Schönheit des Alltäglichen: Zur Ethik des täglichen Umgangs bei Albert Schweitzer, Martin Buber und Adalbert Stifter 9783495817902, 9783495487907


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Table of contents :
Danksagung
Inhalt
Siglenverzeichnis
Albert Schweitzer
Martin Buber
Adalbert Stifter
Darlegung des Forschungsvorhabens
I. Hingebung an Leben: Albert Schweitzers Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben
1. „Welt, was soll ich in dir“: Die Prinzipien der Ehrfurchtsethik
1.1 „Dienen“: Das Postulat der Kultivierung des Willens zum Leben
1.2 „Er reißt kein Blatt vom Baume ab“: Ehrfurcht im täglichen Lebensumfeld
2. Auf halbem Wege?[srtn]Das Beispiel des Kristalls oder Der Schutz anorganischen Lebens
II. Heiligung des Alltags: Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber
1. Die Welt als „göttliches Schicksal“: Einführende Erläuterungen zu Dialogphilosophie und Chassidismus-Deutung
2. „Helfer und Gefährten“: Das dialogische Gott-Mensch-Verhältnis und dessen Komponenten
2.1 Die Signifikanz menschlicher Freiheit hinsichtlich des Gelingens von Schöpfung
2.2 (Aus)Richtung „gen Himmel“ als wahrhafte Treue zum Sein
2.3 Weltzugewandter Glaube und Mystik der Tat versus Beschwörung und Magie
3. Lehre sein oder Vom Schuheschnüren: Das Primat der Lebenshaltung und Tat gegenüber Theorie und Lehre
4. Die Welt in ihrem Recht: „Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels
4.1 „Hier und Jetzt“: Alles soll Sakrament werden
4.2 Die chassidische Funkenlehre: Der „Dienst an den Funken“ als konkrete „Heiligung des Alltags“
4.2.1 Brot und Mahl: Von den Wohnstätten göttlicher Funken und dem Modus ihrer Sublimierung
4.2.2 Der Schatz „unterm Herd unsres Hauses“: Negierung einer Handlungshierarchie und der spezifische Dienst des Einzelnen
III. Idealisierung der Alltäglichkeit: Die Nachsommer-Welt Adalbert Stifters
1. Exkurs: Vertrautheit versus Fremdheit –[srtn]„Vom Geheimnis der alltäglichen Dinge“
2. „Wer durch einfachere Mittel wirkt, wirkt besser“: Stifters (literarisch-philosophische) Betrachtung von Welt, Leben und Alltag
2.1 „Kleines ist mir groß“: Deskriptionsakribie als Ehrfurchtsbekundung
2.2 „Die Unschuld der Dinge“: Demut und Zurücknahme als Charakterdispositionen
2.3 „Dieses Haus soll ein Beispiel sein“: Zum Modellcharakter des Rosenhofes
2.3.1 Die Ordnung des Hauses
2.3.2 Pflanzen- und Baumpflege
2.3.3 Tierschutz und -pflege
3. „Die Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an sich sind“: Ein Leben und Alltag in Einklang mit der Lebensumgebung
IV. Restitution des Gleichgewichts der Welt: Parallelisierung der Ansätze Schweitzers, Bubers und Stifters
1. Die Bedeutsamkeit des Unscheinbaren, der Tat und des Lebensortes – Aspekte einer Aufwertung des Alltäglichen der Autoren-Trias
2. Praktizierte Ehrfurcht vor dem Leben –[srtn]Stifters Der Nachsommer mit Schweitzer gelesen
3. „Vergeßt Euch und habt die Welt im Sinn“ –[srtn]Stifters Der Nachsommer mit Buber gelesen
Resümee
Literaturverzeichnis
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Schönheit des Alltäglichen: Zur Ethik des täglichen Umgangs bei Albert Schweitzer, Martin Buber und Adalbert Stifter
 9783495817902, 9783495487907

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Eva-Maria Heinze

Schönheit des Alltäglichen

Zur Ethik des täglichen Umgangs bei Albert Schweitzer, Martin Buber und Adalbert Stifter VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817902

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B

Eva-Maria Heinze

Schönheit des Alltäglichen

VERLAG KARL ALBER

A

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Ausgehend von Albert Schweitzer, der mit seiner bahnbrechenden (natur-)ethischen Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben ein achtungsvolles Verhalten gegenüber nicht-menschlichen Lebewesen im philosophischen Denken inauguriert, wird bei seinem Zeitgenossen, dem Dialogiker und Religionsphilosophen Martin Buber, eine argumentative Fortführung dieses Ansatzes von der Autorin festgestellt und verfolgt: Vor dem Hintergrund der chassidischen Überlieferung prägt Buber – in Kombination mit seinem Dialogdenken – die singuläre Devise der Heiligung des Alltags, welche auf ein weihevolles Verhalten auch in Bezug auf Gegenstände und alltägliche Situationen im Allgemeinen abstellt. Gleichsam die Figuration des Projektes liefert schließlich der Schriftsteller Adalbert Stifter, der (bereits über ein halbes Jahrhundert zuvor) in seinem philosophisch relevanten Werk Der Nachsommer eine idealisierte Alltäglichkeit anhand einer ihresgleichen suchenden Beispielfülle und Deskriptionsakribie paradigmatisch vor Augen führt, und mittels der Protagonisten exemplarisch vorleben lässt. Ziel dieses Buches ist es, die Orientierungen der drei Ansätze herauszustellen und in praktisch-philosophischer Hinsicht als Wege zum gelingenden Leben zu präsentieren. Die Autorin: Eva-Maria Heinze, geboren 1981 in Mainz, Studium der Philosophie und Kunstgeschichte, wurde mit dieser Arbeit 2015 in Praktischer Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz promoviert. Seit 2010 ist sie dort am Arbeitsbereich Praktische Philosophie als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind: Naturethik, Dialogische Philosophie, Philosophische Narratologie und der Roman als philosophischer Text. 2011 hat sie bei Alber die Einführung in das dialogische Denken veröffentlicht; ferner existieren Aufsätze zu Narratologie und Dialogik.

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Eva-Maria Heinze

Schönheit des Alltäglichen Zur Ethik des täglichen Umgangs bei Albert Schweitzer, Martin Buber und Adalbert Stifter

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie – der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2015 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: ‚Der Sarstein bei Alt-Aussee (Fassung I)‘ (1835) von Adalbert Stifter Umschlaggestaltung, Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48790-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81790-2

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Meinen Eltern in Liebe und Dankbarkeit

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Der Augenblick nur entscheidet Über das Leben des Menschen und über sein ganzes Geschicke. Johann Wolfgang von Goethe Verachtet mir die Dinge nicht, damit ihr euch nicht selber verachtet. Achtet und liebt sie, damit ihr euch einander Achtung und Liebe entgegenbringt! Wie es heißt: „Gott lebt auch im Detail.“ Und vor allem: auch der Mensch lebt darin. Johannes Robert Becher

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Danksagung

»Sein Selbst hat sich entwickelt, und aller Umgang, der ihm zu Teil geworden, hat geholfen.« Diese Folgerung des weisen Freiherrn von Risach in Stifters Nachsommer – hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung seines jungen Freundes Heinrich – erachte ich als ebenfalls auf meine eigene Situation zutreffend: Sowohl Entstehung als auch endgültiges Gelingen der vorliegenden Studie, die ich 2015 am Philosophischen Seminar der Universität Mainz als Dissertation verfasst habe, waren maßgeblich bedingt durch die fachliche wie persönliche, je individuelle Begleitung einzelner Menschen. Diesen möchte ich hiermit meinen sehr herzlichen Dank aussprechen. An erster Stelle ist Herr Prof. Dr. Stephan Grätzel zu nennen, der meine Dissertation betreut und somit dieses Vorhaben allererst ermöglicht hat. In äußerst engagierter, sachverständiger wie integrer Weise vermochte er nicht nur in inhaltlicher Hinsicht wertvolle Ratschläge zu erteilen, sondern darüber hinaus speziell in Krisenphasen verlässlich jegliche Bedenken aus dem Weg zu räumen und neue Zuversicht zu verleihen. Herrn Privatdozent Dr. Jürgen Kost vom Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz danke ich für seine Bereitschaft, sich ein weiteres Mal auf eine solch unkonventionelle Thematik einzulassen und die Zweitbegutachtung der Analyse zu übernehmen, nachdem er bereits als Korreferent meiner Studienabschlussarbeit fungiert hatte. Außerdem seien die Kolleginnen und Kollegen am Mainzer Arbeitsbereich Praktische Philosophie erwähnt, deren Hinweise und Ermutigungen für mich ebenfalls hilfreich waren. Des Weiteren gilt mein innigster Dank meinen Eltern, denen ich diese Schrift widme, die mich beständig unterstützt und zudem akribisch das Korrekturlesen erledigt haben. Ebenso stand mir mein Lebensgefährte Stephan stets mit liebevollen, Durchhaltekraft spendenden Worten zur Seite, schenkte mir Vertrauen und grenzenlose Geduld, besonders in der arbeitsintensiven Endphase des Schrei9 https://doi.org/10.5771/9783495817902 .

Danksagung

bens. Auch meinem Bruder Christopher danke ich für seinen unerschütterlichen Optimismus hinsichtlich der Erreichung meines Ziels sowie den weiteren Verwandten und Freunden, deren Anteilsbekundungen und positive Gedanken den Fortgang des Dissertationsprojektes begünstigten. Mainz, im November 2016

Eva-Maria Heinze

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Inhalt

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Darlegung des Forschungsvorhabens . . . . . . . . . . . . . .

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Siglenverzeichnis

I. 1.

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II. 1.

2.

Hingebung an Leben: Albert Schweitzers Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben „Welt, was soll ich in dir“: Die Prinzipien der Ehrfurchtsethik . . . . . . . . . . 1.1 „Dienen“: Das Postulat der Kultivierung des Willens zum Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 „Er reißt kein Blatt vom Baume ab“: Ehrfurcht im täglichen Lebensumfeld . . . . . . Auf halbem Wege? Das Beispiel des Kristalls oder Der Schutz anorganischen Lebens . . . . . . . . . . Heiligung des Alltags: Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber . . Die Welt als „göttliches Schicksal“: Einführende Erläuterungen zu Dialogphilosophie und Chassidismus-Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . „Helfer und Gefährten“: Das dialogische Gott-Mensch-Verhältnis und dessen Komponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Signifikanz menschlicher Freiheit hinsichtlich des Gelingens von Schöpfung . . . . . . . . . . 2.2 (Aus)Richtung „gen Himmel“ als wahrhafte Treue zum Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3.

4.

III. 1. 2.

3.

2.3 Weltzugewandter Glaube und Mystik der Tat versus Beschwörung und Magie . . . . . . . . . . Lehre sein oder Vom Schuheschnüren: Das Primat der Lebenshaltung und Tat gegenüber Theorie und Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Welt in ihrem Recht: „Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 „Hier und Jetzt“: Alles soll Sakrament werden . . 4.2 Die chassidische Funkenlehre: Der „Dienst an den Funken“ als konkrete „Heiligung des Alltags“ . . . 4.2.1 Brot und Mahl: Von den Wohnstätten göttlicher Funken und dem Modus ihrer Sublimierung . . . . . . . . 4.2.2 Der Schatz „unterm Herd unsres Hauses“: Negierung einer Handlungshierarchie und der spezifische Dienst des Einzelnen . . . . . . . Idealisierung der Alltäglichkeit: Die Nachsommer-Welt Adalbert Stifters . . . . . . . . . Exkurs: Vertrautheit versus Fremdheit – „Vom Geheimnis der alltäglichen Dinge“ . . . . . . . „Wer durch einfachere Mittel wirkt, wirkt besser“: Stifters (literarisch-philosophische) Betrachtung von Welt, Leben und Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 „Kleines ist mir groß“: Deskriptionsakribie als Ehrfurchtsbekundung . . 2.2 „Die Unschuld der Dinge“: Demut und Zurücknahme als Charakterdispositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 „Dieses Haus soll ein Beispiel sein“: Zum Modellcharakter des Rosenhofes . . . . . . 2.3.1 Die Ordnung des Hauses . . . . . . . . . . 2.3.2 Pflanzen- und Baumpflege . . . . . . . . . 2.3.3 Tierschutz und -pflege . . . . . . . . . . . „Die Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an sich sind“: Ein Leben und Alltag in Einklang mit der Lebensumgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

IV.

1.

2. 3.

Restitution des Gleichgewichts der Welt: Parallelisierung der Ansätze Schweitzers, Bubers und Stifters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutsamkeit des Unscheinbaren, der Tat und des Lebensortes – Aspekte einer Aufwertung des Alltäglichen der Autoren-Trias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praktizierte Ehrfurcht vor dem Leben – Stifters Der Nachsommer mit Schweitzer gelesen . . . . „Vergeßt Euch und habt die Welt im Sinn“ – Stifters Der Nachsommer mit Buber gelesen . . . . . .

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Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siglenverzeichnis

Albert Schweitzer ELE EVL FW H K KN 1/2 KN 3/4 LD PE PT RA WE

Die Entstehung der Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben und ihre Bedeutung für unsere Kultur Die Ehrfurcht vor dem Leben Forderungen und Wege Humanität Kulturphilosophie Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III. Erster und zweiter Teil. Werke aus dem Nachlaß Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III. Dritter und vierter Teil. Werke aus dem Nachlaß Aus meinem Leben und Denken Das Problem des Ethischen in der Entwicklung des menschlichen Denkens Philosophie und Tierschutzbewegung Rückblick und Ausblick Wir Epigonen

Martin Buber A B BGB BJS BST CAM CB CCG D DC DHE DS

Antwort Begegnung. Autobiographische Fragmente Bilder von Gut und Böse Die Brennpunkte der jüdischen Seele Des Rabbi Israel ben Elieser genannt Baal-Schem-Tow das ist Meister vom guten Namen Unterweisung im Umgang mit Gott aus den Bruchstücken gefügt Der Chassidismus und der abendländische Mensch Die chassidische Botschaft Christus, Chassidismus, Gnosis Daniel. Gespräche von der Verwirklichung Zur Darstellung des Chassidismus Der Dialog zwischen Himmel und Erde Drei Stationen

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Siglenverzeichnis EJ EZ FE GDP GF GJ GM HF ID JJ JM JW LC LT MW NDC PM PR RJV RN WM WIII ZS

Die Erneuerung des Judentums Die Erzählungen der Chassidim Die Frage an den Einzelnen Zur Geschichte des dialogischen Prinzips Gottesfinsternis. Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie Der Glaube des Judentums Gog und Magog. Eine Chronik Die heimliche Frage Ich und Du Das Judentum und die Juden Die jüdische Mystik Das Judentum und die neue Weltfrage Vom Leben der Chassidim Die Lehre und die Tat Mein Weg zum Chassidismus Noch einiges zur Darstellung des Chassidismus Das Problem des Menschen Aus einer philosophischen Rechenschaft Reden über das Judentum. Die frühen Reden. Vorrede Rabbi Nachman von Bratzlaw Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre Werke. Dritter Band. Schriften zum Chassidismus. Vorwort Zwiesprache

Adalbert Stifter BS NS SWB

Bunte Steine Der Nachsommer Sämtliche Werke. Briefwechsel

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Darlegung des Forschungsvorhabens

„Was ist das für eine Welt! […] Man liefert mir mit dem Weltraumteleskop Aufnahmen von der Oberfläche des Mars, und nach neunjährigem Flug hat unsere Sonde den Saturn erreicht und wird bald von den Ringen die neuesten Daten liefern.“ 1 Dieser Ausspruch Arnold Stadlers, Verfasser des originellen Werks Mein Stifter, illustriert die förmliche Schieflage der kontemporären Forscherperspektive in nuce und wirft somit ein Licht auf das (maßgeblich mit dem je aktuell bezogenen Forschungsstandpunkt korrelierende) Selbstund Weltbild des Menschen in seiner gegenwärtig abstrusen Verzerrung. Paradigmatisch manifestiert sich letztere in dem zu Studienoder gar Vergnügungszwecken forcierten Weltraumtourismus, welcher einem (lange gehegten) menschlichen Begehren, sich auch als Privatperson im All aufzuhalten, Rechnung trägt: Dank US-amerikanischer Bemühungen in Kooperation mit Russland scheint dessen (vielfach gescheiterte) Realisierung mittlerweile in greifbare Nähe gerückt zu sein (von pekuniären wie physischen Hürden einmal abgesehen). Der Alltag ist schal geworden. Im Zuge der sich in festgefahrenen Strukturen niederschlagenden (mehr oder minder) monotonen Wiederholung täglicher Ämter und Obliegenheiten, derer man längst überdrüssig ist, greift eine besorgniserregende Langeweile Platz, die in diversen Abwertungstendenzen des Alltäglichen mündet und einem achtlos-ignoranten Verhalten gegenüber dem individuellen Lebensumfeld Vorschub leistet. Das Alltägliche wird beileibe nicht (mehr) in seiner ehrfurchtgebietenden Dimension oder gar „heiligen“ Konnotation wahrgenommen – den ohnehin als müßig erachteten, eingehenden Blick auf dieses in Neutralität, ja Trivialität abgeglittenen Phänomens wähnt man vielmehr als wider1 Stadler, Arnold: Mein Stifter. Portrait eines Selbstmörders in spe und fünf Photographien. München: btb, 2009, S. 14.

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Darlegung des Forschungsvorhabens

wärtig und furchtbar. Entsprechend akribisch sucht Homo sapiens offenbar mehr denn je diesen Umstand durch in Forschung und Wissenschaft sowie Privatleben anvisierte, als „hehr“ definierte Ziele zu kompensieren: Wie obige Beispiele exemplarisch belegen, 2 strebt er buchstäblich „hoch hinaus“, in der Intention, seinem Leben und Selbst fernab profaner Belange eine neue Richtung zu verleihen und sich zugleich auf den Zenit des (technisch) Realisierbaren sowie des Ruhmes zu katapultieren. Es ist, „als stünden wir außerhalb der Welt wie ein Gott“ 3 – in räumlicher Hinsicht in den unendlichen Weiten des Alls, in zeitlichem Betracht gleichsam in den Urtiefen der Erdgeschichte, wie etwa die Ambitionen russischer Forscher, ein um die zehn- bis fünfzehntausend Jahre altes Mammut zu klonen, 4 demonstrieren. Jedoch um welchen Preis? Jeglichen Gespürs eines vernünftigen Maßstabs bar, 5 gibt der Mensch (meist zugunsten höchst zweifelhafter Ansprüche) leichtfertig seine Verantwortung für das ihn unmittelbar Umgebende preis 6 und geht infolgedessen des „festen Bodens“ unter den eigenen Füßen verlustig: „Bedenken wir: Das geistesgeschichtliche Thema der Moderne besteht darin, wie verFerner sei in diesem Kontext an die aktuellen Marsforschungen erinnert. Weber, Andreas: Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften. Berlin: Berlin Verlag, 2007, S. 88. Diese in erster Linie auf die Forschung in Naturwissenschaft und Technik der letzten zwei Jahrhunderte gemünzte konzise Feststellung des Biologen, Philosophen und Publizisten Andreas Weber (* 1967) trifft die angesprochene Problematik im Kern. 4 Siehe http://www.spiegel.de/video/klonen-mammut-fund-fasziniert-russischeforscher-video-1275224.html, abgerufen am 22. 01. 2015. 5 „Das Können der Menschen ist größer geworden als ihre Vernünftigkeit“ (KN 1/2 463), konstatiert Albert Schweitzer bereits lange vor der Hochkonjunktur bemannter und unbemannter Weltraumforschung. 6 Wie beispielsweise ist es um die Tier- und Pflanzenwelt bestellt, die jeden Einzelnen tagtäglich umlebt? In Bezug auf das Mammut-Beispiel drängt sich die Frage auf, inwiefern dem akribischen Bemühen um den Erhalt aktuell (noch) lebender Spezies angesichts des gegenwärtigen Artensterbens bislang nie dagewesenen Ausmaßes die Priorität vor der Klonierung eines ausgestorbenen Exemplars eingeräumt werden müsste. Bereits 1990 stellt der Naturphilosoph und -ethiker Klaus Michael Meyer-Abich folgende ernüchternde Diagnose hinsichtlich Artenvielfalt und des menschlichen Umgangs mit dieser: „Namen sollten wir ihnen geben, den anderen Lebewesen, die unserer Obhut anheimgegeben sind. Statt dessen kennen wir sie nicht und bringen sie um. […] Einen so katastrophalen Artentod, wie er jetzt droht, hat es in der Naturgeschichte noch nie gegeben.“ (Meyer-Abich, Klaus Michael: Aufstand für die Natur. Von der Umwelt zur Mitwelt. München: Hanser, 1990, S. 78) 2 3

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Darlegung des Forschungsvorhabens

stellt wir uns selber sind, wie fern von der Welt, wie hoffnungslos unverständlich.“ 7 Die auf einer zunehmenden Negierung des Alltäglichen und dessen Schönheit fußenden Selbstfindungsintentionen entpuppen sich als bittere Illusion, da sie das Gegenteil des Ersehnten bewirken und die Kluft zwischen Mensch und Welt extensivieren. Martin Heidegger prophezeite diese Diskrepanz bereits zu Zeiten, als Weltraumtourismus und diverse weitere beschleunigungsintensive Entwicklungen in Wissenschaft und Technik (beispielsweise das nahezu unlimitierte Möglichkeiten garantierende Internet) Zukunftsmusik waren, im Kontext seiner im Aufsatz „Das Ding“ getätigten Reflexionen bezüglich des Charakters von Nähe und Ferne: Der Mensch legt die längsten Strecken in der kürzesten Zeit zurück. Er bringt die größten Entfernungen hinter sich und bringt so alles auf die kleinste Entfernung vor sich. Allein, das hastige Beseitigen aller Entfernungen bringt keine Nähe; denn Nähe besteht nicht im geringen Maß der Entfernung. 8

Diese von Heidegger problematisierte Entfernungstendenz, welche sich inzwischen (infolge der aufgezeigten, distanziert-erdfernen Forschungsposition) zu einer handgreiflichen Entfremdung des Menschen von seiner (Um-)Welt ausgewachsen hat, führt in Bezug auf die Phänomene – wie Heidegger in Sein und Zeit weiters zu bedenken gibt – letztlich zu dem folgenschweren Resultat, „daß dergleichen Formalisierungen die Phänomene so weit nivellieren, daß der eigentliche phänomenale Gehalt verloren geht […]“ 9. An dieser Stelle hat phänomenologische Forschung nun explizit anzusetzen, als wahrhafte Nähe einzig zu (re)generieren beziehungsweise (re)institutionalisieren ist im Zuge direkter Konfrontation mit den permanent herausfordernden mannigfaltigen Einzelphänomenen

Weber 2007, S. 16. Heidegger, Martin: „Das Ding“. In: Ders.: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910–1976. Bd. 7: Vorträge und Aufsätze. Frankfurt am Main: Klostermann, 2000. S. 165–187, hier: S. 167. Vgl. hierzu ferner den Hinweis Albert Schweitzers in seinen kulturphilosophischen Nachlassschriften in KN 1/2 216. 9 Heidegger, Martin: Sein und Zeit. 19. Aufl. Tübingen: Niemeyer, 2006, S. 88. Vgl. auch Heidegger 2000, S. 168: „Das Entsetzende ist jenes, das alles, was ist, aus seinem vormaligen Wesen heraussetzt. Was ist dies Entsetzende? Es zeigt und verbirgt in der Weise, wie alles anwest, daß nämlich trotz allem Überwinden der Entfernungen die Nähe dessen, was ist, ausbleibt.“ 7 8

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Darlegung des Forschungsvorhabens

als solchen: 10 Das buchstäblich Nächstliegend(st)e und Selbstverständlich(st)e, dessen Kenntnisnahme dem Menschen paradoxerweise – aufgrund der (Miss-)Interpretation dessen als gemeinhin zu Vernachlässigendes, Nichtzubeachtendes, Geringzuschätzendes – abhanden gekommen, das somit zum Fernliegend(st)en geworden ist, gilt es in den Fokus der Betrachtung (zurück) zu rücken. In diesem Sinne ist mit vorliegender Studie intendiert, aus philosophischer Sicht gleichsam gegen Ignoranz und Missachtung relevanter (Lebens-)Bezüge „anzuschreiben“ 11, die Assertion der Neutralität und Farblosigkeit der Welt im Allgemeinen zu entkräften und im Besonderen das den Einzelnen primär Tangierende ins Blickfeld zu heben: die Alltäglichkeit. Das dezidierte Bestreben einer Rehabilitierung des Alltäglichen in seiner Schönheit stellt darauf ab, dem Alltäglichen (dessen Komponenten spezielles Augenmerk allein deshalb verdienen, da wir täglich mit diesen in Berührung stehen) seine Würde (wieder) zu erweisen. 12 Im Zentrum des Vorhabens ist die Akzentuierung des damit korrelierenden Umgangs mit nicht-menschlichen Lebewesen und Dingen angesiedelt, deren Aufwertung gleichermaßen überfällig ist: „Es stimmt nicht mehr zwischen den Menschen und den Dingen. Schon lange hat dem ungebrochenen Verhältnis des Menschen zu den Dingen die

Der Gründervater der neuzeitlichen Phänomenologie und Mentor Heideggers, Edmund Husserl, vertrat bereits die Devise „Zu den Sachen selbst“, welche mit folgender Maxime Goethes korreliert: „Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.“ (Goethe, Johann Wolfgang: Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen. Hrsg. von Harald Fricke. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Bd. 13: Abt. 1. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker; Bd. 102), S. 49) 11 Es handelt sich um das Bestreben, gleichsam „im Kleinen“ und in Bezug auf das (sogenannte) „Kleine“ dasjenige zu versuchen, was der jüngst verstorbene, unvergessene Siegfried Lenz sich im Großen auf seine Fahne schrieb: gegen das Vergessen in volksgeschichtlicher Hinsicht zu schreiben. 12 Hinsichtlich einer alltäglichen ethischen Praxis erläutert Stephan Grätzel in Bezug auf den Aspekt der Würde äußerst treffend: „Der gemeinsame Nenner, auf den sich eine ethische Praxis im Alltag bezieht, ist die Würde, welche ausgehend vom Selbstverhalten über die sozialen Umgangsformen bis hin zum Umgang mit der Natur die Basis einer ethischen Praxis darstellt. Ohne Würde ist keine Ethik möglich. Sie ist nicht Merkmal oder Qualität an Gegenständen oder Menschen, sondern eine Haltung, die ich einnehme.“ (Grätzel, Stephan: Ethische Praxis. Anwendungen der Praktischen Philosophie im Alltag und Beruf. Hrsg. von Joachim Heil. London: Turnshare, 2007 (Grundlagen der Praktischen Philosophie; Bd. 3), S. 179) 10

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Darlegung des Forschungsvorhabens

Stunde geschlagen“ 13, wie Johannes Werner prägnant zu verbalisieren versteht. 14 Während im (aktuellen) ethisch-philosophischen Diskurs allenfalls Tiere marginal berücksichtigt werden, wird das Agieren gegenüber Pflanzen oder gar Unbelebtem zumeist als irrelevant, der Diskussion unwürdig abgetan und somit die Reservierung des Anerkennungs-Begriffs für die zwischenmenschliche Sphäre zementiert. Getreu den obigen Darlegungen soll die These der Arbeit lauten, dass die generelle Frage des Umgangs beim Alltäglichen (und dem, was den Einzelnen permanent umgibt) anzusetzen habe und dass die Aufwertung desselben – dies markiert das kardinale Element der These – konstitutiv für die Generierung einer adäquaten ethischen Praxis sei. Diese These kontrastiert mit der (zuvörderst in philosophischen Kreisen) etablierten Anschauung, den Alltag (als „Niederes“) den „erhabenen“ Prinzipien subordinieren zu müssen; anders formuliert, widmet sich die vorliegende Analyse nicht den Alltag transzendierenden Grundsätzen, da das phänomenologische Sehen, das diese Arbeit methodisch fundiert, ausschließlich jenseits rein theoretischer philosophischer Belehrung realisierbar ist (wodurch quasi eine Subthese erzeugt wird). Die Unmöglichkeit, die zu erörternde Problematik auf rein abstrakter Ebene zu lösen, macht die Integration von Literatur unerlässlich: Auf Basis des Bestrebens, die Rekonstruktion ethischer Anteile möglichst optimal zu bewerkstelligen, ist ein Synergieeffekt intendiert zwischen Literatur beziehungsweise einem literarischen Werk – repräsentiert Vom Geheimnis der alltäglichen Dinge. Gedanken Betrachtungen und Erfahrungen. Hrsg. von Johannes Werner. Frankfurt am Main [u. a.]: Insel, 1998 (insel taschenbuch; Bd. 2172), S. 2. 14 Auch Herbert Wittl erklärt bereits Anfang der 1990er Jahre in seiner repräsentativen Schrift Recycling. Vom neuen Umgang mit Dingen „Untersuchungen etwa zu einer ‚Recycling-Moral‘ oder einer ‚Ding-Ethik‘“ (Wittl, Herbert: Recycling. Vom neuen Umgang mit Dingen. Regensburg: Roderer, 1996, S. 15) als Desiderat der Forschung, kritisiert die (inzwischen endgültig an ihre Grenzen geratene) Wegwerfbeziehungsweise „Ex-und-Hopp-Gesellschaft“ (ebd.) sowie die ausbleibende Diskussion einer „‚Gewalt gegen Sachen‘“ beim DGV-Kongress 1993 „Gewalt in der Kultur“ (vgl. ebd., S. 17). Ihren Kulminationspunkt findet die von Werner und Wittl diagnostizierte, dramatische Entwicklung des Missverhältnisses zwischen Mensch und Ding in den staatlichen Einsparungen im Bereich von Archäologie und Denkmalpflege, welche sich exemplarisch in der Entscheidung der Regierung Nordrhein-Westfalens, ab 2015 nicht nur drastische Einsparungsmaßnahmen vorzunehmen, sondern die staatlichen Zuschüsse in diesem Sektor gänzlich einzustellen, manifestieren. 13

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Darlegung des Forschungsvorhabens

durch Adalbert Stifter und dessen Roman Der Nachsommer – einem religionsphilosophischen Ansatz – vertreten durch Martin Buber und seine Interpretation des chassidischen Gedankenguts – sowie einer genuin ethischen Konzeption mit Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Bevor auf strukturelle und inhaltliche Aspekte näher eingegangen wird, scheint es angebracht, wenigstens summarisch die Genese der Problemstellung darzulegen respektive zu substanziieren, weshalb just diese Autoren-Konstellation als Argumentationsbasis der Studie dienen soll: Ihre Magisterarbeit hat die Autorin über den Roman als philosophischen Text geschrieben und im Zuge dessen (auf dem Fundament der philosophisch-narratologischen Theorien Wilhelm Schapps und Paul Ricœurs) die identitätsstiftende Funktion von Literatur erörtert sowie die Frage, inwiefern es legitim ist, ein literarisches Werk philosophisch zu interpretieren. 15 In besagter Analyse beziehungsweise deren publiziertem Anwendungsteil fungierte bereits Stifters Nachsommer als Interpretationsmodell, fokussiert auf die im Roman thematisierten Aspekte der Kunst und Denkmalpflege; 16 gleichwohl hatte die Autorin im Verlauf der Erstellung jener Schrift die Parallele zu Albert Schweitzers ethischem Postulat der Ehrfurcht vor dem Leben registriert, auf welches dort jedoch lediglich am Rande verwiesen wurde. 17 Dank der Verfassung eines Artikels zum Umgang mit Natur aus dialogischer Perspektive 18 eröffnete sich schließlich eine substanzielle Analogie zwiDiese Aspekte werden im Rahmen der vorliegenden Abhandlung als gegeben vorausgesetzt. Vgl. hierzu auch Grätzel, Stephan: „Grundzüge einer philosophischen Poetik“. In: Praxis und Poetik. Beiträge zum Projekt „Der Roman als philosophischer Text“. Hrsg. von Stephan Grätzel. London: Turnshare, 2008 (Praxis 1/ Jahrbuch der Internationalen Maurice Blondel-Forschungsstelle für Religionsphilosophie; Bd. 1), S. 1–31 sowie die dortigen Beiträge zu weiteren Klassikern der modernen und zeitgenössischen Literatur und Anm. 29 dieser Arbeit. 16 Heinze, Eva-Maria: „Kunst und Gedächtnis: Stifters Roman Der Nachsommer aus der Perspektive philosophischer Narration“. In: Praxis und Poetik. Beiträge zum Projekt „Der Roman als philosophischer Text“. Hrsg. von Stephan Grätzel. London: Turnshare, 2008 (Praxis 1/Jahrbuch der Internationalen Maurice BlondelForschungsstelle für Religionsphilosophie; Bd. 1). S. 33–151. 17 An entsprechender Stelle heißt es: „Die ethische Konzeption Stifters im Nachsommer ist vergleichbar mit Albert Schweitzers Grundprinzipien in seinem Werk Kultur und Ethik, die er in der programmatischen Formel der ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ komprimiert.“ (Ebd., S. 93, Anm. 18) 18 Heinze, Eva-Maria (2013b): „Natur als Du. Reflexionen zur Bedeutung des Dialogs mit der Natur bei Martin Buber“. In: Martin Buber neu gelesen. Hrsg. von 15

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schen Martin Bubers Maxime der Alltagsheiligung und Stifters literarischen Ambitionen sowie die Tatsache, dass vor allem Bubers Schriften zum Chassidismus hinsichtlich einer Aufwertung des Alltäglichen prädestiniert zu sein scheinen. Im Rahmen des aktuellen Vorhabens gilt es nun, Stifters Nachsommer-Roman (auf dessen Analyse sich auch diese Arbeit im Wesentlichen beschränkt, da dieser ein nahezu unerschöpfliches Spektrum an „Alltags-Aufwertungs-Beispielen“ bereithält) entsprechend der Themenstellung (und nicht zuletzt zur Komplettierung des in der Abschlussarbeit bereits Diskutierten) aus einer modifizierten Perspektive zu untersuchen: Während in der Magisterarbeit respektive dem besagten Artikel – wie erwähnt – der Darstellungsschwerpunkt auf der Relevanz von und dem Umgang mit Kunst lag, ist im Folgenden der Umgang mit den im täglichen Lebensumfeld begegnenden Wesen und Dingen zu vertiefen, welcher im Artikel lediglich gestreift wurde, 19 um schließlich den Nexus mit Buber und Schweitzer deutlich zu machen. 20 In Bezug auf die religionsphilosophisch-dialogische Philosophie des Ersteren wurde bereits in dem von der Autorin verfassten Band zur Einführung in das dialogische Denken 21 Bubers dialogischer Ansatz in seinen Grundzügen nachgezeichnet sowie im Speziellen seine Auslegung des Verhältnisses des Menschen zur Natur in oben genanntem Aufsatz. 22 In der anvisierten Studie soll sich primär auf Bubers (kaum strikt von seinem dialogischen Denkstrang zu separierende) Interpretation Thomas Reichert, Meike Siegfried und Johannes Waßmer. Lich: Edition AV, 2013 (Martin Buber-Studien; Bd. 1). S. 326–352. 19 Siehe hierzu insbesondere Kapitel 4.1.1 des Aufsatzes beziehungsweise Heinze 2008, S. 91–93. 20 Die Wiederholung einiger bereits im Artikel angeführter substanzieller Aspekte in Bezug auf den Nachsommer-Roman wird jedoch aus Gründen einer adäquaten Darstellung des zu Erörternden nicht nur nicht vermeidbar sein, sondern ist vielmehr bewusst intendiert. Exemplarisch ist an dieser Stelle der ethische sowie rituelle Impetus des Stifterschen Werks zu nennen. Vgl. hierzu ebd., Kapitel 5. 21 Heinze, Eva-Maria: Einführung in das dialogische Denken. Hrsg. von KarlHeinz Brodbeck, Stephan Grätzel und Bernd Schuppener. Freiburg im Breisgau: Alber, 2011 (dia-logik; Bd. 3). 22 Siehe Anm. 18. Ferner existiert ein Artikel der Autorin zur Thematik des Schweigens aus dialogphilosophischer Sicht: Heinze, Eva-Maria (2013a): „(An)Rufen – (Ver)Antworten – (Ent)Sprechen. Zum Schweigen aus der Perspektive Dialogischer Philosophie“. In: Jenseits des beredten Schweigens. Neue Perspektiven auf den sprachlosen Augenblick. Hrsg. von Sandra Markewitz. Bielefeld: Aisthesis, 2013. S. 151–182.

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chassidischen Gedankenguts bezogen werden, insbesondere auf die das Pendant dialogischen In-Beziehung-Tretens thematisierende Funkenlehre. 23 Strukturell ist die Untersuchung in drei Hauptteile gegliedert, in denen die Konzeptionen der genannten Autoren mit Blick auf die Fragestellung zunächst je gesondert vorgestellt werden sollen, sowie einen vierten Abschnitt, im Rahmen dessen eine (relativ kurz gehaltene) Synopsis erfolgt. Die der (zwecks bestmöglicher Pointierung der Charakteristika des jeweiligen Standpunktes) angestrebten Einzelpräsentation potenziell innewohnende Gefahr einer Fragmentierung wird durchaus registriert, da sich jedoch nach Dafürhalten der Autorin die drei differierenden Ansätze hinsichtlich der zu erörternden Thematik gleichwohl ideal ergänzen, sollte diese Gefahr einzudämmen sein. Das inhaltliche Hauptgewicht der in Form einer Steigerung konzipierten Analyse liegt auf den Auslegungen Martin Bubers und Adalbert Stifters sowie generell – wie bereits angekündigt – auf dem Umgang mit nicht-menschlichen Lebewesen und Dingen in Situationen des täglichen Lebens. Der Steigerungscharakter betrifft das Faktum, dass jeder der Repräsentanten themenspezifische Stärken aufweist, hinsichtlich einer Konkretisierung der Problematik aber Buber gleichsam über den Zeitgenossen Schweitzer hinausgeht und Stifter letztlich – als zwar frühester Autor – die Aufwertung des Alltags beziehungsweise der Schönheit des Alltäglichen am illustrativsten vor Augen führt, so dass die Darstellung in jener der Welt des Stifterschen Romans kulminiert. Den Ausgangspunkt (und infolgedessen verhältnismäßig kürzesten Teil) der Untersuchung bildet somit die (kritische) Auseinandersetzung mit Albert Schweitzer, welcher als derjenige gelten kann, der erstmals wieder den Blick auf die elementaren Fragen der Philosophie richtet, mit denen Letztere – namentlich die Praktische Philosophie – anzuheben hat, da diese die tägliche Lebenspraxis tangieren: Auf der Basis der fundamentalen Bewusstseinstatsache „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ (K 330 und LD 169 f.), entwickelt er eine universelle Ethik, die über den zwischenmenschlichen Umgang hinaus erstmals auch konsequent jenen mit Tieren und Pflanzen inkludiert. Zudem erweist sich Schweitzer als wichtiger Referent, der klar die Verbindung von Zur Philosophie und Ethik Albert Schweitzers existiert bislang keine Schrift der Autorin.

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Kultur und Ethik, die sich nicht minder im Handeln des Alltags abzeichnet, herausstellt und in diesem Zusammenhang etwa auch einen (leblosen) Kristall als des ehrfürchtigen Handhabens würdig befindet. Während Schweitzer – dessen Ethikentwurf letztlich, wie sich zeigen wird, auf einer recht abstrakten Ebene verbleibt, indem es ihm partiell an konkretem Anschauungsmaterial ermangelt – letzteren signifikanten Aspekt nicht weiter begründet, ist bei dessen Zeitgenossen Buber eine argumentative Fortführung auszumachen: Die prinzipielle „Heillosigkeit unserer Welt“ (CAM 945) beklagend, welche sich konkret in der „Erkrankung des Kontakts mit den Dingen und Wesen“ (CAM 945) artikuliere und (wie Buber auch in dialogphilosophischem Kontext plausibilisiert) aus der „Zersetzung der lebendigen Begegnungskraft“ (CAM 945) resultiere, fordert Buber im Zuge seiner Forschungen zu Judentum und insbesondere Chassidismus vehement „eine erneuerte Beziehung zur Wirklichkeit“ (CB 786). Im Zentrum steht die bereits erwähnte Heiligung des Alltags, die sich in praxi in einem würdevollen Umgang nicht nur mit nicht-menschlichen Lebewesen, sondern ebenso mit Dingen und generell im Rahmen alltäglicher Tätigkeiten manifestiert. Die sich inhaltlich als komplexeste der drei Konzeptionen erweisende Theorie Bubers erfordert im Vorfeld ausführliche Grundlagenreflexionen, weshalb die Darlegungen zu Buber neben jenen zu Stifter den größten Raum des Hauptteils der Arbeit beanspruchen werden. Das von Buber – bei dem sich die Schweitzersche Ehrfurcht quasi als Begegnung interpretiert darstellt – gelegte Fundament findet sich in der Literatur bereits wesentlich früher in Adalbert Stifters besagtem Nachsommer-Roman, in dem „»die Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an sich sind«“ (NS 614) 24 mittels des Kreises um den Freiherrn von Risach in vortrefflichster Weise praktiziert wird: Ausgehend von der paradigmatischen Maxime, „»Dieses Haus soll ein Beispiel sein«“ (NS 196), wird mit der Institution des Rosenhauses ein Mikrokosmos geschaffen, in dem eine nahezu jeglichen Bereich des (täglichen) Lebens einschließende Umgangsethik etabliert wird, deren Mustergültigkeit in ideeller wie praktischer Hinsicht – wie zu exemplifizieren sein wird – unerreicht scheint. Um dem ex aequo seinesgleichen suchenden Detail- und BeispielreichDie in der hier verwendeten Nachsommer-Ausgabe berücksichtigte Originalinterpunktion wird in den in dieser Arbeit zitierten Passagen beibehalten.

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tum der Stifterschen Vorlage zumindest ansatzweise gerecht werden und eine möglichst konkrete Präsentation realisieren zu können, wird es – neben der in sämtlichen Passagen der Untersuchung gewahrten Nähe zum Quellentext – vor allem im Stifter-Teil nötig sein, ebenso zahl- wie teilweise umfangreiche Primärzitate anzuführen. 25 Es gilt demnach, mit der anvisierten Studie die Herausforderung zu bewältigen, im Rahmen einer philosophischen Analyse die Beziehung des Menschen zu seiner (täglichen Lebens-) Umwelt durch Literatur aufzuweisen, denn „wenn wir meinen, daß allein die wissenschaftliche Deutung der Welt unser Leben bestimmt, sind wir auf einem Irrweg“ 26. In Orientierung an dieser prägnanten Konstatierung Walter Biemels, einer Koryphäe auf dem Gebiet der Phä-

Ergänzend zum Nachsommer respektive einführend in den Stifter-Abschnitt der Analyse, wird der von Johannes Werner edierte, vorwiegend literarische und philosophische Beiträge versammelnde Band Vom Geheimnis der alltäglichen Dinge. Gedanken Betrachtungen und Erfahrungen (siehe Anm. 13) als weitere Bezugsquelle herangezogen. Die Reflexionen der Philosophin Simone Weil über das Alltägliche (namentlich in ihrer Schrift Aufmerksamkeit für das Alltägliche. Ausgewählte Texte zu Fragen der Zeit. Hrsg. und erl. von Otto Betz. 3. Aufl. München: Kösel, 1994) werden von Werner allerdings nicht berücksichtigt; auch fehlt etwa die Integration der Ausführungen Bruno Latours zum Mensch-Ding-Verhältnis in Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Aus dem Französischen von Gustav Roßner. Berlin: Akademie, 1996, vor allem in dem Kapitel „Kleine Soziologie alltäglicher Gegenstände“, welche jedoch auch im Rahmen der vorliegenden Ausführungen nicht herangezogen werden sollen (nicht zuletzt aufgrund des gegenüber dem in der Arbeit Intendierten, etwas anders gelagerten Schwerpunkts). Ferner ist in diesem Kontext folgender Sammelband zu nennen, in dem allerdings der künstlerische Umgang mit Dingen im Zentrum steht: Die Tücke des Objekts. Vom Umgang mit Dingen. Hrsg. von Katharina Ferus und Dietmar Rübel. Berlin: Reimer, 2009 (Schriftenreihe der Isa Lohmann-Sims Stiftung; Bd. 2). 26 Biemel, Walter: Zeitigung und Romanstruktur. Philosophische Analysen zur Deutung des modernen Romans. Freiburg im Breisgau [u. a.]: Alber, 1985, S. 13. „Im Roman stehen nicht wissenschaftliche Probleme und ihre Erörterung zur Diskussion (die finden wir in Fachpublikationen), sondern die Probleme der Lebenswelt.“ (Ebd.) Biemel legt an dieser Stelle wohl den Husserlschen Begriff der „Lebenswelt“ in ihrer „vor-theoretischen“ beziehungsweise „-wissenschaftlichen“ Konnotation zugrunde. Den ursprünglichen Nexus von Philosophie und Literatur akzentuiert Biemel auch in folgendem Passus: „Wenn zur Philosophie das Selbstverständnis des Menschen gehört und wenn im Roman dieses Selbstverständnis seinen konkreten Niederschlag findet, dann zeigt sich, daß keine künstliche Brücke geschlagen werden muß, weil immer schon eine, allerdings oft nicht bemerkte da ist.“ (Ebd., S. 15) 25

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nomenologie, 27 geht es (zuvörderst im Stifter-Teil der Arbeit) mit anderen Worten darum, die philosophische Essenz des Nachsommer-Romans im Hinblick auf oben definierten Erörterungsgegenstand zu extrahieren, indem der Text daraufhin befragt werden soll, was der Autor dem Rezipienten diesbezüglich Wesentliches zu vermitteln bestrebt ist. 28 Literatur wird als konkreter Zugang zu Sprache in den Blick genommen, deren fiktionaler Charakter in diesem Kontext als zweitrangig einzustufen ist, insofern primäre „Aufgabe des Romans eben nicht das Erfinden von etwas Fiktivem ist, sondern eine Welt- und Menschendeutung“ 29. Das vorliegende Gesamtprojekt wird somit mittels der Ausführungen zu Stifter gleichsam figuriert, während jene zu Schweitzer und Buber gewissermaßen die theoretische Basis der Schrift bilden. Was den zentralen Aspekt des Umgangs mit Dingen anbelangt, so steht die Arbeit ferner dem Heideggerschen Alltags- und Dingbegriff nahe, der quasi als (impliziter) Aufhänger fungiert (dennoch soll Heidegger 30, dessen Werk sich in Bezug auf besagte

Der rumänisch-deutsche Philosoph Walter Biemel (1918–2015) war Schüler Martin Heideggers und wirkte – als ausgewiesener Heidegger-Experte – als Mitherausgeber der Heidegger-Gesamtausgabe sowie mehrerer Husserliana-Bände. 28 Analoges trifft auf die anvisierte Buber-Analyse zu, im Rahmen derer sich – neben Bubers theoretischen Abhandlungen zum Chassidismus – vornehmlich auf seine Übertragung der Erzählungen der Chassidim fokussiert wird, welche nicht unter historischen oder sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten diskutiert werden sollen (Letzteres hat bereits Katja Pourshirazi akribisch vorgenommen in der Publikation Martin Bubers literarisches Werk zum Chassidismus. Eine textlinguistische Analyse. Frankfurt am Main [u. a.]: Peter Lang, 2008 (Begegnung. Jüdische Studien; Bd. 5)), sondern deren philosophisches Potenzial es aufzuzeigen gilt. 29 Biemel 1985, S. 28. „Ein Beispiel: In Kafkas Erzählungen und Romanen wird die Situation des heutigen Menschen eher offenkundig als in ‚nicht-fiktiven‘ Tatsachenberichten.“ (Ebd.) Entsprechend äußert sich der österreichische Schriftsteller Ernst Fischer: „Die Dichter jedoch (sofern sie es sind) vermögen, ohne auf solche wissenschaftliche, philosophische Antwort warten zu müssen, neue, bisher noch unsichtbare, noch unerhörte Wirklichkeiten zu entdecken.“ (Fischer, Ernst: Zeitgeist und Literatur. Gebundenheit und Freiheit der Kunst. Wien [u. a.]: Europa Verlag, 1964. Zitiert nach: Werner 1998, S. 101 f., hier: S. 102) 30 … der übrigens – wie Arnold Stadler anmerkt – Stifter besonders geschätzt haben soll: „Heidegger hat sich […] zeitlebens mit Stifter befaßt und hat ihn geliebt. Schon 1905, als Schüler in Konstanz, hat er in einem abgestellten Bahnwaggon die Bunten Steine gelesen.“ (Stadler 2009, S. 168; Auf Stifters Erzählsammlung Bunte Steine respektive das darin konzipierte „Sanfte Gesetz“ wird im III. Teil dieser Arbeit eingegangen.) Diese „Liebe“ Heideggers habe bis ins hohe Alter angedauert. (Vgl. 27

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Thematik bereits eingehender Erforschung erfreut, 31 in der Studie nicht als zusätzlicher Hauptreferent herangezogen werden): Im Zentrum des Interesses steht das Ding, wie es an sich ist – nicht das Kantische „Ding an sich“, sondern gemäß Heideggers Verständnis des Dinges, wie dieses sich als faktisch vorliegendes im täglichen Umgang zeigt: Im Rahmen der in seiner Daseinsanalyse in Sein und Zeit konzipierten „Ontologie der Dinglichkeit“ 32 ist Heidegger – mit Rekurs auf den griechischen Ursprung des Terminus – auf der Suche nach dem spezifischen Sein dieser pragmata, 33 deren Eigenart er schließlich als Zeug spezifiziert. Die in alltägliche Handlungsgefüge integrierten „Gegenstände des täglichen Gebrauchs“ oder „Gebrauchsdinge“ werden somit als Dinge besonderer Art konturiert, ihr „Um-zu“- und Zuhandenheitscharakter im Kontext ihrer Spezifik als innerweltlich respektive ontisch Nächstbegegnendes 34 akzentuiert. 35 ebd.) Siehe zu Heideggers Affinität zu Stifter auch Biemel 1985, S. 62 beziehungsweise Anm. 816 dieser Arbeit. 31 Exemplarisch sei an dieser Stelle folgende hervorragende Studie zu Heideggers Dingverständnis angeführt: Tidona, Giovanni: Ding und Begegnung. Sprach- und Dingauffassung im existenzialen und dialogischen Denken. Hrsg. von Karl-Heinz Brodbeck, Stephan Grätzel und Bernd Schuppener. Freiburg im Breisgau: Alber, 2014 (dia-logik; Bd. 7). 32 Heidegger 2006, S. 82. Allerdings scheint Heidegger seine Überlegungen bezüglich des Dinges und dessen Charakter in derselben Schrift partiell wieder zu verwerfen, während er im Rahmen der späteren Schriften zum Ding und der im Zuge dessen erfolgten Ausarbeitung des Ding-Begriffs ein modifiziertes, das Ding nachhaltig aufwertendes Verständnis generiert (namentlich in dem bereits zitierten Aufsatz „Das Ding“ anhand des bekannten Beispiels des Kruges). 33 „Die Griechen hatten einen angemessenen Terminus für die ‚Dinge‘ : πράγματα, d. i. das, womit man es im besorgenden Umgang (πρᾶξις) zu tun hat. Sie ließen aber ontologisch gerade den spezifisch ‚pragmatischen‘ Charakter der πράγματα im Dunkeln und bestimmten sie ‚zunächst‘ als ‚bloße Dinge‘.“ (Ebd., S. 68) 34 Vgl. ebd., S. 66. 35 Ferner sei in diesem Kontext auf Heideggers Verdienst hingewiesen, im Zuge der „Herausarbeitung des Phänomens und Problems der Weltlichkeit“ (ebd., S. 76; Herv. im Orig.) die Subjekt-Objekt-Spaltung überwunden zu haben, indem er das alltägliche In-der-Welt-sein des Menschen zur Grundlage seiner Daseinsanalytik deklariert: Der Mensch ist – durch sein originäres In-der-Welt-sein – je schon im besorgenden Umgang mit den Dingen begriffen, wie Heidegger erläutert: „Das Dasein […] ist ‚in‘ der Welt im Sinne des besorgend-vertrauten Umgangs mit dem innerweltlich begegnenden Seienden.“ (Ebd., S. 104; vgl. auch ebd., S. 110) In der grundsätzlichen „Innerweltlichkeit“ (ebd., zum Beispiel S. 98) manifestiere sich also eo ipso „Vertrautheit mit Welt“ (ebd., S. 86).

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Somit erfolgt – in Kontrast etwa zum erkenntnistheoretischen Dingbegriff, der schlicht nichts (praktisch Relevantes) bekundet – dank des Entwurfs Heideggers eine (erste) Würdigung des Dinges, welches allererst als zu Problematisierendes registriert beziehungsweise thematisiert und mithin der Vergessenheit entrissen wird. 36 In der vorliegenden Untersuchung soll – anhand der drei genannten Konzeptionen – über Heidegger (welcher letztlich bei der Definition der Gebrauchsgegenstände als spezifische Art von Dingen endet) hinaus der Versuch einer Aufwertung des Dinges gewagt und aus philosophischer Perspektive die Relevanz eines adäquaten Umgangs mit (Gebrauchs-)Gegenständen im Allgemeinen sowie nicht-menschlichen Lebewesen konkretisiert werden: 37 Unter Berufung auf Schweitzer, der insbesondere den „Naturdingen“, und Buber, der auch dem leblosen Objekt explizit den Status einer Würde attestiert, sowie Stifter, innerhalb dessen Werk die Signifikanz der Termini Achtsamkeit und Wertschätzung (versus Unachtsamkeit und Ignoranz) ihre Klimax erreicht, gilt es plausibel zu machen, dass Naturschutz sowie ein pfleglicher Dingumgang 38 nicht minder als Teil einer tragfähigen Ethik zu gelten haben. Was den Stand der Forschung betrifft, so existiert gemäß aktueller Kenntnis der Autorin keine Studie, welche die gemeinsame Perspektive der der Arbeit zugrunde gelegten Denker Schweitzer, Buber und Stifter thematisiert. Lothar Stiehm scheint als einziger Was die generelle Aufmerksamkeit gegenüber dem Alltäglichen angeht, hatte bereits vor Heidegger Georg Simmel in seinen Werken die alltäglichen Ereignisse und deren Veränderungen, insbesondere anhand der Entwicklungen der Großstädte, analysiert. Angeregt durch Heidegger und Simmel, hatte schließlich Edmund Husserl die Konzeption der Lebenswelt terminologisch wie inhaltlich konzipiert. 37 Signifikanterweise stellt die Akzentuierung dessen letztlich – nebenbei bemerkt – keinen außerordentlichen Geistesakt dar, sondern betrifft – ganz im Gegenteil – alltägliche Begebenheiten, das Selbstverständliche und unmittelbar Einsichtige. Gleichwohl scheinen derartige Erscheinungen häufig verkannt und deren realer phänomenologischer Gehalt (nicht zuletzt aufgrund definitorischer Schemenhaftigkeit) verschleiert. In diesem Kontext sei folgende Devise Martin Bubers, welche für die vorliegenden Ausführungen richtungweisend sein möge, angeführt: „Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas. Ich zeige Wirklichkeit, ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was nicht oder zu wenig gesehen worden ist. Ich nehme ihn, der mir zuhört, an der Hand und führe ihn zum Fenster. Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus.“ (PR 1114; vgl. auch GM 1262) 38 In Bezug auf den spezifischen Bereich der Denkmalpflege wurde dies – wie erwähnt – von der Autorin bereits in besagtem Artikel zum Thema Kunst und Gedächtnis anhand Stifters Nachsommer herausgestellt. (Vgl. Heinze 2008) 36

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Autor zu allen drei Persönlichkeiten geforscht zu haben, allerdings erfolgte dies jenseits eines parallelisierenden Blicks aller Genannten. 39 Zu Albert Schweitzer ist dagegen ein relativ breitgefächerter Publikationsbestand (älteren wie jüngeren Datums) zugänglich, 40 39 Zu den Zeitgenossen Schweitzer und Buber und deren Verhältnis äußert sich Stiehm in dem Aufsatz „Martin Buber und Albert Schweitzer. Geben, Nehmen, Miteinander 1901–1965“. In: Den Menschen zugewandt leben. Festschrift für Werner Licharz. Hrsg. von Ulrich Lilienthal und Lothar Stiehm. Osnabrück: Secolo, 1999. S. 97–116. Ferner ist Stiehm Herausgeber des folgenden Werkes von Buber über den Begründer des Chassidismus: Buber, Martin: Des Baal-Schem-Tow Unterweisung im Umgang mit Gott. Des Rabbi Israel Ben Elieser genannt Baal-SchemTow, das ist Meister vom guten Namen, Unterweisung aus den Bruchstücken gefügt von Martin Buber. Mit Nachwort und Kommentar hrsg. von Lothar Stiehm. Heidelberg: Lambert Schneider, 1981. Zu Adalbert Stifter hat Stiehm nachstehenden Sammelband im Selbstverlag ediert: Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen. Gedenkschrift zum 100. Todestage. Hrsg. von Lothar Stiehm. Heidelberg: Lothar Stiehm, 1968. Dieser im bereits publizierten Artikel der Autorin zitierte Band soll im Folgenden nicht mehr explizit herangezogen werden. Zudem existiert der Titel zu Schweitzer und Buber von Neuenschwander, Ulrich: Denker des Glaubens I. Martin Buber – Albert Schweitzer – Karl Barth – Rudolf Bultmann – Dietrich Bonhoeffer. 2. Aufl. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1975 (Gütersloher Taschenbücher; Bd. 81), welcher im IV. Teil der Arbeit Berücksichtigung findet. 40 Als Querschnitt durch die Sekundärliteratur sind etwa zu nennen: in Bezug auf die Würdigung des Gesamtwerks Schweitzers die umfassende Schrift von Groos, Helmut: Albert Schweitzer. Größe und Grenzen. Eine kritische Würdigung des Forschers und Denkers. München [u. a.]: Ernst Reinhardt, 1974 sowie die gut lesbare Einführung von Günzler, Claus: Albert Schweitzer. Einführung in sein Denken. München: Beck, 1996 (Beck’sche Reihe; Bd. 1149); speziell zur Kulturphilosophie und Ethik existiert von Otto Friedrich Bollnow (der zum Begriff der Ehrfurcht die Monographie vorlegte Die Ehrfurcht. Frankfurt am Main: Klostermann 1947, 2. Aufl. 1958) der Aufsatz „Die Ehrfurcht vor dem Leben als ethisches Grundprinzip“. In: Ders.: Zwischen Philosophie und Pädagogik. Vorträge und Aufsätze. Aachen: N. F. Weitz, 1988. S. 92–114; weitere einschlägige Analysen folgten beispielsweise von Werner, Hans-Joachim: Eins mit der Natur. Mensch und Natur bei Franz von Assisi, Jakob Böhme, Albert Schweitzer, Teilhard de Chardin. München: Beck, 1986 (Beck’sche Schwarze Reihe; Bd. 309), Gansterer, Gerhard: Die Ehrfurcht vor dem Leben. Die Rolle des ethischen Schlüsselbegriffs Albert Schweitzers in der theologisch-ökologischen Diskussion. Frankfurt am Main [u. a.]: Lang, 1997, Eck, Stefan Bernhard: Auf dem Prüfstand. Albert Schweitzer und die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Mit einem Vorw. von Dr. Helmut F. Kaplan. Saarbrücken, 2002 sowie Meurer, Gabriele: Die Ethik Albert Schweitzers vor dem Hintergrund der Nietzscheschen Moralkritik. Frankfurt am Main [u. a.]: Lang, 2004, auf die sich Christian Müller vornehmlich beruft, der folgendes philosophisch wohl ergiebigste Werk neueren Datums vorlegte, in dem er die seit 2000 vollständig publizierten Nachlassschriften Schweitzers besonders berücksichtigt: Albert Schweitzers Weltanschauungsphilosophie. Mainz, Univ., Diss., 2007; eine der jüngsten Studien stammt von

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obgleich selbiger (der auch als Theologe, Arzt und Musiker tätig war) als Philosoph und insbesondere tiefgründiger Ethiker in wissenschaftlich-universitärem Kontext eine nach wie vor stiefmütterliche Behandlung erfährt. 41 Überdies findet sich unter den Schriften zu dem angesichts der zu erörternden Thematik bedeutsamen, von Schweitzer selbst letztlich nicht aufgeklärten „Kristall-Beispiel“ aus Wir Epigonen keine spezifische Literatur und in den bestehenden Titeln bleibt dieser Aspekt so gut wie unberücksichtigt, 42 so dass mit vorliegender Arbeit idealiter ein Beitrag zur Dechiffrierung besagten Beispiels geleistet zu werden vermag. Die (seit etwa Ende der 1980er Jahre) stagnierende DialogikForschung 43 ist erst in jüngster Zeit neu aufgeflammt, was – neben Pohl, Sabine: Albert Schweitzers Ethik als Kulturphilosophie. Kann die Ehrfurcht vor dem Leben Maßstab einer Bioethik sein? Tübigen: Franke, 2014 (Tübinger Studien zur Ethik; Bd. 5). Des Weiteren gibt es folgende exemplarische Sammelbände zur Philosophie Schweitzers, die die Frage nach deren Aktualität ins Zentrum rücken: Albert Schweitzer heute. Brennpunkte seines Denkens. Hrsg. von Claus Günzler, Erich Gräßer, Bodo Christ und Hans Heinrich Eggebrecht. Tübingen: Katzmann, 1990 (Beiträge zur Albert-Schweitzer-Forschung; Bd. 1, darin findet sich zum Beispiel der Beitrag von Teutsch, Gotthard M.: „Ehrfurchtsethik und Humanitätsidee. Albert Schweitzer beharrt auf der Gleichwertigkeit alles Lebens“. S. 101–109), Leben inmitten von Leben. Die Aktualität der Ethik Albert Schweitzers. Hrsg. von Günter Altner, Ludwig Frambach, Franz-Theo Gottwald, Manuel Schneider. Stuttgart: Hirzel, 2005 sowie Ethik des Lebens. Albert Schweitzer als Philosoph. Hrsg. von Michael Hauskeller. Zug/Schweiz: Graue Edition, 2006 (Die Graue Reihe; Bd. 46, darin etwa der Aufsatz zum Ehrfurchts-Begriff von Baranzke, Heike: „Ehrfurcht vor dem Leben. Säkularisierte Ehrfurcht bei Kant, Goethe, Bollnow und Schweitzer“. S. 13–51 sowie Sitter-Liver, Beat: „‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ heißt sich auf die Welt im Ganzen beziehen“. S. 237–258). Die aktuellste Schweitzer-Biographie lieferte Oermann, Nils Ole: Albert Schweitzer 1875–1965. Eine Biographie. München: Beck, 2009; ferner sei der Band genannt von Schorlemmer, Friedrich: Albert Schweitzer. Genie der Menschlichkeit. Berlin: Aufbau Verlag, 2009. 41 Dieses Faktum beklagt auch Christian Müller in seiner Studie zu Albert Schweitzer und stellt fest, „dass das Konzept der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben zu Unrecht aus dem akademischen Kontext verbannt ward […].“ (Müller 2007, S. 6) 42 Einzig Stephan Grätzel kommentiert diese Stelle aus Schweitzers Manuskript Wir Epigonen in bereits erwähnter Publikation Ethische Praxis (vgl. Grätzel 2007, S. 84 f.), worauf an gegebener Stelle einzugehen sein wird. Ferner erwähnt der Tierethiker Peter Singer das Kristall-Beispiel kritisch in seinem Werk Praktische Ethik (Vgl. Singer, Peter: Praktische Ethik. 3., rev. und erw. Aufl. Aus dem Englischen übers. von Oscar Bischoff, Jean-Claude Wolf, Dietrich Klose und Susanne Lenz. Stuttgart: Reclam, 2013, S. 437 f.) 43 Unter den bis zu diesem Zeitpunkt erschienenen Titeln finden sich zur Dialogik

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repräsentativen Einzelstudien 44 – exemplarische Projekte dokumentieren wie die dia-logik-Reihe 45, welche Themen der Dialogischen Philosophie insgesamt in den Blick nimmt sowie die 2013 begründeten Buber-Studien 46, im Rahmen derer Aspekte der Phifolgende repräsentative Schriften (in chronologischer Reihenfolge): Theunissen, Michael: Der Andere: Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin; New York: de Gruyter, 1965, Edmaier, Alois: Dialogische Ethik. Perspektiven – Prinzipien. Kevelaer: Butzon & Bercker, 1969 (Eichstätter Studien: N.F.; Bd. 3) und Schrey, Heinz-Horst: Dialogisches Denken. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1970 (Erträge der Forschung; Bd. 1); in Bezug auf die Behandlung des „dialogischen Dreigestirns“ Rosenzweig – Ebner – Buber ist exemplarisch zu nennen das 1967 publizierte, mittlerweile in zweiter Auflage vorliegende Standardwerk von Casper, Bernhard: Das dialogische Denken: Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner, Martin Buber. 2. Aufl. Freiburg im Breisgau [u. a.]: Alber, 2002; zudem seien nachfolgende Monographien zu Martin Buber angeführt: Kohn, Hans: Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte Mitteleuropas 1880– 1930. Zweite, um ein Vor- und Nachwort erweiterte Aufl. Köln: Joseph Metzler, 1961, Anzenbacher, Arno: Die Philosophie Martin Bubers. Wien: A. Schendl, 1965, Sutter, Gerda: Wirklichkeit als Verhältnis. Der dialogische Aufstieg bei Martin Buber. München [u. a.]: Anton Pustet, 1972, Bloch, Jochanan: Die Aporie des Du. Probleme der Dialogik Martin Bubers. Heidelberg: Lambert Schneider, 1977 und Dilger, Irene: Das dialogische Prinzip bei Martin Buber. Frankfurt am Main: Haag und Herchen, 1983 sowie die Sammelbände Martin Buber. Hrsg. von Paul Arthur Schilpp und Maurice Friedman. Stuttgart: Kohlhammer, 1963 (Philosophen des 20. Jahrhunderts; Bd. 3), Martin Buber (1878–1965). Internationales Symposium zum 20. Todestag. Band 1: Dialogik und Dialektik. Hrsg. von Werner Licharz und Heinz Schmidt. 2., durchges. Aufl. Frankfurt am Main: Haag und Herchen, 1991 (Arnoldshainer Texte; Bd. 57) und Martin Buber (1878–1965). Internationales Symposium zum 20. Todestag. Band 2: Vom Erkennen zum Tun des Gerechten. Hrsg. von Werner Licharz und Heinz Schmidt. 2., durchges. Aufl. Frankfurt am Main: Haag und Herchen, 1991 (Arnoldshainer Texte; Bd. 58). Nach 1990 erscheint die umfangreiche Buber-Biographie von Friedman, Maurice: Begegnung auf dem schmalen Grat. Martin Buber – ein Leben. Münster: agenda, 1999. Weitere Literaturangaben zur Dialogik im Allgemeinen sowie zu Bubers Denken im Speziellen finden sich in den entsprechenden Verzeichnissen in Heinze 2011 sowie Dies. 2013a und 2013b. 44 Exemplarisch seien die Analysen angeführt von Wojcieszuk, Magdalena Anna: „Der Mensch wird am Du zum Ich“. Eine Auseinandersetzung mit der Dialogphilosophie des XX. Jahrhunderts. Freiburg: Centaurus, 2010 (Reihe Philosophie; Bd. 34), Siegfried, Meike: Abkehr vom Subjekt. Zum Sprachdenken bei Heidegger und Buber. Freiburg [u. a.]: Alber, 2010 sowie die bereits in Bezug auf Heidegger genannte, jüngst erschienene Publikation von Tidona 2014. 45 dia-logik. Hrsg. von Karl-Heinz Brodbeck, Stephan Grätzel und Bernd Schuppener. Freiburg im Breisgau: Alber, 2011–2016. 46 Martin Buber neu gelesen. Hrsg. von Thomas Reichert, Meike Siegfried und Johannes Waßmer. Lich: Edition AV, 2013 (Martin Buber-Studien; Bd. 1).

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Darlegung des Forschungsvorhabens

losophie Bubers als prominentestem Dialogiker (modifiziert) beleuchtet werden. 47 Von primärer Relevanz ist im Hinblick auf das geplante Forschungsvorhaben allerdings die Literatur zu Bubers Chassidismus-Rezeption. Diese erweist sich als recht überschaubar, vorwiegend älteren Datums 48 und in erster Linie auf sehr spezifische (sich teils wiederholende) Hinweise auf Spezifika des historischen Chassidismus-Phänomens wie Bubers Interpretation desselben limitiert, 49 meist einhergehend mit einer (relativ unanimen) Kritik Letzterer im Vergleich zu den chassidischen Quellen. Als Desiderat der Forschung betreffs Bubers Schriften zum Chassidismus erzeigte sich im Zuge der Recherchen ein Aufweis des sich nach Befinden der Autorin explizit in Bubers Deutung chassidischer Alltagsheiligung manifestierenden philosophischen Potenzials mittels einer (systematischen) Akkumulierung relevanter Belegstellen, was im Buber-Teil der Untersuchung anvisiert wird. An dem Werk des nach wie vor von einem Großteil der Leser47 Ferner existiert die 2000 begründete Schriftenreihe Im Gespräch. Hefte der Martin Buber-Gesellschaft (hierin exemplarisch der Beitrag von Siegfried, Meike: „‚Der Mensch wird am Du zum Ich‘. Eine gegenwartsbezogene Auseinandersetzung mit den Grundgedanken der Dialogphilosophie“. In: Ebd. 14/2011. S. 79–84) sowie zu dem Dialogiker Franz Rosenzweig das Rosenzweig-Jahrbuch und die Reihe Rosenzweigiana, letztere beiden erscheinen im Verlag Karl Alber. 48 Es handelt sich um folgende Aufsatzliteratur von Schatz-Uffenheimer, Riwka: „Die Stellung des Menschen zu Gott und Welt in Bubers Darstellung des Chassidismus“. In: Martin Buber. Hrsg. von Paul Arthur Schilpp und Maurice Friedman. Stuttgart: Kohlhammer, 1963 (Philosophen des 20. Jahrhunderts; Bd. 3). S. 275–302 und Bubers Schüler Scholem, Gershom: „Martin Bubers Deutung des Chassidismus“. In: Ders.: Judaica I. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986. S. 165–206 sowie die Artikel von Topp, Gerda: „Der Chassidismus Martin Bubers in seinem Leben und Wirken“. In: Dialog mit Martin Buber. Hrsg. von Werner Licharz. Frankfurt am Main: Haag und Herchen, 1982 (Arnoldshainer Texte; Bd. 7). S. 175–230, Grözinger, Karl-Erich: „Martin Bubers Chassidismus-Deutung“. In: Ebd., S. 231–256 und ders.: „Chassidismus und Philosophie – Ihre Wechselwirkung im Denken Martin Bubers“. In: Martin Buber (1878–1965). Internationales Symposium zum 20. Todestag. Band 1: Dialogik und Dialektik. Hrsg. von Werner Licharz und Heinz Schmidt. 2., durchges. Aufl. Frankfurt am Main: Haag und Herchen, 1991 (Arnoldshainer Texte; Bd. 57). S. 281–294. 49 Ausnahmen bilden – neben der Publikation von Wehr, Gerhard: Der Chassidismus. Mysterium und spirituelle Lebenspraxis. Freiburg im Breisgau: Aurum, 1978, im Rahmen derer auch Bubers Verhältnis zum Chassidismus thematisiert wird – die Studien von Pourshirazi 2008 sowie Götzinger, Catarina: Martin Buber und die chassidische Mystik. Betrachtung des inneren Verhältnisses der „Ich-und-Du“-Philosophie Bubers zur chassidischen Mystik. Wien: WUV-Universitätsverlag, 1994.

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schaft als konservativ-pedantisch missdeuteten Adalbert Stifter scheiden sich (bekanntlich) die Geister, was sich innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses anhand der zahlreichen, divergierenden Forschungsbeiträge abzeichnet. Mit dem Schwerpunkt auf Schriften zum Nachsommer beinhaltet die bereits publizierte Studie der Autorin eine Aufarbeitung des Forschungsstandes zu Stifter, 50 der sich überwiegend aus Analysen literaturwissenschaftlicher Provenienz speist. Die Bezugnahme auf den philosophischen Impetus Stifters Werks, namentlich des Nachsommer, reduziert sich auf wenige, meist ältere Veröffentlichungen; 51 eine Ausnahme bildet die breit konzipierte Abhandlung Alice Bolterauers zum Thema Ritual und Ritualität bei Adalbert Stifter 52 von 2005. Aus dem raren Bestand philosophisch relevanter Arbeiten sollen im Folgenden (neben Bolterauer) etwa das Werk Zeitigung und Romanstruktur 53 des bereits zitierten Phänomenologen Walter Biemel sowie (zwischen Sekundär- und Primärtext oszillierende, nichtsdestotrotz für die zu diskutierende Problematik fruchtbare Impulse bereitstellende) Publikationen einiger SchriftstellerInnen 54 herangezogen werden, um Vgl. Heinze 2008, S. 42–44. Im Besonderen sind die Schriften zu erwähnen von Rehm, Walther: Nachsommer. Zur Deutung von Stifters Dichtung. München: Lehnen, 1951 (Sammlung Überlieferung und Auftrag. Reihe Schriften; Bd. 7) sowie Staiger, Emil: Adalbert Stifter als Dichter der Ehrfurcht. Heidelberg: Stiehm, 1967 (Poesie und Wissenschaft; Bd. 2). Da diese in der bereits erstellten Arbeit zu Stifter ausführlich berücksichtigt wurden, wird in der vorliegenden Untersuchung auf deren Heranziehung verzichtet. 52 Bolterauer, Alice: Ritual und Ritualität bei Adalbert Stifter. Wien: Edition Praesens, 2005. Während Bolterauer die Signifikanz ritueller Strukturen in Stifters Gesamtwerk zwar akribisch unter anderem anhand des dem Spätwerk angehörenden Roman Witiko aufweist, vernachlässigt sie den von ihr nicht dem Spätwerk zugerechneten Nachsommer, in dem sich nach Erachten der Autorin vorliegender Studie besagte rituelle Muster bereits exemplarisch ausgeprägt finden. Gleichwohl liefert die Publikation Bolterauers wertvolle Anknüpfungspunkte für den zu erörternden Kontext. 53 Biemel 1985. 54 Es handelt sich vor allem um die persönliche wie philosophisch ergiebige eingangs zitierte Schrift von Stadler 2009, welcher unter anderem explizit den bemerkenswerten Umgang mit den Dingen in Stifters Nachsommer akzentuiert; ferner werden berücksichtigt die konzisen Reflexionen von Kronauer, Brigitte: „Das Idyll der Begriffe. Zu Adalbert Stifter (1978)“. In: Dies.: Favoriten. Aufsätze zur Literatur. Stuttgart: Klett-Cotta, 2010. S. 145–153 sowie Hofmannsthal, Hugo von: „Stifters »Nachsommer« (1924)“. In: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze II. 1914–1924. Frankfurt am Main: Fischer, 1979. S. 220–227. 50 51

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Darlegung des Forschungsvorhabens

zumeist ausgeklammerte Aspekte wie Aktualität und Praxisrelevanz der Konzeption Stifters zu akzentuieren. 55 „In [der] Philosophie gibt es kein Erfinden, sondern nur ein Vertiefen“ (KN 1/2 461), wie Albert Schweitzer pointiert. In diesem Sinne wird mit vorliegender Studie nicht der Anspruch einer erschöpfenden Behandlung der drei epochalen Denker und deren Werke erhoben, wohl aber jener der Stiftung einer modifizierten (aktuelle Forschungstendenzen kontrastierenden) Sichtweise alltäglicher Phänomene, die auf einer sensibilisierten Wahrnehmung Letzterer fußt und idealiter zu einem geläuterten Umgang zu animieren vermag: Ziel der Arbeit ist es folglich, die Orientierungen der drei aufgeführten, prima vista (in formaler wie inhaltlicher Hinsicht) differierenden Ansätze herauszustreichen und auf ihre praktisch-philosophische Seite hin als „Wege zum gelingenden Leben“ zu analysieren, das heißt, den das Vorhaben fundierenden Grundgedanken einer Aufwertung des Alltäglichen und seiner Schönheit aus verschiedenen Quellen zu entwickeln. An das (potenzielle) Gelingen der Studie knüpft sich seitens der Autorin die Hoffnung, die synoptischen Einzelaspekte und Beispiele mögen sich im Zuge des Leseprozesses für den Rezipienten zu einem homogenen Gesamtbild formieren und dieser würde somit (wieder) vertraut „mit all der Einfalt und all dem Wunder, die um das Selbstverständliche sind, wenn es angesehen wird“ (EJ 13; Herv. im Orig.).

Des Weiteren wird folgende, besonders empfehlenswerte Stifter-Biographie einbezogen: Matz, Wolfgang: Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge. Biographie. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2005. Bezüglich selbiger weiß auch Arnold Stadler zu betonen, Matz habe „in jüngerer Zeit die umfangreichste, sorgfältigste und schönste Stifter-Biographie vorgelegt“ (Stadler 2009, S. 52; vgl. ebd., S. 194).

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I. Hingebung an Leben: Albert Schweitzers Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben Bruder Mensch, halte nicht das Absonderliche für eine höhere Weisheit als das Selbstverständliche. Albert Schweitzer

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Albert Schweitzers Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben

„Wahre Philosophie muß von der unmittelbarsten und umfassendsten Tatsache des Bewußtseins ausgehen. Diese lautet: ‚Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.‘ Dies ist nicht ein ausgeklügelter Satz. Tag für Tag, Stunde für Stunde wandle ich in ihm.“ (K 330) Auf der Basis einer kulturkritischen Analyse seiner Zeit konzipiert Albert Schweitzer im Rahmen der Kulturphilosophie 56 seine biozentrische Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben und plädiert für das Prinzip der Hingebung an Leben als (einzig adäquate) Antwort auf den von ihm diagnostizierten Kulturverfall. Im Kontrast zu herkömmlicher Ethik, welche Schweitzer als defizitär entlarvt, da diese nur das die Sphäre des Gesellschaftlich-Zwischenmenschlichen anbelangende Verhalten als ethisch relevant deklariert, weitet die Ehrfurchtsethik ihren Geltungsbereich auf alles Lebendige aus, so „daß sie nicht nur Schulfragen löst, sondern auch Vertiefung der ethischen Einsicht bringt“ (K 335). Die Behandlung Schweitzers bildet den Auftakt vorliegender Untersuchung, da selbiger das Fundament der zu erörternden Thematik bereitstellt, indem er die substanziellen Fragen des Daseins reflektiert und zudem gleichsam die virulent gewordene Problematik des verlustig gegangenen Weltbezugs, den es allererst (wieder) zu konstituieren gilt (was sich Schweitzer auf seine Fahne schreibt), vorwegnimmt. In diesem Kontext soll im Nachstehenden zunächst das Verhältnis des Menschen zu seiner (direkten) Lebens(um)welt ausgelotet werden und mithin die Darlegung der (mit Blick auf die Ausführungen zu Martin Buber und Adalbert Stifter) wesentlichen Grundprinzipien der Ehrfurchtsethik (kursorisch) erfolgen, um sodann deren Applikabilität im täglichen Leben zu erörtern. Die nach Wissensstand der Autorin bislang offene Interpretation des von Schweitzer in dem Manuskript Wir Epigonen angeführten „Kristall-Beispiels“ findet sich in Kapitel I.2 im Rahmen einer kritischen Stellungnahme zu Schweitzers Konzeption respektive der Akzentuierung des Desiderats des Schutz-Postulates anorganischen Lebens

Schweitzer hatte die Kulturphilosophie ursprünglich als vier Bände umfassendes Werk angelegt, von denen zu Lebzeiten lediglich Band 1 und 2 (Verfall und Wiederaufbau der Kultur sowie Kultur und Ethik) erschienen sind. Band 3 und 4 folgen als sogenannte Kulturphilosophie III im Rahmen der Werke aus dem Nachlaß (siehe hierzu die entsprechenden Angaben im Literaturverzeichnis dieser Arbeit). Auf den Abbruch des Kulturphilosophie-Projektes durch Schweitzer soll in Kapitel I.2 eingegangen werden.

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Albert Schweitzers Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben

als (mit vorliegender Arbeit nicht zuletzt intendierter) spezifischer Beitrag zur Forschungsdiskussion.

1.

„Welt, was soll ich in dir“: Die Prinzipien der Ehrfurchtsethik

„Du gehörst nicht mehr der Welt, sondern läßt die Welt etwas neben dir sein. – Weltentfremdung.“ (KN 1/2 409, Anm. 27) Mit dieser fragmentarischen Notiz aus den Nachlassschriften seiner Kulturphilosophie trifft Albert Schweitzer die in Bezug auf die Gegenwart einleitend zu dieser Arbeit konstatierte Tendenz der (symbolischen) Flucht des Menschen aus der Welt und mithin vor sich selbst in nuce und antizipiert somit die Kernproblematik des Menschen im 21. Jahrhundert. 57 Im Zuge seiner zeitkritischen Reflexionen registriert Schweitzer, dass der moderne Mensch zwar (noch) auf der Welt existiere, (mechanisch) auf seinem Planeten agiere, nicht aber wahrhaft in der Welt lebe, auf der Basis eines unmittelbar physischemotionalen Verbundenseins mit seiner (Welt-)Heimat sowie dem individuellen Lebensbezirk. (Vgl. KN 1/2 409 f.) Auf den schlichten Existenzerhalt fokussiert, sei ihm der Konnex zu den ihn umgebenden (nicht-menschlichen) Lebewesen entglitten: Die direkt an den Einzelnen adressierten Worte Schweitzers, „[Bruder Mensch], der du nicht mehr der Kreatur verhaftet [bist] und das ergreifende Wechselspiel zwischen ihrem Auge und dem deinen [nicht mehr] erlebst“ (K 415; Klammern im Orig.), 58 implizieren Mahnung wie Sorge – insbesondere bezüglich des jeglichen näheren Kontaktes mit Natur entbehrenden, gleichsam kümmerlich zwischen BetonZur Illustration besagter Problematik der Distanzierung des Menschen von der Welt skizziert Schweitzer in den Nachlassschriften folgendes prägnante „Bild: Die tiefen Saiten auf der Harfe deines Lebens sind gerissen, nur einige der kleinen, die arme Töne geben, sind geblieben. Auf der Harfe deines Lebens sind die Saiten zerrissen, die bei den tiefen und vollen Tönen, die um dich herum erklangen, mitschwingen. Nur einige, die ganz armseligen Laut geben, sind darauf geblieben.“ (KN 1/2 409; im Orig. in Klammern) 58 Diese Passage mutet latent dialogisch an, als der Mensch sich – exemplarisch nach der Lehre Martin Bubers – im sowohl menschlichen als auch nicht-menschlichen Gegenüber im Rahmen der jenseits einer Zweck-Mittel-Relation angesiedelten dialogischen Beziehung erst adäquat selbst (wieder) erkennt. Vgl. hierzu Heinze 2011, insbesondere S. 91–97; speziell zur dialogischen Beziehung mit Natur vgl. ebd., S. 94–96 sowie vor allem die Ausführungen in Heinze 2013b. 57

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Die Prinzipien der Ehrfurchtsethik

mauern hausenden (Groß-)Stadtbewohners, welchen Schweitzer als besonders bedroht einstuft. 59 Mit besagter Welt- und Lebensentfremdung korreliert nach Schweitzer ein geistig-ethischer Missstand, der seines Erachtens einen (nach wie vor zu verzeichnenden) fehlgeleiteten, weil faktizitätshörigen Fortschritts(aber)glauben begünstige, der – im Sinne eines Circulus vitiosus – seinerseits einer (fortschreitenden) Degeneration der dem Menschen inhärierenden ethischen Energien Vorschub leiste. 60 Dementsprechend konkludiert Schweitzer bezüglich seiner Zeitgenossen: „Das Empfinden für die überragende Bedeutung des Geistig-Ethischen ist ihnen abhanden gekommen. In blindem Fortschrittsglauben sind sie blindem Wirken ergeben.“ (KN 1/ 2 202 f.) Jenen eklatanten, von Schweitzer problematisierten Antagonismus eines rapiden (wissenschaftlich-technischen) Progresses auf der einen wie (geistige) Resignation, ja Kapitulation angesichts dessen auf der anderen Seite, kommentiert Christian Müller in seiIn Bezug auf den verkümmerten Kontakt mit nicht-menschlichen Lebewesen führt Schweitzer im Einzelnen Nachstehendes aus: „Vielleicht wohnst du in einer Großstadt, Bruder Mensch, und bist am meisten gefährdet, weil am meisten von der Natur abgeschlossen. Kein Getier um dich, das [sich] dir in Erinnerung bringt und dich seine Freude und sein Leid miterleben läßt und dein Herz weit erhält. Nicht Welt und du, sondern Mauern und du. […] Und [du] verarmst mit den Menschen, die wie du zwischen Mauern leben. Dir gilt mein Mitleid und meine Sorge. […].“ (KN 1/2 410, Anm. 31) Schweitzer greift diesen Reflexionsstrang an anderer Stelle auf und konkretisiert das Bild wie folgt: „Bruder Mensch, der du in der Stadt wohnst und der Kuh nicht mehr für die Milch und dem Huhn nicht mehr für das Ei und dem Baum nicht mehr für die Frucht und dem Acker nicht mehr für Brot und Kartoffel dankst, weil du sie nicht vor dir hast, für den Sonnenschein und Regen nur schönes und schlechtes Wetter sind, nicht mehr Regen und Sonnenschein, deren der Acker bedarf […]: Bruder Mensch in der Stadt, du bist der, der am meisten gefährdet ist (der es am schwersten hat).“ (KN 1/2 414 f.) 60 Analog zur antizipierten Problematik des Fremdseins des Menschen gegenüber der Welt nimmt Schweitzer ex aequo die nicht minder virulente Tendenz des Kults des Naturhaften (im Sinne der naturalistischen Negierung geistiger und mithin ethischer Kräfte) vorweg: „Der Mensch wird nicht Persönlichkeit dadurch, daß sich sein Wille dem Intellekt unterwirft oder sein Intellekt vor dem Willen abdankt, sondern dadurch, daß sein naturhaftes und sein überlegendes […] Wesen sich durchdringen. Die natürliche Persönlichkeit [ist] der Stoff, der in der denkenden geformt wird. Dem heutigen Empfinden gilt die Persönlichkeit, in der das Naturhafte vorherrscht, mehr als die andere. Eigentlich erkennt es nur diese an. […] Soweit die Menschen unserer Zeit der Unpersönlichkeit noch Streben nach Persönlichkeit bekunden, ist dieses also auf die Erfassung und die Entwicklung dieser naturhaften Eigenbestimmtheit gerichtet.“ (KN 1/2 48) 59

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Albert Schweitzers Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben

ner 2007 publizierten profunden Studie zu Albert Schweitzers Weltanschauungsphilosophie und Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben mit Bezugnahme auf die Situation im 21. Jahrhundert folgendermaßen: Der Glaube an den Menschen ist uns abhanden gekommen, wir haben das Gefühl für Größe und Würde des animal rationale wie auch für die Welt, in welcher es beheimatet ist, verloren. In Ansehung der uns bedrängenden globalen Probleme resignieren wir, fügen uns in einen Schicksalshorizont, den wir selbst kreiert und über den wir unsere Macht verloren haben. 61

Obgleich sich etwa in ökologischer Hinsicht zumindest in regionalem Umfeld Tendenzen hin zu einer Positivwende mehren, 62 findet diese ernüchternde Diagnose Müllers in globalem Belang in diversen virulenten, aufs Schärfste zu verurteilenden aktuellen Entwicklungen ihre desillusionierende Bestätigung. 63 Rettung vermag einzig mittels des (zu reaktivierenden) Denkens eröffnet zu werden, was Müller 2007, S. 9. So ist etwa eine zunehmende Bereitschaft der Verbraucher zu beobachten, sowohl sozial- als auch umweltverträglich produzierte Erzeugnisse billiger Massenware vorzuziehen oder im Bereich des individuellen Energieverbrauchs Alternativen auszuloten. 63 Von dem viel diskutierten Problem des Klimawandels sowie diversen Umweltkatastrophen einmal abgesehen, sei an dieser Stelle exemplarisch das in den Medien kaum präsente Leid genannt, das Tag um Tag den Tieren im Zuge der Lebensmittelproduktion hinter verschlossenen Türen beigebracht wird. Während die unermesslichen Qualen der in der industriellen Massentierhaltung zu schlichten Nahrungslieferanten degradierten Säugetiere oder des Geflügels mittlerweile einer relativ hohen Konsumentenzahl kein gänzlich unbekanntes Faktum mehr sind, werden jene der Fische in der Regel ignoriert: Im Rahmen der Massen-Fischzucht etwa fristen die Tiere ihr Dasein in gigantischen Fischfarmen, zusammengepfercht mit etlichen Leidensgenossen, angefüllt mit Antibiotika, in ihren eigenen Exkrementen; oder aber die natürlichen Beständen entstammenden Tiere werden aus den (ohnehin bei anhaltend nachhaltigkeitsresistentem Agieren in nächster Zukunft leergefischten) Tiefen des Ozeans mittels überdimensionierter, von kolossalen, höchsten technischen Standards genügenden Trawlern gezogener Grundschleppnetze zu Tausenden empor gerissen und haben – infolge des in dieser Geschwindigkeit nicht zu realisierenden Druckausgleichs – den Austritt ihrer Augen und inneren Organe bei lebendigem Leibe zu ertragen. (Von dem generellen Problem des Beifangs sowie der mit diesen äußerst rabiaten Fangmethoden einhergehenden massivsten Gefährdung des Ökosystems Meer im Sinne der systematischen Zerstörung des Meeresgrundes ganz zu schweigen.) In Bezug auf den nicht-tierischen Anteil menschlicher Nahrung konstatiert Meyer-Abich: „Für Pflanzen gilt dasselbe. Sie werden in der industriellen Landwirtschaft vielleicht nicht ganz so gequält wie die Tiere, aber viel besser geht es ihnen nicht.“ (Meyer-Abich 1990, S. 97) 61 62

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Die Prinzipien der Ehrfurchtsethik

Schweitzer seinerzeit bereits dezidiert postulierte: „Heute muß [der Mensch] gegen die äußeren Umstände Halt und Kraft in dem Denken finden“ (KN 1/2 418), denn „[d]er entgeistigte Fortschrittswille unserer Zeit kann keine Anziehungskraft […] ausüben“ (KN 1/2 128 f.) – geschweige denn (Lebens)Orientierung stiften. Müller attestiert Schweitzer, dieser sei mit seinem kulturphilosophisch-ethischen Konzept (schon damals) bestrebt gewesen, „einen Weg aus den Sümpfen der Verzweiflung und der Orientierungslosigkeit ob der weltweiten mannigfaltigen Probleme des Menschen mit sich und mit der Welt, die ihm ein Zuhause ist (war?)“ 64, aufzuzeigen. Schweitzer erweist sich insofern als prädestiniert, Aufschluss bezüglich des menschlichen Verhältnisses zu Welt und Leben zu bieten respektive Antwort zu geben in Bezug auf „[d]ie große Frage: Was will ich in der Welt. […] Welt, was soll ich in dir. Welt, was bin ich in Dir?“ (KN 1/2 409), 65 als es nach eigenem Bekunden seiner primären Intention entspricht, sich – jenseits abstrakten Theoretisierens spezifischer wissenschaftlicher (Schein)Probleme – der basalen wie mithin existenziellen Themen des Daseins anzunehmen. In dieser Hinsicht betont er in seiner Autobiographie Aus meinem Leben und Denken in Bezug auf sein philosophisches Werk: „Mit Absicht vermeide ich philosophische Fachausdrücke. Ich wende mich an denkende Menschen und will wieder elementares Denken über die in jedem Menschenwesen aufsteigenden Fragen des Daseins wecken.“ (LD 210) Entsprechend definiert Schweitzer Denken keineswegs als „Sache der Gelehrsamkeit, sondern [als] elementare Tat“ (KN 1/2 167, Anm. 270), was bedeute, „Denken hat es mit meiner Beziehung zum Sein zu tun, nicht [mit] Erkenntnis. Dem Denken ist Erkenntnis Mittel zum Zweck.“ (KN 1/2 178) 66 Dies präzisiert Schweitzer wie folgt: Denken ist nicht nur, logisch Tatsachen, die außer uns liegen, verbinden (den Zusammenhang einsehen, in dem außer mir liegende Tatsachen zuMüller 2007, S. 14. Vgl. hierzu auch K 63: „Was bedeuten die Gesellschaft, in der ich lebe, und ich selber in der Welt? Was wollen wir in ihr? Was erhoffen wir von ihr?“ sowie K 298: „Welchen Sinn deinem Leben geben? Was willst du in der Welt?“ In den Nachlassschriften gibt Schweitzer sich folgende Antwort auf letztere Frage: „Den Sinn meines Lebens begreifen.“ (KN 1/2 409) 66 Ferner konstatiert Schweitzer in Bezug auf das Denken: „Es kommt nicht darauf an, von wo das Denken ausgeht, sondern nur darauf, daß es von da, wo es ausgeht, in die Tiefe gehe.“ (KN 1/2 54; vgl. auch KN 1/2 182 sowie 295) 64 65

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Albert Schweitzers Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben

einander stehen), sondern mein Verhältnis zu Dingen [gewinnen]. Mein ganzes Wesen ist an den Dingen beteiligt. Denken [heißt,] auf die Erkenntnis meines Verhältnisses zu mir selbst und zu der Welt gerichtet [sein]. (KN 1/2 179; Klammern im Orig.)

Angesichts dieses Nexus von Denken und Sein konstatiert Schweitzer schließlich: „Zum wirklichen Denken bedarf es also nicht nur logischer, sondern auch moralischer Entschlossenheit“ (KN 1/2 60), 67 welche nicht zuletzt durch die (aktuellen) Erfordernisse des Zeitalters diktiert werde: „Die Not der Zeit erlaubt es nicht, skeptisch zu sein, sondern zwingt zu ethischen Idealen“ (KN 1/2 171, Anm. 279), die (nichtsdestoweniger) einzig qua Denken zu konstituieren seien. Claus Günzler wertet in dieser Hinsicht in der Einleitung zu Schweitzers Werken aus dem Nachlaß dessen Projekt (insbesondere der sogenannten Kulturphilosophie III) als Versuch, in Abgrenzung zu bisherigen Weltanschauungen 68 mittels der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben eine neue, universelle, um die Ethik zentrierte Weltdeutung zu generieren, „in der sich der ethisch geleitete Mensch mit seinen Sinnfragen aufgehoben findet“ 69. Also formuliert Schweitzer das anzuvisierende Ziel: „Es gibt keine andere Veredelung des Menschen als die, daß wir uns alle […] in einer aus dem Denken kommenden Weltanschauung, das heißt, im Denken über uns und die Welt, der wir angehören, über unser Sein und das unendliche Sein, zu wahrem Menschentum erheben werden.“ (KN 1/2 53) 70 Optimistisch ermutigt er den Einzelnen: Vgl. KN 1/2 187, 296 sowie KN 3/4 22. Schweitzer definiert den Begriff der Weltanschauung in seiner Kulturphilosophie wie folgt: „Was ist Weltanschauung? Der Inbegriff der Gedanken, die die Gesellschaft und der Einzelne über Wesen und Zweck der Welt und über Stellung und Bestimmung der Menschheit und des Menschen in ihr in sich bewegen.“ (K 63) Vgl. zur Weltanschauung nach Schweitzer auch Müller 2007, insbesondere S. 45–72 sowie Pohl 2014, vor allem S. 75–89. Auf den Begriff der mit der Weltanschauung korrelierenden Lebensanschauung wird in Kapitel I.1.1 eingegangen werden. 69 Günzler, Claus: Einleitung. In: KN 1/2. S. 18–28, hier: S. 21. 70 Gleichwohl beobachtet Schweitzer bei dem Menschen (der Moderne) „[so] etwas wie eine Angst vor dem kultivierten Menschen“ (KN 1/2 51): „Als etwas Selbstverständliches wird heute behauptet, daß das Denken eine Schwächung der Ursprünglichkeit und damit der Stärke der Persönlichkeit bedeute. […] Was die Persönlichkeit durch das Denken an äußerlicher Gewalt verliert, gewinnt sie an innerlicher Stärke. Es findet eine Umwandlung von Kraft statt.“ (KN 1/2 51) Schweitzer setzt seine Reflexionen in Bezug auf erstere als „oberflächlich“ (KN 1/2 51) zu titulierende Sichtweise wie folgt fort: „Die im Denken erworbene Eigenbestimmtheit durch Ideen gilt ihr als ein armseliger Ersatz für die nicht vorhandene 67 68

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Die Prinzipien der Ehrfurchtsethik

Durch schöpferisches Vermögen oder gebieterische Fähigkeit in der Masse der Vielen als Persönlichkeit hervorzuragen, ist nur wenigen verliehen. Als ein durch wertvolle Weltanschauung in sich selbst bestimmtes Menschenwesen in unscheinbarer Weise Persönlichkeit zu sein, ist allen erreichbar, die danach streben. (KN 1/2 51)

Wenngleich es nicht jedem Menschen vergönnt ist, im engeren Sinne kreativ tätig zu sein, so hat jeder prinzipiell die Möglichkeit, in ethischer Weise schöpferisch aktiv zu werden. Ethik und Ästhetik sind angesichts ihres Gegenstandsbereichs quasi als „die Stiefkinder der Philosophie“ (K 114) zu bezeichnen, sie beschäftigen sich mit dem sittlichen und künstlerischen Handeln des Menschen, das heißt jeweils mit dessen schöpferischem Potenzial, und müssen somit von der Rücksichtnahme auf Erwartungen und Direktiven eines wissenschaftlichen Weltbildes absehen. Das Denken ist gleichsam auf sich selbst gestellt, es hat sich auf subjektive, singuläre Tatsachen zu beziehen und vermag auf keine Wissenschaft des menschlichen Sollens, Wollens und Gestaltens zurückzugreifen. (Vgl. K 114 f.) 71 In den Nachlassschriften definiert Schweitzer somit Ethik als „eine Auseinandersetzung meines Ichs mit dem Leben, mit sich selbst“ (KN 1/2 453) und als die „[g]roße ethische Frage: Was will der Mensch mit seinem ethischen Wirken an der Welt ändern? Was will er überhaupt mit Wirken ändern?“ (KN 1/2 453) Die Antwort auf dieses Problem (welche von der durch ihren Geltungsbereich definierten Ausprägung der Ethik abhängig ist) gilt es im Rahmen des Schweitzer-Teils der Arbeit zu eruieren. Vorab ist Folgendes festzuhalten: „Die wahre, allein zureichende Ethik ist mehr als Gehorsam gegen einzelne ethische Gebote. Sie ist eine Bestimmtheit des menschlichen Wesens, aus der sich ethisches Denken und Handeln mit Notwendigkeit ergibt.“ (KN 1/2 119) 72 Da für eine adäquate Ethik (der Moderne) – wie gesagt – das Kreative, nicht aber ein nüchterner Moralkodex maßgeblich sein naturhafte.“ (KN 1/2 51; vgl. hierzu auch Anm. 60 der vorliegenden Arbeit) Schweitzers Definition von „Kultur“ wird in Kapitel I.1.1 näher in den Blick genommen. 71 „Ethik und Ästhetik sind keine Wissenschaften. Wissenschaft als Beschreibung von objektiven Tatsachen, Ergründen ihrer Zusammenhänge und Folgern aus ihnen ist nur möglich, wo es sich um eine Reihe sich wiederholender, gleichartiger Tatsachen oder um eine Tatsache in einer Reihe von Erscheinungen handelt, wo also eine Materie vorliegt, in die sich gesetzmäßige Ordnung bringen läßt.“ (K 115) 72 Vgl. hierzu beispielsweise auch KN 1/2 57 und 244.

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kann, als diese auf die schöpferische (Um-)Gestaltung der Wirklichkeit abzielt und im Zuge dessen zum Transzendieren von Grenzen 73 nötigt, ist Ethik „[w]eder […] ein in sich geschlossenes System von Geboten, noch hat ihr Tun feste Grenzen“ (KN 1/2 219) 74. Gleichwohl hält Schweitzer eine konkrete Bestimmung ihres Charakters für möglich: „Je mehr sie […] als das auftritt, was sie ihrem Wesen nach ist, desto deutlicher wird sie als Hingebung, die nur ihrer Richtung nach, nicht aber auch in den Einzelheiten ihrer Betätigung festlegbar ist.“ (KN 1/2 219; Herv. im Orig.) Herkömmliche Ethik dagegen halte „mit solcher Zähigkeit an der Vorstellung eines begrenzbaren und im einzelnen normierbaren Guten [fest]“ (KN 1/2 57) und lasse aufgrund dessen ethische Pflichten ausschließlich in zwischenmenschlicher Hinsicht gelten. Diese Einschränkung wertet Schweitzer als völlig unhaltbar, denn „[j]eder von uns weiß, daß er auch der Kreatur gegenüber […] verantwortlich ist für das, was er ihr antut (und was er gegen sie zuläßt)“ (KN 1/2 58). Dieses von Schweitzer postulierte Verantwortungsbewusstsein – auch in Bezug auf Tiere und Pflanzen – impliziert letztlich eine (innere) Verbundenheit mit allen Lebewesen und mithin dem Sein als solchem, welche (um ein entsprechend universelles Solidaritätsempfinden zu konsolidieren) erkannt – präziser formuliert, unmittelbar erlebt werden muss: „Irgendwie muß mein Denken zuletzt zum Erleben werden. Dem Sein gegenüber, wie es außer mir ist, kann ich mich nicht als rein erkennendes Subjekt verhalten“ (KN 1/2 193) 75, was Schweitzer zu der signifikanten Schlussfolgerung veranlasst, „daß das Entscheidende das Miterleben ist“ (KN 1/2 410), welches sich primär im Zuge der direkten Berührung mit Natur beziehungsweise deren mannigfaltigen Einzelphänomenen im täglichen Leben vollzieht: Immer aufs neue werden wir von dem Zauber der Wunder des Seins hingerissen. In tiefer Ergriffenheit empfinden wir mit der Kreatur die Lust zum Leben, von der sie beseelt ist. Ein blühender Baum, ein Vogelnest, Arthur Schopenhauer charakterisiert in diesem Kontext etwa Mitleid als das ethische Mysterium schlechthin. Vgl. Schopenhauer, Arthur: „Über die Grundlage der Moral“. In: Ders.: Über die Freiheit des menschlichen Willens. Über die Grundlage der Moral. Kleinere Schriften II. Zürich: Diogenes, o. J. (Diogenes Taschenbuch; Bd. 20426). S. 143–317, hier: S. 248 und 313. Auf diesen Aspekt wird in Kapitel I.1.2 noch rekurriert werden. 74 Siehe hierzu auch PT 96. 75 Vgl. hierzu auch K 329 f. 73

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von den fütternden Alten umflogen, das Summen der Insekten in der Heide, der Quell, der in sanftem Murmeln aus blumiger Matte Wasser zum fernen Meere entläßt, das Lied des Windes in den Bäumen, Wolken, die am Himmel aus unbekannter Ferne in unbekannte Ferne dahinziehen, flimmernde Sterne in stiller Nacht, brausender Herbststurm, Frühjahrsföhn, der in den Winter einbricht: All solches kann uns zu beseeligendem [sic!] Erlebnis unserer Verbundenheit mit allem Sein und Leben werden. Arm der Mensch, den die Welt nicht tausendmal mit ihrer Schönheit gefangennahm und von Lebensfreude berauscht sein ließ. Er weiß nicht, was Sein ist. (KN 1/2 210 f.) 76

Der Aspekt, dass Denken gleichsam in Erleben überzugehen hat, verweist einmal mehr auf die (bereits erwähnte) praktische Dimension des Denkens bei Schweitzer sowie auf die für dessen Philosophie typische Korrelation zwischen Rationalität und Emotionalität. 77 Eine (gewisse) Erkenntnis des Seins (nicht-menschlichen Charakters) ist somit ausschließlich auf der Basis der erlebten Verbundenheit – ja Verwandtschaft des Menschen mit der Natur 78 zu erlangen: „Verstehen, soweit mir dies überhaupt möglich ist, kann ich es nur aus dem Sein, das in mir ist. Hier gilt der tiefe Satz der Mystik: Gleiches kann nur durch Gleiches erkannt werden. Im letzten Grunde erkenne ich die Welt, insoweit ich sie erlebe.“ (KN 1/2 193) Besonders pointiert Schweitzer diese Konstatierung an folgender Stelle: „Nur als Leben nach Analogie des Lebens, das in uns ist, kann das Sein erkannt werden.“ (KN 1/2 163; Herv. im Orig.) Der jedem Lebewesen innewohnende Wille zum Leben 79 ist es schließlich, welchen Schweitzer als das allem Lebendigen gemeinsame Element akzentuiert und der der von ihm definierten unmittelbaren Die in diesem Passus von Schweitzer angeführten Natur-Aspekte finden sich sämtlich in Stifters Nachsommer-Roman, wie in Abschnitt III der vorliegenden Arbeit zu zeigen sein wird. 77 „Den Akt des Denkens, in dem meine Erkenntnis von meinem geistigen Verhältnis zur Welt entsteht, vollziehe ich nicht nur als anschauendes, erkennendes und überlegendes, sondern auch als fühlendes und wollendes Wesen. Mein ganzes Ich ist daran beteiligt.“ (KN 1/2 194) Hier vermischen sich gleichsam Anleihen an die Philosophie Immanuel Kants sowie Arthur Schopenhauers. Von dem Einfluss des Letzteren auf Schweitzers Ehrfurchtsethik wird in Kapitel I.1.2 noch zu handeln sein. 78 „Alle Erscheinungen von Leben [sind] untereinander wesensverwandt.“ (KN 1/2 218, Anm. 66) 79 Den Begriff des Willen zum Leben hatte bereits Arthur Schopenhauer geprägt. Vgl. zur Definition desselben nach Schweitzer auch das diesem Prinzip gewidmete Kapitel in K 297–305. 76

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Bewusstseinstatsache „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ (K 330 und LD 169 f.) zugrunde liegt. Im nachstehenden Kapitel soll der für Schweitzers Ehrfurchtsethik zentrale Begriff des Willens zum Leben fokussiert werden. An dieser Stelle gilt es, zunächst auf das viel zitierte, 80 im Kontext der zu erörternden Thematik gleichwohl relevante Begebnis aufmerksam zu machen, das Schweitzer allererst zu der seine Ethik konstituierenden Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben inspirierte: Nach vergeblichem Bemühen, das Prinzip einer universellen Ethik denkerisch zu konstruieren, wird Schweitzer (während seiner Tätigkeit als Mediziner in im äquatorialafrikanischen Gabun gelegenen Lambarene) 1915 auf einer mehrtägigen Dampfschifffahrt auf dem Ogowe-Fluss ein Naturerlebnis zuteil, dessen symptomatische mystische Komponente prägend für seine Konzeption werden sollte: Am Abend des dritten Tages, als wir uns bei Sonnenuntergang in der Nähe des Dorfes Igendja befanden, mußten wir einer Insel in dem über einen Kilometer breiten Fluß entlang fahren. Auf einer Sandbank, zur linken, wanderten vier Nilpferde mit ihren Jungen in derselben Richtung wie wir. Da kam ich, in meiner großen Müdigkeit und Verzagtheit plötzlich auf das Wort ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘, das ich, so viel ich weiß, nie gehört und nie gelesen hatte. (ELE 20) 81

Dieses von Schweitzer sowohl im Rahmen autobiographischer Passagen (vgl. LD 167–169) als auch wissenschaftlicher Ausführungen dargelegte „Nilpferd-Erlebnis“ erzeigte sich gleichwohl als entscheidend für die weitere Konzipierung der Ehrfurchtsethik, da das im Zuge dessen gewonnene Prinzip der Ehrfurcht vor dem Vgl. exemplarisch Baranzke 2006 sowie Werner 1986, S. 93 f. Vgl. hierzu auch Körtner, Ulrich, Zürcher, Johann: Einleitung. In: WE, S. 9–18, hier: S. 11–13 sowie Hans-Joachim Werner, der in seiner Publikation Eins mit der Natur Schweitzers „Entdeckung“ des Ehrfurchts-Prinzips sehr treffend kommentiert: „Wenn man den Bericht Schweitzers aus einer theoretischen Perspektive betrachtet, fragt man sich unwillkürlich, was an der Auffindung des Prinzips der Ehrfurcht vor dem Leben eigentlich so schwierig war. Die Antwort kann nur darin liegen, daß dieses Prinzip überhaupt nur dann sinnvoll sein kann, wenn die konkrete Anschaulichkeit, das direkte Angesprochenwerden durch die Wirklichkeit selbst hinzukommt. Eben deshalb ist es kein Zufall, wenn in dem Bericht Schweitzers die Auffindung dieses Prinzips in der konkreten Begegnung mit fremden Lebewesen erfolgt. Beides gehört dazu: das Denken, in welchem sich die Ethik neu begründet, und die Wirklichkeit, die immer konkret ist und durch Denken niemals ersetzt werden kann.“ (Werner 1986, S. 94) Vgl. hierzu auch Anm. 58 der vorliegenden Arbeit.

80 81

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Leben 82 sämtliche für Schweitzers Ethik relevante Eckpunkte beinhaltet: Die Ehrfurcht vor dem Leben bezeichnet er als die „Idee […], in der Welt- und Lebensbejahung und Ethik miteinander enthalten sind“ (LD 169) und die zudem „im Denken begründet ist“ (LD 169). 83 Anhand für die vorliegende Fragestellung signifikanter Aspekte werden nachfolgend die letztgenannten Termini geklärt; zudem gilt es, die generelle Bedeutung des Ehrfurchts-Prinzips für Welt und Alltag sowie aus diesem resultierende Handlungskonsequenzen zu erörtern. 1.1 „Dienen“: Das Postulat der Kultivierung des Willens zum Leben „Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt.“ (K 332) Ausgehend von dem Faktum des universellen, sich im Einzelwesen manifestierenden Lebenswillen, ringt Schweitzer beharrlich darum, eine adäquate Definition von Ethik zu formulieren, die nicht zuletzt den immensen Herausforderungen einer

Auf eine eingehende, in der Forschung bereits ausgiebig erfolgte Kommentierung der Herkunft dieses Prinzips verzichtend, sei an dieser Stelle exemplarisch auf Heike Baranzke verwiesen, welche sich in ihrem Aufsatz „Ehrfurcht vor dem Leben. Säkularisierte Ehrfurcht bei Kant, Goethe, Bollnow und Schweitzer“ um die Aufklärung des Ehrfurchtsbegriffs Schweitzers und die Entschlüsselung des „Rätsel[s] seiner Herkunft“ (Baranzke 2006, S. 13) bemüht. Baranzke beklagt etwa, dass Schweitzer den Begriff der Ehrfurcht und mithin die Wendung der „Ehrfurcht vor dem Leben“ undefiniert und unabgeleitet lasse: „Leider läßt Schweitzer offen, was genau er unter dem Begriff der Ehrfurcht versteht oder wer ihn dazu inspiriert haben könnte. Nirgendwo findet sich eine eingehende Auseinandersetzung Schweitzers mit diesem für seine Ethik zentralen Begriff – im Gegenteil behauptet Schweitzer ja seine intuitive Herkunft […].“ (Ebd.; Ferner äußert sich Baranzke irritiert gegenüber Otto Friedrich Bollnows Schweigen in Bezug auf Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben in seiner Monographie zur Ehrfurcht (Bollnow 1947). Vgl. Baranzke 2006, vor allem S. 14, 29, 32–34 und 36–40). Nils Ole Oermann weist schließlich in seiner 2009 erschienenen Schweitzer-Biographie auf das (seit der Herausgabe von Schweitzers Straßburger Vorlesungen bekannte) Faktum hin, dass Schweitzer bereits in seinen Straßburger Jahren – genauer gesagt, im Wintersemester 1911/1912 – den Begriff der „Ehrfurcht vor dem Leben“ für die Studenten konzipiert haben soll. (Vgl. Oermann 2009, S. 165) Dies tut jedoch der Bedeutsamkeit des zitierten Erlebnisses auf dem Ogowe von 1915 für die Ausarbeitung seiner Ethik nach Meinung der Autorin keinen Abbruch. 83 Siehe diesbezüglich auch Baranzke 2006, S. 13. 82

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modernen Welt standhält. 84 Um effektiv ethisch agieren zu können, muss der Einzelne willens sein, sich zunächst denkerisch mit dem (aus dem Mysterium des Lebens selbst resultierenden) Problem der Ethik zu konfrontieren, um allererst sein Verhältnis zu dem von seinem Handeln tangierten Umfeld zu reflektieren. Der von Schweitzer beschrittene Denkweg, in welchen er den Rezipienten offenkundig zu involvieren bestrebt ist, soll nachfolgend in Orientierung an essenziellen Werkpassagen skizziert werden: Es erfolgt die Explikation der Welt- und Lebensanschauung idealiter charakterisierenden Welt- und Lebensbejahung, der Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben als höchster Instanz sowie des Kulturbegriffs nach Schweitzer, der gleichsam das Fundament seiner Ethik bildet und sich als programmatisch für die in Kapitel I.1.2 zu ermittelnde tägliche Praktizierung der Ehrfurcht vor dem Leben erweist. „Am Anfang der Auseinandersetzung mit seinem Leben [und] alles Denkens stehen zwei Fragen: die des Glücklichwerdens und die des Rechttuns.“ (KN 1/2 54) 85 In Bezug auf Ersteres schildert Schweitzer zunächst auf den ersten Blick sonderbare Erfahrungen, 86 etwa „daß Glücklichsein nicht einfach eine Auswirkung von Wohlergehen ist“ (KN 1/2 54) und registriert ferner eine gewisse „Gewöhnung an Wohlergehen“ (KN 1/2 54) 87. Zudem konstatiert er, jede Erfüllung sinnlichen Verlangens bedeute gleichzeitig dessen „Aufhebung“ (KN 1/2 54) und nicht zuletzt, „daß […] unscheinbarste Geschehnisse ein unverhältnismäßig starkes Glücksgefühl bei uns auslösen, während an sich bedeutungsvolle von uns nicht in entsprechender Weise bewertet werden“ (KN 1/2 54). Am erstaunlichsten erschien ihm, dass ein erbrachtes Opfer „froher machen [kann] als der herrlichste Glücksfall“ (KN 1/2 54). Vor dem Hintergrund dieser akkumulierten (Alltags-)Erfahrungen bedingen sich für Schweitzer die beiden benannten Probleme insofern gegenseitig, als er – um deren Klärung je vorweg zu nehmen – „[d]as Siehe hierzu auch folgenden Kommentar Beat Sitter-Livers: „Immer neu und dem jeweiligen Zusammenhang entsprechend umschreibt Schweitzer, was er unter Ethik versteht.“ (Sitter-Liver 2006, S. 252) 85 Siehe zum Glücklichwerden und Rechttun vor allem auch KN 1/2 182–185, 294– 300 sowie 305. 86 Vgl. hierzu auch KN 1/2 183. 87 Diesbezüglich erläutert er weiters: „Wir laufen Gefahr, es nicht mehr nach seinem wahren Werte zu empfinden, wenn es uns auf irgendwelchem Gebiete einigermaßen dauerhaft zuteil wird.“ (KN 1/2 54) 84

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wahre Rechte“ (KN 1/2 185) 88 als „das Ethische“ (KN 1/2 185) deklariert und Glücklichsein mit der Erhaltung anderen Lebens identifiziert: „Leben erhalten ist das einzige Glück.“ (EVL 36) Was Schweitzer im Einzelnen in philosophischer Hinsicht zu diesem Befund veranlasst respektive welche konkreten Prämissen diesem zugrunde liegen, gilt es zu eruieren. „Ethisch werden heißt wahrhaft denkend werden.“ (K 328) Unter Denken versteht Schweitzer nun „die Auseinandersetzung zwischen Wollen und Erkennen, die in mir stattfindet“ (K 328). Erfolge besagte Konfrontation in ernsthafter und systematischer Weise, so zeige das Erkennen dem Willen auf, „daß hinter und in allen Erscheinungen Wille zum Leben ist“ (K 329), den Schweitzer wie folgt definiert: Wie in meinem Willen zum Leben Sehnsucht ist nach dem Weiterleben und nach der geheimnisvollen Gehobenheit des Willens zum Leben, die man Lust nennt, und Angst vor der Vernichtung und der geheimnisvollen Beeinträchtigung des Willens zum Leben, die man Schmerz nennt: also auch in dem Willen zum Leben um mich herum, ob er sich mir gegenüber äußern kann oder ob er stumm bleibt. (K 330 f.) 89

Der Wille zum Leben, der nicht nur Mensch und Tier, sondern – wie letzterer Satz impliziert – auch Pflanzen immaniert, repräsentiert das Prinzip, das den Menschen mit allem Leben – präziser formuliert, sämtlichen Lebewesen verbindet. 90 „Als Wille zum Leben inmitten von Willen zum Leben erfaßt sich der Mensch in jedem Augenblick, in dem er über sich selbst und über die Welt um sich herum nachdenkt. […] Nun hat sich der Mensch zu entscheiden, wie er sich zu seinem Willen zum Leben verhalten will.“ (LD 170; Herv. sind zugefügt) Bevor der Einzelne sich anderem Willen zum Leben gegenüber verantwortlich erzeigen kann, 91 hat er sich selbst In Bezug auf das Rechttun kommentiert Schweitzer: „Immer mehr erkenne ich, daß das, was als Rechttun gilt, ein unklares und unhaltbares Mittelding ist zwischen dem, was als Recht gesetzlich festlegbar und forderbar ist und dem, was wahrhaft gut ist.“ (KN 1/2 56) 89 Vgl. zum Willen zum Leben auch die nachstehende Fußnote. 90 Über die Aktivität des Willens zum Leben selbst in den einzelnen Zellen der Lebewesen reflektiert Schweitzer in seiner Schrift „Forderungen und Wege“: „Was bedeutet es doch für unser Nachdenken über die Welt, daß wir in der Zelle eine Lebensindividualität entdeckt haben, in deren Fähigkeiten der Betätigung und des Erleidens wir die Elemente unserer Vitalität wiederfinden!“ (FW 49) 91 Es sei an dieser Stelle an die eingangs zu diesem Kapitel angeführte Definition 88

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Rechenschaft abzulegen hinsichtlich der Wertschätzung des eigenen Lebens. 92 Für Schweitzer existiert in Bezug auf diese Frage kein Zweifel, was folgende Stelle der Nachlassfragmente exemplarisch erhellt: „Wir besitzen das Leben nicht, um uns davon abzuwenden oder es wegzuwerfen, sondern um es zu erleben. Lebensbejahung.“ (KN 1/2 463) 93 Diese definiert wiederum das Verhältnis zu fremdem Willen zum Leben maßgeblich, 94 wie etwa Nils Ole Oermanns Erläuterung jenes substanziellen Terminus dokumentiert: „Diese ‚Lebensbejahung‘ als zentraler Begriff in Schweitzers Ethik beschreibt keinen Instinkt, sondern eine für jeden Menschen zumutbare ethische Entscheidung, sich seinem Leben und allem anderen Leben in von Ethik erinnert: „Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt.“ (K 332) 92 Der Mensch vermag einem Gegenüber mittels seiner Haltung und Handlung Würde zu erweisen. Eine Handlung als eine würdevolle zu vollziehen, gelingt jedoch einzig auf der Grundlage einer entsprechend würdevollen Haltung gegenüber dem eigenen Selbst. Stephan Grätzel erläutert diesbezüglich in seinem System der Ethik, „dass man mit der Würde umgehen kann, dass man sie annehmen oder sich davon distanzieren kann, dass man darauf verzichten kann“ (Grätzel, Stephan: System der Ethik. Existenzielle Fragestellungen der Praktischen Philosophie. Hrsg. von Joachim Heil. London: Turnshare, 2006 (Grundlagen der Praktischen Philosophie; Bd. 1), S. 55). In Anmerkung 12 der vorliegenden Arbeit wurde bereits mit Bezugnahme auf Grätzel erwähnt, bei dem Phänomen der Würde handle es sich nicht um ein einem Wesen oder Gegenstand intrinsisches Merkmal, das auf empirischem Wege nachgewiesen werden könnte: „Es lässt sich nicht unter dem Mikroskop finden oder in sonstigen naturwissenschaftlichen Nachweisen. Aber es ist etwas, was ich als Ideal annehmen und womit ich umgehen kann. Insofern könnte man sagen: Würde ist Gegenstand eines Verhaltens, eines Sich-Verhaltens, also eine Haltung, ein ethos.“ (Ebd.; vgl. ebd., S. 54 und 56) 93 Seine These vermag Schweitzer mittels der Bezugnahme auf die Geschichte des Denkens der Menschheit zu untermauern und kommt beispielhaft angesichts des indisch-hinduistischen Denkens zu der Schlussfolgerung: „Reine Welt- und Lebensverneinung ist ebenso unbefriedigend als undurchführbar“ (KN 1/2 99), denn die Verneinung des eigenen Lebens hätte in letzter Konsequenz den Suizid zur Folge. Dagegen definiert Schweitzer Lebensbejahung wie folgt: „Die Lebens- und Weltbejahung, ganz allgemein gesagt, besteht darin, daß wir das Leben, wie wir es in uns erleben und wie es sich um uns herum in der Welt entfaltet, als etwas Wertvolles ansehen und dementsprechend bestrebt sind, es in uns sich ausleben und vollenden zu lassen und es um uns her, soweit es sich in dem Bereiche unseres Handelns befindet, nach Möglichkeit zu erhalten und zu fördern.“ (KN 3/4 31; Herv. sind zugefügt) Letzterer Aspekt wird in Kapitel I.1.2 im Zentrum der Erörterungen stehen. 94 Vgl. diesbezüglich Grätzel 2007, S. 79: „Die allein maßgebliche und auch vorbildliche ethische Haltung findet sich in der Lebens- und Weltbejahung.“

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Ehrfurcht hinzugeben und ihm so seinen wahren Wert beizumessen.“ 95 Schweitzer konkretisiert jene Bejahung im Sinne einer vertieften Welt- und Lebensbejahung beispielsweise in nachstehendem Passus seiner Kulturphilosophie: Vertiefte Welt- und Lebensbejahung besteht darin, daß wir den Willen haben, unser Leben und alles durch uns irgendwie beeinflußbare Sein zu erhalten und auf seinen höchsten Wert zu bringen. […] Sie erlaubt uns nicht, uns auf uns selber zurückzuziehen, sondern gebietet uns, allem, was sich um uns herum ereignet, ein lebendiges und soweit als möglich tätiges Interesse entgegenzubringen. Durch Beziehung auf die Welt Unruhe zu haben, wo wir sonst durch Zurückziehen auf uns selber Ruhe haben könnten: dies ist’s, was uns die tiefe Welt- und Lebensbejahung auferlegt. (K 298)

Das Entscheidende der Welt- und Lebensbejahung markiert somit die Intention, sich nicht lediglich (eindimensional) in der Welt ausleben, sondern zudem (ethisch) wirksam in dieser betätigen zu wollen. (Vgl. KN 1/2 175, Anm. 286) Jedoch stößt der sich wahrhaft in sein Verhältnis zu Welt und Leben Vertiefende, diesbezüglich nach Klarheit Ringende, auf schier unlösbare Konflikte: „Unsere Laufbahn beginnen wir in unbefangener Welt- und Lebensbejahung. […] Aber wenn dann das Denken erwacht, tauchen die Fragen auf, die uns das bisher Selbstverständliche zum Problem machen.“ (K 298) Antagonistische Fakten kollidieren zuhauf mit der optimistischen Lebensbejahung und manövrieren den Lebenswillen in massive Bedrängnis: „Mit tausend Erwartungen, sagen sie, lockt uns das Leben, und erfüllte kaum eine.“ (K 298) 96 Angesichts des das Naturgeschehen dominierenden „grausigen Egoismus“ (EVL 33) sieht sich der Einzelne obendrein mit der deprimierenden Tatsache konfrontiert, dass sich permanent Leben auf Kosten anderen Lebens

Oermann 2009, S. 166. Schweitzer konstatiert zwar: „Der Wille zum Leben, der in uns ist, gibt sie [die Lebensbejahung] uns als etwas Selbstverständliches ein“ (K 298); gleichwohl ist diese explizit zu bestätigen, um zur Grundlage einer konkreten Wirksamkeit zu gereichen. Entsprechend heißt es in den Nachlassfragmenten: „Die eigentliche Entscheidung zwischen Welt- und Lebensbejahung und Weltund Lebensverneinung fällt also in dem Denken des Menschen über sich selbst.“ (KN 1/2 173 f.) 96 „Und die erfüllte selber ist fast eine Enttäuschung; denn nur vorgestellte Lust ist wahrhaft Lust; in der erfüllten regt sich immer schon die Unlust.“ (K 289) 95

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durchsetzt und erhält. (Vgl. EVL 32 f.) 97 „Unruhe, Enttäuschung und Schmerz sind unser Los […]. Der Wille zum Leben gibt mir Trieb zum Wirken ein. Aber es ist mit dem Wirken, als ob ich mit dem Pfluge das Meer pflügen und Samen in diese Furchen säen wollte.“ (K 298) Sonach schlussfolgert Schweitzer, nicht eine faktenbasierte Betrachtung oder gar (natur)wissenschaftliche Analyse der Welt vermöge ethisches Handeln zu fundieren, vielmehr einzig jene des Lebens, wie sie dem Lebenswillen, der „stärker [ist] als die pessimistische Erkenntnis“ (K 299), 98 zugrunde liegt: „Mein Wissen von der Welt ist ein Wissen von außen und bleibt immer unvollständig. Das Wissen aus meinem Willen zum Leben ist aber unmittelbar und geht auf die geheimnisvollen Regungen des Lebens, wie es an sich ist, zurück.“ (K 302) Hieraus resultiere das Primat der Lebensanschauung gegenüber der Weltanschauung, welches Schweitzer etwa in den Nachlasswerken darlegt: „Nicht die Weltanschauung, sondern die Lebensanschauung ist das Primäre.“ (KN 1/2 173) Konkretisiert formuliert bedeutet dies: „Der Vorrang ist nicht der, daß die Weltanschauung die Lebensanschauung hervorbringt, sondern die Lebensanschauung sucht sich im Denken über die Welt zu begreifen und umgibt sich mit der entsprechenden WeltanschauDiesen Aspekt führt Schweitzer in seiner Predigt „Die Ehrfurcht vor dem Leben“ wie folgt aus: „Der große Wille zum Leben, der die Natur erhält, ist in rätselhafter Selbstentzweiung mit sich selbst. Die Wesen leben auf Kosten des Lebens anderer Wesen. Die Natur läßt sie die furchtbarsten Grausamkeiten begehen. Sie leitet Insekten durch Instinkt an, mit ihrem Stachel Insekten anzubohren und ihre Eier in sie hineinzulegen, daß das, was sich aus dem Ei entwickelt, von der Raupe leben und sie damit zu Tode quälen soll. Sie leitet die Ameisen an, sich zusammenzutun und ein armes kleines Wesen anzufallen, um es zu Tode zu hetzen. Schaue der Spinne zu! Wie grauenvoll ist das Handwerk, das sie die Natur lehrt.“ (EVL 32 f.) Das weitere Beispiel eines mit Parasiten befallenen Schlafkranken stammt aus Schweitzers eigenem Praxisalltag als Mediziner. (Vgl. EVL 33; vgl. zu der Selbstentzweiung des Willens zum Leben etwa auch Werner 1986, S. 97) 98 Diese leistet – auf der Basis einer lebensverneinenden Haltung – Faktizitätshörigkeit und mithin Nihilismus-, Sinn- und Wertlosigkeitstendenzen Vorschub und führt in letzter Konsequenz zur Negierung des eigenen Willens zum Leben: „Aller Pessimismus ist also inkonsequent. Er stößt die Tür zur Freiheit nicht auf, sondern macht Konzessionen an die gegebene Tatsache des Daseins.“ (K 299) Vgl. hierzu auch Anm. 99 sowie Grätzel 2007, S. 78: „Die nicht-ethische Weltverneinung beschreibt die neutrale Auffassung der Faktizität der Welt. Sie ist verneinend, weil in der Neutralität der Lebensbezug, man könnte auch sagen: das Leben selbst, nicht zum Ausdruck kommt.“ 97

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ung.“ (KN 1/2 173) 99 Den damit korrelierenden, oben erwähnten Aspekt des das (konsequent „zu Ende gedachte“) Denken schließlich transzendierenden Erlebens versteht Müller prägnant zu explanieren: „Zentral für Schweitzers Weltanschauungsphilosophie ist letztlich nicht das Erkennen bestimmter Zusammenhänge in der Welt, sondern vielmehr das Erleben des Willens zum Leben im je einzelnen Individuum und in der Welt.“ 100 Mit der etablierten Definition kontrastierend, wird (in lebenspraktisch-ethischer Hinsicht relevantes) Wissen nach Schweitzer somit keineswegs im Zuge des Versuchs, das „Geheimnis des Lebens“ (durch analytisch-technische Mittel und Methodik) restlos zu dechiffrieren und mithin dessen Einzelphänomene zu kategorisieren, generiert. Die dezidierte Achtung vor dem ohnehin unergründbaren Lebensgeheimnis erweise sich als essenzielles Konstituens der Wissensgewinnung beziehungsweise als einzig adäquates Fundament der Lebensanschauung, was Schweitzer anhand folgenden Beispiels illustriert (welches ferner einmal mehr die zuweilen signifikante Inkongruenz von Gelehrsamkeit und ethischem Wissen demonstriert): Der Ungelehrte, der angesichts eines blühenden Baumes von dem Geheimnis des um ihn herum sich regenden Willens zum Leben ergriffen ist, ist wissender als der Gelehrte, der tausend Gestaltungen des Willens zum Leben unter dem Mikroskop oder im physikalischen und chemischen Geschehen studiert, aber bei aller Kenntnis von dem Ablauf der Erscheinungen des Willens zum Leben dennoch nicht von dem Geheimnis bewegt ist, daß alles, was ist, Wille zum Leben ist, sondern in der Eitelkeit aufgeht, ein Stückchen Ablauf von Leben genau beschreiben zu können. (K 329) 101

99 Die entscheidende Frage lautet in diesem Kontext also, von welcher Beschaffenheit die Lebensanschauung ist: Ist diese welt- und lebensbejahend oder welt- und lebensverneinend? (Vgl. KN 1/2 173) Damit in Korrelation steht die jeweilige Weltanschauung. 100 Müller 2007, S. 11. Siehe hierzu auch K 329 f.: „Alles wahre Erkennen geht in Erleben über. Das Wesen der Erscheinungen erkenne ich nicht, sondern ich erfasse es in Analogie zu dem Willen zum Leben, der in mir ist. So wird mir das Wissen von der Welt zum Erleben der Welt.“ 101 Diese Passage, in der Schweitzer das Staunen über den jedem Lebewesen inhärenten Wille zum Leben akzentuiert, erinnert entfernt an Martin Bubers Schilderung seines dialogischen Ich-Du-Erlebnisses mit einem Baum, im Rahmen dessen er diesen – jenseits einer rationalistischen Zweck-Mittel-Relation – als solchen in seiner eigentümlichen Gegebenheit als reines Gegenüber in dialogischem Sinne wahrnimmt. (Vgl. ID 81 f. sowie Heinze 2013b, S. 330 f.)

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Analog formuliert Schweitzer konzis in den Nachlassschriften: „Von dem Geheimnis des Lebens erfüllt sein und es in allen Wesen zu erschauen und zu verehren, ist das höchste Wissen.“ (KN 1/2 219) 102 Auf Basis dessen wird es schließlich möglich, die Frage nach dem Sinn des Daseins jenseits äußerer Gegebenheiten zu beantworten: „In vertiefter Welt- und Lebensbejahung bekunde ich Ehrfurcht vor dem Leben. Mit Bewußtsein und Wollen gebe ich mich dem Sein hin. […] Damit setze ich meinem Dasein einen Sinn von innen heraus.“ (K 303) 103 Zudem begründet besagtes „höchstes Wissen“ Ethik: „Ethik ist Ehrfurcht vor dem Willen zum Leben in mir und außer mir.“ (K 335 und FW 39) Die Ehrfurcht vor dem Leben 104 „als etwas, das dem Denken immer gegenwärtig ist“ (K 338), avanciert somit zum ethischen Grundprinzip – sie „durchdringt das Beobachten, Überlegen und Entschließen des Menschen stetig und nach allen Seiten. Er kann sich ihrer ebensowenig erwehren, als das Wasser den in es getropften Farbstoff verhindern kann, es zu färben.“ (K 338) 105 Daher erhebt Schweitzer die Ehrfurcht vor dem Leben zur „höchste[n] Instanz. Was sie gebietet, hat seine Bedeu102 Eine weitere modifizierte Formulierung findet sich wieder in der Kulturphilosophie: „Das höchste Wissen ist also, zu wissen, daß ich dem Willen zum Leben treu sein muß.“ (K 302) 103 Diesen Aspekt des „Von-innen-heraus“ pointiert Schweitzer im weiteren Argumentationsverlauf noch einmal: „Nicht dadurch, daß es mir kundtut, was diese und jene Erscheinung von Leben in dem Weltganzen bedeutet, bringt mich das Erkennen in ein Verhältnis zur Welt. In inneren, nicht in äußeren Kreisen wandelt es mit mir. Von innen heraus setzt es mich zur Welt in eine Beziehung, indem es meinen Willen zum Leben alles, was ihn umgibt, als Willen zum Leben miterleben läßt.“ (K 330) Zu Schweitzers Lösung, in kantischer Manier die ethischen Ideale nicht mittels Betrachtung des Weltgeschehens zu generieren, sondern diese vielmehr aus dem Denken zu schöpfen, gesellt sich gleichwohl der Schopenhauersche Aspekt des (Mit)Erlebens. Vgl. hierzu auch Anm. 77 dieser Arbeit. 104 Vgl. hierzu auch K 303: „Ehrfurcht vor dem Leben ist Ergriffensein von dem unendlichen, vorwärtstreibenden Willen, in dem alles Sein begründet ist. […] Alle lebendige Frömmigkeit fließt aus Ehrfurcht vor dem Leben und der in ihr gegebenen Nötigung zu Idealen.“ 105 Ein weiteres Bild der den Einzelnen durchdringenden Ehrfurcht und mithin der Teilnahme an anderem Leben zeichnet Schweitzer in nachstehender Passage: „Wie die Welle nicht für sich sein kann, sondern stetig am Wogen des Ozeans teilhat, also soll ich mein Leben nie für sich erleben, sondern immer in dem Erleben, das um mich her stattfindet.“ (K 344) Entsprechend konkludiert Schweitzer: „Ehrfurcht vor dem Leben, die ich meinem Dasein entgegenbringe, und Ehrfurcht vor dem Leben, in der ich mich hingebend zu anderem Dasein verhalte, greifen ineinander über.“ (K 337)

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tung auch dann, wenn es töricht oder vergeblich erscheint.“ (K 343) 106 Die konkrete Definition von Ethik lautet demnach wie folgt: Ethik besteht also darin, daß ich die Nötigung erlebe, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Damit ist das denknotwendige Grundprinzip des Sittlichen gegeben. Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen. (K 331) 107

Ehrfurcht (vor dem Leben) fungiert – im Sinne einer (spezifischen) Haltung 108 – als Basis ethischen Handelns, 109 denn „[w]ahre Ethik fängt an, wo der Gebrauch der Worte aufhört“ (K 337). 110 Kategorisch konstatiert Schweitzer: „Es gibt nichts Materialistischeres als die Ethik. Sie hat es nur mit dem Sein, wie [es] in dieser Welt gegeben ist, zu tun. Abstrakte Denkweise ist Gift für sie.“ (KN 1/2 94; Herv. im Orig.) 111 Infolgedessen animiert Ethik nicht nur, sondern drängt den von Ehrfurcht vor dem Leben Erfüllten regelrecht zur konkreten Tat. „Nun ist die Ethik aber ein Handeln, das auf die Sinnenwelt gerichtet ist und sie in der Richtung des Fortschritts hin zu beeinflussen unternimmt.“ (KN 1/2 94) 112 Somit hat sich die ethische Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben in praxi in der prinzipiellen Hingabe an anderes Leben zu realisieren, was im Einzelfall den bedingungslosen Schutz des jeweiligen Lebewesens be106 Diesbezüglich exemplarische Beispiele aus dem Alltagsleben werden in Kapitel I.1.2 angeführt. 107 Siehe zu dem Grundprinzip des Ethischen etwa auch K 353, ELE 21 f., EVL 32 sowie PE 111. 108 Vgl. hierzu Grätzel 2007, S. 85. 109 Auf diesen Aspekt wird im Rahmen des Stifter-Teils der Arbeit im Zuge der Exemplifikation des praktischen Vollzugs der Ehrfurcht rekurriert werden, insbesondere in Kapitel III.3. 110 Unmittelbar davor bemerkt Schweitzer in Analogie zur Kraft: „Kraft macht keinen Lärm. Sie ist da und wirkt.“ (K 337) 111 Siehe hierzu auch K 203: „Die Ethik hat materialistische Instinkte. Sie will sich in dem empirischen Geschehen betätigen und die Verhältnisse der empirischen Welt umgestalten.“ 112 Inwiefern in diesem Sinne Ethik – präziser formuliert, jene der Ehrfurcht vor dem Leben – konstitutiv für Kultur ist, wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch dazulegen sein. Zudem sei in diesem Kontext folgende, mit dem eingangs zu dieser Arbeit bezüglich der Welt- und Alltagsflucht des modernen Menschen Erläuterten kontrastierende, programmatische Versicherung Schweitzers angeführt: „Wir wirken in der Welt, nicht auf die Welt!!!“ (KN 1/2 463; Herv. im Orig.)

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deutet: „Erlebt der Mensch seine Verbundenheit mit allen Wesen, so entspringt daraus die Nötigung zu einem ins Uferlose gehenden Dienen.“ (KN 1/2 223; Herv. im Orig.) Auf das Dienen als genuine Aufgabe der Ethik rekurriert Schweitzer etwa an folgender Stelle: „Alle Ethik ist Nützlichkeitsethik, 113 denn sie will etwas erreichen. Ist Dienen! Höchste Erhaltung von Leben: dienen.“ (KN 1/2 464) 114 Ist dieser Charakter des Ethischen gänzlich internalisiert, nivelliert sich schließlich die lähmende Wirkung der oben problematisierten, paradoxen Phänomene des Lebens: 115 Wo in irgendeiner Weise mein Leben sich an Leben hingibt, erlebt mein endlicher Wille zum Leben das Einswerden mit dem unendlichen, in dem alles Leben eins ist. Labung wird ihm zuteil, die mich vor dem Verschmachten in der Wüste des Lebens bewahrt. Darum erkenne ich es als die Bestimmung meines Daseins, der höheren Offenbarung des Willens zum Leben in mir gehorsam zu sein. (K 334 f.) 116

Mit Blick auf den erwähnten Aspekt des Dienens und (qua ethischen Handelns) Forcierens einer der „Sinnenwelt“ zum Positiven gereichenden Entwicklung, ließe sich die Obliegenheit des Menschen – modifiziert formuliert – unter dem Gebot einer kulturgenerierenden Betätigung in der Welt subsumieren. Zur Klärung des Kulturbegriffs Schweitzers erscheint es indiziert, zunächst das Spezifikum der Ehrfurchtsethik hervorzuheben, welches sich (neben ihrer auf sämtliche Lebewesen gehenden Reichweite) darin manifestiere, „daß sie das verschiedenartig Ethische in seinem Zusammenhang begreift“ (K 335). Das bedeutet, der „Ethik der Hingebung“ (KN 1/2 200) wird – gleichsam als zweite, die Ehrfurchts113 Dies gilt es jedoch nicht zu verwechseln mit dem utilitaristischen Ansatz, im Rahmen dessen bei einer Handlung der größtmögliche Nutzen der größtmöglichen Betroffenenzahl gegen den geringsten Schaden aufgerechnet wird, denn erstens lehnt Schweitzer grundsätzlich eine Hierarchisierung von Leben beziehungsweise Lebewesen ab (vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in Kapitel I.1.2) und stellt zudem ausdrücklich klar: „Die Ethik berechnet nicht“ (KN 1/2 431) respektive das ethische Tun „beabsichtigt, aber berechnet nicht“ (KN 1/2 220, Anm. 72). 114 Vgl. zum Aspekt des Dienens beispielsweise auch KN 1/2 216. Dieses konkrete Dienen beginnt in dem unmittelbaren Lebensumfeld des Einzelnen, in dem dieser tagtäglich mit den ihn umgebenden Lebewesen in Berührung kommt, worauf in Kapitel I.1.2 näher eingegangen werden soll. 115 Diese betreffen insbesondere die Tatsache, dass sich Leben auf Kosten anderen Lebens durchsetzt sowie ferner jene der Geringfügigkeit individueller Wirksamkeit angesichts der massiven Missstände und des allgegenwärtigen Leidens in der Welt. 116 Siehe zum universellen Willen zum Leben zum Beispiel auch K 303.

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ethik komplettierende „Säule“ – die „Ethik des Vollkommenerwerdens“ (KN 1/2 200) 117 an die Seite gestellt: „Keine Ethik hat noch das Streben nach Selbstvervollkommnung, in dem der Mensch ohne Taten nach außen an sich selbst arbeitet, und die tätige Ethik in ihrem Nebeneinander und Ineinander darstellen können. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben vermag es […].“ (K 335) 118 Sie zeige auf, dass dem Willen zum Leben Geistiges wie Ethisches gleichermaßen innewohne beziehungsweise sich mittels desselben kundgebe: „Geistiges enthält er insofern, als er den Menschen Ziele verfolgen läßt, die ihn über sich selber hinausführen; ethisch ist er dadurch, daß er ihn sein Leben an anderes Leben hingeben läßt.“ (KN 1/2 198) Im Zuge der Konsolidierung der (ehrfurchts-)ethischen Lebensanschauung artikuliere sich das Geistige schließlich als Ethisches. (Vgl. KN 1/2 199) 119 Hinsichtlich der eingangs angeführten Fragen, mit denen nach Schweitzer jegliche intensive denkerische Befassung mit (dem) Leben anhebe, zieht er nun folgenden Schluss: „Aus dem ethisch gerichteten Willen zum Wirken empfangen die Vorstellung vom Glücklichsein und die vom Rechttun ihre Bestimmtheit. Befriedigung im Wirken wird als Glücklichsein, Hingabe an Wirken als Rechttun erlebt.“ (KN 1/2 199) Das Essenzielle der Lebensanschauung repräsentiere demnach die Tatsache, dass sich der Lebenswille nicht mit der Bewahrung der persönlichen Existenz begnüge, sondern darüber hinaus auf jene der anderen, ihm aufgrund des Prinzips des Lebenswillens verwandten Wesen abziele (vgl. KN 1/2 197): „In dem Maße, als sich das Ethisch-Geistige in der Lebensanschauung des Wirkens entfaltet, schreitet der Mensch vom primitiveren zum höheren Menschentum fort.“ (KN 1/2 199) Nicht zuletzt geselle sich zu dem „Gedanke[n] des Wirkens in Hingebung“ (KN 1/2 199) jener „der Veredelung des Lebens“ 117 Das Entscheidende des Vollkommenerwerdens bestehe darin, dass der Einzelne dadurch „in ein ethisches Verhältnis zu sich selber gelangt. […] Vor allem will dies heißen, daß er die Unwahrhaftigkeit und alles, was mit ihr zusammenhängt, nicht mehr ertragen kann […]. Er empfindet dieses Unlautere und Unedle als eine Entstellung seines Willens zum Leben.“ (KN 1/2 200) 118 Vgl. hierzu auch FW 39 sowie KN 1/2 200: „Ethik der Hingebung und Ethik des Vollkommenerwerdens machen in ihrer Verbundenheit die vollständige Ethik aus.“ Zudem sei auf das den beiden Komponenten der Ehrfurchtsethik gewidmete Kapitel in K 316–328 verwiesen. 119 Entwickelte Lebensanschauung enthalte – so Schweitzer – „die Idee des Wirkens und die des Vollkommenerwerdens miteinander“ (KN 1/2 199).

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(KN 1/2 199) 120: Sinnstiftendes, sublimierendes Wirken stelle nicht nur auf die Optimierung der Lebensbedingungen ab, sondern suche der Intention Rechenschaft zu tragen, „daß es zugleich der Höherentwicklung des Lebens dienen soll“ (KN 1/2 199). Das Dual von Selbstvervollkommnung und Hingabe begründet also Kultur im Sinne der Kultivierung des eigenen wie des fremden Willens zum Leben: Denn entsprechend der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben repräsentierten weder die (bloßen) Errungenschaften auf den Gebieten von Wissenschaft und Technik Kultur, 121 noch manifestiere sich diese (primär) in schöngeistigen Veranstaltungen oder Werken, wie etwa Müller erläutert: „Die geistigen Schöpfungen des Menschen gehören allesamt zur Kultur, doch machen sie nicht ihren Kern aus, stellen nicht das Zentrum des kulturellen Schaffens dar […].“ 122 Unmissverständlich äußert sich Schweitzer demgemäß: „Kultur ist nicht Literatur und Kunst – sondern der Wille zur geistigen und ethischen Vollendung der Gesellschaft und des einzelnen […].“ (KN 1/2 463; Herv. im Orig.) 123 Des Weiteren findet sich in den Nachlasstexten folgende prägnante 120 Dieser Gedanke findet sich höchst exemplarisch in Adalbert Stifters Nachsommer-Roman realisiert – namentlich im Rosenanwesen des Protagonisten Gustav Freiherr von Risach! 121 Bezüglich des wissenschaftlichen Fortschritts konkretisiert Schweitzer: „Der Fortschritt der Wissenschaft besteht nur darin, daß sie die Erscheinungen, in denen das vielgestaltige Leben abläuft, immer genauer beschreibt, uns Leben entdecken läßt, wo wir früher keines annahmen, und uns instand setzt, uns den erkannten Ablauf des Willens zum Leben in der Natur auf diese oder jene Art nutzbar zu machen. Was aber Leben ist, vermag keine Wissenschaft zu sagen.“ (K 329) Vgl. hierzu auch nachstehende Ausführungen Schweitzers in seiner Abhandlung „Das Problem des Ethischen in der Entwicklung des menschlichen Denkens“ bezüglich des Aspektes, dass mit der Mehrung des Wissens die Zunahme des Lebensgeheimnisses korreliere: „Unsere wahre Welterkenntnis besteht darin, uns von dem Geheimnis des Seins und des Lebens ganz erfüllen zu lassen. Dieses Geheimnis wird nur noch rätselhafter durch alle Fortschritte der wissenschaftlichen Forschung.“ (PE 110 f.) 122 Müller 2007, S. 15. Vgl. zu Schweitzers Kulturbegriff vor allem ebd., S. 14–26. 123 Noch einmal sei in diesem Kontext auf Müller verwiesen, der in Bezug auf die Begriffsbestimmung von Kultur nach Schweitzer mehrfach betont: „[F]ür Schweitzer besteht ‚Kultur‘ im wesentlichen nicht einfach in, überspitzt ausgedrückt, ‚schöngeistigen‘ Beschäftigungen des Menschen, sondern […] in dem Streben nach ‚geistig-ethischer Vervollkommnung‘ desselben“ (ebd., S. 15). So liest man etwa folgende Definition von Kultur in Schweitzers Schrift „Forderungen und Wege“: „Von außen, rein empirisch definiert, besteht vollständige Kultur darin, daß alle an sich möglichen Fortschritte des Wissens und Könnens und der Vergesellschaftung

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Notiz: „Kultur: Schaffung und Erhaltung von Werten, materiellen und geistigen Werten, die dem Leben dienen.“ (KN 1/2 463) Die Definition von „Wert“ fixiert Schweitzer an anderer Stelle: „Ein Wert besteht nur in bezug auf etwas, Kultur als Inbegriff der Werte hat nur Wert in bezug auf Leben, das zu erhalten und zu vollenden ist (das sich erhalten und vollenden will), [nur insofern,] als sie solchem Erhalten und Fördern dienen will.“ (KN 1/2 416) In dem Aufsatz „Forderungen und Wege“ vertritt Schweitzer nachstehende analoge Interpretation von Kultur: Daß es infolge aller den Menschen und der Menschheit erreichbaren Fortschritte auf der Welt möglichst viel Willen zum Leben gebe, der an allem in seinen Wirkungsbereich kommenden Leben Ehrfurcht vor dem Leben betätigt und in der Geistigkeit der Ehrfurcht vor dem Leben Vollendung sucht: dies und nichts anderes ist Kultur. (FW 48) 124

Im Kontext der Diagnose des (sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts konkret abzeichnenden) kulturellen Verfalls 125 warnt Schweitzer (in diesem Fall wohl 1936) visionär vor einer aktuell nicht minder virulenten Problematik: „Wer heutzutage Gedanken ausspricht, in denen wahre Kultur begründet wird, muß sich fragen, ob er damit unserer Kultur wieder aufhilft oder ob [er] in solchen Gedanken der Kultur in einer Zeit unaufhaltbaren Niedergangs ihr Testament macht.“ (KN 1/2 462) 126 Obgleich Schweitzer Ethik, wie erläutert, des Menschen verwirklicht werden und auf die innerliche Vollendung des Einzelnen, als auf das eigentliche und letzte Ziel der Kultur, zusammenwirken.“ (FW 47) 124 Analog zu Schweitzer plädiert Klaus Michael Meyer-Abich, welcher Schweitzers Konzeption letztlich im Sinne einer holistischen Umweltethik weiterdenkt, „für einen wesentlich erweiterten Begriff von Kultur, der darauf abzielt, dass ‚Kultur nicht primär veranstaltet wird, sondern Kultur die Form des Lebens ist und die Bereiche des Alltagslebens gerade nicht aus der kulturellen Bestimmung entlassen werden‘ […]. Es müsse jeweils situativ die Möglichkeit ergriffen werden, bereits Bestehendes sorgsam zu erhalten und zu pflegen, im Sinne einer Optimierung zu verändern oder Neues hervorzubringen, um Leben zu bewahren, zu gestalten, zu verschönern, zu kultivieren und somit den ‚menschliche[n] Beitrag zur Naturgeschichte‘ […] zu leisten.“ (Heinze 2013b, S. 341) Besonders im Rosenhaus in Stifters Nachsommer wird diesem Aspekt Rechnung getragen. 125 Eine entsprechende stichpunktartige Notiz Schweitzers in den Nachlassschriften lautet etwa: „Keine dirigierenden Ideen für [das] Wirken. – Kraftlosigkeit der heutigen Ideale. Kultur besteht aus starken Idealen.“ (KN 1/2 463; Herv. im Orig.) 126 Letzteres manifestiert sich etwa in der Zerstörung von Kunstwerken jeglicher Art. Ein paradigmatisches Negativbeispiel stellt in diesem Kontext die 1985 von der DDR-Regierung veranlasste Sprengung der Berliner Versöhnungskirche dar;

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als „das Materialistischste“ (vgl. KN 1/2 94) charakterisiert, ist letztlich nicht die Ermittlung dessen von Relevanz, was die Ehrfurchtsethik quantitativ im Detail zu leisten vermag: „Wirken wollend, darf sie doch alle Probleme des Erfolges ihres Wirkens dahingestellt sein lassen. Bedeutungsvoll für die Welt ist die Tatsache […], daß in einem ethisch gewordenen Menschen ein von Ehrfurcht vor dem Leben und Hingebung an Leben erfüllter Wille zum Leben in der Welt auftritt.“ (FW 38 f.) 127 Beat Sitter-Liver gelingt es in dem Aufsatz „‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ heißt sich auf die Welt im Ganzen beziehen“, die wichtigsten Stationen des Denkwegs Schweitzers, die versucht wurden, in den bislang getätigten Erläuterungen dieser Arbeit zu umreißen, prägnant zu resümieren. Zudem stellt der entsprechende Passus eine geeignete Überleitung zu dem nachfolgenden Kapitel bereit, in welchem – wie angekündigt – die Ehrfurcht in Bezug auf den realen Alltag des Einzelnen thematisiert wird, weshalb dieser abschließend in voller Länge zitiert werden soll: Zunächst eignet dem Lebensbegriff also funktionale Bedeutung; er dient zur Klärung und Festigung des angemessenen Ausgangspunkts für das Denken des Menschen über sich und die Welt. Er führt […] zu einer unmittelbaren neuen Einsicht; sie betrifft die moralisch relevante Verbundenheit des Menschen mit allem Lebenden. Die Beschränkung der Ethik auf das Feld zwischenmenschlicher Beziehungen wird damit gesprengt; der Lebensbegriff nötigt den moralischen Menschen zur artübergreifenden ethischen Praxis. Hierin liegt der erste entscheidende Fortschritt, welcher der Ethik neue Tiefe verleiht, sodass auf ihr sich wahre Kultur aufbauen lässt. Wahre Kultur insofern, als diese den Menschen aus selbstverschuldeter Isolation befreit und ihn angemessen in der Welt beheimatet. Wahre Kultur aber auch dadurch, dass der jetzt gewonnene Ansatz den Menschen mit seiner neu zu sehenden Verantwortung vertraut macht: Diese schließt alles ein, was als Lebewesen in des Einzelnen Bereich eintritt – nicht also […] alles Lebendige überhaupt, sondern nur das, was von ihm abhängt, was er zu fördern, ‚auf seinen höchsten Wert‘ zu bringen vermag. 128 von einer Personengruppe, die sich diskrepanterweise gleichzeitig Weltverbessertum auf ihre Fahne schrieb. 127 Vgl. hierzu auch K 333. 128 Sitter-Liver 2006, S. 246 f. Wie bereits erwähnt (vgl. Anm. 109) und in Abschnitt III der Arbeit – insbesondere in Kapitel III.2.3 – darzulegen sein wird, zeigt sich dies paradigmatisch in Stifters im Nachsommer-Roman konzipierten Rosenhaus.

