert“ (Nb2, S. 425), entlässt Jodok seine Diener, pflegt die vorhandenen Tiere bis zu deren Tod und zündet schließlich das Parthenon, also einen Teil der Anlagen, die er auf Burg Rothenstein hat errichten lassen, an, um in einem „steinernen Häuschen […] am Fuße des Berges“ (Nb2, S. 426) in aller Bescheidenheit und Einfachheit zu wohnen. Damit verlässt er den von Hochkultur und Künstlichkeit geprägten Ort seines Scheiterns und nähert sich räumlich einem Bereich an, der dem Leser gleich zu Beginn der Erzählung in ganz anderer Weise präsentiert wird. Das „romantische Waldthal der Fichtau“ (Nb2, S. 323) mit seinem Zentrum, dem Wirtshaus ‚Zur grünen Fichtau‘, erscheint als positives Kontrastprogramm zu Burg Rothenstein. Wenn man die Fichtau aufgrund der spärlichen Besiedlung – sie ist „gleichsam besäet mit einzeln liegenden Häusern und Gehöften“ (Nb2, S. 324) – auch als „Naturraum, der noch kaum einer Transformation zum Kulturraum unterworfen ist“74, begreifen mag, ist es für die Erzählfunktion ihrer topografischen Eigenheiten entscheidend, dass diese Transformation bereits begonnen hat. So lassen die Bewohner der Gegend ihre Schaf- und Rinderherden auf den Bergwiesen weiden und betreiben intensive Holzwirtschaft. Hier geht es um einen Vorgang, der in Stifters Texten eine zentrale Rolle spielt: „Vom Hochwald bis zum Witiko ist auf eine durchaus ambivalente Weise immer wieder vom Verschwinden der Wälder und ihrer Verwandlung in den Raum der Kultur die Rede“.75 Problematisch ist allerdings die Annahme, dass ein Stück Land entweder zum Bereich der Natur oder zu dem der Kultur gehören kann, denn sie führt dazu, dass man bei dem „Versuch, diesen Gegensatz [zwischen dem Rothenstein und der grünen Fichtau; H. A.] zu konkretisieren, [...] in erhebliche Schwierigkeiten [gerät]“76. Der vermeintliche Gegensatz ist nämlich gar keiner. Wenn die Fichtau „einerseits als reine Natur [erscheint], andererseits [...] selbst ein Raum der Kultur“77 ist, so zeigt sich darin nur, dass man der Narren-

|| 74 Titzmann: Text und Kryptotext, S. 342. 75 Begemann: Das Verhängnis der Schrift, S. 133. 76 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 225. 77 Ebd.

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burg und vielen anderen Texten Stifters nicht gerecht wird, indem man das Verhältnis von Natur und Kultur als „topischen Stadt-Land-Gegensatz“78 liest. Um die Ausprägung eines Topos handelt es sich hier in der Tat, doch er muss anders beschrieben werden, um als Schlüssel zur Deutung des Textes eingesetzt werden zu können. Natur und Kultur erscheinen in der Narrenburg nämlich nicht als Gegensatzpaar, sondern im Sinne des rousseauistischen Zurücksehnens zum Naturzustand als Markierungen auf einer Skala, die Stifter konstruiert, um sich einem wünschenswerten Gleichgewicht zwischen Natur und Kultur annähern zu können.79 Diese Skala lässt sich mit nur zwei Begriffen (also ‚Natur‘ und ‚Kultur‘) aber nicht in ausreichender Weise beschreiben, ohne in einem Zirkelschluss zu enden. Der Text selbst zeigt den Ausweg aus diesem Dilemma, indem er zu einem Blick auf die topografischen Details seiner Schauplätze einlädt. Je weiter man sich von Burg Rothenstein als Ort der ins Extrem getriebenen Hochkultur entfernt, desto unwirtlicher werden die Verhältnisse. Da stürzt in der unwirtlichen Felsenlandschaft ein Lamm in den Tod (vgl. Nb2, S. 336 u. 338) und die Holzknechte feiern am Samstagabend in der Wirtschaft einen „fröhlichen Wochenschluß“ (Nb2, S. 336), nachdem sie „sechs Tage lang nur grüne Bäume und graue oder rothe Steine gesehen“ (ebd.) haben. Die Hirten, Holzknechte und Jäger der Erzählung haben ein gemeinsames Ziel: Es geht darum, der Fichtau einen Lebensunterhalt abzuringen und damit gleich doppelt zu profitieren, denn von der Bereitstellung von Nahrung und Wohnung abgesehen macht die „Arbeit dieser Bergsöhne […] sie heiter und mäßig“ (Nb2, S. 339). Das Problem der „ständigen Rückführung von Natur und Kultur aufeinander“80 lässt sich lösen, wenn man akzeptiert, dass die Bewohner der Fichtau im Rhythmus von Werktagen und Wochenende in zwei Bereichen leben und arbeiten, die sich mit den Begriffen ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ eben nicht genau genug beschreiben

|| 78 Ebd., S. 226. 79 Vgl. Gottwald: Natur und Kultur, S. 102. 80 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 233.

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lassen. Sie wohnen in einem Bereich der bereits kultivierten Natur,81 führen den Kampf um ihren Lebensunterhalt aber in der Wildnis.82 Damit sind die drei topografischen Bereiche benannt, zwischen denen unterschieden werden muss, um das Vorstellungsmuster, das sich im Text ausprägt, präzise genug beschreiben zu können: Wildnis, kultivierte Natur und Hochkultur:83

Grüne Fichtau (kultivierte Natur)

Fichtau (Wildnis) −−



+

Burg Rothenstein (Hochkultur) −

−−

Abb. 5: Topografische Bereiche in der Narrenburg

Die Kompatibilität dieser Darstellung mit dem anthropologischen Modell aus Rousseaus Abhandlung über die Ungleichheit ist nicht zu übersehen. Vor diesem Hintergrund lässt sich der entsprechende Topos, der sich in der Narrenburg ausprägt, wie folgt definieren:

|| 81 Vgl. Begemann: Natur und Kultur, S. 45: „Die Fichtau soll als Natur erscheinen, zeigt sich aber zugleich als kultivierte Natur, wobei diese Kultur, die naturnah sein soll, immer auch Kultur gegen die vorgefundene Natur ist“ (Hervorhebungen im Original). Der Begriff der ‚kultivierten Natur‘ trifft die Art und Weise, wie Stifter die Fichtau in der Narrenburg und vergleichbare Räume in anderen Erzähltexten beschreibt, exakt. Ich sehe aber nicht die Notwendigkeit, daraus eine Antithese oder eine ‚Überkreuzung‘ abzuleiten. 82 Hans-Georg von Arburg spricht zunächst von einem „Grenzraum zwischen Natur und Kultur“ (ders.: Wie Figura zeigt, S. 69), in dem Stifter die Handlung der Narrenburg platziere, folgt dann aber Christian Begemann, wenn er „die beiden Gegenräume des Textes“ (ebd., S. 78), nämlich den „Naturraum der Fichtau“ (ebd.) und den „Kulturraum der Narrenburg“ (ebd.) ineinander verschränkt sieht. Ähnlich auch Claudia Nitschke, die eine „im Text durchgängig präsente, gegenseitige Durchdringung oder Opposition von Natur und Kultur“ (dies.: Der öffentliche Vater, S. 262) sieht, die sie auch auf die Bedeutung des Fideicommisses abbildet: In den Augen des Stifters Hans von Scharnast zähle „[n]icht das Leben [...], sondern nur dessen Verschriftlichung“ (ebd.). 83 Vgl. Wünsch: Normenkonflikt zwischen „Natur“ und „Kultur“, S. 323, Schema 5. Wünsch identifiziert in ihrer Analyse von Stifters Erzählung Der Hochwald einen Bereich der „[p]artiell kultivierte[n] Natur“ (ebd.), der zwischen Natur und Kultur angesiedelt ist.

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Tab. 2: Der Mittelpunkt der kultivierten Natur (Topos)

Deskriptor

Deskription

Der Mittelpunkt der kultivierten Natur

Das Leben im Einklang mit der nutzbar gemachten Natur ist ein wünschenswerter Zustand, der in einem Bereich zwischen Wildnis und Hochkultur stattfindet.

Wenn die Bewohner der Fichtau Tag für Tag darum bemüht sind, der Landschaft, die sie umgibt, ein Stück ihres Lebensunterhalts abzuringen, findet damit eine Transformation von Wildnis in kultivierte Natur statt.84 Teile der Wildnis rücken also auf der Skala in Richtung des Mittelpunkts, nach dem es sich ‚zurückzusehnen‘ gilt. Doch zu weit über den Mittelpunkt hinauszugehen ist gefährlich, wie nicht nur das Beispiel von Jodok und Chelion demonstriert, sondern auch der Schauplatz der Burg Rothenstein, die sich Heinrich bei seinem ersten Besuch in einem desolaten Zustand zeigt.

3.2.5 Die Rückkehr der Wildnis Nachdem der Stadtschreiber Robert dem „Naturforscher“ (Nb2, S. 359) Heinrich Zugang zur Burganlage auf dem Rothenstein verschafft und ihn dorthin begleitet hat, stehen die beiden Männer „nicht etwa auf einem Schloßplatze oder dergleichen, sondern wieder im Freien“ (Nb2, S. 365), wo sich ihnen ein Bild des Verfalls präsentiert. Ein „räthselhaftes Vieleck“ (ebd.) ist „mit Quadersteinen gepflastert, aber aus den Fugen trieb üppiges Gras hervor“ (ebd.), der Wind hat das Becken eines Springbrunnens „halb mit feinem Sande angefüllt“ (ebd.); aus dem Gesims des Mauerwerks quellen „Halme und dürre Blümchen“ (ebd.) her|| 84 Eva Geulen weist auf einschlägige Formulierungen aus der Vorrede zu den Bunten Steinen hin, die ebenfalls zeigen, dass das Konzept eines graduellen Übergangs zwischen verschiedenen Sphären kompatibler mit Stifters topografischer Vorstellungswelt sein könnte als eine simple Begriffsopposition: „Dass Stifter nicht mit Natur und Kultur operiert, weil er diesen Unterschied nicht kennt oder zu machen bereit ist, erhellt schon die Serie vom ‚Wehen der Luft‘ über das ‚Wachsen der Getreide‘ bis zum ‚Schimmern der Gestirne‘. Kosmos (Sterne), elementare Naturnatur (Wasser und Luft), Kulturnatur (Getreide) und Kulturkultur (Geschichte und Wissenschaft) sind ohne Unterschied derselben richtungslosen und ortsunabhängigen, sowohl zerstörenden wie bildenden Kraft ausgesetzt“ (dies.: Kinderlos, S. 438; Hervorhebungen von mir). Geulen kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass in einem solchen „Universum [...] für [...] als Übergänge von Natur zu Kultur verstandene Erziehungsgeschichten schlechterdings kein Platz“ (ebd.) sei.

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vor und „glänzende Eidechsen“ (ebd.) haben die Anlage zu ihrem Lebensraum erkoren. Nicht nur der „griechische Bau“ (Nb2, S. 367) Jodoks, das Parthenon, sondern auch „zwei schwarze Sphinxe“ (Nb2, S. 365) und ein „Obelisk“ (ebd.) weisen den Rothenstein als ehemaligen Ort der Hochkultur aus, den die Wildnis schon in weiten Teilen zurückerobert hat.85 Heinrich und Robert treffen mit Ausnahme des Burgverwalters Ruprecht „kein einziges menschliches Wesen“ (Nb2, S. 366) und bewegen sich bei ihrer Erkundung der Anlage durch ein Gebiet, das „ein verkommender Park“ (ebd.) zu sein scheint: „Es hüpften Hasen empor, und flohen seitwärts, alle Arten von Schmetterlingen und Insekten flogen und summten […]. Aber nirgends war ein Mensch“ (ebd.). Aus der gescheiterten Beziehung von Jodok und Chelion ist der „Sohn Christoph, das Ebenbild Chelions“ (Nb2, S. 425 f.), hervorgegangen, der den Rothenstein zwar verlässt und zu Jodoks Lebzeiten nicht dorthin zurückkehrt, aber mit Tiburtia, der Tochter des Burgverwalters Ruprecht, eine Tochter namens Pia gezeugt hat. Die „zehn bis eilf Jahre“ (Nb2, S. 372) alte Pia lebt bei ihrem Großvater auf dem Rothenstein und passt sich in Erscheinungsbild und Verhalten ihrem verwilderten Umfeld an: Sie [Pia; H. A.] blieb stehen, als bemerke sie die Fremden [Heinrich und Robert; H. A.] erst jetzt, zögerte, sah sie eine Zeit lang mit wilden schwarzen Augen an, dann aber ging sie zuerst langsam um die Mauerecke, scheu und wild, wie eine junge schlanke Pantherkatze, dann fing sie an, den jenseitigen Rasenhang hinab zu laufen – der Hund hinter ihr […] bis sie Beide nicht mehr sichtbar waren, und nur die Büsche wogten.“ (Nb2, S. 373)

Ruprecht ist mit der Erziehung dieses ‚wilden‘ Mädchens ganz offensichtlich überfordert. Pia widersetzt sich beispielsweise seiner Anordnung, „bei den Ringelblumen sitzen“ (Nb2, S. 371) zu bleiben und zu „zählen, wie oft die Schwalbe zugeflogen kommt“ (ebd.). Stattdessen vollführt sie lebensgefährliche Manöver „auf dem höchsten der vielen Balkone des zerfallenden Schlosses“ (Nb2, S. 372) und versteht die Sorge des Großvaters nicht, sie könne zu Schaden kommen. Hier zeigt sich, wie genau Stifter die Figuren der Erzählung mit topografischen Details in Beziehung setzt und damit auf der Skala von Wildnis, kultivierter Natur und Hochkultur positioniert. Der Rothenstein ist wieder zur Wildnis geworden und stellt damit eine geeignete Heimat für Pia dar. Doch weder Schauplatz noch Bewohnerin dürfen in diesem Zustand verbleiben. Es gilt,

|| 85 Katharina Grätz verwendet zwar nicht den Begriff der Wildnis, interpretiert den oben beschriebenen Zustand der Burganlage aber ähnlich: „Die Natur schickt sich an, die Plätze, die ihr die Bauwerke raubten, zurückzuerobern; die Hierarchie von Kultur und Natur schlägt in ihr Gegenteil um“ (dies.: Traditionsschwund, S. 615).

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beide dem Mittelpunkt der Skala, also dem Gleichgewichtszustand einer kultivierten, nützlichen Natur, zuzuführen. Dies zeigt der weitere Verlauf der Erzählung deutlich. Als Heinrich dem ‚wilden‘ Mädchen Pia begegnet, hat er seine Bestimmung zum Erzieher nämlich schon erkannt. In diesem Zusammenhang ist die Schilderung des heimlichen nächtlichen Treffens mit der Wirtstochter Anna in der Gartenlaube von Bedeutung. Hier erhält Heinrich nicht nur deren Zusage, seine Frau zu werden, sondern macht eine ganz andere Entdeckung: „O du süßes, unerforschtes Mährchen der Natur, wie habe ich dich immer und so lange in Steinen und Blumen gesucht, und zuletzt in einem Menschenherzen gefunden!“ (Nb2, S. 357). Dieses Menschenherz ist Anna, die von Heinrich im Laufe des nächtlichen Treffens zwar mit einer Fülle von Kosenamen (vgl. Nb2, S. 341–352) belegt wird, ihm aber vornehmlich als „unbewußtes Juwel“ (Nb2, S. 350) und wenig später dann als „schönes, dunkles, unbewußtes Herz“ (Nb2, S. 357) erscheint. Bei aller Liebesemphase, die sich in Heinrichs Unterhaltung mit Anna und seine Reflexionen am nächsten Morgen eingeschrieben hat, lässt der Dialog in der Gartenlaube nicht darauf schließen, dass es hier um eine Beziehung auf Augenhöhe geht. Heinrich sagt etwa: „Ich werde dich von hier fortführen; du mußt meine Gattin werden, ich dein Gatte […] du mußt lieben, was ich liebe, du mußt theilen, was ich theile, du mußt sein, wo ich bin, ja außer mir muß dir nichts sein“ (Nb2, S. 349). Demgegenüber steht zwar sein Versprechen, Anna zu „ehren bis ins höchste Alter“ (ebd.), aber auch in der folgenden Bemerkung Heinrichs ist der erzieherische Impetus nicht zu übersehen: Wie du in deinen Büchern liesest, so bin ich bestimmt, im Buche Gottes zu lesen und die Steine, und die Blumen, und die Lüfte und die Sterne sind seine Buchstaben – wenn du einmal mein Weib bist, wirst du es begreifen, und ich werde es dich lehren. (Nb2, S. 350)

Weniger optimistisch, sondern eher sorgenvoll denkt Heinrich schon nach dem zweiten Zusammentreffen mit Pia – das „wilde, scheue Kind“ (Nb2, S. 376) ergreift auch hier die Flucht, nachdem es die Fremden mit „übernatürlich glänzenden, schwarzen Augen“ (Nb2, S. 360) angestarrt hat – über die Umstände nach, unter denen das Kind aufwächst: Behütet durch einen „märchenhaft alten, blödsinnigen Mann“ (Nb2, S. 377) muss es „zu einem Wüstenvogel aufwachsen […], der entsetzt aufflattert, wenn ihm die schöne Bildung eines Menschenantlitzes sichtbar wird“ (ebd.). Die beiden Figuren Anna und Pia werden vom Text also systematisch in Stellung gebracht, um Heinrich anschließend als Erzieherfigur darstellen zu können. Doch kaum hat der Text diese Dimension aufgespannt, zeigt er Heinrich nicht in dieser Rolle, sondern – wiederum den Dingen und nicht den Menschen zugewandt – als Erneuerer auf dem Rothenstein.

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3.2.6 Nützlichkeit als langfristiges Ziel Nachdem durch Heinrichs verblüffende Ähnlichkeit mit Sixtus bekräftigt (vgl. Nb2, S. 390 f.) und durch amtliche Dokumente bestätigt (vgl. ebd., S. 406 f.) wurde, dass er zur genealogischen Linie von Jodoks Bruder Julianus gehört und damit in der von Hanns von Scharnast eingesetzten Erbfolge der rechtmäßige Besitzer des Rothensteins ist, beginnen unter seiner Anleitung umfangreiche bauliche Veränderungen, die alle erzieherischen Bemühungen in den Hintergrund des Erzählens treten lassen. Diese Schwerpunktsetzung überrascht allerdings nicht – schließlich sind „Schilderungen der Landschaft und der näheren dinglichen Umwelt des Menschen für Stifter keineswegs Selbstzweck, sondern als Mittel indirekter Darstellung seelischer Sachverhalte auf die jeweiligen Figuren bezogen“86. Wie noch zu zeigen sein wird, gehen Heinrichs Bauprojekte, in deren Verlauf die Wildnis, die den Rothenstein schon teilweise zurückerobert hat, zurückgedrängt wird, Hand in Hand mit seinem Wirken als Erzieher, bei dem es ebenfalls darum geht, das ‚wilde‘ Mädchen Pia zu zähmen und in Familie und Gesellschaft einzugliedern. Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass diese Bauprojekte auch restaurativen Charakter haben und an das anschließen, was Heinrichs Vorgänger geschaffen haben. So werden etwa die „Grundfesten der alten Glashäuser des Jodokus [...] bei Wegräumungen wiederentdeckt [...], und man hatte darauf weiter gebaut“ (Nb2, S. 428). Vor diesem Hintergrund mag man zu dem Schluss gelangen, dass mit Heinrich, der die Wohnungen seiner Vorfahren nicht nur instand setzt, sondern auch bezieht, „wieder genau die Strukturen eines mehr oder weniger narzißtischen Individualismus zurück[kehren], der zum Unglück der Scharnasts geführt hatte“87, und dass der Text nur „suggeriert, aber nicht ersichtlich“88 macht, dass mit dem Einzug eines neuen Herrn auf dem Rothenstein grundsätzliche Änderungen einhergehen. Auf den zweiten Blick wird aber deutlich, dass das Restaurationsprojekt nur einen ersten Schritt darstellt. Heinrichs langfristige Pläne zielen auf einen Zustand ab, der hier eher beiläufig erwähnt wird, tatsächlich aber eine Kategorie in den Mittelpunkt stellt, die im Zusammenhang mit dem Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen von zentraler Bedeutung ist: die Nützlichkeit.

|| 86 Hans Dietrich Irmscher: Adalbert Stifter. Wirklichkeitserfahrung und gegenständliche Darstellung. München 1971, S. 140. 87 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 223. 88 Ebd.

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Alles sollte vorerst schön sein, und sich sittig erweisen, wenn etwa in Bälde Augen kämen, es zu sehen; das Nützliche und Nachhaltende war schon vielfach besprochen und entworfen, mußte aber seiner Zeit harren, daß es sich allmälich [sic] und dauernd entwickle. (Nb2, S. 429; Hervorhebung von mir)

Der ‚Fluch‘ des Rothensteins, der alle Nachfahren Hanns von Scharnasts „in dem Augenblicke […], als sie in den Besitz der verwetterten Burg“ (Nb2, S. 323) kommen, dazu veranlasst, in die Fußstapfen ihrer Vorgänger zu treten und sich der Narrheit hinzugeben, scheint hier gebrochen zu sein. In ähnlicher Weise, wie der Rothenstein unter Heinrichs Anleitung zunächst restauriert wird, um dann auf das Ideal des „Nützliche[n] und Nachhaltende[n]“ (Nb2, S. 429) hin entwickelt zu werden, verwandeln sich mit Anna und Pia aber gleich zwei Zöglinge unter seinem erzieherischen Einfluss. Zu Beginn der Erzählung wird die Wirtstochter Anna bereits als vorbildlich handelnde, keusche junge Frau präsentiert, die sich selbst allerdings als „schlechtes, unfolgsames Kind“ (Nb2, S. 341) wahrnimmt, weil sie Heinrichs brieflicher Einladung zu einem nächtlichen Treffen in der Gartenlaube folgt. Folgerichtig erteilt sie einem weiteren heimlichen Treffen eine Absage und besteht darauf, dass zunächst die Verhältnisse mit ihren Eltern zu klären seien: […] kommen kann ich nicht mehr, es ist doch nicht recht. – – Sagt nur bald das Wort [zu Erasmus, Annas Vater; H. A.], dann bin ich ja immer bei euch, Tag und Nacht“ (Nb2, S. 352). Doch schon bald wird deutlich, welches Potenzial in dieser Figur liegt, erzogen und an einen Idealzustand herangeführt zu werden. Die oben bereits zitierte Einschätzung Heinrichs, dass es sich bei Anna um ein „schönes, dunkles, unbewußtes Herz“ (Nb2, S. 357) handelt, bestätigt nämlich auch der Erzähler, wenn er die nächtlichen Vorgänge in der Gartenlaube kommentiert und feststellt, dass Anna, „das naturrohe Herz, das nie gelernt hatte, mit seinen Gefühlen zu spielen, und sie zu lenken, […] bereits von ihrer Allmacht überwältigt [war]“ (Nb2, S. 348 f.). Der Entschluss des Wirtes Erasmus, seine Tochter „nicht aus dem Hause“ (Nb2, S. 355) zu lassen, wenn nicht „ein ganz auserlesener Bräutigam“ (Nb2, S. 354 f.) kommt, um sie fortzuführen, scheint zunächst auf einen Konflikt hinauszulaufen. Dazu kommt es aber nicht mehr, weil Heinrich – der sich durch seine Verwandlung vom skurrilen Naturforscher in den rechtmäßigen Inhaber der Burg Rothenstein als eben dieser auserlesene Bräutigam entpuppt hat – Anna als „sein junges Weib […] mit Prunk auf seinen Berg“ (Nb2, S. 434) führt, „so wie Jodok einst die unschuldige Chelion in das Parthenon geführt hat“ (ebd.). Obwohl der Erzähler hier auf eine Parallelität zwischen den Episoden von Jodok und Chelion auf der einen Seite und Heinrich und Anna auf der anderen Seite hinweist, könnte der Kontrast zwischen dem gescheiterten Erziehungspro-

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zess in der Binnenhandlung und dem Ausgang der Rahmenhandlung nicht größer sein. Während Jodoks Bemühungen, Chelion auf dem Rothenstein heimisch zu machen, mit deren frühem Tod endgültig scheitern, gelingt Heinrich nämlich eben dieses Vorhaben: In der hohen Frau, die mit zwei blühenden Knaben wandelt, würde Niemand mehr die einstige Anna aus der grünen Fichtau erkennen; denn sie wird in Heinrichs Schule fast ein halbes Wunderwerk […]. (Nb2, S. 435)

Ganz ähnlich wirkt sich Heinrichs positiver Einfluss auf das ‚wilde‘ Mädchen Pia aus. Nachdem er den Rothenstein in Besitz genommen und zu seiner neuen Heimat gemacht hat, hat er Pia „an sich gelockt und an sein Wesen und Thun gewöhnt“ (Nb2, S. 435) und schließlich „an Kindesstatt angenommen“ (ebd.).89 Sie hat den Zustand der Verwilderung vollkommen abgelegt und erscheint nun als „ein Mädchen, namenlos schön, wie ein Engel, und rein und sanft blickend wie ein Engel“ (ebd.). Die Bildungsgänge, die von den Figuren der Narrenburg durchlaufen werden, lassen sich auf der Skala abbilden, die oben auf der Grundlage von Rousseaus Abhandlung über die Ungleichheit entwickelt und anschließend mit den Schauplätzen der Erzählung enggeführt wurde. Dabei weist die Schreibung eines Namens in Kursivschrift auf den Ausgangspunkt einer Figur hin, während Normalschrift deren Position nach Abschluss des Bildungsgangs anzeigt.

|| 89 In der Journalfassung der Narrenburg findet Heinrich einen Brief, den Pias Vater Christoph (der Sohn Jodoks und Chelions) bei Gericht für seinen Nachfolger hinterlegt hat. Das Dokument enthält „die flehentlichsten Bitten […], der, an den das Schloß falle, möchte sich Pia’s annehmen […]. […] Diese Hilfe gewährte nun Heinrich, der gute Mensch, in reichem Maaße“ (Nb1, S. 401 f.) In der Buchfassung verzichtet Stifter auf diesen Impuls von außen; der Entschluss Heinrichs, Pia als sein eigenes Kind anzunehmen und zu erziehen, fügt sich nahtlos in sein Wirken auf Mensch und Umwelt ein.

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Heinrich Anna

Anna

Chelion

Chelion

Pia

Pia Jodok

Wildnis −−

Jodok

Kultivierte Natur −

+

Hochkultur −

−−

Abb. 6: Bewegungen auf der Natur-Kultur-Skala in der Narrenburg90

Um das Schaubild nicht zu überfrachten, habe ich die Entwicklung, den die Burg Rothenstein als Schauplatz durchläuft, nicht aufgenommen. Die Darstellung zeigt aber trotzdem, mit welcher Genauigkeit Stifter die topografischen Details und die Bildungsgänge der Figuren aufeinander abstimmt. Unter der Regie Jodoks und seiner Vorgänger verwandelt sich der Rothenstein zunächst in eine Sphäre der künstlichen Hochkultur, in der Jodoks Bemühungen um Chelion spektakulär scheitern. Anschließend setzt ein Prozess der Verwilderung ein, der den Rothenstein zu einer Heimat für Chelions Enkelin, das ‚wilde‘ Mädchen Pia, macht, bevor er sich schließlich dem Ideal der Nützlichkeit und Nachhaltigkeit annähert, weil es Heinrich gelingt, den Einbruch der Wildnis zu stoppen und umzukehren.91

|| 90 Vgl. noch einmal Wünsch: Normenkonflikt zwischen „Natur“ und „Kultur“, S. 330, Schema 6. Wünsch ordnet die Figuren aus Stifters Erzählung Der Hochwald ebenfalls auf einer NaturKultur-Skala an und weist der Figur Heinrich von Wittinghausen zwei unterschiedliche Positionen auf dieser Skala zu („Heinrich in der Jugend“ (ebd.) und „Heinrich im Alter“ (ebd.)). 91 Vgl. Nitschke: Der öffentliche Vater, S. 269. Nitschke weist auf den Unterschied zwischen den Kulturalisierungsprojekten Jodoks und Heinrichs hin und setzt sie mit den gescheiterten und erfolgreichen Erziehungsprojekten in Beziehung, von denen der Text berichtet: „Chelion, die edle, wilde Ehefrau von Jodokus, ging in der zivilisierten, überfremdeten Welt zugrunde. Offensichtlich gelingt es Heinrich nun aber, diesen genetischen Pool erneut nutzbar zu machen und die Anlagen in einer harmonisch befriedeten Welt angemessen zu kulturalisieren. Der komplizierte Antagonismus von Natur und Kultur wird unter Heinrichs Hand versöhnt, befriedet und stillgelegt. Heinrichs ‚Wesen und Tun‘ scheint zur Entwicklung des verstörten Kindes ebenso beigetragen zu haben wie zu dem ‚halben Wunder‘, seiner Ehefrau, die ihre neue Würde explizit ‚Heinrichs Schule‘ zu verdanken hat“ (ebd.). Den Unterschied in der Ergebnisqualität der beiden Erziehungsprozesse – Anna wird „in Heinrichs Schule fast ein halbes Wunderwerk“ (Nb2, S. 435), während Pia nach Abschluss des Erziehungsprozesses als „vollendetes Wunder“ (ebd.) beschrieben wird – führt Nitschke auf Pias Status als Enkelin Chelions zurück.

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Das obige Schaubild illustriert, wie sich das rousseauistische Sehnen nach dem Naturzustand, dem Mittelpunkt einer nützlichen, kultivierten Natur in der Narrenburg ausprägt. Hier bestätigt sich die oben aufgestellte Hypothese, dass Stifters Rezeption von Rousseaus anthropologischem Modell durchaus Übergänge zwischen den drei Zuständen von Wildheit, Natürlichkeit und Künstlichkeit bzw. den topografischen Sphären von Wildnis, kultivierter Natur und Hochkultur kennt. So findet etwa der Bildungsgang der Wirtstochter Anna unter ganz anderen, sanfteren Ausgangsbedingungen statt als derjenige, den das ‚wilde‘ Mädchen Pia beschreitet. Trotzdem haben sie dasselbe Ziel. Und wenn der Erzähler die Bildungsgänge, die Anna und Pia unter Heinrichs Anleitung durchlaufen, auch mit einer Strategie des Verschweigens behandelt und nur ihr Ergebnis darstellt, ist allzu offensichtlich, dass Heinrich der zweifache Erziehungserfolg in ebenso verschwenderischer Weise beschert wird wie er Jodok in der Binnenhandlung in Gänze versagt bleibt. Damit wirft der Text aber eine weitere Frage auf: Warum gelingt es Heinrich, der fatalen Wirkung der Scharnastschen Erbfolgeregelung zu entgehen und die Kette von gescheiterten Biografien zu unterbrechen?

3.2.7 Die heilsame Wirkung der ‚Herzensschrift‘ Die testamentarische Verfügung Hans von Scharnasts definiert nicht nur den Anspruch, der an die autobiografischen Aufzeichnungen gestellt wird, die jeder Burgherr anzufertigen hat, sondern legt auch fest, zu welchem Zeitpunkt diese Texte verfasst werden sollen: Jeder neue Inhaber des Rothensteins soll „getreu und ohne geringsten Abbruch der Wahrheit seine Lebensgeschichte aufschreiben“ (Nb2, S. 321), aber erst dann, wenn „er nur noch die Feder zu halten im Stande“ (ebd.) ist. Es geht also darum, kurz vor dem eigenen Ende eine Lebensbeichte, ein Bekenntnis abzulegen. Für ein solches autobiografisches Schreiben – nämlich in der Form eines Bekenntnisses – gelten die um 400 n. Chr. entstandenen Confessiones92 von Aurelius Augustinus nicht nur als „[g]attungsgeschichtlich bedeutsam“93, sondern stellen für mehrere Jahrhunderte nach ihrer Abfassung „ein nicht erreich-

|| So erklärt sich ihr Hinweis auf die Nutzbarmachung eines ‚genetischen Pools‘ (vgl. genauer dies.: Der öffentliche Vater, S. 268–270). 92 Aurelius Augustinus: Confessiones. Liber X et XI. Bekenntnisse. 10. und 11. Buch. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt, herausgegeben und kommentiert von Kurt Flasch. Stuttgart 2008. 93 Jürgen Lehmann: Autobiographie [Art.]. In: RLW, S. 169–173, hier S. 170.

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tes Vorbild autobiographischer Darstellung“94 dar. Um die Confessiones in Beziehung zu dem Vorstellungsmuster setzen zu können, das sich in Stifters Darstellung der erzwungenen autobiografischen Tätigkeit der Scharnasts ausprägt, muss man sich vor Augen führen, dass der Lektüre der autobiografischen Aufzeichnungen hier eine ebenso wichtige Rolle zukommt wie der Verschriftlichung des eigenen Lebens. Schließlich verpflichtet das Testament des Ahnherrn, wie bereits ausgeführt, jeden neuen Grafen von Scharnast, die Lebensbeschreibungen zu lesen, die seine Vorgänger verfasst haben (vgl. Nb2, S. 321). Gleichzeitig muss er einwilligen, dass seine eigene Autobiografie von den Nachfolgern gelesen wird. Zu einem Bekenntnis wird eine verschriftlichte Lebensbeichte nämlich noch nicht durch den Akt der Verschriftlichung, sondern erst, wenn man andere darin lesen lässt. Diese Überzeugung äußert sich deutlich in den einleitenden Bemerkungen zum 10. Kapitel der Confessiones,95 in denen es nicht nur darum geht, dass einer sein „Herz erforschen und darüber schreiben muss“96, sondern auch um die Leser dieser Schrift als Zeugen des Bekannten: „Ich will jetzt die Wahrheit tun – in meinem Herzen mit meinem Bekenntnis vor dir [Gott; H. A.] und in meinem Buch vor vielen Zeugen.“97 Die Absicht, die der Rahmenerzähler der Narrenburg der testamentarischen Verfügung Hanns von Scharnasts zuschreibt, ist außerdem eine dediziert therapeutische: Durch die Erforschung des eigenen Herzens und die Lektüre der ‚Herzensschriften‘ der Vorgänger soll das Geschlecht davor bewahrt werden, in die Fußstapfen der Narrheit zu treten, die ihr Urahn hinterlassen hat.98 Dieses Wirkprinzip ist auf die genealogische Linie der Herren von Scharnast einge-

|| 94 Ebd. 95 Vgl. Sabine Frost: Autobiographisches Schreiben als Vergletscherung des Ich: Adalbert Stifter Die Mappe meines Urgroßvaters. In: Literatur für Leser 39 (2016), Heft 1, S. 43–59. Frost bildet die Confessiones auf die Studienfassung der Mappe meines Urgroßvaters ab und kommt zu einem Schluss, der in gleicher Weise auch für das autobiografische Schreiben in der Narrenburg gelten kann: „[E]s genügt nicht, dass der Sünder sein Herz aufschreibt, er muss auch andere darin lesen lassen“ (ebd., S. 54). 96 Kurt Flasch: Einleitung. In: Aurelius Augustinus: Confessiones (siehe Anm. 92 in diesem Kapitel), S. 5–61, hier S. 10. 97 Aug. conf. 10.I.1. 98 Eva Blome weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das „Erziehungsprojekt Jodoks“ (dies.: Bildung als Rettung und Gabe?, S. 217) unter anderem in einer „Bildungsgeschichte [resultiert], die vom Erzieher verfasst und einer fragwürdigen Überlieferungspraxis überlassen wird“ (ebd.). Damit werde in der Narrenburg „eine andere Form der Erziehung und Bildung [erprobt], die der schriftstellerischen Praxis zumindest nahe kommt: Unterrichtung durch einen (verfassten respektive gelesenen) Text“ (ebd.).

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schränkt,99 denn die Aufzeichnungen, so erklärt der Kastellan Ruprecht seinen Besuchern Heinrich und Robert, „reden nur zu Leuten die aus dem Blute unsrer Grafen stammen, und jeder Tropfen ist aufgeschrieben, der seit siebenhundert Jahren aus einem ihrer Herzen rann, und keiner darf die Schrift lesen, der nicht ein Kind desselben Geschlechts ist“ (Nb2, S. 375; Hervorhebung von mir). Von einem Erfolg dieses Prinzips kann auf den ersten Blick keine Rede sein. Schließlich hat Hanns von Scharnast „das Unglück, das schnurgerade Gegentheil von dem zu erreichen, was er erreichen wollte“ (Nb2, S. 322). Selbst diejenigen unter seinen Nachfolgern, die „bisher ein stilles und manierliches Leben“ (ebd.) geführt haben, verändern sich, wenn sie in den Besitz der Burg gelangen, also dem ersten Teil der testamentarischen Verfügung durch die Lektüre der vorhandenen Schriften gerade Genüge getan haben, und tun „so viel verrücktes Zeugs […], als nur immer in eine Lebensbeschreibung hineingeht“ (ebd.). Kann man deshalb von einem „radikale[n] Scheitern“100 des heilsamen autobiografischen Schreibens in der Narrenburg sprechen und es in Opposition zu dem „glanzvollen Erfolg“101 bringen, der eben diesem Prinzip in der Buchfassung der Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters (siehe Abschnitt 5.3) beschieden ist? Es ist tatsächlich nicht von der Hand zu weisen: „Der Stifter würde sich im Grabe umgekehrt haben“ (Nb2, S. 323)102, wenn ihm bekannt geworden wäre, dass die Bevölkerung der Fichtau den Rothenstein nach den spektakulären Irrwegen und Missetaten ganzer Generationen von Inhabern mit dem Spottnamen ‚Narrenburg‘ belegt hat. Sein Plan, die zukünftigen Grafen von Scharnast zu einer Lebensführung zu veranlassen, die keinen Anlass zu „Beschämung und Verdruß“ (Nb2, S. 322) gibt, scheint tatsächlich radikal gescheitert zu sein. Auf den zweiten Blick relativiert sich dieser auffällige Unterschied zwischen der Narrenburg und der Mappe meines Urgroßvaters aber. Auch hier ist es hilfreich, eine Gegenüberstellung der Figuren Jodok und Heinrich vorzunehmen. Der erste Teil von Jodoks Autobiografie, der im Text nicht wiedergegeben wird, weiß offenbar von einer ganz anderen Lebensführung zu berichten.

|| 99 Vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 243. 100 Ebd., S. 248. 101 Ebd., S. 249. 102 Diese Formulierung legt die Vermutung nahe, dass Stifter hier einmal mehr ein Spiel mit seinem eigenen Namen betreibt. Zu weiteren Beispielen vgl. Ulrike Landfester: Der Autor als Stifter oder Die Mappe meines Urgroßvaters. In: Hettche u. a. (Hrsg.): Stifter-Studien, S. 101– 124. Vgl. auch Hendrik Achenbach: „Komme! Der Stiftende führet dich ein“: Das mineralogische Titelprinzip in Adalbert Stifters ‚Bunte Steine‘ und ein Privatscherz Goethes. In: Sprachkunst XXIX/1998, 2. Halbband, S. 241–248.

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Schließlich fordert Jodok seine Leser unmittelbar, bevor er die Chelion-Episode schildert, auf, sich „nicht über diesen meinen Schmerz“ (Nb2, S. 411) zu wundern, „da doch Alles, was ich in den vielen Blättern oben geschrieben habe, so heiter und so freundlich war“ (ebd.). Trotzdem wird der von Hanns von Scharnast beabsichtigten therapeutischen Wirkung des autobiografischen Schreibens in diesen Blättern eine eindeutige Absage erteilt. Die Lektüre der bereits vorliegenden Lebensbeschreibungen hat sich bei Jodok als unwirksam erwiesen, denn, so schreibt er an seine Vorfahren gerichtet, „der Dämon der Thaten steht jederzeit in einer neuen Gestalt vor uns, und wir erkennen ihn nicht, daß er einer sei, der auch schon euch erschienen war – und eure Schriften sind mir unnütz“ (Nb2, S. 410). Darüber hinaus postuliert der Text an dieser Stelle eine schädliche Wirkung der Lektüre dieser Schriften: Jodok geht im Verlauf seiner Lebensbeichte „dem Engel meiner schwersten That entgegen, und aus den Pergamenten des rothen Felsensaales kam dieser Engel zu mir“ (Nb2, S. 411). Jodok hält sich also exakt an den Ablauf, den sein Urahn vorgegeben hat: Er liest die vorhandenen Autobiografien seiner Vorfahren, um den Rothenstein in Besitz zu nehmen, lebt sein Leben und schreibt seine eigene Lebensgeschichte auf. Der „zwischen Jodokus und Heinrich aufgespannte Gegensatz von gescheiterter und gelungener Paarbildung und damit von geglücktem und nicht geglücktem Leben“103 zeigt, dass es für die heilsame Wirkung der ‚Herzensschrift‘ keine Garantie gibt. Das therapeutische Potenzial der Texte muss sozusagen auf fruchtbaren Boden fallen. Jodok erwirbt sich erst durch seinen Rückzug in eine Einsiedlerexistenz am Fuße des Rothensteins die Eigenschaften von „Einfachheit und Sanftmut“104, die dem Protagonisten Heinrich „von Anfang an gegeben“105 sind. Er tritt zu Beginn der Erzählung zwar als „junger, leidlich schmucker Bursche“ (Nb2, S. 323) auf, der auf Grund seiner ungewöhnlichen Kleidung und der Utensilien, die er mit sich führt, sowohl aus Sicht des Erzählers „lächerlich anzusehen“ (ebd.) ist als auch von der Bevölkerung der Fichtau zunächst nicht ernst genommen wird. Vor allem sein Vermieter und zukünftiger Schwie-

|| 103 Zumbusch: Erzählen und Erziehen, S. 489. Ähnlich Katharina Grätz: „So wie Heinrich seinen Vorfahren gleicht und dennoch wesentlich von ihnen geschieden ist, so ist auch seine Verbindung mit Anna zugleich wiederholend wie antithetisch zu dem Verhältnis von Jodok und Chelion konzipiert“ (dies.: Traditionsschwund, S. 627). Auch Eva Blome deutet Pias Entwicklung „im Sinne einer Wiedergutmachung einer ersten verunglückten Lebensgeschichte“ (dies.: Bildung als Rettung und Gabe?, S. 217) und weist darauf hin, dass hier im Gegensatz zur Chelion-Episode „die libidinöse Komponente als kontingente Gefahr ausgeschaltet wird“ (ebd.), da kein Ehemann, sondern Heinrich als Adoptivvater die Rolle des Erziehers einnehme. 104 Zumbusch: Erzählen und Erziehen, S. 490. 105 Ebd.

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gervater, der Wirt Erasmus, ist „an die ungeheuersten Aussprüche seines Miethmannes gewöhnt“ (Nb2, S. 334 f.) und begegnet dem selbsternannten Naturforscher mit wohlwollender Überlegenheit. Heinrich ist aber schon vor der Entdeckungsreise in die Vergangenheit, bei der sich herausstellen wird, dass er zur genealogischen Linie der Scharnasts gehört und somit der rechtmäßige Burgherr des Rothensteins ist, für die im Nacherleben des nächtlichen Treffens mit Anna formulierte Erkenntnis bereit, die bereits oben zitiert wurde: „O du süßes, unerforschtes Mährchen der Natur, wie habe ich dich immer und so lange in Steinen und Blumen gesucht, und zuletzt in einem Menschenherzen gefunden!“ (Nb2, S. 357). Erst nachdem er den Bund mit Anna geknüpft hat, betritt Heinrich den Burgbereich, in dem ihm die Geschichte seiner Vorfahren in den Ruinen ihrer Bauwerke vor Augen geführt wird und betreibt mit Hilfe des Stadtschreibers Robert Nachforschungen, um seine Identität als Graf von Scharnast feststellen zu lassen. Im Unterschied zu Jodok, der sich „mit seiner Partnerwahl übereilt, bleibt die […] angeknüpfte Beziehung zwischen Heinrich und Anna klar auf Aufschub ausgerichtet“106. Selbst als ein Brief von Heinrichs Mutter keinen Zweifel daran lässt, dass die Ähnlichkeit zwischen Heinrich und Sixtus tatsächlich genetischen Ursprungs ist,107 bleibt Heinrich nicht nur auf Abstand, sondern verlässt sogar die Fichtau, um seine Angelegenheiten in der Stadt zu ordnen. Anschließend bringt er zunächst das Restaurations- und Erneuerungsprojekt auf dem Rothenstein in Gang, bevor er den roten Saal wieder betritt, um seiner testamentarisch verfügten Lektürepflicht nachzukommen. Der Erzähler erwähnt an dieser Stelle ein weiteres, wichtiges Detail. Heinrich hat zu dem Zeitpunkt, als er den roten Saal wieder betritt, schon den ersten Teil seiner eigenen Lebensbeschreibung verfasst. Bevor er mit der Lektüre von Jodoks Autobiografie fortfährt, öffnet er ein „kleines stählernes Thürchen, auf dem mit goldenen Buchstaben das Wort: ‚Henricus II.‘ stand, und legte ein beschriebenes Heft, das er aus seinem Busen zog, hinein“ (Nb2, S. 409 f.).108 Nach

|| 106 Ebd. 107 Bei einem Gang durch den grünen Saal, in dem die Konterfeis des Scharnast-Geschlechts ausgestellt sind, enthüllt der Kastellan Ruprecht auf einmal ein verborgenes Bild: „Es war ein Männerbild, und im Serpentine unten stand: ‚Sixtus II.‘ Allein das Bild war das Heinrichs Zug für Zug, nur in fremden Kleidern. […] Robert war zum Äußersten betroffen.“ (Nb2, S. 391). 108 Während Stifter „in der Journalfassung [...] noch offen [ließ], ob Heinrich die – auch in der Buchfassung [...] kritisierte – Verpflichtung erfüllt“ (Dittmann: Studien. Kommentar (HKG 1,9), S. 225), die ihm die testamentarische Verfügung seines Ahnherrn auferlegt hat, ist es naheliegend, die zitierte Textstelle so zu deuten, dass es sich bei dem Heft, das Heinrich – mit seiner „[l]atinisierte[n] Namensform“ (ebd.) versehen – im roten Saal hinterlegt, um seine eigenen

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der Lektüre von Jodoks Text sieht er zwar in Gedanken „das Kreuz von fremder Hand auf seinem letzten Blatte stehen“ (Nb2, S. 427), das zu diesem Zeitpunkt noch nicht geschrieben ist, fragt sich aber nicht nur, welche Lektüreerlebnisse ihm noch bevorstehen, sondern auch: „Was wird von mir selber noch stehen müssen?“ (Nb2, S. 428). Während seine eigene Geschichte also noch lange nicht zu Ende ist und er die testamentarische Verfügung seines Urahns für „keine gute Einrichtung“ (Nb2, S. 427) hält, hat die heilsame Wirkung der ‚Herzensschrift‘ bei ihm begonnen, weil er selbst damit angefangen hat, sein Leben niederzuschreiben und einen Gegenpol zur abschreckenden Wirkung der Lebensbeichten anderer zu bilden.109 Auf diese Weise „erfüllt sich der vom Urahn Hanns von Scharnast niedergelegte Wunsch, die Kenntnis der ‚Übereilungen‘ anderer könnte die Wiederholung des Unglücks verhüten, erst mit dem Allerletzten in der Ahnenreihe“110.

|| autobiografischen Aufzeichnungen handelt. Vgl. auch Titzmann: Text und Kryptotext, S. 369 und Neumann: Das Schreibprojekt, S. 116. 109 Ob Heinrich sich mit dem frühen Beginn seiner autobiografischen Tätigkeit kategorisch von Jodok oder anderen seiner Vorgänger unterscheidet, lässt sich allerdings nicht zweifelsfrei am Text belegen. Die testamentarische Verfügung des Ahnherrn sieht vor, dass die Lebensbeschreibung eines Grafen von Scharnast „von der Zeit seiner ersten Erinnerung an bis zu jener, da er nur noch die Feder zu halten im Stande“ (Nb2, S. 321) ist, reichen soll und „Heft für Heft [...] in dem feuerfesten Gemache hinterleg[t]“ (ebd.) werden soll. Ich halte aber an der These fest, dass die heilsame Wirkung des autobiografischen Schreibens eine wichtige Komponente in Heinrichs Entwicklung bildet. Jutta Müller-Tamm erkennt nicht nur in der Mappe meines Urgroßvaters, sondern auch in der Narrenburg „das Gegenmodell einer gelingenden Schrift“ (dies.: „Alles nicht zu Ende, alles falsch …“, S. 564). Sie deutet den literarischen Text der Erzählung selbst als autobiografische Aufzeichnungen Heinrichs, die im Unterschied zu den Texten seiner Vorfahren als „Er-Erzählung“ (ebd., S. 565) verfasst seien und sich damit in einer Weise distanzierten, die es erlaube, „die verheerende Gesetzmäßigkeit des testamentarisch verfügten Aufschreibemodells“ (ebd.) zu durchbrechen. Gerhard Neumann stellt fest, dass Heinrich „[e]ine Restaurierung und Heilung des Verhältnisses zu seiner eigenen Familie durch die Sprache“ (ders.: Das Schreibprojekt, S. 94) gelingt. Hans-Georg von Arburg nimmt unter Bezug auf Neumanns Ausführungen eine Gegenposition ein und spricht im Hinblick auf die Narrenburg vom „Scheitern des Projekts einer autobiografischen Selbsttherapierung“ (ders.: Die Narrenburg. In: SHB, S. 34). In einem früheren Beitrag stellt von Arburg fest, dass sich „die Gespenster des Rothensteins längst auch in Heinrichs Tun und Treiben eingenistet haben“ (ders.: Wie Figura zeigt, S. 81). Konsequenterweise kommt von Arburg zu dem Schluss, dass Heinrich sich sowohl als Baumeister auf dem Rothenstein als auch als Erzieher von Anna nicht grundsätzlich von seinem Vorfahren Jodok unterscheide: „Heinrich tut also alles, wie es ihm Jodok von Scharnast vorgemacht hat, nur unter geänderten Vorzeichen. Diese Vorzeichen stehen ausdrücklich auf Glück“ (ebd., S. 82). Der Schluss der Erzählung zeige aber, dass „dieses Glück […] ebenso unmissverständlich gefährdet“ (ebd.) sei. 110 Zumbusch: Erzählen und Erziehen, S. 492.

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Sowohl in der Geschichte Heinrichs, der zum „erlauchte[n] Herr[n] und Graf zu Rothenstein“ (Nb2, S. 430) wird, als auch in der seiner gescheiterten Vorfahren prägt sich also ein Vorstellungsmuster aus, nach dem autobiografische Texte eine existenzverändernde Wirkung haben können. Es lässt sich wie folgt als Topos beschreiben: Tab. 3: Die Macht der Schrift (Topos)

Deskriptor

Deskription

Die Macht der Schrift

Sowohl die Lektüre als auch die Anfertigung autobiografischer Aufzeichnungen hat das Potenzial, Existenzen zu verändern, und zwar zum Positiven wie zum Negativen.

Es kommt in diesem Zusammenhang, das zeigt Heinrichs Beispiel, auf den richtigen Zeitpunkt an. Indem er sein eigenes Leben aufschreibt, als es noch Gestaltungsspielraum bietet, wird Heinrich nicht nur selbst zum „späten pädagogischen Erfolg[]“111, sondern kann vor allem als vorbildlicher Erzieher auf seine Umgebung und seine Mitmenschen wirken.

3.3 Gefährliche Kunst: Turmalin 3.3.1 Einführung und Forschungsüberblick zu Turmalin Neben Granit und Kalkstein bildet Turmalin112 die dritte Erzählung des im Jahr 1853 erschienenen, ersten Bands der Bunten Steine. Die Publikation der Journalfassung unter dem Titel Der Pförtner im Herrenhause lag zu diesem Zeitpunkt noch nicht lange zurück,113 obwohl sie ursprünglich für das Jahr 1849 geplant

|| 111 Ebd. Anders dagegen Katharina Grätz, die Heinrich wie folgt beschreibt: „Er ist und bleibt entwicklungslos, die Kenntnis seiner Vergangenheit verändert ihn nicht, auch bildet er kein wirkliches historisches Bewußtsein aus. Weil er ohne eine durchgehende Psychologie gezeichnet ist, vermag die an ihm dargestellte Lösung nicht zu überzeugen“ (dies.: Traditionsschwund, S. 630). 112 Die hier vorgelegte Interpretation dieses Textes nimmt auf Ergebnisse meiner Magisterarbeit Bezug (vgl. Achenbach: Natur versus Kultur?, S. 40–60). Siehe dazu auch Anm. 1 in diesem Kapitel. 113 Die Journalfassung erschien in: Libussa: Jahrbuch für 1852. Vgl. Tim Albrecht: Turmalin [Art.]. In: SHB, S. 87–91, hier S. 87.

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gewesen war. Die Journalfassung ist also einige Jahre vor ihrer Veröffentlichung entstanden. Stifter hat sie mit entsprechendem zeitlichem Abstand für die Bunten Steine überarbeitet. Die gemischten Reaktionen der Literaturkritiker auf die Buchfassung114 spiegeln sich in Stifters eigener Bewertung dieser zweiten Fassung: Würde man ihm die Möglichkeit geben, ein weiteres Jahr zu warten und den Text dann noch einmal zu überarbeiten, könne daraus ein „einfaches klares inniges Meisterwerk werden.“115 Doch schon im Vergleich von Journal- und Buchfassung zeigt sich, dass die zweite Fassung des Textes deutlich an Komplexität gewonnen hat und eine Überblendung von zahlreichen „ästhetischen, politischen, pädagogischen und naturwissenschaftlichen Diskursen“116 darstellt. Die Forschung hat diese Komplexität mit Deutungsansätzen gewürdigt, deren Bandbreite von der Diskussion biografischer Einflüsse bis hin zu poetologischen Lesarten reicht.117 Im Interesse einer genauen Datierung zeichnet Hans Kristian die Entstehungsgeschichte von Turmalin nach.118 Er setzt die Gestaltung der Figur des Schauspielers Dall in Beziehung zu einer charakterisierenden Beschreibung des Wiener Schauspielers Joseph Lange, die Stifter verfasst hat. Kristian führt die Wohnungen des Rentherrn und der Ich-Erzählerin auf reale Schauplätze am Petersplatz und im 9. Wiener Bezirk zurück und stellt die These auf, dass die Biografie Langes auch die Gestaltung anderer Figuren in Turmalin beeinflusst habe. Vergleicht man die Journal- und die Buchfassung von Turmalin, verhalten sie sich laut Joachim Müller „wie ein novellistisch geschlossenes und ein erzählerisch offenes Werk zueinander“119; die Texte seien „in einer für die jeweilige Genremöglichkeit geradezu modellhaften Weise künstlerisch ebenbürtig“ (S. 34 f.). Vor diesem Hintergrund analysiert Müller die Erzähltechniken, die in beiden || 114 Vgl. Hettche: Bunte Steine. Kommentar (HKG 2,3), S. 415 ff. 115 An Heckenast, 27. Juli 1852 (PRA 18, S. 120). 116 Albrecht: Turmalin, S. 87. Albrecht verbindet diese Beobachtung mit der Feststellung, Turmalin sei „[w]eit davon entfernt, eine Schlüsselerzählung zu sein“ (ebd.). 117 Ich verwende die folgenden Ausgaben der beiden Fassungen des Textes: Adalbert Stifter: Der Pförtner im Herrenhause. In: Bunte Steine. Journalfassungen. Hrsg. von Helmut Bergner. Stuttgart u. a. 1982 [HKG 2,1], S. 113–134 und Adalbert Stifter: Turmalin. In: Ders.: Bunte Steine. Buchfassungen. Hrsg. von Helmut Bergner. Stuttgart u. a. 1982 [HKG 2,2], S. 133–179. Zitate aus diesen Texten weise ich im Folgenden mit den Siglen T1 (Journalfassung) und T2 (Buchfassung) im Text nach. 118 Hans Kristian: Adalbert Stifters „Turmalin“ in seinen Beziehungen zur Selbstbiographie des Burgschauspielers Joseph Lange. In: VASILO 12 (1963), Folge 3/4, S. 146–150. 119 Joachim Müller: Stifters „Turmalin“. Erzählhaltung und Motivstruktur im Vergleich beider Fassungen. In: VASILO 17 (1968), Folge 1/2, S. 33–44, hier S. 34.

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Fassungen Anwendung finden und legt dabei einen besonderen Fokus auf den Wechsel vom Rahmenerzähler zur Ich-Erzählerin, der sich in beiden Fassungen findet. Er untersucht die Beziehung zwischen dem titelgebenden Mineral der Buchfassung und anderen symbolischen Elementen und analysiert die räumliche Motivik, die bei der Darstellung der Wohnung des Rentherrn, der Wohnung der Ich-Erzählerin sowie der Kellerwohnung im ‚Perronschen Haus‘ Anwendung findet. In Bezug auf die Darstellung des ‚wilden‘ Mädchens der Erzählung erkennt Müller in der Journalfassung einen „fatalistische[n] Akzent“ (S. 41), der in der Buchfassung durch einen „nüchternen und plausiblen Befund überholt“ (ebd.) werde. Im Rahmen einer vergleichenden Deutung der Erzählungen Kalkstein und Turmalin stellt Hans Geulen diese beiden Texte „in eine Reihe strukturell und thematisch verwandter epischer Gebilde des 19. Jahrhunderts“120. Beide Erzählungen verwendeten, so Geulen, Verfahrensweisen und kompositorische Elemente des „detektorischen Erzählens“ (ebd.), die dem Genre der Detektivgeschichte zugehörig seien. Als „Rätsel der Geschichte“ (S. 424), die in Turmalin erzählt wird, bezeichnet er die „zweite, dunkle Daseinshälfte“ (ebd.), die der Rentherr wähle, nachdem seine Wiener Existenz ihren Sinn verloren habe. Im Unterschied zu Kalkstein folge der „detektorische Teil“ (S. 425) erst, nachdem die Vorgeschichte erzählt wurde, was dazu führe, dass der Leser „des Detektorischen […] weitgehend enthoben“ (ebd.) sei. Er folge stattdessen dem „aufdeckenden Unternehmen“ (ebd.) der Ich-Erzählerin, deren Rolle als Repräsentantin einer „aufgeklärt-praktischen, humanitären Gesellschaft“ (S. 426) damit in den Mittelpunkt rücke. Geulen stellt diese Lesart in den Zusammenhang der „Spannungen zwischen Restauration und Revolution“ (S. 428), denen Stifter sich ausgesetzt sah und zeigt abschließend den Forschungsbedarf auf, die Bedeutung von Stifters „Sonderlingsgeschichten“ (S. 431) im Kontext des „Bürgerlichen Realismus“ (ebd.) genauer zu untersuchen. Gunter H. Hertling weist darauf hin, dass die Stifter-Forschung sich zwar eingehend mit der „Funktion und Bedeutung der Natur“121 in Stifters Erzählwerk befasst habe, aber nicht in ausreichendem Maße auf die Rolle von „Bauarten, Wohnweisen und häuslichen Einrichtungen“ (S. 17) eingegangen sei. Er wählt

|| 120 Hans Geulen: Stiftersche Sonderlinge. „Kalkstein“ und „Turmalin“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 17 (1973), S. 415–431, hier S. 417. Geulen nennt E. T. A. Hofmanns Ritter Gluck, Grillparzers Der arme Spielmann und Storms Ein stiller Musikant als unmittelbar verwandte Texte. 121 Gunter H. Hertling: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“: Zur Zentralsymbolik in Adalbert Stifters Turmalin. In: VASILO 26 (1977), Folge 1/2, S. 17–34, hier S. 17.

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Turmalin als Beispiel, um zu zeigen, dass sich von den „wohnungs- und wohnbeschreibenden Teile[n]“ (ebd.) von Stifters Erzähltexten auf die „seelische Beschaffenheit“ (ebd.) seiner Figuren schließen lasse. Er belegt diese These zunächst mit einer überblicksartigen Beschreibung von Gebäuden und Häusern in Erzähltexten Stifters, um dann festzustellen, dass diese in den Studien eine tragendere Rolle spielten als in den Bunten Steinen. Turmalin nehme hier allerdings eine Sonderstellung ein, die den Text in ein „gehaltliches Verwandtschaftsverhältnis“ (S. 19) mit den Studien stelle. Hertling analysiert die Bedeutung der im Text beschriebenen „Wohnbeschaffenheiten“ (S. 20) für die Hauptfiguren der Erzählung (den Rentherrn, dessen Tochter, deren Pflegeeltern sowie Professor Andorf). Die Beschreibung der Vorstadtwohnung der IchErzählerin deutet er hier als das „krasseste Gegenbild“ (S. 25) zu den in der Rahmenerzählung dargestellten Wohnverhältnissen des Rentherrn. Hertling siedelt die Figur des Professor Andorf zwischen diesen beiden Extremen an und beschreibt den Erziehungsprozess, der in der Binnenerzählung geschildert wird, als Teilerfolg, an den sich in den abschließenden Bemerkungen des Rahmenerzählers ein „schwerer Vergänglichkeitsgedanke“ (S. 32) anschließe. Wie schon Joachim Müller vergleicht Eve Mason die beiden Fassungen von Turmalin miteinander, kommt aber zu einem ganz anderen Ergebnis.122 Während Müller von einer künstlerischen Ebenbürtigkeit beider Fassungen ausgeht, besteht für Mason kein Zweifel daran, dass die Buchfassung ein „much more fascinating, more challenging piece of writing both in content and artistic execution“ (S. 358) darstelle. Sie analysiert in diesem Zusammenhang unter anderem die zentralen Figuren der Rahmenerzählung, die Beschreibung der Wiener Wohnung des Rentherrn und die Darstellung der Ich-Erzählerin. Mason setzt Turmalin in Beziehung zum Vernunftbegriff aus Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit und stellt die wichtige These auf, dass die Erzählung eine Beziehung zwischen der Kunst und der Lebenseinstellung ihrer Figuren konstruiere. In einem späteren Beitrag beschreibt Mason die auf einem aufgeklärten Humanismus beruhende Ausbildung, die Stifter in Kremsmünster genoss, als prägend für dessen Weltbild.123 Vor diesem Hintergrund liest sie sowohl die Bunten Steine als auch den Nachsommer als Ausdruck von Stifters Enttäuschung

|| 122 Eve Mason: Stifter’s ‘Turmalin’: A Reconsideration. In: MLR 72 (1977), S. 348–358. Die Journalfassung hat für Mason den Charakter einer „fairly banal story of a broken marriage“ (ebd., S. 351). 123 Eve Mason: Stifter and the Enlightenment. In: The Austrian Enlightenment and its Aftermath. Hrsg. von Ritchie Robertson und Edward Timms. Edinburgh 1991, S. 102–116.

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über den Ausgang der Revolution von 1848, erkennt in diesen Texten aber auch „extraordinarily purposeful and single-minded artistic attempts to convey an alternative set of values to those of his own time“ (S. 103). Mason interpretiert sowohl Turmalin als auch den Nachsommer (sowie die vor der Revolution entstandene Erzählung Abdias) als literarische Auseinandersetzungen mit der Frage nach der „possibility of Enlightened [sic] thought giving meaning to life“ (S. 106), die zu jeweils unterschiedlichen Antworten gelangten. Turmalin zeichne eine verstörende Vision vom modernen Leben, dargestellt an der Figur des Rentherrn. Der Text sei „the most savage, despairing story“ (S. 108) in den Bunten Steinen und lasse das Konzept des ‚sanften Gesetzes‘ teilweise ins Wanken geraten. Einen Befund der zeitgenössischen Literaturkritik, die an Turmalin eine Inkongruenz zwischen dem Plot und dessen Darstellung durch den Text bemängelt hatte, beschreibt und bestätigt Karen J. Campbell.124 Zu verzeichnen seien „frequent ‘time-outs’ for detailed passages of pure exposition which stand in no obvious relation to the action“ (S. 578). Campbell schließt sich den negativen Urteilen der Literaturkritik aber nicht an, sondern liest die Erzählung als Reflektion über das Problem, einem Text über den Plot eine strukturelle Ordnung zu verleihen. Sie unterscheidet zwischen der eigentlichen Handlungsarmut des Textes und der Inkohärenz und Unvollständigkeit der geschilderten Ereignisse und zieht Parallelen zwischen der Kunst des Rentherrn – vor allem dessen Flötenspiel – und dem Erzähltext, der diese Kunst präsentiert. Diese Parallelen seien so ausgeprägt, dass man vermuten müsse, Stifter habe sie bei der Überarbeitung der Journalfassung bewusst herausgearbeitet. Campbell unterstützt ihre These durch einen Vergleich von Journal- und Buchfassung und bewertet Turmalin als strukturell gelungene Darstellung einer obskuren Normabweichung. Hans Esselborn macht es sich zur Aufgabe, „die neuen Erkenntnisse über die Raumgestaltung und Darstellungsweise Stifters“125 für eine umfangreiche Interpretation von Turmalin fruchtbar zu machen. Er setzt zunächst die einleitenden Bemerkungen des Erzählers in Beziehung zum ‚sanften Gesetz‘ aus der Vorrede zu den Bunten Steinen und beschreibt Turmalin als „Negativbeispiel“ || 124 Karen J. Campbell: Toward a Truer Mimesis: Stifter’s Turmalin. In: The German Quarterly 57/4 (1984), S. 576–589. 125 Hans Esselborn: Adalbert Stifters „Turmalin“. Die Absage an den Subjektivismus durch das naturgesetzliche Erzählen. In: VASILO 34 (1985), Folge 1/2, S. 3–26, hier S. 4. Esselborn bezieht sich an dieser Stelle auf Untersuchungen von Christoph Buggert (ders.: Figur und Erzähler. Studie zum Wandel der Wirklichkeitsauffassung im Werk Adalbert Stifters. München 1970 (zugl. Diss., München 1967)) und Hans Dietrich Irmscher (ders.: Adalbert Stifter; siehe Anm. 86 in diesem Kapitel).

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(S. 6), das die Übertretung dieses Gesetzes illustriere. Anschließend untersucht Esselborn eine Entwicklung in Stifters Darstellungsverfahren, die sich vom Besonderen abwende und zunehmend das „Alltägliche und Gewöhnliche in den Vordergrund“ (S. 7) stelle. Diese Entwicklung zeige sich auch, wenn man die Journal- und die Buchfassung von Turmalin miteinander vergleiche. In seiner Analyse der Rahmenerzählung beschreibt Esselborn das Wirklichkeitsverhältnis des Rentherrn, das sich an der Raumgestaltung seiner Wohnung ablesen lasse. Unter dem Einfluss des Schauspielers Dall zeige sich eine Überforderung, die Realität zu bewältigen, die sich in der Binnenerzählung fortsetze und auch am Umgang des Rentherrn mit seiner Tochter deutlich werde. Esselborn untersucht die Erzähltechnik der Ich-Erzählerin und weist anhand von mehreren Kriterien nach, dass diese durch ein „naturgesetzliches Erzählen“ (S. 17), das „in Analogie zum Verfahren der Naturwissenschaft steht“ (ebd.), gekennzeichnet ist. Er belegt die schrittweise Eingliederung des Mädchens in den familiären Alltag der Erzählerin anhand von Textbeispielen und stellt die Bedeutung des Perronschen Hauses für die Erzählung anhand eines Vergleichs mit Burg Rothenstein aus der Narrenburg dar. Abschließend beschreibt er das titelgebende Mineral der Erzählung als Indikator für Stifters „Absage an Subjektivismus und Phantasie“ (S. 26). Mehrere Figuren in Turmalin lassen sich auf reale Vorbilder zurückführen, die Stifter teilweise persönlich gekannt hat. Der Text lasse sich deswegen, so Hans Barak, als „dichterisch gestaltete Wirklichkeit“126 deuten. Eine zentrale Rolle spielt in diesem Zusammenhang Antonie Arneth, geb. Adamberger, eine Schauspielerin, die zwischen 1807 und 1817 große Erfolge am Wiener Hoftheater feierte und Stifter nachweisbar als Vorbild für die namenlose Ich-Erzählerin gedient hat. Auch der Ehemann und der Sohn der Ich-Erzählerin hätten ihre reale Entsprechung in Joseph Arneth bzw. Alfred Ritter von Arneth. Die vierte Figur in Turmalin, deren reales Vorbild Barak beschreibt, ist der Schauspieler Dall. Barak zeigt, dass sich dessen Charakterisierung überzeugend auf Berichte über den für seine zahlreichen Affären bekannten Schauspieler Joseph Lange zurückführen lässt, mit dem Antonie Arneth gemeinsam auf der Bühne stand. Harald Schmidt beschreibt Turmalin als „Großstadterzählung“127 und nähert sich dem Text über das Phänomen des künstlerischen Dilettantismus. Er analy-

|| 126 Helmut Barak: „Gute Freundin“ und „glänzender Künstler“. Die dichterisch gestaltete Wirklichkeit in Stifters Erzählung ‚Turmalin‘. In: Laufhütte/Möseneder (Hrsg.): Adalbert Stifter, S. 477–485. 127 Harald Schmidt: Geschichte in Trümmern und Häuserverfall. Zum Funktionszusammenhang von Dilettantismus, Vergessen und Melancholie in Adalbert Stifters Großstadterzählung

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siert die Wohnung des Wiener Rentherrn im Hinblick auf dessen Eigenschaft als „Universaldilettant“ (S. 103) und führt sowohl deren Gestaltung als auch das Verhältnis des Rentherrn mit dem Schauspieler Dall auf diverse Intertexte und Zusammenhänge zurück. In Bezug auf den zweiten Teil der Erzählung beschreibt Schmidt das Ergebnis des „sozialen Abstiegs“ (S. 106) des Rentherrn als eine weitere Form von Dilettantismus, da die Figur nun „auf die Kunstübung als Lebensunterhalt“ (ebd.) angewiesen sei. Die Bemühungen der Ich-Erzählerin, die Tochter des Rentherrn zu resozialisieren, erkennt er als „gegenbildlich intendiert[e] […] Wirkung des ‚sanften Gesetzes‘“ (ebd.) aus dem Vorwort zur Erzählsammlung Bunte Steine. Schmidt stellt Turmalin in den Kontext der Dilettantismuskritik, die Franz Grillparzer in seiner von Stifter rezensierten Erzählung Der arme Spielmann übe. Er erkennt hier den „zentralen Bezugspunkt für Stifters theoretische und poetische Beteiligung an der Auseinandersetzung“ (S. 107) einer „Gruppe österreichischer Intellektueller“ (ebd.) mit der „moderne[n] deutsche[n] Literatur“ (ebd.), die sich unter anderem in Stifters „HebbelPolemik“ (S. 111) äußere. In diesem Zusammenhang hebt Schmidt hervor, dass in der Buchfassung von Turmalin die „ursprüngliche Opposition von Rentherr und Dall“ (S. 114), die sich in der Journalfassung des Textes noch zeige, aufgehoben werde. Stifter lasse sich hier „auf die deviante Ästhetik des Dilettantismus ein“ (S. 114), suche sich aber gleichzeitig ihr gegenüber zu behaupten. Schmidt ergänzt die vorliegenden Ansätze, die den Titel der Erzählung zu deuten suchen, um die „Facette“ (S. 115) der Melancholie. Das „Phänomen des zerrissenen, melancholisch grundierten dilettantischen Ausdrucks“ (S. 117) erkennt er sowohl im Flötenspiel des Rentherrn als auch in den schriftlichen Ausarbeitungen von dessen Tochter. Er bringt dieses Phänomen in Verbindung mit der von der Forschung oft betonten Rätselhaftigkeit von Turmalin; es wirke durch die Erzeugung von Leerstellen auf das „narrative Verfahren des Textes selbst“ (ebd.) zurück. Die Erzählfunktion der von Stifter ausführlich geschilderten Interieurs fasst Schmidt mit dem Begriff des Stilllebens, der schon von zeitgenössischen Rezensenten in unterschiedlichen Absichten auf Stifters Prosa angewendet worden sei. Die „stumme[] Beredsamkeit alltäglicher Gegenstände“ (S. 129), die sich hier zeige, stelle Turmalin in einen Zusammenhang mit anderen Texten Stifters, unter anderem der Buchfassung der Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters. Unter Rückgriff auf Hans Robert Jauß’ Essay über Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft (1970) und dessen Auseinandersetzung || Turmalin (1853). In: Vormärzliteratur in europäischer Perspektive III. Zwischen Daguerreotyp und Idee. Hrsg. von Martina Lauster. Bielefeld 2000, S. 101–133, hier S. 101.

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mit Gustave Flauberts Madame Bovary untersucht Klaus Jeziorkowski die „ästhetische Kühnheit“128 von Turmalin. Er deutet die in der Erzählung geschilderte, amtliche Leerräumung der Wiener Wohnung des Rentherrn im Hinblick auf den „Erzählraum“ (S. 82) des Textes; dieser werde ebenfalls „radikal ausgefegt“ (ebd.), so dass der literarische Text lediglich ein „dünnes sprachliches Außengemäuer“ (ebd.) darstelle, in dem sich ein „leergeräumtes und verschwiegenes Innere“ (ebd.) verberge. Die Leerräume des Textes „imaginierend zu füllen“ (S. 84) – Jeziorkowski geht hier insbesondere auf die „bis zur Groteske verkürzte Darstellung des Ehebruchprozesses“ (ebd.) ein – bleibe dem Leser überlassen. Diese prinzipielle Offenheit und Entleerung der Zeichen von ihrer „traditionellen Bedeutung“ (S. 86) zeige sich im zweiten Teil der Erzählung sowohl in dem fremdartigen Flötenspiel des ehemaligen Rentherrn als auch in den „mündlichen und schriftlichen Sprachäußerungen“ (ebd.) seiner Tochter. Jeziorkowski setzt Turmalin in Beziehung zu anderen Erzählungen Stifters, etwa Abdias oder Bergmilch. Das in Stifters Texten erkennbare Vorgehen, „an der Textoberfläche vornehmlich Wirkungen darzustellen, deren Ursachen der Text im Verborgenen hält“ (S. 88), entwickele Stifter in der Vorrede zur Erzählsammlung Bunte Steine dann zu einem zentralen „ästhetische[n] Prinzip“ (S. 88). In der Unterschiedlichkeit der oben skizzierten Deutungsansätze spiegelt sich eine zentrale Eigenschaft von Turmalin: Die Undurchdringlichkeit und Rätselhaftigkeit des Textes ließ auch zeitgenössische Kritiker wiederholt in „offenkundige[r] Ratlosigkeit“129 zurück. Tatsächlich wirft der Text auf der Handlungsebene viele Fragen auf, die unbeantwortet bleiben und „verzichtet […] auf Hintergründe, Motivation und Zusammenhang des Geschehens“130. Dies bezieht sich in besonderer Weise auf die Ehebruchsepisode, die im ersten Teil der Rahmenerzählung geschildert wird. Doch auch über die Handlungsebene hinaus präsentiert sich Turmalin als diffiziles Konstrukt. Der einleitende Kommentar, der darauf hinweist, dass die Erzählung zeige, „wie weit der Mensch kömmt, wenn er das Licht seiner Vernunft trübt […] und in Zustände geräth, die wir uns kaum zu enträthseln wissen“ (T2, S. 135), lässt zunächst noch auf einen heterodiegetischen Erzähler schließen. Die Einleitung zur Binnenhandlung zeigt aber, dass Stifter hier eine

|| 128 Klaus Jeziorkowski: Die verschwiegene Mitte. Zu Adalbert Stifters „Turmalin“. In: „Spielende Vertiefung ins Menschliche“. Festschrift für Ingrid Mittenzwei. Hrsg. von Monika Hahn. Heidelberg 2002, S. 79–89, hier S. 81. 129 Walter Hettche (Hrsg.): Bunte Steine. Kommentar (HKG 2,3), S. 415. 130 Geulen: Worthörig wider Willen, S. 136.

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Erzähltechnik anwendet, die um einiges komplexer ist, als es auf den ersten Blick scheint: Es war seit der Zeit, in welcher sich das zugetragen hatte, was oben erzählt worden ist, eine Reihe von Jahren vergangen. Die Erzählung rührt von einer Freundin her, welche den Künstler recht gut gekannt hat, und welche das genauere Verhältniß desselben zur Familie des Rentherrn von seinen Freunden erfahren hatte. […] Wir lassen nun aus ihrem Munde das Weitere folgen. (T2, S. 148)

Abgesehen von der durchaus erwähnenswerten Tatsache, dass es sich bei der nun folgenden Binnenerzählung um den einzigen Text handelt, „in dem Stifter einmal eine längere Passage [...] einer Frau in den Mund legt“131, wird hier deutlich, dass auch die Informationen, die der Rahmenerzähler liefert, von der intradiegetischen Ich-Erzählerin stammen, die sich in Teilen ihres Berichts nicht auf ihr eigenes Erleben, sondern auf Berichte aus dem Umfeld des Rentherrn bezieht. Außerdem wird sie als Freundin des Rahmenerzählers bezeichnet und weist ihn damit als namenlos bleibende Figur der erzählten Welt auf.132 Auch wenn Stifter hier ein „in der Rahmennovelle des 19. Jahrhunderts, im bürgerlichen Realismus legitimes Verfahren“133 anwendet, um den Bericht des Rahmenerzählers zu autorisieren, bleibt doch fraglich, ob er einem bis ins letzte Detail ausgearbeiteten erzählerischen Konzept folgt. Der oben erwähnte Bericht Antonie Arneths, der als Vorlage für die Journalfassung gedient hat, hat vermutlich auch die Erzähltechnik der Buchfassung bis zu einem gewissen Grad beeinflusst. Der Umstand, dass dem Rahmenerzähler lediglich eine mehrfach gefilterte Information zur Verfügung steht, kann aber durchaus als Begründung dafür herangezogen werden, dass etliche Fragen nach den Details der Ehebruchsepisode offenbleiben müssen.134 Verlässt die Frau des Rentherrn ihre Familie, weil || 131 Mathias Mayer: Adalbert Stifter. Stuttgart 2001, S. 129. Die von mir verwendete, digitale Ausgabe dieses Titels trägt im Unterschied zur vergriffenen Druckausgabe nicht den Untertitel ‚Erzählen als Erkennen‘, ist nach Auskunft des Reclam-Verlags aber ansonsten mit dieser textgleich und seitenidentisch. 132 Vgl. Jeziorkowski: Die verschwiegene Mitte, S. 85. Jeziorkowski weist darauf hin, dass der Erzähler des ersten Teils auch zum Erzähler des zweiten Teils wird, weil er es ist, der den Bericht der Freundin wiedergibt. 133 Müller: Stifters Turmalin, S. 33. 134 Vgl. Campbell: Toward a Truer Mimesis, S. 578. Campbell stellt fest, die Erzählung sei „oblivious to the mystery which is at its core“ (ebd.) und stellt beispielhaft die folgenden, unbeantwortet bleibenden Fragen: „Why does the wife leave? Is Dall lying when he claims ignorance in the matter, as the bizarre repetition of the pensioner’s fourfold visit seems almost to imply? What motivates the Rentherr to leave everything and go out into the world himself? Does he search for his wife once he is there?” (Ebd.; Hervorhebung im Original).

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ihr betrogener Ehemann sich nicht nur verständnisvoll zeigt, sondern sich selbst die Schuld zuweist, indem er feststellt, „sie habe an Dall fallen müssen, warum habe er ihn ins Haus geführt“ (T2, S. 143)? Sagt der Schauspieler Dall die Wahrheit, wenn er wiederholt nach dem Verbleib der verschwundenen Ehefrau des Rentherrn gefragt wird und beteuert, „daß er nicht wisse, wo die Frau sei“ (T2, S. 144)? Was bewegt den Rentherrn schließlich, seine Wohnung und seinen Besitz zurückzulassen (vgl. T2, S. 145)? All diese Fragen sind letztendlich nicht in befriedigender Weise zu klären, ohne Gefahr zu laufen, in psychologisierende Spekulationen abzugleiten, um die Leerstellen zu füllen, die der Text erzeugt.135 Während sich, wie oben bereits angesprochen, aus den Ereignissen um die mit Stifter befreundete Antonie von Arneth und den Schauspieler Joseph Lange Faktoren ableiten lassen, die für die Entstehung von Turmalin eine Rolle gespielt haben können,136 kann die literarische Darstellung der Ehebruchsepisode nicht als Grundlage eines tragfähigen Interpretationsansatzes dienen. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht deswegen ein anderer Gedanke. Stifter bedient sich in Turmalin desselben Prinzips der Gegenüberstellung von scheiternden und exemplarisch gelingenden Lebensläufen, das auch der Darstellung der Figuren Jodok und Heinrich in der Narrenburg zugrunde liegt. Die Ich-Erzählerin bildet in diesem Sinne eine Gegenfigur zum namenlos bleibenden Wiener Rentherrn. Dessen endgültiges Scheitern wird erst spät in der Erzählung in seinem vollen Umfang deutlich, als || 135 Freilich fordert Turmalin genau diese Reaktion heraus. Klaus Jeziorkowski betont in diesem Zusammenhang: „Der Lesende hat die Leerräume zu füllen: den sich anbahnenden und vollziehenden Ehebruch mit all seinen Gefühlsentwicklungen, die Umstände des Verschwindens zunächst der Ehefrau, die […] ohne jedes Signal und ohne jede Erläuterung im Text auch ihr kleines Kind zurückläßt, später das ebenso unangekündigte Verschwinden von Mann und Kind, deren zwischenzeitliche Schicksale auch später nie mitgeteilt werden. […] All das imaginierend zu füllen, wird allein zur Aufgabe des Lesers“ (ders.: Die verschwiegene Mitte, S. 83 f.). Hier ist allerdings zu beachten, dass Jeziorkowski wohl nicht ohne Grund vom ‚Lesenden‘ und vom ‚Leser‘ spricht. Für eine literaturwissenschaftliche Interpretation dagegen kann das subjektive, imaginierende Auffüllen solcher Leerstellen keine Grundlage darstellen. 136 Hans Kristian sieht Joseph Lange nicht nur als reales Vorbild für die Figur des Schauspielers Dall, sondern führt Details aus dessen Autobiografie – den Zwist mit einem nicht namentlich bekannten Freund und das Scheitern seiner Ehe – als Faktoren an, die sich auf die Gestaltung der Figur des Rentherrn ausgewirkt haben könnten (vgl. ders.: Adalbert Stifters „Turmalin“, S. 149 f.). Helmut Barak sieht in dem Gegensatz zwischen der moralisch vorbildlichen Antonie Arneth und den „mangelnden sittlichen Charaktereigenschaften“ (ders.: Gute Freundin, S. 484 f.) Langes die Keimzelle, aus der Turmalin entstehen konnte: Stifter müssten „das reale Geschehen und seine Zutaten die Gewähr geboten haben, moralische Widrigkeiten genau jenen Werten gegenüberstellen zu können, denen er sich selbst verpflichtet fühlte und die es galt, dem Leser zu vermitteln“ (ebd., S. 484).

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er als Pförtner des Perronschen Hauses zu Tode kommt. Der erste Teil der Rahmenerzählung bereitet dieses Scheitern mit der Ehebruchsepisode vor, stellt den Rentherrn aber zunächst einmal als etablierten, wenn auch eigenartigen Stadtbewohner dar, dessen Lebensumstände auch für die Interpretation der Binnenerzählung berücksichtigt werden müssen, in der es um den gelungenen Lebensentwurf der Ich-Erzählerin und ihre Rolle als Erzieherin eines ‚wilden‘ Mädchens geht.

3.3.2 Die Kunst im Zentrum des Denkens und Handelns Die Beschreibung der Zustände in der Wiener Wohnung des Rentherrn bildet ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen der Journal- und der Buchfassung von Turmalin, denn „was in der Journalfassung kaum eine gute Druckseite umfasst, wird für die Bunten Steine in eine eindringliche Skizze umgeformt, wobei die zweifellos skurrilen Züge des [...] Rentherrn [...] deutlich verstärkt werden“137 und die Bedeutung der Ehebruchsepisode in den Hintergrund tritt. Als prominentes Thema erscheint hier nämlich zunächst einmal der sowohl passive als auch aktive Umgang des Rentherrn mit der Kunst in ihren verschiedenen Erscheinungsformen. Während der Rentherr in der Journalfassung in Ergänzung zu einem „kleine[n] Vermögen“ (T1, S. 116) noch „ein kleines Amt“ (ebd.) innehat,138 verbringt er in der Buchfassung seine Zeit entweder zuhause oder bei Ausflügen ins Kaffeehaus und zu anderen städtischen Zielen der Vergnügung und sozialen Interaktion, was den Rahmenerzähler zu der Vermutung veranlasst, dass der Rentherr „eine kleine Rente haben [mußte], von welcher er dieses Leben führen konnte“ (T2, S. 137). Die Unternehmungen des Rentherrn außerhalb seiner Wohnung werden aber nur flüchtig erwähnt und spielen für die Darstellung der Figur zunächst einmal keine Rolle. Im Zentrum steht das Zimmer, in dem er einen Großteil seiner Zeit verbringt. Bestimmend für den Eindruck, es mit einer skurrilen Existenz zu tun zu haben, ist sicher die Angewohnheit des Rentherrn, sich der Betrachtung von „Blättern von Bildnissen berühmter Männer“ (T2, S. 136) hinzugeben, mit denen die Wände seines Zimmers vollständig bedeckt sind. Um diese Beschäftigung ange-

|| 137 Mayer: Adalbert Stifter, S. 130. 138 Vgl. Mason: Stifter’s ‘Turmalin’, S. 349: „The Rentherr, who significantly no longer has ‘ein kleines Amt’, appears immured in his possessions, in his sterile admiration of great men, his dilettante pursuits, ranging from music, painting, and writing poetry down to ‘in Pappe arbeiten’“ (Hervorhebung von mir).

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nehmer zu gestalten, stehen „ledergepolsterte Ruhebetten von verschiedener Höhe und mit Rollfüßen“ (ebd.) zur Verfügung. Der Grund für die Berühmtheit der abgebildeten Personen ist an dieser Stelle nicht zweifelsfrei mit dem Thema ‚Kunst‘ in Verbindung zu bringen – dem Rentherrn ist es „einerlei, welcher Lebensbeschäftigung sie angehört hatten, und durch welches ihnen der Ruhm zu Theil geworden war“ (T2, S. 136) –, doch die Faszination, die auch der Schauspieler Dall für diese Bilder zeigt (vgl. T2, S. 142), verbindet sie mit den aktiven künstlerischen Tätigkeiten des Rentherrn, für die Dall ebenfalls großes Interesse aufbringt. Der Rentherr gibt sich nämlich beileibe nicht nur der Betrachtung von Bildnissen berühmter Männer hin, sondern spielt Geige, Flöte und Klavier, malt in Öl, schreibt Gedichte und Erzählungen und stellt „Kunstsachen“ (T2, S. 378) aus Pappe her. Diese Aktivitäten und Erzeugnisse werden bei den regelmäßigen Besuchen Dalls präsentiert, diskutiert, bewertet und verbessert: Besonders war es die Kunst, die Dall in allen ihren Gestalten ja selbst Abarten anzog. Darum wurden die Verse des Rentherrn besprochen, er mußte auf einer seiner zwei Geigen spielen, er mußte auf der Flöte blasen, er mußte das eine oder das andere Musikstük auf dem Flügel vortragen, oder man saß an der Staffelei, und sprach über die Farben eines Bildes oder über die Linien einer Zeichnung. Gerade in dem Letzteren war Dall am erfahrensten, und war selber ein bedeutender Zeichner. Zu den Pappgestalten des Rentherrn gab er Länge und Breite, er gab Beziehungen und Verhältnisse an. (T2, S. 141 f.)

Ebenso wie Dall seinen Freund, den Rentherrn, unter Kontrolle zu haben scheint (siehe die Häufung der Formulierung ‚er mußte‘ im gerade zitierten Abschnitt), hat er sich selbst in seinem Verhältnis zur Kunst unter Kontrolle, auch wenn die Intensität, mit der er seine Schauspielkunst ausübt, einen gegenteiligen Eindruck erwecken mag. Tatsächlich gibt Dall sich seinen Theaterengagements in einer Weise hin, dass er „nicht die Rollen spielte, sondern das in ihnen Geschilderte wirklich war“ (T2, S. 140) und „die Zuschauer bis zum Äußersten hinriß, zur äußersten Begeisterung oder zum äußersten Schauer, so daß sie nicht mehr im Theater sondern in der Wirklichkeit zu sein meinten“ (ebd.). Dies lässt sich zwar im Sinne der bereits zitierten, einleitenden Bemerkungen des Rahmenerzählers, Turmalin berichte davon, „wie weit der Mensch kömmt, wenn er […] den Halt verliert, und in Zustände geräth, die wir uns kaum zu enträthseln wissen“ (T2, S. 135), als Warnung davor lesen, sich allzu bedingungslos auf die „Innigkeit seiner Freuden und Schmerzen“ (T2, S. 135) einzulassen,139 kann aber nicht davon ablenken, dass Dall im Unterschied zum Rentherrn stets

|| 139 Vgl. Geulen: Worthörig wider Willen, S. 139.

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die Kontrolle über sein Dasein und seine Kunstausübung behält. Er lehnt mit äußerster Konsequenz alle Rollen ab, in die er „sich nicht hinein zu leben vermochte“ (T2, S. 140), und selbst wenn er beim Spiel völlig in einer Rolle aufgeht und sich „von seinem Geiste leiten“ (T2, S. 141) lässt, vermag er stets aus eigener Kraft in die Wirklichkeit zurückzukehren: „Er lebte […] in Zuständen, und verließ sie, wie es ihm beliebte“ (ebd.).140 Die Zimmer der Ehefrau des Rentherrn – sie verfügt, wie ihr Mann auch, über ein Hauptzimmer und ein „kleineres Seitengemach“ (T2, S. 137) – enthalten „schöne Dinge von Silber und Porzellan“ (T2, S. 138) und auf verschiedenen Tischen liegen „Bücher oder Zeichnungen“ (ebd.) und „geordnete Schreibgeräthe“ (ebd.). Diese Zimmer zeigen sich aber in einer „Opposition der Raumordnungen, an der eine klare Differenz zwischen dem Habitus der Ehepartner ablesbar wird“141, auf Nützlichkeit ausgerichtet.142 Es gibt ein „Arbeitstischchen, auf dem schöne Linnen zarte Stoffe und andere Arbeitsdinge lagen“ (ebd.) und das kleinere Zimmer enthält nicht nur einen Tisch, der „zu häuslichen Zwecken bestimmt“ (ebd.) ist, sondern auch das Bett, in dem die Tochter der Eheleute

|| 140 Vgl. Schmidt: Geschichte in Trümmern, S. 104 f. Schmidt beschreibt Dalls Vorgehen als „künstlerischen Dilettantismus“ (ebd., S. 105) und zieht eine Parallele zu Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, in der die Figur Jarno die Auffassung vertrete, wer nur sich selbst spielen könne, sei kein Schauspieler. Dall vermöge „wie Goethes Schauspiel-Dilettant Wilhelm Meister seine Rollen nur durch ‚Hineinleben‘, durch bruchlose Identifikation zu agieren“ (ebd.). Hier zeige sich eine „auffällige Parallele zur dilettantischen Distanzlosigkeit, die den Betrachtungsmodus des Rentherrn gegenüber seinen Bildern kennzeichnet“ (ebd.). 141 Ebd., S. 126 f., Anm. 86. Schmidt weist einschränkend darauf hin, dass die „ordentliche und sorgsame Haushaltung“ (ebd.) der Ehefrau des Rentherrn diese „gerade nicht gegen den Einbruch des Diskontinuierlichen feit. Ausgerechnet sie verfällt dem in ‚Zuständen‘ lebenden Schauspieldilettanten Dall, und sie ist es, die auf rätselhafte Weise völlig mit ihrem Leben bricht“ (ebd.). 142 Vgl. Mason: Stifter’s ‘Turmalin’, S. 350. Mason interpretiert den oben zitierten Verweis auf die ‚häuslichen Zwecke‘ ähnlich, wenn sie den Tisch am Fenster als „one little oasis of usefulness“ (ebd.) beschreibt. Harald Schmidt beschreibt in diesem Zusammenhang eine „von bürgerlicher Arbeitsamkeit durchdrungene wie ästhetisch ausgewiesene Atmosphäre“ (ebd., S. 130), die allerdings durch ihre „Zartheit und Fragilität“ (ebd.) und das „dunkle Timbre“ (ebd.) auf die „Melancholie des kommenden Verlusts“ (ebd.) vorausweise. Hans Esselborn dagegen attestiert nicht nur dem Rentherrn einen „gestörten Weltbezug“ (ders.: Adalbert Stifters „Turmalin“, S. 11), sondern dehnt diese Bewertung auch auf dessen Frau aus, was er damit begründet, dass bei der Beschreibung ihrer Räumlichkeiten das Adjektiv ‚schön‘ dominiere (vgl. ebd., S. 12). Gunter H. Hertling wiederum sieht den „schärfsten Kontrast“ (ders.: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“, S. 23) zwischen den Zimmern des Rentherrn und denen seiner Frau, der als „krassester Ausdruck für den Lebens- und Stilbruch zwischen diesen Eheleuten“ (ebd.; Hervorhebung im Original) gedeutet werden könne.

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schläft. Hier versorgt die Frau des Rentherrn das Kind und ist mit der „Besorgung des Hauswesens“ (T2, S. 139) beschäftigt. Der Rahmenerzähler berichtet von keiner anderen Interaktion der Eheleute, als dass sie wiederholt am Bett ihres Kindes stehen und „die winzigen roten Lippen und die rosigen Wangen und die geschlossenen Äuglein“ (ebd.) betrachten. Es bleibt zunächst einmal festzuhalten, dass sich die Beschreibung der Inneneinrichtung dieser Wiener Wohnung nicht nur eindeutig auf die Zimmer des Rentherrn fokussiert, sondern diese Räume als Zentrum des Ruhms und der Kunst ausweist. Bevor daraus aber Schlüsse für die Interpretation der Erzählung abgeleitet werden können, muss die Perspektive erweitert und die Wohnung auch von außen in den Blick genommen werden.

3.3.3 Eine Wohnung wie eine Burg Die Wohnung des Wiener Rentherrn in Turmalin weist auffällige Ähnlichkeiten mit einem Schauplatz auf, den ich in meiner Interpretation der Erzählung Die Narrenburg als Ort der Hochkultur, aber auch als Ort des Scheiterns beschrieben habe. Gemeint ist Burg Rothenstein, der Wohnsitz der Grafen von Scharnast. Diese Ähnlichkeiten lassen sich wie folgt beschreiben. Zum ersten ist der Weg in die Wohnung des Wiener Rentherrn durch ein eisernes Gitter verschlossen und kann nicht ohne weiteres betreten werden, weil der Zugang von einer Magd kontrolliert wird. Auch wenn diese Konstellation für eine Wiener Stadtwohnung des 19. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich sein mag, so erinnert sie im Zusammenspiel mit anderen Details an die Burg Rothenstein, deren Tor nur von innen durch den Kastellan Ruprecht geöffnet werden kann, welcher auch die Schlüssel zu Gittertüren und anderen Absperrungen im Inneren der Burg besitzt (vgl etwa Nb2, S. 373, 375, 381). Der Rahmenerzähler der Narrenburg erwähnt die Abgeschlossenheit der Wiener Wohnung von der Außenwelt durch ein Gitter mehrfach (vgl. etwa T2, S. 135, S. 141, S. 145, S. 146).143 Zum zweiten wird die Wohnung, wie oben dargestellt, im Hinblick auf die Zimmer des Rentherrn ganz eindeutig als Ort der Hochkultur ausgewiesen, in dem alles auf die Kunst ausgerichtet ist. Die Bildnisse berühmter Männer, von denen die Wände im Zimmer des Rentherrn lückenlos bedeckt sind, erinnern an den

|| 143 Vgl. Esselborn: Adalbert Stifters „Turmalin“, S. 11. Esselborn weist hier ebenfalls auf diese auffälligen Wiederholungen hin. Allerdings sieht er die Ähnlichkeiten zum Rothenstein aus der Narrenburg nicht in der verlassenen Wiener Wohnung, sondern nur im Perronschen Haus (vgl. ebd., S. 22 f.). Siehe dazu auch Abschnitt 3.3.4 und Anm. 149 in diesem Kapitel.

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grünen Saal auf dem Rothenstein, in dem „eine ganze Reihe der herrlichsten Bilder“ (Nb2, S. 382) die Mitglieder der Scharnast-Sippe darstellt. Das familiäre Zusammenleben und die Sorge für die gemeinsame Tochter in der Wiener Wohnung erscheint durch äußerste narrative Verknappung an den Rand gedrängt und spielt in der Darstellung gegenüber den künstlerischen Betätigungen des Rentherrn eine völlig untergeordnete Rolle. Zum dritten dringt mit und nach dem Ehebruch, wenn auch nur für einen kurzen erzähltechnischen Augenblick, ein Element wilder Leidenschaft in die Sphäre der erstarrten Hochkultur ein. Eine Analogie zur Episode von Jodok und Chelion lässt sich mühelos herstellen, auch wenn die lapidare Beschreibung des Liebesverhältnisses zunächst anderes suggeriert: Endlich fing Dall ein Liebesverhältniß mit der Frau des Rentherrn an, und sezte es eine Weile fort. Die Frau selber sagte es endlich in ihrer Angst dem Manne. (T2, S. 142; Hervorhebung von mir)

Während der Vollzug des außerehelichen Liebesverhältnisses sozusagen in der Leerstelle zwischen diesen beiden Sätzen stattfindet, lässt das Geständnis der Frau den Rentherrn zunächst „in einer außerordentlichen Wuth“ (T2, S. 143) zurück. Er will „zu Dall rennen, ihm Vorwürfe machen, ihn ermorden“ (ebd.). Dieses kurze Aufflackern von Leidenschaft ist jedoch nicht von Dauer. Als der Ehebrecher Dall sich nicht ausfindig machen lässt, wird der Rentherr aber „sehr stille“ (ebd.) und zeigt sich sowohl gegenüber seiner Frau als auch seinem Umfeld verständnisvoll, was den Ehebruch angeht.144 Zum vierten schließlich wird die Wiener Wohnung nach dem Scheitern der Beziehung zwischen dem Rentherrn und seiner Frau dem Verfall anheimgegeben und ähnelt darin dem Ro|| 144 Worauf sich die in der oben zitierten Textstelle erwähnte Angst der Ehefrau bezieht, lässt sich angesichts des Verhaltens, das der Rentherr an den Tag legt, nicht zweifelsfrei ermitteln. Seine Wut gilt ausschließlich dem Schauspieler Dall. Nachdem diese verflogen ist, versichert der Rentherr seiner Frau, „sie habe an Dall fallen müssen, warum habe er ihn ins Haus geführt, sie habe ihm das Herz gegeben, wie er es Tausenden an einem Schauspielabende aus dem Leib nehme“ (T, S. 143). Vgl. Helmes: Bunte Steine als „Supplement der Gesetze?“, S. 60. Helmes charakterisiert die Ehefrau des Rentherrn nicht nur als eine „gesellschaftliche Konventionen brüskierende […] Figur“ (ebd.), sondern beschreibt einen Entmündigungsprozess, der sich sowohl in der Haltung des Erzählers als auch dem Verhalten des Rentherrn manifestiere: Der Erzähler gebe die Ehebruchsepisode nicht nur „in einem auffällig lapidaren Ton“ (ebd.) wieder, sondern legitimiere das „Verschwinden der Frau letztlich durch die Erklärung ihres Ehemannes“ (ebd.) Indem dieser aber „das Verhalten seiner Frau unter dasjenige ‚Tausender‘ subsumiert, beraubt er sie ihrer Individualität. Er stellt sich nicht ihren Gründen, Wünschen und Gefühlen, sondern liefert eine auf Entmündigung hinauslaufende und von daher inakzeptable Entschuldigung ihres Verhaltens“ (ebd.).

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thenstein, der nach Chelions Tod und Jodoks Auszug von der Wildnis zurückerobert wird. Nach dem Verschwinden seiner Frau und der erfolglosen Suche nach ihr verlässt der Rentherr die Wohnung mit seiner Tochter, und als die Behörden das eiserne Tor nach zweieinhalb Jahren, in denen der Rentherr nicht zurückgekehrt ist, öffnen lassen, ist das Küchenfenster „voll Spinnweben“ (T2, S. 146), „jedes Ding voll Staub“ (ebd.), eine „Wolke Motten“ (ebd.) fliegt auf, die Bildnisse der berühmten Männer sind „bestaubt und von der eingeschlossenen Luft vergelbt“ (T2, S. 147) und – erstaunlich für eine von der Außenwelt abgeschlossene Stadtwohnung – sind sogar schon die „hölzernen Küferarbeiten […] zerfallen“ (T2, S. 146). Verlassenheit, Verfall und das vorerst spurlose Verschwinden der Figuren zeugen vom Scheitern einer Existenz. Dieses Scheitern bildet einen Hintergrund, vor dem sich ein ganz anderer Lebensentwurf in aller Deutlichkeit darstellen lässt.

3.3.4 Im Zentrum zwischen Stadt und Land Wenn man Turmalin im Kontext der Erzählsammlung Bunte Steine liest, fällt auf, dass Stifter die Handlung ausschließlich in der Stadt spielen lässt. Damit unterscheidet sich der Text von den restlichen Erzählungen der beiden Bände.145 Trotzdem hat Turmalin mit anderen Erzählungen Stifters eines gemeinsam: Die topografischen Informationen im Text haben eine erzähltechnische Funktion. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis von Bedeutung, dass Stifter in seinen Texten „geographische Mittellage[n]“146 bevorzuge. Diese These lässt sich nicht nur mit Textbelegen aus Turmalin stützen, sondern stellt die Erzählung auch in einen direkten Zusammenhang mit dem Skalenmodell von Wildnis, kultivierter Natur und Hochkultur, das ich in Abschnitt 3.2.4 entwickelt habe. Die „angenehme und freundliche Vorstadtwohnung“ (T2, S. 148 f.), in der die Ich-Erzählerin mit ihrer Familie wohnt, liegt sozusagen auf ihrem eigenen

|| 145 Vgl. Mason: Stifter and the Enlightenment, S. 108. 146 Hertling: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“, S. 34, Anm. 25. Hertling geht auf diesen Aspekt, der „einer künftigen Arbeit vorbehalten“ (ebd.) bleibe, allerdings nicht näher ein. Vgl. auch die Bemerkungen von Joachim Müller zur Genauigkeit der topografischen Informationen in Turmalin (ders.: Stifters „Turmalin“, S. 36). Eve Mason dagegen übersieht diese Genauigkeit und die erzählerische Funktion der unterschiedlichen Schauplätze, wenn sie die „Verlagerung des Schauplatzes in die Großstadt mit ihrer entsetzlichen Anonymität und kurzlebigen Sensationslust“ (dies.: Stifters Bunte Steine, S. 82) als „symptomatisch für eine pessimistischere Einstellung Stifters den Fragen des Schicksals und der menschlichen Verschuldung gegenüber“ (ebd.) deutet.

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Mittelpunkt: „Die Entfernung zwischen der Stadt und dem Lande war so gleich und so kurz, daß wir zu keinem einen großen Weg zurük zu legen hatten“ (T2, S. 149).147 Auch die Wohnung selbst spiegelt durch ihre Zweiteilung eine Mittelstellung wider: Wirft man in dem einen Teil, in dem das Gesellschaftszimmer der Familie liegt und der Ehemann der Erzählerin sein Arbeitszimmer hat, einen Blick aus dem Fenster, zeigt sich die Hauptstraße, auf der ein „angenehmes nicht zu bewegtes Leben herrschte“ (ebd.), während sich die Erzählerin hauptsächlich in dem anderen Teil aufhält, der Blicke auf „die nahen Weinberge und Waldhügel der Umgebung“ (ebd.) gewährt und durch die „luftige und freie“ (ebd.) Anlage und den „geräumige[n] Garten“ (ebd.) von „entschiedenem Vortheile“ (ebd.) für die Kinder ist, was ein „bedeutender Arzt“ (ebd.), ein Freund des Ehemannes, eindringlich bestätigt und von Plänen, diesen Wohnsitz aufzugeben, nur abraten kann. Die Feststellung, dass sich das Auftauchen von Natur in Turmalin auf „rainwashed weeds in a shady yard or occasional glimpses of suburban gardens“148 beschränkt, bezieht sich vor allem auch auf das Perronsche Haus, das in der Nähe der oben beschriebenen Wohnung liegt. Hier hat sich der Rentherr aus der Rahmenerzählung als Pförtner niedergelassen und hält seine mittlerweile herangewachsene Tochter in einer Kellerwohnung versteckt. Die Ähnlichkeiten mit Burg Rothenstein, die oben schon für den ersten Wohnsitz des Rentherrn, seine Wiener Wohnung, herausgearbeitet werden konnten, zeigen sich hier noch deutlicher: Das Perronsche Haus zeigt Spuren der Verwilderung und Rückeroberung durch die Natur, deren Beschreibung unmittelbar an die Rückkehr der Wildnis erinnert, die in der Narrenburg ausführlich beschrieben wird.149 Zwischen den Fugen der Steine, mit denen der Hof gepflastert ist, sprießt „schön und unzertreten“ (T2, S. 156) das Gras, die Tore beweisen durch ihr „ausgewit-

|| 147 Vgl. Esselborn: Adalbert Stifters „Turmalin“, S. 18: „Schon aus ihrer [der Erzählerin; H. A.] Wohnung selbst [...] sowie ihrer Lage in der Vorstadt, halbwegs zwischen der Innenstadt und der freien Natur gelegen, kann man ihre Weltoffenheit erschließen“ (Hervorhebung von mir). Eve Mason weist darauf hin, dass sich der Verweis auf die Mittelposition der Vorstadtwohnung – „a remark full of symbolic meaning“ (dies.: Stifter’s ‘Turmalin’, S. 353) – noch nicht in der Journalfassung findet. Sie liest ihn allerdings im Kontext von Textstellen, die in ihren Augen als „almost neurotically hostile remarks about life in towns“ (ebd.) zu charakterisieren sind und stellt fest, dass Stifter Stadt und Land in Turmalin gegeneinander ausspiele (vgl. ebd.) – eine These, der ich mich in den folgenden Ausführungen nicht anschließen werde. 148 Mason: Stifter and the Enlightenment, S. 108. 149 Vgl. noch einmal Esselborn: Adalbert Stifters „Turmalin“, S. 22. Esselborn zufolge „[weist] [i]nnerhalb des Werkes Stifters […] das alte Perronsche Haus […] die größte Ähnlichkeit mit dem Rothenstein […] auf“ (ebd.).

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tertes vertroknetes und zum Theil zerfallenes Aussehen“ (ebd.), dass sie nie geöffnet werden, und einer der letzten Bewohner des Hauses, der mit der Familie der Erzählerin befreundete Professor Andorf, hat sich für diesen Wohnsitz entschieden, um „das allmähliche Versinken Vergehen Verkommen zu beobachten, und zu betrachten, wie die Vögel und andere Thiere nach und nach von dem Mauerwerke Besitz nahmen“ (T2, S. 155). Diese Verweise auf Verfall und Verwilderung sind von Bedeutung: Auch wenn die topografische Gestaltung von Turmalin aufgrund der Einschränkung auf Wien und seine Vororte150 keine Aufteilung der Schauplätze erlaubt, die mit der deutlich erkennbaren Dreiteilung vergleichbar wäre, die sich in der Narrenburg zeigt (Wildnis, grüne Fichtau, Rothenstein), lässt sich die oben entwickelte Skala durchaus auch hier anwenden und als Ausprägung des Topos vom Mittelpunkt der kultivierten Natur identifizieren:

Perronsches Haus (Wildnis) −−

Wohnung der Ich-Erzählerin (kultivierte Natur) −

+

Wohnung des Rentherrn (Hochkultur) −

−−

Abb. 7: Topografische Bereiche in Turmalin

Die Ich-Erzählerin, deren Wohnung diesen Mittelpunkt räumlich repräsentiert, entstammt „im Gegensatz zur Sphäre, in der wir den Rentherrn kennenlernten || 150 Eva Geulen geht davon aus, dass der Rentherr in der Binnenerzählung „in die Kellerwohnung seines ehemaligen Hauses zurückgekehrt ist und dort mit seiner körperlich entstellten Tochter zurückgezogen lebt“ (dies.: Worthörig wider Willen, S. 136; so auch in dies.: Adalbert Stifters Kinder-Kunst, S. 661). Die ehemalige Wohnung des Rentherrn befindet sich allerdings „auf dem Sanct Petersplaze in dem vierten Geschoße eines Hauses“ (T2, S. 135), also im 1. Wiener Bezirk, der Inneren Stadt (vgl. Hettche: Bunte Steine. Kommentar (HKG 2,3), S. 424), die zur Entstehungszeit der Erzählung topografisch schon eindeutig von den über 30, im Jahr 1850 eingemeindeten Vorstädten abgesetzt war (vgl. Elisabeth Zeilinger und Max Kratochwill: Stadtpläne von Wien. In: Österreich auf alten Karten und Ansichten. Austria Picta. Ausstellung der Kartensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Prunksaal 11. Mai bis 8. Oktober 1989. Handbuch und Katalog. Hrsg. von Franz Wawrik und Elisabeth Zeilinger. Graz 1989, S. 197–204). Vgl. auch Hettche: Bunte Steine. Kommentar (HKG 2,3), S. 420 f. Das Perronsche Haus dagegen steht „an der Hauptstraße der Vorstadt“ (T2, S. 154) und liegt in Sichtweite von der Wohnung der Ich-Erzählerin (vgl. T2, S. 161). Insofern ist Geulens oben zitierte Annahme schwer nachvollziehbar. Allerdings haben die Wohnung am Petersplatz und das Perronsche Haus eines gemeinsam: Beide verwildern und verweisen so auf den gescheiterten Lebensentwurf des Rentherrn.

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und weiter beobachten, dem Kreis eines aufgeklärt-praktischen, sich humanitär verstehenden Bürgertums. Deutlich akzentuierte Helligkeit und Aufgeschlossenheit ihres Lebensbereichs kontrastieren in allen Punkten zur dunklen und unzugänglichen Welt des alten Mannes und seiner Tochter“.151 Diese Figur verkörpert in exemplarischer Weise ein Ideal der Nützlichkeit (siehe auch Abschnitt 3.2.6), und zwar schon vor dem Zusammentreffen mit dem ‚wilden‘ Mädchen, dem sie sich als vorbildliche Erzieherin widmen kann.

3.3.5 Kunst und Lebenstüchtigkeit Kurz vor der ersten Konfrontation mit dem Pförtner des Perronschen Hauses, von dem sich erst im Laufe der Binnenerzählung herausstellt, dass es sich um den Rentherrn aus dem ersten Teil der Rahmenerzählung handelt, und dem Mädchen mit dem „so großen Kopf, daß es zum Erschreken gereichte“ (T2, S. 150), ist die Ich-Erzählerin damit beschäftigt, „Staub abzuwischen, aufzuräumen und dergleichen“ (T2, S. 149).152 Auch als der Pförtner bei einem Sturz von der Leiter zu Tode kommt und für einen Menschenauflauf vor dem Perronschen Haus sorgt, ist sie „damit beschäftigt, unsere schöneren Zimmer ein wenig zu ordnen“ (T2, S. 161). Ihr Ehemann hält sich tagsüber in der Stadt auf, um seine „Amtsgeschäfte“ (T2, S. 149) zu erledigen, während die Erzählerin mit ihrer „Häuslichkeit sehr viel beschäftigt“ (ebd.) ist; nicht zuletzt, weil ihr, wie sie erzählt, „damals die kleinen Kinder viel zu thun gaben, weil ich mich ihrer Pflege gerne widmete“ (ebd.). Ordnungsliebe und Sauberkeit stehen hier, wie auch in anderen Texten Stifters, „für moralische und sittliche Reinheit und für ein ungestörtes Verhältnis zu den Gesetzen der Gesellschaft.“153 Dementsprechend sucht die Erzählerin aktiv nach Gelegenheiten, sich mit „den kleinen Mitteln, die mir zu diesem Zweke gegeben waren“ (T2, S. 160 f.), sozial zu engagieren und identifiziert die Situation, in der sich der Pförtner und seine Tochter befinden, sofort als mögliches karitatives Betätigungsfeld, nachdem die beiden ihr bei einem Blick aus dem Fenster auffallen (vgl. T2, S. 150).

|| 151 Geulen: Stiftersche Sonderlinge, S. 425. 152 Joachim Müller erkennt in der hier beschriebenen Tätigkeit des Staubwischens eine besondere Bedeutung, die aus dem Kontrast zu der Textstelle erwächst, welche beschreibt, wie die „verstaubte[] und verödete[]“ (ders.: Stifters „Turmalin“, S. 36) Wiener Wohnung des Rentherrn von Amts wegen geöffnet wird (vgl. genauer ebd.). 153 Tunner: Farbsymbolik, S. 118.

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Die Erzählerin unterscheidet sich also sowohl durch die Gestaltung und topografische Position ihrer Wohnung als auch durch ihre auf das Ideal der Nützlichkeit ausgerichtete Lebenseinstellung kategorisch von allem, was die Figur des Rentherrn im ersten Teil der Rahmenerzählung ausmacht.154 Diesen Kontrast arbeitet Stifter weiter heraus, indem er schildert, welche Rolle die Kunst in den jeweiligen Lebensentwürfen der beiden Figuren spielt. So sind die Erzählerin und ihr Mann aufgrund ihrer musikalischen Kenntnisse in der Lage, das „seltsame[] Flötenspiel“ (T2, S. 152) des Pförtners als Abweichung von der Norm zu erkennen: „Es war nicht ein ausgezeichnetes Spiel, es war nicht ganz stümperhaft, aber was die Aufmerksamkeit so erregte, war, daß es von allem abwich, was man gewöhnlich Musik nennt, und wie man sie lernt“ (ebd.).155 Das Paar besucht gelegentlich Theatervorstellungen, tauscht sich im gesellschaftlichen Umgang mit Freunden auch leidenschaftlich darüber aus (vgl. T2, S. 151) und pflegt eine Freundschaft mit einem anderen Bewohner des Perronschen Hauses, Professor Andorf, der sich mit „Lesen Schreiben oder etwas Klavierspielen“ (T2, S. 155) beschäftigt und seinen „dichtenden Kräften, die sich nicht sowohl im Hervorbringen als vielmehr im Empfangen äußerten“ (ebd.), widmet. Auch wenn in diesem Zusammenhang noch einmal zwischen dem Ehepaar und Professor Andorf unterschieden werden muss (siehe Anm. 159 in diesem Kapitel), nimmt die Kunst im Leben keiner dieser Figuren die alles vereinnahmende Rolle ein, die sie im gescheiterten Lebensentwurf des Rentherrn gespielt hat. In Turmalin prägt sich in systematischer Weise ein Vorstellungsmuster aus, nach dem

|| 154 Vgl. Helmes: Bunte Steine als „Supplement der Gesetze?“, S. 60 f. Helmes arbeitet nicht nur die Gegenbildlichkeit heraus, die sich durch die Darstellung der beiden Ehepaare in Turmalin ergibt, sondern betont auch die Modernität, die dem Verhältnis zwischen der IchErzählerin und ihrem Ehemann zu eigen ist: Die Ich-Erzählerin lasse sich „zwar ihr Denken und Handeln im Nachhinein stets von ihrem Ehemann als richtig bestätigen“ (ebd.; Hervorhebung im Original), zeige sich aber trotzdem als jemand, der „zunächst einmal ganz selbstverständlich ebenso eigenständig wie erfolgreich denkt und handelt. Für die auch sonst als vorbildlich dargestellte Ehe also zwischen der Erzieherinnenfigur und ihrem Ehemann wird zwar die überkommene Geschlechterhierarchie noch mitgedacht, faktisch aber wird sie zum konventionellen Dekor marginalisiert“ (ebd., S. 61). 155 Vgl. Esselborn: Adalbert Stifters „Turmalin“, S. 13. Esselborn sieht im Flötenspiel des Rentherrn die Spiegelung einer „falsche[n] Art des Wirklichkeitsverhältnisses“ (ders.: Adalbert Stifters „Turmalin“, S. 13). Die Beschreibung dieses Spiels lässt sich darüber hinaus auch als Kernstelle deuten, an der Turmalin auf sich selbst verweist: „[T]he parallels of the Rentherr's flute music to Stifter’s tale as a whole are surely readily apparent. Like the old man's music, the tale itself deviates from everything one usually expects to find when picking up a story to read. Like the music, the tale is provocative because it keeps changing course” (Campbell: Toward a Truer Mimesis, S. 581).

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es eine „close parallel between a wrong attitude to art and a warped attitude to life“156 gibt, und zwar sowohl in dem bereits dargestellten Gegensatz zwischen dem Rentherrn und der Erzählerin als auch in der Figur der Tochter des Rentherrn, die als „kindliches Opfer“157 der verfehlten Lebenseinstellung ihres Vaters vorgeführt wird. Turmalin kann in diesem Kontext also als „ein didaktisches Lehrstück über die bedrohliche Wirklichkeits- und Vernunftferne ästhetischer Lebensformen“158 gelesen werden.159 Stifters Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Rolle der Kunst kann als wichtiger Faktor gelten, der die Entstehung eines solchen Lehrstücks ermöglicht hat. Der Autor hat in zahlreichen Äußerungen zu diesem Aspekt, nicht zuletzt in Briefen an seinen Verleger Heckenast, immer wieder deutlich gemacht, dass ihm die Kunst mehr bedeutete „als alle Welthändel“160. Während er

|| 156 Mason: Stifter’s ‘Turmalin’, S. 356. 157 Geulen: Adalbert Stifters Kinder-Kunst, S. 664. Vgl. Mason: Stifters Bunte Steine, S. 77. Mason geht hier von einer „entsetzliche[n] Kausalität zwischen der Schuld des Vaters und dem Leiden des Kindes“ (ebd.) aus. In einem anderen Beitrag erkennt Mason in den schriftlichen Aufzeichnungen des Kindes (vgl. W, S. 177) eine „final devaluation of art“ (dies.: Stifter’s ‚Turmalin‘, S. 356) und bezeichnet dessen Angewohnheit, literarische Texte vorzutragen, obwohl es sie nicht versteht, als „ultimate debasement of art“ (ebd.). Die unangemessene Einstellung des Vaters gegenüber der Kunst setzt sich also in den Verhaltensweisen der Tochter fort. Ähnlich auch Hans Esselborn, der das Mädchen als „Echo und Opfer ihres Vaters“ (ders.: Adalbert Stifters „Turmalin“, S. 13) beschreibt. 158 Tim Albrecht: Turmalin, S. 90. Albrecht weist an dieser Stelle mit Eva Geulen auf eine ergänzende, poetologische Lesart von Turmalin hin, die über eine didaktische Deutung hinausgeht, diese aber nicht invalidiert (vgl. ebd., S. 89 f.). Vgl. auch Campbell: Toward a Truer Mimesis, S. 586. Campbell liest Turmalin als effektive Thematisierung einer „obscure aberration from human norms“ (ebd.), die anhand der Figuren des Rentherrn und seiner Tochter dargestellt werde, sich aber auch in der Erzähltechnik manifestiere (siehe auch Anm. 155 in diesem Kapitel). 159 Harald Schmidt arbeitet das Gefährdungspotenzial der Kunst im Hinblick auf eine weitere Figur heraus. Professor Andorf gehört, wie sich anhand der oben zitierten Primärtextstelle zu dessen „dichtenden Kräften“ (T2, S. 155) zeigen lässt, zur Gruppe der „auf die Rezeption beschränkten Kunstliebhaber“ (Schmidt: Geschichte in Trümmern, S. 133). Seine „poetische Ader“ (ebd.) nähre sich „aus dem sanftmelancholischen Vergnügen an den privativen Reizen des Verfalls“ (ebd.). Eine Figur, die ihr „höchstes Vergnügen aus solchem Verfall und solchem Wetter [der Verweis auf das Wetter bezieht sich ebenfalls auf T, S. 155; H. A.]“ (ebd.) ziehe, müsse als „gefährdet“ (ebd.) gelten. Stifter rette die Figur, so Schmidt unter Verweis auf T, S. 154, aber vor der „pathologischen, suizidnahen Melancholie“ (ebd.) des Textes, in dem er ihr ein „heiteres und soziables Wesen“ (ebd.) zuspreche. 160 An Heckenast, 13. Oktober 1849 (PRA 18, S. 14–16, hier S. 15). Vgl. Mason: Stifter’s ‘Turmalin’, S. 351 f. und 357 f.

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„keine systematische philosophische Ästhetik vertrat“161, durchzieht die Vorstellung von einer „religiösen Bindung der Kunst“162 seine Schriften und hat sich am einprägsamsten in der berühmten Formulierung von der Kunst als „Darstellung des Göttlichen im Kleide des Reizes“163, der sich außer der Religion alles unterordnen müsse, niedergeschlagen. In Stifters Aufsatz Die Kunstschule von 1849 erscheint die Kunst gar als „Wohlthäterin der Menschheit“164, die auf den Rezipienten eines Kunstwerks eine erzieherische, veredelnde Wirkung ausübe.165 Sie erlaube es einem „einzige[n] Dichter oder Künstler, der mit göttlicher Kraft und Weihe auf seine Zeit zu wirken verstand, […] die Menschheit durch seine Gebilde oft plötzlich um mehrere Stufen höher“166 zu heben – eine Wirkung, die „Unterricht, Ermahnung und Gesetze“167 nicht hervorzurufen im Stande seien. Umgekehrt sei aber vor einem Missbrauch der Kunst durch „schlechte[] Künstler und Dichter“168 zu warnen. Hier wirke der „Reiz, der ihr [der Kunst; H. A.] doch noch inne wohnt, viel verderblicher als alles Andere, macht den Menschen sinnlich leichtfertig, oberflächlich und stürzt ihn, wenn er handeln soll, in das Ungereimte und Grausame.“169 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Turmalin nicht als literarische Ausprägung einer Kunstkritik gelesen werden sollte, die eine grundsätzliche Unvereinbarkeit von Kunst und Leben postuliert, sondern als Warnung vor dem falschen Umgang mit ihr.170 Im vorbildlichen Lebensentwurf der Ich-Erzählerin || 161 Karl Möseneder: Schriften zur Kunst [Art.]. In: SHB, S. 161–166, hier S. 166. 162 Ebd., S. 162. 163 Adalbert Stifter: Albumblatt. In: Ders.: Schriften zu Literatur und Theater. Hrsg. von Werner M. Bauer. Stuttgart u. a. 1997 [HKG 8,1], S. 52. 164 Adalbert Stifter: Die Kunstschule. In: Ders.: Schriften zu Politik und Bildung. Texte. Hrsg. von Werner M. Bauer. Stuttgart 2010 [HKG 8,2], S. 172–175, hier S. 174. 165 Vgl. Möseneder: Schriften zur Kunst, S. 161 f. Möseneder verweist darauf, dass Stifter sich mit dem Gedanken von der veredelnden Wirkung, welche die Kunst auf den Menschen habe, zwar auf Ovids Epistulae ex ponto berufe, aber nichtsdestotrotz „einem Gemeinplatz der idealistischen Wirkungsästhetik des 18. Jahrhunderts folgt“ (ebd., S. 162). 166 Stifter: Die Kunstschule, S. 174 f. 167 Ebd., S. 174. 168 Ebd. 169 Ebd. 170 Vgl. Hertling: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“, S. 30. Hertling zieht Stifters Kunstverständnis auf einer weiteren Ebene zur Deutung der Erzählung heran. So interpretiert er die schwer verständlichen Äußerungen des Mädchens in Turmalin dahingehend, dass „der Widersinn des Daseins [...] nur im Bereich des Poetischen erfahren und empfunden werden kann“ (ebd.). Diese Art der Vermittlung von schwer zu begreifenden Sachverhalten – Hertling geht an dieser Stelle davon aus, dass der Vater des Mädchens Suizid begangen hat – entspreche „eindeutig Stifters Haltung gegenüber dem Leben und der Kunst überhaupt“ (ebd.).

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und – wie noch zu zeigen wird – in dem trotz allem gelingenden Erziehungsprojekt an dem ‚wilden‘ Mädchen der Erzählung zeigt sich deswegen folgerichtig, dass auch der Umkehrschluss gilt: Zwischen einer angemessenen, die Kontrolle behaltenden Einstellung zur Kunst und einem vorbildlichen Leben besteht dieselbe Parallele. Der Topos, der sich in Turmalin in textkonstitutiver Weise ausprägt, lässt sich deshalb in Analogie zum Topos von der Macht der Schrift (siehe Abschnitt 3.2.7), wie folgt beschreiben: Tab. 4: Die Macht der Kunst (Topos)

Deskriptor

Deskription

Die Macht der Kunst

Die Kunst hat das Potenzial, Existenzen zu verändern, und zwar zum Positiven wie zum Negativen.

Sowohl im Scheitern des Rentherrn im ersten Teil der Erzählung als auch in der Art und Weise, wie sich die Erzählerin zu Beginn der Binnenhandlung präsentiert, zeigen sich Ausprägungen dieses Vorstellungsmusters. Damit ist es aber noch nicht vollständig abgehandelt. Beide Lebensentwürfe werden forterzählt, und zwar in einem Fall bis hin zum endgültigen Scheitern und im anderen Fall bis zu dem Punkt, an dem erzieherische Maßnahmen eine größtmögliche Annäherung an das Ideal der Nützlichkeit herbeigeführt haben.

3.3.6 Körperlichkeit und Sprachlosigkeit Während sich oben schon herausgestellt hat, dass sich das rousseauistische Streben nach dem Mittelpunkt der kultivierten Natur in Turmalin ebenso zeigt wie in der Narrenburg, lassen sich andere Ermöglichungszusammenhänge, die ich für die Gestaltung der Figuren in der Narrenburg in Anschlag gebracht habe, nämlich zum einen die Machbubah-Episode und zum anderen das Motiv des edlen Wilden, nicht ohne weiteres auf Turmalin anwenden. Als historisches Vorbild für die Figur des ‚wilden‘ Mädchens in dieser Erzählung kann vielmehr das Schicksal des Nürnberger Findlings Kaspar Hauser gelten.171 Am 7. Juli 1828, eine Woche nach dem plötzlichen und rätselhaften Auftauchen Hausers in

|| 171 Vgl. Geulen: Adalbert Stifters Kinder-Kunst, S. 660 ff. Ein früher Vergleich des ‚wilden‘ Mädchens in Turmalin mit Kaspar Hauser findet sich bereits bei Joachim Müller (vgl. ders.: Stifters „Turmalin“, S. 40 u. 43).

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Nürnberg, veröffentlichte der Bürgermeister der Stadt eine Bekanntmachung, die „in ganz Europa Aufsehen [erregte]“172, weil sie vermuten ließ, dass es sich bei dem Findling um einen „gewaltsam beseitigten Thronanwärter“173 handele. Gleichzeitig ließ diese Ankündigung Kaspar Hauser aber „in die Reihe der stets sensationellen wilden Kinder auf[rücken]“174. Während sich bereits in frühen Schriften über dessen Schicksal Ansätze zu einer Literarisierung des realen Kriminalfalls zeigen,175 lässt sich heute von einem Kaspar-Hauser-Stoff sprechen, der in vielfältiger Weise literarisch rezipiert wurde.176 Im Vergleich mit den anderen Texten aus dem Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen lässt sich Turmalin in besonderer Deutlichkeit auf diesen Stoff zurückführen.177 Zu nennen sind hier die Isolation der Tochter des Rentherrn in der vergitterten Kellerwohnung, ihre pathologischen Züge, was die mündliche und schriftliche Kommunikation angeht178 und nicht zuletzt der öffentliche Charakter des Falls. Trotzdem wird man sich damit schwertun, aus den Details des gut dokumentierten Falls ‚Kaspar Hauser‘ einen unmittelbaren Interpretationsansatz für Turmalin zu konstruieren. Stattdessen gilt es auch hier, von der konkreten Vorlage zu abstrahieren und einen weiter gefassten Zusammenhang in den Blick zu nehmen. Als Findelkind lässt sich Kaspar Hauser mit anderen, ebenfalls historisch belegten Findlingen in eine Kategorie einordnen, die häufig mit dem auf Carl

|| 172 Ulrich Struve: Einleitung. In: Der Findling. Kaspar Hauser in der Literatur. Hrsg. von Ulrich Struve. Stuttgart 1992, S. 1–9, hier S. 2. 173 Ebd. 174 Ebd. 175 Vgl. Berthold Weckmann: „Natur-Geschichten“: Kaspar Hauser und die wilden Kinder. In: Der imaginierte Findling. Studien zur Kaspar-Hauser-Rezeption. Hrsg. von Ulrich Struve. Heidelberg 1995, S. 15–36, hier S. 35. 176 Vgl. Struve: Einleitung, S. 7 ff. Ulrich Struve versammelt in seiner Anthologie (siehe Anm. 172 in diesem Kapitel) zur „literarische[n] Kaspar-Hauser-Tradition“ (ebd., S. 8) fast 90 Texte, die diese Entwicklung illustrieren. Ausgespart bleiben dabei literarische Rezeptionen, „die bestimmte Motive der Hauser-Mythe radikalisieren“ (ebd., S. 9); Struve nennt Turmalin hier als Beispiel (vgl. ebd., S. 8 f.) 177 Vgl. Geulen: Adalbert Stifters Kinder-Kunst, S. 661. 178 Anselm von Feuerbach, der zum „wichtigste[n] Protektor“ (Struve: Einleitung, S. 2) von Kaspar Hauser wurde, beschrieb 1832, wie Hauser rudimentäre sprachliche Elemente „als gemeinsame Ausdrücke für alle seine Vorstellungen“ (Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach: Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben der Menschen. Ansbach 1832, S. 24. Zitiert nach Struve: Einleitung, S. 1) gebrauchte.

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von Linné zurückgehenden Begriff des homo ferus belegt wird.179 Linné veröffentlichte seinen grundlegenden Beitrag zur Taxonomie der natürlichen Welt, Systema Naturae, erstmals 1735 und erweiterte das Werk bis 1768 in insgesamt 12 Auflagen kontinuierlich. Die 10. Auflage von 1758 enthält bereits sechs Beispiele für homines feri. In der 12. und letzten Auflage hat Linné noch drei weitere Beispiele hinzugefügt. Eine andere Bezeichnung für die homines feri, nämlich ‚Wolfskind‘, rekurriert zum einen auf die Wildheit der bezeichneten Personen, verweist aber auch auf Berichte von Kindern, die in der Wildnis aufwachsen und von einem Tier – etwa einer Wölfin – an Kindes statt angenommen werden. Berichte über solche verlassen oder verwildert aufgefundene Kinder lassen sich vom 14. bis zum 17. Jahrhundert vereinzelt „als Denkwürdigkeiten in den Chroniken“180 finden.181 Mit der Frühaufklärung setzt dann eine intensivere Auseinandersetzung mit diesem Phänomen ein, in der die „naturgeschichtlichphilosophische Frage nach dem Ursprung“182 und dem Naturzustand des Menschen gestellt wird. Den Berichten über homines feri kommt im Hinblick auf ihre literarische Rezeption eine besondere Bedeutung zu, weil sie im Laufe dieser Entwicklung eine Verbindung mit einer „bürgerlichen Melancholie“183 einge-

|| 179 Vgl. Julia V. Douthwaite: The Wild Girl, Natural Man, and the Monster: Dangerous Experiments in the Age of Enlightenment. Chicago 2002, S. 15 ff. Vgl. auch Weckmann: „NaturGeschichten“, S. 22. 180 Weckmann: „Natur-Geschichten“, S. 17. 181 Das Motiv des in der Wildnis zurückgelassenen Kindes lässt sich aber bis in die antike Mythologie zurückverfolgen. Eines der bekannteren Beispiele ist sicher ein römischer Gründungsmythos, der von den Zwillingsbrüdern Romulus und Remus berichtet, die in einem Korb auf dem Tiber ausgesetzt wurden, um eventuelle Ansprüche auf die Thronfolge aus dem Weg zu räumen (vgl. Herbert Hunger: Rómulus [Art.]. In: Ders.: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie mit Hinweisen auf das Fortwirken antiker Stoffe und Motive in der bildenden Kunst, Literatur und Musik des Abendlandes bis zur Gegenwart. 8., erweiterte Auflage, Wien 1988, S. 463–466 und Edward Tripp: Romulus und Remus [Art.]. In: Ders.: Reclams Lexikon der antiken Mythologie. Übersetzung von Rainer Rauthe. 8., bibliographisch aktualisierte Auflage. Stuttgart 2011, S. 469–470). Nachdem die Kinder unversehrt auf trockenem Boden gelandet waren, wurden sie sowohl von einer Wölfin als auch von einem Specht ernährt, denn „beide Tiere waren dem Vater der Kinder, dem Gott Mars, heilig“ (Tripp: Romulus und Remus, S. 469). Später wuchsen sie aber in Gemeinschaft von Menschen auf. Der Aspekt der ‚Wildheit‘ im Sinne der homines feri scheint in der Überlieferung des Mythos keine tragende Rolle zu spielen, lässt sich aber insofern darin nachweisen, als berichtet wird, dass die Brüder auch als junge Männer „keine Angst vor wilden Tieren oder Räubern“ (ebd.) hatten. Zahlreichen Bearbeitungen in der bildenden Kunst, Malerei, Musik und Literatur des Spätmittelalters und der Neuzeit rezipieren den Stoff von Romulus und Remus (vgl. Hunger: Rómulus, S. 464). 182 Weckmann: „Natur-Geschichten“, S. 19. 183 Ebd., S. 24.

Gefährliche Kunst: Turmalin | 123

hen, die sich in einer populären Rezeption von Rousseaus Thesen zum Naturzustand des Menschen (siehe Abschnitt 3.2.3) dem „eigenen Ursprung auf der Spur“184 weiß. Begreift man die kindliche Spielart des homo ferus im Wortsinne als ‚wilden Menschen‘ oder ‚wildes Kind‘, scheint die Art und Weise, wie Stifter die Figur Pia in der Narrenburg gestaltet, dem Begriff auf den ersten Blick viel eher gerecht zu werden als das Mädchen mit dem viel zu großen Kopf in Turmalin. Pia hat sich die verwilderten Anlagen des Rothensteins zu eigen gemacht, kommt und geht, wie es ihr beliebt, blickt die Erwachsenen „mit wilden schwarzen Augen an“ (Nb2, S. 373) und bewegt sich „wie eine junge, schlanke Pantherkatze“ (ebd.; siehe auch Abschnitt 3.2.5). Trotzdem fehlen dieser Figur entscheidende Elemente, die mit der Vorstellung des homo ferus verbunden wurden, nämlich das Aufwachsen in Isolation, Sprachlosigkeit und eine von der Norm abweichende, entstellt wirkende Gestalt, die sich etwa durch vierbeinigen Gang oder Körperbehaarung auszeichnet.185 Pia entzieht sich zwar immer wieder dem Zugriff ihres Großvaters, wächst aber trotzdem unter dessen Aufsicht und keineswegs isoliert auf. Ihre poetisierte Sprache mag sie in die Nähe eines weiteren ‚wilden‘ Mädchens, der später entstandenen Figur Juliana aus dem Waldbrunnen (siehe Abschnitt 3.5 ff.) rücken, aber entscheidend ist, dass Pia trotz ihrer ungewöhnlichen Ausdrucksweise definitiv in der Lage ist, direkt und verständlich mit ihrem Großvater zu kommunizieren (vgl. Nb2, S. 371 f.). Von auffälligen, entstellenden körperlichen Merkmalen schließlich wird im Text nichts berichtet – im Gegenteil, Pia erscheint gegen Ende der Erzählung nicht nur als „vollendetes Wunder“ (Nb2, S. 435), sondern ist auch „namenlos schön“ (ebd.) Das ‚wilde‘ Mädchen in Turmalin dagegen, das in der Isolation der Kellerwohnung des Perronschen Hauses aufwächst, von der es nur schwer entwöhnt werden kann (vgl. T2, S. 172), steht durch seine Eigenschaften in dem erweiterten Zusammenhang der homines feri, der über den Kaspar-Hauser-Stoff hinausgeht. So wird gleich bei dem ersten Auftreten des Mädchens in der Erzählung seine körperliche Erscheinung in den Blick genommen. Auch wenn es auf den ersten Blick mit den auf allen Vieren gehenden und behaarten homines feri bei Carl von Linné nicht viel gemeinsam zu haben scheint, teilt es doch die übergeordnete Eigenschaft der körperlichen Entstellung und Abweichung von dem, was in der erzählten Welt als normales Aussehen und Verhalten empfunden wird, mit diesem Vorbild. Als die Erzählerin den Pförtner des Perronschen Hauses und seine Tochter aus dem Fenster ihrer Wohnung beobachtet, stellt sie || 184 Geulen: Adalbert Stifters Kinder-Kunst, S. 649. 185 Vgl. Douthwaite: The Wild Girl, S. 15.

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nämlich fest, dass das „Mädchen einen so großen Kopf [hatte], daß es zum Erschreken gereichte“ (T2, S. 150). Noch drastischer beschreibt ihr Sohn Alfred seinen Eindruck nach der ersten Begegnung mit dem Mädchen: Es war ein „fürchterlich großes Angesicht“ (T2, S. 159), das ihn aus den Kellerfenstern des Perronschen Hauses anschaute. Sowohl Vater als auch Tochter bewegen sich „so unbeholfen und ungeschickt, daß man sogleich sah, daß sie Wien nicht gewohnt seien, und daß sie sich nicht so zu bewegen verstünden wie die anderen Menschen“ (T2, S. 150). Als die Erzählerin das Mädchen zum ersten Mal aus der Nähe sieht, gelingt es ihr „wegen der ungewöhnlichen Bildung des Hauptes und des Angesichtes“ (T2, S. 164) nicht, das Alter des Kindes zu bestimmen. Eine weitere Eigenschaft des Mädchens lässt sich in Beziehung zur Sprachlosigkeit der homines feri setzen. In diesem ‚wilden‘ Mädchen manifestiert sie sich allerdings auf eine ganz besondere Weise. Das Kind verfügt durchaus über Sprache und ist sogar außergewöhnlich eloquent, was es ihm erlaubt, die Fragen der Ich-Erzählerin „in der reinsten Schriftsprache“ (T2, S. 164) zu beantworten. Gleichzeitig ist es in der mündlichen Kommunikation offenbar so ungeübt, dass es große Schwierigkeiten hat, sich verständlich zu machen: Man hätte das, was sie sagt, so die Erzählerin, „für blödsinnig [...] halten können, wenn es nicht zum Theile wieder sehr verständig gewesen wäre“ (ebd.). Die Erzählerin weist außerdem explizit darauf hin, dass sie die Äußerungen des Mädchens „ungefähr in unserer Sprache oder Sprechweise“ (ebd.) wiedergibt, weil man ohne diesen Übersetzungsvorgang „die Gedankenfolge des Mädchens nicht verstehen würde“ (ebd.). Die schriftlichen Aufzeichnungen des Kindes, die es im Auftrag des Vaters angefertigt hat, zeichnen sich in ähnlicher Weise dadurch aus, dass der „Ausdruck […] klar und bündig, der Satzbau richtig und gut, und die Worte obwohl sinnlos […] erhaben“ (T2, S. 177) sind, sodass die Erzählerin sie „Dichtungen nennen“ (ebd.) würde, wenn nur „Gedanken in ihnen gewesen wären“ (ebd.). Die Erzählung scheint in diesen Passagen tatsächlich auf sich selbst – genauer: auf ihren eigenen enigmatischen Charakter – zu verweisen, und deswegen kann man Turmalin hier auch als poetisches Manifest lesen, das sich „von allen Realismusprogrammen, die von der Kunst die Totalität einfordern, die die Wirklichkeit nicht mehr verbürgt“186, abzusetzen sucht. Eine solche Lesart schließt andere Deutungsansätze aber nicht aus. Schließlich steht die besondere Form der Sprachlosigkeit des Mädchens in Turmalin in direktem Zusammenhang mit einem fundamental gescheiterten Erziehungsprozess, der sich wiederum auf den topischen Zusammenhang von Kunst und Lebenstüchtigkeit || 186 Geulen: Adalbert Stifters Kinder-Kunst, S. 665 f.

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zurückführen lässt. Dieser Zusammenhang tritt wieder in den Vordergrund, wenn sich die Erzählerin veranlasst sieht, dem Mädchen zu Beginn seines Erziehungsprozesses literarische Texte „mit bestimmter gehobner Betonung vorzutragen“ (T2, S. 177), womit sie eine Reaktion auslöst, die ihr hilft, den Zustand des Mädchens besser zu verstehen. Das Deklamieren von Dichtung ist nämlich „ein Reiz für das Mädchen, dem es sich schwärmerisch hingab“ (ebd.). Es beraubt die dichterische Sprache ihrer Bedeutung und reduziert sie auf ihren reizvollen Klang – die Versuche, auf der Flöte des Vaters zu musizieren, finden „in demselben Geiste“ (ebd.) statt. Dieser Geist ist das Erbe des Rentherrn, dessen Unfähigkeit, eine Existenz zu führen, die dem Ideal der Nützlichkeit entspricht, eine Fortsetzung in den Verhaltensweisen seiner Tochter findet.

3.3.7 Der Achtungserfolg einer vorbildlichen Erzieherin „Er lehrte mich mancherlei Dinge“ (T2, S. 173) – so erinnert sich das Mädchen in Turmalin an seinen verstorbenen Vater, und berichtet der Erzählerin gleichzeitig von dessen absurd erscheinenden Aufträgen, im Gefängnis der Kellerwohnung immer wieder den Moment zu beschreiben, wenn der Vater „todt auf der Bahre liegen werde“ (ebd.) und die „Mutter von ihrem Herzen gepeinigt in der Welt herumirrt, wie sie sich nicht zurük getraut, und wie sie in der Verzweiflung ihrem Leben ein Ende macht“ (ebd.). Das greifbare Ergebnis dieses Umgangs mit dem Mädchen sind dessen unverständliche Aufzeichnungen, doch der Schaden, den es genommen hat, wiegt viel schwerer: Die Erzählerin spricht von der Notwendigkeit, „jene wilde und zerrissene ja fast unheimliche Unterweisung in einfache übereinstimmende und verstandene Gedanken umzuwandeln“ (T2, S. 179). Hier wird das erzieherische Programm formuliert, dem sich die Erzählerin verschreibt. Im Unterschied zur Narrenburg, wo Heinrichs Erziehungsarbeit an Pia vom Text ausgespart wird, um lediglich das Ergebnis zu präsentieren, geht Turmalin diesbezüglich ins Detail. In einem langwierigen Entwöhnungsprozess von „dem unterirdischen Gewölbe“ (T2, S. 172), also der Kellerwohnung des Perronschen Hauses, überführt die Erzählerin das Kind in ihre bürgerliche Welt der Nützlichkeit. Zu Beginn dieses Vorgangs hat das Mädchen keine „Vorstellung oder eine Kenntnis von der geringsten weiblichen Arbeit“ (T2, S. 172). Ein „Verstehen der Dinge der Welt“ (T2, S. 179) wird ihm „durch Gespräche und durch Lesen einfacher Bücher

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hauptsächlich aber durch Umgang“ (ebd.) ermöglicht und es muss „zu den unentbehrlichsten Verrichtungen des Lebens“ (T2, S. 178) angeleitet werden.187 Von besonderer Bedeutung ist auch hier wieder die dynamische Positionierung der Figuren in den topografischen Räumen der Erzählung. Das endgültige Scheitern des Rentherrn, dessen Erziehungsarbeit an seiner Tochter misslingt und dessen Leben durch einen banalen Sturz von einer Zimmerleiter endet, findet im Keller des Perronschen Hauses statt, das, wie in Abschnitt 3.3.4 beschrieben, trotz seiner Lage im vorstädtischen Raum dem Bereich der Wildnis zugeordnet werden kann. Das Eindringen der Erzählerin in diesen Bereich erinnert an die Art und Weise, wie sich Heinrich in der Narrenburg den verwilderten Rothenstein zu eigen macht. Die Aufgabe der Erzählerin manifestiert sich aber nicht in einer baulichen Restaurationsarbeit, sondern darin, das ‚wilde‘ Mädchen Schritt für Schritt aus dieser Umgebung zu befreien. Das Kind hängt „mit einer Hartnäkigkeit an dem Gemache“ (T2, S. 172), die der Erzählerin „unbegreiflich“ (ebd.) ist, aber effektiv unterstreicht, dass die Erziehung und Sozialisation des Kindes durch den Vater fundamental gescheitert ist bzw. gar nicht stattgefunden hat. In dem Maße, in dem das Erziehungsprojekt der Erzählerin gelingt, lässt sich auch der Lebensmittelpunkt des Mädchens in die Wohnung der Erzählerin verlagern, also in die Richtung des Mittelpunktes der kultivierten Natur. Die räumliche Repräsentation der Transformationsprozesse, denen die Figuren der Erzählung unterzogen werden, lässt sich also wie folgt darstellen:

|| 187 Es ist bemerkenswert, dass die Erzählerin und ihr Mann den Zustand des Mädchens durch Gespräche zu verbessern suchen, denn das Konzept einer Gesprächstherapie, mit dem Stifter sich in seinem letzten Erzähltext, der vierten Fassung der Mappe meines Urgroßvaters, ausführlicher beschäftigen wird, war zur Entstehungszeit der Erzählung noch nicht in der Gesellschaft angekommen (vgl. Silvia Bengesser und Herwig Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar. Stuttgart 2016 [HKG 6,4], S. 189). Bengesser und Gottwald führen in Bezug auf die Gesprächstherapie, die Augustinus in der vierten Fassung der Mappe mit seiner depressiven Patientin Isabella führt, folgendes aus: „Erste Ansätze einer psychischen Kur in Form von Gesprächen lassen sich in den Erzählungen Der Pförtner im Herrenhause [...] bzw. Turmalin [...] feststellen. Wenige Jahrzehnte später wird diese psychische Heilmethode in elaborierter Form durch Sigmund Freuds Arbeit im Medizindiskurs etabliert werden“ (ebd.). Siehe auch Abschnitt 5.4.7 und Kap. 5, Anm. 338.

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Ich-Erzählerin Mädchen

Mädchen Rentherr

Rentherr Perronsches Haus (Wildnis) −−

Wohnung der Ich-Erzählerin (kultivierte Natur) −

+

Wohnung des Rentherrn (Hochkultur) −

−−

Abb. 8: Bewegungen auf der Natur-Kultur-Skala in Turmalin

Anders als Jodok in der Narrenburg, der sein Leben im Niemandsland zwischen grüner Fichtau und dem Rothenstein beschließt und am Ende seiner gescheiterten Existenz zumindest zur Einsicht in sein Fehlverhalten gelangt, wird der Rentherr dauerhaft dem Bereich der Wildnis zugeordnet. Der Rahmenerzähler berichtet kurz vor Beginn der Binnenhandlung: „Einmal ging die Sage, der Rentherr sei in den böhmischen Wäldern, wohne dort in einer Höhle, halte das Kind in derselben verborgen, gehe unter Tags aus, um sich den Lebensunterhalt zu erwerben, und kehre Abends wieder in die Höhle zurük“ (T2, S. 148). Im weiteren Erzählverlauf tritt die Kellerwohnung des Perronschen Hauses an die Stelle dieser Höhle, wodurch ihre Zugehörigkeit zu einem innerstädtischen Bereich der Verwilderung unterstrichen wird. Hier findet der Rentherr den Tod. Das Mädchen dagegen kann von der Erzählerin sukzessive aus diesem Ort des Scheiterns befreit und in die bürgerliche Welt einer nützlichen Existenz überführt werden. Am Ende der Erzählung mietet sie ihrem Zögling ein Zimmer, das sich in der Nähe ihres Hauses befindet, und geht „sehr oft zu ihm hinüber“ (T2, S. 179). Das Mädchen bleibt also dauerhaft in räumlicher Nähe seiner vorbildlichen Erzieherin und unter deren Einfluss und kann durch die Produktion und den Verkauf von Handwerksarbeiten eine einfache, aber nützliche Existenz führen. Der Erfolg des in Turmalin geschilderten Erziehungsprozesses ist bescheiden, daran besteht kein Zweifel. Dies zeigt sich besonders im Vergleich mit den Ergebnissen, von denen der Erzähler der Narrenburg zu berichten weiß. Aus dem ‚wilden‘ Mädchen wird nämlich noch nicht einmal „ein halbes Wunderwerk“ (Nb2, S. 435) – so bezeichnet der Erzähler der Narrenburg Anna am Ende des Textes – und es bleibt zwar namenlos, ist aber keineswegs so „namenlos schön“ (ebd.) wie Pia. Auch wenn ein Kuraufenthalt, der dem Kind nach der Befreiung aus der Kellerwohnung ermöglicht wird, die „Züge des Angesichtes […] geschmeidiger klarer und sprechender“ (T2, S. 178) werden lässt, wird sein übermäßig großer Kopf lediglich „etwas kleiner und gebildeter“ (ebd.). Dem

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Urteil, dass die „restaurative Reintegration“188 des Mädchens „fraglich ist oder ganz ausbleibt“189, kann ich mich aber nicht anschließen.190 Liest man Turmalin in seiner Zugehörigkeit zum Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen, stellt sich indes eine ganz andere Frage: Ist die Ergebnisqualität der dargestellten Erziehungsprozesse – auch wenn sie in der Narrenburg in exemplarischer Weise hoch ausfällt – am Ende gar nicht das, worum es den Texten in erster Linie geht? Bei aller Aufmerksamkeit, die in den bisher untersuchten Texten den Zöglingen zuteilwird, ist es letztendlich doch die Erzieherfigur, die im Mittelpunkt steht. So gilt das Interesse des Erzählers in der Narrenburg ganz eindeutig Heinrich, dem Erzieher, und in Turmalin tritt die Erzieherin gar auf halber Strecke an dessen Stelle und ergreift das Wort – nicht nur, um selbst von dem ‚wilden‘ Mädchen zu berichten, sondern auch, um sich als „Gegenpol der Figuren des ersten Teils“191 zu positionieren. Im Folgenden wird zu fragen sein, ob und wie sich diese Tendenz in Kazensilber und dem Waldbrunnen fortsetzt.

3.4 Rätselhafte Wunder: Kazensilber 3.4.1 Einführung und Forschungsüberblick zu Kazensilber In der Erzählung Kazensilber192 finden sich mehrere Passagen, die für Stiftersche Verhältnisse ein Höchstmaß an Spannung und damit auch an Unterhaltungs-

|| 188 Geulen: Adalbert Stifters Kinder-Kunst, S. 652. 189 Ebd. Geulen bezieht diese Aussage auf die ‚wilden‘ Mädchen des gesamten Werkkomplexes, also Pia in Die Narrenburg, das Mädchen mit dem großen Kopf in Turmalin, das ‚braune Mädchen‘ in Kazensilber und Juliana in Der Waldbrunnen. 190 Eve Mason kommt zu dem Schluss, dass es in Turmalin „zur wenigstens teilweisen Integration des Mädchens in die menschliche Gesellschaft“ (dies.: Stifters Bunte Steine, S. 80) kommt. Hans Esselborn beurteilt das Ergebnis des Erziehungsprozesses noch positiver: „[D]ie körperliche Besserung [des Mädchens; H. A.] wird [...] anscheinend auch durch die geänderte Situation überhaupt herbeigeführt, wenn man nicht gar [...] von der Heilung durch geistige Wiedereingliederung sprechen will“ (ders.: Adalbert Stifters „Turmalin“, S. 20). Auch Günter Helmes gelangt zu der Feststellung, dass es der Ich-Erzählerin „in ebenso geduldiger wie aufmerksamer wie phantasievoller Zuwendung“ (S. 60) gelinge, den Zustand des „an Leib und Seele versehrten“ (ebd.) ‚wilden‘ Mädchens der Erzählung dauerhaft zu bessern, bis ihm sogar „ein gänzlich eigenständiges Leben“ (ebd.) ermöglicht werde. 191 Esselborn: Adalbert Stifters „Turmalin“, S. 18. 192 Die hier vorgelegte Interpretation dieses Textes nimmt auf Ergebnisse meiner Magisterarbeit Bezug (vgl. Achenbach: Natur versus Kultur?, S. 60–92). Siehe dazu auch Anm. 1 in diesem Kapitel.

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wert für die jugendliche Leserschaft193 der Erzählsammlung Bunte Steine bietet – man denke etwa an die Beschreibung des Hagelsturms oder an die Schilderung der Feuersbrunst, in denen das braune Mädchen194 jeweils als Retterin in der Not auftritt. Mehrere zeitgenössische Rezensenten und auch der Autor selbst bewerteten den Text günstig.195 Stifter wünschte sich, ihm wären alle Texte in den beiden Bänden so geraten „wie die ersten Bogen von Kazensilber oder wie einige Parthieen des alten Pfarrers“196 und betrachtete den Text als das „beste und zarteste Stük“197 der Sammlung. Im Unterschied zu den übrigen Texten in der Erzählsammlung Bunte Steine liegt Kazensilber nicht in einer vor der Buchveröffentlichung in einem Periodikum publizierten Journalfassung vor.198 Die Forschung hat unterschiedliche Aspekte des Textes untersucht, wobei die Inhalte aus der volkstümlichen Überlieferung, die Stifter in den Text eingearbeitet hat, einen wichtigen Schwerpunkt bilden.199 So liest Anton Avanzin Kazensilber als „eine Bearbeitung der Volkssage von Pans Tod, wie sie schon im Altertum vorkommt“200, und bezieht sich damit auf einen Text von Plutarch (siehe dazu Anm. 268 in diesem Kapitel). Avanzin führt außerdem die Figur des braunen Mädchens anhand seiner äußerlichen Erschei-

|| 193 Stifter schließt die Vorrede zu den Bunten Steinen mit einem Hinweis darauf, dass seine dortigen Ausführungen „keineswegs für junge Zuhörer“ (HKG 2,2, S. 16) geeignet seien und lädt die Leser dazu ein, nun zu den „harmlosen folgenden Dingen“ (ebd.) überzugehen. In der Einleitung zu den Bunten Steinen bezeichnet er die beiden Bände als „Sammlung von allerlei Spielereien und Kram für die Jugend“ (ebd., S. 18). Während diese Äußerungen zu einem gewissen Teil wohl als weiterer Ausdruck einer ‚affektierten Bescheidenheit‘ (siehe Abschnitt 1.4) gewertet werden können, kann man sie auch dahingehend lesen, dass Stifter sich „von der üblichen moraldidaktischen Ausrichtung des zeitgenössischen Jugendschrifttums distanziert“ (Sabine Schneider: Bunte Steine. Überblick und Vorrede [Art.]. In: SHB, S. 71–75, hier S. 71), während er das Buchprojekt trotzdem als „ein Mittel zur Kulturpolitik durch Bildung“ (ebd.) betrachtet. 194 Ich verwende die Bezeichnung ‚braunes Mädchen‘ ohne Anführungszeichen. Siehe dazu Anm. 2 in diesem Kapitel. 195 Vgl. Michael Gamper: Kazensilber [Art.]. In: SHB, S. 91–94. 196 An Heckenast, 29. Oktober 1852 (PRA 18, S. 135). Stifters Verweis auf den ‚alten Pfarrer‘ bezieht sich wohl auf die Erzählung Kalkstein. 197 An Louise von Eichendorff, 31. März 1853 (PRA 18, S. 159). 198 Vgl. Gamper: Kazensilber, S. 91. 199 Ich verwende die folgende Ausgabe des Textes: Adalbert Stifter: Kazensilber. In: Ders.: Bunte Steine. Buchfassungen. Hrsg. von Helmut Bergner. Stuttgart u. a. 1982 [HKG 2,2], S. 241– 315. Zitate aus Kazensilber weise ich im Folgenden mit der Sigle K im Text nach. 200 Anton Avanzin: Die sagenmäßige Grundlage von Stifters „Katzensilber“. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde. Neue Serie Band XV, Gesamtserie Band 64 (1961), S. 274–276, hier S. 274.

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nung auf die Figur Mignon aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre zurück. Während Avanzin einerseits nicht stringent zwischen den Begriffen ‚Märchen‘ und ‚Sage‘ unterscheidet, stellt er andererseits die wichtige These auf, dass Stifter in Kazensilber versucht habe, „das Sagenhafte zu rationalisieren und dadurch dem Publikum näher zu bringen“ (S. 276). Im Jahr 1982 stellt Joachim Müller fest, dass es „bisher keine Spezialanalyse von ‚Katzensilber‘“201 gebe. Um diese Lücke zu schließen, nimmt Müller eine ausführliche Analyse des Textes vor, die er selbst als „textimmanente[] Interpretation“ (S. 152, Anm. 11) bezeichnet. Müller zeichnet im Detail nach, wie die Verwendung eines breiten Farbspektrums die Erzählung strukturiere und ihre Elemente miteinander verbinde. Außerdem analysiert er die rhetorischen Mittel, die zum Einsatz kommen und nimmt eine positive künstlerische Bewertung des Textes vor. Müller deutet das titelgebende, wie ein Edelmetall glänzende, aber wertlose Mineral namens Katzensilber als Symbol für den „bloße[n] Schein“ (S. 167), dem in der Figur des braunen Mädchens „der Entwurf einer Lauterkeit entgegen[wirkt], deren Symbol der Glanz echten Menschensilbers ist“ (ebd.). Eve Mason sieht eine enge Übereinstimmung zwischen den Mechanismen, die überall auf der Welt ähnliche Formen von volkstümlichen Erzählungen hervorgebracht haben, und Stifters darstellerischem Vermögen.202 Während nicht zu entscheiden sei, inwieweit dem Autor diese Übereinstimmung bewusst gewesen sei, könne ein Vergleich der jeweiligen Darstellungstechniken dazu beitragen, seine künstlerischen Absichten zu erhellen. Vor diesem Hintergrund interpretiert Mason Kazensilber als eines der Hauptbeispiele für Stifters „complex relation to the style of the popular narrative“ (S. 117). Nach einer Analyse inhaltlicher und stilistischer Merkmale der Erzählung, die für ihren volkstümlichen Charakter verantwortlich seien, zeigt sie auf, an welchen Stellen Stifter sich vom volkstümlichen Stil löse bzw. darüber hinausgehe. Anschließend untersucht sie ausgewählte Figuren der Erzählung, vor allem das braune Mädchen, die Großmutter und die Mutter und fragt nach den Gründen für das rätselhafte Verschwinden des Kindes. Mason kommt zu dem Schluss, dass Kazensilber eine neuartige Auseinandersetzung mit dem volkstümlichen Erzählgut darstelle, die mit Traditionen der Romantik breche und als „deeply

|| 201 Joachim Müller: Menschenwelt, Naturereignis, Symbolbezug und Farblichkeitsstruktur in Adalbert Stifters Erzählung „Katzensilber“. In: VASILO 31 (1982), Folge 3/4, S. 145–167, hier S. 145, Anm. 1. 202 Eve Mason: Stifter’s ‘Katzensilber’ and the Fairy-Tale Mode. In: MLR 77 (1982), S. 114–129.

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pessimistic tale“ (S. 126) den Glauben aufgebe, dass der Mensch zu seiner eigenen Rettung fähig sei. Die Figur des braunen Mädchens steht im Zentrum von Christine Oertel Sjögrens Untersuchung zu „Myths and Metaphors“203 in Kazensilber. Sjögren setzt sich zum Ziel, bereits vorliegende Interpretationen, die das Mädchen als moralisch vorbildlich handelnden Menschen oder märchenhaftes Wesen beschrieben, durch die Frage nach der „phenomenological and semiotic function“ (S. 358) der Figur zu ergänzen. Das braune Mädchen stelle, so Sjögren, die Strukturachse der Erzählung dar, weil alle anderen Charaktere von dieser Figur her beschrieben werden könnten. Sie ordnet die drei Erwachsenen (Vater, Großmutter und Mutter) unterschiedlichen Positionen im Spannungsfeld von Rationalität und Irrationalität zu und weist dem titelgebenden Mineral eine ästhetische Funktion zu, die „the spirit inherent in all matter“ (S. 366) illustriere und auf den Bereich des Numinosen verweise. Sjögren stellt die Verbindungen zwischen den Charakteren in den Binnenerzählungen der Großmutter und dem braunen Mädchen dar und schließt ihren Beitrag mit einer Analyse der Figur Sigismund, die erst gegen Ende der Erzählung Subjektivität annehme und darin den Autor erkennen lasse. Im achten Kapitel seiner schon mehrfach angeführten Untersuchung zu Stifters ‚Welt der Zeichen‘ fragt Christian Begemann nach der „Differenz und Differenzlosigkeit“204 im mittleren und späten Werk des Autors. Begemann geht in diesem Zusammenhang auch auf Kazensilber ein und zählt den Text mit Granit und Bergkristall „zu den undurchdringlichsten Erzählungen Stifters“ (S. 301). Kazensilber illustriere, wie die „völlige Naturförmigkeit der kulturellen Lebensweise“ (S. 303 f.) zur textbestimmenden Strategie werde. Begemann deutet die topografischen Informationen, die der Text enthält, im Hinblick auf den Unterschied von Natur und Kultur, der „nicht zum Verschwinden gebracht, aber doch minimiert“ (S. 306) werde. Diesen Vorgang bildet er auch auf die Vorgänge um das braune Mädchen ab, dessen Integration in das Leben auf dem Hof nach den Prinzipien der Natur verlaufe, die der Text immer wieder präsentiere: „Wiederholung und Kontinuität“ (S. 307). Begemann spricht, wenn auch in Anführungszeichen, von einem „‚Bildungsweg‘ des Mädchens“ (ebd.), analysiert die Strategien, die bei seiner Sozialisation zum Einsatz kommen und deutet das Auftreten von Naturkatastrophen in Kazensilber und anderen Texten in den

|| 203 Christine Oertel Sjögren: Myths and Metaphors in Stifter’s Katzensilber. In: JEGP 86 (1987), S. 358–371. 204 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 292 (zu Kazensilber vgl. ebd., S. 303–311).

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Bunten Steinen als Aufbrechen der „verschliffene[n] Differenz von Natur und Kultur“ (S. 310). Eine Zuspitzung des „Diskurszusammenhangs, der die Zigeuner seit der Spätaufklärung kulturkritisch mit Natur und Ursprünglichkeit assoziiert und zu ‚edlen Wilden‘ im eigenen Land stilisiert“205, erkennt Stefani Kugler in Kazensilber. Sie analysiert die räumlichen Strukturen der erzählten Welt im Hinblick auf die Psyche der Figuren und beschreibt die unterschiedlichen Rollen von Vater, Mutter und Großmutter im Zusammenhang mit den Kulturationsarbeiten auf dem Hof der Familie, von denen der Text berichtet. Kugler weist dem braunen Mädchen eine poetologische Dimension zu, die im Zusammenhang mit dem „zeitgenössische[n] Zigeunerdiskurs“ (S. 131) stehe. Sie deutet die Episode, in der eine Brandkatastrophe beinahe zum Tod des einzigen Sohns der Familie führt, als Verweis auf das „weibliche Unbewusste, das einen destruktiven Charakter angenommen“ (S. 137) habe und sich im Verhalten von Mutter und Großmutter zeige. In der Figur des braunen Mädchens dagegen entwerfe der Text eine „Natur- und Humanitätsutopie“ (S. 140). Edda Polheim weist Kazensilber eine „Sonderstellung“206 in Stifters Erzählwerk zu. Diese lasse sich unter anderem aus den „häufigen Hinweise[n]“ (S. 36) auf diese Erzählung ableiten, die Stifter in der Einleitung zu den Bunten Steinen gebe. Trotzdem hätten, so Polheim, „dem Glanz von Katzensilber [...] nur wenige Interpreten ihr Augenmerk leihen“ (S. 37) wollen. Sie stellt die Figur des braunen Mädchens in den Zusammenhang der volkstümlichen Überlieferung des Tiroler und Vorarlberger Raums und weist in diesem Zusammenhang auf zwei „Fanggen-Geschichten“ (S. 38, Anm. 9) hin, die im Kommentar der HKG nicht angeführt werden. Polheim geht auf alle Binnenerzählungen des Textes ein, deutet aber vor allem die auf antike Überlieferung zurückzuführende „Todesankündigung“ (S. 42), die in einer dieser Erzählungen eine wichtige Rolle spielt, vor dem Hintergrund ihrer „christlichen Umdeutung als Untergang des gesamten Heidentums“ (ebd.). Sie stellt insbesondere die Art und Weise, wie die Figur der Großmutter die erste Rettungstat des braunen Mädchens bewertet, in diesen Zusammenhang einer „Auseinandersetzung zwischen den heidnischen und den christlichen Mächten“ (S. 52), deren Gewichtung sich im Laufe der Erzählung „zugunsten christlicher Elemente […] verschiebe[]“ (ebd.) und auch die Figur der Mutter mit einbeziehe.

|| 205 Kugler: Katastrophale Ordnung (siehe Anm. 23 in diesem Kapitel), S. 121. 206 Edda Polheim: „Darum war die dunkle Blume da, daß die lichten leben“. Zu Stifters Katzensilber. In: Von Goethe zu Krolow. Analysen und Interpretationen zu deutscher Literatur. In memoriam Karl Konrad Polheim. Frankfurt a. M. u. a. 2008, S. 35–55, hier S. 36.

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Der „Struktur des Rätsels“207 komme in vielen Texten Stifters, so Michael Gamper, „eine entscheidende Bedeutung zu“ (S. 325). Dies gelte in besonderer Weise auch für Kazensilber, weil hier „das verstellte Wissen von einem rätselhaften Menschen in Verbindung steht mit rätselhaften Äußerungen der Natur, genauer: mit überraschenden Wetterereignissen“ (S. 325 f.).208 Die Rätselhaftigkeit der Stifterschen Erzählweise habe aber, so Gamper, nicht nur die Funktion, Spannung aufzubauen und das Interesse des Lesers zu wecken, sondern darüber hinaus eine „eminent wissenspoetologische Bedeutung“ (S. 326), die sich auf das Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen beziehe. Gamper demonstriert diesen Unterschied am Beispiel der Figur der Großmutter in Kazensilber, die ihren Enkeln zwar Rechenschaft über topografische Details der vom ‚Nußberg‘ aus sichtbaren Gegend ablegen kann, aber nicht in der Lage ist, den heraufziehenden Hagelsturm als solchen zu erkennen. Diese „erzählerische [] Inszenierung der Wolken als semiotisch unsichere[n] Bereich“ (S. 329) führt Gamper auf die Naturlehre von Andreas Baumgartner zurück, bei dem Stifter in Wien studiert hat. Vor diesem Hintergrund analysiert Gamper auch die Figur des braunen Mädchens, das im Unterschied zur Großmutter in der Lage sei, die „Zeichen der Natur“ (S. 331) zu lesen, dafür selbst aber in einer erzählerischen Leerstelle verbleibe, die Stifter bewusst konstruiert habe. Marta Famula beschreibt die „Metapher“209 von der Lesbarkeit der Welt mit Hans Blumenberg als „konstitutive Größe im abendländischen Denken“ (S. 39), der eine naturwissenschaftliche Betrachtungsweise der Welt „diametral entgegen“ (S. 40) stehe. In diesem Zusammenhang erkennt sie in Adalbert Stifters Texten den wiederholten Versuch, „den naturwissenschaftlichen Modus zu einem Sinn konstituierenden Medium zu machen“ (ebd.), was sich etwa an Figuren wie Heinrich Drendorf aus dem Nachsommer zeige, die fortwährend damit beschäftigt seien, Dinge zu „verzeichnen“ (ebd.), zu „messen“ (ebd.) und zu „kategorisieren“ (ebd.). Famula beschreibt zwei wesentliche Faktoren in Stifters Werdegang, die zur „konstitutive[n] Verbindung“ (S. 43) einer naturwissenschaftlichen Sicht auf die Welt mit „theologischem Gedankengut“ (ebd.) beigetragen hätten, nämlich die Gymnasialzeit in Kremsmünster und den Einfluss des Physikers Andreas Baumgartner. Famula weist diese Verbindung, die || 207 Gamper: Wetterrätsel (siehe Kap. 2, Anm. 144), S. 325. 208 Weitere Texte Stifters, die diese „zusätzliche Eigentümlichkeit“ (ebd.) aufwiesen, seien Der Condor, Das Haidedorf, Abdias und Kalkstein. 209 Marta Famula: „[D]ie Wunderbarkeiten hörten auf, das Wunder nahm zu.“ Die naturwissenschaftliche Lesbarkeit der Welt als mediale Sinnkonstitution im Werk Adalbert Stifters. In: Medienkollisionen und Medienprothesen. Hrsg. von Gudrun Heidemann und Susanne Kaul. Frankfurt a. M. 2015, S. 39–53, hier S. 39.

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im Folgenden für die Entwicklung eines Interpretaments für Kazensilber eine wichtige Rolle spielen wird, nicht nur in zwei literarischen Texten Stifters – der frühen Erzählung Der Condor und der Buchfassung der Mappe meines Urgroßvaters – nach, sondern auch in der Vorrede zu den Bunten Steinen. Aus den oben angeführten Forschungspositionen lassen sich bereits die Grundlinien ableiten, anhand derer Kazensilber in den Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen eingeordnet und mit den anderen Texten in Beziehung gesetzt werden kann. Tatsächlich wird sich im Folgenden zeigen, dass der Text nicht nur das im Zusammenhang mit der Narrenburg erarbeitete topografische Modell einer kultivierten Natur, die sich zwischen den Polen von Wildnis und Hochkultur auf dem Mittelpunkt einer Skala befindet, sondern auch die Positionierung der Figuren auf dieser Skala in einer Konsequenz umsetzt, die noch weit über das hinausgeht, was sich diesbezüglich in Die Narrenburg oder Turmalin beobachten lässt.210

3.4.2 Zwischen Mythos und Ratio Der „stattliche[] Hof“ (K, S. 243), auf dem sich ein großer Teil der in Kazensilber geschilderten Ereignisse abspielt, bildet hier im Wortsinne den Mittelpunkt des Geschehens.211 Er liegt in „einem abgelegenen aber sehr schönen Theile unsers Vaterlandes“ (ebd.) und die „entfernte[] Hauptstadt“ (K, S. 245) ist nur durch eine längere Fahrt mit dem Wagen zu erreichen. Die nähere Umgebung bietet Raum für „manches Bauerhaus manchen Meierhof“ (K, S. 244), bevor die Hügel, „ohne daß man es ahnt, in steile Schluchten abfallen“ (ebd.) und die „größeren düsteren breitgedehnten Wälder kommen, die den Beginn der böhmischen Länder bezeichnen“ (ebd.). Der „hohe[] Nußberg“ (K, S. 246), den die Großmutter regelmäßig mit ihren Enkeln aufsucht, liegt in Gehweite vom Hof der Familie. Er stellt einen Bereich dar, der ein enormes Bedrohungspotenzial zu entfalten vermag und deswegen mit einiger Berechtigung als Wildnis bezeichnet werden kann (siehe auch Abschnitt 3.4.4). In der Topografie von Kazensilber || 210 Vgl. Koschorke: Erziehung zum Freitod, S. 319. Koschorke bewertet die Landschaftsbeschreibung, mit der Kazensilber beginnt, wie folgt: „Diesem topographischen Aufriss entspricht das Personal der Erzählung“ (ebd.). Allerdings stellt er die „Hofbewohner“ (ebd., S. 320) mehr oder weniger als Einheit dar, zu deren „Welt der Sesshaftigkeit“ (ebd., S. 319) das braune Mädchen eine „namenlose, ursprungslose Gegenfigur“ (ebd.) bildet. 211 Vgl. Gunter H. Hertling: Mignons Schwestern, S. 166. Hertling platziert den Hof der Familie „auf einem Grenzstreifen zwischen Stadt und alpinem Hinterland“ (ders.: Mignons Schwestern, S. 166).

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beginnt also keineswegs erst mit „Böhmerwald und Hochgebirge die buchstäblich marginalisierte wilde Natur“212. Die Wildnis lauert in unmittelbarer Nähe des Lebensmittelpunkts der handelnden Figuren. Das Gegenstück zur Wildnis bildet in Kazensilber der städtische Raum, dem vom Erzähler eine bestimmte Funktion zugeschrieben wird. Die Hofbewohner halten sich mit Ausnahme der Großmutter in den Wintermonaten regelmäßig dort auf, um „zu sehen, was die Menschen indessen wieder gefördert, was auf geistigem Felde sich zugetragen und im Zusammenleben sich geändert hat“ (K, S. 245; Hervorhebung von mir). Die topografischen Bereiche der Erzählung lassen sich also wie folgt darstellen:

Hoher Nußberg (Wildnis) −−

Große Stadt (Hochkultur)

Hof (kultivierte Natur) −

+



−−

Abb. 9: Topografische Bereiche in Kazensilber

Die Vorstellung von einer Skala, auf der die Sphären von Wildnis, kultivierter Natur und Hochkultur fließend ineinander übergehen, prägt sich in Kazensilber in beeindruckender erzählerischer Konsequenz nicht nur durch die Darstellung

|| 212 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 302. Vgl. ebd.: „Gezeigt wird eine mit dem Menschen harmonierende Natur, in die die kultivierten Räume des Hauses, des Gartens und der Felder ebenso unmerklich übergehen, wie sich auch die Bewegungen der Menschen den natürlichen Vorgängen angleichen. Grenzlinien werden verwischt und entziehen sich präziser Fixierung. Die Differenz von Natur und Kultur wird so zwar nicht zum Verschwinden gebracht, aber doch minimiert.“ Tatsächlich unterstreicht Kazensilber durch die Darstellung von Landschaftsräumen und den Bewegungen der Menschen in diesen Räumen die Vorstellung einer Skala, auf der die Sphären von Wildnis, kultivierter Natur und Hochkultur fließend ineinander übergehen. Vgl. die aus meiner Sicht zutreffende Beschreibung von Eve Mason, in der die Nähe des Hofes zur Wildnis mehrmals betont wird: „We are told […] with what great care he [der Vater; H. A.] has carved a kind of garden out of the wild surroundings of the farm. Even in this leisurely description of a peaceful existence and enterprise one is struck by the close proximity of the civilized and the wild” (dies.: Stifter’s ‘Katzensilber’, S. 119; Hervorhebungen von mir). Wenig später spricht Mason von der „happy existence that the family has been able to create at the edge of the wilderness” (ebd., S. 120; Hervorhebung von mir). Ähnlich auch Günter Helmes: „Hervorzuheben ist [...] die einem rationalen Weltbild verpflichtete und äußerst fürsorgliche Vaterfigur, ein Landwirt, dem es in nahezu perfekter Weise gelungen ist, die ihn umgebende Wildnis zu bezwingen und auf ein Ideal hin zu kultivieren, das Nutzen und Schönheit in wechselseitiger Durchdringung umfasst“ (ders.: Bunte Steine als „Supplement der Gesetze?“, S. 62).

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von Landschaftsräumen, sondern besonders auch durch die Bewegungen der Menschen in diesen Räumen aus.213 Gleichzeitig stehen die handelnden Figuren jeweils für eine ganz bestimmte Art und Weise, die Wirklichkeit wahrzunehmen und mit ihr umzugehen, die als Positionen zwischen den Endpunkten von Irrationalität und Rationalität beschrieben werden können. Der Ermöglichungszusammenhang für eine literarische Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld zwischen diesen beiden Positionen ist schon früh in der Biografie des Autors angelegt. Als der 13-jährige Adalbert Stifter seine Schullaufbahn am Gymnasium in Kremsmünster fortsetzte, war sein Weltbild noch stark von den „volkstümlichen mythischen Naturbildern“214 geprägt, die von den Erzählungen Ursula Karys, seiner Großmutter, herrührten. Die Art und Weise, wie in Kremsmünster Naturwissenschaft betrieben und gelehrt wurde, war damit aber durchaus kompatibel, denn sie wurde „den Schülern nicht als ein Gegenprogramm zur christlichen Schöpfungslehre vermittelt, sondern stets innerhalb der theologischen Weltordnung und [...] als Teil einer göttlichen Schöpfung verhandelt“215. Deshalb führte der gymnasiale Unterricht zu keinem „Bruch in seiner [Stifters; H. A.] Weltanschauung“216, sondern bediente vielmehr

|| 213 Vgl. Kugler: Katastrophale Ordnung, S. 129, Anm. 16. Kugler stellt fest, dass „die Zuordnung von Figuren und Räumen in Kazensilber [streng] durchgeführt ist“ (ebd.) und geht ebenfalls davon aus, dass es im Natur-Kultur-Gefüge einen „mittleren Bereich“ (ebd., S. 129) gibt. Diese Mittelposition nimmt in Kuglers Analyse aber nicht, wie in meinen folgenden Überlegungen, der zwischen Nußberg und Stadt gelegene Hof der Familie ein. Auf diesem finde sich „keine rohe, unbestellte Natur mehr“ (ebd., S. 127), denn „Kultur hat Natur schon vollständig ersetzt“ (ebd.). Im einem mittleren Bereich gelegen sieht Kugler dagegen den Nußberg, in dem „die Natur schon bis zu einem gewissen Grade kulturell überformt“ (ebd., S. 129) sei. Das braune Mädchen nehme im Text „quasi die Position der ‚extremen Natur‘“ (ebd., S. 130) ein, die sich gegenüber dem Menschen als lebensbedrohlich erweise. An anderer Stelle spricht Kugler von der „ungezähmten Natur“ (ebd., S. 135), von der „eine ständige Gefahr für den Menschen ausgeht“ (ebd.). Problematisch an diesem Ansatz erscheint mir die Zuordnung des braunen Mädchens zum Bereich der Wälder, aus dem sie, so Kugler, „vermutlich stammt“ (ebd., S. 129). Schließlich spielt dieser Bereich in der Erzählung keine prominente Rolle und sowohl die ersten Begegnungen als auch die erste, lebensbedrohliche Naturkatastrophe, nämlich der Hagelsturm, finden auf dem Nußberg statt. Deswegen erscheint es mir sinnvoller, den hohen Nußberg als Wildnis und den Hof der Familie als Bereich der kultivierten Natur zu beschreiben. Zur Zuordnung der Figuren zu den jeweiligen Bereichen siehe Abschnitt 3.4.7. 214 Johann Lachinger: Adalbert Stifter – Natur-Anschauungen. Zwischen Faszination und Reflexion. In: Laufhütte/Möseneder (Hrsg.): Adalbert Stifter, S. 96–104, hier S. 98. 215 Famula: „[D]ie Wunderbarkeiten hörten auf, das Wunder nahm zu.“, S. 42 f. 216 Lachinger: Natur-Anschauungen, S. 99.

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das „geheime Bedürfnis einer rationalen Systematisierung des bisher naiv Angeschauten“217. Spätestens im Rahmen seiner naturwissenschaftlichen Studien an der Wiener Universität musste Stifter allerdings klar werden, dass in Kremsmünster keine moderne Naturwissenschaft betrieben wurde. In diesem Zusammenhang spielten die Vorlesungen des Wiener Physikers Andreas Baumgartner, mit dem der Autor auch persönlich bekannt war, eine wichtige Rolle für „Stifters konstitutive Verbindung des naturwissenschaftlichen Weltbildes mit theologischem Gedankengut“218. Während die zeitgenössischen Naturwissenschaftler sich in zunehmendem Maße von der Metaphysik verabschiedeten und auf positivistische Welterklärungsmodelle setzten, in denen religiöse Komponenten keinen Platz mehr hatten, hielt Stifter an einer Position fest, die sich als „christlichaufklärerisch[]“219 beschreiben lässt und sozusagen eine Mittelstellung zwischen Physik und Metaphysik einzunehmen versucht. Eine solche Position erlaubt es, etwa auch dem zerstörerischen Potenzial von Naturkatastrophen einen verborgenen Sinn zuzuweisen.220 Die Anklänge an ein solches Welterklärungsmodell, das von „Ratio und Mythos zusammenführenden Sinnkonstruktionen“221 geprägt ist, sind in vielen Werken Stifters nicht zu übersehen, und Kazensilber bildet hier keine Ausnahme. Nachdem ein Hagelunwetter die Bäume auf dem Hof der Familie stark beschädigt hat, dauert es nicht lange, bis zahlreiche kleine Zweige hervor [wuchsen], die so schön waren, […] als wäre das Abschlagen der Zweige kein Unglük gewesen, sondern als hätte ein weiser Gärtner dieselben beschnitten, daß sie nur desto besser empor trieben. (K, S. 286)

Der Mensch muss freilich seinen Beitrag zu einem solchen Erfolg leisten: Der Vater hatte gleich nach dem Unwetter „vielen abgeschnittenen Ästen [Zweiglein] eingepropft, und […] [diese Äste; H. A.] mit Pflastern verbunden“ (K, S. 286). Wenn der vernunftbegabte Mensch und die kultivierte Natur also „in schöner Parallelität“222 den Schaden beheben, stellt sich der gewünschte Erfolg || 217 Ebd. 218 Famula: „[D]ie Wunderbarkeiten hörten auf, das Wunder nahm zu.“, S. 43. Zur Rolle Baumgartners vgl. ausführlicher ebd., Anm. 10. 219 Lachinger: Natur-Anschauungen, S. 98. 220 Vgl. ebd., S. 102 ff. 221 Ebd., S. 103. 222 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 310. Begemann kommt allerdings zu dem Schluss, dass der Text die Katastrophe damit „leugnet“ (ebd.), so wie er auch mit der „Grenze zwischen Natur und Kultur verfahren ist“ (ebd.), was nur folgerichtig ist, wenn man Natur und Kultur als

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ein. Die Erzählung bietet aber nicht nur diese eine Möglichkeit an, mit Katastrophen und Rückschlägen umzugehen und Sinnkonstruktionen zu bilden. In der Art und Weise, wie die einzelnen Familienmitglieder mit dem braunen Mädchen umgehen, zeigen sich diese verschiedenen Möglichkeiten und Positionen besonders deutlich.223 Sie sollen im Folgenden untersucht werden, bevor es um die Frage gehen wird, wie das „unerklärte[] und unerklärliche[] Mißlingen der Sozialisation des Mädchens“224 in die Interpretation des Textes einbezogen werden kann.

3.4.3 Rationalität und Nützlichkeit Den bisher betrachteten Texten, die zum Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen gehören, geht es um dasselbe Ziel: Sowohl die Dinge als auch die Menschen sind es wert, durch besondere Anstrengungen einem Zustand der Nützlichkeit zugeführt zu werden. Die Gegend, die sich dem Vater in Kazensilber durch die Erbfolge als Lokation für seinen Hof anbietet (vgl. K, S. 245), erscheint aber zunächst einmal nicht geeignet, um der Natur durch Kultivierung ein optimales Ergebnis abzuringen. Wo „die Stürme des Winters und die Fröste des Frühlings und Herbstes allen jenen Gewächsen übel mit spielen, die man vorzugsweise in Gärten hegt“ (K, S. 243), muss man sich schon etwas einfallen lassen, um seinen Besitz vor schädlichen Einflüssen zu schützen und die gewünschten Erträge zu sichern. Dem Vater, der „als ein sehr junger Mensch in die Welt gegangen“ (K, S. 244) ist, dort „viele Dinge erfahren“ (ebd.) hat und – wie oben beschrieben – die Verbindung zum geistigen Leben der Stadt immer noch hält, gelingt aber genau dies, und zwar durch die strategische Anordnung von Bäumen und anderen Nutzpflanzen sowie den Einsatz von Gewächshäusern und anderen Hilfsmitteln (vgl. K, S. 243 f.). Auch die erste Rettungstat des braunen Mädchens, das die Großmutter und ihre Enkel durch seine Geistesgegenwart vor einem lebensgefährlichen Hagelunwetter in Sicherheit bringt, bewertet der Vater anhand der Kategorien von || einander unmittelbar entgegengesetzte Pole betrachtet. Geht man stattdessen von einer NaturKultur-Skala aus, erscheint der Hagelsturm als Manifestation der Wildnis, die in die Sphäre der kultivierten Natur eindringt und sie sozusagen auf der Skala nach links verschiebt. Es ist die Aufgabe des Menschen, die Dinge wieder zurechtzurücken und am Nullpunkt auszurichten. 223 Vgl. Christine Oertel Sjögren: „[T]he main characters reveal their basic orientation to life through their attitudes toward the girl. Each character's basic quality, or possibly, flaw, becomes evident through her image, as through a lens” (dies.: Myths and Metaphors, S. 361). 224 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 320.

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Schädlichkeit und Nützlichkeit.225 So verbietet er einem Knecht, der sich des rätselhaften Kindes mit Gewalt bemächtigen will („Ich fange das Ding“; K, S. 273), jegliche Intervention, denn das Mädchen habe der Familie „den größten Dienst erwiesen. Darf man es überhaupt nicht rauh behandeln, so darf man es jetzt um so weniger, so lange es sich nicht schädlich erweist“ (K, S. 273 f.; Hervorhebung von mir). Der Vater hegt keinen Zweifel daran, dass es ihm später gelingen wird, das braune Mädchen zu finden. Dann werde man „ihm sein Leben vielleicht nützlicher machen können, als es jetzt ahnt“ (K, S. 274; Hervorhebung von mir). Dass aus diesen Worten keine altruistische Fürsorglichkeit zu sprechen scheint, sondern eher ein Unbehagen vor der Fremdartigkeit und Rätselhaftigkeit des braunen Mädchens,226 dessen Existenz sich nicht ohne weiteres erklären lässt, steht in Einklang mit dem aufgeklärten Weltbild des Vaters, welches es ihm ebenfalls nicht erlaubt, die Rettung seiner Kinder aus Gewitter und Hagelsturm als Wunder zu akzeptieren. In diesem Zusammenhang unterzieht er seine Mutter, die Großmutter der Kinder, einem regelrechten Verhör, in dem es darum geht, ob das heranziehende Gewitter nicht als solches hätte erkannt werden können, „wenn man fleißig auf die Wolken, und den Himmel“ (K, S. 276) geblickt hätte. Als er sich schließlich davon überzeugen lässt, dass „[k]ein Mensch […] errathen [konnte], was geschehen würde“ (ebd.), führt dies keinesfalls zur Einsicht in die Existenz göttlicher Vorsehung, die von der Großmutter als Grund für die Rettung in Anschlag gebracht wird. Der Ausgang der Ereignisse erscheint ihm schlicht als „ein Glück“ (ebd.). Eine rationale Lebenseinstellung dieser Prägung gibt sich aber nicht mit der Einsicht zufrieden, einmal Glück gehabt zu haben. Nachdem die Ordnung am Unglücksort wiederhergestellt ist – man trägt die Reisigbündel, die als Schutz vor den herabstürzenden Hagelbrocken gedient haben, „mit vereinten Kräften auf den Platz zurük […], von dem sie genommen worden waren“ (K, S. 281) –, begleitet der Vater seine Kinder und die Großmutter bei weiteren Ausflügen auf den Nußberg, zu denen er sie selbst ermuntert (vgl. K, S. 280). Im nächsten Frühjahr schließlich wird dort ein „Schuzhäuschen“ (K, S. 289) fertiggestellt, das bei zukünftigen Naturkatastrophen als Zufluchtsort dienen soll und somit die Notwendigkeit weiterer wundersamer Errettungen aufhebt.

|| 225 Christine Oertel Sjögren gelingt eine treffende Charakterisierung des Vaters (vgl. dies.: Myths and Metaphors, S. 361). Allerdings ist es aus meiner Sicht unnötig, dessen Fokus auf Rationalität und instrumentelle Vernunft und die Ablehnung des Irrationalen als „flaw in his character“ (ebd.) zu bewerten. 226 Vgl. Eve Mason: Stifter’s ‘Katzensilber’, S. 124.

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Auch auf dem Hof selbst werden die Spuren, die der Einbruch der Naturgewalten in die geordneten Lebensverhältnisse hinterlassen hat, systematisch getilgt. Die Instandsetzung der beschädigten Gewächshäuser wird gleich am nächsten Morgen in Auftrag gegeben und die Hagelschlossen, für die – wie für alles, was wild, ungezähmt und nicht nützlich ist – in der Welt des Vaters „nirgends ein passender Ort“ (K, S. 278) ist, lässt man nicht an Ort und Stelle schmelzen, sondern verbannt sie mit den Pflanzen, die nicht mehr zu retten sind, und den Scherben zerschlagener Blumentöpfe in eine Grube (vgl. ebd.). Der Vater lässt „viele Pflanzen und Gewächse kommen“ (ebd.), um die erlittenen Verluste systematisch auszugleichen, und schon bald erweckt der Hof den Eindruck, „als ob nie ein Schaden angerichtet worden wäre“ (ebd.). Die pragmatische und rationale Einstellung, die der Vater gegenüber den Menschen und den Dingen an den Tag legt, erweist sich aber als ungeeignet, wenn es darum geht, sich dem braunen Mädchen zu nähern, um den oben beschriebenen Plan, ihm eine nützlichere Existenz zu ermöglichen, in die Tat umsetzen zu können. Weder der Pfarrer kann Auskunft geben („[e]s war kein Ding dieser Art in die Pfarr- oder Schulbücher eingetragen“; K, S. 279) noch der Jäger, der „oft durch Felder Wälder und Fluren strich, und alle Dinge derselben kennen mußte“ (K, S. 280). Mehrere Besuche auf dem Nußberg, bei denen der Vater seine Kinder begleitet, „um etwa das braune Mädchen zu sehen“ (ebd.), verstreichen ergebnislos. Das Kind lässt sich nicht blicken, denn der Vater als „Vertreter der Rationalität und der strengen kulturellen Ordnung findet keinen Zugang zum Bezirk der unentfremdeten Natur“227. Erst als er seine Versuche zur Kontaktaufnahme abbricht und die Kinder den Nußberg ohne ihn besuchen, zeigt sich das braune Mädchen wieder. Auch an den späteren Versuchen, das Kind zu sozialisieren und in Familie und Gesellschaft zu integrieren, wird der Vater nur am Rande beteiligt sein. Während der dramatischen Abschiedsszene am Ende der Erzählung schließlich schlingt das braune Mädchen der Mutter die Arme „fest um den Naken […], küßte sie auf die Wange, als müßte es Lippen und Zähne in dieselbe eindrücken“ (K, S. 314), während es den körperlichen Kontakt mit dem Vater überhaupt nicht sucht, sondern lediglich wahrnimmt, „daß es dieser bei der Hand halte“ (ebd.). Der Text errichtet zwischen diesen

|| 227 Kugler: Katastrophale Ordnung, S. 132. Diese Aussage von Stefani Kugler entspricht meinem Verständnis der topografischen Bereiche in Kazensilber, auch wenn ich den Nußberg nicht als ‚unentfremdete Natur‘, sondern als Wildnis bezeichne. Sie steht aber in Widerspruch zu Kuglers eigener, oben bereits zitierter Aussage, auf dem Nußberg sei „die Natur schon bis zu einem gewissen Grade kulturell überformt“ (ebd., S. 129; siehe auch Anm. 213 in diesem Kapitel).

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beiden Figuren – dem dediziert pragmatisch und rational veranlagten Vater und dem rätselhaften braunen Mädchen – eine Barriere, die schier unüberwindlich scheint.

3.4.4 Die Risiken eines irrationalen Weltbildes So wie es den Vater von seinem Lebensmittelpunkt auf dem Hof in regelmäßigen Abständen in die Stadt zieht, um den Anschluss zum geistigen Leben der Städter nicht zu verlieren, ist die Großmutter mit ihren Enkeln in einer gegenläufigen Bewegung immer wieder in Richtung Wildnis unterwegs. Die Schilderung des Hagelunwetters ist ein eindrücklicher Beleg dafür, dass das Ziel dieser Wanderungen, der Nußberg, nicht einfach nur ein „Raum der Natur“228 ist, sondern eine Lokation, in der die Wildnis den Menschen jederzeit in Lebensgefahr bringen kann. „Ich bin ein Weib aus den alten Bergen unseres Landes“ (K, S. 270) – so beschreibt die Großmutter sich selbst unmittelbar nach dem Hagelsturm, um zu unterstreichen, dass die Elemente ihr nicht viel anhaben können, und weist sich damit selbst eine Position zwischen Wildnis und kultivierter Natur zu. Dieser Position entspricht ihr dediziert irrationales Weltbild, das sich, wie noch zu zeigen sein wird, deutlich in ihrer Reaktion auf die erste Rettungstat des braunen Mädchens äußert. Die Großmutter bildet aber nicht nur in der Diskussion über den Hagelsturm eine Gegenfigur zu ihrem rational veranlagten Sohn. Um diese Figur in ihrer Funktion für die Erzählung angemessen zu beschreiben, müssen auch die fünf als Binnenerzählungen gestalteten Geschichten in den Blick genommen werden, welche die Großmutter ihren Enkeln bei den Besuchen auf dem Nußberg erzählt. An dieser Stelle kommt ein weiterer Zusammenhang ins Spiel, der ebenfalls in Stifters Biografie begründet liegt. Dessen Umgang mit seiner eigenen Großmutter Ursula Kary könnte sich darauf ausgewirkt haben, wie Stifter die Figur

|| 228 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 310. Begemann geht auch an dieser Stelle davon aus, dass die Bereiche von Natur und Kultur unmittelbar aneinanderstoßen. Der Begriff der ‚Wildnis‘ kommt hier nicht zur Anwendung, doch die Beschreibung der Grenze zwischen Natur und Kultur fällt in einer Weise aus, die genau dies nahelegen würde: „Nachdem die Kinder in ‚Kazensilber‘ auf dem Nußberg, im Raum der Natur also, vom Hagel ereilt und fast getötet worden sind, ist auch das harmlose ‚Bächlein‘, das sie auf dem Weg nach Hause überqueren müssen, in einen jener reißenden Gießbäche verwandelt, die die anfängliche Landschaftsschau beiläufig erwähnt hatte. Die latente und ignorierte Grenze zwischen Natur und Kultur hat sich wieder manifestiert und wird selbst zum lebensbedrohlichen Hindernis“ (ebd.).

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der Großmutter in Kazensilber gestaltet hat.229 Kary erzählte ihrem Enkel „zahlreiche wunderbare Geschichten […] über den Böhmerwald“230 und griff dabei auf ein „umfangreiche[s] Kompendium von Ortsgeschichte, abergläubischen Vorstellungen, biblischer Spruchweisheit und Spiritualität, Liedgut und der eigenen Lebenserfahrung“231 zurück. Der Unterschied zwischen Stifters Großmutter und der Figur in Kazensilber liegt aber darin, dass der Autor seiner Figur nicht einfach nur eine zufällige Sammlung von Inhalten aus der volkstümlichen Überlieferung in den Mund legt, sondern auf eine ganz bestimmte literarische Form zurückgreift: Wie ich im Folgenden zeigen werde, handelt es sich bei allen fünf Binnenerzählungen um Sagen.232 Die Sage leistet zwar „Typisierungsversuchen entschiedeneren Widerstand als alle anderen Gattungen der Volksdichtung“233, lässt sich von diesen – etwa dem Märchen – aber trotzdem in zwei entscheidenden Punkten abgrenzen, die auch auf die Binnenerzählungen der Großmutter zutreffen. Zum ersten zeichnen Sagen sich durch die wesentliche Eigenschaft der „Kargheit“234 aus. Die Binnensagen in Kazensilber verzichten auf ausschmückende Elemente und nehmen maximal eine Druckseite ein. Zum zweiten werden Sagen häufig an ein inhaltliches Element gebunden, das ihrem Erzähler persönlich bekannt ist. Die Großmutter in Kazensilber beginnt ihre Erzählungen mit Wendungen wie „Wo dort hinter dem spitzigen Walde“ (K, S. 247), „Sehet ihr Kinder, wo der Gallbrunnerwald aufhört“ (K, S. 248) oder „In unsern Wässern, die braun und glänzend sind“ (K, S. 256) und verbindet sie so mit Lokationen in der näheren Umgebung, womit sie den vorgeblichen Wahrheitsgehalt der Erzählungen untermauert.

|| 229 Vgl. Hanns-Peter Mederer: Sagenerzählungen und Sagenerzähler im Werk Adalbert Stifters. In: VASILO 38 (1989), S. 77–116, hier S. 77 f. 230 Ebd., S. 77. 231 Ebd., S. 78. 232 Die Binnenerzählungen tragen im Text selbst keinen Titel, lassen sich aber mit Arbeitstiteln versehen. Sie finden sich an den folgenden Stellen: ‚Jochträgersage‘ (K, S. 247 f.), ‚Wichtelsage‘ (K, S. 248 f.), ‚Karfunkelsage‘ (K, S. 255 f.), ‚Goldwäschersage‘ (K, S. 256 f.), ‚Sage von der schönen Gräfin‘ (K, S. 260). Edda Polheim identifiziert zusätzliche Textstellen als Binnenerzählungen und zählt insgesamt „neun Großmutter-Geschichten“ (dies.: „Darum war die dunkle Blume da, daß die lichten leben“, S. 46), die sie in drei Gruppen von jeweils drei Erzählungen einteilt. Vgl. genauer ebd. 233 Hermann Bausinger: Formen der „Volkspoesie“. 2., verbesserte und vermehrte Auflage, Berlin 1980 [1968], S. 187. 234 Ebd., S. 190 (im Original kursiv).

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Dass es sich bei den fünf Binnenerzählungen um Sagen handelt, ist von der Forschung zwar schon früh erkannt,235 aber nicht immer berücksichtigt worden.236 Zwei der fünf Texte haben gemeinsam, dass am Ende ihre Hauptfigur für immer verschwindet,237 was die Texte zunächst einmal auf der Handlungsebene || 235 Leopold Schmidt analysiert den Einfluss der volkstümlichen Überlieferung auf Stifters Erzählwerk ausführlich und beschreibt dessen „Einstellung [...] zur Volkskultur“ (ders.: Volkskundliche Beobachtungen an den Werken Adalbert Stifters. In: Adalbert-Stifter-Almanach für 1953, S. 87–108, hier S. 94) als „Synthese zweier Haltungen [...], eine Synthese von Abstand, von Distanz aus vielerlei Gründen her, und von Verbundenheit und Einfühlung“ (ebd., S. 94 f.). Schmidt geht am Rande auch auf Kazensilber ein. Er erkennt die Jochträgersage als „Sage vom Typus der Erzählungen vom Tod des großen Pan“ (ebd., S. 103) und ergänzt: „Ob Stifter hier aus der heimischen Überlieferung geschöpft hat oder doch schon von der allmählich aufkommenden Sagensammlung beeinflußt wurde, wird sich schwerlich entscheiden lassen“ (ebd.). Anton Avanzin verwendet in seinem Beitrag zwar zweimal den Begriff ‚Märchen‘ (vgl. ders.: Die sagenmäßige Grundlage, S. 275), konzentriert sich aber auf die Jochträgersage, die er ebenfalls eindeutig als Sage identifiziert. 236 Joachim Müller bezeichnet die Binnenerzählungen der Großmutter als „landläufige Geschichten und volksgängige Märchen“ (ders.: Menschenwelt, S. 151), charakterisiert die Jochträgersage aber zutreffend als dem „Sagentyp der geheimnisvollen Todesbotschaft“ (ebd., Anm. 11; Hervorhebung im Original) zugehörig. Eve Mason spricht von „fairy-tales and local legends“ (dies.: Stifter’s ‘Katzensilber’, S. 115) und „folk-tales“ (ebd.), während Christine Oertel Sjögren die Bezeichnungen „fairy tale, legend, and myth“ (dies.: Myths and Metaphors, S. 359, Anm. 5) verwendet und für ihre Analyse von Kazensilber keinen Nutzen darin sieht, scharf zwischen diesen Formen zu unterscheiden: „Since the categories overlap in the story itself, no purpose would be served by drawing sharp distinctions between them in my analysis“ (ebd.). Die Sage kann von anderen Formen der volkstümlichen Überlieferung und Literatur aber klar unterschieden werden (vgl. Norbert Voorwinden: Sage [Art.]. In: RLW, Bd. 3, S. 347–350). Gunter H. Hertling bezeichnet die Binnenerzählungen mehrfach als „Legenden“ (ders.: Mignons Schwestern, S. 167) und als „Geschichten, die in ihrer gattungsgemäßen Eigenart und ihrem Gehalt gleichfalls zwischen Mythos und Wirklichkeit, zwischen Naturmagie und Realität angesiedelt sind“ (ebd.; Hervorhebungen im Original). Für Albrecht Koschorke nimmt die Großmutter „die Stellung einer Mittlerin ein, und zwar in einem doppelten Sinn: Zum einen führt sie die Kinder buchstäblich über die Grenze der sesshaften Ordnung hinaus, zum anderen übt sie, ganz im Geist der Brüder Grimm, die Aufgabe einer Märchenerzählerin und damit Initiantin in die Märchenwelt aus“ (ders.: Erziehung zum Freitod, S. 320; Hervorhebung von mir). Stefani Kugler bezeichnet die Binnenerzählungen in Kazensilber als „Märchen und Geschichten“ (dies.: Katastrophale Ordnung, S. 129, Anm. 18), stellt aber in diesem Zusammenhang fest, dass die Großmutter „mit ihrem Hang zur Irrationalität und Mystik sowie ihrem deterministischen Weltbild eine der rationalen, fortschrittsgläubigen Haltung ihres Sohnes klar entgegengesetzte Position vertritt“ (ebd.) – eine Beobachtung, der ich mich in meinen folgenden Überlegungen ohne Einschränkung anschließen werde. 237 Helmut Bachmaier stellt sogar fest: „In all den Märchen, die von der Großmutter erzählt werden, verschwindet am Ende die Hauptfigur für immer. Dies weist voraus auf das Schicksal des braunen Mädchens“ (ders.: Anmerkungen. In: Adalbert Stifter: Bunte Steine. Erzählungen.

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mit Kazensilber und dem rätselhaften Verschwinden des braunen Mädchens verbindet.238 Während Stifter die Binnensagen aber durchaus auch zur Ausschmückung in die Erzählung integriert hat und nicht in jedem Fall eine inhaltliche Verbindung zwischen Binnen- und Haupttext im Sinn gehabt haben muss,239 ergeben sich aus einer dritten Eigenschaft, die für die verschiedenen Formen der Volkssage gilt,240 wichtige Hinweise für die Interpretation des Textes. Volkssagen versuchen nämlich, „das Unerhörte und Unerklärliche, das die alltäglichen Normen Übersteigende in die erklärenden Kategorien und Formen zu bannen, die vom Volksglauben und in überlieferten motivischen Mustern bereitgestellt sind.“241 In der oben bereits angesprochenen Diskussion über die erste Rettungstat des braunen Mädchens nimmt die Großmutter eine Position ein, die zwar als

|| Hrsg. von Helmut Bachmaier. Stuttgart 1994, S. 351). Ich kann diese Beobachtung aber nur für die Jochträgersage und die Wichtelsage nachvollziehen; hier verschwinden am Ende die Magd des Jochträgers bzw. das Wichtelchen. In der Karfunkelsage verschwindet lediglich ein Lamm, das auch bald darauf wieder auftaucht. Die Goldwäschersage berichtet zwar von „seltsamen Menschen“ (K, S. 256), die nach dem Goldwaschen „reich von dannen gezogen“ (ebd.) seien, doch dies hat eine andere Qualität als das rätselhafte Verschwinden der Hauptfiguren in den ersten beiden Sagen. In der Sage von der schönen Gräfin schließlich, die sich im Übrigen von den anderen vier Binnentexten dadurch unterscheidet, dass sie nicht in der wörtlichen Rede der Großmutter wiedergegeben wird, verschwindet niemand. Am Ende taucht der Mann der Gräfin gar als Retter in der Not auf. 238 Vgl. Sjögren: Myths and Metaphors, S. 364 f. Sjögren beschreibt weitere Merkmale, die das braune Mädchen mit den Figuren aus den Sagen der Großmutter verbindet (vgl. genauer ebd.). Auch Gunter H. Hertling zieht weitere Parallelen zwischen den Binnensagen und der Figur des braunen Mädchens, die aus meiner Sicht aber spekulativ ausfallen und nicht überzeugen können (vgl. ders.: Mignons Schwestern, S. 167 ff.). 239 Dies geht aus einem Schreiben an Heckenast vom 13. September 1852 hervor, in dem Stifter bedauert, ein „Märchen voll Herrlichkeit“ (PRA 18, S. 124), das er kurz nach der Fertigstellung von Kazensilber gehört habe, nicht mehr in den Text aufnehmen zu können (vgl. Hettche: Bunte Steine. Kommentar (HKG 2,4), S. 171). Die Inhalte der Binnensagen sind deswegen für die Interpretation der Erzählung nicht alle in gleichem Maße relevant, auch wenn beispielsweise der Name ‚Sture Mure‘ aus der Jochträgersage direkt auf die Szene verweist, in der das braune Mädchen Abschied von Mutter und Vater nimmt (vgl. K, S. 248 und 313). Vgl. ausführlicher Achenbach: Natur versus Kultur?, S. 87 ff., Anm. 213. Anders dagegen Gunter H. Hertling (Mignons Schwestern, S. 167 ff.) und Iulia-Karin Patrut (Phantasma Nation, S. 320 ff.), die alle Binnenerzählungen der Großmutter in ihre Deutungen der Erzählung einbinden. 240 Andere Sagentypen sind die Heldensage und „modernen ‚Großstadtsagen‘ (‚urban legends‘)“ (Voorwinden: Sage, S. 347). Zur Abgrenzung von Volkssage und Heldensage vgl. auch Bausinger: Formen der „Volkspoesie“, S. 188 ff. 241 Bausinger: Formen der „Volkspoesie“, S. 188.

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eine „curious mélange of Christian concepts, poetic fancy, and egocentricity“242 erscheinen mag, aber dennoch in einem zentralen Punkt mit der geschilderten Funktionsweise der Sage übereinstimmt: Das Unerklärliche lässt sich nicht erklären oder begründen, sondern nur bannen, indem man davon erzählt. So wie die unheimliche Stimme aus dem Wald in der Jochträgersage oder der schwarze Mann in der Karfunkelsage sich nicht rational erklären, sondern nur beschreiben lassen, stellt auch das plötzliche Auftauchen des braunen Mädchens kein Ereignis dar, auf das unmittelbar zu reagieren wäre: Als die Großmutter und ihre Enkel „wieder einmal auf dem hohen Nußberge […] sassen, kam aus dem Gebüsche ein fremdes braunes Kind heraus. [...] Die Großmutter sagte nichts, und fuhr fort, zu reden“ (K, S. 258 f.). Erst anschließend spricht sie das Mädchen an, was aber nur dazu führt, dass es im Gebüsch verschwindet. Die Großmutter akzeptiert das unerklärliche Auftauchen des braunen Mädchens also ebenso bedingungslos, wie ihr dessen Rettungstat im Hagelsturm als „ein sichtbares Wunder“ (K, S. 276) Gottes erscheint, an dessen Notwendigkeit „alle menschliche Vorsicht“ (ebd.) nichts habe ändern können. Diese Auffassung wiederholt sie, ohne den Argumenten ihrer Gesprächspartner Raum zu geben, fast stereotyp.243 Das braune Mädchen erscheint hier unter deutlichen Verweisen auf biblische Kontexte als „dunkle Blume“ (K, S. 277), deren Bestimmung es sei, dass die „lichten“ (ebd.) Blumen, also ihre Enkel, leben, und seine Hand, in der die Reisigbündel zum rettenden Instrument werden, ist in der Wahrnehmung || 242 Sjögren: Myths and Metaphors, S. 361. 243 Eva Geulen schreibt die Aussage, dass die „Hand schon bestimmt“ (K, S. 277) war, die die Reisigbündel herbeigetragen hat, nicht der Großmutter, sondern der Mutter zu (vgl. dies.: Kinderlos, S. 428). Auch Gerhard Neumann interpretiert diese Stelle ähnlich, wenn er feststellt, dass von den Figuren in Kazensilber unterschiedliche „Schicksalsmuster ins Feld geführt“ (ders.: Das Schreibprojekt, S. 113) werden: „das Wunder von der Großmutter, das Glück (‚Fortuna‘) vom Vater, die göttliche Hand von der Mutter, der trostreiche Glaube von beiden Eltern“ (ebd.; Hervorhebungen im Original). Tatsächlich leitet der Erzähler die oben erwähnte Aussage mit der Wendung „antwortete die Mutter“ (ebd.) ein, was aber damit zu erklären ist, dass hier ein Dialog zwischen dem Vater und seiner Mutter stattfindet, die er wenige Absätze vorher auch so anspricht („Ihr habt Recht, teure Mutter“; K, S. 276). Eine solche Lesart lässt sich zwar nicht zweifelsfrei am Text belegen, aber für sie spricht, dass die Wiederholung der Aussage über die ‚vorherbestimmte Hand‘ wie folgt kommentiert wird: „‚Amen, theure Schwiegermutter‘“, sagte die Frau" (K, S. 277). Erst hier schaltet sich die Figur in das Gespräch ein, die in der restlichen Erzählung als ‚Mutter‘ bezeichnet wird, nämlich die Frau des Vaters. Kurioserweise gelangt Geulen durch ihre – aus meiner Sicht nicht korrekte – Lesart sozusagen zu einer verfrühten Schlussfolgerung, die das Ergebnis eines Lernprozesses zutreffend beschreibt, der zu diesem Zeitpunkt in der erzählten Zeit aber noch gar nicht stattgefunden hat: „An der Schwiegertochter und Mutter der Geretteten ist es, das rationale Prinzip der Vorsicht mit dem Vorsehungsglauben sanft zu versöhnen“ (dies.: Kinderlos, S. 428).

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der Großmutter in gleicher Weise einer Vorherbestimmung gefolgt wie „der Fuß schon bestimmt war“ (ebd.), der einen notleidenden Mann „im Wald zwischen Jericho und Jerusalem“ (ebd.) zur Hilfe geeilt ist.244 Folgerichtig spielt die Großmutter keine aktive Rolle, als es nach dem Hagelunwetter darum geht, das Kind ausfindig zu machen und einem Erziehungsprozess zu unterziehen. Obwohl der Erzähler auch hier, wie schon bei der Darstellung des Vaters, auf eine explizite Bewertung durch auktoriale Eingriffe verzichtet, erscheint das Verhalten der Großmutter aber weder durchweg positiv noch vorbildlich. Sie zeigt sich auf die volkstümliche Überlieferung fokussiert, was ihre Enkel gleich zweimal in Gefahr bringt. Zum einen hätte sie das heraufziehende Gewitter, das den lebensbedrohlichen Hagelsturm mit sich bringt, durchaus als solches erkannt, wenn es sich zu einem anderen Zeitpunkt ereignet hätte. Da aber, so die Großmutter, ein „altes Wort sagt: Um das Fest der Geburt der heiligen Jungfrau ziehen die Wetter heim“ (K, S. 276) – ein Fest, das zum Zeitpunkt des Hagelunwetters bereits in der Vergangenheit liegt – ignoriert sie die Warnzeichen am Himmel. Als sich die Bedrohung als real erweist, ist es wieder die Überlieferung, die ihr Handeln bestimmt, und wieder bringt sie ihre Enkel in Gefahr. Ihre eigene Mutter habe „oft erzählt […], daß die heilige Mutter Maria […] unter einer Haselstaude untergestanden sei, und daß deshalb der Blitz niemals in eine Haselstaude schlage“ (K, S. 262 f.). Folglich begibt sich die Großmutter zunächst mit den Enkeln unter eine solche Staude – ein Vorgehen, das ohne das Eingreifen des braunen Mädchens kein gutes Ende gefunden hätte, denn die „Hagelkörner waren so groß, daß sie einen erwachsenen Menschen hätten tödten können. Sie zerschlugen auch die Haseln“ (K, S. 264). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Weltbild der Großmutter Mythologie, volkstümliche Überlieferung und christlicher Glaube vorherrschen. Damit erscheint sie als Gegenfigur zu ihrem Sohn und seinem von Rationalismus geprägten Umgang mit den Dingen.245 Dem entspricht eine statische An-

|| 244 Sowohl die Blumensymbolik als auch die Rede von Hand und Fuß verweisen auf Bibelstellen, in denen es um das Thema Barmherzigkeit geht. Vgl. das Hohelied von der Barmherzigkeit Gottes in Psalm 102 (nach der Zählung in der Übersetzung von Franz Joseph Allioli; siehe die Anmerkungen zur Zitierweise in Abschnitt 10.3 und dort die Anm. 2), hier besonders die Verse 15–16 („Der Mensch, wie Heu sind seine Tage; wie eine Blume des Feldes, also welket er dahin; denn fährt der Wind an ihr vorüber, so hält sie nicht aus; und man kennet nimmer ihren Ort“) und das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk. 10,30–37). Vgl. Hettche: Bunte Steine. Kommentar (HKG 2,4), S. 186; Bachmaier: Anmerkungen, S. 353; Müller: Menschenwelt, S. 160 und Polheim: „Darum war die dunkle Blume da, daß die lichten leben“, S. 51 ff. 245 Vgl. dagegen Mayer: Adalbert Stifter, S. 142. Mayer geht davon aus, dass „die von der Großmutter immer wieder zum Besten gegebenen Sagen und Märchen [...] eine Zwischenposi-

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ordnung beider Figuren auf der Natur-Kultur-Skala. Bevor ich diesen Sachverhalt jedoch grafisch darstelle, werde ich die Positionen bestimmen, die weitere Hauptfiguren der Erzählung auf dieser Skala einnehmen.

3.4.5 Sanfte Manipulation Das Verhalten, das die Kinder Emma, Clementia und Sigismund in Kazensilber an den Tag legen, zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass es nicht außergewöhnlich oder bemerkenswert, sondern durchaus kindestypisch wirkt, wenn man es auf der Handlungsebene des Textes betrachtet. Untersucht man dieses Verhalten aber vor dem Hintergrund des oben angesprochenen Zusammenhangs von Rationalität und Irrationalität, kommt ihm eine wichtige Funktion für die Deutung des Textes zu. In der Katzensilbersage, die den Kindern noch vor dem ersten Auftauchen des braunen Mädchens von der Großmutter erzählt wird, geht es darum, dass sich „seltsame Menschen, die weit von der Ferne gekommen sind“ (K, S. 256), in den Gewässern der Umgebung als Goldwäscher betätigt haben und damit reich geworden sind, weil sie nicht nur auf „kleine Blättchen und Körnchen […], die eitel und wirkliches Gold sind“ (ebd.), gestoßen sind, sondern auch auf „noch köstlichere Sachen“ (K, S. 257), nämlich Muscheln, die kostbare Perlen enthalten. Die Kinder akzeptieren den Inhalt dieser Sage nicht bedingungslos und machen spielerisch von der Möglichkeit Gebrauch, ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Die „glänzende[n] Blättchen und Körner“ (ebd.), die sie selbst aus dem Sand des Baches herauswaschen, stellen sich aber als „Kazensilber“ (ebd.), also ein wertloses Mineral heraus,246 und wenn sich Muscheln finden lassen, ist „keine Perle darin“ (ebd.). Dieses Verhalten stellt einen ersten Hinweis darauf dar, dass die Kinder, anders als Großmutter und Vater, eine Mittelstellung zwischen den Positionen der Rationalität und Irrationalität einnehmen. Ähnlich lässt sich auch die Art und Weise deuten, wie die Kinder ihre Rettung aus dem Hagelsturm bewerten. Wie oben dargestellt, schätzt der Vater das Geschehen als glücklichen Zufall

|| tion ein[nehmen], indem sie Rationales und Abergläubisches vermitteln“ (ders.: Adalbert Stifter, S. 142). In der Tat geht es in Kazensilber darum, dass Rationalität und Irrationalität sich ergänzen können. Die Erzählung schreibt eine solche Position jedoch, wie ich noch zeigen werde, nicht der Großmutter, sondern anderen Figuren zu. 246 Vgl. Müller: Menschenwelt, S. 154 ff. und Hettche: Bunte Steine. Kommentar (HKG 2,4), S. 182.

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ein, während die Großmutter an ein vorherbestimmtes Wunder glaubt. Die Kinder dagegen „nahmen die Reisigbündel als etwas an, das sich von selber verstehe, und das so da sei, wie im Winter das warme Haus, daß sie nicht erfrieren“ (K, S. 275). Im Unterschied zum Vater, dem es nicht gelingt, sich dem braunen Mädchen zu nähern, und der Großmutter, die erst gar keine Annäherungs- oder Erziehungsversuche unternimmt, sind die Kinder in ihren Bemühungen, das Vertrauen des Kindes zu gewinnen und die rätselhafte Gestalt in ihre Gemeinschaft zu integrieren, von Anfang an erfolgreich. Sie nähern sich „dem ‚wilden Mädchen‘ gänzlich vorurteilsfrei, nehmen es – Ausdruck einer immer schon vorhandenen, unverstellten ‚Herzensbildung‘ – ausschließlich als ein liebenswürdiges Geschöpf von unhintergehbarem Eigenwert wahr“247. Wenn es aber auch zutrifft, dass sie ihm – anders als die Großmutter – keine spezielle Bedeutung zuweisen und es zunächst einmal als neue Spielkameradin akzeptieren, so erweist sich ihr Verhalten doch als hochgradig manipulativ.248 Bei der Ausführung und „Wiederholung der immer gleichen Annäherungsbewegung, die nur jedesmal einen unmerklichen Schritt vorangetrieben wird“249 und das braune Mädchen vom Nußberg auf den Hof der Familie führt, spielen die Kinder nämlich eine zentrale Rolle. Eine ganze Zeit lang bilden die Glashäuser zwischen Nußberg und Hof eine unsichtbare Grenze, an der das braune Mädchen umkehrt und nicht weiter in den Raum der kultivierten Natur vordringt. Doch „[e]inmal in der Fülle des Frühlings, da alles blühte und duftete, und sich das menschliche Herz erfreute“ (K, S. 286), gelangt die kleine Gruppe wieder einmal an diese Grenze. Emma fasst hier „mit ernsten Augen die Hand des braunen Mädchens“ (K, S. 287), Sigismund nimmt es „am Arme“ (ebd.) und beide fordern das Kind spielerisch, aber dennoch bestimmt auf, mitzukommen. Nachdem dies gelungen ist, präsentiert man dem Mädchen, wenn auch noch mit bescheidenem Erfolg, die Utensilien einer kultivierten Lebensweise:

|| 247 Helmes: Bunte Steine als „Supplement der Gesetze?“, S. 63. 248 Ähnlich, aber in einem zentralen Punkt abweichend, wenn es um die Manipulation des braunen Mädchens durch die drei Kinder geht, beschreibt Christine Oertel Sjögren diesen Sachverhalt: „The children do not question the brown girl, or attribute any special meaning to her, or try to manipulate her behavior, but simply welcome her presence“ (dies.: Myths and Metaphors, S. 363). Vgl. auch Mason: Stifter’s ‘Katzensilber’, S. 117. Mason bringt das Verhalten der Kinder gegenüber dem braunen Mädchen mit dem von ihr postulierten ‚fairy-tale mode‘ der Erzählung in Verbindung: „The children accept her without surprise or question, just as fairytale heros take for granted the appearance of the spirits and fairies who come to their aid“ (dies.: Stifter’s ‘Katzensilber’, S. 117). 249 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 307.

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Die Kinder liefen und brachten süsse Milch in einer Schale, und brachten feines Weizenbrod und silberne Löfflein. […] Die Kinder brachten ihre Spielzeuge, und zeigten sie. Das braune Kind wußte damit nichts anzufangen. Die Kinder brachten auch ihre Nußknaker, ihre schöneren Kleider, und ihre Bänder. (K, S. 287)

Die Kinder treiben die Sozialisation des braunen Mädchens außerdem voran, indem sie das Häuschen, dass der Vater zum Schutz vor weiteren Gewittern auf dem Nußberg bauen lässt, als Wohnhaus en miniature gebrauchen; man nimmt dort mit Unterstützung durch die Großmutter Mahlzeiten mit „Löffelchen Messerlein und Gabel“ (K, S. 290) und „weißen Tassen“ (ebd.) ein, und „wenn das braune Mädchen kam, mußte es mit in das Häuschen gehen, auf einem Stühlchen sitzen, und mit ihnen tafeln“ (ebd.). Den Kindern gelingt also nicht einfach nur eine auf kindlicher Sorglosigkeit gründende, spielerische Annäherung an das braune Mädchen. Was hier beschrieben wird, sind erste, erfolgreiche Integrationsversuche des fremden Kindes in die Familie und die Gesellschaft. Sie beruhen auf einer Position zwischen den Polen von Irrationalität und Rationalität, die der Text den Kindern implizit zuschreibt, bevor sie anhand der Darstellung einer weiteren Figur systematisch ausgebaut wird.

3.4.6 Die gelegentliche Notwendigkeit von Wundern Die Mutter der drei Kinder beteiligt sich zunächst kaum an dem Gespräch über die erste Rettungstat des braunen Mädchens.250 Als die Großmutter das Kind aber, wie oben ausgeführt, mit der Figur des barmherzigen Samariters vergleicht und ihrer Überzeugung Ausdruck verleiht, dass die Rettungstat des Kindes auf göttlicher Vorhersehung beruhe, wirft sie ein: „Amen, theure Schwiegermutter […], das ist ein trostreicher herzlindernder Glaube“ (K, S. 277). Der Erzähler stellt hier keine weiteren Informationen über diesen Einwurf bereit – ob er also in einem spöttischen oder zustimmenden Tonfall erfolgt, bleibt der

|| 250 Vgl. zur Interpretation dieser Figur auch Sjögren: Myths and Metaphors, S. 362 ff. Sjögren stellt ebenfalls fest, dass sich die Mutter weder der rationalen Position des Vaters zuordnen lässt noch dem Weltbild der Großmutter folgt und führt weiter aus: „Of all the adults present in the tale, the highly cultured mother achieves the highest level of humane and decisive behaviour“ (ebd., S. 363). Von Sjögrens durchgehend positiver Bewertung abweichend werde ich im Folgenden einen Veränderungsprozess beschreiben, den diese Figur durchläuft.

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Phantasie des Lesers überlassen. Allerdings lässt die Antwort der Großmutter – „Gib dich ihm hin, und du wirst ein Leben lang gut fahren“ (ebd.) – darauf schließen, dass die Mutter in ihrem Denken und Handeln eher der rationalen Ausrichtung ihres Mannes folgt als dem irrationalen Vorsehungsglauben der Großmutter,251 auch wenn sie in der Aufregung unmittelbar nach der Rettung ihrer Kinder ein Stoßgebet zum Himmel schickt („Mein Gott, mein Gott, du bist gütig, daß du sie mir gegeben hast“; K, S. 272). Einem eher rational veranlagten Denkmodell entspricht auch der Misserfolg, den die Mutter bei ihren ersten Versuchen, das braune Mädchen zu sozialisieren, erleidet. Von den Kindern erfolgreich ins Haus gelockt, zeigt es zwar, wie fremd ihm Spielzeug und andere zivilisatorische Errungenschaften sind, akzeptiert aus der Hand seiner Spielgefährten aber Brot und Milch (vgl. K, S. 287). Als die Mutter jedoch „in einem feinen weißen Anzuge“ (ebd.) den Raum betritt, weicht es zurück, bis es buchstäblich „mit dem Rücken […] an der Wand“ (K, S. 289) steht, lehnt die dargebotenen Früchte ab und verlässt wenig später das Haus, um in seinen angestammten Bereich, die Wildnis des Nußbergs, zurückzukehren. Nachdem die Kinder das braune Mädchen in der simulierten Zivilisationsumgebung des Schutzhäuschens mit sanftem Zwang an Silberbesteck und andere Kulturgüter gewöhnt haben, kann die Integration des Kindes aber weiter erfolgreich fortgesetzt werden. Der Mutter gelingt es nun doch, ihren Beitrag dazu zu leisten, indem sie ihre Strategie ändert: Die Mutter ging bei solchem Anlasse öfter durch das Zimmer, aber sie näherte sich dem braunen Mädchen nicht, und sprach nicht zu ihm. Sie hatte ein blasses Kleid angethan, wie Schwarzköpfchen eines an hatte, ihre Loken waren in den Nacken gekämmt, wie Schwarzköpfchen hatte, so daß sie ihm in allem glich, und ein großes Schwarzköpfchen war. (K, S. 291)

Indem die Mutter sich also „einem ihrer Kinder, die dem Mädchen und damit auch der Natur näherstehen, gleichmacht“252, erreicht sie, dass sich das braune

|| 251 Anders dagegen Edda Polheim: „Mit dieser Glaubensfestigkeit vermag sie [die Großmutter, H. A.] auch in der Mutter, die bisher sich mehr didaktisch – als wahre Rousseau-Schülerin – mit der Religion auseinandergesetzt hat, die Überzeugung zu wecken, daß der Glaube ‚ein trostreicher herzlindernder Glaube‘ sei“ (dies.: „Darum war die dunkle Blume da, daß die lichten leben“, S. 53). Ähnlich auch Joachim Müller: „[D]ie Mutter der Kinder sagt ein frommes Amen, es ist auch für sie ‚ein trostreicher herzlindernder Glaube‘, daß die Großmutter im Geschehenen eine konkrete Folge von Determinationen sieht, die ideengeschichtlich an deistische Kausalitätsvorstellungen des 18. Jahrhunderts bis auf Brockes zurück erinnern“ (ders.: Menschenwelt, S. 160). 252 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 308.

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Mädchen schrittweise an den Umgang mit ihr gewöhnt und nicht nur Nahrungsmittel aus ihrer Hand akzeptiert, sondern sich auch neu einkleiden lässt. Die gerade zitierte Aussage, die besagt, dass die Kinder der Natur näherstehen, lässt sich auf mein Konzept einer Natur-Kultur-Skala übertragen: Die Kinder können zu diesem Zeitpunkt einem Bereich zugeordnet werden, der in der Nähe des Mittelpunktes dieser Skala liegt.253 Dies äußert sich sowohl in ihrem kindestypischen Weltbild, in dem noch keine strikte Trennung zwischen Rationalität und Irrationalität vorherrscht, als auch in ihrer instinktiv erfolgreichen Annäherung an das braune Mädchen. Indem die Mutter kindestypisches Verhalten imitiert, kann die Integration und Sozialisation des braunen Mädchens zu einem beachtlichen, wenn auch nicht dauerhaften Erfolg geführt werden.254 Das Mädchen kam jezt auch zuweilen allein zu dem Hause. […] Wenn die Kinder lernen mußten, stand es dabei, und sah zu. Plötzlich konnte es einmal die Buchstaben sagen, und konnte dann lesen. Es wurde öfter um das Gelernte gefragt, und zu weiterem Lernen veranlaßt. (K, S. 292)

Als ein weiterer Jahreszeitenzyklus die Familie zunächst in die Stadt und dann wieder zurück auf den Hof geführt hat und das braune Mädchen mit „vielen Sachen, die sie ihm aus der Stadt mitgebracht hatten“ (K, S. 295), beschenkt worden ist, beginnt ein weiterer Zeitabschnitt des gemeinsamen Lernens und Arbeitens (vgl. ebd.) und der Erzähler kann schließlich feststellen, das braune Mädchen sei „nun auch nicht scheu, wenn der Vater bei den Kindern war, und es wich vor den Knechten und den Mägden nicht zurück“ (ebd.). Vor dem aus diesem Grund überraschenden und endgültigen Abbruch des Integrationsexperiments tritt das braune Mädchen bekanntlich ein zweites Mal als Lebensretterin auf, als es ihm gelingt, den jungen Sigismund aus dem brennenden Haus der Familie zu retten. Aufschlussreich für meinen Deutungsansatz ist hier ein genauer Blick auf das Verhalten der Mutter während der Katastrophe. In Abwesenheit des Vaters gelingt es ihr zunächst, die Situation durch

|| 253 Für eine Darstellung der Skala und Zuordnung der Figuren siehe Abschnitt 3.4.7. 254 Vgl. Helmes: Bunte Steine als „Supplement der Gesetze?“, S. 63. Helmes schreibt die Perspektive des Vaters, die auf die Herstellung von Nützlichkeit ausgerichtet ist, zwar auch der Mutter zu und sieht folgerichtig beide Figuren als „aufgeklärte Erzieherfiguren scheitern“ (ebd.), weist aber trotzdem auf eine „gewichtige[] Abweichung“ (ebd.) zwischen beiden hin: Die Mutter lerne „im Verlauf der Erzählung immerhin [...], ihre erzieherischen Strategien den spezifischen, das heißt auch vor- und irrationalen Bedürfnissen der Edukantin anzugleichen“ (ebd.). Auf einen weiteren Lernprozess, den die Figur der Mutter im Laufe der Handlung durchläuft, wird später noch einzugehen sein.

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rationale Entscheidungen unter größtmögliche Kontrolle zu bringen. Sie rettet ein offensichtlich wichtiges „Kästchen“ (K, S. 297) aus dem Schreibtisch, bringt die Kinder an einen sicheren Ort im Garten, veranlasst die Knechte, die „fast den Verstand verloren hatten“ (ebd.), zur Rettung der Stalltiere, schützt die Holzvorräte vor den Flammen und befiehlt, „die brennenden Sparren von dem Dache soviel als möglich herunter zu reißen“ (K, S. 299), um Schadensbegrenzung zu betreiben. Selbst als die Mutter begreift, dass Sigismund im brennenden Haus gefangen ist, entwickelt sie weiterhin rationale Lösungsstrategien. Doch auch die „angestrengteste Kraft aller Männer“ (K, S. 302) reicht nicht aus, um die brennenden Balken, die ihren Sohn in Lebensgefahr bringen, zu entfernen. Verschiedene Ansätze, ins Haus zu gelangen, werden geprüft, müssen aber angesichts der „entsezensvollen ruhigen Flamme, die majestätisch in die Höhe ging“ (K, S. 303), verworfen werden. Die Art und Weise, wie die Mutter schließlich erkennen muss, dass menschliche Mittel und Vernunft das Leben ihres Sohnes nicht mehr retten können, erinnert nicht von ungefähr an den Rat der Großmutter, sich dem Glauben an die göttliche Vorsehung hinzugeben:255 Da stürzte sie auf die Knie, breitete die Arme auseinander, und schrie: „So rette du ihn, der die Macht und das Vollbringen hat, und der ein unschuldvolles Leben nicht vernichten kann!“ (K, S. 303)

Ihre ursprünglich rationale Herangehensweise hat der Mutter geholfen, die Brandkatastrophe so weit wie möglich einzudämmen, doch erst als sie sich eingestehen muss, ohne ein göttliches Wunder nicht weiterzukommen, ist der Weg für die zweite Rettungstat des braunen Mädchens frei. Die Wildnis hat sich in Gestalt des Feuers im Bereich der kultivierten Natur in einer Weise Bahn gebrochen, dass nur ein ‚wildes‘ Mädchen noch helfen kann: Unmittelbar nachdem die Mutter ihren Hilferuf an Gott gerichtet hat, erscheint das Mädchen auf der Bildfläche, klettert „wie ein Eichhörnchen an dem Weingeländer empor“ (K, S. 303) und gelangt mühelos ins Haus, wo es ihm gelingt, Sigismund aus dem Zimmer zu befreien, in dem er eingesperrt und den Flammen ausgeliefert ist.

|| 255 Wie oben ausgeführt, erkennt Edda Polheim den Lernprozess, den die Mutter durchläuft, schon zu einem früheren Zeitpunkt in der erzählten Zeit, was sie an dem Dialog festmacht, der sich an die erste Rettungstat des braunen Mädchens anschließt (siehe Anm. 251 in diesem Kapitel). Folgerichtig beschreibt sie das oben zitierte Verhalten der Mutter während der Brandkatastrophe als „Bewährungsprobe“ (dies.: „Darum war die dunkle Blume da, daß die lichten leben“, S. 53) für die „an herausgehobener Stelle stehende Aufforderung ‚sich dem Glauben hinzugeben‘“ (ebd.).

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Der Erzähler verweist explizit darauf, dass in dieser Episode zwei Faktoren zusammengekommen, die komplementär aufeinander bezogen sind. Denn kaum ist Sigismund befreit, steht mit einem Mal doch eine Leiter zur Verfügung, die ihm und seiner Retterin den sicheren Abstieg ermöglicht: Sie stammt „von den Wägen, die aus Gottes Vorsicht und mit dem Willen der Frau gerettet worden waren“ (K, S. 304; Hervorhebung von mir). Nur im Zusammenspiel von Rationalität und Rätselhaftigkeit, von Vernunft und Wunder kann ermöglicht werden, dass am Ende „kein Mensch bei dem Brande verunglükt“ (K, S. 309). Das zentrale Vorstellungsmuster, das sich in Kazensilber ausprägt und an dieser Stelle auf den Punkt gebracht wird, lässt sich deshalb wie folgt beschreiben: Tab. 5: Die Macht der Wunder (Topos)

Deskriptor

Deskription

Die Macht der Wunder256

Wunder haben das Potenzial, Existenzen zu verändern und sollten auch von den Mitgliedern einer aufgeklärten Gesellschaft akzeptiert werden.

|| 256 Während in der Schilderung der Brandkatastrophe weder der Erzähler noch die Figuren den Begriff des Wunders in den Mund nehmen, spielt er für Kazensilber in zweifacher Hinsicht eine wichtige Rolle. Zum einen bildet er im Erklärungsmodell der Großmutter, das sie auf die Rettung der Kinder aus dem Hagelsturm anwendet, eine Kernkomponente. Ich verweise in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Diskussion, die stattfindet, als das Unwetter vorüber ist. Die Großmutter zeigt sich hier davon überzeugt, dass „alle menschliche Vorsicht nichts [hilft]“ (K, S. 276), wenn „Gott zur Rettung kleiner Engel ein sichtbares Wunder thun will“ (ebd.). Es sei, so die Großmutter weiter, „ein Wunder, wie Gott in dem Haupte des braunen wilden Kindes die Gedanken wekte, […] daß es die Bündel herbei trug“ (ebd.). Zum anderen wird der Begriff des Wunders auch in der Vorrede zu den Bunten Steinen in einer Weise verwendet, die sich mit der oben gewählten Topos-Deskription in Beziehung setzen lässt. Stifter entwickelt hier ein Konzept der naturwissenschaftlichen Betrachtung der Welt, das den Blick von den Naturerscheinungen selbst – etwa der überkochenden „Milch im Töpfchen der armen Frau“ (Stifter: Vorrede (HKG 2,2), S. 10) oder der „Lava in dem feuerspeienden Berge“ (ebd.) – abwendet und auf deren Ursachen richtet (vgl. Famula: „[D]ie Wunderbarkeiten hörten auf, das Wunder nahm zu.“, S. 47). Im gewählten Beispiel ist das die „Kraft“ (Stifter: Vorrede (HKG 2,2), S. 10), die beide Substanzen, die Milch und die Lava, in Bewegung setzt. Das naturwissenschaftliche Erkennen solcher Ursachen, die sich „als lesbare Konstanten [erweisen]“ (Famula: „[D]ie Wunderbarkeiten hörten auf, das Wunder nahm zu.“, S. 47), bleibt indes nicht folgenlos: „[D]ie Wunderbarkeiten hörten auf, das Wunder nahm zu“ (Stifter: Vorrede (HKG 2,2), S. 12). Dass Stifter hier den Begriff des Wunders verwendet, kann als Beleg dafür gelten, dass seine naturwissenschaftliche Weltbetrachtung „einer religiösen Idee der Schöpfung verpflichtet ist“ (Famula: „[D]ie Wunderbarkeiten hörten auf, das Wunder nahm

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Die Figuren in Kazensilber bemühen sich nach dem glücklichen Ausgang der Brandkatastrophe – wie schon nach dem ersten Einbruch der Wildnis in Gestalt des Hagelsturms – darum, die ins Ungleichgewicht geratenen Verhältnisse zu ordnen und in einer Gegenreaktion noch genauer am Mittelpunkt der NaturKultur-Skala auszurichten. Eilig angestrengte Reinigungsarbeiten tragen dazu bei, dass „das Bild des Schmuzes und der Unordnung nicht mehr sichtbar wäre“ (ebd.), und noch im selben Jahr steht das Haus dank umfangreicher Bauarbeiten „schöner und stattlicher da, als es je gewesen war“ (K, S. 310). Das im Text omnipräsente Streben nach dem Mittelpunkt der kultivierten Natur zeigt sich aber auch darin, dass Mutter und Vater nach der zweiten Rettungstag des braunen Mädchens – ihre Reaktion auf die erste Rettungstat wiederholend – den Entschluss bekräftigen, das Kind „zu erziehen, und es demjenigen Glüke zuzuführen, dessen es nur immer fähig wäre“ (K, S. 311). Dessen endgültige Integration in die Familie wird nun intensiv vorangetrieben und strebt damit seinem scheinbar unerklärlichen Scheitern zu.

3.4.7 Am Ende bleibt das Rätsel Kazensilber unterscheidet sich in einem zentralen Punkt von den bisher untersuchten Erzählungen, die zum Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen gehören. Obwohl die Aufnahme des braunen Mädchens in die Familie unter besten Voraussetzungen stattfindet und zunächst zu einem „gelungenen rousseauistischen Erziehungsexperiment“257 zu führen scheint, ist diesem Unterfangen kein dauerhafter Erfolg beschieden. Im Unterschied zu den erfolgreich verlaufenden Erziehungsprozessen, in die Pia in der Narrenburg oder das Mädchen in Turmalin eingebunden sind, gelingt es hier nicht, das Kind dauerhaft in der Familie zu halten. Bevor der Text jedoch vom Scheitern dieser Bemühungen berichtet, stellt er die letzte Phase der Integration des braunen Mädchens dar, die von den Bewohnern intensiv betrieben wird. So trifft man etwa, ganz ähnlich wie in Turmalin, Vorkehrungen, dass ein Priester regelmäßig zu Besuch kommt, um „das Mädchen Gott und die Gebräuche unserer heiligen Religion kennen zu

|| zu.“, S. 48). Dies heißt aber, ganz im Sinne des Topos von der Macht der Wunder, der sich in Kazensilber ausprägt, für das „Individuum [...], die Willkür und Zufälligkeit des eigenen Lebens anzunehmen“ (ebd.). 257 Koschorke: Erziehung zum Freitod, S. 321.

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lehren“ (K, S. 311),258 und das anfänglich erfolgreiche Fortschreiten des Integrationsprozesses lässt sich an Veränderungen in der Kleidung des braunen Mädchens ablesen.259 Ist das Kind bei seinem ersten Auftauchen in ein Gewand gekleidet, das es ihm erlaubt, sich mit hoher Geschwindigkeit „wie ein Hirsch“ (K, S. 274) zu bewegen, willigt es nach einiger Zeit ein, Kleidung zu tragen, die zwar von der Mutter bereitgestellt wird, aber „dem Schnitte nach wie die alten gemacht“ (K, S. 311) sind. Diese „Stufe kultureller Simulation der Naturkleidung“260 trägt der Tatsache Rechnung, dass das Kind nur langsam von der Wildnis entwöhnt werden kann. Nachdem man jedoch einige Zeit die „sanften Fäden der Liebe und Nachsicht“ (K, S. 274) hat walten lassen und das braune Mädchen über mehrere Jahre hinweg „sehr feurig“ (K, S. 312) gelernt hat,261 wird es zu einem nützlichen Mitglied der häuslichen Gemeinschaft: „Es lernte allerlei Arbeiten, wie sie die andern Mädchen machten, und verrichtete solche Dinge, wie sie“ (ebd.). Schon im nächsten Satz weist der Text aber deutlich darauf hin, dass damit noch keine dauerhafte Eingliederung des Kindes in die Familie erreicht ist. Schließlich verweigert es sich den Integrationsbemühungen in einem zentralen Punkt: „In die Stadt mit zu gehen, konnte es nicht bewogen werden. Es blieb im Winter immer bei der Großmutter“ (ebd.). Die Großmutter, in ihrer bereits zitierten Selbstbeschreibung ein „altes Weib aus den Bergen unseres Landes“ (K, S. 270), und das braune Mädchen sind im Sinne des topografischen Modells von Wildnis, kultivierter Natur und Hochkultur zu eng mit ihren angestammten Bereichen verbunden, um sich über den Mittelpunkt hinaus zu weit von ihnen zu entfernen.

|| 258 Edda Polheim deutet diesen Aspekt vor dem Hintergrund ihrer These, dass in Kazensilber eine Auseinandersetzung zwischen heidnischem und christlichem Gedankengut stattfinde (vgl. dies.: „Darum war die dunkle Blume da, daß die lichten leben“, S. 39). Die Teilnahme des braunen Mädchens an religiösen Unterweisungen stelle die „größte Verhaltensänderung“ (ebd.) dar, welche „in keiner Weise mehr mit fanggischem Verhalten in Einklang zu bringen ist“ (ebd.). 259 Vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 307 ff. 260 Ebd., S. 308. 261 Günter Helmes hebt die Tatsache, dass die Kinder in Kazensilber gemeinsam lernen, besonders hervor: „Die Kinder und das ‚wilde‘ Mädchen [...] bilden tendenziell so etwas Modernes wie eine sich selbst organisierende und sich selbst stimulierende Lerngruppe, die, ihr freilich unbewusst, nach Grundsätzen verfährt, die sich von Rousseau, von Philantropisten wie Campe und von Neuhumanisten wie Niethammer herleiten“ (ders.: Bunte Steine als „Supplement der Gesetze?“, S. 63 f.; Hervorhebung im Original). Das braune Mädchen stelle, so Helmes weiter, in „dieser der Erwachsenenwelt ein Vorbild abgebenden kindlichen Lerngruppe [...] das eigentliche Zentrum dar“ (ebd.).

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Ungeachtet dieses Warnzeichens wird trotzdem eine letzte Anstrengung unternommen, die nächste Stufe des Angleichungsprozesses zu erreichen, und zwar mit negativen Auswirkungen: Endlich brachte man es auch dahin, daß es weibliche Kleider trug. […] Da es weibliche Kleider trug, war es scheuer, und machte kürzere Schritte. (K, S. 312)262

Die anderen Kinder wachsen in dieser Zeit zu jungen Erwachsenen heran: „Emma war eine schöne Jungfrau geworden […]. Clementia war rosig und zart […]. Sigismund war muthig heiter und frei […]“ (K, S. 312 f.). In Vorbereitung der dramatischen Schlussszene verläuft die Entwicklung des braunen Mädchens dagegen in eine andere Richtung: „Seine Wangen waren, wie wenn es krank wäre, und sein Blick war traurig“ (K, S. 313). Am Tag des endgültigen Abschieds finden Vater und Mutter das Kind „in seinen schönen Kleidern“ (ebd.) mit Tränen in den Augen vor und es verschwindet schließlich für immer, ohne sein offensichtliches Leid in Worte fassen zu können. Die Forschung hat sich mit dieser überraschenden Wendung der Dinge immer wieder in einer Weise auseinandergesetzt, die das rätselhafte Verschwinden des scheinbar schon erfolgreich in die Familie eingebundenen Kindes zu erklären versucht. Während nicht übersehen werden darf, dass der Text die Entfremdung des braunen Mädchens von der Familie zumindest ansatzweise motiviert,263 bleibt eine befriedigende Auflösung des Rätsels schwierig und endet oft in Spekulationen oder vagen Deutungsversuchen.264 Ein möglicher Aus-

|| 262 Vgl. Eve Masons treffende Ausführungen zu dieser Stelle: „Notice the slight tone of coercion that ‘man brachte es dahin’ implies. The parents want to civilize the girl on their own terms, make her a useful member of their society. What they in fact achieve is a loss of natural innocence and a new unwelcome consiousness like that of the figleaf in Paradise“ (dies.: Stifter's ‘Katzensilber’, S. 124). 263 Kurz vor der dramatischen Abschiedsszene berichtet der Text davon, dass die Familie, „da Fremde da waren, […] in dem großen Saale des Hauses Tanz Klavierspiel Pfänderspiele und städtische Vergnügungen trieb“ (K, S. 313; Hervorhebung von mir), während das braune Mädchen mit „verweinten Augen“ (ebd.) auf einem Sandhaufen sitzt. Vgl. Kugler: Katastrophale Ordnung, S. 134: „Mit Beginn der Pubertät verlieren die übrigen Kinder […] ihr Interesse an ihm [dem braunen Mädchen; H. A.] […] und wenden sich statt dessen Bekannten aus der Stadt zu […]. Damit fällt der entscheidende Grund weg, warum sich das Mädchen der Assimilation überhaupt unterzogen hat.“ Vgl. auch Sjögren: Myths and Metaphors, S. 360. 264 Konrad Steffen führt das Verschwinden des braunen Mädchens auf einen Vorfall in Stifters Biografie zurück, bei dem 1851 seine Stieftochter Juliane Mohaupt für längere Zeit von Zuhause verschwand. Erst als Juliane wieder aufgetaucht war, „wagte Stifter, dem [sic] Katzen-

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weg aus diesem Dilemma bietet sich, wenn man die Faktoren genauer betrachtet, die bei der Gestaltung des ‚wilden‘ Mädchens dieser Erzählung eine Rolle gespielt haben. Hinweise auf Stifters Adoptivtochter Juliana oder die Figur Mignon aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre werden in Forschungsbeiträgen zu Kazensilber und den anderen Texten des Werkkomplexes wiederholt ins Feld geführt, ohne jedoch zu einem tragfähigen Interpretationsansatz beizutragen.265 Während biografische und intertextuelle Einflüsse dieser Art gar nicht in Abrede gestellt werden sollen, kann ein ganz anderer Zusammenhang dabei helfen, die Perspektive auf den Text zu verändern. Hier geht es erneut um Stifters Vertrautheit mit „einheimische[n] Sagenstoffe[n]“266 des Alpenraumes (siehe auch Abschnitt 3.4.4).267

|| silber den dunklen Ausgang zu geben. […] Er schilderte den Schrecken erst, nachdem er ihn überstanden hatte“ (ders.: Adalbert Stifter. Deutungen. Basel 1955, S. 159). Eve Mason stellt Vermutungen über die Empathiefähigkeit und Ernsthaftigkeit der Eltern in Kazensilber an: „Is it this lack of spontaneous warmth, which the girl perhaps senses behind all the sensitive kindness she is treated with […]? Does she realize that in the offer, ‘wir theilen Alles mit Dir, was wir haben, wir theilen unser Herz mit Dir’ […], there is no real heart to share?” (dies.: Stifter’s ‘Katzensilber’, S. 123.). Gunter H. Hertling sieht die Versuche, das braune Mädchen dauerhaft in die Familie einzugliedern, aus zwei Gründen fehlschlagen: Erstens sei das Kind „als magisches Naturwesen mit seiner mythischen Urheimat unzertrennlich verwurzelt“ (ders.: Mignons Schwestern, S. 178) und zweitens seien seine „Erzieher primär um sein äußeres Wohlergehen besorgt“ (ebd.). Christian Begemann sieht in dem in der Tat „unerklärten und unerklärlichen Mißlingen der Sozialisation des Mädchens“ (ders.: Die Welt der Zeichen, S. 320) eine Andeutung der „Unvereinbarkeit von Natur und Kultur“ (ebd.). Eva Geulen kommentiert den Gedanken Sigismunds über das braune Mädchen, mit dem die Erzählung schließt („Er dachte: wenn dem Mädchen nur recht recht viel Gutes in der Welt beschieden wäre“; K, S. 315) mit einem Querverweis auf das verirrte Mädchen in Stifters Erzählung Granit und einer nur schwer nachvollziehbaren These zum Verbleib des braunen Mädchens: „Nicht auszuschließen, dass auch dieses Kind wie Reisigbündel ungefüg irgendwo im Gebüsch liegt; wahrscheinlicher ist jedoch, dass es das Schicksal seiner verwirrten Großmutter teilt und aus ihm wurde, was man heute einen Pflegefall nennt“ (dies.: Kinderlos, S. 429). Albrecht Koschorke schließlich deutet die Verbindung der Abschiedsszene zur Jochträgersage wie folgt: „Auf Wegen, die nicht in der Stifterschen Manier zu kartieren sind, hat das Mädchen eine Todesnachricht erhalten; oder – eine andere mögliche Deutung – es kleidet sein Wissen um das Scheitern der Integration in Worte, die es der Märchenerzählung der Großmutter entlehnt“ (ders.: Erziehung zum Freitod, S. 322). 265 Vgl. etwa Mederer: Sagenerzählungen und Sagenerzähler, S. 106, Anm. 105; Matz: Adalbert Stifter, S. 277; Mason: Stifter’s ‘Katzensilber’, S. 127. 266 Mayer: Adalbert Stifter, S. 141. 267 Vgl. Koschorke: Erziehung zum Freitod, S. 320: „In die rätselhafte Gestalt des braunen Mädchens gehen nicht nur Anklänge an Mignon und Kaspar Hauser ein, sie ist auch als ein ‚benevolent nature spirit‘ interpretierbar, zu der in romantischer Märchentradition typischer-

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Eine direkte Verbindung zwischen dem braunen Mädchen und der volkstümlichen Überlieferung besteht in seiner Antwort auf die Frage nach seinen leiblichen Eltern, die in der Abschiedsszene gestellt wird: „‚Sture Mure ist todt, und der hohe Felsen ist todt‘, sagte das Mädchen“ (K, S. 313). Der Name ‚Sture Mure‘ findet auch in der Jochträgersage Verwendung, die die Großmutter ihren Enkeln auf dem Nußberg erzählt (vgl. K, S. 247 f.), und weist diese Binnenerzählung, in der eine „geheimnisvolle Todesbotschaft“268 überbracht wird, als Wandersage aus, die zu den Sagen über die ‚Fanggen'‘ gehört. Die volkstümliche Überlieferung berichtet davon, wie die Fanggen – die in der alpinen Folklore „einfach als Wildwesen akzeptiert wurden“269, statt gefürchtet zu werden – ihre Kinder in der Gemeinschaft von Menschen aufwachsen ließen.270 Hier besteht also eine inhaltliche Verbindung zu dem, was das braune Mädchen in Kazensilber erlebt. Durch die Erwähnung des Namens ‚Sture Mure‘ sowohl in der Jochträgersage als auch in der Abschiedsszene wird aber nicht mehr und nicht weniger er|| weise nur Kinder sprachlichen Zugang haben.“ Koschorke verweist hier auf Martin und Erika Swales, die zu diesem Sachverhalt folgendes ausführen: “On three occasions, she [das braune Mädchen; H. A.] acts as a rescuing force. Her function as providential agent is mythically reinforced in that the hailstorm, the swollen river and the burning house evoke the archetypal pattern of trial by ice, water and fire. [...] All this suggests that Stifter aims to write a modern fairy-tale in which the realms of social man and nature, the world of everyday prose and the mystery of poetry are fused” (dies.: Adalbert Stifter. A Critical Study. Cambridge u. a. 1984, S. 187). 268 Hettche: Bunte Steine. Kommentar (HKG 2,4), S. 173. Sagen von diesem Typus lassen sich bis zu Plutarch zurückverfolgen (vgl. ebd.). Vgl. auch Mederer: Sagenerzählungen und Sagenerzähler, S. 88. 269 Hans Biedermann: Religionsethnologische Bemerkungen zum Problemkreis der Dämonologie. In: Der Dämon und sein Bild. Berichte und Referate des dritten und vierten Symposiums zur Volkserzählung Brunnenburg/Südtirol 1986/87. Bd. 2. Hrsg. von Leander Petzoldt und Siegfried de Rachewiltz. Frankfurt a. M. 1989, S. 19–26, hier S. 23. Biedermann zeigt in diesem Beitrag, dass der „Vorgang der Verteufelung“ (ebd., S. 21) von ehemals mit Verehrung behandelten übernatürlichen Wesen üblicherweise dann auftritt, wenn „eine Hochreligion eine ältere und einfachere Glaubenswelt überlagert“ (ebd.), und führt die Wildwesen aus der Folklore des alpinen Raums auf „antike Vorbilder“ (ebd., S. 23) zurück. Ob „klassische Motive (etwa durch die Vermittlung von gebildeten Geistlichen) in die alpine Folkore eingedrungen“ (ebd., S. 23) seien oder ob es sich um „alte Bausteine des Sagengutes“ (ebd.) handele, „die sowohl im antiken Schriftgut wie auch in den volkstümlichen Überlieferungen der Alpenregion erhalten geblieben sind“ (ebd.), sei nicht mit Sicherheit zu entscheiden. Biedermanns Ausführungen zur Akzeptanz der Fanggen durch die Menschen steht deren zeitgenössische Beschreibung durch Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg entgegen, der von schauerlichen Gestalten berichtet, die sich der christlichen Religion verweigern und von Menschenfleisch ernähren (vgl. Hettche: Bunte Steine. Kommentar (HKG 2,4), S. 174 f.). 270 Vgl. Hettche: Bunte Steine. Kommentar (HKG 2,4), S. 175.

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reicht, als die Rätselhaftigkeit der Figur des braunen Mädchens zu unterstreichen.271 Woher das Mädchen wirklich stammt, wird damit nicht ermittelbar, sondern im Gegenteil weiter verschleiert. Die diesbezüglichen, teilweise schwer nachvollziehbaren Spekulationen272 in der einschlägigen Forschungsliteratur sind deswegen nicht geeignet, zu einer Deutung des Textes beizutragen. Im Übrigen scheint Stifter auch gar nicht im Sinn gehabt zu haben, das braune Mädchen in allen Details als übernatürliches Wesen zu gestalten, denn an ande-

|| 271 Anders als der Name ‚Sture Mure‘, der sich, wie oben erwähnt, auch in einer der Binnenerzählungen des Textes findet, lässt sich der Verweis des braunen Mädchens auf den ‚hohen Felsen‘ weder zweifelsfrei innerhalb des Primärtextes zuordnen noch auf die Varianten, in denen der Stoff der Jochträgersage tradiert wurde (vgl. dazu Hettche: Bunte Steine. Kommentar (HKG 2,4), S. 175 ff.), zurückführen. Selbst wenn man berücksichtigt, dass das braune Mädchen an dieser Stelle auf die Frage nach seinen Eltern antwortet, kann über die Identität des ‚hohen Felsens‘ nur spekuliert werden. So schließt Edda Polheim ihre durchaus nachvollziehbaren Ausführungen zu dem Namen ‚Sture Mure‘, die auf der Tatsache beruhen, dass es sich bei dem Begriff ‚Mure‘ um einen „geomorphologischen Terminus“ (dies.: „Darum war die dunkle Blume da, daß die lichten leben“, S. 40, Anm. 14) handelt, mit der nicht belegbaren Überlegung, dass „der ‚hohe Fels‘ als möglicher Vater und das ‚braune Mädchen‘ als Kind die Familie komplettieren würden“ (ebd., S. 41). Iulia-Karin Patrut schlägt vor, den ‚hohen Felsen‘ und den „schwarze[n] Mann“ (K, S. 255) aus der Karfunkelsage der Großmutter als „ein und dieselbe Person“ (dies.: Phantasma Nation, S. 338) zu betrachten. Dies, so Patrut, „liegt nahe“ (ebd.), weil jene Sage von einer Höhle berichtet, die „nur über einen hohen Felsen erreichbar“ (ebd.) sei. Gegen eine solche Deutung spricht, dass der Ausdruck ‚hoher Felsen‘ an dieser Stelle gar nicht gebraucht wird. Die Rede ist lediglich von einer Stelle im Wald, an der „an den beiden Seiten harte Felsenwände standen“ (K, S. 255) und einem „glatten Felsen“ (ebd.), den ein Schäfer auf der Suche nach einem verlorenen Lamm empor steigt. Feststellen lässt sich aus meiner Sicht letztendlich nur, dass die Bemerkung des Mädchens auf eine Person, zumindest aber auf ein Lebewesen im weitesten Sinne abzielen muss, denn sonst könnte der ‚hohe Felsen‘ ja nicht tot sein. Durch ihre Unauflösbarkeit trägt die Antwort des Mädchens zur Rätselhaftigkeit des Textes bei, was, wie ich im Folgenden zeigen werde, durchaus in Stifters Absicht gelegen haben kann. 272 So stellt etwa Gunter H. Hertling fest: „‚Sture Mure‘, d.h. die ‚braune Magd‘ [aus der Jochträgersage; H. A.], muß daher die Mutter des ‚nußbraunen Mädchens‘ gewesen sein“ (ders.: Mignons Schwestern, S. 168). Hans-Peter Mederer verweist auf eine „verwandtschaftliche Konnotation, die sich aus dem Vergleich mit der Sage ergebe. Demnach wäre das braune Mädchen das Enkelkind der Rauh-Rinde, auf deren Tod hin die Magd Sture Mure, ihre Mutter, den Bauern verlassen hat“ (ders.: Sagenerzählungen und Sagenerzähler, S. 107). Joachim Müller meint: „Ob nun die braune Magd, die auf den Namen Sture Mure hört, die Mutter des Mädchens ist […], darf gefragt und erwogen werden“ (ders.: Menschenwelt, S. 153 f.). Für Eve Mason löst sich das Rätsel um die Herkunft des braunen Mädchens am Ende der Erzählung sogar, „when it becomes clear that Sture Mure, the mysterious servant girl, was her mother“ (dies.: Stifter's ‘Katzensilber’, S. 125).

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rer Stelle bezeichnet er die Figur plötzlich als „arme[s] Zigeunermädchen“273. Als sich das Kind endgültig aus dem Leben der Familie – und damit aus der Erzählung – zurückzieht, stellt der Vater Nachforschungen an, und da das Mädchen immer nicht kam, wurden diese Nachforschungen mit allen Mitteln, die es nur gab, betrieben. Aber sie waren wie die früheren ohne Erfolg. (K, S. 314)

Letztendlich kann es also weder den Akteuren der erzählten Welt noch den Lesern und Interpreten des Textes gelingen, das Rätsel um das plötzliche Verschwinden und den Verbleib des ‚wilden‘ Mädchens in befriedigender Weise aufzulösen.274 Damit rückt aber eine ganz andere Figur in Kazensilber in den Mittelpunkt des Interesses. Ursprünglich Repräsentantin einer „Zivilisiertheit, die ihren Wunderglauben verloren hat und sich ihrer inneren und äußeren Gefährdung überhaupt nicht bewußt ist“275, lernt die Mutter, wie in Abschnitt 3.4.6 || 273 An Louise von Eichendorff, 31. März 1853 (PRA 18, S. 159). Stifter wendet den Begriff ‚Zigeuner‘ hier nachträglich auf die Figur des braunen Mädchens an. Im Text von Kazensilber kommt er nicht vor (vgl. Kugler: Katastrophale Ordnung, S. 124; vgl. auch Polheim: „Darum war die dunkle Blume da, daß die lichten leben“, S. 37). Trotzdem lässt sich der Begriff für die Interpretation des Textes fruchtbar machen. Gruppen von Menschen, die von ihren Zeitgenossen als ‚Zigeuner‘ bezeichnet wurden, lassen sich seit dem 15. Jahrhundert auf dem „Gebiet Deutschlands“ (Patrut: Phantasma Nation, S. 9) nachweisen (vgl. ebd.). Obwohl sie keine „eigene Schriftkultur“ (ebd.) oder „differente Religion“ (ebd.) besaßen, waren sie über Jahrhunderte hinweg Gegenstand eines „Furor[s] der Exklusion“ (ebd.). Im 19. Jahrhundert lässt sich in diesem Zusammenhang die zunehmende Herausbildung einer „exkludierende[n] Semantik“ (ebd., S. 313) in bürgerlichen Kreisen feststellen, die sich in Kazensilber etwa in der Rede des Jägers ausprägt, der den Vater, als dieser die Herkunft des braunen Mädchens zu erkunden sucht, auf umherziehende „Banden […] in den höheren Wäldern“ (K, S. 280) hinweist. Der Begriff ‚Bande‘ wurde im zeitgenössischen „kriminologischen Diskurs“ (Patrut: Phantasma Nation, S. 333) als „pejorativer ‚Terminus technicus‘“ (ebd., Anm. 194) auf die Gruppe der ‚Zigeuner‘ angewendet. Die letztendlich scheiternde Integration des braunen Mädchens in die Familie lässt sich vor diesem Hintergrund dahingehend deuten, dass es dem Kind nicht gelingt, „von der Außenseite der Gesellschaft auf ihre Innenseite“ (ebd., S. 334) überzuwechseln. 274 Vgl. Gamper: Kazensilber, S. 93 f. Vgl. auch Wildbolz: Adalbert Stifter, S. 81: Es gehe Stifter in Kazensilber nicht darum, ein „Geheimnis zu lichten“ (ebd.) oder „Spannung aufzulösen“ (ebd.), sondern „Ziel ist es, das Rätsel als Rätsel darzustellen“ (ebd.). Stifter notiert in dem oben erwähnten Schreiben (an Louise von Eichendorff, 31. März 1853), er habe „das unausgesprochene Gefühl des braunen Mädchens [...] für das wehmüthigste“ (PRA 18, S. 159) gehalten und sich daher „bestimmt“ (ebd.) gefühlt, „das arme Kind mit der größten Schonung und seine Lage mit dem liebevollsten Schleier zu behandeln“ (ebd.). Vgl. Gamper: Wetterrätsel, S. 334 f. 275 Mason: Stifters Bunte Steine, S. 77. In ihrem Beitrag zu Kazensilber führt Mason dazu Folgendes aus: „By amassing so many fairy-tale features he [Stifter; H. A.] arouses and manipulates our expectations in a particular way. By then subtly and carefully disappointing those

Rätselhafte Wunder: Kazensilber | 161

dargestellt, Rationalität und Irrationalität erfolgreich zu vereinbaren. Mit diesem Befund lassen sich die Bewegungen der Figuren in Kazensilber auf der Natur-Kultur-Skala wie folgt darstellen:

Braunes Mädchen (irrational)

Braunes Mädchen (rational)

Braunes Mädchen (irrational)

Mutter (rational/irrational)

Mutter (rational)

Großmutter (irrational)

Kinder (rational/irrational)

Vater (rational)

Hoher Nußberg (Wildnis)

Hof (kultivierte Natur)

Große Stadt (Hochkultur)

−−



+



−−

Abb. 10: Bewegungen auf der Natur-Kultur-Skala in Kazensilber

Kazensilber stellt einem zunächst erfolgreich verlaufenden, dann aber scheiternden Erziehungsprozess also einen gelungenen Lernprozess gegenüber. Die Mutter wird dabei gleich zweimal zum Kind: Zunächst äußerlich, indem sie Kleidung und Frisur ihrer Tochter imitiert und damit einen Zugang zu dem rätselhaften braunen Mädchen findet, und anschließend innerlich, als es ihr gelingt, die Macht der Wunder zu akzeptieren. Damit hebt sie sich von den Figuren der Großmutter und des Vaters ab, die keine Entwicklung durchlaufen und auf ihren statischen, einander in ihrer Absolutheit ausschließenden Positionen von Irrationalität und Rationalität verbleiben. Dass in dieser Erzählung die Integration des ‚wilden‘ Mädchens in die Familie und seine Transformation zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft fehlschlägt, während seine Erzieherin ihr Weltbild korrigieren muss, ist ein Befund, der für die Analyse der letzten Erzählung im Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen eine wichtige Rolle spielen wird.

|| expectations he shows us how the capacity for the experience of the miraculous has gone out of life“ (dies.: Stifter’s ‘Katzensilber’, S. 128).

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3.5 Vollendete Schönheit: Der Waldbrunnen 3.5.1 Einführung und Forschungsüberblick zum Waldbrunnen In der Stifter-Forschung wird die kurz vor dem Tod des Autors veröffentlichte Erzählung Der Waldbrunnen276 immer wieder auch hinsichtlich ihres künstlerischen Werts beurteilt. Das Meinungsspektrum reicht von der Auffassung, dem Text fehle die „rechte künstlerische Einheit“277, bis hin zu der Position, Stifter habe seine Figuren „kaum je […] mit solcher Zuneigung und Zärtlichkeit gezeichnet, wie in diesem unscheinbaren, wunderschönen späten Text.“278 Während die Diskussion über den literarischen Wert des Textes hier nicht weiter verfolgt werden soll, erscheint ein einschlägiges Urteil, das besagt, der Waldbrunnen sei lediglich eine „aus Handlungselementen früherer Dichtungen zusammengesetzte Geschichte“279, in einem neuen Licht, wenn man den Text als Teil des Werkkomplexes der ‚wilden‘ Mädchen betrachtet. Was aus der Perspektive des Kunstrichters wie eine lose Ansammlung von wiederverwendeten Handlungselementen erscheinen mag, könnte sich bei genauerem Hinschauen als Teil der topischen Struktur des Textes entpuppen, der viel mehr ist als eine „korrigierende[] Wunschphantasie“280, in der Stifter die Erschütterung über den Freitod seiner Adoptivtochter Juliane verarbeitet. Zunächst aber sollen ausgewählte Forschungsbeiträge dargestellt werden, die den Waldbrunnen zum Gegenstand haben.281

|| 276 Die hier vorgelegte Interpretation dieses Textes nimmt auf Ergebnisse meiner Magisterarbeit Bezug (vgl. Achenbach: Natur versus Kultur?, S. 92–117). Siehe dazu auch Anm. 1 in diesem Kapitel. 277 Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, S. 550. 278 Matz: Adalbert Stifter, S. 334. 279 Ursula Naumann: Adalbert Stifter. Stuttgart 1979, S. 67. 280 Koschorke: Erziehung zum Freitod, S. 332. 281 Ich verwende die folgende Ausgabe des Textes: Adalbert Stifter: Der Waldbrunnen. In: Ders.: Erzählungen. 2. Band. Hrsg. von Johannes John und Sibylle von Steinsdorff. Stuttgart 2003 [HKG 3,2], S. 95–139. Zitate aus dem Waldbrunnen weise ich im Folgenden mit der Sigle W im Text nach. – Der Text erschien ursprünglich im Jahr 1866 im Düsseldorfer Künstleralbum. In der älteren Stifter-Forschung war die Entstehungszeit des Waldbrunnens umstritten (vgl. Achenbach: Natur versus Kultur?, S. 92, Anm. 226). Mathias Mayer geht davon aus, dass der Text „wohl 1865“ (ders.: Adalbert Stifter, S. 205) entstanden ist. Eva Geulen gibt lediglich das gesicherte Veröffentlichungsjahr an (vgl. dies.: Der Waldbrunnen [Art.]. In: SHB, S. 139–143, hier S. 139). Derzeit liegen mir keine gesicherten Anhaltspunkte vor, die es erlauben würden, die Entstehung des Textes in einer früheren Werkphase anzusiedeln. Deswegen gehe ich ebenfalls davon aus, dass der Waldbrunnen in zeitlicher Nähe zur Veröffentlichung, also in den

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Joachim Müller nimmt eine Beobachtung Fritz Novotnys zum Stil von Stifters späten Erzählungen zum Anlass, anhand von drei Erzähltexten zu zeigen, wie „Stifters späte Prosa dem Manierismus […] entgeht“282. Zu Beginn seines Beitrags widmet er sich ausführlich dem Waldbrunnen und geht im Anschluss auf zwei weitere Erzähltexte Stifters (Der Kuß von Sentze und Der fromme Spruch) ein. Müller weist der Rahmenerzählung die Funktion zu, die „erzählerische Grundthese“ (S. 82) in Bezug auf die menschliche Schönheit zu formulieren und sieht in der Figur Stephan von Heilkun und dessen Bemühungen um Juliana den Ausdruck einer „Stifterische[n] Grundfrage“ (S. 84), nämlich der Frage nach den Möglichkeiten, Menschen durch Erziehung zu verbessern und zu veredeln. Müller verschränkt diese Beobachtung mit Bemerkungen zur „Bändigung“ (S. 86) des ‚wilden‘ Mädchens Juliana und der Heilung Stephans. In diesem Zusammenhang komme dem titelgebenden ‚Waldbrunnen‘, so Müller, eine zentrale symbolische Bedeutung zu. Gegen ein in der älteren Stifter-Forschung gängiges Urteil, das besagt, die Rahmenerzählung des Waldbrunnens sei misslungen oder gar überflüssig, wendet sich Rosemarie Hunter.283 Ausgehend von Überlegungen zur Funktion von Rahmenerzählungen, die auf der Erzähltheorie Eberhard Lämmerts basieren, weist Hunter dem Rahmen des Waldbrunnens die Funktion einer „richtungsweisenden Ordnungskraft“ (S. 122) zu. In Übereinstimmung mit ihrer eingangs formulierten These, dass es sich bei Juliana um den „Hauptcharakter“ (S. 119) der Erzählung handele und deren Zähmung das „zentrale erzählerische Ereignis“ (S. 120) darstelle, beschreibt Hunter diese Ordnungskraft im Hinblick auf die Entwicklung Julianas, die in einem Zustand des „Zusammenklang[s] von innerer und äußerer Schönheit“ (S. 122) ende. Auslegungen, die den Waldbrunnen im Hinblick auf die Figur Stephan von Heilkun als Heilungsgeschichte lesen, weist Hunter dagegen zu Beginn ihres Beitrags als „Fehlinterpretation“ (S. 119) zurück und belegt ihre These von Stephans Verbleib in einem Zustand der „Hybris“ (S. 121) damit, dass er im Unterschied zu anderen Figuren in der Rahmenerzählung keine Rolle spiele. In einem späteren, monografischen Beitrag zum Waldbrunnen setzt sich die Autorin zunächst mit der gängigen These auseinander, dass dieser Text unter

|| Jahren 1865/66 entstanden ist. Für wertvolle Hinweise zu diesem Sachverhalt danke ich Johannes John. 282 Joachim Müller: Stifters spätere Erzählungen. In: VASILO 9 (1960), Folge 3/4, S. 79–93, hier S. 79. 283 Rosemarie Hunter: Ist der Rahmen des „Waldbrunnen“ überflüssig? Einige Bemerkungen zu Stifters Späterzählung. In: VASILO 21 (1972), Folge 3/4, S. 119–123.

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den vier späten Erzählungen Stifters eine Sonderstellung einnehme und illustriert diesen Befund anhand einer vergleichenden Darstellung der Motive, die in jenen Texten zum Einsatz kommen.284 Anschließend legt sie eine ausführliche Interpretation der Erzählung vor. Hier untersucht sie zunächst die Figuren Franz und Katharina, deren unterschiedliche Arten, die Natur wahrzunehmen, auf ihr späteres Verhältnis zu Juliana hinwiesen. Die Heilung von Liebesmangel, die der Text im Hinblick auf die Figur Stephan von Heilkun thematisiere, beschreibt Hunter-Lougheed in diesem Beitrag ebenfalls als Teilerfolg, der die Hybris des alten Mannes weiter bestehen lasse. In diesem Zusammenhang wendet Hunter-Lougheed sich auch gegen die These, Stephan sei die Hauptfigur der Erzählung. Nach einer Darstellung der Funktion der Rahmenerzählung, die auf Hunter-Lougheeds einschlägigen früheren Beitrag zurückgeht, folgt eine Betrachtung des ‚wilden‘ Mädchens Juliana. Deren schulische Aufzeichnungen und frühe Deklamationen würdigt die Autorin als poetische Ausdrucksformen. Hunter-Lougheed beschreibt Juliana einerseits – im Hinblick auf ihr Verhalten gegenüber der Großmutter – als sittlich handelnden Menschen, geht auf der anderen Seite aber eindeutig davon aus, dass die Haupthandlung des Waldbrunnens in der „allmähliche[n] Zähmung des wilden Naturkindes durch Stephan, der es an sich lockt und an sein Wesen und Tun gewöhnt“ (S. 42), besteht. Im dritten und letzten Teil der Untersuchung stellt Hunter-Lougheed die These auf, Stifter habe den Waldbrunnen ursprünglich auf die Darstellung der Beziehung zwischen Stephan und Juliana beschränken wollen und sowohl die Liebesgeschichte zwischen Franz und Juliana als auch die Rahmenerzählung nachträglich konzipiert. Sie begründet diese „Ursprungshypothese“ (S. 48) mit einer detaillierten narratologischen Analyse, die unter anderem das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit und die Funktion von „Rückwendungen“ (S. 57) und „Vorausdeutungen“ (S. 62) beschreibt. In diesem Zusammenhang nimmt Hunter-Lougheed auch wiederholt die anderen späten Erzählungen Stifters in den Blick und liefert weitere Belege für die These, dass der Waldbrunnen im Spätwerk Stifters eine Sonderstellung einnehme. Die unterschiedlichen Darstellungen der Figur Juliana, die sich im Text finden, betrachtet Christine Oertel Sjögren als „[t]he only obvious link between the frame and the core story“285 – eine Verbindung, die aber oberflächlich bleibe. Sjögren stellt die These auf, dass die Rahmenerzählung des Waldbrunnens eine

|| 284 Rosemarie Hunter-Lougheed: Adalbert Stifter. Der Waldbrunnen. Interpretation und Ursprungshypothese (= Schriftenreihe des Adalbert-Stifter-Institutes, Folge 37). Linz 1988. 285 Christine Oertel Sjögren: The Frame of Der Waldbrunnen Reconsidered: A Note on Adalbert Stifter's Aesthetics. In: Modern Austrian Literature 19 (1986), S. 9–25, hier S. 9.

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eigene Bedeutung habe, die sich auf der Ebene des Plots nicht zufriedenstellend beschreiben lasse. Zunächst wendet sie sich gegen die oben beschriebene Interpretation von Rosemarie Hunter, in der die Bedeutung der Rahmenerzählung zwar ebenfalls hervorgehoben, aber auf den Bildungsgang des ‚wilden‘ Mädchens Juliana abgebildet wird. Dem Rahmenerzähler gehe es jedoch nicht um Bildung, sondern, so Sjögren, ausschließlich um das Phänomen der Schönheit, das sich in der Figur der ‚Zigeunerin‘ und der erwachsenen Juliana von Heilkun auf zwei Arten manifestiere. Schönheit im Sinne der Rahmenerzählung sei nicht auf physische Schönheit eingeschränkt, sondern beziehe „related aesthetic concepts, such as eros and art“ (S. 16), mit ein. Mit diesen Konzepten sei aber auch die Figur Juliana eng verbunden. Deren Entwicklung unterscheidet Sjögren von anderen literarischen Bildungsgängen (sie nennt die Figuren Wilhelm Meister und Heinrich Drendorf) und beschreibt sie als „a kind of exorcism“ (S. 19). Juliana werde das „aesthetic element in its three aspects of beauty, eros, and artistry“ (ebd.) gleichsam ausgetrieben, was sich auch darin zeige, dass sie als Erwachsene ihre Schönheit verhülle. Abschließend bildet Sjögren den Waldbrunnen auf den biografischen Kontext des Suizids von Stifters Adoptivtochter ab und kehrt dann zur Beschreibung des ‚Zigeunermädchens‘ auf den ersten Seiten der Erzählung zurück, die den Text als Bekenntnis des alternden Autors zu einer Leidenschaft erscheinen lasse, die so viel Macht über ihn hatte, dass er ihr misstrauen musste. Christian Soboth stellt eine These auf, die auch in meinen Überlegungen zum Waldbrunnen eine wichtige Rolle spielen wird: die „vermeintliche Erziehung“286 des ‚wilden‘ Mädchens Juliana sei „nicht Hauptgegenstand der Erzählung“ (S. 52). Im Fokus steht für Soboth dagegen die „Selbsterziehung oder Selbstheilung des Ich-Erzählers“ (ebd.), die er mit dem Erzählvorgang in Beziehung setzt. Soboth analysiert im Detail, wie der Text eine „Auseinandersetzung mit Goethe“ (S. 52) betreibt und geht dabei über die Darstellung von direkten intertextuellen Beziehungen, die durch die Gedicht-Deklamationen Julianas entstehen, hinaus. Schließlich stellt er den Waldbrunnen in den Kontext von Stifters letzten Erzählungen (Der Kuß von Sentze und Der fromme Spruch), um zu zeigen, daß sich die dort perfektionierten Strategien des Schreibens und Erzählens bereits im Waldbrunnen auszubilden beginnen. Einige der genannten Forschungsbeiträge zum Waldbrunnen stellen Überlegungen zur Funktion der Rahmenerzählung des Textes an. In diesem Zusammenhang lässt sich ergänzen, dass sich schon bei einer ersten Analyse der Erzählstruktur Ähnlichkeiten mit einem anderen Text des Werkkomplexes zeigen. || 286 Soboth: Die Frau im Einschreibbuch (siehe Kap. 1, Anm. 3), S. 52.

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Die Rede ist von Turmalin. Hier wie dort fungiert als Rahmenerzähler eine Figur, die in der erzählten Welt zuhause ist. Während der Erzähler in Turmalin dies aber gleich zu Beginn der Binnenerzählung offenlegt, indem er sich als Freund der Ich-Erzählerin zu erkennen gibt (siehe Abschnitt 3.3), stellt der Erzähler des Waldbrunnens zunächst nur eine lose Verbindung zwischen der Rahmenerzählung – in der es um zwei Episoden in seinem eigenen Leben geht – und der Binnenhandlung her: „Und wie es in der Welt Ereignisse giebt: eine Zeit nach diesem Versöhnungskusse erfuhr ich folgende Begebenheit“ (W, S. 103). Erst im zweiten Teil der Rahmenerzählung stellt sich heraus, dass der Erzähler einigen Figuren aus der Binnenhandlung schon einmal begegnet ist. Davon abgesehen schildert er die Binnenhandlung eher im Duktus eines unbeteiligten Beobachters,287 so dass man sich bei der Erstlektüre tatsächlich fragen mag, ob die Rahmenerzählung nicht vielleicht überflüssig sei. Eine diesbezügliche Schlussfolgerung, die besagt, dass die zu Beginn der Rahmenerzählung beschriebene Figur des „Zigeunermädchens“ (W, S. 97)288 – in den Worten des Erzählers die „schönste Menschengestalt, die sich je in meinen Augen gemalt hatte“ (W, S. 98) – für den Waldbrunnen „lediglich eine anekdotische Rolle [spielt]“289, übersieht die eigentliche Funktion dieses Textabschnitts. Obwohl die Faszination, die schöne Frauengestalten auf den verheirateten Erzähler ausüben, so stark ist, dass die Notwendigkeit für den oben erwähnten Versöhnungskuss entsteht, geht es in der Rahmenerzählung nicht in erster Linie um eine männlich-begehrliche Perspektive auf weibliche Schönheit. Der Waldbrunnen „feiert die Schönheit des menschlichen (Frauen)körpers“290 ganz ohne Zweifel, und dies nicht nur in der Figur der heranwachsenden Juliana in der Binnenerzählung, sondern auch in der Rahmenerzählung291 – hier in || 287 Vgl. Soboth: Die Frau im Einschreibbuch, S. 61: „Zurück bleiben eine anonyme Erzählinstanz und ein impliziter Leser als Adressat.“ 288 Zur Verwendung des Begriffs ‚Zigeuner‘ im zeitgenössischen Diskurs siehe Anm. 273 in diesem Kapitel. 289 Koschorke: Erziehung zum Freitod, S. 327. Auch Mathias Mayer weist der Rahmenerzählung unter Berufung auf Gustav Wilhelm, Herausgeber der Prag-Reichenberger Ausgabe von Stifters Werken, eine eher banale Funktion zu: Sie solle „verhindern, dass der alte Mann [Stephan von Heilkun; H. A.] mit seinen desillusionierenden Berufs- und Eheerfahrungen zu schnell mit Stifter identifiziert wird“ (ders.: Adalbert Stifter, S. 206). 290 Geulen: Worthörig wider Willen, S. 145. 291 Eva Geulen betont die Bedeutung der Rahmenerzählung des Waldbrunnens, wenn sie feststellt, dass „auch die Kunst-Erzählung vom unaussprechlich schönen Körper einen entsprechenden Rahmen [braucht], um ihrer Lehre Geltung zu verleihen und selbst glaubwürdig zu bleiben“ (dies.: Adalbert Stifters Kinder-Kunst, S. 659). Der Rahmen setze sich aber „gegen das Lehrstück seiner Binnenerzählung durch und über deren Warnung hinweg“ (ebd.).

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der Gestalt der ‚Zigeunerin‘ sowie der erwachsenen Juliana, der „schwarzen Frau“ (W, S. 101), die dem Erzähler in seiner Studentenzeit während einer Reise in das Schweizer Bergmassiv Rigi begegnet. Wie diese Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Schönheit‘ aber für die Interpretation der Binnenerzählung fruchtbar gemacht werden kann, wird noch im Detail zu prüfen sein. Bevor dies geschieht, soll die Figur Juliana als viertes ‚wildes‘ Mädchen im Werkkomplex gewürdigt und in eine Reihe mit Pia aus der Narrenburg, dem namenlosen Mädchen aus Turmalin und dem braunen Mädchen aus Kazensilber gestellt werden. Schließlich lässt sich nicht abstreiten, dass auch die Binnenerzählung des Waldbrunnens auf den ersten Blick von „[e]iner Widerspenstigen Zähmung“292 zu berichten scheint.

3.5.2 Die Zähmung einer vermeintlich Wilden Während das Adjektiv ‚wild‘ in allen vier Texten des Werkkomplexes der ‚wilden‘ Mädchen auf die jeweiligen Figuren angewandt wird, verwendet nur der Erzähler im Waldbrunnen den Ausdruck ‚wildes Mädchen‘, um Juliana zu beschreiben: Sätze wie „Der Lehrer zeigte ihm [Stephan von Heilkun; H. A.] das wilde Mädchen (W, S. 113) oder „Das wilde Mädchen las nie“ (ebd.) sind nur zwei von zahlreichen Beispielen. Die Art und Weise, wie der Lehrer der Waldsiedlung Juliana beschreibt, scheint auch keinen Zweifel daran zuzulassen, dass es sich hier tatsächlich um ein Kind handelt, das mit dem Adjektiv ‚wild‘ angemessen beschrieben ist: Juliana, so der Lehrer, schaue ihn „mit häßlichen Augen an“ (W, S. 111), „stößt und schlägt […] die andern Kinder“ (ebd.), „höhnt die Großmutter“ (ebd.) und „rennt oft in den Gräben herum und zerreißt Gebü-

|| 292 Müller: Stifters spätere Erzählungen, S. 84. Vgl. Rosemarie Hunter-Lougheed, die Stephans Annäherung an Juliana im Umfeld der Schule wie folgt kommentiert: „Die Zähmung der Wilden hat begonnen“ (dies.: Der Waldbrunnen, S. 23) und ihre Untersuchung wie folgt beschließt: „[D]as dunkle Bild des von Hybris gezeichneten Menschen [Stephan von Heilkun; H. A.] wird von der unvergleichlichen Gestalt Julianas überstrahlt, in der Stifter am Ende seines Schaffens gelang, was ihm das Leben versagte: die Zähmung des Wilden“ (ebd., S. 72). Vgl. auch Eva Geulen: „Obwohl zum Erzählten auch Zähmung und Erziehung eines wilden Mädchens gehören […], steht erzählperspektivisch die Heilung eines alten Mannes im Vordergrund“ (dies.: Der Waldbrunnen, S. 139). Iulia-Karin Patrut dagegen weist darauf hin, dass Stephan von Heilkun „immer wieder darauf [insistiert], dass Jana/Juliana Freiraum und Zeit zustehen, um ihre Entscheidungen selbst zu fällen“ (dies.: Phantasma Nation, S. 345). Der Waldbrunnen sei deswegen nicht die „Geschichte einer Zwangsassimilation, sondern eher […] eine Meditation über die gesellschaftlichen Inklusionsbedingungen“ (ebd.).

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sche und Kräuter“ (ebd.). Julianas Mutter formuliert die Kritik an ihrer Tochter schon vorsichtiger: Sie stört sich vor allem daran, dass Juliana sich „immer in dem schlechten Holzhüttchen“ (W, S. 125) aufhält und durch dieses Verhalten auch die Großmutter daran hindert, im Haus der Mutter zu wohnen. Strafandrohungen werden zwar ausgesprochen, aber aus Angst vor einer weitergehenden Verwilderung Julianas nicht in die Tat umgesetzt: „Und ich getraue mir nicht, das Kind zu strafen, sonst läuft es am Ende gar fort“ (ebd.). Juliana erscheint also zunächst und „vor allem in den Augen anderer“293, also in der Darstellung durch andere Figuren als ein „widerspenstiges, verstocktes und böswilliges Wesen, an dem alle Erziehungsbemühungen gescheitert sind“294. Folgt man dem Modell, das den anderen Texten des Werkkomplexes zugrunde liegt, müsste nun eine vorbildliche Erzieherfigur auf den Plan treten, die es sich zur Aufgabe macht, das ‚wilde‘ Mädchen in ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu verwandeln. Und tatsächlich scheint die Erzählung einen solchen Erzieher in der Gestalt Stephan von Heilkuns dann auch nur allzu eilfertig aufzubieten. Als der Lehrer sich über die „wilde[] Gegend“ (W, S. 110) beklagt, in die man ihn versetzt habe, damit er seine „Gaben“ (ebd.) in einem „unwirthbaren Waldwinkel und bei so rohen Menschen“ (ebd.) einsetze, fragt Stephan: „Und könnt ihr die Kinder dieser Leute nicht verbessern und veredeln?“ Damit scheint er sich einem pädagogischen Programm zu verschreiben, das im Kontext des Werkkomplexes der ‚wilden‘ Mädchen nur allzu vertraut erscheint. Die Enkel Stephans, Franz und Katharina, die vom Erzähler durchweg als folgsame und brave Kinder dargestellt werden und den Lehrer beeindrucken, scheinen überdies den Beleg dafür zu liefern, dass ein solches Veredelungswerk am Menschen grundsätzlich möglich ist.295 Stephan wird im Umfeld der Schule dann auch gleich als Erzieher tätig. Seine Strategie, den Fleiß der anderen Schulkinder mit kleinen Geschenken zu belohnen, Juliana aber zu ignorieren, wird schon bald von Erfolg gekrönt. Ihm gelingt, woran der Lehrer gescheitert ist, nämlich das Kind zur Mitarbeit zu bewegen: Da stand das wilde Mädchen auf, drängte aus der Bank, ging zu dem alten Manne, hielt das Buch hin und gab Zeichen, daß es lesen wolle. […] Als der alte Mann das Mädchen bedeutet hatte, daß es genug sei, trug es sein Buch zu seiner Bank und brachte sein Schreibheft zum Ansehen. (W, S. 114)

|| 293 Geulen: Adalbert Stifters Kinder-Kunst, S. 657. 294 Ebd. 295 Vgl. Hunter-Lougheed: Adalbert Stifter. Der Waldbrunnen, S. 19.

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Auch wenn die Figur Juliana auf den ersten Blick größere Ähnlichkeiten mit dem braunen Mädchen aus Kazensilber aufweist, zeigen sich an dieser Stelle deutliche motivische Anklänge an Turmalin: Juliana liest nicht nur „mit klarer, aber etwas tiefer Stimme ganz richtig in fremdartiger Aussprache“ (ebd.), sondern hat in ihr Schreibheft an Stelle der vom Lehrer vorgegebenen Inhalte „ganz andere seltsame Worte“ (ebd.) eingetragen, deren poetische Qualität einen ersten Hinweis darauf darstellen, dass Juliana sich auf einer anderen Entwicklungsstufe befinden könnte, als ihr Umfeld es vermutet. Und schon an dieser frühen Stelle der Erzählung verliert der Ansatz, Stephan von Heilkun als klassische Erziehergestalt darzustellen, die darauf bedacht ist, ein ‚wildes‘ Mädchen in ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu verwandeln, an Bedeutung und rückt in den Hintergrund. Den Wendepunkt stellt der Moment dar, als Stephan einen ersten Blick in Julianas Schreibheft wirft: „[D]er alte Mann erstaunte auf das Höchste, da er die Schrift las“ (W, S. 114), sagt aber „hierüber dem Lehrer gar nichts und dem wilden Mädchen auch nichts“ (W, S. 115). Stephan zeigt zwar weiterhin Interesse an Juliana, doch die Darstellung weiterer Interaktionen zwischen beiden im schulischen Umfeld beschränkt sich auf einen einzigen Satz: „Und so oft er in die Schule kam, las ihm das Mädchen vor und zeigte ihm seine Schrift und seine Rechnung“ (W, S. 115). Damit endet die Darstellung von Stephans pädagogischer Betätigung in der Waldschule. Sein Interesse an Juliana scheint jedoch geweckt zu sein, denn noch während des ersten Sommers, den er mit seinen Enkeln in der Waldsiedlung verbringt, sucht er das ‚wilde‘ Mädchen in der Hütte auf, das es mit seiner Großmutter bewohnt. Die Beschreibung des Weges, den er mit seinen Enkeln „von dem weißen Schreinerhäuschen“ (W, S. 115) zu Julianas Behausung einschlägt, ist von einem Verb geprägt: „Er führte die Kinder durch die Rasenpfade an Bäumen, Gesträuchen, rauschenden Wässern und großen Steinen vorüber, er führte sie durch ein kleines wildes Gehölze“ (ebd.; Hervorhebungen von mir), bis sich schließlich ein Holzhaus mit Anbau zeigt: „Zu diesem hölzernen Häuschen führte der Großvater die Kinder und von dem Häuschen zu dem Zubaue“ (ebd.; Hervorhebung von mir). So zielstrebig führt nur jemand, der ein Ziel und einen Plan hat. An diesem Ziel angekommen, versucht Stephan, mit der Großmutter Julianas Kontakt aufzunehmen. Er weicht jedoch sofort zurück, als Juliana sich einschaltet: „Frage sie nicht mehr“, rief jetzt das wilde Mädchen, indem es seinen Kopf über den des alten Weibes hervorstreckte, so daß die Sonne ihn beschien. Stephan nahm die Kinder bei der Hand, wendete sich um und ging von dem Zubaue weg. (W, S. 116)

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Beeinflusst von der Art und Weise, wie etwa der Lehrer der Waldschule oder auch Julianas Mutter das vermeintlich ‚wilde‘ Mädchen wahrnehmen und beschreiben, könnte man geneigt sein, in der geschilderten Szene einen vornehmen alten Mann zu erkennen, der seine wohlerzogenen Enkel zwar zu führen vermag, sich von einem ungezogenen, verwilderten Geschöpf aber abgestoßen fühlt und das Weite sucht. Eine solche Lesart würde aber kaum zum Fortgang der Handlung passen. Schon in der nächsten Szene, im Gespräch mit Julianas Mutter, erwähnt Stephan die oben zitierte Intervention Julianas mit keinem Wort, sondern führt die Kürze seines Besuchs darauf zurück, dass die Großmutter „nicht redselig zu sein“ (W, S. 117) scheine. Von weiteren Interaktionen zwischen Stephan und Juliana während des ersten Sommers in der Waldsiedlung berichtet der Erzähler kaum etwas. Großvater und Enkel besuchen das Holzhaus mit dem Anbau zwar ab und an, sehen die Großmutter und Juliana und bringen kleine Geschenke, doch von weiteren Gesprächen wird nicht berichtet (vgl. W, S. 118). Tatsächlich deutet sich aber schon in der religiösen Motivik des ersten Besuchs bei Juliana an, worum es im Waldbrunnen eigentlich geht: Die Erzählung berichtet im Fortgang von der Heilung eines an Liebesmangel krankenden alten Mannes, „der Julianas Liebe als christliche Gnade erfährt“ 296. Insbesondere die Beschreibung der Lerche, die „wie eine winzige singende Ampel“ (W, S. 115) am Himmel über der hölzernen Behausung hängt, erinnert „an Stern und Stall Bethlehems“297, und auch bei den folgenden Besuchen hängt die Lerche „manches Mal“ (W, S. 118) wie eine Heilsbringerin in der Luft. Schon beim nächsten Besuch in der Waldsiedlung – Stephan und seine Enkel kehren nicht erst im Sommer zurück, sondern schon im „ersten Frühlinge“ (W, S. 119) – übernimmt Juliana endgültig die Regie und Führung. Nachdem Stephan einer Reihe von Waldsiedlungsbewohnern seinen Antrittsbesuch abgestattet, Juliana und ihre Großmutter dabei aber ausgespart hat, nähert sie sich ihm mit einer Aufforderung, sie zu begleiten, die keinen Widerspruch zu dulden scheint: „‚So führe mich‘, sagte der alte Mann“ (W, S. 122; Hervorhebung von mir). Die Bitte der Mutter Julianas, Stephan möge ihre Tochter dazu bewegen,

|| 296 Geulen: Worthörig wider Willen, S. 147. Geulen beschreibt die „religiöse Grundschicht der Erzählung“ (ebd.) an dieser Stelle prägnant. Hier erscheint Stephan von Heilkun allerdings nicht nur als Erlöster – darauf lege ich in meiner Interpretation den Schwerpunkt –, sondern auch als Erlöser und Erzieher, der zwar nicht erzieht, aber doch „einer antiautoritären Pädagogik zu folgen“ (ebd., S. 146) scheint. Christian Soboth erkennt ebenfalls einen „biblische[n] Erzählgestus“ (ders.: Die Frau im Einschreibbuch, S. 53, Anm. 20). Dieser erwecke den „Eindruck einer Prozession, einer Wallfahrt zu einem Heiligtum, weniger allerdings zu einem christlichen […] als zu einem heidnischen“ (ebd.). 297 Geulen: Worthörig wider Willen, S. 147.

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mit der Großmutter in das Haupthaus zu ziehen, wird zwar angehört, doch schon bald ist davon „keine Rede mehr“ (W, S. 128). Stattdessen überhäuft der alte Mann das ‚wilde‘ Mädchen mit Geschenken, als ob es dessen Gunst zu erringen gelte, und tatsächlich, als im Herbst die Zeit der Abreise gekommen ist, verabschiedet Juliana ihn im Unterschied zu Franz und Katharina, die mit einem Händedruck auskommen müssen, mit einer Umarmung und einem Kuss. Bei der Ankunft im nächsten Frühling wiederholen sich diese Zeichen der Zuneigung. Die Beziehung zwischen dem alten Mann und dem Mädchen scheint nun so weit gefestigt zu sein, dass Juliana keine üppigen Geschenke mehr, sondern lediglich „eine Reihe von verschiedenfarbigen Muscheln“ (W, S. 129) erhält. Von einer Übersiedlung Julianas in das Haus von Mutter und Tante ist „auch heuer nicht“ (W, S. 130) die Rede. Auch dieses Detail spricht für die Annahme, dass es dem Text gar nicht um die Zähmung eines ‚wilden‘ Mädchens geht. Es ist nicht der vermeintliche Erzieher Stephan von Heilkun, der hier die Fäden zieht, sondern Juliana spricht das Urteil über ihn: „Du bist recht schön, Du bist recht gut“ (W, S. 130).

3.5.3 Variationen von unerfüllter Liebe Im Laufe der Erzählung wird über einen Zeitraum von vielen Jahren hinweg ein Motiv wiederholt, das sich schon in Kazensilber bestimmend auf Erzählrhythmus und -perspektive ausgewirkt hat: Stephan von Heilkun und seine Enkel verlassen die Waldsiedlung vor Einbruch des Winters, um im nächsten Frühling zurückzukehren und das ‚wilde‘ Mädchen dort anzutreffen, wo sie es im Herbst zurückgelassen haben. Während dieser Zeit verändern sich die Kinder aber nicht nur körperlich, sondern insbesondere Juliana durchläuft eine Entwicklung, die sich an ihrem Umgang mit der dichterischen Sprache zeigt, die schon in ihrem Schulheft erste Spuren hinterlassen hat. Die Einsichtnahme in Julianas frühe, poetisierte Schulaufzeichnungen markiert den Punkt, an dem Stephan von Heilkun, wie oben geschildert, das Mädchen nicht mehr als Zögling behandelt, sondern beginnt, eine anders geartete Verbindung mit ihm aufzubauen. Mit einem etwas späteren Beginn, aber im weiteren Verlauf parallel zu der Entwicklung dieser Beziehung findet aber auch eine Annäherung zwischen Stephans Enkel Franz und Juliana statt. Die beiden sind an dieser Stelle häufig zu zweit in der Natur unterwegs, befassen sich „mehr mit Büchern“ (W, S. 131) und beschäftigen sich mit dem Gelesenen. Während der Erzähler über den Inhalt dieser Bücher nichts verrät, ist die unmittelbar im Anschluss an diese Bemerkungen geschilderte Szene aufschlussreich, in

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der Juliana, auf einem Felsen stehend und sich unbeobachtet glaubend, Inhalte in dichterischer Sprache deklamiert. Es geht hier nämlich nicht mehr um die poetischen Sprachbruchstücke der kindlichen Juliana, um jene „kurzen agrammatischen Eruptionen, die etwas Magisches an sich haben und ahnungsvoll an Tiefenschichten frühkindlicher Spracherinnerung rühren“298, sondern um Fragmente identifizierbarer literarischer Werke, die als Intertexte gerade an ihren Bruchstellen wichtige Interpretationshinweise für die Erzählung liefern. Ein genauerer Blick auf diese Textfragmente scheint deshalb angezeigt.299 Julianas Deklamation beginnt mit der ersten Strophe von Mignons Lied aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, die, folgt man der Wiedergabe des Textes in der HKG, lediglich im zweiten Vers leicht verändert ist. Bei Goethe heißt es „Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht“300, während Juliana den Vers wie folgt wiedergibt: „Denn mein Geheimniß ist eine Pflicht“ (W, S. 132; Hervorhebung von mir).301 Unabhängig von dieser Abweichung, der ich keine ausschlaggebende Bedeutung für die Interpretation des Textes beimesse,302 kann festgestellt || 298 Koschorke: Erziehung zum Freitod, S. 330. 299 Meine Überlegungen in diesem Abschnitt zielen darauf ab, sprachliche und motivische Verbindungen zwischen dem Waldbrunnen und den Intertexten, aus denen Juliana zitiert, für eine Interpretation nutzbar zu machen. Christian Soboth geht noch einen Schritt weiter, indem er „im Sinne einer Hermeneutik der kleinen Schritte“ (ders.: Die Frau im Einschreibbuch, S. 64) bis hin zur Ebene von morphemischen Verbindungen darstellt, „[m]it welcher Lust am Detail Stifter Goethe im Waldbrunnen versteckt hat“ (ebd.). Vgl. genauer ebd., S. 64 ff. 300 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. I,9. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Frankfurt a. M. 1992, S. 355–992, hier S. 726 f. 301 Sowohl Gunter H. Hertling (Mignons Schwestern, S. 165 u. 188) als auch Eva Geulen (Adalbert Stifters Kinder-Kunst, S. 658) zitieren den ersten Vers in ihren Beiträgen zum Waldbrunnen, die vor dem Erscheinen des Textes in der HKG entstanden sind, mit einer weiteren Abweichung, auf die sie auch explizit hinweisen: „Heiß mich nicht reden, heiß mich nicht schweigen“ (Hervorhebung von mir). Hertling verweist auf die „von Hannsludwig Geiger besorgte[] Stifter-Ausg. Sämtliche Werke […] Berlin, Darmstadt: Tempel, 1969“ (ders.: Mignons Schwestern, S. 195, Anm. 3) und Geulen arbeitet mit der folgenden Ausgabe: Adalbert Stifter: Bunte Steine und Erzählungen. Hrsg. von Fritz Krökel und Magda Gerken. München 1971. Da der erste Vers sowohl in der Handschrift als auch im Erstdruck ohne das eingefügte ‚nicht‘ zitiert wird, können diese Ausgaben als fehlerhaft gelten (vgl. Achenbach: Natur versus Kultur?, S. 97, Anm. 246). Zu der Aussage, dass der zweite Vers im Erstdruck „einen Fehler [enthält]“ (ebd.), siehe eine veränderte Bewertung des Sachverhalts in Anm. 302 in diesem Kapitel. 302 Die Wiedergabe des Textes in der HKG folgt dem Erstdruck der Erzählung im Düsseldorfer Künstleralbum, dessen Setzer im zweiten Vers ‚eine‘ statt ‚mir‘ gelesen hat. In der Handschrift lässt sich dieser Vers auf Grund der Setzung des i-Punktes aber auch anders lesen (‚mir‘ statt ‚eine‘). Während die Prag-Reichenberger Ausgabe den zweiten Vers, von einer orthografischen Abweichung abgesehen („Denn mein Geheimniß ist mir Pflicht“; PRA 13,2, S. 342), ohne Ver-

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werden, dass die Ähnlichkeit zwischen den Figuren Mignon und Juliana auf der Hand liegt. Auch wenn diese Figur Goethes in Forschungsbeiträgen zu den anderen Texten des Werkkomplexes der ‚wilden‘ Mädchen fast schon stereotyp als intertextueller Faktor bemüht wird, geschieht dies hier schon aufgrund des Zitats zu Recht. Nicht nur das Gedicht selbst verweist auf den thematischen Komplex einer verborgenen, unerfüllten Liebe, wie sie sich im Waldbrunnen zwischen Franz und Juliana entwickelt,303 sondern auch das in Wilhelm Meisters Lehrjahre erzählte Schicksal Mignons, die unglücklich stirbt, nachdem Wilhelm sich vor ihren Augen mit Therese verlobt hat. Der zweite Intertext, den Stifter als Fragment in Julianas Vortrag integriert hat, stammt ebenfalls von Goethe. Das Lied Klärchens aus dem dritten Aufzug des Trauerspiels Egmont erscheint in der Wiedergabe durch Juliana ebenfalls leicht verfremdet. So heißt es im zweiten Vers bei Goethe „Langen / und bangen / in schwebender Pein“304, während Juliana das Verb ‚Langen‘ durch „Hangen“ (W, S. 132) ersetzt. Auch ist Goethes Klärchen „zum Tode betrübt“305, während es im Waldbrunnen „zu Tode betrübt“ (W, S. 132) heißt. Während diese kleinen Abweichungen aus meiner Sicht ebenfalls nicht geeignet sind, um interpretatorische Schlüsse zu ziehen – sie könnten allenfalls die Funktion haben, die Szene realistischer zu gestalten, denn Juliana deklamiert die Verse auswendig –, ist der stark veränderte letzte Vers schon ein deutlicherer Hinweis auf die Liebe als zentrales Thema, das auch den Waldbrunnen bestimmt. Juliana ersetzt den vierten Vers (bei Goethe lautet er: „Glücklich allein / Ist die Seele, die liebt“306) durch die siebenfache Wiederholung des Ausdrucks „Himmelhoch jauchzend“ (W, S. 132). Der Erzähler verweist sogar darauf, dass das Gedicht nicht vollständig ist: „Den Schlußvers rief sie nicht“ (ebd.). Die zeitgenössischen Leser des Düsseldorfer Künstleralbums, in dem der Waldbrunnen zuerst abgedruckt wurde,

|| änderung gegenüber der von mir verwendeten Ausgabe von Goethes Werken (siehe Anm. 300 in diesem Kapitel) wiedergibt, bleibt festzuhalten, dass sowohl die HKG als auch die PRA an mehreren Stellen von der Handschrift abweichen. In vielen Fällen betrifft dies Orthografie und Interpunktion. Der Apparat zur dritten Abteilung der HKG, der zurzeit noch in Vorbereitung ist, wird diesbezüglich weitere Details liefern. Für vorab bereitgestellte Informationen danke ich Walter Hettche und Johannes John. 303 Vgl. Hunter-Lougheed: Adalbert Stifter. Der Waldbrunnen, S. 18 f. 304 Johann Wolfgang Goethe: Egmont. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. I,5: Dramen 1776–1790. Hrsg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt a. M. 1988, S. 459– 551, hier S. 505. 305 Ebd. 306 Ebd.

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waren vermutlich in der Lage, den fehlenden Vers zu ergänzen. Gerade durch die Aussparung erhält er also eine besondere Betonung. Bevor Juliana aus zwei weiteren Werken Goethes zitiert, deklamiert sie Verse eines anderen Autors. Sie stammen aus der vierten und letzten Strophe von Schillers Gedicht Liebesklage307 und werden im Waldbrunnen unverändert wiedergegeben, wenn man von Interpunktion und Orthografie der von mir verwendeten Ausgabe von Schillers Werken308 absieht: „Blumen, die der Lenz geboren, / Streu ich dir in deinen Schooß“ (W, S. 132). Die Herkunft dieser Zeilen ist insofern bedeutsam, als auch das theoretische Werk Schillers für die Interpretation der Erzählung von großer Bedeutung ist. Es geht hier um den noch zu beleuchtenden Aspekt der körperlichen Schönheit, der vom Erzähler des Waldbrunnens genau dort hervorgehoben wird, wo Juliana nicht Goethe, sondern Schiller zitiert: „Und wie sie den Arm dabei emporhob, drang er durch den zerrissenen Aermel empor und war so schön, wie an einem Standbilde alter Künstlerzeit“ (W, S. 132). Der nächste Text, den Juliana mit Veränderungen zitiert, lässt sich ebenfalls zweifelsfrei zuordnen. In der ersten Strophe von Goethes Gedicht Rastlose Liebe (1776) heißt es: „Dem Schnee, dem Regen, / Dem Wind entgegen, / Im Dampf der Klüfte, / Durch Nebeldüfte, / Immer zu! Immer zu! / Ohne Rast und Ruh!“309 Juliana kehrt die Reihenfolge der aufgezählten Naturerscheinungen um („Dem Winde, dem Regen / Dem Schnee entgegen“; W, S.132) und geht dann gleich zu einer fünffachen Wiederholung von „Immer zu!“ (ebd.) über, doch auch hier sind es nicht die kleinen Änderungen, sondern die großen Aussparungen, die eine bedeutungsvolle Verbindung mit der Erzählung eingehen. Schon in der zweiten Strophe des dreistrophigen Gedichts geht es um das „Neigen / Von Herzen zu Herzen“310, während die dritte Strophe dann in einer offensichtlichen Verbindung mit der Geschichte steht, die Stifter im Waldbrunnen erzählt:

|| 307 Friedrich Schiller: Liebesklage. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 2 I: Gedichte. Hrsg. von Norbert Oellers. Weimar 1983, S. 160 f. Zur Entstehung und Überlieferung des Gedichts, dessen Titel Schiller in einer späteren Fassung in Der Jüngling am Bache änderte (diese Fassung ebd., S. 222), vgl.: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 2 II B: Gedichte. Anmerkungen zu Band 2 I. Hrsg. von Georg Kurscheidt und Norbert Oellers. Weimar 1993, S. 112 f. 308 Die Nationalausgabe der Werke Schillers (siehe Anm. 307 in diesem Kapitel) gibt die Verse wie folgt wieder: „Blumen die der Lenz gebohren / Streu ich dir in deinen Schoos“ (Liebesklage) und: „Blumen, die der Lenz geboren / Streu ich dir in deinen Schoß“ (Der Jüngling am Bache). 309 Johann Wolfgang Goethe: Rastlose Liebe. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. I,1: Gedichte 1756–1799. Hrsg. von Karl Eibl. Frankfurt a. M. 1987, S. 298 f. 310 Ebd., S. 298.

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Wie soll ich fliehen? Wälderwärts ziehen? Alles vergebens! Krone des Lebens, Glück ohne Ruh, Liebe, bist du!311

Die erste Reise, die Stephan von Heilkun mit seinen Enkeln ‚wälderwärts‘, also in die Waldsiedlung, unternimmt, findet nicht einfach nur statt, um „im Sommer Luft, Wasser und Aussicht zu genießen“ (W, S. 110), wie der alte Mann es gegenüber dem Lehrer vorgibt. Schon bei der Anreise erläutert er seinen Enkeln die heilsame Wirkung des Wassers, das aus dem titelgebenden Waldbrunnen sprudelt, und der Luft, die ihn umgibt: „Und wer beides, Fröhlichkeit und Gesundheit, verloren hat, der erhält sie wieder, wenn er von diesem Wasser trinkt und von dieser Luft athmet“ (W, S. 106). Und er stellt klar, dass er selbst es ist, der Gesundheit und Fröhlichkeit verloren hat, weil er „Mangel an Liebe litt“ (ebd.). Der fünfte und letzte Text, den Juliana in dieser Szene deklamiert, stammt aus der siebten und letzten Strophe von Goethes Hymne Prometheus. Während es dort aber heißt: „Hier sitz‘ ich, forme Menschen / nach meinem Bilde“312, ruft Juliana lediglich „Ich bilde Menschen“ (W, S. 132) und schließt dann gleich mit „Dein nicht zu achten, wie ich!“ (ebd.). Goethes Text endet fast identisch: „Und dein nicht zu achten, / Wie ich!“313 Das Prometheus-Fragment lässt sich nicht überzeugend in den Verweiszusammenhang integrieren, der von den übrigen, in dieser Szene aufgerufenen Intertexten gebildet wird und sich auf das Motiv der unerfüllten oder unglücklichen Liebe bezieht. Es lässt sich aber auf eine Beziehung abbilden, die für den weiteren Verlauf der Handlung eine entscheidende Rolle spielen wird. Die Rede ist vom Verhältnis Julianas zu ihrer Großmutter, das von Juliana selbst wie folgt definiert wird: „[I]ch bin die Mutter der Großmutter, ich bin ihre Schwester, ich bin ihre Obrigkeit, ich bin ihre Magd“ (W, S. 134). Als ‚Mutter‘ und ‚Obrigkeit‘ der Großmutter besitzt Juliana das Recht, die alte Frau mit den Geschenken Stephans zu schmücken und zu verän|| 311 Ebd., S. 299. 312 Johann Wolfgang Goethe: Prometheus. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. I,1 (siehe Anm. 309 in diesem Kapitel), S. 329 f. Die oben aus der zweiten Fassung des Gedichts zitierten Verse weichen lediglich in der Interpunktion von der ersten Fassung ab. Dort lauten sie: „Hier sitz ich, forme Menschen / nach meinem Bilde“ (ebd., S. 204). 313 Goethe: Prometheus, S. 330. Auch hier weicht die zweite Fassung des Gedichts lediglich in der Interpunktion von der ersten Fassung ab, wo es heißt: „Und dein nicht zu achten / Wie ich!“ (ebd., S. 204).