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1.2 „Er reißt kein Blatt vom Baume ab“: Ehrfurcht im täglichen Lebensumfeld „Die subjektive, extensiv und intensiv ins Grenzenlose gehende Verantwortlichkeit für alles in seinen Bereich tretende Leben, wie sie der innerlich von der Welt freigewordene Mensch 129 erlebt und zu verwirklichen sucht: dies ist Ethik.“ (K 327) Diese konkretisierte Definition von Ethik Schweitzers komplettiert die eingangs des vorstehenden Kapitels zitierte, im Rahmen derer die unbegrenzte Verantwortlichkeit des Einzelnen jenseits des Bezugsrahmens des direkten Lebensumfelds akzentuiert wurde. Während im obigen Argumentationsschritt wesentliche Grundlagen der Ehrfurchtsethik im Sinne der bejahenden Welt- und Lebensanschauung sowie des Nexus von Kultur und Ethik auf Basis des Prinzips der Ehrfurcht vor dem Leben erläutert wurden, gilt es im Anschluss, dessen Realisation in praxi zu beleuchten: Ausgehend von der elementaren Schuldigkeit des Menschen sollen die gleichwohl existierenden Möglichkeiten der Praktizierung eines ehrfürchtigen Umgangs sondiert werden, um somit gleichsam Achtung im Alltag zu etablieren. Neben der sich als zentral erweisenden Respektierung der Gleichrangigkeit der differierenden Lebensformen ist der situativ-subjektive Charakter der Ehrfurchtsethik infolge von Humanität, Mitleid und Liebe als deren essenzieller Komponenten sowie das damit korrelierende Notwendigkeits-Kriterium als Handlungsmaxime zu problematisieren. „Das Denken muß danach streben, das Wesen des Ethischen an sich zum Ausdruck zu bringen. Dabei kommt es dazu, Ethik als Hingebung an Leben zu bestimmen, die durch Ehrfurcht vor dem Leben motiviert ist.“ (K 333 und FW 38) Dementsprechend charakterisiert Stephan Grätzel in seinem Beitrag zum Stichwort „Pietät“ im Wörterbuch der Würde Schweitzers Konzeption treffend als einen Ansatz, im Rahmen dessen „Ehrfurcht motivierend wird“ 130. Schweitzer versteht unter Resignation – entgegen der gebräuchlichen Verwendung – „die Halle, durch die wir in die Ethik eintreten. Nur der, der in vertiefter Hingebung an den eigenen Willen zum Leben innerliche Freiheit von den Ereignissen erfährt, ist fähig, sich in tiefer und stetiger Weise anderm Leben hinzugeben“ (FW 39) und sich nicht von äußerlichen Fakten hemmen zu lassen. 130 Grätzel, Stephan: „Pietät“. In: Wörterbuch der Würde. Hrsg. von Rolf Gröschner, Antje Kapust und Oliver W. Lembcke. München [u. a.]: Fink, 2013 (UTB; Bd. 8517: Philosophie, Politik, Recht). S. 183 f., hier: S. 184. 129

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Ehrfurcht werde – so Grätzel weiter – „zur Basis einer Tier- und Naturethik, die sich der antiken pietas annähert, indem sie die allgemeine Schuld des Menschen (‚was du bist, das bist du anderen schuldig‘ : Goethe, Tasso) zur Grundlage des ethischen Handelns macht“ 131. Letzteres ist – wie gesagt – keineswegs auf den zwischenmenschlichen Umgang reduziert, sondern die Ethik der Hingebung „verpflichtet uns zu dem gleichen Verhalten gegenüber allem Lebendigen“ (PE 108) 132. Auf zweierlei Weise artikuliere sich nach Schweitzer nun besagte (nicht mit der christlichen Erbsünde zu verwechselnde, jeden Einzelnen betreffende) genuine menschliche Schuldhaftigkeit: Einmal als (unbewusstes) schuldlos Schuldigwerden sowie zum Zweiten als (quasi je vorsätzlich begangene) Restschuld. Zur Illustration ersterer Schuldform wählt Schweitzer folgende, dem Alltag entlehnte Standardsituation des (Wald)Spaziergangs: Du gehst auf einem Waldpfad; die Sonne scheint in hellen Flecken durch die Wipfel hindurch; die Vögel singen; tausend Insekten summen froh in der Luft. Aber dein Weg, ohne daß du etwas dafür kannst, ist Tod. Da quält sich eine Ameise, die du zertreten, dort ein Käferchen, das du zerquetscht, dort windet sich ein Wurm, über den dein Fuß gegangen. In das herrliche Lied vom Leben klingt die Melodie von dem Weh und dem Tod, die von dir, dem unschuldig Schuldigen kommen, hinein. (EVL 35) 133

Dem Naturethiker Klaus Michael Meyer-Abich (welcher mittels seiner holistischen Umweltethik die Konzeption Schweitzers gewissermaßen weiterführt) gelingt es, im Zuge der Kontrastierung Schweitzers biozentrischen Standpunktes zu Konzeptionen des Pathozentrismus 134, die zweite Schuldform wie folgt zu pointieren: Ebd. Hier zeigt sich eine deutliche Parallele zu der Maxime der Personen im Nachsommer Stifters. 133 Vgl. zu den beiden Schuldformen auch ELE 22, PT 93, 96 und 98, PE 108 f. sowie RA 158. 134 Diese (tier)ethische Position erhebt die (Schmerz)Empfindungsfähigkeit zu dem ethisch (einzig) relevanten Kriterium, das heißt, es werden – neben den Menschen – sogenannte „höhere“ Tiere in den Kreis der ethisch zu Berücksichtigenden integriert. Fische, Insekten und Pflanzen etwa stehen jenseits dessen (obgleich seit geraumer Zeit auch wissenschaftlich nachgewiesen ist, dass selbst Letztere sehr wohl über ein Schmerzempfinden verfügen – unabhängig von der Möglichkeit verbaler Artikulation. Vgl. hierzu auch folgende Feststellung Meyer-Abichs: „Reicht nicht ohnehin das Leiden weiter als der Schmerz? Wer ein Verhältnis zu Pflanzen hat, weiß, daß sie vielleicht die empfindsamsten Lebewesen überhaupt sind und in ihrer 131 132

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„[W]enn das [ethisch relevante] Kriterium nun das Leben selbst ist, verbindet sich [dies] allerdings mit einer ganz neuartigen Schwierigkeit: derjenigen, daß wir von anderem Leben leben.“ 135 Schweitzer selbst artikuliert die Problematik der Restschuld im Rahmen seiner Ausführungen beispielsweise in nachstehendem Passus: „Mit der gesamten Kreatur unter dem Gesetz der Selbstentzweiung des Willens zum Leben stehend, kommt der Mensch fort und fort in die Lage, sein eigenes Leben wie auch Leben überhaupt nur auf Kosten von anderem Leben erhalten zu können.“ (RA 158) Ersterem Dilemma darf sich der Mensch insofern nicht (freiwillig) entziehen, als er gemäß der Forderung der Ehrfurcht vor dem Leben dafür verantwortlich ist, im Sinne der Lebensbejahung auch den Fortbestand des eigenes Lebens zu sichern, wofür es unabdingbar ist, Nahrung zu sich zu nehmen und somit Leben (wenn nicht tierischer, so zumindest pflanzlicher Natur) zu vernichten. Analoges gilt im Falle des Existenzerhalts eines seiner Obhut anheimgegebenen Lebewesens. 136 Folgender Appell Schweitzers an den Einzelnen erhellt, dass (partielle) Entsühnung der Schuld einzig auf dem Wege permanenten Bestrebens, Leben zu erhalten, zu schützen und zu pflegen, möglich ist: „Die Sühne müssen wir darin suchen, daß wir keine Gelegenheit versäumen, lebendigen Wesen Hilfe zu leisten.“ (PE 109) Angesichts der potenziellen, mannigfachen Hemmnisse ethischer Kräfte ermutigt Schweitzer: 137 „Das Wenige, das du tun Stille weniger ausdrucksvoll, aber nicht weniger intensiv leiden können als Tiere.“ Meyer-Abich 1990, S. 78.) 135 Meyer-Abich 1990, S. 78. 136 Vgl. zu einer entsprechenden Konfliktsituation beispielsweise PT 97 f. Auf das von Schweitzer in diesem Kontext angeführte Kriterium der Notwendigkeit wird im weiteren Verlauf des Kapitels noch einzugehen sein. 137 Es handelt sich nach Schweitzer real um „drei Versuchungen, die uns unversehens die Voraussetzung, aus der das Gute kommt, zugrunde richten“ (EVL 36) und die es zu bekämpfen gelte (vgl. EVL 34–37): Prinzipiell irritiere die erlebte Diskrepanz von Natur- und Sittengesetz (vgl. EVL 34 f.), das heißt das nicht-ethisch strukturierte Naturgeschehen, die Ehrfurcht vor dem Leben. Zudem rufe der sich – in Anbetracht des allgegenwärtigen Leidens in der Welt – aufdrängende Gedanke „Es nützt ja nichts“ (EVL 35) ein Ohnmachtsgefühl in Bezug auf das eigene (ethische) Handeln respektive die Sinnlosigkeitsannahme desselben hervor, während sich schließlich die dritte Problematik um das Phänomen des Mitleids rankt, das per se (mein eigenes) „Leiden“ (EVL 35) impliziere. Letztere beiden Problemkomplexe verführten schließlich dazu, sich zu Gedanken- und Gefühllosigkeit zu erziehen und den anderen Lebewesen den Rücken zu kehren. Schweitzer erteilt folgen-

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kannst, ist viel – wenn du nur irgendwo Schmerz und Weh und Angst von einem Wesen nimmst, sei es Mensch, sei es irgend eine Kreatur.“ (EVL 36) Wie aber ist dies im Alltagsleben in concreto möglich? Um diese Frage sachgerecht zu beantworten, muß man selbst eine ganzheitliche Perspektive einnehmen und die Einheit von Theorie und Praxis berücksichtigen, die Schweitzer in seinem eigenen Leben realisierte. Wenn man seine Ethik ausschließlich unter logisch-theoretischen Gesichtspunkten betrachtet, wird man dieser Einheit nicht gerecht. 138

Auf der Basis dieses zweckdienlichen Hinweises Hans-Joachim Werners gilt es, zunächst den konkreten Bezirk ethischer Einflussnahme des Handelnden abzustecken beziehungsweise das der Ehrfurchtsethik Schweitzers zugrundeliegende Verhältnis von Theorie und Praxis zu reflektieren: Der sich denkend seiner Verbundenheit mit allen Wesen versichernde Mensch, wie er in Kapitel I.1.1 dargestellt worden ist, ist sich aus theoretischer Perspektive des universell-radikalen, auf sämtliches Leben gehenden Ehrfurchtsgebots der Ehrfurchtsethik gewahr; 139 in praktischer Hinsicht jedoch „weiß [er] sich verpflichtet, allem Leben, das sich in seinem Bereich befindet und der Hülfe bedarf, solche, soweit er nur immer kann, zu leisten“ (KN 1/2 223). 140 Im Rahmen der konkreten Ausführung den Rat: Den ersten beiden Versuchungen „begegne, indem du dir sagst, das Mitleiden und Mitfreuen ist für dich eine innere Notwendigkeit. Alles, was du tun kannst, wird in Anschauung dessen, was getan werden sollte, immer nur ein Tropfen statt eines Stromes sein; aber es gibt deinem Leben den einzigen Sinn, den es haben kann und macht es wertvoll. Wo du bist, soll, so viel an dir ist, Erlösung sein, Erlösung von dem Elend, das der in sich selbst entzweite Wille zum Leben in die Welt gebracht hat.“ (EVL 36) Werden hier Teile der Antwort auf den Schutz vor der dritten Versuchung antizipiert, führt Schweitzer gleichwohl in Bezug auf die „Mitleidsproblematik“ zusätzlich aus, diese solle man dadurch eindämmen, indem man sich bewusst mache, „daß mit dem Mitleiden zugleich das Mitfreuen gegeben ist“ (EVL 36). Der Mitleids-Begriff wird nachfolgend noch thematisiert werden. 138 Werner 1986, S. 93. 139 „Die Grenzenlosigkeit der Ethik rührt daher, daß wir in der Anerkennung […] der Verbundenheit mit anderem Leben, wenn wir einmal damit beginnen, nicht nach Belieben haltmachen können. […] Von der Berghalde losgelöst, kommt der Stein nicht zur Ruhe, bis er auf dem Talboden angelangt ist.“ (KN 1/2 244) 140 Siehe hierzu auch KN 1/2 217: „Wagt er, sich denkend zu verhalten, so kommt er mit Notwendigkeit dazu, sich verpflichtet zu fühlen, allen Wesen, die in seinen Bereich treten, Mitempfinden entgegenzubringen und ihnen nach Bedürfnis und Möglichkeit Beistand zu leisten.“ Zu dem in den Bereich des Einzelnen tretenden, zu schützenden Leben vgl. zum Beispiel auch K 328 sowie RA 159.

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der Ethik geht es also – wie im vorstehenden Kapitel im Kontext der Definition von Ethik als höchster Form des „Dienens“ bereits angeklungen – explizit um den Schutz des (tagtäglich) in den (direkten) Umkreis des Einzelnen tretenden Lebens, welcher die Optimierung der Existenzbedingungen des Wesens, „dessen Los unserm Einfluß unterliegt“ (PE 108), inkludiert. Nicht zuletzt gelingt es dem solcherart Agierenden, mittels der Realisierung der je individuellen ethischen Anforderungen in Bezug auf die durch sein Wirken tangierten Wesen idealiter die oben angedeutete mystische Einheit mit dem Sein an sich einzulösen: Das Einswerden mit dem unendlichen Sein im Wirken besteht also darin, daß ich, soweit der Kreis meines Wirkens reicht, Leben erhalte und fördere. Indem ich mit allem in meinem Bereich befindlichen Leben Beziehung eingehe, werde ich eins mit dem unendlichen Sein, das in ihm in Erscheinung tritt. (KN 1/2 214, Anm. 62) 141

Dies impliziert, dass Mystik für Schweitzer im Alltag beginnt, 142 indem sich der Handelnde mittels der (geringsten) ethischen Tat den singulären Einzelformen des absoluten Lebenswillens helfend zuwendet und auf diese Weise mit ihnen in Beziehung tritt: „Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben ist ethische Mystik. Sie läßt das Einswerden mit dem Unendlichen durch ethische Tat verwirklicht werden.“ (RA 159) Die derlei in ihrem individuellen Lebensumfeld Aktiven, von Ehrfurcht gleichsam „Getriebenen“, apostrophiert Schweitzer als „Abenteurer der Hingebung […], deren die Welt zu wenig hat“ (K 344). Schweitzer beklagt zudem: „Gar lange dauert es, bis der Mensch sich die Grenzenlosigkeit des Gebiets der Ethik eingesteht“ (KN 1/2 244) und schließlich – neben dem menschlichen – auch alles weitere, in seine Nähe tretende Le141 Vgl. hierzu auch Werner 1986, S. 95. Schweitzers Formulierung des Beziehung Eingehens erinnert zudem unmittelbar an Bubers dialogische Philosophie, im Rahmen derer das In-Beziehung-Treten als Konstituens menschlichen Daseins plausibilisiert wird (vgl. Heinze 2011, vor allem S. 91–97). Des Weiteren ist sowohl im Kontext Bubers Dialogik als auch seiner Deutung chassidischer Lehre das den Einzelnen unmittelbar Antretende, also in seinem Bereich Befindliche, von primärer Relevanz hinsichtlich eines angemessenen Umgangs und bietet überdies die einzige Brücke zum Göttlichen. (Vgl. ebd., insbesondere S. 103–107 sowie die entsprechenden Ausführungen im II. Teil der vorliegenden Arbeit.) 142 Diesbezüglich zeigt sich eine weitere Parallele zu Martin Buber – präziser formuliert, zu seiner Deutung chassidischer Mystik. Vgl. dazu vor allem die Erläuterungen in Kapitel II.2.3.

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ben in den Kreis seiner Verantwortung integriert. Erstes Merkmal eines ethischen Bewusstseins sei somit die Erkenntnis des Individuums, „daß der Mensch als solcher seinesgleichen und sein Nächster ist“ (PE 100) und – im Sinne einer Ethik der universellen Nächstenliebe 143 – eine entsprechende Behandlung verdiene: 144 Die Humanitätsgesinnung erweist sich als kardinale Idee der Ehrfurchtsethik Schweitzers, da diese das schöpferische Potenzial des Menschen befördert und ihn zu authentischen, seinem eigentlichen Wesen gemäßen Handlungen drängt (vgl. H 129) 145. In Bezug auf das (nicht nur in gesellschaftlicher Hinsicht) zentrale Ringen um Humanität diagnostiziert Schweitzer: Zu wenig ist von diesem Ringen unter uns vorhanden. Zu sehr handeln wir, von dem Kleinsten an, der im kleinsten Betrieb etwas ist, bis zum politischen Machthaber hinauf, der Krieg und Frieden in der Hand hält, als Menschen, die es ohne Anstrengung fertigbringen, gegebenen Falles nicht mehr Menschen, sondern nur noch Vollstrecker allgemeiner Interes143 Schweitzer interpretiert seinen Ethik-Entwurf nicht zuletzt im Lichte der Nachfolge Jesu Christi. (Vgl. hierzu vor allem Schweitzers Aufsatz „Ethik als Leben im Geiste Jesu Christi“. In: Schweitzer, Albert: Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten. Hrsg. von Hans Walter Bähr. 9. Aufl. München: Beck, 2008 (Beck’sche Reihe; Bd. 255). S. 82–91) Nichtsdestominder sei es – nebenbei bemerkt – auch dem Atheisten möglich, die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben zu internalisieren und entsprechend zu handeln, da jeder Mensch – jenseits glaubensspezifischer oder religiöser Ambitionen – des sämtlichen Lebewesen innewohnenden Willens zum Leben gewahr werden kann. 144 Dies konstatiert Schweitzer in Bezug auf die Gesamtentwicklung des Ethischen in der Menschheitsgeschichte, es kann aber gleichermaßen auf die Konstituierung einer ethischen Gesinnung im einzelnen Individuum übertragen werden. Analog zu dem Verzicht auf eine Differenzierung zwischen wertvollen und weniger wertvollen Mitmenschen im Rahmen der Ehrfurchtsethik, liest man in Bubers dialogischem Hauptwerk Ich und Du in Bezug auf den dialogisch Lebenden respektive in einer dialogischen Ich-Du-Beziehung und mithin in der Liebe Stehenden das Folgende: „Wer in ihr steht, in ihr schaut, dem lösen sich Menschen aus ihrer Verflochtenheit ins Getriebe; Gute und Böse, Kluge und Törichte, Schöne und Häßliche, einer um den andern wird ihm wirklich und zum Du […]. Ausschließlichkeit entsteht wunderbar Mal um Mal – und so kann er wirken, kann helfen, heilen, erziehen, erheben, erlösen. Liebe ist Verantwortung eines Ich für ein Du.“ (ID 87 f.) 145 In seinem kurzen Aufsatz „Humanität“ aus dem Jahr 1961 umreißt Schweitzer deren Charakteristika wie folgt: „Die Humanität nötigt uns, in kleinen und in großen Dingen auf unser Herz zu hören und seinen Eingebungen Folge zu leisten. Gerne möchten wir dabei stehen bleiben, nur das, was unserm vernünftigen Überlegen als gut und durchführbar vorkommt, zu tun. Aber das Herz ist ein höherer Gebieter als der Verstand. Es verlangt von uns zu tun, was den tiefsten Regungen unseres geistigen Wesens entspricht.“ (H 129)

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sen zu sein. […] Wir haben auch keine wirkliche Achtung mehr voreinander. Alle fühlen wir uns einer kalten, sich in Prinzipien versteifenden, unpersönlichen und gewöhnlich noch unintelligenten Opportunitätsmentalität ausgeliefert, die, um kleinste Interessen zu verwirklichen, größter Inhumanität und größter Torheit fähig ist. (K 350; Herv. sind zugefügt)

Respekt ist im Alltag als primäre Forderung des Umgangs zu institutionalisieren – so könnte die generelle Direktive der Ehrfurchtsethik wie folgt zusammengefasst werden: „[D]ie Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben […] verlangt, daß wir alle irgendwie und in irgend etwas für Menschen Mensch sind.“ (K 345) 146 Dies erfordert keineswegs (ausschließlich) sogenannte „heroische“ Taten, sondern beginnt – im Gegenteil – mit dem Kleinen, jedem Einzelnen nach Maßgabe seiner individuellen Möglichkeiten Realisierbaren, 147 das heißt, das (nicht mehr) Selbstverständliche soll (wieder) habitualisiert werden (was in ethischer Hinsicht bereits einen immensen Zugewinn bedeutete): „Denen, die sich im Beruf nicht als Menschen an Menschen ausgeben können […], mutet sie [die Ehrfurchtsethik] zu, etwas von ihrer Zeit und Muße, auch wenn sie ihnen kläglich zugemessen sind, zu opfern. Schafft euch ein Nebenamt, sagt sie zu ihnen, ein unscheinbares, vielleicht ein geheimes Nebenamt.“ (K 345) Es ist also mitnichten hinreichend, (gleichsam passiv) der potenziell Hilfsbedürftigen zu harren – vielmehr gilt es, selbst aktiv zu werden und diese akribisch ausfindig zu machen, wie Schweitzer emphatisch bekundet: Tut die Augen auf und suchet, wo ein Mensch oder ein Menschen gewidmetes Werk ein bißchen Zeit, ein bißchen Freundlichkeit, ein bißchen Teilnahme, ein bißchen Gesellschaft, ein bißchen Arbeit eines Menschen braucht. Vielleicht ist es ein Einsamer, oder ein Verbitterter, oder ein Kranker, oder ein Ungeschickter, dem du etwas sein kannst. Vielleicht ist es ein Greis oder ein Kind. Oder ein gutes Werk braucht Freiwillige, die einen freien Abend opfern oder Gänge tun können. (K 345)

Doch damit nicht genug, denn – wie erwähnt – „[i]n Wirklichkeit hat es die Ethik […] mit dem Verhalten des Menschen zu allen in 146 In Bezug auf die Forderungen im zwischenmenschlichen Bereich vgl. vor allem K 342–353. 147 Diesbezüglich mahnt Schweitzer: „Keiner maße sich ein Urteil über den andern an. In tausend Arten hat sich die Bestimmung der Menschen zu erfüllen, damit sich das Gute verwirkliche. Was er als Opfer zu bringen hat, ist das Geheimnis jedes Einzelnen.“ (FW 40 f.)

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seinen Bereich tretenden Geschöpfen zu tun. Betätigung des Guten an Menschen ist nur eine Äußerung meiner Gesinnung gegen das andere Wesen überhaupt.“ (KN 1/2 58) Das Axiom des Menschen als Maß aller Dinge erklärt Schweitzer für obsolet, indem er die „Idee der Menschheit“ (KN 1/2 218) radikal nur als „das Mittelgebirge [definiert], hinter dem sich das Hochgebirge der Idee der Zusammengehörigkeit aller Wesen erhebt“ (KN 1/2 218). Seinen Status und mithin seine Bestimmung einzig im Verband mit (den) ihm verwandten übrigen Wesen adäquat begreifend, 148 habe sich der Mensch – getreu der Maxime Schweitzers Idol des Franz von Assisi – nicht als deren Herr, sondern vielmehr Bruder zu betätigen: „Geschöpfe [sind] Genossen des Menschen, um die er sich kümmern [muß]. Alle Not des lebendigen Wesens geht ihn an.“ (KN 1/2 218, Anm. 65) 149 Angesichts dieses schwerlich kalkulierbaren Aufgabenspektrums tendiere er jedoch dazu, „das Problem unerledigt [zu] lassen. Dies geht aber nicht an, weil er im täglichen Leben fort und fort mit ihnen [den (übrigen) Kreaturen] zu tun hat.“ (KN 1/2 218) Um sich aus besagter Verantwortung zu stehlen, scheint der Mensch dennoch nicht davor gefeit, sich zu fadenscheinigen Argumenten hinreißen zu lassen: Nun versucht er, zwischen ihm näher und ferner stehenden, höher und niedriger entwickelten, guten und bösen, nützlichen und unnützen, wertvollen und wertlosen Wesen zu unterscheiden, von denen die einen Anspruch darauf haben sollen, daß er sich ethisch zu ihnen verhält, die andern nicht. Aber diese Entscheide sind so unzulänglich und so willkürlich, daß sich sein Denken nicht mit ihnen zufriedengeben kann. (KN 1/2 218)

Der Mensch vermag weder zu wissen, welche Bedeutung den einzelnen Lebewesen angesichts des Weltganzen inhäriert, noch darf er sich anmaßen, dies festzulegen. (Vgl. K 330) 150 Im Gegensatz zu Vgl. hierzu auch folgende Konstatierung Martin Bubers in Das Problem des Menschen: „Nur die Teilnahme am Sein der seienden Wesen erschließt den Sinn im Grunde des eigenen Seins.“ (PM 393) 149 Vgl. hierzu auch H 132 und exemplarisch den Aufsatz von Teutsch 1990: „Ehrfurchtsethik und Humanitätsidee. Albert Schweitzer beharrt auf der Gleichwertigkeit alles Lebens“ sowie Müller, Christian: „‚Der wahre Mensch fühlt sich als Bruder der Geschöpfe‘ – Tierethische Reflexionen in Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben.“ In: Albert-Schweitzer Rundbrief Nr. 101/2009. S. 23–32. 150 „Wir haben […] keine Maßstäbe, den Wert des Lebens zu bemessen. Bewusstsein, Interesse, Persönlichkeit – das sind alles Hilfskonstruktionen, die nur dazu 148

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pathozentrischen Ansätzen (namentlich jenem Peter Singers) verzichtet die Ehrfurchtsethik also darauf, zwecks Ermittlung des ethisch Relevanten vage Kriterien wie etwa das Schmerzempfinden eines Wesens geltend zu machen 151 und folglich die Grenze des Schutzwürdigen notgedrungen „quer durch das Tierreich […] zu ziehen“ 152: „Nicht nur das uns nahestehende Leben, sondern das Leben als solches haben wir zu erhalten und zu fördern“ (KN 1/2 218; Herv. im Orig.), 153 denn – so Schweitzer weiter – „[a]lles Leben bedeutet einen Wert“ (KN 1/2 219) – ja ist gar ausnahmslos als heilig zu deklarieren (vgl. etwa K 331). Somit sei es unabdingbar, „[d]aß wir damit vor [sic!] der unvollständigen zur vollständigen Humanitätsgesinnung fortschreiten und der naiven Unmenschlichkeit, in der wir noch befangen waren, entsagen“ (H 132): Wie Stefan Bernhard Eck herausstreicht, „machte diese ins Universelle erweiterte Ethik der Nächstenliebe nicht vor dem Kleinen – aber auch Allerkleinsten halt […]. In seinem [Schweitzers] Konzept spielen die Grade der Empfindungsfähigkeit oder des Bewusstseins keine Rolle. Was für ihn einzig und allein zählt, ist das Leben als solches.“ 154 Eck verweist in diesem Kontext auf nachstehende prägnanten Beispiele Schweitzers bezüglich des eine Hierarchie der Lebewesen kategorisch ablehnenden ethischen Menschen: Geht er nach dem Regen auf der Straße und erblickt den Regenwurm, der sich darauf verirrt hat, so bedenkt er, daß er in der Sonne vertrocknen muß, wenn er nicht rechtzeitig auf Erde kommt, in der er sich verkriechen kann, und befördert ihn von dem todbringenden Steinigen hinunter ins Gras. Kommt er an einem Insekt vorbei, das in einen Tümpel gefallen ist, so nimmt er sich die Zeit, ihm ein Blatt oder einen Halm zur Rettung hinzuhalten. (K 332) 155 dienen, sich dort ein reines Gewissen zu verschaffen, wo wir es nie erlangen können, nämlich in der Klassifizierung von Leben.“ (Grätzel 2007, S. 86 f.) 151 Siehe hierzu auch Anm. 191. 152 Meyer-Abich 1990, S. 78. Siehe hierzu auch Anm. 134 der vorliegenden Arbeit. 153 Vgl. hierzu auch K 331. 154 Eck 2002, S. 33. Vgl. hierzu auch beispielsweise K 331: „Wahrhaft ethisch ist der Mensch nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgend etwas Lebendigem Schaden zu tun. Er fragt nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als wertvoll Anteilnahme verdient, auch nicht, ob und inwieweit es noch empfindungsfähig ist.“ 155 Siehe zu dem aus der Wasserlache geretteten Insekt auch K 334 sowie 341; zur Rettung des Wurms vgl. auch WE 194. „Im praktischen Handeln des Alltags stellte Schweitzer jedoch eine Wertrangfolge auf.“ (Eck 2002, S. 35) Eck sucht dies anhand

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Außerdem mutet die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben dem Menschen zu, nicht nur bei jeder sich bietenden Gelegenheit Hilfe zu leisten, sondern darüber hinaus unablässig bestrebt zu sein, Leid, soweit es irgend möglich ist, von vornherein zu verhüten: So habe der ethische Mensch etwa per se „acht, daß er kein Insekt zertritt. Wenn er im Sommer nachts bei der Lampe arbeitet, hält er lieber das Fenster geschlossen und atmet dumpfe Luft, als daß er Insekt um Insekt mit versengten Flügeln auf seinen Tische fallen sieht.“ (K 331) Zur weiteren Illustration wählt Schweitzer eine konkrete Situation aus dem Alltag in Lambarene respektive aus der Phase der Errichtung der Hütten des Dorfes für die Leprapatienten, die er wie folgt erläutert: „Ehe der Pfahl ins Loch kommt, sehe ich nach, ob nicht Ameisen, Unken oder andere Tiere hineingeraten sind, und hole sie mit der Hand heraus, daß sie nicht vom Pfahle zermalmt werden oder nachher beim Einstampfen von Stein und Erde zugrunde gehen.“ 156 Wachsamen Auges, mutig und unbefangen geht der ethisch Sensibilisierte, von Ehrfurcht Geleitete also tagtäglich seines Weges: „Er fürchtet sich nicht, als sentimental belächelt zu werden. Es ist das Schicksal jeder Wahrheit, vor ihrer Anerkennung ein Gegenstand des Lächelns zu sein.“ (K 332) Die Idee der Ehrfurcht vor dem Leben repräsentiert für Schweitzer jene Wahrheit schlechthin, welche einzig die desaströsen Zustände in der Welt zu beheben und der Kultur wieder auf die Beine zu helfen vermag: „Die Ehrfurcht vor dem Leben, zu der wir Menschen gelangen müssen, begreift […] alles in sich, was als Liebe, Hingebung, Mitleiden, Mitfreude, Mitstreben in Betracht kommen kann. Wir müssen uns von dem gedankenlosen Dahinleben frei machen.“ (ELE 22) Das bahnbrechende, von Arthur Schopenhauer in seiner Preisschrift „Über die Grundlage der Moral“ formulierte Diktum des Mitleid-Phänomens als „das große Mysterium der

folgender, an den Philosophen Oskar Kraus gerichteten Briefpassage Schweitzers nachzuweisen: „Alles Lebendige ist geheimnisvoll und wertvoll, auch wenn wir ihm keinen Wert beilegen können (wie ich den Raupen, die jetzt meinen Orangenbaum kahl fressen, keinen Wert geben kann). Alles Rätselhafte als rätselhaft stehen lassen.“ (Zitiert nach: ebd.) Zu realen Einzelsituationen, in denen sich Schweitzer in der Praxis etwas gegenüber den Tieren hat zu Schulden kommen lassen, siehe Anm. 1017 und 1071 dieser Arbeit. 156 Zitiert nach: Das Albert Schweitzer Lesebuch. Hrsg. von Harald Steffahn. 4. Aufl. München: Beck, 2009 (Beck’sche Reihe; Bd. 1133), S. 289.

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Ethik“ 157, welches – im Sinne einer „praktische[n] Mystik“ 158 – gleichsam die Barrieren zwischen „Ich“ und „Nicht-Ich“ niederzureißen im Stande sei, avanciert bei Schweitzer zu dem zentralen Faktor, der über Speziesgrenzen hinweg die unmittelbare Verbundenheit aller Lebewesen besiegelt. Sämtliche mit dieser Grundtriebfeder der Ethik korrelierenden ethischen Kräfte seien schließlich am ehesten unter besagter Formel der Ehrfurcht vor dem Leben zu subsumieren, welche daher prädestiniert sei, ethisches Handeln nicht nur zu fundieren, sondern darüber hinaus konkret im Alltagsleben des Individuums zu etablieren: Mag das Wort Ehrfurcht vor dem Leben als sehr allgemein etwas unlebendig klingen, so ist doch das, was damit bezeichnet wird, etwas, das den Menschen, in dessen Gedanken es einmal aufgetreten ist, nicht mehr losläßt. Mitleid, Liebe, und überhaupt alles wertvoll Enthusiastische sind in ihm gegeben. (K 333 und FW 38)

Entsprechend resümiert Schweitzer schließlich: „Die in dem Denken entstehende Ethik ist also nicht ‚verstandesgemäß‘, sondern irrational und enthusiastisch. Sie steckt keinen klug abgemessenen Kreis von Pflichten ab, sondern legt dem Menschen die Verantwortung für alles Leben, das in seinem Bereich ist, auf […].“ (RA 159) Irrational ist die Ehrfurchtsethik sonach, da sie das schier Unmögliche verlangt, nämlich sämtliches in den Einflussbezirk des Einzelnen geratendes Leben ausnahmslos und fortwährend zu schützen und zu erhalten; enthusiastisch insofern, als sie die Radikalität selbigen Postulats freudig zu akzeptieren, den Glauben an dessen Praktikabilität konstant optimistisch aufrecht zu erhalten und in die Tat umzusetzen fordert, im Sinne besagter, über jedwede widrigen Zustände der Welt erhabene, bedingungslos praktizierte Hingabe. In Schopenhauer o. J., S. 248 und 313. Vgl. auch Anm. 73 der Arbeit. „Jede ganz lautere Wohltat, jede völlig und wahrhaft uneigennützige Hülfe, welche, als solche, ausschließlich die Noth des Andern zum Motiv hat, ist […] eigentlich eine mysteriöse Handlung, eine praktische Mystik […]. Denn daß Einer auch nur ein Almosen gebe, ohne dabei auf die entfernteste Weise etwas Anderes zu bezwecken, als daß der Mangel, welcher den Andern drückt, gemindert werde, ist nur möglich, sofern er erkennt, daß er selbst es ist, was ihm jetzt da unter jener traurigen Gestalt erscheint, also daß er sein eigenes Wesen an sich in der fremden Erscheinung wiedererkenne.“ (Ebd., S. 313) Hinter dieser Einsicht steht die – sowohl Schopenhauer wie auch Schweitzer maßgeblich beeinflussende – indische Formel des tat twam asi, „dies bist Du“ beziehungsweise „Ich noch ein Mal“. (Vgl. ebd., S. 311–313) 157 158

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theoretischer Hinsicht liefert die Ehrfurcht vor dem Leben also die Gesinnungsgrundlage ethischen Handelns und zeigt mithin die Sphäre ethischer Rücksichtnahme auf. Gleichwohl gibt der bereits zitierte Hans-Joachim Werner in Bezug auf ethische Dilemmata zu bedenken: Aber die theoretische Perspektive allein ist unvollständig und deshalb nicht entscheidend. In der konkreten Erfahrung, in dem direkten Angesprochenwerden durch lebendiges Sein kommt etwas hinzu, was in dem theoretisch formulierten ethischen Prinzip selbst nicht enthalten ist. Dieses fordert von jedem Menschen die Bereitschaft, Lebewesen mit Ehrfurcht gegenüberzutreten, wo immer dies möglich ist. […] Das Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben sagt uns aber nicht, wie wir uns verhalten sollen, wenn wir uns zwischen verschiedenen Lebewesen und -formen zu entscheiden haben. 159

Wird endlich die (bereits mehrfach angeführte) Liebe als schlechthinniger Charakter und mithin Ziel der Ethik fokussiert – denn „[ü]berall, wo das Denken das Wesen des Ethischen wahrhaft zu erfassen sucht, wird es ihm irgendwie als Liebe offenbar“ (KN 1/2 121) 160 – artikuliert sich die Problematik des Ethischen am reinsten: „Das Gebot der Liebe ist einzig und absolut: Ihm allgemeingültige Ausführungsbestimmungen beizugeben, ist unmöglich.“ (KN 1/2 219) 161 Demnach resultieren aus dem Faktum, dass Liebe nicht zu reglementieren ist (vgl. PT 96 f.), 162 gravierende Konsequenzen, be159 Werner 1986, S. 96. Dieser von Werner thematisierte Aspekt des „Angesprochenwerden[s] durch lebendiges Sein“ weist einen dialogischen Anklang auf. (Siehe hierzu auch das in Anm. 141 bereits Ausgeführte.) Jener ebenfalls thematisierte Aspekt der Nichtangabe, welches Leben im konkreten Fall zu schützen sei, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. 160 In diesem Kontext bezieht sich Schweitzer auf Jesus, welcher eine „gewaltige Ethik der Liebe“ (KN 1/2 118) gepredigt und im Zuge dessen geltend gemacht habe, „daß die Ethik aus einem inneren Müssen kommt und absolut gilt“ (KN 1/2 121; zu Jesus als Vorbild für die Konzeption der Ehrfurchtsethik siehe ferner Anm. 143 dieser Arbeit). Zur Thematik der Liebe vgl. beispielsweise auch KN 1/2 219 f. sowie folgendes Diktum Martin Bubers in seiner Abhandlung Vom Leben der Chassidim: „In Wahrheit aber ist Liebe ein Urweites und Tragendes und ohne alle Wahl und Scheidung hingebreitet zu den Lebendigen.“ (LC 42) 161 Vgl. zur Ergänzung KN 1/2 247: „Nur das Grundprinzip des Ethischen ist einfach und allgemeingültig. Ihm einfache und allgemeingültige Ausführungsbestimmungen beizugeben, ist unmöglich.“ 162 „Daß die Ethik durch die Anerkennung des Prinzips der Liebe aufhört, reglementierbar zu sein, darüber kann man sich hinwegzutäuschen versuchen, solange man sie nur in Liebe zu Menschen bestehen läßt. Gibt man aber zu, daß das Prinzip

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sonders hinsichtlich des Umgangs mit ethischen Konflikten im täglichen Leben: „Von Fall zu Fall, aus tiefstem und stets lebendigem Verantwortungsgefühl heraus, hat der einzelne zu entscheiden, wie [er] ihm [dem Liebesgebot] Genüge [tun] kann.“ (KN 1/2 247) 163 Die Definition von Ethik gilt es dementsprechend zu modifizieren: „Ethik ist das Absolute, auf subjektivste und relativste Weise verwirklicht.“ (KN 1/2 247; Herv. im Orig.) Gegenüber klassischen normativen Modellen konzipiert Schweitzer somit eine subjektivsituative Ethik, 164 die das Individuum niemals schont, geschweige denn seiner ethischen Pflicht (temporär oder partiell) entbindet, sondern beständig aufs Neue – an dessen von Ehrfurcht vor dem Leben dominiertes Verantwortungsbewusstsein appellierend – (heraus)fordert: Nur subjektive Entscheide kann der Mensch in den ethischen Konflikten treffen. Niemand kann für ihn bestimmen, wo jedesmal die äußerste Grenze der Möglichkeit des Verharrens in der Erhaltung und Förderung von Leben liegt. Er allein hat es zu beurteilen, indem er sich dabei von der aufs höchste gesteigerten Verantwortung gegen das andere Leben leiten läßt. (K 340 und FW 40)

In Bezug auf die eingangs zu diesem Kapitel thematisierte Restschuld des Menschen impliziert dies tagtäglich eine Gratwanderung zwischen dem Erhalt der eigenen (physischen) Existenz und jenem des anderen, als Nahrung dienenden (tierischen wie pflanzlichen) Lebens. Schweitzer demonstriert diesen hochbrisanten Konflikt in Analogie zu „eine[r] unberechenbare[n] Ellipse, deren Brennpunkte, Selbsterhaltung und Aufopferung, sich ständig gegeneinander verschieben“ (KN 1/2 220 und 247). 165 Damit in Korrelation steht die sich eisern aufdrängende Frage, „wieviel er [der Mensch] von seinem Leben behalten darf und wieviel er davon zur Erhaltung und Förderung von anderem [Leben] dahingeben muß“ (KN 1/2 220). Die einzige Chance des auf sich allein gestellten Menschen, in der Liebe auf alle Kreatur auszudehnen sei, so erkennt man damit an, daß das Gebiet des Ethischen grenzenlos ist.“ (PT 97) 163 Siehe hierzu auch KN 1/2 219 f.: „Von Fall zu Fall und aus dem tiefsten Gefühl der Verantwortung heraus hat er den Entscheid zu suchen.“ 164 Vgl. hierzu zum Beispiel auch K 339 f., PT 97, PE 107 und 109 sowie RA 157 f. 165 „Tritt der äußerste Fall ein, daß der Mensch höchste Selbstbehauptung nur als völlige Selbstaufopferung verwirklichen zu können glaubt, wird die Ellipse zum Kreis. Der Kreis ist Vollendung, aber Ende zugleich … […].“ (KN 1/2 247) Vgl. KN 1/2 304, Anm. 115: „Das Ethische: eine Ellipse.“

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Albert Schweitzers Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben

den komplexen ethischen Dilemmata, in die er sich tagtäglich verstrickt sieht, zielsicher die adäquate Handlungsoption zu wählen, sieht Schweitzer darin, die illimitierte Verantwortung als solides inneres Zentrum stets aktiv zu halten, so „daß er die Stimme des Ethischen immer lauter vernimmt“ (K 340): „Wie die sich durch die Wasser wühlende Schraube das Schiff, so treibt die Ehrfurcht vor dem Leben den Menschen an“ (FW 38), damit dieser – jenseits abstrakter Prinzipien – im Zuge immer intensiveren Erlebens der Konflikte sukzessiv ein Rechtsbewusstsein zu konstituieren vermag, um auf Basis dessen auszuloten, welche Position er legitimerweise für sich beanspruchen darf. 166 Es kommt hier nicht nur die Frage in Betracht, wann das Dasein oder das Wohlergehen eines Geschöpfes der Existenz und den Bedürfnissen des Menschen geopfert werden darf, sondern auch die, wie wir uns zu entscheiden haben, wenn die Existenz oder das Wohlergehen des einen Geschöpfes der Existenz oder dem Wohlergehen des anderen geopfert werden muß. In welcher Weise ist es berechtigt, wenn wir, um ein armes, verlassenes Vöglein zu unterhalten, Insekten fangen und sie ihm zum Futter geben? Nach welchem Prinzip entscheiden wir uns, eine Vielheit anderer Existenzen zu opfern, um die eine zu erhalten? (PT 97 f.) 167

Die Ehrfurchtsethik formuliert letztlich „keine Lehre über den Umfang der erlaubten Selbsterhaltung“ (K 342) oder gibt konkrete Normen in Bezug auf die (nicht minder) prekäre Zwangslage an die Hand, fremdes Leben gegen anderes fremde Leben aufwiegen zu müssen: „Es ist also jedem von uns auferlegt, im Einzelfall zu entscheiden, ob wir vor der unausweichlichen Notwendigkeit stehen, Leiden zu verursachen, zu töten und uns damit abzufinden, daß wir, eben aus Notwendigkeit, schuldig werden.“ (PE 109) Gleichwohl stellt die Ehrfurchtsethik – wie letztere Passage erhellt – in Form des Kriteriums der „unausweichlichen Notwendigkeit“ (PE 109) Grundlegend hierfür ist nicht zuletzt die mystische Einsicht in die Eingebettetheit des individuellen Lebens in den übergeordneten Gesamt(lebens)zusammenhang im Sinne der Konstituierung eines „innere[n] [geistigen] Verhältnis[ses] zum Universum“ (PE 112 – dies ist das Entscheidende, nicht die faktische Reise ins All) sowie die bereits dargelegte Bejahung des eigenen Lebens: „Nur insoweit, als ich eine Grundanschauung davon besitze, was mir mein Leben bedeutet und was ich damit anfangen will, weiß ich auch, wie mich in allen Entscheiden, die das Leben von mir verlangt, verhalten.“ (KN 1/2 185) Vgl. hierzu Anm. 92, in der der Aspekt der Würdeerweisung dem eigenen Leben gegenüber erläutert wird. 167 Vgl. zu der in diesem Passus angegebenen konkreten Konfliktsituation auch PE 108. 166

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Die Prinzipien der Ehrfurchtsethik

zumindest einen (relativ vagen) Anhaltspunkt für die konkrete Handlungsausrichtung bereit. Auf Basis dessen sieht sich der ethisch Orientierte in der Pflicht, die Schädigung und Zerstörung von Leben auf ein absolutes Minimum zu reduzieren und dieses niemals gedankenlos zu beeinträchtigen: „Er reißt kein Blatt vom Baume ab, bricht keine Blume“ (K 331) 168 aus Unachtsamkeit, bloßer Willkür oder gar ausgemachter Bosheit. So wird ferner deutlich, dass der Mensch zwar autorisiert ist, „sich die […] Kräfte der Natur dienstbar zu machen“ (KN 1/2 216), 169 dies jedoch keinesfalls zum Selbstzweck 170 und „nur insoweit, als sie [die Einflussnahme auf Natur] ihm dazu dient, sein und anderes Leben […] besser zu erhalten und zu fördern“ (KN 1/2 216). So resümiert Schweitzer am Beispiel des Landwirtes: Wo ich irgendwelches Leben schädige, muß ich mir darüber klar sein, ob es notwendig ist. Über das Unvermeidliche darf ich in nichts hinausgehen, auch nicht in scheinbar Unbedeutendem. Der Landmann, der auf seiner Wiese tausend Blumen zur Nahrung für seine Kühe hingemäht hat, soll sich hüten, auf dem Heimweg in geistlosem Zeitvertreib eine Blume am Rande der Landstraße zu köpfen, denn damit vergeht er sich an Leben, ohne unter der Gewalt der Notwendigkeit zu stehen. (K 340) 171 168 Diese Stelle zitiert auch Peter Singer im Kontext der Bezugnahme auf Schweitzers Konzeption in seiner Praktischen Ethik. (Vgl. Singer 2013, S. 437) Siehe hinsichtlich Singers Wertung der Ehrfurchtsethik auch die entsprechenden Ausführungen im nachstehenden Kapitel I.2. 169 Mittels Maschinen – so Schweitzer weiter – sei der Mensch mittlerweile in der Lage, „Berge abzutragen, Täler auszufüllen, Meere miteinander zu verbinden, in mannigfachster Weise räumliche Entfernungen zu überwinden, Wärme und Kälte und Licht und Dunkel zu erzeugen, Stoffliches zu zerlegen und in anderer Art wieder zusammenzusetzen […]“ (KN 1/2 216; vgl. KN 1/2 233, 286 und 304). 170 Entsprechend mahnt Schweitzer: „Aber all diese Macht zur Umgestaltung des Seins, so groß sie auch ist und in Zukunft noch größer werden mag, hat für den Menschen keine Bedeutung an sich […].“ (KN 1/2 216; vgl. KN 1/2 233, 286 und 304) 171 Vgl. hierzu auch Werner 1986, S. 97 sowie den Aspekt, dass es im Rosenhaus des Stifterschen Nachsommer strikt untersagt ist, Blumen jeglicher Art zu brechen, um diese etwa in einer Vase zu präsentieren. Zudem bilden folgende Maßnahmen Schweitzers in Bezug auf die Ölpalmen gleichsam ein Analogon zu dem aufwendigen Vorgehen der Baumversetzung Risachs in Stifters Nachsommer (vgl. Anm. 838): „Besondere Arbeit nehmen wir aus Mitleid mit den Palmbäumen auf uns. Der Platz, auf den unser Wohnhaus kommen soll, ist mit Ölpalmen bestanden. Das einfachste wäre, sie abzuhauen. Es gibt ihrer so viele. Wir bringen es aber nicht übers Herz, sie der Axt zu überantworten, gerade jetzt, wo sie, vom Schlinggewächs befreit, ein neues Dasein beginnen. Also verwenden wir unsere Mußestunden darauf, diejeni-

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Albert Schweitzers Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben

In der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben Albert Schweitzers werden somit – wie zu zeigen war – neben Menschen und Tieren jeglicher Art erstmals auch pflanzliche Lebewesen in den Kreis des ethisch zu Berücksichtigenden integriert: Der Mensch weiß sich Letzteren – aufgrund des diesen ebenfalls immanierenden Lebenswillens – auf der Basis der evidenten Bewusstseinstatsache, „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ (K 330) – verwandt und somit verpflichtet. Abschließend soll der Frage nachgegangen werden, welcher Status anorganischen Lebensformen im Rahmen der Konzeption Schweitzers eingeräumt wird.

2.

Auf halbem Wege? Das Beispiel des Kristalls oder Der Schutz anorganischen Lebens

„Die höchste Ehre, die man einem Denken antun kann, ist, daß man es rücksichtslos auf seinen Gehalt an Wahrheit prüft, wie den Stahl auf seine Festigkeit.“ (KN 1/2 456) Diese Anerkennung soll Schweitzer nicht verwehrt, sondern nachfolgend mittels des Versuchs gezollt werden, neben der summarischen Rekapitulation der offenkundigen Stärken der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben auch argumentative Lücken aufzuzeigen, um damit nicht zuletzt einen geeigneten Anknüpfungspunkt für den sich anschließenden, Martin Buber gewidmeten Teil der Arbeit zu gewinnen. Während im vorstehenden Kapitel I.1 wesentliche Komponenten und Spezifika der Ehrfurchtsethik Schweitzers dargelegt worden sind sowie dessen Alltagsrelevanz auf Basis der Forderung absoluten Schutzes aller Lebewesen exemplifiziert wurde, gilt es, im Zuge einer Akzentverlagerung final die Frage der Ehrfurcht gegenüber anorganischen Naturerscheinungen anhand des eingangs erwähnten KristallBeispiels zu erörtern: Inwiefern ist es in dem von der Ehrfurchtsethik abgesteckten Bezugsrahmen zu rechtfertigen, die Zerstörung eines Kristalls ebenfalls als unethisch zu titulieren? In diesem Kontext ist der schließlich von Schweitzer selbst eingeräumte Zweifel an seinem kulturphilosophischen Projekt zu berücksichtigen, ferner das gen, die noch versetzbar sind, vorsichtig auszugraben und anderswohin zu verpflanzen, was eine große Arbeit ist. Auch große Ölpalmen […] lassen sich versetzen.“ (Zitiert nach: Steffahn 2009, S. 290)

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Das Beispiel des Kristalls oder Der Schutz anorganischen Lebens

Desiderat des Anschauungsmaterials als kritischer Aspekt in Hinblick auf die konkrete Anwendung der Ethik kursorisch zu reflektieren. „Was wir für die Erde bedeuten, wissen wir nicht. Wie viel weniger dürfen wir uns dann anmaßen, dem unendlichen Universum einen auf uns zielenden oder durch unsere Existenz erklärbaren Sinn beilegen zu wollen!“ (K 293) Schweitzer liefert mit diesem konzisen Diktum aus den Nachlassfragmenten eine ideale Vorlage, um die Errungenschaften seines philosophischen Wirkens noch einmal resümierend in den Blick zu nehmen: In Rekurs auf das in der Einführung zu vorliegender Untersuchung bezüglich der im direkten Sinne „weltfremden“ Forscherperspektive Ausgeführte, wird der Mensch mittels der Forderungen Schweitzers in mehrerlei Weise gleichsam wieder „auf die Erde“ (zurück) zitiert: Jegliche Weltabwertungstendenzen im Sinne einer welt- und lebensverneinenden Haltung negierend, gestattet er diesem nicht, sich aus der Welt zu stehlen oder auf sich selbst zurückzuziehen, sondern nötigt ihn vielmehr, sein Glück im täglichen Leben und im Verbund mit den ihn umgebenden Lebewesen zu realisieren, welches er als ethisches Handeln plausibel macht. In aller Bescheidenheit, die obiges Zitat impliziert, hat der seinen Stellenwert im Universum nicht zu ermessen vermögende Mensch umso bestimmter seiner – angesichts der permanenten, zweifachen Schuldbeladenheit – sehr wohl zu definierenden Aufgabe der absoluten Verantwortung gegenüber allem in seinem Bereich befindlichen Leben nachzukommen. Zu Recht konkludiert somit Klaus Michael Meyer-Abich in dem Werk Aufstand für die Natur im Kontext der Differenzierung der (entsprechend der unterschiedlichen ethischen Positionen) divergierenden Verantwortungskreise: Die Ehrfurcht vor dem Leben ist ein enormer Schritt zur weiteren Überwindung der menschheitlichen Überheblichkeit, nachdem die Rücksicht auf die höheren Tiere bereits über die anthropozentrische Ethik hinausgeführt hatte. Der Verantwortungskreis umfaßt nunmehr alle Lebewesen in ihrem Eigenrecht und Eigenwert im Ganzen der Natur. 172

172 Meyer-Abich 1990, S. 79. Die Aufstellung Meyer-Abichs richtet sich nicht nach der zeitlichen Entstehung der für die jeweiligen Verantwortungskreise repräsentativen Ethiken, sondern nach dem Umfang des innerhalb derer jeweils als ethisch zu berücksichtigend Deklarierten. So wird die historisch gesehen ältere Konzeption Schweitzers in Meyer-Abichs Modell nach jüngeren, beispielsweise pathozentri-

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Albert Schweitzers Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben

Dieses Spezifikum der Ehrfurchtsethik veranlasst auch Stephan Grätzel, die Qualität Schweitzers Position zu akzentuieren, indem er herausstreicht, dass im Rahmen derer – im Gegensatz etwa zu der pathozentrisch-utilitaristisch ausgelegten Peter Singers – eine Klassifizierung der Lebewesen kategorisch abgelehnt werde und Schweitzer sich somit „der Frage nach der grundsätzlichen Schuld des Lebens stellt. Sein Ansatz macht sich nicht an bestimmten, möglicherweise auch noch empirisch aufweisbaren Kriterien fest, sondern an einer Haltung, die wir als besonnene Lebewesen gegenüber allem Leben einzunehmen genötigt sind.“ 173 Analog dazu vertritt der in Bezug auf die Güte der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben in der Einleitung dieser Arbeit bereits zitierte 174 Christian Müller die These, dass es sich bei dem Entwurf Schweitzers „um einen Entwurf handelt, welcher anderen bekannten Ethiken […] an Originalität, Radikalität und Kohärenz in nichts nachsteht und aus diesem Grunde intensiver diskutiert zu werden verdient“ 175. Während die Autorin betreffs der Ersteren mit Müller in toto konform geht (andernfalls wäre Schweitzers Ehrfurchtsethik, die in obigen Ausführungen umrissen werden sollte, nicht als Einstieg in die Analyse gewählt worden), wird der spezielle Gesichtspunkt der Kohärenz – wie angeklungen – in diesem Kapitel noch kritisch zu hinterfragen sein. Eine Gegenposition (zu Grätzel und Müller) vertritt aktuell etwa Robert Leicht in seinem skeptischen ZEIT-Artikel, den er im Frühjahr 2013 anlässlich des 100-jährigen Bestehens des AlbertSchweitzer-Spitals in Lambarene verfasste: Schweitzer findet seinen archimedischen Punkt in dem Topos ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ : ‚Gut ist: Leben erhalten, Leben fördern, entwicklungsfähiges Leben auf seinen höchsten Wert bringen. Böse ist: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten.‘ Ob sich jedoch aus diesem emphatischen Appell eine schlüssige und widerstandsfähige Ethik entwickeln lässt, muss nach wie vor zweifelhaft bleiben. 176

schen respektive mammalistischen Konzeptionen, in denen Pflanzen und sogenannten „niederen“ Tieren kein moralischer Status zuerkannt wird, genannt. 173 Grätzel 2007, S. 85. 174 Vgl. hierzu Anm. 41. 175 Müller 2007, S. 6. 176 Leicht, Robert: „Die Tat und nicht das Wort. 100 Jahre nach der Gründung des legendären „Urwaldhospitals“ im afrikanischen Lambarene: Was bleibt vom Idol

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Die stellenweise recht pejorative Darstellung Leichts (mittels derer er letztlich den erklärten Schweitzer-Gegnern nach dem Mund redet) ist repräsentativ für diverse, am verkehrten Punkt ansetzende Kritiken Schweitzers Ethik: In diesen wird gewöhnlich der Vorwurf des „Naturalistischen Fehlschlusses“ 177 bedient und somit nicht nur am eigentlichen Kernproblem vorbei argumentiert, sondern zudem die Lehre der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben in ihrer Spezifik gänzlich verfehlt. Gleichwohl ist – wie angedeutet – nicht von der Hand zu weisen, dass die Stringenz Schweitzers Konzeption in manchem Belang fraglich erscheint: Dies betrifft vornehmlich den erwähnten Aspekt der Konkretisierung des Anwendungsmodus der Ehrfurchtsethik sowie die ebenfalls genannte Aufnahme anorganischen Lebens in den Bezirk des in ethischer Hinsicht Relevanten, welche Schweitzer – wie unter Bezugnahme auf das Kristall-Beispiel im weiteren Verlauf des Kapitels noch zu zeigen sein wird – wohl zeitweilig vorschwebte. Was Erstgenanntes angeht, ist zunächst Schweitzers genuines Verdienst zu betonen, die Dimension menschlicher Schuld in ihrer ganzen Schärfe herausgestellt zu haben: Diese wird im täglichen Leben primär als Restschuld im Zuge des essenziellen wie ethisch komplexen Vorgangs der Nahrungsaufnahme konkret, da jeder Einzelne im Vollzuge derer unmittelbar mit Natur beziehungsweise Albert Schweitzer, vom Orgelspieler, Bach-Forscher, Philosophen und Theologen? Eine Bilanz“. In: Die Zeit. Nr. 16 (4/2013), S. 17. 177 Andreas Weber erläutert etwa pointiert-ironisch das „Dogma vom ‚Naturalistischen Fehlschluss‘“ (Weber 2007, S. 287), welches er daraufhin als widersinnig entlarvt, wie folgt: „Unter keinen Umständen sei vom Sein aufs Sollen zu schließen!, lautet die Formel, die der Philosoph Bertrand Russell zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufstellte. Im Klartext heißt das: Wie auch immer ein Wesen lebt, darf auf keinen Fall die Analyse beeinträchtigen, wie dieses Wesen denn nun am besten zu leben habe. Dieses nämlich herauszufinden ist keine Sache gelebter Wirklichkeit, sondern eine geistige Sortieraufgabe.“ (Ebd.) Nach Weber sei es demgegenüber unabdingbar, vom Sein auf das Sollen zu schließen, um adäquate ethische Werte für ein entsprechendes Handeln aufstellen zu können, denn „jeder Körper ist Sein und Sollen zugleich“ (ebd., S. 288). Im Kontrast zu Weber schreibt Leicht zum Naturalistischen Fehlschluss in seinem Artikel: „Gewiss ist das Leben schlechthin das Feld, auf dem sich alle Ethik zu bewähren hat, aber das Leben als solches kann dafür nicht die ethischen Normen liefern; alles andere wäre ein naturalistischer Zirkelschluss.“ (Leicht 2013, S. 17) Das Scheinproblem des Naturalistischen Fehlschlusses soll im vorliegenden Kontext jedoch nicht vertiefend diskutiert werden, zumal dies im Rahmen anderer Studien bereits erfolgt ist, vgl. diesbezüglich vor allem Müller 2007, S. 263–268, ferner Eck 2002, S. 55–58, 66 und 74 sowie Pohl 2014, S. 242–257.

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Albert Schweitzers Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben

nicht-menschlichen Lebewesen in Berührung gerät und sich genötigt sieht, wider die Grundprinzipien der Ehrfurchtsethik zu handeln. 178 Allerdings ist zu registrieren, dass Schweitzer – außer dem auf das generelle Schädigen von Leben bezogenen, relativ allgemeinen Kriterium der „unausweichlichen Notwendigkeit“ (PE 109) – scheinbar keine weiteren Anhaltspunkte für den Umgang speziell mit Nahrungsmitteln präsentiert. Analoges trifft auf die Anführung von Beispielen zu: Während er entsprechend schlüssige für andere Bereiche des Alltags (exempli causa die Behandlung in Not geratener (Klein)Tiere) 179 liefert, lässt er diese in Bezug auf den wohl signifikantesten Anwendungsbereich der Ehrfurchtsethik vermissen. 180 Wenn das Erfordernis, von fremdem Leben zu leben, als zu akzeptierendes „Organisationsprinzip der Natur“ 181 ohnehin unumgänglich ist, wäre auch zu fragen, ob die Aussicht auf eine zumindest partielle Sühne nicht lediglich durch Hilfe an anderer Stelle, sondern bereits während oder gerade mittels des Essvorgangs selbst bestünde, etwa in Form einer besonderen Wertschätzung der Lebensmittel? 182 178 Vgl. hierzu auch Meyer-Abich: „Wie wir uns ernähren ist der Prüfstein für eine physiozentrische Ethik und der Angelpunkt einer Praktischen Philosophie der Natur, weil wir dabei von anderem Leben leben.“ (Meyer-Abich 1990, S. 94) 179 Angeführt wurden in Kapitel I.1.2 Beispiele konkreter Hilfsmaßnahmen für Regenwürmer und Insekten. 180 Schweitzer fordert lediglich, der Einzelne dürfe niemals gefühllos werden und müsse die ethischen Konflikte immer intensiver empfinden: „Nie dürfen wir abgestumpft werden. In der Wahrheit sind wir, wenn wir die Konflikte immer tiefer erleben. Das gute Gewissen ist eine Erfindung des Teufels.“ (FW 40; vgl. auch PT 98) Konkret bedeute dies, ein jeder habe die Schuld stets selber zu tragen. 181 Meyer-Abich 1990, S. 94. 182 In diesem Punkt bietet Meyer-Abich im Rahmen seiner holistischen Naturethik einen adäquaten Lösungsansatz: Analog zu Schweitzer postuliert auch MeyerAbich, wir Menschen hätten uns niemals darüber hinwegzutäuschen, „was wir dafür schuldig sind, daß wir von anderem Leben leben“ (ebd., S. 9; vgl. auch ebd., S. 94). Allerdings scheint im Rahmen Meyer-Abichs Konzeption der Aspekt der permanenten Restschuld des Menschen etwas abgemildert zu werden, wie folgender Passus erhellt: „Meines Erachtens sind wir den Pflanzen oder Tieren, von denen wir leben, wenn wir sie schon verspeisen, jedenfalls schuldig, dies in Dankbarkeit und Freude zu tun, statt sie voller Gram, damit neuerlich Schuld auf uns zu laden, in uns hineinzumuffeln.“ (Ebd., S. 95; vgl. dazu auch Heinze 2013b, S. 341) Damit geht einher, das Essen entsprechend anzurichten und zu zelebrieren, zu genießen und auf diese Weise realiter wertzuschätzen. Die latent anthropozentrische Färbung Meyer-Abichs Konzeption insgesamt soll in vorliegendem Rahmen nicht weiter diskutiert werden. Siehe dazu die entsprechenden Ausführungen – insbesondere

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Der zweite Kritikpunkt betrifft besagtes Beispiel des Kristalls. In Schweitzers Manuskript Wir Epigonen findet sich die entsprechende relevante Textpassage respektive folgende signifikante Kernaussage bezüglich des Erhalts eines Kristalls: „Das sinnlose Zerschlagen eines Kristalls, den wir antreffen, und das gedankenlose Brechen einer Blume sind Taten der Unsittlichkeit, die darum nicht minder unsittlich sind, weil kein Bewußtsein ihres Charakters vorhanden ist.“ (WE 194) Neben der Formulierung der bereits erläuterten, aus der Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben resultierenden Forderung des kompromisslosen Schutzes aller Lebewesen, beispielsweise einer Blume, scheint Schweitzer – wie das Zitat anzeigt – ex aequo für die Ablehnung des willkürlichen Zerstörens mittels des Kristalls repräsentierter unbelebter Naturdinge zu plädieren, da dies ebenfalls einer unethischen Handlung gleichkomme. Das Kristall-Beispiel impliziert somit die Integration der Ästhetik in die Ethik beziehungsweise verweist auf die ästhetische Dimension Schweitzers Werk: Durch das Postulat, den Kristall – als Ausdruck der den Menschen in seinem Leben umgebenden, unbelebten Naturschönheit(en) – nicht zu zerstören, soll der generellen Ehrfurcht vor der Schönheit der Natur Rechnung getragen werden. 183 In diesem Sinne liefert Grätzel gegenüber dem Gros der Schweitzer-Forscher, welche im Rahmen ihrer (trotz zum Teil ausgeklügelten) Beiträge besagte zentrale Stelle aus Wir Epigonen meist nicht berücksichtigen, in seiner Publikation Ethische Praxis nachstehende, plausible Interpretation jenes von Schweitzer schließlich (partiell) revidierten Gedankens (worauf im Folgenden noch einzugehen sein wird):

bezüglich des von Meyer-Abich holistisch ausgedeuteten Märchen vom Flachs Hans Christian Andersens – in Plugge, Ralph: Metaphysik des Einen: Ansätze und Kontroversen einer holistischen Ethik als Beitrag zur aktuellen Diskussion praktischer Natur- und Umweltphilosophie. London: Turnshare, 2004 (Philosophische Reihe). 183 Während Beat Sitter-Liver in seinem Aufsatz „‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ heißt sich auf die Welt im Ganzen beziehen“ konstatiert: „Zum einen wird das Ganze nicht allein als Lebendes, sondern auch als Unbelebtes umfassend verstanden, als Inbegriff des natürlich Seienden“ (Sitter-Liver 2006, S. 237), vertritt etwa Gotthard M. Teutsch dagegen folgenden Standpunkt: „Und davon, daß alles Leben gegenüber der unbelebten Materie eine gemeinsame, alle Lebewesen auszeichnende Qualität habe, leitet Schweitzer sein Ehrfurchtsgebot ab.“ (Teutsch 1990, S. 104; Herv. sind zugefügt)

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Albert Schweitzers Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben

Bei genauerem Hinsehen geht es Schweitzer in seinem Anliegen zunächst nicht um diese oder jene einzelne Kreatur, sondern um die Haltung gegenüber dem Leben im Ganzen. Davon ist auch das Verhalten gegenüber einem Kristall betroffen, der hier für die Schönheit des Lebens steht. Sinnlose Zerstörung ist nicht nur dort zu verwerfen, wo man sie nachempfinden kann. Sie ist grundsätzlich als Haltung zu verwerfen, auch dort, wo sie kein empfindendes Leben betrifft. Der Grund liegt darin, dass sich die Zerstörung als negative Gesinnung der Weltverneinung auf alles erstreckt und keinen Unterschied zwischen Leben und Nichtempfinden kennt. So zeigt das sinnlose Zerstören eines Kristalls eine Gesinnung, die sich ohne weiteres auch auf alles andere ausdehnen kann. Wer Kunstwerke, auch solche der Natur, leichtfertig zerstören kann, dem fällt auch die Vernichtung von Leben und menschlichem Leben leicht. 184

Die Quintessenz besteht also darin, sich von der rechten, das heißt, eine ethische Handlung zu fundieren vermögenden Gesinnung leiten zu lassen, welche darauf abzielt, sämtlichen Erscheinungen der Natur – unabhängig davon, ob diese belebt oder unbelebt sind – (mittels entsprechender Behandlung) Würde zu erweisen. 185 Vor diesem Hintergrund soll nun vorsichtig die These formuliert werden, dass das Beispiel des Kristalls dem Aufweis der Korrelation von Kultur und Ethik, der Schweitzer ohne Zweifel als Verdienst zu attestieren ist, gleichsam den „letzten Schliff“ verliehen respektive diesen allererst argumentativ untermauert hätte: Beinahe wäre Schweitzer dazu fortgeschritten, selbst Unbelebtes in das Postulat der Schutzwürdigkeit zu integrieren und somit gleichsam ein Argument „an der Basis“ zu liefern (von dem der Weg zu einem ehrfürchtigen Umgang mit Dingen aller Art, welchen der Wille zum Leben nicht innewohnt, nicht mehr allzu weit gewesen wäre). Offenbar überkamen ihn jedoch Zweifel ob der Stichhaltigkeit dieses Arguments, als Schweitzer – und hierbei handelt es sich um den kritischen Punkt seiner Konzeption – oben zitierte Stelle betreffs des Erhalts des sich etwa im Kristall manifestierenden anorganischen Lebens aus der endgültig zur Publikation freigegebenen, schließlich nicht unter dem Titel Wir Epigonen, sondern als Kultur184 Grätzel 2007, S. 84 f. Weiters erläutert Grätzel in Bezug auf die dem in Not geratenen Wurm erbrachte Hilfe, welche Schweitzer auch in Wir Epigonen im Kontext des Kristall-Beispiels thematisiert: „Die Frage, wem wir dann eigentlich helfen, ob dem Wurm oder dem Kristall, ist eine zweitrangige Frage. Primär ist die Frage: Wie ist unsere Einstellung – bejahend oder verneinend […]? Nur aus der bejahenden Einstellung heraus werden wir sittlich.“ (Ebd., S. 85) 185 Siehe zum Aspekt der Würde auch Anm. 92.

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philosophie erscheinenden Textversion eliminiert und sich stattdessen auf folgenden Passus festlegt hat: Das Wesen des Willens zum Leben ist, daß er sich ausleben will. Er trägt den Drang in sich, sich in höchstmöglicher Vollkommenheit zu verwirklichen. Im blühenden Baum, in den Wunderformen der Qualle, im Grashalm, im Kristall: überall strebt er danach, Vollkommenheit, die in ihm angelegt ist, zu erreichen. (K 302)

Diese Passage aus der Kulturphilosophie dokumentiert zwar, dass Schweitzer oben erläuterten Gedanken nicht in Gänze verwirft, von einer weiteren Vertiefung dessen jedoch absieht. Mit dieser in der Druckversion lediglich gelten gelassenen, gleichsam abgeschwächten Variante der ursprünglichen Formulierung aus Wir Epigonen wird in ethischer Hinsicht weit weniger zum Ausdruck gebracht, da das explizite Gebot des Nichtzerstörens auch des Kristalls gänzlich fehlt. Die konkreten Beispiele der unsittlichen Handlung im Sinne der Beeinträchtigung und Destruktion von Leben respektive Natur sind in den Ausführungen der Kulturphilosophie (neben denen in Bezug auf Tiere) auf jene die Pflanzen betreffenden reduziert. 186 Obschon Schweitzer kein grundsätzlicher Sinneswandel nachzuweisen ist (was ohnehin nicht der in diesem Teil der Arbeit verfolgten Intention entspricht), wird gleichwohl ersichtlich, dass er jenen für die Akzentuierung des Zusammenhangs von Kultur und Ethik gewichtigen Aspekt der Ehrfurcht vor anorganischem Leben beziehungsweise des Schutzes desselben (als nicht minder essenzieller Teil des Lebensbezugs) zwar in seiner Kulturphilosophie noch erwähnt, jedoch völlig unkommentiert lässt. Albert Schweitzers naturethischer Antipode, der bereits erwähnte Tierethiker Peter Singer, der ersterem gleichwohl bescheinigt, „das bekannteste Plädoyer für eine alles Lebendige umgreifende Ethik“ 187 verbalisiert zu haben, integriert in seinem Werk Praktische Ethik in dem Abschnitt „Die Ehrfurcht vor dem Leben“ unter anderem eine kurze Stellungnahme zur Ethik Schweitzers. Im Zuge dessen greift er das einschlägige, von Schweitzer ursprünglich intendierte Kristall-Beispiel auf, über das er sich jedoch mokiert, 186 In Kapitel I.1.2 wurde das Beispiel des Landwirtes angeführt, der es tunlichst zu unterlassen habe, nach dem Mähen des Viehfutters etwa eine Blume am Wegrand zu brechen. (Vgl. K 340) 187 Singer 2013, S. 436.

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worauf in diesem Kontext zumindest am Rande eingegangen werden soll. Singer konstatiert an besagter Stelle Folgendes: Es bleibt unklar, wie wir Schweitzers Standpunkt zu verstehen haben. Insbesondere verwirrt der Hinweis auf den Eiskristall, denn ein Eiskristall ist überhaupt nichts Lebendiges. Fasst Schweitzer vielleicht jede Form von Töten als eine Art Vandalismus auf, als die sinnlose Zerstörung von etwas Wertvollem? 188

Singer realisiert offenbar (intuitiv), dass besagtes Beispiel im Denken Schweitzers heraussticht, ansonsten hätte er kaum just dieses auf den zweieinhalb Seiten, die er der Kommentierung des Schweitzerschen Entwurfs widmet, gezielt herausgegriffen. Nichtsdestotrotz spricht Singer (inexakt) von einem „Eiskristall“, während im Manuskript Schweitzers lediglich von einem „Kristall“ (WE 194) die Rede ist, und anstatt die Innovationskraft dieses in Wir Epigonen angeführten Arguments der Schonung auch des Kristalls, welches gerade die Stärke der Konzeption ausweist, zu registrieren, sucht er anhand dessen – au contraire – deren Inkonsistenz zu demonstrieren. Befangen in utilitaristischen Reflexionsmustern, erscheint es Singer ohnedies absurd, jenseits des Schutzes der Pflanzen, selbst Unbelebtes in ethischer Hinsicht zu berücksichtigen. 189 Dass Singer eo ipso das Grundprinzip der Ehrfurchtsethik, welches sich – wie dargelegt – in einer spezifischen Haltung dem Leben an Ebd., S. 437 f. Vgl. zur Kommentierung dieser Passage auch Grätzel 2007, S. 82. In seiner Abhandlung „Alle Tiere sind gleich“, im Rahmen derer Singer die gleiche Rücksichtnahme auf Interessen „menschlicher“ wie nicht-menschlicher (sogenannter „höherer“) „Tiere“ postuliert (Singers Grundthese soll an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden), liest man diesbezüglich Folgendes: „Es wäre Unsinn zu sagen, es sei nicht im Interesse eines Steins, von einem Schuljungen die Straße entlang gekickt zu werden. Ein Stein hat keine Interessen, weil er nicht leiden kann. Nichts, was wir ihm antun können, könnte in irgendeiner Weise einen Unterschied für sein Wohlergehen machen.“ (Singer, Peter: „Alle Tiere sind gleich.“ In: Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion. Hrsg. von Angelika Krebs. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft; Bd. 1262). S. 13–32, hier: S. 20 f.) In ähnlicher Weise äußert sich die Tierethikerin Ursula Wolf in ihrem Aufsatz „Haben wir moralische Verpflichtungen gegen Tiere?“, in dem sie die Menschen und („höheren“) Tieren gegenüber gehegten Gefühle in Bezug auf Pflanzen oder unbelebte Naturdinge nicht gelten lässt: „[A]ber das sind dann nicht Affekte wie Mitleid, sondern zum Beispiel Bewunderung für komplizierte Schöpfungen der Natur, was wir auch mit Bezug auf Pflanzen oder Kristalle empfinden können und was kein moralisch relevanter Aspekt ist.“ (Wolf, Ursula: „Haben wir moralische Verpflichtungen gegen Tiere?“ In: Ebd. S. 47–75, hier: S. 64) 188 189

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sich gegenüber manifestiert, und mithin den Schweitzerschen Ansatz als solchen verkennt, 190 illustriert ferner oben zitierte, voreilige Frage, deren Antwort auch der publizierten Kulturphilosophie zu entnehmen ist: Gemäß der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist in der Tat jegliches Töten als unethisch zu deklarieren. 191 (Vandalismus liegt im Falle der fehlenden, unabdinglichen Tötungs-Notwendigkeit vor; aber auch andernfalls wird der Mensch schuldig, im Sinne besagter Restschuld.) Resümierend bleibt festzuhalten, dass der von Schweitzer aufgestellte Grundgedanke seiner Ethik zweifelsohne von immenser Überzeugungskraft und Wahrheit ist. Dieser – genauer gesagt: die Ehrfurcht – wird jedoch eher beschworen denn argumentativ untermauert. 192 Obgleich Schweitzer die Diskussion um besagte innovative Sichtweise bereichert hat, besteht also das Desiderat der Anbringung entscheidender Argumente: Das (gleichsam ungelöste) Rätsel des Kristalls dokumentiert, dass er sich auf dem richtigen Weg befand, das Problem formulierte, ohne aber zu dessen konkre190 Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, dass die beiden Denker von divergierenden Prämissen ausgehen: Während Singer – in utilitaristischer Manier – eine Begründung der Ethik in der Welt sucht, findet Schweitzer diese (jenseits des in der Natur vorherrschenden Prinzips der Selbstentzweiung des Lebenswillens) im Denken. Zudem unterscheidet sich – wie erwähnt – der Geltungsbereich der jeweiligen Ethiken voneinander. (Vgl. hierzu Anm. 134 sowie 191) 191 Unmissverständlich macht Schweitzer dies etwa an nachstehender Stelle deutlich: „Ethisch ist nur die Ehrfurcht meines Willens zum Leben vor jedem andern Willen zum Leben. Wo ich irgendwie Leben opfere oder schädige, bin ich nicht in der Ethik, sondern ich werde schuldig, sei es egoistisch schuldig, zur Erhaltung meiner Existenz oder meines Wohlergehens, sei es unegoistisch schuldig, zur Erhaltung einer Mehrzahl anderer Existenzen oder ihres Wohlergehens.“ (FW 43) Zudem heißt es in Wir Epigonen: „Die Grenze zwischen dem empfindenden und [dem] nicht empfindenden Leben ist schwer zu bestimmen. Es ist möglich, daß sie tiefer herabreicht als wir annehmen. Ihre Festlegung ist für die Sittlichkeit nur von untergeordneter Bedeutung, da diese es nicht allein mit dem Mitgefühl für Schmerz, sondern mit der Ehrfurcht vor dem Leben als solchem zu tun hat. Jede Zerstörung von Leben ist unsittlich, jede Förderung desselben sittlich.“ (WE 194) 192 Gleichwohl artikulierte Schweitzer das grundsätzliche Anliegen, Ethik nicht nur zu „predigen“, sondern vielmehr stichhaltig zu begründen, was folgende Analogie nahelegt, die zudem eine implizite Kritik an der aristotelischen Tugend- sowie der Pflichtethik kantischer Provenienz transportiert: „Auf das Grundprinzip des Sittlichen hat sich die Aufmerksamkeit des Denkens zu richten. Das bloße Aufstellen von Tugenden und Pflichten ist wie wenn einer auf dem Klavier klimpert und meint Musik zu machen.“ (K 118)

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Albert Schweitzers Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben

ter Ausführung fort zu schreiten. Nicht die Vorbringung des Beispiels der Zerstörung des Kristalls also – wie dies etwa Peter Singer, wie es scheint, interpretiert –, sondern gerade die erwähnte Tatsache des Verzichts auf die anfängliche Formulierung in der Druckversion kann als Indiz dafür gewertet werden, dass Schweitzer – ohne überspitzen zu wollen – selbst in einen latenten Naturalismus (zurück) verfällt, gegen welchen er eigens ins Felde zu ziehen bestrebt war. 193 Neben jener gewissen Inkonsistenz der Konzeption wurde des Weiteren auf die Applikabilitätsproblematik der Ehrfurchtsethik anhand des Umgangs mit Nahrungsmitteln hingewiesen: Wie ist es dem Einzelnen möglich, das Programm der Ehrfurcht vor dem Leben im Alltag umzusetzen? Vor allem in Bezug auf benannten Problemkomplex, mit dem jeder Mensch tagtäglich konfrontiert wird, fehlen explizite Darlegungen, Schweitzer bleibt letztlich eine greifbare Antwort schuldig. Schweitzer bricht schließlich das Projekt der Kulturphilosophie gänzlich ab, da ihn selbst Zweifel ob der prinzipiellen Durchführbarkeit seines Vorhabens überkommen, die sich beispielsweise in folgenden, zu Beginn des Jahres 1933 formulierten, mittlerweile in den Nachlassschriften publizierten Sätzen ankündigen: „Ob wir über das, was in unserem Willen zum Leben vorgeht, über das Denken (das dunkle empfindungsgemäße Denken) je zur Klarheit kommen? Wie das Ethische in das Sein hineindenken?“ (KN 1/2 173, Anm. 285; Herv. im Orig.) 194 Schweitzer realisiert von dem vierbändig geplanten Werk zu Lebzeiten lediglich die ersten beiden Bände, 195 während – wie Claus Günzler dies ausdrückt – „die dritte Station eine Aufgabenstellung vorsah, die systematisch unlösbar

193 Schweitzer kritisiert etwa die Ethik Kants (vgl. hierzu vor allem K 197–205), bleibt allerdings letztendlich selbst in diesem Denken verhaftet. Es gelingt ihm nicht, die bemängelte Subjekt-Objekt-Relation im Rahmen der eigenen Konzeption in toto zu überwinden beziehungsweise eine reale Umsetzungsbasis des anvisierten Vorhabens zu generieren. 194 Vgl. hierzu auch die nachstehenden, das Scheitern des kulturphilosophischen Konzeptes gleichsam antizipierenden Formulierungen: „Warum erlebt sich der Wille zum Leben so nur in mir? Liegt es daran, daß ich die Fähigkeit erlangt habe, über die Gesamtheit des Seins denkend zu werden? Wohin führt die in mir begonnene Evolution? Auf diese Fragen gibt es keine Antwort. Schmerzvolles Rätsel bleibt es für mich, mit Ehrfurcht vor dem Leben in einer Welt zu leben, in der der Schöpferwille zugleich als Zerstörungswille waltet.“ (K 334) 195 Siehe hierzu Anm. 56 dieser Arbeit.

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Das Beispiel des Kristalls oder Der Schutz anorganischen Lebens

war“ 196 und vor der Schweitzer aufgrund dessen habe kapitulieren müssen: „Der Weg von einer Ethik, die durch den Mensch-NaturDualismus geprägt ist, zu einer Weltanschauung, die diesen Dualismus […] wiederum aufheben und den ethischen Menschen doch irgendwie mit der nicht-ethischen Natur versöhnen soll, war von vornherein zum Scheitern verurteilt […].“ 197 Der Gesamtentwurf musste somit verworfen werden, 198 und in Bezug auf die Intention, im dritten Band der Kulturphilosophie die im zweiten konzipierte Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben zu einer Weltanschauung auszuformen, räumt Schweitzer zuletzt stichwortartig Nachstehendes ein: Plan: Undurchführbarkeit der Weltanschauung der ethischen Lebensbejahung. Der Lebensanschauung der ethischen Lebens- und Weltbejahung, nicht als Weltanschauung. Nur die Frage: Gibt es andere Lebensanschauungen, und sind diese besser dran? An sich – oder besser der Welterkenntnis entsprechen? Nur diese beiden Fragen [kommen?] in Betracht. (KN 1/2 466; Klammer im Orig.)

Bietet eventualiter die im nachfolgenden Teil der Arbeit zu analysierende Lebens- und Weltanschauung des durch Martin Bubers Auslegung greifbar gewordenen Chassidismus eine geeignete Lösung respektive sinnvolle Ergänzung zur Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben?

Günzler 1999, S. 22. Ebd. „Dennoch ist es gerade die denkerische Substanz, die die Drucklegung dieses Werkes rechtfertigt, ja diese sogar in vielfacher Hinsicht als dringliches Desiderat ausweist […].“ (Ebd., S. 18) 198 In Bezug auf den anvisierten, jedoch nicht mehr erstellten vierten Band des Kulturphilosophie-Projektes, der mit dem Titel Der Kulturstaat versehen werden sollte, führt Günzler Folgendes aus: „Hier sollte offenbar das aus Kulturkritik, Ethik und neuer Weltanschauung erhoffte Gesamtkonzept in das Institutionelle überführt, also als Modell eines Staates entworfen werden, in dem die Ehrfurchtsethik als Richtlinie auch für die Normbildung in Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Sozialwesen und überhaupt allen gesellschaftlichen Bereichen zugrundegelegt wird.“ (Ebd., S. 22) 196 197

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II. Heiligung des Alltags: Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber Nicht aus der Wolke zuckt da die Offenbarung herab, aus den niedern Dingen selber, im Verströmen des Alltags flüstert sie uns an, ganz nah, hüben ist sie lebendig. Martin Buber

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

„Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ (ID 85) Dieses Diktum Martin Bubers, des zweiten repräsentativen Autors der Arbeit, markiert das Zentrum seines Denkens und Wirkens. 199 Der im ersten Teil der Analyse offen gebliebenen Frage, aus welchem Grund nicht nur Lebewesen aller Art, entsprechend Albert Schweitzers vehementer Forderung, als schutzwürdig zu gelten haben, sondern ebenso Unbelebtes wie etwa ein Kristall oder gar Gegenstände (des täglichen Gebrauchs) einen ehrfurchtsvollen Umgang erfordern, gilt es im Folgenden weiter nachzugehen. Richtungweisend soll hierfür nicht zuletzt die Thematisierung der spezifischen Qualität einer gelingenden „Begegnung“ sowohl mit Lebewesen als auch mit Dingen jeglicher Art sein. Es wird sich zeigen, dass ein (quasi-)dialogischer Dingumgang primär auf einer „erneuerte[n] Beziehung zur Wirklichkeit“ (CB 786) basiert und letztlich in einer „Heiligung des Alltags“ (etwa CB 748 und CCG 958) an sich beziehungsweise der den Alltag konstituierenden Verrichtungen mündet, in welche die Einzeldinge jeweils eingebunden sind. Dieses Themenspektrum wird – in Kombination mit jenen zur Dialogik – primär anhand der Schriften Bubers zum Chassidismus (ferner jener zum Judentum) abgearbeitet werden, welche hierfür nicht nur wertvolle Hinweise bereitstellen, sondern vielmehr den betreffs der Fragestellung originellen Ansatz Bubers im Kern repräsentieren. In Anbetracht der Komplexität Bubers dialogisch-religionsphilosophischer Konzeption scheinen – zugunsten eines besseren Verständnisses – recht umfangreiche Vorüberlegungen indiziert, so etwa bezüglich des Bubers Dialogphilosophie und Chassidismus-Deutung gleichermaßen fundierenden Gott-Mensch-Verhältnisses oder des Primats der Lebenshaltung und Tat gegenüber Theorie und Lehre. 200 Diese theoretischen, sich sukzessive hinsichtlich deren Anwendung in praxi konkretisierenden Darstellungsaspekte kulminieren schließlich in der in Kapitel II.4 anvisierten detaillierten Ausführung der Heiligung von Welt und Alltag, deren „Herzstück“ (wie auch des Buber-Teils als sol199 Die Suche nach „der echten Begegnung“ (B 11) benennt Buber in seinen Begegnung betitelten Autobiographischen Fragmenten retrospektiv als Ursprung seines dialogisch-chassidischen Denkens. 200 Auf eine separate Voraberläuterung Bubers Dialogphilosophie wird jedoch – wie einleitend zu dieser Arbeit bereits erwähnt – verzichtet, da eine Darlegung der Grundlagen Letzterer durch die Autorin bereits in der Einführung in das dialogische Denken erfolgt ist. (Vgl. Heinze 2011, S. 87–110)

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

chem) die chassidische Funkenlehre und der Dienst an den Funken bildet.

1.

Die Welt als „göttliches Schicksal“: Einführende Erläuterungen zu Dialogphilosophie und Chassidismus-Deutung

„Gewißheit ist mir, daß, wenn ich damals gelebt hätte, als man noch um das Wort Gottes selber und nicht um dessen Karikaturen kämpfte, auch ich, wie so viele, meinem Vaterhaus entlaufen und Chassid geworden wäre.“ (GM 1260) Folgerichtig konstatiert Karl-Erich Grözinger in seinem Aufsatz „Chassidismus und Philosophie – Ihre Wechselwirkung im Denken Martin Bubers“: „‚Martin Buber und der Chassidismus‘, das ist weniger ein Thema der Forschungsgeschichte des Chassidismus“ 201, vielmehr handle es sich um „ein Thema von dem Manne Martin Buber, des deutschen Juden, des Dichters, Schriftstellers und Philosophen“ 202. Analog zu seinen frühen (Lebens-)Erfahrungen in dialogischer Hinsicht, 203 gerät Buber bereits in Kindestagen mit chassidischer Geistigkeit und Lebensführung in Kontakt 204 und resümiert als Erwachsener in Bezug auf den Chassidismus sowie dessen Anhänger: „[M]ein FunGrözinger 1991, S. 281. Ebd. 203 Es handelt sich hierbei in erster Linie um das Negativerlebnis des Scheiterns der Beziehung zu der Mutter, die – nachdem sich die Eltern getrennt hatten – den vierjährigen Martin bei den Großeltern zurücklässt. Daraus resultiert schließlich die Prägung des Terminus „Vergegnung“, „womit etwa das Verfehlen einer wirklichen Begegnung zwischen Menschen bezeichnet war“ (B 10 f.). 204 Siehe hierzu etwa GM 1259: „Ich bin ein polnischer Jude, zwar aus einer Familie von Aufklärern, aber in der empfänglichsten Zeit des Knabenalters hat eine chassidische Atmosphäre ihren Einfluß auf mich ausgeübt.“ In seiner Abhandlung „Mein Weg zum Chassidismus“ (vgl. vor allem MW 962–965) konkretisiert Buber letzteren Aspekt dahingehend, dass der bei seinen Großeltern Aufgewachsene gleichwohl die Sommerzeit stets auf dem in der Bukowina befindlichen väterlichen Gut verbracht und der Vater ihn im Zuge dessen gelegentlich in die Kleinstadt Sadagora, eine chassidische Gemeinde, mitgenommen habe: „Das habe ich damals, als Kind, in dem schmutzigen Städtchen Sadagora von der […] chassidischen Masse, der ich zusah, erfahren – wie ein Kind solche Dinge erfährt, nicht als Gedanken, sondern als Bild und Gefühl: daß es der Welt um den vollkommenen Menschen zu tun ist und daß der vollkommene Mensch kein andrer ist als der wahrhafte Helfer.“ (MW 962 f.) Vgl. zu Bubers früher Begegnung mit dem Chassidismus beispielsweise auch 201 202

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Einführende Erläuterungen zu Dialogphilosophie und Chassidismus-Deutung

dament ist dort, und meine Antriebe sind den ihren verwandt.“ (GM 1260) Dies gilt ebenso in Bezug auf seine geistige Tätigkeit respektive sein breitgefächertes philosophisch-theologisches Schaffen insgesamt, als „die chassidische Überlieferung [ihm] zum tragenden Grund des eigenen Denkens gedieh“ (GDP 297 und B 79). 205 In seiner Schrift „Die jüdische Mystik“ charakterisiert Buber das Phänomen des Chassidismus beziehungsweise „die Bewegung der Lebensfrömmigkeit, die man die chassidische nennt“ (GM 1205), folgendermaßen: Der Chassidismus ist die Ethos gewordene Kabbala. 206 Aber das Leben, das er lehrt, ist nicht Askese, sondern Freude in Gott. Das Wort Chassid bezeichnet einen „Frommen“, aber es ist eine Weltfrömmigkeit, die hier gemeint ist. Der Chassidismus ist kein Pietismus. Er entbehrt aller Sentimentalität und Gefühlsostentation. Er nimmt das Jenseits ins Diesseits herüber und läßt es in ihm walten und es formen, wie die Seele den Körper formt. Sein Kern ist eine höchst realistische Anleitung zur Ekstase, als zu dem Gipfel des Daseins. Aber die Ekstase ist hier nicht, wie etwa bei der deutschen Mystik, ein „Entwerden“ der Seele, sondern deren Entfaltung; nicht die sich beschränkende und entäußernde, sondern die sich vollendende Seele mündet ins Unbedingte. (JM 15) 207

Buber zufolge bedeutet demnach Chassiduth inhaltlich „Chassidismus, als Gesinnung der Lebensfrömmigkeit verstanden“ (EZ 141, Anm. 21) 208 und dem Wortlaut nach etwa „die Welt in Gott lieben“ (BST 49). 209 Entsprechend handele es sich konkret um die Art und

Wehr 1978, S. 93 f. und 98 f., Scholem 1986, S. 166 f., Friedman 1999, S. 68, Siegfried 2010, S. 345, Anm. 113 sowie Heinze 2013b, S. 338. 205 Vgl. hierzu auch Heinze 2013b, S. 338 f. 206 Vgl. hierzu auch CCG 957. Zur Kabbala im Allgemeinen siehe EJ 35, zur Kritik an dieser GJ 196 f. Zudem sei auf folgende Erläuterung Arno Anzenbachers verwiesen: „Der Chassidismus wächst aus der Kabbala und seine Leistung liegt nicht darin, lehrmäßig über sie hinauszugehen, sondern aus den Kräften dieser Tradition eine neue Lebensform zu schaffen.“ (Anzenbacher 1965, S. 19) Vgl. auch Siegfried 2010, S. 345. 207 Auf die einzelnen, in diesem Zitatblock erwähnten Aspekte respektive Charakteristika des Chassidismus wird im Laufe der nachfolgenden Ausführungen und Kapitel im Detail eingegangen werden. Zu Bubers Ausspruch, der Chassidismus sei „Weltfrömmigkeit“, jedoch kein „Pietismus“, siehe auch Wehr 1978, S. 67. 208 Siehe in Bezug auf Schweigen als Frömmigkeitshaltung EZ 149. 209 Diesbezüglich erläutert Wehr: „Frömmigkeit hat freilich viele Gesichter. Da das hebräische Grundwort umfassender angelegt ist als die dem religiösen Leben im

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

Weise, „wie die Chassidim aus einer positiven, die Welt in ihrer Schönheit und Lebensfülle bejahenden Grundhaltung heraus Gott dienen möchten“ 210. Auf der Basis von Chassiduth setz(t)e der Chassidismus, den Gerhard Wehr als eine „spirituelle Erneuerungsund Erweckungsbewegung“ 211 charakterisiert, die gleichwohl „ein Mysterium birgt, welches in unsere alltägliche Lebenspraxis hineinwirkt“ 212, somit „Zeichen für eine Einstellung zu der Welt, die uns umgibt, und zu der Zeit, die uns geschenkt ist, zum gegenwärtigen Augenblick“ 213 und ziele darauf ab, „die Fülle des Seins in den geringsten Dingen zu sehen“ 214. Die Aspekte einer Welt- und Augenblickszugewandtheit sowie Würdigung (scheinbar) unbedeutender Dinge erwecken den Eindruck einer Analogie von Dialogismus und Chassidismus, welcher durch Bubers individuelle Deutung des Letzteren intensiviert wird, im Rahmen derer er einzelne Gesichtspunkte der chassidischen Lehre akzentuiert und im Zuge dessen gleichsam dialogisches Gedankengut antizipiert: Es handelt sich in erster Linie um das Primat der Lebenshaltung vor Theorie und Lehre 215, die sich im Chassidismus, wie bereits angedeutet, nach Buber in concreto in einem „begeisterten und unexaltierten Leben[s] in der Verantwortung – Verantwortung jedes Einzelnen für das ihm anvertraute Stück Welt“ (JW 236, CCG 958, FE 235) 216 manifestiere. Diese auf die jeweiligen

engeren Sinn vorbehaltene Vokabel ‚fromm‘, hat Buber ‚Chassid‘ und ‚Chassidut‘ [sic!] verdeutscht durch: ‚Gott in der Welt lieben‘.“ (Wehr 1978, S. 74) 210 Wehr 1978, S. 40; vgl. auch ebd., S. 42, 48, 51, 53, 83, 94 sowie Scholem 1993, S. 376. 211 Wehr 1978, S. 9. Demgegenüber bekräftigt etwa Walter Kaufmann, der Chassidismus beziehungsweise Bubers Deutung desselben habe nichts mit einer Erweckungsbewegung gemein: „In Bubers chassidischer Botschaft ist nichts von Erweckungsglauben oder Theologie zu spüren.“ (Kaufmann 1963, S. 584) Gleichwohl loben diese prima vista heterogene Charakterisierungen des Chassidismus artikulierenden Autoren Bubers Interpretation der chassidischen Lehre und Lebenshaltung einhellig. (Vgl. ebd., S. 583 sowie Anm. 222 der vorliegenden Arbeit) 212 Zitiert nach: Wehr 1978, Klappentext vorne. 213 Ebd., S. 9. 214 Ebd., S. 9 f. 215 Dieser nach Buber für den Chassidismus charakteristischen Komponente ist Kapitel II.3 gewidmet. Siehe in Bezug auf Bubers eigene Angabe, er selbst vertrete keine (spezifische) Lehre (vgl. PR 1114), auch Anm. 37 der vorliegenden Arbeit. 216 Siehe hierzu etwa auch EZ 81 sowie insbesondere die Ausführungen in Kapitel II.2 und II.4.

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Einführende Erläuterungen zu Dialogphilosophie und Chassidismus-Deutung

Erscheinungen des den Einzelnen je tangierenden „Stück Welt“ (JW 236, CCG 958, FE 235) abstellende Verantwortlichkeitskonzeption fußt einerseits auf dem im folgenden Kapitel zu erörternden Topos des Lebens als eines fortwährenden Angesprochenwerdens 217 sowie andererseits auf der ebenfalls sowohl Bubers Dialogik als auch Chassidismus-Interpretation inhärenten Koinzidenz von heiligem und profanem beziehungsweise religiösem und ethischem Bereich 218 und kulminiert gleichsam in einem „an der Kreatur geübten Gottesdienst“ (CCG 958). 219 Wie im Rahmen des wissenschaftlichen Diskurses bereits ausgiebig verhandelt, bedingen sich die diversen, sich in Bubers Hauptforschungsgebieten respektive den diesen zu subsumierenden Publikationen 220 widerspiegelnden Stränge seines Denkens in der Tat reziprok: Der Nexus etwa von Chassidismus-Auslegung und dialogischer Ich-Du-Philosophie 221 zeigt sich innerhalb des beachtlichen Opus Die Erzählungen der Chassidim 222 geradezu symbol217 In Bezug auf die Verantwortungsauffassung Bubers im Rahmen seiner Dialogphilosophie konstatiert Meike Siegfried zudem Folgendes: „Den Hintergrund des Kerngedankens der dialogischen Verantwortung – der Idee des grundlegenden Angesprochenseins des Menschen – bilden […] Bubers Auseinandersetzungen mit der Sprachauffassung des Judentums generell sowie mit der Sprachmystik des Chassidismus im Besonderen.“ (Siegfried 2013, S. 262) 218 Siehe hierzu exemplarisch ZS 186 f.; auch wird dieser Gesichtspunkt im weiteren Verlauf der Erörterungen vertieft werden. 219 Folglich resultiert die Übertragung einer (quasi-)dialogischen Beziehung auf sämtliche Lebewesen sowie gar Gegenstände (vgl. ZS 182 f.) nicht zuletzt aus Bubers Vertiefung in chassidisches Gedankengut. (Vgl. Heinze 2011, S. 88 sowie Heinze 2013b, S. 338) Unter einer dialogischen Beziehung versteht Buber im Allgemeinen das (eine zweckgerichtete, das begegnende Gegenüber in das Korsett einer Kategorisierung in sachlicher, emotionaler oder sonstiger Hinsicht zwängende „Ich-Es“Relation negierende) Innewerden des Gegenübers als solches – das heißt, als unikales Du. (Vgl. hierzu Heinze 2011, vor allem S. 91–97) 220 Es handelt sich um die von Buber noch zu Lebzeiten angelegte Werk-Trias der Schriften zur Philosophie, jener zur Bibel sowie zum Chassidismus. (Die an zweiter Position genannten werden im Kontext der vorliegenden Arbeit keine Berücksichtigung finden können.) Siehe zu Bubers Schaffensgebieten auch Neuenschwander 1975, S. 22 sowie Wehr 1978, S. 98. 221 Siehe zu besagtem Nexus insbesondere die Publikation von Götzinger 1994; vgl. ferner Grözinger 1991, S. 281–294, Wehr 1978, vor allem S. 90 f., 93 und 98 sowie – in vorwiegend kritischer Hinsicht – Scholem 1986, S. 171, 178, 197 f. und 202. Im Rahmen der aktuellen Buber-Forschung sei auf die Arbeit von Pourshirazi 2008 verwiesen, die in einem gesonderten Abschnitt das Verhältnis der Dialogphilosophie zum Chassidismus behandelt. Vgl. ebd., S. 128–134. 222 Siehe hierzu etwa den Kommentar Kaufmanns in Bezug auf Buber und seine

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

haft anhand des dem Berditschewer Rabbiner 223 zugeschriebenen, von Buber übertragenen und in die Erzählungen integrierten Liedes mit dem programmatischen Titel „Du“ 224. Entsprechend schlussfolgert Wehr in Bezug auf die beiden für den vorliegenden Kontext relevanten Tätigkeitsfelder Bubers: „Nicht immer läßt sich mit der bisweilen geforderten Eindeutigkeit bestimmen, wo der Deuter der chassidischen Kunde aufhört und wo der dialogische Denker beginnt.“ 225 Dieser Sachverhalt jedoch, welcher durch Bubers subjektive, das heißt dialogisch gefärbte respektive dialogphilosophische Inhalte partiell antizipierende Interpretation des Chassidismus-Phänomens bedingt ist, rief (noch zu Lebzeiten) zahlreiche Kritiker

Erzählungen der Chassidim: „Er hat uns eines der großen religiösen Bücher aller Zeiten geschenkt, ein Werk, das zum Vergleich mit den heiligen Schriften der Menschheit herausfordert.“ (Kaufmann 1963, S. 583) In Bezug auf die Bedeutung des Chassidismus an sich fährt Kaufmann wie folgt fort: „Hier ist eine Religion, die philosophischen Fragen standhält, wie es die subtilen Abhandlungen der Theologen nicht vermögen.“ (Ebd.) Zu Bubers Erzählungen der Chassidim vgl. zum Beispiel auch Wehr 1978, S. 87 f., 93–109 und 111 f. 223 Vgl. zum Rabbiner Levi Jizchak von Berditschew A 630 und 633 sowie etwa Scholem 1993, S. 380. 224 „Wo ich gehe – du! Wo ich stehe – du! Nur du, wieder du, immer du! Du, du, du! Ergeht’s mir gut – du! Wenn’s weh mir tut – du! Nur du, wieder du, immer du! Du, du, du! Himmel – du, Erde – du, Oben – du, unten – du, Wohin ich mich wende, an jedem Ende Nur du, wieder du, immer du! Du, du, du!“ (EZ 331) Obgleich das „Du“ in diesem Lied wohl in erster Linie dem omnipräsenten Göttlichen gilt, liegt die Interpretation nahe, das Du zugleich auf das jeweils „weltlich“ begegnende Gegenüber (sei dies menschlicher oder nicht-menschlicher Natur) zu beziehen, welches für Buber stets – vorausgesetzt, ich stehe in einer dialogischen Beziehung zu diesem – einen „Durchblick“ (ID 128) zu Gott gewährt: „Die verlängerten Linien der Beziehungen schneiden sich im ewigen Du. Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu ihm.“ (ID 128) Siehe auch Bubers Ausführungen in A 612 sowie Wehr 1978, S. 90 f., Grözinger 1991, S. 39 f. und Anzenbacher 1965, S. 68. 225 Wehr 1968, S. 98.

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Einführende Erläuterungen zu Dialogphilosophie und Chassidismus-Deutung

auf den Plan, die Buber mit zum Teil massiver, in einigen Fällen gar kompromittierender Kritik konfrontierten. Allen voran sei die Schülerin seines Schülers Gershom Scholem, Riwka 226 Schatz-Uffenheimer, genannt, ferner Gershom Sholem selbst als einer der renommiertesten Forscher auf dem Gebiet des Chassidismus. Die Kritiker stellen Buber in der Regel – mal mehr, mal weniger resolut – letztlich in Abrede, über profunde Kenntnis der chassidischen Lehre zu verfügen beziehungsweise der historischen Erscheinung des Chassidismus durch seine Forschungsarbeit gerecht geworden zu sein. Zudem wird die Inkonsistenz seiner Auslegungen angekreidet, was der Umstand dokumentiere, „daß Buber in Terminologie und Denken häufig von chasidischen [sic!] Begriffen und Vorstellungen ausging, sie dann aber in einer ihm eigenen Weise verstand und interpretierte“ 227, wie in diesem Fall Karl-Erich Grözinger moniert. 228 Die diversen kritischen Stimmen hinsichtlich Bubers Auslegung des Chassidismus sollen zwar nicht a limine ignoriert werden, gleichwohl erscheint eine detaillierte Analyse derselben angesichts des Kernziels der Arbeit als irrelevant. Im Rahmen der nachfolgenden Ausführungen wird in gegebenem Kontext sporadisch darauf rekurriert werden; an dieser Stelle sei im Vorfeld exemplarisch der den Darstellungskontext hauptsächlich tangierende, wohl den Kristallisationspunkt aller Vorbehalte gegenüber Bubers Deutung repräsentierende Kritikpunkt angeführt: Dieser betrifft das sich in oben erwähnter Lebenshaltung manifestierende „erneuerte Verhältnis zur Wirklichkeit“ (vgl. etwa CB 786), das Buber dem Chassidismus unterstelle, welches jedoch – so etwa Schatz-Uffenheimers vehementer Einspruch – dem tatsächlichen Anliegen der historischen Bewegung geradezu diametral entgegenstehe, in der keineswegs eine Aufwertung oder gar „Heiligung“ alltäglicher Handlungen und Dinge intendiert (worden) sei, sondern – au con-

Hin und wieder auch „Rivka“ geschrieben. Grözinger 1982, S. 256. Daraus macht Buber allerdings keinen Hehl, indem er in der Tat (in Bezug auf seine Arbeit am Chassidismus) von „meiner Deutung des Chassidismus“ (GDP 297 und B 80) sowie der „chassidische[n] [Glaubenswelt] in meinem Verständnis“ (GDP 305) spricht. 228 Zu weiteren Kritikern an Bubers Chassidismus-Deutung siehe etwa Heinze 2013b, S. 349, Anm. 55. 226 227

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

traire – die Nichtung sämtlicher weltlicher Elemente. 229 Analoges artikuliert Scholem. 230 Überdies ist es nach Bubers eigenen Angaben nicht der historisch-kritische Weg beziehungsweise jener des (reinen) Referierens, Kommentierens und Akkumulierens von (neuen) Fakten, 231 den er wählte, sondern – so Wehr – „[e]s ist der Weg, auf dem versucht wird, etwas von der Kraft jenes gelebten Lebens der eigenen Zeit zu übermitteln“ 232. Der bewussten Wahl dieses Vorgehens liege die Entscheidung „für den fortwirkenden Geist und – bis zu einem gewissen Grad – gegen den Buchstaben“ 233 zugrunde, was die Ab229 „Die Welt als konkretes Gewand göttlichen Seins wurde dadurch nicht geheiligt, wenn sie auch dadurch für Gottes Existenz transparent wurde. Die Begegnung des Menschen mit der Schöpfung, zunächst eine Notwendigkeit, wurde allerdings im Chassidismus zu einem Ideal und einer Sendung, die vom Menschen die Aufhebung der Schöpfung, die Nichtung des Konkreten verlangte. Damit sprengte er vollkommen den ‚dialogischen Treffpunkt‘, den Buber zum Anliegen des Chassidismus macht […].“ (Schatz-Uffenheimer 1963, S. 279 f.; vgl. auch ebd., etwa S. 289 und 291) Buber nimmt Stellung zur Kritik der Schülerin Scholems in dem Aufsatz „Antwort“ (siehe A 626–635) sowie in „Zur Darstellung des Chassidismus“ (siehe DC 975–988). Siehe zu Bubers Stellungnahme Anm. 504 dieser Arbeit. Im Gegensatz zu Schatz-Uffenheimer konstatiert Gerhard Wehr – dem man sich in vorliegender Arbeit anzuschließen gedenkt – Folgendes: „Es ist müßig, darüber zu streiten, ob dieses Jetzt und Hier ‚erfüllt‘ wird oder ob – scheinbar im Gegenteil – eben dieses Jetzt und Hier radikal genichtet wird.“ (Wehr 1978, S. 79) 230 Der Kritik seines Schülers stellt sich Buber im Rahmen der Abhandlung „Noch einiges zur Darstellung des Chassidismus“ (siehe NDC 989–998). Während SchatzUffenheimer Bubers Chassidismus-Deutung quasi kategorisch ablehnt, fällt Scholems Kritik etwas milder aus, indem er Buber immerhin attestiert, unter anderem seine Schriften hätten den Menschen „tiefere Einsichten in das Wesen dieser merkwürdigen Bewegung [des Chassidismus] vermittelt“ (Scholem 1993, S. 356; vgl. auch ebd., S. 358). Katja Pourshirazi reflektiert in ihrer Studie anhand der „BuberScholem-Kontroverse“ die Kritik an Bubers Chassidismus-Deutung. (Vgl. Pourshirazi 2008, S. 99–120) 231 „Überhaupt ist es nicht mein Zweck, neue Tatsachen zu sammeln, sondern lediglich eine neue Auffassung ihres Zusammenhangs, eine neue synthetische Darstellung der jüdischen Mystik und ihrer Schöpfungen zu geben, sowie diese Schöpfungen selbst dem europäischen Publikum in einer künstlerisch möglichst reinen Form bekannt zu machen.“ (Martin Buber an Samuel Horodezky, 20. 7. 1906. Zitiert nach: Topp 1982, S. 184) 232 Wehr 1978, S. 107. Siehe hierzu vor allem auch die Ausführungen Bubers in seiner Abhandlung „Der Chassidismus und der abendländische Mensch.“ 233 Ebd., S. 109. Wehr konkretisiert wie folgt: „Die Buchstaben sind Gefäße; wohl auch unentbehrliche Gefäße. Größer aber als das, was sie bergen, sind sie nicht. Sie sind […] Schalen jener ‚heiligen Funken‘, die Mal um Mal freigesetzt werden wollen – in uns, durch uns. Dieser Aufgabe in einzigartiger Weise entsprochen zu haben, ist

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Einführende Erläuterungen zu Dialogphilosophie und Chassidismus-Deutung

sicht begünstigt habe, „etwas wie die Quintessenz chassidischer Geistigkeit herauszudestillieren“ 234. Expressis verbis sei somit an dieser Stelle betont, dass die Autorin in ihren Ausführungen explizit die individuelle Deutung des Chassidismus durch Buber anvisiert, deren Spezifik (im Sinne der dialogischen Färbung) – wie erwähnt – für zahlreiche historisch-kritische Analysten gerade den Stein des Anstoßes markiert(e). Demgemäß ist es im Folgenden nicht von (primärer) Relevanz, die (nach-)erzählenden wie theoretischen Schriften Bubers zum Chassidismus auf deren faktischen Gehalt zu überprüfen beziehungsweise hinsichtlich der tatsächlichen Quellenlage zu verifizieren. Im Vordergrund steht nicht das Bestreben einer Aufarbeitung der chassidischen Bewegung und Lehre als historisches Phänomen Osteuropas, sondern die Intention, deren philosophischer Essenz anhand Bubers Auslegungen nachzuspüren und die Artikulierung Letzterer als Innovationsleistung Bubers auszuweisen. In Bezug auf den Verzicht eines Kongruenz-Nachweises aus geschichts- wie religionswissenschaftlicher Perspektive ist demnach Gerda Topp beizupflichten: Die Frage, inwieweit Bubers Darstellung den historischen und auch den religionswissenschaftlichen Ansprüchen genügte, muß hier unbeantwortet bleiben und wäre auch als Gegenstand der Untersuchung für dieses Thema ohne Bedeutung. Denn so, wie Buber die Lehren des Chassidismus interpretierte, so hat er sie auch gelesen. Das soll nicht heißen, er habe da etwas hineininterpretiert, das da gar nicht stand, aber er hat wohl nur das herausgelesen, das er als Aussage des Glaubens für wichtig erachtete, und nur das wurde zum prägenden Element seines eigenen Lebens. 235 Martin Bubers Verdienst als Botschafter des Chassidismus.“ (Ebd.) Siehe hierzu ferner die Darlegungen in Kapitel II.4 dieser Arbeit zu den den Wesen und Dingen immanenten „heiligen Funken“. 234 Ebd., S. 103. Zu Recht gibt Wehr in Bezug auf die zum Teil harsche Kritik an Bubers Deutung der chassidischen Lehre Folgendes zu bedenken: „Aber geht es denn etwa allein darum, historische Fakten zu sichern oder textkritische Studien zu betreiben? Entspricht es nicht dem Wesen spiritueller Aktivität und charismatischer Praxis, das ins Werk zu setzen, was aus den eigenen Wesenstiefen heraus nach Verwirklichung drängt?“ (Ebd. S. 108) 235 Topp 1982, S. 184. Bezug nehmend auf die genuin dialogische Manier, verteidigt etwa auch Walter Kaufmann Bubers Umgang mit den Inhalten der chassidischen Überlieferung, wenn er dessen Hören auf das Vorgefundene in den Fokus rückt: „Offenkundig haben wir hier keinen Fall vor uns, in dem der Autor die Männer, von denen er berichtet, zum Sprachrohr seiner eigenen Ideen macht. Vielmehr wandelten sich seine Ideen im Lauf seiner Beschäftigung mit den Chassidim, und was

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

Worin besteht nun dies „zum prägenden Element“ von Bubers Leben und Denken gleichermaßen Geronnene, „die Quintessenz chassidischer Geistigkeit“ 236, wie Wehr dies bezeichnete respektive das dem Chassidismus innewohnende philosophische Potenzial, welches Buber in seiner Deutung extrahierte und nach dem die Autorin der vorliegenden Arbeit vor dem Hintergrund der einleitend dargelegten Problemstellung auf der Suche ist? „Da war etwas, das mich anheischte, ja mich geradezu wie ein verwendbares Gerät anfaßte. […] Es war – so möchte ich es doch auszudrücken wagen – etwas, was im Chassidismus steckte und in die Welt hinaus wollte. Ihm dazu zu verhelfen, war ich nicht ungeeignet.“ (CAM 935) 237 Es handelt sich vermutlich um das Exemplarische chassidischer Lebensweise, das in oben angedeuteter Form zum Ausdruck kommt, auf das Buber hier anspielt. 238 Aus diesem Grund argumentiert er wohl hinsichtlich Schatz-Uffenheimers Vorwurf eines (zu) selektiven Verfahrens mit den ihm zur Verfügung stehenden Quellen (vgl. wir beim Lesen vernehmen, ist das, was Buber hörte. Andere vor ihm haben es nicht genauso gehört. Aber auch er hatte es nicht genauso gehört, bevor er den Chassidim zu lauschen begann. So erzählt er uns, was er gehört hat, und nicht, was er von je zu sagen hatte.“ (Kaufmann 1963, S. 581) Weiters konstatiert Kaufmann (gleichwohl) hinsichtlich des formalen Aspekts der Buberschen Chassidismus-Deutung: „Es ist aber die Form, die solche Geschichten – hunderte – endgültig macht. Buber war es, der diese Diamanten schliff. Die Tatsache, daß er nichts hinzufügte, heißt nicht, daß er weitergab, was er fand: durch Schneiden und Schleifen erreichte er Vollkommenheit.“ (Ebd.) 236 Wehr 1978, S. 103. 237 Analog dazu konstatiert Buber speziell bezüglich der Verfassung seines einzigen Romans Gog und Magog, es sei ihm keineswegs darum gegangen, „überhaupt zu erzählen, sondern darum, etwas Bestimmtes zu erzählen, etwas, das mir ungemein wichtig erschien, das erzählt werden sollte und mußte, und das noch nicht richtig erzählt war, das richtig zu erzählen meine Aufgabe war“ (GM 1256). Vgl. zu Bubers Roman auch EZ 110, Anm. 13 und 136, Anm. 20, DC 986 f. sowie zum Beispiel Wehr 1978, S. 64 und Götzinger 1994, S. 143 f. 238 Siehe hierzu auch die Darlegungen bezüglich des exemplarischen Charakters der Handlungen der Zaddikim, der geistigen Führer der chassidischen Gemeinde, in Kapitel II.3. Gleichwohl betont Buber, keine „Allgemeinlehre“ intendiert zu haben, sondern sich unmittelbar an die zugrunde liegende Glaubenslehre gebunden zu wissen: „Es ist mir mehrfach nahegelegt worden, diese Lehre von ihrer, wie man gern sagt, ‚konfessionellen Beschränktheit‘ zu befreien und als eine ungebundene Menschheitslehre zu verkündigen. Das Einschlagen eines solchen ‚allgemeinen‘ Wegs wäre für mich die pure Willkür gewesen. Um das Vernommene in die Welt zu sprechen, bin ich nicht gehalten, auf die Straße zu treten, ich darf in der Tür meines angestammten Hauses stehenbleiben; […].“ (CAM 946) Buber bezieht sich an dieser Stelle auf die Kritik Riwka Schatz-Uffenheimers.

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Einführende Erläuterungen zu Dialogphilosophie und Chassidismus-Deutung

A 626), er habe den Fokus gerade „notwendigerweise auf die zu Unrecht verachteten ‚Anekdoten‘ – Geschichten von gelebtem Leben – und ‚Aphorismen‘ – Sprüche, in denen sich gelebtes Leben dokumentiert – gerichtet“ (DC 984). 239 Der Gegenstand des folgenden, Buber gewidmeten Teils der Arbeit wird somit darin bestehen, des „Signal- und des Beispielcharakters chassidischer Wirklichkeit“ 240 inne zu werden, beziehungsweise die diese fundierende Lebenshaltung und -führung zu erhellen und anhand möglichst konkreter Exempel greifbar zu machen. Hierfür wird als Primärquelle das bereits erwähnte umfassende Werk Die Erzählungen der Chassidim herangezogen 241, in wel239 Siehe hierzu auch folgende Konstatierung Grözingers hinsichtlich Bubers Verhältnis zur Legende: „Die Legende ist für Buber […] nicht bloß eine beliebige literarische Gattung – sie ist für ihn vielmehr ein zentrales Medium zur Mitteilung des Wesentlichen eines menschlichen Lebens. Die Legende und das Wahre im Leben sind für Buber die zwei Seiten einer Medaille.“ (Grözinger 1991, S. 283) Vgl. auch ebd., S. 284: „Die Legende wird als Text des gelebten Lebens, nicht als dessen Kommentar aufgefaßt. Sie spricht eine, ja die zentrale Wahrheit eines Lebens aus.“ Vgl. hierzu ferner ebd., S. 291. Siehe auch Bubers Ausführungen in „Zur Geschichte des dialogischen Prinzips“ in Bezug auf Die Legende des Baalschem (siehe zum Begründer der Chassidischen Bewegung Anm. 374): „‚Die Legende ist der Mythos des Ich und Du, des Berufenen und Berufenden, des Endlichen, der ins Unendliche eingeht, und des Unendlichen, der des Endlichen bedarf.‘ Hier ist das dialogische Verhältnis also an seiner höchsten Aufgipfelung exemplifiziert […].“ (GDP 297) 240 Wehr 1978, S. 12. 241 Von einer Bezugnahme auf Bubers frühe Schriften zum Chassidismus wird abgesehen, nicht zuletzt, da sich Buber später selbst von diesen partiell distanziert hat und betont, er sei „diesen [s]einen ersten Schriften über den Chassidismus [den Geschichten des Rabbi Nachman aus dem Jahre 1906 sowie der Legende des Baalschem von 1907] ferner gerückt […] als jenen frühen philosophischen Versuchen [Daniel (1912) sowie „Die Lehre des Tao“ (1909)]“ (W III 7). Zwar sind Der große Maggid und seine Nachfolge sowie Das verborgene Licht wesentlich später entstanden (1922 und 1924), jedoch brächten – so Pourshirazi – erst Die Erzählungen der Chassidim „diese Anekdotensammlungen dann, um ein Vielfaches erweitert, in ihre endgültige Form“ (Pourshirazi 2008, S. 189 f.). An anderer Stelle betont Buber erneut: „[D]as Bedürfnis, […] die Reinheit und Höhe chassidischen Geistes aufzuzeigen, verführte mich dazu, das volkstümlich Vitale allzu wenig zu beachten. So kann ich heute jene frühen Versuche wohl als Werk noch einigermaßen bejahen, als Erfüllung der mir gestellten Aufgabe jedoch tun sie mir längst nicht mehr genug“ (CAM 936). Bereits in seinem frühen Arbeitsstadium habe Buber gleichwohl – gemäß Wehr – erkannt, „daß wertvolles spirituelles Gut in jenen exemplarischen Geschichten verborgen liegt“ (Wehr 1978, S. 96). Schließlich sei auf folgende Darlegungen Hans Kohns in Bezug auf Bubers sich wandelnde Auffassung des Chassidismus beziehungsweise dessen Kerngedankens hingewiesen: „Auf der ersten Stufe seiner Betrachtung des Chassidismus stellte Buber noch die mystische Komponente

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

chem man in der Tat „auf eine Wirklichkeit [stößt], die sich nirgends überzeugender, nirgends lebendiger, nirgends glaubwürdiger manifestiert als in der Vieldeutigkeit der mit dem Unglaublichen angereicherten Erzählungen der Chassidim“ 242. Des Weiteren liefern Bubers theoretische Abhandlungen zum Chassidismus essenzielle Anhaltspunkte zur Untermauerung des zu Exemplifizierenden, ebenso werden parallele Stellen aus den dialogischen Arbeiten integriert. Ergänzend sind exemplarisch Schriften zum Judentum im Allgemeinen zu berücksichtigen, da sich gemäß Buber in der spezifischen Ausprägung jüdischen Geistes das für den Menschen als solchen Charakteristische 243 und gleichsam mit der chassidischen Frömmigkeitshaltung Korrespondierende kundtue: Erst durch die Konzentration auf den Chassidismus, welchen Buber für die beispielloseste Artikulation des Geistes des Judentums hält, 244 habe sich ihm „die Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Tat, als Werden, als Aufgabe gefaßt [eröffnet]. Und dieses Urjüdische war ein Urmenschliches, der Gehalt menschlichster Religiosität. Das Judentum als Religiosität, als ‚Frömmigkeit‘, als Chassiduth ging mir auf.“ (MW 967 f.) Diese Frömmigkeit speist sich letztlich aus dem

in den Vordergrund. Chassidismus war ihm, der Sehnsucht der Zeit entsprechend, pantheistische Mystik, in der die Inbrunst der Ekstase entbrennt. Aber höher als diese Einheit mit Gott der seltenen Stunden der Erfüllung steht die Einung der menschlichen Seele in der Richtung auf Gott, die Vollendung zur Ganzheit der menschlichen Seele in der Richtung auf Gottes Ganzheit. […] So ist die Religiosität des Chassidismus im Grunde nicht auf die Ekstase, nicht auf den seligen Genuß der Einheit mit Gott gestellt, sondern auf die Tat.“ (Kohn 1961, S. 77) Letzterer Aspekt soll vor allem in Kapitel II.2.3 der vorliegenden Untersuchung thematisiert werden. Hinsichtlich der bei Buber schließlich im Vordergrund stehenden Volkstümlichkeit des Chassidismus siehe auch Topp 1982, S. 181: „Durch die Volkstümlichkeit, die die Kabbala im Chassidismus gewann, wurde von jedem einzelnen eine Daseinsform gefordert, die als das Besondere des chassidischen Lebens angesehen werden darf.“ 242 Wehr 1978, S. 25. In Bezug auf den Gesichtspunkt des „Magisch-Unglaublichen“ wird Buber nicht müde zu betonen: „Meine Übermittlung chassidischer Botschaft ist keine spekulative Theologie; wo hier Mythos vernehmbar wird, ist es ein in das gelebte Leben von sieben Generationen eingegangener, als dessen nachgeborener Dolmetsch ich fungiere.“ (CAM 946) 243 So spricht Buber explizit von einer „sinnbildlichen und sakramentalen Existenz im Judentum“ (zitiert nach: Wehr 1978, S. 101). 244 „In der Tat, nirgends in den letzten Jahrhunderten hat sich die Seelenkraft des Judentums so kundgegeben wie im Chassidismus.“ (MW 961)

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Einführende Erläuterungen zu Dialogphilosophie und Chassidismus-Deutung

unbeirrbaren Glauben an die Einwohnung Gottes in der Welt 245, woraus wiederum logisch stringent das Prinzip der Verantwortung des Menschen für das Schicksal Gottes in der Welt [resultiert]. Verantwortung, nicht in einem bedingten, moralischen, sondern in einem unbedingten, transzendentalen Sinn, heimlicher, unerforschlicher Wert der menschlichen Handlung, Einfluß des handelnden Menschen auf die Geschicke des Alls, ja auf dessen lenkende Kräfte – das ist eine uralte Idee des Judentums. (CB 805) 246

Diese „Idee“ habe der Chassidismus dahingehend spezifiziert, als er sich – in nie dagewesener Konkretion – „unterfing, Gottes Schicksal auf Erden zu schmieden“ (JJ 10), indem er sich strikt auferlegte, die göttliche Immanenz an der Welt respektive im (all)täglichen Leben an und mit jeder Handlung zu bewähren und auf diese Weise gleichsam zu erlösen. In Bezug auf Bubers Begegnung mit dem Chassidismus resümiert Hans Kohn: Im Jahre neunzehnhundertvier hatte sich [im Orig. groß] die Begegnung Bubers mit dem Chassidismus vollzogen. Sie ist die entscheidende Begegnung seines Lebens geblieben. Sie hat ihn weitergeführt, in der einen Richtung zur immer tiefer dringenden Erkenntnis des Judentums […], in der anderen Richtung zu einer immer klareren Erfassung der religiösen Wirklichkeit, zu einer Gestaltung der religiösen und philosophischen Probleme des Menschen. Führte der eine Weg in den jüdischen, der andere in den allgemein menschlichen Bezirk, so liefen sie für Buber doch nicht getrennt, sie stützten, erläuterten und klärten einander in dem zugrundeliegenden Zusammenhang der Aussprache von Gott und Mensch. 247

245 In Bezug auf die in Kapitel II.4.2 näher zu beleuchtende einwohnende Herrlichkeit Gottes in Form seiner sogenannten „Schechina“ formuliert Buber: „[L]ebendig, mitverbrannt, mitharrend wohnt die Schechina bei uns, unser Leiden heilt und heiligt sich an der Immanenz des Worts. Das ist die Geschichte Israels, wie es die Geschichte der menschlichen Person ist, aber es ist wohl die Geschichte der Welt […].“ (RJV 6; im Orig. kursiv) 246 Vgl. hierzu auch Götzinger 1994, S. 140. Hierauf bezieht sich auch die analoge These Bubers in seinem dialogischen Hauptwerk Ich und Du: „Die Welt ist nicht göttliches Spiel, sie ist göttliches Schicksal.“ (ID 133) Auf diesen Aspekt wird im Verlauf der Analyse noch detailliert einzugehen sein. 247 Kohn 1961, S. 68. So bezeichnet Buber als einen substanziellen Aspekt der jüdischen Seele „die Urerfahrung, daß Gott vom Menschen durchaus abgehoben, seiner Fassung durchaus entrückt, und daß er doch in unmittelbarer Beziehung eben diesem ihm in unbedingter Weise inkommensurabeln Menschen gegenwärtig und zugewandt ist“ (BJS 203).

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

Dieses dialogische Verhältnis zwischen Gott und Mensch gilt es – als Basis und Zentrum der Buberschen Konzeption wie auch der nachfolgenden Analyse – vorab in Augenschein zu nehmen, um anschließend wesentliche Aspekte eines „dialogisch-chassidischen“ Lebens fundiert zu eruieren und darlegen zu können, wie dieses im Einzelnen strukturiert ist beziehungsweise sich in praxi im Sinne einer „Heiligung“ des konkreten Alltags darstellt. Denn für Buber lautete „[d]ie große Frage, die unsere Zeit immer tiefer aufrührt: Wie können wir handeln, gilt unser Handeln im Angesicht Gottes, oder ist es von Grund aus gebrochen und unbefugt?“ (GJ 192) 248

2.

„Helfer und Gefährten“: Das dialogische Gott-Mensch-Verhältnis und dessen Komponenten

„Gott in aller Konkretheit als Sprecher, die Schöpfung als Sprache: Anruf ins Nichts und Antwort der Dinge durch ihr Erstehn, die Schöpfungssprache dauernd im Leben aller Kreaturen, das Leben jedes Geschöpfs als Zwiegespräch, die Welt als Wort […].“ (CB 743) 249 Dieses paradigmatische Kernzitat aus der Chassidischen Botschaft repräsentiert in nuce, worin Bubers Dialogphilosophie und desgleichen das dialogische Verhältnis zwischen Gott und seiner Kreatur letztlich begründet liegt. Es verweist auf die faktische Quelle dieser Beziehung, welche im Schöpfungsursprung selbst ver248 „Wie Kierkegaard ist Buber im Grunde seines Herzens mehr ein religiöser Denker als ein Philosoph. Sein Hauptanliegen zielt nicht auf die Entwicklung eines Systems, nicht auf die Suche nach Gewißheit oder die Lösung von Problemen der Erkenntnislehre oder Ethik ab, sondern auf etwas, was ich – vielleicht allzu kühn – in eine einzige Frage zusammenfassen möchte: Was bedeutet mir heute die Religion meiner Väter?“ (Kaufmann 1963, S. 572) Siehe zu dem Gesichtspunkt des Verzichts auf die Konstituierung eines Systems auch Anm. 37 der vorliegenden Arbeit. Im Fortgang seiner Darlegung akzentuiert Kaufmann gleichwohl die bezüglich besagter Frage signifikante, für Bubers Schaffen insgesamt typische Korrelation von philosophisch-dialogischem und religiös-chassidischem Denken: „So sind nicht nur ‚Ich und Du‘, ‚Zwiesprache‘ und ‚Zwei Glaubensweisen‘ für diese zentrale Frage von Wichtigkeit, sondern auch Bubers Studien über Bibel und Chassidismus, seine Übertragung der hebräischen Heiligen Schrift und seine gesammelten Erzählungen der Chassidim.“ (Ebd.) 249 Vgl. hierzu auch Kohn 1961, S. 74: „Gott hat durch Sprache und Anruf alles geschaffen, die Schöpfung ist Sprache.“

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Das dialogische Gott-Mensch-Verhältnis und dessen Komponenten

ortet wird: Bereits die Entstehung der Dinge in der Urschöpfung interpretiert Buber als einen dialogischen Vorgang, indem die „Dinge“ mittels des an sie ergehenden schöpferischen Anrufs Gottes gleichsam „animiert“ werden zu entstehen, und dadurch schließlich die Schöpferanrede (zu) erwidern. Inwiefern dieser Umstand in besonderer Weise auf den Menschen zutrifft respektive diesem eine spezifische Obliegenheit innerhalb seines Erdendaseins überantwortet sein muss, illustriert die beifolgende Passage, in der explizit der Schöpfungsbeginn anvisiert wird und der Begriff „Dinge“ wohl primär auf die „Menschen“ bezogen ist: Was aus dem Abgrund des Ursprungs in die Sphäre unserer nicht erfassenden Fassung, unseres stammelnden Berichtes tritt, ist der schöpferische Ruf Gottes an das Nichts. Noch lagert das Schweigen ihm gegenüber, aber schon erstehen die Dinge und antworten, ihr Gewordensein ist ihre Antwort, und indem Gott sie segnet und beauftragt, hat die Offenbarung, die Beziehung von Geben und Empfangen, aber auch die vom Gebenwollen und Empfangenversagen, begonnen. (GJ 199)

Die essenziellen Komponenten des „dialogischen Verhältnisses zwischen Mensch und Gott“ (GDP 297 und B 79), die im Rahmen dieses Kapitels im Hinblick auf die prinzipielle Signifikanz menschlichen Handelns und Wirkens in Welt und (alltäglichem) Leben erhellt werden sollen (bevor Letzteres schließlich bezüglich konkreter Inhalte auf der Basis der chassidischen Lehre detailliert in Kapitel II.4 analysiert werden wird), finden sich komprimiert in diesem Passus: Zum einen handelt es sich um den Aspekt des Eingesetztseins des Menschen infolge des von Gott ausgehenden (und bereits beantworteten) schöpferischen „Ur-Rufs“, zum anderen wird gleichwohl menschliche Freiheit impliziert, indem Gott den Menschen zwar einsetzt und beauftragt, dieser jedoch gleichermaßen den (je aufs Neue) an ihn ergehenden Auftrag anzunehmen oder abzulehnen vermag. Die Realisierung dieser Autonomie setzt wiederum (jeweils) einen Akt der Wahl sowie das Fällen einer konkreten Entscheidung voraus, bleibt dies jedoch aus, verharrt der Mensch in Indolenz und Entscheidungslosigkeit. Mit letzterem Gegensatzpaar koinzidiert das Einschlagen einer Richtung oder alternativ das passive sich Treibenlassen in Richtungslosigkeit. Das Fundament seines dialogischen Ansatzes findet Buber somit, wie anhand der obigen Ausführungen deutlich wird, in der jüdischen Bibel (das heißt im Tanach) vorgeprägt: Indem „die Schrift 107 https://doi.org/10.5771/9783495817902 .

Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

ihren Gott [schon] welterschaffend reden läßt“ (FE 245 f.), wird nicht nur auf die generelle „dialogische Situation“ (DHE 173) beziehungsweise den „dialogische[n] Charakter des Lebens“ (JW 236) als solchen verwiesen, sondern darüber hinaus – wie angedeutet – „die lebenslange Anrede Gottes an mich“ (FE 240) symbolisch zum Ausdruck gebracht. 250 Entsprechend laute „die erste biblische Grundlehre […]: ‚Der Mensch wird von Gott angesprochen‘“ (DHE 176 f.), woraus resultiere, „daß unser Leben ein Gespräch zwischen Oben und Unten ist“ (DHE 173). 251 Pointiert resümiert Buber den entsprechenden Sachverhalt in „Das Judentum und die neue Weltfrage“: „Der Verlauf des menschlichen Daseins wird vom Judentum, für das alles Weltgeschehen von der Schöpfung bis zur Erlösung im Zeichen der Sprache steht, als ein Zwiegespräch empfunden.“ (JW 236) 252 Buber insistiert allerdings keineswegs darauf „zu behaupten, daß die Erfahrung und Erfassung der dialogischen Situation eine Besonderheit des Judentums sei“ (GJ 193). Denn Folgendes sei evi250 Siehe auch Arno Anzenbachers prägnanten Kommentar in Bezug auf diesen Aspekt und die diesbezüglich analogen Konzeptionen des „dialogischen Dreigestirns“ Martin Buber, Franz Rosenzweig und Ferdinand Ebner: „Wie bei Rosenzweig und Ebner so ist auch hier [bei Buber] das Geschaffensein des Menschen ein Antwort forderndes Angesprochensein. Schaffend ruft sich Gott ein Du ins Dasein, und der Mensch ist Mensch, insofern es ihm eingeboren ist, das Du Gottes sein zu können. Das Du ist dem Menschen eingeboren als die Urfähigkeit, der Urtrieb zum Antwortgeben.“ (Anzenbacher 1965, S. 65) 251 In Bezug auf die Thematisierung dieses Gesprächs zwischen Himmel und Erde respektive zwischen Gott und Mensch sind folgende Abhandlungen Bubers besonders hervorzuheben: Die unter die Schriften zur Philosophie eingegliederte Gottesfinsternis (vgl. zu diesem Terminus auch GM 1096 sowie zu der Schrift ferner A 629 f.), des Weiteren die konzisen Darlegungen in den in dem Band Der Jude und sein Judentum publizierten Aufsätzen und Reden, allen voran in der Rede mit dem programmatischen Titel „Der Dialog zwischen Himmel und Erde“ und in „Das Judentum und die neue Weltfrage“, ferner in „Die heimliche Frage“ und „Der Glaube des Judentums“ (hier besonders der Abschnitt „Die dialogische Situation“, GJ 188–190 und 196–199, vgl. zum Chassidismus GJ 187, 196 f.); siehe zu besagter Thematik auch BJS 202–207, 209 f., EZ 80 f., 93, 591 (ferner 104, 205, 220) und CB 809, 742 sowie nicht zuletzt die entsprechenden Passagen in den dialogischen Werken Ich und Du, Zwiesprache (zum Beispiel ZS 188 f.), „Die Frage an den Einzelnen“ (etwa FE 263) und „Zur Geschichte des dialogischen Prinzips“ (hier GDP 297). 252 Siehe hierzu auch die folgende Aussage Bubers in „Der Glaube des Judentums“: „Steht die ganze Welt, das ganze Weltgeschehen, die ganze Weltzeit unreduziert in der dialogischen Situation, bedeutet ihre Geschichte in Wahrheit das Zwiegespräch Gottes mit seiner Kreatur […]“ (GJ 199).

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Das dialogische Gott-Mensch-Verhältnis und dessen Komponenten

dent: „Alle Menschen kennen irgendwie, noch so dumpf, diese Berufung unsres Menschseins. […] Alle Menschen wissen irgendwann, noch so flüchtig, um die Begegnung. […] Alle Menschen kommen Gott irgendwo […] nah; es gibt keinen unverwundbaren Heiden.“ (RJV 9; im Orig. kursiv) 253 Nichtsdestotrotz macht Buber keinen Hehl aus seiner Überzeugung, „daß keine andere Menschenschar an diese Erfassung [der dialogischen Situation] solche Kraft und Innigkeit hingegeben hat wie die Juden“ (GJ 193). Letztere trügen den Grundkonstanten einer dialogischen Beziehung, 254 welche für die „vollkommene Beziehung“ (vgl. etwa ID 129) nicht minder gelten, 255 in besonderer Weise Rechnung, indem „die jüdische Lehre als ‚ganz auf die doppelgerichtete Beziehung von Menschen-Ich und Gott-Du, auf die Gegenseitigkeit, auf die Begegnung gestellt‘ gekennzeichnet [sei]“ (B 80). Die jüdische Bibel verkündige „die fruchtbare und gnädige Tatsache der Unmittelbarkeit zwischen Gott und uns“ (DHE 178), und der Jude wage es, gleichsam „weltverhaftet, welteingebannt zu Gott in der Unmittelbarkeit des Ich und Du zu stehn […]“ (RJV 9; im Orig. kursiv). 256 Speziell der Chassidismus habe schließlich mit (s)einer „weltzugewandten Mys253 Analog formuliert Buber in Ich und Du: „[A]llen, auch den Dumpfsten, ist da ja irgendwie, naturhaft, triebhaft, dämmerhaft, die Begegnung, die Gegenwart widerfahren, alle haben irgendwo das Du verspürt […].“ (ID 114) 254 Siehe hierzu beispielsweise Heinze 2011, vor allem S. 91–97. 255 So konstatiert Buber, „daß eben dasselbe Du, das von Mensch zu Mensch geht, eben dasselbe es ist, das vom Göttlichen her zu uns niederfährt und von uns her zu ihm aufsteigt“ (GDP 301). Siehe zur vollkommenen Beziehung auch Heinze 2011, S. 103–107 sowie die entsprechenden Ausführungen in Kapitel II.2.3 der vorliegenden Arbeit. 256 „[D]enn die echte Beziehung, die das Judentum lehrt, ist eine Brücke, die sich über zwei festen Pfeilern, dem Ich des Einzelnen und dem seines Partners spannt, – so die Beziehung zwischen Mensch und Gott, so auch die zwischen Mensch und Mensch. Das Judentum verwirft das Ich der Selbstsucht und des Hochmuts, aber es bejaht und bestätigt das Ich der echten Beziehung, das Ich des ‚Ich und Du‘, das Ich der Liebe. Denn die Liebe löscht das Ich nicht aus, sondern sie verbindet es mit dem Du […].“ (HF 170) Den wesentlich später entstandenen Ausführungen in verschiedenen Schriften zum Dialogischen Prinzip entsprechend, findet sich wohl erstmals in der Einführung zur Legende des Baalschem (1907) der entscheidende Grundgedanke in Bezug auf das (dialogische) Gott-Mensch-Verhältnis, welches in der Tatsache bestehe, dass „auch auf dieser Höhe noch die wesenhafte Verschiedenheit zwischen den Partnern ungeschwächt fortdauert, zugleich aber auch noch in solcher Nähe die Selbständigkeit des Menschen gewahrt bleibt“ (GDP 297 und B 80). Die Weiterentwicklung des Gedankens findet sich im „Geleitwort“ (1919) zu Der große Maggid und seine Nachfolge (1921).

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

tik der Tat“ 257 „die dem Menschen erreichbare und sein ganzes Leben zu umfassen vermögende wechselseitige Unmittelbarkeit der Beziehung zu Gott“ (DC 982) nicht nur proklamiert, sondern darüber hinaus praktisch vollzogen – ja „ins Werk gesetzt“. Es stellt sich nun die Frage nach der konkreten Erscheinungsweise und Realisationsform dieser Unmittelbarkeit: Wie ist diese für den Menschen als solchen erfass- und ausführbar – respektive: wie ereignet sich das erwähnte „Zwiegespräch“ zwischen Gott und Mensch in praxi? Vermag es sich – wie für den „weltverhaftet und -eingebannten“ Juden, insbesondere den Chassiden, so auch potenziell für jeden Menschen – effektiv nicht in isolierten Stunden der Entrückung jenseits des Trubels (all)täglichen Lebens, sondern gerade in der „zentrale[n] Wirklichkeit der alltäglichen Erdenstunde“ (ID 137) zu entfalten? Maßgeblichen Aufschluss liefert diesbezüglich ein Blick auf den Aspekt der Verantwortung, die Buber vor dem Hintergrund der biblisch-jüdischen Lehre aus dialogphilosophischer Perspektive ausleuchtet, 258 und im Rahmen derer die dialogische Gott-Mensch-Beziehung verankert ist. Die Abhandlung über „Die Frage an den Einzelnen“, in der Buber „den Dialog der Zeiten, den die Gottheit mit der Menschheit führt“ (FE 263), kritisch hinsichtlich Søren Kierkegaards Kategorie des „Einzelnen“ diskutiert, 259 stellt folgende Exemplifikation des Begriffs der „Verantwortung“ im Allgemeinen bereit: Verantwortung setzt einen primär, d. h. aus einem nicht von mir abhängigen Bereich mich Ansprechenden voraus, dem ich Rede zu stehen habe. Er spricht mich um etwas an, das er mir anvertraut hat und das mir zu betreuen obliegt. Er spricht mich von seinem Vertrauen aus an, und ich antworte in meiner Treue oder versage die Antwort in meiner Untreue oder aber ich war der Untreue verfallen und entringe mich ihr durch die Treue der Antwort. […] [D]ies ist die Wirklichkeit der Verantwortung. (FE 222) 260 Vgl. hierzu die Darlegungen in Kapitel II.2.3. Dies erfolgt beispielsweise in den Schriften „Die Frage an den Einzelnen“ sowie Zwiesprache. 259 Siehe diesbezüglich auch die folgende Fußnote. 260 Dementsprechend heißt es weiters in besagter Abhandlung „Die Frage an den Einzelnen“ in Kontrast zu Kierkegaards „Einzelnem“: „Not tut die Person als der unaufgebbare Grund, von dem aus der Eintritt des Endlichen in das Gespräch mit dem Unendlichen allein möglich ward und wird.“ (FE 264) Noch einmal wird dieser signifikante Aspekt an folgender Stelle konkretisiert: „Damit sie, die verantwortende Antwort, dasei [sic!], tut die Wirklichkeit der Person not, auf die das Wort im 257 258

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Buber definiert demnach, wie Meike Siegfried treffend bemerkt, „Verantwortung […] als echtes dialogisches Geschehen – d. h. als Begegnung mit einem mir unverfügbaren Du“ 261. Das Faktum der Unverfügbarkeit trifft ebenso auf die in diesem Kapitel fokussierte Gott-Mensch-Beziehung zu, denn „gerade das wirkliche Angesprochenwerden […] ist [es], das allen Besitzanspruch auf ein Absolutes ausbrennt“ (GDP 301). Entsprechend präzisiert Buber in seiner Schrift „Zur Geschichte des dialogischen Prinzips“ 262 die von Gott stammende „Anrede“, als der Mensch tatsächlich „angesprochen“ werde „nicht freilich vom ‚Absoluten‘, das nicht spricht, aber von dem die Welt zu mir sprechenden Gott“ (GDP 301). Es handelt sich also um die Welt, in der sich der Inhalt der Anrede des nicht als anonymes „Absolutes“ agierenden Gottes manifestiert; um seine Welt, welche er dem Menschen in der Weise des Zusprechens überantwortet! Diese enorme Vertrauensaufgabe verweist unmittelbar auf die „Verbindung der Transzendenz mit der Konkretion“ (GDP 301) und überführt als kardinaler Auftrag den Menschen gleichsam aus dem Stadium trüber Undefiniert- und Undifferenziertheit in jenes kapitaler Trägerschaft 263 „des persönlichen Lebens im Ernst seiner Verantwortungsganzheit“ (FE 257). Der Einzelne steht jeweils „in der Verantwortung für das[,] woran er vor Gott teilhat“ (FE 252). 264 In der Chassidischen Botschaft liest man in diesem Kontext: „Es ist das Zugereichte, das Zugefügte, das Angebotene; es ist das, worin Gott mich anredet und worin er die Antwort von mir empfangen Geschehen, sie anfordernd, trifft, und es tut die Wirklichkeit der Wahrheit not, auf die die Person geeinten Wesens ausgeht, und die sie eben deshalb, nicht in einer Allgemeinheit, nur als die sie selber angehende in solcher Besonderung, im Wort zu empfangen vermag.“ (FE 262) Die Voraussetzung des „geeinten Wesens“ wird im weiteren Verlauf der Darlegungen – insbesondere in Kapitel II.2.2 – noch expliziert werden. 261 Siegfried 2013, S. 264. 262 Ferner in Zwiesprache in dem Abschnitt „Wer redet“ (vgl. ZS 187 f.). Siehe hierzu ebd., S. 263 f. 263 Siehe hierzu auch folgendes paradigmatische Diktum des Dialogikers Eugen Rosenstock-Huessy in seinem Werk Im Kreuz der Wirklichkeit. Eine nachgoethische Soziologie: „Ich erfuhr, daß die Sprache kein Werkzeug des Menschen selbst ist, sondern der Weg, auf dem er sich wandelt. […] Wir sprechen, damit wir Lebensbahnen einschlagen können, wo sonst ein ruheloses Kreisen im Labyrinth uns umhertriebe.“ (Zitiert nach: Heinze 2011, S. 25) 264 Vgl. zur Thematik der Verantwortung etwa auch FE 221–223 und 259–262.

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

will.“ (CB 746) 265 Demzufolge werde jeder einzelne Mensch letztlich „durch das, was ihm widerfährt, was ihm geschickt wird, durch sein Schicksal angeredet; durch sein eigenes Tun und Lassen vermag er auf diese Anrede zu antworten, er vermag sein Schicksal zu verantworten“ (JW 236). 266 Wie Catarina Götzinger plausibel macht, bedeute dies „[d]ialog-philosophisch erklärt, […] daß das von Gott für den Menschen gewordene Wort von ihm, wenn die Stunde zu seiner Stunde geworden ist, mit seinem ganzen Wesen zu verantworten sei; indem er diesem Wort, das zu ihm gesprochen wurde, eine Antwort entgegenbringt“ 267. Während Gott seine Anfrage gleichsam in Form der einzelnen Begebnisse und Situationen, die er dem Menschen in sein Leben und somit seinen Alltag sendet, artikuliert, erwidert der Mensch, wie bereits angeklungen, mittels seiner Handlungen, die er vollführt oder alternativ durch den Verzicht auf ebensolche – denn „selbstverständlich sind auch Unterlassungen Handlungen“ (FE 246). 268 Wer wähne, Gott präsentiere ihm gewissermaßen die jeweilige Antwort und diese sei somit stets parat, gehe allerdings in toto fehl: „Gott reicht mir die Situation hin, auf die ich zu antworten habe; daß er mir von meiner Antwort etwas zureichte, habe ich Zum „Zugereichten“ und „Anvertrauten“ vgl. auch FE 245. „Und was die Ungläubigen betrifft, so braucht von den Atheisten selbstverständlich gar nicht geredet zu werden, sondern nur von den Anhängern eines mehr oder weniger philosophischen Gottesbegriffs, mit dem sie die Vorstellung eines göttlichen Angeredetwerdens nicht in Einklang bringen können; für sie ist die ganze Dialogik der Schrift nichts als ein Mythenbild, geistesgeschichtlich lehrreich, aber für unser Leben unverwendbar.“ (DHE 174) Gerade letzterer Aspekt stellt für Buber dagegen den entscheidenden dar. In diesem Kontext sei ferner auf folgende Ausführungen Bubers in Ich und Du bezüglich des (sogenannten) Atheisten verwiesen: „Aber auch wer den Namen [Gottes] verabscheut und gottlos zu sein wähnt, wenn der mit seinem ganzen hingegebnen Wesen das Du seines Lebens anspricht, […] spricht er Gott an.“ (ID 128) Auf das Faktum des Lebens als Angesprochenwerden soll insbesondere in Kapitel II.4 rekurriert werden. 267 Götzinger 1994, S. 140. 268 Vgl. hierzu auch ZS 190. In Bezug auf die gängige Interpretation menschlichen Handelns bemerkt Buber in diesem Kontext äußerst kritisch: „Alles biologische Verstehenwollen des menschlichen Handelns ist (so wenig man die biologische Existenz vergessen darf, wenn man den Menschen deutet) ein Banalisieren, eine schlechte Vereinfachung nämlich, weil es ein Aufgeben des anthropologischen Eigenbestands, dessen also ist, was die Kategorie des Menschen erst konstituiert.“ (FE 253) Buber spielt hier einmal mehr auf die (mittels Handeln einzulösende) Verantwortung an – „darauf also, eine Person mit einem Verhältnis zur Wahrheit zu werden“ (FE 254). 265 266

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nicht zu erwarten […].“ (FE 249) 269 Keineswegs existierten quasi fixe, griffige Pauschalantworten oder -antwortoptionen hinsichtlich des „Was“ und „Wie“, des konkreten Inhalts sowie der Beschaffenheit einer jeweiligen Handlung (oder „Nichthandlung“), auf die der Mensch lediglich zurückzugreifen brauchte – dies würde ein dialogisches Geschehen gänzlich konterkarieren. „Die Sphäre des Außerhalb (menschlichen Seins) garantiert also keine zeitlose, unwandelbare Ordnung, sondern fordert ein immer neues […] Auseinandersetzen mit Umwelt und Mitmensch“ 270, um eine adäquate Entgegnung menschlicherseits innerhalb je singulärer personalisierter Situationen stets aufs Neue auszuloten, was Buber wie folgt zu pointieren weiß: Was Gott von mir für diese Stunde verlangt, erfahre ich, sofern ich es erfahre, nicht eher als in ihr. Aber auch dann ist es mir nicht anders gegeben, es zu erfahren, als wenn ich sie, diese Stunde, als meine Stunde ihm, Gott, gegenüber verantworte, wenn ich die Verantwortung für sie auf ihn zu austrage, so sehr ich eben vermag. Was mich jetzt angetreten hat, das Unvorhergesehene, Unvorhersehbare, ist Wort von ihm, Wort, das in keinem Wörterbuch steht, Wort, das jetzt gewortet worden ist, – und was es von mir heischt, ist meine Antwort an ihn. (FE 248) 271 269 Siehe ferner folgenden Passus aus Zwiesprache: „Denn das ist ja der […] große Gegensatz zwischen allem Zeichenwesen der Deuterei und der Zeichensprache, die hier gemeint ist: sie ist nie Auskunft, nie Bescheid, nie Beruhigung.“ (ZS 185; im Orig. in Klammern) 270 Siegfried 2013, S. 265. 271 Vgl. hierzu beispielsweise auch ZS 190 sowie Anzenbacher 1965, S. 61 f.: „Die Situation spricht mich an und fordert Antwort. Stelle ich mich der Anrede, dann muß ich die Antwort in der Sprache geben, in der sie von der Situation gefordert ist; diese Antwort ist dann ebenso neu und einmalig wie die Anrede.“ In diesem Kontext formuliert Buber in Zwiesprache in Bezug auf den Glauben, auf den in Kapitel II.2.3 noch zu rekurrieren sein wird, Folgendes: „Der wirkliche Glaube – wenn ich denn das Sichstellen und Vernehmen so nennen darf – fängt da an, wo das Nachschlagen aufhört, wo es einem vergeht. Was mir widerfährt, sagt mir etwas, aber was das ist, das es mir sagt, kann mir durch keine geheime Kunde eröffnet werden, denn es ist noch nie zuvor gesagt worden und es setzt sich nicht aus Lauten zusammen, die je gesagt worden sind. Es ist undeutbar, wie es unübersetzbar ist, ich kanns nicht erklärt bekommen und ich kanns nicht darlegen, es ist ja gar nicht ein Was, es ist ja mir in mein Leben hinein gesagt, es ist keine Erfahrung, die sich unabhängig von ihrer Situation erinnern läßt, es bleibt immer die Anrede jenes Augenblicks, unisolierbar […].“ (ZS 184 f.) Ferner äußert sich Buber in diesem Zusammenhang kritisch in Bezug auf Martin Luther sowie Johannes Calvin: „Luther und Calvin glauben, das Wort Gottes sei so unter die Menschen niedergegangen, daß es eindeutig gekannt werden könne und also ausschließend vertreten werden müsse, ich aber glau-

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Dem Begriff „Verantwortung“ inhäriert die („Wortung“ der geforderten) Antwort des Menschen, für diese ich gleichsam parallel respektive analog in der Situation beziehungsweise Stunde sowie in der Sprache „zu stehen“ habe (vgl. ID 103) – „und es kommt jetzt nur darauf an, daß ich das Antworten auf mich nehme“ (ZS 182). Soll dies gelingen, ist für das In-der-Situation-, In-der-Stunde- und Inder-Sprache-Stehen wiederum essenziell, „daß ich mein Ohr für die Situation, wie sie sich mir dartut, als für die Erscheinung des Wortes an mich öffne bis auf den Grund, wo das Hören ins Sein verfließt, und vernehme, was zu vernehmen ist, und auf das Vernommene antworte“ (FE 248). 272 Mit dieser subtil (ab)wartend-(aus)harrenden, gleichwohl bedachtsam (auf)horchend-(er)hörenden, der Antwort vorausgehenden Haltung korreliert die Besinnung auf dasjenige, was in der eigenen Hand liegt, wie Buber in Ich und Du klarstellt: „Womit wir uns zu befassen, worum wir uns zu bekümmern haben, ist nicht die andre, sondern unsre Seite; ist nicht die Gnade, sondern der Wille.“ (ID 129) Verhalte ich mich dergestalt, wird es mir eventuell geraten, meine Antwort zu formulieren: „Ich worte meine Antwort, indem ich unter den möglichen Handlungen die vollziehe, die meiner hingegebenen Einsicht als die rechte erscheint“ (FE 248), denn es ist mir versagt, auf eine andere Gewissheit zu spekulieren als auf jene (mehr oder minder sichere) der „persönlichen Richtigkeit der Entscheidung“ (FE 249). In folgender Sentenz aus Bubers einzigem Roman Gog und Magog 273 sind die oben erörterten Gegebenheiten realistisch zusammengefasst, die zugleich auf den durchaus beachtlichen Einfluss des Menschen (auf „seine Seite“) abstellt und zudem – angesichts der Größe der Herausforderung – in geradezu poetischer Weise ermutigt: „»‚Wenn wir dessen würdig sind, hören wir sie [die Stimme Gottes] jetzt und hier. Wenn wir zu hören bereit sind, hören wir. Wie könnte sie sich uns versagen – wendet sie sich doch an uns, sucht sie uns doch!‘«“ (GM 1088) 274 be das nicht, sondern das Wort Gottes fährt vor meinen Augen nieder wie ein fallender Stern, von dessen Feuer der Meteorstein zeugen wird, ohne es mir aufleuchten zu machen, und ich selber kann nur das Licht bezeugen, nicht aber den Stein hervorholen und sagen: Das ist es.“ (ZS 179) 272 Vgl. auch FE 258 sowie zum Aspekt des Vernehmens ID 135. 273 Siehe zu diesem auch Anm. 237. 274 In dem Aufsatz über „Bubers religiöse Bedeutung“ äußert sich Walter Kaufmann auch bezüglich Bubers genereller Hörfähigkeit was die Übertragung von

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Werden Hingabe und Hörbereitschaft auch stets und gewissenhaft aktualisiert, bleibt gleichwohl ein angemessenes Antworten diffizil – nicht lediglich aufgrund der Tatsache, dass zur Antwort nichts „hinzugereicht“ wird: Der Mensch verfügt ebenso wenig über das Privileg zu „selektieren“, wen oder was er als das „Zugesprochene“ im Sinne des ihm Begegnenden, Widerfahrenden und somit zu Beantwortenden präferiert – dies obliegt gänzlich der Freiheit Gottes, „der ihm jeweils von sich zuteilt, was er ihm zuteilt“ (CCG 953). Sind wir Menschen im Sinne der dialogischen Situation zwar des Antwortens (er)mächtig(t), stehen wir ex aequo in einer respektive „der Wahrheit und Wirklichkeit, die wir nicht aus uns holen, die uns eingegeben und zugeteilt ist“ (ID 139). Mit dieser Komponente der divinen Autarkie korreliert die Potenzialität des Göttlichen zu erscheinen, in welcher Form es ihm beliebt (vgl. GDP 302), denn „[n]ichts kann sich weigern, dem Wort Gefäß zu sein“ (ZS 183; Herv. sind zugefügt), keine Situation des Lebens, kein Vorkommnis des Alltags, kein Mensch, kein Tier, keine Pflanze, kein Ding: „Er [Gott] legt sich nicht auf irgendwelche Arten der Erscheinung fest“ (GM 1129) – Er, „der an der Unendlichkeit der Dinge und Begebnisse die Unendlichkeit seiner Erscheinungsträger hat“ (BJS 202). 275 Endlich besteht die entscheidende Aufgabe im Kontext des Hörens, Vernehmens und Antwortens folglich darin, „in der Fülle der Manifestationen immer wieder den Einen wiederzuerkennen, dem man sich anvertraut, angelobt hat“ (BJS 202), sofern die Bereit-

Texten angeht, indem er hervorhebt, Buber selbst sei „stets Auge und Ohr für den Zusammenhang“ (Kaufmann 1963, S. 580) gewesen, was jedoch letztendlich auf das Leben als solches und den darin angeforderten Menschen an sich zu übertragen ist: So akzentuiert Kaufmann Bubers Verdienst, die Hörfähigkeit des Menschen (wie auch die Handlung, siehe hierzu Anm. 268 dieser Arbeit) nicht auf einen biologischen Prozess reduziert, sondern diese vielmehr in existenziell-dialogischem Sinne interpretiert zu haben: „Immer ringt er darum, die Stimme des Du zu hören. So lehrt er uns tiefe Ehrerbietung vor der Stimme, die zu uns redet, und den geduldigen Entschluß, zu lauschen und uns ansprechen zu lassen. Wenige Menschen vermögen uns etwas von gleicher Bedeutung zu lehren.“ (Ebd.) Die grundsätzliche Notwendigkeit, „daß wir [alle wieder] hörig und tätig werden“ (Kohn 1961 S. 66), artikuliert auch Hans Kohn. 275 Dementsprechend wird in Kapitel II.4.2 – insbesondere Kapitel II.4.2.2 – ausführlich auf den Aspekt eingegangen werden, dass nicht lediglich eine Weise des „Gott-Dienens“ existiere.

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schaft zur Vernehmung des Wortes internalisiert worden ist. 276 Buber rekurriert in diesem Zusammenhang an diversen Stellen auf die alttestamentarische Passage „»Ich werde dasein als der ich dasein werde«“ (BJS 203). 277 Dies bekräftige, dass Gott stets präsent und gegenwärtig sei, „aber jeweils als der, als der er eben jetzt und hier da ist, so daß der Geist des Menschen nicht vorzuwissen vermag, im Gewande welcher Existenz und welcher Situation sich Gott je und je bezeigen wird. Es gilt, ihn in jedem seiner Gewänder wiederzuerkennen“ (BJS 203) 278 – „möge die Gestalt, in der [er] sich dieser menschlichen Person in diesem Augenblick darstellt, welche auch immer sein“ (GF 576). Die unantastbare Autonomie Gottes impliziert letztlich die generelle Hinfälligkeit und Unmöglichkeit der Manipulation – entsprechend folgert Buber gleichsam aus „göttlicher“ Perspektive: [D]as heißt: Ihr braucht mich nicht zu beschwören, denn ich bin da, bin bei euch, aber ihr könnt mich auch nicht beschwören, denn ich bin jeweils so bei euch, wie ich jeweils sein will, ich selber nehme keine meiner Erscheinungen vorweg, ihr könnt mir nicht begegnen lernen, ihr begegnet mir, wenn ihr mir begegnet […]. (GJ 196)

Nichtsdestotrotz blieben trügerische (und ebenso illusorische) Anstrengungen menschlicherseits nicht aus, gleichsam über das Göttliche zu verfügen, dieses sich dienstbar zu machen, um Begegnung 276 Sowie die Entscheidung für die Richtung auf Gott (stets aufs Neue) getroffen worden ist. Siehe hierzu die Erläuterungen in Kap. II.2.2. 277 Siehe hierzu auch GJ 195 f., BJS 202 sowie nachstehende Passage aus Ich und Du: „Ich glaube nicht an eine Selbstbenennung Gottes, nicht an eine Selbstbestimmung Gottes vor den Menschen. Das Wort der Offenbarung ist: Ich bin da als der ich da bin. Das Offenbarende ist das Offenbarende. Das Seiende ist da, nichts weiter. Der ewige Kraftquell strömt, die ewige Berührung harrt, die ewige Stimme tönt, nichts weiter.“ (ID 154) 278 So konstatiert Buber in Bezug auf den sogenannten „Heiden“: „Ich kann keinen Menschen schlechthin einen Heiden nennen, ich kenne nur Heidnisches im Menschen, aber insofern es Heidentum gibt, besteht es nicht darin, Gott nicht zu erkennen, vielmehr darin, ihn nicht als Denselben wiederzuerkennen, wogegen es mir gleichsam das Jüdische im Menschen zu sein scheint, Gott je und je wiederzuerkennen.“ (BJS 203) In „Der Glaube des Judentums“ kommt Buber auf die nämliche Problematik zu sprechen, indem er den Heiden als denjenigen Menschen charakterisiert, „der Gott in seinen Erscheinungsformen nicht wiedererkennt; vielmehr: der Mensch ist in dem Maße Heide, als er Gott in seinen Erscheinungsformen nicht wiedererkennt“ (GJ 188). Dieser Aspekt des Wiedererkennens respektive „Immerwieder-Anerkennen[s]“ (GJ 189) bezieht sich letztlich auf „die dialogische Situation, in der der Mensch steht“ (GJ 189).

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und somit Zwiegespräch zu unterlaufen. (Vgl. GF 595) Bevor deren Erscheinungsformen sowie daraus resultierende Konsequenzen für Welt und Leben in Kapitel II.2.3 eruiert werden sollen, gilt es, die Frage zu vertiefen, weshalb und auf welche Weise gleichwohl die Freiheit des Menschen von eminenter Wichtigkeit hinsichtlich der Schöpfung (Gottes?) ist, trotz (menschlicher) Kreatürlichkeit realiter existiert und „dialogisch“ ernst genommen werden muss. Was bewirken Entscheidungs- und Handlungsfreiheit des Menschen in Bezug auf das „Gelingen“ von Schöpfung und (alltäglichem) Leben im Allgemeinen? 2.1 Die Signifikanz menschlicher Freiheit hinsichtlich des Gelingens von Schöpfung „Das Weltgeschehen vollzieht sich der jüdischen Konzeption nach […] nicht zwischen zwei Prinzipien, Licht und Finsternis, […] sondern zwischen Gott und dem Menschen, diesem sterblichen, brüchigen Menschen, der dennoch Gott gegenübersteht und seinem Wort standzuhalten vermag.“ (GJ 190) Der identische Topos gilt – gemäß obigen Ausführungen – für Bubers Dialogphilosophie. Folglich müsste die Freiheit des Menschen als ebenso konstitutiv für das Weltgeschehen – ausgewiesen als dialogisch strukturierter Prozess – wie die göttliche Autonomie konstatiert respektive als unzweifelhaftes Faktum gebilligt werden. Erweist sich allerdings die Freiheit Gottes als evident – aufgrund des Faktors seiner begrifflich-theoretischen Unerschließbarkeit 279 und vor allem seiner unlimitierten Erscheinungsmöglichkeit – ist der Verdacht des antagonistischen Charakters jener Hypothese menschlicher Autonomie in Anbetracht menschlicher Geschöpflichkeit nicht a limine von der Hand zu weisen: Es fragt sich, inwiefern diese dem Menschen von Buber attestierte Freiheit tatsächlich zu substanziieren ist, und inwieweit diese die Beziehung zur Göttlichkeit, zu Welt und Leben de facto bedingt. Denn – wie in Bubers Abhandlung „Die Frage an den Einzelnen“ zu lesen ist: 279 „Es ist nicht so, daß Gott aus irgendwas erschlossen werden könnte […]. Es ist nicht so, daß irgend etwas anderes ‚gegeben‘ und dies erst daraus abgeleitet wäre, sondern dies ist das unmittelbar und zunächst und dauernd gegenüber Wesende: das rechtmäßig nur angesprochen, nicht ausgesagt werden kann.“ (ID 132)

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Die menschlichen Vorstellungen von der Beziehung wechseln, die Wahrheit der Beziehung ist unwandelbar, weil sie in der ewigen Gegenseitigkeit steht und nicht der Mensch seinen Zugang zu ihr bestimmt, sondern der Schöpfer mit der Eindeutigkeit seiner Erschaffung des Menschen den Zugang eingesetzt hat. (FE 232) 280

Analog zu der eingangs von Kapitel II.2 angeführten Belegstelle rekurriert Buber hier einmal mehr auf das Erschaffen- und demzufolge Eingesetztsein des Menschen (von Gott) in das (Welt)Geschehen und somit in die (Gott-Mensch-)Beziehung. Präziser formuliert, spricht er von der „Eindeutigkeit“ (FE 232) des menschlichen Erschaffenseins und spezifiziert somit den Zugang des Menschen zu Beziehung im Allgemeinen (und jener zu Gott im Besonderen): Dieser basiert – wie Anzenbacher äußerst treffend bemerkt – auf dem „Geschaffensein des Menschen [als] ein Antwort forderndes Angesprochensein“ 281. Mit anderen Worten hat Gott den Menschen eingesetzt als einen, der (Ihm) zu antworten vermag und auf diese Weise das menschliche Beziehungspotenzial festgelegt. Der Mensch ist demnach – wie oben bereits erläutert – insofern in die dialogische Situation eingebunden, als ihm die Möglichkeit innewohnt, auf den ihn angehenden, je situativen Anruf (Gottes) zu antworten, ihn gleichsam „ins Gespräch zu heben“ 282 (das heißt, die jeweilige Situation tatsächlich zu „seiner“ werden zu lassen) oder diesen unbeantwortet verstreichen zu lassen und somit die Antwort zu versagen. 283 Bezüglich der Differenzierung menschlicher Geschöpflichkeit gegenüber jener anderer Lebewesen sei auf folgende Konkretisierung in der Chassidischen Botschaft verwiesen: Wie es auch mit außermenschlicher Geschöpflichkeit sich verhalte, vom Menschen wissen wir, daß er durch sein Erschaffensein ins Leben eingesetzt ist als einer, der nicht etwa in einer flüchtigen Selbsttäuschung, sondern in der Wirklichkeit beides vermag: Gott zu wählen und Gott zu verwerfen. (CB 750 f.) 284

Siehe zu dem Aspekt des menschlichen Eingesetztseins (neben den zu Beginn von Kapitel II.2 bereits in den Text integrierten und noch folgenden Belegstellen) auch GF 553 sowie ferner BST 61. 281 Anzenbacher 1965, S. 65. Vgl. hierzu auch Anm. 250 der vorliegenden Arbeit. 282 Vgl. ebd., S. 61 f. 283 Siehe hierzu auch JW 236. 284 Vgl. zu der Thematik des Gott Wählen- und Unerwähltlassenkönnens etwa auch DHE 173, GF 559 sowie CB 751. 280

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Dementsprechend charakterisiert Buber diese grundsätzliche Wahlmöglichkeit des Menschen nicht etwa als „ein psychologisches Phänomen, sondern [als] letzte Realität, die in das Mysterium des Seienden selbst aufgenommen ist“ (GJ 190) 285. Der Mensch verfügt also nicht trotz, sondern gerade aufgrund seines (spezifischen) Erschaffenseins über Freiheit – modifiziert formuliert, avanciert bei Buber das Eingesetztsein selber sozusagen zur Möglichkeitsbedingung menschlicher Freiheit: 286 Im Wissen um die Tatsache, dass der Mensch für etwas (Bestimmtes) eingesetzt ist, welches ihm zu verrichten und somit zu verantworten obliegt, manifestiert sich seine Freiheit, denn „wenn man die Eingesetztheit der Macht […] ernst nimmt, erweist sich die Einsetzung als der genaue Auftrag, und die Macht erweist sich als das große Verantwortensollen“ (FE 261). 287 Die volle Trag- und Wirkungsweite menschlichen Eingesetztseins und des darauf basierenden Vermögens, Gott zu wählen oder alternativ zu „verwerfen“ beziehungsweise unerwählt und somit unverwirklicht zu lassen, demonstriert und realisiert sich folglich „nicht in einem weltledigen Glaubensverhältnis, sondern in der ganzen Fülle des Alltags. Der ‚Sündenfall‘ ist nicht einmal geschehen und zum Verhängnis geworden, sondern in all seiner Wirklichkeit geschieht er jetzt und hier.“ (GJ 190; Herv. sind zugefügt) 288 Der Mensch vermag also der Welt je zur „Heilung“ oder aber zum Verderbnis zu gereichen (vgl. CB 751) – ist er doch keineswegs „blindes Werkzeug, er ist als ein freies Wesen erschaffen, frei auch Gott gegenüber […]. Auf Gottes souveräne Anrede gibt der Mensch seine selbständige Antwort; auch wenn er schweigt, ist es eine Antwort.“ (DHE 173) 289 Dieser autark zu vollziehende Prozess 285 Zum Schöpfungsmysterium vgl. auch GF 583 (beziehungsweise Anm. 299 dieser Arbeit), ferner GF 585. 286 Vgl. zur Thematik der Wahl in Freiheit (neben den in den Fließtext integrierten Belegstellen) etwa GJ 190, GF 572, 575 f., BGB 628 f., 633, 644, EZ 101 f., 125, 208– 210, 262 f., 506 f., CB 749–752, 808 f., RN 904 f., 908 f., GM 1033–1035, 1048 f., ferner EZ 498, 521, 567 sowie Wehr 1978, S. 55 f. 287 Vgl. GJ 190 und 192. 288 Vgl. hierzu auch CB 751. Auf die Thematik des Glaubens respektive des Glaubensverhältnisses wird in Kapitel II.2.3 zur chassidischen Mystik sowie auf die Aspekte „gut“ und „böse“ im nachstehenden Kapitel II.2.2 gesondert eingegangen werden. 289 Hinsichtlich des Gesichtspunktes, der Mensch sei nicht lediglich Werkzeug (Gottes) siehe auch BJS 205 sowie die nachfolgende Anmerkung der vorliegenden Arbeit. Vgl. zum Schweigen als mögliche Form dialogischen Antwortens im All-

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

des Umlautens der empfangenen Anrede im Sinne des individuellen Antwortfindens und -formulierens ist wiederum der Indikator menschlicher Freiheit. 290 „So nimmt am Dialog zwischen beiden, der die Essenz des Daseins bildet, der Mensch in völliger Freiheit und Ursprünglichkeit teil.“ (GF 583) Dieses „Von-sich-her“ (vgl. GF 559) Gottes wie auch des Menschen legitimiert die Rede des Israel Ben Elieser, Gründer der chassidischen Bewegung, 291 von letzterer als einer „Wiederentdeckung des ‚Gegenüberstehens‘, der realen Gegenseitigkeit“ (LC 50), die Buber schließlich im Rahmen seines dialogischen Denkens aufgreift und fortführt. Denn der ganze Sinn der Gegenseitigkeit liegt ja eben darin, daß es [das Absolute] sich nicht auferlegen, sondern frei ergriffen werden will. Es gibt uns etwas zu ergreifen, aber es gibt uns nicht das Ergreifen; unser Akt muß von Grund aus unser eigener sein, damit sich uns das zu Erschließende erschließe, das ja jedem Einzelnen ihn selber erschließen soll. (GF 578) 292

Gott offeriert dem Menschen also die Chance, das ihm Zugereichte als das nur ihm Zugereichte und Dargebrachte eigenständig zu beund ergreifen und damit korrespondierend seine Individualität zu verwirklichen. Ex aequo liege es gemäß Buber gleichwohl in Gottes eigenem „Interesse“, nicht zu oktroyieren und zu restringieren (vgl. auch GF 559), sondern aus Freiheit (mittels der Situation, die den einzelnen Menschen im Leben „antritt“) ergriffen werden zu wollen: „Gott bedarf des selbständigen Menschen […] als Gesprächspartners [sic!], als Werkgesellen, als des ihn Liebenden; er bedarf seiner so oder will seiner so bedürfen.“ (GF 559) 293 Infolgedessen werde der Mensch „in der jüdischen Tradition der Gefährte Gottes

gemeinen auch den Artikel der Autorin „(An)Rufen – (Ver)Antworten – (Ent)Sprechen. Zum Schweigen aus der Perspektive Dialogischer Philosophie“ (2013a). 290 Denn „[a]uch der Mensch, der ‚Mund‘ ist, ist eben dies, nicht Sprachrohr, […] sondern Organ, eigengesetzliches lautendes Organ, und lauten heißt umlauten“ (ID 158). Diese Stelle aus Ich und Du erhellt in typisch dialogischer Manier die Bedeutung von Sprache im Sinne eines schöpferisch-aktiven Tuns. 291 Siehe zu dem Rabbiner Israel Ben Elieser Anm. 374. 292 Siehe hierzu besonders die Ausführungen in Kapitel II.4.2.2 zu der je individuellen (Lebens)Aufgabe des Einzelnen. 293 Somit habe sich Gott – wie bereits angeklungen – „keine Werkzeuge gemacht, er bedarf keiner; er hat sich Partner des Weltzeit-Gesprächs erschaffen, gesprächsfähige Partner“ (BJS 205). Zum Stichwort Partnertum vgl. zum Beispiel auch BJS 209 und GJ 192.

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im Werk der Schöpfung genannt“ (HF 169). 294 Die parallele paradigmatische Passage hinsichtlich dieses elementaren Gesichtspunktes „der Berufung des Menschen zum Mitarbeiter Gottes“ (HF 169) 295 findet sich innerhalb Bubers Schriften zur Dialogik in seinem Hauptwerk Ich und Du: In Analogie zu den je zwei Komponentenpaaren eines jeden (dialogischen) Beziehungsverhältnisses, Erwählen und Erwähltwerden 296 sowie Aktualität und Latenz (vgl. ID 85), wird dort sowohl das aktive als auch passive Moment des menschlichen Involviertseins in das Schöpfungsgeschehen registriert: „Schöpfung – sie geschieht an uns, sie glüht sich uns ein, glüht uns um, wir zittern und vergehn, wir unterwerfen uns. Schöpfung – wir nehmen an ihr teil, wir begegnen dem Schaffenden, reichen uns ihm hin, Helfer und Gefährten.“ (ID 133) Helfer und Gefährten nun bedingen sich reziprok, sind aufeinander angewiesen und voneinander abhängig, wie weiters eindrücklich vor Augen geführt wird: Daß du Gott brauchst, mehr als alles, weißt du allzeit in deinem Herzen; aber nicht auch, daß Gott dich braucht, in der Fülle seiner Ewigkeit dich? Wie gäbe es den Menschen, wenn Gott ihn nicht brauchte, und wie gäbe es dich? Du brauchst Gott, um zu sein, und Gott braucht dich – zu eben dem, was der Sinn deines Lebens ist. (ID 133)

Dieses gleichermaßen kühne wie folgenreiche Diktum Bubers legt emphatisch Zeugnis ab von der „Bedeutungs-[“] sowie [„]Sinnschwere“ (vgl. ID 153) menschlichen Seins, Lebens und Handelns! Bezug nehmend auf diese Passage aus Ich und Du folgert Arno Anzenbacher zu Recht: „Mein Leben ist ein Wirken an Gott, von dem Gott wahrhaft betroffen ist.“ 297 Dem ist mit Buber in der Tat beizupflichten, als dieser an anderer Stelle zudem konstatiert, es möge „für Gott nicht unerheblich sein, ob der Mensch sich ihm ergibt oder ihm versagt“ (GF 559). Entsprechend muss Gott also den 294 Vgl. hierzu auch das folgende Zitat aus der Chassidischen Botschaft: „Hier ist der Mensch, dieser elende Mensch, seinem Ursinn nach der Helfer Gottes.“ (CB 809) 295 Dieser Topos des Menschen als „Gottes Mitarbeiter“ steht allerdings auch in 1 Kor 3,9. 296 „So ist die Beziehung Erwähltwerden und Erwählen, Passion und Aktion in einem.“ (ID 85) 297 Anzenbacher 1965, S. 66. Des Weiteren führt Anzenbacher hinsichtlich besagter Passage aus: „[I]n einer durchaus geheimnisvollen Weise gibt es auch ‚ein Werden des seienden Gottes‘, insofern mich Gott gerade dazu braucht, was der Sinn meines Lebens ist.“ (Ebd., S. 65 f.)

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Menschen nicht nur quasi diesem „zuliebe“ als Freien eingesetzt haben, sondern damit dieser faktisch in der Lage sei, ihm, Gott, hinsichtlich des Schöpfungsgeschehens gleichsam behilflich zu sein, auf dass Schöpfung gelinge, indem sie (durch den Menschen) erfüllt werde. 298 Mittels dieser Freiheit wird der Mensch sozusagen frei (gegeben) zu (autonomer) Entscheidung, und somit befindet sich – gemäß dem oben bereits erwähnten Sündenfall im Jetzt und Hier – jeder Mensch „in der nackten Adamsituation; jedem Menschen ist Entscheidung zugeteilt“ (GJ 190). Das bedeutet konkret, daß jede Stunde, da er in der eben jetzt gegebenen Situation sich selber angesprochen weiß, eine Stunde der echten Entscheidung ist. Er entscheidet zunächst freilich nur über sein eigenes Verhalten, aber damit nimmt er – in irgendeinem Maße, das zu ermessen er weder fähig noch berufen ist, – an der Entscheidung daran teil, wie die nächste Stunde beschaffen sein wird, und also auch, wie die Zukunft überhaupt beschaffen sein wird. (DHE 177) 299

Scheinen Belegstellen dieser Art in erster Linie auf gemeinhin als elementar bewertete (Lebens)Entscheidungen (primär ethischer Natur) applikabel zu sein, wäre es – wie anhand der chassidischen Lebenshaltung und -führung noch detailliert zu demonstrieren sein wird – inkonsequent, ja geradezu fatal, die tägliche sogenannte „profane“, vermeintlich belanglose Dinge und Situationen betreffenden Entscheidungen außen vor zu lassen. Hinführend auf das angesichts der Themenstellung besonders zu akzentuierende Kapitel II.4 sei an dieser Stelle somit dezidiert betont, dass nicht nur die prima facie folgenschweren Grenzsituationen des Lebens dem Menschen Entscheidungsmacht und -ernsthaftigkeit abringen: „Ereignis um Ereignis, Situation um Situation ist […] befähigt und ermächtigt, von der menschlichen Person Standhalten und Entscheidung zu heischen.“ (ID 170) Demnach verlange – wie auch Meike

Von der damit korrelierenden Thematik des Ergreifens der eigenen Bestimmung wird im weiteren Verlauf der Darlegungen noch zu handeln sein. 299 In Bezug auf die Freiheit des Menschen im Rahmen des Dialogs zwischen Gott und Mensch heißt es ergänzend in „Der Glaube des Judentums“: „Daß dem trotz der Schrankenlosigkeit Gottes in Macht und Wissen so ist, macht eben das Schöpfungsmysterium des Menschen aus. Darin ist die unverbrüchliche Realität der Scheidung und Entscheidung begründet, die der Mensch in seiner Seele vollzieht.“ (GF 583) Siehe in Bezug auf den essenziellen Vorgang der Entscheidung auch die Ausführungen im nächstfolgenden Kapitel II.2.2. 298

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Siegfried bekräftigt – „jede konkrete Situation ein wahrhaftes SichEntscheiden des Menschen für eine bestimmte Handlung“ 300, deren spezifische Ausrichtung 301 und Beschaffenheit letztlich über Gelingen oder Misslingen der Situation und somit eines (wenn auch noch so unerheblich anmutenden) Lebensmoments bestimmt. 302 Auf der Basis des bislang in diesem Abschnitt Dargelegten ist festzuhalten, dass sich das menschliche Wesen also „in der zeitlosen Schöpfung, die unbegreiflich zugleich Entlassen und Bewahren, zugleich Freigabe und Bindung ist“ (ID 146), eo ipso als „kreaturhaft – und kreatorisch“ (ID 133) erweist: „Der Mensch, der sich entscheidet, weiß, daß das keine Selbsttäuschung ist; der Mensch, der gehandelt hat, weiß, daß er in der Hand Gottes stand und steht. Die Einheit beider ist das Geheimnis im Herzen des Zwiegesprächs.“ (GJ 191) Buber warnt in diesem Kontext vor der (ohnehin zum Scheitern verurteilten) Absicht, dieses (scheinbare) Paradox (bezüglich Determiniert- und Indeterminiertheit des Menschen) theoretisch-reflexiv einholen, es somit auflösen und infolgedessen gar unterlaufen zu wollen: Wer dies intendiere, „vergeht sich gegen den Sinn der Situation“ (ID 142), welcher darin bestünde, „daß sie in all ihrer Antinomik gelebt und nur gelebt und immer wieder, immer neu, unvorsehbar, unvordenkbar, unvorschreibbar gelebt wird“ (ID 143). Ausschlaggebend ist demnach – vorausgesetzt, der Mensch ist ernsthaft um ein wahrhaft dialogisches Leben bestrebt – diese antinomisch anmutende Konstellation lebensmäßig – präsziser formuliert, lebenspraktisch – zu vollziehen, inmitten des „Zwiegesprächs“, und nicht etwa mit Hilfe spitzfindiger gedanklicher Raffinesse jenseits des (täglichen) Lebens anzusiedeln und auf diese Weise zu ignorieren.

Siegfried 2013, S. 265. Der Aspekt der Ausrichtung wird im folgenden Kapitel II.2.2 im Detail abgehandelt werden. 302 „Dem Ernstnehmen der göttlichen Gnade wird durch das Ernstnehmen der menschlichen Entscheidung nicht bloß kein Abbruch getan, sondern dieses führt die Seele auf einem nur so erreichbaren Weg auf jenes hin. Keineswegs wird dem Menschen hier eine Machtvollkommenheit zugesprochen; bestimmend ist vielmehr die gebotene Perspektivik des konkreten Handelns, das man nicht vorwegnehmend einschränken darf, sondern das sowohl Beschränkung wie Begnadung selbeigen, eben im Gang der Handlung, zu erfahren hat.“ (GJ 191 f.) Die Konkretisierung der Signifikanz menschlichen Handelns wird im Fortgang der Erörterungen von höchster Relevanz sein. 300 301

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[W]enn ich Notwendigkeit und Freiheit nicht in gedachten Welten meine, sondern in der Wirklichkeit meines Vor-Gott-stehens, wenn ich weiß: „Ich bin anheimgegeben“ und zugleich weiß: „Es kommt auf mich an“, dann darf ich dem Paradox, das ich zu leben habe, nicht durch Zuweisung der unverträglichen Sätze an zwei gesonderte Geltungsbereiche zu entkommen suchen, dann darf ich mir auch von keinem theologischen Kunstgriff zu einer begrifflichen Versöhnung helfen lassen, ich muß beide in einem zu leben auf mich nehmen, und gelebt sind sie eins. (ID 143) 303

Gelingt es dem Menschen also, im Rahmen des Geschaffenseins sein schöpferisches Potenzial am und im Leben zu realisieren, ist er sich dessen bewusst, dass es wesentlich (auch) auf ihn „ankommt“, „mag der Mensch, der ganze Mensch, mit seiner ganzen Wesensentscheidung einen unabmeßbaren Anteil an der jeweiligen göttlichen Offenbarheit oder Verborgenheit haben; aber für einen Einfluß des begriffsklärenden Denkens ist zwischen Himmel und Erde kein Raum“ (GF 559). 304 Vor diesem Hintergrund zeigt sich Schöpfung keineswegs als statisch fixes Szenario, sondern vielmehr als auf den Menschen hin offenes System, innerhalb dessen Letzterer vermöge seines kreativen Wirkens gleichsam als Bindeglied zwischen Schöpfung und Erlösung fungiert: „So steht denn der gelebte Augenblick 303 Vgl. hierzu auch die folgenden analogen Ausführungen Bubers in „Der Glaube des Judentums“: „Nur wenn die Wirklichkeit logisiert wird, wenn also A und NonA nicht mehr beieinander wohnen dürfen, gibt es als einander ausschließend Determinismus und Indeterminismus, Prädestinationslehre und Freiheit. Dem logischen Wahrheitsbegriff nach kann nur eins von beiden wahr sein, aber in der Wirklichkeit des gelebten Lebens sind sie voneinander unablösbar.“ (GJ 190 f.) Auch Hans Kohn greift dieses Faktum auf: „Dieses Mysterium ist vom Menschen aus gesehen ein unauflösbares Paradox und seinem Verstand ein großes Ärgernis. Denn es fügt sich dem Satz des Widerspruches nicht, der doch alle Logik beherrscht. Es ist metalogisch, es läßt Gegensätze nicht einander ausschließen, sondern miteinander bestehen. Der Kern des religiösen Lebens, das Geheimnis alles Lebens ist rational nicht faßbar. Dennoch weiß der Gläubige davon aus seinem Leben. Die Gegensätze, die so lange Theologie und Philosophie beschäftigt haben, die Antinomien zweier Positionen, die im Denken miteinander unvereinbar sind, verlieren ihre Bedeutung: Immanenz und Transzendenz Gottes, Determiniertheit und Freiheit sind kein Widerspruch mehr. […] So ist Gott immanent und transzendent zugleich. Ebenso ist der Mensch bedingt und frei zugleich. Wohl ist alles, was geschieht, Gottes Wille und Gesetz, wir sind in seiner Hand, dennoch können und sollen wir von uns aus den Weg gehen, fällt der Mensch in Wirklichkeit, nicht nur zum Schein, von Gott ab, wirkt er real, nicht nur scheinbar an der Erlösung mit.“ (Kohn 1961, S. 80 f.; vgl. hierzu auch ebd., S. 84 f.) 304 Zum Aspekt des Changierens Gottes zwischen „Offenbar-“ und „Verborgenheit“ vgl. auch EZ 633, GF 584 sowie DHE 179–183.

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des Menschen in Wahrheit zwischen Schöpfung und Erlösung, in seiner Gewirktheit an die Schöpfung, in seiner Wirkensmacht an die Erlösung geknüpft; vielmehr, er steht nicht zwischen beiden, sondern auch allmalig in der ganzen Zeit.“ (CB 752 f.) 305 An dieser Stelle sei nun die sich hinsichtlich der Freiheitsproblematik in oben dargestellter Form aufdrängende, von Buber schließlich in der Chassidischen Botschaft ins Feld geführte Frage aufgegriffen, ob dies (alles) denn heiße, „Gott könne seine Welt nicht ohne ihre [der Menschen] Mitwirkung erlösen?“ (CB 752) Die konzise (wie – angesichts des bereits Erörterten – kaum mehr überraschende) Antwort lautet wie folgt: „Es heißt, daß Gott eben das nicht können will. Braucht Gott den Menschen zu seinem Werk? Er will ihn brauchen.“ (CB 752) 306 Eine Sentenz analogen Inhalts ist Bubers Roman Gog und Magog zu entnehmen, der ebenfalls die gefährtenhaft-zuwendende, unterstützende Funktion des Menschen hervorhebt: „»Gott will seine Schöpfung nicht anders als mit unserer Hilfe vollenden«“ (GM 1191), 307 und präzisierend 305 Aus welchem Grund die Welt überhaupt der Erlösung bedarf, wird in Kapitel II.4 vor dem Hintergrund der chassidischen „Funkenlehre“ verdeutlicht werden. Buber verweist ferner auf die Absurdität, eruieren zu wollen, „wie groß wohl der Anteil des Menschen an der Erlösung der Welt sei. Es gibt gar keinen Anteil des Menschen und keinen Anteil Gottes; es gibt kein Bishierher und Vondaan; es gibt da nichts Meßbares und Wägbares […]. [E]s ist sinnwidrig, zu fragen, wie weit mein eignes Handeln reicht und wo Gottes Gnade beginnt; sie grenzen gar nicht aneinander; sondern was mich allein angeht, ehe ich etwas zustande bringe, ist mein Handeln, und was mich allein angeht, wenn es geriet, ist Gottes Gnade; […] Gott und der Mensch teilen sich nicht in das Regiment der Welt; das Wirken des Menschen ist in das Wirken Gottes eingetan und ist doch wirkliches Wirken.“ (CB 752) 306 Siehe diesbezüglich auch folgenden Kommentar Hans Kohns: „Gott will zum Werk an der Vollendung seiner Schöpfung den Menschen brauchen. Dies ist in der Sprache unserer Zeit die Lehre, auf der das Tun der Chassidim steht.“ (Kohn 1961, S. 81) Ferner sei auf nachstehende Formulierung aus Ich und Du hinsichtlich des seine Verantwortung gegenüber Gott anerkennenden Betenden verwiesen: „‚Dein Wille geschehe‘, nicht mehr als das spricht er, aber die Wahrheit spricht weiter für ihn: ‚durch mich, den du brauchst‘.“ (ID 133) 307 Weiter liest man an dieser Stelle: „»Er will sein Reich nicht offenbaren, ehe wir es gegründet haben. Die Krone des Königs der Welt will er nicht anders sich aufsetzen, als indem er sie aus unserer Hand entgegennimmt.«“ (GM 1191) Siehe hierzu auch GJ 194: „Das Reich Gottes kommt dem Menschen nah, es will von ihm ergriffen und verwirklicht werden […].“ Ein analoger Passus in Bezug auf den Aspekt des Verwirklichen Gottes durch den Menschen findet sich auch in Bubers vor-dialogischem Werk Daniel: Dort ist die Rede von einem „Gott in allen Dingen verwirklichenden Erleben. Denn Gott will verwirklicht werden, und alle Wirklichkeit ist

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heißt es in der Chassidischen Botschaft: „Er will sie wahrhaft zu seiner machen, aber durch menschliches Tun.“ (CB 776) Anhand dieser (bereits mehrfach ausgewiesenen) fundamentalen Bedeutsamkeit menschlichen Entscheidens und Handelns in Freiheit demonstriert Buber somit einmal mehr die Bedeutsamkeit des im Chassidismus kulminierenden jüdischen Geistes: Wieder steht hier jüdische Lehre denen [sic!] anderer Religionen entgegen, und wieder am tiefsten ausgeprägt im Chassidismus. Eben dies, so glauben wir, ist Gottes Gnade, daß er sich vom Menschen gewinnen lassen will, daß er sich ihm gleichsam in die Hände gibt. Gott will zu seiner Welt kommen, aber er will zu ihr durch den Menschen kommen. (WM 738) 308

Den durchaus nicht abwegigen Zweifel an der menschlichen Befähigung angesichts der Exorbitanz dieser Aufgabe, „Gott zu seiner Welt zu (ver)helfen“ (vgl. RJV 9), 309 räumt Buber ebenfalls bestimmt und optimistisch aus dem Weg: „Wir vermögen unsern Anteil an dem einen, um dessen willen wir auf Erden sind; dem einen, das Gott ohne uns nicht vermögen will.“ (RJV 9; im Orig. kursiv) 310 Auf den zweiten Blick erübrigen sich etwaige Bedenken erwähnter Art also ohnehin, denn „Gott will gesucht werden, und wie könnte er nicht gefunden werden wollen?“ (LC 26) 311 Andernfalls würde der Mensch gar nicht frei zu existieren befähigt sein, wäre als solGottes Wirklichkeit, und es gibt keine Wirklichkeit als durch den Menschen, der sich und alles Sein verwirklicht.“ (D 43) 308 „Die chassidische Thora-Konzeption ist eine Ausgestaltung des überlieferten Glaubens, daß Gott die von ihm geschaffene Welt durch den Menschen erobern will.“ (CB 776) 309 Verbaliter: „Vermögen wir so viel?“ (RJV 9; im Orig. kursiv) 310 Siehe auch folgende Konstatierung Bubers aus der Chassidischen Botschaft: „In ihm [dem Menschen] hat sich die ihrer Freiheit überlassene Anderheit zum Letzten ausgewirkt, in ihm sich versammelt, und er, das späteste, beladenste der Geschöpfe, hat unter allen das volle Erbe der Freiheit empfangen.“ (CB 808) In diesem Kontext kritisiert Buber ferner Friedrich Gogartens These der radikalen menschlichen Sündhaftigkeit: „Nicht eine Radikalität kennzeichnet den Menschen als von allem Nuranimalischen urtief abgehoben, sondern eine Potentialität. Stellen wir ihn allein vor die gesamte Natur, dann erscheint in ihm der Möglichkeitscharakter des naturhaften Daseins, der sonst überall die dichte Realität nur wie ein Dunstkreis umschwebte, verkörpert. Der Mensch ist die Potentialität in ihrer faktischen Beeinträchtigung. […] Diese Einengung ist nicht eine wesensmäßige, sie ist nur faktisch. Das bedeutet, daß die Tat des Menschen nach Art und Maß unvorhersehbar ist, daß er, und wenn er in allem andern kosmisch peripher wäre, das Überraschungszentrum der Welt bleibt.“ (FE 259) 311 Auf die Thematik des Gottsuchens wird in Kapitel II.2.3 rekurriert werden.

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cher gar nicht „frei gegeben“: „Gott schränkte sich zur Welt ein. […] Gott wollte erkannt, geliebt, gewollt werden, das heißt: Gott wollte eine freibestehende, in Freiheit erkennende, in Freiheit liebende, in Freiheit wollende Anderheit: er gab sie frei.“ (CB 807) Somit erweist sich die göttliche Gnade – wie bereits in obigem Zitatblock angedeutet – als „Gottes Antwort“ (CB 809). Vor diesem Hintergrund ist es nun durchaus luzid, dass „[v]on ihm [dem Menschen], von ‚unten‘ der Antrieb zur Erlösung ausgehen [muß]“ (CB 809). Führt man diesen chassidisch geprägten Gedanken radikal zu Ende, ergibt sich schließlich in letzter Konsequenz, dass die Welt als solche (ausschließlich) aufgrund des Menschen respektive „[u]m seines, des ‚Wählenden‘, des Gottwählenkönnenden willen […] erschaffen worden [ist]. […] Seiner harrt die Kreatur. Gott harrt seiner.“ (CB 809) Dessen habe sich der Mensch bewusst zu werden, wie Buber beispielsweise in seiner Schrift „Rabbi Nachman von Bratzlaw“ nachhaltig fordert: „Der Mensch, der Herr der Wahl, soll sagen: Die ganze Welt ist nur um meinetwillen erschaffen worden. Daher soll jeder Mensch achten, zu jeder Zeit und an jedem Ort den Mangel der Welt zu füllen.“ (RN 908; Herv. sind zugefügt) 312 Verharren also Gott und seine Schöpfung – das heißt letztlich die gesamte Welt – in Erwartung menschlicher Entscheidung und Tat, kommt es demzufolge wesentlich auf das Beginnen seitens des Menschen an – „und zwar im äußersten Wirklichkeitsernst“ (GJ 192)! In diesem Zusammenhang rekurriert Buber auf die chassidische Interpretation des ersten Genesis-Satzes: „Im Anfang – das heißt: um des Anfangs willen, um des Anfangens willen schuf Gott Himmel und Erde. Um des menschlichen Anfangens willen: damit es einen gebe, der auf ihn, auf Gott zu anfangen kann und soll.“ (GJ 192) 313 312 Die folgende Stelle aus der Schrift „Rabbi Nachman von Bratzlaw“ antizipiert letztlich Inhalte von Kapitel II.4, in dem von dem „Dienst“ des Menschen an den „göttlichen Funken“ die Rede sein wird: „Denn das Wesen des Dienstes in jedem Ding sei doch, daß der Mensch seiner eignen Wahl überlassen werde.“ (RN 904) 313 „Der Mensch kann nicht vollenden und muß doch selber beginnen […].“ (GJ 192) Weiter heißt es: „weil die Welt um seines [des Menschen] Anfangens willen erschaffen worden ist.“ (GJ 194) Vgl. zur Relevanz des Beginnens im Zusammenhang mit Wahl respektive Entscheidung auch HF 172, BJS 204 f., JW 236 sowie CAM 940. In „Die Frage an den Einzelnen“ stellt Buber jedoch klar: „Mit ‚Individualismus‘ hat das, wovon ich spreche, nichts zu schaffen. Ich halte das Individuum weder für den Ausgangs- noch gar für den Zielpunkt menschlicher Welt. Aber ich halte die menschliche Person für den unverschiebbaren zentralen Platz des Kampfes

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2.2 (Aus)Richtung „gen Himmel“ als wahrhafte Treue zum Sein „Mit meiner Wahl, Entscheidung, Handlung – Tun oder Lassen, Eingreifen oder Aushalten – antworte ich […] dem Wort, verantworte ich meine Stunde.“ (FE 248) Anhand der Freiheitskonzeption jüdisch-chassidischer Provenienz, die Buber in seiner Dialogphilosophie rezipiert, konnte in dem vorangegangenen Kapitel eruiert werden, dass sich der Mensch (von Gott) „in aller Schwäche in den Dienst der Entscheidung gestellt [wisse]“ (FE 244), in der gleichwohl „die Freiheit je und je im konkreten Augenblick der Entscheidung [walte]“ (DHE 178). Die mittels des Eingehens auf die den Menschen je antretende (Lebens)Situation zu realisierende Option, (Gott) zu wählen, erwies sich somit als „die ihn [den Menschen] als den zum Handeln Berufenen angehende Seite der Wirklichkeit“ (GJ 190). 314 Im Folgenden soll sich der Analyse der menschlichen Entscheidungskraft und -macht dahingehend angenommen werden zu zeigen, dass die der Handlung vorausgehende Entscheidung nicht in beliebiger Weise erfolgen kann, sondern (sofern intendiert ist, der einem „begegnenden“ Situation, durch die Gott „anspricht“, möglichst gerecht zu werden) eine spezifische (Aus)Richtung aufzuweisen hat. Identisches trifft eo ipso auf die der jeweiligen Entscheidung folgende Handlung selbst zu, denn – wie Gerhard Wehr es treffend zu formulieren versteht – „alles menschliche Tun bedarf einer Ausrichtung. Es bedarf eines Woraufhin.“ 315 Dieses absichtsvolles Handeln bedingende „Woraufhin“, auf das Wehr anspielt, erschöpft sich allerdings nicht in der jeweiligen konkreten Bezugnahme auf die einzelne Situation beziehungsweise in dieser als solcher, auf die (hin) die Handlung des entschieden Handelnden abzielt. Darüber hinaus ist damit die sich in der generellen Haltung der Person widerspiegelnde Grund- respektive Gesamtausrichtung bezeichnet: Diese bildet (als vorab sowie grundsätzlich zu internalisierende) gleichsam die Bedingung der Möglichkeit eines adäquaten Eingehens auf die je aktuelle Situation sowie (innerhalb letzterer) auf die den Einzelnen je „herausfordernden“ Wesen und Dinge. Dieser Themenkomplex der prinzipiellen und zwischen der Bewegung der Welt von Gott weg und ihrer Bewegung auf Gott zu.“ (FE 250) Siehe hierzu die Ausführungen im nachstehenden Kapitel. 314 Siehe hierzu auch CB 751. 315 Wehr 1978, S. 11.

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vor allem individuellen (Grund)Ausrichtung des Menschen als anthropologisches Konstituens wird en détail in der Abhandlung Bilder von Gut und Böse erörtert, findet sich hinsichtlich seiner Grundzüge jedoch bereits in Bubers vor-dialogischer Schrift Daniel. Gespräche von der Verwirklichung: Da wir nicht wie Ewige richtungslos zu leben vermögen, bleibt uns ins Ewige ein einziger Weg nur: unsere Richtung. Nicht über den Dingen, nicht um die Dinge, nicht zwischen den Dingen – in jedem Ding, in jedes Dinges Erlebnis öffnet sich dir die Pforte des Einen, wenn du den Zauber mit dir bringst, der sie erschließt: die Vollkommenheit deiner Richtung. (D 15) 316

Jeder Mensch hat obigem Zitat zufolge, also inmitten des Lebens – „[n]icht über den Dingen“ (D 15) 317 – seine singuläre Richtung zu finden und schließlich zu bewähren, um im Zuge dessen (im Idealfall) an „die Pforte des Einen“ (D 15) zu gelangen. Symbolisch skizziert dieses Erläuterungsmodell letztlich eine Kreisfigur: Die einzigartige Richtung ist Prämisse dafür, dass sich dem Einzelnen das (jeweils) mit diesem spezifisch „Gemeinte“ (vgl. GB 642) erschließe, insofern Richtung konkretisiert wird als „jene Urspannung einer Menschenseele, die sie bewegt, jeweilig aus der Unendlichkeit des Möglichen dies und kein andres zu wählen und tuend zu verwirklichen“ (D 17). 318 Andererseits weist das das Individuum „Anfordernde“ diesem gleichzeitig den Weg in die richtige im Sinne seiner Richtung. Dem „Ideal“ der eigenen Richtung wird demnach Rechnung getragen, wenn der Mensch sich das, was diesen je antritt und „ansprechen“ will, buchstäblich zu eigen macht, indem er dieses in sein Leben und somit in die (göttliche) Schöpfung im Allgemeinen aktiv einflicht, denn, wie soeben erwähnt, (die) Richtung „läßt sich ja nur in Taten […] sagen, und sie bekundet sich nur durch ihr Werk […]“ (D 18). Das heißt, indem Werk durch Ergreifen und Erfüllen der Richtung gleichsam „Wort“ – genauer gesagt: „Gespräch“ – wird, verhilft der Mensch zugleich der jeweiligen Situation zur 316 Vgl. zur Thematik der Richtung im Daniel D 12–19 („Von der Richtung“), 26, 40 f. sowie 43–45. 317 „Dinge“ bezieht sich an dieser Stelle zwar nicht (nur) auf Dinge im engeren Sinne von Gegenständen, gleichwohl dürfen diese mit Blick auf die chassidischen Quellen auch im faktischen Sinn mitbedacht werden, wie besonders im Rahmen von Kapitel II.4 noch zu verifizieren sein wird. 318 Vgl. ID 112.

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„Vollkommenheit“, als sie in optimaler Weise realisiert und somit „beantwortet“ wird. Entsprechend gelte es jeweils, die Entscheidung zu treffen, die von unserer Person aus, und zwar von unserer Person aus, wie wir sie als mit uns „gemeint“ empfinden, dieser uns antretenden Situation antwortet. Eine solche Entscheidung kann nur mit der ganzen, einsgewordenen Seele getroffen werden, die ganze Kraft der Seele, wohin immer sie gewandt oder geneigt war, als die Situation uns antrat, muß in sie eingehen, sonst werden wir nichts als ein Stottern, eine Scheinantwort, einen Antwortersatz hervorbringen. (BGB 642) 319

Die individuelle Richtung eines jeden Menschen, die diesem allererst (krisenfeste) Entscheidungskraft verleiht, wird von Buber (mittels Daniel) weiters als „die Notwendigkeit der Seele“ (D 18) und schließlich (in Bilder von Gut und Böse, wie angezeigt) als deren „Einswerden“ (vgl. BGB 642) spezifiziert. In dieser Hinsicht leitet „Richtung“ hin „auf die Person, die mit mir gemeint ist und die ich eben nur in solcher Selbstbesinnung, die scheidet und entscheidet, […] erfasse“ (BGB 649). Richtung manifestiert sich somit in der Gesamthaltung der Person (worauf im Fortgang dieses Kapitels noch einzugehen sein wird), welche wiederum die je situativen Einzelentscheidungen und -handlungen bedingt. Allerdings inhäriert dem Terminus „Richtung“ – neben dieser Bedeutung – eine weitere Interpretationsoption: Diese nun bezieht sich vor der Hintergrundfolie der Singularität auf „die Richtung zu Gott“ (BGB 649), welcher als Kreator und Offerent dessen, was dem Einzelnen ins Leben gesendet wird, gleichsam das „Fernziel“ menschlichen Entscheidens und Handelns markiert. Letztlich koinzidieren die beiden angeführten Bedeutungsdimensionen, denn diese zweifache Sichtweise auf „Richtung“ verweise laut Buber auf „nichts anderes als eine Doppelheit der Aspekte, wofern ich nur mit dem Namen ‚Gott‘ nicht eine Projektion meines Selbst oder dergleichen, sondern meinen Schöpfer nenne, das heißt, den Urheber meiner Einzigkeit, die innerweltlich unableitbar ist“ (BGB 649). In letzter Konsequenz kulminiert jenes von Buber als „Richtung, vielmehr die Richtung“ (BGB 641) Definierte in der Erkennt319 Wie in Kapitel II.2.1 bereits angemerkt, trifft dieser (hier wohl primär auf Lebensentscheidungen gemeinhin als gewichtig definierten Maßstabs gemünzte) Aspekt ebenso auf Entscheidungen im Rahmen täglichen Handelns zu, die ein Gelingen des Alltags nach chassidischem Vorbild erst ermöglichen. Siehe hierzu vor allem Kapitel II.4 zur „Heiligung des Alltags“.

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nis, dass es „in diesem strengen Sinne nur eine [gebe]. In dem Maße nämlich, in dem die Seele sich eint, erfährt sie die Richtung, erfährt sie sich als auf die Suche nach ihr geschickt. Sie kommt in den Dienst des Guten oder in den Dienst um das Gute.“ (BGB 641) 320 Wird gleichermaßen postuliert, es existiere genau genommen „keine andere“ (GJ 191) als die oben erwähnte „Richtung auf Gott zu“ (GJ 191), 321 so deckt sich diese mit der Orientierung auf das Gute beziehungsweise mit dem Guten schlechthin, was explizit wird anhand des entsprechenden Appells, „sich für das ‚Gute‘ zu entscheiden, das heißt, die Richtung auf das Göttliche anzunehmen“ (BGB 620) und somit ein solides Fundament möglicher Handlungen zu generieren. In praktischer Hinsicht erweist sich infolgedessen als von elementarer Relevanz, „was immer ich tue, in der Ausrichtung auf Gott zu tun“ (DC 982; Herv. sind zugefügt), denn wohlgemerkt ist dieser – wie bereits erörtert wurde – „wahrhaft betroffen“ von „eben dem, was der Sinn [m]eines Lebens ist“ (ID 133). Letzterer wiederum liegt in der singulären Bestimmung 322 des einzelnen Menschen begründet, dessen jeweils wahre Existenz sich gemäß Buber in „Schickung und Aufgabe“ (GF 553) respektive „Berufung und Sendung“ (ID 157) manifestiere: Der Mensch hat seine (in Kapitel II.2.1 thematisierte) Freiheit (je aufs Neue) zu ergreifen und auf das ihm (je) Zugesandte, das sich schließlich als das, was ihm insgesamt geschickt wird, zu seinem (Gesamt)Schicksal formiert, aktiv zu applizieren – denn „Schicksal und Freiheit sind einander angelobt“ (ID 113). Mit anderen Worten: Er muss (je) die Richtung auf seine Bestimmung (auf sich) nehmen, sich förmlich auf seine Bestimmung (hin) (ein)richten, um somit sein Schicksal und auf diese Weise Schöpfung sich wahrhaft erfüllen zu lassen. Zur Thematik des Guten im Kontext der Entscheidungs- und Richtungsfindung vgl. vor allem BGB 622 f., 628, 641 f., 643, 646, 648 f., 650, FE 256, EZ 81 f., 106, 268, CB 747 f., GJ 190 f., BJS 208, 210 sowie Anm. 316 dieser Arbeit. 321 Diese eine Richtung als Richtung auf Gott (zu) im Sinne des Gottdienens korreliert letztlich mit dem einen Ziel der Erlösung, wie in der Abhandlung „Vom Leben der Chassidim“ deutlich wird: „Es gibt aber keine Ziele, sondern das Ziel. Nur ein Ziel ist, das nicht lügt, das sich in keinen neuen Weg verfängt, in das alle Wege münden, vor dem kein Abweg ewig flüchten kann: die Erlösung.“ (LC 33) Siehe auch folgende Stelle aus besagter Schrift: „Die Tat, die nicht auf das Ziel, sondern auf die Geltung sinnt, hat nicht Körper, nur Fläche, nicht Bestand, nur Erscheinung.“ (LC 41) 322 Nicht umsonst lautet ein Synonym für den Begriff „Richtung“ bekanntermaßen „Bestimmung“. 320

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(Vgl. ID 113) 323 Somit wird „das menschlich Rechte“ (BGB 649) schließlich definiert als der Dienst des Einzelnen, der die mit ihm schöpferisch gemeinte rechte Einzigkeit verwirklicht. In der Entscheidung die Richtung annehmen bedeutet somit: die Richtung auf den Punkt des Seins nehmen, an dem ich, den Entwurf, der ich bin, an meinem Teil ausführend, dem meiner harrenden Gottesgeheimnis meiner erschaffenen Einzigkeit begegne. (BGB 649 f.) 324

Im Kontext der Frage, auf welche Weise der Mensch nun „seinen“ (An)Teil im Sinne des mit ihm „Gemeinten“ je konkret realisiere, schließt sich der Kreis zu dem, was Buber im Rahmen von Ich und Du bezüglich der Zwiefältigkeit des menschlichen Wesens erörtert: Diese basiere auf den beiden von Buber eingeführten Grundwortpaaren „Ich-Du“ und „Ich-Es“ als den divergierenden (Haltungs-) Modi, Welt(aspekten) zu begegnen – denn „[n]icht die Dinge kreisen im Wirbel, sondern die möglichen Weisen, sich ihnen zuzutun und anzutun“ (BGB 641). 325 Demgemäß zielt oben erwähntes wahrhaftes (im Sinne des dialogischen) „Sich-zu-eigen-Machen“ der jeweiligen Situation sowie der darin befindlichen Wesen und Dinge – entgegen des herkömmlichen Verständnisses – nicht auf eine dem Ich-Es-Verhältnis inhärente Reduktion auf Besitzen und Gebrauchen (in immaterieller oder materieller Hinsicht) ab, sondern – entsprechend des Ich-Du-Verhältnisses – auf einen achtungsvoll-realisierenden, gleichwohl absichtslosen Umgang und somit ein adäquates Vollführen der dem Einzelnen je individuell überantworteten Situation. Die beiden Haltungsalternativen des Menschen finden nach Ansicht der Autorin ihr Äquivalent in der von Buber in der Chassi323 „Dem Schicksal begegnet nur, wer die Freiheit verwirklicht. Daß ich die Tat, die mich meint, entdecke, darin, in der Bewegung meiner Freiheit offenbart sich mir das Geheimnis […]. [D]em Freien schaut, als das Gegenbild seiner Freiheit, das Schicksal entgegen. Es ist nicht seine Grenze, es ist seine Ergänzung; Freiheit und Schicksal umfangen einander zum Sinn […].“ (ID 113) An dieser Stelle wird besonders Bubers die herkömmliche Definition von Schicksal kontrastierendes Verständnis desselben deutlich, als er dieses keineswegs als „Glocke, die über die Menschenwelt gestülpt ist“ (ID 116), definiert: „[K]einer begegnet ihm, als der von der Freiheit ausging.“ (ID 116) 324 Siehe hierzu auch die entsprechenden Ausführungen in Kapitel II.4.2.2 zum Aspekt des Lebensortes, an dem der Einzelne steht und seinen spezifischen „Dienst“ an den (noch zu erläuternden) „göttlichen Funken“ zu verrichten hat. 325 Vgl. auch BGB 624 und FE 260 f.

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dischen Botschaft aufgezeigten Option, sich (und somit die jeweilige Handlung) „himmelwärts“ auszurichten oder das Gegenteil anzuvisieren: „Was wir tun, tun wir aus der Kraft Gottes; nur der Gebrauch, die Richtung, das, was wir aus der Gotteskraft machen, ist in unseren Willen gelegt; wir können sie ins Gemeine niederziehen, und wir können, ihres Wesens und Ursprungs eingedenk, sie auf den Himmel richten.“ (CB 859; Herv. sind zugefügt) Resümierend kann somit das Gute in seiner Realisation durch den Menschen definiert werden als das entschiedene (An)Erkennen des eigenen „Auftrags“ und dessen je situative Verwirklichung in Ausrichtung gen Himmel. 326 Der sich Entscheidende und somit – wie gezeigt – seine Freiheit Verwirklichende 327 ist auf etwas, nämlich das ihm Bestimmte, fokussiert, indem er sich explizit nach diesem richtet und somit buchstäblich Haltung annimmt: „Hat man dies verstanden, so weiß man auch, daß eben dies das Gerechte zu nennen ist, das Gerichtete, wozu sich einer entscheidet; und gäbe es einen Teufel, so wäre es nicht, der sich gegen Gott, sondern der sich in der Ewigkeit nicht entschied.“ (ID 113) Dieses kühne Allegat führt drastisch die Essenzialität vor Augen, die Buber der menschlichen Entscheidung hinsichtlich des (vermeintlich) „Großen“ wie (scheinbar) „Kleinen“ beimisst, woraus sich schließlich die Definition des Bösen deduzieren lässt: Im Gegensatz zum Guten, das – wie deutlich geworden sein sollte – als „die Richtung und was in ihr getan wird“ (BGB 643) charakterisiert ist, resultiert das Böse aus respektive kulminiert in Richtungs- beziehungsweise Entscheidungslosigkeit, es zeigt sich im „Nicht-Standhalten, Nicht-Richtung-finden, Sich-nicht-entscheiden“ (CB 749) 328 für das dem jeweiligen Bestimmte, das an diesen Gerichtete. Das auf Richtungslosigkeit basierende Böse (in 326 Damit soll nicht suggeriert werden, oben erwähnte „Ich-Es“-Dimension sei per se negativ konnotiert beziehungsweise führe zum „Bösen“, „das Verhängnis besteht vielmehr darin, der Es-Welt bestimmende Bedeutung zu verleihen und somit einer Verkehrung der Prioritäten anheimzufallen“ (Heinze 2011, S. 98), das heißt, die dialogische „Ich-Du“-Beziehung der monologischen, auf die sachliche Zweck-Mittel-Relation reduzierten „Ich-Es“-Dimension unterzuordnen. 327 „Wer sich entscheidet, ist frei, weil er vor das Angesicht getreten ist.“ (ID 112) Dies kann sowohl auf das Angesicht Gottes als auch das den Einzelnen aktuell „ansprechende“ weltliche Gegenüber jeglicher Art bezogen werden. 328 Zur Problematik des Bösen beziehungsweise der Entscheidungs- und Richtungslosigkeit vgl. auch BGB 621, 629, 637, 641–643, 645, 648, 650, ID 112 f., 136, FE 256, CB 749 f., CAM 944 f., GJ 190 f., BJS 206 und 208. Allerdings definiert

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concreto die sich als böse erweisende Haltung und Handlung) wird spezifiziert als das, „was an ihr [der Richtungslosigkeit] und aus ihr, als Ergreifen, Packen, Schlingen, Verführen, Nötigen, Ausnützen, Niederbeugen, Peinigen, Vernichten dessen, was sich bietet, getan wird“ (BGB 643). Wiederum analog zu den Grundworten, von denen das eine („Ich-Du“) ausschließlich „mit dem ganzen Wesen“ (ID 79) „gesprochen“ – das heißt, haltungsmäßig vollzogen – zu werden vermag, während für das andere („Ich-Es“) das Gegenteil zutrifft (vgl. ID 79), verhält es sich mit Gutem und Bösem, sich manifestierend in Richtung und Richtungslosigkeit: „Das Böse kann nicht mit der ganzen Seele getan werden; das Gute kann nur mit der ganzen [im Sinne der geeinten] Seele getan werden.“ (BGB 643) Hinsichtlich des Seelenzustandes des Einzelnen äußert sich das Böse letztlich als „das krampfige Ausweichen vor der Richtung, vor dem Ganz-Gerichtetsein der Seele, durch das sie sich in die Raumordinate der personhaften Verantwortung vor Gott aufrichtet“ (FE 260). Diese „Richtungsverweigerung“ kann „aus Leidenschaft oder aus Trägheit geschehen. […] In beiden Fällen verläuft sich der Mensch in sich selbst“ (FE 260) 329 und verstellt (sich) eben dadurch den Blick auf das ihm Eigentümliche, welches sich nach dialogischem Verständnis prinzipiell über die Begegnung mit dem (in welcher Form auch immer zugereichten) Gegenüber und eo ipso dem Göttlichen 330 eröffnet, mittels dessen sich das je eigene Selbst wiederum konstituiert. 331 Dieses In-sich-selbst-Verlaufen des Menschen ist im Gesamtkontext des Problemkomplexes der „Treue und Untreue zum Sein“ (BGB 630) und – damit korrespondierend – von Wahrheit und Lüge situiert. Bei letzteren handle es sich um „die beiden […] Grundbeschaffenheiten, in deren Gegeneinander das Gegeneinander der Prinzipien, Gut und Böse, sich darstellt“ (BGB 633), und die sich Buber an anderer Stelle – neben der Entscheidungslosigkeit – einen zweiten Grundtypus des Bösen, „des Bösen aus Entscheidung“ (BGB 637). 329 Auf die Gefahr des „Rückbiegens“ auf sich selbst oder aber des (ebenso problematischen) gänzlichen Eingehens in Gott wird im nachstehenden Kapitel zur Mystik noch zu rekurrieren sein. 330 Auf das Göttliche als Kreuzungspunkt aller Ich-Du-Beziehungen (vgl. ID 128) wurde bereits in anderem Kontext hingewiesen. (Vgl. Anm. 224) 331 „Ich werde am Du; ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ (ID 85)

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in existenzieller Hinsicht in den disparaten „Grundhaltungen“ (BGB 633) von Wahrsein und Falschsein verkörperten: „Die menschliche Wahrheit ist eine Bewährung durch Wahrsein.“ (BGB 634) Wahrsein bedeutet gemäß Buber konkret, „das Sein im Punkte des eigenen Daseins stärken, ja decken und bestätigen“ (BGB 633), das heißt, in der Treue zu dem mit dem Einzelnen Intendierten, besagte Richtung darauf anzunehmen – nicht etwa mittels des „Auf-sich-selbst-Zurückbiegens“, sondern in der Weise des bestätigenden lebensmäßigen Vollzugs. Falschsein dagegen meine „letztlich: das Sein im Punkte des eigenen Daseins schwächen, ja schänden und entrechten“ (BGB 633). 332 In „Die Frage an den Einzelnen“ spezifiziert Buber den dialogischen Wahrheitsbegriff dergestalt, als er die niemals rational einhol- geschweige denn besitzbare, 333 vielmehr je „durch Wahrnahme und Bewährung“ (FE 224) zu „erdienende“, existenziell zu realisierende Wahrheit (vgl. FE 224 f.) als „an die Verantwortung der Person gebunden“ (FE 264) plausibel macht – genauer gesagt: als das „dem real um die Wahrheit Werbenden sich im Faktum der bewährungsbereiten Verantwortung Erschließende“ (FE 265). Ohne die Bewährung und das heißt, ohne das Einschlagen und Einhalten der Einen Richtung, soviel er vermag, quantum satis, gibt es für den Men332 Lüge bedeutet in diesem existenziellen Sinn also nicht „eine Wortlüge, die einer Wortwahrheit gegenüberstände; es ist eine Daseinslüge am Sein“ (BGB 632). Eine Variante besagten In-sich-selbst-Verlaufens des Menschen bestehe in dem Sichselbst-Preisen als Kreator dessen, was einem geschickt wird, welches für Buber „die Urlüge […] des Menschen überhaupt“ (BGB 632) verkörpert, als der Betreffende dadurch „mit seinem Dasein die Lüge am Sein“ (BGB 633) begehe, die sich letztlich als ein Ausweichen vor dem, was der Einzelne „zu tun“ bekomme, artikuliere. „[D]iese Lüge am eigenen Sein bricht nun in der Beziehung zur anderen Seele, in der zur Weltwirklichkeit, in der zum Göttlichen aus“ (BGB 633), indem das Paradoxon des In-sich-selbst-Verlaufens jegliches Beziehungspotenzial negiere. 333 „Die gehabte Wahrheit ist nicht einmal eine Kreatur, sie ist ein Spuk, ein Sukkubus, mit dem der Mensch zu leben sich nur wirksam einbilden, mit dem er nicht leben kann. Du kannst die Wahrheit nicht in dich schlingen, sie kocht in keinem Topf der Welt, du kannst sie nicht einmal angaffen, denn sie ist kein Gegenstand. Und doch gibt es eine Teilnahme am Sein der unzugänglichen Wahrheit – für den, der sie bewährt. Es gibt ein Realverhältnis der ganzen menschlichen Person zur ungehabten, unhabbaren Wahrheit, und es vollendet sich erst in der Bewährung. Dieses Realverhältnis ist, wie immer es sich benennt, zum Seienden.“ (FE 224) Siehe auch FE 264 in Bezug auf „die nie zu besitzende und doch im existentiellen Realverhältnis zu umfangende Wahrheit“. Vgl. zur (dialogischen) Wahrheit insgesamt FE 221, 223–225, 239, 243, 250 f., 254, 263–265.

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schen wohl, was er das Leben nennt, auch das Leben der Seele, auch das Leben des Geistes, in allen Freiheiten und Fruchtbarkeiten, allen Graden und Rängen – Existenz gibt es für ihn ohne sie nicht. (BGB 650) 334

Allerdings ist selbst der gegen die Richtung (vermeintlich) Resistente, sich dieser (temporär) Verweigernde oder sich zu ihrem Ergreifen außerstande Wähnende nicht per se als „verloren“ zu deklarieren, denn – gemäß obigen Erläuterungen – ist der Mensch dasjenige Wesen, welches sowohl Gott (und mithin seine individuelle Richtung) zu wählen als auch zu verwerfen vermag: „Sein Fallenkönnen bedeutet sein Steigenkönnen; daß er der Welt zur Verderbnis wirken kann, bedeutet, daß er ihr zur Erlösung wirken kann.“ (CB 751) Demzufolge bestehe stets die Möglichkeit, die sich bedingenden Aspekte der Haltung, Entscheidung und Handlung zu korrigieren, sich insgesamt umzuorientieren, was Buber (in Korrelation mit der „metakosmischen“ Weltbewegung der Hinwendung; vgl. ID 146) mit dem Terminus der Umkehr 335 bezeichnet: Diese beanspruche – als Prozess des (Wieder-)Findens der Richtung (zum Guten und somit Göttlichen) – nicht nur einen Teil(aspekt) des Menschen, sondern „sie geschieht an der ganzen Person, mit der ganzen Person, und sie geschieht nicht im Verkehr des Menschen mit sich selbst, sondern in der schlichten Realität der Ur-Gegenseitigkeit“ (GJ 193) 336. Götzinger konstatiert sogar: „Erst in der Umkehr kann der Mensch wahrhaft das göttliche Du ansprechen.“ 337 Allerdings sei diese – laut Buber – nicht misszudeuten als „Rückkehr zu einem früheren, ‚sündenfreien‘ Zustand, sondern sie ist Wesensumschwung – das im Umschwung Hingetragenwerden auf den Weg Gottes“ 334 Wahrheit aus dialogischer Perspektive bedeutet also gleichsam die Treue zum Sein (und somit zum Dialog): „Es gibt diese Menschenseite der Wahrheit: in der menschlichen Existenz. Gott ist die Wahrheit, weil er ist, der Einzelne ist die Wahrheit, weil er sich zu seiner Existenz findet.“ (FE 225) 335 Vgl. zum Vorgang der Umkehr zum Beispiel LC 24, BST 65 f., EZ 83, 279, 289, 304 f., 308, 316, 337 f., 353, 361–363, 377 f., 429, 435, 453, 458 f., 527, 558, 599, 600 f., 623, 625, 637, 641 (der Mensch kann in jedem Augenblick die Umkehr tun), 647 (über das Wesen der Umkehr – rechte und falsche Umkehr), 683 (Unrechten steht ein härterer Weg der Umkehr bevor), CB 749, 752, GM 1003, 1029 f., 1034 f., 1094 f., 1096 f., 1124, 1191 f., 1198, 1202, 1204 f., 1257, EJ 29, 32, DHE 177 f., GJ 193 f., 199, BJS 208 f., LT 664, ID 126 f., BGB 644, 646, A 613, 634 f. sowie Anzenbacher 1965, S. 73, Götzinger 1994, S. 137 f., Wehr 1978, S. 33 f., 36, 79, 87 f.; vgl. ferner EZ 129, 138, 144, 148, 188 f., 213, 247 f., 275 f. und GM 1091, 1099, 1167, 1209. 336 Siehe hierzu insbesondere die Ausführungen in Kapitel II.2.1. 337 Götzinger 1994, S. 137.

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(GJ 194) 338. Das heißt, mit der (Wieder-)Aufnahme der Richtung „gen Himmel“ gerät der Umkehrende in die Lage, seinen Teil beizutragen „an der Erlösung der Welt“ (BJS 209). 339 In der Weise der Umkehr erfordere letztlich auch das ethische Handeln „nicht eine bloße Fakultät der Person“ (GF 577) – vielmehr zeige sich „das Ethische in seiner Reinheit nur da, wo die menschliche Person sich mit ihrer eigenen Möglichkeit konfrontiert und innerhalb ihrer scheidet und entscheidet, ohne nach anderem zu fragen, als was jetzt und hier, in dieser ihrer Situation das Rechte und was das Unrechte ist“ (GF 575). 340 Die bedingungslose Treue zum (jeweiligen) Sein erwies sich als „das menschlich Rechte“ (BGB 649) im Sinne des Guten und folglich als kongruent mit der Treue zu Gott im Sinne des Auf-den-Himmel-gerichtet-Seins. 341 „Das so begriffene Gute ist in kein ethisches Koordinatensystem einzuordnen, denn alle, die wir kennen, entstanden um seinetwillen und bestanden oder bestehen kraft seiner.“ (BGB 650) Somit ergibt sich schließlich als Quintessenz des in diesem Kapitel Dargestellten, „daß die Absolutheit der ethischen Werte in unserer Beziehung zum Absoluten wurzelt“ (GF 587) 342. Diesbezüglich sei nachfol338 Zur Bedeutsamkeit der Umkehr siehe auch GJ 193: „»An dem Ort, wo die Umkehrenden stehen, vermögen die vollkommen Gerechten nicht zu stehen«“ (GJ 193) sowie folgende Passage aus den Erzählungen der Chassidim: „»Die gemeinen Leute haben die vollkommene Umkehr getan und können sie tun, von ihrer Seite ist kein Hindernis. Das Hemmende sind die gehobenen Menschen. Sie vermögen nicht zur Demut und so auch nicht zur Umkehr zu gelangen.«“ (EZ 429) Vgl. hierzu ferner GM 1198. In Bezug auf die der Bibel entlehnten Beispiele von Kain und David erläutert Buber bezüglich der Umkehr weiters: „Für den schuldigen Menschen ist damit die Entscheidung zur Umkehr, der Umkehr von seinem Irrweg auf den Weg Gottes, gemeint. Hier zeigt es sich am klarsten, was es in der biblischen Anschauung bedeutet, daß unsere Verantwortung zuinnerst unser Antworten auf eine göttliche Anrede ist.“ (DHE 178) Zur Umkehr Adams und Evas siehe etwa GF 520 f. 339 Vgl. auch BJS 211. 340 „Unter dem Ethischen […] verstehen wir das Ja und Nein des Menschen zu den ihm möglichen Haltungen und Handlungen, die radikale Unterscheidung zwischen ihnen, die sie dieser Radikalität gemäß nicht nach ihrem Nutzen und Schaden für Individuen und Gesellschaften, sondern nach dem ihnen selber innewohnenden Wert und Unwert bejaht und verneint.“ (GF 575) 341 Dementsprechend notiert Buber in „Die Frage an den Einzelnen“: „[H]inter Gut und Böse als Kriterium des Ethischen die Richtung und das Richtungslose.“ (FE 256) 342 „[D]er nach Scheidung und Entscheidung in der eigenen Seele strebende Mensch kann aus ihr, aus seiner Seele, die Absolutheit für seine Wertskala nicht schöpfen, nur aus der persönlichen Beziehung zum Absoluten geht die Absolutheit der ethi-

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gend exemplarisch ein etwas längerer Passus von Götzinger zitiert, welche dezidiert die Parallelität von Transzendenz und Konkretion in der je singulären (Alltags)Situation akzentuiert: Es soll noch mit aller Deutlichkeit hervorgehoben werden, daß bei Buber das Ethische, aufgrund seiner philosophischen Konzeption, mit dem Religiösen zusammenfiel, bzw. von der absoluten Beziehung zu Gott bestimmt wurde. Das Kriterium der Ethik, von dem Martin Buber ausging, darf nicht mit einer Sammlung von ethischen Vorschriften oder Normen verwechselt werden. Denn niemals hatte Buber vor, ein System der Ethik zu konstruieren. Nein! […] Erst in der konkreten Situation, wo der Mensch konkret die Anrede seiner Situation vernimmt, kann er dem Sinn des Daseins entsprechend handeln. […] Die einzige Gewißheit, die uns von diesem Kriterium außerhalb von der konkreten Situation, in die der Mensch je einzutreten vermag, verbleibt, ist, daß der Mensch, wann immer die Stunde zu seiner wird, stets darauf verwiesen wird, sich als Mensch (vor Gott) zu bewähren. 343

Diese – der geistesgeschichtlichen Tradition des Okzidents, den Bezirk des Ethischen sowohl inhaltlich als auch formal, bezüglich des Einflussbereichs menschlicher Handlung, von der Sphäre religiösen Lebens zu separieren 344 – kontrastierende Tendenz sieht Buber wiederum namentlich in der jüdischen Lehre angelegt, in der „das Ethos eine inhärente Funktion der Religion [ist]“ (GF 585) 345. Dieschen Koordinaten hervor, ohne die es keine vollkommene Selbstbesinnung gibt. Auch wenn der Einzelne ein aus religiöser Tradition überkommenes absolutes Kriterium sein eigen nennt, muß es in der Wahrheit seiner personhaften Wesensbeziehung zum Absoluten umgeglüht werden, um die wahre Gültigkeit zu gewinnen.“ (GF 561) In diesem Kontext erläutert Anzenbacher bezüglich der im Rahmen der vollkommenen Ich-Du-Beziehung mit dem Göttlichen erlangten „dreifachen Gewissheit“ (vgl. ID 152–154): „Die Gewißheit um die Werthaftigkeit fällt zusammen mit der einen Offenbarung der Gewißheit der Verbundenheit, des Sinns und der Bewährung. Die absolute Beziehung selbst weist im Hinweis auf die Bewährung auf das Ethische hin.“ (Anzenbacher 1965, S. 75) 343 Götzinger 1994, S. 140 f. In dieser Hinsicht zeigt sich eine deutliche Parallele zu der Konzeption Albert Schweitzers, dessen Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben im vorstehenden Hauptteil dieser Arbeit ebenfalls nicht als eine normative, sondern situativ-subjektive erläutert worden ist. 344 Auch in diesem Belang bildet die Ehrfurchtsethik Schweitzers eine Ausnahme, als im Rahmen derer sämtliches Leben als „heilig“ deklariert wird und Schweitzer Ethik (zwar in christlichem Sinne) konkret als Leben im „Geiste Jesu“ interpretiert, diese somit eine religiöse Konnotation erhält. Siehe hierzu auch Anm. 143. 345 Gleichwohl formuliert Buber folgende Kritik: „Man pflegt die Bindung des Ethischen an das Religiöse in Israel ausschließlich im Bilde eines himmlischen Befehlens nebst Strafandrohung zu sehen. Damit verfehlt man das Eigentliche. Denn

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ser Gottesfinsternis entnommenen These Bubers seien die Präzisierungen aus „Der Glaube des Judentums“ zur Seite gestellt, im Rahmen derer gerade das oben charakterisierte Moment der Umkehr als Bekräftigung dafür ausgewiesen wird, „daß es im Judentum keine Sonderethik gibt. Dieses höchste ‚ethische‘ Moment ist völlig in das dialogische Leben zwischen Gott und Mensch aufgenommen.“ (GJ 193 f.) Zudem und vor allem bezeige sich die Tatsache als signifikant, dass die einleitend zum zweiten Hauptteil dieser Arbeit aufgeworfene Frage, ob und inwiefern menschliches Tun „im Angesicht Gottes“ gelte (vgl. GJ 192), sich für das Judentum – wie mittlerweile erläutert – auf der Basis einer generellen Akzeptation einer komplementären Dialogsituation zwischen Gott und dem Menschen beantworte. Das ethische ist unausschmelzbar eingegangen in das religiöse Leben. Es gibt keine Verantwortung ohne den, dem man sich verantwortet, denn es gibt keine Antwort ohne Ansprache. Mit dem „religiösen Leben“ aber ist letztlich nichts andres gemeint als die Konkretheit selbst, die ganze Konkretheit des Lebens ohne Reduktion, dialogisch gefaßt, in das Zwiegespräch einbezogen. (GJ 192) 346

Auch hinsichtlich der Maxime der Anpassung ethischer an religiöse Handlungen in Bezug auf deren Charakter und Wirksamkeit, komme innerhalb des Judentums speziell dem Chassidismus ein erhebliches praxisorientiertes Potenzial zu. Anhand Bubers pointierter Ausführungen in der Chassidischen Botschaft wird jedoch plausibel, dass die ethische Handlung „nicht […] bloß als von Gott geboten der Religion angehörig [sei], sondern unablöslicher Bestandteil ihrer Keimsubstanz und durchaus nicht geringeren Ranges als deren Rest, ja von solcher Bedeutung, daß dieser Rest, das ‚Religiöse im die Gesetzgebung am Sinai will als Verfassung verstanden sein, die der göttliche Herrscher in der Stunde der Thronbesteigung dem Volke erteilt, und alle Bestimmungen dieser Verfassung, wie die ritualen so auch die ethischen, sind darauf angelegt, es über sich hinaus in die Sphäre des ‚Heiligen‘ zu tragen: als die Zielsetzung wird dem Volke nicht geboten, daß es ein ‚gutes‘, sondern daß es ein ‚heiliges‘ werde. Alle sittliche Forderung wird hier somit als eine kundgetan, die den Menschen, das Menschenvolk in den Bereich erheben soll, wo das Ethische im Religiösen aufgeht, vielmehr wo die Differenz zwischen dem Ethischen und dem Religiösen im Atemraum des Göttlichen selber aufgehoben wird.“ (GF 583) 346 Siehe hierzu auch Anm. 248 dieser Arbeit zu Walter Kaufmanns Ausführungen bezüglich der inhaltlichen Korrelation von philosophisch-dialogischem und religiös-chassidischem Denken Bubers respektive des Nexus dessen einzelner Werkstränge.

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engeren Sinne‘, nicht ohne sie bestehen könnte“ (CB 865). Infolgedessen sei nicht nur das Ethische in Form einer Sonderdimension obsolet – ex aequo erweise sich die (Miss)Interpretation des Religiösen im Sinne einer isolierten Sphäre des (sogenannten „heiligen“) Gebarens als hinfällig. (Vgl. CB 865) 347 Inwiefern in concreto nicht lediglich das auf den zwischenmenschlichen Interaktionsbereich limitierte Ethische im engeren, herkömmlichen Sinne mit dem Religiösen koinzidiert, sondern darüber hinaus der alltägliche Umgang in Gänze – mit anderen Worten, sich die (mutmaßlichen) Bezirke von „heilig“ und „profan“ im Allgemeinen überschneiden – soll in dem folgenden Unterkapitel sowie Kapitel II.3 lebensnah exemplifiziert werden. An dieser Stelle sei vor dem Hintergrund der bereits abgehandelten Thematik des als Helfer und Gefährte Gottes fungierenden Menschen als Zwischenergebnis die Substanz des Ethischen „in seiner unverfälschten Wahrheit“ (FE 235) angeführt, wie sie Buber in seiner „Frage an den Einzelnen“ prägnant fixiert: „Gott helfen, indem man seine Schöpfung in seinen Geschöpfen liebt, indem man sie zu ihm hinliebt.“ (FE 236) Dementsprechend lautet die Devise, die Buber seinem Protagonisten (im) Daniel in den Mund legt: „Aufrecht und gewärtig, aufgetan und anheimgegeben, in der Ruhe deines Werdens lebe […]. Du hast keine Sicherheit in der Welt, aber du hast die Richtung und den Sinn, und Gott, der verwirklicht werden will […].“ (D 45) 348 2.3 Weltzugewandter Glaube und Mystik der Tat versus Beschwörung und Magie „Gott läßt sich nicht beschwören, aber er will auch nicht zwingen – von sich her ist er, und er läßt das Seiende von ihm, dem Seienden, 347 „Das ‚Ethische‘ ist nun nicht mehr eine von der religiösen Instanz gedeckte und sanktionierte Sache zwischen den Menschen, sondern sie ist, nicht minder als das Religiöse im engeren Sinne, eine Sache zwischen den Menschen und Gott.“ (CB 865) 348 „Dieses konkrete Hereingenommensein des Menschen in die Mächtigkeit bleibt, wie punktuell auch manche Religion und Theologie es verstehen will (etwa als die bloße Fähigkeit, zu glauben oder den Glauben zu versagen), der Kern des religiösen Lebens, weil es eben der Kern des Menschenlebens überhaupt ist.“ (CB 751) Siehe zu Bubers dialogisch-chassidischer Definition von Glauben die Ausführungen im nachstehenden Kapitel.

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her sein. Beides scheidet göttliche von dämonischen Mächten.“ (GF 559) Nichtsdestotrotz bedienten sich die als Freie anheimgegebenen Menschen – ihren Titel der „Herrn der Wahl“ (RN 905) missbrauchend – seit jeher zweifelhafter Mittel und Praktiken, um sich das Göttliche „verfügbar“ zu machen. Dieses vordergründig egoistisch-herrschsüchtigen Motiven entstammende Verhalten ist Ausdruck einer generellen – in Hinblick auf die subtile menschliche Verantwortung in der Welt höchst deplatzierten – Macht- und Besitzanspruchstendenz und letztlich eine Variante des oben explizierten „Ins-Gemeine-Niederziehens“. Es wird zu zeigen sein, dass dadurch nicht nur der Dialog zwischen Gott und Mensch sowie infolgedessen die Treue zum Sein an sich ins Wanken gerät, welche in vorstehendem Kapitel als adäquate menschliche Haltung plausibel gemacht werden sollte, sondern dass dies in letzter Konsequenz zu einer gänzlichen Negierung der Reziprozität als Basis jeglicher Dialogizität führt: Von der Urfrühe an wird die Wirklichkeit der Glaubensbeziehung, das Stehen des Menschen im Angesicht des Göttlichen, das Weltgeschehen der Unterredung, von dem Antrieb bedroht, über die Macht da drüben zu verfügen. Statt die Begebenheiten als Rufe zu verstehen, die einen anfordern, will man selber anheischen, ohne vernehmen zu müssen. (GF 595)

Zu einer massiven Irritation des Zwiegesprächs führen allerdings nicht lediglich magisch-okkulte Beschwörungsintentionen des Menschen: Im Kontrast dazu resultiert aus einem ebenso fragwürdigen, (pseudo)mystischen, sich vom täglichen Leben isolierenden Einheitsstreben mit dem Göttlichen eine durchaus vergleichbare Gefahr für den wechselseitigen (Lebens)Dialog, auf die im Zuge der Erläuterung der Buberschen Kritik an („klassischer“) Mystik und Versenkungslehre im Allgemeinen ebenfalls eingegangen werden soll. Vorab gilt es jedoch, um den Boden für die weiterführende Analyse zu bereiten, etwas eingehender zu eruieren, wie Buber Glaube und in diesem Kontext Religion definiert (respektive auf welche Weise dessen konkreter „Vollzug“ geschieht). Nach Anzenbacher fasse Buber diesen „zunächst als eine dialogische Beziehung zwischen Gott und Mensch, dann aber auch als die Verbundenheit mit Gott im dialogischen Leben“ 349. Liegt Anzenbacher mit seiner 349

Anzenbacher 1965, S. 64.

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

Einschätzung richtig, müsste sich zum einen das faktische Gegenüberstehen von Ich und Du, zum anderen die aktiv-zuwendende Teilnahme des Menschen am (täglichen) Leben (die Treue zum Sein!) als für den Glauben konstitutiv erweisen. Hinsichtlich des letztgenannten Aspekts führt Anzenbacher fort: „Die Antwort des Menschen an Gott, der Glaube, ist Antwort des Menschen in der Welt und schließt seine Haltung zur Welt ein.“ 350 In der Tat macht Buber einsichtig, „daß ‚Glaube‘ nicht ein Gefühl in der Seele des Menschen ist, sondern sein Eintritt in die Wirklichkeit, in die ganze Wirklichkeit, ohne Abstrich und Verkürzung. Diese Feststellung ist einfach; aber sie widerspricht der Denkgewohnheit.“ (B 62) In entsprechend drastischer Weise äußert sich Buber über sogenannte „Religion“ in Form einer (fehlinterpretierten) Institutionalisierung einerseits sowie einer weltabgekehrten mystischen Betrachtung andererseits: Das Glaubensverhältnis zu dem Einen Seienden verkehrt sich in Schein und Selbstbetrug, wenn es nicht allumfassend ist. Die „Religion“ mag sich dazu verstehen, eine Abteilung des Lebens neben anderen, ebenso wie sie eigenständigen und eigengesetzlichen Abteilungen zu sein, – sie hat damit das Glaubensverhältnis schon verkehrt. Diesem, seiner Bestimmungsmacht, irgendeinen Bereich grundsätzlich entziehen, heißt ihn der Bestimmungsmacht Gottes, die dem Glaubensverhältnis obwaltet, entziehen wollen. (FE 247)

Ein Seitenblick auf Bubers philosophischen Werdegang mag erhellen, dass sich das Religions- und Glaubensverständnis im Laufe seines Schaffens modifiziert hat und Buber nicht von Anfang an die durch obiges Zitat repräsentierte Position bezieht. In dem „Eine Bekehrung“ betitelten Abschnitt in Zwiesprache (vgl. ZS 186 f. und B 58–61) schildert Buber die Wandlung seiner Perspektive von einer weltabgewandt-mystischen hin zu einer lebens- beziehungsweise alltagszugewandten Religiosität: „In jüngeren Jahren“ (ZS 186) habe er das „Religiöse“ für etwas Exzeptionelles, dem alltäglichen Leben Entrücktes und Entrückendes erachtet 351: „Es gab Stunden, die aus dem Gang der Dinge herausgenommen wurden. Die feste Schale des Alltags wurde irgendwoher durchlöchert. […] Die ‚religiöse Erfahrung‘ war die Erfahrung einer Anderheit, die in den ZusamEbd., S. 66. Siehe in diesem Kontext zu Bubers früher sogenannter „mystischer“ Schaffensperiode auch Heinze 2011, S. 88 f. 350 351

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menhang des Lebens nicht einstand.“ (ZS 186) Dieses Herausgehobensein durch sogenannte „religiöse“ Erfahrungsmomente habe (unweigerlich) zu einer Spaltung des individuellen Daseins in ein „Dies- und ein Jenseits“ (ZS 186) als zwei separate, inkompatible Lebensbereiche geführt: „Drüben war nun die gewohnte Existenz mit ihren Geschäften, hier aber waltete Entrückung, Erleuchtung, Verzückung, zeitlos, folgelos. […] [U]nd es gab kein Band außer jeweils dem tatsächlichen Augenblick des Übergangs.“ (ZS 186) 352 Plötzlich jedoch erwacht in Buber die Erkenntnis, die schließlich für seine dialogische Werkphase charakteristisch sein sollte: Es ist jene bezüglich der „Unrechtmäßigkeit einer solchen Aufteilung“ (ZS 186) des Lebens, die ihm „durch ein Ereignis des Alltags aufgegangen [sei], ein richtendes Ereignis, richtend mit jenem Spruch geschlossener Lippen und unbewegten Blicks, wie ihn der gängige Gang der Dinge zu fällen liebt“ (ZS 186). 353 Buber wird im Zuge dessen klar, dass keineswegs primär die außergewöhnlichen, das Alltägliche übersteigenden Momente religiös-mystische Einsicht stiften, sondern – au contraire – der Alltag als solcher – all seiner (scheinbaren!) Profanität zum Trotz – unmittelbar den Blick auf das Göttliche frei gibt, gleichsam auf dieses hin transparent ist:

352 Vgl. zum gemeinhin als „religiös“ bezeichneten Menschen respektive Bubers Kritik an dieser Definition auch ID 150–152, beispielsweise folgende Ausführungen: „Man spricht von dem ‚religiösen‘ Menschen als einem, der in keiner Beziehung zur Welt und zu den Wesen zu stehen brauche, weil die Stufe des Sozialen, das von außen bestimmt werde [sic!], hier durch eine von innen allein wirkende Kraft überstiegen sei. […] Des weitern sagt man, der ‚religiöse‘ Mensch trete als Einzelner, als Einziger, als Abgelöster vor Gott, weil er auch die Stufe des ‚sittlichen‘ Menschen überschritten habe, der noch in Pflicht und Schuld der Welt stehe.“ (ID 150 f.) 353 „Es ereignete sich nichts weiter, als daß ich einmal, an einem Vormittag nach einem Morgen ‚religiöser‘ Begeisterung, den Besuch eines unbekannten jungen Menschen empfing, ohne mit der Seele dabei zu sein.“ (ZS 186) Genauer gesagt, sei Buber diesem Zusammentreffen in dialogischer Hinsicht nicht gerecht geworden beziehungsweise habe es nicht vermocht, dieses in den Status einer wahrhaften Begegnung zu erheben, als er es nach eigenen Angaben versäumt habe, „die Fragen zu erraten, die er nicht stellte. Diese Fragen habe ich später […] von einem seiner Freunde – er selber lebte schon nicht mehr – ihrem wesentlichen Gehalt nach erfahren, habe erfahren, daß er nicht beiläufig, sondern schicksalhaft zu mir gekommen war, nicht um Plauderei, sondern um Entscheidung, gerade zu mir, gerade in dieser Stunde. Was erwarten wir, wenn wir verzweifeln und doch noch zu einem Menschen gehen? Wohl eine Gegenwärtigkeit, durch die uns gesagt wird, daß es ihn dennoch gibt, den Sinn.“ (ZS 186 f.)

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Seither habe ich jenes „Religiöse“, das nichts als Ausnahme ist, Herausnahme, Heraustritt, Ekstasis, aufgegeben oder es hat mich aufgegeben. Ich besitze nichts mehr als den Alltag, aus dem ich nie genommen werde. Das Geheimnis tut sich nicht mehr auf, es hat sich entzogen oder es hat hier Wohnung genommen, wo alles sich begibt. Ich kenne keine Fülle mehr als die jeder sterblichen Stunde an Anspruch und Verantwortung. Weit entfernt ihr gewachsen zu sein, weiß ich doch, daß ich im Anspruch angesprochen werde und in der Verantwortung antworten darf, und weiß, wer spricht und Antwort heischt. (ZS 187)

Mit einem Wort lautet der für den vorliegenden Kontext fundamentale Schluss, welchen Buber in Zwiesprache zu ziehen wagt: „Wenn das Religion ist, so ist sie einfach alles, das schlichte gelebte Alles in seiner Möglichkeit der Zwiesprache.“ (ZS 187) 354 In Gottesfinsternis sowie „Die Frage an den Einzelnen“ stellt Buber ebenfalls apodiktisch heraus, dass den Gottesbegegnungen keine isolierte Sphäre vorbehalten ist, sondern diese mit der Totalität der Begebnisse des Lebens koinzidieren: „Die religiöse Beziehung ist […] in ihrem Grund nichts anderes als die Entfaltung des uns verliehenen Daseins.“ (GF 526) Im Zuge dieser Einsicht erscheint Schöpfung nicht (mehr) als „Hürde auf der Bahn zu Gott, sie ist diese Bahn selbst. Wir sind miteinander erschaffen und auf ein Miteinander zu. Die Geschöpfe sind mir in den Weg gestellt, damit ich, ihr Mitgeschöpf, durch sie und mit ihnen zu Gott finde.“ (FE 230) 355 Bezieht sich dieser Passus primär auf die zwischenmenschliche Realität, wird an anderer Stelle augenscheinlich, dass die Transparenz des (alltäglichen) Lebens sich nicht im Rahmen

354 „Hier ist auch Raum für ihre höchsten Gestalten. Wie wenn du betest und dich damit nicht von diesem deinem Leben entfernst, sondern eben es meinst du betend […].“ (ZS 187) Hinsichtlich Bubers Definition des Gebets siehe auch die folgenden Passagen aus Gottesfinsternis: „Gebet im prägnanten Sinne nennen wir jenes Sprechen des Menschen zu Gott, das, um was immer auch gebeten wird, letztlich die Bitte um Kundgabe der göttlichen Gegenwart, um das dialogische Spürbarwerden dieser Gegenwart ist.“ (GF 596) „Verfehltes“ Beten dagegen artikuliere sich in Form eines reinen Ich-Es-Geschehens: „Das Subjektwissen des sich Hinwendenden um seine Hinwendung, dieser Rückhalt des nicht in den Akt mit eingehenden RestIch, dem er ein Gegenstand ist, depossediert den Augenblick, despontaneisiert ihn.“ (GF 597) 355 „Gott will, daß wir durch die Reginen, die er erschaffen hat, und nicht durch die Lossagung von ihnen zu ihm kommen. Entfernen wir den Gegenstand, dann – entfernen wir den Gegenstand.“ (FE 230) An dieser Stelle bezieht sich Buber auf Søren Kierkegaards religiös motivierte Lösung der Verlobung mit Regine Olsen.

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menschlicher Reziprozität erschöpft, sondern für den wahrhaft Religiösen (im Sinne des dialogisch Lebenden) sich dessen reales Gesamtverhältnis zu Wesen und Dingen aller Art (im Gegensatz zum gedanklich theoretischen) gleichsam als Prüfstein wahrer Religiosität erweist: Für diesen nämlich „bedeutet ‚Dinge‘ nicht die Urbilder oder ‚Vollkommenheiten‘, sondern die wirklichen Exemplare, die Wesen und Gegenstände, mit denen er, diese leibliche Person, sein Leben verbringt; […] er bekennt, daß der Sinn in der jeweils gelebten Konkretheit aufgetan und erlangbar ist“ (GF 534). 356 In konträrer Weise werde – so konstatiert Buber auch in seinen Schriften zum Judentum in Bezug auf die Situation seiner Zeit – als „religiös“ gemeinhin „etwas bezeichnet, was sich in der ‚Innerlichkeit‘ begibt, sowie dessen Äußerungen, insofern sie eben auf die Innerlichkeit zurückwirken“ (RJV 4; im Orig. kursiv). Dies jedoch stehe – analog zu dem bereits in anderem Kontext explizierten „Insich-selbst-Verlaufen“ des Menschen – nicht nur dem Bereich des Zwischen als Begebnissphäre jedweder dialogischen Beziehung diametral entgegen, überdies sei das persönliche Erleben als „abgelöste Subjektivität“ (RJV 7; im Orig. kursiv) absolut sekundär und vielmehr – wie erwähnt – das Praktizieren der Gott-Mensch-Beziehung im und am Leben von Relevanz: „Im Grunde kommt es ja überhaupt nicht auf […] das religiöse Erleben [an], das eine Abteilung der Psychik betrifft, sondern auf das religiöse Leben, das heißt auf das vollständige [im Orig. gesperrt] Leben des Menschen […] im wirklichen Umgang mit Gott und der Welt.“ (RJV 7; im Orig. kursiv) Denn – wie wiederum in Gottesfinsternis zu lesen ist – der lebendige Gott, der einen in den Situationen des gelebten Lebens antritt und anspricht, ist kein Bestandteil […] einer „übersinnlichen Welt“, er ist in ihr ebensowenig wie in der sinnlichen als ein Gegenstand der Subjektivität unterzubringen, und wenn der Mensch es trotzdem unter-

356 Weiter heißt es in Gottesfinsternis in Bezug auf die Metaebene der Philosophie respektive die Denkwirklichkeit: „In der konkreten Situation stehend und auch noch sie bezeugend, ist der Mensch vom Regenbogen des Bundes zwischen dem Absoluten und dem Konkreten überzirkt; will er philosophierend das weiße Licht des Absoluten als den Gegenstand seiner Erkenntnis ins Auge fassen, bieten sich ihm immer nur die Urbilder oder Ideen, die Verklärungen des Allgemeinen dar – die farbenfreie, die überfarbige Brücke bleibt aus.“ (GF 534) Vgl. auch GF 548 sowie 536, wo Buber weiters kritisch formuliert, „daß im großen Akt des Philosophierens auch noch die Fingerspitzen denken – aber sie tasten nicht mehr“.

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nimmt, die Begegnungen mit ihm als Selbstbegegnungen zu verstehen, wird sein, des Menschen Gefüge zersprengt (GF 518 f.). 357

Denn „[d]ie Begegnung mit dem Ursprechen, dem Ursprecher von Ja und Nein kann durch keine Selbstbegegnung ersetzt werden“ (GF 515; Herv. sind zugefügt). Somit sollte nachhaltig deutlich geworden sein, dass Buber das Phänomen der Gott-Mensch-Beziehung als etwas interpretiert, „was sich zwischen dem Menschen und Gott, in der Wirklichkeit des Verhältnisses, der gegenseitigen Wirklichkeit von Gott und Mensch begibt“ (RJV 4; im Orig. kursiv). Dementsprechend ist die Bezeichnung der „religiöse[n] Wirklichkeit“ (RJV 4; im Orig. kursiv) dem Faktum entlehnt, dass diese „das ungeschmälerte Verhältnis zu Gott selber ist. Der Mensch hat Gott selber nicht; aber er begegnet ihm selber“ (RJV 4; im Orig. kursiv) in oben dargelegter Weise. Diese „Dimension der wirklichen Begegnung“ (GF 519) sei aufgrund dessen durch keine fingierte Pseudo-Beziehung im eigenen Selbst zu substituieren, vielmehr erfülle sich die „Wahrheit der Begegnung“ (GF 519) im Zuge der realen Konfrontation der beiden Gegenüber in praxi. Entsprechend realisiert sich auch diese dialogische Beziehung nicht in der Zweiheit von Subjekt und Objekt, das heißt: keines ist dem andern ein bloßer Gegenstand der Betrachtung, der selber an der Beziehung nicht teilhat, sondern es ist die Zweiheit von Ich und Du, die beide in die Gegenseitigkeit der Beziehung eintreten. Gott mag noch so absolut gefaßt werden, er ist hier eben doch nicht das Ganze, sondern das Gegenüber, er ist das dem Menschen Gegenüberstehende, er ist das, was dieser Mensch nicht ist, und ist nicht, was dieser Mensch ist; gerade darauf kann das Verlangen nach Vereinigung sich gründen. (CB 851)

Vor diesem Hintergrund formuliert Buber schließlich seine konkrete Kritik an religiöser Versenkung und Mystik in ihrer klassischen Ausprägung, kulminierend in der sogenannten „Unio mystica“ als spiritueller Vereinigung des Menschen mit dem Göttlichen. Das Tragische eines solch missinterpretierten Gottesverhältnisses, welches sich letztlich im menschlichen Ich verpuppt, spiegelt sich – um es vorwegzunehmen – drastisch in Bubers Titulierung solch einer „Pseudo-Religion“ als „Urgefahr des Menschen“ (CB 744), die letzterer sich im Grunde personaliter produziert und die ihn 357 Diesbezüglich konstatiert Buber seinerzeit: „Das ist die Signatur der gegenwärtigen Stunde.“ (GF 519)

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schließlich ex post heimsucht: „[E]s ist eine Urgefahr, wohl die äußerste Gefahr und Versuchung des Menschen, daß sich von der menschlichen Seite des Umgangs etwas ablöst und verselbständigt, sich rundet, sich scheinhaft zur Gegenseitigkeit ergänzt, sich an die Stelle des wirklichen Umgangs setzt.“ (CB 744) 358 Dieses sich Separierende greift entweder Platz in Form der spezifischen sakramentalen Riten, „in denen der Mensch die Welt Gott zuheiligte“ (CB 744), welche insofern pervertiert werden, als diese nun nicht mehr die „Weihung des gelebten All-Tags [anstreben], sondern seine Ablösung; Weltleben und Gottesdienst laufen unverbindlich nebeneinander her; aber der ‚Gott‘ dieses Dienstes ist nicht mehr Gott, es ist der bildsame Schein – […] die Gebärden des Verkehrs schlagen in die Luft“ (CB 744 f.). Alternativ kommt es zu einer Manifestation besagter Verselbstständigung hinsichtlich der die Seele betreffenden Umgangsaspekte selbst, hierbei handelt es sich etwa um „die Andacht, die Ausrichtung, die Versenkung, die Verzückung“ (CB 745). Das unheilvolle Resultat einer solch fatalen Abspaltung einzelner Faktoren des religiösen Umgangs von deren ursprünglicher Intention resümiert Buber wie folgt: [W]as in die Bewährung an der Fülle des Lebens zu münden bestimmt und angewiesen war, wird von ihr abgeschnitten; die Seele will nur noch mit Gott zu tun haben, als wollte er, daß man die Liebe zu ihm an ihm und nicht an seiner Welt ausübe; nun meint die Seele, die Welt sei zwischen ihr und Gott entschwunden, nur sie allein, die Seele, ist da, was sie Gott nennt ist nur ein Gebild in ihr, was sie als Dialog führt ist ein Monolog mit verteilten Rollen, der wirkliche Partner des Umgangs ist nicht mehr da. (CB 745) 359 Siehe in diesem Kontext auch Bubers Kritik an dem philosophischen Glaubensbegriff: „Alle Monologbegeisterung der Philosophen von Platon bis Nietzsche rührt nicht an die schlichte Glaubenserfahrung, daß das Reden mit Gott etwas toto genere anderes ist als das ‚Reden mit sich selber‘ […]. [D]ort ist es beiden, trotz all der Verdoppelungsabenteuer der Seele – Spiele, Räusche, Träume, Visionen, Überraschungen, Überrumplungen, Überwältigungen –, ja trotz aller Spannungen und Spaltungen, und trotz all der edlen und starken Bilder für den Verkehr mit sich selbst, durchaus ungemeinsam.“ (FE 228) 359 Entsprechend heißt es in Gottesfinsternis: „[I]st die Religion eine Beziehung zu seelischen Vorgängen, und das kann nichts andres heißen als: zu Vorgängen der eigenen Seele, dann ist eben damit gesagt, sie sei nicht eine Beziehung zu einem Sein oder Wesen, das, wie sehr es sich je und je zu ihr neigt, ihr stets transzendent bleibt, genauer: sie sei nicht die Beziehung eines Ichs zu einem Du; als das jedoch haben die unverkennbar Religiösen aller Zeiten ihre Religion auch verstanden, wenn es sie am mächtigsten verlangte, ihr Ich in jenem Du mystisch aufgehen zu lassen.“ (GF 358

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Vor allem anhand der Entgleisung der „seelischen Begleitumstände“ (CB 745) der religiösen Beziehung wird die Grundproblematik mystischer Versenkung deutlich, welche sich auf zweierlei Weise artikuliert: Entweder wird „das Alleinsein schlechthin“ (GF 576) im Sinne eines gänzlichen Aufgehens und Sich-Verlierens in der höchsten Beziehung angestrebt oder aber deren komplette Absorption, indem „mit dem Gottesbegriff ihr [der menschlichen Person] eigenes Selbst intendiert [wird]“ (GF 576 f.). Dieser sich jeweils in der „Spuk- und Spiegelkammer“ (GF 577) des menschlichen Innern begebende Vorgang „hat nichts mehr mit der wirklichen Beziehung, aber auch nichts mehr mit dem wirklichen Selbst zu tun; denn das wirkliche Selbst tritt nur in die Erscheinung, indem es in die Beziehung zu dem Anderen tritt, und wo dieser Beziehung abgesagt wird, stirbt das Selbst ab […]“ (GF 577). Dementsprechend bezieht sich Bubers primärer Kritikpunkt, den er in Ich und Du dezidiert darlegt, auf die aller Versenkungslehre gemeine Basis: „Alle Versenkungslehre gründet in dem gigantischen Wahn des in sich zurückgebognen menschlichen Geistes: er geschehe im Menschen.“ (ID 141) Dies erweist sich für die Gott-Mensch-Beziehung als höchst virulent, da im Zuge dessen nicht nur die Beziehung als solche, sondern auch das Göttliche als deren Kristallisationspunkt verfehlt wird, indem Letzteres in bereits erläuterter Weise nicht mehr Gegenüber, sondern lediglich „Objekt“ der Innerlichkeit ist: „Indem der zurückgebogne Geist diesem seinem Sinn, diesem seinem Beziehungssinn absagt, muß er Das [sic!], was nicht der Mensch ist, in den Menschen hereinziehen, er muß Welt und Gott verseelen. Dies ist der Seelenwahn des Geistes.“ (ID 141) Die Variante mystischer Versenkung, welche in einer völligen Verschmelzung mit dem Göttlichen kulminieren soll, intendiert 562 f.) In diesem Kontext übt Buber Kritik an Carl Gustav Jung, welcher die Begegnung zwischen Mensch und Gott gänzlich in die Seele des Menschen zu verlagern – mehr noch: gar aus dieser selbst entspringend – zu verdeutlichen suche: „[S]ie [die Psychologie Jungs] verkündigt die neue, die einzig noch wahr sein könnende, die Religion der reinen psychischen Immanenz.“ (GF 567) Für Buber dagegen bestehe die Einzelseele vielmehr – wie gezeigt – „aus realen Begegnungen mit anderen Realitäten“ (GF 566), deshalb plädiert Buber auch an dieser Stelle für einen „echten Kontakt mit dem mir begegnenden Seienden, [der] zur vollen unmittelbaren Gegenseitigkeit mit ihm [führt]; er führt von der Seele, die die Wirklichkeit sich einträgt, zur Wirklichkeit, in die die Seele sich fügt. Der andere Weg, den Jung im Sinne hat, bedeutet dem gegenüber die Entwirklichung des Verhältnisses zum Seienden durch Verlegung des Existenz-Schwerpunkts in die ‚Individuation‘.“ (GF 571)

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ebenso direkt eine Verneinung der eigenen Personalität: „Das Verhältnis zu Gott, das sie meint, ist ja das ‚Entwerden‘ des Ich, und den Einzelnen gibt es nicht mehr, wenn er nicht mehr – auch noch in der Hingabe – Ich sagen kann.“ (FE 220) Zudem wird im Zuge dieses mystischen Einheitsstrebens das in Kapitel II.2.2 idealiter als „in die Richtung der Heimkehr gestreckte Bewegung“ (FE 260) definierte Tun des Guten ad absurdum geführt, da dieses (symbolische) „gen Himmel“ Ausrichten keineswegs auf eine Verschmelzung mit dem Göttlichen abzielt: In geradezu diametraler Weise bezieht sich dieses – wie gezeigt – explizit auf den Einzelnen, welcher – als dieser Einzelne! – seine Dinge an seiner irdischen Position zu betreuen und auszuführen hat; ausschließlich dann richtet er sich und sie gleichsam himmelwärts. Mit anderen Worten: Verwirft der Einzelne seine Richtung, so vergeht er sich letztlich an Gott, in dem er nicht aufgehen, sondern auf dessen Präsenz hin er seinen „(Alltags)Dienst“ leisten soll. Letzten Endes konfligiert Mystik in ihren herkömmlichen Erscheinungsformen sowohl mit dem göttlichen als auch menschlichen Wesen, wie Buber etwa in „Die Frage an den Einzelnen“ apodiktisch zu akzentuieren versteht: Wie die Mystik Gott nicht gestatten will, die Knechtsgestalt der redenden und handelnden Person, eines Schöpfers, eines Offenbarers, auf sich zu nehmen und als der alles Schicksal miterleidende Partner der Geschichte den Passionsweg durch die Zeit zu gehn, so verwehrt sie dem Menschen, als der Einzelne, als dieser beharrend, wirklich zu beten, wirklich zu dienen, wirklich zu lieben, wie man es nur als Ich zu einem Du vermag; sie duldet den Einzelnen nur, damit er gründlich zerfließe. (FE 220)

Dagegen ist für die wahrhafte Gott-Mensch-Beziehung durchaus nicht ein partielles Aufgeben oder gar Negieren des menschlichen Ich erforderlich – im Gegenteil: „[D]as Ich ist wie zu jeder Beziehung so auch zur höchsten unerläßlich, da sie nur zwischen Ich und Du geschehen kann.“ (ID 130) 360 Zudem erweise sich nach Buber jedwede (Einheits-)Theorie und (-)Praktik und sämtliches, was diesbezüglich seit jeher „ersonnen und erfunden worden ist an Vorschrift, an angebbarer Vorbereitung, Übung, Versenkung“ (ID 360 Präziser formuliert, geht es um „ein Aufgeben also nicht des Ich, aber jenes falschen Selbstbehauptungstriebs, der den Menschen vor der unzuverlässigen, undichten, dauerlosen, unübersehbaren, gefährlichen Welt der Beziehung in das Haben der Dinge flüchten läßt“ (ID 130). Buber spielt an dieser Stelle auf die kontrastierenden Haltungsmodi „Ich-Du“ und „Ich-Es“ an.

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129 f.), als für die Beziehung ausnahmslos kontraproduktiv – ja habe „mit dem ureinfachen Faktum der Begegnung nichts zu schaffen. […] Es hat in der Eswelt seinen Platz und führt nicht einen Schritt, führt nicht den Schritt aus ihr.“ (ID 130) 361 Anstatt dessen führen die der Einheitsekstase immanenten regelrechten „Gott-Verseelungen, die mit ‚Vergottungs‘-Gefühlen ausgestatteten Seelenüberschwänge des aus der vollständigen Wirklichkeit losgeschnittenen Selbstmenschen“ (RJV 7; im Orig. kursiv), unausweichlich zu einer verzerrten Lebensanschauung des Betreffenden. In Ich und Du reflektiert Buber in aller Schärfe die Situation nach dem Verlassen jener (scheinbaren) Vereinigung und gleichzeitig mögliche Einsichten in Hinblick auf das tägliche Leben: Ich und Du versinken, die Menschheit, die eben noch der Gottheit gegenüberstand, geht in ihr auf, Verherrlichung, Vergottung, Alleinheit ist erschienen. Wenn einer aber verklärt und erschöpft in die Not des irdischen Getriebes zurückkehrt und mit wissendem Herzen beides besinnt, muß ihm da das Sein nicht gespalten und mit dem einen Teil der Heillosigkeit preisgegeben vorkommen? Was hilft es meiner Seele, daß sie aus dieser Welt hier von neuem in die Einheit entrückt werden kann, da doch diese Welt selbst der Einheit notwendigerweise gänzlich unteilhaftig bleibt – was frommt aller „Gottesgenuß“ einem entzweigerissenen Leben? Hat jenes überschwänglich reiche himmlische Nu mit meinem armen Erdennu nichts zu tun – was soll es mir, da ich doch auf Erden noch zu leben, in allem Ernst noch zu leben habe? So sind die Meister zu verstehen, die den Wonnen der „Einungs“-Ekstase entsagt haben. (ID 136)

So führt diese in Bezug auf den Einzelnen – als Extremform der „‚Verabsolutierung‘ des Menschlichen“ (RJV 7; im Orig. kursiv) – paradoxerweise erst recht zu „dessen Herausreißen aus dem vollständigen Leben, aus der Wirklichkeit“ (RJV 7; im Orig. kursiv) und verhindert in letzter Konsequenz menschliche Freiheit: „Was man einst glaubte: daß man stets neu, Situation um Situation, das jeweils Gewählte zu verantworten hätte, das ist man nun los.“ (FE 247) Umso dringlicher ist es Buber darum zu tun, „auf die Dimension der Wirklichkeit hinzuweisen“ (RJV 7; im Orig. kursiv) – zumal gerade der sein Leben in dialogischer Weise Vollziehende in 361 Siehe hierzu ferner folgende Erläuterung Anzenbachers: „Die wirkliche Welt, die Du-Welt, im Gegensatz zur Es-Welt, die nur das vom menschlichen Erfahren und Gebrauchen produzierte Bild der wirklichen Welt ist, ist die von Gott angesprochene und dadurch geschaffene Welt.“ (Anzenbacher 1965, S. 66; vgl. ebd., S. 69)

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besonderem Maße und gesteigerter Intensität eine Einheit erfahre: Es handelt sich um „die Einheit des Lebens, [als] die, einmal wahrhaft gewonnen, […] nicht entzweigerissen wird in kreatürlichen Alltag und ‚vergottete‘ Hochstunden; die des lückenlosen, entrückungslosen Verharrens in der Konkretheit, in der man das Wort vernimmt und eine Antwort stammeln darf“ (ZS 199). Gerade bezüglich des sich Entziehens jener „Strapazen“ des Hinhorchens auf das (göttliche) Wort, welches sich stets neu gewandet sowie die damit verknüpfte Herausforderung des „Antwortstammelns“, stehen magische Praktiken 362 jenen der Versenkungslehren in nichts nach – ja begünstigen Letztere geradezu, indem das Göttliche noch rigoroser depossediert und zum besitzbaren Objekt degradiert wird: 363 „‚Ich bin‘, sagt der Mensch, ‚der Mächte mächtig, die ich beschwöre.‘ Und das setzt sich dann, mit allerhand Modifikationen, überall da fort, wo man Riten begeht, ohne, dem Du zugewandt, dessen Präsenz wirklich meinend.“ (GF 595 f.) 364 Dieses vermeintliche Disponieren über das Göttliche schlägt schließlich in sein krasses Gegenteil um, als sich der Mensch im Zuge dessen der eigenen Kompetenz dialogischer Wechselseitigkeit beraubt: „[W]er das Geheimnis zu wissen und innezuhaben wähnt, kann ihm nicht mehr als seinem Du gegenübertreten, und wer es beschwören und benützen zu können meint, ist unfähig zum Wagnis der echten Gegenseitigkeit.“ (GJ 195) 365 362 Siehe zur Kritik an Magie auch LC 36 f., EZ 87, 89 f., 119, CB 753 f., 817–819, 842, 847 f., MW 963, DC 982, 986, 987 f., ferner RN 914 f., CAM 940, GJ 194–197 und A 630. 363 „Der magische Akt bedeutet die Einwirkung eines Subjekts auf ein Objekt, des zauberkundigen Menschen auf eine […] ‚Macht‘ ; also eine konstitutive Zweiheit von Elementen, von denen das eine, das menschliche, seiner Grundbeschaffenheit nach das schwächere ist, aber kraft seines magischen Vermögens das stärkere, das zwingende wird; es zwingt das andere […] in Menschendienst, in Menschenabsicht, in Menschenwerk; der Mensch, von dem der Akt ausgeht, ist auch dessen Ziel und Ende; der magische Akt ist ein in sich kehrender, ein isolierter, kreisartiger Kausalprozeß.“ (CB 817) 364 Hierin liegt auch die grundsätzliche Differenz zwischen wahrer Religion im anti-dogmatisch-dialogischen Sinne und Magie beziehungsweise die massive Gefahr der magischen Praktiken für den Glauben, „denn wen man beschworen zu haben wähnte, konnte – mochte er noch als Gott figurieren – nicht mehr als Gott geglaubt werden; er war für den Menschen ein Bündel von Kräften geworden, über das des Menschen geheimes Wissen und geheime Macht verfügten […]“ (GF 558 f.). 365 „[W]er beschwört, wird nicht mehr angesprochen, nicht mehr erwacht Antwort in ihm, und auch wenn er ein Gebet rezitiert, betet er nicht mehr.“ (GF 559)

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Selbst gesetzt den Fall, der magisch Einflussnehmenwollende verfolgt nicht per se eine egoistisch-destruktive Intention, sondern jene – „indem er magisch auf die göttlichen Konfigurationen einwirkt“ (DC 986) – der Welt zur Erlösung zu gereichen, sei ihm bestimmt, das deklarierte Ziel zu verfehlen, da ihm die diesbezüglich richtungweisende Einsicht aufgrund seines gleichwohl inadäquaten Agierens abgeht: So lässt Buber den „Juden“ in Gog und Magog verkünden: „»Am Ende gelten alle Stufen und geheimen Kunden und wundersamen Künste nichts, nur das Ganze gilt. Und was ist das Ganze? Das ist das schlichte Leben.«“ (GM 1197) 366 Dieses Leben an sich ist nicht auf Umwegen oder mittels „Zauberei“ diverser Art zu meistern, sondern durch gewissenhaftes Eingehen auf die sich je darbietenden Konstellationen des täglichen Lebens: „Diese Weihe des Alltags ist über aller Magie.“ (CB 819) Eine Huldigung der Alltäglichkeit realisiert sich für Buber in der Strömung des Chassidismus par excellence. Primär diesen Aspekt fokussierend, charakterisiert er den Chassidismus – genauer gesagt, die chassidische Lehre – als „die Vollendung des Judentums“ (HF 172), worauf in Kapitel II.4 noch im Detail einzugehen sein wird. Nichtsdestotrotz finden sich auch innerhalb dieser Bewegung magische Tendenzen 367, „aber dieser magische Bestandteil hat nie das Zentrum des chassidischen Lebens berührt“ (CB 818). 368 LetzSiehe hierzu ferner folgenden Dialog in Gog und Magog: „»Vielleicht hängt das Heil der Welt wirklich von uns ab […]?« […] »Nicht von unseren Beschwörungen, ihnen ist wohl nur unser eignes Dasein unterworfen. Überhaupt von nichts, womit wir das Heil bewirken wollen. Wenn wir es bewirken wollen, haben wir es schon verfehlt. Aber vielleicht wirken wir gerade daran, wenn wir nichts bewirken wollen.«“ (GM 1083) 367 „Wohl ist manche kabbalistische Tradition der Buchstabengeheimnisse, der Wendungen und Fügungen der Gottesnamen vom Chassidismus in sein System der ‚Kawwanoth‘, der Intentionen aufgenommen und geübt worden […].“ (CB 818; vgl. auch DC 986) 368 Kritische Stimmen behaupten dagegen, Buber habe die magische Komponente im Chassidismus ignoriert, so beispielsweise sein Schüler Gershom Scholem, der von dem durch Buber „beständig weggedeutete[n] oder minimalisierte[n] magische[n] Element“ (Scholem 1986, S. 170) spricht. Allerdings führt Buber in der Abhandlung „Zur Darstellung des Chassidismus“ bezüglich Letzterem Folgendes aus: „In der inneren Dialektik der Bewegung aber stehen einander zwei Grundanschauungen gegenüber. Die eine behauptet, der Mensch könne an der Erlösung der Welt wirken, indem er magisch auf die göttlichen Konfigurationen einwirkt, die andere erklärt dem gegenüber [sic!], nur dadurch könne der Mensch an der Erlösung der Welt wirken, daß er mit seinem ganzen Wesen sich auf Gott zu bewegt, zu ihm 366

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Das dialogische Gott-Mensch-Verhältnis und dessen Komponenten

teres bildete laut Buber vielmehr „die Begegnung des göttlichen Wirkens mit dem menschlichen“ (CB 814), im Rahmen dessen jedwede Mittlersubstanzen obsolet würden. Dieses Axiom des Zusammentreffens göttlichen und menschlichen Amtierens inkludiert in der chassidischen Lehre die Evidenz folgender These: „Die Weltgeschichte ist nicht Gottes Spiel, sondern Gottes Schicksal“ (CB 817). 369 Auf das korrelative Angewiesenheitsverhältnis zwischen dem (eingesetzten) Menschen und Gott, welches in praxi in ein Verantwortlichkeitsverhältnis mündet, wurde insbesondere im Zuge der Explikation menschlicher Freiheit bereits verwiesen. An dieser Stelle wird nun endgültig deutlich: Gottes Schicksal liegt letztlich in des Menschen Hand (vgl. etwa CB 808–810 und 815), 370 womit auch Götzinger konform geht: Die Lehre der Chassidim machte auch das möglich, was Buber eine praktische Umsetzung des Verantwortungsprinzips nennen würde. Dieses Prinzip meint nun nichts anderes als die Verantwortung des Menschen für das Schicksal Gottes in der Welt. In der Sprache des Allgemeinmenschlichen läßt Buber wissen, daß dies nichts anderes bedeutet, als daß der ganze Mensch sich in seinem ganzen Wesen „der Situation“ der konkreten Wirklichkeit […] zu verantworten hat. 371

‚umkehrt‘ und alles, was er von nun an tut, auf Gott zu tut. Damit steigert er, in einem der Kraft seiner Bewegung entsprechenden Maße, die Erlösbarkeit der Welt: er ‚nähert‘ sie der himmlischen Einwirkung.“ (DC 986) Dieses sich Gegenüberstehen besagter beider Grundhaltungen im Chassidismus sei auch das Thema seines einzigen Romans Gog und Magog, wie Buber berichtet: „Ich mußte sie [die Romanchronik] schreiben, weil ich versuchen mußte, die innere Dialektik, die mir sichtbar und spürbar war, dem heutigen Menschen sichtbar und spürbar zu machen.“ (DC 986) Während im Roman für die „magische“ Seite die Lubliner Tradition um den sogenannten „Seher“ steht, vertritt im Gegensatz dazu die „anti-magische“ Tendenz die Tradition von Pzysha um den sogenannten „Juden“. Siehe hierzu auch Wehr 1978, S. 64: „In seiner romanhaften Chronik ‚Gog und Magog‘ hat Martin Buber beide Motive einander gegenübergestellt: den zu überwindenden magischen Versuch und den anderen Versuch, durch innere Wandlung und Umkehr dem Messias, wie der Jude ihn sieht, den Weg zu bereiten. Der Chronist hat es ‚eine Sache von Leben und Tod‘ genannt, die jeglicher spekulativen Verharmlosung widersteht.“ 369 In nahezu identischer Formulierung heißt es in Ich und Du: „Die Welt ist nicht göttliches Spiel, sie ist göttliches Schicksal. Daß es die Welt, daß es den Menschen, daß es die menschliche Person, dich und mich gibt, hat göttlichen Sinn.“ (ID 133) 370 Siehe hierzu insbesondere die Darlegungen in Kapitel II.4.2 zum Umgang des Einzelnen mit der „Schechina“, der „Einwohnenden Herrlichkeit Gottes“. 371 Götzinger 1994, S. 139 f. Analoges stellte bereits Hans Kohn fest: „Dem Chassidismus liegt das Prinzip der Verantwortung des Menschen für das Schicksal Gottes

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

Damit also, wenn der von seiner Freiheit Gebrauch machende Mensch auf das ihm zugereichte „Stück Welt“ (JW 236, CCG 958 und FE 235) jeweils „verantwortend antwortet“ (GF 561), um auf diese Weise gleichsam göttliches Schicksal zu vollenden, „ist nicht ein einmaliges, messianisches Handeln gemeint, sondern ein Tun des Alltags, das die messianische Vollendung vorbereitet“ (CB 776). Gegenüber jener konventionell-mystischen (fingierten) Vereinigung mit dem Göttlichen, fernab des Weltgeschehens, resultiert aus diesem verantwortungsvollen Alltags-Handeln „nicht ein mystisches Zeitlos-werden des Nu, sondern dessen Zeitvoll-werden: in dem verschwebenden Bruchteil der Zeit kündigt sich die Fülle der Zeit an, – Geschehen nicht an der Seele, leibhaftes Geschehen an der Welt, von der konkreten Begegnung zwischen Gott und Mensch aus“ (CB 753). In der Lehre der Chassidim ist in der Tat – im buchstäblichen Sinne! – das überlieferte Wissen um den All-Tag der Erlösung ganz praktisch ausgesprochen. Und sie hat […] immer wieder und deutlich herausgehoben: es gibt nicht ein bestimmtes, aufzeigbares, lehrbares magisierendes Handeln in festgelegten Formeln und Gebärden, Seelenhaltungen und Seelenentspannungen, das auf die Erlösung einwirkte; 372 nur die unterschiedslose Heiligung allen Handelns, nur das Gottzutragen des gewohnten Lebens, wie es sich fügt und schickt, nur die Weihe der natürlichen Weltverbundenheit hat die erlösende Kraft. Nur aus der Erlösung des Alltags wächst der All-Tag der Erlösung. (CB 753 f.; Herv. sind zugefügt)

Dieses fundamentale Erkenntnisspektrum antizipierend, etabliere sich im Zuge „der letzten und höchsten Entwicklung der jüdischen Mystik“ (JM 15) 373 – nach Meinung Bubers – durch den Initiator dieser chassidischen Bewegung des 18. Jahrhunderts (vgl. etwa CAM 941), Rabbi Israel Ben Elieser 374, „eine[r] realistische[n] und in der Welt zugrunde, seine Verantwortung für die Erlösung der Welt […].“ (Kohn 1961, S. 78) 372 Vgl. zu diesem Aspekt beispielsweise auch GJ 195 f. 373 Siehe zur Mystik des Chassidismus in Bubers Schrift „Die jüdische Mystik“ JM 15–18 sowie in der Chassidischen Botschaft explizit CB 783–785. Vgl. zudem das Werk von Gershom Scholem Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (1957; 5. Aufl. 1993), die Arbeit von Gerhard Wehr Der Chassidismus. Mysterium und spirituelle Lebenspraxis (1975) und nicht zuletzt das zweibändige Standardwerk von Simon Dubnow Geschichte des Chassidismus (1931; Nachrd. der Erstausg. 1982). 374 Der Begründer des Chassidismus wird – wie bereits erwähnt – auch „Baal schem tow“ genannt, „der Inhaber des guten Namens“ (EZ 90; siehe auch „Baale-schem“:

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aktivistische[n] Mystik“ (BST 49), 375 welche sich durch die konkrete Heiligung des Alltags (der Kapitel II.4 in toto gewidmet ist) mit Inhalt füllt. Vor dem Hintergrund dieser Annahme spricht Buber der chassidischen Mystik einen „antiasketische[n] Charakter“ (CAM 941) 376 zu, da diese nicht auf Entsagung und Kasteiung fuße, das heißt, keinesfalls darauf abstelle, sich dem Leben zu enthalten oder dieses gar zu unterwerfen (vgl. CB 786), sondern vielmehr fordere, sich diesem unmittelbar und engagiert zuzuwenden. 377 Auch „Herren des Namens“, EZ 89; „Baal-schem“: „Meister des Namens“, EZ 154 und JM 15 f.; „Baal Schem Tow“: „Meister vom Guten Namen“, MW 965 sowie Topp 1982, S. 182: „Meister des guten Namens“). In „Die jüdische Mystik“ schreibt Buber über den Besagten: „Um ihn und seine Jünger spann sich eine farbenreiche und innige Legende. Er war ein schlichter, wahrhaftiger Mann, unerschöpflich an Inbrunst und lenkender Gewalt.“ (JM 16) Siehe zum Baalschem insbesondere Bubers Schrift „Des Rabbi Israel ben Elieser genannt Baal-Schem-Tow das ist Meister vom guten Namen Unterweisung im Umgang mit Gott aus den Bruchstücken gefügt“; vgl. des Weiteren JM 15–18, EZ 71–73, 76 f., 82, 84–86, 93–100, 106 f., 109–111, 115, 130, 143, 88–92, 151–202, 203, 215–217, 227, 236 f., 248, 257–261, 290, 292 f., 407, 485, 492, 650, 651, 680, CB 758–769, 772 f., 787–790, 794–802, 811, 820, 825, 871– 875, 877 f., RN 900–902, vor allem 913–916, 919, 921, CAM 941, MW 961, 963, 965, 967, 969 f., DC 979 f., 982 f., 985, NDC 992, 996, 998, GM 1039, 1052, 1064, 1084 f., 1099, 1195, 1203 f., 1265, ferner EZ 108, 119, 232, 285, 288, 296, 385, 402, 425, 494, 500, 503 f., 566, 638, CB 822, 826 f., 891, RN 897, 906, MW 968, DC 981, A 628–635, GM 1197; siehe zudem Schatz-Uffenheimer 1963, S. 277 und 293, Wehr 1978, vor allem S. 23–44 (zum Baalschem als Helfer vgl. ebd., S. 28 f., zur Gastfreundschaft vgl. ebd., S. 29), Topp 1982, S. 182 f., Scholem 1986, S. 167, 182, 186 f., 191–193, 195 f., 201–204, ders. 1993, S. 356, 362–367, 372, 376, 380, 382–384, Friedman 1999, S. 67, Pourshirazi 2008, vor allem S. 56–61, ferner Wehr 1978, S. 11 f., 17 f., 20, 45– 47, 50, 53 f., 61 f., 68, 71–73, 75, 80–83, 87–89, 91 f. (in Bezug auf Bubers Ausführungen zum Baalschem vgl. ebd., etwa S. 87, 94 und 103). 375 „Bergson spricht von einer ‚aktiven Mystik‘. Wo wäre sie, wenn nicht hier! Nirgends sonst ist die Wesenshandlung des Menschen so innig mit dem Geheimnis des Seins verbunden worden. Und eben deshalb wird hier und nur hier der modernen Welt die zulängliche Antwort auf ihre heimliche Frage gegeben.“ (HF 172) Diese „heimliche Frage“ an die Religion lautet: „‚Daß ich an die Wirklichkeit, an das Bestehen, an die Existenz glauben lerne? Glauben lerne, daß mit der Wirklichkeit etwas gemeint ist, daß das Bestehen irgendwohin zielt, daß es Sinn hat, dazusein?‘“ (HF 163) 376 Siehe zu besagter „antiasketischen Tendenz“ (CB 810) der Mystik des Chassidismus auch JM 15, LC 41, EZ 90 f., 94, 96, 98 f., 102, 129 f., CCG 958, DC 978, RN 899, GJ 196 f., A 627 f.; vgl. dagegen zur Kasteiung beispielsweise EZ 167, 173 f., 190, 224, 260 f., 273, 315, 350, 376 f., 385, 412, 470 f., 582, 690 sowie Wehr 1978, S. 29, 64, 67 und 74. 377 Dementsprechend erläutert Wehr, es handle sich bei der Frömmigkeit der Chassidim „nicht um eine asketisch-verzichtende, sondern um eine liebend-bejahende

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

Wehr bekräftigt Bubers These der chassidischen als „einer welt- und schöpfungszugewandten werkfreudigen Mystik“ 378, deren Appell zur Aktivität im Alltag „buchstäblich alle Sphären des menschlichen Lebens erfaßt und die die Mitte des alltäglichen Lebens eines jeden Menschen zum Ort der Erlösung macht“ 379. Auf welche Weise sich das diese explizite Alltagsmystik konstituierende menschliche Handeln im Detail gebärdet, wird in Kapitel II.4 zu klären sein. Zunächst ist anhand der nachstehenden Passage noch einmal die basale Differenz zu klassischen mystischen Strömungen gegenüber dem Chassidismus zu plausibilisieren: Letzterer konfrontiere uns mit einer Mystik, für die die Welt nicht ein Scheingebilde ist, von dem der Mensch sich abkehren müsse, um zum wahren Sein zu gelangen, sondern die Wirklichkeit zwischen Gott und ihm, an der sich die Gegenseitigkeit bekundet, der Gegenstand der schöpferischen Botschaft an ihn, der Gegenstand seines Dienstes, bestimmt, durch die Begegnung göttlicher und menschlicher Tat erlöst zu werden […]. Einer „Mystik“, die noch so zu nennen sein mag, weil sie die Unmittelbarkeit der Beziehung wahrt, die Konkretheit im Bund mit dem Absoluten hütet und den Einsatz des ganzen Wesens verlangt; man kann sie freilich eben darum auch Religion nennen. Ihr wahrer deutscher Name ist wohl: Gegenwärtigkeit. (BST 49 f.) 380

Der Inbegriff jener Gegenwärtigkeit, die der chassidisch-dialogisch Lebende zu erstreben angehalten ist, wird letztlich durch das Göttliche selbst repräsentiert. Auch in seinen philosophischen Schriften,

Frömmigkeit“ (Wehr 1978, S. 74). In Gottesfinsternis findet sich allerdings eine Passage, in der Buber Askese nicht gänzlich negiert (gleichwohl vermag ein rein asketisches Leben vor dem Hintergrund einer dialogisch-chassidischen Lebenshaltung aufgrund des „Abstrichs“ von Wirklichkeit nicht in Frage zu kommen): „Die Einrichtungsweise des Lebens und die Auswahl der zu bejahenden Lebenselemente hat sich hier verändert, aber nicht durch Lockerung des Verhältnisses zum Augenblick, das man vielmehr zu intensivieren sucht: man will das Verhältnis zum Augenblick auf dem Weg der Askese retten, weil man an der religiösen Bewältigung der nicht asketischen Elemente, also der Lebensfülle, verzweifelt, das heißt der Sinn in ihr nicht mehr aufgetan und erlangbar erscheint. Die asketische ‚Erhebung‘ ist etwas ganz anderes als die philosophische. Auch sie ist eine Form der Konkretion, freilich eine durch Abstrich erzielte.“ (GF 531) 378 Wehr 1978, S. 10; vgl. auch ebd., S. 67: „Die Chassidim sind nicht passiv beschauliche, sondern aktive, weltzugewandte Mystiker.“ 379 Ebd., S. 20 380 Vgl. diesbezüglich auch ebd., S. 23.