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dern (vgl. W, S. 116) – sie formt aus ihr eine „Kunstfigur“314 und geht dabei so weit, „daß man sie [die Großmutter; H. A.] kaum kennen konnte“ (W, S. 127).315 In diesem Zusammenhang kann das Prometheus-Fragment aus Ausdruck von Julianas „poetische[m] Weltzugang“316 gedeutet werden, der sich nicht auf den Kontext der unglücklichen Liebe beschränkt, sondern das Verhältnis zur Großmutter einschließt: Es „bringt lediglich zum Ausdruck, was das Kind schon die ganze Zeit über tut“317. Schon diese knappe Analyse der intertextuellen Verweise, die Stifter in die Szene am Waldbrunnen eingearbeitet hat, zeigt deutlich, dass es nicht angebracht ist, die Figur Juliana auf ihre Verwandtschaft mit Goethes Mignon zu reduzieren und daraus vereinfachende interpretatorische Schlüsse zu ziehen.318

|| 314 Patrut: Phantasma Nation, S. 351. 315 Eva Blome misst dem Umstand, dass Juliana das Verb ‚formen‘ in Goethes Prometheus durch ‚bilden‘ ersetzt, in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung bei: „Damit bringt das ‚verfälschte‘ Zitat […] gerade die Verbindung von Formung und Bildung zum Ausdruck“ (dies.: Bildung als Rettung und Gabe?, S. 226). Hier werde deutlich, dass Juliana „oberflächlich betrachtet von Heilkun zwar durch Bildung ‚veredelt‘ und aus ihrem prekären Dasein als wildes Mädchen gerettet wird, zugleich aber sich selbst mit ihrem Auftritt an die Stelle von Prometheus setzt und so eine dem Goethe-Zitat gegenüber widerständige und emanzipierte Haltung einnimmt“ (ebd.). 316 Patrut: Phantasma Nation, S. 351. 317 Patrut: Phantasma Nation, S. 351. Darüber hinaus erhält der Verweis auf die Figur Prometheus in Verbindung mit den biblischen Ausdrucksformen, die Stephan von Heilkun sowohl in Selbstbeschreibungen als auch in Kommentaren des Erzählers zur Schöpfergestalt stilisieren, eine Dimension, die den alten Mann, so Christian Soboth, als „Figuration von Prometheus und des alttestamentlichen Gottes“ (ders.: Die Frau im Einschreibbuch, S. 55) erscheinen lassen. Soboth bezieht sich hier zum einen auf die folgende, an 1. Mose 1,31 („Und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und es war sehr gut“) angelehnte Bemerkung des Erzählers: „Der alte Stephan besah alles, was er gethan hatte“ (W, S. 135; siehe auch Anm. 360 in diesem Kapitel). Zum anderen geht es um eine Bemerkung aus Stephans eigenem Mund: „Juliana liebt mich allein, weil ich bin, der ich bin“ (W, S. 138; Hervorhebung von mir). Die Anklänge an 2. Mose 3,14 („Da sprach Gott zu Moses: Ich bin, der ich bin“) sind deutlich zu erkennen, auch wenn Stephan seine Aussage mit einem Verweis auf Gott ergänzt: „[…] und diesen Schimmer der Liebe hat mir Gott gesendet“ (ebd.). Vgl. Soboth: Die Frau im Einschreibbuch, S. 55 und S. 57, Anm. 26. 318 Vgl. etwa Hertling: Mignons Schwestern, S. 188. Hertling geht davon aus, dass Juliana sich mit „Mignons fremdländischem Unverstandensein [identifiziert]. War Mignon einzig und allein Wilhelm verpflichtet, sie aus ihrem fremden, natürlich-poetischen Bereich ins bunte Leben ‚befreit‘ zu haben, so läßt sich dasselbe von Heilkun als Julianas väterlichem ‚Ziehvater‘ sagen“ (ebd.). Hertling deutet die oben genannten Intertexte außerdem als Ausdruck von Julianas „Freude an onomatopoetischen Wort- und Lautwendungen“ (ebd, S. 189) und, in ihrer Reihenfolge betrachtet, als Indiz für ihre „zunehmende Freude an der eigenen Verselbstung“ (ebd., S. 191).

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Auf der anderen Seite trifft die Schlussfolgerung, die „literarischen Reminiszenzen“319 dieser Szene betonten lediglich „das geistige Erwachen und die künstlerische Empfänglichkeit des wilden und nun gezähmten Kindes“320, selbst dann nicht den Kern der Sache, wenn man den Waldbrunnen primär als Geschichte der Zähmung eines ‚wilden‘ Mädchens liest. Mit Ausnahme von Prometheus variieren und betonen die Intertexte das Motiv der unerfüllten oder unglücklichen Liebe in spielerischer Art und Weise,321 schaffen damit aber trotzdem einen Bezugsrahmen, in dem das Thema aufgespannt werden kann, um das es im Waldbrunnen eigentlich geht: die Heilung Stephan von Heilkuns von seinem Mangel an Liebe. Die Verbindung mit dem Motiv der körperlichen Schönheit einer heranwachsenden Frau, die der Erzähler hier vornimmt – Juliana und die Enkel Stephans sind zu diesem Zeitpunkt der Handlung „wenn auch nicht so stark, doch fast so hoch wie erwachsene Leute“ (W, S. 131) – ist weniger als Hinweis auf „den erotischen Charakter der Beziehung zwischen dem alten Mann und einem Kind“322 zu deuten, sondern eher als Verweis auf den Komplex von Schönheit und Sittlichkeit, um den es im Folgenden gehen soll.

3.5.4 Die schöne Seele auf dem hohen Stein Der oben schon einmal zitierte Hinweis auf die körperliche Schönheit Julianas, deren emporgereckter Arm so schön erscheint „wie an einem Standbilde alter Künstlerzeit“ (W, S. 132), ist nicht der einzige seiner Art. Vergleichbare Beobachtungen des Erzählers finden sich auch schon in früheren Abschnitten des Textes. Sie beziehen sich, wie ich noch darstellen werde, auf Juliana als Kind, nicht als junge Frau, weshalb ich weder einen Grund dafür sehe, in Bezug auf ihre Entwicklung von einer „Enthüllung des Schönen aus dem Häßlichen“323 zu sprechen noch der Beobachtung zustimmen kann, dass die „Erzählung […] Schönheit und Liebe entschlossen zwischen Binnen- und Rahmenerzählung auf[spaltet]“324. Im Folgenden werde ich zeigen, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema Schönheit, die in der Rahmenerzählung vorgenommen wird,

|| 319 Müller: Stifters spätere Erzählungen, S. 85. 320 Ebd. 321 Vgl. Hunter-Lougheed: Adalbert Stifter. Der Waldbrunnen, S. 41. 322 Geulen: Worthörig wider Willen, S. 147. 323 Müller: Stifters spätere Erzählungen, S. 86. 324 Geulen: Der Waldbrunnen, S. 140.

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erst dann einen überzeugenden erzählerischen Sinn ergibt, wenn man sie auf die Binnenerzählung anwendet. Wie in Abschnitt 3.5.2 bereits gezeigt wurde, wird Juliana nicht aus der Perspektive des Erzählers als wildes und böswilliges Wesen dargestellt, sondern aus der Sicht von anderen Figuren der erzählten Welt, die mit Juliana in der Waldsiedlung leben. Dazu gehört auch ihre spätere Spielgefährtin Katharina, die nach dem ersten Besuch der Hütte, in der Juliana und ihre Großmutter wohnen, zu Stephan von Heilkun sagt: „[D]as kleine Mädchen ist recht häßlich“ (W, S. 117). Ihrem Bruder Franz gelingt es dagegen schon zu diesem Zeitpunkt, die Schönheit zu erkennen, die sich unter Julianas zerlumpten Kleidern verbirgt: „Man soll das Kind nur rein und schön anziehen, wie Dich, […] dann siehe“ (ebd.). Diese Meinungsverschiedenheit bleibt zunächst unaufgelöst – weder greift Stephan mit einem schlichtenden Wort ein noch findet sich ein Kommentar des Erzählers, der in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Szene steht. Doch schon im nächsten Jahr, als die Besucher in die Waldsiedlung zurückkehren – also einige Jahre vor der Szene, in der Juliana Verse von Goethe und Schiller deklamiert –, erscheint das ‚wilde‘ Mädchen in der Beschreibung durch den Erzähler wie folgt: 325 Wenn es den Arm oder beide emporstreckte, fiel der Hemdärmel, der nicht geknöpft war, zurück und es waren die dunklen Arme zu sehen, als wären sie aus Erz gegossen. Und den Leib richtete das Mädchen empor, daß er noch schlanker und höher erschien. (W, S. 121)

Mit Wildheit oder gar Hässlichkeit hat die Semantik dieser Beschreibung nichts zu tun. Gegen eine solche Deutung ließe sich zwar einwenden, dass der Erzähler an dieser Stelle auf die ‚dunklen Arme‘ Julianas hinweist, denn schließlich galt im 19. Jahrhundert nur „weiße Haut [...] als unmarkierte Instanz und universale

|| 325 Betrachtet man den Erzähler als Figur der erzählten Welt, der die Ereignisse in der Waldsiedlung so schildert, wie sie ihm von einer unbekannten Quelle zugetragen wurden (vgl. W, S. 103 und siehe Abschnitt 3.5), könnte man selbstverständlich in Frage stellen, ob diese Beschreibung Julianas der Realität der erzählten Welt entspricht. Doch wenn man dies täte, wäre gleichzeitig das erzählerische Prinzip in Frage gestellt, auf dem die Erzählung insgesamt beruht. Lösen lässt sich dieses Dilemma, wenn man davon ausgeht, dass der Erzähler über zwei unterschiedliche Fokalisierungen verfügt. So kann er in der Binnenerzählung Informationen bereitstellen, die über das hinausgehen, was eine Figur der erzählten Welt eigentlich wissen kann. Einem solchen Ansatz entspricht übrigens auch die Darstellung von Szenen, in denen Stephan von Heilkun allein ist und mit sich selbst spricht oder ein Gebet formuliert (vgl. W, S. 130) – vom Inhalt dieser Äußerungen kann nur ein nahezu nullfokalisierter Erzähler Kenntnis haben.

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Norm“326, während mit dunkler Haut eine „negative Sichtweise auf das Fremde [...] assoziiert“327 wurde. Die Entstehung solcher Wahrnehmungsmuster war mit einer „kolonialistischen Deutungsmacht“328 verbunden, die den „weißen Körper[] als normative[s] Schönheitsideal[]“329 definierte. In diesem Zusammenhang darf aber nicht übersehen werden, dass im Kontext des Kolonialismus auch das Stereotyp der „exotischen Schönheit, die so genannten Zigeunerinnen oder auch Schwarzen zugeschrieben wird“330, tradiert wurde. Dieses Stereotyp muss bei der Deutung der oben zitierten Beschreibung Julianas berücksichtigt werden, denn es zeigt sich, dass sie von derselben Sichtweise auf die Schönheit des weiblichen Körpers geprägt ist wie der oben bereits erwähnte Bericht des Rahmenerzählers über ein „Zigeunermädchen“ (W, S. 97), der „schönste[n] Menschengestalt, die sich je in meinen Augen gemalt hatte“ (W, S. 98). Die Hautfarbe dieses Mädchens erinnert ebenfalls an „ältliches Erz“ (W, S. 98), seine Augen sind dunkler als „schwarzer Sammet oder Kohle“ (ebd.), und wenn ihre „Gestalt genau, wie sie ist, gegossen gewesen wäre, sie das schönste menschliche Standbild geworden wäre“ (ebd.). Auch Julianas Art und Weise, ihren Arm zu heben, wenn sie auf dem mehrfach erwähnten „hohen Steine“ (W, S. 121 und 132) des Waldbrunnens wie auf einem Podest steht, erinnert den Erzähler – um die einschlägige Stelle ein weiteres Mal zu zitieren – an ein „Standbilde alter Künstlerzeit“ (W, S. 132).331 Mit dem Standbildvergleich stellt der Erzähler aber nicht nur eine Verbindung zwischen der heranwachsenden Juliana und dem schönen ‚Zigeunermädchen‘ her,332 sondern verbindet Juliana sozusagen mit

|| 326 Alexandra Karentzos: Schön, weiblich, fremd. Körperdiskurse im Blick der zeitgenössischen Kunst. In: Das schöne Selbst. Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik. Hrsg. von Jens Eberfeld und Marcus Otto. Bielefeld 2009, S. 313–331, hier S. 314. 327 Karentzos: Schön, weiblich, fremd, S. 314. 328 Ebd., S. 313. 329 Ebd. 330 Ebd., S. 314. Vgl. in diesem Zusammenhang noch einmal die Beschreibung der Figur Chelion in der Narrenburg: „[D]as Schlechteste und Verachtetste, was die Menschheit hat, war dieser Engel, die Tochter eines Paria; aber schön war sie, schön über jeden Ausdruck, den eine Sprache ersinnen mag“ (Nb2, S. 412). 331 Das Motiv der Statue, die den weiblichen Körper darstellt, spielt auch im Roman Der Nachsommer eine zentrale Rolle. Siehe dazu Abschnitt 7.4.2 und Kap. 7, Anm. 216. 332 Vgl. Hunter-Lougheed: Der Rahmen des „Waldbrunnen“, S. 121. Hunter-Lougheed sieht zwar ebenfalls eine Verbindung zwischen Juliana und dem ‚Zigeunermädchen‘, erkennt in dessen Beschreibung aber einen Verweis auf das „Ausgangsstadium der langen Entwicklung“ (ebd.), die Juliana bevorstehe: „Das zerlumpte Zigeunermädchen weist auf das vernachlässigte wilde Mädchen voraus“ (ebd.). Christine Oertel Sjögren lehnt diese Deutung in überzeugender Weise ab: „[A]ccording to the narrator, the gypsy herself exemplifies wholeness and flawless

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ihrem späteren Selbst, der schwarzen Frau auf dem Rigi, deren gewölbte Wangenknochen „so sehr der zarten Führung des schönsten uralten Standbildes“ (W, S. 100) gleichen.333 Während der Erzähler das ‚Zigeunermädchen‘ und die erwachsene Juliana als ebenbürtig darstellt, was den „Baue der Glieder“ (W, S. 102) angeht – mit dessen Schönheit seine eigene Frau nicht mithalten kann (vgl. ebd.) –, so zeigt sich in der Art und Weise, wie beide Figuren geschildert werden, doch ein wichtiger Unterschied.334 Das ‚Zigeunermädchen‘ steht völlig unbeweglich neben der Tür des Gasthauses, in dem der Erzähler während einer Geschäftsreise sein Mittagessen einnehmen will. Außerdem kann er „[v]on der Stimme des Mädchens […] nichts vernehmen; denn es gab, während ich da war, keinen Laut von sich“ (W, S. 99).335 An der schwarz gekleideten Frau auf dem Rigi, die der Erzähler als Student zum ersten Mal trifft, wird dagegen nicht nur statische Perfektion hervorgehoben, sondern auch die Art und Weise, wie sie sich bewegt: „Sanft baute sich die Gestalt empor, wenn sie sich regte, so war die Bewegung weich und geltend“ (W, S. 100). Der Erzähler hört sie auch sprechen und wendet sich gegen die von einem seiner Begleiter geäußerte Auffassung, die Frau sollte „in Thon gebildet und dann in Erz gegossen und in Marmor gehauen werden, daß die Welt erführe, was Schönheit sei“ (W, S. 101). Bei einem solchen Versuch, die Schönheit der Frau nachzubilden, würde etwas verloren gehen: „Dann wäre nicht vorhanden, […] wie sie die schwarzen Augen gegen ihren Gemahl aufschlägt, und klare Worte spricht“ (ebd.).

|| perfection. To consider her a metaphor of incompleteness and rudimentary development is antagonistic to the intention of the text” (dies.: The Frame of “Der Waldbrunnen”, S. 11). 333 Vgl. Sjögren: The Frame of “Der Waldbrunnen”, S. 16 f. 334 Vgl. Irmscher: Adalbert Stifter, S. 112 f. Irmscher arbeitet das „gegenbildliche Verhältnis zwischen den beiden Frauen“ (ebd., S. 113), also dem ‚Zigeunermädchen‘ und der Frau auf dem Rigi, sehr genau heraus, deutet vor diesem Hintergrund „den Vorgang der eigentlichen Erzählung“ (ebd.) aber ebenfalls als Geschichte der Zähmung eines „wilden, zigeunerhaften jungen Mädchens“ (ebd.). 335 Iulia-Karin Patrut weist darauf hin, dass das Fehlen von Informationen über den Verbleib des ‚Zigeunermädchens‘ aus dem ersten Teil der Rahmenerzählung Stifter möglicherweise zu Unrecht als „Kunstfehler“ (dies.: Phantasma Nation, S. 342) ausgelegt worden sei. Es könne stattdessen im Sinne der oben angesprochenen Sprachlosigkeit des Mädchens als „kritische Hinterfragung der Exotisierung der ‚Zigeuner‘ verstanden werden“ (ebd., S. 344): „Mit den Exotisierten ist keine Kommunikation möglich, diese würde die reale Person hinter dem Faszinosum zutage fördern“ (ebd.). Patrut deutet die Figur des ‚Zigeunermädchens‘ außerdem als „mögliche Hypostase“ (ebd., S. 342). Sie erscheine als „das alter ego, zu dem sie [Juliana; H. A.] hätte werden können, in einer Gesellschaft, in der ‚Zigeuner‘ als sprechende Subjekte nicht zugelassen sind“ (S. 342).

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Bereits im ersten Teil der Rahmenerzählung bringt der Erzähler also eine ganz bestimmte Vorstellung ins Spiel, die von rein körperlicher Schönheit abstrahiert und stattdessen das Wesen eines Menschen in den Blick nimmt. Als seine Frau wissen möchte, über was er sich mit dem „Zigeunermädchen“ (W, S. 102) unterhalten habe, erklärt er ihr: „[I]ch habe nur die Gestalt angeschaut und um ihr Wesen mich nicht bekümmert; denn an Seele giebt es nicht Schöneres als Dich, und da suche ich nicht weiter herum“ (W, S. 103). In dieser Erwiderung klingt der folgende Aspekt aus Schillers Schrift Ueber Anmuth und Würde (1793) deutlich an: Eine schöne Seele gießt auch über eine Bildung, der es an architektonischer Schönheit mangelt, eine unwiderstehliche Grazie aus, und oft sieht man sie selbst über Gebrechen der Natur triumphiren.336

Eine schöne Seele im Sinne Schillers zeichnet sich außerdem durch ganz bestimmte Charaktereigenschaften aus, die für die Interpretation des Waldbrunnens eine zentrale Rolle spielen: [B]ey einer schönen Seele [sind] die einzelnen Handlungen eigentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es. […] In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmoniren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung.337

Die Rahmenhandlung verrät nicht allzu viel über die Ehefrau des Erzählers, um sie tatsächlich anhand von Textbelegen als schöne Seele im Sinne Schillers bezeichnen zu können. Immerhin zeigt sie angesichts der Tatsache, dass ihr Mann „unter Zigeunern und Malayen schönere Gestalten findet“ (W, S. 103), als sie selbst es ist, Charakterstärke, denn die Angelegenheit wird mit einem Versöhnungskuss kurzerhand beiseitegelegt. Diese Episode hat aber trotzdem eine wichtige erzählerische Funktion: Sie führt das Konzept der schönen Seele in

|| 336 Friedrich Schiller: Ueber Anmuth und Würde. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hrsg. von Benno Wiese. Weimar 1962, S. 252–308, hier S. 288. 337 Schiller: Ueber Anmuth und Würde, S. 287 f. Die Idee einer schönen Seele im sittlichmoralischen Sinne geht auf die neuzeitliche Rezeption des antiken Begriffs der Kalokagathia zurück, die im Wesentlichen durch die Schriften von Anthony Ashley Cooper of Shaftesbury ausgelöst wurde. Vgl. Wilhelm Grosse: Kalokagathia [Art.]. In: HWPh, Bd. 4, Sp. 681–684 (zur Definition des Begriffs der schönen Seele durch Schiller vgl. ebd., Sp. 683).

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den Text ein, damit es anschließend auf eine andere Figur, nämlich Juliana, angewendet werden kann.338 In der Diskussion des Erzählers mit seiner Frau, in der er von seinen Erlebnissen mit den beiden „Schönheitsgrößen“ (W, S. 102) berichtet und beteuert, mit dem ‚Zigeunermädchen‘ nicht gesprochen zu haben, wird außerdem deutlich, dass „in der Sprache sich das Wesen eines Menschen, seine Seele offenbart, die hinzukommen muß, damit ein körperlich schöner Mensch erst wahrhaft schön sein kann.“339 Wenn man vor diesem Hintergrund, wie in Abschnitt 3.5.2 geschildert, davon ausgeht, dass die junge Juliana, auf die Stephan von Heilkun zu Beginn der Binnenerzählung trifft, keineswegs „unartikulierte Laute in die Büsche des Waldes ruft“340, sondern von Anfang an ein poetisierendes Verhältnis zur Sprache zeigt, das sie über ihre Altersgenossen erhebt, ist ihre Schönheit, die sie als Kind noch unter Lumpen verbirgt, auch von Anfang an Ausdruck ihrer Seele. Damit soll aber gar nicht in Abrede gestellt werden, dass der Text im Hinblick auf Juliana auch eine Entwicklung beschreibt. Schließlich deckt schon die Binnenerzählung einen Zeitraum von mehreren Jahren ab, in denen Juliana sich vom Schulkind zur jungen Frau entwickelt. Im zweiten Teil der Rahmenerzählung begegnet sie dem Erzähler als Erwachsene dann noch einmal. Es mag auch zutreffen, dass erst in der erwachsenen Juliana „äußerste Schönheit des Gliederbaus und seelischer Wert“341 in einem „Bild des vollkommen Geratenen“342 zusammenfallen. Der entscheidende Punkt ist aber, dass diese Vollkommenheit in der jungen Juliana der Binnenerzählung bereits angelegt ist – sie ist hier schon „ein innen wie außen vorbildlicher Mensch […], der nur aus der Isolation gelöst und für den gesellschaftlichen Umgang gebildet werden muß“343, und sie bringt bereits alle charakterlichen – im Sinne Schillers also seelischen – Vor|| 338 Vgl. Geulen: Adalbert Stifters Kinder-Kunst, S. 658. Geulen beschreibt Juliana als „Künstlerin und Bildnerin des Körpers“ (dies.: Kinderkunst, S. 658) und stellt fest, dass diese Figur damit „ganz auf der Linie der klassischen Ästhetik Kants und Schillers“ (ebd.) liege. Für Gunter H. Hertling „versinnbildlicht[]“ (ders.: Mignons Schwestern, S. 195) Juliana dagegen „in ihrer allmählich sich entfaltenden, seelischen und körperlichen Schönheit Stifters auf Winckelmanns klassische Ästhetik zurückführbaren Schönheitsbegriff“ (ebd.). 339 Irmscher: Adalbert Stifter, S. 112. 340 Ebd. 341 Steffen: Adalbert Stifter, S. 198. 342 Ebd. 343 Hunter-Lougheed: Adalbert Stifter. Der Waldbrunnen, S. 39. Diese Lesart ist allerdings nur schwer mit der Deutung des Waldbrunnens als Geschichte der Zähmung einer Wilden in Einklang zu bringen, die Hunter-Lougheeds Beitrag im Übrigen bestimmt (siehe Anm. 292 in diesem Kapitel).

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aussetzungen mit, um einen vom Leben gekränkten alten Mann von seinem Liebesmangel heilen zu können.

3.5.5 Heilung von Liebesmangel Stephan von Heilkun blickt zu Beginn der Binnenerzählung im Gespräch mit seinen Enkeln auf sein bisheriges Leben zurück. Es scheint einem wiederkehrenden Muster von Aufopferung und Enttäuschung zu folgen. Schon im Kindesalter wurde Stephan von seinen „Gespielen“ (W, S. 107) verlassen, nachdem er ihnen „Gutes getan, indem ich mich aufopferte“ (ebd.). Auch seiner Ehefrau hat er „alles gegeben, was ich gehabt habe, ich habe ihr aufgeopfert, was mir lieb war, […] aber sie konnte nie tun, was gegen ihren Sinn und Gemüth war […] und kränkte mich“ (ebd.). Weitere Enttäuschungen im privaten und beruflichen Bereich haben Stephan von Heilkun zu dem an Liebesmangel leidenden Mann gemacht, als der er sich im Gespräch mit seinen Enkeln präsentiert. Vor der Begegnung mit Juliana besteht offenbar noch kein Anlass, auf Besserung zu hoffen: „Großvater, wirst Du dann auch noch Jemand haben, der Dich liebt?“ fragte Katharina. „Das weiß ich nicht, mein Mädchen“, antwortete der alte Mann. (W, S. 109)

Das Motiv des Liebesmangels wird also nicht erst durch die Intertexte in die Erzählung eingebracht, die Stifter für die in Abschnitt 3.5.4 analysierte Szene ausgewählt hat, sondern gleich zu Beginn der Binnenerzählung in geradezu offensiver Weise durch die Figur Stephan von Heilkun positioniert, der sich gegenüber seinen Enkeln in einer Unterhaltung über die heilsamen Kräfte von Wasser und Luft als Bedürftigen darstellt. Das implizite Rätsel, das die Erzählung dem Leser hier aufgibt – nämlich die Frage, „warum man wahre Liebe nur von Nicht-Anverwandten erfahren sollte“344 –, bleibt in der Tat ungelöst. Betrachtet man den Text aber nicht als Zähmungs- und Erziehungsgeschichte eines ‚wilden‘ Mädchens, sondern als Auseinandersetzung mit dem Lernprozess, den Stephan von Heilkun durchläuft, ergeben „die Selbstbezogenheit des alten Mannes“345 und der „narzisstische[] Charakter seiner Kränkungen“346 einen erzählerischen Sinn.

|| 344 Koschorke: Erziehung zum Freitod, S. 328. 345 Ebd. 346 Ebd.

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Stephan bemüht sich schon bei seinem zweiten Aufenthalt in der Waldsiedlung, die Beziehung zu Juliana aktiv zu vertiefen, und zwar nicht nur durch Geschenke, sondern auch, in dem er die Nähe des Mädchens sucht: „Zuweilen ging Stephan früher als zur gewöhnlichen Stunde zu dem Brunnen und harrte auf das Mädchen, bis es kam“ (W, S. 128).347 Schon im dritten Jahr der Beziehung kann er, nach einer harmlosen Geste der Zuneigung, die das Kind ihm erweist, ein Dankgebet sprechen, das Juliana in den oben bereits angesprochenen Kontext von Schillers Ueber Anmuth und Würde stellt: Du heiliger und Du gerechter Gott! So ist es denn zum ersten Male in meinem Leben, daß ich von Jemandem um meiner selbst willen geliebt werde, von einem Menschen, dem ich nichts gegeben und gethan habe […]. Und dieser Mensch ist ein armes, verwaistes und vernachlässigtes Kind, das keine Gründe seiner Handlungen und Empfindungen kennt. (W, S. 130; Hervorhebung von mir)

Vergleicht man diese Textstelle aus dem Waldbrunnen mit Schillers Ausführungen zur schönen Seele, zeigen sich deutliche Übereinstimmungen, denn diese, so heißt es in Ueber Anmuth und Würde, weiß […] selbst auch niemals um die Schönheit ihres Handelns, und es fällt ihr nicht mehr ein, daß man anders handeln und empfinden könnte; dagegen ein schulgerechter Zögling der Sittenregel […] jeden Augenblick bereit seyn wird, vom Verhältniß seiner Handlungen zum Gesetz die strengste Rechnung abzulegen.348

Um Juliana aber tatsächlich in angemessener Weise als schöne Seele im Sinne Schillers beschreiben zu können, ist es nicht ausreichend, die Schönheit ihres Handelns allein auf die Liebe zu beziehen, die sie Stephan von Heilkun erweist. Warum das Mädchen dem alten Mann letztendlich seine Zuneigung schenkt, lässt sich am Text auch gar nicht zweifelsfrei belegen.349 Julianas Entschlossen-

|| 347 Vgl. Mayer: Adalbert Stifter, S. 206. Mayer beschreibt Julianas Liebe zu Stephan von Heilkun als Reaktion auf dessen „unaufdringliche Ernsthaftigkeit“ (ebd.), mit der dieser das Mädchen „aus seiner Verschlossenheit zu lösen vermag“ (ebd.). 348 Schiller: Ueber Anmuth und Würde, S. 287. 349 Albrecht Koschorke dagegen stellt in Frage, was „an der Liebe der wilden Juliana so uneigennützig und naturhaft sein [sollte] – ist sie doch, wie in einem kolonialen Reisebericht, durch Geschenke (falsche Perlen, Schleifen und anderen Flitter), kleine und größere Wohltaten, durch duldsame Anerkennung und pädagogische Nachsicht erworben“ (ders.: Erziehung zum Freitod, S. 328 f.). Eva Blome spricht in diesem Zusammenhang von einem „quasi koloniale[n] Muster“ (dies.: Bildung als Rettung und Gabe?, S. 224) und weist zurecht daraufhin, dass Juliana die Gaben Heilkuns „nicht für sich [behält], sondern […] an ihre entrückte Großmutter

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heit, eine Beziehung zu ihm aufzubauen, erhält aber schon im zweiten Jahr der Binnenerzählung denselben Stellenwert wie ihre Sorge für die Großmutter und das poetische Singen und Sprechen: „Jana, Jana,“ sagte die Großmutter, da das Mädchen zurück war, „die Hummeln sind in ihrem Baue und Du bist immer fort“. „Ich muß Sachen suchen,“ erwiderte das Mädchen, „die Du brauchst, ich muß singen und auf den Stein steigen, und ich muß nach dem alten Manne forschen.“ (W, S. 123)350

Die wahre Uneigennützigkeit von Julianas Handeln zeigt sich jedoch nicht in ihrer Beziehung zu Stephan von Heilkun. Sie wird erst offenbar, als der alte Mann versucht, sie zum Verlassen der Waldsiedlung zu bewegen.

3.5.6 Vorbildliche Selbstlosigkeit Die nächste Phase in der Beziehung zwischen Stephan und Juliana wird durch eine rätselhafte Bemerkung des alten Mannes eingeleitet, die sich in der Tat als Beleg dafür deuten lässt, dass hier doch eine „Veredelung des Wilden, die Zähmung des Unbändigen in der Liebe“351 stattgefunden hat. Nachdem er durch einen der vielen Fensterblicke352 in Stifters Erzählwerk Zeuge davon geworden ist, wie sein Enkel Franz und „das Mädchen in Lumpen sich umschlungen gehalten und geküßt hatten“ (W, S. 133), stellt er nämlich im Selbstgespräch fest: „Die menschliche Wesenheit ist endlich zur Entscheidung gekommen“ (ebd.). Nun steht es mit meiner Interpretation der Erzählung, die den Fokus von der Zähmung des ‚wilden‘ Mädchens auf den Lernprozess verschiebt, den ihre Erzieherfigur durchläuft, nicht unbedingt in Widerspruch, der Figur Stephan von Heilkun eine intradiegetische Perspektive zuzuweisen, die sehr wohl von einem Zähmungs- und Sozialisationsprozess Julianas, zumindest aber von einem Vorgang der Integration in die Familie ausgeht. Aus der Perspektive der Figur her-

|| weiter[gibt]“ (ebd.): „Juliana hatte von all den Dingen gar nichts an sich“ (W, S. 127). Sie werden vielmehr zum Schmuck der Behausung und der Großmutter verwendet (vgl. ebd.). 350 Die oben zitierte Aussage Julianas, dass sie ‚auf den Stein steigen‘ müsse, bezieht sich wohl auf den „hohen Steine“ (W, S. 121 und 132) des Waldbrunnens, den sie, wie in Abschnitt 3.5.4 beschrieben, nach Art eines Podests besteigt, um Verse zu deklamieren. 351 Müller: Stifters spätere Erzählungen, S. 86. Vgl. ähnlich Hunter-Lougheed: Adalbert Stifter. Der Waldbrunnen, S. 42 f. 352 Vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 328. Begemann beschreibt hier mit Hans Dietrich Irmscher, wie „Stifters Individuen“ (ebd.) durch Fensterblicke zu „Momente[n] der Balance“ (ebd.) finden können.

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aus betrachtet kann die Verwandlung, die Juliana in die Lage versetzen soll, ein Mitglied seiner Familie zu werden, hier an einem entscheidenden Punkt angelangt sein, weshalb man den Ausdruck ‚menschliche Wesenheit‘ durchaus im Hinblick auf eine „Menschwerdung“353 Julianas lesen kann – aber eben nur aus der Perspektive einer Figur der erzählten Welt.354 Im Anschluss an Stephan von Heilkuns rätselhafte Bemerkung lässt der Erzähler lediglich einige Tage durch extreme Zeitraffung verstreichen, bevor er unmittelbar im Anschluss schildert, welche Folgen der Blick aus dem Fenster hat: Mehrere Tage nach dieser Begebenheit sagte er [Stephan von Heilkun; H. A.] in der Stube des Schreinerhäuschens in der Gegenwart der Kinder zu Juliana: „Juliana, ich werde Dich, wenn ich wieder von dem Walde fort fahre, mit mir nehmen. Du wirst schöne Kleider bekommen, Du wirst noch manches lernen, und wenn Du das gelernt hast, wirst Du Franzens Braut werden, und dann sein Eheweib.“ (W, S. 133)

|| 353 Irmscher: Adalbert Stifter, S. 113. Irmscher beschreibt den Waldbrunnen an dieser Stelle als „Palinodie zu ‚Katzensilber‘“ (ebd.), wo die „Menschwerdung des braunen (!) Mädchens […] mißlingt“ (ebd.). 354 Vgl. Mayer: Adalbert Stifter, S. 207. Mayer stellt fest, dass Juliana „die familiäre Lücke im Hause Heilkun schließt und durch die Ehe mit dem Enkel deren Fortbestand ermöglicht“ (ebd.); dies sei ein „Thema, das auch in den anderen späten Erzählungen zentral ist“ (ebd.). Mayer stimmt in diesem Punkt mit Eva Geulen überein, die den Waldbrunnen mit den späten Erzählungen Der fromme Spruch und Der Kuß von Sentze insofern in eine Reihe stellt, als dass es, so Geulen, „[i]n allen drei Texten [...] um die Rekonstitution eines alten Adelgeschlechts [geht], was nach einigen Komplikationen zuletzt mit Hilfe einer Verwandtschaftsheirat auch jeweils gelingt“ (dies.: Worthörig wider Willen, S. 144). Franz und Juliana sind zwar nicht verwandt, werden vom Text aber dennoch demselben „Familienmodell“ (ebd.) zugeordnet, als Stephan von Heilkun die „Hand seines Enkels in die seines Kindes Juliana, wie er sie nannte“ (W, S. 138), legt. Vgl. auch Geulens spätere Ausführungen zum Verhältnis von Genealogie und Kindern als „störenden und verstörten Figuren“ (dies.: Kinderlos, S. 435) in Stifters Erzählwerk. Gerhard Neumann deutet Stephans oben zitierte Rede von der ‚menschlichen Wesenheit‘ als Inszenierung eines „Schicksalsmodells [...], das im doppelten Kursus eines SichZurückschreibens oder -lebens in die Kindheit [...] und komplementär eines Einschreibens einer phantasmatischen Kindheit in einen projektiven und imaginären Akt (der ‚Zuversicht‘) besteht“ (ders.: Das Schreibprojekt, S. 118). Christian Soboth dagegen deutet die Stelle als Hinweis auf „die in der Blutsverwandtschaft begründete und durch Blutsverwandtschaft herbeigeführte Wiederverknüpfung eines vor Zeiten abgerissenen genealogischen Fadens“ (ders.: Die Frau im Einschreibbuch, S. 69). Diese Interpretation steht im Einklang mit Soboths ebenso radikaler wie folgenschwerer These, Juliana sei Stephans „natürliche Enkelin und die Großmutter seine ehemalige Geliebte“ (ebd., S. 56), weshalb sich in der Eheschließung zwischen Juliana und Franz eine „Inzestphantasie“ (ebd., S. 69) verberge. Vgl. Soboths Ausführungen zu Stifters späten Erzählungen, in denen „an die Stelle der Versuchung, die im Waldbrunnen eine Versuchung durch das Fremde ist, die Blutsverwandtschaft und der Inzest treten, und zwar als Korrektiv zur Retablierung sozialer Ordnung“ (ebd., S. 71).

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Stephan erscheint an dieser Stelle plötzlich wieder als klassische Erziehergestalt nach dem Vorbild seiner Vorgängerfiguren in der Narrenburg oder in Turmalin und als Autorität, die keinen Widerspruch duldet.355 Den Wunsch von Julianas Mutter, das Kind zur Übersiedlung ins Haupthaus zu bewegen, hatte er gegenüber seinen Enkeln noch wie folgt kommentiert: „[I]ch weiß noch nicht, was ich meinen soll, und wenn das Mädchen herüber geht, soll es freiwillig gehen“ (W, S. 126). Nun ist aber plötzlich keine Rede mehr von vorsichtiger Annäherung und Freiwilligkeit. Kehrt Stifter in dieser späten Erzählung also letztendlich doch zurück zu einer Sichtweise, nach der ein ‚wildes‘ Mädchen möglichst rasch einem Transformationsprozess zu unterwerfen ist, um zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft zu werden? Die Art und Weise, wie Stephan seine Pläne für Juliana hier darstellt, scheint dies zunächst zu belegen. Auf den zweiten Blick hat sie aber eine ganz andere erzählerische Funktion: Sie verstärkt den Effekt der nachfolgenden Darstellung, in der die Erzieherfigur einem Lernprozess unterworfen wird. Juliana kann Stephan und seinen Enkeln nämlich nicht in die Stadt folgen, ohne die Großmutter zu verlassen und ihr damit zu schaden. Man kann aber nicht einmal davon sprechen, dass die junge Frau hier vor ein moralisches Dilemma gestellt wird. Juliana gibt die Möglichkeit, an Franz’ Seite ein Leben in Wohlstand zu führen, ohne zu zögern auf und entscheidet sich unmittelbar und unbeirrt für ihre Großmutter. Ihre Weigerung, die Waldsiedlung zu verlassen, beendet die Beziehung zu Franz und verleiht ihrem Verhältnis zu Stephan von Heilkun eine neue Qualität: „Er [Franz; H. A.] wird mich vergessen, und es wird alles gut sein,“ sagte das Mädchen. Bei diesen Worten quollen ihm große Tropfen aus den schwarzen Augen, und rannen über die Wangen herunter. Es waren die ersten Thränen gewesen, die Stephan an dem Kinde gesehen hatte. „Juliana, Mädchen,“ sagte er, „thue wie du willst.“ (W, S. 134)

Die an keine Bedingungen geknüpfte Liebe Julianas, die Stephan von Heilkun als Gnade Gottes empfindet, gilt nicht nur ihm, sondern auch der Großmutter.356 || 355 Vgl. Soboth: Die Frau im Einschreibbuch, S. 55, Anm. 23. 356 Vgl. Hunter: Ist der Rahmen des „Waldbrunnen“ überflüssig?, S. 120. Hunter deutet den Waldbrunnen zwar als Geschichte der Zähmung Julianas, führt in Bezug auf ihr Verhalten gegenüber der Großmutter aber folgendes aus: „Im Verhältnis der Enkelin zur Großmutter kommt dieses Menschentum [der Zustand, den Juliana als Erwachsene erreicht; H. A.] von Anfang des Kerngeschehens an als Entelechie zum Ausdruck. Weder Strafe noch Spott kann das wilde Mädchen von der selbstlosen Fürsorge für die alte Frau abbringen. Hier äußert sich schon am Beginn der Erzählung ihre große Liebesfähigkeit“ (ebd., S. 121).

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Nicht nur durch ihre Liebe zu Stephan, sondern vor allem durch das an dieser Stelle beschriebene Opfer erweist Juliana sich als schöne Seele im Sinne Schillers. Der zentrale Topos, der sich im Waldbrunnen ausprägt, lässt sich vor dem Hintergrund des bisher Gesagten deshalb wie folgt beschreiben: Tab. 6: Die Macht der Schönheit (Topos)

Deskriptor

Deskription

Die Macht der Schönheit

Die Seelenschönheit eines Menschen zeigt sich in der Verbindung von körperlicher Anmut und sittlichem Handeln gegenüber anderen und sich selbst.

Die Analysen der anderen drei Texte, die zum Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen gehören, haben gezeigt, dass der spezifische Topos, der sich in ihnen ausprägt, immer in Verbindung mit dem Topos vom Mittelpunkt der kultivierten Natur steht. Die handelnden Figuren in diesen Texten konnten in ihrem Verhältnis zu diesem Mittelpunkt beschrieben werden. Deswegen stellt sich nun die Frage, ob diese Skala auch im Waldbrunnen erkennbar ist und wie sie sich mit meiner Interpretation der Erzählung in Einklang bringen lässt.

3.5.7 Transformation auf dem Mittelpunkt In diesem Zusammenhang fällt auf, dass der Waldbrunnen, wie oben bereits erwähnt, ein zentrales Motiv aus Kazensilber aufnimmt und variiert. Dort verlassen Mutter, Vater und die Kinder ihren Hof, der zwischen Stadt und Wildnis liegt, in jedem Spätherbst, um den Winter in der Stadt zu verbringen. Zurück bleibt nur die Großmutter, die den Hof hütet, bis der Rest der Familie im Frühling zurückkehrt (siehe Abschnitt 3.4.2). Die Binnenerzählung des Waldbrunnens beschreibt mit der ersten Reise, die Stephan von Heilkun mit seinen Enkeln in die Waldsiedlung unternimmt, eine ähnliche Bewegung zwischen Stadt und Land. Damit ist allerdings eine bewusste Abkehr vom städtischen Leben verbunden, denn Stephan erklärt seinen Enkeln: „Ich habe Niemanden als Euch mitgenommen, daß wir gar nichts von der großen Stadt bei uns haben“ (W, S. 108). Vor Wintereinbruch kehren die Reisenden aber in die Stadt zurück, um in den folgenden Jahren weitere Reisen in die Waldsiedlung zu unternehmen. Die Annahme, dass die Topografie dieser Erzählung auf einer ähnlichen Natur-

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Kultur-Skala basiert wie die anderen Erzählungen von ‚wilden‘ Mädchen, liegt also nahe. Deswegen gilt es nun, nach deren Mittelpunkt zu suchen. Das Haus, in dem Stephan und seine Enkel den Sommer verbringen wollen, ist als endgültiges Ziel der Reise nicht mit dem Wagen, sondern nur durch einen Fußmarsch erreichbar (vgl. W, S. 108). Es liegt auf „einem sehr grünen Flecke“ (ebd.) und in der Nähe eines ausladenden Waldgebietes (vgl. W, S. 104). Der Erzähler beschreibt mehrfach die Streifzüge, die Stephan und seine Enkel in der Umgebung der Waldsiedlung unternehmen. Hier deutet sich eine topografische Konstellation an, die ebenfalls an die anderen Texte des Werkkomplexes der ‚wilden‘ Mädchen erinnert. Von einem Felsen aus können die Wanderer die verschiedenen Landschaftsbereiche klar erkennen: Da lag der ungeheure Wald zu ihren Füßen, dann das weite Land mit Feldern, Wiesen, Wäldern, Häusern, Dörfern, Kirchen; den Donaustrom sahen sie, den Inn, die Isar, und dann den blauen Gürtel der Alpen […] (W, S. 118).

Der ‚ungeheure Wald‘ ist nur bis zu einem bestimmten Punkt „gangbar“ (W, S. 112), bevor die Wildnis beginnt: „Zuweilen gingen sie auch an den Schluchten, an den rauschenden Wassern, an den Ahornbäumen und anderen Bäumen hinauf in das wilde Gehölz“ (W, S. 118). Von diesem Punkt aus findet die Rückkehr in einen Bereich der kultivierten Natur statt: Die Wanderer passieren das von Julianas Familie bewirtschaftete „kleine[] Fleckchen Korn“ (ebd.). Die Verwandlung von Wildnis in kultivierte Natur, wie sie sich in diesem Fall durch den Anbau von Getreide zeigt, spielt im Waldbrunnen zwar keine prominente Rolle; die Waldsiedlung erscheint in der Tat als „hochstilisierte Elementarlandschaft“357. Entscheidend ist aber, dass der Text die Endpunkte der Skala, die große Stadt und das wilde Gehölz, benennt und die Figuren eine Bewegung auf dieser Skala vollziehen lässt. Der Mittelpunkt der Natur-Kultur-Skala lässt sich im Waldbrunnen exakt bestimmen. Es handelt sich nicht einfach nur um die Waldsiedlung, sondern um einen ganz speziellen Ort, an dem die Wildnis in Gestalt des Waldes an die Siedlung grenzt. In diesem Zusammenhang ist ein Textabschnitt von Bedeutung, in dem Stephan dem felsigen Boden dieses Waldes eine ganz bestimmte Funktion zuweist: Und der Wald, wenn Ihr in ihm herumgehen werdet, hat köstliche Dinge in sich. Da ist der ganze Boden, auf dem er steht, ein ungeheurer zerklüfteter Stein, ein Stein, der Hunderte von Meilen lang ist, viele Meilen breit und manche Meile tief. […] Und das Wasser, welches

|| 357 Geulen: Worthörig wider Willen, S. 143.

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von den Wolken des Himmels niederregnet, sinkt hinein und sinkt immer tiefer, und sinkt tiefer, und reinigt sich […]. Und dieses Wasser giebt allen Wesen, selbst den Gräsern, Fröhlichkeit und Gesundheit, was das Wasser in den Ländern draußen, wo allerlei unreiner Boden ist, nicht geben kann. (W, S. 105)

Das Wasser, das auf seinem Weg durch den Fels also einen Reinigungsprozess durchläuft, speist den Brunnen, den Stephan bei der Auswahl des Reiseziels im Sinn gehabt hat, weil er selbst „Gesundheit und Fröhlichkeit verloren“ (W, S. 106) hat und diese wiederzugewinnen hofft. Dieser Brunnen stellt den Mittelpunkt dar, auf dem Stephan unter dem Einfluss Julianas einen noch genauer zu beschreibenden Lern- und Transformationsprozess durchläuft.358 Die Hauptfiguren der Erzählung lassen sich also wie folgt auf der Natur-Kultur-Skala positionieren:

Stephan von Heilkun

Wildes Gehölz (Wildnis) −−



Stephan von Heilkun

Juliana

Juliana

Waldbrunnen (kultivierte Natur)

Große Stadt (Hochkultur)

+



−−

Abb. 11: Bewegungen auf der Natur-Kultur-Skala im Waldbrunnen

Julianas Bewegung aus der Waldsiedlung heraus in Stephans angestammten Lebensbereich ist in Abbildung 11 mit einer gestrichelten Linie eingezeichnet, um darauf hinzuweisen, dass der Waldbrunnen in einem entscheidenden Punkt von den anderen Texten im Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen abweicht. Die Erzieherfiguren in Turmalin und Kazensilber verlagern die jeweiligen Zöglinge aus deren angestammten Umgebungen in ihre eigenen Lebensbereiche. Hein-

|| 358 Vgl. Müller: Stifters spätere Erzählungen, S. 84. Müller führt hier aus: „[D]en Titel der Erzählung darf man ein Schlüsselsymbol nennen, das in den thematischen Kern weist: die im Brunnen gefaßte Heilquelle versinnbildet das gebändigte Elementare, die kultivierte Natur“ (ebd.). Auch Rosemarie Hunter-Lougheed weist dem Brunnen symbolische Bedeutung zu: Er „[v]ersinnbildlicht [...] mit dem wunderkräftigen Wasser und der wunderkräftigen Luft für den alten Mann [Stephan von Heilkun; H. A.] die Behebung seines Liebesmangels und seine Genesung“ (dies.: Der Waldbrunnen, S. 37) und mit der „gefaßte[n] Quelle für die Hauptgestalt der Erzählung die Bändigung ihrer ungezähmten Naturkraft durch den verständnisvollen Erzieher“ (ebd.).

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rich in der Narrenburg belässt Pia zwar auf dem Rothenstein, verändert diesen jedoch nachhaltig, um die Spuren der Verwilderung zu entfernen. Stephan von Heilkun verbessert die Lebensumstände von Julianas Familie zwar sowohl durch Geld- und Sachspenden als auch durch eine Erweiterung von deren Grundstück und Behausung. Der entscheidende Punkt ist aber, dass er bis zum Ende der Binnenerzählung keinen Erfolg damit hat, Juliana in eine andere Umgebung zu verlagern. Sie erklärt sich erst dann bereit, ihm in die Stadt zu folgen, als ihre Verpflichtungen gegenüber der Großmutter durch deren Tod enden (vgl. W, S. 137 f.). Stephan selbst ist es, der sich Juliana immer wieder in ihrem angestammten Umfeld nähert. Entscheidende Begegnungen zwischen den beiden finden an dem Brunnen statt, dessen Wasser verlorene Gesundheit und Fröhlichkeit zurückbringen soll, also genau auf dem Mittelpunkt zwischen Wildnis und Kultur, der in Julianas Heimat liegt. Dieser Unterschied zu den anderen Erzählungen erscheint konsequent, wenn man davon ausgeht, dass der eigentliche Lern- und Erziehungsprozess im Waldbrunnen nicht am vermeintlich ‚wilden‘ Mädchen Juliana, sondern an der Erzieherfigur Stephan von Heilkun stattfindet.359 Eine solche Figur verkörpert Stephan noch einmal für einen kurzen Moment, als er Juliana mitteilt, welche Pläne er für sie hat (vgl. noch einmal W, S. 135), doch sie verschwindet so schnell von der Bildfläche, wie sie erschienen ist. Auch das Szenario einer endgültigen Trennung, das Stephan als Reaktion auf Julianas Weigerung, ihm in die Stadt zu folgen, androht, wird nur halbherzig umgesetzt. Stephan ist vor der Abreise zwar „nun anders gegen Juliana und ihre Angehörigen“ (W, S. 135), aber gegenüber Juliana „noch freundlicher und gütiger als früher“ (ebd.). Auch ihren Angehörigen erweist er weitere Wohltaten. Die Erzählung stilisiert Stephan an dieser Stelle nicht nur zum distanzierten Wohltäter (vgl. ebd.), sondern beinahe zu einer Schöpfergestalt: „Der alte Stephan besah

|| 359 In diesem Zusammenhang ist auf einen Brief Stifters an Gustav Heckenast einzugehen, in dem er am 18. Oktober 1846 (also etwa 20 Jahre vor dem Erscheinen des Waldbrunnens) schreibt: „I m H e r b s t e 1 8 4 7 h ä n d i g e i c h I h n e n e i n e n e i n b ä n d i g e n R o m a n e i n . (Es ist die Erzählung, deren Held ein Kind ist, das sich selbst erzieht, oder vielmehr durch Kindlichkeit einen alternden zerworfenen Mann erzieht.)“ (PRA 17, S. 178; Hervorhebung im Original). Während diese Briefstelle Stephan von Heilkun recht genau zu beschreiben scheint, ist nicht davon auszugehen, dass Stifter sich hier auf den Waldbrunnen bezieht (vgl. Achenbach: Natur versus Kultur?, S. 95, Anm. 240). Trotzdem verweisen mehrere Interpreten des Waldbrunnens auf diese Aussage (vgl. etwa Steffen: Adalbert Stifter, S. 194 und Sjögren: The Frame of Der Waldbrunnen, S. 11). Hier wird zudem übersehen, dass es nicht Julianas Kindlichkeit ist, die zu Stephan von Heilkuns Transformation führt, sondern ihr vorbildliches sittliches Handeln.

192 | Erzählungen von ‚wilden‘ Mädchen und ihren Erzieherfiguren

alles, was er getan hatte, und rüstete sich zur Abreise“ (ebd.).360 Weitere Sommeraufenthalte in der Waldsiedlung werden zwar für zwei Jahre und einen halben Sommer ausgesetzt, doch auch wenn es Stifter mit ganz sparsamen Mitteln gelingt, die Distanz darzustellen, die Einzug in die Beziehung zwischen Juliana und Stephan gehalten hat – so weiß der Erzähler beispielsweise von keinen weiteren Berührungen, Küssen oder anderen Zeichen der Zuneigung zu berichten –, so ist dieser Effekt doch nicht von Dauer. Nach Ablauf dieser Frist kann der Erzähler feststellen: „Zwischen den Bewohnern des Schreinerhäuschens und Juliana war nun wieder ein Zusammensein wie früher“ (W, S. 136). Der Erzähler begründet mit keinem Wort, warum Stephan von Heilkun seine Aussage, sich von Juliana „auf immer trennen“ (W, S. 134) zu müssen, nicht in die Tat umsetzt. Auch hier weist die Erzählung eine Leerstelle auf, die sich nicht füllen lässt, ohne zu spekulieren. Was sich aber zweifelsfrei feststellen lässt, ist folgendes: Da Stephan die Beziehung zu Juliana nicht abbricht, kann der Lernprozess, den Juliana bei ihm auslöst, seinen Abschluss finden. Tatsächlich argumentiert Stephan nach dem Tod der Großmutter, der es Juliana erlaubt, ihm in die Stadt zu folgen, ganz so, wie die junge Frau es ihm vorgemacht hat, denn er erinnert sie an ihre familiären Verpflichtungen: „‚Juliana‘, erwiderte Stephan, ‚Du verlässest deine Mutter‘“ (W, S. 138). An dieser Stelle findet sich außerdem eine weitere Formulierung, die ähnlich rätselhaft ist wie Stephans Betrachtungen über die ‚menschliche Wesenheit‘ (siehe Abschnitt 3.5.6). Juliana entgegnet Stephan nämlich, dass die Großmutter sich „nicht gefreut [hätte], wenn ich mit Engeln in den Himmel gegangen wäre“ (W, S. 138). Soweit ich sehen kann, wird dieser Verweis auf die Engel im Himmel in den einschlägigen Forschungsbeiträgen nicht kommentiert. Anstatt hier an einen möglichen Tod oder Freitod Julianas zu denken – dies wäre ja die Voraussetzung für einen Gang in den Himmel –, erscheint es mir (ohne dafür Textbelege anführen zu können) plausibler, diese Äußerung als bildliches Sprechen zu interpretieren, in dem der Himmel für ein Leben an der Seite Stephan von Heilkuns steht, in dem Franz und Katharina die Engel darstellen. Die Großmutter hätte sich nicht gefreut, wenn Juliana sie für ein solches Leben verlassen hätte. Nach ihrem Tod steht der Weg dahin aber offen. Juliana macht an dieser Stelle gegenüber Stephan deutlich, dass sie sowohl mit ihrer ursprünglichen Weigerung, ihn in die Stadt zu begleiten, eine Verpflichtung erfüllt hat als auch mit der späteren Einwilligung, dies zu tun. Zu Lebzeiten der Großmutter bestand die Verpflichtung, an deren Seite zu bleiben. || 360 Vgl. Genesis 1,31: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“ Vgl. Soboth: Die Frau im Einschreibbuch, S. 162.

Vollendete Schönheit: Der Waldbrunnen | 193

Nach ihrem Tod gibt aber die Verpflichtung gegenüber der um Julianas Wohlergehen besorgten Mutter den Ausschlag, denn, so Juliana zu Stephan, „[s]ie denkt es sich, daß Du mich mitnimmst und ist froh darüber, [...] sie hat es schon Nachbarinnen erzählt, daß ich schöne Kleider und Sachen bekommen werde“ (W, S. 138). In der Rede, die Stephan zur Hochzeit von Franz und Juliana hält, wird abschließend deutlich, dass er, der an der Textoberfläche als traditionelle Erziehergestalt erscheint, von Juliana gelernt hat: Franz erhält „eine Gattin, welche wirklich liebt und auch ihre Pflicht versteht, und das ist das Höchste“ (W, S. 138). Die narzisstischen Züge der Figur sind indes auch hier nicht getilgt: Obwohl Juliana Stephan gezeigt hat, dass wirkliche Liebe auch Verzicht bedeuten kann, bezieht er ihre Liebe weiterhin vor allem auf sich selbst: „Juliana liebt mich allein, weil ich bin, der ich bin, und diesen Schimmer hat mit Gott gesendet“ (ebd.; siehe auch Anm. 317 in diesem Kapitel). Interpretiert man Stephans Hinweis auf Julianas Pflichtverständnis aber als Anspielung auf ihr sittliches Handeln und vorbildliches Verhalten gegenüber ihrer Großmutter,361 ergibt sich ein weiterer Hinweis darauf, dass es im Waldbrunnen nicht mehr um die Zähmung einer Wilden geht, sondern um das vorbildliche Handeln einer schönen Seele. Im nächsten Kapitel wird es im Rahmen einer ersten Positionsbestimmung darum gehen, zu zeigen, wie sich dieser Befund in eine spezifische werkgenetische Entwicklung einordnen lässt.

|| 361 Vgl. Hunter-Lougheed: Adalbert Stifter. Der Waldbrunnen, S. 38.

4 Positionsbestimmung 1 In Kapitel 3 wurde dargestellt, wie die Erzählungen, die zum Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen gehören, Erziehungsprozesse und Bildungsgänge literarisch gestalten. Dabei haben sich mehrere Topoi in den Texten ausgeprägt. Bevor ich mich dem nächsten Werkkomplex zuwende, erscheint deshalb eine erste, zusammenfassende Positionsbestimmung angebracht.1 Vor dem Hintergrund von Rousseaus Abhandlung über die Ungleichheit konnte anhand einer Analyse der topografischen Konstellation, auf der die Erzählung Die Narrenburg beruht, der Topos vom Mittelpunkt der kultivierten Natur beschrieben werden, der sich in allen Erzählungen des Werkkomplexes der ‚wilden‘ Mädchen nachweisen lässt. Die kultivierte Natur erscheint hier als Mittelpunkt einer Skala, an deren Ende die Sphären der Wildnis und der Hochkultur angesiedelt sind. Das rousseauistische Zurücksehnen nach einem imaginierten Naturzustand erscheint in den Texten als das Streben nach diesem Mittelpunkt, das sich auf zwei Ebenen äußert. Zum einen siedeln sich die Figuren der Erzählungen räumlich in einer der genannten Sphären – Wildnis, kultivierte Natur, Hochkultur – an und sind immer wieder darum bemüht, Teile der Wildnis zu transformieren und somit in die Sphäre der kultivierten Natur einzugliedern. Zum anderen entsprechen die Erziehungsprozesse und Bildungsgänge, die in den Texten geschildert werden, diesem Transformationsvorgang, indem sie Wildheit durch Nützlichkeit zu ersetzen suchen. Stifter positioniert seine Erzieher- und Zöglingsfiguren mit großer Genauigkeit in den verschiedenen topografischen Bereichen der erzählten Welt. Die Bildungsgänge, von denen er erzählt, lassen sich als Bewegungen auf der Natur-Kultur-Skala beschreiben, die den Mittelpunkt der kultivierten Natur zum Ziel haben. Einer ganzen Reihe von Figuren wird der dauerhafte Verbleib auf diesem Mittelpunkt ermöglicht. Dazu gehören Heinrich, Anna und Pia in der Narrenburg, die Ich-Erzählerin mit ihrer um das Mädchen mit dem großen Kopf erweiterten Familie in Turmalin, die Hofbewohner in Kazensilber und, zumindest für den größten Teil der erzählten Zeit der Binnengeschichte, Juliana, Stephan und seine Enkel in Der Waldbrunnen. Den erfolgreichen Bildungsgängen, von denen diese Texte berichten, stehen aber auch gescheiterte Erziehungsprozesse gegenüber, etwa in der Episode von Jodok und Chelion in der Narrenburg, die für Erzieher wie Zögling in der Katastrophe endet. Auch in Turmalin scheitert die

|| 1 Dieses Kapitel nimmt auf Ergebnisse meiner Magisterarbeit Bezug (vgl. Achenbach: Natur versus Kultur?, S. 120–124). Siehe dazu auch Kap. 3, Anm. 1. https://doi.org/10.1515/9783110750782-004

Positionsbestimmung 1 | 195

Erziehung der Tochter des Rentherrn zunächst auf der ganzen Linie und lässt ein ‚wildes‘ Mädchen zurück, das an Körper und Geist Schaden genommen hat. Erst durch die Verlagerung des Kindes auf den Mittelpunkt der kultivierten Natur, hier repräsentiert durch die Vorstadtwohnung der Ich-Erzählerin, kann dieser Schaden in Teilen behoben werden. Kazensilber berichtet ebenfalls – zumindest vordergründig – von einem gescheiterten Erziehungsprozess, der sich folgerichtig darin ausdrückt, dass das braune Mädchen den Hof, also die Sphäre der kultivierten Natur, für immer verlässt und in die Wildnis zurückkehrt. In allen vier Texten des Werkkomplexes prägt sich der Topos vom Mittelpunkt der kultivierten Natur also deutlich aus und lagert sich an die jeweiligen Figuren an. Da diese Texte sowohl das frühe, mittlere und späte Erzählwerk Stifters repräsentieren, kann schon an dieser Stelle die im Folgenden weiter zu belegende These aufgestellt werden, dass es sich hier um einen werkkonstitutiven Topos handelt, also ein Vorstellungsmuster, das sich über einen längeren Werkzeitraum in mehreren Texten ausprägt. Darüber hinaus konnte aber für jeden der vier Texte ein weiteres, zumindest textkonstitutives Vorstellungsmuster identifiziert und ebenfalls als Topos beschrieben werden. In der Narrenburg gelingt es Heinrich durch eine modifizierte Anwendung des von seinem Ahnherrn testamentarisch verfügten, biografischen Aufschreibeprinzips, die Kette der Scharnastschen Narrheiten zu durchbrechen. Er schreibt sein eigenes Leben nämlich – anders als seine Vorfahren – schon auf, bevor er überhaupt Gefahr läuft, der Narrheit zu verfallen. Schon während der Lektüre der biografischen Aufzeichnungen Jodoks deponiert er seine eigenen biografischen Betrachtungen im Familienarchiv. Auf Heinrich übt die Macht der Schrift – so lautet die Bezeichnung des textkonstitutiven Topos, der sich in der Narrenburg ausprägt – eine Wirkung aus, die es ihm erlaubt, sowohl seine Umgebung (Burg Rothenstein) zum Positiven zu verändern als auch als vorbildlicher Erzieher auf Anna und Pia zu wirken. Für diesen Topos konnten die Confessiones von Aurelius Augustinus als intertextueller Ermöglichungszusammenhang identifiziert werden. Turmalin führt dem Leser schon in der Rahmenerzählung in aller Deutlichkeit vor Augen, welche fatalen Folgen es haben kann, wenn die Macht der Kunst, von der in Stifters Briefen und theoretischen Texten immer wieder die Rede ist, außer Kontrolle gerät. Der Wiener Rentherr, der seine Tage damit verbringt, Portraits berühmter Persönlichkeiten zu betrachten und in verschiedenen künstlerischen Disziplinen zu dilettieren, wird als eindrückliches Beispiel einer scheiternden Existenz vorgeführt. Von der Fortsetzung dieses Scheiterns in der Binnenerzählung war oben schon die Rede. Die Gegenfigur zum Wiener

196 | Positionsbestimmung 1

Rentherrn, die Ich-Erzählerin, zeichnet sich in Fortschreibung des Topos von der Macht der Kunst aber dadurch aus, dass sie und ihr Mann ein aufgeklärtes und kritisches Verhältnis zur Schauspielkunst und zur Musik an den Tag legen, dass es ihnen erlaubt, stets die Kontrolle zu behalten und von der Kunst zu profitieren, ohne sich von ihr zu vereinnahmen zu lassen und ihren auf Nützlichkeit und Pragmatik ausgerichteten Lebensentwurf in Frage zu stellen. Folgerichtig gelingt es der Erzählerin, das ‚wilde‘ Mädchen auf einem trotz aller Einschränkungen erfolgreichen Bildungsgang zu begleiten. In Kazensilber deutet sich eine werkgenetische Entwicklung an, die, was den Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen angeht, im Waldbrunnen ihren Höhepunkt erreicht. Im Zusammenhang mit der Rätselhaftigkeit der Erzählung, die für Herkunft und Verbleib des braunen Mädchens keine befriedigende Erklärung anbietet, und unter Berücksichtigung der Rolle, die die literarische Form der Sage für den Text spielt, entstand der Grundgedanke für einen Deutungsansatz, der das Verhältnis von Rationalität und Irrationalität in den Mittelpunkt stellt. Alle auf dem Hof ansässigen Familienmitglieder – Mutter, Vater, Großmutter und Kinder – werden vom Text in ihrem Verhältnis zu der Figur des braunen Mädchens beschrieben. In diesem Zusammenhang erscheint der instinktive Ansatz der Kinder, irrationale Vorgänge als Teil der Realität zu begreifen, als tragfähiges Deutungsmodell der Wirklichkeit, das von der Mutter erfolgreich übernommen wird. Damit rückte diese Figur – die zentrale Erziehergestalt des Textes – in den Fokus des Deutungsinteresses. Nicht die Zöglingsgestalt, also das braune Mädchen, sondern die Mutter durchläuft den entscheidenden Transformationsprozess, der es ihr erlaubt, ihr Weltbild zu erweitern und die Macht der Wunder zu akzeptieren. Damit ist der textkonstitutive Topos benannt, der sich in Kazensilber ausprägt. Die vierte Erzählung des Werkkomplexes, Der Waldbrunnen, setzt sich bereits in der Rahmenerzählung mit dem Aspekt der menschlichen Schönheit auseinander, der in der Binnenerzählung dann auf die Figur Juliana abgebildet wird. Durch den Umfang der erzählten Zeit, die sich über mehrere Jahre erstreckt und Julianas Werdegang vom Schulkind bis zur jungen Erwachsenen umfasst, lässt sich am Text ohne Zweifel ein Entwicklungsprozess ablesen. Trotzdem hat sich gezeigt, dass sich an diese Figur von Anfang an ein Topos anlagert, der mit der Formel von der Macht der Schönheit beschrieben werden und auf den philosophischen Kontext von Schillers Abhandlung Ueber Anmuth und Würde zurückgeführt werden konnte. Julianas körperliche Schönheit, die vom Erzähler anfänglich verschleiert und zunächst nur in der intradiegetischen Perspektive der Nebenfigur Franz sichtbar wird, ist von Anfang an Ausdruck einer Seelenschönheit im Sinne Schillers, die körperliche Anmut und vorbildli-

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ches sittliches Handeln vereint. Da sich herausstellte, dass Juliana den Topos von der Macht der Schönheit von Anfang an verkörpert und somit gar keine klassische Zöglingsgestalt ist, musste wiederum – wie schon in Kazensilber – eine andere Figur in den Mittelpunkt des Deutungsinteresses rücken: Stephan von Heilkun, der auf der Ebene des Plots durchaus als Erziehergestalt auftritt, durchläuft den eigentlichen Lern- und Bildungsprozess der Erzählung. Er lernt von Juliana, was es bedeutet, vorbehaltlos zu lieben und selbstlos zu sein. Die „Forderung nach einer Erziehung der Erzieher“2, die sich bereits in Kazensilber andeutet,3 wird im Waldbrunnen also konsequent eingelöst: Erzieher und Zögling tauschen die Plätze. Die Vorstellung, dass sogar und vor allem die klassischen Erziehergestalten der sittlichen Bildung bedürfen – was letztendlich bedeutet, dass niemand von dieser Notwendigkeit ausgenommen ist –, lässt sich aber nicht nur aus der Zusammenschau der vier Texte des Werkkomplexes der ‚wilden‘ Mädchen ableiten, sondern auf einen biografischen Ermöglichungszusammenhang zurückführen. In den Zeitraum zwischen ersten Arbeiten an Turmalin und der Fertigstellung von Kazensilber fällt mit der Revolution von 1848 nämlich ein historisches Ereignis, das eine umfassende Wirkung auf Stifters pädagogische Überzeugungen und seine Ansichten zur gesellschaftlichen Rolle von Kunst und Literatur ausübte.4 Am deutlichsten wird Stifters resignative Reaktion auf den || 2 Helmes: Bunte Steine als „Supplement der Gesetze?“, S. 64. 3 Vgl. ebd. 4 Paul Requadt hat die Auswirkungen der Revolutionserfahrung auf Stifters pädagogische Ansichten und literarische Produktion umfassend dargestellt (vgl. ders.: Stifters „Bunte Steine“ als Zeugnis der Revolution und als zyklisches Kunstwerk. In: Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen. Gedenkschrift zum 100. Todestage. Hrsg. von Lothar Stiehm. Heidelberg 1968, S. 139–168). In der älteren Stifter-Forschung war dieser Komplex noch kontrovers beurteilt worden, bevor sich die unterschiedlichen Positionen, so Christoph Buggert, „auf eine realistische Mittellage“ (ders.: Figur und Erzähler, S. 16) einpendelten. Zur „krasse[n] Gegensätzlichkeit der Meinungen“ (ebd., S. 15) in der älteren Forschung vgl. genauer ebd., S. 15 f. Hans Geulen führt aus, dass Stifter „im März 1848 die gewonnene Freiheit [begrüßte]“ (ders.: Stiftersche Sonderlinge, S. 427) und „zunächst noch eine stärkere Mitverantwortung des Volkes“ (ebd.) forderte, aber bald von der Unmündigkeit des Volkes überzeugt war und für seine wenig später beginnende Tätigkeit als Schulrat die Konsequenz zog, auf „[b]reitere Aufklärung und sorgfältigere Erziehung“ (ebd.) zu setzen. Eve Mason schreibt den „painful experiences“ (dies.: Stifter's ‘Katzensilber’, S. 116), die Stifter im Jahr 1848 machen musste, einen radikalen Einfluss auf dessen Menschenbild zu. Habe der Autor zunächst geglaubt, dass zumindest die Menschen, die in „proximity to nature“ (ebd.) leben, durch eben diese Nähe zur Natur und die „simplicity of their hearts“ (ebd.) vor Unarten wie Engstirnigkeit, Intoleranz und Gier gefeit seien, verlor er diese Überzeugung durch die Revolutionserfahrung (vgl. ebd.). Wolfgang Matz beschreibt in einem eigenen Kapitel seiner Stifter-Biografie, wie Stifter die Revolution von 1848

198 | Positionsbestimmung 1

Verlauf der revolutionären Handlungen in einem Brief an Gustav Heckenast, in dem der Autor schreibt: „Könnte ich Ihnen nur zum zehnten Theile schildern, was ich seit März 1848 gelitten habe. Als ich sah, welchen Gang die Dinge nehmen, bemächtigte sich meiner die tiefste und düsterste Niedergeschlagenheit um die Menschheit“5. War dieser Niedergeschlagenheit anfänglich eine „grundsätzliche[] Zustimmung zur Revolution“6 und eine Betätigung als politischer Schriftsteller vorausgegangen,7 entstand aus ihr in der nachrevolutionären Phase das „fast fieberhafte Verlangen, die Menschen besser und verständiger machen zu helfen“8. Dieses Verlangen war aber durch eine politische Betätigung nicht zu stillen. Stifter erkannte die Notwendigkeit, sich dem Erziehungs|| erlebte (vgl. ders.: Adalbert Stifter, S. 239–257). Nach der anfänglichen Begeisterung und einer politischen Betätigung als Wahlmann floh Stifter im Mai 1848 in das ruhigere Linz und setzte seine Hoffnungen nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen im Oktober desselben Jahres auf ein Ende der Revolution. Der Rückkehr nach Wien folgte seine Bewerbung um die Ämter eines Schulrats oder pädagogischen Referenten. Stifter gelangte in dieser Zeit zu der Erkenntnis, dass die „Geschichte [...] eine übermächtige, zerstörende Gewalt“ (ebd., S. 254) sei, der man nur ein Mittel entgegensetzen könne: die Bildung. Peter Becher gibt diese Einschätzung Stifters als „Beinaherevolutionär“ (ders.: Stifters Leben im historischen Kontext [Art.]. In: SHB, S. 2–12, hier S. 7 f.) ganz ähnlich wieder und gelangt ebenfalls zu dem Schluss, dass dem nachrevolutionären Autor „die Bildung als einziges Mittel [erschien], das die Unterdrückung des alten Systems überwinden und zugleich eine neue Unterdrückung durch die Revolution verhindern helfen könnte. [...] Die Revolution von 1848 wurde so zu einem richtungsweisenden Impuls für seine künftige Tätigkeit als Schulrat in Linz und als Autor eines großangelegten Bildungsromans“ (ebd., S. 8). Sabine Schneider sieht einen „unmittelbare[n] Zusammenhang“ (dies.: Bunte Steine. Überblick und Vorrede, S. 71) zwischen den „pädagogischen Intentionen“ (ebd.), die Stifter mit den Bunten Steinen verfolgte, und den von ihm als „Sittenverfall angesehenen revolutionären Ereignissen“ (ebd.). In den Briefen an Gustav Heckenast werde deutlich, dass Stifter die Erzählsammlung als „Mittel zur Kulturpolitik durch Bildung“ (ebd.) angesehen habe, auch wenn sich die Zielgruppe während des Entstehungsprozesses geändert habe. 5 An Heckenast, 4. September 1849 (PRA 18, S. 10). 6 Requadt: Stifters „Bunte Steine“, S. 140. 7 Stifter veröffentlichte im April 1848 im Feuilleton der Constitutionellen Donau-Zeitung einen Beitrag zur Staatslehre (vgl. Werner M. Bauer: Schriften zu Politik und Bildung. Apparat. Kommentar. Stuttgart 2012 [HKG 8,3], S. 46) in dem er „für unsere Leser, die sich bisher weniger mit Staatsangelegenheiten befasst haben, einige Grundzüge dieses Gegenstands“ (Adalbert Stifter: Der Staat. In: Ders.: Schriften zu Politik und Bildung. Texte. Hrsg. von Werner M. Bauer. Stuttgart 2010 [HKG 8,2], S. 27–39) darstellt. Der Beitrag endet mit der Ankündigung, sich im nächsten Aufsatz mit dem Thema der konstitutionellen Monarchie beschäftigen zu wollen. Dieser Beitrag erschien jedoch nicht mehr (vgl. Requadt: Stifters „Bunte Steine“, S. 140). 8 An Joseph Ranzoni, 20. März 1850 (PRA 18, S. 18). Stifter berichtet Ranzoni in diesem Schreiben von seiner Ernennung zum Schulrat und seinem erfolgreichen Gesuch, „wegen der großen Verantwortlichkeit bei dem umfassenden Wirkungskreise“ (ebd.) nicht in Wien, sondern in Oberösterreich eingesetzt zu werden.

Positionsbestimmung 1 | 199

wesen zuzuwenden, wenn es gelingen sollte, „Volk und Jugend zu heben und zu bilden“9. Hand in Hand mit dieser Überzeugung und Stifters beruflicher Weiterentwicklung als Pädagoge geht ein verändertes Kunstverständnis.10 So schrieb Stifter bereits im August 1848 an seinen Verleger, dass er einen historischen Roman plane, „da mir aus der Stimmung der ganzen Welt und der meines eigenen Innern klar war, daß Dichtungen in jetziger Zeit ganz andere Motive bringen müssen, wenn sie hinreißen wollen, als vor den Märztagen“11. Bei aller bewussten Reflektion dieses Sachverhalts durch den Autor sollte man nun nicht, wie in der Einleitung zu dieser Untersuchung bereits ausgeführt, den Fehler begehen, Stifter zum erzählenden Pädagogen abzustempeln, der im Zuge einer traumatischen Revolutionserfahrung die Literatur zu einem probaten Medium der Volkserziehung degradiert. Die Revolutionserfahrung hat sich in einer Weise in Stifters Texte eingeschrieben, die weit über einen bewussten Einsatz von Literatur als Mittel zum Zweck hinausgeht.12 In diesen Zusammenhang gehört etwa das „naturgesetzliche Erzählen“13, ein Verfahren, das sich „in allen späten Werken Stifters seit den ‚Bunten Steinen‘ finden“14 lässt und „[u]nzweifelhaft mit seinen Revolutionserfahrungen zusammen[hängt]“15. In ähnlicher Weise ist die oben schon angesprochene Forderung nach einem Platztausch von Zögling

|| 9 An Joseph Türck, 26. April 1849 (PRA 18, S. 3). Vgl. Helmes: Bunte Steine als „Supplement der Gesetze?“, S. 58. Helmes attestiert Stifter einen „klare[n] Blick für das herrschende ökonomisch-soziale und kulturelle Gefälle“ (ebd.) in der nachrevolutionären Gesellschaft und setzt insbesondere die Erzählungen in den Bunten Steinen mit der folgenden Absicht des Autors in Beziehung: „Stifter wollte dem ‚Volk im Allgemeinen‘ um einer künftigen sich selbst regulierenden Gesellschaft willen einen Ausgang aus einer für ihn freilich nicht selbstverschuldeten Unmündigkeit verschaffen“ (ebd., S. 58). 10 Vgl. Mason: Stifter and the Enlightenment, S. 103. 11 An Heckenast, 8. September 1848 (PRA 17, S. 302). 12 Hans Geulen stellt in diesem Zusammenhang fest, dass sich der „Reflex auf die Ereignisse um 1848“ (ders.: Stiftersche Sonderlinge, S. 427) im Erzählwerk des Autors zeige, man aber nicht davon ausgehen könne, dass die „Erzählungen spiegeln oder dokumentieren […], was an politischem Denken des Autors unmittelbarer sich artikulierte“ (ebd.). 13 Esselborn: Adalbert Stifters „Turmalin“, S. 17. Esselborn beschreibt dieses Erzählverfahren anhand von vier Kategorien (vgl. genauer ebd.), auf die hier nicht näher eingegangen werden muss, um den oben geschilderten Zusammenhang herauszuarbeiten. 14 Ebd. 15 Ebd. Die „Angst Stifters vor dem abrupten Bruch und der plötzlich auftauchenden Lücke in der Geschichte“ (ebd.), so Esselborn weiter, zeige sich auch in „seinen zahlreichen Aufsätzen über speziell politische und allgemeinere kulturelle oder pädagogische Fragen aus der Revolutionszeit von 1848“ (ebd.).

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und Erzieher zu bewerten, die in Kazensilber bereits formuliert16 und im Waldbrunnen konsequent umgesetzt wird. Sie hat sich den Texten ebenfalls im Kontext der Revolutionserfahrung eingeschrieben und lässt sich nun als Ausprägung eines weiteren Topos identifizieren, zu dem der Autor in einem Schreiben an seinen Verleger selbst die Deskription beisteuert: Tab. 7: Die Macht der Bildung (Topos)

Deskriptor

Deskription

Die Macht der Bildung

„D a s I d e a l d e r F r e i h e i t i s t a u f l a n g e Z e i t v e r n i c h t e t , wer sittlich frei ist, kann es staatlich sein, ja ist es immer; den andern können alle Mächte der Erde nicht dazu machen. Es gibt nur eine Macht die es kann: B i l d u n g .“17

Stifter formuliert seine Vorstellung von der Macht der Bildung hier derart prägnant, dass ich mir seine Worte für die Deskription des Topos ausborge. Sie zeigen, dass Bildung ihm weitaus mehr bedeutet als die institutionelle Vermittlung

|| 16 Vgl. Kugler: Katastrophale Ordnung, S. 141. Kugler führt im Hinblick auf Kazensilber folgendes aus: „Mit seiner Konzeption eines Naturkindes, das ohne Eltern und Erziehung auskommt, und der Einsicht, dass jede Sozialisation auch eine Deformation des NaturhaftUrsprünglichen bedeutet, stellt Stifter überdies sein eigenes pädagogisches Ideal von Bildung radikaler in Frage als in jedem anderen Werk“ (dies.: Katastrophale Ordnung, S. 141). Eve Mason stellt den textkonstitutiven Topos von der Macht der Wunder, der sich in Kazensilber ausprägt, wie folgt in den oben angesprochenen biografischen Ermöglichungszusammenhang: Das braune Mädchen „ist weder ganz Jenseitige, noch ein in der Realität verwurzeltes Zigeunerkind. So irrlichtert sie traurig zwischen beiden Sphären, und gerade ihre Zwitterhaftigkeit deutet darauf hin, daß nicht nur die Bewohner des Gutshofes den Glauben an das Wunderbare, der allein das Wunderbare verbürgt, verloren hatten, sondern auch der Autor, der sich noch nicht vom Trauma der Revolution erholt hatte“ (dies.: Stifters Bunte Steine, S. 82). 17 An Heckenast, 6. März 1849 (PRA 17, S. 322; Hervorhebungen im Original). In dem ausführlichen Schreiben an Heckenast bildet die oben zitierte Passage eine Gelenkstelle, die zwei Teile miteinander verbindet. Im ersten Teil gibt Stifter sich dediziert politisch und zieht besonders im Hinblick auf das Verhältnis von Österreich und Ungarn ein zorniges Resümee der Ereignisse von 1848, das für ihn ein „fürchterliches Jahr“ (ebd., S. 319) war. Im zweiten Teil dagegen geht es um die Notwendigkeit, „die menschliche Bildung wesentlich fördern“ (ebd., S. 323) zu müssen, die Stifter zum einen emphatisch beschwört („Mein Gott, ich gäbe gerne mein Blut her, wenn ich die Menschheit mit einem Ruke auf die Stufe sittlicher Schönheit heben könnte, auf der ich sie wünschte“; ebd.), zum anderen aber ganz pragmatisch mit seinen Absichten verbindet, im Erziehungswesen tätig zu werden: „[…] es wird sich gewiß für mich eine Stellung ergeben, die eben eine zwekmäßige ist“ (ebd., S. 324).

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von Bildungswissen. Sie beschreibt einen Zustand sittlicher Freiheit oder, wie Stifter im selben Schreiben formuliert, „sittlicher Schönheit“ (siehe Anm. 17 in diesem Kapitel).18 Wenn der Topos von der Macht der Bildung aber erst im Zusammenhang mit Stifters Revolutionserfahrung entstanden ist und sich im Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen erstmals ausprägt, als in Kazensilber eine Erzieherfigur auf einen Bildungsgang geschickt wird, stellt sich unweigerlich die Frage nach seinem Gegenstück. Schließlich berichten sowohl die Narrenburg als auch Turmalin von einer deutlichen Transformation der ‚wilden‘ Mädchen, also der Zöglingsgestalten, die in den Erzählungen auftreten. Der entscheidende Begriff, mit dem sich diese Transformationen beschreiben lassen, ist bei der Interpretation der Texte schon mehrfach zur Anwendung gekommen. Es geht um die Vorstellung von einer Erziehung zur Nützlichkeit, die sich als werkgenetisches Gegenstück zum Topos von der Macht der Bildung beschreiben lässt: Tab. 8: Erziehung zur Nützlichkeit (Topos)

Deskriptor

Deskription

Erziehung zur Nützlichkeit

Eine vorbildliche Erziehergestalt übt eine positive Wirkung auf eine Zöglingsgestalt aus, die sich daraufhin in ein nützliches Mitglied der menschlichen Gemeinschaft verwandelt.

Die Topoi von der Erziehung zur Nützlichkeit und der Macht der Bildung lassen sich beide in mehreren Texten Stifters nachweisen.19 Deswegen kann an dieser Stelle die Vermutung angestellt werden, dass es sich in beiden Fällen um werkkonstitutive Topoi handelt – eine Vermutung, die sich durch die Analyse weite-

|| 18 Vgl. Buggert: Figur und Erzähler, S. 21 f. Buggert beschreibt Stifters nachrevolutionäre Einschätzung der Lage wie folgt: „Nur auf dem Wege der Bildung scheint es ihm nunmehr möglich, den im revolutionären Geschehen sich ausdrückenden legitimen Freiheitswillen menschenwürdig zu realisieren“ (ebd.). 19 Eva Blome bildet die oben zitierte Briefstelle auf beide Begriffe – Erziehung und Bildung – ab und liest sie als den Ausdruck einer „große[n] sozialpolitische[n] Hoffnung, die mit Bildung im Sinne von staatlich gelenkter Erziehung und mit dem Staat als für die ‚Erziehung und Menschwerdung‘ zuständiger Institution verbunden ist“ (dies.: Bildung als Rettung und Gabe?, S. 214). In Stifters Erzähltexten lasse sich eine „Dissonanz zwischen staatlichen Bildungseinrichtungen und informellen individualisierten Erziehungsprozessen […] nachvollziehen“ (ebd.).

202 | Positionsbestimmung 1

rer Texte überprüfen lassen wird. Vorerst lässt sich der topische Bauplan von Adalbert Stifters erzählter Welt aber wie folgt darstellen:

Kazensilber

Turmalin

Narrenburg

Waldbrunnen

Die Macht der Bildung

Erziehung zur Nützlichkeit 1848 Die Macht der Schrift

Die Macht der Kunst

Die Macht der Wunder

Die Macht der Schönheit

Der Mittelpunkt der kultivierten Natur

Abb. 12: Erste Fassung eines topischen Bauplans von Adalbert Stifters erzählter Welt

Die Abbildung verdeutlicht, dass alle vier Texte, in denen Stifter von ‚wilden‘ Mädchen erzählt, auf dem werkkonstitutiven Topos vom Mittelpunkt der kultivierten Natur basieren, der die literarischen Figuren in der Topografie der Texte positioniert und diesen Vorgang mit ihren jeweiligen Bildungsgängen verknüpft. Darüber hinaus prägt sich in jeder der vier Erzählungen ein textkonstitutiver Topos aus, der sich ebenfalls an die jeweiligen Figuren anlagert. Aus der Zusammenschau der vier Texte lassen sich außerdem, wie oben dargestellt, vor dem Hintergrund von Stifters Revolutionserfahrung im Jahr 1848 zwei weitere Topoi bestimmen: Das Konzept einer Erziehung zur Nützlichkeit, das in der Narrenburg und in Turmalin präsent ist, wird in den anderen Texten des Werkkomplexes, Kazensilber und Der Waldbrunnen, durch die Vorstellung von der Macht der Bildung ergänzt, die einen Platztausch von Zöglingen und Erziehern nach sich zieht. In den folgenden Kapiteln wird es darum gehen, den topischen Bauplan, der sich aus der Analyse der vier Texte des Werkkomplexes der ‚wilden‘ Mädchen ergeben hat, als Interpretament auf weitere Texte Stifters anzuwenden und ihn weiter zu ergänzen.

5 Das ‚Lieblingskind‘ des Autors: Die Mappe meines Urgroßvaters 5.1 Einführung und Forschungsüberblick Im Unterschied zu dem von mir konstruierten Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen, dessen Texte der Autor nicht unbedingt als Einheit betrachtet haben muss, stehen die vier Fassungen der Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters, die zwischen 1839 und 1868 entstanden sind, in einem unmittelbaren werkgenetischen Zusammenhang.1 Während der Autor mit einmal abgeschlossenen und veröffentlichten Texten generell sehr kritisch umging und zur Unzufriedenheit mit seiner eigenen Arbeit neigte – seine Briefe an Gustav Heckenast zeigen dies immer wieder – ging er mit der Mappe2 besonders streng ins Gericht. Schon bald nach der Veröffentlichung der Buchfassung im Februar 1847 (als dritter Band der Studien) war Stifter der Ansicht, sein Plan, in den dargestellten Charakteren „die Einfachheit, Größe und Güte der menschlichen Seele“3 wie in einem Spiegel erscheinen zu lassen, sei nicht aufgegangen. Nach eigener Aussage hat ihn der Text schon während der Korrektur oft „schreklich gelangweilt“4.

|| 1 Ich verwende die folgenden Ausgaben der vier Fassungen des Textes: Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters. In: Ders.: Studien. Journalfassungen. Zweiter Band. Hrsg. von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. Stuttgart u. a. 1979 [HKG 1,2], S. 9–102; Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters. In: Ders.: Studien. Buchfassungen. Zweiter Band. Hrsg. von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. Stuttgart u. a. 1982 [HKG 1,5], S. 9–234; Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters. 3. Fassung. Lesetext. Hrsg. von Herwig Gottwald und Adolf Haslinger. Stuttgart u. a. 1998 [HKG 6,1]; Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters. 4. Fassung. Lesetext. Hrsg. von Herwig Gottwald und Adolf Haslinger. Stuttgart 2004 [HKG 6,2]. Zitate aus diesen Texten weise ich im Folgenden mit den Siglen M1 (Journalfassung), M2 (Buchfassung), M3 (dritte Fassung) und M4 (vierte Fassung) im Text nach. 2 Wenn im Folgenden das Wort ‚Mappe‘ wie oben kursiv gesetzt ist, bezieht es sich auf die Erzählung. Ohne Kursivierung dagegen ist damit das Buch gemeint, das der Protagonist Augustinus in der Binnenerzählung für seine Aufzeichnungen verwendet. Zum Verhältnis von Erzählung und Erzähltem, die über den Begriff der ‚Mappe‘ eine Verbindung eingehen, vgl. Cornelia Blasberg: „Wer bin ich bisher gewesen?“ Identität als Problem in Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters. In: Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifizieller Realismus. Hrsg. von Sabina Becker und Katharina Grätz. Heidelberg 2007, S. 101–124, hier S. 104 ff. 3 An Heckenast, 16. Februar 1847 (PRA 17, S. 208). 4 Ebd.; Hervorhebung im Original fett. https://doi.org/10.1515/9783110750782-005

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Obwohl er seinem Verleger schon zwei Wochen später eilig versicherte, dass es sich bei der Mappe nach wie vor um sein „Lieblingskind“5 handele – diese Sonderstellung sei, so Stifter, der Grund für seine Unzufriedenheit mit dem Text –, gibt es tatsächlich Gründe dafür, die zweite Fassung des Textes als das Resultat einer schlechten Planung auf Seiten des Autors zu betrachten. Stifter arbeitete bis zur Drucklegung „ohne genaue Konzeption“6 und für das endgültige Erscheinungsbild des Textes „sorgten schließlich äußere Umstände, Terminzwang und verfügbarer Umfang“7. All dies war Grund genug für den Autor, nicht nur seine Unzufriedenheit mit der Buchfassung zu äußern, sondern schon bald Pläne für eine Überarbeitung des Textes zu schmieden. Dabei sollte etwa die Hauptfigur Augustinus in neuem Licht erscheinen. Stifter wollte ihn als „einen wirklichen plastischen, nach allen Seiten thätigen, gütigen und starken Mann“8 gestalten und den Umfang der Mappe auf zwei Bände ausweiten, denn, so der Autor, das „Karakterbild des Doctors [...] ist nicht anders zu gewältigen [sic]“9. Mit ihren insgesamt vier Fassungen nimmt die Mappe eine herausgehobene Stellung im Gesamtwerk Stifters ein, was die Forschung mit einer entsprechenden Anzahl von Beiträgen gewürdigt hat. So konnte Herbert Seidler schon Anfang der 1970er Jahre einen recht detaillierten Forschungsbericht zum Thema vorlegen.10 Aber nicht nur die ältere, sondern auch die jüngere Forschung der vergangenen Jahrzehnte hat sich immer wieder mit der Mappe auseinandergesetzt. Ein Schwerpunkt lag dabei auf dem „Vergleich der vier Fassungen und damit der Möglichkeit, an ihnen Stifters schriftstellerische, künstlerische Entwicklung erarbeiten zu können.“11 Es steht zu vermuten, dass der Strom der parallel zur vorliegenden Untersuchung entstehenden Forschungsbeiträge || 5 An Heckenast, 1. März 1847 (PRA 17, S. 212). Der Wortlaut dieses Briefes lässt vermuten, dass Heckenast den Begriff des ‚Lieblingskinds‘ in seiner Antwort auf Stifters oben zitierten Brief vom 16. Februar 1847 ins Spiel gebracht hat. Stifter schreibt: „Ich habe Ihr liebes Schreiben erhalten, und beeile mich, Ihnen darauf zu antworten, um Sie über alle Punkte zu beruhigen. [...] Daß ich die Mappe, mein Lieblingskind, wie Sie sagen, so strenge beurtheile, kömmt eben daher, w e i l sie mein Lieblingskind ist, und ich an demselben nur das Klarste, Edelste, Schönste sehen möchte“ (ebd.; Kursivierung von mir; Sperrung im Original). 6 Ulrich Dittmann: Studien. Kommentar (HKG 1,9), S. 232. 7 Ebd. 8 An Heckenast, vor dem 28. Dezember 1846 (PRA 17, S. 196). 9 Ebd. 10 Vgl. Herbert Seidler: Adalbert-Stifter-Forschung. 1945–1970 (Zweiter Teil). In: ZfdPh 91 (1972), Heft 2, S. 252–285, hier S. 282–284. 11 Herwig Gottwald und Silvia Bengesser: Die Mappe meines Urgroßvaters [Art.]. In: SHB, S. 63–71, hier S. 67.

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nicht abreißen wird. Der im Jahr 2016 erschienene, umfangreiche Kommentar12 zur dritten und vierten Fassung des Textes bildet hier eine wichtige Grundlage. Einige Grundlinien der Forschung zur Mappe sollen im Folgenden dargestellt werden. Im Nachwort zu der von ihm herausgegebenen vierten Fassung der Mappe schreibt Konrad Steffen dem Text eine Eigenschaft zu, die er aus einem anderen Werk Stifters ableitet: „Die Schönheit – so weiß Risach im Nachsommer – hat keine Merkmale.“13 Diese Merkmallosigkeit der Schönheit sei, so Steffen, nicht nur intrafiktional (am Beispiel des fürstlichen Gartens) nachweisbar, sondern habe auch in der Erzähltechnik selbst Gestalt angenommen, denn in einer Durchdringung von „Stil und Stoff“ (S. 339) verzichte Stifter hier auf die „Kunstmittel, mit denen Dichter zu prunken pflegen“ (ebd.). Steffen beschreibt, wie der Text Augustinus’ Transformation unter Verzicht auf psychologische Überlegungen darstellt, indem er „das Seelische an Gegenständen sichtbar“ (S. 347) mache. Er arbeitet einen gemeinsamen Zug der drei Frauenfiguren Christine, Anna und Margarita heraus, die alle „schön [sind] wegen des Verzichts, den sie zu üben vermögen“ (S. 344), und stellt eine Verbindung zu den Überlegungen her, die Augustinus im Schlusskapitel des ersten Bandes anstellt. Im Hinblick auf die Figur Margarita beschreibt Steffen – allerdings auf der Grundlage von Annahmen über eine mögliche Fortschreibung des Fragments – ebenfalls einen Transformationsprozess, der es Margarita ermögliche, „an die Besserungsfähigkeit des Menschen zu glauben“ (S. 348). Horst Hömke konzentriert sich in seiner Interpretation der vierten Fassung der Mappe auf die Darstellung des fürstlichen Landschaftsgartens.14 Er stellt diesen Aspekt in den Kontext einer „neue[n] Auffassung vom Schöpferischen in Natur und Kunst“ (S. 536), die sich, ausgehend von England, zwischen 1750 und 1850 in Europa entwickelt habe. Neben Beobachtungen zu den Unterschieden zwischen der dritten und der vierten Fassung der Mappe stellte Hömke Überlegungen zur erzählerischen Umsetzung der editorischen Fiktion des Textes und zu dessen Fragmentcharakter an. Er arbeitet mehrere Erzählfunktionen der

|| 12 Bengesser/Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4) (siehe Kap. 3, Anm. 187). Der HKG-Kommentar zu den Studien von Ulrich Dittmann (siehe Kap. 1, Anm. 65), der die Journal- und die Buchfassung der Mappe einschließt, liegt bereits seit 1997 vor. 13 Konrad Steffen: Nachwort des Herausgebers. In: Adalbert Stifter. Die Mappe meines Urgroßvaters. Letzte Fassung. In: Ders.: Gesammelte Werke in vierzehn Bänden. Hrsg. von Konrad Steffen. Zwölfter Band. Basel und Stuttgart 1967, S. 337–348, hier S. 338. 14 Horst Hömke: Der Landschaftsgarten in der letzten Fassung von Adalbert Stifters „Die Mappe meines Urgroßvaters“. Ein pädagogisches Vermächtnis. In: Die Pädagogische Provinz 21 (1967), S. 536–557.

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Gartendarstellung in der vierten Fassung heraus und analysiert die Wanderung Augustinus’ durch den Landschaftsgarten im Detail. In einem Beitrag, der sich ebenfalls mit der vierten Fassung der Mappe auseinandersetzt, untersucht Joachim Müller die ersten drei Kapitel des Textes sowie einen Abschnitt von wenigen Seiten im vierten Kapitel.15 Er beschreibt verschiedene Aspekte der Rahmenerzählung, etwa den Fokus auf Elternhaus und Familie oder das Verhältnis von Mythos und Wissenschaft. In der Episode von den zwei Bettlern erkennt Müller, bezogen auf Augustinus’ Bemerkungen zu seiner Tätigkeit als Hauslehrer, eine kritische „Berufs- und Sozialanalyse“ (S. 265) und eine Entwicklung zur Bürgerlichkeit. Der bürgerliche Blick auf die Gesellschaft in Thal ob Pirling ermögliche Augustinus dann eine Entwicklung zum „tatkräftigen Pionier“ (S. 269), der zu einer nachhaltigen Verbesserung der Verhältnisse in der Siedlung beitragen könne. Die zentrale These von Michael Böhlers umfangreichem Beitrag zur Rolle der Individualität in Stifters Spätwerk lautet, dass der Dichter in Werken wie der letzten Fassung der Mappe oder dem Roman Witiko alles daran gesetzt habe, Individualität und Subjektivität zu eliminieren.16 Böhler analysiert zunächst die Darstellung des fürstlichen Gartens in der vierten Fassung der Mappe und führt in diesem Zusammenhang aus, dass die Rolle des Künstlers, der das „Prinzip[] der autonomen Persönlichkeit und der Individualität“ (S. 656) in besonderer Weise verkörpere, in Stifters Spätwerk eine Veränderung erfahren habe. Als Beleg führt Böhler die Darstellung von Eustachius an, der in der Episode von den zwei Bettlern „immerhin noch als lebendige Gestalt gezeichnet“ (S. 659) werde. In seiner Rolle als Künstler, der den fürstlichen Garten entwirft, „verschwindet er [dagegen] total“ (ebd.). Im zweiten Teil seines Beitrags kann Böhler im Detail nachweisen, wie sich die Tilgung der Individualität auch auf sprachlicher und stilistischer Ebene manifestiert. Dies gelingt ihm unter anderem durch einen Vergleich der beiden späten Fassungen der Mappe. Auch anhand der „Weltwagenallegorie“ (S. 667), welche, so Böhler, „Interpreten, die aus dem späten Stifter einen Klassiker des Humanismus machen wollen, außerordentliche Mühe [bereitet]“ (ebd.), kann der Autor seine zentrale These erhärten. Nach Überlegungen zur Reduktion von Individualität und Subjektivität in der Darstellung von menschlichen Beziehungen verortet Böhler Stifters Spät-

|| 15 Joachim Müller: Einige Gestaltzüge in Stifters „Letzter Mappe“. In: Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen. Gedenkschrift zum 100. Todestage. Hrsg. von Lothar Stiehm. Heidelberg 1968, S. 245–270. 16 Michael Böhler: Die Individualität in Stifters Spätwerk. Ein ästhetisches Problem. In: DVjs 43 (1969), S. 652–684.

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werk in seinem historischen Kontext und wendet sich gegen die Auffassung, der Autor habe zentrale Denkweisen der Goethezeit auch in seinen späten Texten fortgeführt. Stattdessen habe Stifter, unter anderem durch die Entwicklung eines neuen Schönheitsbegriffs, „die Grenzen der klassischen deutschen Ästhetik [ge]sprengt“ (S. 680). Ausgehend von einer detaillierten Analyse von Stifters Text Die Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842 macht Friedrich Wilhelm Korff es sich zur Aufgabe, die „Beziehung zwischen zwei Dichtern“17 – hier Adalbert Stifter und Jean Paul – und deren „inneren Zusammenhalt“ (S. 5) darzustellen. Um die unterschiedlichen „Erlebnisformen“ (S. 7) zu beschreiben, die sich in Stifters Werk finden, wendet Korff die Dichotomie von „Diastole und Systole“ (ebd.; Hervorhebungen im Original) als „Chiffre“ (ebd.) an. Im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung ist Korffs Auseinandersetzung mit der Mappe meines Urgroßvaters von besonderem Interesse. Die Journalfassung dieses Textes deutet er als Rezeption von Jean Pauls Roman Flegeljahre, in dem er eine Figurenkonstellation ausmacht, die als Vorbild für das Verhältnis von Augustinus und Eustach gedient habe. Vor diesem Hintergrund entwickelt er das Konstrukt eines „DoppelIch[s]“ (S. 9), das er auch auf die späteren Fassungen der Mappe abbildet. Während die eine Seite dieses Konstrukts, das „ethische Ich“ (S. 276), die Buchfassung der Mappe dominiere, sei die „Versöhnung“ (S. 279) zwischen beiden Seiten das „Hauptthema“ (ebd.) der letzten Fassung. Korff geht in seiner Interpretation dieser Fassung unter anderem auf die Episode von den vier Bettlern, Augustinus’ Selbstbefragung am Ende des ersten Bandes, den Landschaftsgarten des Fürsten und die Heilung der Figur Isabella ein. Abschließend stellt er vergleichend dar, wie die vierte Fassung der Mappe und der Nachsommer den Konflikt zwischen Familienleben und Künstlertum literarisch gestalten. Friedbert Aspetsberger beschäftigt sich mit dem fiktiven biografischen Schreiben als Prinzip, auf dessen Grundlage sowohl individuelles als auch gesellschaftliches Dasein in Stifters Werk immer wieder gestaltet werde.18 Sowohl in der Journal- als auch in der Buchfassung der Mappe basiere dieses Prinzip

|| 17 Friedrich Wilhelm Korff: Diastole und Systole. Zum Thema Jean Paul und Adalbert Stifter. Bern 1969, S. 5. Korff bezeichnet die späte Fassung der Mappe, die er zum Gegenstand seiner Untersuchung macht, mehrfach als „Drittfassung“ (S. 280, 281, 304). Sowohl aus dem Werkverzeichnis seiner Studie, das die Sigle ‚LM‘ als „Die Mappe meines Urgroßvaters, Letzte Fassung“ (S. 342) aufschlüsselt und auf PRA Bd. 12 verweist, als auch aus der Aussage, dass Stifter „in seinem Todesjahr an der Drittfassung arbeitete“ (S. 280), ergibt sich, dass Korff mit der vierten Fassung des Textes arbeitet. 18 Friedbert Aspetsberger: Die Aufschreibung des Lebens. Zu Stifters „Mappe“. In: VASILO 27 (1978), Folge 1/2, S. 11–38.

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auf einem Vertrag, den, so Aspetsberger, das Individuum mit sich selbst schließe und damit unabhängig von metaphysischen oder sozialen Instanzen auf empirischer Grundlage eine Selbstkorrektur vornehme. Aspetsberger arbeitet die Unterschiede zwischen den ersten beiden Fassungen der Mappe sehr genau heraus und zeigt im Detail, wie sich die Anwendung dieses Prinzips zum einem auf den Obristen und zum anderen auf Augustinus auswirkt. Die zweite Hälfte seines Beitrags widmet Aspetsberger der vierten Fassung der Mappe. Er beschreibt den hier dargestellten Bildungsgang von Augustinus als gesellschaftlichen Aufstieg, der gleichzeitig zu einer Verringerung seiner „Defizienz“ (S. 22) gegenüber Margaritas adligem Cousin Rudolf und zu einer Abnahme von Aggressionsbereitschaft führe. Aspetsberger deutet den Bettler Tobias als allegorische Figur, die das Ergebnis der Transformation, der Augustinus sich zu unterziehen hat, als „natürliche[n] Zustand“ (S. 25) darstellt und wertet die gegenüber der Buchfassung veränderte Position im Text, die Augustinus’ Reflexionen über den Lauf der Geschichte einnehmen, als Horizonterweiterung, die den Text über die unmittelbaren Zusammenhänge einer individualbiografischen Korrektur erhebe. Aspetsberger sieht in der Gestaltung des Gartens des Fürsten von Tannberg ähnliche Mechanismen am Werk, die auch dem biografischen Aufschreibeprinzip des Textes zugrunde liegen und weist darauf hin, dass Augustinus der an Schwermut erkrankten Tochter des Fürsten nicht die Verschriftlichung des eigenen Lebens als Heilmittel anrate, sondern ihre Genesung durch eine Gesprächstherapie herbeiführe. Im Nachwort zu der von ihm herausgegebenen Ausgabe der Buchfassung der Mappe geht Karl Pörnbacher auf alle vier Fassungen des Textes ein.19 Neben der Entstehungsgeschichte und einer abschließenden Zusammenfassung der Handlung beschreibt Pörnbacher Ermöglichungszusammenhänge des Textes und hebt dabei sehr stark auf autobiografische Bezüge ab. Diese könnten, wie Pörnbacher einleitend ausführt, den Gehalt der Erzählung aber nicht erklären, sondern lediglich den Zugang zum Text erleichtern. Pörnbacher geht davon aus, dass die Mappe im Hinblick auf ihre Hauptfiguren von Bildungsprozessen berichtet und gibt Hinweise auf mögliche topische Strukturen im Text. Das Prinzip des biografisch-therapeutischen Schreibens lässt sich sowohl in der Mappe als auch in der Narrenburg nachweisen. Christian Begemann vergleicht die beiden Texte von diesem Hintergrund und kommt zu dem Schluss, dass sie den Erfolg dieses Prinzips „in diametral entgegengesetzter Weise [beur-

|| 19 Karl Pörnbacher: Nachwort. In: Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters. Hrsg. von Karl Pörnbacher. Stuttgart 1983, S. 287–323.

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teilen]“20. Dieser Unterschied werde durch „unterschiedliche Lektüreweisen“ (S. 252) verursacht, die aber nicht auf die Individualität der Figuren, also Jodok (Narrenburg) und den Obristen (Mappe) zurückzuführen seien, sondern „in den Aufschreibesystemen selber gründen“ (ebd.). Deren Unterschiedlichkeit wiederum nähert Begemann sich anhand einer zentralen These, die seiner Untersuchung zugrunde liegt: „Die Struktur des Zeichens [...] ist von eminenter Bedeutung für die Problemstellungen Stifters und die textuellen Konstellationen, die sich aus ihnen ergeben“ (S. 4; Hervorhebung im Original). Vor diesem Hintergrund ließen sich, so Begemann, die Aufzeichnungssysteme in der Narrenburg und der Mappe auf eine „‚gute‘ und eine ‚böse‘ Schrift“ (S. 252) zurückführen. Die „entschiedene Ausrichtung des Obristen auf das Signifikat“ (S. 253) ermögliche es ihm, zu einer abstrakteren Bedeutungsebene vorzustoßen, die den Grafen von Scharnast verwehrt bleibe. Begemann gelingt eine sehr genaue und vielschichte Analyse des „Mappenprinzips“ (S. 245)21 anhand der Figur des Obristen. Er stellt dar, wie diese Figur in einem iterativen Prozess Subjektivität einbüßt und die Wirklichkeit immer mehr zu ihrem Recht kommen lässt. Während Begemann sich in diesem Kapitel seiner Untersuchung auf die Buchfassung der Mappe konzentriert, kommt er später auch auf die vierte Fassung zu sprechen, wobei er sich auf eine Analyse der Darstellung des Landschaftsgartens im letzten Kapitel des Fragments beschränkt.22 Er erteilt Versuchen, diesen Garten auf reale Vorbilder zurückzuführen, eine entschiedene Absage. Der Landschaftsgarten erscheine als Kunstwerk, aus dem alle subjektiven Spuren des Künstlers (sprich: Landschaftsmalers) getilgt seien. Auch Mathias Mayer untersucht den fiktiv-biografischen Ansatz der Mappe und sieht ihn ausschließlich in der Buchfassung konsequent umsetzt.23 Er wendet sich gegen eine Forschungsposition, die diese Fassung lediglich als Teil eines werkgenetischen Prozesses betrachte und zur Zwischenstufe zwischen der Journalfassung und den späten Fassungen degradiere. Mayer führt den Text in diesem Zusammenhang auf wichtige Prätexte – die Confessiones von Augustinus und Ciceros De Oratore – zurück. Darüber hinaus stellt er die These auf, dass die komplexe, iterative Erzählstruktur der 2. Fassung, die in den späteren || 20 Begemann: Die Welt der Zeichen (siehe Kap. 1, Anm. 39), S. 242 (zur Mappe vgl. ebd., S. 242–259). 21 Den treffenden Begriff des ‚Mappenprinzips‘ verwendet auch schon Friedbert Aspetsberger, um das autobiografische Lernsystem zu bezeichnen, das der Obrist an Augustinus weitergibt (vgl. ders.: Die Aufschreibung des Lebens, S. 21 u. passim). Ich werde diesen Begriff in den folgenden Abschnitten ebenfalls verwenden. 22 Vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 350–358. 23 Mathias Mayer: Gedächtnis-Kunst (siehe Kap. 1, Anm. 66), S. 8–23.

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Fassungen zugunsten einer chronologischen Erzählweise aufgelöst wird, nicht in erster Linie dazu diene, Spannung aufzubauen. So wie die Figuren der Erzählung sich auf unterschiedlichen Ebenen durch den Rückblick auf das eigene Leben ihrer Anfänge vergewissern, kehre der Text selbst auch zu seinem eigenen Ursprung – der Trennung von Augustinus und Margarita und dem Rat des Obristen, durch Aufschreibung des eigenen Lebens Heilung zu suchen – zurück. In seinem Stifter-Handbuch kommt Mayer auf die Thesen seines früheren Beitrags zur Buchfassung der Mappe zurück.24 Er arbeitet die Unterschiede zwischen den Fassungen hier aber genauer heraus und belegt sie mit unterschiedlichen Bezeichnungen. Die Journalfassung sei eine „Narrengeschichte“ (S. 113 f.) und die Buchfassung eine „Autobiographie“ (S. 114), während es sich sowohl bei der dritten als auch bei der vierten Fassung um einen „Bildungsroman“ (ebd.) handele. Weitere Aspekte, mit denen Mayer sich auseinandersetzt, sind Hinweise auf die mögliche Projektion von Wünschen und Erfahrungen des Autors im Bereich der Elternschaft sowie das Verhältnis von Natur und Kultur in den späten Fassungen der Mappe. Thomas Wirtz liest die Mappe als den „Versuch, Autobiographie als Auslöschung von Individualität in der Schrift zu inszenieren“25. Er stützt seine Interpretation auf die Buchfassung und die vierte Fassung und stellt im Überarbeitungsprozess des Textes eine „zunehmende ästhetische Konzentration“ (S. 521) fest. Die Definition von Biografien finde hier stets „über Produktion oder Lektüre von Texten“ (S. 530) statt. In der Buchfassung lasse sich noch das Konzept einer „Verschuldung vor Gott“ (S. 532) ausmachen, der im autobiografischen Schreiben durch eine „Selbstanklage“ (ebd.) begegnet werde. Die vierte Fassung simuliere diesen Vorgang nur noch und unterlaufe ihn dadurch. Die „epidemische Vernichtung von Augustinus’ Angehörigen“ (S. 534), in der vierten Fassung zum „Schicksalsschlag“ (ebd.) ausgebaut, weise der Mappe, so Wirtz, im Vergleich mit Texten wie der Narrenburg oder den Nachkommenschaften eine Sonderstellung zu. Während die Protagonisten dort noch an ihre genetische Familie gebunden seien, werde Augustinus aus dieser Bindung gelöst. Bevor Augustinus Anschluss an die Familie des Obristen finden könne, müsse er sich jedoch einer „Reinigung durch die Schrift“ (S. 535) unterziehen. Das spezifische Verhalten von Frau und Mann zueinander, das sich in der zweiten Fassung der Mappe ausmachen lässt, begreift Wolfgang Lukas als das

|| 24 Mayer: Adalbert Stifter (siehe Kap. 3, Anm. 131), S. 92–114. 25 Thomas Wirtz: Schrift und Familie in Adalbert Stifters „Mappe meines Urgrossvaters“. In: ZfdPh 115 (1996), S. 521–540, hier S. 521.

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Ergebnis einer radikalen Abwendung von Sexualität und Erotik, die im Frühwerk Stifters die Qualität einer Neuerung habe, während sie in späteren Texten – etwa dem Nachsommer – bereits als etabliert gelten könne.26 Lukas interpretiert diesen Sachverhalt als Vorgriff auf einen Zustand des allzu großen Respekts von Männern gegenüber Frauen, den die Psychoanalyse um das Jahr 1900 herum als pathologisch beschreiben werde. Sowohl die Verlobung von Augustinus und Margarita als auch deren Eintritt in das Erwachsenenalter seien, so Lukas, erst möglich, nachdem der Protagonist eine Transformation zur Sanftmut durchlaufen habe. Diese könne nur gelingen, weil Augustinus zum einen in der Tätigkeit als Arzt, zum anderen durch die schriftliche Aufzeichnung des eigenen Lebens Ersatz für eine nicht mehr mögliche Erotik finde. Herwig Gottwald ordnet die Entstehungsgeschichte der späten Fassungen der Mappe in einen Kontext editionstheoretischer Erwägungen ein, in dem es um die Gültigkeit von Autorisationen durch den Autor und die Wertigkeit von Textfassungen geht.27 Vor diesem Hintergrund sei zwischen den ersten beiden Fassungen, die durch ihre Publikation einen bestimmten Autorisationsstatus erreicht hätten, und den beiden späten Fassungen zu unterscheiden, die beide Fragmentcharakter aufweisen. Gottwald arbeitet im Vergleich der späten Fassungen der Mappe zwei Unterschiede deutlich heraus. Zum einen habe Stifter in der vierten Fassung deutliche Kürzungen und Straffungen vorgenommen, was zu einer „bessere[n] Lesbarkeit“ (S. 22) geführt habe und bestimmte Passagen als „kompositorisch schlüssiger“ (S. 24) erscheinen lasse. Zum anderen falle auf, dass die dritte Fassung Gefühle und Affekte noch verbalisiere, während die vierte Fassung diese „nur mehr indirekt erkennbar“ (S. 27) werden lasse, etwa durch Gesten oder Bewegungen. Abschließend geht Gottwald auf neue oder veränderte Handlungsstränge in der vierten Fassung ein und beschreibt in diesem Zusammenhang auch die Unterschiede in der Darstellung des Gartens des Fürsten von Tannberg, die sich im Vergleich der beiden späten Fassungen beobachten lassen. In einem späteren Beitrag, der im Kontext eines interdisziplinären Kolloquiums zum Thema ‚Waldbilder‘ entstand, untersucht Gottwald die Darstellung und Erzählfunktion des Waldes in der Mappe.28 Während seine Ausführungen

|| 26 Wolfgang Lukas: Geschlechterrolle und Erzählerrolle. Der Entwurf einer neuen Anthropologie in Adalbert Stifters Erzählung ‚Die Mappe meines Urgroßvaters‘. In: Laufhütte/Möseneder (Hrsg.): Adalbert Stifter, S. 374–394. 27 Herwig Gottwald: Beobachtungen zu Stifters Weg von der dritten zur vierten Fassung der Mappe meines Urgroßvaters. In: JASILO 4 (1997), S. 16–35. 28 Gottwald: Natur und Kultur (siehe Kap. 1, Anm. 64), S. 90–106.

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zur realistischen Darstellung der ökonomischen Nutzung des Waldes für die vorliegende Untersuchung von untergeordnetem Interesse sind, enthält dieser Beitrag wichtige Überlegungen zum Gegensatz von Stadt und Land und zur Dichotomie von Natur und Kultur, die über eine Analyse der Mappe hinausgehen. In einem dritten Beitrag geht es Gottwald um die literarische Darstellung von Landschaftsgärten in Stifters Erzählwerk.29 Er erkennt in der Literatur des 19. Jahrhunderts eine Fortführung der philosophischen, ästhetischen, politischen und sozialen Diskurse über die Gestaltung von Gartenanlagen, die im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht hätten, und stellt sowohl den Nachsommer als auch die beiden späten Fassungen der Mappe meines Urgroßvaters in diese Tradition. Gottwald beschreibt vielfältige Zusammenhänge, die zu Stifters literarischer Darstellung von Gärten beigetragen haben und arbeitet sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen Nachsommer und Mappe heraus, wobei er auch auf architektonische und topografische Details eingeht. Abschließend untersucht er die „Erzählfunktionen“ (S. 143) der Gartenanlagen, deren Darstellung in beiden Texten, wenn auch in unterschiedlichem Maße, mit dem „Bildungsweg[]“ (ebd.) der Figuren verknüpft sei. Besonders für die späten Fassungen der Mappe könne, so Ulrike Landfester, eine enge Kopplung von Autorschaft und Stiftungswesen nachgewiesen werden.30 Allerdings habe Stifter nur in der Journalfassung einen offensichtlichen Hinweis auf diesen Themenkomplex gegeben, indem er Augustinus den Nachnamen ‚Fundator’ tragen lasse. Für Landfester basiert die Mappe auf einer Vorstellung von Autorschaft, die durch die Darstellung des Schönen zur sittlichen Selbstbildung des Lesers beiträgt. Landfester beschreibt Eustach als Gegenfigur zu Augustinus und dem Obristen und geht in diesem Zusammenhang auch auf die unterschiedlichen Modelle des Schreibens ein, die im Text verhandelt werden. Die ausführliche Selbstbefragung von Augustinus, die sich am Ende des ersten Bandes der vierten Fassung der Mappe befindet, nimmt Cornelia Blasberg als Ausgangspunkt, um das Problem der Identitätsbildung zu untersuchen.31 Sie ordnet die Fassungen der Mappe in ähnliche Kategorien wie Mathias Mayer ein, wenn sie die zweite Fassung als klassische Novelle mit Rahmentechnik sowohl von der offenen Form der Journalfassung als auch von der vierten

|| 29 Herwig Gottwald: Beobachtungen zum Motiv des Landschaftsgartens bei Stifter. In: Hettche u. a. (Hrsg.): Stifter-Studien (siehe Kap. 1, Anm. 68), S. 125–145. 30 Ulrike Landfester: Der Autor als Stifter (siehe Kap. 3, Anm. 102). 31 Blasberg: „Wer bin ich bisher gewesen?“ (siehe Anm. 2 in diesem Kapitel).

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Fassung unterscheidet, in der Stifter den Erzähler ins Glied der handelnden Figuren zurücktreten und zugunsten einer romanhaften Schilderung weniger prominent erscheinen lasse. Der Aspekt der „sittliche[n] Erziehung“ (S. 113) des Lesers sei in der Buchfassung stärker ausgeprägt. Auch Augustinus erscheine hier eindeutig als erziehbares Subjekt. Sabine Schmidt beginnt ihren Beitrag zur Mappe mit einer detaillierten Auseinandersetzung mit dem Begriff des Rituals und zeigt unterschiedliche Funktionen aus der Ritualforschung auf, die für eine Analyse der Mappe nutzbar gemacht werden können.32 Sie wertet den „Vertrauensbruch“ zwischen Augustinus und Margarita als Variation eines „Plotmuster[s]“ (S. 133) aus Stifters Erzählung Feldblumen und untersucht die Figur des Rahmenerzählers und dessen Initiation in die Welt seiner Kindheit. Die Tatsache, dass die Anwohner der Waldsiedlung in den späten Fassungen der Mappe im Unterschied zu Journal- und Buchfassung erst dann mit einer Verbesserung des Wegenetzes beginnen, als der Obrist ihnen mit gutem Beispiel vorangeht, deutet Schneider als „Wandel, der zweifelsohne im Rahmen von Stifters Reaktion auf die Ausschreitungen während der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848/49 gedeutet werden muss“ (S. 143). Alle vier Fassungen der Mappe enthalten ein Kapitel, das mit ‚Margarita‘ überschrieben ist. Johannes John betrachtet diese Kapitel aus dem Blickwinkel eines Editionsphilologen.33 Seine vergleichende Analyse konzentriert sich vornehmlich auf die Episode, in der geschildert wird, wie der Obrist die Einlattung seines neuen Hauses mit einem Fest begeht. Außerdem führt John die Beschreibung von Margaritas Umgang mit ihrer Naturaliensammlung in der vierten Fassung der Mappe auf einen Kontext aus dem Buch Genesis zurück – in dem Dinge benannt werden müssen, um existieren zu können – und stellt eine Verbindung zur „poetologischen Programmatik des späten Stifter“ (S. 25) her, nach der „auch das Kleine und Kleinste [...] benannt werden [muß]“ (ebd.). Sabine Schneider erkennt in vielen „Erzähltexten des Realismus“ 34 ein „frappantes narratives Ungleichgewicht“ (S. 157). Texte von Autoren des 19.

|| 32 Sabine Schmidt: „Wir haben ohnehin die Ordnung umgekehrt...“: Ritual, Dynamik, Ordnung und Tradition in Adalbert Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters. In: Becker/Grätz (Hrsg.): Ordnung – Raum – Ritual, S. 125–145. 33 Johannes John: Das „Margarita“-Kapitel in den verschiedenen Fassungen der Mappe meines Urgroßvaters. In: JASILO 14 (2007), S. 19–32. 34 Sabine Schneider: Vergessene Dinge. Plunder und Trödel in der Erzählliteratur des Realismus. In: Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Für Helmut Pfotenhauer. Hrsg. von Sabine Schneider und Barbara Hunfeld. Würzburg 2008, S. 157–174, hier S. 157.

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Jahrhunderts – Schneider nennt Stifter, Storm, Raabe und Fontane – enthielten zu Ungunsten von „Handlung im Sinne von historischer Ereignishaftigkeit“ (S. 157) ausführliche und detailgenaue Schilderungen von ‚Dingen‘, also physischen Artefakten. Über die solchen Inhalten zugrundeliegenden Autorintentionen hinausgehend fragt Schneider, warum sich diesen Texten, speziell in Stifters Fall, eine solche „Ehrfurcht vor den Dingen“ (S. 160) eingeschrieben habe und bezieht die Journal-, Studien- und Romanfassung der Mappe in ihre Untersuchung ein. Sie beschreibt die Entwicklung, die Stifters Vorstellung von einer „Poesie des Plunders“ (S. 163) in diesen Fassungen des Textes genommen hat und analysiert den „metonymischen Zusammenhang“ (S. 167) von Schrift und Raum. Während eine Konzentration auf die Dinge und ihre Zeichenhaftigkeit vor allem in der Rahmenerzählung der Mappe ins Auge fällt, kann Schneider nachweisen, dass sie sich in andere, handlungsreichere Teile des Textes – vor allem den autobiografischen Bericht des Obristen – fortsetzt. Die Liebe zwischen Mann und Frau als ein „immer wiederkehrendes Thema“35 in Stifters literarischem Werk untersucht Barbara Wróblewska unter dem Gesichtspunkt der Enthaltsamkeit. Die „Verschleierung des Erotischen“ (S. 22), die sich in diesem Zusammenhang zeige, begreift Wróblewska als eine „wirklichkeitsbedingte Notwendigkeit“ (S. 22). In der Mappe nehme der „Verzicht auf körperliche Annäherung“' (S. 35) gar den Charakter einer „nahezu obsessive[n] Neigung“ (ebd.) an. Wróblewska demonstriert diesen Sachverhalt anhand zahlreicher, sorgfältig ausgewählter Primärtextzitate und beschreibt den Aspekt der enthaltsamen, entsexualisierten Liebe sowohl für die Beziehung zwischen Augustinus und Margarita als auch für das Verhältnis zwischen dem Obristen und seiner Frau. Sie beschreibt für beide Protagonisten – den Obristen und Augustinus – einen Transformationsvorgang, der die jeweilige Figur in eine vorbildliche Erziehergestalt verwandelt, die sowohl auf die Natur als auch auf ihre Mitmenschen positiven Einfluss nimmt. Gunter H. Hertling begreift die vierte Fassung der Mappe als „weltanschauliches Vermächtnis“36. Er geht auf zentrale Vorstellungsmuster ein, die sich im Text manifestiert haben. Zu nennen sind hier der Gegensatz von Stadt und Land, die wesensverändernde Wirkung des Schreibens und das Verhältnis von

|| 35 Barbara Wróblewska: Die enthaltsame Liebe in Adalbert Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters. In: Colloquia Germanica Stetinensia 19 (2011), S. 21–35, hier S. 22. 36 Gunter H. Hertling: Adalbert Stifters letzte Mappe (1867) als weltanschauliches Vermächtnis: Berufsbildung – Gemeinschaftsbildung – Herzensbildung. In: Ders.: Adalbert Stifters Erzählkunst im Spiegel seines humanistischen Erbes. Berlin 2012, S. 91–136.

Einführung und Forschungsüberblick | 215

Schönheit und Nützlichkeit. Hertling stellt die vierte Fassung der Mappe außerdem in die Tradition des Briefromans des 18. Jahrhunderts. Die medizinischen Wissensbestände, die sich in der vierten Fassung der Mappe niedergeschlagen haben, lassen sich nach Martina King auf die Tradition der romantisch-naturphilosophischen Medizin aus der Zeit um 1800 zurückführen und sind „maßgeblich sowohl für die inhaltliche als auch die discours-Ebene des Textes“37. King rekonstruiert diese Wissensbestände und weist ihnen eine poetologische Funktion zu. Sie stellt die Mappe in unterschiedliche Zusammenhänge und geht hier unter anderem auf Schriften von Carl Gustav Carus und Ernst von Feuchtersleben ein. Den Protagonisten Augustinus beschreibt King als komplexe Figur, die sich nicht „in den heterodoxen Diskursen von Bibliotherapie, früher Naturheilkunde, Lebenskunst“ (S. 183) erschöpfe, sondern eine „eklektische Montage aus unterschiedlichen Wissensbeständen“ (S. 185) darstelle. In einem Beitrag zu einem Sammelband, der sich mit „Literatur im Zeichen des Suizids“38 auseinandersetzt, untersucht Andrea Bartl suizidale Muster in der Mappe. Sie konzentriert sich vornehmlich auf die Journalfassung des Textes und stellt Bezüge zu Heinrich von Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili her. Laut Bartl lässt sich allerdings nicht nachweisen, dass Stifter diesen Text gekannt hat. Bartl zeigt außerdem, dass sich in der Mappe eine Verbindung zwischen dem Motiv der Selbsttötung und der Dichotomie von Natur und Kultur herstellen lässt. Markus Pahmeier stellt den einleitenden Ausführungen zu seiner StifterMonografie39 eine ausführliche Passage aus dem Roman Der Nachsommer voran, in der es um den Anbau und die Pflege von Obstbäumen geht. Diese Passage sei als „lebenspraktisch“ (S. 14) zu bewerten und „sehr sicher zu verstehen“ (ebd.). Da sich Abschnitte von ähnlicher Qualität in Stifters Erzähltexten aber „sehr häufig“ (ebd.) finden ließen, müssten „drei wichtige Thesen der StifterForschung“ (ebd.) relativiert werden, die an Stifters Texten vor allem deren Artifizialität, die Unsicherheit der sprachlichen Zeichen und einen Fokus auf

|| 37 Martina King: Der romantische Arzt als Erzähler. Medizinisches Wissen in Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters (1868). In: Realism and Romanticism in German Literature. Hrsg. von Dirk Göttsche und Nicolas Saul. Bielefeld 2013, S. 171–201, hier S. 171. 38 Andrea Bartl: Den Suizid erzählen. Gegen den Suizid anerzählen? Zur ‚Signatur des Todes‘ in Adalbert Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters, erläutert mit einem Seitenblick auf Heinrich von Kleists Prosa. In: Ökonomie des Opfers. Literatur im Zeichen des Suizids. Hrsg. von Günter Blamberger und Sebastian Goth. München 2013, S. 235–250. 39 Markus Pahmeier: Die Sicherheit der Obstbaumzeilen. Adalbert Stifters literarische Volksaufklärungsrezeption. Heidelberg 2014 (zugl. Diss., Bielefeld 2013).

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„Begrenzungen, Bedrohungen, Verletzungen und Katastrophen“ (ebd.) hervorhöben. Pahmeier sieht in Stifters Rezeption der Volksaufklärung einen zentralen Faktor im Hinblick auf „Beschreibungen land-, garten- und hauswirtschaftlicher sowie moralischer Themen“ (S. 14) in dessen Erzählwerk und erkennt darüber hinaus einen Einfluss von „Schreibweisen literarischer Volksaufklärungsschriften“ (S. 15) auf Stifters Texte. Um diese beiden Aspekte darzustellen, zieht er eine Reihe von Primärtexten heran, wobei die verschiedenen Fassungen der Mappe meines Urgroßvaters eine wichtige Rolle spielen, weil sich hier und im Nachsommer „die meisten Belege zu volksaufklärerischen Themen“ (S. 22) finden ließen. Pahmeier stellt die Mappe, sowie weitere Primärtexte, in den zeitgenössischen Kontext des „Konzept[s] des ‚Ganzen Hauses‘“ (S. 124) und analysiert, wie sich dieses Konzept in den Primärtexten ausgeprägt hat. Außerdem arbeitet er zentrale Aspekte der „medizinische[n] Volksaufklärung“ (S. 303) heraus und weist deren Ausprägungen in der Mappe anhand zahlreicher Belegstellen nach. Das Genre des Ärztetagebuchs habe, so Nicolas Pethes, in Landarztpraxen des 18. und 19. Jahrhunderts einen „Grundbestandteil“40 der ärztlichen Arbeit gebildet. Sein „primärer Zweck bestand darin, den Überblick über immer zahlreichere Patienten und Heilmethoden zu bewahren“ (S. 65). Damit müsse es „als eine eigenständige Textform von der individualistischen Diaristik in der Nachfolge des Pietismus“ (S. 66) unterschieden werden. Pethes zeigt stilistische, mediale und inhaltliche Gemeinsamkeiten zwischen dem literarischen Text der Mappe und diversen Beispielen für das genannte Genre auf, bezieht aber auch intrafiktionale Texte – etwa die ‚Päcke‘ des Obristen – in seine Überlegungen ein. Cornelia Zumbusch fasst gängige Deutungskonzepte für die Mappe zusammen, um sich dann bewusst von ihnen abzusetzen und den Text als Auseinandersetzung mit der Pädagogik des 19. Jahrhunderts zu lesen.41 In diesem Zusammenhang führt sie eine spezifische Textsorte ins Feld: die zur Warnungsgeschichte umfunktionierte Erzählung von Kindern, die durch eigenes Verschulden zu Tode kommen. Zumbusch bildet dieses Muster zunächst auf die Narrenburg ab, um dann zu zeigen, wie sich die Mappe über alle vier Fassungen hinweg dem „pädagogische[n] Programm des Aufschiebens und Abwar-

|| 40 Nicolas Pethes: Genre und Erzählform des Ärztetagebuches in Die Mappe meines Urgroßvaters im Kontext der zeitgenössischen Zeitschriftenkultur und medizinischen Praxis. In: JASILO 21 (2014), S. 65–69, hier S. 65. 41 Cornelia Zumbusch: Erzählen und Erziehen: Pädagogik der Zurückhaltung in Stifters Mappe meines Urgroßvaters. In: IASL 40 (2015), Heft 2, S. 479–502.

Entstehungsgeschichte und Textkorpus | 217

tens“ (S. 494) widmet, was sich sowohl in Veränderungen der Textstruktur als auch in der Anwendung von erzählerischen Mitteln zeige. Neben einer überzeugenden Darstellung von Parallelen zwischen der Mappe und dem Nachsommer geht Zumbusch außerdem auf die Darstellung von Selbstbildung und Vorbildlichkeit in der Mappe ein und beschreibt, wie in der Figur Augustinus die Rollen von Zögling und Erzieher exemplarisch zusammenfallen. In einem Beitrag, auf den ich bereits im Zusammenhang mit der Narrenburg eingegangen bin, untersucht Sabine Frost Vorstellungen von Vereisung und Kristallisation, die seit der Antike für den Prozess der Verschriftlichung stehen und sich auch in der Mappe ausgeprägt haben.42 In diesem Zusammenhang untersucht sie die Eisfall-Episode aus der Journalfassung des Textes. Frost nimmt eine Engführung der Aufzeichnungen des Doktors Augustinus in der Mappe mit den Confessiones von Aurelius Augustinus vor, untersucht Textstellen, in denen „eine Verbindung zwischen dem Bauen und dem Schreiben“ (S. 56) hergestellt werde und beschreibt den Wandel, dem die KristallisationsMetapher im 19. Jahrhundert unterworfen war.

5.2 Entstehungsgeschichte und Textkorpus Damit beschließe ich eine erste, überblicksartige Darstellung wichtiger Forschungsergebnisse43 zur Mappe und wende mich einer gängigen These zu, die besagt, dass Stifter sich über fast drei Jahrzehnte hinweg kontinuierlich mit der Mappe beschäftigt habe.44 Tatsächlich lässt sich anhand von Briefen und ande-

|| 42 Sabine Frost: Autobiographisches Schreiben (siehe Kap. 3, Anm. 95). 43 Zur Ergänzung sei der Abschnitt „Deutungsaspekte – Positionen der Forschung“ im einschlägigen Handbuchartikel von Herwig Gottwald und Silvia Bengesser empfohlen (dies.: Die Mappe meines Urgroßvaters, S. 67 ff.). Vgl. auch die kurze, aber treffende Zusammenfassung von Deutungsansätzen bei Cornelia Zumbusch (dies.: Erzählen und Erziehen, S. 487, Anm. 17). 44 So schreibt etwa Friedbert Aspetsberger, dass die Mappe „wegen der mehrmaligen, sich über seine ganze Schaffenszeit erstreckenden Beschäftigung Stifters mit ihr als repräsentativ für die Probleme seines Dichtens“ (ders.: Die Aufschreibung des Lebens, S. 11) gelten könne. Auch Johannes John stellt fest, dass Stifter „der Stoff seiner Mappe zeit seines Lebens beschäftigt und immer wieder zu dichterischer Gestaltung herausgefordert“ (ders.: Das „Margarita“Kapitel, S. 19) habe und zieht Parallelen zur Bedeutung des Wilhelm-Meister-Stoffs für Goethe. Andrea Bartl stellt die These auf, dass die „lange Bearbeitungszeit“ (dies.: Den Suizid erzählen, S. 238) die Mappe „als eine Art Konzentrat des Stifter’schen Gesamtwerks erscheinen“ (ebd.) lasse. Man könne den Text als ein „das Gesamtwerk umspannende[s] Schreibprojekt“ (ebd., S. 239) betrachten. Walter Hettche erläutert in seinem Handbuchartikel zu den Studien, dass Stifter seinen Plan, die Mappe nach der Veröffentlichung der 2. Fassung „zu einem Roman

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ren Aufzeichnungen des Autors nur bedingt feststellen, ob und wann Stifter sich über die konkreten Phasen der Textproduktion hinaus mit dem MappenStoff beschäftigt hat. Trotzdem ist es wichtig, sich für eine bestimmte Wahrnehmung der vier Fassungen zu entscheiden: Stellen Sie eigenständig zu analysierende und zu deutende Einzeltexte dar, die zu einem Werkkomplex gehören, oder bilden sie einen kontinuierlichen Überarbeitungsprozess ab, der erst in der vierten Fassung seine Vollendung findet? Stifters Ansätze, den Text nicht nur zu überarbeiten, sondern grundlegend umzugestalten, legen eine besonders enge Beziehung zwischen Autor und Werk nahe, was häufig auch in Verbindung mit den autobiografischen Bezügen gebracht wird, die sich in der Erzählung finden. Es ist zwar gerade bei Stifter nicht unüblich, dass ein Text in verschiedenen Fassungen existiert. Dies gilt bekanntlich für die meisten Erzählungen in den Sammelbänden Studien und Bunte Steine, die zunächst als Journal- oder Almanachbeiträge veröffentlicht und anschließend von Stifter für die Buchveröffentlichung überarbeitet wurden. Mit nicht weniger als vier Fassungen kommt der Mappe aber tatsächlich eine Sonderstellung zu. Während sich die Pläne des Autors, die Mappe zu einem zweibändigen Roman auszubauen, zweifelsfrei anhand von Briefen an Gustav Heckenast belegen lassen, kam es erst 17 Jahre nach Erscheinen der Buchfassung zu einer weiteren Überarbeitung.45 Stifter unterbrach hier aus gesundheitlichen Gründen die Arbeit am Roman Witiko und begann heimlich – sein Arzt hatte ihm geraten, für eine Weile auf das Schreiben zu verzichten – die dritte Fassung der Mappe zu schreiben. Diese Tätigkeit empfand er nach eigener Aussage nicht als Mühe, sondern verband sie gar mit selbsttherapeutischen Absichten.46 In den 17 Jahren, die dieser Entscheidung vorausgehen, erwähnt Stifter das Projekt in den Briefen an seinen Verleger aber nur sporadisch. Im März 1850 bekräftigt er seine Absicht, die Erzählung auf zwei Bände auszudehnen und aus den Studien her-

|| umzuarbeiten“ (ders.: Studien. Überblick [Art.]. In: SHB, S. 14–15, hier S. 14), nicht zu Ende führte, sondern „als ein permanentes Weiterschreiben des Textes [inszenierte]“ (ebd., S. 15). Auf diese Weise konnte der Autor des so entstehenden „Manuskriptkonvolut[s]“ (ebd.) „nach Belieben auf seinen Inhalt zugreifen und ihn immer wieder neu bearbeiten, buchstäblich bis zu seinem Lebensende“ (ebd.). 45 Vgl. Bengesser/Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4), S. 11 f. Eine hilfreiche Zusammenstellung von Auszügen aus Briefen, in denen Stifter sich zur Arbeit an der Mappe äußert, findet sich ebd., S. 29 ff. 46 Stifter an Heckenast, 12. Februar 1864: „Seit 3 Wochen arbeite ich daran, und mein Glaube an diese liebevolle Arznei hat mich nicht getäuscht, mein Herz wußte, was ihm mangelte, und ging zu dem rechten Borne, Gesundheit zu trinken“ (PRA 20, S. 181).

Entstehungsgeschichte und Textkorpus | 219

auszulösen, doch die folgende Formulierung lässt nicht darauf schließen, dass das Projekt den Autor zu dieser Zeit intensiv beschäftigt hat: „[...] aber das steht noch im weiten Felde, und wir können im Falle der Realisirung ja wieder übereinkommen.“47 Sieben Jahre später, im Dezember 1857, bittet er den Verleger darum, ihn rechtzeitig wissen zu lassen, wenn „die dreibändige Auflage der Studien wieder neu sollte aufgelegt werden [...]. Es könnte sein, daß die Mappe heraus und ein gleiches Stük hinein käme, und die Mappe einen 2ten Theil bekäme“48. Hier ging es also lediglich darum, die Herauslösung der Mappe aus den Studien aus verlegerischer Sicht vorzubereiten. Die kreative Arbeit an einer separat zu veröffentlichenden Neufassung begann, wie oben beschrieben, erst weitere sieben Jahre später. Erst ab diesem Zeitpunkt sind wieder zahlreiche briefliche Erwähnungen des Projekts zu verzeichnen.49 Vor diesem Hintergrund kann nicht zweifelsfrei angenommen werden, dass Stifter sich ohne längere Unterbrechungen mit dem Stoff der Mappe beschäftigt hat. Ebenfalls kritisch zu betrachten ist eine These, die besonders in der älteren Stifter-Forschung eine wichtige Rolle gespielt hat. Sie besagt, dass Stifter erst in der vierten Fassung der Mappe das von ihm angestrebte künstlerische Ideal erreicht habe, weshalb die vorherigen Fassungen lediglich als Vorstufen zu betrachten seien – eine Sichtweise, die zu einer regelrechten „Auratisierung der ‚Letzten Mappe‘ in der Stifter-Gemeinde und -Forschung“50 geführt hat.51 Wäh|| 47 Stifter an Heckenast: 22. März 1850 (PRA 18, S. 43 f.). 48 Stifter an Heckenast: 16. Dezember 1857 (PRA 19, S. 81). 49 Vgl. Bengesser/Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4), S. 20, Anm. 13. 50 Mayer: Adalbert Stifter, S. 95. 51 „Maßgeblich verantwortlich“ (Mayer: Adalbert Stifter, S. 95) für diese Wahrnehmung der vierten Fassung der Mappe ist Franz Hüller, der den Text im Rahmen der Prag-Reichenberger Ausgabe herausgegeben und mit einer umfangreichen Einleitung (vgl. ders.: Einleitung. In: Die Mappe meines Urgroßvaters. Eine Erzählung von Adalbert Stifter. Erster und zweiter Band (unvollendet). Aus den nachgelassenen Handschriften erstmals herausgegeben von Franz Hüller. Reichenberg 1939 [PRA 12], S. XI–CXXIII) sowie einem textkritischen Bericht (vgl. ebd., S. 369–422) versehen hat. Hier wie dort finden sich einschlägige Formulierungen, die zeigen, wie unterschiedlich Hüller die einzelnen Fassungen der Mappe bewertet. So bezeichnet er die Buchfassung in der Einleitung als „Zwischenstufe in der Veredlung der Dichtung zur großen, geschlossenen epischen Erzählung“ (ebd., S. XLV), während die vierte Fassung, so Hüller im textkritischen Bericht, „das angestrebte Ideal der Einfalt und der Objektivität vollkommener“ (ebd., S. 379) erreicht habe und „alle Zeichen künstlerischer Reife an sich“ (ebd.) trage. In ihr zeige sich „[d]as Streben, die Dichtung aus dem Idyllischen, persönlich Erlebten, aus dem Novellenhaften in die Sphäre des Erhabenen, Typischen und Epischen zu heben“ (ebd., S. 388). Ohne eine solche Position stützen oder mich überhaupt an einer Beurteilung des künstlerischen Werts der verschiedenen Fassungen der Mappe beteiligen zu wollen, empfehle ich

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rend Stifters eigene, negative Bewertung der Buchfassung, auf die ich oben bereits eingegangen bin, eine solche Einschätzung zu bestätigen scheint, darf doch nicht übersehen werden, dass diese Fassung die einzige ist, die zu Lebzeiten des Autors und mit seiner Zustimmung in Buchform erschienen ist. Im Hinblick auf die Journalfassung, die in nicht weniger als 20 Teilen in der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode erschien, kann der Befund geltend gemacht werden, den ich schon bei der Analyse der Erzählungen aus dem Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen in Anschlag gebracht habe, sofern diese ebenfalls in einer Journal- und einer Buchfassung vorliegen: Die Buchfassungen sind „von Zugeständnissen an das Publikationsorgan freier“52 und bieten sich damit als Textgrundlage für meinen Untersuchungsansatz an. Darüber hinaus lässt der große zeitliche Abstand zwischen den Veröffentlichungsterminen für die einzelnen Teile der Journalfassung darauf schließen, dass Herausgeber und Autor hier planmäßig vorgegangen sind, um „ganz bewußt den Eindruck einer zusammenhängenden Erzählung [zu] verhindern und das Fragmentarische der auszugestaltenden, keimhaften Erzählelemente“53 zu betonen. So wird zum Beispiel der Zusammenhang zwischen Kapitel III („Die Geschichte der zween Bettler“), das als der „entstehungsgeschichtlich früheste Teil der Journalfassung“54 gilt, und den übrigen Teilen der Erzählung hier kaum deutlich.55

|| die folgenden Textvergleiche, um nachvollziehen zu können, wie es zu solch unterschiedlichen Bewertungen der verschiedenen Fassungen kommen konnte. Das sechste Kapitel der Buchfassung („Das Scheibenschießen in Pirling“) beginnt mit einer Episode, in der Augustinus durch eine riskante Operation einen jungen Mann heilt, den die häusliche Fehlbehandlung einer Brustwunde „an den Rand des Grabes gebracht“ (M2, S. 187 f.) hat. Die knappe Schilderung – sie umfasst in der HKG ca. eine Druckseite – lässt die Dramatik des Geschehens kaum deutlich werden. In der vierten Fassung dagegen verlagert Stifter diese Episode in das erste Kapitel des zweiten Bandes („Von meinem Hause“) und erweitert sie deutlich. Auf etwa fünf Seiten gelingt ihm eine spannungsreiche Schilderung der Ereignisse, die weit über die skizzenhafte Darstellung der Buchfassung hinausgeht (vgl. M4, S. 236–240). Noch pointierter zeigt sich der Unterschied zwischen den Fassungen, wenn man vergleicht, wie der Tod von Augustinus’ Vater und seinen beiden Schwestern geschildert wird. Die Buchfassung beschränkt sich hier auf ganze drei Sätze (vgl. M2, S. 90), während sich die Schilderung in den späten Fassungen der Mappe über mehrere Seiten erstreckt (vgl. M3, S. 252 ff. und M4, S. 220 ff.). 52 Begemann: Adalbert Stifter und die Ordnung des Wirklichen (siehe Kap. 3, Anm. 6), S. 72. 53 Dittmann: Kommentar (HKG 1,9), S. 229. 54 Gottwald/Bengesser: Die Mappe meines Urgroßvaters, S. 63. 55 Vgl. Gottwald/Bengesser: Die Mappe meines Urgroßvaters, S. 63. Eine Ausnahme bildet der Zweikampf zwischen Augustinus und „dem Schufte Korschitzki“ (M1, S. 67), den er „fast zu drey Viertheilen umbrachte“ (ebd.). Diese Episode stellt eine von mehreren Parallelen zwi-

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Vor diesem Hintergrund halte ich es für gerechtfertigt, zunächst nur die Buchfassung der Mappe in den Blick zu nehmen, wenn es um die Frage geht, welche Bildungsprozesse im Text beschrieben werden und welche topischen Gehalte sich dabei an die entsprechenden Figuren angelagert haben. Auf die Journalfassung werde ich dort eingehen, wo einzelne Stellen dazu beitragen können, den Blick auf die Buchfassung zu schärfen.56 Die genannte Fragestellung kann natürlich in gleicher Weise an die späten Fassungen der Mappe herangetragen werden. Dies soll aber in einem separaten Schritt erfolgen.

5.3 Zeichen der Sanftheit: Die Buchfassung der Mappe Selbst wenn man sich dafür entscheidet, einer Analyse und Interpretation der Mappe keinen komparatistischen Ansatz zugrunde zu legen, der alle vier Fassungen in den Blick nimmt, sondern den Fokus auf eine der Fassungen legt, hat man es immer noch mit einem vergleichsweise komplexen Werk zu tun. Die Buchfassung geht nicht nur im Umfang (der Text nimmt den gesamten dritten Band der Studien ein) über andere Erzähltexte Stifters hinaus, die ihren Anfang als Journalveröffentlichung genommen haben. Bereits die verschiedenen Ebenen der erzählten Zeit, die durch die Rahmenerzählung, die Aufzeichnungen von Augustinus und die darin wiedergegebenen mündlichen Berichte abgebildet werden sowie das Figurenarsenal geben dem Text schon in der Buchfassung romanhafte Züge. Die Struktur der erzählten Zeit und die Anzahl und Komplexität der Figuren stellen aber nicht die einzigen Faktoren dar, die zur Komplexität der Mappe beitragen. Ein weiterer wesentlicher Faktor besteht in der fiktiven editorischen Leistung des Rahmenerzählers, die allen vier Fassungen zugrunde liegt, aber nicht in jeder Fassung in gleicher Weise präsent ist. Im Vergleich mit den bisher betrachteten Texten, deren narratives Konzept entweder auf einem extradiegetischen Erzähler (Narrenburg, Kazensilber) beruht oder es zumindest erlaubt, die Erzählstimme, die gerade zum Einsatz kommt, eindeutig zu identifizieren (Tur-

|| schen der Biografie von Augustinus und der des Obristen dar, der während seiner Zeit in Paris „beynahe einen jungen Mann im Zweykampfe [erstach]“ (M1, S. 24). Siehe dazu Abschnitt 5.3.3. 56 Vgl. Lukas: Geschlechterrolle und Erzählerrolle, S. 376. Lukas geht in Anlehnung an Christoph Buggert davon aus, dass die Buchfassung das umsetzt, was in der Journalfassung „weitgehend verbales Postulat bleibt“ (ebd.). Die Journalfassung könne deshalb gleichsam als „‚Kommentar‘“ (ebd.) zur Buchfassung gelesen werden.

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malin, Der Waldbrunnen), verbirgt sich hinter der novellistischen Rahmung durch den Urenkel von Augustinus eine hochkomplexe mediale Situation.57 Der Urenkel weist sich im ersten Kapitel aller vier Fassungen zunächst einmal eindeutig als intradiegetischer Rahmenerzähler aus, der auf einen Heimatbesuch kurz nach seiner Eheschließung zurückblickt und berichtet, wie er auf dem Dachboden des elterlichen Hauses ein ledernes Buch mit den autobiografischen Aufzeichnungen seines Urgroßvaters gefunden hat. Die narrative Komplexität der Mappe erwächst anschließend aus dem Umgang des Urenkels mit den aufgefundenen Schriften: Er fungiert als ihr Herausgeber, womit der Text einer „Editionsfiktion“58 unterliegt. Sie führt dazu, dass zumindest für die Journalfassung und die hier zunächst im Fokus stehende Buchfassung festgestellt werden muss, dass die Leser keinen direkten Zugriff auf die Aufzeichnungen von Augustinus haben. Die Journalfassung nimmt zu diesem Punkt eindeutig Stellung, noch bevor die Binnenhandlung beginnt. Nachdem der Urenkel den Besuch des Elternhauses beendet hat und an seinen Wohnsitz in Wien zurückgekehrt ist, kommt ihm „der Gedanke, samt und sonders gewisse Aufsätze des Lederbuches drucken zu lassen, nachdem ich sie vorher übersetzt und unserer Zeit verständlich gemacht hätte, wodurch sie freylich fast alle Eigenthümlichkeit einbüßten“ (M1, S. 14). Anschließend adressiert der Urenkel den „liebe[n] Leser“ (ebd.) und bittet darum, dass man mit ihm „freundlich [...] an einigen Stücken meines Ahnherrn vorüber“ (ebd.) gehe. Das nächste Kapitel („Der sanftmüthige Obrist“) geht ebenfalls auf die Editionsfiktion ein, indem es als erster „Aufsatz […], der im Lederbuche im ersten Tomus steht“ (M1, S. 14), bezeichnet wird und leitet dann den Übergang zu dem autobiografischen Bericht von Augustinus ein: „Doch man höre den Doctor“ (ebd.). Der oben erwähnte Hinweis des Urenkels auf die Notwendigkeit, die Aufzeichnungen von Augustinus zu übersetzen und verständlich zu machen, zeigt aber, dass man es in der Binnenhandlung der Journalfassung mit Augustinus als einem Ich-Erzähler zu tun hat, der – freilich nur auf der Ebene der Fiktion – erst durch die editorische Leistung des Urenkels entstanden ist. Die Aufzeichnungen in den Pergamentbüchern – also die eigentliche ‚Mappe‘ – bleiben den Augen des Lesers verborgen. In der Buchfassung hat Stifter diese mediale Komplexität reduziert, aber nicht aufgelöst. Eine Einleitung der Binnenhandlung durch die direkte Ansprache des Lesers und einen Verweis auf die Herausgeberschaft des Urenkels fin-

|| 57 Vgl. Blasberg: „Wer bin ich bisher gewesen?“, S. 104 ff. 58 Ebd., S. 115. Ich übernehme den Begriff der ‚Editionsfiktion‘ in meinen folgenden Ausführungen, um den oben dargestellten Sachverhalt zu bezeichnen.

Zeichen der Sanftheit: Die Buchfassung der Mappe | 223

den sich im ersten Kapitel dieser Fassung nicht. Der Urenkel erhält zwar von seiner Mutter die Erlaubnis, die „Doctorbücher“ (M2, S. 29) zu behalten und beginnt noch während seines Aufenthalts im Elternhaus damit, die zunächst unverständlichen Aufzeichnungen Augustinus’ zu enträtseln und an die übrigen Familienmitglieder weiterzugeben: „Was ich da gelesen hatte und zusammenstellen konnte, erzählte ich gerne Abends im Kreise unserer Angehörigen“ (ebd.). Er geht aber nicht explizit darauf ein, dass er die Aufzeichnungen des Urgroßvaters am Ende seines Besuchs mit nach Wien nimmt und beendet das erste Kapitel, indem er den Abschied von seiner Mutter beschreibt und Betrachtungen darüber anstellt, ob er wohl als Greis noch einmal in seine Heimat zurückkehren werde. Anschließend folgt mit dem nur etwa zwei Druckseiten umfassenden Kapitel „Das Gelöbnis“ eine Erläuterung, wie die biografischen Aufzeichnungen in den darauffolgenden Kapiteln entstanden sind, die direkt aus Augustinus’ Feder zu stammen scheint: So stehe es auf dem ersten Blatte dieses Buches, wie ich es getreu erfüllen werde: „Vor Gott und meiner Seele verspreche ich hier einsam und allein, daß ich nicht falsch sein will in diesen Schriften“ (M2, S. 31).59

Für die Lektüre der nun folgenden Kapitel, welche die eigentliche Binnenhandlung der Mappe bilden, entsteht also zunächst einmal der Eindruck, es handele sich um eine unbearbeitete, wörtliche Wiedergabe der Aufzeichnungen von Augustinus. Diesen Eindruck stellt erst das letzte Kapitel („Das Nachwort“) in Frage, welches ebenfalls nur wenige Druckseiten umfasst und mit der folgenden Bemerkung beginnt: „So weit habe ich, der Urenkel, aus dem Lederbuche des Doctors ausgezogen […]. Es ist noch recht viel übrig; aber das Lesen ist schwer“ (M2, S. 232; Hervorhebung von mir). Im folgenden Absatz kündigt der Urenkel an, weitere Ereignisse aus den Aufzeichnungen seines Urgroßvaters wiedergeben zu wollen: „Ich habe noch recht viel zu erzählen, und werde es in der Zukunft tun, wenn ich es zu Ende geziffert, und ausgezogen habe“ (ebd.; Hervorhebung von mir). Interpretiert man den hier gleich zweifach verwendeten

|| 59 Das Kapitel „Das Gelöbnis“ ist in der Journalfassung und der dritten Fassung nicht enthalten. In der vierten Fassung stellt es wieder das zweite Kapitel dar. Der Urenkel beschreibt darin das „Lederbuche des Doctors“ (M4, S. 26) in Umfang und Gestalt, zitiert einleitende Bemerkungen von Augustinus – hier kommt die Figur also direkt zu Wort – und leitet zum dritten Kapitel über: „Das Buch war in Absäzen geschrieben, jeder Absaz begann nach dem oberen Drittheile der Seite mit einer dunkelrothen Aufschrift in Drukbuchstaben, worauf die Schrift folgte. [...] Die erste Aufschrift hieß: Von den zwei Bettlern“ (ebd.).