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besonders in Ich und Du, verleiht Buber der Überzeugung Ausdruck, dass es, um der Gottesgegenwart inne zu werden, weder einer (per definitionem impraktikablen) „Verdinglichung“ und auf diese Weise „Verfügbarmachung“ des ewigen Du 381 in Form eines Glaubens- oder Kultobjekts bedarf (vgl. ID 155 f.), noch – entgegen mystischer Spekulationen – „eines Abstreifens der Sinnenwelt als einer Scheinwelt“ (ID 129) 382. Zudem erweise sich ein gezieltes Suchen Gottes als geradezu absurd, „weil es nichts gibt, wo man ihn nicht finden könnte“ (ID 131): Gott ist omnipräsent, er reicht dem Menschen permanent das zu „Beantwortende“ hin – „die Präsenzlosigkeit [existiert] nicht. Nur wir sind nicht immer da.“ (ID 145) Somit werde der Mensch Gottes in „der Wirklichkeit des geheiligten Weltlebens“ (ID 132) gewahr – jenseits einer systematischen „Suche“. Dementsprechend folgert Buber logisch stringent: „Wie töricht und hoffnungslos wäre einer, der vom Weg seines Lebens abwiche, um Gott zu suchen: ob er auch alle Weisheit der Einsamkeit und alle Macht der Sammlung gewänne, ihn verfehlte er.“ (ID 131) Es geht also nicht um ein gewaltsames Forcieren der Gottesbegegnung als solcher und isolierter, sondern vielmehr um die einsichtige Mobilisierung der zur Verfügung stehenden (Lebens)Kräfte, um sich in adäquater Weise den Belangen des täglichen Lebens widmen zu können: Hinsichtlich der Beziehung zum ewigen Du sollte der Mensch sich demnach verhalten, wie wenn einer seines Wegs geht und nur eben wünscht, es möchte der Weg sein […]. Gewärtig, nicht suchend, geht er seines Wegs; daher hat er die Gelassenheit zu allen Dingen und die Berührung, die ihnen hilft. Aber wenn er gefunden hat, ist sein Herz ihnen nicht abgewandt, ob ihm nun auch alles in einem begegnet. Er segnet alle Zellen, die ihn beherbergt haben, und alle, in denen er noch einkehren wird. Denn dieses Finden ist nicht ein Ende des Wegs, nur seine ewige Mitte. (ID 131)

In diesem Kontext sei abschließend auf einen Terminus verwiesen, welcher den Gedanken der gelebten (gott-menschlichen) Einheit inmitten des Alltags noch einmal untermauert und nicht zuletzt die allgemeine „Grundhaltung des Juden“ (CB 818) zum Ausdruck bringt: Es handelt sich um „den Begriff des Jichud, der ‚Einung‘“ 381 In Ich und Du definiert Buber das Göttliche als das „ewige Du“, „das seinem Wesen nach nicht Es werden kann“ (ID 128). 382 „Es gibt keine Scheinwelt, es gibt nur die Welt; die uns freilich zwiefältig erscheint nach unserer zwiefältigen Haltung.“ (ID 129)

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

(CB 818). 383 Dieser werde Buber zufolge stets fehlgedeutet, weshalb er es für geboten erachtet, dieses Grundprinzip jüdischen und insbesondere chassidischen Lebens klarzustellen: Für Buber ist von Relevanz zu prononcieren, dass besagtes „Jichud“ „keine besondere Formel oder Prozedur ist, sondern gar nichts andres als das gewohnte Leben des Menschen, nur gesammelt und auf die Einung als Ziel gerichtet“ (CB 818). 384 Ein modifiziertes, beinahe konträres Verständnis des „Jichud“ findet sich bei Bubers Schüler Gershom Scholem, der gleichsam dessen spirituelle Dimension stärker akzentuiert, aber auch an die potenzielle Alltagsbezogenheit anknüpft: Die kontemplativen Akte mystischer Konzentration des Geistes, die in der Sprache der Kabbalisten Einungen, hebräisch Jichudim, heißen, müssen nicht länger in Einsamkeit und Abwendung von der Welt vollzogen werden, sie können es auch auf dem Marktplatz und gerade in Bereichen, die dem Geistigen scheinbar entzogen sind. Gerade hier findet der wahre Chassid den vollendeten Schauplatz für eine vollendet paradoxe Leistung. 385

In dem Ansinnen Bubers, jene „Leistung“ als keineswegs paradoxe, sich vielmehr in jeglicher (noch so „profanen“) Tätigkeit des Alltags unzweifelhaft manifestierende plausibel zu machen, sieht Scholem das „zentrale[n] Prinzip von Bubers Deutung des Chassidismus“ 386. Entsprechend betont Buber in Bezug auf die Methode des „Jichud“ wiederholt: „Es geht um die unablässig erneute Bestätigung der göttlichen Einheit in der Vielfältigkeit der Erscheinungen, und zwar

Siehe zum Begriff des Jichud beispielsweise CB 816–821, GJ 188 f. und 196 sowie Kohn 1961, S. 82, Scholem 1986, S. 200–202, Wehr 1978, S. 72 f. und 83. 384 Zudem akzentuiert Buber: „Es ist von grundlegender Wichtigkeit, den eigentümlichen Begriff des Jichud gegen den der magischen Handlung abzuheben. […] Der Jichud bedeutet die ewig neue Bindung der auseinanderstrebenden Sphären, die ewig neue Vermählung der ‚Majestät‘ mit dem ‚Reich‘ – durch den Menschen; das im Menschen lebende göttliche Element bewegt sich aus ihm zu Gottes Dienst, zu Gottes Absicht, zu Gottes Werk. Gott, in dessen Namen und Schöpfergebot der freie Jichud geschieht, ist sein Ziel und Ende, er selber nicht in sich, sondern in Gott kehrend, nicht isoliert, sondern mit dem Weltprozeß verschlungen, kein Kreis, sondern der Rückschwung der ausgesandten Gotteskraft.“ (CB 817) 385 Scholem 1986, S. 187; vgl. zum Aspekt des Jichud auch ebd., S. 200–202. Inwiefern sich Scholem in seinen auf den zitierten Passus folgenden Ausführungen kritisch zu Bubers Interpretation äußert, soll in diesem Kontext nicht thematisiert werden. 386 Ebd., S. 187. 383

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Das Primat der Lebenshaltung und Tat gegenüber Theorie und Lehre

ganz praktisch gefaßt: immer wieder geschieht durch menschliche Wahrnehmung und Bewährung […] die Einung […].“ (GJ 188 f.) Dem Facettenreichtum des Lebens, den Kreaturen und den Dingen nicht nur geeinten Wesens zu begegnen, sondern damit korrespondierend die Einheit Gottes in allen Erscheinungen praktisch tätig zu bestätigen, ist in der chassidischen Gemeinschaft offenbar die Person des Zaddik, des höchsten Rabbiners 387, prädestiniert: „Von dieser alldurchdringenden Macht des Jichud ist das Leben des Zaddiks getragen.“ (CB 818) Bevor nun Welt und Alltag thematisch gleichsam „zu ihrem Recht“ kommen sollen, bietet es sich an, im Kontext des Letzterörterten die Lebenshaltung der Zaddikim in ihrer exemplarischen Dimension kursorisch in den Blick zu nehmen.

3.

Lehre sein oder Vom Schuheschnüren: Das Primat der Lebenshaltung und Tat gegenüber Theorie und Lehre

„Es ist schlimm, die Lehre ohne die Tat zu haben, am schlimmsten, wenn es die Lehre der Tat ist. Das Leben im abgelösten Geist ist vom Übel, am meisten aber, wenn es der Geist des Ethos ist.“ (LT 667) 388 In Kapitel II.2 wurde vor dem Hintergrund der jüdischchassidischen sowie dialogischen Lehre bereits über die Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns im Allgemeinen reflektiert sowie die Koinzidenz von ethischem und religiösem Bereich herausgestellt. Zudem konnte gezeigt werden, dass es nicht in etwaigen Sphären mystischer Entrücktheit, jenseits des alltäglichen Lebens, sondern in diesem selbst, innerhalb gelebter Unmittelbarkeit (im Chassidismus speziell auf der Basis des erwähnten „Jichud“) um „die Erkennung, Anerkennung, Wiedererkennung der göttlichen Einheit [geht]. Nicht im Bekenntnis allein, sondern in der Erfüllung des Bekenntnisses.“ (GJ 189) An letzteren Aspekt gilt es, in diesem

Vgl. zum Begriff des Zaddik exemplarisch CB 814–827, 843 f., 856 f., 866–879, 887, 889 f., 892 f., RN 897, 900 f., 905, 918 f., 926 f., CAM 942–944, MW 963 f., 968, 972 f., DC 978–985 sowie Schatz-Uffenheimer 1963, S. 279, 284, 287 f., 293 und Scholem 1993, S. 364, 369–371, 375–383. 388 Siehe auch GF 585. 387

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

Kapitel inhaltlich anzuknüpfen, mit dem Fokus auf der paradigmatischen Lebenshaltung und -führung des Zaddiks, welche sich nicht im theoretischen Wissen, im Dozieren, Predigen und Instruieren, sondern vielmehr im buchstäblichen Verkörpern einer an der Signifikanz der Alltäglichkeit orientierten (Lebens)Lehre bekundet. Zunächst soll mittels eines flüchtigen Blicks auf Bubers Ausführungen zum biblischen Propheten, als dem Archetyp einer Verleiblichung des Wortes, ein erleichterter Zugang zu einem als symbolisch interpretierten Lebensvollzug sowie einer diesen fundierenden Grundhaltung bereitgestellt werden: In der jüdischen Bibel „wird uns erzählt, wie Gott immer wieder den Menschen anspricht und vom Menschen angesprochen wird“ (DHE 173). 389 Der Prophet (arabisch „Nabi“, hebräisch „Navi“ genannt) fungiert in der Konstellation zwischen Divinität und Menschheit (genauer gesagt, Menschenvolk) als anfänglicher Vermittler des göttlichen Wortes und gleichzeitig als Künder. (Vgl. CB 830 f.) 390 In Ausübung dieser Funktion(en) solle laut Buber idealiter „die ganze menschliche Person […] ihm [Gott] wie ein Mund sein“ (CB 832) – womit das primäre Charakteristikum des biblischen Propheten benannt wäre, sich manifestierend in dem Umstand, dass der Prophet „nicht mit seinen Sprachwerkzeugen allein, vielmehr mit seinem ganzen Wesen und Leben, Sprecher der ihn durchwehenden heimlichen Stimme, jenes ‚verschwebenden Schweigens‘ (I Könige 19, 12) [ist]“ (CB 832): Das heißt, in genuin dialogischer Weise gibt nicht lediglich das (rein) Verbale den Ausschlag, sondern die physische wie geistig-seelische Gesamtkonstitution ist Sprache im weitesten Sinne – „die ganze personhafte Gesprochenheit gehört dazu, der ganze sprechende Menschenleib, der in sich beseelte und nun von der Ruach, dem Pneuma begeistete, die ganze Existenz dieses Menschen gehört dazu, der ganze Mensch ist Mund“ (CB 832). Diese Erscheinungsweise des Propheten, mit der das Volk konfrontiert wird, begründet sich durch sein spezifisches Amt der Verkündigung der „Entscheidungsmächtigkeit des Augenblicks“ (CB 389 An dieser Stelle ist das Ansprechen (in erster Linie) in direktem Sinne zu verstehen, nicht primär in oben beschriebener Bedeutung des Ansprechens durch die situativ zugereichten Situationen. 390 „Den Nabi gibt es nur in der Beziehung zwischen Gottheit und Menschheit, als den Mittler der Sprache, den ‚Träger des Wortes in der Vertikalen‘, und zwar nicht bloß von oben nach unten, den Bringer göttlicher Botschaft, sondern auch von unten nach oben: als ‚Künder‘ […].“ (CB 830 f.)

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Das Primat der Lebenshaltung und Tat gegenüber Theorie und Lehre

834), 391 auf welche im Rahmen der Erörterung der menschlichen Freiheit, des Antwortgeben- und -versagenkönnens, bereits hingewiesen wurde: Hierfür ist explizit jene symbolhafte Verleiblichung des Wortes erforderlich, denn „das gesprochene Wort [Gottes wie auch des Propheten] vollendet sich im Zeichen zu seiner Leiblichkeit. Das gesprochene Wort selbst gehört mit dazu, aber eben in seinem Gesprochenwerden: als Teil einer leibhaften Haltung und Handlung.“ (CB 835) 392 Analog zu der in Bezug auf die situative Anrede Gottes an den Einzelnen sowie dessen Glaubensverhältnis registrierten generellen Unmöglichkeit eines (entscheidungsunterstützenden) „Nachschlagens“, „was in dieser Stunde da zu tun ist“ (FE 248), 393 gilt Folgendes sowohl hinsichtlich des von Gott zur Verleiblichung gesendeten „Zeichens“ als auch jener zeichenhaften Verleiblichung durch den Propheten selbst: 394 „Das Zeichen ist 391 „Der Nabi redet zu den Menschen einer Situation auf die gegenwärtige Entscheidungsmächtigkeit dieser Menschen hin.“ (CB 834) 392 „Die Prophezeiung des Nabi, die keine Wahrsagerei, sondern deren genaues Gegenteil ist, intendiert ein Geschehen, dessen Eintreffen oder Ausbleiben am Entweder-Oder des Augenblicks hangt. Solcherweise intendiertes Geschehen aber läßt sich nur durch zeichenhaftes Geschehen adäquat aussprechen. Der Entscheidungsfülle und Entscheidungsmächtigkeit des Augenblicks als eines Ursprungs von Geschehen kann daher nur ein zeichenhaftes Geschehen, eine ‚sinnbildliche Handlung‘ gerecht werden. Von da aus sind all jene Zeichenhandlungen der biblischen Propheten zu verstehen, von so flüchtigen, wie wenn Jeremia vor den Ältesten einen Schöpfkrug zerbricht oder Ezechiel zwei Hölzer zusammenfügt, bis zu lebensmäßig eingreifenden, wie wenn Hosea eine Dirne heiratet und den Kindern aus dieser Ehe Unheilsnamen gibt.“ (CB 836) Siehe zu der im Kontrast zum Orakel stehenden Prophezeiung des Nabi auch folgenden Passus: „Die Antwort des Orakels ist Vorhersage einer unabänderlichen Zukunft, der Einspruch des Nabi meint die Unentschiedenheit und Entscheidungsmächtigkeit der Stunde. […] [Ü]berm freien Schwingen der menschlichen Erwiderungen auf die antretenden Begebenheiten hält der Gott geheimnisvoll die schützenden Hände: seine Macht, die größer und geheimnisvoller als die dogmatische formelhafte ‚Allmacht‘ ist, vermag dem Augenblick der Kreatur eine Mächtigkeit auszusparen.“ (CB 833) 393 Zur Bekräftigung dieses insbesondere in Kapitel II.2.1 auseinandergesetzten Aspekts sei zudem folgende Sentenz angeführt: „Wohl ist das Glaubensverhältnis kein Regelnbuch, in dem man jeweilen nachschlagen kann, was in dieser Stunde da zu tun ist.“ (FE 247 f.) 394 Zeichen bedeute in biblischer Hinsicht „Verleiblichung“ (CB 835) – und zwar sowohl Gottes auf den Menschen zu als auch des Menschen auf Gott zu: So ersuche der Mensch Gott um ein Zeichen – will heißen, um „Leiblichkeit der Botschaft“ (CB 835) – und Gott fordere vice versa den Menschen heraus, sich gleichsam zu „verleiblichen“, „also aus ihm heraus[zu]holen, was in ihm steckt, ihn zur Darstellung [zu] bringen“ (CB 835). Letzteres deshalb, da sowohl (insbesondere der pro-

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

nicht übersetzbar, nicht durch Wort ersetzbar, man kann in keinem Zeichenbuch nachschlagen, was ein Zeichen bedeutet […].“ (CB 835) Essenziell für das in Rede stehende Thema ist vor allem nachfolgende resümierende Konstatierung Bubers bezüglich der Existenz des Propheten: „Der Nabi handelt nicht bloß zeichenhaft, er lebt zeichenhaft. Nicht was er tut, ist letztlich das Zeichen, sondern indem er es tut, ist er selber das Zeichen.“ (CB 837) 395 Diese „Gewalt der zeichenhaften Haltung und Handlung“ (CB 834), welche letztlich in einem zeichenhaften Leben als solchem kulminiert, verweist zum einen auf die von dem Propheten ebenfalls proklamierte „Heiligkeit der Tat“ (EJ 31) 396 – dementsprechend „stand schon in uralter Zeit im Mittelpunkt der jüdischen Religiosität nicht der Glaube, sondern die Tat“ (EJ 36). 397 Diese bedeute allerdings keineswegs „seelenlose Werkheiligkeit oder sinnfremde Zeremonien […]; vielmehr war jede Tat, auch die geringste und scheinbar gleichgültigste, irgendwie auf das Göttliche bezogen […]“ (EJ 36). 398 So erzeigt sich zum anderen – wie in Gottesfinsternis zu lesen ist – die über den (theoretischen) Glauben hinausgehende Glaubensintention respektive Wesenshaltung des Menschen, dessen praktischen Lebensvollzug fundierend, als das Zentrale: „Was in Isphetische) Mensch als auch Gott begehrten, „daß der Geist sich vollkommener, eigentlicher als im Wort ausspreche, daß er sich verleibliche“ (CB 835). 395 Siehe zur Symbolik des Nabi respektive Propheten CB 829–838 sowie zu der sakramentalen Existenz in der Welt des Chassidismus den gleichnamigen Abschnitt in CB 838–849. 396 So plädiert Buber seinerzeit in der selben Rede über „Die Erneuerung des Judentums“ – in Bezug auf die ‚neue‘ Lehre, die die ‚alte‘ im Sinne der ursprünglichen wieder aufleben zu lassen sucht – dafür, „daß sie der Tat die ihr ursprünglich zugedachte Freiheit und Weihe, die durch die karge Herrschaft des Zeremonialgesetzes geschmälert und verdunkelt worden ist, wiedergeben, die Tat aus der Enge der sinnlos gewordenen Bestimmungen zur Heiligkeit der tätigen Gottverbindung, zur Religiosität der Tat befreien will“ (EJ 38). Vgl. zur Relevanz der Tat auch EJ 31, 33 f., 36–42, 45 f., ferner 28. 397 „Dies darf ja wohl überhaupt als ein fundamentaler Unterschied zwischen Orient und Okzident angesehen werden: für den Orientalen ist die Tat, für den Okzidentalen der Glaube die entscheidende Verbindung zwischen Mensch und Gott. Dieser Unterschied hat sich beim Juden besonders nachdrücklich ausgeprägt.“ (EJ 36) Gleichwohl lehrte – laut Buber – auch das Urchristentum, „was die Propheten lehrten: die Unbedingtheit der Tat. Denn einer großen Religiosität ist letztlich nicht daran gelegen, was getan wird, sondern daran, ob es in menschlicher Bedingtheit oder in göttlicher Unbedingtheit getan wird.“ (EJ 38) 398 Dieser Aspekt der Signifikanz scheinbar unwesentlicher Tätigkeiten wird vor allem in Kapitel II.4.2 im Zentrum stehen.

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rael den Kern der prophetischen Lehre bildete, war das aus der vollen Glaubensintention zu vollbringende Werk des Lebens […].“ (GF 584) 399 Der sich an dieser Stelle des Weiteren konturierende Nexus von Lehre und Tat gipfelt wiederum in der Maxime der „Einheit von Lehre und Leben“ (LT 666), die Buber in seiner Frankfurter Lehrhausrede „Die Lehre und die Tat“ 400 aus dem Frühjahr 1934 als ein weiteres maßgebliches Charakteristikum des Judentums herausstellt: Hier, wenn irgendwo, geht es nicht an zu lehren und zu lernen ohne zu leben. Die Lehre darf nicht als eine Sammlung von Wißbarkeiten behandelt werden, sie will nicht so behandelt werden. Sie besteht in dem verantwortenden Leben der Person oder sie besteht nicht. Die Lehre meint nicht sich selbst, will nicht sich selbst, sie meint und will die Tat, worunter natürlich kein „Aktivismus“ zu verstehen ist, sondern das Leben in der Erfüllung, das Leben, das nach dem wechselnden Vermögen seiner Stunden die Lehre eingestaltet. (LT 665 f.) 401

Im Chassidismus, in seiner ursprünglichen Erscheinungsform, sieht Buber schließlich „eine Erneuerung der Tatidee […]. In der Tat offenbart sich ihm der wahre Sinn des Lebens.“ (EJ 39) Diese These wird dadurch substanziiert, dass es „hier in noch deutlicherer und tieferer Weise […] nicht darauf an[komme], was getan wird, son399 In „Der Glaube des Judentums“ spezifiziert Buber diese These wie folgt: „Glaube, der mit dem Dativ konstruiert wird, der also, der Vertrauen und Treue bedeutet. Damit hängt es zusammen, daß ich nicht von einer jüdischen Theologie ausgehe, sondern von der tatsächlichen Wesenshaltung des gläubigen Juden bis auf unsere Zeit.“ (GJ 187) 400 Zum Chassidismus siehe LT 667. 401 Weiters führt Buber diesbezüglich aus: „Gegen ihn [Gott] als den Geber und Sinngeber des Daseins vergeht sich nach unserm Glauben die Lehre, die an sich selbst Gefallen, an sich selber Genüge findet, die Bauten, wie monumental sie auch sein mögen, über dem Leben errichtet, ohne in der Fragwürdigkeit der gelebten Stunde den äußern und innern Widerständen ein Stück Verwirklichung, wie klein auch, abzuringen.“ (LT 666) Gleichwohl sei es problematisch, sich gänzlich „vom Geiste los[zu]sagen, ja in […] Unabhängigkeit von ihm die Bürgschaft des Erfolgs [zu] erblicken“ (LT 668). Die Einseitigkeit der Tat jenseits der Lehre sei demnach ebenfalls zu verneinen: „Wir leben in einer Zeit, in der die Tat sich über die Lehre erhoben hat. Das heutige Geschlecht der Völker vermeint immer rückhaltloser, ohne die Lehre, mit einem Tun, das es eben für das rechte hält, auskommen zu können.“ (LT 668) Den Königsweg repräsentiert für Buber demnach folgende Devise: „Die Lehre nicht ohne die Tat, aber die Tat auch nicht ohne die Lehre!“ (LT 670) Vgl. zum Aspekt des Geistes auch LT 663 f. und 666, ferner zum „jüdischen Aktivismus“ LT 667, GJ 191 f. sowie BJS 209.

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

dern jede Handlung, die in Weihe, das heißt: in der Intention auf das Göttliche geschieht, ist der Weg zum Herzen der Welt“ (EJ 39). 402 In dieser Hinsicht ergibt sich betreffs der Signifikanz der Tat im Chassidismus folgende Bilanz: „Die Seele des Täters allein bestimmt das Wesen seiner Tat. Damit erst ist die Tat in Wahrheit zum Lebenszentrum der Religiosität geworden. Und zugleich wird das Schicksal der Welt in die Hand des Täters gelegt.“ (EJ 39) In letzterem Aspekt sieht Buber eine der Tat im Chassidismus immanente, elementare „Machtfülle und Erhabenheit“ (EJ 39), die ihresgleichen suche. 403 Die besondere Güte dieser religiösen Bewegung resultiere somit aus ihrem Spezifikum, in erster Linie „nicht eine Lehre, sondern eine Lebenshaltung“ (CB 758) 404 zu repräsentieren, welche – basierend auf dem ausgeprägten (ethischen) Bewusstsein der Würde sämtlicher Verrichtungen des (täglichen) Lebens sowie der Lebewesen und Dinge – zur Generierung „eines neuen Lebensprinzips“ (CB 761) 405 geführt habe. Diese „Art von Leben“ (CAM 936) ver402 Dieser Aspekt wird en détail in Kapitel II.4.2, besonders II.4.2.2, auszuführen sein. Vgl. hierzu auch Wehr 1978, S. 31: „Der allein Tätige ‚schafft‘ es jedoch nicht. Denn alle sinnvolle Tat bedarf einer bestimmten Intention, einer Ausrichtung auf den hin, dem sie dient.“ 403 Lediglich in der altindischen Religiosität findet Buber eine vergleichbare Bedeutsamkeit der Tat, jedoch „freilich in ganz anderer Art“ (EJ 39) als im Chassidismus. 404 Auch zwei Seiten weiter in der Chassidischen Botschaft heißt es, dass „der Chassidismus in erster Reihe nicht eine Kategorie der Lehre, sondern eine des Lebens bedeutet“ (CB 760). Siehe hierzu auch die Erläuterung von Wehr: „Am Anfang der chassidischen Bewegung steht kein Gesetz und keine Lehre, sondern die Spontaneität eines begeisterten Lebens.“ (Wehr 1978, S. 67; vgl. auch ebd., S. 17) In ähnlicher Weise argumentierte bereits Hans Kohn: „Kein neues Gebot ist erlassen, keine neue Lehre verkündet worden. Alles Überlieferte ist aber neu beseelt worden. […] Dies ist Weltfrömmigkeit. Leben in Gott und Leben in der Welt fallen nicht mehr auseinander. Es gibt keine Eigengesetzlichkeit der Lebensgebiete vor Gott.“ (Kohn 1961, S. 78) 405 Vgl. zum Chassidismus als Lebenshaltung und dem Primat der Tat gegenüber der Lehre exemplarisch EZ 74, 79–88, 91–93, 95, 97–102, 127, 129 f., 215 f., 222–225, 243 f., 249, 287, 390, 392, 401, 403 f., 408, 446, 450, 453, 499–501, 551, 554 f., 560, 574, 589, 594 f., 600, 603, 615 f., 623, 625, 632, 634, 636, 649, 664 f., 669 f., 676, 680, 684 f., 693, 699, 711, CB 758–767, 769–790, 795–802, 810, 813–819, 824, 826–828, 841–844, 846–849, 870 f., 885–887, RN 897–900, 902, CAM 936–947, CCG 958, MW 961– 965, 967 f., 972 f., DC 977–988, NDC 991, 994, 997 f., GM 1048–105, ferner EZ 284, 537, 552, 614, 650, 680, 689–692, 698, CB 880, GM 1015 f., 1074, 1100 f., 1128–1130; Siehe auch Wehr 1978, etwa S. 17, 27, 32 f., 47, 52, 64, 67–69, 80–85 (in Bezug auf Bubers Darlegungen S. 80–82, 84 f., 88 f., 99–101, 108 f.) sowie Scholem 1993, zum Beispiel S. 360 f., 366 f.

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möge allerdings „durch das Wort nur angedeutet, in seiner substantiellen Wahrheit aber nur durch die Bewährung dargelegt werden […]“ (CB 813). 406 Prägnant expliziert Gerhard Wehr Bubes Sichtweise der Relation von Lehre und Leben im Chassidismus: Das Eigentliche am Chassidismus ist für ihn nicht eine Lehre, sondern ein Leben [im Orig. gesperrt], ein Ethos, eine Lebenspraxis. […] Nicht eine Lehre bestimmt die Maxime für den Lebensvollzug, sondern es trifft eher das Umgekehrte zu: Die Spontaneität, die allem Leben in der Welt innewohnt, und der hingebungsvolle Umgang mit den Menschen und Dingen dieser Welt begründet „Lehre“. 407

Auf der Grundlage dieses Interpretationsansatzes ist es Buber von primärer Relevanz, seine Darstellung des Lebens der Chassidim solchermaßen zu konzipieren, „daß es zugleich als Wirklichkeit sichtbar und als Lehre vernehmlich wird. Auch wo ich die Theorie reden lassen mußte, konnte ich sie auf das Leben rückbeziehen.“ (CAM 937) 408 Es galt demnach, jener den „chassidische[n] Sinn“ (GM 1256) wesentlich dominierenden und konstituierenden „Einheit von Außen und Innen, von Leben und Lehre“ (GM 1256) beziehungsweise „von Leben und Wort“ (EZ 127), inhaltich wie formal Rechnung zu tragen. Zu seiner spezifischen Diktion kommentiert Buber weiters: „Ich habe die Botschaft des Chassidismus nicht in dichte Begrifflichkeit umgesetzt; ich war bestrebt, wie seine epische Essenz, so auch seine mythische zu bewahren.“ (CAM 946) 409 Be406 Analog betont Buber beispielsweise in „Der Chassidismus und der abendländische Mensch“, dass der Chassidismus „nicht eine Lehre war, die von ihren Anhängern in dem oder jenem Maße verwirklicht wurde, sondern eine Art von Leben, zu der die Lehre den unerläßlichen Kommentar abgab“ (CAM 936). Zudem liest man in der Abhandlung „Zur Geschichte des dialogischen Prinzips“, das Leben der Chassidim ereigne sich in „einer Glaubenswelt, deren wichtigste Lehren letztlich der Kommentar zu einem gelebten Leben sind“ (GDP 305). 407 Wehr, Gerhard: Martin Buber in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1968 (Rowohlts Monographien; Bd. 147), S. 57 f. 408 Buber will seine Erzählungen der Chassidim – wie er einleitend zu diesen artikuliert – verstanden wissen „als Ausdruck und Dokumentation des Umgangs zwischen Zaddikim und Chassidim, als Ausdruck und Dokumentation des Lebens der Zaddikim mit ihren Chassidim“ (EZ 78 f.). 409 Gerhard Wehr kommentiert in Bezug auf seinen eigenen Versuch, „einzelne Faktoren chassidischer Geistigkeit, die in das Leben gestaltend eingreift […], [–] zu benennen“ (Wehr 1978, S. 68): „[J]edes Benennen, jede Systematik macht notgedrungen aus dem Lebendigen etwas Totes, aus dem Weltkonkretum etwas Begrifflich-Abstraktes; impulsierende Dynamik erscheint auf eine in sich abgeschlossene Statik reduziert. Das gelebte Leben entweicht. […] Denn im Grund bleibt jeder

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züglich dieses Aspektes weist Wehr an anderer Stelle darauf hin, Buber akzentuiere, „daß Lehre nicht in dem alltäglichen Sinn als ‚lehrhaft‘ darzustellen sei. Man dürfe die von ihm gemeinte, den chassidischen Erzählungen eingewobene Lehre nicht mit einem Gedankensystem verwechseln.“ 410 Damit korreliert, was Buber hinsichtlich der „Sprache“ des exemplarischen (Lebens)Geschehens, auf das er sich in seinen theoretischen Arbeiten zum Chassidismus bezieht und das er in seinen epischen Werken rekonstruiert, präzisierend erläutert: „Und zwar sagte es dies nicht didaktisch, am Vorgang hing keine ‚Moral‘, sondern dieser redete, wie eben ein Lebensvorgang redet, und war ein Spruch dabei, so wirkte auch der wie ein Lebensvorgang.“ (CAM 937) Das Paradebeispiel einer Lebensführung, die sich gleichsam als Lehre äußert, bildet jene des Zaddiks, welcher als (besonders) „Gerechter“ beziehungsweise „Bewährter“ seiner „Heilsaufgabe gesammelter als die anderen [Menschen] zugewandt ist“ (CB 815) und dem aufgrund dessen die Führerschaft der chassidischen Gemeinde auferlegt ist. 411 In sowohl historisch-chronologischer als auch ideell-qualitativer Hinsicht ist hier allen voran der bereits erwähnte Gründervater der chassidischen Bewegung 412 zu nennen: „Der Baalschem gehört zu jenen zentralen Gestalten der Religionsgeschichte, die dadurch gewirkt haben, daß sie in einer besonderen Weise lebten, nämlich nicht von einer Lehre aus, sondern auf eine Lehre zu, in solcher Weise, daß ihr Leben als eine Lehre wirkte […].“ (CB 758) Dieses „dynamische, impulsgebende Element,

sachlich schildernde Bericht, jedes Buch ‚über‘ den Chassidismus dem Eigentlichen doch ziemlich fern.“ (Ebd.) 410 Ebd., S. 99. (Analoges konstatiert Buber bezüglich seiner Dialogphilosophie; vgl. dazu Anm. 37 der vorliegenden Arbeit.) Siehe hierzu auch die Einschätzung Hans Kohns: „Buber brachte Europa im Chassidismus nicht eine Mystik als konstruktive Lehre, sondern er gab aus seiner eigenen geschichtlichen Verbundenheit das Bild einer gottesinnigen Wirklichkeit, wie sie vor gar nicht langer Zeit gelebt und gestaltet worden war. Es war nicht üppig wuchernder Gedanke und modernes System, sondern Nachbildung eines Vorbilds und aus Leben verdichtetes Wort.“ (Kohn 1961, S. 68) 411 „Wer dieser Aufgabe, die in jeder Stunde und an jedem Orte an ihn herantritt, gesammelter gegenübersteht, wessen ihm zur Verantwortung zugewiesene Umkreis größer ist, ist der Führer, der Zaddik.“ (Ebd., S. 83) 412 Siehe Anm. 374 der Arbeit.

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das […] der Beispielhaftigkeit seines Lebens innewohnt“ 413, verleiht wiederum der Tatsache Ausdruck, dass der Baalschem keineswegs in Abkehr oder gar eremitischer Isolation von Welt und alltäglichem Leben, sondern – ganz im Gegenteil – „in der Welt und mit der Welt lebt, und daß eben dies, das Leben in der Welt und mit der Welt, zum innersten Kern seiner Glaubenshaltung gehört“ (CB 759). 414 Zudem ist ein solches Leben nicht auf das auf den ersten Blick „Monumentale“ – will heißen, die extraordinären Begebenheiten – fokussiert, vielmehr gebührt dem „Profanen“ und Naheliegenden, dem Unauffälligen, sogenannten Einfachen, „Gewöhnlichen“ (vgl. etwa CB 812 sowie GM 1083), mit dem eine gänzliche Identifizierung angestrebt wird, oberste Priorität. Ein derlei strukturiertes Dasein stellt nicht auf einen spezifischen Effekt ab, „es ist nur eben, wie es ist, und darum wirkt es, was es wirkt. Und wohl deutet es sich selber in einer Lehre aus, wie man einen überlieferten Text ausdeutet, aber es intendiert damit nicht sich selber, sondern die Wahrheit.“ (CB 787) Die Charakteristika und Qualitäten dieser ganz und gar authentischen Existenzform, welche sich zum Fundament der chassidischen Bewegung und letztlich eines allgemeingültigen idealen „Lebensmodells“ an sich formieren (sollten), dekliniert Buber schließlich in der Chassidischen Botschaft wie folgt durch: Das persönliche Dasein, das solche Wirkung übt, kann nur ein „naives“ sein, das heißt, ein Dasein, das ganz auf seinen Gegenstand gerichtet ist; es kann nicht ein „reflexives“ sein, das heißt eins, das sich mit seinem eigenen Problem befaßt. Es kann aber auch kein theoretisches sein, das heißt eins, das den Gegenstand, auf den es gerichtet ist, dadurch erfassen will, daß es von der Wirklichkeit abstrahiert oder mystisch-kontemplativ hinter die Wirklichkeit zu dringen sucht. Es kann nur ein vitales Dasein sein, das unmittelbar mit der Wirklichkeit lebt und in diesem schlichten Leben mit der Wirklichkeit denkt, was es denkt, und betrachtet, was es betrach413 Wehr 1978, S. 34; vgl. hierzu auch ebd., S. 82: „Die Bedeutung des Baal-Schem ist eben nicht die eines Theoretikers oder eines Lehrers im heutigen Sinn des Wortes. Was aus ihm und aus dem Mund seiner Schüler spricht, was ihr beispielhaftes Tun und Leben beherrscht, ist nicht absichtsvoll geplant. Es entstammt nicht dem Bereich der Ratio allein, sondern tieferen Schichten der Person und des Bewußtseins.“ 414 So heißt es exemplarisch in der Chassidischen Botschaft: „[M]an dient Gott, indem man seiner Kreatur hilft, man hilft der Kreatur, indem man sie zu Gott führt, und diese Führung geht nicht übers Leben hinweg, sondern mitten durchs Leben.“ (CB 770)

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

tet: nicht mehr und nicht weniger, als was ihm die Konkretheit dieses Lebens darbietet. Diese Naivität, Vitalität, Schlichtheit und Unmittelbarkeit bilden den persönlichen Kern, um den sich die Grundlagen der neuen Bewegung ansetzen. (CB 787) 415

Diese grundlegende Maxime, Lehre mittels des eigenen Lebensvollzugs praktisch zu realisieren, sucht Buber dem Leser seiner Schriften zum Chassidismus exemplarisch anhand der Zaddikim zu tradieren, deren „Lehre“ direkt „durch ihr Leben weitergetragen wird, zu dem alles, was sie sagen, nur Randbemerkung ist“ (CB 759). Bezüglich des Aspekts des „Lehre-Seins“ respektive des Primats der Praxis gegenüber der Theorie, finden sich – wie zu Beginn des Kapitels erläutert – im Kontext der ebenfalls bereits angeführten „‚sinnbildlichen […] Existenz im Judentum‘“ 416 auch in diversen Schriften zu letzterem verschiedene Anknüpfungspunkte, so etwa in „Die Brennpunkte der jüdischen Seele“, wo Buber konstatiert: „Man dient eben Gott nicht mit dem Geist, sondern mit der ganzen Wesenswirklichkeit ohne Abstrich.“ (BJS 206) Des Weiteren liest man in oben zitierter Frankfurter Lehrhausrede, das geistige Besitzen von Lehre „gewinnt seinen Wert erst, wenn und insofern es als herrschender Tatantrieb in der Wirklichkeit steht“ (LT 666). 417 Diese Theorie kulminiert in der richtungweisenden, mittels eines eingängigen Gleichnisses 418 illustrierten Feststellung, Weisheit bemesse sich im Allgemeinen anhand der Prävalenz der Taten des Einzelnen (die selbstverständlich in oben charakterisierter Weise auch intentional jeweils qualitativ hochwertig auszufallen haben) gegenüber dessen (theoretischem) Wissen (nachfolgend in etwas irritierender Formulierung gleichbedeutend mit Weisheit): „Wessen Taten mehr sind als seine Weisheit, dessen Weisheit besteht; aber wessen Weisheit mehr ist als seine Taten, dessen Weisheit besteht nicht.“ […] Nicht der Umfang des geistigen Besitzes also gilt, nicht die Gründlichkeit der Kenntnis und nicht die Schärfe des Gedankens, sondern, daß

Viele der genannten Aspekte sind ebenfalls für die in Adalbert Stifters Nachsommer vertretene Lebensanschauung und -haltung charakteristisch. 416 Zitiert nach: Wehr 1978, S. 101. Zum Exemplarischen vgl. auch ebd., S. 100. 417 Dementsprechend bestätigt Kohn besonders in Bezug auf den Chassidismus, „wichtiger als das Gewand der Lehre, für die Gott das völlig Andere, das nicht in die Kategorien unserer Logik Eingehende und Faßbare ist, ist das Tun des Menschen“ (Kohn 1961, S. 81). 418 Siehe diesbezüglich die nachfolgende Fußnote. 415

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Das Primat der Lebenshaltung und Tat gegenüber Theorie und Lehre

man, was man weiß, so wisse, und was man meint, so meine, daß es sich unmittelbar ins gelebte Leben umsetzt und in die Welt wirkt. (LT 667) 419

Prinzipiell geht es somit nicht vordergründig darum, Wissen über das Göttliche, den Glauben oder die Lehre zu akkumulieren, sondern vielmehr in gänzlich redlicher, lauterer Weise zu leben und zu handeln, denn „nicht das Wissen entscheide über den Rang eines Menschen, sondern die Reinheit und Weihe seiner Seele, das ist: seine Gottnähe“ (JM 18). Folglich ist die Erfüllung dieses Postulats letzten Endes keiner geistigen Elite vorbehalten, sondern es ist auch dem „Normalsterblichen“ vergönnt, die „richtige“ Richtung einzuschlagen und adäquat zu realisieren, wie aus den Erzählungen der Chassidim unmissverständlich hervorgeht: „Dazu brauchst du kein Lehrkundiger, kein Weiser zu sein: nichts ist not als eine in sich einige, ungeteilt auf ihr göttliches Ziel gerichtete Menschenseele.“ (EZ 81) 420 Diese Auffassung reiche „bis in die abschließende chassidische Formulierung, der einfältig Handelnde [werde] dem erfüllungsarmen Gelehrten vorgezogen“ (LT 667). 421 419 Den Mittelteil des Gleichnisses erläutert Buber wie folgt: „Und weiter im Gleichnis: ‚Wessen Weisheit mehr ist als seine Taten, wem gleicht der? Dem Baum, der viele Zweige und wenige Wurzeln hat. Der Wind kommt und reißt ihn aus und wirft ihn hin. Wessen Taten aber mehr sind als seine Weisheit, wem gleicht der? Dem Baum, der wenige Zweige und viele Wurzeln hat. Mögen auch alle Winde der Welt kommen und drein blasen, sie rühren ihn nicht von seinem Ort‘.“ (LT 667) 420 „Die neue Lehre [des Chassidismus] war mehr als eine erlernbare Doktrin oder eine theologische Schulweisheit. Sie sprach den Menschen vor allem in seinen Gefühls- und Willensbedürfnissen an und stellte die lange vermißte Unmittelbarkeit des religiösen Erlebens wieder her.“ (Wehr 1978, S. 17) Siehe zur geeinten Seele auch die Ausführungen im vorstehenden Kapitel. 421 Wehr kommentiert dies wie folgt: „Einfalt gewinnt unversehens eine doppelsinnige Bedeutung. Einfalt meint nicht nur die Schlichtheit und die Naivität des Gemüts, sondern vor allem die Weise, in fragloser Hingabe in einfältigem, das heißt in einem geeinten Sinn in allem Tun Gott […] zu erreichen.“ (Ebd., S. 89; vgl. auch ebd., S. 81 f.) Siehe auch die folgenden beiden Passagen aus der Chassidischen Botschaft: „Der ‚geistige‘, der hirntätige Mensch ist seiner Art nach dem Göttlichen nicht näher, ja er ist ihm, solang er die Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit seines Lebens nicht zur Einheit gesammelt, die Gewaltsamkeit seiner Mühe nicht zur Gelassenheit bewältigt hat, ferner als der Einfältige, der mit bäurischer Vertraulichkeit seine Sache auf den Himmel stellt.“ (CB 827) „Was einem wissenden Teil der Menschen vorbehalten, was den Einfältigen vorenthalten ist, kann nicht die lebende Wahrheit sein. Die chassidische Legende preist in herzhaftem, liebreichen Ton den einfältigen Menschen. Er hat eine einige Seele; wo Einigkeit der Seele ist, da will Gottes Einheit wohnen. Sakramentale Verbundenheit heißt Leben der Einheit mit der Einheit.“ (CB 844) Siehe zum (sogenannten) Einfältigen zum Beispiel auch

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

In emphatischer Manier demonstriert dies eine weitere Anekdote aus dem Leben des Baalschem, welche in einem frappanten Diktum gipfelt: „Es wird erzählt, der Baalschem sei einmal an der Schwelle eines Bethauses stehen geblieben, habe nicht eintreten wollen und habe mit Widerwillen gesprochen: ‚Da kann ich nicht hinein. Das Haus ist ja randvoll von Lehre und Gebet.‘“ (LC 29) Aus welchem Grund respektive auf welcher Argumentationsbasis wird per se davon ausgegangen, „»daß man im Himmel dein Lernen und Beten braucht? Vielleicht braucht man gerade dein Mühn und Kopfverdrehn!«“ (EZ 335) 422 Beten und Lernen seien von sekundärer Bedeutung – von primärer dagegen, „»Gott nicht [zu] erzürnen«“ (EZ 689) und – gemäß der Devise „Der Sinn des Lernens ist ja das Tun“ (EZ 615) – sich auf die tatsächliche Verrichtung guter Taten zu konzentrieren (vgl. etwa EZ 676 sowie EZ 699). 423 Nach Buber sei es dem Chassidismus „ganz besonders nicht um ein allgültiges Wissen des Seins und Sollens, nur um das Jetzt und Hier der menschlichen Person, den ewigneuen [sic!] Schoß der ewigen Wahrheit, zu tun“ (CB 804). Nicht die Vermittlung vordefinierter Normen und Gesetze werde fokussiert, sondern die Ausweisung des rechten Weges: 424 In diesem Sinne attestiert Buber allen seriösen, LC 31 („So ist jeder Dienst, der aus einer – schlichten oder geschlichteten – zwiespaltlosen Seele kommt, zureichend und vollkommen.“), BST 61, EZ 429–431, GM 1198, EJ 31, GJ 193, LT 670, A 629 f., 633, PR 1121, ferner EZ 400, 447 sowie in kritischer Hinsicht bezüglich Bubers Auslegung des „Einfältigen“ Scholem 1986, S. 182 f. Zuweilen scheint es gar, als würde eine regelrechte Panik geschürt, der Einzelne könne zu viel Wissen anhäufen, bis dieses schließlich die Taten gleichsam quantitativ überwiege, was folgende Anekdote aus den Erzählungen der Chassidim impliziert: „»Wäre es in meiner Macht, ich würde alle Schriften von Zaddikim verbrennen. Denn wenn einer viel Chassiduth weiß, wird seine Weisheit leicht größer als seine Taten.«“ (EZ 551; vgl. hierzu auch CB 887) 422 An anderer Stelle heißt es, „»daß was Gott recht eigentlich von dir empfangen will, nicht dein Beten und dein Lernen ist, nur eben dieses Seufzen deines gebrochenen Herzens darüber, daß die Mühsal deines Erwerbs dich im Dienste Gottes behindert.«“ (EZ 401) 423 In Bezug auf das Volk Israel ist zu lesen: „»‚Wir wollen tun und wollen hören.‘ [sic!] Mit unserm Tun hören wir.‘«“ (EZ 665) An dieser Stelle zeigt sich ein dialogischer Anklang, als mittels der Haltung – und (hier) zudem des Tuns – gleichsam auf Gottes Wort „gehört“ wird (respektive die göttliche Situationsansprache „beantwortet“ wird). 424 „Die Lehre selber ist Weg. Sie ist in keinem Buch, in keiner Satzung, in keiner Formung umfaßt.“ (LT 670) Analoges konstatiert Buber in Ich und Du in Bezug auf Buddha: „Wie alle rechten Lehrer, will er keine Ansicht, sondern den Weg lehren.“ (ID 139) Zur wahren Lehre vgl. auch ID 105 f. sowie zu Buddha GF 522.

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Das Primat der Lebenshaltung und Tat gegenüber Theorie und Lehre

wahrhaftigen religiösen Strömungen das Bestreben, „nicht etwa dem Menschen die Lösung des Weltgeheimnisses dar[zu]bieten, sondern ihn aus[zu]rüsten, aus der Kraft des Geheimnisses zu leben; sie wollen ihn nicht über Gottes Wesen belehren, sondern ihm den Weg weisen, auf dem ihm Gott begegnen kann“ (Cb 804). 425 Insbesondere anhand des Lebens des Zaddik im Allgemeinen, jenes des Baalschem im Besonderen, bekundet sich – wie gezeigt –, „daß Weisheit […] nicht allein in der Lehre, sondern […] im gelebten Leben zur Wirkung kommt“ 426. Aus diesem Grund – so Bubers These – „ist für den Chassidismus der letzte Zweck des Menschen dieser: selbst ein Gesetz, eine Thora zu werden“ (EJ 40). 427 Ausnahmslos gelte letztlich für jeden Einzelnen, nicht lediglich die Thora zu studieren, sondern sich in praxi um sie verdient zu machen (vgl. EZ 669), das heißt, (diese) Lehre zu internalisieren, sich buchstäblich einzuverleiben, bis hin zur gänzlichen Koinzidenz von Lehre und Leben: Entsprechend wird in einer der beiden „Lehre sagen und Lehre sein“ betitelten Anekdoten (vgl. EZ 287) 428 folgende Richtschnur erteilt: „»Der Mensch soll darauf achten, daß all seine Handlungen eine Thora seien, und er selber sei eine Thora, bis man von seinen Gepflogenheiten und seinen Bewegungen […] lernt […].«“ (EZ 287) Dieses Thora- beziehungsweise Lehre-Sein erschöpft sich demnach nicht in oben erwähnten, gemeinhin als „gut“ deklarierten Taten des Menschen, sondern – wie es exemplarisch wiederum in Bezug auf den Baalschem heiße – darin, dass „durch jede seiner Bewegungen sich die Lehre ausbreite“ (CB 813). Die verbale Vermittlung von Lehrinhalten tritt somit

425 Siehe hierzu auch Wehr 1978, S. 93 sowie LC 27: „Und so gibt es in der Liebe zu Gott zwei Arten: die Liebe durch die Lehre und das Gebet und die Erfüllung des Gebotenen, der geziemt es, in der Stille zu wandeln und nicht im Offenbaren, damit sie nicht zu Ruhm und Stolz verführe; und die Liebe in der Zeit, da man mit den Geschöpfen vermischt ist, redet und hört, gibt und nimmt mit ihnen, und in dem Geheimnis seines Herzens hangt man an Gott und läßt nicht ab, ihm zuzustimmen. Und dies ist die höhere Stufe als jene […].“ 426 Wehr 1978, S. 52. 427 Die allgemeine Formulierung in Bubers „Die jüdische Mystik“ lautet: „Des Menschen Denken ist sein Sein: wer wahrhaft an die obere Welt denkt, ist in ihr. Alle äußere Lehre ist nur ein Aufstieg zur inneren; der letzte Zweck des Einzelnen ist, selbst eine Lehre zu werden. In Wahrheit ist die obere Welt kein Außen, sondern ein Innen; es ist ‚die Welt des Gedankens‘.“ (JM 17) 428 Die weitere gleichnamige Anekdote findet sich in EZ 224; vgl. dazu auch EZ 225.

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zugunsten der konkret praktizierten Vorbildfunktion 429 in den Hintergrund. 430 Auf der Basis des leitbildhaften Agierens des Zaddik erschließt sich die eingangs des Kapitels erwähnte Parallele zu der sinnbildlichen Handlungs- respektive Existenzweise des Propheten. 431 Allerdings erweisen sich speziell im Chassidismus nach Bubers Interpretation gerade profane, durchaus nebensächliche, alltägliche Tätigkeiten als prädestiniert, Lehre zu symbolisieren: Das diesbezüglich wohl mustergültigste (und in der Forschungsliteratur zumeist einzig zitierte) Exempel, das gleichsam die Quintessenz der in diesem Kapitel erörterten Maxime des „Lehre Seins“ transportiert, liefert die andere, ebenfalls „Lehre sagen und Lehre sein“ benannte fünfzeilige Anekdote, in welcher das Auf- und Zuschnüren der Filzstiefel des Großen Maggid von Mesritsch 432 Thema ist (vgl. EZ 224) 433: Während des Besuchs des Rabbi Löb beim Großen Maggid wird weder auf abstrakte Lehranweisungen spekuliert, geschweige denn der Exegese glaubensspezifischer Dogmen geharrt. Das Wesentliche inhäriert vielmehr diesem schlichten Vorgang des Lösens und Bindens der Schnürsenkel selbst, welcher aufgrund der 429 In diesem Kontext setzt Wehr den chassidischen Zaddik in Analogie zum „Lebemeister“, welchem im Rahmen der Mystik Meister Eckharts der Vorrang vor dem „Lesemeister“ eingeräumt wird. Vgl. Wehr 1978, S. 84 f. 430 Dies impliziert (vor allem für den Zaddik) die Notwendigkeit des (strukturellen und inhaltlichen) Kongruierens von Lernen, Lehren und Verkörpern eben dieser Lehre. Vgl. etwa EZ 594 f., ferner EZ 673. 431 „‚[D]er Zaddik äußert die Lehre, unbewußt oder bewußt, in Handlungen, die sinnbildlich wirken, und sie gehen oft in einen Spruch über, der sie ergänzt.‘“ (Zitiert nach: Wehr 1978, S. 101; vgl. auch ebd., S. 100) Gleichwohl akzentuiert Buber den Unterschied zwischen Nabi und Zaddik: Während ersterer de facto symbolische Handlungen vollzieht, ist dies beim Zaddik nicht (primär) der Fall – eine im nachstehenden Kapitel im Detail zu exemplifizierende Heiligung des Alltags dagegen bringt er sehr wohl mittels seiner Handlungen zum Ausdruck: Das Dasein des Nabi symbolisiert das Wort Gottes („Durch sein sinnbildliches Dasein wird gesagt, was jetzt zu sagen ist. […] Aber kein Symbol, in keiner zeitlosen Höhe, kann je anders Wirklichkeit gewinnen und wiedergewinnen, als indem es sich in solch einer menschlichen Existenz verleiblicht.“ CB 838); der Zaddik dagegen versucht es zu erfüllen und Lehre zu repräsentieren, beim Zaddik ist die Handlung nicht (indirekt) zeichenhaft, sondern direkt als das, was sie darstellt. 432 Zum Großen Maggid von Mesritsch (auch genannt Dow Bär von Mesritsch) siehe zum Beispiel CB 770, 854, GM 1035, 1050, A 628 f., 632 f. sowie Schatz-Uffenheimer 1963, S. 278, 280, 283, 285, 288 f., Wehr 1978, S. 12, 46 f., 82, Scholem 1986, S. 182, 190, 203 und ders. 1993, S. 362, 365, 371–373, 384. 433 Vgl. auch EZ 225 sowie die oben genannte gleichnamige Anekdote in EZ 287.

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spezifischen Art und Weise der Durchführung wiederum einen unmittelbaren Blick auf die diesen Vorgang fundierende (Lebens)Haltung eröffnet, die somit auch für das Gegenüber applikabel wird: „»Daß ich zum Maggid fuhr, war nicht, um Lehre von ihm zu hören: nur um zu sehen, wie er die Filzschuhe aufschnürt und wie er sie schnürt.«“ (EZ 224) 434 Dementsprechend schlussfolgert Wehr: „So ist Chassidut auch beim Maggid nicht rationales oder ein religiös formales Agieren, sondern eine Existenzmitteilung.“ 435 Bezug nehmend auf diese beispielhafte Alltagsbegebenheit, gelingt Wehr ein pointierter Abriß des (dieses Kapitel dominierenden) Komplexes der korrelierenden Komponenten der Lebenshaltung, Lehre und Tat hinsichtlich des Zaddik und dessen Funktion, welcher zudem das zentrale Leitwort des nachfolgenden Kapitels beinhaltet: Wohl fragen die Chassidim den Zaddik um Rat, wohl fragen sie ihn nach dem Sinn dunkler Schriftworte; wichtiger als das geredete Wort ist für sie jedoch alles das, was sie bis in die Gestik und die Gebärden hinein an ihm wahrnehmen. Nur so ist zu begreifen, daß einer nicht theologische Unterweisung bei dem durchaus auch gelehrten Meister sucht, sondern daß er geradezu darauf brennt zu erleben, wie dieser Meister die allereinfachste tägliche Verrichtung ausübt, etwa wie er sich die Filzstiefel schnürt. „Weihe des Alltags“ hat Buber diesen Zug genannt. 436

434 „Gewiß kann man daraus etwas über den Alltag des Menschen lernen. Man erfährt, daß das Tun eines Menschen wichtiger als seine gesprochene Lehre ist und daß man durch Beobachtung des Lehrers mehr lernen kann als durch dessen Lehrvortrag.“ (Grözinger 1991, S. 289) Walter Kaufmann setzt bezüglich besagten Beispiels einen anderen Akzent, welcher insbesondere in Kapitel II.4.2.2 eine Rolle spielen wird: „Daraus mag man schließen, daß dieser Zaddik […] das als Wichtigstes ansah, was er gerade tat. So mag ein anderer Chassid bei dem genannten Zaddik von der Art beeindruckt gewesen sein, in der er etwas anderes Bedeutendes oder Belangloses ausführte.“ (Kaufmann 1963, S. 587 f.) Vgl. zu der Anekdote des Filzschuheschnürens des Weiteren Wehr 1978, S. 47 f., Scholem 1986, S. 182 sowie ders. 1993, S. 377 f. 435 Wehr 1978, S. 48. 436 Ebd., S. 84.

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

4.

Die Welt in ihrem Recht: „Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

„Die menschliche Person […] steht in der Freiheit, auf die Anrede, die vom schöpferischen Geheimnis aus an sie ergeht, die Lebensantwort zu geben oder sie zu versagen – das anvertraute Stück Welt zu heiligen oder zu entweihen. Denn was nicht geheiligt wird, wird entweiht.“ (JW 236) Der erste Teil dieses Zitats repräsentiert gleichsam den Ertrag aus den vorangegangenen Kapiteln, letzterer signalisiert das in den folgenden Kapiteln zu Schulternde: In Kapitel II.2 stand primär die Divinität respektive das menschliche Verhältnis zu dieser – nebst dessen spezifischer Implikationen – im Fokus, während im Anschluss – anhand der Lebensführung des chassidischen Zaddik – die Darstellung einer exemplarischen, gleichwohl idealiter für jedermann verbindlichen Lebenshaltung vorgenommen worden ist. Nachfolgend gilt es – mit Blick auf die „wahre[n] Heiligkeit, für die es, da sie alles einheiligt, keine ‚religiöse Hinsicht‘ gibt“ (FE 236) – die Thematik gleichsam aus modifizierter Perspektive zu fixieren und explizit „der Welt ihr Recht und ihre Wahrheit [zu] geben“ (ID 131), wodurch wiederum der (alleinige) Weg zu Gott frei wird. Die geniale wie erläuterungsbedürftige Formel der Heiligung oder Weihung der Welt und des Alltags – die sich als (Bubers chassidisches) Äquivalent des dialogischen Antwortens auf die jeweilige Lebensanrede herauskristallisieren wird 437 – soll bezüglich ihrer Praktikabilität anvisiert und im Zuge dessen die Fragestellung dieser Arbeit aus Buberscher Sicht sukzessive auf ihren Kerngehalt hin zugespitzt werden. Basierend auf dem bislang im II. Teil erörterten Themenspektrum, werden einzelne Aspekte in Hinblick auf die Alltagsheiligung analysiert und nach Maßgabe der Primärliteratur (vor allem ab Kapitel II.4.2) anhand möglichst alltagsrelevanter Beispiele in zeitlichem, räumlichem sowie inhaltlichem Betracht ausbuchstabiert werden. Dies betrifft in erster Linie den Augenblick und dessen essenzielle Relevanz sowie die damit korrelierenden Faktoren der Verwirklichung und Verantwortung; des Weiteren den im Chassidismus zentralen Vorgang der Erlösung der göttlichen Funken in den dem Einzelnen jeweils dargereichten Wesen, Dingen und Situationen, der sich als komparabel mit der Ich-Du-Beziehung 437

Vgl. hierzu auch Heinze 2013b, S. 340.

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„Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

erweisen wird. In diesem Kontext ist (in Anknüpfung speziell an das vorstehende Kapitel) die chassidische Maxime, „auch jede profane Handlung heilig [zu] vollziehen“ (EZ 80), äußerst signifikant, die wesentlich auf der laut Buber durch den Chassidismus realisierten Eliminierung der „Trennmauer zwischen dem Heiligen und dem Profanen“ (EZ 80) beruht. 4.1 „Hier und Jetzt“: Alles soll Sakrament werden Im Vorfeld der Exemplifizierung der chassidischen Funkenlehre bietet es sich an, zwei elementare Gesichtspunkte, welche sowohl in Kapitel II.2 als auch II.3 bereits thematisiert worden sind, gleichsam anders beleuchtet in Erinnerung zu rufen, da diese nicht nur Bubers dialogischen Standpunkt wesentlich konstituieren, sondern zudem als Scharnier zu der Thematik einer Welt- und Alltagsheiligung im Rahmen seiner Chassidismus-Interpretation fungieren: Es handelt sich zum Ersten um Bubers Kommentar bezüglich des Primärgegenstands seines Philosophierens, welcher sich keineswegs in einer (idealisierten) „Scheinwelt“ manifestiere, sondern vielmehr in der konkreten, das heißt, (unbeschönigt) hiesig-irdischen (Lebens)Welt bestehe, in die jeder Einzelne unmittelbar involviert sei, als faktisch existierendes, von seinem Gegenüber als eben dieses registrierte Individuum; der zweite, bereits behandelte, Bubers Dialogik fundierende Aspekt, auf welchen in diesem Kapitel rekurriert beziehungsweise der mit seiner Deutung des Chassidismus parallelisiert werden soll, stellt deren inhaltliche Hauptkomponente dar: Diese besteht in der (eingangs zu Kapitel II.4 bereits angeklungenen) Interpretation des Lebens als eines (fortwährenden) Angesprochenwerdens. In Bezug auf erstgenannten Gesichtspunkt bekräftigt Buber in seinem dialogischen Hauptwerk: „Denn ich rede von nichts anderem als von dem wirklichen Menschen, dir und mir, von unserem Leben und unserer Welt, nicht von einem Ich an sich und nicht von einem Sein an sich.“ (ID 86) Eine steril-abstrakte, jenseits von Welt und Alltagsgeschehen angesiedelte Ideenwelt platonischer Provenienz lässt Buber ebenso wenig gelten wie ein kantisches SeinsAnalogon „hinter“ den Phänomenen 438 – er präferiere die reale 438

Bubers „Substanz“ (ID 98) des Gegenüber ist zwar mit Kants „Ding an sich“

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

Wirklichkeit, das alltägliche Hier und Jetzt in seiner „wilde[n], krasse[n] Profanität“ (FE 245), dem sich der Einzelne stets in direkter Betroffenheit zuzuwenden und das er mittels leibhaftigem Wirken wesenhaft zu bewähren habe: „Das ist die Gewißheit, daß der Sinn des Daseins in der jeweils gelebten Konkretheit aufgetan und erlangbar ist – nicht über dem Handgemenge mit der geschehenden Wirklichkeit, sondern in ihm.“ (GF 529) 439 Analog bestehe Buber folgend die Grundintention des Chassidismus nicht nur darin, „eine erneuerte Beziehung zur Wirklichkeit“ (CB 786) 440 zu generieren, sondern darüber hinaus eine „Erneuerung des Lebens“ (CB 866) schlechthin zu inaugurieren (auf der Basis des Konstituens der „Weltverhaftetheit“ beziehungsweise „Welteingebanntheit“ des Juden, von der oben bereits die Rede war). Dies nun werde realisiert durch ein „Leben mit der Welt“ (DC 984), 441 das auf einem „positive[n] Verhältnis zum Konkreten“ (CB 893) fuße, welches sich in einer kapitalen „Freude an der Welt wie sie ist, am Leben wie es ist, an jeder Stunde des Lebens in der Welt, wie diese Stunde ist“ (EZ 80) artikuliere. Diese Begeisterung verbleibe allerdings durchaus nicht in einem rein subjektiven oder gar passiven Modus, man folge vielmehr dezidiert der Devise, „von der Wirklichkeit aus zu leben“ (CB 786), das heißt, sich rege und beherzt „auf das sinnliche Sein, auf das Handeln in der Welt“ (CB 893) zu konzentrieren. Getreu diesem Motto (sowie dem in Kapitel vergleichbar, jedoch dem Einzelnen im Rahmen der Ich-Du-Begegnung (für einen Moment) tatsächlich erreichbar. 439 „Freilich, mancher, der sich in der Welt der Dinge damit begnügt, sie zu erfahren und zu gebrauchen, hat sich einen Ideen-Anbau oder -Überbau aufgerichtet, darin er vor der Anwandlung der Nichtigkeit Zuflucht und Beruhigung findet. Er legt das Kleid des üblen Alltags an der Schwelle ab, hüllt sich in reines Linnen und erlabt sich am Anblick des Urseienden oder Seinsollenden, an dem sein Leben keinen Anteil hat.“ (ID 86) Buber spielt an dieser Stelle auf die Flucht aus der Welt in ihrer Zwiefältigkeit der Modi Ich-Du und Ich-Es an; auch impliziert die Passage eine Kritik an der platonischen Ideenwelt-Vorstellung. Weiter erläutert er über den die Wesen und Dinge lediglich Benützenden als gleichermaßen Weltflüchtigen: „Der Erfahrende hat keinen Anteil an der Welt. Die Erfahrung ist ja ‚in ihm‘ und nicht zwischen ihm und der Welt. Die Welt hat keinen Anteil an der Erfahrung. Sie läßt sich erfahren, aber es geht sie nichts an, denn sie tut nichts dazu, und ihr widerfährt nichts davon.“ (ID 81) 440 Vgl. hierzu auch CB 787–790, 799 sowie 801. 441 So liest man in Gog und Magog: „Von den hohen Dingen sprachen sie wie von etwas, was sich in ihrer Nähe begab, und von den irdischen Ereignissen, als wären sie aus himmlischem Stoff gewoben. Dazwischen schwiegen sie, aber miteinander.“ (GM 1065)

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„Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

II.2.3 und II.3 Explizierten) distanziert sich in Bubers Roman Rabbi Bunam schließlich von seinem tendenziell weltabgewandten, primär auf die Akkumulation von Lehr- respektive Lerninhalten fokussierten Lebensstil und beschließt, „»in der Welt zu erfahren, was es in der Welt zu erfahren gibt«“ (GM 1116) – zumal (laut den Ausführungen in der Schrift „Vom Leben der Chassidim“) derjenige, „»[d]er in der Welt die Wonne nicht gefühlt hat, […] auch die Wonne des Paradieses nicht [fühlt]«“ (LC 21). 442 Der weitere, eingangs zu diesem Kapitel genannte Faktor, auf welchen – wie gesagt – im vorliegenden Kontext rekurriert werden soll, betrifft die Interpretation des Lebens als eines Sprach-Vorgangs im Sinne des permanenten Angesprochenwerdens und Antwortensollens als die inhaltliche Komponente, um die Bubers dialogisches Denken zentriert ist. Aus dieser erwächst schließlich der Appell der Treue zu dem (den Einzelnen umgebenden und umlebenden) Sein im Allgemeinen und somit zum (je situativen) Dialog mit diesem (und vice versa mit Gott) im Besonderen. 443 Konkret erfolgt in diesem Kontext eine – wie Siegfried es prägnant zu verbalisieren vermag – „vor allem in der Schrift Zwiesprache präsentierte Rückführung des lautlich artikulierten Ansprache-Antwort-Geschehens auf eine grundlegende Sphäre des Gegenüberseins von Mensch und Welt“ 444, die sich als elementar für die nachfolgenden Ausführungen erzeigt. Denn in der Tat spezifiziert Buber in besagter Abhandlung seine Hypothese der das Individuum ansprechenden „Situations-“ respektive „Lebensanrede“ (erneut) folgendermaßen: Die Laute aber, aus denen die Rede besteht – ich wiederhole es, um das vielleicht doch noch mögliche Mißverständnis zu beseitigen, ich meinte etwas Außerordentliches und Überlebensgroßes –, sind die Begebenheiten des persönlichen Alltags. In ihnen werden wir angeredet, wie sie nun sind, „groß“ oder „klein“, und die als groß geltenden liefern nicht größere Zeichen als die andern. (ZS 190) 445 442 Dies ist an dieser Stelle speziell auf Hithlahawuth („das Entbrennen“ beziehungsweise „die Inbrunst der Ekstase“) bezogen. Siehe hierzu auch Wehr 1978, S. 78 f. 443 Vgl. hierzu die Darlegungen in Kapitel II.2. 444 Siegfried 2013, S. 258. 445 Vor diesem Hintergrund betont Buber beispielsweise auch im „Nachwort“ von Ich und Du explizit, man solle sich „davor hüten, das Gespräch mit Gott […] als etwas lediglich neben oder über dem Alltag sich Begebendes zu verstehen. Gottes Sprache an die Menschen durchdringt das Geschehen in eines jeden von uns eigenem Leben und alles Geschehen in der Welt um uns her, alles biographische und

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

Entsprechend folgert Siegfried: „Nicht die großen Ereignisse allein fordern uns nach Buber heraus, sondern ‚alles‘, was uns Tag für Tag geschieht.“ 446 Analog zu diesem Aspekt des permanenten Konfrontiertseins mit den diversen (dominanten wie unscheinbaren) Situationen des (täglichen) Lebens, die ihre „Beantwortung“ verlangen, interpretiert Buber – nach Ansicht der Autorin der vorliegenden Abhandlung – die oben erwähnte, vom Begründer des Chassidismus „gestiftete, erneuerte Beziehung zur Wirklichkeit“ (CB 787) als auf den Terminus der (Lebens)Begegnung fokussiert, wie nachstehender Passus aus der Chassidischen Botschaft eindrücklich vor Augen führt: Der Baal-schem-tow sah […] sogar in der Einbildungskraft eine Art von Begegnung, für die es besondere Aufgaben gibt; erst recht ist das Dasein in der Wirklichkeit erkennbar als eine ununterbrochene Kette von Begegnungen, von denen jede die Person anfordert für das von dieser zu Vollbringende, gerade von ihr und gerade in dieser Stunde. Der Illusion der angeblich erreichten Vollkommenheit, wie sie in der Wirrnis der falschen Messianität waltete, steht hier [im Chassidismus] das Leben des Alltags, das seine Erfüllung gefunden hat, als das wahre Wunder gegenüber. (CB 801)

Vor dem ideellen Hintergrund, „der Vollkommenheit eine irdische Stätte zu schaffen“ (EZ 79), 447 bilde – eine schlichte Weltzugewandtheit aktiv transzendierend – den „Grundgehalt der chassidischen Lehre[,] die Heiligung alles Weltlichen“ (CB 828) 448, das heißt, der Chassidismus verkündige, „alle Dinge, denen ein jüdischer Mensch begegnet, und alle Handlungen, die er zu verrichten hat, wollten alles geschichtliche, und macht es für dich und mich zu Weisung, zu Forderung.“ (ID 170) 446 Siegfried 2013, S. 258. 447 An anderer Stelle der Erzählungen der Chassidim wird dementsprechend formuliert, den Menschen sei die Erde gegeben worden, auf „»daß sie sie zu einem himmlischen Ding machen«“ (EZ 710). Siehe ferner EZ 102: „»Diese Welt ist die niederste von allen, und dennoch ist sie die höchste von allen.«“ 448 Dass Buber hier von „Lehre“ spricht, während im vorstehenden Kapitel dieser Arbeit (auf Basis der Buberschen Quellen) herausgestellt wurde, der Chassidismus verstehe sich eben nicht primär als Lehre, ist wohl so zu interpretieren, dass auch hier gemeint ist – wie in besagtem Kapitel erläutert – es handle sich um eine Lehre, die sich jedoch im Sinne einer Lebenshaltung versteht. Auf die Kritik an dem Spezifikum Buberscher Chassidismus-Interpretation – also der Annahme, der Chassidismus habe eine „Heiligung alles Weltlichen“„gelehrt“ – wurde in Kapitel II.1 verwiesen.

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„Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

durch ihn geheiligt werden. Das Heilige hat eben sein Wirken darin, daß es die ganze Welt, die ganze Weltlichkeit durchheiligen will.“ (JW 235) Besagte Vollendung könne nur „aus einer in sich erfüllten Gegenwart“ (EZ 79) erwachsen. Daher charakterisiere den Chassidismus „eine Dauerstärke der Vitalität und eine Umfassung des menschlichen Alltags“ (DC 978), die unter den Religionsbewegungen ihresgleichen suche. 449 Präzise formuliert, sei es letztlich „die Lehre von der Heiligung des Alltags“ (CB 812; Herv. sind zugefügt), mit welcher der Baalschem den Einzelnen konfrontiere und postuliere, „den Umgang mit allen Dingen und Wesen im Leben des Alltags zu heiligen“ (CB 802). In concreto bedeute dies: „Es gilt nicht ein neues, seiner Materie nach sakrales oder mystisches Tun zu gewinnen; es gilt, das Zugewiesene, das Gewohnte und Selbstverständliche in seiner Wahrheit und in seinem Sinn, und das heißt in der Wahrheit und dem Sinn aller Tat, zu tun.“ (CB 812) 450 Dies impliziert nicht nur, dass eine Kategorisierung der Tätigkeiten in „niedere“ und „höhere“ als illegitim abzulehnen ist – jede Handlung erzeigt sich als paritätisch 451 –, sondern verweist zudem auf den mit der (jeweiligen) Tätigkeit anhebenden komplexen Realisierungs- und Sinnstiftungsvorgang: In dieser Hinsicht transportiere (entsprechend des in Kapitel II.2.1 bereits in anderem Kontext Thematisierten) der Chassidismus folgende „Botschaft an jedermann: Du mußt selber anfangen. Das Sein wird dir sinnlos bleiben, wenn du nicht selber, liebend-tätig, in es eingehst […]; alles will geheiligt, das heißt in seinem Sinn erschlossen und verwirklicht 449 Im Vergleich zum Chassidismus räumt Buber lediglich in Bezug auf den ZenBuddhismus und den Sufismus partiell ein: „Hier wie dort herrscht die Hingabe an das Göttliche und die Heiligung des gelebten Lebens durch diese Hingabe; aber dort wurde sie von einer asketischen Einschränkung der Existenz getragen, auch wo ein helfender und lehrender Umgang mit dem Volk gewahrt wird, im Chassidismus aber erstreckt sich die Heiligung grundsätzlich auf das natürliche und gesellschaftliche Leben. Hier allein tritt der ganze Mensch, wie Gott ihn erschaffen hat, in die Heiligung ein.“ (DC 978) 450 Dieser Aspekt wurde bereits in den Kapiteln „Lehre sein“ sowie dem Unterkapitel zur Mystik (des Chassidismus) thematisiert. Zudem werde im Judentum – so Buber – folgende generelle Überzeugung vertreten: „Da Gott dem Menschen nicht bloß Geist, sondern das Dasein, von dessen ‚Unterstem‘ bis zu dessen ‚Oberstem‘, verleiht, kann das Partnertum des Menschen sich in keiner Geisteshaltung, in keiner Andacht erfüllen, in keinem heiligen Obergeschoß, es bedarf des ganzen Lebens dazu, all seiner Bezirke und Verhältnisse.“ (BJS 205) 451 Dieser Aspekt wird im nachstehenden, insbesondere aber in Kapitel II.4.2.2 vertieft werden.

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

werden durch dich.“ (HF 172) Es obliegt demzufolge dem Einzelnen, Wesen, Dinge und Situationen mittels adäquaten Umgangs gleichsam „in die Wirklichkeit zu heben“, die andernfalls unrealisiert blieben. Voraussetzung hierfür ist der rechtmäßige Einsatz des ebenfalls schon erläuterten Entscheidungsvermögens, wie nachstehende Passage aus „Der Chassidismus und der abendländische Mensch“ noch einmal deutlich macht: „Das Sein der Schöpfung meint eine stets erneute Situation der Wahl. Heiligung ist ein Vorgang, der im Grunde des Menschen anhebt, da, wo das Wählen, das Sich-entscheiden, das Beginnen sich ereignet. Der Mensch, der so beginnt, tritt in die Heiligung ein.“ (CAM 940) 452 Das heißt, im Zuge des oben beschriebenen Verwirklichungsaktes erfolgt gleichermaßen die existenzielle Realisation der agierenden Person selbst, – denn „[u]nwirklich bleibt, wer nicht verwirklicht“ (D 21), 453 wie Buber bereits in seiner vor-dialogischen Werkphase zu verstehen gibt. Der eminente „Verwirklichungswille“ (CB 842 und 843) stellt somit ein weiteres gemeinsames inhaltliches Charakteristikum Bubers Werkstränge zu Dialogismus und Chassidismus dar. Zudem werde die chassidische Religionsbewegung fälschlicherweise – wie ebenfalls die dialogische Ich-Du-Beziehung 454 – häufig als rein subjektiv-emotional fundiert (miss)interpretiert, sei jedoch de facto „mit dem Gefühlsbegriff nicht zu erfassen; es ist der Aufschwung einer echten Einheitsschau und eines leidenschaftlichen Ganzheitsverlangens“ (CB 842), wesentlich geprägt durch ein – im Kontrast zu anderen religiösen Strömungen – „größer gewordenes Gottesbild“ (CB 842). Letzteres wiederum korreliert mit jenem Verwirklichungswillen, in dem sich – wie erläutert – „die Verwirklichung der ‚Heiligkeit‘ in der ganzen Breite und Fülle des Gesamtlebens“ (CB 865) zu bewähren habe. Worauf es ankommt, ist demnach „die 452 So konstatiert Buber in „Die Frage an den Einzelnen“ ferner in Bezug auf die Entscheidung des Menschen im politisch-sozialen Bereich: „[I]ch sehe ja, indem ich mich entscheide, von der Welt nicht ab, ich sehe sie an und ein […].“ (FE 248) 453 Siehe hierzu auch folgende Reflexionen Gerhard Wehrs bezüglich des chassidischen Wirklichkeitsbegriffs: „Wirklichkeit? Gewiß, und zwar als eine Weise, das Mögliche – wo auch immer, wann auch immer – ins Werk zu setzen. Wirklichkeit ist, wo verwirklicht wird. Wirklichkeit ereignet sich im gelebten Leben.“ (Wehr 1978, S. 11) 454 So erläutert Buber in Bezug auf die zwischenmenschliche Ich-Du-Beziehung: „Der Wesensakt, der hier die Unmittelbarkeit stiftet, wird gewöhnlich rein gefühlhaft verstanden und damit verkannt.“ (ID 87)

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„Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

ganze Wirklichkeit, mit Gott und Welt und Mensch – Kampf des Menschen um Gott in der Welt, Begegnung des Menschen mit Gott an der Welt, Erlösung der Welt von Gott her durch den Menschen, und als Stätte von Kampf, Begegnung und Erlösung: den gelebten Alltag“ (DS 751; Herv. im Orig.). Folglich erweise sich – in Kombination mit der gleichsam anit-asketisch orientierten Lebensweise – das „Leben in der Verbundenheit“ (CB 844) 455 als der Hauptgegenstand des Chassidismus. In diesem Sinne könne es – dies sei hier einmal mehr mit Buber bekräftigt – keineswegs unsere wahre Aufgabe in der Welt, in die wir gesetzt sind, sein, uns von Dingen und Wesen, die uns begegnen und unser Herz an sich ziehen, abzuwenden, sondern gerade durch Heiligung unserer Verbindung mit ihnen damit in Berührung zu kommen, was sich in ihnen als Schönheit, als Wohlgefühl, als Genuß offenbart. Der Chassidismus lehrt, daß die Freude an der Welt, wenn wir sie mit unserem ganzen Wesen heiligen, zur Freude an Gott führt. (WM 721) 456

455 Diesbezüglich konstatiert Buber in der Chassidischen Botschaft generell: „Alles Isolierte führt irre. Nur die Ganzheit ist zuverlässig und leitet den Menschen zum Heil.“ (CB 867) 456 Ergänzend heißt es etwa in Bubers Aufsatz über „Die Jüdische Mystik“: „Freude allein ist wahrhafter Gottesdienst.“ (JM 17) Zudem seien nachfolgende Passagen beispielhaft zur Bedeutung der Freude im Chassidismus angeführt: In der Abhandlung „Rabbi Nachman von Bratzlaw“ findet sich unter dem Stichwort „Freude“ lediglich folgende Sentenz: „Durch die Freude wird der Sinn seßhaft, aber durch die Schwermut geht er ins Exil.“ (RN 908) So heißt es in den Erzählungen der Chassidim einleitend: „Mit allem Tun und Lassen bekundet der echte Chassid, daß trotz all des unsäglichen Leidens der Kreatur doch der Herzpuls des Daseins göttliche Freude ist und daß man stets und überall zu ihr durchdringen kann, – wenn man sich drangibt.“ (EZ 87) Auch an nachstehender Stelle liest man generell über die Chassidim, dass „sie sich allezeit freuten, jede Arbeit in Freude verrichteten, in Freude wandelten und ruhten, in hoher Freude beteten“ (EZ 574), denn „»Sorgen und Trübsal sind die Wurzeln aller bösen Mächte.«“ (EZ 175) In der Anekdote „Der fröhliche Sünder“ (vgl. EZ 436 f.) wird die Signifikanz der Freude im chassidischen Leben besonders deutlich, als sich der Lubliner Rabbi (vgl. A 633–335) über besagten Sünder wie folgt äußert: „»[E]r aber kennt keinen Gram und kein verdrießliches Besinnen, sondern wohnt in seiner Freude wie in einem Turm. Und der Glanz seiner Freude überwältigt mein Herz.«“ (EZ 437) Nicht zuletzt möge man „zu einem kleinen Kind in die Lehre gehen“ (EZ 222), denn „es ist fröhlich, ohne eines Antriebs zu bedürfen“ (EZ 222). Siehe zur Thematik der Freude (im Gegensatz zur Trübsal) des Weiteren exemplarisch JM 15, 18, LC 29, EZ 127, 130, 174, 305, 351, 381, 423, 446, 454, 543, 575, 583 (über die Freude selbst im Sterben), 648, 699–701, GM 1003 f., 1074 f., 1188, 1242, 1259, ferner GM 1028 f., 1067 sowie Wehr 1978, etwa S. 36–39, 42, 50 f., 53, 55, 62, 67 f., 78–80 und 94.

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

Das unvoreingenommene, optimistisch-affirmative Akzeptieren der Schöpfung, wie diese sich dem Menschen darbietet, repräsentiert somit den Schlüssel sowohl zu einer glückenden Beziehung zur Welt als auch zum Göttlichen. Folgender Ausspruch des Rabbi David von Lelow symbolisiert diese Lebenseinstellung in nuce: „»Ich lache Gott an, weil ich seine Welt angenommen habe, wie sie steht und geht.«“ (GM 1235) 457 In den Erzählungen der Chassidim konstatiert Rabbi Mosche von Kobryn zudem, es sei „»die größte Frömmigkeit, über alles Lernen und Beten, wenn man die Welt annimmt, wie sie steht und geht«“ (EZ 555), denn der Baalschem vertrete die These „von der Weltverbundenheit des Menschen in Gottes Angesicht“ (CB 748). 458 Daraus entspringe weiters das „Gebot nicht einer Abheiligung des Menschen von den Dingen hinweg, sondern einer Zuheiligung der Dinge durch den Menschen“ (CB 747). Dieser chassidischen „Grundhaltung, dem tätigen Annehmen Gottes in den Dingen“ (CB 746 f.), liegt das in den vorstehenden Kapiteln geschilderte Wissen um die Tatsache zugrunde, dass Gott ausschließlich mittels innerweltlichen Agierens erreichbar sei. 459 Wer dagegen zwischen einem „Leben mit Gott“ versus einem „mit“ respektive „in der Welt“ differenziere, „indem er der Welt ‚das Ihre‘ gibt, um Gott ‚das Seine‘ zu retten, der verweigert Gott den geheischten Dienst, das richtungsverleihende Wirken an aller Kraft, die Heiligung des Alltags an der Welt und an der Seele“ (CB 747 f.). Im Chassidismus sei jene fatale Separation dieser im Grunde koinzidierenden Lebensbezirke, „das Urübel aller ‚Religion‘, in 457 Dieses Diktum prägt „der Lelower“ zwar in der Todesstunde, doch sollte diesem erst recht für das Leben Geltung zugeschrieben werden. 458 So bestehe Bubers primäres Anliegen – wie er in der Einleitung zu seinen Erzählungen der Chassidim verbalisiert – darin, „zu zeigen, was den Chassidismus zu einem der größten Phänomene lebendiger und fruchtbarer Gläubigkeit macht, die wir kennen, und zu der bisher letzten großen Blüte jüdischen Willens, Gott in der Welt zu dienen und den Alltag ihm zu heiligen“ (EZ 88). 459 In Ergänzung zu dem besonders in Kapitel II.2 hinsichtlich des Dialogs zwischen Gott und Mensch Erläuterten sei folgendes Zitat aus der Chassidischen Botschaft angeführt: „Der wirkliche Umgang des Menschen mit Gott hat an der Welt nicht bloß seinen Ort, sondern auch seinen Gegenstand. Gott redet zum Menschen in den Dingen und Wesen, die er ihm ins Leben schickt; der Mensch antwortet durch seine Handlungen an eben diesen Dingen und Wesen.“ (CB 744) Ferner heißt es in Bezug auf den Gottesdienst als solchen: „Aller spezifische Gottesdienst ist seinem Sinn nach nur die immer erneute Bereitung und Heiligung zu diesem Umgang mit Gott an der Welt.“ (CB 744)

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„Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

echter, konkreter Einheit überwunden. […] Empfangend und handelnd weltverbunden steht der Mensch, vielmehr nicht ‚der‘, sondern dieser bestimmte Mensch, du und ich, unmittelbar vor Gott.“ (CB 748) 460 Dieser chassidische Kerngedanke ist letztlich kongruent mit Bubers Konzeption in seinen dialogischen Schriften, namentlich in Ich und Du. Dort verbalisiert Buber folgenden, an die Diktion des Baalschem gemahnenden Grundsatz in Bezug auf die Problematik der Gottesbeziehung: „Ich weiß nichts von einer ‚Welt‘ und von einem ‚Weltleben‘, die einen von Gott trennten; was so genannt wird, ist das Leben mit einer verfremdeten Eswelt; das erfahrende und gebrauchende. Wer wahrhaft zur Welt ausgeht, geht zu Gott aus.“ (ID 142) 461 Es ist somit nicht das Leben im Diesseits an sich, welches einer Verbindung zu Gott hinderlich sei, sondern vielmehr stellt die Art und Weise dieses Lebens in der Welt respektive der spezifische Umgang mit den Wesen und Dingen den wahren Prüfstein der Beziehung zum Göttlichen dar: Denn nicht von allem absehen heißt in die reine Beziehung treten, sondern alles im Du sehen; nicht der Welt entsagen, sondern sie in ihren Grund stellen. Von der Welt wegblicken, das hilft nicht zu Gott; auf die Welt hinstarren, das hilft auch nicht zu ihm; aber wer die Welt in ihm schaut, steht in seiner Gegenwart. „Hier Welt, dort Gott“ – das ist EsRede; und „Gott in der Welt“ – das ist andre Es-Rede; aber nichts ausschalten, nichts dahinterlassen, alles – all die Welt mit im Du begreifen, der Welt ihr Recht und ihre Wahrheit geben, nichts neben Gott, aber auch alles in ihm fassen, das ist vollkommne Beziehung. (ID 130 f.) 462 Vgl. zu diesem Aspekt die gesonderten Ausführungen in Kapitel II.4.2.2. Entsprechend heißt es in den Erzählungen der Chassidim: „Laß dich deiner Lust an Wesen und Dingen nicht verdrießen, laß sie sich nur in den Wesen und Dingen nicht verkapseln, sondern durch sie zu Gott vordringen.“ (EZ 81) Das „Verkapseln“ käme einer monologischen Rückbiegung gleich, während das „Öffnen“ beziehungsweise nach außen Dringen, das heißt, hin zu Welt und mithin Gott, der dialogischen Bewegung der Zuwendung zum Gegenüber entspricht. 462 Siehe hierzu folgende (wohl primär auf die Beziehung zu anderen Wesen bezogene) Passage aus der Abhandlung „Die Frage an den Einzelnen“: „Es kann nicht darum gehen, die Dinge von Gott abgehoben, noch auch, sie in ihm aufgehoben zu sehen; es kann nur darum gehen, die Dinge ‚in Gott zu sehen‘, die Dinge selber. Auf unsere Beziehungen zu den Wesen angewandt: erst wenn alle Beziehungen, unverkürzt, in die eine hereingenommen werden, legen wir den Ring unserer Lebenswelt um die Sonne unseres Seins.“ (FE 232) Demgemäß formuliert Buber in Bezug auf den oben bereits thematisierten Aspekt des Gott-Suchens beziehungsweise -Findens weiter in Ich und Du: „Man findet Gott nicht, wenn man in der Welt bleibt, man findet Gott nicht, wenn man aus der Welt geht. Wer mit dem ganzen Wesen zu 460 461

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

Es wird besonders anhand der Ausführungen in Ich und Du deutlich, dass jener aus der „Heiligungsdevise“ des Chassidismus resultierende Umgang in Bubers Dialogdenken der auf der IchDu-Ebene basierenden dialogischen Haltung (im Gegensatz zur monologisch-distanzierenden des Grundworts „Ich-Es“) entspricht. Diese wiederum ist, wie angedeutet, einzig qualifiziert, einer Fühlungnahme mit dem Göttlichen den Boden zu bereiten. So lautet die für die vorliegende Thematik wohl repräsentativste Passage aus Ich und Du: „Wenn du das Leben der Dinge und der Bedingtheit ergründest, kommst du an das Unauflösbare, wenn du das Leben der Dinge und der Bedingtheit bestreitest, gerätst du vor das Nichts, wenn du das Leben heiligst, begegnest du dem lebendigen Gott.“ (ID 131) In dieser Hinsicht konkretisiert Buber – entsprechend seiner (oben bereits zitierten) Darlegungen in der Chassidischen Botschaft –, der Einzelne könne „sein Leben nicht zwischen eine wirkliche Beziehung zu Gott und ein unwirkliches Ich-Es-Verhältnis zur Welt aufteilen […]. Wer die Welt als das zu Benützende kennt, kennt auch Gott nicht anders.“ (ID 151) 463 Dieser Reflexionsstrang wird in „Die Frage an den Einzelnen“ aufgegriffen und es wird zunächst erhärtet, die Schöpfung sei „keine Hürde auf der Bahn zu Gott, sie ist diese Bahn selbst“ (FE 230), um im weiteren Verlauf – in Analogie zu den Erkenntnissen aus Ich und Du – folgendes Fazit zu ziehen: „Den wirklichen Gott aber kann kaum eine kürzere als jedes Menschen längste Linie erreichen: die Linie, welche die diesem Menschen zugängliche Welt umspannt.“ (FE 230) Mithin sei ein Ausklammern einzelner (eventuell „unbequemer“) Komponenten des dem Individuum überantworteten, singulären „Weltbezirks“ unzulässig – „Abstrich ist verboten, aussuchen darfst du das dir Zusagende nicht“ (FE 245) – vielmehr gelte seinem Du ausgeht und alles Weltwesen ihm zuträgt, findet ihn, den man nicht suchen kann.“ (ID 131) 463 Demgemäß fährt Buber fort: „Sein Gebet ist eine Entlastungsprozedur; es fällt ins Ohr der Leere. Er – nicht der ‚Atheist‘, der aus der Nacht und Sehnsucht seines Kammerfensters das Namenlose anspricht – ist der Gottlose.“ (ID 151) Überdies sei es geradezu absurd zu suggerieren, „Gott wolle, daß nur zu ihm wahrhaft Du gesagt werde, zu allen andern aber nur ein unwesentliches und eigentlich ungültiges, – Gott fordere von uns, zwischen ihm und seiner Schöpfung zu wählen“ (FE 232) – habe dieser den Menschen doch – wie in Kapitel II.2 expliziert – „in die Wirklichkeit gestellt, daß er ihr standhalte“ (HF 170)! Demnach wird auch an folgender Stelle der Chassidischen Botschaft artikuliert, es gelte, „der Wirklichkeit Angesicht zu Angesicht standzuhalten“ (CB 789).

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„Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

es, diesen restlos, das heißt, samt dessen Paradoxitäts- beziehungsweise Komplikationspotenzials, „ungekürzt, ungemildert, unverglättet, unvereinfacht, unreduziert“ (GJ 198) 464 zu würdigen: Es kann nicht sein, daß die Beziehung der menschlichen Person zu Gott durch Weglassen der Welt entstehe; also muß der Einzelne seine Welt, was an Welt ihm eben lebensmäßig zugereicht und anvertraut wird, in seine Lebensandacht ohne Abstrich mitnehmen und es an deren Wesentlichkeit ungeschmälert teilnehmen lassen. Es kann nicht sein, daß der Einzelne, wenn er über die Schöpfung hinweg die Hände ausstreckt, Gottes Hände finde; er muß die Arme um die leidige Welt legen, […] dann erst langen seine Finger in den Bereich des Blitzes und der Gnade. (FE 245) 465

Dieses vorbehalt- und „abstrichlose“ Sorgen des Menschen um „seine“ Welt impliziert nicht nur „eine unendliche Sphäre der Verantwortung, der Verantwortung vor dem Unendlichen“ (MW 972). Zudem kristallisiert sich – wie sowohl anhand Bubers dialogischer als auch chassidischer Schriften ersichtlich wird – die (ebenso schier grenzenlose) Liebe zur Welt (im Allgemeinen, zu der eigenen im Besonderen) gleichsam als Grundprämisse der Konstituierung einer „Wirklichkeit des geheiligten Weltlebens“ (ID 132) heraus. 466 Überdies könne sich ausschließlich auf diesem Fundament wahrhafte Gottesliebe entfalten, denn „den Gott, der seine Welt liebt, lernt er [der Mensch] erst in dem Maße meinen, in dem er selber die Welt lieben lernt“ (CB 869).

464 Siehe zum Aspekt des „unreduzierten“ Anerkennens etwa auch GJ 199 sowie FE 232. 465 Siehe auch FE 236: „Gott ist nicht ein Gegenstand neben Gegenständen und kann daher nicht durch Verzicht auf Gegenstände erreicht werden. Gott ist zwar nicht das All, aber er ist erst recht nicht das Sein minus das All. Er ist nicht durch Abzug zu finden und nicht durch Abstrich zu lieben.“ 466 Dementsprechend bemesse sich die Weisheit eines Menschen anhand dessen Liebe zur Welt – demnach heißt es in Gog und Magog: „Mit Recht sagt der Rabbi von ihm, er sei ein weiser Mann. Aber seine ganze Weisheit ist Liebe zur Welt.“ (GM 1231) Siehe ferner Bubers Reflexionen im Daniel: „Wie in seiner Tat, so ist, der in der Liebe zur Welt steht, auch in seiner Erkenntnis dem Primitiven verwandt, dem Mythenschaffenden: […] [S]o erkennt, der in der Liebe der Welt steht, nicht den Teil eines Zusammenhangs, sondern ein vollkommen Gefaßtes, in sich Gestaltetes, als ein Bildnis und ein Siegel allen Sinn Tragendes. Dies ist Sinn: die mythische Wahrheit des ungehemmt Erkennenden, der jeden Vorgang allein auf seinen Gehalt bezieht und ihn so zu einem Signum des Ewigen bildet. Er empfängt das ihm Widerfahrende als eine Botschaft, er tut das ihm Notwendige als einen Auftrag und eine Kundgebung.“ (D 42 f.)

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

Diese universelle (Liebes-)Leitlinie ist nicht zuletzt für die Selbstverwirklichung des Einzelnen substanziell: 467 So macht Buber etwa in „Mein Weg zum Chassidismus“ plausibel, dass des Menschen Seligkeit keineswegs darin bestünde, „daß er sich vom Weltlichen fernhalte, sondern daß er es heilige, es dem göttlichen Sinn weihe: seine Arbeit und seine Speise, seine Ruhe und seine Wanderschaft […]. Daß er die große Gottesliebe an allen Kreaturen, ja an allen Dingen bewähre.“ (MW 962) 468 Denn – wie es in „Der Chassidismus und der abendländische Mensch“ heißt – es entspreche dem Willen Gottes, „in der Welt [zu] wohnen, aber erst wenn sie ihn einlassen will. […] Die Heiligung der Welt wird dieses Einlassen sein.“ (CAM 942 f.) 469 Vice versa bedingt diese göttliche Immanenz letztlich den Heiligkeitscharakter alles Weltlichen, der gleichwohl erst durch menschliches Wirken aktualisiert wird, wie folgender Passus resümierend erhellt: Von alters her bekannte Israel, daß nicht die Welt Gottes Ort, sondern Gott „der Ort der Welt“ ist, und daß er doch ihr „einwohnt“. Der Chassidismus sprach diesen Ursatz neu aus, nämlich ganz praktisch. Durch die Welteinwohnung Gottes wird die Welt – allgemein-religiös gesprochen – zum Sakrament […]. Aber das ist keine objektive Aussage, die unabhängig vom gelebten Leben der Menschenperson zu Recht bestünde, noch weniger freilich eine in der Subjektivität allein beschloßne; sondern in der konkreten Berührung mit dem Menschen wird die Welt je und je sakramental. Das heißt: in der konkreten Berührung ihrer Dinge und Wesen mit diesem Menschen, dir, mir. […] Dieses, daß einem die Dinge und Wesen so in ihrer sakramentalen Möglichkeit zugereicht werden, ist das Dasein des Menschen in der Welt. (CB 746; Herv. sind zugefügt) 470 467 Insofern – wie bereits thematisiert wurde – „im Chassidismus es der Weg von der Welt zu Gott ist, auf den immer wieder als auch den für die persönliche Entwicklung maßgebenden hingewiesen wird“ (CB 868). 468 So gelte es sich Folgendes zu verdeutlichen: „Die ausschließliche […] Liebe zu Gott ist, weil er Gott ist, die einschließliche Liebe, bereit alle Liebe aufzunehmen und einzuschließen.“ (FE 229 f.) Zudem liest man in den Erzählungen der Chassidim: „Alle Kreatur, Gewächs und Getier, bringt sich dem Menschen dar und nah, durch den Menschen aber sind alle Gott dar- und nahgebracht.“ (EZ 463) Siehe zu dem Aspekt des wahrhaften mit Gott Verbundenseins qua des Verbundenseins mit seinen Geschöpfen ferner GM 1119. 469 Diese Passage bezieht sich auf die Anekdote „Gottes Wohnung“ (vgl. EZ 664). Siehe hierzu auch die folgende Kommentierung dieser Erzählung: „»Gott wohnt, wo man ihn einläßt«, sagt ein chassidischer Spruch; die Heiligung des Menschen bedeutet dieses Einlassen.“ (CAM 939) 470 Buber führt an dieser Stelle im Kontext der Kritik an den Darlegungen Spinozas

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„Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

Wohl angesichts dieser chassidischen Vorstellung des (sukzessiven) sakramental Werdens der Welt und der damit koinzidierenden, sich stets intensiver zeigenden göttlichen Immanenz, sowie vorgenannter fundamentaler Liebesbedingung konzipiert Buber in Ich und Du die Theorie eines anzustrebenden Ideal- respektive Zielzustands der Welt. Dieser sei dergestalt beziehungsweise solchermaßen zu realisieren, dass Welt und irdisches Leben – gemäß einer zunehmenden (Sinn-)Erfüllung – mehr und mehr von (mittels auf der dafür erforderlichen Haltung basierender) Beziehung und eines entsprechenden Umgangs durchströmt würden. Begreiflicherweise gehe dieser Prozess einher mit einer graduellen Reduktion der „Knechtschaft“ des (menschlichen) Lebens durch die Eswelt, denn „ob es auch das Esverhältnis nicht überwinden kann und soll, ist das Menschenleben dann so von Beziehung durchwirkt, daß sie in ihm eine strahlende, durchstrahlende Stetigkeit gewinnt“ (ID 156). In diesem Kontext wird nicht zuletzt der Blick frei auf die Gesamtdimension der elementaren Verantwortung der Einzelperson, welche – wie in Kapitel II.2 expliziert worden ist – unmittelbar im (dialogischen) Schöpfungsvorgang selbst gründet: „Die Entstehung der Welt und die Aufhebung der Welt sind nicht in mir; sie sind aber auch nicht außer mir; sie sind überhaupt nicht, sie geschehen immerdar, und ihr Geschehen […] hängt auch von mir, meinem Leben, meiner Entscheidung, meinem Werk, meinem Dienst ab.“ (ID 141) 471 Weltferner Nachstehendes aus: „Nicht außer der Welt, sondern nur in ihr selber kann der Mensch das Göttliche finden: diese These setzt Spinoza der seiner Zeit geläufig gewordenen Zweiteilung des Lebens entgegen. […] Aber sein Angriff schwingt über dessen rechtmäßigen Gegenstand hinaus; mit dem weltfreien Verkehr wird ihm aller personhafte Verkehr mit Gott unglaubhaft; die Einsicht, daß Gott nicht neben der unreduzierten Lebenswirklichkeit her angeredet werden kann, weil er eben in ihr anredet, verkehrt sich ihm in die Ansicht, es gebe keine Rede zwischen Gott und dem Menschen; aus dem Ort der Begegnung mit Gott wird ihm die Welt zum Ort Gottes.“ (CB 745) Siehe zum Aspekt des Sakramentalwerdens der Welt beispielsweise auch CB 848 f. und BJS 206. 471 Analog liest man in der Chassidischen Botschaft, dass „Schöpfung nicht ‚eigentlich‘ einst geschehen ist und etwa jetzt nur ‚fortgesetzt‘ würde, so daß alle Schöpfungsakte bis auf diesen, der jetzt geschieht, sich zum Werk der Schöpfung summieren, vielmehr das Gebetswort, daß Gott alle Tage das Werk der Schöpfung erneuert, vollkommne Wahrheit ist, der Schöpfungsakt also, der jetzt geschieht, ganz anfangsgewaltig […] steht, […] daß seinem Wirken ein Wirken der Menschenperson unbegreiflich sich eintue“ (CB 753). Siehe in diesem Kontext zu dem Aspekt von Welt und Augenblick als Ort der Theophanie exemplarisch auch folgende Passagen: „Theophanie aber ist kein Dort; sie geschieht am Menschen, und er hat seinen Anteil

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

schöpfung vermag nicht unabhängig von Entscheidung und Tun des einzelnen Menschen zu gelingen, sondern ist regelrecht davon abhängig. Allerdings nicht davon, ob ich die Welt in meiner Seele „bejahe“ oder „verneine“, sondern davon, wie ich meine Seelenhaltung zur Welt zu Leben [sic!], zu welteinwirkendem Leben, zu Wirklichem Leben [sic!] werden lasse […]. Wer aber seine Haltung nur „erlebt“, nur in der Seele vollzieht, der mag noch so gedankenvoll sein, er ist weltlos – und alle Spiele, Künste, Räusche, Enthusiasmen und Mysterien, die sich in ihm begeben, rühren an die Haut der Welt nicht. Solang sich einer nur in seinem Selbst erlöst, kann er der Welt weder Liebes noch Leides tun, er geht sie nicht an. Nur wer an die Welt glaubt, bekommt es mit ihr selbst zu tun; und gibt er sich dran, kann er auch nicht gottlos bleiben. Lieben wir die wirkliche, die sich nie aufheben lassen will, nur wirklich […], wagen wir es, die Arme unseres Geistes um sie zu legen: und unsre Hände begegnen den Händen, die sie halten. (ID 141 f.) 472

Dieser Auszug aus Ich und Du führt noch einmal drastisch und resümierend vor Augen, was einem dialogischen Verhältnis wie einer Heiligung des Alltags nicht nur hinderlich ist, sondern diese gar konterkariert: Neben einem die Welt als das (ausschließlich) zu Gebrauchende (miss-)deutenden reinen Es-Umgang, ist die monologische Fixierung auf das eigene Selbst gemäß oben zitierter Weise äußerst problematisch, da im Zuge dessen das nach Bubers Verständnis „Wirkliche[m] Leben“ (ID 142) 473 unterminiert werde. Wie bereits in den Kapiteln zu Mystik sowie Lebenshaltung (des Zaddik) erläutert, stellt Buber in Abgrenzung zu (religiöser) Versenkungslehre jeglicher Art 474 heraus, dass weder eine unilaterale (und ebenso unrealisierbare) „Erlösung“ des Selbst unter Ausschluss des einen umlebenden Lebens und der umgebenden Welt, 475 an ihr wie Gott den seinen.“ (RJV 4; im Orig. kurisv) „Das ist die ewige, die im Jetzt und Hier gegenwärtige Offenbarung. Ich weiß von keiner, die nicht im Urphänomen die gleiche wäre, ich glaube an keine.“ (ID 154) „Die gewaltigen Offenbarungen, auf die sich die Religionen berufen, sind der stillen wesensgleich, die sich allerorten und allezeit begibt.“ (ID 158) „Immer neue Sphären werden zum Ort der Theophanie. Es ist nicht Eigenmacht des Menschen, die hier wirkt, es ist auch nicht reiner Durchgang Gottes, es ist Mischung von Göttlichem und Menschlichem.“ (ID 158) Vgl. auch BGB 650. 472 Vgl. FE 228 f. 473 Vgl. auch ID 151. 474 Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel II.2.3. 475 In Bezug auf den Aspekt des „Selbst-Widerspruch[s]“ (ID 125) des sich (schein-

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„Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

noch mystisches Eingehen in eine Entität jenseits irdischer Realität legitim ist, denn: „uns, denen es um die wirkliche Betrachtung des Wirklichen geht, kann kein Unterbewußtsein und kein andrer Seelenapparat taugen“ (ID 152). Vielmehr sei es unentbehrlich, sich bewusst und ernstlich mit der Welt, wie diese sich aktuell darstelle, zu konfrontieren, denn „größer als alle Rätselwebe am Rande des Seins ist uns die zentrale Wirklichkeit der alltäglichen Erdenstunde, mit einem Streifen Sonne auf einem Ahornzweig und der Ahnung des ewigen Du“ (ID 137). Im Kontrast zu der Bezogenheit des Selbst auf sich selbst schließlich lautet die prinzipielle Devise für ein Lebenswelt und -alltag würdigendes Dasein, wie Buber sie im Rahmen seiner Chassidismus-Interpretation übermittelt, „[m]an soll sich vergessen und die Welt im Sinn haben“ (WM 733) – in imperativischer Formulierung: „»Vergeßt Euch und habt die Welt im Sinn!«“ (WM 731) 476 Wahrhafte Mystik zeigt sich aus dialogisch-chassidischer Perspektive somit als „stille Erfahrung eines Umgangs mit dem Göttlichen im Alltag“ (RN 914). Letzterem wird der Einzelne – wie in Rekurs auf das Eingangszitat von Kapitel II.4 im Fortgang der Analyse noch explizit darzulegen ist – gerecht, „wenn er, wie Gott seine Schöpfung göttlich, das ihm zugereichte Stück Welt menschlich umfängt. Er verwirklicht das Bild, wenn er, soviel er personhaft vermag, zu den ihn umlebenden Wesen mit seinem Wesen Du sagt“ (FE 235) 477– und überdies die Dinge des täglichen Gebrauchs, welche bar) Erlösens im eigenen Ich ist auch folgender symbolischer Ausspruch Rabbi Perez’ in Gog und Magog von Relevanz: „»Das Licht ist rein, solang es sich nicht mit sich selber befaßt.«“ (GM 1183) 476 Ursprünglich stammt dieser Ausspruch aus der in den Erzählungen der Chassidim befindlichen Anekdote „Der Rat“ (vgl. EZ 599 f.) und bezieht sich speziell auf den Aspekt des Buße Tuns: „»Ihr habt nur Euch im Sinn. Vergeßt Euch und habt die Welt im Sinn!«“ (EZ 600) Siehe ferner nachstehende Forderungen aus Bubers Abhandlung „Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre“: „Du sollst dich nicht immer mit dem quälen, was du falsch gemacht hast, sondern die Seelenkraft, die du auf solche Selbstvorwürfe verwendest, sollst du der Tätigkeit an der Welt zuwenden, für die du bestimmt bist. Nicht mit dir sollst du dich befassen, sondern mit der Welt.“ (WM 731) „Bei sich beginnen, aber nicht bei sich enden; von sich ausgehen, aber nicht auf sich beziehen; sich erfassen, aber sich nicht mit sich befassen.“ (WM 731) Siehe zu dieser Thematik insgesamt WM 732–734. 477 „Im Kontext der konkret verwirklichten Verantwortung im Rahmen der IchDu-Beziehung zu den in der Welt begegnenden Dingen und Wesen zeichnet sich auch die bereits erwähnte ethische Dimension ab.“ (Heinze 2013b, S. 350, Anm. 64) Die Quintessenz des Nexus von Ethischem und Religiösem findet sich etwa an fol-

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

dem Menschen in den Alltagssituationen ebenso hingereicht werden, in jenen adäquaten Umgang integriert. Dieses „zugereichte Stück Welt“ (FE 235) als konkreter Ort der Heiligung im Herzen des Alltags wird im folgenden Kapitel zur chassidischen Funkenlehre im Zentrum stehen: Es soll die Frage nach der unikalen Aufgabe jedes Einzelnen vertieft und ebenso jene nach dem konkreten „Wie“ seines Tuns im Detail abgeklärt werden. Zudem ist der Fokus auf die Signifikanz des Augenblicks in Dialogik und ChassidismusDeutung Bubers gerichtet, denn – so Albrecht Goes im Nachwort zu dessen Autobiographischen Fragmenten – „auf die Frage ‚Was ist zu tun?‘ antwortet er [Buber], unter jedem Himmelsstrich und in jeder Erdenstunde: ‚Du sollst dich nicht vorenthalten.‘“ 478 4.2 Die chassidische Funkenlehre: Der „Dienst an den Funken“ als konkrete „Heiligung des Alltags“ „Da redet ihr immerzu […] vom Exil der Schechina, da klagt ihr, daß sie in der Fremde umherirrt, erschöpft hinsinkt, am Boden liegt. Und das ist kein Gerede, es ist ganz wirklich so, ihr könnt ihr auf der Landstraße der Welt begegnen. Aber was tut ihr, wenn ihr ihr begegnet? Streckt ihr ihr die Hand entgegen? Helft ihr ihr vom Staub der Landstraße auf? […]“ (GM 1027) 479

Diese Passage aus Bubers Roman Gog und Magog, in der der Protagonist auf die „Einwohnung“ Gottes auf Erden in Form seiner „Schechina“ 480 sowie den (inadäquaten) menschlichen Umgang mit genden Stellen der Chassidischen Botschaft: „Die ‚ethischen‘ Handlungen sind nach Sinn und Wesen ebensosehr religiöse Handlungen wie es die ‚religiösen‘ sind. […] Die echte sittliche Tat wird an Gott getan.“ (CB 870) „Die Einung des ethischen und des religiösen Bereichs, wie sie sich im Chassidismus […] exemplarisch vollzogen hat, bringt hervor, was wir in unserer Menschenwelt Heiligkeit nennen. Wir können Heiligkeit als menschliche Eigenschaft kaum anders als durch solche Einung kennen. Es ist wichtig, daß man sie kennen lernt.“ (CB 879) Siehe ferner das Diktum Rabbi Pinchas’: „»Fromm sein ist mir lieber als klug sein; aber lieber als fromm und klug sein ist mir gut sein.«“ (EZ 249) In Bubers „Geschichte des dialogischen Prinzips“ heißt es zudem in Bezug auf die chassidische Geisteshaltung: „»Klugheit ohne Herz ist gar nichts. Fromm ist falsch.«“ (GDP 305) 478 Goes, Albrecht: Nachwort. In: B. S. 93–102, hier: S. 100. 479 Vgl. auch GM 1192. 480 Eine nähere Erläuterung dieses Terminus wird im Laufe des Kapitels folgen.

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„Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

dieser anspielt, liefert einen geeigneten Ausgangspunkt für und komprimierten Einblick in das in diesem Kapitel zu Erörternde: Es ist vordergründig intendiert, aus (Bubers) chassidischer Perspektive den konkreten Grund für Gottes Welt- und Alltagsimmanenz aufzuzeigen, was im Einzelnen folgende Aspekte beinhaltet: Weshalb Gott im Alltag zu dienen und aus welchem Grund er theoretisch mittels jeder Handlung zu erreichen ist respektive jede Handlung potenziell eine „heilige“ sein kann und (somit) ein jedes Ding faktisch zum „Gebot“ (EZ 551) wird – kurz: auf der Basis welcher Begründung sämtliches (Inner-)Weltliche Sakrament werden kann und soll. Zudem wird im Zuge dessen ein weiterer elementarer Baustein bezüglich der Antwort auf die Frage geliefert, weswegen Buber den dialogischen Umgang nicht auf jenen mit einem menschlichen Gegenüber einschränkt. 481 Der Verständnisschlüssel sowohl zu diesem Gesichtspunkt als auch hinsichtlich der damit korrelierenden göttlichen Weltimmanenz findet sich in Bubers Ausführungen zur (spät-)kabbalistischen Funkenlehre, deren ethisches Potenzial vom Chassidismus ausgeformt worden sei (vgl. EZ 210, Anm. 7). 482 Nachfolgend gilt es nun, diesen „Mythos von den heiligen Funken“ (CAM 941) dergestalt zu substanziieren, dass selbiger als Fundament der „Lehre von der Heiligung des Alltags“ (CB 812) und der Dinge plausibel wird. Der Ursprung des besagten Mythos beziehungsweise der Lehre der Kabbala von den gefallenen Funken (vgl. etwa CB 749) 483 hängt im Grunde genommen mit der vom Judentum bekanntermaßen geglaubten Unerlöstheit der Welt zusammen: Seiner religiösen Überzeugung gemäß, erfahre der jüdische Mensch „als Teil der Welt, so heftig wie vielleicht kein Teil der Welt sonst, ihre Unerlöstheit. Er spürt diese Unerlöstheit an seiner Haut, er schmeckt sie mit seiner Zunge, die Last der unerlösten Welt liegt auf ihm.“ (BJS 481 Siehe hierzu insbesondere nachstehende prägnante Formulierung Bubers aus seiner Abhandlung Zwiesprache innerhalb der Schriften zum Dialogischen Prinzip: „Es muß keineswegs ein Mensch sein, dessen ich innewerde; es kann ein Tier sein, ein Gewächs, ein Stein. Keine Art von Erscheinung, keine Art von Begebenheit ist grundsätzlich aus der Reihe derer geschaltet, durch die mir jeweils etwas gesagt wird.“ (ZS 182 f.) Vgl. zu diesem Aspekt auch den Artikel der Autorin „Natur als Du. Reflexionen zur Bedeutung des Dialogs mit der Natur bei Martin Buber“ (2013b); ferner Heinze 2011, vor allem S. 94–97. 482 Vgl. hierzu auch Heinze 2013b, S. 338–341. 483 Siehe zur Verbindung von Chassidismus und Kabbala auch DC 977 f. sowie Wehr 1978, vor allem S. 57 und 61–65.

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

207) 484 Aus welchem Grund jedoch erscheint die Welt für den jüdischen Menschen (der – worauf im Laufe der Arbeit bereits häufiger verwiesen wurde – für Buber außerdem das exemplarisch Menschliche repräsentiert) unerlöst und macht die Mithilfe des Menschen an deren Erlösung obligat? Erwähntem Mythos zufolge „sind in einer Katastrophe der Urschöpfung Funken der göttlichen Lichtsubstanz in die unteren Welten gesunken und haben die ‚Schalen‘ der Dinge und Wesen gefüllt“ (EZ 210, Anm. 7). 485 Bei diesen „Funken“ handelt es sich um die bereits eingangs des Kapitels genannte „verstreute“ Schechina, die „Einwohnende Herrlichkeit [Gottes]“ (BST 52). Mit diesem kuriosen Begebnis aus Urzeiten wird letztlich folgendes Szenario assoziiert: „Der Gott neigt sich zur Welt herab; […] seine ‚Einwohnung‘, die Schechina, steigt zur Welt nieder, um bei ihr zu wohnen; […].“ (EJ 35) Seither sei das Wort in alles, was ist, eingegangen und in Form von „heiligen Funken“ 486 sämtlichem Irdischen inhärent: „Die Schechina ist das der Schöpfung eingetane Wort […].“

484 Weiter heißt es in Bubers Aufsatz „Die Brennpunkte der jüdischen Seele“: „Von diesem seinem leiblichen Wissen aus kann er [der Jude] nicht zugeben, daß die Erlösung geschehen sei […].“ (BJS 207) Vgl. hierzu auch die folgende Stelle aus besagter Schrift: „Wir spüren das Heil geschehen; und wir spüren die ungeheilte Welt.“ (BJS 210) Schließlich definiert Buber die zwei Brennpunkte der jüdischen Seele als „die Unmittelbarkeit zum Seienden und das Wirken der versöhnenden Kraft in einer unversöhnten Welt“ (BJS 210). 485 In der Chassidischen Botschaft heißt es analog: „In alle Dinge der Welt sind in der Urzeit des Seins, in der Zeit, da Gott Welten baute und niederriß, Funken gefallen.“ (CB 799) Vgl. hierzu auch EZ 239, CB 776, DC 979 sowie Wehr 1978, vor allem S. 63. 486 Vgl. zur verstreuten Schechina respektive der einwohnenden Herrlichkeit Gottes beziehungsweise den den Dingen und Wesen immanierenden Funken sowie zur Funkenlehre im Allgemeinen vor allem JM 16, LC 24 f., 28 f., 33–37, 44 f., BST 52– 55, 57 f., 60–64, EZ 81 f., 106, 122 f., 197, 210, Anm. 7, 239, 258, 303 f., 308 f., 323 f., 347, 368, 446, 466, 493, 550, 553, 566, 603, 625, 637, CB 746–750, 752, 754, 762 f., 767 f., 776 f., 779 f., 795–800, 806–809, 811 f., 814 f., 822, 842, 859 f., 870, 874, 894, CAM 941–944, MW 962, 964, DC 979, 981–983, GM 1005, 1009, 1027 f., 1030, 1071, 1098, 1113, 1127, 1176, 1191 f., 1202, 1204, 1223 f. und 1241; vgl. ferner JM 16, EZ 94, 103 f., 107, 141, 174, 194, 201, 204, 218, 248, 255, 274, 305, 312, 351, 355, 359, 369, 406, 455, 480, 509, 519, 536, 575, 577, 585, 663, 686 f., RN 928–930, GM 1187, EJ 35, GJ 194, 196, RV 5 f., A 628–631 sowie Wehr 1978, S. 30, 32–34, 40, 49, 51, 55, 61–64, 71 f., 76, 79–81 (in Bezug auf Bubers Ausführungen zu den Funken vgl. ebd., etwa S. 85 und 109), Scholem 1986, S. 184 f., 188 f., 194–196, 200, ferner 201, ders. 1993, S. 362, 367 f., 379 f. und Schatz-Uffenheimer 1963, S. 279 f., 282 und 286.

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(BST 61, Anm. 18) An diesem Punkt wird die Interferenz zwischen Bubers dialogischer und der – präziser formuliert: seiner – chassidischen Lehre gänzlich luzid. Die Konsequenz dieses als „Katastrophe“ bezeichneten Vorgangs respektive der daraus resultierenden „Welteinwohnung“ Gottes mittels seiner Schechina, die sich wiederum auffächert in unzählige „göttliche Funken“, erweist sich somit gleichermaßen positiv wie negativ konnotiert: Einerseits „wohnt“ Gott in Gestalt seiner Schechina seit jener Zeit unmittelbar in der irdischen Sphäre, auf der anderen Seite fristet Letztere – getrennt von ihrem Ursprung – gleichsam ein Dasein „im Exil“ 487: Die göttliche Einheit ist ruiniert, ihrer Erlösung harrend, wandelt die Schechina auf Erden. 488 „Dies aber ist die Erlösung, daß die Schechina aus der Verbannung heimkehre. ‚Daß alle Schalen von der Schechina weichen und sie sich reinige und sich eine ihrem Eigner in vollkommener Einung.‘“ (LC 33) Das Ziel im Sinne der Erlösung Gottes und ex aequo der Welt bestünde demnach darin, Gott und dessen Schechina (wieder) zusammenzuführen – mit anderen Worten: „daß alle Seelen und Seelenfunken, die der Urseele entsprossen und in der Urtrübung der Welt oder durch die Schuld der Zeiten gesunken und hinausgestreut sind […], die Wanderschaft beschließen und geläutert heimkehren“ (LC 34). Bevor die konkrete, individuelle Aufgabe jedes einzelnen Menschen innerhalb dieses Funkenerlösungsprozesses (samt deren Implikationen im Detail) in Kapitel II.4.2.2 exemplifiziert werden wird, ist es angebracht, Erscheinungsorte der Funken zu konkretisieren und das Prozedere der Läuterung und infolgedessen der Heimsendung der Funken des Göttlichen im Allgemeinen zu thematisieren.

Vgl. hierzu die Verweise in Anm. 486. „Dahinter steht die Vorstellung, wonach Gott selbst das Schicksal seines in der Diaspora und in der Entfremdung der Erlösung und Heimkehr harrenden Volkes teilt. Es ist die Schechina, die anwesende Gottesherrlichkeit, die in jedem Ding, in jedem Menschen, in jedem Augenblick die Drangsal des Exils erleidet.“ (Wehr 1978, S. 32; vgl. ebd., S. 64) 487 488

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4.2.1 Brot und Mahl: Von den Wohnstätten göttlicher Funken und dem Modus ihrer Sublimierung Die bereits erwähnte Tatsache, dass sich „göttliche Strahlungen, glimmende göttliche Funken in allen Wesen und Dingen“ (EZ 81) – „auch in den scheinbar völlig toten“ (JM 16) – befinden, 489 bildet gleichwohl einen geeigneten Einstieg in das in diesem Abschnitt zu Fokussierende: In erster Linie gilt es, die Wohnstätten göttlicher Funken sowie möglicherweise zu differenzierende Typen beziehungsweise Charakteristika derselben auszumachen. Zudem wird der spezifischen Art und Weise ihrer Erhebung im Sinne eines heiligenden Umgangs mit Wesen und Dingen sowie einer entsprechenden Verrichtung von Tätigkeiten nachgespürt, um schließlich den Boden zu bereiten für das im nachstehenden Kapitel zu Vertiefende. In Bezug auf die den Dingen und Wesen einwohnenden Funken lautet es in Bubers Schriften zum Chassidismus präzisiert, komplette „Seelen“ inhärierten den Menschen, „Seelenfunken“ dagegen den nicht-menschlichen Lebewesen und Dingen. (Vgl. LC 34) Da die vorliegende Arbeit im Wesentlichen auf den Umgang mit letzteren zentriert ist, sollen im Folgenden in erster Linie die Funken als solche Beachtung finden: Diese werden als separate, in genannten „Domizilen“ verborgen wohnende Kreaturen charakterisiert – sie „hausen in Wasserlachen, in Steinen, in Gewächsen, in Tieren, der erlösenden Stunde entgegenharrend“ (LC 34) 490 – das Erscheinungsbild einer „menschenähnliche[n] Gestalt“ (CB 799) 491 auf489 Siehe zu den göttlichen Funken in allen Wesen und Dingen beispielsweise auch folgende beiden Stellen: „In allem, was in der Welt ist, wohnen heilige Funken, kein Ding ist ihrer ledig.“ (BST 55) „Dieser ist kein Ding leer. Sie leben in allem, was ist.“ (LC 34) Vgl. zu dem Aspekt, dass Gott überall wohne, exemplarisch auch LC 25, EZ 559 f., EZ 695, GJ 189 sowie Anm. 469 dieser Arbeit. 490 In Bezug auf die in den Steinen, Gewächsen und Tieren befindlichen Funken siehe auch LC 36, BST 54, EZ 210, CB 799 und 819 sowie ferner ZS 182 f. 491 „In einer stofflichen Schale, in einem Mineral, in einer Pflanze, in einem Tier ist der Funke verborgen, eine vollständige menschenähnliche Gestalt, in sich zusammengekrümmt, den Kopf auf den Schenkeln, ohne Hände und Füße bewegen zu können, embryohaft.“ (CB 799) Vgl. hierzu auch LC 36: „»Der Funke in einem Gestein oder Gewächs oder einer andern Kreatur ist wie eine völlige Gestalt, die in der Mitte des Dinges wie in einem Block sitzt, daß Hände und Füße sich nicht strecken können und der Kopf auf den Knien liegt.«“ Siehe diesbezüglich (neben den in der vorstehenden Anmerkung genannten Belegstellen) auch CAM 941–944, DC 983, EZ 603 sowie Wehr 1978, S. 33 und 49.

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„Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

weisend; andernorts heißt es, sie fielen in der Hoffnung auf Erlösung „in die bereite Seele“ (JM 16); in der Abhandlung „Der Chassidismus und der abendländische Mensch“ liest man gar, die Funken verwandelten sich gänzlich in die begegnenden Wesen und Dinge (vgl. CAM 943) 492. Geht man primär von ersterer, in Bubers Schriften überwiegend auftretender Variante aus, repräsentiert das Brot das Paradebeispiel schlechthin einer „Wohnstätte“ der göttlichen Funken innerhalb der Sphäre alltäglicher Dinge. Diesbezüglich gibt der Rabbiner Mosche von Kobryn in den Erzählungen der Chassidim nachstehendes, nicht zuletzt hinsichtlich der Fragestellung dieser Arbeit programmatisches Diktum kund: „»Wollt ihr wissen, wo Gott ist, seht dieses Brot an. Hier ist er«“ (EZ 553) – im Sinne der „»Funken göttlichen Lebens, die darin sind.«“ (EZ 553) 493 Jedoch finden sich nicht nur generell in den Lebewesen und Dingen der Welt derartige Funken, zudem sind die Tätigkeiten und Handlungen des Menschen mit Funken behaftet, die erlöst werden wollen und aufgrund dessen letztlich ebenfalls „seiner Seele zugehören“ (BST 54): Entsprechend formuliert Buber etwa in der Chassidischen Botschaft: „Auch die Werke sind Schalen“ (CB 812), und in der Abhandlung zum Baalschem heißt es: „Auch in den Handlungen des Menschen […] wohnen Funken der Herrlichkeit Gottes.“ (BST 55) 494 Ferner sind Vorstellungen und Wünsche (vgl. CB 747) respektive sämtliche Gedanken des Menschen als potenzielle „Behausungen“ der Funken nicht zu unterschlagen: „Alle Gedanken des Menschen sind sprechende Bewegung, auch wenn er es nicht weiß.“ (RN 907) Diese „mobile“ Eigenschaft der Gedanken wiederum scheint prinzipiell kein Hindernis für die „umherschwirrenden“ Funken darzustellen, sondern der jeweilige Gedanke nicht minder als „Anlaufstelle“ für die sich nach Erlösung Sehnenden geeignet: 495 492 Verbaliter lautet es, die Funken, „»die von der Urschöpfung her in die Hüllschalen gefallen waren und sich in Steine, Gewächse und Tiere verwandelten […].«“ (CAM 943) 493 Auf die symbolisch-eucharistische Konnotation und Bedeutung des Brotes kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. 494 Vgl. hierzu auch Wehr 1978, S. 33. 495 „[J]a sogar in der Sünde, die ein Mensch tut, wohnen Funken der Herrlichkeit Gottes. Und was sind das für Funken, die in der Sünde wohnen? Es ist die Umkehr. In der Stunde, wo du ob der Sünde Umkehr tust, hebst du die Funken […].“ (BST 55 und 631 f.) Vgl. hierzu auch Wehr 1978, S. 33 f.

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

Überall sind die Funken eingetan. Sie hängen in den Dingen wie in versiegelten Brunnen, sie ducken sich in den Wesen wie in zugemauerten Höhlen, sie warten; und die im Raume wohnen, schwirren wie lichttolle Falter um die Bewegungen der Welt umher, ausschauend, in welche sie einkehren könnten, durch sie erlöst zu werden. (LC 36)

Exakt formuliert, ist exklusiv der Mensch für die Befreiung der Funken verantwortlich: „Eine Erlösung gibt es für ihn [den jeweiligen Funken] nur durch den Menschen. Den Menschen liegt es ob, die Funken aus den Dingen und Wesen zu läutern, denen man im Alltag begegnet […].“ (CB 799) 496 Mit anderen Worten: Der Mensch ist zum Zwecke der Erlösung der Welt ins Leben berufen worden, was mittels folgender Stelle aus Bubers Erzählungen der Chassidim einmal mehr kommuniziert wird: „»Wahrlich, der Mensch ist erschaffen, damit er den Himmel emporhebe.«“ (EZ 663) Dies bewerkstelligt er im Einzelnen durch die Erhebung der göttlichen Funken beziehungsweise die Errettung der exilierten Schechina, die wiederum um des Menschen willen zur Erde herabgestiegen ist, in Gestalt der göttlichen Funken, die „fielen, um gehoben zu werden: um des Wirkens des Menschen an der Erlösung willen“ (BST 54, Anm. 6). 497 In diesem Kontext sei der ursprüngliche Funkenmythos der Kabbala – wie oben erwähnt – „in den Händen des Baal-schem-tow zu einer ethischen Lehre geworden und [habe] sich zu einem Auftrag erweitert, der das ganze Leben des Menschen umfaßt“ (CB 799). Überdies sei nicht nur der Funkenfall als solcher um des Menschenwesens willen inszeniert, sondern darüber hinaus seien sämtliche dem Einzelnen individuell „zugeordneten“ Wesen und Dinge zwecks dessen Engagements am Erlösungsvorgang kreiert und ihm schließlich dargebracht worden: „Denn dazu ist der Mensch erschaffen und dazu die Dinge dieser Welt, die jedem einzelnen zugehören und, wie der Baalschem sagt, ‚mit aller Macht begehren, ihm nahezukommen, damit die Funken der Heiligkeit, die in ihnen sind […]‘, […] durch ihn Gott zugebracht werden.“ (DC 982) 498 Konkretisiert werden die Darlegungen bezüglich des jedem Menschen, im Sinne seines persönlichen „Besitzes“, Zugehörigen beiVgl. CB 776 und DC 979. Zu der menschlichen Verantwortung am Erlösungsprozess siehe etwa auch Wehr 1978, S. 31. 498 Siehe auch CB 746. 496 497

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„Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

spielsweise an folgender Stelle: „Alles, was der Mensch zu eigen hat, seine Knechte, seine Tiere, seine Geräte, alles birgt Funken, die […] von ihm zu ihrem Ursprung erhoben werden sollen.“ (BST 54) 499 Des Weiteren seien hinsichtlich der immateriellen „Habe“ selbst etwa zweifelhafte Gedanken (welche den Einzelnen auf den ersten Blick womöglich von aktuell zu verrichtenden, essenziellen „Diensten“ abzubringen und dagegen zu unlauteren Aktivitäten anzustiften scheinen) mitnichten akzidentiell oder willkürlich an diesen geraten, sondern gezielt, speziell diesem bestimmt: „Wie die Dinge und Wesen, mit denen einer zu schaffen bekommt, ihm zugereicht worden sind, so auch, was an Vorstellungen, an Gedanken, an Wünschen mit dem Anschein der Fremdheit in die Seele fällt.“ (CB 747) 500 Diese „»fremden Gedanken«“ (etwa CB 796) 501 gelte es – trotz oder gerade aufgrund ihrer (vermeintlichen) „Fremdheit“ respektive primär negativen Konnotation – keinesfalls zu ignorieren oder gar aus dem Innern und somit dem eigenen Leben grundsätzlich zu „eliminieren“ – bergen diese doch gleichermaßen Gottesfunken, die ihre „Läuterung“ erwarten: Nicht wegstoßen sollen wir ihre Fülle, die unserem Herzen nachstellt, sondern sie in das wirkliche Dasein aufnehmen und einfügen; nur in der Kraft solches Tuns werden wir zu der Einheit gelangen, die nicht von der 499 Vgl. hierzu zum Beispiel auch CB 747 und 799 f. sowie Wehr 1978, S. 33. Eine ausführliche Erörterung des menschlichen Umgangs mit dem dem Einzelnen je individuell Zukommenden und ihm täglich in seinem persönlichen Bezirk Begegnenden wird im nachstehenden Kapitel erfolgen. 500 Weiter heißt es in diesem Kontext: „So gibt es denn in der Seele des Menschen nicht mehr qualitativ gesondert das Weltliche und das Geistliche nebeneinander, es gibt nur noch die Kraft und die Richtung.“ (CB 747) Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel II.2.2 zu Richtung und Richtungslosigkeit sowie Anm. 495 bezüglich der Funken in der Sünde. 501 Gemäß Bubers Definition seien die „fremden Gedanken“ nicht etwas, „was wir ein psychologisches Phänomen nennen, sondern ein Phänomen, das der kosmischen Sphäre angehört und sogar über sie hinausreicht“ (CB 795). Sie repräsentieren gleichsam die negative Seite der Funken im Sinne der bösen Gedanken, die einen vor allem im Gebet angingen. „Hier, im Bereich der ‚fremden Gedanken‘, muß der Gegenstand, auf den sich in der Phantasie des Menschen das Gelüst richtet, gleichsam durchsichtig werden, um seine Dämonie zu verlieren und den Blick auf Gott freizugeben. Anders ist es im Bereich des natürlichen Daseins des Menschen, seines Lebens mit der Natur, seiner Arbeit, seiner Freundschaft, seiner Ehe, seines Einvernehmens mit der Gemeinde: da sollen einem die Gegenstände der Neigung und Freude […] in ihrer ganzen Wirklichkeit verbleiben […].“ (CB 780) Auf letzteren Aspekt wird im Fortgang dieses Kapitels noch rekurriert werden.

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

Welt absieht, sondern sie umfängt. […] Wir sollen das Element, das sich unser bemächtigen will, in Substanz des wahren Lebens verwandeln. […] Recht eigentlich ist es ja die göttliche Weisheit selber, die sich in den „fremden Gedanken“ birgt und will, daß man sie in ihnen finde, zu ihr durchbreche und sie befreie; Gott selber tritt uns an und fordert uns an. (CB 795 f.) 502

Prinzipiell gilt es festzuhalten, dass die erfolgreiche Erlösung des jeweiligen Funkens – wohne dieser nun einem dem Menschen anvertrauten Wesen oder Ding, der ihm zugeteilten Handlung, einem positiven oder gar negativen Gedanken inne – einer Tat gleichkommt, deren Signifikanz mit Bedacht auf das Schicksal Gottes in der Welt als präzedenzlos einzustufen ist: „»Wer aber den heiligen Funken zu heben vermag, der führt ihn in die Freiheit, und keine Lösung Gefangener ist größer als diese.«“ (LC 36) 503 Demgemäß bereichert die Funkenläuterung das Leben offensichtlich nicht nur um (s)eine wesentliche Komponente, sondern ermöglicht es allererst, Sinn zu konstituieren. Übertragen auf den chassidischen Lebensvollzug, wird dieses Geschehen von Gershom Scholem folgendermaßen interpretiert (zu dessen Kritik dagegen siehe die auf das Zitat folgende Anmerkung): Die Funken zu heben, das bedeutete für viele Chassidim in der Tat, ein volleres Leben zu führen. Es ging für sie nicht darum, das Wirkliche zu entleeren, indem man die Funken wegnahm, sondern es zu erfüllen, indem man sie einbrachte. In solcher Auffassung erschienen die heiligen Funken nicht mehr als metaphysische Elemente göttlichen Seins, sondern als subjektive Gefühle der Freude und Bejahung, die in die Beziehung des Menschen zu seiner Umgebung projiziert werden. 504 502 Siehe auch folgende Belegstelle: „Bedeutet doch ihre Erscheinung eine Erscheinung Gottes in den ihm scheinbar allerfernsten Dingen […].“ (CB 779) Vgl. hierzu auch CB 811 und 885. 503 Vgl. zu diesem Aspekt auch BST 54 sowie nachstehenden Satz aus der Chassidischen Botschaft: „Dies [die Hebung der Funken] vollbringen, das ist, wie wenn du einen Königssohn aus dem Gefängnis befreist.“ (CB 799) 504 Scholem 1986, S. 196. Kritisch allerdings vermerkt Scholem weiter: „Das aber ist eine Anschauung, die nicht aus der Theologie der Begründer des Chassidismus stammt, sondern aus der Stimmung einiger seiner Anhänger. Und in dieser populären oder vulgären Fassung, die sich manchmal (keineswegs immer!) in der Welt der chassidischen Legende widerspiegelt, liegt selbstverständlich die relative Berechtigung für Bubers stark vereinfachte Anschauungsweise. Das aber nun die Botschaft des Chassidismus zu nennen, scheint mir weit gefehlt.“ (Ebd.) Darüber hinaus widerspricht Riwka Schatz-Uffenheimer mit ihrer Kritik, mit der Erhebung der Funken gehe nicht etwa eine „Heiligung“, sondern vielmehr „Nichtung“ des Konkreten

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„Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

Im Zentrum chassidischen Lebensvollzugs steht gemäß der Buberschen Interpretation der faktische Umgang mit den realen Dingen und Wesen der eigenen Umgebung – „da sollen einem die Gegenstände der Neigung und Freude, die eben Wirklichkeit, nicht Möglichkeit sind, in ihrer ganzen Wirklichkeit verbleiben […]“ (CB 780) 505. Der einleitend zu Kapitel II.4.2 formulierten Intention, die kabbalistische Funkenlehre als Grundlage der Alltagsheiligungslehre einsichtig zu machen, Rechnung tragend, soll die letzte, in das finale Kapitel des Buber-Teils der Arbeit überleitende Explikationsetappe dazu fungieren, den „Dienst […] an den Funken“ (vgl. CB 799) hinsichtlich dessen symptomatischer Realisierungsqualität näher zu beleuchten: „Hier ist der Punkt, wo wir uns mit dem zentralen Prinzip von Bubers Deutung des Chassidismus auseinanderzusetzen haben. […] Welcher Art ist die Berührung mit der konkreten Realität der Dinge, die der Mensch […] durch die Erhebung der heiligen Funken zustande bringt?“ 506 Anhand oben ausgemachter „Wohnstätten“ der Gottesfunken beziehungsweise des Faktums, „daß die Schechina sich allerorten niederläßt, und daß es an uns ist ihr zu dienen, wo immer sie ist“ (GM 1098), 507 wird grundsätzlich deutlich: Die Erlösung der Funken vollzieht sich hauptsächlich „im Leben des Alltags“ (CB 799). Infolgedessen argumentiert Buber auch in diesem Kontext, es gelte keinesfalls, „in einzelnen Stunden nur und mit bestimmten Worten und Gebärden Gott zu dienen, sondern mit dem ganzen Leben, mit dem ganzen Alltag, mit der ganzen Weltlichkeit“ (MW 962). Werde dies beherzigt, könne in restlos allem gleichsam auf Gott gestoßen werden, denn (wie besonders anhand der „allerfernsten Dinge[n]“ einher (siehe zu ihrem Vorwurf die entsprechenden Ausführungen in Kapitel I.1, besonders Anm. 229 der vorliegenden Arbeit), nicht nur Buber, sondern letztlich auch Scholem. Buber setzt sich wie folgt verbal zur Wehr: „Ist das nicht ‚Realismus‘ genug? Und von einem ‚Nichten‘ des Konkreten ist in dieser Linie des Chassidismus – die mit seinem Anfang beginnt [gemeint ist, mit dem Baalschem] – nichts zu finden. Die Wesen und Dinge, an denen wir diesen Dienst tun, sollen ja ungemindert bestehen bleiben; die ‚heiligen Funken‘, die ‚erhoben werden‘, müssen ihnen damit nicht entzogen werden.“ (DC 983 und A 631) 505 Vgl. CB 894 sowie BJS 206. 506 Scholem 1986, S. 187. Während Scholem dies bereits aus historisch-theologischer Perspektive eruiert hat, soll dies im Rahmen der vorliegenden Arbeit dagegen – der Fragestellung entsprechend – auf eine explizite Aufwertung des Alltäglichen in seiner Schönheit hin erfolgen. 507 Siehe hierzu zum Beispiel auch DC 978–980.

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

(CB 779) 508 in diesem Fall der „fremden“ Gedanken demonstriert) „kein Ding kann ohne einen göttlichen Funken bestehen, und diesen Funken kann jeder zu jeder Zeit und durch jede, auch die gewöhnlichste Handlung entdecken und erlösen […]“ (MW 962). Analoges liest man in folgender Passage, welche an dieser Stelle im Hinblick auf die entscheidende Art und Weise der Ausführung des „Dienstes“ zitiert werden soll: „[D]er Mensch vermag ihn mit allem, was er tut, zu verrichten, auch mit den profansten körperlichen Handlungen, die ihn mit Dingen und Wesen in Berührung bringen, denn auch die profanste Handlung kann in Heiligkeit getan werden, und wer sie in Heiligkeit tut, erhebt die Funken.“ (CB 799) Die ausschlaggebende Komponente, die eine „funkenerlösende“ Handlung sowie einen ebensolchen (Ding-)Umgang von gewöhnlichem (das heißt, zumeist unbewusstem, unreflektiertem und undifferenziertem, zur Gewohnheit degradiertem) Verhalten unterscheidet, ist somit die diese respektive diesen fundierende, bereits erwähnte Intention der Heiligkeit beziehungsweise „Heiligung“ (DC 983), alternativ als „Weihe“ (CB 812), „Weihung“ (DC 983) oder „Zuweihung“ (DC 979) bezeichnet. Besagte „funkenhebende“ Energie der „heiligenden“ Absicht gilt es, auf sämtliche Bereiche des täglichen Lebens gleichermaßen zu applizieren: „In den Kleidern, die du anziehst, in den Geräten, die du verwendest, in den Speisen, die du issest, in dem Haustier, das sich für dich müht, in allem sind Funken verborgen, […] und gehst du mit den Dingen und Wesen mit Sorgfalt, Wohlwollen und Treue um, erlösest Du sie.“ (CB 799 f.) 509 Die hier aufgeführten Nomina beschreiben den Aspekt der „Heiligung“ zunächst hinsichtlich des Umgangs mit Wesen und Dingen zumindest etwas konkreter: Letzterer ist wohl als adäquater zu affirmieren und verdient zudem das Prädikat „heilig“, sofern er in einem (höchst) liebevoll-achtsamen – ja ehrfurchtsvollen, das individuelle Dasein des jeweiligen Lebewesens oder das Ding an sich, samt dessen spezifischer Funktion(en), (an)erkennenden und wertschätzenden sowie auf dessen Erhalt bedachten Modus ausgeführt wird. 510 508 Selbst „Im Dirnenhaus“ (EZ 625) halte sich – wie Buber in der gleichnamigen Erzählung in den Erzählungen der Chassidim zu vermitteln weiß – die Schechina auf. 509 Vgl. hierzu auch LC 36 f. sowie Heinze 2013b, S. 341. 510 Gemäß dem universalen Anspruch der Funkenlehre ist auch der Umgang mit Hab und Gut eines Anderen oder Unbekanntem nicht davon ausgenommen, denn

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„Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

Analog hat die (mit dem Umgang im Allgemeinen korrelierende) Verrichtung von Werken und Tätigkeiten aller Art zu erfolgen, denn „wer sie mit der rechten Weihe vollbringt, umfängt im Kern das Schrankenlose“ (CB 812) und ist letztlich in der Lage, „»mit allen Arbeiten und Geschäften«“ (CB 801) die Funken zu erheben: Durch die in ihrer Intention geheiligte Handlung werden die gefallenen göttlichen Funken […] befreit, und indem er dies tut, wirkt der Handelnde an der Erlösung der Welt. Ja, er wirkt an der Erlösung Gottes selber, da er […] die verbannte Gottesglorie für die Gnadenzeit eines unmeßbaren Augenblicks ihrem Quell nähern, in ihn eintreten lassen kann. (EJ 39)

Greift man exemplarisch einzelne der vorgenannten essenziellen Verrichtungen des täglichen Lebens heraus, um diese genauer zu analysieren, steht die Nahrungsaufnahme angesichts ihrer existenziellen Dimension an erster Stelle. Scheint diese – ob ihrer (vermeintlichen) Profanität und der Tatsache, dass sie in der Regel in keinem abgesonderten, sakralen Bereich stattfindet – eines weihevollen Potenzials zu entbehren, finden sich zahlreiche einschlägige Passagen in Bubers Ausführungen zum Chassidismus, die jeweils das Gegenteil demonstrieren: Weder Häufigkeit noch Umgebung der Essensaufnahme ist primär von Relevanz, sondern – wie oben bereits angedeutet – vielmehr deren Vollzugscharakter als solcher. Demnach sei im Leben der Chassidim „das Essen selber sakramentaler Dienst geworden: an tierischem und pflanzlichem Wesen geschieht durch die geheiligte Aufnahme zur Speise die funkenemporhebende Erlösung der Kreatur“ (CB 747). Infolgedessen verzehrten die Chassidim „»ihr Mahl, wie man ein Opfer darbringt«“ (EZ 711) 511 – von einem Zaddik erzähle man gar, er habe „»so heilig gegessen, wie der Hohepriester geopfert hat.«“ (EZ 545) 512 Nichtsdestominder bleibe dieser solenn-weihevolle „Verzehrensmodus“ prinzipiell keiner Person verschlossen, denn jeder Mensch, „»der in der Weihe ißt, erlöst die heiligen Funken, die in der Speise gebannt sind.«“ (EZ 368) 513 Dieser immense Stellenwert, welcher „noch Begegnungen mit fremden Dingen und Wesen in der Fremde meinen heilige Tat“ (CB 747). 511 An dieser Stelle geht es konkret um das „Mahl an einem der neun Tage, die dem neunten des Ab, dem Klagetag, vorausgehn“ (EZ 711). 512 Vgl. EZ 550 sowie zum Essen und Trinken im Allgemeinen beispielsweise EZ 87 und 135. 513 Es handelt sich letztlich um eine breite Palette an Aspekten, welche einen heiligenden Essvorgang bedingen: Während die in Bezug auf den Dingumgang im All-

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dem Vorgang des Essens aus Sicht Bubers innerhalb der chassidischen Tradition beigemessen wird, korreliert mit einer ebensolchen Erhöhung des Menschen, was anhand der Interpretation des Gastmahls bei Abraham nach Rabbi Sussja augenscheinlich wird: Dort heiße es, der Mensch stehe über den Engeln, weil er die ihnen unbekannte Intention des Essens kennt, die es heiligt. […] Alle natürliche Handlung führt, wenn sie geheiligt wird, zu Gott, und die Natur bedarf des Menschen, damit das an ihr vollzogen werde, was kein Engel an ihr vollziehen kann: damit sie geheiligt werde. (WM 722) 514

Arbeiten und Schlafen sind – neben Essen (und Trinken) – als weitere Verrichtungen (partiell physischer wie geistiger Natur) zu nennen, die normalerweise ebenfalls tagtäglich ausgeführt werden. Hinsichtlich des Arbeitsprozesses wurde bereits angedeutet, dass hierbei zwecks der Funkenerlösung ein sorgsamer, auf den (letztlich durch die Inhärenz der Funken bedingten) intrinsischen Eigenwert bedachter Umgang mit den Gegenständen angezeigt ist, mit denen der Einzelne im Rahmen seiner Arbeitsverrichtungen konfrontiert wird. 515 Der Vollständigkeit halber sei ferner an dieser Stelle auf den Aspekt der ebenso Vorstellungen und Gedanken generell immanenten Funken rekurriert, welcher speziell in Bezug auf Arbeitstätigkeiten überwiegend nicht-materieller Natur von Bedeutung ist: Auch im Falle der Gedanken und Vorstellungen kommt es auf eine „heilige(nde)“, will heißen ernsthafte, buchstäblich bedächtige, degemeinen höchst relevante Komponente des auf den Erhalt des Dinges Bedachtseins in diesem Fall nicht im Fokus steht, ist nichtsdestotrotz ein ehrfürchtiger Umgang mit den Esswaren geboten: An erster Stelle wäre in dieser Hinsicht wohl die Dankbarkeit im Sinne einer generellen Wertschätzung, wie diese Meyer-Abich fordert (vgl. Anm. 182), zu nennen; nicht zu vernachlässigen ist jedoch auch der je typische Geschmack der Speisen – „man schmeckt den Geschmack der Speisen in Weihe, und der Tisch wird zum Altar“ (CB 780) – sowie deren Duft, welchen letztlich die Funken den Nahrungsmitteln verleihen (vgl. CB 811). 514 In Bezug auf das Fasten erläutert Buber gemäß seiner Interpretation chassidischer Lebensführung, „daß das Sich-entfernen von der Natur, das Sich-enthalten dem natürlichen Leben gegenüber wohl zuweilen den einem Menschen notwendigen Wegbeginn, […] aber nicht den ganzen Weg bedeuten kann. […] Der Mensch soll sich von der Natur nur entfernen, um erneuert zu ihr zurückzukehren und durch den geheiligten Kontakt mit ihr den Weg zu Gott finden.“ (WM 722) In Bezug auf den Aspekt des sich nicht Kasteiens siehe auch EZ 173 f. 515 „Man arbeitet in Weihe und hebt die Funken, die sich in allen Geräten bergen.“ (CB 780)

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ren (Aus)Wirkung auf das Leben als „sprechende Bewegung“ (RN 907) je realisierende Vollführung an, um die Läuterung der verborgenen Funken und somit deren „Heimgang“ zu ermöglichen. Selbst ein Vorgang, der den Menschen weder primär mit Dingen noch (bewusst) mit Gedanken in Berührung bringt, (meist) gar gänzlich unbewusst erfolgt, könne gleichwohl heilig geschehen: In den Erzählungen der Chassidim wird in „Der redliche Schlaf“ (vgl. EZ 693) davon gehandelt, wie ein Rabbiner angesichts einer Schülerschar im Lehrhaus, von der er einen Teil lernend, den anderen schlafend vorfand, den Ausspruch tätigt: „»Ihr Schlaf […] gefällt mir besser als ihr Lernen.«“ (EZ 693) Im Kontext des in Kapitel II.3 Erörterten zeugen diese spärlichen wie exemplarischen Worte von dem hohen Stellenwert des Schlafes bei den Chassidim. 516 Eine präzise Deskription, wie ein „heiligendes“ Schlafen in praxi vorzustellen ist, sucht man nach Kenntnisstand der Autorin allerdings vergeblich in Bubers Ausführungen. Zumindest etwas ausführlicher fällt nachstehende Anekdote „Der Schlaf“ (vgl. EZ 305 f.) aus, welche ebenfalls die prinzipielle Ablehnung einer Differenzierung „wichtiger“ von „unwichtigen“ Verrichtungen unterstreicht: 517 In dieser wird Rabbi Schmelke – seiner Gewohnheit gemäß, um seine Gebetszeit nicht drastisch zu verringern – im Sitzen schlafend von Rabbi Elimelech angetroffen: Als Rabbi Elimelech ihn besuchte und die noch eingesperrte Macht seiner Heiligkeit erkannte, bereitete er ihm sorgsam ein Ruhebett und bewog ihn mit vieler Überredung, sich für ein Weilchen darauf auszustrecken. […] Rabbi Schmelke erwachte erst am hellen Morgen. Er merkte, wie lang er geschlafen hatte, aber es reute ihn nicht, denn er empfand eine ungekannte, sonnenhafte Klarheit. Er ging ins Bethaus und betete der Gemeinde vor, wie es sein Brauch war. Der Gemeinde aber erschien es, als hätte sie ihn noch nie gehört, so bezwang und befreite alle die Macht seiner Heiligkeit. […] Später sagte Schmelke zu Elimelech: „Jetzt erst habe ich erfahren, daß man Gott auch mit dem Schlafe dienen kann.“ (EZ 306) 518

Auch der (idealiter in vollem Bewusstsein ausgeführte) Beischlaf (welcher an dieser Stelle aus der Reihe der gemeinhin als „profan“ 516 Siehe zur Thematik des Schlafens auch LC 27, EZ 495, 611, 693, CAM 940 f. und ferner EZ 695. 517 Die explizite Negierung einer Handlungshierarchie wird im nachfolgenden Kapitel noch einmal intensiv diskutiert werden. 518 Auf diese Anekdote nimmt Buber Bezug in seiner Schrift „Der Chassidismus und der abendländische Mensch“. Vgl. CAM 941 f.

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erachteten Beispiele herausfällt) ist nicht davon ausgenommen, die göttlichen Funken zu erheben (vgl. EZ 264), sofern auch dieser in entsprechend würdevoll-achtsamer Gesinnung und mithin einer adäquaten Vollzugsweise geschieht: 519 „Es bedarf keiner Abtötung der ‚Triebe‘, denn alles natürliche Leben kann geheiligt werden: man kann es mit heiliger Intention erfüllen.“ (CAM 941) 520 An anderer Stelle kommt ebenfalls die antiasketische Geisteshaltung des Chassidismus zum Ausdruck, indem dezidiert bekräftigt wird, „man darf und soll wahrhaft mit allem leben, aber man soll in Weihe mit ihm leben, man soll alles, was man in seinem natürlichen Leben tut, heiligen. Kein Verzicht ist geboten.“ (CB 780) Dieser signifikante, das menschliche Leben universal und unreduziert – das heißt, inklusive all seiner Facetten, physischen und geistig-seelischen Implikate sowie diversen Bedingtheiten gleichermaßen – bejahende Charakter des Chassidismus veranlasst Buber dazu, die Funkenlehre als dessen „stärkste Basis“ (EZ 106) zu deklarieren: Resümierend formuliert, handelt es sich um die im Folgenden weiter zu spezifizierende Lehre von den in allen Dingen und Wesen, in allen Vorstellungen und Antrieben uns antretenden und von uns Erlösung verlangenden Gottesfunken und die damit verbundene Bejahung des ganzen leibseelischen Menschen, sofern er nur allem, was sich in ihm regt, die Richtung auf Gott zu verleihen vermag (EZ 106).