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Ausdruck ‚ausgezogen‘ im Sinne von „Auszüge angefertigt“60, stellt er noch keinen Beleg dafür dar, dass der Urenkel die Aufzeichnungen seines Urgroßvaters modifiziert wiedergibt. Der Ausdruck ‚geziffert‘ lässt sich im Sinne von ‚entziffern'61 interpretieren, was auch mit der Aussage des Urenkels übereinstimmt, die Handschrift des Urgroßvaters sei „oft sehr schwer zu entziffern“ (M2, S. 232). Auf der anderen Seite beschreibt der Urenkel sich selbst als Erzählinstanz („Ich habe noch recht viel zu erzählen“; ebd.; Hervorhebung von mir), was die Annahme, es handele sich um eine bloße Einschaltung von zwar unvollständigen, aber wörtlich wiedergegebenen Aufzeichnungen des Großvaters, wieder in Frage stellt. Die Vorstellung, dass der Urenkel textverändernde Eingriffe vorgenommen hat, taucht überdies in der vierten Fassung der Mappe wieder auf: Nachdem der Urenkel gelernt hat, die Handschrift seines Urgroßvaters „zu entwirren“ (M4, S. 23), beginnt er damit, „die ersten Blätter in unsere Schrift zu übertragen“ (ebd.). Letzten Endes lässt sich nur feststellen, dass „in allen vier Fassungen unklar [bleibt]“62, was der Urenkel als „Herausgeber mit den Konvoluten tut“63, die er auf dem Dachboden seines Elternhauses gefunden hat. Wenn ich die Figur des Landarztes Augustinus in den Mittelpunkt meiner folgenden Überlegungen stelle, soll nicht in Abrede gestellt werden, dass die „bislang in der Forschung vorherrschende Konzentration auf Augustinus zu korrigieren ist und stattdessen das gesamte Ensemble der Figuren um die ‚zwei Bettler‘ herum in den Blick treten sollte“64. Trotzdem lässt sich nicht bestreiten, dass der Werdegang von Augustinus schon bei einer Erstlektüre des Textes ohne Zweifel als das zentrale Bildungsereignis erscheint. In diesem Zusammenhang spielt die Tatsache, dass Stifter die Episode von den zwei Bettlern nicht in die Buchfassung der Mappe aufgenommen hat, eine wichtige Rolle. Da der an seinen Geburtsort zurückgekehrte, frisch ausgebildete Arzt nicht von den Irrwegen seiner Prager Studentenzeit vorbelastet ist, treten seine Verfehlungen nicht

|| 60 Karl Pörnbacher: Anmerkungen. In: Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters. Hrsg. von Karl Pörnbacher. Stuttgart 1983, S. 279–284, hier S. 284. 61 Vgl. ‚ziffern‘ [Art.]. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Leipzig 1854 ff. (im Folgenden zitiert mit der Sigle DWB), hier Bd. 15, Sp. 1249. Eine der dort angegebenen Bedeutungen lautet „entziffern, enträtseln“ (ebd.). Als Textbeispiel dient in diesem Artikel unter anderem die oben zitierte Stelle aus der Mappe. 62 Blasberg: „Wer bin ich bisher gewesen?“, S. 105. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 117. Die Formulierung von den ‚zwei Bettlern‘ bezieht sich auf die Figuren Augustinus und Eustachius und deren Tätigkeit als Hauslehrer während ihrer Studentenzeit. Siehe dazu Abschnitt 5.4.3.

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mehr als grundsätzliches charakterliches Problem in den Vordergrund, sondern „als korrigierbare Fehler, die das Bildsame seiner Natur bestätigen.“65 Damit hat er die Möglichkeit, sich „im Schutz einer sanften Autorität“66 – gemeint ist die Figur des Obristen – ungehindert zu entfalten. Diesen Prozess gilt es zu analysieren. Mit dem Obristen ist eine zweite Figur genannt, die eine prägende Rolle für den Text spielt. Sie tut dies aber bei weitem nicht nur in ihrer Funktion als erzieherische Autorität. Die „Erzählung des Obrists, welcher Karakter überhaupt der beste ist“67 – also das dritte Kapitel der Buchfassung – gehörte offenbar zu den Textabschnitten, die vor Stifters kritischem Blick bestehen konnten und bildet einen Hintergrund, ohne dessen Kenntnis und Verständnis der Bildungsgang von Augustinus nicht angemessen analysiert werden kann. Der Fokus wird im Folgenden also auf diesen beiden zentralen Figuren liegen. Der „Anschluss an autobiographische Schreibmodelle“68, der sich im Text zeigt, wird eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, topische Strukturen zu identifizieren und für die Interpretation nutzbar zu machen. Mit beiden Figuren ist nämlich ein ganz bestimmtes Modell des autobiografischen Schreibens verknüpft, für das ich im Folgenden den Begriff des ‚Mappenprinzips‘ verwenden werde.69 Es lässt sich auch als „Schrifttherapie“70 bezeichnen und ist in der Journalfassung zwar schon angelegt, wird aber erst in der Buchfassung konsequent umgesetzt71 und spielt eine zentrale Rolle bei der Gestaltung von Augustinus’ Bildungsgang.

|| 65 Ebd., S. 119. Blasberg erkennt in diesem Zusammenhang eine „konsequent durchgeführte novellistische Rahmung der Binnenerzählungen, aus deren Kreis die ‚Bettler‘-Episode verbannt wurde, so dass die Autobiographie des Obristen ihre zentrierende Macht ungehindert entfalten kann“ (ebd.). 66 Ebd. 67 Stifter an Heckenast, 16. Februar 1847 (PRA 17, S. 209). Vgl. Bengesser/Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4), S. 12. 68 Zumbusch: Erzählen und Erziehen, S. 487, Anm. 17. 69 Zu diesem Begriff siehe Anm. 21 in diesem Kapitel. 70 Mayer: Adalbert Stifter, S. 103. 71 Vgl. Mayer: Adalbert Stifter, S. 103. Vgl. auch Friedbert Aspetsberger, der zeigt, dass der Urenkel von Augustinus als fiktiver Herausgeber der Aufzeichnungen seines Urgroßvaters in der Journalfassung offenbar noch „keine geschlossene biographische Darstellung an[strebt]“ (ders.: Aufzeichnung des Lebens, S. 17) und sich damit „in Gegensatz zum Prinzip der Mappe“ (ebd.) stellt. In der Buchfassung dagegen strebe, so Aspetsberger, auch die Rahmenerzählung eine „Ründung [sic] und Sinnstiftung im geschichtlichen und individuellen Leben“ (ebd., S. 18) an und weise den Urenkel als „Fortsetzer des Prinzips der Lebensaufschreibung“ (ebd., S. 19) aus.

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Um der Komplexität der Mappe zumindest annähernd gerecht zu werden, soll wenigstens eine weitere Figur in den Blick genommen werden, mit der ebenfalls eines der zahlreichen Modelle des Schreibens72 verbunden ist, die im Text verhandelt werden: der Urenkel und fiktive Herausgeber des Textes.73 Dies ergibt sich aus den Überlegungen im folgenden Abschnitt, in denen die Mappe in einen Zusammenhang gestellt wird, der in der vorliegenden Untersuchung schon einmal eine wichtige Rolle gespielt hat.

5.3.1 Das Herz und die doppelte Erinnerung Das autobiografische Schreiben in der Narrenburg ist auf eine Textsorte bezogen, die durch die intrafiktionale testamentarische Verfügung des Ahnherrn der Grafen von Scharnast eindeutig auf die Lektüre durch die Nachwelt ausgerichtet ist (siehe Abschnitt 3.2). In der Mappe dagegen geht es um autobiografische Aufzeichnungen, die zunächst einmal „der Selbstreflexion ihres Verfassers“74 dienen und damit indirekt auch den Leser in den Nachvollzug biografischer Zusammenhänge einbeziehen.75 Während es in diesem Zusammenhang an mög-

|| 72 Vgl. Gottwald/Bengesser: Die Mappe meines Urgroßvaters, S. 66. Vgl. auch Ulrike Landfesters Ausführungen zur Mappe als Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Autorschaft‘ (dies.: Der Autor als Stifter, S. 105). 73 Sowohl die Mappe als auch die Narrenburg gehören bekanntlich zum ‚Scharnast-Komplex‘, der mehrere Texte in Stifters Erzählwerk in einen „engen stofflichen und genealogischen Zusammenhang“ (Dittmann: Studien. Kommentar (HKG 1,9), S. 206) stellt (vgl. auch Sabine Schneider: Epochenzugehörigkeit und Werkentwicklung [Art.]. In: SHB, S. 198–205, hier S. 199). Die drei Figuren aus der Mappe, die ich oben genannt habe – Obrist, Augustinus und Urenkel – werden in einer Passage der Journalfassung der Narrenburg besonders hervorgehoben: „Daß dieser Jüngling [Julius von Scharnast; H. A.] in die weite Welt ging, ein thatenreiches Leben führte, als ruhiger und weiser Greis in ein Waldthal kam, dort unvergeßlich segensreich wirkte, und zuletzt sein liebstes Kleinod, seine Tochter Margarita, an einen unbeachteten Mann hingab [...] – das alles mußte geschehen [...]:–– Heinrich mußte das verlorne lederne Buch seines Ahnherrn des Doctors finden, darinnen von dem sanftmüthigen Obrist und seiner Tochter Margarita lesen, daß er wisse, daß er von den Scharnasts abstamme [...]“ (Nb1, S. 370 f.). Damit entspricht die Figur Heinrich in der Narrenburg genealogisch dem Urenkel und Rahmenerzähler in der Mappe (vgl. Dittmann: Studien. Kommentar (HKG 1,9), S. 222). In den Buchfassungen beider Erzählungen hat Stifter diese offensichtlichen Bezüge getilgt (vgl. ebd., S. 206 f.). Zu den unterschiedlichen Namen, die der Obrist in den vier Fassungen der Mappe trägt, siehe Anm. 114 in diesem Kapitel. 74 Dittmann: Studien. Kommentar (HKG 1,9), S. 243. 75 Vgl. ebd.

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lichen Prätexten nicht mangelt,76 steht auch die Mappe in einer besonderen Verbindung mit einem Werk, das oben im Zusammenhang mit der Narrenburg schon als Prätext und Faktor für die Entstehung des Topos von der Macht der Schrift angeführt wurde. Es handelt sich um die Confessiones von Aurelius Augustinus; dieser Text gilt als die „gattungskonstitutive Autobiografie der abendländischen Literatur“77. Zunächst einmal existieren mehrere offensichtliche Parallelen zwischen den Confessiones und der Mappe.78 Zu nennen ist zum ersten die Namensgleichheit zwischen dem Kirchenvater Augustinus als Autor der Confessiones und der literarischen Figur des Augustinus, der die fiktiven autobiografischen Aufzeichnungen angefertigt hat, auf denen der literarische Text der Mappe beruhen soll. Zum zweiten ist nicht nur in der Mappe eine Lebenskrise – hier der Eifersuchtsanfall des Doktors und die daraus resultierende Trennung von Margarita – der Auslöser für die autobiografischen Aufzeichnungen, sondern auch in der realen Lebensgeschichte von Aurelius Augustinus. Beide Texte berichten von Ereignissen und Handlungen, die als Sünde empfunden werden und deswegen zu einer Krise führen, aus der die Notwendigkeit einer „innerbiographischen Korrektur des Lebens durch Selbstaufschreibung und anschließende Lektüre“79 resultiert. Und zum dritten wendet der Augustinus der Mappe sich wie der Autor der Confessiones mit seiner Schrift zunächst an Gott, rechnet aber fest mit der Möglichkeit, dass seine Aufzeichnungen nach seinem Tod gefunden und gelesen werden.80

|| 76 Vgl. ebd. Dittmann zeigt hier, dass Stifter „Vorbilder“ (ebd.) für diese Form des autobiografischen Schreibens „bei Herder, Goethe und bei seinen Zeitgenossen“ (ebd.) fand. Besonders die folgende Empfehlung Goethes, die sich auf die „Lektüre früherer Briefe“ (ebd.) bezieht, scheint eng mit dem Prinzip verbunden zu sein, das den autobiografischen Aufzeichnungen in der Mappe zugrundeliegt: „Nichts gibt uns mehr Aufschluß über uns selbst, als wenn wir das, was vor einigen Jahren von uns ausgegangen ist, wieder vor uns sehen, so daß wir uns selbst nunmehr als Gegenstand betrachten können“ (Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. I,14. Hrsg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a. M. 1986, S. 376). In Bezug auf die Mappe und die Bildungsgänge der beiden Hauptfiguren wird aber noch zu fragen sein, ob es tatsächlich die zeitversetzte Lektüre der eigenen Aufzeichnungen ist, die wesensverändernde Kraft besitzt, oder eher der Akt der Aufzeichnung selbst. Zu weiteren möglichen Prätexten vgl. auch Gottwald/Bengesser: Die Mappe meines Urgroßvaters, S. 65. 77 Gottwald/Bengesser: Die Mappe meines Urgroßvaters, S. 65. 78 Vgl. ebd. 79 Frost: Autobiographisches Schreiben, S. 54. Vgl. auch Mayer: Adalbert Stifter, S. 106. 80 Vgl. die direkte Gottesansprache am Schluss des zweiten Kapitels („Deine Vorsicht, Herr, erfülle sich“; M2, S. 32) und die vorausgehenden Überlegungen von Augustinus, der davon

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Eine nicht ganz so offensichtliche Parallele zwischen beiden Texten besteht in dem Zusammenhang zwischen dem bekenntnishaften Aufschreiben des eigenen Lebens und dem Herz des Schreibenden, der in den einleitenden Bemerkungen zum 10. Buch der Confessiones geäußert wird (siehe Abschnitt 3.2.7) und sich in der Mappe noch deutlicher manifestiert als in der Narrenburg. Eine vollständige Analyse der „Semiotik des Herzens“81 in der Mappe würde genug Stoff für eine eigene Untersuchung bieten. Trotzdem lassen sich ohne großen Aufwand Textbelege finden – die alle zu Schlüsselstellen des Textes zählen –, in denen das Herz entweder als zentrale Einheit erscheint, die gesprochene und geschriebene Worte aufnimmt und auch wieder abgeben kann, oder als Gelenkstelle in der Beziehung von Augustinus und Margarita beschrieben wird.82 Ein weiteres Indiz dafür, dass die auf Latein verfassten Confessiones als Prätext eine wichtige Rolle für die Mappe spielen, ist die Bedeutung, die der latei-

|| überzeugt ist, daß er sich nach der Trennung von Margarita „kein Weib antrauen […] und keine Kinder haben“ (ebd.) wird und insofern nicht wissen kann, wer seine Aufzeichnungen einmal finden wird. In den Confessiones bemüht Aurelius Augustinus sich schon zu Beginn des 10. Buches (vgl. Aug. conf. 10.III.3), welches für meine folgenden Überlegungen eine zentrale Rolle spielt, „sein Lobopfer und Sündengeständnis, das für Gott allein bestimmt sein soll, auch als literarisches Werk zu rechtfertigen“ (Flasch: Anmerkungen, S. 230). 81 Frost: Autobiographisches Schreiben, S. 54. 82 Ich führe in dieser Anmerkung einige Belegstellen aus der Buchfassung der Mappe an. Alle Hervorhebungen stammen von mir. Augustinus beschreibt die Situation, in der er sich unmittelbar nach dem Bruch mit Margarita befand, wie folgt: „[S]ie sollte es nur sehen, daß ich alles zerreiße, und daß ich sie strafe, das falsche, wankelmüthige Herz“ (M2, S. 33). – Die Stille des Birkenwaldes, in dem Augustinus sich nach dem Bruch mit Margarita an einer Birke erhängen will, wird plötzlich von einem Geräusch unterbrochen: „Siehe, da klang auf einmal hell und klar, wie ein Glöcklein, die Stimme der Grille und klopfte mit einem silbernen Stäblein an mein Herz – gleichsam mit einem feinen, silbernen Stäblein klopfte das mißachtete Thier an mein Herz, als sagte es mir deutliche menschliche Worte“ (M2, S. 36). – Der Obrist beschreibt die Wirkung des Mappenprinzips auf sich selbst als Transformation zu einem „sanftere[n] Mensch[en]“ (M2, S. 52) und fügt hinzu: „Ich weiß es nicht, wäre ich es auch ohnedem geworden, weil die Jahre wuchsen, oder ist es mir erst durch die Schriften eindringlicher ins Herz gekommen“ (ebd.). – Unmittelbar vor dem Bruch mit Augustinus, der an ihrer Liebe zweifelt, bittet Margarita ihn inständig: „[I]ch bitte euch mit der innersten Inständigkeit meines Gemüthes, lasset diese Dinge und diese Worte aus Eurem Herzen fahren“ (M2, S. 181), und Augstinus antwortet: „[I]hr liebt mich nicht, und ich lasse die Dinge aus meinem Herzen fahren“ (ebd.). – Kurz vor der sich schon abzeichnenden Versöhnung der beiden Liebenden gesteht der Obrist seinem künftigen Schwiegersohn: „Da ich einmal von euch fort ging, kamen mir bitterliche Thränen in die Augen, weil ich gesehen habe, daß Ihr eine heilige Margarita, deren Sinnbild ich gar wohl kenne, auf Euren Hausaltar gestellt habt, um Euer Herz zu trösten“ (M2, S. 216). Vgl. Frost: Autobiographisches Schreiben, S. 54 für ähnliche Belegstellen aus den späten Fassungen der Mappe.

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nischen Sprache in Stifters Erzählung zukommt.83 So tragen etwa die fiktiven Aufzeichnungen des Doktors Augustinus einen lateinischen Titel („Calcaria Doctoris Augustini“; M2, S. 25, siehe auch Anm. 122 in diesem Kapitel) und dessen Ausführungen zur Bedeutung des Namens ‚Margarita‘, der „in der alten Römersprache die Perle“ (M2, S. 185) heißt, stellt eine Verbindung zum spätrömischen Latein her, in dem die Confessiones verfasst sind. Für sich allein genommen würden diese beiden Indizien jedoch allenfalls ausreichen, um einen sehr weit gefassten Kontext zu konstruieren. Die wichtigste Verbindung zwischen beiden Texten, also den Confessiones und der Mappe, besteht in dem Motto, das Stifter allen vier Fassungen seines Textes voranstellt: „Dulce est, inter majorum versari habitacula et veterum dicta factaque recensere memoria“ (M2, S. 10; Hervorhebung von mir).84 Während die einschlägigen Kommentare zur Mappe in ihren Übersetzungen des Zitats übereinstimmend von den ‚Wohnungen der Vorfahren‘ sprechen, liegen für den oben hervorgehobenen Teil verschiedene Übersetzungsangebote vor. Hier erscheint mir die Formulierung „Worte und Taten […] zu vergegenwärtigen“85 im Hinblick auf eine Interpretation der Mappe geeigneter als die passivere Wendung „Wort und Tat sinnend zu betrachten“86. Das Motto, das schon der Journalfassung der Mappe voransteht, aber erst in der Buchfassung explizit in Beziehung zum literarischen Text gesetzt wird,87 kann nämlich als Anschluss an das Konzept der Memoria88 gelesen werden, das Aurelius Augustinus im 10. Buch der Confessiones ausführlich beschreibt.89 Im Hinblick auf die Mappe sind Augustinus’ Ausführungen zum „Doppelcharakter“90 des Erinnerns von besonderer Bedeutung:

|| 83 Vgl. Mayer: Gedächtnis-Kunst, S. 12. 84 Dieses Motto stand schon über dem Gedicht Das Freudenfest am Trauerdenkmale, das Stifter als Schüler verfasste. Der Name ‚Egesippus‘ bezieht sich auf einen Bearbeiter der Schrift De bello judaico des jüdischen Historiografen Flavius Josephus. Vgl. genauer Dittmann: Studien. Kommentar (HKG 1,9), S. 247 f. 85 Karl Pörnbacher: Anmerkungen, S. 289. 86 Dittmann: Studien. Kommentar (HKG 1,9), S. 247. Die angegebene Übersetzung stammt von Gustav Wilhelm (vgl. ebd.). 87 Der Rahmenerzähler bezeichnet das Motto hier als Mittel, „die Leser in das Buch und mit dem Buche in mein altes fern von hier stehendes Vaterhaus ein[zuführen]“ (M2, S. 11). Vgl. Mayer: Gedächtnis-Kunst, S. 11. 88 Die Memoria gilt schon Aristoteles als „eines der Vermögen der Seele, nämlich ihre Fähigkeit, das zu bewahren, was ihr durch die Vermittlung der Sinne anvertraut bzw. eingeprägt wurde“ (Neuber: Memoria, S. 562) und wird bei Augustinus „zu einem Gegenstand der Theologie, nämlich zum zentralen Austragungsort von Welt- und Gotteserkenntnis“ (ebd.). 89 Vgl. Mayer: Gedächtnis-Kunst, S. 12. 90 Ebd.

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All diese Einsichten behalte ich in meinem Gedächtnis, und ich behalte auch, wie ich sie gelernt habe. […] Und was ich jetzt unterscheide und einsehe, das übergebe ich dem Gedächtnis, um mich später daran zu erinnern, dass ich dies jetzt eingesehen habe. Ich erinnere mich also, mich erinnert zu haben.91

Die Buchfassung der Mappe wird im Anschluss an dieses Prinzip „im deutlichen Unterschied zu den anderen Fassungen“92 zu einem komplexen „ErinnerungsOrt“93, an dem nicht nur die ‚Herzensschrift‘ des Urgroßvaters als isolierte autobiografische Aufzeichnung präsentiert wird. Sie ist eingebettet in die Rahmenerzählung, in der Augustinus’ Urenkel als fiktiver Herausgeber des Textes – der eigentlich antritt, um sich im Sinne des dem Text vorangestellten EgesippusZitats die Worte und Taten seines Urgroßvaters zu vergegenwärtigen – auch Teile seines eigenen Lebens erinnert und im Medium der Schrift konserviert. Um die Frage zu beantworten, wie sich der Topos von der Macht der Schrift in der Mappe ausgeprägt hat, sind also mehrere Gesichtspunkte zu untersuchen. Zum einen ist zu betrachten, nach welchem Prinzip das reflektierende autobiografische Schreiben textintern angewendet wird und welche Unterschiede sich zur Ausprägung des Topos in der Narrenburg ergeben. Zum zweiten muss die Frage gestellt werden, welche Auswirkungen dieses Prinzip auf die Figuren hat, dies es anwenden, also auf den Urenkel, den Obristen und Augustinus.

5.3.2 Der Sieg der Schrift über die Dinge Auf den ersten Blick scheint es sich nicht nur bei der Binnen-, sondern auch bei der Rahmenerzählung der Mappe um autobiografisches Erzählen zu handeln. Dies zeigt die oben schon in einem anderen Zusammenhang angeführte Bemerkung des Urenkels von Augustinus und fiktiven Herausgebers, die besagt, dass er die Leser in sein „altes fern von hier stehendes Vaterhaus einführen“ (M2, S. 11; Hervorhebung von mir) wolle. Er schreibt das Einleitungskapitel („Die Alterthümer“) also offensichtlich nach der Rückkehr in die Stadt, als der Besuch in seinem Vaterhaus, den dieses Kapitel schildert, schon abgeschlossen ist.94

|| 91 Aug. conf. 10.XIII.20; Hervorhebung im Original. Zu der von mir verwendeten Ausgabe der Confessiones siehe Kap. 3, Anm. 92. 92 Mayer: Gedächtnis-Kunst, S. 12. 93 Ebd. 94 Wolfgang Lukas geht sogar davon aus, dass der Rahmenerzähler der Buchfassung „zum Erzählzeitpunkt bereits alt und seinerseits potentieller Urgroßvater für einen künftigen Uren-

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Darüber hinaus bringt der Urenkel in diesem Kapitel nicht nur Erinnerungen zu Papier, die sich auf Dinge beziehen, die „tief in dem Nebel der Kindheit“ (M2, S. 13) liegen, sondern geht auch auf den Tod seines Vaters, seine Studienzeit, die Wiederheirat der Mutter und seinen Umzug in die „große ferne Stadt“ (M2, S. 20) ein. Trotzdem kann ich der Feststellung, dass Stifter das „Thema der autobiographischen Schreibsituation […] erst in der Binnenerzählung selbst [entfaltet]“95, uneingeschränkt zustimmen. Im ersten Kapitel geht es um viel mehr als die Biografie des Urenkels, und auch die aktuelle Lebenssituation, in der er sich in der erzählten Zeit der Rahmenhandlung befindet – er hat in der Stadt geheiratet und besucht Mutter und Schwester, um seine Frau in die Familie einzuführen – steht nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Binnenerzählung, wenn sie auch als vordergründiger Erzählanlass erscheint.96 Selbst die Erinnerung an den Urgroßvater Augustinus ist nicht das beherrschende Thema des Einleitungskapitels, auch wenn der Urenkel schon im dritten Absatz die Absicht äußert, „die Erzählung von ihm beginnen“ (M2, S. 12) zu wollen. Nach wenigen, knappen Bemerkungen über die Rückkehr des Urgroßvaters in die Heimat und sein anfängliches Wirken als Landarzt geht es nämlich schon bald nicht mehr um Augustinus selbst, sondern vielmehr um die Frage,

|| kel“ (ders.: Geschlechterrolle und Erzählerrolle, S. 391) ist, während er „zum Zeitpunkt der Rezeption der Tagebücher des Urgroßvaters“ (ebd.) noch keine eigenen Kinder gehabt habe. Ich kann keine Textbelege für einen derartig großen Zeitabstand zwischen der erzählten Zeit der Rahmenhandlung und dem Erzählzeitpunkt erkennen. Im Gegenteil: Der Rahmenerzähler beschreibt den Erzählzeitpunkt wie folgt: „jetzt [...], da ich selber alt zu werden beginne“ (M2, S. 11; Hervorhebung von mir) und spricht von den „Spuren“ (ebd.) für seine Enkel oder Urenkel, die er „jetzt mit so vieler Liebe gründe“ (ebd.). In der Journalfassung der Mappe wird der Eindruck eines kurzen zeitlichen Abstands zwischen dem Heimatbesuch des Urenkels und dem Beginn des Editionsprojekts durch äußerste Verknappung in der Erzählzeit unterstrichen: „Ich verbrachte fast die ganze Nacht mit Durchsuchen der Papiere, und packte das Erhebliche in eine Mappe, um es nach Wien mitzunehmen. Dort in den langen Winterabenden [...] saß ich vor dem Lederbuche und studierte es [...]; […] kurz es kam mir der Gedanke, samt und sonders gewisse Aufsätze des Lederbuches drucken zu lassen“ (M1, S. 13 f.). 95 Mayer: Gedächtnis-Kunst, S. 13. Cornelia Blasberg dagegen vertritt in ausdrücklicher Abgrenzung von Mayer die These, dass „Augustinus [...] in der Studienfassung nichts weiter als ein Zitat des Rahmenerzählers“ (dies.: „Wer bin ich bisher gewesen?“, S. 120) sei, welcher „auf dem Umweg über diese Figur die eigene [...], nach traditionellem Muster unerzählbar gewordene Lebensgeschichte zu verfassen“ (ebd.) suche. 96 Vgl. dagegen Lukas: Geschlechterrolle und Erzählerrolle, S. 391. Lukas liest die Rahmenhandlung als „Neukonzeption der Initiation ins Erwachsenenleben“ (ebd.) und zeigt eine Parallele zwischen dem Urenkel und Augustinus im Hinblick auf die „Geschichte von Partnererwerb und Übergang in das Erwachsenenalter“ (ebd., S. 392) auf.

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wie lange er in der Waldsiedlung von „manche[m] verspäteten Greis“ (ebd.) erinnert wurde und was von ihm übrig geblieben ist: „Das Ersparte ist zuerst fort gekommen, und zwar im Preußenkriege; der Hausrath ist aber noch stehen geblieben“ (ebd.). Hier nennt der Erzähler die drei wesentlichen Formen, in denen Vergangenes auf uns kommen kann: die erinnerten Taten unserer Vorfahren, das, was mündlich über sie weitergegeben wird und schließlich die physischen Artefakte, die die Zeit überdauert haben.97 Sowohl die Taten des Urgroßvaters als auch die „Bruchstücke im Munde der Leute“ (M2, S. 12), die noch lange von ihm zu berichten wussten, erscheinen in der Darstellung des ersten Kapitels zunächst als flüchtige Medien, die „schmolzen wie Eisschollen, […] bis endlich der Strom der Ueberlieferungen allein ging, und der Name des Geschiedenen nicht mehr in ihm war“ (M2, S. 13). Der nun geäußerte Entschluss des Urenkels, von den „Geräthe[n] und Denkmale[n]“ (ebd.) berichten zu wollen, also den physischen Artefakten aus der Vergangenheit, die im Unterschied zu den Worten und Taten des Urgroßvaters nur „verkommener und trüber“ (ebd.) geworden, aber nicht verschwunden sind, darf jedoch nicht in die Irre führen. Die folgenden Abschnitte des Kapitels illustrieren nämlich eine zentrale Eigenschaft von Worten und Taten, die sie von den physischen Artefakten des Elternhauses unterscheidet und eine zentrale Voraussetzung für das Gelingen des „Gedenkbuches“ (M2, S. 12) bildet, das die Mappe darstellen will: Worte und Taten erlauben nicht den „körperlichen Umgang“98, sondern sind „nur dem geistigen Vermögen verfügbar, der Memoria“99. Indem sie erinnert werden können, lassen sie sich aber auch im Medium der Schrift konservieren und so dauerhaft vor dem Vergessen bewahren.100 Die Unterscheidung zwischen den gegenwärtigen Dingen und dem, was nur erinnert und aufgeschrieben werden kann, ist zu Beginn des Einleitungskapitels jedoch alles andere als klar und eindeutig. Die enge Bindung des Urenkels an physische Artefakte stammt noch aus seiner Kindheit. Dort hat er beispielsweise ein „Gefühl verletzter Ehrfurcht“ (M2, S. 15) empfunden, wenn er die Stelle betrachtete, an der ein nicht mehr benötigter Schrank gestanden hat, der mit Äxten zu Kleinholz verarbeitet wurde. Auch der Stoff, aus dem seine Schülerklei|| 97 Vgl. Mayer: Gedächtnis-Kunst, S. 12. Mayer bezeichnet diese drei Formen mit den lateinischen Begriffen ‚facta‘, ‚dicta‘ und ‚habitacula‘ und schließt damit sowohl an das lateinische Motto der Erzählung als auch an die oben bereits erwähnte Memoria-Lehre an. 98 Ebd. 99 Ebd. 100 Vgl. Neuber: Memoria, S. 563: „Sie [die Memoria; H. A.] kann sich auf das natürliche Erinnerungsvermögen des Individuums stützen [...], aber auch auf den Speicher der Schrift“.

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dung hergestellt wurde, ließ sein „kleines Herz jedesmal um den verstorbenen Vater sehr weh“ (ebd.) tun, denn aus dessen ehemaligem „Brautrock“ (ebd.) war sie geschneidert. Folgerichtig sind es die Dinge101, die anfänglich für ihn den entscheidenden Zeichencharakter besitzen.102 Die vielzitierte Wendung von der „Dichtung des Plunders“ (M2, S. 16) bezieht sich auf physische Artefakte, nämlich den „Wegwurf vergangener Jahre“ (ebd.). In der Gegenwart der Rahmenerzählung findet der Urenkel aber keinen rechten Zugang mehr zu dem zeichenhaften Potenzial der Artefakte, die erhalten geblieben sind. Sie haben sich für ihn in „stumme[] unklare[] Erzähler „ (M2, S. 17) verwandelt, und was in ihnen verborgen liegt, „bleibt begraben“ (ebd.).103 Der Urenkel setzt die zahllosen ungeschriebenen Familiengeschichten, die von den Dingen nicht preisgegeben werden, in Beziehung zu einer „andern, großen Geschichte“ (M2, S. 17), in der man „die Liebe ausgelassen, und das Blutvergießen aufgezeichnet hat“ (ebd.) – dies ist die Geschichte von Kriegen, Siegen und Niederlagen, die Eingang in die Geschichtsschreibung gefunden haben. Die Abgrenzung zwischen Politik- und Alltagsgeschichte, die der Text

|| 101 Die Forschung hat schon früh erkannt, dass „Dinge […] in Stifters Texten eine zentrale Rolle [spielen]“ (Christian Begemann: Dinge [Art.]. In: SHB, S. 309–313, hier S. 309). Selbst wenn – wie auch in der Rahmenerzählung der Mappe – „verkommene und scheinbar nichtige Dinge ins Blickfeld gerückt werden […], bemüht sich der Text, sie als Träger von Bedeutung auszuweisen. Dinge sind immer auch Erinnerungsspeicher, Medien des kollektiven, familialen oder individuellen Gedächtnisses“ (ebd., S. 310). Vgl. ausführlicher auch ders.: Ding und Fetisch. Überlegungen zu Stifters Dingen. In: Der Code der Leidenschaften. Fetischismus in den Künsten. Hrsg. von Hartmut Böhme u. Johannes Endres. München 2010, S. 324–343. 102 Vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 41. Begemann beschreibt hier die Zeichenhaftigkeit physischer Artefakte in der Buchfassung der Mappe im Zusammenhang mit dem etwa zur selben Zeit entstandenen Stifter-Text Der Tandelmarkt. Vgl. auch Schneider: Vergessene Dinge, S. 165. Schneider unterscheidet im Hinblick auf den Zeichencharakter der Dinge präzise zwischen Journal- und Buchfassung der Mappe. Während erstere durch die Beschäftigung mit dem „Trödel des eulenspiegligen Urgroßvaters“ (ebd.) lediglich die „Spuren der individuellen Narrheit“ (ebd.) aufdecke, komme den Dingen in der Buchfassung die Aufgabe zu, von einer „geglückten lückenlosen Kommunikation der Generationen“ (ebd., S. 166) zu künden. 103 Vgl. Cornelia Blasbergs Ausführungen zum Problem der „nicht überprüfbare[n] Intermedialität“ (dies.: „Wer bin ich bisher gewesen?“, S. 107) des literarischen Texts der Mappe, der als fiktive Edition eben nicht nur auf der Schrift als „prominenteste[r] Archivarin“ (ebd., S. 106) beruht, sondern auch auf mündlicher Überlieferung und physischen Artefakten. Diesem Text sei „notwendig eingeschrieben, was dieser Erwachsene [der Urenkel; H. A.] im Plunder nicht mehr sehen und für dessen Transkription in Text nicht aktivieren kann: das Bewusstsein lebendiger Teilhabe an einer weit in die Vergangenheit zurückreichenden Traditionsreihe“ (ebd., S. 107; Hervorhebungen im Original).

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hier vornimmt, ist erstaunlich, weil sie ihrer Zeit weit voraus ist.104 Entscheidend für die Interpretation der Mappe sind aber nicht die Überlegungen zur Historiografie, die der Urenkel hier anstellt, sondern das, was aus seinem Bedauern darüber folgt, dass man anstelle der Liebe den „Haß […] in tausend Büchern aufgeschrieben“ (M2, S. 17) hat: Es ist die Schrift, die zählt. Sie setzt sich gegenüber den Dingen durch. In der Kindheit des Rahmenerzählers dagegen waren die Dinge noch nicht stumm: In jener Zeit stand der alte Hausrath noch wie eine eherne Chronik umher; wir Kinder lebten uns hinein, wie in ein verjährtes Bilderbuch, dazu der Großvater die Auslegung wußte, und erzählte, er, der der eigentlichste lebendigste Lebensbeschreiber seines Vaters des Doctors war. (M2, S. 18; Hervorhebung von mir)105

Mit geringem zeitlichem Abstand zu den Ereignissen, von denen sie berichten, und mit der Hilfe eines Interpreten können die Dinge ihr zeichenhaftes Potential noch entfalten. Sie erzeugen über die mündliche Überlieferung hinaus sogar neue Bedeutungen, wenn etwa ein Möbelstück anfängt, in einer im Familienkreis erzählten „Geschichte mit zu spielen, [...] weil es in einem bedeutungsvollen Augenblicke in ihm krachte“ (M2, S. 18).106 Schon in diesem Abschnitt posi-

|| 104 In der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft hat erst in den 1980er Jahren „eine Reihe von professionellen (Sozial-) Historikern [sic (mit Leerzeichen)] alltagsgeschichtliche Perspektiven in ihr Repertoire aufgenommen“ (Alf Lüdtke: Einleitung: Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte? In: Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen. Hrsg. von Alf Lüdtke. Frankfurt a. M./New York 1989, S. 9–47, hier S. 32). Etwa zur selben Zeit ist die Alltagsgeschichte „vor allem auch jenseits der Zunft vorangebracht worden“ (ebd., S. 33), etwa im Medium Film. 105 Die Vorstellung von einer Zeichenhaftigkeit der Dinge und die Möglichkeit ihres Stummbleibens kennt schon Aurelius Augustinus. Die „geschaffenen Dinge[]“ (Aug. conf. 10.VI.10) sprechen nur zu dem, der sie beurteilend befragt und ermöglichen es, „das Unsichtbare Gottes durch das Geschaffene geistig zu erfassen“ (ebd.). 106 Die Erzählungen des Großvaters, an die der Rahmenerzähler sich erinnert, entfachen ein regelrechtes „Geisterfieber in der Stube“ (M2, S. 19), das bei den Anwesenden zu einer Diskussion darüber führt, dass zu Zeiten des Urgroßvaters Augustinus noch ein „unsägliches Gewimmel von überirdischen Dingen“ (ebd.) geherrscht habe, während sich in der Gegenwart „kein Geist [...] mehr sehen oder hören“ (ebd.) lasse. Die Großmutter bemerkt dazu, dass die Leute „heut zu Tage nicht mehr so fest“ (ebd.) glaubten und kritisiert die Jugend, die „alles besser wissen“ (ebd.) wolle. Diese Betrachtungen über den Gegensatz zwischen Rationalität und Irrationalität lassen sich als frühe Manifestation des Vorstellungsmusters von der Macht der Wunder lesen, das in Kazensilber zum textkonstitutiven Topos werden wird (siehe Abschnitt 3.4). Es ist allerdings nicht von der Hand zu weisen, dass der hier konstruierte „Gegensatz zwischen der nüchternen Gegenwart des Rahmen-Ichs und der außergewöhnlichen Vergangenheit des Binnen-Ichs“ (Lukas.: Geschlechterrolle und Erzählerrolle, S. 393) im Nachwort

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tioniert sich die Schrift jedoch als Gegenspieler zu den Dingen, denn während der Großvater die Chronik des Hausrats auslegt, liest der Vater, der „auf diese Erzählungen nichts hielt“ (M2, S. 19), „fast ausschließlich in einem ledernen Handschriftenbuche“ (M2, S. 17), den Aufzeichnungen von Augustinus. Hier beginnt ein mehrstufiger Prozess, in dem die Dinge im Laufe des ersten Kapitels nach und nach ihren Zeichencharakter verlieren und die Schrift als Medium die Oberhand über die Familiengeschichte gewinnt. Der Text ruft an dieser Stelle eine in der Tradition der Memoria gängige Allegorie vom Gedächtnis als Schatzhaus107 auf, indem er das Elternhaus des Rahmenerzählers als Erinnerungsort beschreibt.108 Als nach dem Tod des Vaters mit einem Stiefvater „eine neue Regierung in das Haus“ (M2, S. 22) kommt und neue Einrichtungsgegenstände die Artefakte, die noch vom Urgroßvater künden, in eine unbewohnte „Hinterstube“ (ebd.) verdrängen, wo sie „in Verworrenheit stehen“ (ebd.) bleiben, verblasst auch die Historie der Familie im Bewusstsein des Urenkels: „Auch in mein Haupt waren nach und nach andere Gedanken und andere Bestrebungen gekommen“ (ebd.). Ein isolierter Versuch, sich den Dingen wieder zu nähern, findet noch statt: Aber einmal in den großen Herbstferien besuchte ich die alten Sachen wieder. Mir kam bei, daß ich sie ordnen könnte. Ich that es, richtete die braune Stube mit ihnen ein, und stand dabei, wie der sanfte schwermüthige Herbstglanz der Sonne so an ihnen hin streichelte und sie beleuchtete. (M2, S. 20)

|| des Rahmenerzählers „als bloß scheinbarer entlarvt“ (ebd.) wird. Schließlich heißt es dort: „[S]o weit ist alles an ihm [Augustinus; H. A.], der uns immer wie ein Wundermann erschienen war, gewöhnlich, wie bei allen andern Leuten“ (M2, S. 232). 107 Vgl. Neuber: Memoria, S. 562. Auch bei Aurelius Augustinus wird diese Allegorie im Detail ausgeführt. Für dessen „denkenden Aufstieg zum Göttlichen“ (Flasch: Anmerkungen, S. 230) ist es essenziell, im Gedächtnis gespeicherte Inhalte aufrufen zu können: „[I]ch [betrete] die Felder und weiten Paläste meines Gedächtnisses. Dort lagern die Schätze unzähliger Bilder, die meine Sinne von sinnlichen Dingen zusammengetragen haben. [...] Trete ich dort ein, kann ich alle Bilder aufrufen, die ich nur will“ (Aug. conf. 10.VIII.12). Dieser Vorgang stellt für Augustinus eine unabdingbare Voraussetzung dar, um Sachverhalte überhaupt beschreiben zu können: „Und während ich rede, sind mir aus dem Schatzhaus meines Gedächtnisses die Bilder all der Dinge gegenwärtig, die ich ausspreche. Nichts von all dem könnte ich aussprechen, blieben diese Bilder aus“ (Aug. conf. 10.VIII.14). 108 Vgl. Mayer: Gedächtnis-Kunst, S. 23. Mayer bemerkt in Anlehnung an eine Untersuchung von Stefan Gradmann zur Darstellung des Elternhauses in der Buchfassung der Mappe: „Das Haus ist aber gerade nicht Ort einer ausschließlich räumlichen, sondern auch einer zeitlichen Identität, eben der Erinnerung. Es ist nicht zu bestreiten, daß dieser Aspekt von der StudienMappe zur Letzten Mappe hin an Gewicht verloren hat“ (ebd.).

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In dieser Ordnung stehen die schon verstummten Einrichtungsgegenstände immer noch, als der Urenkel Jahre später mit seiner Frau das Elternhaus besucht. Bis auf das „Schreibgerüste“ (M2, S. 22) des Urgroßvaters haben sie sich in „gewöhnliche Trümmer und Reste“ (ebd.) verwandelt, und auch der Rest des Hauses und Anwesens scheint verändert: „[E]in schwermüthig klares Licht der Gegenwart lag auf allen Dingen, und sie blickten mich an, als hätten sie die Jahre meiner Kindheit vergessen“ (ebd.). Der Sieg der Schrift über die Dinge erreicht schließlich in der Schlüsselszene, in der die verloren geglaubten Aufzeichnungen des Urgroßvaters beim Stöbern auf dem Dachboden in einer alten Truhe auftauchen, seinen Höhepunkt. Der Urenkel öffnet sie, und was sich ihm zeigt, sind „Knäuel von Papieren, Schriften, Päckchen, Rollen, unterschiedlichen Handgeräthen, Bindzeugen und anderem Gewirr – aber weit hinaus herrschten die Papiere vor“ (M2, S. 23; Hervorhebung von mir). Hier entdeckt der Urenkel, der bald „bis auf die Knie in Papieren“ (M2, S. 24) sitzt, die Geschichte seiner Familie im Medium der Schrift wieder. Dieser Wiederentdeckungsprozess beginnt bei Alltagsdokumenten wie Rechnungen oder Rezepten, nimmt „Briefe mit längst ausgebrannter Liebe“ (ebd.) und Schulbücher mit den Namen der Geschwister in den Blick und führt den Urenkel schließlich „auf ein ganz anderes Buch“ (ebd.), die Mappe des Urgroßvaters, in dessen zweiten Band aber „viele zerstreute Blätter und Hefte“ (M2, S. 26) eingelegt sind, die nicht von Augustinus, sondern vom verstorbenen Vater stammen. Hier findet sich auch ein „morsches zerfallendes Kalenderblatt, darauf mit zerflossener entfärber Dinte geschrieben stand: ‚Heute mit Gottes Segen mein geliebter erster Sohn geboren‘“ (M2, S. 27). Bevor er sich im Detail mit dem „Lederbuche“ (ebd.) seines Urgroßvaters befasst, wendet sich der Urenkel den Aufzeichnungen seines Vaters zu, was nicht folgenlos bleibt: „Ich las in Vielem und es däuchte mir, das Herz, dem ich zwanzig Jahre nachgejagt hatte, sei gefunden: es ist das meines Vaters, der vor Langem gestorben war“ (M2, S. 27). In der postumen Annäherung an den Vater, der einmal gesagt hat, „ich darf es dem Knaben nicht zeigen, wie sehr ich ihn liebe“ (ebd.), erweist sich zum ersten Mal im Text die Macht der Schrift. Diese wird sich in der Binnenerzählung für den Urgroßvater aber noch in ganz anderer Form als lebensverändernd erweisen.

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5.3.3 Protagonisten mit parallelen Lebensläufen Wenn man die Anordnung der Kapitel in der Buchfassung und in den späten Fassungen der Mappe miteinander vergleicht,109 fällt vor allem der folgende Unterschied ins Auge: In der Buchfassung wird der autobiografische Bericht des Obristen im dritten Kapitel („Der sanftmüthige Obrist“) wiedergegeben und bildet damit den Anfang der Binnenhandlung. In den späten Fassungen der Mappe erscheint dieser Bericht erst als sechstes Kapitel des ersten Bandes. Diese veränderte Kapitelreihenfolge verabschiedet sich zugunsten einer chronologischen Anordnung der Ereignisse von der „kreisartige[n] Anlage“110 der Buchfassung, die zweimal zum selben Punkt in der erzählten Zeit zurückkehrt: Sowohl das dritte als auch das vierte Kapitel („Margarita“) enden am 8. Juni 1739,111 also dem Tag, an dem die Beziehung zwischen Augustinus und Margarita zerbricht (vgl. M2, S. 63 ff. und S. 184 ff.). Diese Erzähltechnik lässt sich in zweierlei Hinsicht für eine Interpretation nutzbar machen: Zum einen kann man sie in poetologischer Hinsicht als „äußerst konsequente Schleifenstruktur“112 deuten, die das textkonstitutive Vorstellungsmuster der Buchfassung der Mappe, nämlich die Bewältigung des eigenen Lebens durch autobiografisches Schreiben, in der Textstruktur erkennbar werden lässt. Zum anderen macht die exponierte Position des dritten Kapitels in der Buchfassung, aus der die Notwendigkeit eines zyklischen Erzählvorgangs erst resultiert, die Figur des Obristen zum zentralen Bezugspunkt für die Ereignisse um Augustinus. Schließlich stellt die Biografie des Obristen einen eigenen Bildungsgang dar, der entscheidende Parallelen zu Augustinus’ eigener Geschichte aufweist.113 Von diesem Bildungsgang erfahren die Leser zeitgleich mit || 109 Siehe dazu eine Übersicht der Kapitel aller vier Fassungen in Bengesser/Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4), S. 25. 110 Mayer: Adalbert Stifter, S. 105. 111 Die textinterne Festlegung des Jahres, in dem die Binnenhandlung beginnt, unterscheidet sich in den vier Fassungen wie folgt. Journalfassung: 1730; Buchfassung: 1739; dritte Fassung: keine Angabe; vierte Fassung: 1731. Vgl. Bengesser/Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4), S. 163. 112 Mayer: Adalbert Stifter, S. 105. So auch schon ders.: Gedächtniskunst, S. 17. Bei Wolfgang Lukas findet sich eine hilfreiche Beschreibung dieser schleifenartigen Erzählstruktur (vgl. ders.: Geschlechterrolle und Erzählerrolle, S. 389) und eine Bewertung der damit verbundenen „Aufschiebepraxis“ (ebd.); diese sei im Hinblick auf Augustinus „eindeutig als zwangsneurotisch zu klassifizieren“ (ebd., S. 390). 113 Vgl. Mayer: Adalbert Stifter, S. 105. Mayer weist den Parallelen zwischen beiden Figuren im Hinblick auf die zyklische Erzählstruktur der Buchfassung eine unterstützende Funktion zu: Die „Kreis- und Wiederholungsfigur“ (ebd.) der „zwei großen Erzählschübe[]“ (ebd.) wird

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der Figur Augustinus, denn der Obrist bittet den jungen Arzt, den er kurz zuvor an der Selbsttötung gehindert hat, um eine Unterredung, in der er ihm seine Identität als Graf Casimir Uhldom114 enthüllt und seine Lebensgeschichte erzählt. Eine der Parallelen in den Biografien der beiden Figuren kann bei einer Interpretation der Buchfassung nur indirekt berücksichtigt werden, denn sie bezieht sich auf die Episode von den zwei Bettlern, die Stifter nicht in die Buchfassung aufgenommen hat. Es ist in diesem Fall also notwendig, auf die Journalfassung zurückzugreifen. Hier stellt sich aber die Frage, ob ein solches Vorgehen überhaupt legitim ist. Schließlich habe ich das Fehlen der genannten Episode in der Buchfassung ebenfalls in die Deutung des Textes einbezogen. Dies geschah mit der Aussage, Augustinus erscheine durch seine nicht erzählte Vergangenheit als draufgängerischer Student in der Buchfassung in einem Licht, das ihn für den zu erzählenden Bildungsgang als geeigneter erscheinen lasse (siehe Abschnitt 5.3). Es darf in diesem Zusammenhang aber nicht übersehen werden, dass das Fehlen der Bettler-Episode diesen Effekt unabhängig davon erzeugt, ob Stifter sie bewusst – also mit künstlerisch begründeten Absichten – in der Buchfassung ausgespart hat oder ob andere Gründe dafür verantwortlich sind. Letzteres erscheint wahrscheinlicher, wie die Korrespondenz zwischen Stifter und seinem Verleger zeigt.115 Deswegen beziehe ich im Hinblick auf Augustinus’ Studentenzeit auch die Journalfassung mit ein. Das erste biografische Ereignis, das den Obristen und Augustinus miteinander verbindet, ist ein Zweikampf, der für den jeweiligen Gegner beinahe

|| „auch auf der Figurenebene gestützt, wenn Augustinus in vielen Details entscheidende Krisen des Obristen in seinem eigenen Leben nachvollzieht“ (ebd., S. 105 f.). 114 In der Journalfassung heißt der Obrist dagegen „Graf Julius Scharnast“, in der dritten Fassung „Casimir Uhl von Uhldom“ und in der vierten Fassung schließlich „Casimir Ulsin von Ulheim“ (vgl. Bengesser/Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4), S. 27). Die Namensänderung in der Buchfassung löst den Text aus einem allzu offensichtlichen Zusammenhang mit den anderen Erzählungen aus dem Scharnast-Komplex (vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 245), während für die vierte Fassung vermutet wird, dass die Änderung „Assoziationen zu dem mit Stifter befreundeten Journalisten und Schriftsteller Friedrich Uhl (1825–1906) ausschließen [sollte]“ (Bengesser/Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4), S. 154). 115 In einem Schreiben vom 25. Dezember 1844 informiert Stifter Heckenast über Änderungen an den Kapiteln „Das Gelöbnis“ und „Der sanfte Obrist“ (vgl. PRA 17, S. 132). Im selben Schreiben wird deutlich, dass er die Episode von den zwei Bettlern für die Buchfassung eingeplant hatte: „Nach der ‚Margarita‘ kömmt die Geschichte der ‚zween Bettler‘, die 2 Bogen gibt und auch schon fast in ihrer Gestalt ist“ (ebd., S. 133). Vgl. Dittmann: Studien. Kommentar (HKG 1,9), S. 233.

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tödlich endet. Es liegt in beiden Fällen in einer biografischen Phase, die mit dem Begriff des ‚Draufgängertums‘ angemessen beschrieben ist. So berichtet der Obrist seinem Gesprächspartner Augustinus in der Binnenerzählung116 des dritten Kapitels, wie er als junger Graf Casimir Uhldohm nach Paris ausgewandert und durch Erfolg im Glücksspiel zu Reichtum gelangt ist. Hier fordert er einen „langen blassen Mann zum Zweikampfe“ (M2, S. 47), der ihn mit der Aussage konfrontiert hat, dass er „doch nur ein Lumpe sei, der vom Pariser Strolchengolde lebe“ (ebd.), und richtet ihn derart zu, dass er ihn zunächst für tot halten muss. Dieser Tat geht allerdings schon eine erste Läuterung voraus, in deren Zuge der Graf den größten Teil seines Reichtums dem „Vorsteher des Armenwesens“ (ebd.) als Spende übergibt. Nach dem Zweikampf verlässt Casimir Uhldom Frankreich, um sich der „deutsche[n] Reichsarmee“ (ebd.) anzuschließen. Ganz ähnlich verhält sich der junge Augustinus während seiner Prager Studentenzeit. Schon vor dem eigentlichen Duell, von dem die Journalfassung in der Episode von den zwei Bettlern berichtet, zeigt er sich gewaltbereit und bringt Kritiker, die ihn für seine Freundschaft mit dem sonderbaren Eustachius117 verhöhnen, zum Schweigen, indem er „ihnen etwas stärkere Fetzen vom Leibe [hieb], als er einst dem Eustach gerathen“ (M1, S. 54). Nachdem er zum „Doctor der Heilkunde promovirt“ (M1, S. 67) worden ist, fordert er den „Schufte Korschitzki“ (ebd.), der den mittlerweile verschwundenen Eustach betrogen hat, zu „einem Zweykampfe, worin er ihn fast zu drey Viertheilen umbrachte“ (ebd.), um anschließend Prag zu verlassen und in seine Heimat zurückzukehren. Die zweite biografische Parallele zwischen Augustinus und dem Obristen besteht in einem Suizidversuch, der durch die unerfüllte Liebe zu einer Frau verursacht wird. Zu Beginn der Unterredung hatte der Obrist seinem Gesprächs-

|| 116 Aus erzähltheoretischer Perspektive lässt sich die Rahmenerzählung des Urenkels als extradiegetisches Erzählen beschreiben, während Augustinus als intradiegetischer Erzähler auftritt. Der autobiografische Bericht des Obristen im dritten Kapitel ist demnach als metadiegetisches Erzählen einzuordnen (vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, S. 80). Der besseren Lesbarkeit willen verwende ich im Folgenden aber weniger exakte Beschreibungen für die unterschiedlichen Erzählstimmen und beziehe mich auf die ‚Binnenerzählung des Kapitels‘ oder den ‚autobiografischen Bericht des Obristen‘. 117 In der Journalfassung der Mappe wird diese Figur in der Regel als ‚Eustach‘ bezeichnet. Im vierten Kapitel spricht der Urenkel von Augustinus aber vom „närrischen Eustachius“ (M1, S. 68). In der dritten und vierten Fassung der Mappe wird die Figur dagegen zumeist als ‚Eustachius‘, gelegentlich und vor allem in der Anrede aber auch als ‚Eustach‘ bezeichnet. Auch in der einschlägigen Forschungsliteratur finden sich beide Formen des Namens.

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partner lediglich Andeutungen gemacht: „Ich möchte euch nemlich von meinem früheren Leben erzählen, und wenn ich geendet habe, möchte ich noch gerne eine Frage und eine Bitte an euch thun“ (M2, S. 43) – ein Entschluss, der übrigens erst entsteht, nachdem der Obrist Augustinus um ein Gespräch gebeten hat, um ihn vom Suizid abzuhalten: „[I]ch lief euch nach, um ein Unglück zu verhüten; […] allein seitdem habe ich es mir so ausgebildet, daß ich mit Euch von meiner Vergangenheit reden möchte“ (ebd.). Der Obrist leitet den Abschnitt seiner autobiografischen Erzählung, in dem es um eine unglückliche Liebe geht, mit einem Vergleich ein, in dem er sein jüngeres Selbst mit Augustinus in Beziehung setzt: Da geschah es, daß ein Oheim starb […] und mir ein beträchtliches Vermögen hinterließ. Zu gleicher Zeit verliebte ich mich auch. Ach Gott, lieber Doctor, es sind jetzt viele, viele Jahre vergangen – und verzeiht mir die Worte, die ich sagen werde – ich war gerade so schwärmend wie ihr, ich war ausschweifend in Haß und Freundesliebe, ich war ebenso strebend und vom Grunde aus gutherzig wie ihr. (M2, S. 48 f.)

Mit diesem direkten Vergleich verleiht der Obrist seiner Erzählung einen pädagogischen Impuls und macht Augustinus zu seinem Zögling – eine Konstellation, die dieser nur zu bereitwillig annimmt, wie sich zu Beginn des vierten Kapitels zeigt. Augustinus „muß den Mann hoch ehren“ (M2, S. 65) und betont, „[w]ie gut er ist nicht nur gegen mich, sondern auch gegen alle andern“ (M2, S. 66). Die Schilderung der unglücklichen Liebe, die den Obristen beinahe in die Selbsttötung getrieben hätte, nimmt nicht einmal eine Buchseite ein: Ein „Freund und Vertrauter“ (M2, S. 49) nimmt dem jungen Grafen seine Braut weg und „führt[] sie selber zum Altare“ (ebd.), was beinahe zu einer weiteren Gewalttat führt: Der Graf will dem treulosen Freund „nachreisen, um ihn zu erstechen“ (ebd.). Dieser Plan wird dann aber ohne weitere Begründung durch die Absicht zum Suizid ersetzt: „[A]ber ich that es dann nicht, und nahm mir vor, mich selber zu tödten“ (ebd.). Als der Graf bei dem Versuch, sich mit seiner Büchse zu erschießen, von einem „gemeine[n] Mann unserer Rotte“ (ebd.), der ihm heimlich gefolgt ist, überrascht wird, ist er so „erschrocken […] und so verworren“ (ebd.; Hervorhebung von mir), dass er den Plan, sich selbst zu töten, aufgibt. Hier zeigt sich eine sprachliche Übereinstimmung mit der Schilderung des Selbsttötungsversuchs von Augustinus: Die Tuchschlinge, mit der sich der junge Arzt im Wald erhängen will, ist bereits geknüpft, als der Obrist ihm „ganz leise an die Schulter“ (M2, S. 34) greift: „Ich erschrak sehr, sprang um den Baum herum und schaute zurück“ (ebd.; Hervorhebung von mir). Der Obrist hat an dieser Stelle gleichsam die Seiten gewechselt, indem er, der sich einst aus Ver-

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zweiflung selbst töten wollte, zum Verhinderer einer Selbsttötung wird und dieselben Mittel anwendet, mit der er in seiner Jugend vor dem Suizid gerettet wurde. Ich habe diese beiden biografischen Parallelen beschrieben, weil sie sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen, der für die Bildungsgänge der beiden Hauptfiguren von Bedeutung ist: die leidenschaftliche Anwendung von Gewalt. Ob es nun der Kampf mit einem Widersacher ist, der beinahe zu Tode kommt, oder der Versuch, von eigener Hand zu sterben:118 Der Text verknüpft beide Formen der Gewaltanwendung mit einem Entwicklungsstadium der jeweils handelnden Figur, deren Defizite durch einen Transformationsprozess zu beheben sind. Hier kommt nun die dritte und wichtigste Übereinstimmung zwischen den Biografien der beiden Figuren ins Spiel. Sie besteht in der Anwendung einer therapeutischen Technik, die oben schon mehrfach als ‚Mappenprinzip‘ bezeichnet wurde. Sowohl der Obrist als auch Augustinus gewinnen in ihrer Jugend „aus der Bannung des Todes de[n] Entschluss zur Aufzeichnung des Lebens“119, um die „Möglichkeiten des katastrophalen Scheiterns und der zerstörerischen Leidenschaft“120 in einem Selbsterziehungsprozess abzuwenden.121 Das Mittel der Wahl besteht, in den Worten des Obristen ausgedrückt, darin, daß einer sein gegenwärtiges Leben, das ist, alle Gedanken und Begebnisse, wie sie eben kommen, aufschreibt, dann aber einen Umschlag darum siegelt und das Gelöbniß macht, die Schrift erst in drei bis vier Jahren aufzubrechen und zu lesen. (M2, S. 50)

|| 118 In Bezug auf den Obristen hat sich die kritische Bewertung suizidaler Absichten dem Text deutlich eingeschrieben. Der „gemeine[] Mann“ (M2, S. 49), der den Obristen bei seinem Suizidversuch ertappt, stößt ihm das „Rohr von der Kehle, und flüstert[]: ‚Herr Graf, ich schweige, aber das müßt ihr nicht mehr thun‘“ (ebd.). Die versuchte Selbsttötung von Augustinus dagegen wird im Text nur verhindert und erfährt eine nachgelagerte Bewertung durch den Autor. Der bekannte Brief an Gustav Heckenast vom 16. Februar 1847, in dem Stifter seine Unzufriedenheit mit der Buchfassung zum Ausdruck bringt, bewertet die „ersten 4 Bogen“ (PRA 17, S. 209) als „so ziemlich gut“ (ebd.), jedoch „mit Ausnahme des Hängeversuches, der weg muß, weil der Doctor das nicht thut“ (ebd.). Die Episode im Birkenwald, in dem Augustinus Suizid begehen will, ist ohnehin nur in der Journal- und der Buchfassung „als versuchte Selbsttötung erkennbar“ (Bartl: Den Suizid erzählen, S. 238). In den späten Fassungen der Mappe dagegen ist „die Suizidabsicht Augustinus’ zum Teil bis zur Unkenntlichkeit entschärft“ (ebd., S. 238, Anm. 4). 119 Mayer: Adalbert Stifter, S. 104. 120 Pörnbacher: Nachwort, S. 323. 121 Vgl. Wróblewska: Enthaltsame Liebe, S. 28.

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Beide Figuren wenden dieses Mittel aus eigenem Antrieb an – die Aufzeichnungen in Augustinus’ Ledermappe tragen in der Buchfassung nicht von ungefähr den Titel „Calcaria Doctoris Augustini“ (M2, S. 25).122 Empfohlen wird ihnen diese Technik aber jeweils von jemandem, der an Lebenserfahrung reicher ist als sie selbst.

5.3.4 Das veränderte Selbst und die Gestaltung der Wirklichkeit Der Obrist hört als junger Mann nur zufällig, wie ein „alter Kriegsmann“ (M2, S. 50) einer „Jungfrau, die gerade in Liebeskummer befangen war“ (ebd.), von der heilsamen Wirkung des therapeutischen Schreibens berichtet, beschließt aber trotzdem, dieses Mittel auf sich selbst anzuwenden: „Ich […] dachte gleich in meinem Innern, daß ich das Ding auch versuchen würde – und wie oft habe ich seitdem den todten Mann gesegnet, daß er es sagte, und den Zufall, der es ihn im rechten Augenblicke sagen ließ“ (M2, S. 50 f.).123 Die Auswirkungen dieses Entschlusses sind, wie sich im Folgenden zeigen wird, immens. Anders als Augustinus, der sich für seine autobiografischen Aufzeichnungen ein in Leder gebundenes Buch (vgl. M2, S. 193) anfertigen lässt, arbeitet der Obrist mit Einzelblättern, die gefaltet und in „Päcke“ (M2, S. 51) eingesiegelt werden. Bei der Öffnung der ersten Aufzeichnungen, die „nicht nach drei, sondern erst nach fünf Jahren“ (ebd.) stattfinden kann, und der Relektüre der Niederschrift ergeben sich zwei Effekte. Zunächst einmal gelangt der Obrist unabhängig von der Bewertung des Geschriebenen – denn es ist „Vieles besser, Manches schlechter“ (ebd.) geworden – zu der Erkenntnis, dass seine „Ansichten […] gewachsen und gereift“ (ebd.) sind. Genau diese Erkenntnis trägt aber den Impetus zur nächsten Niederschrift in sich: Der Obrist verspürt die „heftigste Begierde sie [die Ansichten; H. A.] gleich wieder in einem neuen Packe nieder

|| 122 Lat. calcar = Ansporn. Den genannten Titel für Augustinus’ Aufzeichnungen behält Stifter in den späten Fassungen der Mappe bei. In der Journalfassung lautete er noch: „Memorabilia und seltene casus aus dem Leben und praxi M. Dr. Augustini Fundatoris“ (M1, S. 13). Vgl. Mayer: Adalbert Stifter, S. 104 f. und Schmidt: „Wir haben ohnehin die Ordnung umgekehrt...“, S. 138 f. 123 Diese Szene findet sich ähnlich auch schon in der Journalfassung (vgl. M1, S. 25). Der Obrist beginnt mit der Anwendung des Mappenprinzips also nicht erst nach dem Verlust seiner Frau, wie Andrea Bartl meint: „Der Obrist stürzt, so meint er, wegen ihres [gemeint ist die Frau des Obristen; H. A.] Selbstopfers nicht ab, sondern lebt weiter, entwickelt in der Folge sein therapeutisches Schreibprogramm und wandelt sich zum konstruktiven, gesellschaftlich verantwortungsbewussten Menschen“ (dies.: Den Suizid erzählen, S. 243 f.).

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zu schreiben“ (ebd.), weil er erst später begreifen wird, dass er sich in einem iterativen Prozess befindet und noch nicht erkennen kann, „daß es mir bei jedem [Bündel von Schriften; H. A.] so ergehen würde“ (ebd.). Die heilsame Wirkung dieser Iterationen von Schreiben, Lesen und erneutem Schreiben führt später, als der Obrist schon aus dem Militärdienst ausgeschieden ist, dazu, dass die „Päckchen immer mehr Gleichmäßigkeit“ (M2, S. 53) bekommen, „bis im Alter eines, wie das andere, wurde“ (ebd.). Bevor sich dieser Zustand einstellen kann, wird der Veränderungsprozess allerdings vom Denken auf das Handeln ausgedehnt: Es sind nicht mehr nur Ansichten, die einem Wandel unterliegen, sondern der Obrist, der während dieses Prozesses in „schwere Schlachten“ (M2, S. 52) verwickelt ist, in denen „das menschliche Blut wie Wasser vergeude[t]“ (ebd.) wird, fängt „mit der Zeit auch an, im Leben auszuüben, was ich im Geiste denken gelernt hatte“ (ebd.). Die wesensverändernde, identitätsbildende Wirkung des Mappenprinzips zeigt sich also auch in aktivem, wirklichkeitsverändernden Handeln. In diesem Zusammenhang ist die folgende Aussage, die der Obrist rückblickend über sich macht, von besonderer Bedeutung: „Ich lernte nach und nach das Gute von dem Gepriesenen unterscheiden, und das Heißerstrebte von dem Gewordenen“ (M2, S. 52). Hinter diesem Parallelismus verbirgt sich nicht einfach nur eine bekräftigende Wiederholung, sondern die Erkenntnis, dass es mit einer Anpassung der eigenen Ansprüche (das Heißerstrebte) an die Realität (das Gewordene) nicht getan ist, denn das Gepriesene steht in diesem Kontext für die erfolgreiche und pflichtgemäße Ausübung des Kriegshandwerks.124 Obwohl der Obrist als Handelnder und Verantwortlicher in genau diese Zusammenhänge verstrickt ist, gelingt es ihm durch die Anwendung des Mappenprinzips, zu erkennen, was das Gute ist. So sorgt er etwa unter Einsatz seines eigenen Lebens für die Rettung von „tausend Feinden“ (ebd.), die ohne sein Eingreifen „wie blöde Thiere getödtet würden“ (ebd.), und wendet sich damit genau gegen die Eigenschaft, die für die negative Bewertung seines früheren Selbst verantwortlich ist: die Bereitschaft, leidenschaftliche Gewalt gegen andere Menschen zu üben. Deswegen führt es zu Widersprüchen, wenn man die Aussage des Obristen über die zunehmende Gleichmäßigkeit seiner Aufzeichnungen lediglich im Sinne einer Differenzverringerung zwischen Subjektivität und Realität, „zwischen dem subjektiven Wollen und dem Weltlauf“125, liest. Dann erscheint die Aussage über das Gute und das Gepriesene nämlich als „Gegenlinie“126, die dem

|| 124 Vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 248. 125 Ebd., S. 247. 126 Ebd.

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„Konzept einer Erziehung zur Realität […] eingezeichnet“127 wird. Dieser vermeintliche Widerspruch lässt sich aber auflösen, wenn man von zwei Transformations- oder Veränderungsprozessen ausgeht, die einander bedingen: Die Anwendung des Mappenprinzips verändert den Obristen und macht ihn zu einer „vorbildlichen Figur“128. Vorbild ist er aber nicht nur für Augustinus und nicht nur durch seine nun gültigen Auffassungen und Einstellungen, sondern auch durch sein Handeln, das die Realität zum Positiven verändert.129 Diese Lesart erlaubt es auch, die Episode zu deuten, die davon berichtet, wie der gealterte Obrist sein Eigentum in Form einer trockengelegten Wiese vor dem Missbrauch durch andere schützt. Als er zum wiederholten Male einen Hütejungen dabei ertappt, wie er seine Kühe auf dieser Wiese weidet, flieht der Strafe fürchtende Junge und lässt die Kühe zurück. Der Obrist nimmt die Tiere „als Pfand in sein eigenes Haus“ (M2, S. 68), füttert sie jedoch auf seine Kosten, gibt sie der verwitweten Mutter des Jungen bereitwillig zurück und übernimmt sogar den „Wiesenfrevelbetrag“ (M2, S. 69), eine Strafgebühr, die der Witwe auferlegt wird, als die Angelegenheit bekannt wird. Er gelangt hier zu der Erkenntnis, dass zur Vermeidung zukünftiger Probleme weitere Maßnahmen notwendig sind: Weil er [der Obrist; H. A.] auf diese Weise nicht immer in das Gras gehen, Rinder nach Hause treiben und den Leuten den Grundfrevelbetrag geben wollte, und weil er auch dem Altknechte, der sagte, man solle nur die Sache ihm überlassen, sie doch nicht überließ, weil er sie nicht recht machen könnte, so fing er im Winter, ehe die Erde fror, einen Zaun um die Wiese zu ziehen an […]. (M2, S. 69)130

Ich sehe keinen Anlass dafür, diese Episode dahingehend zu deuten, dass Stifter das Mappenprinzip als „empirische[r] Vollendungsvorgang[] selber nicht ohne weiteres überzeugend erschien.“131 Es darf nämlich nicht übersehen wer-

|| 127 Ebd. 128 Aspetsberger: Die Aufschreibung des Lebens, S. 11. 129 Vgl. Landfester: Der Autor als Stifter, S. 114. Landfester interpretiert die Aussage des Obristen zur wachsenden Gleichförmigkeit seiner Aufzeichnungen dahingehend, „daß die entstehenden Texte schließlich keiner Überarbeitung mehr bedürfen“ (ebd.). Tatsächlich sind es nicht die Texte, die am Ende des Transformationsprozesses keiner Überarbeitung mehr bedürfen, sondern die Identität des Obristen, die einen optimalen Zustand erreicht hat. Genau deswegen gerät ihm eine Aufzeichnung wie die andere. 130 Vgl. die Passage in Kazensilber, in der ein Knecht die Absicht äußert, sich des braunen Mädchens zu bemächtigen: „‚Ich fange das Ding‘, sagte ein Knecht. […] ‚Lasse das‘, sagte der Vater“ (K, S. 273; siehe auch Abschnitt 3.4.2). 131 Aspetsberger: Die Aufschreibung des Lebens, S. 16.

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den, dass die Identität des Obristen zu dem Zeitpunkt, an dem sich diese Episode ereignet, durch die Anwendung des Mappenprinzips schon vollständig korrigiert und ausgebildet ist. Es geht nicht mehr um eine „Verpflichtung zur Realität aus der Frontstellung gegen eine gefährliche Innenwelt“132, denn diese Innenwelt hat ihr Gefährdungspotenzial längst eingebüßt. Der ehemalige „Spieler, Raufer, Verschwender“ (M2, S. 44) hat die „Senkung […], in der nur saures Moos“ (M2, S. 66) und andere unnütze Pflanzen wuchsen, in ein „schönes, gezähmtes menschliches Erdenstück“ (M2, S. 67) verwandelt und damit die Realität in einem ersten Schritt zum Positiven verändert.133 Anschließend erkennt er, dass er sich durch sein Handeln Folgeprobleme und damit weiteren Korrekturbedarf an der Realität eingehandelt hat. Durch das Ziehen des Zauns wird dieser jedoch vollständig bedient: Als der Zaun fertig war, ging er freudig herum, rieb nach seiner Art die Hände, und sagte: „Jetzt wird keiner mehr hereintreiben. Ich hatte sehr Unrecht mit der Wiese. Da sieht man gleich, wenn man nicht das rechte Mittel wählt; da ist man genöthigt in die schiefen Folgen einzugehen, und wird in lächerliche Handlungen verwickelt. Nun ist alles gut.“ (M2, S. 70)

Eine Lesart, nach der Augustinus mit dieser Beschreibung „ein recht bösartig scheinendes Bild“134 zeichnet, übersieht meiner Ansicht nach den Unterschied zwischen dem ursprünglichen und dem transformierten Selbst des Obristen, der größer nicht ausfallen könnte. Vor der Transformation durch das Mappenprinzip wäre eine gewaltsame Reaktion auf den Missbrauch der Wiese nur allzu stimmig und wahrscheinlich gewesen. Nun aber gibt der Obrist kein „Beispiel der Strenge“ (M2, S. 70), wie es ihm von manchem angeraten wird, sondern lässt Sanftmut walten, wofür er schließlich „von jedermann in der Gegend verehrt und geliebt“ (ebd.) wird. Die zum Positiven veränderte Identität des Obristen bewährt sich aber nicht erst in diesem Abschnitt der erzählten Zeit, in dem er Augustinus schon kennengelernt hat und auf diesen als Vorbild wirken kann. Der Obrist heiratet lange vor der Übersiedlung nach Thal ob Pirling eine Frau, die seine Zuneigung anfänglich nicht erwidert, und lebt rücksichtsvoll „wie ein Bruder neben ihr“ (M2, S. 54). Genau dieses Verhalten lässt die „Pflanze des Vertrauens“ (ebd.)

|| 132 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 248. 133 Aspetsberger spricht treffend von einer „nach der Korrekturform der ‚Mappe‘ [...] zu sich selber geführte[n] Wiese“ (ders.: Die Aufschreibung des Lebens, S. 16), die „vorbildlich leuchtet“ (ebd.). 134 Ebd.

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wachsen, bis die Frau erkennt, welche Identität sich der ehemalige Kriegsmann unter der Wirkung des Mappenprinzips erworben hat: Es ist nur ein verachtet Weib gewesen, das die Worte gesagt hat: „Wie dank ich Gott, daß du so gut, so gar so gut bist,“ – und kein Lob meiner Obern, keine Freude des Sieges ist früher so in mein Herz gegangen, als die Worte des verachteten Weibes. (M2, S. 54)

Am tragischen Tod der Frau, die bei einem Ausflug in die Berge in eine Schlucht stürzt, erweist sich dann die Tragfähigkeit und Dauerhaftigkeit der Transformation, die sich an der Figur des Obristen vollzogen hat. In allen vier Fassungen der Mappe findet sich dessen rätselhafte Aussage, in der er den Tod seiner Frau mit dem „Verlust einer goldenen Mücke“ (M2, S. 62)135 vergleicht. Grundsätzlich muss hier berücksichtigt werden, dass der Obrist seine Worte erst im Gespräch mit Augustinus wählt, als er auf ein Unglück zurückblickt, das sich vor vielen Jahren ereignet hat.136 Anhand der Formulierung, die Stifter in der Journalfassung wählt, lässt aber sich trotzdem belegen, dass die Theodizee-Vorstellung, die in der Wendung von der ‚goldenen Mücke‘ zum Ausdruck kommt, der Figur des Obristen auch schon zur Zeit des Unglücks zugeschrieben werden kann:137 [D]a erkannte ich, wie mein Unglück in diesem unermeßlichen Haushalte eigentlich ein unbedeutend Ding sey, ein Verlust, wie der einer kleinen goldnen Mücke – ja nicht einmal ein Verlust, so wie das Senfkorn, das in lockeres Erdreich fällt, vergeht, aber nicht verloren ist – – damals schwor ich es mir zu als ein Vermächtniß der Verstorbenen, so lange ich noch zu leben habe, so sanft, so gut zu seyn, wie sie es war […]. (M1, S. 37 f.).

Die entscheidende Wendung lautet hier: „[D]a erkannte ich“ (ebd.), denn sie zeigt, dass nicht nur der auf das Unglück zurückblickende, sondern auch der || 135 Vgl. auch M1, S. 38, M3, S. 184 und M4, S. 170. 136 Die Frau des Obristen verunglückt drei Jahre nach Margaritas Geburt (vgl. M2, S. 56). 137 Stifter hat in seinen Texten immer wieder versucht, „mit traditionellen TheodizeeModellen zu arbeiten“ (Gottwald/Bengesser: Die Mappe meines Urgroßvaters, S. 67); das Ergebnis fällt jedoch oftmals „ambivalent und prekär“ (ebd.) aus. In diesem Zusammenhang setzt Sabine Schneider die Aussagen des Obristen über den Tod seiner Frau mit der bekannten Stelle aus dem ersten Kapitel von Abdias in Beziehung, in dem der Erzähler zur Illustration seiner Überlegungen „zu dem Begriffe des Fatums“ (Adalbert Stifter: Abdias. In: Studien. Buchfassungen. Zweiter Band. Hrsg. von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. Stuttgart u. a. 1982 [HKG 1,5], S. 237) folgendes Bild zeichnet: „Dort, zum Beispiele, wallt ein Strom in schönem Silberspiegel, es fällt ein Knabe hinein, das Wasser kräuselt sich lieblich um seine Locken, er versinkt – und wieder nach einem Weilchen wallt der Silberspiegel, wie vorher“ (ebd.). Schneider deutet beide Bilder – das von der ‚goldenen Mücke‘ und das vom ‚lockigen Knaben‘ – als Ausdruck „einer aberwitzigen Theodizee [...], deren Unmenschlichkeit in Tableaux von verstörender Stummheit visualisiert wird“ (Schneider: Vergessene Dinge, S. 169).

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frisch verwitwete Obrist erkennt, dass sein Unglück „ein unbedeutend Ding“ (ebd.) ist. Diese Formulierung findet sich in der Buchfassung zwar nicht, doch dafür ist die Darstellung hier in anderer Hinsicht konsequenter und eindeutiger. Der Schwur, sanft und gut zu sein, den der Obrist in dem oben zitierten Abschnitt aus der Journalfassung leistet, verwandelt sich in der Buchfassung nämlich nicht nur zum einzigen Gedanken, der in der Unglückserfahrung noch denkbar ist, sondern wird gleichzeitig um eine Komponente ergänzt: „Und wie ich in jener Zeit mit Gott haderte, hatte ich gar nichts, als daß ich mir fest dachte, ich wolle so gut werden, wie sie, und wolle thun, wie sie täte, wenn sie noch lebte“ (M2, S. 62). Es geht hier also nicht mehr nur darum, gut zu sein, sondern nach einem moralischen Imperativ zu handeln. Zur Verarbeitung des erlittenen Unheils kommt wiederum das Mappenprinzip zum Einsatz. Auch wenn der Obrist zu dem Zeitpunkt, an dem seine Frau stirbt, schon eine zum Positiven transformierte Identität besitzt, existieren mehrere Hinweise darauf, dass er auch den Verlust seiner Frau in seinen autobiografischen Aufzeichnungen festgehalten hat. Da ist zum einen die oben bereits angeführte Bemerkung des Obristen, dass die „Päckchen“ (M2, S. 53) seiner Aufzeichnungen „immer mehr Gleichmäßigkeit [bekamen], bis im Alter eines, wie das andere wurde“ (ebd.; Hervorhebung von mir). Zum anderen weist Augustinus zu Beginn des nächsten Kapitels darauf hin, dass seine Verschriftlichung des Gesprächs, in dem der Obrist seine Lebensgeschichte erzählt, nicht nur auf der Erinnerung basiert: „Was der Obrist sagte und that, habe ich bisher nicht nach meinem Gedächtnisse allein aufgeschrieben sondern nach der Handschrift, die er mir gelassen, und die er über diese Dinge aus seinen versiegelten Päken genommen hat“ (M2, S. 65 f.). In der Journalfassung wird sogar explizit darauf hingewiesen, dass der Unfall in den Bergen in den Aufzeichnungen des Obristen beschrieben wird, denn der Text kommt später zum Einsatz, als der Obrist steuernd in die Krise zwischen Augustinus und Margarita eingreift und am Ende der Unterredung mit Augustinus sagt: „[I]ch werde Euch Margarita senden, redet mit ihr gut und sanft, dringt ihr nicht mehr die vergangenen Tage auf, sondern leset zusammen dieses Packet, denn sie weiß noch nicht die Todesart ihrer Mutter“ (M1, S. 39).138

|| 138 Friedbert Aspetsberger stellt in diesem Zusammenhang unter Verweis auf Robert Saurwein die Vermutung an, dass Margarita „im Rahmen des Familienlebens den Unfall ihrer Mutter kennen müsse“ (Aspetsberger: Die Aufschreibung des Lebens, S. 36, Anm. 7). Sie befinde sich deswegen in derselben Position wie Augustinus, der den Bericht vom Unfall in den Bergen zuerst aus dem Munde des Obristen hört und dann „in der Lektüre bereits ein zweites Mal erfährt“ (ebd.). Während es tatsächlich wenig plausibel erscheint, dass die erwachsene

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Während sich also in der Bewältigung des eigenen Schicksals eine Fortsetzung des bereits erfolgreich angewendeten Mappenprinzips zeigt, erhält der Obrist die Gelegenheit, durch sein Handeln zu beweisen, dass er nicht mehr der gewaltbereite Draufgänger von einst ist und positiv auf die Schicksale anderer wirken kann. Als der todkranke Bruder ihm nämlich gesteht, ihn einst um sein Erbteil gebracht zu haben, verzichtet er nicht nur auf Rache, sondern nimmt von den Resten des Vermögens lediglich „das wenigste, was meine Pflicht gegen mein Töchterlein noch zuließ, damit ich es nicht seinem armen Sohne entzöge“ (M2, S. 63). Die Aussage des Obristen, dass nach diesem Ereignis in seinem „Leben nichts mehr geschehen“ (ebd.) sei, überrascht auf den ersten Blick, kann aber nur so gedeutet werden, dass es keine nennenswerten Ereignisse mit einer lebensverändernden Wirkung mehr gegeben hat. Eine Lesart, die davon ausgeht, dass der Obrist die Jahre seit dem Verlust seiner Frau passiv hat verstreichen lassen, verbietet sich angesichts der Fülle von Textbelegen, die ihn als Vorbildfigur und aktiv eingreifenden Verbesserer der Realität zeigen. So weist der Obrist seine eigenen „Hausgenossen“ (M2, S. 70) – also seine Angestellten und Bediensteten, denn außer der Tochter Margarita gibt es keine weiteren Familienmitglieder – mit einem Lächeln auf eventuelles Fehlverhalten hin, begründet seine Einschätzung aber und erreicht durch diese Kombination von Sanftmut und Konsequenz, dass alle Mitglieder des Haushalts darauf achten, denselben Fehler nicht noch einmal zu machen (vgl. M2, S. 70). Stifter zeichnet hier aber keineswegs das Bild eines demütig lächelnden Duldners und lässt den Obristen mit unnachgiebiger Härte gegen Zustände vorgehen, die dieser – wie im Fall einer Brücke, deren Fehlen es den Anwohnern nur unter „mühevollen Plagen“ (M2, S. 71) erlaubt, Brennholz zu transportieren – als „schreiendes Uebel“ (ebd.) und „Schande für die menschliche Vernunft“ (ebd.) empfindet. Und schließlich erscheint er als aktiv tätiger Lehrmeister und Erzieher, wenn er etwa Augustinus zur Hand geht, als dieser sich zwei junge Pferde anschafft. Er gibt dem jüngeren Mann „in vielen Kleinigkeiten hiebei seinen Rat, der uns außerordentlich zum Vorteile war“ (M2, S. 146), demonstriert die Handhabung der Tiere als Zugtiere und zeigt dem Knecht Thomas „mehrere Anstalten, wie er die jungen Pferde behandeln solle, damit sie im besten Gedeihen fort lebten“ (ebd.). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die folgenden Aspekte dem Obristen seine Identität als Erziehergestalt und Vorbild verleihen: Die untadelige Führung des eigenen Lebens und Hausstands, der sanfte Umgang mit den Un|| Margarita nicht weiß, wie ihre Mutter zu Tode gekommen ist, widerspricht die oben zitierte Bemerkung des Obristen, dass sie ‚Todesart‘ der Mutter noch nicht kenne, dieser Lesart.

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zulänglichkeiten anderer, die Unnachgiebigkeit gegenüber Unrecht und schließlich die Anleitung und Erziehung seiner Mitmenschen. Als Augustinus den Obristen kennenlernt, ist diese Identität als Ergebnis einer exemplarisch gelungenen Anwendung des Mappenprinzips schon in Perfektion ausgebildet: Das „durch die Führung einer Mappe korrigierte Subjekt ist in Ordnung“139 und zeichnet sich durch ein „gleichmäßiges tätiges, vorsorglich-fürsorgendes Dasein“140 aus. Beide Identitäten des Obristen, die Stifter in der Mappe präsentiert – der gewaltbereite junge Graf und der sanfte, vorbildlich handelnde Erzieher – sind mit dem Bildungsgang von Augustinus verknüpft, dessen Mittel und Ergebnis der Text der Mappe ist.141 Der Text ist Mittel, weil er die autobiografischen Aufzeichnungen repräsentiert, die den Doktor zu einem besseren Menschen machen sollen. Und er ist das Ergebnis dieses Vorgangs, weil er diesen Bildungsgang als Handlung in der Ich-Erzählung nachzeichnet.142 Die ursprüngli-

|| 139 Aspetsberger: Die Aufschreibung des Lebens, S. 12 (im Original kursiv). 140 Ebd. 141 Vgl. Frost: Autobiographisches Schreiben, S. 44: „Augustinus folgt diesem Beispiel [des Obristen; H. A.], doch seine Mappe thematisiert vor allem sich selbst – ihre Entstehungsbedingungen sowie die ihr zugewiesenen Funktionen als Heilmittel, Instrument der Lebensbewältigung und Archivierung des ‚Ich‘ zur nachträglichen Lektüre. Auf diese Weise ist die Mappe zugleich Produkt wie Reflexion der Lebensaufschreibung“. Inwieweit dieser Aspekt die Aufzeichnungen Augustinus’ von denen des Obristen unterscheidet, lässt sich allerdings nicht entscheiden, denn letztere haben in keiner Fassung der Mappe wörtlichen Eingang in den Text gefunden. Sie existieren nur in ihrer äußeren Gestalt, in der „Handschrift“ (M2, S. 65), die der Obrist Augustinus überlässt, und in der Wiedergabe von dessen Aussagen und Handlungen in Augustinus’ Aufzeichnungen. Die späten Fassungen der Mappe stellen dem Leser die mediale Gestalt der Schriften des Obristen allerdings plastischer vor Augen (vgl. M3, S. 174 und M4, S. 161; siehe dazu auch Abschnitt 5.4.2). 142 Ich verweise in diesem Zusammenhang erneut auf die mediale Komplexität der Mappe, die sich durch die „Editionsfiktion“ (Blasberg: „Wer bin ich bisher gewesen?“, S. 115) der Rahmenerzählung ergibt (siehe auch Abschnitt 5.3). Geht man von einer – selbstverständlich fiktiven – Selektion und Bearbeitung der hinterlassenen Aufzeichnungen durch den Herausgeber aus, liegen dem Leser der Mappe die autobiografischen Texte, die eine Transformation von Augustinus’ Identität bewirkt haben, nicht vollständig und nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt vor. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis Blasbergs von Bedeutung, dass intrafiktional weitaus geordnetere Verhältnisse in Bezug auf die Rezeption von autobiografischen Informationen vorliegen: „Augustinus [kann] zwischen der mündlich vorgetragenen Lebensgeschichte des Obristen und dem, was in den ‚Päkchen‘ des Älteren niedergelegt wurde, einerseits säuberlich unterscheiden, andererseits beide Überlieferungsformen in ein kontrolliertes und produktives Verhältnis setzen“ (ebd., S. 108). Solche Klarheit bleibt dem Leser der Mappe verwehrt. Da die fiktive Bearbeitung von Augustinus’ Texten durch den Urenkel aber keine deutlichen bzw. eindeutig nachvollziehbaren Spuren im Text hinterlassen hat, halte ich es für gerechtfertigt, die Figur Augustinus als Ich-Erzähler zu betrachten.

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che Identität des jungen Grafen dient dabei der Abschreckung, während der Obrist, den Augustinus kennenlernt, als nachzuahmendes Vorbild erscheint.

5.3.5 Die Transformation des Doktors Vor diesem Hintergrund erhält die Bemerkung, mit der Augustinus das vierte Kapitel („Margarita“) einleitet – er schreibt hier, dass er den Obristen „in diesem meinem Buche nachzuahmen“ (M2, S. 66) versucht – eine doppelte Bedeutung. Sie verweist nämlich nicht nur darauf, dass Augustinus mit der Niederschrift seiner Erinnerungen das vom Obristen weiterempfohlene Mappenprinzip auf sich selbst anwendet, sondern auch auf das Ziel des jungen Mannes, nach dem Muster des Älteren eine Transformation zu einem besseren Selbst zu durchlaufen. Die Notwendigkeit, sich einem solchen Bildungsgang zu unterziehen, scheint zunächst einmal gar nicht vorzuliegen. Ordnet man die Ereignisse, von denen die kreisartig angelegte Erzählung berichtet, chronologisch, beginnt die Handlung zumindest in der Buchfassung mit einem vielversprechenden biografischen Ereignis. Die formale Ausbildung von Augustinus zum „Doctor der hohen Kunst“ (M2, S. 72), also zum promovierten Arzt, ist zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen und der junge Mann, der sich damit eine höherwertige soziale Position gesichert hat, kann in seine Heimat zurückkehren. Selbst sein Vater hat Scheu, den Heimkehrer zu begrüßen, weil sein Sohn „ein Gelehrter geworden war“ (M2, S. 73). Und auch der erste berufliche Erfolg stellt sich schnell ein. Man ist noch dabei, das elterliche Wohnhaus herzurichten, als Augustinus „[m]itten unter diesem Getreibe […] zu meinem ersten Kranken gerufen“ (M2, S. 74) wird. Schon bald danach, so kann Augustinus berichten, „kamen immer mehr Leute, die von mir Rath und Hülfe verlangten“ (M2, S. 83), und „[m]eine Wirksamkeit breitete sich immer mehr und mehr aus“ (M2, S. 89), was fast wie von selbst dazu führt, dass sich auch „die Wohlhabenheit mehrte“ (ebd.).143 Auf die Zeit der ersten beruflichen Erfolge folgt eine ausgedehnte Phase, in der Augustinus sich zuerst mit seinem neuen Nachbarn, dem Obristen, anfreundet und dann eine Beziehung zu dessen Tochter Margarita aufbaut, die ihm schließlich gesteht, dass er ihr „[n]ach meinem Vater […] der liebste Mann

|| 143 In diesem Aspekt unterscheidet sich die Buchfassung grundlegend von den späten Fassungen der Mappe. In den späten Fassungen wird nicht nur viel ausführlicher geschildert, wie Augustinus sich in seiner Heimat als Arzt etabliert, sondern eben dieser Vorgang wird auch zum Problem (vgl. M3, S. 69 ff. und M4, S. 58 ff.).

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auf der Welt“ (M2, S. 171) sei.144 Auch die Beziehung zu Margaritas Vater, der erst im Verlauf der Handlung seine Rolle als Augustinus’ väterlicher Erzieher übernehmen wird, hat anfänglich eine andere Qualität. Der Obrist beginnt zwar gleich beim ersten Besuch von Augustinus’ Anwesen, die Zustände zu beurteilen – „Er lobte alles und sagte doch hie und da etwas, aus dem ich lernen konnte“ (M2, S. 141) – und zeigt sich auch im Fortgang als erfahrener Ratgeber. In ähnlicher Weise geht er aber bereitwillig auf Augustinus’ Verbesserungsvorschlag zur Aufteilung der vorhandenen Arbeitskräfte ein: „Der Obrist sah ein, daß dieser Vorschlag gut sei, und nahm ihn sehr gerne an“ (M2, S. 143). In ähnlicher Weise akzeptiert er auch den Rat des jüngeren Mannes, wenn es um eine geeignete Vorgehensweise geht, um die Mauern seines neuen Hauses zu trocknen: „Sie [der Obrist und seine Tochter; H. A.] wendeten auf meinen Rath ebenfalls das Mittel der ausgeglühten Pottasche an“ (M2, S. 153). Der Text schildert ausführlich die harmonischen Verhältnisse, in denen Augustinus und der Obrist sich dem Ausbau und der Pflege ihrer Hausstände widmen und ihre Freundschaft vertiefen: „[W]ir sahen sehr bald schon nicht mehr darauf, wer dem andern einen Besuch aus Höflichkeit schuldig sei“ (M2, S. 145). Als Margarita schließlich seine Liebe erwidert, empfindet Augustinus sein Leben als „so schön […], – so mit Worten unaussprechlich schön“ (M2, S. 172), dass er niederkniet und Gott für sein Glück dankt (vgl. ebd.). Damit ist der Protagonist im Sinne eines spannungsreichen novellistischen Erzählens optimal auf die Krise vorbereitet, die ihn in eine versuchte Selbsttötung treiben wird.145 Es ist nun weniger der Auslöser dieser Krise – Augustinus beobachtet

|| 144 Der Text dokumentiert von der ersten Begegnung zwischen Augustinus und dem Obristen (vgl. M2, S. 139) bis zu Augustinus’ Bemerkung, dass „etwas [geschah], das alles änderte“ (M2, S. 175) an etlichen Stellen den Wechsel der Jahreszeiten. Deswegen kann für den oben erwähnten Zeitraum eine Dauer von mehreren Jahren angesetzt werden. Wolfgang Lukas veranschlagt die erzählte Zeit sogar auf „einen Ausschnitt von etwa acht Jahren aus dem Leben des jugendlichen männlichen Helden und Tagebuchschreibers“ (ders.: Geschlechterrolle und Erzählerrolle, S. 375), und zwar von Augustinus’ Rückkehr in seine Heimat bis zur Versöhnung mit Margarita, die drei Jahre nach der Trennung stattfindet (vgl. ebd.). 145 Der Suizidversuch wird bereits ganz zu Beginn der Binnenhandlung im dritten Kapitel („Der sanftmütige Obrist“) thematisiert, aber nicht ausführlich motiviert: „Ich saß nemlich vor drei Tagen bei einem Weibe, das noch jung und unvermählt ist, und redete viele Stunden zu ihrem Sinne, daß sie ihn ändere. Als ich sie nicht abzubringen vermochte, lief ich in den Wald, an welcher Stelle eine Birke steht, und wollte mich daran erhängen“ (M2, S. 33). Der Leser erfährt erst viel später, welche Ereignisse dazu geführt haben. Mathias Mayer betont zwar zu Recht, dass sich hinter der Erzählstruktur der Buchfassung der Mappe viel mehr verbirgt als „romantische[] Spannungstechnik“ (ders.: Gedächtnis-Kunst, S. 17), nämlich letzten Endes die Aufzeichnung des eigenen Lebens als „poetologisches Prinzip“ (ebd.). Trotzdem ist nicht zu

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Margarita bei einem intimen, aber letztendlich harmlosen Spaziergang mit ihrem Cousin Rudolph und zweifelt an ihrer Liebe –, sondern vielmehr die unmittelbare Reaktion darauf, die für die Interpretation des Textes von Bedeutung ist. Augustinus schreibt: [I]ch nahm meinen Stock, den ich in die Gräser nieder gelegt hatte, und zerschlug mit demselben alle Steinbrechen, die in der That noch nicht blühten, daß der Ort wild und wüst war. Dann […] stieg [ich] so schnell hinab, daß ich mir die Hände blutig riß. (M2, S. 177)

Beschrieben wird hier eine Eruption von Gewalt gegenüber anderen – die Steinbrechen, seltene Blumen, die Augustinus für Margarita pflücken wollte, nehmen stellvertretend die Rolle des Gegners ein146 – und gegenüber sich selbst. Im Sinne der oben schon angesprochenen Parallelen zwischen Augustinus und dem früheren Selbst des Obristen bricht sich die Gewaltbereitschaft der noch nicht lange zurückliegenden Studentenzeit erneut Bahn – eine Charaktereigenschaft, die im Laufe von Augustinus’ Bildungsgang zu korrigieren sein wird. Er wird also an genau dieser Stelle zum Erziehungsobjekt und Zögling. In der Niederschrift thematisiert er dies auch selbst, wenn er seinen Wutanfall wie folgt kommentiert: „Ach, ich bin ja sonst nicht so zornig – es ist meine Art nicht so. Ein Rückfall in meine Kindheit mußte es sein“ (M2, S. 178). Alle Versuche, dieses Stadium schnell wieder zu verlassen und Margarita durch Bitten und gutes Zureden von einer Trennung abzubringen, entziehen sich nicht nur dem autobiografischen Zugriff – „was ich sagte, weiß ich nicht mehr, und kann es nicht in dieses Buch einschreiben“ (M2, S. 183) –, sondern scheitern endgültig an dem Punkt, als Augustinus so „heftig und dringend“ (ebd.) auf Margarita einredet, dass sie glaubt, ihren „Vater um Hülfe rufen“ (ebd.) zu müssen. Augustinus lässt zwar von ihr ab, reagiert auf diese Enttäuschung aber wiederum mit Gewaltbereitschaft: „Ich wollte die Dinge der Welt zerreißen, vernichten, strafen“

|| bestreiten, dass hier ein Spannungsbogen entsteht, der deutlicher ausgeprägt ist als in vielen anderen Texten Stifters. 146 In der Journalfassung der Mappe erklärt der Obrist, warum Margarita sich von Augustinus, der seinen vermeintlichen Nebenbuhler „zum Zweykampf geladen“ (M1, S. 39) hat, trennen wird und nimmt dabei explizit Bezug auf das Element der Gewalt: „Eure Hand schlägt sie aus, nicht weil sie Euch, wie Ihr wähnt, abhold ward, sondern weil sie Euch zu sehr liebt – – denkt, sie ist wie ihre Mutter, glühend und demüthig, aber zurückweichend vor dem Felsen der Gewaltthat“ (ebd.; Hervorhebung von mir). In der Buchfassung ist die Herausforderung zum Duell nicht mehr enthalten und die Wendung vom „harten Felsen der Gewaltthat“ (M2, S. 187) ist in das Gespräch zwischen dem Obristen und Augustinus verlagert, das unmittelbar nach der Trennung stattfindet (vgl. ebd.).

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(M2, S. 184). Die letztmögliche Form der Gewalt stellt dann wiederum die Auslöschung des eigenen Lebens in Form des Suizids dar, von dem Augustinus sich in der Retrospektive mit aller Kraft abzugrenzen versucht: „Ich habe sonst meine Geschäfte ruhig getan, und weiß nicht, wie ich dazu gekommen bin, daß ein solcher Gedanke in meinem Haupte entstehen konnte“ (M2, S. 184). Augustinus’ Unfähigkeit, im biografischen Rückblick eine akzeptable Erklärung für den eigenen Suizidversuch zu finden, gerät stellenweise tatsächlich zur Sprachlosigkeit, zum einen angedeutet durch die Reihung von Gedankenstrichen, die zwischen die Absätze dieser Passage gesetzt werden,147 zum anderen deutlich im völligen Fehlen von Begriffen, die tatsächlich auf einen Suizid verweisen. Entscheidend ist aber die Einordnung der verhinderten Selbsttötung als Ereignis, das, so Augustinus, „meine Seele tief erschreckt“ (M2, S. 184) hat. Zwei Absätze weiter wiederholt er diese Einschätzung: „Ich habe diese Sache darum auch gleich am Anfange dieses Buches eingeschrieben, weil sie mich so erschreckt hat“ (ebd.). Zumindest im erzählerischen Rückblick gerät der Suizidversuch somit zum entscheidenden Erlebnis,148 das Augustinus aus seiner „Vergessenheit aller Dinge des Himmels und der Erde“ (ebd.) befreit und für das anstehende „Selbsterziehungsprogramm“149 bereit macht. Während die Trennung von Augustinus und Margarita zunächst einmal als endgültiger Bruch erscheint, schafft der Obrist schon in der Abschiedsszene durch die Gabe von zwölf „getrockenete[n] Stämmchen Edelweiß“ (M2, S. 186), die zu gleichen Teilen unter den beiden aufgeteilt werden, die symbolische Grundlage für die zukünftige Versöhnung und anschließende Verlobung, die „zentraler Zielpunkt des Textes“150 ist. Bis dahin vergeht in der erzählten Zeit, wie oben bereits ausgeführt, eine Spanne von drei Jahren,151 also genau der Zeitraum, der von dem „alte[n] Kriegsmann“ (M2, S. 50), dem textinternen Stif-

|| 147 Vgl. Bartl: Den Suizid erzählen, S. 238, Anm. 4. Bartl führt zu der „inhaltlichen Relativierung der Selbsttötungsabsicht“ (ebd.), welche sich beobachten lässt, wenn man die Buchfassung der Mappe mit der Journalfassung vergleicht, treffend aus: „[D]ie auffälligen Gedankenstriche [...] [bringen] das damalige Grauen implizit ‚zur Sprache‘ bzw. markieren die Leerstelle dieses inkommensurablen Vorhabens“ (ebd.). 148 Vgl. Landfester: Der Autor als Stifter, S. 111. Landfester weist dem verhinderten Suizid in der Journalfassung der Mappe eine weitere Dimension zu und beschreibt ihn „im Sinne des Damaskuserlebnisses, das zur traditionellen Rhetorik der Stiftungshistoriographie gehört, als Stiftungsurkunde für die von hier ausgehende Niederschrift der Binnenerzählungen“ (dies.). In der Buchfassung übernehme das zweite Kapitel („Das Gelöbnis“) diese Funktion (vgl. ebd.). 149 Lukas: Geschlechterrolle und Erzählerrolle, S. 376. 150 Ebd., S. 375. 151 Vgl. ebd., S. 388 (siehe auch Anm. 144 in diesem Kapitel).

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ter des Mappenprinzips, als Minimum empfohlen wird, um die eigenen Aufzeichnungen mit dem nötigen Abstand zu lesen: Man solle ein „Gelöbniß mach[en], die Schrift erst in drei bis vier Jahren aufzubrechen und zu lesen“ (ebd.). Diese Übereinstimmung ist von Bedeutung, da sie es ermöglicht, die Funktionsweise des Mappenprinzips aus einer weiteren Perspektive zu beleuchten. Bei der Weitergabe des Mappenprinzips an Augustinus erläutert der Obrist nicht im Detail, in welchen Einheiten die Aufzeichnungen versiegelt und später gelesen werden sollen, sondern führt lediglich folgendes aus: Ich machte die Dinge sehr schön, faltete alle Papiere gleich groß und schrieb von Außen den Tag ihrer Verfertigung darauf. In den Feldlagern, wo sie mir oft recht unbequem waren, schleppte ich die versiegelten Päcke mit mir herum. (M2, S. 51)

Der Obrist verfasst seine Aufzeichnungen also auf datierten Einzelblättern, die auf gleiche Größe gefaltet zu einem ‚Pack‘ zusammengefasst werden. Wenn eine bestimmte, aber vom Text nicht definierte Anzahl von Blättern erreicht ist, wird dieser Pack versiegelt. Ähnlich verhält es sich mit den Aufzeichnungen von Augustinus. Er berichtet im fünften Kapitel davon, dass er einige Zeit nach der Trennung von Margarita den Entschluss gefasst habe, das vom Obristen überlieferte Prinzip anzuwenden: „Ich wollte es auch so machen wie der Obrist, wie er es in Westphalen von einem alten Krieger gelernt hatte“ (M2, S. 193). An dieser Stelle beschreibt Augustinus den ersten Band seiner Aufzeichnungen als eine Sammlung von „[g]roße[n] Blätter[n] von Pergament, in Cordobanleder gebunden, und mit guten messingenen Spangen zu verschließen“ (ebd.). Bei dem zweiten Band handelt es sich in der Beschreibung durch den Urenkel um ein „Buch […] aus Pergament“ (M2, S. 24), das aus „lauter ungebundenen Heften zusammen gelegt“ (ebd.) wurde. Augustinus begründet seine Abweichung vom Vorgehen des Obristen, Einzelblätter zu ‚Päcken‘ zusammenzufassen, ganz pragmatisch: „Aber ich nahm mir vor, das Geschriebene nicht in Päcke einzusiegeln, wie er, weil ich nicht immer herum reisen muß, und das große Buch recht gut in seiner Truhe von schönem schwarzen Holze ruhen kann“ (M2, S. 193). Dem überlieferten Prinzip des temporären Verschließens der Aufzeichnungen, die erst nach frühestens drei Jahren wieder gelesen werden sollten, folgt er aber trotzdem. Im zweiten Kapitel („Das Gelöbniß“) wird dessen Umsetzung von Augustinus wie folgt beschrieben: Wenn ein Hauptstück zusammengekommen, dann schneide ich mit einem feinen Messer einen Spalt in die Pergamentblätter, oben und unten, und ziehe ein blaues oder rothes Seidenbändlein durch, mit selbem die Schrift zu sperren, und siegle ich die Enden zu-

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sammen. Wenn aber von dem Tage an drei ganze Jahre vergangen sind, dann darf ich das Bändlein wieder abschneiden, und die Worte wie Sparpfennige lesen. (M2, S. 31)

Der zweite Band der Aufzeichnungen, den der Urenkel von Augustinus auf dem Dachboden findet, zeigt noch etwa „fünfzehn solcher Einsieglungen“ (ebd.), während die Siegel im ersten Band – in dem sich die Aufzeichnungen der ersten drei Jahre befinden müssen – schon gelöst wurden (vgl. M2, S. 26). Sowohl der Urenkel als auch seine Mutter erinnern sich, dass „in manchen Abenden […] der Vater darinnen [in Augustinus’ Aufzeichnungen; H. A.] gelesen“ (M2, S. 29) hat. Ob Augustinus seine Aufzeichnungen aber selbst entsiegelt und gelesen hat, lässt sich meines Erachtens nicht zweifelsfrei am Text belegen. Spielt die Lektüre der eigenen Aufzeichnungen für die Wirksamkeit des Mappenprinzips also vielleicht gar keine entscheidende Rolle? Aus der Erzählung des Obristen, in der es um seine eigenen Erfahrungen mit dem Mappenprinzip geht, lässt sich in der Tat schlüssig ableiten, dass die wesensverändernde Wirkung der autobiografischen Aufzeichnungen in erster Linie nicht durch die spätere Lektüre, sondern schon durch ihre Anfertigung, also den Schreibvorgang ausgelöst wird. Schließlich stellt der Obrist schon bei der initialen Lektüre seiner ersten, fünf Jahre alten Aufzeichnungen fest, dass seine „Ansichten [...] gewachsen und gereift“ (M2, S. 51) sind. Diese Vorstellung eines Wachstums- und Reifeprozesses lässt sich aber nur schwer mit der Annahme vereinbaren, dass die Transformation allein aus der „Differenzerfahrung erwächst“152, die sich beim Vergleich der niedergeschriebenen Gedanken mit der aktuellen Weltsicht ergibt. Die eigenen Ansichten wachsen und reifen nicht im Moment der Lektüre, sondern durch das kontinuierliche, reflektierende Beschreiben von „Gedanken und Begebnisse[n]“ (M2, S. 50). Nicht erst in der Lek-

|| 152 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 245. Begemann spricht im Hinblick auf den Selbsterziehungsprozess des Obristen zum einen von einer Umpolung des „falsche[n] Begehren[s]“ (ebd.) aufs „heilsame Schreiben“ (ebd.), zum anderen aber davon, dass der Reifeprozess „eben durch die Lektüre“ (ebd.) bewirkt werde. Die Vorstellung von einer „ständigen Supervision des eigenen Lebensgangs“ (ebd., S. 249) ließe sich aber nur dann auf die Lektüre der eigenen Aufzeichnungen zurückführen, wenn diese nach Verstreichen der Initialfrist von drei Jahren tatsächlich auch ständig stattfinden würde – zum Beispiel durch tägliches Schreiben und ein rollierendes, um drei Jahre zeitversetztes Lesen der Aufzeichnungen eines Tages. Der Text der Mappe liefert für eine solche Deutung des Mappenprinzips aber keine ausreichenden Belege. Vgl. auch Blasberg: „Wer bin ich bisher gewesen?“, S. 114. Blasberg führt den Transformationsprozess, dem Augustinus sich unterzieht, ebenfalls auf seine Schreibtätigkeit zurück: Die „ärztliche Heilkunst wird an ihm [Augustinus; H. A.] selbst zur Schreibkunst, das Schreiben wiederum führt zur Affektbändigung, sittlichen Mäßigung und zum Ausheilen der narzisstischen Kränkung“ (ebd.).

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türe, sondern schon „[i]n der Aufzeichnung der augenblicklichen Situation wird Subjektives vermittels Sprache objektiviert und dem Zeitstrom entrissen.“153 Der zeitversetzten Vergegenwärtigung der aufgezeichneten Gedanken und Ansichten kommt aber durchaus eine Funktion im Selbsterziehungsprozess zu, denn sie „konstituiert die Möglichkeit der Selbstkorrektur“154: Lässt sich eine Differenz zum früheren Selbst, also ein „personales Werden“155 feststellen, so hat das Mappenprinzip seine Wirkung getan. Versteht man das Mappenprinzip in dieser Weise, spielt es keine entscheidende Rolle mehr, ob Augustinus seine schriftliche Auseinandersetzung mit der Eifersuchts-Episode, der Trennung von Margarita und dem Suizidversuch nach drei Jahren noch einmal gelesen hat, denn schon das kontinuierliche Schreiben hat ihn entscheidend verändert. Nicht durch die Lektüre, sondern durch die erzwungene Verarbeitung dieser Ereignisse im Verschriftlichungsprozess ist er zu dem „herrliche[n] Mann“ (M2, S. 229) geworden, als den Margarita ihn drei Jahre nach der Trennung wahrnehmen wird. Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen den Ausprägungen des Topos von der Macht der Schrift in der Narrenburg und der Mappe, denn die autobiografischen Schriften der Herren von Scharnast sollen den Nachfahren als abschreckendes Beispiel dienen, also im Prozess der Lektüre wirken.156 Damit ist zwar die Funktionsweise des Mappenprinzips genauer beschrieben, aber noch nicht seine qualitative, wesensverändernde Wirkung auf den Protagonisten. Das Ziel seiner Anwendung wird schon im Trennungsgespräch mit Margarita implizit und in der Negation genannt: „Ich habe geglaubt, daß ihr sehr gut und sehr sanft seid“ (M2, S. 186), sagt Margarita zu Augustinus, und auch wenn dieser erwidert, dass er diese Eigenschaften schon besitze und die Geliebte es nur „noch nicht sehen, und [...] jetzt noch nicht glauben“ (ebd.) könne, muss er sich die Güte und Sanftmut, die ihm fehlt, „in expliziter Imitation des Obristen“157 erst noch erwerben. Dieser Prozess kann unter verschiedenen Gesichtspunkten beschrieben werden. Zunächst einmal lässt er sich in den Komplex der entsexualisierten Liebe zwischen Mann und Frau einordnen, denn der Eifersuchtsanfall von Augustinus, der zur Krise und Trennung der beiden Partner führt, erscheint als

|| 153 Wildbolz: Adalbert Stifter, S. 64. 154 Ebd. 155 Rutt: Adalbert Stifter, S. 155. 156 Vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 248. 157 Lukas: Geschlechterrolle und Erzählerrolle, S. 375.

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Ausdruck des „männliche[n] leidenschaftlich-erotische[n] Begehrens“158, das in Stifters Texten selten direkt zur Sprache kommt. Während nicht von der Hand zu weisen ist, dass in der Mappe wie in vielen anderen Texten Stifters „Liebesbeziehungen erst durch sexuelle Enthaltung eine neue Dimension gewinnen“159, lassen sich weitere Textstellen, die belegen, dass es bei Augustinus vornehmlich um die „Bezähmung eigener Triebhaftigkeit“160 in sexueller Hinsicht ginge, aber nur schwerlich finden. Die direkte Darstellung von Lust und Begehren fällt hier der Notwendigkeit einer „Verschleierung des Erotischen“161 zum Opfer. In Zusammenhang mit dem Selbsterziehungsprozess, den Augustinus in den drei Jahren der Trennung von Margarita an sich vollzieht, geht es in erster Linie auch gar nicht darum, Enthaltsamkeit einzuüben, denn diese ist von Anfang an in der Beziehung gegeben.162 Selbst in dem Moment, in dem die beiden Partner sich zum ersten Mal, also vor der Trennung, ihre gegenseitige Liebe erklären, ist keine Leidenschaft erkennbar: „Sie reichte mir ihre Hand. Ich faßte sie, und wir drückten uns die Hände. – Wir ließen dann dieselben nicht los, sondern hielten uns an ihnen“ (M2, S. 171 f.). Es ist dieser eher geschwisterliche als leidenschaftliche Umgang der Partner miteinander, der in Augustinus’ Transformation eine Verstärkung erfährt und sich als Teil eines Prozesses der „Familiarisierung“163 beschreiben lässt, an der alle Hauptfiguren der Erzählung Anteil haben. Auch hier imitiert Augustinus sein väterliches Vorbild, den Obristen, der zumindest anfänglich ebenfalls „wie ein Bruder“ (M2, S. 54) mit seiner Frau zusammenlebt.164 Eine körperliche Annäherung, die über die beschriebene Berührung der Hände hinausgeht, findet im Text erst nach der Versöhnung von Augustinus und Margarita statt und geht auch hier nicht über eine Umarmung und einen ersten Kuss hinaus (vgl. M2, S. 229). Selbst als Augustinus an dieser Stelle Gefahr läuft, von seinen Gefühlen überwältigt zu werden – es heißt hier: „Ich vergaß mich, und schlang meine Arme um ihren Nacken“ (M2, S. 229) –, bewertet er diese neue Intensität des

|| 158 Ebd. 159 Wróblewska: Enthaltsame Liebe, S. 22. 160 Ebd., S. 35. 161 Ebd., S. 22. Wróblewska folgt hier Joachim Storck, der ausführt, dass sich zur Entstehungszeit der Mappe „[n]icht nur die erotische Praxis, sondern auch alles fiktive und gelehrte Schreiben“ (ders.: Eros bei Stifter. In: Laufhütte/Möseneder (Hrsg.): Adalbert Stifter, S. 135– 156, hier S. 137) an zeittypischen „Widerständen zu messen oder innerhalb ihrer Grenzen einzurichten“ (ebd.) hatte. 162 Vgl. Lukas: Geschlechterrolle und Erzählerrolle, S. 378. 163 Ebd., S. 382. 164 Vgl. Wróblewska: Enthaltsame Liebe, S. 31 ff.

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körperlichen Kontakts doch wieder in verwandtschaftlichen Kategorien: Er umarmt Margarita so, „wie man eine Schwester nach langem Entferntsein begrüßet“ (ebd.).165 Auch die Beziehung zwischen Augustinus und dem Obristen ist Teil des ‚Familiarisierungs‘-Prozesses. Die Rolle des Obristen, der gegenüber Augustinus schon seit der Verhinderung von dessen Selbsttötung als väterlicher Erzieher aufgetreten ist, wird nicht zurückgenommen, nachdem der Bildungsgang des jungen Mannes abgeschlossen ist, sondern im Sinne einer echten Vater-SohnKonstellation in beiderseitigem Einverständnis intensiviert. Augustinus weist darauf hin, dass der Obrist ihm „mehr Gutes [thut], als ich erwarten und verdienen konnte“ (M2, S. 217) und fügt hinzu: Ich muß euch hier meinen großen Dank dafür sagen, und muß euch sagen, seit ihr in der Gegend seid, ist es mir, als hätte ich wieder einen Vater […]. „Ich habt es ja erfahren, ich bin es auch, ich bin euer Vater,“ antwortete er, „und werde es in der Zukunft noch mehr sein. […]“ (M2, S. 217 f.)

Eine dritte Komponente der ‚Familiarisierung‘ besteht darin, dass Margarita bei ihrer Rückkehr der verstorbenen Frau des Obristen zum Verwechseln ähnlich geworden ist. Der Obrist berichtet Augustinus während des Scheibenschießens in Pirling von einem Spaziergang mit seiner Tochter, bei dem er bemerkte, daß sie den Gang ihrer Mutter habe, daß sie dieselben Worte sage, und daß sie bei Gelegenheit den Arm so hebe, den Leib so beuge, gerade wie sie. Ich mußte meine runzligen Hände anschauen, um nicht zu glauben, ich sei jung, und es gehe mein junges Weib neben mir [...]. (M2, S. 216)

Der Bund zwischen Augustinus und Margarita hat also nicht nur die „Gründung einer neuen Zielfamilie“166 zur Folge – zu der als letztes bekanntes Glied auch der den Text herausgebende Urenkel gehört –, sondern auch die Erneuerung der Familie des Obristen, in die Augustinus aufgenommen wird, nachdem er durch seine Transformation zur Sanftmut dafür bereit ist.

|| 165 Die Journalfassung der Mappe beschreibt den körperlichen Kontakt zwischen Augustinus und Margarita in der Versöhnungsszene noch mit ganz anderen Begriffen: „[W]ie ein Blitz lagen wir uns in den Armen, Herz an Herz, Arm in Arm, Lippe auf Lippe, so heiß, so angepreßt, so überirdisch, wie nie in der ganzen Vergangenheit“ (M1, S. 101). Umgekehrt spielt die Beschreibung der beiden Liebenden als Geschwisterpaar hier aber noch eine größere Rolle, denn Augustinus vergleicht Margarita nicht nur rückblickend mit einer Schwester, sondern sagt zu ihr: „Bleibt meine Schwester“ (ebd.). 166 Lukas: Geschlechterrolle und Erzählerrolle, S. 384.

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Im Hinblick auf diese Transformation ist ein weiterer Aspekt von Bedeutung, den ich im Zusammenhang mit dem Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen als Topos von der Erziehung zur Nützlichkeit beschrieben habe.167 Im Fall von Augustinus geht es um seine Tätigkeit als Arzt. Das Ziel, in dieser Eigenschaft zum hilfsbereiten Wohltäter seiner Mitmenschen zu werden, ist schon in der Trennungsszene der beiden Liebenden angelegt: [W]ir [schwiegen] wieder eine Weile – dann sagte ich: „Ich werde jetzt mein Amt recht eifrig erfüllen, und allen Hülfsbedürftigen, nah und ferne, den willfährigsten Beistand leisten.“ „Ja, thut das, thut das,“ sprach sie lebhaft. (M2, S. 186)

Auch im Gespräch mit dem Obristen, das der Trennung von Margarita vorausgeht, erhält Augustinus, der sich für seinen Suizidversuch schämt und glaubt, niemandem, „nicht dem Knechte, nicht der Magd und keinem Taglöhner in die Augen sehen“ (M2, S. 41) zu können, einen ähnlichen Rat: „Thut ihnen Gutes, seid ein rechter Arzt, und ihr werdet wieder ihres Gleichen“ (ebd.). Die damit einsetzende Transformation von Augustinus, der sich vom Partner Margaritas zum Mediziner wandelt, der im Dienst der Allgemeinheit steht, wird in der Journalfassung noch explizit thematisiert,168 wenn Augustinus sich im Rückblick wie folgt beschreibt: [E]in spottschlechter Doctor war ich, aber ein auserlesener Liebhaber; allein Beydes wußte ich nicht [...]. E i n Augenblick machte, daß ich ein besserer Doctor wurde, und in der Liebe des Frauengeschlechtes einiges Einsehen bekam. (M1, S. 15; Hervorhebung im Original).

Auch die oben bereits diskutierte Ratlosigkeit, mit der Augustinus im vierten Kapitel auf seinen Suizidversuch zurückblickt, mündet in die Formulierung des Entschlusses, das „Amt mit noch größerem Eifer verwalten“ (M2, S. 184) zu wollen, „damit wieder alles ausgeglichen werde“ (ebd.). Der Fokus auf die Tätigkeit als Arzt erscheint hier also nicht so sehr als „Ersatztätigkeit[]“169 für

|| 167 Vgl. Pörnbacher: Nachwort, S. 317. Pörnbacher beschreibt Augustinus’ Bildungsgang zusammenfassend wie folgt: „Im Verlauf der Erzählung lernt er Warten und Verzicht und wandelt sich zum dienenden Menschen, der durch gewissenhafte Anwendung seiner Fähigkeiten, durch soziales, uneigennütziges Verantwortungsbewußtsein seinen Aufgaben gerecht werden kann“ (ebd.). 168 Vgl. Lukas: Geschlechterrolle und Erzählerrolle, S. 386. 169 Ebd.

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„nicht mögliche[] Erotik“170, sondern als Wiedergutmachung für die geplante „sehr lasterhafte That“ (M2, S. 184). Als Augustinus unmittelbar nach dem Bruch mit Margarita zu einem Patienten gerufen wird, den ein „fallender Baum fürchterlich verwundet“ (M2, S. 189) hat, wird die Sinnhaftigkeit seiner Berufung zum Arzt schon bestätigt und in Beziehung zu dem vereitelten Suizidversuch gesetzt, denn er gelangt zu der Erkenntnis, dass „[d]er Mann [...] gestorben [wäre], wenn ich damals in dem Kirmwalde meine That verübt hätte“ (M2, S. 190). Die letzten Spuren der versuchten Selbsttötung werden dann symbolisch getilgt, als eine Anwohnerin Augustinus zu Beginn des fünften Kapitels („Thal ob Pirling“) aufsucht und ihm das Tuch zurückbringen will, mit dem er sich eigentlich hatte erhängen wollen, bevor er es „mit Ingrimm weit von mir weg in die Büsche [warf]“ (M2, S. 36). Augustinus gibt der Frau „ein kleines Geschenk, weil sie arm ist“ (M2, S. 192), und erlaubt ihr, das Tuch zu behalten – das einzige Symbol für den gescheiterten Suizid findet bei Augustinus keinen Platz. Damit ist der Weg frei für intensive Betrachtungen über, so Augustinus, „mein Amt, das mir die Gottheit gegeben hatte“ (M2, S. 192). Der junge Arzt versucht sich hier an einer Synthese von gelehrter Schulmedizin, in der er während seines Studiums ausgebildet wurde, und der Medizin als „naturorientierte[r] Therapie“171: „Ich will sehr eifrig in den Büchern lesen, und das lernen, was sie enthalten – und ich will hinter dem Hirsche, hinter dem Hunde hergehen, und zusehen, wie sie es machen, daß sie genesen“ (M2, S. 193). Was die Fülle an medizinhistorischen Kontexten und Intertexten angeht, ist die Buchfassung der Mappe mit den späten Fassungen, insbesondere der vierten Fassung, aber nicht annähernd vergleichbar.172 Aufgrund der Fülle der oben angeführten Textbelege, die Augustinus’ Entschluss, sich seiner Tätigkeit als Arzt zu widmen, unmittelbar mit seinem Fehlverhalten und der Trennung von Margarita verknüpfen, überrascht es beinahe, dass eben diese Entwicklung in der erzählten Zeit nach

|| 170 Ebd. 171 Dittmann: Studien. Kommentar (HKG 1,9), S. 246. Dittmann weist darauf hin, dass sich diese naturorientierte Komponente von Augustinus’ Medizinverständnis unter anderem auf Johann Gottfried Herder zurückführen lässt, der die Rolle des Arztes wie folgt darauf beschränkt, den heilenden Kräften der Natur ihr Wirksamwerden zu ermöglichen: „Worauf beruhet die Kunst des Arztes, als eine Dienerin der Natur zu sein und den tausendfach-arbeitenden Kräften unsrer Organisation zu Hülfe zu eilen? Verlorne Kräfte ersetzt sie, matte stärkt, überwiegende schwächt und bändigt sie; wodurch? durch Herbeiführung und Assimilation solcher oder entgegengesetzter Kräfte aus den niedern Reichen“ (Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (siehe Kap. 1, Anm. 65), S. 177 f.; Hervorhebungen im Original). 172 Vgl. dazu ausführlich King: Der romantische Arzt als Erzähler.

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der Trennung keine prominente Rolle mehr spielt.173 Erst im siebten Kapitel, in dem der Urenkel und Herausgeber abschließend und in Zusammenfassung der Schriften des Urgroßvaters, die noch einer weiteren Bearbeitung bedürfen (vgl. M2, S. 232), davon berichtet, „wie der Doktor fortgewirkt“ (M2, S. 232 f.) hat, bestätigt sie sich und findet gleichzeitig einen Höhepunkt in der Episode von der „letzte[n] Heilung“ (M2, S. 233), die davon berichtet, wie Augustinus im hohen Alter ein Kind rettet, das bereits von drei anderen Ärzten aufgegeben wurde.174 Im fünften Kapitel dagegen spielen die Aktivitäten, die Augustinus unternimmt, um sein Haus und seinen Besitz auszubauen und zu verbessern, eine viel prominentere Rolle als seine berufliche Laufbahn. Erklärtes Ziel des Protagonisten ist es, dass „diejenigen, die, wenn sie den Namen Thal ob Pirling aussprechen, nur immer mein Haus allein dabei im Auge haben“ (M2, S. 195). Dieser Vorgang lässt sich in die Zeit vor der Trennung von Margarita und der damit verbundenen Einsicht Augustinus’, sich einem Selbsterziehungsprozess unter|| 173 In der Erzählzeit dagegen nimmt Augustinus’ Entwicklung zum Arzt, der von der Bevölkerung seiner Heimat als Leitfigur akzeptiert wird, sehr viel Raum ein, und zwar im vierten Kapitel. Verantwortlich dafür ist die schon mehrfach erwähnte „Schleifenstruktur“ (Mayer: Gedächtnis-Kunst, S. 17) der Buchfassung der Mappe, die mitten in der Trennungsszene am Ende des dritten Kapitels noch einmal neu ausholt und erst gegen Ende des vierten Kapitels an diesen Punkt der Trennung zurückkehrt (vgl. ebd.). Deswegen ist es fraglich, ob das vierte Kapitel, in dem es in der Tat um das „Roden und Bauen, [...] Heilen und Erziehen, [...] Ameliorieren und Kultivieren der ländlichen Umgebung und deren Bevölkerung“ (Zumbusch: Erzählen und Erziehen, S. 493) geht, tatsächlich als das „langwierige Protokoll einer reinigenden Arbeit an sich selbst“ (ebd.) bezeichnet werden kann. Die Notwendigkeit einer solchen Arbeit an sich selbst entsteht ja erst durch Augustinus’ Fehlverhalten und die dadurch verursachte Trennung von Margarita. Sie vollzieht sich im vierten Kapitel aber nicht im Erzählten, sondern – in Anwendung des Mappenprinzips – im Erzählen. Die auf die vierte Fassung der Mappe bezogene These Zumbuschs, dass die „langwierige Beschreibung“ (ebd., S. 498) der Wanderungen von Augustinus, seiner Tätigkeit als Arzt und des Ausbaus seines Hauses das Ziel verfolgt, dessen Wartezeit „als lang ausgedehnte Zeit spürbar“ (ebd.) werden zu lassen, scheint mir deshalb gerade auch für die Buchfassung zu gelten. 174 Mit dem siebten Kapitel, also dem Nachwort des Urenkels, löst die Buchfassung einen Anspruch ein, gegen den sich der Erzähler der Journalfassung noch wendet, wenn er die Behauptung aufstellt, dass sich „eine Lebensskizze nicht so ründen [sic] könne, wie Romane, wo sich freylich Alles Verlorene wieder findet“ (M1, S. 68; vgl. Aspetsberger: Die Aufschreibung des Lebens, S. 17 f.). Genau diese ‚Ründung‘ der Darstellung findet durch das Nachwort zumindest ansatzweise statt, und es war Stifters erklärtes und „gattungsspezifisch begründet[es]“ (Bengesser/Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4), S. 12) Ziel, sie in den späten Fassungen durch den Ausbau des Textes auf zwei Bände fortzuführen: „Der [erste; H. A.] Band schließt des Dr Jugendleben ab, und geht (wie jeder ehrliche Roman) bis zu seiner Heirath“ (an Heckenast, vor dem 28. Dezember 1846; PRA 17, S. 196; Hervorhebung von mir).

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ziehen zu müssen, zurückverfolgen und ist dennoch ein wichtiger Indikator, an dem sich der Fortschritt seines Transformationsprozesses ablesen lässt. Hier prägt sich ein Vorstellungsmuster im Text aus, das bereits im Zusammenhang mit dem Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen eine wichtige Rolle gespielt hat.

5.3.6 Zwischen Stadt und Wildnis Das vierte Kapitel der Buchfassung der Mappe beschreibt sehr genau, welche Zustände Augustinus in seiner Heimat vorfindet, als er nach dem Ende seines Medizinstudiums aus Prag nach Thal ob Pirling zurückkehrt. Während sich „einst ein großer undurchdringlicher Wald über alle die Berge und Täler ausgebreitet“ (M2, S. 78) hat, ist es den Anwohnern der Siedlung gelungen, der Landschaft durch Jagd, Holzwirtschaft, Viehzucht und schließlich auch Landwirtschaft einen dauerhaften Lebensunterhalt abzuringen. Obwohl der Wald, der zeichenhaft für eine Welt steht, die „auf komplizierte Weise auf den Handlungsverlauf und die psychischen Entwicklungsprozesse der Hauptfiguren bezogen ist“175, bei Augustinus’ Rückkehr immer noch „in der ursprünglichen Schönheit und Unentworrenheit prangte, ging ein angenehmer Waldwinkel herum, es blickte schon hie und da ein hellgrüner Fleck, und wenn Erndte war, ein goldener aus der finstern Farbe des Waldes hervor“ (M2, S. 80). In der anderen Richtung flacht die Landschaft ab und ein Bereich beginnt, den die „Waldbewohner […] nur immer das ‚Land draußen‘“ (ebd.) nennen. Dieser Bereich ist geprägt von Kirchtürmen und Häusern, flächigem Getreideanbau und „breiten festen und fast gewölbten Fahrbahnen“ (M2, S. 82), auf denen die „Wägen […] dahinrollten, als ob die Thiere ledig gingen“ (ebd.) – ein Zustand, den die Waldbewohner durch das Auffüllen der Schlaglöcher in ihren eigenen Wegen nachzuahmen suchen (vgl. ebd.). Der Übergang von der Siedlung in diesen ländlichen Lebensraum wird vom Text in feiner Abstufung vollzogen: So benötigen die waldnahen Obstbäume „mehr Pflege und Sorgfalt“ (M2, S. 126) als diejenigen „in der ebeneren Lage draußen […] und selbst in Pirling, das näher an uns ist, und an unseren Waldverhältnissen schon Theil nimmt“ (ebd.; Hervorhebung von mir). Die unberührte Waldlandschaft wird von den Bewohnern der Siedlung Schritt für Schritt in einen Zustand versetzt, in dem sie der menschlichen Gemeinschaft größeren Nutzen erweist. Dieser Prozess ist jedoch noch nicht abge-

|| 175 Gottwald: Natur und Kultur, S. 93.

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schlossen, und Augustinus Mitwirkung an der „innere[n] Kolonisation“ 176 des Waldes ist gefragt: Da ich, um mein Amt auszuüben, nach Hause kam, hatte sich der Anbau der Felder schon viel näher und unterbrechender in die Wälder herein gezogen, allein in der Gegend, wo das Haus meines Vaters lag, breitete sich noch immer viel weiter das Dunkel und Dämmer des Waldes aus, als der Schimmer und der Glanz des Getreides. (M2, S. 80 f.)

In diesem Zustand findet auch der Obrist, der sich in der Nähe von Augustinus’ Elternhaus niederlässt, als dessen Vater und Geschwister bereits gestorben sind und Augustinus für einige Zeit als Arzt gearbeitet hat, die Gegend vor: Es ist noch genug „schöner ursprünglicher Wald da […], in dem man viel schaffen und richten kann“ (M2, S. 63). Schon bald nach seiner Ankunft spielt der Obrist, der „nirgends etwas Zweckloses oder gar Zweckwidriges leiden kann, ohne daß er den Versuch machte, es seinem Zwecke, zu dem er es dazusein erachtete, wieder zuzuwenden“ (M2, S. 165), eine zentrale Rolle im Kultivierungsprozess der Waldgegend, etwa indem er brachliegende Grundstücke vom „dichtere[n[ unnützere[n] Gestrippe“ (M2, S. 157) und „häßlichen Abfällen“ (ebd.) befreit und den Getreideanbau durch die Einführung von Sommerweizen effizienter gestaltet (vgl. M2, S. 158). Auch im Hinblick auf den Unterschied zwischen der Waldgegend und dem städtischen Raum bezieht der Text eindeutig Stellung: Der „kleine[], überschaubare[] soziokulturelle[] Raum der Erzählung“177 wird klar vom „Urbanen als Gegenwelt“178 abgegrenzt. Diese Auffassung ist noch in der Rahmenerzählung – in der erzählten Zeit also drei Generationen später – klar erkennbar. So kann die Mutter von Augustinus’ Urenkel nach dem ersten Zusammentreffen mit ihrer Schwiegertochter anfangs kaum glauben, „wie eine Stadtfrau gar so gut, lieb und einfach reden könne, als sei sie hier [in Thal ob Pirling; H. A.] geboren und erzogen worden“ (M2, S. 22). Der Urenkel selbst verknüpft die Erinnerungen an die Artefakte seiner Kindheit, die „Dichtung des Plunders“ (M2,

|| 176 Gottwald/Bengesser: Die Mappe meines Urgroßvaters, S. 66. 177 Gottwald: Natur und Kultur, S. 93. 178 Ebd. Gottwald schreibt dem Wald als topografischem Bereich im Hinblick auf die Journalfassung der Mappe eine nur marginale Rolle zu; er sei dort „meist nur in der Ferne präsent“ (ebd., S. 92) und werde „gelegentlich als Hintergrund erwähnt“ (ebd.). In der Buchfassung dagegen gewinne dieser Aspekt im Zusammenhang mit den „Kultivierungsarbeiten des Obristen und des Doktors“ (ebd., S. 93) und der Episode vom Eisfall „an Bedeutung“ (ebd., S. 92). Die „größte Bedeutung“ (ebd., S. 93) komme dem Wald in der dritten Fassung des Textes zu.

264 | Das ‚Lieblingskind‘ des Autors: Die Mappe meines Urgroßvaters S. 16)179 mit der Vorstellung, dass die Bewohner der Siedlung in einer ganz anderen Weise mit ihrer Heimat und ihrem Haus verbunden sind als „der Großstädter, der stets erneuert“ (ebd.) und deswegen „keine Heimath“ (ebd.) hat. Dies gilt selbst für ihn, den „Bauerssohn“ (ebd.), der, obwohl er „Großstädter geworden ist“ (ebd.), eine „heimliche sanft schmerzende Rückliebe an ein altes Haus, wo die Bretter, Pfähle und Truhen seiner Voreltern standen und stehen“ (M2, S. 16 f.), empfindet. Aber auch Augustinus nimmt sowohl eine klare Abgrenzung zwischen Stadt und Land als auch eine Bewertung vor, wenn er im Gespräch mit anderen Angehörigen der Siedlung das „Gehen durch Wald und Feld“ (M2, S. 86) preist, das seine Tätigkeit mit sich bringt und hinzufügt: [M]an kann nicht begreifen, wenn man in einer Stadt ist, daß es dort Leute gibt, die immer in der Stube sitzen, oder durch ihren Beruf in einem Laden oder Gewölbe gehalten werden, und nun des Abends unter ein paar schlechte Bäume gehen, und sagen, daß sie sich da erholen und Luft genießen. (M2, S. 86)

Im Vergleich mit den anderen drei Fassungen der Mappe ist die Stadt als Lebensraum in der Buchfassung am wenigsten präsent, da die in Prag spielende Episode von den zwei Bettlern fehlt. Außerdem berichtet die Buchfassung, anders als die späten Fassungen, nicht von den Besuchen Augustinus’ in Prag. Nur in der Erzählung des Obristen, der als junger Mann kein Glück mit seiner Ambition hat, auf direktem Wege „Befehlshaber zu werden“ (M2, S. 44), ohne sich „in eine Soldatenschule thun“ (M2, S. 45) zu lassen, erscheint die Stadt als Lebensraum, denn er wandert aus, um in Frankreichs Hauptstadt sein Glück als Soldat zu suchen. In der rückblickenden Schilderung erscheint „die finstere Stadt Paris“ (ebd.) als Gegenwelt zu der neuen Heimat des Obristen in Thal ob Pirling, etwa als ein vorbeifahrender Wagen den Obristen just in dem Moment „mit dem Kothe der Straße“ (ebd.) bespritzt, bevor er mit dem Glücksspiel beginnt und zum „Spieler, Raufer, Verschwender“ (M2, S. 44) wird. Der klaren Abgrenzung von Thal ob Pirling zum städtischen Lebensraum auf der einen Seite entspricht die Grenzziehung zum „hinteren hohen Walde“ (M2, S. 80) auf der anderen Seite, der sich in Augustinus’ Beschreibung in einem Zustand der Ursprünglichkeit zeigt und damit zunächst einmal als nicht

|| 179 Vgl. zu dieser Passage auch Mayer: Adalbert Stifter, S. 103. Mayer liest das Einleitungskapitel der Buchfassung der Mappe als eine „vergegenständlichte Poetik der Erinnerung“ (ebd.). Hier werde „in aller Deutlichkeit […] entwickelt, in welchen Formen das Leben eines Vorfahren überdauern kann, als allmählich dahinschwindendes Gerücht und Name, als mit Erinnerung behaftetes Ding, oder auch als Erzählung“ (ebd.).

Zeichen der Sanftheit: Die Buchfassung der Mappe | 265

kultivierter Naturraum ausweist. In der ausführlich geschilderten Episode vom Eisfall, die als „eine der großen Katastrophenschilderungen Stifters [...] zum Zeichen der elementaren Gefährdung“180 wird, zeigt sich dieser Naturraum, den Augustinus auf seinem Weg zu den Patienten durchqueren muss, aber von einer anderen Seite und erweist sich als Wildnis. Die ungeheuren Eismassen, die sich durch das Zusammenspiel von Regen und Kälte bilden, bringen Bäume zu Fall und hindern Augustinus, der mit seinem Knecht Thomas unterwegs ist, um Krankenbesuche durchzuführen, schließlich daran, seinen Weg durch den Wald fortzusetzen: Ein helles Krachen, gleichsam wie ein Schrei, ging vorher, dann folgte ein kurzes Wehen, Sausen, oder Streifen, und dann der dumpfe, dröhnende Fall, mit dem ein mächtiger Stamm auf der Erde lag. […] Es wurde uns begreiflich, daß wir in den Wald nicht hinein fahren konnten. (M2, S. 107)

Die Naturgewalt dringt bis in die bewohnten Bereiche vor, so dass die Bewohner der Siedlung befürchten müssen, dass durch die Eislast auf den Dächern „bei der Nacht die Häuser eingedrückt werden könnten“ (M2, S. 115). Während Augustinus ihnen diese Sorge durch eine Erläuterung der physikalischen Unterschiede zwischen den Ästen eines Baumes und der glatten Oberfläche eines Hausdachs nehmen kann, fordert die Wildnis doch ihren Tribut. Als die Naturkatastrophe überstanden ist, entdeckt man die Leichen von Bewohnern der Siedlung, die entweder von stürzenden Bäumen oder herabfallenden Eiszapfen getroffen wurden oder im Tauwasser ertrunken sind (vgl. M2, S. 126 f.). Und noch im darauffolgenden Sommer stößt Augustinus auf die „zusammengedorrten Ueberreste eines Rehes, das von einem Baume erschlagen worden war“ (M2, S. 129). Die Schäden, die das Eis am Holzbestand angerichtet hat, lassen sich verschmerzen, aber „[g]rößer […] und eindringlicher noch mochte der Schaden an Obstbäumen sein, wo die Aeste von ihnen gebrochen waren, und wo sie selber gespalten und geknickt wurden“ (M2, S. 126). Im Bereich der kultivierten Natur findet angesichts der Schäden, die durch das Eindringen der Wildnis verursacht wurden, eine Reaktion statt, die sich in derselben Weise auch in Kazensilber beobachten lässt, wo die Obstbäume, die der Hagelsturm beschädigt hat, neu austreiben und am Ende besser dastehen als vor dem Unglück (siehe Abschnitt 3.4.2).181 Auch in der Mappe treiben nicht nur die verletzten Bäume des Waldes

|| 180 Ebd., S. 101. 181 Vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 311, Anm. 16.

266 | Das ‚Lieblingskind‘ des Autors: Die Mappe meines Urgroßvaters

„fröhliche junge Schlossen“ (M2, S. 130), so dass es scheint, „als hätte ihnen die Verwundung des Winters eher Nutzen als Schaden gebracht“ (ebd.), sondern auch die Obstbäume bringen „dichte[] Büschel großer Blüthen“ (ebd.) hervor, deren Fülle über das aus „anderen Jahren“ (ebd.) bekannte Maß hinausgeht. Die ausführlich geschilderte Episode vom Eisfall und seinen Nachwirkungen ist ein eindrucksvoller Beleg für den Befund, dass die Natur in der Buchfassung der Mappe – obwohl ihre „uneinsichtige Gewalt und Kraft soweit als möglich naturwissenschaftlich aufgeklärt wird“182 – doch als etwas „umfassend Feindliches, verheerend Großes“183 erscheint, das die Menschen in der Siedlung existenziell bedroht. Hier zeigt sich wieder in aller Deutlichkeit, dass die Vorstellung einer antithetisch gedachten „Dichotomie von Natur und Kultur“184 Stifters Texten nicht angemessen ist, wenn man sich auf genau diese beiden Begriffe – also ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ – beschränkt.185 Die Schwierigkeiten, die sich aus der Verschränkung beider Bereiche für die Textanalyse ergeben, lassen sich nur auflösen, wenn man für die gerade beschriebene Erscheinungsform der Natur einen dritten Begriff, nämlich den der Wildnis, in Anschlag bringt. Die Natur hat in der Buchfassung der Mappe somit – ganz ähnlich wie im Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen – ambivalente Eigenschaften. Als Wildnis erscheint sie „einerseits als bedrohlich und die menschlichen Ordnungen gefährdend, andererseits – in ihrer Bezwingung und Kultivierung durch den

|| 182 Aspetsberger: Die Aufschreibung des Lebens, S. 20 f. 183 Ebd., S. 21. 184 Bartl: Den Suizid erzählen, S. 241. 185 Andrea Bartl analysiert die Beschreibung von Augustinus’ versuchter Selbsttötung in der Journalfassung der Mappe und kommt zu dem Schluss, dass der Suizidversuch „an einem Ort in der Natur, noch dazu in ihrer schönsten und idyllischsten Form, stattfindet und die Kraft, die durch ihr zufälliges Eingreifen die Selbsttötung verhindert, der sanftmütige Obrist ist, der in der Erzählung alle positiven Ideale von Kultur verkörpert“ (ebd.; Hervorhebung von mir). Abgesehen davon, dass das Eingreifen des Obristen alles andere als zufällig geschieht, erscheint der Birkenwald, in dem Augustinus sich erhängen will, nicht unbedingt als Idylle: Es ist zwar ein „ganz heiterer warmer Nachmittag“ (M1, S. 15), aber der Wald empfängt Augustinus „ganz todtenstill und harrend“ (ebd.). Ihn kommt „fast eine Gespensterangst an“ (ebd., S. 16) und er wagt kaum eine Bewegung, weil ihm ist, als müssten dann „seltsame Stimmen in dem grabesstillen Walde ertönen“ (ebd.). Als der Obrist ihm unvermittelt die Hand auf die Schulter legt, fährt Augustinus „wie ein entsetztes Wild empor“ (ebd.). Anhand dieser Textbelege ließe sich der Bereich, der hier beschrieben wird, durchaus auch als Wildnis beschreiben. Der Obrist dagegen, der zu diesem Zeitpunkt seine Transformation schon abgeschlossen hat, begibt sich als Vertreter einer kultivierten Natur in diesen Bereich, um Augustinus zu retten.

Zeichen der Sanftheit: Die Buchfassung der Mappe | 267

Menschen – als Medium der Selbsterziehung und Ort therapeutischer und pädagogischer Zielsetzung in Bezug auf die Hauptfiguren.“186 Der bereits abgeschlossenen Transformation des Obristen und der anstehenden und durch die Niederschrift der Mappe vollzogenen Verwandlung von Augustinus – bei beiden Männern muss, wie bereits ausgeführt, Gewaltbereitschaft eliminiert werden, um einen Zustand der Sanftmut187 zu erreichen – entspricht die Zähmungsarbeit an der Wildnis, die sich im Anlegen von Straßen, Trockenlegen von sumpfigen Wiesen, Aufforstung und nicht zuletzt im Hausbau äußert.188 Dieser Vorgang lässt sich mit den topografischen Informationen, die der Text liefert, verknüpfen und wie folgt darstellen (vgl. die Schaubilder in Kapitel 3). Auch hier zeigt Kursivschrift den Ausgangspunkt einer Figur an, während Normalschrift für die Position verwendet wird, die nach Abschluss des Bildungsgangs erreicht ist:

Wald (Wildnis) −−



Obrist

Obrist

Augustinus

Augustinus

Thal ob Pirling (kultivierte Natur)

Paris und Prag (Hochkultur)

+



−−

Abb. 13: Bewegungen auf der Natur-Kultur-Skala in der Buchfassung der Mappe

Das Schaubild zeigt, wie die Bildungsgänge der beiden Hauptfiguren mit ihrer Positionierung in der Topografie der Erzählung verknüpft sind. Sie bewegen

|| 186 Gottwald: Natur und Kultur, S. 90. Zur Ambivalenz der Natur bei Stifter – hier vor allem in Bezug auf die Bunten Steine – vgl. noch einmal Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 310 ff. 187 Wolfgang Lukas setzt diesen Vorgang mit dem ‚sanften Gesetz‘ aus Stifters Vorrede zu den Bunten Steinen in Beziehung (vgl. ders.: Geschlechterrolle und Erzählerrolle, S. 390 f.). In der Tat scheint sich in Stifters dortigen Ausführungen zur „sittlichen Geschichte der Menschen“ (HKG 2,2, S. 15) widerzuspiegeln, was in der Mappe als individueller, aber durchaus wiederholbarer Bildungsgang gestaltet wird. So habe der Mensch sich von anfänglichen „heftige[n] Empfindungen und Leidenschaften“ (ebd.) gelöst und sei zu „Großmuth gegen den Feind und Unterdrükung seiner Empfindungen und Leidenschaften“ (ebd.) gelangt. 188 Vgl. Lukas: Geschlechterrolle und Erzählerrolle, S. 387. Lukas beschreibt die oben angeführten Tätigkeiten als „Akte der Transformation von ‚wilder Natur‘ in ‚Kultur‘“ (ders.: Geschlechterrolle und Erzählerrolle, S. 387), die „explizit mit emphatischer ‚Menschlichkeit‘ und wiederum mit Sanftheit korreliert werden“ (ebd.).

268 | Das ‚Lieblingskind‘ des Autors: Die Mappe meines Urgroßvaters

sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten von einem Bereich der Hochkultur in ein Umfeld, das als kultivierte Natur beschrieben werden kann. Dies ist eine Bewegung, die auch für die Texte des Werkkomplexes der ‚wilden‘ Mädchen mehrfach beschrieben werden konnte. Eine weitere Übereinstimmung zwischen diesen Texten und der Mappe besteht darin, dass die Hochkultur durch den Bereich der Stadt vertreten wird, während der Bereich der kultivierten Natur „im Sinne eines angestrebten Gleichgewichtszustandes zwischen ‚Natur‘ und ‚Kultur‘, die einander wechselseitig bedingen und modifizieren“189, als Mittelpunkt zwischen Stadt und Wildnis erscheint. Was sich hier im Text der Mappe ausprägt, ist also wiederum der Topos vom Mittelpunkt der kultivierten Natur. Dieses Vorstellungsmuster ließ sich bisher in allen untersuchten Primärtexten ausmachen, und auch hier ist der Mechanismus wieder derselbe: Die Figuren erleben eine räumliche Verlagerung ihres Lebensmittelpunkts in Richtung des topografischen Mittelpunkts190 und absolvieren einen Bildungsgang, der sie davor bewahrt, einer „unkorrigierten Biographie“191 zum Opfer zu fallen. || 189 Gottwald: Natur und Kultur, S. 102. Gottwald illustriert diesen Befund anhand der Episode vom Griesbühel in der dritten Fassung der Mappe (vgl. M3, S. 219 f.). Der Griesbühel ist ein ungenutztes Gelände, das der Obrist gemeinsam mit Augustinus erwirbt und mit Föhren bepflanzt, obwohl es in der Siedlung nicht an Holz mangelt; ein Plan, der anfänglich Unverständnis bei den anderen Bewohnern der Siedlung hervorruft. Gottwald zeigt hier, wie der Text im Sinne des oben angesprochenen Gleichgewichtszustands zwischen Wildnis und Kultur zwischen der „sanfte[] Wiederaufforstung“ (ders.: Wildnis, Wald und Park, S. 102) und der „Rodung und anschließende[n] Verwilderung“ (ebd.) unterscheidet. Die Episode von der Föhrenpflanzung findet sich in ähnlicher Ausführlichkeit in der Buchfassung; hier heißt das zu bepflanzende Gelände noch das „Steingewände“ (M2, S. 165). Im Unterschied zur dritten Fassung gerät die Episode in der Buchfassung auch zur Lektion für Augustinus, der anfänglich an der Sinnhaftigkeit des Unterfangens zweifelt. Nachdem der Obrist seine Beweggründe erläutert hat, willigt Augustinus nicht nur „freudig“ (M2, S. 166) ein, den Plan gemeinsam umzusetzen, sondern „schämt[]“ (ebd.) sich, „einen so kleinen Zweck gehabt zu haben“ (ebd.). Gottwald ergänzt mit seinen Ausführungen die oben (siehe Kap. 3, Anm. 81) schon diskutierte Feststellung Christian Begemanns, der in Bezug auf die Narrenburg ausführt, dass bei Stifter „Kultur, die naturnah sein soll, immer auch Kultur gegen die vorgefundene Natur ist“ (ders.: Natur und Kultur, S. 45; Hervorhebung im Original). 190 Diese Verlagerung des Lebensmittelpunkts auf den Nullpunkt zwischen Wildnis und Kultur lässt sich an den zahlreichen topografischen Angaben, die der Text liefert, viel feiner ablesen, als das Schaubild oben sie darstellt. So schließt sich etwa an die bereits zitierte Beobachtung Augustinus’, dass sich dort, wo das Haus seines Vaters liegt, „noch immer viel weiter das Dunkel und Dämmer des Waldes aus[breitete], als der Schimmer und der Glanz des Getreides“ (M2, S. 80 f.), später der Plan an, ein neues Haus zu bauen, und zwar auf einem Grundstück, das unterhalb seines Elternhauses liegt (vgl. M2, S. 89), wo es „viel wärmer und vor Winden gesicherter ist“ (ebd.) und nur „hie und da manche Bäume stehen“ (ebd.). 191 Aspetsberger: Die Aufschreibung des Lebens, S. 19.

Zeichen der Sanftheit: Die Buchfassung der Mappe | 269

5.3.7 Die letzte Prüfung In Abschnitt 5.3.2 habe ich beschrieben, wie die Buchfassung der Mappe in der Rahmenerzählung einen Sieg der Schrift über die Dinge inszeniert und damit das „Prinzip[] der Lebensaufschreibung“192 konstituiert. Die anschließenden Überlegungen haben gezeigt, dass es genau dieses Prinzip ist, das für die literarische Gestaltung der Bildungsgänge der Protagonisten des Textes eine zentrale Rolle spielt – der Topos von der Macht der Schrift prägt sich hier deutlich aus und lagert sich an die Hauptfiguren an. Bei dieser Erkenntnis darf eine Analyse des Textes aber nicht stehenbleiben. Schließlich ist der „Zeichencharakter der Dinge“193 eine Grundkonstante von Stifters erzählter Welt und es wäre erstaunlich, wenn gerade die Mappe hier eine Ausnahme bilden würde. Tatsächlich entwirft die Binnenerzählung, obwohl sie Mittel und Ergebnis der therapeutischen Lebensaufschreibung ist, ein Gegenprogramm zur Rahmenerzählung, welches die Dinge wieder zum Sprechen bringt. Dabei weitet sich der Blick aber und fokussiert nicht allein auf Möbelstücke und andere Artefakte, sondern auf die Einheit von Haus und Garten,194 deren Entwicklungsstadium als Signifikat die Position anzeigt, die der jeweilige Eigentümer auf seinem persönlichen Bildungsgang erreicht hat.195 Auch dies gilt wieder für beide Protagonisten. Sowohl der Obrist als auch Augustinus sind zur selben Zeit mit dem Ausbau ihrer Häuser und Anwesen beschäftigt. Die Aktivitäten am Haus des Obristen, der seinen Bildungsgang schon lange vor dem Beginn der Binnenhandlung abgeschlossen hat, sind „in technischer und gestalterischer Hinsicht viel vernünftiger, überlegter und zweckmäßiger geplant“196, was Augustinus auch explizit anerkennt: „Ich erkannte [...] gleich, daß er viel geschickter, ineinandergreifender und auch viel schneller baue, als ich“ (M2, S. 140). Doch damit nicht genug: Augustinus trägt aktiv dazu bei, diesen Vorsprung des Obristen zu vergrößern, indem er dem Älteren ohne zu zögern die Arbeitskräfte abtritt, die er eigentlich selbst benötigt: „Ich trug ihm daher an, ich wolle ihm für diesen Sommer alle meine Leute,

|| 192 Ebd. 193 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 33. 194 Vgl. Hettche: Studien. Überblick, S. 14–15. Hettche bringt für alle Erzählungen in den Studien eine „Semantisierung der Handlungsräume“ (ebd.) in Anschlag, die nicht nur Landschaften umfasst, sondern auch „die Behausungen der Menschen“ (ebd.). Zu den Beispielen, die er anführt, zählt auch das Haus des Obristen in der Mappe. 195 Vgl. Pörnbacher: Nachwort, S. 319. Pörnbacher sieht in den Bauprojekten von „Doktor und Obrist [...] ein Spiegelbild ihres Charakters“ (ebd.). 196 Pörnbacher: Nachwort, S. 319.

270 | Das ‚Lieblingskind‘ des Autors: Die Mappe meines Urgroßvaters

welche bei der Förderung meines Hauses arbeiteten, überlassen, da er sonst doch keine andern bekäme“ (M2, S. 143). Augustinus’ eigenes Bauprojekt hatte anfänglich gute Fortschritte gemacht: Der Bau konnte im Sommer schon sehr gefördert werden. Ich wollte im Zusammenhange mit dem ganzen Plane doch zuerst eine Stube für mich vollständig fertig haben, daß ich noch im Winter darin wohnen könnte, dann einen Stall, worin zuerst die drei Pferde in Sicherheit wären, eine Hütte für Wagen und Schlitten, und dann jene Räume, die zu diesen Dingen noch nothwendig wären. Diese Einrichtung war im Herbste schon fertig. (M2, S. 90)

Während nun aber die Mauern des Obristenhauses „so schnell [trockneten], daß man es kaum glauben sollte“ (M2, S. 152) und sich das Haus damit in größtmöglicher Geschwindigkeit einem Zustand annähert, in dem es zeichenhaft auf den ausgebildeten Charakter seines Erbauers verweisen kann, kommt es bei Augustinus in Sachen Hausbau zum Stillstand: „Das einzige, was in meinen Sachen dieses Sommers gefördert wurde, war der Wagen, welchen ich [...] bestellt hatte“ (M2, S. 146). Der Verweisungsprozess zwischen dem Fertigstellungsgrad des Hauses und dem Entwicklungsstand seines Erbauers verläuft in diesem Fall dann in umgekehrter Richtung: Der Verzögerung beim Bau folgt nur allzu bald der Rückfall des Bauherrn in kindische Eifersucht, der die Notwendigkeit eines Bildungsgangs deutlich werden lässt. Parallel zu dessen Vollzug nimmt das Projekt des Hausbaus einen zweiten Anlauf. Augustinus stellt zwar in der Phase nach der Trennung von Margarita noch einmal einige seiner Leute für ein Bauvorhaben ab, will aber „an allen anderen Orten nach Arbeitern suchen“ (M2, S. 196), um sein Haus fertigzustellen – ein Vorhaben, das dann schließlich auch exemplarisch gelingt: O Vater, o Mutter, daß ihr nicht mehr lebt, um zu sehen, wie sich eure Hütte verändert hat – und auch ihr, Schwestern [...]. Das Haus steht nunmehr fertig, [...] – der Garten schreitet in die Weite [...]. Ich schreite von Gemach zu Gemach, aber einsam – nur eine heilige Margarita steht jetzt schon auf dem Hausaltare, und grüßt mich, wenn ich eintrete, mit dem goldenen Schimmer. (M2, S. 198 f.)

Augustinus steht hier, wie in Abschnitt 5.3.5 beschrieben, am Ende einer Transformation, deren ebenfalls exemplarisches Gelingen sich in einer Formulierung niederschlägt, die angesichts der Dramatik des Trennungsprozesses und Tragweite des versuchten Suizids in ihrer Beiläufigkeit zunächst überrascht. Nach der ebenfalls dramatischen, aber glücklich gelingenden Operation an einem jungen Mann, den die falsche Behandlung einer Wunde in der Brust in Lebensgefahr gebracht hat (vgl. M2, S. 200), bemerkt Augustinus ohne Umschweife: „Bald darauf hat sich etwas recht Liebes und Schönes zugetragen“ (M2, S. 201),

Zeichen der Sanftheit: Die Buchfassung der Mappe | 271

um die Episode vom Scheibenschießen in Pirling einzuleiten. So „kündigt [...] der nun gezähmte Held die unerwartete Wiedergewinnung Margaritas [...] gleichsam en passant an“197. Die bereits erfolgte Transformation zur Sanftmut und Güte manifestiert sich also in einer ebenfalls „‚sanfte[n]‘ Formulierung“198, bevor sie sich einer letzten Prüfung unterziehen muss, bei der die Figur Margarita noch einmal eine wichtige Rolle spielt. Wenn man diese Figur vor dem Hintergrund eines Zeichencharakters der Dinge betrachtet, lässt sich erklären, warum der Text in ihrem Fall nicht von einem nennenswerten Bildungsgang berichtet. Margarita bittet Augustinus zwar um Verzeihung für ihr Handeln, als sie ihn nach einigen Jahren auf dem Schützenfest in Pirling wiedertrifft (vgl. M2, S. 228 f.), doch ihre besonnene Reaktion auf den trotzigen Eifersuchtsanfall ihres Partners (vgl. M2, S. 180 f.), der zur Trennung führt, erweckt den Eindruck eines ungleich reiferen Charakters,199 der sich dann wieder in der Erscheinungsform der Dinge bestätigt: Das Zimmer Margaritas ist schon bei Augustinus’ erstem Besuch „ganz rein gefegt, es war kein Stäubchen, und die Dinge standen in der vollkommenen Ordnung“ (M2, S. 151). Margarita ist es dann auch, die das Urteil über den sanft und gut gewordenen Augustinus sprechen darf: „[I]ch weiß es schon und der Vater hat es gesagt, was ihr für ein herrlicher Mann geworden seid“ (M2, S. 229). Diese Formulierung ist wörtlich zu nehmen – Margarita weiß, was aus Augustinus geworden ist, aber nicht, weil der Vater es gesagt hat. Der Wiedervereinigung der Partner geht nämlich eine sorgfältige Begehung von Augustinus’ Anwesen voraus, die in dessen Abwesenheit stattfindet. Der Obrist berichtet wie folgt von diesem Besuch: Wir schauten alles an, und Margarita bemerkte die Veränderungen, die seit ihrer Abwesenheit geschehen waren, besser als ich. Wir gingen durch alle eure Zimmer – nur die Hauskapelle zeigte ich ihr nicht. [...] Obwohl noch sehr starker Thau lag, so ging doch Margarita auch einige Schritte in den Garten hinein, um zu sehen, welche Blumen ihr habt, und wie alles geordnet und eingetheilt ist. (M2, S. 215)

Dies ist die letzte Prüfung, der Augustinus anhand der Erscheinungsform seines Hausstands unterzogen wird. Das Ergebnis fällt positiv aus. Der Obrist berichtet:

|| 197 Lukas: Geschlechterrolle und Erzählerrolle, S. 378. 198 Ebd. 199 Vgl. ebd., S. 375. Lukas sieht die „Verhaltensnorm der Sanftmut“ (ebd.) durch Margarita „[v]ertreten und verkörpert“ (ebd.).

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Als wir heute durch eure Zimmer gingen, und sie eure Geräthe und sonstige Anordnung sah, erblickte ich auf ihrem [Margaritas; H. A.) Angesichte denselben gewinnenden Schimmer, wie einstens an meiner Gattin […]. (M2, S. 216)

Geprüft wird Augustinus’ erfolgreiche Transformation also zunächst nicht anhand seiner Worte oder Taten, sondern anhand dessen, was die Dinge über ihn sagen. Nachdem die Rahmenerzählung sich zugunsten der Schrift erfolgreich darum bemüht hat, die Dinge zu „stummen unklaren Erzählern der unbekannten Geschichte eines solchen Hauses“ (M2, S. 17) zu degradieren, bringt die Binnenerzählung sie erneut zum Sprechen. Als Zeichen verweisen sie nun aber nicht mehr auf die Familiengeschichte, sondern erzählen von einem gelungenen Bildungsgang.

5.4 Der ‚Vater der Kranken‘: Die Letztfassung der Mappe Bevor ich mich der topischen Gestaltung von Bildungsgängen in der vierten Fassung des Textes Die Mappe meines Urgroßvaters zuwende, sollen die einleitenden Ausführungen zum Werkkomplex der Mappe (siehe die Abschnitte 5.1 und 5.2) um die folgenden drei Aspekte ergänzt werden: Erstens werde ich die Entstehungsgeschichte der beiden späten Fassungen des Textes noch einmal genauer betrachten, um anschließend zu begründen, warum dessen vierte Fassung im Fokus meiner Überlegungen stehen wird. Zweitens werde ich auf den fragmentarischen Charakter des Textes zu sprechen kommen, der aus meiner Sicht in der Forschung nicht immer in angemessener Weise reflektiert wird. Und drittens soll die Genese des Werkkomplexes der Mappe zum Anlass genommen werden, danach zu fragen, ob das in Kapitel 2 entwickelte Modell des topischen Textproduktionsprozesses auch für die Erstellung von Textneufassungen Gültigkeit beanspruchen kann. In der Einleitung zu Kapitel 5 habe ich die These aufgestellt, dass Stifters Arbeit an den vier Fassungen der Mappe weniger als kontinuierlicher Überarbeitungsprozess zu betrachten sei, sondern eher als phasenweise Beschäftigung mit demselben Stoff. Für eine solche Sichtweise spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass der Autor sein Erzählwerk in den siebzehn Jahren, die zwischen dem Erscheinen der Buchfassung der Mappe und dem Beginn der Arbeit an der dritten Fassung vergingen, um weitere zentrale Texte vermehrte. Dazu gehören etwa die Erzählsammlung Bunte Steine oder der Roman Der Nachsommer. Auch wenn Stifter sein ‚Lieblingskind‘, die Mappe, wohl niemals vollständig aus dem

Der ‚Vater der Kranken‘: Die Letztfassung der Mappe | 273

Blick verloren hat,200 kann die Arbeit an der dritten Fassung des Textes, die – nach Aussage des Autors „mit Benüzung des Alten“201 – zwischen Januar und Oktober 1864 entstand, deshalb als Wiederaufnahme eines ruhenden Projektes betrachtet werden.202 Dabei entstand ein unvollständiges Manuskript von beachtlichem Umfang, das in der HKG einen Umfang von 335 Druckseiten einnimmt. Drei Jahre später, von Juli bis November 1867, arbeitete Stifter zunächst an einer Überarbeitung der dritten Fassung, welche sich aber ab Manuskriptseite 63 (von insgesamt 164) von dieser Vorlage löste und zu einer eigenständigen Fassung entwickelte,203 die in der Forschung heute als vierte Fassung betrachtet wird.204 Dieser Text nimmt in der Druckfassung der HKG 257 Seiten ein, erreicht also trotz seines ebenfalls fragmentarischen Charakters, auf den noch einzugehen sein wird, einen Umfang, der mit dem der Buchfassung (224 Seiten) vergleichbar ist. Angesichts dieser Sachlage erscheint es sinnvoll, sich im Rahmen der vorliegenden Arbeit für die Analyse einer der beiden späten Fassungen zu entscheiden und die andere nur dann hinzuzuziehen, wenn dies methodisch vertretbar ist und zu weiteren Erkenntnissen führt. Da Stifter im Zuge der Überarbeitung der dritten Fassung offenbar an einem bestimmten Punkt die Notwendigkeit gesehen hat, sich von der Vorlage zu lösen und den Text von Grund auf neu zu schreiben, wähle ich die vierte Fassung als Textgrundlage für meine Interpretation und gehe nur punktuell auf die dritte Fassung ein. Dieses Vorgehen entspricht dem Ansatz, den ich bei der Interpretation der Erzählungen Die Narrenburg und Turmalin gewählt habe: Auch hier stand die jeweils neuere Fassung der Texte im Fokus. Für eine Wahl der vierten Fassung der Mappe sprechen aber nicht nur Gründe der methodischen Konsistenz. Vergleicht man die beiden späten Fas-

|| 200 Vgl. dazu noch einmal die umfangreiche Auswahl von brieflichen Belegstellen in Bengesser/Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4), S. 29 ff. und den bereits zitierten Brief Stifters an seinen Verleger, in dem er nach Aufnahme der Arbeit an der dritten Fassung der Mappe rückwirkend konstatiert: „[M]ein Herz wußte, was ihm mangelte“ (Stifter an Heckenast, 12. Februar 1864, PRA 20, S. 181). 201 Stifter an Heckenast, 12. Februar 1864 (PRA 20, S. 181). 202 Vgl. Blasberg: „Wer bin ich bisher gewesen?“, S. 123. Blasberg weist nicht nur jeder der vier Fassungen der Mappe „einen eigenen, letztlich unvergleichlichen Platz im System der Stifterschen Schreibprojekte“ (ebd.) zu, sondern hält die Vorstellung von einer „‚Genealogie der Mappen“ (ebd.) für eine „überbewertete Denkfigur“ (ebd.). 203 Vgl. Bengesser/Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4), S. 64. 204 Der besseren Lesbarkeit willen verwende für diese Fassung im Folgenden auch den Begriff ‚Letztfassung‘.

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sungen des Textes miteinander, zeigen sich nämlich erhebliche stilistische Unterschiede. Die vierte Fassung verfügt über Eigenschaften, die als typisch für den „Altersstil“205 Stifters gelten können. Die dritte Fassung dagegen erweist sich als untypisch für diese Werkphase. So erinnern etwa Formulierungen im dritten Kapitel, in dem die Episode von den zwei Bettlern geschildert wird, in ihrer „studentisch-burschikose[n] Sprache“206 gar an die Journalfassung des Textes. Aber auch andere Kapitel zeigen, dass sich die Tendenz zur Eliminierung von Subjektivität, die typisch für die Werkphase der 1860er Jahre ist, in der vierten Fassung der Mappe viel stärker ausgeprägt hat. Stifter hat den Text in dieser Fassung zwar stellenweise so stark gekürzt, dass er sich „zuweilen geradezu wie eine Inhaltsangabe“207 der dritten Fassung lesen mag. Letzten Endes bleibt aber doch ein „Eindruck besserer Lesbarkeit des neuen Textes, der insgesamt meist schlanker, klarer, deutlicher wirkt“208. Um den in Kapitel 4 entwickelten topischen Bauplan vervollständigen zu können, gebe ich also der Fassung den Vorzug, die als typisch für Stifters späte Schaffensphase gelten kann.209

|| 205 Böhler: Die Individualität in Stifters Spätwerk, S. 660 u. passim. 206 Ebd., S. 661. Vgl. Hömke: Der Landschaftsgarten, S. 538. Hömke sieht die dritte Fassung der Mappe als Ergebnis eines Vorgangs, bei dem Stifter die Journalfassung mit der Buchfassung „einzuschmelzen beginnt und aus beiden etwas Neues formt“ (ebd.). Man könne die dritte Fassung, so Hömke, „auch Ur-Fassung II nennen“ (ebd., S. 540). Ähnlich auch Cornelia Blasberg: „Das ‚dritte‘ Mappe-Fragment von 1864, das gegen die Studien- an die Journalfassung anschließt, unterbricht und irritiert das lineare Modell“ (dies.: „Wer bin ich bisher gewesen?“, S. 103), das von einer „stetige[n] Entwicklung hin zu Stifters klassischem ‚Spätstil‘“ (ebd.) ausgehe. 207 Gottwald: Beobachtungen zu Stifters Weg, S. 22. Gottwald weist aus der Perspektive des Editionsphilologen darauf hin, dass die „Beziehbarkeit der Fassungen [gemeint sind die dritte und die vierte Fassung der Mappe; H. A.] aufeinander durch Textidentität und Textvarianz“ (ebd., S. 20) für die ersten 62 Manuskriptseiten durchaus gegeben sei und durch den entsprechenden Apparatband (HKG 6,3) ermöglicht werde. Ab Manuskriptseite 63 sei eine solche Beziehbarkeit jedoch nicht mehr gegeben, da sich die beiden Fassungen „immer weiter voneinander entfernen“ (ebd.). Dieser Abstand entstehe nicht alleine durch „stilistische[] Varianten“ (ebd.), sondern durch unterschiedliche Herangehensweisen Stifters an „Erzählrhythmus und Erzähltempo, Entwicklung der Charaktere“ (ebd.) und den „Gesamtplan der Handlung“ (ebd.). 208 Ebd., S. 22. 209 Sylvia Bengesser und Herwig Gottwald weisen darauf hin, dass die dritte Fassung der Mappe „keine bloße ‚Zwischenstufe‘ zwischen der zweiten und der vierten Fassung darstellt und auch nicht als Ergänzung zu dieser aufgefasst werden darf, sondern als Werk von eigenem Gewicht angesehen werden muss“ (dies.: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4), S. 67). Wenn ich der vierten Fassung aus den genannten Gründen den Vorzug gebe, geschieht dies in dem Bewusstsein, dass damit mindestens zwei wichtige Aspekte in den Hinter-

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Unabhängig davon, ob sich eine Deutung auf eine der beiden späten Fassungen der Mappe konzentriert oder beide Fassungen vergleichend in den Blick nimmt, muss die Frage gestellt werden, ob eine Interpretation dieser beiden Texte überhaupt zulässig ist, denn schließlich hat Stifter sie, wie eingangs erläutert, als unveröffentlichte Fragmente hinterlassen. Die Ursachen für die Fragmentarizität von literarischen Texten lassen sich grundsätzlich in drei Kategorien einteilen: „Produktionsbedingungen, [...] konzeptionelle[] Aporien und [...] Rezeptionsbedingungen“210. Die dritte und die vierte Fassung der Mappe fallen beide eindeutig in die erste Kategorie, denn die dritte Fassung blieb Fragment, weil Stifter „auch aus finanziellen Gründen“211 dazu gezwungen war, dem Drängen seines Verlegers Gustav Heckenast auf Fertigstellung des Romans Witiko nachzugeben,212 während die Fragmentarizität der vierten Fassung auf das abrupte „Verstummen des Autors“213 durch seinen Tod zurückzuführen ist.214

|| grund treten und einer separaten Studie vorbehalten bleiben müssen. So fehlt zum einen in der vierten Fassung des Textes die Episode vom ‚Eisbruch‘; Stifter hat sie nur in die zweite und die dritte Fassung aufgenommen. Meine Ausführungen zu dieser Episode in Abschnitt 5.3.6 zeigen, dass sie im Hinblick auf die Ausprägung des Topos vom Mittelpunkt der kultivierten Natur eine wichtige Rolle spielt. Dies gilt allerdings, wie sich später noch herausstellen wird, in gleicher Weise für die Darstellung des fürstlichen Landschaftsgartens, die Stifter in der dritten Fassung des Textes aber „in solcher ausschweifenden Breite“ (Hömke: Der Landschaftsgarten, S. 538) vorgenommen hat, dass er dessen Schilderung in der vierten Fassung „durch Verdichten und Kürzen wieder organisch in das Ganze einfügen mußte“ (ebd.). Zum anderen kann eine Lektüre der dritten Fassung der Mappe den Eindruck korrigieren, dass die „MemoriaThematik“ (Mayer: Gedächtnis-Kunst, S. 21) in den späten Fassungen keine Rolle mehr spielt: „Anhand der Dritten Mappe zeigt sich, daß hier noch sehr wohl aus dem Alterthümer-Kapitel der Studien-Fassung die Erinnerungs-Thematik erhalten geblieben war, ihre Marginalisierung also erst für die Letzte Mappe 1867 vorgenommen wurde“ (ebd.). Meine Ausführungen in Abschnitt 4.1.3 haben den Zusammenhang dieser Thematik mit dem Topos von der Macht der Schrift bereits aufgezeigt. Eine eingehende Analyse der beiden genannten Aspekte auf der Textgrundlage der dritten Fassung der Mappe erscheint also sinnvoll, muss in der vorliegenden Untersuchung aber ausgespart bleiben. 210 Peter Strohschneider: Fragment [Art.]. In: RLW, Bd. 1, S. 624–625, hier S. 624. 211 Bengesser/Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4), S. 63. 212 Vgl. Mayer: Adalbert Stifter, S. 95. 213 Strohschneider: Fragment, S. 624. Vgl. Gottwald: Beobachtungen zu Stifters Weg, S. 21. Die Gründe für die Fragmentarizität der beiden späten Fassungen der Mappe werden hier wie folgt beschrieben: „Während Stifter sich in seinen letzten Lebensjahren zunehmend bewußt von der Mappe des Jahres 1864 löste, sie zuletzt liegenließ, wurde die Arbeit an der letzten Mappe durch seinen Tod abgebrochen. Texttheoretisch wäre daher hier ebenfalls ein ‚ontologischer‘ Einschnitt zu setzen“ (ebd.). 214 Vgl. dagegen Korff: Diastole und Systole, S. 315. Korff stellt die Fragmentarizität der Letztfassung der Mappe in den Kontext von Stifters Jean-Paul-Rezeption: „Nicht weil der Dich-

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Es kann also nicht davon ausgegangen werden, dass Stifter die Texte in genau der Form, in der sie auf uns gekommen sind, veröffentlicht sehen wollte. Darüber hinaus sind die beiden späten Fassungen im Hinblick auf ihren Fertigstellungsgrad wiederum unterschiedlich zu beurteilen. Schließlich legte der Autor die dritte Fassung, wie oben beschrieben, nach der Überarbeitung der ersten 62 Manuskriptseiten beiseite, bezeichnete aber den ersten Band der vierten Fassung, der den weitaus größeren Teil des entsprechenden Fragments einnimmt, im Dezember 1867 immerhin als „schon lange druckfertig“215. Sicher ist eine solche Aussage aus der Feder eines Autors, der dafür bekannt ist, dass er seine Texte bis kurz vor der Drucklegung immer wieder änderte,216 mit Vorsicht zu behandeln. Trotzdem bildet sie in Verbindung mit dem – letztendlich natürlich subjektiven – Eindruck eines hohen Fertigstellungsgrades, der sich bei einer Lektüre der vierten Fassung ergibt,217 aus meiner Sicht eine ausreichende Grundlage, um eine Interpretation des Textes zu rechtfertigen. Eine solche Deutung muss sich aus meiner Sicht aber auf das vorliegende Textmaterial, also den || ter über der Arbeit hinwegstarb, blieb die letzte ‚Mappe‘ ein Fragment. Sie blieb ein Fragment, weil in ihr durch die Rezeption der ‚Flegeljahre‘ ein ursprünglich offenes Weltbild angelegt war. Dieses versuchte Stifter vergeblich mit seinen Mitteln zu schließen“ (ebd.). 215 An Heckenast, 11. Dezember 1867 (PRA 22, S. 173). 216 Vgl. Johannes John: Schreibprozesse [Art.]. In: SHB, S. 352–356. Stifters Textproduktionsprozess, der vor der Erstellung der Reinschrift mehrere Überarbeitungen vorsah, erwies sich „in der Praxis als eine für alle Beteiligten oft nervenaufreibende Auseinandersetzung an allen Fronten“ (ebd., S. 352). Stifter kämpfte nicht nur „gegen Verleger und Setzer und die mit ihnen vereinbarten Terminvorgaben“ (ebd.), sondern auch „mit und gegen sich selbst im Versuch [...], in immer neuen Anläufen den ‚idealen‘ Text zu Papier zu bringen“ (ebd.). 217 Vgl. Gottwald: Beobachtungen zu Stifters Weg, S. 22 ff. Ich verweise in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Einschätzung des Erstherausgebers der vierten Fassung der Mappe, Franz Hüller, der den Text zur „großen, geschlossenen epischen Erzählung“ (ders.: Einleitung, S. XLV) erklärt und die Buchfassung lediglich als „Zwischenstufe“ (ebd.) betrachtet (siehe auch Anm. 51 in diesem Kapitel). Johannes John dagegen „scheint es doch zumindest verwunderlich, einen Text derartig zu mythisieren, den Stifter in zwei Anläufen gar nicht zum Abschluß brachte“ (ders.: Das „Margarita“-Kapitel, S. 20). John fügt hinzu, dass „damit ein Fragment natürlich nicht per se als Dokument minderen literarischen Ranges abqualifiziert werden soll“ (ebd.), verweist aber an dieser Stelle auch auf die Einschätzung von Martin und Erika Swales, die der vierten Fassung der Mappe einen Status der Fragmentarizität attestieren, der nicht nur darauf zurückzuführen sei, dass Stifter den Text nicht fertiggestellt habe: „The Romanmappe ought […] to be more complete, more rounded off than the earlier versions. But it is not. It remains curiously sketchy – and this is not just because it is incomplete: it has an internal fragmentariness and discontinuity“ (dies.: Adalbert Stifter, S. 119). Joachim Müller dagegen begreift die vierte Fassung der Mappe, ähnlich wie schon Franz Hüller, als „in sich geschlossenes Sprachkunstwerk, dem nur der Ausgang fehlt, das aber, wohl auch im Bewußtsein des Dichters, sonst eine endgültige Gestalt aufweist“ (ders.: Einige Gestaltzüge, S. 245).

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Lesetext und den Apparat, beschränken. Während es selbstverständlich jedem Leser freisteht, das Fragment als „Anreiz für die schöpferische Phantasie“218 zu betrachten, „in Stifters Geiste ‚vorzufühlen‘“219, wird meine Interpretation des Textes auf dem Grundsatz beruhen, dass sich literaturwissenschaftliche Interpretationen aller Spekulationen über die mögliche Fortführung eines unvollständigen Textes enthalten sollten, um sich nicht dem Vorwurf der Beliebigkeit auszusetzen. Solche Spekulationen finden sich in der Stifter-Forschung im Hinblick auf die vierte Fassung der Mappe allerdings mehrfach. Sie beziehen sich häufig auf die Vermutung, dass Stifter geplant habe, die späten Fassungen des Textes mit einer Vereinigung von Augustinus und Margarita enden zu lassen.220 Obwohl sich genau dieser Plot sowohl in der Journal- als auch in der Buchfassung des Textes findet, ist es aus meiner Sicht unzulässig, den Ausgang dieser Fassungen auf die späten Fassungen zu übertragen. Deswegen können sich einschlägige Spekulationen allenfalls auf die Bemerkung des Urenkels gründen, seine Mutter habe früher „erzählt, daß die Frau des Doctors Margaretha geheißen habe“ (M4, S. 10). Diese Textstelle bildet aber selbst dann, wenn man die abweichende Schreibweise des genannten Vornamens (‚Margaretha‘ statt ‚Margarita‘) außer Acht lässt, keine ausreichende Grundlage, um daraus belastbare Schlüsse über den Fortgang der Handlung oder gar die weitere Entwicklung von Figuren des Textes zu ziehen.

|| 218 Hömke: Der Landschaftsgarten, S. 545. 219 Ebd. 220 Konrad Steffen stellt beispielsweise fest, dass der Text im zweiten Band abbricht, „[n]och ehe die Vereinigung mit Margarita zustande kommt“ (ders.: Nachwort, S. 347) und geht davon aus, dass Stifter Augustinus und Margarita auch in der vierten Fassung „wieder zusammengeführt“ (ebd.) hätte. Auf dieser Vermutung aufbauend beschreibt er eine Transformation, der Margarita sich unterziehe: Sie wachse über sich selbst hinaus, indem sie den „Entschluß, ehelos zu bleiben, aufgibt, weil sie gelernt hat, an die Besserungsfähigkeit des Menschen zu glauben“ (ebd., S. 348). Ähnlich Ulrike Landfester, die darauf hinweist, dass „Augustinus, wie der Leser zu diesem Zeitpunkt [bei der Lektüre des zweiten Kapitels; H. A.] bereits weiß, mit Margarita am Ende eben doch in dem von ihm erbauten Haus den Familienzweig gründen [wird], aus dem stammend der Rahmenerzähler ihn später als Stifter identifizieren wird“ (dies.: Der Autor als Stifter, S. 112). Am Text belegen lässt sich aber lediglich die Existenz dieses Familienzweigs, nicht die Versöhnung und Eheschließung mit Margarita. Friedbert Aspetsberger schließlich geht davon aus, dass sich im Landschaftsgarten des Fürsten von Braunenberg „nach der vermutbaren weiteren Handlung eine in sich vollendete oligarchische Gesellschaft“ (ders.: Die Aufschreibung des Lebens, S. 24) zeigen wird und weist auf die „von Augustinus unternommene Einheirat in den Adel“ (ebd., S. 35) hin, von der im Text aber nicht berichtet wird.

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In meine folgenden Überlegungen zur vierten Fassung der Mappe, die auf solche Schlussfolgerungen verzichten, werde ich vergleichend auch die Ergebnisse einbeziehen, die sich bei der Interpretation der Buchfassung des Textes ergeben haben. Anschließend kann dann der in Kapitel 4 entwickelte topische Bauplan in seinen Bestandteilen bestätigt, gegebenenfalls modifiziert oder um neue Topoi ergänzt werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die grundsätzliche Frage, ob im Zusammenhang mit der Erstellung von mehreren Fassungen eines Textes überhaupt die Rede von einem topischen Textproduktionsprozess sein kann, bei dem zeichenhafte, im Gedächtnis gespeicherte Vorstellungsmuster in eine für die jeweilige Textfassung festgeschriebene sprachliche Form überführt werden – etwa ein Motiv, ein Symbol oder eine Metapher. Bei diesem Vorgang verbleibt der Topos, wie in Abschnitt 2.5 gezeigt, in seiner ursprünglichen, nichtsprachlichen Form, weshalb ein Text niemals einen Topos, sondern immer nur dessen Ausprägungen oder Manifestationen enthalten kann. Kann aber überhaupt davon ausgegangen werden, dass der Vorgang, an dessen Ende die Manifestation eines Topos steht, erneut abläuft, wenn ein Autor einen existierenden Text zur Hand nimmt, um auf dessen Grundlage eine neue Fassung zu produzieren? Oder handelt es sich hier lediglich um die Übernahme bereits festgeschriebener Manifestationen? In anderen Worten ausgedrückt: Finden bei der Überarbeitung eines Textes alle Vorgänge statt, die ich als Bestandteil des topischen Dreiecks beschrieben habe, also inventio, dispositio und elocutio? Bei der Beantwortung dieser Frage muss berücksichtigt werden, dass die Überarbeitung eines Textes auf verschiedenen Ebenen ablaufen kann. Wie gerade am Beispiel Stifters sehr anschaulich gezeigt werden kann (siehe Anm. 216 in diesem Kapitel), ergeben sich schon bei der Erstellung von nur einer Textfassung immer wieder sprachliche Änderungen und Korrekturen. Das von mir entwickelte Modell eines topischen Textproduktionsprozesses kann aber nicht dazu verwendet werden, diese Änderungsvorgänge zu erklären oder nachzuzeichnen. Es nimmt dagegen eine vom Textproduzenten autorisierte Textfassung221 in den Blick, um auf der Grundlage von Ermöglichungszusammenhän-

|| 221 Vgl. Bodo Plachta: Fassung [Art.]. In: RLW, Bd. 1, S. 567–568. Plachta beschreibt einen „editorischen Konsens der Neugermanisten“ (ebd., S. 568), nach dem „alle autornahen Fassungen prinzipiell als gleichwertig zu betrachten sind“ (ebd.). Im Unterschied zu Altphilologie und Mediävistik könne man in der Neuphilologie davon ausgehen, dass „ein authentischer oder autorisierter Text eines Autors keine Rechtfertigung“ benötige (ebd.). Der Vorgang der Autorisation ist in diesem Zusammenhang weniger in seiner juristischen Dimension relevant, mit der sich etwa die Genehmigung eines Autors zur Publikation einer Textfassung beschreiben lässt, sondern im Hinblick auf die Mitwirkung des Autors bei der „Herstellung des Textzeugen“ (Klaus Grubmüller und Klaus Weimar: Autorisation [Art.]. In: RLW, Bd. 1, S. 182–183,

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gen und Intertexten ein Interpretament bereitzustellen. Kleinere stilistische Textänderungen und Korrekturen können sich aber selbstverständlich auch dann ergeben, wenn ein Autor eine Neufassung eines Textes schreibt. Auf diese Änderungen lässt sich das Modell des topischen Textproduktionsprozesses ebenfalls nicht sinnvoll anwenden. Vor dem Hintergrund der These, dass Topoi sich nicht nur in überschaubaren sprachlichen Formen ausprägen können, sondern auch in stofflichen und strukturellen Textelementen, ist es allerdings denkbar, dass das topische Denken bei der Ausführung substanzieller Textänderungen oder der Aufnahme neuer Figuren und Handlungsstränge sehr wohl eine Rolle spielt. Während die Frage, „welchen Umfang die Textvarianz bzw. Textidentität haben müsse, um eine Fassung bzw. ein Werk zu konstituieren“222, in der Forschung kontrovers und bisher ohne abschließendes Ergebnis diskutiert wurde, schlage ich deshalb vor, in dem hier vorliegenden Zusammenhang zwischen den Vorgängen der Überarbeitung von Texten und der Erstellung von Neufassungen zu unterscheiden.223 Meine diesbezügliche Arbeitshypothese lässt sich wie folgt formulieren: Produziert ein Autor mit nennenswertem zeitlichem Abstand zur Erstellung einer früheren Fassung eines Textes eine Neufassung desselben und nimmt dabei substanzielle Änderungen vor, lässt sich die frühere Fassung als topisches Eingangsmaterial betrachten, das sich in Kombination

|| hier S. 183). Eine solche „unausdrückliche Autorisation verliert für den historisch arbeitenden Herausgeber selbst dann nicht ihre Gültigkeit, wenn der Autor den Text explizit gestrichen oder durch nachfolgende Fassungen ersetzt hat“ (ebd.). In diesem Sinne können auch die dritte und die vierte Fassung der Mappe als autorisierte Textfassungen gelten, wobei sich meine Interpretation auf den Lesetext beschränkt, der bereits das Produkt eines editorischen Prozesses ist (welcher bei Bedarf über den Apparat nachvollzogen werden kann). 222 Plachta: Fassung, S. 568. 223 In diesem Sinne betrachte ich sowohl die Buchfassung der Narrenburg, Turmalin (als Buchfassung der Journalerzählung Der Pförtner im Herrenhause) und alle vier Fassungen der Mappe als Neufassungen. Allerdings muss ich hier eine vereinfachende Perspektive einnehmen, um das eigentliche Ziel dieses Abschnitts meiner Arbeit, das in der Interpretation der Letztfassung der Mappe liegt, nicht aus dem Auge zu verlieren. Aus der Sicht eines Editionsphilologen stellt sich die Sachlage gerade im Hinblick auf die Mappe wesentlich komplexer dar. Herwig Gottwald stellt in diesem Zusammenhang fest, „daß Text- und Fassungsdefinitionen, die von der ‚Gleichwertigkeit‘ aller Textstufen oder Textfassungen in bezug auf das Gesamtwerk ausgehen, nicht auf die komplizierten Beziehungen der vier Mappen-Fassungen untereinander angewendet werden können: Zu unterschiedlich sind ihre Bezüge zueinander und zu disparat müssen ihre textgenetischen Besonderheiten gewertet werden“ (ders.: Beobachtungen zu Stifters Weg, S. 21).

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mit einem veränderten Erfahrungs- und Wissenshorizont des Textproduzenten auf die Gestaltung der Neufassung auswirkt.224 Die Mappe bietet sich in besonderer Weise an, um diese Hypothese zu belegen und der Frage nach der Relevanz meines Toposmodells für die Erstellung von Neufassungen eines Textes nachzugehen. Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens liegt ein beträchtlicher zeitlicher Abstand zwischen dem Erscheinen der Buchfassung und der Arbeit an den späten Fassungen des Textes. Zweitens hat Stifter in den späten Fassungen Handlungsstränge sowohl fortgeführt als auch erweitert und ergänzt. Und drittens finden sich in diesen Fassungen auch neue Figuren, die mit den aus der Buchfassung bereits bekannten Figuren interagieren und deren Entwicklung beeinflussen.225 Um die topische Gestaltung226 von Bildungsgängen in der Letztfassung der Mappe in angemessener Weise herauszuarbeiten, werde ich deshalb wie folgt

|| 224 Frauke Berndt beschreibt den Vorgang der „topische[n] inventio“ (dies.: Topik-Forschung, S. 43), der „nicht statisch, sondern dynamisch“ (ebd.) abläuft und, so meine These, auch auf die Erstellung von Neufassungen eines Textes anwendbar ist, wie folgt: „In jeder topischen Kombination ‚findet‘ man Altes und ‚erfindet‘ Neues, das [...] selbst zum kombinierbaren Topos werden kann, das also auf der Grundlage von dessen invarianter Struktur das topische Arsenal vergrößert“ (ebd.). 225 Die vier Fassungen der Mappe teilen sich ähnliche oder übereinstimmende Kapitelüberschriften. Die Kapitelreihenfolge ist jedoch nicht identisch (vgl. noch einmal die Übersicht in Bengesser/Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4), S. 25). Cornelia Blasberg weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „[i]m Prinzip […] erst die Letztfassung – allerdings der von ihr ausgebauten ‚Geschichte‘ und ihrer Zeitfiktion zuwiderlaufend – ein an der Chronologie der ‚Ereignisse‘ orientiertes Erzählschema [schafft], das man als Maßstab an die Abfolge des Geschehens in früheren Texten anlegen könnte“ (dies.: „Wer bin ich bisher gewesen?“, S. 110, Anm. 9). 226 Herwig Gottwald und Silvia Bengesser weisen sowohl in ihrem einschlägigen Artikel im Stifter-Handbuch als auch in ihrem HKG-Kommentar zu den späten Fassungen der Mappe auf die topische Gestaltung des Textes hin. Hier zeigt sich aber ein anders gelagertes Verständnis des Topos-Begriffs, als es meiner Untersuchung zugrunde liegt, denn zunächst einmal geht es vor allem um den Einfluss von Ereignissen in Stifters Leben, die sich auf die Gestaltung des Einleitungskapitels aller vier Fassungen ausgewirkt hätten: Es „enthält [...] bekannte autobiografische Topoi wie den frühen Tod des Vaters, den Besuch der lateinischen Schule in der Abtei, die Schulauszeichnung, die Wiederverheiratung der Mutter und das Studium in Wien“ (Gottwald/Bengesser: Die Mappe meines Urgroßvaters, S. 64). Gottwald und Bengesser fügen allerdings wenig später hinzu, dass sich im Text „[w]eitere autobiografische Motive“ (ebd., S. 65; Hervorhebung von mir) ausgeprägt hätten; zwei der genannten Beispiele sind „die anonymen Zeitungseinschaltungen des Augustinus [...] und die Beschreibung des Schützenfestes in Pirling“ (ebd.). Der HKG-Kommentar unterscheidet in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht trennscharf zwischen Topoi und Motiven (vgl. Bengesser/Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4), S. 152), geht aber ergänzend auf die 1853 von Heinrich

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vorgehen. Zunächst soll es um zwei Figuren gehen, die schon in meiner Interpretation der Buchfassung des Textes eine wichtige Rolle gespielt haben. Gemeint sind der Obrist, der in der Letztfassung der Mappe den Namen Casimir Ulsin von Ulheim trägt,227 sowie der Urenkel von Augustinus, der auch in dieser Fassung des Textes als Rahmenerzähler und fiktiver Herausgeber auftritt. Für beide Figuren werde ich einen exemplarischen Vergleich zwischen Buch- und Letztfassung vornehmen, um zu prüfen, welche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede sich in der Auswahl und Ausprägung von topischen Inhalten zeigen. Anschließend wird – in Opposition zu der Feststellung, dass sich in der Letztfassung der Mappe eine „Akzentverlagerung an[deutet], die die Schlüsselrolle des Augustinus zurücknimmt“228 –, die Auseinandersetzung mit genau dieser Figur breiten Raum einnehmen und sich auf die topische Gestaltung ihres Bildungsgangs konzentrieren.229 Dessen Darstellung dominiert beinahe die

|| Reitzenbeck veröffentlichte und „von Stifter ausdrücklich autorisierte“ (ebd., S. 156) Darstellung seines Lebenslaufs als „Fundus (auto)biograpischer Topoi“ (ebd.) ein. Bengesser und Gottwald schlagen in diesem Zusammenhang eine topische Lektüre der späten Fassungen der Mappe vor, die auf dem Grundgedanken beruht, dass „einschlägige Textstellen der 3. und 4. Fassung auch als fiktionaler Kommentar bzw. Ergänzung zur ‚offiziellen‘ (Auto)biographik Stifters gelesen werden“ (ebd., S. 160) können. Sie nennen als Beispiel den „Topos von Stifters glücklichem Hauslehrerdasein“ (ebd.), der durch die Darstellung dieses Berufs in der Episode von den zwei Bettlern „konterkariert“ (ebd.) werde. 227 Zu den unterschiedlichen Namen dieser Figur in den vier Fassungen des Textes siehe Anm. 114 in diesem Kapitel. 228 Mayer: Adalbert Stifter, S. 107. Mayers Beobachtung, dass die vierte Fassung der Mappe „einen deutlich größeren Kreis beschreibt“ (ebd.) und „das Personal des Romans wesentlich erweitert“ (ebd.), ist selbstverständlich zutreffend. Diese perspektivische Erweiterung führt jedoch nicht zu einem Bedeutungsverlust des Protagonisten. Im Gegenteil: Figuren, die in der Buchfassung des Textes noch keine Rolle spielen – etwa Augustinus’ Freund Eustachius oder Isabella, die Tochter des Freiherrn von Tannberg –, lassen sich nur dann angemessen beschreiben, wenn man sie mit Augustinus als Hauptfigur des Textes in Beziehung setzt. Außerdem gewinnt, wie sich später noch herausstellen wird, die Darstellung der Figur Augustinus in der Letztfassung an Breite, denn Augustinus erscheint nicht mehr nur als Zögling, der sich auf einen Bildungsgang zu begeben hat, sondern am Ende seines Weges auch als Vaterfigur und Erzieher. 229 Vgl. Zumbusch: Erzählen und Erziehen, S. 499. Zumbusch erkennt in der Letztfassung der Mappe vor allem „die Selbstbildungsgeschichte des Augustinus“ (ebd.). Diese erhalte im Vergleich mit früheren Fassungen des Textes gegenüber den „verdichteten und im Umarbeitungsprozess immer weiter verkürzten Unglücksgeschichten, die Augustinus nach seinem Zerwürfnis mit Margarita und den Obristen beim Verlust seiner Ehefrau buchstäblich an einem Abgrund zeigen“ (ebd.), einen viel deutlicheren Akzent. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Letztfassung eine weitere Unglücksgeschichte – den Tod

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gesamte Binnenerzählung des Textes, die wiederum den weitaus größten Teil des Romanfragments ausmacht. Um diesen Bildungsgang angemessen beschreiben und dabei herausarbeiten zu können, welche Topoi sich bei seiner literarischen Gestaltung an die Figur Augustinus angelagert haben, werde ich ihn in fünf Phasen einteilen, denen die Abschnitte 5.4.3 bis 5.4.7 gewidmet sind.230 Im Zusammenhang mit der Figur Augustinus wird es außerdem um einen Aspekt des Textes gehen, der zu Recht bereits in einer ganzen Reihe von Forschungsbeiträgen beleuchtet wurde: die Darstellung des Landschaftsgartens des Fürsten von Braunenberg. Die „symbolhaltige[] Modellhaftigkeit“231 dieses Landschaftsgartens, der in den beiden frühen Fassungen der Mappe noch keine Rolle spielt, dient dazu, im „Entwicklungs-, Bildungs- und Läuterungsweg des Helden […] den bevorstehenden Abschluß dieses Prozesses prägnant zu bezeichnen.“232 Dies berührt in unmittelbarer Weise den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit.

5.4.1 Haus und Familie Auch für die Letztfassung der Mappe gilt, dass Stifter durch die Anlage von Rahmen- und Binnenerzählung eine hochkomplexe mediale Situation geschaffen hat. Diese entsteht zum einen, weil der Urenkel von Augustinus auch hier als fiktiver Herausgeber der autobiografischen Aufzeichnungen seines Urgroßvaters auftritt und zum anderen, weil diese Figur sich über zwei miteinander verwandte Themenkomplexe – die ‚Schrift‘ und die ‚Dinge‘ – auch mit ihrer eigenen Vergangenheit und Identität auseinandersetzt. Die „Editionsfiktion“233 des Textes wird im ersten Kapitel der Letztfassung auf der Ebene des Plots in

|| von Augustinus’ Geschwistern und Vater – im Vergleich mit der Buchfassung deutlich ausbaut und mit Augustinus’ Bildungsgang in Beziehung setzt (siehe dazu Abschnitt 5.4.7). 230 Auf der Handlungsebene sind diese fünf Phasen mit den folgenden Ereignissen verknüpft: (1) Verlust des Jugendfreundes Eustachius während des Studiums in Prag; (2) Aufnahme der landärztlichen Tätigkeit im Anschluss an die Rückkehr nach Thal ob Pirling; (3) Auflösung der Verlobung mit Margarita; (4) Ausweitung der Kultivierungsarbeiten in Thal ob Pirling und Besuch des Landschaftsgartens des Fürsten und (5) Aufnahme des Knaben Gottlieb in Augustinus’ Haus und Heilungsgespräche mit Isabella. 231 Bengesser/Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4), S. 67. 232 Gottwald: Beobachtungen zum Motiv des Landschaftsgartens, S. 143. 233 Blasberg: „Wer bin ich bisher gewesen?“, S. 115. Ich übernehme den Begriff der ‚Editionsfiktion‘ auch im Folgenden wieder, um den oben beschriebenen Sachverhalt zu bezeichnen. Siehe dazu auch Anm. 142 in diesem Kapitel.

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einer Weise konstruiert, die Lesern gleich welcher Fassung der Mappe geläufig sein dürfte. Der Urenkel von Augustinus reist von seinem Wohnsitz in der Stadt in das ländliche Thal ob Pirling, um seine Mutter und das Haus, in dem er aufgewachsen ist, zu besuchen. Bei einem Besuch auf dem Dachboden findet er die zweibändigen autobiografischen Aufzeichnungen seines Urgroßvaters.234 Die Schrift, in der die beiden Bände verfasst sind, kann aber „niemand im Zusammenhange [lesen], und wenn auch hie und da einzelne Säze ergründet wurden, so kam wieder etwas, das nicht zu enträthseln war, und den Sinn unterbrach“ (M4, S. 21). Trotzdem weist die Mutter des Urenkels darauf hin, dass „in den Büchern […] das Leben des Doktors enthalten [sei]“ (ebd.), woraufhin ihr Sohn sich zum vorläufigen Verwalter und Herausgeber des Textes erklärt: Ich werde sodann die Mutter den Stiefvater und die Geschwister um die Erlaubniß bitten, die Bücher mit mir nach Wien nehmen zu dürfen. Dort werde ich den ganzen Inhalt abschreiben. Dann mag durch gemeinschaftlichen Rath bestimmt werden, wo die Bücher in Zukunft aufbewahrt werden sollen. (M4, S. 21 f.)

Die Editionsfiktion des Textes entsteht also zum einen durch die gerade zitierte Absichtserklärung, den Text vollständig abschreiben zu wollen und damit für andere mühelos lesbar zu machen, und zum anderen dadurch, dass eben dieser abgeschriebene, lesbar gemachte Text die weiteren Kapitel der Mappe bildet.235 Die Herausgeberschaft des Urenkels, der schon vor seiner Abreise nach Wien damit beginnt, „die ersten Blätter in unsere Schrift zu übertragen“ (M4, S. 23), wird überdies beim Übergang von der Rahmenerzählung zur Binnenerzählung eindeutig markiert. Das zweite Kapitel, welches, wie in der Buchfassung des Textes, die Überschrift „Das Gelöbniß“ trägt, dort aber ausschließlich in der Ich|| 234 In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Stifter an der entsprechenden Stelle in der Buchfassung der Mappe noch einen doppelten Zufall bemüht, während er in der Letztfassung die aktive Suche des Urenkels nach dem fehlenden ersten Band von Augustinus’ Aufzeichnungen in den Vordergrund stellt. So schränkt der Urenkel in der Buchfassung seine zunächst vergebliche Suche nach diesem Band auf die alte Truhe ein, in der er zufällig auf den zweiten Band gestoßen ist. Erst als er diese Truhe abtransportieren lässt, fällt ihm der dahinter versteckte Band in die Hände (vgl. M2, S. 25 f.). In der Letztfassung dagegen ergreift der Urenkel „von den Blumenstäbchen, die im Vorrathe auf dem Boden lagen, eines“ (M4, S. 17) und tastet damit systematisch den „ganzen Raume“ (ebd.) ab, bis er den ersten Band gefunden hat und „in das Licht hinaus“ (ebd.) tragen kann. 235 In der Buchfassung der Mappe ist dagegen im ersten Teil der Rahmenerzählung nur davon die Rede, dass „die Mutter erlaubt hatte, daß ich die Doctorbücher behalte“ (M2, S. 29). Der Urenkel verpflichtet sich hier lediglich zu einer mündlichen Übersetzungsleistung, indem er verspricht, „daß ich jeden Tag darin studiren und dann des Abends davon erzählen werde“ (ebd.).

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Erzählerstimme von Augustinus gehalten ist, beginnt mit dem folgenden Hinweis: „Nun folgen Auszüge aus dem Lederbuche des Doctors“ (M4, S. 26). Daraufhin wechseln sich Hinweise des Urenkels, die sich auf das äußere Erscheinungsbild des ersten Bandes von Augustinus’ Aufzeichnungen beziehen, mit Zitaten aus eben diesen Aufzeichnungen ab, bevor das sehr kurz gehaltene Kapitel den Beginn des abgeschriebenen Textes mit der folgenden Bemerkung eindeutig markiert: „Die erste Aufschrift hieß: Von den zwei Bettlern“ (ebd.). Im weiteren Verlauf des Textes verflacht das Konzept einer Editionsfiktion aber, denn Stifter lässt Augustinus, der ab dem dritten Kapitel als Ich-Erzähler auftritt, die weiteren Ereignisse schildern, ohne den Rahmenerzähler noch einmal einzuschalten. Da Stifter den Text nicht fertigstellen konnte, lässt sich allenfalls darüber spekulieren, ob er die Klammer der Rahmenerzählung am Ende des zweiten Bandes geschlossen hätte, um den Urenkel noch einmal zu Wort kommen zu lassen. Auch ein Blick in die dritte Fassung der Mappe, die der vierten Fassung zumindest von der Anlage der Kapitel und der Konzeption als zweibändiger Roman her vergleichbar ist, führt hier nicht zu weiteren Erkenntnissen, weil dieses Fragment ebenfalls lange vor dem Ende des zweiten Bandes abbricht. Da sich die editorischen Hinweise im zweiten Kapitel auf den ersten Band von Augustinus’ Aufzeichnungen beschränken, wäre es allerdings folgerichtig gewesen, den zweiten Band der Letztfassung mit ähnlichen Hinweisen beginnen zu lassen – zumindest dann, wenn man davon ausgeht, dass die Inhalte der beiden intrafiktionalen Bände von Augustinus’ Aufzeichnungen den zwei von Stifter geplanten Bänden des literarischen Mappen-Textes entsprechen. Solche Hinweise lassen sich aber weder am Ende des letzten Kapitels des ersten Bandes noch zu Beginn des ersten Kapitels des zweiten Bandes finden; letzteres beginnt eindeutig mit der Ich-Erzählerstimme von Augustinus: „Ich ging nun öfter, wenn mir eine kurze Zeit vergönnt war, in den Wald“ (M4, S. 195). Die Instanz des Rahmenerzählers, die im Textverlauf der Letztfassung verstummt, bildet allerdings nicht die alleinige Grundlage, auf der die Editionsfiktion der Mappe beruht. Die Wahrnehmung des Textes als Ansammlung autobiografischer Aufzeichnungen spielt eine ebenso wichtige Rolle. Während aber die oben bereits angesprochene „Schleifenstruktur“236, die dem Erzählkonzept der Buchfassung zugrunde liegt, eine solche Wahrnehmung effektiv unterstützt,237 hat Stifter diese Struktur schon bei der Niederschrift der dritten Fassung aufge-

|| 236 Mayer: Gedächtniskunst, S. 17 (siehe auch Anm. 173 in diesem Kapitel). 237 Vgl. ebd., S. 22: Ausschließlich im Hinblick auf die Buchfassung der Mappe könne, so Mayer, „von der Gedächtnis-Kunst einer Autobiographie gesprochen werden“ (ebd.).

Der ‚Vater der Kranken‘: Die Letztfassung der Mappe | 285

geben. Die beiden späten Fassungen des Textes folgen einer linearen, chronologischen Struktur, auch wenn das zweite Kapitel („Das Gelöbniß“) das aus der Buchfassung des Textes bereits bekannte Mappenprinzip238 noch in Augustinus’ Worten aufruft: Ich will mein Leben in dieses Buch eintragen. Es ist nicht Schuldigkeit, an jedem Tage und ein Jedes, das sich ereignet, einzutragen, sondern nur das, was mir wichtig erscheint; dieses einzutragen aber ist Schuldigkeit, und es ist Schuldigkeit, die Blätter dann für meine Augen abzusperren, daß sie nicht mehr darauf fallen können, bis drei Jahre vergangen sind. Dann darf ich die Sperre lösen, und das Eingetragene wieder durchbliken und wie Sparpfennige gebrauchen. (M4, S. 26)

Die Vorstellung von einer positiven Auswirkung der Lektüre eigener Aufzeichnungen in zeitlichem Abstand zur Niederschrift wird in der Letztfassung der Mappe mit demselben Begriff bezeichnet wie in der Buchfassung: Das Aufgezeichnete solle „wie Sparpfennige“ (M2, S. 31 und M4, S. 26) verwendet werden. Trotzdem konnte für die Buchfassung in Abschnitt 5.3.4 gezeigt werden, dass im Hinblick auf das Mappenprinzip nicht die Lektüre, sondern der Vorgang des Schreibens eine entscheidende Rolle spielt. Inwieweit sich diese zentrale Eigenschaft des Mappenprinzips in der Letztfassung noch nachweisen lässt, werde ich im Zusammenhang mit der Figur des Obristen untersuchen. Unabhängig davon lässt sich aber feststellen, dass sich der Text der Letztfassung mit Beginn des dritten Kapitels in Erscheinungsbild und Diktion nicht als posthum herausgegebene Autobiografie, geschweige denn als Sammlung tagebuchartiger Aufzeichnungen präsentiert: Die „einzelnen Schreibeinsätze [sind] episch stark eingeebnet“239. Eine Ausnahme, die diese Regel bestätigt, bilden Augustinus’ Betrachtungen am Ende des letzten Kapitels des ersten Bandes.240 Zunächst kann also festgehalten werden, dass der Urenkel und fiktive Herausgeber der Mappe, der sich zum Abschluss der Buchfassung des Textes noch einmal eindrücklich zu Wort meldet (vgl. M2, S. 232 ff.), in der vierten Fassung des Textes schon bald „im Ensemble der handelnden Figuren [verschwindet]“241, so dass schließlich „der Eindruck kaum abzuwehren ist, die Geschichte

|| 238 Zur Verwendung des Begriffs ‚Mappenprinzip‘ siehe Anm. 21 in diesem Kapitel. 239 Hömke: Der Landschaftsgarten, S. 542. Hier deute sich, so Hömke weiter, „sogar ein logischer und psychologischer Widerspruch“ (ebd.) an, weil die „Einebnung des epischen Kerns“ (ebd.) von der Rahmenerzählung „nicht entsprechend motiviert“ (ebd.) werde. 240 Vgl. ebd. 241 Blasberg: „Wer bin ich bisher gewesen?“, S. 115. Blasberg liest das zweite und dritte Kapitel der Letztfassung der Mappe (in letzterem wird die Episode von den zwei Bettlern geschildert) allerdings als heterodiegetische Schilderung des Rahmenerzählers (vgl. ebd.). Eine solche

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erzähle sich von selbst“242. Trotzdem ist diese Figur für die Interpretation des Textes von Belang. Hinweise auf eine Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex der Erinnerung, die in der Buchfassung des Textes zu einem Sieg der Schrift über die Dinge inszeniert wird (siehe Abschnitt 5.3.2), finden sich auch in der Letztfassung. Wie in allen anderen Fassungen führt der Urenkel diesen Themenkomplex auch hier durch das vorangestellte Egesippus-Zitat von den ‚Wohnungen der Vorfahren‘ (siehe Anm. 84 in diesem Kapitel) ein und berichtet von einer Zeit in seiner Kindheit, in der er im Zusammenhang mit mündlichen Berichten über die Taten seines Urgroßvaters nicht nur mit „Verwunderung und Ehrfurcht auf die Dinge“ (M4, S. 10) zu sehen begann, sondern zu der Erkenntnis gelangte, „daß sie Zeugen einer langen Geschichte sind, die von den ersten Menschen bis zu ihnen und mir herab geht, und von mir weiter, wer weiß, wohin“ (M4, S. 12). Die Erinnerung des Urenkels an seine Wahrnehmung der Dinge als Geschichtszeugen steht jedoch isoliert im Text; im Unterschied zur Buchfassung, in der sich an die Rede von den Dingen als „stummen unklaren Erzählern“ (M2, S. 17) ausführliche Überlegungen über den jahrtausendealten „Strom der Liebe“ (ebd.) anschließen, sind die entsprechenden Gedanken des Urenkels in der Letztfassung auf den einen, oben zitierten Satz beschränkt. Dieser Befund lässt sich vor dem Hintergrund einer „Tendenz zur konsequenten Reduktion der Affektdarstellung, zur Milderung der Gefühlsebene“243, die sich in der vierten Fassung des Textes zeigt, erklären. Ähnliches gilt auch für einen weiteren Aspekt, der in meiner Interpretation der Buchfassung wesentlich dazu beigetragen hat, im ersten Teil der Rahmenerzählung eine Ausprägung des Topos von der Macht der Schrift zu erkennen. Während der Urenkel auch in der vierten Fassung des Textes unter den hinterlassenen Blättern und Heften seines Vaters, die in die Ledermappe seines Urgroßvaters eingelegt sind, auf das Kalenderblatt

|| Lesart deckt sich meines Erachtens aber nicht mit dem oben schon angesprochenen, eindeutig markierten Übergang zum Beginn der Abschrift von Augustinus’ Aufzeichnungen, die sein Urenkel anfertigt. Die Lesart von Joachim Müller, der in der Wahl der dritten Person Singular für das dritte Kapitel eine eindeutige „Kunstabsicht“ (ders.: Einige Gestaltzüge, S. 260) erkennt, erscheint mir deswegen plausibler: „[D]er Rückgriff auf die Studentenzeit [muß] für den Schreiber der ‚Mappe‘ eine besonders fernrückende Wirkung haben. Von der Erzählgegenwart zweiten Grades, die für die Einleitung ‚Die Alterthümer‘ den fixen Standort gibt, her gesehen, muß die nachgeholte Erzählung aus der Studentenzeit [...] durch eine abrupte Zäsur geschieden werden. Der zeitliche Abstand muß sich sogleich als personale Verfremdung darstellen“ (ebd.). 242 Blasberg: „Wer bin ich bisher gewesen?“, S. 115. 243 Gottwald: Beobachtungen zu Stifters Weg, S. 29.

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stößt, auf dem seine Geburt dokumentiert wurde, ist der Tonfall hier schon deutlich affektreduziert. Die Rede ist nicht mehr vom „geliebte[n] erste[n] Sohn“ (M2, S. 27), sondern es wird lediglich vermerkt: „Mit Gottes Segen mein erstes Kind ein Sohn geboren worden“ (M4, S. 18). Die Lektüre der Aufzeichnungen des Vaters erzeugen einen Eindruck, den der Urenkel wie folgt beschreibt: „Es war mir, als sei da etwas wie das Herz eines gesuchten Freundes, der Freund war mein Vater, und liegt nun in dem Grabe“ (ebd.). Der entscheidende Unterschied zur Buchfassung des Textes liegt darin, dass der Urenkel nicht mehr sagen kann, „es däuchte mir, das Herz, dem ich zwanzig Jahre nachgejagt hatte, sei gefunden“ (M2, S. 27; Hervorhebung von mir). In der Letztfassung bleibt der Vater ein gesuchter Freund.244 Dieser Unterschied ist von Bedeutung, denn er zeigt, dass die Auseinandersetzung des Urenkels mit den Aufzeichnungen seiner Vorfahren in der Letztfassung der Mappe in einer Art und Weise gestaltet ist, die es nicht erlaubt, sie als Ausprägung des Topos von der lebensverändernden Macht der Schrift zu beschreiben. Zu flüchtig und zurückhaltend gerät die Auseinandersetzung mit der Zeichenhaftigkeit der Dinge und der über sie triumphierenden Schrift.245 Indem dieser Komplex aber in den Hintergrund rückt, gewinnt ein anderer Aspekt an Bedeutung. Der Besuch des Urenkels in Thal ob Pirling findet statt, weil er seine „junge Gattin in unser Waldthal und in das Haus meiner Vorfahrer [sic]“ (M4, S. 12) führen will. Dieses Haus, das der Urenkel am Ende des ersten Kapitels noch einmal ausdrücklich als „unser Vaterhaus das Haus unserer Erinnerungen“ (M4, S. 25) bezeichnet, ist zwar auch in der vierten Fassung des Textes noch mit einem Blick in die Vergangenheit verknüpft. Trotzdem tritt hier stärker in den Vordergrund, dass der Urenkel sein gegenwärtiges Selbst als Teil einer Familie darstellt, deren Mitglieder wiederum in ihrer Beziehung zu diesem Haus be-

|| 244 Anhand dieser Passage lässt sich demonstrieren, wie sich die oben angesprochene Affektreduktion erst in der vierten Fassung des Textes manifestiert hat. In der dritten Fassung lautet die Kalenderblattnotiz des Vaters zwar schon so wie in der vierten Fassung, aber der Urenkel schließt den entsprechenden Abschnitt wie folgt: „Eine ungemein tiefe Rührung kam über mein ganzes Wesen. Zwanzig Jahre hatte ich das Herz eines Freundes gesucht, das mit dem meinigen sich gleich fühlte. Jetzt glaubte ich es gefunden zu haben“ (M3, S. 21). 245 Vgl. Mayer: Gedächtniskunst, S. 22. Über die Rahmenerzählung hinausgehend befindet Mayer für die beiden späten Fassungen der Mappe, dass „die Erinnerungsproblematik, besonders in der Dritten Mappe, in der Gestalt einzelner Motivtrümmer in den Text verstreut ist“ (ebd.). Vgl. auch Wirtz: Schrift und Familie, S. 529. Wirtz versteht das „Stöbern in Scheunen und auf Dachböden […] als erzählte Poetik“ (ders.: Schrift und Familie, S. 529), die „von der Studienfassung selbstreflexiv ausgebaut und im Roman hinter den weitgehend unkommentierten Bericht detektivischer Altertumssuche wieder zurückgenommen“ (ebd.) wird.

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schrieben werden. Dies lässt sich anhand mehrerer Textstellen belegen. Zum ersten werden der Urenkel und seine Frau bei der Ankunft in Thal ob Pirling nicht nur von der Mutter, sondern auch vom Stiefvater begrüßt, der in der Buchfassung des Textes nur als Kindheitserinnerung eine Rolle spielt. Dieser namenlos bleibende Stiefvater veranlasst, dass der Stiefsohn und seine Frau in die Stube geführt werden, „in der einst die Doctorgeräthe gestanden waren, und es wurde uns gesagt, daß diese Stube für uns eingerichtet worden sei“ (M4, S. 13). Zum zweiten erobern die Nichten und Neffen des Urenkels, die in der Buchfassung „an der Stelle [spielten], wo wir einst gespielt hatten“ (M2, S. 21), in der vierten Fassung des Textes das Haus in seiner Gesamtheit: „Dafür war in den Räumen des alten Paares meine Schwester mit ihrem Gatten und ihren Kindern, welche Kinder aber nicht blos in diesen Räumen sondern im ganzen Hause spielten, wie wir einst darin gespielt hatten“ (M4, S. 13). Zum dritten weist der Urenkel ausdrücklich auf die Großfamilie hin, die in seinem Elternhaus wohnt, wenn er seine eigene Mutter nicht, wie noch in der Buchfassung, als „ein altes Weib“ (M2, S. 21) beschreibt, sondern erwähnt, dass sie zu einem „Großmütterlein“ (M4, S. 13) geworden ist. Und zum vierten halten die Brüder des Urenkels, die in der Buchfassung des Textes noch keine Rolle spielen und sich in der Letztfassung schon „nach und nach in die Welt“ (M4, S. 12) zerstreuen, als der Urenkel fernab vom Elternhaus die „lateinische Schule“ (ebd.) besucht, in der Erzählgegenwart der Rahmenerzählung per Brief den Kontakt zu Elternhaus und Familie. Sie erklären sich mit den Vorschlägen des Urenkels einverstanden, wie mit den Dokumenten zu verfahren sei, die er auf dem Dachboden des Hauses gefunden hat, und stimmen zu, dass man sich „im nächsten Jahre ein Stelldichein bei der Mutter geben“ (M4, S. 25) solle. Während der Urenkel in der Rahmenerzählung kein einziges Mal von seiner ‚Familie‘ spricht – sie wird, wie die gerade angeführten Beispiele zeigen, durch den Begriff des Hauses repräsentiert –,246 ist die Betonung, die der Themenkomplex der Familie in der Letztfassung erhält, nicht zu übersehen. Die Familie ist der Ort, an den der Urenkel zurückkehrt, um einen „Initiationsprozess [...] auf mehreren Ebenen“247 zu durchlaufen. Hier gelingt es ihm, die „Ängste seiner Kinderzeit“248 – symbolisiert durch die Statue der „heiligen Margaretha“ (M4,

|| 246 Zu diesem Gebrauch des Begriffs ‚Haus‘ und zur Verbreitung des Begriffs ‚Familie‘ im deutschen Sprachraum, die sich erst im beginnenden 18. Jahrhundert nachweisen lässt, vgl. ‚Haus‘ [Art.]. In: DWB, Bd. 4,2, Sp. 640–651, hier Sp. 649 und ‚Familie‘ [Art.]. In: DWB, Bd. 3, Sp. 1305–1306. 247 Schmidt: „Wir haben ohnehin die Ordnung umgekehrt...“, S. 135. 248 Ebd.

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S. 15), deren „Schein“ (ebd.) er „nicht mehr fürchtet[]“ (ebd.) – zu überwinden, den Dachboden zu betreten und die Aufzeichnungen seiner Vorfahren auf dem „Boden der Truhe“ (M4, S. 16) zu entdecken, der sich als symbolischer „Grundstein für sein eigenes Leben“249 deuten lässt. An die Stelle der mit Emotionen aufgeladenen Auffindung des väterlichen Herzens, die dem Urenkel hier nicht mehr gelingen kann, tritt ein anderer Vorgang: Durch die „Entdeckung der Aufzeichnungen seines Urgroßvaters und die darin eingelegten Textzeugnisse seines Vaters wird er erfolgreich in eine patriarchalische Identitätstradition eingeführt und aufgenommen.“250 Diese Tradition vertritt der Urenkel dann gegenüber seiner Familie, indem er sich mit deren Zustimmung zum „Vermittler des urgroßväterlichen und väterlichen Erbes“251 erklärt. Ich fasse zusammen: Die Figur des Urenkels und Rahmenerzählers hat in der Letztfassung der Mappe nicht dasselbe Gewicht wie in der Buchfassung. Trotzdem lässt sie sich als das Subjekt eines Bildungserlebnisses beschreiben. Dessen literarische Gestaltung hat sich aber so weit vom Topos von der Macht der Schrift gelöst, dass Raum für ein anderes Vorstellungsmuster entsteht. In diesem Raum findet eine Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex – ich verwende an dieser Stelle mit Absicht noch nicht den Begriff ‚Topos‘ – der Familie statt, der sich im weiteren Verlauf des Textes als zentral erweisen wird.

5.4.2 Schaudern, Schämen und Schreiben Das Kapitel mit der Überschrift „Der sanftmüthige Obrist“ hat in meiner Interpretation der Buchfassung der Mappe bereits eine wichtige Rolle gespielt. Dort stellt die Binnenerzählung252 dieses Kapitels einen mündlichen Bericht des Obristen dar, der Augustinus kurz nach dem Bruch mit Margarita seine Lebensgeschichte erzählt. In diesem Bericht prägt sich der Topos von der Macht der Schrift deutlich aus und lagert sich an die Figur des Obristen an (siehe Abschnitt 5.3.4); er bildet die Grundlage für den Bildungsgang dieser Figur.

|| 249 Ebd., S. 137. 250 Ebd., S. 138. Vgl. ähnlich Müller: Einige Gestaltzüge, S. 247. Müller weist der Rahmenerzählung der Letztfassung der Mappe zwei Funktionen zu: „[E]inmal wird die weite Distanz deutlich, die den Icherzähler vom Kerngeschehen, dem Leben des Urgroßvaters, trennt, und zugleich wird die familiäre Kontinuität, in die er sich durch seine verwandtschaftliche Zugehörigkeit und durch die Tradition des Elternhauses einreiht, bewußt gemacht“ (ebd). 251 Schmidt: „Wir haben ohnehin die Ordnung umgekehrt...“, S. 138. 252 Ich verzichte auch hier zugunsten der Lesbarkeit auf eine exakte erzähltheoretische Benennung der unterschiedlichen Erzählstimmen (siehe dazu Anm. 116 in diesem Kapitel).

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Stifter hat dieses Kapitel zwar an einer anderen Position, aber mit unverändertem Titel und ähnlichem Umfang253 in die Letztfassung aufgenommen. Wichtiger als diese Textmerkmale ist aber die Erzählstruktur des Kapitels, die sich ebenfalls eng an die Buchfassung anlehnt. Auch in der Letztfassung folgt der Obrist Augustinus, der unter dem unmittelbaren Eindruck des Bruchs mit Margarita steht, in ein Waldstück und bittet ihn dort um eine ausführliche Unterredung, zu der es aber erst nach einigen Tagen kommt. Sie beginnt mit einem unverbindlichen Gespräch über Augustinus’ Patienten und das Tagesgeschehen in Thal ob Pirling und endet mit einer Aufforderung des Obristen: „Und an euch, mein sehr lieber Freund, stelle ich die Bitte: thut mir nicht weh in meinem Kinde“ (M4, S. 172).254 Zwischen diesen beiden Fixpunkten erzählt der Obrist seinem Gesprächspartner seine Lebensgeschichte, die mit dem Verlassen des Elternhauses ihren Anfang nimmt und mit der Aussöhnung mit seinem Bruder, der ihn um sein Erbe betrogen hatte, endet. Dieser mündliche Bericht beginnt, ähnlich wie in der Buchfassung des Textes (vgl. M2, S. 44), unter Verweis auf den möglichen Wahrheitsgehalt von Gerüchten über den Obristen mit der folgenden Aussage: „Ich bin nicht gut gewesen“ (M4, S. 155). Dieser Ausgangszustand wird im Verlauf der Binnenerzählung weiter qualifiziert. Der vorherrschende Charakterzug, der den Obristen als jungen Mann prägt und den Zustand des ‚Nicht-gut-seins‘ definiert, ist seine Gewaltbereitschaft. Die Erkenntnis, dass dieser Charakterzug im Rahmen eines selbsttherapeutischen Bildungsgangs zu eliminieren ist, wird in der Letztfassung überzeugender motiviert als in der Buchfassung. Dort reicht der an den Obristen gerichtete Vorwurf, dass er „ein Lumpe sei, der vom Pariser Strolchengolde lebe“ (M2, S. 47), auf der einen Seite aus, um ihn zur sofortigen Aufgabe seines im Glücksspiel erworbenen Reichtums zu bewegen, hindert ihn auf der anderen Seite aber nicht daran, den niedergestochenen Gegner anzuschreien und Zu-

|| 253 Das Kapitel „Der sanftmüthige Obrist“ nimmt in der Letztfassung des Textes 25 Seiten ein, während es in der Buchfassung noch 32 Seiten umfasst. Der Suizidversuch von Augustinus wird in der Letztfassung bereits am Ende des vorherigen Kapitels geschildert wird und ist überdies kaum noch als solcher erkennbar (siehe Anm. 118 in diesem Kapitel). Folgerichtig lässt Stifter den Obristen, der den Suizid in der Buchfassung vereitelt, dieses Thema zu Beginn der Unterredung auch nicht mehr thematisieren (vgl. dagegen M2, S. 40 ff.). Die Binnenerzählung des Kapitels, um die es hier vornehmlich gehen soll, nimmt in der Buchfassung der Mappe 19 Seiten und in der Letztfassung 17 Seiten ein. 254 In der Buchfassung weist der Obrist vor dieser Bitte noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass ihm nur Margarita, die ihrer verstorbenen Mutter „im Angesicht und in der ganzen Art so sehr“ (M2, S. 63) gleiche, geblieben sei, und schließt seinen Bericht wie folgt: „Doktor, thut mir nicht weh in meinem Kinde“ (ebd.).

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friedenheit darüber zu empfinden, dass dieser vermutlich sterben wird (vgl. ebd.). In der Letztfassung dagegen geht die Konfrontation mit dem hier als „Herzog von Choisel“ (M4, S. 157) bezeichneten Gegner zwar von der Figur des Obristen aus, doch der Ausgang der Konfrontation stellt sich ganz anders dar: Gegen Mörder und Straßenräuber werde ich mich vertheidigen, sagte er [der Herzog; H. A.]. Ich drang gegen ihn, er zog seinen Degen, und nach einigen Augenbliken sank er wie todt zu meinen Füssen, da er die Worte sagte: Ich sterbe von unwürdigen Händen. Mir schauderte. (M4, S. 157; Hervorhebung von mir)

Im Schaudern des Obristen, das von den Auswirkungen seiner Gewalttat ausgelöst wird, liegt der Beginn einer Veränderung. Erst jetzt übergibt er dem „Vorsteher der Waisenkinder […] Gold und Kleinodien“ (ebd.) und seine übrigen Besitztümer, um anschließend Frankreich zu verlassen und sich dem Heer seines „Vaterlandes“ (M4, S. 158) anzuschließen, um dort eine soldatische Ausbildung zu durchlaufen. Obwohl dieser Entschluss den Obristen notgedrungen in Situationen bringen wird, in denen er Gewalt ausüben muss, zeigt sich im weiteren Verlauf seines Bildungsgangs eine Reduktion von Gewaltbereitschaft, die wiederum konsequenter gestaltet ist als in der Buchfassung. Während der Obrist dort einen „Freund und Vertraute[n]“ (M2, S. 49), der ihn um seine zukünftige Braut betrügt, indem er sie „selber zum Altare“ (ebd.) führt, vor seinem geplanten Suizid noch „erstechen“ (ebd.) will, ist von solchen Plänen in der Letztfassung keine Rede mehr. Die Reaktion des Obristen beschränkt sich hier auf den Plan, seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Aber selbst dieser Rest von Gewaltbereitschaft, die sich nur noch gegen die eigene Person richtet, führt – in Analogie zu dem Schaudern, das der Obrist nach dem Kampf mit dem Herzog empfindet – zu der Erkenntnis, falsch gehandelt zu haben. Im Vergleich mit der Buchfassung (vgl. die ausführliche Schilderung in M2, S. 49) reduziert die Letztfassung die Darstellung auf diesen Aspekt: Ich wollte mich nun tödten, und begann, eine Pistole zu laden. Ein gemeiner Mann, mein Diener, errieth meine Absicht, und sagte: So schämt euch doch, Herr Hauptmann. Ich schämte mich wirklich tief vor dem Manne, und schleuderte die Pistole in einen Winkel. (M4, S. 159)

Im Anschluss an diesen Moment der Scham, in dem die jugendliche Gewaltbereitschaft der Figur ein Ende findet, verbringt der Obrist auch in der Letztfassung des Textes nach dem Ausbruch eines Krieges einige zermürbende Jahre des „Feldleben[s]“ (M2, S. 50; M4, S. 159), die ihn für die Anwendung des selbsttherapeutischen Mappenprinzips empfänglich machen. Die wesentlichen Grundzüge dieses Prinzips hat Stifter in der Letztfassung der Mappe nicht ver-

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ändert. Zum einen hat es immer noch iterativen Charakter, beruht also darauf, dass jemand seine – hier wählen Buch- und Letztfassung eine identische Formulierung – „Gedanken und Begebnisse“ (M2, S. 50; M4, S. 160) niederschreibt, versiegelt und nach einer Wartezeit von mehreren Jahren noch einmal liest. Zum zweiten zieht die zeitversetzte Lektüre der eigenen Aufzeichnungen eine Erkenntnis nach sich, die in der Letztfassung noch prägnanter beschrieben wird: Die rechten Ansichten waren beim Öffnen eines Päkchens oft nicht mehr die rechten, und es wurden die neuen nieder geschrieben. Und so ging es fort. (M4, S. 160; Hervorhebung von mir)

Die Prägnanz dieser Formulierung besteht in der Aussage, dass sich die ehemaligen Ansichten schon zu dem Zeitpunkt, als das Siegel gelöst wird, als nicht mehr richtig erweisen. Hier zeigt sich, dass die therapeutische Wirkung des Mappenprinzips auch in der Letztfassung des Textes nicht auf der punktuellen Lektüre der eigenen Aufzeichnungen beruht, sondern von der Auseinandersetzung mit den eigenen Ansichten im Zuge eines kontinuierlichen Schreibprozesses ausgelöst wird. Die Lektüre löst die „Begierde“ (M4, S. 160) aus, die Ansichten niederzuschreiben, die zum aktuellen Zeitpunkt als „die rechten“ (ebd.) empfunden werden, doch deren erneute Transformation findet im Vorgang des Schreibens statt, der den Alltag des Obristen nun bestimmt: „Alle freie Zeit verwendete ich zum Schreiben“ (ebd.). Wie schon in der Buchfassung geht der Obrist auch in der Letztfassung des Textes auf die persönlichkeitsverändernde Wirkung ein, die von der Anwendung des Mappenprinzips ausgelöst wird. In der Buchfassung wird diese Wirkung noch explizit als das Paradoxon beschrieben, als das sie sich darstellen muss: „[U]nd so wurde ich widerstreitender Weise mitten im Kriege und Blutvergießen ein sanfterer Mensch“ (M2, S. 52). Die Letztfassung verzichtet darauf, die Transformation des Obristen als einen Erwerb von Sanftmut zu beschreiben und enthält sich an dieser Stelle einer Bewertung: Der Obrist wird „mitten im Kriegsleben und im Lagerleben ein Mensch, der ich sonst vielleicht nicht geworden wäre“ (M4, S. 161). Entscheidend ist aber, dass der Effekt dieses Transformationsprozesses derselbe bleibt: Der Obrist beginnt damit, „im Leben auszuüben, was ich in meinen Päken gelernt hatte“ (ebd.) und sorgt etwa dafür, dass „tausend Menschen“ (ebd.) – gegnerische Soldaten, die sich schon damit abgefunden haben, „heldenmäßig zu sterben“ (ebd.) – nicht getötet, sondern „nur gefangen“ (ebd.) werden. An dieser Stelle unterbricht der Obrist in beiden Fassungen des Textes seinen autobiografischen Bericht. Was den Grund für diese Unterbrechung angeht,

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zeigt sich aber ein auffälliger Unterschied. In der Buchfassung dient sie dem Obristen dazu, die „Schriften, die immer noch auf dem Tische gelegen waren“ (M2, S. 53), zurück an ihren Platz zu legen. Dabei handelt es sich aber lediglich um Dokumente, die belegen, dass der Obrist den in Paris erworbenen Reichtum „der Armensache übergeben“ (M2, S. 47) hat. In der Letztfassung dagegen sind es seine autobiografischen Aufzeichnungen, die effektiv in Szene gesetzt werden. Der Obrist öffnet die Flügeltüren eines Schreins und sagt: „Seht, Doctor, hier sind die Päke meiner Schriften, ihr dürft, wenn es euch gefällig ist, lesen, was ihr auswählt, oder, wenn es euch nicht zu gering ist, Alles.“ Der Schrein hatte unzählige Fächer, und sie waren von unten bis oben mit Papieren gefüllt. (M4, S. 161)

Eine solche Präsentation der ‚Päke‘ des Obristen findet sich in der Buchfassung nicht.255 Sie erhält besondere Betonung durch den Umstand, dass der Obrist den Schrein nicht schließt, als er seinen autobiografischen Bericht fortsetzt. Die Bündel seiner Aufzeichnungen bleiben auf diese Weise für Augustinus sichtbar, betonen durch ihre Präsenz die Bedeutung, die das Mappenprinzip für den hier dargestellten Bildungsgang hat und ersetzen in einer für Stifters Spätwerk charakteristischen „Dingperspektive“256 den noch in der Buchfassung ausgesprochenen Ratschlag des Obristen, auch Augustinus solle dieses Prinzip für sich nutzbar machen: „Ich würde euch gerne rathen, Doctor, daß ihr es auch anwendetet; denn ich glaube, daß ich schier alles, was ich geworden, durch dieses Mittel geworden bin“ (M2, S. 50). Meine bisherigen Ausführungen zeigen, dass der Topos von der Macht der Schrift in der Letztfassung der Mappe, wie schon in der Buchfassung, eng an die Figur des Obristen angelagert ist und sich bei der literarischen Gestaltung des entsprechenden Bildungsgangs erneut, aber mit anderen Nuancen ausgeprägt hat. Außerdem fällt auf, dass Stifter in der Letztfassung darauf verzichtet, die erzieherische Vorbildfunktion, die der Obrist nach dem erfolgreichen Abschluss seines Bildungsgangs gegenüber Augustinus einnimmt, explizit zu benennen. Mehrere Textstellen untermauern diesen Befund. So leitet der Obrist seinen autobiografischen Bericht in der Buchfassung ein, indem er Augustinus mitteilt,

|| 255 Die dritte Fassung der Mappe enthält diese Stelle dagegen beinahe textgleich (vgl. M3, S. 174). 256 Bengesser/Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4), S. 67. Ähnlich auch schon Konrad Steffen: „Die klassisch gewordene Dichtung der Letzten Mappe benutzt [...] dagegen das seit Homer gültige epische Mittel: Sie macht das Seelische an Gegenständen sichtbar“ (ders.: Nachwort, S. 346 f.).

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es sei „billig, daß ihr auch meine Fehler wisset, denn ihr habt mich bisher zu viel geachtet – auch könnte euch die Sache vielleicht nützlich sein“ (M2, S. 43; Hervorhebung von mir). In der Letztfassung dagegen stellt er lediglich fest, „daß es gut wäre, wenn ihr mehr von uns wüßtet“ (M4, S. 154), denn Augustinus sei „nicht blos mein nächster Nachbar, sondern ihr seid uns auch sonst mehr“ (ebd.). Auch sucht man eine Passage wie die folgende, oben schon aus der Buchfassung zitierte in der Letztfassung vergeblich: „Ach Gott, lieber Doctor, [...] ich war gerade so schwärmend wie ihr, ich war ausschweifend in Haß und Freundesliebe, ich war eben so strebend und vom Grunde aus gutherzig wie ihr“ (M2, S. 48 f.). Die erzieherische Absicht, die diesem Vergleich unverkennbar zugrunde liegt, wird in der Letztfassung nicht mehr verbalisiert, sondern nur noch impliziert, indem sich Subjekt und Mittel des dargestellten Bildungsgangs – der Obrist und seine ‚Päke‘ – dem Zögling präsentieren. In diesem Zusammenhang spielt die gegenüber der Buchfassung veränderte, deutlich später im Textverlauf angelegte Position des Kapitels, in dem der Obrist von seinem Bildungsgang erzählt, eine wichtige Rolle. Die Forschung hat dem „Aufschieben und Hinauszögern der Jugendgeschichte des Obristen“257 lange keine besondere Beachtung geschenkt,258 obwohl sich dieser Aspekt als bedeutsam für die Analyse einer anderen Figur des Textes erweisen könnte, denn „[d]as Risiko, mit der Erzählung vom verfehlten Leben eines anderen zur falschen Art von Nachahmung aufzurufen, scheint sich minimieren zu lassen, indem man dem Zögling das mögliche Unglück erst dann präsentiert, wenn eigentlich schon alles gut gegangen ist.“259 Auch vor diesem Hintergrund wird der Bildungsgang der Figur Augustinus in den folgenden Abschnitten zu untersuchen sein.

|| 257 Zumbusch: Erzählen und Erziehen, S. 496. 258 Vgl. ebd., S. 495 f. 259 Ebd., S. 496. Zumbusch verdeutlicht in den Ausführungen, die sich an diese These anschließen, dass sich ihr Befund, eigentlich sei ‚schon alles gut gegangen‘, auf den Zögling – hier also Augustinus – bezieht. Sie zeigt eine strukturelle Analogie im Roman Der Nachsommer auf, in dem die Erzählung von den jugendlichen Verfehlungen Gustav von Risachs „erst erzählt [wird], als sich Heinrich Drendorf und Natalie bereits verlobt haben und von Risachs Jugendgeschichte keine Gefahr mehr ausgehen kann“ (ebd.). – Zur Erzählfunktion der Position des Kapitels „Der sanftmüthige Obrist“ in der Buchfassung der Mappe siehe Abschnitt 5.3.3 und Anm. 113 in diesem Kapitel.

Der ‚Vater der Kranken‘: Die Letztfassung der Mappe | 295

5.4.3 Vom Bettler zum Bürger Bei der folgenden Darstellung der ersten Phase von Augustinus’ Bildungsgang konzentriere ich mich auf das dritte Kapitel des Textes, das den Titel „Von den zwei Bettlern“ trägt. Schon auf der ersten Seite dieses Kapitels konstruiert der Erzähler mit wenigen Sätzen eine Figurenkonstellation, die im weiteren Verlauf des Romanfragments eine wichtige Rolle spielen wird. Es geht um Augustinus und Eustachius, die beide in Prag studieren und nach einer von Augustinus ausgehenden Kontaktaufnahme (vgl. M4, S. 27) eine enge Freundschaft schließen. Eustachius wird schon an dieser Stelle durch die Betonung von auffälligen Unterschieden im äußeren Erscheinungsbild als „Alternativfigur zu Augustinus“260 eingeführt. Der Medizinstudent Augustinus trägt einen „schwarzen Sammetrok [...] und ein schönes schwarzes Sammetstuzhäubchen“ (M4, S. 27), während der angehende Jurist Eustachius in „einen braunen Rok, der schlecht war, und eine braune Haube, die ebenfalls schlecht war“ (ebd.), gekleidet ist. Augustinus ist in der Regel bewaffnet: Er führt entweder einen „scharfen Schläger“ (ebd.) oder „einen Stok [...], der wie eine Keule war“ (ebd.), mit sich. In Eustachius Händen findet sich dagegen nie eine Waffe, „sondern manches Mal nur beschriebene Papiere“ (ebd.). Nachdem diese Figurenkonstellation einmal in den Text eingeführt ist, bestimmt sie den weiteren Verlauf des Geschehens während der Prager Studentenzeit. Der Medizinstudent übernimmt in verschiedenen Zusammenhängen Verantwortung für seinen Freund und befreit ihn beispielsweise aus einer potenziell rufschädigenden Situation, in der Eustachius in einem buntscheckigen Anzug „wie ein Zeisig auf dem Karolin“ (M4, S. 29) herumgeht. Hier zeigt sich „ein erster, diskret angebrachter erfreulicher Charakterzug des sich im folgenden noch recht geckenhaft gebenden Medizinstudenten“261, der schon in diesem Kapitel die ersten Schritte auf seinem Bildungsgang unternehmen wird.

|| 260 Mayer: Adalbert Stifter, S. 107. 261 Müller: Einige Gestaltzüge, S. 262. Friedrich Wilhelm Korff geht in seiner Bewertung des Verhältnisses zwischen den beiden Figuren Augustinus und Eustachius noch einen Schritt weiter und bringt eine Figurenkonstellation aus dem Nachsommer ins Spiel, die aus seiner Sicht als Vergleich dienen kann: „So nimmt auch der Augustinus der letzten ‚Mappe‘ gegenüber Eustach etwa die pädagogische Rolle des Freiherrn von Risach gegenüber Heinrich an“ (ders.: Diastole und Systole, S. 314 f.). Korff erkennt in der Letztfassung der Mappe allerdings eine „gegenläufige Pädagogik“ (ebd., S. 315), die „entwickelnd das Moment der Entwicklung in Frage [stellt]“ (ebd.). Ich werde im Folgenden dagegen von der Hypothese ausgehen, dass der entscheidende Impuls für Augustinus’ Bildungsgang nicht von seinem Umgang mit Eustachius ausgeht, sondern von dessen Scheitern und Verschwinden aus der erzählten Welt.

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Augustinus beschützt seinen Freund Eustachius aber nicht nur, sondern leitet ihn auch an, „wie er in allerlei Dingen Unterricht geben, und sich Geld erwerben könne“ (M4, S. 30). Der Text bewertet die hier angesprochene Tätigkeit als Hauslehrer auf den ersten Blick positiv. Sie führt etwa dazu, dass Eustachius sein äußeres Erscheinungsbild verbessert, weil er sich neue Kleidung leisten kann: Dem Rat Augustinus’ folgend und seinem Freund nacheifernd bekommt er „allgemach einen schwarzen Sammetrok, er trug ein schwarzes Sammetstuzhäubchen, und hatte die Loken zurük gestrichen“ (ebd.). Der Erzähler verbindet diese zunächst positive Bewertung aber durch eine Überleitung, in der die Studentenzeit von Augustinus und Eustachius durch extreme Zeitraffung fast vollständig ausgespart bleibt („[...] ihre Schulzeit floß dahin, ja sie war eines Tages ganz aus“; ebd.), mit einer Passage, in der eine gegensätzliche Entwicklung beider Figuren ihren Anfang nimmt. Diese Entwicklung wird schließlich dazu führen, dass „[d]ie Geschichte der zwei Schüler [...] nicht den Ausgange [hatte], den sie sich gedacht hatten“ (M4, S. 39). Augustinus gelangt nämlich zu der Einsicht, dass seine „klägliche soziale Lage“262 als Hauslehrer nicht länger akzeptabel ist. Er bezeichnet sowohl Eustachius als auch sich selbst aufgrund dieser Tätigkeit mehrfach als „Bettler“ (M4, S. 31) und stellt sich in eine Reihe mit den „Thürenbettler[n] und [...] Straßenbettler[n]“ (M4, S. 31) sowie den „Gaukler[n], Pfeifer[n], Marktschreier[n]“ (ebd.): Da sind die, welche in die Häuser gehen müssen, um ein wenig Erziehung und Unterricht darzureichen [...]. Und wenn dich dein Herz überkömmt, und du aus ihm zu dem Schüler redest, und dann aufstehst, und in Demuth Abschied nimmst, und fort gehst, und wenn er an dem Fenster steht, und auf den Scheiben trommelt, und dich unten weggehen sieht, von Wägen, die da fahren, mit Koth bespritzt, dann däucht er sich mehr zu sein als du, und die Seinigen denken auch so. (M4, S. 31)

Obwohl Augustinus in diesem Kapitel als gewaltbereiter junger Mann dargestellt wird, der keinem Konflikt aus dem Wege geht, führt die Geringschätzung der Hauslehrertätigkeit, die er von seinen Auftraggebern erfährt, „nicht zum Aufstand gegen das feudalbourgeoise Gesellschaftssystem“263, sondern dazu, dass der Medizinstudent damit beginnt, einer „bürgerlich sanktionierten“264 Tätigkeit nachzugehen. Augustinus, der „unter seiner gesellschaftlichen Stellung leidet, aber sich anpaßt“265, besinnt sich darauf, dass er „ein Arzt im Ent-

|| 262 Müller: Einige Gestaltzüge, S. 263. 263 Ebd. 264 Ebd., S. 264. 265 Aspetsberger: Die Aufschreibung des Lebens, S. 22.

Der ‚Vater der Kranken‘: Die Letztfassung der Mappe | 297

stehen“ (M4, S. 33) ist und beginnt damit, als Tierarzt zu arbeiten. Das Geld, das er auf diese Weise verdient, bewertet er im Unterschied zu dem Lohn für die Hauslehrertätigkeit als „ehrenfest in landgebräuchlichen Diensten erworben“ (ebd.). Eustachius stimmt Augustinus Kritik nur bedingt zu und beschreibt ein vorbildliches Mitglied eben der Gesellschaftsschicht, der Augustinus die Geringschätzung des Hauslehrerberufs vorwirft, exemplarisch wie folgt: Es werden aber doch manche anders sein, [...] denn siehe, der Kaufherr Emerich Waldon besitzt schöne Bücher und Bilder und Zeichnungen, und ehrt sie, es sind oft schöne Musiken bei ihm, er hat Achtung vor der Gelehrsamkeit, ist freundlich gegen mich, und würde solche Dienste erkennen, wenn ich sie ihm leistete. (M4, S. 33)

Diese positive Darstellung der Figur Emerich Waldon bestätigt sich im weiteren Verlauf des Romanfragments: Waldon erscheint hier in der Tat als ebenso erfolgreicher wie ehrbarer Mann (vgl. M4, S. 80 ff.). Was an der oben zitierten Beschreibung aber auffällt, ist die Betonung der Rolle, die die Kunst im Leben dieser Figur spielt: Waldon besitzt nicht nur Kunsterzeugnisse wie Bücher, Bilder und Zeichnungen – er „ehrt sie“ (M4, S. 33) auch. Hier entsteht, wenn auch nur skizzenhaft, das Bild eines Mannes, dem es gelungen ist, mit Literatur, Malerei und Musik in einer Weise umzugehen, die an das Ehepaar in Turmalin erinnert. Diesen beiden Figuren gelingt es ebenfalls, die Kunst in einer für sie günstigen Weise in ihren Lebensentwurf zu integrieren, sich aber nicht, wie der Rentherr in derselben Erzählung, von ihr schädlich vereinnahmen zu lassen (siehe Abschnitt 3.3.5). Mit der zitierten Beschreibung führt der Text den Themenkomplex der Kunst aber zunächst nur punktuell ein und betont weiterhin Augustinus’ beginnende Transformation zum ehrbaren Bürger, der es darauf anlegt, so schnell wie möglich die verbleibenden Prüfungen abzulegen, um dann sein „rechtschaffenes Brod verdienen“ (M4, S. 34) zu können. In der erzählten Zeit vergeht ein Jahr, bevor sich herausstellt, dass Augustinus und Eustach sich tatsächlich in zwei unterschiedliche, einander entgegengesetzte Richtungen entwickeln: Augustinus wird zum Bürger, während Eustach sich zum Künstler wandelt. Die „Spannung zwischen unbeschränkter künstlerischer und beschränkter bürgerlicher Existenz“266, die hier entsteht, bildet den Auslöser für eine Transformation, der Augustinus sich unterziehen wird.

|| 266 Korff: Diastole und Systole, S. 313. Karl Pörnbacher weist darauf hin, dass der „wichtigste Unterschied“ (ders.: Nachwort, S. 299) zwischen der Journal- und der Letztfassung der Mappe im Hinblick auf die Gestaltung der Episode von den zwei Bettlern genau diesen Aspekt betreffe: „[D]ie Geschichte der beiden Studenten als Beispiel für die Möglichkeit der bürgerlichen (Au-

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Eustachius’ Hinwendung zur Kunst wird vom Text, ebenso wie die Hauslehrertätigkeit, anfänglich nicht negativ dargestellt. Er versucht sich zwar zunächst erfolglos als Zeichner (vgl. M4, S. 37), kann aber schon bald seine nächtlich verfassten „Hirngespinnste[]“ (M4, S. 36), die das enthalten, was „mir in mein Herz gekommen war“ (M4, S. 37), erfolgreich an die Stadtchronik verkaufen. Hier berichtet der Erzähler also, so scheint es, von einer Erfolgsgeschichte. In ihr spiegelt sich die Episode von Augustinus’ Aufstieg vom Hauslehrer zum Tierarzt. Wieder besprechen die Freunde die jüngste Entwicklung bei einem Glas Wein, das von dem mit der neuen Tätigkeit verdienten Geld bezahlt wird. Augustinus äußert zwar die „Angst, ob nur das Geschriebene auch etwas werth ist“ (M4, S. 37), kommt aber zu einem positiven Ergebnis, indem er die von Eustachius angesprochene Vorstellung einer ‚Herzensschrift‘ (siehe dazu auch Abschnitt 3.2.7) noch einmal explizit aufruft: „[D]ein Herz ist etwas werth, und wenn du dein Herz aufgeschrieben hast, so sind, ich rufe Gott und alle Heiligen, die Schriften auch etwas werth“ (M4, S. 37).267 Bei der Lektüre von Eustachius’ Schriften gelingt es Augustinus allerdings nicht, zu „erklügeln, wie groß und närrisch das Ding sei“ (M4, S. 39). Erst als völlig unvermittelt die Katastrophe eintritt und Eustachius Prag überstürzt verlässt, weil er annehmen muss, dass man ihm im Zusammenhang mit einer Schuldbürgschaft ein Vergehen anlastet, erfährt Augustinus, welche Macht die Kunst auf das Leben seines Freundes ausgeübt hat. Bevor er zu dieser Erkenntnis gelangt, aktiviert der Verlust seines Freundes in Augustinus aber zunächst eine „ziemlich starke Aggressionsbereitschaft“268: Er „rannte [...] in der Stube [Eustachius Zimmer; H. A.] auf und ab, und wußte nicht, was er denn zertrüm-

|| gustinus) und künstlerischen (Eustach) Existenz [wird] hier [in der Letztfassung; H. A.] organisch in die Handlung eingearbeitet und in den folgenden Kapiteln immer wieder aufgegriffen“ (ebd.). Dies beschränkt sich allerdings, wie schon erläutert, auf die intrafiktional von Augustinus angestellte Vermutung, der Zeichner des fürstlichen Landschaftsgartens sei Eustachius, der einen anderen Namen angenommen habe. Inwieweit es durch Augustinus’ Auseinandersetzung mit diesem als Kunstwerk deklarierten Garten zu einer „Auflösung“ (ebd.) des Spannungsverhältnisses kommt, das die Episode von den zwei Bettlern konstruiert, wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch zu untersuchen sein. 267 Vgl. Müller: Einige Gestaltzüge, S. 266. Müller spricht zum einen vom „Motiv des Herzens“ (ebd.) und zum anderen vom „Begriff des Herzens“ (ebd., S. 267), der zum „Angelpunkt im jugendlichen Leben des Eustachius“ (ebd.) werde. Müller weist zu Recht auf die Verbindung zwischen der oben zitierten Aussage von Augustinus und zahlreichen Stellen in den Briefen der Kaufmannstochter Christine Waldon hin, die in ihrer Eigenschaft als autobiografische Texte eine zentrale Rolle für den Bildungsgang von Augustinus spielen. Auf diesen Aspekt werde ich später noch einmal zurückkommen. 268 Aspetsberger: Die Aufschreibung des Lebens, S. 22.

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mern solle“ (M4, S. 40).269 Augustinus bezeichnet Eustachius’ Vermieterin Cäcilia als „Gespenst“ (M4, S. 41) und befiehlt ihr unter Androhung körperlicher Gewalt, den Zugang zu Eustachius’ Zimmer zu sperren: „[L]aß niemanden hinein, sonst zerschlag’ ich dich auf zweitausend kleine Trümmer“ (ebd.). Auch bei der Auseinandersetzung mit der Obrigkeit über die Summe, für die Eustachius gebürgt hat, zeigt er sich aggressionsbereit: „Augustinus sah ihn [einen Ratsherrn, H. A.] wild an“ (ebd.). Dasselbe gilt für den „Gassenjuden“ (ebd.), den er „in seine Stube zerrte“ (ebd.), um sein Eigentum zu verpfänden und Eustachius Schulden begleichen zu können. Auf dem Raum von nur zwei Druckseiten zeichnet der Text also ein ganz anderes Bild von Augustinus. Cäcilia ist es, die das Urteil über ihn spricht, als Augustinus sie stehen lässt, um Eustachius’ Angelegenheiten auf dem „Gerichtshaus“ (ebd.) in Ordnung zu bringen: Und nun lief er die Treppe hinab, und Cäcilia sagte: „Der wilde, abscheuliche Mensch.“ Augustinus hörte es, aber das Weib ging ihn nichts an […]. (M4, S. 41)

Erst mit einigem zeitlichen Abstand, nachdem er Eustachius’ Schulden beglichen und erfolglos nach ihm gesucht hat, beginnt Augustinus damit, die Hinterlassenschaften seines Freundes zu sichten.270 Die Lektüre der darin enthaltenen Briefe von Emerich Waldons Tochter Christine, die mit Eustachius eine heimliche Liebesbeziehung verbindet, zeigen Augustinus nun, dass es Eustachius

|| 269 Diese und weitere Passagen, die Augustinus’ unmittelbare Reaktion auf Eustachius’ Verschwinden beschreiben, stellen eine pointierte Abweichung von dem Ansatz dar, der die Darstellung von Affekten in der Letztfassung der Mappe ansonsten in weiten Teilen auszeichnet: „Das intensive, wiederholt betonte Gehen, schon in F3 Ausdruck innerer Erregung, bestimmt die letzte Fassung“ (Gottwald: Beobachtungen zu Stifters Weg, S. 28). Augustinus geht an der oben zitierten Stelle nicht nur auf und ab, sondern er rennt, und sein Wunsch, etwas zu zerstören, wird explizit ausgesprochen. 270 Ulrike Landfester weist darauf hin, dass Augustinus durch seinen Umgang mit Eustachius’ hinterlassenen Schriften selbst für dessen „Ausbleiben […] verantwortlich ist“ (dies.: Der Autor als Stifter, S. 115), da er den Auftrag nicht ausführt, den Eustachius’ ihm in seinem Abschiedsbrief erteilt: „Zwei Päke, auf denen 1 und 2 steht, lasse druken, das wird Alles bezahlen“ (M4, S. 40). Der Text geht auf diese Unterlassung in der Episode von den zwei Bettlern aber nicht ein, sondern berichtet lediglich davon, dass Augustinus die Schulden Eustachius’ begleicht, indem er Teile seines eigenen Besitzes verpfändet, womit Eustachius die Rückkehr nach Prag freisteht. Im „Gerichtshaus“ (M4, S. 41) teilt ein „alter Herr“ (ebd.) Augustinus dazu folgendes mit: „Wenn die Zahlung geleistet wird, so ist das Übrige dem Gerichte einerlei“ (ebd.). Erst viel später in der erzählten Zeit, bei einem Treffen mit Christine Waldon, wird der Vorwurf der Unterlassung gegenüber Augustinus explizit erhoben (vgl. M4, S. 85 f.).

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nicht gelungen ist, die Kunst in unschädlicher Weise in seinen Lebensentwurf zu integrieren.271 Christine schreibt: Theurer Freund! Es ist nicht möglich, du mußt dich aufreiben. Schreibe nicht mehr in der Nacht. Ich bitte dich darum. [...] Ich habe deine Nachtgedanken gelesen. [...] Du hast ein sonderbares Herz, und so habe ich es von Kindheit auf gewollt und geträumt: ein Herz, das tiefer ist als die ganze Welt [...]. Du willst Werke herausgeben. Wie ist mir denn? Wird nicht der holde Duft der Dichtungen verweht werden, die uns vereinten? (M4, S. 45 f.)

Augustinus gewinnt durch die Lektüre dieser Briefe aber nicht nur Erkenntnisse über seinen verlorenen Freund. Reagiert er auf die Lektüre der ersten Seiten noch aggressiv („‚Hexe!‘ rief Augustinus“; M4, S. 43), so stellt sich am Ende ein ganz anderer Effekt ein. Der Text gibt den „Stoß von Briefen“ (M4, S. 43), die Augustinus in Eustachius’ Unterlagen findet, nicht vollständig, aber doch ausführlich genug wieder, um deutlich werden zu lassen, dass es darin um die Entstehung einer heimlichen Liebesbeziehung zwischen Eustachius und Christine geht. Christine fleht Eustachius anfänglich an, „um keine Messerschneidebreite weiter“ (M4, S. 44) zu gehen, weil ihr so „todesängstlich“ (ebd.) zumute sei. Als aber „das Wort gefallen ist, das ich so gefürchtet“ (M4, S. 45), soll es „unsäglich für Zeit und Ewigkeit“ (ebd.) gelten: „[L]aß uns selig sein im süssen Geheimniße, und so immer fort, immer fort“ (M4, S. 46). Schon diese wenigen Textstellen zeigen, dass die Briefe Christines, auch wenn sie einen definierten Adressaten haben, als autobiografische Texte gelten können und in die Tradition der ‚Herzensschrift‘ fallen.272 Die Macht der Schrift, die von diesen Texten ausgeht, übt in der Lektüre ihre transformierende Wirkung auf Augustinus aus: Dem Augustinus öffnete sich ein weiter weiter Raum. Es war ihm, als sei auch schon da ein Wesen, dem er mit einer solchen Liebe anheim fallen werde. (M4, S. 46)

Hier handelt es sich also um eine Ausprägung des Topos von der Macht der Schrift, die sich ähnlich auch in der Narrenburg findet. Es geht an dieser Stelle zwar nicht darum, eine abschreckende Wirkung zu erzielen (siehe dazu Ab-

|| 271 Vgl. Landfester: Der Autor als Stifter, S. 114. Landfester bewertet Eustachius’ Hinwendung zur Kunst ähnlich und arbeitet den „Kontrast“ (ebd.) zwischen der Schreibtätigkeit von Eustachius und dem selbstherapeutischen Schreiben des Obristen heraus: „Eustachius’ Schreibvermögen ist nicht das Produkt mühsam erworbener Affektkontrolle, sondern es entsteht, darin der Geniekonzeption des 18. Jahrhunderts verwandt, im Gegenteil spontan aus einem selbst affekthaften Drang nach Ausdruck“ (ebd., S. 115). 272 Vgl. Müller: Einige Gestaltzüge, S. 267. Müller stellt Christines Briefe in die „Tradition des Briefromans“ (ebd.).

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schnitt 3.2.7), aber doch um die lebensverändernde Wirkung der Lektüre von autobiografischen Aufzeichnungen, die eine andere Person angefertigt hat. In der Folge dieser Transformation kehrt Augustinus zu dem ursprünglich gefassten Plan zurück, sein Studium schnellstmöglich abzuschließen. Er „arbeitete nun noch viel eifriger als sonst“ (M4, S. 47) und erhält nach der letzten Prüfung „sein Pergament“ (ebd.), also den Doktortitel, der es ihm – im Unterschied zu Eustachius, der durch seine übereilte Flucht aus Prag „die Option darauf verliert, durch Beendigung seines Jurastudiums einen bürgerlichen Beruf zu ergreifen“273 – ermöglicht, nach Thal ob Pirling zurückzukehren und den Beruf des Arztes auszuüben. Frei von Affekten, beinahe lakonisch wird schließlich das Duell mit Korschiz, dem Mann, der für Eustachius’ Verschwinden verantwortlich ist, geschildert, obwohl es hier zur Ausübung von potenziell tödlicher Gewalt kommt: Augustinus erstach beinahe den Korschiz. Lodron und Greuten untersuchten denselben, und sagten, man könne ihm schon wieder aufhelfen. Darauf ging Augustinus gar nicht mehr in die Stadt, sondern seines Weges in die Welt. (M4, S. 47)

Als Augustinus sich auf den Weg in seine Heimat macht, hat er bereits eine erste Teilstrecke seines Bildungsgangs abgeschritten und sich darauf vorbereitet, vom Bettler zum Bürger zu werden. Bei der literarischen Gestaltung dieses Abschnitts haben sich, wie oben gezeigt, zwei bereits bekannte Vorstellungsmuster ausgeprägt: die Topoi von der Macht der Kunst und der Macht der Schrift. An dieser Stelle könnte man zwar den nicht unberechtigten Einwand erheben, der Topos von der Macht der Kunst sei an die Figur Eustachius angelagert. Diese Figur lässt sich aber nur mit starken Einschränkungen als Subjekt eines Bildungsgangs beschreiben, denn Eustachius verschwindet als Figur schon früh aus dem Text und tritt in den späteren Kapiteln allenfalls mittelbar in Erscheinung, nämlich durch die Nachforschungen Augustinus’ und die Vermutung, der Zeichner des fürstlichen Landschaftsgartens, Ewald Lind, sei identisch mit Eustachius. Auch wenn es Eustachius ist, der hier an der Macht der Kunst scheitert, hat dieses Scheitern doch unmittelbaren Einfluss auf Augustinus. Man muss also gar nicht so weit gehen, Eustachius und Augustinus als „eine unentschiedene Gleichzeitigkeit des von Neigung und Pflicht umgetriebenen und daher in zwei Hälften zerfallenden Ich“274 zu betrachten, um auch den Topos

|| 273 Landfester: Der Autor als Stifter, S. 115. 274 Korff: Diastole und Systole, S. 9. Korff beschreibt im Hinblick auf Eustachius – trotz dessen frühem Verschwinden aus dem Text – die folgende Entwicklung: „Eustach bleibt sich selbst überlassen und hat kein Vorbild außerhalb seiner [sic]. Es gibt kein Alters-Ich, das seine

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von der Macht der Kunst als textkonstitutiv für die Gestaltung von Augustinus’ Bildungsgang zu bewerten.

5.4.4 Die Eroberung von Thal ob Pirling Am Ende des Kapitels „Von den zwei Bettlern“ schickt Augustinus sich an, mit dem „Doctorpergament“ (M4, S. 42) in der Hand in seine Heimat zurückzukehren und den bürgerlichen Beruf des Arztes zu ergreifen, während der Künstler Eustachius nach seinem Scheitern als handelnde Figur aus dem Text verschwindet. Eine Analyse des Kapitels „Thal ob Pirling“, in dem Augustinus’ Rückkehr beschrieben wird, ist dazu geeignet, die zweite Phase seines Bildungsgangs darzustellen. Augustinus wirft nach seiner Rückkehr einen ausführlichen Blick auf die Sozialgemeinschaft von Thal ob Pirling, die ihm schon auf dem Heimweg als „eine Bürgerschaft“ (M4, S. 51) erscheint, die „so zerstreut lebt, daß sie sich nicht beirren, und doch so nahe, daß sie im Verkehre sind“ (ebd.) Dieser Blick erfolgt aus der Sicht des Bürgers, zu dem Augustinus bereits geworden ist;275 er erscheint hier als einer, „der aus dem Walde kam, sich in der bürgerlichen Ordnung als Bettler fühlte, als Akademiker zurückkehrt und sich nun in die bürgerliche Welt einpaßt“276. Diese Welt nimmt ihn in seiner neuen Rolle jedoch zu|| überschäumende Kraft reguliert [...] oder [...] die Preisgabe seiner künstlerischen Ziele erwirkt. [...] Da Eustach gar nicht versucht, in den Bann vorbildhafter Personen zu gelangen, verfallen diese in ihrer Gesamtheit dem seinen“ (ebd., S. 279). Ich werde später noch einmal auf die Bedeutung dieser Figur für Augustinus’ Bildungsgang zurückkommen. 275 Vgl. Müller: Einige Gestaltzüge, S. 268 f. Müllers Hinweis auf die bürgerliche Perspektive, die Augustinus nach seiner Rückkehr nach Thal ob Pirling einnimmt, erscheint mir schlüssig. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die Niederschrift dieser Zeilen nicht schon nach dieser Rückkehr erfolgt, sondern zu einem viel späteren Zeitpunkt in der erzählten Zeit. Augustinus lässt das „Buch aus Pergament, in rotes Leder gebunden“ (M4, S. 183), auf dem der literarische Mappen-Text basiert, den der Urenkel gemäß der Editionsfiktion herausgibt, schließlich erst nach dem Bruch mit Margarita anfertigen. Letztendlich bestätigt dieses Beispiel aber nur den schon erläuterten Befund, dass die Editionsfiktion in der Letztfassung der Mappe im Verlauf des Textes zunehmend verflacht. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, den Text mit Beginn des Kapitels „Thal ob Pirling“, das den Wechsel zur Ich-Erzählung von Augustinus markiert, nicht vor dem Hintergrund dieser Editionsfiktion zu interpretieren. Der literarische Mappen-Text folgt hier dem „Typ des eingeschobenen Erzählens“ (Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, S. 78), der sich dadurch auszeichnet, dass „die Grenzen zwischen handelndem Helden und schreibendem Erzähler, zwischen erlebendem und erzählendem Ich verschwimmen“ (ebd.). 276 Müller: Einige Gestaltzüge, S. 268.

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nächst nicht mit offenen Armen auf. Augustinus zeigt zwar durch ausgedehnte Fußmärsche Präsenz in der Siedlung, wird aber „zu keinem Kranken gerufen“ (M4, S. 55; vgl. auch M4, S. 58). Dieses Akzeptanzproblem, das seinem weiteren Werdegang im Wege steht, kulminiert in dem folgenden, auszugsweise zitierten Gespräch mit einem Siedlungsbewohner, der Augustinus, ohne dessen Identität zu kennen, bei einem zufälligen Zusammentreffen von der Erkrankung seines Bruders berichtet: „So fragt den neuen Doctor, welcher in der Gegend ist,“ sagte ich [Augustinus; H. A.]. „Ach der Doctor,“ antwortete er, „wer wird denn zu dem Doctor gehen?“ „Warum denn nicht?“ fragte ich. „Ach nein,“ sagte er, und schüttelte den Kopf. „Aber einen Grund müßt ihr doch haben,“ sagte ich. „Der Grund ist, daß wir nicht zu dem Doctor gehen,“ sagte er. (M4, S. 61)

Die hier angegebene Begründung scheint auf den ersten Blick ein Zirkelschluss zu sein, zeigt aber letztendlich nur, dass mit Augustinus’ Entschluss, „unter diesen Leuten, die nicht einmal wissen, was ein Arzt ist, geschweige ein Doctor mit der geregelten Einübung der Heilkunde“ (M4, S. 54), zu „wirken“ (ebd.), ein neuer Abschnitt in der Geschichte der Siedlung beginnen muss.277 Wie sich noch herausstellen wird, bildet die Figur des Bettlers Tobias den entscheidenden Faktor, der diesen neuen Abschnitt einleitet. Diese Figur steht in einem weiteren Kontext, der sich als zentral für Augustinus’ Entwicklung erweisen wird und gleich zu Beginn des Kapitels ausführlich beschrieben wird: Augustinus kehrt nicht einfach nur in die Siedlung zurück, in der er aufgewachsen ist, sondern – und das ist entscheidend – in sein Elternhaus. Schon auf seinem Heimweg drängt sich dieses Haus in den Blick und das Bewusstsein des Erzählers: „Unser Haus leuchtete von seiner Höhe [...]. Da, dachte ich, wirst du deine Wirksamkeit beginnen. Wird sie zu dem Heile derer sein, die dir vertrauen, und zu deinem

|| 277 Während Augustinus in der Studienfassung der Mappe schnell von den Bewohnern von Thal ob Pirling akzeptiert wird, beschreibt Stifter dessen anfängliche Ablehnung in der Letztfassung des Textes ausführlich und rezipiert damit, so Markus Pahmeier, einen zentralen Punkt, den die zeitgenössischen „medizinischen Volksaufklärer“ (ders.: Die Sicherheit der Obstbauzeilen, S. 304) zu verbessern suchten: die Vorbehalte in der „bäuerliche[n] Bevölkerung“ (ebd.) gegenüber ausgebildeten Ärzten. Zu weiteren Themen der Volksaufklärung, die sich in der literarischen Gestaltung von Augustinus’ ärztlicher Tätigkeit ausgeprägt haben, vgl. ebd., S. 304–312.

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Heile?“ (M4, S. 51). Das Haus steht aber auch hier, wie einige Generationen später für Augustinus’ Urenkel, stellvertretend für die Familie.278 Einen wichtigen Faktor für die literarische Gestaltung und Erzählfunktion von Augustinus’ Familie bildet die „Diätetik […] des ‚ganzen Hauses‘ im Sinne einer vorindustriellen Großfamilie, in der nicht nur mehrere Generationen, sondern auch Herrschaft und Gesinde zusammen wohnten“279. Dieses Familienmodell steht in der „Tradition der didaktischen ‚Hausväterliteratur‘ und der literarischen Volksaufklärung“280 und besteht aus drei wesentlichen Komponenten.281 Zum ersten kommt dem Hausherrn ein unbestrittener Führungsanspruch zu, der sich in einer klaren Rollen- und Aufgabenverteilung niederschlägt. Zum zweiten beschränkt sich das ‚ganze Haus‘, und damit die Familie, nicht auf miteinander verwandte Personen, sondern schließt zum Beispiel auch die Dienstboten mit ein. Und zum dritten strebt der Verband des ‚ganzen Hauses‘ danach, seine ökonomische Leistungsfähigkeit etwa durch Verbesserungen des landwirtschaftlichen Betriebs zu erhöhen. Wie sich im Folgenden zeigen wird, lassen sich diese drei Komponenten in der Letztfassung der Mappe nachweisen. Der Text stellt die Bedeutung des Hauses für den Familienverband allein schon durch die Verwendung des Begriffs ‚Haus‘ eindeutig heraus. Dies zeigt sich bereits deutlich im Kapitel „Von den zwei Bettlern“, als Augustinus und Eustachius über den Beruf des Hauslehrers sprechen (siehe dazu Abschnitt 5.4.3). In Augustinus’ Erwiderung auf Eustachius’ Bitte, er solle „nun das von den Bettlern“ (M4, S. 31) sagen, finden sich nämlich nicht weniger als elf Nennungen des Begriffs ‚Haus‘. Augustinus macht hier unmissverständlich deutlich, dass eine wirtschaftliche Abhängigkeit vom Elternhaus der Tätigkeit als Lehrer vorzuziehen sei: „[D]enn seinen Bedarf von seinem Hause und Vater beziehen, ist nicht betteln. Aber da kam der Satan über mich, und ich wurde ein || 278 In Stifters Erzählwerk erscheint die Familie unter mehreren Gesichtspunkten „als fundamentale Institution menschlichen Zusammenlebens“ (Stefan Willer: Familie/Genealogie [Art.]. In: SHB, S. 330–334). Hier spielt unter anderem das Konzept der „bürgerliche[n] Kern- und Kleinfamilie“ (ebd., S. 330) eine wichtige Rolle, das „erst mit dem Wertesystem der Aufklärung entstanden ist“ (ebd.). 279 Bengesser/Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4), S. 198. Bengesser und Gottwald sprechen in diesem Zusammenhang auch vom „Topos des ‚ganzen Hauses‘“ (ebd., S. 200). Ich werde den Topos, der sich im Kapitel „Thal ob Pirling“ ausprägt und an Augustinus’ Bildungsgang anlagert, im Folgenden herausarbeiten und anschließend mit einem eigenen Deskriptor versehen. 280 Ebd., S. 199. Vgl. ausführlicher Otto Brunner: Das „Ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“. In: Ders.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Zweite, vermehrte Auflage. Göttingen 1968, S. 103–127. 281 Vgl. Pahmeier: Die Sicherheit der Obstbaumzeilen, S. 126 ff.

Der ‚Vater der Kranken‘: Die Letztfassung der Mappe | 305

Unterrichtsmensch“ (M4, S. 32). Unmittelbar nach Augustinus’ Ankunft in seiner Heimat steht das Haus dann wiederum im Mittelpunkt des Erzählens: Als ich bei den Meinigen angekommen war, sagte der Vater, er werde mich in dem Hause herum führen. Ich wußte nicht, warum er das thue, da mir das Haus ohnehin ganz bekannt war. (M4, S. 51 f.)

An diese Textstelle schließt sich eine ausführliche Beschreibung des Hauses an. Augustinus und sein Vater Eberhard schreiten alle Räume, vom Keller bis zum Dachboden, systematisch ab. Dieser Gang hat aber nicht nur den Charakter einer Zeremonie, mit der Augustinus willkommen geheißen wird, sondern die Funktion, einen Führungswechsel vorzubereiten. Augustinus’ Vater zeigt sich nach der Rückkehr seines Sohnes bereit, seinen Führungsanspruch als Hausvater282 innerhalb des genealogischen Systems weiterzugeben: „Wenn du nun Alles übernehmen willst, so nimm es, du bist der älteste“ (M4, S. 52). Ein solcher Führungswechsel lässt sich jedoch nur schwer mit dem Plan vereinbaren, der Augustinus zurück in seine Heimat geführt hat: „[I]ch kann das Haus nicht übernehmen, weil ich hieher gekommen bin, die Leute zu heilen, die krank werden, und mich begehren“ (M4, S. 53). Die Familie entwickelt nun gemeinsam ein alternatives Lösungskonzept, das vorsieht, dass der biologische Vater der Familie die Rolle des Hausvaters vorerst weiter ausfüllen und dann an Augustinus’ Bruder Kaspar weitergeben soll. In diesem Zusammenhang zeigt sich auch der für das Modell des ‚ganzen Hauses‘ typische Aspekt der eindeutigen Verteilung von Rollen und damit verbundenen Aufgaben. Er steht in direktem Zusammenhang mit Augustinus’ weiterer Entwicklung. Die Familie einigt sich auf eine symbiotische Konstellation, in der Augustinus weiter im Elternhaus wohnen und seinen Geschwistern, insbesondere dem zukünftigen Hausvater Kaspar „mit Rath, wenn er ihn braucht, und mit der That, wenn ich kann, beistehen“ (M4, S. 53) wird. Im Gegenzug erhält Augustinus’ Schwester Anna die neue Rolle einer Assistentin, die ihrem Bruder in seiner Tätigkeit als Arzt „beistehen [kann], wenn etwas am Feuer zu bereiten ist, oder sonst ein Ding nothwendig wird, das in ihrem Geschäfte liegt“ (ebd.). Diese Reintegration von Augustinus in den häuslichen Familienverband bildet aber nur eine notwendige und keine hinreichende Voraussetzung für die erfolgreiche Fortsetzung seines Werdegangs. Das bereits angesprochene Akzeptanzproblem bleibt bestehen: Augustinus ist der erste Arzt, der sich in Thal ob || 282 Zur Rolle und Funktion des Hausvaters im Modell des ‚ganzen Hauses‘ vgl. Pahmeier: Die Sicherheit der Obstbaumzeilen, S. 133 ff. Vgl. auch Brunner: Das „Ganze Haus“, S. 108 u. 111 ff.

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Pirling niederlässt. Die Siedlungsbewohner haben Krankheiten bisher nicht mit ärztlicher Hilfe behandelt, sondern sich auf Laien verlassen und etwa „von Weibern, die erfahren zu sein glaubten, Mittel gegen Schäden genommen“ (M4, S. 54) oder von einem „Tiroler [...], der Fläschchen mit Dingen und Säften hatte“ (ebd.), Arzneimittel auf Vorrat gekauft. Die Ablösung dieser traditionellen Heilmethoden erweist sich als schwierig.283 Augustinus zeigt sich in dieser Phase zwar geduldig, lässt es aber gleichzeitig zu, dass der Kummer über den Verlust seines Freundes Macht über ihn gewinnt: Ich aber harrte meiner Zeit. Nur Eines war böse in meinem Herzen. Zuweilen saß ich auf einem Steine, und seufzte: „O du schreklicher Eustachius! o du schreklicher Eustachius!“ (M4, S. 59)

Während diese problematische Auseinandersetzung mit dem Verlust des Freundes erst am Ende von Augustinus’ Bildungsgang aufgelöst werden kann (siehe Abschnitt 5.4.7), findet sich für das bereits beschriebene Akzeptanzproblem eine schnellere Lösung. In diesem Zusammenhang spielt Augustinus’ erweiterte Familie eine zentrale Rolle. Zu ihr gehört einerseits, wie im Modell des ‚ganzen Hauses‘ vorgesehen, das Zusammenleben der „Familie im verwandtschaftlichen Sinn“284 mit den Dienstleuten: „[D]er Knecht und der Stallbube und die Mägde“ (M4, S. 52) spielen eine wichtige Rolle im Familienverband.285 Andererseits zeigt die Familie sich offen für den Anschluss von außen: Der Bettler Tobias wohnt zwar nicht dauerhaft im Haus, denn er ist nicht sesshaft, sondern durchstreift die Gegend auf seinen Wanderungen. Er sucht die Familie aber schon seit Augustinus’ Kindheit regelmäßig auf. Dabei geht es nicht darum, ein Almosen zu erbitten und weiterzuziehen: Tobias „kam zuweilen zu uns, blieb einen Tag da, bekam Herberge und Nahrung, schlief eine Nacht bei uns, und ging dann weiter“ (M4, S. 61). Als er der Familie kurz nach Augustinus’ Rückkehr einen Besuch abstattet, erhält der junge Arzt Gelegenheit, sein Können zu beweisen. Tobias krümmt sich mitten in der Nacht „wie unter entsetzlichen Schmerzen“ (M4, S. 62) und Augustinus kann das im Studium erworbene Wis|| 283 Vgl. Pahmeier: Die Sicherheit der Obstbaumzeilen, S. 304. Pahmeier beschreibt die folgenden Aspekte als „[z]entral für die medizinische Volksaufklärung“ (ebd.): „[E]rstens die Kritik an astrologischen und alchimistischen medizinischen Praktiken, wie sie teilweise durch Kalender verbreitet werden, zweitens die Kritik an ‚Marktschreiern‘, ‚Quacksalbern‘, ‚Pfuschern‘, ‚Wunderheilern‘, ‚Harn-Propheten‘, ‚weisen Frauen‘ und anderen medizinisch unausgebildeten Personen sowie drittens die Kritik am abergläubischen Vertrauen der bäuerlichen Bevölkerung in diese Personen“ (ebd.). 284 Ebd., S. 141. 285 Vgl. Brunner: Das „Ganze Haus“, S. 109.

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sen erstmals auf einen Menschen anwenden. Damit hat er Erfolg: „Gegen den Morgen hin besserte sich sein Zustand. […] Des nächsten Tages war Tobias gesund“ (M4, S. 63). An dieser Stelle zeigt sich deutlich, dass die Beziehung zwischen Augustinus’ Familie und Tobias nicht nur karitativen Charakter hat. Man übernimmt Verantwortung für das Wohlergehen des Bettlers, der als erweitertes Familienmitglied betrachtet werden kann. Als Augustinus ihn geheilt hat und Tobias seinen Weg fortsetzen will, bemerkt Eberhard etwa: „[W]ir ließen dich überhaupt nicht von hinnen, wenn mein Sohn der Doctor nicht gesagt hätte, du kannst ungefährdet deinen Weg fortsezen, es werde dir eher heilsam sein“ (M4, S. 63).286 Tobias Heilung findet auch nicht an einem entfernten Ort statt, zu dem Augustinus als Arzt gerufen wird – ein Motiv, das sich im weiteren Textverlauf noch häufig genug zeigen wird –, sondern in Augustinus’ Elternhaus und mit der tatkräftigen Hilfe der erweiterten, aus Geschwistern und Bediensteten bestehenden Familie (vgl. M4, S. 62). Von diesem Zentrum aus geht der geheilte Bettler nun seines Weges und berichtet den Bewohnern von Thal ob Pirling, „er hätte in dem Hause des neuen Doctors sterben müssen, der Doctor habe ihn aber in einer Nacht geheilt“ (M4, S. 64). Diese Heilung bildet einen Wendepunkt in Augustinus’ Werdegang, denn Tobias löst das Problem, dass „Augustinus [...] als akademisch gebildeter Arzt im Wald keine erfahrbare Wirklichkeit“287 darstellt: „Indem Tobias das Eingreifen des Augustinus blind akzeptierte, hat er ihn

|| 286 Weitere Belege für diese Interpretation finden sich im Kapitel „Von meinem Hause“, in dem Augustinus von einem Beleidsbesuch erzählt, den Tobias ihm nach dem Tod seines Vaters Eberhard abstattet. Tobias, der zwar, wie er betont, „auch zu andern Leuten muß“ (M4, S. 223), versichert Augustinus hier, dass „[e]r […] ein sehr guter Mann gewesen [ist], der Eberhard […] und ein sehr rechtschaffener Mann, er hat erlaubt, daß ich ihn zuweilen du nennen durfte“ (ebd.). Tobias erläutert, dass er gekommen sei, um „in der großen Stube, in der er so freundlich gewesen ist“ (ebd.), um Eberhard zu weinen. Die Trauer um den Verstorbenen wird also im Mittelpunkt des Hauses, das einst die nun nicht mehr existierende Familie repräsentiert hat, inszeniert. Augustinus erneuert an dieser Stelle den Bund mit Tobias. Er verspricht, für ihn zu sorgen, bietet ihm ein unbegrenztes Bleiberecht an und macht ihm ein Angebot: „[W]enn es dir dieses Haus heimischer macht, und wenn du es lieber besuchst, wo du an ihn [Eberhard; H. A.] denkst, so nenne mich auch zu weilen du“ (ebd.). Vgl. Mayer: Adalbert Stifter, S. 109: „[D]ie Bettler-Problematik [erhält] eine Vertiefung gegenüber ihrer sozialkritischen Komponente in der Journalfassung; Stifter gibt ihr in der Gestalt des Bettlers Tobias eine neue Dimension, indem Tobias der Unbehauste ist und zugleich derjenige, der immer wieder in das Haus des Augustinus zurückkehrt.“ Mayer ergänzt einen weiteren Deutungsaspekt: „Tobias’ Lebensweisheit kann geradezu als Korrektiv zu aller selbstsüchtigen Verirrung gelten, von der auch der Augustinus der letzten Mappe noch nicht ganz frei ist“ (ebd.). 287 Aspetsberger: Die Aufschreibung des Lebens, S. 25.

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in seiner Leistungsfähigkeit erfahrbar gemacht“288. Augustinus kommentiert die Erzählungen, mit der Tobias den Siedlungsbewohnern Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Landarztes einflößt, wie folgt: „So verkündete also Tobias auf seinen Wanderungen meinen Namen“ (ebd.). Der Name eines Menschen, „der als prinzipiell ortsungebundenes Erkennungsmerkmal fungiert“289, steht in Stifters Erzählwerk aber häufig in Verbindung mit dem Haus, „das einer Familie als Heimstatt und Repräsentationsort dient“290: Beide zusammen „stehen [...] mustergültig für die Tiefenstruktur von Familie und Verwandtschaft“291. Vor dem Hintergrund des oben geschilderten Zusammenhangs, der im Modell des ‚ganzen Hauses‘ begründet liegt, und auf der Grundlage der gerade analysierten Textpassagen, kann an dieser Stelle der Topos beschrieben werden, der sich bei der Gestaltung der zweiten Phase von Augustinus’ Bildungsgang ausgeprägt hat: Tab. 9: Die Macht der Familie (Topos)

Deskriptor

Deskription

Die Macht der Familie

Ein Individuum kann sich nur dann in angemessener Weise entwickeln, wenn es in einen intakten Familienverband integriert ist.

Im Rückblick lässt sich feststellen, dass sich dieser Topos bereits in der Rahmenerzählung in Ansätzen ausprägt. Wie in Abschnitt 5.4.1 erläutert, findet der Urenkel von Augustinus während einer vorübergehenden Rückkehr in das Elternhaus seinen Platz in der genealogischen Tradition und übernimmt die Aufgabe, die schriftlichen Überlieferungen seiner männlichen Vorfahren für den aktuellen Familienverband zu erschließen und an dessen Mitglieder zu vermitteln. Erst im Zusammenhang mit der wesentlich ausführlicher geschilderten Gestaltung von Augustinus’ Bildungsgang erweist sich der Topos von der Macht der Familie aber als textkonstitutiv. Er ist unmittelbar an die Figur Augustinus angelagert, denn der berufliche Erfolg, den der in seine Familie reintegrierte Landarzt verbuchen kann, führt zu einer erneuten Transformation, die sich im weiteren Verlauf des Kapitels „Thal ob Pirling“ zeigt.

|| 288 Ebd. 289 Willer: Familie/Genealogie, S. 331. 290 Ebd. 291 Ebd.

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Augustinus berichtet auf einigen Textseiten über seine ersten Erfolge als Landarzt. Größer als die Zahl der Kranken, die er besucht und behandelt, ist „die Zahl der Siechen, die zu mir kamen [...]. Ich ließ sie in die große Stube kommen, und nahm jeden einzeln in meiner Kammer vor“ (M4, S. 65). Die Tätigkeit als Arzt findet also auch hier wieder im Zentrum des Hauses statt und wirkt über eine Rückkopplung positiv auf die Familie, ohne die Augustinus sein Amt nicht ausüben könnte: „Der Vater hatte Freude, und ging mit einem hellen Angesichte in dem Hause herum. Von der Schwester Anna kam es mir vor, als habe sie schönere Gewänder an, als sie sonst in dem Hause zu tragen pflegte“ (ebd.). Augustinus selbst sieht sich nun in der Lage, aktiv mit dem Verlust seines Freundes Eustachius umzugehen. Zunächst holt er dessen Kleider hervor, um sie reinigen zu lassen und berichtet Eberhard und Anna bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal vom „Fortgehen des Eustachius“ (ebd.). Anschließend nimmt er die Suche wieder auf, zunächst über briefliche Erkundigungen bei seinen ehemaligen Prager Kommilitonen, dann über eine amtliche Bekanntmachung seines eigenen Aufenthaltsorts, die er „in alle größeren Städte des Landes zur Kundmachung“ (M4, S. 67) sendet und schließlich über Veröffentlichungen, die er, wie schon unmittelbar nach Eustachius’ Verschwinden, in die „lustige und ernste Stadtchronik“ (ebd.) setzt. Obwohl Augustinus die Suche nach Eustachius trotz all dieser Unternehmungen weiterhin als „heilloseste Geschichte“ (M4, S. 68) erscheint, „die ich wie einen bösen Schaden nicht von mir bringe“ (ebd.), veranlasst sie ihn zu einem Besuch in Prag, bei dem sich zeigt, wie sehr er sich verändert hat. Zum einen begegnet er Eustachius’ ehemaliger Vermieterin Cäcilia, die er nach dessen Verschwinden noch beschimpft und bedroht hatte, mit Respekt. Auf deren Einwand, dass er die Suche nach Eustachius über seine berufliche Laufbahn habe stellen sollen, erwidert er: Du hast wieder recht […]. Du hast höhere Gedanken von der Freundschaft als andere. Weib, ich achte dich völlig. (M4, S. 71)

Die Struktur der Abschiedsszene aus dem Kapitel „Von den zwei Bettlern“, in der Augustinus Cäcilia noch als „wilde[r], abscheuliche[r] Mensch“ (M4, S. 41) erschienen war, wiederholt sich nun. Wieder spricht Cäcilia ihr Urteil über den jungen Mann,292 kommt aber zu einem anderen Ergebnis: || 292 Diese Szene wird sich bei einem späteren Treffen von Augustinus und Cäcilia ein weiteres Mal wiederholen. Dieses Treffen fällt zeitlich in die Phase nach Augustinus’ Bruch mit Margarita, bei dem er sich bereits als gereifte Persönlichkeit zeigt. Auch hier geleitet Cäcilia Augustinus „wie immer an die Treppe“ (S. 183), enthält sich aber einer Bewertung und bestätigt nur,

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Sie geleitete mich, blieb an der obersten Stufe stehen, und sagte, da ich hinab stieg, wieder etwas, das man verstehen konnte. Dieses Mal waren es die Worte: „Ein wenig hat er sich doch geändert.“ (M4, S. 75)

Die Veränderung in Augustinus’ Wesen zeigt sich aber nicht nur in diesem Urteil, sondern sehr deutlich auch in seiner Diskussion mit Christine Waldon, die sich dazu entschlossen hat, Eustachius die Treue zu halten, aber nicht nach ihm zu suchen. Während der Medizinstudent Augustinus unmittelbar nach dem Verschwinden seines Freundes keinen Kontakt zu Christine aufnimmt, sondern sich darauf beschränkt, im sonntäglichen Gottesdienst „nach Christinens Augen“ (M4, S. 47) zu sehen, in denen aber „nicht zu erkennen [war], was in ihrem Gemüte vorgehe“ (ebd.), begegnet der „schon arrivierte[] Arzt“293 Augustinus der Bürgerstochter auf Augenhöhe: Die Gesprächspartner erscheinen hier als „gleichwertige Gegner“294. Augustinus reagiert auf Christines Kritik, dass er sich nicht an die Verfügungen in Eustachius’ Abschiedsbrief gehalten habe, mit Bedacht und führt die Unterhaltung, geschickt argumentierend, zu einem Ende, bei dem sich die Gesprächspartner darauf einigen können, „beide nach unserer Überzeugung“ (M4, S. 86) zu handeln: Augustinus wird weiterhin nach Eustachius suchen, während Christine dessen „Willen [...], unentdeckt zu bleiben“ (ebd.), erkannt zu haben glaubt und weiterhin seiner „harren“ (ebd.) will. Ähnlich selbstbewusst zeigt Augustinus sich nach seiner Rückkehr nach Thal ob Pirling. Er arbeitet konsequent daran, seine Stellung in der Siedlung zu festigen und diese gleichsam für sich zu erobern: Zunächst verteilt er „Reisegeschenke“ (M4, S. 91) an die Siedlungsbewohner, dann richtet er für die „[j]unge Brut“ (M4, S. 92) der Siedlung ein Fest aus: „Ich fand Beifall, alles was jung war sammelte sich, und in einer Stunde waren wir schon auf dem Wege in das Waldschloß“ (ebd.). Die Beschreibung dieses Festes erfüllt eine wichtige Erzählfunktion, denn sie zeichnet Augustinus, in Übereinstimmung mit seinem Auftreten in Prag, als selbstbewussten jungen Mann, der auf dem Weg ist, zu einer Leitfigur in der Siedlung zu werden.295 Er ist es, der die jugendlichen Gäste auf || „daß sie die Hemden schon recht machen wolle“ (ebd.), die Augustinus bei ihr in Auftrag gegeben hat. Zur genaueren Einschätzung der Figur Cäcilia, die in der Letztfassung der Mappe an Bedeutung gewinnt, vgl. Korff: Diastole und Systole, S. 284 f. 293 Aspetsberger: Die Aufschreibung des Lebens, S. 24. 294 Ebd. 295 Konrad Steffen deutet die Beschreibung des Festes, das Augustinus ausrichtet, wie folgt: „Aber die Lust, mit der er [Augustinus; H. A.] den Fackelzug und die Kahnfahrt auf der Moldau leitet, weist mit ihrer Symbolik auf den immer noch leidenschaftlich glühenden Mann und seine Freude am schnakischen [sic] Umgang mit der Menge“ (ders.: Nachwort, S. 341). Da der Text in unmittelbarem Anschluss an die Beschreibung des Festes betont, wie Augustinus sei-

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dem Heimweg vom Waldschloss bewusst in die Irre führt, um sie anschließend mit einem „Schifsfakelzug“ (M4, S. 93) auf der Moldau und „Speisen und Wein“ (M4, S. 93) zu überraschen. Auf der anderen Seite ist er es auch, der – nachdem man „bis zum Morgen“ (M4, S. 94) getanzt hat – nicht vergisst, dass er ein verantwortungsvolles Amt bekleidet und eine Pflicht zu erfüllen hat: „Ich ging, als der Tag graute, nach Hause, nahm andere Kleider, und ging dann zu meinen Kranken“ (ebd.). Nachdem Eustachius’ Kleider wieder im Schrank verstaut sind und Augustinus die Möglichkeit, über Veröffentlichungen in der Prager Stadtchronik nach seinem Freund zu forschen, durch eine „unwirsche Antwort“ (M4, S. 95) verliert, verlegt er sich darauf, die Stellung der Familie in Thal ob Pirling zu verbessern: „Im Frühlinge hielt ich mit meinen Angehörigen Rath, und dann änderten wir unser Haus. [...] Als wir Alles fertig gemacht hatten, war unser Haus das schönste in Thal ob Pirling, und die Meinigen und ich hatten eine Freude daran“ (M4, S. 95). Neben den Arbeiten am Haus wird, ganz im Sinne des Modells des ‚ganzen Hauses‘, das nach einer Verbesserung der ökonomischen Verhältnisse und Leistungsfähigkeit eines Hausverbands strebt,296 das Grundstück durch Zukäufe erweitert, die Reichweite der Arztbesuche durch den Kauf von Pferd und Kutsche erweitert und ein weiterer Knecht eingestellt (vgl. M4, S. 96 f.). An dieser Stelle sei noch einmal daran erinnert, was Stifter sich zum Ziel setzte, als er bald nach der Veröffentlichung der Buchfassung der Mappe den Plan fasste, den Text zu einem zweibändigen Roman umzuformen: Augustinus wollte er darin als „einen wirklichen plastischen, nach allen Seiten thätigen, gütigen und starken Mann“297 erscheinen lassen. Das Kapitel „Thal ob Pirling“ in der Letztfassung des Textes arbeitet beinahe angestrengt an diesem Ziel. Augustinus ist zu einem bürgerlichen Arzt geworden, dessen beruflicher Erfolg und Stellung in Thal ob Pirling durch die Macht der Familie zunächst ermöglicht und dann dauerhaft gesichert wird.

|| nen ärztlichen Pflichten nachkommt, kann ich mich dieser Deutung – die keinen nennenswerten Unterschied zwischen dem Medizinstudenten und dem Arzt Augustinus sieht, sondern die Figur immer noch als „[ü]bereifrig und unbesonnen“ (ebd.) interpretiert – nicht anschließen. 296 Vgl. Pahmeier: Die Sicherheit der Obstbaumzeilen, S. 149 ff. 297 An Heckenast, vor dem 28. Dezember 1846 (PRA 17, S. 196).

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5.4.5 Der Verlust einer zukünftigen Familie Um die dritte Phase von Augustinus’ Bildungsgang angemessen darstellen zu können, müssen Passagen aus den Kapiteln „Margarita“, „Von unserem Hause“ und „Von meinem Hause“ herangezogen werden. Die Margarita-Episode selbst weist in der Letztfassung der Mappe keine grundlegend neuen Handlungselemente auf. Tatsächlich stellt sich eher die Frage, warum Stifter sich dazu entschieden hat, diese Episode in ähnlicher Ausführlichkeit wie in der Buchfassung in den Text aufzunehmen, denn während sie dort im Zentrum des Geschehens steht, ist nicht von der Hand zu weisen, dass Augustinus in der Letztfassung „nicht mehr ausschließlich Margaritas wegen da [ist], sondern auch um seiner selbst und des verschwundenen Eustach willen“298. Als Augustinus den vermeintlichen Treuebruch Margaritas beobachtet, hat er die zweite Phase seines Bildungsgangs schon abgeschlossen und ist zu einem angesehenen Bürger in Thal ob Pirling geworden. Schon beim ersten Besuch des Obristen in Augustinus’ Elternhaus, noch bevor Augustinus und Margarita sich kennenlernen, gibt dieser schon das Urteil wieder, das ihm in der Siedlung zugetragen wurde und nennt den jungen Mann einen „sehr thätigen, bereitwilligen und geschikten Arzt“ (M4, S. 105). Entsprechend gemäßigt fällt Augustinus’ Reaktion aus, als er beobachtet, wie seine Verlobte Margarita ihren Cousin auf den Mund küsst. Nach einer überstürzten Flucht, bei der er sich zwar „die Hände blutig riß“ (M4, S. 143), aber keine Anzeichen von Zorn oder Gewalttätigkeit zeigt, beschränkt er sich Margarita gegenüber auf die Frage, „ob es aber auch wahr“ (M4, S. 144) sei, dass Margarita ihn nach ihrem Vater „am meisten liebe“ (ebd.). Ein Hinweis auf die Bedeutung der Margarita-Episode für Augustinus’ Bildungsgang findet sich in einer Szene, die zeitlich vor diesem Ereignis liegt. Hier bekennen die beiden jungen Leute einander ihre Liebe. Während Margarita erklärt, Augustinus „nach meinem Vater unter allen Menschen am meisten“ (M4, S. 141) zu lieben, also eine wertende Abstufung zwischen ihrer aktuellen Familienzugehörigkeit als Tochter des Obristen und ihrer zukünftigen Rolle als Augustinus’ Frau und potenzielle Mutter seiner Kinder vornimmt, scheint Augustinus’ Zuneigung keine Grenzen zu kennen: Er liebt Margarita nach eigener Aussage „mehr als alle Menschen und alle Geschöpfe dieser Welt, und was es noch immer für Welten gibt“ (ebd.). Margarita betont daraufhin, dass eine solche Art zu lieben „nicht recht“ (M4, S. 141) sei, denn Augustinus müsse „seine Angehörigen mehr lieben“ (ebd.). Sie setzt die Bedeutung der biologischen || 298 Korff: Diastole und Systole, S. 280.

Der ‚Vater der Kranken‘: Die Letztfassung der Mappe | 313

Familie, in die ein Individuum hineingeboren wird, absolut. Genau dieses höchste Gut setzt Augustinus aber aufs Spiel und verliert es, indem er an Margaritas Liebe zweifelt, denn er beraubt sich damit der Möglichkeit, eine solche Familie mit Margarita zu gründen. Wenige Tage, nachdem Augustinus ihre Liebe in Frage gestellt hat, stellt Margarita unmissverständlich klar, dass eine solche Familiengründung nicht stattfinden wird: „Es ist mein ernstlicher Wille und meine Freude gewesen, eure Gattin zu werden, der Vater hat euch auch in hohem Maße lieb; aber da nun Alles anders geworden ist, muß ich euch sagen, daß es nicht mehr geschehen kann“ (M4, S. 146). Die nun folgenden Beteuerungen und Bitten Augustinus’, die das Ziel haben, den drohenden Verlust seiner zukünftigen Familie abzuwenden, sind im Einklang mit der Tatsache, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits eine angesehene und bis zu einem gewissen Grad gereifte Persönlichkeit darstellt,299 kaum als leidenschaftlich, sondern bestenfalls als eindringlich zu bezeichnen. Sie finden ihr abruptes Ende mit dem Verweis auf die Schutzfunktion der einzigen Familie, die auch Margarita nun bleibt: „Mein Freund, der einzige, den ich im Herzen habe,“ antwortete sie, „dringt nicht in mich, ich müßte euch sonst inständig bitten, daß ihr mich zu dem Vater geleitet.“ (M4, S. 149)

Zwischen diesem und dem nächsten Treffen von Augustinus und Margarita liegen wiederum nur wenige Tage, auch wenn der Text erst gegen Ende des nächsten Kapitels („Der sanftmüthige Obrist“) davon berichtet und zunächst schildert, wie der Obrist Augustinus seine Lebensgeschichte erzählt. Bei dieser Begegnung erklärt Augustinus, er werde „von dem Bande Abschied nehmen, das uns bisher verbunden hat“ (M4, S. 174), was dem Verzicht auf seine zukünftige Familie gleichkommt. Einige Wochen später wird Augustinus auf der „ersten Seite des ersten Bandes“ (M4, S. 26) seiner autobiografischen Aufzeichnungen diesen Verzicht verschriftlichen und damit besiegeln: Sei gegrüßt, mein Buch. [...] Sei gegrüßt, und sei der Ekstein meiner Zukunft. Weil es seit einem Monate gewiß ist, daß ich mir kein Weib antrauen werde, und daß ich keine Kinder

|| 299 In diesem Zusammenhang verweise ich noch einmal zustimmend auf die am Ende von Abschnitt 5.4.2 angeführte These von Cornelia Zumbusch, dass an diesem Punkt in der erzählten Zeit im Hinblick auf Augustinus’ Entwicklung „eigentlich schon alles gut gegangen ist“ (dies.: Erzählen und Erziehen, S. 496), weshalb er nun bereit sei, die Erzählung von den jugendlichen Verfehlungen des Obristen anzuhören, ohne zum Nachahmer zu werden. Der Bildungsgang der Figur ist an dieser Stelle, wie ich in den folgenden Abschnitten zeigen werde, aber noch nicht abgeschlossen.

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haben werde, so sei du mein Weib und mein Kind, und irgend ein fremder Mensch wird dich nach meinem Tode ehren. (M4, S. 26)

Der weitere Verlauf der Handlung scheint zunächst Augustinus’ Überzeugung zu bestätigen, nach der Trennung von Margarita auf seinen Beruf als Arzt reduziert zu sein („[I]ch habe jetzt gar nichts mehr als mein Amt“; M4, S. 174). So ist er nicht nur unmittelbar nach dem Abschied von Margarita als Mediziner gefragt und behandelt einen Siedlungsbewohner, der ohne seine Hilfe „sicher gestorben [wäre]“ (M4, S. 177). Schon auf den ersten Seiten des Kapitels „Von unserem Hause“ wird die tägliche Sorge für die Patienten durch Anleihen an biblische Formulierungen in ihrer Bedeutung weiter aufgewertet: „Ich fuhr zu allen meinen Kranken, und vergaß keinen einzigen an irgend einem Tage“ (M4, S. 180).300 Augustinus stellt seine Reduktion auf die Rolle als Arzt aber wenig später in Frage. Dies geschieht im Rahmen einer Selbstbefragung, die den Schluss des ersten Bandes bildet und – in deutlicher Absetzung von der Erzählweise, die den größten Teil des Textes prägt – als genuin autobiografisches Schreiben gewertet werden kann.301 Augustinus versucht in diesem Text, zwei grundsätzliche Fragen zu beantworten. Die erste Frage ist mit einem Rückblick auf bereits abgeschlossene Lebensphasen verbunden und lautet: „Wer bin ich als Mensch gewesen?“ (M4, S. 186). Die zweite Frage dagegen richtet sich auf die Gegenwart und scheint damit die oben angesprochene Einschränkung auf die Rolle als Arzt zunächst zu bestätigen: „Wer bin ich als Arzt?“ (M4, S. 190). Augustinus’ selbstkritische Bestandsaufnahme seiner Arbeit als Mediziner endet mit dem unbestimmten Vorsatz, er „werde thun, was meine Kräfte vermögen“ (M4, S. 192). Ganz anders lautet jedoch die Erkenntnis, die Augustinus aus dem Rückblick auf sein bisheriges Leben zieht. Liest man diesen Rückblick vor dem Hintergrund des weiteren Geschehens, so hebt sich die folgende Kernstelle deutlich aus der umfangreichen Auflistung von Versäumnissen, Mängeln und verpassten Gelegenheiten heraus:

|| 300 Vgl. Lk. 12,6: „Kaufet man nicht fünf Spatzen um zween Pfennige? Und nicht einer von denselbigen ist vor Gott vergessen.“ Vgl. dagegen Pethes: Genre und Erzählform des Ärztetagebuches, S. 67. Pethes erkennt im Genre des Ärztetagebuchs einen Einfluss auf die „Erzählform der letzten Fassung der Mappe“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund deutet er die zitierte Stelle nicht als bibelsprachliche Formulierung, sondern als sachliche Beschreibung einer täglichen Routine. 301 Vgl. Hömke: Der Landschaftsgarten, S. 542.

Der ‚Vater der Kranken‘: Die Letztfassung der Mappe | 315

Suche ich schöne Gewächse zu pflegen, den Boden zu verfeinern, die Zucht der Pflanzen zu regeln, den Wald zu reinerer Anmuth zu führen? Oder strebe ich, die Menschen zu bessern, zu klären, zu berichtigen, zu läutern, und in ihren Beschäftigungen zu Ersprießlicherem zu bringen? Nein, ich thue alles dieses nicht. Und welche Wirksamkeit wäre in dem Walde möglich. (M4, S. 188)

Augustinus’ Selbstbefragung stellt eine Ausprägung des Topos von der Macht der Schrift dar, wie sie sich deutlicher nicht zeigen könnte. Der Text spielt wenige Seiten später auf die Funktion autobiografischer Aufzeichnungen an, als Augustinus das Mappenprinzip wie folgt kommentiert: „Ich finde eine Ruhe meines Herzens in den Einschreibungen, und habe eine Befriedigung in denselben“ (M4, S. 192). Was aus den Aufzeichnungen erwächst, geht aber über Ruhe und Befriedigung hinaus. Der „mit dem Schreiben verbundene Reflexionsprozeß“302 führt nämlich nicht nur zu der oben zitierten Erkenntnis, dass in Thal ob Pirling eine große „Wirksamkeit“ (M4, S. 188) zu erzielen wäre, wenn man sich der Pflege der Pflanzen oder der Besserung der Menschen widmete, sondern zu einer aktiven Veränderung. In diesem Zusammenhang spielen die Überlegungen zum „Geschik“ (M4, S. 193), das in einem „goldenen Wagen“ (ebd.) fährt, die sich am Ende von Augustinus’ Selbstbefragung finden, eine wichtige Rolle. Diese Überlegungen sind schon aus der Buchfassung der Mappe bekannt (vgl. M2, S. 32) und haben ihren fatalistischen Charakter auch in der Letztfassung des Textes nicht eingebüßt: „Was durch die Räder nieder gedrükt wird, daran liegt nichts“ (M4, S. 193). Sie erhalten in der Letztfassung aber trotzdem einen neuen Charakter,303 denn hier gelangt Augustinus zu der Erkenntnis, dass – bei aller

|| 302 Aspetsberger: Die Aufschreibung des Lebens, S. 27. Aspetsberger deutet Augustinus’ Selbstbefragung, die in der HKG etwa acht Druckseiten umfasst, ausführlich (vgl. ebd., S. 27 ff.) und sieht insbesondere in Augustinus’ Gedanken über Johannes Kepler, die mit meiner weiteren Argumentation in keinem direkten Zusammenhang stehen, „mit Ausnahme der Liebe alle Probleme der Mappe“ (ebd., S. 27) angesprochen und gespiegelt. Es gelinge Augustinus an dieser Stelle, die „innerbiographische, positivistische Dimension der Wirklichkeit, die bisher bei weitem die Hauptrolle spielte, zumindest dem Anspruch nach“ (ebd., S. 27 f.) zu überwinden. 303 Stifter hat die Passage, in der Augustinus die oben angesprochenen Überlegungen anstellt, aus dem 2. Kapitel („Das Gelöbniß“), in dem sie sich in der Buchfassung der Mappe befindet, in der Letztfassung an das Ende des ersten Bandes verlagert. Diese veränderte Position steht in direktem Zusammenhang mit Augustinus’ Entwicklung. Während er mit der Niederschrift des Gelöbnisses, das in beiden Fassungen des Textes sowohl das zweite Kapitel als auch den ersten Eintrag in der intrafiktionalen Mappe bildet, die „Schreib- und Reflexionsebene“ (Aspetsberger: Die Aufschreibung des Lebens, S. 27) gerade erst betritt (vgl. ebd.), hat er am Ende des ersten Bandes schon zwei Phasen seines Bildungsgangs bewältigt. In diesem Sinne ist seine oben dargestellte, veränderte Sichtweise „bereits Resultat im Werk des Schreibens,

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Gleichgültigkeit, die die „Allheit“ (M4, S. 194) gegenüber dem Schicksal eines Einzelnen zeigt304 – dem Individuum ein Handlungsspielraum zur Verfügung steht: „Du aber hättest es [gemeint ist das Leid, das man sich selbst zugefügt hat; H. A.] vermeiden können, oder kannst es ändern, und die Änderung wird dir vergolten; denn es entsteht nun das Außerordentliche daraus“ (ebd.). Der Spielraum für Veränderungen, der sich für Augustinus an dieser Stelle öffnet, erlaubt es ihm zwar nicht, den Verlust seiner zukünftigen Familie – mit dem er seinem „Herzen wehe gethan“ (ebd.), sich selbst also Leid zugefügt hat – rückgängig zu machen. Er gestattet es ihm aber, um die oben bereits zitierte Formulierung zu wiederholen, dabei zu helfen, „den Wald zu reinerer Anmuth zu führen“ (M4, S. 188). Damit ist aber ein Vorstellungsmuster angesprochen, das bisher in allen hier vorgelegten Interpretationen eine zentrale Rolle gespielt hat. Es geht um den Topos vom Mittelpunkt der kultivierten Natur, der sich zwischen den Endpunkten von Wildnis und Hochkultur befindet und zum einem vom Menschen durch aktive Kultivierungsarbeit, durch die Umwandlung von Wildnis in kultivierte Natur, hergestellt werden muss, und zum anderen einen geeigneten Schauplatz darstellt, auf dem Bildungsgänge gelingen können.