Letztbenannter Aspekt (welcher unter anderer Perspektive bereits in Kapitel II.2.2 problematisiert worden ist) bildet den Anstoß für das nachstehende Kapitel, in dem final einzelne Gesichtspunkte der Funkenerhebung extrahiert und einer vertiefenden Analyse unterzogen werden sollen. Zentral wird der Faktor der Gleichwertigkeit aller Handlungen (sofern im Zuge deren Verrichtung der heiligenden Gesinnung Rechnung getragen wird) sein sowie der je spezifische, an den Einzelnen ergehende Auftrag – samt aller Voraussetzungen und Konsequenzen dessen Einlösung. Die (nach wie vor) richtungweisende Fragestellung für die zu erörternde Thematik als solche, den Diskussionsabschluss im Buber-Teil und nicht zuletzt die Überleitung zum dritten Hauptteil der Arbeit lautet somit: „Wie in seinen Begegnungen mit Wesen und Dingen der göttlichen FunVgl. hierzu CB 780 f. und A 629. „Alles Körperliche, alles Triebhafte, alles Kreatürliche ist Materie der Heiligung.“ (BJS 206) 519 520

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ken innewerden, die sich in ihnen bergen? Wie durch heilige Intention das Leben des Alltags verklären?“ (EZ 82) 4.2.2 Der Schatz „unterm Herd unsres Hauses“: Negierung einer Handlungshierarchie und der spezifische Dienst des Einzelnen „Nicht die Materie der Handlung, nur ihre Weihung entscheidet.“ (LC 36 und EJ 39) Diese paradigmatische Sentenz aus Bubers Abhandlung über Das Leben der Chassidim (sowie der „Erneuerung des Judentums“) zu verifizieren, repräsentiert selbstredend ein Kernanliegen der vorliegenden Arbeit. Zudem beinhaltet sie in nuce, was in diesem Kapitel abschließend zu spezifizieren ist. Die Konzeption der kabbalistischen Funkenlehre samt deren chassidischer Prägung wurde aus Bubers Perspektive bereits erläutert und in diesem Kontext die Heiligung alltäglicher Handlungen thematisiert. Letztere steht und fällt – wie gesehen – mit der entsprechenden Gesinnung, in der die einzelnen Handlungen ausgeführt werden und der Umgang mit den Wesen und Dingen erfolgt. In Analogie zu dem in Kapitel II.2.2 bezüglich der generellen (Aus) Richtung der Handlungen „gen Himmel“ Erörterten, wird sich zeigen, dass es (basierend auf der chassidischen Leitidee der Kawwana und Dewekuth) ausschließlich dem „an Gott Haftende[n]“ 521, sich geeinten Wesens seinen individuellen (täglichen) Obliegenheiten Widmenden, gelingen kann, die göttlichen Funken je zu erlösen. In diesem Kontext gilt final besonderes Augenmerk dem Aspekt der Negation einer Handlungshierarchie sowie jenem der um jeden Einzelnen an dessen spezifischem „Lebensort“ sich aufspannenden Sphäre der einzig von diesem zu erlösenden Funken in Wesen, Dingen und Tätigkeiten. Bubers Auslegung chassidischer Lehre und seine Dialogphilosophie eint inhaltlich letztlich das Bestreben, die Notwendigkeit einer Annäherung von Welt respektive Schöpfung und Göttlichem – im Bild der Funkenlehre ausgedrückt: das Desiderat, Gott und seine Schechina einander (wieder) anzunähern – aufzuzeigen: „Und dies, die Erde dem Himmel ähnlicher machen, steht im Vermögen des Menschen; denn etwas von der Himmelssubstanz und Himmelskraft ist im Innersten jedes Menschenherzens verblieben und kann 521

Wehr 1978, S. 71; vgl auch A 628.

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von da aus wirken.“ (EZ 147) 522 Angesichts dieser elementaren Herausforderung, die Welt in toto dem Göttlichen anzugleichen, erweist sich eine Differenzierung „heiliger“ von „profanen“ Bezirken, Zeiträumen, Objekten, Tätigkeiten und Inhalten im Allgemeinen nicht nur als obsolet, 523 sondern deren Aufhebung vielmehr als fundamentale Prämisse. 524 Dies und somit die Aufhebung qualitativer Unterschiede besagter Aspekte plausibilisiert zu haben, summiert Buber unter die spezifischen Errungenschaften des Chassidismus, welche er im Rahmen seiner Schriften zum Chassidismus an zahlreichen Stellen artikuliert. In dem Leben, wie der Chassidismus es meint und verkündet, gibt es demgemäß keinen Wesensunterschied mehr zwischen heiligen und profanen Räumen, zwischen heiligen und profanen Handlungen, zwischen heiligen und profanen Gesprächen. An jedem Ort, zu jeder Stunde, in jedem Tun, in jeder Rede, kann das Heilige erwachen. (CAM 940) 525

In genuin dialogischer Manier resümiert Buber dementsprechend in der Chassidischen Botschaft: „Nichts in der Welt ist dem Heiligen ganz fremd, jegliches Ding kann ihm zum Gefäße werden.“ (CB 802) 526 Um dies mit einem Wort Hans Kohns auszudrücken: „Die 522 Letztere Vorstellung erinnert entfernt an Bubers dialogischen Gedanken des „eingeborene[n] Du“ (ID 96), welches der Mensch gleichsam aus vorgeburtlichem Zustand in sich behalte und mittels im Verlauf seines Lebens einzugehender IchDu-Beziehungen stets zu aktualisieren und zu erfüllen habe. 523 Analog zu dem bereits erläuterten Nexus von Ethischem und Religiösem. 524 Vgl. zur Aufhebung der Trennung zwischen heilig und profan jenseits der im Text bereits zitierten Passagen exemplarisch EZ 79 f., 147, 452, CB 776 f., 840–843, CAM 938–945, BJS 206, ferner EZ 112, 710; siehe auch etwa Wehr 1978, S. 7–9, 29 f., 71 und 81. 525 „So grundlegend auch im Judentum die Unterscheidung von Heilig und Profan war, es erwachte doch immer wieder der Wunsch, dem Heiligen Wirkung und Einfluß auch im Bereich des Profanen zu verleihen und so die ‚Brücke‘ zu schlagen. Dieser Wunsch ging nun in Erfüllung.“ (CB 802) Generell gelte jedoch für das Judentum auch jenseits des chassidischen Einflusses eine gewisse Heiligung des Alltäglichen: „Man braucht […] nur zu beachten, wie viele Handlungen des Alltags durch Segenssprüche eingeleitet werden, um zu erkennen, wie tief hier die Heiligung in das an sich Ungeweihte hineinreicht. Segnet einer Gott nicht bloß allmorgendlich beim Erwachen dafür, daß er ihn hat erwachen lassen, sondern auch, wenn er etwa ein neues Haus oder Kleid oder Gerät in Gebrauch nimmt, dafür, daß er bis zu dieser Stunde am Leben erhalten worden ist, so wird hier die gewohnte Tatsache des irdischen Fortbestehens bei jeder sich bietenden Gelegenheit eingeheiligt und damit auch diese Gelegenheit selber.“ (CAM 939) 526 Man vergleiche diesbezüglich die vielzitierte, in dieser Arbeit ebenfalls bereits

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Welt ist zur Stätte der Heiligung geworden.“ 527 Auf Basis der chassidischen Lebenshaltung werde folglich das nicht per se als „heilig“ Konnotierte, aufgrund dessen gemeinhin als „profan“ Etikettierte, „nur noch als ein Vorstadium des Heiligen angesehen […]. Im Grunde ist somit in unserer Welt das Heilige nichts anderes als das dem Göttlichen Offene, wie das Profane nichts anderes ist als das sich ihm vorerst noch Verschließende, und Heiligung ist Erschließung.“ (CAM 939) Generell bestehe die Bestimmung des menschlichen Lebens (analog zur Bestimmung der Welt an sich sowie nicht zuletzt als logische Konsequenz aus der oben explizierten chassidischen Ausdeutung der Funkenlehre) darin, in Gänze eingeheiligt zu werden (vgl. CAM 939), und das Heilige seinerseits weise das Bestreben auf, „das ganze Leben zu erfassen“ (BJS 206). In diesem Kontext hält Buber an der Überzeugung fest: „[D]ie chassidische Frömmigkeit erkennt nichts schlechthin und unüberwindlich Profanes mehr an: ‚das Profane‘ ist ihr nur eine Bezeichnung für das noch nicht Geheiligte, aber zu Heiligende.“ (BJS 206) 528 Der Kulmiangeführte Formulierung Bubers in Zwiesprache: „Nichts kann sich weigern, dem Wort Gefäß zu sein.“ (ZS 183) 527 Kohn 1961, S. 78. Im Detail heißt es an dieser Stelle bei Kohn: „Der Unterschied zwischen Heilig und Profan, der an Gegenständen, an Orten, an Zeiten haftet, verschwindet. Alles Weltliche, jeder Ort und jede Stunde des alltäglichen Lebens kann und soll geheiligt werden.“ (Ebd.) Siehe hierzu auch die Konstatierung Gerda Topps: „Die Konsequenzen solch einer Lehre heben die Unterscheidung von sakralen und profanen Bereichen auf, da grundsätzlich alles der Einung Gottes dient. Unter diesen Bedingungen haben asketische Lebensweisen keinen Sinn, weil sie sich von der Welt abwenden und nicht am Erlösungsprozeß teilhaben. Nur ein weltzugewandtes Leben kann dem Auftrag ‚Rückführung der Funken‘ dienen. Das ist die Einung Gottes mit seiner Schechina […] – die Erlösung der Welt.“ (Topp 1982, S. 186) 528 Siehe zu dem noch nicht Geheiligten auch CB 842 und in diesem Kontext auch folgende Kontrastierung Bubers der chassidischen zu anderen religiösen Strömungen, welche an der Aufrechterhaltung der Trennung zwischen Heiligem und Profanem festhielten: „Aber zugleich wird dadurch den Bekennern der Religion ermöglicht, die wesentliche Betätigung ihres Glaubensverhältnisses auf diesen Bezirk zu beschränken, ohne daß dem Heiligen im übrigen persönlichen Leben und insbesondere in dessen öffentlicher Sphäre eine entsprechende Macht eingeräumt würde.“ (CAM 939) Vgl. auch CB 840: „Alle geschichtliche Religion ist Auslese der sakramentalen Stoffe und Handlungen.“ Die Problematik, die Buber in dieser Tatsache sieht, schildert er folgendermaßen: „[I]m Wirklichkeitsernst ihres Anliegens kann eine konkrete Religion sich nur dann bewähren, wenn sie dem Gläubigen mit dem ‚Glauben‘ nicht weniger als den Wesenseinsatz der Person zumutet. Das auf die Scheidung des Heiligen vom Profanen gegründete Sakrament in seiner konzentrier-

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nationspunkt dieses prinzipiell gebotenen, Sämtliches involvierenden „Allheiligungsprozesses“ (vgl. BJS 206) bestünde demnach – zuvörderst im Sinne Gottes selbst! – in der „Vollendung der Durchheiligung aller Dinge und alles Lebens“ (CB 777). So wird dem einzelnen Menschen letztlich – angesichts der grundsätzlichen, aus der Omnipräsenz göttlicher Funken sowie der inexistenten Scheidung von heilig und profan resultierenden „Durchheiligungsdevise“ – jeder Augenblick, jede Tätigkeit und im Zuge dessen ein jegliches Ding, mit dem dieser in Kontakt gerät, ausnahmslos zum Gebot (der Heiligung): Entsprechend lehre Rabbi Mosche von Kobryn: „»Es gibt kein Ding in der Welt, in dem kein Gebot wäre.«“ (EZ 127) 529 In sinngemäßer Formulierung lautet es in der Chassidischen Botschaft, „es gibt kein Ding und keinen Vorgang, von denen ich sagen könnte, sie seien nicht das, was von mir geheiligt werden soll […]“ (CB 777). Da darunter – wie gesagt – auch sämtliche alltäglichen Handlungen zu subsumieren sind, ist zu konkludieren, dass eine Auswahl beziehungsweise Hierarchie der Handlungen ebenfalls entfällt – ja untersagt ist, denn „[j]ede Handlung kann die sein, auf die es ankommt; entscheidend ist nur die Kraft und Konzentration der Heiligung, mit der ich sie tue“ (CB 778). 530 Das heißt, es gibt prinzipiell nichts Gleichgültiges, keine (per se) „heilige“ im Kontrast zu (per se) „unheiliger“ Handlung, denn jede Handlung gilt es, zu einer heiligen zu sublimieren 531, so ist letztlich keine (spezifische) und jede als auserwählte zu kategorisieren: Aus der „Perspektive“ Gottes laute die Formulierung daten Gewalt jedoch verleitet leicht dazu, sich im bloßen ‚objektiven‘ Vollzug ohne persönliche Hergabe, im opus operatum, gesichert zu fühlen und sich dem Angefaßt- und Angefordertwerden der eigenen Ganzheit zu entziehen.“ (CB 840) 529 Siehe hierzu auch folgende Passage: „»Es gibt kein Ding in der Welt, das dir nicht einen Weg zur Furcht Gottes und zu seinem Dienst weist. Alles ist Gebot.«“ (EZ 551) Vgl. zudem MW 962: „Gott ist in jedem Ding zu schauen und durch jede reine Tat zu erreichen.“ 530 Hans Kohn pointiert diesen im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehenden Aspekt wie folgt: „Das Entscheidende ist die Intention der Tat. Von geringerer Wichtigkeit ist, was getan wird, entscheidend, wie getan wird.“ (Kohn 1961, S. 78) Vgl. hierzu auch die Ausführungen Gerhard Wehrs, der ebenso mit Buber betont, „es komme auf die Hingabe ans Unbekannte an. […] Und weil mit jeder Handlung der Mensch an der Erlösung der göttlichen Schechina mitarbeiten könne und solle, ist die ungeteilte Hingabe an Gott das Entscheidende, gleich welche Arbeit getan wird.“ (Wehr 1978, S. 81) 531 Siehe hierzu auch Kohn 1961, S. 78: „Es gibt daher keine an sich heilige Handlung; jede kann heilig werden.“

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„Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

her wie folgt: „»Alles, was du tust, kann ein Weg zu mir sein, wenn du es nur so tust, daß es dich zu mir führt.«“ (WM 720) Also konstatiert Buber, der Chassidismus stelle „hoch über das kodifizierbare Was des Tuns das nicht festzulegende Wie“ (CB 813): Evident sei – so lässt Buber in Gog und Magog verheißen – dass „»es Gott nicht bloß darum geht, was wir tun und was nicht, sondern auch darum, wie wir das tun, was wir tun. Und das steht nicht in den Büchern.«“ (GM 1129 f.) 532 In diesem Kontext sei an das in Kapitel II.3 zum Aspekt des „Lehre Seins“ sowie jenes zur weltzugewandten Mystik des Chassidismus (vgl. Kapitel II.2.3) Dargelegte erinnert, woran folgender Passus bezüglich des spezifischen „Wie“ des Tuns anknüpft: Wie der Chassidismus die Scheidung zwischen dem Heiligen und dem Profanen zu überwinden strebt, so auch die Heraushebung feststehender Intentionsprozeduren aus der Fülle lebendigen Tuns. Nicht dadurch, daß der Mensch irgendeine Handlung mit einer vorgewußten mystischen Methodik begleitet, sondern dadurch, daß er diese Handlung mit der auf Gott gerichteten Ganzheit seines Wesens vollbringt, übt er in Wahrheit Kawwana. (CB 848)

Der chassidische Terminus der Kawwana 533 (der sich vorwiegend auf das Gebet bezieht, aber ebenso Tun und Handeln generell bedingen sollte, wie aus obigem Zitat hervorgeht) wird nach Buber definiert als „das Mysterium der Seele, die darauf gerichtet ist, die Welt zu erlösen“ (LC 35), – anders formuliert, handle es sich hierbei um „ein[en] Strahl der Gottesglorie, der in jedem Menschen wohnt und die Erlösung meint“ (LC 33). 534 Sei es zwar dem im Chassidis532 Siehe zur Kritik an diesem Aspekt der Chassidismus-Deutung Bubers nachstehende Ausführungen Scholems: „Bei Buber ist diese Welt des Wie allein übrig geblieben. ‚Nicht mehr eine angesetzte Handlung, sondern die Weihung alles Handelns wird entscheidend.‘ Es ist dieser bei Buber oft wiederkehrende Begriff der Weihe, der das Stichwort für seine spezifische Art von religiösem Anarchismus abgibt. Diese ‚Weihe‘ ist die moralische Intensität und Verantwortlichkeit, die das Wie im Verhältnis des Menschen zu seinem Tun bestimmt, aber nicht dessen Materie. Buber hat es stets mit bewunderungswürdiger Konsequenz abgelehnt, sich auf irgendeine Materie solchen Tuns, auf ein Was, festzulegen. So ist denn begreiflich, daß die Bezüge auf die Welt der Tora und der Gebote, die für die Chassidim immer noch Alles bedeutete, in Bubers Darstellung äußerst nebelhaft werden.“ (Scholem 1986, S. 198) 533 Vgl. hierzu den Abschnitt „Kawwana: Von der Intention“ (LC 33–38) sowie Wehr 1978, S. 79–82. 534 An nachstehender Stelle spezifiziert Buber den Sinn der Kawwana wie folgt: „So

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mus sogenannten „Begnadeten“ (also dem Zaddik) vorbehalten, „verirrte“ Seelen (die sich – wie oben erläutert – als „ganze“ in den Menschen befinden) zu erlösen, so sei es doch „auch dem Geringsten nicht versagt, die verlorenen Funken aus ihrem Gewahrsam zu heben und heimzusenden“ (LC 36), welche – wie ebenfalls bereits angesprochen – den den Einzelnen umgebenden Dingen und nichtmenschlichen Lebewesen inhärent sind, sowie den diesem aufgetragenen Tätigkeiten, wie noch zu konkretisieren sein wird. „Und dies ist der Sinn und die Bestimmung der Kawwana: daß es dem Menschen gegeben ist, die Gefallenen zu heben und die Gefangenen zu befreien. Nicht bloß warten, nicht bloß ausschauen: wirken kann der Mensch an der Erlösung der Welt.“ (LC 34 f.) Auf diese Weise bereite gleichsam „der Wirkende die letzte All-Einung“ (LC 38) vor und im Zuge dessen nicht zuletzt sich selber zu eben diesem Zweck, auf welchen – wie oben erwähnt – der Allheiligungsprozess abstellt. 535 Potenziell ist es somit jedem Menschen möglich, die Funken zu erheben (respektive in seine Seele „eingehenzulassen“, vgl. CB 780), de facto gelingt dies allerdings ausschließlich dem intentional auf Gott Gerichteten: Der Aspekt der bereiteten im Sinne der geeinten Seele formiert sich mit jenem des Haftens an Gott (vgl. DC 978) und der aus der (in Kapitel II.2.2 dargelegten) Richtung gen Himmel resultierenden, weihevollen Intention zur Grundprämisse gelingender Funkenläuterung. 536 Dazu liest man bei Wehr: „Nur der an Gott Haftende, mit ihm Vereinte ist ermächtigt, die den Dingen eingeist zweifach der Wille der chassidischen Lehre von der Kawwana: daß der Genuß, die Verinnerung des Außen, in Heiligkeit geschehe und daß das Schaffen, die Veräußerung des Innen, in Heiligkeit geschehe. Durch heiliges Schaffen und heiligen Genuß vollzieht sich die Erlösung.“ (LC 38) 535 Siehe hierzu auch Kohn 1961, S. 83 f.: „In jeder Handlung und in jeder Stunde kann die Erlösung wachsen, kann das Reich Gottes anbrechen. Daher gilt es bereit zu sein und zu bereiten.“ In der Chassidischen Botschaft heißt es zudem: „Allem Menschentum ist die mitwirkende Kraft zugeteilt, alle Zeit ist erlösungsunmittelbar, alles Handeln um Gottes willen darf messianisches Handeln heißen. […] Die Ganzheit seines Weltlebens Gott zuwenden und es dann in all seinen Augenblicken bis auf den letzten sich auftun und abfolgen lassen, das ist Wirken des Menschen an der Erlösung.“ (CB 756 f.) 536 In Bezug auf diese spezifische Voraussetzung führt Buber in seiner Schrift „Die jüdische Mystik“ Folgendes aus: „Gott, so lehrt der Baalschem, ist in jedem Ding als dessen Urwesen. Er kann nur mit der innersten Kraft der Seele empfangen werden. Ist diese Kraft freigemacht, dann ist es dem Menschen an jedem Ort und zu jeder Zeit gegeben, das Göttliche aufzunehmen.“ (JM 16)

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„Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

tanen ‚heiligen Funken‘ aus ihren Verschalungen zu befreien und emporzuheben, mithin alle Dinge, das ganze Leben von Arbeit und Feier zu heiligen.“ 537 Aller Umgang, sämtliche Verrichtungen (im Alltag) erweisen sich schließlich als äquivalent. Entsprechend heiße es von einem Zaddik: „»Bei ihm ist Lehre und Gebet und Essen und Schlafen, alles eins […].«“ (LC 27) 538 Der an jeden Menschen ergehende Appell lautet demnach: „Ist […] das Leben des Menschen in jedem Anliegen und in jeder Tätigkeit dem Unbedingten geöffnet, so soll er es auch in Weihe leben.“ (JM 17) Dass dann in der Tat alle Handlungen gleichermaßen bedeutsam sind, erhellt folgender Passus einmal mehr: Es bedarf keines Sprungs aus dem Gewohnten ins Wunder. „Mit jeder Handlung kann der Mensch an der Gestalt der Schechina arbeiten, daß sie aus dem Verborgenen trete.“ […] Eben dies, was du im Gleichmaß der Wiederkehr oder in der Fügung der Ereignisse tust, eben diese […] Antwort des Handelnden auf das vielfältige Begehren der Stunden wird, in der Weihe vollzogen, zum Erlösen. Wer in Heiligkeit betet und singt, in Heiligkeit ißt und redet, […] in Heiligkeit der Geschäfte bedacht ist, durch den werden die gefallenen Funken erhoben […]. (LC 36)

Eine weitere Möglichkeit der Funkenerhebung eröffnet das Aufhalten in der Natur, welches desgleichen in der auf Gott und somit die heiligen Funken gerichteten Intention erfolgen kann: „»Wenn du in heiligem Sinnen übers Feld gehst, heften sich alle Seelenfunken aus Stein, Gewächs und Tier dir ein und läutern sich in dir zu einem reinen Feuer.«“ (CB 819) 539 Vice versa erheben die Funken gleichsam den sie erlösenden Menschen, wie anhand nachstehender, ebenfalls das Spazierengehen thematisierenden Stelle deutlich wird: „»‚Wenn der Wanderer im Wege Gottes geht, dann kommen […] alle heiligen Funken, die in den Kräutern des Feldes und in den Wehr 1978, S. 71. Zur Dewekuth, dem „‚Haften‘ der Seele an Gott“ (DC 978), siehe vor allem DC 978 f. (dort heißt es, „daß der Mensch alles von ihm Gelebte Gott zuweihe“ beziehungsweise „indem man das, was man tut, […] mit der Zuweihung an Gott tut und es so heiligt“). Mit einer geeinten Seele, die mit der entsprechenden Intention koinzidiert, kann in der Tat jede Handlung zur heiligen werden, und die Funken „»steigen durch die Weihe des Frommen, der in Heiligkeit an ihnen arbeitet, in Heiligkeit sich ihrer bedient, in Heiligkeit sie verzehrt, zu ihrem Quell empor.«“ (CAM 943 f.) 538 Vgl. hierzu auch Kohn 1961, S. 78. 539 Siehe auch die entsprechenden Ausführungen im dritten Teil dieser Arbeit, insbesondere zum Feldspaziergang der Protagonisten Risach und Heinrich in Stifters Nachsommer in Kapitel III.3. 537

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

Bäumen des Waldes verhaftet sind, alle kommen sie herbeigelaufen, sich an den Menschen zu heften, und davon empfängt er eine große Erleuchtung.‘«“ (EZ 603) 540 Hinsichtlich weiterer, den Alltag betreffender Beispiele heißt es – in Analogie zu dem exemplarischen Vorgang des Schuheschnürens des Zaddik (siehe Kapitel II.3) – über Rabbi Hirsch, dieser sei in der Lage, selbst das Führen eines Wasserglases zum Munde heilig zu vollziehen (vgl. EZ 135); 541 in Bezug auf das Pfeiferauchen des „Juden“ aus Gog und Magog erzähle man sich, „wenn der ‚Jude‘ die Pfeife rauchte, hätte er mit seiner Seele die Intention des Hohenpriesters beim Räuchern vollzogen, und 540 Siehe hierzu auch CB 780 („Man geht in Weihe übers Feld und die stillen Lieder aller Kräuter, die sie zu Gott sprechen, gehen in das Lied unserer Seele ein“) und MW 962. Als besonders naturverbunden wird Rabbi Nachman dargestellt: „Die Liebe zu allem Lebendigen und Wachsenden war innig stark in ihm.“ (RN 899 f.) Des Weiteren heißt es in Bubers Schrift zu „Rabbi Nachman von Bratzlaw“ in Bezug auf dessen erste intensivere Begegnung mit Natur, als er mit vierzehn Jahren in ein ländliches Dorf zog: „Hier kam er zum ersten Mal der Natur nah, und sie griff ihm ans innere Herz. […] Und nun ihn, wie in einem zauberhaften Reiche, statt der fahlgelben Mauern der Gasse Waldgrün und Waldblüte umgibt, stürzen auf einmal die Mauern seines Geistesghettos nieder, die die Macht des Vegetativen berührt hat. […] Der Hang zur Askese weicht von ihm, der innere Streit endet, er braucht sich um die Offenbarung nicht mehr zu mühen, leicht und froh findet er seinen Gott in allen Dingen. Das Boot, auf dem er […] auf den Fluß hinausfährt, führt ihn zu Gott, dessen Stimme er im Schilfe hört; und das Pferd, das ihn […] in den Wald trägt, bringt ihn Gott näher, der von allen Bäumen ihn anblickt und mit dem jedes Kraut auf du und du ist. In allen Berghängen und in allen versteckten kleinen Tälern der Gegend ist er heimisch, und jedes ist ihm eine andere Art, zu Gott zu kommen. Damals bildete sich in ihm die Lehre vom Dienste in der Natur aus, die er später immer wieder und in immer neuem Preisen seinen Schülern verkündete. »Wenn der Mensch gewürdigt wird, […] die Gesänge der Kräuter zu vernehmen, wie jedes Kraut sein Lied zu Gott spricht, wie schön und süß ist es, ihr Singen zu hören! Und daher tut es gar gut, in ihrer Mitte Gott zu dienen in einsamem Wandeln über das Feld hin zwischen den Gewächsen der Erde und seine Rede auszuschütten vor Gott in Wahrhaftigkeit. Alle Rede des Feldes geht dann in deine ein und steigert ihre Kraft. Du trinkst mit jedem Atemzug die Luft des Paradieses, und kehrst du heim, ist die Welt erneuert in deinen Augen.«“ (RN 899) Vgl. zu dieser Passage auch Wehr 1978, S. 54 f. sowie ebd., S. 52: „‚Alles ist in Gott.‘ Eine umfassende Liebe zu aller Geschöpflichkeit ist die ethische Konsequenz, die sich aus dieser theologischen Aussage ergibt.“ Siehe zur Liebe zu Tieren auch LC 42 f. sowie hinsichtlich der Beziehung zu Natur im Allgemeinen auch GM 1011–1014, 1095 f., 1099, 1167, 1179 f., 1194, ferner 1117 f. 541 Vgl. auch JW 235, CB 754 sowie Bubers generellen Hinweis, dass die Bewegung des Chassisidmus „auch jede profane Handlung heilig vollziehen lehrte“ (EZ 80) und Rabbi Mendel von Kozk forderte: „»[W]ie sein Wochenwerk, so sein Sabbatwerk.«“ (EZ 670)

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wenn er Küchlein aß, die des Hohenpriesters beim Opfern“ (GM 1128). 542 Bezüglich des Schachspiels von Rabbi Bunam liest man: „Er tat jeden Zug mit einer innigen und heiteren Andacht, als vollzöge er eine heilige Handlung.“ (EZ 623) 543 Zum einen sind es also die der Handlung selbst innewohnenden Funken, die – durch weihevollen Vollzug der Ersteren – gleichsam erlöst zu werden vermögen, zum anderen werden – wie erwähnt – die den Dingen als solchen immanenten Funken im Zuge eines entsprechenden Umgangs mit diesen sublimiert, was – wie gesehen – der Chassidismus ebenso lehre und Buber an folgender Stelle akzentuiert: Hier sind die Dinge selbst Gegenstand der religiösen Befassung, denn sie sind Wohnstätten der heiligen Funken, die der Mensch erheben soll. Die Dinge sind hier wichtig nicht als Darstellungen der nichtbegrifflichen Wahrheit, sondern als Exile göttlicher Wesenheit. Damit, daß der Mensch sich mit ihnen in der rechten Weise befaßt, kommt er in Berührung mit dem Schicksal der göttlichen Wesenheit in der Welt und hilft an der Erlösung. (CB 894)

Neben den Kreaturen suchten uns Menschen ex aequo „die Dinge […] auf unseren Wegen auf; was uns in den Weg tritt, braucht uns zu seinem Weg“ (CB 849). Paradigmatisch manifestiert sich dieses Faktum in der prägnanten Anekdote „Womit er betete“ (EZ 390) aus den Erzählungen der Chassidim: Während der Sohn des Rabbiners (begreiflicherweise) mittels Worten zu beten gedachte, habe er von dem Rabbiner dagegen folgende erhellende Entgegnung erhalten, auf die Buber auch in der Chassidischen Botschaft Bezug nimmt: „»Mit der Diele und mit der Bank« soll man beten, sie wollen zu uns, alles will zu uns, alles will durch uns zu Gott. Was sollen uns, wenn es sie gibt, die oberen Welten! Unser ist, »in dieser niedern Welt, der Welt der Körperlichkeit, das verborgene Gottesleben aufleuchten zu lassen«.“ (CB 849) 544 Um letzte Missverständnisse auszuräumen, weist Buber in seiner Abhandlung „Der Chassidismus Es ist an dieser Stelle von den charakteristischen „Zimtküchlein“ (vgl. GM 1128) die Rede. Vgl. ferner die Anekdote „Der Rettichesser“ (EZ 278). 543 Siehe zu der Begebenheit des Schachspiels auch GM 1124. 544 Vgl. zu diesem Beispiel des mit der Bank Betens auch folgende pointierte Erläuterung Gerhard Wehrs: „Damit ist in Übereinstimmung mit der kabbalistisch-urchassidischen Einstellung zu den zu erlösenden Funken, die in den Dingen ruhen, gesagt, worauf es letztlich ankommt […]. Das chassidische Mysterium ist demnach auch für den talmudisch und kabbalistisch gelehrten Raw an die alltäglichen Dinge 542

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und der abendländische Mensch“ bezüglich besagter Anekdote noch einmal expressis verbis darauf hin: Das ist keine Metapher, das Wort „mit“ ist jetzt ganz unmittelbar gemeint: der Rabbi schließt sich betend mit der Diele, auf der er steht, und mit der Bank, auf die er sich dann setzt, zusammen – sie, die Dinge, die zwar von Menschenhand gemacht sind, aber doch wie alles ihren Ursprung in Gott haben, helfen ihm beten, und er, ja, er hilft ihnen beten, er hebt sie, die Holzdiele und die Holzbank, ihrem Ursprung, dem Ursprung entgegen, er „erhebt“ sie. (CAM 942) 545

In Ergänzung zu der Anekdote „Womit er betete“ (EZ 390), sei jene mit dem Titel „Das Wichtigste“ (EZ 563) aus den Erzählungen angeführt, welche auf die zeitliche Dimension des Tuns fokussiert ist und somit einen weiteren substanziellen Gesichtspunkt in Bezug auf die Heiligung des Alltags thematisiert: Nach dem Ableben des Rabbi Mosche von Kobryn wurden dessen Schüler befragt, was denn für ihren Lehrer das Wichtigste gewesen sei. Die lapidare wie signifikante Antwort lautet: „»Womit er sich gerade abgab.«“ (EZ 563) 546 Sei es das Beten mit Bank und Diele, das Schachspiel oder das Führen des Wasserglases zum Mund – in jedem Fall hat stets das, womit man sich in dem je singulären Moment beschäftigt, die jeweils zu verrichtende Tätigkeit, oberste Priorität (welche selbstredend den heiligenden Umgang mit den Dingen inkludiert). Dieser Devise Rechnung tragend, gilt es, sich generell zu sensibilisieren für das, was in dem jeweiligen Augenblick not tut, die Situation schließlich zu ergreifen und seine Konzentration restlos der durch diese gebotenen Verrichtung zu widmen. 547 Ferner sei achtzuhaben, „»jede geheftet. Hier leuchtet der geheime Sinn auf. Von hier führt ein Weg nach oben.“ (Wehr 1978, S. 51) Siehe zu besagter Anekdote auch Kaufmann 1963, S. 584. 545 Weiters gibt Buber zu bedenken: „Dieses ‚Erheben‘ ist aber keineswegs als eine Entweltlichung der Dinge oder Vergeistigung der Welt zu verstehen […].“ (CAM 942) 546 Siehe zu dieser Anekdote auch CB 842, DC 982, JW 236 und A 630 f. sowie Wehr 1978, S. 89 und 112, Kaufmann 1963, S. 581 und 587 f. Vgl. zu der Tatsache im Allgemeinen, dass das Wesentliche stets dasjenige sei, womit man sich in dem jeweiligen Moment beschäftige, zum Beispiel auch CB 777 f., 804 f., 810, 812, 842, 848 f., 885 f. sowie DC 982–984. 547 Vgl. hierzu den Ausspruch des Rabbi Mosche von Kobryn: „»Wenn ich von meinem Lehrer eine Weisung vernahm, wie zu dienen sei, wollte ich nichts mehr von ihm hören, bis ich die erfüllt hatte. Dann erst tat ich wieder die Ohren auf.«“ (EZ 549) Siehe zu dem die (seelische) Einheit anstrebenden, „ungeteilte[n] Dasein des Menschen“ auch DC 980.

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körperliche Handlung nach ihrer Ordnung [zu] verrichte[n]«“ (EZ 207), das heißt, mit dem rechten Maß an Hingabe und Aufmerksamkeit, die der entsprechenden Aktivität gebührt, 548 – jedoch nicht übereifrig 549 – still, 550 wahrhaftig 551 und gewissenhaft 552 seinen „Dienst“ zu tun und keinen speziellen Dank oder Lohn, 553 kein besonderes Lob zu erheischen. 554 Zur Illustration genannter Prinzipien eignet sich die Geschichte über das Säubern der Gefäße (vgl. EZ 310), in der das Bestreben eines Schülers zu lernen, auf welche Weise „er seine Seele zum Dienste Gottes vorbereiten solle“ (EZ 310), thematisiert wird. Die Erwiderung des sich als Wirt betätigenden, infolgedessen von morgens bis abends in der Wirtsstube agierenden Rabbiners überrascht auf Basis der Kenntnis chassidischer Lebensführung nun nicht mehr: „»Mein vornehmstes Geschäft […] ist die Gefäße recht zu säubern, daß auch nicht der kleinste Speisenrest an einem hafte, und auch alle Geräte zu putzen und trockenzuwischen, daß sich keines der Rost bemächtige.«“ (EZ 310) Buber legt diese Anekdote in der Chassidischen Botschaft wie folgt aus: „[D]er Schlüssel zur Wahrheit ist die nächste Tätigkeit, und dieser Schlüssel öffnet das Tor, wenn man das zu Tuende so tut, daß der Sinn der Handlung hier seine Erfüllung findet“. (CB 886) Analog zu dem Beispiel des Betens mit Diele und Bank akzentuiert er auch in Bezug auf diesen 548 „»Darum ist zum Lobe Aarons gesagt, er habe, wie wohl er im Dienst mit der ganzen Gewalt der Seele dem Schöpfer anhaftete, im rechten Maß die Leuchter [mit Öl] versehen und die Lichter entzündet.«“ (EZ 207) Ferner heißt es in Bezug auf Freude im Gegensatz zu Ausgelassenheit, „»da ist es so leicht, sich zu irren, aber sie sind fern voneinander wie die Enden der Welt.«“ (EZ 648) 549 Im Gegensatz zu Aaron (siehe die vorstehende Fußnote), habe (ein unbekannter) Gottesdiener mit einem Übermaß an Inbrunst das Auffüllen der Öllampen vorgenommen, so dass das Öl schließlich vergossen worden sei. (Vgl. EZ 207) Siehe zu der Problematik des Übermaßes ferner EZ 586 f. 550 Vgl. EZ 452 f. (das Dienen soll ohne viel Aufhebens erfolgen). 551 Vgl. EZ 546 (das Dienen kann nur aufrichtig geschehen). 552 „»Gibt es denn etwas, das man ohne Ernst treiben darf?«“ (EZ 670) Dieser Aspekt, dass es eben letztlich nichts gibt, das man ohne die entsprechende Ernsthaftigkeit verrichten sollte, wird vor allem im Rosenhaus in Stifters Nachsommer stets beherzigt. Vgl. ferner EZ 453: „»[B]ete, lerne, arbeite im Ernst, dann wird das Böse an deinen Trieben von selber verschwinden.«“ 553 Vgl. EZ 636 (nicht um des Lohnes willen Gott dienen). 554 „»Man mache nicht viel Aufhebens draus, daß man Gott dient. Rühmt sich die Hand, wenn sie den Willen des Herzens tut?«“ (EZ 452) Vgl. hierzu zum Beispiel auch EZ 568.

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Fall, wir Rezipienten gingen fehl, „wenn wir den Gang der Dinge lediglich symbolisch erfaßten. Es ist auch wirklich gemeint, man solle, was man je und je zu tun habe (wie hier das Putzen der Geräte), mit völliger Konzentration, mit Einsammlung alles Seins tun, mit der ganzen Intention und ohne von irgend etwas abzusehen.“ (CB 886) 555 In Bezug auf den Chassidismus hält Buber somit resümierend fest: Von oberstem Belang ist ihm nicht, was von je war, sondern was je und je geschieht; und hinwieder nicht, was dem Menschen widerfährt, sondern was er tut; und nicht das Außerordentliche, das er tut, sondern das Gewöhnliche; und mehr noch als was er tut, wie er es tut. Unter allen Bewegungen seiner Art hat wohl keine so wie der Chassidismus das unendliche Ethos des Augenblicks verkündet. (CB 804 f.) 556

Somit besitzt das das Gebet betreffende Postulat, „»‚das dem Tag Zustehende an seinem Tag‘«“ (EZ 521) zu lesen – wie sich herausgestellt hat – nicht minder Geltung in Bezug auf die alltäglichen Tätigkeiten, indem der Stunde das dieser Zustehende, dem Augenblick das jenem Gebührende gegeben werde. Diese zeitliche Dimension des Funken-Dienstes ist final durch die räumliche zu komplettieren – auf Basis eines analogen Appells etwa folgenden Wortlauts: Gib das dem Ort Zustehende an seinem Ort! In diesem Sinne fordert der Rabbiner Mosche von Kobryn: „»[S]treife die Gewöhnung ab […], und du wirst erkennen, daß der Ort, auf dem du eben jetzt stehst, heiliger Boden ist.«“ (EZ 560) 557 Gemäß Rabbi Pinchas sei es 555 In diesen Kontext gehört ferner das Beispiel des Rabbiners Jaakob Jizchak, dessen Gäste sich darüber verwundern, dass er selber den Tisch abdeckt und der daraufhin antwortet: „»Gehörte doch auch das Hinaustragen der Kelle und der Kohlenpfanne aus dem Allerheiligsten zum Dienst des Hohenpriesters […]!«“ (EZ 438) 556 Einleitend zu den Erzählungen der Chassidim erläutert Buber diesbezüglich: „Die talmudische, von der Kabbala ausgebaute Lehre von der Schechina, der ‚einwohnenden‘ Gegenwart Gottes in der Welt, bekam einen neuen, intim-praktischen Gehalt: wenn du die unverkürzte Kraft deiner Leidenschaft auf Gottes Weltschicksal richtest, wenn du das, was du in diesem Augenblick zu tun hast, was es auch immer sei, zugleich mit deiner ganzen Kraft und mit solcher heiligen Intention, Kawwana, tust, einst du Gott und Schechina, Ewigkeit und Zeit.“ (EZ 81) Siehe zur Signifikanz des Augenblicks nach chassidischer Lehre etwa auch CB 810, 812 und CCG 958 („die unvorschreibbare, immer wieder dem Augenblick entspringende Begabung jeder Handlung mit Intentionskraft“). 557 Denn ausnahmslos jedem Ort der Welt steht gleichsam „das Recht“ zu, erlöst zu werden, wie der kurze Abschnitt „Der unerlöste Ort“ in den Erzählungen der Chassidim erhellt. (Vgl. EZ 640 f.)

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„Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

gar evident, dass „keiner […] anderswo wahrhaft wirken [könne] als an seinem angewiesenen Ort“ (EZ 254). 558 Entsprechend kategorisch formuliert Buber im Rahmen seiner dialogischen Abhandlung „Die Frage an den Einzelnen“: „Treu dem Einen Seienden ist einzig, wer sich gebunden weiß an seinen Standort – und eben da frei zur eigenen Verantwortung.“ (FE 250) 559 Was Buber an dieser Stelle hinsichtlich dessen Platzes innerhalb der Gesellschaft konstatiert, bezieht sich im Chassidismus auf den dem jeweiligen Menschen gleichsam zugesprochenen, individuellen Ort im Alltag, welcher allein von diesem „erlöst“ zu werden vermag: „Und dazu ist der Mensch geschaffen, daß er die beiden Welten [Gottes und seiner Schechina] eine. Er wirkt an dieser Einheit durch ein heiliges Leben mit der Welt, in die er gestellt ist, an dem Orte, an dem er steht.“ (WM 737; Herv. sind zugefügt) 560 Modifiziert pointiert Buber diesen Aspekt im weiteren Verlauf seiner Schrift „Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre“: „Das ist es, worauf es letzten Endes ankommt: Gott einlassen. Man kann ihn aber nur da einlassen, wo man steht, wo man wirklich steht, da wo man lebt, wo man ein wahres Leben lebt.“ (WM 738) 561 In praxi bedeute dies, exakt dasjenige, was einem an seinem Ort begegne, qua entsprechender Behandlung zu würdigen: „Pflegen wir heiligen Umgang mit der uns anvertrauten kleinen Welt, helfen 558 Siehe auch LC 35: „In Wahrheit jedoch kann jeder nur in seinem Bereiche wirken.“ 559 „[W]eil die Erhebung über die Situation, in die wir gesetzt sind, nie eine in Wahrheit höhere Ansicht ergibt.“ (FE 240) 560 Vgl. hierzu vor allem das Kapitel „Hier wo man steht“ in WM 735–738 sowie folgende Sentenz: „»‚Suche den Frieden an deinem Ort.‘ Man kann den Frieden nirgendwo anders suchen als bei sich selber.«“ (EZ 649) Siehe auch CAM 947 sowie die Angaben in der nachstehenden Fußnote. 561 „Denn hier, wo wir stehen, gilt es das verborgene göttliche Leben aufleuchten zu lassen.“ (WM 736) Siehe hierzu auch folgende Dialogpassage aus Gog und Magog: „»Welches ist der Ort?« »Die Gasse. Das Haus. Das Herz.«“ (GM 1066) Vgl. in Bezug auf die „Bereitung der Stätte“ auch GM 1238 f.: „»Ist sie da bereitet, wo sie zu bereiten ist? In der Gasse? im Haus? im Herzen [sic!]«“ Ferner findet sich in diesem Kontext eine Passage in den Erzählungen der Chassidim: „»Von einem sternkundigen Weisen erzählt der Talmud, die Bahnen des Firmaments seien ihm lichtklar gewesen wie die Straßen seiner Stadt Nahardea. Aber könnten wir doch von uns sagen, lichtklar wie die Bahnen des Himmels seien uns die Straßen unserer Stadt! Denn in dieser niedersten Welt, der Welt der Körperlichkeit, das verborgene Gottesleben aufleuchten lassen, dies ist das Größere von beiden.«“ (EZ 443) Vgl. zu dieser Anekdote auch WM 736.

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

wir in dem Bezirk der Schöpfung, mit der wir leben, der heiligen Seelensubstanz zur Vollendung zu gelangen, dann stiften wir an diesem unserem Ort eine Stätte für Gottes Einwohnung, dann lassen wir Gott ein.“ (WM 738) Vice versa korreliere mit der adäquaten Einlösung dieser Aufgabe die Erfüllung des eigenen Daseins: So handelt die „Der Schatz“ betitelte Geschichte aus den Erzählungen der Chassidim (vgl. EZ 629 f.) davon, „»daß es etwas gibt, was du nirgends in der Welt […] finden kannst, und daß es doch einen Ort gibt, wo du es finden kannst«.“ (EZ 630) Die Erfüllung des persönlichen Daseins wird hier symbolisiert durch den singulären Schatz „[u]nterm Herd unsres Hauses“ (WM 736), den die jeweilige Person zu heben vermöge, wie Buber im Zuge der Auslegung besagter Geschichte erläutert: „Es gibt etwas, was man an einem einzigen Ort in der Welt finden kann. Es ist ein großer Schatz, man kann ihn die Erfüllung des Daseins nennen. Und der Ort, an dem dieser Schatz zu finden ist, ist der Ort, wo man steht.“ (WM 736) Kurzum lautet die Devise: „»[D]a sein, wo man gebraucht wird, und so sein, wie man gebraucht wird«“ (GM 1117), denn – so der nachdrückliche Anruf Bubers in „Zwiesprache“ – „du mit diesem deinem sterblichen Stück Leben bist gemeint“ (ZS 187). In Bezug auf den Ort wurde bereits dargelegt, dass jeder nur in seinem spezifischen Bereich zu wirken vermöge – dies aus folgendem Grund: „Jeder hat eine in Raum und Zeit ausgesparte Sphäre des Seins, die ihm zugeteilt ist, durch ihn erlöst zu werden.“ (LC 35) 562 Entsprechend heißt es in der Chassidischen Botschaft: „Die Dinge und Wesen, in denen allen Funken des Göttlichen wohnen, werden diesem Menschen zugereicht, daß er in der Berührung mit ihnen die Funken erlöse.“ (CB 746) Genauer gesagt handele es sich um die Lebewesen und Gegenstände, „die der Besitz des Einzelnen genannt werden: seine Tiere und seine Wände, sein Garten und sein Anger, sein Gerät und seine Speise. Indem er sie in Heiligkeit hegt und genießt, macht er ihre Seelen los. »Darum soll der Mensch sich immerdar seiner Geräte und all seines Besitzes erbarmen.«“ (LC 36 f.) 563 Tut er dies jedoch nicht, negiert er seine Verantwortung 562 Siehe hierzu auch LC 36: „Um jeden Menschen ist – in die weite Sphäre des Wirkens eingebaut – ein natürlicher Bezirk von Dingen gelegt, die vor allem zu befreien er bestimmt ist.“ Vgl. auch Kohn 1961, S. 82. 563 In der Chassidischen Botschaft liest man analog: „[A]lles, was der Menschenperson zum Gebrauch zugeteilt ist, von Vieh und Baum zu Acker und Gerät, birgt Funken, die durch diesen Menschen erhoben werden wollen, die im heiligen Ge-

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und degradiert die zur Erlösung obligate heiligende Begegnung mit den ihm zur Erhebung zugereichten Wesen und Dingen zum reinen Ich-Es-, das heißt, Zweck-Mittel-Geschehen, schadet er letztlich sich selbst, was der Baalschem nach Buber einmal mehr in dialogischer Manier verkündige: Der Baalschem lehrt, daß keine Begegnung mit einem Wesen oder einem Ding im Gang unsres Lebens einer geheimen Bedeutung enträt. Die Menschen, mit denen wir leben oder je und je zusammentreffen, die Tiere, die uns in unsrer Wirtschaft helfen, der Boden, den wir bebauen, die Naturstoffe, die wir verarbeiten, die Geräte, deren wir uns bedienen, alles birgt eine heimliche Seelensubstanz, die auf uns angewiesen ist, um zu ihrer reinen Gestalt, zu ihrer Vollendung zu gelangen. Vernachlässigen wir diese uns auf unseren Weg geschickte Seelensubstanz, sind wir nur auf die jeweiligen Zwecke bedacht, ohne eine echte Beziehung zu den Wesen und Dingen zu entfalten, an deren Leben wir teilnehmen sollen wie sie an dem unsern, dann versäumen wir selber das wahre erfüllte Dasein. (WM 736 f.) 564

Gleiches gilt in Bezug auf die jedem Einzelnen zugeteilte, individuelle Aufgabe: „»Jeder Mensch ist berufen, etwas in der Welt zur Vollendung zu bringen. Eines jeden bedarf die Welt.«“ (EZ 206) 565 In Bezug auf diesen, oben bereits genannten Aspekt des „»so [S]ein[s], wie man gebraucht wird«“ (GM 1117), expliziert Hans Kohn treffend: „Jedem Menschen ist seine Aufgabe gegeben. Denn jeder Mensch ist einzigartig. Die Aufgabe des Menschen ist, seine Einzigartigkeit ungetrübt darzustellen, zu werden, der er ist.“ 566 Entziehe ich mich jedoch der zu erfüllenden, einzig mir obliegenden Bestimmung, drängt sich die Frage auf: „»‚Wenn nicht ich für mich bin, wer ist für mich?‘ Wenn ich nicht meinen Dienst tue, wer wird ihn für mich tun? Jeder muß seinen Dienst selber vollbringen.«“ (EZ 698) Sonach gemahne der Baalschem: „»Jedermann soll sich seiner Stufe entsprechend verhalten. Geschieht dem aber nicht so: wer die Stufe brauch von diesem Menschen erhoben werden; […].“ (CB 747) Vgl. des Weiteren CB 799 f., 876, CAM 943 f. und DC 982 f. 564 Analog formuliert Buber in Ich und Du hinsichtlich des menschlichen Mitwirkens an Erlösung: „Die Erfüllung dieses Sinns und dieser Bestimmung wird von dem Menschen vereitelt, der sich mit der Eswelt als einer zu erfahrenden und zu gebrauchenden abgefunden hat und nun das in ihr Eingebundene, statt es zu lösen, niederhält, statt ihm zuzublicken, beobachtet, statt es zu empfangen, verwertet.“ (ID 104) 565 Auf diese Weise habe Rabbi Baruch den Satz aus den Vätersprüchen „»Sei nicht böse vor dir selber (das heißt, wähne dich nie unerlösbar)«“ ausgelegt. (Vgl. EZ 206) 566 Kohn 1961, S. 82.

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

seines Gefährten erfaßt und seine eigne fahren läßt, diese und jene werden durch ihn nicht verwirklicht werden.«“ (WM 721) 567 Also rufe Gott „»in jeder Zeit […] jeden Menschen an: ‚Wo bist Du in deiner Welt? So viele Jahre und Tage von den dir zugemessenen sind vergangen, wie weit bist du derweilen in deiner Welt gekommen?‘«“ (WM 715) 568 Die individuelle, alltägliche Lebens(um)welt bildet somit die einzige und unmittelbare Brücke zum Göttlichen: „Die Welt, in der du lebst, so wie sie ist, und nichts anderes, gewährt dir den Umgang mit Gott […]. Und deine eigene Beschaffenheit, dies eben wie du bist, ist dein besonderer Zugang zu Gott, deine besondere Möglichkeit für ihn.“ (EZ 81) Der logische Schluss lautet also: „Gott will, daß man ihm auf alle Arten diene“ (LC 27) – „denn alles ist not“ (BST 55). 569 In Gog und Magog werden als konkrete Beispiele die (scheinbar disparaten) Tätigkeiten des Schrifttum Studierens und des Met Trinkens als äquivalente Weisen des Gott Dienens – ja Gottesdienstes – genannt (vgl. GM 1074), in den Erzählungen der Chassidim ist gar (wie im vorstehenden Kapitel bereits bemerkt) die Rede davon, Gott mittels Schlafens zu dienen (vgl. EZ 305 f.) – „»[e]s gibt eben verschiedene Wege.«“ (GM 1074) 570 Das Faktum, „»daß jeder seinen Weg des Dienstes hat«“ (GM 1026), 571 impliziere, dass eine Klassifizierung der Tätigkeiten in „höhere“ und „niedere“ beziehungsweise wertvolle und inferiore völlig deplatziert sei; denn Vgl. hierzu auch LC 39 f. Ferner gelte es – wie Rabbi Sussja anmerkt – Folgendes zu bedenken: „»In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: ‚Warum bist du nicht Mose gewesen?‘ Man wird mich fragen: ‚Warum bist du nicht Sussja gewesen?‘«“ (EZ 372) Siehe zu der im Fließtext zitierten Stelle auch folgende (identische), beispielsweise in der Anekdote „Wo bist du?“ in den Erzählungen der Chassidim (vgl. EZ 389 f.) notierte, Frage an Adam, in welcher letztlich die an jeden Menschen gerichtete Frage ihren Ursprung habe. 569 „»Was wäre das für ein Gott, dem man nur auf eine einzige Weise dienen könnte!«“ (EZ 434) Vgl. hierzu auch Wehr 1978, S. 41 sowie WM 720: „Gott sagt nicht: ‚das ist ein Weg zu mir, das aber nicht‘ […]. Was aber dies ist, das eben dieser Mensch und kein anderer tun kann und tun soll, kann ihm nur aus ihm selber offenbar werden.“ Zudem heißt es in Bubers Abhandlung „Die jüdische Mystik“: „Auf allen Wegen findet der Mensch Gott, und alle Wege sind voll der Einung.“ (JM 17) 570 Vgl. auch GM 1078. 571 Siehe hierzu auch EZ 241 („»jeder nach seiner eignen Beschaffenheit«“), EZ 434 („Der Weg“), EZ 557 („»[es] tue jeder das Seine«“) sowie folgenden Ausspruch Rabbi Uris in der einzeiligen Geschichte „Jeder das Seine“: „»David konnte die Psalmen verfassen, und was kann ich? Ich kann die Psalmen sagen.«“ (EZ 535) 567 568

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„Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

grundsätzlich gelte: „Es gibt innerhalb der Menschenwelt keine Scheidung zwischen Hohem und Niederm; jedem ist das Höchste offen, jedes Leben hat seinen Zugang zur Wesenheit, jede Art ihr ewiges Recht, von jedem Ding führt ein Weg zu Gott, und jeder Weg, der zu Gott führt, ist der Weg.“ (CB 828) 572 So wird einmal mehr dessen gemahnt: „»Du sollst deinem Schöpfer dienen, als gäbe es auf der Welt nur den einen Menschen, dich allein!«“ (EZ 242) „»Wähle die Tat des Lebens, die die Fülle des Lebens über die Welt bringt!«“ (EZ 266) Gershom Scholem hebt in Bezug auf Bubers Auslegung dieses Gesichtspunktes chassidischer Lebensführung hervor: „Bubers Deutung betont die Einzigartigkeit der Aufgabe, der sich jedes einzelne Individuum gegenüber sieht. ‚Alle Menschen haben Zugang zu Gott, aber jeder einen anderen.‘“ 573 Exemplarisch sei an dieser Stelle der Strumpfwirker angeführt (vgl. EZ 184 f.): 574 Von diesem wird berichtet, er habe nicht nur seine Arbeit des Sockenherstellens im Modus exzeptioneller Hingabe vollführt, sondern zudem – oder gerade aufgrund dessen – jeweils „seine Schritte so schlicht-feierlich [gesetzt], als führe sein Weg an die Himmelspforte“ (EZ 184). In diesem Kontext soll noch einmal das Nachstehende akzentuiert werden: „Jede Handlung, die in sich geweiht ist, mag sie noch so niedrig und sinnlos erscheinen dem von außen Herankommenden, ist der Weg zum Herzen der Welt [und mithin zu Gott].“ (JM 16) Sei es der Rabbiner, welcher durch sein Beten (die Funken in) Diele und Bank gleichsam erlöst, jener, der durch das Säubern der Gefäße dasselbe erreicht, oder aber der einfache, sich gleichwohl „heiligend“ dem ihm Zugeteilten widmende Strumpfwirker und nicht zuletzt die final anzuführende Gemahlin des Rabbiners, die während des Backens der Sabbatbrote in ihrer Küche Gebete spricht (vgl. EZ 332), 575 – sämtliche in diesem Kapitel benannten, Vgl. hierzu auch Wehr 1978, S. 101. Scholem 1986, S. 199. Dennoch kritisiert Scholem: „Das ist zweifellos wahr, aber kein neuer Satz der persönlichen Religion, der durch den Chassidismus eingeführt worden wäre. Vielmehr kommt gerade diese Idee ursprünglich aus der lurianischen Kabbala, das heißt aus eben jener Gnosis, die Buber in seinen späten Schriften so schief ansieht.“ (Ebd., S. 199 f.) 574 Vgl. zur Anekdote vom Strumpfwirker auch DC 985 sowie ferner die (wohl in erster Linie symbolisch zu deutenden) Beispiele des Hofreinigers (des Königs) (vgl. EZ 186) sowie des Ofenheizers (vgl. EZ 225). 575 Die gesamte Erzählung lautet: „Wenn sie [Perle, die Frau des Berditschewer Rabbiners] die Sabbatbrote knetete und buk, pflegte sie zu beten: »Herr der Welt, 572 573

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Dialogik und Chassidismus-Deutung bei Martin Buber

modellhaften Beispiele und Anekdoten veranschaulichen, was Buber in nachfolgendem Passus zum Ausdruck bringt: Der Mensch kann nicht „wie Gott sein“, aber in aller Unzulänglichkeit einer jeden seiner Stunden kann er in jeder, mit dem Vermögen dieser Stunde, Gott nachfolgen – und wenn er dem Vermögen dieser seiner Stunde genug tut, hat er genug getan. Das ist nicht ein bloßer Glaubensakt, es ist ein Eingehen in das in dieser Stunde zu Lebende mit der ganzen Tätigkeitsfülle der geschöpflichen Person. (BJS 204 f.)

Wird der Einzelne den an ihn ergehenden Anforderungen der jeweiligen Situation und Stunde jedoch nicht gerecht, indem er diesen etwa mit geteilter Aufmerksamkeit begegnet oder sie gar gänzlich vernachlässigt, tut er also gemäß obiger Definition nicht genug, 576 macht er sich – wie Buber dezidiert in seiner dialogischen Schrift Das Problem des Menschen formuliert – richtiggehend schuldig: „Wenn ich nicht wirklich da bin, bin ich schuldig. Wenn ich auf den Ruf des gegenwärtigen Seins ‚Wo bist du?‘ antworte: ‚Da bin ich‘, aber ich bin nicht wirklich da, d. h. nicht mit der Wahrheit meines ganzen Wesens, dann bin ich schuldig.“ (PM 363) 577 Dies ist nicht nur im engeren, ethisch-moralischen Sinne zu verstehen, sondern darüber hinaus mit Blick auf den Gesamtkontext des Lebens respektive die – wie diese auch als Haltung der Ehrfurcht vor dem Leben anhand der Konzeption Albert Schweitzers erörtert worden ist – Grundhaltung gegenüber dem Leben als solchem, welche sich im Verhalten in alltäglichen Situationen und in dem Umgang mit dem sogenannten „Kleinen“, „Profanen“ widerspiegelt. Hierbei ist ich bitte dich, hilf mir, daß mein Levi Jizchak, wenn er am Sabbat über diese Brote den Segen spricht, dasselbe im Sinn habe wie ich in dieser Stunde, da ich sie knete und backe!«“ (EZ 332) Dieses Beispiel kommentiert Gerhard Wehr in Bezug auf die darin realisierte, wahre Kawwana-Intention wie folgt: „Unschwer läßt sich das Eigentümliche chassidischer Hingabe erkennen: Diese chassidische Frau betet nicht etwa vor der Tora in der Synagoge, […] sondern ihre Haus- und Küchenarbeit ist der Ort des Gottesdienstes […].“ (Wehr 1978, S. 90) 576 Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel II.2 dieser Arbeit. 577 In Abgrenzung zu Martin Heideggers (angeblich aus dem eigenen Selbst kommenden) „Ruf des Gewissens“ fährt Buber wie folgt fort: „Zieht aber eine Gestalt und Erscheinung des gegenwärtigen Seins an mir vorüber, und ich war nicht wirklich da, dann kommt aus der Ferne ihres Verschwindens ein zweiter Ruf, so leise und heimlich, als käme er aus mir selbst: ‚Wo bist du gewesen?‘ Das ist der Ruf des Gewissens. Nicht mein Dasein ruft mich, sondern das Sein, das nicht ich ist, ruft mich. Antworten aber kann ich nun erst der nächsten Gestalt; die gesprochen hat, ist nicht mehr zu erreichen.“ (PM 363)

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„Heiligung“ als Analogon eines dialogischen Lebenswandels

es – wie gesagt und wie dies auch einmal mehr in der Chassidischen Botschaft Bubers pointiert wird – höchst signifikant, „alles, was einer tut, mit seinem ganzen Wesen zu tun“ (CB 802), was bedeutet, die Verantwortung für jeden Augenblick des Lebens restlos anzunehmen. Die Quintessenz des Chassidismus beziehungsweise der chassidischen Lebensführung, wie diese im Rahmen des Buber-Teils der Arbeit im Allgemeinen, in Kapitel II.4 (und hier vor allem in diesem Kapitel II.4.2.2) im Besonderen plausibilisiert werden sollte, versteht Hans Kohn prägnant zu resümieren, weshalb nachstehende Passage abschließend in voller Länge zitiert werden soll: Der Chassidismus lehrt die Heiligung jeder Handlung und jedes Augenblicks. Er lehrt die Vollendung des Menschen in seiner Einzigartigkeit und seiner Ganzheit. Seine Ethik ist eine individuelle. Es gibt keine Regel, was zu tun ist. Jede Stunde und jeder Ort erfordern ihre Handlung von diesem einzelnen Menschen, seine Handlung. Es ist das Ethos der konkreten Gegenwart. Aber das Individuelle ist nicht subjektiv, nicht Willkür. Das wahrhaft Individuelle, das gesammelte, einzigartige Menschentum eines jeden ist sein Objektivstes, ist die Stelle, wo er mit der Gemeinschaft, wo er mit Gott zusammenhängt. Wer aus seinem Individuellen handelt, handelt aus tiefster Notwendigkeit, aus tiefstem Zusammenhang. In seinem Individuellsten, in seinem Tiefsten, in seinem Funken vollzieht sich die Begegnung des Menschen mit Gott. 578

Besonders der in diesem Kapitel letztthematisierte Aspekt des individuellen Standortes, dessen Bedingungen es gewissenhaft einzulösen gilt, bietet einen idealen Anknüpfungspunkt an Adalbert Stifter: Dessen Roman Der Nachsommer soll im Folgenden aus der im Zuge der Darlegung der Konzeptionen Schweitzers und Bubers gewonnenen gemeinsamen Perspektive vorgestellt werden, als Paradebeispiel eines auf der Basis einer ehrfurchtsvoll-heiligenden Lebenshaltung (gleichwohl jenseits eines explizit religiösen Kontextes) gelingenden (Alltags)Lebens.

578

Kohn 1961, S. 83.

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III. Idealisierung der Alltäglichkeit: Die Nachsommer-Welt Adalbert Stifters

Ich bin oft vor den Erscheinungen meines Lebens, das einfach war, wie ein Halm wächst, in Verwunderung geraten. Adalbert Stifter

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Die Nachsommer-Welt Adalbert Stifters

„»Die Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an sich sind«“ (NS 614) – diese Schlüsselsentenz des Romans Der Nachsommer Adalbert Stifters symbolisiert die literarisch-philosophische Grundintention seines Autors 579 und beinhaltet zudem einen Kernaspekt der im Zuge der vorliegenden Analyse zu erörternden Problematik. Fernerhin gemahnt diese noble Charakterdisposition, welche sich der verkappte Protagonist des Buches, Gustav Freiherr von Risach (genannt „Risach“), selbst attestiert, prima facie an Albert Schweitzers zentralen Appell der „Ehrfurcht vor dem Leben“. Wie gezeigt (und in der Diskussion der präsentierten Ansätze noch zu vertiefen sein wird), wird die bei Schweitzer bereits implizierte Achtung auch des Unbelebten jedoch erst in den Schriften Martin Bubers konkretisiert. Scheint bei diesem der Einzelne den Alltag und das ihm dort Begegnende im Grunde genommen um Gottes willen zu „heiligen“, stellt sich im letzten Hauptteil der Arbeit die Frage, ob vermöge der Konzeption Stifters das Erfordernis, den Komponenten des Alltags um ihrer selbst willen Würde zu bezeigen, plausibel darzulegen ist. Jenseits eines genuin religiösen Habitus wird sich ein per se achtungsvolles Agieren als eine quasi-religiöse Haltung bei Stifter respektive dessen Charakteren enthüllen, was es vor dem Hintergrund der Nachsommer-Maxime, den im täglichen Leben begegnenden Wesen, Gegenständen und Situationen zuteilwerden zu lassen, „»was die Dinge nur für sich forderten«“ (NS 614), zu erörtern gilt. Im Anschluss an die Explikation von im Kontext der Fragestellung relevanter, inhaltlicher wie stilistischer Aspekte Stifters Schreibens sowie des Romans – etwa des Primats des sogenannten Kleinen, Unspektakulären, das sich in einer ihresgleichen suchenden eminenten Deskriptionsakribie scheinbar belangloser Vorgänge manifestiert – und die Skizzierung essenzieller Charakterzüge der Figuren erfolgt schließlich die detaillierte Darlegung der Modellhaftigkeit des Risachschen Rosenanwesens. In einem weiteren Schritt sollen in Kapitel III.3 final substanzielle Facetten des das Alltagsleben im Nachsommer – namentlich in besagtem Rosenhaus – fundierenden Ehrfurchtsgedankens reflektiert werden.

579 Es sei im Vorfeld darauf hingewiesen, dass nach Ansicht der Autorin die Romanfiguren im Fall des Stifterschen Nachsommer als Sprachrohr des Autors fungieren und es nicht nur legitim, sondern vielmehr notwendig erscheint, dies in der vorliegenden Arbeit entsprechend zu berücksichtigen.

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Vorab möge ein selektiver Blick auf die Textauslese Vom Geheimnis der alltäglichen Dinge. Gedanken, Betrachtungen und Erfahrungen 580 gleichsam als Einstimmung auf die intendierte Darstellung der Nachsommer-Welt Stifters dienen.

1.

Exkurs: Vertrautheit versus Fremdheit – „Vom Geheimnis der alltäglichen Dinge“

„Es stimmt nicht mehr zwischen den Menschen und den Dingen. Schon lange hat dem ungebrochenen Verhältnis des Menschen zu den Dingen die Stunde geschlagen.“ 581 Dieses bereits eingangs der Analyse zitierte Diktum stammt aus besagter, von Johannes Werner zusammengestellten Textauswahl Vom Geheimnis der alltäglichen Dinge, anhand derer der Herausgeber, mittels repräsentativer Passagen literarischer, philosophischer und poetischer Werke, die „Geschichte der Entfremdung“ 582 des Menschen von den Dingen zu skizzieren sucht. 583 Der schmale, gleichwohl inhaltlich ergiebige Band, der die Mensch-Ding-Beziehung idealisierende Konzeptionen, deren Ist-Zustand diskutierende sowie nicht zuletzt warnende (neue) Aufmerksamkeit für die Dinge des Alltags fordernde, inkludiert, liefert eine optimale Basis für die im Rahmen des – gleichsam als Figuration der Arbeit konzipierten – dritten Teiles anvisierte Erörterung der Dinginterpretation Stifters im Nachsommer. Ferner rufen die nachfolgend aus Werners Publikation zitierten, selektiv auf den Darstellungskontext abgestimmten Quellenauszüge wesentliche Aspekte der bereits präsentierten Konzeption Schweitzers und dessen Maximen im Umgang mit nicht-menschlichen Lebewesen in Erinnerung sowie jener Bubers, welcher – wie gesehen – die „Erkrankung des Kontakts mit den Dingen und Wesen“ (CAM 945 f.) anprangert und im Zuge der Berufung auf die chassidische Lebensanschauung eine regenerierte Beziehung zur Alltagswirklichkeit postuliert. Werner 1998 (siehe Anm. 13). Ebd., S. 2. 582 Ebd., S. 183. 583 Der Herausgeber betont jedoch, diesbezüglich keinen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben: „[D]ie Texte sind Funde, manchmal zufällige; sind Spuren eines Geschehens, das sich aus ihnen rekonstruieren oder, wie aus Symptomen, diagnostizieren läßt; Materialien zu einer Geschichte der Entfremdung“. (Ebd.) 580 581

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„Vom Geheimnis der alltäglichen Dinge“

Die Struktur der Textauswahl basiert auf einzelnen, den sukzessiven Verfall der Mensch-Ding-Beziehung chronologisch widerspiegelnden Kapiteln, unter die die meist vom Herausgeber mit individuellen Titeln versehenen, ausgelesenen Textpassagen rubriziert sind. Insbesondere der Abschnitt „Verbundensein“ ist für die vorliegende Thematik von Relevanz, der beispielsweise die folgenden tiefgründigen Reflexionen Hermann Hesses bezüglich der „Bäume“ 584 beinhaltet, die an Bubers Ich-Du-Begegnung mit einem Baum gemahnen (vgl. ID 81 f.), welche unmittelbar unlehrbare dialogische Wirklichkeit erschließt: 585 „Bäume sind Heiligtümer. Wer mit ihnen zu sprechen, wer ihnen zuzuhören weiß, der erfährt die Wahrheit. Sie predigen nicht Lehren und Rezepte, sie predigen, um das Einzelne unbekümmert, das Urgesetz des Lebens.“ 586 Ferner ähnelt der Inhalt nachstehender Passage des Hesse-Textes dem Buberschen Gedanken der Transparenz auch der Sphäre der Natur zum ewigen Du hin (vgl. ID 81) 587 sowie der Vorstellung des sämtlichen Dingen und Wesen inhärierenden (göttlichen) „Funkens“ gemäß der in Kapitel II.4.2 erläuterten, durch Buber aufbereiteten kabbalistisch-chassidischen Funkenlehre: „Ein Baum spricht: In mir ist ein Kern, ein Funke, ein Gedanke verborgen, ich bin Leben vom ewigen Leben. […] Mein Amt ist, im ausgeprägten Einmaligen das Ewige zu gestalten und zu zeigen.“ 588 Hesses Resümee in Bezug auf den Stellenwert des Baumes erinnert nicht zuletzt an Albert Schweitzers Axiom der Heiligkeit allen Lebens und weist auf die besondere Bedeutsamkeit, die man Bäumen im Nachsommer zuspricht, voraus: Nichts ist heiliger, nichts ist vorbildlicher als ein schöner, starker Baum. Wenn ein Baum umgesägt worden ist und seine nackte Todeswunde der Sonne zeigt, dann kann man auf der lichten Scheibe seines Stumpfes und Grabmals seine ganze Geschichte lesen: in den Jahresringen und Verwachsungen steht aller Kampf, alles Leid, alle Krankheit, alles Glück und Gedeihen treu geschrieben […]. 589

584 Vgl. Hesse, Hermann: Bäume. Betrachtungen und Gedichte. Frankfurt am Main: Insel, 1984. Zitiert nach: Werner 1998, S. 42–44. 585 Vgl. hierzu auch Heinze 2011, S. 94 f. 586 Zitiert nach: Werner 1998, S. 43. 587 Vgl. auch ID 146 f. 588 Zitiert nach: Werner 1998, S. 43. 589 Ebd.

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Die Baum-Zitate Hesses dokumentieren, dass Werner unter dem oben genannten Buchtitel auch Texte zu (nicht-menschlichen) Lebewesen berücksichtigt; zudem subsumieren einige der angeführten Autoren selbst in ihren Schriften Pflanzen und Bäume unter die Gegenstände respektive verzichten auf eine sprachliche Differenzierung zwischen Dingen und nicht-menschlichen Lebewesen – nichtsdestotrotz scheint dieses Faktum in den meisten Fällen einer Aufwertung auch der Letzteren keinen Abbruch zu tun. Exemplarisch bekundet sich dies bei dem Dichter Francis Jammes, von dem Werner unter dem Titel „Die Gewißheit von der Beseeltheit der Dinge“ einen Auszug aus dessen Werk Das Paradies der Tiere 590 präsentiert, in welchem der Autor – symptomatischerweise vor durchaus profaner Kulisse – seine (analog zu Buber und Hesse) jenseits rationaler Spekulation erlangte Inspiration schildert: „In der Hütte des Schuhflickers öffnen sich mir die Augen […]. Und nun sehe ich, sehe in die Wahrheit, was wenige sehen werden: das Bewußtsein der Dinge, zum Beispiel die Opferwilligkeit dieses rauchenden Lichtes, ohne das der Hammer des Arbeiters kein Brot schaffen könnte.“ 591 Die auch in das primär eine gelingende Beziehung des Menschen zu den Wesen und Dingen seiner Umgebung thematisierende Kapitel „Verbundensein“ integrierten Ausführungen Jammes’ lösen die gegenüber nicht-menschlichen Lebewesen zu respektierende Ehrfurchts- sowie Mitleids-Forderung Schweitzers sowie Hesses Gedanken deren Leidensfähigkeit ein, wie nachfolgende emphatische Passage erhellt: Fast während all unserer Zeit nahen wir uns leichtfertig den Dingen, die doch gleich uns leiden und glücklich sind. Wenn ich eine kranke Ähre unter den gesunden erblicke, wenn ich die fahlen Flecken an ihren Körnern gesehen habe, dann schaue ich sehr klar den Schmerz dieses Dinges. Und in mir selber fühle ich das Leiden der Pflanzenzellen wieder. Ich verstehe, wie schwer sie es haben, auf dem Flecke, der ihnen zugewiesen ist, zu wachsen, ohne einander zu erdrücken, und mich erfaßt der heiße Wunsch, mein Taschentuch zu zerreißen und daraus einen Verband für die kranke Ähre zu machen. Dann denke ich freilich, daß das kein rechtes

590 Jammes, Francis: Das Paradies der Tiere. Hellerau: Hegner, 1926. Zitiert nach: Werner 1998, S. 33–42. 591 Ebd., S. 33. In diesem Kontext sei ferner auf Martin Heideggers prominent gewordenen Aufsatz „Die Technik und die Kehre“ verwiesen, in dem Heidegger den Kausalitätsbegriff bei Aristoteles ebenfalls vom Opfer her interpretiert.

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Heilmittel für eine bloße Kornähre sei und daß eine solche Behandlung in den Augen der Menschen, denen ich schon sonderbar genug vorkomme mit meinen Fürsorgen für einen Vogel oder eine Grille, eine arge Narretei sein müßte. Doch von dem Leiden dieser Körner habe ich Gewißheit, denn ich fühle es mit ihnen. 592

Schweitzers Formel der Ehrfurcht vor dem Leben spiegelt letztlich Jammes’ Empfindungen. Keineswegs würde ersterer dessen Fürsorge als töricht abtun – inspiziert Schweitzer selbst nach eigenen Angaben jede etwa für den Hausbau ausgehobene Vertiefung, bevor ein Pfahl hineingestoßen wird, auf darin befindliche Tierchen, welche anderenfalls den sicheren Tod fänden und kommuniziert dies zudem seinen Mitarbeitern. 593 Vergleichbar wird sich Stifters Risach über die aus purem Vergnügen durchgeführte Jagd mancher Menschen auf Gartenvögel oder andere Kleintiere echauffieren und den Wert des Kornes akzentuieren, während er „sachte mit der Hand an den grünen Ähren des Getreides hin[streicht]“ (NS 59). 594 Gleichsam als (positives) Pendant zu dem Erlebnis mit der Kornähre fungiert Jammes’ Begegnung mit einer Rose, welche in diesem Kontext nicht zuletzt die den Nachsommer maßgeblich dominierende Rosensymbolik antizipiert: „Eine schöne Rose wiederum flößt mir ihre Lebensfreude ein. Ich fühle, wie glücklich sie an ihrem Stiele ist. Wenn jemand einfach die Worte: ‚Es ist schade, sie zu brechen!‘ ausspricht, bekennt er damit, daß er das Glück der Blume mitempfindet, und daß er es ihr bewahren will.“ 595 Weitaus radikaler lautet die Weisung Schweitzers, keine Blume dürfe jenseits zwingender Notwendigkeit verletzt oder gar gepflückt werden, und entsprechend kategorisch verfährt – wie zu zeigen sein wird – Risach in seinem Garten, in dem sich in der Tat der Anblick lauter „glücklicher“ Rosen darbietet. Während auch Hesse nicht-menschliche Lebewesen, in obigem Textbeispiel den Baum, quasi personifiziert, indem er ihn „sprechen“ lässt sowie ferner dessen Glück und Leiden kontrastiert, attestiert Jammes darüber hinaus – basierend auf oben erwähnter Mutmaßung des Dingbewusstseins – leblosen Objekten gleichsam Ebd., S. 33 f. Siehe zu diesem Beispiel Steffahn 2009, S. 290 sowie die entsprechenden Erläuterungen in Kapitel I.1.2. 594 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in Kapitel III.3. 595 Zitiert nach: Werner 1998, S. 34. 592 593

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einen Personenstatus, 596 im Zuge dessen Beseeltheit und ebenso die (mitunter todbringende) Fähigkeit zu leiden: Ich habe leidende Dinge gekannt, und ich weiß von solchen, die an ihrem Leiden gestorben sind. […] Ihre Auflösung gleicht völlig der unseren. Auch sie haben ihren Knochenfraß, ihre Geschwülste und ihre Wahnsinne. Ein wurmzerfressenes Möbelstück, ein Gewehr mit gebrochenem Verschlusse, eine Lade, die sich wirft, eine Geige, die ihre Stimme verloren hat, sehe ich an Krankheiten leiden, vor denen ich erschüttert stehe. 597

Neben dem Leiden der Dinge, welches diese, menschlichen Wesen gleich, verspürten, handelt Jammes ferner ausdrücklich von deren Trauer, würden diese ihrer Funktion beraubt: „Unendlich ist die Traurigkeit in den Dingen, die keinem Gebrauche mehr dienen“ 598 und etwa in ihrer „jahrealten Einsamkeit“ 599 auf den Speichern der Häuser in Vergessenheit geraten und mithin verkommen. Die Dinge dagegen, die – wie dies im Rosenhaus des Nachsommer par excellence erfolgt und ferner von Buber im Sinne eines wohlwollendtreuen Umgangs gefordert wurde (vgl. beispielsweise CB 799 f.) – wertgeschätzt und somit in Ehren gehalten würden, „die wir liebevoll bewahren, erhalten uns ihre Dankbarkeit und sind immer bereit, uns ihre Seele darzubringen, auf daß sie sich an uns verjünge. Sie sind wie die Rosen in sandigem Grunde, die unendlich erblühen, wenn nur ein wenig Wasser sie der Azure ihrer verlorenen Brunnen gemahnt.“ 600 Während das Leiden der von Jammes auch als „Dinge“ bezeichneten, nicht-menschlichen Lebewesen – sei es die Grille oder Kornähre – evident ist, scheint dieses Suppositum in Bezug auf Gegenstände zweifelhaft, aus deren „Perspektive“ es wohl irrelevant sein mag, welche Form der Behandlung ihnen widerfährt. Nichtsdestotrotz ist letztere hinsichtlich des menschlichen Verhaltens von höchster Signifikanz, da sich anhand des Umgangs auch – um nicht zu sagen, gerade – mit Dingen letztlich die Beschaffenheit der Umgang im Allgemeinen beziehungsweise mit einem Gegenüber jegIn Bezug auf die Personifizierung der Gegenstände sei an dieser Stelle folgender Ausspruch des Rabbi Bunam über die Kleidung des Lubliner Rabbiners in Bubers Roman Gog und Magog angeführt: „»Da hörte ich, wie seine Kleider im Schrank sich flüsternd von ihm erzählten.«“ (GM 1137) 597 Zitiert nach: Werner 1998, S. 36. 598 Ebd., S. 37. 599 Ebd. 600 Ebd., S. 36. 596

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licher Art fundierenden Grundhaltung des Akteurs offenbart – weshalb wiederum selbst der Wert der Dinge eingesehen und diese entsprechend geachtet und schonungsvoll trätiert werden sollten. Überdies ist der menschliche Alltag ohne deren „Hilfe“ (mittlerweile) weder denk- noch bestreitbar – die Dinge erleichtern nicht nur, sondern verschönern zudem das tägliche Leben, indem sie in der Regel ihre „Dienste“ „verlässlich“ zur Verfügung stellen. Letztlich ist somit nicht die Belebt- oder Beseeltheit des Dinges ein relevantes Kriterium, gleichwohl kann deren symbolische Annahme als Vehikel dienen, das Gespür zu sensibilisieren für einen adäquaten Umgang mit Dingen, der sich ebenfalls idealiter auf elementarer Verantwortlichkeit gründet, wie nachfolgende Belegstelle demonstriert: Ich fühlte sie und fühle sie rings um mich leben in meinem verborgenen Reiche, und ich bin ihnen verantwortlich wie einem älteren Bruder. Im Augenblicke, da ich dies schreibe, empfinde ich, daß voll Liebe und Vertrauen die Seelen dieser göttlichen Schwestern auf mir ruhn. Der Sessel da, der Schrank, die Feder, sie sind mit mir. Ich glaube an sie über alle Systeme hinaus, über alles Verstehen und jede Deutung hinaus glaube ich an sie. Sie geben mir eine Überzeugung, wie kein Genie sie mir geben könnte. Jedes System wird eitel sein und alle Deutung Irrtum in dem Augenblicke, in dem ich in meiner Seele die Gewißheit dieser Seele leben fühle. 601

Erstmals sei ihm – wie erwähnt – diese intuitive Gewissheit eindrücklich in der Stube des Schusters sitzend zuteil geworden, daraufhin habe er „[s]eine Seele den tausend unbekannten Stimmen der Dinge aufgetan“ 602, und deren „geheiligte Sprache“ 603 ehrfürchtig vernommen. Mögen die in recht pathetischem Duktus gehaltenen Ausführungen Jammes’, im Rahmen derer er dezidiert für die Dinge Partei ergreift, den nüchternen Rezipienten zunächst etwas befremden, transportieren diese nichtsdestominder die folgende, Ebd., S. 40. Ebd. 603 Ebd. Die „Sprache“ der Dinge exemplifiziert Jammes wie folgt: „In dieser andächtigen Besinnung wurde aus dem Niederfall einer halbverwelkten Ranke, aus dem Knirschen des Schürhakens, aus dem Schlage des Hammers und dem Flackern der Kerze, wurde aus dem schwarzen geblähten Flecke, als den ich die eingeschlafene Amsel sah, und aus dem Auf- und Niedergehen des Deckels auf dem Kochtopfe eine geheiligte Sprache, die meinem Lauschen verständlicher war als die Rede der meisten Menschen. Diese Laute und Farben waren nichts anderes als die Gebärde der Gegenstände, deren sie sich als Ausdrucksweise bedienen wie wir der Stimme und der Blicke.“ (Ebd., S. 40 f.) 601 602

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hinsichtlich der Fragestellung vorliegender Arbeit essenzielle Quintessenz: Es gilt, sämtlichen Erscheinungen des Lebensumfeldes ungebrochene Aufmerksamkeit entgegenzubringen, das heißt, keinen Lebensbereich oder dessen Komponenten ignorant auszuklammern – schon gar nicht jenen der Dinge und Gebrauchsgegenstände, mit denen man täglich in Berührung kommt. So pointiert Jammes noch einmal, die Situation in der Schuhmacherstube rekapitulierend: „Brüderlich fühlte ich mich diesen demütigen Dingen verbunden. Und ich erkannte, wie armselig es sei, die Reiche der Natur voneinander zu scheiden, da es doch nur das eine Reich Gottes gibt.“ 604 Lebe „[d]ie Gewißheit von der Beseeltheit der Dinge […] in den Kindern, den Tieren und den schlichten Herzen“ 605, sei es – folgendem realistischen wie latent pessimistischen Fazit Jammes’ gemäß – „die Erziehung durch eine falsche Eitelkeit[, die] es mit sich bringt, daß der Mensch sich solch eines Glaubens beraubt“ 606. Vergleichbar argumentiert Heinrich Heine 607 in dem von Johannes Werner unter dem Titel „Das innere Leben solcher Gegenstände“ präsentierten Textauszug bezüglich des Stellenwertes des Kindesalters, das er für „so unendlich bedeutend“ 608 hält, was er folgendermaßen expliziert: „[I]n jener Zeit ist uns alles gleich wichtig, wir hören alles, wir sehen alles, bei allen Eindrücken ist Gleichmäßigkeit, statt daß wir später […] das klare Gold der Anschauung für das Papiergeld der Bücherdefinitionen […] einwechseln, und an Lebensbreite gewinnen, was wir an Lebenstiefe verlieren.“ 609 Während das Kind intuitiv den individuellen Wert sowie die Spezifik jedes einzelnen (alltäglichen) Dinges registriere, zudem nicht zwischen wichtigen und weniger wichtigen Sinneseindrücken differenziere und entsprechend „gerecht“ gegen sein Umfeld und die täglichen Begebenheiten verfahre, agierten Erwachsene mehr oder weniger gleichgültig – ja geradezu ignorant gegenüber ihrer Lebensrespektive Alltagsumgebung: So wechselten sie beispielsweise häu-

Ebd., S. 41. Ebd., S. 35. 606 Ebd. 607 Vgl. Heine, Heinrich: Die Harzreise. In: Sämtliche Werke. Bd. 2. Hrsg. von Otto F. Lachmann. Leipzig: Reclam, o. J. S. 5–59. Zitiert nach: Werner 1998, S. 48–50. 608 Ebd., S. 49. 609 Ebd. 604 605

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fig den Wohnraum, dessen Möblierung ihnen kaum in Erinnerung bleibe, da sie Ersteren und mithin die diesen „belebenden“ Dinge – „die uns wenig interessieren, da sie entweder neu sind, oder heute dem Hans, morgen dem Isaak gehören“ 610 – nicht (mehr) bewusst wahrnähmen – geschweige denn kennten: [S]elbst unsere Kleider bleiben uns fremd, wir wissen kaum, wie viele Knöpfe an dem Rocke sitzen, den wir eben jetzt auf dem Leibe tragen; wir wechseln ja so oft als möglich mit den Kleidungsstücken, keines derselben bleibt im Zusammenhange mit unserer inneren und äußeren Geschichte; – kaum vermögen wir uns zu erinnern, wie jene braune Weste aussah, die uns einst so viel Gelächter zugezogen hat, und auf deren breiten Streifen dennoch die liebe Hand der Geliebten so lieblich ruhte! 611

In Bezug auf das generelle Schicksal der (alltäglichen) Dinge kommentiert Werner im Nachwort des von ihm edierten Bandes unter der Überschrift „Aus dem Sinn“: „Und man verbraucht sie oft, ohne sie wirklich gebraucht zu haben, vergißt, verliert, zerstört sie nur zu bald. Solche Dinge bleiben fremd und tot.“ 612 Eine drastische Verschärfung der Problematik resultiere somit aus symptomatischen Tendenzen der modernen profitorientierten (Konsum-)Gesellschaft, wie dies etwa der von Werner zitierte Paul Tillich 613 plausibel macht: „Das Verhältnis zu den Dingen wird in der freien Marktwirtschaft eroslos, gemeinschaftslos, herrschaftlich. Die Dinge werden Waren, d. h. Gegenstände, deren Sinn es ist, durch Kauf und Verkauf Profit zu schaffen, nicht aber, den Umkreis des persönlichen Lebens zu erweitern.“ 614 Im Kontrast zu dem ursprünglich „durch die Ehrfurcht, die heilige Scheu, durch Pietät und Dank gegenüber dem Besitz geweiht[en]“ 615 Mensch-Ding-Verhältnis, wie Ebd. Ebd., S. 49 f. 612 Werner 1998, S. 178. Der Hausherr des Rosenhauses im Nachsommer dagegen vermag sich selbst von abgetragener, Spuren des Verschleißes aufweisender Kleidung nicht zu trennen, da diese ihm – nicht zuletzt infolge „treu geleisteter Dienste“ – lieb und teuer geworden sei. (Vgl. NS 351) 613 Vgl. Tillich, Paul: Die religiöse Deutung der Gegenwart. Schriften zur Zeitkritik. Gesammelte Werke. Bd. 10. Hrsg. von Renate Albrecht. Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1968. Zitiert nach: Werner 1998, S. 64 f. 614 Ebd., S. 64. 615 Ebd. Ergänzend fügt Paul Tillich hinzu: „Das Dingverhältnis der vorbürgerlichen Zeit hatte etwas in sich Transzendentes. Das Ding, der Besitz, war Symbol der Teilnahme an der gottgegebenen Wirklichkeit, abgestuft je nach dem Ort, der mehr oder weniger weitreichend Anteil an ihr gab.“ (Ebd.) Im Nachwort schreibt 610 611

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dieses ex aequo im Rosenhaus des Nachsommer präsent ist, sei das im Zuge der Technisierung der Produktion zur reinen „Ware“ degradierte Ding zum traurigen „Symbol der unendlichen Endlichkeit des reinen Herrschaftswillens“ 616 geworden: „Infolgedessen verlieren die begrenzten Besitztümer, Acker, Haus, Vieh, Möbel, Kleider usw. ihren symbolkräftigen Charakter. Sie werden Gebrauchsware, ausschließlich durch Verbrauchszwecke bestimmt, eros- und individualitätslos hergestellt, behandelt und weggegeben.“ 617 Die sich unmittelbar in dem menschlichen Umgang mit den Dingen niederschlagenden Konsequenzen moderner Warenproduktion in ihrer verheerenden Tragweite führt endlich Theodor W. Adorno 618 in dem von Werner „Bis in die geheimsten Innervationen hinein“ betitelten Abschnitt schonungslos vor Augen: Die Technisierung macht einstweilen die Gesten präzis und roh und damit die Menschen. Sie treibt aus den Gebärden alles Zögern aus, allen Bedacht, alle Gesittung. […] In den Bewegungen, welche die Maschinen von den sie Bedienenden verlangen, liegt schon das Gewaltsame, Zuschlagende, stoßweis Unaufhörliche der faschistischen Mißhandlungen. Am Absterben der Erfahrung trägt Schuld nicht zum letzten, daß die Dinge unterm Gesetz ihrer reinen Zweckmäßigkeit eine Form annehmen, die den Umgang mit ihnen auf bloße Handhabung beschränkt, ohne einen Überschuß, sei’s an Freiheit des Verhaltens, sei’s an Selbständigkeit des Dinges zu dulden, der als Erfahrungskern überlebt, weil er nicht verzehrt wird vom Augenblick der Aktion. 619

Das Defizitäre eines auf eine bloße Zweck-Mittel-Relation reduzierten Umgangs im Allgemeinen hatte Buber im Rahmen seiner Dialogphilosophie anhand der Kontrastierung der beiden Modi des Umgangs – des dialogischen „Ich-Du“ und des monologischen der Herausgeber des Bandes in diesem Kontext: „Die früheren Zeiten waren keine besseren Zeiten (auch wenn manches in ihnen besser war), und sie kommen, zum Glück, nicht zurück. Dennoch ist die Sehnsucht nach ihnen unverächtlich; sie hält daran fest, daß der Mensch mit sich und mit der Welt ganz ins reine kommen könnte.“ (Werner 1998, S. 180) 616 Zitiert nach: Ebd., S. 65. 617 Ebd. 618 Vgl. Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1969. Zitiert nach: Werner 1998, S. 78 f. 619 Ebd. Auf ein vertiefendes Eingehen auf die von Adorno angedeutete fatale historische Dimension dieses gewandelten Prozesses der Produktionsmodi der Dinge soll an dieser Stelle verzichtet werden, da dies letztlich eine eigene Studie erfordern würde.

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„Ich-Es“ – aufgezeigt; 620 spezifiziert auf das Umgehen mit Dingen findet sich zudem in seinen Schriften zum Chassidismus das Postulat einer entsprechend „heiligen(den)“ Handlungsintention. 621 In der Publikation Werners fordert ferner Erhart Kästner 622 von dem Menschen der Moderne eine Distanzierung von dem in jeglicher Hinsicht ruinösen, ausschließlich zweckbasierten Dingumgang zugunsten der zu geläutertem Agieren affizierenden „Vorstellung, daß die Dinge dieser Welt zu etwas anderem da seien, als von ihm ausgeforscht, verformt und ausgebeutet zu werden“ 623. Analog zu Adorno kritisiert Kästner die (mittlerweile nahezu) grenzenlose Machtprätention des Menschen auf das Schärfste: „Sind es nicht Adler-, Sieger-Gefühle, mit denen man jetzt die Fortschritte der Welt-Ausrechnung bedenkt, die Führung der Wissenschaft, die Triumphe über die Dinge?“ 624 Jenseits der fatalen Folgen explizit für das von den Dingen maßgeblich geprägte Leben des Menschen, 625 führe dieser Prozess letztlich gleichsam zum Tod der Dinge 626: „Von jeher hatten sie von der Mühe gelebt, die man sich um sie machte. Schwer begreiflich: aber um Mühe gaben sie Leben. Man wollte sie

Vgl. hierzu Heinze 2011, S. 91–103. Siehe hierzu vor allem die Darlegungen in Kapitel II.4 der vorliegenden Abhandlung. 622 Vgl. Kästner, Erhart: Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen. Frankfurt am Main: Insel, 1973. Zitiert nach: Werner 1998, S. 97–101. 623 Ebd., S. 100. 624 Ebd., S. 98. 625 Kästner spekuliert in dem von Werner unter dem symptomatischen Titel „Aufstand der neuen Sklaven“ publizierten Textauszug ausdrücklich (gemäß dem Originaltitel seiner Schrift, vgl. Anm. 622) über einen Aufstand der Dinge als Folge ihrer „Knechtschaft“ und die damit einhergehenden Konsequenzen für den Menschen: „Wenn die Dinge sich wegziehen –: weggezogen, das andere Wort für abstrakt. Wegzug der Dinge, und das Abstrakte rückt nach. Und wenn es so käme, wenn die Dinge sich zuschlössen –: würde sich alsdann nicht erweisen, daß wir ohne Vertrag mit ihnen nicht sein können? daß wir abstürben?“ (Ebd.) Das Fazit lautet entsprechend radikal: „Es ist der Herren-Wahn unserer Neuzeit, zu meinen, man könne die Dinge ohne Maß, ohne Grenze ausspähen, ausforschen, ausbeuten, und es werde schon keine Rechnung deswegen ins Haus kommen. Sie täuscht sich, die Neuzeit.“ (Ebd., S. 99) 626 „Nicht Gott ist tot, aber die Dinge; es war ein Nachrichten-Versehen, ein Übermittlungs-Fehler, eine Falschmeldung. Die Dinge sind tot, und wir (das war richtig) wir waren es, die sie erforschten, erwürgten, umbrachten. Wir waren es, die uns der Sünde schuldig machten: der Welt-Sünde einer Ehren-Kränkung der Dinge.“ (Ebd., S. 98) 620 621

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mühelos, man wollte sie hergestellt haben. Das gelang auch. Aber um den Preis ihres Lebens.“ 627 Jeglichen Machtanspruch seitens des Menschen (welcher sich, wie gesehen, nicht zuletzt auf Kosten eines adäquaten MenschDing-Verhältnisses artikuliert) negierend, ist dem Stifterschen Nachsommer eine demutsvolle Zurücknahme des Menschen vor den Dingen implizit, wie in den nachstehenden Kapiteln darzulegen ist. „Die Dichter ahnten im zunehmenden Haben das abnehmende Sein“ 628, stellt Ernst Fischer in Werners Band fest – einmal quasi jenes der Dinge als auch das des Menschen selbst: Wie von Kästner prognostiziert (siehe Anm. 625), droht sich infolge des durch den modernen Produktionsapparat gewandelten Dingumgangs paradoxerweise die Machtkonstellation zwischen Mensch und Ding zudem sukzessive umzukehren. In Bezug auf diesen Nexus des menschlichen Selbst- und Dingverständnisses ist für die zu erörternde Fragestellung besonders das von Johannes Robert Becher 629 formulierte, als Motto dieser Arbeit gewählte Gebot „Verachtet mir die Dinge nicht, damit ihr euch nicht selber verachtet“ 630 von fundamentaler Relevanz, das er wie folgt explaniert: „Die Verdinglichung des Menschen beginnt damit, daß er die Dinge entmenschlicht – und Dinge Dinge sein läßt. In diesem Augenblick überwältigen die Dinge den Menschen und gewinnen Macht über ihn.“ 631 Ebd., S. 99. Zitiert nach: Werner 1998, S. 102. Ferner sei auf die einleitend bereits zitierten Worte Fischers rekurriert: „Die Dichter jedoch (sofern sie es sind) vermögen, ohne auf solche wissenschaftliche, philosophische Antwort warten zu müssen, neue, bisher noch unsichtbare, noch unerhörte Wirklichkeiten zu entdecken.“ (Ebd.) 629 Vgl. Becher, Johannes R.: Das poetische Prinzip. Philosophie des Sonetts oder Kleine Sonettlehre und „Ein wenig über vier Seiten …“. Berlin: Aufbau-Verlag, 1957. Zitiert nach: Werner 1998, S. 58 f. 630 Ebd., S. 59. 631 Ebd., S. 58. Vgl. hierzu auch Viktor Sklovskij: „Die Dinge machen mit dem Menschen das, was er aus ihnen macht.“ (Sklovskij, Viktor: Zoo oder Briefe nicht über die Liebe. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980. Zitiert nach: Werner 1998, S. 77 f., hier: S. 78) In Bezug auf das geflügelte Wort der „Tücke des Objekts“ (vgl. hinsichtlich dessen Anwendung im Kontext der Bildenden Kunst auch die gleichnamige Publikation Die Tücke des Objekts. Vom Umgang mit Dingen 2009) lautet der Kommentar des Herausgebers Werner folgendermaßen: „Sie hat ihre erste Ursache freilich diesseits aller Dämonie und darin, daß der Mensch so viele Dinge (und viele von ihnen nur so kurz) hat, daß er sie nicht mehr kennt, sich mit ihnen nicht mehr auskennt; und um so weniger, als sie in ihrer Wirkungsweise immer verwickelter und unverständlicher werden. Die Dinge, die den Menschen unaufhörlich zu 627 628

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Diese Verkehrung der Relation, die „Herrschaft“ der Dinge über den Menschen, illustriert Becher mittels einer Analogie zur Kunst: In dem Maße, als in der Kunst (oder im Leben des Menschen) die Dinge diminuiert, unwichtig, unernst genommen werden, in dem Maße, als nur angedeutet wird, der oder der Gegenstand hier soll ein Krug, ein Teppich sein, in dem Maße, als die Dinge hieroglyphische Figuren werden – in dem Maße entmenschlicht sich der Mensch selber, und seine Gestalt wird zur Ungestalt – er wird ein Abstraktum. 632

Es zeichnet sich ab, dass dagegen ein quasi künstlerischer Umgang mit den Dingen beziehungsweise einer der Praxis des wahrhaften Künstlers analoger opportun scheint, den Becher wie folgt charakterisiert: „Wie liebevoll, wie kunstvoll, wie ausführlich, wie zärtlich behandeln die großen Künstler die Dinge, streicheln sie und umschmeicheln sie, umgeben sie mit der ganzen Kraft ihrer Phantasie, und die Dinge leben.“ 633 In ihrem Essay „Von den Dingen“, aus dem Werner in seiner Publikation zitiert, 634 geht Marie Luise Kaschnitz mit Becher konform und formuliert – gleichsam als Steigerung dessen Weisung „Verachtet mir die Dinge nicht, damit ihr euch nicht selber verachtet“ 635 – die programmatischen Worte: „Verleugnen wir die Dinge nicht. Sie haben uns gehalten. Und sie haben uns erhöht.“ 636 Diesen belauern und zu bedrohen scheinen, sind keine Dämonen, sondern abgespaltene, verselbständigte Teile seiner selbst.“ (Werner 1998, S. 178 f.) Bertolt Brecht argumentiert in dem von Werner mit „Die Dinge beherrschen uns“ überschriebenen Textausschnitt sogar noch drastischer: „Je mehr wir durch die Organisation der Arbeit und große Erfindungen und Entdeckungen der Natur abzwangen, desto mehr scheinen wir in Unsicherheit der Existenz geraten zu sein. Nicht wir beherrschen, scheint es, die Dinge, sondern die Dinge beherrschen uns. Das kommt aber nur daher, weil die einen Menschen vermittels der Dinge von den andern Menschen beherrscht wurden. Wir werden erst von den Naturgewalten befreit sein, wenn wir von menschlicher Gewalt befreit sind. Unserer Kenntnis der Natur müssen wir die Kenntnis der menschlichen Gesellschaft hinzufügen, des Verhaltens der Menschen untereinander, wie wir unsere Kenntnis der Natur menschlich ausnützen wollen.“ (Brecht, Bertolt: „Der Messingkauf“. In: Gesammelte Werke. Bd. 16. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1967. S. 499–657. Zitiert nach: Werner 1998, S. 76 f., hier: S. 77) 632 Zitiert nach: Werner 1998, S. 58. 633 Ebd. 634 Vgl. Kaschnitz, Marie Luise: „Von den Dingen“. In: Menschen und Dinge 1945. Zwölf Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985. Zitiert nach: Werner 1998, S. 55–58. 635 Zitiert nach: Werner 1998, S. 59. 636 Ebd., S. 55.

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Appell erläuternd, konstatiert sie in Bezug auf die Mensch-DingRelation früherer Zeiten: „Wer nicht nur im Geiste zeugen wollte, strebte nach der breiten Basis, nach einer vielfältigen und reichen Auswirkung seines eigenen Ichs. In der Wahl der Dinge, mit denen man lebte, wirkte ein winziger Teil von Schöpferkraft, in der Gestaltung der Umwelt zeigte sich die eigene Gestalt.“ 637 Dies manifestiert sich paradigmatisch in dem von Risach im Nachsommer liebevoll-akribisch durchkomponierten Rosenanwesen, das in der Tat seinen Eigner widerspiegelt. So erläutert Kaschnitz weiters bezüglich des (Wieder-)Einsatzes der schweigsamen und dienstwilligen, das Los, „Nebensache zu sein“ 638, stets erduldenden Dinge: „Weil sie uns lange kannten, erkannten wir uns selbst als lang Überdauernde, und über den Augenblick hinweg ermaßen wir die Einheit unseres Seins.“ 639 Angesichts der (bereits zur Zeit der Verfassung jenes Ding-Essays 1945) von Termindruck und Hast dominierten Zeit – hinzukommen heutzutage Unverbindlichkeit bis hin zu Treulosigkeit – bekundet Kaschnitz abschließend jedoch ihren Zweifel an der konsequenten Realisierung eines von tiefer Dankbarkeit geprägten, den Gegenstand je würdigenden Umgangs: Aber wer hätte noch Zeit wie die ehrfürchtigen Chinesen, vor einer Schale zu schweigen? Wer hätte noch Lust, in der Liebe zu den Dingen sein Ich unermeßlich zu erweitern und sie in seine Verantwortung einzubeziehen? Viele Menschen sind der Ansicht, daß dazu niemand mehr Lust habe. Sie sind auch der Ansicht, daß nicht die Dinge uns, sondern wir sie verlassen haben. Ja, sie gehen so weit zu sagen, die Zerstörung wäre nicht gekommen, wenn wir die Dinge noch gebraucht, wenn wir sie noch gehütet und uns zu ihnen bekannt hätten. 640

In Kaschnitz’ (letztlich vor der Folie des Weltkrieges zu rezipierenden) Reflexionen artikuliert sich – wie auch in jenen der weiteren, in Orientierung an der Publikation Johannes Werners zitierten Autoren – der Kern der Problematik bezüglich der Dinge (des Alltags), die es (wieder) in den Kreis menschlicher Verantwortlichkeit zu integrieren gilt. Hat der erwachsene Mensch – beispielsweise aufgrund zweifelhafter gesellschaftlicher Konventionen sowie des Verlustes kindlicher Intuition und Sensibilität – die Ehrfurcht vor 637 638 639 640

Ebd., S. 56. Ebd. Ebd. Ebd., S. 57 f.

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diesen subtilen Zusammenhängen eingebüßt, tut es not, diese zu (re) aktivieren, als mit der Achtung vor den Dingen (wie dies etwa Johannes Robert Becher deutlich macht) und nicht-menschlichen Lebewesen (wie dies vor allem Albert Schweitzer plausibilisiert hat) die Selbstachtung des Menschen korreliert. In Hinblick auf einen angemessenen Bezug zu dem eigenen Lebensumfeld respektive adäquaten Umgang mit den diesem zugehörigen Dingen und Lebewesen erzeigt sich somit die Internalisierung des Gebots der Würdeerweisung auch den (scheinbar) kleinen, unscheinbaren Dingen des Lebens als ausschlaggebend. Abschließend zu diesem als Einstimmung auf die Darlegungen zu Adalbert Stifters Nachsommer intendierten Kapitels soll Hugo Friedrich 641 zitiert werden, der unter dem von Werner gewählten Titel „In einer intimen Vertraulichkeit“ in Bezug auf die Figuren der „Dingpoesie“ 642 Balzacs (welche er interessanterweise dem Dingverständnis Stendhals wie Flauberts kontrastiert) Folgendes formuliert: Sie vereinsamen nicht in einer gesetzmäßigen, auch die Beziehungen zu den Dingen belastenden Inkongruenz von Mensch und Umwelt, sondern leben […] doch im ganzen geborgen in einem Bezirk der natürlichen oder geschaffenen Dinge, worin sie hausen wie die Tiere in ihrem Unterschlupf. Ein Balzacscher Mensch kann sich an und mit den Dingen ausdrücken, sie stellen ihn dar […] und sind ihm nicht fremd. 643

Fokussiert auf die zu erörternde Fragestellung gilt es im Folgenden, Stifters Nachsommer-Welt und mithin Dinginterpretation vor dem Hintergrund der bereits dargelegten Konzeptionen Albert Schweitzers und Martin Bubers (ferner jener in diesem Kapitel angerissenen) zu präsentieren, um schließlich in einem letzten Schritt in Abschnitt IV der Arbeit die eigentliche Synthese der drei Autoren anzuvisieren.

Vgl. Friedrich, Hugo: Drei Klassiker des französischen Romans. Stendhal, Balzac, Flaubert. 6. Aufl. Frankfurt am Main: Klostermann, 1970. Zitiert nach: Werner 1998, S. 50–53. 642 Ebd., S. 52. 643 Ebd., S. 52 f. 641

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„Wer durch einfachere Mittel wirkt, wirkt besser“: Stifters (literarisch-philosophische) Betrachtung von Welt, Leben und Alltag

Ich habe wahrscheinlich das Werk der Schlechtigkeit willen gemacht, die im Allgemeinen mit einigen Ausnahmen in den Staatsverhältnissen der Welt, in dem sittlichen Leben derselben und in der Dichtkunst herrscht. Ich habe eine große einfache sittliche Kraft der elenden Verkommenheit gegenüber stellen wollen. (SWB 3 93)

Diese an den Freund und Verleger Gustav Heckenast adressierten Zeilen bezüglich des Nachsommer demonstrieren prägnant die Intentionen, die Adalbert Stifter mit seinem Werk – welches, so der dezidierte Hinweis in demselben Schreiben, „kein Unterhaltungsbuch“ (SWB 3 97) darstelle – verbindet. Damit steht die bereits einleitend zu dieser Arbeit erwähnte Konstatierung des Philosophen Walter Biemel hinsichtlich der generellen Funktion beziehungsweise Aufgabe eines Romans in Einklang, welche „eben nicht das Erfinden von etwas Fiktivem ist, sondern eine Welt- und Menschendeutung“ 644. Jene spezifische Deutung Stifterscher Provenienz anhand des Nachsommer – mit Blick auf dessen konkrete „Anwendbarkeit“ im täglichen Leben – aus philosophischer Perspektive zu eruieren, schreibt sich die Autorin der vorliegenden Studie auf ihre Fahne. Gleichwohl bedeutet dies – analog zu dem Verfahren mit Bubers chassidischen Schriften und in Anlehnung an den Standpunkt Biemels – durchaus nicht, dass der favorisierte Ansatz Stifters Werk „zu Gunsten einer philosophischen These vergewaltigen will, wohl aber, daß er dem Roman philosophische Bedeutung zuerkennt und es für nötig hält, diese Bedeutung herauszustellen, gerade um zu einem Verstehen des Romans zu gelangen, das rein ästhetischformale Forderungen übersteigt“ 645. Gleichwohl resultiert die philosophische Implikation des Romans nicht zuletzt aus dessen formaler Architektonik, welche den in obiger Passage aus Stifters Korrespondenz mit Heckenast angeklungenen ethischen Impetus mitbedingt, 646 als dessen Indikator im Biemel 1985, S. 28. Ebd., S. 14 f. 646 Die Tatsache, dass Stifters Nachsommer „zum Zwecke der Veredelung des Menschen“ (Heinze 2008, S. 103) verfasst wurde, hat die Autorin bereits in ihrem Artikel über den Roman aus philosophischer Perspektive herausgestellt. Vgl. hierzu 644 645

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Rahmen dieser Arbeit insbesondere das Alltagsverhalten hervorzuheben sein wird. Vor dem Hintergrund dieses dem Nachsommer innewohnenden ethischen Anliegens, mit dem ein elementares Bildungs- und Erziehungsbestreben verknüpft zu sein scheint, gilt es, in aktuellem Kapitel (mit Bezugnahme auf eingangs genannte, wesentliche Schriften einschlägiger Autoren) essenzielle stilistische und inhaltliche Details des Nachsommer zu erörtern: In erster Linie handelt es sich um die erwähnte, unerreicht präzise Schilderung scheinbar belangloser Angelegenheiten (vgl. Kapitel III.2.1), welche Stifters spezifische Dinginterpretation, seinen individualistischen Wertmaßstab und nicht zuletzt die Bedeutung der in diesem Kontext zu akzentuierenden Sprache fundiert. Zudem wird in Kapitel III.2.2 der typische Menschenschlag der „Nachsommerer“ Thema sein sowie in Kapitel III.2.3 speziell die Funktion des Rosenhauses als exemplarische Institution mustergültigen Lebens und Handelns expliziert, da die Analyse – wie angekündigt – nicht primär auf die im Roman erzählte Geschichte abstellt, sondern auf den Aspekt einer potenziellen Applikation einzelner Verhaltens- respektive Umgangsweisen auf das eigene Leben. Zunächst gilt es mit Biemel – bezüglich eines Romans im Allgemeinen – zu berücksichtigen, „daß die gelebte Welt und nicht die wissenschaftliche Welt Thema des Romans ist. Dabei kann diese gelebte Welt durchaus als eine sein-sollende verstanden werden.“ 647 Dieser Befund Biemels zur im literarischen Werk konzipierten idealen (Lebens-)Welt trifft nach Ermessen der Autorin in toto auf Stifter zu, wie sich im Verlauf der Darstellung herauskristallisieren wird. Zudem attestiert etwa auch Stifters Zunftgenosse Arnold Stadler diesem, „Romane über das richtige Leben [verfasst zu haben], wo alles seinen Platz hat und die Rosen zur rechten Zeit blühen“ 648. Die Rosenmetapher 649 fungiert an dieser Stelle als handauch ebd., vor allem S. 132–139 sowie folgende Ausführungen Alice Bolterauers, welche konstatiert, die Stifterschen Bemühungen seien zentriert um „die Reflexion auf die Möglichkeiten und Gefahren eines ‚rechten‘ Lebens. Wie ein solches ‚rechtes‘ Leben ausschauen sollte, wie man es verwirklichen könnte, wie andere davon zu überzeugen wären – all das sind Fragen, die Stifters Schreiben letztlich bestimmen, es auch in seiner formal-ästhetischen Gestaltung prägen […].“ (Bolterauer 2005, S. 404) 647 Biemel 1985, S. 14. 648 Stadler 2009, S. 182 f.; vgl. ebd., S. 184. 649 Zur Erläuterung der Rosenmetapher siehe Anm. 921 der Arbeit.

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greifliches Indiz dafür, dass diese Äußerung Stadlers in erster Linie auf den Nachsommer – „diese[n] Erzählung genannten epochalen Text[es]“ 650 – gemünzt ist: „Der Nachsommer ist die Beschreibung seiner [Stifters] Vorstellung vom Glück.“ 651 Da eine günstige Fügung diesem in seiner eigenen Vita (aus subjektiver Sicht) weitgehend versagt blieb, suche er sich eine solche – so die These Stadlers – im Roman-Projekt gleichsam zu „erschreiben“. 652 Auf eine weiterführende Vertiefung der eklatanten Diskrepanz von Stifterscher Biographie und des(sen) Lebensentwurfs im Nachsommer verzichtend, 653 mögen die folgenden Akzente dem Leser der vorliegenden Abhandlung den Romaninhalt summarisch in Erinnerung rufen: 654 Der junge Ich-Erzähler Heinrich Drendorf amtiert in der Geschichte quasi als „Parallelfigur“ des betagten Freiherrn von Risach (Eigner des Asper-Anwesens beziehungsweise „Rosenhofes“), wodurch sich gleichsam der „Schicksalskreis“ der männlichen Hauptfiguren rundet: Risachs inkonsistenter Lebensweg, welcher zuvörderst von dem signifikanten Erlebnis des leidvollen Scheiterns seiner Jugendliaison mit der aus gutem Hause stammenden Mathilde Tarona (geb. Makloden) geprägt ist, 655 wird im Alter kraft Hein650 Stadler 2009, S. 182. Stifter bezeichnet das drei Bände umfassende Werk in der Tat im Untertitel als eine „Erzählung“. Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Romans auch Heinze 2008, S. 37: „Die Anfänge des Nachsommer-Romans fallen in das Jahr 1849: Zunächst als Novelle konzipiert, sollte der Stoff in dem Almanach Iris unter dem Titel Der alte Hofmeister, später umbenannt in Der alte Vogelfreund, erscheinen, wurde schließlich jedoch zurückgezogen. Die Planung eines Romans bestand seit 1852, die Ausführung des 1857 bei Gustav Heckenast erschienenen dreibändigen Werkes wurde ab 1853, vor allem aber in dem Zeitraum von 1854 bis 1857 vorgenommen.“ 651 Stadler 2009, S. 184. „Die Aura des Glücks ist vom ersten bis zum letzten Satz präsent im Nachsommer.“ (Ebd., S. 99). Zu weiteren Glücks-Stellen vgl. ebd., beispielsweise S. 11, 97, 102, 107 f., 140 f., 182–185, 188 und 192. 652 Vgl. hierzu etwa ebd., S. 184: „Er erträumt schreibend eine glückliche, richtige Welt. Und das Große daran ist, daß dabei keine Rosamunde Pilcher herauskommt.“ 653 Diesbezüglich sei auf die entsprechenden Ausführungen in Matz 2005 sowie Stadler 2009 verwiesen. Ebenso soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit die Entschlüsselung der Symbolik des Romans weitestgehend vernachlässigt werden (diese wurde in Bezug auf die Kunstwerke im Nachsommer bereits im Stifter-Artikel der Autorin geleistet, vgl. hierzu Heinze 2008, vor allem S. 53–88), da es – wie einleitend zu dieser Arbeit bereits dargelegt – im Stifter-Teil primär um die Analyse alltagsund praxisrelevanter Aspekte aus philosophischer Sicht gehen soll. 654 Eine Kurzcharakteristik des Nachsommer findet sich auch in ebd., S. 36–41. 655 Zur (Liebes-)Geschichte Risachs und Mathildes vgl. Stadler 2009, S. 102–104.

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richs konsequenten Verhaltens und exzeptionell linearen Entwicklungsgangs gewissermaßen „regeneriert“. Letzteren verdankt der junge Mann zu großen Teilen seinem Mentor Risach, der auch in beruflicher Hinsicht im Zuge seiner anfänglichen Laufbahn als Staatsdiener zuweilen bitter und schmerzvoll seine Lektionen zu lernen und aus diesen entsprechende (Lebens-)Erfahrung zu extrahieren hatte, die wiederum das Sediment der weisen Anleitung des jungen Heinrich zu bilden vermochte. 656 Ein sich mit zunehmender Reife einstellender „geweiteter Blick“ 657 ist das Resultat der im Rosenhaus etablierten und von Heinrich gewissenhaft internalisierten Lebenshaltung, welche dessen Persönlichkeitsbildung in optimaler Weise begünstigt und schließlich in seiner tiefen Liebe zu der Tochter Mathildes, der bescheidenen Natalie, kulminiert. Den beiden alten Menschen ist im Nachsommer ihres Lebens zumindest ein äußerst inniges Freundschaftsverhältnis vergönnt. 658 In Risachs sich im Alter verstärkt profilierender Affinität zu Kunstwerken (vor allem antiken wie mittelalterlichen Stils), prachtvollen Möbeln und deren Instandsetzung wie nicht zuletzt zu Dingen des täglichen Gebrauchs sowie der Kultivierung diverser Erscheinungen der Natur, allen voran der geliebten Rosen, deren Pflege zur favorisierten Hauptaktivität avanciert, manifestiert sich sein paradigmatischer Lebens- und Alltagsbezug: Risach, dessen Rosenhaus in der Tat – wie Wolfgang Matz es in seiner Stifter-Biographie 659 präzise auszudrücken weiß – „eine wahre Versuchsanstalt für ein gelungenes Dasein, für Ausgleich und Gleichgewicht“ 660 dar656 Stadler kommentiert diesen Sachverhalt wie folgt: „Stifters Selbst in beiden Figuren aufgehoben: in der Menschwerdung des Ich-Erzählers wie auch im Wissen und Weitergeben Risachs an den jungen Menschen.“ (Ebd., S. 87) 657 Vgl. hierzu das gleichnamige Kapitel in Heinze 2008, S. 83–88. 658 In Bezug auf ihren gemeinsamen „Nachsommer“ bekennt Risach gegenüber Heinrich: „»Und in der gegenseitigen Hilfeleistung stärkte sich die Neigung, die wir gegen einander hatten, die nie verschwunden war, die sich zu einem edlen tiefen freundlichen Gefühle gebildet hatte, und die nun offen und rechtmäßig bestehen konnte.«“ (NS 680) Des Weiteren sind als Figuren des Buches zu nennen Risachs Pflegesohn Gustav, leiblicher Sohn Mathildes beziehungsweise Bruder Natalies, sowie Alfred, Mathildes Bruder, welchen Risach in jungen Jahren als Erzieher betreut (vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in Kapitel III.2.2 sowie III.3); unter dem Personal des Rosenhofs finden sich etwa der Gärtner Simon und dessen Ehefrau sowie die Schreinergebrüder Eustach und Roland; aus Heinrichs Familie wird – neben den Eltern – seine Schwester Klotilde vorgestellt. 659 Vgl. Matz 2005. 660 Ebd., S. 326.

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stellt, in dem jeder Einzelne seinen Teil zum reibungslosen Funktionieren des Mikrokosmos beiträgt, ist „wohl als die Hauptgestalt des Buches anzusehen“ 661. Ebenso interpretiert Hugo von Hofmannsthal: Nach von Hofmannsthal könne man ausdrücklich „an dem Ernst, mit dem er [Risach] das Unscheinbare der Anspannung seiner vollen Geistes- und Gemütskräfte wert hält, erkennen, daß es für ihn eben, kaft seiner Erfahrung, einen solchen Unterschied zwischen Klein und Groß, wie wir ihn wahrzunehmen glauben, nicht gibt“ 662. Die aus selbiger Lebensanschauung resultierende, von Risach und den Seinen praktizierte Haltung ist letztlich Ausdruck der bereits vor der Roman-Niederschrift konzipierten Weltanschauung Stifters, die er in der Erzählungssammlung Bunte Steine (die 1853 bei Gustav Heckenast erscheint) erstmals präsentiert. Matz expliziert Stifters modifizierten (schriftstellerischen) Standpunkt wie folgt: Stifter verläßt eine Perspektive, durch die der Mensch zur Krone der Schöpfung wurde. Er entwickelt eine Sprache und eine Erzählhaltung, in der alles auf gleichem Rang existiert. Der Kornhalm, den schon der kleine Adalbert bewunderte, ist kein geringeres Wunder als die ungeheure Energie der Gestirne. Der Mensch steht nicht höher als die Welt, in der sich sein Leben vollzieht. Hier näherte sich Stifter einer uralten Denkfigur: Das griechische Wort Kosmos hat zugleich die Bedeutung von Welt und Ordnung; die Welt ist die Ordnung schlechthin, und von dieser Erkenntnis, die zwischen Tautologie und Mystik schwankt, gibt es nur noch eine mögliche Haltung: das Staunen und die Unterwerfung. 663

In diesem Kontext stellt Stifter in der Vorrede zu den Bunten Steinen (vgl. BS 3–11) die prominente Maxime des „Sanften Gesetzes“ (vgl. BS 6) 664 auf, welches – wie in zitiertem Passus von Matz bereits formuliert – die menschliche „Alleinherrschaft“ auf Erden für obsolet erklärt und gleichsam eine Balance der Weltwesen und -aspekte postuliert. Demgemäß erläutert Matz weiters: „Dieses umfassenHofmannsthal 1979, S. 225. Ebd. Hugo von Hofmannsthal bezieht diese Kompetenz Risachs allerdings unmittelbar auf dessen vorgängige Erfahrung im Staatsdienst. 663 Matz 2005, S. 304. 664 Siehe hierzu auch das gleichnamige Kapitel in ebd., S. 289–309 sowie Heinze 2008, vor allem S. 132–135. Obgleich die Autorin bereits in ihrem Artikel zu Stifter vom „Sanften Gesetz“ gehandelt hatte, soll dieses – aufgrund seiner für die Interpretation des Stifterschen Werkes eminenten Signifikanz – auch in vorliegendem Kontext der Analyse zugrunde gelegt werden. 661 662

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de Gleichgewicht der Welt bezieht sich aber nicht nur auf die Menschen; in Stifters Vorstellung gebührt auch der Natur, jedem Tier und jeder Pflanze, ja sogar jedem Ding der gleiche ursprüngliche Rang und die gleiche Achtung.“ 665 Somit handle es sich um „ein Gesetz, das die taoistische Lehre der sanften Macht des Schwachen ebenso in sich trägt wie die Erkenntnis des alttestamentlichen Predigers, daß ein jegliches Ding unter der Sonne seine eigene Zeit und Stunde habe“ 666. Auch Alice Bolterauer analysiert eingehend die (Rück-)Wirkung des „Sanften Gesetzes“ auf Stifters literarische Tätigkeit, mit dem Resultat, dass das sich darin äußernde ethische Konzept Stifters nachfolgendes Schreiben dominiere: 667 In Bezug auf die die Erzählsubstanz generierenden Phänomene strebe Stifter seither nach dem Prinzip, kleine Dinge und Ereignisse (das heißt, Gewöhnliches, scheinbar Unspektakuläres und Beiläufiges) stark zu machen gegenüber dem gemeinhin als „Groß“ Deklarierten (im Sinne des Auffälligen, Exzeptionellen, Dramatisch-Spektakulären), welches meist als präferiertes Erzählgut der Literaten fungiere. Anders formuliert, fokussiere Stifter fortan, auf der Basis (s)einer der konventionellen opponierenden, individuellen Wertepriorisierung 668, primär die Schilderung alltäglichen Geschehens, woraus „jene oft so langweilig anmutende Aufmerksamkeit für Geschäfte, Einrichtungen und Kommunikationen des Alltags [resultiere]“ 669, welche seit jeher gleichermaßen Anlass zur Stifter-Huldigung wie -Diskreditierung bot. 670 Angesichts der zu behandelnden Thematik einer Aufwertung

Matz 2005, S. 304. Ebd., S. 308. Matz bezieht sich an dieser Stelle auf das Hohelied des Salomo, Pr 3, 1–15. Zur Diskrepanz, welche dem prima vista evidenten „Sanften Gesetz“ gleichwohl inhäriert, vgl. etwa Matz 2005, S. 308 f. 667 Vgl. hierzu Bolterauer 2005, S. 82 f., 128, 139 f., 147, 158, 383 f. und 404 sowie das Kapitel zu den Bunten Steinen in ebd., S. 172–228. 668 Vgl. ebd., zum Beispiel S. 128 f. und 405. Mit Bolterauer hielt die Autorin bereits an anderer Stelle bezüglich der Beeinflussung Stifters Schreiben durch sein „Sanftes Gesetz“ Folgendes fest: „Schriftstellerisch manifestiert dieses sich in einem umgekehrten Wertmaßstab, indem sich Stifter gegen das narrativ Spannende, Sensationelle und für das ‚langweilig‘ Beständige entscheide sowie in dem moralischen Impuls, auch die Leserinnen und Leser der veredelnden Wirkung dieser Haltung teilhaftig werden zu lassen.“ (Heinze 2008, S. 133) 669 Bolterauer 2005, S. 129. 670 Vgl. hierzu Heinze 2008, S. 123. 665 666

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des Alltäglichen finden sich im Prolog der Bunten Steine folgende programmatischen Zeilen: Aber wie gewaltig und in großen Zügen auch das Tragische und Epische wirken, […] so sind es hauptsächlich doch immer die gewöhnlichen, alltäglichen, in Unzahl wiederkehrenden Handlungen der Menschen, in denen dieses Gesetz [das Sittengesetz] am sichersten als Schwerpunkt liegt, weil diese Handlungen die dauernden, die gründenden sind, gleichsam die Million Wurzelfasern des Baumes des Lebens. (BS 9) 671

Diese Passage aus der Vorrede bezieht sich auf die Analogie des Naturgesetzes und des menschlichen Sittengesetzes, denn – so Stifters diesbezügliche Konstatierung – „wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der inneren, in der des menschlichen Geschlechtes“ (BS 6). 672 Dahinter stehe Bolterauer folgend Stifters ethische Doktrin, dass das sogenannte „Kleine“ „viel mehr zum Bestand menschlichen Lebens beitrage als das Exponentiell-Außergewöhnliche“ 673. Primär definiere sich ein gelingendes Leben nach Stifter demnach über das „Gewährenlassen des ‚sanften Gesetzes‘ und dessen ständiger Bewussthaltung“ 674: Dies artikuliere sich konkret in einer dezidierten Haltung von Selbstbescheidung, Demut und Respekt gegenüber anderen Lebewesen und deren Belange 675 und werde in praxi realisiert in der verantwortungsorientierten wie anteilnehmenden Tätigung der dem Einzelnen je obliegenden Lebens-

671 Hinsichtlich der in den Bunten Steinen vertretenen Weltsicht konstatiert Bolterauer, diese sei gekoppelt „an eine mythologisch vermittelte und rituell ausgeführte Vorstellung des menschlichen Seins als eines Seins der Wiederholung der ‚alten Taten‘ und der Erinnerung der ‚alten Geschichten‘. Das, was jetzt geschieht, gilt nur, weil es sich als Wiederholung eines bereits früher Geschehenen präsentiert, dessen wiederholende Erinnerung Identität stiftet bzw. bestärkt.“ (Bolterauer 2005, S. 173 f.) 672 Hierzu kommentiert Bolterauer, „dass die Vorgänge der äußeren Natur mit jenen der inneren Natur gleichzusetzen seien, ja dass dem Unscheinbaren der äußeren Natur das Unscheinbare der inneren Natur entspreche und dieses wie jenes dem Großen und Spektakulären vorzuziehen sei“ (ebd., S. 175 f.). 673 Ebd., S. 405. 674 Ebd., S. 216. 675 „Sozialität, Solidarität, aktives Engagement [nicht zuletzt gegenüber der Umwelt] und ein die irdischen Wünsche und Begierden übersteigendes Denken“ (ebd., S. 147) charakterisieren nach Bolterauer eine am „Sanften Gesetz“ orientierte Lebensweise. „Ihr stehen ängstliches Bedachtsein auf das eigene Wohl, Selbstsucht, Misstrauen, Verstiegenheit und Arroganz entgegen.“ (Ebd.) Siehe hierzu auch die Darlegungen in Kapitel III.2.2 der vorliegenden Arbeit.

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aufgabe, welche zu einem wesentlichen Teil in der gewissenhaften Verrichtung des Tagwerks besteht. Während auf die einzelnen Aktivitäten der Rosenhaus-Bewohner und -Gäste im weiteren Verlauf der Analyse einzugehen sein wird, möge an dieser Stelle – um nicht Inhalte künftiger Kapitel zu antizipieren – folgende allgemeine, bereits in anderem Kontext geäußerte Bemerkung der Autorin in Bezug auf die Betätigungen der Romanfiguren genügen: Das, was Risach und die Seinen Tag ein, Tag aus verrichten, mag als „Kleines“, „Gewöhnliches“ erscheinen; in diesem aber besteht gerade des Menschen Pflicht, die sowohl seiner Struktur als auch dem „sanften Gesetz“ der Natur entspricht, nach dem das Alltägliche, Unauffällige (etwa das Zwitschern der Vögel, Scharren der Hühner oder Wachsen der Pflanzen) den Bestand von Welt und Gemeinschaft gewährleistet. 676

Auch Stadler charakterisiert Stifters Konzeption als eine „Philosophie des Maßes und des Sanften Gesetzes“ 677 und akzentuiert dessen Verdienst, letzteres „in die Welt gesetzt beziehungsweise entdeckt [zu haben], wie andere große Entdecker etwas entdeckt haben“ 678. Zudem bereichert Stadler die Diskussion um einen neuen Aspekt, indem er Stifter bescheinigt, sein (schriftstellerisches) Wirken sei „der Liebe zu dieser Welt geweiht“ 679 und er selber erzeige sich als „weltfromm“ 680: „Wie ein aufgeklärter Mensch von einst glaubte er, paradox gesprochen, nicht an nichts, sondern an alles. Er war zuweilen von einem unerhörten ungeheuren Fortschrittsglauben und einer Zuversicht auf der Welt, auf dieser hier.“ 681 An die These der Weltfrömmigkeit Stifters, welche sich nach Ansicht der Autorin in dessen tiefer Ehrerbietung vor sämtlichen – besonders den unscheinbaren – Phänomenen der Welt und des Lebens offenbart, soll in dieser Arbeit angeknüpft werden: Denn in der Tat ist zu registrieren, dass im Nachsommer das Heilige als solches letztlich nie-

Heinze 2008, S. 93 f. Stadler 2009, S. 129. Zum Aspekt des Maßes (der Dinge) nach Stifter vgl. auch ebd., S. 78, 86, 124–129, 186 sowie zur Vorrede der Bunten Steine und dem „Sanften Gesetz“ ebd., S. 18, 20, 25, 36–39, 53, 56, 59, 133, 161 sowie 185. 678 Ebd., S. 25. 679 Ebd., S. 142. 680 Ebd., S. 140. In dieser Hinsicht besteht eine offensichtliche Parallele zu der im Buber-Teil der Arbeit erörterten Welt- beziehungsweise Lebensfrömmigkeit (Chassiduth) der Chassidim. 681 Ebd. 676 677

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mals direkt thematisiert wird, 682 obgleich es permanent im täglichen Leben der Roman-Figuren, in deren generellem Habitus sowie den ausgiebigen Gesprächen und Erkundungstouren – „hindurchschimmert“. Stadler spricht in diesem Kontext treffend von „natürliche[r] Offenbarung“ 683: Das Göttliche erscheint im Nachsommer in Gestalt von Rosen und Menschen, ausschließlich als natürliche Offenbarung. […] Freilich gilt auch, daß der Nachsommer kein Buch ist, das gegen die übernatürliche Offenbarung stünde, wie sie etwa in der Bibel nachzulesen ist. Die beiden Bücher – der Nachsommer und die Bibel – stehen einfach nebeneinander. 684

Nicht zuletzt ist Stifters nachgerade weihevolle Diktion ein schlagendes Indiz für seine Weltfrömmigkeit. Es mutet demnach an, als kreiere Stifter durch seinen (individuellen) Sprachduktus gleichsam die (göttliche) Schöpfung abermals: Dies erfolgt zum einen mittels äußerst bedachtsam selektierter, buchstäblich je einzeln platzierter „Wortstatuen [Herv. sind zugefügt]“ 685, welche alleine durch deren feierliche Nennung einen unmittelbar ehrfürchtigen Eindruck im Rezipienten erwecken, zum anderen mittels akribischer Beschreibungen, durch die den Dingen eine höchst adäquate Würdigung widerfährt. Somit erweise sich Stadler zufolge „Sprache als seine [Stifters] Weise der Vergegenwärtigung der Welt“ 686, und umgekehrt werde dadurch die Bedeutung von Sprache als solcher aktualisiert: Stadler bezeichnet den Nachsommer als „ein Sprachereignis: die

682 In Bezug auf die Relevanz kirchlich-institutionalisierter Religiosität in Stifters Nachsommer kommentiert Stadler folgendermaßen: „Die Inhalte – also der Glaube selbst – sind zweitrangig und kommen im Nachsommer gar nicht vor.“ (Ebd., S. 131) 683 Ebd., S. 136. Auf ebd., S. 191 bezieht Stadler die identische Wendung der „natürlichen Offenbarung“ auf Stifters Autobiographisches Fragment. 684 Ebd., S. 136. Zum Aspekt der Kunst als Ausdruck des Göttlichen vgl. Heinze 2008, S. 88–113. 685 Stadler 2009, S. 195. Es sind „Wörter wie Säulen [ge]setzt, aufrecht stehende Skulpturen wie Einfachheit Halt und Bedeutung“ (ebd.), so Stadler weiter. (Vgl. hierzu NS 731 sowie Anm. 1057 dieser Arbeit.) Eine analoge Belegstelle liefert die „Nachsommer-Weisheit“ „Ergebung Vertrauen Warten“ (NS 389). Vgl. zu letzterer Triade auch Heinze 2008, S. 103. 686 Stadler 2009, S. 59. Siehe zur Bedeutung der Sprache in Stifters Nachsommer weiters ebd., S. 58, 64, 82–86, 89, 131, 134, 194 sowie Heinze 2008, S. 122, wo von Stifters „ausgesprochen plastischer[r] Sprache“ die Rede ist.

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Vergegenwärtigung von dem, was Sprache ist“ 687, respektive dass in diesem „eine Welt konkret wird: die Sprache“ 688. Resümierend gefasst, demonstriere der Roman nach Ansicht Stadlers – wie oben bereits erwähnt – Stifters Wunschszenario eines gelungenen Lebens, „in einen Weltraum aus Sprache gestellt“ 689, welcher sich dem (inneren) Auge des präsenten Lesers im Zuge achtsamer Vertiefung des Dargestellten sukzessive eröffnet. Die Relevanz von Sprache (wohl primär nicht in dialogischem Sinne einer Haltung, sondern als verbal geäußerte Lautlichkeit) als Medium der Vertrautmachung von Welt unterstreicht auch die Schriftstellerin Brigitte Kronauer in ihren Reflexionen zu Stifter unter dem Titel „Das Idyll der Begriffe“ 690: „Mit Wörtern wollen wir uns Klarheit verschaffen. Mit Begriffen erzeugen wir schlüssige Realität. Was wir nicht durch sie in diese Realität einlassen, haben wir abgewehrt, mehr noch: quasi nicht vorhanden gemacht.“ 691 Vor dem Hintergrund des für das gesamte Kapitel III.2 namengebenden Diktums Risachs, „»[w]er durch einfachere Mittel wirkt, wirkt besser«“ (NS 359), 692 sollen im nachstehenden Kapitel die oben bereits angedeuteten, für Stifters Schreiben in formalem wie inhaltlichem Betracht programmatischen Aspekte fokussiert und einer für den Fortgang der Untersuchung angemessen erscheinenden, etwas detaillierteren Erläuterung unterzogen werden.

Stadler 2009, S. 64. Ebd., S. 131. 689 Ebd., S. 194. 690 Vgl. Kronauer 2010. 691 Ebd., S. 145. 692 Risach fällt dieses kritische Urteil – welches in vorliegendem Kontext als im Großen und Ganzen positives Charakteristikum Stifterschen Schreibens interpretiert wird – im Nachsommer konkret in Bezug auf ein in seinen Augen etwas zu extravagant geratenes Madonnengemälde eines italienischen Meisters, das er einer denkmalpflegerischen Behandlung unterzieht. Vgl. hierzu Heinze 2008, S. 83–88, insbesondere S. 86. 687 688

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2.1 „Kleines ist mir groß“: Deskriptionsakribie als Ehrfurchtsbekundung Es wurden einige Behälter, die mit aus Ruten geflochtenen Seilen an Bäumen befestigt waren, und von denen man wußte, daß sie nicht mehr bewohnt seien [von Vögeln], herabgenommen, und auseinander gelegt, damit ich ihre Einrichtung sähe. Es war nur eine einfache Höhlung, die aus zwei halbhohlen Stücken bestand, die man mittelst Ringen, die enger zu schrauben waren, aneinanderpressen konnte. (NS 145)

Dieser für einen Roman eher ungewöhnliche Passus vermittelt eine Ahnung der für Stifter typischen Manier äußerst minutiöser Deskriptionen, deren Präzision mitunter ein Nachkonstruieren des Beschriebenen denkbar macht, 693 im Falle des vorliegenden Beispiels der Heinrich von Risach demonstrierten, selbstgefertigten hölzernen Unterkunft für Singvögel 694. Auf „Stifters Detailtreue“ 695 respektive dessen „außergewöhnliche Beschreibungsfreude“ 696 ist von der Verfasserin in ihrem Aufsatz „Kunst und Gedächtnis“ schon hingewiesen worden. Basierend auf den dortigen Ausführungen soll in dieser Arbeit der Themenkomplex im Folgenden um die Komponente der im Artikel nicht berücksichtigten Detailschilderungen, insbesondere der direkten (Lebens-)Umgebung im Nachsommer, komplettiert werden. Anhand exemplarischer, aus der immensen Fülle potenzieller Textpassagen extrahierter Belegstellen des Romans gilt es, Stifters vergegenwärtigenden Darstellungsmodus unter Bezugnahme auf nachstehende, diesen hauptsächlich fundierende Kernaspekte zu rechtfertigen: Es handelt sich um die elementare Relevanz des verständigen (Hin-)Sehens und (Hin-)Gehens, die dadurch intendierte Absicht zur Vollkommenheit und damit korrelierende, charakteristische Zeitdefinition sowie die mittels jenes „be-

Vgl. zu der Möglichkeit des Nachbauens vor allem auch Risachs Konstruktionen für die an der Hauswand seines Anwesens gezogenen Rosen und deren Pflege (vgl. NS 126), worauf in Kapitel III.2.3.2 gesondert eingegangen werden wird. 694 Exakter formuliert, handelt es sich um die Behausungen für jene Singvögel, die keine „Heckennister“ sind. (Vgl. NS 135, 145) Der Umgang mit Tieren, insbesondere Vögeln, wird vor allem in Kapitel III.2.3.3 dieser Arbeit thematisiert werden, ferner in Kapitel III.3. 695 Heinze 2008, S. 123. 696 Ebd.; vgl. auch ebd., S. 124 („Stifters detailreiche Beschreibungskunst“) sowie S. 125. 693

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schreibenden Schreibens“ transportierte Achtung vor Wesen, Dingen und Gegebenheiten. „»Großes ist mir klein, Kleines ist mir groß«“ (NS 189) 697 lautet die vollständige Sentenz, welcher der Titel dieses Kapitels entlehnt ist und die Stifter – offenbar in Rekurs auf sein in der Erzählsammlung Bunte Steine konzipiertes „Sanftes Gesetz“ – Heinrich im Nachsommer in den Mund legt. 698 Oben wurde bereits auf Stifters Skepsis beziehungsweise dessen pejorative Interpretation alles prävalent Dominanten und prahlerisch Exklamatorischen hingewiesen. Daraus resultiert die diametrale Tendenz – „mitsamt [ihren] lebenspraktischen, moralischen, pädagogischen und narratologischen Konsequenzen“ 699, wie es Bolterauer prägnant in Worte zu fassen vermag, – fortan in den literarischen Werken die Akzente entsprechend zu setzen und dem Schlichten, zumeist Geringgeachteten oberste Priorität zu verleihen. Die logische Folge aus dieser intensivierten Konzentration auf die Bedeutung der kleinen Dinge (vgl. etwa NS 108) – vor allem im täglichen Leben – besteht in der Negierung des Axioms des Menschen als Maß aller Dinge, welche hinsichtlich der vorliegenden Fragestellung selbstredend von essenzieller Wichtigkeit ist: So formuliert Risach angesichts des Summens der Insekten in den Wipfeln des Lindenbaums seines präferierten Verweilortes in der Umgebung seines Anwesens 700 folgende programmatischen Sätze in Bezug auf den Aspekt der Relation der Dinge: „Viele Menschen, welche gewohnt sind, sich und ihre Bestrebungen als den Mittelpunkt der Welt zu betrachten, halten diese Dinge für klein; aber bei Gott ist es nicht so; das ist nicht groß, an dem wir vielmal unsern Maßstab umlegen können, und das ist nicht klein, wofür wir keinen Maßstab mehr haben. Das sehen wir daraus, weil er alles mit gleicher Sorgfalt behandelt.“ (NS 106 f.) 701 697 Siehe hierzu auch folgende Aussage einer älteren Dame bezüglich des allgemeinen Laufs der Dinge: „»Das Niedrige wird hoch, das Hohe wird niedrig […].«“ (NS 178) 698 Vgl. hierzu auch Bolterauer 2005, S. 82. 699 Ebd., S. 398. 700 Bezüglich der neu installierten Sitzgelegenheit unter besagter Linde erläutert Risach Heinrich: „»Hier ist die schönste Linde meines Gartens, ich habe einen bessern Ruheplatz unter ihr anbringen lassen, und gehe selten vorüber, ohne mich eine Weile nieder zu setzen, um mich an dem Summen in ihren Ästen zu ergötzen.«“ (NS 106) 701 Vgl. hierzu auch BS 3–11.

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Hier findet Gott im Nachsommer zwar explizit Erwähnung, von primärer Relevanz ist an dieser Stelle jedoch der in Risachs Worten transportierte implizite Appell an den Menschen, es Gott gleich zu tun und sämtlichen Phänomenen des Lebens mit unterschiedsloser Umsicht zu begegnen. Der Mensch solle davon Abstand nehmen sich anzumaßen, prima facie identifizieren und somit darüber urteilen zu wollen, was nun im Weltganzen als „groß“ im Sinne von bedeutungsvoll und der (menschlichen) Aufmerksamkeit würdig gelte und was der entsprechenden Kriterien dafür entbehre. Angesichts obigen Zitats erweisen sich für Stifter nicht nur alle Dinge und Lebewesen als identisch wichtig – vielmehr sind es namentlich die gemeinhin als peripher vernachlässigten, welchen er spezielle Aufmerksamkeit zuteilt, da diese – ob ihrer Subtilität – in aller Regel kaum registriert oder gänzlich ignoriert werden, während akzidentiell Erscheinendes per se Beachtung findet: In Beherzigung des besagten, durch Heinrich vermittelten Stifterschen Credos, „»Großes ist mir klein, Kleines ist mir groß«“ (NS 189), „beugt sich Risach-Stifter tief vor dem scheinbar Geringsten, das jeweils ein […] Geschenk auf Erden darstellt“ 702. Des Weiteren „richtet sich die Preisung Stifters auf die alltäglichen Handlungen“ 703, zu denen mitunter auch die Fertigung adäquater Behausungen für Nutz- und Wildtiere (wie oben bereits gesehen) und deren artgerechte Fütterung hinzuzurechnen sind, wie anhand nachfolgender Belegstelle einmal mehr luzid wird: Nachdem die differierenden Vorlieben diverser Vogelarten hinsichtlich der Nahrungsaufnahme bereits profund auseinandergesetzt worden sind (vgl. NS 136 f.), komplettiert Risach seine Darlegung wie folgt: 704 „Für die ganz schüchternen, wie meistens die neuen Ankömmlinge und die ganz und gar eingefleischten Waldvögel sind, haben wir abgelegene Plätze, an die wir ihnen die Nahrung tun. Für die vertraulicheren und umgänglicheren bin ich sogar auf eine sehr bequeme und annehmliche Verfahrungsweise gekommen. Ich habe in dem Hause ein Zimmer, vor dessen Fenstern Brettchen befestigt sind, auf welche ich das Futter gebe. […] Ich habe dann auch das Zimmer gleich zur Speisekammer eingerichtet, und bewahre dort in Kästen, deren kleine Fächer mit Aufschriften

702 703 704

Heinze 2008, S. 94. Ebd. Vgl. hierzu auch S. 334–338 dieser Arbeit.