5.4.6 Der idealisierte Mittelpunkt Auch wenn der Begriff der ‚Wildnis‘ in der dritten Fassung der Mappe eine prominentere Rolle spielt als in der Letztfassung und in dieser stellenweise sogar getilgt wurde,305 kommt dem damit verbundenen Konzept auch in der Letztfas|| das Augustinus in dem Moment in die Mappe setzt, als er in der rückblickenden Schau mit dem Schreiben dessen Ausgangspunkt erreicht“ (ebd.). 304 Vgl. Böhler: Die Individualität in Stifters Spätwerk, S. 668. Böhler hebt hervor, „daß der Begriff ‚Gott‘ in der ‚Letzten Mappe‘ überhaupt nicht mehr vorkommt, sondern durch den der ‚Allheit‘ ersetzt wurde“ (ders.: Die Individualität, S. 668). Böhler wertet dies als „bedeutsame Änderung“ (ebd.), liest die „Weltwagenallegorie“ (ebd., S. 669) als Ausdruck eines „inhumanen Gesetz[es], das die Individualität des Menschen mißachtet“ (ebd.) und identifiziert eine „‚antiindividuelle[] Haltung in Stifters Spätwerk“ (ebd.). Vgl. genauer ebd. 305 Vgl. Gottwald: Natur und Kultur, S. 94, Anm. 9. Wie schon in der Buchfassung der Mappe zeigt sich ein „Einbruch der ‚Wildnis‘, des damit verbundenen Gefährlichen, Unberechenbaren, Unvorhersehbaren, den Menschen und seine Kultur tatsächlich Bedrohenden“ (ebd., S. 95) auch in der dritten Fassung vor allem in der Episode vom Eisfall, die in der Letztfassung nicht enthalten ist, weil Stifter vermutlich geplant hatte, sie in den zweiten Band zu verschieben (vgl. John: Das Margarita-Kapitel, S. 22). Der Erzähler der dritten Fassung „betont […] die Größe, Weite, Unüberschaubarkeit und Urwüchsigkeit des Waldes“ (Gottwald: Natur und Kultur,

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sung eine wichtige Rolle zu. Betrachtet man die geografische Lage von Thal ob Pirling und dessen topografische Merkmale, zeigt sich, dass Stifter in der Letztfassung diesbezüglich keine entscheidenden Veränderungen gegenüber der Buchfassung vorgenommen hat. So betrachtet der aus Prag heimkehrende Augustinus sein Elternhaus und stellt fest: Da war in der Richtung gegen Abend hin der Wald, und hinter ihm wieder ein Wald. Rückwärts des Hauses war der Wald, gegen Morgen ein Wald, und nach Pirling hin Bäume wie ein Wald. (M4, S. 54)

Der Heimkehrer beobachtet und schildert präzise, wie die Menschen, die in dieser Gegend leben, daran arbeiten, dem Wald durch Kultivierungsarbeiten einen Lebensunterhalt abzuringen: „Manche Stellen des Waldes wurden gereutet“ (M4, S. 56), um Flachs anzubauen, die „Waldwässer“ (M4, S. 57) werden „gefangen“ (ebd.), um das Räderwerk für eine Schmiede anzutreiben und in Öfen, „denen der Wald das Holz gab“ (M4, S. 58), werden „Glasgegenstände“ (ebd.) hergestellt. Der entscheidende Entwicklungsschritt, den Augustinus nach der Trennung von Margarita vollzieht, besteht darin, dass er vom Beobachter solcher Kultivierungsanstrengungen zu deren aktivem Teilhaber wird. Während sich seine diesbezüglichen Aktivitäten bisher auf die Erweiterung des eigenen Grundstücks beschränkt hatten, weitet er in dieser vierten Phase seines Bildungsgangs seinen Wirkungsbereich nun auf die gesamte Siedlung aus und arbeitet gemeinsam mit dem Obristen daran, Verbesserungsspielräume zu nutzen. So kaufen die beiden Männer gemeinsam den „Geröllbühel“ (M4, S. 198), der, || S. 94), der aber in der Letztfassung durchaus vergleichbare Eigenschaften aufweisen kann. Augustinus weist beispielsweise auf diese Eigenschaften hin, als er Jakoba, der Tochter des Prager Bürgermeisters, erläutert, dass seine Tätigkeit als Landarzt es erforderlich gemacht habe, den „Schüleranzuge“ (M4, S. 78) durch ein „grobe[s] graue[s] Gewande“ (ebd.) zu ersetzen, denn „der starke Rok widersteht dem starken Walde“ (ebd.). Auch beschert gerade das Gefahrenpotenzial, dass in der Urbarmachung des Waldes liegt, Augustinus viele seiner Patienten, denn „[i]n dem Walde kommen die Verwundungen durch Holzarbeiten sehr häufig vor“ (M4, S. 180). Sowohl in Augustinus’ Selbstbefragung am Ende des ersten Bandes als auch in einem Rückblick auf die „Geschichte der Urbarmachung des Waldes“ (M4, S. 195), der „[z]u den Zeiten der Urgroßväter unserer Urgroßväter [...] unentwirrt über alle Hügel und Höhen bis zu der Ebene gebreitet [war]“ (ebd.; Hervorhebungen von mir), findet der Begriff der „Wildniß“ (M4, S. 188 u. 196) auch wörtliche Anwendung auf den Wald, der sich noch in seinem unkultivierten Ausgangszustand befindet. An anderer Stelle verwendet Augustinus diesen Begriff, um Thal ob Pirling von Prag abzugrenzen. In einem der ersten Gespräche mit dem Obristen stellt er fest: „Mir ist die Stadt widerwärtig geworden, [...] und darum bin ich da heraus in die Wildniß gegangen“ (M4, S. 106).

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„wenn er so bliebe, nie von einem Gebrauche sein [würde]“ (ebd.), und verändern ihn durch Anpflanzungen in einer Weise, dass er sich zu einem „sehr zwekmäßige[n] Föhrenwald“ (M4, S. 199) entwickeln kann. Auch den Vorschlag des Obristen, „die Wege des Waldes zu verbessern“ (M4, S. 205), um den Kutschen und Wagen der Anwohner ein einfacheres Fortkommen zu ermöglichen, unterstützt Augustinus „nach allen meinen Kräften“ (M4, S. 206). Er initiiert aber auch selbst Verbesserungsmaßnahmen, etwa den Bau einer neuen Brücke, damit die Beschaffung von Brennholz, die bei Hochwasser oft eine „Qual“ (M4, S. 208) für die Siedlungsbewohner darstellt, erleichtert wird. Die Kultivierungsanstrengungen, die Augustinus hier unternimmt, tragen dazu bei, seine Stellung in der Siedlung weiter zu festigen, was sich später etwa in seiner Wahl zum „Gemeindeältesten“ (M4, S. 232) niederschlagen wird. Darüber hinaus kommt ihnen aber auch im Hinblick auf Augustinus’ weitere Entwicklung eine Funktion zu, denn „[d]ie Beschäftigung mit dem Gegenständlichen wirkt zurück, sie beruhigt und festigt, und indem der Doktor die Natur veredelt, erzieht er sich selber.“306 Diese Kopplung eines gelingenden Bildungsgangs mit der Ausweitung und Festigung des Mittelpunkts der kultivierten Natur, wie sie hier stattfindet, kann vor dem Hintergrund der bisher erzielten Interpretationsergebnisse als typisch für die literarische Gestaltung von Bildungsgängen in Adalbert Stifters erzählter Welt gelten. Allerdings geht die Letztfassung der Mappe in diesem Zusammenhang einen entscheidenden Schritt über die bisher untersuchten Texte hinaus. Die „Bedeutung des Waldes als Spiegelbild psychischer Prozesse, als die geistig-seelische Entwicklung der Hauptfiguren deutendes beziehungsweise kommentierendes Motiv“307 beschränkt sich nämlich nicht auf die oben angeführten Beispiele, die illustrieren, wie Augustinus dabei mitwirkt, die Waldsiedlung Thal ob Pirling weiter zu kultivieren. Als „Bereich der Bildung, des Lernens, der Heilung der Seele“308 erscheint insbesondere der Landschaftsgarten des Fürsten von Braunenberg.309 In dessen Darstellung wird die „Polari-

|| 306 Steffen: Nachwort, S. 345. Vgl. auch Pörnbacher: Nachwort, S. 302. Pörnbacher hebt die Vorbildfunktion des gemeinsamen Handelns von Obrist und Augustinus hervor: „Obrist und Doktor werden zum Wohl der Bevölkerung tätig [...]. Dabei wird nichts überhastet, sondern es bleibt Zeit für allmähliche Entwicklung. Sie wollen die Leute nicht einfach überreden, sondern durch ihr Vorbild überzeugen“ (ebd.). Augustinus’ Entwicklungsstand beschreibt Pörnbacher an dieser Stelle als „innerlich gereift“ (ebd.), was sich auch daran zeige, dass er „im ärztlichen Bereich immer wirksamer helfen“ (ebd.) könne. 307 Gottwald: Natur und Kultur, S. 105. 308 Ebd. 309 Die Darstellung des fürstlichen Landschaftsgartens in der Letztfassung der Mappe steht in einer Tradition, die Stifters Werk über einen langen Zeitraum – von der Journalfassung der

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tät Künstlichkeit-Natürlichkeit noch stärker betont“310 als in früheren Fassungen des Textes. Zur Diskussion um die Gestaltung von Landschaftsgärten haben in der europäischen Kulturgeschichte verschiedene Disziplinen, etwa die Philosophie, die Ästhetik, aber auch die Politik beigetragen.311 Diese „europäischen Gartendiskurse“312 erreichten schon im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt, setzten sich aber im 19. Jahrhundert weiter fort. Eine entscheidende Rolle für diese Fortsetzung der Landschaftsgartentradition zu Stifters Lebzeiten spielte Hermann Fürst von Pückler-Muskau,313 der mit seinen Andeutungen über Landschaftsgärtnerei314 (1834) einen einschlägigen theoretischen Beitrag lieferte, seine Konzepte aber schon vor dieser Veröffentlichung praktisch umsetzte, indem er den Muskauer Park im Oberlausitzer Neißetal nach seinen Vorstellungen gestaltete.315 In Rezeption der englischen Landschaftsgartentradition, die bereits im späten 18. Jahrhundert die „sterile Symmetrie“316 der aus Frankreich stammenden Gartenbaukonzepte zu verdrängen begann,317 forderte Pückler-Muskau, dass sich in der Gestaltung von Landschaftsgärten eine „Verknüpfung von Schönheit und

|| Feldblumen (1841) bis hin zu den späten Fassungen der Mappe – prägt. Gärten und Parks bilden hier immer wieder „eine Art von Knotenpunkten für die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Natur und Kultur ebenso wie mit der Frage nach dem ‚richtigen Leben‘“ (Norbert Miller: Garten und Park [Art.]. In: SHB, S. 318–322, hier S. 318). 310 Gottwald: Natur und Kultur, S. 105. 311 Vgl. Gottwald: Beobachtungen zum Motiv des Landschaftsgartens, S. 125 ff. 312 Ebd., S. 126. 313 Vgl. Hömke: Der Landschaftsgarten, S. 537. Hömke weist darauf hin, dass Stifter den realen Landschaftsgarten von Pückler-Muskau gekannt und „Anteilnahme an dem persönlichen Lebensgeschick des Fürsten“ (ebd.) genommen habe (zur Bedeutung von PücklerMuskaus Biografie für die Gestaltung der Erzählung Die Narrenburg siehe Abschnitt 3.2.2). Hömke führt außerdem einen weiteren Intertext an, der im Zusammenhang mit dem Komplex der Gartengestaltung eine Rolle spielt. Während Stifter sich trotz der Bedeutung, die der literarischen Gestaltung von Gärten in seinem Werk zukommt, selbst „kaum über die Gartenkunst geäußert“ (ebd.) habe, sei ihm eine Rezension Schillers bekannt gewesen, die er nicht nur in sein Lesebuch zur Förderung humaner Bildung aufgenommen, sondern mit einer neuen Überschrift („Die schöne Gartenkunst“) versehen habe. In Schillers Text seien „die Grundlagen des dichterisch entworfenen Landschaftsgartens im Fragment der letzten ‚Mappe‘ [...] [bereits] vorgezeichnet“ (ebd., S. 538). 314 Hermann Fürst von Pückler-Muskau: Andeutungen über Landschaftsgärtnerei, verbunden mit der Beschreibung ihrer praktischen Anwendung in Muskau. Basel 2014. 315 Vgl. Linda B. Parshall: Einführung. In: Pückler-Muskau: Andeutungen über Landschaftsgärtnerei, S. 9–18. 316 Ebd., S. 12. 317 Vgl. Hömke: Der Landschaftsgarten, S. 536 f.

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Nützlichkeit“318 zeigen solle. Diese Forderung setzt auch der Landschaftsgarten319 des Fürsten in der Letztfassung der Mappe um: Er ist „Nutz- und Lustgarten in einem“320. Augustinus besucht den Landschaftsgarten des Fürsten, den er in seiner Selbstbefragung am Ende des ersten Bandes zwar erwähnt, aber noch nicht kennt (vgl. M4, S. 190), zum ersten Mal im Kapitel „Von meinem Hause“. Er verlässt die Waldsiedlung, weil er „zu einer Frau in die Ebene hinaus gerufen“ (M4, S. 209) wird, um sie zu behandeln, und beschließt, den Garten zu besuchen, während er „die Wirkung meiner ersten Verordnung“ (ebd.) abwartet. Schon auf dem ersten Abschnitt321 seiner Wanderung zeigt sich die Verbindung von Nützlichem und Schönem deutlich: Nachdem er den Landschaftsgarten, ohne es zu bemerken, betreten hat, bewundert Augustinus neben einem „Kohlfelde“ (ebd.), das zu seinem Erstaunen schon Teil des Gartens ist, das „Farbenfeuer“ (M4, S. 210) und die „Pracht“ (ebd.) zahlreicher Rosen. Er gelangt auf seinem Weg in einen sukzessive dichter werdenden, von Bäumen dominierten Bereich, dessen ungewöhnliche Zusammenstellung aus Ahornen, Tannen, verschiedenen Obstbäumen, Erlen, Weiden, Linden, Ulmen und Föhren den Befund illustrieren mag, „daß es einen Park wie den in der letzten ‚Mappe‘ realiter gar nicht

|| 318 Gottwald: Beobachtungen zum Motiv des Landschaftsgartens, S. 128. 319 Einschlägige Forschungsbeiträge bezeichnen den Landschaftsgarten des Fürsten auch als „Park“ (etwa Aspetsberger: Die Aufschreibung des Lebens, S. 29; Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 351; Gottwald: Natur und Kultur, S. 104). Augustinus selbst spricht vom „Garten“ (M4, S. 209 u. passim) des Fürsten, während der Fürst selbst die Bezeichnung „Lustgarten“ (M4, S. 215) vorschlägt. In diesem Zusammenhang ist der fünfte Abschnitt in Pückler-Muskaus Andeutungen über Landschaftsgärtnerei von Interesse, der die Überschrift „Park und Gärten“ (ebd., S. 40) trägt. „Beides sind zwei sehr verschiedene Dinge“ (ebd.), so Pückler-Muskau. Er beschreibt Gärten in diesem Abschnitt als kleinere Bereiche, die „Gegenstand der Kunst allein“ (ebd., S. 42) seien. Sie müssten von einem Park, der „den Charakter der freyen Natur und der Landschaft“ (ebd., S. 40) habe und „die Hand des Menschen [...] wenig [...] sichtbar“ (ebd.) werden lasse, klar abgegrenzt werden. Ein Park lasse sich als „zusammengezogne idealisirte Natur“ (ebd., S. 41) beschreiben. Dies ist eine Definition, die in meinen folgenden Überlegungen noch von Bedeutung sein wird. Vor dem gerade skizzierten Hintergrund halte ich es für gerechtfertigt, den Landschaftsgarten des Fürsten in der Mappe auch als ‚Park‘ zu bezeichnen. Der Begriff ‚Garten‘ dagegen ist hier – sowohl in den aus der Mappe zitierten Passagen als auch in meinen eigenen Ausführungen – als Kurzfassung von ‚Landschaftsgarten‘ zu lesen. 320 Gottwald: Beobachtungen zum Motiv des Landschaftsgartens, S. 129. 321 Die Schilderung von Augustinus’ Weg durch den Landschaftsgarten „gliedert sich in drei festumrissene Abschnitte“ (Hömke: Der Landschaftsgarten, S. 548; Hervorhebung im Original) von etwa gleicher Länge. Hömke schreibt dieser Darstellungstechnik die Funktion zu, das „Entstehen eines Raumgefühls vom Garten in dem Leser“ (ebd.) zu fördern.

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geben kann“322. An diesen Wald schließt sich „ein schönes Feld mit Weizen“ (M4, S. 210), „glänzende Wiesen“ (ebd.) und später „Gärtchen mit Gemüse“ (ebd.) an, bevor wieder ein Mischwald beginnt. Die Wirkung, die von der Gestaltung des Landschaftsgartens auf Augustinus ausgeht, lässt ihn meinen, er „sei [...] gar nicht in dem Lande heraußen, sondern als ginge ich bei uns in einem unserer schönen Waldtheile“ (M4, S. 211). Schon hier zeigt sich, dass es dem Besucher dieses Parks gar nicht mehr gelingen soll, zwischen „freier Natur, agrikulturell genutztem Land und eigentlicher Parkanlage“323 zu unterscheiden. Augustinus befindet sich auf einem idealisierten Mittelpunkt der kultivierten Natur,324 die sich als solche aber nicht mehr zu erkennen gibt; es „[kann] nicht bestimmt werden, wo der Wald aufhört und der Garten beginnt“325. Der zweite Abschnitt von Augustinus’ Wanderung betont die Vorstellung von einem idealisierten Mittelpunkt aus einer anderen Perspektive. Der Wanderer betritt hier die „Trümmer eines alten Thurmes“ (M4, S. 211). In dessen Innerem ist der „Schutt zu einer Treppe und zu einer Ausschau hergerichtet worden“ (M4, S. 212). Als Augustinus den Turm besteigt, wird ihm seine genaue geografische Position bewusst: Im „Mittage und Abende“ (ebd.), also im Südwesten, erstrecken sich die „Bänder des großen Waldes“ (ebd.). Der Berg, auf dem Augustinus sich befindet, ist „der lezte, den der Wald gegen die Ebene hinaus

|| 322 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 351. 323 Ebd. Begemann betrachtet an der zitierten Stelle die Beschreibung des Landschaftsgartens in der dritten Fassung der Mappe, nimmt aber später auch die entsprechenden Passagen in der Letztfassung in den Blick. Den entscheidenden Unterschied zwischen beiden Fassungen sieht er darin, dass es in der Letztfassung „nicht mehr nur der Fürst [ist], der den Eindruck erwecken will, es gebe keine [...] Differenz von Natur und Kultur“ (ebd., S. 357). Es sei der Text selbst, der versuche, „in der Sprache zu realisieren, was es in der Wirklichkeit nur als Illusion geben kann“ (ebd.). 324 Vgl. noch einmal die oben zitierte Definition von Pückler-Muskau, für den ein Park bzw. Landschaftsgarten die „zusammengezogne idealisirte Natur“ (siehe Anm. 319 in diesem Kapitel) repräsentiert. 325 Böhler: Die Individualität, S. 652. Böhler weist in diesem Zusammenhang auf weitere Intertexte hin. So folge die Gestaltung eines „englischen Garten[s]“ (ebd.) in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften dem Prinzip, dass der Betrachter zwischen den Eingriffen des Gestalters und den Hervorbringungen der Natur nicht unterscheiden können solle. In diesem Sinne scheine die Anlage des Gartens in der Letztfassung der Mappe auch die folgende „Forderung“ (ebd., S. 653) Schillers zu erfüllen: „Der gebildete Mensch macht die Natur zu seinem Freund, und ehrt ihre Freyheit, indem er bloß ihre Willkühr zügelt“ (Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Vierter Brief. In: Schillers Werke, Bd. 20 (siehe Kap. 3, Anm. 336), S. 309–412, hier S. 318). Zur Beziehung zwischen Stifters Mappe und Goethes Wahlverwandtschaften vgl. auch Gottwald: Beobachtungen zum Motiv des Landschaftsgartens, S. 141, Anm. 109.

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geschoben hatte“ (ebd.). Diese Ebene erstreckt sich „in Morgen und Mitternacht“ (ebd.), also im Nordosten, bis zu einem Punkt, „wo etwa sogar die Gefilde der Stadt Prag sein mochten“ (ebd.). Aus einer Vogelperspektive betrachtet nimmt der fürstliche Landschaftsgarten also eine Mittelstellung ein. Er befindet sich zwischen der Wildnis, repräsentiert durch ausgedehnte Waldflächen und der Sphäre der Hochkultur, vertreten durch die Stadt Prag. Wenn Augustinus wenig später, als er sich auf den dritten Abschnitt seiner Wanderung durch den Landschaftsgarten begibt, den Eindruck schildert, dass „[d]er schöne Wald, in welchem mein Wohnorte liegt“ (M4, S. 213; Hervorhebung von mir), in den Landschaftsgarten „so herein gezogen worden [ist], daß man ihn bald hier bald da erblikt“ (ebd.), so stellt dies keinen Widerspruch zu der Aussage dar, dass die ausgedehnten Waldflächen, die er vom Turm aus betrachtet, die Sphäre der Wildnis repräsentieren. In Augustinus’ angestammter Umgebung, der Waldsiedlung Thal ob Pirling, gehen die Bereiche von Wildnis und Nutzwald, der, wie oben bereits erläutert, nicht nur für die Gewinnung von Brennholz genutzt wird, sondern die Grundlage für verschiedene Handwerke bietet und stellenweise für den Flachsanbau gerodet wird, fließend ineinander über. Der Landschaftsgarten des Fürsten potenziert diesen Übergang ins Unmerkliche: Augustinus gewinnt den Eindruck, „man könne, wenn man in dem Garten immer fort gehe, endlich zu dem Walde gelangen, der Wald gehöre zu dem Garten, und der Garten sei ungeheuer groß“ (M4, S. 213).326 Der dritte Abschnitt von Augustinus’ Wanderung durch den Landschaftsgarten endet mit einem Gespräch, in dem es um die transformative Wirkung geht,327 den der Aufenthalt auf dem idealisierten und potenzierten Mittelpunkt

|| 326 Vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 351. Begemann deutet diese Textstelle, die sich ähnlich auch in der dritten Fassung der Mappe findet (vgl. M3, S. 236), wie folgt: „[D]ie Sphären des Gartens und der Landschaft des früher einmal als ‚wild‘ und ‚unwirthbar‘ bezeichneten Böhmerwaldes [...] [gehen] [...] ineinander über“ (ders.: Die Welt der Zeichen, S. 351). Auch Herwig Gottwald führt aus, dass der Landschaftsgarten des Fürsten „der utopische literarische Entwurf einer Vereinigung von Kultur- und Naturlandschaft [ist], in der die Grenzen zwischen Nutz-, Garten- und natürlicher Landschaft aufgehoben sind, da diese ineinander übergehen“ (ders.: Natur und Kultur, S. 104). 327 Die Vorstellung, dass der Aufenthalt in einem Landschaftsgarten eine solch intensive Wirkung auf den Besucher haben kann, mag zunächst überraschend wirken. Sie steht aber durchaus in Übereinstimmung mit zeitgenössischen Sichtweisen. Schon in der Einleitung zu seiner einschlägigen Abhandlung führt Hermann von Pückler-Muskau aus, dass bereits die „wildeste Natur, in ihrer einfachen, oft erhabnen, zuweilen Grauen erregenden Grösse sich allein überlassen, die tiefsten, ja die seligsten Empfindungen hervorrufen könne“ (ders.: Andeutungen über Landschaftsgärtnerei, S. 23; Hervorhebung von mir). Nur unter dem Einfluss der „Sorgfalt des Menschen und seines verständigen Wirkens“ (ebd.) lasse sich aber zu „dauern-

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der kultivierten Natur auf ihn ausgeübt hat. Der Landschaftsgarten habe bei ihm „viel mehr als Wohlgefallen“ (M4, S. 215) ausgelöst, bekennt Augustinus auf Nachfrage des Fürsten, mit dem er dieses Gespräch führt. Er kann die Wirkung, die er wahrgenommen hat, aber nicht genau definieren: „Es war so wie von einem Buche, oder von einem schönen Hause, oder von einer Stadt, oder von Musik, oder von einem Gebirge“ (ebd.). Dem Vorschlag des Fürsten, die Wirkung des Landschaftsgartens so zu begreifen wie die, die „von einem Kunstwerke“ (ebd.) ausgehe, vermag Augustinus an dieser Stelle noch nicht zu folgen (vgl. ebd.), doch die weiteren Ausführungen des Fürsten zeigen, dass das Erscheinungsbild des Landschaftsgartens in der Tat auf dem Gestaltungswillen eines Künstlers beruht, der „die Seele, die in den Künsten wohnt, zur Darstellung zu bringen“ (M4, S. 215 f.) gesucht hat. Hier bestätigt sich das, was Augustinus selbst schon erkannt hat, als er die Position des Landschaftsgartens von der Spitze der Turmruine aus betrachtete: Der Landschaftsgarten wurde auf einem geografischen Mittelpunkt ausgerichtet, denn, so der Fürst weiter, „[w]ie der braune Hof zu dem Walde, der doch hier eigentlich beginnt, immer in Eintracht stand, so sollte der Garten zu Hof und Wald in Eintracht stehen“ (M4, S. 216). Stifter hat die Beschreibung der Wirkung, die der Aufenthalt im Landschaftsgarten auf den Besucher ausüben soll, in der Letztfassung der Mappe gegenüber der dritten Fassung gekürzt. Der Fürst stellt zwar in beiden Fassungen die Beziehung zu den Künsten her, die „dem Menschen zur Verherrlichung des Lebens gegeben sind“ (M3, S. 239; M4, S. 215), weist aber nur in der dritten Fassung explizit darauf hin, dass die Gestaltung des Landschaftsgartens nach Art eines Kunstwerks „vor allem auf die Psyche wirken“328 solle, indem sie dem Betrachter „die Seele anmuthet, und in ihr ein liebliches Gefühl erzeugt“ (M3, S. 239). Andererseits führt der Fürst die intendierte Wirkung des Landschaftsgartens in der Letztfassung viel deutlicher auf das Grundprinzip der Natürlichkeit zurück, das der Gestaltung der Landschaft zugrunde gelegen hat, die Augustinus hier vorfindet: Der Garten ist zwar ein Kunstwerk, soll aber nicht als ein solches erscheinen: „Es ist wie mit einem Kunstwerke, von dem Menschen

|| dem Wohlbehagen“ (ebd.; Hervorhebung im Original) gelangen. Horst Hömke spricht in diesem Zusammenhang davon, dass „die Formensprache einer Landschaft zu seinsoffenbarender Macht werden“ (ders.: Der Landschaftsgarten, S. 536) könne, wenn die „innere[] Einstellung der Menschen“ (ebd.) dies erlaube. 328 Gottwald: Beobachtungen zum Motiv des Landschaftsgartens, S. 131.

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sagen, es sei gar kein Kunstwerk, sondern nur natürlich, und zu dem sie immer wieder gehen, es anzuschauen“ (M4, S. 217).329 Obwohl Augustinus im weiteren Verlauf der Handlung „noch zehn Male zu der Kranken hinaus“ (M4, S. 218) fährt, gelingt es ihm zunächst nicht, den Garten noch einmal zu besuchen. Der Text greift diesen Aspekt aber später wieder auf, um die Wirkung zu bestätigen, die der erste Besuch ausgelöst hat. Nachdem Augustinus den Verdacht geschöpft hat, dass es sich bei dem Zeichner Ewald Lind, der die Entwürfe für den Garten angefertigt hat, um den verschwundenen Eustachius handeln könne, nimmt er die Suche nach seinem Freund mit Unterstützung des Fürsten wieder auf und bemerkt in diesem Zusammenhang: Wir besuchten auch den Garten, und was der Fürst gesagt hatte, daß die Wirkung immer klarer und bestimmter werde, bestättigte [sic] sich an mir, sie war bei mir klarer, bestimmter, aber auch größer. (M4, S. 242)

Vor diesem Hintergrund können auch die Hauptfiguren der Letztfassung der Mappe wieder auf der aus den vorherigen Kapiteln bekannten Natur-KulturSkala angeordnet werden:

Wald (Wildnis) −−

Obrist

Obrist

Augustinus

Augustinus

Landschaftsgarten + Thal ob Pirling (kultivierte Natur) −

+

Paris und Prag (Hochkultur) −

−−

Abb. 14: Bewegungen auf der Natur-Kultur-Skala in der Letztfassung der Mappe

Auch wenn der Text den Landschaftsgarten des Fürsten und Thal ob Pirling räumlich voneinander trennt – Augustinus besucht den Garten, als ein Kran|| 329 Vgl. Böhler: Die Individualität, S. 654 f. Böhler setzt die Gestaltung des Landschaftsgartens mit Kants Kritik der Urteilskraft in Beziehung und führt dazu aus: „[B]loße Verschönerung der Natur ist auch der Zweck des Gartens in der ‚Letzten Mappe‘. Die Kunst ist nicht mehr Mittelbereich und Vermittlungsprinzip zwischen der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeit als apriorischem Prinzip und dem Reich der Freiheit, als was allein sie klassische Kunst genannt werden kann, sondern sie gewinnt eine rein dienende Rolle gegenüber der Natur“ (ebd., S. 655).

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kenbesuch ihn „in die Ebene hinaus“ (M4, S. 209) führt –, erscheint es sinnvoll, diese beiden Orte als gemeinsamen Skalenpunkt darzustellen. Schon die gemeinsame Darstellung von Paris und Prag, die ich sowohl hier als auch in der entsprechenden Abbildung in Abschnitt 5.3.6 vorgenommen habe, zeigt, dass es bei der Konzeption der Natur-Kultur-Skala nicht um geografische Exaktheit, sondern um die Erzählfunktionen der jeweiligen Bereiche geht. Sowohl Thal ob Pirling als auch der Landschaftsgarten des Fürsten stellen Orte der kultivierten Natur dar, an denen Bildungsgänge gelingen können. Wie schon in der Buchfassung der Mappe bewegen sich die Hauptfiguren des Textes von einem Bereich der Hochkultur auf den Mittelpunkt der kultivierten Natur, um sich dort zum einen in das System der Kultivierungsarbeit einzugliedern und zum anderen ihren Bildungsgang abzuschließen. Stifters letzter Text, die vierte Fassung der Mappe, treibt diesen bekannten Mechanismus auf die Spitze, indem er den Landschaftsgarten des Fürsten als einen idealisierten und potenzierten Bereich der kultivierten Natur erscheinen lässt.330 Hier gehen die Topoi vom Mittelpunkt der kultivierten Natur und von der Macht der Kunst eine Verbindung ein, lagern sich weiter an die Figur Augustinus an und bestimmen deren Bildungsgang, der an dieser Stelle aber noch nicht abgeschlossen ist.

5.4.7 Ein neuer Familienkreis Die fünfte und letzte Phase in Augustinus’ Bildungsgang beginnt mit der Beschreibung eines Projekts. Nachdem Augustinus im Landschaftsgarten des Fürsten die letztmögliche Ausbaustufe einer zum Lustgarten kultivierten Natur kennengelernt hat, widmet er sich gemeinsam mit dem Obristen weiter der Verbesserung der Zustände in Thal ob Pirling, indem er den schon früher beschlossenen Ausbau des Wegenetzes unterstützt. Als dieses Projekt in Gang gesetzt ist, kommt aber, so Augustinus, „ein Unglük in unser Haus, ein Unglük, das ich zeitlebens als solches benennen und beklagen werde“ (M4, S. 220). Augustinus schildert ausführlich, wie zunächst sein Bruder Kaspar, dann seine Schwester Anna und schließlich sein Vater Eberhard an „demselben Übel“ (M4, S. 221) erkranken und innerhalb weniger Tage sterben.331 Weder Augustinus’ „Bücher

|| 330 Vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 350: „Erst in seinem letzten Text [...] kommt er [Stifter; H. A.] einer Harmonie, ja einer Versöhnung von Natur und Kultur so nahe wie nie zuvor.“ 331 Martina King identifiziert die Krankheit, die der Text „in gut romantischer Tradition als ‚Nervenfieber‘ ausweist“ (dies.: Der romantische Arzt, S. 199), als Cholera und weist in diesem

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und Schriften“ (M4, 220), in denen sein medizinisches Wissen gespeichert ist, noch der herbeigerufene „Stadtdoctor“ (M4, S. 221) können etwas gegen diese Krankheit ausrichten. Die Ausführlichkeit, mit der die Letztfassung diese Episode schildert, unterstreicht nicht nur die Dramatik des Geschehens auf der Handlungsebene, sondern auch die Bedeutung, die sie für Augustinus’ weitere Entwicklung hat: Nach dem Verlust seiner zukünftigen Familie durch den Bruch mit Margarita verliert er nun auch die Familie, aus der er stammt. Die im Rahmen eines Beileidsbesuchs ausgesprochene Prophezeiung des Obristen, dass Augustinus’ „leere[s] Haus […] sich wieder füllen [wird]“ (M4, S. 227), mag Anlass dazu geben, in der eingangs kritisch angesprochenen Weise darüber zu spekulieren, wie Stifter das Romanfragment fortgeschrieben hätte. Sie lässt aber auch eine andere Deutung zu, die am Text belegt werden kann. Die vollständige Formulierung lautet nämlich: Das leere Haus wird sich wieder füllen, es werden solche um euch sein, die auch nach euch sein werden. Und eure Liebe wird auf sie strömen. (M4, S. 227)

Intrafiktional interpretiert auch Augustinus diese Worte als Hinweis auf eine zukünftige, von ihm zu gründende biologische Familie und weist sie zurück: „Ich werde fremde Menschen in mein Haus nehmen, werde gütig gegen sie sein […]. Aber solche, die mir näher angehören, […] werde ich nicht haben“ (ebd.). Trotzdem findet sich in der Aussage des Obristen kein konkreter Hinweis auf eine Eheschließung von Augustinus, die Voraussetzung für die Gründung einer solchen Familie wäre. Tatsächlich beschränkt sich die Erweiterung des Haushalts, die Augustinus nun vornimmt, zunächst darauf, die „Dinge im Innern des Hauses“ (M4, S. 233) zu ordnen und zu steuern und damit die unmittelbare Leerstelle im Konstrukt des ‚ganzen Hauses‘ zu füllen, die der Verlust seiner Herkunftsfamilie erzeugt hat: Er nimmt eine Haushälterin und eine Magd bei sich auf. Einen ganz anderen Charakter hat aber die Aufnahme des „Knaben Gottlieb“ (M4, S. 242), der „seine Geschwüre immer wieder bekommen“ (M4, S. 243) hat, obwohl, so die Aussage von Gottliebs Vater, der Landarzt den Jungen „schon oft geheilt“ (ebd.) habe. Augustinus erkennt dagegen, dass er mit einer punktuellen Behandlung des Kranken keinen dauerhaften Erfolg haben wird und bietet ihm einen Platz in seinem Haus an: „[N]imm deine Sachen, komme zu mir, schlafe in meinem Hause, und iß alle Tage in demselben“ (ebd.). Auch hier steht das Haus wieder stellvertretend für die Familie. Dies zeigt sich zum

|| Zusammenhang auf Stifters „hypochondrische Ängste“ (ebd., S. 200, Anm. 69) im Kontext der zeittypischen Choleraphobie hin (vgl. genauer ebd.).

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einen daran, dass Augustinus Pflichten übernimmt, die Gottliebs biologischer Vater nicht erfüllt hat. Da Gottlieb bisher „gar keinen Unterricht empfangen“ (M4, S. 245) hat, lässt Augustinus einen Lehrer ins Haus kommen und sorgt auch für die religiöse Unterweisung des Jungen. Nachdem Gottlieb sich als Ergebnis von Augustinus’ Fürsorge am Ende als „sehr gesund“ (M4, S. 260) erweist, zeigt Augustinus sich unfähig, die Gründe dafür zu benennen: „Ich wußte nicht, war das Heilwasser die Ursache, oder die reinliche Wohnung und die Nahrung“ (ebd.). In der Anrede, die Gottlieb für Augustinus’ verwendet („Er nannte mich oft: Doctor Vater“; ebd.) verbirgt sich aber ein deutlicher Hinweis darauf, dass das Arzt-Patienten-Verhältnis an dieser Stelle durch eine VaterSohn-Beziehung ersetzt wurde. Der Bettler Tobias hatte Augustinus vor der Aufnahme von Gottlieb schon Folgendes zugetragen: „Doctor, die Leute nennen euch den Vater der Kranken“ (M4, S. 253). Auch wenn Augustinus selbst hinterfragt, „ob ich auch ein wirklicher solcher Vater bin“ (ebd.), zeigt die Gottlieb–Episode, dass Augustinus’ Patienten eine wichtige Rolle im „Wechsel des Familienparadigmas“332 spielen, der durch den plötzlichen Verlust der Herkunftsfamilie erzwungen wird: „[D]ie abrupte Isolation [erlaubt] neue Anschlußmöglichkeiten“333, die bis zu einem gewissen Grad von Augustinus’ Patienten besetzt werden. Sie ersetzen die verlorene Familie aber nicht vollständig. Dies zeigt sich in der Isabella–Episode, die zeitlich mit den Geschehnissen um Gottlieb verschränkt ist. Der Obrist bittet Augustinus „im Auftrage des Freiherrn von Tannberg“ (M4, S. 246), dessen Tochter Isabella zu behandeln, die aufgrund einer „heimliche[n] Neigung zu dem Zeichner Ewald Lind“ (ebd.), der die Entwürfe für den fürstlichen Landschaftsgarten erstellt hat, eine „Schwermuth“ (ebd.) entwickelt hat.334

|| 332 Wirtz: Schrift und Familie, S. 534. 333 Ebd. Wirtz weist ebenfalls auf die „Unmöglichkeit endogamer Reproduktion“ (ebd.) hin, die sich für Augustinus an dieser Stelle ergeben hat. Er sieht die erwähnten Anschlussmöglichkeiten aber vornehmlich durch ein „Gegenmodell literarischer Existenz“ (ebd., S. 535) besetzt, in dem die intrafiktionale Mappe für Augustinus zu „Weib und […] Kind“ (M4, S. 26) wird. 334 Friedrich Wilhelm Korff erkennt in der Isabella-Episode die Weiterentwicklung eines Motivs aus der Journalfassung der Mappe, in welcher der Rahmenerzähler und Urenkel „von einer wüthenden oder verrückten Gräfin“ (M1, S. 69) berichtet; er habe beim Durchsehen der urgroßväterlichen Aufzeichnungen „einige Trümmer“ (ebd.) von deren Geschichte ausgegraben. In der Letztfassung werde dieses Motiv, so Korff, „zum Abschluß gebracht“ (ders.: Diastole und Systole, S. 301) und gleichzeitig an Eustachius’ veränderten Charakter als „ernstzunehmende, ja gewichtige Persönlichkeit“ (ebd.) angepasst. Die Figur Isabella spielt nur hier, in der Letztfassung, eine wichtige Rolle für die fünfte Phase von Augustinus’ Bildungsgang, während sie in der Buchfassung der Mappe nicht vorkommt. In der dritten Fassung des Textes stellt

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Die Behandlung Isabellas ermöglicht Augustinus den Zugang zu neuen gesellschaftlichen Kreisen: „Von diesem Tage an begann ein Verkehr zwischen den Bewohnern des Tannhofes, dem Obrist und mir“ (M4, S. 249). Im Hinblick auf diesen ‚Verkehr‘ fällt in Augustinus’ Aufzeichnungen dann auch gleich zweimal das Wort, das der Text sonst konsequent vermieden und durch den Begriff des Hauses ersetzt hatte: Ich empfand in dem Umgange mit denen von Tannberg recht angenehm das Familienleben, und war deßhalb gerne bei ihnen. Nur bei dem Obrist und mir war es einsam und familienlos. (M4, S. 251; Hervorhebungen von mir)

Augustinus schildert Isabellas Behandlung in mehreren Abschnitten, in denen sich die Faktoren, die in seiner eigenen Transformation eine maßgebliche Rolle gespielt haben, spiegeln; sein Bericht wirkt somit wie eine Zusammenfassung seines eigenen Bildungsgangs. Zum ersten verbindet er die „schwärmerischen Gefühle“ (M4, S. 250), die eine Therapie Isabellas angeraten erscheinen lassen, mit ihrer Rede „von Musik, von Dichtkunst, von Bildern, von aufopfernden Thaten“ (ebd.) und konterkariert diese Symbole für die Macht der Kunst, die sich mit dem Verlust seines Jugendfreundes verbindet, durch einen Themenwechsel: „Ich lenkte dann das Gespräch auf den Wald, und erzählte, welch wunderbare Kräuter und andere Dinge er habe“ (ebd.). Zum zweiten entscheidet er wenig später, dass Isabella und ihre Angehörigen „den Garten des Fürsten […] besuchen“ (M4, S. 250) sollen, führt die Gruppe also auf den idealisierten Mittelpunkt der kultivierten Natur und versetzt Isabella damit in einen Zustand, „so heiter, wie sie nach der Versicherung des Vaters zwei Jahre nicht gewesen ist“ (M4, S. 251).335 Zum dritten schließlich weist er Isabella auf die Macht der Familie hin: Und was hat er [Gott; H. A.] dem Menschen an dem Menschen gegeben? Eine Tiefe des Glükes, die, wenn wir sie nicht hätten, wir nicht zu ahnen vermöchten. An Eltern, Geschwistern, Gatten, Kindern, Freunden und fremden Menschen, die wir bewundern. (M4, S. 255)

|| Isabella „eine lediglich kurz erwähnte Figur ohne Hintergrund“ (Gottwald: Beobachtungen zu Stifters Weg, S. 33) dar. 335 Vgl. Hömke: Der Landschaftsgarten, S. 544: Augustinus lasse hier das „Kunstwerk“ (ebd.) des Landschaftsgartens „auf das Gemüt seines Schützlings einwirken“ (ebd.).

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Augustinus legt Isabella, die in direkter Erwiderung auf diese Rede lediglich „ihr Glück mit dem Vorhandenen spruchhaft hersagen [kann]“336, im Dialog „nun auf dieses Glück fest“337 und verankert sie damit erneut in ihrer Familie. In der Isabella-Episode spiegelt sich aber nicht nur Augustinus’ bisheriger Bildungsgang. Sie führt, auch wenn sich dies angesichts der Fragmentarizität des Textes nur mit Einschränkung sagen lässt, zum letzten Schritt in seiner Entwicklung. Schon als Augustinus den Auftrag dazu erhält, das schwermütige Mädchen zu behandeln, zeigt er sich nicht nur davon überzeugt, dass „[i]n diesem Falle […] der Mensch mehr als der Arzt leisten können [wird]“ (M4, S. 246), sondern sagt voraus, dass „[m]ein Gemüth […] in dieser Angelegenheit auch in Bewegung kommen [wird]“ (M4, S. 247). Tatsächlich geht es in den „‚therapeutischen‘ Gesprächen“338, die Augustinus mit der Tochter des Freiherrn führt, ebenso um den Arzt wie um die Patientin. Isabella, das „weibliche Pendant zu Augustinus“339, erklärt sich im Laufe der Gespräche bereit, auf Ewald Lind zu verzichten und hilft dem Arzt damit, „seine Probleme mit Margarita aufzuarbeiten“340 und den Verlust seiner zukünftigen Familie endgültig zu akzeptieren, so dass er sagen kann: „Ich werde nie eines andern Weibes Mann und Margarita wird nie eines andern Mannes Weib werden“ (M4, S. 257). Nachdem Augustinus akzeptiert hat, dass seine „Empfindung“ (ebd.) für Margarita nicht mehr „be-

|| 336 Aspetsberger: Die Aufschreibung des Lebens, S. 32. Aspetsberger bezieht sich hier auf die folgende Aussage Isabellas: „Mein Vater ist sehr gut, meine Mutter ist sehr gut, und meine Schwester und die Großmutter sind sehr gut“ (M4, S. 255). 337 Aspetsberger: Die Aufschreibung des Lebens, S. 32. 338 Bengesser/Gottwald: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar (HKG 6,4), S. 189. Die Autoren des Kommentars setzen den Begriff ‚therapeutisch‘ wohl in modalisierende Anführungszeichen, weil das Konzept einer Gesprächstherapie, wie in Kap. 3, Anm. 187 bereits im Hinblick auf Turmalin angeführt, erst einige Jahrzehnte nach Stifters Tod durch Sigmund Freud „in elaborierter Form […] im Medizindiskurs etabliert“ (ebd.) wurde. Stifters Ausgestaltung der Isabella-Episode „unterscheidet sich maßgeblich von der zeitgenössischen psychiatrischen Theorie wie auch von der gängigen psychiatrischen Praxis im österreichischen Kaiserreich“ (ebd., S. 187) und ist vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit „in den 1860er Jahren vorerst weitgehend obsoleten Behandlungsansätze[n] von Philipp Carl Hartmann und Ernst Freiherr von Feuchtersleben“ (ebd., S. 188) zu betrachten. Vgl. genauer ebd. und auch King: Der romantische Arzt, S. 182 f. 339 Gottwald: Beobachtungen zu Stifters Weg, S. 33. 340 Ebd., S. 32. Vgl. ähnlich Korff: Diastole und Systole, S. 301. Korff bringt diese Aufarbeitung wiederum mit dem Geschehen um Eustachius und Christine in Verbindung. Augustinus widme sich „dieser Sache [der Behandlung Isabellas; H. A,] mit so großem Eifer, als sei sie seine eigene. Es ist auch seine eigene; denn im Gespräch mit Isabella berührt Augustinus eine lang verschwiegene Schuld, an der er und Eustach gemeinsam tragen, weil sie die Schuld gleichermaßen an Margarita und an Christine begingen“ (ebd.).

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glükend“ (ebd.), sondern „erhaben“ (ebd.) und die Beziehung zu ihr auf eine leidenschaftslose und damit ungefährliche „Freundschaft“ (ebd.) reduziert ist, die „bis an das Grab“ (ebd.) dauern wird, gibt ihm das Gespräch mit Isabella die Gelegenheit, auch mit einem anderen Verlust abzuschließen. Es geht hier um seine Erzählung „von einem Dinge aus meiner frühesten Jugend“ (M4, S. 258), die auf der Handlungsebene zunächst einmal das offensichtliche Ziel hat, das Gespräch auf den Zeichner Ewald Lind zu lenken, aber zu einer Versöhnung mit dem Verlust des Jugendfreundes Eustachius gerät, den Augustinus hinter Ewald Lind vermutet. Die Erinnerung an Eustachius ist mit einem Mal nicht mehr, wie Augustinus früher formuliert hatte, „böse in meinem Herzen“ (M4, S. 59), ist nicht mehr „die heilloseste Geschichte, die ich wie einen bösen Schaden nicht von mir bringe“ (M4, S. 68). Stattdessen erklärt Augustinus gegenüber Isabella: „Ich […] liebe den Freund, der mich verlassen hat, und der in seiner Verborgenheit verharrt, eben so, wie ich ihn geliebt habe, da wir miteinander umgegangen sind“ (M4, S. 259). An dieser Stelle scheinen tatsächlich alle Entwicklungslinien von Augustinus’ Bildungsgang ihren Abschluss gefunden zu haben. Der Verlust des geliebten Freundes ist überwunden und die doppelte Einbuße von Familie – der zukünftigen und der Herkunftsfamilie – ist kompensiert durch Augustinus’ Rolle als „Vater der Kranken“ (M4, S. 253), die ihm Zugang zu einem neuen Familienkreis ermöglicht und sich in der erfolgreichen Behandlung Isabellas bestätigt. Die junge Frau wird nicht nur von ihrer Schwermut geheilt, sondern kann nun darauf vorbereitet werden, den Fortbestand ihrer Familie zu sichern: Augustinus’ letzte Empfehlung lautet, Isabellas Eltern sollten den Mädchen [Isabella und ihrer Schwester; H. A.] manche häusliche Beschäftigungen übertragen, und sie auch in manche äußeren Lebensverhältnisse einführen. Dann wird auch jedes in seiner natürlichen Empfindung, sobald der rechte Mann kömmt, ihm mit Freuden zum Altare folgen. (M4, S. 264)

So reizvoll es ist, darüber nachzudenken, wie Stifter die Letztfassung der Mappe fortgeschrieben hätte: Solche Überlegungen gehören mangels Textgrundlage nicht in diese Untersuchung. Die Analyse der topischen Gestaltung von Augustinus’ Bildungsgang muss hier ein offenes Ende nehmen. Trotzdem hat sie, wie ich im nächsten Abschnitt zeigen werde, einen wichtigen Beitrag zur Vervollständigung des topischen Bauplans von Adalbert Stifters erzählter Welt geleistet.

6 Positionsbestimmung 2 Im Folgenden soll der in Kapitel 4 entwickelte topische Bauplan erweitert und aktualisiert werden. Die Grundlage dafür bilden die Ergebnisse, die bei der Untersuchung von zwei Fassungen des Textes Die Mappe meines Urgroßvaters erzielt wurden. Ich stelle den aktualisierten Bauplan zunächst in dem folgenden Schaubild dar und beschreibe danach zusammenfassend die Untersuchungsergebnisse, die sich an dieser Stelle ergeben haben.

Narrenburg

Mappe (Buchfassung)

Turmalin

Kazensilber

Mappe (Letztfassung)

Waldbrunnen

Die Macht der Bildung

Erziehung zur Nützlichkeit 1848 Die Macht der Schrift

Die Macht der Kunst

Die Macht der Wunder

Die Macht der Familie

Die Macht der Schönheit

Der Mittelpunkt der kultivierten Natur

Abb. 15: Zweite, erweiterte Fassung des topischen Bauplans

Der Topos von der Macht der Schrift kann sowohl für die Buchfassung der Narrenburg als auch für die Buchfassung der Mappe als textkonstitutiv gelten. Diese beiden Texte zeigen besonders eindrücklich, warum es sinnvoll ist, Topoi als zeichenhafte, im Gedächtnis gespeicherte Vorstellungsmuster zu begreifen, die nicht in Texten enthalten sind, sondern sich ihn ihnen ausprägen. Stifter hat gleichzeitig an den Buchfassungen dieser Texte gearbeitet und dabei dem Vorstellungsmuster, das autobiografischen Aufzeichnungen existenzveränderndes Potenzial zuschreibt, zwei unterschiedliche Ausprägungen verliehen. Während die autobiografischen Schriften der Herren von Scharnast in der Narrenburg durch ihre abschreckende Funktion im Prozess der Lektüre wirken sollen, ist die transformative Wirkung, die in der Buchfassung der Mappe beschrieben wird, eine andere. Dies zeigt sich in der Anwendung dieses Prinzips durch eine der Hauptfiguren des Textes, den Obristen, dessen Transformation vor allem mit dem Prozess des Schreibens verbunden ist. Auch Ausprägungen des Topos vom https://doi.org/10.1515/9783110750782-006

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Mittelpunkt der kultivierten Natur lassen sich in der Buchfassung der Mappe deutlich nachweisen. Die topografischen Informationen, die der Text bereitstellt, positionieren die Siedlung Thal ob Pirling auf diesem Mittelpunkt. Beide Hauptfiguren des Textes, der Landarzt Augustinus und der Obrist, beschreiben auf der Natur-Kultur-Skala zu unterschiedlichen Zeitpunkten dieselbe Bewegung vom Bereich der Hochkultur hin zu diesem Mittelpunkt. Die Transformation von Augustinus zu einem sanften und gütigen Menschen, die ebenfalls auf der existenzverändernden Macht der Schrift beruht, findet eine Entsprechung in der Zähmungsarbeit an der Wildnis und deren Verwandlung in kultivierte Natur, die im Text beschrieben wird. Während für die Letztfassung der Mappe nicht in gleicher Weise wie für die Buchfassung geltend gemacht werden kann, dass der Text, wie oben schon einmal formuliert, sowohl Mittel als auch Ergebnis von Augustinus’ Bildungsgang ist – die Buchfassung präsentiert sich in diesem Zusammenhang deutlicher als Bündel autobiografischer Aufzeichnungen –, so zeigt der Text doch eindeutig, dass der Topos von der Macht der Schrift nicht auf die Werkphase der Studien beschränkt ist und sich auch im Spätwerk ausgeprägt hat. Er lagert sich in unterschiedlichen Ausprägungen an die Figur Augustinus an. Schon im Kapitel „Von den zwei Bettlern“ übt die Lektüre von Christine Waldons Briefen eine Wirkung auf den Protagonisten aus, die ihn verändert. Auch in Augustinus’ Selbstbefragung am Ende des ersten Bandes zeigt sich die wesensverändernde Macht des Verfassens autobiografischer Aufzeichnungen. Der Topos von der Macht der Schrift bestimmt außerdem die Darstellung des Bildungsgangs einer weiteren Hauptfigur des Textes. Die autobiografische Binnenerzählung des Obristen basiert hier in ähnlicher Weise wie schon in der Buchfassung des Textes auf diesem Topos. Die Unterschiede zur Buchfassung, die ich in diesem Zusammenhang herausgearbeitet habe, zeigen aber, dass Stifter das Kapitel „Der sanftmüthige Obrist“ in der Letztfassung nicht nur stilistisch überarbeitet, sondern eine Neufassung geschrieben hat, in dem sich der genannte Topos neu ausgeprägt hat. Hier bestätigt sich also meine These, dass das in Kapitel 2 der vorliegenden Untersuchung entwickelte Modell einer topischen Textproduktion auch für die Erstellung von Neufassungen eines Textes gilt. Das erste Kapitel der Letztfassung der Mappe untermauert diesen Befund in noch offensichtlicherer Weise. Hier spielt die Macht der Schrift für die Figur des Urenkels nicht mehr dieselbe Rolle wie noch in der Buchfassung. Auf diese Weise entsteht Raum für eine Ausprägung des Topos von der Macht der Familie, der sich ansatzweise bereits an diese Figur anlagert und anschließend die literarische Gestaltung von

Positionsbestimmung 2 | 333

Augustinus’ Bildungsgang dominiert. Es ist seine intakte Herkunftsfamilie, die es ihm ermöglicht, sich als angesehener Arzt in Thal ob Pirling zu etablieren.1 Nach dem Verlust seiner zukünftigen Familie durch den Bruch mit Margarita und der Auslöschung seiner Herkunftsfamilie durch den Tod von Vater und Geschwistern lassen sich gleich zwei Strategien erkennen, die Augustinus wieder in einen Familienverband stellen sollen. Er wird zum ‚Vater der Kranken‘ in Thal ob Pirling und tritt schließlich durch die Behandlung der schwermütigen Isabella in einen neuen Familienkreis ein. In der ersten Phase von Augustinus’ Bildungsgang, die im Kapitel „Von den zwei Bettlern“ beschrieben wird, spielt aber zunächst der Topos von der Macht der Kunst eine zentrale Rolle. Ähnlich wie der Rentherr in Turmalin scheitert Augustinus’ Freund Eustachius zunächst an dieser Macht und verschwindet daraufhin aus der erzählten Welt des Textes. Stifter lässt ihn sozusagen nur unter Auflagen zurückkehren – die Identität von Eustachius mit Ewald Lind wird vermutet, aber nicht bestätigt.2 In der Darstellung von Augustinus’ erstem Besuch des fürstlichen Landschaftsgartens prägt sich der Topos von der Macht der Kunst erneut aus und geht eine Verbindung mit dem Topos vom Mittelpunkt der kultivierten Natur ein. Sowohl die Buchfassung als auch die Letztfassung der Mappe zeigen, dass es sich bei Letzterem um einen werkkonstitutiven Topos handelt. Beide Texte enthalten eine Fülle von geografischen und topografischen Informationen, die sich heranziehen lassen, um die Hauptfiguren auf der NaturKultur-Skala anordnen zu können. Darüber hinaus bildet die Letztfassung mit der Darstellung des fürstlichen Landschaftsgartens im Hinblick auf diesen Topos einen Höhepunkt in Stifters Erzählwerk, den kein anderer der bisher untersuchten Texte erreicht. || 1 Hier zeigt sich ein wichtiger Unterschied zwischen Buch- und Letztfassung der Mappe. Während Augustinus’ Einbindung in seine Herkunftsfamilie in der Letztfassung als Erfolgsfaktor für seine berufliche Entwicklung beschrieben wird und damit als Ausprägung des Topos von der Macht der Familie gedeutet werden kann, fehlt dieser Aspekt in der Buchfassung. Augustinus wird hier unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Thal ob Pirling zu seinem ersten Patienten gerufen. Der Prozess der ‚Familiarisierung‘, der in Abschnitt 5.3.5 für die Buchfassung beschrieben wurde, ist zwar vor dem Hintergrund dieses Topos zu betrachten, da er zu einer Erneuerung der Familie des Obristen führt. Er spielt für Augustinus’ Bildungsgang allerdings keine entscheidende Rolle, da er erst kurz vor dessen Abschluss und der Versöhnung mit Margarita stattfindet. 2 Die Frage, ob Stifter diese Identität bei einer Fertigstellung des Textes bestätigt oder die Figur Eustachius sogar wieder in den Text eingeführt hätte, wird sich nicht beantworten lassen. Das vorliegende, fragmentarische Textmaterial erlaubt es aus meiner Sicht nicht, Schlüsse auf die weitere Entwicklung dieser Figur zu ziehen oder sie gar als das Subjekt eines Bildungsgangs zu beschreiben.

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Im Rahmen dieser zweiten Positionsbestimmung ist darauf hinzuweisen, dass die topische Analyse eines umfangreichen Textkorpus durch mehrere Iterationen zu präzisierten Interpretationsergebnissen führen kann. Liest man die Erzählung Der Waldbrunnen, die zur selben Werkphase gehört wie die Letztfassung der Mappe, nämlich noch einmal aus der Perspektive des Topos von der Macht der Familie, zeigen sich dessen Ausprägungen auch hier. Zwar fehlen im Waldbrunnen die Hinweise auf das Konzept des ‚ganzen Hauses‘, das sich in der Letztfassung der Mappe deutlich nachweisen lässt und einen wichtigen Beitrag zur Definition dieses Topos geleistet hat. Trotzdem lässt sich dessen Kerngehalt, der besagt, dass die Einbettung eines Individuums in einen intakten Familienverband eine notwendige Voraussetzung für dessen erfolgreiche Entwicklung darstellt, auch hier an mehreren Stellen nachweisen. Zum ersten resultiert der Mangel an Liebe, unter dem Stephan von Heilkun leidet, daraus, dass er nicht in einen solchen Familienverband eingebunden ist. Ich verweise in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Passage, in der Stefan seinen Enkeln davon berichtet, wie seine mittlerweile verstorbene Ehefrau es nicht vermochte, seine aufopfernde Liebe zu erwidern und ihn damit „kränkte“ (W, S. 107). An derselben Stelle berichtet Stephan auch davon, dass sein Sohn und dessen Frau – die Eltern von Franz und Katharina – „viel zu jung gestorben“ (ebd.) sind. Zum zweiten obliegt es nun Stephan, nicht nur für die Erziehung seiner Enkel Sorge zu tragen, sondern auch die Voraussetzungen für die Fortsetzung der genealogischen Linie zu schaffen. Dies gelingt durch die Eheschließung von Franz und Juliana. Zum dritten kann dieser Schritt aber erst erfolgen, nachdem Juliana von der familiären Pflicht befreit ist, für ihre Großmutter zu sorgen und ihre Herkunftsfamilie verlassen kann, um mit Franz eine neue Familie zu gründen. Mit den drei daseinsbestimmenden Mächten von Schrift, Kunst und Familie und der Vorstellung von einem Mittelpunkt der kultivierten Natur versammelt der Werkkomplex der Mappe also Ausprägungen von Topoi, die sich auch schon im Werkkomplex der ‚wilden Mädchen‘ zeigen.3 Doch auch im Hinblick

|| 3 Den Topos von der Macht der Schönheit habe ich bisher nur im Waldbrunnen nachgewiesen. Die Verbindung von sittlichem Handeln und körperlicher Anmut, die diesen Topos auszeichnet, ließe sich bis zu einem gewissen Punkt zwar auch auf die Figur Margarita in der Mappe abbilden. Sowohl die Buchfassung als auch die Letztfassung des Textes betonen Margaritas Schönheit (vgl. etwa M2, S. 146 und M4, S. 111). Da Margarita in beiden Fassungen des Textes aber eine passive Rolle einnimmt – ihr Bruch mit Augustinus bildet hier eine Ausnahme –, steht sie nicht in einer Weise für eine Verbindung von Schönheit und Sittlichkeit, die mit dem vergleichbar wäre, was ich für die Figur Juliana im Waldbrunnen beschrieben habe. – Auch Ausprägungen des Topos von der Macht der Wunder konnte ich nur in einem der bisher unter-

Positionsbestimmung 2 | 335

auf die beiden miteinander verschränkten Topoi von der Erziehung zur Nützlichkeit und der Macht der Bildung sind die Ergebnisse, die bei der Interpretation von Buch- und Letztfassung der Mappe erzielt wurden, aufschlussreich. Wie in Abschnitt 5.3.5 beschrieben, schließt der Bildungsgang von Augustinus in der 1847 veröffentlichten Buchfassung der Mappe auch seine Verwandlung in ein nützliches Mitglied der Sozialgemeinschaft von Thal ob Pirling ein. Der Obrist nimmt hier die Rolle der Erzieherfigur ein, unter deren Anleitung der Bildungsgang vollzogen wird. Die Verwandlung von Augustinus findet zeitlich nach dem Bruch mit Margarita statt, also dem Ereignis, welches die Notwendigkeit eines Bildungsgangs erst konstituiert. Der Topos von der Erziehung zur Nützlichkeit, dessen Ausprägungen auch schon in den Erzählungen Die Narrenburg und Turmalin nachgewiesen werden konnten, lagert sich hier an die Hauptfigur der Erzählung an. Der Topos von der Macht der Bildung stellt, wie in Kapitel 4 beschrieben, nach 1848 im Zusammenhang mit Stifters Revolutionserfahrung ein ergänzendes Gegenstück zur Vorstellung einer Erziehung zur Nützlichkeit dar. Die Forderung nach umfassender Bildung, die Stifter in diesem Zusammenhang erhebt, bedeutet ihm aber (ich wiederhole diese wichtige Feststellung) weit mehr als die Vermittlung von Bildungswissen. Es geht ihm um die Herbeiführung eines Zustands von sittlicher Freiheit. Das damit einhergehende – um auch die einschlägige Briefstelle noch einmal zu zitieren – „fast fieberhafte Verlangen, die Menschen besser und verständiger machen zu helfen“4 zeigt sich in der Letztfassung der Mappe aber in anderer Form als in Kazensilber oder dem Waldbrunnen, wo sich der Topos von der Macht der Bildung in einem Motiv ausprägt, das als die Erziehung einer Erzieherfigur beschrieben werden kann. In der Letztfassung der Mappe entwickelt sich der Zögling Augustinus zwar, anders als in der Buchfassung, zu einer Leitfigur in Thal ob Pirling und schließ-

|| suchten Texte, in Kazensilber, nachweisen. Sowohl in der Buchfassung als auch in der Letztfassung der Mappe lassen sich allenfalls Anspielungen auf dieses Vorstellungsmuster nachweisen. So erinnert sich der Urenkel in der Buchfassung an Gespräche und Erzählungen aus seiner Kindheit, in denen es um Augustinus ging, in dessen Leben „ein so unsägliches Gewimmel von überirdischen Dingen und ganz unerhörten Ereignissen“ (M2, S. 19) geherrscht habe. Die Großmutter des Urenkels bemerkt dazu: „Die Leute glauben auch heut zu Tage nicht mehr so fest, wie sonst, obwohl die Alten [...] ebenfalls keine Thoren waren, sondern furchtlose aufgeklärte Männer“ (M2, S. 20). Diese kurze Passage findet sich ähnlich auch in der Letztfassung, in der die Großmutter feststellt, dass „das Seltsame im Leben ab[nimmt]“ (M4, S. 11). Für beide Fassungen des Textes kann aber nicht von einer textkonstitutiven Funktion des Topos von der Macht der Wunder gesprochen werden. 4 An Joseph Ranzoni, 20. März 1850 (PRA 18, S. 18).

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lich, wie oben schon erwähnt, zu einem ‚Vater der Kranken‘. Dies ist jedoch das Resultat seines Bildungsgangs und stellt die väterliche Vorbildrolle des Obristen nicht in Frage. Auch in der Darstellung des Bildungsgangs dieser Figur lässt sich kein Vorgang erkennen, der als die Erziehung einer Erzieherfigur gedeutet werden kann, denn er beginnt und endet schon lange, bevor die Figur des Obristen ihren Status als väterlicher Erzieher erreicht. Das Motiv, das sich in Kazensilber und im Waldbrunnen als Ausprägung des Topos von der Macht der Bildung zeigt, sucht man in der Letztfassung der Mappe also vergeblich. Allerdings gehört es zu einer der Grundannahmen der vorliegenden Untersuchung, dass Topoi sich auf unterschiedlichen Ebenen im literarischen Text ausprägen können und dabei weit über die Festlegung auf eine bestimmte sprachliche Form oder etablierte Motive hinausgehen. Vor diesem Hintergrund lässt sich vor allem der Bildungsgang von Augustinus, der in der Letztfassung der Mappe geschildert wird, als systematische Heranführung an den oben angesprochenen Zustand sittlicher Freiheit und damit als Ausprägung des Topos von der Macht der Bildung deuten. Die literarische Darstellung dieses Bildungsgangs dominiert die Binnenerzählung und damit beinahe das gesamte Romanfragment. Mit der Letztfassung der Mappe kommt dem Topos von der Macht der Bildung also neben dem Waldbrunnen für einen weiteren Text im Spätwerk Stifters textkonstitutive Bedeutung zu. Damit erhält aber auch die in Kapitel 4 getroffene Annahme, dass es sich hier ebenfalls um einen werkkonstitutiven Topos handelt, weitere Bestätigung. Im Fortgang der Untersuchung soll diese Annahme weiter überprüft werden.

7 Wider die Leidenschaft: Der Nachsommer 7.1 Einführung und Forschungsüberblick Sowohl im Rahmen der zeitgenössischen Rezeption als auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung wurde Adalbert Stifters Roman Der Nachsommer1 häufig als Manifestation der sprichwörtlichen Stifterschen Langeweile beschrieben.2 In der Tat scheint dieses Urteil durch die Ereignislosigkeit der Handlung, den äußerst kargen Einsatz von Spannungselementen und die fast schon obsessive Beschreibung von Ritualen gerechtfertigt zu sein. In der Welt des Nachsommers werden Figuren gezeigt, die in definierte „Ordnungsmuster [eingefügt]“3 sind und „in immer gleich bleibenden Handlungskonstellationen […] die immer gleichen Handlungen [verrichten]“4. Deswegen mag die Hypothese, die diesem Kapitel meiner Untersuchung zugrunde liegt, auf den ersten Blick paradox wirken. Ich gehe nämlich davon aus, dass sich die daseinsverändernden Mächte, welche, wie die bisher untersuchten Texte zeigen, zentrale Topoi von Adalbert Stifters erzählter Welt bilden, im Nachsommer in einer Deutlichkeit präsentieren, die nicht mehr zu übertreffen ist.5 Wie kann dies aber möglich

|| 1 Ich verwende die folgende Ausgabe des Textes: Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Eine Erzählung. 3 Bde. Hrsg. von Wolfgang Frühwald und Walter Hettche. Stuttgart u. a. 1997–2000 [HKG 4,1–4,3]. Zitate aus diesen drei Bänden weise ich im Folgenden mit den Siglen Ns1, Ns2 und Ns3 im Text nach. 2 Vgl. Christian Begemann: Adalbert Stifter: Der Nachsommer. In: Lektüren für das 21. Jahrhundert. Schlüsseltexte der deutschen Literatur von 1200 bis 1990. Hrsg. von Dorothea Klein und Sabine M. Schneider. Würzburg 2000, S. 203–225, hier S. 203 f. Vgl. auch die Zusammenstellung von zeitgenössischen Kritiken zum Nachsommer in Moritz Enzinger: Adalbert Stifter im Urteil seiner Zeit (siehe Kap. 1, Anm. 20), S. 209–236. 3 Sabina Becker: Nachsommerliche Sublimationsrituale. Inszenierte Ordnung in Adalbert Stifters Nachsommer. In: Becker/Grätz (Hrsg.): Ordnung – Raum – Ritual, S. 315–338, hier S. 325. 4 Ebd. 5 Vgl. in diesem Zusammenhang noch einmal die in der Einleitung zu dieser Arbeit zitierte Einschätzung Christian Begemanns, dass der Nachsommer „einen nicht mehr überschreitbaren Endpunkt in Stifters Schreiben dar[stellt] und [...] damit zugleich eine Wende [markiert]“ (ders.: Die Welt der Zeichen, S. 349). Ähnlich auch schon Rudolf Wildbolz: „Gewiß ist er [der Nachsommer; H. A.] Fortsetzung und Summe des früheren Werks im Hinblick auf manche Motive und Gestaltungstendenzen, darüber hinaus indessen setzt er sich deutlich ab, nicht nur gegenüber dem Vorangehenden, sondern ebenso sehr vom Spätwerk“ (ders.: Adalbert Stifter, S. 84). https://doi.org/10.1515/9783110750782-007

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sein, wenn vor allem die „übermenschliche Bravheit des Helden“6 solchen Mächten eigentlich gar keine Angriffsfläche zu bieten scheint? Ein impliziter Hinweis darauf, dass es im Nachsommer um mehr gehen könnte als um die wiederholte Beschreibung des Immergleichen, liegt in der Fülle von Deutungsansätzen und Forschungspositionen, die an den Text herangetragen wurden.7 So hat die Stifter-Forschung etwa die drei folgenden, hier exemplarisch angeführten Aspekte wiederholt in den Mittelpunkt gestellt und kontrovers diskutiert: Erstens geht es immer wieder um die Frage, ob es überhaupt legitim sei, den Nachsommer als Bildungsroman zu beschreiben. In diesem Zusammenhang wurden nicht nur Alternativen vorgeschlagen – etwa die Bezeichnungen ‚Utopie‘ und ‚Idylle‘ –, sondern auch in Frage gestellt, ob eine Interpretation des Textes sich überhaupt mit dessen zumindest auf den ersten Blick offensichtlicher Hauptfigur, dem Kaufmannssohn und Ich-Erzähler Heinrich Drendorf, beschäftigen solle. Zweitens wird immer wieder danach gefragt, welches Konzept von Familie dem Text zugrunde liege und welche Erzählfunktion die familiären Zusammenhänge erfüllten, in denen sowohl der Protagonist als auch andere Figuren des Textes stehen. Drittens schließlich wird der Text immer wieder in den Zusammenhang der Revolutionserfahrung gestellt, die Stifter 1848 und in den Folgejahren nachweislich geprägt hat. In diesem Zusammenhang spielt der bereits erwähnte Begriff der Utopie eine wichtige Rolle, denn er ermöglicht eine spezifische Sicht auf die erzählte Welt des Textes, die vor allem durch die Schauplätze von Asperhof und Sternenhof repräsentiert wird.8 Im Folgenden werde ich im Rahmen eines wiederum selektiven For-

|| 6 Begemann: Adalbert Stifter: Der Nachsommer, S. 203. 7 Vgl. dazu auch Zumbusch: Der Nachsommer (siehe Kap. 1, Anm. 20), S. 104 ff. 8 Auf eine mögliche Ausdeutung der Namen ‚Asperhof‘ und ‚Sternenhof‘ weist schon Moriz Enzinger hin: „Wenn nun Heinrich […] vom Asperhof, in dem er seine wesentliche Ausbildung erfährt, schließlich als Bräutigam in den Sternenhof gelangt […], so mag Stifter als Leitsatz der Spruch: ‚Per aspera ad astra‘ vorgeschwebt haben, was freilich bei der verhaltenen Art des Dichters hier nirgends auch nur angedeutet erscheint“ (ders.: Adalbert Stifters Studienjahre, S. 150). Jens Tismar sieht „in der Namens-Kombination von Asperhof und Sternenhof“ (ders.: Gestörte Idyllen. Eine Studie zur Problematik der idyllischen Wunschvorstellungen am Beispiel von Jean Paul, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard. München 1973, S. 64) ebenfalls „die alte Sentenz verborgen“ (ebd.), verbindet sie aber nicht mit Heinrich, sondern mit dem „Schicksal des Freiherrn von Risach und seiner Mathilde“ (ebd.). Beide hätten „einander durch eigene Schuld verloren und erst nach Irrtümern wieder in ‚nachsommerlicher Liebe‘ gefunden“ (ebd., S. 65). Peter Schäublin nimmt einen Hinweis Martin Selges auf die „Leitsentenz ‚Per aspera ad astra‘“ (Schäublin: Familiales in Stifters Nachsommer, S. 94) zum Anlass, im Hinblick auf die Namensgebung der beiden Höfe einen „prägnanten, auf Risach gemünzten, ‚Rückblick‘ und Hauptteil verbindenden Sinn“ (ebd.) zu erkennen. Alexander Stillmark greift

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schungsüberblicks genauer auf die genannten Aspekte eingehen, bevor ich untersuche, welche Topoi sich bei der literarischen Gestaltung der ‚Nachsommerwelt‘ und der darin stattfindenden Bildungsgänge ausgeprägt haben. Herbert Seidlers Beitrag zur „Bedeutung der Mitte in Stifters ‚Nachsommer‘“9 (S. 59) geht von der folgenden Beobachtung aus: Die den Roman beschließende Erkenntnis Heinrich Drendorfs, dass ihm ein „größere[s] Glück, ein Glück, das unerschöpflich scheint“ (Ns3, S. 282), widerfahren sei, knüpfe wörtlich an eine Frage an, die sich der Protagonist „das erstemal am Schluss des mittelsten Kapitels und selbst beinahe genau in der Mitte des Werkes“ (S. 59) stelle (vgl. Ns2, S. 148). Seidler zeigt die „dichten Fäden in die Vergangenheit und Zukunft“ (S. 60) auf, die vom Geschehen in diesem Kapitel ausgehen und beschreibt das „Erlebnis der antiken Marmorstatue“ (S. 60) sowohl als Höhepunkt von Heinrichs wachsendem Kunstverständnis als auch als Schlüsselereignis „auf dem Wege Heinrichs zu Natalie“ (ebd.). Eine ähnliche, auf einen Mittelpunkt hin angelegte Konstruktion erkennt Seidler auch in Risachs10 autobiografischem Rückblick: „Genau in der Mitte liegt der Liebesausbruch Gustavs und Mathildens“ (S. 67). Neben Hinweisen auf die Bedeutung der Mitte für die Zeitgestaltung des Romans zeigt Seidler, dass die Suche und Festsetzung eines Mittelpunkts, von dem aus die Welt erschlossen werden kann, ein wiederkehrendes Motiv in der Gestaltung von Heinrichs Bildungsgang bildet und geht in diesem Zusammenhang auf die besondere Rolle des Rosenhauses Gustav von Risachs ein; es stelle „die Mitte der Dichtung in jeder Hinsicht“ (S. 72) dar und sei für Heinrich sowohl der „Ort, an dem […] er die entscheidenden Bildungserlebnisse hat“ (S. 74), als auch der „Ausgangs- und Mittelpunkt seiner weitern [sic] Bildungsfahrten“ (ebd.). Im Vergleich mit anderen literarischen Texten || die Hinweise Enzingers und Tismars auf, bildet die Sentenz ‚Per aspera ad astra‘ aber auf beide Hauptfiguren des Romans ab. Die Mühe, die Gustav von Risach in seine Restaurations- und Kultivierungsarbeiten investiere, stelle „a form of personal restitution for the past“ (ders.: Per aspera ad astra. The Secret Insignia of Stifter’s Nachsommer. In: Publications of the English Goethe Society 59 (1988/89), S. 79–98, hier S. 89) dar: „The very form and order of things in the ‚Rosenhaus‘ are symbols of sacrifice and its rewards“ (ebd.). In diesem Sinne verberge sich in den Namen der beiden Höfe ein Hinweis auf das „central motif of arduous striving towards a higher goal“ (ebd.). Dieses höhere Ziel schließe aber nicht nur Gustav von Risachs und Mathilde Taronas „hard-gained reward of a maturer love“ (ebd.), sondern auch Heinrichs Bestrebungen und die Erfüllung eines „ideal of self-cultivation modelled on Risach, which does not include the error or the pain of the older man’s past“ (ebd.). 9 Herbert Seidler: Die Bedeutung der Mitte in Stifters „Nachsommer“. In: VASILO 6 (1957), Folge 3/4, S. 59–86, hier S. 59. 10 Der Einfachheit halber bezeichne ich die Figur Gustav von Risach im Folgenden auch mit der Kurzform ‚Risach‘ und nicht als ‚von Risach‘.

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kommt Seidler zu dem Schluss, dass es einen „baukünstlerischen Grundsatz mindestens der Romane Stifters“ (S. 78) geben müsse, der ihn von der „Raumstruktur“ (ebd.) anderer bedeutender, deutschsprachiger Bildungsromane unterscheide: „[D]er Held sucht und findet eine räumliche Mitte, in einem Haus verdichtet, von dem aus er in die Welt greift“ (ebd.). Ausführlichen Untersuchungen zur Struktur des Nachsommers legt KlausDetlef Müller die „gehaltliche[n] Intention[en]“ 11 (S. 201) zugrunde, die sich aus den folgenden Bezeichnungen ableiten lassen: „Idylle, Bildungsroman und Utopie“ (ebd.). Da Stifter die „Sonderart der Nachsommer-Welt“ (S. 203) betone, die Wirklichkeit außerhalb dieser Welt aber nicht konturiert beschreibe, könne man den Roman nicht als „reine Utopie“ (ebd.) beschreiben. Die „Gattungsbezeichnung“ (ebd.) der „Idylle“ (ebd.) dränge sich dagegen „geradezu auf“ (ebd.).12 Müller setzt diese Bezeichnung mit der „Nachsommer-Metapher“ (S. 205) in Beziehung, die dem Roman zugrunde liege. Eine solche Lesart werde aber wieder relativiert, wenn man den Nachsommer als Bildungsroman begreife. Müller erläutert anhand von Beispielen, wie die „Vermittlung“ (S. 206) von Bildung an den „Helden“ (ebd.) des Romans „ideologisch, nicht erzählerisch“ (ebd.) erfolgt und stellt ausführlich dar, wie der Text die Familie als „Voraussetzung des Staates und […] Inbegriff der Gesellschaft“ (S. 208) definiert und damit den „eingegrenzten Raum der Idylle“ (S. 209) aufbricht. Bei der Schilderung des „Bildungsgang[s] Heinrich Drendorfs“ (S. 213) komme, so Müller, dem Elternhaus Heinrichs, seinen Reisen und dem „Umgang mit Risach“ (ebd.) als Einflussfaktoren unterschiedliches Gewicht zu. Besonders an den „Rundgängen durch den Asperhof“ (S. 217) und den dabei zum Einsatz kommenden „Aussageformen“ (ebd.) lasse sich ablesen, welche Fortschritte Heinrich bei seiner Integration in die „Nachsommer-Welt“ (ebd.) gemacht habe. Unter Risachs Aufsicht führe der Bildungsgang des Protagonisten „letztlich zur Kunst“ (S. 218) und hier zur „Ineinssetzung des Schönen mit dem Sittlichen“ (ebd.), die sich unter Rückbezug auf die antike Kunst als Idealbild in der Figur Natalie zeige und damit Kunst und Liebe als „die beiden zentralen Bildungsbereiche“ (S. 220) des Textes miteinander verbinde.

|| 11 Klaus-Detlef Müller: Utopie und Bildungsroman. Strukturuntersuchungen zu Stifters ‚Nachsommer‘. In: ZfdPh 90 (1971), S. 199–228, hier S. 201. 12 Zur Problematisierung des Begriffs ‚Gattung‘ im Hinblick auf eine Auseinandersetzung mit dem Nachsommer siehe Anm. 37 in diesem Kapitel.

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Dieter Borchmeyer deutet den Nachsommer als einen Versuch, ein von Staat und Gesellschaft „abgeschirmtes [...] Ausnahmedasein“13 zu konstruieren, das auf einer Verankerung des Individuums in der Familie und dem „Aufbau einer immanent sinnhaften Dingwelt“ (S. 226) beruhe. In diesem Sinne setzt Borchmeyer das „Autonomieprinzip“ (S. 234), das der Entwicklung des Protagonisten Heinrich Drendorf zugrunde liege, in Beziehung zu der Grundvoraussetzung einer „integren Welt der Familie“ (S. 234), in die das Individuum eingebettet sein müsse, um eine gelingende Erziehung zu ermöglichen. Die Ausführungen zum Wesen des Staatsdienstes der Figur Gustav von Risach verbindet Borchmeyer mit Schillers Positionen zur ästhetischen Erziehung des Menschen: Die Subjektivität, die den Künstler in seiner „Insubordination gegenüber gesellschaftlichen Institutionen“ (S. 245) auszeichne, ergänze der Roman aber durch eine Anerkennung der „objektive[n] Regeln“ (ebd.) der Objektwelt, die sich zum einen in Risachs Ausführungen zur ehrfurchtgebietenden Wesenheit der Dinge und zum anderen in der gegenseitigen Liebeserklärung von Heinrich und Natalie ausdrücke. Die hermetische Abgeschlossenheit und Integrität der Familie dagegen werde, so Borchmeyer, im Schlusskapitel des Romans zur „wichtigsten Forderung der Zeit“ (S. 253) erhoben und bilde die einzige Möglichkeit, in der Stifter noch eine „immanent sinnhafte Welt“ (ebd.) imaginieren könne. In einem weiteren Beitrag zeigt Borchmeyer auf, dass die „Idee der Utopie“14 für Interpretationen des Nachsommers immer wieder eine wichtige Rolle gespielt hat und wendet sich gegen Forschungspositionen, die dem Roman in diesem Zusammenhang „retrospektive Züge“ (S. 59) zuschreiben. Stattdessen übertrage der Text „die nachrevolutionären Verhältnisse in die Vergangenheit“ (S. 61). Anhand eines Vergleichs mit Stifters später Erzählung Der fromme Spruch macht Borchmeyer deutlich, wie etwa die „anachronistische Verlegung“ (S. 62) des Abschieds von der Feudalstruktur in die Zeit vor der Revolution von 1848 dazu beitrage, dass der Roman eine „bessere[] G eg en w a r t“ (ebd.; Hervorhebung im Original) konstruiere. Während die „Nachsommerwelt“ (S. 66) als „ausgegrenzt aus der gesellschaftlichen Realität“ (ebd.) erscheine, zeige der Roman durch die „peinlich genaue Begründung der Vermögenslage der Hauptpersonen“ (ebd.), dass diese Ausgrenzung nur über gesellschaftlich vermittelte „Regeln und Lasten“ (ebd.) möglich werde.

|| 13 Dieter Borchmeyer: Ideologie der Familie und ästhetische Gesellschaftskritik in Stifters Nachsommer. In: ZfdPH 99 (1980), S. 226–254, hier S. 226. 14 Dieter Borchmeyer: Stifters Nachsommer – eine restaurative Utopie? In: Poetica 12 (1980), S. 59–82.

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Nachdem die zeitgenössische Kritik den Nachsommer sehr negativ beurteilt hatte, sah Stifter sich veranlasst, seinem Verleger Gustav Heckenast nachträglich die dem Roman zugrundeliegende Konzeption zu erläutern. Peter Uwe Hohendahl setzt diese Ausführungen in Beziehung zu dem Wunsch des Autors, eine ideale „Gegenwelt“15 zur zeitgenössischen Realität zu beschreiben, der wiederum auf Stifters „schockhafte[] Erfahrung der Revolution von 1848“ (S. 336) zurückgehe. Hohendahl liest den Nachsommer als einen „Versuch, mit diesem Schock fertig zu werden“ (ebd.). Stifters nachrevolutionärer Wunsch nach einem „Ordnungsstaat“ (S. 338) habe sich durch den erzwungenen „Verzicht auf politische Wirksamkeit“ (ebd.) in den Bereich des Literarischen verschoben. Vor diesem Hintergrund seien Inhalte des Nachsommers, wie etwa die Binnenerzählung von Risach und Mathilde, der „Bildungsgang Heinrichs“ (S. 340) oder die Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex der Familie als „Teilaspekte des übergreifenden Themas Ordnung“ (ebd.) zu betrachten. Hohendahl ordnet die Beschreibung von Räumen, Landschaften, zeitlichen Abfolgen und ritualisierten Handlungen in diesen Kontext ein und weist darauf hin, dass Stifters Interesse, „erkennbare, übersichtliche Ordnung zu veranschaulichen“ (S. 344), auch an der „sprachlichen Interaktion“ (ebd.) der Figuren des Romans abgelesen werden könne. Die „Bildungsgeschichte“ (S. 349) Heinrichs lasse sich als das „Zuschreiten auf einen objektiven Bildungskosmos“ (ebd.) beschreiben und auf Stifters „Vertrautheit mit dem deutschen Idealismus“ (ebd.) zurückführen. Die in der Stifter-Forschung konträr diskutierte Frage, ob der Nachsommer als Utopie beschrieben werden könne, beantwortet Hohendahl, indem er die „auf verschiedenen Textebenen angesiedelt[en]“ (S. 353) utopischen Elemente des Textes voneinander unterscheidet und zeigt, dass diese „historisch betrachtet, divergenten Epochen angehören“ (ebd.). Die Wirkung des Textes beruhe aber darauf, dass er diese Elemente erfolgreich miteinander verschmelze. Zwischen brieflichen Äußerungen Stifters, welche darauf angelegt seien, die Figur Gustav von Risach „als Angelpunkt des ganzen Werkes“16 zu „etablieren“ (S. 173), und der Rezeption des Nachsommers als „Erziehungs- und Bildungsroman[]“ (ebd.) besteht für Klaus Amann ein „Widerspruch“ (S. 172), den es aufzulösen gelte. In diesem Zusammenhang beschreibt Amann zwei „kon-

|| 15 Peter Uwe Hohendahl: Die gebildete Gemeinschaft. Stifters Nachsommer als Utopie der ästhetischen Erziehung. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp. Bd. 3. Stuttgart 1982, S. 333–356, hier S. 335. 16 Klaus Amann: Zwei Thesen zu Stifters „Nachsommer“. In: VASILO 31 (1982), Folge 3/4, S. 169–184, hier S. 172 f.

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kurrierende Erzählintentionen“ (S. 173) und erkennt eine „Funktionalisierung der Erzählform“ (S. 176), die den Leser zu einer „Einübung genau jene[r] Haltungen“ (ebd.) zwinge, die auch die Figur Heinrich Drendorf einnehmen müsse, um sich als Nachfolger Risachs zu qualifizieren. Die „verhaltensnormierenden und ideologischen Aussagen“ (S. 177) im Nachsommer würden aber nicht im Diskurs begründet, sondern durch das Prinzip der Wiederholung legitimiert, was sich auch auf die erzählerischen Strukturelemente des Textes auswirke. Im Verhältnis zwischen dem erlebenden und dem erzählenden Ich Heinrichs erkennt Amann eine „Anomalie des Erzählens“ (S. 178), die sich als Argument gegen die Auffassung verwenden ließe, „es gehe im ‚Nachsommer‘ um Heinrich‘“ (ebd.). Die Beschreibung der Beziehung zwischen Risach und Mathilde in Gustav von Risachs autobiografischem Rückblick beschreibt Amann als „subtiles Meisterwerk einer negativen Analogie“ (S. 182), deren „normative Negativität“ (ebd.) auf der „normativen Familienmoral des Romans“ (ebd.) beruhe und nur dann überzeugen könne, wenn man diese Moral auch akzeptiere. Andernfalls könne sie durchaus als „positive Alternative“ (ebd.) zur autoritär geprägten „Familienideologie“ (ebd.) der Drendorfs interpretiert werden. Schließlich strafe der unglückliche Fortgang der Binnenhandlung „den ihr unterschobenen Sinn Lügen“ (S. 183). Peter Schäublin liest den Nachsommer als „das Erzeugnis einer Einbildungskraft […], die in ungewöhnlicher Weise vom Bild der Familie okkupiert ist“17. Er vergleicht die Beziehung Heinrich Drendorfs zu dessen Eltern mit der Eltern-Sohn-Beziehung in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre und gewinnt dabei den Eindruck, es sei Stifters Absicht gewesen, „alle familialen Differenzen, die Ungehorsam und Abweichung des Sohns erzeugen könnten, zu vermeiden“ (S. 87). Schäublin analysiert die „Normverstöße“ (S. 92), die in der Binnenhandlung des Romans im Hinblick auf die Beziehung des jungen Gustav von Risach mit Mathilde Makloden geschildert werden, im Detail. Auf diese Weise gelangt er zu einem Deutungsansatz, der es erlaubt, den Nachsommer „nicht allein vom erzählenden Ich aus, sondern auch vom anderen Ende, von Risach her, zu lesen“ (S. 94). Schäublin untersucht die Rolle, die Risach in den Familien des Romans einnimmt und weist darauf hin, dass die patriarchal geprägte Familie Drendorf „nicht einfach als normatives Gegenbild zur Familie der Makloden zu deuten“ (S. 95) sei, sondern eher als ein komplementäres Gegenstück zu der „Summe von Verlusten“ (ebd.) in Risachs Biografie.

|| 17 Peter Schäublin: Familiales in Stifters Nachsommer. In: Adalbert Stifter heute. Londoner Symposium 1983. Hrsg. von Johann Lachinger. Linz 1985, S. 86–100, hier S. 86.

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Das Erzählverhalten des Ich-Erzählers Heinrich Drendorf untersucht Margret Walter-Schneider zunächst aus erkenntniskritischer und ästhetischer Perspektive. Sie kommt zu dem Schluss, dass Stifters Entscheidung, dieser Figur die Rolle des Ich-Erzählers zuzuweisen, nicht allein dem Ziel diene, die „unübertreffliche Wohlerzogenheit“18 (S. 328) Heinrich Drendorfs zu „bezeugen“ (ebd.). Drendorf demonstriere vielmehr „die Grenzen, die grundsätzlich menschlicher Wahrnehmung und menschlichem Sagen gesetzt sind“ (S. 329). Die Wahl eines Ich-Erzählers erlaube es Stifter außerdem, seinem „Kunstideal der Großartigkeit“ (S. 335) zu genügen, denn im Unterschied zu einem Er-Erzähler sei die IchForm ein Garant für die notwendige Distanz, für die „Unbestimmtheit“ (ebd.), welche „Quelle des Eindrucks von Großartigkeit“ (ebd.) sei. Neben Erkenntniskritik und Ästhetik lasse sich aber auch eine „individual-psychologisch[e]“ (ebd.) Komponente zur Deutung von Drendorfs Erzählverhalten heranziehen. Walter-Schneider illustriert in diesem Zusammenhang das „Ausmaß des Stifter eigentümlichen Distanzbedürfnisses“ (ebd.) anhand von dessen Kondolenzschreiben zum Tode der Gattin Gustav Heckenasts. In diesem Schreiben werde dem Tod die Funktion zugeschrieben, „dem Menschen Qualitäten des Kunstwerks“ (S. 341) zu verleihen und ihn aus der Entfernung dauerhaft besitzbar zu machen. In diesem Sinne handele auch der Nachsommer vom „Besitzen auf Distanz“ (S. 342) und erlaube dem Leser Anteilnahme an seiner Handlung „nur als an einem Distanzierten“ (ebd.). Roland Duhamel bescheinigt allen Figuren des Nachsommers die „Bereitschaft, sich erziehen zu lassen“19, und stellt die These auf, dass diese Figuren sich gleichzeitig „auch als Erzieher benehmen“ (S. 151). Gustav von Risach sei aber die „wichtigste Erziehergestalt“ (ebd.), die „einer Art Pädagogik des Wartens“ (ebd.; Hervorhebung im Original) huldige und Heinrich von Drendorf über Gespräche erziehe, die auf dessen Fragen basierten. Duhamel gliedert Heinrichs „Bildungsprozeß“ (S. 153) in zehn Phasen, die er unterschiedlichen „Dingbereiche[n]“ (ebd.) zuordnet. Er bildet Stifters Ordnungsbegriff, der auf dem Prinzip der „Vereinfachung“ (S. 154) beruhe und damit auf die „Ästhetik der deutschen Klassik“ (ebd.) verweise, auf Heinrichs Erziehung durch „naturgegebene[]“ (S. 156) Ordnungsverhältnisse ab. Diese würden von Risach nicht durch Beleh|| 18 Margret Walter-Schneider: Das Unzulängliche ist das Angemessene. Über die Erzählerfigur in Stifters Nachsommer. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 34 (1990), S. 317–342, hier S. 328. 19 Roland Duhamel: Natur und Kunst. Zum didaktischen Konzept von Stifters Nachsommer. In: Adalbert Stifters schrecklich schöne Welt. Beiträge des internationalen Kolloquiums Antwerpen 1993. Eine Kooperation von Germanistische Mitteilungen (Brüssel) 40 (1994) und JASILO 1 (1994), S. 151–168, hier S. 151.

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rungen, sondern durch „Zeigen“ (S. 157; im Original kursiv) vermittelt und von Heinrich durch „Sehen“ (S. 156) erschlossen. Auf demselben Prinzip beruhe auch der erzieherische Aspekt der Kunst im Nachsommer; ihr falle „die didaktische Funktion zu, die Ordnung zeigend zu offenbaren“ (S. 159). Das damit verbundene „Bildungsziel“ (ebd.) bestehe aber darin, „Ruhe oder Selbstbeherrschung durch innere Ordnung“ (ebd.) zu erlangen. Duhamel untersucht die verschiedenen Kunstgattungen in ihrer variierenden Bedeutung für den Nachsommer und beschreibt die autobiografische Binnenerzählung Risachs als „Geschichte eines abschreckenden Beispiels“ (S. 165), die „aus einer langen Reihe von Fehlschlägen“ (S. 166) bestehe. Christian Begemann untersucht im Rahmen seiner Monografie über Stifters ‚Welt der Zeichen‘ auch den Nachsommer und erkennt sowohl in der intrafiktionalen „Welt des Rosenhauses“20 als auch in deren Gestaltung durch den Text „eine einzige grandiose Veranstaltung zur Abwehr und Bearbeitung jener Leidenschaften“ (S. 322), die in der Binnengeschichte das „Lebensglück“ (ebd.) von Gustav von Risach zerstören. In diesem Sinne sei der Roman von der StifterForschung zu Recht immer wieder vor dem Hintergrund seiner Ausgestaltung als „Utopie und – allerdings weniger ausgeprägt – Idylle“ (S. 323, Anm. 25) untersucht worden. In den Anstrengungen, die Gustav von Risach betreibt, um die Natur von Rosenhaus und Asperhof zu kultivieren, sieht Begemann „die Präsenz des Subjekts inmitten der Vorkehrungen zu seiner Abschaffung“ (S. 347). In einem später erschienen, einführenden Beitrag zum Nachsommer zählt Begemann Stifters Revolutionserfahrung von 1848 zu den „Ursprüngen des Romans“21, dessen „pädagogischer Impuls“ (ebd.) auf derselben Überzeugung beruhe wie Stifters Aufnahme einer Tätigkeit als Schulrat: Das Individuum sei „allererst zu vervollkommnen, alles weitere werde sich dann ergeben“ (ebd.). Begemann beschreibt Eigenschaften des Textes, die den Nachsommer an der Schwelle zur literarischen Moderne platzieren und analysiert die Rolle, welche die Kunst für Heinrich Drendorfs „Bildungsprozess[]“ (S. 217) spielt. Das gänzliche Fehlen von „Abweichungen und Verirrungen“ (S. 219) in diesem Prozess unterscheide den Text von „allen anderen Entwicklungsgeschichten des 18. und 19. Jahrhunderts“ (S. 219).

|| 20 Begemann: Die Welt der Zeichen (siehe Kap. 1, Anm. 39), S. 322 (zum Nachsommer vgl. ebd., S. 321–350). 21 Begemann: Adalbert Stifter: Der Nachsommer (siehe Anm. 2 in diesem Kapitel), S. 205.

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Die in den Texten Stifters „notorisch wiederholten Handlungsmuster“22, die sich um Übergaben von Besitz, um Verträge, Erbschaften und Überlieferungen drehen, setzt Cornelia Blasberg in Beziehung mit der Unabgeschlossenheit dieser Texte, die sich im Werkzusammenhang „durch ihren Rekurs auf zitierte Vorlagen [konstituieren und legitimieren]“ (S. 10) und somit „zum Schauplatz literarischer Traditionsbildung avancieren“ (ebd.). In diesem Zusammenhang untersucht Blasberg neben Stifters Lesebuch zur Förderung humaner Bildung eine Reihe von literarischen Texten Stifters, so auch den Nachsommer, den sie „nicht, wie üblich, als Bildungs-, sondern als Traditionsroman“ (S. 331) deutet. Diese Lesart veranschaulicht Blasberg aus drei unterschiedlichen Perspektiven. Zum ersten fragt sie danach, wie der „Traditionsdiskurs“ (ebd.) die Gestaltung des Romans beeinflusst hat und stellt die These auf, dass der Nachsommer schon deswegen nicht als Bildungsroman bezeichnet werden könne, weil es dem Text an einer „distinkten Bildungsidee“ (S. 340) fehle. Zum zweiten interpretiert Blasberg die „Tätigkeit und Gesellungsform“ (S. 332) der Figuren des Nachsommers vor dem Hintergrund des „Konzept[s] der ‚Gemeinde‘ aus Hegels Geschichtsphilosophie und de[s] katholischen Traditionsdiskurs[es] des frühen 19. Jahrhunderts“ (ebd.). Die „Rosenhausbewohner“ (S. 346) erschienen als „verschworene ‚Gemeinde‘“ (ebd.), die sich der Aneignung verschiedener Kunstformen verschrieben habe und ihre „Struktur- und Funktionsbestimmung“ (S. 347) Hegels Vorlesungen über die Ästhetik verdanke. Zum dritten schließlich beschreibt Blasberg den Nachsommer als „literarisches Überlieferungsmedium“ (S. 332) für ebenfalls literarische Prätexte. Während es nicht möglich sei, „die Bedeutungskonstitution des Romans durch die sich permanent wiederrufenden und austauschenden literarischen Prätexte vollständig nachzuzeichnen“ (S. 361) – Blasberg beschreibt in diesem Zusammenhang die Erzählfunktion zweier prominenter Prätexte des Nachsommers, Homers Odyssee und Shakespeares King Lear –, erweise der Stoff von Tristan und Isolde sich als besonders auffällige „literarische[] Traditionsspur“ (S. 365). In der Zeit nach der Revolution von 1848 standen Stifter zunächst nur eingeschränkte Publikationsmöglichkeiten zur Verfügung. Dies ist einer der Gründe, so Walter Hettche in einem Beitrag zum Nachsommer,23 warum sich der Roman in einem Zeitraum von mehreren Jahren von einer Almanach-Erzählung über einen für die Bunten Steine geplanten Text zu einem dreibändigen Roman entwickelte. Im Unterschied zu Stifters über Jahrzehnte andauernden Beschäfti-

|| 22 Blasberg: Erschriebene Tradition (siehe Kap. 1, Anm. 40), S. 10 (zum Nachsommer vgl. ebd., S. 329–371). 23 Hettche: „Dichten“ oder „Machen“? (siehe Kap. 1, Anm. 68).

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gung mit dem Text Die Mappe meines Urgroßvaters habe während der Arbeit am Nachsommer „noch das Ideal der Vollendung, das Streben nach einem makellosen Kunstwerk [dominiert]“ (S. 78). Anhand einer Handschrift von 1855 und deren Überarbeitung lasse sich nachvollziehen, dass Stifter vor der Veröffentlichung des Textes intensiv an der „Herausbildung einer neutralen Erzählhaltung“ (S. 79) gearbeitet habe. Hettche widerspricht Forschungsbeiträgen, die dem Roman etwa über die Gleichsetzung von Orten in der „außerliterarische[n] Realität“ (S. 82) mit fiktiven Orten des Romans eine „autobiographische[] Komponente“ (ebd.) zuschrieben, zeigt aber anhand mehrerer Beispiele aus Stifters Arbeitsnotizen, dass der Autor sich „weitgehend mit seinem Ich-Erzähler Heinrich Drendorf“ (S. 83) identifiziert habe. Aufgrund dieser Anmerkungen lasse sich der Roman auch als „private[] Utopie“ (ebd.) des Autors im Sinne eines „alternativen Lebensentwurfs“ (ebd.) deuten. Als „Sprachkunstwerk“24, das sowohl in der europäischen als auch in der deutschsprachigen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts eine Sonderstellung einnehme, bewertet Johann Lachinger den Nachsommer. Er setzt die Aussagen, mit denen Stifter gegenüber seinem Verleger eine nachträgliche „Rechtfertigung und Verteidigung seines ästhetischen Konzepts“ (S. 98) vorzunehmen suchte, in Beziehung mit der Ästhetik des „klassischen und späten Goethe“ (S. 99) und dessen Konzeption von „Idealtypen“ (ebd.) in Anlehnung an die klassizistischen Positionen Winckelmanns. In diesem Zusammenhang sei der „Bildungsweg“ (ebd.) Heinrich Drendorfs als stufenweise Annäherung an die „Erkenntnis der Schönheit“ (ebd.) zu betrachten. Diese finde in einem „Welt-Szenario“ (S. 100) statt, dass nur „in der poetischen Konstruktion als Utopie“ (ebd.) existieren könne. Mathias Mayer liest den Text vornehmlich als „soziale Utopie“25 im Sinne eines „bipolaren Generationenvertrages“ (S. 153). Im Verzicht des Romans auf die Anwendung einer „psychologischen Innenschau“ (S. 157) sieht Mayer eine Annäherung an das Epos. Er untermauert diese These, indem er das Nibelungenlied sowie Goethes Hermann und Dorothea als mögliche Intertexte des Nachsommers beschreibt. Für eine Einordnung des Textes genügten aber, so Mayer, die „Kategorien Roman, Utopie und Epos“ (S. 158) nicht; auch die „Kategorie des Idyllischen“ (ebd.) müsse herangezogen werden. Hier stehe der „Vermutung des harmlos Idyllisierten“ (ebd.) die Beobachtung entgegen, dass der Text

|| 24 Johann Lachinger: Adalbert Stifters Nachsommer. Ein singuläres episches Werk. In: Hettche u. a. (Hrsg.): Stifter-Studien, S. 97–100, hier S. 97. 25 Mayer: Adalbert Stifter (siehe Kap. 3, Anm. 131), S. 153 (zum Nachsommer vgl. ebd., S. 145– 170).

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stets thematisiere, welcher Preis für die Herstellung einer idyllischen Welt zu bezahlen sei. Mayer untersucht die Erzählfunktionen von zwei zentralen Symbolen des Romans – den Rosen, die eine Wand von Gustav von Risachs Haus bedecken, sowie der weißen Marmorstatue im Inneren dieses Hauses – und geht ausführlich auf die Rolle der Kunst in Heinrich Drendorfs Entwicklung ein. In ihrer Studie zum Bürgerlichen Realismus deutet Sabina Becker den „ganz im Einvernehmen zwischen Ich und Welt“26 verlaufenden „Bildungsgang“ (S. 204) Heinrich Drendorfs als Prozess, in dem das „Subjekt seine Bedürfnisse in Angleichung an die Belange der Gesellschaft [...] formuliert“ (ebd., S. 204 f.). Der Nachsommer habe allerdings mit „allen anderen Romanen des Bürgerlichen Realismus“ (S. 205) gemeinsam, dass die sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche der Gegenwart programmatisch und vor dem Hintergrund eines poetologisch begründeten „Verklärungsprinzip[s]“ (ebd.) ausgeblendet würden. Becker beschreibt die Welt des Rosenhauses im Hinblick auf Disziplinierungsstrategien und Ordnungsbestrebungen, die sich sowohl im Prozess der „Bändigung der Natur“ (S. 206) als auch in der allgegenwärtigen Ausrichtung der Bewohner der Rosenhauswelt auf „Maßhalten und Mäßigung, auf Selbstdisziplin und Selbstdisziplinierung, auf Anpassung und Sich-Einfügen“ (ebd.) manifestiere. Das „Motiv[] Kunst“ (S. 207) sei im Nachsommer weder als romantisches Erbe noch als Auseinandersetzung mit dem Künstler als „genialische[m]“ Schöpfer zu deuten, sondern im Hinblick auf die Restauration des „zu bewahrende[n] Alte[n]“ (ebd.). In diesem Zusammenhang deutet Becker die „Lebenswelt“ (S. 209) des Rosenhauses als „bewusste[n] Reflex“ (ebd.) eines Bürgertums, das sich angesichts der „als Bedrohung erfahrenen Realität“ (ebd.) zurückziehe. Auch im Hinblick auf das Motiv der Liebe weise der Nachsommer große „Unterschiede zum romantischen Bildungskonzept“ (S. 210) auf. Durch eine strikte Einbettung in die „Institutionen Ehe und Familie“ (ebd.) werde die Liebe von aller Leidenschaft befreit und orientiere sich an „Ethik und Moral des Bürgertums“ (ebd.). Bildung schließlich erscheine im Roman als Prozess, der das Individuum erkennen lasse, dass es seine eigenen Bedürfnisse der „unbedingten gesellschaftlichen Ordnung“ (S. 211) zu unterstellen habe. Becker wendet sich gegen eine Lesart, die den Nachsommer als „verweisungsloses Kunstprodukt eines ästhetisierenden Formalisten“ (S. 213) deutet, indem sie den Text sowohl als „Auseinandersetzung mit den literarischen Tendenzen um 1848“ (ebd.) beschreibt als auch in gesellschaftliche und ökonomische Kontexte der nachrevolutionären Gesellschaft einordnet. || 26 Becker: Bürgerlicher Realismus (siehe Kap. 1, Anm. 20), S. 204 (zum Nachsommer vgl. ebd., S. 204–217).

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In einem späteren Beitrag liest Becker den Nachsommer als das „Psychogramm eines auf Ordnung, Halt und Stabilität angewiesenen Autors“27. Da Stifters Biografie einen ausgeprägten „Hang zum Pathologischen“ (S. 315) aufweise, erhalte insbesondere die „klinische Utopie“ (S. 317) des Romans den Charakter einer „sublimatorischen Ordnungsphantasie“ (S. 318), die der „verfahrenen Situation und [...] bedrückenden Atmosphäre“ (S. 318) von Stifters Leben und Alltag entgegengesetzt sei. In dieser Ordnungsphantasie erhalte die Ausgrenzung von Leidenschaften und die Reglementierung von Beziehungen durch die bürgerlichen Institutionen von Ehe und Familie eine besondere Bedeutung. Anhand des Ich-Erzählers Heinrich Drendorf und anderer Figuren des Romans demonstriere Stifter im Nachsommer, wie „Emotionen, Affekte und Triebe [...] in Ordnung überführt werden“ (S. 321). Während der Nachsommer nicht auf den Charakter einer „Krankengeschichte eines im Leben Ordnung Suchenden“ (S. 322) reduziert werden dürfe, stelle sich trotzdem die Frage nach der „Legitimität“ (ebd.) einer solchen „Funktionalisierung“ (ebd.) von Literatur, die durch den „Verzicht auf eine soziale Dimension“ (ebd.) artifiziell bleibe. Becker stellt die „Tabuisierung emotionalen Verhaltens und unkontrollierter Handlungen“ (S. 326), die den Nachsommer präge, in den historischen Kontext der „Wiederherstellung der alten Ordnung“ (S. 327, Anm. 38) als Reaktion auf die Revolution von 1848. Der Aussparung von Emotionen im Roman stehe die Betonung von Räumen gegenüber, die sowohl „als zeitliche Abläufe wie auch als örtliche Zustände“ (S. 333) verstanden werden könnten und primär der „Herstellung von Ordnung“ (S. 334) dienten. Den Figuren der Rosenhauswelt gelinge es im Unterschied zu den „Menschen in der zeitgenössischen Realität der 1850er und 1860er Jahre“ (S. 337), sich über Langsamkeit und Statik stets im Raum zu orientieren und so die „Aneignung von Realität“ (ebd.) zu vollziehen. Die „Vorzeichen der Ordnung“28, unter denen die Gestaltung von Haus und Besitz der Figur Gustav von Risach stehen, hebt Günter Saße hervor. Er verweist auf die Kompatibilität, die zwischen der „diffuse[n] Innenwelt“ (S. 216) des Protagonisten Heinrich Drendorf und den Ordnungssystemen des Asperhofes von Anfang an bestehe. Anschließend nimmt er die Binnenerzählung Risachs als „das geheime Gravitationszentrum des ganzen Romans“ (S. 218) in den Blick und beschreibt die heimliche und letztendlich scheiternde Beziehung zwischen dem jungen Risach und Mathilde Makloden als Verstoß gegen die „Ordnungsgebote der Familie“ (S. 225). Im Unterschied dazu verweist Saße auf die Kon-

|| 27 Becker: Nachsommerliche Sublimationsrituale (siehe Anm. 3 in diesem Kapitel), S. 315. 28 Günter Saße: Familie als Traum und Trauma. Adalbert Stifters Nachsommer. In: Becker/Grätz (Hrsg.): Ordnung – Raum – Ritual, S. 211–233, hier S. 212.

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fliktlosigkeit „zwischen Liebe und Familie“ (S. 229), die sich in der vom „Willen der Eltern“ (ebd.) sanktionierten Beziehung zwischen Heinrich Drendorf und Natalie Tarona zeige und untersucht die familiäre Konstellation, die aus der Eheschließung der beiden entsteht. Katharina Grätz beschreibt einen Forschungskonsens, demzufolge Stifter im Nachsommer im Hinblick auf die Darstellung antiker Kunst „traditionelle ästhetische Positionen aufruft“29. Trotzdem lohne es sich, Stifters diesbezügliche Darstellungsverfahren zu untersuchen, denn der Roman entwerfe im Zeichen des Historismus eine „groß angelegte[] museale[] Rettungsanstalt, welche Kunst der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft bewahren“ (S. 218) solle. Grätz arbeitet die Parallelen zwischen zwei Figuren, Heinrich Drendorfs Vater und Gustav von Risach, sowohl über deren „Wertvorstellungen“ (S. 222) und „Gedanken zur Geschichte der Kunst“ (ebd.) als auch über die konkurrierenden, aber letztendlich an Inhalt ebenbürtigen Kunstsammlungen beider Männer heraus. In Risachs „Anliegen, durch die Restaurierungstätigkeit zukünftige künstlerische Produktivität anzuregen“ (S. 226), erkennt sie die „im Historismus vorherrschende Überzeugung“ (S. 227), dass das „als wertvoll erkannte historische Erbe einen Ausweg aus einer künstlerisch unfruchtbaren Übergangszeit“ (S. 227, Anm. 25) aufzeigen könne. Grätz untersucht ein „Darstellungsproblem“ (S. 231) des Textes, das in der Unmöglichkeit bestehe, die „Evidenz des Schönen“ (ebd.) in literarischen Texten „unmittelbar mitzuteilen“ (ebd.). Der Figur Heinrich Drendorf komme in diesem Zusammenhang die Funktion eines „Medium[s]“ (ebd.) zu, durch das die „Wirkung des Schönen bezeugt“ (ebd.) werde. Die Wirkung der Statue im Haus Gustav von Risachs und der geschnittenen Steine aus der Kunstsammlung von Heinrichs Vater führe durch die Wiedererkennung antiker Eigenschaften in den „Gesichtszüge[n] der Asperhofbewohner“ (S. 233) zu einer „Verschränkung von gegenwärtigem Dasein und antiker Kunst“ (ebd.) und hebe „die Grenze zwischen lebenden Menschen und Objekten auf“ (S. 234). Mit Wielands Geschichte des Agathon und Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre verbinde den Nachsommer die Eigenschaft, so Cornelia Zumbusch, dass er eine als Analepse eingefügte Vorgeschichte erzähle.30 Zumbusch beschreibt in diesem Zusammenhang ein „Prinzip der traurigen Wiedererkennung“ (S. 267) und erkennt in den Romanen von Goethe und Stifter darüber hinaus eine „neue narrative Form“ (ebd.), in der sich „Projekt und Krise einer Geschichtsdynamik

|| 29 Grätz: Evidenz des Musealen (siehe Kap. 2, Anm. 47), S. 218. 30 Cornelia Zumbusch: Nachgetragene Ursprünge. Vorgeschichten im Roman (Wieland, Goethe, Stifter). In: Poetica 43 (2011), S. 267–299.

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[artikulieren], die gerade erst Geschehenes permanent in ein für allemal Abgelegtes verwandelt“ (S. 271). Den Übergang von einer „biologischen in die soziale Familie“ (S. 290), der sich ähnlich auch in Wilhelm Meisters Lehrjahre nachweisen lasse, buchstabiere Stifter im Nachsommer „aufs Genaueste aus“ (ebd.). Zumbusch analysiert die komplementäre Anlage der beiden Liebesgeschichten im Nachsommer und beschreibt ein „Gesetz der Retardation“ (S. 295), dem sowohl die Entwicklung der Beziehung zwischen Heinrich und Natalie als auch das „Erzählverfahren“ (ebd.) des Textes selbst folge. Die Abweichung von der Chronologie, die mit dem verzögernden Erzählen einhergehe, sei aber weniger als Zeichen von Rückwärtsgewandtheit zu deuten, sondern ziele vielmehr darauf ab, die „Zeitregie“ (S. 296) wiederzugewinnen, den „Bruch zwischen Altem und Neuem zu heilen und die Welten von Vätern und Söhnen in einem kontrollierten Progreß aneinander zu binden“ (ebd.). Michael Gamper schließlich setzt Heinrich Drendorfs konfliktfreien, „lineare[n] Bildungsgang“31 in Beziehung zu Wilhelm von Humboldts „Bildungskonzept“ (S. 172), in dem er eine „‚Theoriewende‘ vom Philanthropismus zum Neuhumanismus“ (ebd.) erkennt. Die Welt des Asperhofs beschreibt er in diesem Zusammenhang als „künstlich geschaffene Infrastruktur“ (S. 173), deren Einsatz angesichts „einer als humaner Bildung feindlich gegenüberstehend wahrgenommenen gesellschaftlichen Umwelt“ (ebd.) notwendig werde. Gamper weist „zentrale Momente des Experiments“ (S. 179) in „Anlage und […] selbstreflexive[n] Passagen“ (ebd.) des Romans nach und führt die im Text vorgenommene Organisation von Bildung als „Versuch“ (S. 180) vor allem auf die kritische Einstellung zurück, welche die Hauptfiguren gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit einnähmen; diese erscheine als „bildungsfeindlich gewordene Welt“ (S. 182). Die „Disposition der Experimentalität“ (ebd.), die den Roman über weite Strecken präge, lasse sich aber nicht nur auf der Ebene der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch an den „mikrostrukturellen Praktiken der fiktionalen Subjekte“ (ebd.) erkennen, namentlich an deren reger Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen und Versuchsanordnungen, die „wesentlicher Teil der Grundausbildung der Zöglinge“ (S. 183) sei. Gamper beschreibt abschließend die bildende Funktion der Kunst, die im Unterschied zu Humboldts Bildungskonzept vor allem darauf beruhe, durch die „versu-

|| 31 Michael Gamper: „Ich versuchte wieder und immer wieder“: Experimentalität der Bildung in Adalbert Stifters Der Nachsommer. In: Experimentalanordnungen der Bildung. Exteriorität – Theatralität – Literarizität. Hrsg. von Bettine Menke und Thomas Glaser. Paderborn 2014, S. 171–186, hier S. 171.

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chende Praktik des Bildens“ (S. 185) die „Entfremdung zwischen dem Menschen und den Dingen“ (ebd.) aufzuheben.

7.2 Ein komplexes Konstrukt Meine zu Beginn dieses Kapitels formulierte Hypothese, dass sich zentrale Vorstellungsmuster, die Bestandteil des topischen Bauplans von Adalbert Stifters erzählter Welt sind, im Nachsommer in besonderer Deutlichkeit ausprägen, wird im Folgenden durch eine detaillierte Analyse des Textes zu belegen sein. Sie kann aber zunächst einmal durch den Befund gestützt werden, dass der Text eine „Zentralstellung im Werk“32 des Autors einnimmt und somit in besonderer Weise dafür prädestiniert ist, topische Inhalte aus früheren Werkphasen aufzunehmen und diese dann ins Spätwerk weiterzugeben. Eine erste Vorstufe des Romans, die Erzählung Der alte Hofmeister, entstand bereits zwischen 1847 und 1849, also in einem Zeitraum, der zwischen der Publikation der Studien und der Arbeit an der Erzählsammlung Bunte Steine liegt. In diese Erzählsammlung wollte Stifter den unveröffentlichten Text der Erzählung zunächst eingliedern, änderte seine Pläne aber zu Beginn des Jahres 1852, während er mit der Reinschrift der Erzählungen beschäftigt war, und erklärte gegenüber seinem Verleger: „Der alte Vogelfänger […] wird ein s elb s ts t ä n d i g es Buch, paßt in die Jugendschriften [gemeint sind die Bunten Steine; H. A.] nicht“33. Die Voraussetzungen dafür, dass Vorstellungsmuster, deren Ausprägungen in den bisher untersuchten Texten nachgewiesen werden konnten, auch Eingang in den Nachsommer gefunden haben, sind also günstig. Tatsächlich lässt sich die bereits angesprochene Zentralstellung des Textes durch seine „Reflexionsqualität“34 begründen: So wurde am Beispiel einer weiteren Erzählung aus dem Frühwerk, Brigitta, deren Buchfassung 1847 im vierten Band der Studien erschien, in der Forschung schon mehrfach gezeigt, wie der Nachsommer Inhalte aus früheren Werkphasen rezipiert.35 Über Brigitta hinausgehend lassen sich aber weitere Beispiele für diesen Sachverhalt anführen.36

|| 32 Blasberg: Erschriebene Tradition, S. 330. 33 Stifter an Heckenast, 3. Februar 1852 (PRA 18, S. 104–106, hier S. 106; Hervorhebung im Original). Vgl. Hettche: „Dichten“ oder „Machen“?, S. 75. 34 Blasberg: Erschriebene Tradition, S. 330. 35 Martin und Erika Swales beschreiben den Nachsommer als „essentially an intensified version, a ‘Steigerung’, of Brigitta“ (dies.: Adalbert Stifter (siehe Kap. 3, Anm. 267), S. 107). Christian Begemann erkennt „innerhalb des elaborierten Apparats von Desubjektivierungsstrategien“ (ders.: Die Welt der Zeichen, S. 348) im Nachsommer eine „Wiederkehr von Ichstrukturen […],

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Auch in diesem Kapitel soll es aber nicht um die topische Gestaltung des Romans Der Nachsommer im Allgemeinen gehen, sondern um die Frage, welche Topoi sich bei der Beschreibung von Bildungsgängen ausgeprägt und an die Figuren des Romans angelagert haben. In diesem Zusammenhang muss die in der Forschung kontrovers diskutierte Frage, ob der Nachsommer als Bildungsroman bezeichnet werden kann,37 berücksichtigt werden.38 Schon bei einer ers-

|| wie man sie bereits aus ‚Brigitta‘ kennt“ (ebd.), und führt aus, wie „die narzißtischen Impulse des Frühwerks in umgepolter, transformierter und verschwiegener Form weiterleben. Es sind die Metaphern und Strukturen, die dies zur Erscheinung bringen. […] In Stifters Textstrukturen geht gewissermaßen nichts verloren“ (ebd., S. 349). Vgl. auch Gunter H. Hertling: Adalbert Stifters Brigitta (1843) als Vor-„Studie“ zur „Erzählung“ seiner Reife Der Nachsommer (1857). In: JASILO 9/10 (2002/2003), S. 19–54. 36 Vgl. Blasberg: Erschriebene Tradition, S. 329 f. Blasberg nennt hier die folgenden Beispiele: Die Mappe meines Urgroßvaters, Brigitta, Zwei Schwestern, Der Hagestolz und Kalkstein (vgl. ebd., S. 330, Anm. 6). 37 In diesem Zusammenhang ist in der einschlägigen Forschungsliteratur häufig von der ‚Gattung‘ des Bildungsromans die Rede. Diese Begriffswahl erscheint angesichts des breiten Definitionsspektrums des Begriffs ‚Gattung‘ grundsätzlich gerechtfertigt (vgl. Klaus W. Hempfer: Gattung [Art.]. In: RLW, Bd. 1, S. 651–655). So wählt auch Jürgen Jacobs in einem einschlägigen Artikel zwar zunächst die Definition „Großform erzählender Prosa“ (ders.: Bildungsroman [Art.]. In: RLW, Bd. 1, S. 230–233, hier S. 230), bezeichnet den Bildungsroman aber ebenfalls mehrfach als „Gattung“ (ebd., S. 230 und passim). Im Hinblick auf eine Auseinandersetzung mit dem Nachsommer kommen jedoch weitere Begriffe wie ‚Utopie‘ und ‚Idylle‘ ins Spiel, die sich ebenfalls unter Verwendung des Oberbegriffs ‚Gattung‘ definieren lassen (vgl. Günter Häntzschel: Idylle [Art.]. In: RLW, Bd. 2, S. 122–125 und Hans-Edwin Friedrich: Utopie [Art.]. In: RLW, Bd. 3, S. 739–743) und in der Forschungsliteratur zum Nachsommer auch so verwendet werden (vgl. Müller: Utopie und Bildungsroman, S. 201). Angesichts dieser Komplexität ziehe ich mich in meinen eigenen Formulierungen auf den neutraleren Begriff der ‚literarischen Form‘ zurück. 38 Vgl. exemplarisch die folgenden Forschungspositionen: Aus der Sicht von Peter Uwe Hohendahl „sprechen gute Gründe“ (ders.: Die gebildete Gemeinschaft, S. 338) dafür, den Nachsommer als Bildungsroman zu bezeichnen, denn im Text werde „eine Handlung entworfen, durch die der formale Held des Romans […] schrittweise seine Bildung vollzieht“ (ebd.). Mathias Mayer dagegen hält diese „traditionelle Etikettierung“ (ders.: Adalbert Stifter, S. 152) für „anfechtbar“ (ebd.), weil der Protagonist des Romans im Verlauf seiner Entwicklung keine „einseitige[n] Hilfestellungen“ (ebd., S. 152) erhalte, sondern sich mit Gustav von Risach in eine „idealisierte Zweiseitigkeit“ (ebd.) begebe; der Text sei deshalb eher als „sozialer Roman“ (ebd.) einzustufen. Cornelia Blasberg schlägt, wie oben schon erwähnt, vor, den Nachsommer als „Traditionsroman“ (dies.: Erschriebene Tradition, S. 341) zu bezeichnen; diese Lesart sei „die einzige, die neben Geschichtsphilosophie, Kunstverständnis und Didaktik den merkwürdigen Subjektstatus der Protagonisten zu klären“ (ebd.) vermöge. Roland Duhamel hält den Begriff des Bildungsromans für „die wohl gebräuchlichste Gattungsbezeichnung“ (ders.: Natur und Kunst, S. 151), die auf das „Erziehungsprotokoll“ (ebd.) Heinrich Drendorfs Anwendung

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ten Lektüre des Textes ergibt sich der offensichtliche Befund, dass Heinrich Drendorf, vergleicht man diese Figur etwa mit „dem Agathon und dem Wilhelm Meister als den frühen Paradigmata der Gattung“39, sicher nicht vor existenzielle Herausforderungen gestellt wird und auch nicht, wie die Protagonisten anderer Bildungsromane, „durch Krisen zur Selbstfindung und tätigen Integration in die Gesellschaft“40 finden muss.41 Auch das Motiv der „Trennung von der Familie“42

|| finde, und hält den Roman für den „reinsten Typus“ (ebd.) dieser literarischen Form. Christian Begemann gesteht zu, dass der Nachsommer „vielleicht der e i n z i g e wirkliche Bildungsroman der deutschen Literatur“ (ders.: Adalbert Stifter: Der Nachsommer, S. 215; Hervorhebung im Original) sei, hält aber „Zweifel, ob es diese Gattung überhaupt gibt“ (ebd.), für „unvermeidlich“ (ebd.). Der Roman weise einen „Schönheitsfehler“ (ebd.) auf: „Das Subjekt solcher Bildung ist nicht nur klammheimlich, sondern geradezu programmatisch abhanden gekommen“ (ebd.). Sabina Becker beschreibt den Nachsommer als einen „Bildungsroman in der Nachfolge von Goethes Wilhelm Meister“ (dies.: Bürgerlicher Realismus, S. 205); beide Texte verbinde die „Idee der allseitigen Ausbildung des Individuums durch Natur und Kunst“ (ebd.). Stifters Text biete allerdings ein „um den Punkt Natur erweitert[es] [Repertoire]“ (ebd.) auf, welches „enzyklopädisch das Inventar der bürgerlichen Epoche“ (ebd.) repräsentiere. Die Auseinandersetzung mit der Natur ziele hier vor allem auf „Disziplinierungsphantasien, [...] Ordnung und Zucht“ (ebd.) ab. Markus Wilczek schließlich schlägt vor, den alternativen Begriff der „Bildungserzählung“ (ders.: Jenseits der Reife. Zu Bildung und Nachhaltigkeit bei Stifter. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 109 (2017), Nr. 3, S. 369–390, hier S. 370) in Anwendung zu bringen und untersucht den Nachsommer (sowie Brigitta) vor dem Hintergrund eines „Modell[s] der Nachhaltigkeit“ (ebd.), welches „im Kontrast zum Modell der Reifung eine langfristige und überindividuelle Temporalität zu denken erlaubt“ (ebd., S. 370 f.). Wilczek begreift Nachhaltigkeit als „Formprinzip“ (ebd., S. 375), dass sich sowohl im Zusammenhang mit der „Kultivierung der Natur durch die Landwirtschaft“ (ebd., S. 380) als auch im Hinblick auf die „Kultivierung des Menschen durch die bildende Kunst“ (ebd.) auspräge und den „Determinismus von Heinrichs Bildungsweg konterkariert“ (ebd., S. 383). 39 Hohendahl: Die gebildete Gemeinschaft, S. 339. 40 Jacobs: Bildungsroman, S. 230. Klaus Amann bemerkt in diesem Zusammenhang, dass „im ‚Nachsommer‘ der Bildungsprozeß […] nicht wie bei Wilhelm Meister oder Heinrich Lee in der Figur des Konflikts mit und der Opposition zu mehr oder minder kontingenten und riskanten Wirklichkeiten und komplexen Erfahrungsbereichen erfolgt, sondern in der Form der bloßen Erkenntnis und des differenzlosen Nachvollzugs apriori vorhandender Verhaltensnormen und Werksysteme“ (ders.: Zwei Thesen, S. 180). Michael Gamper betont, „dass der Bildungsverlauf Heinrich Drendorfs gerade im Vergleich zu solchen von anderen Protagonisten des klassischen Bildungsromans […] geradezu friktionslos, ohne äußere Störungen und Eingriffe, zu verlaufen scheint“ (ders.: „Ich versuchte wieder und immer wieder“, S. 171). 41 Vgl. Begemann: Adalbert Stifter: Der Nachsommer, S. 219: „Im Gegensatz zu allen anderen Entwicklungsgeschichten des 18. und 19. Jahrhunderts ist Heinrichs Weg frei von allen Abweichungen und Verirrungen.“ Begemann führt diese Beobachtung darauf zurück, dass Heinrich „ein Musterknabe, eine ‚Un-Person‘, ein reines Kunstprodukt“ (ebd.) sei und „keine Leidenschaften, keine falschen Anlagen, nichts, was in einem Entwicklungsgang abgeschliffen wer-

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interpretiert der Nachsommer in einer Weise, die für den Bildungsroman untypisch ist, denn Heinrichs Forschungsreisen haben nicht den Charakter einer Trennung auf unbestimmte Zeit, die für seine Sozialisation eine maßgebliche Rolle spielt.43 Stattdessen führen sie ihn in schöner Regelmäßigkeit zurück in sein Elternhaus, wo er die kalte Jahreszeit in harmonischem Zusammenleben mit Eltern und Schwester verbringt. Es wäre allerdings ein Fehler, sich von der Eigenwilligkeit, mit der im Nachsommer Konventionen des Bildungsromans interpretiert oder sogar verabschiedet werden, den Blick auf zwei entscheidende Eigenschaften dieser literarischen Form verstellen zu lassen, denen er eben doch vollends genügt: Hier handelt es sich zum einen um den maßgeblichen „Prozeß des Bildungsgangs“44 und zum anderen um die „Vorstellung, daß der Held der Geschichte am Ende als durch seine Erfahrungen ‚gebildet‘, also geistig gereift und gesellschaftlich geformt erscheinen soll“45. Ob der Nachsommer vor diesem Hintergrund nun mit Fug und Recht als Bildungsroman bezeichnet werden kann, wird auch an dieser Stelle nicht entschieden werden. Nicht abstreiten lässt sich aber, dass sich der Protagonist des Romans in dem Moment, als sich der vergitterte Torflügel des Asperhofes zum ersten Mal hinter ihm schließt und Gustav von Risach ankündigt, er wolle sein „Führer sein“ (Ns1, S. 52), auf einen Bildungsgang begibt, auf diesem „schrittweise seine Bildung vollzieht“46 und „am Schluß der Handlung als ein gebildeter Mensch vor uns steht.“47 Meine zusammenfassende Darstellung von Forschungspositionen zum Nachsommer hat allerdings bereits gezeigt, dass der eine oder andere Interpret

|| den müßte“ (ebd.), aufweise. Daraus folge, dass „Heinrichs Weg“ (ebd.) – Begemann spricht einige Seiten vorher von einem ‚Bildungsweg‘, setzt den Begriff aber in modalisierende Anführungszeichen (vgl. ebd. S. 215) – vorherbestimmt sei und ihn an zuvor festgelegten Stationen „mit Sicherheit ankommen“ (ebd., S. 219) lasse. 42 Hohendahl: Die gebildete Gemeinschaft, S. 339. 43 Vgl. ebd. Sabina Becker führt den Befund, dass im Nachsommer „das Moment der Bildung […] nicht mehr, wie im klassischen Bildungsroman, mit dem Motiv des Reisens verbunden werden muss“ (dies.: Bürgerlicher Realismus, S. 212), auf das „autoritäre[] Konzept“ (ebd., S. 211) zurück, das der „Durchsetzung bürgerlicher Lebensprinzipien“ (ebd.) in der Welt des Rosenhauses zugrunde liege. Diese stelle einen „autoritär strukturierten und verfahrenden Kosmos“ (ebd.) dar, „in dem Werte wie individuelle Selbstverwirklichung und der Wunsch nach dem Subjektiven […] ausgegrenzt bleiben“ (ebd.). 44 Jacobs: Bildungsroman, S. 230. 45 Ebd. 46 Hohendahl: Die gebildete Gemeinschaft, S. 338. 47 Ebd. Welche spezifische Qualität dieser Zustand des ‚Gebildet-Seins‘ vor dem Hintergrund des hier entwickelten topischen Bauplans hat, wird später noch zu diskutieren sein.

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in Heinrich Drendorf gar nicht den Protagonisten des Romans sieht und somit implizit in Frage stellt, ob sich eine Interpretation des Textes überhaupt mit dessen Entwicklungsprozess beschäftigen sollte. In diesem Zusammenhang wird gerne ein Brief Stifters an seinen Verleger angeführt, in dem er wenige Monate vor der Veröffentlichung des Romans schreibt: „[D]ie zwei jungen Leute sind weitaus nicht die Hauptsache, sind eine heitere Ausschmückung des Werkes, sein Ernst und sein Schwerpunkt muß irgendwo anders liegen.“48 Die Frage, was Stifter hier mit ‚irgendwo anders‘ bezeichnet, wird sich nur durch eine Interpretation des Romans beantworten lassen. Geht man aber davon aus, dass der Autor sich auf Heinrich Drendorf und Natalie Tarona bezieht, wenn er von ‚zwei jungen Leuten‘ spricht,49 scheint diese Briefstelle die Bedeutung des IchErzählers Heinrich in der Tat zu relativieren – zumindest dann, wenn man sich darauf einlässt, aus brieflichen Aussagen des Autors auf dessen Intention zu schließen und diese anschließend als Interpretament einzusetzen. Trotzdem wäre es aus meiner Sicht unangemessen, aus der zitierten Stelle den Schluss zu ziehen, dass es im Nachsommer nicht um Heinrich Drendorf geht.50 Bezieht man sie tatsächlich auf die Figuren Heinrich und Natalie, lässt sie sich nämlich durchaus so deuten, dass sich der Nachsommer nicht auf die Darstellung einer Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Menschen beschränkt, sondern diese Geschichte in weitaus bedeutendere Zusammenhänge einbettet. So betont Stifter kurz nach der Publikation des Romans in einem Brief an seinen Verleger: Wer im Nachsommer „eine Heirathsgeschichte liest und hiebei rükwärts eine veraltete Liebesgeschichte erfährt, der weiß sich mit dem Buche ganz und gar nicht zu helfen“51. Der Autor möchte seinen Roman also weder als die ‚Heiratsgeschichte‘ von Heinrich und Natalie verstanden wissen noch die im dritten Band als Binnenerzählung präsentierte Liebesgeschichte zwischen Risach und Mathilde Tarona in den Mittelpunkt stellen. Es besteht somit keine Veranlassung, aus dem oben zitierten Brief vom 24. Mai 1857 abzuleiten, Heinrich Dren-

|| 48 An Heckenast, 24. Mai 1857 (PRA 19, S. 22). 49 Man könnte hier anstelle von Heinrich, dessen Figurenzeichnung nicht unbedingt den Charakter einer, wie Stifter in der oben zitierten Briefstelle formuliert, ‚heiteren Ausschmückung‘ hat, auch an Gustav Tarona denken. 50 Margret Walter-Schneider dagegen sieht eine „beachtliche Zahl von Fehlurteilen“ (dies.: Das Unzulängliche ist das Angemessene, S. 317) über den Roman in der Annahme begründet, „Heinrich Drendorf sei der ‚Held‘ des Nachsommers“ (ebd.). Eine solche Sichtweise werde „entschieden zurückgewiesen von Stifter selbst in seinem Brief an Gustav Heckenast vom 24. Mai 1857“ (ebd.). Walter-Schneider bezieht sich hier auf die oben zitierte Stelle aus diesem Brief. 51 An Heckenast, 11. Februar 1858 (PRA 19, S. 95).

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dorf spiele nur eine Nebenrolle52 und der Nachsommer sei in Wahrheit ein „Risach-Roman“53. Wer sich auf die Handlungsebene des Romans beschränkt, um herauszufinden, was, um Stifter noch einmal zu zitieren, „sein Ernst und sein Schwerpunkt“ (siehe Anm. 48 in diesem Kapitel) sind, wird nicht zum Ziel kommen. Der Roman enttäuschte schon die Erwartungshaltung seiner zeitgenössischen Rezensenten an eine „spannende, die Charaktere involvierende Handlung“54, weil es ihm darum geht, eine „Gegenwelt“55 darzustellen, die „im Bereich der Ideen [liegt]“56. Dies bestätigt sich durch eine weitere Passage aus dem bereits angesprochenen Schreiben vom 11. Februar 1858. Stifter führt hier aus, er „habe ein tieferes und reicheres Leben, als es gewöhnlich vorkömmt, in dem Werke zeichnen wollen“57. Anschließend beschreibt er, wie sich die Darstellung dieses Lebensentwurfs auf die Figuren des Romans verteilt. In den Figuren Risach und Mathilde zeige er sich „in seiner Vollendung und zum Überblike entfaltet da liegend“58. Stifter bezieht sich hier also ganz offensichtlich nicht auf die Binnenerzählung, in der vom Scheitern der jugendlichen Liebe zwischen diesen beiden Figuren berichtet wird, sondern auf die Gegenwart der erzählten Zeit, in der Risach und Mathilde wieder zueinander gefunden haben und, wie ich später noch ausführen werde, Kompensation für Verfehlungen und verpasste Gelegenheiten betreiben. An „jenem vollendeten Leben reifend“59, so Stifter weiter, || 52 Walter Hettche weist darauf hin, dass man bei der Lektüre von Stifters Anmerkungen während des Schreibens des Nachsommers (in: Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Eine Erzählung. Apparat. Teil II. Von Walter Hettche. Stuttgart 2014 [HKG 4,5], S. 393–511) „immer wieder den Eindruck [gewinnt], als identifiziere sich der Autor sehr weitgehend mit seinem Ich-Erzähler Heinrich Drendorf. Die Nähe des Autors zu seiner Hauptfigur zeigt sich beispielsweise in der Verwendung der ersten Person Singular“ (ders.: „Dichten“ oder „Machen“?, S. 83). Stifter verwendet in diesen Anmerkungen also das Personalpronomen ‚ich‘, wenn Heinrich Drendorf gemeint ist. Auch vor diesem Hintergrund erscheint es nicht angemessen, den Nachsommer als ‚Risach-Roman‘ zu lesen und die Bedeutung der Figur Heinrich Drendorf gering einzuschätzen. 53 Müller: Utopie und Bildungsroman, S. 205. Müller verwendet diesen Begriff, um eine gängige Lesart zu bezeichnen, die in der Stifter-Forschung mehrfach zu finden sei (vgl. genauer ebd.). Ihr schließt sich auch Hartmut Laufhütte an: Man habe es, „obwohl das Werk als Autobiographie Heinrich Drendorfs ausgeführt ist, mit einer Gustav-Risach-Geschichte zu tun“ (ders.: Der ‚Nachsommer‘ als Vorklang der literarischen Moderne. In: Laufhütte/Möseneder (Hrsg.): Adalbert Stifter, S. 486–507, hier S. 487). 54 Hohendahl: Die gebildete Gemeinschaft, S. 335. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 An Heckenast, 11. Februar 1858 (PRA 19, S. 94). 58 Ebd. 59 Ebd.

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werde der „junge[] Naturforscher“60, also Heinrich Drendorf, dargestellt und selbst an Nebenfiguren – Stifter nennt etwa den „Kaufmann[] und seine[] Frau“61, also Heinrichs Eltern – zeige sich das „tiefere[] und reichere[] Leben“62, wenn auch „in einseitigeren Richtungen“63. Obwohl die brieflichen „Rezeptionsanweisungen“64, die Stifter für seinen Roman hinterlassen hat, verschiedene Lesarten zulassen, zeigen sie aus meiner Sicht eines deutlich: Es besteht keine Veranlassung dazu, die beiden Hauptfiguren des Romans, Heinrich Drendorf und Gustav von Risach, gegeneinander auszuspielen und den Schwerpunkt einer Interpretation entweder auf den Zögling oder auf den Erzieher zu legen. Im Gegenteil: Nur in der Zusammenschau beider Figuren und durch eine Analyse ihrer jeweiligen Bildungsgänge wird man den Gehalt des Textes angemessen erfassen können. Damit soll allerdings nicht in Abrede gestellt werden, dass sich der Nachsommer, wie viele andere Texte Stifters auch, „unter jeder vereindeutigenden Lesart hinwegdreht“65. Dieser Effekt wird nicht nur durch den beträchtlichen Umfang, sondern auch durch die „komplexen inhaltlichen Schichtungen“66 des Textes begünstigt. Im Folgenden wird sich also zeigen müssen, ob der topische Bauplan von Adalbert Stifters erzählter Welt, der in den vorherigen Kapiteln dieser Arbeit entwickelt wurde, dazu beitragen kann, dieses komplexe Konstrukt angemessen zu beschreiben und zu deuten.

7.3 Scheitern und Kompensation Bereits bei dem ersten Zusammentreffen mit seinem späteren Zögling Heinrich Drendorf tritt Gustav von Risach mit „schneeweißen Haaren“ (Ns1, S. 49) auf, und sein „Angesicht“ (Ns1, S. 50) lässt darauf schließen, dass er „ein vorgerücktes Alter“ (ebd.) erreicht hat. Weitere biografische Details, ja selbst sein Name bleiben bis weit in den dritten Band hinein unklar. Den Auslöser für die Offen-

|| 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Amann: Zwei Thesen, S. 172. Die Einleitung zu Amanns Beitrag (vgl. ebd., S. 179–183) stellt eine differenzierte Auseinandersetzung mit Stifters brieflichen Äußerungen dar, die in die Zeit nach dem Erscheinen des Nachsommers fallen und zur Beantwortung der Frage herangezogen werden können, „welches die Hauptfigur des Romans sei“ (ebd., S. 172). 65 Begemann: Adalbert Stifter: Der Nachsommer, S. 204. 66 Mayer: Adalbert Stifter, S. 170.

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legung von Risachs Lebensgeschichte bildet der Bund, den Heinrich und Natalie am Ende des zweiten Bandes schließen. Doch erst, nachdem Natalies Mutter und Heinrichs Eltern ihre Zustimmung zu diesem Bund erteilt haben – ein Motiv, um das es später noch im Detail gehen wird –, kündigt Risach seine autobiografische Binnenerzählung an, indem er gegenüber Heinrich erklärt: Ihr tretet nun zu jemandem, der mir nahe ist, in ein inniges Verhältniß; es ist billig, daß ihr alles wisset, wie es in dem Sternenhofe ist, und in welchen Beziehungen ich zu demselben stehe. Ich werde euch alles darlegen. (Ns3, S. 69)

Die Umsetzung dieses Vorhabens beginnt aber erst im nächsten Kapitel mit Risachs Feststellung, Heinrich werde „wohl wissen, daß ich der Freiherr von Risach bin“ (Ns3, S. 136). In einer autobiografischen Erzählung, die aus zwei Teilen besteht, erfährt Heinrich mehr über die Identität seines Mentors. Im ersten Teil geht es allerdings, ausgelöst durch Heinrichs Bemerkung, dass ihm viel Lob über die „Staatslaufbahn“ (Ns3, S. 137) seines väterlichen Freundes zugetragen worden sei, zunächst einmal um Risachs selbstempfundenen Mangel an Eignung für öffentliche Ämter und seine späte Erkenntnis, dass es „im Grunde die Wesenheit eines Künstlers [war], die sich in mir offenbarte und ihre Erfüllung heischte“ (Ns3, S. 144). Erst im zweiten Teil der Erzählung zeigt sich tatsächlich, in welchem Verhältnis Risach zu Mathilde Tarona und ihren Kindern Natalie und Gustav steht. Beide Teile bilden eine Binnenerzählung von Risachs bisherigem Leben, das „ungeachtet der Tatsache, dass es erst im 3. Buch von ihm selbst mitgeteilt wird, als Kontrastentwurf des gesamten Geschehens und Handlungsverlaufs [fungiert]“67. Diese Erzähltechnik kann auch im Rahmen der vorliegenden Untersuchung als bekannt gelten: Sowohl die Wiedergabe von Jodoks autobiografischen Aufzeichnungen in der Narrenburg als auch die autobiografische Erzählung des Obristen in der Mappe werden in den Erzählverlauf eingeschoben und erfüllen eine ähnliche Kontrastfunktion wie die Erzählung Risachs, die „strukturell der Handlung des Romans nachgestellt ist, ihr aber zeitlich vorausgeht und antithetisch zu ihr konzipiert […] ist“68 und damit „als eigentlicher Ausgangspunkt des Romans“69 betrachtet werden kann.70

|| 67 Becker: Nachsommerliche Sublimationsrituale, S. 320. 68 Saße: Familie als Traum und Trauma, S. 218. Dieter Borchmeyer erkennt in ähnlicher Weise in der Schilderung von Heinrich Drendorfs Lebensgeschichte eine „Idealkonstruktion“ (ders.: Ideologie der Familie, S. 240), zu der Risachs Binnenerzählung eine „komplementär zugeordnete Vorgeschichte“ (ebd.) bilde. 69 Saße: Familie als Traum und Trauma, S. 218.

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Bei der Lektüre von Gustav von Risachs autobiografischem Rückblick stellt sich ein eigentümlicher Effekt ein. Wollte man dessen Lebensgeschichte allein auf der Grundlage der dargestellten Fakten wiedergeben, so könnte man von einem Mann erzählen, der sich nach dem frühen Verlust seiner Herkunftsfamilie durch Fleiß ein Auskommen sichert und, von einer kurzen leidenschaftlichen Verirrung in seiner Jugendzeit abgesehen, einen untadeligen Lebenswandel führt, eine höchst erfolgreiche Laufbahn im Dienste des Staates absolviert und sich schließlich mit Billigung von höchster Stelle auf einen mustergültig geführten Alterssitz zurückzieht. Indem Stifter seine Figur aber nicht nur von den Geschehnissen erzählen lässt, sondern ihr erlaubt, diese rückblickend zu kommentieren, zeichnet er dieser vermeintlichen Erfolgsgeschichte effektive Gegenlinien ein, die Risachs Lebensweg als das Ergebnis seines frühen Scheiterns und die Welt des Rosenhauses als kompensatorischen Gegenentwurf erscheinen lässt.

7.3.1 Günstige Voraussetzungen Der zweite Teil der Binnenerzählung, der mit dem vierten Kapitel („Rückblick“) des dritten Bandes einsetzt, beschreibt die Jahre von Risachs Kindheit und Adoleszenz und erlaubt sowohl motivische als auch topische Anschlussmöglichkeiten an andere Texte, die im Rahmen dieser Untersuchung bereits analysiert wurden. Risach wächst „im Dorfe Dallkreuz“ (Ns3, S. 150) auf, dessen Entstehung „mit dem Aufschlagen von einigen Holzarbeiterhütten begonnen“ (ebd.) hat und, wie die Fichtau in der Narrenburg und Thal ob Pirling in der Mappe meines Urgroßvaters, durch die Rodung und Kultivierung von Waldflächen entstanden ist. Seiner behüteten Kindheit in einer familiären Idylle – die „Eltern lebten in Frieden und Eintracht“ (Ns3, S. 151) – entspricht die Lage seines Elternhauses: Es „stand außerhalb des Ortes in der Nähe einiger anderer, war aber doch frei genug, um auf Wiesen Felder Gärten und im Süden auf ein sehr schönes blaues Waldband zu sehen“ (Ns3, S. 150 f.). Die Position dieses Hauses auf einem Mittelpunkt der kultivierten Natur ist unverkennbar.71 Hier ist der || 70 Vgl. Zumbusch: Nachgetragene Ursprünge, S. 294. Zumbusch liest Risachs autobiografische Erzählung als „Wiederholung des Romans unter den Vorzeichen einer in jedem Sinn verkehrten Dynamik“ (ebd.) und arbeitet zusätzlich deren Funktion heraus, die „rätselhaften Leerstellen des Textes“ (ebd., S. 292) aufzuklären und den „inneren Zusammenhang“ (ebd.) der von Heinrich „noch undurchschauten Ereignisse“ (ebd.) transparent zu machen. 71 Das hier zugrundeliegende Vorstellungsmuster, welches den Bereich der kultivierten Natur auf einem Mittelpunkt ansiedelt, lässt sich auch im Namen des oben erwähnten Dorfes ‚Dall-

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Familie wirtschaftlicher Erfolg beschieden: „Die Zustände meines Vaters aber blühten empor, und er war fast der Angesehenste in der Gegend“ (Ns3, S. 151). Der Text verortet den jungen Risach also auf einem Punkt, auf dem alle Voraussetzungen für das Gelingen eines Bildungsgangs gegeben sind. Als dann aber die Wildnis in deutlicher motivischer Anlehnung an Kazensilber in den Bereich der kultivierten Natur einbricht, die Felder der Familie durch einen „Hagelschaden verwüstet[]“ (ebd.) werden und einen „Theil des Gebäudes“ (Ns3, S. 152) durch ein Feuer vernichtet wird, beginnt eine Serie von Schicksalsschlägen, die zum vollständigen Verlust von Risachs Herkunftsfamilie führen. Zunächst stirbt „der Vater eines plötzlichen unvorhergesehenen Todes“ (ebd.). Einige Jahre später, als Risach sich bereits für den „Staatsdienst“ (ebd.) als „Lebensberuf“ (ebd.) entschieden und seinen Lebensmittelpunkt in die „große Stadt“ (Ns3, S. 153) verlagert hat, erkrankt seine Mutter an einem „Übel“ (Ns3, S. 160), welches, „ehe man es sich versah, mit dem Tode endigte“ (ebd.). Der schrittweise Verlust der Herkunftsfamilie, der zu diesem Zeitpunkt nur noch Risachs Schwester zurückgelassen hat, zeigt sich bei dessen Trauerbesuch in Dallkreuz auch an baulichen Veränderungen des Elternhauses, das hier, ähnlich wie in der Mappe, stellvertretend für die Familie steht: „Es schien mir gar nicht, als ob es das wäre, in welchem ich die Tage meiner Kindheit verlebt hatte“ (Ns3, S. 162). Als Risach schon bald nach der Rückkehr in die Stadt auch seine Schwester verliert, die „eine unversehene Verkühlung [dahin] rafft[]“ (Ns3, S. 164), ist die „Auflösung der Familie“72 abgeschlossen. Bereits an dieser Stelle von Risachs autobiografischem Rückblick lässt sich eine Ausprägung des Topos von der Macht der Familie erkennen, der besagt, dass sich ein Individuum nur dann in angemessener Weise entwickeln kann, wenn es in einen intakten Familienverband integriert ist. Risach, der „seinen Lebensweg nicht mehr unter väterlicher Obhut zurücklegen [konnte]“73, hat zwar die „Lehranstalt“ (Ns3, S. 152) als „einer der besten Schüler“ (ebd.) absolviert und befindet sich nun in der Ausbildung zum Staatsdiener. Trotzdem hat er hier lediglich einen Zustand erreicht, der nach weiterer Entwicklung verlangt, womit sich im Übrigen einmal mehr zeigt, dass Stifters Bildungsbegriff weit über die Vermittlung nützlichen Wissens hinausgeht: Schon nach dem Tod der Mutter lässt Risach seinen „eigentlichen Beruf […] etwas außer Acht“ (Ns3,

|| kreuz‘ erkennen, wenn man ihn, basierend auf goth. und ahd. ‚dal‘ = Tal (vgl. Thal [Art.]. In: DWB, Bd. 11, I. Abt., I. Teil, Sp. 296–300, hier Sp. 296) als ‚Talkreuz‘ (im Sinne von sich kreuzenden Tälern) liest. 72 Saße: Familie als Traum und Trauma, S. 220. 73 Ebd.

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S. 164), obwohl die Ausbildung noch gar nicht abgeschlossen ist, verdient nur das Notwendigste als Hauslehrer und beschäftigt sich zum „Vergnügen“ (ebd.) mit „Wissenschaften und […] Kunst“ (ebd.). Bald nach der ersten Ankunft in der Stadt, als Mutter und Schwester noch lebten, hatte Risach das anonyme Leben dort als „sehr niederdrückend“ (Ns3, S. 156) empfunden, zumal er „bisher immer in einer Familie gelebt hatte“ (ebd.). Hier konnte ihm die durch einen Freund vermittelte Gelegenheit, als Hauslehrer zu arbeiten, „eine Gattung Familienumgang“ (Ns3, S. 158) verschaffen. Nach dem Tod der Schwester, als sein „Leben […] sehr trübe“ (Ns3, S. 164) geworden ist, kann aber erst die konkrete „Aussicht auf ein Familienleben“ (Ns3, S. 165) eine deutliche Veränderung bewirken. Sie besteht in dem Angebot der Familie Makloden, „einen Theil des Unterrichtes eines Knaben, der in der Familie sei“ (ebd.), zu übernehmen, und erlaubt es Risach, die „große Stadt“ (Ns3, S. 156) zu verlassen, die er schon kurz nach seiner Ankunft als „ungeheure Wildniß von Mauern und Dächern“ (ebd.) empfindet; sie wirkt auf ihn wie ein „Wald, dessen Bäume auf mich keine Beziehung haben“ (ebd.). Durch den Umzug auf den „Landsize der Familie“ (Ns3, S. 165) Makloden wird Risach wieder in einem topografischen Bereich positioniert, der in Teilen nicht nur eine Vorlage für die Rosenhauswelt bildet, die später unter Risachs Führung entstehen wird,74 sondern durch seine größere Nähe zum Mittelpunkt der kultivierten Natur bessere Voraussetzungen mitbringt, um Bildung und Erziehung gelingen zu lassen. Der „Rasenplaz“ (Ns3, S. 173) vor dem Haus ist zum einen „von manigfaltigen künstlich angelegten Wegen durchkreuzt“ (ebd.),75 beherbergt aber gleichzeitig „sehr große Bäume“ (ebd.), die in der Wahrnehmung Risachs eine „Art von Wald“ (ebd.) bilden. Auf der anderen Seite des Hauses befindet sich dagegen ein „mit einem Gitter umgebener großer Garten“ (Ns3, S. 174), in dem „Blumen Gemüse Zwerg- und Lattenobst“ (ebd.) angebaut werden. Die Familie Makloden verbringt zwar, ähnlich wie die Familie in

|| 74 Vgl. Davide Giuriato: „klar und deutlich“. Ästhetik des Kunstlosen im 18./19. Jahrhundert. Freiburg i. Br. u. a. 2015, S. 316. Risach lerne auf dem Landsitz der Maklodens, so Giuriato, die „beruhigende Übereinstimmung von natürlicher und symbolischer Ordnung“ (ebd., Anm. 309) kennen. Gegen Ende der Binnenerzählung hebt Risach außerdem die „große Ähnlichkeit“ (Ns3, S. 222) zwischen diesem Landsitz und dem Sternenhof Mathilde Taronas hervor, betont aber, dass die Zucht von Rosen – von denen auch auf dem Landsitz „die ganzen Mauern überdeckt“ (Ns3, S. 175) sind, so dass es so scheint, „als stände ein Tempel von Rosen da“ (ebd.) – dem Asperhof vorbehalten bleiben soll. 75 Vgl. im Hinblick auf die Vorstellung von einem Mittelpunkt der kultivierten Natur die oben zitierte Formulierung von den sich durchkreuzenden Wegen mit der Beschreibung und dem Namen des Dorfes Dallkreuz, dem Geburtsort Risachs (siehe Anm. 71 in diesem Kapitel).