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versehen sind, dasjenige Futter, das entweder in Sämereien besteht, oder dem schnellen Verderben nicht ausgesetzt ist.“ (NS 137) 705

Angesichts Passagen wie dieser konstatiert Stadler bezüglich der Gesamtstruktur des Nachsommer recht nüchtern: „Selten war ein großer Roman derart frei von allem Plot-Artigen. Es gibt nicht einmal eine Story. Auf der inhaltlichen und Informationsebene ist nichts zu berichten.“ 706 Weitaus früher äußerte sich Biemel vergleichbar: „Statt Ereignisse, Vorfälle, Geschehnisse finden wir Beschreibungen und Schilderungen.“ 707 Entsprechend eröffnet Stifter nach Ansicht der Autorin der vorliegenden Abhandlung eben jenes formale Faktum einer (nahezu) absenten „Story“ schier unbegrenzten Raum für außergewöhnlich detaillierte Charakterisierungen der Wesen, Dinge und Sachverhalte: Stifters unerreichte Kunstfertigkeit im Beschreiben 708 tritt besonders in erwähnten, zuweilen in gravitätischem Duktus erbrachten Deskriptionen scheinbar belangloser Aspekte zutage, welche dadurch eine spezielle Würdigung erfahren, wie anhand der Vogelpassagen deutlich geworden sein sollte. Unter diese Kategorie sind insgesamt beispielsweise die anschauliche 705 Zu Risachs Fütterungszimmer siehe auch NS 147 f., 188, 229 sowie Heinrichs ersten Eindruck dieses Zimmers, bevor ihm dessen spezifische Funktion auseinandergesetzt worden ist: „An den Wänden standen Schreine aus geglättetem Eichenholze mit sehr vielen kleinen Fächern. An diesen Fächern waren Aufschriften, wie man sie in Spezereiverkaufsbuden oder Apotheken findet. Einige dieser Aufschriften verstand ich, sie waren Namen von Sämereien oder Pflanzennamen. […] Sonst war weder ein Stuhl noch ein anderes Gerät in dem Zimmer. Vor den Fenstern waren waagerechte Brettchen befestigt, wie man sie hat, um Blumentöpfe darauf zu stellen […].“ (NS 79 f.) 706 Stadler 2009, S. 64; vgl. auch ebd., S. 109 f., 115 und 133 sowie Heinze 2008, zum Beispiel S. 45. 707 Biemel 1985, S. 53. Diese Bemerkung Biemels bezieht sich auf die (Haupt-)Kapitel 3 bis 5 sowie 7 des ersten Nachsommer-Bandes. „Es geschieht gar nichts, vorsichtiger formuliert: es ereignet sich scheinbar gar nichts. Wir sind gewohnt, unter Ereignis einen unvorhersehbaren Vorfall, der den Leser beeindruckt, gefangen nimmt, vielleicht sogar erschüttert, zu verstehen. In den behandelten Kapiteln suchen wir vergebens nach solch einem Vorfall. […] Provozierend formuliert könnte man sagen: das Aufregende in diesen Kapiteln ist, daß sich nichts ereignet.“ (Ebd., S. 51 f.; vgl. auch ebd., S. 55, 61 f. sowie 71) 708 Vgl. hierzu Stadler 2009, S. 84, der Stifter als einen „Meister im Beschreiben“ apostrophiert. Folgende im Nachsommer von Heinrich geäußerten Worte (vgl. NS 25) bezieht Stadler – wie sein daran anschließender Kommentar verdeutlicht – an dieser Stelle auf Stifter und dessen Beruf(ung): „Der Vater pflegte zu sagen, ich müßte einmal ein Beschreiber der Dinge werden, oder ein Künstler. Wohlgemerkt: ein Beschreiber; und nicht ein Erfinder.“ (Stadler 2009, S. 85)

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Landschaftszeichnung zu subsumieren, die erschöpfende Darstellung der Risachschen Besitzungen – allen voran des Rosenhauses selbst, mitsamt der darum und darin befindlichen Lebewesen und Gegenstände (der Kunst sowie des täglichen Gebrauchs) – ferner des Sternenhofes (des Wohnsitzes Mathildes), die Erörterung von Tätigkeiten diversen Inhalts (etwa der von Risach initiierten Garten- und Restaurierungsarbeiten) sowie nicht zuletzt der Bekleidung, Mahlzeiten, Promenaden, Exkursionen und Kunstbetrachtungen der Rosen- und Sternenhofbewohner. Folgender exemplarischer, der Präsentation des Anwesens durch Risach entnommener Abschnitt möge dies zunächst im Allgemeinen erhellen: „Die Felder von dem Kirschbaume gegen Sonnenuntergang hin bis zu der ersten Zeile von Obstbäumen sind unser“, sagte mein Begleiter. „Die wir von dem Kirschbaum bis hierher durchwandert haben, gehören auch uns. Sie gehen noch bis zu jenen langen Gebäuden, die Ihr da unten seht, welche unsere Wirtschaftsgebäude sind. Gegen Mitternacht erstrecken sie sich, wenn Ihr umsehen wollt, bis zu jenen Wiesen mit den Erlenbüschen. Die Wiesen gehören auch uns, und machen dort die Grenze unserer Besitzungen. Im Mittag gehören die Felder uns bis zur Einfriedung von Weißdorn, wo Ihr die Straße verlassen habt. Ihr könnt also sehen, daß ein nicht ganz geringer Teil dieses Hügels von unserm Eigentume bedeckt ist. […]“ (NS 60)

In genuin phänomenologischer Manier, gemäß der es nach Biemel gelte, „statt philosophisch zu spekulieren und zu deduzieren der Wahrnehmung, der Anschauung zu ihrem Recht zu verhelfen“ 709, werde besonders mittels der sich in und um das Risachsche Anwesen abspielenden Szenen 710 unmittelbar das exakte (Hin-)Sehen des Rezipienten sowie dessen Geduldspotenzial 711 mobilisiert. In diesem Kontext kommentiert Biemel die stellenweise im Nachsommer zu registrierende Iterationslastigkeit, welche vor allem in zuletzt angeführtem Zitatblock Platz greift, wie folgt: „Stifter nimmt keine Rücksicht auf die Neugier des Lesers, der immer Neues erfahren will, sondern er zwingt diesen im Gegenteil, sich in einen Rhythmus des betrachtenden Schauens zu versetzen, bei dem ihm manches aufgeht, was er von sich aus übersehen hätte.“ 712 Diese dezidiert Biemel 1985, S. 56. „Die Zeit auf dem Rosenhof ist erfüllter und folglich breiter präsentiert.“ (Ebd., S. 46) 711 Zum Aspekt der Geduld vgl. ebd., S. 44 sowie 51. 712 Ebd., S. 44. 709 710

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schauende respektive gegenwärtigende oder präsentierende Erzählart 713 grenzt Biemel gegenüber einer resümierend wissensmäßigen 714 ab, welche er ebenfalls im Nachsommer zu identifizieren glaubt. 715 Bezüglich des in dieser Arbeit zu Explizierenden ist erstgenannter Erzählmodus von vornehmlicher Relevanz, welcher darauf abzielt, „daß von dem so Präsentierten nichts verloren gehen darf. Dem Leser wird nicht freigestellt, durch seine Phantasie eventuelle Erzähllücken zu füllen, sondern er ist angehalten, dem Gang der Erzählung mit größter Aufmerksamkeit zu folgen.“ 716 Gemeinsam mit Heinrich wird der Rezipient somit durch das gesamte Rosenanwesen geleitet, auf dass dieses ihm schließlich en détail vor Augen stehe. Zunächst werden im Rahmen einer extensiven Führung durch das Rosenhaus, welches Risach bescheiden als seine „Wohnung“ bezeichnet (vgl. NS 81 f.), systematisch sämtliche Räumlichkeiten 717 präsentiert, 718 deren jeweils individuelles Er713 Vgl. zu dieser „unmittelbare[n], gegenwärtigende[n] Darstellung“ (ebd., S. 39) ebd., insbesondere S. 36–47. 714 Siehe hierzu ebd., vor allem S. 31–36. 715 Diese Erzählweise spricht Biemel jenen Passagen zu, in welchen etwa das ansatzweise „Plotartige“ zum Tragen kommt und beispielsweise mehrere (Lebens-)Jahre in wenigen Sätzen referiert werden: Darunter fällt etwa die Darstellung Heinrichs Kindheit und Jugend zu Beginn des Nachsommer, seine Exkursionen zwischen den Besuchen im Rosenhaus (vgl. NS 585) sowie seine Reise vor der Hochzeit mit Natalie gegen Ende der Erzählung (vgl. NS 708). 716 Biemel 1985, S. 51. Ein prägnantes Beispiel dafür, dass nichts der Assoziationsfreiheit des Lesers überlassen wird, bildet die Tatsache, dass selbst auf den Vorgang des Öffnens und Schließens des Gartentores während der Führung Heinrichs sowie der diversen weiteren Gänge durch Garten und Umgebung des Rosenhauses nicht verzichtet wird; selbst die spezifische Einrichtung des Torschlosses findet Erwähnung. Vgl. zum Gartentor des Rosenhauses etwa NS 42 f., 58, 118, 130 sowie 594 und Biemel 1985, S. 52. Zum Ritual des Auf- und Abschließens siehe auch Bolterauer 2005, S. 73–75. 717 Ausgenommen der Wohnung von Risachs Pflegesohn Gustav, welcher nicht beim Lernen gestört werden solle (vgl. NS 81, 101), sowie der „Gastzimmer“, die Heinrich gleichwohl auf Wunsch besichtigen dürfe (vgl. NS 101). Zu dem insgesamt bemerkenswert rücksichtsvollen Verhalten der Personen im Nachsommer vgl. vor allem Kapitel III.2.2. 718 Der Rundgang beginnt mit dem Hinaufschreiten der Treppe, um – den Sockel mit dem marmornen Musenstandbild passierend – zunächst in den großen Marmorsaal zu gelangen (vgl. NS 74 f.) und schließlich weiter „in eine Stube, deren Fenster in den Garten gingen“ (NS 75); es folgt die Besichtigung des Risachschen Arbeitszimmers (vgl. NS 76), eines Ankleidezimmers (vgl. NS 78) sowie des Schlafgemachs (vgl. NS 79). „An das Schlafgemach stieß ein Zimmer mit wissenschaftlichen Vorrichtungen namentlich zu Naturwissenschaften“ (NS 79), daran das „Eckzimmer

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scheinungsbild und der daraus resultierende „Charakter“ 719 – die darin etwa befindlichen Gerätschaften und Zeichnungen berücksichtigend 720 – dem Leser akkurat von Heinrich geschildert werden. (Vgl. NS 74–82) 721 Die Führung durch den Garten, welche im Anschluss an die Inspektion des Hauses erfolgt, inkludiert die Besichtigung der Wohnung der Gärtnerleute, des Gewächshauses samt der darin vorhandenen Pflanzen (vgl. NS 101) sowie der Meierei und Schreinerei (vgl. NS 82–100), „Küche und Keller und Gesindestuben“ (NS 100). 722 Komplettiert wird der Rundgang durch die prodes Hauses“ (NS 79), gefolgt von einem Bücherzimmer, dem Lesegemach (vgl. NS 80) sowie einem Bilderzimmer, welches „durch die dritte Tür des Marmorsaales wieder in denselben zurück[führte], und so hatten wir die Runde in diesen Gemächern vollendet“ (NS 81). 719 Vgl. zum individuellen Charakter der einzelnen Räumlichkeiten auch die entsprechenden Ausführungen in Kapitel III.2.3. 720 Hierzu erläutert Arnold Stadler wie folgt: „Jedes Zimmer und die darin arbeitenden oder auch nur befindlichen Menschen und ihre Zeichnungen von Dingen wie alten Klöstern, Abbildungen von Vertäfelungen und dergleichen, werden mit einer Stifterschen Aufmerksamkeit beschrieben, also vergegenwärtigt.“ (Stadler 2009, S. 89) Vgl. dazu vor allem NS 88–95, wo Heinrich erstmalig die im Rosenhaus angefertigten Zeichnungen vorgeführt bekommt. Ferner mutet es an, als nähme Stifter an folgender Stelle mittels der Worte, die er Heinrich in den Mund legt, gleichsam indirekt Bezug auf seine eigene Schreibweise: „Ich habe einmal irgendwo gelesen, daß der Mensch leichter und klarer zur Kenntnis und zur Liebe der Gegenstände gelangt, wenn er Zeichnungen und Gemälde von ihnen sieht, als wenn er sie selber betrachtet, weil ihm die Beschränktheit der Zeichnung alles kleiner und vereinzelter zusammen faßt, was er in der Wirklichkeit groß und mit Genossen vereint erblickt.“ (NS 181) Analog zu den bildenden (Zeichen-)Künstlern erstellt Stifter mittels seines akribischen (Be-)Schreibens sozusagen ein vollkommenes „Gemälde“ der Umgebung. Vgl. zu diesem Aspekt auch Heinze 2008, S. 124, wo ferner auf Stifters eigene Betätigung als Maler hingewiesen wird. 721 Obgleich Stadler ebenfalls die Stiftersche „Aufmerksamkeit“ des Beschreibens lobt (vgl. Stadler 2009, S. 89 sowie Anm. 708 dieser Arbeit), bekundet er seine Zweifel daran, ob Stifters Beschreibungen tatsächlich so detailliert sind, wie es auf den ersten Blick scheint und kritisiert die seines Erachtens „konkret-inkonkrete“ Deskriptionsmanier Stifters: „So konkret hat sich Stifter das ausgedacht, daß es schon Architekten gab, die einen Grundriß des Nachsommer-Hauses anlegen wollten: sie sind dabei nicht gerade gescheitert, haben aber bald, wie die Literaturwissenschaftler bei ihrer mühseligen Arbeit im Nachsommerfeld, bemerkt, daß doch nicht alles so klar ist en détail wie von Stifter und seinem Ich-Erzähler behauptet.“ (Ebd., S. 72 f.) 722 Vgl. diesbezüglich ferner folgenden erläuternden Kommentar Biemels: „In diesem Fall gehören zum Anwesen nicht nur das Rosenhaus selbst, sondern auch der Garten, die Wiesen, die Meierei, die Schreinerei, die Gärtnerei und auch die Waldungen.“ (Biemel 1985, S. 54)

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funden Erläuterungen Risachs, welche nicht nur Allgemeinplätze abhandeln, sondern fachkundig die im Garten sowie den weiteren Einrichtungen jeweils durchgeführten Tätigkeiten – inklusive der praktizierten Methoden und zweckdienlichen Utensilien wie Materialien – erhellen. 723 Demnach hebt jene Gesamtvorstellung des Anwesens nicht lediglich auf ein Sehen in rein visuellem Sinne ab, sondern sucht zudem ein Einsehen bei Betrachter beziehungsweise Rezipient zu evozieren, damit endlich ein Verstehen der spezifischen Konzeption des Anlagengefüges garantiert ist. 724 Biemel präzisiert diesen komplexen Sachverhalt und dessen Implikationen wie folgt: Die Schilderung ist nicht nur auf Vollständigkeit aus, sondern es geht darum, den Sinn für alles Angelegte und Durchgeführte einsichtig zu machen. Der Vorrang des Sehens bei dieser Erzählweise ist gekoppelt mit dem daraus entspringenden Einsehen. Nur ein einsichtiges Sehen versteht, worum es geht. Darin liegt dann eine neue Art der Vollkommenheit, nicht bloß die Vollkommenheit der Sache selbst, sondern das Verstehen des Sinnes einer Sache. Wir können beim Nachvollzug der Beschreibung des Anwesens aufweisen, wie jeder Teil und jede Tätigkeit für sich auf Vollkommenheit angelegt ist, und wie alle zusammen das erreichen, was wir die Vollendung des Anwesens nennen können. 725

Diese Vollkommenheit, welche insonders „die Vervollkommnung im Kleinen“ 726 betrifft, das heißt, das direkte, tägliche Lebensumfeld, gilt es – gemäß der nachsommerlichen Maxime – unbedingt anzustreben, strikt zu erhalten respektive idealiter zu tradieren. Im Roman manifestiert sich diese inhaltlich faktisch in dem durch Ri723 Siehe hierzu vor allem die Darlegungen in Kapitel III.2.3 sowie nachstehenden Ausspruch Biemels: „So werden bei der Gartenschilderung nicht nur die Bäume, Sträucher, überhaupt Gewächse geschildert, sondern auch ihre Pflege, Behandlung, Düngung.“ (Ebd., S. 44; vgl. auch ebd., S. 41) 724 „Damit soll darauf hingewiesen werden, daß Sehen-lernen keineswegs etwas Einfaches ist, wie schon Aristoteles gewußt hat, wenn er sagte, nur wer schon gesehen habe, könne wirklich sehen.“ (Ebd., S. 56) 725 Ebd., S. 59 f.; vgl. zur Bedeutung des Sehens auch ebd., S. 55–57 sowie zu dem mit der oben erläuterten präsentierenden Darstellungsweise korrelierenden Aspekt der Vollkommenheit beziehungsweise Vollendung ebd., beispielsweise S. 58 sowie 78. An folgender Stelle des Nachsommer reflektiert Risach über den langen Prozess der Errichtung seines Anwesens: „[D]a ich lange in diesem Hause und in diesem Garten gelebt habe, hat sich manches zusammengefunden; aus dem Zusammengefundenen haben sich Schlüsse gebaut, und ich bin durch diese Schlüsse umgekehrt wieder zu Betrachtungen veranlaßt worden.“ (NS 106) 726 Heinze 2008, S. 74.

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sach initiierten Arrangement des Rosenhausanwesens in oben dargelegter Homogenität, welche jedoch nur mit Hilfe des von Biemel erwähnten entsprechenden Engagements aller Mitwohnenden und -arbeitenden erwirkt werden kann. Mittels der explizierten, beispiellos detailgetreuen Deskriptionen Stifters, die die angeführte, unmittelbar präsentierende Darstellungsweise fundieren, wird in formaler Hinsicht im Nachsommer Vollendung generiert: „Was zunächst als eine Schrulle des Erzählers erscheinen kann, wenn er auf jedes Detail eingeht, ist nichts anderes als die Tendenz zur vollkommenen Beschreibung, bei der nichts Kennzeichnendes ausgelassen oder übersprungen wird.“ 727 In diesem Kontext erweist sich – wie auch Biemel konstatiert – als besonders signifikant, „welches Gewicht die Schilderung der Gegenstände im Gegensatz zu den Schilderungen der Personen besitzt“ 728. Erstere hebt an im „Die Häuslichkeit“ betitelten Eingangskapitel des Nachsommer, mit Heinrichs Einführung des Lesers in die Wohnstätte seiner Familie, welche zunächst in einem „mäßig großen Hause in der Stadt“ (NS 7) und schließlich in einer geräumigeren Immobilie in der Vorstadt (vgl. NS 10) besteht. Im Zuge der Vorstellung der einzelnen Zimmer der Häuser ist hinsichtlich der darin vorhandenen Gegenstände etwa die Rede von den mit Intarsien dekorierten Bücherschränken des Vaters (vgl. NS 7 f.) 729 wie von einem aparten, „kunstreich geschnittenen alten Tische, der im Bücherzimmer […] stand“ (NS 8). Es werden zudem die Bilder und Geräte des Vaters charakterisiert, „an denen wunderliche Gestalten ausgeschnitten waren, oder in welchen sich aus verschiedenen Hölzern eingelegte Laubwerke und Kreise und Linien befanden“ (NS 9; vgl. NS 11), die Waffen (vgl. NS 11) sowie der „Kasten“ mit der Münz- und Steinsammlung (vgl. NS 9) 730 beschrieben. Arrondiert wird die Präsentation der Zimmer und Gegenstände des Elternhauses durch Bezugnahme auf die Zimmerdecke, die jeweils Biemel 1985, S. 59. Ebd., S. 60; vgl. auch ebd., S. 62. 729 Es handelt sich um „breite flache Kästen von feinem Glanze und eingelegter Arbeit. Sie hatten vorne Glastafeln, hinter den Glastafeln grünen Seidenstoff, und waren mit Büchern angefüllt.“ (NS 7 f.) 730 Die Münzsammlung enthalte „Taler, auf welchen geharnischte Männer standen, oder die Angesichter mit unendlich vielen Locken zeigten, dann waren einige […] mit wunderschönen Köpfen von Jünglingen oder Frauen, und eine mit einem Manne, der Flügel an den Füßen hatte“ (NS 9). 727 728

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ausgelegten Teppiche (vgl. NS 11), den „dunkelrot-braunen“ (NS 11) Farbton der Tapeten sowie die „kunstreich abgenähten rotseidenen Stoffe[n]“ (NS 12) der Wände. 731 Dieser Darstellungsmodus des präsentierend deskribierenden Vorstellens, welcher vor allem anhand der Gegenstandsbeschreibungen festzumachen ist, erreicht seinen Höhepunkt in der Charakterisierung diverser Kunst- und Gebrauchsdinge des Rosenhauses, mit denen die dort lebenden und logierenden Personen täglichen Umgang pflegen. 732 Entsprechend erfahren Heinrichs (respektive Stifters) sich bereits zu Anfang des Romans differenziert erzeigenden Schilderungen der Gegenstände gleichwohl eine Steigerung mit dem Besuch des Risachschen Asperhofes und kulminieren schließlich in der Charakterisierung des Delphinschreibschreins aus Risachs Arbeitszimmer, an der Heinrich den Rezipienten während der Hausführung partizipieren lässt. Dieser der Werkbeschreibung eines Kunsthistorikers kongeniale Passus illustriert in paradigmatischer Weise, welch minutiöses Ausmaß (Heinrich-)Stifters Deskriptionen im Nachsommer anzunehmen vermögen und soll aufgrund dessen an dieser Stelle in nahezu voller Länge zitiert werden: Vier Delphine, welche sich mit dem Unterteil ihrer Häupter auf die Erde stützten, und die Leiber in gewundener Stellung emporstreckten, trugen den Körper des Schreines auf diesen gewundenen Leibern. […] Der Körper des Schreines hatte eine allseitig gerundete Arbeit mit sechs Fächern. Über ihm befand sich das Mittelstück, das in einer guten Schwingung flach zurückging, und die Klappe enthielt, die geöffnet zum Schreiben diente. Von dem Mittelstücke erhob sich der Aufsatz mit zwölf geschwungenen Fächern und einer Mitteltür. An den Kanten des Aufsatzes und zu beiden Seiten der Mitteltür befanden sich als Säulen vergoldete Gestalten. Die beiden größten zu den Seiten waren starke Männer, die die Hauptsimse trugen. Ein Schildchen, das sich auf ihrer Brust öffnete, legte die Schlüsselöffnungen dar. Die zwei Gestalten an den vorderen Seitenkanten waren Meerfräulein, die in Übereinstimmung mit den Tragfischen jedes in zwei Fischenden ausliefen. Die zwei letzten Gestalten an Darauf folgt eine kurze Erläuterung des heimischen Gartens mit „Zwergobst, […] Gemüse- und Blumenbeete[n], […] hohe[n] Bäume[n] und Grasplätze[n]“ (NS 12), inklusive des Gewächshauses sowie des dem Vorstadthaus zugehörigen Hofs. (Vgl. NS 12 sowie 517–519) 732 Auf „die Präzision genauen Hinsehens und Beschreibens, welche vor allem bei der Deskription und Betrachtung der Kunstwerke und Gegenstände des Rosenhauses deutlich [wird]“ (Heinze 2008, S. 125), hatte die Autorin bereits in ihrem Artikel sowie an anderer Stelle dieser Arbeit verwiesen. 731

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den hintern Seitenkanten waren Mädchen in faltigen Gewändern. […] Die Fächer hatten vergoldete Knöpfe, an denen sie herausgezogen werden konnten. Auf der achteckigen Fläche dieser Knöpfe waren Brustbilder geharnischter Männer oder geputzter Frauenzimmer eingegraben. Die Holzbelegung auf dem ganzen Schrein war durchaus eingelegte Arbeit. Ahornlaubwerk in dunkeln Nußholzfeldern umgeben von geschlungenen Bändern und geflammtem Erlenholze. Die Bänder waren wie geknitterte Seide, was daher kam, daß sie aus kleinem feingestreiftem vielfarbigem Rosenholze senkrecht auf die Achse eingelegt waren. Die eingelegte Arbeit befand sich nicht bloß […] auf der Daransicht sondern auch auf den Seitenteilen und den Friesen der Säulen. (NS 76 f.) 733

Mit Biemel konnte gezeigt werden, dass im Nachsommer „die unmittelbare Präsentation darauf aus ist, eine größtmögliche Nähe zum Erzählten zu erreichen, den Leser in das Gelebte hineinzunehmen“ 734. Zudem fungiert die exemplarisch angeführte, höchst nuanciert ausgestaltete Delphinschreibschrein-Darstellung als subtiler, von Stifter und somit von dem (an seinem Mentor Risach orientierten) Ich-Erzähler Heinrich intendierter Ausdruck der Ehrfurcht (vor den Dingen) 735, welcher idealiter den Leser affizieren sollte. Modifiziert formuliert, kann diese spezifische Form der Beschreibung, im Zuge derer – wie die Autorin bereits andernorts konstatiert hat – die Dinge „ehrfurchtsvoll, sakralen Gegenständen gleich“ 736 visualisiert werden, letztlich – und speziell im weiteren Verlauf der Nachsommer-Geschichte – als Vorstufe einer Beziehung gelten: Auf Basis jener erschöpfenden, eine beziehungsähnliche Relation zu dem Gegenstand evozierenden Deskription avanciert das so charakterisierte Ding gleichsam zum Vehikel der Konstituierung eines (aktuell noch indisponiblen) zwischenmenschlichen (Liebes-) Verhältnisses: „Wovon das Herz voll ist, davon redet der Mund, heißt es in der Bibel. […] Das nennt man sonst Liebe, was hier vor

733 Vgl. zu dem Delphinschreibschrein auch NS 282. Zu der in vergleichbarer Präzision ausfallenden Beschreibungen der beiden Tische des Risachschen Arbeitszimmers siehe NS 77 f. Ferner sei in diesem Kontext auf die minutiöse Deskription des „Kerberger Altares“ im Roman hingewiesen. (Vgl. NS 246 f.) Vgl. zu besagtem Altar, dessen Charakterisierung sowie der durch Risach geleiteten Restauration auch Heinze 2008, vor allem S. 60–72. 734 Biemel 1985, S. 46; vgl. zum Aspekt der Nähe auch ebd., S. 38, 49, 55, 59 sowie 68–70. 735 Siehe diesbezüglich vor allem die Ausführungen in Kapitel III.3. 736 Heinze 2008, S. 137 f.

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unseren Augen vergegenwärtigt wird.“ 737 Stadler bezieht diese Aussage hier zwar auf den Autor Stifter selbst, formuliert jedoch in anderem Kontext, Heinrich – welcher bekanntermaßen auf die noch ausstehende Erfüllung seiner Liebe zu Natalie hinstrebt 738 – müsse „seine Liebe über die Gegenstände um die Liebe herum formulieren“ 739. Demnach bekommt er von Stifter die gefühlvoll-deskribierenden Worte keineswegs willkürlich in den Mund gelegt, in denen die künftige Verbindung bereits präsent ist, bevor diese direkt verbalisiert zu werden vermag. 740 „Alles wird bei seinem Namen genannt und ins Bewußtsein geholt.“ 741 So äußert sich auch Brigitte Kronauer (quasi indirekt) zu der in diesem Kapitel – hauptsächlich mit Bezug auf Biemel – erläuterten, vergegenwärtigenden Darstellungsweise Stifters, welche „phänomenologisch gesprochen die leibhafte Präsenz der Vorgänge“ 742 zu intensivieren suche. Biemel geht noch einen Schritt weiter und differenziert – neben der nun eingehend auseinanderStadler 2009, S. 97. Eine vertiefende Darstellung der Liebesbeziehung zwischen Heinrich und Natalie im Nachsommer kann im Rahmen der vorliegenden Studie nicht geleistet werden. 739 Ebd., S. 91. Vgl. in Bezug auf diese Funktion etwa der Rosen- oder Essensbeschreibung auch ebd., S. 92. Inwiefern sich Heinrichs Entwicklungsgang und mithin seine Neigung zu Natalie speziell anhand seiner sukzessiv reifenden Beziehung zur Kunst respektive zu Kunstwerken und deren Artikulation ablesen lässt, wurde von der Autorin eingehend anhand der Betrachtungen der von Risach jeweils restaurierten Musenstatue sowie eines Madonnengemäldes analysiert. Vgl. Heinze 2008, S. 78–88. 740 In der Phase der bereits fortgeschrittenen Annäherung an Natalie und des gegenseitig artikulierten Liebesbekenntnisses erfolgt eine erneute Wandlung der Wahrnehmung der Dinge: „Wie hatte seit einigen Augenblicken alles sich um mich verändert, und wie hatten die Dinge eine Gestalt gewonnen, die ihnen sonst nicht eigen war.“ (NS 488) Vgl. auch NS 503: „Ich sah mit neuen Augen auf alle Dinge um mich, es schien, als hätten sie sich verjüngt, und als müßte ich mich wieder allmählich an ihren Anblick gewöhnen.“ 741 Kronauer 2010, S. 150; vgl. auch ebd., S. 152: An dieser Stelle äußert Brigitte Kronauer treffend – allerdings in Bezug auf Stifters Erzählung „Granit“ aus den Bunten Steinen – es handle sich um „[e]ine Geschichte des Vorangehens und SichZurechtfindens, ein Ausweiten des gegenwärtigen Lebens ins Vergangene, Zukünftige, ein Festmachen an diesen beiden Punkten, ein Platzschaffen im Durcheinander der Natur durch Namengeben aller Dinge. […] Nur breitete die Sprache einen Lichtfleck um die Gehenden, so daß sie nie in Unsicherheit gerieten, und während sie vorangingen, ordneten sie sprechend alle Gegenstände mit, sie erzeugten einen Lichtkegel, der sich mit ihnen voranschob.“ 742 Biemel 1985, S. 23. 737 738

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gesetzten Akribie der Beschreibung und der damit korrelierenden Tendenz zur Vollkommenheit (der Darstellung) – eine weitere, diesen Erzählmodus ex aequo charakterisierende Komponente: die spezifische Zeitdefinition. Letztere artikuliere sich im Nachsommer in einer symptomatischen Verlangsamung des Zeitflusses 743 und gipfelt in den denkmalpflegerischen Aktivitäten Risach-Stifters, 744 indem im Zuge des konservierenden Vergegenwärtigens „die Zeit gleichsam zum Stillstand gebracht [wird]. Gleichsam – denn das Bewahren ist kein bloßes Festhalten, sondern ein Wirken im Sinne der Vollendung.“ 745 Analog zur Deskriptionsakribie ruft demnach auch die Retardation der Zeit – neben der gesteigerten Anschaulichkeit – eine verstärkte Würdigung des Dargestellten beziehungsweise Beschriebenen hervor: Gemäß dem Vorbild des Autors, des Ich-Erzählers sowie Risachs ist der Rezipient des Nachsommer angehalten, sich dezidiert die Zeit zu nehmen, sich geduldig und beflissen die (geschilderten) Dinge und Geschehnisse „anzusehen“, um das (zunächst lediglich) Visualisierte schließlich verständig einsehen zu können. Das von Stifter meisterhaft praktizierte Kunstmittel einer zeitlupenartigen Verlangsamung der Bewegungen und Geschehnisse durch sprachliche Ausführlichkeit erweckt den Eindruck, der Roman bleibe gewissermaßen ‚stehen‘ : Liebevoll wird mittels ausführlicher Charakterisierungen ein Mikrokosmos geschaffen, unscheinbarste Details [werden] aufgewertet, im Zuge dessen Bedeutung und Wirkung speziell der ‚kleinen Dinge‘ gesteigert erscheint […]: Die Schönheit des üblich als Gewöhnliches Vernachlässigten und nun als Großes, Bedeutsames Dargestellten wird künstlerisch zur Erhabenheit gesteigert! 746

Dieser Aspekt wird nicht zuletzt anschaulich vermittels der zahlreichen, zumeist sehr poetisch-stimmungsvoll anmutenden, in solenn gemessenem Ton formulierten Schilderungen der Landschaft, inklusive deren je spezifischen jahreszeitlichen Kolorits. Analog zum Ausdruck der Achtung durch die akribischen Gegenstandsbeschreibungen, fungieren Erstere als Demonstration der Ehrfurcht vor der Natur respektive deren Einzelphänomenen. 747 Besondere AufmerkVgl. ebd., S. 26 sowie Heinze 2008, beispielsweise S. 43. Vgl. hierzu ebd., insbesondere S. 53–88. 745 Biemel 1985, S. 78. 746 Heinze 2008, S. 122. 747 Im Allgemeinen wären diesbezüglich exemplarisch zu nennen die Reflexionen zum Tief- sowie Hochland im Spätherbst (vgl. NS 244 f. sowie 379–385) und Hein743 744

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samkeit geziemt in diesem Kontext Natalies subtiler Darstellung der Winterlandschaft: Im Rahmen derer berücksichtigt sie unscheinbarste Details, etwa „»wenn die Zweige der Bäume voll von Kristallen hängen, oder wenn sie bereift sind, und ein feines Gitterwerk über ihren Stämmen und Ästen tragen«“ (NS 506) und versäumt zudem nicht, die differierenden Schattierungen der winterlichen Luft und des Himmels zu erläutern. 748 Ein weiteres einschlägiges Beispiel liefert Heinrichs ergreifende Schilderung des Gletschers – genauer formuliert, des dortigen Sonnenaufgangs: Diese besticht durch eine metaphernreiche Illustration des farblichen Changierens des Schnees, der Felsen, des Nebels wie des Firmaments, ob des emporsteigenden „Punkt[es] […], der immer größer wurde, und endlich in der Größe eines Tellers schweben blieb, zwar trübrot aber so innig glimmend wie der feurigste Rubin“ (NS 582). 749 Belegstellen diesen Charakters zeigen – gemäß den Angaben der Autorin in erwähntem Aufsatz – dass es Stifter bei seinen akribischen Beschreibungen „letztlich nicht auf die faktische Oberfläche, sondern verborgene Wesenheit der Dinge (und Geschehnisse) [ankommt]“ 750. Dies möge abschließend erhärtet werden anhand folgender, eine Spazierfahrt der Rosen- und Sternenrichs (etwa im Zuge seiner auch ohne Begleitung durchgeführten Exkursionen erfolgenden) Beschreibungen des Gebirges, insbesondere Hochgebirges sowie der Seen, Wiesen und Wälder (vgl. zum Beispiel NS 266, 287–291, 420–424, 438 f., 694 f.). Siehe zum Aspekt der Ehrfurcht vor der Natur vor allem auch die Darlegungen in Kapitel III.3 dieser Arbeit. 748 So beschreibt sie, dass es zuweilen erscheine, „»als wenn sich der Reif in der Luft befände, und sie mit ihm erfüllt wäre. Ein feiner Duft schwebt in ihr, daß man die nächsten Dinge nur wie in einen Rauch gehüllt sehen kann. Ein anderes Mal ist der Himmel wieder so klar, daß man alles deutlich erblickt. Er spannt sich dunkelblau über die Gefilde, die in der Sonne glänzen, und wenn wir auf die Höhe der Felder kommen, können wir von ihr den ganzen Zug der Gebirge sehen.«“ (NS 506) 749 „Die Sonne war es, die die niederen Berge überwunden hatte, und den Nebel durchbrannte. Immer rötlicher wurde der Schnee, immer deutlicher fast grünlich seine Schatten, die hohen Felsen zu unserer Rechten, die im Westen standen, spürten auch die sich nähernde Leuchte, und röteten sich. Sonst war nichts zu sehen, als der ungeheure dunkle ganz heitere Himmel über uns, und in der einfachen großen Fläche, die die Natur hieher gelegt hatte, standen nur die zwei Menschen, die da winzig genug sein mußten.“ (NS 582) 750 Heinze 2008, S. 125. Bolterauer rekurriert in diesem Kontext auf die Ausführungen von Helmut Bachmeier und konstatiert, Stifter habe mit seiner Akzentuierung des unvoreingenommenen Sehens und Deskribierens der Dinge Aspekte der philosophischen Phänomenologie des 20. Jahrhunderts antizipiert, deren „Wesenslehre“ ebenfalls darauf abgestellt habe, die Phänomene in ihrer primären Gegeben-

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hofbewohner durch das Hochland abbildende Passage, welche in lyrischer Weise die namengebende Atmosphäre des Romans – das frühherbstliche beziehungsweise nachsommerliche Flair – nachzeichnet: Die Sonne stand an dem wolkenlosen Himmel, aber schon tief gegen Süden, gleichsam als wollte sie für dieses Jahr Abschied nehmen. Die letzte Kraft ihrer Strahlen glänzte noch um manches Gestein und um die bunten Farben des Gestrippes [sic!] an dem Gesteine. Die Felder waren abgeerntet und umgepflügt, sie lagen kahl den Hügeln und Hängen entlang, nur die grünen Tafeln der Wintersaaten leuchteten hervor. Die Haustiere des Sommerzwanges entledigt, der sie auf einen kleinen Weidefleck gebannt hatte, gingen auf den Wiesen, um das nachsprossende Gras zu genießen, oder gar auf den Saatfeldern umher. Die Wäldchen, die die unzähligen Hügel krönten, glänzten noch in dieser späten Zeit des Jahres entweder goldgelb in dem unverlorenen Schmuck des Laubes oder rötlich oder es zogen sich bunte Streifen durch das dunkle bergan klimmende Grün der Föhren empor. Und über allem dem war doch ein blauer sanfter Hauch, der es milderte, und ihm einen liebenden Reiz gab. (NS 381 f.)

Stifters Konzeption eines phänomenologischen Sehens und die damit korrelierende „Langsamkeit“, wie sie in diesem Kapitel erörtert worden sind, resultieren aus dem eingangs genannten „Sanften Gesetz“, welches Stifters Schreiben – so Bolterauer – in moralischer sowie ästhetischer Hinsicht legitimiere. 751 Die charakteristischen Naturdarstellungen Stifters, die sich einerseits aus oben geschildertem dichterisch-poetischen Weitblick, andererseits aus einer – wie Bolterauer es formuliert – naturwissenschaftlich fundierten DetailPerspektive speisen, 752 tragen diesem Umstand exemplarisch Rechnung: Das durch diese initiierte, spezifische Ansehen der Dinge und heitsweise und deren genuinen Spezifika zu erfassen. (Vgl. Bolterauer 2005, S. 190 f.) 751 „Indem er das ‚Walten der Dinge‘ als das alles bestimmende und alles beherrschende Gesetz anerkennt, dem der Mensch sich – idealiter – nur anzupassen und unterzuordnen habe, unterstellt er auch sein eigenes Schreiben dieser Forderung.“ (Ebd., S. 192) Bolterauer weist in ihrer Studie zudem darauf hin, dass dieses Konzept (der Langsamkeit) von Autoren wie beispielsweise Peter Handke rezipiert und schließlich ausgebaut worden sei: Zugunsten eines Respekts vor den Dingen werde im Rahmen einer „Ästhetik der Langsamkeit“ auf die Erzählung von Spannendem, Aufregendem verzichtet. (Vgl. ebd., S. 191) 752 Vgl. ebd., S. 163. Dies manifestiert sich nicht zuletzt in Heinrichs exakten Beschreibungen von Pflanzen, Mineralien und anderen Elementen der Natur. (Vgl. etwa NS 27 f.)

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Gegebenheiten wurde bereits im Artikel „Kunst und Gedächtnis“ von der Autorin der vorliegenden Arbeit „als ein Schauen interpretiert, das die Dinge als solche wahrnimmt und […] diesen Gerechtigkeit widerfahren sowie deren Ordnung gleichsam Realität werden lässt“ 753. Analog zu diesem in Rekurs auf Bolterauer gewonnenen Standpunkt konstatiert auch Wolfgang Matz, „[d]ieses gehörige Anschauen ist es, was das sanfte Gesetz verlangt – ein Blick, der das Gleichgewicht der Welt respektiert und intakt läßt […]“ 754. Anknüpfend an obigen Zitatblock wird jedoch – entsprechend folgender konziser Bemerkung Natalies – die direkte Umgebung noch adäquater erfasst, das heißt, bis in ihre Einzelheiten wahrgenommen, wenn man – anstatt diese aus der Ferne zu fokussieren – den Wagen verlässt und das Stück Land Schritt für Schritt zu Fuß durchmisst: „Es tritt näher an uns. Die Gesträuche an dem Wege, die Steinmauern, die sie hier so gerne um die Felder legen, ein Birkenwäldchen mit den kleinsten Dingen, die unter seinen Stämmchen wachsen, die Wiesen, die sich in eine Schlucht hinab ziehen, und die Baumwipfel, welche aus der Schlucht herauf sehen, hat man unmittelbar vor Augen.“ (NS 384)

Die folgende Konstatierung Bolterauers, welche diese in Bezug auf die typische Art des Sehens in Stifters Erzählungen der Bunten Steine (hier speziell in „Granit“) tätigt, trifft nach Meinung der Autorin auch auf die Situation des Nachsommer zu: „Dieses Sehen […] ist ein Sehen, das die Dinge nicht verschlingen und vernichten möchte, indem es sie subsumiert und kategorisiert, sondern ein Sehen, das die Dinge in ihrem Da-Sein und in ihrem So-Sein akzeptieren und verstehen möchte.“ 755 Begründet wird dieses Sehen durch die Komponente des Gehens als essenzieller Voraussetzung dafür, den Dingen gerecht zu werden, indem diese – wie es Natalie während der Spazierfahrt prägnant formuliert – erst durch aktives Hingehen effektiv erfasst werden können: „Im Gehen nimmt das jeweilige Subjekt ‚Besitz‘ von seiner Umgebung, es realisiert, was es gehend wahrnimmt.“ 756 Mittels des Gehens gelingt es somit endgültig, die Heinze 2008, S. 125. Matz 2005, S. 308. Diesen Ausspruch tätigt Matz in Bezug auf die gleichlautende Formulierung des Pfarrers aus Stifters Erzählung „Kalkstein“ aus den Bunten Steinen bezüglich eines kargen Landstrichs, welcher gemeinhin als unansehnlich gilt. 755 Bolterauer 2005, S. 190. 756 Ebd., S. 217. Den Ausdruck des „Besitz-Ergreifens“ setzt Bolterauer an dieser 753 754

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Dinge in deren spezifischer Verfasstheit zu begreifen und daraufhin zu benennen, um sich der diesen immanenten Ordnungsstruktur, von der oben bereits die Rede war, sowie deren Gesamtgefüges (verbal) zu vergewissern. 757 „Gehen, sehen und sprechen etablieren eine Ordnung des Seins und sie fungieren zugleich als Mittel, um diese Ordnung zu bestätigen.“ 758 So rundet sich einmal mehr der Kreis im Nachsommer, wenn Heinrich, nach der Rückkehr aus dem Rosenhaus, schließlich seiner Familie sämtliches Gesehene in einer anhand des Risachschen Vorbilds studierten Akribie zu schildern angehalten ist, wie er es in dem nachstehenden Passus berichtet: Ich mußte dem Vater nun auch die einzelnen Holzgattungen angeben, aus denen die verschiedenen Geräte in dem Rosenhause eingelegt seien, aus denen die Fußböden beständen, und endlich aus welchen geschnitzt würde. […] Ich mußte ihm auch beschreiben, in welcher Ordnung diese Hölzer zusammengestellt seien, welche Gestalten sie bildeten, und ob in der Zusammenstellung der Linien und Farben ein schöner Reiz liege. Ebenso mußte ich ihm auch noch mehr von den Marmorarten erzählen, die in dem Gange und in dem Saale wären, und mußte darstellen, wie sie verbunden wären, welche Gattungen an einander grenzten, und wie sie sich dadurch abhöben. Ich nahm häufig ein Stück Papier und die Bleifeder zur Hand, um zu versinnlichen, was ich gesehen hätte. (NS 161 f.)

Aus der Erörterung der in diesem Kapitel angeführten Belegstellen zu Stifters Deskriptionsakribie als Ehrfurchtsindiz (und wie anhand diverser weiterer, bislang nicht zitierter Passagen ebenfalls erhellt werden könnte) ist zu konkludieren, dass es im Nachsommer zweifellos (noch oder wieder) zwischen dem Menschen und den Dingen sowie Gegebenheiten des Alltags stimmig ist – im Gegensatz zu den im Rahmen von Kapitel III.1 und nicht zuletzt der Einleitung zu dieser Arbeit erwähnten (aktuellen) Negativtendenzen. 759 Die Konstituierung beziehungsweise Restituierung dieser Harmonie zwiStelle wohlweislich in Anführungszeichen, um dem Missverständnis vorzubeugen, es handle sich um ein herrscherlich-dominantes Vereinnahmen des Umgebenden durch den Menschen. 757 Vgl. ebd., S. 218. 758 Ebd., S. 219. 759 Entsprechend plädiert die Autorin der vorliegenden Arbeit dazu, folgende Bemerkung Bolterauers hinsichtlich Stifters Spätstil, zu dem sie den Nachsommer nicht hinzuzählt, besonders auf diesen zu beziehen, in dem das „idealiter“ bereits als eingelöst zu gelten hat: „Wort und Ding kommen hier – idealiter – zur Deckung. Das Gesagte ist das Statthabende, ist das Getane, nichts wird wirklich, was nicht gesagt wäre oder gesagt werden könnte.“ (Ebd., S. 398)

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schen Mensch und Ding, dieser – durch Respektieren und Praktizieren des „Sanften Gesetzes“ authentisierten – „friedsamen“ Balance im täglichen Leben ist abhängig von der entsprechenden Assimilation des menschlichen Habitus. Somit erweist es sich als indiziert, einen Blick auf die spezielle Verfasstheit der Menschen zu werfen, denen im Nachsommer ein solch adäquates Verhalten im Kontext der Würdigung alltäglichen Tuns gelingt, bevor der dezidierten Thematisierung oben erwähntem achtungsvoll-schonendem Umgang als solchem im weiteren Verlauf dieser Arbeit ein separates Hauptkapitel gewidmet werden soll. 2.2 „Die Unschuld der Dinge“: Demut und Zurücknahme als Charakterdispositionen „Ich […] hörte selber oft nur mein eigenes Innere [sic!] reden, nicht die Dinge um mich.“ (NS 189) Dies bekennt Heinrich (gleichwohl relativierend aufgrund seines jungen Alters zu Zeiten, als er im Rosenhaus weilte) in einem Moment kritischer Selbstreflexion angesichts des „»Kreis[es] jener trefflichen Menschen«“ (NS 518), die sich um Risach herum formiert und edelmütig der Institutionalisierung des „Sanften Gesetzes“ verschrieben haben. Wie im vorangehenden Kapitel gezeigt, führen präzises „Ergehen“, (Er-)Sehen und Sagen der Dinge – die Situationen und Verrichtungen (des täglichen Lebens) einbezogen – gleichsam zu einer (Wieder-)Herstellung des Gleichgewichts des Lebens im Sinne einer adäquaten Beachtung und somit „Errettung“ der Phänomene. Gelingt es dem Menschen, von sich als vermeintlichem „Maß aller Dinge“ zu abstrahieren, ist er befähigt, seine Affekte zu kontrollieren sowie individuelle Begehrlichkeiten in Schach zu halten, zugunsten einer einsichtigen Konzentrierung auf das Wesentliche: Dies impliziert bei Stifter, seine Aufmerksamkeit vornehmlich und beharrlich dem Kleinen, Alltäglichen zuzuwenden und in konstanter Seriosität die gleichförmigen wie lebensbewahrenden und mithin sinngenerierenden Tätigkeiten des Daseins auszuführen. 760 Die großen Thaten der Menschen sind nicht die, welche lärmen, obgleich zuweilen die Wunder des Augenbliks, z. B. plötzliche Aufopferung, Hin760 Diesbezüglich wurde auf Bolterauer 2005 verwiesen, insbesondere S. 129 sowie 191.

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gebung und dergleichen groß seyn können; aber in der Regel sind sie Eingebungen von Affekten, die eben so gut und sogar meistens Schwäche seyn können; das Große geschieht so schlicht, wie das Rieseln des Wassers, das Fließen der Luft, das Wachsen des Getreides – darum ist irgend eine Heldenthat unendlich leichter und auch öfter da, als ein ganzes Leben voll Selbstbezwingung, unscheinbaren Reichthum und freudigen Sterben. (SWB 1 214) 761

An dieser recht apodiktischen Briefäußerung lässt sich einmal mehr Stifters strikter ethischer Maßstab ablesen, welchem er – wie bereits angedeutet – auch sein schriftstellerisches Wirken unterstellt. 762 Inhaltlich manifestiert sich dieses ethische Postulat in einem „umfassende[n] Programm menschlicher Erziehung, das beinahe keinen Bereich des menschlichen Lebens außer Acht lässt“ 763 und konkret mittels Gesinnung und Agieren der Charaktere seiner Werke transportiert wird, um somit (idealiter) von dem Rezipienten internalisiert zu werden. 764 Besonders seit Stifters im Nachsommer kon761 Siehe auch SWB 3 183, BS 4 sowie folgende beiden analogen Briefpassagen: „Es ist viel leichter, gewisse einzelne große Thaten zu thun, jene Wunder des Augenbliks, die wir anstaunen, als ein Leben voll Rechtschaffenheit und Selbstverläugnung zu führen, und dann mit Freude und Gelassenheit zu sterben: zu jenen gehört ein Augenblik der Größe und Begeisterung (oft nur Leidenschaft) zu diesem Größe selbst.“ (SWB 6 201) „Mir scheint die wahre Gemüthsgröße des Menschen in einer lebenslänglichen Unterordnung seiner Triebe und Leidenschaften unter die Vernunft zu bestehen, wenn dies aus Grundsaz und mit Bewußtsein geschieht. Das andere, was wir oft so nennen, die Wunder des Augenblikes, die prächtig auflodernden Thaten, können eben so gut das Ergebniß der Schwäche sein, als der Stärke. Oft sind sie sogar nicht einmal sittlich.“ (SWB 6 197) 762 Hinsichtlich dessen wurde schon an anderer Stelle von der Autorin (in Anlehnung an Bolterauer) ermittelt, dass Stifter sein Schreiben letztlich „nicht primär an ästhetisch-literarischen, sondern an ethisch-moralischen Prinzipien [festmache]“ (Heinze 2008, S. 114). 763 Bolterauer 2005, S. 407. 764 In Rekurs auf das Kapitel III.2 einleitende Zitat sei zunächst an Stifters Bestrebung erinnert, mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit im Allgemeinen sowie dem Nachsommer-Roman im Besonderen einen Gegenentwurf zu den divergierenden zeitgenössischen gesellschaftlichen Tendenzen vorzulegen, was Bolterauer zudem wie folgt erläutert: „Stifter, dem das revolutionäre Gehabe des Jungen Deutschland ebenso zuwider war wie das Psychologisieren etwa eines Hebbel, legte seinem Schreiben ein humanistisch-aufgeklärtes Programm zugrunde, das das Wohl des Einzelnen wie der Gesellschaft im Auge hatte, das dieses aber nicht durch soziale Revolution und durch individuelle Selbstverwirklichung erreichen wollte, sondern durch Erziehung zu einem freien, und das heißt bei Stifter immer zu einem sich seiner Freiheit pflichtbewusst bedienenden Menschen.“ (Ebd., S. 415) Unter Bezugnahme auf die Ideale des 18. Jahrhunderts habe sich Stifter an den Koryphäen der

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zipierten Leitideen zu Bildung und Erziehung sei das „Sanfte Gesetz“ – im Kontext der „Etablierung einer Pädagogik der Selbsterziehung, der Selbstdisziplinierung“ 765 – laut Bolterauer nicht mehr als externes Diktat einer kosmisch motivierten Ordnung zu interpretieren, sondern dessen Realisierung „eher als pädagogischmoralische Aufgabe dem Menschen selbst anheim [ge]stellt“ 766. Basierend auf dieser Hintergrundfolie der (fortan) im Zentrum der Lebensführung wie Persönlichkeitsgenese der Romanfiguren platzierten Herausforderung, soll im Folgenden das spezifische Naturell der (unter dem Einfluss Risachs befindlichen) Menschentypen des Nachsommer beleuchtet werden, das wesentlich auf einer uneigennützigen Zurücknahme vor den Dingen und Ereignissen fußt. Arnold Stadler, der Stifter einen „Erziehungsexperte[n]“ 767 par excellence heißt und ebenso in den korrelierenden Faktoren von Erziehung und Bildung einen Stifters schriftstellerische Tätigkeit dominierenden Themenkomplex ausmacht, konstatiert, „das Schicksal – zumindest der Protagonisten – wird durch Erziehung zum Guten gewendet“ 768. In Bezug auf Stifters spezifische Bildungs- und Erziehungsambitionen im Nachsommer, den er als „das Stiftersche Erziehungsprojekt“ 769 tituliert, hält er weiters fest: „Stifter wollte über seinen Risach auch belehren und erziehen.“ 770 Es (humanistischen) Dichtung und Philosophie orientiert – allen voran Goethe und Schiller, Herder und Humboldt –, aber auch das josephinistische Konzept bemüht. (Vgl. ebd. sowie ebd., S. 24 f.) An dieser Stelle seien ferner Stifters Tätigkeit als Schulrat sowie das von ihm und einem Bekannten konzipierte Lesebuch zur Förderung humaner Bildung aus dem Jahr 1854 erwähnt, auf das Stadler im Kontext der Stifterschen Bildungs- und Erziehungsintention verweist. (Vgl. Stadler 2009, S. 160 f.) 765 Bolterauer 2005, S. 230. 766 Ebd. 767 Stadler 2009, S. 182. Stadler stellt Stifter neben „andere große Erziehungstheoretiker“ (ebd.) wie Jean-Jacques Rousseau. Vgl. zum Thema der Erziehung auch ebd., S. 141, 160 f. sowie 183. 768 Ebd., S. 141. 769 Ebd. 770 Ebd., S. 160. In diesem Zusammenhang kontrastiert Stadler Stifters Risach mit Thomas Bernhards Protagonist Reger aus dessen Roman Alte Meister: „Bernhard wollte über Reger nur belehren: den Menschen, und daß der schrecklich ist. […] Er [Reger] ist ein monoman-egozentrischer Wiederholer, Aufzähler und Aufrechner des Negativen.“ (Ebd.) Stadler bezeichnet Reger weiters „als Anti-Risach: wo im Nachsommer alles Sinn hat, ist dort alles Unsinn. Und doch wird im großen Stil

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wurde bereits erwähnt, dass Risach, welcher gleichsam als „Universalprivatgelehrter“ 771 auftritt, und die mit ihm in Kontakt Stehenden inspirierend in seinen Bann zieht, letztlich als die verkappte Hauptgestalt des Buches zu betrachten ist. Risachs pädagogische Tätigkeit gewinnt im jungen Mannesalter Profil, als ihm in der gut situierten Familie Makloden die Ausbildung des Bruders Mathildes obliegt: „Da soll er den siebenjährigen Alfred erziehen, wobei zentraler Erziehungsgedanke ist, daß der Art und Weise des Umgangs die größte erzieherische Wirkung zukommt.“ 772 In der Tat erfolgt Erziehung im Nachsommer – wie Walter Biemel korrekt registriert – gleichsam in indirektem, anti-indoktrinativem Modus: „»‚Erziehung ist wohl nichts als Umgang‘«“ (NS 633) lautet die diesbezüglich zentrale These Mathildes Mutter, also werden dem Heranwachsenden (verbal wie nonverbal) die für einen adäquaten Lebenswandel konstitutiven Komponenten vorgelebt, was das Verhalten im zwischenmenschlichen Miteinander wie jenes gegenüber nicht-menschlichen Lebewesen und Gegenständen inkludiert. 773 So wird Risach später in Bezug auf Heinrich urteilen, „»sein Selbst hat sich entwickelt, und aller Umgang, der ihm zu Teil geworden, […] hat geholfen.«“ (NS 713) 774 geredet und die Welt beurteilt, nein: verurteilt.“ (Ebd., S. 162) Auf Stifters generelle Sinnstiftungsambitionen mittels Literatur geht auch Bolterauer ein. Vgl. hierzu Bolterauer 2005, S. 415 f. sowie die Ausführungen in Anm. 751 der vorliegenden Arbeit. 771 Stadler 2009, S. 133. Auf Risachs quasi landesweite Reputation sowie seine Qualitäten als Fachkundiger diverser Bereiche wird in Kapitel III.2.3 näher eingegangen werden. 772 Biemel 1985, S. 75. 773 „Die entscheidenden Grundvoraussetzungen menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten liegen in einer adäquaten Beziehung des Individuums zu der es umgebenden Welt, die – neben intensivem visuellem Wahrnehmen – auf einem angemessenen Umgang basiert.“ (Heinze 2008, S. 125; vgl. ebd., S. 133 und 136.) Vgl. hierzu vor allem auch die weiterführenden Darlegungen in Kapitel III.3 dieser Arbeit. 774 Neben Risach sind es natürlicherweise die Eltern, denen ein Hauptanteil an Heinrichs Erziehung und mithin (umfassender) Bildung zukommt. Entsprechend berichtet der junge Mann in Bezug auf sich selbst und seine Schwester: „Als wir nach und nach heran wuchsen, wurden wir immer mehr in den Umgang der Eltern gezogen, der Vater zeigte uns seine Bilder, und erklärte uns manches in denselben.“ (NS 13) Und auch im Elternhause Heinrichs ist die Erziehung „eine andere […] als in andern Häusern“ (NS 163). Ferner sei man „mit Freunden verbunden, deren Umgang […] veredelt, erhebt“ (NS 507; Herv. sind zugefügt). Zudem nimmt eine ältere Fürstin, deren „größte Gabe darin bestand, das, was in anderen war, hervor zu rufen“ (NS 313), nicht unerheblichen Einfluss auf die Entwicklung Heinrichs, der

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Angesichts der zentralen Bedeutung, welche insonders der Konnexion mit hochstehenden Personen im Rahmen der Entwicklung eines (jungen) Menschen beizumessen ist, spezifiziert Mathildes Mutter oben genannte These, indem sie präzisierend ergänzt: „Der Unterricht ist viel leichter als die Erziehung. Zu ihm darf man nur etwas wissen, und es mitteilen können, zur Erziehung muß man etwas sein.“ (NS 633) 775 Das Potenzial eines sittlich einwandfreien Umgangs und somit das solide Vorleben eines solchen inhäriert demnach nicht ausschließlich beziehungsweise primär dem theoretischen Fachwissen der als Vorbild fungierenden Person, sondern resultiert vielmehr aus deren erstrebenswerten, haltungsspezifischen wie emotionalen Charakterqualitäten, welche sich unter den Prinzipien „Reinheit der Gesinnung und Wärme des Herzens“ (SWB 1 267) subsumieren lassen. 776 Neben den Aspekten der Herzens- und Gesinnungsbildung 777, welche (seitens des Erziehenden) als Fundament wie (seitens des Zöglings) als Ziel einer gelingenden Persönlichkeitsschulung zu gelten haben, erweisen sich Geduld respektive Langmut und Beständigkeit als nicht minder essenzielle, die Erziehungsbestrebungen befördernde Größen. Diese Dispositionen werden bei Risach, der von sich konstatiert, dass er „Zwecke auch mit großer Geduld verfolgen kann“ (NS 610), generell manifest in einem zur Perfektion die im Kreise der Dame sowie ihrer Bekanntschaft zugebrachten Stunden folgendermaßen bewertet: „Ich hörte bei der Fürstin Aussprüche, die ich mir merken wollte, die ich mir aufschrieb, und die mir ein unveräußerliches Eigentum bleiben sollten. […] Ich empfand, daß jene Abende für mich von großer Bedeutung, daß sie eine Zukunft seien.“ (NS 313) Vgl. zu der Fürstin vor allem NS 310–314, 410–414 sowie 710. 775 Siehe in diesem Kontext auch das zum Aspekt des „Lehre Seins“ gemäß der Chassidismus-Interpretation Bubers Explizierte, worauf in Abschnitt IV der Arbeit noch zu rekurrieren sein wird. 776 Gerade bezüglich der für das sittliche Verhalten maßgeblichen Gesinnung sieht Risach(-Stifter) seinerzeit dringenden Handlungsbedarf, wie er Heinrich anhand des Negativbeispiels des willkürlichen beziehungsweise zum Zwecke des Vergnügens erfolgenden Tötens von Singvögeln plausibel macht: „Aber das zeigt eben, wie weit wir noch von wahrer Gesittung entfernt sind.“ (NS 142) Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel III.2.3.3 und III.3 sowie Anm. 984 dieser Arbeit. 777 Bolterauer sieht in der „Erziehung des Herzens“ (Bolterauer 2005, S. 410), um welche die meisten Erzählungen Stifters kreisten (die jedoch – aufgrund des Suggerierens der „Kompatibilität von Herz und Verstand“ (ebd.) – ihrer Meinung nach letztlich auf ein Paradoxon hinauslaufe), den Mittelpunkt Stifters pädagogischen Programms.

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ausgereiften, in der Nachsommer-Welt – speziell im Rosenanwesen – realisierten Lebensentwurf als greifbare Fassung des Stifterschen Ethikkonzepts. 778 Risach verkörpert geradezu beispielhaft das Prinzip des „sanften Gesetzes“: Er vertritt eine stille, Kontinuität und Bewahrung des Bestehenden anstrebende Form des Daseins, führt ein Leben in Verantwortung und Solidarität, dessen gewünschtes Ziel sowohl die Entwicklung des Einzelnen als auch der Gemeinschaft ist. Aus einem auf Respekt basierenden Umgang im sozialen Zusammensein resultiert das Wohl des Kollektivs. 779

Während von dem quasi ritualisierten, auf Erhaltung wie (Neu-) Gestaltung gleichermaßen bedachten Lebens- und Alltagsvollzug im weiteren Verlauf der Arbeit noch zu handeln sein wird, sollen zunächst einzelne Charakteristika der von Risachs Fluidum tangierten Personen eruiert werden. Denn die dezente Omnipräsenz Risachs übt de facto eine sublimierende Wirkung auf dessen Umfeld aus, 780 so dass alle seinem Einfluss unterstehenden Menschen im Nachsommer eine ähnlich optimale Wesensart aufweisen oder zu einer solchen heranreifen. Entsprechend resümiert Heinrichs Vater gegenüber seinem Sohn, „»bei deinem Gastfreunde [hat] die Gesamtheit deines Wesens eine so entscheidende Förderung erhalten, du hast nach manchem Besuche bei ihm auch so hervorragende Einzelheiten zurückgebracht, daß ihm eine große Güte und Bildung eigen sein muß, die auf seine Umgebung übergeht.«“ (NS 516) 781 778 Während in diesem Kapitel primär die charakterliche Verfasstheit Risachs sowie sein Interagieren im zwischenmenschlichen Bereich thematisiert wird, sollen im darauf folgenden Kapitel III.2.3 in erster Linie die diversen, von Risach zum Zwecke der vorbildlichen Errichtung, Führung sowie Instandhaltung seines Anwesens ergriffenen „äußeren“ Maßnahmen fokussiert werden. 779 Heinze 2008, S. 135. 780 Die im Rosenhaus geführten Gespräche beispielsweise nimmt Heinrich wie folgt war: „Die Gespräche waren klar und ernst, und mein Gastfreund führte sie mit einer offenen Heiterkeit und Ruhe.“ (NS 215) An anderer Stelle heißt es analog: „Mein Gastfreund führte die Gespräche klar und warm, und Mathilde konnte ihm entsprechend antworten. Sie wurden mit einer Milde und Einsicht geführt, daß sie immer an sich zogen, daß ich gerne meine Aufmerksamkeit hin richtete […].“ (NS 223) Nicht zuletzt schien es Heinrich, dass er, selbst „wenn sie [die Unterhaltungen] auch Gewöhnliches betrafen, etwas Neues und Eindringliches zu hören glaubte“ (NS 223). Ferner schildert Heinrich in Bezug auf die von Risach gehaltenen Unterrichtseinheiten für Gustav: „Die Sprache des Unterrichts war stets einfach und klar, daß ich meinte, ein Kind müsse diese Dinge verstehen können.“ (NS 190) 781 Vgl. hierzu auch NS 179. Auch Mathilde rühmt Risachs außergewöhnliche (erzieherische) Qualitäten: „»Wenn in der Nähe unsers Freundes einiges an Euch frü-

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Die sich distinkt von der breiten Masse abhebenden, allesamt äußerst kultivierten Mitglieder des Rosen- und Sternenhofs (ferner der Familie Heinrichs, welche den Risachschen analoge Erziehungsmaximen vertritt) imponieren dem Leser durch den Kardinaltugenden komparable Attribute wie Bescheidenheit und Selbstdisziplinierung, 782 Höflichkeit und Dezenz, 783 Güte und Toleranz sowie Gerechtigkeit und Achtungserweisung. Prägnant kommentiert Wolfgang Matz die von Stifter im „Sanften Gesetz“ artikulierten, mittels des Agierens der Menschen der Nachsommer-Welt institutionalisierten Grundkonstanten seiner ethischen Lehre: Was Stifter hier formuliert, ist eine Ethik der Gleichrangigkeit und des Gleichgewichts, eine Ethik des Respekts und der allumfassenden Sympathie im klassischen Sinne. Sie verlangt, daß jedes Wesen in seiner besonderen Eigenart respektiert wird und daß ihm nichts angetan wird, was es in seiner Besonderheit gefährdet. 784

Die „idealtypische[n] Figuren“ 785 Stifters, welche jedwedes ansatzweise krude Betragen aufs Schärfste missbilligen, scheinen die programmatischen, den in der Nachsommer-Gesellschaft etablierten Verhaltenskodex fundierenden Lebensformeln „Einfachheit Halt und Bedeutung“ (NS 731) 786 sowie „»Ergebung Vertrauen Warten«“ (NS 389) 787 nicht lediglich mustergültig internalisiert zu haben, sondern darüber hinaus gleichsam zu personifizieren, was sich ferner in ihrem äußeren Erscheinungsbild manifestiert. So schildert beispielsweise Heinrich seinen Eltern Natalie – seine Vermählung her zur Blüte kam, so ist dies wohl sehr natürlich; es ist ja alles an uns Menschen so, daß es wieder von andern Menschen groß gezogen wird, und es ist das glückliche Vorrecht bedeutender Menschen, daß sie in andern auch das Bedeutende, das wohl sonst später zum Vorscheine gekommen wäre, früher entwickeln.«“ (NS 428) Bescheiden entgegnet Risach an anderer Stelle in Bezug auf die Entwicklung Heinrichs: „»Ich mag ein weniges beigetragen haben, wie alle nicht bösen Menschen, mit denen wir umgehen, zu unserem Wesen etwas Gutes beitragen.«“ (NS 698 f.) 782 Vgl. zu der Thematik Bescheidenheit zum Beispiel NS 8, 19, 22, 43, 50, 69, 209 und 237. 783 Siehe zu den Aspekten Höflichkeit und Gesittung im Nachsommer exemplarisch NS 142, 162–164, 214, 411, 426, 480 f. und 507. 784 Matz 2005, S. 303. 785 Bolterauer 2005, S. 232. 786 Das Wort „Bedeutung“ ist in diesem Kontext wohl im Sinne von Sublimierung zu interpretieren. 787 Vgl. hierzu auch Heinze 2008, S. 103 sowie das gleichnamige Kapitel in Stadler 2009, S. 138–142.

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mit dieser avisierend – „»wie sie einfach und gerecht ist, wie ihr Sinn nach dem Gültigen und Hohen strebt, wie sie schlicht vor uns allen wandelt […].«“ (NS 518) Ihr modester wie aparter Habitus divergiere von jenem des Gros der Zeitgenossen und mute vielmehr als einem früheren Menschenschlage entsprechend an – „das Freie das Hohe das Einfache das Zarte und doch das Kräftige“ (NS 431), das aus Natalies Zügen spreche, erinnert Heinrich an die ihm von seinem Vater sowie Risach präsentierten Konterfeis auf den „geschnittenen Steine[n]“ (NS 431) antiker Kunst. (Vgl. NS 431 f.) 788 Natalies ebenmäßige Charakterzüge resultieren nicht zuletzt aus der „Ruhe und Klarheit, die in dem ganzen Wesen Mathildens ausgeprägt ist“ (NS 534), der Mutter Natalies, deren Seele „gütig und abgeschlossen sich darstellte, und auf die Menschen, die ihr naheten, wirkte“ (NS 426) – „so sanft, so gelassen und milde“ (NS 550). Analog zu Risach 789 mangle es ihr zu keiner Zeit an charakterlicher Homogenität. In entsprechend adäquater Verfassung habe sich auch Mathildes Bruder Alfred bereits als Kind gezeigt, dem als erstem Risachs Erziehung zuteil wurde: „»Er war ein vortrefflicher Knabe, offen klar einfach gutmütig lebendig, ohne doch einem heftigen Zorne anheimzufallen, heiter unschuldig und folgsam.«“ (NS 648) 790 Ein Schwerpunkt liegt im Nachsommer-Roman erwartungsgemäß auf der Illustration der Veranlagung des Ich-Erzählers Heinrich: Gerade Heinrich, der Natalie als wesensmäßig „viel besser“ (NS 518) als sich selber einstuft, divergiert (ebenso) von anderen jungen Menschen – namentlich Männern – seines Alters, auch be788 Analoges konstatiert Heinrich bezüglich Natalies Bruder Gustav, dessen junges Alter zwar noch keine endgültige Festlegung zulasse, gleichwohl dünke es, „daß er in wenigen Jahren so aussehen würde, wie die Jünglingsgesichter unter den Helmen auf den Steinen aussehen, und daß er dann Natalien noch mehr gleichen würde“ (NS 432). Die Antlitze auf den Gemmen und Kameen beschreibt Heinrich wie folgt: „Die Züge waren meistens einfach, ja sogar oft unbegreiflich einfach, und doch waren sie schön, schöner und menschlich richtiger – so schien es mir wenigstens – als sie jetzt vorkommen.“ (NS 398) Zu Natalie siehe auch die Ausführungen Matz’, der Natalie charakterisiert als „ein Traumbild an Schönheit, Anmut, Bildung und gewählter Sittsamkeit“ (Matz 2005, S. 328). Vgl. auch Biemel 1985, vor allem S. 71 f. 789 „[S]ein Wesen war immer ein ganzes und geschlossenes“ (NS 550), wie Heinrich feststellt. 790 Bezug nehmend auf die Alfred in seinem Elternhaus umgebende Atmosphäre führt Risach weiter aus: „Sein Wesen war nicht verbildet. Er war körperlich sehr gesund, und dies wirkte auch auf seinen Geist, der nebstdem überall von den Seinigen mit Maß und Ruhe umgeben war.“ (NS 643)

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reits vor des Verkehrens im Rosenhaus, weil er sich – nach eigenem Bekunden – „mit anderen Dingen beschäftigte, als auf die sie ihre Wünsche und Begierden richteten. Ich vermutete, daß sie mich wegen meiner Sonderlichkeit geringer achteten als sich unter einander selbst.“ (NS 163) Heinrichs außergewöhnliche Reflektiertheit basiert nicht zuletzt auf der ihm bereits in jungen Jahren eignenden Kenntnis, dass Achtung und Diskretion als Grundprämissen fungieren, um nicht nur des den umgebenden Lebewesen sowie Dingen inhärierenden Eigenwertes inne zu werden, sondern ihnen außerdem achtungsvoll zu begegnen und somit die entsprechende Würde zu erweisen. 791 In zwischenmenschlicher Hinsicht ist in diesem Kontext Heinrichs Umgang mit seinen Gefühlen für Natalie von paradigmatischer Signifikanz, welcher in puncto Bedachtsamkeit und Selbstdisziplin definitiv seinesgleichen sucht: Während einer der besagten Bekannten aus seinem Verlangen nach der selben Person keinen Hehl macht, sondern dieses vielmehr beinahe exklamatorisch kundtut, 792 entgleitet Heinrich – ob des noch ungewissen Ausgangs der potenziellen Verbindung – im Kontrast dazu kein einziges Wort über seine Empfindung, und er ist zudem fest entschlossen, sollte seine Neigung ohne Resonanz verbleiben, diese strikt zu bezwingen. 793 Nachdem letzterer Vorsatz obsolet geworden ist, da Natalie die Gefühle erwidert, erteilt der Vater – Heinrichs Vorgehen bil791 Zu der Thematik Wert und Würde der Dinge vgl. exemplarisch NS 62, 140 und 193. 792 Heinrich kritisiert die in seinen Augen respektlose Art und Weise, wie sich der junge Mann über Natalie auslässt, welche er als „die junge Tarona“ (NS 164) und zudem als „die größte Schönheit der Stadt“ (NS 164) bezeichnet, wie folgt: „Ich dachte, daß vieles in diesen Worten nicht Ernst sein könne. Wenn er das Mädchen so sehr liebt, so hätte er es mir oder einem andern gar nicht sagen sollen, auch wenn wir Freunde gewesen wären.“ (NS 164) 793 Gegenüber seinem Vater resümiert Heinrich die Sachlage folgendermaßen: „[D]aß ich zu Natalien der Tochter der Freundin meines Gastfreundes schon seit langer Zeit her eine Zuneigung gefaßt habe, daß diese Neigung in mir verborgen geblieben, und daß es mein Vorsatz gewesen sei, sie, wenn sie ohne Aussicht wäre, zu unterdrücken, ohne daß ich je zu irgend jemandem ein Wort darüber sagte.“ (NS 515) Auf die Frage seiner Schwester Klotilde, warum Heinrich seine Gefühle nicht zu einem früheren Zeitpunkt seiner Familie gegenüber artikuliert habe, lautet seine Antwort: „»Weil nichts zu sagen war. […] Als das Gefühl nur das meine war, und die Zukunft sich noch verhüllte, durfte ich nicht reden, weil es mir nicht männlich schien, und weil die Empfindung, die vielleicht in kurzem gänzlich weggetan werden mußte, durch Worte nicht gesteigert werden durfte.«“ (NS 520 f.)

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ligend – sein Plazet: „»Eure Neigung ist nicht schnell entstanden sondern hat sich vorbereitet, du hast sie überwinden wollen, du hast nichts gesagt […], also ist es kein hastiges fortreißendes Verlangen, welches dich erfaßt hat, sondern eine auf dem Grunde der Hochachtung beruhende Zuneigung.«“ (NS 516) 794 Ein weiteres symptomatisches Beispiel Heinrichs Diskretionserweisung seinen Mitmenschen gegenüber bildet der Verzicht auf die Namenerfragung seines Beherbergers: Letzterer – in weiten Teilen des Romans schlicht als „Gastfreund“ bezeichnet – wird bei Heinrichs Ankunft im Rosenanwesen lediglich als „»der Herr des Hauses«“ (NS 43) vorgestellt (vice versa erwähnt Heinrich den eigenen Namen nicht, da er von seinem Gegenüber nicht darauf angesprochen wird; vgl. NS 197). Während der gesamten Dauer Heinrichs Aufenthalts ändert sich an dem Umstand nichts, der Name des Eigentümers des Asperhofs bleibt unbekannt: 795 „Zufällig ist er nicht genannt worden, und da er [Risach] ihn nicht selber sagte, so wollte ich aus Grundsatz niemanden darum fragen.“ (NS 197) Nach reiflicher Überlegung, während seines Besuches auf jegliches Investigieren zu verzichten – es sollte weder der Hofschreiner Eustach und erst recht nicht Risachs Pflegesohn Gustav befragt werden –, gelobt sich Heinrich obendrein, „gar nicht, selbst nicht in der größten Entfernung von diesem Orte, um den Namen des Besitzers des Rosenhauses zu fragen“ (NS 198). Er respektiert die Zurückhaltung des Hausherrn bezüglich dessen Namennennung – nicht nur, weil diese gewiss gut begründet sei, sondern sich der Gastgeber zudem – gegenüber ihm als einem Unbekanntem – insgesamt „sehr gut sehr 794 Die den Nachsommer durchziehende Verbindung von Natalie und Heinrich umreißt Wolfgang Matz mit folgenden Worten: „Die Annäherung der jungen Leute, die sich über mehrere Jahre erstreckt, geschieht ohne jede Leidenschaft, ohne Verliebtheit, ohne Sehnsucht und ohne jeglichen Zweifel; nichts wird ausgesprochen, und bis zu dem glücklichen Tage, wo der Zufall das gegenseitige Geständnis herbeiführt, verheimlicht der Erzähler seine Zuneigung nicht nur dem Leser, sondern vor allem sich selbst. Die Beziehung zwischen Natalie und Heinrich ist in jedem Augenblick von demselben pathetischen Ernst getragen, der den ganzen Roman durchzieht.“ (Matz 2005, S. 328 f.) 795 Walter Biemel kommentiert aus der Perspektive der Leser: „Wir wissen vom Herrn des Rosenhauses nur das, was sich aus seinem Umgang mit dem Wanderer [Heinrich] und aus dem Anwesen, das er nach seinen Entwürfen anlegte, gezeigt hat. Der Wanderer erfährt nur den Namen des Hofes, der auf seinen neuen Träger übergegangen ist, wie das auf dem Lande üblich ist.“ (Biemel 1985, S. 45) Vgl. zu letzterem Aspekt NS 154.

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lieb und sehr freundlich“ (NS 198) erzeigt habe. 796 Ex aequo wolle Heinrich „nach Mathilden und ihren Verhältnissen eben so wenig eine Frage tun“ (NS 221), die ihm bei der Ankunft von Mutter und Tochter zunächst nicht auseinandergesetzt werden. 797 Der Umgang der Menschen miteinander untersteht diesem Gesetz von Höflichkeit und Distanz, und die Distanz ist wiederum nichts anderes als die Achtung vor dem innersten Wesen des Anderen. Sie ist das Bewußtsein von der – wie Kleist es nannte – „gebrechlichen Einrichtung der Welt“ und besonders der menschlichen Beziehungen selbst. Die Gestalten des Rosenhauses nähern sich einander mit der gleichen Sorgfalt und Vorsicht, wie sie ihre fragilen Vasen und Kunstgegenstände berühren. 798

Während auf den Aspekt des behutsam-schonenden Hantierens mit im Rosenhaus befindlichen Gegenständen in anderem Kontext rekurriert werden wird, 799 soll an dieser Stelle eine die Belegserie des distanziert-achtungsvollen zwischenmenschlichen Umgangs im Nachsommer komplettierende repräsentative Ereignisfolge zumindest gestreift werden: Es handelt sich um Heinrichs (Nicht-)Zusammentreffen mit Natalie in der Nymphengrotte 800. Das Prinzip ist jeweils identisch: Um Natalie, welche ohne Gefährten in besagter hallenartigen Grotte rastet, nicht zu erschrecken, ihre Privatsphäre zu verletzen oder sie gar zu belästigen, trifft Heinrich die Entscheidung, von einem Betreten der Grotte während Natalies dortiger Anwesenheit gänzlich abzusehen: „Daß ich nicht in die Grotte ge-

796 Vgl. auch NS 57. Heinrich erfährt den Namen schließlich erst von einer Dame am kaiserlichen Hof, der er seine Aufwartung macht. (Vgl. NS 176–179) Siehe hierzu auch Biemel 1985, S. 52 f., ferner Matz 2005, S. 326. 797 Ferner unterlässt es Heinrich, um den Zweck der ihm vorgeführten, „nach Frauenart“ (NS 197) ausgestatteten Räumlichkeiten des Rosenhauses, über den ihn Risach nicht von sich aus informiert, zu fragen: „Daß ich nicht um den Gebrauch dieser Zimmer fragte, begreift sich.“ (NS 197; vgl. hierzu auch NS 151) 798 Matz 2005, S. 328. Vgl. auch Bolterauer 2005, S. 400: „Im Gleichmaß des Verhaltens der Umwelt gegenüber manifestiert sich der Respekt den anderen und dem Anderen gegenüber.“ 799 Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen in Kapitel III.2.3.1 sowie III.3. 800 Dieser grottenartig gestaltete Ort des Verweilens auf dem Anwesen des Sternenhofes beherbergt eine marmorne Nymphenstatue, welche gleichsam als Pendant zu der im Rosenhof befindlichen Musenskulptur fungiert. Vgl. zu der Nymphengrotte sowie den dortigen Begegnungen Natalies und Heinrichs auch Heinze 2008, S. 83, Anm. 89.

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hen wolle, war mir klar; allein die kleinste Wendung, die ich machte, konnte ein Geräusch erregen, und sie stören.“ (NS 455) Ein anderes Mal sieht sich der bereits an dem Aufenthaltsort befindliche Heinrich dazu verpflichtet, sein Zugegensein vor Natalie zu rechtfertigen: „»Mein Fräulein, Ihr werdet mir es glauben, wenn ich Euch sage, daß ich von dem Laubengange an der linken Seite dieser Wand gegen die Grotte gekommen bin, und Euch nicht habe sehen können, sonst wäre ich nicht eingetreten, und hätte Euch nicht gestört.«“ (NS 480) Als Natalie Heinrich wider Erwarten zum Verweilen animiert, ergibt sich gleichwohl eine Herausforderung für den (ob der unverhofften Einladung etwas perplexen) jungen Mann, der nun zwischen Natalie und der Skulptur stehen bleibt: „Da ich dieses für unschicklich hielt, so trat ich ein wenig gegen den Hintergrund. Allein jetzt stand ich wieder aufrecht vor dem leeren Teile der Bank in der nicht sehr hohen Halle, und da mir auch dieses eher unziemend als ziemend erschien, so setzte ich mich auf den andern Teil der Bank […].“ (NS 481) 801 Mit dem von Diskretion dominierten Verhalten der Personen im Nachsommer korreliert deren dezentes Erscheinungsbild, das sich namentlich in der jeglicher Extravaganzen entbehrender (Alltags-)Garderobe 802 manifestiert, welche im Roman en détail erörtert In Bezug auf die in Stifters Roman Witiko gezeichneten Figuren konstatiert Bolterauer Folgendes, das nach Dafürhalten der Autorin der vorliegenden Arbeit nicht minder bereits auf die in diesem Kapitel charakterisierten, die Welt des Nachsommer bevölkernden Hauptpersonen zutreffend ist: „Nicht in der Unverwechselbarkeit seines Charakters, seiner Tugenden und seiner Schwächen oder in der Exaltiertheit seines Temperaments oder aber in der Verschrobenheit seiner Ansichten wird der jeweilige Protagonist hier gezeichnet, sondern in der Unscheinbarkeit seines Auftretens, in der Unauffälligkeit seines bedächtigen Betragens und in der Irrelevanz seiner äußeren Erscheinung.“ (Bolterauer 2005, S. 411 f.) Für Bolterauer gerät damit allerdings das „Ideal des ‚sanften Gesetzes‘ und [die] darin formulierte[n] Diffamierung des Sensationellen und Auffälligen an seine sinnfällige wie krisenanfällige Grenze“ (ebd., S. 412). Inwiefern das Dasein der Romanfiguren jedoch nicht als schemenhaftes (miss-)zuverstehen ist, sondern als ein solches, das sich gleichsam bewusst vor den Dingen zurückzunehmen bestrebt ist, wird im weiteren Verlauf des Kapitels noch zu erörtern sein. 802 Vgl. zu der als schlicht und zweckmäßig beschriebenen Kleidung der Nachsommer-Figuren im Allgemeinen zum Beispiel NS 35 (an dieser Stelle charakterisiert Heinrich seine eigenen Kleider als „die größte Einfachheit“ aufweisend) sowie 205 f. und 226; zu Risachs Kleidung siehe Anm. 803 und 804. Auf eine eingehende Erläuterung der Kleidung soll in diesem Kontext allerdings verzichtet werden, insbesondere auf die Bekleidung der weiblichen Personen kann nicht im Einzelnen eingegangen werden. 801

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wird. 803 So charakterisiert Heinrich beispielsweise Risachs Äußeres als „unscheinbar“ (NS 42), seinen – zu jenem insonders der Stadtbevölkerung kontrastierenden, weil äußerst schlichten und somit unkonventionellen – Kleidungsstil als auf den ersten Blick gar gewöhnungsbedürftig. 804 Heinrichs marginale Anfangsirritation wandelt sich im Laufe des Zusammenlebens mit Risach jedoch dahingehend, dass er Risachs Gewandung schließlich für außerordentlich adäquat erachtet: Der Hausherr passe „eigentlich zu der Umgebung sowohl seiner Zimmer als der um ihn herum wohnenden Bevölkerung, von der er sich nicht als etwas Vornehmes abhob, der er vielmehr gleich war, und von der er sich doch wieder als etwas Selbständiges unterschied“ (NS 197). 805 Mutet letztere Wendung latent kontradiktorisch an, ist dessen ungeachtet damit akzentuiert, dass es – trotz der Direktive individueller Wertschätzung des Einzelnen – nicht zu favorisieren sei, (speziell durch das Mittel der Kleidung) aus seinem Bezirk (optisch) hervorzustechen, sondern sich vielmehr homogen in diesen zu integrieren. Demnach übermittelt Risach Heinrich, wie letzterer weiters berichtet, vor Einnahme des Mittagsmahls den diskreten Hinweis, er möge von einem Umkleiden absehen, „es sei dieses in seinem Hause selbst bei Besuchen von Fremden nicht Sitte, und [er] würde nur auffallen“ (NS 214).

803 Exemplarisch sei diesbezüglich folgende Schilderung Heinrichs der Oberbekleidung Risachs angeführt: „Er hatte wie gestern eine Art Jacke an, die fast bis auf die Knie hinab reichte. Sie war weißlich, hatte jedoch über die Brust und den Rücken hinab einen rötlichbraunen Streifen, der fast einen halben Fuß breit war, als wäre die Jacke aus zwei Stoffen gefertigt worden, einem weißen und einem roten. Beide Stoffe aber zeigten ein hohes Alter; denn das Weiß war gelblich braun, und das Rot zu Purpurbraun geworden.“ (NS 73) An dieser Stelle sei an die in Kapitel III.1 im Kontext der Bezugnahme auf die Publikation von Johannes Werner angeführten Darlegungen von Heinrich Heine erinnert, im Rahmen derer Letzterer bemängelt, dass der moderne Mensch nicht einmal mehr seine Kleidung genau ansehe, geschweige denn, im Detail beschreiben könne. Im Kontrast dazu wird dem Leser des Nachsommer mittels Heinrichs akribischer Schilderung schier die gesamte Historie des Kleidungsstücks vor Augen geführt. 804 Vgl. zu Risachs Kleidung etwa NS 42, 50 f., 59, 73, 100, 182, 197 und Anm. 803 dieser Arbeit. 805 Siehe hierzu vor allem auch NS 77, 182 sowie 192. Weiters reflektiert Heinrich in diesem Kontext bezüglich der zeitgenössischen Mode, deren Ausprägungen vor allem in den Städten zu beobachten ist, wie folgt: „Mir fiel […] ein, daß manches nicht geschmackvoll sei was wir so heißen, am wenigsten der Stadtrock und der Stadthut der Männer.“ (NS 197)

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Mittels des erläuterten defensiv-rücksichtsvollen Habitus der Personen wird somit ein organisches Sicheinfügen in die menschliche Gemeinschaft und direkte Lebensumwelt erwirkt, welches die Einlösung jener dem „Sanften Gesetz“ impliziten Forderung symbolisiert, nach der der Einzelne – wie es Matz treffend formuliert – nicht befugt sei, „durch ausschließliche Fixierung auf sich selbst nur sein eigenes Dasein zu verwirklichen und damit das Gleichgewicht zu zerstören, durch Leidenschaft, titanische Anstrengung oder Herausforderung des Schicksals […]“ 806. Eine monologisch-egoistische Selbstfixierung – wird diese nicht negiert, sondern vielmehr forciert – ist nicht nur inkompatibel mit besagtem Lebensgleichgewicht, sondern darüber hinaus konkrete Quelle persönlicher Schuld: Die alltäglichen, (explizit) von mitmenschlicher Seite wie (implizit) von den Einzelphänomenen der umgebenden (Ding-)Welt mannigfaltig artikulierten Anforderungen werden schlicht nicht registriert oder gar willentlich ignoriert. Lapidar resümiert Walter Biemel diesen Problemkomplex menschlicher Verantwortungslosigkeit wie folgt: „Bei der subjekthaften Einstellung zählen nur die Wünsche, Begierden und Leidenschaften des Subjekts, die Folge davon ist, daß man im Grunde genommen blind bleibt für das, was einen umgibt, womit man ständig zusammen lebt.“ 807 Im Kontrast dazu – so Biemel weiter – seien die Dinge und Geschehnisse nach Stifter charakterisiert durch „das Nichtverstricktsein in Konflikte und Leidenschaften“ 808. Biemel nimmt an dieser Stelle Bezug auf nachstehende, angesichts der in der Arbeit zu erörternden Thematik als Kernstelle zu wertende Passage des Nachsommer, in der Risach über die fatalen Konsequenzen für die ein rigoros selbstbezogenes Verhalten Praktizierenden doziert: „Weil die Menschen nur ein einziges wollen und preisen, weil sie, um sich zu sättigen, sich in das Einseitige stürzen, machen sie sich unglücklich. Wenn wir nur in uns selber in Ordnung wären, dann würden wir viel mehr Freude an den Dingen dieser Erde haben. Aber wenn ein Übermaß von Wünschen und Begehrungen in uns ist, so hören wir nur diese immer an, und vermögen nicht die Unschuld der Dinge außer uns zu fassen. Leider heißen wir sie wichtig, wenn sie Gegenstände unserer Leidenschaf-

806 807 808

Matz 2005, S. 303. Biemel 1985, S. 65. Ebd.

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ten sind, und unwichtig, wenn sie zu diesen in keinen Beziehungen stehen, während es doch oft umgekehrt sein kann.“ (NS 189)

Anhand dieser Erörterungen Risachs, welche Heinrichs eingangs zitierter Reflexion, er habe lediglich auf sein Inneres, nicht aber auf die ihn betreffenden Dinge geachtet (vgl. NS 189), vorausgehen, wird deutlich, dass letztlich keineswegs die aus den Einzelbegebenheiten (je) resultierende Sachlage ein gelingendes Leben bestimmt, wohl aber ein adäquates Reagieren auf diese (täglichen Lebensanforderungen). 809 Die Internalisierung dessen fungiert als unerlässliche Voraussetzung, um (in sich) selber „in Ordnung“ sein zu können (wie es den Menschen in Risachs Umgebung im Wesentlichen gelingt) und gleichermaßen der Ordnung der Welt gewahrzuwerden beziehungsweise diese allererst (wieder)herzustellen (wie es im Rosenhaus erfolgt). 810 Während auf den Facettenreichtum des zentralen Begriffs der Ordnung im anschließenden Kapitel rekurriert werden wird, sei hier an Stifters Nachsommer-Losung „»Großes ist mir klein, Kleines ist mir groß«“ (NS 189) und den dieser immanierenden Wertmaßstab erinnert: Es hat sich gezeigt, dass sich Letzterer nicht nur auf das exakter Beschreibung Würdige bezieht (vgl. hierzu Kapitel III.2.1), sondern ebenso auf menschliche Dispositionen, wie Biemel schlüssig konkludiert: Das Große sind nicht die zügellosen Leidenschaften, die Unbeherrschtheit und Unbesonnenheit der Seele, das Maßlose und Grenzenlose, sondern groß ist die Geordnetheit der Seele, groß ist die gewonnene Ruhe und Gefaßtheit, groß ist das Hörenkönnen aufeinander, und das heißt nicht nur auf den Mitmenschen, sondern auf die Natur und auf die Dinge, mit denen wir ständig zusammen leben. 811

Neben diesem dialogphilosophisch anmutenden Hörenkönnen auf das Gegenüber im weitesten Sinne, welches mit einem adäquaten

809 Darauf wurde bereits im Rahmen der Ausführungen zu Martin Buber ausdrücklich hingewiesen. 810 Siehe hierzu auch Heinze 2008, S. 136: „Erst jenes rechtmäßige Verhalten zu Welt, Mensch und Ding ermöglicht es den Personen, sich zu hochstehenden Menschen entwickeln zu können.“ 811 Biemel 1985, S. 66. Dieses Zitat Biemels in Bezug auf Stifters Roman macht den Nexus Martin Bubers Konzeption sowie der Stifterschen im Nachsommer augenscheinlich, worauf im Rahmen von Abschnitt IV der Arbeit noch eingegangen werden wird. Ferner verweist Biemel an dieser Stelle auf Stifters Vorrede in seinen Bunten Steinen.

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Wahrnehmen desselben korreliert 812 und das Biemel als einen für ein verantwortungsgemäßes Dasein essenziellen Faktor herausstreicht, führt er einen weiteren, höchst signifikanten Aspekt der Konzeption Stifters ins Feld, mit dem die Autorin der vorliegenden Arbeit ebenfalls konform geht: Analog zu der Negation eines egozentrischen Umsichselbstkreisens des Individuums im zwischenmenschlichen Kontext, beobachtet Biemel eine explizite Zurücknahme des Menschen vor den Dingen: „Wird in der Neuzeit – nach Heideggers Interpretation – das Seiende insgesamt zum Gegenstand und in der Epoche der Technik zum bloßen Bestand, so finden wir bei Stifter im Gegensatz dazu so etwas wie ein Zurücktreten der Person vor der Sache, so etwas wie ein Sein-lassen der Dinge.“ 813 Diesen äußerst prägnanten Ausdruck des „Sein-lassen der Dinge“, der sowohl auf die Phänomene der belebten wie unbelebten Natur sowie die Gegenstände (nicht zuletzt des täglichen Gebrauchs) bezogen werden kann, 814 erläutert Biemel fernerhin wie folgt: „Wir können sagen, bei Stifter ist das Seiende nicht ein pures Objekt für die Verfügungsgewalt des Subjekts, sondern die Person muß sich der Sache unterwerfen.“ 815 Diese subtile Zurücknahme des Menschen gegenüber dem ihn Umgebenden manifestiere sich nach Biemel im Nachsommer vor allem in den (bereits in Kapitel III.2.1 erörterten) Deskriptionen, so etwa in Stifters Naturbeschreibungen 816. In diesen Kontext reiht 812 Vgl. zu diesem Gesichtspunkt die Ausführungen zum „phänomenologischen Sehen“ bei Stifter in Kapitel III.2.1 dieser Arbeit sowie jene in Kapitel III.3. 813 Biemel 1985, S. 62. Vgl. hierzu auch ebd.: „Nun steht Stifter in einer Epoche, die durch die neuzeitliche Metaphysik geprägt ist. Trotzdem meinen wir bei ihm einen Zug zu finden, der gegen dieses Sich-Aufspreizen des Subjekts als Macht-Subjekt, das alles Seiende seinem Willen unterwirft, angeht.“ 814 Auf einen angemessenen, das heißt, pflegsam bewahrenden Umgang mit den Lebewesen und Dingen soll insbesondere in Kapitel III.2.3 (vor allem III.2.3.1) sowie III.3 vertiefend eingegangen werden. 815 Ebd., S. 63. Dieser Gedankengang findet sich (wie bereits in Kapitel III.2.1 im Kontext des phänomenologischen Sehens diskutiert) in analoger Weise auch bei Alice Bolterauer, die diesbezüglich konstatiert: „Nicht der vergewaltigende Zugriff eines Subjekts steht hier im Vordergrund, sondern das Gewährenlassen der ‚Dinge‘, die in ihrem So-Sein und in ihrem Anders-Sein akzeptiert werden müssen.“ (Bolterauer 2005, S. 244) Während Biemels Darlegungen zu diesem Gesichtspunkt allerdings explizit den Nachsommer betreffen, ist dies bei Bolterauer nicht der Fall, welche ihre Erörterungen lediglich auf Stifters Spätwerk bezieht, zu dem sie – wie erwähnt – den Nachsommer nicht hinzurechnet. 816 „Die Liebe und Sorgfalt, mit der er die Natur schildert, die Art und Weise, wie er

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sich auch oben genannter Aspekt, dass sich Risach (sowie der es ihm Gleichtuende) durch sein Auftreten und Erscheinungsbild nicht nur nicht von den Mitmenschen abhebt, sondern „ein Ganzes mit seiner [Gesamt-]Umgebung“ (NS 182) bildet. Generell – so eruiert Biemel – seien die (insonders von Heinrich vorgenommenen) Schilderungen „nicht primär auf die Personen gerichtet, um die sich alles dreht, […] sondern auf die Sachen, mit denen die Personen umgehen“ 817. Damit gehe einher, dass die Personendarstellungen im Nachsommer jeglicher akribischer Analyse der Psyche, die Stifters Intention widersprechen würde, entbehrten: 818 „Wo wir von einer psychologisierenden Erzählweise her gewöhnt sind, genaue Schilderungen über den Seelenzustand der Person zu erfahren, finden wir bloß eine Schilderung des Gesehenen.“ 819 Denn – wie Biemel sehr treffend zu formulieren versteht – „[i]m Akt des Blickens liegt alles […]. […] Über die Schilderung des Gesehenen, wie dieses sich darstellt, spricht sich der Zustand des Sehenden aus.“ 820 Biemel verweist daraufhin exemplarisch auf eine Stelle des Romans bezüglich Heinrichs Empfindungen gegenüber Natalie: Dort werde der Leser nicht etwa dezidiert mit den persönlichen Emotionen des Protagonisten konfrontiert, sondern erhalte eine exakte Charakterisierung des durch einen Rasenabschnitt sowie einen Sandweg dominierten Platzes vor dem Rosenhaus, auf dem sich die geliebte Person befindet, welche „beinahe etwas von verhaltener Zärtlichkeit [entmit der vom Menschen besorgten und bearbeiteten Natur umgeht, all das zeigt so etwas wie ein Zurücktreten vor dem, was vorliegt […].“ (Biemel 1985, S. 62) Biemel sieht hierin unter anderem einen Grund für Martin Heideggers „besondere Zuneigung zu Stifter“ (ebd.). Stadler formuliert gar, Heidegger habe Stifter „geliebt“ (Stadler 2009, S. 168). Vgl. diesbezüglich auch Anm. 30 der vorliegenden Arbeit. Einige Beispiele für Naturschilderungen Stifters im Nachsommer wurden bereits in Kapitel III.2.1 angeführt, weitere werden im Fortgang der Analyse (vor allem in Kapitel III.3) folgen. 817 Biemel 1985, S. 62; vgl. auch ebd., S. 60. Symptomatisch ist in diesem Kontext auch, dass Heinrich zu Beginn nicht etwa Risach als Person deskribiert, sondern dessen Bekleidung fokussiert. Siehe hierzu auch Anm. 803. 818 Vgl. ebd., S. 50. 819 Ebd., S. 61. 820 Ebd. Weiters kommentiert Biemel: „Diese Verhaltenheit der Darstellung ist für eine Zeit, in der ein gewisser Exhibitionismus vorherrscht – sowohl was Gefühlszerlegungen angeht, wie in Beschreibungen der intimsten Verhaltensweisen – kaum noch nachvollziehbar. Über solche Stellen wird mit einer gewissen Enttäuschung darüber hinweggelesen, daß sich nichts ereignet – keine Gefühlsergüsse, keine provozierenden, aufreizenden Handlungen.“ (Ebd., S. 61 f.)

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halte]“ 821. Diesem Beispiel sei die Begebenheit an die Seite gestellt, im Zuge derer Heinrichs Gemütszustand mittels seiner Reflexionen über den beobachteten Spaziergang der Geschwister Natalie und Gustav durch den Rosenhausgarten transparent wird: Einmal erblickte ich sie, wie sie vorsichtig in ein Gebüsch schauten. Ich dachte mir, er werde ihr ein Vogelnest gezeigt haben, und sie sehe mit Teilnahme auf die winzige gefiederte Familie. Ein anderes Mal standen sie bei Blumen, und schauten sie an. Endlich sah ich nichts mehr. Das lichte Gewand der Schwester war unter den Bäumen und Gesträuchen verschwunden, manche schimmernde Stellen wurden zuweilen noch sichtbar, und dann nichts mehr. (NS 218 f.) 822

Diese kraft des sehenden Beschreibens des Vorliegenden indirekt artikulierte Stimmung der Personen kulminiert in den Darstellungen des Vertrauensverhältnisses zwischen Heinrich und seinem „Gastfreund“ Risach. Beispielhaft ist diesbezüglich die Präsentation jener Heinrichs zentraler Aussage „»Großes ist mir klein, Kleines ist mir groß«“ (NS 189) vorausgehenden Situation, welche nahezu vollständig vermittels der Schilderungen des Wohnraums und der in diesem befindlichen Dinge sowie deren qualitativer Beschaffenheit erfolgt. (Vgl. NS 189) Walter Biemels treffende Interpretation dieser Passage möge abschließend in voller Länge zitiert werden: Die Atmosphäre – und das ist typisch –, in der dies Gespräch stattfindet, wird nicht durch Hinweise auf die Gemütsverfassungen der Gesprächspartner wiedergegeben, sondern durch sachliche Kennzeichnungen: die Wärme des Zimmers, die Morgensonne, der Widerschein der Sonnenstrahlen auf den Dingen und dem Material, aus denen sie gefertigt sind und das notwendig zu ihnen gehört. In diesen rein sachlichen Darstellungen ist die Wärme der Vertrautheit zwischen den Gesprächspartnern präsent, so daß sie nicht eigens geschildert werden muß, sie ist ja da. Eine Schilderung könnte dem Gefühlsleben der Personen ein Übergewicht geben und das soll gerade vermieden werden; es geht um die ZusammenEbd., S. 61. In einer auf dieses Begebnis folgenden weiteren paradigmatischen Passage des Nachsommer wird Heinrichs Irritation bezüglich seiner (zunächst lediglich freundschaftlichen) Gefühle für Natalie mittels der Beschreibung der aktuellen, symptomatischerweise nächtlichen Naturstimmung transportiert: „Es war heute nicht wie damals, da ich zum ersten Male in diesem Hause über dem Rosengitter aus dem offenen Fenster in die Nacht hinausgeschaut hatte. Es standen nicht die Wolken am Himmel, die ihn nach Richtungen durchzogen und ihm Gestaltung gaben […]. Es ging kein Duft der Rosen zu meiner Nachtherberge herauf […], sondern es zog die einsame Luft kaum fühlbar durch die Fenster herein […].“ (NS 220 f.) 821 822

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gehörigkeit, sowohl zwischen den Menschen wie zwischen Mensch und Ding. 823

Entsprechend der Mustergültigkeit des in diesem Kapitel explizierten Habitus der im Rosenhaus ein- und ausgehenden Personen zeigte sich die Gesamtanlage des Risachschen Anwesens, auf deren Vortrefflichkeit im Rahmen von Kapitel III.2.1 verwiesen wurde. Ehe auf den dem Seinlassen der Dinge immanenten Gesichtspunkt eines ehrfürchtigen Zugangs zu Lebewesen und Gegenständen final eingegangen werden wird, gilt es nachfolgend zu exemplifizieren, in welche Lebensbezirke sich besagte Perfektion konkret auffächert beziehungsweise worin sich diese im Einzelnen kundtut. 2.3 „Dieses Haus soll ein Beispiel sein“: Zum Modellcharakter des Rosenhofes „Das flache feine Körbchen, aus welchem mein Beherberger die Vögel gefüttert hatte, lehnte in einer eigenen Mauernische neben der Tür, welche sein bestimmter Platz zu sein schien.“ (NS 100 f.) 824 Diese subtile Beobachtung Heinrichs führt paradigmatisch vor Augen, dass auch einer Marginalie wie der genannten im Rosenhaus Achtung zuteil wird und verweist auf die dortige akkurate Ordnung, welche es gebietet, selbst unscheinbaren Utensilien einen individuellen Ort einzuräumen; überdies impliziert die Regelmäßigkeit der Vogelbeköstigung die zentrale Bedeutung, die diesen Tieren zukommt (wie anhand des Eingangszitats zu Kapitel III.2.1 bereits deutlich wurde). Fußend auf den Darlegungen des vorangehenden Kapitels, welche die Skizzierung der makellosen Charaktere des Nachsommer beinhalteten, die auf der Basis eines respektvollen Verhaltens gegenüber Lebewesen und Dingen „gleichsam unter dem Wind der Geschichte lebend das sanfte Gesetz verwirklichen und so das Gleichgewicht der Welt wiederherstellten“ 825, soll nachsteBiemel 1985, S. 64 f. Vgl. zu dem Fütterungskörbchen auch NS 72 und 74. 825 Matz 2005, S. 304. Siehe hierzu zudem nachstehendes Zitat von Matz, welches gleichsam das zuvor Gesagte resümiert und einen Ausblick auf das folgende Kapitel bietet: „Zeremonielle Höflichkeit, das Fehlen jeden Humors, ein feierlicher Ernst prägen diesen Roman, der in einer wundervoll zarten, durchsichtigen und kühlen Sprache geschrieben ist. Es ist der Ernst von Menschen, die sich der Bedeutung jedes einzelnen Schrittes, jeder einzelnen Handlung bewußt sind, denn jeder Au823 824

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hend das Vorbildliche der im Rosenhaus praktizierten Alltagsführung sowie der speziellen Einrichtungen des Anwesens erwiesen werden. Analog zu einem bildenden Künstler schafft der Freiherr im Rosenhaus im Zuge eines umfangreichen Verschönerungsprojektes eine formvollendete Umgebung, der die Ordnung und Reinheit eines beispiellosen (antiken) Kunstwerks anhaftet. Im Rahmen der großen Inszenierung des Gesamtkunstwerks Rosenhof des Lebenshofmeisters wird jedem Lebewesen, gemäß seiner spezifischen Verfasstheit, der ihm entsprechende Platz zur Entfaltung eingeräumt, es wird gehegt und gepflegt, wie es ihm gebührt; selbst Gegenstände (des täglichen Gebrauchs) und Räumlichkeiten erhalten die ihnen adäquate Gestaltung […]. 826

In ihrer Abhandlung zu Kunst und Denkmalpflege im Nachsommer wurde dementsprechend von der Autorin (mit Risach-Stifter) konstatiert, „der [bildende] Künstler orientiere sich an der Schönheit seines Lebensraumes, den er durch den Prozess des Arbeitens zu veredeln suche“ 827, und vergleichbar agiere Risach hinsichtlich Konzeption und Gestaltung seines Anwesens. 828 Die den im Rahmen der genannten Studie ausführlich diskutierten kunst- und restaurierungsspezifischen Aspekten lediglich im Allgemeinen parallelisierten alltäglichen Lebensvollzüge gilt es, in der vorliegenden Arbeit – namentlich in diesem Kapitel – zu präzisieren, das heißt, durch ausgenblick ist unwiederbringlich in dieser vergänglichen Welt. […] In diesem Hause, wo Zeit im Überfluß vorhanden ist, gibt es keine verlorene Zeit; hier herrscht das sinnerfüllte, in jedem einzelnen Augenblick substantielle Dasein.“ (Ebd., S. 327 f.) 826 Heinze 2008, S. 92. 827 Ebd., S. 111; vgl. hierzu auch ebd., S. 110 sowie NS 386 f. 828 Gleichwohl akzentuiert Risach auch seine Wertschätzung gegenüber einer jenseits repräsentativer künstlerischer Ambitionen angesiedelten Veranlagung: „»Es ist aber immer nur eine bestimmte Zahl von solchen, deren einzelne Anlage zu einer besonderen großen Wirksamkeit ausgeprägt ist. Ihrer können nicht viele sein, und neben ihnen werden die geboren, bei denen sich eine gewisse Richtung nicht ausspricht, die das Alltägliche tun, und deren eigentümliche Anlage darin besteht, daß sie gerade keine hervorragende Anlage zu einem hervorragenden Gegenstande haben. Sie müssen in großer Menge sein, daß die Welt in ihren Angeln bleibt, daß das Stoffliche gefördert werde, und alle Wege im Betriebe sind.«“ (NS 540) Matz verweist in diesem Kontext auf den „Vorrang des tätigen Lebens vor der ästhetischen Existenz“ (Matz 2005, S. 349 f.) im Nachsommer. Mag diese Einschätzung in Bezug auf die Tätigkeit des (bildenden) Künstlers im engeren Sinne zutreffend sein, manifestiert sich nach Meinung der Autorin eine ästhetische (Lebens-)Haltung im weitesten Sinne dennoch gerade in dem konkreten (alltäglichen) Umgang mit der umgebenden Welt an sich.

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sagekräftige Beispiele zu unterfüttern respektive anhand signifikanter Belegstellen systematisch auszubuchstabieren. Maßgebliche, in diesem Kontext zu fokussierende Bereiche, in welchen sich der Modellcharakter des Rosenanwesens par excellence manifestiert und die ein direktes Imitieren nahelegen, sind in erster Linie folgende: die (an einem ritualitätsanalogen Alltags- beziehungsweise Tagesund Jahresverlauf orientierte) akribische Struktur des Hauswesens (vgl. Kapitel III.2.3.1) sowie der sowohl methodisch als auch technisch optimierte Tier- und Pflanzenschutz (vgl. Kapitel III.2.3.2 sowie III.2.3.3), 829 deren Deskriptionen einen Großteil des Romans in Anspruch nehmen. 830 Die den Aspekt des Exemplarischen betreffenden Schilderungen erweisen sich nach Ansicht der Autorin letztlich sämtlich zentriert um Risachs dem Kapitel den Namen verleihende Devise, „»Dieses Haus soll ein Beispiel sein«“ (NS 196), welche die dem Nachsommer generell immanente Intention Stifters im Kern repräsentiert. Präziser formuliert, handelt es sich bei dem Rosenhaus nicht lediglich um ein, sondern geradezu um das Paradebeispiel schlechthin eines vorzüglichen Anwesens – zum einen im konkreten Sinne einer mustergültigen Gestaltung wie Führung, zum anderen in übertragener Bedeutung, als Risach darauf bedacht ist, durch sein Wirken mit gutem Beispiel voranzugehen respektive in allgemein lebenspraktischer (wie diese fundierende geistiger) Hinsicht Orientierung zu stiften. Im Laufe der Jahre festigt sich sein Renom829 Als exemplarisch erweisen sich ferner die professionellen, unter der Leitung Risachs in der hauseigenen Schreinerwerkstatt vorgenommenen Restaurierungsarbeiten (vgl. hierzu Anm. 1037), welche jedoch in den nachfolgenden Ausführungen nicht berücksichtigt werden sollen, da dieser Bereich bereits eingehend im Rahmen des besagten Artikels der Autorin erörtert worden ist (vgl. hierzu Heinze 2008, vor allem S. 53–88) und überdies letztlich nicht den Alltag des Durchschnittsbürgers betrifft. 830 Die den Nachsommer charakterisierenden, ausführlichen Schilderungen wurden bereits in Kapitel III.2.1 dieser Arbeit unter Bezugnahme auf den von Biemel in diesem Kontext angeführten Aspekt der Vollkommenheit thematisiert. Noch einmal möge an dieser Stelle auf Biemel sowie seine Akzentuierung der Relevanz ausführlicher Beschreibung, besonders des Risachschen Besitztums, rekurriert werden: „Wenn wir dazu gelangen, in den Schilderungen des Rosenhauses und überhaupt des ganzen Anwesens nicht nur pedantische Aufzählungen zu finden, sondern die Darstellung der Zusammenstimmung des Anwesens als Ganzes, seine Ruhe, die Geordnetheit die zugleich die Geordnetheit der Verfassung des Hausherrn wiedergibt und die Geordnetheit dessen, was zu ihm gehört, dann können wir sagen, daß wir den Sinn eben dieser Schilderungen verstanden haben.“ (Biemel 1985, S. 68)

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mee und er avanciert in diversen Belangen zur tonangebenden Autorität der Umgegend: Risachs in Kapitel III.2.2 dargelegten charakterlichen Vorzüge komplettierende exzeptionelle Gelehrsamkeit inkludiert auf theoretischer Ebene ein breitgefächertes, sich aus den Bereichen Natur- und Geisteswissenschaften sowie Kunstgeschichte speisendes Wissensspektrum, gepaart mit (neben künstlerischer wie denkmalpflegerischer Kompetenzen) profunder anwendungsrelevanter Sachkenntnis bezüglich Architektur, Garten- und Landschaftsbau sowie Tierschutz. 831 Auf diesem durablen Fundament entsteht mit dem Rosenhof sukzessive ein (nahezu) perfekter Mikrokosmos eines gelingenden Lebens, der – wie Wolfgang Matz es prägnant umreißt – die ganze Totalität der Welt en miniature [enthält]. Eine modellhafte Architektur, die nur edelste Materialien und diese nur ihrer natürlichen Struktur entsprechend verwendet, eine modellhafte Landwirtschaft, vorbildliche Methoden eines natürlichen Pflanzenschutzes und Respekt für den Lebensraum der Tiere, ein Bildungskosmos mit Bibliothek und Gemäldesammlung – schlechthin alles, was Heinrich für seine Entwicklung braucht, findet sich an diesem Ort. 832

831 Nicht zu vergessen Risachs oben bereits erwähnte Kenntnis in Staatsdingen ob seiner beruflichen Ausrichtung, auf die zu Beginn von Kapitel III.3. noch eingegangen werden wird. 832 Matz 2005, S. 326. Vgl. hierzu Heinrichs persönliche Einschätzung seines Aufenthalts im Rosenhaus: „Ich brachte merkwürdige Tage in jener Zeit in dem Rosenhause meines Freundes zu. Mein Wesen war in einer hohen in einer edlen und veredelnden Stimmung.“ (NS 350) Neben den von Matz bereits aufgeführten Aspekten respektive modellhaften Bereichen des Rosenhauses ist ferner mit Stadler zu ergänzen, dass „[i]m eigens erbauten Schreinerhaus […] geniale Schreiner, vor allem Eustach und sein Bruder Roland, durch und durch Künstler, an der Verbesserung der Welt [arbeiten]“ (Stadler 2009, S. 89). Vgl. dazu auch Heinze 2008, S. 74: „Die Schreinerei des Rosenhauses, in dem Eustach nach dem Vorbild Johannes Rints [einem böhmischen Holzschnitzer und Bildhauer] nebst tatkräftiger Gehilfen an der Wiederherstellung der Möbel und Gerätschaften arbeitet, ist speziell ausgestattet mit allen zu einem optimalen Gelingen dieser Arbeiten notwendigen Utensilien (vgl. NS 82 ff.). In Orientierung an den alten Gegenständen werden in minuziöser Handarbeit die zu Ausbesserungen sowie Einlegearbeiten vorgesehenen Hölzer aller Art zugeschnitten, gegebenenfalls gefärbt und dem Original angepasst (vgl. NS 88–95). Ein separates Haus dient ferner zum Austrocknen der präparierten Elemente, bevor diese in die Geräte eingefügt werden (vgl. NS 95 f.).“ Siehe ferner zum letztgenannten Aspekt – insbesondere der strikten Einhaltung der Nachtrockenzeit der neuverfertigten Geräte – beispielsweise NS 319.

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Risach findet im Gut Heinbach der Eltern Mathildes, auf dem er – wie oben dargelegt – in jungen Jahren als Erzieher aktiv war, vorgeprägt, was er schließlich, sozusagen im Nachsommer seines Lebens, mittels des Rosenhofs zu (re)konstruieren beziehungsweise in optimierter Weise (nach-) zu schöpfen bestrebt ist. 833 Das Meierhaus, das quasi das Herz des Anwesens markiert, erweist sich als Inbegriff eines solide konstruierten Hauses (vgl. NS 595 f.) 834 und ist – nach der Erwerbung durch Risach und dessen Umlegung aus dem Tal auf eine Anhöhe – in „»eine[r] der lieblichsten Lagen«“ (NS 74) der Gegend platziert. 835 In den Augen des Ich-Erzählers, welcher letztere Bemerkung tätigt, symbolisiert endlich das Rosenhaus das Idealbild seines Elternhauses 836: „Jahr für Jahr kehrt Heinrich wieder, einmal für kürzere, einmal für längere Zeit, vor allem im Sommer, doch auch Frühjahr und Herbst erlebt er im Rosenhaus, das ihm zur Schule für ein ganzes Leben wird.“ 837 833 Es handelt sich hierbei gleichsam um einen (nach)schöpferischen Prozess im doppelten Sinne: Als reales Vorbild fungiert – wie erläutert – das Gut Mathildes Eltern, wo Risach seine Seelenverwandte kennen und lieben gelernt hat, als „ideelles“ Muster – wie Stadler bemerkt – gar der Garten Eden selbst: „[P]flanzen und bauen. […] Risach baut unentwegt. Es ist Der Nachsommer geradezu eine einzige Baugeschichte, ein nachschöpferischer oder schöpferischer Akt, das Vorbild ist nichts Geringeres als das Paradies. […] Der Garten Eden in der Bibel, die Rosenzucht im Nachsommer.“ (Stadler 2009, S. 70) Vgl. zum Gesichtspunkt des Bauens im Nachsommer auch ebd., S. 76, 148 und 164 sowie etwa NS 195 f., 243 und 682. 834 „Der Regen fiel auf dasselbe nieder wie auf einen Stein, in den er nicht eindringen, und von dem er äußerlich nur in Jahrhunderten etwas herab waschen könne. Keine Ritze zeigte sich für das Einlassen des Wassers bereit, und kein Teilchen der Bekleidung schickte sich zur Lösung an.“ (NS 595) 835 Diesbezüglich kommentiert Risach: „»Ich habe mir mein Wohnhaus für den Rest meiner Tage auf einem Platz gebaut, der mir entsprechend schien. Der Meierhof stand in dem Tale, wie meistens die Gebäude dieser Art, damit sie das fette Gras, das man häufig in den Wirtschaften braucht, um das Gehöfte herum haben; ich wollte aber mit meiner Wohnung auf die Anhöhe.«“ (NS 111 f.) 836 Zu Beginn des Romans wird dem Leser mittels Heinrichs Schilderungen sein Lebensverlauf bis dato vor Augen geführt, und (wie im Rahmen von Kapitel III.2.1 thematisiert) im Zuge der Vorstellung des elterlichen Anwesens – um es mit einem Wort Walter Biemels auszudrücken – „so etwas wie eine Bestandsaufnahme geliefert, die zugleich Modellcharakter hat: So ist es, so soll es sein.“ (Biemel 1985, S. 34) Eine quasi idealisierte Form dieses ohnehin schon vorbildlichen Hauses respektive Hauswesens findet Heinrich schließlich – in direktem wie übertragenem Sinne – im Rosenhaus realisiert. Vgl. hierzu auch Heinze 2008, S. 38. 837 Matz 2005, S. 326. Im Folgenden umreißt Matz Heinrichs Entwicklungsgang im Einzelnen: „Von Risach sanft geführt, in pädagogischen, bisweilen enzyklopädisch anmutenden Gesprächen belehrt, widmet er sich vor allem der Geologie und Land-

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Wie in Kapitel III.2.1 erörtert, wird Heinrich bei seiner Ankunft im Rosenhaus (im Anschluss an eine erste stärkende Mahlzeit) eine detaillierte Präsentation von Haus und Garten des Besitztums zuteil, dessen letzterer im Zuge der Verlegung des Anwesens von seinem ursprünglichen Standort ebenfalls umgesiedelt worden sei. Nach aufwendigen, Heinrich von Risach im Einzelnen auseinandergesetzten Umsiedlungsmaßnahmen, im Rahmen derer weder Mittel noch Wege gescheut worden seien, 838 habe sich damals wider Erwarten der Lohn für die Mühen rasch eingestellt: „»In kürzerer Zeit, als man glauben sollte, hatten wir die Freude, zu sehen, daß der Garten so zusammengewachsen erschien, als wäre er nie an einem andern Platze gewesen.«“ (NS 112) Während sich herkömmliche Landhausgärten der Städter meist bestenfalls in Zierobst produzierenden Gewächsen sowie einiger mittels Blumenhügeln oder -kreisen durchbrochener Wege und Rasenflächen erschöpften, findet Heinrich, den das Prinzip Risachs Gartenanlage an jene des elterlichen Vorstadthauses erinnert, 839 bei diesem ein sich in ästhetischer wie praxisorientierter Hinsicht als äußerst exklusiv darstellendes, mannigfaltiges und sorgfältig abgestimmtes Arrangement, wie folgende Passage deutlich macht: Ein Umblick überzeugte mich sogleich, daß der Garten hinter dem Hause sehr groß sei. […] Es war da eine weitläufige Anlage von Obstbäumen, die aber hinlänglich Raum ließen, daß fruchtbare oder auch nur zum Blühen bestimmte Gesträuche dazwischenstehen konnten, und daß Gemüse und Blumen vollständig zu gedeihen vermochten. Die Blumen standen teils in eigenen Beeten, teils liefen sie als Einfriedung hin, teils befanden sie sich auf eigenen Plätzen, wo sie sich als schön darstellten. Mich empfingen von schaftskunde. Auf seinen Gebirgsreisen beginnt er sich für Brauchtum und Volkskunst zu interessieren, er sammelt alte Gegenstände, läßt aus Marmor kunstvolle Gebrauchsgeräte anfertigen, erlernt das Zitherspiel, zeichnet und malt.“ (Ebd.) 838 So wurden etwa ganze Baumgruppen auf den neuen Standort überführt mittels eines spezifischen, an allen Exemplaren der Einheit vollführten Verfahrens, das Risach Heinrich wie folgt expliziert: „»Wir haben sie im Winter mit einem großen Erdballen ausgegraben, sie mit Anwendung von Seilen umgelegt, hierher geführt, und mit Hilfe von Hebeln und Balken in die vorgerichteten gut zubereiteten Gruben gesenkt.«“ (NS 112) Zwergobst sowie Sträucher aller Art seien dagegen sämtlich „»neu gesetzt worden«“ (NS 112). Siehe auch die Ausführungen zu Albert Schweitzers analogen Baumversetzungsmaßnahmen in Anm. 171 der Arbeit. 839 Gleichwohl wirkt (selbst) der Garten Heinrichs Eltern im Vergleich zu Risachs Anlage „klein und unbedeutend, obwohl seine Blumen, […] seine Obstbäume seine Gemüse Weinreben und Pfirsichgitter nicht zu den geringsten der Stadt gehörten“ (NS 517).

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je her solche Gärten mit dem Gefühle der Häuslichkeit und Nützlichkeit, während die anderen einerseits mit keiner Frucht auf das Haus denken, und andererseits wahrhaftig auch kein Wald sind. (NS 52) 840

Generell imponiert Heinrich der (Gesundheits-)Zustand der einzelnen Pflanzen 841, deren Makellosigkeit ihresgleichen suche: Sämtliche auf dem Anwesen kultivierten Gewächse zeigten sich exzellent entwickelt, gepflegt und geschont, alles „blühte und duftete“ (NS 52). Besonders falle die Schönheit und Vollkommenheit der Rosen ins Auge, 842 nach welchen Heinrich schließlich das Anwesen benennt (vgl. NS 155): Mit ihrer kräftigen Färbung sogar der grünen Blätter (als Ausdruck von Wohlergehen und Reinheit) muteten sie als die trefflichsten der Gegend an (vgl. etwa NS 40 f.), und Risach unterrichtet Heinrich bezüglich derer, dass sie „»der bessern Erde und der bessern Pflege willen früher blühen als an [sic!] allen Teilen des Landes.«“ (NS 198) Angesichts der durchgängigen „Frische der Belaubung dieses Gartens“ (NS 54) dünkt es Heinrich, dass auch das Laubwerk der Obstbäume „vollkommener sei als anderwärts, das grüne Blatt war größer und dunkler, es war immer ganz, und die grünen Kirschen und die kleinen Äpfelchen und Birnchen sahen recht gesund daraus hervor“ (NS 54). Musste er während seiner 840 Eine vergleichbare Gartenanlage existiert bereits in Heinbach, welche Risach damals von Alfred gezeigt worden war: „»In sehr schöner Art waren hier die Blumen gepflegt, die man gewöhnlich in Gärten findet. Sie hatten nicht bloß ihre ihnen zusagenden Plätze, sondern sie waren auch zu einem sehr schönen Ganzen zusammengestellt. An Gemüsen glaubte ich die besten Arten zu sehen, wie man sie nur immer in den Handlungen der Stadt finden konnte. Zwischen ihnen stand das Zwergobst. Die Gewächshäuser enthielten Blumen aber auch Früchte. Ein sehr langer Gang, welcher mit Wein überwölbt war, führte uns in den Obstgarten. Die Bäume standen in guten Entfernungen, waren gut gehalten, hatten Grasboden unter sich, und es führten auch hier wieder Wege von einem zum andern.«“ (NS 638 f.) 841 Vgl. zu Pflanzenschutz und -pflege auf Risachs Asperhof vor allem auch Kapitel III.2.3.2. 842 Zudem fasziniert Heinrich die außergewöhnlich akribische Anordnung der Rosen an der Hauswand des Anwesens immens: „Die Wand des Erdgeschosses war bis zu den Fenstern der oberen Geschosse mit den Rosen bedeckt. […] Die Rosen waren an einem Gitterwerke, das sich vor der Wand des Hauses befand, befestigt. Sie bestanden aus lauter Bäumchen. Es waren winzige darunter, deren Blätter gleich über der Erde begannen, dann höhere, deren Stämmchen über die ersten empor ragten, und so fort, bis die letzten mit ihren Zweigen in die Fenster des oberen Geschosses hinein sahen. Die Pflanzen waren so verteilt, und gehegt, daß nirgends eine Lücke entstand, und daß die Wand des Hauses, soweit sie reichten, vollkommen von ihnen bedeckt war.“ (NS 41)

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Wanderungen durch die Umgegenden allerorts kahle Äste, Raupenfraß sowie Schäden durch weiteres Ungeziefer an Nutz- und Zierpflanzen registrieren, bleibt ihm dies auf dem Rosenhof erspart – selbst eine besonders gefährdete Gattung wie etwa der Kohl hält Heinrichs sachkundiger Inspizierung auf Schädlingsbefall stand. 843 Diese in ästhetischer wie ökologischer und ökonomischer Hinsicht solch elaborierte Gesamtgestaltung und -nutzung des Anwesens – im Einzelnen der weitläufigen Gartenanlage samt deren vorzüglicher Gewächshäuser (vgl. NS 597), der (teils neu angelegten) Wiesen und Felder 844 sowie der umliegenden Wälder 845 – ist letztlich Resultat des Zusammenspiels von langjähriger Erfahrung und differenzierter Fachkompetenz. Dies wird speziell anhand der (Hausund Nutz-)Tierhaltung 846 ersichtlich, welche – vor allem bezüglich des Faktors der Qualität der Tiernahrung – eine Wissenschaft für sich darstellt, wie Heinrich dem Leser erläutert. 847 Sein Gastfreund 843 „An ihm zeigte keine kahle Rippe, daß die Raupe des Weißlings genagt habe. Die Blätter waren ganz und schön.“ (NS 54) Vgl. auch NS 129 und 209. Zu Risachs spezifischen Maßnahmen der Ungezieferbekämpfung vgl. vor allem die Ausführungen in Kapitel III.2.3.3, ferner Kapitel III.2.3.2 dieser Arbeit. 844 Auch über diesen Umstand wird Heinrich informiert, indem Risach ihm erläutert, er habe nahe des Meierhofes „»manchen Rest von Bäumen fällen lassen, wenn er dem Getreidebau hinderlich war; denn ich legte dort Felder an, wo ich die Bäume genommen hatte, um an Boden auf jener Seite zu gewinnen, was ich auf dieser durch Anlegung des Gartens verloren hatte«“ (NS 112). 845 Hinzu kommt die fachgerechte Instandhaltung all dessen, welche Heinrich des Weiteren beobachtet, wie beispielsweise die beiden folgenden Textstellen belegen: „Als wir nach einer Weile weiter in den Garten zurückgingen, sah ich auch noch andere Arbeiten. Die Hecken wurden gebunden und geordnet, das Dornreisig zu den Nestern der Vögel unter ihnen hergerichtet, die Wege von den Schäden des Winters ausgebessert, unter den Zwergbäumen, die schon beschnitten waren, die Erde gelockert, und bei den schwächeren, welche Stäbe hatten, nachgesehen, ob diese festhielten und nicht etwa in der Erde abgefault wären. Es wurden losgegangene Bänder wieder geknüpft, im Gemüsegarten umgegraben, Fenster an Winterbeeten gelüftet oder zugedeckt, die Pumpen ausgebessert, mancher Nagel eingeschlagen, und endlich hie und da ein Behältnis für die Vögel gereinigt.“ (NS 184) Aber auch während des Winters erscheint das Anwesen in vorbildlichem Zustand, „[s]elbst die Nebenpfade waren gut ausgetreten, und an manchen Stellen sah ich, daß man nach dauerndem Schneefalle auch die Schaufel angewendet habe“ (NS 589). 846 Nähere Ausführungen zum Thema Tierhaltung und -pflege auf dem Rosenanwesen finden sich vor allem in Kapitel III.2.3.2. 847 „Es war eben die letzte Einfuhr des Heues aus den höheren in dem Alizwalde gelegenen Wiesen, deren Ertrag später als in der Ebene gemäht wurde, im Gange. Wir erfreuten uns an dieser duftenden würzigen Nahrung der Tiere, welche aus den

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widme „diesem Zweige eine sehr große Aufmerksamkeit, weil er die erste Bedingung des Gedeihens der Haustiere dieser geselligen Mitarbeiter des Menschen ist“ (NS 243). Infolgedessen erscheint es nicht verwunderlich, dass man „auch keine schöneren glatteren glänzenderen und fröhlicheren Tiere sehen [könne] als auf dem Asperhofe“ (NS 243) und ausschließlich in diesem „immer mit einer geringeren Anzahl Tiere größere Arbeiten ausführen [könne], als in den anderen Gehöften“ (NS 243), wodurch sich nicht zuletzt ein wirtschaftlicher Nutzen einstelle (vgl. NS 243). „Hinzu kam noch eine gewisse Fröhlichkeit und Heiterkeit der untergeordneten Leute, die bei jeder sachgemäßen Führung eines Geschäftes, bei dem sie beteiligt sind, […] nicht ausbleibt.“ (NS 243 f.) Neben des (idealiter) respektvoll honorierenden Umgangs mit Mitarbeitern und Bediensteten des Anwesens, sei Risach zufolge eine kontinuierliche und intensive Auseinandersetzung mit der Umgegend sowie deren Bevölkerung ex aequo essenziell für ein universelles Gelingen eines Großprojektes wie des Rosenhofes: So akzentuiert Risach gegenüber Heinrich, man müsse „»eigentlich in der Gegend herumgewandert sein, in ihr gelebt haben«“ (NS 62), damit auf der Basis des Verständnisses der Bewohner schließlich ein wechselseitiges Profitieren möglich würde. Gleichwohl sehe man sich – trotz effizient angewandter Kenntnisse und Erfahrungen sowie der Intention, dem privaten Lebensumfeld wie der Allgemeinheit gleichermaßen förderlich zu sein – zuweilen (in praktischer Hinsicht) mit Rückschlägen 848 und (von zwischenmenschlicher Seite) mit Unverständnis oder gar Missgunst konfrontiert. Verschmerze man dies jedoch mittels Geduld und Ausdauer 849, bleibe der Erfolg nicht gänzlich aus, wie nachstehender Passus ausführlich erhellt, in dem Risach (mit Heinrich auf einer Anhöhe unter einer Esche inmitten Waldwiesen viel besser war als aus den fetten Wiesen der Täler; denn auf den Bergwiesen wachsen sehr mannigfaltige Kräuter, die aus den sehr verschiedenartigen Gesteingrundlagen die Stoffe ihres Gedeihens ziehen, während die gleichartigere Gartenerde der tieferen Gründe wenigere wenngleich wasserreichere Arten hervorbringt.“ (NS 243) 848 Während sich etwa die Felder Risachs bereits fruchtbarer erzeigten als jene der Nachbarn, sei die Optimierung der Wiesenfläche bislang nicht in der vorgestellten Weise gelungen: „»Nur die Wiese, welche […] tiefer als die Felder liegt, und von einem kleinen Bach bewässert wird, habe ich nicht so verbessern können, wie ich wollte […].«“ (NS 63) 849 Siehe auch die Angaben in Kapitel III.2.2 zu Risachs Charaktereigenschaften.

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seiner Getreidefelder sitzend 850) besonders auf die Aspekte der Hilfeleistung und des voneinander Lernens abstellt: „Ich besuche auch meiner Nachbarn willen gerne diesen Platz; denn […] außerdem, daß ich hier unter meinen Arbeitern bin, sehe ich von hier aus alle, die mich umgeben, es fällt mir manches von ihnen ein, und ich ermesse, wie ich ihnen nützen kann oder wie überhaupt das Allgemeine gefördert werden möge. Sie sind im ganzen ungebildete aber nicht ungelehrige Leute, wenn man sie nach ihrer Art nimmt, und nicht vorschnell in eine andere zwingen will. […] Ich habe von ihnen manches für mein Inneres gewonnen, und ihnen manchen äußeren Vorteil verschafft. Sie ahmen nach, wenn sie etwas durch längere Erfahrung billigen. Man muß nur nicht ermüden. Oft haben sie mich zuerst verlacht, und endlich dann doch nachgeahmt. In vielem verlachen sie mich noch, und ich ertrage es. Der Weg da durch meine Felder ist ein kürzerer, und da geht mancher vorbei, wenn ich auf der Bank sitze, er bleibt stehen, er redet mit mir, ich erteile ihm Rat, und ich lerne aus seinen Worten. Meine Felder sind bereits ertragfähiger gemacht worden als die ihrigen, das sehen sie, und das ist bei ihnen der haltbarste Grund zu mancher Betrachtung.“ (NS 62 f.) 851

Allmählich gelingt es Risach, dem im Laufe der Jahre die Einsicht vergönnt ist, er habe auf diesem seinem Anwesen „»mehr gelernt als sonst in [s]einem ganzen Leben, […] und etwas Weniges nütze [er] doch«“ (NS 682), 852 das Vertrauen der Menschen weitgehend zu

850 „»Der Schatten dieser Esche ist wohl ein sparsamer, aber da er der einzige dieser Gegend ist, wird er gesucht, und die Leute, obwohl sie roh sind, achten gewiß auch auf die Aussicht, die man hier genießt.«“ (NS 59) 851 Auch unterrichtet Risach die Nachbarn hinsichtlich der Kultivierung von Obstbäumen und konstatiert, „»dazu, daß sie edles Obst in dieser Gegend ziehen, sind sie schwer zu bewegen, weil sie meinen, es gehe nicht. Wir müssen ihnen aber zeigen, daß es geht, indem wir ihnen die Früchte weisen und zu kosten geben, und wir müssen ihnen zeigen, daß es nützt, indem wir ihnen Briefe unserer Handelsfreunde weisen, die uns das Obst abgekauft haben.«“ (NS 147 f.) Vgl. hierzu auch Anm. 935 dieser Arbeit. 852 So höre Heinrich etwa „öfter von benachbarten Leuten die Äußerung, das hätte man dem alten Asperhofe nicht angesehen, daß das noch heraus kommen könnte“ (NS 244). Auch setze sich Risach für die stete Verschönerung seines wie auch des Sternenhofes ein, und seine Bemühungen hätten mittlerweile Vorbildcharakter gewonnen. Vgl. zu Risach als Vorbild im Allgemeinen beispielsweise NS 63, 147 f., 196 f., 232, 243, 334 f., 373 f. Ferner konstatiert Risach in Bezug auf den ehemals geleisteten Staatsdienst: „»Wenn meine Meinung angenommen und ins Werk gesetzt worden war, so hatte die neue Ordnung der Dinge, weil sie auf das Wesentliche ihrer Natur gegründet war, Bestand […].«“ (NS 614) Vgl. diesbezüglich insbesondere die Darlegungen zu Beginn von Kapitel III.3.

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gewinnen. 853 Neben seinem nachhaltigen Engagement für das Gemeinwohl effizierten – so Heinrich – seines Gastherrn „Rede und Tun so klare Achtung“ (NS 418), dessen (bereits in Kapitel III.2.2 erörterter) auf Simplizität, Genügsamkeit und Stetigkeit gegründeter Habitus wirke in höchstem Maße beispielgebend. Die Quintessenz Stifterschen Schreibens, im Sinne der (inhaltlichen) Propagierung wie (formalen) Anwendung einfach(st)er Mittel, spiegelt sich summarisch in Risachs an dem (dem „Sanften Gesetz“ entlehnten) Nachsommer-Ideal der „Größe im Kleinen“ orientierten, auf das Wesentliche fokussierten Lebenshaltung und -führung wider: 854 „Es sind die sehr bescheiden und unscheinbar anmutende Sorge um die Umwelt, um Pflanze und Mensch, die Kontinuierlichkeit im Umgang mit beiden und die Zurücknahme eigenen Begehrens, die letztlich alles zum Guten führen“ 855 und konkret das Fundament einer Kulturgemeinschaft zu konstituieren vermögen. So rekapituliert Heinrich (nach längerer Abwesenheit) Mathildes Antwort auf seine Frage nach dem aktuellen Stand der Dinge auf dem Rosenhof wie folgt: Mein Gastfreund fahre in seinem einfachen Leben fort, er bestrebe sich, daß sein kleiner Fleck Landes seine Schuldigkeit, die jedem Landbesitze zum Zwecke des Bestehenden obliege, bestmöglich erfülle, er tue seinen Nachbarn und andern Leuten viel Gutes, er tue es ohne Gepräge, und suche hauptsächlich, daß es in ganzer Stille geschehe […] und er suche

853 Zum Beispiel sei Risach „mit Gemeindeämtern betraut [worden]“ (NS 605 f.). Auch Heinrichs Vater habe sich – nach Angaben seines Sohnes – gemeinnützig betätigt: „Daß bei dem Vater kein Eigennutz herrschte, beweist der Umstand, daß er im Rate der Stadt ein öffentliches Amt unentgeltlich verwaltete, daß er öfter die ganze Nacht in diesem Amte arbeitete, und daß er bei öffenlichen Dingen immer mit bedeutenden Summen an der Spitze stand.“ (NS 17) 854 „Diese Größe will uns Stifter am Beispiel des Herrn des Rosenhauses vorführen. Deshalb sind die Beschreibungen für ihn so bedeutungsvoll, sie versetzen uns in ihrem unmittelbaren Gegenwärtigen in die Atmosphäre des Rosenhofes, indem sie die Gestaltung des Hofes und das Leben auf diesem Anwesen vorführen. Für Stifter kann es nichts Größeres geben als die so erreichte Verfaßtheit der Seele, die aus allem spricht, ohne daß die Seele selbst analysiert und beschrieben wäre. Deswegen ist es aber auch so wichtig, daß der Besucher (Erzähler) in den Rosenhof eingeführt wird, ihn durch das Betrachten kennenlernt.“ (Biemel 1985, S. 66) 855 Bolterauer 2005, S. 323. Was Bolterauer an dieser Stelle in Bezug auf Stifters Erzählung „Brigitta“ konstatiert, ist nach Meinung der Autorin der vorliegenden Untersuchung in Gänze auf den Nachsommer applikabel.

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endlich sein Dasein mit jener Ruhe der Anbetung der höchsten Macht zu erfüllen, die alles Bestehende ordnet. (NS 477) 856

Obgleich religiösen Institutionen sowie konkreten Glaubensinhalten im Nachsommer – wie oben angemerkt – lediglich nachgeordnete Relevanz zukommt, akzentuiert Stadler das hinsichtlich dessen für dieses (sowie vor allem das folgende) Kapitel Ausschlaggebende: „Was Stifter allerdings von der Kirche übernahm, war der Sinn für Ordnung, für Form und Ritual.“ 857 Vor diesem Hintergrund erfolgt – analog zu der Anwendung des „Sanften Gesetzes“ auf das (zwischen)menschliche Verhalten (vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel III.2.2) – die Übertragung der sich in der Natur offenbarenden Ordnungsstruktur auf Lebensalltag und Wohnraum des Menschen, wie die Autorin bereits in anderem Kontext mit Risach-Stifter konstatiert hat. 858 Besagte Schlichtheit respektive Klarheit der Lebensführung manifestiert sich somit im Nachsommer sowohl in einer streng normierten Lebensweise als auch in der Ordentlichkeit des Wohnraumes selbst. 859 Dieser dem Rosenhaus immanente „Geist der Ordnung und Reinheit“ (NS 193) 860, welcher sich etwa in denen sich „in der musterhaftesten Ordnung“ (NS 150) präsentierenden Zimmern kundtue, beglückt Heinrich von Anfang an, wie er beispielsweise an folgender Stelle artikuliert: „Mich freute es, daß ich 856 Vgl. bezüglich der Differenzierung eines Stadtlebens von einem Leben auf dem Land auch folgende Ausführungen Risachs: „»Man sehnt sich ein anderes Einerlei aufzusuchen; denn wohl ist jedes Leben und jede Äußerung einer Gegend ein Einerlei, und es gewährt einen Abschluß, von dem einen Einerlei in ein anderes über zu gehen. Aber es gibt auch ein Einerlei, welches so erhaben ist, daß es als Fülle die ganze Seele ergreift, und als Einfachheit das All umschließt. Es sind erwählte Menschen, die zu diesem kommen, und es zur Fassung ihres Lebens machen können.«“ (NS 456 f.) In Bezug auf das generell anzuvisierende, von Risach bereits realisierte, durch Einfachheit, Klarheit, Ruhe und Bescheidenheit geprägte Leben, siehe zum Beispiel auch NS 237. 857 Stadler 2009, S. 131. 858 Vgl. Heinze 2008, S. 125: „In den unterschiedlichsten Lebensbereichen zu entdecken, erscheine Ordnung in der Natur etwa in Wachstum und Struktur der Pflanzen oder dem Verhalten der Tiere, im Alltag in Form ritualisierter Gewohnheiten und Zeremonien […].“ 859 Zum Gesichtspunkt Ordnung und Regeln im Nachsommer (insbesondere im Rosenhaus) vgl. etwa NS 8, 45 f., 50 f., 83, 150 f., 155, 190–193, 200 f., 220, 230, 232 f., 410, 593 sowie Heinze 2008, S. 123–125 und ferner Kronauer 2010, S. 148 f. Siehe hierzu auch die Erläuterungen in Kapitel III.2.3.1. 860 Stadler spricht latent spöttisch von einer „geradezu klösterliche[n] Zucht und Ordnung“ (Stadler 2009, S. 71; vgl. auch ebd., S. 70).

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in dem Hause eine so große Reinlichkeit und Ordnung getroffen hatte, wie ich sie bisher nur in dem Hause meiner Eltern gesehen hatte.“ (NS 155) 861 Die Ordnung im symbolischen Sinne basiere bei Stifter auf einem gleichsam rituellen Impetus, welcher sich im Roman – im Rahmen eines strikt reglementierten Tages- wie Jahresverlauf – in einem „immer gleichen Gang des Lebens an sich sowohl der alltäglichen als auch künstlerischen und denkmalpflegerischen Handlungen ausdrückt“ 862, worauf die Autorin schon in ihrem Stifter-Artikel in Anlehnung an Alice Bolterauer verwiesen hat. 863 Die Evidenz Stifters Bezugnahme „auf Ritual und ritualähnliche Formen und Verhaltensweisen“ 864 resultiere laut Bolterauer aus dessen oben bereits thematisierten, an ethischen Idealen orientierten Schreiben: „Das Ritual dient als Medium der ethischen Forderung gegen das Wissen um ihre Brüchigkeit.“ 865 Durch (quasi-)rituelles Agieren werde die Fähigkeit der Protagonisten trainiert, auf der Basis einer angemessenen Wahrnahme konkreter (Alltags- beziehungsweise Lebens-)Situationen adäquat zu reagieren. 866 Im Einzelnen zeigen sich jene ritualanalogen Verhaltensmuster anhand diverser alltäglicher (Inter-)Aktionen und Verrichtungen wie beispielsweise Kommunikations-, Empfangs- oder Essensgepflogenheiten. 867 ExemplaVgl. zu dieser Nachsommer-Stelle auch Biemel 1985, S. 316 f., Anm. 33. Heinze 2008, S. 136. 863 Siehe hierzu ebd., vor allem S. 132–139 respektive Kapitel 5.3. Bolterauer bringt mit ihrer Studie im Allgemeinen zum Ausdruck, „wie sehr und inwieweit Stifter auf die sinn- und kontinuitätsstiftenden Aspekte von rituell beglaubigten Handlungsweisen angewiesen ist“ (Bolterauer 2005, S. 412 f.) und durch ein etabliertes rituelles Verhalten gleichsam „[d]ie Gefahr der Anarchie, der ‚Anti-Struktur‘“ (ebd., S. 402) und ein verlustig Gehen sozialer wie kosmischer Ordnung zu bannen suche. 864 Ebd., S. 413. 865 Ebd. 866 Dies konstatiert Bolterauer in Bezug auf Stifters Erzählung „Der Hagestolz“. Vgl. ebd., S. 163. Weiters schreibt Bolterauer diesbezüglich: „Mittel und Ausdruck des durch Initiation zu erreichenden ‚anderen‘ Zustands der Leidenschaftslosigkeit ist vor allem das rituelle Weltverständnis, d. h. ein Vertrauen auf die im gewohnten Alltagstun sich manifestierende Ordnung des Seins, die nur vollzogen und geglaubt werden muss.“ (Ebd., S. 162) 867 Hinsichtlich der „Alltagsrituale“ erläutert Bolterauer in Bezug auf ihre Studie: „Nicht alles, was hier unter ‚Ritual‘ abgehandelt wurde, ist ein ‚echtes‘ Ritual. Der Begriff der ‚Ritualität‘ sollte als Ausweg dienen, um jene Verhaltensweisen und Kommunikationsformen zu bezeichnen, die entweder aufgrund ihrer Voraussetzungen, Erscheinungsweisen oder aber ihrer Wirkungsabsicht rituelle Züge aufwei861 862

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risch sei an dieser Stelle folgendes Diktum Risachs bezüglich der „»Feierlichkeit der Feldarbeit«“ (NS 59) angeführt, welches die Signifikanz eines konstanten Laufs der Dinge plausibel macht: „»Alte Gewohnheiten haben etwas Beruhigendes, sei es auch nur das des Bestehenden und immer Gesehenen.«“ (NS 59) So konkludiert Bolterauer: Zu einem Fixum in der Gestaltung eines als vorbildlich anzusehenden Lebens wird dabei die Schilderung stereotyper Alltagsverläufe, die in ihrer Beständigkeit und Monotonie Verlässlichkeit und Kontinuität suggerieren und stiften. Das, was immer so war, wird immer so bleiben. Das, was als ideelle Basis für ein solches Tun erscheint, wird weiterhin Gültigkeit haben. 868

Mittels dieser in extenso erfolgenden Beschreibungen profaner Sequenzen und Tätigkeiten widerfahre – wie in Abschnitt III.2.1 in anderem Kontext thematisiert – dem gemeinhin als irrelevant Deklarierten, wenig Spektakulären einmal mehr Gerechtigkeit, denn – wie gesagt – „[n]icht die Faszination großer Rituale steht hier im Vordergrund, sondern die rituelle Relevanz eines scheinbar unbedeutenden alltäglichen Verhaltens. Dieses Alltagshandeln wird ‚rituell‘ zelebriert und damit als von Bedeutung seiendes hervorgehoben.“ 869 Umgekehrt resultiere das penible Notieren bescheidener Verrichtungen des täglichen Lebens disziplinierter, selbstbeherrschter Menschen, welches den rituellen beziehungsweise ritualisierenden Effekt intensiviere, 870 aus der Intention, ein derart konnotiertes Agieren „als das eigentlich ‚lebenserhaltende‘“ 871 zu demonstrieren: „Das unscheinbar So-Seiende ist wichtig und ‚gut‘, weil es ist, wie es ist – vor allem aber auch, weil es als wichtig und ‚gut‘ präsentiert sen, mithin dazu beitragen, jene Atmosphäre ritueller Verbundenheit zu erzeugen, auf der die Plausibilität der Stifter’schen Erzählwelten so wesentlich basiert.“ (Ebd., S. 413 f.) Im Rahmen der vorliegenden Studie soll auf eine erschöpfende Behandlung aufgeführter Alltagsrituale verzichtet werden, da dies bereits von Bolterauer in Bezug auf Stifters Gesamtwerk geleistet worden ist. Vgl. ebd., vor allem S. 55–84. 868 Ebd., S. 400. 869 Ebd., S. 18. Weiters liest man bei Bolterauer explizit in Bezug auf die Besichtigung des Risachschen Anwesens: „Die wiederholende Ausführlichkeit, mit der diese Handlungen und Begebenheiten geschildert werden, lässt sie nicht nur im jeweiligen Erzählraum ungewöhnlich viel Platz finden, sie werden durch ihre Weitschweifigkeit als wichtige deutlich.“ (Ebd.) 870 Vgl. hierzu ebd., etwa S. 235. 871 Ebd., S. 83.

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wird.“ 872 Dementsprechend werde – wie die Autorin der vorliegenden Untersuchung bereits in oben genanntem Aufsatz herausgestellt hat – in der rituell aufgewerteten Atmosphäre des Nachsommer – beispielhaft im Rosenhaus – „das Notwendige zur Freude, die alltäglichen Handlungen gleichsam zu heiligen Pflichten“ 873, was im Folgenden weiterführend anhand konkreter Belegstellen zu erörtern ist. 2.3.1 Die Ordnung des Hauses „Es ist die schon berührte Thematik von der Forderung, seine Seele in Ordnung, in Wohlgeordnetheit zu bringen“ 874, welche in Kapitel III.2.2 als Voraussetzung einer gewissenhaften „»Freude an den Dingen dieser Erde«“ (NS 189) dargelegt worden ist und nachfolgend als Basis der Fokussierung der dieser impliziten Direktive einer Strukturiertheit der Lebensumgebung fungiert: Damit das Selbst des Menschen „»in Ordnung«“ (NS 189) zu sein vermag, muss dessen Lebensumwelt – vor allem das durch diesen unmittelbar zu arrangierende tägliche Umfeld, explizit der Wohnraum – eine entsprechende Struktur aufweisen – und vice versa dient ein geordnetes Ambiente als Indikator eines ebensolchen Inneren. Zudem wird auf das hinsichtlich des menschlichen Zurücktretens vor den Dingen (durch welches letztere gleichsam in den Vordergrund rücken) Explizierte rekurriert, mit dem das aktive Bewahren respektive Nicht-Destruieren des Tradierten korreliert, das sich sowohl etwa in der Intaktheit der (Gebrauchs-)Gegenstände als auch etablierter Konventionen und Handlungsweisen manifestiert. Anhand der Betrachtung einzelner Aspekte der Ordentlichkeit und Schonung der Komponenten des Wohnraums sowie nicht zuletzt internalisierter Regeln alltäglicher Interaktion gilt es, die Hausordnung des Risachschen Rosenhauses in direkter wie übertragener Bedeutung zu analysieren. Heinrich ist bereits von zuhause an einen (hauptsächlich seitens des Vaters instruierten) „regelmäßigen Verlauf der Zeit, von welchem nicht abgewichen werden durfte“ (NS 9), gewöhnt: „Dieser regelmäßige Ablauf gehört zur Wohlgeordnetheit des Hauswe872 873 874

Ebd., S. 235. Heinze 2008, S. 95. Biemel 1985, S. 65.