Scheitern und Kompensation | 363

Kazensilber, die Wintermonate in der Stadt, kehrt jedoch mit dem „ersten Frühlinge“ (Ns3, S. 196) zurück auf den Landsitz, der in Risachs rückblickender Erzählung in wertender Abgrenzung von der Stadt beschrieben wird: Selbst an der „Grenze des Landes, das heißt, wo es an die Stadt reicht“ (Ns3, S. 183), müsse man den Frühling und die Sonne mit „vielen, die aus der Stadt hinaus kommen“ (ebd.), teilen und „im Gedränge und Staube genießen“ (ebd.). Anders in „Heinbach“ (ebd.), so der Name des Hauses, in dem die Familie Makloden wohnt: Hier „war Einsamkeit und Stille, die blaue Luft schien unermeßlich, und die Blüthenfülle wollte die Bäume erdrücken“ (ebd.).76 Für Risach, der den jungen Alfred Makloden „weniger unterrichten“ (Ns3, S. 167), sondern vielmehr durch seinen „Umgang“ (ebd.) erziehen soll, ergeben sich in diesem Umfeld diverse Anschlussmöglichkeiten an die Familie Makloden. Schon kurz nach seiner Ankunft erhält er von Alfreds Vater das Angebot, ihn als seinen „älteren Bruder“ (M4, S. 170) zu betrachten. Risach wird „nach und nach zur Familie gerechnet, und alles, was überhaupt der Familie gemeinschaftlich zukam, wurde auch mir zugetheilt“ (Ns3, S. 180). Alfreds Mutter dagegen, so Risach weiter, „sorgte für meine häuslichen Angelegenheiten“ (ebd.); sie „rückt […] in die Rolle von Risachs leiblicher Mutter ein“77 und bekennt angesichts seiner Verzweiflung, die Familie schließlich wieder verlassen zu müssen: „Gustav, mein Sohn! Du bist es ja immer gewesen, und ich kann einen besseren nicht wünschen“ (Ns3, S. 202). Schließlich soll das zunächst geheime Liebesverhältnis Risachs zu Alfreds Schwester, Mathilde Makloden, nach dem Wunsch der beiden Liebenden in eine dauerhafte, von den Eltern sanktionierte Beziehung münden (vgl. Ns3, S. 197), die es Risach erlauben würde, eine eigene biologische Familie zu gründen. Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Fortsetzung von Risachs Bildungsgang erscheinen also zunächst günstig: Er hat || 76 Obwohl das Anwesen der Maklodens durch seine größere Nähe zum Mittelpunkt der kultivierten Natur bessere Voraussetzungen für das Gelingen von Risachs Bildungsgang mitbringt als die Stadt, nimmt der Text dennoch eine feine Abstufung vor, die Risachs späteres Scheitern nicht als Verstoß gegen die topografische Logik von Stifters erzählter Welt erscheinen lässt. Klaus Amann zeigt dies, indem er Parallelen zwischen dem Anwesen der Maklodens und dem Besitz der Familie Ingheim zieht, dem Heinrich in der erzählten Zeit der Basiserzählung mehrere Besuche abstattet. Hier wie dort besteht das Grundstück, das zum Schloss gehört, aus zwei Teilen, die durch die Lage des Haupthauses voneinander getrennt werden. Der eine Teil bildet einen Garten mit künstlich angelegten Wegen, der Erholungszwecken dient, während in dem anderen Teil landwirtschaftliche Erzeugnisse produziert werden (vgl. die oben angegebenen Textstellen und die Beschreibung des Inghofes in Ns1, S. 272 f.). Der Text, so Amann, führe in beiden Fällen „genau jene Trennung vor, die im Rosenhaus und im Sternenhof […] so bedeutungsvoll vermieden wird“ (ders.: Zwei Thesen, S. 177). 77 Schäublin: Familiales in Stifters Nachsommer, S. 93.

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die Stadt verlassen, um sich in einem Bereich der kultivierten Natur anzusiedeln und den Verlust seiner Herkunftsfamilie durch die Integration in eine Ersatzfamilie kompensiert.

7.3.2 Eine zerstörerische Kraft Alle drei Anschlussmöglichkeiten an die Familie Makloden – als Bruder, als Sohn sowie als Schwiegersohn und Ehemann – gehen jedoch mit einem Mal verloren, als die Eltern ihre Zustimmung zu dem Bund zwischen Risach und Mathilde verweigern und den jungen Mann bitten, die Familie zu verlassen. Seine heimliche Liebe zu Mathilde entfernt ihn „schuldhaft und heillos [aus dem Familienverband] und scheitert darum notwendig“78. Dieser Ausschluss aus der Familie Makloden verbindet sich mit dem Rat der Mutter, Risach möge sich in eine „feste Lebensthätigkeit [...] bringen“ (Ns3, S. 201) und „äußere Unabhängigkeit erwerben“ (ebd.); beides könne dann „zur Errichtung eines dauernden Familienverhältnisses an[ge]wende[t]“ (ebd.) werden.79 Die Familienordnung, die Mathildes Eltern hier vorgeben, „verlangt, dass sich die Liebe erst in der Ehe als zärtliche Zuwendung äußern darf, die Ehe aber erst geschlossen werden kann, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen von Beruf und Auskommen gesichert sind und die Eltern zugestimmt haben“80. Es wird Risach in der Folgezeit zwar gelingen, die hier geforderten wirtschaftlichen Voraussetzungen zu schaffen. Die Grundbedingung, seinen Bildungsgang erfolgreich fortsetzen zu können – die Zugehörigkeit zu einer Familie –, hat er jedoch durch

|| 78 Müller: Utopie und Bildungsroman, S. 224. 79 Das Motiv des doppelten Verlusts von Familie, den Risach in dieser Phase seines Lebens erleidet – zunächst durch den Tod von Vater, Mutter und Schwester und dann durch das Ausscheiden aus der Familie Makloden – verbindet den Nachsommer mit der Letztfassung der Mappe meines Urgroßvaters. Sowohl Augustinus in der Mappe als auch Risach im Nachsommer verlieren ihre Herkunftsfamilie durch deren Tod und die Aussicht auf die Gründung einer eigenen biologischen Familie durch den Bruch mit der Frau, die sie lieben. Ein auffälliger Unterschied besteht darin, dass Risach zunächst seine Herkunftsfamilie verliert und anschließend Mathildes Mutter verspricht, er werde „das Band lösen, wie schmerzhaft die Lösung auch sein mag“ (Ns3, S. 203), während Augustinus gegenüber Margarita erklärt, er werde „von dem Bande Abschied nehmen, das uns bisher verbunden hat“ (M4, S. 174), bevor sein Vater und seine Geschwister sterben. 80 Saße: Familie als Traum und Trauma, S. 226.

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die Missachtung der Ordnungsprinzipien des Familienverbands aufs Spiel gesetzt und verloren.81 Die zerstörerische Kraft, die Risachs Scheitern herbeiführt, hat sowohl auf der Handlungsebene als auch in der Erzählhaltung der Binnenerzählung deutliche Spuren hinterlassen. Während Risach noch im zweiten Jahr seiner Anstellung auf dem Landsitz der Familie die Aufgabe übernimmt, dafür „zu sorgen, daß sie [Mathilde; H. A.] keine heftigen Bewegungen mache, welche an sich für ein Mädchen nicht anständig sind, und ihrer Gesundheit schaden könnten“ (Ns3, S. 181), kommen ihm schon wenige Seiten später „Worte in den Mund“ (Ns3, S. 187), von denen es ihm vorkommt, „als wären sie mir durch eine fremde Macht hineingelegt worden“ (ebd.). Es handelt sich um die Frage, ob Mathilde ihn auch liebe. An dieser Stelle entsteht eine Liebesbeziehung, die „mit unbezähmbarer Leidenschaft auf[bricht]“82. Mit dem Begriff der Leidenschaft ist aber die oben erwähnte, zerstörerische Kraft benannt. Sie zeigt sich noch im rückblickenden Bericht Risachs in zahlreichen Formulierungen: Aus ihm brechen die „heftigsten Thränen hervor“ (Ns3, S. 187), Mathilde steht vor ihm „erglühend in unsäglicher Scham“ (ebd.), das Gefühl für sie kommt „wie ein Sturmwind“ (Ns3, S. 189) über ihn und er empfindet es als „zauberhaft, ein süsses Geheimniß mit einander zu haben, sich seiner bewußt zu sein, und es als Glut im Herzen zu hegen“ (ebd.). Beim erneuten Zusammentreffen am nächsten Morgen fühlt Risach, „wie meine Empfindung aus meinen Augen strömte“ (Ns3, S. 190), und als sich die Finger der beiden Liebenden berühren, steht Mathilde „wie eine feurige Flamme da, und mein ganzes Wesen zitterte“ (Ns3, S. 191). Einige Zeit später schließlich erscheint Mathilde dem jungen Risach als „das Wesen […], das von überirdischen Räumen gekommen war, meine Seele zu erfüllen“ (Ns3, S. 195), und wenn beide miteinander sprechen, „zittert[] [in gewöhnlichen Dingen] das tiefe Herz durch“ (Ns3, S. 196). Diese Beispiele mögen genügen, um zu illustrieren, dass der gealterte Risach hier auf eine Art und Weise erzählt, die man in der Basiserzählung des Ich-Erzählers Heinrich Drendorf vergeblich suchen wird.83

|| 81 Günter Saße dagegen deutet die oben bereits angesprochene Passage, in der Mathildes Mutter Risach mit „mein Sohn“ (Ns3, S. 202) anspricht und Risach ausruft: „O Mutter, Mutter! – laßt euch diesen Namen zum ersten und vielleicht auch zum lezten Male geben“ (Ns3, S. 203) dahingehend, dass Risach sich durch die Unterordnung unter den „elterlichen Willen“ (ders.: Familie als Traum und Trauma, S. 226) zunächst als „Sohn in die Familie [integriert]“ (ebd.) und erst von Mathilde verstoßen wird, die ihm den Wechsel in eine „geschwisterliche Beziehung“ (ebd.) zu ihr nicht verzeihen kann. 82 Saße: Familie als Traum und Trauma, S. 224. 83 In Ergänzung zu den oben zitierten Formulierungen kann auch die leidenschaftliche Klage Mathildes nach dem Bruch mit Risach herangezogen werden, die dieser als rückblickender Ich-

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Der Grund dafür ist, dass Risach von Dingen erzählt, die, wie noch zu demonstrieren sein wird, in der Welt des Rosenhauses undenkbar geworden sind. Eine „Kritik der Leidenschaften“84, die im Nachsommer über die Binnenerzählung von Risachs jugendlichem Scheitern transportiert wird, ist in Stifters Werk auf „verschiedene Textgattungen und Diskurse [verteilt]“85 und lässt sich bereits im erzählerischen Frühwerk ausmachen. So handelt beispielsweise die Erzählung Feldblumen, deren Journalfassung 1841 publiziert wurde, „von den desaströsen Folgen einer Leidenschaft bzw. eines übermäßigen Affekts, der den Einzelnen sowie ganze Gemeinschaften zu zerstören vermag.“86 Auch in Stifters Aufsatz Über Stand und Würde des Schriftstellers87 (1848) findet sich eine dediziert negative Bewertung von Leidenschaft. Diese erscheint hier als ein die andern Seelenkräfte überragendes Streben nach einem Sinnlichen. Sie strebt nach Thierischem, sei es die Erfüllung einer Körperempfindung (Wollust), sei es die Gewalt oder Alleingeltendmachung (Herrschsucht, Eifersucht, diese furchtbaren Geister der Menschheit […]), und in diesem Streben aufgehalten, wird sie zum fanatischen Affecte […]. Wenn daher Anmaßung das rücksichtslose Geltendmachen der eigenen Eigenthümlichkeit ist, so ist die Leidenschaft das Anmaßendste, was es auf Erden gibt.88

Dieser Bewertung stellt Stifter aber den folgenden Gedanken voran: „Wer sich so herausgebildet hat, daß er seine Leidenschaften beherrscht, ja, daß er gar

|| Erzähler in wörtlicher Rede widergibt. Hätte Risach sich geweigert, das Band mit ihr zu lösen, so Mathilde, „[hätten] tausend Millionen Ketten […] mich nicht von dir gerissen, und jubelnd hätte ich einst in Erfüllung gebracht, was dir dieses stürmische Herz gegeben. […] Du hast die Treue gebrochen, die ich fester gewähnt habe als die Säulen der Welt und die Sterne an dem Baue des Himmels“ (Ns3, S. 206). Wenig später ruft Mathilde: „Hört es, ihr tausend Blumen, die herabschauten, als er diese Lippen küßte, höre es du, Weinlaub, das den flüsternden Schwur der ewigen Treue vernommen hat, ich habe ihn geliebt, wie es mit keiner Zunge in keiner Sprache ausgesprochen werden kann. […] [D]as ganze künftige Leben […] hätte ich wie einen Hauch für ihn hingeopfert, jeden Tropfen Blut hätte ich langsam aus den Adern fließen und jede Faser aus dem Leibe ziehen lassen – und ich hätte gejauchzt dazu“ (Ns3, S. 207). Vgl. weitere Beispiele ebd. 84 Ulrich Kinzel: Ethos [Art.]. In: SHB, S. 298–301, hier S. 298. 85 Ebd. 86 Franziska Schößler: Feldblumen [Art.]. In: SHB, S. 19–23, hier S. 20. Schößler fügt hinzu: „Sie [die Erzählung; H. A.] präludiert damit ein Sujet, das Stifters Texte obsessiv umkreisen und dem bereits in dieser frühen Erzählung mit einem Affektprogramm begegnet wird, das an Goethes spinozistisch inspiriertes Ethos sowie an die stoizistische Lehre der Leidenschaftslosigkeit, wie sie die klassische Kunsttheorie rezipiert, angelehnt ist“ (ebd.). 87 Adalbert Stifter: Über Stand und Würde des Schriftstellers. In: Ders.: Schriften zu Literatur und Theater (siehe Kap. 3, Anm. 163), S. 34–46. 88 Stifter: Über Stand und Würde des Schriftstellers, S. 44.

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keine mehr hat, wer daher gegen sich strenge ist, und einfach das Rechte thut, der ist auch gegen Andere gerecht“89. Dieser Gedanke steht in Zusammenhang mit einer „Ethik der Affekte“90, die sich schon bei Wilhelm von Humboldt findet. Humboldt formulierte seine diesbezüglichen Positionen in Briefen an Charlotte Diede, die ursprünglich nicht für eine Veröffentlichung vorgesehen waren, aber nach seinem Tod unter dem Titel Briefe an eine Freundin publiziert wurden.91 Einige Jahre vor der Veröffentlichung des Nachsommers nahm Stifter Auszüge aus dieser Briefsammlung in sein Lesebuch zur Förderung humaner Bildung auf.92 Zwei der im Lesebuch enthaltenen Briefstellen Humboldts sind in besonderer Weise dazu geeignet, dessen ethischen Ansatz zu illustrieren und die Kompatibilität mit Stifters Wertesystem aufzuzeigen. Humboldt schreibt: „Das Erste und Wichtigste im Leben ist, daß man sich selbst zu beherrschen sucht, daß man sich mit Ruhe dem Unveränderlichen unterwirft“93. Und an anderer Stelle heißt es: „Gott hätte dem Menschen nicht das erregbare, leicht bewegliche, dem Gram und dem Schmerz so zugängliche Gemüth gegeben, wenn er nicht zugleich darin hätte die Kraft legen wollen, diese Gefühle zu beherrschen und diesen Schmerz zu besiegen.“94 Die Kritik an der Leidenschaft, die Stifter im Nachsommer künstlerisch gestaltet und auch nach der Veröffentlichung des Romans in einem Brief an seinen Verleger in deutlichen Worten fortsetzt,95 lässt sich vor dem Hintergrund des Gesagten wie folgt als Topos formulieren: || 89 Ebd., S. 43; Hervorhebungen von mir. 90 Kinzel: Ethos, S. 298. Davide Giuriato beschreibt ebenfalls den Einfluss Wilhelm von Humboldts auf das Konzept einer „Therapie der Affekte“ (ders.: „klar und deutlich“, S. 262) bei Stifter, schildert aber einen weiter gefassten Zusammenhang, der eine „von Goethe entlehnte[] Affektökonomie“ (ebd., S. 261) und die „Rezeption von Spinozas Ethik“ (ebd.) durch die „klassische Kunsttheorie“ (ebd.) einschließt. Vgl. genauer ebd., S. 261–264. 91 Vgl. Michael Maurer: Wilhelm von Humboldt. Ein Leben als Werk. Köln u. a. 2016, S. 263 f. 92 Die Auszüge aus Humboldts Briefen erscheinen in Stifters Lesebuch ohne Überschrift oder gar Einleitung. Es handelt sich sowohl um kürzere Zitate nach Art einer Aphorismensammlung als auch um längere Abschnitte. Im Inhaltsverzeichnis findet sich lediglich der Eintrag „W. Humboldt“ (Adalbert Stifter und J. Aprent: Lesebuch zur Förderung humaner Bildung. Faksimile-Druck, dazu die Briefe Stifters zum Lesebuch. München/Berlin 1938, S. 360). Diesem Eintrag geht eine Sammlung von Zitaten anderer Autoren voraus, doch die Auszüge aus Humboldts Briefen auf den Seiten 308 bis 321 bilden den weitaus umfangreichsten Teil dieses Abschnitts. 93 Humboldt in Stifter/Aprent: Lesebuch, S. 309; Hervorhebung von mir. 94 Ebd., S. 310; Hervorhebung von mir. 95 Stifter bezeichnet seinen Roman in diesem Schreiben als „mit Göthescher Liebe zur Kunst […] geschrieben“ (Stifter an Heckenast, 11. Februar 1858 (PRA 19, S. 93) und kritisiert die zeitgenössische Literatur wie folgt: „Heute wird wilde Luft gezeichnet, die die Welt bewegt, oder

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Tab. 10: Die Macht der Leidenschaft (Topos)

Deskriptor

Deskription

Die Macht der Leidenschaft

In leidenschaftlichem Empfinden und Verhalten liegt ein zerstörerisches Potenzial, das Individuen wie Sozialgemeinschaften gleichermaßen gefährdet.96

Die in der Deskription dieses Topos wiedergegebene Sichtweise auf die Leidenschaft erklärt, warum Risach für sein Verhalten einen hohen Preis bezahlen muss, der im erneuten Verlust einer Familie besteht. Der Text wertet die von den Eltern zu diesem Zeitpunkt97 nicht autorisierte Beziehung zu Mathilde als „falsches leidenschaftliches Verhalten, das gesühnt werden muß“98. Die zerstörerische Wirkung dieses Fehlverhaltens wird durch zwei gegenläufige Faktoren begünstigt: Zum einen führen Risach und Mathilde ihre leidenschaftliche Beziehung über einen Zeitraum von etwa einem halben Jahr,99 ohne die Unterstüt-

|| Leidenschaften und Erregungen. Das halten sie für Kraft, was nur klägliche Schwäche ist. Das Sittengesez allein ist in seiner Anwendung Kraft (darum, weil es in Shakspears [sic] Stüken über den Leidenschaften thront, sind sie groß, nicht weil Leidenschaften darin sind)“ (ebd.). 96 Die Kritik an der Leidenschaft, die Gustav von Risach im Nachsommer übt, schließt sowohl Individuen als auch Sozialgemeinschaften ein (vgl. Giuriato: „klar und deutlich“, S. 317). Sie zeigt sich nicht erst in seinem autobiografischen Rückblick, sondern schon gegen Ende des ersten Bandes. Hier erläutert Risach seinem Zögling Heinrich, der als erzählendes Ich bekennt, dass er die Ausführungen seines Mentors „damals noch nicht so ganz genau [verstand]“ (Ns1, S. 218), warum „die Menschen“ (Ns1, S. 217) davon abgehalten würden, „viel mehr Freude an den Dingen dieser Erde“ (ebd.) zu haben: „Aber wenn ein Übermaß von Wünschen und Begehrungen in uns ist, so hören wir nur diese immer an, und vermögen nicht die Unschuld der Dinge außer uns zu fassen. Leider heißen wir sie wichtig, wenn sie Gegenstände unserer Leidenschaften sind, und unwichtig, wenn sie zu diesen in keinen Beziehungen stehen, während es doch oft umgekehrt sein kann“ (Ns1, S. 217 f.; Hervorhebung von mir). In Risachs Weltbild bedrohen die Leidenschaften also „die private nicht weniger als die soziale und politische Ordnung“ (Giuriato: „klar und deutlich“, S. 317). 97 Mathildes Mutter bietet Risach an dieser Stelle zwar ein Junktim an: Wenn Mathilde „ihre Bildung vollendet“ (Ns3, S. 201) und Risach sich in seinem „zukünftigen Stande […] befestiget“ (ebd.) habe, könne „wieder gesprochen werden“ (ebd.). Dazu kommt es aber nicht, weil Risach bei einem späteren Annäherungsversuch an Mathilde die „unzweideutigsten Beweise“ (Ns3, S. 214) erhält, dass sie ihn „verachte“ (ebd.). Erst viel später wird es Mathilde möglich sein, ihre ins Negative verkehrten leidenschaftlichen Gefühle auszuschalten (siehe Abschnitt 7.3.3). 98 Hohendahl: Die gebildete Gemeinschaft, S. 349. 99 Während des Spaziergangs, auf dem Risach und Mathilde sich ihre Liebe gestehen, liest Alfred „abgefallenes halbreifes Obst zusammen“ (Ns3, S. 186) und Risach sagt zu Mathilde,

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zung der Eltern zu suchen: „Wir hatten uns nicht verabredet, daß wir unsere Gefühle geheim halten wollen; dennoch hielten wir sie geheim, wir hielten sie geheim vor dem Vater vor der Mutter vor Alfred und vor allen Menschen“ (Ns3, S. 192). Zum anderen erkennt Risach die Autorität von Mathildes Eltern aber ohne Einschränkung an: „[D]er Wille der Eltern ist das Gesez der Kinder“ (Ns3, S. 205), lautet seine Aussage im Trennungsgespräch mit Mathilde. Deswegen befolgt er deren Wunsch, die Beziehung zu ihrer Tochter zu beenden, ohne Gegenwehr und bringt Mathilde, in deren Augen allein sie selbst an den Willen der Eltern gebunden ist, damit dauerhaft gegen sich auf. Sie wertet sein Verhalten als „Treuebruch“100. Auch ein erneuter Annäherungsversuch, der erst stattfindet, nachdem Risach sich „im Verlaufe von mehreren Jahren“ (Ns3, S. 213) beruflich etabliert hat, gelingt nicht (vgl. Ns3, S. 213 f.). Risach unternimmt im Verlauf der Binnenerzählung einen weiteren Versuch, eine Familie zu gründen. In diesem Zusammenhang fallen zwei Aspekte ins Auge. Erstens erfolgt die Eheschließung mit einem „Mädchen“ (Ns3, S. 215), welches „eine angenehme Bildung hatte“ (ebd.) und „von reinstem Wandel war“ (ebd.), nicht aus eigenem Antrieb, sondern aufgrund einer Mahnung von ungenannt bleibenden Personen aus Risachs Umfeld. Es sei dessen „Pflicht […], einen Familienstand zu gründen“ (ebd.), sowohl zur Absicherung seines Alters als auch „gegen die Menschheit und den Staat“ (ebd.). Zweitens wird diese Ehe „ohne Liebe und Neigung“ (ebd.) – von Leidenschaft ganz zu schweigen – geschlossen; sie gründet sich lediglich auf gegenseitige „Hochachtung“ (ebd.). Angesichts der Folgenlosigkeit dieses Bundes, der nach zwei Jahren mit dem Tod der Frau endet und, so Risach, „Mathildens Bild […] unberührt in meinem Herzen stehen“ (Ns3, S. 216) lässt, stellt sich die Frage, ob der Leidenschaft bei allem zerstörerischen Potenzial nicht doch eine Funktion zukommt. Risach beantwortet diese Frage ganz am Ende seines autobiografischen Berichts, als er Heinrich erklärt, es existiere eine eheliche Liebe, die nach den Tagen der feurigen gewitterartigen Liebe, die den Mann zu dem Weibe führt, als stille durchaus aufrichtige süsse Freundschaft auftritt, die über

|| „daß der Sommer nun bald zu Ende sei“ (ebd.). Den Plan, Mathildes Mutter ins Vertrauen zu ziehen, fasst Risach im Folgejahr, „da eben die Rosenblüthe war“ (Ns3, S. 197). 100 Schäublin: Familiales in Stifters Nachsommer, S. 93. Schäublin arbeitet an dieser Stelle heraus, dass sich eine Gemeinsamkeit in den Beziehungen zwischen Risach und Mathilde einerseits und Heinrich und Natalie andererseits im Glauben an deren Unauflöslichkeit zeige. Ein Unterschied bestehe aber darin, dass Risach und Mathilde, anders als Heinrich und Natalie, „[nicht] bedenken […], was wäre, wenn Mathildes Eltern ihre Zustimmung verweigern würden“ (ebd.).

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alles Lob und über allen Tadel erhaben ist, und die vielleicht das Spiegelklarste ist, was menschliche Verhältnisse aufzuweisen haben. (Ns3, S. 223; Hervorhebung von mir)

Der leidenschaftlichen Liebe zwischen Mann und Frau kommt im Wertesystem des Nachsommers also primär die Funktion zu, den „Mann zu dem Weibe“ (ebd.) zu führen. Wenn dieser Mechanismus seinen eigentlichen Zweck erfüllt hat – nämlich dann, wenn durch Nachkommenschaft der Fortbestand der biologischen Familie gesichert ist –, ist die Leidenschaft durch Gefühle zu ersetzen, von denen kein Gefährdungspotenzial mehr ausgeht, denn in der „Lebensordnung“101 des Rosenhauses ist „alles Affektive und mithin Gefährliche zu bannen“102. Schon bevor Risach seinem jungen Zuhörer die Überlegenheit solcher untadeligen Gefühle belehrend vor Augen führt, demonstriert er sie anhand seiner eigenen Biografie: Bei der späten Versöhnung mit Mathilde kommt es zu einer Umarmung der beiden, und „dieses verspätete Umfassen der alten Leute, in denen zwei Herzen zitterten, die von der tiefsten Liebe überquollen“ (Ns3, S. 220), bewertet Risach, der Leidenschaft eine weitere Absage erteilend, höher als den „heiße[n] Kuß der Jugendliebe“ (ebd.).

7.3.3 Späte Blüten Kurz bevor Risach seine autobiografische Erzählung beendet, macht er gegenüber seinem Zuhörer Heinrich die folgenden Bemerkungen über Mathilde und Natalie: || 101 Begemann: Adalbert Stifter: Der Nachsommer, S. 213. 102 Ebd. Davide Giuriato schlägt in Gegenrede zu der zitierten Position Christian Begemanns eine andere Lesart vor. In der Welt des Rosenhauses solle Leidenschaft nicht vollständig gebannt, sondern auf ein kontrollierbares Maß reduziert werden, um sich vor ihr schützen zu können (vgl. ders.: „klar und deutlich“, S. 317). Dies zeige sich etwa daran, dass Matilde und Risach für eine Zeit lang ein Wiedersehen zwischen Natalie und Heinrich zu verhindern wissen, um die Beständigkeit von Natalies Gefühlen zu überprüfen (vgl. Ns3, S. 225). Allerdings kann meines Erachtens im Hinblick auf Natalie kaum von einer Leidenschaft gesprochen werden, welche „[d]urch Aufschub […] abgekühlt und dadurch dauerhaft werden [soll]“ (Giuriato: „klar und deutlich“, S. 318), denn die junge Frau entwickelt sich im Laufe der Erzählung und in Heinrichs Wahrnehmung von der schüchternen Tochter, deren Affekte bereits durch Erziehung kontrolliert sind, zur statuengleichen, antiken Schönheit, ohne jemals einer ernsthaften Gefährdung durch leidenschaftliche Gefühle ausgesetzt zu sein. Die bloße Reduktion von Leidenschaft, von der Giuriato ausgeht, nimmt überdies auch in seiner Deutung substanzielle Ausmaße an, denn er weist darauf hin, dass dem Familienverband nur dann ein „stabile[r] Schutz vor dem Einbruch heftiger Affekte“ (ebd.) geboten werden könne, wenn dies „auf der Grundlage immunisierter Individuen“ (ebd.) erfolge.

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Mathilde hat in Begleitung des alten Raimund, der seitdem gestorben ist, große Reisen gemacht. Sie hat auf denselben dauerndere Ruhe gesucht, und auch gefunden. Sie hat sie in der Betrachtung der edelsten Kunstwerke des menschlichen Geschlechtes und in der Anschauung mancher Völker und ihres Treibens gefunden. Natalie ist dadurch befestigt veredelt und geglättet worden. (Ns3, S. 224)

Die Rolle, die der Kunst hier zugeschrieben wird, ist eine zweifache. Im Fall von Mathilde lässt sich der Verweis auf die „dauerndere Ruhe“ (Ns3, S. 224) vor dem Hintergrund ihrer bereits beschriebenen, betont leidenschaftlichen Reaktion auf Risachs Gehorsam gegenüber ihren Eltern lesen, die es ihr auch Jahre später nicht erlaubt, Risach zu vergeben (vgl. Ns3, S. 214 und siehe Anm. 97 in diesem Kapitel). Erst die Beschäftigung mit den „edelsten Kunstwerk[n]“ (Ns3, S. 224) kann ihr die erforderliche Ruhe schenken – die Kunst erscheint hier also als Antagonistin der Leidenschaft.103 Auch im Fall von Natalie dient die Kunst als Werkzeug, um unerwünschte Eigenschaften abzutragen – Natalie wird durch sie „geglättet“ (Ns3, S. 224) –, wodurch sich eine qualitative Verbesserung ihres Wesens ergibt. Auch wenn Risach sich an dieser Stelle auf wenige Sätze beschränkt, lässt sich darin ein im Verlauf dieser Untersuchung mittlerweile geläufig gewordenes Vorstellungsmuster ausmachen, das der Kunst eine lebensverändernde Macht zuschreibt. Im Zusammenhang mit Risachs Ausführungen, die dem eigentlichen autobiografischen Rückblick im vierten Kapitel des dritten Bandes vorangestellt sind, erhalten seine knappen Bemerkungen über Mathilde und Natalie überdies ein viel stärkeres Gewicht. Diese Ausführungen beginnen zwar mit ausführlichen Überlegungen zur Natur der „Staatsdienste[]“ (Ns3, S. 137), für die Risach nach eigener Aussage trotz aller Ehrungen und Erfolge „nicht geeignet“ (ebd.) war,104 wenden sich aber allmählich einem ganz anderen Thema zu. || 103 Der Umstand, dass Mathilde im Unterschied zu Risach, dessen kurze Ehe kinderlos bleibt, zwei Kinder hat, wird vom Text beinahe beiläufig eingeführt. Hier ist keine Rede mehr von einer temporären Funktionalisierung der Leidenschaft, die „den Mann zu dem Weibe führt“ (Ns3, S. 223) und so für den Fortbestand der biologischen Familie sorgt. Mathilde erwähnt gegenüber Risach lediglich, dass „der Gatte“ (Ns3, S. 219) – nicht: ‚mein Gatte‘ – bereits „vor Langem gestorben“ (ebd.) sei; sie lebe, so Mathilde weiter, „mit meinen Kindern einsam“ (Ns3, S. 220). Im Hinblick auf ein Programm wider die Leidenschaft, das der Text systematisch entwickelt, erscheint dies nur allzu konsequent. 104 Der junge Risach wählt den „Staatsdienst“ (Ns3, S. 152) nicht aus Überzeugung als „Lebensberuf“ (ebd.), sondern weil ihm „die andern Stufen, zu denen ich von meinen jezigen Kenntnissen emporsteigen konnte, noch weniger zusagten“ (Ns3, S. 152 f.). Bereits an dieser Stelle der Binnenerzählung zeigt sich ihre Konzeption als Gegenbild zur Haupterzählung, denn hinsichtlich der Notwendigkeit, einen ungeliebten Beruf wählen zu müssen, bildet Risachs Situation „[d]as genaue Gegenteil zur Ausgangslage des jungen Drendorf“ (Laufhütte: Der

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Risach stellt Betrachtungen über die Rolle an, die die Kunst in seinem Leben gespielt hat und hätte spielen sollen. Da er einen „Trieb zur Hervorbringung von Dingen, die sinnlich wahrnehmbar sind“ (Ns3, S. 142), schon in seiner Kindheit an sich entdeckte und in seiner Adoleszenz als Liebe zu „schöne[n] Gestalten“ (Ns3, S. 144) erkannte, gelangt er zunächst zu der Schlussfolgerung, dass sich in ihm „im Grunde die Wesenheit eines Künstlers“ (ebd.) verbarg. Als Risach diese Aussage wenig später durch die Vermutung revidiert, es sei „mehr eine Kunstliebe […], nicht eine Schöpfungskraft“ (Ns3, S. 146) gewesen, die sich in ihm gezeigt habe, rückt ein Aspekt in den Blick, der es ihm erlaubt, seine eigentliche Berufung zu benennen. Die Befähigung, „die Gestalten aufzunehmen“ (ebd.), in anderen Worten also Kunstwerke als solche zu erkennen, sei nicht nur „ihres Besizers willen da“ (ebd.), sondern müsse sich auf andere Menschen übertragen. In deutlichen Anklängen an Formulierungen wie die von der Kunst als „Darstellung des Göttlichen im Kleide des Reizes“105 konstruiert Risach hier die Rolle eines „Priester[s]“ (Ns3, S. 147) der Kunst, dem aufgrund seines Vermögens, große Kunstwerke als solche zu identifizieren, die Aufgabe zukomme, „Freude Erkenntniß und Verehrung“ (Ns3, S. 148) auf andere Menschen „zu übertragen“ (ebd.). Die geschichtsphilosophisch unterfütterten Ausführungen über „Theil[e] der Menschheit“ (Ns3, S. 147), „Völker[]“ (ebd.) und „Zeitalter“ (ebd.), in die Risach seine diesbezüglichen Überlegungen kleidet, können nicht davon ablenken, dass es auch hier eigentlich um seine eigene Biografie und wiederum um sein Scheitern geht, denn, wie er ausführt, [w]enn ich nun ein solcher [ein Priester der Kunst; H. A.] war, wenn ich bestimmt war, durch Anschauung hoher Gestalten der Kunst und der Schöpfung […] Freude in mein Herz zu sammeln, und Freude Erkenntniß und Verehrung der Gestalten auf meine Mitmenschen zu übertragen, so war mir meine Staatslaufbahn in diesem Berufe wieder sehr hinderlich, und dürftige Spätblüthen können den Sommer […] nicht ersezen. (Ns3, S. 148)

Risach beschreibt an dieser Stelle seine eigentliche, verfehlte Lebensaufgabe, die darin bestanden hätte, die lebensverändernde Macht der Kunst,106 die er || ‚Nachsommer‘ als Vorklang, S. 490). Heinrich Drendorf wird von seinem Vater „zu einem Wissenschaftler im Allgemeinen“ (Ns1, S. 17) bestimmt, nachdem er diesen „Lebensberuf von dem Vater selber verlangt“ (ebd.) hat, weil ihn, so Heinrich, „ein gewisser Drang meines Herzens dazu trieb“ (ebd.). 105 Stifter: Albumblatt, S. 52 (siehe Kap. 3, Anm. 163 und Abschnitt 3.3.5). 106 In einem der zahlreichen Gespräche, die der Mentor Risach später mit seinem Zögling Heinrich Drendorf führen wird, kommt die Vorstellung von der Macht der Kunst sogar wörtlich zur Sprache. Heinrich stellt hier die Frage, „ob denn der Künstler bei der Anlage seines Werkes

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schon früh an sich selbst erkannt hat,107 zu kanalisieren und auf andere zu übertragen. Wenn er auf seinem Alterssitz eine beachtliche Sammlung von Gemälden und Werken der bildenden Kunst und Literatur zusammenträgt, geht es also nicht in erster Linie um das Sammeln und Wiederherstellen von Kunstwerken um der Kunst willen (siehe auch Anm. 110 in diesem Kapitel). Risachs Sammlung ist Mittel zum Zweck, das es ihm erlaubt, seine Rolle als ‚Priester der Kunst‘ auszufüllen. Übersetzt man dies in eine weniger emphatische Ausdrucksform, so könnte man von einem Vermittler sprechen, der andere lehrt, von der Macht der Kunst zu profitieren.108 Dieses Wirken geht zwar über sein unmittelbares Umfeld nicht hinaus, prägt den Verlauf der Haupterzählung aber gleichwohl wie kaum ein anderes Vorstellungsmuster. In der Rosenhauswelt findet aber nicht nur eine späte Erfüllung von Risachs Berufung statt, andere von der Macht der Kunst profitieren zu lassen. Sie ist in der Tat als „doppelter Kompensationsversuch“109 gestaltet, bei dem es um mehr geht als um einen „Raum, in dem die Liebe zwischen Mathilde und Gustav von

|| seine Mitmenschen vor Augen habe, und dahin rechne, wie er es einrichten müsse, daß auf sie die Wirkung gemacht werde, die er beabsichtigt“ (Ns2, S. 60). Risach hegt „keinen Zweifel, daß es nicht so ist“ (ebd.); zwar habe es „wohl Menschen gegeben, welche berechnet haben, wie ein Erzeugniß auf die Mitmenschen wirken soll“ (ebd.), doch diese „waren nicht Künstler, während das durch die wirkliche Macht der Kunst Geschaffene, weil es die reine Blüthe der Menschheit ist, nach allen Zeiten wirkt und entzückt“ (Ns2, S. 61; Hervorhebung von mir). Wahre Kunst, so erscheint es hier, entsteht also nicht, indem eine intendierte Wirkung auf die Rezipienten vorausberechnet wird, sondern aus sich selbst. Nur so kann sie dauerhafte Wirkung entfalten. 107 Gegenüber Heinrich beschreibt Risach die „tiefe beseligende und einordnende Wirkung der Kunst“ (Seidler: Die Bedeutung der Mitte, S. 70) wie folgt: „[W]enn ich auch nur in meinem Zimmer vor meinen Gemälden stand, deren ich damals schon manche sammelte, oder vor einer kleinen Bildsäule: so verbreitete sich eine Ruhe und ein Wohlbehagen über mein Inneres, als wäre es in seine Ordnung gerückt worden“ (Ns3, S. 146). 108 Vgl. Möseneder: Schriften zur Kunst, S. 161 f. Möseneder erläutert unter Verweis auf die oben zitierten Textstellen (aus Ns3, S. 147 f.), dass Stifter im Nachsommer „eine soziale Führungs- und Mittlerrolle als säkularisierte Priester auch für die Interpreten von Kunstwerken“ (Möseneder: Schriften zur Kunst, S. 162) fordere. Der „kunstpädagogische Einsatz“ (ebd.) erscheine hier „quasi als sakrale Aufgabe“ (ebd.) und sei „untrennbar verbunden mit der Propagierung einer sittlichen Grundhaltung“ (ebd.). Diese Grundhaltung stehe in der Stifterschen Vorstellungswelt aber „in Opposition zu aller Leidenschaft“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum, wie zu Beginn dieses Abschnitts beschrieben, erst die Beschäftigung mit den „edelsten Kunstwerke[n]“ (Ns3, S. 224) Mathilde von ihrer Leidenschaft befreien kann. 109 Zumbusch: Der Nachsommer, S. 101.

374 | Wider die Leidenschaft: Der Nachsommer

Risach nachträglich gelebt werden kann“110. Während Risach in der Zeit, in der er als junger Mann zur Familie Makloden gehört, durchaus Erfolge als Erzieher aufweisen kann – noch im Trennungsgespräch bescheinigt Mathildes Mutter ihm: „Unser Alfred und auch Mathilde reiften an euch sehr schön empor“ (Ns3, S. 201) – hat die zerstörerische Kraft der Leidenschaft dafür gesorgt, dass er dieses Werk nicht vollenden konnte. Erst als alter Mann, der von allen Leidenschaften befreit ist, erhält er nach dem Wiedersehen mit Mathilde eine weitere Gelegenheit, sich als Erzieher zu beweisen, indem er Mathildes Sohn Gustav in die Welt des Asperhofes aufnimmt.111 Dieser Vorgang, den Risach im letzten Teil seines autobiografischen Rückblicks beschreibt, spielt für die Interpretation des Textes eine wichtige Rolle. Die Diskrepanz zwischen Risachs frühem Scheitern und Heinrichs fehlerlos verlaufendem Bildungsgang hat „bekanntlich dazu geführt, daß der Jugendgeschichte Risachs, wie sie das vorletzte Kapitel des Romans, ‚Der Rückblick‘, bringt, unter der vorherrschenden Perspektive der Bildungsgeschichte Heinrichs, inhaltlich und erzähltechnisch nur noch eine negative Funktion in Bezug auf diese Bildungsgeschichte zugesprochen wurde.“112 Das Wiedersehen mit Mathilde und vor allem die Aufnahme von Gustav als Ziehsohn gehören zwar nicht zu Risachs Jugendgeschichte, bilden aber einen ebenso wichtigen Teil seines Rückblicks wie die Geschichte der gescheiterten Jugendliebe. Gustav erhält durch seine Aufnahme in den Asperhof Zugang zu einer Welt, die sich ganz offensichtlich an dem orientiert, was Risach in seiner Jugend in Heinbach, dem Landsitz der Familie Makloden, „vorgebildet“113 fand: „[e]ine Ordnung der rituellen Wiederholung, eine Umgangsform äußerster Höflichkeit, eine Gartenkultur präzisester Akkuratesse“114. Im Vergleich mit Heinbach ist der Asperhof aber, wie ich später zeigen werde, in noch viel deutlicherer Weise als Mittelpunkt der kultivierten Natur gestaltet und geht in der Art und Weise, wie er angelegt ist und gepflegt wird, weit über das hinaus, was Risach während

|| 110 Ebd. Zumbusch führt die Liebe zwischen Risach und Mathilde hier als zweiten Aspekt an und führt vorher aus, dass „[d]ie Einrichtung des Rosenhauses“ (ebd.) es „der verhinderten Künstlernatur Risach“ (ebd.) erlaube, „sich als Sammler, Restaurator und Mäzen zu betätigen“ (ebd.). In meiner Interpretation erscheint Risach aber, wie oben ausgeführt, weniger als ‚verhinderte Künstlernatur‘, sondern als ehemals gescheiterter und nun in sein Amt eingesetzter Kunstvermittler. Das Gegenstück zu diesem Teil seiner Kompensationsanstrengungen bildet, wie ich im Folgenden ausführen werde, sein später Erfolg als Erzieher. 111 Vgl. Gamper: „Ich versuchte wieder und immer wieder“, S. 181. 112 Amann: Zwei Thesen, S. 181. 113 Saße: Familie als Traum und Trauma, S. 221. 114 Ebd.

Scheitern und Kompensation | 375

seiner Zeit in der Familie Makloden erlebt hat. In Adalbert Stifters erzählter Welt bedeutet ein solcher Unterschied: Die Voraussetzungen für das Gelingen von Erziehung und Bildung sind auf dem Asperhof nicht nur günstig, sondern ideal. Risachs später Erfolg als Erzieher Gustavs, als sein „Ziehvater“ (Ns1, S. 226), wie nur Gustav ihn nennt (vgl. ebd.), bereiten ihn auf seine „Adoption als Vater“115 vor; eine Rolle, in der er maßgeblichen Einfluss auf die nächste Generation nimmt. Schon beim ersten Zusammentreffen am Gartentor erkennt Risach aber auch Heinrich als mögliches Familienmitglied, wie er dem jungen Mann erst am Ende seines autobiografischen Rückblicks verrät: „Als ihr zum ersten Male an dem Gitter meines Hauses standet, und ich euch sah, dachte ich: ‚das ist vielleicht der Gatte für Natalien‘“ (Ns3, S. 225). Risach nimmt Heinrich bereitwillig in sein Haus auf, ermutigt ihn zu weiteren Besuchen und erkennt gemeinsam mit Mathilde das „Keimen der gegenseitigen Neigung“ (ebd.) zwischen Heinrich und Natalie. Deren Beständigkeit und Verlässlichkeit prüfen die beiden alten Leute sorgfältig, in dem sie „Natalien zwei Winter [absichtlich] nicht in die Stadt“ (ebd.) bringen, um ein Wiedersehen mit Heinrich zu verhindern. Als Partner Mathildes und Ziehvater ihres Bruders nimmt Risach hier also auch gegenüber Natalie die Rolle eines Vaters an und erhält schließlich das Recht zugesprochen, seine Zustimmung zum Bund zwischen ihr und Heinrich zu erteilen. Er wird, in Heinrichs Worten, für beide zu einem „neuen Vater“ (Ns3, S. 279). Die Macht der Familie kompensiert auf diese Weise sowohl Risachs frühes Unglück als Sohn, der seine Herkunftsfamilie verliert, als auch sein Scheitern als Adoptivsohn der Familie Makloden. In diesem Zusammenhang erschließt sich eine Deutungsmöglichkeit für die titelgebende Metapher vom ‚Nachsommer‘, die Gustav von Risach selbst im Gespräch verwendet. Die entsprechende Passage lautet: Zwischen Mathilden und mir war ein eigenes Verhältniß. [...] Mathilde nimmt Antheil an jeder meiner Bestrebungen. Sie [...] ist mit mir in dem Garten [...], und sie betheiligt sich an unserer Kunst und selbst an unsern wissenschaftlichen Bestrebungen. Ich sehe in ihrem Hause nach, [...] und schloß die Erziehung und die Zukunft ihrer Kinder in mein Herz. So leben wir in Glück und Stettigkeit [sic] gleichsam einen Nachsommer ohne vorhergegangenen Sommer. [...] [I]ch habe Menschen an mich gezogen, ich habe hier mehr gelernt als sonst in meinem ganzen Leben, die Spielereien gehen ihren Gang, und etwas Weniges nüze ich doch auch noch. (Ns3, S. 223 f.; Hervorhebungen von mir)

|| 115 Schäublin: Familiales in Stifters Nachsommer, S. 94. In diesem späten Adoptionsakt, so Schäublin, werde „[d]ie Adoption Risachs als Sohn, die ja koinzidiert mit dem neuerlichen Verlust der Familie, […] nachgeholt“ (ebd.).

376 | Wider die Leidenschaft: Der Nachsommer

Wie oben bereits angeführt, spricht Risach gegenüber Heinrich schon an einer früheren Stelle seines autobiografischen Berichts von den „dürftigen[] Spätblüthen“ (Ns3, S. 148; Hervorhebung von mir) seines Wirkens, die „den Sommer […] nicht ersezen“ (ebd.) können. In Übereinstimmung damit nimmt er auch hier eine Abwertung seines spät gefundenen Glücks vor, indem er von ‚Spielereien‘ spricht und seinen Nutzen auf ein ‚Weniges‘ reduziert. Sowohl die vermittelnde Beschäftigung mit der Kunst, an der Mathilde nun als seine Partnerin beteiligt ist, als auch Risachs erfolgreiche Tätigkeit als Erzieher zeigen aber die wahre Qualität dieser späten Blüten auf. Deswegen ist es nur zu konsequent, dass Risach diese Lebensphase eben nicht, wie es auch denkbar gewesen wäre, als ‚Herbst seines Lebens‘, also als eine Zeit des Zu-Ende-Gehens und des Verfalls beschreibt, sondern als einen ‚Nachsommer‘. Wie sich in den folgenden Abschnitten zeigen wird, ist die Tiefe der titelgebenden Metapher damit aber noch nicht ausgelotet. Schließlich bietet die Zeit des Nachsommers nicht nur späten Blüten Raum, sondern lässt auch eine frühzeitige Ernte zu. Auf das Prinzip eines Bildungsgangs übertragen bedeutet dies: Verläuft dieser nach Plan, kann die Entfaltung und Erfüllung eines Lebensentwurfs schon früh gelingen.

7.4 Entfaltung und Erfüllung Während die Frage, ob der Nachsommer als Bildungsroman zu bezeichnen ist, von der Forschung kontrovers diskutiert wurde (siehe Anm. 38 in diesem Kapitel), kann, wie bereits ausgeführt, kein Zweifel daran bestehen, dass der Text von einem Entwicklungsprozess berichtet, den der Protagonist Heinrich Drendorf durchläuft. Dieser Prozess kündigt sich schon im zweiten Kapitel an, als Heinrich mit den finanziellen Mitteln, die sein Vater ihm zur Verfügung stellt, erfolgreich wirtschaftet (vgl. Ns1, S. 26) und schließlich dessen Erlaubnis erhält, einen Teil des Sommers im „Hause[] eines Landmanns“ (Ns1, S. 28) zu verbringen, welches so weit von seinem Elternhaus entfernt liegt, dass Heinrich zum ersten Mal von seiner Familie getrennt wird. Er bewertet diese Zeit im Rückblick wie folgt: „Dieser Aufenthalt brachte Veränderungen in mir hervor“ (ebd.). Heinrich legt es zwar auch in dieser Phase seines Lebens vor allem darauf an, „nach dem Wunsche und dem Willen der Eltern zu verfahren, um ihnen Freude zu machen“ (NS1, S. 26), beginnt aber trotzdem, sich von seiner Herkunftsfamilie zu lösen: Die ersten Kapitel des Romans „handeln […] von einer Primärsozialisation, an die sich eine Sekundärsozialisation anschließt“116. Um

|| 116 Ebd., S. 86.

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einen Übergang zwischen diesen beiden Phasen zu ermöglichen, müssen Vater und Mutter einen Schritt zurücktreten und den Platz für eine neue Bildungsinstanz freimachen, die in der Gestalt Gustav von Risachs in Heinrichs Leben tritt. Unter Risachs „Obhut und Anleitung“117 durchläuft Heinrich einen Bildungsgang, der in der Forschung häufig in unterschiedliche Phasen eingeteilt oder vor dem Hintergrund verschiedener Einflussfaktoren beschrieben wird.118 Obwohl sich die Topoi, um die es bei der Analyse dieses Prozesses gehen wird, mit einer gewissen Gleichzeitigkeit an die Figur Heinrich Drendorf anlagern – ein Beispiel bildet der Topos von der Macht der Familie, dessen Ausprägungen von Anfang an im Text präsent sind –, werde ich diesem Ansatz in den folgenden drei Abschnitten folgen. Dabei soll ein Ablauf im Detail nachgezeichnet werden, den man vorab wie folgt zusammenfassen könnte: Heinrich begibt sich an einen Ort, der als Mittelpunkt der kultivierten Natur in besonderer Weise geeignet ist, um Bildungsgänge gelingen zu lassen. An diesem Ort erkennt er, welche Rolle die Kunst in seinem Leben spielen sollte. Dies ermöglicht es ihm, ohne Leidenschaft zu lieben, um die Gründung einer idealen Familie sicherzustellen.

|| 117 Ebd. 118 Für Herbert Seidler, der die Kapitel des Romans fortlaufend über seine drei Bände zählt, um die zentrale Stellung des in seiner Zählung neunten Kapitels (d. i. Bd. 2, Kap. 2) herauszuarbeiten, „[gestalten] [d]ie Kapitel 1–8 in ziemlich deutlicher Folge die Stufen von Heinrichs Bildungsgang“ (ders.: Die Bedeutung der Mitte, S. 62). Seidler ordnet diesen Stufen die folgenden Bereiche zu: „Wissenschaft […], Erlebnis der Natur, […] den „bildnerischen Bereich des Menschlichen; […] die Kunst“ (ebd., S. 62 f.). Peter Uwe Hohendahl weist darauf hin, dass an Heinrichs Beispiel vorgeführt werde, „wie in idealer Weise ein Bildungsprozeß ablaufen wird. Jeder auf die Vollendung zuführende Schritt ist exemplarisch. Heinrich beginnt als sammelnder Beobachter der Natur, nähert sich dann der bildenden Kunst und findet schließlich den Zugang zur Literatur“ (ders.: Die gebildete Gemeinschaft, S. 340). Roland Duhamel teilt „Heinrichs Bildungsprozess“ (ders.: Natur und Kunst, S. 153) in zehn Phasen ein, die „nicht so sehr Phasen psychologischer Natur“ (ebd.) seien, sondern der Erschließung „immer neuer Objektoder Dingbereiche" (ebd.) dienten. Christian Begemann deutet Heinrichs Entwicklung als „systematische[n] Prozeß einer Modellierung des Ichs“ (ders.: Adalbert Stifter: Der Nachsommer, S. 215) und sieht den „Plan einer grundlegenden und umfassenden Ausbildung […] mit eherner Konsequenz verfolgt. Drei Hauptstationen ließen sich unterscheiden: Natur – Geschichte und Kunst – Liebe“ (ebd.). Sabina Becker schließlich beschreibt die „Bändigung der Natur“ (dies.: Bürgerlicher Realismus, S. 205) in der „Rosenhauswelt“ (ebd.) sowie Kunst, Liebe und Bildung als „Moment[e] eines gelungenen Bildungsganges“ (ebd., S. 210).

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7.4.1 Ankunft auf dem Mittelpunkt Den Beginn der Erzieher-Zögling-Beziehung zwischen Risach und Heinrich markiert bezeichnenderweise eine Meinungsverschiedenheit über ein Naturphänomen. Auf Heinrichs Behauptung, dass „ein Gewitter im Anzuge“ (Ns1, S. 49) sei, erwidert Risach, dass der junge Mann „in Naturdingen eine Unrichtigkeit gesagt“ (NS1, S. 50) habe. Diesen „Irrthum“ (Ns1, S. 51) müsse er „berichtigen; denn in Sachen der Natur muß auf Wahrheit gesehen werden“ (ebd.). In der Tat wird es nicht nur bei diesem Besuch, sondern auch bei den folgenden Aufenthalten Heinrichs auf dem Asperhof vor allem um ‚Naturdinge‘ gehen, die für ihn als „Kind der großen Stadt“ (Ns1, S. 71), wie er sich selbst bezeichnet, neu sind. Das Motiv einer wertenden Abgrenzung zwischen den Bereichen von Stadt und Land, die aus Heinrichs Perspektive vorgenommen wird, prägt den Roman. Bereits im ersten Kapitel berichtet Heinrich von einem Umzug seiner Familie, die ihren Lebensmittelpunkt „von dem alten finstern Stadthause in das freundliche und geräumige der Vorstadt“ (Ns, S. 13) verlagert, womit sie „gleichsam das ganze Jahr hindurch auf dem Lande wohnen konnte[]“ (ebd.). Die Stadt, in der die Familie Drendorf wohnt, wird im Text an keiner Stelle mit der Bezeichnung ‚Wien‘ belegt, sondern lediglich als die „Hauptstadt eines großen Reiches“ (Ns1, S. 187) bezeichnet.119 Dessen ungeachtet erinnert die Unterscheidung zwischen Innenstadt und Vorstadt, die Heinrich hier vornimmt, deutlich an die Schauplätze in der Erzählung Turmalin, in welcher die Vorstadt den Bereich darstellt, in dem Erziehung und Bildung gelingen können, während sich das Scheitern des Rentherrn in einer Wohnung im Wiener Stadtzentrum abspielt (siehe Abschnitt 3.3.4). Diese frühe räumliche Annäherung der Familie Drendorf an den Mittelpunkt der kultivierten Natur stellt ein weiteres Beispiel für die Konsequenz dar, mit der Stifter seine Figuren auf der Natur-Kultur-Skala positioniert. Schließlich kommt Heinrichs Herkunftsfamilie für dessen noch zu diskutierende Aufgabe, seinerseits eine ideale Familie zu gründen, eine wichtige Vorbildfunktion zu, die sie – der topischen Logik des Stifterschen Erzählens folgend – nicht in überzeugender Weise wahrnehmen könnte, wenn sich ihr Lebensmittelpunkt weiter in einem finsteren Stadthaus befinden würde. In ähnlicher Weise lässt sich Heinrichs späterer Kommentar zur Ausweitung der gesellschaftlichen Beziehungen seiner Familie deuten, in dem er bemerkt, dass

|| 119 Vgl. Borchmeyer: Stifters Nachsommer, S. 63, Anm. 17.

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das Familienleben „bisher ein sehr einfaches und beinah ländliches gewesen“ (Ns1, S. 187) sei.120 Heinrichs Herkunftsfamilie ist also nicht in einer Weise an das Stadtleben gebunden, die späteren Veränderungen im Wege stehen würde oder ihn in der Welt des Asperhofes als inkompatiblen Fremdling erscheinen lassen würde. Trotzdem betritt der junge Mann mit dem Schritt durch Risachs Gartentor nicht nur einen „industriefreien und modernefernen Naturraum“121, sondern sieht sich einem „Programm der Totalisierung eines integrierten Natur-KulturRaums“122 ausgesetzt, das ihn nicht nur tief beeindruckt, sondern auch verändert.123 So wird er später im Gespräch mit Risach die „Annehmlichkeiten“ (Ns2, S. 224) des Landlebens hervorheben und dessen Aussage, dass das „gesellschaftliche Leben in den Städten […] nicht ersprießlich“ (Ns2, S. 225) sei, nichts entgegensetzen. Kurz bevor Heinrich Natalie seine Liebe gesteht, spricht er im Zusammenhang mit der Reinheit des Wassers sogar von den „gesundheitsverderbenden Städten“ (Ns2, S. 258).124 || 120 Vgl. Borchmeyer: Ideologie der Familie, S. 228. Borchmeyer setzt diese Bemerkung Heinrichs mit einer „Privatisierung des Häuslichen“ (ebd.) in Beziehung, die sich an der Familie Drendorf erweise. Die „abgeschattete Intimität“ (ebd.) des Häuslichen zeige sich auch darin, dass die Kinder weder eine öffentliche Schule noch das Theater besuchen dürften. Vor diesem Hintergrund sei es „nicht verwunderlich“ (ebd.), dass Heinrichs Vater die Familie in ein Vorstadthaus umziehen lässt. Tatsächlich erscheint dieser Schritt auch auf der Handlungsebene des Romans plausibel, was meiner These von der immanenten Notwendigkeit, Figuren auf der Natur-Kultur-Skala weiter in deren Mitte zu bewegen, aber nicht widerspricht. 121 Becker: Nachsommerliche Sublimationsrituale, S. 331. 122 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 350. 123 Vgl. Mayer: Adalbert Stifter, S. 146. Mayer bezeichnet den Asperhof als „idealisierten Raum“ (ebd.), „der für seine [Heinrichs; H. A.] Entwicklung fortan bestimmend bleiben soll“ (ebd.). 124 Im Text finden sich über alle drei Bände hinweg zahlreiche weitere, wertende Vergleiche der Bereiche von Stadt und Land, wobei Heinrich die Kompatibilität zwischen den Zuständen auf dem Asperhof und denen in seinem vorstädtischen Elternhaus mehrfach hervorhebt. Die folgenden Textstellen führe ich exemplarisch an, um die Fülle solcher Vergleiche im Text zu illustrieren. Während Heinrich das Rosenhaus, als er es bei der ersten Annäherung aus der Ferne betrachtet, „weder ein Bauerhaus noch irgend ein Wirthschaftsgebäude eines Bürgers zu sein schien, sondern eher dem Landhause eines Städters glich“ (Ns1, S. 46), erkennt er gleich beim ersten Besuch des Asperhof-Gartens, dass es „kein Garten [war], wie man sie gerne hinter und neben den Landhäusern der Städter anlegt“ (Ns1, S. 60), um „unfruchtbare oder höchstens Zierfrüchte tragende Gebüsche und Bäume“ (ebd.) anzupflanzen. Der Garten erinnert ihn vielmehr „an den meiner Eltern bei dem Vorstadthause“ (ebd.) und empfängt ihn „mit dem Gefühle der Häuslichkeit und Nützlichkeit“ (ebd.). Schon bei seiner ersten Rückkehr in die Stadt bemerkt Heinrich, dass ihn „die schönen Waarenauslagen und das Ansehnliche der Gebäude befremdeten und beengten“ (Ns1, S. 181); er empfindet sie als einen „Gegensaz zu

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Unabhängig von landschaftlichen Details der Realität, von denen sich der Nachsommer in einer Weise löst, die es „dem Leser überläßt, die geographischen Schauplätze des Romans zu finden“125, findet im Text also eine räumliche und wertende Abgrenzung zwischen der Welt des Asperhofs und der Großstadt statt. Die Stadt ist aber nur einer von zwei Bereichen, die Heinrich vom Asperhof aus, der im Textverlauf mit zunehmender Deutlichkeit zum Ausgangspunkt seiner Fahrten wird,126 immer wieder aufsucht: Das Rosenhaus bildet „Ausgangspunkt und Mitte auch für das immer tiefere und höhere Vorstoßen ins Gebirge“127, das auf der Natur-Kultur-Skala den Bereich der Wildnis repräsentiert. Als Beleg für eine Lesart, die das Gebirge mit dem Bereich der Wildnis gleichsetzt, kann unter anderem eine Passage im dritten Kapitel des zweiten

|| meinem Landaufenthalte“ (ebd.). Bei seinen Spaziergängen „durch die Gassen der Stadt“ (Ns1, S. 186) kommt ihm die Erinnerung an seinen ersten Aufenthalt bei Risach vor, als habe er davon „in einem Märchenbuche gelesen“ (ebd.); erst im Hause seiner Eltern, das dem Rosenhaus gleicht, „war er [Risach; H. A.] wieder wirklich, und paßte hieher als Vergleichsgegenstand“ (ebd.). Der umgekehrte Effekt stellt sich ein, als Heinrich auf den Asperhof zurückkehrt, und wird positiv untermalt, indem der Text das aus der Vorrede zu den Bunten Steinen bekannte Vorstellungsmuster vom Großen und Kleinen aufruft: „[N]un, da ich hier bin und das Ruhige vor mir sehe, ist mir dieses Wesen [das Wesen Risachs; H. A.] wieder wirklich und das Stadtleben ein Märchen. Großes ist mir klein, Kleines ist mir groß“ (Ns1, S. 217; vgl. Stifter: Vorrede (HKG 2,2), S. 19). Als die Wildnis in Form von Glatteis in Richtung Stadt vordringt, so dass der „Weg zwischen den Bäumen auf dem freien Raume vor der Stadt durch […] Eis gleichsam mit Glas überzogen“ (Ns1, S. 193) scheint, lässt dies die anderen Stadtbewohner immer wieder ausgleiten, während Heinrich sich „an schwierige Wege gewöhnt […] auf der Mitte der Eisbahn ohne Beschwerde“ (ebd.) fortzubewegen vermag. Risachs „seltsame Kleidung und seine Gewohnheit immer barhäuptig zu gehen“ (Ns1, S. 226) empfindet Heinrich bei seiner ersten Rückkehr auf den Asperhof nicht mehr als befremdlich, sondern als stimmig, während ihm „im Gegentheile ein[fiel], daß manches nicht geschmackvoll sei, was wir so heißen, am wenigsten der Stadtrock und der Stadthut der Männer“ (Ns1, S. 227). Die Zimmer, die Risach für Mathilde und Natalie auf dem Asperhof eingerichtet hat, verzichten auf die „vielen Spielereien […], mit denen gerne zwar nicht bei meinen Eltern aber an anderen Orten unserer Stadt die Zimmer der Frauen angefüllt sind“ (Ns1, S. 299). Im Vergleich mit dem „Antlitz“ (Ns2, S. 166) von Risachs Ziehsohn Gustav, das „so kräftig [war], daß es vor Gesundheit zu schwellen schien“ (ebd.), deutet Heinrich die „Mienen der Jünglinge unserer Stadt“ (ebd.) dahingehend, dass „ihr Geist verzogen worden sein mag“ (ebd.). Anlässlich eines Festes, das auf dem Sternenhof gegeben wird, vergleicht Heinrich die Festkultur auf dem Land mit der in der Stadt und kommt zu dem Schluss, dass „man auf dem Lande viel gastfreundlicher [ist] als in der Stadt“ (Ns2, S. 218) und Versammlungen „viel fröhlicher ungezwungener und auch herzlicher“ (ebd.) begeht. 125 Borchmeyer: Stifters Nachsommer, S. 63, Anm. 17. 126 Vgl. Seidler: Die Bedeutung der Mitte, S. 74. 127 Ebd.

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Bandes dienen, in der Heinrich beschreibt, wie er sich – in diesem Fall gleich nach dem winterlichen Aufenthalt in der Stadt128 – „[a]n einer Stelle, wo das Gebirge weit verzweigt und wild verflochten […] war“ (Ns2, S. 182), niederlässt. Er mietet sich hier ein Zimmer in einem Gasthaus, das von „finstern Tannen“ (Ns2, S. 183) gerahmt in einem engen Thal liegt. Geführt von „einfachen gutmüthigen Leuten, die einen kleinen Gedankenkreis hatten“ (Ns2, S. 184), bildet es in Variation eines Motivs aus der Narrenburg (siehe Abschnitt 3.2.4) die Anlaufstelle für „Holzknechte[], welche in den großen Wäldern zerstreut waren, und welche gerne an Samstagen oder an Tagen vor großen Festen heraus kamen, um zu den Ihrigen zu gehen“ (Ns2, S. 184). Sie machen im Gasthaus am Rande der Wildnis Station, „um sich ein Gutes zu thun“ (ebd.). In stundenlangen Wanderungen durch die „Wälder in das Freie der Berge hinaus“ (Ns2, S. 185) gelangen Heinrich und seine Begleiter „[i]n die wildesten und abgelegensten Gründe“ (ebd.) und in eine Tier- und Pflanzenwelt, die „in Jahrhunderten kein menschliches Auge gesehen hatte“ (ebd.). Die angeführten Textstellen mögen schon genügen, um zu illustrieren, warum das Gebirge, das Heinrich hier erforscht, mit der Sphäre der Wildnis gleichzusetzen ist. Heinrich verwendet diesen Begriff auch in der Unterhaltung mit Natalie, nachdem die beiden sich gegenseitig ihre Liebe gestanden haben: „[I]ch bin auf den Rath eures Freundes einen Sommer beschäftigungslos in dem Asperhofe gewesen, bin dann wieder in die Wildniß gegangen und zu der Grenze des Eises emporgestiegen“ (Ns2, S. 261). Davon abgesehen geht der Text hier aber explizit auf einen Aspekt ein, der im Zusammenhang mit der Natur-KulturSkala in Stifters erzählter Welt immer wieder eine wichtige Rolle spielt. Die Rede ist von dem Bestreben, sich die Wildnis untertan zu machen und schrittweise in kultivierte Natur zu verwandeln. Heinrich spricht an dieser Stelle darüber, dass

|| 128 Die Tatsache, dass Heinrich diese Forschungsreise nicht mit einem Umweg über den Asperhof verbindet, erklärt sich aus dem Geschehen im vorherigen Kapitel, in dem er Risachs Rat befolgt, „den ganzen Sommer über blos für mein Vergnügen zu leben“ (Ns2, S. 118) und längere Zeit ohne zielgerichtete Beschäftigung auf dem Asperhof verbringt, „diesem Size […], der das Herz den Verstand und das ganze Wesen eines jungen Mannes so zu bilden geeignet sei“ (Ns2, S. 118 f.), wie Heinrich gegenüber Mathilde ausführt. Diese Zeit des Müßiggangs lässt aber, so Heinrich in der Passage, um die es oben geht, „doch etwas Unliebes in dem Grunde meines Innern zurück“ (Ns2, S. 181), nämlich das „Bewußtsein, daß ich in meinem Berufe nicht weiter gearbeitet habe“ (ebd.). Deswegen fasst er den Entschluss, den nächsten Sommer mit „einer festen und angestrengten Thätigkeit“ (Ns2, S. 182) zu verbringen und reist von der Stadt ohne Umwege ins Gebirge. Trotzdem bildet der Asperhof zu diesem Zeitpunkt bereits den Mittelpunkt seines Kommens und Gehens, was sich auch daran zeigt, dass Heinrich sich „[z]ur Zeit der Rosenblüthe […] eine Unterbrechung gönn[t]“ (Ns2, S. 187) und den Asperhof besucht.

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„der Mensch einen Trieb hat, die Natur zu besiegen, und sich zu ihrem Herrn zu machen“ (ebd.), was sich auch auf den „Bergbewohner“ (ebd.) übertragen lasse, der „seine Berge, die er lieb hat, zu zähmen [sucht]“ (ebd.). Unabhängig von den exakten geografischen Verhältnissen und Gegebenheiten129 erzeugt der Text durch Heinrichs wiederholte Bewegungen zwischen dem Gebirge und der in der Ebene liegenden Stadt ein Gefälle, positioniert den Asperhof auf dessen Mittelpunkt und erzeugt somit ein Konstrukt, das sich eindeutig auf der Natur-KulturSkala abbilden lässt:

Gebirge (Wildnis) −−

Asperhof/Hügellandschaft (Kultivierte Natur) −

+

Stadt/Ebene (Hochkultur) −

−−

Abb. 16: Topografische Bereiche im Nachsommer130

Allerdings sprechen gerade aufgrund der fehlenden geografischen Exaktheit zunächst einmal keine Gründe dafür, den Asperhof näher am Mittelpunkt der kultivierten Natur zu positionieren als etwa den Hof der Familie Makloden oder den Inghof. Aus der Makroperspektive ist der Unterschied zwischen diesen drei Schauplätzen nicht deutlich erkennbar. Verringert man jedoch die Entfernung, wie der Text es bei Heinrichs erster Annäherung an den Asperhof vorführt (vgl. Ns1, S. 46 f.), tritt sowohl durch „die zentrale Lage des Hauses auf dem Hügel und seine Abgetrenntheit von den übrigen Siedlungen“131 als auch durch die

|| 129 Heinrich schildert in dieser Passage, dass er während dieser Reise „auf die Gipfel hoher Berge zu gelangen [suchte], wenn mich selbst eben meine Beschäftigung nicht dahin führte“ (Ns2, S. 186). Von dort aus hält er Ausschau in verschiedene Richtungen und betrachtet sowohl die „Gegend, wo gleichsam wie in einen staubigen Nebel getaucht die Stadt sein mußte“ (ebd.), als auch die „Höhen, […] auf denen das Asperhaus sein mußte und der Sternenhof“ (ebd.). Der Text nimmt aber weder Bezug auf die Himmelsrichtungen, in die Heinrich Ausschau hält, noch auf Entfernungen zwischen den genannten Punkten. 130 Vgl. Becker: Bürgerlicher Realismus, S. 205 f. Becker beschreibt die Welt des Rosenhauses als „Zwischenraum“ (ebd., S. 206), der zwischen dem „für den Menschen bedrohliche[n] Hochgebirge der Alpen“ (ebd., S. 206) und dem „großstädtischen Raum[]“ (ebd.) angesiedelt sei. Als „Produkt einer ‚Zucht‘ von Menschenhand“ (ebd.) stelle dieser Zwischenraum „einen Ort der Begegnung und Synthese zwischen unkultivierter Natur und großstädtischer Kaufmanns- und Großstadtwelt dar“ (ebd.). 131 Seidler: Die Bedeutung der Mitte, S. 71.

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Lage des Rosenhauses „mitten im Gut“132 der Charakter eines Mittelpunkts offen zu Tage.133 Die Ausprägungen des Topos vom Mittelpunkt der kultivierten Natur, die in den bisher untersuchten Texten nachgewiesen werden konnten, zeichnen sich in der Regel durch zwei Eigenschaften aus: Zum einen weisen die Texte einem bestimmten Ort durch topografische und geografische Informationen eine Mittelstellung zu. Diese Eigenschaft kommt, wie ich oben gezeigt habe, auch dem Asperhof und dem darauf befindlichen Rosenhaus zu. Die zweite Eigenschaft hat mit der oben ebenfalls bereits angesprochenen, von Heinrich Drendorf explizit formulierten Vorstellung zu tun, dass der Mensch sich die Wildnis untertan machen und ihr seinen Lebensraum abringen müsse, indem er sie in kultivierte Natur verwandelt. In diesem Zusammenhang stellt die Gestaltung der Räume und Abläufe auf dem Asperhof keinen „Zufall, sondern ein signifikantes Faktum“134 dar, weil sie Heinrich mit dieser Tätigkeit des Hervorbringens kultivierter Natur sozusagen in Reinform konfrontiert und zeigt, wie der Text darum bemüht ist, „die Grenze zwischen Kultur und Natur […] zu schleifen“135. Die Koordination und Anleitung der Arbeit, die auf dieses Ziel ausgerichtet ist und Risachs Garten einen Zustand höchster Artifizialität und Perfektion verleiht,136 bildet neben der Tätigkeit als Restaurator und Vermittler der Kunst eine Haupt-

|| 132 Ebd. 133 Vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 327 f. Begemann vergleicht Risachs Anwesen mit dem Hof in Kazensilber und weist darauf hin, dass der Asperhof „durch Hügellage exponiert“ (ebd., S. 327) sei und durch die Abriegelung von der Umgebung „durch ein Gitter einerseits und eine verschließbare Planke andererseits [...] in Restbeständen dem gegenbildlichen Charakter der glücklichen Insel Rechnung“ (ebd.) trage. Auch wenn die Differenz zwischen dem Asperhof und den ihn umgebenden Getreidefeldern, die ebenfalls „Kulturland“ (ebd.) darstellten, minimiert sei, müsse die „Hervorhebung des idealen Lebensraums […] im Auge behalten werden“ (ebd., S. 327 f.). 134 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 346. Begemann analysiert die Kultivierungsanstrengungen, die auf dem Asperhof betrieben werden, treffend und bildet seinen Befund an dieser Stelle auf den Subjektivismus von Stifters Figuren ab: „[I]m Innersten von Risachs vermeintlich ökologischer Kulturation der Natur [ist] wieder nur das Subjekt am Werk [...], das sein eigenes Begehren der Absicht der Natur selbst unterschiebt“ (ebd.). 135 Ebd., S. 348. 136 Vgl. Gottwald: Beobachtungen zum Motiv des Landschaftsgartens, S. 132 f. Gottwald arbeitet im Vergleich mit der Darstellung des Landschaftsgartens in den späten Fassungen der Mappe meines Urgroßvaters heraus, dass „[d]er Garten des Rosenhauses [...] in seiner Künstlichkeit und extremen Konstruiertheit von Anfang an klar erkennbar [ist]“ (ebd., S. 132). Dieser Garten, so Gottwald weiter, sei „schon rein äußerlich eine überaus kunstvolle und zugleich höchst künstliche Anlage, ohne zugleich illusionistisch zu sein“ (ebd., S. 133).

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beschäftigung des Hausherrn. Sie ist darauf ausgerichtet, zu „[h]elfen, daß jedes Ding seine Möglichkeiten voll entfalten kann“137. Die Art und Weise, wie Risach die Singvögel in seinem Garten in den Prozess der Pflanzenpflege einbindet, illustriert die Funktionsweise des Systems, das den Abläufen auf dem Asperhof zugrunde liegt. Im fünften Kapitel des ersten Bandes macht Risach seinen Besucher Heinrich in seitenlangen Erläuterungen damit vertraut, wie die heimischen Singvögel als „angenehme[] Arbeiter“ (Ns1, S. 152) eingespannt werden können, um nicht nur „die Gesträuche die kleinen Pflanzen“ (ebd.) von Ungeziefer zu „reinigen“ (ebd.), sondern vor allem auch die Rosen, die eine ganze Hauswand bedecken und den Asperhof symbolisch mit dem Ort von Risachs Scheitern, dem Hof der Familie Makloden, verbinden.138 Durch ein „genau berechnetes Fütterungssystem“139 lässt sich erreichen, dass sich eine ausreichende Anzahl von Singvögeln auf dem Asperhof niederlässt, die ihren Resthunger mit Raupen und anderen Schädlingen stillen. In diesem Zusammenhang zeigt sich zunächst einmal, dass der Nachsommer auch im Hinblick auf seinen wichtigsten Schauplatz, den Asperhof – so nahe die Zustände hier einer Idylle auch kommen mögen –, zwischen den Sphären von Wildnis, kultivierter Natur und Hochkultur zu unterscheiden weiß und darum bemüht ist, die hier „allerdings fast völlig latent gewordene[] […] Bedrohlichkeit der Natur“140 abzuwehren. Risachs Aussage, dass das „Vogelgeschlecht“ (Ns1, S. 159) zu Schutz und Pflege der Bäume und Rosenstöcke „von Gott […] bestimmt worden“ (ebd.) sei, ist nämlich keineswegs pauschal auf alle Vogelarten anwendbar. Während die „kleineren Vögel, die wir in unserem Garten brauchen“ (Ns1, S. 154), unter Risachs Schutz stehen, sind „[d]ie großen,

|| 137 Seidler: Die Bedeutung der Mitte, S. 82. 138 Zur Rosensymbolik vgl. Gottwald: Beobachtungen zum Motiv des Landschaftsgartens, S. 134. Mathias Mayer weist den „Rosen-Zeichen“ (ders.: Adalbert Stifter, S. 161) des Romans weitere Funktionen zu. So stehe die Rose „vermittelnd zwischen Natur und Kultur“ (ebd.), „indem sie durch eine rigorose Regie im natürlichen Haushalt zu optimalen Bedingungen gebracht wird“ (ebd.), und sie determiniere durch ihre Blütezeit das „fixe Datum der sozialen Kommunikation“ (ebd.). Cornelia Zumbusch ergänzt die genannten Deutungsmöglichkeiten um einen weiteren Aspekt: In Heinrichs Wahrnehmung würden die „am Gitter gehaltenen Rosen“ (dies.: Der Nachsommer, S. 102) „mit „aisthetischem Überwältigungspotential“ (ebd.) ausgestattet und damit „zwischen der Natur und der Kunst als einem weiteren großen Thema des Romans [situiert]“ (ebd.). 139 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 344. 140 Ebd., S. 348. Die oben zitierte Formulierung von der ‚Bedrohlichkeit der Natur‘ ist ein weiterer Beleg dafür, dass sich das Verhältnis von Natur und Kultur bei Stifter genauer beschreiben lässt, wenn man von drei unterschiedlichen Sphären ausgeht und diese mit den Begriffen ‚Wildnis‘, ‚kultivierte Natur‘ und ‚Hochkultur‘ belegt.

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welche sich mit Schnabel Krallen und Flügeln vertheidigen können, [...] bei uns eher Feinde als Freunde, und werden nicht geduldet“ (ebd.). Zu welchen Folgen die Nichtduldung eines Wildtieres auf dem Asperhof führen kann, zeigt sich an einem Beispiel: Der „Rothschwanz“ (Ns1, S. 170) habe sich durch Angriffe auf das „Bienenhause“ (ebd.) im Garten Risachs als ein „böse[r] Feind“ (ebd.) erwiesen: „Da half nichts als ihn ohne Gnade mit der Windbüchse zu tödten“ (ebd.). Dass es sich hier nicht um eine spontane Reaktion auf einen Einzelfall handelt, sondern um ein planmäßiges Ausschließen der Wildnis aus dem Bereich der kultivierten Natur, zeigt sich daran, dass die Bewohner des Asperhofs weitere Angriffe des Rotschwanzes zu vermeiden wissen, indem sie „beinahe in Ordnung Wache halten, und die Verfolgung fortsezen, bis dieses Geschlecht ausblieb“ (ebd.). Dieser Vorgang stellt vor dem Hintergrund der bisher diskutierten Ausprägungen des Topos vom Mittelpunkt der kultivierten Natur keine grundsätzliche Neuerung dar. So wie schon die Holzknechte in der Narrenburg der Wildnis entgegentreten, indem sie im Böhmerwald Holzwirtschaft betreiben und ihr Vieh auf den Bergwiesen weiden, so wie sich die Hofbewohner in Kazensilber dem Einbruch der Wildnis in Form von Hagelsturm und Feuer entgegenstellen, und so wie die Bewohner von Thal ob Pirling in den beiden hier untersuchten Fassungen der Mappe dem Wald ihren Lebensunterhalt abringen oder die Infrastruktur durch Ausbau des Wegenetzes verbessern, so stellen sich die Bewohner des Asperhofs Eindringlingen entgegen, die eine Bedrohung für Nützlinge darstellen und das Gleichgewicht des Risachschen Systems in Gefahr bringen. Ein anderer Aspekt dieses Systems, das die Singvögel als Arbeiter in den Dienst der Pflanzenpflege stellt, unterscheidet den Nachsommer jedoch von den genannten Texten, denn der Vorgang der kultivierenden Arbeit an der Natur wird hier in einer Weise auf die Spitze getrieben, die seine allgemeine Anwendbarkeit in Frage stellen muss. Zwar scheint Risach dies zu fordern, wenn er bemerkt, dass „[m]an […] uns in diesem Hegen von Vögeln in einem Garten nicht nachgeahmt [hat]“ (Ns1, S. 161), sondern im Gegenteil „Singvögel nicht des Gesanges wegen fängt, sondern sie […] tödtet, um sie zu essen“ (Ns1, S. 162); eine Praxis, die „ohne Weiteres verabscheut werden“ (ebd.) müsse. Auf dieser Weise beraube das „menschliche[] Geschlechte“ (Ns1, S. 163) sich der Möglichkeit, „durch Länder wie durch schöne Gärten“ (ebd.) zu gehen und den „Anblick der gänzlichen Kahlheit und der traurigen Verödung“ (ebd.) zu vermeiden. Paradoxerweise lässt der Text aber, ebenfalls in Risachs Worten, offen erkennen, dass der Umgang mit den Singvögeln auf dem Asperhof in angrenzenden Bereichen, die

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nicht mehr zum unmittelbaren Mittelpunkt der kultivierten Natur gehören, einen „Destruktionsprozeß“141 auslöst und zu Schäden führt, die als Kosten für das Erreichen eines Idealzustands in Kauf genommen werden.142 Jahre mit „ungeheurem Raupenfraß“ (Ns1, S. 169) hätten in der Vergangenheit dazu geführt, dass die Bäume in der Umgebung „wie Fegebesen in die Höhe [standen]“ (ebd.) und die „Raupennester [...] von den entwürdigten Ästen herab [hingen]“ (ebd.). Risachs Empfehlung an seine Nachbarn, es ihm gleichzutun, erscheint nicht umsetzbar, denn die künstlich herbeigeführte Konzentration der Vogelpopulation auf dem Asperhof geht zu Lasten der angrenzenden Bereiche, in denen die Vögel fehlen.143 Die Zustände und Abläufe, die den Garten des Asperhofs prägen, sind zu Recht mit der Eigenschaft eines „offene[n] Anthropomorphismus“144 belegt worden. Die Exklusivität, mit der Risach und seine Mitarbeiter Nützlinge auf dem Hof halten und Schädlinge abwehren,145 lässt sich vor diesem Hintergrund von || 141 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 345. 142 Vgl. Gottwald: Beobachtungen zum Motiv des Landschaftsgartens, S. 133 f. Gottwald beschreibt die Gartenanlagen des Asperhofs als „möglichst ‚sanft‘ kultivierte und ‚verbesserte‘ Natur“ (ebd., S. 134), hebt deren „widersprüchlich[e]“ (ebd.) Konzeption hervor und erkennt einen „bis in feinste Details anthropomorphisierte[n] Raum, der zwischen den Sphären der ‚Natur‘ und der ‚Kultur‘ oszilliert, ohne einer von beiden wirklich anzugehören“ (ebd., S. 134). 143 Vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 344 f. 144 Gottwald: Beobachtungen zum Motiv des Landschaftsgartens, S. 134. Gottwald belegt diese These zum einen anhand der sprachlichen Gestaltung von Risachs Erläuterungen, in denen Rosen „Wunden“ (Ns1, S. 146) haben, die man „verbindet“ (ebd.) und bei Bedarf eine Verlegung der Pflanze in das „Rosenhospital“ (ebd.) vornimmt. Zum anderen weist er auf Risachs Ausführungen über die „Lebensgeschichten der Vögel“ (Gottwald: Beobachtungen zum Motiv des Landschaftsgartens, S. 134) hin, die „mit menschlichen Lebensläufen parallel“ (ebd.) gesetzt werden. Sabina Becker beschreibt in diesem Zusammenhang die Rosenzucht Risachs im Hinblick auf eine „Bändigung der Natur […], die in ihren Trieben und in ihrer Wildheit gezähmt werden muss“ (dies.: Bürgerlicher Realismus, S. 206). Dieser Vorgang stelle eine „Wiederholung des Umgangs der in ihr [der Rosenhauswelt; H. A.] lebenden Menschen miteinander“ (ebd.) dar, der ebenfalls auf „die Disziplinierung aller Triebe“ (ebd.) ausgerichtet sei. 145 Ich konzentriere mich in diesem Abschnitt exemplarisch auf Risachs Umgang mit nützlichen und schädlichen Vögeln, um den Aspekt der auf dem Asperhof betriebenen Kultivierungsarbeit zu beleuchten. Die „für Stifter zentrale Vorstellung“ (Müller: Utopie und Bildungsroman, S. 202) von Landwirtschaft als „‚Pflege‘ der Landschaft, ihrer Verwandlung zur Kulturlandschaft“ (ebd.), spielt im Roman aber ebenfalls eine wichtige Rolle. Klaus-Detlef Müller weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Text „Hinweise auf den materiellen Ertrag der Landwirtschaft fast völlig“ (ebd., S. 203) vermissen lasse, was „eine keineswegs beiläufige Tatsache“ (ebd.) sei, da er „die ökonomischen Grundlagen der von ihm geschilderten Lebensweise durchweg reflektiert“ (ebd.). Dieter Borchmeyer löst diesen Widerspruch auf, indem er ausführt, dass Risach und Mathilde in ihren Gütern „die über alle Lebensvorsorge

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der Tätigkeit der Gartenpflege auf Risachs Handlungen als Heinrichs Mentor übertragen. In seinem „Modell der Perfektibilität von Mensch und Natur durch Vernünftigkeit und stetiger menschlicher Domestizierungsarbeit“146 geht es eben nicht um einen selbstverordneten Auftrag, eine möglichst große Zahl von Individuen an ihren Idealzustand heranzuführen, sondern es geht ganz dediziert zunächst um den Ziehsohn Gustav und dann, nachdem der Wanderer am Gartentor als möglicher Gatte Natalies erkannt wurde, um Heinrich Drendorf. Heinrich erhält exklusiven Zugang zur Welt des Rosenhauses147 und nur für ihn wird Risach „zur entscheidenden Bildungsinstanz“148. Nachdem der Zögling auf dem Mittelpunkt der kultivierten Natur angekommen ist, kann an dem Ziel gearbeitet werden, der Leidenschaft in seinem Leben genauso wenig Raum zu geben, wie er dem Bienen vertilgenden Rotschwanz im Garten des Asperhofes zugestanden wird. Der Weg dorthin führt über die Kunst.

7.4.2 Liebe ohne Passion Figuren, die sich der Macht der Kunst ausliefern und an ihr scheitern, haben im Laufe dieser Untersuchung schon mehrfach eine Rolle gespielt. Zu diesen Figuren zählen etwa der Rentherr in Turmalin oder Eustachius in der Letztfassung der Mappe meines Urgroßvaters. Umgekehrt zeigen die Beispiele des in der Vorstadt wohnenden Ehepaars in Turmalin oder des Kaufherrn Emerich Waldon in der Mappe, dass es möglich ist, der Kunst einen angemessenen Platz in seinem Leben einzuräumen und von ihr zu profitieren. Heinrich Drendorf dagegen erscheint gegenüber solchen Einflüssen, seien sie positiver oder negativer Art, zunächst immun zu sein – und dies, obwohl er schon in seiner Kindheit die Gelegenheit erhält, sich mit exquisiten Kunstgegenständen zu beschäftigen. Der Text berichtet schon in den ersten Kapiteln

|| und Lebensnotdurft erhobene Sphäre reiner Kultur [suchen]“ (ders.: Stifters Nachsommer, S. 65). Das hier zugrundeliegende Verständnis des Begriffs ‚Kultur‘ ist allerdings nicht mit der Vorstellung eines Bereichs der Hochkultur zu verwechseln, den ich in meiner Natur-KulturSkala verwende. Er bezieht sich stattdessen auf einen „umfassenden abendländischen Sinn von cultura, die ja Ackerbau, ‚Pflege‘ der Landschaft wie der menschlichen Bildung einschließt“ (ebd.). 146 Lachinger: Adalbert Stifters Nachsommer, S. 99. 147 Vgl. Duhamel: Natur und Kunst, S. 152. Duhamel weist darauf hin, dass die Umgebung, in die Heinrich sich mit dem Eintritt in die Welt des Asperhofs begibt, eine erzieherische Wirkung ausübt und deswegen „eine gewisse Isolierung unseres Helden voraussetzt“ (ebd.). 148 Begemann: Adalbert Stifter: Der Nachsommer, S. 213.

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davon, dass die Kunst im Leben von Heinrichs Vater eine wichtige Rolle spielt und schildert dessen Versuche, seine Kinder mit ihr vertraut zu machen. So besitzt er etwa eine Sammlung von „Steine[n], in welche Dinge geschnitten waren“ (Ns1, S. 11): „Er hielt diese Steine sehr hoch, und sagte, sie stammen aus dem kunstgeübtesten Volke alter Zeiten, nehmlich aus dem alten Griechenlande her“ (ebd.). Heinrich und seiner Schwester wird aber nicht nur diese Kollektion wertvoller Steine präsentiert, sondern auch die Bildersammlung des Vaters. Der Vater, so Heinrich, „erklärte uns die Linien, welche Bewegung verursachten, in welcher Bewegung doch wieder eine Ruhe herrsche, und Ruhe in Bewegung sei die Bedingung eines jeden Kunstwerkes“ (Ns1, S. 16).149 Gespräche über Bücher, in denen es auch um solche Werke geht, die enthalten, „was die Menschen sich gedacht haben, was sich hätte zutragen können, oder was sie für Meinungen über irdische und überirdische Dinge hegen“ (ebd.), werden ebenfalls in die Erziehung von Heinrich und seiner Schwester Klotilde einbezogen, so dass in diesen frühen Begegnungen mit künstlerischen Erzeugnissen bereits wesentliche Inhalte berührt werden, die Heinrich später so ausführlich mit Risach diskutieren wird. Was in den entsprechenden Schilderungen im ersten Kapitel jedoch gänzlich ausgespart wird, sind Bemerkungen über die Wirkung der Kunst auf Heinrich und Klotilde. Sie scheint nicht vorhanden zu sein.150

|| 149 An diese Aussage wird Heinrich sich erinnern, nachdem er ein Verständnis für die Kunstschönheit entwickelt hat und darüber mit seinem Mentor Risach spricht: „Ich sagte endlich, daß ich mich jezt erinnere, wie mein Vater oft geäußert habe, daß in schönen Kunstwerken Ruhe in Bewegung sein müsse“ (Ns2, S. 89). Risach tut die Formulierung, die Heinrich hier von seinem Vater übernimmt, zwar zunächst als verzichtbaren, „gewöhnliche[n] Kunstausdruck“ (ebd.) ab, greift die zugrundeliegende Vorstellung in seinen weiteren Ausführungen aber wieder auf: „Bewegung regt an, Ruhe erfüllt, und so entsteht jener Abschluß in der Seele, den wir Schönheit nennen“ (Ns2, S. 92). Karl Möseneder erkennt in den hier „einander zugeordneten Qualitäten eine Weiterentwicklung“ (ders.: Schriften zur Kunst, S. 166) des kunsttheoretischen Ansatzes von Johann Joachim Winckelmann, der in seinen Ausführungen über die Laokoon-Gruppe das „allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke“ (ders.: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. In: Ders.: Ausgewählte Schriften und Briefe. Hrsg. von Walther Rehm. Wiesbaden 1948, S. 1– 34, hier S. 20) auf die bekannte Formel von der „edle[n] Einfalt und [...] stille[n] Größe“ (ebd.) bringt, die sich sowohl „in der Stellung als im Ausdrucke“ (ebd.) zeigen müsse. Winckelmann geht hier im Detail auf die Bedeutung des „Stande[s] der Ruhe“ (ebd., S. 21) ein, der erforderlich sei, um „den wahren Charakter der Seele zu schildern“ (ebd.). Vgl. Martin Dönike: „Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst“ und zugehörige Schriften [Art.]. In: Winckelmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Martin Disselkamp und Fausto Testa. Stuttgart 2017, S. 126–136. 150 Vgl. Müller: Utopie und Bildungsroman, S. 217 f.

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Auch Jahre später noch kann von einer solchen Wirkung nicht die Rede sein. Ganz der Wissenschaftler, der „als Schlußstein oder Zusammenfassung aller meiner bisherigen Arbeiten die Wissenschaft der Bildung der Erdoberfläche“ (Ns1, S. 44) betreibt, zeigt Heinrich zwar großes Interesse für die Abläufe im Garten des Asperhofs, doch die Kunstsammlung im Hause seines Mentors findet seine Aufmerksamkeit nicht. Bei Heinrichs erstem Aufenthalt im „Ausruhezimmer“ (Ns1, S. 53) des Rosenhauses werden ihm zum Zeitvertreib zwar „Bände von Herder Lessing Göthe Schiller“ (Ns1, S. 57) sowie „Übersetzungen Shakspeares [sic] von Schlegel und Tieck“ (ebd.) geboten, doch er legt „die Dichter bei Seite“ (ebd.), um sich in ein ihm bereits bekanntes Werk des Naturforschers Alexander von Humboldt zu vertiefen. Auch die „Gestalt aus weißem Marmor“ (Ns1, S. 81) im Treppenhaus, die später eine zentrale Rolle für Heinrichs Kunstverständnis spielen wird, sieht er zwar, stellt jedoch lediglich physikalische Betrachtungen an, um sich den Lichteinfall an dieser Stelle des Hauses erklären zu können: „[I]ch [ersah], daß der Platz und die Treppe von oben herab durch eine Glasbedeckung ihre Beleuchtung empfangen mußten“ (Ns1, S. 81). Stifter selbst hat in einem bekannten, oben schon mehrfach angeführten Schreiben an Gustav Heckenast, in dem er wenige Monate nach der Veröffentlichung des Nachsommers erläutert, was er mit dem Roman beabsichtigt habe, die „Gespräche über Kunst und Leben“151, die im Text so ausgiebig geführt werden, wie folgt charakterisiert: Sie seien „Bildungsmittel für die jüngeren edleren Kräfte, die im Buche vor uns bis auf eine gewisse Stufe erzogen werden“152. Tatsächlich kann es wohl als Forschungskonsens gelten, dass im Nachsommer „die Kunst eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der jungen Menschen“153 spielt. Zwischen der kultivierten Natur, die sich im Garten des Asperhofs zeigt und deren „erzieherische[r] Nutzen“154 dem zuteilwerden kann, „der ihre Ordnung entdeckt“155, und den Zuständen im Inneren des Hauses besteht aber keine scharf definierte Grenze. Dies zeigt sich ebenfalls bei Heinrichs Aufenthalt im „Ausruhezimmer“ (Ns1, S. 53). Vorrichtungen an den Fenstern erlauben es nicht nur, dass die „reine freie Luft“ (Ns1, S. 55) hereinströmen kann und damit eine „Mahnung des Freien“ (ebd.) gibt, sondern erlauben es auch, den Gesang der Waldvögel, die Risach in seinen Garten gelockt hat, im Haus zu hören. Die völ|| 151 An Heckenast, 11. Februar 1858 (PRA 19, S. 95). 152 Ebd. 153 Reinhard Löw: Die Selbstbildung des Menschen im Künstlerischen. Philosophische Bemerkungen zu Adalbert Stifters „Nachsommer“. In: Scheidewege 21 (1991/92), S. 177–189, hier S. 187. 154 Duhamel: Natur und Kunst, S. 155. 155 Ebd.

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lige „Stille des Raumes“ (Ns1, S. 56) tut ihr Übriges dazu, dass sich „im häuslichen Innenraum […] kein ‚Inneres‘ in die Eindrücke des Draußen [drängt]“156 und der kultivierten Natur eine Präsenz im Kulturraum des Hauses eingeräumt wird. Ein ähnlicher Effekt zeigt sich, als Heinrich in das hinter einer „Tapetenthür“ (Ns1, S. 172) verborgene Zimmer geführt wird, das Risach auf dem Asperhof für Mathilde vorhält. Ganz im Zeichen der Rose, die auch die Außenfläche des Hauses dominiert, ist es „in sanft rosenfarbener Seide ausgeschlagen“ (ebd.), mit der die „lichtgraue[] Seide“ (ebd.), die hier als Überzug für die Möbel Verwendung findet, kontrastiert, so dass es „fast einen Eindruck [machte], wie wenn weiße Rosen neben rothen sind“ (ebd.).157 Auch das Grün der Rosenblätter wurde in die Einrichtung des Zimmers eingearbeitet, das „zwischen grünen Baumwölbungen auf die Landschaft und das Gebirge hinaussah“ (ebd.). Die Präsenz der Natur, die im Ausruhezimmer auf der „Ebene des Akustischen liegt, wird in Mathildes kleinem Kabinett optisch realisiert“158. In beiden Räumen ist überdies auch die Kunst präsent, wird von Heinrich aber nicht wahrgenommen. Während es sich bei vielen der im Ausruhezimmer aufbewahrten Bücher um „lauter Dichter“ (Ns1, S. 57) handelt, die Heinrich achtlos beiseitelegt, hängen an den Wänden von Mathildes Zimmer „vier kleine an Größe und Rahmen vollkommen gleiche Öhlgemälde“ (Ns1, S. 173), deren Schönheit Heinrich erst später erkennen wird. Vorerst beschränkt er sich darauf, deren mit dem Blick des Wissenschaftlers erfasste Proportionen anzugeben; über die Motive schweigt er sich aus.159 Heinrichs Reaktion auf die Dinge, die ihm in der Welt des Rosenhauses präsentiert werden, kann also als Gradmesser für seinen Entwicklungsfortschritt betrachtet werden; sie zeigt, wie weit er „in die Nachsommer-Welt hineingewachsen ist“160. Bei seiner ersten Rückkehr in das Elternhaus steht Heinrich in diesem Wachstumsprozess noch ganz am Anfang. Dies zeigt sich, als sein Vater sich nach „manchen Gegenständen“ (Ns1, S. 184) im Hause Risachs erkundigt. Während Heinrich ihm die „Marmore“ (ebd.) und die „alten Geräthe“ (ebd.) im Detail beschreiben kann, kann er zu den „Schnizarbeiten […] schon weniger sagen“ (ebd.). Ähnliches gilt für Risachs Bücher und dessen „Bildsäulen und Gemälde“ (ebd.). Trotzdem „[führt] [d]er Bildungsgang, den Risach lenkt und

|| 156 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 329. 157 Vgl. ebd. 158 Ebd. 159 Vgl. Seidler: Die Bedeutung der Mitte, S. 63. 160 Müller: Utopie und Bildungsroman, S. 217.

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beaufsichtigt, […] letztlich zur Kunst“161. Ein diesbezüglicher Veränderungsprozess zeigt sich in Heinrichs Umgang mit der Dichtung. Schon nach dem ersten Sommer auf dem Asperhof bittet er nach der Rückkehr ins Elternhaus seinen Vater „um die Werke Shakespeare’s [sic] aus seiner Büchersammlung“ (Ns1, S. 199); das ist eine Handlung, die offensichtlich auch durch Heinrichs intensives Erleben einer Vorstellung von King Lear motiviert ist, die am Vorabend stattgefunden hat (vgl. Ns1, S. 192–199; siehe dazu Abschnitt 7.4.3). Die Bitte um die Bücher des Vaters ist, so Heinrich, „[d]as erste, was ich am andern Tage that“ (ebd.). Schon wenig später bemerkt Heinrich aber, dass er auch mit „der Lesung anderer dichterischer Werke“ (Ns2, S. 17) begonnen habe; er verwendet darauf „die Zeit, die mir von meinen Arbeiten übrig blieb“ (ebd.). Zwischen diesen beiden Referenzen auf Heinrichs zunehmendes Interesse für Dichtung liegt ein Ereignis, das ihm die Macht der Kunst am Beispiel eines weiteren Erziehungsprozesses vor Augen führt. Gegen Ende des ersten Bandes erlebt er mit, wie Mathilde ihrem Sohn Gustav in einem zeremoniell anmutenden Prozess etwas überreicht, das sie ihm „lange versagen“ (Ns1, S. 248) musste. Es handelt sich um „Göthes Werke“ (ebd.). Die Wirkung, die von der Lektüre dieser Dichtungen ausgeht, stellt auch zu diesem Zeitpunkt noch eine Gefährdung für Gustav dar, denn „[v]ieles ist für das reifere Alter, ja für das reifste“ (ebd.). Deswegen übernimmt Gustavs Ziehvater Risach die Aufgabe, eine Auswahl zu treffen, die Gustavs Entwicklungsstand entspricht, denn die Texte haben, so Mathilde, das Potenzial, sowohl „Freude und […] Schmerzen“ (Ns1, S. 249) zu verursachen als auch „Trost und Ruhe zuzuführen“ (ebd.).162 Heinrich wertet das hier Beobachtete als erzählendes Ich nur indirekt, indem er sich an einen Gedanken erinnert: „Ich mußte mir nur denken, sie [Natalie; H. A.] werde || 161 Ebd. 162 In dieser Passage lässt sich ansatzweise die Ausprägung eines Topos erkennen, der im Nachsommer ansonsten keine textkonstitutive Rolle spielt. Die Rede ist von der Macht der Schrift. Mathilde schenkt Gustav nämlich keineswegs „neue und schön eingebundene“ (Ns1, S. 24) Bände, sondern ihre eigenen Exemplare, in denen, so Gustav in anfänglicher Weigerung, das Geschenk anzunehmen, „Worte an den Rand geschrieben [sind], die von deiner Hand sind“ (Ns2, S. 250). Mathilde rekurriert in ihrer Replik gleich doppelt auf die Vorstellung von der ‚Herzensschrift‘: „Wenn du in den Büchern liesest, so liesest du das Herz des Dichters und das Herz deiner Mutter, welches, wenn es auch an Werthe tief unter dem des Dichters steht, für dich den unvergleichlichen Vorzug hat, daß es dein Mutterherz ist“ (ebd.). Michael Gamper sieht eine Verbindung zwischen diesen handschriftlichen Marginalien Mathildes und Risachs Aufgabe, solche Texte auszuwählen, die Gustavs Entwicklungsstand entsprechen: „Damit erfolgt die Selbstaneignung der bildenden Kraft der Dichtung mit doppelter Flankierung: eben durch die leitende Auswahl des Ziehvaters […] und durch die lektürelenkenden Notate der Mutter“ (ders.: „Ich versuchte wieder und immer wieder“, S. 176).

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von dem höchsten Beifalle über die Handlung ihrer Mutter durchdrungen sein“ (Ns1, S. 251). Die eigene Auseinandersetzung mit literarischen Werken nimmt im Textverlauf bald eine zentrale Rolle in Heinrichs Leben ein. So enden etwa komplexe Überlegungen zur „Geschichte der Erde“ (Ns2, S. 32), die nicht zu neuen Erkenntnissen, sondern unbeantwortbaren Fragenstellungen führen, in einem Fluchtreflex: „Von solchen Fragen flüchtete ich zu den Dichtern“ (Ns2, S. 33). Heinrich führt nun „Äschilos Sophokles Thukidides fast auf allen Wanderungen“ (Ns2, S. 34) mit sich, scheut keinen Lernaufwand, um deren Schriften in der griechischen Originalsprache lesen zu können und erkennt, welches Machtpotenzial der Kunst innewohnt. Es wird verkörpert durch literarische Texte, welche „Gefühle in schöner Sittenkraft [gaben], die tief auf mich wirkten. Es ist unglaublich, welche Gewalt Worte üben können“ (Ns2, S. 33).163 Ungeachtet dieser intensiven Wirkung der Dichtung wechselt Heinrich an dieser Stelle seines autobiografischen Berichts aber unvermittelt das Thema,164 um sich einer anderen Kunstform zuzuwenden: „Da gerieth ich auch auf das Malen“ (ebd.). Sein „langsame[s] Reifen […] zur Kunst“165 schließt in der Tat einen „mühevollen Prozeß“166 ein, der ihn vom Zeichnen naturwissenschaftlicher Abbildungen zur Darstellung von Landschaften in der Malerei führt: „So wie ich früher Gegenstände der Natur für wissenschaftliche Zwecke gezeichnet hatte […] so versuchte ich jetzt auch, den ganzen Blick, in dem ein Hintereinanderstehendes im Dufte Schwebendes vom Himmel sich Abhebendes enthalten war, auf Papier oder Leinwand zu zeichnen und mit Öhlfarben zu malen“ (Ns2, S. 34). Während Heinrich sich zunächst scheut, seinem Mentor Risach von der „Veränderung […], die in mir vorgegangen war“ (Ns2, S. 423), zu berichten, sieht dieser einen nachvollziehbaren Prozess von Ursache und Wirkung am Werk und || 163 Vgl. Zumbusch: Der Nachsommer, S. 102. 164 Die vorliegende Untersuchung bietet nicht annähernd genug Raum, um die Überlegungen zu den unterschiedlichen Kunstformen, die sich im Nachsommer finden, in ihrer Komplexität angemessen zu würdigen und sowohl in Stifters eigene kunsttheoretische Konzepte als auch in entsprechende Ermöglichungszusammenhänge einzuordnen. Vgl. in diesem Zusammenhang etwa Cornelia Blasbergs Engführung von Risachs Monolog über die Dichtkunst als „die reinste und höchste unter den Künsten“ (Ns2, S. 39) mit Hegels Vorlesungen über die Ästhetik. Blasberg bildet die Reihenfolge, in die Hegel die unterschiedlichen Kunstformen bringt, auf Heinrichs wachsendes Kunstverständnis ab (vgl. dies.: Erschriebene Tradition, S. 345 ff.). Der Fokus meiner Untersuchung liegt an dieser Stelle darauf zu zeigen, mit welchem Resultat sich der Topos von der Macht der Kunst an die Figur Heinrich Drendorf anlagert. Daher zeige ich Heinrichs Entwicklung im Hinblick auf die unterschiedlichen Kunstformen nur überblicksartig auf. 165 Seidler: Die Bedeutung der Mitte, S. 63. 166 Begemann: Adalbert Stifter: Der Nachsommer, S. 216.

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versichert Heinrich: „Es geht allen so, welche die Gebirge öfter besuchen, und welche Einbildungskraft und einiges Geschick in den Händen haben […]. [I]hr braucht euch deßhalb nicht beinahe zu entschuldigen, es war zu erwarten, daß ihr nicht blos bei eurem Sammeln von Steinen und Versteinerungen bleiben werdet, es ist so in der Natur, und es ist so gut“ (Ns2, S. 36; Hervorhebung von mir). Bei dieser perspektivischen Veränderung in Heinrichs Weltbetrachtung geht es nicht mehr um die „präzis naturalistische[] Wiedergabe“167 von Details, sondern, in Heinrichs Worten, darum, „die Seele eines Ganzen“ (Ns2, S. 34) zu erfassen. Seine Versuche als Landschaftsmaler werden von Risach und seinem in Dingen der Kunst kundigen Mitarbeiter Eustach zwar „mit viel mehr Ernst und Genauigkeit durchgenommen, als sie verdienten“ (Ns2, S. 36). Trotzdem geht es hier aber zu keinem Zeitpunkt darum, Heinrich zum Künstler auszubilden.168 Das durch die Kunst zu erreichende „Bildungsziel besteht in der Ruhe oder Selbstbeherrschung durch innere Ordnung“169. Die von der Kunst ausgehende Wirkung, die Heinrich schon im Rahmen seiner ersten künstlerischen Versuche wahrnimmt, besteht in einem „gewaltige[n] Reiz für das Herz, das Unnennbare, was in den Dingen vor mir lag, zu ergreifen“ (Ns2, S. 35; Hervorhebung von mir).170 Die damit erreichte, veränderte Sicht „durch die Dinge hindurch auf Wesenheit, Seele und Bedeutung“171 bildet ein Etappenziel, das Heinrich auf seinem Bildungsgang zu erreichen hat. Ich habe in der Einleitung zu diesem Abschnitt erneut darauf hingewiesen, dass die Deskription des Topos von der Macht der Kunst von zwei einander entgegengesetzten Wirkungen ausgeht. Es kann, wie der Nachsommer am Beispiel Heinrichs exemplarisch demonstriert, gelingen, der Kunst als „zeigende[r] Pädagogin“172 einen „[wesentlichen Anteil] an der Erziehung des Menschen“173 einzuräumen, ihr aber trotzdem nicht zu verfallen. Trotzdem wohnt der Macht der Kunst ein Gefährdungspotenzial inne, das auch in der Idylle der Welt des

|| 167 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 379. 168 Vgl. Begemann: Adalbert Stifter: Der Nachsommer, S. 216. 169 Duhamel: Natur und Kunst, S. 159. 170 Vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 379, Anm. 29. Begemann deutet den Begriff des ‚Unnennbaren‘ bei Stifter, über den Nachsommer hinausgehend, als „Bedeutungsschicht“ (ebd.), die sich „jeder Konkretisierung entzieht und im Diffusen einer bloßen Ahnung bleibt“ (ebd.). Heinrichs Abwendung von den Detaileigenschaften der ‚Dinge‘ hin zu ihrer ‚Seele‘ findet allerdings eine mögliche Entsprechung in Hegels Phänomenologie des Geistes, die einer genaueren Betrachtung wert ist (siehe dazu Kap. 8, Anm. 10). 171 Begemann: Adalbert Stifter: Der Nachsommer, S. 216. 172 Duhamel: Natur und Kunst, S. 158. 173 Ebd.

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Rosenhauses nicht vollständig getilgt werden kann. In Mathildes Warnung, dass einiges in den Werken Goethes für Gustav noch nicht geeignet sei, weshalb Risach ihm durch die Auswahl von Texten für seine Lektüre eine „Wohltat[]“ (Ns1, S. 248) erweisen werde, versteckt sich schon ein Hinweis auf dieses Gefährdungspotenzial. Viel deutlicher nimmt der Text aber zu diesem Aspekt Stellung, indem er einer Figur Zutritt ins Rosenhaus gewährt, die dort fremd wirkt und niemals richtig Fuß fassen kann. Die Rede ist von dem Maler Roland. Schon in Bezug auf die erste Begegnung mit ihm – Roland trifft bezeichnenderweise erst „[g]egen […] Ende der Rosenblüthe“ (Ns1, S. 269) auf dem Asperhof ein – notiert Heinrich, dass der junge Mann „noch nicht die Bildung seines Bruders [gemeint ist Eustach, der in Risachs Restaurationswerkstatt arbeitet; H. A.] auch nicht dessen Biegsamkeit [hatte]; aber er schien mehr Kraft zu besizen, die seinen Beschäftigungen einen wirksamen Erfolg versprach“ (Ns1, S. 266). Heinrich bezieht sich hier auf Rolands Aufgabe, durch das Land zu reisen, Zeichnungen anzufertigen und Artefakte zu beschaffen, die in der Kunstwerkstatt des Asperhofs benötigt werden. Zu Beginn des zweiten Bandes berichtet Heinrich dann, wie er auf einer seiner eigenen Reisen auf Roland trifft, der in einer Kirche und einem leerstehenden Haus Zeichnungen anfertigt. Die beiden jungen Männer kommen abends am „Wirthstische“ (Ns2, S. 13) zusammen, geraten in „mannigfache Gespräche“ (ebd.) und Heinrich vervollständigt sein Urteil. Er findet in Roland „einen sehr feurigen Mann von starken Entschlüssen und von heftigem Begehren, sei es, daß ein Gegenstand der Kunst sein Herz erfüllte, oder daß er sonst etwas in den Bereich seines Wesens zu ziehen strebte“ (ebd.). Auch in Diskussionen mit Risach und seinem Bruder Eustach tritt Roland als Gegenfigur zu beiden auf. Dies zeigt sich beispielsweise, als er auf einer gemeinsamen Fahrt vom Sternenhof zum Asperhof in einer Diskussion über „die Zweige der Naturwissenschaften […], welche vorzugsweise fortgeschritten waren“ (Ns2, S. 228), eine Position einnimmt, die den Ansichten Risachs und Eustachs diametral entgegengesetzt ist. Letztere „hegten den Wunsch, daß jenes Neue, welches bleiben soll, weil es gut ist […] nur allgemach Plaz finden, und ohne zu große Störung sich einbürgern möchte“ (Ns2, S. 228 f.). Roland dagegen ist „entschieden für Neuerung, wenn sie auch Alles umstürzte“ (Ns2, S. 228).174 Trotzdem ist es vor allem seine Einstellung gegenüber der Kunst, die ihn als „Fremdkörper im gemäßigten Klima des Rosenhauses“175 erscheinen

|| 174 Vgl. Mayer: Adalbert Stifter, S. 168. 175 Ebd. Vgl. auch Borchmeyer: Ideologie der Familie, S. 244 ff. Borchmeyer sieht am „Beispiel des Malers Roland“ (ebd., S. 245) die „Gefahr“ (ebd.) illustriert, sich durch eine „auf sich selbst zurückgeworfene, obdachlos gewordene Subjektivität […] bis an den Rand der Selbstzer-

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lässt. Dies zeigt sich deutlich auch an dem Projekt, an dem er als Landschaftsmaler arbeitet. Sein Bruder Eustach „geht ganz auf im Geschäft der Restauration“176, arbeitet also ausschließlich daran, einen Zustand der Vergangenheit anhand von Vorlagen wiederherzustellen. Der Ansatz, den Roland bei der Darstellung einer überdimensionierten „Landschaft in Öhlfarben“ (Ns3, S. 117) verfolgt, basiert auf ganz anderen Prinzipien. Risach führt in Heinrichs Anwesenheit dazu aus: „Er hat sich die Aufgabe eines Gegenstandes gestellt, den er noch nicht gesehen hat, […] er hält sich ihn nur in seiner Einbildungskraft vor Augen“ (Ns3, S. 119). Und Roland ergänzt, dass die „Gestaltungen“ (ebd.) des Bildes „sich in dem Gemüthe finden“ (ebd.) und spricht vom Reiz, den die Ölfarben auf ihn ausüben (vgl. ebd.). Während Risach im Gespräch mit Roland und Heinrich ermutigende Worte für den jungen Künstler findet – sein „Geist“ (Ns3, S. 120) werde ihn „schon leiten“ (ebd.) –, stellt er nach dem Treffen Heinrich gegenüber unmissverständlich klar, was von dem gerade Gesehenen zu halten sei: „Da wir den Gang entlang gingen, sagte mein Gastfreund: ‚Er sollte reisen‘“ (Ns2, S. 120).177 Indem der Text sämtliche Reaktionen auf Rolands Kunst ausspart, als Risach und Heinrich wieder unter sich sind und in ihr gewohntes Verhältnis von Mentor und Zögling zurückkehren, sondern lediglich Risachs Empfehlung wiedergibt, Reisen als Bildungsmittel zu nutzen, unterstreicht er die Wahrnehmung von Roland als „menschlich wie künstlerisch noch unfertig, ja tief gefährdet“178. Welche Wirkung der Kunst in der Welt des Asperhofes auch im Negativen beigemessen wird, zeigt sich überdies in einer Passage, in der Heinrich be-

|| störung zu verirren“ (ebd.). Borchmeyer kontrastiert Rolands „subjektive[] Selbstgenügsamkeit“ (ebd.) mit der „widersprüchliche[n] Rolle der Subjektivität“ (ebd.), die sich in Risachs autobiografischem Rückblick zeigt (vgl. genauer ebd.). 176 Borchmeyer: Stifters Nachsommer, S. 79. 177 Michael Gamper weist zu Recht darauf hin, dass das Reisen sowohl Gustav als auch Roland und Heinrich als Bildungsmittel empfohlen werde (vgl. ders.: „Ich versuchte wieder und immer wieder“, S. 181). Allerdings kann Gampers Beobachtung, dass „[e]rst nach einem gelungenen Bildungsversuch in dieser künstlichen Welt [des Asperhofs; H. A.] […] daran zu denken [ist], dass die Bildungssubjekte in die wirkliche Welt geschickt werden“ (ebd.), meines Erachtens allenfalls für Heinrich und Gustav gelten, nicht aber für Roland. 178 Borchmeyer: Stifters Nachsommer, S. 79. Sabina Becker zufolge führt der Nachsommer anhand der Figur des Malers Roland vor, dass „künstlerisches Schaffen und ein künstlerischer Lebensentwurf“ (dies.: Bürgerlicher Realismus, S. 207) als „unbürgerliche Tätigkeiten“ (ebd.) abzulehnen seien. Die dem „Künstlertum […] impliziten Eigenschaften des Subjektiven und Leidenschaftlichen“ (ebd.) müssten im Wertesystem des Romans als „dem Bürgerlichen unangemessen“ (ebd., S. 207 f.) erscheinen, weil „Leidenschaft und Begehren mit den Tugenden des Maßhaltens und der Sittsamkeit […] nicht vereinbar“ (ebd., S. 208) seien.

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schreibt, wie Risach ihn und Angehörige seines Haushalts zu einer Begutachtung von Kupferstichen einlädt, die von der Erbengemeinschaft eines Sammlers zum Verkauf angeboten werden. Dem Sammler selbst, der Stücke von höchst unterschiedlicher Qualität erworben hat, spricht man eine „[Vorstellung] von der Tiefe der Kunst von ihrem Ernste und von ihrer Bedeutung für das menschliche Leben“ (Ns3, S. 131) ab, während seine Erben durch den bloßen Akt des Verkaufsangebots ebenfalls zeigen, dass sie keinen „Sinn“ (ebd.) für die „Verhältnisse der Kunst zum menschlichen Leben“ (ebd.) aufbringen. Als die Gruppe ihr „Geschäft […], zu welchem auch Roland kommen, und deßhalb seine heutige Arbeit an seinem Bilde abbrechen mußte“ (ebd.), unter Risachs Anleitung beendet hat, wird der Kauf der kompletten Sammlung beschlossen, damit man die „schlechten Blätter […] vernichten“ (Ns3, S. 132) kann. Von deren Betrachtung gehe nämlich, so erfährt es Heinrich von Risach und seinen Mitstreitern, eine Gefahr aus, die nicht nur im Fehlen einer „gute[n] Wirkung“ (ebd.) bestehe: Sie könne „das Gefühl dessen, der nichts Besseres sieht, statt es zu heben, in eine rohere und verbildetere Richtung lenken“ (ebd.), denn „[d]en Geist des Menschen […] verunreinige falsche Kunst mehr als die Unberührtheit von jeder Kunst“ (ebd.).179 Die Erziehergestalten des Romans, also Gustav von Risach und sein Pendant, Heinrichs Vater, setzen ihren Zögling dagegen immer wieder der Wirkung von Kunstwerken aus, die in diesem Sinne eben nicht ‚falsch‘, sondern dazu geeignet sind, Heinrichs Bildungsgang zu befördern, indem er Zugriff auf das „in den Formen der Kunst gespeicherte[] Wissen von der Welt sowie des Wissens um ihre eigene Gemachtheit“180 erhält. In diesem Prozess finden aber keine Belehrungen oder Konfrontationen statt, die den Zögling überfordern würden. Basierend auf einem „alle Gespräche umfassenden geheimen Konversationsreg-

|| 179 Der oben zitierten Rede von der ‚falschen Kunst‘ wurde in der Forschung verschiedentlich mit Kritik begegnet. Roland Duhamel etwa bildet sie auf das Ölgemälde Rolands ab, „das von allen mit Befremden aufgenommen wird“ (ders.: Natur und Kunst, S. 162). Damit kritisiere der Nachsommer, „der sich stellenweise wie eine ästhetische Abhandlung liest, ausgerechnet den einzigen in ihm auftretenden originellen und kreativen Künstler“ (ebd.). Rolands Originalität lasse „sich mit der Funktion der Kunst unmöglich vereinbaren: das Originelle ist das Fremde, Ordnung das Vertraute“ (ebd.). Katharina Grätz bewertet den oben beschriebenen Umgang mit der Kupferstichsammlung als „bedenkliche Kehrseite“ (dies.: Evidenz des Musealen, S. 229) von „Risachs Rettungsanstalt“ (ebd.): „Der Asperhof ist nicht nur Bewahrungs- und Rettungsanstalt, sondern auch Ort der Selektion und Vernichtung. Man maßt sich an, zu entscheiden, was ins Gedächtnis der Kultur eingehen soll und was nicht“ (ebd.). 180 Gamper: „Ich versuche wieder und immer wieder“, S. 184.

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lement“181 werden im Umgang mit Heinrich „alle Gesprächsthemen, die […] seinem aktuellen Entwicklungsstand“182 nicht entsprechen, ausgespart und erst dann erörtert, wenn seine Fragen oder Bemerkungen zeigen, dass es gefahrlos möglich ist, diese Themen anzusprechen.183 Seine „bislang unkommentierte Erziehungspraxis“184 legt Risach erst im zweiten Kapitel des zweiten Bandes offen, das in „Anlage und […] Gehalt die

|| 181 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 341. 182 Ebd. Michael Gamper weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Heinrichs Entwicklungsstand nicht nur durch „externe[] Instanzen […] prüfend beobachte[t]“ (ders.: „Ich versuchte wieder und immer wieder“, S. 177) wird. Auch der Zögling selbst „vergewissert sich immer wieder über den Stand seiner Entwicklung“ (ebd.). Heinrich hält das Ergebnis dieser wiederholt durchgeführten „Selbstprüfung“ (ebd.) in expliziten Selbstaussagen fest, die aber vage bleiben und mit relativierenden Formeln beginnen. An dieser Stelle seien nur zwei Beispiele genannt. Heinrich bemerkt im sechsten Kapitel des ersten Bandes: „Ich konnte es fast kaum glauben, wie sehr mich meine Zeichnungsübungen […] gefördert hatten“ (Ns1, S. 222). Wenig später sagt er dann: „Mir war, als gingen mir neue Kenntnisse auf“ (Ns1, S. 296). Ein qualitativer Unterschied zwischen beiden Aussagen lässt sich nicht präzise feststellen. Wichtig ist aber, dass sie dem erlebenden Ich Heinrich Drendorfs zugeschrieben werden können, der seinen Entwicklungsfortschritt in dem Moment bemerkt, in dem er stattfindet und als erzählendes Ich nachträglich protokolliert. 183 Roland Duhamel hebt hervor, dass es nach dem ersten Gespräch zwischen Risach und Heinrich, der „Meinungsverschiedenheit“ (ders.: Natur und Kunst, S. 151) über das Eintreten eines Gewitters, „nie mehr zu weiteren Diskussionen“ (ebd.) zwischen den beiden komme. Stattdessen falle Heinrich die Rolle zu, „aus Neugier“ (ebd.) zu fragen, woraufhin „die Lehrerantworten [lediglich] bestätigen und festigen […], was der Schüler schon instinktiv-unbewußt ahnte. Ihr Ausgangspunkt ist nicht Belehrung, sondern Verstärkung“ (ebd.). Michael Gamper bestätigt, dass sich im Verhältnis Risachs zu Heinrich das „Wartenkönnen“ (ders.: „Ich versuchte wieder und immer wieder“, S. 176) als „zentrale Tugend des Bildungsleiters“ (ebd.) erweise, zeigt aber ebenfalls, dass „[g]elegentlich […] der korrigierende Eingriff unentbehrlich“ (ebd., S. 177) sei, indem er darauf verweist, wie Heinrich im vierten Jahr seiner regelmäßigen Besuche auf dem Asperhof auf Risachs Anraten „die wissenschaftliche Arbeit ruhen [lässt] und [sich] der Kunst zu[wendet]“ (ebd.). 184 Blasberg: Erschriebene Tradition, S. 336. Christian Begemann betont diesbezüglich, dass die „pädagogischen Maximen“ (ders.: Die Welt der Zeichen, S. 342, Anm. 45), die dieser Erziehungspraxis zugrunde liegen, an einem ganz bestimmten Punkt in Heinrichs Entwicklung „suspendiert werden“ (ebd.). Nachdem Heinrich „die Kunst entdeckt hat“ (ebd.), wird in einer der zahlreichen Gesprächsrunden im Rosenhaus „von den verschiedensten Dingen gesprochen, am meisten aber von der Kunst“ (Ns3, S. 120). Dies erfolgt ohne Rücksicht darauf, dass darin „[v]ieles vorkomm[t], was Gustav nicht verstand [...]; aber es mochte doch das Gespräch ihn manigfaltig fördern“ (ebd.). Begemann interpretiert diesen Sachverhalt als eine „Vorzugsbehandlung Heinrichs“ (ders.: Die Welt der Zeichen, S. 342, Anm. 45). Eine Pädagogik des Verschweigens und allmählichen Enthüllens könne hier nicht weiter die Handlungsmaxime bilden, „weil ihr Einsatz zugunsten Gustavs Heinrich behindern würde" (ebd.).

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Mitte des Romans“185 und im Hinblick auf Heinrichs Bildungsgang einen „Scheitelpunkt“186 bildet. Seinem Gespräch mit Heinrich geht dessen „ästhetische[s] Erweckungserlebnis“187 voraus, welches in der „Erkenntnis der Schönheit“188 der antiken Marmorstatue im Treppenhaus des Rosenhauses besteht. Die folgenden Auszüge aus der zweieinhalb Druckseiten langen Beschreibung dieses Erlebnisses zeigen, wie der Anblick der vom „rosenrothe[n] Licht“ (Ns2, S. 74) eines Gewitters erhellten Statue Heinrich als Ausdruck künstlerischer Schaffenskraft ergreift und zu tiefem Empfinden rührt: Ich blickte auf die Bildsäule, und sie kam mir heute ganz anders vor. Die Mädchengestalt stand in so schöner Bildung, wie sie ein Künstler ersinnen, wie sie sich eine Einbildungskraft vorstellen, oder wie sie ein sehr tiefes Herz ahnen kann […]. Ich vermochte nun nicht weiter zu gehen, und richtete meine Augen genauer auf die Gestalt. […] Ich habe nicht gewußt, daß eine menschliche Stirne so schön ist. […] Ich hatte eine Empfindung, als ob ich bei einem lebenden schweigenden Wesen stände, und hatte fast einen Schauer, als ob sich das Mädchen in jedem Augenblicke regen würde. (Ns2, S. 73 ff.)

Bei aller Unvermitteltheit und Intensität dieses Erlebnisses, die „dieser Szene für viele Interpreten die Qualität einer Epiphanie verliehen“ 189 hat, stellt es doch den „absolut äußerste[n] Punkt einer Entwicklung“190 dar.191 Diese Entwicklung

|| 185 Seidler: Die Bedeutung der Mitte, S. 62. 186 Blasberg: Erschriebene Tradition, S. 336. 187 Lachinger: Adalbert Stifters Nachsommer, S. 99. 188 Ebd. 189 Amann: Zwei Thesen, S. 176. 190 Ebd. Vgl. auch Seidler: Die Bedeutung der Mitte, S. 62. Seidler arbeitet den „Symbolwert“ (ebd.) heraus, die der Statue in diesem Zusammenhang zukomme. Er bezieht sich hier auf Risachs ausführlichen Bericht von der Entdeckung der Statue, die ihm während einer Italienreise als „Gipsarbeit[]“ (Ns2, S. 77) in die Hände fiel. In der Werkstatt des Asperhofs stellt sich dann heraus, dass unter der Gipshülle „glänzende[r] Marmor“ (Ns2, S. 82) verborgen ist. Er übertrifft an Reinheit alles, was Risach bisher an „Marmore[n] aus der alten Zeit gesehen“ (ebd.) hat. In diesem Sinne sei die Statue im Hinblick auf Heinrichs Entwicklung „Symbol des Bildungsvorgangs; beidemale ist es das Freilegen einer Mitte, eines Kernes, der den eigentlichen Wert ausmacht“ (Seidler: Die Bedeutung der Mitte, S. 62). Katharina Grätz sieht die „Einzigartigkeit und exzeptionelle Bedeutung“ (dies.: Evidenz des Musealen, S. 221), die der Statue in der Welt des Rosenhauses zukommt, durch die Tatsache betont, dass sie „das einzige antike Kunstwerk in Risachs Sammlungen“ (ebd.) sei. 191 Herbert Seidler dagegen beschreibt in diesem Zusammenhang zwar ebenfalls einen Prozess des Reifens, der schon in den ersten Kapitels des Romans seinen Anfang nehme (vgl. ders.: Die Bedeutung der Mitte, S. 63 ff.), sieht Heinrichs Entwicklung aber trotzdem auf das „Offenbarungserlebnis“ (ebd., S. 64) hin angelegt, das ihn „den göttlichen Adel der Menschengestalt im Marmorbild“ (ebd.) blitzartig erkennen lasse.

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führt, wie oben gezeigt, über die Stationen von Dichtkunst und Malerei zu dem Moment, auf den Heinrichs Erzieher gewartet haben.192 Risach konnte dessen Entwicklung deswegen geduldig begleiten, weil er wusste, dass sein Zögling die Statue „nach einer bestimmten Zeit selber betrachten und für schön erachten“ (Ns2, S. 76) würde.193 Deren wahre Qualität sei, so Risach, durch Belehrungen nicht vermittelbar: „Jemanden [sic] sagen, daß etwas schön sei […] heißt nicht immer, jemanden den Besiz der Schönheit geben“ (ebd.). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum Heinrichs prägendes Kunsterlebnis von der Betrachtung einer Statue ausgelöst wird. Schließlich gilt in der Welt des Rosenhauses, wie Risach seinem Zögling kurz zuvor schon erklärt hat, die „Dichtkunst“ (Ns2, S. 39) als die „reinste und höchste unter den Künsten“ (ebd.), weil sie im Unterschied zur Musik, zur Malerei und zur „Bildnerkunst“ (ebd.) nicht an physikalische Gegebenheiten gebunden sei, nicht mit dem „Stoffe ringen“ (ebd.) müsse, sondern nur den „Gedanke[n] in seiner weitesten Bedeutung“ (ebd.) benötige. Die Antwort auf diese Frage besteht aus zwei Teilen. Zum einen stellt die Statue, die Heinrich in den Besitz der Schönheit bringt, eine „Mädchengestalt“ (Ns2, S. 73) dar, die er mit genauem Blick von oben bis unten vermisst. Heinrich betrachtet den „Bau der Haare“ (Ns2, S. 74), die „Stirne“ (ebd.), den „feingebildet[en] [Mund]“ (ebd.), das „Kinn wie ein ruhiges Maß“ (ebd.) und den „sanften Glanz der Brust“ (ebd.), bevor „Gewänder bis an die Knöchel hinunter“ (ebd.) verhindern, dass der Blick in Regionen vordringt, die verhüllt bleiben müssen.194 Obwohl Heinrich bis zu

|| 192 Vgl. Neumann: Archäologie der Passion, S. 74 f. Neumann beschreibt die Statue im Treppenhaus des Rosenhauses in ihrem Verhältnis zu der Brunnennymphe in der Grotte des Sternenhofs, in der Heinrich und Natalie einander ihre Liebe gestehen. Während die Statue die „erhabene[] Antike“ (ebd., S. 75) repräsentiere, stehe die Nymphe für die „anmutige[] Schönheit der Moderne“ (ebd.). 193 Vgl. Zumbusch: Der Nachsommer, S. 103 f. Zumbusch weist darauf hin, dass das „Vertrauen in die teleologische Struktur von Entwicklungsprozessen“ (dies.: Der Nachsommer, S. 103 f.), das sowohl Risach als auch Heinrichs Vater an den Tag legen, eine Entsprechung im „narrativen Arrangement des Romans“ (ebd., S. 104) besitze, weil der Roman „ohne spannungserzeugende Vorgriffe und bis auf die im ‚Rückblick‘ erzählte Vorgeschichte auch ohne explikative Rückgriffe aus[kommt]“ (ebd.). 194 Franziska Schößler dagegen interpretiert das Kleid der Statue unter Berufung auf Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke und Hegels Vorlesungen über die Ästhetik als „sichtbare[n] Abdruck des Körpers, es enthüllt eher, als daß es bedeckte“ (dies.: Das unaufhörliche Verschwinden des Eros. Sinnlichkeit und Ordnung im Werk Adalbert Stifters. Würzburg 1995 (zugl. Diss., Freiburg 1994), S. 45). Heinrichs Beschreibung der Statue scheint mir dem „Kriterium der enthüllenden Kleidung“ (ebd.) jedoch ganz und gar nicht zu genügen. Schließlich wird hier der ganze Bereich vom „sanften Glanz der Brust“ (Ns2, S. 72) bis

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diesem Punkt in seiner Entwicklung in einem mehrere Jahre in Anspruch nehmenden Prozess „[i]n wiederkehrender Betrachtung der Kunstobjekte […] ein Bewusstsein für das Schöne [entwickelt]“195 hat, geht es in der beschriebenen Szene nicht mehr in erster Linie darum, die Schönheit eines vollendeten Kunstwerks zu erkennen. Stattdessen wird der „Umgang mit Kunst […] zur Beschäftigung mit dem weiblichen Körper“196. Heinrich tritt hier in die Fußstapfen seines Mentors, der seinerseits ein „über Jahrzehnte sich erstreckendes enthaltsames Leben“197 geführt hat, das auch nach der Versöhnung mit Mathilde keine erotische Leidenschaft mehr kennt, sondern im Gegenteil nicht nur sich selbst, sondern alle Bewohner „der artifiziellen Rosenhauswelt auf eine Triebregulierung fest[]legt“198. In einer „seit dem 18. Jahrhundert zu verfolgende[n] Tradition, in der Frauen immer wieder als Statuen beschrieben werden“199, erscheint die „Abwesenheit aller Leidenschaften“200 als vornehmliche Eigenschaft der antiken Kunst, zu der auch die Statue im Rosenhaus gehört. Der zweite Teil der Antwort auf die Frage, warum es die bildende Kunst ist und nicht die Dichtung, die das Erlebnis der Kunstschönheit in Heinrich bewirkt, lautet: Die Dichtung kommt nur wenig später im weiteren Verlauf der Handlung genau in diesem Zusammenhang zu ihrem Recht.201 Als nämlich eines Tages ein heftiger Sturm dazu führt, dass Aktivitäten im Freien nur eingeschränkt möglich sind (vgl. Ns3, S. 120 ff.), sucht Heinrich sowohl die Statue im Treppenhaus als auch den Marmorsaal alleine auf. Während ihm die Statue auch hier wieder als „das Alterthum in seiner Größe und Herrlichkeit“ (Ns3, S. 128) erscheint, können die Bilder im Marmorsaal „die Empfindung, die sonst diese Werke in mir erregten, nicht emporkeimen“ (Ns3, S. 128 f.) lassen, weil „ohnehin eine viel höhere in meinem Gemüthe waltete, welche durch die Gestalt des Alterthums […] hervorgerufen war“ (Ns3, S. 129). Im Unterschied zu || zu den „Knöchel[n]“ (ebd.) in einem Nebensatz abgehandelt und das Kleid der Statue, das immerhin „von der reinen geschlossenen Gestalt [erzählte]“ (ebd.), findet sein Interesse vor allem deshalb, weil es so „stofflich treu“ (ebd.) erscheint, „daß man meinte, man könne es falten, und in einen Schrein verpacken“ (ebd.). 195 Grätz: Evidenz des Musealen, S. 231. 196 Becker: Nachsommerliche Sublimationsrituale, S. 332. 197 Ebd. 198 Ebd. 199 Begemann: Adalbert Stifter: Der Nachsommer, S. 217. 200 Ebd. Begemann spricht im Hinblick auf dieses Merkmal der antiken Kunst von einem „Konsens“ (ebd.), der „seit dem Klassizismus Winckelmanns im 18. Jahrhundert“ (ebd.) bestehe. Zum Einfluss der Kunsttheorie Johann Joachim Winckelmanns auf den Nachsommer vgl. Grätz: Evidenz des Musealen, S. 217 ff. und S. 225. 201 Vgl. Grätz: Evidenz des Musealen, S. 234 f.

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den Gemälden, die Heinrich in dieser Situation „beinahe klein“ (ebd.) erscheinen, hat die Lektüre von Homers Odyssee202, der er sich nun zuwendet, eine ganz andere Wirkung. Die „fremden Worte“ (ebd.) des Textes gehen eine Verbindung mit der „Jungfrau […] auf der Treppe“ (ebd.) ein und Homers Figur Nausikaa203 haucht dem vorgestellten Bild der steinernen Statue Leben ein, um sich mit ihr zu verbinden: [D]ie Gewänder des harten Stoffes löseten sich zu leichter Milde, die Gliede [sic] bewegten sich, das Angesicht erhielt wandelbares Leben, und die Gestalt trat als Nausikae zu mir. (Ns3, S. 129)

|| 202 Homer: Odyssee. Übersetzung, Nachwort und Register von Roland Hampe. Stuttgart 1979. 203 Die Figur Nausikaa findet bereits in der Schlüsselszene Erwähnung, in der Heinrich die Schönheit der antiken Statue zum ersten Mal erkennt: „Ich dachte an Nausikae, wie sie an der Pforte des goldenen Saales stand, und zu Odysseus die Worte sagte: ‚Fremdling, wenn du in dein Land kömmst, so gedenke meiner‘“ (Ns2, S. 74). In der deutschsprachigen Literatur wurden immer wieder Versuche unternommen, die Figur Nausikaa „neu zu figurieren“ (Günter Häntzschel: Adalbert Stifters Nausikaa. In: Hettche u. a. (Hrsg.): Stifter-Studien, S. 87–96, hier S. 87) und in eigene literarische Projekte zu integrieren. Teilübersetzungen und Anthologien konzentrierten sich häufig auf den sechsten Gesang der Odyssee, der von der ersten Begegnung zwischen Odysseus und Nausikaa berichtet (vgl. ebd., S. 89, Anm. 4). Bereits hier verkündet Odysseus, der von Nausikaas Schönheit und Auftreten beeindruckt ist: „Der aber wird von Herzen der seligste, weit vor den andern, / Der in sein Haus dich führt und mit Brautgeschenken dich aufwiegt“ (Hom. Od. 6, 158–159). Auch Nausikaa spielt in dieser Passage auf eine mögliche Verbindung mit Odysseus an: „Unansehnlich ist er zuvor mir erschienen, jetzt aber / Scheint er den Göttern gleich, die den weiten Himmel bewohnen. / Könnte ein solcher Mann mir doch mein Gatte genannt sein / Und hier wohnen; gefiele ihm doch, hier immer zu bleiben“ (Hom. Od. 6, 242–245). Stifter bezieht sich in der oben zitierten Erinnerung Heinrichs an seine Homer-Lektüre allerdings nicht auf den sechsten, sondern auf den achten Gesang, in dem Odysseus und Nausikaa endgültig voneinander Abschied nehmen (vgl. Hom. Od. 8, 457–468). Franziska Schößler kommentiert diesen Sachverhalt wie folgt: „Heinrich stellt sich also für das Verhältnis zu Natalie gerade den labilen Moment der Trennung vor, was nach vollzogenem Bundschluß recht erstaunlich ist und sich vom Oberflächengeschehen her allein nicht erklärt“ (dies.: Das unaufhörliche Verschwinden des Eros, S. 49). Auch wenn an dieser Stelle, also im zweiten Kapitel des zweiten Bandes, noch kein Bund zwischen Heinrich und Natalie geschlossen wurde – die gegenseitige Liebeserklärung findet im fünften Kapitel desselben Bandes statt –, erscheint es angesichts Heinrichs aufkeimender Liebe zu Natalie in der Tat ungewöhnlich, dass Stifter sich hier auf den achten Gesang der Odyssee bezieht. Schößler deutet dieses Vorgehen, meines Erachtens überzeugend, wie folgt: „So scheint sich das Motiv der Trennung auf das imaginative Verfahren Heinrichs selbst zu beziehen, dieses kommentierend. Seine ästhetisierende Vision, die die Geliebte zu einem kulturell gesicherten Produkt macht, zur perfekten Schönheit nach kunstgeschichtlichen Normen, verabschiedet die Geliebte als konkrete Person“ (ebd., S. 50).

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Damit aber nicht genug: Im Fortgang der Lektüre, so Heinrich, „gesellte sich auch lächelnd das schöne Bild Nataliens zu mir; sie war die Nausikae von jezt“ (Ns3, S. 130). Im Lektüreerlebnis wird die Wirkung der Statue auf Heinrich also nicht nur verstärkt, sondern „[d]ie Lektüre stimuliert die Wahrnehmung der Statue, und umgekehrt wirkt diese Wahrnehmung auf die Lektüre zurück“204. In diesem Wechselspiel geht das Bild der antiken Mädchengestalt eine unauflösbare Verbindung mit Heinrichs Wahrnehmung von Natalie ein: „Beide Gestalten verschmolzen in einander, und ich las und dachte zugleich, und bald las ich, und bald dachte ich“ (ebd.). An dieser Stelle hat der Text allerdings ein schwieriges Problem zu lösen. Wenn der weibliche Körper in Abwehr aller potenziellen Leidenschaft dem direkten Zugriff über Blicke, geschweige denn Berührungen, entzogen ist und die Restauration und der Beschau von Statuen den Charakter einer „Surrogathandlung“205 erhalten, sind dem Ziel, das Risach von Anfang an verfolgt206 – die Eheschließung von Heinrich und Natalie und die Gründung eines „reine[n] Familienleben[s]“ (Ns3, S. 282) – ganz offensichtliche Hindernisse in den Weg gelegt. Die Problemlösung liegt darin, dass dem erlebenden Ich Heinrich Drendorf durch das „Medium“207 der antiken Kunst eine „neue Wahrnehmung des Körpers“208 ermöglicht wird, die dann in der Wiedergabe durch den Ich-Erzähler Heinrich Drendorf Natalie nicht als zu begehrende junge Frau erscheinen lässt, sondern als Kunstwerk. Durch ihre Verschmelzung mit Heinrichs Wahrnehmung der Statue und seiner Imagination von Nausikaa entsteht nicht nur „eine[] ideale Einheit höherer Ordnung“209, sondern Natalie erhält auch „die Züge einer bereits ästhetisch sublimierten Figur“210. Eine diesbezüglich aufschlussreiche Passage findet sich im dritten Kapitel des zweiten Bandes, in dem Natalie von ihrer Mutter in Heinrichs Beisein nach Art eines Verhörs zur Rede gestellt wird, weil sie „sehr erhizt“ (Ns2, S. 194) von einem Spaziergang in den Garten des Asperhofs zurückkehrt. Es sei zwar, so Mathilde, „kein Übel“ (Ns2, S. 195), solche Spaziergänge zu unternehmen, doch dies in der „heißen Sonne“ (ebd.) zu tun, sei „nicht gut“ (ebd.). Mathilde ergänzt eine weitere Beobachtung, die sich als Vorwurf deuten lässt: „Du hast auch den Hut an dem Arme getragen“ (ebd.). || 204 Grätz: Evidenz des Musealen, S. 235. 205 Becker: Nachsommerliche Sublimationsrituale, S. 332. 206 Vgl. Gamper: „Ich versuchte wieder und immer wieder“, S. 178 f. 207 Begemann: Adalbert Stifter: Der Nachsommer, S. 217. 208 Ebd. 209 Baum: Unmögliche Möglichkeiten, S. 63. 210 Ebd.

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In Natalies Verteidigung finden sich mehrere Aussagen, in denen ihre Körperlichkeit, ihre Eigenschaften als Wesen aus Fleisch und Blut zur Sprache kommen. Ihr „dichte[s] Haar“ (ebd.) sei ein besserer Schutz gegen die Sonne als der Hut, „der so heiß macht“ (ebd.), und, so Natalie, „die Wärme des Körpers stärkt mich eher, als daß sie mich drückt“ (ebd.). Heinrichs Konditionierung, die ihn vor der Macht der Leidenschaft bewahren soll, ist an dieser Stelle bereits so weit fortgeschritten, dass selbst „[d]ie körperliche Präsenz Nataliens, die in ihrem Bericht unüberhörbar eingespielt wird“211, keine Assoziationen mehr auslösen können, die ihn dieser Macht ausliefern würden: Ich betrachtete Natalie, da sie so sprach. Ich erkannte erst jezt, warum sie mir immer so merkwürdig gewesen ist, ich erkannte es, seit ich die geschnittenen Steine meines Vaters gesehen hatte. Mir erschien es, Natalie sehe einem der Angesichter ähnlich, welche ich auf den Steinen erblickt hatte […] Die Stirne die Nase der Mund die Augen die Wangen hatten genau etwas, was die Frauen dieser Steine hatten, das Freie das Hohe das Einfache das Zarte und doch das Kräftige, welches auf einen vollständig gebildeten Körper hinweist, aber auch auf einen eigenthümlichen Willen und eine eigenthümliche Seele. […] Ich sah lange auf die Gestalt, welche beim Sprechen bald die Augen zu uns aufschlug, bald sie wieder auf ihre Blumen nieder senkte. Daß ihr Haupt so antik erschien, […] mochte zum Theile auch daher kommen […] daß es mit einem richtig gebildeten Halse aus einem ganz einfachen schmucklosen Kleide hervor sah. […] [D]as Kleid […] schloß den reinen Hals, und ging an der übrigen Gestalt hernieder. (Ns2, S. 196 f.)212

Die Übereinstimmungen dieser Passage mit Heinrichs Beschreibung seines Statuen-Erlebnisses sind nicht zu übersehen. Er erkennt zwar sehr wohl den Zustand, in dem die erhitzte junge Frau sich befindet, doch selbst diese Erkenntnis kleidet er in Worte, die an die Statue erinnern: Natalies Gesicht „behält die Röthe, welche es nach dem ersten Erblassen erhalten hatte […]. Es blühte dieses Roth wie ein sanftes Licht auf ihren Wangen, und verschönerte sie gleichsam wie ein klarer Schimmer“ (Ns2, S. 197 f.). Die Nachwirkung der intensiven Sonnenbestrahlung tritt hier an die Stelle der Blitze, welche die Statue im Treppenhaus beleuchtet hatte: „Wenn ein Bliz geschah, floß ein rosenrothes Licht an ihr hernieder, und dann war wieder die frühere Farbe da“ (Ns2, S. 74).

|| 211 Schößler: Das unaufhörliche Verschwinden des Eros, S. 47. 212 Ausgespart habe ich in diesem Zitat Heinrichs Beschreibung von Gustav (der ebenfalls anwesend ist) und Mathilde. Sie repräsentieren Entwicklungsstadien, die dem Idealzustand Natalies „im Sinne eines Noch-nicht und eines Nicht-mehr“ (Müller: Utopie und Bildungsroman, S. 220, Anm. 63) vor- bzw. nachgelagert sind. Gustav werde, so vermutet Heinrich, „in wenigen Jahren so aussehen […] wie die Jünglingsangesichter unter den Helmen auf den Steinen“ (Ns2, S. 196), während Mathilde „vor nicht langer Zeit […] auch […] ausgesehen haben [müßte] wie die älteren Frauen auf den Steinen“ (ebd.).

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So wie die Blitze keine bleibende Veränderung an der Statue hinterlassen können, kann auch das „Wandeln in der heißen Sonne“ (Ns2, S. 197) nichts daran ändern, dass Natalie in Heinrichs Augen zum „Kunstobjekt[]“213 geworden ist; ihm wird ihr „antikisches Aussehen bewusst“214 und sie erscheint ihm als „physiognomische Verbindung zwischen Gegenwart und Antike“215. Indem Heinrich Natalie nicht als Mensch aus Fleisch und Blut, sondern gleichsam als Statue wahrnimmt, wird ihr Körper einer Transformation unterzogen, die so weit geht, dass er dem Marmor der Statue gleicht.216 Damit ist der „wohl sprödesten Liebeserklärung der deutschen Literatur“217 der Weg geebnet. Doch bevor Heinrich und Natalie einander ihre Liebe gestehen, führen sie in der Grotte des Sternenhofs ein ausführliches Gespräch, in dem die Kunst und ihre Wirkung auf die Menschen nur anfänglich thematisiert wird. Die Anlage, in der die beiden sich befinden, ist, so Heinrich, „gemacht, daß sie das Gemüth und den Verstand erfüllet“ (Ns2, S. 253). Natalies Erzählung von der Entstehung dieser Anlage kommentiert Heinrich nur knapp: „Die Menschen werden von solchen Werken gezogen […] und die Lust des Schauens findet sich“ (Ns2, S. 254).218 Anschließend wird, zunächst überraschend, die Schönheit der „Nimphe“ (Ns2, S. 254) aus der Perspektive erklärt, die Heinrichs Wahrnehmung der Welt vor seiner Erkenntnis der Schönheit bestimmt hatte. Es ist die Perspektive des Naturwis-

|| 213 Becker: Nachsommerliche Sublimationsrituale, S. 333. 214 Mayer: Adalbert Stifter, S. 164. 215 Grätz: Evidenz des Musealen, S. 233. 216 Vgl. Begemann: Adalbert Stifter: Der Nachsommer, S. 217: „Der Körper soll wie ein Kunstwerk wahrgenommen und dadurch gleichsam neu erschaffen werden. Er darf keinen Eigenwert haben, sondern muß transparent sein auf das, was eigentlich zählt: das Geistige und Seelische. Und als solcher, a l s Körper, muß er abgekühlt, ja abgetötet werden. All das leistet die Wahrnehmung der Frau als Statue“ (Hervorhebung im Original). Zum Motiv der Statue bei Stifter vgl. auch Schößler: Das unaufhörliche Verschwinden des Eros, S. 13 ff. (zum Nachsommer: S. 40 ff.). Schößler verfolgt dieses Motiv durch verschiedene Werkphasen und sammelt „[ü]ber die Texte hinweg […] Konnotate, die den Raum dieses Motivs auslegen und die Statue eindeutig als getöteten Leib der Frau erscheinen lassen“ (ebd., S. 12). 217 Begemann: Adalbert Stifter: Der Nachsommer, S. 213. 218 Roland Duhamel interpretiert den Ausdruck ‚gezogen‘ in Heinrichs Aussage im Sinne von ‚erzogen‘ (vgl. ders.: Natur und Kunst, S. 152). Im Kontext von Natalies Bericht, in dem sie beschreibt, wie man die Grotte und deren Umgebung nach und nach gestaltet habe, damit „das Werk mit Ruhe und Erquickung angesehen werden könne“ (Ns2, S. 254), erscheint es mir schlüssiger, von der Bedeutung ‚angezogen‘ auszugehen. Allerdings zeigt gerade dieser Bericht, wie Stifter mit dem semantischen Umfeld des Verbs ‚ziehen‘ spielt: Der „Eppich“ (ebd.) – also Efeu (vgl. ‚Eppich, Ebich‘ [Art.]. In: DWB, Bd. 3, Sp. 680) –, der im Bereich der Grotte eine „grüne Wand“ (Ns2, S. 253) bildet, ist, so Natalie, „erzogen worden“ (Ns2, S. 254).

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senschaftlers.219 Heinrich erklärt Natalie die von ihr empfundene „sehr große Tiefe“ (ebd.) des Marmors, indem er dessen physikalische Eigenschaften beschreibt. Selbst als Natalie ihm die Gelegenheit gibt, auf sein „zentrale[s] Bildungserlebnis“220 zu sprechen zu kommen, indem sie die „Gestalt auf der Treppe unsers Freundes“ (Ns2, S. 255) erwähnt, doziert Heinrich weiter ausführlich über die Eigenschaften des Marmors, grenzt ihn von anderen Materialien wie „Holz Thon Gold oder Silber“ (ebd.) ab und kommt anschließend – eine Frage Natalies beantwortend – auf das „Lichtbrechungsvermögen[]“ von Diamanten zu sprechen, bevor sich das Gespräch, wiederum von Natalie gelenkt, den Eigenschaften von Luft und Wasser zuwendet. Diese plötzliche Rückkehr zur Perspektive des Naturwissenschaftlers, die Heinrich auch später nicht aufgeben wird, zeigt eines sehr deutlich: Bei der behutsamen Hinführung zur Kunst, die Risach seinem Zögling Heinrich zuteilwerden lässt, geht es nicht um die Kunst an sich: „Heinrichs Erziehung zur Liebe […] [geht] aus der Kunst hervor, erfolgt in deren Medium und zielt auf eine umfassende Kontrolle und Bearbeitung der inneren Natur“221. Hier lagern sich gleich zwei Topoi an die Figur Heinrich Drendorf an und bestimmen die Gestaltung ihres Bildungsgangs maßgeblich: Die Macht der Kunst soll Heinrich nach dem Willen Risachs davor schützen, dass die Macht der Leidenschaft ihn zu denselben Fehlern verleitet, die er, Risach, in seiner Jugend begangen hat.