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sens, in dem jedem Ding sein Platz zugewiesen ist, jeder Raum eine bestimmte Funktion zu erfüllen hat.“ 875 Der Leser wird diesbezüglich – gleichsam als Vorbereitung auf die anschließende Präsentation beziehungsweise Heinrichs Integration in das Herz der Nachsommer-Welt – zu Beginn des Romans in Kenntnis gesetzt, im Zuge der Einführung von Vater, Mutter und Schwester Heinrichs, beruflicher und familiärer (Alltags-)Gepflogenheiten sowie der (in Kapitel III.2.1 thematisierten) Führung durch die Wohnräumlichkeiten und Gartenanlagen der Drendorfs. Die Drenbachsche Hausordnung ist einzig durch jene des Asperhofs Risachs, in dem Heinrich schließlich – wie oben erwähnt – den Inbegriff seines Elternhauses erblickt, übertroffen, mittels derer ein mustergültig intakter, gleichsam heiler „Lebens- respektive Wohnkosmos“ ins Werk gesetzt ist. Anhand des Meierhauses gelangt dem jungen Mann zu Bewusstsein, „was ein wohleingerichtetes Haus sei“ (NS 595), 876 das letztlich einzig durch das Rosenhaus selber überboten wird: Äußerste Ordnung und Sauberkeit wahrnehmend, entdeckt Heinrich während der Hausbesichtigung keinerlei Utensilien an nicht für diese vorgesehenen Orten, die Platten der Tische – namentlich des Ausruhzimmers, dessen Einrichtung sich auf Tische und Sitzgelegenheiten beschränkte – „waren unbedeckt, und waren ausnehmend gut geglättet und gereinigt“ (NS 46). Generell entbehrten die Räume jeglicher Indizien des Bewohntseins, was etwa folgender Kommentar bezüglich des von Risach eigens für Mathilde eingerichteten Rosenzimmerchens 877 erhellt: „Kein Merkmal in dem GeEbd., S. 32. An eine analoge Beobachtung erinnert sich Risach hinsichtlich des Elternhauses Mathildes in Heinbach: „»Alles war sehr schön eingerichtet und rein und ordentlich gehalten.«“ (NS 637) 877 Generell erhalten die Gäste Risachs je individuell gestaltete, auf ihre spezifischen Belange abgestimmte Wohnräumlichkeiten. In Bezug auf erwähntes Rosenzimmer Mathildes bemerkt Heinrich beispielsweise, „wie zart und schön für das Zimmer gesorgt worden war“ (NS 434): „Mir war es ein anmutiger Eindruck, daß ich sah, wie liebend und wie hold dieses Zimmer für die alte Frau eingerichtet worden war. Es herrschte eine zusammenstimmende Ruhe in diesem Zimmer mit den sanften Farben Blaßrot Weißgrau Grün Mattveilchenblau und Gold.“ (NS 230) An anderer Stelle dünkt es den jungen Mann, ihn umwehe „die Ruhe und Klarheit, die in dem ganzen Wesen Mathildens ausgeprägt ist, die in den Farben und Gestalten des Zimmers sich zeigte, und die in den unvergleichlichen Bildern lag, die hier aufgehängt waren“ (NS 534). Siehe bezüglich des Rosenzimmers sowie der den Frauen bestimmten Zimmern im Allgemeinen auch NS 149–151, 221, 350 und 434. Vgl. zu dem Appartement, welches Risach schließlich eigens für seinen jungen Gast Hein875 876

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mache zeigte an, daß es bewohnt sei. Kein Geräte war verrückt, an dem Teppiche zeigte sich keine Falte, und an den Fenstervorhängen keine Verknitterung.“ (NS 151) Besonders ostensiv manifestiere sich dieser Anschein des Unbewohntseins in dem Zustand des (von dem Bücherzimmer separierten) Lesegemachs 878, in welchem zwar „für die größte Bequemlichkeit der Leser gesorgt war“ (NS 80), in dem man jedoch „nirgends Bücher oder etwas, das an den Zweck des Lesens erinnerte, herumliegen sah“ (NS 80) sowie des Arbeitszimmers des Hausherrn: „Obwohl der alte Mann gesagt hatte, daß dieses Zimmer sein Arbeitszimmer sei, so waren doch keine unmittelbaren Spuren von Arbeit sichtbar. Alles schien in den Laden verschlossen oder auf seinen Platz gesetzt zu sein.“ (NS 78) 879 Nachstehende symptomatische, sich im Ruheraum abspielende Episode führt sowohl Heinrich als auch dem Leser exemplarisch den im Rosenhaus gebräuchlichen und zu internalisierenden Umrich habe einrichten lassen – „[e]s waren zwei Zimmer am Anfange des Ganges der Gastzimmer, welche man durch eine neugebrochene Tür zu einer einzigen Wohnung gemacht hatte“ (NS 203) – zum Beispiel NS 203 f. Eine entsprechend komfortable, explizit das Wohnen betreffende Behandlung durfte Risach selbst bereits während seiner Erziehertätigkeit im Gut Mathildes Eltern erfahren: „»Man behandelte mich sehr gütig. Was ich bedurfte, war immer da, ehe das Bedürfnis sich noch klar dargestellt hatte. Aber auch nicht bloß das wurde hergestellt, […] sondern auch das, was zum Schmucke des Lebens geeignet ist. Blumen, die ich liebte, wurden in Töpfen in mein Zimmer gestellt, ein Buch ein neues Zeichnungsgeräte fand sich von Zeit zu Zeit ein, und da ich einmal auf mehrere Tage abwesend war, sah ich bei meiner Rückkehr meine Wohnung mit Farben bekleidet, die ich einmal bei einem Besuche in einem Nachbarschlosse sehr gelobt hatte.«“ (NS 642) 878 Siehe zu dieser Einrichtung des von dem Bücherzimmer abgesonderten Leseraums, welche auch in Heinbach existiert (vgl. NS 637), auch NS 80, 193, 598 sowie 600. 879 Den vergleichbar akribischen Ordnungssinn seines Vaters kommentiert Heinrich folgendermaßen: „Überhaupt durfte bei dem Vater kein Zimmer die Spuren des unmittelbaren Gebrauches zeigen, sondern mußte immer aufgeräumt sein […].“ (NS 8) Des Weiteren bemerkt Heinrich während seiner Führung durch das Rosenhaus zu seinem Erstaunen auch in Bezug auf die Zimmer des Jungen Gustav Folgendes: „Beide waren, wie es bei solchen Zimmern selten der Fall ist, sehr in Ordnung.“ (NS 149) In den Räumen Natalies seien überdies gar die auf dem Tisch befindlichen Papiere „in schöner Ordnung“ (NS 230). Ferner habe in der Schreinerwerkstatt an den jeweiligen Arbeitsplätzen der Angestellten „eine übersichtliche Ordnung und Einheit bestand[en]“ (NS 83). Im Rosenhaus registriert Heinrich außerdem die „Abwesenheit häuslichen Geräusches“ (NS 48): In dem ihm zugewiesenen Gastzimmer „hörte man nicht den geringsten Laut eines bewohnten Hauses, den man doch sonst, es mag im Hause noch so ruhig sein, mehr oder weniger in Zwischenräumen vernimmt“ (NS 48).

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gang mit den einzelnen Gegenständen – in diesem Fall den Büchern – und mithin Zimmern im Allgemeinen vor Augen: Als Heinrich im Anschluss an seine Lektüre das verwendete Buch etwas unbedarft auf dem Stuhl liegen lässt und im Begriffe ist zu gehen, unterbreitet ihm Risach freundlich wie apodiktisch, es sei im Rosenhaus „»Sitte, daß die Bücher, die auf dem Gestelle sind, damit jemand, der in dem Zimmer wartet, oder sich sonst aufhält, bei Gelegenheit und nach Wohlgefallen etwas lesen kann, nach dem Gebrauche wieder auf das Gestelle gelegt werden, damit das Zimmer die ihm zugehörige Gestalt behalte.«“ (NS 50) 880 Jeder Räumlichkeit, deren Gesamterscheinungsbild es – wie von Risach artikuliert – penibel zu bewahren gilt, kommt demzufolge ein eigener Charakter zu, welcher sich in einer je individuellen, der Funktionalität des Zimmers adäquaten Gestaltung und Ausstaffierung dartut. 881 Somit verweist obige Kernaussage des Gastgebers nicht nur auf die zu respektierende wie akkurat zu restituierende beispiellose Nachsommer-Ordnung, sondern antizipiert darüber hinaus die Thematik des 3. Kapitels des Stifter-Teils dieser Arbeit, in dem final die Risach-Stiftersche „»Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an sich sind«“ (NS 614) vertieft werden soll. 880 Vgl. zu der Vorgabe, dass jedes Buch unmittelbar nach dessen Benutzung wieder auf seinen Platz zurückgelegt wird, auch NS 193 sowie Biemel 1985, S. 58. Heinrich hätte diese Regelung allerdings bereits kennen sollen, da sein Vater gemäß dem gleichen Schema agiere, wie der Leser zu Anfang des Nachsommer erfährt: „Das Buch, in dem er gelesen hatte, stellte er genau immer wieder in den Schrein, aus dem er es genommen hatte, und wenn man gleich nach seinem Heraustritte in das Bücherzimmer ging, konnte man nicht im geringsten wahrnehmen, daß eben jemand hier gewesen sei, und gelesen habe.“ (NS 8) Darüber hinaus stellt der Vater die oben bereits zitierte Forderung der prinzipiellen Aufgeräumtheit eines jeden Zimmers des Hauses „als wäre es ein Prunkzimmer. Es sollte dafür aber aussprechen, zu was es besonders bestimmt sei.“ (NS 8) 881 Bezüglich des Aspektes, dass im Rosenhaus jedem Zimmer die ihm angemessene Gestaltung gebührt, sei vor allem auf NS 46, 78, 80, 149–151 sowie 193 verwiesen. Auch bei Heinrichs Eltern, deren Gestaltung der Wohnräumlichkeiten – wie in Kapitel III.2.1 thematisiert – bei der farblichen Abstimmung von Tapeten und Teppichen auf den „Inhalt“ des Raumes beginnt, erhält jede Gegenstandsgruppe ein eigenes Zimmer: Während etwa die Gemälde des Vaters in der Stadtwohnung auf mehrere Räume verteilt werden mussten, existiere in dem neu erworbenen Vorstadthaus schließlich ein spezielles „Bilderzimmer“ (NS 11); ferner weise auch das Bücherzimmer eine beachtlichere Größe auf als das einstige, ohnehin schon große der Wohnung (vgl. NS 7 f., 10 f.). Zudem hält Walter Biemel in Bezug auf Heinrichs Elternhaus fest: „Ein Raum ist ausdrücklich für alte Geräte bestimmt.“ (Biemel 1985, S. 32; vgl. hierzu NS 11)

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Analog zu den in den Räumen des Rosenhauses beherbergten Kunstobjekten und wertvollen Geräten, ist auch das jeweilige Zimmer selbst quasi als homogenes Kunstwerk zu interpretieren, welches sich – gemäß der Risachschen Kunstanschauung 882 – „in einem harmonischen Gesamteindruck“ 883 respektive „in der Zusammenstimmigkeit einzelner Teile zu dem Ganzen manifestiere (vgl. insbesondere NS 338, 383, 386 […])“ 884. Daher ist auch für den Besucher die Einhaltung der Hausordnung (und somit Erhaltung des Zustandes der Räume) keineswegs fakultativ, was Risach anhand des besagten Buch-Beispiels erörtert. „Das wirkt pedantisch, muß aber im größeren Zusammenhang der Auffassung des Lebens auf dem Rosenhof gesehen werden – und dieses Leben, das ist zweifellos die Intention, strebt nach einer bestimmten Vollkommenheit.“ 885 In der Tat erachtet Heinrich die Regel, „daß man jedes Buch nach dem zeitlichen Gebrauche wieder in das Bücherzimmer an seinen Platz tragen muß“ (NS 193), nach genauer Erwägung als sinnvoll 886 – zumal diesen auch bei seiner Rückkehr in das Elternhaus ein vollkommen hergerichtetes Heim erwartet: „Es war alles im besten Stande, die Mutter hatte auch meine Zimmer ordnen lassen, alles war abgestaubt, gereinigt, und an seinem Platze […].“ (NS 158) 887 Siehe hierzu Heinze 2008, insbesondere S. 88–113. Ebd., S. 103. 884 Ebd., S. 124 f. Vgl. zum Begriff der Ordnung in diesem Kontext ebd., S. 123–125. 885 Biemel 1985, S. 58. Vgl. dazu auch die im Text bereits zitierte Passage: „Im Bewahren wird die Zeit gleichsam zum Stillstand gebracht. Gleichsam – denn das Bewahren ist kein bloßes Festhalten, sondern ein Wirken im Sinne der Vollendung.“ (Ebd., S. 78) An anderer Stelle rekurriert Biemel auf den Bewahrungs-Aspekt im Nachsommer und führt weiter aus: „Im Bewahren ist [sic!] Gewesenheit, Zukunft und Gegenwart in Einklang gebracht, deswegen ist dies Bewahren für Stifter so bedeutsam, daß mit ihm die Vollendung erreicht ist.“ (Ebd.) Dies manifestiert sich ferner – wie gesagt – exemplarisch in der denkmalpflegerischen Tätigkeit Risachs. 886 Vgl. hinsichtlich des Gesichtspunktes, dass jedes Ding seinen rechten Ort besitzt, ferner die (gleichnishafte) Anekdote „Die Ordnung“ aus Bubers Erzählungen der Chassidim, in welcher der große Maggid von Mesritsch lehrt: „»Jedes Ding hat seinen Ort, jeder Ortswandel hat seinen Sinn. Wenn man nicht weiß, soll man nicht tun.«“ (EZ 224) Der achtungsvolle Umgang mit den Dingen kulminiert in der fünfzeiligen, „Das Bröcklein“ betitelten Erzählung, in der Rabbi Bunam ein Sandbröckchen, um es zu betrachten, zunächst bedachtsam vom Boden aufhebt, im Anschluss ebenso vorsichtig wieder exakt an die selbe Stelle zurücklegt und dies wie folgt kommentiert: „»Wer nicht glaubt, […] daß Gott will, dieses Bröcklein solle eben hier liegen, der glaubt nicht.«“ (EZ 632) Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel II.4.2 – insbesondere II.4.2.2. 887 Selbstverständlich wird auch Risach bei Heinrichs Rückkehr in das Rosenhaus 882 883

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Diese vielzitierte, im Nachsommer – speziell im Rosenhaus – wiederholte Akzentuierung der Relevanz von Ordnung und Sauberkeit kommentiert Biemel weiters wie folgt: Wir haben zunächst die Tendenz, über die Betonung der Reinheit, die immer wiederkehrt, zu lächeln, damit ist nicht die sterile Hygiene gemeint, wie wir sie auf den Pop-Bildern eines Tom Wesselmann finden, sondern daß der Bereich des Wohnens durch nichts verunstaltet ist, was nicht zu ihm gehört, so wie wir ja auch vom reinen Stil sprechen. Die Schönheit ereignet sich im Zusammenstimmen all dessen, was zusammengehört. Deswegen kann Reinheit, Schönheit und Zusammenstimmung in einem Atemzug genannt werden, sie sind ein und dasselbe, wie beim griechischen Begriff ‚Kosmos‘. 888

Mit dem angeführten Postulat der strengen Wahrung des jeweils charakteristischen Erscheinungsbildes der Zimmer geht in dem „(Mikro-)Kosmos Rosenhaus“ einher, dass zudem die Ausstattungsgegenstände der Räumlichkeiten gleichsam im rechten Licht zu platzieren – das heißt, je angemessen zu präsentieren – sind. Die diesbezüglich aufschlussreiche nachstehende Belegstelle, mittels derer einmal mehr die Modellhaftigkeit des Risachschen Hauses demonstrierbar ist, betrifft abermals das Bücherzimmer und das dort befindliche Schriftgut: Im Gegensatz zu herkömmlichen Bücherschränken ermögliche es die spezifische Konstruktion jener des Rosenhauses – mittels derer Nutzer wie Medien gleichermaßen bedacht würden –, „daß man noch mit Leichtigkeit um die höchsten Bücher langen konnte. Sie waren auch so flach, daß nur eine Reihe Bücher stehen konnte, keine die andere deckte, und alle vorhandenen Bücher ihre Rücken zeigten“ (NS 80) und somit die Namen der einzelnen Publikationen klar zu erkennen sowie zu würdigen seien. 889 unverzüglich veranlassen, für eine entsprechende Ordnung und Sauberkeit zu sorgen (vgl. NS 586) sowie sämtliche Räume des Hauses, in denen sich Heinrich aufzuhalten wünscht, jeweils „ordnungsgemäß“ heizen lassen (vgl. NS 598). 888 Biemel 1985, S. 67; vgl. ebd., S. 57 f. Auch in Bezug auf das Erscheinungsbild einer Person gilt, dass dieses stets in korrekter Ordnung zu halten ist. In diesem Kontext berichtet Risach über seine Erziehungstätigkeit in Heinbach, er habe explizit in Bezug auf Mathilde dafür Sorge zu tragen gehabt, „»daß sie nicht in sumpfige oder unreine Gegenden komme, und sich ihre Schuhe oder Kleider beschmutze; denn man hielt sie sehr rein. Ihre Kleider mußten immer ohne Makel sein, ihre Zähne ihre Hände mußten sehr rein sein, und ihr Haupt und ihre Haare wurden täglich so vortrefflich geordnet, daß kein Tadel entstehen konnte.«“ (NS 644) 889 Des Weiteren sind im Rosenhaus sämtliche Besitztümer Risachs akkurat und

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Über die optimale Zugänglichkeit und Einsehbarkeit der Objekte hinaus soll – durch eine bestmögliche Präsentation – eine Optimierung der Objekte forciert werden, im Rahmen derer ebenfalls die durch das Präsentationsumfeld generierte Atmosphäre fundamental bedeutsam ist, wie folgendes, auf Risachs Arbeitszimmer Bezug nehmende Beispiel erhellt: Diese Räumlichkeit, welche „an Nachmittagen, besonders wenn trübes Wetter war, und die Geschäfte im Freien nicht eine große Ausdehnung hatten“ (NS 195), auch als Versammlungsort fungiert, ist ausstaffiert „mit altertümlichen Geräten“ (NS 76), dem bereits benannten, mit Intarsienarbeiten dekorierten Delphinschreibtisch sowie zwei weiteren, dem Schreibschrein ähnelnden Tischen, die „sich aber nur darin unterschieden, daß jeder auf seiner Platte eine andere Gestaltung trug“ (NS 77) 890. Komplettiert wird das Ensemble durch „hochlehnige Sessel mit Schnitzwerk Flechtwerk und eingelegter Arbeit“ (NS 78), weiteren kostbaren Sitzgelegenheiten sowie Fahnen und Lederschirmen, auf denen „Blumen Früchte Tiere Knaben und Engel aus gemaltem Silber angebracht waren, das wie farbiges Gold aussah“ (NS 78). Zudem ist das Zimmer mit einem edlen, ebenfalls „aus Flächen alter eingelegter Arbeit“ (NS 78) zusammengefügten Fußboden belegt. Hierher wurden die Pläne und Entwürfe von Dingen gebracht, die man entweder in Holz ausführen wollte, oder die Anlagen in dem Garten oder systematisch in entsprechenden Verzeichnissen erfasst: Es handelt sich – neben den Büchern – etwa um die diversen Kunstobjekte, aber auch die im Garten des Anwesens befindlichen Pflanzensorten (vgl. zum Rosenverzeichnis NS 429); zudem verfügt man im Rosenhaus über „eine Zusammenstellung aller inländischen Hölzer“ (NS 196). Ferner werden sämtliche Wetterbeobachtungen akribisch in Büchern notiert (siehe etwa NS 603: „Ehe wir zu dem Abendessen gingen, zeichnete mein Gastfreund noch den Stand der naturwissenschaftlichen Geräte, welche sich auf Luftdruck Feuchtigkeit Wärme Elektrizität und dergleichen bezogen, in seine Bücher […].“). Auch lässt Risach an alle in der Schreinerwerkstatt des Rosenhauses nach altem Stile neu verfertigten Gegenstände ein die entsprechende Information enthaltendes Silberplättchen anbringen, „»[d]amit […] niemand irre geführt«“ (NS 259) und nicht suggeriert werde, es handle sich um Originalstücke, wie er Heinrich an dieser Stelle in Bezug auf die für den Sternenhof verfertigten Objekte erläutert. 890 „Sie hatten nämlich jeder ein Schild auf der Platte, wie es Ritter und adelige Geschlechter führten, nur waren die Schilde nicht gleich. Aber auf beiden Tischen waren sie umgeben und verschlungen mit Laubwerk Blumen- und Pflanzenwerk, und nie habe ich die feinen Fäden der Halme der Pflanzenbärte und der Getreideähren zarter gesehen als hier, und doch waren sie von Holz in Holz eingelegt.“ (NS 78)

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Umänderungen an Gebäuden betrafen. Es war gut, diese Entwürfe gerade in dieses Zimmer zu bringen, weil sie da eine sehr schöne und ausgezeichnete Umgebung antrafen, und sich daher jeder Fehler und jede Unzulänglichkeit, wenn derlei in dem Entwurfe waren, sogleich aufzeigte, und verbessert werden konnte. An dem Tage, wo mehrere Menschen in das Arbeitszimmer des alten Mannes kamen, war immer ein Teppich über den auserlesenen Fußboden desselben gebreitet, damit er keine Beschädigung erleide. (NS 195)

Aus diesem Bericht Heinrichs geht hervor, dass Reinheit und Ordnung (im Rosenhaus) nicht zuletzt eine aktive Schonung der Dinge implizieren, welche als höchste Zweckmäßigkeit angesichts des Erhalts der Schönheit der (Wohn-)Umgebung propagiert wird (vgl. etwa NS 82). Prinzipiell gilt im Rosenhaus die Schonung der Böden durch Sauberkeit, das heißt beispielsweise einer für Hausherr wie Gast gleichermaßen obligatorischen, akribischen Reinigung des Schuhwerks vor Eintreten in die Zimmer (vgl. NS 46 f.). 891 Um irreversiblen Defekten an hochwertigen Marmorböden und intarsierten (Holz-)Fußböden vorzubeugen, findet darüber hinaus in den betroffenen Regionen des Anwesens das probate Mittel der Filzpantoffeln konsequente Anwendung: Dies ist etwa in Bezug auf den Ammonitenmarmorgang 892 unabdingbar, wie Risach Heinrich bereits während der ersten Hausführung nach dessen Ankunft erläutert: „»Dieser Eingang […] ist eigentlich der Haupteingang; aber da ich mir nicht gerne das Pflaster des Ganges verderben lasse, halte ich ihn immer gesperrt […]. Des Pflasters willen muß ich Euch bitten, diese Filzschuhe anzuziehen.«“ (NS 45) 893 Sind derartige Pantoffeln nicht unmittelbar zur Hand, bleibt einzig, „auf den Fußspitzen [zu gehen], um den Boden zu schonen“ (NS 49). 894 Eine Alternative 891 In Bezug auf Risachs Angebot gegenüber Heinrich, letzterer möge sich seiner Reiseutensilien entledigen, berichtet Heinrich: „Als er dies gesagt, und ich ihm Folge geleistet hatte, trat er zu einer breiten Strohmatte und zu Fußbürsten, die sich am Ausgange des Zimmers befanden, reinigte sich an beiden sehr sorgsam seine Fußbekleidung, und lud mich ein, dasselbe zu tun.“ (NS 46) 892 Vgl. zu diesem etwa NS 45, 70, 75 und 325. 893 Daraufhin schlussfolgert Heinrich auch in Bezug auf den oben erwähnten Fußboden des Risachschen Arbeitszimmers: „Wir hatten wahrscheinlich wegen der Schönheit dieses Bodens bei dem Eintritte in diese Stube die Filzschuhe an unsern Füßen behalten.“ (NS 78) 894 „Das Zimmer enthielt nämlich einen schön getäfelten Fußboden, wie ich nie einen gleichen gesehen hatte. Es war beinahe ein Teppich aus Holz. Ich konnte das Ding nicht genug bewundern. Man hatte lauter Holzgattungen in ihren natürlichen

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zum Tragen der optisch unvorteilhaften Schuhe bietet allerdings die oben angedeutete Auslegung feiner Tuchstreifen oder geflochtener Matten (vgl. NS 640) 895, wie dies etwa am Vermählungstag von Heinrich und Natalie im Asperhof gehandhabt wird (vgl. NS 712). 896 In folgender Passage rechtfertigt Risach dezidiert die etwas einfacher realisierbare Maßnahme des Einsatzes der weichen Schuhe zur Instandhaltung der Böden gegenüber seinem Gast: „Ihr werdet Euch wundern, daß in meinem Hause Teile sind, in welchen man sich die Unbequemlichkeit auflegen muß, solche Schuhe anzuziehen; aber es kann mit Fug nicht anders sein, denn die Fußböden sind zu empfindlich, als daß man mit gewöhnlichen Schuhen auf ihnen gehen könnte, und die Abteilungen, welche solche Fußböden haben, sind ja auch eigentlich nicht zum Bewohnen sondern nur zum Besehen bestimmt, und endlich gewinnt sogar das Besehen an Wert, wenn man es mit Beschwerlichkeiten erkaufen muß.“ (NS 81) 897

Heinrich reagiert keineswegs verwundert über diesen Grundsatz, sondern entgegnet vielmehr, „daß die Vorrichtung sehr zweckmäßig sei, und daß sie überall angewendet werden muß, wo kunstreiche oder sonst wertvolle Fußböden zu schonen sind“ (NS 82). 898 Prinzipiell zeigt er sich (wie auch bei seinen Eltern) darum bemüht, den Farben zusammengesetzt, und sie in ein Ganzes von Zeichnungen gebracht. Da ich von den Geräten meines Vaters her an solche Dinge gewohnt war, und sie etwas zu beurteilen verstand, sah ich ein, daß man alles nach einem in Farben ausgeführten Plane gemacht haben mußte, welcher Plan mir selber wie ein Meisterstück erschien. Ich dachte, da dürfe ich ja gar nicht aufstehen, und auf der Sache herum gehen, besonders wenn ich die Nägel in Anschlag brachte, mit denen meine Gebirgsstiefel beschlagen waren.“ (NS 47) 895 Diese Stelle bezieht sich auf die Matten auf dem Marmorfußboden des Gartenhauses in Heinbach. 896 Vgl. hierzu auch NS 70: Im Falle des auf den Böden ausgelegten Tuchstreifens ist es gar untersagt, die Filzschuhe anzulegen – wohl, um nun den Tuchstreifen selbst zu schonen. 897 Vgl. zu den Filzpantoffeln sowie den zur Vermeidung einer Beschädigung der Böden aufgespannten Tuchstreifen beziehungsweise Wollstoffen, ferner Teppichen im Rosen- wie Sternenhof auch NS 75, 221, 257, 306, 325, 327, 337, 339, 500 f., 598 und 697. 898 Ein weiteres Beispiel betrifft die Schonung von Büchern und Kupferstichen, welche ein Gast im Rosenhaus ebenfalls zu akzeptieren habe, wie Heinrich erläutert: „So wie mein Gastfreund nicht Bücher aus dem Hause gab, wohl aber einem Gaste in sein Zimmer die verlangten bringen ließ, so tat er es auch mit den Kupferstichen, nur gab er immer gleich eine ganze Mappe in ein Zimmer nicht aber leicht einzelne Blätter. Er tat dies der Erhaltung und Schonung willen.“ (NS 360)

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Regeln des Hauses konform zu agieren und eine Beeinträchtigung des alltäglichen Verlaufs der Dinge in jedem Fall zu vermeiden, 899 denn – wie Biemel es formuliert – „[z]ur Ordnung gehört im Alltagsleben ein gewisser Rhythmus, der eingehalten wird. Deswegen ist im Roman ausdrücklich auf die Bedeutung dieses Rhythmus hingewiesen, und der Gastgeber bittet den Gast, ihn nicht zu verletzen.“ 900 Wie dies bereits – neben dem Tragen der Filzschuhe – anhand des obigen Beispiels der Versorgung der Bücher (in dem die Aspekte der Ordnung im direkten wie übertragenen Sinne gleichsam koinzidieren) sowie jenem der Schuhsäuberung deutlich geworden ist, gilt dies besonders für die Einhaltung den Tag strukturierender Gewohnheiten, welche in ihrer invarianten Regelmäßigkeit zu respektieren sind. In diesem Kontext gemahnt Risach Heinrich etwa – auf dessen Wunsch, noch ein wenig unter einem Baum im Garten zu verweilen – dass er „»gestern gesagt habe, daß in diesem Hause um zwölf Uhr zu Mittag gegessen wird«“ (NS 113); 901 Identisches gilt für das Abendessen, „das pünktlich immer zur gleichen Zeit sein mußte“ (NS 220) 902, wie Heinrich berichtet. Parallel zu der Geordnetheit der (Wohn-)Räume, übt die Orientierung an institutionalisierten häuslichen (wie allgemein gesellschaftlichen) Formen des Zusammenlebens als integrale Komponente des Alltags einen nicht minder positiven Einfluss auf die Persönlichkeit aus (von dem etwa in Bezug auf den Aspekt des Arbeitens noch zu handeln sein wird). Zudem handelt es sich bei die899 Gleiches nimmt sich Heinrich hinsichtlich seines Aufenthalts im Sternenhof vor; siehe hierzu beispielsweise NS 475 f., 479 und 500. Auch Natalie möchte generell „»eine Störung in der Hausordnung nicht verursachen«“ (NS 505), obgleich Heinrich in Bezug auf das Eintreffen Natalies sowie ihrer Mutter im Rosenhaus ohnehin konstatiert: „Die Ordnung des Hauses war durch die Ankunft der Frauen fast gar nicht gestört worden, nur daß solche Vorrichtungen vorgenommen werden mußten, welche die Aufmerksamkeit für die Frauen verlangte.“ (NS 222) 900 Biemel 1985, S. 58. 901 Diese Einrichtung ist Heinrich ebenfalls bereits von zuhause vertraut. So schildert er im Zuge der Vorstellung seiner Familienverhältnisse wie deren Gepflogenheiten auf der ersten Seite des Romans in Bezug auf seinen Vater, dieser komme von seinem Arbeitsplatz „um zwölf Uhr […] herauf, und es wurde in dem Speisezimmer gespeist“ (NS 7). 902 Vgl. hierzu auch die folgende, von Risach an Heinrich ergehende Aufforderung zu Beginn seines Besuches, nachdem erläutert wurde, als Gast dürfe er frei über seine Zeit verfügen – mit folgender Einschränkung: „»Nur müsset Ihr um acht Uhr wieder da sein, zu welcher Stunde Ihr zum Abendessen werdet geholt werden.«“ (NS 67)

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sen etablierten Interaktionsmustern selbstredend um ein Konstituens sozialer Gemeinschaft(en), wie Heinrich in Bezug auf das Rosenanwesen wie folgt formuliert: „In diesem Hause war jeder unabhängig, und konnte seinem Ziele zustreben. Nur durch die gemeinsame Hausordnung war man gewissermaßen zu einem Bande verbunden.“ (NS 190) Ist dieser in der Hausordnung (je) verankerte, diszipliniert zu respektierende Tages- und Jahresverlauf einerseits sehr engmaschig, kann dessen gewissenhafte Einlösung andererseits als Ausdruck der Achtung des Gegenübers interpretiert werden, was Bolterauer etwa anhand von Empfangs- beziehungsweise Verabschiedungsbräuchen in Bezug auf das Stiftersche Gesamtwerk festmacht: „So wie der Mensch als derjenige angesprochen werden möchte, als den er sich selbst sieht, so möchte er sich auch in der Berücksichtigung bestimmter Abschiedsfloskeln in seinem Selbstverständnis bestätigt sehen, um auf diesem bei weiteren Begegnungen aufbauen zu können.“ 903 Bolterauer schließt hieraus auf die Signifikanz alltäglicher Interaktionen, welche mitnichten irrelevant respektive ignorant zu übergehen, sondern vielmehr in ihrer gleichsam rituellen Dimension zu akzentuieren seien: Das, was passiert, ist nicht das Neue, Spontane, sondern das immer schon Bekannte, das Alte, das wiederholt werden muss. Vorzugsweise sind es Alltagshandlungen, die so ‚rituell‘ aufgewertet werden, wie Gänge, Begrüßungen, Verabschiedungen, Ess- und Schlafgewohnheiten, eingeführte Regeln im Umgang mit Mensch und Tier, Gebete und Blicke. 904

Auf den Aspekt des Rituellen beziehungsweise quasi-ritueller Handlungs- und Verhaltensweisen im Nachsommer wurde einleitend zu Kapitel III.2.3 bereits verwiesen. Laut Bolterauer versuche Stifter generell, mit Hilfe des Rituals „Ordnung herzustellen und zu behaupten […]. Im Ritual wird die Ordnung der Gesellschaft und des Kosmos bestätigt, im Ritual wird diese Ordnung allerdings auch 903 Bolterauer 2005, S. 401. Weiters konstatiert Bolterauer diesbezüglich: „Ähnliches gilt für die diffizile Kunst des Schenkens und Beschenkt-Werdens, die gleichermaßen ein subtiles Netz von Abhängigkeiten und Verbindlichkeiten voraussetzt und befestigt, innerhalb dessen ‚Verstöße‘ als ebenso untragbar erachtet werden wie offensichtliche Tabuvergehen oder Konventionsbrüche. Aber auch die Pflege der gemeinsamen Mahlzeit oder aber die Kunst, Grenzen zu ziehen und zugleich offen zu lassen, können als Hinweise für ein Gleichgewicht von Individualität und Sozialität erachtet werden […].“ (Ebd.) 904 Ebd., S. 18. Zum Aspekt des Lebens als eines „»Einerlei«“ vgl. beispielsweise NS 456–458 und Heinze 2008, S. 136 sowie Anm. 856 der vorliegenden Arbeit.

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erst wirklich. Das Ritual schafft eine neue Wirklichkeit, die, indem sie rituell bestätigt wird, als gültige präsentiert wird.“ 905 Die „Wiederholung des Immergleichen“ 906 ist per definitionem konstitutiv für ein (Alltags-)Ritual, dessen Effizienz sich – angesichts zu verhütender Unkalkulierbarkeit, Krisenhaftigkeit oder gar anarchieverdächtiger Zustände 907 – gleichsam anhand der Wirkungsstärke seiner Invarianz 908 bemisst. Demzufolge sind ferner Redundanzen 909 positiv konnotiert, als diese die klaren Strukturen eines (universellen) (Lebens-)Rhythmus festigen, welcher den Erhalt des Bestehenden sichert. Ein Abweichen davon könnte indessen prekäre Konsequenzen für die Entfaltung des Individuums wie die Stabilität der (Haus-)Gemeinschaft nach sich ziehen, denn „[j]ede Wandlung ist zugleich auch Erschütterung des Bestehenden. Die hier geschilderte Entwicklung dagegen ist vielmehr Einfügung in das Bestehende, und das setzt Rechtfertigung des Bestehenden voraus.“ 910 Die aktiv-affirmative Realisierung des Bestehenden, welche Bolterauer 2005, S. 11. Ebd., S. 17. 907 Vgl. ebd., S. 12. 908 Beispielsweise hält man sich in der Regel zur Einnahme der Mahlzeiten an eine feste Sitzordnung (vgl. etwa NS 215), welche (lediglich) in Ausnahmefällen durchbrochen werden darf, so mischt man etwa an einem Festtag im Sternenhof die aufgestellten Tischkarten neu – auf Basis „der Freimütigkeit des Landes“ (NS 451) und zwecks einer abwechslungsreicheren Unterhaltung, wie Heinrich erläutert. 909 So werden im Nachsommer zum Beispiel nicht nur Essenszeit und aufgetragene Speisen benannt, sondern zudem erfolgt eine detaillierte Schilderung des Prozesses der Austeilung der Mahlzeit: „Am oberen Ende des Tisches stand ein etwas größerer Stuhl, und vor ihm auf dem Tische ein Stoß von Tellern. Mein Gastfreund führte, da ein stummes Gebet verrichtet worden war, die Frau [Mathilde] zu diesem Stuhle, den sie sofort einnahm. […] Mir fiel es auf, daß er die Frau als ersten Gast zu dem Platze mit den Tellern geführt hatte, den in meiner Eltern Hause meine Mutter einnahm, und von dem aus sie vorlegte. Es mußte aber hier so eingeführt sein; denn wirklich begann die Frau sofort, die Teller der Reihe nach mit Suppe zu füllen, die ein junges Aufwartemädchen an die Plätze trug.“ (NS 214 f.) Die Essensausgabe erfolgt im Asper- und Sternenhof jeweils kongruent und unverändert. Siehe hierzu NS 252. 910 Biemel 1985, S. 34. Dies bezieht sich nicht zuletzt auf die gleichsam als Keimzelle quasi-ritueller Lebensmuster zu bezeichnende Struktur der Kernfamilie: „Das Bestehende sind hier die familiären Verhältnisse, die Beziehungen der Eltern zu den Kindern. Die Rechtfertigung geschieht dadurch, daß das, was die Eltern tun, als gut geschildert wird. Und dieses ‚gut‘ ist fundiert in der bestimmten Ordnung, die im Lebensrhythmus angefangen vom Tagesablauf und seiner Regelmäßigkeit bis zu den regelmäßigen Sommeraufenthalten herrscht.“ (Ebd.) 905 906

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einen stärkenden und mithin sinnstiftenden Effekt zur Folge hat, manifestiert sich – neben der oben bereits angeführten kollektiven Einnahme der Mahlzeiten – vor allem in der Verrichtung des (je individuellen) Tagwerks: Im Rosenanwesen werde jeder Tätigkeitskomplex – so etwa die ebenfalls bereits erwähnte Feldarbeit (vgl. NS 59), diverse weitere, primär physische Obliegenheiten im Meierhof (vgl. NS 595 f.) 911, theoretische wissenschaftliche Bestrebungen Risachs oder die Unterrichtsstunden Gustavs (vgl. etwa NS 190– 193) 912 – ungeachtet des Inhalts äußerst strukturiert und gewissenhaft betrieben: „[N]ach manchem freundlichen und erheiternden Gespräch stand man auf, um wieder zu seinen Geschäften zu gehen, die jedem ernst und wichtig genug waren“ (NS 601), wie Heinrich im Anschluss an ein Mittagsmahl zu berichten weiß. Die im Rosenhaus getätigten Erlebnisse erzeigen sich hinsichtlich seiner Persönlichkeitsentwicklung wie Arbeitserträge als richtungweisend, wie Heinrich im Kontext seiner Natur-, insbesondere Gebirgsforschungen konstatiert: „Als ich an meinem Bestimmungsorte angelangt war, war das erste, was ich tat, daß ich meine Zeit besser zu Rate hielt als früher. Ich mußte mir bekennen, daß die Art, wie in dem Rosenhause das Tagwerk betrieben wurde, auf mich von großem Einflusse sein sollte.“ (NS 200) 913 Unmittelbar erfährt Heinrich zudem die läuternde, geradezu heilende Wirkung kontinuierlichen, regelmäßigen Arbeitens und eröffnet: 911 Die Verrichtung der dortigen Tätigkeiten schildert Heinrich folgendermaßen: „Im Innern wurden die Arbeiten getan wie an jedem Tage. Die Knechte reinigten Getreide mit der sogenannten Getreideputzmühle, schaufelten es seitwärts, und maßen es in Säcke, damit es auf den Schüttboden gebracht werde. Der Meier war dabei beschäftigt, ordnete an, und prüfte die Reinheit. Ein Teil der Mägde war in den Ställen beschäftigt, ein Teil richtete auf der Futtertenne das Futter zurecht, ein Teil spann, und die Frau des Meiers ordnete in der Milchkammer.“ (NS 595 f.) 912 „Zum Unterrichte für Gustav waren gewisse Stunden festgesetzt, welche der alte Mann nie versäumte, andere Stunden waren für die Selbstarbeit bestimmt, welche Gustav wieder gewissenhaft hielt. Die übrige Zeit war zu freier Beschäftigung überlassen.“ (NS 192) Vgl. auch NS 190, 598. 913 Weiters erläutert Heinrich in Bezug auf das Rosenhaus und den dortigen Umgang mit der Zeit: „Da dort der Wert der Zeit sehr hoch angeschlagen, und dieses Gut sehr sorgfältig angewendet wurde, so fing ich […] an, mit viel mehr Ordnung als bisher nach einem einzigen Ziele während einer bestimmten Zeit hinzuarbeiten, während ich früher durch augenblickliche Eindrücke bestimmt mit den Zielen öfter wechselte, und, obwohl ich eifrig strebte, doch eine entsprechende Wirkung nicht jederzeit erreichte.“ (NS 200) Vgl. hierzu auch Biemel 1985, S. 57 f. sowie 117, Anm. 35.

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Das Regelmäßige der Beschäftigung übte bald seine sanfte Wirkung auf mich [aus]; denn was ich trotz der freudigen Stimmung, in welcher ich […] war, doch Schmerzliches in mir hatte, das wich zurück, und mußte erblassen vor der festen ernsten strengen Beschäftigung, die der Tag forderte, und die ihn in seine Zeiten zerlegte. (NS 410) 914

Während die Ordnung des Hauses, welche die tägliche Arbeit inkludiert und – wie in diesem Kapitel gesehen – mittels Berücksichtigung spezifischer Normen sowie eines besonders pfleglichen Umgangs mit den Dingen des Wohnumfeldes restituiert wird, letztlich zu einem entsprechend strukturierten Selbst führen soll, ist mit der in den nachstehenden Unterkapiteln zu erörternden fürsorglichen Pflege von Pflanzen und Tieren deren optimales Gedeihen, Gesundheit und mithin Schönheit intendiert. 2.3.2 Pflanzen- und Baumpflege „Nur der Sand war [durch den Wind] ein wenig gegen das Grün des begrenzenden Rasens gefegt worden, und ein Mann war beschäftigt, ihn wieder zu ebnen, und in ein gehöriges Gleichgewicht zu bringen.“ (NS 71) Nicht nur innerhalb des Wohnhauses wird, wie oben erörtert, penibel auf Sauberkeit und Ordnung geachtet, auch die Umgebung desselben gilt es adäquat in Stand zu halten – in diesem Fall den Platz vor dem Hause so, wie dieser Heinrich zu Beginn seines Besuches empfangen hatte – als „ein reiner durch den Rechen wohlgeordneter Sandplatz“ (NS 42). 915 Zudem spiegelt sich die bis in den Außenbereich des Anwesens reichende Akkuratesse des als Vorzeigemodell eines universell gelingenden (Alltags-)Lebens fungierenden Rosenhofs in unscheinbarsten Details der Gartenanlage: Exemplarisch sei an dieser Stelle die akribische Beschriftung ge914 Heinrich führt seine Reflexionen wie folgt fort: „Die Tätigkeit stärkte, und wenn ein Schwung und eine Erhebung in meinem Wesen war, so wurde der Schwung und die Erhebung durch die Tätigkeit noch klarer und fester.“ (NS 410) Vgl. auch NS 477. 915 Auf die Tatsache, dass auch im Garten des Rosenhauses alles seine Ordnung hat, das heißt, sämtliche Gegenstände ihren individuellen Platz sowie eine spezifische Funktion besitzen, wurde bereits eingangs zu Kapitel III.2.3 mittels des Zitats bezüglich des Futterkörbchens hingewiesen. So wird zum Transport des Vogelfutters nicht ein beliebiges Behältnis verwandt, sondern das zu diesem Zwecke „eigens geflochtene[s] sehr flache[s] und längliche[s] Fütterungskörbchen“ (NS 74), welches nach erfolgter Fütterung stets in der selben Mauernische abgestellt wird. (Vgl. NS 100 f.) Siehe zur Vogelfütterung vor allem die Ausführungen in Kapitel III.2.3.3

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nannt, welche sich – neben jener der als Vogelfutter verwendeten Sämereien 916 – im Garten auf feinen Blechtäfelchen findet, die die Namen sämtlicher Gewächse tragen, von jenen im Treibhaus (vgl. NS 101) über die Erdbeerpflanzen bis hin zu den (Obst-)Bäumen 917. Das Paradebeispiel der sich im Rosenhausgarten fortsetzenden Akribie und Sorgfalt liefern die eigens für die besonders gehegten Rosenbäumchen gefertigten, komplexen Kennzeichnungsvorrichtungen: „An jedem Stämmchen hing der Name der Blume auf Papier geschrieben und in einer gläsernen Hülse hernieder. Diese gläsernen Hülsen waren gegen den Regen geschützt, indem sie oben geschlossen, unten umgestülpt, und mit einer kleinen Abflußrinne versehen waren.“ (NS 130) 918 Dieses Beim-Namen-Nennen der einzelnen Gewächse – obschon sehr dezent realisiert – symbolisiert nicht zuletzt die fundamentale Bedeutsamkeit, welche selbst jenen Lebewesen innerhalb des „Rosenhaus-Kosmos“ eingeräumt wird. Über die gründliche Instandhaltung der Orte und Utensilien des Gartens hinaus erfolgen unter der qualifizierten Instruktion Risachs Pflege und Schutz der Pflanzen: „Abgebrochen oder abgeschnitten und in Gläser mit Wasser gestellt durften in diesem Hause keine Blumen werden, außer sie waren welk, so daß man sie entfernen mußte.“ (NS 232 f.) 919 Vgl. hierzu Anm. 705. Diesbezüglich berichtet Heinrich dem Leser während seines Ganges durch Risachs Garten über die gesehenen Obstbäume: „Auch an ihnen besonders aber an den zahlreichen Zwergbäumen sah ich weiße Täfelchen mit Namen.“ (NS 54) Diese Einrichtung der Namensschildchen registrierte der junge Risach bereits in dem Garten des Gutes Mathildes Eltern: „»Alle [Rosen-]Stämmchen trugen Täfelchen mit ihren Namen.«“ (NS 639; vgl. auch NS 649 f.) 918 Paradigmatisch hinsichtlich des im Nachsommer insgesamt vorherrschenden Sinnes für Reinheit und Ordnung, selbst im Bereich des Gartens, ist ferner nachfolgende Passage, in der Alfred, der kleine Bruder der damals jugendlichen Mathilde, seiner Schwester und Risach Folgendes auseinandersetzt, wie Letzterer berichtet: „»Er erzählte uns, daß die Namen der Bäume, die auf weiße Blechtäfelchen geschrieben sind, welche Täfelchen an Draht von dem untersten Aste jedes Baumes hernieder hängen, von den Leuten oft sehr verunreinigt würden, daß man sie alle putzen solle, und daß der Vater den Befehl erlassen solle, daß ein jeder, der einen Baum wäscht, putzt oder dergleichen, oder der sonst eine Arbeit bei ihm verrichtet, sich sehr in Acht zu nehmen habe, daß er das Täfelchen nicht bespritzt oder sonst eine Unreinigkeit darauf bringt.«“ (NS 650) Zuvor war Alfred selbst „»damit beschäftigt gewesen, einige Täfelchen, die […] schmutzig geworden waren, zu reinigen […].«“ (NS 649) 919 Im Gegensatz zu Blumensträußen sieht Heinrich dementsprechend im Rosen916 917

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Selbst im abgeblühten Stadium aber zeugt der Gesundheitszustand der Pflanzen von optimalem Umgang, wie etwa anhand der Aurikeln plausibel wird: „Sie waren wohl längst verblüht, aber ihre starken grünen Blätter zeigten, daß sie in guter Pflege waren.“ (NS 53) Entsprechendes trifft auf die Phase vor der Blüte zu: „[W]ohl entwickelte Nelken prangten in Töpfen auf einem eigenen Schragen, an dem Vorrichtungen angebracht waren, die Blumen vor Sonne zu bewahren. Sie waren noch nicht aufgeblüht, aber die Knospen waren weit vorgerückt, und ließen treffliche Blumen erahnen.“ (NS 53) 920 Ergänzend zu diesen summarischen Hinweisen soll anschließend schwerpunktmäßig die aufwendige wie fachgerechte Kultivierung der im Nachsommer landesweit prominenten Rosen 921,

haus „an jedem nur einigermaßen geeigneten Platze Blumen [in Töpfen] aufgestellt“ (NS 80). Auch im Rosengarten des Hauses Heinbach ist es untersagt, Blumen zu pflücken oder Zweige abzubrechen. (Vgl. NS 639, 653, ferner 642) Dies vermittelt Heinrich schließlich auch seiner Schwester Klotilde (vgl. NS 519), während er allerdings zuvor selbst im Zuge seiner Wanderungen stets Wildpflanzen gesammelt hatte (beispielsweise Enzian, Edelweiß und Alpenrosen), um deren Beschaffenheit exakt zu studieren. Gleichwohl könnte man ihm diesbezüglich mildernd zugute halten, dass es nicht willkürlich, sondern zum Zwecke des Forschens und Lernens geschah. Ferner ist an einer Stelle des Romans von Natalie die Rede, welche Blumen für einen Blumenstrauß pflückt, allerdings handelt es sich um außerhalb des Gartens wachsende Wildblumen. (Vgl. NS 429–431, 433 und 438) Siehe zu dem auf dem Rosenhof geltenden Verbot des Brechens der Blumen auch die in Kapitel I.1.2 angeführte, selbst auf den Erhalt von Pflanzen gehende Maxime Albert Schweitzers, über das notwendige Schädigen von Lebewesen niemals hinauszugehen (vgl. K 340) sowie William Jammes’ Darlegungen bezüglich der nicht zu brechenden Rose in Kapitel III.1. 920 Des Weiteren berichtet Heinrich, „auch die Levkoje […] stand in großer Anzahl und Schönheit so wie in vielen Arten da. […] Selbst in Töpfen sah ich diese Blumen gepflegt, und an zuträgliche Orte gestellt.“ (NS 53) Zur Erwähnung der Nelken und Levkojen vgl. auch Stadler 2009, S. 91. 921 Die außergewöhnliche Verehrung dieser Pflanzenart geht auf eine „»Jugenderinnerung«“ (NS 128) Risachs zurück, auf die die Autorin bereits in anderem Kontext verwiesen hat: „Wie auch die altertümlichen Geräte erinnert Risach eine verblühende Rose an seine in die Jahre gekommene Jugendliebe Mathilde (vgl. NS 53, 209, 230, 677). In der üppigen Rosenwand […] setzt Risach dieser wahrhaftig ein Denkmal: Jedes Jahr zur Rosenblüte laben sich die alten Leute an der Pracht der mit äußerster Liebe und Sorgfalt gehegten Blumen, gedenken des entbehrten jungen Glückes und erfreuen sich des späten Zusammenfindens.“ (Heinze 2008, S. 76, Anm. 73) In vorliegendem Kontext soll allerdings auf eine eingehende Analyse der Rosensymbolik des Romans verzichtet und die Rosen als Paradebeispiel der auf dem Asperhof akribisch betriebenen Pflanzenpflege angeführt werden.

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gefolgt von jener der in elaborierten Treibhäusern gedeihenden Kakteen 922 und schließlich der Bäume fokussiert werden. Ich hatte eine Vorrichtung dieser Art in einem so großen Maßstabe noch nie gesehen. Es waren fast alle Rosengattungen da, die ich kannte, und einige, die ich noch nicht kannte. Die Farben gingen von dem reinen Weiß der weißen Rose durch das gelbliche und rötliche Weiß der Übergangsrosen in das zarte Rot und in den Purpur und in das bläuliche und schwärzliche Rot der roten Rosen über. Die Gestalten und der Bau wechselten in eben demselben Maße. (NS 41) 923

Auf die einzigartige Prächtigkeit der Risachschen Rosengewächse wurde bereits verwiesen. Heinrichs Ausdruck der Begeisterung bezieht sich an dieser Stelle explizit auf die für das Rosenhaus charakteristische, „über und über mit Rosen bedeckt[e]“ (NS 40) Außenwand(konstruktion), 924 die Heinrich – angesichts deren eminent 922 Siehe zu dem auf eine Leidenschaft Stifters selbst zurückgehenden Kakteensammeln ebd., S. 72, Anm. 61 sowie Stadler 2009, S. 107: „‚Die Pflege dieser merkwürdigen Gewächse hat für mich in meiner Einsamkeit etwas Reizendes und Seelenerfüllendes, da mir das Gedeihen und wundervolle Blühen dieser Gewächse den Umgang mit Menschen ersetzt. Ich bin hier verödeter, als wenn ich bei Rosenberger ein Häuschen mit Garten und Glashaus besäße‘, schreibt Stifter im Mai 1857 aus Linz, mitten in der Arbeit am Nachsommer.“ Vgl. zu den Kakteen auch ebd., S. 91, 137 f. sowie 166. 923 In Bezug auf das immense Farbenspektrum der Rosen sowie die Wirkung, die diese auf Heinrich ausübten, sei ergänzend auf folgende Passage hingewiesen: „In ihrer Farbe von dem reinsten Weiß in gelbliches Weiß in Gelb in blasses Rot in feuriges Rosenrot in Purpur in Veilchenrot in Schwarzrot zogen sie an der Fläche dahin, daß man bei lebendiger Anschauung versucht wurde, jenen alten Völkern recht zu geben, die die Rosen fast göttlich verehrten, und bei ihren Freuden und Festen sich mit diesen Blumen bekränzten.“ (NS 231) 924 Vgl. zu dem Rosengitter an der Hauswand etwa auch Anm. 842 dieser Arbeit. Während Heinrich eine solch über die Maßen gelungene Gestaltung einer Hausmauer bis dato fremd war, kannte Risach dagegen eine derartige Einrichtung bereits aus dem Gartenhaus in Heinbach, wie er seinem Gast später berichten wird: „»Die Außenseite dieses Hauses war ganz mit Rosen überdeckt. Es waren Latten an dem Mauerwerke angebracht, und an diese Latten waren die Rosenzweige gebunden. Sie standen in der Erde vor dem Hause, hatten verschiedene Größe, und waren so gebunden, daß die ganzen Mauern überdeckt waren. Da eben die Zeit der Rosenblüte war, und diese Rosen auch außerordentlich reich blühten, so war es nicht anders, als stände ein Tempel von Rosen da, und es wären Fenster in dieselben eingesetzt. Alle Farben, von dem dunkelsten Rot, gleichsam Veilchenblau, durch das Rosenrot und Gelb bis zu dem Weiß waren vorhanden. Bis in eine große Entfernung verbreitete sich der Duft. […] Außer den Rosen an dem Gartenhause waren auf dem ganzen Platze Rosengesträuche und Rosenbäumchen in Beeten zerstreut. Sie waren nach einem sinnvollen Plane geordnet, das zeigte sich gleich bei dem

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„bewunderungswürdigen Anblick[s]“ (NS 40) – auf seiner Wanderung gleichsam zu dem Hofgut gelockt hatte: „[D]ie Rosen schienen sich das Wort gegeben zu haben, alle zur gleichen Zeit aufzubrechen, um das Haus in einen Überwurf der reizendsten Farbe und in eine Wolke der süßesten Gerüche zu hüllen.“ (NS 40) Enthusiastisch verbalisiert Heinrich seine Überzeugung, dass „die Pflanzen hier in einer Vollkommenheit zu sehen seien wie sonst nirgends“ (NS 124). 925 Dieser Bewertung Risachs Rosen schließt sich Arnold Stadler in nachstehendem pointierten Kommentar unmittelbar an: „Es gibt keine schöneren. Und keine anderen. Diese Rosen sind der Gipfel.“ 926 Heinrich zeigt sich bestrebt, das „Geheimnis“ der Makellosigkeit dieser Rosenpflanzen zu ergründen, – hätten diese doch (über deren gebirgsnahe Heimatgegend hinaus) aufgrund ihres spezifischen und mithin unnatürlichen Arrangements an der Hauswand in Hinsicht auf allumfassendes Wachsen und Gedeihen „»eigentlich die ungünstigsten Bedingungen«“ (NS 125)! 927 Man habe nur sukzessive diesen optimalen Zustand der Pflanzen erreichen können, setzt Risach seinem Gast im Zuge der detaillierten Erläuterung des Prozesses der Bepflanzung seiner Hauswand auseinander. Obgleich ein gewisser Erfahrungsschatz Risachs dem Projekt habe dienlich sein können, seien während der konkreten Realisierung „»viele Fehlgriffe getan worden. Wir lernten aber, und griffen die Sache dann der Ordnung nach an.«“ (NS 125) Da man prinzipiell keine profunde Kenntnis darüber zu erlangen vermöge, „»welches denn der letzte Grund des Gedeihens lebendiger Wesen überhaupt ist,«“ (NS 127) habe man sich an der evidenten Annahme orientiert, „»daß den Rosen am meisten gut tun müsse, was von Rosen kömmt«“ (NS 127) und somit auf eine hochwertige Erde als ersten Blicke.«“ (NS 639) Vgl. zu den Rosen in Heinbach auch NS 653 sowie ferner zu jenen im Garten der Eltern Heinrichs NS 519. 925 Siehe hierzu auch folgende rühmenden Worte Heinrichs über „die besondere Vollkommenheit dieser Gewächse, die [er] nirgends gesehen habe, so daß keine unvollkommene Blume, kein dürrer Zweig, kein unregelmäßiges Blatt vorkömmt“ (NS 127). 926 Stadler 2009, S. 138. Vgl. zu den Rosen im Nachsommer ferner ebd., S. 91–93, 95, 136 f., 166, 183 sowie 196. 927 „»Da ist das hölzerne Gitter, an das sie mit Zwang gebunden sind, die weiße Wand, an der sich die brennenden Sonnenstrahlen fangen, das Überdach, welches dem Regen Taue und dem Einwirken des Himmelsgewölbes hinderlich ist, und endlich hält das Haus ja selber den freien Luftzug ab.«“ (NS 125)

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essenzielles Kriterium des Wachstums gesetzt – exakter formuliert, auf aus Überresten der Pflanzen produzierte Rosenerde, welche „»teils von anderen Orten verschrieben, teils nach Angabe von Büchern […] im Garten bereitet [wurde].«“ (NS 125) 928 Des Weiteren wurde ein ausreichend tiefer Graben an der Hauswand ausgehoben, mit der präparierten Erde befüllt, schließlich das für die Rosenwand konstruierte Holzgitter, „»welches reichlich mit Ölfarbe bestrichen war, daß es vom Wasser nicht in Fäulnis gesetzt werden konnte, aufgerichtet, und eines Frühlings wurden die Rosenpflanzen […] in die lockere Erde gesetzt.«“ (NS 125 f.) 929 Die sich entfaltenden Pflanzen, die Risach teilweise eigens kultiviert, teilweise von einem Blumenhändler erhalten hatte, seien endlich „»angebunden, im Laufe der Jahre versetzt, verwechselt, beschnitten und dergleichen [worden], bis sich die Wand allgemach füllte.«“ (NS 126) Bei der exquisiten Erde 930 handle es sich allerdings nicht um das alleinige Kriterium möglichst idealer Wachstumsumstände der Rosenpflanzen, ein in adäquater Dosierung erfolgender Einfluss der Komponenten Sonne respektive Licht, Luft und Feuchtigkeit sei

Auch die Herstellung der speziellen Rosenerde auf seinem Anwesen setzt Risach Heinrich auseinander: „»Wir ließen […] seit jeher alle Rosenabfälle sammeln, besonders die Blätter und selbst die Zweige der wilden Rosen, welche sich in der ganzen Gegend befinden. Diese Abfälle werden zu Hügeln in einem abgelegenen Teile unseres Gartens zusammengetragen, den Einflüssen von Luft und Regen ausgesetzt, und so bereitet sich die Rosenerde. Wenn in einem Hügel sich keine Spur mehr von Pflanzentum zeigt, und nichts als milde Erde vor die Augen tritt, so wird diese den Rosen gegeben.«“ (NS 127) 929 Als Heinrich einmal näher an die mit Rosen bedeckte Hauswand herantritt, wird es ihm möglich, sich von der Richtigkeit der Risachschen Schilderungen zu überzeugen: „Ich sah nun wirklich die reichliche Erde, in welcher die Stämmchen standen, und die nicht von einem einzigen Gräschen bewachsen war. Ich sah das gutbestrichene Holzgitter, an welchem die Bäumchen angebunden, und an welchem ihre Zweige ausgebreitet waren, daß sich keine leere Stelle an der Wand des Hauses zeigte.“ (NS 130) 930 Nicht zu vergessen sei auch deren rechtzeitiger Austausch: Während der (Neu-) Setzung der Rosenpflanzen werde darauf geachtet, dass der Graben jeweils ausreichend Rosenerde enthalte, um den Pflanzen einen hohen Nährstoffgehalt über mehrere Jahre zu garantieren. Sei die Erde jedoch nach dieser Zeit für die (entsprechend älteren) Rosen gleichsam aufgezehrt, würden diese Pflanzen „»mit einer Erneuerung beteilt. Entweder wird die Erde oberhalb ihrer Wurzeln weggetan, und ihnen neue gegeben, oder sie werden ganz ausgehoben, und ihr Standpunkt durchaus mit frischer Erde erfüllt. Es ist auffällig sichtbar, wie sich Blatt und Blume an dieser Gabe erfreuen.«“ (NS 127) 928

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diesbezüglich (erfahrungsgemäß) nicht minder von Relevanz. (Vgl. NS 127) Um diesen auch angesichts der aus der Platzierung der Rosenbäumchen unmittelbar an der Hauswand resultierenden, eher widrigen Standortbedingungen zu ermöglichen und somit ein exzellentes Gedeihen der dortigen Pflanzen dauerhaft sicherzustellen, galt es, weitere „»bedeutende Anstalten«“ (NS 126) vorzunehmen und der Natur infolgedessen ein wenig „nachzuhelfen“: Zur Kanalisierung beziehungsweise optimalen Nutzung jener elementaren Naturkräfte konzipiert Risach mit Hilfe seiner Mitarbeiter technisch raffinierte Apparaturen, deren äußerst detaillierte Erläuterung in ihrer präzedenzlosen Konkretion einmal mehr ein Nachkonstruieren denkbar macht, und anhand derer nicht zuletzt plausibel wird, auf welch eifrige Weise man sich im Nachsommer im Bereich der Pflanzen-, insbesondere Rosenpflege engagiert. Aufgrund dessen soll die entsprechende Passage an dieser Stelle in voller Länge zitiert werden: „Wir haben gegen die Sonne eine Rolle Leinwand unter dem Dache anbringen lassen, die durch leichte Züge mit Schnüren in ein Dach über die Rosen verwandelt werden kann, das nur gedämpfte Strahlen durchläßt. So werden die Pflanzen vor der zu heißen Sommersonne und die Blumen vor derjenigen Sonne geschützt, die ihnen schaden könnte. […] Was Ihr von Tau und Regen sagt, so steht das Gitter nicht so nahe an dem Hause, daß die Einflüsse des freien Himmels ganz abgehalten werden. Tau sammelt sich auf den Rosen und selbst Regen träufelt auf sie herunter. Damit wir aber doch nachhelfen, und zu jener Zeit Wasser geben können, wo es der Himmel versagt, haben wir eine hohle Walze unter der Dachrinne, die mit äußerst feinen Löchern versehen ist, und aus Tonnen, die unter dem Dache stehen, mit Wasser gefüllt werden kann. Durch einen leichten Druck werden die Löcher geöffnet, und das Wasser fällt wie Tau auf die Rosen nieder. Es ist wirklich ein angenehmer Anblick, zu sehen, wie in Zeiten hoher Not das Wasser von Blättern und Zweigen rieselt, und dieselben sich daran erfrischen. Und damit es endlich nicht an Luft gebricht, wie Ihr fürchtet, gibt es ein leichtes Mittel. Zuerst ist auf diesem Hügel ein schwacher Luftzug ohnehin immer vorhanden, und streicht an der Wand des Hauses. Sollten aber die Blumen an ganz stillen Tagen doch einer Luft bedürfen, so werden alle Fenster des Erdgeschosses geöffnet, und zwar sowohl an dieser Wand als auch an der entgegengesetzten. Da nun die entgegengesetzte Seite die nördlichste ist, und dort die Luft durch den Schatten abgekühlt wird, so strömt sie bei jenen Fenstern herein und bei denen der Rosen heraus. Ihr könnt da an den windstillsten Tagen ein sanftes Fächeln der Blätter sehen.“ (NS 126)

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Weitere integrale Bestandteile des auf dem Anwesen Risachs intensiv betriebenen Rosenschutz- sowie -zuchtprogramms stellen „»das Rosenhospital«“ (NS 127; Herv. sind zugefügt) und die Rosenschule 931 (vgl. NS 127), in welcher in „»Vermehrungsbeeten«“ (NS 128) junge Pflanzen nachgezogen würden, dar. Denn trotz sorgfältigster Pflege und des Einsatzes explizierter aufwendiger Vorrichtungen sei es unmöglich, sämtliche Leiden von den Pflanzen abzuwenden – selbst Risach habe hin und wieder Verluste zu beklagen, „»denn immer entstehen manche Übel aus Ursachen, die wir nicht ergründen können, oder die, wenn sie auch ergründet sind, wir nicht zu vereiteln mögen. Endlich trifft ja die Gewächse wie alles Lebende der natürliche Tod.«“ (NS 127) Gleichwohl versuche man im Rosenhaus alles in menschlichem Einflussrahmen Befindliche, um entstandenes Übel möglichst rasch und schonend zu lindern und potenzielles abzuwenden: Erkrankte Pflanzen würden schleunigst ausgehoben, zur Regeneration in besagtes gutsinternes „Rosenhospital“ verbracht und durch frische Setzlinge aus der Rosenschule eingetauscht; gänzlich abgestorbene beziehungsweise nicht mehr restitutionsfähig erscheinende kranke Gewächse unverzüglich eliminiert, um einer Infizierung gesunder Nachbarstämmchen vorzubeugen; ebenso würden angegriffene oder bereits zugrunde gegangene Pflanzenteile vom Rosengitter entfernt. (Vgl. NS 127 f.) Risach erläutert: „Die beste Zeit ist der Frühling, wo die Zweige bloß liegen. Da werden Winkelleitern, die uns den Zugang zu allen Teilen gestatten, angelegt, und es wird das ganze Gitter untersucht. Man reinigt die Rinde, pflegt sie, verbindet ihre Wunden, knüpft die Zweige an, und schneidet das Untaugliche weg. Aber auch im Sommer entfernen wir gleich jedes fehlerhafte Blatt und jede unvollständige Blume.“ (NS 128) 932

Im Laufe der Jahre zeigten sich sämtliche Bewohner und Mitarbeiter des Asperhofes an Gesundheit und Erhaltung der Rosenstämmchen interessiert, beteiligten sich überdies allesamt am „RosenNeben der Rosenschule existiert auf dem Asperhof eine Nelkenschule (vgl. NS 53) sowie eine Obstschule (vgl. NS 147 f.). In letzterer werden die im Garten des Rosenhauses kultivierten Obstbäume (nach-)gezogen. 932 In der Tat beobachtet Heinrich nach Überschreiten des Zenits der Rosenblüte, „daß man öfter die Leiter und die Schere zur Hand nehmen mußte, um Verunzierungen zu beseitigen“ (NS 233). Gleichwohl ist selbst im Rosenhaus nicht restlos alles perfekt: Bei seiner Wiederkehr zu seinem Gastfreund registriert Heinrich die ein oder andere welke Blüte, „die man abzunehmen vergessen hatte“ (NS 474). 931

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dienst“ (NS 155) und informierten Risach eilends, „»wenn sich etwas Unrechtes bemerken läßt«“ (NS 128). Eine weitere, zunächst für die Angehörigen des Anwesens organisierte Institution bilde die alljährlich stattfindende sogenannte „Rosenschau“ (NS 226), zu dem Zeitpunkt im Jahresverlauf, „[d]a die Rosen immer mehr der Entfaltung entgegen gingen“ (NS 224): Wie Heinrich berichtet, wurden zu diesem Zwecke „Sessel und Stühle in einem Halbkreise auf dem Sandplatze vor dem Hause aufgestellt […] und ein langer Tisch wurde in die Mitte gestellt“ (NS 224) sowie mittels Speisen und Getränken für das leibliche Wohl der Teilnehmenden gesorgt. Man habe schließlich (ferner anhand zu Rate gezogener „Druckwerke und Abbildungen“, NS 225) über Modifikationen innerhalb der Konstellation der Stämmchen debattiert und – um das farbliche Gesamtbild der Rosenwand zu perfektionieren – über die Versetzung mancher Pflanze. Heinrich resümiert das im Zuge der Analyse recht einhellig ausfallende Ergebnis sowie die Bilanz hinsichtlich des Zustandes der Gewächse wie folgt: Der allgemeine Ausspruch ging dahin, daß man es nicht tun solle, es täte den Bäumchen wehe, und wenn sie groß wären, könnten sie sogar eingehen; […]. Es wurde also beschlossen, die Bäume stehen zu lassen, wie sie standen. Man sprach sich nun über Eigenschaften der verschiedenen Bäumchen aus, man beurteilte ihre Trefflichkeit an sich, […] und oft wurde der Gärtner um Auskunft angerufen. Über die Gesundheit der Pflanzen und ihre Pflege konnte kein Tadel ausgesprochen werden, sie waren heuer so vortrefflich, wie sie alle Jahre vortrefflich gewesen waren. (NS 225)

Risachs Angaben zufolge, habe man mittlerweile „»[a]uch in der Umgegend […] Wohlgefallen an diesen Blumen gefunden, man setzt sie in Gärten und pflegt sie, ich schenke den Leuten die Pflanzen aus meinen Vermehrungsbeeten, und unterrichte sie in der Behandlung.«“ (NS 128) Wie Heinrich dem Leser weiters schildert, sei nämlich der Genuss des vorzüglichen Anblicks der Rosenwand den Anwohnern der Gegend nicht vorenthalten worden: „Es kamen wiederholt Besuche an, die Rosen zu sehen. Die […] zweckmäßige Pflege, welche sie da erhielten, war in der Nachbarschaft bekannt geworden, und da kamen manche, welche sich wirklich an dem ungewöhnlichen Ergebnisse dieser Zucht ergötzen wollten […].“ (NS 232) 933 Diese Okkasion hätten mitunter auch Landwirte ergriffen, 933

Vgl. zu den „Rosen(schau)besuchern“ auch NS 225 f. Unter diesen findet sich

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welchen dann nicht lediglich die Rosen präsentiert worden seien, „sondern auch alles andere im Hause und Garten, das sie zu sehen wünschten […]“ (NS 232). Denn abgesehen von den prächtig entwickelten Rosen, die (neben jenen an der Hauswand) in diversen attraktiven Arrangements im Garten Risachs verteilt gewesen seien, 934 nahmen – wie erwähnt – Gemüsekulturen „die weiten und größeren Räume ein. Zwischen ihnen und an ihren Seiten liefen Anpflanzungen von Erdbeeren. Sie schienen besonders gehegt, waren häufig aufgebunden […]“ (NS 54), ebenso die bereits genannten Obstbäume 935 sowie Pfirsichgitter (vgl. NS 67) und Weinreben, „obwohl das Land der Pflege dieses Gewächses nicht ganz günstig ist“ (NS 67), 936 wie Heinrich in Bezug auf Letztere konstatiert. Auch wurden exotische Fruchtgewächse wie etwa „Zitronen- und Orangenbäume in Kübeln“ (NS 101) gezüchtet. Des Weiteren sind – wie in Kapitel III.2.3 einleitend angedeutet – die Gewächshäuser des Anwesens ebenfalls vortrefflich in Stand gehalten und äußerst professionell ausgerüstet, so etwa das in ein „nicht unbeträchtlich große[s] Kalthaus[es]“ (NS 596) sowie ein „Warmhaus[es]“ (NS 596) untergliederte große Treibhaus. Dieses beherberge – wie Heinrich von seiner Gartenführung mit Risach berichtet – auf soliden Gerüsten diverse Blühpflanzen, beispielsweizuweilen auch der Pfarrer von Rohrberg, um einige der Pflanzen in ein Buch zu zeichnen („er wendete sogar Wasserfarben an, um die Farben der Blumen so getreu als nur immer möglich ist, nachzuahmen“ (NS 232), wie Heinrich berichtet) und auf diese Weise eine Erinnerung an jene Rosensorten zu haben, die er in den partiell neu angelegten Garten des Pfarrhauses zu integrieren gedenkt. 934 „Entweder stand hie und da auf einem geeigneten Platze ein einzelnes Bäumchen, oder es waren Hecken nach gewissen Richtungen angelegt, oder es zeigten sich Abteilungen, wo sie gute Verhältnisse zum Gedeihen fanden, und sich dem Auge angenehm darstellen konnten. Eine Gruppe von sehr dunkeln fast violetten Rosen war mit einem eigenen zierlichen Gitter umgeben, um sie auszuzeichnen, oder zu schützen. Alle Blumen waren wie die vor dem Hause besonders rein und klar entwickelt, sogar die verblühenden erschienen in ihren Blättern noch kraftvoll und gesund.“ (NS 52 f.) 935 Auch hier existiert eine Schule (vgl. Anm. 931), von deren prächtig gedeihenden Setzlingen die Nachbarn Risachs profitieren: „»Von den Stämmchen, die in unserer Obstschule wachsen, geben wir ihnen ab, und unterrichten sie, wie und auf welchen Platz sie gesetzt werden sollen.«“ (NS 147 f.) 936 „Es waren eigene dunkle Mauern aufgeführt, an denen die Reben mittelst Holzgittern empor geleitet wurden. Durch andere Mauern wurden die Winde abgehalten. Gegen Mittag allein waren die Stellen offen. So sammelte er [Risach] die Hitze, und gewährte Schutz.“ (NS 67)

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se „Kamelien mit gut gepflegten grünen Blättern, Rhododendren, darunter, wie mir die Aufschrift sagte, gelbe, die ich nie gesehen hatte, Azaleen in sehr mannigfaltigen Arten, und besonders viele neuholländische Gewächse. Von Rosen war die Teerose in hervorragender Anzahl da […].“ (NS 101) 937 Außerdem befinde sich neben diesem Gebäude „ein kleines Glashaus mit Ananas“ (NS 101) und nicht zuletzt ein bemerkenswert filigranes, gleichwohl „mit einem starken eisernen Gitter wahrscheinlich des Hagels wegen umspannt[es]“ (NS 116) gläsernes Kaktushaus „auf eine[m] Platz, der mit Sand bedeckt war, der von allen Seiten der Sonne zugänglich, und doch durch die Bäume und Gebüsche, die ihn in einer gewissen Entfernung umgaben, von heftigen Winden geschützt war“ (NS 116). Als Heinrich mit dem betagten Gärtner Simon, welcher ihm Konstruktion und Funktion respektive Inhalt des letzteren Häuschens en détail erläutert, selbiges betritt, bietet sich ihm ein imposanter Anblick: Mehr als hundert Arten [von Kakteen] standen in Tausenden von kleinen Töpfen da. Die niederen und runden standen frei, die langen, welche Luftwurzeln treiben, hatten Wände von Baumrinden neben sich, die mit Erde eingerieben waren, damit die Pflanzen die Luftwurzeln in sie schlagen konnten. Alle Glastafeln über unseren Häuptern waren geöffnet, daß die freie Luft den ganzen Raum durchdringen konnte, und doch die Wirkung der Sonnenstrahlen nicht beirrt war. Die Töpfe standen in Reihen auf hölzernen Gestellen, die Gestelle aber waren wieder unterbrochen, so daß man in alle Richtungen herum gehen, und alles betrachten konnte. Der Gärtner führte mich herum und zeigte mir die Abteilungen und Unterabteilungen, in welchen die Gewächse beisammenstanden. (NS 116 f.) 938

Wie obige Passage sowie die Tatsache, dass eine „Sammellinse“ (NS 531) 939 zum Einsatz kommt, „um die Gestaltungen der Pflanzenkörper unter dem Einflusse des vollen Sonnenlichtes betrachten zu können“ (NS 532), belegt, wird zweifelsohne auch jenen speziellen Gewächsen im Rosenhaus die ihnen gebührende Achtsamkeit zu937 Vgl. zu diesem Gewächshaus und den darin befindlichen Pflanzen auch NS 116, 531, ferner 59, 67, 72, 185, 187, 207, 214, 228, 605, 702 und 705. 938 Vgl. zu dem Kaktushaus und darüber hinaus den Kakteengewächsen als solchen NS 116–118, 207, 214, 241 f., 248 f., 280, 531–533, 596 f. sowie 721–723. 939 Bezüglich dieser informiert Gärtner Simon Heinrich, dass der Hausherr „das Vergrößerungsglas eigens zum Betrachten der Kakteen habe machen, es in das schöne Elfenbein fassen, und in das reine Sammetfach habe legen lassen“ (NS 532).

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teil. Paradigmatisch bekundet sich dies anhand der qualifiziert durchgeführten Rettungsaktion 940 einer in desolatem Zustand vorgefundenen Kaktuspflanze der Gattung Cereus peruvianus 941 aus dem benachbarten Inghof, an welcher Heinrich maßgeblich beteiligt ist: Als dieser – die in diametralem Kontrast zu der mustergültigen Pracht der Kakteen des Rosenhofs stehende Verelendung der Pflanze unmittelbar registrierend 942 – Risach den Sachverhalt kommuniziert, erwirbt letzterer daraufhin die Pflanze. (Vgl. NS 280) Im Asperhof werden schließlich sämtliche Vorkehrungen getroffen, um dem Gewächs eine realistische Genesungschance zu gewähren, infolgedessen sich die Pflanze tatsächlich erholt. Heinrich berichtet gemäß Simon, „[d]ie gelbliche Farbe vom Inghofe sei in die dunkelblaugrüne gleichsam mit einem Dufte überflogene übergegangen, welche die völlige Gesundheit der Pflanze beweise. Wenn es so fortgehe, so könne auch noch die Freude der fabelhaften weißen Blumen […] in dieses Haus kommen.“ (NS 532) Die Pflanze war in freien Grund gestellt, man hatte für sie einen eigenen Aufbau gleichsam ein Türmchen von doppeltem Glas auf dem Kaktushause errichtet, und hatte durch Stützen oder durch Lenkung der Sonnenstrahlen auf gewisse Stellen des Gewächses Anstalten getroffen, daß der Cereus, der sich an der Decke des Gewölbes im Inghofe hatte krümmen müssen, wieder gerade wachsen könne. (NS 280)

Selbst in Herbst und Winter präsentierten sich sowohl Gewächshäuser als auch alle weiteren Regionen des Risachschen Gartens dem Besucher in tadelloser Beschaffenheit; um Schäden an Gebäuden abzuwehren sowie den Pflanzen ein optimales Überdauern der kälteren Jahreshälfte zu gewährleisten, seien sämtliche erforderliVgl. hierzu NS 241 f., 248 f. sowie 280. Wie Stadler anmerkt, handelt es sich bei diesem Gewächs um „einen peruanischen Kaktus“ (Stadler 2009, S. 137 f.). Vgl. auch ebd., S. 107 sowie NS 117, 241 f., 248 f., 280, 531 f., 597 und 721–723. 942 „Ich kannte nicht genau, wie weit sich diese Pflanzen überhaupt entwickeln, und welche Größe sie zu erreichen vermögen; aber eine größere habe ich nirgends gesehen. Daß man sie in Ingheim nicht viel achtete, erkannte ich ebenfalls; denn der Winkel des Gewächshauses, in welchem sie in freiem Boden stand, war der vernachlässigteste, es lagen Blumenstäbe Bastbänder welke Blätter und dergleichen dort, und man hatte ihn mit Gestellen, auf welchen andere Pflanzen standen, verstellt, daß sein Anblick den Augen entzogen werde.“ (NS 249) Zudem beklagt sich Gärtner Simon gegenüber Heinrich hinsichtlich der fahrlässigen Behandlung des Kaktus: „»Sie bringen ihn nie zur Blüte. Wenn ich ihn hier hätte, so würde er bald so weiß wie meine Haare blühen.«“ (NS 241) 940 941

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chen Maßnahmen getroffen worden. Was beispielsweise das soeben thematisierte Kaktushaus anbetrifft, habe Risach – wie Heinrichs Rekapitulation der Erörterungen des Gärtners erhellt – für jene Partien, „an denen die Gläser über einander liegen, ein so treffliches Bindemittel gefunden [habe], durch welches das Hereinziehen des Wassers an den übereinanderliegenden Stellen des Glases unmöglich sei, und das diesen Pflanzen so nachteilige Herabfallen von Wassertropfen vermieden werde“ (NS 597). 943 Aus diesem Grund könne nun auch darauf verzichtet werden, an regnerischen Tagen sowie an solchen, an denen mit schmelzendem Schnee zu rechnen sei, das Haus mit Brettern abzudecken, „was finster macht, und den Pflanzen schädlich ist“ (NS 597). Gegen den Einfluss von Hagelkörnern sei das Treibhaus endlich „durch dickes Glas und den Panzer geschützt, und wenn kalte Nächte zu erwarten sind, werde eine Strohdecke angewendet, und der Schnee werde durch Besen entfernt“ (NS 597). Eine entsprechende, „schön gearbeitete Decke von Stroh“ (NS 182) findet Heinrich im Winter auch über die Rosenbäumchen an der Hauswand des Anwesens heruntergelassen. Zudem seien manche dieser Pflanzen separat mit Stroh bedeckt worden, alternativ „war stellenweise die Erde über den Wurzeln mit einer schützenden Decke bekleidet“ (NS 594), während weitere Gewächse lediglich angebunden gewesen seien. Bei sämtlichen allerdings stellt Heinrich fest, „daß man außerordentliche Schutzmittel nicht angewendet habe […]. Der Schnee konnte sie überhüllen […], der Regen konnte sie begießen […], aber nirgends konnte der Wind ein Stämmchen oder einen Zweig lostrennen, und mit ihm spielen, oder ihn zerren.“ (NS 594 f.) In Bezug auf die im Rosenhausgarten befindlichen Pflanzen und Bäume insgesamt respektive die durch Risach initiierten Vorkehrungen hinsichtlich eines bestmöglichen Schutzes derselben in der kalten Jahreszeit resümiert Heinrich:

Heinrich möchte Risach noch einmal persönlich auf das Klebemittel ansprechen, um seinem Vater diesbezüglich Bericht erstatten zu können: „Mir war wirklich der Umstand merkwürdig und wichtig, daß hier kein Herabtropfen von dem Glasdache statt finde, was meinem Vater so unangenehm ist. Ich nahm mir vor, meinen Gastfreund um Eröffnung des Verfahrens zu ersuchen, und dasselbe dem Vater mitzuteilen.“ (NS 597 f.) Daraufhin erhält Heinrich vor seiner Abreise in die Heimat „die Anleitung zur Bereitung [des Bindemittels]“ (NS 689), die er schließlich seinem Vater kommuniziert. 943

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Die zartesten Bäumchen und Gewächse waren mit Stroh verwahrt, alles, was hinter Glas stehen sollte, war wohlgeschlossen und durch Verdämmungen geschützt, und alle Beete und alle Räume, die in ihrer Schneehülle dalagen, waren durch die um sie geführten Wege gleichsam eingerahmt und geordnet. Die Zweige der Bäume waren von ihrem Reife befreit, der Schnee […] konnte auf ihnen nicht haften […]. In den entlaubten Ästen konnte ich desto deutlicher und häufiger die Nestbehälter sehen, welche auf den Bäumen angebracht waren. (NS 589)

Während auf die Bewohner jener Nistkästen im folgenden Unterkapitel rekurriert werden soll, gilt es an dieser Stelle zunächst – wie einleitend angekündigt – die im Rosenhaus praktizierten Methoden und Techniken der Baumpflege abschließend darzulegen, welche im Roman ebenfalls in extenso erörtert werden. Um für die Bäume optimale Wachstumsbedingungen zu generieren und partieller oder gar gänzlicher Entlaubung vorzubeugen, würde – wie Risach Heinrich versichert – ausschließlich zu natürlichen Mitteln gegriffen. 944 Analog zu der Behandlung der Rosen gelte es prinzipiell, „»dem Baume zu geben, was ihm nottut, und ihm zu nehmen, was ihm schadet.«“ (NS 131) Höchste Priorität habe demzufolge, „»daß man nie einen Baum an eine Stelle setze, auf der er nicht leben kann. Aber es gibt auch Stellen, die nur darum nicht taugen, weil sie nicht bearbeitet sind, oder weil ihnen etwas mangelt, was einem bestimmten Gewächse notwendig ist.«“ (NS 131) Daraus resultierten als im Vorfeld der Pflanzung primär zu bewältigende Maßnahmen die sorgfältige Wahl eines adäquaten Standortes 945, an der sich die sachgemäße Präparierung des Bodens orientiere: Nachdem – auf der Basis von Fachliteratur wie des eigenen Erfahrungsfundus – akribisch eruiert worden sei, was dem einzelnen Baum je individuell „»auch nebst der Erde noch not tue, und welchen Platz er haben müsse«“ (NS 131), habe man – „»[u]m nun die Stelle gut zu bearbeiten«“ (NS 131) – eine beträchtliche Vertiefung ausgehoben und schließlich mit 944 Bescheiden betont Risach zudem Heinrich gegenüber, „»[u]nsere Mittel, die Bäume Gesträuche und kleineren Pflanzen vor Kahlheit zu bewahren, sind so einfach, und in der Natur gegründet, daß es eine Schande wäre sie aufzuzählen, wenn es andererseits nicht auch wahr wäre, daß sie nicht überall angewendet werden«“ (NS 130) und beginnt daraufhin seine ausführlichen Erörterungen. 945 Auch dies führt Risach im Einzelnen aus: „»Welche Bäume viele [sic!] Luft brauchten, setzten wir in die Luft, die das Licht liebten, in das Licht, die den Schatten, in den Schatten. In den Schutz der größeren oder windwiderstandsfähigeren setzten wir diejenigen, welche des Schutzes bedurften. Die Frost und Reif scheuen, stehen an Wänden oder warmen Orten.«“ (NS 131)

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gelockertem Erdreich aufgefüllt, „»daß der Baum bedeutend alt werden konnte, ehe er genötigt war, seine Wurzeln in unbearbeiteten Boden zu treiben.«“ (NS 131) 946 Eine weitere die konkrete Pflege der bereits gesetzten (oder im Zuge der Gartenumlegung versetzten 947) Gewächse im Einzelnen betreffende Vorkehrung sei etwa das regelmäßige, mittels der Zuhilfenahme von Leitern zu bewerkstelligende Abtrennen „abgestorbene[r] und überflüssige[r] Äste“ (NS 182): „»Der Schnitt wird mit gutem Kitte verstrichen, daß keine Nässe in das Holz dringen, und in dem noch gesunden Teile eine Krankheit erzeugen kann.«“ (NS 132) Zudem erfolge quasi die Verleihung von „»Verjüngungskräften«“ (NS 131) durch gezieltes Zurückschneiden: „»Waren die Zweige und Äste gehörig gekürzt, so schlugen sie im Frühlinge desto kräftiger an, gleichsam als wären die Bäume zu neuem Leben erwacht.«“ (NS 112) Wie bereits in Bezug auf die Rosen bekannt, existierte jedoch keine universelle Panazee „»[g]egen ein endliches Sterben und also Entlaubtwerden des ganzen Baumes«“ (NS 130; wie ex aequo dem menschlichen Tode am Ende nicht zu entrinnen sei). Bevor aber ein Baum abgestorben im Garten verbleibe, sei die Anwendung einer prima facie radikalen Methode nicht zu umgehen, der Baum müsse entfernt werden: „»[W]enn man ihm durch Zurückschneiden seiner Äste öfter Verjüngungskräfte gegeben hat, wenn aber nach und nach dieses Mittel anfängt, seine Wirkung nicht mehr zu bewähren, so tut man dem Baume und dem Garten eine Wohltat, wenn man beide trennt.«“ (NS 130 f.) 948 Jenseits dessen sei zuvörderst penibel darauf zu achten, den Bäumen ein möglichst gesundes, angenehmes und im Zuge dessen langes Leben an ihrem Standort zu ermöglichen, weshalb Risach es für indiziert hält, jedem einzelnen über die Standardanwendungen hinaus folgende exquisite Pflegekur zu gewähren: 946 Risach fügt an dieser Stelle ergänzend hinzu: „»Selbst alte Stämme, die ich hier gefunden hatte, und deren Zustand mir nicht gefiel, habe ich durch Herausnehmen Lockern des Standortes und Wiedereinsetzen zu vortrefflichem Gedeihen gebracht.«“ (NS 131) 947 Vgl. zu den Bäumen, die im Zuge Risachs Übernahme des Asperhofs und der durch ihn initiierten (Neu-)Anlegung des Gartens (um-)gesetzt worden sind, unter denen „»sehr bedeutende«“ (NS 112) gewesen sein sollen, auch Anm. 838 dieser Arbeit. 948 Grundsätzlich handelt Risach – nicht zuletzt zum Wohle des Baumes – gemäß folgender Devise: „»Für welchen Baum ein geeigneter Platz im Garten nicht ist, der soll auch im Garten gar nicht sein.«“ (NS 131)

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„Im Frühlinge wird jeder Stamm und seine stärkeren Äste durch eine Bürste und gutes Seifenwasser gewaschen und gereinigt. Durch die Bürste werden die fremden Stoffe, die dem Baume schaden könnten, entfernt, und das Waschen ist ein nützliches Bad für die Rinde, die wie die Haut der Tiere von dem höchsten Belange für das Leben ist, und endlich werden die Stämme dadurch auch schön. Unsere Bäume haben kein Moos, die Rinde ist klar und bei den Kirschbäumen fast so fein wie graue Seide.“ (NS 131 f.) 949

Bei konsequentem Einsatz sämtlicher angeführter Praktiken würde gemäß Risach theoretisch niemals in Gärten eine Baumschädigung auszumachen sein, „»wenn nicht äußere Feinde kämen, die eine solche zu bewirken trachteten. Derlei Feinde sind Hagel Wolkenbrüche und ähnliche Naturerscheinungen, gegen die es keine Mittel gibt.«“ (NS 132) Gleichwohl erweise sich der durch jene Gewalten verursachte Abtrag als geringfügig und vermöge überdies „»durch Nachwuchs und Nachpflanzungen unbemerkbar gemacht werden«“ (NS 132), während eine durchaus massivere Beeinträchtigung von „»gefährlichere[n] Gegner[n]«“ (NS 132) ausgehe, womit Risach auf Schäden durch Insekten anspielt: „»[D]iese können die Güte eines Gartens zerstören, können seine Schönheit entstellen, und ihm in manchen Jahren einen wahrhaft traurigen Anblick geben.«“ (NS 132) Wie bei der Rosenwand, 950 so habe Heinrich allerdings 949 Die „sehr gesunde Rinde“ (NS 132) aller Bäume war Heinrich bereits aufgefallen. Ein Jahr nach diesen Ausführungen Risachs bezüglich des spezifischen Verfahrens der Baumwäsche reflektiert Heinrich dieselben während deren aktueller Durchführung: „Ich hatte mir einmal, da er mir erzählte, daß er die Baumstämme waschen lasse, die Sache sehr umständlich gedacht. Ich sah aber jetzt, daß sie mittelst Doppelleitern und Brettern sehr einfach vor sich gehe. Mit den langstieligen Bürsten konnte man in die höchsten Zweige emporfahren, und da die Leute von der Zweckmäßigkeit der Maßregel fest überzeugt waren und emsig arbeiteten, so schritt das Werk mit einer von mir nicht geahnten Schnelligkeit vor. In der Tat, wenn man einen gewaschenen und gebürsteten Stamm ansah, wie er rein und glatt in der Luft stand, während sein Nachbar noch rauh [sic!] und schmutzig war, so meinte man, daß dem einen sehr wohl sein müsse, und daß der andere verdrossen aussehe. Mir fiel die stolze Äußerung ein, die mein Gastfreund im vergangenen Sommer zu mir getan hatte, daß ich nur den Stamm jenes Kirschbaumes ansehen solle, ob seine Rinde nicht aussähe wie feine graue Seide. Sie war wirklich wie Seide, und mußte es gerade immer mehr werden, da sie in jedem Jahre aufs neue gepflegt wurde.“ (NS 183 f.) Vgl. zur Reinigung der Bäume auch NS 182. 950 Zu seinem großen Erstaunen stellt Heinrich auch nach eingehender Prüfung des Rosengitters in Bezug auf dessen für diverse Krankheiten und Ungeziefer derart anfälligen Pflanzen fest: „Kein verdorrtes oder durch Raupen zerfressenes oder durch Spinnen verkrümmtes Blatt war zu erblicken. Selbst das bei Rosen so gerne

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auch in allen weiteren Teilen Risachs Gartens „»kein dürres Reis kein kahles Zweiglein kein Stengel eines abgefressenen Blattes ja nicht einmal ein verletztes Blatt des Kohles, dem doch sonst der Weißling so gerne Schaden tut [entdeckt].«“ (NS 129) 951 Er stellt sich die Frage, ob Risach künstliche Vorkehrungen zur Ungezieferbekämpfung treffe, „»denn das Ablesen der Raupen und Insekten hat sich ja überall als unzulänglich gezeigt.«“ (NS 129) In der Tat – so sein Gastfreund – erweise sich Letzteres als ineffektiv, 952 deshalb setze man auf dem Rosenhof auf weitaus tauglichere, zudem attraktive natürliche Schädlingsbekämpfung: „Es gibt ein Mittel […], das außer seiner Wirksamkeit auch noch sehr schön ist, und also zum Nutzen einen Genuß beschert, durch den uns die Natur gleichsam zu seiner Anwendung leiten will. Aber dennoch […] wird dieses Mittel unter allen am wenigsten gebraucht, ja man beeifert sich sogar an vielen Orten es zu zerstören. Ihr solltet das Mittel schon wahrgenommen haben.“ (NS 133)

Dieses der Natur inhärente „Mittel“ zur Ungezieferbekämpfung verweist direkt auf das nachfolgende Kapitel, in welchem Haltung und Pflege der Tiere auf dem Asperhof im Allgemeinen, im Besonderen der Vögel, Thema sein und mithin eine ausführlichere Darlegung Risachs Schädlingsvermeidungsprogramms erfolgen soll. 2.3.3 Tierschutz und -pflege „»Ich muß Euch sagen daß es mich freut, daß Ihr in meinem Garten die Abwesenheit des Raupenfraßes bemerkt habt, und ich werde Euch recht gerne darüber Auskunft geben, und besonders darum, daß es sich auch ausbreiten könne.«“ (NS 129) Analog zu RisachStifters „Rosenlehre“ 953 – wie Arnold Stadler die im vorangegangenen Abschnitt dargelegte, durch Risach gelehrte wie praktizierte, ideale Kultivierung der Rosenpflanzen (ferner diverser anderer Gewächse) prägnant charakterisiert – findet sich im Nachsommer eine sich einnistende Ungeziefer fehlte. Ganz entwickelt und in verschiedenen Abstufungen des Grüns prangend standen die Blätter hervor.“ (NS 41) Vgl. auch NS 128 f. 951 Vgl. hierzu auch NS 54, 209 sowie speziell zur Gesundheit der Kohlgewächse im Rosenhausgarten Anm. 843. 952 „»Wir würden allerdings durch Ablesen des Ungeziefers weder unsere Rosen noch die Bäume und Gesträuche im Garten vor [sic!] Verunglimpfung frei halten können […].«“ (NS 129) 953 Stadler 2009, S. 95.

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ebenso erschöpfende „Ungezieferlehre“ 954, mittels derer Risach Heinrich (und mithin den Leser) über „die richtige Schädlingsbekämpfung“ 955 informiert. Diese wiederum korreliert unmittelbar mit dem auf dem Rosenhof betriebenen umfassenden Tierschutz, speziell jenem der Wald- und Garten- beziehungsweise Singvögel, welcher im Folgenden erörtert werden soll, um die anhand exemplarischer wie elementarer Bereiche des (täglichen) Lebens fokussierte Illustration des Vorbildcharakters des Rosenhauses zu komplettieren. Neben den primär darzulegenden aufwendigen Einrichtungen im Kontext der Vogelhaltung soll ferner die Behandlung weiterer, in Garten und direkter Umgebung des Risachschen Anwesens lebender Wildtiere (namentlich Hasen) sowie schließlich jene der zum Gut gehörigen (landwirtschaftlichen) Nutztiere thematisiert werden. „»Die Vögel sind in diesem Garten unser Mittel gegen Raupen und schädliches Ungeziefer. Diese sind es, welche die Bäume Gesträuche die kleinen Pflanzen und natürlich auch die Rosen weit besser reinigen, als es Menschenhände oder was immer für Mittel zu bewerkstelligen im Stande wären.«“ (NS 133) Wie im Bereich der Pflanzen die Rosen, so dominieren in jenem der Tiere die Vögel den Roman 956 – nicht zuletzt aufgrund deren essenzieller Funktion im Rahmen der gegen Ende von Kapitel III.2.3.2 bereits genannten nachhaltigen Ungeziefervorbeugung. In extenso erörtert Risach in diesem Kontext die mit dem Ansinnen, das Ungeziefer einzig durch menschliche Mittel zu eliminieren, einhergehenden Problematiken, die sich etwa in der geringen Größe, dem Tarnungspotenzial sowie der Quantität der zu den Pflanzendefekten führenden Insektenlarven manifestierten. (Vgl. NS 138 f.) 957 „»Alle Mittel, welche die Menschen ersonnen haben, um die Gewächse vor Ungeziefer zu bewahren, so trefflich sie auch sein mögen, so fleißig sie auch angeEbd., S. 96. Ebd., S. 138. 956 Dieser sollte – wie in Anmerkung 650 dieser Arbeit erwähnt – ursprünglich in Form einer Novelle unter dem Titel Der alte Vogelfreund publiziert werden. 957 „»Oft sind die schädlichen Tierchen so klein, daß wir sie mit unseren Augen kaum zu entdecken vermögen, oft sind sie an Orten, die uns schwer zugänglich sind, zum Beispiele in den äußersten Spitzen der feinsten Zweige der Bäume. Oft ist der Schaden in größter Schnelligkeit entstanden, wenn man auch glaubt, daß man seine Augen an allen Stellen des Gartens gehabt, daß man keine unbeachtet gelassen, und daß man seine Leute zur genauesten Untersuchung angeeifert hat.«“ (NS 138 f.) Vgl. hierzu auch die nachfolgende Fußnote. 954 955

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wendet werden, reichen nicht aus«“ (NS 138) – zumal selbst gänzlich von Schädlingen befreit gewähnte Partien der Gesträuche und Bäume keineswegs dauerhaft immun gegen diese seien: „»In den verschiedensten Zeiten und unbeachtet entwickeln sich die Insekten auf Stengeln Blättern Blüten unter der Rinde, und breiten sich unversehens und schnell aus«“ (NS 138) und machen somit eine kontinuierliche Inspektion erforderlich. „»Zu dieser Arbeit ist von Gott das Vogelgeschlecht bestimmt worden und insbesondere das der kleinen und singenden, und zu dieser Arbeit reicht auch nur das Vogelgeschlecht vollkommen aus. Alle Eigenschaften der Insekten […] schützen sie gegen die Vögel nicht.«“ (NS 139) 958 Diese Proklamation Risachs respektive die dieser innewohnende Annahme jener sich im Kreislauf der Schöpfung effizierender Faktoren kommentiert Stadler wie folgt: „[D]ie Vögel und das Ungeziefer. Beides gehört zusammen, wie Rosen und Dornen. Alles hat seinen Sinn.“ 959 Im Rosenhausgarten wird jene gleichsam gottgegebene Korrelation von Natürlichem (indem die Natur selbst dem Menschen Mittel gegen die Probleme des Raupenfraßes an die Hand gibt und somit künstliche Hilfsmittel zur Schädlingsbekämpfung obsolet macht), Zweckmäßigem (indem durch wesensgemäßes Agieren der Vögel parallel das die Pflanzen schädigende Ungeziefer beseitigt wird) und Ästhetischem (indem der in auditiver Hinsicht erquickliche Vogelgesang die attraktive Optik gesunder Pflanzen komplettiert) optimal ausgeschöpft: „»Seit diese angeneh958 Auch letzterem Aspekt widmet Risach im Rahmen seiner Explikationen eine minutiöse Schilderung: „»Sprechen wir von der Menge. Alle Singvögel, wenn sie auch später Sämereien fressen, nähren doch ihre Jungen von Raupen Insekten Würmern, und da diese Jungen so schnell wachsen, und so zu sagen unaufhörlich essen, so bringt ein einziges Paar in einem einzigen Tage eine erkleckliche Menge von solchen Tierchen in das Nest, was erst hundert Paare in zehn vierzehn zwanzig Tagen. […] Sprechen wir von der Kleinheit der Tierchen. Sie oder ihre Larven und Eier mögen noch so klein sein, von den scharfen spähenden Augen eines Vogels werden sie entdeckt. Ja manche Vögel wie das Goldhähnchen der Zaunkönig, dürfen ihren Jungen nur die kleinsten Nahrungsstückchen bringen, weil dieselben […] selber kaum so groß wie eine Fliege oder eine kleine Spinne sind. Gehen wir endlich auf die Abgelegenheit der Insekten über, so sind sie dadurch nicht vor dem Schnabel der Vögel geschützt, wenn sie für ihre Jungen oder sich Nahrung brauchen. Was wäre einem Vogel leicht unzugänglich? In die höchsten Zweige schwingt er sich empor, an der Rinde hält er sich, und bohrt sie an, durch die dichtesten Hecken dringt er, auf der Erde läuft er, und selbst unter Blöcke und Steingerölle dringt er.«“ (NS 139) 959 Stadler 2009, S. 96.

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men Arbeiter uns Hilfe leisten, hat sich in unserm Garten so wie im heurigen Jahre auch sonst nie mehr ein Raupenfraß eingefunden, der nur im geringsten bemerkbar gewesen wäre.«“ (NS 133) 960 Die Prädestination der Vögel für die Beseitigung der Pflanzenschädlinge bekunde sich nicht zuletzt – wie folgender Passus erhellt – in der Art und Weise, wie diese den „Dienst“ verrichteten beziehungsweise anhand der Tatsache, „daß sie die Arbeit unter sich teilen. Die Blaumeise und die Tannenmeise entdeckt die Brut der Ringelraupe und anderer Raupengattungen an den äußersten Spitzen der Zweige, wo sie unter der Rinde verborgen ist, indem sie sich an die Zweige hängend dieselben absucht, die Kohlmeise durchsucht fleißig das Innere der Baumkrone, die Spechtmeise klettert Stamm auf Stamm ab, und holt die versteckten Eier hervor, der Finke […] läuft den Gängen der Käfer und dergleichen nach, und ihn unterstützen oder übertreffen vielmehr die Ammerlinge die Grasmücken die Rotkehlchen, die auf der Erde unter Kohlpflanzen und in Hecken ihre Nahrung suchen und finden. Sie beirren sich wechselseitig nicht, und lassen in ihrer unglaublichen Tätigkeit nicht nach, ja sie scheinen sich eher darin einander anzueifern.“ (NS 140) 961

Aus Risachs Darlegungen folgert Heinrich, zwecks der Ungezieferbeseitigung müsse wohl eine beträchtliche Anzahl der „fleißigen Gesellen“ beständig in Risachs Garten hausen, was sein Gastfreund bestätigt – dies sei in der Tat der Fall – „»weit mehr als an jeder Stelle dieses Landes und vielleicht auch anderer Länder.«“ (NS 133) Ferner habe er selbst „»in harten Wintern schon die seltensten Vögel«“ (NS 188) in seinem Garten gesichtet. Heinrich erkundigt sich daraufhin, wie es zu bewerkstelligen sei, diese Tiere in solch enormer 960 Als weiteren Beleg dieses Faktums berichtet Risach Heinrich von einem „»schlimme[n] Jahr, heiß, mit wenig Regen und ungeheurem Raupenfraß. Die Bäume in Rohrberg in Regau in Landegg und Pludern standen wie Fegebesen in die Höhe, und die grauen Fahnen der Raupennester hingen von den entwürdigten Ästen herab. Unser Garten war unverletzt und dunkelgrün, sogar jedes Blatt hatte seine natürliche Ränderung und Ausspitzung.«“ (NS 148) Geringfügig relativierend äußert sich Risach allerdings auf die Frage Heinrichs Vaters, warum im Rosenhausgarten noch Falter auszumachen seien: „»Es wäre wohl kaum denkbar und möglich, daß meine Vögel alle Keime ausrotteten […], sie hindern nur die unmäßige Verbreitung. Einiges bleibt aber immer übrig, was für das nächste Jahr Nahrung liefert.«“ (NS 702) 961 Ferner zeigten etwa die Spechte, wenn sie zwecks Nahrungserlangung (und – aus menschlicher Perspektive – mithin Ungezieferbeseitigung) auf einen Baumstamm einhämmerten, „»auch die Äste an, die morsch und vom Gewürme ergriffen sind, und daher weggeschafft werden müssen.«“ (NS 139 f.)

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Quantität und zudem Gattungsvielfalt dauerhaft in der Umgebung zu halten. „Sie, die Vögel, werden, wie die Rosen, mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht,“ 962 bemerkt Stadler in diesem Kontext: Analog (etwa) zu Rosen und Bäumen – so Risach weiter – müsse man den Vögeln „»die Bedingungen ihres Gedeihens geben, wenn man sie an einem Orte haben will«“ (NS 133), welche im Wesentlichen in den beiden, an die individuellen Präferenzen der einzelnen Vogelart je anzupassenden Komponenten „»Schutz und Nahrung«“ (NS 134) bestünden, worauf im Folgenden etwas detaillierter einzugehen ist. Schutz werde den Tieren geboten, indem man ihnen – vor allem während der Aufzucht des Nachwuchses – entsprechende Refugien bereitstelle, die ihre Feinde nicht aufzuspüren beziehungsweise zu durchdringen vermögen: „»Will man Vögel in eine Gegend ziehen, so muß man solche Zufluchtsorte schaffen, und zwar so gut als möglich.«“ (NS 134) 963 Für die Höhlennister (vgl. NS 134) etwa, welche per definitionem Fels- und Mauerlöcher, Turmdächer oder dergleichen favorisierten, sei die Herstellung spezieller Behausungen unerlässlich, die besagte natürliche Unterschlüpfe imitierten: Angesichts der Impraktikabilität der Bearbeitung von Felsen oder Baumstämmen würden Nistbehälter aus Holz verfertigt: 964 „»Wir machen diese Höhlungen tief genug, richten das Schlupfloch von der Wetterseite weg meistens gegen Mittag, und machen es gerade so weit, daß der Vogel, für den es bestimmt ist, ein und aus kann.«“ (NS 134) Auf Optik und Konstruktion der Nistkästen, die Möglichkeit eines Nachbaus aufgrund deren minutiöser Beschreibung sowie den Umstand, dass diese „mit aus Ruten geflochtenen Seilen an Bäumen befestigt waren“ (NS 145), wurde eingangs zu Kapitel III.2.1 schon verwiesen. Hierauf soll mittels nachstehender Passage, Stadler 2009, S. 96. Vgl. hierzu auch das folgende Zitat: „»Hat eine Gegend häufig solche Zufluchtsorte, so darf man sicher schließen, daß sie auch, wenn die andern Bedingungen nicht fehlen, viele Vögel hat.«“ (NS 134) Ferner habe man beispielsweise extra des Finken wegen, „»der gerne in den Nadelbäumen nistet«“ (NS 140), solche Bäume in den Garten gesetzt. 964 Die erste Erwähnung der Nistkästen im Nachsommer erfolgt auf NS 54 durch Heinrich: „An manchen Bäumen erblickte ich kleine Kästchen aus Holz, bald an Stämmen bald in den Zweigen. In unserem Oberlande gibt man den Staren gerne solche Behälter, damit sie ihr Nest in dieselben bauen. Die hier befindlichen Behältnisse waren aber anderer Art.“ Zur weiteren Erwähnung der Nistkästen vgl. NS 145, 184 sowie 589. 962 963

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in welcher – neben der Beachtung der spezifischen Ansprüche der Tiere – einmal mehr der Aspekt mustergültiger Instandhaltung und Reinigung sowie nicht zuletzt der eines nachhaltigen Umgangs mit Naturmaterialien zum Ausdruck kommt, rekurriert werden: „Kein Singvogel […] geht in ein fertiges Nest, […] sondern er verfertigt sich sein Nest in jedem Frühlinge neu. Deshalb haben wir die Behälter aus zwei Teilen machen lassen, daß wir sie leicht auseinander nehmen, und die veralteten Nester heraus tun können. Auch zum Reinigen der Behälter ist diese Einrichtung sehr tauglich; denn wenn sie unbewohnt sind, nimmt allerlei Ungeziefer seine Zuflucht zu diesen Höhlungen, und der Vogel scheut Unrat und verdorbene Luft, und würde eine unreine Höhlung nicht besuchen. Im letzten Teile des Winters, wenn der Frühling schon in Aussicht steht, werden alle diese Behälter herabgenommen, auf das sorgfältigste gescheuert und in Stand gesetzt. Im Winter sind sie darum auf den Bäumen, weil doch mancher Vogel, der nicht abreist, Schutz in ihnen sucht. Die alten Nester werden zerfasert und gegen den Frühling ihre Bestandteile mit neuen vermehrt in den Garten ausgestreut, damit die Familien Stoff für ihre Häuser finden.“ (NS 145) 965

Werden den Vögeln – basierend auf der Maxime, kein Zweiglein zu vergeuden – die Materialien der ausgedienten Nester zum Wiederverwerten angeboten, wird gleichwohl das Erfordernis der Zurverfügungstellung zusätzlichen neuen „Baumaterials“ eingelöst, damit sich die Tiere ihre Brutstätten in den bereitgestellten Nistbehältnissen mühelos und adäquat einzurichten vermögen. Allerdings bevorzugten die „»Heckennister«“ (NS 135; Herv. sind zugefügt) im Gegensatz zu jenen der Höhlennister differierende Einrichtungen, wie Risach erläutert: „»Den Heckennistern bauen wir ein so dichtes Geflechte von Dornzweigen und Dornästen in unsere Büsche, daß man meinen sollte, es könne kaum eine Hummel ein- und ausschlüpfen; aber der Vogel findet doch einen Eingang, und baut sich sein Nest.«“ (NS 135) 966 Der Schutz der Singvögel beinhaltet ferner, dass potenzielle Feinde derselben, gegen welche die Natur nicht eigens vorbeugt, entsprechend „trainiert“ werden – diese haben sich quasi ebenfalls (analog zu ihren menschlichen Genossen) strikt an die „Ordnung“ des Hauses zu halten: „»Unter die Feinde der SingZur Reinigung der Vogelbehältnisse vgl. auch NS 184. In Anmerkung 845 der vorliegenden Arbeit wurde in anderem Kontext bereits darauf verwiesen, dass Heinrich während seines Gartenrundgangs beobachtet, wie im Zuge diverser Tätigkeiten rund um das Anwesen auch unter den Hecken „das Dornreisig zu den Nestern der Vögel […] hergerichtet [wurde]“ (NS 184). 965 966

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vögel gehören auch die Katzen Hunde Iltisse Wiesel Raubvögel. Gegen letzte schützen die Dornen und die Nestbehälter, und Hunde und Katzen werden in unserm Hause so erzogen, daß sie nicht in den Garten gehen, oder sie werden ganz von dem Hause entfernt.«“ (NS 147) 967 Was die – neben dem Schutz – weitere Grundvoraussetzung des Gedeihens der Vögel anbetrifft, die Nahrung, so seien diesen Tieren „»die Insekten am liebsten«“ (NS 135). Wolle man jedoch „»eine so große Zahl von Vögeln zurückhalten, daß man vollkommen sicher ist, daß sie auch in den ungezieferreichsten Jahren hinlänglich sind, um Schaden zu verhüten, so muß man ihnen außer ihrer von der Natur gegebenen Nahrung auch künstliche mit den eigenen Händen spenden.«“ (NS 135) 968 Diese zugefütterte Kost bestehe in erster Linie aus Sämereien, welche in einer eigens für die Versorgung der Vögel reservierten Räumlichkeit des Rosenhauses gelagert werden, in „Schreine[n] aus geglättetem Eichenholze mit sehr vielen kleinen Fächern“ (NS 79) – wie Heinrich dem Leser berichtet. 969 In dieser „Speisekammer“ sind – gemäß Risachs Ausführungen – „»alle Sämereien, welche auf unseren Fluren und in unseren Wäldern reifen, und werden, wenn sie ausgehen oder veralten, durch frische ersetzt.«“ (NS 138) Vogelarten, die keine Körner präferierten, erhielten alternativ hochwertige Reste der menschlichen Mahlzeiten, „»zartes Fleisch Obst Eierstückchen Gemüse und dergleichen […], was unter die Körner gemischt wird. Die Kohlmeise erhält sehr gerne, wenn sie tätig ist, und besonders, wenn sie um ihre Jungen sich gut annimmt, ein Stückchen Speck zur Belohnung […]. Auch Zucker wird zuweilen gestreut.«“ (NS 138) 970

967 Erstaunlicherweise sind im Rosenhausgarten somit keineswegs sämtliche Vertreter der Spezies Vögel erwünscht, wie auch folgender Ausspruch Risachs belegt: „»Die großen, welche sich mit Schnabel Krallen und Flügeln verteidigen können, sind bei uns eher Feinde als Freunde, und werden nicht geduldet.«“ (NS 135) 968 Dies präzisiert Risach gleichwohl folgendermaßen: „»Es kömmt nur darauf an, daß man, um seinen Zweck nicht aus den Augen zu verlieren, nur so viel Almosen gibt, als notwendig ist, einen Nahrungsmangel zu verhindern.«“ (NS 135) 969 Sowohl das Vogelfutter in Form der Sämereien als auch der Aufbewahrungsraum desselben im Rosenhaus wurde in Kapitel III.2.1 bereits flüchtig erwähnt; vgl. hierzu auch Anm. 705 der Arbeit. 970 Siehe hierzu auch Risachs Aussage, er „»gebe im späteren Frühlinge und Sommer den Weibchen sehr gerne noch eine leckere Draufgabe.«“ (NS 188) Ferner ergänzt Heinrich für den Leser: „Die Speisen, welche eben nicht in Sämereien beste-

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Neben den direkt an der Außenwand der Sämereienkammer angebrachten Futterbrettchen (vgl. NS 137), 971 auf denen die „künstliche“ Nahrung „»[f]ür die vertraulicheren und umgänglicheren«“ (NS 137) der Vögel ausgestreut wird, 972 existieren im Rosenhausgarten verschiedene weitere, den divergierenden Ansprüchen der „Kostgänger“ adäquate Fütterungseinrichtungen, wie Risachs differenzierter Schilderung zu entnehmen ist: „Manche von den Vögeln haben bei ihrem Speisen festen Boden unter den Füßen, wie die Spechte, die an den Bäumen hacken, und solche, die ihre Nahrung auf der platten Erde suchen: andere besonders die Waldvögel lieben das Schwanken der Zweige, wenn sie essen, da sie ihr Mahl in eben diesen Zweigen suchen. Für die ersten streut man das Futter auf was immer für Plätze, sie wissen dieselben schon zu finden. Den anderen gibt man Gitter, die an Schnüren hängen, und in denen in kleine Tröge gefüllt oder auf Stifte gesteckt die Speise ist. Sie fliegen herzu und wiegen sich essend in dem Gitter. Die Vögel werden auch nach und nach zutraulich, nehmen es endlich nicht mehr so genau mit dem Tische, und es tummeln sich Festfüßler und Schaukler auf der Fütterungstenne, die neben dem Gewächshause ist […].“ (NS 136 f.) 973

Parallel zu dem bereits hinsichtlich der Pflanzen- und Baumpflege Erörterten, zählen Risach und die Seinen – um ein universelles Wohlbefinden der Vögel zu garantieren – zu der ausgewogenen Ernährung der Tiere fernerhin folgende, die stoffliche Nahrung komhen, wie Eier Brot Speck, werden beim Bedarfe aus der Speisekammer des Hauses genommen.“ (NS 147) 971 Vgl. zu den Futterbrettchen auch NS 79 f., 188 sowie 229. 972 Heinrich begleitet Risach einmal in das Zimmer mit den Sämereien und schildert den Fütterungsvorgang: „Er [Risach] suchte sich alle Gattungen Nahrung aus den Fächern zurecht, öffnete dann die Fenster, und tat das Futter auf das Brettchen. Er blieb an dem Fenster stehen, und ich bei ihm. Trotzdem kamen die Vögel in Bögen oder geraden Linien herbei geflogen. Ihn fürchteten sie nicht, weil sie ihn als den Nährvater kannten, und mich nicht, weil ich bei ihm stand. Sie drängten sich, pickten, zwitscherten, und balgten sich sogar mitunter.“ (NS 188) Auf die Speisung der „»ganz schüchternen«“ (NS 137) Vögel wurde bereits im Rahmen von Kapitel III.2.1 hingewiesen. 973 Bei einem weiteren Besuch des Rosenhauses und eines im Zuge dessen vorgenommenen Spaziergangs durch den Garten erinnert sich Heinrich der Erläuterungen Risachs: „Die Vorrichtungen zur Ernährung und Tränkung der Vögel waren wegen der Blattlosigkeit der Bäume und Gesträuche mehr sichtbar, auch schaute ich mehr nach ihnen aus als bei meiner ersten Ankunft, da ich jetzt bereits von ihnen wußte. Ich sah mehrere zum Aufstecken von Kernen dienende Gitter, von denen mir mein Gastfreund erzählt hatte.“ (NS 184)

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plettierenden, immateriellen Faktoren: „Zur Nahrung rechnen wir auch Licht Luft und Wärme. Diese Dinge geben wir nach Bedarf dadurch, daß wir die Bauplätze zu den Nestern an den verschiedensten Stellen des Gartens anbringen, damit sich die Paare die wärmeren oder kühleren, luftigeren oder sonnigeren aussuchen können.“ (NS 136) Nicht zuletzt gelte es, reichliche Möglichkeiten des Trankes 974 gegebenenfalls zusätzlich zu generieren, was im Garten des Risachschen Anwesens gewährleistet sei: Das Getränk wird – wie auch die den Tieren zugefütterte Nahrung – in speziell präparierten, den Vögeln optimal zugänglichen Vorrichtungen angeboten: „»In jede Wassertonne geht schief ein befestigter Holzsteg, an welchem sie zu dem Wasser hinabklettern können. In den Gebüschen sind Steinnäpfe, in die Wasser gegossen wird, und in dem Dickichte […] ist ein kleines Quellchen, das wir mit steinernen Rändern eingefaßt haben.«“ (NS 138) 975 Sämtliche präsentierten und explizierten, den Verbleib der Vögel im Garten des Anwesens sichernden Einrichtungen implizieren für Heinrich „»Arbeit und Sorge in Fülle mit diesen Gartenbewohnern«“ (NS 138), worauf Risach entgegnet: „»Die Mühe ist ein Vergnügen, das [sic!] wird der, welcher einmal anfängt, bald inne werden, so wie der Blumenfreund keine Mühe sondern nur Pflege kennt […].«“ (NS 147) Neben dem Arbeitsaufwand hätten die Nachbarn die mit der Vogelhaltung einhergehenden Kosten moniert, die sie als horrend einschätzten: „»Aber das ist unrichtig. […] [A]llein wenn ich die edlen Früchte eines einzigen Pflaumenbaumes, welchen mir die Raupen der Vögel wegen nicht abgefressen haben, verkaufe, so deckt der Kaufschilling die Nahrungskosten der Sänger ganz und gar.«“ (NS 147) 976 Endlich räumt Risach die von Heinrichs Vater geäußerte Skepsis angesichts des (potenziellen) Schadens, den die Tiere mit sich brächten, aus dem Weg: Zwar habe man gewisse Verluste einzukalkulieren, welche jedoch „»hauptsächlich die Kirscharten und andere weichere Obstgattungen«“ (NS 702) beträfen und überdies in Relation zu dem durch die Tiere Vgl. hierzu auch Anm. 975. Diese theoretischen Ausführungen findet Heinrich im Zuge des Ganges durch den Garten schließlich verifiziert: „Ich sah im Vorübergehen auch die Kletterstäbchen in den Wassertonnen, und im Gebüsche fanden wir das kleine rieselnde Wässerlein.“ (NS 145) Vgl. ferner NS 184. 976 Ergänzend fügt Risach hinzu: „»Freilich ist der Nutzen desto größer, je edler das Obst ist, welches in dem Garten gezogen wird […].«“ (NS 147) 974 975

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erzielten Profit weitaus geringer ausfielen. Jenseits dessen sollten die Tiere – so Risach – „»von dem Überflusse, den sie [ihm] verschaffen, auch einen Teil genießen, und endlich, da sie neben ihrer natürlichen Nahrung […] noch außerordentliche und mitunter Leckerbissen bekommen, so ist dadurch der Anlaß zu Angriffen auf [das] Obst geringer.«“ (NS 702) Summa summarum wertet Risach die Vogelhaltung in seinem Garten als äußerst erfolgreich: „Durch unsere Anstalten sind Vögel, die im Frühlinge nach Plätzen suchten, wo sie sich anbauen könnten, in unserem Garten geblieben, sie sind, da sie die Bequemlichkeit sahen, und Nahrung wußten, im nächsten Jahre wieder gekommen oder, wenn sie Wintervögel waren, gar nicht fortgegangen. Weil aber auch die Jungen ein Heimatgefühl haben, und gerne an Stellen bleiben, wo sie zuerst die Welt erblickten, so erkoren sich auch diese den Garten zu ihrem künftigen Aufenthaltsorte. Zu den vorhandenen kamen von Zeit zu Zeit auch neue Einwanderer, und so vermehrt sich die Zahl der Vögel in dem Garten und sogar in der nächsten Umgebung von Jahr zu Jahr. Selbst solche Vögel, die sonst nicht gewöhnlich in Gärten sind, sondern mehr in Wäldern und abgelegenen Gebüschen, sind gelegentlich gekommen, und da es ihnen gefiel, da geblieben […].“ (NS 136)

Im Anschluss an die Darlegungen bezüglich der im Rosenhausgarten behausten Vögel berichtet Risach: „»Ich habe noch eine Art Gäste, die ich füttere, nicht daß sie mir nützen, sondern daß sie mir nicht schaden.«“ (NS 146) Es handelt sich bei den zunächst ungebetenen Besuchern um Hasen, welche die kleinen Setzlinge der Risachschen Baumschule 977 benagten, „»und gerade die beste und zarteste Rinde an den besten Stämmchen.«“ (NS 146) Infolge des sich als ineffektiv erweisenden Vertreibens der Tiere, und da Risach gleichwohl Mitleid empfindet mit den „»armen Diebe[n]«“ (NS 146), die die Baumrinde in Ermangelung besseren Futters verzehrten, sammelte er „»alle Abfälle von Kohl und ähnlichen Pflanzen, die im Garten und auf den Feldern übrig blieben, bewahrte sie im Keller auf, und legte sie bei Frost und hohem Schnee teilweise auf die Felder außerhalb des Gartens.«“ (NS 146) Der Plan fruchtet, die Hasen akzeptieren die angebotene Nahrungsalternative und lassen von der Schädigung der Bäumchen ab. 978 Angesichts der 977 „»[E]in Gärtchen, in welchem die zur Veredelung tauglichen Stämmchen gezogen wurden […].«“ (NS 147) 978 Hinsichtlich der Nahrungssituation der Hasen im Winter rekapituliert Heinrich Risachs Erläuterungen an anderer Stelle: „Sie haben noch nichts als die karge Wintersaat und Nadelreiser, weshalb man noch nachhelfen müsse. Da die Magd die

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„»wohleingerichtete[n] Tafel«“ (NS 146) steige die Anzahl der Tiere gar, die „»mit dem Schlechtesten selbst mit den dicken Strünken des Kohles zufrieden waren«“ (NS 146), die sich Risach – über den eigenen Abgang hinaus – problemlos von den Nachbarfeldern zu organisieren vermochte, um die Futterrationen aufzustocken. Schließlich ergibt sich somit auch im Falle der Hasen ein Synergieeffekt, indem diese die zur Vernichtung bestimmten Reste der Ernte verwerten, im Gegenzug Risachs Baumschule verschonen und obendrein letztlich „»possierlich«“ (NS 146) anzusehen sind. 979 Nicht zuletzt manifestiert sich in der vorbildlichen Haltung der „klassischen“, einleitend zu Kapitel III.2.3 bereits erwähnten Nutztiere auf dem Asperhof das Modellhafte des Risachschen Anwesens und Praktizierens. (Vgl. NS 243) Die Pflege dieser (zu jener Zeit) eifrigen Helfer in den Sektoren Ernte und Transport – namentlich der Pferde – wird von Heinrich wie folgt akzentuiert: „Am Mittage blieben wir eine ziemlich lange Zeit zur Erquickung und zum Ausruhen der Pferde, auf deren Pflege mein Gastfreund sehr sah, in einem einzeln stehenden Gasthofe […].“ (NS 251) Neben des obligatorischen Wissens betreffs der Grundbedürfnisse der Tiere erzeige sich – um eine ausgewogene Ernährung zu garantieren und ausschließlich hochwertigstes Futter reichen zu können – eine profunde „Kenntnis der Witterungsverhältnisse“ (NS 243) als essenziell, dank derer Risach in Bezug auf die (Heu-)Ernte „weniger Schaden durch Regen oder dergleichen erlitt als die meisten Landwirte, die sich um diese Kenntnis gar nicht bekümmerten“ (NS 243). Was in erster Linie das Wohl der Tiere intendiere, sei notabene in monetärem Belang nicht minder profitabel, sofern man die an der Produktion der Futtermittel beteiligten Mitarbeiter zu äußerster Exaktheit hinsichtlich der selbst den Faktor des Aromas inkludierenden Qualitätskontrolle diszipliniere, wie Heinrich – Risachs

Blätter ausgestreut und sich entfernt hatte, kamen schon Hasen herzu.“ (NS 188) Siehe auch NS 605. 979 Gleichwohl würde – analog zu den Vögeln (vgl. hierzu Anm. 984 der Arbeit) – auch den Hasen zuweilen nach dem Leben getrachtet, wie Risach schildert: „»Manche Leute legten Schlingen, da sie wußten, daß hier Hasen zusammenkamen. Aber da wir sehr sorgfältig nachspürten, und die Schlingen wegnehmen ließen, da ich auch verbot, über unsere Felder zu gehen, und die Betroffenen zur Verantwortung zog, verlor sich die Sache wieder.«“ (NS 146)

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Erörterungen rekapitulierend – dem Leser in Bezug auf die Heuernte 980 auseinandersetzt: Alles, was die Würze den Wohlgeruch und, wie er [Risach] es ausdrückte, die Nahrungslieblichkeit beeinträchtigen konnte, mußte strenge hintan gehalten werden, und wo durch Versehen oder Ungunst der Zeitverhältnisse doch dergleichen eintrat, mußte das minder Taugliche ganz beseitigt oder zu andern Wirtschaftszwecken verwendet werden. […] Der Wirtschaftsvorteil lag außerdem noch als Zugabe bei; denn da das Schlechtere gar nicht verwendet werden durfte, wurde bei der Behandlung und Einbringung die größte Sorgfalt von den Leuten beobachtet […]. Und der Nachteil der Nichtanwendung des Schlechteren wurde weit durch den Vorteil des besseren Gedeihens der Tiere aufgewogen. (NS 243)

Generell hegt Risach die Hoffnung, die (auch jenseits des unmittelbaren Einflusses der im Rosenhaus etablierten Handlungsmaximen lebenden) Mitmenschen nähmen sich ein Beispiel an den in diesem Kapitel III.2.3 dargelegten, zur Schonung und Instandhaltung etwa der einzelnen Zimmer und Gegenstände eines Hauses sowie zum Wohle der unter menschlicher Obhut befindlichen Kreaturen konzipierten und realisierten Einrichtungen und Maßnahmen. In diesem Kontext möge abschließend die Tatsache nicht unerwähnt bleiben, dass im Rosenhausgarten selbst kleinstem Getier wie etwa Bienen, deren Behausung beispielsweise für den Winter sorgfältig und fachgerecht in Stroh gekleidet wird (vgl. NS 293), 981 der ihm gebührende Lebensraum eingeräumt und zudem adäquat gestaltet und erhalten wird. 982 Für die Gattung der Vögel konnte dies paradigmatisch anhand deren äußerst planvoller Haltung demonstriert werden, die Risach wie folgt resümiernd präzisiert: „»Wir haben an unserm Garten einen ungeheueren Käfig ohne Draht Stangen und Vogeltürchen, in welchem der Vogel vor außerordentlicher Freude […] singt, in welchem wir das Zusammentönen vieler Stimmen hören […] und […] die häusliche Wirtschaft der Vögel […] sehen kön-

Vgl. bezüglich der Ernte und Qualität des Tierfutters auch Anm. 847 der Arbeit sowie zur Heuernte allgemein NS 62. 981 Siehe zu den Bienen und dem Bienenhaus auch NS 67, 115, 148, 425 und 702. 982 Im Kontrast dazu steht allerdings der explizierte Umgang mit jenen Insekten, die die Gewächse des Rosenhausgartens schädigen könnten. Vgl. hierzu auch NS 702: „»Zudem kommen auch von der Ferne Faltern hergeflogen. Sie wären wohl auch die schönste Zierde eines Gartens, wenn ihre Raupen nicht so oft für unsere menschlichen Bedürfnisse so schädlich wären.«“ 980

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nen […].«“ (NS 141) 983 So äußert Risach den Wunsch, dass (wie es auch hinsichtlich der Pflanzen, insbesondere der Rosen bereits erfolgt sei), „»wenn unseren Nachbarn die Augen über den Erfolg und den Nutzen des Hegens von Singvögeln aufgehen, sie vielleicht auch dazu schreiten werden, uns nachzuahmen; denn für Erfolg und Nutzen sind sie am empfänglichsten.«“ (NS 142) 984 Gleichwohl impliziert diese Aussage Risachs, dass Effizienzsteigerung respektive Nutzenmaximierung niemals das alleinige Motiv zur Schaffung eines in nahezu jeglichem Belang gelingenden Mikrokosmos wie jenen des Rosenanwesens 985 oder einzelner Komponenten eines solchen darstellen dürfe – und ohnehin für ein Projekt dieser Güte kaum ein solides Fundament zu bilden vermöge. Diesbezüglich erweist sich die im Nachsommer quasi omnipräsente und mithin handlungsleitende Notio der Ehrfurcht samt deren Implikationen in Bezug auf die den Menschen täglich umgebenden, mannigfaltigen Erscheinungen des Lebens als substanziell: Diese soll – die oben primär anvisierten, gleichsam „technischen“ Aspekte eines gelingenden Alltagsumgangs mit (nicht-mensch-

Vgl. hierzu auch NS 207. „»Ich glaube aber auch, daß unsere Obrigkeiten das Ding nicht gering achten sollten, daß ein strenges Gesetz gegen das Fangen und Töten der Singvögel zu geben wäre, und daß das Gesetz auch mit Umsicht und Strenge aufrecht erhalten werden sollte. Dann würde dem menschlichen Geschlechte ein heiligendes Vergnügen aufbewahrt bleiben, wir würden durch die Länder wie durch schöne Gärten gehen, und die wirklichen Gärten würden erquickend da stehen, in keinem Jahre leiden, und in besonders unglücklichen nicht den Anblick der gänzlichen Kahlheit und der traurigen Verödung zeigen.«“ (NS 142) Dies postuliert Risach, nachdem er Heinrich über die krude Sitte des Haltens der (Sing-)Vögel in Käfigen sowie des Fangens bis hin zum Töten und Verspeisen derselben aufgeklärt hatte. Vgl. hierzu NS 140–142, 144 sowie 146 f. Im Kontrast zu diesen Ausführungen steht Risachs unverhältnismäßig rüdes Verhalten gegenüber dem – aufgrund des Verspeisens der Bienen im Rosenhausgarten unerwünschten und infolgedessen eliminierten – Rotschwanz. Vgl. diesbezüglich Anm. 1017 der vorliegenden Arbeit. 985 In dieser Hinsicht – und sowohl bezüglich des im Stifter-Teil der Arbeit bereits Dargelegten als auch als Vorblick auf das abschließend noch Folgende – sei nachstehende prägnante Erläuterung Walter Biemels angeführt: „Das Anwesen ist nicht einfach Besitz im Sinne des Kapitals, sondern das Anwesen offenbart die Lebensweise, die sich jemand erwählt hat. Das Anwesen zum An-wesen bringen, heißt nichts anderes, als sichtbar machen, wie jemand sein Tun und Lassen versteht, worauf es ihm im Leben ankommt, was erreicht werden soll und mit welchen Mitteln. Hegelisch gesprochen könnte man sagen: der Geist, der im Anwesen waltet, soll begriffen werden.“ (Biemel 1985, S. 54 f.) 983 984

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Ein Leben und Alltag in Einklang mit der Lebensumgebung

lichen) Lebewesen und Dingen ideell fundierend – in einem letzten Argumentationsschritt final erörtert werden.

3.

„Die Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an sich sind“: Ein Leben und Alltag in Einklang mit der Lebensumgebung

„Auch habe ich nie vermocht, die bloßen eigenen Beziehungen oder den Nutzen unseres Staates allein als das höchste Gesetz und die Richtschnur meiner Handlungen zu betrachten. Die Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an sich sind, war bei mir so groß, daß ich bei Verwicklungen […] und bei der Notwendigkeit, manche Sachen zu ordnen, nicht auf unsern Nutzen sah, sondern auf das, was die Dinge nur für sich forderten, und was ihrer Wesenheit gemäß war, damit sie das wieder werden, was sie waren, und das, was ihnen genommen wurde, erhalten, ohne welchem sie nicht sein können, was sie sind.“ (NS 614)

Diese Disposition Risachs, die aufgrund deren eminenter Signifikanz in Bezug auf die Themenstellung der vorliegenden Arbeit bereits den Stifter-Teil eröffnend angeführt worden ist, habe ihm – abgesehen von Gram und Missbilligung – „»auch Achtung und Anerkennung eingebracht.«“ (NS 614) Gleichwohl habe sich die erwähnte Grundintention, die Dinge nicht (nur) nutzenfokussiert, sondern vielmehr im wörtlichen Sinne sachgemäß zu behandeln, für den Staatsdienst längerfristig als ungeeignet erzeigt, was Risach schließlich dazu bewegt, seine Ämter nieder zu legen. (Vgl. NS 610 f.) 986 Die Konsequenzen aus der Direktive des Manipulierens 986 „»Die Eignung zum Staatsdienste von Seite des Gemütes abgesehen von den andern Fähigkeiten besteht nun auch in wesentlichen Teilen darin, daß man entweder das Einzelne mit Eifer zu tun im Stande ist, ohne dessen Zusammenhang mit dem großen Ganzen zu kennen, oder daß man Scharfsinn genug hat, den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen zum Wohle und Zwecke des Allgemeinen einzusehen, und daß man dann dieses Einzelne mit Lust und Begeisterung vollführt. Das letzte tut der eigentliche Staatsmann, das erste der sogenannte gute Staatsdiener.«“ (NS 608) Risach erweist sich insofern als ungeeignet, als er stets sowohl den Gesamtzusammenhang als auch die einzelnen Details auf dem Weg zum Endergebnis des Handelns im Blick zu haben bestrebt war. (Dies sucht er schließlich mit dem Rosenanwesen ins Werk zu setzen, welches sich – wie gesehen – sowohl im Detail als auch in der Gesamtheit als gelungen erzeigt.) In diesem Kontext erläutert Risach ferner, bereits als Kind habe ihn „»ein[en] Trieb zur Hervorbringung von Dingen, die sinnlich wahrnehmbar sind«“ (NS 611 f.), charakterisiert. Auf der Basis eines ausgeprägten Schaffensdrangs habe er allerlei Dinge aus diversen (Natur-)Materialien verfertigt. (Vgl. NS 612) Weiters berichtet er in Bezug auf die Natur: „»Ich hatte

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und infolgedessen Manipuliertwerdens 987 ziehend und auf seinen Lebensalltag applizierend, müht sich Risach in den darauffolgenden Jahrzehnten nach Kräften, seine Umwelt vor dem persönlich Erlittenen zu bewahren, und angesichts der breiten Palette an Handlungsoptionen stets solchermaßen zu agieren, dass der Spezifik der Situation wie der je involvierten Lebewesen und Dinge Genüge getan wird. Das praktische Resultat jener beharrlich verfolgten Handlungsmaxime ist in den vorstehenden Kapiteln anhand exemplarischer Aspekte als das in nahezu jeglicher Hinsicht als gelungen zu apostrophierende Lebens(kunst)werk „Rosenhof“ dargelegt worden und mithin Risachs Vorbildfunktion als Person – speziell für Heinrich, worauf die Autorin bereits in anderem Kontext verwiesen hat: Die Basis zur Entwicklung des Menschen liegt […] in dessen Beziehung zu seiner Lebensumwelt. […] Systematisch gewinnt er [Heinrich], in Orientierung an dem Vorbild des Hofmeisters, durch intensive Beobachtung und konkrete Beschäftigung [mit den Lebenwesen und Dingen] vertiefte Einsicht in das Wesen einer jeweiligen Sache: Risach praktiziert, beginnend im alltäglichen Lebensvollzug, in strenger Konsequenz einen auf Respekt basierenden Umgang mit Gegenständen und Lebewesen. Auf dem Rosenhof erkennt man jedem noch so kleinen Tier, […] ja selbst dem einzelnen Grashalm die ihm zustehende Würde sowie Raum zu Entwicklung und Gedeihen zu. 988

Wurde der Aspekt eines achtungsvollen Umgangs in besagtem Artikel der Autorin in Bezug auf die (nicht-menschlichen) Lebewesen und Alltagsgegenstände lediglich gestreift und hinsichtlich der Kunstobjekte im Nachsommer ausführlich diskutiert, ist mit der vorliegenden Arbeit intendiert, den Fokus auf die Phänomene der

Freude an allem, was als Wahrnehmbares hervorgebracht wurde, an dem Keimen des ersten Gräsleins an dem Knospen der Gesträuche an dem Blühen der Gewächse an dem ersten Reife der ersten Schneeflocke an dem Sausen des Windes dem Rauschen des Regens ja an dem Blitze und Donner, obwohl ich beide fürchtete.«“ (NS 612) Vgl. hierzu auch Heinze 2008, S. 92 f. 987 „»Mir fiel in jener Zeit immer und unabweislich die Vergleichung ein, wenn etwas, das Flossen hat, fliegen, und etwas, das Flügel hat, schwimmen muß«“ (NS 610), so Risach. 988 Heinze 2008, S. 93; vgl. auch ebd., zum Beispiel S. 125: „Die entscheidenden Grundvoraussetzungen menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten liegen in einer adäquaten Beziehung des Individuums zu der es umgebenden Welt, die – neben intensivem visuellem Wahrnehmen – auf einem angemessenen Umgang basiert.“

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Natur 989 sowie „Begegnungen“ mit Situationen des täglichen Lebens 990 zu legen. Während dies in im weitesten Sinne technischpragmatischer Hinsicht (qua Exemplifikation spezifischer Maßnahmen zur Optimierung etwa der Pflanzen- und Tierpflege oder Schonung der Gegenstände) im vorherigen Kapitel III.2.3 eruiert worden ist, gilt es, im Rahmen nachstehender Erörterungen final die „geistige“ Basis des Rosenhofprojektes in Form einer kaleidoskopartigen Zusammenschau einzelner, um den Schlüsselbegriff der Ehrfurcht zentrierten Komponenten (auszugsweise und gleichwohl anhand praktischer Beispiele) zu konkretisieren: Im Zuge dessen wird vornehmlich auf die mit dem Ehrfurchts-Terminus primär korrelierenden Gesichtspunkte des Wahrnehmens und Wertschätzens von Unscheinbarem, Alltäglichem, gleichermaßen Lebenswichtigem abgestellt werden, die letztlich in dem zentralen Moment des Mitleids kulminieren – des „[M]itleiden[s] vor allem mit den einfachsten, übersehensten Lebewesen – ja mit den Dingen. Mit den Dingen“ 991 (denen mitunter indirekt quasi ein Personen-Status attestiert wird). Als Ausklang der Erörterungen zu Stifter soll – im Zuge des (aus modifizierter Perspektive erfolgenden) Rekurses auf die Bedeutsamkeit der (scheinbar) „kleinen“, den Alltag gleichwohl fundierenden Dinge – die idealisierende Erhöhung des Alltäglichen im Nachsommer und somit die Quintessenz der vorliegenden Analyse in Bezug auf Stifter (noch einmal) akzentuiert werden. Nicht zuletzt kann auf diese Weise der Bogen geschlagen werden zu der in Kapitel III.1 auch angerissenen Problematik der Diskrepanz zwischen Mensch und „Ding“ im weitesten Sinne. Gleichsam als Endresultat möge der Rezipient (sowohl des Romans als auch dieser Arbeit) der Atmosphäre des Stifter-Textes, die sich aus den unzähligen, den Leser je praxisrelevant inspirierenden Detailschilderungen speist, inne werden und infolgedessen des Einklangs der Protagonisten mit deren alltäglicher Lebensumwelt. In Bezug auf die Intention, besagtes Fluidum des Buches zu transportieren, erweisen 989 Hierbei handelt es sich um den wesentlichen Überschneidungspunkt der Konzeptionen von Stifter und Albert Schweitzer, was im die Ansätze zusammenführenden Teil der Arbeit explizit zu zeigen sein wird. 990 Worin die essenzielle Interferenz des Stifterschen Ansatzes mit jenem Martin Bubers besteht, wovon ebenfalls in Teil IV der vorliegenden Analyse noch zu handeln ist. 991 Stadler 2009, S. 83; vgl. auch ebd., S. 65.

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sich folgende Ausführungen Biemels, die sowohl hinsichtlich Stifters Roman wie der vorliegenden Ausführungen zutreffend sind, als programmatisch: Was sich durch die ausführlichen Schilderungen für den Leser ereignen soll, ist die Erfahrung der Grundstimmung, die im Rosenhof herrscht, so daß er von ihr angesprochen wird. Das kann nicht in einem Reden darüber geschehen, sondern nur im unmittelbaren Umgang. […] Und wenn von einer Grundstimmung die Rede ist, so besagt das keine konfuse Gefühlsduselei, sondern es wird die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Stimmung in Anspruch genommen, daß wir in der Stimmung die Einstimmung oder Unstimmigkeit mit unserer Umwelt erfahren. 992

Wird besagte Grundatmosphäre (des Romans) zwar nicht durch Sprechen über dieselbe vermittelt (oder gar evoziert), ist gleichwohl das Sprechen im Sinne der konkreten Benennung der dem Menschen begegnenden Dinge für diese konstitutiv. Das heißt, die dieser Stimmung zugrunde liegende, im buchstäblichen Sinne stimmige Relation des Individuums zu seiner Lebenswelt beruht – im Gegensatz zum Übersehen und Übergehen – im registrierend-anerkennenden Sehen und mithin Aussprechen der Aspekte der unmittelbaren Umgebung. Rekurrierend auf das in Kapitel III.2.1 bereits in Bezug auf das phänomenologische (Er-)Sehen und Sagen der Dinge Konstatierte, sei an dieser Stelle erneut Alice Bolterauer zitiert, welche treffend formuliert: „Im ‚richtigen‘ Sagen der Dinge äußert sich […] auch der sorgsame und verantwortungsvolle Umgang mit den Dingen selbst.“ 993 Demzufolge ist die Kombination aus achtungsvollem Sehen und verbaler Artikulierung der einzelnen Dinge als fundamentales Indiz eines adäquaten Umgangs mit denselben zu werten 994 und somit unabdingbar in Hinblick auf die (praktische) Einlösung folgender prinzipieller ethischer Direktive: „In dem GeBiemel 1985, S. 67. Bolterauer 2005, S. 218. Weiters führt Bolterauer in Bezug auf Stifters Erzählung „Granit“ aus: „Das, was ‚ergangen‘ und gesehen wird, muss auch ‚richtig‘ gesagt werden, um als rechtmäßiger und selbständiger Teil der Ordnung der Natur und der Welt anerkannt zu werden und gelten zu können. Insofern lässt sich das Sagen und Benennen der Dinge auch als Einführung in die Ordnung dieser Dinge verstehen, das Sagen selbst fungiert dabei sowohl als Medium einer Reflexion auf die Ordnung von Mensch und Natur wie auch als Mittel, um diese Ordnung des Seins Realität werden zu lassen.“ (Ebd.) Vgl. zu der Erzählung „Granit“ auch Anm. 741 der vorliegenden Arbeit. 994 In diesem Kontext wurden in Kapitel III.2.1 die symptomatisch minutiösen Deskriptionen im Nachsommer gleichsam als Vorstadium einer Beziehung definiert. 992 993

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bot des Respekts gegenüber den Dingen besteht die spezifische Herausforderung an den Menschen.“ 995 Risach sucht diesen Nexus von entsprechendem Ding- und Situationszugang und menschlichem Zusammenstimmen mit der Umgebung, welchen er – gemäß eigenen Angaben – bereits sehr früh gleichsam intuitiv internalisiert zu haben schien (vgl. NS 619), 996 im jungen Erwachsenenalter zunächst seinen Schutzbefohlenen in Heinbach – namentlich Alfred (auf dessen Erziehung durch Risach oben verwiesen wurde), ferner dessen älterer Schwester Mathilde – zu vermitteln: In diesem Kontext kommt dem Verweilen in der Natur in Form von Spaziergängen und Ausfahrten zentrale Bedeutung zu: „»Der Hauptinhalt unserer Gespräche aber war, daß alles, was uns auf unserem Wege oder in dessen Nähe begegnete, bemerkt wurde, daß wir es nannten, und darüber sprachen.«“ (NS 645) Vor allem werden die unscheinbaren Phänomene des direkten Umkreises bedacht: „»Wenn in dem freien Grunde sich etwas zeigte, sei es ein Gesträuch, sei es eine Blume, so machte man sich darauf aufmerksam […]. Mathilde erzählte mir es, wenn sie den Gesang eines Vogels gehört hatte, wenn Faltern vorüber geflogen waren, wenn sich ein Becher in einem Gebüsche geöffnet hatte […].«“ (NS 647) Gegenüber Heinrich resümiert Risach schließlich summarisch seine damaligen Bemühungen etwa an folgender Stelle: „Ich zeigte den Kindern die Berge, die zu sehen waren, und nannte sie, 997 ich lehrte sie die Bäume die Gesträuche und selbst manche Wiesenpflanzen kennen, ich las ihnen Steinchen Schneckenhäuschen Muscheln auf, und erzählte ihnen von dem Haushalte der Tiere […]. Alfred liebte das Walten und das Tun der Vögel sehr, besonders ihren Gesang. Er freute Heinze 2008, S. 93. „»Als ich ein Knabe von zehn Jahren war, kannte ich alle Bäume und Gesträuche der Gegend, und konnte sie nennen, ich kannte die vorzüglichsten Pflanzen und Gesteine, kannte alle Wege, wußte, wohin sie führten, und war in allen benachbarten Orten schon gewesen, die sie berührten. Ich kannte alle Hunde von Dallkreuz [Risachs Geburtsort], wußte, welche Farben sie hatten, wie sie heißen und wem sie gehörten. Ich liebte die Wiesen die Felder die Gesträuche unser Haus außerordentlich, und unsere Kirchenglocken deuchten mir das Lieblichste und Anmutigste, was es nur auf Erden geben kann.«“ (NS 619) Auch Heinrich wünscht als Kind, die Namen von allen umgebenden Dingen und Wesen zu wissen. (Vgl. NS 24 f.) 997 Analog agiert Heinrich gegenüber seiner Schwester Klotilde während der gemeinsamen (Gebirgs-)Reise (vgl. NS 561–571): „Ich nannte jeden Namen eines vorzüglichen Berges, machte auf die Bildungen aufmerksam, und suchte die Farben die Lichter und die Schatten zu erörtern.“ (NS 563) 995 996

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sich, aus dem Fluge einen Vogel zu erraten, und wenn die Stimmen in dem Gebüsche oder im Walde ertönten, konnte er alle die Sänger herzählen, von denen sie strömten. Er lehrte dies ein wenig auch Mathilden, und fragte sie bei manchem Laute, woher er rühre.“ (NS 644 f.) 998

Liegt die fundamentale Relevanz, die Kinder für Bedeutsamkeit und Charakteristik der einzelnen Kreaturen und Naturphänomene zu sensibilisieren, auf der Hand, ist – angesichts des oben erörterten „Sanften Gesetzes“ – ein achtsamer und ganzheitlicher Naturzugang im Erwachsenenalter nicht minder als Sentimentalität oder gar Bagatelle abzutun, sondern konsolidiert vielmehr einen adäquaten Lebensbezug. So erteilt der altersweise Risach schließlich auch seinem Gast Heinrich den sinnigen Rat, sich im Zuge seiner Forschungen weder (voreilig) auf einen einzigen Wissenschaftszweig zu versteifen, noch der Illusion zu erliegen, sämtliche Sparten (der Natur) systematisch erforschen zu wollen. Primär gehe es darum, „»daß man das Leben, wie es uns überall umgibt, aufsuche, daß man seine Erscheinungen auf sich wirken lasse, damit sie Spuren einprägen, unmerklich und unbewußt, ohne daß man diese Erscheinungen der Wissenschaft unterwerfe«“ (NS 301), 999 um auf diese Weise al998 In Bezug auf Stifters Erzählung „Granit“ konstatiert Brigitte Kronauer bezüglich des Großvaters und seines Enkelsohnes, welcher des Ersteren Bericht exakt nachzuerzählen im Stande ist: „Beim Vorangehen schildert er die sie umgebende Landschaft, und der Junge neben ihm wiederholt beinahe wörtlich, was der Großvater ihm gezeigt hat, das, was er nun sieht und hört, nichts anderes, und nichts davon entgeht ihm. Auf einer Anhöhe fragt der Großvater nach allen Bergen und Wäldern, auf die sie Ausblick haben, und der Junge antwortet auf jede einzelne Frage mit einem Namen und nimmt also alle Erhebungen wahr und kennt sich aus von Punkt zu Punkt am Horizont entlang.“ (Kronauer 2010, S. 150) Im Nachsommer ist der kleine Alfred in der Lage, Risach – analog zu den Vogelnamen – sämtliche Bezeichnungen der Bäume aufzusagen (vgl. NS 367 f.); zuweilen führt auch er Risach durch den Garten des Anwesens seiner Eltern: „»Er geleitete mich durch ein kleines Gebüsch zu einem mäßig großen Teiche, der das Merkwürdige hatte, daß auf ihm hölzerne Hüttchen in geringen Entfernungen angebracht waren, die die Bestimmung hatten, daß darin Wildenten nisteten. […] Es war noch nicht so weit im Sommer, und wir sahen noch manche Mutter mit ihren fast erwachsenen, aber noch nicht flugfähigen Jungen auf dem Wasser herumschwimmen. An den Ufern waren an verschiedenen Stellen Futterbrettchen angebracht. Im Wasser selber bewegte sich eine große Zahl schwerfälliger Karpfen. Alfred zog ein Weißbrot aus seiner Tasche, zerbrach es in kleine Stückchen, warf diese einzeln in das Wasser, und hatte seine Freude daran, wenn die Enten und auch manch ungeschickter Mund eines Karpfen darnach haschten.«“ (NS 638) 999 Präzisierend fügt Risach seinen Ausführungen hinzu: „»Darin, meine ich, besteht das natürliche Wissen des Geistes zum Unterschiede von der absichtlichen

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lererst eine solide Basis für tiefergehende Analysen zu generieren: „»Schaut auch die unbedeutenden ja nichtigen Erscheinungen des Lebens an.«“ (NS 301) Eine solcherweise intensivierte Aufmerksamkeit für die gemeinhin übersehenen Phänomene münde letztlich im Modus exakten Beobachtens, welches nicht zuletzt unmittelbar Orientierung im Alltag zu stiften und somit dessen Gelingen zu begünstigen vermöge. [A]us der Beschaffenheit des Laubes an den Bäumen und dem Aussehen der Herbstpflanzen auf den Matten, aus dem Verhalten der Tiere und aus der Beschaffenheit des Pelzes derselben erkannte ich, daß die dauernde kalte und unfreundliche Zeit noch nicht gekommen sei, und daß noch warme und klare Tage eintreten müssen. (NS 567)

Heinrichs im Zuge seiner Erkundungstouren durch Umland und Gebirge bereits akkumulierten, recht souverän angewandten Kenntnisse in Bezug auf die Natur im Allgemeinen, werden durch die Begegnung mit seinem Gastfreund beziehungsweise dessen sachgemäßen Erörterungen der relevanten Details dieses vielschichtigen Gebietes schließlich komplettiert: Analog zu dem aus direkter Kontaktaufnahme und somit unmittelbarer Auseinandersetzung resultierenden Verständnis des Menschenschlags eines bestimmten Landstrichs, 1000 verhalte es sich – so Risach – mit der Natur im Ganzen und den nicht-menschlichen Lebewesen im Besonderen: Am meisten lerne man durch lebendiges Beisammensein mit den Tieren und Pflanzen (vgl. NS 145), etwa durch längerfristiges Aufhalten, vor allem aber Leben respektive Wohnen an einem entsprechenden Ort, wie dies Risach in seinem Rosenanwesen praktiziere. Anhand des oben bezüglich der spezifischen Gebräuche, beispielsweise des Hausens und Speisens, ausführlich erörterten Beispiels der Vögel erklärt Risach: „»Wenn ihr länger bei uns wäret, so würdet Ihr jetzt eine ganze Lebensgeschichte dieser Tiere erfahren«“ (NS 187) 1001 und hebt hervor, es sei schier unvorstellbar, „»zu welchen Erfahrungen man gelangt, wenn man durch mehrere Jahre diese gefiederten

Pflege desselben. Er wird nach und nach gerecht für die Vorkommnisse des Lebens.«“ (NS 301) 1000 Vgl. hierzu NS 62 f. sowie die diesbezüglichen Ausführungen einleitend zu Kapitel III.2.3 der Arbeit. 1001 Siehe auch Heinrichs Aussage auf NS 145: „Mein Begleiter sagte, daß, wenn ich nur länger hier wäre, mir selbst die Sitten der Vögel verständlicher werden würden.“

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Tiere hegt, und gelegentlich die Augen auf ihre Geschäftigkeit richtet.«“ (NS 138) 1002 Im Kontext der genauen Betrachtung des Agierens nichtmenschlicher Lebewesen ist auch das im Nachsommer ausgiebig diskutierte Phänomen des Wetters sowie dessen Prognose angesiedelt, in dem sich einmal mehr die im Roman einer alltäglichen Erscheinung beigemessene Wichtigkeit manifestiert. 1003 Während sich Heinrich bislang in Bezug auf eine gezielte Wettervorhersage primär auf die mittels seiner Messgeräte angezeigten Werte (vgl. NS 102 f.) 1004 verlassen hatte, akzentuiert Risach die Komplexität des Wetter-Phänomens angesichts des Zusammenwirkens diverser differierender Faktoren und konstatiert: „»Die Anzeichen können daher auch täuschen.«“ (NS 104) Über die zu berücksichtigenden spezifischen Symptome einer Gegend (vgl. NS 102–104) hinaus, liefere die Natur selbst die zu präziser Voraussage des Wetters erforderlichen Mittel in Form der „»Nerven der Tiere«“ (NS 104), deren Sensibilität jene der technischen Apparaturen weitaus überrage. 1005 Das äußerst empfindliche Gespür der Tiere basiere auf deren existenzieller Bedingtheit durch die einzelnen Komponenten der Witterungsverhältnisse – namentlich Regen und Sonnenschein – und reagiere vor Wetteränderungen jeweils entsprechend, woraufhin die Tiere „»Anstalten für ihre Zukunft [träfen], und diese Anstalten kann der Mensch betrachten, und daraus Schlüsse ziehen.«“ (NS 105) 1006 1002 „»Ich habe nicht eigens Beobachtungen angestellt; aber wenn man mehrere Jahre unter den Tieren lebt, so gibt sich die Betrachtung von selber.«“ (NS 140) In Bezug auf das sukzessive Kennen- und Verstehenlernen der Vögel und deren Gebräuche berichtet schließlich Heinrich: „Ich sah die Nester, besuchte sie, und lernte die Gebräuche dieser Tiere kennen.“ (NS 207) 1003 Zudem inhäriert dem Wetter eine entscheidende Funktion im Rahmen der Dramaturgie des Romans, als Heinrich aufgrund des vermuteten Aufzugs eines Gewitters allererst zum Rosenhof gelangt und dessen Besitzer um Obdach ersucht. Zur Thematisierung des Wetters, insbesondere des Gewitters, vgl. vor allem NS 39, 43, 51 f. 58, 65, 73, 101–109, 231 und 243. 1004 Vgl. hierzu zum Beispiel auch NS 579, 581 und 584. 1005 Hinsichtlich der Nerven des Menschen führt Risach dagegen aus: „»Der Mensch stört leider durch zu starke Einwirkungen, die er auf die Nerven macht, das feine Leben derselben, und sie sprechen zu ihm nicht mehr so deutlich, als sie sonst wohl könnten. Auch hat ihm die Natur etwas viel Höheres zum Ersatze gegeben, den Verstand und die Vernunft, wodurch er sich zu helfen und sich seine Stellung zu geben vermag.«“ (NS 104) 1006 „»Es gibt einige, die ihre Nahrung finden, wenn es feucht ist, andere verlieren sie in diesem Falle. Manche müssen ihren Leib vor Regen bergen, manche ihre Brut

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Das Wetter am zuverlässigsten zu prognostizieren, attribuiert Risach den kleinen Tieren, speziell den Insekten: Sie sind aber viel schwerer zu beobachten, da sie, wenn man dies tun will, nicht leicht zu finden sind, und da man ihre Handlungen auch nicht immer leicht versteht. […] Warum, damit ich ein Beispiel anführe, steigt der Laubfrosch tiefer, wenn Regen folgen soll, warum fliegt die Schwalbe niedriger und springt der Fisch aus dem Wasser? Die Gefahr zu irren wird wohl bei oftmaliger Wiederholung der Beobachtung und bei sorglicher Vergleichung geringer; aber das Sicherste bleiben immer die Herden der kleinen Tiere. Das habt Ihr gewiß schon gehört, daß die Spinnen Wetterverkündiger sind, und daß die Ameisen den Regen vorher sagen. Man muß das Leben dieser kleinen Dinge [Tiere] betrachten, ihre häuslichen Einrichtungen anschauen, oft zu ihnen kommen, sehen, wie sie ihre Zeit hinbringen, erforschen, welche Grenzen ihre Gebiete haben, welche die Bedingungen ihres Glückes sind, und wie sie denselben nachkommen.“ (NS 105 f.)

In Bezug auf das von Heinrich erwartete Gewitter, dessen Eintreffen Risach dagegen bestritt, 1007 resümiert letzterer im Laufe des Gesprächs über allgemeine Aspekte des Wetters sowie die spezifischen Witterungsverhältnisse an jenem Tag Folgendes: Er habe seine Argumentation ausschließlich auf das Verhalten der Tiere gestützt, von denen keines „»ein Zeichen von Regen gegeben hat, wir mögen von den Bienen anfangen, welche in den Zweigen summen, und bis zu den Ameisen gelangen, die ihre Puppen an der Planke meines Gartens in die Sonne legen, oder zu dem Springkäfer, der sich seine Speise trocknet.«“ (NS 107) Da diese unscheinbaren Lebewesen ihn bisher noch nie irregeleitet hätten, habe er konkludiert, „»daß die Wasserbildung, welche unsere gröberen wissenschaftlichen Werkzeuge voraussagten, nicht über die Entstehung von Wolken hinausgehen würde, da es sonst die Tiere gewußt hätten.«“ (NS 107) 1008 Dieses Beispiel demonstriere ein weiteres Mal, „»wie man in Sicherheit bringen. Viele müssen ihre für den Augenblick aufgeschlagene Wohnung verlassen, oder eine andere Arbeit suchen. Da nun die Vorempfindung gewiß sein muß, wenn die daraus folgende Handlung zur Sicherung führen soll, da die Nerven schon berührt werden, wenn noch alle menschlichen wissenschaftlichen Werkzeuge schweigen, so kann eine Voraussage über das Wetter, die auf eine genaue Betrachtung der Handlungen der Tiere gegründet ist, mehr Anhalt gewähren, als aus allen wissenschaftlichen Werkzeugen zusammen genommen.«“ (NS 105) 1007 Vgl. diesbezüglich Anm. 1003. 1008 Hinsichtlich der Konstellation der Wolken führt Risach weiter aus: „»Was aber mit den Wolken geschehen würde, erkannte ich nicht genau, ich schloß nur, daß

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die kleinsten Dinge nicht vernachlässigen soll […].«“ (NS 108) So zählten ferner die Pflanzen zu den Wetterkündern, die der Mensch in seiner direkten Umgebung beobachten könne. Risach berichtet von im Rosenhausgarten sowie in den Treibhäusern lebenden Gewächsen, „»welche einen auffallenden Zusammenhang mit dem Luftkreise zeigen, besonders gegen das Nahen der Sonne, wenn sie lange in Wolken gewesen war. Aus dem Geruche der Blumen kann man dem kommenden Regen entgegen sehen, ja sogar aus dem Grase riecht man ihn beinahe.«“ (NS 109) Diese Herangehensweise Risachs setzt voraus, dass der jeweilige „Betrachtungsgegenstand“ „»mit Liebe und mit Eifer«“ (NS 109) ergriffen werde, denn „»[e]s gehört aber wie zu allem auch Liebe dazu.«“ (NS 106) 1009 In diesem Kontext bekräftigt Heinrich hinsichtlich des Faktors der inneren Anteilnahme 1010 an den diversen Gewächsen des Rosenhofes in Bezug auf seine eigene Person: „Ich nahm wirklich großen Anteil an den Pflanzen selber, da ich mich ja in früherer Zeit viel mit Pflanzen beschäftigt hatte, und nahm Anteil an dem Zustande derselben.“ (NS 596) 1011 Gleichsam durch die Abkühlung, die ihr Schatten erzeugen würde, und durch Luftströmungen, denen sie selber ihr Dasein verdankten, ein Wind entstehen könnte, der in der Nacht den Himmel wieder rein fegen würde.«“ (NS 107); vgl. zu den Wolken etwa auch NS 103. In Bezug auf Stifters Affinität zu Wolken, vor allem auch im Kontext seiner Aktivität als Maler, formuliert Arnold Stadler Folgendes: „Es gibt aber auch die Wolken, denen schon früh Stifters Interesse oder Liebe (ist wohl das gleiche?) gegolten hat. Wolken, die sich nicht festlegen lassen und ein Lieblingsmotiv, ja ein Liebesmotiv Stifters waren, diese Wolken, die er vielleicht zum ersten Mal und wie nichts sonst wahrnahm in seinem kärglichen Wiener Dachverlies.“ (Stadler 2009, S. 181) 1009 Vgl. hierzu auch ebd., S. 195. In Bezug auf die Tatsache, dass Voraussetzung jeglichen ernsthaft betriebenen Unterfangens sowohl Kennerschaft als auch ein emotionaler Bezug zu den Dingen sei, heißt es über Heinrichs Vater, „er sah alles genau an, und sprach als Liebhaber und auch als Kenner über vieles“ (NS 704). 1010 Auf den Aspekt des Mitleids im buchstäblichen Sinne des konkreten Mit-Leidens wird im Fortgang dieses Kapitels noch gesondert eingegangen werden. 1011 Heinrich nimmt nicht nur Anteil am Zustand der Pflanzen, sondern auch an der Rede des Gärtners über seine „Pfleglinge[n]“ (NS 596). Auch als Heinrichs Familie der Rosenhausgarten vorgeführt wird, wird auf jedes Detail geachtet und dementsprechend alles adäquat gewürdigt. (Vgl. NS 701 f.) Was die allgemeine Anteilnahme an den Bestrebungen der Mitmenschen betrifft, sei insbesondere auf folgende Passage verwiesen, in welcher Risach die auf Gegenseitigkeit beruhende Aufmerksamkeit von Mathilde und ihm schildert: „Mathilde nimmt Anteil an jeder meiner Bestrebungen. Sie geht mit mir in den Räumen meines Hauses herum, ist mit mir in dem Garten, betrachtet die Blumen oder Gemüse, ist in dem Meierhofe, und schaut

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überboten wird Heinrich in dieser Hinsicht durch Simon und dessen Hingabe an seine persönlichen „Lieblinge“ (NS 596), die Kakteen, auf Basis derer er dem Leser exemplarisch die spezifische Schönheit solch eigentümlicher Hervorbringungen der Natur zu erschließen sucht: Der Gärtner, dessen Aufopferung für die Pflanzen sich – wie Heinrich registriert – in einer besonders sorgfältigen Pflege derselben manifestiere (vgl. vor allem NS 531–533), macht ihn auf die mannigfaltigen, je individuellen Gepräge der Kakteenarten aufmerksam sowie den besonderen Liebreiz der sich oft „»verwunderlich wie Märchen«“ (NS 117) präsentierenden Blüten. 1012 Die Liebe zu diesen speziellen Geschöpfen stelle sich – so Simon – selbst in Folge eines recht kurzen, gleichwohl intensiven Blicks auf selbige quasi automatisch ein und reiche aus, „damit die Gegner dieser Pflanze in warme Verehrer derselben übergehen – es müßte nur ein Mensch überhaupt kein Freund der Pflanzen sein, welche Gattung es vielleicht in der Welt nicht gibt“ (NS 533). Was die Liebe zu den den Nachsommer dominierenden Rosen anbetrifft, so sei diese (neben jener Risachs) gemäß den Angaben Heinrichs bei Mathilde am ausgeprägtesten: „Unter allen aber schien Mathilde die Rosen am meisten zu lieben“ (NS 232) und einen besonders ehrfurchtsvollen Umgang mit diesen zu pflegen: Den Rosen […] wendete sie ihr meistes Augenmerk zu. Nicht nur ging sie zu denen, welche im Garten in Sträuchen Bäumchen und Gruppen standen, und bekümmerte sich um ihre Hegung und Pflege, sondern sie besuchte auch ganz allein […] die, welche an der Wand des Hauses blühten. Oft stand sie lange davor, und betrachtete sie. Zuweilen holte sie sich einen Schemel, stieg auf ihn, und ordnete in den Zweigen. Sie nahm entweder ein welkes Laubblatt ab, […] oder bog eine Blume heraus, die am vollkommenen Aufblühen gehindert war, oder las ein Käferchen ab, oder lüftete die Zweige, wo sie sich zu dicht und zu buschig gedrängt hatten.

seine Erträgnisse an, geht in das Schreinerhaus, und betrachtet, was wir machen, und sie beteiligt sich an unserer Kunst und selbst an unsern wissenschaftlichen Bestrebungen. Ich sehe in ihrem Hause nach, betrachte die Dinge in dem Schlosse im Meierhofe auf den Feldern, nehme Teil an ihren Wünschen und Meinungen, und schloß die Erziehung und die Zukunft ihrer Kinder in mein Herz.“ (NS 681 f.) Siehe zur Anteilnahme anderer Personen an Risachs Vorliebe für Rosen auch NS 228. 1012 „Es könne nur Unverstand oder Oberflächlichkeit oder Kurzsichtigkeit diese Pflanzengattung ungestaltig nennen, da doch nichts regelmäßiger und mannigfaltiger und dabei reizender sei als eben sie“ (NS 533) – so das Plädoyer des Gärtners für die (Schönheit der) Kakteen.

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Zuweilen blieb sie auf dem Schemel stehen, ließ die Hand sinken, und betrachtete wie im Sinnen die vor ihr ausgebreiteten Gewächse. (NS 233)

Ebenso praktiziert Mathildes Tochter Natalie diese ein achtsames Verhalten prägende Sorgfalt, was anhand des von Heinrich beobachteten Arrangierens eines Feldblumenstraußes luzid wird: Behutsam habe Natalie das gesammelte Gut sortiert – „[s]ie schied keine einzige Blume aus, sie warf nicht einmal einen Grashalm weg, der sich eingefunden hatte […]“ (NS 433) 1013 – und sich zudem erklärt, „»oft pflücke [sie] auch keine Blumen, wenn sie noch so reichlich vor [ihr] stehen.«“ (NS 438) Dass auch Risach, der sich für die Erziehung der Kinder Mathildes verantwortlich fühlt (vgl. NS 681 f.), den Gewächsen gegenüber einen behutsamen Umgang pflegt, realisiert Heinrich stets aufs Neue, so beispielsweise während eines Spaziergangs: „Mein Begleiter ging ruhig neben mir, und strich manchmal sachte mit der Hand an den grünen Ähren des Getreides hin.“ (NS 59) 1014 Außerdem unterrichtet Risach Heinrich, der Herrgott habe „»[a]llen Tatsachen, die wichtig sind, […] außer unserem Bewußtsein ihres Wertes auch noch einen Reiz für uns beigestellt,«“ (NS 140) der dem Menschen gleichsam Ehrfurcht entlocke. Dies sei etwa bei den Vögeln „»die goldene Stimme«“ (NS 140) 1015 beziehungsweise der einnehmende Gesang, der Heinrich nach eigenen Angaben in der Tat – nachdem er die Gebräuche der Tiere kennengelernt hatte – auch in seiner Vielstimmigkeit in Risachs Garten „nun sehr lieblich ja ehrwürdig [erschien], und wenn ich einen Vogel durch einen Baum huschen sah oder über einen Sandweg laufen, so erfüllte es mich mit einer Gattung Freude“ (NS 143). 1016 Unseligerweise 1013 An dieser Stelle scheint das (im Rosenhaus ansonsten untersagte) Brechen der Blumen unproblematisch zu sein; andererseits findet das Blumensammeln außerhalb des Rosenhausgartens statt, und vor allem sortiert Natalie keine einzige Pflanze aus oder entsorgt sie, selbst Gräser werden für den Strauß als würdig erachtet. 1014 Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Anm. 1050 dieser Arbeit. 1015 Siehe zum Vogelgesang auch NS 48, 54, 102, 115, 133, 140–143, 154, 184, 187, 199, 206 f., 425, 534 sowie 697. 1016 Auch im folgenden Jahr bekundet Heinrich in Bezug auf den Gesang der Vögel in Risachs Garten, dieser sei ihm „wieder ganz besonders schmelzend. Dadurch, daß sie [die Vögel] in verschiedenen Fernen sind, die Laute also mit ungleicher Stärke an das Ohr schlagen, dadurch, daß sie sich gelegentlich unterbrechen, […] wird ein reizender Schmelz veranlaßt, wie in einem Walde, während die besten Singvögel in vielen Käfigen nahe bei einander nur ein Geschrei machen […].“ (NS 207; vgl. auch NS 141 f.)

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wüssten jedoch nicht alle Leute diese Tiere in deren natürlicher Umgebung in Freiheit zu würdigen, sondern fingen sie ein und sperrten sie in Käfige, wie Risach einräumt: „Sie sind auf diese Weise nicht unfühlsam für die Stimme des Vogels, aber sie sind unfühlsam für sein Leiden. Dazu kommt noch, daß es der Schwäche und Eitelkeit des Menschen besonders der Kinder angenehm ist, eines Vogels, der durch seine Schwingen und seine Schnelligkeit gleichsam aus dem Bereiche menschlicher Kraft gezogen ist, Herr zu werden und ihn […] in seine Gewalt zu bringen. Darum ist seit alten Zeiten der Vogelfang ein Vergnügen gewesen […]; aber wir müssen sagen, daß es ein sehr rohes Vergnügen ist, das man eigentlich verachten sollte. […] Die unschuldigsten und mitunter schönsten Tiere, die durch ihren einschmeichelnden Gesang und ihr liebliches Benehmen ohnehin unser Vergnügen sind, die uns nichts anderes tun als lauter Wohltaten, werden wie Verbrecher verfolgt, werden meistens, wenn sie ihrem Triebe der Geselligkeit folgen, erschossen, oder, wenn sie ihren nagenden Hunger stillen wollen, erhängt. Und dies geschieht nicht, um ein unabweisliches Bedürfnis zu erfüllen, sondern einer Lust und Laune willen. Es wäre unglaublich, wenn man nicht wüßte, daß es aus Mangel an Nachdenken oder aus Gewohnheit so geschieht. Aber das zeigt eben, wie weit wir noch von wahrer Gesittung entfernt sind.“ (NS 141 f.) 1017

Im Rosenhof dagegen werden die Tiere quasi menschlichen Wesen gleich geachtet, als „»Freunde«“ (NS 143) tituliert und als „Gäste“ willkommen geheißen, was Risach Heinrich während der (bereits in Kapitel III.2.3.3 thematisierten) regelmäßig erfolgenden Vogelfütte1017 Diese seine These verifiziert Risach in einem einzigen wie drastischen Fall selbst, wie folgende, in eklatantem Widerspruch zu der sonst propagierten Ehrfurcht stehende Aussage belegt: „Als einen bösen Feind zeigte sich der Rotschwanz. Er flog zu dem Bienenhause, und schnappte die Tierchen weg. Da half nichts als ihn ohne Gnade mit der Wildbüchse zu töten. Wir ließen beinahe in Ordnung Wache halten, und die Verfolgung fortsetzen, bis dieses Geschlecht ausblieb.“ (NS 148) Wolfgang Matz mutmaßt hinter diesen gegen die Gattung des Rotschwanzes ergriffenen, drakonischen Maßnahmen, die in ihrer Rohheit weder in einem Verhältnis zu dem Verhalten der Tiere noch den strikten ethischen Prinzipien des „gewöhnlich so zartfühlende[n] Vogelfreund[s] Risach“ (Matz 2005, S. 242) stehen, Stifters eigene, subliminale Gewalttätigkeit: „[I]mmer wieder gibt es bei Stifter Augenblicke, wo in unscheinbaren Zusammenhängen die gepflegte Oberfläche der humanen Fürsorge für die Kreatur zerrissen wird.“ (Ebd.) Auffällig ist zudem, dass diese ein der Ehrfurchtsethik Albert Schweitzers (der sich im täglichen Leben ex aequo Vergehen gegen Tiere, die er als Plage erachtete, zu Schulden kommen ließ; vgl. hierzu etwa Eck 2002, S. 46 f. und 68) diametral entgegenstehendes Agieren forcierende Bekundung Risachs von Heinrich, der in der Regel jedes Detail sensibel kommentiert, in seiner Erzählung schlicht übergangen wird.

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rung demonstriert: „»Die Federgäste kommen schon herzu und speisen vor meinen Augen.«“ (NS 137) 1018 Heinrich schildert die Freude seines Beherbergers an der Beköstigung der Tiere wie folgt: „Er schien sich daran zu ergötzen, wie sie pickten, sich überkletterten, überstürzten und kollerten, wie die gesättigten davon flogen, und wieder neue herbei schwirrten. […] Sie trauten ihm vollkommen.“ (NS 72) Auch das subtile Agieren im Rahmen der nachfolgenden Begebenheit symbolisiert die Achtung vor diesen Geschöpfen: Es handelt sich um den gemeinsamen Besuch eines in einer Hecke brütenden Rotkehlchens, das Risach bereits die Tage zuvor aufgesucht hatte, um ihm jeweils eine Leckerei zu reichen: 1019 „»Man muß eigentlich ehrlich gegen sie sein«“ (NS 143), bemerkt letzterer; da jedoch keine geeignete Gabe für das Tierchen zur Hand ist, bittet er den Pflegesohn Gustav, eine entsprechende aus den Futtervorräten zu organisieren. 1020 Bewegt kommentiert Heinrich schließlich das Geschehnis, nachdem die Kost vor der Hecke platziert wurde und der Vogel diese fortgetragen hatte: „Ich weiß nicht, welche tiefe Rührung mich bei diesem Vorfalle überkam. Mein Gastfreund erschien mir wie ein weiser Mann, der sich zu einem niedreren Geschöpfe herabläßt.“ (NS 144) 1021 1018 Vgl. zu der Bezeichnung der Vögel als „Gäste“ auch NS 73 und 229. Gleiches gilt für die Hasen, welche – wie ebenfalls im vorherigen Kapitel erläutert – auch als „Gäste“ des Risachschen Gartens benannt werden. (Vgl. NS 146) 1019 Siehe zu diesem Beispiel auch Biemel 1985, S. 48 f. 1020 Unterdessen – so Heinrich – habe ihm Risach „noch ein paar Nester [gezeigt], in denen Junge waren, die, wenn sie sich allein befanden, auf das Geräusch unserer Annäherung die gelben Schnäbel aufsperrten, und Nahrung erwarteten. In zwei anderen waren Mütter, die bei unserem Herannahen nicht aufflogen. Da wir im Vorbeigehen noch eins trafen, bei welchem die Eltern ätzten, ließen sich diese nicht von ihrem Geschäfte abhalten, flogen herzu, und nährten in unserer Gegenwart die Kinder.“ (NS 144) 1021 In Rekurs auf die Erörterungen zu Albert Schweitzer ist festzuhalten, dass Heinrichs „Rührung“ angesichts des Vorgangs positiven Charakters ist, während die Kategorisierung des Vogels als „niederes Geschöpf“ aus Sicht der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben problematisch erscheint. Gleichwohl zieht Heinrich die richtigen Schlüsse aus diesem Begebnis und apostrophiert Risach aufgrund seines Verhaltens gegenüber dem Tier als „weisen Mann“. Dies spiegeln zudem folgende Reflexionen Heinrichs bezüglich dieser Begebenheit, welche nicht zuletzt auf die oben erörterte Relevanz einer soliden Erziehung im Sinne des Vorlebens eines adäquaten Umgangs rekurriert, der als Basis zur Entwicklung des menschlichen Verantwortungsbewusstseins fungiert: „Auch der Jüngling Gustav war sehr heiter, und zeigte Freude, wenn er in die Büsche blickte, in denen eine Wohnung war. Es war mir dies ein Beweis, daß das Zerstören der Vogelnester durch Wegnahme der Eier

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Auch von Pflanzen wird im Nachsommer zuweilen wie von Persönlichkeiten gesprochen und diesen somit eine Aufwertung zuteil: Die Kakteen wurden bereits als des Gärtners „Lieblinge“ (NS 596) angeführt, vor allem aber sind an dieser Stelle die gleichsam als „Zeugen“ für Risachs und Mathildes Vereinigung wie deren Bruch fungierenden Rosen (vgl. NS 667) 1022 zu nennen: „»Ich habe mir diese Rosenpflanze auf den Tisch gestellt, gewissermaßen als die Gesellschafterin meines Lebens«“ (NS 429), 1023 artikuliert Mathilde bezüglich des während ihrer Besorgungen stets anwesenden Rosenstöckchens, desgleichen Risach, er „»liebe diese Blume allerdings sehr«“ (NS 124) 1024 und akzentuiert in Bezug auf das Rosenarrangement an der Hauswand: „»Besonders liebenswert ist sie [die Rose], wenn sie so zur Anschauung gebracht wird wie hier, wenn sie durch eigentümliche Mannigfaltigkeit und Zusammenstellung erhöht, und ihr gleichsam geschmeichelt wird.«“ (NS 125) Hinsichtlich der die Rosen bestrahlenden Sommersonne konstatiert er gegenüber Heinrich: „»Die heutige ist ihnen nicht zu heiß, Ihr seht, daß sie sie fröhlich aushalten.«“ (NS 126) 1025 Mit diesem Erheben der Gewächse geht also die Projektion von Charaktereigenschaften und (menschlichen) Stimmungen auf selbige einher, wie nicht zuletzt anhand der Bäume, die von den Rosenhausbewohnern als „»Kameraden«“ (NS 112) 1026 bezeichnet werden, „die uns nahe standen,“ (NS 586) exemplarisch darzulegen ist, als etwa der „Ernst“ der Tannen mit der „Heiterkeit“ der Laubbäume (vgl. NS 321) kontrastiert wird. 1027 oder der Jungen und das Fangen der Vögel überhaupt den Kindern nicht angeboren ist, sondern, daß dieser Zerstörungstrieb, wenn er da ist, von Eltern oder Erziehern hervorgerufen und in diese Bahn geleitet wurde, und daß er durch eine bessere Erziehung sein Gegenteil wird.“ (NS 144) 1022 Vgl. zur Rosensymbolik des Romans Anm. 921 der Arbeit sowie zu den (verschiedenen) Gewächsen als „Zeugen“ ferner NS 654 f. sowie 658. 1023 Siehe hierzu zudem NS 426: „Auf dem Tische stand ein Blumentopf mit einer dunkeln fast veilchenblauen Rose.“ Vgl. auch NS 433. 1024 Auch Heinrich tendiert dazu, „»die Rose für die schönste Blume zu halten. Die Kamelia steht ihr nahe, dieselbe ist zart klar und rein, oft ist sie voll von Pracht; aber sie hat immer für uns etwas Fremdes, sie steht immer mit einem gewissen vornehmen Anstande da: das Weiche, ich möchte den Ausdruck gebrauchen, das Süße der Rosen hat sie nicht.«“ (NS 124) Ferner mutet Heinrich der Rosenduft „wie eine Opfergabe“ (NS 68) an. 1025 Siehe in Bezug auf die Gräser als „Persönlichkeiten“ ferner NS 203. 1026 Vgl. zur Personifizierung der Bäume ferner NS 157 sowie 481 (an letzterer Stelle werden die Eichen „Wächter“ genannt). 1027 Auch von dem Garten insgesamt spricht man von einem „Freund“, was aus

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Selbst unbelebte Dinge, beispielsweise anorganische Materialien, sind im Nachsommer von einer Personifizierung nicht ausgenommen, wie nachfolgende Diegese Heinrichs bezüglich seiner Wanderungen erhellt: Als ich in dem Frühling die Hauptstadt verlassen hatte, und dem langsam über einen Berg empor fahrenden Wagen folgte, war ich einmal bei einem Haufen Geschiebe stehen geblieben, das man aus einem Flußbette genommen, und an der Straße aufgeschüttet hatte, und hatte das Ding gleichsam mit Ehrfurcht betrachtet. Ich erkannte in den roten weißen grauen schwarzgelben und gesprenkelten Steinen, welche lauter plattgerundete Gestalten hatten, die Boten von unserem Gebirge, ich erkannte jeden aus seiner Felsenstadt, von der er sich losgetrennt hatte, und von der er ausgesendet worden war. Hier lag er unter Kameraden, deren Geburtsstätte oft viele Meilen von der seinigen entfernt ist, alle waren sie an Gestalt gleich geworden, und alle harrten, daß sie zerschlagen und zu der Straße verwendet würden. (NS 287) 1028

Die Ehrfurcht vor den Dingen im weitesten Sinne durchzieht – wie bereits im Kontext der Erörterungen zur Schonung der Gemächer und Gegenstände des Rosenhauses angeklungen ist – den gesamten

folgender Bemerkung Heinrichs bezüglich des Gartens des Rosenhauses (sowie jenes seiner Eltern) hervorgeht: „Aus dem im Schnee wohl ausgetretenen Pfade sah ich, daß hier häufiger gegangen werde, und daß der Garten im Winter nicht verwaist ist, wie es bei so vielen Gärten geschieht, und wie es aber auch bei meinen Eltern nicht geduldet ist, denen der Garten auch im Winter ein Freund ist.“ (NS 589) Analog äußert sich Risach über seine Felder und Wiesen beinhaltenden Ländereien: „»Wir sind von diesem Eigentume umringt, wie von einem Freunde, der nie wankt und nicht die Treue bricht.«“ (NS 60) 1028 Vgl. auch NS 289. Im Gespräch mit Natalie artikuliert Heinrich zudem seine Ehrfurcht in Bezug auf Edelsteine: „»Es ist etwas Tiefes und Ergreifendes in ihnen, […] gleichsam ein Geist in ihrem Wesen, der zu uns spricht, wie zum Beispiele in der Ruhe des Smaragdes, dessen Schimmerpunkten kein Grün der Natur gleicht, es müßte nur auf Vogelgefiedern wie das des Kolibri oder auf Flügeldecken von Käfern sein – wie in der Fülle des Rubins, der mit dem rosensamtnen Lichtblicke gleichsam als der vornehmste unter den gefärbten Steinen zu uns aufsieht – wie in dem Rätsel des Opals, der unergründlich ist – und wie in der Kraft des Diamantes, der wegen seines großen Lichtbrechungsvermögens in einer Schnelligkeit wie der Blitz den Wechsel des Feuers und der Farben gibt, den kaum die Schneesterne noch der Sprühregen des Wasserfalles haben. Alles, was den edlen Steinen nachgemacht wird, ist der Körper ohne diesen Geist, es ist der inhaltsleere spröde harte Glanz statt der reichen Tiefe und Milde.«“ (NS 483 f.; vgl. NS 712) Auch das Lob der Perle als das wohl „»Bescheidenste«“ (NS 484) wie „»Würdigste und Ernsteste«“ (NS 484) bleibt nicht aus. (Vgl. auch NS 710 sowie 714)

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Nachsommer-Roman. 1029 Diese manifestiert sich nicht zuletzt in den zur Institution des Rosenhauses gehörigen Besuchen der einzelnen Räumlichkeiten sowie der darin befindlichen Gerätschaften, Bilder, Bücher und dergleichen. (Vgl. etwa NS 534) 1030 Die Würdeerweisung kulminiert schließlich darin, dass während der Besichtigung (exempli causa) des Rosenzimmers Mathildes, dessen Ausstaffierung Heinrich in Staunen versetzt, als Risach es ihm erstmals vorführt, auf jeglichen verbalen Austausch verzichtet wird, wie Heinrich im Nachhinein berichtet: „Er hatte in dem Rosenzimmerchen nicht ein Wort gesprochen, und ich auch nicht.“ (NS 151) Desgleichen bewegen sich Heinrich und Risach im Marmorraum lange Zeit wortlos – nicht einmal der Klang ihrer Schritte ist zu vernehmen, da sie die Filzpantoffeln zum Schutz des Bodens tragen: „Wir gingen schweigend in dem Saale auf und nieder, und es war um so stiller, als unsere mit weichen Sohlen bekleideten Füße nicht das geringste Geräusch auf dem glänzenden Fußboden machten.“ (NS 339) 1031 1029 Der Aspekt, dass auch Gegenstände der Kunst Persönlichkeiten gleich geachtet und behandelt werden (vgl. hierzu etwa NS 615 f.), artikuliert sich beispielsweise in der Forderung, dass diesen jeweils „ein würdiger und wirkungsvoller Aufenthaltsort“ (NS 461) zustehe. Exemplarisch zeigt sich dies zudem anhand des Prozedere in Bezug auf das von Heinrich für seinen Vater in Auftrag gegebene Wasserbecken, welches nicht nur für den Versand äußerst behutsam verpackt wird, sondern anlässlich dessen Installation im Garten der Eltern ein Einweihungsfest veranstaltet wird (wie analog für das auf dem Rosenhof restaurierte Madonnengemälde). Zudem „wurde beschlossen, ein Bretterhäuschen über das Wasserwerk machen zu lassen und dasselbe gut zu verwahren, daß keine Kälte eindringen könne. Für den Frühling wurden Pläne entworfen, wie man die Gartenumgebungen des Beckens einrichten solle, daß der ganze Anblick ein desto würdigerer und schönerer sei.“ (NS 465; vgl. NS 519 sowie zur Entstehung des Beckens NS 273 und 361–364) 1030 Auch im Sternenhof erfolgen jedoch (gemeinsame) Rundgänge durch das Anwesen, dessen Garten und Felder. (Vgl. NS 479, 551) Ferner wünscht Mathilde, Heinrich möge nicht lediglich der Musenstatue im Rosenhof, sondern auch der marmornen Brunnennymphe im Sternenhof durch entsprechende Besichtigung die ihr gebührende Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen (vgl. NS 449 f.), was Heinrich bei seinen Aufenthalten im Sternenhof, in dem gemäß seinen Angaben „sanfte Gegenstände der Kunst thronen“ (NS 570), grundsätzlich beherzigt (vgl. NS 481). 1031 In diesem Kontext erinnert sich Heinrich an eine Szene in „einem Saale von alten Standbildern“ (NS 338), in welchem die Besucher gar „behutsam auf den Spitzen ihrer Schuhe“ (NS 338) gingen, als sie in die Nähe eines Bildwerks kamen. Entsprechend fungiert auch der zuweilen über die Fußböden des Rosenhauses gespannte Teppichboden (vgl. die diesbezüglichen Erläuterungen in Kapitel III.2.3.1) – neben seiner Schonfunktion – als Geräuschdämmung. (Vgl. NS 500) Ferner sei an

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Eine der einschlägigsten Passagen hinsichtlich der Demonstration der auch Gegenständen – in diesem Fall Büchern – mittels der Respektierung einer spezifischen Ordnung zu zollenden Würde stellt folgende Reflexion Heinrichs bezüglich der in Kapitel III.2.3.1 erwähnten, im Rosenhaus vorgenommenen Separation des Büchervon dem Lesezimmer dar: Da ich das erste Mal in diesem Hause war, hatte ich es getadelt, daß das Bücherzimmer von dem Lesezimmer abgesondert sei, es erschien mir dieses als ein Umweg und eine Weitschweifigkeit. Da ich aber jetzt länger bei meinem Gastfreunde war, erkannte ich meine Meinung als einen Irrtum. Dadurch, daß in dem Bücherzimmer nichts geschah, als daß dort nur die Bücher waren, wurde es gewissermaßen eingeweiht, die Bücher bekamen eine Wichtigkeit und Würde, das Zimmer ist ihr Tempel, und in einem Tempel wird nicht gearbeitet. […] Wenn ich mich jetzt an Bücherzimmer erinnerte, die ich schon sah, in welchen Leitern Tische Sessel Bänke waren, auf denen allen etwas lag, seien es Bücher Papiere Schreibwerkzeuge oder gar Geräte zum Abfegen; so erschienen mir solche Büchersäle wie Kirchen, in denen man mit Trödel wirtschaftet. (NS 192 f.)

Basierend auf dem für die Rosenhausbewohner selbstverständlichen Sinn für Ordnung und einen pfleglichen Umgang mit den Gegenständen, bestehe – so Risach – mitunter die Bereitschaft, die vorbildlich instand gehaltenen Objekte anderen Menschen zu überlassen – unter der dezidierten Prämisse, dass sie in ebenso gewissenhafte Obhut gerieten: „»Wir haben vielerlei an alten Geräten hier, wir können etwas entbehren, haben schon manches weggegeben, und geben gerne etwas einem Manne, der damit Freude hat und der es zu pflegen und zu achten versteht.«“ (NS 378) Dies äußert Risach in dieser Stelle auf die Darlegungen Otto Friedrich Bollnows bezüglich des Nexus von Ehrfurcht und Stille in seinem Werk Die Ehrfurcht verwiesen: „Die Ehrfurcht [dagegen] zerstört die unbefangene Äußerung des Gefühls. Der Mensch wird zur Behutsamkeit gezwungen und bewahrt das sonst nach außen drängende Erleben in sich selbst. Jede unbefangene Lebensäußerung, ja schon das bloße Geräusch, das mit dem natürlichen Sichbewegen in der Welt nun einmal verbunden ist, bis hinunter in den Tritt der Füße, erscheint als eine Verletzung der Ehrfurcht und wird, wie durch eine unbekannte Macht gezwungen, zurückgehalten und gedämpft. Alles Laute und Lärmende wird durch die Ehrfurcht zur Stille gezwungen. So ist der bezeichnende Ausdruck des Menschen angesichts des Ehrwürdigen das Schweigen. Der Mensch verstummt vor Ehrfurcht. ‚Verstummen‘ ist hier die richtige Bezeichnung, denn es ist kein vorsätzliches Schweigen, zu dem sich der Mensch aus irgendwelchen Überlegungen entschließt, sondern es bricht, oft auch gegen seinen Willen, aus den inneren Tiefen bei der Begegnung mit dem Ehrwürdigen hervor.“ (Bollnow 1947, S. 72 f.)

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Bezug auf die Schenkung eines von ihm und seinen Mitarbeitern aufwendig restaurierten intarsierten Tisches (vgl. NS 84 f.) 1032 an Heinrichs Vater, der das Stück in der Tat adäquat zu würdigen weiß (vgl. NS 375–378). Speziell aber zu seinen über mehrere Jahrzehnte hinweg sorgfältig gesammelten Gemälden, denen – analog zu einem lebendigen Wesen – liebevolle Fürsorge gebühre, hegt der Rosenhausbesitzer eine geradezu emotionale Bindung. 1033 Häufig sei er genötigt gewesen, eine lange Zeitspanne auszuharren, bevor er ein Objekt, das ihm zusagte, habe erwerben können, aufgrund von Starrsinnigkeit oder unrealistischen Forderungen des Eigners, der sich wohl nicht von dem Stück habe zu trennen vermocht, „»obgleich er es mißhandelte und zu Grunde gehen ließ. […] Es gibt nämlich Leute, welche Freude an Bildern haben, welche ältere bedeutende Bilder nicht weggeben, wenn sie solche besitzen, sie aber doch nicht erkennen und sie durch schlechte Behandlung Schaden leiden lassen.«“ (NS 351) „Schreiben kann vieles sein, auch compassio (Mitleiden).“ 1034 Der Aspekt des Mitleids bildet nicht nur – wie zu Beginn dieses Kapitels konstatiert wurde – eine substanzielle Komponente des Nachsommer, sondern stellt darüber hinaus letztlich ein Hauptcharakteristikum des Stifterschen Œuvres dar, wie Arnold Stadler prägnant formuliert: „Das Mitleid mit der Kreatur jedoch, ja mit den unbelebten 1032 Vgl. zu dem Tisch mit den Intarsien in Form von Musikinstrumenten auch NS 319 f., 375–378 und 392. 1033 Hinsichtlich seiner Bildersammlung bekennt Risach: „»Mit dem Alter wird man so anhänglich an das Gewohnte, daß man es nicht missen kann, wenn es auch verbraucht zu werden beginnt und verschossen […] ist. Ich lege alte Kleider nicht gerne ab, und wenn ich eines der Bilder, die mich nun so lange umgeben, aus dem Hause lassen müßte, so würde ich einem großen Schmerze nicht entgehen. Sie mögen nun bleiben, wie sie sind, und wo sie sind, bis ich scheide.«“ (NS 351) Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel III.2.3 in Bezug auf die Tatsache, dass Risach keine Bücher oder Kupferstiche aus dem Haus zu geben pflegt. (Eine Ausnahme tätigt er auch diesbezüglich gegenüber Heinrichs Vater; vgl. etwa NS 374 f.) Ferner sei an dieser Stelle auf die Geschichte „Das Halstuch“ aus den Erzählungen der Chassidim verwiesen, in welcher von der (symbolischen) Wertschätzung des Dinges gehandelt wird: Ein Schüler des Rabbiners Bunam „hatte sein Halstuch verloren und suchte danach mit großem Eifer“ (EZ 634). Während die Gefährten über ihn spotten, entgegnet der Zaddik: »Er tut recht, […] wenn er ein Ding, dessen er sich bedient hat, wert hält. So besucht ja auch die Seele nach dem Tod den entsunkenen Leib und neigt sich über ihn.«“ (EZ 634) 1034 Stadler 2009, S. 82.

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Dingen ist etwas ganz Eigenes, das ich so noch nie anderswo gefunden habe, es wäre denn bei einem Mystiker.“ 1035 Wie bereits die Darlegungen bezüglich des Sein-lassens der Dinge im Rahmen von Kapitel III.2.2 implizieren, ist die Mensch-Ding-Beziehung – im Gegensatz zu den Erörterungen in Kapitel III.1 – bei Stifter gleichsam restituiert – dies manifestiert sich nicht zuletzt in den zahlreichen „Mitleidstellen (das Werk ist voll davon, auch das Sanfte Gesetz ist so eine Passage)“ 1036. Jenseits eines expliziten Hinweises wurde in diesem Kapitel das Mitleid mit den Kreaturen im Nachsommer bereits anhand Risachs Ausführungen hinsichtlich der zunächst verfolgten und schließlich in Gefangenschaft gehaltenen Wildvögel, jenes mit den Gegenständen durch das Gemälde-Beispiel deutlich. 1037 Zwei weitere repräsentative Belegstellen des Romans finden sich zudem im Kontext mit Heinrichs konkretem Mitleiden, einmal mit den (ursprünglich einen Baum bildenden) Holzbrettern (vgl. NS 24 f.) sowie mit dem (durch Menschenhand getöteten) Hirsch (vgl. NS 31–33). 1038 Analog zu Risachs eingangs erörterter Ehrfurcht vor der Spezifik einer Sache (vgl. NS 614), artikuliert sich bei Heinrich (der sich ferner um die „Rettung“ des vernachlässigten Kaktus verdient gemacht hat) seit jeher eine signifikante (Be-)Achtung der „Wirklichkeit der Dinge“ (NS 24), was vor allem anhand der letztgenannten Mitleid-Stelle offenbar wird: Ich war schon als Knabe ein großer Freund der Wirklichkeit der Dinge gewesen, wie sie sich so in der Schöpfung oder in dem geregelten Gange des menschlichen Lebens darstellte. […] Auch konnte ich es nicht leiden, wenn man einen Gegenstand zu etwas anderem machte, als er war. Besonders kränkte es mich, wenn er, wie ich meinte, durch seine Veränderung schlechter wurde. Es machte mir Kummer, als man einmal einen alten Baum des Gartens fällte, und ihn in lauter Klötze zerlegte. Die Klötze Ebd., S. 65; vgl. ebd., S. 82 f. Ebd., S. 84. Vgl. zum „Sanften Gesetz“ vor allem die Darlegungen in Kapitel III.2.1 dieser Arbeit. 1037 Risachs (beziehungsweise Stifters) Mitleid mit Dingen bildet nicht zuletzt den (Haupt-)Anlass für die aufwendigen Restaurierungsmaßnahmen, welche er etwa an dem im Laufe der Jahrhunderte durch Vernachlässigung beschädigten „Kerberger Altar“ (vgl. Heinze 2008, vor allem S. 60–72), der vermeintlichen Gips-Statue, deren Marmorkern erst mittels Rischas Einsatz zum Vorschein kommt (vgl. ebd., S. 78–83) oder dem aufgrund unsachgemäßer Behandlung massiv in Mitleidenschaft gezogenen Madonnengemälde (vgl. ebd., S. 83–88) vornimmt. 1038 Vgl. hierzu auch Stadler 2009, S. 82–86. 1035 1036

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waren nun kein Baum mehr, und da sie morsch waren, konnte man keinen Schemel keinen Tisch kein Kreuz kein Pferd daraus schnitzen. Als ich einmal das offene Land kennen gelernt, und Fichten und Tannen auf den Bergen stehen gesehen hatte, taten mir jederzeit die Bretter leid, aus denen etwas in unserem Hause verfertigt wurde, weil sie einmal solche Fichten und Tannen gewesen waren. (NS 24 f.) 1039

Diesen Passus kommentiert Stadler im Zuge seiner Reflexionen zum Mitleid in Stifters Werk wie folgt: „Im Nachsommer gibt es eine Passage von geradezu mystischem Aufschwung. Bis hin zu den Bäumen in den Brettern reicht Stifters oder seines Protagonisten Mitleid.“ 1040 Genauer formuliert, „endet“ das Mitleid Heinrichs nicht etwa bei den Bäumen, sondern inkludiert sogar expressis verbis jenes mit den (einst ein Baum gewesenen) Holzbrettern, wie der letztangeführte Satz des obigen Zitatblocks belegt. „Gipfel dieser Regung: das Mitleid mit dem sterbenden Hirsch, auf den der Protagonist stößt.“ 1041 An dieser Stelle bezieht sich Stadler schließlich auf nachfolgende Darlegung Heinrichs, die oben bereits als weitere, exemplarische Belegstelle im Kontext der Mitleidsthematik im Nachsommer angekündigt wurde: In einem Tale an einem sehr klaren Wasser sah ich einmal einen toten Hirsch. Er war gejagt worden, eine Kugel hatte seine Seite getroffen, und er mochte das frische Wasser gesucht haben, um seinen Schmerz zu kühlen. Er war aber an dem Wasser gestorben. Jetzt lag er an demselben so, 1039 Der einleitend sowie im Schweitzer-Teil dieser Arbeit bereits zitierte Naturethiker Klaus Michael Meyer-Abich bezieht sich explizit auf diese Passage aus Stifters Nachsommer im Kontext der Diskussion, inwieweit Eingriffe des Menschen in die Natur beziehungsweise eine generelle Umgestaltung von Dingen (der Natur) gemäß einem holistischen Ethikverständnis legitim sind und dem entsprechend Bearbeiteten zum Besseren gereichen: Nach Meyer-Abich sind folgende vier Aspekte von Belang, wenn es um die Veränderung eines Dinges (oder allgemein von etwas) geht, die es vor Beginn des entsprechenden Vorhabens sorgfältig und verantwortungsvoll abzuwägen gilt: Prinzipiell ist eine solche nur dann legitim, „wenn es dafür einen guten Grund gibt“ (Meyer-Abich 1990, S. 101), ist dieser nicht vorhanden, sollte etwas in seinem Ist-Zustand belassen werden. Auch bedeutet jede Umgestaltung „die Metamorphose eines bereits Bestehenden“ (ebd.), dem seinerseits schon ein intrinsischer Wert zukommt, der durch die Verwandlung in ein Zukünftiges eine Änderung erfährt; des Weiteren gilt es akribisch zu prüfen, ob der durch die Modifikation herbeizuführende Zustand des Objektes zu einer Verbesserung desselben führt: „Besser kann es nicht nur durch Kunst werden, sondern auch durch die Verwandlung in Gebrauchsgegenstände.“ (Ebd.) 1040 Stadler 2009, S. 82. 1041 Ebd.

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daß sein Haupt in den Sand gebettet war, und seine Vorderfüße in die reine Flut ragten. […] Das Tier gefiel mir so, daß ich seine Schönheit bewunderte, und mit ihm großes Mitleid empfand. Sein Auge war noch kaum gebrochen, es glänzte noch in einem schmerzlichen Glanze, und dasselbe, so wie sein Antlitz, das mir fast sprechend erschien, war gleichsam ein Vorwurf gegen seine Mörder. (NS 31 f.)

Der Hirsch und dessen Schicksal geht Heinrich nicht mehr aus dem Sinn: „Er war ein edler gefallener Held, und war ein reines Wesen. Auch die Hunde seiner Feinde erschienen mir berechtigt wie in ihrem Berufe. […] Nur die Menschen, welche das Tier geschossen hatten, waren mir widerwärtig, da sie daraus gleichsam ein Fest gemacht hatten.“ (NS 32) Stadler resümiert in Bezug auf Heinrichs Erlebnis und dessen Schlussfolgerung entsprechend: „Nicht die Menschen an sich waren ihm widerwärtig, sondern nur die Menschen, welche das Tier geschossen hatten. Es gibt ja noch ganz andere, die so etwas nicht tun. Die Rosenhofmenschen.“ 1042 Letztere beschränken zudem eine generell Mitleid fundierende Würdeerweisung nicht auf die einzelnen Kreaturen, auf Steine sowie Kunst- und Alltagsgegenstände, sondern lenken ihr qua konkreter Bewunderung artikuliertes Ehrfurchtsempfinden ferner auf die Natur im Ganzen respektive deren gleichsam nicht direkt greifbaren Phänomene und Schauspiele: Neben spezifischen Wettererscheinungen – wie etwa das in anderem Kontext bereits erwähnte Gewitter 1043, der Sturm 1044, das während einer Gletscherwanderung, die Heinrich als „weihevolles Unternehmen“ (vgl. NS 585) charakterisiert, 1045 erlebte Nebelmeer sowie der Sonnenauf- und -untergang (im Gebirge) 1046 – erweckt beispielsweise der Sternenhimmel (vgl. NS 489 f.) 1047 eminente Ehrfurcht und die Möglichkeit des Erlebens der Ebd., S. 86. Vgl. zur Thematik des Gewitters Anm. 1003 der Arbeit. 1044 „Auch ist es nicht zu leugnen, daß der Sturm, wenn er eine gewisse Größe erreicht hat, etwas Erhabenes hat, und das Gemüt zu stärken im Stande ist“ (NS 593), wie Heinrich konstatiert. Vgl. zum Phänomen des Sturms etwa auch NS 586 f., 589, 594 f. sowie 603. Auf den mit dem Ehrfurchts-Begriff korrelierenden Aspekt der Erhabenheit kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. 1045 Vgl. zum Gebirge im Winter sowie der Wanderung auf den Gletscher auch NS 573–585 sowie 587. 1046 Hierauf wurde in Kapitel III.2.1 bereits verwiesen, vgl. dazu Anm. 749 der Arbeit sowie NS 579–583, ferner 29. 1047 Die immense Bewunderung des Sternenhimmels wird bei Heinrich durch den Einfluss der Liebe erheblich intensiviert – genauer gesagt, der Liebe zu Natalie, die 1042 1043

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differierenden Qualitäten der Jahreszeiten 1048 tiefe Dankbarkeit. 1049 Diese ehrfürchtige Haltung, die schließlich idealiter als solides Fundament eines verantwortungsvollen Handelns fungiert, manifestiert sich im Nachsommer besonders in der Wertschätzung der elementaren Lebensgrundlagen, namentlich der vier Elemente sowie der (mittels ihres Einflusses ermöglichten Erzeugung der) Grundnahrungsmittel. Deren Würdigung soll – die in diesem Kapitel im Kontext der Aufwertung der Dinge des täglichen Lebens angeführten Aspekte komplettierend – abschließend selektiv anhand exemplarischer Romanpassagen thematisiert werden. Zunächst sei in dieser Hinsicht auf Risachs Ausführungen bezüglich des aus der Erde hervorsprießenden Grases (das nicht zuletzt die Grundnahrung des zur Ernährung des Menschen dienenden Viehs liefert) verwiesen, welche das Postulat einer unbedingten Achtung desselben implizieren: „[W]ir sind wie der reiche Mann, der seine Schätze nicht zählen kann. Im Frühlinge kennt man jedes Gräschen persönlich, das sich unter den ersten aus dem Boden hervor wagt, und beachtet sorgsam sein Gedeihen, bis ihrer so viele sind, daß man nicht mehr nach ihnen sieht, daß man nicht mehr daran denkt, wie mühevoll sie hervor gekommen sind, ja daß man Heu aus ihnen macht, und gar nicht darauf achtet, daß sie in diesem Jahre erst geworden sind, sondern tut, als ständen sie von jeher auf dem Platze.“ (NS 203) nun ausgesprochen worden ist, woraufhin Heinrich folgendermaßen reagiert: „Als ich in meinem Zimmer angekommen war, trat ich in der Nacht dieses Tages, der für mich in meinem bisherigen Leben am merkwürdigsten geworden war, an das Fenster, und blickte gegen den Himmel. Es stand kein Mond an demselben und keine Wolke, aber in der milden Nacht brannten so viele Sterne, als wäre der Himmel mit ihnen angefüllt, und als berührten sie sich gleichsam mit ihren Spitzen. Die Feierlichkeit traf mich erhebender, und die Pracht des Himmels war mir eindringender als sonst, wenn ich sie auch mit großer Aufmerksamkeit betrachtet hatte.“ (NS 489) Im Zuge der selben Gedankenfolge fügt er wenig später hinzu: „Es war eine Weihe und eine Verehrung des Unendlichen in mir.“ (NS 499) Vgl. zur Bewunderung des Sternenhimmels auch NS 505 f. 1048 So betont beispielsweise Natalie in Bezug auf ihre Heimstätte, den Sternenhof: „»Wir haben hier in größeren Zeiträumen alle Jahreszeiten genossen, und haben jeden Wechsel derselben im Freien kennen gelernt.«“ (NS 507) Vgl. zu dem divergierenden Erlebnis der Jahreszeiten in der Stadt und auf dem Land etwa NS 587 sowie 646 f. 1049 Auf die Spaziergänge und -fahrten der Rosen- und Sternenhofbewohner sowie die im Zuge dessen getätigten detaillierten Schilderungen diverser Naturerscheinungen wurde bereits in Kapitel III.2.1 hingewiesen.

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Mit Risachs Preisung des Grases korreliert jene des Getreides (vgl. NS 58–63): „»Es ist unglaublich, und der Mensch bedenkt es kaum, welch ein unermeßlicher Wert in diesen Gräsern ist. Laßt sie einmal von unserem Erdteile verschwinden, und wir verschmachten bei allem unserem sonstigen Reichtume vor Hunger.«“ (NS 60 f.) 1050 Fatalerweise werde der Wert dieser Dinge oft erst im Zuge deren Verschwindens durch menschliches Einwirken gesehen oder in einem reiferen Lebensstadium. (Vgl. NS 61) 1051 Heinrich dagegen ist es (nicht zuletzt durch intensive Auseinandersetzung mit dem Gegenstand) vergönnt, bereits in jungen Jahren Einsicht in die Relevanz des Kornes zu gewinnen: 1052 „»[I]ch teile Eure Ansicht über das Getreide vollkommen, wenn ich auch ein Kind der großen Stadt bin. Ich habe diese Gewächse viel beachtet, habe darüber gelesen […] und habe, seit ich einen großen Teil des Jahres in der freien Natur zubringe, ihre Wichtigkeit immer mehr einsehen gelernt.«“ (NS 61) 1053 So klein diese Lebewesen als einzelne sein mögen, so belangEine analoge Achtung des Getreides implizieren auch die Ausführungen Martin Bubers über seinen ein Gut besitzenden Vater, mit dem er zuweilen „durch die reifenden Felder fuhr und ihm zusah, wie er den Wagen halten ließ, ausstieg und sich über die Ähren beugte, wieder und wieder, um schließlich eine zu brechen und die Körner sorgsam zu kosten“ (B 18). Vgl. hierzu auch Anm. 1053. 1051 Zudem hebt Risach die Ästhetik beziehungsweise „»die Schönheit und Anmut dieses Getreidehügels«“ (NS 63) hervor. Analog formuliert er in Bezug auf die Bewaldung in Heinbach Folgendes: „Die Bäume waren Eichen Linden Ulmen und eine Anzahl sehr großer Birnbäume. Diese Art von Wald hatte etwas sehr Anmutiges.“ (NS 638) Auf dem Rosenhof existiert gar „ein anmutiger Rasenplatz“ (NS 82), wie Heinrich bemerkt, der ferner bezüglich der Umgegend des Rosenhauses gewahr wird, „daß sich anmutige Stellen zwischen die Krümmungen der Hügel hineinziehen“ (NS 118). 1052 Anhand dieses unscheinbaren Beispiels wird einmal mehr Heinrichs (symbolische) Funktion als gleichsam „geheilter“ Risach – dessen Lebensgeschichte (wie einleitend zu dem Stifter-Teil der Arbeit erwähnt) auf Heinrichs Vita bezogen ist – deutlich. 1053 Vgl. zur Wertschätzung des Getreides auch folgende Bemerkung Heinrichs bei seiner Wiederkehr ins Rosenhaus: „Die wogenden Felder, die ich im vorigen Jahre um dieses Anwesen getroffen hatte, waren auch heuer wogende, und wurden mit jedem Tage schöner dichter und segensreicher […].“ (NS 207) Die Darstellung des Getreides als personifizierter Segen findet sich zudem auf NS 219 („die Fluren, auf denen wieder der Segen stand“) sowie 439 („die Felder tragen den Segen für die Menschen“). Hierzu findet sich folgende analoge Passage in Bubers Gog und Magog über Rabbi Bunam: „Oft stand er vor reifenden Weizenfeldern, betrachtete sie lang und atmete zuweilen tief ein, wie um den ganzen Duft »des Feldes, das der Herr gesegnet hat«, in sich aufzunehmen. Wenn er »die goldene Ähre« sagte, meinte er dieses Reifen zur Fülle des Segens, das sich in der Farbe des reinen Goldes dar1050

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reich sind sie in der Summe angesichts ihrer Funktion als Nahrungsquelle. Gleichwohl scheine gerade das tägliche mit diesen InBerührung-Kommen deren selbstverständlicher Hinnahme durch den Menschen Vorschub zu leisten, so dass gemäß Risach eine bewusste Wahrnahme geschweige denn aktive Würdigung ausbleibe: „»Ich dachte mir damals, das Getreide gehöre auch zu jenen unscheinbaren nachhaltigen Dingen dieses Lebens wie die Luft. Wir reden von dem Getreide und von der Luft nicht weiter, weil von beiden so viel vorhanden ist, und uns beide überall umgeben.«“ (NS 61) Heinrich, der ebenso die fundamentale Bedeutung des Feuers respektive der „gesellige[n] Flamme [der] Freundin des Menschen, die ihm in der Finsternis Licht und im Winter des Nordens Wärme gibt“ (NS 600), akzentuiert, schließt sich Risachs Aufwertung der Luft an und führt diese zudem in einem feinsinnigen Dialog über die elementaren Komponenten des Daseins mit Natalie fort (vgl. NS 506): Während Natalie es etwa für „»ein eigenes erquickendes Labsal [erachtet], die reine Luft des heiteren Sommers zu atmen«“ (NS 506), attestiert Heinrich der Luft als solcher sogar, „»die erhebendste Nahrung«“ (NS 506) des Menschen zu sein. Dessen werde er jeweils inne, wenn er „»auf einem hohen Berge stehe, und die Luft in ihrer Weite wie ein unausmeßbares Meer um [ihn] herum ist. Aber nicht bloß die Luft des Sommers ist erquickend, auch die des Winters ist es, jede ist es, welche rein ist, und in welcher sich nicht Teile finden, die unserm Wesen widerstreben.«“ (NS 506) Vor der Kulisse der Nymphengrotte des Sternenhofes 1054 philosophiert Heinrich zudem über das Element Wasser: „»[W]ie oft habe ich dem schönen Glänzen und dem schattenden Dunkel dieses lebendigen flüchtigen Körpers an dieser Stelle zugesehen, eines Körpers, der wie die Luft wohl viel bewunderungswürdiger wäre, als es die Menschen zu erkennen scheinen.«“ (NS 485) Natalie entgegnet darauf (gleichsam analog zu Risachs Äußerungen bezüglich des Getreides und der Luft), auch sie halte „»das Wasser und die Luft für bewunderungswürdig […], die Menschen achten nur so stellt. Und wenn man bedenkt, daß er mitunter eine reife Ähre vom Halm brach und die Körner andächtig verzehrte, versteht man, daß in seinem Lob auch das der Nährkraft enthalten war, die diesem lebendigen und wachsenden Golde innewohnt.“ (GM 1127 f.) 1054 Siehe Anm. 800.

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wenig auf beides, weil sie überall von ihnen umgeben sind. Das Wasser erscheint mir als das bewegte Leben des Erdkörpers wie die Luft sein ungeheurer Odem ist.«“ (NS 485) Das Zwiegespräch gipfelt schließlich in folgendem Loblied Heinrichs auf das Wasser, „»dieses Kleinod der Gesundheit«“ (NS 485): „Und ist wohl etwas außer der Luft, das mit größerem Adel in unser Wesen eingeht als das Wasser? Soll nicht nur das Reinste und Edelste sich mit uns vereinigen? […] Ich bin in den Bergen gewesen in Tälern in Ebenen in der großen Stadt, und habe in der Hitze im Dunste in der Bewegung den kostbaren Kristall des Wassers und seine Unterschiede kennen gelernt. Wie erquickt der Quell in den Bergen und selbst in den Hügeln, vorzüglich wenn er am reinsten aus dem reinen Granit fließt, und Natalie, wie schön ist außerdem der Quell!“ (NS 485)

Mit dieser – jenseits extraordinärer Gegenstände oder gar persönlicher Affekte angesiedelten – poetischen Betrachtung unspektakulärer wie existenzieller Faktoren des täglichen Lebens hebt schließlich die sowohl seitens des Rezipienten als auch der Romanfiguren herbeigesehnte Fühlungnahme Heinrichs und Natalies konkret an. Risachs altersweise Instruktionen komplettierend, eröffnet sich Heinrich der endgültige Zugang zu den relevanten Aspekten des Daseins somit letztlich mittels der innigen Liebe zu der jungen Frau. 1055 Während besagte Verbindung im Rahmen dieser Arbeit nicht detailliert erörtert werden kann, soll abschließend gleichwohl das bezüglich der zu Ende des Nachsommer vollzogenen Hochzeit für die vorliegende Thematik Entscheidende Erwähnung finden: der „Cereus Peruvianus, […] auf dessen Blühen hin, einmal nur wie in der Hochzeitsnacht, das Buch auch noch zuläuft“ 1056 (vgl. NS 721–723), und den Heinrich (wie in Kapitel III.2.3.2 dargelegt) „»vom Untergange gerettet«“ (NS 721), das heißt, von seinem Schattendasein in Ingheim in die vorbildliche Obhut der Rosenhofbewohner hatte überführen lassen. Der Kaktus darf in diesem Kontext als sprechendes Symbol der das tägliche Leben auf dem Asperhof fundierenden Harmonie zwischen dem Menschen und den in seinem Umfeld befindlichen LeVgl. hierzu Anm. 1047. Stadler 2009, S. 137. Einige Seiten zuvor erwähnt Stadler bereits den in der Hochzeitsnacht blühenden Kaktus: „Und dann blüht auch noch der Cereus Peruvianus, der Kaktus.“ (Ebd., S. 107) Und im Nachsommer heißt es diesbezüglich: „Die Blume war, da wir hinkamen bereits offen. Eine große weiße prachtvolle fremdartige Blume. Alles war einstimmig im Lobe derselben.“ (NS 722) 1055 1056

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bewesen wie Gegenständen interpretiert werden. Die sich in den von Johannes Werner zusammengetragenen Textauszügen prominenter Autorinnen und Autoren mitunter als zerrüttet artikulierende Beziehung vor allem zwischen Mensch und Ding (vgl. Kapitel III.1), erweist sich – wie im Zuge der Darlegungen eruiert – im Nachsommer gleichsam als gekittet, mithin sinnerfüllt und somit als Konstituens eines (nahezu) vollkommen gelingenden Alltags. Final erscheint – einmal in Bezug auf dieses Kapitel wie auch die Partie dieser Arbeit zu Adalbert Stifters Nachsommer insgesamt – folgendes Diktum Walter Biemels betreffs Risachs Rosenhof als Fazit passend: „In diesem Anwesen ist nach Stifter in vorbildlicher Weise ein Einklang zwischen dem Menschen und seiner Umwelt erreicht, der so einmalig ist, daß nichts dieses Anwesen an Würde zu übertreffen im Stande ist.“ 1057

1057 Biemel 1985, S. 66 f. (Lediglich der Sternenhof Mathildes kommt dem Anwesen Risachs als „»ein edler und würdevoller Sitz«“ (NS 507) nahe.) Arnold Stadler kommentiert den Schlussakkord des Buches wie folgt: „Der Nachsommer ist ein Buch, das eine Vergangenheit voraussetzt, in die Zukunft ausgreift und in die Gegenwart Wörter wie Säulen setzt, aufrecht stehende Skulpturen wie Einfachheit Halt und Bedeutung. Mit diesen Wortstatuen, die dafür bürgen, daß es weitergeht, und zwar hier, und nicht dort, endet Der Nachsommer. […] Bedeutung ist das allerletzte Wort. Es meint, im Deutschen von heute: Sinn.“ (Stadler 2009, S. 195) Vgl. zu dem Aspekt des „Hier-“ im Sinne des auf Erden-Seins auch die entsprechenden Erörterungen in Abschnitt IV der vorliegenden Abhandlung.

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IV. Restitution des Gleichgewichts der Welt: Parallelisierung der Ansätze Schweitzers, Bubers und Stifters

Was Großes und Heiliges getan worden ist, ist für uns beispielhaft, weil es uns anschaulich zeigt, was Größe und Heiligkeit ist, aber es ist kein Modell, das wir nachzuzeichnen hätten. Wie Geringes wir auch zustande bringen vermögen, […] es hat seinen Wert darin, daß wir es aus eigner Art und eigner Kraft zustande bringen. Martin Buber

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Parallelisierung der Ansätze Schweitzers, Bubers und Stifters

Wie einleitend angekündigt, ist mit dem letzten nun folgenden Abschnitt der Untersuchung intendiert, die in den vorstehenden Hauptteilen separat präsentierten Konzeptionen der angesichts der zu erörterten Fragestellung nach der Relevanz einer Aufwertung des Alltäglichen in seiner Schönheit repräsentativen Autoren Albert Schweitzer, Martin Buber und Adalbert Stifter zusammenzuführen. Das im Rahmen der Darlegung des Forschungsvorhabens postulierte Faktum eines – trotz formaler und (prima vista) inhaltlicher Heterogenität – hinsichtlich der vorliegenden Thematik offenkundigen inneren Bezugs der Schweitzerschen Ehrfurchtsethik, Bubers auf eine Heiligung des Alltags zentrierter Chassidismus-Interpretation sowie Stifters Welt- und Lebensbild im Nachsommer–Roman, der im Zuge des Leseprozesses für den Rezipienten – idealiter – bereits durchgeschimmert sein sollte, gilt es nun, explizit zu machen. Hierfür werden exemplarische Aspekte selektiert und anhand derer Parallelen (wie mögliche Unterschiede) hervorgehoben, um somit das (mittels der Einzeldarstellungen implizierte) Gesamtbild zu runden und nicht zuletzt das Orientierungspotenzial einer aus besagter Trias gespeisten Ethik des täglichen Umgangs (insbesondere mit nicht-menschlichen Lebewesen und Dingen) zu erhellen sowie deren Applikabilität im konkreten Handlungsvollzug auszuloten. Nach Dafürhalten der Autorin liefert Adalbert Stifter mit seinem Nachsommer, in welchem – neben sämtlichen Lebewesen – selbst den Dingen aller Art ein würdevoller Umgang gebührt, und zudem generell Situationen und Tätigkeiten im Allgemeinen – im Besonderen jene des Alltagslebens – als gleichrangig betrachtet werden, das Paradebeispiel der Realisierung einer ehrfurchtsvollen Lebenshaltung, wie sie Albert Schweitzer in ethischer Hinsicht propagiert hat und sie Martin Buber in dialogisch-chassidischem Sinne als heiligende vorschwebte. Aufgrund dessen soll Der Nachsommer, in dem Stifter somit letztlich Grundgedanken beziehungsweise Kernanliegen Schweitzers und Bubers antizipiert, indem er sie die Protagonisten unmittelbar vorleben lässt, im Nachstehenden als Anwendungsmodell der Devise der Ehrfurcht vor dem Leben sowie der Heiligung des Alltags (gemäß Bubers Auslegung der Lehre der Chassisim) fungieren. Dies erscheint nicht zuletzt legitimiert auf dem mittels der vorstehenden Ausführungen generierten Fundament, als bereits gezeigt werden konnte, dass der Entwurf Stifters – was die Konkretisierung des Konzeptes einer „Aufwertung des Alltäglichen und des373 https://doi.org/10.5771/9783495817902 .

Parallelisierung der Ansätze Schweitzers, Bubers und Stifters

sen Schönheit“ und mithin Beispielfülle anbelangt – über die Darlegungen der Denker Schweitzer und Buber hinausgeht. 1058 Ehe Stifter quasi aus der Perspektive einmal Schweitzers, einmal Bubers auszulegen ist, erweist es sich als indiziert, Gemeinsamkeiten aller drei Ansätze zumindest kursorisch aufzuweisen, um die These der in Bezug auf die Alltags-Thematik inhaltlichen Entsprechung der Konzeptionen zu untermauern.

1.

Die Bedeutsamkeit des Unscheinbaren, der Tat und des Lebensortes – Aspekte einer Aufwertung des Alltäglichen der Autoren-Trias

Im Rahmen der nachfolgenden Darlegung beispielhafter Parallelen der Autoren Schweitzer, Buber und Stifter sollen im Wesentlichen die folgenden drei Hauptgesichtspunkte fokussiert werden: Erstens handelt es sich um den bezüglich der in der Arbeit zu diskutierenden Problematik substanziellen Aspekt einer grundsätzlich intensivierten Aufmerksamkeit gegenüber dem Kleinen, Unscheinbaren, sogenannten Profanen, welches im Zuge der damit einhergehenden Aufwertung gleichsam zum Großen, das heißt, eigentlich Bedeutsamen des Lebens avanciert. Zum Zweiten ist das Primat der Tat zu nennen, womit die konkrete Forderung an den Menschen einer fruchtbaren (Um)Gestaltung der Welt respektive der Lebensumwelt bezeichnet ist, und damit – last, not least – korrelierend, die von allen Autoren ex aequo akzentuierte Entfaltung der singulären Wirksamkeit und mithin Erfüllung eines individuellen, dem je Einzelnen obliegenden Aufgabenspektrums, das an den jeweiligen Lebensort desselben geknüpft ist. In Bezug auf erstgenannten Punkt ist die in Stifters Nachsommer von Heinrich vertretene paradigmatische Maxime „»Großes ist mir klein, Kleines ist mir groß«“ (NS 189) maßgeblich, welcher Bubers Formulierung zur Seite gestellt werden kann, er verstehe unter der (vor allem in Kapitel II.2 erläuterten) alltäglichen „Lebensansprache“ expressis verbis nichts „Außerordentliches und Überlebensgroßes“ (ZS 190), sondern „die Begebenheiten des persön1058 Auf die Tatsache, dass dieser Umstand auch durch die generellen Möglichkeiten von Literatur bedingt ist, wurde einleitend bereits hingewiesen.

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Aspekte einer Aufwertung des Alltäglichen der Autoren-Trias

lichen Alltags. In ihnen werden wir angeredet, wie sie nun sind, ‚groß‘ oder ‚klein‘, und die als groß geltenden liefern nicht größere Zeichen als die andern.“ (ZS 190) In ähnlicher Weise ließe sich das auf einen ethischen Bezugsrahmen abstellende Credo Schweitzers, „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ (K 330 und LD 169 f.) interpretieren, als dieses die Gleichwertigkeit allen Lebens postuliert, somit eine Hierarchisierung hinsichtlich der Behandlung einzelner Lebewesen und mithin der den Einzelnen (in ethischer Hinsicht) anfordernden Situationen kategorisch ablehnt: So steht etwa dem in der Regel ignorierten (in Not geratenen) Regenwurm oder dem Insekt die identische Achtung wie Mitgliedern einer anderen Spezies zu. 1059 Überdies korrespondiert die in Kapitel I.1.1 angeführte These Schweitzers, „unscheinbarste Geschehnisse“ (KN 1/2 54) stimmten häufig glücklicher als sogenannte bedeutsame, mit obigen Stellungnahmen Stifters und Bubers, deren Entwürfe zahlreiche konkrete Anhaltspunkte zur Erhärtung derselben liefern, wie die bereits getätigten Ausführungen gezeigt haben. Die weitere Übereinstimmung betrifft besagtes Primat des Handelns gegenüber dem Theoretisieren: In der Konzeption Schweitzers Ehrfurchtsethik manifestiert sich dieses besonders in dem Postulat des universellen Dienens im Sinne des kultivierenden Tätigseins für den den Einzelnen umgebenden Lebenswillen (wie insbesondere in Kapitel I.1.1 erörtert), 1060 während Buber – auf der Basis der chassidischen Funkenlehre – von dem heiligen „Dienst an den Funken“ (siehe hierzu Kap. II.4.2, vor allem II.4.2.2) handelt, die sich in Wesen und Dingen verbergen und ihrer Erlösung harren. Zudem wurde im Rahmen des „Lehre sein“ betitelten Kapitels II.3 am Beispiel der Lebensführung des Zaddiks plausibilisiert, dass die (in diesem Fall) entsprechend heiligende Lebenshaltung in praxi zu vollziehen ist und eine theoretische Auseinandersetzung mit den Lebewesen und Dingen zu einem gelingenden Leben letztlich nicht hinreichend sein kann. Demgemäß konstatiert Stifters Risach im Nachsommer zu Recht in Bezug auf seine Pflanzenschützlinge: Dies wurde im Wesentlichen in Kapitel I.1.2 dargelegt. Es sei an dieser Stelle an folgende, im Schweitzer-Teil der Arbeit zitierten, kardinalen Aussagen aus den kulturphilosophischen Nachlassschriften Schweitzers erinnert: „Erlebt der Mensch seine Verbundenheit mit allen Wesen, so entspringt daraus die Nötigung zu einem ins Uferlose gehenden Dienen“ (KN 1/2 223; Herv. im Orig.); „Alle Ethik ist Nützlichkeitsethik, denn sie will etwas erreichen. Ist Dienen! Höchste Erhaltung von Leben: dienen.“ (KN 1/2 464) 1059 1060

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Parallelisierung der Ansätze Schweitzers, Bubers und Stifters

„»[D]en Wert dieser Pflanzen kann keiner vollständig ermessen, als der sie pflegt.«“ (NS 62) Darüber hinaus lebt auch er – auf der Basis des Prinzips, „»‚Erziehung ist wohl nichts als Umgang‘«“ (NS 633) – eine adäquate, auf den Wert der Wesen und Dinge bedachten Haltung vor, was etwa in Kapitel III.3 zu verdeutlichen war. Eine dritte, für den Darstellungskontext relevante gemeinsame Komponente der Ausführungen Schweitzers, Bubers und Stifters bezieht sich auf die Betonung der Verantwortung für den und Wirksamkeit in dem je eigenen Lebensbereich: Dies impliziert zweierlei: Zum einen stellt dies im realen Sinn auf dasjenige ab, was der Einzelne an seinem (aktuellen) Standort in dem jeweiligen Augenblick zu verrichten hat – denn, so pointiert Buber, „dieser Augenblick ist nicht davon herausgenommen“ (ZS 187): Dies kann – gemäß Schweitzer – die Rettung des Insekts aus dem Tümpel, welches den Weg des Betreffenden kreuzt und Hilfe erfordert, sein, die fällige Reinigung der Baumrinde oder Fütterung der Vögel auf Risachs Rosenanwesen oder aber das anstehende Säubern der Gefäße in der Wirtsstube nach der chassidischen Anekdote „Das Wichtigste“. Letzteres wird darin, wie gezeigt, als das, „»[w]omit er [in diesem Fall Rabbi Mosche von Kobryn] sich gerade abgab«“ (EZ 563), plausibel gemacht. Zum anderen ist mit besagtem Aspekt in symbolischer Weise bedeutet, dass jedem Menschen ein singulärer Lebensentwurf innewohnt, welchen einzig dieser zu realisieren vermag. 1061 Demnach heißt es in den Erzählungen der Chassidim: „»[S]o sollen wir, ein jeder von uns nach seiner eignen Art […] nicht Getanes tun, sondern das noch zu Tuende.«“ (EZ 266) 1062 Buber kommentiert diese Passage in der Schrift „Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre“ folgendermaßen: Mit jedem Menschen ist etwas Neues in die Welt gesetzt, was es noch nicht gegeben hat, etwas Erstes und Einziges. […] Dieses Einzige und 1061 In Bezug auf diesen Punkt gemahnt Schweitzer (worauf in Anm. 147 verwiesen wurde): „Keiner maße sich ein Urteil über den andern an. In tausend Arten hat sich die Bestimmung der Menschen zu erfüllen, damit sich das Gute verwirkliche.“ (FW 40) Ebenso konstatiert Risach in Stifters Nachsommer, es komme nicht lediglich auf heroische Taten an, damit „»die Welt in ihren Angeln bleibt«“ (NS 540). 1062 Von Relevanz scheint in diesem Kontext somit auch „die Erkenntnis seines eigenen Wesens, die Erkenntnis seiner wesentlichen Eigenschaft und Neigung“ (WM 719) in Bezug auf die generelle „Wahl“ des „Lebensdienstes“ zu sein (welche sich bei Albert Schweitzer etwa realiter in dem helfenden Beruf des Arztes manifestierte).

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Aspekte einer Aufwertung des Alltäglichen der Autoren-Trias

Einmalige ist es, was jedem vor allem auszubilden und ins Werk zu setzen aufgetragen ist, nicht aber, noch einmal zu tun, was ein anderer, und sei es der größte, schon verwirklicht hat. (WM 719 f.) 1063

In Anlehnung an dieses Diktum Bubers, sei hier (um schließlich potenzielle Irrtümer zu beheben) explizit zum Ausdruck gebracht, dass mittels der Darlegungen in vorliegender Arbeit keineswegs suggeriert werden sollte, den – auf der Basis der Ausführungen zu den Konzeptionen Bubers und Schweitzers – als Paradigma eines gelingenden (Alltags)Lebens präsentierten Risachschen Rosenhof in toto zu imitieren (welches – nebenbei bemerkt – per se zum Scheitern verurteilt wäre): Stifters im Nachsommer konzipiertes Lebens-Modell liefert lediglich (dies ist jedoch gleichwohl essenziell für eine adäquate Lebenshaltung) die Grundprinzipien, welche Orientierung im alltäglichen Umgang zu stiften vermögen: Jeder Einzelne ist dazu angehalten – so formuliert Schweitzer in ethischer Hinsicht, wie in diesem Kapitel bereits erläutert –, sich seiner spezifischen (materiellen wie immateriellen) Möglichkeiten gemäß (dies jedoch konsequent!) für die Kultivierung seiner Lebenswelt zu engagieren. In gleicher Weise betont Buber, es sei durchaus nicht danach zu eifern, de facto Chassid zu werden, sondern Leben und Alltag in Ausrichtung an den durch den Chassidismus vertretenen Prinzipien zu gestalten – im Wortlaut Bubers: „Es galt […], in mein eigenes Dasein so viel als ich vermochte aufzunehmen von dem, was mir da vorgelebt worden war, und das heißt: von der Realisierung jenes Dialogs mit dem Seienden“ (CAM 937), welcher sich als Konstituens Bubers Dialogphilosophie wie Chassidismus-Interpretation erzeigt hat. Das in diesem Kapitel hinsichtlich der Parallelen der drei Autoren Explizierte spezifizierend, gilt es nachfolgend – wie angezeigt – Stifter zunächst vor der Folie der Konzeption Albert Schweitzers Ehrfurchtsethik und schließlich vor jener der Buberschen Deutung der chassidischen Lehre auszulegen. Es sollen somit signifikante, in den vorstehenden Hauptteilen der Arbeit je separat angeführte Gesichtspunkte zusammengeführt werden, um zu eruieren, inwiefern sich im Nachsommer-Roman im Detail tatsächlich durch Schweit-

1063 Ferner stimmen die drei Positionen darin überein, dass man seinen (individuellen) „Dienst“ im Stillen zu verrichten und zudem weder besonderen Lohn noch Dank dafür zu erwarten oder verlangen habe.

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Parallelisierung der Ansätze Schweitzers, Bubers und Stifters

zer und Buber artikulierte Aspekte wiederfinden beziehungsweise dort gleichsam in praxi realisiert werden.

2.

Praktizierte Ehrfurcht vor dem Leben – Stifters Der Nachsommer mit Schweitzer gelesen

Der eingangs zum Stifter-Hauptteil dieser Arbeit zitierte Ausspruch Risachs, „»Die Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an sich sind«“ (NS 614), bildet gleichsam das Äquivalent zu Albert Schweitzers Postulat der „Ehrfurcht vor dem Leben“, als erstere Maxime – wie gesehen – im Nachsommer-Roman auch sämtliche Lebewesen unterschiedslos umfasst und als solides Fundament einer im Rosenhaus gelebten respektive praktizierten Ehrfurcht fungiert. 1064 Auf der Basis des in den Abschnitten I und III zu Schweitzer und Stifter je Dargestellten, sollen im Folgenden – über die in Kapitel VI.1 bereits genannten Gemeinsamkeiten hinaus – spezifische Parallelen der beiden Autoren aufgegriffen werden, um somit zu erhärten, dass die ethischen Kerngedanken Stifters im Nachsommer in ihren Grundaussagen vergleichbar sind mit den Prinzipien der Ehrfurchtsethik Schweitzers. Diesbezüglich wird exemplarisch auf den eine ehrfürchtige Haltung fundierenden Prozess der Selbstvervollkommnung zu rekurrieren sein, auf die daraus resultierende Einsicht in die Hingabe des Menschen an Leben jenseits der Anmaßung, als Maß aller Dinge zu agieren, auf den Aspekt der Kultivierung der den Einzelnen umgebenden Lebewesen sowie auf jenen des Mitleids, anhand dessen nicht zuletzt deutlich wird, dass Stifter im Nachsommer gewissermaßen über Schweitzers Gegenstandsdenken hinaus geht. Die Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben wird von Risach und seinem Kreis gleichsam praktisch vollzogen, das heißt, gelebt, durch den unmittelbaren, alltäglichen Umgang mit den Dingen und Lebewesen. Das ehrfurchtsvolle Verhalten kommt nicht zuletzt in den liebevoll detaillierten, auf das je spezifische „Wesen“ der Sache abzielenden Beschreibungen zum Ausdruck. 1065

Ob Albert Schweitzer Stifters Nachsommer gelesen hat, ist der Autorin nicht bekannt. 1065 Heinze 2008, S. 93, Anm. 18. 1064

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Stifters Der Nachsommer mit Schweitzer gelesen

Dies bereits in einer Anmerkung in erwähntem Artikel der Autorin zum Thema Kunst und Denkmalpflege (bezüglich des Nexus von Adalbert Stifters Ausführungen im Nachsommer und Albert Schweitzers Ehrfurchtsethik) Konstatierte galt es, im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu konkretisieren. Während letztbenannter Aspekt der mittels akribischer Deskriptionen gleichsam theoretisch-symbolisch artikulierten Ehrfurcht in Kapitel III.2.1 exemplifiziert worden ist, sind deren Realisierung im täglichen Umgang mit Natur vor allem die Kapitel III.2.3 und III.3 gewidmet: In erster Linie anhand der Behandlung der Tiere, insbesondere Vögel (siehe vor allem Kapitel III.2.3.3) sowie der Sorge um Bäume und Pflanzen, namentlich Rosen und Kakteen (Kapitel III.2.3.2), sollte demonstriert werden, dass die Umsetzung der von Schweitzer im Rahmen seines kulturphilosophischen Entwurfs generierten, auf der von ihm akzentuierten primären Bewusstseinstatsache „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ (K 330 und LD 169 f.) fußenden Ethik unbedingter Hingebung an Leben auf dem Anwesen Stifters Risach Vorbildcharakter hat: In einem im Laufe der Jahre zu höchster Perfektion entwickelten Pflege- und Schutzprogramm ist man liebevoll wie akribisch darum bemüht, nicht-menschlichen Lebewesen, entsprechend deren jeweiliger Art, gerecht zu werden. Zudem erwies sich das Aufhalten der Protagonisten in (mehr oder minder) unberührter Natur ebenfalls von einer prinzipiell ehrfürchtigen Haltung geprägt, was besonders in Kapitel III.3 deutlich wurde, etwa am Beispiel des vorsichtig aufgelesenen und bewunderten „Schneckenhäuschen[s]“ (NS 645) oder aber dem brütenden Rotkehlchen, gegenüber dem man – analog einem menschlichen Gegenüber – „ehrlich“ (NS 143) zu sein hat. Voraussetzung eines universellen Ehrfurchtsdenkens beziehungsweise einer entsprechenden Haltung, auf Basis derer schließlich ein solchermaßen ehrfürchtiger Umgang mit anderem Leben zu erwachsen vermag, bildet die Arbeit an der eigenen Gesinnung, welche mittels der – neben der Ethik der Hingebung – von Schweitzer gleichsam als zweite Säule der Ehrfurchtsethik aufgezeigten Selbstvervollkommnung (siehe Kapitel I.1.1) geleistet wird. Diese wiederum fordert einerseits die Bejahung des eigenen Lebens – da ohne Achtung vor der eigenen Person weder Ehrfurcht vor den Mitmenschen noch vor nicht-menschlichen Lebewesen und Gegenständen aufkeimen kann – und hält gleichzeitig dazu an, die individuellen Ambitionen keinesfalls ins Zentrum des Geschehens zu stellen. 379 https://doi.org/10.5771/9783495817902 .

Parallelisierung der Ansätze Schweitzers, Bubers und Stifters

Der spezifischen Verfasstheit der Nachsommer-Personen wurde in Kapitel III.2.2 der vorliegenden Arbeit nachgespürt, und im Zuge dessen Charakterzüge wie Bedachtsamkeit und Bescheidenheit sowie Aufmerksamkeit, Anteilnahme und Geduld als sowohl das zwischenmenschliche Miteinander wie auch den Umgang im Allgemeinen kennzeichnend definiert. Diesbezüglich sei auf Wolfgang Matz rekurriert, welcher sich hinsichtlich Stifters Romanfiguren wie folgt äußert: „Höflichkeit bezeugt den Respekt vor der Existenz des Anderen, so wie der sorgsame Umgang mit den Gegenständen, die Pflanzenpflege und das Füttern der Vögel ein Zeichen für die Achtung ist, die man der gesamten Schöpfung und jeder ihrer Kreaturen entgegenbringen muß.“ 1066 Die gewissenhafte Selbstvervollkommnung lehrt somit eine Zurückhaltung, die sich in Stifters Nachsommer als effektives Zurücktreten des Menschen vor den Wesen und Dingen konkretisiert, als diese in ihrer jeweiligen Art „Seingelassen“ werden, im Sinne des unbedingten Respektierens ihrer Eigenheit, wovon in besagtem Kapitel mit Bezugnahme auf Walter Biemel ebenfalls die Rede war. Die mit der Vervollkommnung des Einzelnen einhergehende Selbstbesinnung mündet letztlich in die Einsicht des Menschen, nicht Maß aller Dinge sein zu wollen und zu können, was sowohl von Schweitzer als auch Stifter postuliert wird. Bei letzterem artikuliert sich dies in erörterter, in der Erzählsammlung Bunte Steine konzipierter Maxime des „Sanften Gesetzes“, welche durch (beispielhaft erwähnte) Briefpassagen untermauert wird, während Schweitzer explizit konstatiert, der Mensch vermöge weder zu wissen, welche Bedeutung ihm oder anderen Wesen im Weltganzen zukommt, noch sei er befugt, über deren Wertigkeit zu urteilen (vgl. etwa KN 1/2 218 und K 330), woraus Schweitzer die Gleichrangigkeit alles Lebendigen konkludiert. Im Nachsommer manifestiert sich dieses Axiom symbolisch in der Fütterung des (genannten) Rotkehlchens, ob des dafür erforderlichen Niederbeugens Risachs zu diesem zierlichen Geschöpf sich Heinrich – wie erläutert – die Weisheit seines Mentors erhellt (vgl. NS 144); dies wird zudem untermauert durch die (in Kapitel III.2.1 zitierte) paradigmatische Äußerung Risachs über das Summen der Insekten:

1066

Matz 2005, S. 327 f.

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Stifters Der Nachsommer mit Schweitzer gelesen

„Viele Menschen, welche gewohnt sind, sich und ihre Bestrebungen als den Mittelpunkt der Welt zu betrachten, halten diese Dinge für klein; aber bei Gott ist es nicht so; das ist nicht groß, an dem wir vielmal unsern Maßstab umlegen können, und das ist nicht klein, wofür wir keinen Maßstab mehr haben. Das sehen wir daraus, weil er alles mit gleicher Sorgfalt behandelt.“ (NS 106 f.)

Der Mensch, der sich nicht als Herr, sondern – wie Schweitzer in Anlehnung an Franziskus von Assisi festhält – als Bruder der Geschöpfe (an)erkennt, negiert eine Hierarchisierung respektive Klassifizierung von Leben und fühlt sich demnach allen Wesen gleichermaßen verbunden. Zudem hat er als ethischer Mensch das von Schweitzer formulierte Grundprinzip der Sittlichkeit, „Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen“ (K 331), gänzlich internalisiert: In concreto bedeutet dies – wie dargelegt – „[e]r reißt kein Blatt vom Baume ab, bricht keine Blume und hat acht, daß er kein Insekt zertritt“ (K 331) oder sich gar dazu hinreißen lässt, „in geistlosem Zeitvertreib eine Blume am Rande der Landstraße zu köpfen, denn damit vergeht er sich an Leben, ohne unter der Gewalt der Notwendigkeit zu stehen“ (K 340). Analog ist es auf dem Rosenanwesen Risachs strikt untersagt, Blumen alleine deren Schönheit willen zu schneiden und als Dekoration zu verwenden. 1067 Den Personen im Nachsommer gilt es (wie ebenfalls erläutert) vielmehr als selbstverständlich, Tieren und Pflanzen Persönlichkeiten gleich zu begegnen – so avanciert etwa die in einem Topf bei Tätigkeiten im Freien stets mitgeführte Rose zur „»Gesellschafterin«“ (NS 429) Mathildes, und Risach kennt beim Sprießen des Grases im Frühjahr „»jedes Gräschen persönlich, das sich unter den ersten aus dem Boden hervor wagt«“ (NS 203). Des Sommers streicht er schließlich „sachte mit der Hand an den grünen Ähren des Getreides hin“ (NS 59), was eine generelle

„Abgebrochen oder abgeschnitten und in Gläser mit Wasser gestellt durften in diesem Hause keine Blumen werden, außer sie waren welk, so daß man sie entfernen mußte.“ (NS 232 f.) Gleichwohl scheint Stifter beziehungsweise scheinen seine Romanfiguren in diesem Punkt inkonsequenter zu sein als Schweitzer (es fordert), als unmittelbar auf dem Anwesen ein Brechen und Schneiden in Blüte stehender Blumen zwar verboten ist, außerhalb dessen jedoch dieses Gebot offensichtlich keine Geltung besitzt, als Natalie einen Feldblumenstrauß pflückt. (Siehe hierzu auch Anm. 1013) 1067

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Parallelisierung der Ansätze Schweitzers, Bubers und Stifters

Wertschätzung der natürlichen Lebensgrundlagen impliziert (wie die verschiedentliche Preisung der Elemente). 1068 Die präzisierte Forderung Schweitzers Ehrfurchtsethik lautet – wie gesehen – „daß wir den Willen haben, unser Leben und alles durch uns irgendwie beeinflußbare Sein zu erhalten und auf seinen höchsten Wert zu bringen“ (K 298). Ein passives darauf Bedachtsein, Leben nicht zu schädigen, ist somit keineswegs hinlänglich, sondern darüber hinaus ist ein aktiver Einsatz im Sinne der Kultivierung des individuellen Lebensbezirks 1069 geboten, das heißt, sich derer in den eigenen Bereich tretenden Lebewesen solchermaßen anzunehmen, dass diese nicht nur zu überleben vermögen, sondern zudem in ihrem Dasein in optimaler Weise gefördert werden. Dieser das Spezifikum der Ehrfurcht vor dem Leben markierende Aspekt ist bei Stifter qua Risachs und der Seinen Tätigkeit auf dem Rosenanwesen in idealer Weise realisiert, als dort faktisch Kultivierung im ursprünglichen Sinne betrieben wird: 1070 Exemplarisch zeigt sich dies anhand des umfassenden Schutz- und Pflegeprogramms für Tiere und Pflanzen, im Rahmen dessen man beispielsweise nicht nur darum bemüht ist, „»dem Baume zu geben, was ihm nottut, und ihm zu nehmen, was ihm schadet«“ (NS 131), sondern ihm überdies – etwa mittels regelmäßig aufbereiteter oder frischer Erde, akribischer Rindensäuberung sowie fachkundiger Beschneidung – zu neuer Lebenskraft verhilft. Analoges gilt für Rosen und Kakteen, welche – jenseits bloßen Wässerns – in den Genuss aufwendiger Pflegemaßnahmen kommen. (Vgl. etwa NS 126) Nicht zuletzt erhalten die Vögel der Umgebung eine auf ihre differierenden Präferenzen abgestimmte Speise, die auf speziell für „»Festfüßler und Schaukler«“ (NS 137) konzipierten Vorrichtungen gereicht wird. 1071 1068 Eine nachhaltige Lebensweise zeigt sich auch darin, dass man beispielsweise die Speisereste oder ungenießbare Teile des Gemüses verwertet, indem man diese den Hasen des Feldes verfüttert, welche gelegentlich auch den Garten des Rosenhauses aufsuchen. 1069 Auf Schweitzers an der ursprünglichen Bedeutung von „Kultur“ orientierten, weit gefassten Kulturbegriff wurde im Rahmen von Kapitel I.1.1 verwiesen. 1070 In diesem Kontext sei ferner an Mathildes von Heinrich wiederholte Darlegungen bezüglich Risachs Agieren erinnert: „Mein Gastfreund fahre in seinem einfachen Leben fort, er bestrebe sich, daß sein kleiner Fleck Landes seine Schuldigkeit, die jedem Landbesitze zum Zwecke des Bestehenden obliege, bestmöglich erfülle, er tue seinen Nachbarn und andern Leuten viel Gutes, er tue es ohne Gepräge, und suche hauptsächlich, daß es in ganzer Stille geschehe […].“ (NS 477) 1071 Während Risach Heinrich anhand des zu verurteilenden Umgangs vieler Men-

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Stifters Der Nachsommer mit Schweitzer gelesen

Die Wertschätzung der Lebewesen artikuliert sich nicht zuletzt in dem für die auf das praktische Handeln abstellende Ethik der Hingebung (als in diesem Kapitel ebenso bereits benannte Säule der Ehrfurchtsethik) konstitutiven Moment: dem Mitleid. Im Nachsommer zeigt sich dieses real und beispielhaft anhand der in Kapitel III.2.3.2 beschriebenen, von Heinrich initiierten Rettungsaktion eines im Nachbargut vernachlässigten Kaktus, dem man schließlich auf dem Rosenhof zu optimalem Gedeihen verhilft. Zudem manifestiert sich im Aspekt des Mitleids die Stifter und Schweitzer gemeinsame mystische Komponente: 1072 Während Schweitzer plausibel macht, der einzelne Mensch gelange mithilfe (s)einer auf der Ehrfurcht vor dem Leben fußenden Gesinnung „wahrhaft in ein inneres Verhältnis zum Universum“ (PE 112), ist bei Stifter (wie im Artikel der Autorin angemerkt und in dieser Arbeit weiter ausgeführt) „das Individuum als Teil eines umfassenden Ganzen“ 1073 interpretiert, auf Basis des „Verwobensein[s] mit einer kosmischen Ordnung“ 1074. schen mit den Singvögeln, die diese auf perfide Art und Weise zu fangen (und teilweise gar zu töten) suchten, demonstriert, „»wie weit wir von wahrer Gesittung entfernt sind«“ (NS 142), wird dagegen auch im Rosenhaus nicht permanent nach dem Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben gehandelt: So wurde auf Risachs gänzlich aus dem Rahmen fallendes Verhalten gegenüber dem die Bienen verzehrenden „Rotschwanz“ als Negativbeispiel hingewiesen – analog zu Schweitzers „nach der Flinte Greifen“ etwa angesichts der Bedrohung des Hospitals in Lambarene durch Schlangen. Ferner verstößt man im Nachsommer insofern (partiell) gegen das von Schweitzer aufgestellte Gebot, eine Klassifizierung von Lebewesen zu vermeiden, als (neben der Differenzierung zwischen „guten“ und „bösen“ Vögeln) die die Gewächse des Rosenhausgartens anfressenden Raupen definitiv als störendes und somit zu vernichtendes Ungeziefer angesehen werden. Gleichwohl kann auch Schweitzer in der Praxis den Raupen auf seinen Orangenbäumen nichts Positives abgewinnen. (Vgl. Anm. 155) Ferner wird bei Stifter – im Rahmen des auf dem Rosenhof mittels des Einsatzes der Vögel verfolgten Ungezieferbekämpfungsprogramms – Natur in gewissem Maße Mittel zum Zweck. Wiederum könnte man Risach zugute halten, dass keine künstlichen Maßnahmen zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt werden (was jedoch wohl kaum einem Argument im Sinne der Ehrfurcht vor dem Leben entspräche). 1072 Im Rahmen der Erörterungen zum Mitleid im Schweitzer-Teil der Arbeit wurde mit Bezugnahme auf die Konzeption Arthur Schopenhauers die mystische Komponente des Mitleids im Sinne der Eliminierung der Barrieren zwischen der eigenen Person und dem Gegenüber artikuliert. 1073 Heinze 2008, S. 137. 1074 Ebd. Die Bestätigung besagter kosmischer Ordnung drückt sich bei Stifter nicht zuletzt in dem (anhand der Darlegungen Alice Bolterauers) erörterten quasi-rituellen Lebens- und Alltagsbezug aus.

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Parallelisierung der Ansätze Schweitzers, Bubers und Stifters

Repräsentativ für besagten mystischen Impetus im Nachsommer ist Heinrichs (in Kapitel III.3 thematisiertes) Mitleid mit dem erschossenen Hirsch (vgl. NS 31–33): Heinrich wird sich im Zuge dessen wohl des – gemäß Schweitzer jedem Lebewesen inhärierenden – Wille zum Leben (in diesem Fall des Tieres) gewahr sowie explizit der Tatsache, dass die instinktiv agierenden Hunde der Jäger keine Schuld trifft (vgl. NS 32), denn diesen gehe – Schweitzer folgend – im Gegensatz zum Menschen die Erkenntnis des Mitempfindens und somit ein ethisches Verhalten ab. 1075 Schreiben kann vieles sein, auch compassio (Mitleiden). Im Nachsommer gibt es eine Passage von geradezu mystischem Aufschwung. Bis hin zu den Bäumen in den Brettern reicht Stifters oder seines Protagonisten Mitleid. Gipfel dieser Regung: das Mitleid mit dem sterbenden Hirsch, auf den der Protagonist stößt. 1076

Anknüpfend an diese „Entdeckung“ Arnold Stadlers wäre zumindest der Gedanke in den Raum zu stellen, ob Stifter wohl – analog zu Schweitzer, dem das erwähnte Nilpferderlebnis den Weg zur Lösung des ethischen Problems im Sinne der Erhellung der Formel der Ehrfurcht vor dem Leben ebnete – durch ein vergleichbares mystisches Begebnis zum Schreiben animiert wurde. Gleichwohl ist für den vorliegenden Kontext nicht das von Stadler als Kulminationspunkt der Mitleidsregung Heinrichs charakterisierte Hirsch-Ereignis, sondern jenes (ebenso in Kapitel III.3 dieser Arbeit angeführte) des Mitleidempfindens mit den Brettern (!) ausschlaggebend (vgl.

1075 „Die Welt, dem unwissenden Egoismus überantwortet, ist wie ein Tal, das im Finstern liegt; nur oben auf den Höhen liegt Helligkeit. Alle müssen in dem Dunkel leben, nur eins darf hinaus, das Licht schauen: Das höchste, der Mensch. Er darf zur Erkenntnis der Ehrfurcht vor dem Leben gelangen, er darf zu der Erkenntnis des Miterlebens und Mitleidens gelangen, aus der Unwissenheit heraustreten, in der die übrige Kreatur schmachtet.“ (EVL 33 f.) Auf der Grundlage der Erkenntnis des Mitleids ist der Mensch dazu in der Lage, sich zu einem ethischen Verhalten zu entscheiden. Analoges gilt in Bezug auf das Eingehen einer Ich-Du-Beziehung mit einem Wesen der Natur gemäß Bubers dialogphilosophischer Konzeption: Auch hier handelt es sich um „eine Frage der Entscheidung […], ob Natur entweder bloß als nüchterner Gegenstand betrachtet wird oder man sich der die Beziehung bedingenden jeweiligen Wesenheit öffnet, denn es besteht keine zwingende Notwendigkeit, Etwas oder die Natur […] als dingliches Es zu behandeln, auch wenn es uns in der naturwissenschaftlich-technisch dominierten Welt so suggeriert und anerzogen wird“ (Heinze 2011, S. 94 f.). 1076 Stadler 2009, S. 82.

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Stifters Der Nachsommer mit Schweitzer gelesen

NS 24 f.), 1077 als sich anhand dessen die bei Stifter vorliegende, über das Gegenstandsdenken Schweitzers hinausreichende Dinginterpretation demonstrieren lässt. Hierzu sei Walter Biemel zitiert: „Die Natur ist für Stifter das Bleibende, das der Mensch pflegt und kultiviert – und zum Bleibenden gehören eben auch die geschichtlich gewordenen Dinge (Gebrauchsdinge)“ 1078, denen – wie sich anhand des Bretterbeispiels exemplarisch zeigt – selbst als Unbelebtem Ehrfurcht gebührt. Während der Tier-, Baum- und Pflanzenpflege im Nachsommer in Bezug auf Kunstobjekte die Denkmalpflege entspricht, so hinsichtlich der Gegenstände des täglichen Gebrauchs der pflegliche Umgang mit diesen im Alltagsleben. Beispielhaft sei an das Tragen der Filzpantoffeln zur Schonung der (letztlich Kunstwerken gleichkommenden) Fußböden und den Umgang mit dem gelesenen Buch sowie das damit korrelierende prinzipielle Ordnunghalten zum Zwecke des Erhalts der jeweiligen Erscheinung des Zimmers erinnert. (Vgl. Kapitel III.2.3, besonders III.2.3.1) Resümierend gilt es, in Bezug auf das Verhältnis Stifter – Schweitzer festzuhalten, dass Schweitzer die Grundlage eines adäquaten Umgangs mit Natur im täglichen Leben durch die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben liefert und mithin die dringliche Notwendigkeit deutlich macht, Achtung (wieder) als kardinales Prinzip im Alltag zu etablieren. Diese theoretischen Darlegungen Schweitzers auf der Basis der beiden Säulen der Selbstvervollkommnungs- und Hingebungs-Ethik führt Stifter schließlich im Nachsommer-Roman in einem universellen praktischen (Lebens)Konzept aus. 1079 Zudem er-

1077 Dennoch attestiert Stadler Stifter – wie bereits in Kapitel III.3 zitiert – Folgendes: „Das Mitleid mit der Kreatur jedoch, ja mit den unbelebten Dingen ist etwas ganz Eigenes, das ich so noch nie anderswo gefunden habe, es wäre denn bei einem Mystiker.“ (Ebd., S. 65) 1078 Biemel 1985, S. 64. 1079 Jenseits der inhaltlichen Gemeinsamkeiten besteht ferner eine Parallele zwischen Schweitzer und Stifter darin, dass Schweitzer explizit eine allzu komplexe Fachsprache in seinen Ausführungen zu vermeiden bestrebt ist, um seine Schriften einem breiten Publikum zugänglich zu machen, und Heinrich von Risach (in Bezug auf die Durchführung der Unterrichtsstunden für Gustav) Vergleichbares berichtet: „Die Sprache des Unterrichts war stets einfach und klar, daß ich meinte, ein Kind müsse diese Dinge verstehen können.“ (NS 190; vgl. auch Anm. 780 dieser Arbeit) Darüber hinaus habe – so Heinrich – auf die allgemeinen Gespräche dasselbe zugetroffen.

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Parallelisierung der Ansätze Schweitzers, Bubers und Stifters

weitert Stifter den Ehrfurchtsgedanken insofern, als er auch Unbelebtes in das Ehrfurchtspostulat aufnimmt. Dieser Gedanke eines ehrfürchtigen Umgehens zumindest auch mit anorganischem Leben ist bei Schweitzer – wie am Beispiel des Kristalls in Kapitel I.2 demonstriert werden sollte – zwar angelegt, wird jedoch nicht weiter verfolgt. Die Besprechung Martin Bubers in Teil II der Arbeit sollte belegen, dass Buber hinsichtlich eines adäquaten Dingzugangs im Rahmen seiner (dialogischen) Deutung chassidischen Gedankenguts Erweiterungen bietet, worauf nun im Zuge der Parallelisierung der Entwürfe Bubers und Stifters zu rekurrieren ist.

3.

„Vergeßt Euch und habt die Welt im Sinn“ – Stifters Der Nachsommer mit Buber gelesen

Begriffe wie „Alltag“, „Alltäglichkeit“ oder „Alltägliches“ sucht man in Adalbert Stifters Nachsommer – wie die Darlegungen respektive angeführten Belegstellen im dritten Hauptteil dieser Arbeit gezeigt haben – quasi vergeblich. Gleichwohl wird der Rezipient des Romans mit einer Lebenshaltung und -führung vertraut gemacht, die in beispielhafter Weise eine Idealisierung alltäglicher Dinge und Verrichtungen begründet, wie diese Martin Buber in seiner Deutung chassidischer Lehre im Allgemeinen als „Heiligung“, „Weihe“ oder „Weihung“ des Alltags expliziert hat. Basierend auf dieser grundsätzlichen Parallele, gilt es, nachfolgend (neben den genannten, alle drei Autoren verbindenden Gemeinsamkeiten) in Bezug auf Stifter und Buber schwerpunktmäßig folgende Implikate zu thematisieren: Die Akzentuierung des Hier und Jetzt im Sinne der Annahme, das Glück des Lebens sei nicht in einer (wie immer gearteten) jenseitigen Wirklichkeit, sondern vielmehr im hiesig-irdischen (Alltags)Leben aufzutun; den damit korrelierenden spezifischen Dingumgang, der auf einem Hörenkönnen auf die Wesen und Dinge fußt; und nicht zuletzt den Aspekt des Exemplarischen, welcher sich bei Buber in der Herausstellung der Modellhaftigkeit chassidischer Lebensweise (insbesondere jener der Zaddikim) artikuliert, während im Nachsommer vor allem Risach als derjenige fungiert, welcher Leser wie Romanfiguren gleichermaßen das Ideal eines den Alltag samt dessen diverser Implikationen würdigenden Daseins vorlebt. Der im Kunst-Artikel der Autorin bereits erwähnte, Stifters 386 https://doi.org/10.5771/9783495817902 .

Stifters Der Nachsommer mit Buber gelesen

Roman zu attestierende „gereinigte[r] Weltbezug“ 1080, welcher sich nicht zuletzt „anhand des gewissenhaften Umgangs mit den Dingen“ 1081 ausdrücke und im Rahmen der vorliegenden Analyse hinsichtlich des Umgangs mit Natur sowie Alltagsgegenständen konkretisiert werden sollte, erscheint vergleichbar mit der laut Buber durch den Chassidismus gestifteten „erneuerte[n] Beziehung zur Wirklichkeit“ (CB 786) – ja „Erneuerung des Lebens“ (CB 866) an sich. Diese basiert, wie dargelegt, auf der substanziellen Prämisse, „die fundamentale Scheidung zwischen dem Heiligen und dem Profanen immer mehr zu überwinden“ (CAM 938), um somit den Boden zu bereiten für eine grundsätzliche, theoretisch unlimitierte „Möglichkeit eines Dialogs mit dem Seienden“ (CAM 936). Aus der Negierung besagter Trennung resultiert somit die gleichsam geläuterte Einsicht, „»man kann zu Gott nicht anders kommen als durch die Natur«“ (CB 811) – will heißen, über das (tägliche) Leben mit und in Welt, der irdischen Wirklichkeit „ohne Abstrich und Verkürzung“ (B 62). 1082 Dies korrespondiert mit Bubers in seinen Schriften zur Dialogphilosophie formulierten These von der „wahre[n] Heiligkeit, für die es, da sie alles einheiligt, keine ‚religiöse Hinsicht‘ gibt“ (FE 236). So kommt Buber zu folgendem (in Kapitel II.4.1 bereits zitierten) Schluss: Es kann nicht sein, daß die Beziehung der menschlichen Person zu Gott durch Weglassen der Welt entstehe; also muß der Einzelne seine Welt, was an Welt ihm eben lebensmäßig zugereicht und anvertraut wird, in seine Lebensandacht ohne Abstrich mitnehmen und es an deren Wesentlichkeit ungeschmälert teilnehmen lassen. Es kann nicht sein, daß der Einzelne, wenn er über die Schöpfung hinweg die Hände ausstreckt, Gottes Hände finde; er muß die Arme um die leidige Welt legen, […] dann erst langen seine Finger in den Bereich des Blitzes und der Gnade. (FE 245)

Mit einem Wort besteht somit – wie im Rahmen des Buber-Teils der Arbeit erläutert – die fundamentale (Lebens)Aufgabe darin, dieses dem Einzelnen „anvertraute Stück Welt zu heiligen […]. Denn was nicht geheiligt wird, wird entweiht.“ (JW 236) Obgleich das Göttliche im Roman Stifters – wie mit Arnold Stadler angemerkt worden Heinze 2008, S. 141. Ebd. 1082 In diesem Kontext sei noch einmal daran erinnert, dass für Buber „‚Glaube‘ nicht ein Gefühl in der Seele des Menschen ist, sondern sein Eintritt in die Wirklichkeit, in die ganze Wirklichkeit, ohne Abstrich und Verkürzung. Diese Feststellung ist einfach; aber sie widerspricht der Denkgewohnheit.“ (B 62) 1080 1081

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Parallelisierung der Ansätze Schweitzers, Bubers und Stifters

ist – eine eher untergeordnete Rolle zu spielen scheint, sucht das im Nachsommer präsentierte Lebensmodell in Bezug auf die Einlösung des von Buber formulierten Postulats nach Ansicht der Autorin letztlich seinesgleichen: Das Leben auf dem Rosenhof muss geradezu als unmittelbar praktizierte Heiligung des dargebrachten „Stück Welt[s]“ (JW 236, CCG 958, FE 235) par excellence gelten! In der ein solchermaßen geartetes Leben fundierenden Lebenshaltung spiegelt sich im Grunde genommen das, was Stadler als „Stifters sehr diesseitigen Jenseitsglauben“ 1083 bezeichnet, der sich im „Hiersein und dem Hierbleibenwollen“ 1084 manifestiere, als Stifters „erste, angeborene Religion“ 1085: „Der Höhepunkt ist hier, im Hiersein.“ 1086 So ist für Stifter wie Buber das Hier und Jetzt zentral, und das Agieren im Alltag avanciert gleichsam zum Prüfstein eines adäquaten (im Sinne des beantwortend-heiligenden) Lebensvollzugs: Heiligung ereignet sich im Herzen des Alltags, denn – wie Buber akzentuiert und im Zuge der Darlegungen deutlich geworden sein sollte – „[e]s gibt keinen echten menschlichen Anteil am Heiligen ohne die Heiligung des Alltags“ (BJS 205). Diese universelle Alltagsheiligung beinhaltet somit – wie der Ausdruck des „Hier und Jetzt“ impliziert – eine räumliche und eine zeitliche Dimension, welche mittels der Anekdote „Der Schatz“ aus Bubers Erzählungen der Chassidim im Rahmen der Darlegungen in Kapitel II.4.2.2 illustriert werden sollte: In räumlichem Betracht handelt es sich – wie oben gesehen – generell um die Erde beziehungsweise die Welt als solche, die es zu heiligen gilt; konkretisiert lautet der „Auftrag“ an jeden Einzelnen, diesem sei – mit seinem individuellen Lebensbezirk – ein spezifischer Ort zugewiesen, auf den er seine Heiligungstätigkeit zu fokussieren habe: Dies wird im Bild des Schatzes „[u]nterm Herd unsres Hauses“ (WM 736; Herv. sind zugefügt) symbolisiert, den einzig der betreffende Mensch zu bergen vermöge. Die zeitliche Perspektive bezieht sich auf den jeweils aktuellen Augenblick, der praktisch mit Präsenz zu füllen ist, als – gemäß der obsoleten Separation heiliger von profanen Bereichen wie Verrichtungen – eine jede Handlung gleichsam „heilig“ – Stadler 2009, S. 127. Ebd., S. 130. 1085 Ebd. Siehe auch ebd., S. 196: „Denn dem Hiersein galt die größte aller Anhänglichkeiten unseres Dichters.“ Mit diesem Satz beendet Arnold Stadler sein Buch Mein Stifter. 1086 Ebd., S. 137. 1083 1084

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Stifters Der Nachsommer mit Buber gelesen

das heißt, auf der Basis von Achtsamkeit und Ernsthaftigkeit – zu vollziehen und mithin zu würdigen ist: Dies kann – wie vor allem in Kapitel III.2.3 des Stifter-Teils dargelegt – die Vogelfütterung, die Rosenpflege oder das Ritual der Essensausgabe (vgl. NS 214 f. sowie Anm. 909) im Rahmen der regelmäßigen Mahlzeiten sein – selbst das bedachtsame Öffnen und Schließen das Gartentores (vgl. Anm. 716) – analog etwa zu dem (nicht nur sinnbildlich zu interpretierenden) Säubern der Geräte bei Buber (vgl. EZ 310) ist nicht davon ausgenommen. Denn „[i]n jedem Augenblick hat jeder Mensch einen echten Zugang zum Sinn des Daseins: eben das [sic!], womit er sich gerade, im natürlichen Gang seines Lebens, jetzt und hier abgibt. In der Heiligung dieses Jetzt und Hier […] hat er den einzigen echten Zugang zum Sinn.“ (JW 236) Werden sämtliche Tätigkeiten ausnahmslos in einem heiligenden Modus vollzogen, geht damit unmittelbar ein entsprechend geläuterter Dingumgang einher, der in der Konzeption Bubers respektive im (gemäß Buber interpretierten) Chassidismus seine Grundlage in der chassidischen Funkenlehre findet, deren in Kapitel II.4.2 erörterte Quintessenz folgende Zitate in Erinnerung rufen mögen: „Die Dinge und Wesen, in denen allen Funken des Göttlichen wohnen, werden diesem Menschen zugereicht, daß er in der Berührung mit ihnen die Funken erlöse.“ (CB 746) Es handelt sich also beispielsweise um „seine Tiere und seine Wände, sein[en] Garten und sein[en] Anger, sein Gerät und seine Speise. Indem er sie in Heiligkeit hegt und genießt, macht er ihre Seelen los.“ (LC 36 f.) Die im chassidischen Lebenskontext zu einem sorgsamen Umgang mit den (nicht-menschlichen) Wesen und Dingen animierenden Funken fehlen bei Stifter; auch ist nicht von einer direkten religiösen Praxis (etwa regelmäßigen Betens oder Kirchgangs) die Rede. Gleichwohl – so die einleitend zu dem Abschnitt der Arbeit zu Stifters Nachsommer geäußerte These, die es im Laufe der Analyse zu verifizieren galt – erweist sich der alltägliche Umgang als solcher (namentlich der im Rosenhaus etablierte) in seiner spezifisch „weihevollen“ Art als quasi-religiöser, gemäß der diesen fundierenden, von den Personen eingenommenen Haltung. 1087 Auf der Basis 1087 Dies korreliert letztlich mit Stadlers Ansicht, die im Rahmen des Stifter-Teils bereits zitiert wurde: „Das Göttliche erscheint im Nachsommer in Gestalt von Rosen und Menschen, ausschließlich als natürliche Offenbarung. […] Freilich gilt auch, daß der Nachsommer kein Buch ist, das gegen die übernatürliche Offen-

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Parallelisierung der Ansätze Schweitzers, Bubers und Stifters

der (von Risach in Bezug auf den Staatsdienst, dem er schließlich den Rücken kehrt, geprägten) Devise, den Dingen zuzugestehen, „»was die Dinge nur für sich forderten, und was ihrer Wesenheit gemäß war«“ (NS 614), sucht man – analog zu den Verrichtungen des täglichen Lebens – auch mit den Dingen – seien diese belebten oder unbelebten Charakters – gleichsam um ihrer selbst willen sorgsam umzugehen und somit darauf bedacht zu sein, ihnen die ihnen gebührende Würde zu erweisen: Handle es sich um ein Buch, das im Anschluss an die pflegliche Nutzung wieder akribisch in das entsprechende Regal einzugliedern ist (vgl. NS 50), oder das zur Vogelfütterung dienende Fütterungskörbchen, dem ebenfalls ein individueller Aufbewahrungsort in Form einer Mauernische zugedacht ist (vgl. NS 100 f.). Dem äußerst achtungsvollen Trätieren der Dinge, im Zuge dessen dieselben als solche (nicht bloß aufgrund ihrer spezifischen Funktion) wertgeschätzt werden (und das sich ebenso in dem Faktum widerspiegelt, dass allem im Rosenhaus ein ihm je vorbehaltener, stets zu respektierender, buchstäblich „in Ordnung“ zu haltender Platz zukommt), ist der dialogisch-heiligende Dingumgang Buberscher Art zur Seite zu stellen, der eine reine „Ich-Es“-, das heißt Zweck-Mittel-Relation übersteigt: Bubers dialogische Lösung des Problems eines alltäglichen Umgangs liegt gleichsam in der (im weitesten Sinne zu interpretierenden, sich in einer spezifischen Haltung artikulierenden) Sprache den Dingen gegenüber, die innerhalb seiner Chassidismus-Interpretation ihr Äquivalent in der heiligenden Intention einer Handlung findet, welche ex aequo auf einem Absehen von sich selbst und dem Hinsehen auf das Gegenüber jeglicher Art basiert: Dementsprechend lautet die primäre, in Kapitel II.4.1 zitierte, chassidische Devise: „»Vergeßt Euch und habt die Welt im Sinn!«“ (WM 731) Analog zu Bubers auf der Negierung einer monologischen Fixierung auf das eigene Selbst basierenden Forderung eines dialogischen Lebensbezugs, findet sich bei Stifter folgende, nicht zuletzt an den Rezipienten adressierte Passage aus der Rede des Freiherrn von Risach, die in Kapitel III.2.2 bereits angeführt worden ist: „Wenn wir nur in uns selber in Ordnung wären, dann würden wir viel mehr Freude an den Dingen dieser Erde haben. Aber wenn ein Übermaß barung stünde, wie sie etwa in der Bibel nachzulesen ist. Die beiden Bücher – der Nachsommer und die Bibel – stehen einfach nebeneinander.“ (Ebd., S. 136)

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Stifters Der Nachsommer mit Buber gelesen

von Wünschen und Begehrungen in uns ist, so hören wir nur diese immer an, und vermögen nicht die Unschuld der Dinge außer uns zu fassen. Leider heißen wir sie wichtig, wenn sie Gegenstände unserer Leidenschaften sind, und unwichtig, wenn sie zu diesen in keinen Beziehungen stehen, während es doch oft umgekehrt sein kann.“ (NS 189)

Im Stifter-Teil der Arbeit wurde in diesem Kontext – mit Bezugnahme auf Walter Biemel – von dem (auch in Kapitel VI.2 erwähnten) Postulat eines Zurücktretens des Menschen vor den Dingen (und Wesen) gehandelt, das – vor der Hintergrundfolie der Lehre Bubers – die Prämisse des Hörenkönnens der fortwährenden Lebensansprache bildet, als der Einzelne seine persönlichen Sorgen und Ambitionen nicht absolut setzt, sondern seinen Sinn auf das Gegenüber richtet. Denn wer permanent auf die eigene Person fokussiert und zudem „mit sich selbst ständig in Konflikt ist, der vermag auch nicht auf seine Mitmenschen, seine Umwelt, die Natur, die Dinge einzugehen und sich an ihnen zu erfreuen. Er vermag nicht den Partner (in ganz weitem Sinne) zu Wort kommen zu lassen, auf ihn zu hören.“ 1088 Der genuin dialogische Aspekt des Hörenkönnens, den Biemel ausdrücklich und mit Recht im Nachsommer entdeckte, bezieht sich also – um dies wiederholt expressis verbis klarzustellen – nicht nur auf den zwischenmenschlichen Bereich, sondern überdies auf sämtliches, den Menschen in seinem täglichen Leben Umgebende. Es sei an dieser Stelle noch einmal auf Stifters Nachsommer-Losung „»Großes ist mir klein, Kleines ist mir groß«“ (NS 189), den dieser immanenten Wertmaßstab sowie den entsprechenden Kommentar Biemels rekurriert: Das Große sind nicht die zügellosen Leidenschaften, die Unbeherrschtheit und Unbesonnenheit der Seele, das Maßlose und Grenzenlose, sondern groß ist die Geordnetheit der Seele, groß ist die gewonnene Ruhe und Gefaßtheit, groß ist das Hörenkönnen aufeinander, und das heißt nicht nur auf den Mitmenschen, sondern auf die Natur und auf die Dinge, mit denen wir ständig zusammen leben. 1089

Selbstverständlich doziert Risach auch – angesichts der ihm von Stadler attestierten Funktion eines „Universalprivatgelehrte[n]“ 1090 – etwa über Kunst und Wissenschaft, oder Tier- und Pflanzenpflege. Von primärer Relevanz für seine Mitmenschen wie den Rezipienten 1088 1089 1090

Biemel 1985, S. 65. Ebd., S. 66. Stadler 2009, S. 133.

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Parallelisierung der Ansätze Schweitzers, Bubers und Stifters

des Nachsommer ist gleichwohl die Tatsache, dass er seine strikten, an dem mit besagtem „Sanften Gesetz“ der Bunten Steine korrelierenden Wertmaßstab orientierten Prinzipien lebenspraktisch realisiert – sein bis in kleinste Details durchkomponiertes Gesamtkunstwerk Rosenhof – inklusive des dort quasi rituell vollzogenen Alltagslebens – bildet den sprechenden Beweis! „»Dieses Haus soll ein Beispiel sein«“ (NS 196), lautet demnach die Devise Risachs, als im Rosenhaus ein – was die Bedeutung von Wesen, Dingen oder Tätigkeiten betrifft – von Klassifizierungen absehender, das nach dialogisch-chassidischem Verständnis „Zugereichte“ stets gleichermaßen würdigender Umgang an der Tagesordnung ist. Analog ist – wie im Abschnitt „Lehre sein“ gesehen – für den chassidischen Zaddik das exemplarische Vorleben eines adäquaten Lebens- und Alltagsbezugs typisch: Anhand dessen Agierens wird plausibel, dass nicht lediglich ein (ohnehin symbolisch aufgeladener) Vorgang wie die Einnahme der Mahlzeiten weihevoll zu vollziehen ist, sondern selbst ein auf den ersten Blick äußerst profaner Akt wie jener des Schuhebindens gleichsam in Heiligkeit verrichtet werden kann (vgl. EZ 224). Abschließend sei an nachstehende, in besagtem Kapitel des Lehre Praktizierens angeführte Passage aus der Chassidischen Botschaft erinnert, in der die Spezifik der Erscheinung des Zaddik (und ex aequo Risachs?) sowie die Quintessenz chassidischer Lehre resümiert wird: Das persönliche Dasein, das solche Wirkung übt, kann nur ein „naives“ sein, das heißt, ein Dasein, das ganz auf seinen Gegenstand gerichtet ist; es kann nicht ein „reflexives“ sein, das heißt eins, das sich mit seinem eigenen Problem befaßt. Es kann aber auch kein theoretisches sein, das heißt eins, das den Gegenstand, auf den es gerichtet ist, dadurch erfassen will, daß es von der Wirklichkeit abstrahiert oder mystisch-kontemplativ hinter die Wirklichkeit zu dringen sucht. Es kann nur ein vitales Dasein sein, das unmittelbar mit der Wirklichkeit lebt und in diesem schlichten Leben mit der Wirklichkeit denkt, was es denkt, und betrachtet, was es betrachtet: nicht mehr und nicht weniger, als was ihm die Konkretheit dieses Lebens darbietet. Diese Naivität, Vitalität, Schlichtheit und Unmittelbarkeit bilden den persönlichen Kern, um den sich die Grundlagen der neuen Bewegung ansetzen. (CB 787)

Von dieser außergewöhnlichen lebens- und alltagsbejahenden Bewegung des Chassidismus galt es Buber, dasjenige für die gegenwärtige Menschheit zu extrahieren, was er als das Exemplarische chassidischer Lebensführung erkannte und erlebte. Dieses manifestiert 392 https://doi.org/10.5771/9783495817902 .

Stifters Der Nachsommer mit Buber gelesen

sich – wie anhand der Erzählungen der Chassidim gezeigt – „in einer ungeheuren Reihe von Exempeln, begrenzten Vorgängen, in denen auch gesprochen, aber nicht selten nur getan, nur gelebt wurde; auch das stumme Geschehen jedoch sprach, es sagte das Exemplarische“ (CAM 937). So kann auf der Basis Bubers mit seinen dialogphilosophischen Reflexionen korrelierenden ChassidismusDeutung festgehalten werden, dass der Mensch – im Sinne der „Funkenerlösung“ – „mit dem Tun seines Alltags Ungeheures wirkt, aber nicht allein, sondern der Welt und der Dinge bedarf er zu solchem Tun“ (LC 40). Nichtsdestotrotz ist letztlich das Göttliche dasjenige, welches in der Konzeption Bubers das zu Heiligende gleichsam (vor)gibt und um dessentwillen (gleichwohl „ohne Abstrich“) Leben „beantwortet“ zu werden hat. Dagegen impliziert der Entwurf Stifters im Nachsommer die Heiligung der Dinge (im weitesten Sinne) um ihrer selbst willen und somit eine genuine und ausschließliche Eigeninitiative des handelnden Individuums – Stifters Religion ist quasi das im praktischen Umgang vollzogene faktische Heiligen des Hier und Jetzt.

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Resümee

„»[W]ir sind hier unten hingestellt und es gehört sich nicht den Posten zu verlassen.«“ (GM 1045) Dieses konzise Diktum aus Martin Bubers Roman Gog und Magog komprimiert im Prinzip die Antwort, welche mit vorliegender Arbeit intendiert war. Den Anlass zu letzterer bildete die aktuell in Forschung und Wissenschaft bezogene, in direktem wie übertragenem Sinne erdferne Perspektive, die eingangs dahingehend kritisiert wurde, den buchstäblich verkehrten Weg aufzuweisen, als diese – auf Fragen jenseits der Lebenswelt und -realität des Einzelnen fokussiert – den Blick auf die den Menschen unmittelbar betreffenden Phänomene des Alltags verstelle. Auf diese Weise werde – so der Vorwurf der Autorin – ein Missverhältnis, insbesondere zwischen Mensch und nichtmenschlichen Lebewesen sowie Mensch und Ding begünstigt (was sich in praxi nicht zuletzt in fatalen Fehlentscheidungen etwa im Umweltschutz- oder Denkmalpflege-Sektor niederschlage). Die Problemstellung lautete somit, im Zuge einer Aufwertung des Alltäglichen in seiner Schönheit den Sinn für ebendieses (wieder) zu sensibilisieren und – auf Basis der These, die (ethischen) Probleme nähmen ihren Ausgang im täglichen Leben und jenseits der Würdigung desselben sei keine solide Ethik zu konzipieren – philosophisch herauszustellen, welche Qualität ein adäquater Umgang (primär mit nicht-menschlichen Lebewesen und Dingen) aufzuweisen habe. In phänomenologischer Manier galt es – gleichwohl auf einen ethischen Entwurf abzielend – sich methodisch gleichsam aus dem Blickwinkel der Unmittelbarkeit dem Alltäglichen zu nähern, um dieses nicht nur als solches, sondern zudem anhand seiner spezifischen Einzelerscheinungen zu (er)fassen. Inhaltlich basiert das Projekt auf den Konzeptionen der drei hinsichtlich Textgattung und Stil zwar divergierenden, sich in Bezug auf die Fragestellung jedoch komplettierenden Konzeptionen der Autoren Albert 394 https://doi.org/10.5771/9783495817902 .

Resümee

Schweitzer, Martin Buber und Adalbert Stifter, deren Aktualitätsund Orientierungspotenzial zunächst im Rahmen von (in Form einer inhaltlichen Steigerung – ungeachtet der Entstehungsdaten der Werke – angelegten) Einzelanalysen, sodann im Zuge einer finalen Synopse je zu extrahieren war. Während mittels der Diskussion der beiden erstgenannten Repräsentanten in theoretischer Hinsicht der Boden der Analyse bereitet werden sollte, war mit der Bezugnahme auf Stifters literarischen Entwurf die Möglichkeit einer konkreten Veranschaulichung eines gelingenden (Alltags)Lebens gegeben. Mittels der Diskussion der Ausführungen Albert Schweitzers, der mit seiner bahnbrechenden, angesichts der globalen wie regionalen ökologischen Krisen höchst aktuellen (natur-)ethischen Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben ein achtungsvolles Verhalten gegenüber nicht-menschlichen Lebewesen der Natur inauguriert, sollte zunächst die Signifikanz des Alltäglichen in genuin ethischer Hinsicht akzentuiert werden: Lautet die theoretische Forderung der Ehrfurchtsethik „Ehrfurcht vor sämtlichem Leben“, bedeutet dies im praktischen Vollzug explizit Ehrfurcht vor dem und Hilfe für das sich im unmittelbaren Umfeld befindliche Leben, mit dem der Einzelne täglich in Berührung kommt und für das er Verantwortung zu übernehmen hat. Es wurde somit aufgezeigt, dass Respekt als unmittelbare Forderung des Umgangs im Alltag zu etablieren ist – nicht zuletzt angesichts der unabwendbaren Restschuld, die sich der Mensch aufgrund der Nahrungsaufnahme gegenüber nichtmenschlichen Lebewesen permanent auflädt. Zudem ist Schweitzer zu attestieren, die Korrelation von Kultur und Ethik deutlich gemacht und mithin aufgezeigt zu haben, dass sich Kultur keinesfalls auf den literarisch-künstlerischen Bereich und entsprechende Veranstaltungen beschränkt, sondern vielmehr mit der ethischen Veredelung des Individuums anhebt, die sich im täglichen Handeln zu bewähren hat. Während bei Schweitzer der Gedanke, selbst anorganisches Leben, etwa in Form eines Kristalls, in den Kreis des Schutzwürdigen aufzunehmen, als zwar verbalisierter, jedoch nicht weiter konkretisierter (was sich in dem symptomatischen Faktum artikuliert, dass das kulturphilosophische Projekt Fragment geblieben ist) dargelegt wurde, konnte bei dem Dialog- und Religionsphilosophen Martin Buber eine argumentative Fortführung dieses Ansatzes verfolgt und festgestellt werden: Auf der Basis seiner Deutung chassi395 https://doi.org/10.5771/9783495817902 .

Resümee

discher Überlieferung prägt Buber – in Kombination mit seinem dialogischen Denken – die singuläre Devise der Heiligung des Alltags, im Zuge dessen explizit Gegenstände sowie sogenannte „profane“ Tätigkeiten in den Fokus gerückt und einem „dialogisch-weihevollen“ Umgang zugänglich gemacht werden. Das entscheidende Argument findet Buber in der Sprache (im weitesten Sinne), die sich in einer konkreten Haltung selbst gegenüber nicht-menschlichen Lebewesen und Dingen manifestiert, wodurch gleichsam der „Vereslichung“ – das heißt, einem reinen Zweck-Mittel basierten, die Wesen und Dinge bloß (aus)nutzenden Umgangsmodus – entgegengewirkt wird. Bubers Innovation hinsichtlich der Alltagsaufwertung kulminiert in der Interpretation der (durch den Chassidismus ethisch ausgelegten) kabbalistischen Funkenlehre, welche – aufgrund der allem (materiellen wie immateriellen) Innerweltlichen immanenten „göttlichen Funken“ – einen sakramentalen Alltagsbezug unumgänglich macht. Sozusagen die Figuration des mit der vorliegenden Untersuchung anvisierten Projektes sollte schließlich im Zuge der Ausführungen zu Adalbert Stifters (bereits gut ein halbes Jahrhundert vor den Entwürfen Schweitzers und Bubers verfasstem) philosophisch belangvollem Werk Der Nachsommer geliefert werden, als sich das darzustellende Thema der Arbeit – wie einleitend erläutert – einer rein theoretisch-analytischen Betrachtung verschließt und dem Rezipienten vielmehr vollständig figuriert vor Augen zu führen ist. Mit Stifters Roman geht eine Idealisierung des Alltäglichen einher, die sich stilistisch in einer minutiös-deskribierenden, nuancierten Präsentationsweise widerspiegelt, welche den – ob ihrer scheinbaren Profanität – oft als unbedeutend ignorierten Phänomenen des Alltags auf eine Weise Gerechtigkeit widerfahren lässt, die ihresgleichen sucht. Es konnte dargelegt werden, dass das viele hundert Seiten umfassende Prosawerk auch inhaltlich keineswegs primär von spektakulären Ereignissen, überraschenden Geschehenswendungen oder Emotionsartikulationen der Protagonisten handelt, sondern in erster Reihe Aspekte des (zumeist in aller Stille verlaufenden) Jahres- und Tageszyklus fokussiert, wie exemplarisch das Wachsen des Getreides, die Pflege des Gartens oder die Sorge um das Hauswesen. Sonach wird auf dem modellhaft gestalteten Anwesen des Freiherrn von Risach ein gelingendes, in Harmonie mit der Umgebung geführtes, durch eine gewissenhafte Verrichtung alltäglicher Tätigkeiten wie einen ebenso adäquaten Umgang mit 396 https://doi.org/10.5771/9783495817902 .

Resümee

Wesen und Dingen fundiertes Alltagsleben paradigmatisch vorgelebt. Allen drei vorgestellten Konzeptionen ist letztlich das Bestreben einer (Wieder)Beheimatung des Menschen in der hiesigen (Lebens)Welt gemein: Dieses artikuliert sich bei Schweitzer – im Zuge der Problematisierung elementarer Fragen der Philosophie und Ethik – in dem Postulat der Welt- und Lebensbejahung auf der Basis der fundamentalen Einsicht in die Zusammengehörigkeit aller Lebewesen; in Bubers Werk kommt es in dem signifikanten Grundprinzip der Begegnung des Menschen mit Gott in der Welt zum Ausdruck, indem das Leben als fortwährender Ansprache-Antwort-Prozess plausibilisiert wird, im Rahmen dessen der Mensch die ihm je und je zugereichten Wesen, Dinge und Situationen (handelnd) gleichsam zu bestätigen hat. In Stifters Nachsommer, in dem sich das Göttliche beispielsweise „in Gestalt von Rosen“ 1091 zeigt, realisiert sich das Glück im Hier und Jetzt, im stetigen Vollzug des (täglichen) Lebens. Dieser „Beheimatungsgedanke“ korreliert jeweils – wie mittels der Parallelisierung der drei Ansätze im vierten Teil der Arbeit deutlich geworden sein sollte – mit der Hervorhebung der Signifikanz des Kleinen, Unscheinbaren sowie – im Kontext einer generellen Bejahung des Praktizierens der Lebensanschauung – der Akzentuierung der tätigen Wirksamkeit des Einzelnen an seinem (in direktem wie übertragenen Sinn verstandenen) individuellen Ort. Ethik kann letztlich nur gelingen, wenn der Mensch sein Leben kultiviert: Das Leben, das im Nachsommer durch Risach-Stifter präsentiert und dem Leser vermittelt wird, demonstriert das Idealbild dessen, was Kultur im Sinne Schweitzers zu sein vermag – mit anderen Worten: Der vor der Folie der Schweitzerschen Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ausgelegte Roman Stifters – namentlich das Anwesen Risachs – ist quasi praktizierte Kultur der Ehrfurcht vor dem Leben. Keinesfalls sollte jedoch mit den Darlegungen in dieser Arbeit suggeriert werden, Schweitzer sei zur Legitimation seines Ansatzes auf Stifter (oder Buber) angewiesen – die von ihm vertretene Leitidee der Ehrfurcht vor allem Leben hat sich per se als von höchster Relevanz wie Innovation erwiesen. Gleichwohl fehlt die Fülle des Beispielhaften bei Schweitzer, die Stifter liefert: Die den 1091

Stadler 2009, S. 136.

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Resümee

Schweitzerschen Ehrfurchtsgedanken charakterisierende Forderung, Leben nicht lediglich zu schützen, sondern darüber hinaus auf seinen absoluten Wert zu steigern, wird – dank Risach-Stifters minutiöser Beschreibungen – im Nachsommer restlos erhellt: So wird nicht nur die Notwendigkeit artikuliert, die Tiere – exemplarisch Vögel – zu füttern, sondern zudem auseinandergesetzt, auf welche Weise dies zu geschehen habe, das heißt, welche spezifische Speise welcher Vogelgattung auf welcher eigens für diese jeweils konstruierten Vorrichtung zu reichen sei (ob diese etwa in winzige „Tröge“ zu füllen oder aber auf Stifte zu stecken sei, und dass man ferner für die Trinkschalen Einfassungen samt Leiterchen für erforderlich halte, um den Vögeln einen erleichterten Zugang zu ermöglichen). Ein kultiviertes Leben beziehungsweise einen ebensolchen Alltagsvollzug charakterisiert – neben dem adäquaten Verhalten gegenüber Lebewesen – eine entsprechende Handhabung der Gegenstände sowie ein angemessenes Eingehen auf (alltägliche) Situationen und Tätigkeiten. Angesichts dessen sollte speziell in Bezug auf die Gemeinsamkeiten zwischen Stifter und Buber gezeigt werden, dass der von Buber primär im Rahmen seiner Schriften zum Chassidismus dargelegte, gleichsam „geläuterte“ Zugang zur Wirklichkeit, welcher sich in praxi in einer – aufgrund der eliminierten Trennung sakraler und profaner Bezirke – konsequenten Heiligung sämtlicher Aspekte des Alltags darstellt, parallelisiert werden kann mit dem von den Protagonisten in Stifters Nachsommer gelebten, quasi-religiösen Wirklichkeitsbezug: Der im Nachsommer vertretene (mit dem ebenfalls erörterten „Sanften Gesetz“ der Bunten Steine korrelierende) Wertmaßsatb impliziert – wie gesehen – das Gebot, keine Wertungen vorzunehmen, was die Bedeutung von Wesen, Dingen oder Tätigkeiten betrifft, sondern alles, was dem Einzelnen – im Sinne dialogisch-chassidischer Interpretation – ins Leben „gereicht“ wird, gleichermaßen zu achten. Sowohl Buber als auch Stifter erhellen, dass letztlich nicht der Inhalt einer Tätigkeit, sondern der Modus ihrer Verrichtung ausschlaggebend ist. Während Buber – im Gegensatz zu Stifter – in seinen Ausführungen zum Chassidismus explizit von einer „Heiligung“, „Weihung“ oder „Weihe“ des Alltags spricht und damit den Weg für besagten Dingumgang ebnet, bleibt er jedoch eine Antwort auf die Frage, wie dieser Umgang in concreto zu gestalten sei, schuldig. An dieser Stelle greift einmal mehr der sich in der unermesslichen Bei398 https://doi.org/10.5771/9783495817902 .

Resümee

spieldichte und Deskriptionsakribie (welche in Fachkreisen stets kritisiert wurde und wird 1092) manifestierende Stiftersche „Knalleffekt“: In Stifters Nachsommer finden sich – wie insbesondere im Rahmen des dritten Hauptteils dieser Arbeit aufgezeigt – detaillierte Erläuterungen hinsichtlich des korrekten Umgangs mit Dingen, exempli causa wie diese zu bedienen, zu pflegen und in Stand zu halten seien. Des Weiteren hat sich im Zuge der Studie herausgestellt, dass bei Stifter die Um-zu-Struktur des gleichsam weihevollen Handelns zu entfallen scheint, das heißt, Alltag respektive die alltäglichen Dinge und Verrichtungen werden letzten Endes nicht – wie bei Buber – um der den Dingen, Wesen und Tätigkeiten inhärenten, ihrer Sublimierung harrenden, heiligen göttlichen Funken – also mithin um Gottes willen – geheiligt, sondern um der Sache selbst willen: auf dass die Pflanze als Pflanze gut gedeihe, das Buch als Buch, das Zimmer in dieser seiner Erscheinung erhalten bleibe. Nichtsdestotrotz erweist sich die Stärke der Konzeption Stifters und Bubers gleichermaßen vor allem in dem Aspekt des Exemplarischen: Zwar mögen manche sowohl von Stifter wie Buber und entsprechend in den vorliegenden Erörterungen angeführten (alltäglichen) Verrichtungen wie etwa (regelmäßiges) Brotbacken, Strumpfwirken oder aber eine auf der Beobachtung des Verhaltens von Insekten basierende Wettervorhersage aus heutiger Sicht als überholt gelten. Gleichwohl ist das die Ausführung einer Handlung beziehungsweise Tätigkeit fundierende Prinzip des weihevoll-würdigenden Vollzugs zeitlos – und dieses gilt es, auf den gegenwärtigen Lebensalltag zu applizieren. Wie im vierten Hauptteil der Arbeit dargelegt, soll somit keineswegs nahegelegt werden, das Risachsche Rosenhof-Modell identisch zu kopieren oder – was Buber selbst verneint – Chassid zu werden, sondern in Orientierung an dem jeweils vorgeführten Ideal im Rahmen des eigenen Lebensbereichs, nach Maßgabe der individuellen Potenzialitäten, nach bestem Wissen und Gewissen sich um dasjenige zu bemühen, was – ex aequo gemäß der Maxime Schweitzers – an Lebewesen, Dingen oder Situationen gleichsam in den eigenen Bereich tritt: Dies kann anheben mit der Betreuung einer einzigen Meise vor dem Fenster, einer einzelnen Topfpflanze, für die man sich verantwortlich erzeigt, einem Gegenstand, der eine pflegliche Behandlung erfährt oder dergleichen mehr. 1092

Vgl. hierzu Heinze 2008, S. 42–48, insbesondere S. 42 f.

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Resümee

„Die gewohnte Welt mit allen ihren kleinen und großen Dingen ist es selbst, die das Glück, wenn man es nur zu greifen vermöchte, dem Menschen bietet“ 1093 – um dies mit einer auf Stifters im Nachsommer präsentierten Lebensentwurf bezogenen Formulierung Wolfgang Matz’ final zu verbalisieren. Ausschließlich auf besagte Weise der kreativen Praktizierung der aus den Komponenten Ehrfurcht, Heiligung und nicht zuletzt einer Idealisierung des Alltäglichen in dessen Schönheit gespeisten Umgangsethik, können Alltag und Leben insgesamt gelingen – denn wie der Einzelne im Kleinen, im Rahmen seines privaten Mikrokosmos, agiert, wird er es analog „im Großen“ tun. Die Devise lautet demnach, „[u]nterm Herd unsres Hauses ist unser Schatz vergraben“ (WM 736), den es zu bergen gilt. Auf der Basis dieser chassidischen Weisheit erteilt Martin Buber seinen Mitmenschen wie künftigen Generationen den klugen Rat, sich eben dieses existenziellen Faktums zu besinnen: Die meisten von uns gelangen nur in seltenen Augenblicken zum vollständigen Bewußtsein der Tatsache, daß wir die Erfüllung des Daseins nicht zu kosten bekommen haben, daß unser Leben am wahren erfüllten Dasein nicht teilhat, daß es gleichsam am wahren erfüllten Dasein vorbei gelebt wird. Dennoch fühlen wir den Mangel immerzu, in irgendeinem Maße bemühen wir uns, irgendwo das zu finden, was uns fehlt. Irgendwo in irgendeinem Bezirk der Welt oder des Geistes, nur nicht da, wo wir stehen, da, wo wir hingestellt worden sind – gerade da und nirgendwo anders aber ist der Schatz zu finden. Die Umwelt, die ich als die natürliche erfahre, die Situation, die mir schicksalhaft zugeteilt ist, was mir Tag um Tag begegnet, was mich Tag um Tag anfordert, hier ist meine wesentliche Aufgabe und hier die Erfüllung des Daseins, das mir offen steht. (WM 736)

In diesem Punkt stimmen die drei in dieser Arbeit erörterten Konzeptionen Albert Schweitzers, Martin Bubers und Adalbert Stifters – trotz partieller inhaltlicher Unterschiede sowie differierender Textgattungen – definitiv überein. Angesichts des im Rahmen der Analyse Dargelegten ließe sich diese fundamentale Parallele am ehesten unter dem Begriff der Alltagsmystik subsumieren, womit kein spezifisch mystisches Gebaren, sondern ein Handeln im Alltag bezeichnet wäre, das – aufgrund dessen ehrfürchtig-heiligenden Vollzugsmodus – die Profanität der Dinge gleichsam transzendiert, 1093

Matz 2005, S. 331.

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Resümee

ohne letztere jedoch ihrer Spezifik zu entheben, die es vielmehr im täglichen Lebensgang zu bestätigen sucht. Hier schließt sich der Kreis hinsichtlich der eingangs kritisierten (theoretischen wie praktischen) Aktivität des Menschen beispielsweise im All oder gleichsam den Urzeiten der Weltgeschichte: Nicht das gemeinhin als „groß“ Deklarierte, das Exzeptionelle, Spektakuläre und „Laute“, fernab des täglichen Lebens sich Zutragende, hat als das de facto Bedeutungsvolle zu gelten – dieser Status gebührt – au contraire – dem in der Regel als unscheinbar und irrelevant Vernachlässigten, das den Einzelnen tagtäglich antritt und mithin die Substanz des Lebens ausmacht. Sollte dies im Zuge der Studie deutlich geworden sein, wäre das mit selbiger verbundene Hauptanliegen erreicht und mithin ein Etappenziel auf dem Weg der Revidierung des Schalheitsimages der Alltäglichkeit. In diesem Sinne möge die Arbeit mit folgenden Worten Bubers beschlossen werden: Und hätten wir Macht über die Enden der Erde, wir würden an erfülltem Dasein nicht erlangen, was uns die stille hingegebene Beziehung zur lebendigen Nähe geben kann. Und wüßten wir um die Geheimnisse der oberen Welten, wir hätten nicht so viel wirklichen Anteil am wahren Dasein, als wenn wir im Gang unsres Alltags ein uns obliegendes Werk mit heiliger Intention verrichten. (WM 736)

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