7.4.3 Eine ideale Familie Wenn Heinrich Drendorf seiner Natalie in der unbeobachteten Zweisamkeit der Sternenhofgrotte einen „heißen Kuß auf ihre Lippen“ (Ns2, S. 265) drückt, handelt es sich nicht um den Ausdruck einer leidenschaftlichen Annäherung, sondern stellt – in seinen Worten – ein „Zeichen der ewigen Vereinigung und der unbegrenzten Liebe“ (Ns2, S. 265 f.) dar. Natalie erwidert den „Kuß zu gleichem Zeichen der Einheit und der Liebe“ (Ns2, S. 266), womit die kommunikative Funktion des Küssens ihren Zweck erfüllt zu haben scheint: Das Paar drückt sich nur noch schweigend „die Hände als Bestättigung des geschloßnen Bundes || 219 Christian Begemann dagegen misst der Kunst in dieser Passage eine höhere Bedeutung zu. Er deutet die Tatsache, dass die Liebeserklärung „im Angesicht eines weiteren Marmorbildes“ (ders.: Adalbert Stifter: Der Nachsommer, S. 219) stattfindet, dahingehend, dass „[d]ie Liebe von Heinrich und Natalie […] durch das Medium der Kunst hindurchgefiltert und in ihm bearbeitet [wird], bevor sie erfüllt werden kann“ (ebd.). 220 Müller: Utopie und Bildungsroman, S. 219. 221 Begemann: Adalbert Stifter: Der Nachsommer, S. 219.

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und des innigsten Verständnisses“ (ebd.). Die „Kontrolle von Leidenschaften und Trieben“222, die einen „unabdingbare[n] Bestandteil“223 der Erziehung Natalies und von Heinrich Drendorfs Bildungsgang bildet, führt an dieser Stelle verlässlich dazu, dass die beiden ihre „Liebe […] in den Ort des Familiären eingebunden“224 sehen wollen. Für beide gibt es – im Unterschied zur Binnenerzählung von Risachs und Mathildes scheiternder Jugendliebe – „keinen Konflikt zwischen Liebe und Familie; […] ihre Gefühle sind strikt auf die im Zeichen der Familie zu vollziehende Ehe ausgerichtet“225 und dem Willen der Eltern wird von beiden „absolute Macht über ihr Schicksal eingeräumt“226. Anders als Risach und Mathilde, die ihre Beziehung lange vor den Eltern geheim halten, „stellen die folgsamen Kinder Heinrich und Natalie ihren Bund unverzüglich in den geordneten Raum der Familie ein“227 und beschließen, Natalies Mutter, Heinrichs Eltern und ihren „edle[n] Freund“ (Ns2, S. 266) Risach nicht nur um die Zustimmung zu ihrer Beziehung zu bitten, sondern knüpfen deren Fortsetzung in vorauseilendem Gehorsam an die Bedingung, dass nicht „eins von diesen nein sagt“ (ebd.). Wenn Mathilde später die erste Unterredung mit Heinrichs Eltern mit den Worten beendet, dass „der Bund, den die Herzen unserer Kinder geschlossen haben, auch durch die Beistimmung der Eltern bekräftigt“ (Ns3, S. 237) sei, verschweigt der Text das umfassende „Disziplinierungskonzept“228, mit dem die Elterngeneration es Heinrich und Natalie unmöglich gemacht hätte, ihre Beziehung ohne diese Zustimmung fortzuführen. Tatsächlich hat sich aber auf Heinrichs zielgerichtet verlaufendem Bildungsgang nicht ein einziges Mal die Notwendigkeit zu einer Disziplinierung ergeben, denn als er die Welt des Asperhofs zum ersten Mal betritt, ist all das, was Risach durch die Macht der Kunst in ihm hervorbringt, bereits angelegt. Schon auf den ersten Seiten des Romans zeigt Heinrich Drendorf sich zu keinem Zeitpunkt als unfertiger junger Mann, dessen Entwicklung in die falsche Richtung verlaufen könnte.229 Er erscheint selbst sprachlich „weniger als Sub-

|| 222 Becker: Nachsommerliche Sublimationsrituale, S. 318. 223 Ebd. 224 Ebd. 225 Saße: Familie als Traum und Trauma, S. 229. 226 Ebd. 227 Zumbusch: Nachgetragene Ursprünge, S. 294. 228 Becker: Nachsommerliche Sublimationsrituale, S. 318. 229 Vgl. Zumbusch: Nachgetragene Ursprünge, S. 290.

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jekt denn vielmehr als Akkusativableitung“230 seines Vaters, auf dessen Rolle als Oberhaupt einer wohlgeordneten Familie der Text immer wieder Bezug nimmt. Hier liegt aber gerade die Erklärung dafür, warum Risach nicht die Aufgabe zukommt, Heinrich auf den rechten Weg zu führen, sondern lediglich dessen positive Anlagen in einem geschützten Raum zur weiteren Entfaltung zu bringen. Sein Zögling ist von Anfang an der Macht der Familie ausgesetzt, die es ihm nicht nur erlaubt, diese Anlagen heranzubilden, sondern als exklusiver Ort der Vermittlung von Bildung fungiert: „Entscheidend für die Erziehung [der Kinder im Hause Drendorf; H. A.] ist das Prinzip der Isolierung: keine öffentliche Schule, kein gesellschaftlicher Umgang und […] keine räumliche Erweiterung durch Reisen […]. Bildungsmächtig ist allein der enge Kreis der Familie, der ganz und gar durch den Willen des Vaters geformt ist“231. Das oben erwähnte Disziplinierungsprogramm findet bereits sehr früh Anwendung. Heinrich und seiner Schwester Klotilde werden bestimme „Geschäfte[] [] schon in der Kindheit regelmäßig aufgelegt“ (Ns1, S. 9). Wenn der Vater abends im „Bücherzimmer“ (Ns1, S. 10) liest, darf dieses niemand betreten oder ihn gar stören. Sein „Zug strenger Genauigkeit“ (Ns2, S. 11) prägt sich den Kindern ein und lässt sie „auf die Befehle der Eltern achten, wenn wir sie auch nicht verstanden“ (ebd.). Zwischen den Eltern selbst besteht aber ebenfalls ein Hierarchiegefälle, denn während die Mutter den Kindern „ein Abweichen von dem angegebenen Zeitenlaufe zu Gunsten einer Lust gestattet hätte“ (Ns1, S. 12), hält die „Furcht vor dem Vater“ (ebd.) sie davon ab. Gegen dieses strenge Regiment aufzubegehren fällt weder Heinrich noch seiner Schwester ein. Sowohl Vater als auch Mutter erscheinen ihnen als „ehrwürdiges Bildniß des Guten“ (ebd.), sodass Heinrich nach seinen Bildungsreisen ins Gebirge resümieren kann: „So ging alles gut, Vater und Mutter freuten sich über meine Ordnung, und ich freute mich über ihre Freude“ (Ns1, S. 41). Nicht nur die bedingungslose Unterordnung unter die Gebote der Eltern ist bereits in Heinrichs Herkunftsfamilie angelegt, sondern auch das wesentliche Resultat seiner Heranführung an die Kunstschönheit. Gemeint ist hier Heinrichs Leidenschaftslosigkeit. Tabu sind zum einen Sexualität und Erotik: „So […] durften nicht einmal wir Kinder das Schlafzimmer der Eltern betreten. Eine alte Magd war mit Ordnung und Aufräumung desselben betraut“ (Ns1, S. 11).232 Zum

|| 230 Ebd., S. 291. Zumbusch kommentiert hier die Art und Weise, wie Heinrich sich auf der ersten Seite des Romans vorstellt: „Mein Vater hatte zwei Kinder, mich den erstgeborenen Sohn und eine Tochter, welche zwei Jahre jünger war als ich“ (Ns1, S. 9). 231 Müller: Utopie und Bildungsroman, S. 214. 232 Vgl. Borchmeyer: Ideologie der Familie, S. 238.

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anderen ist es Heinrich und Klotilde in ihrer Kindheit nicht erlaubt, das Theater zu besuchen, denn es gilt dem Vater als potenzieller Auslöser von „Begierden oder gar Leidenschaften“ (Ns1, S. 192). Bezeichnenderweise ist das Theater aber gerade der Ort, an dem Heinrich und Natalie sich – ohne die Identität des anderen schon zu kennen – nicht nur zum ersten Mal sehen, sondern auch in nonverbaler Kommunikation über die Bedeutung des „reine[n] Familienleben[s]“ (Ns3, S. 282) verständigen, das sie später nach dem Willen Risachs gründen werden. Während eines herbstlichen Aufenthaltes im Elternhaus erfährt Heinrich, der, seitdem er „selbstständig gestellt“ (Ns1, S. 192) ist, die Freiheit besitzt, Theateraufführungen seiner Wahl zu besuchen, von einem „Künstler, von dem der Ruf sagte, daß er in der Darstellung des Königs Lear von Shakespeare das Höchste leiste, was ein Mensch in diesem Kunstzweige zu leisten im Stande sei“ (ebd.).233 Die Befürchtungen von Heinrichs Vater in Bezug auf die schädlichen Auswirkungen des Theaters scheinen sich an dieser Stelle zu erfüllen, denn Heinrich, der anfänglich nur „von dem Gange der Handlung eingenommen“ (Ns1, S. 195) ist, fließen bald „die Thränen über die Wangen herab, ich vergaß die Menschen herum, und glaubte die Handlung als eben geschehend“ (Ns1, S. 196). Weniger später weiß er sich „vor Schmerz kaum mehr zu fassen“ (Ns1, S. 197) und hält das Dargebotene für „wirklichste Wirklichkeit“ (ebd.). Trotzdem besteht die primäre Erzählfunktion dieser Episode nicht in einer Kritik an den schädlichen Auswirkungen ungeeigneter Theaterstücke. Im Moment der größten Erregung fällt Heinrichs Blick auf die ihm noch unbekannte Natalie, die von den „Ihrigen“ (Ns1, S. 198) umsorgt wird, weil sie unter der Wirkung des Stückes „schneebleich“ (ebd.) geworden und ihr „Angesicht von Thränen übergossen“ (ebd.) ist. Obwohl Heinrich seinen Blick aus Anstand abwendet, nimmt Natalie, wie sich viel später herausstellen wird, in seinen „Augen […] ein Mitgefühl mit meiner Empfindung“ (Ns2, S. 263) wahr. Auf dem Weg zum Ausgang des Theaters kommt es Heinrich dann so vor, als ob Natalie ihn „freundliche ansähe, und mir lieblich

|| 233 Die Beschreibung des namenlosen Lear-Darstellers im Nachsommer, von dem man sagt, „daß es unmöglich wäre, daß er diese Handlung so darstellen könnte, wie er sie darstelle, wenn nicht ein Strahl jenes wunderbaren Lichtes in ihm lebte, wodurch dieses Meisterwerk erschaffen, und mit unübertrefflicher Weisheit ausgestattet worden ist“ (Ns1, S. 192), erinnert an die Beschreibung des Schauspielers Dall in Turmalin. Dalls „Darstellung hoher Personen [soll] von einer solchen Würde und Majestät gewesen sein, daß seither nichts mehr dem Ähnliches auf der Bühne zum Vorschein gekommen sei“ (T2, S. 140). Zu einer solchen Leistung ist er nur imstande, weil er sich in „seine Rollen hinein[]lebt […] und […] auf diese Weise nicht die Rollen spielte, sondern das in ihnen Geschilderte wirklich war“ (ebd.). Zur Figur des Schauspielers Dall siehe auch die Abschnitte 3.3.2 und 3.3.3.

Entfaltung und Erfüllung | 409

zulächelte“ (Ns1, S. 198), was beide im Rückblick als Dank dafür bewerten, dass Heinrich Natalie in ihrem durch die Tragödie ausgelösten „Schmerz“ (Ns2, S. 262) „beigestimmt“ (ebd.) hatte und sie ihm somit ein „Einverständniß über unsere gemeinschaftliche Empfindung“ (ebd.) signalisieren wollte. Diese Textbelege zeigen, welche Bedeutung der Ich-Erzähler Heinrich Drendorf der King-Lear-Episode beimisst. Sie ist in der Tat bedeutsam, weil es sich bei dem Stück, das in Heinrich und Natalie schon lange, bevor sie sich kennenlernen dürfen, dieselbe Ergriffenheit auslöst, nicht um eine beliebiges Drama handelt: „Shakespeares Tragödie um den an seinen Töchtern zum Narren gewordenen König hält der Nachsommer-Welt und ihren Traditionsanstrengungen den Zerrspiegel des Mißlingens vor“,234 weil hier die Weitergabe von Traditionen an die Vertreter der nächsten Generation scheitert.235 Dieser Effekt wird durch die Tatsache, dass in King Lear der Vater die leidtragende Figur ist, verstärkt,236 denn während der ganzen Familie und somit auch beiden Elternteilen eine wichtige Bedeutung in Heinrichs Weltbild zukommt, spielt der Vater durch seine unangefochtene Stellung als Familienoberhaupt eine zentrale Rolle. In Heinrichs Rückblick auf sein Erleben des Theaterstücks wird die Rolle des Vaters folgerichtig besonders betont: So bemerkt er zu Beginn seines Berichts, dass „die edle Cordelia […] auf die Frage, wie sie den Vater liebe, weniger zu antworten wußte, als sie vielleicht zu einer anderen Zeit, wo das Herz sich freiwillig öffnete, gesagt hätte“ (Ns1, S. 195). Als der Konflikt sich zuspitzt, „empört sich [in dem hohen Hause Glosters] ein unehelicher Sohn gegen den Vater“ (ebd.), was „unnatürliche Dinge in die Welt [ruft]“ (ebd.). Und als Lear schließlich den Verstand verliert, erhält die einst verbannte Cordelia die Botschaft, dass ihre Schwestern, so Heinrich, „den Vater schnöd behandeln“ (Ns1, S 197). Ein Vater, der sein Kind verbannt, ein uneheliches Kind, das gegen den Vater aufbegehrt und leibliche Kinder, die ihren Vater nicht achten – dies sind Zustände, die im Hause Drendorf und in der Welt von Rosenhaus und Sternenhof schier undenkbar sind. Heinrich und Natalie verstehen schon an dieser Stelle,

|| 234 Blasberg: Erschriebene Tradition, S. 337. 235 Vgl. ebd., S. 337 f. 236 Vgl. Schäublin: Familiales in Stifters Nachsommer, S. 89–91. Schäublin deutet Heinrichs Schilderung der King-Lear-Aufführung in Abgrenzung zu Sigmund Freuds Interpretation des Dramas, nach der es darin „um die Wahl eines alten Mannes unter drei Frauen“ (ebd., S. 89) gehe. Während die Tatsache, dass „der alte Mann der Vater und die drei Frauen seine Töchter sind“ (ebd.), in Freuds Deutung in den Hintergrund rücke, bleibe Heinrichs intensives Nacherleben des Stücks „vollständig in familialen Bahnen“ (ebd.).

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„[w]elch großes Unglück droht, wenn das familiäre Leben misslingt“,237 und begreifen, dass der jeweils andere dies versteht. Als Heinrich die Welt des Asperhofs zum ersten Mal betritt, ist er durch seine Herkunftsfamilie bereits in idealer Weise darauf vorbereitet, seine Anlagen unter der Anleitung Risachs zu entfalten. Diese Vorbereitung beschränkt sich aber bei weitem nicht auf Disziplin, Isolierung und Einschränkung. Ein weiterer Aspekt ist hier zu berücksichtigen: Zwischen Gustav von Risach und Drendorf senior bestehen nicht zu übersehende Parallelen. Sie „figurieren als Doppelgänger; sie äußern gleiche Wertvorstellungen, analoge Einschätzungen von Kunstwerken, und ihre Gedanken zur Geschichte der Kunst klingen wie aus einem Mund“238. Unter ihrer jeweiligen Führung folgen Heinrichs Elternhaus und das Rosenhaus „auf verschiedenen Niveaus denselben Grundsätzen und bestätigen sich damit gegenseitig nach dem Prinzip der Verdoppelung“239, was sich anhand der folgenden Aspekte illustrieren lässt. Sowohl Risach als auch Drendorf senior werden als traditionelle Hausväter nach dem Prinzip des ‚ganzen Hauses‘240 dargestellt, auch wenn beide dieses Prinzip nicht mehr aufrechterhalten können.241 Obwohl Heinrich zunächst in einem städtischen Mietshaus aufwächst, dürfen die „Diener des Vaters […] an unserem Tische mit Vater und Mutter“ (Ns1, S. 9) das Mittagessen einnehmen, während für die „Mägde und de[n] Magazinsknecht […] in dem Gesindezimmer ein[] Tisch“ (ebd.) bereitsteht. Mit dem Umzug in ein Vorstadthaus befinden

|| 237 Pahmeier: Die Sicherheit der Obstbaumzeilen, S. 132. Ähnlich auch Mayer: Adalbert Stifter, S. 160. Mayer weist mit Margret Walter-Schneider darauf hin, dass „der Sturm im Lear als deutliches Signal aus dem Hintergrund zu verstehen [ist], gleichsam als Warnung und Gegenbeispiel zur Hauptgeschichte“ (ebd.). 238 Grätz: Evidenz des Musealen, S. 222. 239 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 334. Katharina Grätz führt in diesem Zusammenhang Folgendes aus: „Je mehr er [Heinrich; H. A.] in die museale Ordnung des Asperhofs hineinwächst, desto stärker rückt paradoxerweise auch sein Zuhause in den Blick. Denn je weiter seine Initiation fortschreitet, desto offensichtlicher wird, dass das Ordnungs- und Bedeutungsgefüge, das er bei Risach vorfindet, dem seines Vaterhauses korrespondiert“ (dies.: Evidenz des Musealen, S. 221). Auch Rudolf Wildbolz hebt das „bewegende Doppelprinzip von Lenken und Gewährenlassen“ (ders.: Adalbert Stifter, S. 98) hervor, das Heinrichs Vater und Gustav von Risach verbinde. Der „alte Drendorf“ (ebd.) erscheint ihm allerdings als „ein geringer ausgestatteter Risach“ (ebd.), sodass sich mit dem Eintritt Heinrichs in die Welt des Rosenhauses der „Kreis weite[]" (ebd.). 240 Zu diesem Prinzip siehe Abschnitt 5.4.4. 241 Vgl. Borchmeyer: Ideologie der Familie, S. 227 f. Vgl. auch Pahmeier: Die Sicherheit der Obstbaumzeilen, S. 137. Pahmeier erkennt in weiteren Figuren des Nachsommers Vertreter dieses Typus und nennt „den Herrn von Ingheim und Mathildes Vater, Herrn Makloden“ (ebd.).

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sich Wohn- und Geschäftsräume nicht mehr im selben Gebäude, womit die äußerlichen Umstände der Tradition des ‚ganzen Hauses‘ nicht mehr entsprechen.242 Der Absolutheitsanspruch der väterlichen Autorität bleibt jedoch ungebrochen. In ähnlicher Weise beklagt Gustav von Risach den Verlust der „alte[n] Sitte […], daß der Herr des Hauses zugleich mit den Seinigen und seinem Gesinde beim Mahle sizt. Die Dienstleute gehören auf diese Weise zu der Familie“ (Ns1, S. 135). Er habe diese Sitte zwar, so Risach, „in unserem hiesigen Hause einführen wollen; allein die Leute waren auf eine andere Weise herangewachsen […]. Ich befreite daher meine Dienstleute von dem Zwange, und jüngere Nachfolger mögen den Versuch wieder erneuern, wenn sie meine Meinung theilen“ (Ns1, S. 136). Risach setzt die Tradition des ‚ganzen Hauses‘ also nur aus,243 ohne sie abzuschaffen – seine unangefochtene Rolle als Hausvater bleibt davon unberührt.244 Nachdem Heinrich im Rosenhaus zu einem tiefen Kunstverständnis gelangt ist, weiß er auch die Kunstwerke, die in seinem Elternhaus versammelt sind, zu würdigen und kann dem Vater anders gegenübertreten. In einem Gespräch über seine aus der Antike stammenden „geschnittenen Steine“ (Ns2, S. 155), auf denen Heinrich „die Gestalten wieder[fand], wie die eine war, welche auf der Treppe des Hauses meines Gastfreundes stand“ (Ns2, S. 156), bekennt der Vater, dass er durch die wiederholte, jahrelange Betrachtung dieser Steine, die er schon seit Heinrichs Kindertagen besitzt, „in eine andere Zeit und in eine andere Welt versezt worden, und […] ein anderer Mensch geworden“ (Ns2, S. 160)

|| 242 Vgl. Pahmeier: Die Sicherheit der Obstbaumzeilen, S. 126. 243 Dieter Borchmeyer weist darauf hin, dass Mathilde Tarona im Unterschied zu Risach „den Plan einer Wiederherstellung der großfamilialen Lebensgemeinschaft nicht aufgegeben“ (ders.: Ideologie der Familie, S. 230) habe. Mathilde hebe auf ihrem Sternenhof zwar das „Verhältnis von Herrschaft und Untertänigkeit“ (ebd., S. 231) auf, begründe aber trotzdem, so beschreibt es Heinrich Drendorf, „einen geschlossenen Hausstand von Gesinde und ihrer eigenen Familie“ (Ns2, S. 122). 244 Sabina Becker belegt Risachs Rolle als Oberhaupt einer „bürgerlich-patriarchalische[n] Ordnung“ (dies.: Nachsommerliche Sublimationsrituale, S. 331) anhand zahlreicher Primärzitate (vgl. ebd.) und weist darauf hin, dass diese Rolle durch die Eheschließung Heinrichs und Natalies nicht in Frage gestellt werde. Sie verweise „auf jene der gesellschaftlichen Ordnung immanente feste Ordnung der Geschlechter“ (ebd.), die vor allem an den „ritualisierte[n] und enterotisierte[n] Formen der Begegnung von Frau und Mann“ (ebd.) ablesbar sei. Günter Saße erscheint die Art und Weise, wie Risach „die Ordnung des ‚ganzen Hauses‘, in der die patriarchalische Allgewalt Sinn und Zweck allen Tuns gesichert hatte“ (ders.: Familie als Traum und Trauma, S. 228), auf dem Asperhof „inszenier[t]“ (ebd.), als „eine[] Art von rückwärts gewandter Utopie“ (ebd.).

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sei.245 Die lebensverändernde Macht der Kunst hat ihre Wirkung also schon auf Heinrichs Vater ausgeübt und ihn zu einem Kunstverständnis geführt, dass Heinrich später auch bei Risach wiederfinden wird. Heinrichs Gedanken dazu lauten wie folgt: Ich dachte, da mein Vater so sprach, an meinen Gastfreund, der ähnlich fühlt, und sich ähnlich ausspricht. Aber es ist ja kein Wunder, daß Männer, die ein ähnliches Streben haben, also auch ähnlichen Geist besizen, auf ähnliche Gedanken kommen […]. (Ns2, S. 154)

Die Ähnlichkeit zwischen Drendorf senior und Risach besteht in einer „vom Erlebnis des Altertums bestimmte[n] Humanität“246, die schließlich auch das „Bildungsziel“247 für Heinrich darstellen wird. Dieser Bildungsinhalt wird vom Vater als Heinrichs ursprünglichem Erzieher aber nicht forciert. In Analogie zu Risachs Erklärung, dass er gewartet habe, bis sein Zögling „aus eigenem Antriebe“ (Ns2, S. 76) zur Erkenntnis der Schönheit kommen würde, hat auch der Vater, so erkennt Heinrich es später, „geduldig auf den Sohn gewartet […], ob er auf dem Wege zu ihm stoßen werde“ (Ns2, S. 161). Durch die „Seelenverwandtschaft der beiden alten Männer“248 ist Heinrich, der mit Risach „einen zweiten Vater [erhält]“249, also bestens auf die Zustände im Rosenhaus vorbereitet. Die nun einsetzende „Pendelbewegung zwischen […] dem Vaterhaus […] und dem Rosenhaus“250 führt bald dazu, dass er sich fühlt,

|| 245 Vgl. Müller: Utopie und Bildungsroman, S. 223. 246 Ebd. 247 Ebd. 248 Ebd., S. 221. 249 Zumbusch: Nachgetragene Ursprünge, S. 297. 250 Borchmeyer: Ideologie der Familie, S. 227. Borchmeyer erkennt in den Kapitelüberschriften des ersten Bandes des Romans eine Repräsentation dieser Bewegung (vgl. ebd.). KlausDetlef Müller beschreibt den „Bildungsgang Heinrich Drendorfs“ (ders.: Utopie und Bildungsroman, S. 213) in diesem Zusammenhang zunächst als „Abfolge von Konzentration und Erweiterung: der Erziehung im Elternhaus folgt eine Phase des Reisens, die zu einem neuen Fixpunkt im Asperhof führt“ (ebd.). Diese Phasen seien jedoch unterschiedlich zu gewichten. An erster Stelle stehe die „Bildung durch den Umgang mit Risach“ (ebd.) und an zweiter Stelle die „elterliche Erziehung“ (ebd.), wohingegen Heinrichs Reisen „die Weltinhalte nur quantitativ vermehren, ohne daß ihnen ein entscheidender Bildungswert zukommt“ (ebd.). Das „für die Struktur des Bildungsromans so kennzeichnende Reisemotiv“ (ebd., S. 215) werde deshalb im Nachsommer nur „formal beibehalten“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund kommt auch Müller zu dem Schluss, dass es sich bei Heinrichs Reisen letztendlich „um eine Kreis- oder Pendelbewegung zwischen Elternhaus und Asperhof als den beiden Wirkzentren des Bildungsvorganges“ (ebd.) handele. Vgl. auch die oben bereits angeführte These Sabina Beckers zur Abweichung des Nachsommers vom traditionellen Reisemotiv, die auf den autoritären Ansatz zurückzufüh-

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„als sei ich kein Fremder, sondern gehöre gewissermaßen zur Familie“ (Ns1, S. 235). Heinrich knüpft damit aber gleichzeitig – in den Worten seines Vaters – ein „unsichtbares Band […], das Band der geistigen Entwicklung seines Sohnes und des Verkehrs desselben mit beiden Teilen“ (Ns3, S. 41), das dazu führen muss, dass die Familien „auch in der Wirklichkeit sich nähern, sich kennen lernen, und in eine Verbindung treten werden“ (ebd.). Auch in diesem Zusammenhang spielt Heinrichs Vater eine zentrale Rolle. Von seinen Angehörigen wiederholt darauf hingewiesen, dass die Arbeit als Kaufmann ihn zu stark beanspruche und dass „[e]ine Reise […] sein Leben recht erfrischen [würde]“ (Ns1, S. 184), bietet sich der Asperhof, an dem Drendorf senior durch Heinrichs Erzählungen großes Interesse gewinnt, als Ziel einer solchen Reise an: „[D]ie Mutter meinte, es wäre recht schön, wenn er sich einmal aufmachte […] und die Sachen bei dem alten Manne selber ansähe“ (ebd.; vgl. auch Ns2, S. 49 und Ns3, S. 41 f.). Schon zu Beginn des dritten Bandes stellt der Vater in Aussicht, dass für ihn „doch einmal […] der Stillstand der Geschäfte eintreten“ (Ns3, S. 42) werde. Dann sei es „Zeit […], im Anblicke von Berg Wald und Feld ein Haus zu miethen oder zu bauen“ (ebd.), so dass man „im Sommer dort und im Winter hier wohnen“ (ebd.) könne. Als Heinrich von seiner ausgedehnten Reise durch Europa zurückkehrt, erfährt er von „eine[r] Veränderung, die mit meinem Vater vorgegangen war“ (Ns2, S. 256): Drendorf senior hat in der Tat „sein Handelsgeschäft abgetreten“ (ebd.) und den „verkäuflich gewordenen Gusterhof“ (ebd.) erworben, der – wie könnte es anders sein – „auf einer sehr lieblichen Stelle zwischen dem Asperhofe und Sternenhofe“ (ebd.) liegt.251 Mit dem Umzug von Heinrichs Herkunftsfamilie auf diesen Hof findet gegen Ende des dritten Bandes eine Bewegung im geografischen Raum ihre Fortsetzung, die mit dem Umzug von der Stadt in die Vorstadt schon im ersten Kapitel ihren Anfang genommen hatte. Es ist eine Bewegung hin zum Mittelpunkt der kultivierten Natur, welche die Figuren des Romans zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfasst:

|| ren sei, mit dem in der Welt des Rosenhauses gearbeitet werde (siehe Anm. 43 in diesem Kapitel). 251 Peter Uwe Hohendahl erläutert in diesem Kontext, dass das „im Nachsommer entworfene Bild [der Gesellschaft; H. A.] wesentliche Teile der Wirklichkeit ausblendet“ (ders.: Die gebildete Gemeinschaft, S. 345), und geht auf eine weitere Parallele zwischen Heinrichs Vater und Gustav von Risach ein: Für beide sei „die kommerzielle Tätigkeit oder der Staatsdienst nicht mehr als eine noch notwendige Vorstufe für den Rückzug aufs Land, wo man […] ein Gut erwirbt, das man als Gentleman-Farmer bewirtschaftet“ (ebd.).

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Heinrich

Risach

Risach

Heinrich

Heinrich

Drendorf senior Asperhof Sternenhof Gusterhof (Kultivierte Natur)

Gebirge (Wildnis) −−



+

Drendorf senior Vorstadthaus

Stadt (Hochkultur)



−−

Abb. 17: Bewegungen auf der Natur-Kultur-Skala im Nachsommer252

Würde der Roman nicht bald nach der Ansiedlung von Heinrichs Herkunftsfamilie auf dem Gusterhof enden, so könnte er wohl nicht anders, als davon zu erzählen, wie das Leben der Bewohner der drei Höfe weiterhin exemplarisch gelingt, denn an diesem Punkt „[umfaßt] Stifters Gleichnis der Welt […] acht Personen, die auf drei nahe beieinander liegenden Höfen als ideale Großfamilie leben“253. An der Spitze dieser Konstruktion steht Gustav von Risach als „ideel-

|| 252 Um die Komplexität zu reduzieren, verzichtet die Abbildung auf die Darstellung eines weiteren Details. Weder Heinrichs Vater noch Gustav von Risach stammen ursprünglich aus der Stadt. Ihre Herkunft liegt in Gegenden, deren topografische Merkmale dem Stifter-Leser nur allzu vertraut sind. Das Geburtshaus von Heinrichs Vater liegt in einem „Thal, das einst ein Wald gewesen war“ (Ns3, S. 80), steht am „Rande eines Wäldchens, das von dem großen Walde herstammte, der einst diese ganzen Gegenden bedeckt hatte“ (ebd.) und „schaut[] gegen Süden auf seine nicht unbeträchtlichen Wiesen und Felder“ (ebd.). So erscheint Heinrich die Topografie bei einem gemeinsamen Besuch mit dem Vater, der darauf hinweist, dass „alles noch wie zur Zeit seiner Kindheit [sei]“ (Ns3, S. 81). Die hier beschriebene Siedlung steht dem Asperhof als ultimativem Mittelpunkt der kultivierten Natur sicher in vielem nach. Trotzdem kann der Umzug von Heinrichs Vater auf den Gusterhof vor diesem Hintergrund als Rückkehr zu diesem Mittelpunkt gelesen werden. Wie zu Beginn von Abschnitt 7.3.1 bereits erwähnt, gilt für Risach Ähnliches: Er beschreibt das „Dorfe Dallkreuz in dem sogenannten Hinterwalde“ (Ns3, S. 150), in dem er geboren wurde, als das Resultat eines Vorgangs, der darauf abzielt, einen Bereich der kultivierten Natur herzustellen: „Einmal war er [der Hinterwald; H. A.] wie über die ganze Gegend, welche von unserem Strome als ein Gebilde von Hügeln nordwärts geht, auch über die Gründe von Dallkreuz verbreitet. Dallkreuz war damals nicht, und sein Entstehen mochte mit dem Aufschlagen von einigen Holzarbeiterhütten begonnen haben. Jezt sind Felder Wiesen und Weiden über das ganze Hügelland gebreitet, und einige Reste der alten Waldungen schauen ernst auf diese Gründe herab“ (ebd.). 253 Müller: Utopie und Bildungsroman, S. 226.

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le[r] Gründungsvater einer Familienordnung […], die für immer allen Widrigkeiten und Unbestimmtheiten enthoben ist“254. Die Freigabe für den Zusammenschluss der beiden Familien nimmt Heinrichs Vater schon zu Beginn des dritten Bandes vor, als er seine Zustimmung zum Bund zwischen Heinrich und Natalie mit der Begründung erteilt, dass es „kein hastiges fortreißendes Verlangen“ (Ns3, S. 31) sei, welches Heinrich „erfaßt“ (ebd.) habe, „sondern eine auf dem Grunde der Hochachtung beruhende Zuneigung“ (ebd.). Ferner hebt er gegenüber Heinrich die „entschiedene Förderung“ (ebd.) hervor, welche „die Gesammtheit deines Wesens […] erhalten“ (ebd.) habe, so dass „nichts einzuwenden“ (ebd.) sei. In anderen Worten: Drendorf senior bestätigt den Vollzug von Heinrichs Bildungsgang, der es seinem Sohn erlaubt, Natalie ohne Leidenschaft zu lieben. Neben der Eheschließung von Heinrich und Natalie als primärem Bindeglied zwischen den beiden Teilen der neuen Großfamilie bemüht Stifter „eine Serie unwahrscheinlicher Todesfälle“255, um beide Familien auf ihre Kernbestandteile zu reduzieren. Am Ende dieser Serie sind die „acht Hauptpersonen […] aller sonstigen verwandtschaftlichen Beziehungen beraubt, so daß sie engere menschliche Bindungen ausschließlich untereinander haben, von der Außenwelt aber fast abgeschieden sind“256. Wie sehr die beiden Familienteile zusammenpassen, wie unzertrennlich sie zu einem neuen Ganzen zusammengefügt werden, zeigt Stifter in einem Bild von kaum zu überbietender syntaktischer und figurativer Dichte, dass die acht Hauptfiguren dabei zeigt,

|| 254 Saße: Familie als Traum und Trauma, S. 230. Die Zentralstellung, die der Asperhof in der obigen Abbildung selbst gegenüber den Höfen der Taronas und Drendorfs einnimmt, bestätigt sich in Saßes Ausführungen zu der „idealen Lebensgemeinschaft“ (ebd.), die durch Heinrichs und Natalies Eheschließung entsteht. Diese finde „im Rosenhaus unverkennbar ihren geistigen und kulturellen Mittelpunkt“ (ebd.) und erfahre „in den angrenzenden Landgütern von Heinrichs Eltern und Nataliens Mutter ihre Komplettierung“ (ebd.). 255 Borchmeyer: Ideologie der Familie, S. 253. So berichtet etwa Heinrichs Vater seinem Sohn von dem sukzessiven Verschwinden seines Familienzweigs: Die „Schwester […] sei ohne Kinder gestorben“ (Ns2, S. 178); ebenso der „Bruder […] während unserer [Heinrichs und Klotildes; H. A.] Unmündigkeit“ (ebd.). Nach weiteren Todesfällen ergibt sich in Verbindung mit dem Umstand, dass „die Mutter keine Geschwister gehabt habe“ (ebd.), eine Situation, in der „keine Verwandtschaft weder von väterlicher noch von mütterlicher Seite übrig“ (ebd.) bleibt. Die Familie Drendorf ist damit bereit für den Zusammenschluss mit den Bewohnern von Rosenhaus und Sternenhof; eine Gemeinschaft, die ihrerseits bereits auf die wesentlichen Akteure reduziert ist. Sowohl Risachs Frau ist bereits verstorben (vgl. Ns3, S. 216) als auch Mathildes Mann, der, so die Witwe, „gut aber fremd neben mir lebte“ (Ns3, S. 219). Mathildes Bruder lebt ebenfalls nicht mehr und hat „kein Weib kein Kind hinterlassen“ (ebd.). 256 Borchmeyer: Ideologie der Familie, S. 253.

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wie sie den Weg, den Heinrich bei seinem ersten Eintritt in die Rosenhauswelt genommen hat, erstmals gemeinsam abschreiten: Hierauf nahm mein Gastfreund den Arm meiner Mutter mein Vater den Mathildens ich Nataliens Gustav Klotildens und so gingen wir bei dem Eisengitter in den Garten und in das Haus. (Ns3, S. 241)

Der Prozess der ‚Familiarisierung‘, den ich im Zusammenhang mit der Buchfassung der Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters beschrieben habe,257 lässt sich auch im Nachsommer erkennen. Hier wie dort nehmen die Figuren Familienrollen ein, die sich sprachlich überlagern und durchkreuzen. So denkt Heinrich schon im ersten Band darüber nach, dass seine „Schwester einmal einen Gatten haben werde“ (Ns1, S. 188), und ist davon überzeugt, „daß dies kein anderer Mann sein könne, als der so wäre wie der Vater“ (ebd.). Auch wenn der Text an dieser Stelle nicht ohne eine Vergleichsformel auskommt, weil er den Vater unmöglich als zukünftigen Gatten seiner Tochter bezeichnen kann, beginnt hier bereits die sprachliche Grenzziehung um den zukünftigen Kreis der acht Hauptfiguren, den eine Eheschließung Klotildes nicht mehr substanziell verändern darf. Ihr Gatte muss dem Muster folgen, das ihr Vater und damit auch Risach vorgeben. Letzterer wird von Natalie gegenüber Heinrich einmal als „unser zweiter Vater“ (Ns3, S. 262) bezeichnet, womit sie sich und ihren zukünftigen Gatten in eine geschwisterliche Beziehung stellt. Hier zeigt sich, dass Risach „eine ideale, nicht eine reale Familie um sich gruppier[t]“258, in der „die tragfähigen Beziehungen durch eine Art von Adoption gehalten werden“259. Alle Faktoren, welche die Stabilität dieser Beziehungen auch nur im Mindesten gefährden könnten, müssen in der Rosenhauswelt eliminiert werden. Da ist zum einen Mathildes Sohn Gustav, der unter Risachs Führung auf dem Asperhof aufgewachsen ist. Kurz vor der Hochzeit seiner Schwester Natalie ist er, so Heinrich, zu einem „vollkommne[n] Jüngling“ (Ns3, S. 259) herangereift, doch seine Augen sind „noch glänzender geworden“ (ebd.), was Gefahr signalisiert – Gefahr durch Leidenschaft.260 Während, so Risach, solche „Jünglinge […] || 257 Augustinus bekundet hier kurz vor der Versöhnung mit Margarita seine Vater-SohnBeziehung mit dem Obristen. Margarita erscheint nicht nur als zukünftige Ehefrau von Augustinus, sondern auch als seine Schwester. Der Obrist schließlich kann seine Tochter kaum noch von seiner verstorbenen Frau unterscheiden (siehe Abschnitt 4.1.5). 258 Mayer: Adalbert Stifter, S. 170. 259 Ebd. 260 Vgl. Heinrichs Beobachtung in der Szene, die Risach und ihn bei der Betrachtung des unfertigen Ölgemäldes zeigt, an dem Eustachs Bruder Roland arbeitet: „Wir standen eine Weile vor dem Bilde und betrachteten es. Roland stand hinter uns, und da ich mich einmal wendete,

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böse Schicksalstage […] mit einem Starkmuthe dulden, der der Krone eines Märtirers werth wäre“ (ebd.), bestehe die Gefahr, dass bei einem Blick „in das rechte Mädchenauge […] die plözlichste heißeste aber oft auch unglücklichste Liebe empor [flammt]“ (ebd.). Eine Wiederholung von Risachs eigenem Scheitern durch Gustav, wie sie hier nur zu offensichtlich befürchtet wird, darf es in der Rosenhauswelt nicht geben. Deswegen entscheidet Risach – in Übereinstimmung mit Mathilde, die nach eigener Aussage ebenfalls „das Gute und die Gefahr“ (ebd.) sieht –, dass Gustav den Asperhof verlassen muss, um sich durch „die Härte der Welt […] stählen“ (ebd.) zu lassen.261 Zum anderen zeigt das Beispiel von Eustachs Bruder Roland, dass Stifter seinem Text selbst vermeintliche Leidenschaften austreiben muss, damit dessen Idealisierungsstrategie nahtlos aufgehen kann. Mit Roland hat es, so Risach, „Schwierigkeiten“ (Ns3, S. 278), denn der junge Mann könne „ein bedeutsamer Künstler werden oder auch ein unglücklicher Mensch, wenn sich nehmlich sein Feuer, das der Kunst entgegen wallt, von seinem Gegenstande abwendet, und sich gegen das Innere […] richtet“ (ebd.). Roland wird schon gegen Ende des ersten Bandes als möglicher Konkurrent Heinrichs in Stellung gebracht, als jener beobachtet, wie dieser „mehrere Male seine dunkeln Augen länger auf Natalien heftete, als mir schicklich erscheinen wollte“ (Ns1, S. 269). Heinrich nimmt Roland auch nach der Hochzeit mit Natalie noch als „Nebenbuhler“ (Ns3, S. 278) wahr, doch diese bedrohliche Vorstellung hat in der Welt des Rosenhauses keinen Platz und muss beseitigt werden. Deswegen wird, an die Grenzen der Glaubwürdigkeit rührend, flugs „ein Liebchen mit gleichen Augen und Haaren, wie sie Natalie besitzt“ (ebd.), in Stellung gebracht, das sein Leben als „Tochter eines Forstmeisters im Gebirge“ (ebd.) verbringt. Roland muss folglich „ihren Anblick oft lange entbehren“ (ebd.) und sieht kurzerhand „zur

|| sah ich, daß er die Leinwand mit glänzenden Augen betrachte“ (Ns3, S. 119). Wie oben schon ausgeführt, kommt Risach nach der Betrachtung des Bildes zu dem Schluss, dass Roland den Asperhof verlassen und „reisen [sollte]“ (Ns3, S.120). 261 Dieter Borchmeyer dagegen erklärt Risachs Überzeugung, dass sowohl Gustav als auch Eustachs Bruder Roland keine dauerhafte Bleibe auf dem Asperhof finden, damit, dass „Stifters Nachsommerwelt nur die alte und die junge Generation, die sich an jener bilden soll [umschließt] – die mittlere fehlt, weil sie, das tätige Leben, sich nicht in jener Sphäre erfüllen kann“ (ders.: Stifters Nachsommer, S. 72). Diese Rechnung scheint mir nicht aufzugehen: Gustav ist jünger als Heinrich, welcher „auf den Gütern der ‚Nachsommerer‘ ansässig“ (ebd.) werden darf, kann also im Vergleich mit ihm nicht zur ‚mittleren Generation‘ gerechnet werden.

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Erquickung Natalien an“ (ebd.). Mit dieser Erklärung bannt Risach aber die letzte noch verbliebene Bedrohung durch die Leidenschaft aus seiner Welt.262 Es ist deswegen wohl kein Zufall, dass der Begriff der Leidenschaft schon auf der nächsten Seite des Romans in zwei alternativen Bedeutungen gebraucht wird, die ihn bis zur Harmlosigkeit entschärfen. So beruhigt Heinrichs Vater seinen Sohn, der über den Umfang der finanziellen Zuwendungen verwundert ist, die der Vater dem Hochzeitspaar zukommen lässt, mit den folgenden Worten: Du kannst darüber ganz ruhig sein […]. Ich habe auch meine heimlichen Freuden und meine Leidenschaften gehabt. […] Jezt aber will ich der Schreibstubenleidenschaft […] Lebewohl sagen, und nur meinen kleineren Spielereien leben, daß ich auch einen Nachsommer habe wie dein Risach. (Ns3, S. 279; Hervorhebungen von mir)

Mit dem Zusammenschluss der Familien und der endgültigen Absage an die zerstörerische Kraft der Leidenschaft ist ein Idealzustand erreicht, der es Heinrich ermöglicht, die Aufgabe zu erfüllen, die Risach ihm gestellt hat: Es sei seine „erste Pflicht, ein edles reines grundgeordnetes Familienleben zu errichten“ (Ns3, S. 263). Risach zufolge kann alleine die Familie noch ein „intaktes menschliches Dasein ermöglich[en]“263: Die Familie ist es, die unsern Zeiten noth thut, sie thut mehr noth als Kunst und Wissenschaft als Verkehr Handel Aufschwung Fortschritt […]. Auf der Familie ruht die Kunst die Wissenschaft der menschliche Fortschritt der Staat. (Ns3, S. 263)

Obwohl Risach die Familie hier „nicht nur zur wichtigsten Forderung der Zeit“264 erhebt, sondern sogar zum „Urbild aller sinnvollen Existenzformen verabsolutiert“265, lässt sich daraus kein Auftrag zur Veränderung oder Reform der Gesellschaft ableiten: Die acht Mitglieder der neuen Großfamilie „gehen nicht in die Welt hinaus, um sie nach ihren Mustern zu formen, sondern ziehen sich aus der Welt zurück, um ungestört von den vielfältigen Widrigkeiten des Lebens || 262 Vgl. Duhamel: Natur und Kunst, S. 155 f. Duhamel stellt diese vermeintliche „Komplikation“ (ebd., S. 156), die sich „als Irrtum [erweist]“ (ebd.), in den Kontext der „Stifterschen Ordnung“ (ebd., S. 155), die „für den, der bereit ist, sie zu sehen, überall vorhanden [ist]“ (ebd.). Dies gelte im Besonderen für das „Leben im Rosenhaus“ (ebd.): „Nichts scheint hier zu mißlingen […]; es gibt scheinbar keine Bedrohung, kein Problem, keine Peripetie; niemand wird krank, was naturwidrig wäre“ (ebd., S. 155 f.). Genau deshalb muss sich auch Rolands Leidenschaft für Natalie als eine vermeintliche erweisen: Sie darf niemals existiert haben. 263 Borchmeyer: Ideologie der Familie, S. 253. 264 Ebd. 265 Ebd.

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ihre künstliche Ordnung zelebrieren zu können“266. Risachs Aussagen dienen vielmehr der Setzung von Prioritäten, an die sein Zögling und Nachfolger Heinrich Drendorf sich halten wird. In der Welt des Rosenhauses erscheint die Familie vor allem als zentrales, sich selbst verstärkendes und reproduzierendes System. Die Macht der Familie begleitet Heinrich von Anfang an auf seinem exemplarisch gelingenden Bildungsgang267 und wird in der Welt seines zweiten Vaters Risach gespiegelt und multipliziert. Schließlich darf er auch Mathilde „Mutter, theure Mutter“ (Ns3, S. 263) nennen und wird von ihr „mein Sohn“ (ebd.) genannt. Gestützt von einer durch Überkreuzung und Verschmelzung entstandenen, „ideale[n] Großfamilie“268 kann Heinrich seiner Bestimmung gerecht werden: Er wird, wie er abschließend erkennt, zum Gründer und Fortführer des „reine[n] Familienleben[s], wie es Risach verlangt“ (Ns3, S. 282). Diesem Ziel ordnet er, den Prioritäten folgend, die ihm vorgegeben sind, alles unter, sei es „die Kunst die || 266 Saße: Familie als Traum und Trauma, S. 233. Saßes Deutung dieses Aspekts erfolgt, meines Erachtens zu Recht, in Gegenrede zu Klaus-Detlef Müller, der ausführt, dass „der Weltausschnitt, den der ‚Nachsommer‘ zur Anschauung bringt, den Charakter eines Ganzen [erhält], das stellvertretend für Welt überhaupt stehen kann, weil sich in ihm […] der Lebensraum der Familie zur Gänze darstellt“ (ders.: Utopie und Bildungsroman, S. 209). Rudolf Wildbolz hebt in diesem Zusammenhang einen weiteren Aspekt hervor: Im Hinblick auf Heinrichs Bildungsgang glaube Gustav von Risach daran, „daß die Früchte der Erfahrung reproduziert werden können, ohne daß die Erfahrung selbst erlitten werden müßte“ (ders.: Adalbert Stifter, S. 98). Aus der „störungsfreien Familie Drendorf“ (ebd.) und der „synthetisch gefügten um Risach“ könne aber kein „glaubhafter, auch kein utopischer Entwurf eines ‚reinen Familienlebens‘ entspringen“ (ebd.). 267 Davide Giuriato weist im Hinblick auf die Schlusspassage des Romans darauf hin, dass ein für Heinrich Drendorf „sinnvolles Dasein [...] erst am Ende des Textes fixiert“ (ders.: „klar und deutlich“, S. 309) werde und in der „Reflexion des Ich-Erzählers [...] einen vollendeten Bildungsweg zu feiern scheint“ (ebd., S. 308; Hervorhebung von mir). Giuriato gelangt aber mit Cornelia Blasberg zu dem Schluss, dass der Ausgang des Romans „gegen allen Anschein einer progressiven Bildungsidee“ (ebd., S. 311) letztendlich gemäß einer „tautologischen und in der Tendenz inhaltsleeren Struktur“ (ebd.) zu verstehen sei und zeige, dass der Text sich vergeblich darum bemühe, die „im letzten Wort des Romans beschworene Bedeutung“ (Blasberg: Erschriebene Tradition, S. 353) zu erzeugen. Die Beobachtung, dass weder Risach noch Heinrich „in der Lage sind, das, was sie weitergeben, wirklich verstehen und begründen zu können“ (ebd.), mag zutreffen. Abgesehen davon, dass Heinrich das ihm vorgegebene Programm wider die Leidenschaft erfolgreich absolviert, erscheinen aber auch die Zwischenstufen seiner Entwicklung alles andere als inhaltsleer und tautologisch. Eine zentrale Rolle spielt hier die bereits thematisierte Hinwendung Heinrichs zur Wesenheit der Dinge, die sich mit Hegels Phänomenologie des Geistes auch in einen philosophischen Zusammenhang stellen lässt (siehe Kap. 8, Anm. 10). 268 Müller: Utopie und Bildungsroman, S. 226.

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Dichtung die Wissenschaft“ (ebd.).269 Von seinem Ende her gelesen erscheint der Nachsommer deswegen als Familienroman der besonderen Art. Unter allen topischen Mächten, die Stifter in diesem Text aufbietet – Mächte, die seine Figuren scheitern lassen oder sie ein „Glück“ (ebd.) finden lassen, „das unerschöpflich scheint“ (ebd.) –, steht die Macht der Familie hier nicht nur im Zentrum, sondern bildet Anfang und Ende.

|| 269 Ausführlicher zitiert lautet die entsprechende Stelle: „[I]ch [hatte] [...] die Frage an mich gestellt, ob ein Umgang mit lieben Freunden ob die Kunst die Dichtung die Wissenschaft das Leben umschreibe und vollende, oder ob es noch ein Ferneres gäbe, das es umschließe, und es mit weit größerem Glück erfülle“ (Ns3, S. 282). In meiner Deutung wird dieses ‚Fernere‘, nach dem Heinrich fragt, durch die Familie repräsentiert. Gerhard Neumann dagegen schreibt: „Die Antwort geben der Roman und das in ihm Erzählte. Es ist – nach Auffassung Stifters – die Liebe in ihrem umfassenden wie individuellen Verstande“ (ders.: Archäologie der Passion, S. 77). Beide Deutungen sind möglich, denn die Antwort, die Heinrich selbst gibt, bleibt uneindeutig: „Dieses größere Glück [...] ist mir nun von einer ganz anderen Seite gekommen als ich damals ahnte“ (Ns3, S. 282). Allerdings setzt die Schlusspassage aus meiner Sicht einen deutlichen Fokus auf das „reine Familienleben“ (ebd.), dessen Fortbestand, so Heinrich, durch „unsre Neigung [nicht: Liebe; H. A.] und unsre Herzen“ (ebd.) verbürgt werde.

8 Positionsbestimmung 3 In Kapitel 7 der vorliegenden Untersuchung wurde gezeigt, dass sich zentrale Elemente des topischen Bauplans von Adalbert Stifters erzählter Welt auch im Roman Der Nachsommer in großer Deutlichkeit nachweisen lassen. Basierend auf der Analyse des Textes kann dieser Bauplan aber nicht nur bestätigt, sondern auch um ein weiteres Element ergänzt werden. Er stellt sich nun wie folgt dar:

Narrenburg

Mappe (Buchfassung)

Turmalin

Kazensilber Nachsommer

Mappe (Letztfassung)

Erziehung zur Nützlichkeit

Waldbrunnen

Die Macht der Bildung 1848

Die Macht der Schrift

Die Macht der Kunst

Die Macht der Wunder

Die Macht der Leidenschaft

Die Macht der Familie

Die Macht der Schönheit

Der Mittelpunkt der kultivierten Natur

Abb. 18: Dritte, nochmals erweiterte Fassung des topischen Bauplans

Die hier dargestellten Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen. Der Topos von der Macht der Kunst, der im Rahmen dieser Untersuchung zunächst in der Erzählung Turmalin identifiziert wurde, aber auch in der Letztfassung des Textes Die Mappe meines Urgroßvaters eine wichtige Rolle spielt, lagert sich auf unterschiedliche Weise an die beiden Hauptfiguren des Nachsommers an. Gustav von Risach erkennt nach dem Scheitern der Beziehung zur jungen Mathilde Makloden und dem Ende seiner Staatslaufbahn, dass seine eigentliche Berufung die eines Kunstvermittlers ist. Seine umfangreiche Kunstsammlung, die nicht durch das Schaffen von neuen Kunstwerken, sondern durch die Restauration von Artefakten vermehrt und vergrößert wird, setzt er als Instrument ein, um seine Zöglinge – Gustav Tarona und Heinrich Drendorf – von der lebensverändernden Macht der Kunst profitieren zu lassen. Das Ziel, das Risach für Heinrichs Bildungsgang vorgesehen hat, ist aber nicht darauf ausgerichtet, einen Kunstkenner oder gar Künstler hervorzubrinhttps://doi.org/10.1515/9783110750782-008

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gen. Die transformative Macht der Kunst zeigt sich am deutlichsten in dem Augenblick, als drei Dinge zu einer Einheit verschmelzen: das Bild einer antiken Statue, Heinrichs Imagination der literarischen Figur Nausikaa und seine Wahrnehmung von Natalie Tarona. Heinrich wird in diesem Moment durch die Macht der Kunst vor der Macht der Leidenschaft – so heißt der zweite zentrale Topos, der sich im Nachsommer ausprägt – geschützt und ihr entzogen. Die als Analepse eingefügte, autobiografische Erzählung Gustav von Risachs demonstriert dagegen, was es bedeutet, sich dieser Macht nicht entziehen zu können und von ihr zu Fall gebracht zu werden. Risach, der seine biologische Familie schon früh verliert, gelingt es zwar, Ersatz zu finden und sich der Familie Makloden anzuschließen. Er verliert diese Familienzugehörigkeit jedoch wieder, weil er sich auf eine heimliche, von den Eltern nicht sanktionierte, leidenschaftliche Beziehung zu deren Tochter Mathilde einlässt. Risachs und Heinrichs Bildungsgänge sind hier spiegelbildlich angelegt: Während Risach an der Macht der Leidenschaft scheitert und damit familienlos wird, profitiert Heinrich über die gesamte erzählte Zeit hinweg von der Macht der Familie. Damit ist ein dritter Topos genannt, dessen Ausprägungen den Roman in entscheidender Weise bestimmen. Heinrich wächst unter Idealbedingungen in seiner biologischen Familie auf, erhält Zutritt zur Welt von Rosenhaus und Sternenhof und bildet schließlich selbst das Bindeglied für die Entstehung einer idealen Familie. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die drei daseinsverändernden Mächte der Kunst, der Leidenschaft und der Familie nicht nur die Bildungsgänge der beiden Hauptfiguren entscheidend beeinflussen, sondern auch in einem Kausalzusammenhang stehen.1 In Bezug auf die beiden Hauptfiguren des Textes, aber auch über deren Gestaltung und Darstellung hinausgehend spielt der Topos vom Mittelpunkt der kultivierten Natur im Nachsommer eine ebenso wichtige Rolle wie die drei bereits genannten Topoi. Seine Ausprägungen zeigen sich hier an vielen Stellen,

|| 1 In Kapitel 6 habe ich darauf hingewiesen, dass mehrere Iterationen zu präzisierten Interpretationsergebnissen führen können, wenn man ein umfangreiches Textkorpus auf seine topische Gestaltung hin analysiert. Hier ging es um den Topos von der Macht der Familie, dessen Ausprägungen sich nach einer Analyse der Letztfassung der Mappe zumindest in Ansätzen auch im Waldbrunnen erkennen ließen. Ähnliches gilt für den Topos von der Macht der Leidenschaft. Dessen Ausprägungen zeigen sich im Nachsommer in der beschriebenen Deutlichkeit, doch auch der Auslöser für den Bruch zwischen Augustinus und Margarita in der Buchfassung der Mappe kann als eine solche ansatzweise Ausprägung interpretiert werden. Auf den eruptiven Ausbruch von Eifersucht, der dazu führt, dass Margarita die Beziehung zu Augustinus beendet, folgt, wie in Abschnitt 5.3.5 beschrieben, ein Bildungsgang des Protagonisten, in dem die Macht der Schrift dazu eingesetzt wird, einen Zustand von Sanftmut und Güte zu erlangen.

Positionsbestimmung 3 | 423

so etwa in den einander ähnlichen Beschreibungen der Dörfer, in denen die Erziehergestalten des Romans aufgewachsen sind, bevor es sie in die Stadt verschlagen hat, oder bei der Darstellung von Nebenschauplätzen wie dem Landsitz der Familie Makloden. Schon mit dem Umzug der Familie Drendorf aus der Stadt in die Vorstadt, der bereits im ersten Kapitel geschildert wird und in Heinrichs Kindheit stattfindet, beginnt eine Bewegung hin zum Mittelpunkt der kultivierten Natur, die für alle wesentlichen Figuren des Romans auf dem Asperhof oder in dessen Einzugsbereich endet. Dies ist der Ort, an dem Gustav von Risach sein nachsommerliches Glück als Erzieher und Kunstvermittler findet und das Zentrum, in dem Heinrich Drendorfs Bildungsgang exemplarisch gelingen kann.2

|| 2 An dieser Stelle bekräftige ich die im Hinblick auf den Werkkomplex der Mappe meines Urgroßvaters getroffene Feststellung, dass bei der Untersuchung eines gegebenen Texts, wie umfangreich er auch sein mag, nicht damit gerechnet werden kann, Ausprägungen aller Elemente des topischen Bauplans wiederzufinden oder diese gar als zentral für die jeweils eingenommene Deutungsperspektive zu erkennen. So hat der Topos von der Macht der Schönheit, den ich in Zusammenhang mit meiner Interpretation der Erzählung Der Waldbrunnen identifiziert habe, für meine Deutung des Nachsommers keine Rolle gespielt. Dies bedeutet aber nicht zwingend, dass sich dieser Topos nicht im Text ausgeprägt hat, sondern lediglich, dass er sich nicht an die Bildungsgänge der beiden hier untersuchten Hauptfiguren anlagert. Während die Schönheit Natalies im Text mehrfach betont wird, sehe ich keinen überzeugenden Ansatz, der es erlauben würde, diese Figur mit der Vorstellung einer Seelenschönheit in Verbindung zu bringen, die sich in der Verbindung von sittlichem Handeln und körperlicher Anmut zeigt. Die Darstellung der Figur Natalie Tarona bleibt dafür zu skizzenhaft, zu nahe an der antiken Statue, die alleine durch ihre Schönheit zu wirken vermag. Eine Untersuchung der Figur Mathilde Tarona, die ebenfalls als von großer, in der Gegenwart der erzählten Zeit aber bereits verblühter Schönheit geschildert wird, könnte hier schon eher zum Ziel gelangen, denn Mathilde bittet im Alter Risach nicht nur um Vergebung, sondern vertraut ihm ihren Sohn Gustav zur Erziehung an, womit sie es ihm ermöglicht, sein jugendliches Scheitern als Erzieher zu kompensieren. Eine weitergehende Betrachtung der topischen Gestaltung dieser Figur muss an dieser Stelle aber ausgeklammert werden. Auf die in Ansätzen zu erkennende Ausprägung des Topos von der Macht der Schrift im Hinblick auf die Figur Gustav Tarona habe ich bereits hingewiesen (siehe Kap. 7, Anm. 162). Auch dieser Aspekt hat für mein Vorhaben, die topische Gestaltung der Bildungsgänge der Hauptfiguren des Romans herauszuarbeiten, keine zentrale Rolle gespielt. Der Topos von der Macht der Wunder schließlich, der sich in der Erzählung Kazensilber als textkonstitutiv erweist und im Werkkomplex der Mappe meines Urgroßvaters zumindest in den Erinnerungen des Urenkels eine Rolle spielt (siehe Kap. 6, Anm. 3), hat, soweit ich sehen kann, im Nachsommer keine Spuren hinterlassen. Sowohl Heinrich Drendorfs Weltbild, welches auch nach Abschluss seines Bildungsgangs ein dediziert naturwissenschaftliches ist, als auch Risachs berechnender, analytischer Umgang mit Wettervorhersagen und anderen Naturerscheinungen dominieren den Text, ohne dass sich eine adäquate Gegenposition ausmachen ließe.

424 | Positionsbestimmung 3

Im Hinblick auf die Ausprägung des Topos von der Macht der Bildung im Nachsommer sei zunächst noch einmal der folgende Zusammenhang rekapituliert. Im Anschluss an die Analyse der Texte, die zum Werkkomplex der ‚wilden‘ Mädchen gehören, konnten im Kontext von Stifters Reaktion auf die Revolution von 1848 zwei zusätzliche Topoi formuliert und in Texten dieses Werkkomplexes identifiziert werden. Der erste dieser beiden Topoi beschreibt, wie eine vorbildliche Erziehergestalt dazu beiträgt, eine Zöglingsfigur zu einem nützlichen Mitglied der menschlichen Gemeinschaft zu transformieren. Hier geht es also um einen Vorgang, der sich als Erziehung zur Nützlichkeit beschreiben lässt. Stifters Enttäuschung über den Verlauf der Revolution und das daraus erwachsende Bedürfnis, zu einer Verbesserung der Menschheit beizutragen, ließen ihn jedoch in den frühen 1850er Jahren von einer klaren Trennung und Rollenverteilung zwischen Erzieher und Zögling Abstand nehmen und ein Vorstellungsmuster entwickeln, das alleine der Bildung die Macht zuschreibt, eine solche Verbesserung herbeizuführen und der Menschheit einen Zustand sittlicher Freiheit zu ermöglichen. Als Ausprägung dieses Vorstellungsmusters konnte sowohl in der Erzählung Kazensilber, die wenige Jahre nach der Revolution publiziert wurde, als auch in dem späten Text Der Waldbrunnen ein Vorgang identifiziert werden, der sich als Erziehung einer Erzieherfigur beschreiben lässt. Die auf diesem Befund basierende Annahme, dass der Topos von der Macht der Bildung werkkonstitutiven Charakter hat, wurde durch eine Analyse der nach 1848 entstandenen Letztfassung der Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters bestätigt, denn hier wird die Hauptfigur des Textes, der Landarzt Augustinus, über einen ausführlichen, den Text dominierenden Bildungsgang an einen solchen Zustand der sittlichen Freiheit herangeführt.3 In dem gerade skizzierten Zusammenhang habe ich die These aufgestellt, dass der Topos von der Macht der Bildung trotz seiner Zentralstellung in Stifters nachrevolutionärem Wertesystem das Ideal einer Erziehung zur Nützlichkeit nicht vollständig ersetzt, sondern ergänzt. Im Hinblick auf die Hauptfigur des Nachsommers, Heinrich Drendorf, könnte zwar argumentiert werden, dass sich der Text von diesem Ideal löst. Schließlich verfolgt weder dessen Erziehung durch die Eltern noch der Bildungsgang, auf dem Gustav von Risach ihn begleitet, das Ziel, ihn einen ökonomisch einträglichen Beruf ergreifen zu lassen. Schon sein Vater bestimmt ihn, um die bekannte Formulierung noch einmal zu zitieren, zu einem „Wissenschaftler im Allgemeinen“ (Ns1, S. 17), und Heinrich schwebt „nicht ein besonderer Nuzen vor, den ich durch mein Bestreben errei|| 3 Zu dem hier noch einmal kurz umrissenen Sachverhalt siehe ausführlicher die Positionsbestimmungen in den Kapiteln 4 und 6.

Positionsbestimmung 3 | 425

chen wollte“ (Ns1, S. 18). Auch die Kritik der „Leute“ (ebd.), die betonen, Heinrichs Vater hätte seinem Sohn „einen Stand, der der bürgerlichen Gesellschaft nützlich ist, befehlen sollen“ (ebd.), kann daran nichts ändern. An gleicher Stelle zeigt sich aber, dass Heinrich und seine Schwester Klotilde in diesem Zusammenhang mit zweierlei Maß gemessen werden. Klotilde soll zu dem Zeitpunkt, als Heinrich seine Ablösung vom Elternhaus vorbereitet, „nebst einigen Fächern, in denen sie sich noch weiter ausbilden sollte, nach und nach in die Häuslichkeit eingeführt werden, und die wichtigsten Dinge derselben erlernen, daß sie einmal würdig in die Fußstapfen der Mutter treten könnte“ (Ns1, S. 17). Als Heinrich die Eltern später um Erlaubnis fragt, ob er Klotilde darin unterstützen dürfe, ihre Fertigkeit im Zeichnen zu verbessern, betonen sie, „daß diese Arbeiten nur Nebendinge sein sollten, Dinge zum Vergnügen, nicht Hauptbeschäftigungen; denn die Hauptpflicht des Weibes sei ihr Haus“ (Ns2, S. 54). Der Topos von der Erziehung zur Nützlichkeit hat hier also durchaus Spuren im Text hinterlassen, lagert sich aber nicht an den Bildungsgang einer Hauptfigur an.4 Im Hinblick auf dessen Gegenstück, den Topos von der Macht der Bildung,5 kann zunächst festgestellt werden, dass die Forschung den Nachsommer verschiedentlich in den oben angesprochenen Kontext von Stifters Reaktion auf die Revolution von 1848 gestellt hat,6 so dass der entsprechende Zusammenhang

|| 4 Die oben geschilderte, unterschiedliche Behandlung von Heinrich und Klotilde bestätigt überdies die Auffassung, dass „Stifters Erzähltexte [...] eine als ontologisch verstandene, vergleichsweise statische Geschlechternormierung vertreten“ (Eva Blome: Geschlecht [Art.]. In: SHB, S. 339–342, hier S. 339). Blome weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Texte dabei „zugleich die Notwendigkeit […] sichtbar werden lassen“ (ebd.), eine „narrative[] Codierung“ (ebd.) dieser Normierung vorzunehmen. Die „Ausgestaltung der Geschlechterrollen und -beziehungen“ (ebd.) in den Texten des Autors sei „ganz grundlegend am intrikaten Verhältnis von Ordnung und Unordnung beteiligt, das Stifters Erzählweise kennzeichnet“ (ebd.). 5 Vgl. Becker: Bürgerlicher Realismus, S. 211 f. Becker kommt hier zu dem Schluss, dass „Stifter […] das Ideal der allseitigen Ausbildung des Individuums über das Nützlichkeitsdenken der bürgerlichen Welt [stellt]“ (ebd., S. 212). 6 So weist etwa Peter Uwe Hohendahl darauf hin, dass aus „Stifters schockhafter Erfahrung der Revolution von 1848“ (ders.: Die gebildete Gemeinschaft, S. 335) der „Wunsch nach einer besseren Welt“ ebd.) hervorgegangen sei. Er deutet die „Konzeption des Nachsommers“ (ebd., S. 336) als einen „Versuch, mit diesem Schock fertig zu werden, indem Stifter sein Weltbild in einem fiktionalen Text stabilisiert“ (ebd.). Mathias Mayer führt aus, dass sich der Nachsommer im Laufe seiner Entstehung „immer mehr zu Stifters eigentlicher, wenn auch nicht unmittelbarer Antwort auf die Irritation von 1848“ (ders.: Adalbert Stifter, S. 148) entwickelte und auch deshalb nicht, wie ursprünglich geplant, als Erzählung in einem Periodikum oder in der Erzählsammlung Bunte Steine untergebracht werden konnte. Michael Baum stellt den Gedanken von Heinrich Drendorfs Vater, dass man der Gesellschaft dann am besten diene, wenn man seiner Bestimmung folge (vgl. Ns1, S. 18), in den Kontext von Fichtes Reden an die deutsche

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hier nicht mehr nachgewiesen werden muss. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass die ersten Entwürfe zur Romanfassung des Textes im Jahr 1852 entstanden, also in zeitlicher Nähe sowohl zur Revolution selbst, zu Stifters bekanntem Brief vom 6. März 1849, in dem er vor dem Hintergrund seiner enttäuschenden Revolutionserfahrung den Gedanken von der Macht der Bildung formuliert, und auch zur Entstehung der Erzählung Kazensilber, in der sich die Vorstellung von einer Erziehung der Erzieher manifestiert. Vor diesem Hintergrund kann das jugendliche Scheitern der Figur Gustav von Risach erneut und aus einer anderen Perspektive betrachtet werden. In der Tat arbeitet Risach als junger Mann, obwohl seine berufliche Ausbildung in eine andere Richtung weist, als Erzieher von Alfred und Mathilde Makloden. Trotz der beachtlichen Erfolge in dieser Rolle, die ihm die Mutter beider Kinder bescheinigt (vgl. noch einmal Ns1, S. 201), führt die Macht der Leidenschaft nicht nur zum Scheitern seiner Beziehung zu Mathilde, sondern verhindert auch eine Fortsetzung der erzieherischen Tätigkeit. Stattdessen ist es, in den Worten von Mathildes Mutter, nun sowohl für Mathilde als auch für Risach daran, den „Weg eurer Ausbildung“ (Ns1, S. 202) zu gehen, an dessen Ende ein „gereiftes Wesen“ (ebd.) stehen soll. Obwohl er bereits als junger Mann den Status eines erfolgreichen Erziehers erworben hat, muss sich Gustav von Risach einem solchen Prozess unterziehen. Auch im Nachsommer geht es also um die Erziehung eines Erziehers. Der analeptischen Position, die Stifter dem autobiografischen Bericht Risachs zuweist, kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion zu. Der Leser hat Gustav von Risach vor der Lektüre dieses Berichts bereits als eine Figur kennengelernt, die im Sinne von Stifters nachrevolutionärem Wertesystem allerhöchsten Ansprüchen genügt und gelangt erst im Anschluss zu der

|| Nation (vgl. ders.: Unmögliche Möglichkeiten, S. 60 f.) und fügt hinzu: „Bekanntermaßen bilden das Scheitern der Revolution 1848/49 und die Enttäuschung des Autors Stifter, der als Gegenprogramm ein poetisches System ästhetischer Bildung entwirft, dafür den Hintergrund“ (ebd., S. 61). Michael Gamper verweist darauf, „dass die soziale Realität von den Hauptfiguren [des Romans; H. A.] sehr kritisch und als bildungsfeindlich perspektiviert wird“ (ders.: „Ich versuchte wider und immer wieder“, S. 180). Die Klage Gustav von Risachs über die sich vergrößernde „Kluft zwischen den sogenannten Gebildeten und Ungebildeten“ (Ns1, S. 136) beziehe sich auf die „Aufhebung des Grundeigentums, die in Österreich als Folge der 1848er Revolution eingeführt wurde“ (Gamper: „Ich versuchte wieder und immer wieder“, S. 180). Sabina Becker schließlich sieht in dem „weitgehend gesellschaftsfreien Raum des Rosenhauses […] jene gesellschaftspolitische Ordnung wiederhergestellt, die in der Folge der revolutionären Unruhen und Aufstände des Jahres 1848 verloren gegangen war“ (dies.: Nachsommerliche Sublimationsrituale, S. 330; vgl. auch ebd., S. 326 f. und dies.: Bürgerlicher Realismus, S. 216 f.).

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Erkenntnis, dass auch Risach diesen Status nur durch die Macht der Bildung erreichen konnte. Der Bildungsgang der Hauptfigur Heinrich Drendorf dagegen ist frei von Fehlern, Verirrungen und Scheitern. Trotzdem kann für Heinrich ein Reifeprozess veranschlagt werden, der, wie oben ausgeführt, vor allem die Kunst instrumentalisiert, um ein Bildungsprogramm wider die Leidenschaft ablaufen zu lassen. In einem „Abschreiten und sich Aneignen des schon Vorhandenen“7 fügt Heinrich sich „in einen Bildungskosmos ein, nachdem er lernend dessen Wert und Bedeutung erkannt hat“8. An ihm erweist sich, worum Stifter sich im Nachsommer bemüht: Es geht darum, „die Idee der Bildung und darin die Idee einer Versöhnung von Subjekt und Welt [noch einmal zu einem Höhepunkt]“9 zu bringen.10 Gerade weil Stifter einen „ungeheure[n] erzählerische[n] Auf-

|| 7 Hohendahl: Die gebildete Gemeinschaft, S. 347. 8 Ebd. 9 Begemann: Adalbert Stifter: Der Nachsommer, S. 224. Begemann ergänzt: „Dies aber scheint nur möglich unter der doppelten Voraussetzung eines zum Verschwinden gebrachten Subjekts und einer radikal verwandelten Wirklichkeit“ (ebd.). Zu dem oben angesprochenen Versöhnungsprozess vgl. Jacobs: Bildungsroman, S. 232 und Volker Meid: Bildungsroman [Art.]. In: Ders.: Sachwörterbuch zur deutschen Literatur. Durchgesehene und verbesserte Ausgabe. Stuttgart 2001, S. 72–74. 10 Auf Stifters Auseinandersetzung mit dem Subjekt und dessen Verhältnis zu den Strukturen der vorfindlichen Realität, die sich auch im Nachsommer zeigt, wurde in der Forschung schon eingehend hingewiesen (vgl. etwa Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 322–326 und S. 338– 349). In diesem Zusammenhang könnte die Beschäftigung mit einem möglichen Einfluss Hegelschen Gedankenguts auf Stifters Erzähltexte lohnende Forschungsperspektiven eröffnen. Während Aspekte aus Hegels Vorlesungen über die Ästhetik in der Forschung verschiedentlich Erwähnung finden (vgl. etwa zum Nachsommer noch einmal Blasberg: Erschriebene Tradition, S. 346 f. und zu Narrenburg und Mappe Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 246, Anm. 4), scheinen im Zusammenhang mit den im Nachsommer beschriebenen Bildungsgängen auch einige Grundzüge aus Hegels Phänomenologie des Geistes erwähnenswert. Hegels Schrift dient dem Zweck, „einen neuen Anfang der Philosophie nicht bloß zu behaupten oder zu borgen, sondern zu beweisen“ (Klaus Vieweg: Hegel. Der Philosoph der Freiheit. Biographie. München 2019, S. 262). Den zu erreichenden „Standpunkt der Wissenschaft“ (ebd., S. 261) jedoch kann „[d]as einzelne Individuum […] nicht unmittelbar […] einnehmen, es muss erst die Bildungsstufen dorthin durchlaufen“ (ebd.). Diese Stufen sind definiert als „die Gestalten des ‚Bewußtseins‘, des ‚Selbstbewußtseins‘, der ‚Vernunft‘, des ‚Geistes‘ und der ‚Religion‘, bis es [das Bewußtsein; H. A.] im ‚absoluten Wissen‘ sein Ziel erreicht hat“ (Ulrich Claesges u. a.: Phänomenologie [Art.]. In: HWPh, BD 7, Sp. 486–505, hier Sp. 488). Nun geht es an dieser Stelle nicht darum, einen vordergründigen Komplementärzusammenhang zwischen diesen Stufen und dem ebenfalls als stufenartig beschreibbaren Bildungsgang Heinrich Drendorfs herzustellen. Hegels Phänomenologie als ‚Blaupause‘ für den Nachsommer zu betrachten würde weder dem Philosophen noch dem Romanautor gerecht. Auf zwei Anschlussmöglichkeiten soll aber den-

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wand“11 betreiben muss, um Heinrich (und letztendlich auch Risach) ein „geglücktes Leben“12 bescheren zu können, zeigt die Darstellung und Gestaltung der Bildungsgänge beider Hauptfiguren des Nachsommers, dass dem Topos von der Macht der Bildung auch in der Werkphase der 1850er Jahre eine zentrale Bedeutung zukommt. Darüber hinaus bleibt der Text in diesem Zusammenhang nicht bei seinen Figuren stehen. Stifters nachrevolutionäres Bestreben, die Menschheit zu verbessern und auf eine höhere Entwicklungsstufe zu heben, sein „Wunsch nach einer pädagogischen Heilung der Krankheiten dieses Zeitalters“13 kann auch auf die Beziehung zwischen Text und Leser projiziert werden.14 In diesem Sinne bestätigen aber nicht nur einzelne Figuren, Motive und

|| noch hingewiesen werden. Zum ersten beschreibt Hegel den Grund- oder Ausgangszustand des Bewusstseins als Dualität von Ich (Subjekt) und betrachtetem Gegenstand (Objekt), wobei das Objekt (Stifter würde wohl sagen: das ‚Ding‘) auf dieser Stufe „das Wesentliche dar[stellt], das aufnehmende Subjekt ist irrelevant“ (Vieweg: Hegel, S. 271). Dies scheint einen Widerhall zu finden in Risachs autobiografischer Binnenerzählung, in der er ausführt, seine „Ehrfurcht vor den Dingen“ (Ns3, S. 145) sei so groß gewesen, dass er „bei der Nothwendigkeit, manche Sachen zu ordnen, nicht auf unsern Nuzen sah, sondern auf das, was die Dinge nur für sich forderten, und was ihrer Wesenheit gemäß war“ (ebd.). Zum zweiten ist auch Heinrich Drendorfs Entwicklung von einer Auseinandersetzung mit den ‚Dingen‘ gekennzeichnet. Seine Erkenntnis, dass es anstelle einer wissenschaftlichen Zwecken dienenden, realistischen Wahrnehmung und Wiedergabe von Details eigentlich darum gehe, „das Unnennbare, was in den Dingen vor mir lag, zu ergreifen“ (Ns2, S. 35), wurde oben bereits thematisiert (siehe Abschnitt 7.4.2). Dieser radikale Perspektivwechsel findet eine mögliche Entsprechung auf der dritten Stufe, die in der Phänomenologie beschrieben wird, also der „Stufe der Vernunft“ (Vieweg: Hegel, S. 283). Hier entsprechen Gedanke und Gegenstand einander, sodass die „Reise zum Mittelpunkt des Wissens […] eine Reise zum Mittelpunkt des Ich und zum Mittelpunkt des Gegenstandes“ (ebd.; Hervorhebung von mir) darstellt. 11 Begemann: Adalbert Stifter: Der Nachsommer, S. 224. 12 Ebd. 13 Amann: Zwei Thesen zu Stifters Nachsommer, S. 174; Hervorhebung im Original. 14 Vgl. ebd. Der Roman, so Amann, stelle nicht nur eine Beweisführung dafür dar, dass die „Implantierung des Risachschen Weltbildes in junge Menschen […] praktikabel sei“ (ebd.). Darüber hinaus „sollte das Buch selbst beim Leser gewissermaßen die Stelle Risachs vertreten, den Umgang mit ihm simulieren und den Leser dadurch […] für die Prinzipien der dargestellten Welt disponieren“ (ebd.). Vgl. auch Hohendahl: Die gebildete Gemeinschaft, S. 351. Hohendahl weist den „Ausführungen über den Wert der Kunst und Literatur“ (ebd.), die sich im Nachsommer finden, eine über die Figuren des Textes hinausgehende Funktion zu. Kunstwerken werde hier die „Qualität“ (ebd.) attestiert, „die Perfektion des Menschen zu fördern“ (ebd.). Hier zeige sich aber auch, „wie der Roman gelesen und gedeutet werden will. […] Es entsteht eine Korrelation zwischen dem Bildungsprozeß des Helden und dem des Lesers; auch dieser soll im rezeptiven Nachvollzug eine größere Vollkommenheit erreichen“ (ebd.).

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Handlungselemente, sondern der Roman selbst in seiner Gesamtheit die werkkonstitutive Bedeutung des Topos von der Macht der Bildung.

9 Fazit 9.1 Literaturtheoretische Anschlussmöglichkeiten für die Topik Die Topik stellt ein geeignetes Verfahren bereit, um Vorstellungsmuster zu erfassen und zu beschreiben, die innerhalb eines Kulturkreises geteilt, rezipiert und tradiert werden. Basierend auf dieser grundlegenden Annahme wurde in Kapitel 2 dieser Arbeit ein literaturwissenschaftliches Toposmodell entwickelt und das topische Denken als literarisches Grundprinzip beschrieben. Hier konnte gezeigt werden, wie sich die Topik als Werkzeug einsetzen lässt, um Interpretamente für literarische Texte bereitzustellen. Die theoretische Absicherung dieses Modells musste sich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung allerdings auf einen Rückgriff auf grundlegende Konzepte aus den Bereichen von Rhetorik und Semiotik beschränken. Darüber hinausgehend sind eine ganze Reihe von literaturtheoretischen Anschlussmöglichkeiten denkbar,1 die im Folgenden knapp dargestellt und aufgezeigt werden sollen.2

|| 1 Die im Jahr 1995 von Uwe Hebekus getroffene Aussage, dass „Topik [...] gegenwärtig sicher kein Leitbegriff [ist], den eine der diversen literaturtheoretischen Richtungen sich auf ihre Fahnen geschrieben hätte“ (ders.: Topik/Inventio, S. 83), kann auch heute sicher noch Gültigkeit beanspruchen. An dieser Stelle soll aber die umgekehrte Perspektive eingenommen werden. Es wird also nicht danach gefragt, wie die Topik dazu beitragen kann, etablierte Literaturtheorien zu ergänzen und gegebenenfalls zu modifizieren. Stattdessen möchte ich aufzeigen, wie ein Modell des topischen Denkens auf der Grundlage literaturtheoretischer Annahmen bestätigt und erweitert werden könnte. 2 Die fachwissenschaftliche Rezeption und Weiterentwicklung der hier aufgeführten Theorien und Methoden muss dabei an dieser Stelle weitestgehend unberücksichtigt bleiben. Sie wäre im Fall einer weiteren methodischen Ausarbeitung des hier vorgelegten Toposmodells selbstverständlich zu berücksichtigen. Ich stütze mich bei der Beschreibung von literaturtheoretischen Anschlussmöglichkeiten auf die folgenden Überblicksdarstellungen und Artikel: Sabina Becker: Literaturwissenschaftliche Methoden und Theorien. In: Dies. u. a.: Grundkurs Literaturwissenschaft. Stuttgart 2006, S. 219–285; Tilmann Köppe und Simone Winko: Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar 2013; Arne Klawitter und Michael Ostheimer: Literaturtheorie – Ansätze und Anwendungen. Göttingen 2008; Klaus Weimar: Hermeneutik1 [Art.]. In: RLW, Bd. II, S. 25–29; Günter Figal: Hermeneutik2 [Art.]. In: RLW, Bd. II, S. 29–31; Ulrich Broich: Intertextualität [Art.]. In: RLW, Bd. II, S. 175–179; Jörg O. Fichte: New Historicism [Art.]. In: RLW, Bd. II, S. 712–714; Michael Titzmann: Strukturalismus [Art.]. In: RLW, Bd. III, S. 535–539; Thomas Anz: Psychoanalytische Literaturwissenschaft [Art.]. In: RLW, Bd. III, S. 190–194. https://doi.org/10.1515/9783110750782-009

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Die philologische Hermeneutik Friedrich Schleiermachers kennt einen spezifischen, sehr weit gefassten Begriff des „Stil[s]“3, der den Autor in einem „Geflecht aus sprachlichen, themen- und gattungsbezogenen Konventionen und Traditionen“4 verortet und darauf abhebt, dass das literarische Schreiben keinen autonomen Schöpfungsakt darstellt. Dem Autor wird hier eine „individualisierende Funktion“5 zugeschrieben, die dafür sorgt, dass vorgefundene Inhalte neu ausgestaltet werden. Die Verwandtschaft einer solchen Denkweise mit der Auffassung, dass Topoi innerhalb einer Kulturgemeinschaft tradiert, rezipiert und beim Erzeugen von literarischen Texten und anderen Artefakten individuell ausgeprägt werden, ist offensichtlich. Geht es nun darum, solcherart erzeugte Texte zu verstehen und auszulegen, zeigt sich ebenfalls, dass Hermeneutik und Topik von ähnlichen Prämissen ausgehen. Gerade der strittigste Aspekt von Schleiermachers Hermeneutik, die „divinatorische“6 Methode oder „Divination“7, welche darauf beruht, dass sich ein Leser in den Autor eines Textes hineinversetzt, um ein Verständnis des Textes zu ermöglichen,8 könnte eine Entsprechung in der Theorie des topischen Denkens finden. Die Divination beruht darauf, dass „jeder von jedem ein Minimum in sich trägt“9. Diese gemeinsamen Schnittmengen, die nach Schleiermacher zwischen Individuen bestehen, ließen sich aus topischer Perspektive auch als Teilhabe an einem gemeinsamen Fundus von Vorstellungsmustern beschreiben, welche Textproduktion und -rezeption steuern. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls von Interesse, dass Schleiermacher der „psychologische[n] Auslegung“10 (zu welcher der Vorgang der Divination gehört) die „grammatische Auslegung“11 gegenüberstellt,

|| 3 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers. Hrsg. und eingeleitet von Manfred Frank. Frankfurt am Main 1977, S. 168. Schleiermacher führt an dieser Stelle aus, dass der Begriff ‚Stil‘ nicht nur im Hinblick auf die „Behandlung der Sprache zu verstehen“ (ebd.) sei: „Gedanke und Sprache gehen überall in einander über“ (ebd.). 4 Köppe/Winko: Neuere Literaturtheorien, S. 23. 5 Ebd. 6 Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 169. Zu den unterschiedlichen Auffassungen des Begriffs, die teilweise auf Schleiermachers eigene Aussagen zurückzuführen sind, vgl. Klawitter/Ostheimer: Literaturtheorie, S. 22. 7 Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 170. 8 Vgl. Becker: Literaturwissenschaftliche Methoden und Theorien, S. 223. 9 Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 170. 10 Ebd., S. 167. 11 Ebd., S. 101.

432 | Fazit

denn letztere sei die „höhere, wenn man die Sprache insofern betrachtet, als sie das Denken aller Einzelnen bedingt“12. Hans-Georg Gadamers in „dedizierter Abgrenzung“13 zu einer Hermeneutik als „Kunst des Verstehens“14 von Texten entwickelte, philosophische Hermeneutik nimmt zwar „von der ‚Topik‘-Diskussion nicht die geringste Notiz“15, scheint aber gleichwohl Anschlussmöglichkeiten an eine Theorie des topischen Denkens bereitzuhalten. So könnte sich hinter dem von der Literaturwissenschaft oft kritisierten16 Begriff der „Horizontverschmelzung“17 eine Möglichkeit verbergen, die Auswirkungen genauer zu beleuchten, die sich aus der notgedrungen nicht deckungsgleichen Teilhabe von Autor und Interpret am topischen Bestand einer Kulturgemeinschaft ergeben. Gadamer stellt hier in Frage, dass das „hermeneutische Phänomen“18 auf einer Konstellation beruht, in der „zwei voneinander verschiedene Horizonte“19 existieren, nämlich den, „in dem der Verstehende lebt, und den jeweiligen historischen Horizont, in den er sich versetzt“20. Bei der Vergegenwärtigung historischer Umstände und Begebenhei-

|| 12 Ebd., S. 79; Hervorhebung von mir. 13 Köppe/Winko: Neuere Literaturtheorien, S. 25. Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Gesammelte Werke. Bd. 1. Hermeneutik I. 7., durchgesehene Auflage. Tübingen 2010 [1960], S. 296 f. Gadamer bezieht sich hier auf Schleiermachers Behandlung des „hermeneutischen Zirkel[s]“ (ebd., S. 296) und führt aus, dass das, „[w]as Schleiermacher als subjektive Interpretation entwickelt hat, […] wohl ganz beiseite gesetzt werden [darf]“ (ebd., S. 297). Gadamer ergänzt: „Aber auch die objektive Seite des Zirkels, wie sie Schleiermacher beschreibt, trifft nicht den Kern der Sache“ (ebd.). 14 Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 75. 15 Bornscheuer: Topik, S. 182. Bornscheuer bescheinigt Gadamer zwar ein „konsequentes Desinteresse“ (ebd.) an der Topik, erkennt in dessen „aus einer ganz anderen Fragerichtung heraus gewonnenen Strukturmomenten des ‚hermeneutischen Verstehens‘“ (ebd.) aber eine Analogie zu denen, die er selbst „auf der Grundlage der aristotelischen Topik-Schrift für die Struktur der topisch-dialektischen Einbildungskraft herausgearbeitet“ (ebd.) hat. Gemeint sind hier die Begriffe der Habitualität, Potentialität und Intentionalität (siehe dazu Kap. 2, Anm. 76 und 90). Ein „prinzipielle erkenntnistheoretische Barriere“ (Bornscheuer: Topik, S. 186) habe aber dazu geführt, dass Gadamer für die „‚Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblems‘ das Moment der ‚Sprachlichkeit‘“ (ebd., S. 185) nicht berücksichtigt habe (in Bornscheuers Toposmodell entspricht der ‚Sprachlichkeit‘ die ‚Symbolizität‘). Vgl. genauer ebd., S. 185 f. und zu der an diesem Punkt ansetzenden Kritik von Jürgen Habermas ebd., S. 186 ff. 16 Vgl. Köppe/Winko: Neuere Literaturtheorien, S. 28. 17 Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 312. 18 Ebd., S. 309. 19 Ebd. 20 Ebd.

Literaturtheoretische Anschlussmöglichkeiten für die Topik | 433

ten gehe es nicht um eine „Entrückung in fremde Welten“21, sondern um die Bewegung des Bewusstseins innerhalb eines „großen, von innen her beweglichen Horizont[s]“22. Dieses Prinzip der Beweglichkeit ließe sich mit dem Begriff des ‚Kulturkreises‘ in Beziehung setzen, der als Element eines Modells des topischen Denkens ebenfalls nicht als starres Konstrukt begriffen werden kann (siehe dazu auch Kap. 2, Anm. 48).23 Die drei Komponenten des topischen Dreiecks (Deskriptor, Deskription und Manifestation) beruhen auf einem ebenfalls aus drei Teilen bestehenden, auf Umberto Eco zurückgehenden Zeichenmodell (siehe Abschnitt 2.5.1). Die Notwendigkeit, solche Strukturen zu untersuchen, um kulturelle Artefakte erkennen zu können, gehört aber auch zu den „grundlegenden Rahmenannahmen des Strukturalismus“24. Die strukturalistische Unterscheidung zwischen einer syntagmatischen Achse, auf der sprachliche Zeichen im „Nacheinander bzw. Nebeneinander“25 ihrer Äußerung bzw. ihres Vorkommens im Text angeordnet sind und einer paradigmatischen Achse, die als „Klasse bedeutungsähnlicher Zeichen“26 definiert werden kann, lässt sich auf das Modell des topischen Denkens abbilden. Für einen gegebenen literarischen Text kann eine syntagmatische Abfolge von konkreten Ausprägungen von Topoi angenommen werden. Die Topoi selbst bilden aber für einen zu definierenden Kontext (in der vorliegenden Untersuchung: das Erzählwerk Adalbert Stifters) eine paradigmatische Menge, aus der heraus sie Eingang in unterschiedliche syntagmatische Reihen finden können. Eine zweite Anschlussmöglichkeit besteht in einem gegenüber der linguistischen Zeichentheorie erweiterten Gegenstandsbereich des Strukturalismus, der sich eine „Bedeutungseinschränkung des individuellen Subjekts zugunsten von Denkmustern und kollektiven Bewusstseinsstrukturen“27 zum || 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Eine Anwendung von Gadamers Begriff des ‚Horizonts‘ auf die Theorie des topischen Denkens könnte sich überdies auf die literaturwissenschaftliche Rezeption der philosophischen Hermeneutik durch Hans Robert Jauß stützen. Jauß entwickelt anhand einer exemplarischen Interpretation von Charles Baudelaires Gedicht Spleen ein dreistufiges Interpretationsverfahren, in dem „die Horizonte einer ersten, ästhetisch wahrnehmenden Lektüre von einer zweiten, retrospektiv auslegenden Lektüre voneinander abgehoben werden. Daran soll sich eine dritte, historische Lektüre anschließen“ (ders.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a. M. 1982, S. 813). Vgl. Köppe/Winko: Neuere Literaturtheorien, S. 27 f. 24 Köppe/Winko, S. 48. 25 Ebd., S. 49. 26 Ebd. 27 Becker: Literaturwissenschaftliche Methoden und Theorien, S. 234. Becker verweist in diesem Zusammenhang vor allem auf die Arbeiten von Roland Barthes, welcher „den Versuch

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Ziel setzt. Strukturalistische Ansätze zur Analyse von Texten berücksichtigen hier neben textinternen Strukturen und Verweisen auch textexterne, „semiotisch vermittelte Systeme“28. Darunter fallen unter anderem „religiöse, ideologische, politische oder sonstige Wertsysteme, Wissensbestände oder Weltanschauungen“29. Diese hat man „unter dem Begriff des kulturellen Wissens zu erläutern und zu systematisieren“30 versucht. Die Engführung solcher Ansätze mit dem Konzept eines Vorrats von topischen Inhalten, an dem die Mitglieder einer Kulturgemeinschaft partizipieren, liegt nahe. Ein Teilbereich der psychoanalytischen Literaturwissenschaft, die Figurenanalyse, stützt sich auf die Annahme, dass das in einem Text geschilderte Verhalten von literarischen Figuren mit Mitteln der Psychoanalyse erklärt werden könne.31 Literarische Figuren werden hier also betrachtet, als ob sie, in den Worten Sigmund Freuds, „wirkliche Individuen und nicht Geschöpfe eines Dichters“32 seien. Während diese Denkweise zumindest auf den ersten Blick in Opposition zu meiner These zu stehen scheint, dass literarische Figuren Kon|| der Vermittlung zwischen dem Strukturalismus und den hermeneutisch-textimmanenten Verfahren“ (ebd.) unternommen habe. Vgl. in diesem Zusammenhang noch einmal die unterschiedlichen Definitionen von Topik, die Barthes in Die alte Rhetorik (siehe Kap. 2, Anm. 16 und 19) vorgenommen hat. 28 Köppe/Winko: Neuere Literaturtheorien, S. 55. 29 Ebd. 30 Ebd. Die zitierte Aussage bezieht sich auf den folgenden Beitrag: Michael Titzmann: Propositionale Analyse – kulturelles Wissen – Interpretation. In: Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung. Hrsg. von Hans Krah und Michael Titzmann. Passau 2006, S. 67– 92. Titzmann geht von der folgenden Annahme aus: „Sprachliche und nicht-sprachliche Texte setzen in unterschiedlichem Umfang zu ihrem (adäquaten und vollständigen) Verständnis ‚kulturelles Wissen‘ […] voraus“ (ebd., S. 74). Dieses Wissen definiert Titzmann als die „Gesamtmenge aller von den Mitgliedern einer Kultur […] für wahr gehaltenen Propositionen“ (ebd.; Hervorhebungen im Original). Kulturelles Wissen sei zwar „nicht notwendig bewusst“ (ebd., S. 79; Hervorhebung im Original), sondern könne auch „nicht-bewusst“ (ebd.; Hervorhebung im Original) sein; es sei jedoch „potentiell bewusstseinsfähig“ (ebd.; Hervorhebung im Original). Zum Verhältnis von kulturellem Wissen und Intertextualität vgl. ebd, S. 80 f. Zur Verwendung kulturellen Wissens in der Textinterpretation vgl. ebd., S. 85–91. 31 Vgl. Becker: Literaturwissenschaftliche Methoden und Theorien, S. 249. 32 Sigmund Freud: Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva. In: Ders.: Studienausgabe. Hrsg. von Alexander Mitscherlich u. a. Band X. Bildende Kunst und Literatur. Dritte, korrigierte Auflage. Frankfurt a. M. 1969, S. 9–85, hier S. 41. Freud gesteht hier zwar zu, dass eine solche Betrachtungsweise von literarischen Figuren das „Befremden“ (ebd.) der Leser seiner Studie erregen könnte. Trotzdem kommt er zu dem Schluss, dass Wilhelm Jensen (der Autor der von Freud untersuchten Novelle Gradiva) „seine Schilderungen der Wirklichkeit so getreulich nachgebildet“ (ebd.) habe, dass sein literarischer Text den Ansprüchen einer „psychiatrische[n] Studie“ (ebd.) genüge.

Literaturtheoretische Anschlussmöglichkeiten für die Topik | 435

strukte darstellen, an die sich topische Inhalte anlagern, hält die Dichtungstheorie als Teilbereich der psychoanalytischen Literaturwissenschaft durchaus Anschlussmöglichkeiten für ein Modell des topischen Denkens bereit. Im Hinblick auf die Funktion, die ein Autor erfüllt, wenn sich beim Schreiben eines Textes topische Inhalte manifestieren, könnte die psychoanalytische Literaturwissenschaft zwischen jenen theoretischen Positionen vermitteln, die bei der Interpretation von Texten ein sehr großes Gewicht auf die Autorintention legen und solchen, die den Autor für unmaßgeblich erklären. In einem „transintentionalistisch“33 ausgerichteten Interpretationsverfahren „[spielt] [d]ie Größe des Autors […] eine wichtige Rolle, da dessen unbewusste Antriebe herangezogen werden, um die Textgestalt zu erklären“.34 Die Untersuchung solcher auf den Autor bezogenen Faktoren muss sich aber nicht, wie in klassischen psychoanalytischen Ansätzen, darauf beschränken, Dichtung als Produkt einer unbewussten Wunscherfüllung zu beschreiben, sondern könnte auch herangezogen werden, um den ebenfalls als unbewusst denkbaren Zugriff des Autors auf den in seinem Gedächtnis gespeicherten, topischen Wissensbestand zu erklären.35 In Bezug auf Freuds Untersuchungen zur Traumarbeit schließlich hat Lothar Bornscheuer wichtige Übereinstimmungen mit der „Aufbereitung intersubjektiver

|| 33 Köppe/Winko: Neuere Literaturtheorien, S. 70 (im Original fett). 34 Ebd. 35 Bereits in einem 1907 gehaltenen und 1908 veröffentlichten Vortrag zeigt Freud einen Aspekt auf, an den sich in diesem Zusammenhang anschließen ließe (vgl. ders.: Der Dichter und das Phantasieren. In: Ders.: Studienausgabe (siehe Anm. 32 in diesem Kapitel). Bd. X, S. 169–179). Freud versucht hier, eine „Gleichstellung des Dichters mit dem Tagträumer, der poetischen Schöpfung mit dem Tagtraum“ (ebd., S. 177) vorzunehmen, geht aber am Rande auch auf „jene Klasse von Dichtungen“ (ebd., S. 178) ein, „in denen wir nicht freie Schöpfungen, sondern Bearbeitungen fertiger und bekannter Stoffe erblicken müssen“ (ebd.). Diese Stoffe, so Freud, „entstammen dem Volksschatze an Mythen, Sagen und Märchen“ (ebd.). Man sollte sich von der Verwendung des Begriffs ‚Stoff‘ und Freuds Charakterisierung dieses ‚Volksschatzes‘ nicht vorschnell davon abbringen lassen, Verbindungen zu der Annahme herzustellen, dass die Mitglieder eines Kulturkreises über einen gemeinsamen Bestand an Topoi verfügen. Freud selbst spricht hier von „völkerpsychologischen Bildungen“ (ebd.) und den „entstellten Überresten von Wunschphantasien ganzer Nationen“ (ebd.). In einem Nachtrag zur zweiten Auflage (1912) seiner oben erwähnten Untersuchung zu Jensens Gradiva verweist Freud darauf, dass die jüngste psychoanalytische Forschung es sich zum Ziel gesetzt habe, zu ermitteln, „aus welchem Material an Eindrücken und Erinnerungen der Dichter das Werk gestaltet hat und auf welchen Wegen, durch welche Prozesse dies Material in die Dichtung übergeführt wurde“ (ders.: Der Wahn und die Träume, S. 84). Es erscheint lohnenswert, diesen Prozessen auch den Zugriff des Dichters auf den topischen Bestand seines Kulturkreises zuzuschlagen und diesen aus psychoanalytischer Perspektive zu betrachten.

436 | Fazit

Problemstellungen durch die topisch-hermeneutische Einbildungskraft“36 herausgearbeitet. Er stützt sich hier auf Freuds Untersuchung Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905), in der Freud „den Arbeitsbegriff ‚Topik des seelischen Apparates‘ […] verwendet“37 und überdies Mechanismen aufzeigt, die „allen wesentlichen topisch-hermeneutischen Funktionsmerkmalen“38 entsprechen. Das hier vorgelegte Modell des topischen Denkens und die auf Julia Kristeva zurückgehende Intertextualitätstheorie poststrukturalistischer Prägung39 haben gemeinsam, dass sie „keine eigenständigen Interpretationstheorien“40 oder -methoden darstellen und mit anderen Theorien und Ansätzen kombiniert werden müssen,41 um Deutungsschlüssel für literarische Texte entwickeln zu können. Im Rahmen dieser Arbeit habe ich immer wieder auf intertextuelle Beziehungen zwischen Stifters Erzähltexten und ihren Prätexten hingewiesen und damit die Auffassung, dass „jeder Text ein relationales Ereignis sei“42, als „unhinterfragt gültige[n] Grundsatz intertextueller Wirkweisen“43 (ebd.) akzeptiert. Während die Intertextualitätstheorie44 stellenweise in Opposition zu mei-

|| 36 Bornscheuer: Topik, S. 200. 37 Ebd., S. 197. 38 Ebd. Bornscheuer erkennt in der Transformation der im Wachzustand entstehenden gedanklichen Inhalte in Träume sowie in deren Verdichtung, Umwandlung in Sinnbilder und Verlagerung ins Unbewusste Übereinstimmungen zu den „[v]ier Strukturmomenten eines allgemeinen Topos-Begriffs“ (ebd., S. 91), die er in seiner Untersuchung entwickelt. Auch wenn diese Strukturmomente auf ein literaturwissenschaftliches Modell des topischen Denkens nur mit Einschränkungen anwendbar sind (siehe Kap. 2, Anm. 76 u. 110), erscheint gerade die Verlagerung gedanklicher Inhalte ins Unbewusste – Bornscheuer spricht hier vom „Moment der subjektiven Habitualität“ (ders.: Topik, S. 202) – relevant für die Weiterentwicklung eines Modell des topischen Denkens. 39 Vgl. Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Band 3. Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II. Hrsg. von Jens Ihwe. Frankfurt a. M. 1972, S. 345–375. 40 Köppe/Winko: Neuere Literaturtheorien, S. 128. 41 Vgl. ebd. 42 Scheiding: Intertextualität (siehe Kap. 2, Anm. 51), S. 55. 43 Ebd., S. 56. Scheiding bezieht sich hier auf eine These Harold Blooms, deren unhinterfragte Gültigkeit in der „Literaturkritik“ (ebd.) er anschließend problematisiert, weil sich hinter ihr das „Dilemma einer bislang weitestgehend an literaturwissenschaftlichen Fragestellungen orientierten Intertextualitätsforschung“ (ebd.) verberge (vgl. genauer ebd.). 44 Ich verwende den Begriff ‚Intertextualität‘ hier ausschließlich im Sinne seiner oben erwähnten, poststrukturalistischen Prägung. Auf die später entwickelte, strukturalistischhermeneutische Spielart der Intertextualitätstheorie, vertreten etwa durch Gérard Genette, gehe ich an dieser Stelle nicht ein (vgl. dazu Klawitter/Ostheimer: Literaturtheorie, S. 98 ff.).

Literaturtheoretische Anschlussmöglichkeiten für die Topik | 437

nem Modell des topischen Denkens steht – vor allem in der Art und Weise, wie sie die Rolle des Autors in den Hintergrund rückt –45, bildet sie doch eine wichtige Ergänzung dieses Modells. Topik und Intertextualität lassen sich sozusagen als zwei Seiten einer Medaille beschreiben: Während die Topik von im Gedächtnis gespeicherten, nichtsprachlichen Vorstellungsmustern ausgeht, ist es der Intertextualität um das bereits „gesprochene oder geschriebene Wort“46 zu tun, dass „auf einer vertikalen Ebene […] in Beziehungen zu bereits gesprochenen oder geschriebenen Wörtern oder Texten“47 steht. Eine weitere Verwandtschaftsbeziehung zwischen Topik und Intertextualität wird erkennbar, wenn man sich vor Augen führt, dass intertextuelle Beziehungen nicht auf Referenzen zwischen Texten beschränkt sind, sondern zwischen „semiotisch beschreibbaren Gegenständen unterschiedlichsten Typs“48 bestehen können. Diese Auffassung ließe sich fruchtbar machen, um genauer zu erklären, wie die Rezeption literarischer Texte und anderer Artefakte dazu beiträgt, den topischen Bestand einer Kulturgemeinschaft zu modifizieren und aktualisieren. Eine der Grundannahmen des New Historicism besagt, dass „Literatur über bestimmte repräsentative Muster in ihre Kultur eingebunden ist“49. Über diese Muster kann sie auch dann ihre ästhetische Wirkung entfalten, wenn zwischen Textproduktion und -rezeption ein größerer zeitlicher Abstand liegt – ein Phänomen, das mit dem von Stephen Greenblatt geprägten Begriff der „social energy“50 beschrieben ist. Greenblatts Ausführungen gehen Hand in Hand mit der

|| 45 Vgl. Köppe/Winko: Neuere Literaturtheorien, S. 128 und Klawitter/Ostheimer: Literaturtheorie, S. 96 f. 46 Köppe/Winko: Neuere Literaturtheorien, S. 128. 47 Ebd. Dieser Sachverhalt „erinnert an die strukturalistische Differenzierung zwischen syntagmatischer und paradigmatischer Achse“ (ebd.), die oben angesprochen wurde, „ist mit dieser jedoch nicht deckungsgleich“ (ebd.). 48 Ebd., S. 129. 49 Ebd., S. 230. 50 Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Berkeley/Los Angeles 1988, S. 6. Greenblatt spricht von einer „poetics of culture” (ebd., S. 5), die danach fragt, wie „cultural objects, expressions and practices” (ebd.) zu ihrer Überzeugungskraft („compelling force“; ebd.) gelangen. Zwar, so Greenblatt, könne man nicht davon ausgehen, dass zwischen Artefakten aus der Vergangenheit – im vorliegenden Fall die Dramen Shakespeares – und uns als heutigen Rezipienten eine direkte Übertragung von „aesthetic power“ (ebd., S. 6) möglich sei. Dies bedeute aber nicht, dass gar keine Verbindung existiere. Auch lange nach dem Tod eines Autors und dem Tod der Kultur, für die er schrieb, verfügten literarische Werke immer noch über ein ‚Leben‘ (Greenblatt setzt den Begriff ‚life‘ ebenfalls in modalisierende Anführungszeichen; vgl. ebd.), das auf der „social energy encoded in those works“ (ebd.) basiere.

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Beobachtung, dass Ausprägungen von Topoi oft über die Grenzen von Epochen und Sprachen nachvollzogen werden können, weil Textproduzent und -rezipient zu einem entsprechen weit gefassten Kulturkreis gehören (siehe Kap. 2, Anm. 49). Er formuliert in diesem Zusammenhang ein Modell von unterschiedlichen „culturally demarcated zone[s]“51, zwischen denen ein Übertragungsprozess stattfinde. Eine weitere Verwandtschaft zwischen einem Modell des topischen Denkens und neohistoristischen Zugängen zu Literatur lässt sich mit dem Begriff der „Kontextualisierung“52 erfassen. Wie in Abschnitt 2.5.3 ausgeführt, kann es – je nach zeitlichem Abstand, der zwischen Autor und Interpret liegt – notwendig sein, sowohl geistesgeschichtliche Zusammenhänge als auch Intertexte heranzuziehen, um die Ausprägungen von Topoi im Primärtext zu entschlüsseln. Gegen die Art und Weise, wie dies in der vorliegenden Untersuchung praktiziert wurde, könnte man den Vorwurf eines allzu selektiven Vorgehens erheben. Im New Historicism gelten solcherart hergestellte Kontexte aber nicht als beliebig, sondern „sagen etwas Wesentliches über den Text aus, indem sie etwa seine Verflechtung mit dem Repräsentationsgefüge seiner Zeit erhellen“53. Vor diesem Hintergrund könnte die Notwendigkeit begründet werden, einem topischen Interpretationsansatz eine selektive Kontextualisierung zugrunde zu legen. In der vorliegenden Untersuchung wird das Gedächtnis als räumlich strukturiertes Medium beschrieben, in dem Topoi als nichtsprachliche Vorstellungs-

|| 51 Ebd., S. 7. Greenblatt wendet sich in diesem Zusammenhang zunächst von der für ihn selbst verlockenden Vorstellung ab, bei der Rekonstruktion des literarischen Produktionsprozesses, der es Werken erlaube, die oben angesprochene social energy aufzunehmen, den einen, originären Moment ausmachen zu können, in dem diese Energie von Meisterhand zu einem „sublime aesthetic object“ (ders.: Shakesearean Negotiations, S. 7) geformt werde. Stattdessen müsse man von einem komplexen und unaufhörlichen Austauschprozess ausgehen, bei dem „principally ordinary language but also metaphors, ceremonies, dances, emblems, items of clothing, well-worn stories, and so forth“ (ebd.) von einer der oben erwähnten „culturally demarcated zone[s]“ (ebd.) zur nächsten übertragen würden. 52 Köppe/Winko: Neuere Literaturtheorien, S. 228. 53 Ebd., S. 229. Zum Begriff der ‚Repräsentation‘ im New Historicism vgl. ebd., S. 225 f. Ein selektiv vorgehender Kontextualisierungsansatz findet überdies seine Entsprechung in der Perspektive, den die Vertreter des New Historicism auf die Geschichte einnehmen. In Anlehnung an Michel Foucaults Konzept der Diskontinuität wenden sie sich von einer Sichtweise ab, die „Epochen […] als einheitliche Entitäten betrachtet“ (Klawitter/Ostheimer: Literaturtheorie, S. 188). Stephen Greenblatt etwa geht es stattdessen darum, „überraschende Einzelverbindungen zwischen Texten und Kontexten“ (ebd.) aufzuzeigen. In diesem Zusammenhang dient die Anekdote als „Ausgangspunkt der historischen Kontextualisierung“ (Köppe/Winko: Neuere Literaturtheorien, S. 229, vgl. genauer ebd.).

Literaturtheoretische Anschlussmöglichkeiten für die Topik | 439

muster an adressierbaren Speicherorten abgelegt sind, die vom Textproduzenten in der Phase der inventio aufgerufen werden. Hier besteht eine direkte Verbindung zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, die seit der Formulierung ihrer zentralen Grundlagen zu Beginn des 20. Jahrhunderts54 und ihrer Wiederaufnahme in den 1980er Jahren55 eine methodische Komplexität und disziplinäre Breite erlangt hat, die weit über den Gegenstandsbereich der Literaturtheorie hinausgeht. Astrid Erll sieht im Hinblick auf die literaturwissenschaftliche Ausprägung der Gedächtnisforschung unter anderem eine enge Verbindung von Topik und Intertextualität.56 Deren Beschreibung als ‚zwei Seiten einer Medaille‘, die ich oben vorgenommen habe, könnte aber gerade || 54 Dazu gehört zum einen das Konzept der kollektiven Erinnerung des Soziologen Maurice Halbwachs. Halbwachs formulierte seine These, dass Erinnerung stets kollektiven Charakter habe, in Opposition zu zeitgenössischen Positionen, die „Erinnerung als einen rein individuellen Vorgang verstehen“ (Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart 2011, S. 16), vertreten etwa durch Henri Bergson oder Sigmund Freud. Zum anderen ist hier an die Überlegungen des Kunst- und Kulturhistorikers Aby Warburg zu denken, die sich mit dem Konzept eines „kollektiven Bildgedächtnisses“ (ebd., S. 22) beschäftigen, in dem bildlichen Symbolen die Eigenschaft zugeschrieben wird, als „kulturelle ‚Energiekonserve‘“ (ebd., S. 22) zu fungieren. Dafür prägte Warburg den Begriff der „Pathosformeln“ (ebd., S. 21), der auch von Ernst Robert Curtius aufgegriffen wurde (vgl. ders.: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 148 u. 209). Vgl. dazu auch Hebekus: Topik/Inventio, S. 85. 55 Der Historiker Pierre Nora entwickelte in dieser Zeit das „in der Tradition der antiken Mnemotechnik“ (Erll: Kollektives Gedächtnis, S. 25) stehende, einflussreiche Konzept der „Erinnerungsorte“ (ebd.; vgl. genauer ebd., S. 25 ff.). Im deutschsprachigen Raum sind hier vor allem die Arbeiten von Aleida Assmann und Jan Assmann zu nennen. Jan Assmann entwickelte gegen Ende der 1980er Jahre das Konzept eines kollektiven Gedächtnisses, das sich vom kommunikativen Gedächtnis als „Oppositionsbegriff und Abgrenzungsfolie“ (ebd., S. 31) absetzt. Aleida Assmann steht für den Begriff des kulturellen Gedächtnisses, der in einer „enorme[n] Ausweitung des Gegenstandsbereichs“ (ebd., S. 35) sämtliche „Objektivationen einer gegebenen Kultur“ (ebd.) in den Blick nimmt. 56 In literarischen Texten werde „durch intertextuelle Bezugnahmen an vorgängige Texte, Topoi, Formen und Gattungsmuster erinnert“ (Astrid Erll: Literaturwissenschaft [Art.]. In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Christian Gudehus u. a. Stuttgart 2010, S. 288–298, hier S. 290). Gleichzeitig basiere das Gedächtnis der Literatur auf dem Prozess einer „Resemiotisierung von Zeichen“ (ebd.), bei dem aus überlieferten Texten stammende „Elemente“ (ebd.) mit Bedeutung aufgeladen würden. Dieser Prozess werde in der Literaturwissenschaft als „‚Intertextualität‘ im weitesten Sinne“ (ebd.) bezeichnet und schließe neben Referenzen auf Einzeltexte oder Gattungen auch den „Rückgriff auf überkommene Topoi“ (ebd.) ein. Erll würdigt in diesem Zusammenhang Ernst Robert Curtius’ Untersuchung Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter als wichtige Grundlage und bescheinigt ihr, „im Kontext der neueren kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung wieder neu entdeckt“ (dies.: Literaturwissenschaft, S. 291) zu werden.

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von der interdisziplinären Ausrichtung der Gedächtnisforschung weitere Rückendeckung erhalten, denn der Vorgang, der zur schriftlichen Ausprägung von nichtsprachlichen, im Gedächtnis gespeicherten Vorstellungsmustern führt, wird sich mit Mitteln der Literaturwissenschaft nicht vollumfänglich beschreiben und erklären lassen. Die oben angesprochenen Konzepte aus der Psychoanalyse, die bereits Eingang in die Literaturwissenschaft gefunden haben, könnten etwa durch die Berücksichtigung von Arbeiten zur psychologischen Beschreibung von Erinnerungsvorgängen und neurobiologischen Theorien zur Funktion des Gedächtnisses sinnvoll ergänzt werden.57 Die oben dargestellten, literaturtheoretischen Anschlussmöglichkeiten für die Topik zeigen miteinander kombinierbare Aspekte auf, die dazu dienen können, ein literaturwissenschaftliches Modell des topischen Denkens auf gesicherten theoretischen Grund zu stellen. Es steht allerdings zu vermuten, dass sich durch einen solchen Ausbau des Modells ein Prozess fortsetzen würde, der in der Fachwissenschaft seit Ernst Robert Curtius’ Begründung einer historischen Topik immer wieder kritisiert wurde. Gemeint ist hier eine weitere Entfernung von der ursprünglichen Definition der Topik durch ihre antiken Gewährsleute, namentlich Aristoteles und Cicero. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die Topik auch in der literarischen Praxis funktionale Erweiterungen erfahren hat (siehe Abschnitt 2.4.1), erscheint ein solches Vorgehen aber notwendig, um sie literaturtheoretisch einzuordnen und ihre Anwendbarkeit in der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis weiter zu begründen.

9.2 Einordnung der Untersuchungsergebnisse und Ausblick Den Ausgangspunkt für die vorliegende Untersuchung bildete die These, dass literarische Figuren als Konstrukte beschrieben werden können, an die sich kulturell determinierte Vorstellungsmuster anlagern. Die Figuren Adalbert Stifters wurden gerade aufgrund ihrer oft beschriebenen Konstruiertheit und fehlenden psychologischen Tiefe als ein Untersuchungsgegenstand identifiziert, der sich in besonderer Weise dazu eignen könnte, diese These in der Interpretation zu exemplifizieren. Zu diesem Zweck wurde ein werkgenetisch repräsentatives Textkorpus gebildet und in drei Werkkomplexe eingeteilt. Basierend auf einer Forschungsperspektive, die Adalbert Stifter als pädagogischen Erzähler betrachtet, welchem es immer wieder um die Entwicklung seiner Figuren zu tun

|| 57 Vgl. dazu Gudehus u. a. (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung (siehe Anm. 56 in diesem Kapitel), Kapitel I: Grundlagen des Erinnerns.

Einordnung der Untersuchungsergebnisse und Ausblick | 441

ist, wurden diese Texte auf die topische Gestaltung von Erziehungsprozessen und Bildungsgängen hin untersucht. Auf die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung betrachteten Primärtexte soll an dieser Stelle nicht noch einmal systematisch eingegangen werden. Stattdessen sei auf die Positionsbestimmungen in den Kapiteln 4, 6 und 8 verwiesen, die nicht nur die erzielten Interpretationsergebnisse zusammenfassen, sondern auch zeigen, wie sich – basierend auf einem Modell des topischen Denkens – Deutungsansätze entwickeln lassen, die über Einzeltexte hinausgehen und es erlauben, das Werk Adalbert Stifters in einem topischen Bauplan systematisch zu erfassen. Ein zentrales Interpretationsergebnis ist an dieser Stelle aber noch einmal gesondert zu würdigen, denn es steht in direktem Zusammenhang mit der oben erwähnten Annahme, dass sich Stifters Figuren in besonderer Weise dazu eignen, als topische Konstrukte beschrieben zu werden. In diesem Zusammenhang habe ich bereits in der Einleitung zu dieser Arbeit die Figur Heinrich Drendorf, den Protagonisten des Romans Der Nachsommer, als Beispiel angeführt. In den drei umfangreichen Bänden des Romans erhält der Leser in der Tat kaum Informationen, die es ihm erlauben würden, Heinrich als Person zu imaginieren, also eine Personenvorstellung von ihm zu entwickeln. Diese Strategie geht so weit, dass selbst Heinrichs Name erst gegen Ende des dritten Bandes zum ersten Mal genannt wird, als Mathilde ihrer Tochter verkündet: „Der Herr und die Frau Drendorf haben für ihren Sohn Heinrich um deine Hand geworben, Natalie“ (Ns3, S. 237).58 Anhand der in Kapitel 7 erzielten Ergebnisse kann der Effekt, der sich bei einer Lektüre des Romans im Hinblick auf die Wahrnehmung von Heinrich Drendorf einstellt, aber nun nicht mehr nur als Leseeindruck beschrieben, sondern erklärt werden: Diese Figur gibt sich allzu deutlich und in kaum zu überbietender Konsequenz als Konstrukt aus den Topoi zu erkennen, die ihren Bildungsgang maßgeblich bestimmen. Während ich in den vorherigen Abschnitten verschiedentlich davon gesprochen habe, dass sich topische Inhalte an eine Figur anlagern, kann in diesem Fall zugespitzter formuliert werden: Die Figur Heinrich Drendorf ist fast vollständig auf ihr topisches Konstrukt reduziert und bestätigt damit in besonderer Deutlichkeit die zentrale These, mit der die vorliegende Untersuchung ihren Anfang genommen hat. Die Topoi, die durch die Analyse der drei Werkkomplexe identifiziert werden konnten, verweisen auf wichtige inhaltliche Schwerpunkte in Stifters Er-

|| 58 Vgl. Lars Korten: Überlegungen zur textorientierten Spannungsanalyse. Anlässlich einer Lektüre von Adalbert Stifters „Der Nachsommer“. In: Literaturkritik 12 (2010), Nr. 5. URL: (Abruf: 1.3.2020).

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zählwerk, können dessen Komplexität und Vielschichtigkeit aber nicht vollständig repräsentieren. Der für das von Christian Begemann und Davide Giuriato herausgegebene Stifter-Handbuch gewählte Ansatz, das Werk Stifters auch „in Querschnitten über ‚Wissenshorizonte‘ [...] und ‚Problemfelder‘ [...] zu erschließen und darin die bisherige Forschung auch zu erweitern“59, demonstriert diesen Sachverhalt in eindrucksvoller Weise. In den entsprechenden Kapiteln des Handbuchs, die im Rahmen dieser Untersuchung bereits im Hinblick auf diverse Aspekte herangezogen wurden, geht es zum einen um die „wichtigsten Gebiete des wissenschaftlichen und kulturellen Wissens [...], die für das Verständnis der Texte essentiell sind“60, und zum anderen um „Themen und Strukturen [...], die in Stifters Texten insistent wiederkehren und die in besonderer Weise geeignet sind, die Werke von einer grundsätzlichen Seite her zu beleuchten.“61 Diese Themen und Strukturen, so die Herausgeber des Handbuchs weiter, stellen „zentrale Konzepte“62 dar, die „auch einer flüchtigen Lektüre nicht verborgen bleiben, deren Rekonstruktion aber weit auszuholen und tief zu graben hat.“63 Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zeigen, dass eine solche Rekonstruktion auf einem Modell des topischen Denkens basieren kann. Sie beschreiben bereits Inhalte, die sich sowohl mit den Wissenshorizonten als auch den Problemfeldern, die in den beiden erwähnten Kapiteln des Handbuchs aufgezeigt werden, eng berühren.64 Die Abschnitte in diesen Kapiteln beschreiben eine Fülle weiterer Fragestellungen und Aspekte, die eine weiterführende topische Betrachtung von Adalbert Stifters Werk in direkter Weise anregen und ermöglichen können. Im Hinblick auf eine solche weiterführende Betrachtung erscheint es außerdem lohnenswert, die poetologischen und kunsttheoretischen Texte sowie die brieflichen Äußerungen Stifters einzubeziehen, denn diese sind „in geradezu frappanter Weise durch dieselben Strukturen“65 bestimmt, die auch seine

|| 59 Begemann/Giuriato: Vorwort (siehe Kap. 1, Anm. 26), S. VIII. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Vgl. etwa im Hinblick auf die Topoi vom Mittelpunkt der kultivierten Natur und von der Macht der Familie noch einmal die Beiträge von Miller: Garten und Park (siehe Kap. 5, Anm. 309) und Willer: Familie/Genealogie (siehe Kap. 5, Anm. 278). 65 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 360. Begemann führt diese Strukturähnlichkeiten auf „ein hohes Maß an Vergessen, an Verleugnung und Verdrängung“ (ebd., S. 402) zurück. Daraus ergebe sich eine „Spannung von Bewußt [sic] und Unbewußt [sic]“ (ebd.), die sich sowohl in Stifters Kunsttheorie als auch in seinem literarischen Werk nachweisen lasse: „Theorie und

Einordnung der Untersuchungsergebnisse und Ausblick | 443

fiktionalen Texte prägen. Diese strukturellen Übereinstimmungen zeigen sich etwa, um nur ein Beispiel anzuführen, im Hinblick auf den Topos vom Mittelpunkt der kultivierten Natur. Die „eminente Bedeutung […], die dem Verhältnis von Natur und Kultur auf der Inhaltsebene der Erzählungen und Romane zukommt“66, hat für Stifter auch eine „poetologische[] Dimension“67. In einem Brief an Louise von Eichendorff etwa schreibt er: [A]n Gottes Schöpfung sich freuen, die fest gegründete Erde nicht verachten, sich immer praktischen [sic] Handeln hingeben, es nicht verachten, wie Maria in den Schwestern selbst Gemüse zu pflanzen und Gartenbeete zu düngen und doch ein höherer opferfreudiger Mensch zu sein, [...] das war ungefähr die Grundlage meiner Schriften.68

Stifters Verweis auf ‚Maria in den Schwestern‘ bezieht sich offenkundig auf die Erzählung Zwei Schwestern, die 1850 nach einer grundlegenden Überarbeitung im sechsten Band der Studien erschien.69 Mit der Konstellation der beiden Schwestern Camilla, einer Virtuosin auf der Geige, und Maria, der die Führung der familiären Landwirtschaft obliegt, wird aber nicht nur ein „Antagonismus von Kunst und Leben“70 thematisiert, sondern über die „Gefährdung und Zerbrechlichkeit“71 der Figur Camilla Raum für eine Ausprägung des Topos von der Macht der Kunst geschaffen. Ausprägungen dieses Topos wiederum finden sich, wie in Abschnitt 3.3.5 gezeigt werden konnte, aber auch in Stifters theoretischen Schriften, etwa in seinem Aufsatz Die Kunstschule von 1849. Schon dieses Beispiel zeigt, dass Stifters fiktionale und nicht-fiktionale Texte im Hinblick auf die Ausprägung von topischen Inhalten eng miteinander verschränkt sind. Es erscheint also sinnvoll, gegenüber Stifters kunsttheoretischen Positionen, die im Rahmen dieser Arbeit bereits selektiv auf sein literarisches Werk abgebildet wurden, eine weitergehende topische Perspektive einzunehmen, denn „sie sind nur in einem sehr eingeschränkten Sinne die theoretische Basis seiner literarischen Texte“72. Der nun vorliegende topische Bauplan könnte herangezogen werden, wenn es darum geht, die Verschrän-

|| Werk gehen aus demselben imaginativen Fundus hervor und weisen die gleichen Strukturen auf“ (ebd.). 66 Ebd., S. 395 f. 67 Ebd., S. 396. 68 An Louise von Eichendorff, 13. März 1852 (PRA 18, S. 110). Vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 394 f. 69 Vgl. Vera Bachmann: Zwei Schwestern [Art.]. In: SHB, S. 55–59, hier S. 55 f. 70 Ebd., S. 57. 71 Ebd. 72 Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 360; Hervorhebung von mir.

444 | Fazit

kung von fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten des Autors systematisch zu untersuchen.73 Von einem solchen Unterfangen wäre aber nicht zuletzt auch eine Rückwirkung auf eben diesen Bauplan zu erwarten. Er beruht in der nun vorliegenden Fassung auf einem zwar werkgenetisch repräsentativen, aber dennoch notgedrungen selektiven Textkorpus, welches im Rahmen einer ebenfalls bewusst gewählten perspektivischen Einschränkung auf die topische Gestaltung von Bildungsgängen durchleuchtet wurde. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich darauf, textkonstitutive und werkkonstitutive Topoi im Erzählwerk Adalbert Stifters zu untersuchen. Der zugrundeliegende methodische Ansatz könnte aber ohne Zweifel auch auf die Texte anderer Autoren angewendet und ausgeweitet werden. Solche Untersuchungen würden eine vergleichende topische Perspektive auf das Werk mehrerer Autoren ermöglichen und wären ganz im Sinne einer grundsätzlichen Annahme, auf die sich die vorliegende Untersuchung stützt: Das topische Denken als literarisches Grundprinzip beruht darauf, dass die Angehörigen eines Kulturkreises an einem gemeinsamen topischen Bestand teilhaben. Die topische Betrachtungsweise von Literatur ließe sich auf diese Weise auf Vorstellungsmuster ausdehnen, die etwa als konstitutiv für eine bestimmtes Genre oder eine Epoche beschrieben werden können. Zwei Forschungsbeiträge, die in Kapitel 2 bereits angesprochen wurden, sollen in diesem Zusammenhang noch einmal herangezogen werden. Karl Allgaier hat exemplarisch gezeigt, wie sich Peter Handkes Roman Der Hausierer – Allgaier sieht in Handke einen „besonders deutlichen Fall von Toposbewußtsein“74 – in eine „Traditionskette“75 stellen lässt, die auf dem Konzept einer „Demonstration der Kraft des Verstandes“76 beruht. Sie beginnt mit Edgar || 73 Christian Begemanns Auseinandersetzung mit kunsttheoretischen Texten Stifters, „um die die avanciertere Stifter-Forschung einen Bogen geschlagen hat“ (ebd.), bildet einen unverzichtbaren Ausgangspunkt für ein solches Unterfangen (vgl. ebd., S. 359–411). Neben dem genannten Topos von der Macht der Kunst ließen sich wohl auch die Überlegungen zum Wesen der Dinge, die nicht nur den Nachsommer, sondern auch Stifters Briefe und Aufsätze prägen (vgl. ebd., S. 379) oder seine Bevorzugung des „Kleinen gegenüber dem Großen“ (ebd., S. 398) – für Begemann ist „auch dies ein Topos seiner Schriften“ (ebd.) – nach dem in der vorliegenden Untersuchung gewählten Ansatz beschreiben. 74 Allgaier: Toposbewußtsein, S. 267. Wie im Forschungsüberblick in Abschnitt 2.1 schon ausgeführt, schlägt Allgaier vor, im Zusammenhang mit dem literarischen Produktionsprozess die „Begriffe von Originalität und Genie“ (ebd., S. 266) in Frage zu stellen. Er übernimmt den Begriff des ‚Toposbewusstseins‘ von Lothar Bornscheuer, um die „Rolle eines Autors innerhalb der Tradition“ (ebd.) zu bestimmen. 75 Ebd., S. 267. 76 Ebd.

Einordnung der Untersuchungsergebnisse und Ausblick | 445

Allan Poes Kurzgeschichte The Murders in the Rue Morgue. Das Konzept, das diesem Text zugrunde liegt, wurde dann im ersten Sherlock-Holmes-Roman von Arthur Conan Doyle (A Study in Scarlet) durch eine „systematische[] Imitation“77 erfolgreich. Über eine Vielzahl von Romanen lässt sich die erwähnte Traditionskette bis hin zu Handke verfolgen. Sie zeigt, wie sich die Vorstellung von einem einzigartigen, mit hoher Verstandeskraft ausgestatteten Individuum in der Gestalt des jeweiligen Detektivs immer wieder ausgeprägt hat.78 Dieses Vorstellungsmuster kann also als Topos beschrieben werden, der für das Genre des Detektivromans als konstitutiv gilt. Das von Allgaier demonstrierte Verfahren ließe sich auf andere literarische Formen und Genres übertragen, um zum einen in der topischen Zusammenschau von Texten neue Interpretationsansätze zu gewinnen und zum anderen einen Beitrag dazu zu leisten, etablierte Kategorisierungen von literarischen Texten kritisch zu hinterfragen.79 In größerer Nähe zum Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bewegt sich Uwe Hebekus’ Vorschlag, deutschsprachige Texte aus der Zeit des Realismus in Beziehung zum zeitgenössischen Pressewesen zu setzen, das „noch weitgehend von topischen Strukturen geprägt“80 gewesen sei. Hebekus führt als Beispiel das Vorstellungsmuster von der Geschichte als einer Lehrmeisterin des Lebens an. Die „Epoche […] des literarischen Realismus“81 habe „in enger Tuchfühlung mit der zeitgleichen Institution journalistischer Wirklichkeitsaufbereitung agiert“82. Deshalb könne man nur unter Einbeziehung der „historischen Tradition der Topik“83 zu einem angemessen Verständnis dieser Zeit gelangen. Hebekus regt in diesem Zusammenhang an, Gottfried Kellers Roman Der grüne Heinrich auf seine topische Gestaltung hin zu untersuchen, denn der Text liefere

|| 77 Ebd. 78 Vgl. ebd., S. 267 f. 79 Vgl. ebd., S. 266 f. Vgl. auch Hebekus: Topik/Inventio, S. 95 zu einer möglichen Bedeutung der Topik für die „Theorie und Geschichtsschreibung bestimmter literarischer Gattungen“ (ebd.). 80 Hebekus: Topik/Inventio, S. 95. 81 Ebd. Hebekus verwendet außerdem den Begriff des „programmatische[n] deutsche[n] Realismus“ (ebd.). Ich ziehe mich hier auf eine einfache literaturhistorische Bedeutung des Epochenbegriffs ‚Realismus‘ zurück, die eine „Zeit von ca. 1850–1900“ (Gerhard Plumpe: Realismus2 [Art.]. In: RLW, Bd. 3, S. 221–224, hier S. 221) beschreibt und verzichte auf eine Diskussion der unterschiedlichen Qualifikationen, mit denen der Realismus rückblickend etwa als ‚programmatisch‘, ‚poetisch‘ oder ‚bürgerlich‘ beschrieben und in unterschiedliche Phasen eingeteilt wurde (vgl. ebd. und Becker: Bürgerlicher Realismus, S. 11 ff.). 82 Hebekus: Topik/Inventio, S. 95. 83 Ebd.

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„ein topisches Inventar seiner eigenen Gegenwart“84. Dieser Vorschlag lässt sich ergänzen: Kellers Roman könnte nicht nur in dem geschilderten Zusammenhang auf topische Strukturen hin untersucht werden, sondern auch in der Zusammenschau mit anderen Romanen der Epoche, etwa Gustav Freytags Soll und Haben oder eben auch Stifters Nachsommer.85 Die genannten Autoren können als Mitglieder eines besonders eng gesteckten Kulturkreises begriffen werden, die an einem gemeinsamen topischen Bestand teilhaben und diesen im Umkehrschluss modifizieren und ergänzen. Von einer topischen Zusammenschau ihrer Texte dürfen somit neue und erweiterte Deutungsansätze erwartet werden.

|| 84 Ebd. 85 Zu dieser exemplarischen Auswahl von Texten vgl. Becker: Bürgerlicher Realismus, S. 179– 228. Hier werden die drei Romane sowie weitere Texte der „Phase des programmatischen Realismus (1848–1870)“ (S. 179) zugeordnet. Vgl. auch Selbmann: Der deutsche Bildungsroman, S. 121–133. Selbmann untersucht die drei oben genannten Texte von Keller, Freytag und Stifter unter der Überschrift „Der Bildungsroman nach der Jahrhundertmitte“ (ebd., S. 121).

10 Anhang 10.1 Abbildungsverzeichnis Abb. 1:

Das semiotische Dreieck (nach Eco) | 46

Abb. 2:

Das topische Dreieck | 47

Abb. 3:

Topoi in der Textproduktion und -rezeption | 55

Abb. 4:

Die Natur-Kultur-Skala | 80

Abb. 5:

Topografische Bereiche in der Narrenburg | 84

Abb. 6:

Bewegungen auf der Natur-Kultur-Skala in der Narrenburg | 91

Abb. 7:

Topografische Bereiche in Turmalin | 115

Abb. 8:

Bewegungen auf der Natur-Kultur-Skala in Turmalin | 127

Abb. 9:

Topografische Bereiche in Kazensilber | 135

Abb. 10:

Bewegungen auf der Natur-Kultur-Skala in Kazensilber | 161

Abb. 11:

Bewegungen auf der Natur-Kultur-Skala im Waldbrunnen | 190

Abb. 12:

Erste Fassung eines topischen Bauplans von Adalbert Stifters

Abb. 13:

Bewegungen auf der Natur-Kultur-Skala in der Buchfassung der Mappe | 267

Abb. 14:

Bewegungen auf der Natur-Kultur-Skala in der Letztfassung der Mappe | 324

erzählter Welt | 202

Abb. 15:

Zweite, erweiterte Fassung des topischen Bauplans | 331

Abb. 16:

Topografische Bereiche im Nachsommer | 382

Abb. 17:

Bewegungen auf der Natur-Kultur-Skala im Nachsommer | 414

Abb. 18:

Dritte, nochmals erweiterte Fassung des topischen Bauplans | 421

10.2 Tabellenverzeichnis Tab. 1:

Illustration der dichotomen Struktur von Topoi | 34

Tab. 2:

Der Mittelpunkt der kultivierten Natur (Topos) | 85

Tab. 3:

Die Macht der Schrift (Topos) | 98

Tab. 4:

Die Macht der Kunst (Topos) | 120

Tab. 5:

Die Macht der Wunder (Topos) | 153

Tab. 6:

Die Macht der Schönheit (Topos) | 188

Tab. 7:

Die Macht der Bildung (Topos) | 200

Tab. 8:

Erziehung zur Nützlichkeit (Topos) | 201

Tab. 9:

Die Macht der Familie (Topos) | 308

Tab. 10:

Die Macht der Leidenschaft (Topos) | 368

https://doi.org/10.1515/9783110750782-010

448 | Anhang

10.3 Anmerkungen zur Zitierweise Ich zitiere die Texte Adalbert Stifters so weit wie möglich nach der historischkritischen Gesamtausgabe (HKG) und ergänzend nach der Prag-Reichenberger Ausgabe (PRA). Dabei zeichne ich Abweichungen in Interpunktion und Orthografie nicht durchgängig durch das Kürzel ‚sic‘ als originalgetreu aus, sondern beschränke mich auf Einzelfälle, in denen es angebracht erscheint. Bibliografische Angaben zu den jeweiligen Bänden finden sich im Verzeichnis der Ausgaben der Werke Stifters in Abschnitt 10.5.1. Titel aus der Primär- und Sekundärliteratur werden bei der ersten Nennung mit vollständiger bibliografischer Angabe und anschließend mit Nachname und Kurztitel nachgewiesen. Die Texte von Aristoteles, Aurelius Augustinus und Homer zitiere ich nach den in Abschnitt 10.5.2 angegebenen Ausgaben unter Verwendung der üblichen Konventionen.1 Zitate aus der Bibel folgen der in Abschnitt 10.5.3 angegeben Übersetzung von Joseph Franz Allioli.2

|| 1 Vgl. das Abkürzungsverzeichnis in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Hrsg. von Konrat Ziegler und Walther Sontheimer. Erster Band. Stuttgart 1964, S. XXI ff. 2 In Stifters Erzähltexten treten immer wieder Figuren auf, die als „religiöse, besonders an Gott bzw. an die Hilfe Mariens glaubende Charaktere“ (Markus Pahmeier und Wolfgang Braungart: Religion und Metaphysik [Art.]. In: SHB, S. 279–284, hier S. 281) dargestellt werden. Die Bedeutung von Religion und Glaube manifestiert sich aber nicht nur auf der Inhaltsebene der Texte, sondern zeigt sich immer wieder auch in einem „biblische[n] Erzählgestus“ (Soboth: Die Frau im Einschreibbuch, S. 53, Anm. 20). Auf entsprechende Beispiele habe ich im Verlauf dieser Arbeit mehrfach hingewiesen (siehe etwa Kap. 3, Anm. 244 u. 317 sowie Kap. 5, Anm. 300). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Fassung der Bibel als Prätext herangezogen werden sollte. Für sein Lesebuch zur Förderung humaner Bildung (1854) hat Stifter auf die deutsche Übersetzung aus der Vulgata von Joseph Franz Allioli zurückgegriffen; Allioli wird hier als Übersetzer genannt (vgl. Stifter/Aprent: Lesebuch, S. 227). Diese erst Anfang der 1830er Jahre erschienene Bibelübersetzung kann während Stifters Gymnasialzeit (1818–1826) im Benediktinerstift Kremsmünster, die als maßgeblich für seine religiöse (und damit wohl auch bibelsprachliche) Sozialisierung gelten kann (vgl. Becher: Stifters Leben im historischen Kontext, S. 4), aber noch keine Rolle gespielt haben. Moriz Enzinger führt in seiner einschlägigen Untersuchung lediglich die vier staatlich vorgeschriebenen Lehrbücher an, die in Kremsmünster eingesetzt wurden (vgl. ders.: Adalbert Stifters Studienjahre. Innsbruck 1950, S. 33), gibt aber nicht an, welche Fassung der Bibel dem dortigen Religionsunterricht zugrunde lag. Während Stifter in Kremsmünster sowohl Latein als auch Griechisch gelernt hat, liegen nach Auskunft von P. Maximilian Bergmayr (Stiftsgymnasium Kremsmünster) keine Hinweise darauf vor, dass er eine lateinische Übersetzung der Bibel verwendet habe. Latein sei in Kremsmünster nur bis etwa 1780 als Unterrichtsprache verwendet worden. Dann

Anmerkungen zur Zitierweise | 449

Die Primärtexte, um die es in der vorliegenden Untersuchung geht sowie Beiträge aus Zeitschriften, Sammelbänden und Handbüchern zitiere ich unter Verwendung der in Abschnitt 10.4 angegebenen Siglen.

|| habe man nach einer Übergangszeit vollständig auf Deutsch umgestellt. Deswegen könnte im dortigen katholischen Religionsunterricht die deutsche Bibelübersetzung von Johann Dietenberger (siehe Abschnitt 10.5.3) verwendet worden sein. Fragt man nach dem sprachlichen Einfluss der Bibel auf Formulierungen in Stifters Texten, kann aber auch ein Einfluss der Luther-Übersetzung nicht ausgeschlossen werden. Die Wittenberger Ausgabe von 1545 erlangte „eine Art kanonischer Dignität für die weitere Bibeltradierung“ (Werner Besch: Luther und die deutsche Sprache. 500 Jahre Sprachgeschichte im Lichte der neuen Forschung. Berlin 2014, S. 58) und führte über mehrere Textstufen zur Herausgabe der „Canstein-Bibeln“ (ebd.), die ab 1713 auf Betreiben von Carl Hildebrand von Canstein in hohen Auflagen produziert wurden. Das Vorwort der Ausgabe von 1775 kann schon darauf verweisen, dass „über eine Million ganzer Bibeln, und über siebenhundert tausend neue Testamenter [sic] bis hierher in alle Provinzen Deutschlands und andere Länder, wo sich Deutsche befinden“ (zitiert nach Besch: Luther und die deutsche Sprache, S. 58), verbreitet wurden. Diese Zahl erhöhte sich bis 1883 „auf über 5,8 Millionen“ (ebd., S. 59). – Walter Hettche weist anhand einer Korrektur, die Stifter in der Erzählung Kazensilber vorgenommen hat, darauf hin, dass der Autor „nicht recht bibelfest war“ (ders.: Bunte Steine. Kommentar (HKG 2,4), S. 186). Es geht hier um den in Abschnitt 3.4.4 bereits angesprochenen Textabschnitt, in dem die Großmutter auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter anspielt. Stifters Korrektur zeigt, dass der Autor „zunächst [glaubte], der Samariter sei der überfallene Mann, dem geholfen werde“ (ebd.). Dieses Beispiel lässt vermuten, dass Stifter die biblischen Inhalte in seinen Texten nicht nur aus der Erinnerung paraphrasiert, sondern in Einzelfällen auch nachgeschlagen hat. Welche Bibelübersetzung sich in seiner Bibliothek befunden hat, wird sich aber wohl nicht mehr feststellen lassen. Die Bücherlisten aus dem Nachlass verweisen lediglich auf ein Neues Testament ohne Angabe der Übersetzung (vgl. Erwin Streitfeld: Aus Adalbert Stifters Bibliothek. Nach den Bücher- und Handschriften-Verzeichnissen in den Verlassenschaftsakten von Adalbert und Amalie Stifter. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 18 (1977), S. 103–148, hier S. 135). – Vor dem Hintergrund des Gesagten folge ich dem Ansatz von Jana Schuster (vgl. dies.: Der Stoff des Lebens. Atmosphäre und Kreatur in Stifters „Abdias“. In: ZfGerm N. F. XXIV (2014), Heft 2, S. 296–311, hier S. 300, Anm. 11) und zitiere Bibelstellen in der vorliegenden Untersuchung nach der Übersetzung von Joseph Franz Allioli. Ein ebenfalls schon zitiertes Beispiel aus dem Waldbrunnen scheint für dieses Vorgehen zu sprechen: Stefans Aussage über Juliana, sie liebe ihn „allein, weil ich bin, der ich bin“ (W, S. 138), weist deutliche Anklänge an Alliolis Übersetzung von 2. Mose 3,14 auf: „Da sprach Gott zu Moses: Ich bin, der ich bin“. Dietenberger dagegen übersetzt: „Ich bin das Sein“, während es bei Luther sowohl in der Ausgabe von 1545 als auch in aktuellen Überarbeitungen heißt: „Ich werde sein, der ich sein werde“. Für wertvolle Hinweise zu dem hier umrissenen Sachverhalt danke ich P. Maximilian Bergmayr (Stiftsgymnasium Kremsmünster), Georg Hofer (Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich) und Walter Hettche (Ludwig-Maximilians-Universität München).

450 | Anhang

10.4 Siglenverzeichnis DVjs

Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte

DWB

Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854 ff.

HKG

Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald.

HWPh

Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel 1971 ff.

IASL

Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur

JASILO

Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich

JEGP

Journal of English and Germanic Philology

K

Kazensilber

M1

Die Mappe meines Urgroßvaters (Journalfassung)

M2

Die Mappe meines Urgroßvaters (Buchfassung)

M3

Die Mappe meines Urgroßvaters (dritte Fassung)

M4

Die Mappe meines Urgroßvaters (vierte Fassung)

MLR

The Modern Language Review

Nb1

Die Narrenburg (Journalfassung)

Nb2

Die Narrenburg (Buchfassung)

Ns1

Der Nachsommer (Bd. 1)

Ns2

Der Nachsommer (Bd. 2)

Ns3

Der Nachsommer (Bd. 3)

PRA

Adalbert Stifters sämmtliche Werke. Prag/Reichenberg u. a. 1901 ff.

RLW

Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Klaus Weimar u. a. Berlin/New York 1997 ff.

SHB

Stifter-Handbuch. Hrsg. von Christian Begemann und Davide Giuriato. Stuttgart 2017.

T1

Der Pförtner im Herrenhause (Journalfassung von Turmalin)

T2

Turmalin

VASILO

Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich

W

Der Waldbrunnen

ZfdPh

Zeitschrift für deutsche Philologie

ZfGerm

Zeitschrift für Germanistik

Primärliteratur | 451

10.5 Primärliteratur 10.5.1 Ausgaben der Werke Stifters Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald. Bd. 1,1: Studien. Journalfassungen. Erster Band. Hrsg. von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. Stuttgart u. a. 1978. Bd. 1,4: Studien. Buchfassungen. Erster Band. Hrsg. von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. Stuttgart u. a. 1980. Bd. 1,5: Studien. Buchfassungen. Zweiter Band. Hrsg. von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. Stuttgart u. a. 1982. Bd. 1,9: Studien. Kommentar. Von Ulrich Dittmann. Stuttgart u. a. 1997. Bd. 2,1: Bunte Steine. Journalfassungen. Hrsg. von Helmut Bergner. Stuttgart u. a. 1982. Bd. 2,2: Bunte Steine. Buchfassungen. Hrsg. von Helmut Bergner. Stuttgart u. a. 1982. Bd. 2,3: Bunte Steine. Ein Festgeschenk. Apparat. Kommentar. Teil I. Hrsg. von Walter Hettche. Stuttgart u. a. 1995. Bd. 2,4: Bunte Steine. Ein Festgeschenk. Apparat. Kommentar. Teil II. Hrsg. von Walter Hettche. Stuttgart u. a. 1995. Bd. 4,1: Der Nachsommer. Eine Erzählung. Erster Band. Hrsg. von Wolfgang Frühwald und Walter Hettche. Stuttgart u. a. 1997. Bd. 4,2: Der Nachsommer. Eine Erzählung. Zweiter Band. Hrsg. von Wolfgang Frühwald und Walter Hettche. Stuttgart u. a. 1999. Bd. 4,3: Der Nachsommer. Eine Erzählung. Dritter Band. Hrsg. von Wolfgang Frühwald und Walter Hettche. Stuttgart u. a. 2000. Bd. 4,5: Der Nachsommer. Eine Erzählung. Apparat. Teil II. Von Walter Hettche. Stuttgart 2014. Bd. 6,1: Die Mappe meines Urgroßvaters. 3. Fassung. Lesetext. Hrsg. von Herwig Gottwald und Adolf Haslinger. Stuttgart u. a. 1998. Bd. 6,2: Die Mappe meines Urgroßvaters. 4. Fassung. Lesetext. Hrsg. von Herwig Gottwald und Adolf Haslinger. Stuttgart 2004. Bd. 6,4: Die Mappe meines Urgroßvaters. Kommentar. Von Silvia Bengesser und Herwig Gottwald. Stuttgart 2016. Bd. 8,1: Schriften zu Literatur und Theater. Hrsg. von Werner M. Bauer. Stuttgart u. a. 1997. Bd. 8,2: Schriften zu Politik und Bildung. Texte. Hrsg. von Werner M. Bauer. Stuttgart 2010. Bd. 8,3: Schriften zu Politik und Bildung. Apparat. Kommentar. Von Werner M. Bauer. Stuttgart 2012. Adalbert Stifters sämmtliche Werke. Prag, Reichenberg u. a. 1901 ff. Bd. 2: Studien. Zweiter Band. Hrsg. von Rudolf Frieb, Hans Hartmann und Josef Taubmann. Prag 1908. Bd. 12: Die Mappe meines Urgroßvaters. Eine Erzählung von Adalbert Stifter. Erster und zweiter Band (unvollendet). Aus den nachgelassenen Handschriften erstmals herausgegeben von Franz Hüller. Reichenberg 1939. Bd. 13,2: Erzählungen. Zweiter Teil. Hrsg. von Gustav Wilhelm. Graz 1960.

452 | Anhang

Bd. 17: Briefwechsel. Erster Band. Hrsg. von Gustav Wilhelm. 2. Auflage. Reichenberg 1929. Bd. 18: Briefwechsel. Zweiter Band. Hrsg. von Gustav Wilhelm. Zweite Auflage. Reichenberg 1941. Bd. 19: Briefwechsel. Dritter Band. Hrsg. von Gustav Wilhelm. 2. Auflage. Reichenberg 1929. Bd. 20: Briefwechsel. Vierter Band. Hrsg. von Gustav Wilhelm. Prag 1925. Bd. 22: Briefwechsel. Sechster Band. Hrsg. von Gustav Wilhelm. Reichenberg 1931. Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters. Hrsg. von Karl Pörnbacher. Stuttgart 1983. Adalbert Stifter: Bunte Steine. Erzählungen. Hrsg. von Helmut Bachmaier. Stuttgart 1994. Adalbert Stifter: Die Narrenburg. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Christian Begemann. Salzburg/Wien 1996. Adalbert Stifter. Studien. Hrsg. von Ulrich Dittmann. Stuttgart 2007. Adalbert Stifter und J. Aprent: Lesebuch zur Förderung humaner Bildung. Faksimile-Druck, dazu die Briefe Stifters zum Lesebuch. München/Berlin 1938.

10.5.2 Ausgaben der Werke anderer Autoren Aristoteles: Topik. Übersetzt und kommentiert von Tim Wagner und Christof Rapp. Stuttgart 2004. Aurelius Augustinus: Confessiones. Liber X et XI. Bekenntnisse. 10. und 11. Buch. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt, herausgegeben und kommentiert von Kurt Flasch. Stuttgart 2008. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Hrsg. von Hendrik Birus, Dieter Borchmeyer u. a. Bd. I,1: Gedichte 1756–1799. Hrsg. von Karl Eibl. Frankfurt a. M. 1987. Bd. I,2: Gedichte 1800–1832. Hrsg. von Karl Eibl. Frankfurt a. M. 1988. Bd. I,5: Dramen 1776–1790. Hrsg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt a. M. 1988. Bd. I,9: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Frankfurt a. M. 1992. Bd. I,14: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a. M. 1986. Bd. I,18: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt a. M. 1998 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Neu herausgegeben von HansFriedrich Wessels und Heinrich Clairmont. Hamburg 2006. Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Martin Bollacher, Jürgen Brummack u. a. Bd. 6: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hrsg. von Martin Bollacher. Frankfurt a. M. 1989. Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Bd. II: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Wiesbaden 1956. Hermann von Pückler-Muskau: Andeutungen über Landschaftsgärtnerei, verbunden mit der Beschreibung ihrer praktischen Anwendung in Muskau. Basel 2014. Homer: Odyssee. Übersetzung, Nachwort und Register von Roland Hampe. Stuttgart 1979.

Sekundärliteratur | 453

Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Philipp Rippel. Stuttgart 1998. Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen. Bd. 2 I: Gedichte. Hrsg. von Norbert Oellers. Weimar 1983. Bd. 2 II B: Gedichte. Anmerkungen zu Band 2 I. Hrsg. von Georg Kurscheidt und Norbert Oellers. Weimar 1993. Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hrsg. von Benno Wiese. Weimar 1962. Christian Thomasius: Von dem Studio der Poesie. Achtes Kapitel der „Höchstnötigen Cautelen für einen Studiosus juris“ aus dem Jahre 1713. In: Aus der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Christian Thomasius und Christian Weise. Hrsg. v. Fritz Brüggemann. Weimar 1928, S. 122–133. Johann Joachim Winckelmann: Ausgewählte Schriften und Briefe. Hrsg. von Walther Rehm. Wiesbaden 1948.

10.5.3 Bibelübersetzungen Die heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes. Aus der Vulgata mit Bezug auf den Grundtext übersetzt von Dr. Joseph Franz von Allioli. Text der vom apostolischen Stuhle approbierten Ausgabe. Wien 1963. Bibell. Das ist Alle Bücher Alts vnd News Testaments nach Alter in Christlicher Kirchen gehabter Translation treulich verteutscht und mit vielen heilsamen Annotaten erleucht Durch D. Johan Dietenberger. Cöln 1572. URN: urn:nbn:de:bsz:24-digibib-bsz3518066366. URL: (Abruf: 26.7.2019). Biblia: Das ist: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch: auffs new zugericht. Übers. von Martin Luther. Faksimile-Ausgabe der Ausgabe Wittemberg, Lufft, 1545. Stuttgart 1967.

10.6 Sekundärliteratur Achenbach, Hendrik: „Komme! Der Stiftende führet dich ein“: Das mineralogische Titelprinzip in Adalbert Stifters ‚Bunte Steine‘ und ein Privatscherz Goethes. In: Sprachkunst XXIX/1998, 2. Halbband, S. 241–248. Achenbach, Hendrik: Natur versus Kultur? ‚Wilde Mädchen‘ im Erzählwerk Adalbert Stifters. Frankfurt a. M. 2017 (zugl. Magisterarbeit Univ. Siegen, 1998). URN: urn:nbn:de:hebis:30:3-425643. URL: (Abruf: 3.2.2017). Albrecht, Tim: Turmalin [Art.]. In: SHB, S. 87–91. Allgaier, Karl: Toposbewußtsein als literaturwissenschaftliche Kategorie. In: Breuer/Schanze (Hrsg.): Topik, S. 264–274. Amann, Klaus: Zwei Thesen zu Stifters „Nachsommer“. In: VASILO 31 (1982), Folge 3/4, S. 169–184. Anz, Thomas: Psychoanalytische Literaturwissenschaft [Art.]. In: RLW, Bd. III, S. 190–194.

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Sekundärliteratur | 455

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456 | Anhang

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